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German Pages 630 Year 2014
Max Jakob Orlich Situationistische Internationale
Kulturen der Gesellschaft | Band 4
Max Jakob Orlich (Dr. phil.) lebt und arbeitet als Soziologe und Fotograf in Freiburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Kunst-, Kulturund Gruppensoziologie sowie urbanistische und alltagssoziologische Fragestellungen.
Max Jakob Orlich
Situationistische Internationale Eintritt, Austritt, Ausschluss. Zur Dialektik interpersoneller Beziehungen und Theorieproduktion einer ästhetisch-politischen Avantgarde (1957-1972)
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Gesetzt aus der Helvetica und der Utopia Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Max Jakob Orlich Abbildung S. 9: Max Jakob Orlich Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1748-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt Danksagung
11
Einleitung
13
Grundfragen und Ziele der Untersuchung . . . . . . . . . . . . .
13
Grundfragen und Ziele der S.I. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
19
1 Die w-I.S.-senschaftliche récupération
25
1.1 Materiallage und Stand der Forschung zur S.I. . . . . . . . .
25
1.2 Fragestellung und Gliederung der Untersuchung . . . . . .
40
2 Der theoretisch-begriffliche Rahmen
47
2.1 Gruppe und interpersonelle Beziehungen . . . . . . . . . .
47
2.1.1 Der soziologische Gruppenbegriff . . . . . . . . . . . .
47
2.1.2 Gruppenbildung bei Künstlern und Intellektuellen . .
54
2.1.3 Soziologie der interpersonellen Beziehungen . . . . .
65
2.1.4 Interpersonelle Beziehungen im Gruppenkontext: Leopold von Wiese und Georg Simmel . . . . . . . . .
69
2.1.5 Interpersonelle Beziehungen im Gruppenkontext: Siegfried Kracauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
75
2.2 Die S.I. als Avantgarde des 20. Jahrhunderts? . . . . . . . . .
85
2.2.1 Kunst und Politik: zum Avantgardebegriff . . . . . . .
86
2.2.2 Avantgarde und Gruppenbildung . . . . . . . . . . . .
90
2.2.3 Theorien der Avantgarde: Ende und Scheitern oder Auf- und Abtauchen? . . . .
95
2.2.4 Anknüpfung und Abgrenzung innerhalb der historischen Avantgarden . . . . . . . . 103 2.2.5 Anknüpfung und Abgrenzung der S.I. . . . . . . . . . . 106 3 Theorie und Gruppenstruktur der S.I.
123
3.1 Die theoretischen Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 3.1.1 Spektakel und Alltagsleben . . . . . . . . . . . . . . . . 123 3.1.2 Konstruktion von Situationen . . . . . . . . . . . . . . 129 3.1.3 Dérive, Psychogeographie, unitärer Urbanismus . . . 136 3.1.4 Détournement und récupération . . . . . . . . . . . . 146
3.2 Mitgliederfluktuation und Organisationsstruktur . . . . . . 161 3.2.1 Mitgliederfluktuation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 3.2.2 Entwicklung der organisatorischen Strukturen . . . . 173 4 Die S.I. im Spannungsfeld von Theorie und Praxis
207
4.1 Mitgliedschaft in der S.I. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 4.1.1 Interpersonelle Beziehungen und Gruppenmitgliedschaft . . . . . . . . . . . . . . . 207 4.1.2 Theoretische Überlegungen der S.I. zur Mitgliedschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 220 4.2 Theorie und Praxis des Eintritts . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 4.2.1 Theoretische Überlegungen der S.I. zum Eintritt . . . 231 4.2.2 Aufnahme und Prüfung von Beitrittskandidaten: Hartstein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 4.2.3 Aufnahme und Prüfung von Beitrittskandidaten: die Enragés . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 242 4.2.4 Rekrutierung neuer Mitglieder: die unbemerkten Eintritte . . . . . . . . . . . . . . . . 245 4.2.5 Rekrutierung neuer Mitglieder: Constant . . . . . . . 248 4.2.6 Rekrutierung neuer Mitglieder: die Gruppe SPUR . . 252 4.2.7 Wandlungen der Eintrittspolitik . . . . . . . . . . . . . 256 4.3 Theorie und Praxis des Austritts . . . . . . . . . . . . . . . . 262 4.3.1 Theoretische Überlegungen der S.I. zum Austritt . . . 263 4.3.2 Spurlose Austritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Exkurs: Die Rolle von Michèle Bernstein und Jacqueline de Jong . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 4.3.3 Der als Ausschluss empfundene Austritt: Trocchi . . . 277 4.3.4 Erzwungene Austritte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 4.3.5 Der formale Austritt: Khayati . . . . . . . . . . . . . . . 283 4.3.6 Der umstrittene Austritt: Constant . . . . . . . . . . . 287 4.3.7 Der spielerische Austritt: Jorn . . . . . . . . . . . . . . 308 4.3.8 Austritte revisited: Khayati, Constant, Jorn . . . . . . . 335 4.4 Theorie und Praxis des Ausschlusses . . . . . . . . . . . . . . 338 4.4.1 Theoretische Überlegungen der S.I. zum Ausschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 4.4.2 Unbemerkte Ausschlüsse am Rand der S.I. . . . . . . . 352 4.4.3 Unauffällige Ausschlüsse am Rand der S.I. . . . . . . . 357
4.4.4 Auffällige Ausschlüsse im Zentrum der S.I.: Pinot-Gallizio und Wyckaert . . . . . . . . . . . . . . . 372 4.4.5 Umstrittene Ausschlüsse I: die Gruppe SPUR und die Nashisten . . . . . . . . . . 386 4.4.6 (Un)klare Ausschlüsse am Rand der S.I. . . . . . . . . . 409 4.4.7 Umstrittene Ausschlüsse II: die Garnaultins . . . . . . 427 4.4.8 Die Organisationsdebatte und ihre Ausschlüsse I . . . 447 4.4.9 Die Organisationsdebatte und ihre Ausschlüsse II . . 456 5 Mythomanie und Deutungswahn
515
5.1 Kritik der Trennung: Spektakel und Alltagsleben . . . . . . . 516 5.2 Passiv und aktiv: récupération und détournement . . . . . . 520 5.3 Rein und raus: détournement auf Personen- und Gruppenebene . . . . . . 523 5.4 Theorie und Praxis: Debord und Jorn . . . . . . . . . . . . . 527 5.5 Wie du mir, so ich dir: Potlatch, Streit, Freundschaft . . . . . 538 5.6 Ent-Täuschung und Enttäuschung: Situationskonstruktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 546 5.7 Bewegen und Kartieren: dérive und Psychogeographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . 561 Fazit
573
Literaturverzeichnis
581
Personen- und Gruppenregister
625
...différant sans cesse l’instant même où, cessant d’écrire, cette image deviendrait visible, comme un puzzle inexorablement achevé. Georges Perec N’écrivez jamais, vous risquez d’être publié. Ivan Chtcheglov
Danksagung Die vorliegende Publikation entstand zwischen 2006 und 2009 im Rahmen des Graduiertenkollegs 1288 Freunde, Gönner, Getreue der Deutschen Forschungsgemeinschaft unter Leitung von Ronald G. Asch und wurde 2010 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg als Dissertation angenommen. Meinem Doktorvater Wolfgang Eßbach gebührt der Dank, dass er durch seine Anregungen und seine Kritik, vor allem aber durch sein großes Vertrauen in mein Forschungsprojekt und in meine Arbeitsweise für genau den Rückhalt gesorgt hat, der nötig ist, um eine solche Arbeit anzufangen, weiterzuführen und fertigzustellen. Ein Dank auch an die weiteren Betreuer und Gutachter Hermann Schwengel und Thomas Klinkert, die mir zusätzliche hilfreiche Anregungen geben konnten. Bedanken möchte ich mich zudem bei meinen Kollegskollegen, insbesondere bei Eric Heuser, Caroline Krueger und Christopher Schmidtberger, die mit spannenden Diskussionen und der notwendigen Bodenhaftung im Leuchtturm ihren Teil zu dieser Arbeit beigetragen haben. Weitere hilfreiche Anregungen, Hinweise und Unterstützung erfuhr mein Projekt in den Gesprächen mit Andrea Backhaus, Horst Bredekamp, René Gründer, Ulrike Löser, Heidrun Mattes, Roberto Ohrt und Sonja Würtemberger. Ein Dank auch an Gunther Gebhard, Oliver Geisler, Steffen Schrötter und Daniel Trepsdorf vom forum junge wissenschaft, in dessen Rahmen ich vielfältige Anregungen von verschiedenster Seite erhalten habe. Für die Unterstützung bei meinen Archiv-Recherchen geht mein Dank an Rossana Vacarro am Centre d’histoire sociale du XXe siècle, Paris; an die Mitarbeiter des Instituts für Kunstgeschichte der Universität Frankfurt am Main; an die Mitarbeiter des Internationaal Instituut voor Sociale Geschiedenis, Amsterdam; an die Mitarbeiter des International Bookshop Het Fort van Sjakoo, Amsterdam; an Lidy Visser und Anita Hopmans am Rijksbureau voor Kunsthistorische Documentatie, Den Haag; an die Mitarbeiter des Silkeborg Museums, Silkeborg sowie an die Mitarbeiter der Bibliothek des Stedelijk Museums, Amsterdam. Die nötige finanzielle Unterstützung, ohne die ein solches Projekt im Zeitraum von drei Jahren nicht realisierbar wäre, erhielt ich vom Graduiertenkolleg 1288 Freunde, Gönner, Getreue sowie vom Forschungskollektiv Kleiner Adler, die gemeinsam auch die Drucklegung ermöglichten.
Da mir vor allem die Verbindung aus Einsamkeit am Tag und lebhafter Unterhaltung am Abend sehr geholfen hat, mein Thema im Blick zu behalten, haben einige Menschen mehr als nur einen Dank verdient: Birgit Dorsten, die mich mit nicht enden wollendem Verständnis in meiner Arbeit unterstützt und beraten und mich in unserem Leben ertragen und aufgebaut hat. Katharina Kreth, die in den letzten Jahren immer da war, wenn ich sie gebraucht habe und die zusammen mit Alexander Ochs, Daniela Jensen, Miriam Engelhardt und dem alten Hannibal dafür gesorgt hat, dass ich das reale Leben, die Fotografie und den Rock’n’Roll nicht ganz aus den Augen verloren habe. Dagmar Danko, die mir eine wichtige und kreative Gesprächspartnerin über Soziologie und allerlei Art-Verwandtes ist. Gabriele Orlich, die mit Adleraugen und Engelsgeduld beim Lektorat geholfen und mich auch sonst mit Wort und Tat unterstützt hat. Philipp Epping, der mir an einem wichtigen Punkt unbewusst aber entscheidend den Weg gewiesen hat und sowieso ein Großer ist. Meinen Eltern, die mich nicht erst in meinem Studium und während dieser Arbeit mit hilfreichen Diskussionen, genauer Lektüre, kritischen Nachfragen, spannendem Querdenken und unendlich vielen anderen großen Kleinigkeiten in einer Weise unterstützt haben, wie man sie sich nur wünschen kann. Meine Begeisterungsfähigkeit, meine Neugier, meine Ausdauer, meine Liebe zum Schauen und Denken verdanke ich ihnen. Ein Platz rauf mit Mappe. Nicht pour E aber doch für sie ist diese Arbeit.
Einleitung Grundfragen und Ziele der Untersuchung Gregory Walter Graffin, Farrokh Bulsara und Guy Debord hätten wohl eine leidenschaftliche Diskussion geführt, wären sie sich jemals in irgendeiner sonderbaren leeren Bar dieser Welt über den Weg gelaufen. Alles, was wir bräuchten, sei eine Veränderung auf der Ebene der Ideen, hätte Ersterer vehement gefordert und der Zweite hätte, um diesen Veränderungswunsch zu stützen und zugleich einzugrenzen, hinzugefügt, dass bei all diesem Wandel einem doch zumindest die Freunde bis zum Ende erhalten blieben. Debord hätte seine Vorredner nur verständnislos angeblickt und festgestellt: »Es ist besser, Freunde zu wechseln, als Ideen.«1 Dann wäre er aufgestanden, Graffin hätte ihm warnend hinterher gerufen, dass doch jeder, den man treffe, eine Narbe auf der Seele zurücklasse, Bulsara hätte enttäuscht gefragt, ob das die Welt sei, die der Mensch sich geschaffen habe. Debord aber wäre, ohne ein Wort zu sagen, an ihnen vorbeigegangen, hätte den Raum verlassen, wäre mit seiner Idee im Kopf weitergegangen und hätte sich andere Gesprächspartner gesucht. Wir verlassen mit ihm diesen Raum der Fiktion und wenden uns der Wirklichkeit zu - der nicht weniger ungewöhnlichen Wirklichkeit der Situationistischen Internationale (S.I.). Einen ersten Anhaltspunkt, welche Aspekte und Begriffe, welche Zusammenhänge und Widersprüche dieser äußerst einflussreichen Gruppe von Künstlern, Architekten und Intellektuellen,2 die sich zwischen 1957 und 1972 von Frankreich aus über Westeuropa und schließlich bis in die USA ausdehnte, im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen werden, bietet das obige Zitat Debords. Hier werden ›Freunde‹ und ›Ideen‹ in den Mittelpunkt gerückt, aber zugleich über den Begriff des ›Wechselns‹ gegeneinander gestellt. Es geht um Wandel und Kontinuität, 1 | Debord (1955d), S. 156. Anmerkung zur Zitierweise und zur Bibliographie: Um sowohl Übersichtlichkeit als auch Lesbarkeit zu gewährleisten, erfolgt bei allen Monographien, Sammelbänden, Aufsätzen, Artikeln, Internetseiten etc., auf die in den Fußnoten verwiesen wird, der Nachweis über ›Autor (Jahr)‹. In der Bibliographie werden alle verwendeten Aufsätze aus Sammelbänden, nicht jedoch der Sammelband selbst, einzeln aufgeführt. Sammelbände werden hier nur aufgeführt, wenn auf sie allgemein verwiesen wurde. Zitate aus der Internationale Situationniste sowie aus potlatch werden nicht über die Zeitung direkt, sondern unter Angabe des Jahres ihrer Erstveröffentlichung wie ein Aufsatz über die in der Bibliographie aufgeführten Reprint-Sammelbände mit durchgehender Seitennummerierung nachgewiesen. Zitiert wird - soweit wie möglich - auf Deutsch. Wo keine deutsche Übersetzung zur Verfügung steht, werden die Texte in der Originalsprache zitiert. 2 | Die standardisierte männliche Form solcher Bezeichnungen wird in dieser Arbeit neutral verwendet. Die weibliche ist stets mitzudenken.
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die jeweils einem der Begriffe zugeordnet werden. Freunde könne und solle man vielleicht sogar wechseln, an der Idee aber festhalten. Somit wird implizit eine Wertung vorgenommen, eine Hierarchie zwischen Freunden und Ideen eingeführt, die Erstere den Letzteren unterordnet. Freunde und Ideen, Freundschaft und die Verfolgung einer Idee werden hier implizit als Opposition dargestellt, als miteinander unvereinbare Ziele. Eine solche Aussage als Grundlage der Zusammenarbeit, der gemeinsamen Ideenproduktion innerhalb einer Gruppe erscheint alles andere als unproblematisch, wird hier doch die Idee gerade explizit von sozialen Zusammenhängen abgegrenzt bzw. diesen sogar entgegengestellt. Genau diese von Debord entwickelte Opposition gilt es am Beispiel der S.I. als theorieproduzierender, aber eben auch von interpersonellen Beziehungen geprägter Gruppe zu untersuchen. Dabei ist zu fragen, inwiefern es sich bei diesen zwei Aspekten wirklich um ein klares Entweder-Oder handelt, inwiefern tatsächlich die Idee als wichtiger erachtet wird als die interpersonelle Beziehung oder ob sich die persönlichen Beziehungen nicht auch produktiv auf die gemeinsame Arbeit an der Idee auswirken und diese auch im Falle punktueller inhaltlicher Differenzen aufrecht erhalten können. Doch auch die im Zitat enthaltene Gegenüberstellung von Wandel und Kontinuität wird aufzugreifen und zu hinterfragen sein. Dass auf der Ebene der interpersonellen Beziehungen und der Zusammensetzung der Gruppe tatsächlich ein permanenter Wandel, ein Kommen und Gehen erkennbar ist, wird bei einem Blick auf die Mitgliederfluktuation in der S.I. sofort deutlich. Hier ist vor dem Hintergrund der Unterscheidung zwischen dem Aspekt der Mitgliedschaft und demjenigen der interpersonellen Beziehungen zu fragen, ob sich eine Veränderung auf der einen Ebene zwangsläufig auch auf die andere Ebene auswirkt. Doch vor allem ist hier das dem Wechsel der Freunde zumindest implizit gegenübergestellte Festhalten an einer Idee kritisch zu untersuchen. Geht es wirklich um ein Festhalten an einer Idee? Wie ist dieses Festhalten zu bewerten, wenn es sich bei dieser Idee um eine selbst wiederum sehr bewegliche Idee handelt? Ist überhaupt ein solches Festhalten zu erkennen oder werden nicht vielmehr die Freunde genau dann gewechselt, wenn diese an der Idee festhalten und somit ihre Weiterentwicklung verhindern? Wird nicht vielmehr der Versuch unternommen, durch den Wandel auf der Ebene der Mitgliedschaft und der interpersonellen Beziehungen auch die Theorie beweglich zu halten? Ein letzter für die folgende Untersuchung wichtiger Aspekt lässt sich aus dem Eingangszitat noch herausarbeiten: die Gegenüberstellung bzw. das Zusammenwirken von Theorie und Praxis. Die Idee stünde hier für die Ebene der Theorie, während die interpersonellen Beziehungen und - im Falle der S.I. zusätzlich - die Mitgliedschaft und Zusammenarbeit im Gruppenkontext - zunächst vor allem als Praxis aufzufassen wären. Doch auf zweierlei Arten werden Theorie und Praxis hier nicht nur gegenübergestellt, sondern auch miteinander verbunden. Zum einen ist
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die Theorie im Falle der S.I. eine Theorie, die innerhalb einer Gruppe, in der Praxis dieser Gruppe entwickelt wird. Diese Praxis wiederum wird von der S.I. stets theoretisch reflektiert - eine Konstellation, die zudem auf das problematische Verhältnis von individuellen und kollektiven Theoriepositionen und Praxen verweist. Zum anderen ist für die S.I. die Theorie grundsätzlich nicht losgelöst von einer entsprechenden Praxis zu sehen, sie erhält ihren Wert und ihren Sinn nur durch ihre praktische Verwirklichung, entsteht in der Praxis der Theorie und ist nur als Theorie der Praxis von Bedeutung. Diese knappen Anmerkungen verweisen somit auf einen wichtigen Aspekt der nachfolgenden Untersuchung: auf die Frage nach der Rolle der theoretischen Reflexion der eigenen Gruppenpraxis und den Rückwirkungen ebendieser Praxis auf die weitere Theorieproduktion. Kurz, auf die Frage, inwiefern die S.I. im Hinblick sowohl auf die interpersonellen Beziehungen als auch auf ihre Entwicklung als Gruppe als Praxis der eigenen Theorie aufgefasst werden kann. Warum ist die S.I. für diese Fragen ein besonders spannender Gegenstand? Was macht eine Untersuchung der S.I. lohnenswert, wie ist sie zu konzipieren und in welchem Kontext ist sie einzuordnen? Kurz: Warum packt einen die S.I. und wie packt man sie an? Die vorliegende Untersuchung ist durch den Charakter der S.I. als von der Kunst ausgehend argumentierender theorieproduzierender Gruppe mit dem Anspruch kultureller und gesellschaftlicher Einflussnahme zunächst in der Soziologie der Avantgarde und der Intellektuellen sowie im weiteren Sinne im Feld der Ideengeschichte anzusiedeln. Dabei ist jedoch zu beachten, dass die S.I. selbst eine solche einfache Zuordnung zur Avantgarde oder zum intellektuellen Feld auf vielfältige Weise zu unterlaufen versucht. Zum einen grenzt sie sich scharf von den übrigen Akteuren im künstlerischen und intellektuellen Feld ab, positioniert sich dort stets nur im Sinne der Abgrenzung von Bestehendem, von Vorgängern und Mitläufern, ist eine gewissermaßen widerspenstige Gruppe. Zum anderen betätigt sie sich sowohl auf dem künstlerischen als auch auf dem intellektuell-politischen Feld, bewegt sich zwischen diesen Bereichen hin und her und versucht, sie zugleich zu verbinden, ist eine amorphe, eine bewegliche Gruppe.3 Diese Beweglichkeit und Widerspenstigkeit sind auch bei einer ideengeschichtlichen Einordnung der S.I. zu beachten. Eine solche kann prinzipiell auf zweierlei Weise erfolgen. Die erste naheliegende - aber aufgrund des widerspenstigen Charakters der Gruppe nicht unproblematische - Möglichkeit besteht darin, die S.I. und ihre Ansätze in die Tradition der historischen Avantgarden oder im Feld der linken, marxistisch-leninistisch geprägten intellektuellen Gruppierungen einzuordnen. Wollte man so vorgehen, wäre es jedoch dringend angebracht, die S.I. nicht nur als Fortsetzung sowohl der avantgardistischen als auch der intellektuellen Gruppierungen zu betrachten, 3 | Am Ende dieses Bandes findet sich zur besseren Orientierung ein Personenund Gruppenregister, das sämtliche Mitglieder der S.I. sowie weitere wichtige Einzelpersonen und Gruppierungen in ihrem Vor- und und Umfeld auflistet.
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sondern auch die Weiterentwicklung der von ihr bereits selbst als anknüpfende Abgrenzung entwickelten Positionen im künstlerischen und politischen Feld in den Blick zu nehmen. Denn das wohl charakteristischste Merkmal der theoretischen Positionen der S.I. ist ihre Dynamik und ihre Anschlussfähigkeit. Diese Beweglichkeit der Methoden der S.I. spiegelt sich bereits im zentralen Konzept der Situationskonstruktion sowie in der Theorie und Praxis der dérive wider, welche ebenso wie das ständige Wechselspiel zwischen détournement und récupération explizit auf den Aspekt des Momenthaften verweisen. Somit wird aus der Logik der Theorie heraus eine gewisse Beweglichkeit notwendig, die zum Schritthalten mit der Wirklichkeit beitragen. Genau diese Dynamik wird deutlich, wenn man, von der S.I. und ihrer Theorie ausgehend, historisch zurück- oder vorausblickt. So sind auf verschiedenen künstlerischen und politischen Feldern bis heute Anwendungen und Weiterentwicklungen der theoretischen Konzepte der S.I. zu beobachten. Diese Anknüpfungen erfolgen sowohl explizit als auch implizit, teils versuchen sie, den gesamten methodischen Ansatz der S.I. zu übernehmen und zu aktualisieren, teils werden aber auch nur einzelne Methoden herausgegriffen. Zu den bekannteren Weiterentwicklungen oder Übernahmen der Theorie und Methoden der S.I. können unter anderem die Sex Pistols, die Bewegung Reclaim the Streets und das Ende der 80er Jahre entstandene Culture Jamming und Adbusting gezählt werden. Zudem lassen sich in einigen Bereichen der Kunst und der Wissenschaft ähnliche Begrifflichkeiten, Themenfelder und Problemstellungen erkennen, auch wenn sich die Zielrichtungen und Methoden teilweise deutlich von denen der S.I. unterscheiden. Beispielhaft zu nennen wäre hierbei die Debatte um Avantgarde, Postmoderne und Poststrukturalismus sowie die an Adorno, Horkheimer und Marcuse anknüpfende Diskussion über die Kulturindustrie. Auffällig bei diesen Bezugnahmen auf die Theorie und Methoden der S.I. ist zum einen die Unterschiedlichkeit in der Art und Weise der Anknüpfungen, da diese sowohl bei eher theoretischen als auch eher praktischen Ansätzen erfolgen, und zum anderen die Vielfalt der Bereiche, in denen sie erkennbar sind. Diese Beobachtung einer Weiterentwicklung der Methoden der S.I. ist umso interessanter, als diese Methoden selbst auf ähnliche Weise, d.h. in diesem Fall in kritischer Auseinandersetzung mit den Ansätzen der historischen Avantgarden wie DADA und Surrealismus sowie mit politisch-soziologischen Theorien entstanden sind. Die S.I. verortet sich also selbst, wenn auch durchaus kritisch, im Kontext der historischen Avantgarde und im linken intellektuellen Spektrum, sie greift auf, wandelt um, setzt fort, holt Verschwundenes wieder an die Oberfläche, setzt aus dem Ideenvorrat etwas Neues zusammen, um einige Zeit später selbst als Gruppe wieder zu zerfallen, nachdem sie ihre Ideen wiederum zur Weiterentwicklung in den Raum gestellt hat.4 4 | Eine solche ideengeschichtliche Analyse ist bei der ausführlichen Darstellung
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Eine zweite Art der ideengeschichtlichen Untersuchung jedoch erscheint im Hinblick auf die S.I. interessanter und ergiebiger. In der vorliegenden Arbeit soll daher der Versuch unternommen werden, die S.I. selbst als Ideengeschichte im Kleinen aufzufassen und so die Frage nach der Beweglichkeit und Veränderbarkeit ihrer Theorie in den Blick zu nehmen. Denn eine solche Dynamik der Theorie ist zunächst insofern erkennbar, als sich diese Ansätze zwischen 1957 und 1972 permanent weiterentwickeln, neue Aspekte hinzutreten und alte nach und nach verschwinden oder neue Schwerpunkte gesetzt werden. Dies ist bei der Analyse der Methoden der S.I. stets zu berücksichtigen, sie dürfen nicht als starrer und fertiger Methodenkanon aufgefasst werden. Vielmehr gilt es, das kritisch-prozesshafte Moment einer solchen Theorieentwicklung herauszuarbeiten. Es geht um eine Analyse der Theorie und der Methoden der S.I. als ›work in progress‹. Vor allem aber wird es damit möglich, noch einen zweiten Aspekt in die Analyse miteinzubeziehen bzw. in den Mittelpunkt zu stellen: die Produktion und die Weiterentwicklung dieser theoretischen Positionen im Rahmen der S.I. als Gruppe. Denn der ›progress‹ ist teilweise harte Arbeit, die Ideengeschichte wird innerhalb der Gruppe bei der kollektiven Theorieproduktion häufig und in der S.I. beinahe permanent zum Ideenwettkampf, zum Streit um theoretische Positionen und deren mögliche Umsetzung in die Praxis. So lässt sich zum einen auf der diachronen Ebene in der Geschichte der S.I. eine Verschiebung des Schwerpunkts vom künstlerisch-avantgardistischen zum intellektuell-politischen Feld, die zudem mit einer fast vollständigen Auswechslung der Mitglieder einhergeht, ausmachen und zum anderen - und dies wird hier im Mittelpunkt stehen - werden diese und einige andere Konfliktlinien auf der synchronen Ebene innerhalb der Gruppe zwischen den einzelnen Mitgliedern und den von ihnen gebildeten Fraktionen erkennbar. Die streitbare Art und Weise der Theorieentwicklung hat in der S.I. eine bestimmte Praxis des Umgangs der Mitglieder miteinander zur Folge, die auch die interpersonellen Beziehungen nicht unberührt lassen dürfte. Diese Ideengeschichte im Kleinen ist somit zugleich eine Geschichte der Gruppenprozesse in der S.I. und eine Analyse der wechselseitigen Beeinflussung dieser beiden Aspekte. Für eine solche Untersuchung ist die S.I. vor allem deshalb besonders interessant und geeignet, weil bei ihr sowohl die Theorieentwicklung an sich als auch die Praxis der Theorie im Sinne der Theorieproduktion als Gruppenprozess stets wiederum theoretisch reflektiert und so neben den allgemeinen theoretischen Positionen auch explizit eine Theorie der eigenen Gruppe und ihrer Praxis entwickelt und weiterentwickelt wird. Die Ideengeschichte der S.I. als Ideenstreit bezieht permanent die eigene Gruppe, ihre Zusammensetzung und Funktionsweise mit ein. Genau diese Funktionsweise und Zusammensetzung der Ansätze der S.I. in der vorliegenden Arbeit auch jenseits der knappen Verweise auf die historischen Avantgarden DADA und Surrealismus stets implizit mitzudenken. Explizit durchgeführt wurde sie an anderer Stelle (vgl. Orlich (2005)).
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ändert sich jedoch ebenso permanent wie die theoretische Reflexion derselben - und zwar aufgrund der Differenzen sowohl bezüglich der ›allgemeinen‹ Theoriepositionen als auch bezüglich der theoretischen Positionen zur eigenen Gruppe. Die bei vielen Gruppen vor allem in der Gründungsphase gestellte Frage ›Wer sind wir und was wollen wir?‹ ist bei der S.I. während ihrer gesamten Existenz eine der fundamentalen Herausforderungen ihrer Theorie und ihrer Praxis. Zugleich sorgen die Auseinandersetzungen über eben diese Frage dafür, dass sich die Antwort darauf sowohl in Bezug auf das ›Wer?‹ als auch auf das ›Was‹ ebenso lange und so permanent zu wandeln scheint, wie diese Frage gestellt wird - von 1957 bis 1972. Diese hier angestrebte Art der ideengeschichtlichen Betrachtung stellt also die S.I. selbst nicht nur in den Mittelpunkt, sondern macht sie zum Ausgangspunkt einer Analyse der Ideenproduktion als Gruppenprozess. Der Blick richtet sich in erster Linie auf die S.I. selbst und die in ihr erkennbaren Prozesse auf den Ebenen von Theorieproduktion und Gruppenpraxis. Damit ist die vorliegende Untersuchung insofern im Feld der Soziologie der Intelligenz zu verorten, als sie explizit das Soziale dieser Intelligenz ins Zentrum rückt und nach den besonderen Problemen einer im engen sozialen Zusammenhang einer zahlenmäßig überschaubaren Gruppe agierenden Intelligenz fragt. Auch wenn dabei die makrosoziologische Perspektive der Frage nach der Verwobenheit der Akteure und der Gruppe mit dem gesamtgesellschaftlichen Kontext nicht ausgeklammert werden kann, so ist doch zunächst in einer mikrosoziologischen Zugangsweise der Gruppe an sich und ihren Ideen das Hauptaugenmerk zu widmen.5 Eine solche als Ideengeschichte einer Gruppe konzipierte Soziologie der Intelligenz lässt sich auf diese Weise mit gruppensoziologischen Überlegungen verknüpfen und hat zudem in besonderer Weise die Frage nach der Bedeutung der interpersonellen Beziehungen in diesem Spannungsfeld von Theorie und Praxis, von Individuum und Gruppe, von Kontinuität und Wandel zu berücksichtigen. Denn genauso, wie die Ideengeschichte der S.I. einen Anfang und ein Ende hat und wie ihre Ideen in teils heftigen Auseinandersetzungen auftauchen und in einigen Fällen auch wieder verschwinden, so ist die Gruppe selbst sowohl auf der Ebene der Mitgliedschaft als auch auf derjenigen der interpersonellen Beziehungen eine kontinuierliche Bewegung von Anfängen und Enden, von der Herstellung und der Auflösung von Bindungen - zunächst und vor allem zwischen einzelnen 5 | Im Rahmen dieser Studie wurde aus einer Vielzahl von Quellen und Archiven umfangreiches empirisches Material zu den einzelnen Mitgliedern sowie zur Gesamtgruppe und ihrer Struktur zusammengetragen und in einer Reihe von Tabellen und Abbildungen aufbereitet. Um den Umfang dieses Buches nicht über Gebühr auszudehnen, stehen diese sowie einige weiterführende Exkurse dem interessierten Leser und der weiteren Forschung in einem Online-Anhang auf der Homepage des transcript-Verlages zur Verfügung (www.transcript-verlag.de/ts1748/ts1748.php). Unterhalb der Ablage ›Leseprobe‹ finden sich die drei Anhänge als PDF-Datei unter dem jeweils im Buch genannten Kürzel.
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Individuen sowie zwischen Individuen und dem sozialen Zusammenhang der Gruppe, aber auch zwischen dieser Gruppe und dem gesamtgesellschaftlichen Kontext.6 Bevor wir uns diesen Prozessen des Bindens und Lösens und deren theoretischer Reflexion innerhalb der S.I. zuwenden, soll zunächst eine andere Bindung hergestellt werden: diejenige an den Forschungsgegenstand S.I. und deren theoretische Positionen. Eine erste Möglichkeit der Annäherung an die S.I. und ihre Besonderheiten bietet die Darstellung ihrer zentralen Begriffe und theoretischen Konzepte - (noch) nicht in ihrem Charakter als kollektive prozesshafte Theorieproduktion, sondern als an die Gruppe heranführende provisorische Antwort auf ihre Frage ›Was wollen wir?‹.
Grundfragen und Ziele der S.I. Im Folgenden geht es zunächst darum, mit den zentralen theoretischen Begriffen vertraut zu machen und ihre wichtigsten Zusammenhänge als grundlegend für die in Kapitel 3.1 folgende detaillierte Analyse der theoretisch-methodischen Konzepte und die darauf aufbauend herausgearbeiteten Zusammenhänge mit den Gruppenprozessen zu skizzieren. Ebenfalls gilt es vorab, die einzelnen Diagnosen und Methoden in den größeren Rahmen der situationistischen Kunst- bzw. Revolutionstheorie einzuordnen.7 Als zentraler und namensgebender theoretischer Ansatz der S.I. ist zunächst das allgemeine Konzept Situationskonstruktion zu nennen, aus dem konkretere Methoden wie die dérive (mit der Erweiterung um die Psychogeographie und das Konzept des unitären Urbanismus) und der détournement abgeleitet werden. Diese stehen allesamt im Spannungsverhältnis mit dem Begriffspaar Spektakel/Alltagsleben sowie dem für die gesamte Theorie grundlegenden Problem der récupération. In der vorliegenden Arbeit werden die Begriffe dérive, détournement und récupération auf Französisch beibehalten, um ihre Bedeutungsvielfalt, die bei der Übersetzung ins Deutsche verloren geht, beizubehalten und sie bei der inhaltlichen Argumentation mitdenken zu können.8 6 | Dies verdeutlicht den explizit soziologischen Zugriff der vorliegenden Studie. Denn »[e]ine Untersuchung irgendeines zwischenmenschlichen Geschehens wird dadurch zu einer soziologischen, daß sie den in ihm vorgehenden Bindungs- oder Lösungsvorgang oder die Verknüpfung zwischen Binden und Lösen an ihm beobachtet. (...) Die Zweiteilung aller zwischenmenschlichen Prozesse in solche des Zu- und Auseinander gibt erst der Soziologie die nur ihr eigene zuverlässige Problematik« (Wiese (1966), S. 151f.). 7 | Für einen Überblick hierzu vgl. McKenzie (2008), S. 11ff. sowie Situationistische Internationale (1958h). 8 | So bedeutet z.B. dérive bzw. dériver im Französischen sowohl ›sich treiben lassen‹, ›willenlos sein‹, ›abgetrieben werden‹, ›Abweichung‹, ›Abdrift‹ oder auch ›heruntergekommen sein‹ - viel mehr also, als in der üblichen deutschen Übersetzung ›Umherschweifen‹ zum Ausdruck kommt. Zudem lässt sich dé-rive auch als ›Ent-Uferung‹ auffassen, was sowohl die Bewegung von einem zum anderen Ufer als auch ein Sich-zwischen-den-Ufern-Befinden impliziert. Ähnliches gilt ebenso für den
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Das Spektakel lässt sich allgemein als eine »accumulation of images and the domination of images in modern life«9 beschreiben, die dazu führt, dass »all human relations are mediated by images [...], driven towards controlling people´s activities and consciousness«10 . Eine wichtige Eigenschaft dieser Passivität in der spektakulären Gesellschaft ist die Tatsache, dass sie alle in ihr lebenden Menschen betrifft, denn »[z]u der Passivität, die den enteigneten Massen aufgezwungen wird, kommt noch die wachsende Passivität der Herrschenden und Akteure hinzu, die [...] eine stetig abnehmende reale Macht über die Welt genießen«11 . Dieser Passivität werden die im Alltagsleben vorhandenen, bislang jedoch unterdrückten Kreativitätspotentiale und unbewussten Begierden gegenübergestellt, die es, zunächst vor allem mit künstlerischen Mitteln, zu aktivieren und zu stärken gilt. Lokalisiert wird das Spektakel in seiner Reinform von der S.I. in der modernen Stadt, als dem »Modell der kapitalistisch gestalteten Raum-Zeit, Architektur und Stadtplanung waren somit der sichtbarste Ausdruck der modernen Entfremdung, boten aber auch potentiell die Möglichkeiten einer für alle wahrnehmbaren revolutionären Intervention in das Alltagsleben.«12 Aus dieser Bedeutung der Stadt als Ort des Spektakels und dem Problem der Passivität im Spektakel lassen sich nun die Ansätze und Methoden der S.I. entwickeln: zum einen das Konzept des unitären Urbanismus und zum anderen das der Situationskonstruktion. Der unitäre Urbanismus stellt einerseits eine Meta-Konzeption zu den anderen Methoden dar, da er als »Theorie des totalen Gebrauchs der Kunstmittel und Techniken«13 bezeichnet wird, andererseits ist er aber selbst wieder Grundlage für diese: »Eine konstruierte Situation ist ein Mittel, sich dem unitären Urbanismus zu nähern und dieser bildet die unerläßliche Grundlage für die Entwicklung der Konstruktion von Situationen.«14 Begriff der récupération, der allgemein mit ›Aneignung‹ übersetzt wird, im Französischen zusätzlich aber auch ›Wiedergewinnung‹, ›Bergung‹ oder ›Wiederverwertung‹ bedeutet. Auf die Bedeutungsvielfalt des Begriffs der dérive weist bereits die L.I. ausdrücklich hin (vgl. Lettristische Internationale (1956a)). Besonders deutlich wird die bedeutungseinschränkende Wirkung von Übersetzungen beim détournement, das mehr ist als die deutsche ›Zweckentfremdung‹: ›Ablenkung‹, ›Ausflucht‹, ›andere Bedeutung geben‹ oder ›Entführung‹. Vor allem aber ist im Französischen détournement mit dem détour stets der in der deutschen ›Zweckentfremdung‹ nicht mehr erkennbare ›Umweg‹ enthalten. Insgesamt also werden die französischen Begriffe vor allem deshalb beibehalten, um eben diese Bedeutungsvielfalt, die gerade in Bezug auf die Verwendung der Begriffe im Rahmen der Theorie der S.I. von besonderer Wichtigkeit ist, in der vorliegenden Arbeit mitdenken zu können. Wird bei Zitaten im Fließtext auf bereits vorhandene deutsche Textübersetzungen zurückgegriffen, werden die dortigen Begrifflichkeiten beibehalten, und der Leser sei angehalten, sich an diese Bedeutungsvielfalt zu erinnern. 9 | Barnard (2004), S. 106. 10 | Ibidem. 11 | Vaneigem (1963), S. 49. 12 | Benl (1999), S. 67. 13 | Situationistische Internationale (1958d), S. 19. 14 | Constant/Guy Debord (1958), S. 72.
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Unter der mit dem unitären Urbanismus eng verbundenen Konzeption der Situationskonstruktion versteht die S.I. den »Aufbau einer vorübergehenden Mikroumgebung und eines Satzes von Ereignissen für einen einzigen Augenblick im Leben einiger Personen«15 . Solche konstruierten Situationen sind die allgemeine Gegenmaßnahme zur im Spektakel dominierenden Passivität der Menschen und sollen für diese als »possible vehicle for the creation of new forms of living, new social relations and the realisation of new desires«16 dienen. Eine erste Methode, die sich sowohl aus dieser Auffassung der Situationskonstruktion als auch aus dem Konzept des unitären Urbanismus und der Lokalisierung des Spektakels in der Stadt ableiten läßt, ist die dérive, die wiederum eng mit der Psychogeographie verbunden ist. Die dérive ist ein meist in kleinen Gruppen im städtischen Umfeld stattfindendes Sich-Treiben-Lassen, das anfangs relativ stark vom Zufall beeinflusst wird. Dabei sind sich die Situationisten der davon ausgehenden Gefahren bewusst, da ihrer Auffassung nach »[d]ie Aktion des Zufalls [...] von Natur aus konservativ«17 ist. Um die Zufälligkeit der dérive mit der Zeit zu verringern, muss diese um den »notwendigen Gegensatz die Beherrschung der psychogeographischen Variation durch die Kenntnis und die Berechnung ihrer Möglichkeiten«18 ergänzt werden. Die Psychogeographie hat zum Ziel, »die genauen Gesetze und Auswirkungen der geographischen Umwelt zu studieren«19 , um herauszufinden, wie jene die in dieser Umgebung lebenden Individuen und somit auch den Ablauf einer dérive beeinflussen. Dérive und Psychogeographie sind auf ähnlich komplexe Weise miteinander verbunden wie der unitäre Urbanismus und die Situationskonstruktion: Einerseits wird die Psychogeographie als ›wissenschaftliche‹ Grundlage für die angestrebte nichtzufällige dérive angesehen, andererseits ist es u.a. die dérive, in deren Vollzug die psychogeographischen Kenntnisse entwickelt werden sollen. Auch die zweite zentrale Methode der Situationskonstruktion, der détournement, ist eng mit den bisher skizzierten Ansätzen verwoben. Einerseits ist er eine eigenständige, weit über den Bereich der dérive hinausgehende Praktik, andererseits kann die dérive selbst jedoch auch wieder als détournement aufgefasst werden. Unter détournement ist allgemein die Praxis zu verstehen, existierende Elemente aus ihrem Zusammenhang herauszulösen, sie in einen neuen Kontext mit anderen Elementen zu bringen und somit ihre Bedeutung zu verändern. »Jedes Element - gleich woher es stammt - kann zum Gegenstand neuer Annäherungen werden. [...] Die Interferenzen von zwei Gefühlswelten, die Gegenüberstellung von zwei unabhängigen Ausdrucksformen überwinden ihre 15 | Constant/Guy Debord (1958), S. 72. 16 | Barnard (2004), S. 112. 17 | Debord (1958a), S. 59. 18 | Ibidem. 19 | Debord (1955b), S. 299.
22 | Situationistische Internationale ursprünglichen Elemente und bringen eine synthetische Organisation von höherer Wirksamkeit hervor. Dabei ist alles von Nutzen.«20
Vor allem der letzte Aspekt ist von zentraler Bedeutung, da er die Vielfalt der Anwendungsmöglichkeiten des détournement hervorhebt: Denn auch wenn dieser für die S.I. zunächst ein sprachlich-künstlerisch orientiertes Verfahren ist, so werden seine Anwendungsfelder bald erheblich ausgeweitet und führen schließlich zum ultra-détournement, der »[...] Neigung der Entwendung, im Alltagsleben Anwendung zu finden. [...] Wenn wir einmal bei der Konstruktion von Situationen angelangt sind, dem Endpunkt unserer Aktivität, so mag jeder nach Gutdünken ganze Situationen entwenden, indem er diese oder jene ihrer Determinanten bewußt ändert.«21
In Bezug auf das Spektakel geht es hierbei darum, dessen Funktionsweise zu entlarven, indem einzelne Elemente oder auch ganze Situationen aus der Passivität gelöst und in Aktivität überführt werden. Der détournement ist zunächst eine gegen das Spektakel gerichtete Technik zur Schaffung neuer, kritischer Bedeutung, ein Mittel zur Situationskonstruktion wie die dérive. Gleichzeitig kann er auch auf konstruierte Situationen als Ganze angewendet und als Grundprinzip der dérive aufgefasst werden. Zudem lässt sich der angestrebte unitäre Urbanismus als détournement bestehender spektakulärer Stadtstrukturen bezeichnen. Auch der détournement steht in einem ähnlichen Verhältnis zu den anderen Aspekten der situationistischen Methodik, wie es bereits für die Begriffspaare dérive/Psychogeographie und Situationskonstruktion/unitärer Urbanismus aufgezeigt wurde, einem Verhältnis, in dem der détournement sowohl als Ausgangspunkt als auch als Ergebnis des jeweils mit ihm in Verbindung gebrachten Ansatzes aufzufassen ist. Diese Verflechtungen zwischen der Spektakeldiagnose und den bisher skizzierten Methoden erreichen ein noch höheres Komplexitätsniveau, wenn man zusätzlich die von der S.I. stets reflektierte vom Spektakel ausgehende Gefahr der récupération berücksichtigt. Die récupération ist die vom Spektakel verwendete Vorgehensweise, um die durch détournement und/oder dérive konstruierten Situationen ihres kritischen Potentials zu berauben und sie ins Spektakel einzufügen. Das Spektakel ›lernt‹ aus der an ihm geübten Kritik und integriert sie in entschärfter Form. »Jede Situation, wie bewusst sie auch konstruiert sein mag, enthält ihre Negation und geht unvermeidlich ihrer eigenen Umkehrung entgegen.«22 Dass dies nicht zur sofortigen Resignation führt, liegt darin begründet, dass der Vorgang der récupération des détournement nicht als linearer Ablauf mit einem klaren Ende zu verstehen ist, sondern als explizit zirkulärer, da das Angeeignete abermals die Grundlage für einen détournement 20 | Debord (1956), S. 321f. 21 | Ibidem, S. 330f. 22 | Situationistische Internationale (1959d), S. 82.
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bilden kann. Dieses Wechselspiel wird verständlicher, wenn man sich vor Augen führt, dass die S.I. unter récupération »[...] ein Sammelsurium von Techniken [versteht], derer sich das Spektakel bedient: Die wichtigsten dabei sind das Trennen, das Isolieren und integrative Neuzusammensetzen von ehemals subversiven, widerständigen, revoltierenden Tendenzen oder revolutionärer Momente und deren Errungenschaften [...]«23 .
Sowohl bei der récupération als auch beim détournement geht es also um das Trennen und Neukombinieren bereits existierender Elemente aus dem Bereich des jeweiligen Opponenten mit dem Ziel, eine bestimmte Wirkung gegen diesen zu erzielen. Es ließe sich thesenartig festhalten, dass es sich bei détournement und récupération nur dann um zwei unterschiedliche Vorgehensweisen handelt, wenn man lediglich eine der beteiligten Seiten im Blick hat. Betrachtet man jedoch beide, so stellt man fest, dass aus dem Unterschied zwischen détournement und récupération eine Frage der Perspektive wird: Der détournement der S.I. ist aus Sicht des Spektakels eine récupération, die von der S.I. als récupération wahrgenommene Aneignung des situationistischen détournement ist aus Sicht des Spektakels ein détournement usw. Was ist das übergeordnete Ziel der S.I., zu dessen Erreichung diese Methoden entwickelt und angewendet wurden? Mit Henri Lefebvre ließe sich festhalten, dass es der S.I. insgesamt darum geht, »[de] créer lucidement sa vie comme une œuvre«24 . Diese Verbindung von Kunst und Alltagsleben ist als Grundlage für die Vorgehensweise der S.I. besonders fruchtbar, da »sich die Menschen vermittelst der Kunst im Prinzip ihrer Begierden bewußt werden [können]«25 . Der Kunst wird zunächst eine revolutionäre Rolle zugeschrieben. Die innerhalb der Kunstsphäre entwickelten Methoden weisen von Beginn an über diese hinaus und sind mit explizit politischen Zielen verbunden. Die Situationisten »ne souhaitent ni révolutionner les formes et les modes d’expression, ni saboter de l’intérieur l’art estimé moribond, ils projettent de le dissoudre dans une révolution permanente de la vie quotidienne, fondée sur la ›construction des situations‹.«26 Das situationistische Projekt der Aufhebung der Kunst lässt sich somit als Verschränkung der »Veralltäglichung der Kunst« und der »Poetisierung des Alltagslebens«27 beschreiben. Der enge Zusammenhang von Spektakeldiagnose, détournement und récupération hat für die weitere Entwicklung der S.I. und für ihre Einschätzung der revolutionären Funktion der Kunst und ihr Verhältnis zum Alltagsleben jedoch noch grundlegendere Auswirkungen. Wurde der Kunst anfangs noch die Fähigkeit zugeschrieben, zur Wiederentdeckung der Leidenschaften im Alltagsleben beizutragen, stellt sich für die 23 | Baumeister (2005), S. 120. 24 | Henri Lefebvre zitiert in: Chollet (2004), S. 36. 25 | Baumeister (2005), S. 125. 26 | Chollet (2004), S. 36. 27 | Vgl. zu dieser Differenzierung Kiwitz (1986), S. 46f.
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S.I. vor dem Hintergrund der weiteren Ausarbeitung ihrer Gesellschaftsdiagnose immer mehr die Frage, »ob die Kunst überhaupt noch in der Lage ist, die kritische Funktion, bewußter Ausdruck gesellschaftlicher Entwicklung und menschlicher Potentialität zu sein, in einer Gesellschaft, die auf spektakulärer Warenproduktion beruht, zu erfüllen«28 ? Es geht hier vor allem um die Frage nach der Stellung der Kunst in der Gesellschaft bzw. um die Frage, ob ihre mögliche (Nicht-)Autonomie Bedingung oder Hinderungsgrund für eine Kritik der Gesamtgesellschaft ist. Diese kritische Funktion kann die Kunst für die S.I. als aufgehobene, nicht aber als autonome erfüllen, sie muss daher durch das revolutionäre Proletariat angeeignet werden. Diese Aufhebung der Kunst wurde von der S.I. im Laufe der Zeit immer stärker an die Aufhebung der spektakulären Gesellschaft, an eine proletarische Revolution gebunden: »Die Notwendigkeit einer revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft ist das ›Delenda est Carthago‹ aller unserer bahnbrechenden Reden.«29 Insgesamt kommt es zwischen 1957 und 1972 im Hinblick auf die Hauptinteressen der S.I. zu einer Schwerpunktverlagerung von der Kunst zur Politik, die auch mit einer erheblichen Mitgliederfluktuation verbunden ist. Dennoch sollte nicht der Fehler gemacht werden, die Geschichte der S.I. in strikt voneinander zu unterscheidende Phasen zu unterteilen. Vielmehr ließe sich die Entwicklung folgendermaßen beschreiben: Die S.I. entwickelt ihre Theorie ausgehend von einer Kunst mit politischen Implikationen über ein Nebeneinander von Kunst und Politik hin zu einer Politik mit künstlerischem Hintergrund.30 Dabei spielt die Kunst auch in der letzten Phase eine nicht zu unterschätzende Rolle, da auf ihrer Basis die bis zum Ende der S.I. beibehaltenen Methoden entwickelt werden. Insgesamt jedoch »scheinen die produktiven Momente der S.I. eher in der ersten Phase ihrer Aktivitäten zu finden zu sein«31 . Inwieweit auf die bis hierhin angesprochenen Gruppenstrukturen und Methoden in der bisherigen Forschung zur S.I. eingegangen wurde und vor allem, ob dabei die Zusammenhänge zwischen den Gruppenprozessen und den methodischen Konzepten Berücksichtigung fanden, soll im Folgenden zusammenfassend dargestellt werden.
28 | Baumeister (2005), S. 125. 29 | Situationistische Internationale (1964c), S. 86. 30 | Vgl. zu einer anders argumentierenden Ablehnung einer solchen Phaseneinteilung Kaufmann (2004), S. 197f. 31 | Kiwitz (1986), S. 65.
1 Die w-I.S.-senschaftliche récupération 1.1 Materiallage und Stand der Forschung zur S.I. Insgesamt ist der Forschungsstand zur S.I. mittlerweile recht umfangreich, wenn auch mit großen länderspezifischen Unterschieden. Die meisten Arbeiten zur S.I. findet man in Frankreich, wo sich gerade in den letzten zehn Jahren eine rege Diskussion über die Situationisten und vor allem über Guy Debord entwickelte. Im Vergleich dazu ist die Materiallage im englisch- und im deutschsprachigen Raum überschaubarer. Hier wie dort jedoch ist die Forschung zur S.I. vor allem sehr vielfältig und facettenreich. Dieser Eindruck bestätigt sich, wenn man für die französischsprachige Forschung der letzten fünf bis zehn Jahre die Sammelbände von Christophe Bourseiller und die darin enthaltenen aktuellen Jahres-Bibliographien zu Rate zieht oder zusätzlich noch die Vielzahl an Artikeln und Aufsätzen zur S.I. im Internet berücksichtigt.1 Es wird daher keineswegs der Anspruch erhoben, den Forschungsstand zur S.I. umfassend darzustellen, vielmehr geht es darum, die verschiedenen Forschungsansätze zur S.I. vorzustellen und jeweils die wichtigsten Arbeiten anzuführen, vor allem aber die Schwachstellen und Lücken der bisherigen Forschung zur S.I. in Bezug auf die hier im Mittelpunkt stehende Theorie und Gruppenstruktur herauszuarbeiten. Dabei ist vorab noch auf eine Schwierigkeit bezüglich der Materiallage hinzuweisen. Diese liegt darin begründet, dass ein Teil der Literatur über die S.I. von Autoren stammt, die über kürzere oder längere Zeit Mitglied der Gruppe waren oder einzelnen ihrer Mitglieder sehr nahe standen. Es erscheint daher sinnvoll, neben der Unterscheidung zwischen Primärtext bzw. Quelle und Sekundärtext bei Letzteren nochmals zwischen »engagierter Sekundärliteratur«2 und wissenschaftlicher Sekundärliteratur zu differenzieren.3 1 | Umfangreiche Bibliographien finden sich u.a. in Ford (1995); Gonzalvez (2002), S. 78ff. und Ohrt (1997), S. 313ff. Die wichtigsten französischsprachigen Arbeiten finden sich in Bourseiller (2001); Bourseiller (2002); Bourseiller (2003a); Bourseiller (2004b) und Bourseiller (2005). Die aktuellsten Bibliographien Bourseillers sind auch im Internet einzusehen unter Bourseiller (2006). Auf den extrem diffusen Forschungs- und Materialbestand zur S.I. im Internet kann und muss hier nicht im Detail eingegangen werden, nicht zuletzt, weil diese Informationen häufig mit massiven Problemen der Verlässlichkeit, Seriosität und Nachprüfbarkeit verbunden sind. Als Informationsquellen hilfreich, wenn auch nicht uneingeschränkt wissenschaftlich nutzbar erscheinen u.a. o.V. (2001); Einstein (2003b); Einstein (2007); Seegers (2007) und o.V. (2007). 2 | Vowinckel (1989), S. 1. Vgl. für diese Problematik in Bezug auf den Surrealismus auch die Ausführungen von Bürger (1971), S. 9ff. 3 | Als Quellen bzw. Primärtexte sollen hierbei alle Schriften der Mitglieder der
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Eine erste Gruppe von Primärtexten bilden die zahlreichen Textsammlungen und Übersetzungen von Primärtexten der S.I. Diese haben zunächst einmal dadurch ihre Berechtigung, dass die meisten der kürzeren Texte der S.I., in denen jedoch die grundlegenden theoretischen Positionen entwickelt wurden, lange Zeit schwer zugänglich waren, da sie lediglich in der I.S. oder verstreut in verschiedenen anderen Zeitschriften veröffentlicht wurden oder als interne Dokumente kursierten, die nur in Archiven einzusehen waren. Besonders wichtig sind in diesem Zusammenhang zum einen die Reprints und Übersetzungen der I.S. und der Zeitschrift der Lettristischen Internationale (L.I.), dem potlatch.4 Bei den Zeitschriften der S.I. spiegeln sich die länderspezifischen Unterschiede bezüglich des Forschungsstands wider: Während die französischen Reprints in verschiedenen Ausgaben seit den 70er Jahren stets zur Verfügung standen, war die deutsche Übersetzung von 1976/77 lange Zeit vergriffen, erst 2008 erschien ein unveränderter Reprint.5 Der Reprint der Zeitschrift der deutschen Sektion, der SPUR, ist erst seit 2006 wieder verfügbar6 und ein Reprint der Situationist Times, der englischsprachigen Zeitschrift der S.I., existiert bis heute nicht. Zusätzlich sind in diesem Zusammenhang weitere verfügbare zentrale Texte der S.I.,7 die Wiederveröffentlichung des Gesamtwerks von Guy Debord8 und einiger
S.I. in der I.S., deren Monographien und Briefwechsel und die internen Dokumente aufgefasst werden, die in der Zeit bis 1972 entstanden sind. Der größte Teil dieser als Quellen oder Material zu bezeichnenden Texte stellen die Textsammlungen, Interviews und Briefwechsel von Zeitzeugen und Mitgliedern. Zudem gibt es Interviews und Arbeiten von oder über Nicht-Mitglieder und Zeitzeugen sowie Interviews mit Mitgliedern, die jedoch weit nach dem Ende der S.I. geführt wurden. Diese sind mit Blick auf das Problem der Legendenbildung des subjektiven Engagements als engagierte Sekundärliteratur zu bezeichnen (vgl. Vowinckel (1989), S. 2). Ähnliches gilt für einzelne Texte, die unter den anderen Rubriken des Forschungsstands im Kontext von wissenschaftlichen Sekundärtexten auftauchen, die aber aufgrund der Tatsache, dass sie von Mitgliedern der S.I. oder der Lettristischen Internationale oder von ihnen nahe stehenden Personen verfasst wurden, hier als engagierte Sekundärliteratur aufgefasst werden müssen. Dieses Problem der Zuordnung zu den Kategorien von Primär- und Sekundärliteratur bzw. von engagierter und wissenschaftlicher Sekundärliteratur wird jedoch an entsprechender Stelle kenntlich gemacht. Es betrifft vor allem die historiographischen Arbeiten von Brau (1968a); Brau (1968b); Home (1988); Lasn (2005); Martos (1989); Raspaud (1972) und Viénet (1977), die zur Kategorie der engagierten Sekundärliteratur zu rechnen sind. 4 | Vgl. Debord (2002); Internationale Situationniste (1970); Internationale Situationniste (1997); Situationistische Internationale (1976); Situationistische Internationale (1977). 5 | Situationistische Internationale (2008a) und Situationistische Internationale (2008b). 6 | Vgl. Danzker (2006), S. 185ff. 7 | Vgl. Situationistische Internationale (1970); Situationistische Internationale (1973) (wiederveröffentlicht als Situationistische Internationale (1997)). 8 | Vgl. Debord (2005b) und Debord (2006). Die Filme Debords sind inzwischen auch kostenlos über das Internet zu beziehen (vgl. Debord (2007b)). Zudem sind einige seiner Tonbandaufnahmen aus den Jahren 1952 bis 1961 mittlerweile auf CD erhältlich (vgl. Debord (2010b)).
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wichtiger Texte Asger Jorns,9 sowie die Textsammlungen zur Gruppe SPUR als deutscher Sektion der S.I.10 von Bedeutung. Zum anderen sind die Textsammlungen zu nennen, die die verstreuten und einen Teil der internen Dokumente, die für ein genaueres Verständnis der Dynamiken innerhalb der S.I. unersetzlich sind, zugänglich machen oder die durch eine Auswahl der wichtigsten Texte einen ersten Zugang zur Theorie der S.I. ermöglichen.11 Die zweite Gruppe von Primärtexten und engagierter Sekundärliteratur setzt sich zusammen aus Interviews, Autobiographien, Briefwechseln und weiteren Texten von Zeitzeugen und Mitgliedern, die für die vorliegende Untersuchung von großer Bedeutung sind, da sie aus erster Hand einen Einblick in die internen Strukturen und Abläufe in der S.I., die darin zu erkennenden Beziehungen, ihre Konjunkturen, Konflikte und Brüche, aber auch in die innerhalb der S.I. ablaufenden theoretischen Debatten bieten. Es handelt sich dabei zum einen um Interviews mit Mitgliedern oder Weggefährten der Situationisten und zum anderen um Briefwechsel zwischen den Mitgliedern. Neben einem ausführlichen Gespräch mit Jean-Michel Mension zu Guy Debord und der L.I. und Mensions Autobiographie12 gibt es mittlerweile eine ganze Reihe von Interviews mit verschiedenen Mitgliedern der S.I.: Zu nennen wären hier vor allem die Gespräche mit François de Beaulieu, Constant, Giorgio Gallizio, Walter Korun, Jacqueline de Jong, Asger Jorn, Dieter Kunzelmann, Ralph Rumney, Piero Simondo, der Gruppe SPUR, Helmut Sturm, Raoul Vaneigem, Maurice Wyckaert und HP Zimmer.13 Bei den Briefwechseln ist die Materiallage in Bezug auf Debord mit Abstand am umfangreichsten. Bei Asger Jorn gibt es zwar zwei veröffentlichte Briefwechsel, beide jedoch nicht mit Situationisten und auch nicht aus der Zeit der S.I.14 Einige Briefe von Giuseppe Pinot-Gallizio 9 | Vgl. Jorn (2001c); Jorn (2001a); Jorn (2001b); Jorn (2005a) und Jorn (2005b). 10 | Vgl. Böckelmann (1976), S. 33ff.; Gruppe SPUR (1991) und Dreßen (1991). 11 | Vgl. für den französischsprachigen Raum Andreotti (2007); Berréby (1985); Berréby (2004); Chtcheglov (2006); Internationale Situationniste (1974) und Pencenat (2005); für den deutschsprachigen Raum Situationistische Internationale (1990) und Ohrt (1995) sowie für den englischsprachigen Raum u.a. Blazwick (1989); Gray (1998); McDonough (2002) und McDonough (2010). 12 | Vgl. Mension (2001) und Mension (2002). 13 | Vgl. Beaulieu (2003); Constant (2001); Gallizio (2004); Groof (2007); Jong (1998); Jong (2001); Jorn (1964b); Kunzelmann (1991); Rumney (1996); Rumney (1999) (Bei Drucklegung dieser Arbeit war auch eine deutsche Übersetzung des Gesprächs mit Rumney angekündigt vgl. Rumney (2011).); Simondo (2004); Gallizio (1984); Simondo (1992); Spur (1988); Sturm (1991); Sturm (2006); Sturm (2007); Vaneigem (2008b); Wyckaert (2005) und Zimmer (1991). Bei Treusch-Dieter (1986) handelt es sich, anders als der Untertitel »Ein Gespräch mit Asger Jorn« zunächst vermuten lässt, nicht um ein Interview, sondern um einen in Interviewform verfassten Sekundärtext. Von Kunzelmann, Simondo und Zimmer existieren zudem Autobiographien bzw. autobiographische Anmerkungen, die sich teilweise auf die Zeit ihrer Mitgliedschaft in der S.I. beziehen (vgl. Kunzelmann (1998); Simondo (1986); Zimmer (1984) und Zimmer (1986)). Auch ein Gespräch mit dem Galeristen Otto van de Loo ist im Hinblick auf die S.I. aufschlussreich (vgl. Loo (2007)). 14 | Vgl. Jorn (1989) und Jorn (1998). Einige weitere Briefe von Jorn finden sich
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wurden vor kurzem veröffentlicht, davon ist jedoch nur ein kleiner Anteil an andere Mitglieder der S.I. gerichtet.15 Von Constant gibt es bislang keinen veröffentlichten Briefwechsel,16 das Gleiche gilt für die Gruppe SPUR.17 Des Weiteren sind einige Briefe von Mustapha Khayati an den Verlag Champ Libre, in denen es um die Publikation der Misère geht, in deren Correspondance-Veröffentlichung abgedruckt.18 Von weiteren Mitgliedern der L.I. und der S.I. wurden in letzter Zeit, wenn auch unsystematisch, einzelne Briefe veröffentlicht. In Bezug auf Guy Debord hingegen ist die Materiallage mittlerweile sehr umfangreich,19 dennoch ergeben sich hier Probleme.20 Erstens ist die ursprünglich auf sechs Bände angelegte Correspondance zwar durchaus chronologisch angeordnet, sie setzt jedoch erst im Juni 1957, also mit der Gründung der S.I., ein und endete lange Zeit vorläufig mit dem bereits siebten Band, der bis zum Tod Debords im November 1994 reicht. Der abschließende achte, sogenannte ›nullte‹ Band ist erst während der Drucklegung dieser Arbeit erschienen und konnte daher nicht mehr berücksichtigt werden. Er beinhaltet Briefe aus der lettristischen Phase Debords von September 1951 bis zur Gründung der S.I. im Juli 1957 sowie einige inzwischen wieder aufgetauchte Briefe der späteren Jahre.21 Zweitens ist die Edition der Bände äußerst sparsam: Zum einen findet sich in den einzelnen Bänden kein Register,22 und zum anderen im Archiv des Museum Silkeborg. Da es sich jedoch nach Angaben von Ohrt lediglich um fünf bis zehn unveröffentlichte Briefe handelt, die zudem nicht inventarisiert und schwer zugänglich sind, wurden diese nicht eingesehen (vgl. Ohrt (1997), S. 315). 15 | Vgl. Bertolino (2005). Weitere Briefe Pinot-Gallizios sowie sein Ateliertagebuch finden sich jedoch in der Galleria Civica d’Arte Moderna e Contemporanea di Torino im Archivio Gallizio (untergebracht in der Galleria Martano) sowie im Fondo Gallizio. Des Weiteren finden sich Teile der Korrespondenz zwischen Pinot-Gallizio und dem Galeristen van de Loo im Archiv der Galerie van de Loo in München. Dort sind ebenfalls Teile des Schriftverkehrs zwischen van de Loo und Jorn bzw. van de Loo und der Gruppe SPUR einzusehen. 16 | 13 Briefe von Constant an Debord finden sich jedoch im Rijksbureau voor Kunsthistorische Documentatie in Den Haag. Diese Briefe an Debord sowie zwei bislang unveröffentlichte Briefe von Debord an Constant konnten im Oktober 2006 vom Verfasser auch eingesehen werden und stehen als Arbeitsgrundlage zur Verfügung. Allerdings darf aus ihnen aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes/Briefgeheimnisses hier nicht im Wortlaut zitiert werden. 17 | Hier sind jedoch zumindest Teile der internen Korrespondenz im Archiv Vera und HP Zimmer in Berlin sowie im oben genannten Archiv der Galerie van de Loo in München anzutreffen. 18 | Vgl. Éditions Champ Libre (1978), S. 31ff. 19 | Vgl. Debord (1999); Debord (2001); Debord (2003); Debord (2004a); Debord (2005a); Debord (2007a); Debord (2008) und Debord (2010a). Eine Auswahl aus seiner Correspondance in deutscher Übersetzung ist zum Zeitpunkt der Drucklegung dieser Arbeit für 2011 angekündigt (vgl. Debord (2011). 20 | Vgl. hierzu einführend Trebitsch (2004). 21 | Eine weitere Publikation mit Briefen Debords an Hervé Falcou und Ivan Chtcheglov gibt einige Einblicke in die vor-lettristische und früh-lettristische Jugend Debords (vgl. Debord (2004b)). 22 | Ein solches Register ist auch im letzten Band nicht enthalten, er bietet lediglich eine Liste der in den Briefen erwähnten Personen. Das Register wurde daher
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gibt es, abgesehen von knappen Informationen zu den in den Briefen genannten Personen und einer ebenso stichwortartigen Übersicht über die wichtigsten Ereignisse des jeweiligen Jahres, keine zusätzlichen Anmerkungen der beiden Herausgeber Alice Becker-Ho und Patrick Mosconi. Drittens ist der Briefwechsel nicht vollständig, was von den Herausgebern auch eingeräumt wird und womit sie die Tatsache begründen, dass der chronologisch erste Band als letzter veröffentlicht wird, da gerade für diese Zeit die Briefbestände sehr schwierig zusammenzutragen seien. Diese Lücken sind aber selbst wiederum sehr aussagekräftig, da sie laut den Herausgebern in den meisten Fällen zurückzuführen sind auf »quelques refus dus à des dissensions demeurées vivaces, des réticences vagues plus ou moins justifiés«23 . Die Herausgeber betonen, dass gerade bei den teilweise radikalen Brüchen in den Briefkontakten Vollständigkeit unerlässlich ist, dass aber die zurückgelassenen Briefpartner »ont préféré garder mystérieuses les raisons véritables«24 . Allerdings erscheint diese Schuldzuweisung der Herausgeber etwas zweifelhaft, da durch Abgleich mit den Archivbeständen in Amsterdam und Den Haag festgestellt werden konnte, dass auch innerhalb der bislang veröffentlichten Bände keine Vollständigkeit erzielt wurde und dies auch durch den abschließenden ›nullten‹ Band nicht der Fall sein wird. Vor diesem Hintergrund ist es daher sehr problematisch, wenn die Herausgeber explizit betonen, dass es sich um eine »correspondance globale« handelt, die dazu beitragen soll, »toutes sortes de légendes«25 um Debord zu vermeiden. Dieses vorgebliche Ziel der Herausgeber wird umso unglaubwürdiger, wenn man den vierten und schwerwiegendsten Mangel der Correspondance berücksichtigt. Denn der Briefwechsel enthält trotz seines Titels leider keinen Wechsel, sondern lediglich Briefe Debords, die Antworten darauf sucht man vergeblich. Diese Einseitigkeit, die über acht Bände hinweg nur Debord zu Wort kommen lässt, ohne dass man einen Einblick in die Argumente und Reaktionen des jeweiligen Gegenübers erhält, trägt aber genau zu der in Bezug auf Debord zu beobachtenden Art von Legendenbildung oder zumindest zu einem lückenhaften und verzerrten Debord-Bild bei. Es ist nicht vollkommen zu klären, aus welchen Gründen die Herausgeber auf diese Weise vorgehen, ob es daran liegt, dass die Antwortbriefe nicht vorliegen,26 weil sie, wie von Alice Becker-Ho unterstellt, von den gekränkten Briefpartnern nicht herausgegeben werden, oder ob diese Vorgehensweise System hat und das Ziel vom Verfasser für die Zeit von Juni 1957 bis April 1972 selbst erstellt, um einen ersten Überblick über die verschiedenen Adressaten und die Struktur des jeweiligen Kontakts zu erhalten. 23 | Becker-Ho (1999), S. 7. 24 | Ibidem, S. 8, Anmerkung 1. 25 | Ibidem, S. 8. 26 | Dies dürfte zumindest bei Constant, Jorn, Pinot-Gallizio und der Gruppe SPUR durch die vorhandenen Archive und die dort einsehbaren Briefe zweifelhaft sein.
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verfolgt, auf das in der Öffentlichkeit kursierende Debord-Bild und die Rezeption von Debord und seiner Rolle in der S.I. direkt und massiv Einfluss zu nehmen. Für die zweite These spricht die Geschichte eines weiteren Briefwechsels. Es handelt sich dabei um die Correspondance zwischen dem oben bereits erwähnten Martos und Debord. Die beiden stehen zwischen 1981 und 1992 in engem Kontakt, nicht zuletzt, da Martos in dieser Zeit sein Buch über die S.I. schreibt und dies in enger Absprache mit Debord tut. Martos veröffentlicht diese umfangreiche Korrespondenz, erweitert um eine Vielzahl von Briefen Debords an andere Personen, die ihm dieser für seine Recherchen zur Verfügung gestellt hatte, im Jahr 1998, also nach Debords Tod.27 Martos begründet die Veröffentlichung dieses Briefwechsels, der nicht zuletzt für das Verständnis von Debords Umgang mit der eigenen Geschichte aufschlussreich ist, damit, dass er seinen Beitrag zu einem vollständigen Debord-Bild leisten will.28 Doch bereits kurze Zeit nach der Veröffentlichung geht Debords Witwe Alice Becker-Ho29 gerichtlich gegen das Buch vor, und es gelingt ihr schließlich im Dezember 1998, es vom Markt nehmen zu lassen.30 Diese Verhaltensweise widerspricht zum einen den Ausführungen, die Becker-Ho im Vorwort zu Debords Correspondance macht, und zum anderen stehen sie auch konträr zu Debords eigenen Auffassungen bezüglich des geistigen Eigentums: »Je ne défends certes pas le principe de la propriété littéraire. Comme disait Brecht ›toute chose appartient à qui l’améliore‹.«31 In Bezug auf den Briefwechsel zwischen Debord und Martos scheint es Becker-Ho vor allem darum zu gehen, die Kontrolle über alle Briefe ihres Mannes zu behalten und auch weiterhin nur seine Sicht der Dinge, nicht aber diejenige der Briefpartner, an die Öffentlichkeit dringen zu lassen. In Bezug auf die ergänzenden Briefwechsel zwischen Debord und anderen Personen scheint es ihr um rein kommerzielle Aspekte zu gehen, wodurch sie ganz entgegen der Auffassung Debords zur Hüterin des geistigen Eigentums und des daraus zu schlagenden Profits wird, da alle bei Martos enthaltenen Briefe Debords an Dritte mittlerweile im sechsten und siebten Band seiner Correspondance veröffentlicht wurden. Was Becker-Ho jedoch nicht verhindern kann, ist, dass Martos dieses Verbot und sein Zustandekommen wiederum in einem Buch darstellt und diskutiert32 und somit eine umfangreiche Debatte über den Umgang mit dem geistigen Erbe Debords, die damit möglicherweise verbundenen strategischen Absichten auf Seiten der 27 | Vgl. Martos (1998). 28 | Vgl. ibidem, S. 6. 29 | Diese wurde von Debord im Jahr 1973 testamentarisch zu seinem Universalerben bezüglich seiner literarischen und filmischen Rechte und seiner Manuskripte ernannt. Eine Faxkopie des Testaments ist einzusehen in den Christophe Bourseiller Papers im IISG in Amsterdam. 30 | In Amsterdam ließ sich jedoch noch ein Exemplar ausfindig machen. 31 | Debord zitiert in: Martos (1999), S. 6. 32 | Vgl. ibidem.
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Erben und die daraus entstehenden Folgen für die Objektivität der Debord-Rezeption anregt.33 Neben diesem Weg, sich dem Themenfeld über die Primärtexte zu nähern, ist dies auch über die Einführungen und historischen Abrisse zur Theorie, Geschichte und Entwicklung der S.I. möglich. Diese bieten neben einem ersten Überblick über die Ziele und Methoden der Situationisten zusätzlich auch einige Informationen zu den einzelnen Mitgliedern und zur Struktur der S.I.34 Eine weitere und für uns wichtigere Art von wissenschaftlicher Sekundärliteratur sind Aufsätze und Biographien zu einzelnen Mitgliedern, die für die vorliegende Arbeit - allerdings in unterschiedlichem Ausmaß - auf zwei Ebenen von Bedeutung sind: Wenn auch aus zweiter Hand, so bieten sie doch ausgehend von der jeweils im Mittelpunkt stehenden Person zum einen Einblicke in die der S.I. zugrunde liegenden interpersonellen Beziehungen und ermöglichen zum anderen eine Auseinandersetzung mit ihren theoretischen Konzepten. Sie konzentrieren sich im Wesentlichen auf vier Personen: Constant, Debord, Jorn und Pinot-Gallizio, wie dies auch an den Katalogen zu den größeren S.I.-Ausstellungen der letzten Jahre in Paris/London/Boston, Berlin, Wien und Utrecht/Basel zu erkennen ist.35 . Auffällig ist in diesem Zusammenhang zunächst, dass es so gut wie keine Publikationen zur Person von Raoul Vaneigem gibt, obwohl dieser von 1960 bis 1970 neben Debord der wohl wichtigste Theoretiker der S.I. war.36 Während bei den Biographien und Ausstellungskatalogen zu Jorn,37 Constant,38 Pinot-Gallizio39 und der Gruppe SPUR40 die S.I. 33 | Für die wichtigsten Eckdaten und Positionen dieser Debatte vgl. Gonzalvez (2002), S. 68ff. und Einstein (2003a). In eine ähnliche Richtung deuten die Erfahrungen von Christophe Bourseiller und Andrew Hussey, die im Rahmen ihrer Recherchen versucht haben, mit Becker-Ho oder anderen Mitgliedern des engsten Kreises um Debord Kontakt aufzunehmen und dabei deutlich in ihre Grenzen verwiesen wurden (vgl. Becker-Ho (1998) und Hussey (2001b)). 34 | Vgl. Brau (1968a); Brau (1968b); Chollet (2000); Chollet (2004); Ford (2005) bzw. Ford (2007); Home (1996); Martos (1989); Perniola (2005) und Raspaud (1972). Dabei ist vor allem bei E. Brau, J.-L. Brau, Martos und Raspaud/Voyer darauf hinzuweisen, dass es sich hier beinahe um eine ›Selbstgeschichtsschreibung‹ der Situationisten handelt und diese Texte daher als exemplarisch für den Typus der engagierten Sekundärliteratur erachtet werden können. Diese profitiert zwar einerseits von den persönlichen Erinnerungen, andererseits jedoch lassen sie aus demselben Grund über weite Strecken jede kritische Distanz zu den Ereignissen vermissen. 35 | Vgl. Schrage (1998b); Sussman (1989); Dreßen (1991) und Zweifel (2007). 36 | Lediglich ein kurzer Aufsatz von Giudicelli (2001) ist dem Verfasser bekannt. Auch Vaneigem selbst äußert sich kaum zu seiner Zeit in der S.I. (vgl. Vaneigem (2008a)). 37 | Vgl. Andersen (1994); Andersen (2001); Atkins (1977); Gervereau (2001b); Gervereau (2001a); Loo (1996); Ricaldone (1997) und Staubrand (2009). 38 | Vgl. Grand (2001); Hessler (1967); Hummelink (2003) und Wigley (1998). 39 | Vgl. Bandini (1974); Bandini (1984); Bertolino (2005); Galerie 19002000 (1989); Niggl (2007) und Roberto (2001). 40 | Vgl. Czerny (2008); Danzker (2006); Dornacher (1995); Loers (1986); Loo (1988b) und Schübbe (1991).
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lediglich als relativ kurze Phase in das jeweilige Gesamtwerk der Künstler bzw. Architekten eingeordnet wird und daher nicht im Mittelpunkt der Analysen steht, gibt es daneben auch eine Vielzahl von Aufsätzen, die sich explizit mit der Rolle der jeweiligen Künstler innerhalb der S.I. befassen. Bei Guy Debord ergibt sich ein ähnliches Bild, auch hier ist zwischen Biographien, in denen die Zeit der S.I. als eine, wenn auch sehr wichtige Phase geschildert wird, und Aufsätzen, die sich explizit und ausschließlich mit der Rolle Debords in der S.I. befassen, zu unterscheiden. Insgesamt ist jedoch vor allem deutlich erkennbar, dass die Zahl der Publikationen zu Debord - wie bereits im Hinblick auf die Briefwechsel - wohl die zum gesamten Rest der Mitglieder der S.I. überschreiten dürfte, Debord also, zumindest was die Rezeption angeht, als die zentrale Figur der S.I. erscheint. Zunächst einmal sind hier einige Biographien zu nennen, in denen die Zeit der S.I. als eine Phase in Debords Leben dargestellt und eingeordnet wird.41 Eine weitere Gruppe von Publikationen stellt den politischen Aspekt der S.I. vor dem Hintergrund des Mai 1968 in den Mittelpunkt des Interesses. Einige Arbeiten unternehmen dabei den Versuch, die S.I. zunächst allgemein in die Tradition linker Denkansätze einzuordnen,42 wobei der Fokus in den meisten Fällen auf dem Spektakelbegriff Debords und dessen Verbindungen zur marxschen Werttheorie oder auf der räterepublikanischen Konzeption der S.I. liegt. Andere Autoren konzentrieren sich auf die Analyse der Rolle der S.I. im Rahmen der Ereignisse des Mai 1968 in Paris. Mal wird die S.I. dabei in den Mittelpunkt der Ana41 | Vgl. Apostolidès (1999); Bourseiller (1999); Donné (2004); Hussey (2001a); Jappe (1999) und Kaufmann (2004). Zudem gibt es weitere Arbeiten, die einen speziellen Aspekt oder ein Werk Debords in den Mittelpunkt stellen und von dort ausgehend die Figur Debord in den Blick nehmen. Zu nennen wären hierbei in erster Linie die Analysen des filmischen Werks Debords sowie die Auseinandersetzung mit seiner Film- und Photographiekritik (vgl. Bertelli (2005); Bertelli (2006); Centre Internationale de poésie Marseille (2006); Coppola (2006); Evans (2005); Marie (2009) und Nikitin (2008)). Eine weitere Arbeit, die sich Debord und seinen politisch-ästhetischen Praxen primär aus der film- und medientheoretischen Richtung annähert, ist die kürzlich erschienene Dissertation von Jörn Etzold (vgl. Etzold (2009)). Neben diesen allesamt auf unterschiedliche Weise aufschlussreichen Untersuchungen zu Debord gibt es eine ganze Reihe von Texten, die sich Debord auf der Ebene persönlicher Erinnerungen (vgl. Blanchard (2005) und Bessompierre (2010)) oder spielerisch-ironisch nähern (vgl. Debore (2001); Roux (2000) und la Rose (2000)), sowie solche, die durch ihre Oberflächlichkeit oder ihre Neigung zur Hagiographie eher als Phänomen, denn auf der inhaltlichen Ebene interessant sind bzw. zum Verständnis der Figur und des Werks Debords beitragen können (vgl. Guilbert (1996); Jacquemond (2005) und Merrifield (2005)). Als Gegenpol zu dieser ›Heiligschreibung‹ sind die Arbeiten von Schiffter (vgl. Schiffter (1997) und Schiffter (2004)) zu nennen, der sich sehr kritisch mit Debord auseinandergesetzt und dadurch eine lebhafte Diskussion zum Umgang mit Debord ausgelöst hat (vgl. Centre internationale de poésie Marseille (2005); Gonzalvez (2002), S. 68ff. und Lancelin (2004)). 42 | Vgl. Baumeister (2005); Dauvé (2000); Gombin (1971), S. 75ff.; Jappe (1998) und Moinet (1977), S. 161ff.
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lyse gestellt, mal wird sie nur als ein Aspekt einer breiter angelegten Untersuchung behandelt.43 Eine dritte Gruppe von Arbeiten nimmt die Zusammenarbeit und gegenseitige Beeinflussung zwischen der S.I. und anderen Gruppierungen des linken Spektrums in den Blick. Im Mittelpunkt stehen hierbei die Verbindungen und Konflikte mit Socialisme ou Barbarie, den Enragés und dem Mouvement des occupations sowie mit verschiedenen kommunistischen und anarchistischen Gruppierungen.44 Bei dieser Gruppe der Untersuchungen fällt auf, dass sie zu sehr divergierenden Ergebnissen bezüglich des Einflusses der S.I. auf die 68er-Bewegung kommt. So werden die Formen des Protestes und die darin vorgebrachten Forderungen und Parolen von einigen Studien allein der S.I., von anderen hingegen allein den Surrealisten zugeschrieben. Dies führt zu einem ersten Problem, welches es beim Rückgriff auf diese Arbeiten zu beachten gilt. In Bezug auf die Methoden der S.I. verdeutlichen die skizzierten Arbeiten, wie problematisch die inhaltliche Reduktion der S.I. auf die von ihr vorgebrachten politischen Thesen bei nahezu vollkommener Vernachlässigung der darin immer noch enthaltenen kunstbezogenen Überlegungen ist. Die politisch-künstlerische S.I. wird somit inhaltlich zu stark reduziert, was auch daran erkennbar wird, dass in diesen Studien häufig nur einzelne Aspekte der situationistischen Theorie, meist der Begriff des Spektakels oder das Problem der récupération, nie aber die Methoden in ihrer Gesamtheit untersucht werden. Für die Frage nach den internen Prozessen der S.I. bieten sich jedoch durchaus Anknüpfungspunkte für die vorliegende Arbeit: Sei es mit Blick auf die durch den Mai 1968 neu aufgeworfenen inhaltlichen Fragen und Konflikte innerhalb der S.I., sei es bezüglich der Problematik der Gruppengröße und -organisation oder in Bezug auf die Außenkontakte der S.I. zu anderen Gruppierungen: In all diesen Punkten wird auf einzelne Ergebnisse aus diesem Forschungsbereich zurückzugreifen sein. Ähnliches gilt im Umgang mit den Arbeiten, die die S.I. in der Tradition der historischen Avantgarden untersuchen. Hier wird die S.I. explizit in eine Traditionslinie mit DADA oder dem Surrealismus gestellt oder ihre Entstehung aus den Vorgängergruppierungen wie CoBrA,45 dem Mouvement International pour un Bauhaus Imaginiste (M.I.B.I.) oder 43 | Vgl. Béhouir (2000); Brown (1974), S. 89ff.; Clavreul (1993); Dumentier (1990); Gilcher-Holtey (1995), S. 73ff.; Marelli (1998), S. 263ff.; Martos (1989), S. 227ff.; Romild (1988) und Roux (2000). 44 | Boulouque (2003); Brau (1968b), S. 162ff.; Hastings-King (2000); Ohrt (2001); Quiriny (2003); Viénet (1977). Bei einigen dieser Analysen ist zu bedenken, dass sie direkt nach dem Ende der Unruhen von ehemaligen oder aktuellen Mitgliedern der L.I. oder der S.I. oder ihnen nahestehenden Personen verfasst wurden, was bei der Bewertung der Objektivität dieser Arbeit zu berücksichtigen ist. Diese wieder auf die undeutliche Grenze zwischen Primär- und Sekundärliteratur bzw. zwischen engagierter und wissenschaftlicher Sekundärliteratur verweisende Problematik gilt besonders ausgeprägt für die Arbeiten von Brau (1968b) und Viénet (1977). 45 | Das Akronym CoBrA steht für Copenhagen, Br üssel und Amsterdam - den Heimatstädten der beteiligten Künstler.
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der L.I. analysiert und sie somit kunsthistorisch verortet.46 Dies ist insofern von zentraler Bedeutung, als diese Auseinandersetzung mit anderen Avantgarden sowie die Selbsthistorisierung bei der S.I. eine wichtige Rolle sowohl für die Methodenentwicklung als auch in Bezug auf die Personenkonstellationen spielt.47 Allerdings wird in vielen der genannten Arbeiten bei der Analyse der einzelnen Methoden der Situationisten der Fehler begangen, diese aus denjenigen der historischen Avantgarden direkt abzuleiten oder diese mit jenen zu vergleichen, während übersehen wird, dass die S.I. selbst zu den historischen Avantgarden sehr kritisch Stellung bezogen hat, also keineswegs von einer einfachen Übernahme der Methoden gesprochen werden sollte. Zudem haben diese Untersuchungen meist einen weiteren Schwachpunkt: Die S.I. wird hier jeweils lediglich in eine Reihe von Vorgängern eingeordnet, während der Blick auf mögliche Nachfolger ausbleibt. Diesen Versuch einer beiderseitigen Einordnung unternimmt lediglich Plant.48 Es gibt jedoch noch einen dritten Kritikpunkt, der gegen die bisher erwähnten Studien vorgebracht werden kann und der gewissermaßen die Umkehrung des Problems bei den Studien zur S.I. im Mai 1968 darstellt. Durch die kunsthistorische Herangehensweise ergibt sich beinahe zwangsläufig eine starke Konzentration auf die künstlerischen Aspekte und Methoden, während deren politische Implikationen kaum untersucht werden. Zum anderen gibt es einige Arbeiten, die die S.I. ausgehend von spezifischeren Fragestellungen in den Kontext der Avantgarde im 20. Jahrhundert einordnen. So fragt Hecken nach dem Zusammenhang von Avantgarde und Terrorismus bzw. von Avantgarde und Gegenkultur49 und hat dabei auch die S.I. im Blick. Illing unternimmt im Rahmen einer weit angelegten Untersuchung zur Avantgardekonzeption bei Muka˘rovský einen Vergleich zwischen Surrealismus und der S.I. im Hinblick auf die Probleme von Künstlerimages und Wirkungsstrategien, während Kiwitz ebenfalls den Surrealismus und die Situationisten vergleicht, allerdings im Hinblick auf die Frage nach dem Zusammenhang von Kunst und Lebenspraxis.50 In eine ähnliche Richtung zielen auch die Arbeiten von Marelli und Bertrand, die nach den Konzepten der Aufhebung/Überwindung der Kunst und daran anknüpfend nach deren Rolle im revolutionären Projekt der S.I. fragen.51 Den Untersuchungen von Bertrand, Illing, Kiwitz und Marelli gelingt es somit, anders als der ersten 46 | Vgl. Bandini (1998); Bandini (2003); Duwa (2008); Marelli (1998); Ohrt (1997) und Sanders (1987). 47 | Für einen umfassenden Überblick über das Thema der Selbsthistorisierung und der Querverweise innerhalb der Avantgarde sei hier verwiesen auf SchmidtBurkhardt (2005). Zur Selbsthistorisierung der Avantgarden am Beispiel der Gruppe SPUR vgl. Bredekamp (2007) sowie Schmidt-Burkhardt (2005), S. 325ff. 48 | vgl. Marcus (1993) und Plant (1992). Dabei liegt bei Plant bei den Nachfolgern der Fokus auf verschiedenen poststrukturalistischen Denkansätzen, Marcus hingegen nimmt den Punk der Sex Pistols in den Blick. 49 | Vgl. Hecken (2006a), S. 34ff. und Hecken (2006b), S. 21ff. 50 | Illing (2001), S. 365ff. und Kiwitz (1986), S. 40ff. 51 | Vgl. Bertrand (1982) und Marelli (1995). Auf diese Untersuchung der Verbin-
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Gruppe von Studien, die künstlerischen Aspekte der S.I. mit den politischen zu verbinden, allerdings auch hier nur mit dem vergleichenden Blick zurück und nicht nach vorne. Dies wiederum leisten die Arbeiten von Hecken: Die S.I. wird hier sowohl in eine Reihe von Vorläufern eingeordnet als auch mit nachfolgenden Gruppierungen verglichen, und es geht, ausgehend von künstlerischen Konzeptionen, um explizit politische Fragestellungen. Die Beachtung sowohl der künstlerischen als auch der politischen Seite der S.I. ist insofern von Bedeutung, als man sonst Gefahr läuft, in ihrer Geschichte eine künstlerische Phase strikt von einer politischen abzugrenzen und sich dann in der Untersuchung jeweils nur einer der beiden zu widmen.52 Doch selbst wenn beide Phasen untersucht werden, bleibt die Einteilung, die sich meist am Zeitpunkt des Ausschlusses verschiedener Künstler aus der S.I. orientiert, an sich problematisch. Denn sowohl auf der Ebene der Mitgliederstruktur als auch bezüglich der theoretischen Konzepte sind - wenn auch dynamische Kontinuitäten erkennbar, die es unangebracht erscheinen lassen, die künstlerische frühe S.I. von der politischen späten strikt abzutrennen. Die Untersuchungen zur S.I. als Avantgarde beinhalten jedoch noch weitere Probleme, die damit zusammenhängen, dass sich als impliziter oder expliziter theoretischer Hintergrund vieler dieser Studien Peter Bürgers Theorie der Avantgarde53 ausmachen lässt, auch wenn diese gar nicht auf die S.I. Bezug nimmt.54 Denn selbst wenn Bürger am Beispiel von DADA und Surrealismus Fragen und Probleme skizziert, die auch für die S.I. von großer Bedeutung sind, so führt seine zentrale These vom Scheitern der historischen Avantgarden und der Unmöglichkeit von Neo-Avantgarde in eine Richtung, die für die Untersuchung der S.I. nicht fruchtbar ist. Nach Bürgers These kann die S.I. nur als zum Scheitern verurteilte oder sogar als von Anfang an unbedeutende NeoAvantgarde angesehen werden. Dies jedoch verstellt die Möglichkeit, zu untersuchen, wie die S.I. in der Entwicklung ihrer Methoden gerade versucht, aus dem Scheitern dieser Gruppierungen zu lernen, indem z.B. das Problem der récupération ein zentrale Stellung einnimmt und somit zu einer sehr dynamischen Theoriebildung führt. Diese Dynamik ist umso wichtiger, als sie nicht nur auf der theoretischen Ebene, sondern auch in Bezug auf die Mitgliederstruktur erkennbar ist. Statt vom Scheitern der Avantgarde zu sprechen, wäre hier in Bezug auf die S.I. die dung von Kunst und Politik zielen - wenn auch im Rahmen anderer, spezifischerer Fragestellungen - die Arbeiten von Danesi (2008) und Wiegmink (2005). 52 | So befasst sich z.B. Ohrt (1997) lediglich mit der künstlerischen Phase bzw. Seite der S.I., während Baumeister (2005) sich rein auf die politischen Aspekte beschränkt. 53 | Vgl. Bürger (1974). Als weitere für den Themenkomplex ›Scheitern der Avantgarde‹ zentrale Studien wären Enzensberger (1976) und Mann (1991) zu nennen. 54 | Diese fehlende Rezeption der S.I. bei Peter Bürger ist umso interessanter, da die S.I. durch ihre kritische Bezugnahme auf die historischen Avantgarden eigentlich für Bürger das ideale Untersuchungsobjekt bzw. der Beleg für die Unmöglichkeit einer Neo-Avantgarde wäre. Zur Kritik an Bürger vgl. Lüdke (1976) sowie Rasmussen (2004), S. 385ff., besonders Fußnote 73, S. 386.
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These zu überprüfen, inwieweit nicht gerade die kritische Auseinandersetzung mit Vorläufern und die daraus abgeleitete Notwendigkeit einer dynamischen Theorie- und Gruppenkonzeption dazu beitragen können, das Phänomen Avantgarde und die Bewegung des Auf- und Abtauchens besser zu verstehen. Vor diesem Hintergrund ist vor allem die Frage zu untersuchen, inwieweit sich die S.I. durch die bei ihr zu vermutende enge Verbindung zwischen der Bewegung in der Theorie und der Bewegung unter den Mitgliedern besonders für ein solches Verständnis der Avantgarde als Bewegung eignet, das über die Frage nach dem Scheitern hinausgeht bzw. das Scheitern im Sinne eines Verschwindens als konstitutiv für das Phänomen Avantgarde erachtet. Versucht man, die Besonderheiten des Forschungsstands zur S.I. zunächst einmal mit Blick auf die Analyse ihrer theoretischen Ansätze kritisch zusammenzufassen, so kristallisieren sich verschiedene Probleme heraus, die für eine angemessene Untersuchung der S.I. hinderlich sind. Ein zentraler Mangel der bisherigen Forschung zur S.I. ist in der selektiven Untersuchungsanlage zu sehen, die sich wiederum in drei, häufig in verschiedenen Kombinationen gemeinsam auftretenden Beschränkungen äußert. Sei es, dass nur einzelne Methoden herausgegriffen werden; sei es, dass nur die politischen oder die künstlerischen Facetten untersucht werden; sei es, dass die S.I. nur mit historischen Vorläufern oder Nachfolgern verglichen wird: Stets droht dabei die Gesamtkonzeption der S.I. aus dem Blick zu geraten. Bei den Studien zur Bedeutung der S.I. als politischem Akteur wird, neben der Konzentration auf die Begriffe des Spektakels und des détournement, der künstlerische Ursprung der S.I. vernachlässigt bzw. wird das aktionistische Moment so stark betont, dass die Methoden nur noch in ihrer konkreten Anwendung, nicht mehr jedoch in ihrer Entwicklungslogik von Bedeutung sind. Auch die kunsthistorischen Analysen z.B. im Rahmen einer Theorie der Avantgarde sind nicht in der Lage, die Besonderheiten der Methodik der S.I. und deren außerordentliche Anschlussfähigkeit zu erklären, wenn die S.I. von Beginn an aus der Logik dieser Ansätze und einem zu eindimensionalen Verständnis des Problems der récupération heraus als zu vernachlässigende Neo-Avantgarde von den historischen Avantgarden abgegrenzt wird und auch hier meist nur einzelne Methoden wie détournement oder dérive historisch verortet werden. Bei den Arbeiten, die neben oder statt der Theorie auch die einzelnen Akteure betrachten, ergeben sich ebenfalls Probleme, die bei den biographischen Ansätzen zunächst einmal mit dem Gesamtbestand dieses Materials zusammenhängen: »les noms de Vaneigem, Pinot-Gallizio ou Jorn ont été jetés aux oubliettes au seul profit de celui de Debord«55 . Es ist hier eine deutliche Fokussierung auf die Person Debords zu er55 | Gonzalvez (2002), S. 68.
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kennen, die in der vorliegenden Arbeit soweit wie möglich kritisch hinterfragt werden muss. Dabei geht es jedoch nicht nur darum, die oben genannten sowie weitere zentrale Mitglieder stärker zu berücksichtigen, sondern die S.I. als Ganze, d.h. auch und gerade die randständigen Mitglieder und mögliche Karteileichen, nicht aus den Augen zu verlieren. Denn die Fixierung auf diese einzelne Figur führt in vielen Fällen dazu, dass die Gesamtgruppe in ihrer Bedeutung nicht erfasst oder gar lediglich als Gefolgschaft Debords angesehen wird. Ohne die sicherlich wichtige Stellung Debords innerhalb der S.I. zu verneinen, muss hier festgehalten werden, dass ein solch starres Führer-Gefolgschafts-Modell nur sehr beschränkt zum Verständnis sowohl der persönlichen Beziehungen zwischen den einzelnen Mitgliedern als auch zu demjenigen der Dynamik der Gesamtgruppe beitragen kann. Diese Problematik der Fixierung auf Debord wird dadurch verstärkt, dass es bei einigen dieser Arbeiten an kritischer Distanz mangelt und eine Neigung zur Hagiographie hier deutlich zu erkennen ist. Im Umgang mit der Figur Debords ist also besondere Vorsicht geboten: Man sollte weder die ihm häufig zugeschriebene Rolle des Alleinherrschers in der S.I. fraglos hinnehmen, noch scheint es angebracht, ihn lediglich als einen unter vielen zu sehen. Diese Schwierigkeiten im Umgang mit Debord werden noch deutlicher, wenn man die bereits skizzierten Probleme bezüglich seines Briefwechsels und die damit verbundene Veröffentlichungs- und Verhinderungspolitik seiner Witwe mit in Betracht zieht. Ähnlich wie bei den hagiographischen Arbeiten zu Debord ist hierbei stets zu fragen, inwiefern auf diese Weise ganz bewusst ein bestimmtes Bild von Debord gezeichnet werden soll und in welchem Verhältnis es zur wirklichen Bedeutung Debords innerhalb der S.I. steht. In der vorliegenden Arbeit soll daher, soweit es die Materiallage zulässt und indem ebendiese Materiallage reflektiert wird, der Versuch gemacht werden, die S.I. als Gruppe zu beschreiben, in der zwar so etwas wie ein Zentrum, eine Peripherie und Randfiguren herausgearbeitet werden können, in der aber dennoch einem Großteil der einzelnen Mitglieder jeweils besondere Aufgaben und Funktionen zuzuschreiben sind. Denn gerade die große Beachtung, die die Mitgliederfrage innerhalb der S.I. selbst erfahren hat, deutet doch darauf hin, dass Mitglieder nicht willkürlich aufgenommen wurden, sondern dass dabei nach bestimmten Kriterien, seien es persönliche, strategische oder inhaltliche, verfahren wurde. Eines fällt beim Rückblick auf die skizzierte Vielfalt des Forschungsstands besonders auf: Arbeiten, die die S.I. explizit als Gruppe - sei es allgemein oder spezieller als Gruppe von Künstlern oder Intellektuellen - untersuchen, fanden bislang keine Erwähnung. Dieser Aspekt der S.I. ist bislang kaum oder nur indirekt im Kontext anderer Fragestellungen untersucht worden. Neben einem Aufsatz von Gilcher-Holtey,56 der zumindest stellenweise auf die Bedeutung der Gruppenprozesse 56 | Vgl. Gilcher-Holtey (2000), S. 96ff.
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eingeht, nimmt im deutschsprachigen Raum nur Ohrt die S.I.-internen Strukturen, interpersonellen Beziehungen und theoretischen Debatten genauer in den Blick.57 Auch wenn er es vermeidet, die S.I. dabei allein ausgehend von Debord zu analysieren, so beschränkt er sich doch im Allgemeinen auf die Verbindungen zwischen zentralen Mitgliedern wie Constant, Debord, Jorn, Pinot-Gallizio sowie der Gruppe SPUR und im besonderen auf die Freundschaft zwischen Debord und Jorn. Dies erklärt sich nur zum Teil aus seiner Untersuchungsanlage, die sich auf die Frage konzentriert, wie es zu einem solchen Zusammenschluss von Künstlern gekommen ist und warum es bereits nach fünf Jahren »zu einer Wende [kommt], nach der kein einziger Künstler den Entwurf noch mittragen kann oder darf«58 . Ohrt behandelt daher ausführlich die Vorgeschichte der S.I., bei der in erster Linie die oben genannten zentralen Mitglieder eine Rolle spielen, und lässt die Analyse vor dem Hintergrund seiner Kernfrage bereits im Jahre 1962 enden. Ist diese zeitliche Beschränkung aus seiner Fragestellung heraus durchaus gerechtfertigt, so gilt dies für die personenbezogene Eingrenzung nicht unumschränkt.59 Auch bei der Auseinandersetzung um die Stellung der Kunst können Randfiguren innerhalb der S.I. von Bedeutung sein oder können eine solche als strategische Elemente zur Durchsetzung der Positionen der Protagonisten erlangen. Genau diese (Gesamt-)Gruppenprozesse beachtet Ohrt aber kaum, sein Hauptaugenmerk liegt eindeutig auf der Rekonstruktion dieser ersten entscheidenden Theoriedebatte sowie den damit zusammenhängenden, teils auch persönlichen Auseinandersetzungen zwischen den Kernmitgliedern der S.I. Diese sicherlich sehr aufschlussreiche Skizze des Ringens um theoretische Positionen unter auch persönlich miteinander Verbundenen beschränkt sich somit auf eine ausführliche Analyse einer theoretischen Debatte zwischen einigen wenigen Mitgliedern der S.I. Was jedoch nicht herausgearbeitet werden kann, sind die Dynamiken der Gesamtgruppe sowie die weiteren Verschiebungen auf Theorie- und Gruppenebene in der Folgezeit. Vor allem jedoch wird eine Frage nicht gestellt: ob die Austritte und Ausschlüsse sich nicht nur als Folge einer theoretischen Auseinandersetzung, wie dies vielleicht bei den Kernmitgliedern der Fall ist, sondern auch aus den theoretischen Ansätzen der S.I. an sich erklären lassen. Gerade hierfür wäre der Blick auf die Gesamtgruppe notwendig gewesen. Genau diese Mitgliederfluktuation der S.I. als Ganzer wird nur von einer Arbeit in den Mittelpunkt des Interesses gestellt.60 Es handelt sich 57 | Vgl. Ohrt (1997). 58 | Ibidem, S. 8. 59 | Hier spielt sicherlich die damalige Material- bzw. Veröffentlichungslage eine entscheidende Rolle. Ohrts Arbeit ist vor diesem Hintergrund daher nicht nur als im deutschsprachigen Raum inhaltlich bislang einmalige, sondern auch als international bedeutende Pionierarbeit bezüglich der Sichtung und Sortierung der Materialien zum Themenkomplex der Situationistischen Internationale zu würdigen. 60 | Die Arbeit von Marelli (1998) bietet zwar einen umfassenden Überblick über die Gesamtentwicklung der S.I. und ihre organisatorischen Wandlungen und Pro-
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hierbei um die - unveröffentlichte und daher auch in späteren Publikationen zur S.I. nicht rezipierte - maîtrise von Richier.61 Richier betont zunächst die Bedeutung, die die Praxis des Ausschlusses und die Frage der Organisation für die S.I. besitzt und hebt hervor, dass diese daher eigentlich auch für jede Studie der S.I. ein wichtiger Aspekt sein müsste. Ausgehend von dem im Zentrum seiner Analyse stehenden Begriff der Spaltung ergibt sich für ihn folgendes Forschungsvorhaben: »faire l’histoire des dissidences dans l’Internationale situationniste c’est aussi faire l’histoire des crises qui sont liées à ces ruptures«62 . Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang, dass Richier zwar durchaus die besondere Stellung Debords innerhalb der S.I. anerkennt, aber dennoch betont, dass es zu kurz greift, ihn als den alleinigen Verantwortlichen der Ausschlüsse bzw. der Mitgliederfluktuation anzusehen. Denn trotz dieser starken Persönlichkeit handelt es sich bei der S.I. um eine Gruppe von im Laufe der 15 Jahre ihrer Existenz insgesamt 70 Personen, und als eine solche Pluralität von Beteiligten ist sie auch zu untersuchen, denn nur unter Berücksichtigung der verschiedenen Konfliktparteien lassen sich die internen Prozesse verstehen.63 Ausgehend von einer Skizze der prä-situationistischen Zeit und den bereits dort vorhandenen personellen und theoretischen Verbindungen, die schließlich zur Gründung der S.I. führten, entfaltet Richier in seiner maîtrise nun ein Panorama der Austritte und Ausschlüsse aus der S.I. sowie der diesen jeweils zugrunde liegenden Konflikte. Was Richiers Arbeit in jedem Fall leistet, ist ein umfangreicher Überblick, wenn auch nicht zu allen, so aber doch zu den wichtigsten Austritten und Ausschlüssen. Diese werden allesamt aufgeführt, die genauen Zeitpunkte werden ermittelt, grundlegende Streitpunkte werden skizziert und auch durch die entsprechenden Texte belegt. Richier bietet daher wesentlich mehr und auch genauere Informationen als dies bei der Mitgliederchronologie von Raspaud und Voyer der Fall ist, zumal er zu Beginn seiner Analyse zumindest kurz darauf eingeht, welche inhaltlichen Überlegungen zur Frage der Mitgliedschaft die S.I. selbst angestellt hat, auf welcher inhaltlich-theoretischen Basis also die Ausschlüsse und Austritte vollzogen wurden. Allerdings haben die vorgelegten Analysen auch einige Schwachstellen: Zum einen wird Richier seinem eigenen Anspruch, die den Abspaltungen zugrunde liegenden theoretischen Konflikte zu beleuchten, nur teilweise gerecht. So werden zwar durchaus theoretische Konflikte angesprochen, allerdings erfolgt dies teilweise sehr verkürzt. Dies hat zur Folge, dass Richier sich vor allem auf die in der I.S. skizzierten Konflikte, also auf die offiziellen Ausschluss- und Austrittsgründe bezieht, bleme, berücksichtigt dabei jedoch kaum die der Gruppe zugrunde liegenden interpersonellen Beziehungen sowie die theoretischen Überlegungen der S.I. zum Problemkomplex der Mitgliedschaft. 61 | Richier (1995). 62 | Ibidem, S. 6. 63 | Vgl. ibidem, S. 9.
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ohne diese nochmals kritisch zu hinterfragen bzw. zu überprüfen, inwiefern es vielleicht sinnvoll wäre, hinter den offiziellen theoretischen auch noch inoffizielle, wie z.B. persönliche oder strategische, Gründe zu suchen. Damit versäumt es Richier, genauer nach den Zusammenhängen von theoretischen Meinungsverschiedenheiten und der Mitgliederfluktuation zu fragen und zu analysieren, inwieweit sich theoretische, strategische und persönliche Motivlagen hier vermischen. Zudem klammert Richier die Frage nach dem umgekehrten Zusammenhang aus, d.h. danach, inwiefern sich die Abspaltungen wiederum auf die weitere theoretische Entwicklung auswirken: »Il n’est pas possible de dire si les nouvelles orientations pratiques de la quatrième conférence de Londres [...] sont les conséquences de cette succession de dissidences.« Vor allem aber greift er im Verlauf der Arbeit zwar noch auf seine anfänglichen Vorüberlegungen zu den S.I.-eigenen Reflexionen zur Organisationsfrage zurück, die Überlegungen aber zur Frage nach den Kriterien für Eintritt und Ausschluss finden kaum noch Berücksichtigung. Richiers Beschränkung auf das Phänomen der Abspaltung, so sinnvoll sie für seinen Forschungsrahmen ist, stößt hier an ihre Grenzen. Denn um die interne Dynamik der S.I. und deren Zusammenhang mit der theoretischen Ebene zu verstehen, ist es notwendig, neben dem Ende der Zusammenarbeit auch deren Anfang und daher den Eintritt in die S.I. mit zu berücksichtigen. Somit verstellt er selbst den Blick auf die Frage nach einem weiteren, zentralen Zusammenhang. Denn die Tatsache, dass die S.I. selbst ihre Eintritts- und vor allem ihre Ausschlusspraxis reflektiert, deutet doch darauf hin, welche Bedeutung sie dieser zumisst bzw. dass sie diese auf einer theoretischen Ebene zu begründen versucht. Es geht hierbei um die für die vorliegende Arbeit zentrale Frage, ob es - jenseits des Aspektes, dass Austritte und Ausschlüsse mit Debatten und Differenzen über theoretische Positionen erklärt werden können - noch einen zweiten und im Hinblick auf die Besonderheit der S.I. aufschlussreicheren Zusammenhang gibt: die Frage, ob die bei der S.I. zu beobachtende Mitgliederfluktuation aus den theoretischen Ansätzen selbst zu erklären ist. Insgesamt jedoch ist Richiers Darstellung eine wichtige Vorstudie zu der von uns in der vorliegenden Arbeit angestrebten Analyse, an die es anzuknüpfen gilt.
1.2 Fragestellung und Gliederung der Untersuchung Im Zentrum der Untersuchung steht die Frage nach der Verflechtung und der gegenseitigen Beeinflussung von interpersonellen Beziehungen, Gruppenprozessen und Theorieproduktion in der S.I. und somit - auf einer zweiten Ebene im Hintergrund - die auch für die Gruppe selbst zentrale Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis. Den Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit bildet die bei der S.I. sofort ins Auge fallende auffällige Mitgliederfluktuation und die ebenfalls ausgeprägte
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theoretische Reflexion dieser Praxis. Während die Untersuchung des Zusammenhangs zwischen der in einer Gruppe stattfindenden Theorieproduktion einerseits und ihrer personellen Zusammensetzung sowie den innerhalb dieser Gruppe auf der Ebene der interpersonellen Beziehungen ablaufenden Prozessen andererseits meist darauf beschränkt wird, zu fragen, inwiefern die Auseinandersetzung über theoretische Fragen Veränderungen der Zusammensetzung der Gruppe zur Folge hat und inwieweit diese veränderte Zusammensetzung dann wiederum einen theoretischen Wandel bewirkt, kommt bei der S.I. eine weitere Ebene hinzu: die umfangreiche theoretische Reflexion der Frage der Mitgliedschaft, des Eintritts, des Austritts und vor allem des Ausschlusses. Die Gruppenpraxis selbst wird hier zu einer wichtigen theoretischen Frage und auch auf dieser Ebene sind in beiden denkbaren Richtungen Beeinflussungen zwischen Theorie und Praxis zu erwarten. Dieser Ansatz, die S.I. nicht nur als theorieproduzierende Gruppe zu betrachten, sondern die Gruppe auch als Praxis ihrer diesbezüglichen theoretischen Positionen zu betrachten, bildet den Kern dieser Arbeit. Um diesen Kern herum ist die Frage anzusiedeln, inwiefern auch diese Theorie und Praxis der eigenen Gruppe in einem weiteren Schritt in Zusammenhang mit den allgemeinen theoretischen Positionen der S.I. gebracht werden und die Gruppe somit in zweifacher Weise als Suche nach einer Praxis der Theorie angesehen werden kann. Innerhalb dieses vielfältigen Spannungsfelds von Theorien und Strategie, von Theorie und Praxis, von Individuum und Gruppe, von Sympathie und Antipathie lassen sich nun verschiedene Fragestellungen ausmachen und zumindest analytisch voneinander abgrenzen. Ein erster Aspekt der Analyse, der hier allerdings eher kontinuierlich im Hintergrund mitläuft, bezieht sich auf die oben erwähnten und wenn man so will ›klassischen‹ Zusammenhänge von Theorie und Gruppenprozessen. Hier ist also zu fragen, welche Wechselwirkungen zwischen den Gruppenprozessen und den theoretischen Konzepten sich für die S.I. herausarbeiten lassen. Welche theoretischen Streitpunkte liegen den Auseinandersetzungen in der Gruppe zugrunde und wie wirken sie sich auf ihre Zusammensetzung aus - d.h.: Welche theoretischen Konzepte und Debatten sind Anlass zur Aufnahme neuer Mitglieder und welche wiederum sind Auslöser für gruppeninterne Streitigkeiten bzw. Austritte und Ausschlüsse? Welche Rolle spielt dabei das interpersonelle Beziehungsgeflecht? Welche Schwierigkeiten ergeben sich - zusätzlich zum Problem des Verhältnisses von Individuum und Gruppe im Sinne der ›Sozialität der Solitären‹ - durch die Einbindung interpersoneller, meist dyadischer Beziehungen in einen Gruppenkontext? Wie wirkt sich wiederum die Veränderung dieses Geflechts und der Gruppenstruktur auf die weitere Theorieproduktion bzw. -diskussion aus? Der zweite Aspekt, der im Vordergrund der vorliegenden Arbeit steht, befasst sich mit der oben angesprochenen Besonderheit der S.I., die in ihrer ausgeprägten theoretischen Reflexion der Frage nach der eigenen
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Gruppenstruktur, nach Mitgliedschaft, Eintritt, Austritt und Ausschluss zu sehen ist. Hierbei ist zu fragen, inwiefern sich Eintritte, Austritte und Ausschlüsse und somit die permanente Wandlung der Gruppenstruktur nicht nur aus den Konflikten um theoretische Positionen, sondern auch als aus den diesbezüglichen theoretischen Überlegungen notwendig folgende Verhaltensweisen und -strategien erklären lassen und inwiefern somit die Gruppenprozesse der S.I. als ein Praktisch-Werden ihrer Theorie aufzufassen sind. Auch bei diesem Aspekt ist jedoch die Blickrichtung zudem umzukehren und zu untersuchen, inwiefern die Wandlungen der Gruppenzusammensetzung und der Praxis von Eintritt, Austritt und Ausschluss ihrerseits wiederum die diesbezüglichen theoretischen Überlegungen der S.I. beeinflussen und auch diese einem permanenten Wandlungsprozess zuführen. Des Weiteren gilt es auch hier die interpersonellen Beziehungen innerhalb der Gruppe als zusätzlichen Faktor zu berücksichtigen und zu fragen, inwiefern diese zusätzlich zu den theoretischen Überlegungen zur Mitgliedschaft oder auch im Widerspruch zu diesen - Gegenstand theoretischer Reflexion werden oder die Praxis der Gruppe beeinflussen und zur permanenten Mitgliederfluktuation beitragen bzw. inwiefern sich die Veränderungen auf der Ebene der Mitgliedschaft wiederum auf diese persönlichen Beziehungen auswirken. Der dabei im Mittelpunkt stehende Wandel der Mitgliederstruktur entsteht im Einzelnen durch die Bewegungen von Eintritt, Austritt und Ausschluss und ist in seinem Zusammenhang und in seiner Wechselwirkung mit den diesbezüglichen theoretischen Überlegungen sowie mit den in der Gruppe erkennbaren interpersonellen Beziehungen zu untersuchen. Damit ergeben sich, neben der Frage der Mitgliedschaft allgemein, zwei Bewegungs- bzw. Blickrichtungen: die Entstehung und die Auflösung von Beziehungen - in der vorliegenden Arbeit primär im Sinne der Mitgliedschaft, d.h. als Bewegung in die Gruppe hinein und aus ihr heraus, und sekundär als Entstehung und Auflösung interpersoneller Beziehungen. Die erste Blickrichtung befasst sich mit der Entstehung und Veränderung der Verbindungen zwischen den Mitgliedern. Folgende Fragen sind in diesem Kontext von Bedeutung: Welche theoretischen oder auch strategischen Überlegungen spielen bei der Aufnahme neuer Mitglieder die zentrale Rolle? Inwieweit sind hier zusätzlich persönliche Beziehungen und Sympathien von Bedeutung? Was für eine konkrete Praxis des Eintritts entsteht durch diese Gemengelage von Theorie, Strategie und Sympathie? Wie verändern sich Theorie und Praxis des Eintritts im Laufe der Zeit und welche Wechselwirkungen sind dabei erkennbar? Ist diese Praxis die Praxis der Theorie oder steht sie im Widerspruch zu ihr? Die zweite Blickrichtung hat das Ende der Beziehungen zum Ausgangspunkt. Hierbei stehen - ähnlich wie beim Eintritt - folgende Überlegungen im Mittelpunkt: Welche theoretischen Konzepte entwickelt die S.I. zu den Kategorien von Austritt und Ausschluss? Wie werden diese begründet und wie werden sie in die Pra-
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xis umgesetzt? Lassen sich Widersprüche zwischen Theorie und Praxis ausmachen? Wie wirken sich die konkreten Austritte und Ausschlüsse wiederum auf die theoretische Reflexion dieser Kategorien aus? Ist auch auf der theoretischen Ebene eine Veränderung erkennbar? Welche Rolle spielen bei der Bewegung aus der Gruppe heraus die interpersonellen Beziehungen? Gibt es beim Ende der Mitgliedschaft Unterschiede, die sich aus der zugrunde liegenden Art der Beziehung des Austretenden/Ausgeschlossenen zu den anderen Gruppenmitgliedern ableiten lassen? Inwiefern wirken sich wiederum die Austritte und Ausschlüsse auf die persönlichen Beziehungen aus? Lassen sich mögliche Veränderungen bezüglich der Theorie und Praxis des Eintritts, Austritts und Ausschlusses mit der Zusammensetzung der Gruppe und der Art der dort vorhandenen interpersonellen Beziehungen in Zusammenhang bringen? Und als letzte Frage: Welche Auswirkungen hat die Art und Weise und das Ausmaß der theoretischen Reflexion der Frage der Mitgliedschaft und der daraus abgeleiteten Praxis auf die darüber hinaus gehende ›allgemeine‹ Theorieproduktion und auf die Praxis jenseits der eigenen Gruppe? Sind dabei zwischen 1957 und 1972 entscheidende Veränderungen erkennbar? Der dritte Aspekt der Analyse geht bei der Frage nach den Zusammenhängen zwischen der Praxis der Mitgliederfluktuation und den theoretischen Konzepten noch einen Schritt weiter und behandelt das Verhältnis von Theorie und Praxis auf einer zweiten, abstrakteren Ebene. Hier geht es um die Verbindungen zwischen dem bislang skizzierten Wandel bezüglich der Theorie und Praxis der Mitgliedschaft bzw. den Gruppenprozessen als Gesamtphänomen und den weiteren, den übergeordneten theoretischen Positionen der S.I. Hierbei gilt es, folgende Fragen zu untersuchen: Inwiefern lassen sich die Gruppenprozesse der S.I. im Allgemeinen sowie die Eintritte, Austritte und Ausschlüsse im Besonderen nicht nur aus den Konflikten um theoretische Positionen oder als Praxis der theoretischen Überlegungen zu diesen Bewegungen verstehen, sondern auch mit den über die Theorie der eigenen Gruppe weit hinausgehenden allgemeinen theoretischen Positionen in Zusammenhang bringen? Inwiefern also lassen sich die Gruppenprozesse der S.I. als ein Beispiel für das Praktisch-Werden auch ihrer allgemeinen Theorie verstehen? Einen ersten Ansatzpunkt bildet hierbei die Spektakelkritik der S.I. bzw. ihre Gegenüberstellung von Spektakel und Alltagsleben, aus der einige grundlegende Annahmen über die Struktur und Funktionsweise der S.I. als einer gegen das Spektakel arbeitenden Gruppe ablesbar sind. Im Mittelpunkt jedoch steht der beim Blick auf die Gruppenstruktur deutlich erkennbar permanente Wandel, der sich mit dem Aspekt des Momenthaften und der Beweglichkeit in Verbindung bringen lässt, welcher wiederum als quasi innere Notwendigkeit vor allem in den theoretischen Konzepten der Situationskonstruktion, der dérive und des détournement enthalten ist. Hier ist auch das von der S.I. stets im Blick behaltene Problem der récupération von Bedeutung, welches zum einen
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eine ständige Selbstreflexion des eigenen Tuns sowohl in Bezug auf die Theorie als auch auf die Funktionslogik der eigenen Gruppe erforderlich macht und zudem als äußere Notwendigkeit zur Beweglichkeit aufzufassen ist. Die Konzepte von Situationskonstruktion, dérive, détournement und récupération lassen sich dabei sowohl für die Gruppenpraxis der S.I. insgesamt und ihre Entwicklung zwischen 1957 und 1972 als auch für ihre Theorieproduktion als solche fruchtbar machen. Die Frage, die es zu untersuchen gilt, ist somit eine doppelte: Inwiefern ist die Gruppenpraxis der S.I. eine Praxis ihrer allgemeinen Theorie und inwiefern ist diese Theorie selbst wiederum zugleich ihre eigene Praxis, d.h. inwiefern wird die Theorie bereits bei ihrer Entwicklung auf sich selbst angewandt und somit auch selbst beweglich gehalten? Auch in diesem Spannungsfeld von Theorie und Praxis ist zudem nach der Rolle der persönlichen Beziehungen zu fragen, da sich diese Gegenüberstellung mit der Dyade Debord und Jorn sowie mit verschiedenen Phasen in der Entwicklung der Gesamtgruppe in Verbindung bringen lässt. Zentral für diesen Blickwinkel ist dabei der Begriff des Potlatch, der Aufschlussreiches zum Verhältnis von Freundschaft und Streit sowie von Symmetrie und Asymmetrie zutage fördert und zudem abermals auf den Aspekt der Beweglichkeit und der Momenthaftigkeit verweist. Damit aber wird es möglich, die S.I., ihre Entstehung, Entwicklung und Auflösung im Zusammenhang mit ihren zentralen theoretischen Konzepten als ›Bewegung‹ im übertragenen Sinne aufzufassen, als permanente Veränderung von Theorie und Praxis, als permanentes Kommen und Gehen von Mitgliedern, als ein Auftauchen, das das eigene Verschwinden bereits enthält und damit auch die beim Blick auf Avantgarde-Gruppen häufig gestellte Frage nach dem Scheitern selbst wiederum in Frage stellt. Zunächst aber sind im zweiten Kapitel der vorliegenden Arbeit die für diese Aspekte wichtigsten theoretischen und begrifflichen Hintergründe und Grundlagen darzustellen. Im Mittelpunkt stehen hierbei die drei zentralen Begriffe der Gruppe, der interpersonellen Beziehungen und der Avantgarde. Im ersten Abschnitt dieses Kapitels wird, ausgehend von Fragen zum Begriff der Gruppe allgemein und zur Künstler- und Intellektuellengruppe im Besonderen sowie zum Begriff der verschiedenen Formen persönlicher Beziehungen, der soziologisch-theoretische Rahmen abgesteckt. Im zweiten Abschnitt geht es um die kontextuelle Frage, inwieweit sich die S.I. als Avantgarde des 20. Jahrhunderts auffassen lässt. Dabei ist herauszuarbeiten, welche Besonderheiten das Phänomen Avantgarde ausmachen und warum dieses mit demjenigen der Gruppenbildung so eng verbunden zu sein scheint. Nach diesen Anmerkungen zum theoretisch-begrifflichen Rahmen dient das dritte Kapitel dazu, in die zwei hier zentralen Aspekte des Untersuchungsgegenstands S.I. einzuführen. Dabei liefert der erste Abschnitt dieses Kapitels zunächst eine detaillierte Skizze der theoretischmethodischen Ansätze der S.I. Hierbei werden die zentralen Aspekte und Methoden situationistischer Theorie sowohl in ihrer Verwobenheit
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als auch in ihrer Dynamik entwickelt, um sie für den weiteren Verlauf der Analyse parat zu haben. Im zweiten Abschnitt wird dann die andere Hälfte der Grundlagen zur S.I. skizziert: diejenigen zur Mitgliederfluktuation sowie zur Organisationsstruktur der Gruppe. In diesen eher empirischstatistischen bis historisch-darstellenden Ausführungen geht es darum, die Mitgliederfluktuation und die Veränderungen der Organisationsstrukturen in ihrer Ganzheit überblicksartig darzustellen und bereits auf einige Besonderheiten hinzuweisen. Im vierten Kapitel, das den Kern der vorliegenden Arbeit bildet, stehen der erste und der zweite oben entwickelte Aspekt der Analyse im Mittelpunkt, die hier aufgrund ihrer inhaltlichen Zusammenhänge gemeinsam in den Blick genommen werden. Den Ausgangspunkt bilden hierbei einige theoretische Überlegungen zum problematischen Verhältnis von interpersonellen Beziehungen und der Gruppenmitgliedschaft, die ergänzt werden durch die theoretischen Anmerkungen der S.I. selbst zur Frage der Mitgliedschaft und zu den Anforderungen an ihre Mitglieder. In den drei folgenden Abschnitten werden nacheinander die Bewegungen von Eintritt, Austritt und Ausschluss dargestellt. Grundlage sind hierbei stets die diesbezüglichen theoretischen Überlegungen der S.I., bevor danach an den konkreten Beispielen die Praxis vorgestellt und kritisch an der Theorie gemessen wird. Dabei sind auch die Rückwirkungen der Praxis auf die Theorie zu beachten. Entsprechend der Gewichtung, die bei diesen drei Bewegungen sowohl in der Praxis als auch in der theoretischen Reflexion der S.I. erkennbar ist, wird dabei der Kategorie des Ausschlusses die weitaus größte Aufmerksamkeit zuteil. Im fünften Kapitel geht es um die Untersuchung des oben skizzierten dritten Aspekts der Analyse. Dabei steht zunächst die Spektakeldiagnose im Mittelpunkt, bevor der Blick auf die Konzepte von récupération und détournement gelenkt wird. Bei der darauf folgenden Analyse des Verhältnisses von Theorie und Praxis sowie bei den sich daran anschließenden Anmerkungen zum Potlatch werden explizit die persönlichen Beziehungen am Beispiel der Dyade Debord und Jorn miteinbezogen. Abschließend wird anhand der theoretischen Konzepte der Situationskonstruktion sowie der dérive und der Psychogeographie die Gesamtkonzeption und -entwicklung der S.I. in den Mittelpunkt gerückt. Dieses abschließende Kapitel ist zugleich als Zusammenfassung und Schlussfolgerung zu den Ausführungen und Ergebnissen im Hauptteil der vorliegenden Arbeit zu verstehen. Dementsprechend kurz kann das darauf folgende Fazit ausfallen, das die zentralen Fragestellungen nochmals knapp aufgreift und die wichtigsten Ergebnisse unter dem Blickwinkel der Soziologie der Intelligenz und der Ideengeschichte zusammenfasst.
2 Der theoretisch-begriffliche Rahmen 2.1 Gruppe und interpersonelle Beziehungen Im Folgenden ist zu fragen, ob der in der Soziologie zu findende Gruppenbegriff für die S.I. brauchbar ist oder ob er durch andere Bezeichnungen wie z.B. Netzwerk ergänzt werden muss. Ausgehend von den allgemeinen gruppensoziologischen Ansätzen sollen in einer inhaltlichen Fokussierung und interdisziplinären Erweiterung anschließend Ansätze zu Künstler- und Intellektuellengruppen in den Blick genommen werden. Danach gilt es, die Frage nach der Art und Weise der zwischen den Mitgliedern auszumachenden interpersonellen bzw. persönlichen Beziehungen zu stellen,1 die Frage also nach Konzeptionen von Freundschaft, Geistesgenossenschaft und weiteren Beziehungsformen.
2.1.1 Der soziologische Gruppenbegriff In der Gruppensoziologie hat sich ausgehend vom Primärgruppenkonzept2 und der Kleingruppenforschung3 folgende Gruppendefinition herausgebildet und seit einigen Jahren auch in weiten Teilen dieses Forschungsbereiches4 durchgesetzt: »Eine soziale Gruppe umfaßt eine bestimmte Zahl von Mitgliedern (Gruppenmitgliedern), die zur Erreichung eines gemeinsamen Ziels (Gruppenziel) über 1 | Die Begriffe ›persönliche‹ und ›interpersonelle‹ Beziehung werden dabei in der vorliegenden Arbeit synonym verwendet. 2 | Vgl. Schäfers (1999c). 3 | Vgl. Girgensohn-Marchand (1999). 4 | Ein umfangreicher, wenn auch nicht mehr ganz aktueller Überblick über die verschiedenen Forschungsansätze innerhalb der Gruppensoziologie findet sich in Neidhardt (1983) und Schäfers (1999a). Des Weiteren sei hier beispielhaft verwiesen auf die grundlegenden Arbeiten von Claessens (1977), auf die an Tönnies’ Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft anknüpfenden Ausführungen von Geiger (1927), auf den sehr einflussreichen Ansatz von Homans (1969), auf den die Institutionalisierung von Gruppen betonenden Text von Lapassade (1972), auf die historisch-systematische Arbeit von Mills (1976), auf den Überblick über sozialpsychologische Ansätze von Paulus (1983), auf die von der Paarbeziehung ausgehenden Konzeptionen von Simmel (2001b), auf die ebenfalls aus der Sozialpsychologie stammenden Überlegungen von Thibaut (1959) sowie auf die Arbeit von Vierkandt (1923). Auffällig an diesem Überblick über den soziologischen Forschungsstand zur Gruppe ist dabei die Tatsache, dass in den letzten knapp zehn Jahren kaum Arbeiten nachgekommen sind. Dies lässt sich unter anderem auf die seit der Jahrtausendwende zu beobachtende Konjunktur des Netzwerkbegriffs, der in den Sozialwissenschaften den Gruppenbegriff mehr und mehr verdrängt, zurückführen. Vgl. zur Begriffsgeschichte von Gruppe und Netzwerk in der Soziologie u.a. Fuhse (2006).
48 | Situationistische Internationale längere Zeit in einem relativ kontinuierlichen Kommunikations- und Interaktionsprozeß stehen und ein Gefühl der Zusammengehörigkeit (Wir-Gefühl) entwickeln. Zur Erreichung des Gruppenziels und zur Stabilisierung der Gruppenidentität ist ein System gemeinsamer Normen und eine Verteilung der Aufgaben über ein gruppenspezifisches Rollendifferential erforderlich.«5
Geht man diese Definition Schritt für Schritt durch, so gelangt man zunächst zur Frage nach der Mitgliederzahl, die für eine Gruppe als konstitutiv erachtet wird. Hier wird in der Regel zwischen einer kleinen Gruppe mit drei bis 25 Mitgliedern und einer großen Gruppe, die sich aus 25 bis 100 Personen zusammensetzt, unterschieden, während bei Dimensionen von 500 bis 1000 Mitgliedern allenfalls noch von einem Gruppenverband gesprochen werden kann.6 Unter diesem Gesichtspunkt wäre die S.I. mit ihrer zwischen vier und 26 pendelnden Mitgliederzahl der Kategorie der kleinen Gruppe zuzuordnen. Neben dieser ersten groben Einteilung nach der Mitgliederzahl gibt es jedoch noch eine weitere für die vorliegende Untersuchung interessante Unterteilung verschiedener Typen innerhalb der Kategorie der Gruppe anhand ihrer Größe. Diese von Simmel7 entwickelte und bei von Wiese8 fortgeführte Kategorisierung beginnt gewissermaßen früher bzw. kleinteiliger und differenziert zwischen dem Paar, der Dreiergruppe, kleinen und großen Gruppen. Dies ist insofern aufschlussreich, als hier zum einen die Gruppe nicht als von vorneherein gegebene Form angesehen wird, sondern auch ihre Entwicklung aus einer dyadischen Konstellation heraus in den Blick genommen werden kann. Zum anderen verweisen die von Simmel präzise herausgearbeiteten Differenzen zwischen dyadischen, triadischen und größeren Gruppenstrukturen bezüglich ihrer Hauptmerkmale und Funktionsweisen auf die interessante Frage, wie sich diese verschiedenen Konstellationen zueinander verhalten, wenn sie gleichzeitig und ineinander verschachtelt auftreten - wenn also innerhalb einer kleinen oder großen Gruppe nach wie vor auch dyadische und triadische Strukturen erkennbar sind. Dies ist als mögliches Modell der Binnendifferenzierung und der internen Konflikte auch mit Blick auf die S.I. ein hilfreicher Ansatz. Was die Erreichung eines gemeinsamen Zieles angeht, so ist die Lage schon etwas diffuser. Sicherlich hat die S.I. ein solches Ziel, sonst hätte die Motivation für den Zusammenschluss gefehlt. Dieses Ziel scheint jedoch zunächst eine zweischneidige Wirkung zu haben: Denn genauso wie es eine grundlegende gemeinsame Richtung beinhaltet, ist es stets umkämpft, steht im Mittelpunkt von Auseinandersetzungen, verändert sich im Laufe der Zeit und ist somit genauso wie für den Gruppenzusammenhalt auch für Abspaltungen und Zerfall verantwortlich. Allerdings ist 5 | Schäfers (1999b), S. 20f. 6 | Vgl. zu dieser Einteilung Eßbach (1988), S. 44. 7 | Simmel (2001b). 8 | Wiese (1966), S. 447ff.
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zu berücksichtigen, dass es nicht unbedingt das Ziel als solches, sondern die Auseinandersetzung darum ist, die eine Gruppe zusammenhält. »Erst wenn eine wechselseitige Sicherheit entsteht, im Verhalten des Anderen nur noch serielle Betriebsamkeit, einen Verrat an den Zielen, ein ungeschichtliches Festhalten am Mythos der Gruppe oder ein Erkalten des Interesses zu sehen, schwindet die Bindekraft des Gruppenzusammenhalts.«9
Dieses Ringen um das gemeinsame Ziel als Ziel ist im Hinblick auf die S.I. sicherlich charakteristisch. Zu fragen bleibt aber zudem, welche Rolle das Erreichen von Zwischenzielen für den Gruppenzusammenhang spielt. Wirkt dieses als Motivation und entfacht weitere, die Gruppe belebende Diskussionen um neue Ziele, oder tritt ein Sättigungseffekt ein, der die Gruppe auseinanderfallen lässt? Der mit der Frage nach dem Ziel verbundene Zeitaspekt wird in den meisten gruppensoziologischen Studien nicht weiter präzisiert, festgehalten wird lediglich, dass punktuelle Koalitionen, die nach kurzer Zeit ihr Ziel erreichen oder es als unerreichbar wieder aufgeben, nicht als Gruppen aufzufassen sind.10 Die S.I. erfüllt vor diesem Hintergrund durch ihr insgesamt 15-jähriges Bestehen zunächst sehr deutlich dieses Kriterium, nicht ohne jedoch eine diesbezügliche Frage aufzuwerfen: Was ist unter zeitlicher Dauer der Existenz einer Gruppe genau zu verstehen? Die S.I. als Ganze gibt es zwar 15 Jahre lang, allerdings ist sie durch eine ausgeprägte theoretische Wandlung und vor allem eine extreme Mitgliederfluktuation geprägt, die dazu führt, dass es überhaupt nur zwei Mitglieder gibt, die der S.I. über die gesamte Zeitspanne angehören. Daher ist zu überlegen, ob sie überhaupt als eine Gruppe angesehen werden kann oder ob man es nicht vielmehr mit einer verwobenen Aneinanderreihung von um Debord angeordneten unterschiedlichen Gruppen zu tun hat. Was den Aspekt des kontinuierlichen Kommunikations- und Interaktionsprozesses angeht, so ist für die S.I. zwischen diesen beiden Aspekten zu differenzieren. Eine kontinuierliche Kommunikation ist zumindest in Briefform zu erkennen, allerdings mit der deutlichen Einschränkung, dass daran nicht alle Mitglieder beteiligt sind.11 Als weitere Form der Kommunikation lassen sich die in der I.S. geführten theoretischen Auseinandersetzungen und die in der Zeitschrift erschienenen, oftmals kollektiv verfassten Artikel auffassen. Auch an dieser Form der Kommunikation ist, in Gestalt des jeweiligen Redaktionskomitees, jedoch nur 9 | Eßbach (1988), S. 45f. 10 | Vgl. ibidem, S. 44. 11 | So steht Debord lediglich mit 41 der 70 Mitglieder in Briefkontakt. Einige weitere werden über ihre jeweilige Sektion angesprochen. Unter den 41 Mitgliedern, die direkten Kontakt zu Debord haben, sind jedoch wiederum nur 13 zu finden, die das Kriterium des regelmäßigen Kontakts annähernd erfüllen, wie aus der Auswertung der Correspondance von Juli 1957 bis April 1972 hervorgeht (vgl. die Abbildung A.1. im Online-Anhang A).
50 | Situationistische Internationale
die Hälfte der Mitglieder beteiligt. In Bezug auf den Interaktionsprozess im Sinne eines face-to-face Kontakts ergibt sich ein umgekehrtes Bild: An diesem ist zumindest bei den Konferenzen eine Mehrheit der jeweiligen Mitglieder beteiligt, allerdings finden in 15 Jahren auch nur neun solcher Treffen statt. Selbst wenn man noch die sechs Sitzungen des Zentralrates hinzuzählt, bei denen jedoch wieder nur einige wenige Mitglieder zusammenkommen, so lässt sich bei der S.I. als Ganzer kaum von einer kontinuierlichen Gruppe sprechen. Es ist vielmehr für die S.I. insgesamt nicht nur in ihrer Wirkung nach außen, sondern auch in Bezug auf ihre innere Struktur zwischen Phasen der Präsenz und solchen der Latenz, zwischen Phasen der Kommunikation und Phasen der Kommunikation in Interaktion zu unterscheiden. Die Kommunikation ist somit das Fundament der S.I., die face-to-face Interaktion tritt als regelmäßige Ergänzung hinzu, deren Funktion im Laufe der vorliegenden Arbeit noch genauer herauszuarbeiten sein wird. Zu beachten ist hierbei jedoch, dass dieser Wechsel zwischen Präsenz und Latenz für die Mitglieder der einzelnen Sektionen nicht gilt: Diese sind häufig lokal zentriert (so z.B. die Franzosen in Paris, die Deutschen in München, die Holländer in Amsterdam, die Skandinavier zeitweise in Drakabygget) und stehen auch zwischen den Treffen der Gesamtgruppe in engem Kontakt - hier findet die Kommunikation stets in Interaktion statt. Bezüglich der Interaktions- und Kommunikationsstrukturen lassen sich somit deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Sektionen und der S.I. als Ganzer ausmachen - nicht ohne dass sich genau dadurch für die S.I. wieder Probleme ergeben.12 Für das Kriterium des Zusammengehörigkeitsgefühls scheint die Differenzierung zwischen objektivem und subjektivem Zugehörigkeitsgefühl bzw. zwischen Mitgliedsgruppe und Bezugsgruppe hilfreich.13 So lässt sich zwischen Personen unterscheiden, die formell Mitglied einer Gruppe sind, sich dieser jedoch nicht zugehörig fühlen, Personen, die sich einer Gruppe zugehörig fühlen, ihr aber offiziell nicht angehören und schließlich Personen, die sich einer Gruppe zugehörig fühlen, in der sie auch tatsächlich Mitglied sind. Die erste Kategorie verweist mit Blick auf die S.I. auf diejenigen Mitglieder, deren Aktivität mehr und mehr nachlässt und die schließlich meist recht unauffällig austreten oder ausgeschlossen werden. Die zweite verweist auf das von der S.I. stets diskutierte Problem der Abgrenzung der eigenen Gruppe nach außen im Moment ihrer größer werdenden Bekanntheit und Anziehungskraft. Die 12 | Zudem ist zu beachten, dass sich einzelne Mitglieder auch ohne offiziellen Anlass gegenseitig besuchten. Dies ist bei Jorn und der Gruppe SPUR, bei Jorn und Constant, bei Jorn und Pinot-Gallizio sowie bei Debord und Jorn der Fall, kann aber für die Gesamtheit der Mitglieder nicht im Detail rekonstruiert werden. Diese Rekonstruktionsschwierigkeiten verweisen zudem auf ein Problem bezüglich der Anwendbarkeit der gruppensoziologischen Ansätze: Diese sind meist für die Untersuchung aktueller Gruppen konzipiert, deren Strukturen durch Beobachtung und Befragungen untersucht werden können. Dies jedoch ist für die S.I. kaum möglich. 13 | Vgl. zu dieser Unterscheidung Gukenbiehl (1999), S. 116.
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dritte Kategorie lässt sich als der Kern derjenigen Mitglieder bezeichnen, die die Gruppe sowohl nach innen zusammenhalten als auch nach außen abgrenzen, bei denen Mitgliedschaft und Wir-Gefühl zusammentreffen.14 Die S.I. wird in der vorliegenden Arbeit unter dem Aspekt der Mitgliedsgruppe und weniger unter dem der Bezugsgruppe untersucht, nicht zuletzt, da auch hierbei wieder die Probleme der Anwendbarkeit dieser auf aktuelle Gruppen ausgerichteten Ansätze deutlich werden: Die Möglichkeiten, für die S.I. als nicht aktueller Gruppe ex-post die Frage des Zugehörigkeitsgefühls von Nicht-Mitgliedern zu klären, sind doch sehr beschränkt. Die Frage nach der Mitgliedschaft hingegen lässt sich klären, und für die Mitglieder ist auch das Zugehörigkeitsgefühl teilweise anhand des schriftlichen Materialbestandes rekonstruierbar. Die für eine Gruppe vorausgesetzten gemeinsamen Normen lassen sich für die S.I. aus denselben Gründen schwer nachzeichnen, zumindest was Handlungsnormen im face-to-face Kontakt betrifft.15 Was jedoch möglich scheint, ist eine Skizze von Verhaltensregeln bezüglich des Umgangs der Mitglieder untereinander, wenn es um theoretische Debatten oder um Fragen der Mitgliedschaft geht. Gerade im letzten Bereich gibt es eine deutliche Normierung innerhalb der S.I., d.h. Verhaltensregeln, die bei Missachtung mit Ausschluss sanktioniert werden können. Ob und inwieweit dies jedoch unter dem klassischen Begriff der Norm gefasst werden kann, ist fraglich. Denn auch wenn die rigorose Ausschlusspraxis zunächst auf solche Verhaltensregeln hindeutet, bleibt zu fragen, inwiefern sich diese Praxis tatsächlich an einem normativen Konstrukt orientiert, in dem ja für die einzelnen Mitglieder eine gewisse Erwartbarkeit und Regelhaftigkeit impliziert wäre. Genau dies jedoch muss mit Blick auf die Ausschlusspraxis zunächst angezweifelt werden, um im Laufe der vorliegenden Arbeit die Frage nach möglichen anderen Funktionslogiken und Hintergründen zu beantworten. Der Normbegriff wird somit zum einen durch den Aspekt der Erwartbarkeit und zum anderen durch denjenigen der relativen Konstanz der Norm, die dem Konzept des Situativen diametral entgegenstehen, für die S.I. problematisch. Der letzte Bestandteil der obigen Gruppendefinition, die Aufteilung von Aufgaben mit Hilfe eines gruppenspezifischen Rollendifferenzials, lässt sich bei der S.I. deutlich erkennen: Nicht alle sind für alles zuständig. Es gibt ein Redaktionskomitee für die Zeitschrift, es wird zwischenzeitlich ein Zentralrat als eine Art Leitungsgremium eingerichtet, die nationalen Sektionen sind auf teilweise sehr unterschiedlichen Feldern 14 | Zur Kategorie des Wir-Gefühls und zur Rolle, die hierfür ein bei vielen Gruppen erkennbarer und gepflegter Gründungsmythos spielt vgl. Frese (2000), S. 442f. Zur Funktion des Wir-Gefühls und der internen Solidarisierung der Gruppenmitglieder für die Herausbildung einer ›Eigenkultur‹ der Gruppe vgl. Eßbach (1988), S. 417ff. 15 | Eine Ausnahme bilden hierbei die Konferenzberichte in der I.S., in denen ein erster, wenn auch bezüglich der Objektivität kritisch zu hinterfragender Einblick in die Interaktionsstrukturen der S.I. ermöglicht wird.
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tätig usw. Entscheidend ist jedoch, dass diese Funktionsdifferenzierung innerhalb der S.I. immer wieder Gegenstand der Auseinandersetzung wird: zum einen, weil sie mit der Trennung eine Praxis der spektakulären Gesellschaft beinhaltet, gegen die es doch gerade vorzugehen gilt und die zugleich eine Gefahr für die Kohärenz der Gruppenansichten darstellt, und zum anderen, da der Aspekt der Differenzierung auch die Gefahr der Hierarchisierung beinhaltet, die es aus Sicht der S.I. innerhalb der Gruppe unbedingt zu verhindern gilt.16 Dass in diesem Punkt Theorie und Gruppenpraxis der S.I. weit auseinanderklaffen, wird jedoch bereits an der exponierten Stellung einzelner Mitglieder deutlich. Zu denken wäre dabei in erster Linie an Debord und Jorn. Hier wäre zu fragen, inwiefern es sich bei ihnen wirklich um Führungspersönlichkeiten handelt, ob man eventuell zwischen einer instrumentellen und einer affektiven Führungsperson unterscheiden kann,17 welche Aufgaben sie jeweils für die S.I. übernehmen, und welche Auswirkungen dies innerhalb einer als egalitär konzipierten Gruppe hat. Auch wenn somit einige Bestandteile der obigen Gruppendefinition auf die S.I. anwendbar sind, so gibt es doch genauso viele Kriterien, für die dies nur sehr eingeschränkt der Fall ist bzw. bei denen man Gefahr läuft, der S.I. ein zu starres Gruppenkonzept überzustülpen. Dieses Problem ergibt sich vor allem aus der empirischen Ausrichtung der meisten gruppensoziologischen Ansätze, die auf die Untersuchung aktueller Gruppen durch Beobachtung und Befragung abzielen. Abgesehen vom grundsätzlichen Problem, dass sich dieser Zugang für die S.I. nicht bietet, hat diese Ausrichtung eine Tendenz zur strikten Abgrenzung der Gruppe gegenüber anderen Vergemeinschaftungsformen18 und zugleich die Bildung recht differenzierter Unterkategorien innerhalb des Gruppenbegriffs19 zur Folge. Der Gruppenbegriff verliert dadurch jedoch die ihm in klassischen und empiriefern argumentierenden soziologischen Arbeiten innewohnende und für einen Untersuchungsgegenstand wie die S.I. als positiv zu bewertende Vagheit.20 Der allgemeine soziologische Gruppenbegriff und die damit arbeitenden Ansätze werden so zu einem starren Rahmen, der die Gefahr beinhaltet, dass man, wendet man ihn auf die S.I. an, zwar einiges über die gruppensoziologischen Ansätze, aber nur wenig zur S.I. herausarbeiten kann.21 Die bislang vorgestellten gruppensoziologischen Überlegungen lassen sich also nicht ohne weiteres ›en bloc‹ auf die S.I. anwenden, sondern werden eher als Hintergrund und als Ideenlieferant bezüglich einzelner grundlegender Aspekte von Gruppen dienen. Dies ist jedoch nicht 16 | Vgl. Situationistische Internationale (1967b), S. 305. 17 | Vgl. zu dieser Unterscheidung Schwonke (1999), S. 44. 18 | Vgl. Schäfers (1999b), S. 22ff. 19 | Vgl. zur Unterscheidung von formeller und informeller Gruppe Gukenbiehl (1999). 20 | Vgl. hierzu auch Eßbach (1988), S. 44f. 21 | Dieses Problem ist im Hinblick auf André Breton und die Feldtheorie Bourdieus bei der Arbeit von Bogusz (2005) zu erkennen.
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als Problem aufzufassen, da es im Rahmen der vorliegenden Arbeit weniger um eine strikte gruppensoziologische Analyse der S.I. geht, sondern vielmehr die Frage im Mittelpunkt steht, wie Theorieproduktion und persönliche Nahbeziehungen miteinander zusammenhängen - wenn auch im Rahmen einer vorläufig als Gruppe zu bezeichnenden Pluralität von Menschen. Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll, jenseits der allgemeinen gruppensoziologischen Ansätze nach weiteren Theoriekonzeptionen zu suchen, die Hinweise für eine Untersuchung der S.I. geben könnten. Aufschlussreicher als die Frage nach dem Gruppencharakter der S.I. ist die nach der inhaltlichen Ausrichtung dieser Pluralität von Menschen und ihrer andauernden Kommunikation und Diskussion.22 Der Fokus soll daher im Folgenden sowohl inhaltlich verengt als auch interdisziplinär erweitert werden: verengt dadurch, dass nun die spezifi22 | Aus diesem Grund soll an dieser Stelle auch auf die detaillierte Einführung weiterer theoretischer Konzepte und Begriffe, die primär auf die formale bzw. strukturelle Ebene sozialer Gebilde abzielen, verzichtet werden (für eine solche Typologie in Abgrenzung zum Gruppenbegriff vgl. Schäfers (1999b), S. 22ff.). Lediglich auf den Begriff des Netzwerks sei noch knapp hingewiesen (Grundlegendes zum theoretischen Konzept des Netzwerks, seiner Entstehung und seiner Anwendung in den Sozial- und Geisteswissenschaften findet sich u.a. in Barkhoff (2004); Beilecke (2005); Castells (2001) und Faßler (2001); einen Einstieg in die empirische Netzwerkanalyse bieten u.a. Granovetter (1973); Hollstein (2006); Jansen (2003) und Kadushin (1976).). Dieser Begriff ist seit geraumer Zeit in den Sozialwissenschaften zu einer Art Schlüsselbegriff geworden und scheint dabei auch den Gruppenbegriff mehr und mehr zu verdrängen (vgl. die begriffsgeschichtliche Annäherung an den Netzwerkbegriff, jedoch ohne Rückbindung an den Gruppenbegriff bei Böhme (2004)). Diese relativ strikte Abgrenzung von Netzwerk- und Gruppenbegriff jedoch ist, sowohl was die Entwicklung des Netzwerkbegriffs als auch die Anwendungsmöglichkeiten beider Konzepte anbelangt, nicht sonderlich hilfreich (vgl. zu den Konjunkturen und Übergängen von Gruppen- und Netzwerkbegriff und für den Versuch einer Synthese der beiden die wissenschaftsgeschichtliche Rekonstruktion von Fuhse (2006)). So sollte ein engerer Netzwerkbegriff, der sich auf eine Pluralität miteinander verbundener und interagierender Personen bezieht, nicht als Gegenkategorie zur Gruppe, sondern vielmehr als Ergänzung hierzu aufgefasst werden. Diese Verknüpfung der beiden Konzepte liegt auch begriffsgeschichtlich nahe, denn »[b]ei der Konzeptualisierung von Netzwerk konnte - wie beim Gruppenbegriff - angeknüpft werden an die ›Geometrie sozialer Beziehungen‹ bei Georg Simmel und an dessen Ausarbeitung bei Leopold von Wiese, der [...] den ›sozialen Raum‹, den ›sozialen Abstand‹ und entsprechend ›Nähe‹ und ›Ferne‹ der Individuen als Grundkategorien seiner ›sozialen Gebildelehre‹ einführte« (Schäfers (1999b), S. 25). Im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand S.I. scheint gerade die Verbindung beider Ansätze hilfreich - sowohl beim Gruppen- als auch beim Netzwerkbegriff jedoch weniger als vorgegebenes statisches Untersuchungsschema, sondern vielmehr als Versuch, einzelne Aspekte, Kriterien, Strukturen etc. beider Ansätze bei der Untersuchung der S.I. im Hinterkopf zu behalten - die S.I. als Gegenstand soll zum Ausgangspunkt gemacht werden, und nicht ein vorgegebenes theoretisches Korsett. Denn es soll hier nicht darum gehen, die S.I. lediglich auf ihren Gruppen- oder Netzwerkcharakter hin zu untersuchen und sich somit auf die rein strukturellen Aspekte zu beschränken. Vielmehr sind gerade die Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen Struktur und Inhalt, zwischen Form und Funktionsweise und letztendlich von Theorie und Praxis in den Fokus zu rücken. Nur so kann es gelingen, einem sowohl inhaltlich als auch strukturell vielfältigen und wandelbaren, dabei aber zugleich zwischen Diffusität und Präzision changierenden Untersuchungsgegenstand wie der S.I. gerecht zu werden.
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sche Form der Künstler- und Intellektuellengruppe ins Blickfeld rückt, erweitert in dem Sinne, dass in diesem Bereich Arbeiten jenseits der Soziologie, gerade aus der Literaturwissenschaft und der Kunstgeschichte, hilfreich sein können.
2.1.2 Gruppenbildung bei Künstlern und Intellektuellen Betrachtet man die Felder, in denen die Mitglieder der S.I. in der Zeit bis 1962 tätig sind, so haben wir es in erster Linie mit Malern, Bildhauern, Architekten, Urbanismus-Theoretikern, Filmemachern, Musikern, Schriftstellern und einer zunächst unklar bleibenden Restkategorie zu tun, bei der das Tätigkeitsfeld nicht eindeutig ausgemacht werden kann. So gesehen, ließe sich die S.I. zunächst einmal als Künstlergruppe beschreiben. Mit Blick auf die Soziologie fällt jedoch schnell auf, dass Untersuchungen zu Künstlergruppen äußerst rar sind. Zu erwähnen ist hier neben der Arbeit von Petra Jacoby,23 die sich mit der spezifischen Situation von Künstlergruppen in der DDR auseinandersetzt, in erster Linie ein Aufsatz von Hans Peter Thurn, der bis heute den wohl umfassendsten allgemeinen soziologischen Zugang zum Phänomen Künstlergruppe bietet24 und der daher vorgestellt werden soll. Ausgehend von dem bei allen Gruppen zu beobachtenden, bei Künstlergruppen aber besonders deutlich hervortretenden Problem des Verhältnisses von Individualität und Kollektivität, von Kreativität und Konformität, beginnt Thurn mit einem Überblick über verschiedene Künstlertypen und Vergemeinschaftungsformen in der Sphäre der Kunst. Dabei stellt er fest, dass die Künstlergruppe zumindest als wichtiger Bestandteil des Kunstbetriebs ein modernes Phänomen ist. Gleichwohl wird betont, und dies macht Thurns Ansatz für uns interessant, dass die Form und Organisation - und damit auch die Benennung - solcher Künstlerzusammenschlüsse äußerst vielfältig sein kann: »Deren Organisation und Kulturgestalt indes kann auf der Basis der verzeichneten Grundtypen äußerst verschieden sein, kann von der festgefügten Kleingruppe über Bund, Bruderschaft und ordensähnliche Gebilde, über Vereine und Verbände bis zu mehr oder weniger abgeschlossenen ›Kolonien‹, diffusen Netzwerken und nur unscharf konturierten ›Bewegungen‹ lokalen, regionalen, nationalen oder gar internationalen Zuschnitts reichen.«25
Ausgehend von dieser Vielfalt möglicher Organisationsformen verweist 23 | Jacoby (2007). 24 | Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang der Beitrag von Wilhelmi (1996a), der, wenn auch aus kunsthistorischem Blickwinkel, aufschlussreiche soziologische Aspekte von Künstlergruppen herausarbeitet, die jedoch weitgehend mit den Aussagen Thurns übereinstimmen. Ähnliches gilt für die Ausführungen von Beyme (2005), S. 98ff., der zusätzlich versucht, die verschiedenen Aspekte von Künstlergruppen in Tabellen und Schemata darzustellen. Eine Vorgehensweise, die bei einem so vielfältigen Untersuchungsgegenstand wenig hilfreich ist. 25 | Thurn (1983), S. 292.
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Thurn zum einen darauf, dass auch die Benennung solcher Zusammenschlüsse stets nur annäherungsweise möglich ist.26 Zum anderen wird vor diesem Hintergrund versucht, gruppensoziologische mit netzwerktheoretischen Ansätzen zu verbinden.27 Zudem skizziert Thurn, dass die in Künstlerzusammenschlüssen zu beobachtende praktische Kollegialität verschiedene Stufen erreichen kann: vom Gedankenaustausch über die künstlerische Kooperation bis zur soziokulturellen Synthese von Kunst und Leben.28 Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Feststellung, dass innerhalb der Gruppe »die zumindest zeitweilige Verdichtung persönlicher Beziehungen zu intensiven Graden der Freundschaft [...] [unerläßlich ist], ohne daß damit Konflikte, Divergenzen und Konkurrenzen ganz ausgeklammert wären« 29 . Innerhalb von Künstlergruppen ist also eine Verbindung von fachlicher und freundschaftlicher Ebene zu erkennen, gleichzeitig ist die Freundschaft keine Vorbedingung für die Zusammenarbeit und kann im Zeitverlauf deutlichen Wandlungen oder Konstellationsänderungen unterworfen sein. Vor allem aber schließt sie Phänomene des Konflikts und der Konkurrenz nicht aus, sondern ist mit diesen verwoben, hängt von ihnen ab, verändert sich mit ihnen. Auf dieser Basis und mit diesen theoretischen Vorüberlegungen wird dann an verschiedenen Beispielen entlang30 ein Modell für den typischen Verlauf bzw. die typischen Merkmale und Probleme künstlerischer Gemeinschaften entwickelt, wobei insgesamt elf verschiedene Aspekte berücksichtigt werden. Darunter finden sich erstens eher statistische Überlegungen zur lokalen Situierung und zur Altersstruktur, zweitens Analysen der Organisationsstruktur der Gruppe in ihren Anfängen und in der spätestens mit dem Gruppenwachstum einsetzenden Differenzierungsphase, die sich in einer Zentrierung um eine Führungsperson und der Herausbildung eines Gruppenkerns äußert. Drittens werden die programmatischen Aussagen in den Blick genommen, viertens werden Untersuchungen zum Umfeld und Außenverhältnis der Gruppe durchgeführt, und wird fünftens die Frage nach den Ursachen für Konflikte sowie für innere und äußere Auflösungstendenzen, die schließlich das Ende der Gruppe herbeiführen, gestellt. Versucht man, die S.I. in diesen Ablauf einzuordnen, so wird schnell deutlich, dass es - neben einigen Aspekten, die auf die S.I. durchaus zutreffen oder zu ihrem Verständnis beitragen können - viele Merkmale gibt, bei denen die S.I. in ihren Eigenheiten genau konträr zu Thurns 26 | Vgl. Thurn (1983), S. 315, Anmerkung 12. 27 | Thurn bezieht sich bei der Netzwerktheorie vor allem auf Kadushin (1976), der sich mit netzwerkartigen Strukturen bei Intellektuellen und Wissenschaftlern und nur am Rande bei Künstlern - befasst. 28 | Vgl. Thurn (1983), S. 292. 29 | Ibidem. 30 | Thurn bezieht sich hierbei unter anderem auf die Nazarener, die Fauves, die Brücke, den Blauen Reiter, den Deutschen Werkbund, den Surrealismus, CoBrA und die Gruppe 53.
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Überlegungen steht, und weitere, deren Anwendung auf die S.I. nur wenig Sinn ergibt. Allerdings sollte man diese Probleme der Anwendung auf die S.I. nicht lediglich dem idealtypisch argumentierenden Analyseansatz Thurns anlasten, sondern vielmehr darauf hinweisen, dass sich diese zum Teil aus einigen Besonderheiten der S.I. ergeben, die deren Einordnung unter das Etikett der Künstlergruppe insgesamt in Frage stellen können. Denn auch wenn sich die S.I. aufgrund der Tätigkeiten ihrer Mitglieder bis 1962 zunächst als Künstlergruppe beschreiben lässt, so gilt es festzuhalten, dass der Künstlerbegriff in der S.I. selbst sehr umstritten ist: sei es als Bezeichnung für den Einzelnen, sei es mit Blick auf die mit dem Künstlerdasein verbundenen kommerziellen Aspekte oder in Bezug auf die Frage nach der Rolle der Kunst überhaupt. Bereits in der Phase, in der die S.I. noch größtenteils aus Künstlern bestand, ist der Kunst- und Künstlerbegriff Gegenstand der internen Auseinandersetzung und die S.I. nach eigener Auffassung keine klassische Künstlergruppe. Diese Situation wird nach dem Austritt und Ausschluss der meisten Künstler im Februar und März 1962 noch deutlicher, da sich unter den verbleibenden Mitgliedern kaum noch jemand befindet, der sich selbst als Künstler bezeichnen würde. Doch was sind die Mitglieder, was ist die S.I. dann? Und mit welchen Forschungsansätzen kann man sich ihr nähern? Hier erscheint es sinnvoll, den Blick von der recht engen Kategorie des Künstlers auf die etwas weitere des Intellektuellen31 zu lenken. Die S.I. ist eine Gruppe, die in langen internen Auseinandersetzungen von der Kunst ausgehend eine gesellschaftskritische Position entwickelt, diese nach und nach publik macht und im Mai 1968 auch aktiv in das politische Geschehen eingreift, sich engagiert. Vergleicht man dies mit einer 31 | Die Kategorie des Intellektuellen und der Intellektuellengruppe ist in der Soziologie umfangreicher untersucht worden als die der Künstlergruppe. Ein Überblick über die Begriffsgeschichte findet sich in Schlich (2000). Zur Kategorie des Intellektuellen und seiner gesellschaftlichen Position und Funktion im Allgemeinen ist zunächst auf die grundlegenden Arbeiten von Karl Mannheim zur Wissenssoziologie (vgl. Mannheim (1929) und Mannheim (1964)) sowie auf die von Alfred Weber geprägte und von Mannheim aufgegriffene Kategorie der ›freischwebenden Intelligenz‹ zu verweisen. Genannt seien des weiteren exemplarisch die allgemein gehaltene Studie zu Intellektuellen von Martin (1965), S. 184ff. und der breit angelegte Überblick über die Rolle des Intellektuellen in den letzten gut zweihundert Jahren bei Gilcher-Holtey (2007b), bei dem der Schwerpunkt jedoch deutlich auf den Transformationen des Intellektuellenbegriffs im 20. Jahrhundert liegt und der dabei auch die S.I. in den Blick nimmt (vgl. Gilcher-Holtey (2000)). Die Rolle des Intellektuellen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist zudem umfangreich und ländervergleichend aufgearbeitet in Bluhm (2006). Zu nennen ist ebenfalls der vielfältige Sammelband von Faber (2000), bei dem vor allem auf den Aufsatz von Frese (2000) zu verweisen ist, der sich um einen allgemeinen Ansatz zur Funktionslogik von IntellektuellenAssoziationen bemüht. Zudem sind die Arbeiten von Baier (1998); Bock (1998) und Peter (2001) zu erwähnen, die sich mit der Figur des Intellektuellen im deutschfranzösischen Vergleich befassen und schließlich die für die vorliegende Arbeit aufschlussreichsten Untersuchungen zu Intellektuellengruppen von Beilecke (2005); Eßbach (1988); Gottraux (1997); Moebius (2006) und Rieffel (1993).
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der gängigen Definitionen des Intellektuellen, so ergeben sich deutliche Übereinstimmungen. Denn als Intellektuelle gelten Personen, »[...] die auf wissenschaftlichem, künstlerischem, literarischem oder journalistischem Gebiet tätig sind, auf diesem Gebiet eine gewisse Kompetenz erworben haben, in die öffentlichen Auseinandersetzungen und Diskurse kritisch intervenieren und Position beziehen. [...] Intellektuelle kann es [...] in unterschiedlichen politischen Lagern, Strömungen oder Bewegungen sowie innerhalb und außerhalb institutioneller Bindungen geben und sie können unterschiedlichen sozialen Klassen und Schichten angehören.«32
Die vielfältigen Betätigungsfelder des Intellektuellen lassen diesen Begriff zunächst für die S.I. zutreffend erscheinen, Gleiches gilt für die Feststellung, dass dieser sowohl innerhalb als auch außerhalb institutioneller Kontexte agieren kann. In diesem Zusammenhang ist gerade mit Blick auf die S.I. die etwas genauere Typisierung des Intellektuellen anhand seiner Stellung zur Gesellschaft, wie sie bei Wolfgang Eßbach zu finden ist, von Bedeutung. Drei Typen lassen sich unterscheiden: »[...] sei es der Typ des sich in den Massenbewegungen auflösen wollenden Intellektuellen, der Typ des randständigen, in subkulturellen Gruppen sich bewegenden Intellektuellen oder der Typ, der mit Valéry sagen würde: ›L’esprit abhorre les groupements‹.«33 Bei der S.I. lassen sich alle drei Typen finden bzw. sorgt die Frage, welcher Art die eigene Tätigkeit sein soll, für beständigen Diskussionsbedarf.34 Ursprünglich sind die meis32 | Peter (2001), S. 240. 33 | Eßbach (1988), S. 18. 34 | Die personelle Umstrukturierung der Gruppe im Jahr 1962 ist dabei als Abwendung vom künstlerischen hin zum politischen Feld aufzufassen und beinhaltet eine gewisse Annäherung an den Typus des revolutionären Intellektuellen der neuen Linken (vgl. Gilcher-Holtey (2007a)). Die S.I. befindet sich zudem im Spannungsfeld der zum damaligen Zeitpunkt neben- und gegeneinander stehenden Typen des Intellektuellen (einen ersten Überblick zu den Abgrenzungsprozessen insbesondere zwischen der S.I. und dem Intellektuellen als Experten liefert der Aufsatz von Brun (2009). Brun arbeitet momentan bei Gisèle Sapiro auch an einer thèse zu diesem Themenfeld.). Am deutlichsten ist ihre Abgrenzung wohl gegenüber dem ›allgemeinen Intellektuellen‹, wie er prototypisch von Jean-Paul Sartre repräsentiert wird; ebenso klar jedoch distanziert sie sich vom klassisch-marxistischen Intellektuellen, wie er z.B. von Louis Althusser verkörpert wird. Aber auch von dem diesen Typ im Mai 1968 mehr und mehr ablösenden ›revolutionären Intellektuellen‹ der neuen Linken, als deren Vertreter sie selbst wahrgenommen wird, versucht sie sich im und nach dem Mai 1968 ebenfalls abzugrenzen. Beim einige Jahre später von Foucault gegen diese drei Typen entwickelten ›spezifischen Intellektuellen‹ sind einige Schnittmengen mit dem Selbstverständnis der S.I. auszumachen - vor allem die von Foucault diagnostizierte Ubiquität der Macht, die sich gerade auch in den Sphären des Wissens und des Diskurses ausbreitet, in denen der Intellektuelle selbst tätig ist, ließe sich mit der Spektakel-Diagnose in Einklang bringen (vgl. Foucault (1972) und Foucault (1978)). Doch auch hier gibt es klare Differenzen, da der bei der S.I. stets betonte experimentelle Charakter der Kritik und ihre Ablehnung der Spezialisierung der foucaultschen Konzeption des Intellektuellen als wissenschaftlichem Experten entgegenstehen (vgl. Foucault (1976), S. 148). So schwierig bereits die Kategorisierung der S.I. als intellektuelle Gruppe an sich ist, so problematisch ist
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ten Mitglieder der S.I. wohl dem subkulturellen Typus zuzuordnen, der jedoch vor allem bis 1962 ständig mit der Kategorie Valérys, die vor allem für die Künstler bezeichnend sein dürfte, in Konflikt gerät. Zunächst, und hier kann man wieder an Thurn anknüpfen, handelt es sich also um den grundlegenden Konflikt von Solitarismus und Sozialität. In der weiteren Entwicklung steht dann mehr und mehr die Frage im Mittelpunkt, inwieweit die subkulturell verankerte S.I. sich in eine Massenbewegung verwandeln kann oder muss bzw. inwiefern eine Zusammenarbeit mit anderen (Massen)bewegungen anzustreben ist. Diese Typologie dient also nicht dazu, die S.I. gegenüber anderen Gruppierungen abzugrenzen, sondern repräsentiert die innerhalb der S.I. zu findenden Positionen der Mitglieder einerseits und den Wandel der Gruppenauffassungen andererseits, sie eröffnet also ein bei der S.I. zentrales Spannungsfeld der Selbstpositionierung.35 Ähnliches gilt für die obige Feststellung, dass Intellektuelle aus verschiedenen Klassen und Schichten stammen können. Auch dieses Kriterium dient weniger der Abgrenzung der S.I. nach außen, sondern verweist auf die Vielfalt in ihrem Inneren. Auch mit Blick auf die verschiedenen Positionen, die Intellektuelle einnehmen können, ist für die S.I. festzustellen, dass sie diese in ihrem Inneren enthält. Sicherlich unterscheiden sich die Mitglieder nicht fundamental in ihren Ansichten, sonst wäre es wohl kaum zum Zusammenschluss gekommen, aber es gibt doch immer wieder und in Bezug auf verschiedene, teils auch grundlegende theoretische Ansätze Meinungsverschiedenheiten, die
auch der Versuch ihrer Zuordnung zu einem Typus von Intellektuellen. Wenn überhaupt, ließe sich eine solche nicht für die Gruppe insgesamt, sondern lediglich für die einzelnen Mitglieder unternehmen. Die Zuordnung der einzelnen Mitglieder zu den verschiedenen Typen von Intellektuellen - in der Absicht, die internen Konflikte der S.I. u.a. als Auseinandersetzungen zwischen diesen Typen zu rekonstruieren ist jedoch aus zwei Gründen kritisch zu sehen: Zum einen gibt es eine Vielzahl von Personen, die sich nicht klar in eine der Kategorien einteilen ließen oder eine solche Charakterisierung vehement ablehnen würden, und zum anderen ist eine Analyse, die vom Gegenstand, von der Gruppe, vom konkreten Konflikt und seinem Inhalt ausgeht, für die S.I. wesentlich ergiebiger, als wenn man von Beginn an mit einem solchen Schema an die Gruppe herantritt, sie in ein Raster zwingt, dem sie selbst permanent zu entgehen versucht und das zudem als eher strukturelle Perspektive den Blick auf die Inhalte, die Funktionsweise und auf die theoretische Fundierung dieser internen Konflikte verstellt. Des Weiteren würden die starren Kategorien aufgrund der Wandlungsfähigkeit der Positionen nicht nur der Gesamtgruppe, sondern auch der Einzelmitglieder an ihre Grenzen stoßen, und man würde Gefahr laufen, die situativen Verschiebungen der Konfliktlinien auszublenden. 35 | Die S.I. ist ein Beispiel für die im Umfeld des Mai 1968 erneut diskutierten Fragen nach der gesellschaftlichen Rolle des Intellektuellen, nach den Möglichkeiten des Zusammenschlusses von Intellektuellen in Gruppen sowie nach dem Verhältnis der Intellektuellen untereinander (vgl. Gilcher-Holtey (2007c) und Gilcher-Holtey (2007f)). Diese Fragen werden in der Folge vor allem von Bourdieu, Habermas und Foucault aufgegriffen und kontrovers diskutiert (vgl. einführend zur Auseinandersetzung zwischen Habermas und Bourdieu Gilcher-Holtey (2007e) sowie zur Position von Foucault Gilcher-Holtey (2007d) sowie Foucault (1972) und Foucault (1976)).
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den Gruppenzusammenhalt auf die Probe stellen oder ihn gegebenenfalls sogar sprengen. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die bis hierher skizzierten Überlegungen für die S.I. indirekt sehr aufschlussreich sein können. Allerdings ist dabei die Besonderheit festzustellen, dass viele der Kriterien, die zur Abgrenzung verschiedener Typen von Intellektuellen bzw. Intellektuellengruppen untereinander oder auch nach außen entwickelt wurden, bei der S.I. auf innere Differenzierungen hinweisen. Was dazu dienen sollte, das Phänomen der Intellektuellengruppe greifbar zu machen und in Anwendung auf den konkreten Fall dessen Charakteristika zu erfassen, führt bei der S.I. zur Feststellung, dass deren Besonderheit gerade in ihrer Offenheit, im Konflikt von Vielfalt in der Einheit, in der Suche nach Kohärenz in der Differenz liegt.36 Neben dieser zur Intellektuellendefinition querliegenden Position der S.I. gibt es jedoch weitere Aspekte, die eine Anwendung dieser Kategorie problematisch erscheinen lassen. Der erste betrifft die kritische Teilnahme und Positionierung im öffentlichen Diskurs. Diese ist bei der S.I. zumindest nur eingeschränkt feststellbar. Sicherlich hat sie einen spürbaren, zunächst vor allem semantischen Einfluss auf den Skandal von Straßburg 1966 sowie auf den Mai 1968 und ist an ihm im Rahmen des Comité Enragés/Situationnistes auch direkt beteiligt, allerdings wird jenseits dieses Moments die öffentliche Wirkung der S.I. sehr überschaubar und ihre subkulturelle Position deutlich. Denn trotz aller Intensität und Schärfe ihrer Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen künstlerisch-politischen und intellektuellen Umfeld spielte sich diese doch in erster Linie in der I.S. ab, deren Leserkreis, bei einer langsam wachsenden Auflage zwischen knapp 300 und 5000 Exemplaren und nicht zuletzt aufgrund der geheimbundartig anmutenden Verkaufspolitik, ebenfalls eher dem subkulturellen Bereich zuzuordnen ist.37 Die S.I. entzieht sich bis 1966 bewusst einer Positionierung im öffentlich sichtbaren intellektuellen Feld. Vor allem jedoch verwahrt sie sich als Ganze wie ihre einzelnen Mitglieder gegen das Etikett des Intellektuellen, zumindest in seiner klassischen Form, wie dies in den Auseinandersetzungen mit zeitgenössischen, der S.I. inhaltlich eigentlich nahe stehenden Intellektuellen wie Henri Lefebvre besonders deutlich wird.38 Zudem lehnt sie die sonst im intellektuellen Milieu häufig erkennbare 36 | Hier werden strukturelle Parallelen zur Gruppe der Junghegelianer erkennbar (vgl. Eßbach (1988), S. 18ff.). 37 | Welch verzerrende Bedeutung der Mai 68 für die Wahrnehmung der S.I. im zeitgenössischen Umfeld und in der ersten Phase der Aufarbeitung hat, zeigt der Aufsatz von Bartsch (1976). Hier erscheint die S.I. als europaweit agierende, straff organisierte Massenbewegung, der jederzeit der Anstoß zur nächsten Revolution zuzutrauen ist. 38 | Dieser Aspekt der Klandestinität und die subkulturelle Stellung der S.I. im Feld der Intellektuellen verweist - in Kombination mit der sozialen Stellung einiger Mitglieder - zudem auf den Begriff der Bohème. Vgl. einführend zur Bohème als intellektueller Subkultur Kreuzer (1971) sowie zum komplexen Verhältnis dieses Begriffs zu demjenigen der Avantgarde Beyme (2005), S. 35ff.
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Herausbildung einer Gefolgschaft oder gar ›Schule‹ mitsamt den darin implizierten Lehrer-Schüler-Verhältnissen strikt ab. Sowohl der Begriff der Künstler- als auch derjenige der Intellektuellengruppe beinhaltet somit neben vielen für die S.I. aufschlussreichen Überlegungen auch einige Schwierigkeiten, die nicht zuletzt dann deutlich werden, wenn man den Widerstand der S.I. gegen solche Kategorisierungen im Blick behält.39 Vor diesem Hintergrund soll nun, nach dem Schritt von der Künstlergruppe zur Intellektuellengruppe, der Begriff ein zweites Mal erweitert werden. In den bisherigen Ausführungen wurde vor allem deutlich, dass sich die S.I. in vielen Aspekten durch Vielfalt einer klaren Definition oder der Zuordnung zu einer solchen entzieht. Gleichzeitig wurde deutlich, dass ein wesentliches Merkmal der Gruppe die interne Auseinandersetzung um verschiedene theoretische Fragenkomplexe ist. Die S.I. ist also zunächst einmal eine diskutierende Gruppe. Sie streitet dabei jedoch weniger um die Wahl des richtigen Tagungsortes der nächsten Konferenz oder über die dort zu konsumierenden Alkoholika, sondern um organisatorische und vor allem theoretische Positionen. Sie versucht, in der Diskussion ihre Ideen zu entwickeln. Vor diesem Hintergrund wollen wir uns der S.I. über Siegfried Kracauers Überlegungen zur ›Gruppe als Ideenträger‹40 nähern, die in gewisser Weise Thurns Problem von Individualität und Kollektivität vorwegnehmen.41 Kracauers Ausgangspunkt ist die These, dass die Idee, selbst wenn sie der Einzelperson entspringen mag, nur von der Gruppe weitergetragen und verwirklicht werden kann. Gleichzeitig jedoch reduziert die Gruppe die in ihr vereinigten Individuen auf ›Werkzeuge der Idee‹, da »in der Gruppe [...] das Individuum überhaupt nur insoweit [gilt], als es die Idee rein verkörpert«42 . Hier wäre zu überlegen, inwieweit dieses Spannungsfeld von Individuum, Idee und Gruppe zur Erklärung gruppeninterner Differenzierungen beitragen kann. Welche Bedeutung hat es, zur Gründergeneration zu gehören, zu denen also, die eine gemeinsame Idee festgestellt und einer Gruppe zur Verwirklichung übergeben haben? Wie unterscheidet sich diese Position von der jener, die die Idee bereits nicht mehr als Idee eines Einzelnen, sondern als Gruppenidee vorfinden und nur noch die Wahl haben, sich ihr anzuschließen (bei 39 | Beispielhaft sei hier verwiesen auf Aussagen wie: »[Es wird] keine Maler geben, sondern Situationisten, die unter anderem auch malen.« Debord (1957d), S. 42f. 40 | Kracauer (1963). Das Konzept der Gruppe als Ideenträger kann im Kern als Anknüpfung Kracauers an die Wissenssoziologie Karl Mannheims verstanden werden, wie dieser sie vor allem in Mannheim (1929) ausgearbeitet hat. Die im Folgenden skizzierte Betonung des kollektiven Charakters der Ideenproduktion und die These von der Erstarrung der Idee im sozialen Zusammenhang der Gruppe bei Kracauer verweisen auf Mannheims zentrale Begrifflichkeiten wie die soziale Seinsgebundenheit des Wissens sowie auf seine Thesen zur allgemeinen und totalen Ideologie. 41 | Ein ähnliches Verständnis von Gruppen und ihrem Verhältnis zu den an ihr beteiligten Individuen findet sich bereits bei Vierkandt (1923), S. 28 und S. 346f. 42 | Kracauer (1963), S. 132.
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Kracauer: sich ihr zu unterwerfen) oder sie abzulehnen und nicht Teil der Gruppe zu werden? Denn die Ideen, die beim Einzelindividuum noch recht flexibel sind, verändern sich mit ihrer Übertragung an eine Gruppe: »[S]o weicht jene anfängliche Elastizität von ihnen und sie verwandeln sich in die geschilderten stark vergröberten Gebilde, die sich schwerfällig und wie einem unerbittlichen Zwange gehorchend vorwärts bewegen«43 . Auch wenn es zu diesem Phänomen der Erstarrung von Ideen im Gruppenkontext sicherlich kommen kann,44 wäre ergänzend zu fragen, ob sich diese Zwänge nicht auch positiv als Chancen deuten lassen,45 ob es nicht genauso plausibel wäre, anzunehmen, dass sich einer Idee ganz neue Entfaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten bieten, wenn sie anstatt von einer von mehreren Personen gedacht und vor allem diskutiert wird. Mit Blick auf die S.I. scheint diese Sichtweise die ergiebigere zu sein. Ideen entwickeln sich hier, ja, sie entstehen teilweise gar erst im Gruppenkontext. Im Aufeinandertreffen der verschiedenen Positionen entsteht Bewegung, resultierend in einer beständigen Modifikation der Idee und somit auch des Ziels. Die Betonung der Starrheit der Idee in der Gruppe führt dazu, dass sich nach Kracauer die Lebensdauer einer Gruppe, »wenn auch nicht ganz, so doch hauptsächlich, nach der des Zieles [richtet], um dessentwillen sie sich konstituiert hat, sie ist jedenfalls schlechthin unabhängig vom Leben und Sterben der sie gründenden Individuen«46 . Was aber, wenn dieses Ziel nicht von Anfang an vorgegeben ist und sich die Gruppe, wie dies Kracauer ja auch selbst annimmt, auf der Basis einer Idee, der eine viel größere Vagheit innewohnt als einem Ziel, formiert, und sich das Ziel genau durch den Wandel der Mitglieder und auch durch die Herausforderungen des gesellschaftlichen Umfelds stets neu formiert? Wenn man die Idee entgegen Kracauer als wandlungsfähig ansieht, so gilt dies auch für das Ziel, das somit den Aspekt des Unerreichbaren impliziert. Eine Gruppe existiert dann in dem Sinne bis zur Erreichung ihres Ziels, als sie solange fortbesteht, wie sie in Bewegung bleibt. Erst das Erstarren der Idee, das Ende der internen Debatte darüber würde das Ende auch der Gruppe bedeuten. Aus den zwei Aspekten der internen Auseinandersetzung um verschiedene Positionen bezüglich der gemeinsamen Idee und den Herausforderungen und Wandlungen des gesellschaftlichen Umfeldes entsteht das bei beinahe allen Gruppen zu beobachtende Phänomen der Spaltung. Kracauer beschränkt dieses Phänomen jedoch vor allem auf den 43 | Kracauer (1963), S. 136. 44 | Dieser Zwangs-Charakter von Gruppen wird auch in aktuelleren gruppensoziologischen Studien immer wieder betont (vgl. Binger (1974) und Claessens (1977), S. 10ff.). 45 | Vgl. Eßbach (1988), S. 45. 46 | Kracauer (1963), S. 141. Kracauer hätte also mit Blick auf die starke Mitgliederfluktuation keine Bedenken, die S.I. als eine Gruppe aufzufassen - zumindest so lange die ihr zugrunde liegende Idee dieselbe bleibt.
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zweiten Aspekt, auf die »taktische Frage, wie in der einen oder anderen Situation am besten zu verfahren sei, damit die Idee, der die Gruppe sich geweiht hat, Realisierung findet«47 . Hier stehen somit Spaltungen von Gruppen durch die Meinungsverschiedenheit über die Praxis der Idee im Mittelpunkt. Mit Blick auf die S.I. muss jedoch noch ein weiterer, vorgelagerter Typ der Spaltung erwähnt werden: Es handelt sich dabei um denjenigen der inhaltlichen, der theoretischen Abspaltung, bei dem es weniger um Fragen der Praxis der Theorie als vielmehr um die Ausarbeitung dieser Theorie selbst geht. Bei dieser Unterscheidung soll es sich jedoch nicht um eine strikte Trennung von Theorie und Praxis handeln, sondern eher um einen jeweils erkennbaren Schwerpunkt der Debatte. Zudem ist unter diesem Typ auch eben genau die Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis als theoretische Frage zu subsumieren. An Kracauers Ausführungen zum Phänomen der Spaltung ist mit Blick auf die S.I. vor allem die Feststellung von Bedeutung, dass »[...][d]ie durch Teilung entstandenen Gruppenindividualitäten [...] sich in der Regel zunächst aufs heftigste [befehden]. Gerade weil sie beide das Erzeugnis einer und derselben Idee sind, muß eine die andere zu vernichten versuchen [...], denn jede glaubt, sie sei die einzige und wahrhafte Darstellung der Idee und fühlt darum in der Existenz der Brudergruppe ihr innerstes Wesen verneint.«48
Interessant ist dieses Sich-gegenseitig-Bekämpfen unter zwei Gesichtspunkten: Erstens ist zu fragen, ob sich bezüglich der Rollenverteilung zwischen radikaler und gemäßigter Gruppe, zwischen Avantgarde und Arrièregarde Unterschiede zwischen verschiedenen Arten der Abspaltung, d.h. zwischen Ausschluss und Austritt, ausmachen lassen. Hier dürfte das Element der Entscheidung besondere Bedeutung erlangen: Derjenige, der die Entscheidungsmacht, sei es über Austritt oder Ausschluss besitzt und zur Anwendung bringt, macht den ersten Schritt, hat sich einen kleinen Vorsprung erarbeitet und sieht sich in dieser Auseinandersetzung als die radikalere Gruppe im Vorteil. Zweitens werden durch dieses Umschlagen von intensiver Zusammenarbeit in gegenseitiges Sich-Bekämpfen Parallelen zwischen Dynamiken der Gesamtgruppe und dem Verhalten in dyadischen Beziehungen deutlich, denn auch eine intensive Freundschaft impliziert die Gefahr, an ihrem Ende in offene Feindschaft umzuschlagen. Hier drängt sich somit abermals die Frage nach der gegenseitigen Beeinflussung von interpersonellen Beziehungen, Theorieproduktion und Gruppenprozessen auf. Da die zu jeder Gruppe gehörenden Spaltungen meist aufgrund verschiedener Auffassungen vom Verhältnis von Idee und Wirklichkeit zustande kommen, wird dieses Problem im Verlauf der Gruppenentwicklung immer wichtiger, und es ist nach Kracauer ein »langsames Sichentfernen von der Idee überhaupt, ihr allmähliches Versinken in der Realität 47 | Kracauer (1963), S. 143. 48 | Ibidem, S. 147.
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zu beobachten«49 . Diese Wandlungen bezüglich der relativen Bedeutung der Idee an sich und der Idee im Verhältnis zur Wirklichkeit lassen sich auch bei der S.I. erkennen und können aufschlussreicher sein als die in der Forschung verbreitete Unterscheidung in eine künstlerische und eine theoretische Phase. »Die Gruppe wird geschaffen durch eine Idee, die Realität werden will, sie ist also ein Gewächs, das in der Welt des Bestehenden noch gar nicht verhaftet. Die Idee zu entfalten und weiter zu dauern ist für sie eines; denn unverbunden mit der Realität, wie sie vorderhand lebt, freischwebend über allem, was Dasein und Schwergewicht hat, leitet sie ja ihre ganze Existenz von der Idee ab, durch die sie in die Welt hineingetrieben wird. Indem sie aber für die Idee eintritt und ihr die Wirklichkeit stückweise erobert, senkt sie selber allmählich ihre Wurzeln in die Realität hinab.«50
Auch wenn Kracauer somit über das Phänomen der Spaltung auf das Verhältnis von Idee und Wirklichkeit, von Theorie und Praxis eingeht, so liegt der Schwerpunkt doch eindeutig auf der Bedeutung der Idee für die Konstitution, die Funktionsweise und Wandlungen einer Gruppe. Auf diese Überlegungen wird im Laufe der vorliegenden Arbeit immer wieder zurückzukommen sein. Dennoch soll in einem letzten Abschnitt der Blick auf die Praxis der S.I. gerichtet und die Frage gestellt werden, was denn unter der Praxis der S.I. überhaupt zu verstehen ist, um so einen letzten Komplex von Arbeiten vorzustellen, die für die Untersuchung der S.I. hilfreich sein können. Dabei ist zu betonen, dass die Frage nach der Praxis der S.I. und nach den bei ihr durchgehend zu beobachtenden Diskussionen über das Verhältnis von Theorie und Praxis hier noch nicht ausführlich dargestellt werden kann, es handelt sich vielmehr um einführende Überlegungen zu diesem Themenkomplex. Worin lässt sich, neben den bereits erwähnten zwei Situationen des Praktisch-Werdens situationistischer Theorie im Skandal von Straßburg 1966 und im Pariser Mai 1968, noch eine Praxis der S.I. erkennen? Zu denken wäre hier mit Blick auf die Frühphase der Gruppe an das öffentliche In-Erscheinung-Treten im Rahmen verschiedener Kunst- oder Architekturausstellungen. Somit wären in dieser Zeit die verschiedenen Kunstwerke und architektonischen Konzepte als Praxis situationistischer Theorie anzusehen. Doch beteiligten sich bis 1962 ja längst nicht alle Mitglieder an dieser Form der Praxis, und spätestens nach dem Ausschluss bzw. Austritt der Künstler verschwand sie völlig aus dem Repertoire der S.I. Wenn man nun fragt, womit die Mitglieder der Gruppe die meiste Zeit verbrachten bzw. was das Ergebnis der intensiven theoretischen Debatten war, so lässt sich die These aufstellen, dass ein zentrales Feld situationistischer Praxis die Textproduktion ist.51 49 | Kracauer (1963), S. 149. 50 | Ibidem. 51 | Vgl. hierzu die Anmerkung von Michèle Bernstein zitiert in: Marcus (1993), S. 367.
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Dieser Ansatz, Text (aber auch Bild und Architekturmodell) als ein Feld der Praxis aufzufassen, bietet - neben den möglichen Anknüpfungen an die Debatte über die performative Bedeutung des Manifests52 einen weiteren Zugang zur S.I.: Anstatt sich ihr mit einem Begriff oder einer Definition wie Künstler- oder Intellektuellengruppe quasi von außen zu nähern, untersucht man das Phänomen gemeinsamer theoriebasierter Praxis in Form von Textproduktion (sei es in wirklich kollektiver Form oder zumindest als individuelle im Kontext eines Kollektivs) und nähert sich so den Funktionslogiken der Gruppe gleichsam von innen. Dies ist nicht zuletzt deshalb ein wichtiger ergänzender Ansatz, da in diesem Bereich verstärkt auf Arbeiten aus dem Bereich der Kunstgeschichte oder der Literaturwissenschaft zurückgegriffen werden und so der soziologische Ansatz erweitert werden kann. Neben der Vielzahl von Arbeiten zu DADA und dem Surrealismus53 sind hier in erster Linie die Untersuchungen zur Gruppe SPUR zu erwähnen. Diese sind besonders aufschlussreich, da bei der SPUR als Gruppe innerhalb der S.I. eventuell bereits Unterschiede in der Art der kollektiven Text-/Bildproduktion deutlich werden, die zum Verständnis der Auseinandersetzung zwischen der SPUR und der restlichen S.I. beitragen können. Am umfangreichsten befasst sich die Arbeit von Vera Zimmer54 mit den Gemeinschaftsarbeiten der Gruppe SPUR und berücksichtigt dabei auch die Phase ihrer Mitgliedschaft in der S.I.55 So disparat diese Beispiele bezüglich ihrer Forschungsansätze und der 52 | Auch wenn die Textgattung des Manifestes von der S.I. im Vergleich zu den historischen Avantgarden seltener benutzt wird, wäre in diesem Kontext die Frage interessant, inwiefern der Manifestantismus/die Textproduktion der S.I. als Situationskonstruktion zu verstehen ist. Dabei wäre zunächst die Gattung des Manifests genauer zu beschreiben (vgl. Fähnders (1997)), um danach die performative Bedeutung des Manifests im Rahmen avantgardistischer Bewegungen allgemein zu untersuchen (vgl. Mersch (2002) sowie Fähnders (2000)). Auf dieser Basis könnten zunächst die manifestantistischen Strategien DADAs (vgl. Backes-Haase (1997) und Leroy (1997)) und des Surrealismus (vgl. Barck (1997)) analysiert werden, um abschließend zu fragen, inwieweit sich die Artikel und Stellungnahmen der S.I. in der I.S. in die Traditionslinie des Manifestes einordnen lassen und ihnen eine performative Bedeutung für die Situationskonstruktion zukommt. Für die S.I. wäre dies besonders in Bezug auf das von ihr diskutierte Verhältnis von Theorie und Praxis interessant: Ließen sich die situationistischen Texte als performative Manifeste und somit als Situationskonstruktion bezeichnen, so würde sich die Gegenüberstellung von Text=Theorie vs. Praxis auflösen. Der Text wäre nun theoretische Praxis und praktische Theorie zugleich, Analysieren/Schreiben und Handeln fielen in eins. 53 | Hier sei exemplarisch verwiesen auf die Arbeiten von Asholt (1997a); BackesHaase (1997); Bandier (1999); Berg (1999); Bergius (1993); Brenneke (2000); Nadeau (1965); Richter (1964) und Vowinckel (1989). 54 | Zimmer (2002). Des Weiteren sind in diesem Kontext die Arbeiten von Bange (1996); Czerny (1995) und Czerny (2008) zu erwähnen, die sich, mit unterschiedlichen Schwerpunkten, ebenfalls mit der Frage nach der Text- und Bildproduktion im Rahmen der Gruppe SPUR auseinandersetzen. 55 | Daneben sind weitere Untersuchungen aus dem Bereich der Kunstgeschichte zu nennen, die sich zwar mit Gruppen beschäftigen, mit Gruppen jedoch, die zur S.I. sowohl zeitlich als auch inhaltlich eine gewisse Distanz aufweisen wie u.a. die Arbeiten von Bachleitner (1976) sowie Gallwitz (1981) zu den Nazarenern, diejenige
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untersuchten Beispiele auch sein mögen, als Modell können sie auch für die vorliegende Untersuchung hilfreich sein. Sie kehren die Analyserichtung um, beginnen nicht mit einem Begriff, sondern mit dem Material, mit der Praxis. Denn so wichtig die Frage nach den Begrifflichkeiten auch sein mag und so sinnvoll es ist, sie nach Möglichkeit vorab zu klären, bei der Untersuchung der S.I. erscheint dies unmöglich. Ginge man z.B. vom oben skizzierten soziologischen Begriff der Gruppe aus, so müsste man schnell feststellen, dass das für eine solche Untersuchung notwendige Material nicht vorhanden ist, dass sich die S.I. als vergangene Gruppe den meist empirischen Ansätzen entzieht, genauso wie sie durch schematische Modelle des typischen Verlaufs von Künstlergruppen wie bei Thurn nicht in ihrer Gesamtkomplexität fassbar wird. Die Texte der Gruppe sind jedoch vorhanden und können, ergänzt durch Briefwechsel und interne Dokumente, als Praxis der Theorie aufgefasst werden, um auf dieser Basis die Gruppenprozesse als weiteres Feld der Praxis zu beleuchten und die Besonderheiten der S.I. bezüglich der kollektiven Theorieproduktion und der Gruppenpraxis herauszuarbeiten.
2.1.3 Soziologie der interpersonellen Beziehungen Nach diesen Ausführungen zu begrifflichen und theoretischen Zugängen zur S.I. als Ganzer bleibt in einem zweiten Schritt die Frage zu klären, wie es im Inneren der Gruppe aussieht, ob es jenseits des formalen Kriteriums der Mitgliedschaft zwischen den einzelnen Personen in der S.I. weitere Verbindungen gibt, die die Gruppe zusammenhalten oder auch zu Konflikten führen und wenn ja, welcher Art diese Beziehungen sind und mit welchen Begriffen sie sich eventuell beschreiben lassen. Dabei sei vorab auf ein grundlegendes Problem hingewiesen, das sich als ›hermeneutisches Dilemma‹ beschreiben lässt.56 Es handelt sich dabei um die für die vorliegende Arbeit zentrale Schwierigkeit, dass Freundschaft bzw. allgemeiner formuliert, interpersonelle Beziehungen sowohl Untersuchungsgegenstand als auch begriffliche Voraussetzung der Arbeit sind. Beziehungen sollen im Verlaufe dieser Arbeit untersucht werden, es gilt herauszuarbeiten, in welchen Formen diese innerhalb der S.I. auftreten und in welchem Wirkungszusammenhang sie jeweils mit den Phänomenen der Gruppenprozesse und der Theorieproduktion stehen. Die verschiedenen persönlichen Beziehungen und ihre exakte Beschreibung stehen so betrachtet am Ende der Arbeit. Gleichzeitig jedoch muss dieser Untersuchung zumindest ein grober Begriff dieser Beziehungen zugrunde gelegt werden, damit klar ist, wonach im Folgenden gesucht von Hoffmann (2005) zur Künstlergruppe Brücke sowie die von Rogers (1970) zum Impressionismus. 56 | Dieses Dilemma lässt sich in abgeschwächter Form auch in Bezug auf die verschiedenen Gruppenbegriffe konstatieren. Hier zeichnet sich zwar das gleiche Grundproblem ab, es wird aber nicht so zentral, da das Begriffsfeld der Gruppe weniger stark ethisch-moralisch aufgeladen ist als das der Nahbeziehungen und der Freundschaft.
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wird. Somit steht der Freundschaftsbegriff bzw. derjenige der interpersonellen Beziehungen zugleich am Anfang der Arbeit. Um dieses Problem, wenn auch nicht zu lösen, so doch wenigstens handhabbar zu machen, wird hier vorgeschlagen, sich nicht auf den Begriff der Freundschaft zu beschränken, sondern diesen lediglich als Ausgangspunkt zu nehmen, ihn durch zusätzliche Kategorien zu ergänzen und zunächst allgemein von persönlichen oder interpersonellen Beziehungen zu sprechen.57 Für diesen Begriff der persönlichen Beziehungen gilt es dann Kriterien zu entwickeln sowie verschiedene Typen von Beziehungen vorzustellen, die als eine Art Leitfaden der vorliegenden Untersuchung dienen können. Der Begriff der Freundschaft wird jedoch nicht ausgeklammert, er läuft vielmehr auf zwei Arten im Hintergrund mit. Zum einen ist er im weiteren Konzept der interpersonellen Beziehungen impliziert, sodass einzelne Kriterien für Letztere auch auf Freundschaft anwendbar sind bzw. aus dem Bereich der soziologischen Freundschaftsforschung stammen. Zum anderen gibt es verschiedene Formen persönlicher Beziehungen, die in Abgrenzung zur Freundschaft als sie ergänzende, ihr vorausgehende oder nachfolgende Kategorien entwickelt werden können. Zu denken wäre hier an Kategorien wie Geistes- und Gesinnungsgenossenschaft, Sympathie, Liebe, Kameradschaft, Bekanntschaft, Fachgenossenschaft und Zusammenarbeit oder Kracauers Kategorie der ›mittleren Freundschaft‹ etc.58 Gerade für das in der vorliegenden Arbeit zentrale Verhältnis zwischen Freundschaft und Zusammenarbeit bzw. Gesinnungsgenossenschaft ist nicht nur die Frage von besonderer Bedeutung, inwiefern sich Freundschaft und Zusammenarbeit gegenseitig beflügeln oder lähmen, sondern es ist ebenso deren Verhältnis auf einer zeitlichen Ebene zu untersuchen, um herauszuarbeiten, ob Freundschaft die Grundlage oder das Ergebnis von Zusammenarbeit darstellt oder sich Erstere als ›surplus‹ auf Basis der Letzteren entwickeln kann (aber nicht muss). Dieses Umkreisen des Freundschaftsbegriffs wird dort besonders aufschlussreich, wo es sich um Formen interpersoneller Beziehungen handelt, die als das Andere der Freundschaft oder als Ergebnis des Scheiterns und des Umschlagens einer Freundschaft aufzufassen sind. Hier sind Kategorien wie Kon57 | Es wird hier explizit nicht von Nah-Beziehungen gesprochen, da der Begriff der Nähe für die räumlich weit zerstreute und vom Wechsel von Präsenz und Latenz geprägte S.I. zu einschränkend wäre oder in einer Aufweichung des Begriffs der Nähe dieser auch auf die unklare Kategorie der geistigen Nähe ausgeweitet werden müsste. 58 | Die ansonsten in den Sozialwissenschaften und insbesondere in der Ethnologie grundlegende Abgrenzung zwischen Freundschaft und Verwandtschaft ist für die vorliegende Arbeit nicht von Bedeutung, da es in der S.I. mit Theo und Édith Frey sowie Asger Jorn und Jørgen Nash als Geschwisterpaaren und mit Giuseppe Pinot-Gallizio und Giors Melanotte als Vater-Sohn-Dyade lediglich drei Verwandtschaftsverhältnisse gibt, die jedoch als solche für die Theorieproduktion und die Gruppenprozesse keine besondere Rolle gespielt haben. Sie kann daher hier ausgeklammert werden (vgl. Bell (1999), S. 6ff.; Schmidt (2007); Vowinckel (1995) und Wolf (1968)).
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kurrenz, geistige oder finanzielle Gönnerschaft, Feindschaft, aber auch Indifferenz ins Auge zu fassen. Anstatt die Vielzahl von Begriffsbestimmungen, die sich in der Soziologie zur Freundschaft finden lassen, hier im Detail wiederzugeben, sollen verschiedene, in den unterschiedlichsten Untersuchungsansätzen zur Freundschaft59 immer wieder auftretende Kriterien und Eigenschaften von Freundschaft herausgearbeitet werden. Dabei muss vorab, ähnlich wie bei den soziologischen Forschungen zur Gruppe, noch auf ein methodisches Problem verwiesen werden, welches vor allem in den jüngeren Ansätzen zu diesem Phänomen zu erkennen ist: »Die Soziologie [...] versucht Freundschaft nicht zu verstehen, d.h. ihren genuinen Sinn zu beschreiben, sondern sie ›in den Griff zu bekommen‹. Es werden abstrakte Kategorien erfunden, deren Zweck vor allem darin besteht, die Freundschaft für eine quantitative empirische Forschung zu operationalisieren.«60
Bei der Untersuchung von Freundschaft werden häufig sehr detaillierte Kriterienkataloge entwickelt, die vor allem bei der Erfassung konkreter Freundschaften durch Beobachtung und durch standardisierte Interviews zur Anwendung kommen können.61 Ein solcher Ansatz ist jedoch für unseren Untersuchungsgegenstand nicht angebracht. Welche allgemeinen und eher inhaltlich-theoretisch entwickelten Kriterien lassen sich nun aber für die Freundschaft ausfindig machen?62 Zunächst lässt sich Freundschaft als eine Beziehung beschreiben, »die ohne spezifische Rollen-Verpflichtung - freiwillig und auf längere, nicht fixierte Dauer eingegangen wird. Der Freundschaft fehlt eine klare Zielbezogenheit gemeinsamen Handelns.«63 Sowohl der Aspekt der Freiwilligkeit als auch derjenige der Dauerhaftigkeit werden in beinahe allen Definitionen als zentrale Merkmale von Freundschaft betont. Die fehlende Zielbezogenheit und Rollen-Verpflichtung deuten auf ein großes Aushandlungs- bzw. Entwicklungspotential. Mit der fehlenden RollenVerpflichtung eng verbunden ist die ebenso häufig zu findende Feststellung, dass es sich bei Freundschaft um eine Beziehung zwischen Gleichen handelt.64 All diese Merkmale verweisen auf eine relativ ausgepräg59 | Ein Überblick zu den soziologischen und sozialpsychologischen Ansätzen findet sich bei Schinkel (2003), S. 29ff. 60 | Ibidem, S. 29. 61 | Vgl. für einen solchen Item-Katalog z.B. Argyle/Henderson wiedergegeben in Nötzoldt-Linden (1994), S. 100. Zur Kritik an dieser empirischen Ausrichtung vgl. Allan (1989), S. 6ff. 62 | Dabei soll eine für die vorliegende Arbeit zulässige Beschränkung auf das moderne Freundschaftsverständnis erfolgen. Vgl. zu den historischen Freundschaftsauffassungen und ihren Wandlungen u.a. Schinkel (2003), S. 155ff. 63 | Hartfiel (1972), S. 198. 64 | Das Konzept ›Beziehung unter Gleichen‹ und das der Symmetrie sind miteinander verwoben, aber nicht zwangsläufig deckungsgleich. Auch unter Gleichen kann es zu asymmetrischen Tauschbeziehungen kommen, so wie umgekehrt in Beziehungen zwischen Ungleichen aus Sicht der Beteiligten symmetrischer Austausch denkbar ist.
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te Selbstgenügsamkeit und Selbstbezogenheit der Freundschaft. Gleichzeitig jedoch wird immer wieder hervorgehoben, dass die Freundschaft eine explizit soziale Funktion innehat und daher nicht unabhängig von gesellschaftlichen Umständen gesehen werden darf: »Die Freundschaft erfüllt in Zeiten sich auflösender Gesellschaftsstrukturen [...] eine gesellschaftsstabilisierende und die beteiligten Personen vor psychischen Konflikten und Belastungen bewahrende Funktion.«65 Um diese stützende Funktion zu gewährleisten, muss Freundschaft von Vertrauen und Loyalität geprägt sein.66 Auf diese Weise entsteht in ihrem Inneren wiederum emotionale Verbundenheit und Intimität.67 Zudem wird Freundschaft meist als symmetrische Beziehung beschrieben, in der es zu Tauschhandlungen kommt. Diese Tauschhandlungen werden dabei entweder als strenge Kosten-Nutzen-Rechnungen vorgestellt, wie dies bei den sozialpsychologischen Ansätzen68 und der Rational-ChoiceTheorie69 zu beobachten ist, oder allgemeiner als Reziprozität beschrieben. Über den Begriff der Reziprozität gelangt das Element der Verpflichtung in die Freundschaft, allerdings weniger als einklagbares Recht desjenigen, der noch eine Gegengabe erwartet, sondern als Verpflichtungsgefühl des potentiellen Gebenden. Freundschaft ist nicht einklagbar, sie beruht, ähnlich wie das Vertrauen, auf ›riskanten Vorleistungen‹70 , die nicht sofort erwidert werden müssen und so den zeitlichen Aspekt von Freundschaft betonen. Vor diesem Hintergrund ist Freundschaft nur in ihrer Gesamtheit als potentiell symmetrisch anzusehen, im Einzelmoment ist sie hingegen stets von der Asymmetrie einer noch nicht erwiderten Vorleistung geprägt - ja, durch diese Asymmetrie kann sie sich überhaupt erst fortsetzen. Zu fragen ist in diesem Zusammenhang vor allem, was in der Freundschaft ausgetauscht wird und in welchem Sinne diese Tauschhandlungen, nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich reziprok und symmetrisch sind. Kann die Symmetrie nicht gerade dadurch entstehen, dass vollkommen unterschiedliche Dinge in den Tausch eingebracht werden, dass also gerade nicht A mit A‹ und B mit B‹, sondern A mit B‹ und B mit A‹ vergolten wird? Ist es vor diesem Hintergrund angebracht, sich dabei auf den Begriff der gegenseitigen Hilfe zu beschränken, wie dies bei Duck zu beobachten ist,71 oder bieten die möglicherweise unterschiedlichen ›Inhalte‹ der reziproken Tauschhandlung nicht gerade die Möglichkeit zwischen verschiedenen Typen von 65 | Hartfiel (1972), S. 198. Zum Konzept der Freundschafts- bzw. Gruppenbildung als Krisenphänomen vgl. u.a. auch Tenbruck (1964). 66 | Zu der erst in den letzten Jahren verstärkt ins Blickfeld der Soziologie gelangten Kategorie des Vertrauens allgemein vgl. Endress (2002) und Hartmann (2001) sowie mit Fokus auf die Bedeutung von Vertrauen in binären Interaktionen vgl. Antfang (1994). 67 | Vgl. Wiese (1966), S. 466. 68 | Vgl. Schinkel (2003), S. 58ff. 69 | Vgl. mit Blick auf die auch für Freundschaft zentrale Problematik auf Vertrauensvergabe Coleman (1995). 70 | Vgl. zu diesem Begriff ausführlicher Luhmann (2000), S. 27ff. 71 | Duck (1991), S. 25ff.
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Freundschaft zu unterscheiden oder auch Freundschaft von anderen Formen persönlicher Beziehung abzugrenzen?
2.1.4 Interpersonelle Beziehungen im Gruppenkontext: Leopold von Wiese und Georg Simmel Mit Blick auf die bisher herausgearbeiteten Aspekte von Freundschaft lassen sich einige Probleme ausmachen, die damit zusammenhängen, dass in der vorliegenden Arbeit interpersonelle Beziehungen nie alleine, sondern stets im Kontext einer Gruppe untersucht werden. Zu fragen ist demnach, wie sich Freundschaft und Gruppe miteinander vereinbaren lassen. Zunächst einmal wird hier erkennbar, dass einige Kriterien, die als grundlegend für Gruppen herausgearbeitet wurden, bei der Freundschaft nicht zutreffen oder umgekehrt. Dies beginnt beim Aspekt der Freiwilligkeit von Freundschaft, welcher innerhalb einer Gruppe fraglich wird. Zwar kann auch hier formal niemand gezwungen werden, mit einem anderen Mitglied befreundet zu sein, es ist aber durchaus denkbar, dass ein gewisser Druck in diese Richtung entsteht. Vor allem ist der mit der Freiwilligkeit verbundene Aspekt der freien Wahl des Freundes nur noch sehr eingeschränkt anzutreffen, gerade in der recht kleinen S.I.72 Ebenso gegenläufig scheinen Gruppe und Freundschaft beim Blick auf das Ziel zu sein: Dieses ist für die Gruppe ein zentrales Element und wichtiger Bestandteil des Zusammenhalts, während sich Freundschaft gerade durch das Fehlen eines solchen expliziten Ziels auszeichnet. Auch das Merkmal der fehlenden Rollendifferenzierung in der Freundschaft scheint der bei Gruppen diagnostizierten funktionellen Ausdifferenzierung zu widersprechen. Ähnliches gilt für das Merkmal der Symmetrie: Wie verträgt sich diese mit der Rollendifferenzierung innerhalb einer Gruppe? Können sich Freundschaften innerhalb der Gruppe dann jeweils nur innerhalb eines ›Status-Niveau‹ bilden? Zudem können die als Merkmal von Freundschaft skizzierte Selbstbezogenheit und die sich in ihrem Inneren herausbildende Intimität, die verdeutlichen, dass Freundschaft eine Tendenz zur Abschottung nach außen, zur Ausschließung des Dritten impliziert, dann problematisch werden, wenn die Gruppe quasi als Zwischenumwelt zwischen die Freunde und die Gesellschaft tritt. Die Abschottungstendenz der Freundschaft und die für die Gruppe notwendige Wir-Identität scheinen also zunächst nicht ohne Reibungen miteinander in Einklang zu bringen zu sein. Dies wird besonders deutlich, wenn man sich vor Augen führt, dass Freundschaft in den meisten Fällen als dyadische Konstellation konzi72 | Diese Betonung der Freiwilligkeit und der freien Wahl wird mehr und mehr in Frage gestellt. Die die Freundschaft und ihre Entfaltungsmöglichkeiten einschränkenden Faktoren werden immer stärker betont. Entsprechend betont Graham Allan in Anknüpfung an Elias, dass es die Aufgabe der Soziologie sei, zu zeigen, »how people’s choices and actions are constrained by the social structures in which they occur« (Allan (1989), S. 8).
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piert und auch untersucht wird.73 Sei es, dass explizit Freundschaft im Mittelpunkt des Interesses steht, oder dass das Zweier-Paar als kleinste denkbare Gruppenform und somit als Kernelement der Vergesellschaftung analysiert wird, stets wird die Besonderheit dieser Beziehungsform, ihre Vertrautheit, ihre Intimität betont. Bei von Wiese tritt dies wohl am deutlichsten hervor: Ihm gilt Intimität als »die Möglichkeit, sich ganz im Verkehr miteinander auszuschöpfen, gerade [als] die beste Kraft der Zweiergruppe«74 . Freundschaft als Paarbeziehung impliziert also die ganzheitliche Erfassung des Anderen, in ihr »wirkt Individuelles auf Individuelles«75 . Dieses ganzheitliche Erfassen des Anderen und die dadurch entstehende Intimität ist jedoch für von Wiese nur in der Dyade möglich. Die Intimität als wesentliches Merkmal der Freundschaft besitzt die Eigenschaft, dass sie »im allgemeinen verblaßt, wenn sie sich auf mehr als zwei Personen erstreckt«76 . Eine ähnliche Betonung der Ganzheitlichkeit findet sich auch bei Kracauers Ausführungen zur idealen Freundschaft: »Meine Naturanlagen, die Triebfedern meines Wollens liegen offen und enthüllt vor dem Bewußtsein meines Freundes. Während ich überall sonst genötigt bin, mich in tausenden Lebenskreisen zu zersplittern, [...] darf ich ihm so gesammelt und umfänglich nahen, wie ich bin und wie ich mich fühle.«77
Dieses Gefühl, sich selbst umfassend im Anderen aufgehoben zu wissen, wird jedoch wesentlich ergänzt durch das Wissen, dass dies auch umgekehrt der Fall ist; die Gegenseitigkeit, das Moment der Reziprozität ist von zentraler Bedeutung: »Dieselbe Genugtuung, die es mir gewährt, ihm beichtend mein Vertrauen zu schenken, empfinde ich auch, wenn er mir sein Inneres eröffnet.«78 Freundschaft trägt zur persönlichen Entwicklung der Beteiligten bei, beruhend auf »gegenseitiger verständnisvoller Anregung [...], fördert sie auch die Icherweiterung«79 . Damit zusammenhängend hat sie für die Beteiligten eine Stützungsfunktion, denn »[n]ur der Einsame schwankt unsicher, oder reibt sich auf im Kampf um seine Selbstbehauptung. Widerhall aber stärkt das Selbstgefühl«80 . Für Kracauer ist Freundschaft eine 73 | Die Erweiterung der rein dyadischen Konzeption auf ein eher netzwerkartiges Modell von Freundschaft ist für Allan - neben der Einschränkung der zweckfreien, persönlichen Entfaltung der dyadischen Freundschaft - das entscheidende Merkmal der Freundschaft in Gruppen. »[T]hey [die Freundschaften, M.O.] are not one-to-one ties, but involve a number of people meeting collectively for some purpose. [...] the nature of the friendships [...] within the group is in a sense not just a personal matter, but is shaped by what [...] may be called the subcultural norms established by the group as a whole« (Allan (1989), S. 18). 74 | Wiese (1966), S. 472. 75 | Ibidem, S. 466. 76 | Bernsdorf (1955), S. 140. 77 | Kracauer (1990), S. 47. 78 | Ibidem, S. 48. 79 | Ibidem. 80 | Ibidem.
Der theoretisch-begriffliche Rahmen | 71 »[...] Gesinnungs- und Idealgemeinschaft freier, unabhängiger Menschen. Sich gemeinsam entfalten, ohne sich aneinander zu verlieren, sich hinzugeben, sich erweitert zu besitzen, zur Einheit zu verschmelzen, und doch getrennt für sich bestehen zu bleiben: dies ist das Geheimnis des Bundes.«81
Aus dieser Ganzheitlichkeit und Intimität der Freundschaft ergibt sich im Zusammenspiel mit ihrer relativen Zweckfreiheit zweierlei: zum einen die Tendenz der Abschottung nach außen, denn Freundschaft bleibt, so betont auch Vierkandt, ein »individuelles Erlebnis«82 , die an ihr Beteiligten bleiben »für sich lebende Wesen«83 . Das Hinzutreten des Dritten oder Vierten usw. wird zur Gefahr für die Zweierbeziehung,84 beraubt sie der Intimität und verändert sie somit grundlegend. Zum anderen bildet die Freundschaft als Paarbeziehung kein übergeordnetes Drittes heraus, wie dies bei der Gruppe in Form des ausgeprägten WirGefühls bzw. Gruppengeistes der Fall ist. Dieses Fehlen eines übergeordneten Dritten ist, auch wenn es sehr unterschiedlich erklärt wird - für Vierkandt lässt der Geist der Gruppe diese als ›objektive‹ Entität erscheinen und verdeutlicht so die »Eigenmächtigkeit und Selbstbewußtheit der Gruppe, die sich über deren Mitglieder stellt«85 , während für Sim81 | Kracauer (1990), S. 54. 82 | Vierkandt (1923), S. 368. 83 | Ibidem, S. 222. 84 | An dieser Stelle ist es interessant, dass nur Kracauer zusätzlich die Gefahren betont, die aus der Intimität und Enge der Zweierbeziehung an sich entstehen können, noch bevor ein Dritter hinzutritt. Einige dieser Probleme lassen sich unter dem Aspekt der Langeweile fassen: »Ein Zustand der Ermüdung, der beiderseitigen Erschöpfung tritt ein; man hat sich allzusehr ausgesprochen und bis auf den Grund geleert und erschöpft. Übersättigung ist die Folge.« (Kracauer (1990), S. 51f.) Vor diesem Hintergrund sind zur Erhaltung einer solch engen und exklusiven Verbindung wie der idealen Freundschaft innerhalb dieser auch Phasen des Abstand-Nehmens notwendig (vgl. ibidem, S. 52 und S. 59f.). Freundschaft ist bei Kracauer durch den Wechsel von Nähe und Abstand, durch die Kombination von Präsenz und Latenz geprägt. Zusätzlich stellt er fest, dass nicht jeder gleichermaßen für die ideale Freundschaft geeignet ist. Probleme sieht er vor allem für den ›Werkmenschen‹: »Als Persönlichkeit besitzt er die Fähigkeit zur geschlossenen Entäußerung seines Wesens, aber anstatt sich den Menschen hinzugeben und von ihnen zu empfangen, schenkt er sich ganz den ihn erfüllenden Ideen. [...] Das zu schaffende Werk saugt ihn auf, beansprucht alle seine Kräfte; und er empfände es als Verrat, wenn er sich ihm entziehen wollte, um die Süßigkeit des Ausströmens von Seele zu Seele zu genießen.« (ibidem, S. 80). Dieses problematische Verhältnis des Werkmenschen, der sich sowohl im Künstler wie auch im Intellektuellen wiederfinden lässt, zur Freundschaft, ist als wichtige Ergänzung zu dem von Thurn skizzierten Problem der ›Sozialität der Solitären‹ aufzufassen. Während bei Letzterem die persönliche Bindung zwischen Künstlern innerhalb einer Gruppe durch die Frage der Vereinbarkeit von schöpferischer Individualität und gruppenspezifischen Zwängen problematisch wird, treten bei Kracauer aus Sicht des Werkmenschen sein Werk und die anderen Menschen in Konkurrenz um seine Bindungsfähigkeit. Der Werkmensch steht zwischen Werk und Mensch und geht, will er keine Abstriche machen müssen, dem Moment der Entscheidung entgegen. Aus Sicht des Künstlers: Werk oder Mensch. Verwirklichung im Werk oder Verwirklichung im Anderen. Oder aus Sicht des Intellektuellen: Theorie oder Sympathie. 85 | Schinkel (2003), S. 43.
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mel die soziale Ganzheit der Gruppe »lediglich als individuelle Vorstellung, als Bewußtsein der Vergesellschaftung existiert«86 - ein zentrales Merkmal, um die Paarbeziehung oder Freundschaft von Gruppen zu unterscheiden. Gleichzeitig jedoch wirft es einmal mehr die Frage auf, wie sich zweckfreie und in sich ruhende Freundschaft in einer zielgerichteten und von einem übergeordneten Wir-Gefühl geprägten Gruppe entfalten kann.87 Doch noch einmal zurück zur Abschottungstendenz der Freundschaft und zur sie bedrohenden oder zumindest verändernden Figur des Dritten. Diese ist für die vorliegende Arbeit von zentraler Bedeutung, da wir es nie mit isolierten Dyaden zu tun haben, sondern vielmehr mit einer Vielzahl von Dyaden und von hinzutretenden Dritten und Vierten, die auf diese Dyaden einwirken. Die Figur des Dritten wird sowohl bei Simmel als auch bei von Wiese ausführlich behandelt und in ihrer Wirkung auf die Freundschaft bzw. Paarbeziehung allgemein untersucht. Von Wiese stellt zunächst fest, »daß das Hinzutreten eines Dritten zu einer [...] Lebens- oder Arbeitsgemeinschaft eines Paares das vorher bestehende Paarverhältnis verändert«88 . Die Veränderung wird dabei so aufgefasst, dass die Stärke des Paarzusammenhanges entweder geschwächt oder gestärkt wird.89 Auffallend ist die Tatsache, dass von Wiese im Folgenden vor allem die negativen Eigenschaften der Dreier-Konstellation hervorhebt, ihre »Tendenz zur Disharmonie«90 betont. Neben der fehlenden Intimität unterscheidet sich die Dreiergruppe von der Dyade vor allem durch die Aufhebung der symmetrischen Beziehungsform und entfernt sich auch so weiter von der Freundschaft. Sie ist geprägt von Koalitionsbildungen, Konkurrenz, Eifersucht und Ausgrenzung, in ihr wird Arbeitsteilung notwendig, »bei ihr beginnt die Organisation«91 . Gleichzeitig ist in der Dreiergruppe eine Tendenz zur Maskierung und zur Verschleierung der eigentlichen Denkweisen erkennbar. Dennoch ist sie noch sehr emotional geprägt, sie ist »noch zu klein, um Persönliches durch Sachliches zu überwinden«92 . Nur ganz am Rande erwähnt von 86 | Schinkel (2003), S. 43. 87 | Hier deutet sich die Frage an, inwiefern es nicht auch zu einer ›Beziehung‹ zwischen dem Einzelmitglied und dem Gruppenganzen kommen kann. Das WirGefühl der S.I. könnte in ihrem Inneren für einen Teil der Mitglieder - zu denken wäre hier in erster Line an eher randständige Figuren - die Grundlage für emotionale Bindungen bzw. den Ersatz für interpersonelle Beziehungen zu anderen Mitgliedern bilden. Neben verschiedenen persönlichen Beziehungen wäre somit auch die Beziehung von Mitgliedern zum tatsächlichen oder imaginierten Gruppen-Wir von Interesse. Geht man noch einen Schritt über das Wir-Gefühl der Gruppe hinaus und berücksichtigt die bei länger existierenden Gruppen zu beobachtende Tendenz zur Institutionalisierung, so ließe sich die Fragestellung dahingehend erweitern, inwiefern so etwas wie ›Freundschaft zur Institution‹ denkbar ist. Hier wäre jedoch nicht nur auf die internen Aspekte, sondern vor allem auf die Außenwirkung zu achten. 88 | Wiese (1966), S. 474. 89 | Vgl. ibidem, S. 476. 90 | Ibidem, S. 477. 91 | Ibidem, S. 478. 92 | Ibidem, S. 481.
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Wiese, dass dem Dritten auch eine ausgleichende und friedensstiftende Rolle im Hinblick auf das erweiterte Paar zufallen kann.93 Die negativen Auswirkungen des Dritten auf das (Freundschafts-)Paar werden ebenso von Simmel hervorgehoben. Neben dem, auch bei von Wiese skizzierten, Verlust der Intimität der dyadischen Beziehung durch ihre Vergrößerung94 und dem Problem der Entstehung von Konflikten, Misstrauen und Konkurrenz95 verweist er jedoch zusätzlich auf die Figur des Dritten als ›Tertius Gaudens‹. Dieser macht »das wechselwirkende Geschehen zwischen den Parteien und zwischen sich und den Parteien zu einem Mittel für seine Zwecke«96 . Mit dieser Figur verdeutlicht Simmel die Tatsache, dass häufig bereits das bloße Auftreten des Dritten die dyadische Verbindung verschlechtern kann, ohne dass sein aktives Eingreifen zwingend notwendig ist. Gleichzeitig jedoch ist die Figur des ›Tertius Gaudens‹ durch ihre Mittelstellung zwischen den beiden Polen der Dyade mit einer weiteren, positiven Art des Dritten verbunden, der sich »als Mittel zu den Zwecken der Gruppe«97 verhält. Die Rede ist von der Figur des Schiedsrichters und des Vermittlers, welche Simmel als positive Variante des Auftretens des Dritten wesentlich umfassender darstellt als von Wiese.98 Diese ausgeglichenere Darstellung der mit der Erweiterung der Dyade eintretenden Veränderungen machen Simmels Ausführungen für die vorliegende Fragestellung interessanter als diejenigen von Wieses. Zwei weitere Überlegungen bestärken diesen Eindruck. Erstens wird hier auf den negativen Zusammenhang von Intimität und übergeordnetem Dritten verwiesen. Die Intimität der Zweierbeziehung entsteht gerade dadurch, dass sich kein Drittes entwickelt, das sich zwischen die Beteiligten drängen könnte. Im Umkehrschluss bedeutet dies wiederum: »Je umfänglicher eine Gemeinschaft ist, desto leichter bildet sich einerseits eine objektive Einheit über den Einzelnen und desto unintimer wird sie andrerseits.«99 Diese Ausschließlichkeit wirft mit Blick auf die vorliegende Untersuchung die Frage auf, ob Freundschaft bzw. interpersonelle Beziehung in einem Gruppenzusammenhang, so konfliktreich sie in ihrer Koexistenz sein mögen, nicht gerade als Möglichkeit oder zumindest als Versuch aufzufassen sind, sowohl das Gefühl der Intimität als auch die Entstehung eines übergeordneten Dritten, eines Wir-Gefühls, zu ermöglichen. Zweitens skizziert Simmel die Gefahren, die von der Entstehung einer solchen höheren Einheit für den Einzelnen (und damit eventuell auch für die in der Gruppe vorhandenen dyadischen Beziehungen) in Form sowohl der Abwälzung von Handlungen auf diese 93 | Vgl. Wiese (1966), S. 481. 94 | Vgl. Simmel (2001c), S. 106. 95 | Vgl. ibidem, S. 136ff. 96 | Ibidem, S. 134. 97 | Ibidem. 98 | Vgl. ibidem, S. 125ff. 99 | Ibidem, S. 106.
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Einheit als auch der Ermöglichung von Handlungen durch Verwischung der Verantwortlichkeit ausgehen können.100 Vor allem aber entwickelt Simmel insgesamt eine für die Gegenwart realistischere Freundschaftskonzeption. Zwar umfasst für ihn die Freundschaft ihrem Ideal nach, das über weite Strecken immer noch von antiken Vorstellungen geprägt ist, wie bei von Wiese, die gesamte Person der an ihr beteiligten Individuen. Gleichzeitig jedoch betont Simmel, und dies verdeutlicht zugleich die Beeinflussung sowohl von Freundschaftspraxis als auch -semantik durch die sie umgegebenden Gesellschaftstrukturen, dass der moderne Mensch ein ›fragmentarischer‹ Mensch ist, der sich stets in verschiedenen sozialen Kreisen bewegt101 und »der nie als ganzer Mensch auf[tritt], sondern nur Teile seines prinzipiell chaotischen Innenlebens [...] den Anderen [offenbart]«102 . Dementsprechend ist auch ein neuer Typus von Freundschaft für die Moderne charakteristisch, derjenige der ›differenzierten Freundschaft‹. Dieser ermöglicht es, sich von der Vorstellung der einen Freundschaft zu entfernen und dem einzelnen Menschen eine Vielzahl von Freundschaften und eventuell auch unterschiedliche Typen von Freundschaften in verschiedenen sozialen Umfeldern, Rollen und Kreisen zuzugestehen. Die eine, das Individuum voll und ganz erfüllende, ideale Freundschaft wird ›realistischer‹ und verteilt sich auf eine Pluralität von Teil-Freundschaften. »Diese differenzierten Freundschaften, die uns mit einem Menschen von der Seite des Gemütes, mit einem andern von der der geistigen Gemeinsamkeit her, mit einem Dritten um religiöser Impulse willen, mit einem Vierten durch gemeinsames Erleben verbinden [...] fordern, daß die Freunde gegenseitig nicht in die Interessen- und Gefühlsgebiete hineinsehen, die nun einmal nicht in die Beziehung eingeschlossen sind und deren Berührung die Grenze des gegenseitigen Sich-Verstehens schmerzlich fühlbar machen würde.«103
Diese Abwendung von Freundschaft als der einen, solitären und einzigartigen Bindung zur Vielheit von Freundschaften bzw. von Freundschaft als Puzzle auf verschiedenen Interessengebieten und mit verschiedenen Personen ist für die vorliegende Untersuchung von interpersonellen Beziehungen in einer Gruppe besonders fruchtbar. Die von Simmel angedeutete unterschiedliche Art und Ursache der Verbindung ermöglicht es, nach verschiedenen Typen von Freundschaften und ihren Besonderheiten zu fragen. Vor allem jedoch wird es möglich, in einem Schritt über Simmel hinaus und seine verschiedenen Typen differenzierter Freundschaften auf das Umfeld von Freundschaft erweiternd, nach verschiedenen Formen der persönlichen Beziehung jenseits von Freundschaft zu fragen. 100 | Vgl. Simmel (2001c), S. 112f. 101 | Vgl. zum Begriff des sozialen Kreises Simmel (2001a). 102 | Schinkel (2003), S. 37. 103 | Simmel (2001c), S. 401f.
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2.1.5 Interpersonelle Beziehungen im Gruppenkontext: Siegfried Kracauer Beim Blick auf weitere Formen von interpersonellen Beziehungen wird in erster Linie an die Ausführungen Kracauers anzuknüpfen sein. Dieser unterscheidet ähnlich wie Simmel zunächst zwischen einer idealen Freundschaft104 und einem ›realistischen‹ Typus. Letzterer ist »als mittlere Freundschaft in eigentümlicher Weise beschränkt, wenn nur einzelne Seiten der Seelen sich erschließen können«105 und weist daher deutliche Gemeinsamkeiten mit Simmels Konzeption der differenzierten Freundschaft auf. Auf die Kategorie der mittleren Freundschaft wird abschließend nochmals zurückzukommen sein; zunächst gilt es, die Beziehungstypen der Kameradschaft, der Fachgenossenschaft und der Bekanntschaft vorzustellen. Die Kameradschaft ist eine sehr spezifische, sachliche Beziehung zwischen mehreren Personen, die sich zur Erreichung eines Ziels bildet. »Der Geist der Kameradschaft entsteht überall, wo Menschen gemeinsam handeln. Hierbei ist für seinen Eintritt zunächst entscheidend, daß der Einigungsgrund nicht seelische Verwandtschaft und besondere innere Anziehungskraft ist, sondern irgendwelches von außen herangebrachtes Ziel. Dieses Ziel wiederum darf keine tiefpersönlichen Eigenschaften von den zu seiner Erfüllung verbundenen Menschen fordern.«106
Gerade das Heraushalten der eigenen Persönlichkeit in ihrer Gesamtheit zeichnet Kameradschaft aus, man konzentriert sich rein auf die Erreichung des gemeinsamen Ziels. Dementsprechend wird diese Zielerreichung, die zugleich die Lebensdauer der kameradschaftlichen Beziehung vorgibt, genau dann erschwert, wenn sich die Beteiligten - und sei es gut gemeint - als Personen stärker einzubringen versuchen. Gleichzeitig jedoch wird, eben weil »Kameraden gleiche vor dem Ziel (...) aber nichts außerdem [sind]«107 , von ihnen spezifische Zielstrebigkeit erwartet, »Trägheit, unwilliges Wesen«108 hingegen gelten als ebenfalls hinderlich. Die Kameradschaft ist für Kracauer das typische Beispiel für die oben skizzierte Macht der Gruppe über den Einzelnen, der so lange bearbeitet wird, bis er »sich im gleichen Rhythmus mit den andern bewegt«109 . Auffällig ist, dass sie bezüglich ihrer Größe flexibler ist als der auf das Paar zugeschnittene Freundschaftsbegriff. Sie kann als dyadische Konstruktion vorliegen, es können aber auch drei, vier oder mehr an ihr beteiligt sein, ohne dass sich bei diesem Übergang ihre Eigenschaften grundsätzlich verändern. Anhand ihrer Merkmale der relativen 104 | Vgl. hierzu die knappen Ausführungen oben sowie Kracauer (1990), S. 38ff. 105 | Ibidem, S. 67. 106 | Ibidem, S. 12. 107 | Ibidem, S. 14. 108 | Ibidem, S. 15. 109 | Ibidem, S. 13.
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Dauerhaftigkeit und der Verfolgung eines gemeinsamen Ziels ließe sich die Kameradschaft sowohl nach Kracauer als auch nach der oben skizzierten allgemeinen Definition als Gruppe bezeichnen. Sie ist daher eine für die vorliegende Untersuchung interessante Kategorie, da sie sowohl den Teil als auch das Ganze beschreiben könnte: Als dyadische Kameradschaft ließe sich wohl zumindest ein Typus von persönlicher Beziehung zwischen den Situationisten auffassen und als zahlenmäßig größere Kameradschaft unter Umständen einzelne Aspekte der gesamten S.I. Die zweite Kategorie persönlicher Beziehungen, die sich bei Kracauer findet, ist die Fachgenossenschaft, die in Bezug auf ihren zahlenmäßigen Umfang ebenfalls von der Dyade bis zu komplexeren Strukturen reichen und auch bei ihrer inhaltlichen Ausprägung sehr unterschiedliche Intensitätsgrade erreichen kann. »Von der sogenannten ›Fachsimpelei‹ an, die vielen stumpfen Geistern ihr Lebtag genügt, erhebt sich das Verhältnis oft zu hoher geistiger Vertraulichkeit, dank dem Reichtum fesselnder Probleme, den eine Reihe von Berufen in sich bergen. Es entstehen glückspendende Beziehungen, die leicht in Freundschaften übergehen können, die es aber nicht sind, solange sie unter Ausschluß tiefer menschlicher Anteilnahme, allein auf der sachlichen Übereinstimmung beruhen.«110
Die Fachgenossenschaft scheint somit mehr Verbundenheitsgefühl zu beinhalten, eine engere Beziehung darzustellen als die Kameradschaft. Auch wenn mit Blick auf die S.I. der dabei zugrunde gelegte Berufsbegriff nicht unproblematisch ist und zumindest die gesamte S.I. sich nicht als Fachgenossenschaft fassen lässt, so wäre doch zu überlegen, ob nicht über diesen Begriff einige Aspekte der Fraktionsbildung innerhalb der S.I. erklärt werden können. Denn der berufsbedingt erzeugte ›Kastengeist‹ hat zwei Auswirkungen: »Spricht sich in ihm ein starkes Abstandsbedürfnis aus, so auch ein erhöhtes Zusammengehörigkeitsgefühl.«111 Dabei sind der zielorientierten Kameradschaft und der sachlich ausgerichteten Fachgenossenschaft ihre Grenzen gemeinsam: »[D]ie persönlichen Angelegenheiten und Neigungen scheiden bei ihnen aus«112 . Sowohl die Kameradschaft als auch die Fachgenossenschaft können sich in einen dritten Typ von Beziehung umwandeln, nicht ohne jedoch dabei ihre charakteristischen Eigenschaften zu verlieren. Dieser dritte Typus ist die Bekanntschaft, worunter Kracauer jedoch nicht die flüchtige Bekanntschaft versteht, sondern eine Beziehungsform, die der Freundschaft auf den ersten Blick sehr ähnlich ist. Von den bisher skizzierten zwei Typen von Beziehungen unterscheidet sie sich hingegen deutlich: »Die Bekanntschaft ist ihrem Ursprung nach keine Ziel110 | Kracauer (1990), S. 16. 111 | Ibidem, S. 18. 112 | Ibidem.
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oder Sachverbindung, hat also ihren Grund nicht außerhalb des Menschen.«113 Die Grundlage der Bekanntschaft ist vielmehr in den beteiligten Menschen selbst, in ihren Interessen und Neigungen zu suchen. Die Verbindungen bleiben dabei jedoch stets partielle. »Für das Wesen der Bekanntschaft bezeichnend ist es, wenn in diesem Stück Gemeinsamkeit die ›durchlaufenden Fäden‹ fehlen, mag im übrigen die wechselseitige Annäherung bis zu einem hohen Grad gediehen sein.«114 Die Bekanntschaft beruht somit stärker auf der Persönlichkeit, allerdings kommt es nicht wie bei der Freundschaft zur ›Verschmelzung‹ der Beteiligten, es bleibt eine Trennung zwischen ihnen bestehen. »Diese Grenze liegt näher am Mittelpunkt des Wesens als bei der Kameradschaft und oft auch bei der Fachgenossenschaft, sie entsteht dort, wo das eigentliche Ichbewußtsein anhebt«115 . In diesem Kontext fällt auf, dass die Bekanntschaft wieder stärker dyadisch bzw. vom Einzelnen aus gesehen als Nebeneinander oder Verknüpfung mehrerer Paarkonstellationen konzipiert ist. Insofern erinnert sie an Simmels Konzeption der differenzierten Freundschaft. Allerdings ist sie nicht auf Dauer angelegt, vielmehr findet sie ihre »[...] höchste Befriedigung im unmittelbar lebendigen Verkehr, in den Augenblicken des Zusammenseins. Ihr Wesen ist Gegenwart; Austausch von Gedanken und Einfällen, Besprechung wichtiger Fragen, gemeinsames Genießen, Zerstreuung, gesellige Nähe, freies Kommen und Gehen, gemütliches Plaudern, gemessene Anteilnahme an allerhand Dingen bildet ihren Hauptinhalt.«116
Die Bekanntschaft entsteht leicht und lässt sich relativ unkompliziert wieder auflösen, sie ist somit vor allem ein Phänomen des Moments und der Präsenz, dem ein dionysischer Aspekt nicht fremd zu sein scheint. Gleichwohl ist die Bekanntschaft etwas Statisches, sie entwickelt sich nicht weiter, nicht zuletzt wegen der in ihr unüberwindbar erscheinenden Grenzen. Hat man diese erreicht, »so rückt die gegenseitige Eröffnung nicht weiter voran, [...] die Menschen verharren in der einmal angenommenen Lage«117 . Trotz ihrer Unterschiede sind alle drei bislang dargestellten Formen interpersoneller Beziehung durch zwei Merkmale miteinander verbunden: Zum einen sind sie nach Kracauer »allen Menschen ohne Ausnahme zugänglich«118 und zum anderen wird in ihnen »das menschliche Gemüt [...] nur bis zu einem gewissen [...] Grad an das andere gefesselt«119 . Eine vierte Beziehungsform, die zwischen der Bekanntschaft und der idealen Freundschaft liegt, aber auch mit den anderen beiden verbun113 | Kracauer (1990), S. 18. 114 | Ibidem, S. 20. 115 | Ibidem. 116 | Ibidem, S. 21f. 117 | Ibidem, S. 23. 118 | Ibidem, S. 24. 119 | Ibidem.
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den ist, ist die eingangs bereits erwähnte ›mittlere Freundschaft‹. Die Differenz zwischen mittlerer Freundschaft und Bekanntschaft liegt dabei vor allem in der Art der Verbindung: Während es sich bei der Bekanntschaft um eine punktuelle und eher sachliche, d.h. vor der Persönlichkeit des Anderen haltmachende Verbindung handelt, gilt für die mittlere Freundschaft, dass »ihre Anteilnahme auf innerer Übereinstimmung«120 beruht. Diese innere Übereinstimmung wird dahingehend präzisiert, dass es sich dabei, auf Basis gefühlsmäßiger Zuneigung und einer Ähnlichkeit der inneren Anlagen, um eine Ähnlichkeit bezüglich des Temperaments, der Neigungen, der Empfindungsweisen oder der Gesinnung bzw. um einen gleich gerichteten Willen handelt.121 Dies lässt sie sehr eng an die ideale Freundschaft heranrücken, von welcher sie jedoch wiederum klar durch das Ausmaß der inneren Übereinstimmung unterschieden werden kann, da sie die beteiligten Personen niemals voll erfasst, sondern sich auf eine Verbundenheit bezüglich einzelner Charakterfragmente der Individuen beschränkt. Die mittlere Freundschaft erinnert daher noch stärker als die Bekanntschaft an Simmels differenzierte Freundschaft. Zudem entsteht bei Kracauer somit ein Zusammenhang zwischen der Persönlichkeit des Einzelnen und der Art und Vielfalt seiner persönlichen Beziehungen. »Die Zahl der Freunde eines Menschen richtet sich mit nach dem Umfang seines Wesens. Jedem bringt er sich anders dar, jeder nimmt ihn anders auf, und immer ist er so, wie er widergespiegelt wird. Aber zugleich ist er mehr, denn sich selber ist er ja von allen Standpunkten aus zugänglich. Wir verstehen nun auch, warum mittlere Freunde desselben Menschen oft verschiedenartig und ohne Beziehungsmöglichkeiten sein können, der Eine setzt diese, der Andre jene Seite seines Wesens in das Verhältnis ein.«122
Gerade der letzte Aspekt ist für die Untersuchung der S.I. ein interessanter Anhaltspunkt. Denn die Tatsache allein, dass sich hier mehrere Menschen zusammengeschlossen haben, heißt noch lange nicht, dass sie alle untereinander verbunden sein müssen. Aus Sicht des Einzelnen A erfüllen verschiedene andere Mitglieder B und C für ihn unterschiedliche ›Aufgaben‹, weshalb er sich mit ihnen persönlich verbunden fühlt. Dies muss jedoch nicht zu einer Verbindung zwischen B und C führen. Dieser Aspekt, den Kracauer mit Blick auf die mittlere Freundschaft entwickelt, ist für die vorliegende Untersuchung umso interessanter, als er auch für die Gesamtstruktur der S.I. aufschlussreich sein kann. Dann nämlich, wenn man diese als Verkettung, Überkreuzung und Aneinanderreihung einer Vielzahl von im Kern dyadischen Verbindungen auffasst, die in ihrer Gesamtheit ein Netz gekreuzter Linien mit verschie120 | Kracauer (1990), S. 67. 121 | Vgl. ibidem. 122 | Ibidem, S. 70.
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denen Knotenpunkten bilden.123 Was Kracauer für die Vielfalt interpersoneller Beziehungen beschreibt, könnte somit auch beim Blick auf die gesamte S.I. hilfreich sein: »Sie gleichen Kreisen, die, wenn sie auch alle einen einzigen Kreis berühren, darum von vornherein sich noch nicht untereinander berühren müssen.«124 Versucht man nun, die vier von Kracauer entwickelten Typen persönlicher Beziehungen sowie die oben dargestellte ideale Freundschaft auf ihre Besonderheiten hin zusammenzufassen, so ergibt sich folgendes Bild: Erstens umfassen seine Kategorien verschiedene Anordnungsformen und Größenordnungen. Bei der Kameradschaft und der Fachgenossenschaft handelt es sich um Beziehungen, die sowohl dyadisch als auch gruppenförmig sein können, mit der Bekanntschaft und der mittleren Freundschaft werden dyadische Verbindungen ins Blickfeld genommen, die jedoch keinen Totalitätsanspruch erheben und somit eine Vielfalt bzw. Verknüpfung von Dyaden zur Folge haben können, während sich die ideale Freundschaft durch ihren dyadisch-ausschließlichen Charakter auszeichnet. Zweitens ist festzustellen, dass zwischen den verschiedenen Beziehungstypen Übergänge möglich sind. Wenn auch kein Wandel von der Kameradschaft zur Fachgenossenschaft denkbar ist, so kann doch umgekehrt aus Fachgenossenschaft Kameradschaft entstehen. Zudem können sich diese beiden Typen in Bekanntschaft und mittlere Freundschaft umwandeln - im Sinne einer Steigerung der Intensität und als Emotionalisierung - und umgekehrt können Bekanntschaft und mittlere Freundschaft wieder herabsinken in Fachgenossenschaft und Kameradschaft - dann als Abschwächung der Intensität und als Versachlichung. Die Übergänge zwischen den Typen, die bei Kracauer durchaus einer hierarchischen Anordnung von der Kameradschaft bzw. Fachgenossenschaft über die Bekanntschaft zur mittleren und schließlich zur idealen Freundschaft folgen, sind also in beiden Richtungen möglich. Die Freundschaft jedoch, sei es als mittlere oder als ideale, kann niemals den Ausgangspunkt bilden; sie folgt stets erst als ›surplus‹ auf eine vorangehende Beziehungsform - bei Kracauer auf die Bekanntschaft.125 Durch die Durchlässigkeiten und Verbindungen zwischen Kameradschaft, Fachgenossenschaft und Bekanntschaft einerseits und die 123 | Einen ersten Eindruck von der potentiellen Komplexität einer solchen dyadenbasierten Struktur erhält man, wenn man sich die bloße Anzahl der möglichen Dyaden in einer Gruppe einer bestimmten Größe vor Augen hält und dabei die Unterscheidung von vier möglichen Dyaden-Typen hinzuzieht: die Null-Dyade, die zwei Varianten asymmetrischer Dyaden und die symmetrische Dyade (vgl. hierzu und zu den folgenden Zahlenspielen Jansen (2003), S. 60f.). So gibt es in der S.I. mit ihren acht Gründungsmitgliedern bereits 28 Möglichkeiten, wie zwei Mitglieder miteinander verbunden sein könnten, bei der maximalen Mitgliederzahl von 26 wären es sogar 325. Erweitert man die Dyade um eine dritte Person zur Triade, so potenzieren sich die Verbindungsmöglichkeiten entsprechend. Zum Gründungszeitpunkt wären es 56 Möglichkeiten, bei 26 Mitgliedern bereits 2600. 124 | Kracauer (1990), S. 71. Hier sind deutliche Anleihen an Simmels Ausführungen bezüglich der Kreuzung sozialer Kreise zu erkennen (vgl. Simmel (2001a). 125 | Vgl. Kracauer (1990), S. 63 und S. 67.
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Übergangsmöglichkeit von der Bekanntschaft zur mittleren und idealen Freundschaft andererseits scheint es zunächst schlüssig, wenn Kracauer bezüglich der Freundschaft feststellt, dass diese »als das engste geistige Verhältnis [...] die loseren Beziehungen der Kameradschaft, Fachgenossenschaft und Bekanntschaft in sich [faßt]«126 . Dies wird jedoch fraglich, wenn man sich verdeutlicht, wo sich trotz aller Übergänge klare Trennlinien zwischen den fünf Beziehungsformen ausmachen lassen. Zwei solcher Grenzen sind hier von Bedeutung: zum einen diejenige zwischen sachlich und emotional, die zur Unterscheidung zwischen Kameradschaft, Fachgenossenschaft und Bekanntschaft einerseits und mittlerer und idealer Freundschaft andererseits führt.127 Zum anderen ist es die Unterscheidung zwischen partikularen und umfassenden (um nicht zu sagen: totalitären) Beziehungstypen, die Kameradschaft, Fachgenossenschaft, Bekanntschaft und mittlere Freundschaft von der idealen Freundschaft abgrenzt. Vor diesem Hintergrund jedoch ist anzuzweifeln, dass - wie von Kracauer skizziert - eine umfassende und einen Totalitätsanspruch erhebende Beziehungsform wie die ideale Freundschaft mit den partikularen und ›toleranteren‹ übrigen Formen zusammenpasst. Zudem ist dieser Totalitätsanspruch der idealen Freundschaft im Zusammenspiel mit ihrer streng dyadischen Konzeption im hier zu untersuchenden Gruppenkontext problematisch, da er eine Vielfalt von Beziehungen erschwert und zudem die Gefahr der Eifersucht in sich trägt. Gleichzeitig scheint die ideale Freundschaft im negativen Sinne zur Gruppe zu passen, da auch in ihr die Problematik der erdrückenden Sozialität entstehen kann: »Der Verlauf der Freundschaft kann es mit sich bringen, daß, trotz aller Übereinstimmungen und Wärme des Gefühls, Befreiung von ihr für den einen der beiden Menschen zur sittlichen Notwendigkeit wird, dann nämlich, wenn die enge geistige Gemeinschaft mit dem anderen zur Bedrohung der eigenen Selbstständigkeit führt.«128
Weniger problematisch gerade mit Blick auf die Gruppe wirken da die ›vorfreundschaftlichen‹ Beziehungstypen Kracauers inklusive der mittleren Freundschaft. Diese scheinen als partikulare persönliche Beziehungen innerhalb einer Gruppe für weniger Konfliktpotential zu sorgen. Der Einzelne kann nicht nur, wie bei Simmel, verschiedene differenzierte (bei Kracauer mittlere) Freundschaften pflegen, sondern kann darüber hinaus zusätzlich auch noch durch die anderen Typen interpersoneller Beziehungen mit Anderen verbunden sein. Zudem wäre denkbar, dass auch die Situation entstehen kann, dass man mit einer Person auf 126 | Kracauer (1990), S. 62. 127 | Zudem ist die Unterscheidung zwischen öffentlich und privat zu nennen, die - wenn auch nicht identisch mit der zwischen sachlich und emotional, dieser doch nahestehend - zur gleichen Einteilung der Beziehungstypen führt. 128 | Ibidem, S. 52f.
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verschiedenen Ebenen verbunden ist, dass also beispielsweise A mit B über Kameradschaft und mittlere Freundschaft, mit C hingegen über Fachgenossenschaft und Bekanntschaft in Kontakt steht. Doch nicht nur die bislang eingeführten positiven Formen können teilweise miteinander kombiniert vorliegen oder einander in der ein oder anderen Weise und Richtung ablösen. Es gibt zusätzlich auch noch eher negativ konnotierte Arten von persönlichen Beziehungen, die die positiven entweder begleiten oder ablösen können. Dieses ›Andere‹ der Freundschaft bzw. der positiv besetzten interpersonellen Beziehungsformen soll nun abschließend in den Blick genommen werden. Dabei soll die Unterscheidung zwischen den begleitenden und den ablösenden negativen Beziehungsformen als Ausgangspunkt dienen. Zu Ersteren zählen verschiedene Arten der Patronage und Gönnerschaft, sei es im klassischen ökonomischen Sinn oder in Form geistiger Patronage z.B. als Lehrer-Schüler-Verhältnis, bei denen u.a. die Machtfrage im Raum steht. Als Übergangsphänomen zwischen den begleitenden und ablösenden Beziehungsformen ist die Konkurrenz zu nennen, da diese je nach Ausprägung und Intensität in positiver oder negativer Weise wirken kann. Das explizit Andere der positiven Beziehungsformen rückt ins Blickfeld, wenn man diese von ihrem Ende, von ihrem Scheitern her betrachtet. In diesem Zusammenhang gilt es sowohl die Feindschaft als auch die Indifferenz zu skizzieren. Zudem ist die Frage zu stellen, ob und inwiefern sich Zusammenhänge zwischen den positiven und negativen Beziehungsformen ausmachen lassen, die aus ihrer jeweiligen Charakteristik verständlich werden. Bei der Patronage und Gönnerschaft muss mit Blick auf die S.I. zwischen einer ökonomischen und einer geistigen Variante unterschieden werden. Erstere umfasst dabei sowohl die Tatsache, dass ein Mitglied entweder ein anderes oder die gesamte Gruppe finanziell unterstützt, als auch die indirekt ökonomische Gönnerschaft über die Herstellung wichtiger Kontakte nach außen, in deren Folge dann wiederum entweder einzelne Mitglieder oder die gesamte S.I. finanzielle, strategische oder machtbezogene Vorteile erhalten. Unter dem Begriff der geistigen Patronage sind in erster Linie Lehrer-Schüler-Verhältnisse zu fassen, welche gleichzeitig solche zwischen Alt und Jung sein können, aber nicht müssen.129 Neben altruistischen und eher ausgeglichenen Lehrer-SchülerDyaden sind hier jedoch wie bei der ersten Form der Gönnerschaft ebenfalls strategische und machtbezogene Absichten in Betracht zu ziehen. Diese Formen der Patronage und Gönnerschaft müssen den positiven Typen persönlicher Beziehungen nicht zwangsläufig widersprechen, allerdings besitzen sie eine Eigenschaft, die zum Problem werden kann. Gönnerschaft beinhaltet stets den Aspekt der Asymmetrie und der Abhängigkeit. Damit steht sie jedoch in deutlichem Widerspruch zu den als 129 | Vgl. Kracauer (1990), S. 74ff. Kracauer behandelt dieses Verhältnis explizit als eine Form der mittleren Freundschaft, was die hier vorgebrachte These des Nebeneinanders dieser Beziehungstypen bestärkt.
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symmetrische Tauschverhältnisse konzipierten Typen persönlicher Beziehung, wie sie oben dargestellt wurden. Da die Betonung des symmetrischen Austauschs vor allem bei der idealen Freundschaft besonders ausgeprägt ist und diese nur »wirkt [...] solange sie im Gleichgewicht ist, beide Menschen gebend und nehmend nebeneinander wandeln«130 , ist gerade hier eine Verbindung mit Gönnerschaft und Patronage schwer vorstellbar. Die ideale Freundschaft grenzt sich somit nicht nur von den anderen positiven Beziehungsformen, sondern auch von deren negativen Ergänzungen deutlich ab. Die anderen Beziehungstypen wie Kameradschaft, Fachgenossenschaft, Bekanntschaft und auch mittlere Freundschaft jedoch ertragen ein gewisses Maß an Gönnerschaft, vor allem wenn es sich um deren geistige Ausprägung handelt. Auch hier rückt zwar zunächst das Problem der Asymmetrie ins Blickfeld, allerdings ist es durchaus denkbar, dass durch querliegende und gegenläufige Asymmetrien insgesamt eine symmetrische Gesamtsituation entsteht. Person A ist in Bezug auf den Bereich A‹ der Person B überlegen und nimmt die Lehrer-Position ein, während B umgekehrt bezüglich des Themenfeldes B‹ zum Mentor von A wird usw. Eine weitere Kombination von Asymmetrien, die letztendlich wieder zur Symmetrie führen kann, wäre diejenige von geistiger und ökonomischer Patronage; hier würde im Tausch mit unterschiedlichen Währungen bezahlt. Eine weitere Beziehung, die wiederum im Zusammenspiel mit den zwei Formen der Patronage auftreten kann, ist die Konkurrenz. Diese ist jedoch nicht nur als Begleiterscheinung der positiven Beziehungsformen anzusehen, sondern kann, je nach Ausmaß, auch deren Ende herbeiführen. Die Formen, in denen Konkurrenz zutage treten kann, sind vielfältig, hängen aber jeweils mit der zugrunde liegenden positiven Beziehungsform zusammen. Zum einen gibt es die sachliche Konkurrenz, wie sie vor allem im Rahmen von Kameradschaft, Fachgenossenschaft und Bekanntschaft anzutreffen ist. Hierbei handelt es sich um die Auseinandersetzung über die gemeinsamen Ziele und die Wege, diese zu erreichen, bzw. um inhaltliche Diskussionen bezüglich der die Fachgenossen und Bekannten verbindenden Themenfelder. Diese Form der Konkurrenz kann als durchaus produktiv aufgefasst werden, solange es den Beteiligten wirklich um die sachliche Auseinandersetzung geht. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass diese Ebene lediglich vorgeschoben wird, um eine darunter liegende strategische Absicht zu verbergen, die sich in diesem Kontext wiederum eng an das Problem der Asymmetrie anlehnt bzw. als Auseinandersetzung um die Position innerhalb der Beziehungs- und davon ausgehend der Gruppenhierarchie aufzufassen ist. Es geht hierbei vor allem um Deutungsmacht und geschickte Selbstpositionierung sowie im erweiterten Gruppenkontext um die Bildung oder Verhinderung von Allianzen. Ebenfalls denkbar ist die Möglichkeit, dass die sachliche Auseinandersetzung als Deckmantel nicht nur 130 | Vgl. Kracauer (1990), S. 53.
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für strategische Konkurrenz, sondern auch für persönlich-emotionale Konflikte und somit für eine emotionale Variante von Konkurrenz verwendet wird.131 Insgesamt bleibt festzuhalten, dass Konkurrenz, selbst wenn sie durchaus auch innerhalb einer Paarbeziehung auftreten kann, in diesen Beziehungstypen vor allem dann entsteht, wenn die dyadische Form überschritten wird - also ein Dritter ins Spiel kommt - oder wenn mehrere Dyaden nebeneinander existieren. Ähnliche Formen der Konkurrenz dürften vor dem Hintergrund dieser strukturellen Zusammenhänge auch bei der mittleren Freundschaft zu finden sein, wenn auch von Beginn an mit einer offensichtlicheren emotionalen Grundhaltung und somit auch eher mit der Gefahr verbunden, zum Ende der Beziehung beizutragen. Bei der idealen Freundschaft hingegen scheint Konkurrenz jedweder Art aufgrund der engen und alle Bereiche umfassenden inneren Übereinstimmung der beteiligten Persönlichkeiten innerhalb der Dyade ausgeschlossen zu sein. Dennoch ist gerade hier das Phänomen der Konkurrenz als besonderes Bedrohungspotential für die Beziehung anzusehen. Allerdings wendet sie sich in Form des Neides und der Eifersucht gewissermaßen nach außen. Konkurrenz steht hier für die Verteidigung des Anspruchs auf Einmaligkeit und Absolutheit der Freundschaft, sobald sich ihr ein Dritter nähert. Bei den partikularen Beziehungstypen tritt die Konkurrenz in ihren drei Formen der sachlichen, strategischen und emotionalen Auseinandersetzung relativ häufig auf und muss die Beziehung dabei, solange sie ein bestimmtes Ausmaß nicht überschreitet, nicht zwangsläufig gefährden, kann für sie sogar positive Auswirkungen haben. Wenn die Konkurrenz gegenüber dem Zusammenwirken der Beteiligten jedoch überhand nimmt, kann sie zum schleichenden Zerfall der Beziehung führen. Bei der umfassenden Beziehungsform der idealen Freundschaft hingegen tritt Konkurrenz verhältnismäßig selten auf. Wenn sie jedoch entsteht, kommt sie als nach außen gerichtete emotionale Konkurrenz so heftig zum Ausbruch, dass ein abruptes Ende der Beziehung zu befürchten ist. Einzelne Dyaden sind somit im Vergleich zur Gruppe oder zur Vernetzung mehrerer Dyaden seltener von Konkurrenz geprägt, aber bei ihrem Auftreten wesentlich grundlegender durch sie gefährdet. Die Konkurrenz ist ein Phänomen, welches die positiven Beziehungen teilweise ergänzen teilweise aber auch gefährden und ersetzen kann. Doch von was werden die Beziehungen nach ihrem schleichenden oder plötzlichen Ende abgelöst? Als die zwei zentralen Formen des Anderen der Freundschaft, die nach deren Ende zutage treten, sollen hier die Indifferenz und die Feindschaft vorgestellt werden. Es gilt, einige der vielfältigen Zusammenhänge zwischen den verschiedenen positiven Beziehungsformen und den sie begleitenden Aspekten der Patronage und der Konkurrenz einer131 | Zur Frage nach der Funktionsweise und Bedeutung des Konflikts in Gruppen vgl. Coser (1972).
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seits und diesen zwei negativen Beziehungsformen andererseits knapp zu skizzieren. Erstens könnte man nach der Intensität der vorangegangenen Beziehung unterscheiden: Indifferenz wäre dann das Ergebnis einer weniger engen Beziehung wie der Kameradschaft, Fachgenossenschaft oder Bekanntschaft, Feindschaft hingegen resultierte dann aus der Enttäuschung über die Auflösung einer sehr intensiven, intimen Beziehung wie der mittleren, vor allem aber der idealen Freundschaft. Dieser Zusammenhang wäre, wenn auch etwas weniger schlüssig, ebenso umgekehrt denkbar: Aufgrund der relativen Oberflächlichkeit der drei erstgenannten Formen verliert man weniger, wenn man den Anderen später als Feind betrachtet, während die intensive Bindung zum idealen Freund es unwahrscheinlich macht, diesen plötzlich als Feind zu sehen und nach einer sehr vom gegenseitigen Austausch geprägten Phase die Indifferenz die näher liegende Form der Abwendung darstellt. Zweitens wäre zu überlegen, ob sich nicht die die positiven Beziehungsformen begleitenden oder gefährdenden Aspekte von Patronage und Konkurrenz mit dem, was ›danach‹ kommt, in Zusammenhang bringen ließen. Ginge man hier von dem in der Verbindung enthaltenen Konfliktpotential aus, so wäre zu vermuten, dass die Konkurrenz eher in Feindschaft und die Patronage eher in Indifferenz umschlägt. Legt man das Verbundenheitsgefühl zugrunde, das bei der geistigen Patronage höher ist als bei der Konkurrenz, so wären in Anlehnung an die obigen Ausführungen beide Varianten des Umschlagens plausibel. Bereits nach diesen knappen Überlegungen wird deutlich, dass ein klarer Zusammenhang zwischen positiven und negativen Formen der persönlichen Beziehungen zunächst nicht feststellbar ist und ein solcher, wenn überhaupt, lediglich für den konkreten Einzelfall am Gegenstand S.I. entwickelt werden kann. Eine weitere Unterscheidung, die sich auch bei Kracauer vor allem mit Blick auf die ideale Freundschaft findet,132 muss in diesem Zusammenhang jedoch noch erwähnt werden: diejenige zwischen dem schleichenden und dem plötzlichen Ende einer interpersonellen Beziehung. So wie für Kracauer die Entstehung einer Freundschaft ein schrittweiser Prozess ist, so stellt er ebenso fest, dass sich eine solche auch allmählich zurückbildet bzw. auflöst: »Man zögert, um nicht zu verletzen, versucht das Verhältnis fortzusetzen, irgendwo im Innern noch eine geheime Hoffnung hegend, und täuscht sich mit oft krampfhaftem Bemühen, so daß selbst eine scheinbare Wiederannäherung gelingen kann. Diese Zeit der qualvollen, tastenden Loslösung endet erst, wenn sich in beiden Menschen die gleich klare Überzeugung von der Unabänderlichkeit ihrer Trennung durchgesetzt hat.«133
Vor dem Hintergrund eines solchen Blicks auf die Zeitstruktur des Endes von persönlichen Beziehungen wäre es möglich, die Indifferenz als das 132 | Vgl. Kracauer (1990), S. 64f. 133 | Ibidem, S. 65.
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Ergebnis eines langsamen, stufenweisen Endes der Beziehung aufzufassen, während die Feindschaft häufig das Ergebnis des plötzlichen Endes, des Bruchs darstellt. Indifferenz wäre somit die Folge eines prozesshaften Wandels, während Feindschaft als Ergebnis situativen Umschlagens aufgefasst werden müsste. Feindschaft wirkt zunächst aufgrund der Plötzlichkeit ihres Auftretens im Vergleich mit der sich schleichend einstellenden Indifferenz als der klarere Gegensatz zu den verschiedenen Typen interpersoneller Beziehungen. Wenn man jedoch berücksichtigt, was eine persönliche Beziehung im Kern ausmacht - Kontakt, Diskussion, Austausch, Verbundenheit etc. -, so relativiert sich dieses Bild. Denn auch die Feindschaft enthält viele dieser Aspekte, wenn auch in negativer Ausformung, sie ist Freundschaft mit negativem Vorzeichen. Indifferenz hingegen zeichnet sich durch das Fehlen jeglichen Kontakts und Austauschs, durch die Verweigerung jeder Diskussion und Verbundenheit aus, sie negiert sämtliche Eigenschaften von Freundschaft, sie ist das eigentliche Andere der Freundschaft.
2.2 Die S.I. als Avantgarde des 20. Jahrhunderts? Dass dem Begriff und dem Kontext der Avantgarde hier ein eigenes Kapitel eingeräumt wird, lässt sich sowohl aus der Logik bzw. Systematik der jeweiligen Begriffe, als auch aus der Untersuchungsanlage der vorliegenden Arbeit heraus begründen. Auf der begrifflichen Ebene ist festzustellen, dass Avantgarde sich nicht ohne weiteres in den Kontext von Gruppe, Bewegung, Netzwerk und ähnlichen Konstrukten stellen lässt bzw. dass der Begriff der Avantgarde nicht auf der gleichen Ebene liegt wie diese Bezeichnungen. Denn sowohl Gruppen als auch Bewegungen und Netzwerke können Avantgarden sein, müssen es aber nicht. Die Begriffe Avantgarde und avantgardistisch liegen somit quer zu den bislang dargestellten Gruppenbegriffen. Was Avantgarde aber gleichzeitig mit den verschiedenen Gruppenkonzeptionen verbindet, ist die Tatsache, dass Avantgarden stets von einer Pluralität von Menschen gebildet werden, also im allgemeinen Sinn des Wortes ein Gruppenphänomen darstellen. Die Frage jedoch, ob eine Gruppe, ein Netzwerk etc. als Avantgarde aufgefasst werden kann, ist eine inhaltliche und keine strukturelle, die zugleich sehr umkämpft ist. Die Frage ›Avantgarde oder nicht?‹ scheint beinahe zum Charakter der Avantgarde zu gehören. Ist aber deshalb alles Avantgarde, was sich selbst als solche bezeichnet? Welche Kriterien oder Merkmale gibt es, um Avantgarden zu beschreiben und von Nicht-Avantgarden134 zu unterscheiden? 134 | Hier wäre zudem die Frage zu stellen, was denn der Gegenbegriff zur Avantgarde wäre. Der Mainstream? Die Reaktion? Oder sollte man zunächst im etymologisch vermittelten Bild des Voranlaufens verbleiben und die Avantgarde von den Stehenbleibern und den Rückwärtsläufern der Arrièregarde unterscheiden? Doch welche Instanz gibt die Richtung vor, wer ist in der Lage, die alte Karussell-Frage ›Und wer fährt vorn?‹ (vgl. Baumann (1981)) zu beantworten?
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Auch aus der Konzeption der vorliegenden Arbeit heraus muss der Avantgardebegriff etwas ausführlicher dargestellt werden. Denn die Frage nach den Konjunkturen von Avantgarde, nach ihrem Auf- und wieder Abtauchen bildet die ›Hintergrundfolie‹ für die hier angestrebte Untersuchung der S.I. Dabei ist die Frage, inwiefern die Situationisten als Avantgarde bezeichnet werden können, nur ein erster Schritt für die weiterreichende Überlegung, wie mit Hilfe einer Analyse der S.I. verschiedene Aspekte des Phänomens Avantgarde - ihre jeweils sowohl auf theoretischer wie auch auf der Gruppenebene zu beobachtenden Konjunkturen bzw. der Wechsel von Präsenz und Latenz, ihre Streitlust, aber auch ihre Verweisungszusammenhänge etc. - verständlicher gemacht werden können. Zudem ist der Avantgardebegriff von besonderem Interesse, da sich bei ihm die inhaltlich-theoretische mit der strukturellen Ebene in dem Sinn verbindet, dass die Frage nach der Avantgarde eine theoretisch-inhaltliche ist, die jedoch stets im Kontext von Gruppen, Netzwerken etc. gestellt und zu beantworten versucht wird. Diesbezüglich ist im weiteren Verlauf der Untersuchung herauszuarbeiten, welche Gruppenstrukturen diese inhaltliche Ausrichtung hervorbringt, aber auch, welche strukturellen Probleme von der inhaltlich-theoretischen Ebene ausgelöst werden können. Oder umgekehrt gefragt: Gibt es Gruppenstrukturen, die besonders geeignet sind, eine avantgardistische Position zu vertreten?
2.2.1 Kunst und Politik: zum Avantgardebegriff Auch wenn der Avantgardebegriff hier nicht umfassend in seiner Entstehung und weiteren Entwicklung dargestellt werden kann,135 so soll doch auf einige zentrale Aspekte hingewiesen werden. Unter dem Begriff der ›historischen Avantgarden‹ werden verschiedene Künstlergruppen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie Futurismus, DADA und Surrealismus subsumiert,136 die als Erste »bestimmte allgemeine Kategorien des Kunstwerks in ihrer Allgemeinheit erkennbar [machen]«137 und mit denen »das gesellschaftliche Teilsystem Kunst in das Stadium der Selbstkritik ein[tritt]«138 . Mit dieser Sichtbarmachung der Institution Kunst geht die Negation ihrer Autonomie und der Versuch einher, die Kunst in der Lebenspraxis aufzuheben und ausgehend von der Kunst eine
135 | Vgl. hierzu vor allem die begriffsgeschichtlichen Ausführungen von Barck (2000a); Böhringer (1978); Bollenbeck (1994); Estivals (1968) und Poggioli (1968), S. 1ff. sowie die auf eine Theorie der Avantgarde abzielenden Arbeiten von Bürger (1974); Enzensberger (1976), S. 57f.; Mann (1991), S. 7ff. und Russell (1985), S. 3ff. 136 | Dies gilt z.B. für die Arbeiten von Bürger (1974), die zumindest im deutschsprachigen Raum entscheidend zur Begriffsprägung ›historische Avantgarden‹ beigetragen haben. 137 | Bürger (1974), S. 24. 138 | Bürger (1974), S. 28.
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neue Lebenspraxis zu entwickeln.139 »Angriffe auf die Institution Kunst sind dabei das naheliegendste Ziel, das Ausgreifen des Anspruchs auf die ganze Lebenspraxis liegt aber in der Logik dieses Prozesses.«140 Die Aufhebung der Kunst in der Lebenspraxis richtet sich gegen die in der bürgerlichen Gesellschaft spätestens mit dem Ästhetizismus vollständig ausgebildeten Autonomie der Kunst als gesellschaftlichem Sonderbezirk.141 Dieser Anspruch, über die Sphäre der Kunst hinaus wirksam zu werden, äußert sich bei den meisten Avantgarden nicht nur im Entwurf neuer Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens, sondern auch in der Entwicklung eines neuen Menschenbildes, »eines Menschen, der bisweilen eine utopische, irreale Person, oft der Künstler selbst ist; ebenso oft entsteht aber auch der Entwurf eines Menschentyps, der Teil eines neuen Gesellschaftstypus ist und sich frei in dieser Gesellschaft entfaltet.«142 Zusammenfassend lassen sich, trotz offener Fragen und Kontroversen, einige Aspekte festhalten, um den Begriff der historischen Avantgarden, wenn schon nicht zu definieren, so doch wenigstens einzugrenzen. Folgende Merkmale können demnach als charakteristisch angesehen werden:143 erstens die Aufhebung der künstlerischen Autonomie, zweitens die Überführung von Kunst in Lebenspraxis und die Politisierung beider Felder, drittens die Auflösung des Werkbegriffs, viertens die Auflösung des Künstlerbegriffs und fünftens der Gruppen- und Bewegungscharakter. Der Avantgardebegriff, der in der vorliegenden Arbeit Verwendung finden wird, basiert zunächst auf dem Begriff der historischen Avantgarden, blendet also Künstlergruppen vor dem 20. Jahrhundert aus. Gleichzeitig wird er in die Gegenwart hinein zu erweitern sein, also neben dem Futurismus, DADA und dem Surrealismus auch Gruppen einschließen, die wie die S.I. in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstehen. Dass eine solche zeitliche Erweiterung des Begriffs der Avantgarde sinnvoll ist und die Trennung zwischen historischer Avantgarde und NeoAvantgarde, wie sie Bürger an der Grenzlinie des 2. Weltkriegs vollzieht, ersetzen sollte, wird im Verlaufe dieses Kapitels zu erläutern sein. In den begriffsgeschichtlichen Studien zum Avantgardebegriff lassen sich - ausgehend vom militärischen Ursprung - zwei Hauptlinien von Avantgarden ausmachen: die politischen und die künstlerischen. Wird heute von Avantgarde gesprochen, so bezieht sich dies nur noch sel-
139 | Diese Aufhebung der Kunst in der Lebenspraxis bildet den Ausgangspunkt der Analysen von Kiwitz (1986). Dieser nimmt unter Rückgriff auf Habermas’ LebensweltKonzeption den Surrealismus und die S.I. in den Blick. 140 | Illing (2001), S. 19. 141 | Vgl. zur Kategorie der Autonomie der Kunst Bürger (1974), S. 49ff. sowie zu den Problemen der Aufhebung eben dieser Autonomie Lindner (1976), S. 82ff. 142 | Szabolcsi (1979), S. 31. 143 | Vgl. Asholt (2000b), S. 15. Einen daran anknüpfenden, jedoch etwas umfangreicheren ›Kriterienkatalog‹ entwickelt Beyme (2005), S. 38f.
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ten auf die Avantgarden wie sie von Saint-Simon144 oder Lenin145 entworfen wurden, gemeint sind meist die historischen Avantgarden. Der Avantgardebegriff scheint somit seinen militärischen Ursprung und seine politische Ausprägung hinter sich gelassen und sich auf das Gebiet der Kunst zurückgezogen zu haben. Doch gegen eine solche Vereinfachung ist einzuwenden, dass die historischen Avantgarden gerade durch die Verbindung von Kunst und Politik gekennzeichnet sind, dass sie versuchen, diese miteinander zu verknüpfen und ihre Widersprüche aufzulösen.146 Dies ist dahingehend zu verstehen, dass es sich bei den historischen Avantgarden stets um Künstlergruppen mit politischen bzw. gesellschaftlichen Zielsetzungen handelt, um Künstlergruppen, deren Ziel es ist, den engen Rahmen der Kunst zu verlassen und gesellschaftspolitisch zu wirken. »Zentrale Merkmale der Avantgarde sind [...] nicht die künstlerischen Innovationen der modernen Ismen [...]. Ihren Thesen liegen vielmehr soziologische Diagnosen über Struktur und Hierarchie gesellschaftlicher Funktionsbereiche zugrunde, und damit nehmen sie eine Verbegrifflichung der seit der Jahrhundertwende in den binnenkünstlerischen Krisendiskursen beklagten Trennung von ›Kunst‹ und ›Leben‹ vor.«147
Diese angestrebte Aufhebung der Trennung von Kunst und Leben bzw. von Kunst und Politik aus der Kunst heraus scheint jedoch mit großen Schwierigkeiten verbunden zu sein. Dies wird daran erkennbar, dass indirekt die zu überwindende Trennung zwischen Kunst und Politik genau in dem Moment von den Avantgarden wieder eingeführt und bestätigt wird, in dem sie eigentlich überwunden werden sollte: Wenn sich Künstlergruppen wie die Futuristen oder die Surrealisten zur Erreichung ihrer gesellschaftspolitischen Ziele doch wieder an politische Parteien wenden und sich mit ihnen zusammenschließen. Auch wenn sich dadurch eine Zusammenarbeit ergibt, die eventuell zur Verbreitung der Idee der künstlerischen und politischen Elite in der breiteren Bevölkerung beitragen kann, so bleibt doch die Trennung an sich erhalten, was nicht zuletzt an der Vielzahl von Konflikten in solchen politischkünstlerischen Koalitionen deutlich wird.148 144 | Vgl. hierzu u.a. Franz (1988). 145 | Vgl. zu Lenins Ausführungen zur berufsrevolutionären Kaderpartei Lenin (1987) und Lenin (1988) sowie mit vergleichendem Blick auf die historischen Avantgarden Kliche (1979), S. 182ff. Auf den ersten Text Lenins spielt Debord mit dem Titel eines Artikels an, den er kurz vor der Gründung der S.I. veröffentlicht und in dem er ebenfalls die Konstitutionsbedingungen und Probleme der ›revolutionären Avantgarde‹ behandelt (vgl. Debord (1957f)). 146 | Das militärische Element ist nicht ganz verschwunden: Es taucht bei der Frage nach dem Verhältnis von Avantgarde und Gewalt wieder auf (vgl. Ehrlicher (2001) und Hecken (2006a)). 147 | Illing (2001), S. 18. Hervorh. im Orig. 148 | Für die historischen Avantgarden und ihre Zusammenarbeit oder Auseinandersetzung mit politischen Parteien sei hier im Allgemeinen verwiesen auf Fähn-
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Zwei Gemeinsamkeiten aller vier Avantgardebegriffe sollen abschließend noch hervorgehoben werden. Zum einen handelt es sich dabei um den Charakter der Avantgarde als zeitlich beschränktes Übergangsphänomen. Sowohl beim ursprünglichen militärischen, beim künstlerischen und beim politischen Ansatz als auch bei den historischen Avantgarden ist im Konzept der Avantgarde stets das Eingeholt-Werden durch das Heer bzw. durch die breitere Bevölkerung impliziert. Die Avantgarde bildet zunächst, mit mehr oder minder großem Abstand, die Spitze, sie ist ihrer Zeit voraus und kann lediglich eingeholt werden.149 Dieses Verhältnis der Avantgarden zur Zeit ist jedoch ein paradoxes, und der Versuch, diese Paradoxie aufzulösen oder zumindest abzufedern, führt schließlich zu dem Verhalten, das als typisch avantgardistisch bezeichnet werden kann: »Die Avantgarde beansprucht, der eigenen Zeit voraus zu sein. Da aber auch sie nicht in der Zukunft handeln kann, läuft dies praktisch darauf hinaus, in der gemeinsamen Gegenwart sich zu distanzieren, zu kritisieren, zu polemisieren.«150 Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang, dass dieses Eingeholt-Werden nicht als Scheitern, sondern im Gegenteil gerade als Erfüllung der Aufgabe der Avantgarde angesehen wird. Sei es, dass sie als militärische den Vormarsch vorbereitet und ihn dann gemeinsam mit dem Rest des Heeres durchführt oder dass die breitere Bevölkerung an die eigenen Positionen herangeführt und so in die ›richtige Richtung‹ gelenkt wird: Das Agieren der Avantgarde ist stets ein phasenhaftes. Avantgarden sind im wörtlichen Sinne mal räumlich, mal zeitlich vorgestellte Bewegungen, und »Bewegungen lassen sich nicht institutionalisieren«.151 Bewegungen werden sichtbar in dem Moment, in dem sie sich vom Hintergrund abheben, sich also schneller oder in eine andere Richtung bewegen als dieser. Und sie enders (2001) sowie jeweils spezieller für die Futuristen auf Schmidt-Bergmann (1993) und Hardt (1982) sowie für die Surrealisten auf Barck (1979a) und Barck (2000b). Bei den Surrealisten wird die mehrfache Schwerpunktverlagerung zwischen Kunst und Politik auch an den wechselnden Titeln ihrer Zeitschrift deutlich: Hieß sie anfangs La Revolution Surréaliste und stellte somit die Kunst in den Vordergrund, so wurde sie 1930 im Zuge der Zusammenarbeit mit dem PCF umbenannt in Le Surréalisme au service de la révolution und brachte damit eine dem saint-simonistischen Avantgardebegriff vergleichbare Unterordnung der Kunst unter die Politik zum Ausdruck. Nach dem Bruch mit dem PCF wurde ab 1956 eine Zeitschrift mit dem Titel Le Surréalisme, même herausgegeben (vgl. Kimali (2003)). 149 | Vgl. Plumpe (2001), S. 8. Plumpe verweist zudem auf den interessanten Sonderfall des Anfang des 20. Jahrhunderts zu beobachtenden ›Revolutionstourismus‹ aus Mittel- und Westeuropa nach Russland: Hier wird der Zeitvorsprung des revolutionären Russlands gegenüber dem Rest Europas wiederum räumlich erfahrbar gemacht, »man überschreitet im Raum eine Zeitgrenze« (ibidem, S. 9). 150 | Luhmann (1997), S. 467. Auch Enzensberger verweist auf diese zeitlichen Paradoxien des Avantgarde-Metapher: »Mitgedacht ist in ihr die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen: Vorläufer und Nachzügler sind in jedem Augenblick des Prozesses zugleich anwesend. Äußere und innere Zeitgenossenschaft fallen auseinander. Das en avant der Avantgarde möchte gleichsam Zukunft im Gegenwärtigen verwirklichen, dem Gang der Geschichte vorgreifen.« (Enzensberger (1976), S. 58f., Hervorh. im Orig.). 151 | Böhringer (1978), S. 104.
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den in dem Moment, wenn sich Tempo und Richtung von Bewegung und Hintergrund wieder angleichen. Zu klären bleibt, ob sich hier ein Unterschied ausmachen lässt zwischen einer sich selbst erschöpfenden Bewegung und einem sich der Bewegung anpassenden Hintergrund. Vorab bleibt zunächst zu konstatieren, dass Avantgarden sich aus ihrer Eigenlogik heraus nicht auf Dauer stellen wollen und können, sondern ihnen als Bewegung ihr Verschwinden bereits von Anfang an inhärent ist. Die Beschreibung der Avantgarde als Bewegung sollte jedoch nicht dahingehend missverstanden werden, dass Avantgarden zwangsläufig mit dem oben angesprochenen gruppensoziologischen Bewegungsbegriff in Verbindung gebracht werden müssen. Dies führt uns jedoch zur zweiten Gemeinsamkeit der skizzierten Avantgardekonzeptionen. Alle vier verstehen unter einer Avantgarde stets eine Pluralität von Menschen, »als individuelle Tätigkeit ist ›Avantgarde‹ nicht möglich«152 . Auch wenn sich verschiedene Avantgarden in ihren jeweiligen Organisations- und Mitgliederstrukturen deutlich voneinander unterscheiden, sie alle sind Gruppen.
2.2.2 Avantgarde und Gruppenbildung Trotz des bereits erwähnten schwierigen Verhältnisses von Individualität und Kollektivität bei Künstlern hat es durch die Jahrhunderte hinweg immer wieder Ansätze gegeben, sich zu verschiedenen und verschiedenartigen Gruppen zusammenzuschließen, haben Künstler ihre Individualität zugunsten der Sozialität und der Solidarität eingetauscht oder zumindest eingeschränkt.153 Auch wenn das Phänomen der Künstlergruppe mit den häufig als Beispiel angeführten Nazarenern in Rom bereits an der Schwelle zum 19. Jahrhundert zu beobachten ist,154 zur vollen Entfaltung kommt es erst im 20. Jahrhundert. Diese ausgeprägte Neigung zur Gruppenbildung geht so weit, dass »sich die europäische Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts insgesamt als eine wechselvolle Folge von Gruppierungen, mehr oder weniger losen Zusammenschlüssen, Bewegungen und Gruppenkonstellationen nachvollziehen [läßt]«.155 Sicherlich sind dabei längst nicht alle Künstlergruppen dem Feld der Avantgarde zuzurechnen, aber es lässt sich doch feststellen, dass unter ihnen viele zu erkennen sind, die »aus Gegenströmungen und Abgrenzungsbestre-
152 | Illing (2001), S. 27. 153 | Die umfassendste Übersicht zu Künstlergruppen im Europa des 20. Jahrhunderts bietet das dreibändige Grundlagenwerk von Christoph Wilhelmi: Wilhelmi (1996b); Wilhelmi (2001b) und Wilhelmi (2006b). 154 | Vor dieser Zeit sind aufgrund der Zuordnung des Künstlers zum Handwerkerstand so gut wie keine abgeschlossenen Künstlergruppen zu erkennen; wenn überhaupt, kommt es zur Bildung lockerer Beziehungsnetze zwischen einzelnen Künstlern (vgl. Thurn (1983), S. 288 und S. 291 sowie zu den Nazarenern Bachleitner (1976)). 155 | Thurn (1983), S. 293.
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bungen gegen Etablierte [entstanden]«156 . Was ist also das Neue, das Spezifische an avantgardistischer Gruppenbildung? Wodurch wird sie motiviert? Wodurch erschwert oder ermöglicht? In welchem Verhältnis stehen dabei kunstimmanente und gesellschaftliche Faktoren? In den ›klassischen‹ Künstlergruppen wie den Kunstvereinen und Sezessionen des 19. Jahrhunderts157 schließen sich in der Regel mehrere Künstler zusammen, deren Zusammenarbeit auf einer Kombination aus freundschaftlichen Beziehungen und theoretischer bzw. künstlerischer Konvergenz basiert. Es handelt sich um Gruppen, »in denen das gemeinschaftliche Leben und Arbeiten, zumindest aber der kollegiale Austausch und berufliche Probleme eine besondere Qualität erhalten«158 . Als kunstimmanente Motivation lässt sich also der Zusammenschluss mit Gleichgesinnten ausmachen, um so auf Basis einer gruppeninternen Solidarisierung die eigene, häufig als fortschrittlich angesehene Position zu stärken und nach außen vertreten zu können. Eng damit verbunden ist der Wunsch, sich auf dem Kunstmarkt zu etablieren, also auf Basis der inhaltlichen Solidarisierung eine Öffnung nach außen hin zu erzielen. Diese Ausrichtung tritt am deutlichsten in den sogenannten Ausstellungsgemeinschaften zutage, ist aber als ein Teilaspekt der Motivation bzw. der gesellschaftlichen Faktoren, die zur Gruppengründung anregen, häufig zu erkennen. Dies führt bei einigen Gruppierungen dazu, dass nicht nur Künstler, sondern auch Galeristen und Sammler als Mitglied oder zumindest als Freund und Unterstützer der Gruppe fungieren können.159 Viele dieser Aspekte lassen sich auch bei den Avantgarden des 20. Jahrhunderts finden, es soll also nicht behauptet werden, dass sich avantgardistische Gruppenbildung grundlegend von vorangegangenen Formen der Sozialität unter Künstlern unterscheidet. Dies gilt vor allem für den Zusammenschluss von Künstlern, der in erster Linie auf inhaltlichen Gemeinsamkeiten und/oder auf freundschaftlichen Verflechtungen basiert. Dennoch sind einige zusätzliche Faktoren zu erwähnen, die zum einen die Zunahme von Gruppenbildungen im 20. Jahrhundert erklären können und zum anderen auf Besonderheiten avantgardistischer Gruppen hinweisen. Zum einen sind die durch die Avantgarde eingeleiteten Veränderungen innerhalb der Kunst zu nennen. Ausgangspunkt ist hierbei die Auflösung der klassischen Werkkategorie, die u.a. dazu führt, dass sich ein wichtiger Teil der avantgardistischen Kunstproduktion nicht mehr auf den Feldern der Malerei oder der Plastik etc. abspielt, sondern die Form von Manifesten, Proklamationen oder Happenings an156 | Wilhelmi (2001a), S. 3. So stellt auch Szablocsi fest: »Die Tendenzen, die sich ab 1905 in der Entwicklung der Literatur und der bildenden Kunst insgesamt abzeichnen, können in Gruppen eingeteilt werden: Eine der hauptsächlichen Gruppen ist meiner Meinung nach die Avantgarde.« (Szabolcsi (1979), S. 25). 157 | Vgl. zu den Sezessionen Wilhelmi (1996a), S. 3. 158 | Thurn (1983), S. 290. 159 | Die Kategorie des passiven Mitglieds findet sich u.a. bei der Künstlergruppe Brücke (vgl. Hoffmann (2005), S. 46ff.).
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nimmt, »die sich in keiner Weise mehr adäquat unter die Werkkategorie fassen lassen«160 . Die Aufhebung der Werkkategorie durch die historischen Avantgarden beinhaltet somit eine Verschiebung von der Werkästhetik zur Ereignisästhetik.161 Diese Manifestationen der Avantgarden aber, allen voran diejenigen DADAs, sind grundsätzlich kollektiver Natur, erfolgen in der Gruppe, ja, sie können aufgrund ihres spontanen Charakters vor allem durch die Interaktion in einer Gruppe entstehen. Zudem entwickeln sich weitere, nur kollektiv durchführbare Kunstpraxen wie zum Beispiel der surrealistische cadavre exquis. Besonders interessant werden diese kollektiven Manifestationen zudem dadurch, dass sich die Gruppen häufig aus Vertretern verschiedener Kunstgattungen zusammensetzen: Maler treffen auf Schriftsteller, auf Architekten, Bildhauer oder Photographen. Die Avantgarden arbeiten interdisziplinär und transdisziplinär in dem Sinne, dass die Unterscheidung verschiedener Disziplinen aufgehoben werden soll.162 Diese Durchmischung der Vertreter verschiedener Kunstgattungen sowie ihre Zusammenarbeit mit Personen, die sich unter dem Künstlerbegriff kaum fassen lassen, führen in Kombination mit der gesellschaftskritischen Ausrichtung zu der bereits skizzierten Überlegung, dass der Begriff der ›Künstlergruppe‹ für die historischen Avantgarden zu eng gefasst ist, da ihm gerade die Besonderheiten dieser neuen Konstellationen entgehen, und dass es daher angebrachter erscheint, in der »Avantgarde eine Bewegung von Intellektuellen«163 zu sehen. Dies wird noch deutlicher, wenn man berücksichtigt, dass nicht nur die Kategorie des einzelnen Werks, sondern auch - und damit eng verbunden - die des Künstlers in Frage gestellt wird. »Im Unterschied zum autonomen, individualistischen Geniekünstler, der das Künstlerbild seit Anfang des 19. Jahrhunderts dominierte [...], präsentierten sich die Ismen der Moderne und insbesondere die Avantgarden in unverwechselbarer Weise als kollektive Unternehmungen, die auch als Folge der im 19. Jahrhun160 | Bürger (1974), S. 77. 161 | Vgl. Steinert (1998), S. 100ff. und Steinert (2003), S. 195ff. Interessant erscheinen in diesem Zusammenhang die zeitlichen Implikationen dieser Verschiebung: Werk vs. Ereignis lässt sich auch als Dauer vs. Moment/Vergänglichkeit übersetzen. Die avantgardistische Praxis der Manifestation passt sich somit in die Gesamtlogik der Avantgarde als Bewegung ein. Gleichzeitig lassen sich aus dieser Verschiebung die Schwierigkeiten verschiedener Avantgarden bezüglich der Produktion von ›klassischen‹ künstlerischen Ausdrucksformen wie Malerei, Plastik etc. erklären. 162 | Der Versuch der Aufhebung disziplinärer Unterscheidungen innerhalb der Kunst lässt sich als Vorstufe zur Aufhebung der Trennung zwischen der Kunst insgesamt und anderen Bereichen bzw. allgemein von Kunst und Leben auffassen. Die Überschreitung disziplinärer Grenzen ist bei den meisten Avantgarden auch mit der Überschreitung räumlicher, nationaler Grenzen verbunden. Avantgarde ist, sei es als einzelne Gruppe oder mit Blick auf das Gesamtphänomen, ein internationales Projekt (vgl. Wilhelmi (1996a), S. 36ff. und Wilhelmi (2006a), S. XXIIIff.). 163 | Szabolcsi (1979), S. 31.
Der theoretisch-begriffliche Rahmen | 93 dert einsetzenden Entwertung und ›tendenziellen Abschaffung‹ von Künstlern und Intellektuellen begriffen werden kann.«164
Diese Auflösung des klassischen Künstlerverständnisses richtet sich einerseits gegen den Einsamkeitsmythos165 sowie gegen den Geniemythos,166 und es ist zu vermuten, dass diese ›Abwertung‹ des einzelnen Künstlers, der Bedeutungsverlust des individuellen Genies es erst ermöglicht, dass sich Künstler in bislang unbekanntem Ausmaß zu Gruppen zusammenschließen. Denn erst wenn der Künstler sich selbst nicht so ausgeprägt als Solitär wahrnimmt, wirkt das Arbeiten in einer Gruppe nicht mehr wie eine Selbstaufgabe der eigenen Persönlichkeit. Dass diese ›Kollektivierung‹ des Künstlerbegriffs jedoch nicht dazu führt, dass die einzelnen Künstler sich vollständig der Gruppe unterordnen bzw. dass Künstlergruppen friedliche Biotope darstellen, davon zeugt die in allen Gruppen zu beobachtende Neigung zur Debatte, zum Streit oder gar zum offenen Konflikt.167 Dennoch hat der Gruppenkontext für die beteiligten Künstler durch die in ihm stattfindende grundlegende Solidarisierung durchaus eine biotopartige Wirkung, die gerade im Außenverhältnis bedeutsam sein kann.168 Diese gegenseitige Absicherung ist für die Avantgarden des 20. Jahrhunderts wesentlich wichtiger als für Künstler der vorangegangenen Epoche, da sich ihre Kritik deutlich über den Bereich der Kunst hinaus ausdehnt und sich politisiert.169 In der Avantgarde als Gruppe verbindet sich eine defensive Schutzfunktion mit einer offensiven EliteVorstellung bzw. kann dort auf Basis der Ersteren die Letztere entwickelt werden. »Den Schutz, den die Garde gewährt, genießt zuallererst, wer ihr angehört. [...] Zur Garde zu gehören, ist eine Auszeichnung. [...] Jede, auch die Avant-Garde versteht sich als Elite. Stolz ist sie nicht nur darauf, voran und weiter zu sein als die andern, sondern auch darauf, zu einer ausgezeichneten Minderheit zu gehören.«170
Vor dem Hintergrund, dass »sich Gruppenzusammenhänge stets gegen übergeordnete, sozial bedeutsame Zusammenhänge richten«171 , sind sie die angemessene Organisationsform des auch auf der gesellschaftlich-politischen Ebene als Opposition auftretenden Künstlers. Zu164 | Illing (2001), S. 27. 165 | Vgl. Zimmer (2002), S. 116ff. 166 | Vgl. ibidem, S. 118ff. 167 | Vgl. Orlich (2008), S. 116ff. 168 | Vgl. hierzu den Begriff der ›Eigenkultur‹ intellektueller Gruppen bei Eßbach (1988), S. 417ff. 169 | Die gesamtgesellschaftliche Ausrichtung ist für Poggioli das Hauptmerkmal zur Abgrenzung avantgardistischer Gruppen als ›movements‹ von früheren Künstlergruppen als ›schools‹ (vgl. Poggioli (1968), S. 18). 170 | Enzensberger (1976), S. 64. 171 | Jacoby (2007), S. 9.
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gleich ist denkbar, dass sich die Künstler durch die mit der Avantgarde aufkommende gesellschaftspolitische Ausrichtung verstärkt mit ebenfalls in Gruppen organisierten ›Gegnern‹, wie politischen Parteien etc., konfrontiert sehen und sich daher auch selbst verstärkt in Gruppen zusammenschließen. Während die interne Solidarisierung bei den ›klassischen‹ Künstlergruppen die Grundlage für eine Öffnung in Richtung des Marktes beinhaltete, ist bei den Avantgarden zu beobachten, dass die Solidarisierung zu einer Abschließung, zur Ausbildung eines subkulturellen bzw. oppositionellen Milieus führt, das der übrigen Gesellschaft kritisch gegenüber steht. Zudem »steht die Gruppenbildung in engem Zusammenhang mit der Tendenz zur praktischen Radikalisierung von Ideen«172 , die bei den Avantgarden zu beobachten ist.173 Diese Radikalisierung durch die ›Kollektivierung der Phantasie‹ ist jedoch zunächst eher als Folge denn als Ursache der Gruppenbildung anzusehen. Allerdings bleibt zu fragen, inwieweit sie zumindest für die zweite Generation der Avantgarde auch als Motivation zur Solidarisierung fungieren kann. Die sichtbare Radikalisierung von Ideen bei den Vorgängergruppen vor Augen, könnte der Zusammenschluss zu einer neuen Gruppe für den Einzelnen als Möglichkeit erscheinen, die eigene Ohnmacht gegenüber den diagnostizierten zeitgenössischen Problemen zu überwinden und kritisch tätig zu werden. Abschließend muss daher noch auf die Tatsache hingewiesen werden, dass die Zunahme von Gruppenbildungen häufig mit Zeiten gesellschaftlichen Wandels oder gesellschaftlicher Krisen zusammenfällt. »In Zeiten spürbareren sozialen Wandels - mag er sich nun mehr im sozialstrukturellen oder im normativ-kulturellen Bereich vollziehen - machen die Individuen in vermehrtem Maße Gebrauch von ihrer Fähigkeit, über die gegebenen sozialen Verflechtungen hinaus Gruppen zu bilden.«174
Für die historischen Avantgarden können diese Faktoren hier nicht ausführlicher dargestellt werden. Zu verweisen ist für den Futurismus auf die Erfahrung der Technisierung und des aufkommenden Faschismus175 sowie für DADA, und in abgeschwächter Form auch für den Surrealismus, auf die Erfahrung der Katastrophe des 1. Weltkriegs und die Großstadterfahrung.176 Zugleich sollten, vor allem mit Blick auf den Übergang von DADA zum Surrealismus, auch ›Krisen‹ und Wandel innerhalb der Kunst hinzugezogen werden. Hier spielt die Erschöpfung der dadaistischen Gruppe bzw. ihre Integration in die Institution Kunst eine nicht unwichtige Rolle für die Entstehung des Surrealismus.177 Eine ähnliche Vermengung von kunstimmanenten Krisen als direktem und 172 | Illing (2001), S. 27. 173 | Vgl. hierzu mit Blick u.a. auf die S.I. Diederichsen (1994). 174 | Eßbach (1988), S. 43. 175 | Vgl. Hinz (1995). 176 | Vgl. Fiedler (1989) und Müller (1988). 177 | Vgl. Vowinckel (1989), S. 103ff.
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gesellschaftlichen Krisen als umfassenderem Problemkontext der Entstehung avantgardistischer Gruppen lässt sich für die S.I. ausmachen. Auf der Ebene der Kunst handelt es sich hier einerseits um die Erfahrung der récupération der historischen Avantgarden, aus Sicht der S.I. also um eine Entpolitisierung und Entradikalisierung der Kunst, und andererseits um ein Wiedererstarken des Funktionalismus, das gerade im Bereich der Architektur zu beobachten ist. Auf der gesellschaftlichen Ebene ist neben der weltpolitischen Blockbildung nach dem 2. Weltkrieg auch an die Restauration unter Charles de Gaulle sowie an die sich mit dem Algerienkrieg verschärfenden innenpolitischen Problemlagen in Frankreich zu denken. Doch nicht nur ihre Erscheinungsform als Pluralität von Menschen ist ein gemeinsames Merkmal aller Avantgarden des 20. Jahrhunderts. Neben dieser ersten Ebene der Gruppenbildung ist noch eine zweite zu erkennen: diejenige der Verweisungszusammenhänge zwischen verschiedenen Avantgarden. Dabei sind mehrere Unterscheidungen voranzustellen: Es gibt Verweisungen sowohl zwischen zeitgleichen als auch zwischen aufeinander folgenden Gruppierungen; es lassen sich positive Verweisungszusammenhänge im Sinne einer Zusammenarbeit und negative im Sinne der Konfrontation, des Streits und der Kritik beobachten, und es lassen sich schließlich programmatisch-theoretische von eher persönlich-privaten Verweisungszusammenhängen unterscheiden. Bevor dieses verschlungene und sich stets fortsetzende Netz von Gruppierungen zuerst recht knapp für die historischen Avantgarden und anschließend etwas detaillierter für die Entstehungsgeschichte der S.I. skizziert werden kann, soll jedoch zunächst noch ein genauerer Blick auf die Theorien der Avantgarde und die damit zusammenhängende These vom Ende bzw. Scheitern der Avantgarde geworfen werden.
2.2.3 Theorien der Avantgarde: Ende und Scheitern oder Auf- und Abtauchen? Bezüglich des Avantgardebegriffs, wie er in der vorliegenden Arbeit Verwendung findet, ist anzumerken, dass bei seiner Verwendung zwischen einem avantgarde-internen, also selbstreflexiv-aktuellen, und einem von außen herangetragenen, also reflexiv-historisierenden Diskurs unterschieden werden kann.178 Der interne Diskurs findet in den Avantgarden des Futurismus, DADAs und des Surrealismus statt und stellt bereits dort die Frage nach der Bedeutung der Avantgarde und dem eigenen Verhältnis dazu. Dabei ist zu beachten, dass hier neben der rein selbstreflexiven Ebene, dass z.B. DADA sich dazu äußert, was DADA als Avantgarde (nicht) ist und (nicht) will, bereits Vernetzungen und Auseinandersetzungen zwischen den aufeinander folgenden Gruppierungen 178 | Klaus von Beyme stellt in diesem Zusammenhang fest, dass »[d]ie Künstler [...] den Begriff ›Avantgarde‹ in ihren Schriften seltener benutzt [haben] als ihre Kommentatoren.« (Beyme (2005), S. 34).
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erkennbar werden. Wenn sich DADA mit dem Futurismus und anderen Ismen auseinandersetzt bzw. sich von ihnen abgrenzt179 oder der Surrealismus mit DADA ins Gericht geht,180 so beginnt hier bereits die reflexive, wenn auch noch avantgarde-interne Diskussion über Avantgarde, die sich u.U. als Wurzel der Theorie der Avantgarde verstehen lässt.181 »Bei einer rückblickenden Auseinandersetzung mit der Avantgarde ist [...] zu berücksichtigen, daß solche Reflexionen ihren Platz schon in den Selbstinterpretationen der KünstlerInnen/ProgrammatikerInnen hatte; und dies nicht als Konsequenz einer von außen (Wissenschaft/Politik) an die Kunst herangetragenen Kritik, sondern, weil ein Bewußtsein um die Aporien der gesellschaftlichen Funktion der modernen Kunst im künstlerischen Feld selbst entstanden war.«182
Die emische Sichtweise setzt hier also weit vor der etischen an, die Avantgarde scheint somit auch in Bezug auf die Diskussion über die eigenen Konstitutionsbedingungen und Funktionslogiken gegenüber der Wissenschaft voranzulaufen.183 179 | Vgl. z.B. die Anmerkungen von Theo van Doesburg: »Es ist ein Irrtum zu glauben, Dada gehöre zur Kategorie neuer Kunstformen wie Impressionismus, Futurismus, Kubismus, Expressionismus. Dada ist keine Kunstrichtung. Dada ist eine Richtung des Lebens selbst« (Doesburg (1992), S. 17). 180 | Hier wäre z.B. an Aragons DADA-Kritik in Form des Gedichtes Suicide (vgl. Aragon (1977), S. 83) zu denken, das sich als die von Aragon so gesehene Selbstzerstörung DADAs lesen lässt. Zielscheibe sind dabei die dadaistischen Lautgedichte, die damit als Selbstmord der Poesie kritisiert werden. Des Weiteren sind hier die DADA-kritischen Veröffentlichungen André Bretons in der Zeitschrift Littérature im Kontext des Procès Barrès (vgl. Breton (1921)) sowie nach seiner Distanzierung von Tristan Tzara (vgl. Breton (1922)) zu nennen. Auffällig ist hierbei bereits das sich wandelnde Verhältnis der verschiedenen Gruppierungen zum Avantgardebegriff. Während dieser bei den Futuristen und Dadaisten noch positiv besetzt ist, findet er bei den Surrealisten als mittlerweile modisch gewordener Begriff kaum noch Verwendung oder ist negativ konnotiert (vgl. Schmidt-Burkhardt (2005), S. 11f.). 181 | Ein Versuch, diese miteinander verwobenen Phänomene der Anknüpfung und der Abgrenzung zwischen verschiedenen Avantgardegruppen und unterschiedlichen ›Generationen‹ von Avantgarden unter dem Aspekt einer spezifisch avantgardistischen Streitkultur zu beleuchten, findet sich bei Orlich (2008). 182 | Illing (2001), S. 19f. 183 | Bei einer Gegenüberstellung des avantgarde-internen und des wissenschaftlichen Diskurses über Avantgarde anhand der zentralen Begriffe ließe sich folgender für die S.I. zentraler Unterschied ausmachen. Auch wenn bei den Avantgarden vor dem 2. Weltkrieg auch im internen Sprachgebrauch der Ismus Verwendung fand (Futurismus, Dadaismus - aber eben auch DADA - , Surrealismus) so lässt sich mit Blick auf die S.I. die strikte Ablehnung der Selbstbezeichnung als Situationismus belegen. Für die S.I. scheint die Bezeichnung als Ismus als nachträgliche, entradikalisierende Außenansicht. Die These in diesem Zusammenhang wäre, dass in dem Moment, in dem der Ismus auftaucht, also die S.I. von außen als Situationismus rezipiert wird, sie als Avantgarde bereits an Wirksamkeit verliert. Oder mit anderen Worten: Wenn etwas als Avantgardismus rezipiert wird, ist die dazugehörige Avantgarde bereits abgetaucht oder sollte es sein. Das Auftauchen eines Avantgardismus signalisiert somit das Abtauchen der vorangegangenen Avantgarde und zugleich die Notwendigkeit des Auftauchens einer neuen. Die Entstehung eines Avantgardismus beschreibt
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Denn gegenüber dieser aktuellen oder zumindest zeitnahen Avantgardediskussion fällt auf, dass sich der Begriff der Avantgarde als einer künstlerischen Elite mit politischen Positionen im allgemeinen Sprachgebrauch bzw. in der theoretischen Betrachtung dieses Phänomens erst Mitte des 20. Jahrhunderts, genauer ab Ende der 1960er Jahre, durchsetzen konnte. Man hat es hier also mit einer deutlichen Verzögerung zwischen der avantgarde-internen und der Betrachter-Perspektive zu tun. Es lässt sich vermuten, dass einer der Auslöser für die wissenschaftlichtheoretische Auseinandersetzung mit dem Avantgardebegriff und den dann als ›historische Avantgarden‹ bezeichneten Gruppierungen im Auftreten der ersten als Neo-Avantgarden bezeichneten Zusammenschlüsse nach dem 2. Weltkrieg zu finden ist. Dies dürfte zwei Gründe haben. Zum einen fällt auf, dass sich der Avantgardebegriff allgemein erst in dem Moment durchsetzt, in dem dann auch vom Ende der Avantgarde gesprochen und geschrieben wird. »Die Reprisen, die Neo-, Post- und Transavantgarden, die sich in den Nachkriegsjahren etablierten, schärften das Bewußtsein für die historischen Avantgarden und verliehen ihr retrospektiv Bedeutung.«184 Durch das Auftreten aktueller Gruppen, die sich selbst in den Kontext der Avantgarde einordnen, rücken die Avantgarden der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wieder verstärkt ins Blickfeld, dann aber eben retrospektiv als abgeschlossenes Phänomen, als historische Avantgarden. Zum anderen ist bei den avantgardistischen Gruppierungen, die nach dem 2. Weltkrieg entstehen, zu beobachten, dass hier der Auseinandersetzung mit den Vorkriegs- und Zwischenkriegsavantgarden eine große Bedeutung zukommt, sei es in Form der Abgrenzung oder der Anknüpfung. Auffällig hierbei ist, dass es bei den Neo-Avantgarden zu einer Vermischung der beiden oben skizzierten Diskurstypen kommt: Es handelt sich aus Sicht des Gesamtphänomens Avantgarde um einen selbstreflexiven, allerdings nicht mehr aktuellen, sondern historisierenden Diskurs. Mit dem Blick auf dieses dann sehr schnell als Neo-Avantgarde abgestempelte Phänomen verstärkt sich in den 1960er Jahren die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Avantgarde. Noch vor dem Aufkommen der Theorie der Avantgarde erfolgte bereits die ›Aufarbeitung‹ der Avantgarden der Zwischenkriegszeit durch die nach dem 2. Weltkrieg entstandenen Gruppen. Daher ist es nicht erstaunlich, dass diese avantgarde-interne Reflexion die Grundlage für die theoretische Betrachtung des Phänomens Avantgarde bildet und daher z.B. für den Ansatz von Bürger festgestellt werden kann: somit den Übergang von einer zur nächsten Generation der Avantgarde. Ein weiterer Aspekt sei hier noch erwähnt. Für den wissenschaftlichen Diskurs über Avantgarde gilt die Feststellung Enzensbergers: »Mit Sicherheit kann nur gesagt werden, was ›vorne‹ war, nicht, was ›vorne‹ ist.« (Enzensberger (1976), S. 62, Hervorh. im Orig.) Demgegenüber geht es dem avantgarde-internen Diskurs gerade darum, etwas als gegenwärtig ›vorne‹ zu behaupten bzw. zu setzen (was vor allem im Medium des Manifests erfolgt), während das, was in der Vergangenheit ›vorne‹ war, nur noch als negativer Abgrenzungshorizont dient. 184 | Schmidt-Burkhardt (2005), S. 13.
98 | Situationistische Internationale »[D]ie zentralen Merkmale seiner Definition [von Avantgarde, M.O.] waren freilich bereits Gemeingut avantgardistischer Selbstreflexion, etwa bei Karel Teige und Guy Debord. Bei ihnen lassen sich die von Bürger benannten Merkmale sämtlich auffinden, nur z.T. weniger sorgfältig mit dialektischer Reflexion abgesichert.«185
Vor allem die S.I. ist ein deutliches Beispiel für den innerhalb der Avantgarden stattfindenden kritischen Diskurs über den Avantgardebegriff sowie für die inhaltliche Auseinandersetzung mit den Vorkriegsavantgarden, aber auch mit avantgardistischen Gruppierungen der Nachkriegszeit. Gerade vor diesem Hintergrund erscheint die Frage angebracht, ob die Unterscheidung von historischer und Neo-Avantgarde, wie sie vor allem Bürger in den 70er Jahren etabliert hat, sich nicht aus der damaligen Sicht auf die Phänomene, aus der Neuheit der Neo-Avantgarden erklären lässt und somit heute, knapp 40 Jahre später, als historische anzusehen und in Frage zu stellen ist? Ob also, mit weiterem Abstand, weniger die Brüche als vielmehr die Kontinuitäten zwischen den Avantgarden der ersten und der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu erkennen sind? Und schließlich: ob solche Kontinuitäten aber vielleicht weniger zur Abstempelung als unbedeutendes ›Neo‹ führen sollten, sondern vielmehr als zur Logik der Avantgarde gehörig zu verstehen sind? Wie skizziert, kommt die Historisierung der Avantgarden wie Futurismus, DADA und Surrealismus vor allem durch das Auftreten neuer avantgardistischer Gruppierungen wie Fluxus, concept art oder pop art nach dem 2. Weltkrieg in Gang, denen es jedoch nur »um Kunst, ihre Definition und Interpretation ging und nicht mehr um die Entwicklung von jenen Perspektiven, von denen aus die institutionalisierte Kunst186 von außen kritisierbar wäre«187 . Diese Gruppierungen, die sich lediglich auf die Vorkriegsavantgarden beriefen, ohne dabei über deren Ansätze hinauszugehen, und bei denen »sich die Frage nach der Legitimität ei185 | Illing (2001), S. 18. Vgl. für die avantgardistische Selbstreflexion bzw. die Auseinandersetzung mit dem Avantgardebegriff bei der S.I. u.a. Debord (1957d), S. 29ff.; Debord (1996), S. 157ff.; Jorn (1960b); Situationistische Internationale (1958c); Situationistische Internationale (1958l) und Situationistische Internationale (1959d). Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass theoretische Ansätze zur Avantgarde, auch wenn sie inhaltlich auf deren Selbstreflexion zurückgreifen, nicht explizit auf diese avantgarde-internen Überlegungen verweisen. Dies gilt für Bürger genauso wie für Mann, der z.B. schreibt: »One of our theses: the death of the avant-garde is its most subversive stage« (Mann (1991), S. 74), ohne auch nur am Rande auf die entsprechenden Überlegungen Debords zu verweisen. 186 | Zu dieser institutionalisierten Kunst zählen zu diesem Zeitpunkt eben auch die Vorkriegsavantgarden. Dies betrifft zum einen den mittlerweile institutionalisierten avantgardistischen Bruch mit der Künstler- und Werkkategorie. Zum anderen ist hier auf die nach Bürger gescheiterte Aufhebung der Kunst in der Lebenspraxis bzw. die gescheiterte Zerstörung der Institution Kunst zu verweisen (vgl. Bürger (1974), S. 78f). 187 | Illing (2001), S. 21.
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ner solchen Tradition des Traditionsbruchs stellte«188 , sind diejenigen, an denen der Begriff der Neo-Avantgarde entwickelt wird und die die Grundlage der These des Endes bzw. Scheiterns der Avantgarde bilden. »Die Neoavantgarde institutionalisiert die Avantgarde als Kunst und negiert damit die genuin avantgardistischen Intentionen.«189 So nachvollziehbar diese Einschätzung zunächst erscheint und so zutreffend sie für einzelne, lediglich innerhalb der Institution Kunst mit der Wiederholung avantgardistischer Vorgehensweisen arbeitenden Gruppierungen sein mag, für die Avantgarde insgesamt ist sie in zweierlei Hinsicht zu hinterfragen. Zum einen ist mit Blickrichtung auf die historischen Avantgarden zu überlegen, inwiefern diese als gescheitert anzusehen sind,190 und zum anderen mit Blick auf die Neo-Avantgarden, ob diese von vornherein aufgrund ihres repetitiven Charakters als zum Scheitern verurteilte oder gar als Pseudo-Avantgarde anzusehen sind.191 Zunächst der Blick zurück auf die Vorkriegsavantgarden: Die Einschätzung Bürgers vom Scheitern der Avantgarde hängt sehr eng mit seinen eigenen Kerndiagnosen bezüglich der Avantgarde zusammen: erstens mit der Aufhebung der organischen Werkkategorie und zweitens mit dem Angriff auf die Institution der Kunst. Diese Beurteilung der historischen Avantgarden ist jedoch aus zwei Gründen als problematisch anzusehen: Zum einem vertritt Bürger die Auffassung, dass die Avantgarde u.a. deshalb als gescheitert zu erachten sei, weil ihre Werke nunmehr Kunstwerk-Status erlangt hätten und daher »der Angriff der historischen Avantgarden auf die Institution Kunst gescheitert [ist]«192 . Die Avantgarde hat so zwar die Institution Kunst sichtbar gemacht, aber keinesfalls aufgehoben, diese besteht vielmehr gerade »als von der Lebenspraxis abgehobene weiter«193 . Diese Sichtweise wird jedoch dem Anspruch der Avantgarden nicht gerecht bzw. begrenzt ihn unzulässig auf den Bereich der Kunst als autonomer Sphäre, macht also genau das, was den Avantgarden als Scheitern vorgehalten wird. Denn »das Scheitern des Angriffs auf die Institution Kunst [bedeutet] nur das Scheitern auf einem Gebiet [...], das die Avantgarde ohnehin verlassen wollte. [...] Avantgardistische Verfahren können gerade wegen ihres Kunstüberschreitungsanspru188 | Illing (2001), S. 21. 189 | Bürger (1974), S. 80. Hervorh. im Orig. 190 | Die auf den ersten Blick nahe liegende Idee, die These vom Scheitern der historischen Avantgarden u.a. auch darauf zu stützen, dass ein ebensolches Scheitern nicht nur von der Wissenschaft, sondern auch von den Nachkriegsavantgarden diagnostiziert wird, greift zu kurz, da für Letztere die Diagnose vom Scheitern der historischen Avantgarden vor allem eine taktisch-strategische Funktion zur Legitimation der eigenen Existenz besitzt. 191 | Hierbei ist auf die Frage hinzuweisen, inwieweit die Theorie der Avantgarde, das Reden von ihrem Scheitern selbst zu einem solchen beigetragen hat, wie es Paul Mann vermutet: »The death of the avant-garde is the n-state of the recuperation of its critical potential by a narrative of failure.« (Mann (1991), S. 40). 192 | Bürger (1974), S. 78. 193 | Bürger (1974), S. 78.
100 | Situationistische Internationale ches nicht an ihrem Scheitern, d.h. ihrer nicht verallgemeinerten Durchführung, im Bereich der Kunst gemessen werden.«194
Zum anderen ist zu betonen, dass die hochgesteckten, absolut gesetzten und daher häufig als totalitär oder dogmatisch bezeichneten Positionen und Ziele der Avantgarden »nicht isoliert von der radikalen Selbstkritik und der ironischen Selbstrelativierung betrachtet werden [dürfen]«195 . Die Radikalität der avantgardistischen Programme ist eine selbstreflexiv gebrochene.196 »Beim Versuch, der Avantgarde ›blinde Flecken‹ nachzuweisen, wird zumeist übersehen, daß sich diese in den Programmen der Avantgarden weit weniger naiv einstellten, als oftmals angenommen, sondern vor allem andere Konsequenzen aus den durchaus bewußten Widersprüchlichkeiten der eigenen Position gezogen wurden.«197
Dies gilt für allem für die Fragen nach der Aufhebung der Kunst und damit zusammenhängend nach der Gefahr des Scheiterns bzw. nach der Vergänglichkeit der eigenen Aktivitäten. Der Aspekt des UtopischMomenthaften - und somit der Kern eines zeitlichen Verständnisses von Avantgarde - ist genauso wie die Möglichkeit des Scheiterns bei den meisten der Avantgarden bereits impliziert und »hängt eng mit dem Projektcharakter der Avantgarde zusammen, und zwar eines Projektes, das [...] nicht vollendet werden muß, sondern sich im Fragment bereits als vollendet setzt«198 . Vor allem bei der S.I. wird dieser selbstreflexive Projektcharakter sehr deutlich hervorgehoben. »Je grandioser ihr Anspruch ist, um so mehr liegt ihre wahre Verwirklichung jenseits von ihr. Diese Kunst ist notwendig Avantgarde, und diese Kunst existiert nicht. Ihre Avantgarde ist ihr Verschwinden.«199 Es ist somit zu fragen, ob die historischen Avantgarden als gescheitert anzusehen sind, nur weil sie im bürgerschen Sinne gescheitert sind. Denn »[w]enn heute davon die Rede ist, daß die Avantgarde die Rekuperationsfähigkeit der Institution Kunst, der Kulturindustrie oder der Gesellschaft des Spektakels unterschätzt habe, so wird sie damit zugleich teilweise unter Wert gehandelt und als nur noch historische abgebucht.«200 Vielmehr sollte es das Ziel einer Untersuchung der Avantgarde sein, »ihren - im Unterschied zu den Neo-Avantgarden - für die Kunst unseres Jahrhunderts grundsätzlich innovativen, auch im Scheitern noch anregenden Charakter zu erfassen«.201 In diesem Zusammenhang ist zudem zu überlegen, inwiefern 194 | Illing (2001), S. 435. 195 | Ibidem, S. 29. 196 | Vgl. hierzu auch Asholt (1997b) und Asholt (2000a). 197 | Illing (2001), S. 31. 198 | Asholt (2000a), S. 99. 199 | Debord (1996), S. 164. 200 | Asholt (2000a), S. 100. 201 | Barck (1979b), S. 9. Trotz der etwas positiveren Sicht auf das Scheitern
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das Scheitern bzw. das Verschwinden eine produktive Funktion für die Fortsetzung des Projekts Avantgarde besitzt und daher eher verbindet als trennt, nicht zuletzt, da sich vermuten lässt, dass »the avant-garde is most radically en avant at the very moment of its death«202 . Dies führt uns zum Blick auf die Nachkriegsavantgarden. Es lässt sich zunächst festhalten, dass es hier, wie bereits angemerkt, durchaus Gruppierungen gibt, für die Bürgers Thesen zur Neo-Avantgarde Gültigkeit besitzen und auch Bürgers Umgang mit dem Phänomen Avantgarde der Logik derselben gerecht wird: »[D]ie Neoavantgarden waren, solange die Warenästhetik nicht als solche kritisiert wurde, adäquater Ausdruck der avantgardistischen Ideen unter den herrschenden Bedingungen - und eine wie auch immer modernisierte Hermeneutik die ihr gemäße Form der Interpretation.«203
Durch die Verallgemeinerung jedoch, die Bürger vornimmt, wenn er diese Art der Neo-Avantgarde pauschal auf alles überträgt, was nach dem 2. Weltkrieg im oder ausgehend vom Bereich der Kunst passiert, greift sein Modell zu kurz. Denn es gab durchaus Gruppen, die die Aktivitäten der rein kunstimmanent agierenden Gruppierungen als hinter den Stand der historischen Avantgarden zurückfallend kritisierten, da für sie »die Abkehr von der Werkästhetik schon eine Selbstverständlichkeit war.«204 Genau diese Gruppen aber, zu denen auch die S.I. zu rechnen ist und die die Steigerung des selbstreflexiven Elements in der nächsten Avantgardegeneration verdeutlichen, hatte Bürger nicht im Blick.205 Hier hat man es somit wieder mit der, bereits bei den historischen Avantgarden zu beobachtenden, zeitlichen Diskrepanz zwischen Selbstreflexion und wissenschaftlicher Reflexion des Phänomens Avantgarde zu tun.206 Während die Einschätzung, die Bürger für die historischen Avantgarden vornimmt, mit dem Begriff des Scheiterns verbunden ist, tritt bei den Neo-Avantgarden noch der Vorwurf der Wiederholung hinzu. Dieser scheint sehr eng mit dem ursprünglichen Avantgardeverständnis in Form der Forderung nach Originalität zusammenzuhängen. Hier ergibt sich jedoch ein ähnliches Problem, wie es bereits oben für den Begriff des Scheiterns erläutert wurde: »Mit den Konzepten ›Scheitern‹ [in Bezug auf die historischen Avantgarden, M.O.] und ›Wiederholung‹ [in Bezug auf die Neo-Avantgarden, M.O.] wurde der bleibt also auch hier die klare Trennung zwischen den historischen und den NeoAvantgarden mit der impliziten Abwertung Letzterer erhalten. 202 | Mann (1991), S. 119. Hervorh. im Orig. 203 | Illing (2001), S. 21. 204 | Ibidem. 205 | Dies gilt ebenso wie für Bürger auch für Enzensberger (1976). 206 | So erstaunt es auch nicht, dass es im deutschsprachigen Raum bis 1988 dauerte - also 31 Jahre nach Gründung und immerhin noch 16 Jahre nach Auflösung - bis die S.I. in der Arbeit von Ohrt (1997) Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung wird.
102 | Situationistische Internationale Avantgardebegriff [...] auf jene ursprüngliche Kategorie festgelegt, die von Seiten der Künstler selbst von Anfang an unter Kritik gestellt wurde: auf ›Originalität‹.«207
So wie den historischen Avantgarden von Bürger ein radikaler Traditionsbruch attestiert wird, führt das Fehlen eines solchen zu seiner negativen Einschätzung der Neo-Avantgarden. Diese fallen nach Bürger wieder auf das Niveau anderer ›fortschrittlicher‹ Kunst-Ismen zurück, denen es lediglich um Neuheit im Sinne »einer Veränderung der künstlerischen Darstellungsmittel«208 ging, während die historischen Avantgarden »nicht mehr künstlerische Verfahren und stilistische Prinzipien, die bislang Geltung hatten, [negierten], sondern die gesamte Tradition der Kunst«209 . Dieses Zurückfallen mag, wie gesagt, für einige Gruppierungen zutreffend sein, für die Avantgarde nach dem 2. Weltkrieg gilt es jedoch nicht. Somit unterläuft Bürger, indem er von diesen Avantgarden einen zweiten, radikalen Traditionsbruch erwartet, der Fehler, von den Avantgarden mit der Originalität genau das zu fordern, was diese hinter sich lassen wollten. Dies wird aus zwei Gründen gerade für eine Gruppe wie die S.I. problematisch. Zum einen ist bei ihr in Bezug auf die Frage nach Originalität und Wiederholung ein großes Maß an Selbstreflexivität zu erkennen. Die Frage hat einen so zentralen Stellenwert, dass sie den Ausgangspunkt für zwei wichtige theoretische Überlegungen der S.I. bildet: den détournement und die récupération. Der détournement bestreitet explizit die Möglichkeit vollständiger, voraussetzungsloser Neuheit bzw. Originalität und zielt daher auf Dekontextualisierung und Rekombination ab. Diese Vorgehensweise wiederum ist schon bei der Entstehung der Methode selbst zu erkennen, der détournement ist also bereits selbst ein solcher: »[d]ie von uns hier angeschnittenen Verfahren [des détournement, M.O.] wollen wir nicht als unsere ureigene Erfindung verstanden wissen, sondern im Gegenteil als eine durchaus allgemein verbreitete Praxis«210 . Der situationistische détournement lässt sich somit als die paradoxe Verknüpfung von Neuheit und Wiederholung oder als Kontinuität im Wandel beschreiben und scheint somit im Bewusstsein der eigenen historischen Bedingtheit die bürgersche Forderung nach einem radikalen Traditionsbruch produktiv zurückzuweisen. Zum anderen und grundlegender ist der den historischen Avantgarden von Bürger attestierte Traditionsbruch und sein Vorwurf, dass dieser bei den Neo-Avantgarden fehlt, in Zweifel zu ziehen. Es geht darum, zu fragen, inwiefern diese behauptete Vergangenheitslosigkeit als Merkmal der historischen Avantgarden angeführt werden kann. Denn nur in diesem Falle wäre aufgrund seines Fehlens bei den Nachkriegsavantgar207 | Barck (2000a), S. 572. 208 | Bürger (1974), S. 85. 209 | Bürger (1974), S. 83. 210 | Debord (1956), S. 331.
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den, das selbst wiederum zunächst kritisch zu hinterfragen wäre, die Unterscheidung zwischen historischen und Neo-Avantgarden sinnvoll. »Die angebliche Geschichtslosigkeit der Avantgarde gehört jedoch nicht zuletzt wegen ihrer Aktualisierung des künstlerischen Erbes in selbst erstellten Genealogien zu den Mythen der Moderne.«211
2.2.4 Anknüpfung und Abgrenzung innerhalb der historischen Avantgarden Beim folgenden knappen Rückblick auf die Verweisungszusammenhänge innerhalb der historischen Avantgarden soll es nicht darum gehen, ihren Traditionsbruch in Bezug auf die klassische Werk- und Künstlerkategorie oder die radikale Neuheit ihres Angriffs auf die Institution der Kunst im Detail zu rekonstruieren oder in Frage zu stellen. Ziel ist es vielmehr, zu fragen, inwiefern mit diesem Traditionsbruch zwangsläufig eine Geschichts- oder Vergangenheitslosigkeit verbunden sein muss, bzw. ob Neuheit bereits bei den historischen Avantgarden nicht nur als freischwebende, sondern gerade auch als anknüpfende Neuheit zu verstehen ist. Einen ersten Anhaltspunkt hierfür bieten die Stammbäume, die die historischen Avantgarden entwerfen und mit denen sie sich selbst in die Kunstgeschichte, wenn auch zumeist kritisch, einordnen.212 »Es gibt keine Avantgarde, die nicht als Reaktion auf alle ihre Vorläufer oder zumindest auf einige von ihnen agiert hätte.«213 Diese Selbsthistorisierung der Avantgarden erfüllt zwei sich zunächst scheinbar widersprechende Aufgaben: Sie dient sowohl der Abgrenzung als auch der Anknüpfung, zur Promotion des Neuen ex-nihilo und zugleich der Legitimation durch Kontinuität. »Dieser inhärente Widerspruch stellt das produktive Dilemma der Avantgarde dar.«214 Die Einordnung in eine Reihe von Vorläufern in Form des Stammbaums ist gerade in der Anfangsphase von Avantgarden eine weit verbreitete Praxis und kann als Versuch gesehen werden, die eigene radikale Neuheit sowohl herauszubilden als auch abzusichern. Anknüpfung und Abgrenzung arbeiten im Stammbaum somit Hand in Hand: Während die Abgrenzung zur Herausbildung der eigenen Identität beiträgt, erfüllt der Verweis auf Vorläufer eine legitimatorische Funktion. Der Stammbaum ist daher auch als Bild aufschlussreich: Er ist einerseits fest verwurzelt, andererseits wächst er, mit der jeweils aktuellen Avantgarde als jüngstem Zweig an der Spitze, unaufhörlich einem unbekannten Horizont entgegen. Zudem ist in ihm sowohl das Auf- als 211 | Schmidt-Burkhardt (2005), S. 15. 212 | Eine Vielzahl solcher Stammbäume unterschiedlicher Gruppierungen findet sich z.B. in Glozer (1981), S. 20ff. sowie in Schmidt-Burkhardt (2005). Dabei ist letztere Arbeit insofern interessanter, als hier sowohl Stammbäume, die von den Mitgliedern der Gruppen selbst entworfen wurden, als auch solche, die von Kunsthistorikern stammen, gegenübergestellt werden. 213 | Ibidem, S. 422. 214 | Ibidem, S. 3.
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auch das Abtauchen der einzelnen Avantgarden angelegt: Wer sich in eine Ahnenreihe einordnet, sei es kritisch oder affirmativ, muss davon ausgehen, irgendwann selbst nicht mehr am Ende, sondern in der Mitte einer solchen Reihe zu stehen. Der Stammbaum als Kunstwerk versucht somit in der Gegenwart durch einen Rückblick in die Vergangenheit die eigene Zukunftsperspektive sowohl herauszubilden als auch zu legitimieren. Diese Funktion wird vor allem im 20. Jahrhundert immer wichtiger: »Das Ablaufdatum einer bestimmten Avantgarde stand gewissermaßen bereits mit ihrem Gründungsjahr fest. Die Lebensdauer einer Kunstbewegung verkürzte sich im Laufe des 20. Jahrhunderts auf rasante Weise. [...] Aus dieser Flüchtigkeit des künstlerischen Schaffens heraus und angesichts der Tatsache, dass die große Zukunft nur von kurzer Dauer war, die Vergangenheit aber Bestand hatte, ging fast jeder Ismus, kaum war sein Name gefunden, dazu über, Ahnenforschung zu betreiben.«215
Hier wird wieder das Phänomen des Auf- und Abtauchens deutlich: Bestimmte Ansätze und Neuheiten haben Konjunkturen, sie können nicht dauerhaft fortgesetzt werden, sondern fallen der récupération anheim und tauchen ab. Erst später können sie, in modifizierter Form, von anderen Trägern wieder zum Auftauchen gebracht und als relative Neuheit weiterentwickelt werden.216 Anknüpfungen und Abgrenzungen auch in Form von Stammbäumen sind gerade aufgrund ihrer Selektivität aufschlussreich, denn »[d]ie einzelnen Künstler können dabei aus einem Fundus geistiger Vorfahren schöpfen, der hinsichtlich seiner Kombinationsmöglichkeit schier unbegrenzt ist«217 . So unterschiedlich dementsprechend die Stammbäume beim Futurismus, bei DADA und beim Surrealismus in ihren Details und ihrer Gestaltung als ›Kunstwerk‹ jeweils sind,218 ihre Grundstrukturen und Funktionen sind vergleichbar. Sie sind vor allem zu Beginn einer Gruppierung sowohl in ihrer identitätsstiftenden Abgrenzungs- als auch in ihrer Legitimationsfunktion von Bedeutung. Im Kern geht es bei allen drei historischen Avantgarden um Identitätsstiftung und Legitimation im Wechselspiel von Abgrenzung und Anknüpfung.219 Im weiteren Verlauf der Gruppenentwicklung, mit 215 | Schmidt-Burkhardt (2005), S. 17. Vgl. hierzu auch Ohrt (1997), S. 9. 216 | Dabei ist zu beachten, dass dieses Auf- und Abtauchen sowohl synchron als auch diachron erfolgen kann. Es kann sich nicht nur im Sinne einer linearen Evolution ereignen, es erfolgt »nicht eingleisig, sondern parallel, das heißt synchron auf mehreren Schienen« (Schmidt-Burkhardt (2005), S. 140). Diese Bewegung kann also neben einem Aufeinanderfolgen im zeitlichen Sinne auch eine zeitgleiche inhaltliche oder räumliche Verlagerung bedeuten. Die zunächst zeitliche Konstruktion von avant und arrière kann zu einer inhaltlichen Auseinandersetzung, zu einem Konkurrenzkampf zu einem bestimmten Zeitpunkt werden. 217 | Ibidem, S. 19. 218 | Zu den Stammbäumen des Futurismus vgl. ibidem, S. 187-219, bei DADA ibidem, S. 219-231 sowie im Surrealismus ibidem, S. 231-262. 219 | Die Bezugnahme auf eine Vorgängergruppe ist nicht als bloße Wiederauf-
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deren jeweiliger Etablierung also, ist die Gruppe mehr und mehr in der Lage, sich aus sich selbst heraus zu legitimieren. Der Stammbaum verliert an Bedeutung - wie bei DADA und dem Surrealismus - oder verändert sich in seiner inhaltlichen Ausgestaltung hin zu einem Instrument zum Beleg des eigenen Erfolges - wie beim Futurismus. Die historischen Avantgarden sind somit mitnichten geschichtslos, der von Bürger attestierte Bruch mit der gesamten Tradition der Kunst220 ist in dieser Form nicht erkennbar. Wenn es bei den historischen Avantgarden etwas Neues gibt, das sie von vorangegangenen Gruppierungen und Kunst-Ismen unterscheidet, so ist dies nicht ihre vorgebliche Traditionslosigkeit, sondern gerade der neuartige Umgang mit den Vorgängern. »Das Neue, so ließe sich mit Blick auf die Selbsthistorisierung der Moderne behaupten, bestand in der radikalen Reflexivität ihrer Voraussetzungen.«221 Dabei ist zudem zu bedenken, dass bei der Rede von der historischen Avantgarde eine Vielzahl von Gruppen ins Blickfeld rückt, die sich, selbst wenn man mit den Futuristen, den Dadaisten und den Surrealisten nur die wichtigsten Vertreter berücksichtigt, nicht nur durch eine enorme programmatische Vielfalt, sondern auch durch verschiedenartige inhaltliche Anknüpfungen und Abstoßungen auszeichnet, sodass die Frage nach dem Traditionsbruch der historischen Avantgarde als sehr unpräzise erscheint. Vielmehr wäre die Frage nach dem möglichen Traditionsbruch, der dann auch ein Bruch im Umgang mit der Tradition sein könnte, für die einzelnen Gruppierungen zu stellen. Dies erscheint umso dringlicher, als die verschiedenen Gruppen mit längerem ›Andauern‹ der Avantgarde auch gegenseitig in den Stammbäumen auftauchen, es somit auch innerhalb der historischen Avantgarde Vorgänger und Nachfolger gibt. Dies bedeutet aber gleichzeitig auch, dass mit bzw. gegen Bürger zwei weitere Fragen zu stellen wären. Zum einen wäre zu überlegen, inwiefern nicht z.B. der Surrealismus als nach dem Dadaismus entstandene Avantgarde in Bürgers Verständnis bereits als Neo-Avantgarde zu begreifen wäre. Daran anknüpfend bzw. die Überlegung umkehrend wäre ebenso zu fragen, ob die Existenz von Verweisungsstrukturen und Stammbäumen bereits bei den historischen Avantgarden nicht einen wichtigen Argumentationsstrang von Bürgers Unterscheidung zwischen historischen und Neo-Avantgarden aushebelt. Denn das, was hier als Verweisungszusammenhänge beschrieben wurde, ist wichtiger Bestandnahme, sondern als Modifikation, als Aufhebung aufzufassen, bei der neben den Anknüpfungspunkten ebenso die Differenzen hervorgehoben werden. 220 | Vgl. Bürger (1974), S. 82f. 221 | Schmidt-Burkhardt (2005), S. 3. Diese Selbsthistorisierung der Avantgarde, die sich nicht zuletzt im Medium des Stammbaums äußert, wird jedoch häufig übersehen oder bewusst ausgeblendet und es werden lediglich die kunsthistorischen Stammbäume wahrgenommen. So stellt z.B. von Beyme fest: »Selten haben Künstler selbst versucht, Ordnung in das Gewimmel der Gruppen zu bringen. El Lissitzky und Arp [...] gehören zu den raren Ausnahmen. [...] Einleuchtende Typologien anzubieten schien eher die Aufgabe von Kunsthistorikern, die klassifizieren gewohnt waren.« (Beyme (2005), S. 99.
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teil dessen, was Bürger den Neo-Avantgarden unter dem Stichwort der Wiederholung vorwirft.
2.2.5 Anknüpfung und Abgrenzung der S.I.
Die SPUR-Spirale In der S.I. nimmt die Auseinandersetzung mit Vorgängern vor allem in der Frühphase ebenfalls eine zentrale Stellung ein; bei ihr ist genau die von Schmidt-Burkhardt diagnostizierte radikale Reflexivität ihrer Voraussetzungen erkennbar. Dieses reflexive Offenlegen der eigenen Quellen und Anknüpfungspunkte findet bei der S.I. jedoch meist in Textform statt. Lediglich Hans Peter Zimmer hat eine als Stammbaum zu bezeichnende graphische Veranschaulichung der eigenen (Vor-)Geschichte angefertigt, die jedoch einige interessante Besonderheiten gegenüber den Stammbäumen vorheriger Avantgarden aufweist.
Abbildung 1: Hans Peter Zimmer (1960): »Ohne Titel«
Quelle: Zweifel (2007), unpaginierter Bildteil.
Zunächst fällt auf, dass sich diese Skizze von der linearen, fortschrittsorientierten Darstellungsform löst und die Spiralform wählt. »In der Spirale als zeitlicher Verlaufsfigur lassen sich in der Modelltheorie der Geschichte Zyklik und Linearität miteinander verbinden. Die Helix ist eine zusammengesetzte Bewegungsmetapher, in die Vorstellungen von Rundgang und Fortlauf einfließen.«222 Diese Umstellung auf eine zyklische Elemente beinhaltende Darstellungsform ist als Hinweis auf das 222 | Schmidt-Burkhardt (2005), S. 341.
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Bewusstsein der eigenen Bedingtheit, der eigenen, eben relativen, rekombinatorischen Neuheit zu lesen.223 So beinhaltet die Spirale implizit bereits zwei Hinweise auf Vorläufer: Zum einen ist die Spirale »eines der Hauptmotive des Futurismus«224 , und zum anderen ist die Kombination bzw. die Umstellung von linear auf zyklisch bereits in einem DADA-Stammbaum von Picabia das zentrale Element. Ohne diese beiden explizit erwähnen zu müssen, sind Futurismus und DADA allein durch die gewählte Darstellungsform in die Reihe der Vorläufer aufgenommen.225 Eine weitere Besonderheit dieses Stammbaums ist die Kombination von zeitlicher und räumlicher Darstellung, da die Spirale nicht nur eine zeitliche Bewegung widerspiegelt, sondern zugleich über eine stilisierte Europakarte gelegt wurde und somit eine räumliche Dimension aufweist. Diese Doppelstruktur ist bei der ›Lektüre‹ zu beachten. Denn »[d]a sich in der Spirale Raum und Zeit zu einem Simultanbild zu verschränken vermochten, können die in der SPUR-Spirale von außen in das Zentrum weisenden Pfeile zeitlich früher liegen als deren äußere Rundungen.«226 Die Komplexität dieser Darstellung wird zusätzlich durch die Vielfalt und die Verschiedenartigkeit der darin enthaltenen Informationen gesteigert. Bezüglich der in der Spirale direkt enthaltenen ›klassisch-genealogischen‹ Informationen lassen sich zunächst u.a. Verweise, seien sie positiv als Beeinflussung und Anknüpfung oder negativ als Abgrenzung markiert, auf so vielfältige Künstler und Stilrichtungen wie den Barock, die Gotik, die Künstlergruppe Brücke, den Kubismus, den Futurismus, DADA und den Surrealismus, das Informel sowie auf Wols und Jackson Pollock finden. Die gewählte spiralförmige Darstellung mit der Gruppengründung 1958 [sic!] in München als Mittelpunkt führt dazu, dass sich die meisten dieser Einflüsse, sei es aufgrund der zeitlichen Struktur der Spirale oder aufgrund der zugrunde gelegten Europakarte, an der Peripherie der Skizze befinden. Ähnlich wie bei den linearen Stammbäumen kann der eigenen Gruppe somit auch in der reflexiveren Darstellungsform der Spirale eine exponierte Stellung zugewiesen werden. Auffällig ist jedoch, dass es weitere Verweise gibt, die nicht in das bisherige Modell der Anknüpfung an Vorgängergruppierungen passen. Es handelt sich hierbei um die Aufnahme des Laboratorio Sperimentale, 223 | Auch Zimmer selbst argumentiert explizit gegen ein solches lineares Fortschrittsverständnis: »Jahrhunderte hindurch haben Künstler versucht, evolutionär ihre Vorläufer weiterzuführen und sie Schritt für Schritt zu verbessern. Warum soll diese Tradition nicht mehr gelten? Im 19. Jahrhundert kam dieser lineare AvantgardismusGedanke auf, der einzig auf Innovation baut. Wer wo wann was zuerst gemacht hat, ist allein wichtig. Dieser Avantgardismus ist ziemlich ausgedünnt, weil er das Komplexe und Komplizierte scheut wie der Teufel das Weihwasser« (Zimmer (1988), S. 217). 224 | Bredekamp (2007), S. 91. 225 | Beide tauchen jedoch noch explizit in der Spirale auf: der Futurismus als Einfluss, DADA als Abgrenzung. 226 | Ibidem. Zugleich ließe sich dieses Simultanbild als Verweis auf die räumlichzeitliche Doppelbedeutung des Avantgarde-Begriffs lesen.
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von London sowie von Debord und Jorn in die Reihe der von außen kommenden Einflüsse. Bei diesen vier Gruppen (denn von solchen muss hier gesprochen werden, da London für das Psychogeographische Komitee, Debord für die L.I. und Jorn für CoBrA und den M.I.B.I. steht) handelt es sich nicht um längst verblichene Vorgänger in der Art von DADA oder dem Surrealismus, sondern um aktuelle Gruppierungen, die sich zusammenschließen und in der S.I. aufgehen. L.I., M.I.B.I., das Psychogeographische Komitee und das Laboratorio Sperimentale sind somit nicht nur im Sinne einer inhaltlichen Beeinflussung Vorgänger der S.I., sie sind auch durch persönliche Kontinuitäten auf der Mitgliederebene mit dieser verbunden, ja, die S.I. ist zunächst die Summe dieser Gruppen. Was sich hier abzeichnet, verweist auf eine Besonderheit der S.I.: Sie ist, anders als die historischen Avantgarden, ein Zusammenschluss nicht nur von Einzelpersonen, sondern zusätzlich von verschiedenen und zwar aktuellen Gruppen, gewissermaßen eine Metagruppe. Somit verkompliziert sich das Verweisungsgeflecht um ein Vielfaches, da jede der beteiligten Gruppen ihrerseits bestimmte Hintergründe hat und zudem die jeweiligen aktuellen Gruppenpositionen miteinander in Einklang gebracht werden müssen. Die S.I. verfügt somit über einen doppelten Anknüpfungshintergrund: die Anknüpfungen an bereits abgetauchte Vorgänger und die Weiterführung der Positionen der Teilgruppen. Zusätzlich zu dieser zweifachen genealogischen Einordnung der SPUR bzw. der S.I. enthält die Spirale jedoch noch eine weitere Aussageebene: Sie gibt einen Überblick über die Entwicklung der eigenen Gruppe in den ersten Jahren ihrer Existenz sowie über deren interne Struktur. Hier wird am deutlichsten, dass die Spirale die Sicht der Gruppe SPUR und weniger die der gesamten S.I. schildert. Zum einen ist ihr Ausgangspunkt die Gründung der SPUR und nicht der S.I., und zum anderen wirkt die Darstellung so, als wäre die S.I. 1959 der SPUR beigetreten und nicht umgekehrt.227 Auffällig ist zunächst der positive Einfluss, der dem Beitritt zur S.I. beigemessen wird: »Aus der Perspektive des Jahres 1960 [als die Skizze entsteht, M.O.] hatte Debord der SPUR-Spirale gleich mehrere Jahresringe der Entwicklung erspart. Von Paris aus sticht sein Pfeil gegen die Achse, um sie um 90° gedreht auf einer höheren Ebene in die gewohnte Bahn zu lenken.«228
Doch schon direkt nach diesem Schub zeichnen sich erste Konflikte innerhalb der neuen Konstellation ab, erste interne Allianzen bilden sich. So ist erkennbar, dass sich die SPUR mit dem Laboratorio Sperimentale 227 | Hier ist darauf hinzuweisen, dass die Sicht der SPUR auch in der Datierung einiger Ereignisse zum Ausdruck kommt. So entspricht der Zeitpunkt des Kontakts mit dem Laboratorio Sperimentale zwar der Sicht der SPUR, nicht aber der der S.I. Zudem kam der Kontakt zu Asger Jorn nicht erst nach dem Beitritt der SPUR zur S.I. zustande, sondern war Jorn derjenige, der diesen Beitritt durch seine Vermittlertätigkeiten erst ermöglichte. 228 | Bredekamp (2007), S. 93.
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eng verbindet, um gegen den Einfluss von Brüssel und Amsterdam, also gegen die urbanistisch-architektonischen Positionen von Wyckaert und Constant, anzugehen. Hier zeichnet sich bereits einer der Grundkonflikte innerhalb der S.I. zwischen den Malern und den Architekten ab.229 Folgt man den in der Spirale enthaltenen Informationen, erfährt die SPUR nach der ausschlussbedingten Dezimierung des Laboratorio Sperimentale vor allem durch die Zusammenarbeit mit Jorn und mit dem Galeristen van de Loo zunächst die nötige Stärkung der eigenen Position, die schließlich auf den verschiedenen verzeichneten Ausstellungen zum Ausdruck gebracht werden kann. Doch genau diese Positionierung wird bereits 1962 zu ihrem Ausschluss aus der S.I. führen. Fasst man die Ausführungen zur SPUR-Spirale als dem einzigen graphischen Stammbaum der S.I. zusammen, so zeichnen sich drei Hauptaspekte ab, die sich auch in der vorliegenden Arbeit wiederfinden werden. Erstens geht es um die Auseinandersetzung mit bereits abgetauchten Gruppierungen, die als Anknüpfungs- und Abgrenzungspunkt dient und die im Kontext mit der situationistischen Positionierung zum Avantgardebegriff steht, wie sie im Folgenden skizziert wird. Zweitens bietet die Spirale erste Anhaltspunkte für die Vorgeschichte der S.I. als Gruppe von Gruppen. Dies wird ebenfalls in diesem Kapitel aufzugreifen sein. Und drittens beleuchtet dieser Stammbaum für die erste Phase der Existenz der S.I. bereits einige der zentralen internen Konflikte und Allianzbildungen, die im Fokus der vorliegenden Arbeit stehen und ausführlich zu analysieren sein werden.
Die S.I. und die Auseinandersetzung mit den historischen Avantgarden Im Bereich der historischen Avantgarden wurden von der S.I. vor allem DADA Paris und der Surrealismus als die wichtigsten Ideengeber der eigenen Gruppierung anerkannt und zugleich kritisch diskutiert. Diese Auseinandersetzung erfolgt jedoch nicht in der graphischen Form des Stammbaums, die nur zwischen Abgrenzung und Anknüpfung zu unterscheiden vermag, sondern auf der Text-Ebene und ist somit wesentlich differenzierter.230 Dabei unterscheidet sich die Wertung der beiden Vor229 | An dieser Stelle wird die Schwierigkeit der kombinierten Darstellung von zeitlicher und räumlicher Ebene deutlich: Die Position der Auseinandersetzung zwischen der SPUR und den Urbanisten ergibt sich zunächst aus der räumlichen Ebene, die aber mit der zeitlichen Ebene nur anfangs übereinstimmt. Die Auseinandersetzung dauert deutlich länger an, als in der Spiralform dargestellt werden kann. 230 | Genau diese Eindimensionalität des Stammbaums wird von der S.I. selbst scharf kritisiert. So wird z.B. ein Stammbaum aus der Zeitschrift L’Espresso, der versucht, die theoretischen Quellen der Mai-Unruhen aufzuschlüsseln, in der I.S. wieder abgedruckt (vgl. Situationistische Internationale (1969d), S. 377). Mit Blick auf die Position, die Debord in diesem Schema zugewiesen wird, merkt die S.I. an: »Die absolute Ignoranz, die ihm [dem Schema, M.O.] zugrundeliegt, neigt umso mehr dazu, den Stil einer geometrischen Figur anzunehmen (in der z.B. Guy Debord nur mit Freud und Rudi Dutschke in direkter Beziehung steht, was zugleich zu viel
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gänger grundlegend: »Jeder ist das Kind vieler Väter. Es gab den Vater, den wir haßten, den Surrealismus. Und es gab den Vater, den wir liebten: Dada. Wir waren die Kinder von beiden...«231 Diese differierende Positionierung zu DADA und dem Surrealismus äußert sich auch im unterschiedlichen Ausmaß und in der unterschiedlichen Art des Umgangs mit den zwei Avantgarden. Auch wenn die S.I. bei beiden sowohl Anknüpfungs- als auch Kritikpunkte findet,232 so ist festzustellen, dass zum einen die Auseinandersetzung mit dem Surrealismus wesentlich umfangreicher ist233 und dass zum anderen bei DADA der Schwerpunkt eher auf der Anknüpfung und beim Surrealismus eher auf der Kritik bzw. Abgrenzung liegt. Trotz aller deutlichen Unterschiede lässt sich als gemeinsamer Ansatzpunkt von DADA und Surrealismus deren Zielsetzung auffassen, »den Autonomiestatus der Kunst, deren Abgehobenheit von der Lebenspraxis radikal in Frage [zu stellen]«234 . Die Wege und Mittel, die jeweils zu diesem Ziel führen sollen, weichen jedoch deutlich voneinander ab.235 Dementsprechend unterschiedlich sind auch die Kritikpunkte der S.I. gegenüber den beiden Vorläufern: »Der Dadaismus und der Surrealismus sind zugleich geschichtlich miteinander verknüpft und stehen im Gegensatz zueinander. In diesem Gegensatz, der für jede der beiden Strömungen auch den konsequentesten und radikalsten Teil ihres Beitrags bildet, erscheint die innere Unzulänglichkeit ihrer Kritik, die von der einen wie von der anderen nur einseitig entwickelt wurde. Der Dadaismus wollte die Kunst wegschaffen, ohne sie zu verwirklichen; und der Surrealismus wollte die Kunst verwirklichen, ohne sie wegzuschaffen.«236
Während also der dadaistische Angriff auf die Institution Kunst scheitern musste, weil er nicht in die Lebenspraxis überführt werden konnund zu wenig ist[)]« (Situationistische Internationale (1969d), S. 377). Vor diesem Hintergrund der kritischen Auseinandersetzung mit dem Stammbaum als Mittel zur Darstellung komplexer ideengeschichtlicher Verweisungen ist es umso verwunderlicher, dass die S.I. dieses Medium dann wiederum nutzt, um die Zusammenhänge zwischen ihren verschiedenen methodischen Ansätzen zu veranschaulichen (vgl. das Flugblatt der S.I. von 1958 in Ohrt (1997), S. 174). 231 | Michèle Bernstein zitiert in: Marcus (1993), S. 186. Eine ähnliche Äußerung, allerdings mit anderer Verweisrichtung, findet sich bei Heimrad Prem: »Jede Generation findet ihren Geist in den Anregungen ihrer Großväter. Unsere Großväter sind Klee, Kandinsky, Picasso, Léger usw.« (Prem (1991), S. 51) Auch hier wird durch den Verweis auf die Großväter die Notwendigkeit der Auslassung der Generation der direkten Vorläufer verdeutlicht. 232 | Vgl. hierzu die grundlegenden Stellungnahmen von Debord (1957d), S. 29ff.; Debord (1996), S. 157ff.; Situationistische Internationale (1958c); Situationistische Internationale (1959d) und Gruppe SPUR (1961). 233 | Vgl. hierzu auch noch die Ex-Post-Betrachtung von Dupuis (1979). Bei Jean François Dupuis handelt es sich um das Pseudonym von Raoul Vaneigem. 234 | Bürger (1982), S. 6. 235 | Einen Überblick über DADA und Surrealismus erhält man u.a. bei Plant (1992), S. 38ff. und Russell (1985), S. 97ff. 236 | Debord (1996), S. 164f., Hervorh. im Orig.
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te, so liegt die Schwäche des Surrealismus für die S.I. darin, zwar die Kunst in die Lebenspraxis zu überführen, sie dabei jedoch als solche nicht anzugreifen. Dementsprechend möchte nun die S.I. an diese beiden Vorgänger anknüpfen und gewissermaßen durch eine Kombination, einen détournement der beiden ihre jeweiligen Schwachpunkte umgehen. »Die seitdem von den Situationisten erarbeitete kritische Position hat gezeigt, daß die Wegschaffung und die Verwirklichung der Kunst die unzertrennlichen Aspekte ein und derselben Aufhebung der Kunst sind.«237 Sowohl DADA als auch der Surrealismus sind aus Sicht der S.I. in ihren jeweiligen Vorhaben gescheitert, weil diese zu einseitig angelegt waren und die Totalität der Problemstellung nicht im Blick hatten. Die in beiden Gruppen entwickelten kritischen Ansätze verloren vor diesem Hintergrund an Wirkungskraft und konnten relativ zeitnah vom Spektakel integriert werden.238 Zwei Faktoren dürften ausschlaggebend dafür sein, dass sich die im Rahmen dieser Anknüpfung zu leistende Kritik der S.I. wesentlich stärker gegen den Surrealismus als gegen DADA richtet. Zum einen hängt dies mit dem bereits angesprochenen Problem der verschiedenen Generationen von Vorläufern zusammen. DADA gehört der Generation der Großväter an, zählt also nicht zu den direkten Vorgängern, ist schon lange abgetaucht bzw. ins Spektakel integriert worden. Demgegenüber ist der Surrealismus, als die auf DADA zeitlich folgende Gruppierung mit seiner Hauptaktivitätsphase zwischen 1924 und dem Ende des 2. Weltkriegs aus Sicht der S.I. der Vätergeneration zuzuordnen. Auch wenn Bretons Versuche, den Surrealismus nach dem 2. Weltkrieg nochmals als Bewegung zu mobilisieren, verglichen mit der Vorkriegszeit, wenig erfolgreich waren, so besteht die Gruppe offiziell bis 1969 weiter. Sie ist also nicht nur der Vätergeneration zugehörig, zählt zeitlich nicht nur zu den direkten Vorgängern, sondern wird aufgrund der zeitgleichen Existenz zum Konkurrenten für die S.I. Neben der bereits bei den Stammbäumen der historischen Avantgarden zu beobachtenden Auslassung der Generation der direkten Vorläufer tritt hier der Aspekt der direkten Konkurrenz zweier Gruppen hinzu, die dazu führt, dass die S.I. neben den diversen Anknüpfungen an surrealistische Konzepte den Surrealismus sehr viel ausführlicher kritisiert, als sie dies bei DADA tut. Zum anderen ist die ausführliche Kritik der S.I. am Surrealismus darauf zurückzuführen, dass sie diesen im Verhältnis zu DADA für rückschrittlich hält bzw. den Lerneffekt aus der récupération DADAs vermisst. Anstatt in Anknüpfung an DADA und auf dessen ›Wegschaffung‹ der Kunst aufbauend nun noch deren Verwirklichung anzustreben, fällt der Surrealismus hinter das bereits von DADA Erreichte zurück. Denn 237 | Debord (1996), S. 165. Hervorh. im Orig. 238 | Hier liegen somit die Diagnosen der S.I. und von Bürger relativ eng beieinander, wenn auch mit dem wichtigen Unterschied, dass sie sich bei Ersterer auf die gesellschaftliche Totalität in Gestalt des Spektakels, bei Letzterem hingegen nur auf die Sphäre der Kunst als abgesondertem Bereich beziehen.
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um die Verwirklichung der Kunst bzw. den Aufbau des echten Lebens zu erreichen, bediente sich der Surrealismus vor allem der Poesie, der automatischen Schreibweise, der Malerei etc., also lediglich Mitteln einer Kunst, »die durch den Dadaismus liquidiert worden war«239 . Die durch DADA eigentlich schon überwunden geglaubte Kunst wird somit vom Surrealismus wieder als von der Gesellschaft abgetrennte autonome Sphäre eingeführt. Und so »werden sich diese jungen Männer [die Surrealisten, M.O.], die sich als Theoretiker und Praktiker der Revolution des alltäglichen Lebens hätten behaupten müssen, damit begnügen, ihre Künstler zu sein.«240 Dass die S.I. trotz ihrer teilweise sehr grundlegenden Kritik daran festhält, an einzelnen Ansätzen DADAs und des Surrealismus anzuknüpfen und diese weiterzuentwickeln, hängt eng mit ihrer zentralen Methode des détournement zusammen. Dieses Konzept sorgt dafür, dass die récupération einer Avantgarde nicht als endgültiges Scheitern anzusehen ist, sondern durch einen erneuten détournement auch wieder aufgehoben werden kann. Das Wechselspiel von détournement und récupération bringt somit, ähnlich wie bereits die SPUR-Spirale, die Umstellung von einem linearen zu einem eher zyklischen Avantgardeverständnis zum Ausdruck.241 Trotz einer Diagnose wie »Heute ist der Surrealismus vollkommen langweilig und reaktionär...«242 muss eine Auseinandersetzung mit eben den Prozessen stattfinden, die zu diesem Ergebnis, zu dieser Langeweile geführt haben. Radikale Kritik und Anknüpfung schließen sich somit nicht mehr aus. Die Avantgarde - und dies ist ein besonders interessanter Aspekt des zyklischen Verständnisses - muss zunächst den Blick in die Vergangenheit richten. »Le détournement est un jeu dû à la capacité de dévalorisation. Celui qui est capable de dévaloriser peut seul créer de nouvelles valeurs. Et seulement là où il y a quelque chose à dévaloriser, c’est-à-dire une valeur déja établie, on peut faire une dévalorisation. À nous de dévaloriser ou d’être dévalorisés suivant notre aptitude à réinvestir dans notre propre culture.«243 239 | Situationistische Internationale (1958c), S. 7. 240 | Dupuis (1979), S. 41. 241 | Dabei ist der détournement als doppelte Zyklizität aufzufassen, da er selbst bereits, wenn auch in anderer Form als détournement par anticipation, bei den historischen Avantgarden erkennbar war. So stellen z.B. die Surrealisten fest: »Alle Dinge sind dazu berufen, zu anderen Zwecken zu dienen als zu denen, die ihnen im allgemeinen zugewiesen sind.« (André Breton zitiert in: ibidem, S. 89) Dabei wird jedoch auch der détournement nicht kritiklos übernommen, sondern auf sich selbst angewendet und wird so zur Kritik seiner vorangegangenen Verwendung. Dabei reiht sich die situationistische Kritik am surrealistischen détournement in die allgemeine Surrealismuskritik ein, da auch hier die auf die Kunst begrenzte Anwendung bemängelt wird: »[D]ie Technik der Entwendung geht in die Alchimie der Gruppe der surrealistischen Maler über, sie wird zur ›Geheimlehre‹, während sie in all ihren Formen zum Gemeingut hätte gemacht werden sollen« (ibidem, S. 95). 242 | Situationistische Internationale (1958g), S. 74. 243 | Jorn (1959), S. 216.
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Das Vorhaben der S.I. ist insofern sehr anspruchsvoll und ambitioniert, als es über DADA und den Surrealismus hinausgehen will, indem es positive Elemente beider Gruppen wieder aufnimmt, sie in einer Anwendung der Methode auf sich selbst weiterentwickelt und so die jeweiligen Schwachstellen in Form der Partikularität der Vorgänger zugunsten der Perspektive auf die Totalität der Gesellschaft umschiffen möchte. Zentraler Ansatzpunkt ist dabei die Frage nach der Rolle der Kunst, die von der S.I. als »eine Kunst der Veränderung und zugleich der reine Ausdruck der unmöglichen Veränderung«244 beschrieben wird. Ausgehend von dieser selbstreflexiven Wahrnehmung der Paradoxien einer kritischen Kunst, deren Hauptproblem darin liegt, dass ihre Umsetzung nur jenseits der Kunst erfolgen kann, entwickelt die S.I. ihr Verhältnis zur Kunst, wie es oben bereits angeschnitten wurde und wie es sich in der Formel »Diese Kunst ist notwendig Avantgarde, und diese Kunst existiert nicht. Ihre Avantgarde ist ihr Verschwinden«245 manifestiert. Den détournement als zentrale Methode und die récupération als Hauptgefahr im Blick, soll die Kunst unsichtbar werden, nicht greifbar sein, sich im Alltagsleben auflösen, nicht dauerhaft sein, sondern momenthaft. Nur so kann sie sich gegen das Spektakel als einem »durch Bilder vermittelte[n] gesellschaftliche[n] Verhältnis zwischen Personen«246 zur Wehr setzen. Zugleich zielt die Aufhebung der Kunst in der Lebenspraxis darauf ab, die Trennung zwischen eben diesen Sphären, aber auch diejenige zwischen Theorie und Praxis zu beenden, da genau diese Trennung, das Fragmentieren der Totalität zu den zentralen Aspekten der spektakulären Gesellschaft zählt, gegen die es vorzugehen gilt. »[T]he situationists attempted to build a critique which would bow to none of the distinctions, fragmentary perspectives, or classifications recognised by the spectacle. Taking elements from a variety of often contradictionary perspectives and treating theories, vocabularies, movements, and gestures as a huge toolbox from which anything useful might be selected, they tried to construct a revolutionary theory whose only claim to validity would lie in the possibility of its practical realisation. Theirs was a unique critique which would transgress distinctions between theory and practise.«247
Diese Aufhebung der Kunst bzw. das Hinter-Sich-Lassen der Kunst als Haupttätigkeitsfeld und Ziel an sich, das dazu führt, dass es »keine Maler mehr geben [wird], sondern Situationisten, die unter anderem auch malen«248 , ist verständlicherweise gerade bei den Malern in der S.I. alles andere als unumstritten249 und führt zu einer Vielzahl von Konflikten 244 | Debord (1996), S. 164. 245 | Ibidem. 246 | Ibidem, S. 3. 247 | Plant (1992), S. 80. 248 | Debord (1957d), S. 42f. 249 | Die unterschiedlichen Standpunkte der Maler/Künstler und der Theoretiker kommen schon bei der Art und Weise der Auseinandersetzung mit den Vorgän-
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innerhalb der Gruppe. Dennoch ist es gerade diese Lossagung von der Kunst in Werkform, wie sie zwar bei den performativen Aktionen DADAs zumindest ansatzweise erkennbar war, aber vom Surrealismus wieder zurückgenommen wurde, die ein wichtiges Abgrenzungsmerkmal der S.I. gegenüber den Vorgängern darstellt. Die S.I. wird theorielastiger als ihre Vorgänger und zugleich reflexiver. »Die vorigen Avantgarden traten auf, indem sie ihre Methoden bzw. Grundsätze, deren Wert unmittelbar durch WERKE beurteilt werden sollte, für vortrefflich ausgaben. Die S.I. ist die erste Kunstorganisation, die sich auf die radikale Unzulänglichkeit aller möglichen Werke gründet und deren Bedeutung, Erfolg oder Misserfolg nur durch die revolutionäre Praxis ihrer Zeit beurteilt werden kann.«250
Mit dieser verstärkten Reflexivität ist jedoch auch eine gewisse Bescheidenheit verbunden, die sich nicht nur im Bewusstsein der eigenen ›radikalen Unzulänglichkeit‹251 äußert, sondern ausgehend von der Umstellung auf ein zyklisches Verständnis der Konjunkturen des Auf- und Abtauchens von kritischen Ideen auch die eigene Stellung in der Zeit überdenkt und gegenüber dem bisherigen Avantgardeverständnis teilweise abändert bzw. zurücknimmt. Auch wenn das utopische Moment in Form des Entwurfs einer zukünftigen Gesellschaft bei der S.I. keineswegs verschwindet, so liegt doch das Hauptaugenmerk auf dem Aspekt der Diagnose der gegenwärtigen Gesellschaft. »Die Hauptaufgabe der heutigen Avantgarde soll der Versuch einer allgemeinen Kritik dieses Augenblicks und der erste Versuch einer Antwort auf die neuen Forderungen sein.«252 Auf dieser Basis werden dann zwar durchaus zukünftige Lebensweisen entworfen - sei es in Form der räterepublikanischen Überlegungen Debords oder der architektonischen Visionen Constants - zugleich aber wird mit dem Konzept der Situationskonstruktion auf Veränderungen im Hier und Jetzt abgezielt. Die Selbstreflexivität und der darauf aufbauende selektive, sich des détournement bedienende Rückgriff auf abgetauchte Vorgänger, die Betonung des Momenthaften und des Verschwindens als einem Merkmal der Avantgarde sowie die genaue Gesellschaftsdiagnose mit ihrem Kernelement der récupération führen gern zum Ausdruck: Während die SPUR einen Stammbaum als Bild, als Kunstwerk entwirft, ist dies bei der ›Theorie-Fraktion‹ der S.I. nicht der Fall. Hier erfolgt die Auseinandersetzung mit Vorgängern ausschließlich in Textform. Aus Sicht der Theoretiker kommt für die S.I. als Gruppe, die die Malerei und die Kunst überwinden will, ein Stammbaum als Bild selbstverständlich nicht in Frage. 250 | Situationistische Internationale (1960b), S. 120. Hervorh. im Orig. 251 | Hier ist vor dem Hintergrund des bei der S.I. weitverbreiteten sprachspielerischen Umgangs mit verschiedenen Genitiv-Konstruktionen zu fragen, ob es sich tatsächlich um die radikale Unzulänglichkeit im wörtlichen Sinne oder doch um die Unzulänglichkeit der Radikalität oder gar um die Radikalität der Unzulänglichkeit handelt. 252 | Situationistische Internationale (1959d), S. 79.
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insgesamt zu einem veränderten Verhältnis der S.I. und ihrem Avantgardebegriff zur Zeit. Zwar hat die Avantgarde auch hier eine zukünftige Gesellschaftsform bzw. Lebensweise im Blick, sich jedoch alleine auf die Konzeption einer solchen Utopie zu beschränken, genügt nicht. Der Erfolg der Theorie muss an ihrer Umsetzung in der Praxis beurteilt werden, und diese Umsetzung sollte in der Gegenwart erfolgen. Eine Avantgarde, so ließe sich die Position der S.I. zusammenfassen, muss, basierend auf einer kritischen Auseinandersetzung mit vergangener Kritik und mit Blick auf eine vorgestellte Zukunft, vor allem in der Gegenwart eine Aktualisierungsleistung vollbringen und somit als radikalisierendes Bindeglied zwischen Vergangenheit und Zukunft wirken. »Sind wir eine Avantgarde? Wenn ja, dann heisst Avantgarde sein gleichen Schrittes mit der Wirklichkeit zu gehen.«253
Entstehungsgeschichte und direkte Vorgänger der S.I. Neben den Auseinandersetzungen mit den abgetauchten historischen Avantgarden ist die S.I. noch in ein zweites, aktuelleres Verweisungsnetz eingebunden: in das der mittelbaren und unmittelbaren Vorgängergruppen, die sich im Juli 1957 in der S.I. zusammenschließen und sie zu einer Gruppe von Gruppen machen.254 Anders als bei den historischen Avantgarden, mit denen die Auseinandersetzung ausschließlich auf der theoretischen Ebene erfolgte - von einigen persönlichen Kontakten zu den späten Surrealisten einmal abgesehen - handelt es sich hier nicht nur um theoretische Bezugnahmen und Anknüpfungen, sondern auch um ein Netzwerk persönlicher Kontakte zwischen verschiedenen Gruppen und deren Mitgliedern, die maßgeblich zum Wandel der Gruppenformationen und schließlich zu deren Neuformierung im Rahmen der S.I. beitragen. Die Verweisungen sind hier somit nicht retrospektiv-theoretisch, sondern - wenn auch auf der Basis theoretischer Gemeinsamkeiten aktuell-persönlich. Es geht weniger um ein Sich-Abarbeiten an Vorläufern, sondern um ein Zusammenarbeiten mit ›Mitläufern‹. Indem sich bestehende Gruppen wiederum zusammenschließen, wird hier das Problem der Bildung einer Gruppe von Künstlern oder Intellektuellen gewissermaßen auf der nächsten Ebene wiederholt und zu lösen versucht. Anders als bei den theoretischen Verweisungszusammenhängen mit den Vorgängern, die sich aufgrund ihrer Differenziertheit nur schwierig in einem Stammbaum wiedergeben lassen, ist diese Darstellungsform durchaus geeignet, um sich einen Überblick über die Verbindungen und Gruppenkonstellationen im Vorfeld der S.I. zu verschaffen.255 Nach der bisherigen Darstellung der inhaltlichen Innenperspektive der S.I. 253 | Vaneigem (1963), S. 47. 254 | Vgl. ausführlich zu dieser Entstehungsgeschichte der S.I. Bandini (1998) und Ford (2007), S. 11ff. 255 | Eine weitere, allerdings sehr vereinfachende graphische Darstellung der Vorgeschichte der S.I. findet sich in Sadler (1998), S. 2.
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auf ihre Vorgänger geht es nun um einen von außen kommenden Blick auf die Strukturen im direkten Vorfeld bis hin zur Gegenwart der S.I.Gründung.256
Abbildung 2: Die Vorgeschichte der S.I. von 1945 bis 1957
Quelle: Darstellung basierend auf der Abbildung in Bandini (1998) S. 14. 256 | Dies bedeutet auch, dass einige der Gruppen, mit denen die S.I. zwar durch personale Kontinuitäten verbunden war, aus denen sie aber nicht direkt entstand (wie CoBrA und die Lettristen), im Laufe der weiteren Entwicklung der S.I. dann ebenfalls einer inhaltlichen Auseinandersetzung unterzogen und so in die Reihe der mittlerweile historischen Vorläufer eingereiht wurden. Die eigene Vorgeschichte wird somit von der S.I. rückblickend historisiert, nicht zuletzt, um die Aktualität der eigenen Position hervorzuheben (vgl. Jorn (1960b) und Situationistische Internationale (1958l).
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Die an der Vorgeschichte der S.I. beteiligten Gruppierungen lassen sich entweder auf der zeitlichen Ebene in verschiedene ›Generationen‹ von Vorläufern einteilen, sie können nach regionalen Schwerpunkten sortiert oder auf der inhaltlichen Ebene in verschiedene Stränge unterteilt werden. Vereinigendes Merkmal ist dabei zunächst die Tatsache, dass an allen diesen Gruppen spätere Mitglieder der S.I. beteiligt sind257 und/oder in ihnen für die Entwicklung der S.I. wichtige inhaltliche Vorüberlegungen angestellt wurden. Zeitlich betrachtet gibt es die unmittelbaren Vorgänger, d.h. Gruppen, die sich in der S.I. auflösen wie die L.I., der M.I.B.I., das Laboratorio Sperimentale und das Psychogeographische Komitee. Daneben gibt es Gruppen wie den Lettrismus (ab 1951), CoBrA, den Movimento Nucleare, die Arbeitsgemeinschaft von Giuseppe Pinot-Gallizio und Piero Simondo, die den erstgenannten Gruppen vorausgingen, aber selbst als mittelbare Vorgänger sowohl personell als auch inhaltlich größtenteils noch sehr eng mit der S.I. verbunden sind. Geht man noch einen Schritt weiter zurück zu den Vorläufern der mittelbaren Vorgänger, so stößt man auf Gruppen wie den Lettrismus (bis 1951), Høst, Surréalisme Révolutionnaire und Reflex. Von hier aus wäre es dann nur noch ein weiterer Schritt, um im Grunde genommen wieder beim Surrealismus und beim Dadaismus anzukommen. Hier beginnt sich die zeitliche Sortierung mit der inhaltlichen zu verschränken. Denn in der Vorgeschichte ließe sich auch eine dadaistischantikünstlerische Linie (Lettrismus und L.I.) von einer surrealistischkünstlerischen Linie (Høst, Reflex, Surréalisme Révolutionnaire, CoBrA) unterscheiden.258 Die beiden wären noch zu ergänzen durch die experimentell-malerische Linie von Pinot-Gallizio und Simondo sowie durch die technisch-architektonische Linie der Urbanisten (Psychogeographisches Komitee und Constant).259 Die von Bernstein angesprochenen zwei Väter DADA und Surrealismus werden aus dieser Perspektive eher zu Urgroßvätern, die jedoch über eine Reihe von Zwischenschritten erreichbar bleiben. Diese Zwischenschritte gilt es nun an den inhaltlichen Strängen entlang zu skizzieren. 257 | Eine Ausnahme bilden hierbei der Lettrismus vor 1951, die Gruppe Surréalisme Révolutionnaire und der Movimento Nucleare, die aber alle auch nur als indirekte Vorgänger der S.I. zu bezeichnen sind. 258 | Die auf den ersten Blick eventuell naheliegende Unterscheidung zwischen Theoretikern und Praktikern in der S.I., die sich an der Trennlinie zwischen dem künstlerischen und antikünstlerischen Strang orientieren würde, greift zu kurz. Auch wenn die Künstler als eher an der Praxis orientiert erscheinen, so entwickeln sie doch eminent wichtige theoretische Positionen der S.I. mit, genau wie umgekehrt die eher theoretisch arbeitenden Antikünstler durchaus über verschiedene Praxen zu dieser Theorie verfügen. 259 | Diese Einteilung in zwei Hauptlinien und zwei etwas diffusere Einflusslinien könnten auch räumlich sortiert werden. Die dadaistisch-antikünstlerische Linie ist in Paris, die künstlerisch-surrealistische in Nordeuropa und Skandinavien beheimatet, die experimentellen Maler stammen aus Italien. Lediglich die architektonischen Einflüsse sind mit ihrer Verankerung in London/Paris (Rumney) und Amsterdam (Constant) nicht klar lokalisierbar.
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Der dadaistisch-antikünstlerische Ast260 ist der übersichtlichste. Er setzt 1945/46 mit der Gründung des Lettrismus durch Isidore Isou und Gabriel Pommerand in Paris an, im Jahr 1951 wird Guy Debord auf die Gruppierung aufmerksam und schließt sich ihr an. Bereits 1952 bildet Debord jedoch innerhalb der Lettristen zusammen mit Serge Berna, Jean-Louis Brau und Gil J. Wolman eine geheime, sich als radikaler ansehende Fraktion, die sich schließlich im Oktober 1952 abspaltet und die L.I. ins Leben ruft. Dieser schließen sich im Laufe der Zeit u.a. Debords erste Frau Michèle Bernstein, Ivan Chtcheglov und Mohammed Dahou an. Lettrismus und L.I. sind somit keine aufeinander folgende Gruppen im Sinne eines Auf- und Abtauchens, sondern das Ergebnis des von Kracauer skizzierten Phänomens der Abspaltung und Radikalisierung, sie existieren in scharfer Konkurrenz nebeneinander.261 Nur von der L.I. jedoch führt ab 1956 der Weg stetig in Richtung S.I., während der Lettrismus davon unabhängig in wechselnden Besetzungen bis heute fortbesteht. Auch wenn die Entwicklung der L.I. von 1952 bis 1957 äußerlich ruhig verläuft, es also zu keinerlei Gruppenabspaltungen, Neugründungen oder Allianzen kommt, so ist diese Gruppe, neben der Auseinandersetzung mit dem Lettrismus, doch auch im Inneren von einer permanenten Unruhe geprägt, die sich in einer Vielzahl von Mitgliederbeitritten, vor allem aber von Mitgliederausschlüssen äußert. Diese treffen kurz vor der Gründung der S.I. bis dato sehr bedeutende Mitglieder wie Wolman, Straram und Chtcheglov. Beim Übergang in die S.I. sind von der L.I. überhaupt nur noch Bernstein, Dahou und Debord übrig geblieben. Der surrealistisch-künstlerische Ast262 beginnt noch vor dem 2. Weltkrieg mit der Gründung der Gruppe Linien bzw. Helhesten in Kopenhagen, die sich 1945 in Høst umbenennt und vor allem von den Gebrüdern Jørgensen, besser bekannt unter ihren Künstlernamen Asger Jorn und Jørgen Nash, geprägt wird. Parallel dazu entsteht Anfang 1947 um Christian Dotremont, Noël Arnaud und Pierre Alechinsky in Brüssel die Gruppe Surréalisme Révolutionnaire sowie ab Ende 1947 in Amsterdam unter der Leitung von Constant, Karel Appel und Jan Nieuwenhuys die Experimentele Groep in Holland bzw. Reflex. Durch Kontakte zwischen Jorn, Constant und Dotremont als den zentralen Figuren entsteht bald eine relativ enge Zusammenarbeit zwischen diesen drei Gruppen, die dazu führt, dass sie sich Ende 1948 in der Gruppe CoBrA (Copenhagen, Brüssel, Amsterdam) zusammenschließen. Mit diesem Zusammenschluss bestehender Gruppen ist somit bereits ein ähnlicher Modus der Grup-
260 | Vgl. zu den folgenden Ausführungen u.a. Bandini (1998), S. 27ff.; Bandini (2003) und Marcus (1993), S. 255ff. 261 | Vgl. Orlich (2008), S. 114f. 262 | Vgl. zu CoBrA und ihren drei Vorgängergruppen u.a. Bandini (1998), S. 15ff.; Hovdenakk (1989) und Stokvis (2001), S. 121ff. sowie zum M.I.B.I. und zum Laboratorio Sperimentale u.a. Bandini (1974) und Ricaldone (1997).
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penentstehung wie knapp zehn Jahre später bei der Gründung der S.I. erkennbar. Der Übergang von CoBrA zum M.I.B.I. ist jedoch kein solch fließender, da CoBrA sich bereits Ende 1951 aufgrund inhaltlicher und auch persönlicher Differenzen wieder auflöst, der M.I.B.I. jedoch erst Ende 1953 gegründet wird. Zudem sind nicht mehr alle Mitglieder von CoBrA am M.I.B.I. beteiligt: Dotremonts Weg führt in eine andere Richtung und auch Constant beteiligt sich zunächst nicht an dem neuen Zusammenschluss. Dabei ist Constant insofern eine besonders interessante Figur, als er in der Zeit zwischen dem Ende von CoBrA und seiner erneuten Zusammenarbeit mit Jorn, die erst im September 1956 erfolgt, seine künstlerische Position grundlegend ändert. Er lässt die Malerei hinter sich und konzentriert sich auf seine Arbeit als Architekt, wechselt somit von einem Strang der Vorgeschichte der S.I. zum anderen. Ein weiterer wichtiger Zwischenschritt auf dem Weg zur Gründung des M.I.B.I. im Dezember 1953 ist Jorns im November 1953 beginnender Kontakt zu Enrico Baj und dem Movimento Nucleare in Mailand.263 Die beiden bilden anfangs fast alleine die Belegschaft des M.I.B.I., bevor im Laufe der Jahre dann mit Alechinsky und Appel alte Mitstreiter und mit Walter Korun ein neuer Bekannter von Jorn sowie mit Ettore Sottsass und Sergio Dangelo weitere Mitglieder des Movimento Nucleare beitreten. Auch der M.I.B.I. ist somit, wenn auch mit einer kleinen Übergangslücke, als Vereinigung zweier Gruppen bzw. deren Überresten aufzufassen. Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass der Movimento Nucleare auch nach dem Beitritt einiger seiner Mitglieder zum M.I.B.I. weiterbesteht, es also Doppelmitgliedschaften gibt.264 Bereits vor der Gründung des M.I.B.I. entwickelt sich ab 1952 in Alba eine sehr enge Zusammenarbeit zwischen Giuseppe Pinot-Gallizio und Piero Simondo, die allerdings zunächst keine offizielle Gruppengründung zur Folge hat. Doch die Begegnung zwischen Jorn und PinotGallizio im Sommer 1955 führt dann bereits im September 1955 zur Gründung des Laboratorio Sperimentale (du M.I.B.I). Neben den bisherigen Mitgliedern des M.I.B.I. sind am Laboratorio Sperimentale mit Giors Melanotte, Elena Verrone und Walter Olmo weitere Mitstreiter Pinot-Gallizios aus Alba beteiligt. Verglichen mit CoBrA ist sowohl der M.I.B.I. als auch in noch stärkerem Ausmaß das Laboratorio Sperimentale als Allianz von Skandinaviern und Italienern deutlich internationaler ausgerichtet. Zugleich aber sind beide Gruppierungen noch relativ stark auf den Bereich der Malerei konzentriert, wenn auch mit den Italienern eine deutlich experimentellere Komponente hinzutritt.265 Diese Fixie263 | Vgl. Baj (1990), S. 8. 264 | Dieses parallele Weiterbestehen von M.I.B.I. und Movimento Nucleare wird besonders bei den explizit von beiden Gruppierungen veranstalteten Keramikkongressen in Albisola im Sommer 1954 und 1955 deutlich. Das Phänomen der Doppelmitgliedschaft übrigens ließ sich zuvor z.B. bei Høst und dem Surréalisme Révolutionnaire beobachten, bei denen Jorn jeweils Mitglied war. 265 | Zu Pinot-Gallizio vgl. Bertolino (2005) und Niggl (2007), zu Simondo vgl.
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rung auf die Malerei wird erst durchbrochen, als ab Mai 1956 die L.I. dem Laboratorio Sperimentale zwar nicht beitritt, aber doch mehr und mehr mit ihm zusammenarbeitet. Hergestellt worden war der Kontakt zwischen Jorn und Debord bereits Anfang 1954 durch Enrico Baj. Die erste gemeinsame Aktion war der im September 1956 einberufene Erste Weltkongress der Freien Künstler in Alba, an dem der M.I.B.I., das Laboratorio Sperimentale sowie die L.I. beteiligt waren266 und es somit zur offiziellen Verschränkung des eher theoretischen und des an der Malerei orientierten Stranges kommt. Doch es sind noch weitere Umstrukturierungen erkennbar: Während des Kongresses tritt Baj wieder aus dem M.I.B.I. aus. Gleichzeitig wird das Spektrum der Disziplinen nochmals erweitert, da auch Jorns ehemaliger CoBrA-Mitstreiter Constant, nun in seiner gegenwärtigen Tätigkeit als Architekt,267 am Kongress teilnimmt. Bereits knapp ein Jahr vor der Gründung der S.I. ist hier sowohl die internationale als auch die thematische Vielfalt fast vollständig ausgeprägt, es kommt zu gegenseitiger Zustimmung zu den jeweiligen Programmen von L.I. und M.I.B.I. und es werden Mitglieder der Redaktionskomitees der beiden Zeitschriften I.S. und Eristica ausgetauscht. Interessant ist hier vor allem, dass die L.I. nicht durch Debord, sondern durch Gil J. Wolman vertreten wird. Die für die Gründung der S.I. vorentscheidende Allianzbildung findet somit unter der Leitung von Jorn und Pinot-Gallizio und unter Beteiligung von Constant statt, aber ohne Debord.268 Insgesamt sind auf dem Künstlerkongress also mit dem M.I.B.I., dem Laboratorio Sperimentale, der L.I. und Constant als Solitär alle Gruppen beteiligt, die wenig später die S.I. zusammen gründen werden. Ähnliches gilt daher auch für die Einzelmitglieder: Abgesehen eben von den L.I.-Mitgliedern Bernstein, Dahou und Debord, die sich von Wolman vertreten lassen, sind mit Constant, Jorn, Olmo, Pinot-Gallizio, Simondo, Verrone bereits fast alle Gründungsmitglieder der S.I. anwesend. Lediglich einige Umstrukturierungen der existierenden Gruppen, in Form des Austritts von Sottsass aus dem M.I.B.I. und dem Ausschluss von Jacques Fillon und Gil J. Wolman aus der L.I., sowie ein neuer Puzzlestein fehlen noch, um das Ensemble der S.I. bereits vorab zu vervollständigen. Dieser letzte inhaltliche, nationale und personale Puzzlestein ist das im Januar 1957 in London gegründete und sofort mit den Beteiligten des Weltkongresses zusammenarbeitende Psychogeographische Simondo (2004) sowie zu den Kontakten Jorns nach Italien vgl. Atkins (1977), S. 29ff. und Bandini (1998), S. 49ff. 266 | Es sind noch weitere Teilnehmer eingeladen, von denen jedoch nicht alle anwesend sein werden. Teilweise werden sie kurzfristig ausgeladen (Klaus Fischer), ziehen sich freiwillig zurück (Christian Dotremont) oder werden bei der Anreise aufgehalten (Pravoslav Rada und Jan Kotik). 267 | Vgl. zur Entwicklung des Urbanismus bei Constant u.a. Sadler (1998); Wigley (1998) und Zegher (2001). 268 | Debord taucht erst im Dezember 1956 als Unterzeichner eines Manifests in diesem neuen Zusammenschluss auf.
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Komitee, das lediglich aus Ralph Rumney besteht. Somit sind, nachdem wichtige inhaltliche Vorarbeiten bereits ab September 1956 geleistet wurden, ab Januar 1957 auch alle zukünftigen Gründungsmitglieder der S.I. an gemeinsamen Aktionen beteiligt. Die drei Stränge von Malerei, Theorie und Architektur/Urbanismus haben begonnen, sich mehr und mehr zu verweben und auch die internationale Struktur zeichnet sich deutlich ab. Was noch fehlt, ist die Situation der offiziellen Gründung. Diese erfolgt am 28. Juli 1957 im italienischen Cosio d’Aroscia und ruft die S.I. als Zusammenschluss der L.I. um Guy Debord,269 des M.I.B.I. um Asger Jorn270 und des Psychogeographischen Büros von Ralph Rumney ins Leben.271 Die Gründung der S.I. verweist somit nochmals deutlich auf die Tatsache, dass neue künstlerisch-intellektuelle Gruppierungen im seltensten Fall im luftleeren Raum entstehen, sondern dass sie vielmehr eine Neusortierung bereits existierender oder in der Auflösung begriffener Zusammenschlüsse darstellen. Die Geschichte und Entwicklungsweise solcher Gruppen in Europa im 20. Jahrhundert kann »auch als eine Historie ineinander verschachtelter, aufeinander reagierender und einander ablösender Künstler-Gruppierungen gelesen werden«272 . Die S.I. ist vor diesem Hintergrund also ein besonders interessanter Fall. Zum einen sind bei ihr sowohl auf der personellen als auch auf der inhaltlichen Ebene solche Verbindungen erkennbar, die jedoch in beiden Bereichen nicht als einfache Anknüpfung, sondern stets als kritische Abgrenzung bzw. Weiterentwicklung zu verstehen sind. Welche theoretischen Positionen im Einzelnen in den folgenden Jahren aus dieser spannungsreichen Ausgangslage heraus entwickelt wurden, gilt es nun etwas detaillierter darzustellen, da diese theoretischen Positionen einen wichtigen Hintergrund der Gruppenpraxis bilden.
269 | Vgl. hierzu Bandini (2003); Marcus (1993), S. 255ff. und Martos (1989), S. 11ff. 270 | Vgl. hierzu Bandini (1998), S. 49f. 271 | Weitere Gründungsmitglieder neben Debord, Jorn und Rumney waren die Französin Michèle Bernstein (L.I.) sowie die Italiener Walter Olmo, Giuseppe PinotGallizio, Piero Simondo und Elena Verrone (M.I.B.I.). 272 | Thurn (1983), S. 294. Dabei ist die S.I., sowohl was die Mitgliederstruktur als auch was die theoretischen Positionen betrifft, selbst nicht nur als eine Gruppe, sondern intern synchron und diachron nochmals als eine Verschachtelung verschiedener Zusammenschlüsse aufzufassen.
3 Theorie und Gruppenstruktur der S.I. 3.1 Die theoretischen Konzepte 3.1.1 Spektakel und Alltagsleben »Das ganze Leben der Gesellschaften, in welchen die modernen Produktionsbedingungen herrschen, erscheint als eine ungeheure Ansammlung von Spektakeln. Alles was unmittelbar erlebt wurde, ist einer Vorstellung gewichen. [...] Das Spektakel ist nicht ein Ganzes von Bildern, sondern ein durch Bilder vermitteltes gesellschaftliches Verhältnis zwischen Personen.[...] In seiner Totalität begriffen ist das Spektakel zugleich das Ergebnis und die Zielsetzung der bestehenden Produktionsweise.«1
Diese grundlegende Bestimmung des Spektakels durch Debord enthält bereits drei zentrale Aspekte der situationistischen Gesellschaftsdiagnose: erstens die Feststellung, dass das Spektakel ein Phänomen ist, welches die Gesamtgesellschaft betrifft, zweitens die Betonung der Bedeutung, die Vorstellungen und Bildern als ›Realitätsersatz‹ innerhalb des Spektakels zukommt, und drittens die direkte Verbindung, die zwischen dem Spektakel und der Produktionsweise in der Gegenwartsgesellschaft angenommen wird. Dieser letzte Aspekt ist jedoch in der Gesellschaft des Spektakels nicht nur auf der inhaltlichen Ebene zu erkennen, sondern bestimmt auch das Konstruktionsprinzip und damit auch den Sound des Textes selbst. So stammt im obigen Zitat lediglich ein Satz von Debord selbst, die anderen drei sind abgewandelte, nicht gekennzeichnete Zitate von Marx und Hegel.2 Dieses Prinzip zieht sich durch den gesamten Text, wobei sich Debord neben Marx und Hegel u.a. auch auf Lukács, Freud und Bataille beruft.3 Die Spektakeldiagnose der S.I. wird somit sowohl inhaltlich als auch formal eng mit der Politischen Ökonomie von Marx verknüpft, um die wirtschaftliche Bedingtheit des Spektakels herauszuarbeiten.4 Diese wirtschaftliche Ableitung des Spektakels bietet für die S.I. den Ausgangspunkt dafür, »die theoretische Kritik an der Gesellschaft mit der handelnden Kritik an dieser Gesellschaft zu verbinden«5 bzw. vor allem in der Spätphase deutlich zu machen, dass die 1 | Debord (1996), S. 13f. 2 | Die Marx-Passagen finden sich in Marx (1968), S. 49 und S. 793. Der letzte Satz des obigen Zitates ist ein Verweis auf eine Hegel-Einführung von A. Kojève. 3 | Zu den offenen und verdeckten Zitaten in Debords Gesellschaft des Spektakels vgl. Anonym (2003) sowie Jappe (1999), S. 60, Anmerkung 27. 4 | Zu den Verbindungen zwischen Marx‹ Fetischismuskritik und der situationistischen Spektakelkritik vgl. Baumeister (2005), S. 40ff.; Grigat (2001) sowie Jappe (1998). 5 | Viénet (1967), S. 279.
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Aufhebung sowohl der Kunst als auch des Spektakels nur in Verbindung mit einer proletarischen Revolution erfolgen kann.6 Hauptbezugspunkt Debords sind dabei die marxsche Analyse der Wert-und Warenform sowie die Ausführungen zum Fetischcharakter von Ware und Geld.7 Vor allem zwei Analysen von Marx sind dabei von besonderer Bedeutung für den Spektakelbegriff: zum einen die Feststellung, dass die Bedürfnisbefriedigung des Menschen nicht Ziel, sondern lediglich Mittel ist, »in einer Produktionsweise, worin der Arbeiter für die Verwertungsbedürfnisse vorhandener Werte, statt umgekehrt der gegenständliche Reichtum für die Entwicklungsbedürfnisse des Arbeiters da ist«.8 Zum anderen, und damit eng verbunden, der Fetischcharakter der Ware, der einen »Schein produziert, der zugleich für das Bewußtsein (ver)blendend und für die Handlungen real bestimmend wirkt«.9 Vor dem Hintergrund der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaften ist nun nach Debord eine Modifikation der marxschen Fetischkritik notwendig. Dies verdeutlicht den engen Zusammenhang, den die S.I. zwischen Spektakel, Kritik des Spektakels und récupération sieht: die ursprünglich kritische Position von Marx wurde nach und nach durch die spektakuläre récupération ihres revolutionären Potentials beraubt und reintegriert. Um diese Theorie für die Kritik am Spektakel wieder nutzbar zu machen, muss sie weiterentwickelt, muss auf sie das Verfahren des détournement angewendet werden. In der Entwicklung der situationistischen Gesellschaftsdiagnose kommen somit bereits die daraus abzuleitenden Methoden zur Anwendung, ist doch die Gesellschaft des Spektakels im Grunde nichts als ein détournement von marxscher und hegelscher Theorie. Debord deutet genau diese Vorgehensweise in seinem Text selbst an: »Dieses theoretische Bewußtsein der Bewegung, in dem die Spur der Bewegung selbst gegenwärtig sein muß, äußert sich durch die Umkehrung der etablierten Beziehungen zwischen den Begriffen und durch die Entwendung aller Errungenschaften der früheren Kritik.«10 Der Versuch, die zahnlos gewordene marxsche Fetischkritik durch détournement wieder für die gegenwärtige Gesellschaftskritik fruchtbar zu machen, führt somit zur situationistischen Spektakelkritik. »Mit dem Eintreten der industriellen Revolution [...] erscheint die Ware tatsächlich als eine Macht, die das gesellschaftliche Leben wirklich besetzt. [...] Das Spektakel ist der Moment, worin die Ware zur völligen Besetzung des gesellschaftlichen Lebens gelangt ist. Das Verhältnis zur Ware ist nicht nur sichtbar geworden, man sieht sogar nichts anderes mehr: die Welt, die man sieht, ist seine Welt.«11 6 | Vgl. Debord (1996), S. 172f. 7 | Vgl. Marx (1968), S. 49-108. 8 | Ibidem, S. 649. 9 | Baumeister (2005), S. 57. 10 | Debord (1996), S. 174, Hervorh. im Orig. 11 | Ibidem, S. 34f., Hervorh. im Orig.
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Die Totalität des Spektakels als eines durch Bilder vermittelten gesellschaftlichen Verhältnisses ist in zweierlei Hinsicht von Bedeutung: Zum einen meint dies, dass das Spektakel alle Menschen gleichermaßen betrifft und somit die Klassenunterschiede zumindest bezüglich der passiven Stellung zum Spektakel einebnet.12 Zum anderen impliziert dies, dass das Spektakel alle gesellschaftlichen Sphären umfasst und so die gegenwärtige Form des gesellschaftlichen Lebens darstellt. »Dabei ist es nicht so, daß das Spektakel in Politik, Medien, Warenwelt, Kunst etc. einfach ›stattfindet‹, sondern umgekehrt: diese aufgeteilten gesellschaftlichen Sphären sind selbst Inszenierungen des Spektakels.«13 Das heißt aber auch, dass eine Verengung des Spektakelbegriffs auf die Bereiche Medien oder Propaganda für die S.I. unzulässig ist, stellen diese doch lediglich besondere Formen bzw. die »erdrückendsten Oberflächenerscheinungen«14 des Spektakels dar. Die häufig erfolgende Verengung auf den Medienbereich lässt sich teilweise dadurch erklären, dass in Bezug auf das Spektakel stets von der Bedeutung des Bildes, von der zentralen Stellung des Sehens gesprochen wird und Debord für die gegenwärtige Gesellschaft nach dem von Marx thematisierten Übergang vom Sein zum Haben nun den Übergang vom Haben zum Scheinen diagnostiziert.15 Die zentrale Technik, die das Spektakel dabei anwendet, ist die der Trennung und der anschließenden imaginären Vereinigung von Getrenntem. Diese Trennung beginnt für die S.I. in enger Anlehnung an Marx bereits im Produktionsprozess, in dem der Mensch zunächst von seinem Produkt getrennt wird. Gleichzeitig jedoch produziert der Mensch auf diese Weise aber immer mehr seine Welt als eine von ihm getrennte Sphäre. »Je mehr sein Leben sein Produkt ist, um so mehr ist er von seinem Leben getrennt.«16 Die mit den Produkten verbundenen spektakulären Bilder stellen sich zwischen den Menschen und die Welt und verhindern somit, dass der Einzelne seine Kreativitätspotentiale erkennen und entfalten kann. Auch hier ist die enge Anlehnung an Marx‹ Ausführungen zum Fetischcharakter erkennbar,17 da sich die Menschen ihrer Potentiale »aufgrund der ›narkotischen‹ Wirkung des Spektakels 12 | Vgl. hierzu auch die folgende Diagnose Vaneigems aus dem Jahr 1963: »Zu der Passivität, die den enteigneten Massen aufgezwungen wird, kommt noch die wachsende Passivität der Herrschenden und Akteure hinzu, die [...] eine stetig abnehmende reale Macht über die Welt genießen.« (Vaneigem (1963), S. 49) Diese Feststellung lässt Zweifel an der Richtigkeit der diesbezüglichen Ausführungen von Baumeister/Negator aufkommen, die in ihrer marxistisch geprägten Analyse auf der Basis von Texten aus dem Jahr 1958 versuchen, der S.I. gerade eine Aktualisierung des marxschen Klassenbegriffs zu attestieren (vgl. Baumeister (2005), S. 83). 13 | Ibidem, S. 67. 14 | Debord (1996), S. 22. 15 | Vgl. ibidem, S. 18f. 16 | Ibidem, S. 27. 17 | Zusätzlich knüpft die S.I. hier auch noch an Henri Lefebvre an (vgl. Lefebvre (1974), S. 167).
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nicht bewußt sein können, obgleich sich das Spektakel aufgrund ihrer eigenen Handlungen [...] beständig reproduziert«.18 Entscheidend für die totalitäre Wirkungsweise des Spektakels ist, dass dieses sich nicht nur auf die Sphäre der Produktion, sondern auch auf diejenige der Konsumtion erstreckt. Hier gehen die Analysen der S.I. über Marx hinaus bzw. versuchen, diese im Hinblick auf die aktuelle historische Lage weiterzuentwickeln. Die Ausbreitung des Spektakels wird von der S.I. als zweite industrielle Revolution bezeichnet, durch die »neben der entfremdeten Produktion der entfremdete Konsum zu einer zusätzlichen Pflicht für die Massen«19 wird. Diese Ausdehnung auf das Feld der Konsumtion ist der Logik des Spektakels, wie im Einstiegszitat bereits angedeutet, immanent. Im Bereich der Konsumtion erhalten die spektakulären Bilder der Ware als Mittel zur Erzeugung künstlicher Bedürfnisse ihre zentrale Bedeutung, da der Konsum außerhalb der Arbeitszeit notwendige Bedingung für das Weiterbestehen der kapitalistischen Produktionsweise ist. Dies hat für die Art des Konsums und der Bedürfnisse weitreichende Konsequenzen: »Wenn aber das konsumierbare Überleben etwas ist, das sich ständig vermehren muß, so deshalb, weil es die Entbehrung unaufhörlich enthält.«20 Der Ort, an dem diese Mechanismen des Spektakels am deutlichsten hervortreten, ist für die S.I. die moderne Großstadt, da der Urbanismus aufs engste mit der absoluten Herrschaft des Kapitalismus verbunden ist. Der Urbanismus ist als grundlegende Technik der spektakulären Trennung notwendig geworden,21 da die durch die räumliche Konzentration der Menschen entstehenden Kommunikationsmöglichkeiten eine Gefahr für das Bestehen des Spektakels darstellen. Daher findet »[d]er ständige Kampf, der gegen alle Aspekte dieser Begegnungsmöglichkeit geführt werden mußte, [...] im Urbanismus sein bevorzugtes Feld«.22 Zudem ist die Stadt der Ort, an dem die Mechanismen des Konsums, der spektakulären Warengesellschaft und der künstlichen Bedürfnisse am konzentriertesten auftreten. Zugleich wird hier am deutlichsten, wie sehr das Spektakel die Lebensumgebung des Einzelnen auf den Warenkonsum hin ausrichtet und die somit ursprünglich im Stadtraum enthaltenen kreativen Möglichkeiten vernichtet. Denn »die technische Organisation des Konsums steht lediglich im Vordergrund der allgemeinen Auflösung, die die Stadt auf diese Weise dahin gebracht hat, daß sie sich selbst konsumiert«23 . Insgesamt lässt sich festhalten, dass das Spektakel gerade im städtischen Umfeld durch die Schaffung künstlicher Bedürfnisse und Bilder, die zudem als Unerfüllbare stets das Entstehen 18 | Baumeister (2005), S. 65f. 19 | Debord (1996), S. 35. 20 | Ibidem, S. 36f. 21 | Die Bezugnahme auf die Stadt lässt sich u.a. durch die Auseinandersetzung mit Lefebvre erklären (vgl. Lefebvre (1974), S. 235). 22 | Debord (1996), S. 147. 23 | Ibidem, S. 150, Hervorh. im Orig.
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von Anschlussbildern bzw. -bedürfnissen enthalten, den Menschen von der realen Welt entfremdet, ihn isoliert, aus einem Akteur einen Zuschauer macht, ihn in die Passivität drängt und somit authentische und persönliche Kommunikation sowie die Entfaltung der Kreativität des Einzelnen verhindert. »Im Spektakel stellt sich ein Teil der Welt vor der Welt dar, und ist über dieselbe erhaben. Das Spektakel ist nur die gemeinschaftliche Sprache dieser Trennung. Was die Zuschauer miteinander verbindet, ist nur ein irreversibles Verhältnis zum Zentrum selbst, das ihre Vereinzelung aufrechterhält. Das Spektakel vereinigt das Getrennte, aber nur als Getrenntes.«24
Vor dem Hintergrund der Bedeutung, die das revolutionäre Potential der Sprache in der Theorie der S.I. einnimmt,25 soll noch etwas genauer auf die Kommunikationsformen eingegangen und spektakuläre und authentische Kommunikation gegenübergestellt werden. Dabei erscheint eine Anknüpfung an Vilém Flusser hilfreich.26 Die spektakuläre Kommunikation, die gekennzeichnet ist durch die Trennung von Aktiven und Passiven, von Sendern und Empfängern sowie durch die Isolation der Empfänger untereinander, ließe sich den diskursiven Medien zuordnen,27 während die authentische Kommunikation, auch wenn sie von der S.I. zunächst nicht näher beschrieben wird, auf der Seite der dialogischen Medien28 zu verorten wäre. Zu Fragen wäre hierbei, inwiefern sich auch die Theorie- und Methodenentwicklung der S.I. dem Typ der dialogischen, offenen und netzförmigen Kommunikation zuordnen ließe und somit als Versuch aufzufassen wäre, durch die Kritik des Spektakels innerhalb desselben erstmals wieder authentisch zu kommunizieren.29 Die authentische Kommunikation ist einer der wichtigen Ansätze, die die S.I. als Widerstand gegen das Spektakel zu etablieren versucht. Genau wie die Forderung nach der Entfaltung von Kreativität und Spontaneität sowie nach dem Ausleben der Begierden lässt sich die authentische Kommunikation der Kategorie des Alltagslebens zuordnen. Diese bildet den Hintergrund für die später zu analysierenden Methoden der Situationskonstruktion und des unitären Urbanismus als Wege zur Aufhebung des Spektakels. Dabei sind Alltagsleben und Spektakel aus Sicht der S.I. ähnlich komplex miteinander verknüpft wie Stadt und Spektakel: »[M]an kann so weit gehen, diese Ebene des alltäglichen Lebens einen 24 | Debord (1996), S. 26, Hervorh. im Orig. 25 | Vgl. Khayati (1966a). 26 | Vgl. Flusser (2003a) und Flusser (2003b). 27 | Innerhalb dieser Kategorie wäre die spektakuläre Kommunikation wiederum am ehesten dem Typ der theatralischen bzw. der amphitheatralischen Medien zuzuordnen. 28 | Hier wiederum genauer der Gruppe der netzförmigen Kommunikation. 29 | In diesem Kontext wird die vorliegende Arbeit vor allem die Kommunikationsstrukturen innerhalb der Gruppe auf mögliche Schräglagen und Hierarchien zu untersuchen haben.
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kolonisierten Sektor zu nennen. [...] So ist das alltägliche Leben Privatleben,30 das Gebiet der Trennung und des Spektakels.«31 Das Alltagsleben ist zunächst eine Sphäre, in der die negativen Auswirkungen des Spektakels besonders sichtbar werden. Andererseits wird gerade deshalb von der S.I. die Bedeutung des Alltagslebens, als Ausgangspunkt möglicher Veränderung auf der Basis der bislang ungenutzten alltäglichen Kreativitätspotentiale, betont: »Das alltägliche Leben ist der Maßstab für alles; für die Erfüllung und die Nicht-Erfüllung der menschlichen Beziehungen; für die Anwendung der erlebten Zeit; für die künstlerische Forschung; für die revolutionäre Politik.«32 Um dieses Potential nutzbar zu machen, ist jedoch sowohl die Kritik33 als auch die Veränderung des Alltagslebens notwendig. Der Anknüpfungspunkt für eine solche Kritik ist zunächst das »revolutionäre Problem«34 der Freizeit, da diese in besonderem Maße vom Spektakel durchstrukturiert und vorgegeben ist. Die Menschen sind somit gerade in der Freizeit, die eigentlich als Privatleben Ausgleich zur Arbeitszeit sein sollte, wiederum nur passive Zuschauer eines vom Spektakel vermittelten Scheins und somit mit einem geraubten Leben konfrontiert: »Aber just in diesen dem Leben zugewiesenen Momenten ist es noch das Spektakel, das sich zur Schau und zur Reproduktion stellt und dabei eine noch stärkere Intensität erreicht. Was als das wirkliche Leben vorgestellt wurde, erweist sich lediglich als das Leben, das noch wirklicher spektakulär ist.«35
Diese Form der spektakulären Freizeit gilt es zu bekämpfen, da sie das gesamte Alltagsleben dominiert und den Menschen in Passivität hält, Begierden unterdrückt und Langeweile erzeugt. Gerade der letzte Aspekt ist von Bedeutung, da er verdeutlicht, dass diese Art der spektakulären Freizeit »nichts zufälliges an sich hat«36 , sondern dass sie als Sphäre der Langeweile systemstützende Funktion hat, denn »die Langeweile ist konterrevolutionär«.37 30 | Auch hier ist die Übersetzung ›Privatleben‹ unzureichend: vie privée bedeutet sowohl Privatleben als auch beraubtes Leben. 31 | Debord (1961), S. 228f. Diese Überlegungen der S.I. zum Verhältnis von Spektakel und Alltagsleben weisen deutliche Parallelen zu Jürgen Habermas’ Begriffspaar von Lebenswelt und System bzw. seiner Problemdiagnose der Kolonisierung der Lebenswelt durch das Eindringen administrativer und ökonomischer Rationalität in die Sphäre von Privatheit und Öffentlichkeit auf (vgl. Habermas (1995), S. 470ff.; Habermas (1985) sowie Reese-Schäfer (2001), S. 60ff. 32 | Debord (1961), S. 227. 33 | Hier spielt die S.I. mit der Doppeldeutigkeit von Genitivus objectivus und subjectivus des Ausdrucks Kritik des Alltagslebens: Dieser kann außer als Kritik am Alltagsleben auch als die Kritik aufgefasst werden, »die das alltägliche Leben über all das souverän ausüben würde, was ihm unnütz äußerlich ist« (vgl. ibidem, S. 230). 34 | Lettristische Internationale (1954a), S. 42. 35 | Debord (1996), S. 136f., Hervorh. im Orig. 36 | Debord (1961), S. 228. 37 | Situationistische Internationale (1962b), S. 267.
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Für die S.I. ist der Alltag jedoch auch die Sphäre der diffusen Unzufriedenheit. Somit bietet sich die Möglichkeit, die alltägliche passive Langeweile zu überwinden, das revolutionäre Potential des Alltagslebens nutzbar zu machen. Eine solche Krise des Alltags als »vom Kapitalismus kontrollierte Passivität«38 , wäre zugleich die Krise des Kapitalismus und somit die Chance, auch diesen aufzuheben. Diese enge Verbindung von Alltagsleben und gesamtgesellschaftlichen Problemstellungen ist als Anknüpfung an Lefebvre aufzufassen: »So führt die Kritik des Alltagslebens zur Kritik des politischen Lebens, weil das Alltagsleben diese Kritik bereits enthält und ausbildet: es ist nämlich diese Kritik.«39 In ihm werden genau die Potentiale vermutet, die sich gegen diese spektakulären Missstände vorbringen lassen: Aktivität, Begierden, Spontaneität, Kreativität und ›wahres Leben‹. Die zentrale Bedeutung des Alltagslebens wird von der S.I. vor allem am Verhältnis von Kunst und Alltagsleben sowie von Kunst und revolutionärer Veränderung entwickelt. Ausgangspunkt für die S.I. sind dabei die historischen Avantgarden, die, so die These der S.I., aufgrund der Einseitigkeit ihrer jeweiligen Projekte gescheitert sind und vom Spektakel ihres revolutionären Potentials beraubt wurden. Diese Kritik der S.I. wird wiederum aus ihrem Spektakelbegriff verständlich: Wenn eine der zentralen Methoden des Spektakels das Trennen bzw. Fragmentieren ist, so muss eine Kunst mit revolutionären Intentionen stets die Totalität im Auge behalten und sollte sich nicht selbst von der Gesellschaft als autonome Sphäre absondern.40
3.1.2 Konstruktion von Situationen »Konstruierte Situation: Durch die kollektive Organisation einer einheitlichen Umgebung und des Miteinanderspielens von Ereignissen konkret und mit voller Absicht konstruiertes Moment des Lebens.«41 »So ist die Situation dazu bestimmt, von ihren Konstrukteuren erlebt zu werden. In ihr soll die Rolle des - wenn nicht passiven, so doch zumindest als bloßer Statist anwesenden - ›Publikums‹ ständig kleiner werden, während der Anteil derer zunehmen wird, die zwar nicht Schauspieler, sondern in einem neuen Sinn des Wortes ›Lebemänner‹ genannt werden können.«42
Die Situationskonstruktion ist für die S.I. die allgemeine Methode des Widerstands gegen das Spektakel. So geht es den Situationisten nicht 38 | Debord (1961), S. 231. 39 | Lefebvre (1974), S. 100. 40 | Auf den spannenden Vergleich zwischen diesen Positionen der S.I. und denjenigen von Adorno, Horkheimer und Marcuse zu Kunst und Kulturindustrie (vgl. Adorno (1967); Adorno (1998); Horkheimer (2000) und Marcuse (1969)) kann an dieser Stelle nicht eingegangen werden. Verwiesen sei daher auf den Aufsatz von Andreas Benl (vgl. Benl (1997)) und die Texte von Anselm Jappe (vgl. Jappe (1995); Jappe (1998) und Jappe (1999)), die in diese Richtung weiterarbeiten. 41 | Situationistische Internationale (1958d), S. 18. 42 | Debord (1957d), S. 29.
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um Situationen als solche, sondern um deren Konstruktion, um ein aktives Moment, welches der Passivität des Spektakels entgegengesetzt wird. Der Mensch soll seine Zuschauerrolle hinter sich lassen und wieder zum Akteur werden, soll leben anstatt lediglich zu überleben. Es geht um das Aufspüren und Ausleben der wahren Begierden anstelle der Befriedigung künstlich erzeugter Bedürfnisse. Zugleich ist die Situationskonstruktion ein kollektives Unterfangen und stellt sich so gegen die vom Spektakel angestrebten Trennungen. Ein letzter Aspekt, der die Gegensätzlichkeit von Situation und Spektakel einleitend verdeutlichen kann, ist derjenige der Zeit: während das Spektakel mit all seinen Techniken auf die eigene Erhaltung abzielt, ist die konstruierte Situation als Moment charakterisiert: »Unsere Situationen werden ohne Zukunft, sie werden Durchgangsorte sein.«43 Auch wenn es einige Gemeinsamkeiten zwischen dem soziologischen bzw. alltagssprachlichen44 und dem situationistischen Situationsbegriff gibt, die sich u.a. in Bezug auf den kollektiven und den momenthaften Charakter der Situation sowie bei der Wahrnehmung der Stadt als Situation ausmachen lassen, so gibt es doch einen ganz entscheidenden Unterschied: Während im alltagssprachlichen und im soziologischen Begriff die Situation ein Passivität auslösender Rahmen für den Menschen ist, ist die Situation bei der S.I. etwas, das nicht a priori gegeben ist, sondern das aktiv konstruiert werden muss. Die Situation ist nicht nur durch Momenthaftigkeit, sondern auch durch Prozesshaftigkeit charakterisiert. Während im soziologisch-alltäglichen Verständnis in einer Situation gehandelt wird, handelt der Situationist, um dadurch eine Situation überhaupt erst entstehen zu lassen. Die Situation aus soziologischer und alltagssprachlicher Sicht, die dem Menschen im besten Fall die Wahlmöglichkeit zwischen vorgegebenen Handlungsalternativen lässt, ist in den Kategorien der S.I. eher der Seite des Spektakels zuzuordnen. Denn dieses wird als vorgeformter Rahmen aufgefasst, innerhalb dessen lediglich verschiedene Bedürfnisbefriedigungen zur Auswahl stehen und der Mensch sich passiv den Gegebenheiten unterordnet. Die S.I. grenzt sich durch die Betonung der aktiven Situationskonstruktion deutlich sowohl von der bisherigen inhaltlichen Bestimmung des Situationsbegriffs als auch von der Funktion, die die Situation in verschiedenen Theoriekontexten hatte, ab: »Bisher haben die Philosophen und Künstler die Situationen nur verschieden interpretiert, es kommt jetzt darauf an, sie zu verändern«45 . Die zentrale Stellung, die die Situation innerhalb der theoretischen Ansätze der S.I. einnimmt, lässt sich durch zwei Faktoren erklären: Zum einen gibt es für die S.I. ein quasi natürliches Verlangen nach Situationskonstruktion, da diese zu den »Basisbegierden, auf die sich die nächste 43 | Debord (1957d), S. 42. 44 | Vgl. einführend zum alltagssprachlichen und insbesondere zum soziologischen Situationsbegriff u.a. Arnold (1981); Bahrdt (1996) und Dreitzel (1980), S. 74ff. 45 | Situationistische Internationale (1964a), S. 112.
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Generation gründen würde«46 , zählt. Begierde und konstruierte Situation als Mittel des Widerstands gegen das Spektakel sind komplex miteinander verbunden, denn die Situationskonstruktion hat die Funktion der »Erweckung von mehr oder weniger deutlich erkannten Begierden, die als Ausgangspunkt genommen werden für ein zeitlich begrenztes, diesen Begierden günstiges Tätigkeitsfeld.«47 »Wer Situationen konstruiert, ›wandelt‹ - um auf ein Marxsches Wort zurückzugreifen - ›indem er durch seine Bewegungen auf die äußere Natur wirkt und sie umwandelt, ... zugleich seine eigene Natur um‹.«48
Durch einen aktiven Eingriff in die Umwelt soll diese dahingehend verändert werden, dass weitere Eingriffe leichter werden, dass ein begierdebasiertes Leben möglich wird und der Einzelne mehr und mehr seine bislang unterdrückten Begierden entdeckt. Zum anderen enthält der Begriff für die S.I. »zusätzlich die Implikation von ›Revolution‹ und zwar im Sinne von Marx, als ›die Situation [...], die jede Umkehr unmöglich macht‹«49 . Die Situationskonstruktion ist also nicht nur als Schaffung einzelner, raum-zeitlich eng umgrenzter Ereignisse für einzelne Personen aufzufassen, sondern ist auch im größeren Rahmen, z.B. des unitären Urbanismus, als »Konstruktion einer allgemeinen, relativ beständigeren Umgebung«50 oder sogar einer »neue[n] Wirklichkeit«51 zu verstehen. Dementsprechend heißt es mit Blick auf die Person des Situationisten: »Situationist im Sinne der Situationistischen Internationale ist genau das Gegenteil von dem, was heute auf portugiesisch so genannt wird und zwar ein Anhänger der vorhandenen Lage.«52 Bereits im Vorfeld der Gründung der S.I., d.h. im Rahmen der L.I., war das Konzept der Situationskonstruktion von Bedeutung. Allerdings war es hier weniger exakt ausgearbeitet, war noch keine »Wissenschaft der Situation [...], die der Psychologie, der Statistik, dem Urbanismus und der Moral Elemente entnimmt«53 . Auch wenn in dieser Phase in den 50er Jahren bereits einzelne Situationen konstruiert wurden, so stand dabei weniger die Idee einer Nutzbarmachung der Begierden gegen das Spektakel als vielmehr die reine Provokation im Mittelpunkt des Interesses. Dies gilt für die Sprengung eines Ostergottesdienstes in Notre Dame durch die Lettristen54 genauso wie für die verschiedenen Aktionen während eines Frankreichbesuchs von Charlie Chaplin,55 die schließlich zur 46 | Ivain (1958), S. 23. 47 | Situationistische Internationale (1958k), S. 16. 48 | Situationistische Internationale (1959d), S. 82. 49 | Baumeister (2005), S. 19. 50 | Constant/Guy Debord (1958), S. 72. 51 | Situationistische Internationale (1958k), S. 16. 52 | Situationistische Internationale (1964a), S. 112. 53 | Guy Debord zitiert in: Ohrt (1997), S. 48. 54 | Vgl. Marcus (1993), S. 289ff. 55 | Vgl. ibidem, S. 335ff.
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Abspaltung der L.I. führten. Entscheidend ist zunächst, dass die Situationisten die lettristische Idee der Situationskonstruktion aufgriffen, sie in den Mittelpunkt ihrer Theorie stellten und dementsprechend sehr detailliert verschiedene Arten und Methoden der Situationskonstruktion ausarbeiteten. Dabei ist die Spektakeldiagnose stets der Negativhintergrund, gegen den es vorzugehen gilt. Dies ist nicht nur für die inhaltliche Ausformung des Situationsgedankens, sondern bereits für die Wahl der Situation als zentrale Kategorie von Bedeutung:56 Gerade deren moment- und prozesshafter und somit offener Charakter57 steht in grundlegender Opposition zu den Eigenschaften des Spektakels, die immer wieder mit den geschlossenen Regelkreismodellen der Kybernetik in Zusammenhang gebracht wurden.58 Die Situationskonstruktion wendet sich daher mit Hilfe »der konkreten Konstruktion kurzfristiger Lebensumgebungen und ihrer Umgestaltung in eine höhere Qualität der Leidenschaft«59 gegen das »Prinzip des Spektakels - die Nicht-Einmischung«60 . Diese experimentelle Tätigkeit bezeichnet im kleinen Rahmen den Versuch, durch bewusste Eingriffe ins Alltagsleben z.B. eine Zusammenkunft zweier sich unbekannter Menschen zu arrangieren und sie gewissermaßen zur Aktivität zu nötigen. »Dafür müssen anfangs die heute vorhandenen alltäglichen Verhaltensweisen und die Kulturformen empirisch angewandt werden, indem man ihnen jeden eigenen Wert aberkennt.«61 Hier wird abermals die enge Verbindung der Situationskonstruktion zum Alltagsleben und zum Spektakel, aber auch zur konkreten Methode des détournement deutlich. Zentrales Anliegen der Situationskonstruktion ist die Ent-Täuschung des Spektakels, das Aufdecken alternativer Lebensweisen. So sollen spielerisch62 »[...] festgefahrene, als selbstverständlich geltende Praxisformen und Sichtweisen irritiert und aufgebrochen werden, um die darunter liegenden Strukturen und Gesetzmäßigkeiten zu Tage zu fördern, die daraufhin bewußtgemacht, problematisiert, verändert und entwickelt werden können.«63
Die Art und Weise, in der diese Ent-Täuschung zunächst durchgeführt werden soll, beinhaltet jedoch ein Problem, das der eigentlich 56 | Hierbei spielte sicherlich auch die Auseinandersetzung mit Sartre eine Rolle. So ließe sich der situationistische Situationsbegriff als détournement sowohl des alltagssprachlichen als auch des philosophisch-existenzialistischen Situationsbegriffs auffassen (vgl. Ohrt (1997), S. 163ff. sowie Baumeister (2005), S. 11f.). 57 | In diesem Zusammenhang sei zusätzlich verwiesen auf die Gegenüberstellung von Situationskonstruktion und Lefebvres Theorie der Momente (vgl. Situationistische Internationale (1960h)). 58 | Vgl. Vaneigem (1963), S. 44. 59 | Debord (1957d), S. 39. 60 | Ibidem, S. 41. 61 | Ibidem, S. 38. 62 | In Bezug auf die Bedeutung des Spiels für die S.I. sei verwiesen auf Situationistische Internationale (1958b). 63 | Baumeister (2005), S. 139f.
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angestrebten ›Aktivierung‹ entgegensteht. Denn auch wenn die Situationskonstruktion ein kollektiver Vorgang ist, so ist zumindest in der Anfangsphase »von einem durch eine Forschergruppe ausgearbeiteten Situationsprojekt«64 auszugehen. Dies hat eine Unterscheidung von einem Leiter/Regisseur des Projektes, den direkt beteiligten Konstrukteuren und den passiven Zuschauern, die zur Handlung genötigt werden sollen, zur Folge. Eine solche Konstellation wirkt jedoch beinahe spektakulär, werden hier doch Situationen ›angeboten‹, die als passend für ein passives Objekt erachtet werden. Die S.I. war sich dieser Problematik bewusst und betonte, dass sich dieser anfängliche Notbehelf »nicht zu einer Beziehung der Spezialisierung entwickeln«65 dürfe, da eine solche ja gerade am Spektakel kritisiert wurde. Da jedoch die Situationskonstruktion von der S.I. als ein quasi natürliches Bedürfnis des Menschen angesehen wurde, schien sich dieses Problem nach einer kritischen Anfangsphase, in der die in diesem Moment klassisch avantgardistisch agierende S.I.66 die notwendige Aktivierungsenergie ›verabreicht‹, von selbst zu lösen. Denn nach dieser Startphase »[...] sind alle, sei es spontan oder auf bewußte und organisierte Weise, Vorsituationisten, d.h. Individuen, denen diese Konstruktion bei demselben Mangelzustand der Kultur und denselben Ausdrücken der unmittelbar vorangehenden experimentellen Sensibilisierung ein objektives Bedürfnis ist.«67
Abgesehen davon, dass das ›natürliche Bedürfnis‹ des Menschen nach Situationskonstruktionen von der S.I. nirgendwo näher erläutert oder begründet wird, erscheint diese Annahme noch aus einem anderen Grund problematisch. So lässt sich eine gewisse inhaltliche Nähe dieses natürlichen, bislang aber noch unentdeckten Bedürfnisses zur vom Surrealismus in den Mittelpunkt gestellten, unbewussten Phantasie, die ebenfalls erst durch verschiedene Methoden ›erweckt‹ werden muss, nicht abstreiten. Genau dieser Glaube des Surrealismus, «die Idee des unendlichen Reichtums der unbewußten Phantasie [...] sei die endlich entdeckte große Kraft des Lebens«68 , wurde jedoch von den Situationisten als einer der zentralen Gründe für das Scheitern des surrealistischrevolutionären Projekts kritisiert. Neben dieser ›Situationskonstruktion im Kleinen‹ ist aber noch eine wesentlich größere Bandbreite der ›allgemeinen Methode‹ der Situationskonstruktion zu erkennen. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass für die S.I. der Situationsbegriff immer auch die Revolution als größte und letztendlich anzustrebende Situation impliziert. Zwischen der 64 | Situationistische Internationale (1958k), S. 17. 65 | Ibidem. 66 | Hier ließe sich der S.I. die Orientierung am politischen Avantgardeverständnis Lenins unterstellen. 67 | Ibidem. 68 | Debord (1957d), S. 31.
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alltäglichen Situationskonstruktion und der Revolution als konstruierter Situation sind noch die durch konkrete Methoden wie dérive und détournement konstruierten Situationen zu verorten. Insgesamt lassen sich somit in Bezug auf die Methode der Situationskonstruktion drei Ebenen unterscheiden: Sie ist »[...] in erster Linie eine Forschungspraxis, der Versuch, revolutionäre Handlungsmöglichkeiten innerhalb der Spielräume kapitalistischer Vergesellschaftungsformen auszuloten. In zweiter Linie ist sie ein strategisches, theoriegeleitetes Handeln unter Ungewißheit. Drittens bezeichnet die Konstruktion von Situationen den Versuch der Aufhebung der Grenzen jener Spielräume, das Freilegen der Möglichkeiten revolutionärer Aktionen in Richtung einer Herbeiführung proletarischer Revolution.«69
Auf der letzten, revolutionären Ebene ist die Situationskonstruktion wiederum eng mit dem Konzept des unitären Urbanismus verbunden. Hier rückt, genau wie bei der dérive, die Stadt als Situation in den Mittelpunkt des Interesses, die S.I. begibt sich somit auf klassisch soziologisches Terrain.70 Dass sowohl die allgemeine Theorie der Konstruktion von Situationen als auch die konkreten Methoden der dérive und des détournement sowie das Konzept des unitären Urbanismus so stark auf die Stadt ausgerichtet sind und den Stadtraum als Aktionsfeld in den Mittelpunkt rücken, sollte nicht überraschen. Denn alle diese Ansätze sollen dazu dienen, das Spektakel aufzuheben, dessen Reinform von der S.I. in der Stadt ausgemacht wird. Der Stadtraum soll mit Hilfe der verschiedenen Methoden der Situationskonstruktion dem Spektakel entwendet werden, hier sollen verschiedene détournements gegen das Spektakel durchgeführt werden, um schließlich auf der Basis des unitären Urbanismus eine neue, nicht-spektakuläre Stadt als Lebensraum für den homo ludens entstehen zu lassen. Auch wenn die komplexen Verbindungen zwischen der Situationskonstruktion und dérive bzw. détournement später detailliert dargestellt werden, sei bereits hier eine Anmerkung zum Verhältnis von Situationskonstruktion und détournement vorweggenommen, da diese sowohl zum Verständnis des Situationsbegriffs als auch der S.I. und ihrer Methodenentwicklung als Ganzer beitragen kann. Es fällt auf, dass drei der zentralen Überlegungen, die zum Situationsverständnis der S.I. führen, selbst wiederum détournements von Marx sind und dass somit innerhalb der Entwicklung der allgemeinen Methode der Situationskonstruktion bereits die konkrete Methode des détournement zur Anwendung kommt, wie dies bereits bei Debords Ausführungen zur Gesellschaft des Spektakels zu beobachten war. Da aber der détournement ein Mittel zur Situationskonstruktion ist, lässt sich die Theorie der Situationskonstruktion selbst als konstruierte Situation auffassen. 69 | Baumeister (2005), S. 139, Hervorh. M.O. 70 | Vgl. Lindner (1990).
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Wenn konstruierte Situationen nach Auffassung der S.I. aber ›Durchgangsorte‹ ›ohne Zukunft‹ sind, so muss dies auch für die Theorie der Situationskonstruktion als Ganze bzw. aufgrund der grundlegenden Bedeutung dieser Konzeption auch für die S.I. an sich gelten. So stellte Debord für die kunstbasierte Tätigkeit der S.I. fest, dass »ihre Avantgarde ihr Verschwinden«71 ist. In Bezug auf die S.I. als solche wurde als anzustrebendes befriedigendes Ergebnis ihrer Aktivitäten Folgendes festgehalten: »Die S.I. wird aufgehoben werden.«72 Gerade der momenthafte Charakter der Situation als Durchgangsort lässt sich auch in Bezug auf die Theorie der S.I. insgesamt erkennen, denn die einzelnen Methoden und Konzepte werden als flexibles, stets vorübergehendes und weiterzuentwickelndes Instrumentarium aufgefasst: so ist die Rede von der »Weiterentwicklung dieser Thesen«73 , davon, dass »die situationistischen Techniken [...] noch erfunden werden [müssen]«74 oder dass es sich die S.I. zum Ziel gesetzt hat, »gleichen Schrittes mit der Wirklichkeit [zu] gehen«75 . Die Einschätzung der Situationskonstruktion und der S.I. als konstruierte Situation wird zusätzlich durch die zentrale Stellung bekräftigt, die das Problem der récupération für die S.I. hat. Die Gefahr der récupération ist ein charakteristisches Merkmal der konstruierten Situation, denn »diese enthält ihre Negation und geht unvermeidlich ihrer eigenen Umkehrung entgegen«76 . Somit muss die S.I., fasst man sie als konstruierte Situation auf, sich dieser Gefahr stets bewusst sein, um ihr dadurch zu entgehen, dass sie sich, den momenthaften Charakter der Situation berücksichtigend, rechtzeitig auflöst. Dieser moment- und prozesshafte Charakter der Situation ist außer für die Verbindungen zwischen Situationskonstruktion und dérive, détournement und unitärem Urbanismus auch für das Verhältnis von Situation und Kunstwerk von Bedeutung. »Die Situation fassen wir als Gegenteil des Kunstwerkes auf, das ein Versuch der absoluten Wertsteigerung und der Erhaltung des gegenwärtigen Augenblicks ist.«77 Somit liegt in der Ausarbeitung des situationistischen Situationsbegriffs die Wurzel für ihre spätere Abwendung von der Kunst und für den Ausschluss derjenigen Mitglieder, die weiterhin als Künstler tätig sein wollten. Allerdings ist zu fragen, ob der S.I. dabei nicht genau der Fehler unterläuft, den sie dem Surrealismus vorhält: von einem veralteten Kunstwerkverständnis auszugehen und hinter die diesbezüglichen revolutionären Veränderungen durch DADA zurückzufallen. Dieser Aspekt ist besonders spannend, da die Zerstörung des bürgerlichen Kunstwerk-
71 | Debord (1996), S. 164. 72 | Situationistische Internationale (1969c), S. 364. 73 | Debord (1956), S. 331. 74 | Debord (1957d), S. 42. 75 | Vaneigem (1963), S. 47. 76 | Situationistische Internationale (1959d), S. 82. 77 | Ibidem.
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begriffs durch DADA wiederum in engem Zusammenhang mit dessen Variante der Situationskonstruktion steht.
3.1.3 Dérive, Psychogeographie, unitärer Urbanismus »Umherschweifen: Mit den Bedingungen der städtischen Gesellschaft verbundene experimentelle Verhaltensweise oder Technik des beschleunigten Durchgangs durch verschiedenartige Umgebungen.[...] Psychogeographie: Forschung nach den genauen Wirkungen der das Gefühlsverhalten der Individuen unmittelbar beeinflussenden geographischen Umwelt - bewußt eingerichtet oder nicht. Das, was die unmittelbare Wirkung der geographischen Umwelt auf das Gefühlsleben zur Erscheinung bringt.[...] Unitärer Urbanismus: Theorie des totalen Gebrauchs der Kunstmittel und Techniken, die zur vollständigen Konstruktion einer Umwelt in dynamischer Verbindung mit Verhaltensexperimenten mitwirken.«78
Die Trias von dérive, Psychogeographie und unitärem Urbanismus soll hier sowohl in ihrer Gesamtheit als auch in Bezug auf die drei Einzelbestandteile als erste konkrete Methode der Situationskonstruktion untersucht werden. Dies lässt sich auf zwei Wegen begründen: zum einen weisen die drei Ansätze deutliche Gemeinsamkeiten auf. So spielen bei allen ›experimentelle Verhaltensweisen‹, das ›Gefühlsverhalten‹ oder ›Verhaltensexperimente‹ eine wichtige Rolle, das aktive, spielerische Moment der Situationskonstruktion ist somit erkennbar. Zudem liegt der räumliche Fokus jeweils auf der geographischen Umwelt der Stadt, die als ›Sitz‹ des Spektakels bereits als Hauptziel der von der S.I. durch die Situationskonstruktion angestrebten gesellschaftlichen Veränderung herausgearbeitet wurde. Zum anderen verweisen auch diejenigen Aspekte, in denen sich die drei Ansätze zunächst unterscheiden, auf zentrale Merkmale der Situationskonstruktion: sei es das Moment der Vergänglichkeit beim ›beschleunigten Durchgang‹, sei es die Untersuchung ›unmittelbarer Wirkungen‹ oder die Hervorhebung der Bedeutung des ›Gefühlslebens‹ oder sei es ganz explizit die ›vollständige Konstruktion einer Umwelt‹. Auch wenn alle drei Ansätze als Methoden der Situationskonstruktion anzusehen sind und sie auch, wie oben dargestellt, untereinander auf vielfältige Weise miteinander verbunden sind, so lassen es die Unterschiede doch angebracht erscheinen, dérive und Psychogeographie auf der einen und den unitären Urbanismus auf der anderen Seite zunächst getrennt zu untersuchen, ohne dabei jedoch die Zusammenhänge aus den Augen zu verlieren. Die dérive und die Psychogeographie sind als aktiv-passive Situationskonstruktionen aufzufassen, d.h. als aktiv konstruierte Situationen im Rahmen der bestehenden Städte bzw. als Analyse der Wirkung der Stadt als Situation, während der unitäre Urbanismus als eine rein aktive Situationskonstruktion anzusehen ist, die eine Veränderung der bestehenden Stadtstrukturen anstrebt. 78 | Situationistische Internationale (1958d), S. 18.
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Außerdem sind dérive und Psychogeographie relativ einfache und überschaubare Methoden, während das Konzept des unitären Urbanismus wesentlich komplexer ist und im Laufe der Zeit deutlichen Wandlungen unterlag.
Dérive und Psychogeographie Die dérive lässt sich zunächst als aus der Praxis abgeleitetes theoretisches Konzept beschreiben und ist einer der Ansätze, die bereits sehr früh, d.h. noch im Rahmen der L.I., vollständig entwickelt und durchgeführt wurden. Die dérive war zu Beginn der 50er Jahre eine alltägliche und unreflektierte Praxis, ein Zeitvertreib der Lettristen um Debord: »Das erste Umherschweifen unterschied sich überhaupt nicht von dem, was wir sonst auch machten. Manchmal unternahmen wir einen Gang. [...] Manche kamen zurück, manche kamen nicht zurück, manche brachen unterwegs zusammen. [...] Der Zufall spielte ein große Rolle [...]. Guy kaufte Wein [...], den wir austranken und dann zogen wir wieder los. Wir machten das solange bis wir völlig abgefüllt waren. Das war natürlich nicht sehr poetisch.«79
Doch sehr schnell wird dieser Zeitvertreib systematisiert. Zum einen dadurch, dass über einzelne dérives Buch geführt wird,80 um so die dort gemachten Eindrücke festzuhalten und zum anderen dadurch, dass die dérive nach und nach eine theoretische Fundierung erfährt. So lassen sich erste Definitionsansätze bereits ab 1954 in potlatch, der Zeitschrift der L.I., finden,81 die bereits die wichtigsten Merkmale einer dérive umfassen: »Die großen Städte eignen sich gut für die Zerstreuung, die wir dérive (Umherschweifen) nennen. Es handelt sich dabei um eine Technik des ziellosen Ortswechsels. Sie basiert auf dem Einfluß des Dekors.«82 Auch wenn hier der Ursprung der dérive als Zerstreuung noch erkennbar ist, so wird sie bereits als Technik bezeichnet, wird die Stadt als Ort ihrer Durchführung festgelegt, und es wird betont, dass die Ziellosigkeit doch bestimmten Einflüssen unterliegt.83 Eine weitgehende theoretische Ausarbeitung der Methode der dérive unternimmt Guy Debord bereits 1956, also ebenfalls noch vor Gründung der S.I. Debord definiert die dérive als Tätigkeit des »eiligen Durchgangs durch abwechslungsreiche Umgebungen«84 , der sich eine oder mehrere Personen hingeben. Auch der räumliche Rahmen ist flexibel, er reicht z.B. von einem Bahnhof, über ein bestimmtes Viertel bis hin zur gesamten Großstadt. Entscheidend ist dabei, dass diese Personen »für 79 | Mension (2002), S. 101f. 80 | Wolman (1954). 81 | Vgl. Véra (1955) sowie Lettristische Internationale (1956a). 82 | Debord (1954), S. 77f. 83 | Auch dies ist ein Ansatz, der für die enge theoretische Verbindung von dérive und Psychogeographie sorgt. 84 | Debord (1958a), S. 58.
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eine mehr oder weniger lange Zeit auf die ihnen im allgemeinen bekannten Bewegungs- und Handlungsgründe«85 verzichten. Dies ist jedoch nicht als vollkommene Motivlosigkeit der Fortbewegung zu verstehen, es handelt sich lediglich um den Verzicht auf die üblichen Motive. Dies stellt die dérive »in jeder Hinsicht den klassischen Begriffen der Reise und des Spaziergangs entgegen[...]«86 und macht sie sowohl gegenüber der Figur des Flaneurs als auch von den surrealistischen Spaziergängen abgrenzbar.87 Die situationistische dérive findet im spektakulären Raum der Stadt statt; sie ist der Versuch, sich den »Verlockungen des Terrains«88 zu öffnen und so objektiv wie möglich die in der Stadt vorhandenen atmosphärischen Schwankungen auszumachen. Ihr Ziel ist zunächst die Erforschung und die »Interpretation des städtischen Gewebes, des städtischen Textes«89 . Diese angestrebte objektive Erkenntnis bislang verborgener städtischer Strukturen ist, wie die Situationisten selbst einräumen, anfangs relativ stark vom Zufall beeinflusst. Dieser ist jedoch nicht der entscheidende Aspekt der dérive, wie z.B. bei den surrealistischen Spaziergängen, sondern eher eine anfangs auftretende und nach und nach zu beseitigende Nebenwirkung. Denn zum einen ist das, was zunächst wie eine Zufallswirkung auf den Verlauf einer dérive anmutet, in Wirklichkeit auf das zu erforschende »psychogeographische [...] Bodenprofil mit beständigen Strömungen, festen Punkten und Strudeln«90 zurückzuführen. Zum anderen ist die dérive »untrennbar verbunden mit der Erkundung psychogeographischer Auswirkungen«91 . Diese psychogeographische Beobachtung hat aber genau die Funktion, anscheinend Zufälliges als objektiv in den verborgenen Stadtstrukturen Gegebenes zu erklären und somit eine bewusstere, systematischere und objektivere dérive zu ermöglichen. Es geht den Situationisten also nicht um ein passives Sich-Hingeben an die Strukturen der Städte, sondern um deren aktives Erkunden, »um die Vorhersehbarkeit der Stimmungen, um die Möglichkeit, sie zu berechnen und zu ihrer objektiven Kenntnis zu gelangen«92 . Bereits in diesem relativ einfachen Anfangsstadium ist die dérive so85 | Debord (1958a), S. 58. 86 | Ibidem. 87 | Der interessante Vergleich zwischen der situationistischen dérive und der u.a. bei Baudelaire, Apollinaire, Aragon und Kracauer zu findenden und von Benjamin untersuchten Figur des Flaneurs kann im Rahmen dieser Arbeit leider nicht durchgeführt werden (vgl. zur Figur des Flaneurs bei den erwähnten Autoren u.a. Neumeyer (1999)). Auf den ebenso interessanten Vergleich der situationistischen Positionen zur dérive und den Ansätzen zur teilnehmenden Beobachtung, wie sie in der Ethnologie und in der Anthropologie u.a. von Malinowski und Lévi-Strauss entwickelt wurden, kann hier ebenfalls nur hingewiesen werden (vgl. McDonough (1996)). 88 | Kaufmann (2004), S. 147. 89 | Ibidem, S. 146. 90 | Debord (1958a), S. 58. 91 | Ibidem. 92 | Kaufmann (2004), S. 148.
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mit als Methode der Situationskonstruktion erkennbar. Sie ist ein vergängliches, momenthaftes und kollektives Unterfangen, durch welches versucht wird, aktiv die in den Städten vom Spektakel im Verborgenen etablierten Mechanismen aufzudecken und zu kritisieren, um so die im Alltagsleben enthaltenen kreativen Potentiale hervorzubringen. Zur Aktivierung dieser Kreativitätspotentiale wird von der S.I. auch in Bezug auf die dérive und den unitären Urbanismus explizit auf die zentrale Bedeutung des spielerischen Elements der situationistischen Ansätze hingewiesen.93 Denn gerade »[d]urch das [sic!] ›dérive‹ entwickelte man ein kritisches Bewußtsein des spielerischen Potentials urbaner Räume und ihrer Möglichkeiten, neue Wünsche zu wecken«.94 Auf dieser ersten Ebene ist die dérive also eine Forschungspraxis, die versucht, mögliche Handlungsspielräume innerhalb der spektakulären Gesellschaft aufzudecken und sie zugänglich zu machen. Bereits an diesem Punkt wird zusätzlich die Verbindung von dérive und détournement deutlich. Zum einen impliziert die dérive als orientierungs- und ziellose Bewegung95 im Vergleich zur ›normalen‹ Fortbewegung von A nach B stets einen Umweg, einen détour, der nach Auffassung der S.I. die Ortskenntnis erhöht. Zum anderen führt die dérive durch den Verzicht auf die üblichen Motive der Fortbewegung zu einem détournement der Orte, an denen sie durchgeführt wird.96 Bahnhöfe dienen nicht mehr dem Zugfahren, Metroschächte nicht mehr der Metro, Straßen sind Orte des Beobachtens97 statt der Fortbewegung etc. 93 | Vgl. Lettristische Internationale (1954b); Debord (1955a) sowie Constant (1959e). 94 | Andreotti (1998), S. 17. 95 | Vgl. Constant (1996). 96 | Diese Kombination von ›produktiven‹ Umwegen und Zweckentfremdung ist besonders während der Studentenunruhen im Mai 1968 in Paris erkennbar, in denen direkt oder indirekt viele der situationistischen Ideen zur dérive und zum détournement in die Praxis umgesetzt wurden (Vgl. Gilcher-Holtey (1995), S. 73ff. und S. 171ff.). 97 | Der Aspekt der Beobachtung spielt eine zentrale Rolle bei der dérive. Dies weist den Weg zu einem weiteren interessanten Forschungsansatz: die Untersuchung der Parallelen zwischen der Theorie der S.I. und der zeitgenössischen französischen Literatur. Solche Konvergenzen ließen sich gerade am Beispiel Georges Perecs eindrucksvoll herausarbeiten. Da diese jedoch bislang nur wenig systematisch untersucht wurden - die einzige Ausnahme bildet hier die thèse von Matthieu Remy (vgl. Rémy (2003)) sowie die einführenden Überlegungen von Michel Trebitsch (vgl. Trebitsch (2004)) -, sollen hier die wichtigsten Parallelen und Querverbindungen grob skizziert werden. Der oben genannte Aspekt der Beobachtung des Alltagslebens kann hier den Ausgangspunkt bilden, denn diesbezüglich ist eine deutliche Parallele zu den Texten von Georges Perec wie Tentative de description de choses vues au carrefour Mabillon le 19 mai 1978 (vgl. Perec (1997)) oder auch in La Rue Vilin (vgl. Perec (1989), S. 15ff.) zu erkennen. Geht man über den Aspekt der reinen Beobachtung hinaus und nimmt die situationistische Hervorhebung der Bedeutung des Alltagslebens allgemein in den Blick, so ließe sich diese in Perecs Les Choses (vgl. Perec (1993)), in Penser/classer (vgl. Perec (1985)) sowie in Quel petit vélo à guidon chromé au fond de la cour? (vgl. Perec (1988b)) und in Je me souviens (vgl. Perec (1978)) wiedererkennen. Es gibt jedoch noch eine Vielzahl von weiteren Verbindungen und Parallelen zwischen Debord bzw. der Theorie der
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Die Auffassung, dass die dérive zunächst dazu dient, Handlungsräume im bestehenden Spektakel aufzudecken und nutzbar zu machen, ist eng mit der Wahrnehmung der Stadt als zu interpretierendem Text verbunden und bildet die Grundlage für die zentrale Stellung, die der dérive von den Situationisten selbst zugeschrieben wird: »La formule pour renverser le monde [...], nous ne l’avons pas cherchée dans les livres, mais en errant. C’était une dérive à grandes journées, où rien ne ressemblait à la veille; et qui ne s´arrêtait jamais.«98 Doch auch auf ganz direkte Weise sind Situationskonstruktion und dérive miteinander verbunden: was oben als einfache Situationskonstruktion skizziert wurde, kann auch als von einer Gruppe von Situationisten für einen anderen konstruierte dérive aufgefasst werden.99 Damit verknüpft ist aber das in diesem Zusammenhang bereits dargestellte Problem des Verhältnisses von Elite und Masse bzw. die Frage, inwiefern eine solche ›angebotene‹ dérive, die zudem von den Betroffenen unter Umständen gar nicht als solche wahrgenommen werden kann, noch den von der S.I. stets betonten aktiven Charakter aufweist oder ob sie nicht schon in Richtung des spektakulären Unterhaltungsapparates weist. Diese Probleme versucht die S.I. dadurch zu lösen, dass die dérive um die Psychogeographie ergänzt und aufs engste mit dieser verbunden wird, und dass diese beiden Ansätze schließlich in einem letzten Schritt noch in das Konzept des unitären Urbanismus eingebunden werden, welches wiederum mit dem ›Ausgangspunkt‹ Situationskonstruktion verknüpft ist. Eine in den unitären Urbanismus integrierte und psychogeographisch fundierte dérive hätte nach Auffassung der S.I. die Frage von Elite und Masse gelöst, denn »[e]ines Tages wird man Städte eigens zum Umher-
S.I. und den Schriften von Georges Perec. So ist das Konzept der dérive und der Psychogeographie in Un homme qui dort (vgl. Perec (1990)) und in L’infra-ordinaire (vgl. Perec (1989)) zu finden, das Interesse für den Raum und die Stadt und ihre Wirkungsweise und Veränderung in Espèces d’espaces (vgl. Perec (1988a)) oder in La Rue Vilin (vgl. Perec (1989), S. 15ff.) nachzulesen und zuletzt das Konzept des détournement in Un cabinet d’amateur (vgl. Perec (1988c)) erkennbar und vor allem als zentrales Konstruktionsprinzip von La Vie mode d’emploi. Romans (vgl. Perec (2002)) hervorzuheben. Vor allem letzterer Text Perecs ist aufschlussreich, da er nicht nur wie die Texte Debords mit einer Vielzahl von détournements aus anderen Texten arbeitet, sondern sogar an einer Stelle eine Passage von Debord selbst entwendet (vgl. ibidem, S. 460 sowie Debord (1955c), S. 181). Dass der Text von Debord seinerseits bereits vollständig aus détournements besteht, macht die Sache noch interessanter. Ähnliches gilt für einen weiteren détournement Perecs: Die nicht abgebildete Landkarte, die er 1974 in Espèces d’espaces genauestens beschreibt(vgl. Perec (1988a), S. 21ff.) ist bereits 1958 in der ersten Ausgabe der I.S. (vgl. Ivain (1958), S. 25) abgedruckt - selbstverständlich auch dort bereits als détournement ohne Quellenangabe. Eine wichtige Schlüsselfigur bei der Untersuchung dieser inhaltlichen und methodischen Parallelen zwischen der S.I. und Perec dürfte dabei Henri Lefebvre sein, der nicht nur mit Bernstein, Debord und Vaneigem, sondern ab 1958 auch mit Perec in engem Kontakt stand (vgl. Trebitsch (2004)). 98 | Guy Debord zitiert in: Chollet (2004), S. 19. 99 | Vgl. Debord (1958a), S. 62.
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schweifen bauen«100 . »Die Hauptbeschäftigung der Bewohner wird das ständige Umherschweifen sein.«101 Den ersten Schritt zur Einbindung der dérive in den Rahmen des unitären Urbanismus bildet die Psychogeographie. Diese hat zunächst die Funktion, die Rolle des Zufalls bei der dérive zu verringern und sie somit zu systematisieren und zu objektivieren. Sie wird definiert »als die Erforschung der Gesetze und der genauen Wirkungen einer bewußt oder unbewußt gestalteten geographischen Umwelt, die einen direkten Einfluß auf das Gefühlsverhalten ausübt«102 . Im Rahmen der Psychogeographie sind zwei Methoden von besonderer Bedeutung: zum einen das Anfertigen von dérive-Protokollen, um die entdeckten geographischen Stadtstrukturen systematisch auswerten und interpretieren zu können.103 Zum anderen ist dies sowohl die zweckentfremdete Benutzung von Landkarten, um z.B. einem Stadtplan Londons folgend den Harz zu durchwandern, als auch die Erstellung neuer, die psychogeographischen Erkenntnisse berücksichtigender Karten und Pläne. Dieses Kartographieren nimmt bei Debord eine zentrale Stellung ein, wie vor allem in seinen Mémoires von 1958 und in Fin de Copenhague von 1957, die er beide gemeinsam mit dem Maler Asger Jorn verfasste, deutlich wird.104 Die Psychogeographie ist somit im Vergleich zur aus der Praxis entspringenden und daher explizit aktiven dérive ein eher theoretisches und passiv-analytisches Verfahren. Diese klare Trennung von dérive als Praxis und Psychogeographie als der diese Praxis fundierenden Theorie lässt sich jedoch so klar nicht aufrechterhalten. Die Abgrenzungen in den Texten der S.I. sind hier undeutlich oder sogar widersprüchlich: mal werden dérive und Psychogeographie als »notwendige[r] Gegensatz«105 bezeichnet, an anderer Stelle wird die dérive jedoch neben Protokollen und Kartographie als das zentrale Mittel der Psychogeographie bezeichnet.106 Dérive und Psychogeographie sind nicht als getrennte, sondern als sich gegenseitig ergänzende bzw. sich bedingende Ansätze aufzufassen. Um den unerwünschten Einfluss des Zufalls auf die dérive zu verringern und diese im Hinblick auf die ihr von der S.I. zugeschriebene zentrale Bedeutung zu systematisieren, benötigt sie das theoretische Fundament der Psychogeographie. Erst in Kombination mit dieser wird es möglich, mit der dérive wirklich die vermuteten Handlungsspielräu100 | Debord (1958b), S. 340. Der Text wird hier über den Wiederabdruck in Debord (2002) nachgewiesen, da die relevante Schlusspassage in der Zeitschriftenversion in Situationistische Internationale (1976) gekürzt wurde. 101 | Ivain (1958), S. 24. 102 | Khatib (1958), S. 52f. 103 | Vgl. Lettristische Internationale (1956c) und Lettristische Internationale (1956b). 104 | Vgl. hierzu allgemein Kaufmann (2004), S. 136ff. sowie zu den Mémoires Donné (2004). 105 | Debord (1958a), S. 59. 106 | Khatib (1958), S. 53.
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me innerhalb der spektakulären städtischen Gesellschaft aufzudecken. Gleichzeitig ist aber dieselbe dérive auch ein Mittel zur Erlangung der psychogeographischen Kenntnisse; sie muss sich somit im Grunde genommen als Praxis selbst theoretisch fundieren. Auf dieser zweiten Ebene ist die dérive auf der Basis der Psychogeographie somit eine strategische und theoriegeleitete Praxis, die jedoch zunächst weiterhin darauf beschränkt bleibt, mögliche Handlungsspielräume aufzuzeigen. Auf der Basis des durch dérive und Psychogeographie gewonnenen Wissensbestands bezüglich der modernen Stadt und der in ihr wirkenden Mechanismen des Spektakels beginnt schon die L.I. damit, Gegenentwürfe zu entwickeln, die die Stadt wieder zum Spiel-Raum für den Menschen machen sollen. Es handelt sich dabei vor allem um einzelne, konkrete und ausgearbeitete Vorschläge, die direkt aus den Erfahrungen der dérive entspringen. Dies waren sowohl realistische und produktive städtebauliche Veränderungsvorschläge, wie die nächtliche Öffnung der Metrostationen oder der Grünanlagen, als auch radikale und destruktive Konzepte wie der détournement oder gar der Abriss aller Kirchen und Denkmäler.107 Nach und nach werden diese Einzelvorschläge immer mehr in ein Gesamtkonzept integriert, welches auf der Basis einer Kritik des Urbanismus nicht mehr die Verbesserung oder Modifikation von einzelnen Städten wie Paris oder Rom zum Ziel hat, sondern die Planung und den Bau neuer Städte anstrebt, deren Konstruktionsweise die mit Hilfe der dérive gewonnenen psychogeographischen Erkenntnisse berücksichtigt und somit den Begierden und der Kreativität der Bewohner gerecht werden soll. Auf dieser nun zu skizzierenden dritten Ebene der dérive versucht diese, auf der Basis ihrer Einbindung in ein architektonisch-urbanistisches Gesamtkonzept, nicht nur Spielräume innerhalb der bestehenden Strukturen aufzuzeigen, sondern vielmehr diese Strukturen zu sprengen. Das Gesamtkonzept des unitären Urbanismus ist somit die situationistische Gegenkonzeption zum Spektakel.
Das Konzept des unitären Urbanismus Bei der Konzeption des unitären Urbanismus durch die S.I. lassen sich zwei Ebenen voneinander unterscheiden, die jedoch miteinander verbunden sind. Zum einen ist eine kritisch-theoretische Variante erkennbar, die sich mit bestehenden Architekturtheorien und den existierenden Städten auseinandersetzt, zum anderen eine architektonischpraktische Linie, die auf der Basis der gewonnenen Erkenntnisse eine neue situationistische Stadt bzw. die Utopie einer solchen Stadt entwirft. Erstere hat ihre Wurzeln noch bei der L.I., während Letztere erst im Rahmen der S.I. vor allem von Constant entwickelt wurde. Aber nicht nur zwischen diesen beiden Zweigen des unitären Urbanismus sind Verbindungen erkennbar, beide sind zudem sowohl mit der dérive und der 107 | Zu diesen und weiteren Vorschlägen vgl. Lettristische Internationale (1955).
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Psychogeographie als auch mit dem Konzept der Situationskonstruktion verknüpft. Die durch dérive und Psychogeographie erzeugten Erkenntnisse über die bestehenden Stadtstrukturen bilden die Grundlage zunächst einmal für die kritisch-theoretische Linie, die die Basis des unitären Urbanismus darstellt, sodass zumindest für diesen Ausgangspunkt festgehalten werden kann, dass »der unitäre Urbanismus keine Urbanismuslehre, sondern eine Kritik des Urbanismus«108 ist. Diese Kritik richtet sich vor allem gegen den architektonischen Funktionalismus, wie er u.a. von Le Corbusier repräsentiert wurde, wie er aber bereits in verschiedenen avantgardistischen Ansätzen ab den 20er Jahren erkennbar war.109 Die S.I. greift hier vor allem die vom Funktionalismus in den modernen Großstädten etablierte Trennung von Leben/Wohnen einerseits und Arbeiten andererseits an, die ihrer Meinung nach eine wichtige Grundlage der Passivität und der Unterdrückung der Begierden bildet. Bereits hier wird deutlich, dass der unitäre Urbanismus eine zentrale Stellung in der situationistischen Kritik des Spektakels einnimmt, da gerade die Trennung die zentrale Aktivität des Spektakels darstellt. Der von der S.I. angestrebte unitäre Urbanismus soll diese Trennung und die daraus resultierende Passivität vermeiden: »Er widersetzt sich dem passiven Spektakel, dem Grundsatz unserer Kultur, in der sich die Organisation des Spektakels umso skandalöser erweitert, als die Mittel der menschlichen Intervention zunehmen. Während die Städte selbst als elendes Spektakel [...] feilgeboten werden, betrachtet der U.U. die städtische Umwelt als ein Gelände für Spiele der Beteiligung.«110
Die Trennung wird in Bezug auf den Funktionalismus und den existierenden Urbanismus auch noch in anderer Hinsicht kritisiert: Der Urbanismus wurde als unabhängiger Teilbereich der Gesellschaft angesehen, operiert somit selbst auf der Basis einer Trennung. »Akzeptiert man diese Spezialisierung des Urbanismus, so stellt man sich damit in den Dienst der bestehenden Lüge des Urbanismus und der Gesellschaft, des Staates, um einen unter den vielen möglichen ›praktischen‹ Urbanismen zu verwirklichen, man verzichtet damit aber auf den einzigen für uns praktischen Urbanismus - von uns ›unitärer Urbanismus‹ genannt - da dieser die Schaffung ganz anderer Lebensbedingungen verlangt.«111
Der unitäre Urbanismus kann somit auf zwei Arten als unitär bezeichnet werden: zum einen, weil er in seinen Konzepten einer situationistischen 108 | Situationistische Internationale (1959f), S. 87. 109 | Zu denken wäre hierbei u.a. an das Bauhaus oder das Neue Frankfurt (vgl. Müller (1988)). 110 | Situationistische Internationale (1959f), S. 88. 111 | Situationistische Internationale (1961b), S. 212.
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Stadt die Trennung von Wohnen und Arbeiten aufheben will und zum anderen, weil er selbst nicht als getrenntes Spezialgebiet, sondern als Konzept der Totalität aufgefasst werden kann.112 Ausgehend von der Kritik bestehender Urbanismuskonzeptionen113 entwickelt die S.I. eigene Stadtentwürfe. Diese ersten Ansätze bilden eine Art Bindeglied zwischen der Kritik der bestehenden Städte und dem Entwurf vollkommen neuartiger Stadtutopien, wie sie später vorgestellt werden. Auf dieser Ebene ist vor allem die Entwicklung der urbanistischen Ansätze aus den Erkenntnissen von dérive und Psychogeographie noch deutlich erkennbar: »Der unitäre Urbanismus ist vom jetzigen Stadtgelände nicht ideell getrennt. Er entsteht aus der Erfahrung dieses Geländes und der vorhandenen Bauten. Wir müssen sowohl die heutigen Szenerien ausnutzen, durch die Behauptung eines spielerischen städtischen Raums, wie ihn das Umherschweifen erkennen läßt, als auch neue, nie dagewesene, aufbauen.«114
Dies verdeutlicht, dass der in Bezug auf die dérive erkennbare Zusammenhang mit dem détournement auch für die Anfangsphase des unitären Urbanismus feststellbar ist. Dieser ist im Grunde genommen nichts anderes als ein mit Hilfe der dérive und auf der Basis von psychogeographischen Erkenntnissen durchgeführter détournement bestehender Stadtstrukturen.115 Doch schon bald beginnt die S.I. auf theoretischer Ebene damit, eigene Stadtmodelle zu entwerfen.116 Diese zeichnen sich zum einen sowohl durch räumliche als auch durch zeitliche Flexibilität aus, denn der unitäre Urbanismus führt dazu, »die permanente Umänderung und eine beschleunigte Bewegung des Verlassens und des Wiederaufbaus der Stadt in der Zeit und im Raum zu befürworten«117 . Zum anderen sollen auch die in einer solchen Stadt lebenden Personen räumlich nicht fixiert sein, die neue Stadt soll vielmehr eine »Zivilisation der Freizeit und des Spiels«118 sein. Hier ist wiederum die enge Verknüpfung über die räumliche Flexibilität und den spielerischen Aspekt sowohl mit der dérive als auch über den zeitlichen Charakter als Durchgangsort diejenige mit dem Konzept der Situationskonstruktion erkennbar. Berücksichtigt man einerseits den spielerischen und andererseits den 112 | Dass diese Position auch innerhalb der S.I. alles andere als unumstritten war, zeigt die diesbezügliche Auseinandersetzung zwischen Debord und Constant. Während Letzterer die oben skizzierte Auffassung des unitären Urbanismus verteidigte, stellte dieser für Ersteren nur eine Kritik der Stadtplanung und somit ein architektonisches Spezialgebiet dar (vgl. Ohrt (1997), S. 196). 113 | Vgl. Banham (1976). 114 | Situationistische Internationale (1959f), S. 88f. 115 | Vgl. ausführlicher zu diesen Zusammenhängen im Hinblick auf die Entwürfe von Constant Levin (1996). 116 | Vgl u.a. Ivain (1958) und Constant (1959a). 117 | Situationistische Internationale (1959f), S. 89. 118 | Ibidem.
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Aspekt des Orientierungslos- bzw. Losgelöstseins der zugrunde liegenden dérive, so ist es nicht erstaunlich, dass in den Stadtentwürfen der S.I. immer wieder das Element des Labyrinths von Bedeutung ist.119 Ein solcher situationistischer Stadtentwurf, der zwar wie alle anderen eine Utopie blieb, der aber sehr weit ausgearbeitet war und unter architektonisch-technischen Gesichtspunkten auch hätte verwirklicht werden können, ist Constants New Babylon. Es handelt sich hierbei um eine auf theoretischer Ebene sowohl von Lefebvre und Huizinga120 als auch von Fourier121 und Le Corbusier122 beeinflusste »vast chain of megastructures, each of which could be internally reorganised at will to satisfy the desires of its transient users and creators«123 , um ein »›urbanes Gewebe‹ als unbestimmte geographische Ausdehnung ohne Zentrum oder Peripherie«124 . Um den Stadtraum wieder als Lebens- und Spielraum für die Bewohner zurückzugewinnen, sollte New Babylon auf Stahlträgern über dem Boden schweben, auf den sämtlicher Verkehr ausgelagert werden sollte. New Babylon sollte labyrinthartigen, stets in Veränderung begriffenen, da von den Bewohnern veränderbaren, SpielRaum bieten, der sich aus einzelnen, kombinierbaren Modulen zusammensetzt.125 Durch dieses Moment der Abwechslung sowie durch die Trennung von Lebens- und Verkehrsraum ist New Babylon die ideale Umgebung für die dérive. Hier schließt sich der Kreis bzw. scheint das Verhältnis von dérive und unitärem Urbanismus zirkulär zu werden: die dérive bildet zunächst als solche, dann in Kombination mit der Psychogeographie die praktische und theoretische Grundlage für die Kritik des bestehenden Urbanismus, auf deren Basis dann die Stadtutopien im Rahmen des unitären Urbanismus entworfen werden, die zum Ziel haben, für die dérive geeignete Städte zu konzipieren. Hier ist zu beachten, dass sich dabei zwar nicht die Merkmale, wohl aber die Funktion der dérive verändert: ist sie zu Beginn als Vorarbeit für den unitären Urbanismus eine gegen das Spektakel und dessen Passivität gerichtete kritische Praxis, so ist sie nach dessen 119 | Vgl. Situationistische Internationale (1960j). Zur Bedeutung des Labyrinths für Constant vgl. Lambert (1996). 120 | Vgl. Huizinga (1956). 121 | Vgl. zu den meist impliziten Anknüpfungen der situationistischen Architekturkonzepte an Fouriers Phalansterium sowie an die Ideen Saint-Simons u.a. Kaufmann (2004), S. 172f. 122 | Zu den nicht ganz unproblematischen Aspekten der Anknüpfung Constants an den sonst von der S.I. scharf kritisierten Le Corbusier vgl. Ohrt (1997), S. 118ff. Zum Verhältnis von Constants New Babylon zu anderen avantgardistischarchitektonischen Stadtutopien vgl. Eaton (2003), S. 196ff. 123 | Wollen (1989), S. 55. Dieses Sichtbar-Machen und Nach-außen-Kehren der tragenden Strukturen, um das eigentliche Innenleben flexibel zu gestalten, erinnert an die von Piano und Rogers 1970 entworfene Konstruktionsweise des Centre Pompidou in Paris. 124 | Andreotti (1998), S. 22. Zum Verhältnis von Zentrum und Peripherie bei den Situationisten vgl. Ohrt (1998). 125 | Vgl. die Beschreibung eines solchen Moduls Constant (1960a).
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Verwirklichung eine Praxis, in der einzig und allein die wiederentdeckten Kreativitätspotentiale des homo ludens zum Ausdruck kommen. Zudem wird durch den momenthaften Charakter und durch die Konstruiertheit von New Babylon sowie durch dessen Verbindung sowohl zur dérive als auch zum détournement nochmals das situationistische Verständnis der Stadt als Situation bzw. der situationistischen Stadt als konstruierter Situation deutlich. Die Situationskonstruktion und der unitäre Urbanismus sind somit, wie schon die dérive und der unitäre Urbanismus, als in zirkulärem Verhältnis stehend aufzufassen. »La situation construite est un moyen d’approche de l’urbanisme unitaire, et l’urbanisme unitaire est la base indispensable du développement de la construction des situations.«126 Diese scheinbare Paradoxie ließe sich eventuell dadurch auflösen, dass man diese Aussage dahingehend versteht, dass sich im Verlauf dieser Kreisbewegung analog zur Funktion der dérive auch diejenige der Situationskonstruktion ändert: war diese anfangs im Kleinen ein Mittel der Kritik innerhalb des Spektakels, so sind die Situationskonstruktionen ›zweiter Ordnung‹, die nach der Aufhebung des Spektakels in der Stadt als konstruierter Situation von all ihren Bewohnern praktiziert werden, lediglich als spielerischer Ausdruck kreativer Potentiale aufzufassen.
3.1.4 Détournement und récupération »Zweckentfremdung: in abgekürzter Formel: Zweckentfremdung von vorgefertigten ästhetischen Elementen. Eingliederung jetziger bzw. vergangener Kunstproduktion in eine höhere Konstruktion der Umwelt. In diesem Sinne kann es weder eine situationistische Malerei noch eine situationistische Musik, wohl aber eine situationistische Anwendung dieser Kunstmittel geben. In einem ursprünglichen Sinne ist die Zweckentfremdung innerhalb der alten Kulturgebiete eine Propagandamethode, die deren Abnutzung und den Verlust an Bedeutung zu erkennen gibt.«127 »Die herrschende Ideologie organisiert die Banalisierung der subversiven Entdeckungen und verbreitet sie im Überfluß, nachdem sie sie sterilisiert hat. Ihr gelingt es sogar, die subversiven Individuen zu benutzen.«128
Der détournement als zweite konkrete Methode der Situationskonstruktion und das Problem der récupération sollen aufgrund ihrer engen Verwobenheit hier zusammen untersucht werden. Denn erst im Wechselverhältnis von récupération und détournement werden sowohl die zentrale Bedeutung als auch die problematischen Aspekte, die beiden Begriffen im Rahmen der situationistischen Theorie zukommen, deutlich. Bei der Untersuchung dieses Wechselverhältnisses wäre eigentlich nicht direkt bei den Situationisten anzusetzen, sondern wären aus 126 | Constant/Guy Debord zitiert in: Chollet (2004), S. 36. 127 | Situationistische Internationale (1958d), S. 19. 128 | Debord (1957d), S. 29.
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zwei Gründen zunächst die dadaistischen und surrealistischen Konzepte zum détournement und zur récupération zu untersuchen.129 Erstens ist die Methode des détournement diejenige, bei der sich die S.I. am explizitesten auf ihre Vorläufer beruft,130 »[d]ie von uns hier angeschnittenen Verfahren [des détournement, M.O.] wollen wir nicht als unsere ureigene Erfindung verstanden wissen, sondern im Gegenteil als eine durchaus allgemein verbreitete Praxis.«131 Zweitens ist auch die Frage der récupération erst in Bezug auf die historischen Avantgarden zu verstehen, jedoch nicht in dem Sinne, dass bei DADA und Surrealismus bereits eine Auseinandersetzung mit diesem Problem zu finden wäre, an die sich anknüpfen ließe. Vielmehr basiert die zentrale Stellung, die die Gefahr der récupération bei der S.I. einnimmt, gerade auf diesem Mangel der historischen Avantgarden. Die S.I. entwickelt das Konzept der récupération zumindest teilweise als Reaktion auf die Vereinnahmung von DADA und Surrealismus und fügt somit ein selbstreflexives Element in die Theoriebildung ein. Die Ausschöpfung des kritischen Potentials des détournement, das seit seiner ›unvollständigen‹ Anwendung durch die historischen Avantgarden immer schwächer wurde, setzt sich nun die S.I. zum Ziel. Der 129 | Da eine solche ausführliche Kontextualisierung der Begriffe des détournement und der récupération im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht erfolgen kann, seien hier die wichtigsten Aspekte knapp zusammengefasst (vgl. hierzu außerdem Orlich (2005)). Insgesamt lässt sich feststellen, dass sowohl DADA als auch der Surrealismus einzelne Ansätze erprobt haben, die dem détournement der S.I. ähneln. Was jedoch fehlt, ist die Einbindung in ein übergeordnetes theoretisches Konzept wie das der Situationskonstruktion oder des unitären Urbanismus. Dieser Mangel »an einer globalen Kritik« (Dupuis (1979), S. 89) lässt die diesbezüglichen Ansätze der historischen Avantgarden gewissermaßen in der Luft hängen und hinterlässt sie ihren »Erben zum besseren Gebrauch« (ibidem, S. 90). Entscheidend für diesen besseren Gebrauch des détournement ist die bei DADA nur minimal und beim Surrealismus überhaupt nicht erfolgte Gegenüberstellung des détournement als Methode der Kritik mit dem Problem der récupération als Methode der Reaktion bzw. als spektakulärem détournement. Denn das kritische Potential dieses methodischen Ansatzes lässt sich nur dann voll ausschöpfen, wenn es zum einen in ein Gesamtkonzept integriert ist und zum anderen stets im Hinblick auf seinen ›Gegner‹ bzw. sein spektakuläres Pendant, die récupération, konzipiert und weiterentwickelt wird. 130 | Dabei liefert DADA mehr Anknüpfungspunkte als der Surrealismus. Interessant wären zudem die möglichen Parallelen zwischen dem Begriff des détournement und dem Allegoriebegriff bei Walter Benjamin und die eventuellen impliziten Anknüpfungen der S.I. an den Letzteren. Denn Benjamins Allegoriebegriff (vgl. Bürger (1974), S. 92ff.) und das Konzept des détournement bei der S.I. weisen inhaltlich deutliche Gemeinsamkeiten auf. Und auch wenn Benjamin selbst bei der Entwicklung dieses Begriffs 1928 nicht das avantgardistische Kunstwerk, sondern die Literatur des Barock im Blick hatte, so hat doch bereits Georg Lukács (vgl. Lukács (1958), S. 41ff.) auf die Anwendbarkeit des Allegoriebegriffs auf eben diese Werke der historischen Avantgarden bzw. auf die Transformation der Werkkategorie durch die historischen Avantgarden hingewiesen. Diese neuartige Werkkategorie wiederum wurde von der S.I. - genau wie die Texte von Lukács - bei ihrer Methodenkonzeption stets berücksichtigt, sodass über diesen Umweg auch Benjamins Allegoriebegriff in die Überlegungen der S.I. Eingang gefunden haben könnte (vgl. zum Zusammenhang von Benjamins Allegoriebegriff und Bürgers Avantgardekonzeption Hillach (1976)). 131 | Debord (1956), S. 331.
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détournement ist aus Sicht der Situationisten eine »allgemein verbreitete Praxis, die zu systematisieren wir uns anheischig machen«132 . Diese Systematisierung erfolgt auf drei unterschiedlichen Ebenen. Erstens betrifft sie die Methode des détournement an sich, d.h. seine theoretische Ausarbeitung ausgehend vom Feld der Sprache. Zweitens geht es der S.I. darum, die Übertragung des détournement auf weitere Anwendungsfelder jenseits der Sprache zu ermöglichen. Drittens handelt es sich um die Systematisierung des theoretischen Umfelds, d.h. um die Einbindung des détournement in den weiteren methodischen Rahmen der S.I. Jeder dieser drei Systematisierungsschritte erfolgt vor dem Hintergrund des Problems der récupération als der dem détournement entgegenwirkenden spektakulären Technik. Dies ist nicht zuletzt aufgrund der einleitend skizzierten Verbundenheit dieser beiden Methoden dringend notwendig, da sie sich wechselseitig eben nicht nur aufheben, sondern auch ergänzen und erklären. Die récupération, wie sie u.a. DADA und der Surrealismus, aber auch andere theoretische Kritikansätze erfahren haben, ist der Ausgangspunkt, von dem aus die S.I. ihren détournement entwickelt. Es handelt sich hier somit zum einen um einen détournement zweiter Ordnung: die Methode an sich war bereits bei den historischen Avantgarden erkennbar, sie verlor jedoch aufgrund mangelnder Ausarbeitung ihr kritisches Potential und soll mit Hilfe eines erneuten, systematischeren détournement dem Spektakel bzw. der récupération wieder entrissen werden. Zum anderen deutet sich der selbstreflexive Charakter der Methodenentwicklung an: die Entwicklung des détournement erfolgt selbst als détournement der mittlerweile spektakulär gewordenen diesbezüglichen Ansätze der historischen Avantgarden, genau wie die Erfahrung der récupération der Avantgarden dazu beiträgt, dass die eigenen Ansätze von der S.I. stets im Bewusstsein ihrer irgendwann stattfindenden récupération konzipiert werden. Den Ausgangspunkt zur Systematisierung des détournement bildet für die S.I. die Sprache, da diese in besonderem Ausmaß vom Spektakel in Beschlag genommen ist: »Denn im Sprachgebrauch wohnt die Macht,133 sie ist der Zufluchtsort ihrer Polizeigewalt.«134 Die Sprache dient der spektakulären Macht, die sie gemäß ihrer Funktionsweise zerstückelt und spektakulär zusammensetzt und somit die in der Sprache enthaltenen objektiven Möglichkeiten bzw. ihr Kritikpotential verhüllt. Somit lässt sich auch in Bezug auf die Sprache die Gegenüberstellung von spektakulärer Passivität und der von der S.I. angestrebten Verwirklichung der alltäglichen Begierden erkennen: »Der herrschende Diskurs des Spektakels verdrängt die direkte, aktive Kommunikation zwischen 132 | Debord (1956), S. 331. 133 | Auch hier wird die Mehrdimensionalität des détournement abermals deutlich: im Rahmen der Entwicklung dieser Methode kommt sie bereits selbst, wie hier in Form eines détournement von Heideggers ›Die Sprache ist das Haus des Seins‹, zur Anwendung. 134 | Khayati (1966a), S. 195.
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den Menschen und schiebt sich trennend zwischen die atomisierten Individuen, [...] indem sie die Menschen auf reine Empfänger spektakulärer Botschaften reduziert.«135 Nach Auffassung der S.I. ist das Spektakel in Bezug auf die Sprache jedoch keine produktive Macht, denn »[s]ie erzeugt nichts, sie rekuperiert nur«136 . Diese récupération richtet sich vor allem gegen kritische Ansätze, was am Beispiel DADAs deutlich wird. Dieser war besonders anfällig dafür, in das Spektakel integriert zu werden, da er sich dieser Gefahr nicht bewusst war bzw. sie bei der Methodenentwicklung nicht berücksichtigte. DADA übersah das auf sprachlicher Ebene entscheidende Verhältnis von Kritik und Spektakel, von détournement und récupération: »Die von der revolutionären Kritik geschmiedeten Worte sind wie die Waffen der Partisanen, die auf einem Schlachtfeld zurückgelassen wurden: sie fallen in die Hände der Konterrevolution. [...] [S]ie werden erneut in Umlauf gebracht, im Dienst der aufrechterhaltenen Entfremdung.«137
Aufgrund der Parallelen zwischen détournement und récupération muss diese Erkenntnis jedoch nicht zur Resignation bezüglich der Möglichkeit revolutionärer Veränderung führen, da sie sich gegen das Spektakel wenden lässt und somit mit einem détournement die Basis für weitere détournements geschaffen werden kann. Denn »das Denken der Macht selbst [wird] in unseren Händen zu einer Waffe gegen sie«138 . Vergangene und mittlerweile vom Spektakel integrierte Kritik139 kann diesem somit durch einen erneuten détournement wieder entrissen werden und ihr kritisches Potential zurückerlangen.140 135 | Baumeister (2005), S. 119. Auch hier sind Parallelen zu den Kommunikationstypen bei Flusser klar erkennbar. 136 | Situationistische Internationale (1963a), S. 37. 137 | Khayati (1966a), S. 199. 138 | Ibidem, S. 196. 139 | Hierbei bezieht sich die S.I. in erster Linie auf die marxistische Kritik. Dies ist umso interessanter, als sich Marx selbst bereits im Kapital teilweise der Methode des détournement bediente. Dies geschah sowohl durch die Verwendung ungekennzeichneter Zitate z.B. aus der Bibel oder durch sprachliche détournements wie z.B. dem Spiel mit Genitivus subjectivus und objectivus. 140 | Dies wird umso einleuchtender, wenn man sich diesen Vorgang aus der Sicht und in den Begriffen der beiden daran beteiligten Seiten Spektakel und Revolution vorstellt. Aus Sicht der Revolution hat diese die Aufgabe, Angeeignetes zu entwenden. Dies ist aus Sicht des Spektakels jedoch die Aneignung von Entwendetem. Andersherum eignet sich aus Sicht der Revolution das Spektakel Entwendetes an, während es sich dabei aus Sicht des Spektakels um die Entwendung von Angeeignetem handelt. Stellt man also die von Spektakel und der Revolution verwendeten Sichtweisen und Begriffe gegenüber, so fallen détournement und récupération zusammen. Die Vorgehensweise des Trennens und Neukombinierens, des Aus-dem-Kontext-Reißens und In-einen-neuen-Kontext-Stellens ist bei beiden die gleiche. Détournement und récupération bezeichnen ein und denselben Vorgang, sie unterscheiden sich letztendlich nur aus Sicht des isolierten einzelnen Akteurs. Dabei kommt es zwangsläufig zu einer spiegelbildlichen Konstellation (im Sinne von détournement=récupération und récupération=détournement), da von beiden Seiten
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Revolutionäre Kritik ist stets der Kampf zwischen détournement und récupération, der Kampf um eine andere Sprache, denn für die S.I. steht »[d]as Problem der Sprache [...] im Mittelpunkt aller Kämpfe für die Abschaffung bzw. Aufrechterhaltung der gegenwärtigen Entfremdung«141 . Ausgehend von der sprachlichen Ebene soll Gegen-Sinn geschaffen werden, wie dies im Projekt des situationistischen Wörterbuchs explizit zum Ausdruck kommt, um schließlich »eine direkte Kommunikation einzuführen, die es nicht mehr nötig hat, sich mit dem Kommunikationsnetz des Gegners (d.h. der Sprache der Macht) zu behelfen, und so die Welt gemäß ihrer Begierden verändern kann.«142 Mit einem détournement des Surrealismus setzt es sich die S.I. zum Ziel, nicht die Poesie in den Dienst der Revolution, sondern die Revolution in den Dienst der Poesie zu stellen. Der détournement der herrschenden Sprache »wird die permanente Praxis der neuen revolutionären Theorie werden«143 und muss dabei gleichzeitig »die Verfälschung unserer Theorien und ihre mögliche Rekuperation verbieten«144 . Den Ausgangspunkt hierfür bilden die Ausführungen zum Plagiat von Lautréamont.145 Sie eignen sich besonders gut, da sie bestreiten, dass jeweils der détournement der eigenen Seite, die récupération aber der Seite des Gegners zugeordnet wird. 141 | Situationistische Internationale (1963a), S. 37. 142 | Ibidem, S. 39. 143 | Khayati (1966a), S. 195. 144 | Ibidem, S. 200. Dass dies jedoch nicht immer gelungen ist, zeigt die récupération des situationistischen Spektakelbegriffs, der seit geraumer Zeit in Form des Medien-Spektakels, des Politik-Spektakels etc. als Schlagwort in aller Munde ist (vgl. Walther (1997) und Walther (2002)). Dieses Herausgreifen des bloßen Begriffs verdeutlicht auch hier wieder die Trennung und Isolierung als zentrale Technik der spektakulären récupération, die den kritischen Gedankengang entschärft und für das Spektakel dienstbar macht. 145 | Auch wenn der Hauptbezugspunkt bei der Entwicklung dieser Methode für die S.I. die Sprache ist und Lautréamont als einziger ›Vordenker‹ explizit genannt wird, so lässt sich im grundlegenden Text zum détournement eine Fährte zu einem zweiten ›Gewährsmann‹ dieser Methode ausmachen. In Die Entwendung: eine Gebrauchsanleitung heißt es: »Die Entdeckungen der modernen Poesie zur AnalogStruktur des Bildes zeigen, daß zwischen zwei Elementen, mögen sie einander auch noch so fremd sein, sich stets eine Beziehung herstellt.« (Debord (1956), S. 321f.) Diese Formulierung erinnert stark an die Überlegungen von Pierre Reverdy: »L’image est une création pure de l’esprit. Elle ne peut naître d’une comparaison mais du rapprochement de deux réalités plus ou moins éloignées. Plus les rapports des deux réalités rapprochées seront lointaines et justes, plus l’image sera forte — Plus elle aura de puissance émotive et de réalité poétique.« (Reverdy (1918), S. 73) Dass diese Fährte von der S.I. nicht expliziter verfolgt wird, dürfte mit ihrem Abgrenzungsbedürfnis gegenüber den Surrealisten zu tun haben, die sich immer wieder direkt auf diese Überlegungen Reverdys beziehen (vgl. Breton (1924), S. 23). Interessant ist noch ein zweiter Aspekt: Auch wenn in beiden zitierten Passagen mit dem Bild stets noch das sprachliche bzw. poetische Bild gemeint ist, so lassen sich diese Überlegungen auf das Bild in der Malerei übertragen bzw. werden diese Konstruktionsprinzipien von den Künstlern in der S.I., allen voran von Jorn und Pinot-Gallizio, explizit auf die Malerei angewendet. Es erfolgt somit eine Erweiterung sowohl des Sprach- als auch des Bildbegriffs - dies gilt ebenso für die Anwendung des détournement in den filmischen Arbeiten Debords. Doch auch im Hinblick auf die Gruppenstruktur
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die Kritik vollständig und dauerhaft vom Spektakel angeeignet werden kann. Vielmehr ist bereits bei Lautréamont das Fortschreiten im Wechsel von détournement und récupération erkennbar: »Die Ideen verbessern sich. Der Sinn trägt dazu bei. Das Plagiat ist notwendig. Der Fortschritt impliziert es. Es hält sich dicht an den Satz eines Verfassers, bedient sich seiner Ausdrücke, beseitigt eine falsche Idee, ersetzt sie durch eine neue.«146 Vor allem die Schriften Debords sind von der Methode des sprachlichen détournement geprägt. Zu nennen ist hier, neben der Bedeutung der ungekennzeichneten Zitate147 in der Société du Spectacle, auch seine bereits 1958 erschienene Autobiographie Mémoires, an der auch Jorn beteiligt war.148 Hier besteht der gesamte Text aus détournements, kein einziger Satz stammt von Debord selbst.149 Zudem sind auf der Ebene des Schriftsatzes deutliche Anleihen bei der dadaistischen Collage erkennbar, es wird somit auch die klassische Form eines Buches aufgelöst. Fin de Copenhague und die Mémoires enthalten noch eine weitere Ebene des détournement, die die vielfältige Anwendbarkeit dieser Methode verdeutlicht und zum zweiten Aspekt ihrer Systematisierung durch die S.I. führt: Neben den von Jorn gemalten ›Träbzw. die interpersonellen Beziehungen in der S.I. - in diesem Fall im Vorfeld ihrer Gründung - könnte der implizite Verweis auf Reverdy aufschlussreich sein - legt er doch die Vermutung nahe, dass neben Debord und Wolman auch Asger Jorn an der Konzeption des oben genannten Texts zum détournement beteiligt gewesen ist. Zeitlich ist dies durchaus denkbar, standen er und Debord doch bereits seit November 1954 miteinander in Kontakt und Austausch (vgl. den ersten Brief von Debord und Bernstein an Jorn im November 1954 abgedruckt in Gervereau (2001a), S. 104). Verdichtet wird diese Vermutung durch die deutlichen Parallelen, die zwischen den Ausführungen Reverdys zur Wirkungsmacht von Gegensätzen auf der Ebene des Bildes und den Überlegungen Jorns zur produktiven Wirkung des Zusammenbringens von Gegensätzen innerhalb einer Personengruppe wie der S.I. zu erkennen sind. 146 | Debord (1996), S. 175f. Bezeichnend ist hier, dass es sich auch bei dieser Stelle in Debords Text um ein nicht gekennzeichnetes Zitat von Lautréamont handelt, dass also die erläuterte Methode bereits angewendet wird. Hier könnte man wiederum einen Verweis auf die von der S.I. stets betonte Wichtigkeit der Verbindung von Theorie und Praxis sehen: Eine Methode wird nicht nur theoretisch, sondern zugleich auch praktisch eingeführt. Inwieweit Debord durch dieses Verfahren gleichzeitig auch Kritik an Lautréamonts Ansätzen äußern möchte, da er ja, wie in Lautréamonts Worten beschrieben, eine ›falsche Idee‹ zu beseitigen versucht, kann hier nicht geklärt werden. 147 | Die Betonung liegt hier auf ungekennzeichnet, da die S.I. den détournement scharf vom gekennzeichneten Zitat, dem keinerlei kritische Funktion zugeschrieben wird, abgrenzt (vgl. ibidem, S. 176 und Situationistische Internationale (1963a), S. 40). 148 | Zu erwähnen ist hier zudem noch die erste größere Publikation unter Beteiligung von Debord aus dem Jahr 1957 Fin de Copenhague. Diese entstand, genau wie wenig später die Mémoires, in enger Zusammenarbeit mit Jorn, wurde allerdings als Werk von Jorn publiziert, während Debord nur als ›conseiller technique pour le détournement‹ geführt wird. Auch bezüglich der vom détournement geprägten Konstruktionsweise gibt es enge Parallelen zwischen den beiden Kooperationen. 149 | Vgl. Debord (2004c). In diesem Reprint des Originals findet sich am Ende (unpaginiert) eine 1986 von Debord erstellte Liste, die die Herkunft einiger Textpassagen aufdeckt (vgl. Marcus (1989)).
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gerstrukturen‹ wird auch auf der graphischen bzw. der Bildebene mit dem détournement gearbeitet. Dabei kommen »alle Elemente des Pop, Werbung, Comic-Strips, Aufrufe«150 zum Einsatz, was wiederum als Anknüpfung an die dadaistische Collage aufzufassen ist. Zugleich erweitert sich dadurch der situationistische Sprachbegriff, da darunter »nicht nur die gesprochene und geschriebene Sprache zu verstehen [ist], sondern sämtliche symbolischen, bildlichen und gestischen Äußerungen«151 . Einige weiterführende Anmerkungen zu den Mémoires seien an dieser Stelle noch gestattet.152 Auffällig ist zunächst einmal ihr Erscheinungsdatum 1958 (entstanden sind sie sogar schon Ende 1957): Debord veröffentlicht seine Autobiographie also bereits im Alter von knapp 27 Jahren und zu einem Zeitpunkt, an dem die S.I. gerade mal ein Jahr existiert. Vor allem aber sind die Mémoires das erste überhaupt von Debord publizierte Buch. Steht die Autobiographie gewöhnlicherweise am Ende der Schaffensperiode eines Autors, so bildet sie bei Debord gerade den Auftakt - auch hierin lässt sich bereits ein détournement bestehender Konventionen erkennen. Dennoch ist dieser Auftakt, der zudem mit dem Beginn des situationistischen Projekts zusammenfällt, ein Blick zurück auf die lettristische Zeit zwischen 1952 und 1957, die in ihrer Bedeutung für Debord somit stark aufgewertet wird. Debord greift dabei drei für die L.I. entscheidende Zeitpunkte heraus: Juni 1952 als Moment der Abspaltung von den Lettristen um Isidore Isou, Dezember 1952 als Moment der offiziellen Gründung der L.I. sowie September 1953 als Moment der ersten Ausschlüsse aus der neuen Gruppierung. Debord erinnert sich seiner lettristischen Jugend, deren Bedeutung als Grundlage für das gerade begonnene situationistische Projekt er dadurch hervorhebt. Diese Positionierung der Mémoires nicht als Rückblick auf das gesamte Leben und Schaffen, sondern als Schrift des Übergangs wird auch mit dem dem ersten Abschnitt vorangestellten Epigraphen nochmals betont: »Laissons les morts enterrer les morts et les plaindre...Notre sort sera d’être les premiers à entrer vivants dans la vie nouvelle.«153 Als Buch des Sich-Erinnerns scheint der Titel Mémoires also durchaus zutreffend zu sein - die Entscheidung, den Text nicht mit Autobiographie zu betiteln, scheint eine bewusste zu sein. Denn der Begriff der Mémoires betont stärker als derjenige der Autobiographie die bereits gefestigte soziale Rolle des Schreibenden und zielt stärker darauf ab, sie in das jeweilige Zeitgeschehen einzubinden. Zugleich jedoch verdeutlicht Debord durch den Bucheinband aus Schmirgelpapier, der beim Herausnehmen und Hineinstellen ins Regal die daneben stehenden Bücher beschädigt, seine widerständige Stellung in eben diesem Zeitgeschehen. Die Mémoires sind somit ein Text, der seinem Titel Mémoires vollständig 150 | Ohrt (2000), S. 15. 151 | Baumeister (2005), S. 117. 152 | Vgl. die aufschlussreichen Ausführungen von Donné (2004) sowie Kaufmann (2004), S. 56f. und Marcus (1989). 153 | Karl Marx zitiert in: Debord (2004c), unpaginiert.
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widerspricht und verdeutlicht, dass es bei diesem Buch nicht nur um einen détournement auf Text- und Bildebene, sondern um einen des gesamten Genres autobiographischer Betrachtungen geht. Dies wird noch dadurch verstärkt, dass diese Produktionsweise bereits auf dem Deckblatt angekündigt wird: »Cet ouvrage est entièrement composé d’éléments préfabriqués.«154 Dennoch steht der Aspekt des Sich-Erinnerns im Mittelpunkt der Mémoires - sie beginnen mit dem Satz »Me souvenir de toi? Oui, je veux«155 . Genau dieses Sich-Erinnern ist jedoch nicht nur als Inhalt oder Thema des Textes zu verstehen, sondern wird durch dessen Konstruktionsprinzip auch als grundlegendes Paradox herausgearbeitet. Ein Sich-Erinnern in détournements, mit geliehenen Worten erscheint zunächst widersinnig.156 Mit Blick auf das oben erwähnte Zitat von Marx geht es eher darum, mit den Worten der Toten die Vergangenheit der Lebenden zu begraben, um diesen den Schritt in die ›vie nouvelle‹ zu ermöglichen. Ein Begraben allerdings nicht als Verdrängung, sondern als Bewahren dieser verschwundenen Vergangenheit für zukünftige Projekte. Das, was Vincent Kaufmann zu Debords Verständnis des Bruchs festgestellt hat, scheint auch für die Praxis des Abschlusses mit einer Vergangenheit, einer Lebensphase zu gelten: sie »ist keine Verleugnung, im Gegenteil: [sie] [...] dient dazu, das, was der Schönheit des Absoluten eigen war, der Vergangenheit zu überantworten, damit es dort immer seinen Glanz bewahren kann.«157 Debords Entscheidung, seine eigenen Erinnerungen in den Worten anderer zu formulieren, lässt sich zudem mit seiner 154 | Debord (2004c), unpaginiert. 155 | Ibidem, unpaginiert. 156 | Dass die Erinnerungen vorhanden sind, jedoch die eigenen Worte dafür fehlen - dies erscheint wie eine vorweggenommene Umkehrung der Erinnerungsproblematik bei Georges Perec. Bei ihm beginnt der zentrale Text zur Frage der Erinnerung W ou le souvenir d’enfance mit dem Satz: »Je n’ai pas de souvenir d’enfance« (Perec (2007), S. 17), um in der Folge genau diese in eigenen Worten zu umkreisen, sie Schritt für Schritt, verflochten mit einer Fiktion, zu rekonstruieren. Die Leerstelle der Erinnerung, die in W auch mit der vorangestellten Widmung ›pour E‹ (queneausch zu lesen und zu hören als ›pour eux’) nicht gefüllt werden kann, war bereits in La disparition (vgl. Perec (1999)) omnipräsent als Leerstelle, als Fehlen sichtbar und verwies bereits hier kryptisch auf die Erinnerungsproblematik (vgl. hierzu sowie zur Bedeutung der Widmung ›pour E‹ Orlich (1996), S. 187). Das Erinnern ist bei Perec jedoch nicht nur auf die eigene Biographie beschränkt, sondern ist auch mit Blick auf sein gesellschaftliches Umfeld, auf das Alltagsleben zentral. Dies wird besonders deutlich bei Je me souviens (vgl. Perec (1978)) und bei einigen der in Penser/classer (vgl. Perec (1985)) versammelten Texte. Nicht nur bei den Parallelen in Bezug auf dérive, Psychogeographie und Beobachtung des Alltagslebens und dem Faible für das Situative, sondern auch beim Blick auf die Frage/Problematik des Erinnerns sind somit interessante Querverbindungen sowohl bei den Themen als auch bei der Arbeitsweise von Debord und Perec erkennbar, die eine weitere Analyse lohnenswert erscheinen lassen - nicht zuletzt, da diese Parallelen von den beiden Beteiligten kaum expliziert worden sind. Debord erwähnt Perec nur einmal in der I.S. und dies äußerst kritisch (vgl. Situationistische Internationale (1966a), S. 206). Perec verweist im Hinblick auf seine Alltags- und Stadtbeobachtungen auf die Situationisten und die dérive (vgl. Perec (1980), S. 129). 157 | Kaufmann (2004), S. 87.
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Leidenschaft für das Verschwinden, für die Klandestinität, für die Untergrabung bestehender Vorstellungen von Autorschaft in Zusammenhang bringen. Debords Mémoires beinhalten jedoch noch einen weiteren aufschlussreichen Bezug zu den theoretischen Ansätzen der S.I. Neben dem détournement ist hier vor allem die dérive zu nennen, die sich auf der Ebene von Text und Bild und deren Relation wiederfinden lässt. »Mémoires becomes a drift from a word to a picture. A connection is made, a connection is missed, the reader is lost, the reader enters another passageway, then another; in the book’s most intense moments, turning a page is like wakening from a dream or falling into one.«158 Diese Verbindung zwischen Text und Bild, dieses Entstehen und wieder Verlieren von Verbindungen, verweist über den Umweg der Tatsache, dass dieses Buch in Kooperation mit Jorn entstanden ist, zudem auf die Ebene interpersoneller Beziehungen. Es geht - zumindest auch - um die Suche nach neuen Formen authentischer Kommunikation mit Hilfe von détournements und dérives auf Textebene. »Read in this way, the rhythm of Mémoires becomes one of isolation to contact, contact to community, community to broken contacts, broken contacts to isolation.«159 Dies und das Kernproblem der Erinnerung an ein nicht weiter spezifiziertes ›Du‹ im bereits zitierten ›Me souvenir de toi? Oui, je veux‹ führt zur These, dass sich die Mémoires lesen lassen als »metaphor that goes back to a story of two people who sought each other and, though they likely lived out days within shouting distance, were forever separated.«160 Hinter diesem ›Du‹, das hier implizit angesprochen bzw. erinnert wird, dürfte aller Wahrscheinlichkeit nach eine, wenn nicht die zentrale Person in Debords Leben stehen: Ivan Chtcheglov, der an anderer Stelle dann auch explizit als Opfer der gemeinsamen dérives aus lettristischer Zeit beschrieben wird. »Dans notre aventure vers les bases d’une nouvelle communication, et leur expansion vers 1954 nous ne tenions pas assez compte des forces désintégrantes de tout l’entourage.«161 Doch zurück zum détournement und weiter zu seiner Anwendung auf die Malerei. Hier ist zum einen an die Gemälde von Jorn und die industrielle Malerei von Pinot-Gallizio zu denken. Während Jorn die Methode direkt auf das einzelne Bild anwandte, indem er auf dem Flohmarkt 158 | Marcus (1989), S. 128, Hervorh. im Orig. 159 | Ibidem, S. 131, Hervorh. im Orig. 160 | Ibidem. 161 | Debord (2001), S. 207, an Ivan Chtcheglov, Anfang April 1963. Eine weitere Textstelle, diesmal aus der Rückschau und unter Bezugnahme auf alle Arten situationistischen Denkens und Handelns, verweist ebenfalls auf diese Gefahren für die an diesem Projekt Beteiligten und somit implizit wiederum insbesondere auf Chtcheglov: »Daß einige der ersten Situationisten es verstanden haben, zu denken, Risiken auf sich zu nehmen und zu leben, oder daß unter den vielen, die verschwunden sind, mehrere durch Selbstmord oder in den Heilanstalten geendet sind, konnte sicher nicht durch Erbfolge auf jeden derjenigen, die zuletzt gekommen waren, den Mut, die Originalität und den Sinn für das Abenteuer übertragen.« (Debord, Guy/Gianfranco Sanguinetti (1972), S. 81).
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erstandene Kitschgemälde übermalte,162 so bezieht sich der détournement von Pinot-Gallizio auf die Ebene der Kunstproduktion als solcher, die er durch seine maschinell in Massenproduktion gefertigten und als Meterware verkauften Bilder als spektakulär kritisierte.163 Zum anderen sind hier die Filme von Guy Debord zu erwähnen,164 die sowohl auf der Bildebene als auch auf der Ebene der gesprochenen Sprache vom détournement Gebrauch machen.165 Debords erster Film Hurlements en faveur de Sade arbeitet auf der sprachlichen Ebene mit dem gleichen détournement, wie es bereits in den Mémoires zum Einsatz kam: jeder Satz, der in dem Film gesprochen wird, ist ein nicht belegtes Zitat aus Literatur, Film, Zeitung, Gesetzestexten usw.166 Dies wird zusätzlich mit einem détournement auf der Bildebene kombiniert. Letzteres ist wesentlich radikaler, da es nicht mit versteckten Verweisen arbeitet, sondern sich in dem Sinne gegen den Film richtet, als es ganz auf Bilder verzichtet. Während verschiedene Personen den Text sprechen, ist die Leinwand weiß; wird hingegen, wie die letzten 24 Minuten des Films, geschwiegen, so bleibt sie dunkel. Auch wenn dieser détournement zunächst sehr wirkungsvoll war, so lebte er doch von der Einmaligkeit des Schockmoments und konnte schnell der récupération zum Opfer fallen. Daher geht Debord bei seinen nächsten zwei Filmen Sur le passage de quelques personnes à travers une assez courte unité de temps und Critique de la séparation dazu über, den détournement auf sprachlicher Ebene auch auf der Bildebene durchzuführen, indem er seine Filme aus bestehenden Sequenzen zusammenschneidet. Zusätzlich arbeitet er mit einer vielschichtigen Bild-Text- und Sprech-Text-Collage, um die zentrale Bedeutung der Sprache herauszuarbeiten: »Man sieht Text auf der Leinwand, liest im Untertitel einen anderen Text und hört gleichzeitig eine Stimme, die noch mehr Theorie dazuspricht. Die Sprache triumphiert im Moment ihres Zerreißens über ihre Konsumenten.«167 Debords Filme erreichen somit einen hohen Komplexitätsgrad, nicht zuletzt, weil sie auf zwei Ebenen mit dem détournement arbeiten und dadurch ein drittes erzeugen: die jeweils bereits dekontextualisierten und rekontextualisierten Elemente der Ton- und Bildspur werden miteinander in Verbindung gebracht und erzeugen so nochmals neue Bedeutung.168 Auch in der Verfilmung der Société du Spectacle169 setzt sich 162 | Vgl. Ohrt (1997), S. 208f. und Jorn (1993), S. 45ff. 163 | Vgl. Bandini (1998), S. 106ff.; Pinot-Gallizio (1959) und Niggl (2007), S. 58ff. 164 | Debord (2005b) und Debord (2007b). 165 | Vgl. hierzu einführend Levin (1989). 166 | Vgl. für das vollständige Filmskript Debord (1978). 167 | Ohrt (2000), S. 19. Diese Technik erinnert deutlich an den sonst von der S.I. stets kritisierten Jean-Luc Godard. 168 | Das ›Gegeneinander-Laufen‹ von Bild und Ton zur Erzeugung von neuer Bedeutung lässt sich auch als détournement der avantgardistischen Filme aus den 20er Jahren ansehen, denen es gerade um Bild-Ton-Synthesen ging. 169 | Hier stellt Debord einerseits sich selbst in die Tradition von Eisenstein, der das nie umgesetzte Projekt der Verfilmung des Kapitals konzipiert hatte (vgl. Kluge (2008)) und andererseits La Société du Spectacle in die Tradition des Kapitals.
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das Bildmaterial vollständig aus détournements zusammen, während dies auf der sprachlichen Ebene nur indirekt der Fall ist: hier werden Auszüge aus dem gleichnamigen Buch gelesen, die zwar an sich teilweise détournements darstellen, aber nicht erneut entwendet werden. Ähnlich wie bei Debords Filmen lassen sich auch im Hinblick auf die Zeitschrift der S.I. auf verschiedenen Ebenen détournements erkennen. Zum einen ist hier das gesamte Erscheinungsbild der I.S. zu nennen. Denn während es sich bei potlatch noch um eine mit Schreibmaschine getippte und dann hektographierte Blattsammlung handelte, war die Gestaltung der I.S. sehr aufwendig: »Mit gesetzter Typographie, vielen Illustrationen, dem Umfang einer Broschüre und Chromolux-Metallic Cover übertraf die Internationale Situationniste die meisten gängigen Publikationen der Kunstwelt ihrer Zeit. Man konnte es sogar mit den kostspieligen Produkten aufnehmen, die sich die Industrieverbände leisten, um ihre Unternehmen auf dem Laufenden zu halten.«170
Die Situationisten wählten somit bewusst das Design des spektakulären Gegners und entwendeten es für ihre eigene, kritische Publikation, die somit eine Art Wolf im Schafspelz darstellt. Hierin ist eine deutliche Parallele zu den Publikationen der Surrealisten zu sehen, nur dass sich diese nicht bei Wirtschafts-, sondern bei Wissenschaftspublikationen bedienten. Dieser détournement wird auch auf der inhaltlichen Ebene weitergeführt: »die Ernsthaftigkeit, der wissenschaftlich formelle Ton, die Selbstverständlichkeit im Umgang mit Vergangenheit oder Zukunft, der Stil der Konklusion für die praktische Anwendung«171 , all dies lässt sich als Kritik an damaligen Publikationen aus der Wirtschaft auffassen. Neben der sprachlichen Ebene der Artikel ist hierbei außerdem zum einen der situationistische Comic zu nennen, der bekannte Comicstrips mit neuen, meist theoretischen Texten, die zum Teil selbst détournements darstellen, verbindet. Zum anderen sind die in den Text eingebundenen Foto- und Bildcollagen zu erwähnen, die häufig auch noch mit textlichen détournements entweder im Sinne von Text-Bild Collagen oder von Bildunterschriften versehen sind. Auch die in der I.S. abgedruckten kritischen Zeitungsmeldungen zur S.I. und ihren Aktivitäten172 lassen sich als détournement auffassen: zum einen, da diese aus ihrem alten Kontext herausgerissen und in einen neuen gestellt werden, der häufig dazu führt, dass die vorgebrachte Kritik ins Lächerliche gezogen wird. Zum anderen ist dies aber auch ein détournement DADAs, da dieser zwar auch immer wieder gesammelte Pressestimmen veröffentlichte, sich dabei jedoch auf die positiven Meldungen beschränkte, um diese als 170 | Ohrt (2000), S. 23. 171 | Ibidem, S. 24. 172 | Vgl. Situationistische Internationale (1960c) und Situationistische Internationale (1969b).
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›Werbung‹ für die eigene Gruppe zu nutzen. Insofern steht die S.I. auch hier in der Tradition von Marx: dadurch, dass sie von ihren Gegnern als Gefahr gesehen wird, ist sie bereits als Macht anerkannt.173 Ein letzter détournement im Rahmen der I.S., der zur Verbreitung dieser ›Gefahr‹ beitragen soll, ist in dem in jeder Ausgabe abgedruckten Anti-Copyright zu sehen. Dies ist zum einen ein détournement der sich auf immer weitere Bereiche ausbreitenden Tendenz zum Schutz geistigen Eigentums und zum anderen der Ausdruck der Angst vor der récupération der situationistischen Ideen. Mit dem Anti-Copyright wird dazu aufgefordert, die bereits durchgeführten détournements aufzugreifen und sie wiederum zum Ausgangspunkt eines détournement zu machen. Diese Aufforderung zum détournement soll dazu beitragen, vom Spektakel bereits angeeignete Kritik erneut nutzbar zu machen oder sogar, durch das ständige geistig In-Bewegung-Bleiben, eine récupération zu verhindern.174 Diese bisher skizzierten Anwendungen des détournement in den Bereichen von Text, Bild, Malerei und Film sind der erste Schritt zur Systematisierung und erweiterten Anwendung dieser Methode, wie sie die S.I. als konkretes Ziel gesetzt hatte,175 um die von ihr stets betonten Möglichkeiten und Vorteile des détournement voll auszuschöpfen: »Ihre praktische Nützlichkeit verdankt sie der Leichtigkeit ihrer Verwendung und den unerschöpflichen Möglichkeiten ihrer Wiederverwendung.«176 Auch wenn der zugrunde gelegte Sprachbegriff somit bereits von der gesprochenen und geschriebenen Sprache auf die Symbol- und Bildsprache ausgeweitet wurde und es auf dieser Basis zu einer, im Vergleich 173 | Behält man diese Bezugnahme auf das Kommunistische Manifest im Auge, so fällt bei der S.I. und ihren in der I.S. veröffentlichten Texten auf, dass sich darunter nur einer befindet, der den Titel Manifest (vgl. Situationistische Internationale (1960d)) trägt (vgl. zur Textgattung des Manifests u.a. Fähnders (1997), S. 21ff.). Dies ist im Hinblick auf die weite Verbreitung dieser Textform bei den historischen Avantgarden zunächst erstaunlich. Jedoch ließe sich die Vermutung anstellen, dass die S.I. auf ›explizite‹ Manifeste nicht zuletzt deshalb verzichtet, da diese stets der Gefahr der récupération ausgesetzt sind, da sie theoretische Ideen auf Dauer zu stellen versuchen und sie so für das Spektakel angreifbar machen. Zudem sieht die S.I. ihre Methoden als im Wandel begriffen, als momenthaft, als konstruierte ›Theorie-Situation‹ an, die einer solchen zeitlichen Fixierung widerstehen muss. Ebenso tragen Manifeste dazu bei, die sie verfassende Gruppe als eine Art Elite zu konstituieren - auch dies eine Vorstellung, die der S.I. widerstrebte. 174 | Dass diese Aufforderung zum erneuten détournement wahrgenommen wurde und Wirkung zeigt, wird vor allem beim Blick auf die Begrifflichkeiten verschiedener poststrukturalistischer Autoren deutlich, die sich teilweise umfangreich beim situationistischen Gedankengut und Vokabular bedienen und dieses in ihre jeweilige Theorie aufnehmen und es dort weiterentwickeln - ohne dabei explizit auf diese Bezugnahme bzw. auf die S.I. zu verweisen. Am auffälligsten ist dieser erneute détournement zentraler situationistischer Konzepte wohl bei Jean Baudrillard zu erkennen (vgl. hierzu allgemein die Arbeit von Plant (1992) sowie explizit zu den begrifflichen Anknüpfungen Baudrillards an die S.I. und ihre Bedeutung für seine Theorie zeitgenössischer Kunst Danko (2011), S. 225ff. und S. 271ff.). 175 | Vgl. Debord (1956) und Viénet (1967). 176 | Situationistische Internationale (1959g), S. 85.
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zu den historischen Avantgarden, vielfältigen und variablen Anwendung des détournement durch die S.I. kam, ist dennoch festzuhalten, dass der entscheidende Schritt über die Vorgänger hinaus noch nicht erkennbar ist. Dieser erfolgt erst in dem Moment, in dem der Sprachbegriff auch auf die gestischen Äußerungen im weitesten Sinne ausgedehnt wird. Der détournement als Gegen-Sinn erzeugende Sprache muss auf der Basis eines sehr weitgefassten Sprachbegriffs operieren, da die Sprache des Spektakels, gegen die es sich richtet, selbst allumfassend ist, sich nach und nach in alle gesellschaftlichen Sphären ausgedehnt hat und sich aller zur Verfügung stehenden Medien bedient. So betont Debord: »Die Sprache des Spektakels besteht aus Zeichen der herrschenden Produktion.«177 Entsprechend dieser Ubiquität des Spektakels muss aus Sicht der S.I. auch der détournement zu einer Methode weiterentwickelt werden, »die auf dem gesamten kulturellen Feld und im Bereich des Alltagslebens ideologiekritisch zu intervenieren versucht«178 . Entsprechend der Totalität des Spektakels muss auch der détournement total werden, auf weitere Bereiche wie die Architektur oder das Alltagsleben ausgedehnt werden. Die S.I. nennt diese am weitesten systematisierte Form ultradétournement und versteht darunter »die Neigung der Entwendung, im Alltagsleben Anwendung zu finden«179 . Diese Ausweitung des détournement ist nur mit Hilfe seiner theoretischen Einbindung in den weiteren Methodenrahmen der S.I., d.h. auf der dritten Ebene seiner Systematisierung, möglich. Durch diese Einbindung werden zudem die genaueren Verbindungen mit den Ansätzen zur Situationskonstruktion, zur dérive und zum unitären Urbanismus deutlich. Gleichzeitig ermöglicht sie, die genauere Analyse der Funktionsweise récupération als Gegenpart zum détournement auch in Bezug auf die übrigen Methoden der S.I. durchzuführen. Die Erweiterung des Sprachbegriffs auf die gestischen Äußerungen im weiteren Sinne ermöglicht es, den détournement im Kontext sowohl der dérive bzw. des unitären Urbanismus als auch in jenem der Situationskonstruktion zu lokalisieren. Gestische Äußerungen im weiteren Sinne deshalb, da hier unter diesem Begriff nicht nur die menschlichen Ausdrücke gemeint sein sollen, die sich »in alltäglichen Gesten manifestieren«180 und somit vor allem für die dérive und die Situationskonstruktion von Bedeutung sind, sondern auch solche, die in »architektonischen Gebilden«181 zum Ausdruck gebracht werden, also in den die Menschen umgebenden Artefakten, und die damit im Rahmen des unitären Urbanismus eine Rolle spielen. So ist die Anfangsphase des unitären Urbanismus, in der dieser zunächst eine Kritik des Urbanismus darstellt, auf theoretischer Ebene von 177 | Debord (1996), S. 15. 178 | Baumeister (2005), S. 117. 179 | Debord (1956), S. 331. 180 | Baumeister (2005), S. 117. 181 | Ibidem.
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der Methode des détournement geprägt: »Die Grundübung der Theorie des unitären Urbanismus wird die Umschreibung der gesamten theoretischen Lüge des Urbanismus sein, ihre Entwendung zum Kampf gegen die Entfremdung. Wir müssen ihre Rhythmen umkehren.«182 Doch auch die auf dieser Kritik aufbauenden Konzepte zur Transformation der bestehenden Stadtstrukturen als Zwischenstufe zur Entwicklung eigener Stadtutopien basiert ganz zentral auf der Methode des détournement: »Wir müssen sowohl die heutigen Szenarien ausnutzen durch die Behauptung eines spielerischen städtischen Raumes, wie ihn das Umherschweifen erkennen läßt, als auch neue, nie dagewesene aufbauen. Diese gegenseitige Durchdringung - Gebrauch der gegenwärtigen und Aufbau der zukünftigen Stadt impliziert die Taktik der Zweckentfremdung in der Architektur.«183
Selbst im Rahmen der situationistischen Stadtmodelle wie bei Constants New Babylon ist der Aspekt des détournement erkennbar: Die vorgesehene Flexibilität und Modifizierbarkeit der einzelnen Module und Sektoren lässt sich als Aufforderung zum détournement, zur dauernden Weiterentwicklung und Funktionsänderung städtischer Elemente durch ihre Bewohner auffassen. Doch auch die dérive, als die den urbanistischen Konzepten zugrunde liegende Forschungspraxis, lässt sich, wie oben bereits angedeutet, als détournement bestehender Stadtstrukturen auffassen. Straßen, Plätze und Gebäude werden von den dérivistes anders genutzt als ursprünglich vorgesehen, werden einer neuen Funktion zugeführt.184 Dieser Zusammenhang von dérive und détournement verdeutlicht jedoch auch die Beziehungen, die zwischen détournement und Situationskonstruktion bestehen. Die dérive als Situationskonstruktion ist ein extrem momenthafter détournement, der teilweise im Moment des Erscheinens bereits wieder verschwindet. Diese Momenthaftigkeit des détournement macht es möglich, diese Methode zunächst in diesem Kontext als Situationskonstruktion aufzufassen. Kehrt man jedoch die Perspektive um und geht von der oben skizzierten Situationskonstruktion als détournement des Spektakels aus, so wird deutlich, dass détournement und Situationskonstruktion nicht nur in Bezug auf die dérive eng miteinander verbunden sind. Vielmehr ist einerseits jede konstruierte Situation ein détournement des Spektakels und andererseits ist die Situationskonstruktion das Ziel des détournement in Form des ultra-détournement. Dass dieser mit der Verbindung zur Situationskonstruktion erscheinende momenthafte Charakter des détournement bei der bisherigen Skizze der Anwendungen des détournement kaum erkennbar wurde, liegt daran, dass diese Anwendungen in den Bereichen des Textes, der 182 | Kotányi (1961), S. 224f. 183 | Situationistische Internationale (1959f), S. 88f. 184 | Vgl. hierzu die Beschreibung einer solchen dérive als détournement in Vaneigem (1980), S. 264f.
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Malerei und des Filmes stattfanden, also in Medien, die eine gewisse Dauerhaftigkeit implizieren. Dies verdeutlich abermals, dass der détournement seine zentrale Stellung für die Theorie der S.I. erst in dem Moment erhält, in dem die S.I. in der Anwendung dieser Methode durch den Schritt von der zweiten zur dritten Ebene der Systematisierung deutlich über die vorangehende Verwendung des détournement bei den historischen Avantgarden hinausgeht. Dieses Darüber-Hinausgehen ist jedoch nichts anderes als ein détournement zweiter Ordnung, ein détournement des der récupération zum Opfer gefallenen avantgardistischen détournement und somit die Anwendung der Methode auf sich selbst. Berücksichtigt man dieses Wechselverhältnis von détournement und récupération, so lassen sich auch in Bezug auf die ›klassische‹ Anwendung dieser Methode im Bereich Text, Malerei und Film Anhaltspunkte für den Momentcharakter des détournement und somit für seine Verbindung zur Situationskonstruktion ausmachen. Auch wenn es sich um Medien handelt, mit denen eine gewisse Dauerhaftigkeit verbunden ist, so gilt das nicht für den mit ihnen von der S.I. durchgeführten détournement. Selbst wenn z.B. die Filme von Debord als Film auf Dauer gestellt sind, als détournement sind sie aufgrund der spektakulären récupération nicht mehr wirksam. Der momenthafte détournement wird von der récupération in abgeschwächter Form auf Dauer integriert. Die momenthafte konstruierte Situation stellt sich gegen das auf den eigenen Fortbestand hin orientierte Spektakel. Der détournement als zentrale Methode der Situationskonstruktion einerseits und die récupération als dazu spiegelbildliche zentrale Methode des Spektakels andererseits lassen sich somit anhand ihrer zentralen Eigenschaften der Momenthaftigkeit bzw. der Dauerhaftigkeit voneinander abgrenzen und einander gegenüberstellen. Dies ist insofern von zentraler Bedeutung, als es, trotz der ähnlichen Vorgehensweise und der Aufeinander-Bezogenheit von détournement und récupération, ein Unterscheidungsmerkmal dieser beiden Methoden aufzeigt: der détournement impliziert Vergänglichkeit, Weiterentwicklung, kontinuierliches Fortschreiten und Steigerung, während die récupération auf Abschwächung und Dauerhaftigkeit abzielt. Dieses Momenthafte des détournement und der Situationskonstruktion verdeutlicht abermals den momenthaften Charakter der gesamten Theorie- und Methodenentwicklung bei der S.I. Durch das stetige Mitdenken der récupération lag es für die S.I. auf der Hand, auch ihre eigenen Methoden als vergängliche Situationen, als détournements aufzufassen. »Although the situationists were neither brave nor foolish enough to think they could avoid engagement with the recuperative powers of the spectacle, they were convinced that any critical project must endeavour to sidestep and expose the whole process by which criticism is turned against itself.«185 185 | Plant (1992), S. 76.
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So wie DADA trotz des gescheiterten Projekts der Aufhebung der bürgerlichen Kunst in der Gesellschaft ihre Sichtbarmachung als Institution zuzuschreiben ist,186 so kommt der S.I. das Verdienst zu, die Mechanismen der récupération und die Verflechtungen zwischen (künstlerischer) Kritik und Gesellschaft aufgezeigt zu haben. Dies wirkte sich auf die S.I. selbst aus, denn »this effort determined the entire style, the methods, and organisation of the movement«187 . Neben den Auswirkungen, die die Gefahr der récupération auf die im Folgenden zu untersuchende Mitgliederstruktur bzw. -fluktuation hatte, ist es zunächst von besonderer Bedeutung, dass es zu einer reflexiven Methodenentwicklung kommt. Die Methoden wie der détournement werden zum einen bereits bei ihrer Entwicklung auf sich selbst angewendet, zum anderen wirkt sich das Studium der Methoden des spektakulären Gegners auf die eigene Methodenentwicklung aus. Dieser Blick auf die Handlungsweise des Kontrahenten führt dazu, dass der gesamte eigene Methodenkanon als ständig zu aktualisierender aufgefasst wird, um mit der Wirklichkeit schritthalten zu können. Zudem lässt sich die Berücksichtigung der Gefahr der récupération dahingehend interpretieren, dass die S.I. ihre Methoden in dem Bewusstsein der Tatsache entwickelt, dass sie, um mit der Wirklichkeit schritthalten zu können, dem Gegner einen Schritt voraus sein, seinen nächsten Schachzug antizipieren muss.
3.2 Mitgliederfluktuation und Organisationsstruktur 3.2.1 Mitgliederfluktuation Nach diesen Anmerkungen zu zentralen theoretischen Konzepten der S.I. geht es im Folgenden darum, anhand einiger eher empirisch-statistischer Ausführungen zu zeigen, welche konkrete Mitgliederstruktur bzw. -fluktuation und Organisationsform sich in der S.I. zwischen 1957 und 1972 entwickelt hat. Wie bereits erwähnt, hatte die S.I. insgesamt 70 Mitglieder, darunter 63 Männer und sieben Frauen. Diese Zahl scheint zunächst einmal gegen die Selbstwahrnehmung als kleine Gruppe zu sprechen. Betrachtet man jedoch die Mitgliederfluktuation im Zeitverlauf, so ergibt sich ein anderes Bild. Denn wie die Zahl von 21 Austritten und 45 Ausschlüssen bereits nahe legt, ist die Mitgliederzahl keineswegs so aufzufassen, dass die S.I. über die 16 Jahre ihrer Existenz hinweg aus einer konstanten Gruppe von 70 Mitgliedern bestand, sondern dass die Mitgliederzahl aufgrund einer Vielzahl von Ein- und Austrittsbewegungen zwischen vier und maximal 25 pendelte.188 Hierbei sind grob vier 186 | Vgl. Bürger (1974), S. 78. 187 | Plant (1992), S. 76. 188 | Vgl. hierzu die Abbildung A.2. im Online-Anhang A. Die Informationspolitik der S.I. selbst bezüglich ihrer Mitgliederzahl schwankt zwischen ungenau-verschleiernd (Situationistische Internationale (1964a), S. 115f.) und exakt-offenlegend (Situationistische Internationale (1969a), S. 450).
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Phasen erkennbar:189 die erste Wachstumsphase von Juli 1957 bis Februar 1962, in der bereits die maximale Mitgliederzahl von 25 erreicht wird. Nach einer radikalen Reduktion der Mitgliederzahl von 21 auf acht im Februar/März 1962 folgt eine zweite, ruhigere Phase mit einer Mitgliederzahl zwischen acht und 15 und einem erneuten Einbruch auf acht Mitglieder Ende 1967. Die dritte Phase setzt mit dem Mai 1968 ein und ist von einem nochmaligen deutlichen Anstieg der Mitgliederzahl von acht auf 19 um die Jahresmitte 1969 herum gekennzeichnet. Ab Ende 1969 bzw. Anfang 1970 beginnt die vierte Phase, eine Phase des kontinuierlichen Mitgliederschwunds. Bereits ab Mitte 1969 hat die S.I. keine Beitritte mehr zu verzeichnen, vielmehr verbleiben die letzten Neuzugänge teilweise nur wenige Monate in der S.I., sodass ab September 1969 die Mitgliederzahl kontinuierlich von 19 bis auf vier absinkt, bevor sich die Gruppe schließlich auflöst. Diese vier Abschnitte ließen sich auch inhaltlich beschreiben als Phasen der Gründungseuphorie, der Umstrukturierung, des öffentlichen In-Erscheinung-Tretens und der gescheiterten Neuorientierung oder - alternativ - als Phasen des Streits der Theoriepositionen, der Durchsetzung einer dieser Positionen, des Praktisch-Werdens der Theorie und der gescheiterten Weiterentwicklung einer Theorie der Praxis bzw. einer Praxis der Theorie. Klammert man die letzte Phase auf dem Weg zur Auflösung einmal aus, so fällt beim Blick auf die Ein- und Austrittsbewegungen auf, dass sich bei der Gesamtentwicklung der Mitgliederzahl diese beiden Bewegungen nicht in klare Phasen voneinander abgrenzen lassen. Vielmehr können Eintritte und Austritte/Ausschlüsse Hand in Hand gehen - auch eine gleichbleibende Mitgliederzahl schließt Bewegung innerhalb der Gruppe in Form des ›Austauschs‹ von Mitgliedern nicht aus.190 Diese doch beeindruckende Mitgliederfluktuation, das ständige Ein- und Auswechseln der Gruppenangehörigen, von dem mit Debord und Chtcheglov überhaupt nur zwei Personen nicht betroffen waren, gilt es nun zu skizzieren.191
189 | Vgl. für eine ähnliche Einteilung Richier (1995). Debord selbst unterscheidet drei Phasen in der Geschichte der S.I.: eine erste von der Gründung 1957 bis 1962, die sich um die ›Aufhebung der Kunst‹ bemüht; eine zweite von 1962 bis 1968, die eine Epoche der organisatorischen Umstrukturierung und theoretischen Neuorientierung in Richtung Praxis ist, und eine dritte, die Ende 1968 bzw. Anfang 1969 einsetzt und das Praktisch-Werden der S.I. und ihre Aufhebung in der revolutionären Bewegung zum Ziel hat (vgl. Debord (1968), S. 461). Auffällig ist hierbei, dass die Einteilung Debords, die sich in erster Linie an inhaltlichen Kriterien orientiert, und die vorliegende, die anhand der Mitgliederstruktur argumentiert, bis auf die bei Debord nicht gemachte Unterscheidung zwischen der dritten und der vierten Phase deutliche Kongruenzen aufweisen, die möglicherweise auf einen Zusammenhang zwischen Theorieentwicklung und Gruppenstruktur hindeuten. 190 | Vgl. hierzu die Abbildung A.3. im Online-Anhang A. 191 | Diese ausgeprägte Mitgliederfluktuation lässt zudem darauf schließen, dass die Frage nach der Zugehörigkeit zur S.I. und nach den Mechanismen und Regelungen zu Eintritt, Austritt und Ausschluss auch in der Gruppe als zentraler Aspekt der eigenen Organisationsstruktur oder gar der eigenen Theorie thematisiert worden ist.
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Probleme der Daten zu Eintritt, Austritt und Ausschluss Bevor der Blick von den absoluten Mitgliederzahlen und ihrem Wandel hin zu den einzelnen Personen, dem Datum ihres Ein- und Austritts bzw. Ausschlusses sowie zu der Dauer und inhaltlichen Ausgestaltung ihrer Mitgliedschaft gewendet wird, sind bezüglich dieser Daten einige methodische, aber auch inhaltlich-theoretische Anmerkungen notwendig, die an die diesbezüglichen Überlegungen der S.I. anknüpfen und verdeutlichen, wie diese sich auf eine solche Untersuchung der Einund Austrittsbewegungen auswirken. Die in den Tabellen und Abbildungen im Online-Anhang zugänglichen Informationen zu den Daten der Mitgliedschaft in der S.I. verstehen sich, trotz aller Gründlichkeit und Sorgfalt der Recherche, als Arbeitsgrundlage, die bei Bedarf und auf Basis weiterer Quellen oder neuerer Erkenntnisse zu korrigieren wäre.192 Dies ist jedoch für das weitere Vorgehen keine allzu große Einschränkung. Denn auch wenn genaue Zahlenangaben dies zunächst einmal suggerieren, soll mit diesen Informationen keineswegs im strengen Sinne statistisch gearbeitet werden. Dies würde einem Gegenstand wie der S.I. nicht gerecht. Die Daten dienen vielmehr als Anschauungsmaterial und Grundlage für inhaltliche Argumentationen bezüglich der Besonderheiten des Phänomens der Mitgliedschaft in einer sowohl klar abgrenzbaren als auch diffusen Gruppe. Ein erster Anhaltspunkt für die Analyse der inhaltlichen Besonderheiten ergibt sich dabei interessanterweise gerade aus den Schwierigkeiten, auf die man bei der Suche nach den diesbezüglichen Daten stößt. Denn vergleicht man die Informationslage bezüglich der Daten zum Eintritt mit denen zu Austritt bzw. Ausschluss, so lassen sich erhebliche Unterschiede ausmachen. Die Austritts- und Ausschlussdaten sind bislang wesentlich umfangreicher und genauer erfasst worden - sei es in Form von bloßen Überblickstabellen193 oder im Rahmen einer fundierteren inhaltlichen Analyse194 - als die Eintrittsdaten. Dies mag einerseits daran liegen, dass dem Phänomen des Ausschlusses größeres Interesse entgegengebracht wird, als demjenigen des Eintritts, andererseits aber auch daran, dass diese Angaben leichter zu ermitteln sind. Denn auch wenn die oben genannten Überblicke noch nicht ganz vollständig bzw. exakt sind, so lassen sich die noch fehlenden oder ungenauen Daten mit überschaubarem Aufwand anhand weiterer Primär- und Sekundärquellen durchaus ergänzen. Bei den Eintrittsdaten ergibt sich hingegen ein ganz anderes Bild: hier liegt bislang keinerlei Zusammenstellung vor, die diesbezüglichen Angaben sind weit verstreute Einzelinformationen, die zusammengetragen und in einem zweiten Schritt aufgrund ihres teilweise widersprüchlichen Inhalts miteinander abgeglichen werden müssen, 192 | Vgl. hierzu auch die methodischen Hinweise zur Gewinnung dieser Daten und der damit verbundenen Probleme in der Anmerkung zur Tabelle B.1. im OnlineAnhang B. 193 | Vgl. Raspaud (1972) und Zweifel (2007). 194 | Vgl. Richier (1995).
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wie dies für die vorliegende Arbeit unternommen wurde. Das Ende der Mitgliedschaft, egal, ob in Form des Austritts oder des Ausschlusses, ist also einfacher, klarer und genauer zu bestimmen.195 Auch wenn diese Entscheidung in den vielen Fällen keine plötzliche oder unerwartete ist, sondern dem klaren punktuellen Einschnitt häufig längere Phasen der Diskussion und der Abwägung vorangehen, handelt es sich hierbei um einen ›formellen Akt‹ entweder in Gestalt eines Rücktrittsgesuches oder eines Ausschlussbeschlusses, der zeitlich exakt datierbar ist. Zudem ist das Ende der Mitgliedschaft entsprechend seinem formalen Charakter bei der S.I. auch ein öffentlicher Akt, die Mehrzahl der Austritte und Ausschlüsse wird - genau wie die ihnen vorausgehenden theoretischen Auseinandersetzungen - in der I.S. kommuniziert. »Wenn die S.I. manchmal direkt mit der Praxis des Ausschlusses in Verbindung gebracht wird, so ist das zum großen Teil der Tatsache geschuldet, daß alle Ausschlüsse dort öffentlich bekannt gemacht, Gründe dafür in den meisten Fällen angegeben wurden [...]. Bei den Ausschlüssen hat die S.I. also stets für größtmögliche Transparenz und Sichtbarkeit optiert.«196 Auch wenn es zunächst zweifelhaft bleiben muss, inwieweit die dort aufgeführten Auslöser den wirklichen Hintergründen entsprechen,197 so bleibt doch festzuhalten, dass die Ausschlüsse der S.I. aufgrund dieser Politik der Transparenz »rein gar nichts gemein [haben] mit den stalinistischen Säuberungen, sie sind deren exaktes Gegenteil.«198 In einigen Fällen gibt es solche klaren Konstellationen auch beim Eintritt, wenn dieser als ebenso formeller Akt des Eintrittsgesuchs vonstatten geht. Bei der Mehrzahl der Mitglieder jedoch ist für den Eintritt ein genaues Datum viel schwieriger zu ermitteln. Es scheint sich hier weniger um ein punktuelles Ereignis, als vielmehr um einen Prozess des Sich-Annäherns, Austauschens, Kennenlernens und des Auslotens von Gemeinsamkeiten zu handeln, der sich teilweise über Wochen und Monate erstrecken kann, ehe es schließlich zum Eintritt oder zur Aufnahme der entsprechenden Person in die Gruppe kommt. Zudem scheint der Prozess der Aufnahme neuer Mitglieder im Vergleich zum Mitgliedschaftsende weniger als öffentliches, denn als privates Phänomen aufgefasst zu werden - jedenfalls werden längst nicht alle Beitritte in der I.S. kommuniziert. Die Spuren und Informationen zu Beitritten und ih195 | Dies gilt jedoch nur für den Zeitpunkt; die Frage, ob es sich um einen Austritt oder einen Ausschluss handelt, ist in einigen Fällen deutlich schwieriger zu klären und auch innerhalb der S.I. äußerst umstritten. Diese teils unklare Zuordnung lässt sich in der für den Online-Anhang gewählten Darstellungsform der Tabelle bzw. des Schaubilds jedoch nicht wiedergeben, hier muss eine eindeutige Einordnung erfolgen. Diese Schwierigkeit gilt es bei der Lektüre dieser Informationen zu beachten und verdeutlicht abermals, dass die hier vorgelegten Angaben stets nur als Hintergrund der detaillierteren inhaltlichen Fallanalysen zu verstehen sind. 196 | Kaufmann (2004), S. 257. 197 | Für einen genaueren Einblick in die Beweggründe sowie in die dem Mitgliedschaftsende vorausgehenden Diskussionen müssen auch noch Briefwechsel, interne Dokumente oder Interviews hinzugezogen werden. 198 | Ibidem.
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rer Anbahnung lassen sich daher vor allem in der Correspondance von Debord sowie in internen Rundschreiben finden. Diese Differenzen in Bezug auf die Materiallage zum Mitgliedschaftsbeginn und -ende sind vor allem deshalb interessant, weil sie erste Anhaltspunkte zur Funktionsweise der S.I. als Gruppe liefern können. Aufschlussreich ist dabei erstens der unterschiedliche Grad an Öffentlichkeit, der diesen beiden Bewegungen zuteil wird - hier steht der ›private‹ Beitritt dem ›öffentlichen‹ Austritt bzw. Ausschluss gegenüber. Dies lässt sich mit dem Abgrenzungsbedürfnis einer Gruppe wie der S.I. in Zusammenhang bringen: Während Beitritte aus der Außenperspektive die Durchlässigkeit und Veränderbarkeit der Gruppengrenzen markieren, bringen Austritte und vor allem Ausschlüsse diese wieder in aller Klarheit und Unverrückbarkeit zum Ausdruck, symbolisieren die Kohärenz der Restgruppe und symbolisieren eine klare Gruppenidentität. Während die Erweiterung der Gruppe um neue Mitglieder mit Blick auf die Gruppenidentität ein heikler und daher häufig unter Verschluss zu haltender Vorgang ist, gilt für die Abgrenzungswirkung des Ausschlusses das genaue Gegenteil: Dieser muss nach außen kommuniziert werden, um im Inneren den Zusammenhalt zu stärken. »Seit der I.L. [...] gibt es eine rigide Trennung von innen und außen. An dieser Trennungslinie, die auch zwischen der S.I. und der Außenwelt gezogen wird, entsteht das Bild der Organisation. [...] Nach der Passage - ins Innere oder ins Äußere — muß das bewegte Element dem jeweiligen Gefüge eingeordnet werden; es kann nicht fortwährend das Grenzgebiet verunsichern, denn dort muß die Organisation sich selbst und ihren Unterschied zur Außenwelt beweisen. [...] Das sind zunächst nur Verzichtserklärungen, dann aber werden es Rituale, die mit sehr viel mehr Aufmerksamkeit inszeniert werden als etwa die Anwerbung und Einbeziehung neuer Mitglieder und die sich deutlich mit Vernichtungswünschen gegen die Verstoßenen richten.«199
Aber auch aus der Innenperspektive der Mitglieder ist diese Gegenüberstellung schlüssig: Eintritte stärken nur dann die Gruppenidentität, wenn die Letztere zum Eintrittskriterium gemacht und im Kreise der Mitglieder diskutiert wird, um so die Frage des ›Wer sind wir?‹ immer wieder zu aktualisieren, zu debattieren und neuen Konsens darüber herzustellen. Die Gruppe muss das Gefühl haben, dass sie selbst es ist, die den Kreis ihrer Mitglieder bestimmt und die trotz einer möglichen Verschiebung der Gruppengrenzen die Kontrolle über die Gruppenidentität bewahrt. Austritte und vor allem Ausschlüsse müssen aus der Innenperspektive u.a. deshalb kommuniziert und öffentlich gemacht werden, um die Abgrenzung von den ehemaligen Mitgliedern zu verdeutlichen. Der Ausschluss aus der S.I. ist ein gewissermaßen doppelt-öffentlicher Vorgang, da er nicht nur öffentlich gemacht wird, sondern zudem »im 199 | Ohrt (1997), S. 302.
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Prinzip nichts anderes bedeutet als wieder in die Öffentlichkeit ›zurückgeworfen‹ zu werden. Ausgeschlossen werden bedeutet, das Recht und die Pflicht zur Klandestinität zu verlieren, welche die Zugehörigkeit zur S.I. impliziert.«200 Das Öffentlich-Machen der Frage ›zugehörig/nichtzugehörig‹ erhöht aber auch für die verbleibenden Mitglieder den Druck, sich an die grundlegende Regelung zu halten, die jeglichen Kontakt mit Ausgeschlossenen verbietet - es dient als Druck- bzw. Abschreckungsmittel nach innen. Dies ist nicht zuletzt deshalb interessant, da hier die Veröffentlichung der Ausschlüsse dafür sorgen soll, dass die zwischen den Mitgliedern bestehenden privaten, interpersonellen Beziehungen den Gruppeninteressen und -vorschriften untergeordnet werden. So zentral interpersonelle Beziehungen bei der Aufnahme neuer Mitglieder und dann auch während der Mitgliedschaft sein mögen, so diametral stehen sich mit Blick auf die Ausschlüsse - zumindest in der offiziellen Position der S.I.201 - öffentlich und privat bzw. Mitgliedschaft und interpersonelle Beziehungen gegenüber. Eine Anmerkung bezüglich des Begriffspaares privat und öffentlich ist abschließend noch notwendig. Während dieses aus der Außenperspektive eine klare Dichotomie darstellt, die zwischen dem unterscheidet, was innerhalb der Gruppe stattfindet und für den Außenstehenden somit nicht wahrnehmbar ist, und dem, was bewusst nach außen kommuniziert wird, ist für die Innenperspektive diese Gegenüberstellung um eine Abstufung zu erweitern. Hier ist die Zwischen-Ebene der Gruppenöffentlichkeit einzuführen und so zwischen dem Privaten, als den interpersonellen Beziehungen, dem Gruppenöffentlichen, als dem innerhalb eines begrenzten und über den Begriff der Mitgliedschaft definierten Kreises Veröffentlichten und dem Öffentlichen außerhalb der Gruppe zu unterscheiden. Zum Zweiten lassen sich der eher prozessuale Charakter des Beitritts und der punktuellere des Austritts/Ausschlusses auch mit den theoretischen Überlegungen der S.I. in Zusammenhang bringen. Für den Ausschluss gibt es einige klar bestimmte und allen Mitgliedern bekannte Regelungen, deren Umsetzung per Mehrheitsentscheid beschlossen werden und dann auch zeitnah stattfinden kann. Demgegenüber werden sich die Regelungen zum Beitritt und die Anforderungen, die an die potentiellen Mitglieder gestellt werden, als deutlich diffuser erweisen. Eine der wenigen klaren Aussagen, die die S.I. hierzu trifft, ist die, dass alle potentiellen Beitrittskandidaten ausführlich und gründlich geprüft 200 | Kaufmann (2004), S. 257. Die Klandestinität des Gruppeninneren als Gegenpol zum öffentlichen Außen wird noch deutlicher, wenn man die Überlegungen der S.I. zum Thema ›Geheimmitgliedschaft‹ hinzuzieht (vgl. Nash (1960), S. 178 und Situationistische Internationale (1963c), S. 28). 201 | Genau diese offizielle Position der Gruppe gilt es im Laufe der vorliegenden Arbeit mit der tatsächlichen Praxis zu vergleichen. So kann untersucht werden, ob das Gruppenhandeln als eine Praxis der eigenen Theorie aufzufassen ist oder ob nicht vielmehr bereits die Gruppenpraxis von dieser theoretischen Grundlage abweicht.
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werden müssen, um Fehleinschätzungen zu vermeiden, die wiederum den baldigen Ausschluss zur Folge hätten. Auch dieser Aspekt lässt sich mit der Unterscheidung von privat und öffentlich in Zusammenhang bringen: Um den Gruppenzusammenhalt bzw. ihre Abgrenzung nicht zu gefährden, ist die Überprüfung der Kandidaten eine interne und mit taktischen Überlegungen verknüpfte Angelegenheit, nicht zuletzt, da der Status des Kandidaten einer Art Schwebezustand auf der Grenze zwischen Innen und Außen entspricht. Der Austritt/Ausschluss hingegen markiert nur dann die Gruppengrenze, trägt zu ihrer Stabilisierung bei, wenn er kommuniziert und somit öffentlich gemacht wird. Diese Gegenüberstellung von privatem, prozessualen Beitritt und öffentlichem, punktuellen Austritt/Ausschluss ist jedoch noch mit einer dritten Unterscheidung zu kontextualisieren. Es handelt sich hierbei um die Frage, inwieweit dies mit der Opposition oder auch der Verbindung zwischen informellen, interpersonellen Beziehungen und offizieller Mitgliedschaft zusammen gedacht werden kann. Zunächst einmal legt die Differenzierung zwischen privat und öffentlich einen solchen Zusammenhang nahe. Im Sinne einer Kontrastierung von interpersonellen Beziehungen und Mitgliedschaft wäre der Beitritt ein eher über das Phänomen der interpersonellen, privaten Beziehungen zu untersuchender oder zu erklärender Aspekt, während diese Beziehung durch den Beitritt formalisiert und als Mitgliedschaft öffentlich gemacht wird. Entsprechend der Formalisierung und der Öffentlichkeit ist dann auch das Ende ein öffentliches und formalisiertes Ende. Beide Grenzüberschreitungen, beide ›rites de passage‹ - sowohl in die Gruppe hinein als auch wieder aus ihr heraus - folgen in ihrer Funktionslogik somit der in der vorausgehenden Phase vorherrschenden Form der Beziehung der Beteiligten: der informell-persönlichen vor dem Beitritt und der formell-organisatorischen vor dem Austritt/Ausschluss. Doch auch für eine Verbindung von interpersonellen Beziehungen oder gar Freundschaft und Mitgliedschaft bieten diese Überlegungen Anhaltspunkte. Denn die langsame Entstehung der Mitgliedschaft ohne klar benennbare Daten lässt sich auch als Merkmal für die Entstehung von persönlichen Beziehungen ausmachen. Was dann folgt ist eine ›offizielle‹ Phase mit klarem Status: sei es in Form des Zugehörigkeitsgefühls oder der Identifikation mit der Gruppe oder gar in Form des Gefühls des ›Wirsind-Freunde‹. Und so plötzlich und endgültig wie eine interpersonelle Beziehung oder eine Freundschaft aus einem konkreten Anlass heraus wieder enden kann, so deutlich ist auch das Ende der Mitgliedschaft erkennbar. Und genau wie beim Ende einer Freundschaft ist bei der S.I. nach dem Austritt bzw. Ausschluss erkennbar, dass die vorher vorhandene Beziehung, egal, welcher Art sie im Einzelfall gewesen sein mag, nun umschlägt: sei es in offene Feindschaft oder - in vielen Fällen für den Betroffenen noch schmerzhafter - in Indifferenz.
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Mitgliederfluktuation in der S.I. In der vorliegenden Arbeit wird erstmals ein vollständiger Überblick über die Daten zum Beginn und Ende der Mitgliedschaft aller 70 Mitglieder der S.I. zugänglich gemacht.202 Auch wenn hier nicht im Detail auf die in der Tabelle enthaltenen Daten eingegangen werden kann, so sollen doch einige besonders interessante Fälle für eine Annäherung an die Materie bereits erwähnt werden, bevor diese im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit genauer analysiert werden.203 Aus dem Blickwinkel dieser Datenübersicht sind interessante Mitglieder in erster Linie diejenigen, bei denen Anfang und Ende der Mitgliedschaft Besonderheiten aufweisen oder besonders diffizil zu ermitteln sind. Eine erste interessante Gruppe besteht aus denjenigen, die von Anfang an zu den Mitgliedern der S.I. gezählt wurden, jedoch ohne dass sie an der Gründungskonferenz teilgenommen hätten oder offiziell aufgenommen worden wären. Namentlich handelt es sich hierbei um Glauco 202 | Vgl. die Tabelle B.1. im Online-Anhang B. 203 | Neben den offiziellen Mitgliedern der S.I. gibt es eine Reihe von Personen, die in einzelnen Quellen als solche aufgeführt werden. Zu nennen sind hier Bengt Ericson, Ingemar Johansson, Richard Swedberg, die als Nicht-Mitglieder an der Konferenz der skandinavischen Sektion am 22.11.1969 teilgenommen haben (vgl. Ericson, Bengt/Jeppesen Victor Martin/Ingemar Johansson/Richard Swedberg (1969)). Auch Augusta Rivabella, die Frau von Pinot-Gallizio, wird teilweise als Mitglied erwähnt (vgl. Gallizio (2004), S. 33f.), war jedoch nur von ihrem Mann pro forma zu einem solchen bzw. zur Sekretärin des Experimentallabors der italienischen Sektion der S.I. erklärt worden. Zudem ist Patrick Straram zu erwähnen, mit dem Debord zwischen Oktober 1958 und November 1960 in Kontakt stand und ihn um Mitarbeit gebeten hatte (vgl. Straram (2005); Straram (2006); Debord (1999), S. 143ff.; S. 151f.; S. 158ff.; S. 219; S. 347; S. 355f.; S. 362ff. und S. 374ff. sowie Debord (2001), S. 21ff.; S. 27; S. 30ff.; S. 37; S. 46 und S. 49ff.). Auch der Tscheche Jan Kotik, der 1956 am Weltkongress der freien Künstler teilgenommen hatte, gehört in diese Kategorie - zumindest vermerkt er in seinem Lebenslauf im Jahr 1958 »Anschluß an die Bewegung der Internationalen Situationisten (Reise- und andere Schwierigkeiten verhindern eine längere Zusammenarbeit).« (Jan Kotik zitiert in: Ohrt (1997), S. 156) Ähnliches gilt für den dänischen Architekten Robert Dahlmann-Olsen und den Archäologen P.V. Glob, die nach dem Weltkongress der Redaktion von Eristica angehörten und als potentielle Mitglieder eingestuft wurden (vgl. ibidem). Diese drei traten jedoch in der Folgezeit in der S.I. nie in Erscheinung. Auch Ambrosius Fjord gehört in die Kategorie der inoffiziellen Halb-Mitglieder. Auf ihn und seine besondere Vorreiterrolle kann jedoch im Rahmen dieser Arbeit nicht weiter eingegangen werden. Angemerkt sei hier lediglich, dass der Norweger Ambrosius Fjord, was den Willen zur Unterzeichnung von Manifesten angeht, kaum im Zaum zu halten und ohne Umschweife bereit war, sämtliche Hürden zu nehmen und so eine Zeit lang zunehmend zum Zugpferd der 2. Situationistischen Internationale avancierte und es ihm beinahe gelang, deren eigentlichen Vordenker Jørgen Nash aus dem Sattel zu werfen. Daraufhin wurde er wenig später ausgeschlossen - offiziell jedoch, weil er den Verlockungen der spektakulären Warenwelt nicht widerstehen konnte und sich einen PS-starken Ford Mustang angeschafft hatte (vgl. hierzu weiterführend Situationistische Internationale (1963e), S. 33 und Voersaa (2006)). Weitere Personen, die in diese Kategorie des Halb-Mitglieds fallen, sind - neben dem Straßburger Studenten Béchir Tlili (vgl. Debord (2003), S. 16, an Béchir Tlili, 21.1.1965) - die als Dolmetscher für die S.I. tätigen Rodolphe (Rudolf) Gashé (vgl. Debord (2001), S. 164ff., an Rodolphe Gashé, 22.9.1962) und Phil Travers (vgl. Debord (2003), S. 148f., an Phil Travers, 24.6.1966).
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Wuerich, der von Pinot-Gallizio gleich zu Beginn zum Mitglied der italienischen Sektion erklärt wurde, der aber »n’a jamais rien fait. Il n’était là que pour faire nombre.«204 Ähnliches gilt für Giors Melanotte, der als Sohn von Pinot-Gallizio mehr oder weniger ›automatisch‹ ebenfalls als Mitglied der italienischen Sektion geführt wurde. Des Weiteren sind dies, neben dem bereits erwähnten Ivan Chtcheglov, noch Mohamed Dahou, André Frankin, Abdelhafid Khatib und Alexander Trocchi. Sie alle waren zuvor Mitglieder der in der S.I. aufgehenden L.I. und wurden daher einfach in den Mitgliederbestand der neu entstandenen Gruppe übernommen. Das gleiche gilt für Walter Korun als Mitglied des M.I.B.I. Zudem sind als interessante Fälle Robert Chasse und Tony Verlaan zu nennen, bei denen zwar der offizielle Beitritt im Dezember 1967 erfolgt,205 dann aber nochmals eine ungefähr einjährige Phase der Kontaktintensivierung, des inhaltlichen Austauschs und der Verhandlungen zu Details der theoretischen Positionen folgt, die sich in intensiver Korrespondenz, aber auch in der Entsendung von Vaneigem als Kontaktperson in die USA äußert. Nach dieser Phase wird der Beitritt bzw. die Zugehörigkeit zur S.I. im November 1968 nochmals bestätigt - so als hätte es den Beitritt im Dezember 1967 nicht gegeben.206 Ähnlich langwierig war der Beitrittsprozess bei Anton Hartstein, bei dem zwischen der ersten Kontaktaufnahme mit der S.I. und seinem Beitritt im Januar 1966 ebenfalls ca. ein Jahr vergeht.207 Allerdings findet hier kein direkter Austausch statt, vielmehr wird unter den Mitgliedern der S.I. über Hartsteins Beitritt verhandelt, werden ihm probeweise Aufgaben übertragen, wird er genau auf seine Fähigkeiten ›getestet‹. Dies ist umso bemerkenswerter, als er trotz dieser intensiven Prüfung bereits nach sieben Monaten wieder aus der Gruppe ausgeschlossen wird. Bei Constant, der häufig als Gründungsmitglied geführt wird, aber der S.I. faktisch erst im Juni 1958 beigetreten ist, ist diese vor allem auf der Dreierbeziehung Constant-Debord-Jorn basierende Annäherungsphase nicht als ›Prüfung‹, sondern vielmehr als Werben um Constant aufzufassen. Dieser hatte bereits vor der Gründung der S.I. sein prinzipielles Interesse an einer Zusammenarbeit bekundet, hatte aber lange Zeit Bedenken gegenüber einem formellen Beitritt. Auch bei Jørgen Nash ist vor seinem Beitritt im September 1960 eine ungefähr eineinhalb jährige Phase der Annäherung an die S.I. erkennbar. Diese hatte allerdings nicht den Charakter einer ›Prüfung‹ oder des ›Werbens‹, vielmehr wurde Nash von seinem Bruder und S.I.-Mitglied Asger Jorn an die Gruppe herangeführt. 204 | Gallizio (2004), S. 34. Gerade in der Anfangsphase der S.I. tauchen Personen auf der Mitgliederliste auf, die keinen aktiven Beitrag geleistet und somit die Mitgliedschaftskriterien nicht erfüllt haben. Ihre Mitgliedschaft lässt sich daher nur aus der Außenwirkung einer größeren Mitgliederzahl erklären bzw. rechtfertigen, die gerade in der Konstituierungsphase für eine Gruppe von zentraler Bedeutung ist. 205 | Vgl. Debord (2003), S. 197 und S. 241f. 206 | Vgl. Situationistische Internationale (1968a). 207 | Vgl. Debord (2003), S. 53ff.
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Hier spielt also bei der Anbahnung der Mitgliedschaft auch der Aspekt der Verwandtschaft eine Rolle. Blickt man auf das Ende der Mitgliedschaft, so sind hier u.a. die Mitglieder der skandinavischen Sektion, also Ansgar Elde, Steffan Larsson, Katja Lindell, Jørgen Nash und Hardy Strid zu nennen. Hier ist zwar nicht das Datum unklar oder umstritten (März 1962), dafür aber die Frage, ob es sich dabei um einen Ausschluss oder um eine Abspaltung handelte. Hier geht es darum, wer die Entscheidung zur Beendigung der Zusammenarbeit getroffen hat - die ausscheidenden Personen oder die verbleibende Restgruppe der S.I. Ähnliches gilt für François de Beaulieu und Patrick Cheval: Bei ihnen ist nicht ganz klar, ob es sich um einen Austritt oder einen Ausschluss handelt, die Formulierung »mußten demissionieren«208 bleibt hier zunächst zweideutig. Eine vergleichbare Situation, allerdings zusätzlich mit einem unklaren Datum, findet man z.B. bei Rudi Renson, über den im Juli 1966 verkündet wurde, »dass dieser schon seit langer Zeit zurückgetreten war, weil er mehr als ein ganzes Jahr untätig gewesen war.«209 Auch hier bleibt die Frage Austritt oder Ausschluss zunächst in der Schwebe. Eine weitere hoch interessante Figur ist Asger Jorn, auch wenn bei ihm unumstritten ist, dass er im April 1961 seinen Rücktritt eingereicht hat. Kurz nach Jorns Austritt jedoch taucht George Keller auf, der auch offiziell als Mitglied vorgestellt wird und der, wenn auch nicht persönlich, so doch durch schriftlich eingereichte Diskussionsbeiträge, an Konferenzen teilnimmt und in Artikeln in der I.S. namentlich genannt wird.210 Keller ist so etwas wie ein inoffiziell-offizielles Geheimmitglied und niemand anderes als Asger Jorn selbst, der sich unter neuem Namen weiterhin in der S.I. engagiert. Weitere ›strukturell‹ interessante Mitglieder lassen sich beim Blick auf die Dauer der Mitgliedschaft ausmachen.211 Am einen Ende der Skala fallen hier zunächst diejenigen Mitglieder auf, die der S.I., verglichen mit der durchschnittlichen Mitgliedschaftsdauer von 35 Monaten, nur extrem kurz angehören. Zu nennen sind hier neben dem bereits erwähnten Anton Hartstein mit Walter Olmo, Piero Simondo und Elena Verrone drei Mitglieder der italienischen Sektion, die alle bereits nach sieben Monaten wieder ausgeschlossen wurden. Auch Ralph Rumney und Hardy Strid gehören der S.I. weniger als ein Jahr an. Demgegenüber ist die große Mehrheit von 55 Personen ein bis vier Jahre beteiligt, lediglich bei sieben Personen erreicht die Mitgliedschaft eine Dauer von vier bis elf Jahren. Daneben gibt es mit Guy Debord und Ivan Chtcheglov überhaupt nur zwei Mitglieder, die der S.I. über die gesamte Dauer ihrer Existenz angehören. Dass Guy Debord auch jenseits dieser Dauermitgliedschaft zu den zentralen Figuren der Gruppe gehört, muss hier nicht nochmal gesondert hervorgehoben werden. Bei der Figur des Ivan Chtcheglov 208 | Situationistische Internationale (1972), S. 107. 209 | Situationistische Internationale (1967c), S. 306. 210 | Situationistische Internationale (1962a), S. 283. 211 | Vgl. hierzu die Abbildungen A.4. und A.5. im Online-Anhang A.
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hingegen ist diese Dauermitgliedschaft gerade vor dem Hintergrund seines Sonderstatus als ›membre de loin‹ durchaus interessant. Chtcheglov ist dabei als zugleich passive - in der geschlossenen Psychiatrie befindliche - und doch sehr präsente Figur sicherlich das schillerndste Mitglied der gesamten Gruppe, nicht zuletzt, da seine Mitgliedschaft ohne die ihn mit Debord verbindende beinahe schon mystische Freundschaft kaum zu erklären ist.212 Diese Sonderstellung von Chtcheglov macht zudem deutlich, dass es wohl kaum einen direkten Zusammenhang zwischen der Mitgliedschaftsdauer und der Mitgliederaktivität213 gibt, dass also die bloße Bereitschaft zur Mitarbeit an Konferenzen und Publikationen alleine nicht ausreicht, sondern dass für Erstere zusätzlich andere Faktoren, wie die jeweiligen theoretischen Positionen der Beteiligten, aber auch die Art und Intensität der sie miteinander verbindenden interpersonellen Beziehungen mit berücksichtigt werden müssen. Dies kann an weiteren Beispielen verdeutlicht werden: Asger Jorn war neben Debord das sicherlich wichtigste und aktivste Mitglied der Gruppe, gehörte ihr jedoch ›nur‹ knapp vier Jahre an. Ähnliches gilt auch für Constant und Giuseppe Pinot-Gallizio, die beide ebenfalls grundlegende Beiträge zur Theorieproduktion leisteten, aber nur knapp drei Jahre Mitglied waren. Umgekehrt ist Jeppesen Victor Martin zwar über 10 Jahre Mitglied der S.I., sein inhaltlicher Beitrag ist jedoch sehr überschaubar. Gleiches gilt für Uwe Lausen und seine immerhin sechsjährige Mitgliedschaft.
Strategien der Ein- und Auswechslung Eine weitere Überlegung soll mit den Daten zum Beginn und Ende der Mitgliedschaften noch angestellt werden. Ordnet man die gesammelten Informationen nicht mehr, wie oben geschehen, nach den Mitgliedern an, sondern sortiert sie chronologisch, so erhält man eine Tabelle, die einen ersten Einblick in ein Phänomen liefert, das hier vorläufig als Strategien der Ein- und Auswechslung bezeichnet werden soll.214 Dabei können erstens verschiedene Eintritte oder Austritte bzw. Ausschlüsse jeweils untereinander zusammenhängen. Zum einen als eine Art Versuch, zwischen den Fraktionen innerhalb der S.I. ein auch zahlenmäßiges Gleichgewicht aufrechtzuerhalten: so zum Beispiel, wenn kurz nach der Verstärkung der architektur-orientierten Fraktion durch den Eintritt von Armando, Anton Alberts und Har Oudejans im Januar 1959 bereits im April 1959 auch die malerei-orientierte Seite durch den Beitritt der Gruppe SPUR Zuwachs bekommt. Oder umgekehrt, wenn nach dem Ausschluss der genannten drei Architekten im März 1960 schon im Mai 1960 mit Giors Melanotte, Giuseppe Pinot-Gallizio und Glauco Wuerich drei eher dem Bereich der Malerei zuzuordnende Mitglieder aus der 212 | Vgl. Apostolidès (2006). 213 | Vgl. hierzu die Tabelle B.2. im Online-Anhang B. 214 | Vgl. hierzu die Tabelle B.3. im Online-Anhang B.
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Gruppe weichen müssen. Hier dominieren somit inhaltlich-strategische Überlegungen mit Blick auf die Auswahl oder den Ausschluss von Mitgliedern. Zum anderen ist gerade bei den Austritten und Ausschlüssen das Phänomen der Solidarisierung mit Ausgeschlossenen zu erkennen: Sei es, dass Édith Frey sich nach dem Ausschluss von Theo Frey, Jean Garnault und Herbert Holl im Januar 1967 mit diesen solidarisch erklärt und daher aus der S.I. austritt oder dass ein Mitglied, wie im Falle von Jan Strijbosch, der die Rückkehr von Rudi Renson forderte, aufgrund seiner Solidarisierung mit einem ehemaligen Mitglied ausgeschlossen wird. Aber auch bei den Eintritten ist, gerade in der Anfangsphase, zu erkennen, dass hier in einigen Fällen die vorher bereits bestehenden interpersonellen Beziehungen, die theoretischen Übereinstimmungen ergänzend oder sogar ersetzend, eine Rolle spielen. Man bringt einen Freund in die Gruppe mit, wie das z.B. bei Glauco Wuerich, einem Bekannten von Giors Melanotte, der Fall gewesen ist.215 Einen noch genauer zu untersuchenden Sonderfall dieser manchmal problematisch werdenden Verbindung zwischen dem Gefühl der Gruppenzugehörigkeit und den interpersonellen Beziehungen bilden die in der S.I. zu beobachtenden Partnerschaften z.B. zwischen Michèle Bernstein und Guy Debord oder zwischen Jacqueline de Jong und Asger Jorn. Gerade weil es bei der S.I. nicht möglich ist, klare Phasen des Eintritts von denen des Austritts/Ausschlusses abzugrenzen, sondern diese beiden Phänomene stets im Wechsel bzw. zeitgleich erfolgen, ist zu vermuten, dass auch Eintritte und Austritte/Ausschlüsse miteinander verwoben sein können und nicht unabhängig voneinander sind. Während dies bei den Zusammenhängen innerhalb von Eintritten und Austritten vor allem aus der strategischen Frage nach dem Gleichgewicht zwischen verschiedenen Fraktionen zu erklären war, so lassen sich die Verbindungen zwischen Eintritten und Austritten/Ausschlüssen primär aus strategischen Überlegungen innerhalb einer Fraktion erklären. Scheidet ein wichtiger Mitstreiter aus oder wird ausgeschlossen, so muss möglichst schnell nach Ersatz gesucht werden. Eine solche Vorgehensweise ist beim Eintritt von de Jong im Juli 1960 zu erkennen, die nach dem Ausschluss bzw. Austritt aller bisherigen Mitglieder aus Holland für das Fortbestehen einer holländischen Sektion sorgen soll und die zugleich, nach dem Ausschluss von Pinot-Gallizio, aufgrund ihrer Kontakte zur Kunstszene von Bedeutung ist. Sowohl auf der strategischen als auch auf der Ebene der interpersonellen Beziehungen kann der Eintritt von Raoul Vaneigem im November 1960, der in der Folgezeit eng mit Debord verbunden ist und neben ihm zum wichtigsten Theoretiker in der S.I. avanciert, als vorauseilende Reaktion Debords auf den sich ankündigenden Rückzug von Jorn gelesen werden. Auch beim Eintritt Constants ist ein Zusammenhang mit dem zuvor zu verzeichnenden Ausschluss von Ralph Rumney zu vermuten. Constant hat ja bereits lange mit der 215 | Vgl. Gallizio (2004), S. 34.
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S.I. in Kontakt gestanden und mit ihr zusammengearbeitet. Nun aber, da durch den Ausschluss Rumneys das gesamte Feld des unitären Urbanismus und der Psychogeographie brach liegt, wird sein Beitritt aus Sicht der S.I. umso dringender. Aus der Perspektive von Constant selbst dürfte auch die zuvor erfolgte Schwächung der malerei-orientierten italienischen Sektion die Beitrittsentscheidung begünstigt haben, da dies die Bedeutung der Architektur gegenüber der Malerei in der S.I. nur stärken konnte. In einigen Fällen lassen sich die Zusammenhänge zwischen Ein- und Austritten/Ausschlüssen auch aus Rivalitäten zwischen verschiedenen Lagern erklären: Zu denken ist hier an die Situation, dass Jorn im Februar 1959 auf den Ausschluss von Platschek drängt. Mit diesem Verschwinden der bisherigen deutschen Sektion ist der Weg frei für den Beitritt der von Jorn protegierten Gruppe SPUR als neuer deutscher Sektion im April 1959.216
3.2.2 Entwicklung der organisatorischen Strukturen
Die Sektionen Neben der Mitgliederstruktur ist auch die Organisationsstruktur der S.I. und ihr Wandel von Interesse. Die insgesamt 70 Mitglieder waren zwischen 1957 und 1972 - abgesehen von einer Phase zwischen November 1962 und Dezember 1968, in der sich die S.I. in fünf Regionen gliederte217 -, in neun nationale Sektionen eingeteilt, die über die Zeit verteilt zwischen zwei und 16 Mitglieder hatten.218 Diese Einteilung orientierte sich weitgehend, wenn auch nicht grundsätzlich an der Herkunft der 216 | Vgl. Ohrt (1997), S. 199. 217 | Davon waren jedoch nur vier existent. Vorgesehen war folgende Zusammenfassung der bisherigen Sektionen in Regionen: Region Nordeuropa (Skandinavien und Island), Region Zentraleuropa (Deutschland und Schweiz), atlantische Region (britische Inseln und USA), Region Westeuropa (Frankreich, Benelux, Italien, iberische Halbinsel) sowie Region Afrika und Asien (vgl. Situationistische Internationale (1963g), S. 80f.). Die regionale Einteilung orientiert sich somit eng an derjenigen nach Sektionen: Die Region Nordeuropa entspricht mit ihren zwei Mitgliedern Peter Laugesen und Jeppesen Victor Martin exakt der skandinavischen Sektion, Gleiches gilt aus Ermangelung an Mitgliedern in der Schweiz und Österreich auch für die Region Zentraleuropa, die von Uwe Lausen als einzigem deutschen Mitglied gebildet wird. Die atlantische Region entspricht weitgehend der englischen Sektion, erst ab Ende 1967 beginnt sie sich langsam um einige Amerikaner zu erweitern. Der wichtigste Unterschied besteht in der Zusammenfassung der französischen und der italienischen Sektion mit denjenigen in den Benelux-Ländern. Aber auch diese relativiert sich wieder, wenn man berücksichtigt, dass die S.I. während dieser Phase in Italien kein einziges und in den Benelux-Ländern mit Attila Kotányi, Rudi Renson, Jan Strijbosch und Raoul Vaneigem lediglich vier Mitglieder hatte. Die Region Westeuropa entspricht somit weitgehend der französischen Sektion. Aufgrund der beinahe vollständigen faktischen Übereinstimmung zwischen Sektionen und Regionen werden die Mitglieder der S.I. sowohl in den Dokumenten der Gruppe selbst als auch in den Sekundärtexten sowie in der vorliegenden Arbeit auch für die Zeit der regionalen Einteilung weiterhin ihrer ursprünglichen Sektion zugeordnet. 218 | Vgl. hierzu die Abbildung A.6. im Online-Anhang A.
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Mitglieder. Zudem gab es vier Personen, die keiner Sektion zugeordnet waren und alleine sogenannte ›Außensektionen‹ bildeten.219 Mit Blick auf die oben erwähnten 21 Austritte und 45 Ausschlüsse sind deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Sektionen zu erkennen. Während bei der französischen 60 Prozent der Mitglieder ausgetreten sind und nur 40 Prozent ausgeschlossen wurden, so wurde die skandinavische - und mit je einer Ausnahme auch die deutsche und die italienische Sektion - nach und nach vollständig ausgeschlossen.220 Die italienische Sektion bildet dabei einen interessanten Sonderfall, da es sich hier eigentlich um zwei verschiedene, mit zeitlichem Abstand aufeinander folgende Sektionen handelt. Eine erste von Juli 1957 bis Mai 1960 bestand aus Melanotte, Olmo, Pinot-Gallizio, Rumney, Simondo, Verrone und Wuerich und eine zweite von Januar 1969 bis April 1972 setzte sich aus Pavan, Rothe, Salvadori und Sanguinetti zusammen. Auch bezüglich der Mitgliedschaftsdauer, die für die gesamte S.I. im Mittel bei 35 Monaten liegt, sind deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Sektionen zu erkennen.221 Während die Mitglieder der englischen Sektion im Durchschnitt nur 14 Monate Mitglied der S.I. waren, bringen es die belgischen Mitglieder auf durchschnittlich immerhin 51 Monate. Die auffällig lange Mitgliedschaftsdauer der Mitglieder ohne Sektion und die damit vielleicht aufkommende These, dass eine Mitgliedschaft in der S.I. ohne die Zwänge der Zugehörigkeit zur Binneneinheit der Sektion weniger von Problemen gekennzeichnet und daher von längerer Dauer ist, muss hier relativiert werden. Da es nur vier solcher sektionsloser Mitglieder gibt, fällt die extrem lange Mitgliedschaft von Ivan Chtcheglov hier stark ins Gewicht. Diese sollte jedoch aufgrund seines Sonderstatus als ›membre de loin‹ nicht mit in die Zahlenspiele einfließen. Lässt man Chtcheglov daher außen vor, ergibt sich für die sektionslosen Mitglieder eine Mitgliedschaftsdauer von weniger auffälligen 51 Monaten. Betrachtet man als Letztes noch die ›Aktivität‹ der Mitglieder - im Sinne der Teilnahme an Konferenzen und der Mitarbeit an den Publikationen der S.I. -, so ergeben sich auch hier recht deutliche Abstufungen zwischen den verschiedenen Sektionen.222 Verglichen mit den Werten für die gesamte S.I. von 13 Prozent passiven, 46 Prozent mäßig aktiven und 41 Prozent sehr aktiven Mitgliedern sind hierbei unter den Sektionen die algerische und französische am aktivsten, während die englische hier das Schlusslicht bildet, da die Hälfte ihrer Mitglieder weder an Konferenzen teilnimmt, noch an Publikationen mitarbeitet. Allerdings sind diese Aussagen zur Mitgliederaktivität als sehr vorläufig anzusehen, da es neben diesen beiden Formen der Beteiligung auch noch andere, weniger klar auszumachende Wege gibt, einen Beitrag zur S.I. zu leisten. 219 | Vgl. hierzu die Tabelle B.4. im Online-Anhang B. 220 | Vgl. hierzu die Abbildung A.7. im Online-Anhang A. 221 | Vgl. hierzu die Abbildung A.8. im Online-Anhang A. 222 | Vgl. hierzu die Abbildung A.9. im Online-Anhang A.
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Daher erscheint es zunächst wenig sinnvoll, allein auf dieser Basis nach einem eindeutigen Zusammenhang zwischen der Aktivität der Mitglieder223 und ihrer Mitgliedschaftsdauer oder der Frage von Austritt oder Ausschluss zu suchen. Auch wenn bis auf Renson alle Personen der Kategorie der ›passiven Mitglieder‹ ausgeschlossen wurden, so verliert sich dieser Zusammenhang in den zwei anderen Kategorien sehr schnell und erweist sich als zu vereinfachend.224 Vielmehr müssen neben weiteren Formen von Aktivität in der S.I. auch noch die interpersonellen Beziehungen zwischen den Beteiligten herangezogen werden, um auf dieser Basis und für den konkreten Einzelfall nach einem möglichen Zusammenhang zwischen der Bereitschaft zur Mitarbeit und der Dauer bzw. dem Ende der Mitgliedschaft zu fragen.
Die Konferenzen Ein zentraler Bestandteil der Organisationsstruktur der S.I. waren ihre mehr oder weniger regelmäßig in verschiedenen Städten zusammenkommenden Konferenzen. Zwischen Juli 1957 und Januar 1970 fanden insgesamt neun solcher Treffen statt. Teilnahmeberechtigt waren alle Mitglieder der Gruppe, die Konferenz hat daher von der Idee her den Charakter einer Vollversammlung. Aufgrund der weiten geographischen Zerstreuung der Mitglieder und der damit zusammenhängenden Organisationsschwierigkeiten nahmen jedoch nie wirklich alle an den Konferenzen teil, doch auch dieses Problem wurde berücksichtigt. »Jedes Jahr soll die S.I.-Konferenz, die weiterhin als höchste Autorität der Bewegung fungiert, alle Situationisten versammeln und in dem Masse, wie das praktisch nicht durchzuführen ist, wurde beschlossen, dass die Abwesenden nach Möglichkeit der Konferenz ein genaues, schriftliches Mandat übermitteln sollen oder aber einen anderen Situationisten namentlich damit beauftragen, sie zu vertreten.«225
Dennoch fällt der insgesamt - mit über drei Vierteln - sehr große Anteil der Mitglieder, die sich an diesen Konferenzen beteiligten, auf und verdeutlicht, dass auch oder gerade eine so weitverzweigte und internationale Gruppe zur Ausbildung und Aufrechterhaltung ihrer Gruppenidentität nicht ganz ohne face-to-face Kontakt auskommt. Vergleicht man die Zusammensetzung der Teilnehmer der neun Konferenzen mit den zum jeweiligen Zeitpunkt der S.I. angehörigen Personen, so kann man feststellen, dass diese Treffen, wenn sie auch keine wirkliche Vollversammlung waren, wenigstens die Sektionen weitgehend angemessen repräsentierten.226 So lässt sich feststellen, dass 223 | Vgl. hierzu nochmals die Tabelle B.2. im Online-Anhang B. 224 | Vgl. hierzu die Abbildung A.10. im Online-Anhang A. 225 | Situationistische Internationale (1960i), S. 175. 226 | Vgl. hierzu die Tabelle B.5. im Online-Anhang B.
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bei der zweiten Konferenz zwar die belgische und die deutsche Sektion nicht vertreten waren, diese aber damals auch nur je ein Mitglied hatten; dass bei der dritten und vierten Konferenz die algerischen Mitglieder nicht präsent waren; dass aber von der fünften bis einschließlich der achten Konferenz alle Sektionen mit mindestens einem Mitglied vertreten waren, während bei der neunten wiederum die belgische Sektion mit ihrem einzigen Mitglied Vaneigem nicht vor Ort war. Die feststellbaren Lücken in der Liste der Konferenzteilnehmer bzw. ihre mit Blick auf die vollständige Mitgliederliste nicht ganz repräsentative Zusammensetzung lassen sich zum großen Teil auf geographisch-organisatorische Schwierigkeiten zurückführen, da sich stets eine Überrepräsentation derjenigen Sektion(en) ausmachen lässt, in deren Land oder in deren Nähe die jeweilige Konferenz stattfand. Umso notwendiger erscheint der turnusmäßige Wechsel des Veranstaltungsorts. Der Versuch, die Konferenz als möglichst repräsentatives Gremium der S.I. zu etablieren, ist gerade vor dem Hintergrund der egalitären und demokratischen Ansprüche der Gruppe von zentraler Bedeutung. Bezüglich ihres egalitären und demokratischen Charakters betont die S.I., dass sie »nur eine Verschwörung von Gleichen sein [kann], ein Stab, der keine Truppen haben will. [...] Unbestreitbar mussten diejenigen unter uns, die eine Starrolle spielen oder auf Stars bauen wollten, zurückgewiesen werden.«227 Sie versteht sich als »association internationale d’individus égaux dans tous les aspects de sa gestion démocratique«228 . Diese »démocratie totale«229 versucht die S.I. dadurch zu verdeutlichen, dass immer wieder hervorgehoben wird, dass die Entscheidungen der Konferenz - egal ob inhaltliche oder personelle - per Mehrheitsbeschluss gefällt worden sind: So heißt es zum Beispiel im Zusammenhang mit dem Ausschluss der skandinavischen Sektion: »Die S.I.-Mehrheit hat ausdrücklich demokratische Regeln befolgt.«230 Diese Forderungen sind umso wichtiger, als die Konferenz im Laufe der Entwicklung der S.I. gegenüber den einzelnen Sektionen immer mehr an Einfluss gewann. Zwischen Juli 1957 und September 1960 konnten die Sektionen zunächst weitgehend eigenständig agieren, inhaltliche Abweichungen oder Meinungsverschiedenheiten bezüglich einzelner Aspekte oder Themen wurden toleriert, solange sie nicht grundlegend gegen den Rahmen des nach und nach ausgearbeiteten situationistischen ›Programms‹ verstießen. Vor allem aber konnten die Sektionen während dieser Phase selbst über Eintritte und Ausschlüsse entscheiden. Dieses weitgehend autonome Agieren der Sektionen führte jedoch schnell dazu, dass diese teilweise recht unterschiedliche Vorstellungen von der theoretischen Ausgestaltung und der praktischen Umsetzung des gemeinsamen situationistischen Projekts entwickelten. 227 | Situationistische Internationale (1963e), S. 35. 228 | Situationistische Internationale (1969g), S. 281. 229 | Situationistische Internationale (1967b), S. 305. 230 | Situationistische Internationale (1963e), S. 34.
Theorie und Gruppenstruktur der S.I. | 177 »In einer ersten Periode sind unsere verschiedenen nationalen Gruppen tatsächlich auf der Basis einer sehr allgemeinen Übereinstimmung vollständig autonom gewesen, nicht nur in der Praxis, sondern auch in den Auffassungen selbst über das, was die S.I. werden konnte, obwohl sie sich mit den vorhandenen Richtungen nicht gedeckt haben.«231
Das Auseinanderdriften der autonomen Sektionen lässt sich jedoch nicht nur aus der Entwicklung unterschiedlicher theoretischer Positionen erklären, auch der Aspekt der Gruppenidentität spielt hierbei eine wichtige Rolle. Denn bei dieser ist bei der S.I. nochmals zwischen dem Wir-Gefühl der Gesamtgruppe und demjenigen der Sektionen zu unterscheiden, die gerade auf den Konferenzen aufeinander prallen. Da die Mitglieder der einzelnen Sektionen zueinander in wesentlich engerem und vor allem regelmäßigeren face-to-face Kontakt standen, konnte sich hier ein viel intensiveres Zusammengehörigkeitsgefühl entwickeln, als mit Blick auf die Gesamtgruppe, die nur ca. einmal im Jahr bei ihren Konferenzen ein solches reales Gemeinschaftsgefühl ›anbieten‹ konnte. Während also die Sektionen für ihre Mitglieder ein präsentes Umfeld sind, in dem die Gruppenmitglieder regelmäßig und häufig interagieren und so die Gruppenidentität stets aktualisieren und intensivieren, ist die S.I. als Ganze aus Sicht der einzelnen Mitglieder eher ein latentes Konstrukt, das zu bestimmten Anlässen in eine kurze Phase der Präsenz auftaucht. Und in dieser kurzen Präsenzphase gilt es dann die zuvor ausgebildeten und bereits verfestigten Teilgruppenidentitäten im Sinne der Kohärenz des Gesamtprojekts wieder zusammenzuführen. Diese unterschiedlich ausgeprägten Gruppenidentitäten erklären sich jedoch nicht nur aus der Häufigkeit der Zusammenkünfte, sondern auch aus den im jeweiligen Rahmen zur Verfügung stehenden Kommunikationsmedien. Während innerhalb der Sektionen aufgrund der lokalen Zentrierung232 die face-to-face-Kommunikation überwiegt, ist der Austausch zwischen den Sektionen jenseits der Konferenzen meist auf den Briefverkehr beschränkt.233 Umso wichtiger sind in diesem Kontext für den Zusammenhalt der Gesamtgruppe und den regelmäßigeren Austausch zwischen den ver231 | Situationistische Internationale (1969a), S. 450. 232 | Eine solche lässt sich zumindest für die deutsche (München), italienische (Alba und später Mailand), holländische (Amsterdam) und über weite Zeitabschnitte auch die französische (Paris) Sektion ausmachen. Lediglich die Skandinavier waren über mehrere Orte verstreut, hatten aber mit Jørgen Nashs Landsitz ›Drakabygget‹ in Südschweden zeitweise einen zentralen Versammlungsort. 233 | Diese Notwendigkeit des postalischen Austauschs macht sich gerade bei Debord am intensiven Briefwechsel mit den Mitgliedern der S.I. bemerkbar (vgl. hierzu die Abbildung A.1. im Online-Anhang A). Debord thematisiert immer wieder die Probleme, die sich aus der postalischen Kommunikation ergeben können. Zentral sind hier Aspekte wie Verzögerungen, Missverständnisse, Funkstille wegen Abwesenheit, falsche Adressen und daraus folgend die grundsätzliche Schwierigkeit mittels Briefwechsel eine konstruktive theoretische oder organisationelle Debatte zu führen (vgl. Debord (1999), S. 151, S. 163; S. 181; S. 183 und S. 336).
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schiedenen Sektionen diejenigen interpersonellen Beziehungen bzw. Freundschaften, die die Sektionsgrenzen überschreiten und die Sektionen zwischen den Konferenzen verbinden. Zu denken ist hier an die beiden zentralen Schnittstellen oder Vermittlerfiguren Debord und Jorn, die zum einen selbst die Achse Frankreich-Skandinavien widerspiegeln und zum anderen in je unterschiedlichem Ausmaß und mit unterschiedlichen Schwerpunkten eng mit Constant, Pinot-Gallizio, der Gruppe SPUR und später mit Vaneigem, Khayati und Sanguinetti verbunden waren. Auf Basis einer Vielzahl von teilweise sehr engen dyadischen Beziehungen ergibt sich hier unterhalb der offiziellen Organisationsstruktur ein informelles Netz, dessen Eckpunkte in verschiedenen Teilgruppenidentitäten verankert sind. Die Herausbildung eines, wenn man so will, informellen, privaten und netzförmigen Gruppenkerns könnte, vielleicht eher noch als organisatorische Umstrukturierungen, zur Entstehung einer auf diesen Teilidentitäten aufbauenden Gesamtgruppenidentität beitragen.234 Diese Ausführungen zu den verschiedenen Gruppenidentitäten verdeutlichen die Notwendigkeit, in Bezug auf den oben eingeführten Begriff der Gruppenöffentlichkeit - als einer Zwischenebene zwischen Privatheit und Öffentlichkeit - bei der S.I. nochmals die zwei Ebenen der Sektion und der Gesamtgruppe zu unterscheiden. Diese beiden Formen der Gruppenöffentlichkeit unterscheiden sich durch die Zahl der an ihnen Beteiligten, durch die in ihnen vorherrschenden Kommunikationswege, durch die unterschiedlichen Gewichtungen der Phasen von Latenz und Präsenz bzw. durch die Häufigkeit ihrer Aktualisierung als face-to-face-Öffentlichkeit. Die Sektionsöffentlichkeit ist eine vergleichsweise präsentische und im face-to-face-Kontakt aktualisierte Öffentlichkeit mit einer geringen Zahl an Beteiligten. Die Gesamtgruppenöffentlichkeit ist die meiste Zeit eine latente, von schriftlichem Austausch zwischen einer größeren Zahl von Beteiligten geprägte Öffentlichkeit, die nur im Rahmen der Konferenzen einen mit der Sektionsöffentlichkeit vergleichbaren präsentischen Charakter annimmt. Insgesamt erhält man für die Innenperspektive der S.I. - anstatt der aus der Außenperspektive klaren Dichotomie von privat und öffentlich - eine vierfache Abstufung von der Privatheit der interpersonellen Beziehungen235 über die Sektionsöffentlichkeit - der je nach Größe der Sektion durchaus noch ein vergleichsweise privater Charakter zukommen kann - und Gesamtgruppenöffentlichkeit hin zur Öffentlichkeit. 234 | Im Juli 1970 schlägt Debord zur Lösung der internen Probleme eine dyadenbasierte, netzwerkartige Rekonstruktion der Gruppenstruktur vor und versucht so genau die der S.I. anfangs informell zugrunde liegende dyaden-basierte Netzwerkstruktur als offizielle Organisationsstruktur erneut einzuführen. Auch hier ist - bei gleich bleibender Grundstruktur - eine Formalisierung der Beziehungen in der Gruppe zu erkennen. 235 | Aus Sicht der dyadischen interpersonellen Beziehungen wäre ein Treffen mit den anderen Sektionsmitgliedern als Hinzutreten des Dritten, als Konfrontation der dyadischen Identität mit der der Sektion aufzufassen.
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Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund dieser Differenzen zwischen Sektionen und Gesamtgruppe wurde auf der fünften Konferenz im September 1960 sowohl die Stärkung der Befugnisse der Konferenz, als auch die Einführung eines Conseil Central beschlossen und diese Entscheidung auf der sechsten Konferenz im August 1961 nochmals bekräftigt. Von nun an fiel die Entscheidungsmacht bezüglich der Mitgliedschaftsfrage der Konferenz zu und wurde zwischen den Zusammenkünften auf den Conseil Central, dessen Mitglieder von den Konferenzteilnehmern gewählt wurden, übertragen. »Zwischen den Konferenzen verfügt jedoch der Zentralrat über das Recht, eine neue Sektion zur S.I. zuzulassen, und er darf in diesem Fall einen Delegierten dieser Sektion auffordern, Mitglied des Rates zu werden.«236 Dadurch jedoch wurde die auf der Autonomie der nationalen Sektionen basierende föderative Struktur der Gruppe aufgehoben. Diese Umstrukturierung der Entscheidungsmacht in Bezug auf die Mitgliedschaftsfrage war jedoch innerhalb der Gruppe nicht unumstritten und konnte erst nach langen Debatten beschlossen werden: »Prem schlägt dann vor, dass jede nationale Sektion in ihrem Land allein über die Anerkennung als Situationist entscheiden kann, nicht nur um die Absichten der Hinzukommenden abzuschätzen, sondern auch die Umstände und die Dauer der Beteiligung derer, die schon Mitglied in der S.I. sind. Gegen diesen Vorschlag wird von mehreren Seiten aus im Namen der Einheit und des Internationalismus der Situationisten protestiert. [...] Die Konferenz beschliesst, dass die gesamte S.I. für alle Länder entscheiden soll - wobei die Entscheidungskraft in der Zeit zwischen den Konferenzen dem Zentralrat zukommt - nach den Mitteilungen und begründeten Nachrichten, die ihr für die Aufnahme und mit noch besserem Grund für jede Uneinigkeit in einem einzelnen Land vorgelegt werden.«237
Alle grundlegenden Beschlüsse, sowohl in Bezug auf inhaltliche Fragen und Positionen als auch auf die Gruppenstruktur und die Mitgliedschaft, wurden jetzt also im Rahmen der Konferenzen gefasst, die dann für alle Sektionen bindend waren; hier wurden Neumitglieder präsentiert und Ausschlüsse und Austritte beschlossen und verkündet. Dabei galt bei den Konferenzen für alle Entscheidungen, gerade auch für die Ausschlüsse, das Mehrheitsprinzip. Nicht zuletzt diese wichtige Funktion der Konferenzen erklärt die rege Teilnahme der Mitglieder an selbigen, selbst wenn dies mit zum Teil gehörigem (Reise-)Aufwand verbunden war. Die Machtverlagerung von den Sektionen hin zur Konferenz wird spätestens auf der sechsten Konferenz im November 1962 deutlich, auf der die nationalen Sektionen vollständig abgeschafft und durch die schon erwähnte regionale Einteilung ersetzt werden. »Die Konferenz hat beschlossen, die S.I. zu reorganisieren, sie wird als ein einziges, vereinigtes Zentrum betrachtet, wobei die Teilungen in nationale Sektionen 236 | Situationistische Internationale (1960i), S. 175. 237 | Situationistische Internationale (1962a), S. 277f.
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abgeschafft werden. Das Zentrum wird nicht mehr aus Delegierten lokaler Gruppen bestehen. [...] Die praktische S.I.-Arbeit ist in Regionen aufgeteilt worden.«238 Ab der siebten Konferenz im Juli 1966 wird die Machtkonzentration bei Konferenz und Conseil Central schrittweise wieder abgeschwächt: Zunächst wird die Auflösung des Conseil Central beschlossen. Ende 1968/Anfang 1969 erlangen die nationalen Sektionen vor dem Hintergrund der Sektions-Neugründungen in Italien und den USA dann ihre anfängliche Autonomie zurück.239 »Unsere Absicht war es natürlich, von der durch diese kohärente Gruppe erreichten Basis auszugehen, um erneut nationale Sektionen zu bilden, die eine wirkliche autonome Tätigkeit gehabt hätten. Der erste Ansatz brach in England in genau dem Augenblick zusammen, in dem er als Gruppe zu existieren beginnen sollte. [...] Erst 1968/69 war die S.I. wieder aus nationalen Sektionen zusammengesetzt.«240
Ab diesem Moment kommt die S.I. jedoch nur noch zu zwei Konferenzen zusammen, im September/Oktober 1969 und im Januar 1970, wobei die sinkende Teilnehmerzahl bei der letzten Konferenz und die erstmalige Nicht-Teilnahme Guy Debords bereits von der zunehmenden Zersplitterung241 der Gruppe und ihrem nahenden Ende zeugt. Vor allem aber markieren gerade die auf der Konferenz in Venedig verabschiedeten Statuts provisoires de l’I.S.242 sowie die Berichte von der Konferenz in Wolsfeld und Trier243 den Schlusspunkt der organisatorischen Entwicklung der S.I. Denn neben der Bewegung von den autonomen Sektionen hin zu einer starken Zentralisierung und wieder zurück ist bei der S.I. insgesamt vor allem ein deutlicher Prozess der Institutionalisierung und Formalisierung zu erkennen. Waren in den Anfangsjahren kaum offizielle Organisationsstrukturen oder Regelungen bezüglich des Ein- und Austritts ausformuliert bzw. schriftlich festgelegt, sondern hatten sich diese vielmehr aus der Praxis ergeben oder als Praxis etabliert, so wurden sie im Laufe der Jahre immer mehr zum Gegenstand der internen Debatten und erhielten eine immer formalisiertere, wenn auch weiterhin veränderbare Form. Gerade die statuts 238 | Situationistische Internationale (1963g), S. 80f. 239 | Vgl. hierzu die Ausführungen von Marelli (Marelli (1998), S. 357f.) sowie die auf der Konferenz von Venedig im September 1969 verabschiedeten Statuts provisoires de l’I.S. (Situationistische Internationale (1969g)). 240 | Situationistische Internationale (1969a), S. 451. 241 | Diese ist auch an der Ausbildung von Tendenzen - sei es innerhalb der einzelnen Sektionen oder auch querliegend zu diesen - erkennbar. Die Idee der Bildung von ›tendances‹ wurde von Debord bereits im April 1968 vorgebracht (vgl. Debord (1968), S. 462), war ab Anfang 1969 auch offiziell zulässig (vgl. Debord (2004a), S. 35), wurde jedoch erst ab dem Frühjahr 1970 umgesetzt (vgl. Richier (1995), S. 109ff.). 242 | Situationistische Internationale (1969g). 243 | Martin, Jeppesen Victor/Claudio Pavan/René Riesel/Tony Verlaan (1970b).
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provisoires erinnern stark an eine Vereinssatzung oder das Organisationsmodell einer Partei und ihrer Ortsverbände. Auch wenn sich dieser Versuch, die Gruppe zu formalisieren und für die Mitglieder mit Hilfe klarer Verfahrensregeln und Zuständigkeiten Erwartbarkeit zu erzeugen, sicherlich aus der vorangegangenen jahrelangen Erfahrung von evtl. unüberlegten Eintritten erklären lässt, die dann wiederum Austritte und Ausschlüsse zur Folge hatten, so ist doch festzustellen, dass dies die Handlungsfähigkeit der S.I. mitnichten erhöht, es führt vielmehr zur vollkommenen Erstarrung der Gruppe. Nicht zuletzt, da diese Formalisierungen zur Folge hatten, dass innerhalb der Gruppe immer mehr Energie und Zeit von der eigentlichen inhaltlich-theoretischen Arbeit auf die Diskussion und Ausarbeitung der eigenen Organisationsstruktur abgezogen werden muss. Die S.I. wird sich selbst mehr und mehr zum wichtigsten Thema. Aus dem verhältnismäßig informellen Rahmen der S.I. der Anfangsjahre als dem relativ ungeregelten und daher teilweise turbulenten, aber auch produktiven Aufeinandertreffen von durch interpersonelle Beziehungen verbundenen Individuen wird eine feste und starre Organisation, die mehr und mehr damit beschäftigt ist, sich selbst zu verwalten. Dies verdeutlicht den Zusammenhang zwischen den Organisationsstrukturen und den interpersonellen Beziehungen der Mitglieder: In dem Moment, in dem die für Debord und die französische Sektion wichtigen Knotenpunkte bzw. Verbindungs- und Vermittlungspersonen wie Jorn, Pinot-Gallizio und Constant verschwinden, driften die einzelnen Sektionen nicht nur theoretisch weiter auseinander, sondern werden auch die Auseinandersetzungen härter und führen ohne den Kitt der Freundschaft sehr schnell zum dann endgültigen Bruch. Um dieses Auseinanderdriften aufgrund der wegfallenden informellen Kommunikationswege abzumildern, wird wenig später der Conseil Central eingerichtet. Das heißt aber, dass die Aufgabe der Vermittlung und der Herstellung von Kontakten zwischen den Teilgruppen, die anfangs informell über persönliche Beziehungen geregelt wurde, nun einem formellen Organ wie dem Conseil Central übergeben werden muss. Diese Verlagerung der Vermittlerfunktion von Personen/Beziehungen zum Conseil Central ist dabei nicht nur als Formalisierung der Gruppe zu sehen. Gleichzeitig ist hierbei eine Verschiebung von egalitären, aber vom Geheimnis der Freundschaft geprägten Strukturen hin zu weniger egalitären, dafür aber transparenteren Strukturen erkennbar. Beim Versuch, die egalitären und anti-hierarchischen Ansätze, aber auch die Kritik der Trennung, der Bürokratisierung und der Rationalisierung des Alltagslebens innerhalb der eigenen Gruppe umzusetzen, kommt die S.I. nicht umhin, sich eben dieser klassischen bürokratischen Organisationsmodelle zu bedienen und verliert dabei viel von den in ihrer Theorie eben so zentralen Elementen des Spontanen, des Spielerischen und des Beweglichen aus dem Blick. Vergessen scheinen Grundannahmen aus der Anfangsphase der Gruppierung: Aussagen wie
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»Unsere Situationen werden ohne Zukunft, sie werden Durchgangsorte sein«244 , »Gegen die konservative Kunst ist sie eine Organisation des erlebten Augenblicks - ganz direkt«245 oder »Der Situationist betrachtet seine Umgebung und sich selbst als formbar«246 lassen sich kaum mit der Starrheit und Zukunftsorientierung vereinbaren, die bei einer genauen Satzung impliziert sind. In den Worten des zentralen Ansatzes situationistischer Theorie ließe sich dieser Wandel so formulieren: aus der S.I. als konstruierter Situation wird die S.I. als konstruierte Situation. Dabei ist es besonders aufschlussreich, dass die in den Jahren 1957 bis 1961 zentralen Charaktere innerhalb der S.I. - also Constant, Debord, Jorn und Pinot-Gallizio - diejenigen waren, die einerseits in verschiedenen Konstellationen am engsten freundschaftlich miteinander verbunden waren und die andererseits die Vordenker der sich auf der inhaltlichen Ebene diametral gegenüberstehenden Fraktionen der S.I. waren: Constant vertrat die Architekten, Debord die Theoretiker, Jorn und Pinot-Gallizio die Maler. Die freundschaftliche Basis kann also den theoretischen Grundkonsens ergänzen, stabilisieren oder in gewissem Maße notfalls auch ersetzen, sie erhöht so die Dauer der produktiven Phase der Auseinandersetzung. Die vielfältige Vermittlungstätigkeit zwischen den Fraktionen, die in erster Linie von Jorn und Debord übernommen wurde, die Geduld mit dem Gegenüber ist nicht von den zugrunde liegenden interpersonellen Beziehungen zu trennen. »Ohne die reelle Freundschaft zwischen Debord und Jorn und ohne den reellen gegenseitigen Respekt, die es ermöglichten, inhaltliche Divergenzen zu überwinden (die sich in anderen Fällen rasch als unüberwindbar erweisen), hätte es die S.I. nie gegeben.«247 Die theoretische Vielfalt der Anfangsjahre ließ sich nur mit ihrer Hilfe im Rahmen einer Gruppe vereinen - die Einheit der Gruppe ließ sich nur auf dieser Basis für mehrere Jahre als ein Streit divergierender Positionen überhaupt prozessieren. Dabei spielen der stabile und zugleich informelle Charakter der Freundschaft und ihre Ausgestaltung als sich über verschiedene Ebenen erstreckender Potlatch die entscheidende Rolle. Auch wenn es sich beim Potlatch innerhalb der S.I. um den Austausch von Ideen handelt, so werden zusätzlich vor allem in der Phase bis 1962 von einigen Mitgliedern als Gabe noch die Kontakte zu Galeristen und Verlegern etc. eingebracht. Auch der ganz materielle Aspekt der finanziellen Gabe spielt vor allem auf Seiten von Asger Jorn, dem Hauptfinanzier der Gruppe, eine Rolle. Im Potlatch werden also mit Ideen, Kontakten und Geld sehr unterschiedliche immaterielle und materielle Dinge ausgetauscht. Freundschaft, Patronage (im Sinne von Networking) und Gönnerschaft sind hier sehr eng miteinander verbunden, können gegeneinander getauscht werden.248 244 | Debord (1957d), S. 42. 245 | Situationistische Internationale (1960d), S. 153. 246 | Situationistische Internationale (1960e), S. 163. 247 | Kaufmann (2004), S. 196, Fußnote 114. 248 | Die Egalität dyadischer Beziehungen entsteht nicht nur durch eine Verket-
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Mit dem Wegfallen dieser Möglichkeiten nach den Austritten von Constant und Jorn und dem Ausschluss von Pinot-Gallizio lässt sich diese theoretische Vielfalt innerhalb der Gruppe eben gerade nicht mehr prozessieren. Um die Gruppe nicht zu sprengen, muss eine inhaltlichtheoretische Vereinheitlichung durch weitere Ausschlüsse u.a. der Gruppe SPUR und von Jørgen Nash und seinen Mitstreitern erfolgen. Während die Gruppenkohärenz mit Hilfe der interpersonellen Beziehungen als Vielfalt und Streit von Positionen innerhalb der Gruppe funktionieren konnte, kann sie nun nur noch dadurch aufrechterhalten werden, dass die größten Streitpunkte eliminiert werden. Der Streit innerhalb der Gruppe kann nur dadurch beendet werden, dass er durch den bei den deutschen und den skandinavischen Mitgliedern zu beobachtenden Prozess der Abspaltung in den Streit zwischen Gruppen transformiert wird. Auch wenn die S.I. bis 1962 weit mehr war als eine Gruppe von Freunden, konnte sie ihre Gestalt als theoretisch produktive Gruppe vor allem aufgrund der zwischen ihren zentralen Persönlichkeiten vorhandenen interpersonellen Beziehungen entwickeln. Dies verdeutlicht abermals die Rolle der interpersonellen Beziehungen für die Produktivität der inhaltlichen Auseinandersetzung: Die Freundschaft schließt Streit keineswegs aus, im Gegenteil, sie ermöglicht ihn in einer für die Gruppe besonders produktiven Weise. Das vereinigende Element zwischen den zunächst disparat erscheinenden Phänomenen von Freundschaft und Streit ist auch hier wieder im Potlatch zu sehen, denn in beiden Formen der sozialen Verbindung geht es um Austausch und Reziprozität. »In der Auseinandersetzung, in Reaktion und Gegenreaktion bleibt das Denken konkret, reichert sich die individuelle Gestaltung mit fremden und neuen Eindrücken an, erweitert ihren Einflussbereich.«249 Die Grundfrage, die es deshalb zu stellen gilt, lautet: Wie kann die Einheit der Gruppe als ein Streit von Positionen definiert und prozessiert werden? 250 Es geht um das Wechselspiel von zentrifugalen und zentripetalen Kräften des Streits, um die Frage, in welchem Verhältnis Streit und Wir-Gefühl stehen. Denn erst durch dieses Wir-Gefühl und das damit einhergehende Zusammengehörigkeitsgefühl wird innerhalb der Gruppe ein gewisses Ausmaß an Streit ermöglicht. Ein zu großes Ausmaß oder ein Zuviel an Streit jedoch bedroht genau diesen Zusammenhalt.251 Sind interpersonelle Beziehungen deutlich erkennbar, wie tung von Ungleichheiten bzw. sich ausgleichenden Vorleistungen, sondern auch und gerade durch den Austausch verschiedenartiger Inhalte - seien sie materieller oder immaterieller Art. Neben der dabei zu erkennenden Verknüpfung von Freundschaft mit Gönnerschaft oder Patronage wirft dies die Frage auf, inwiefern dies die Ausdifferenzierung verschiedener Rollen innerhalb der Dyade im Sinne einer funktionalen Differenzierung und Spezialisierung zur Folge haben kann. Eine solche würde sowohl zu klassischen Freundschaftsauffassungen als auch zum Selbstverständnis der S.I. als Gruppe von ›Anti-Spezialisten‹ im Widerspruch stehen. 249 | Ohrt (1997), S. 13. 250 | Vgl. Eßbach (1988), S. 46ff. 251 | Hier ist die Frage interessant, inwiefern der Streit zum Wir-Gefühl der S.I.
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in der Anfangsphase, so wird konsequenter versucht, eine gemeinsame Position zu finden; auch bei zunächst sehr disparaten Positionen wird der Potlatch fortgesetzt, da er von den zugrunde liegenden Freundschaften zusammengehalten wird. Persönliche Animositäten spielen eine geringere Rolle und der Streit kann länger als Auseinandersetzung um inhaltliche Positionen geführt werden. Die Freundschaft, auch wenn sie »[d]ie Gleichheit der Freunde«252 impliziert, ermöglicht es gerade, dass die Zeitspanne, innerhalb derer im Potlatch wieder ein Gleichgewicht hergestellt werden muss, verlängert wird. Die Frage, ob hier Zusammenarbeit aus Freundschaft entsteht oder Freundschaft als Surplus der Zusammenarbeit anzusehen ist, kann nicht eindeutig beantwortet werden. Vielmehr ist feststellbar, dass die Freundschaft nicht nur eine Vermittler- sondern auch eine Mittelstellung einnimmt. Die der Freundschaft vorgelagerte Situation ist zunächst das allgemeine Interesse an den Positionen und Tätigkeiten des anderen, von denen man zufällig oder durch zufällige Begegnungen Kenntnis erlangt.253 Aus einem solchen Interesse kann sich dann wie z.B. bei Jorn und Debord eine Zusammenarbeit entwickeln, und aus dieser Zusammenarbeit, aus dieser Geistesgenossenschaft, kann wiederum eine Freundschaft entstehen. Dies wäre in diesem Fall die Beschreibung der Phase bis zur Gründung der S.I., in der dann die Zusammenarbeit die Form der offiziellen Mitgliedschaft annimmt. Ab diesem Moment ist es dann die Freundschaft, die eine Intensivierung der Zusammenarbeit ermöglicht, auch und gerade in Situationen, in denen die inhaltlichen Differenzen ohne diese bereits zum vorschnellen Abbruch der Kooperation führen würden. Zusammenarbeit ist hier das Ergebnis von Freundschaft bzw. die erst durch sie ermöglichte nachgelagerte Situation. Dies wird vor allem mit Blick auf das Ende der Mitgliedschaft deutlich. Denn hier ist es im Falle von Debord und Jorn gerade die Freundschaft, die nach dem Ende der offiziellen Mitgliedschaft weiterhin informelle Zusammenarbeit ermöglicht. Sie sorgt dafür, dass die Diskussionen weitergeführt werden und die Gruppe weiterhin mit alternativen Denkansätzen konfrontiert wird, da man sich über das normalerweise gegenüber ExMitgliedern verhängte Kontaktverbot inoffiziell hinwegsetzt. Aus den Zwängen der Gruppenkonstellation und der Konsensfindung befreit, kann sich hier der Ideenpotlatch weiter fortsetzen. Freundschaft erlaubt also eine Rückkehr zum Zustand vor der Gruppengründung, vor der Mitgliedschaft. gehört und als Teil der Gruppenidentität verstanden werden muss. Vgl. zur Rolle des Streits in der S.I. Orlich (2008), S. 116ff. 252 | Debord (1985), S. 58. Diese Passage ist ein détournement des Textes Le Dit de l’enfant sage von Alcuin; im Film ist dazu ein Standbild von Ghislain de Marbaix, einem Freund Debords aus lettristischen Tagen zu sehen. 253 | So ist Jorns Kontakt zu Debord und das daraus entstehende Interesse an einer Zusammenarbeit über einen Freund von Jorn, Enrico Baj, hergestellt worden, dem ein Exemplar von potlatch in die Hände fiel und der der Auffassung war, diese Gruppe könnte für Jorn interessant sein (vgl. Ohrt (1997), S. 143).
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Der Conseil Central Neben den Konferenzen ist der Conseil Central das wichtigste Gremium der S.I. Seine Einführung wurde auf der vierten Konferenz im September 1960 beschlossen. Seine von den Konferenzteilnehmern gewählten Mitglieder sollten zwischen den Konferenzen alle sechs bis acht Wochen zusammenkommen - in der Realität tagte er zwischen November 1960 und Februar 1963 lediglich sechs mal.254 Vergleicht man zunächst auch hier die Zusammensetzung der Teilnehmer der sechs Sitzungen des Conseil Central mit den zum jeweiligen Zeitpunkt der S.I. angehörigen Personen, so kann man feststellen, dass diese Treffen sowohl die Konferenzteilnehmer als auch die Mitglieder insgesamt weitgehend angemessen repräsentierten.255 Auffällig ist dabei jedoch, dass bei keiner der ersten fünf Sitzungen Jacqueline de Jong als zu diesem Zeitpunkt einziger Vertreterin der holländischen Sektion teilgenommen hat, und das, obwohl sie bei der in diesen Zeitraum fallenden fünften Konferenz zugegen war. Dies lässt sich eventuell mit de Jongs anderweitigem Engagement als von der fünften Konferenz entsandtes Mitglied der Redaktion der Zeitschrift der Gruppe SPUR sowie durch ihre vorbereitenden Tätigkeiten als zukünftige Herausgeberin der englischsprachigen Situationist Times erklären.256 Neben der fehlenden Vertretung der holländischen Sektion fällt zudem auf, dass die französische Sektion mit jeweils ein bis zwei Vertretern im Conseil Central gemessen an ihrer Mitgliederzahl in der gesamten S.I. auf Kosten der skandinavischen und der deutschen Sektion etwas überrepräsentiert war, was durch das Mehrheitsprinzip jedoch wieder abgefedert wurde. Bei der sechsten und letzten Sitzung des Conseil Central hingegen waren alle Sektionen vertreten - und nicht nur das: Lässt man Chtcheglov einmal außen vor, hatten aufgrund der damals sehr geringen Mitgliederzahl bis auf Peter Laugesen sogar alle Mitglieder der S.I. zugleich auch einen Sitz im Conseil Central inne. Seine Auflösung einige Zeit später ist vor diesem Hintergrund also nur konsequent. Die weitgehend repräsentative Zusammensetzung und die sofortige Offenlegung seiner Entscheidungen - »[j]edes S.I.-Mitglied darf an den Sitzungen dieses Zentralrates teilnehmen,257 der allen die gesammelten Informationen und gefassten Entschlüsse nach jeder Versammlung sofort übermitteln soll«258 - ist beim Conseil Central mit Blick auf die demokratischen Ansprüche der S.I. mindestens ebenso wichtig wie bei der Konferenz. Denn dem Conseil Central wurden in der Folgezeit wichtige 254 | Vgl. Situationistische Internationale (1960i), S. 175. 255 | Vgl. hierzu die Tabelle B.6. im Online-Anhang B. 256 | Vgl. Situationistische Internationale (1962a), S. 280f. und S. 284. 257 | Dies darf nicht dahingehend verstanden werden, dass jedes S.I.-Mitglied sich zum Mitglied des Conseil Central machen kann, es darf lediglich jeder an den Sitzungen teilnehmen. Es handelt sich hierbei also um einen Beitrag zur Transparenz und nicht um eine wirklich basisdemokratische Struktur. 258 | Situationistische Internationale (1960i), S. 175.
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Entscheidungskompetenzen zuteil: Er sollte zwischen den Konferenzen die einzelnen nationalen Sektionen und ihre Aktivitäten vernetzen und zudem als Entscheidungsorgan der S.I. fungieren, »ein Entschluss der Mehrheit ihrer - durch jede Konferenz ernannten - Mitglieder wird genügen, um die ganze S.I. zu verpflichten.«259 Besonders wichtig ist in diesem Kontext die Möglichkeit des Conseil Central, über die Aufnahme neuer Mitglieder und auch über Ausschlüsse zu entscheiden. Dabei sollte der Conseil Central nicht nur die Zeit zwischen den Konferenzen überbrücken, auch inhaltlich war zwischen ihm und der Konferenz ursprünglich eine klare Arbeitsteilung vorgesehen: »Die Konferenz ist normalerweise für die theoretischen Debatten zuständig, während der Rat hauptsächlich für die Weiterentwicklung der Macht der S.I. sorgt.«260 Da diese ›Weiterentwicklung der Macht der S.I.‹ nicht zuletzt mit ihrer öffentlichen Außenwirkung zusammenhing, ist es legitim, dass die Mitglieder des Conseil Centrals zugleich das Redaktionskomitee der I.S. stellten.261 Die Etablierung des Conseil Central, der als Verstetigung der Tätigkeit der Konferenz mit ihren zunehmenden Befugnissen dienen sollte, trug daher erheblich zur Aufhebung der auf der Autonomie der nationalen Sektionen beruhenden föderativen Struktur der S.I. bei. War die S.I. anfangs so etwas wie eine Klammer, eine Metagruppe, die verschiedene nationale Gruppierungen zusammenfasste, und bestand sie daher anfangs aus auf einer gemeinsamen Basis eigenständig agierenden Sektionen, die sich einmal im Jahr trafen, um ihre Tätigkeiten punktuell zu koordinieren, so wird sie ab September 1960 mehr und mehr zu einer zentral organisierten und konstanten Gruppe mit Abgesandten in mehreren Ländern. Aus einer wirklich ›situationistischen Internationale‹ wird so langsam eine ›permanente Zentrale‹. Dieser zentralistische Aspekt wird mit der Abschaffung der Sektionen und ihrer Umformung in regionale Einteilungen ab November 1962 noch deutlicher, zumal sich die Aktivitäten der Gruppe, was ihre öffentliche Wirksamkeit betrifft, ab diesem Moment lange Zeit fast vollständig auf das Engagement der französischen Mitglieder beschränkt. Die S.I. betrachtet sich in dieser Phase »als eine einzige vereinte Gruppe, obwohl mehrere Genossen in Europa geographisch verstreut [...] [sind], und die wesentliche Aktivität 259 | Situationistische Internationale (1960i), S. 175. 260 | Ibidem. 261 | Betrachtet man die Zusammensetzung des Redaktionskomitees während der gesamten Existenzphase der S.I. und vergleicht sie mit der jeweiligen Mitgliederzusammensetzung, so lässt sich dabei eine ähnliche Übereinstimmung feststellen, wie oben bei der Betrachtung der Konferenz und des Conseil Central (vgl. hierzu auch die Tabelle B.7. im Online-Anhang B). Daneben wird bei der Besetzung des Redaktionskomitees, genau wie bei der der Konferenzen und des Conseil Central, abermals die zentrale Stellung Debords deutlich, der nicht nur bei allen Nummern dem Redaktionskomitee angehörte, sondern zugleich der verantwortliche Chefredakteur war und die meisten Artikel verfasst hat (vgl. für einen Überblick über die Autoren in der I.S. die Abbildung A.11. im Online-Anhang A).
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der Gruppe [...] in Frankreich organisiert [wird].«262 Dies verwundert nicht weiter, wenn man die damalige Mitgliederstruktur berücksichtigt: Eine italienische Sektion gab es schon seit Mai 1960 nicht mehr und sowohl die deutsche als auch die skandinavische Sektion waren seit März 1962 bzw. Oktober 1963 auf je ein Mitglied reduziert worden. Faktisch bestand die S.I. zu diesem Zeitpunkt nur aus der Region Westeuropa, d.h. aus den Mitgliedern der französischen Sektion, ergänzt um zwei Belgier und wird so dem ›I‹ in ihrem Namen kaum noch gerecht. Diese extreme geographische Konzentration der vormals weit zerstreuten Gruppe auf Paris, wo mit Vaneigem auch eines der zwei belgischen Mitglieder ansässig war, erklärt zugleich die Zeitspanne von über dreieinhalb Jahren, die zwischen der sechsten und der siebten Konferenz verging.263 Es war nun nicht mehr notwendig, die Mitglieder der S.I. explizit zu einem Treffen einzuberufen, da sie von zwei Mitgliedern abgesehen nur im Pariser Mikrokosmos existierte. Diese Tatsache machte auch die weitere Tätigkeit des Conseil Central praktisch überflüssig, dieser kam daher bereits seit Februar 1963 nicht mehr zusammen und wurde von der siebten Konferenz, die im Juli 1966 bezeichnender Weise in Paris stattfand, dann auch offiziell wieder aufgelöst.264 Neben diesen geographischen gab es jedoch auch inhaltliche Gründe, die die Tätigkeit des Conseil Central mehr und mehr überflüssig machten und seine Existenz schon seit November 1962 wieder zur Diskussion stellten. Zum einen ist hierbei die Tatsache zu erwähnen, dass mit der geographischen Konzentration auch eine inhaltlich-programmatische Vereinheitlichung der S.I. einherging, die eine Instanz zur Kontrolle der unterschiedlichen Fraktionen zugunsten der Kohärenz des Gesamtprojekts überflüssig machte. »Zu dieser Zeit stellte die VI. Konferenz in Antwerpen fest, dass eine kohärente theoretische Vereinheitlichung stattgefunden hatte. Infolgedessen wurde die Frage aufgebracht, den Zentralrat aufzulösen.«265 Zum anderen stand er im Widerspruch zu den ebenfalls auf der siebten Konferenz beschlossenen ›Minimalen Definition der revolutionären Organisationen‹, die feststellen, dass »[e]ine solche Organisation [...] jede Reproduktion der hierarchischen Verhältnisse in ihrem Inneren ab[lehnt].«266 Neben den bislang betonten demokratischen und egalitären Charakter der Gruppe tritt nun immer stärker ihr anti-hierarchischer Aspekt, und die S.I. besinnt sich wieder auf ihr 262 | Situationistische Internationale (1969a), S. 451. 263 | Die siebte Konferenz war nötig geworden, weil die S.I. im Laufe des Jahres 1965 wieder neue Mitglieder, vor allem in Straßburg, gewinnen konnte und sich so geographisch wieder ausbreitete. Doch erst ab Ende 1966 wird die S.I. durch die Gründung einer englischen, Ende 1967 einer amerikanischen und Anfang 1969 einer italienischen Sektion geographisch wieder zu einer Internationalen. Dass dennoch zwischen der siebten und der achten Konferenz wieder über drei Jahre vergingen, lässt sich weniger aus internen Gründen, sondern vielmehr aus den alle Energien der Gruppe absorbierenden Ereignissen des Mai 1968 erklären. 264 | Vgl. ibidem. 265 | Ibidem. 266 | Situationistische Internationale (1967b), S. 305.
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bereits 1960 deklariertes Selbstverständnis als »reinste Form eines antihierarchischen Gebildes von Anti-Spezialisten«267 , das immer wieder - gerade zur Abgrenzung von politischen Parteien und Bewegungen angeführt wurde: »Die Situationistische Internationale will mit der hierarchischen Macht nichts gemein haben, auf welche Weise es auch sein mag.«268 Und auch wenn die bloße Existenz des Conseil Central bereits mit Blick auf die Forderung nach Egalität nicht unproblematisch war, ließ sich eine so machtvolle und nicht allen Mitgliedern unmittelbar zugängliche Institution wie der Conseil Central mit einem dezidiert antihierarchischen Selbstverständnis gar nicht mehr in Einklang bringen. Solche Widersprüche zwischen dem Selbstverständnis bzw. den theoretischen Forderungen und der eigenen Organisationsstruktur und den in der Gruppe anzutreffenden interpersonellen Beziehungen als dem engsten Feld der Praxis eben dieser Theorie tauchen in der Geschichte der S.I. immer wieder auf - ihre Untersuchung wird daher ein wichtiger Bestandteil der vorliegenden Arbeit sein. Dies erscheint umso wichtiger, als die S.I. selbst diese Probleme immer wieder thematisiert, dabei aber zumindest mit Blick auf die Frage nach Egalität und anti-hierarchischen Strukturen zu einem den obigen Überlegungen diametral entgegenstehenden Ergebnis kommt: »Die S.I. war immer anti-hierarchisch gewesen, hat es jedoch fast nie verstanden, egalitär zu sein.«269
Die Zeitschrift I.S. Auch wenn sie im engeren Sinne nicht zu den Organisationsstrukturen der S.I. gezählt werden kann, so soll doch noch ein genauerer Blick auf die schon mehrfach erwähnte Zeitschrift der Gruppe, die I.S.,270 geworfen werden, die aus mehreren Gründen eine wichtige Quelle für die vorliegende Arbeit darstellt. Zum einen ist die I.S. das wichtigste Sprachrohr der Gruppe nach außen, um sowohl ihre theoretischen Positionen kundzutun als auch über die in ihrem Inneren ablaufenden Diskussionen und Konflikte zu informieren. Zum anderen lassen sich beim Blick auf die I.S. und die Art und Weise, wie sie in der Zusammenarbeit der Mitglieder entsteht und herausgegeben wird, bzw. später dann auch in der Art und Weise, wie die in diesem Produktionsprozess entstehenden Probleme dieser ursprünglich als kollektivem Projekt aufgefassten Publikation immer stärker thematisiert werden, auch die bereits angesprochenen Fragen von Egalität, Hierarchie, Klandestinität und der Beteiligung etc. herausarbeiten. Aber auch beim Blick auf die weiteren von der S.I. und 267 | Situationistische Internationale (1960e), S. 161. 268 | Situationistische Internationale (1964a), S. 112. 269 | Debord, Guy/Gianfranco Sanguinetti (1972), S. 92. 270 | Die S.I. und ihre Sektionen oder Einzelmitglieder haben neben der I.S. noch eine Vielzahl weiterer Zeitschriften herausgegeben, auf die an dieser Stelle jedoch nicht näher eingegangen werden kann. Zu nennen sind hier der potlatch, die SPUR, der Deutsche Gedanke, die Situationist Times, die Situationistisk Revolution, die Situationist International sowie die Internazionale situazionista.
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ihren Sektionen herausgegebenen Zeitschriften und bei deren Vergleich mit der I.S. lassen sich einige Konflikte, Allianzen und taktische Manöver sowie organisatorische Fragen nachzeichnen. Insgesamt erscheinen zwischen Juni 1958 und September 1969 zwölf Ausgaben der I.S., eine ursprünglich geplante 13. Nummer kommt nicht mehr zustande. Dieses ›Zentralorgan‹ der S.I., das in einer Auflage von einigen hundert Exemplaren zu Beginn und von 3000 bis 5000 Exemplaren bei den letzten Nummern gedruckt wurde,271 war fast nur unter der Hand erhältlich. Einige wenige bekamen es von der Gruppe direkt zugeschickt, ansonsten wurde es in Paris lediglich in fünf und im restlichen Frankreich in insgesamt sieben Buchhandlungen oder Kiosken vertrieben, deren Namen in der Zeitung angegeben wurden. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die tatsächliche Leserzahl zur damaligen Zeit weit höher liegt als die offizielle Auflage, da die I.S. explizit mit einem Anti-Copyright versehen ist und somit zur Weiterverbreitung der darin enthaltenen Gedanken aufgefordert wurde. Dieses Anti-Copyright ist auf der ersten Seite jeder Ausgabe abgedruckt und lautet: »Alle in ›Situationistische Internationale‹ veröffentlichte Texte dürfen frei - auch ohne Herkunftsangabe - abgedruckt, übersetzt oder bearbeitet werden.« Durch dieses Anti-Copyright wird somit das in der Art und Weise des Vertriebs dieser Zeitung implizierte elitäre Moment wieder abgeschwächt oder gar aufgehoben. Das Anti-Copyright ist aber auch im Zusammenhang mit der ›Herstellungsweise‹ dieser Publikation von Bedeutung. Die Ablehnung der Kategorie des geistigen Eigentums durch ein solches Anti-Copyright wird bei der I.S. dadurch ergänzt und bestärkt, dass sie in kollektiver Redaktion entsteht - denn wenn das Geschriebene sich gegen die Einordnung in die Kategorie des geistigen Eigentums verwehrt, ist auch die Signatur des Verfassers weniger bedeutsam. Zwar wird Guy Debord bei allen zwölf Ausgaben als Chefredakteur angegeben, allerdings sieht die S.I. dies als rein rechtliche Formalität an.272 . Neben dem Chefredakteur werden in den einzelnen Ausgaben als Mitarbeiter stets die Mitglieder des Redaktionskomitees angegeben. Betont wird also der gemeinschaftliche Aspekt der Theorieproduktion, mit dem zugleich die Herausstellung von Einzelpersönlichkeiten als ›Stars‹ der S.I. verhindert werden soll. »Wenn sich die S.I. anfänglich dafür entschieden hat, den Akzent auf den kollektiven Aspekt ihrer Aktivität zu legen und den größten Teil ihrer Texte relativ anonym zu präsentieren, dann deswegen, weil wirklich ohne diese Kollektivität nichts von unserem Projekt hätte formuliert und ausgeführt werden können, und weil es die Herausstellung einiger persönlicher Berühmtheiten unter uns zu verhindern galt, die das Spektakel dann gegen unser gemeinsames Ziel hätte manipulieren können.«273 271 | Vgl. Chollet (2004), S. 55. 272 | Vgl. Debord (2004a), S. 102. 273 | Debord, Guy/Gianfranco Sanguinetti (1972), S. 59. Der nach außen betonte
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Für das Modell der anonymen bzw. kollektiven Autorschaft sprechen also sowohl äußere Faktoren und theoretische Überlegungen als auch gruppeninterne Aspekte und die tatsächliche Gruppenpraxis, da die in der I.S. abgedruckten Texte als das Ergebnis gemeinsamen Denkens und Diskutierens innerhalb der Gruppe aufgefasst werden müssen. Interessant ist hierbei vor allem, dass dies nicht nur für die unsignierten oder die kollektiv signierten Texte gilt, sondern genauso für diejenigen, die von einzelnen Mitgliedern unterzeichnet werden: »In diesem Bulletin ist die kollektive Redaktion die Regel. Auch die wenigen persönlich verfassten und unterzeichneten Artikel sind als für alle unsere Genossen interessant und als besondere Punkte ihrer gemeinsamen Forschungsarbeit zu betrachten. Wir sind gegen das Fortleben solcher Formen wie der der literarischen oder der Kunstzeitschrift.«274
Dies wird deutlich, wenn man sich die zwölf Nummern der I.S. zunächst daraufhin ansieht, ob und von wem die Artikel gezeichnet werden, wenn man also die verschiedenen Typen von Autorschaft in den Blick nimmt. Von den knapp 700 Seiten umfassenden 161 Artikeln275 in der I.S. sind lediglich 48 von einer einzelnen Person gezeichnet. Auch wenn sich diese 48 persönlich signierten Artikel wieder auf 21 verschiedene Mitglieder verteilen,276 so ist doch ein deutlicher Schwerpunkt bei Constant, Debord, Jorn und Vaneigem zu erkennen, deren Beiträge bereits 24 der 48 Artikel ausmachen. Bei diesen vier Autoren ist zudem zu erkennen, dass sich ihre Beiträge recht ausgewogen über die Zeit ihrer Mitgliedschaft verteilen, es ist hier keine Artikelhäufung zu erkennen, die auf ein nur punktuelles Engagement hinweisen würde.277 Hinzu kommen 12 Artikel, die von mehreren Mitgliedern gezeichnet wurden. Hier lassen sich zwei verschiedene Typen von Kooperation unterscheiden: Die erste entspricht dem, was weiter oben zu den verschiedenen Ebenen von Gruppenöffentlichkeit angemerkt wurde und verdeutlicht zumindest teilweise die Konvergenz von regionalen und inhaltlichen Fraktionen. Es handelt sich hierbei um Artikel, die von mehreren Mitgliedern einer Sektion verfasst wurden und in erster Linie deren intern Aspekt der kollektiven Aktivität legte jedoch den Grundstein für die im Folgenden zu skizzierenden Probleme bei deren tatsächlicher Umsetzung im Inneren. Doch auch was die Außenwirkung betrifft, war diese Vorgehensweise nicht unproblematisch, denn »dadurch wurde zweifellos die Grundlage dafür geschaffen, daß später, in der Mystik der Situphilen, die Gesamtheit der S.I. zum kollektiven Star erhoben wurde.« (Debord, Guy/Gianfranco Sanguinetti (1972), S. 59f.). 274 | Situationistische Internationale (1958f), S. 6. Interessant ist hierbei, dass diese Anmerkung, die sich sowohl in der ersten Nummer der Zeitschrift als auch im Reprint von van Gennep von 1970 (vgl. Internationale Situationniste (1970)) sowie in der hier angeführten deutschen Übersetzung findet, in der von Patrick Mosconi herausgegebenen Neuauflage bei Éditions Fayard aus dem Jahr 1997 (vgl. Internationale Situationniste (1997)) fehlt. 275 | Vgl. hierzu die Tabelle B.8. im Online-Anhang B. 276 | Vgl. hierzu die Abbildung A.11. im Online-Anhang A. 277 | Vgl. hierzu die Tabelle B.9. im Online-Anhang B.
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entwickelte Position wiedergeben und deren jeweilige Besonderheiten und Schwerpunktsetzungen - und das darin enthaltene Konfliktpotential mit den übrigen in der Gruppe vertretenen Positionen - deutlich hervortreten lassen. Dies ist vor allem bei den Beiträgen der holländischen, an der Architektur orientierten,278 der deutschen, malerei-fixierten,279 oder der belgischen Sektion, die sich mit dem Urbanismus befasst,280 erkennbar. Die zweite Art von Kooperation geht über die Sektionsgrenzen hinweg. Teils basiert sie auf theoretischen Fraktionsbildungen, wie dies beim Artikel von Debord und Constant281 der Fall ist, teils handelt es sich aber auch nur um knappe Stellungnahmen, die im Namen der S.I. von einigen ihrer Mitglieder unterzeichnet wurden.282 Aber auch bei den von einzelnen Mitgliedern signierten Artikeln wird immer wieder deutlich, dass diese nicht nur als Ergebnis der gemeinsamen Arbeit und des Ideenaustauschs angesehen werden, sondern dass sie teilweise tatsächlich in diesem Austausch als wirkliche Zusammenarbeit entstehen. So betont Debord im Hinblick auf seinen Artikel L’I.S. après deux ans283 , der 1959 in potlatch erscheinen sollte, aber letztendlich doch nicht veröffentlicht wurde, gegenüber Constant: »Ci-joint un texte, que tu peux naturellement changer comme tu voudras.«284 »D’ailleurs, je te laisse libre de corriger comme tu veux, ou même de supprimer cet article.«285 Auch die weitere Verwendung von Artikeln, die von einzelnen Mitgliedern verfasst wurden, ist ausdrücklich erwünscht, allerdings ist dies explizit mit der Forderung nach dem Verzicht auf einen Quellenverweis verbunden: »[J]e considère tout ce que nous écrivons comme un matériel communautaire - mais justement, en ne mettant aucune mention: extrait de...«286 Die von Mitgliedern der S.I. verfassten Texte stehen also zur weiteren Ver- oder Entwendung zur Verfügung. Diese Art und Weise des Umgangs mit den ›gemeinsamen‹ Texten entspricht dabei genau derjenigen des détournement auf Textebene bzw. Debords in Anlehnung an Lautréamont entwickelter scharfer Unterscheidung von Plagiat und Zitat.287 Neben die Umsetzung der Idee der kollektiven Redaktion als Ablehnung des Einzelautors tritt hier zudem der Aspekt der Klandestinität des Einzelnen, der die Möglichkeit hat, sich hinter dem Kollektiv oder 278 | Vgl. Alberts (1959). 279 | Vgl. Fischer (1960) und Fischer (1961). 280 | Vgl. Kotányi (1961). 281 | Vgl. Constant/Guy Debord (1958). 282 | Vgl. Martin, Jeppesen Victor/Jan Strijbosch/Raul Vaneigem/René Viénet (1964). 283 | Vgl. Debord (1959b). 284 | Debord (1999), S. 241, an Constant, 26.6.1959. 285 | Ibidem, S. 261, an Constant, 16.9.1959. 286 | Ibidem, S. 284, an Constant, 15.12.1959. Auch gegenüber den Italienern stellt er in Bezug auf einen Text von Khayati im Jahr 1969 fest: »Je vous rappelle que vous pouvez faire, dans le premier texte, toutes les coupures qui vous paraîtront utiles« (Debord (2004a), S. 72, an die italienische Sektion, 16.5.1969). 287 | Vgl. Debord (1996), S. 176 und Situationistische Internationale (1963a), S. 40.
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der Anonymität zu verstecken. Dies eröffnet einerseits die Möglichkeit, gewissermaßen spielerisch Positionen zu entwickeln, die man nicht unbedingt mit dem eigenen Namen verbunden wissen möchte, und somit die inhaltlichen Denkoptionen zu erhöhen. Andererseits sorgt dies auch für eine Auflösung von Verantwortlichkeit für das Geschriebene: »[C]e texte, en lui-même, tomberait dans la catégorie de la critique d’art; et tu sais que je ne veux absolument pas prendre ce genre.«288 Der Umgang mit den in der Gruppe produzierten Texten ist also einerseits ein sehr freier, andererseits ist diese Freiheit jedoch recht genau reglementiert und orientiert sich strikt an der eigenen theoretischen Methode des détournement. Wird ein Text dann doch entgegen dieser Vorgaben verwendet, führt dies zu Auseinandersetzungen. So hat z.B. Constant Debords Aufsatz Constant et la voie de l’urbanisme unitaire289 , auf den sich die obigen Ausführungen zum Charakter der Texte als ›matériel communautaire‹ beziehen, später doch in gekürzter Fassung, aber eben mit der Signatur von Debord veröffentlicht.290 Somit hat er jedoch Debords Text als Zitat und nicht als détournement genutzt und daher die theoretischen Vorgaben missachtet. Auch wenn also mit der Aufforderung zum détournement durch Weiterverwendung, Überarbeitung, ungekennzeichneter Zitation etc. die Kategorie des geistigen Eigentums und die des Autors in Frage gestellt werden soll, so ist doch - zumindest im Fall Debords - erkennbar, dass diese Kategorien letztendlich nicht vollständig überwunden werden können. Denn zum einen ist es bei Debord, da er selbst für die theoretische Ausarbeitung des Konzepts des sprachlichen détournement verantwortlich zeichnet, indirekt immer noch der Autor, der entscheidet, wie die ›Freiheit‹ im Umgang mit seinem Text ausgestaltet werden soll. Diese verbleibende ›Machtposition‹ des geistigen Eigentümers wird dann besonders deutlich, wenn die Texte wirklich frei, d.h. im Zweifelsfall auch gegen die theoretischen Vorgaben verwendet werden. Dass es dabei allerdings nicht nur um einen Verstoß gegen theoretische Grundlagen geht, wird an Debords Reaktion auf Constants Verhalten deutlich: Denn zum anderen wirft er ihm nach der Veröffentlichung vor, die Aussage seines Textes verfälscht zu haben, und stellt abschließend klar fest, dass Diskussionen und Meinungsverschiedenheiten durchaus erwünscht sind, dass dabei jedoch die Position des anderen, wenn sie durch Signatur als solche kenntlich gemacht wird, nicht verfälscht werden darf: »Mais tu étais libre d’en juger autrement: pas de changer ma façon de juger.«291 Neben dem ›Verstoß‹ gegen die Idee des détournement geht es Debord also auch um die Kontrolle über
288 | Debord (1999), S. 285, an Constant, 15.12.1959. 289 | Vgl. Debord (1959a). 290 | Vgl. die Kritik der S.I. Situationistische Internationale (1960f) sowie die Reaktion von Constant (1960d). 291 | Debord (1999), S. 367, an Constant, 11.8.1960.
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das von ihm Geschriebene - zumindest so lange es mit seinem Namen in Verbindung gebracht werden kann.292 Das Signieren von Artikeln wird immer wieder auch als taktischtheoretische Frage erkennbar; so zum Beispiel, wenn diskutiert wird, ob ein Artikel »Situationistische Positionen zum Verkehr«,293 der von Debord geschrieben wurde, signiert werden soll oder nicht. Debord schlägt vor, ihn in der I.S. mit Signatur zu veröffentlichen und ihn zudem als ins Holländische übersetztes Flugblatt ebenfalls zu signieren, ihn aber, sollte er in potlatch erscheinen, unsigniert zu lassen »pour lui donner le poids général du mouvement«.294 Ein ähnliches Phänomen ist auch beim 1966 selbstständig publizierten Text »Sur la misère en milieu étudiant...«295 zu erkennen. Dieser wird mit der Verfasserangabe »par des membres de L’Internationale situationniste et des étudiants de Strasbourg«296 veröffentlicht, auch wenn er, aufgrund der Unfähigkeit der eigentlich damit beauftragten Straßburger Studentengruppe, von Mustafa Khayati verfasst, dann vor allem von Debord gegengelesen und verbessert und schließlich von den Straßburgern akzeptiert wurde.297 Neben der ›Relativität‹ und der in erster Linie strategischen Aussagekraft der Signatur wird also auch hier wieder die zentrale Stellung von Diskussion und gegenseitiger Korrektur bei der kollektiven Textredaktion erkennbar. Die Arbeit Khayatis (und diejenige Debords) wird dabei zugunsten der gesamten S.I. bzw. zugunsten der Straßburger Studentenschaft zurückgestellt: So soll einerseits für Khayati die Gefahr 292 | Dies wird auch an Debords wiederholten und langwierigen Auseinandersetzungen mit den Verlegern und Übersetzern der Société du Spectacle deutlich (vgl. Debord (2004a), S. 85ff.; S. 372ff.; S. 377f.; S. 381ff.; S. 429ff.). In einer weiteren Stellungnahme der S.I. zu diesem Problemfeld heißt es: »Es ist völlig unannehmbar, dass unsere Veröffentlichungen umgearbeitet werden - wenn es nicht durch die gesamte S.I. geschieht - und dass ihre Verfasser scheinbar weiterhin für sie verantwortlich sind« (Situationistische Internationale (1960g), S. 128). 293 | Debord (1959c). 294 | Debord (1999), S. 261, an Constant, 16.9.1959. Ein ähnlich lockerer Umgang mit der Verwendung von Signaturen lässt sich auch im Hinblick auf die Flugblätter der S.I. feststellen. So schreibt Debord an André Frankin: »[T]u peux naturellement engager les situationnistes sur n’importe quel texte, aussi fort que tu pourrais le faire passer... [...] Tu peux utilisier le nom de Maurice Wyckaert ›pour la section belge‹; et par exemple les signatures d’Asger Jorn et moi-même au nom de l’ensemble de l’I.S.« (Debord (2001), S. 65, an André Frankin, 24.1.1961). Was hier zudem deutlich wird, ist das blinde Vertrauen in den Mitstreiter und dessen Text - schließlich wird hier die eigene Unterschrift unter ein unbekanntes Dokument gesetzt. 295 | Internationale Situationniste (1966); deutsch: Situationistische Internationale (1966b). 296 | Vgl. ibidem. 297 | Vgl. Situationistische Internationale (1967d), S. 271. Auch hier war es weniger ›die S.I.‹ als vielmehr Debord, der dann doch in erheblichem Ausmaß auf die Formulierung des Textes Einfluss nahm. Vgl. hierzu Debords Briefe an Khayati (Debord (2003), S. 163ff.). Die Frage nach der Autorschaft des Textes kommt bei dessen Neuauflage 1976 nochmals auf. Hier wird Khayatis Anteil an dessen Formulierung deutlich geringer eingeschätzt (vgl. Dumentier (1990), S. 82f.), was zu einer Kontroverse zwischen Khayati und dem Verleger Lebovici führt (vgl. Éditions Champ Libre (1978), S. 32ff.).
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verringert werden, in die Rolle des Vordenkers gedrängt zu werden, um ihn so - in diesem Fall auch aus der juristischen - Schusslinie zu nehmen und andererseits soll die anscheinend nicht vorhandene Kompetenz der Studenten verschleiert sowie die Verbindung zwischen der S.I. und der Studentenschaft signalisiert werden. Ein zweites Beispiel außerhalb der I.S., an dem dieses Spiel mit der Signatur deutlich wird, sei in diesem Zusammenhang noch erwähnt: das offiziell von René Viénet verfasste Enragés et situationnistes dans le mouvement des occupations298 , bei dem jedoch die Autorschaft ebenfalls in Frage gestellt werden muss. So hat Vincent Kaufmann herausgearbeitet, dass »Debord immer, wenn er es erwähnte, [schrieb], daß es von Viénet gezeichnet ist, wodurch er allen Spekulationen zur Identität des Autors Tor und Tür öffnet (tatsächlich wurde das Buch kollektiv geschrieben, von Debord, Vaneigem, Khayati und Riesel, aber nicht von Viénet, der angeblich nur die Dokumentation zusammengetragen hat).«299 Hier wird also das Versteckspiel mit der Signatur umgekehrt: Ein kollektiv verfasster Text wird einer Einzelperson zugeschrieben, die an diesem inhaltlich gar nicht oder kaum mitgearbeitet hat. Die Autoren scheinen also der Meinung zu sein, dass dieser Text signiert erscheinen soll, nicht jedoch mit den Namen der wirklichen Verfasser. Dies lässt sich in diesem Fall damit erklären, dass Debord, Khayati und Vaneigem (für Riesel gilt dies nur eingeschränkt) bereits vielfach und mit zentralen Texten als Autoren namentlich in Erscheinung getreten sind. Demgegenüber ist Viénet, was Veröffentlichungen angeht, ein nahezu unbeschriebenes Blatt. Dadurch, dass ihm dieser ebenfalls grundlegende Text zugeschrieben wird, wird nach außen der Anschein der egalitären Beteiligung bzw. Kompetenzen aller Mitglieder der S.I. hervorgerufen. Bei diesem Spiel mit Signaturen, beim Schreiben unter Pseudonym nun ausgerechnet »den Namen eines wirklich existierenden Komplizen anzunehmen, ist gewiss nicht die unklügste und ungeeignetste Art, erneut dem Autoren und Autoritätsgehabe einen Strich durch die Rechnung zu machen.«300 Insgesamt wurde beim Blick auf die Praxis des Artikel-Signierens deutlich, dass diese gerade nicht der Zuschreibung von geistigem Eigentum dient, sondern diese Kategorie vielmehr in einem détournement aufzuheben versucht. Zugleich aber hat sie eine aus den theoretischen Überlegungen der S.I. zum Thema Egalität bzw. Anti-Hierarchie und Beteiligung ableitbare strategische Funktion. Dies ist jedoch der Punkt, an dem sich bereits eine Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis andeutet und sich die Frage herauskristallisiert, inwieweit sich die Probleme, die bei der praktischen Umsetzung der theoretisch geforderten Egalität 298 | Vgl. Viénet (1977). 299 | Kaufmann (2004), S. 329, Anmerkung 83, Hervorh. im Orig. 300 | Ibidem. Eine ähnliche Vorgehensweise ist 1971 nochmals zu erkennen, auch wenn sie in diesem Falle über die Gruppengrenze hinausreicht: Debord schreibt ein Vorwort für die geplante, aber nie erschienene Neuausgabe von Jorns Pour la forme, signiert diese auch - allerdings mit A.J. (vgl. Debord (1971a)).
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entstehen, dadurch beheben lassen, dass man lediglich nach außen und in gewissem Maße dadurch auch im Gruppeninneren - das Bild, den Schein einer solchen Egalität erzeugt. Denn die Signatur als das nach außen hin vermittelte Bild der Produktionsweise der I.S. soll vor allem deren Charakter als kollektives Projekt und als Ergebnis kollektiver Redaktion verdeutlichen. Dieses egalitäre Bild wird, wenn notwendig, durch die taktische Zuweisung von Signaturen oder deren Vermeidung auch als Bild hergestellt, wie es im Folgenden noch an weiteren Beispielen zu zeigen sein wird. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht mehr, dass die überwiegende Mehrheit von 101 Beiträgen in der I.S. erst gar nicht mit einer Signatur versehen ist. Diese große Zahl von anonymen Artikeln ist aus verschiedenen Gründen besonders aufschlussreich. Zum einen ist dies als Versuch anzusehen, den Einzelnen oder eine Mehrzahl von Einzelnen hinter die Gruppe zurücktreten zu lassen und so die I.S. zur Stimme der S.I. zu machen, um deren egalitäre Strukturen, vor allem aber ihre Kohärenz hervorzuheben. Zum anderen richtet sich diese kollektive Form der Autorschaft im Zusammenspiel mit dem erwähnten AntiCopyright gegen die üblichen Konzeptionen des Autors als einzelnem schöpferischen Genie und knüpft somit eng an die dadaistischen Versuche zur Aufhebung der Künstlerkategorie an. Dieses Verschwinden des einzelnen Autors ist zudem als Versuch aufzufassen, sich gegen die spektakuläre Vereinnahmung zur Wehr zu setzen, die genau auf dieses Herauslösen eines herausragenden Einzelnen aus einer weniger greifbaren Gruppe abzielt. »Nur ungern wurde in der S.I. der unvermeidbare individuelle Anteil einer solchen Arbeit benannt, weil damit sofort ein Karrierismus-Verdacht im Raum stand oder der sogenannte Individualismus der bürgerlichen Kultur.«301 Sowohl die von der S.I. praktizierte kollektive oder anonyme Autorschaft als auch das in der I.S. abgedruckte Anti-Copyright lassen sich somit als détournement bestehender Schreib- und Publikationspraxen auffassen. Die S.I. richtet sich hier gegen die Kategorie des einzelnen Genies, aber vor allem gegen diejenige des spektakulär verwertbaren geistigen Eigentums und die daraus entstehende Gefahr der Heraushebung Einzelner aus der Gruppe ›zu Stars‹. »Einige der herkömmlichen Waffen der alten Welt und die vielleicht am meisten gegen jene Gruppen gebrauchte, die eine Suche nach der Bestimmung des Lebens ausdrücken, besteht darin, aus ihnen einige Stars abzusondern und zu isolieren. Wir müssen uns gegen dieses Verfahren verteidigen, das wie fast alle schändlichen Wahlen in der gegenwärtigen Gesellschaft ›natürlich‹ zu sein scheint. [...] In den Entkolonialisierungskriegen des alltäglichen Lebens kann es keinen Führerkult geben - ›ein einziger Held: die S.I.‹!«302 301 | Ohrt (1997), S. 177. 302 | Situationistische Internationale (1963e), S. 35f.
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Dennoch ist zu beachten, dass auch die unsignierten Artikel nicht vollkommen anonym sind, da zu vermuten ist, dass diese von den jeweiligen Mitgliedern des Redaktionskomitees verfasst wurden - sicher nachzuweisen ist dies jedoch nicht. Vor allem aber ist darauf hinzuweisen, dass bereits die Aussagekraft der Mitgliederliste des Redaktionskomitees bei einigen Ausgaben sehr zweifelhaft ist, denn auch hier finden sich, wie bei den signierten Beiträgen, Ansätze zum Spiel mit Namen, zum rein auf Außenwirkung bzw. Herstellung von scheinbarer Egalität abzielende Manöver der Zuschreibung. So besteht zum Beispiel das Redaktionskomitee der Nr. 1 der I.S. offiziell aus Dahou, Debord, Pinot-Gallizio und Wyckaert, es sind also bis auf die holländische und die deutsche alle Sektionen vertreten, das Redaktionskomitee scheint zunächst die Mitgliederstruktur einigermaßen korrekt abzubilden und lässt die Nr. 1 somit zunächst als gemeinsame Stimme der S.I. erscheinen. Auf den zweiten Blick jedoch ändert sich dieses Bild grundlegend. Denn aus einem Brief von Debord geht hervor, dass Pinot-Gallizio in keinster Weise an der Zeitung mitgearbeitet hat: »Tu as l’honneur supplémentaire d’être membre du comité de rédaction de la revue Internationale Situationniste qui est enfin prête.«303 Die italienische Sektion ist also nur auf dem Papier beteiligt. Das Gleiche gilt für die belgische Sektion, da auch der Name von Wyckaert aus rein taktischen Gründen in der Liste des Redaktionskomitees auftaucht und nicht, weil er tatsächlich mitgearbeitet hat: »Je vais t’envoyer incessamment la revue. Tu y détiens un poste honorifique dans le comité de rédaction, afin que ton nom ne soit pas absent de cette publication.«304 Somit aber bleiben als aktives Redaktionskomitee nur noch Dahou und Debord übrig. Zusammen mit den signierten Beiträgen von Bernstein, Chtcheglov und Jorn ergibt sich nicht mehr das Bild einer die S.I. repräsentierenden Nr. 1 - vielmehr wird diese zum Organ der französischen Sektion. Dieser Eindruck jedoch soll anscheinend nach außen unbedingt vermieden werden, da er der Forderung nach egalitärer Beteiligung möglichst aller Mitglieder zuwiderläuft. Die Kategorie des Redaktionskomitees und die dabei genannten Namen sind also in diesem Fall, ähnlich wie dies oben bereits für die Artikelsignaturen skizziert wurde, lediglich ein Mittel, den Schein der Umsetzung der eigenen Grundprinzipien zu wahren. Gleichzeitig wohnt ihm aber ein spielerisches, kritisches Moment inne, das sich, wenn auch weniger ausgeprägt als bei den Artikelsignaturen, gegen die Bedeutung der Kategorie des Autors und des geistigen Eigentums richtet und somit einen anderen Aspekt der eigenen Theorie (die Ablehnung herausragender Einzelpersonen) durchaus umzusetzen versucht. Die Bedeutung der kollektiven und, wenn möglich, egalitären Redaktion bleibt bei der I.S. von der Nr. 1 bis zur Nr. 12 deutlich sichtbar. Betrachtet man die Autorschaftsformen im Zeitverlauf, so lassen sich trotz 303 | Debord (1999), S. 100, an Giuseppe Pinot-Gallizio, 16.6.1958, Hervorh. im Orig. 304 | Ibidem, S. 102, an Maurice Wyckaert, 16.6.1958.
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leichter Schwankungen keine nennenswerten Veränderungen oder gar Entwicklungstrends - etwa von der kollektiven zur individuellen Redaktion - bei den Anteilen von unsignierten, kollektiv signierten und individuell gezeichneten Beiträgen erkennen.305 Das Gleiche gilt auch für die grundlegendere Frage, wie groß der Anteil der jeweils aktuellen Mitglieder ist, die bei den zwölf Nummern dem Redaktionskomitee angehörten oder als signierende Autoren an der Zeitschrift mitarbeiteten. Auch hier sind für die beiden Kategorien lediglich leichte Schwankungen, aber keinerlei klare Trends in die eine oder andere Richtung erkennbar.306 Zudem wird bei einem genaueren Blick auf die Mitglieder des Redaktionskomitees deutlich, dass dieses in Bezug auf die Sektionszugehörigkeit weitgehend den zum Veröffentlichungszeitpunkt der verschiedenen Nummern vorzufindenden Mitgliedschaftsstrukturen entspricht.307 Zumindest ist auf dem Papier keinesfalls ein numerisches Übergewicht der französischen Sektion zu erkennen, wie dies vor allem für die letzten Ausgaben intern bemängelt und diskutiert wird. Vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen zum Umgang mit Signaturen und Namensnennungen beim Redaktionskomitee gilt es jedoch zu beachten, dass die hier vorgestellten Zahlen lediglich in der Lage sind, das Bild wiederzugeben, das die S.I. selbst von sich nach außen vermittelt hat. Und dieses Bild ist eben ein auf theoretischen Überlegungen zur Notwendigkeit der egalitären Beteiligung basierendes, das in erster Linie darauf abzielt, die S.I. als kohärente Einheit ohne herausragende Einzelpersonen zu präsentieren. Dies ist ihr, blickt man auf die bloßen Zahlenverhältnisse, zunächst auch gelungen. Dass es sich jedoch vor allem um eine gezielt hergestellte Außenwirkung handelt, die relativ wenig mit den tatsächlichen ›Produktionsprozessen‹ der I.S. zu tun hat, wird besonders deutlich, wenn man die Innenwahrnehmung in diesem Fall die rückblickende von Debord - berücksichtigt. »En négligeant ce détail qu’il y a eu dans tous les numéros de l’I.S. une partie faite de contributions personnelles (souvent notables et parfois même discordantes), on peut dire que, pour l’essentiel de leur rédaction (anonyme), les numéros 1 au 5 ont été faits d’une manière vraiment collective. Du 6 au 9, l’essentiel fut encore fait assez collectivement, surtout par Raoul [Vaneigem, M.O.], Attila [Kotányi, M.O.] et moi. À partir du 10, je me suis trouvé presque seul chargé de mener à bonne fin chaque publication.«308
Die praktische Umsetzung des theoretischen Konzepts der kollektiven Redaktion scheint also alles andere als problemlos verlaufen zu sein bzw. ist nach Debord festzustellen, dass sie im Laufe der Entwicklung 305 | Vgl. hierzu nochmals die Tabelle B.8. im Online-Anhang B. 306 | Vgl. hierzu die Tabellen B.10. und B.11. im Online-Anhang B. 307 | Vgl. hierzu nochmals die Tabelle B.7. im Online-Anhang B. 308 | Debord (2004a), S. 262, an die Mitglieder der S.I., 27.7.1970, Hervorh. im Orig. Diese Einteilung der I.S. in drei Phasen stimmt übrigens nicht mit der Phaseneinteilung überein, die Debord für die gesamte S.I. vornimmt.
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der S.I. immer schlechter funktionierte und bei den letzten drei Nummern der I.S. eine die internen Strukturen konterkarierende, aber nach außen noch aufrecht erhaltene Fassade war.309 Einerseits war das Konzept der anonymen, kollektiven, egalitären Redaktion und Autorschaft, das zunächst auf Basis bzw. als Praxis der eigenen Theorie entwickelt wurde, aus Sicht der S.I. als Abwehrmechanismus gegen die spektakulären Praxen der récupération notwendig, wie dies oben bereits skizziert wurde. Es sollte vor allem dazu dienen, die Herausbildung von ›Stars‹ innerhalb der S.I. zu verhindern: »[L]a bonne raison (pas seulement: la bonne intention) du quasi-anonymat collectif adopté en 1957 dans la revue - pour combattre la tendance du public à créer des vedettes, ne facilite pas aujourd’hui la lecture; et a aidé à faire de l’I.S. une vedette collective.«310 Neben den Schwierigkeiten, die daraus also für den Leser der I.S. entstehen,311 verweist Debord somit auf ein weiteres Problem: Die S.I. selbst ist auf diese Art und Weise zum Star geworden und wird, wie er anschließend einräumt, »comme bloc monolithique et comme mon œuvre personnelle«312 wahrgenommen. Demgegenüber scheint die kollektive Redaktion Debord zufolge bei den Nummern 1 bis 5, also in der Zeit bis Dezember 1960, recht gut zu funktionieren. Dies lässt sich unter anderem aus der Mitgliederstruktur, der theoretischen Vielfalt und der Intensität der inhaltlichen Debatte in dieser Phase erklären. Bei der Positionsvielfalt zu Beginn, grob aufgeteilt in die theoretische, die architektonisch-urbanistische und die künstlerische Fraktion, und - bis zum Erscheinen der ersten Nummer der SPUR im August 1960 - mit der I.S. als einzigem Repräsentationsor309 | Interessant ist hierbei, dass dieses Bild auch nach dem Ende der S.I. noch weiter verbreitet wurde. So heißt es in der Spaltung: »[d]as [die Betonung der kollektiven Produktion, M.O.] ist gelungen, weil keiner unter denen die die Mittel besaßen, eine persönliche Berühmtheit zu erlangen, sie gewollt hat, zumindest solange er in der S.I. war; und weil die, die sie wollen konnten, nicht die Mittel dazu besaßen.« (Debord, Guy/Gianfranco Sanguinetti (1972), S. 59) So zutreffend der zweite Aspekt für viele Mitglieder in der späten Phase gewesen sein mag, so zweifelhaft erscheint der erste für Debord. Hier wäre zu fragen, inwieweit nicht sogar Debord auf das hergestellte Bild kollektiver Produktion hereinfällt und seine eigene Zentralität unterschätzt oder unterschätzen will. 310 | Debord (2004a), S. 439, an Juvénal Quillet, 11.11.1971, Hervorh. im Orig. 311 | Debord hält dieses Problem der Zuordnung von Artikeln jedoch für lösbar: »Cependant une lecture attentive est toujours possible, et alors je crois qu’apparaît bien visiblement, par exemple, l’extrême différence de préoccupation et de ton entre les articles signés par Vaneigem et par moi dans le numéro 12.« (Ibidem, an Juvénal Quillet, 11.11.1971, Hervorh. im Orig.) Dieses Phänomen, dass sich bei der engen Zusammenarbeit innerhalb der Gruppe und bei der kollektiven Redaktion eben gerade kein gemeinsamer Stil herausbildet, sondern der Stil als wichtiges Abgrenzungsmerkmal für die einzelnen schreibenden Mitglieder dient, hebt auch Frank Böckelmann mit Blick auf die S.I. und die Subversive Aktion hervor: »Von einer gegenseitigen Beeinflussung der Schreibweise - im Gegensatz zur Sprechweise - habe ich nichts bemerkt [...]. Im Gegenteil - der schnelle Austausch der Manuskripte für gemeinsame Plattformen förderte jeweils die Herausbildung eines eigentümlichen, persönlichen Stils« (Böckelmann (1991), S. 214). 312 | Debord (2004a), S. 439, an Juvénal Quillet, 11.11.1971.
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gan dieser Positionen nach außen, hatten alle Fraktionen ein Interesse daran, ihre spezifische Position zu formulieren und sie in der Zeitung abgedruckt zu sehen. Denn »[l]’appartenance à un comité de rédaction signifie que l’on contrôle - avec d’autres, la ligne générale d’une publication.«313 Die Mitarbeit hatte somit für die jeweiligen Fraktionen eine strategische Funktion zur Festigung der eigenen Stellung in der Gruppe. Es kam in dieser Phase gar nicht in Frage, sich selbst passiv zurückzuhalten und die Texte eines anderen abzunicken, weil man mit diesen schlichtweg nicht einverstanden war. Die Redaktion der S.I. war ein Widerstreit von Positionen, ein Sich-gegenseitig-Kritisieren, ein Ringen um inhaltliche Standpunkte: »Elle [die Mitarbeit an der I.S., M.O.] ne signifie pas que l’on est souverainement placé au-dessus de toute critique [...]; ni que l’on approuve personnellement chaque ligne«314 und rief nicht zuletzt deshalb eine starke Beteiligung der Mitglieder hervor. Hier ist also so etwas wie eine motivierende Wirkung der inhaltlichen Auseinandersetzung, des ständig hin und her schwankenden Ungleichgewichts verschiedener Positionen innerhalb der Gruppe zu erkennen. Auch wenn die kollektive Redaktion laut Debord auch bis zur Nummer 9 im August 1964 nicht vollkommen zum Erliegen kommt, so beschränkt sie sich doch bereits auf einen kleineren Kreis von Mitgliedern - auffälligerweise nur noch der französischen und der belgischen Sektion. Dies lässt sich zunächst auf die Etablierung der SPUR als Publikationsorgan der deutschen Sektion sowie dem Erscheinen der ersten Nummer der Situationistisk Revolution im Oktober 1962 zurückführen. Diese beiden Sektionen hatten von nun an die Möglichkeit, ihre Position in einer von der I.S. unabhängigen Zeitung zu publizieren, waren also nicht mehr allein auf die I.S. als Repräsentationsorgan nach außen angewiesen. Die zuvor in der I.S. aufeinander prallenden und sich gegenseitig antreibenden - grob gesprochen - eher künstlerischen und eher politischen Positionen, ziehen sich jetzt jeweils auf eine eigene Zeitschrift zurück. Dies hat jedoch auf beiden Seiten eine Vereinheitlichung bzw. Verarmung zur Folge, die sich wiederum negativ auf die Motivation zur Beteiligung auswirken kann. Genau dies ist das Problem, das der Kritik von Jorn alias Keller aus dem August 1961 zugrunde liegt, die aber dann von den belgischen und französischen Mitgliedern als Vereinheitlichungsfrage fehlinterpretiert wird. Jorn hingegen ging es nicht um Vereinheitlichung, sondern darum, sich widersprechende Positionen miteinander zu konfrontieren, um als Gruppe auf der - trotz aller Meinungsverschiedenheiten vorhandenen - gemeinsamen Basis von der produktiven Wirkung des Streits zu profitieren. »Die Gefahr [der Langeweile durch Vereinheitlichung, M.O.] sieht er für beide Tendenzen und so schlägt er vor, die Zeitschriften der SPUR und der S.I. zu einer einzigen Zeitschrift zusammenzuführen [...]. Es geht Jorn darum, die Gegensätze 313 | Debord (1999), S. 371, an Constant, 24.8.1960. 314 | Ibidem, an Constant, 24.8.1960.
200 | Situationistische Internationale so gegeneinander zu stellen und miteinander zu verbinden, daß ein wirkliches Ungleichgewicht entsteht, [...]; er verlangt von den verschiedenen Standpunkten mithin, sich im Wissen um die tiefere Übereinstimmung dem Konflikt zu öffnen, und er rät der Diskussion, die Einheit der S.I. wirklich auf die Probe zu stellen.«315
So verwundert es auch nicht, wenn die von Debord erwähnte kollektive Redaktionsarbeit nur noch innerhalb der französischen und der belgischen Sektion stattfindet und ›nur noch‹ der Diskussion kleinerer Meinungsverschiedenheiten dient. Ähnliches ist bei der Redaktion der SPUR erkennbar. Die produktive Wirkung von inhaltlichen Differenzen auf die egalitäre Beteiligung an der kollektiven Redaktion verlagert sich somit mehr und mehr auf die Sektionsebene, bei der Gesamtgruppe kommt sie hingegen langsam zum Erliegen. Noch einmal jedoch hat der Streit zwischen grundlegend verschiedenen Positionen die Beteiligung an der I.S.-Redaktion beflügelt. Diesmal allerdings nicht mehr in Form der internen Auseinandersetzung, sondern vielmehr als abgrenzender Streit nach außen: gegenüber der Gruppe SPUR und den ›Nashisten‹ nach deren Ausschluss im Frühjahr 1962. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen lässt sich die Entwicklung in der dritten von Debord skizzierten Phase von der Nr. 10 bis zur Nr. 12 - also zwischen März 1966 und September 1969 - mit der zunehmenden inhaltlichen Verarmung und Vereinheitlichung der S.I. in Zusammenhang bringen. Denn mit dieser wird genau das möglich, was zu Beginn undenkbar war: das Abnicken der Artikel eines anderen. Man muss selbst gar nicht mehr schreiben, weil die (vermeintlich) eigene Position schon von einem anderen formuliert wird. In einer solchen Konstellation beinhaltet die Idee der kollektiven Redaktion, die ursprünglich der Abwehr der récupération dienen sollte, gerade die Gefahr, dass sich spektakuläre Strukturen im Inneren der eigenen Gruppe ausbilden, weil sich der Einzelne so hinter seiner bloßen Mitgliedschaft im Redaktionskomitee oder durch die ihm fiktiv zugeschriebenen Artikel in Passivität ergötzen kann. Während die kollektive Redaktion in Phasen des streitbaren Ungleichgewichts verschiedener Positionen eine Zeit lang funktionierte, wendet sie sich in der späten Phase gegen die S.I. Sie führt aufgrund der inhaltlichen Vereinheitlichung zur Herausbildung einer Trennung zwischen aktiven und passiven Mitgliedern - dazu also, dass bei der Produktion der I.S. gerade nicht-egalitäre, hierarchische Strukturen entstehen. Die Gefahr, dass sich solche Strukturen ausbilden und weiter verfestigen, wird dabei auch durch die theoretischen Überlegungen der S.I. bzw. durch ihren stets aufs Neue betonten egalitären Charakter verstärkt. Der Zwang, nach außen den Schein der Egalität zu bewahren - nicht zuletzt, um der eigenen Theorie zu entsprechen - führt dazu, dass die Wahrnehmung der tatsächlichen Hierarchie im Inneren 315 | Ohrt (1997), S. 260.
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erschwert wird. Die S.I. scheint auf ihre eigene Täuschung hereinzufallen. Sie produziert ein Bild nach außen, das einige in ihrem Inneren als Wahrheit sehen. Die S.I. wird und wirkt spektakulär und sorgt selbst für die eigene récupération. Die von der S.I. stets an der spektakulären Gesellschaft kritisierte Passivität, Hierarchisierung und Trennung kann sich aufgrund der im Konzept der kollektiven Redaktion implizierten Gefahr des Verschwimmens von Verantwortlichkeit des Einzelnen im Kollektiv auch in ihrem Inneren ausbreiten. Dabei ist bei diesem Fall der sich ausbreitenden Passivität ein Paradox erkennbar: Durch diese Passivität entstehen innerhalb der Gruppe offensichtliche Schräglagen und Asymmetrien, die Egalität und die anti-hierarchische Form verkommen mehr und mehr zur bloßen Forderung. Diese Hierarchien werden aber gerade nicht von jenen beklagt, die in ihnen weiter unten angesiedelt sind, sondern von ihrer Spitze. Die Aktiven fordern Aktivität und rufen diese bei den Passiven zumindest in dem Maße hervor, dass diese nun ihre Passivität aktiv leugnen oder verteidigen müssen. Vor allem diese Verteidigungsstrategien erscheinen interessant: Auch wenn die Asymmetrien und Hierarchien ein Ergebnis der Passivität der ›schweigenden Mehrheit‹ sind - sich also aus dem gemeinsamen Handeln oder eben Nicht-Handeln entwickelt haben und sich so aus einer Folge von Ereignissen/Nicht-Ereignissen eine neue Struktur gebildet hat - so wird dieser Zusammenhang von Letzteren umgedreht. Es wird argumentiert, dass die Hierarchien schuld seien an der Passivität, dass also ein hierarchisches System von oben etabliert worden sei, das die egalitäre Beteiligung verhindere. Das Problem der Passivität wird hier uminterpretiert zu einem Hierarchieproblem und so letztendlich zu einer Machtfrage umgedeutet.316 »Wer des Machthungers beschuldigt wird, steht immer im Verdacht, alles so zu richten, daß ein Zustand eintritt, in dem sich die anderen als unfähig erweisen, es ihm gleichzutun und er dies ihnen dann vorhalten kann. [...] Debord in die Schuhe zu schieben, daß die ›Kontemplativisten‹ unfähig sind, die Nummer 13 von Internationale situationniste zu erstellen, ist ungefähr genauso zutreffend, wie ihm maßlosen Machthunger vorzuwerfen.«317
Diese Überlegungen machen es abschließend notwendig, noch einmal genauer auf die Rolle von Debord als offiziellem Chefredakteur der I.S. einzugehen. Dass ausgerechnet Debord diese Position von der Nr. 1 bis zur Nr. 12 innehatte, mag sicherlich bezeichnend sein, stellt aber an sich noch kein grundlegendes Problem für die Frage nach der Egalität innerhalb der Gruppe dar - wurde doch die Position des Chefredakteurs vor allem als formal-juristische Notwendigkeit angesehen. Zwar führt 316 | Vgl. zu den Grundzügen dieser langwierigen Debatte u.a. die Position Debords (Debord (2004a), S. 103ff.; S. 110ff. und S. 262) sowie die Stellungnahmen von Riesel (Riesel (1969b)) und Vaneigem (Vaneigem (1970a)). 317 | Kaufmann (2004), S. 251.
202 | Situationistische Internationale
Debord selbst einige der in der Phase ab der Nr. 10 auftretenden Probleme der Passivität eines großen Teils der Mitglieder der S.I. - aber auch des engeren Kreises der Mitglieder des Redaktionskomitees - auf die Rolle des Chefredakteurs (er scheint ganz bewusst nicht von seiner Rolle als Chefredakteur zu sprechen) zurück und erläutert diesbezüglich Folgendes: »En effet, pour nous, le poste de ›directeur‹ est une obligation légale. Mais en outre [...] on court toujours un certain risque de s’habituer à regarder le camarade qui a pris cette responsabilité comme une sorte de spécialiste; à qui on donne des directives générales et des articles, en lui laissant le soin de réaliser la ›mise en scène‹ du numéro. Voilà une forme de division de travail qu’il faut sûrement dépasser.«318
Auch wenn sich diese Zusammenhänge zwischen der Existenz eines Chefredakteurs und der Ausbildung hierarchischer und arbeitsteiliger Strukturen auf einer formalen Ebene sicherlich herstellen lassen, so liegen die Ursachen für die bei der Redaktion der I.S. gegen Ende zu beobachtenden Probleme weniger auf dieser Ebene als vielmehr in der Art und Weise, wie Debord bei der Vorbereitung und Umsetzung der gemeinsamen Zeitschrift von Beginn an agiert hat. Denn bereits ab den Vorbereitungen für die erste Ausgabe übernimmt Debord die Rolle »der unermüdlichen Triebfeder einer Zeitschrift, die alle ihre Mitstreiter, und seien sie auch noch so verschieden, mit bemerkenswerter Güte ermutigt.«319 Debord fungiert von Beginn an als Motivator der anderen Mitglieder, informiert sie stets über den Fortschritt der Redaktionsarbeit, fordert sie zum Verfassen von Artikeln auf, gewährt ihnen mit zum Teil engelsgleicher Geduld Aufschübe, um nur ja auch wirklich die erhofften Beiträge zu erhalten, regt Fragestellungen an und gibt Kommentare zu den eingereichten Beiträgen ab - genau so, wie er seine Texte den Mitstreitern zur Diskussion vorlegt. Doch nicht nur als Organisator im Hintergrund tritt Debord von Beginn an deutlich in Erscheinung, auch bei den Redaktionssitzungen und somit im Prozess der kollektiven Redaktion nimmt er eine zentrale Stellung ein, treibt die Gruppe voran. »Er war in den Redaktionssitzungen derjenige, der die Klärung der theoretischen Positionen beständig antrieb und als Motor der inneren Auseinandersetzungen 318 | Debord (2004a), S. 102, an Robert Chasse, 28.7.1969. Interessant ist hierbei zudem, dass Debord mit diesen Ausführungen deutlich macht, wie sehr auch die S.I. dazu gezwungen war - in diesem Fall durch rechtliche Vorgaben - genau die Strukturen von Trennung, Spezialisierung und Hierarchisierung in ihrem Inneren einzuführen, die sie dort und auch nach außen hin so grundsätzlich ablehnte und aufzuheben versuchte. 319 | Kaufmann (2004), S. 251. Vgl. hierzu exemplarisch Debords Briefe an die belgische Sektion, Constant, Jorn, Korun, Melanotte, Pinot-Gallizio und Wyckaert (Debord (1999), S. 36ff.; S. 39; S. 40; S. 59f.; S. 66; S. 72ff.; S. 74f.; S. 77ff.; S. 83f.; S. 93ff.).
Theorie und Gruppenstruktur der S.I. | 203 zu propagandistischen Aktivitäten aufforderte, sie orientierte, ihnen Resonanz verschaffte und über ihre Schärfe wachte. Daher nahm man vor allem seine Stimme in den kollektiv verantworteten Texten der Zeitschrift wahr, obwohl sie das Medium des nachhaltigen inneren Klärungsprozesses der S.I., das Redaktionskollektiv, passieren mußten und intensive Diskussionen hinter sich hatten.«320
Debord manövriert sich von Beginn an im Rahmen der Zeitung selbst in die Chef-Position - und dies nicht nur durch die formale Position als Chefredakteur. Bei den ersten Nummern der I.S. ist seine Rolle als Motivator noch nicht als problematisch anzusehen, weil sich die anderen tatsächlich noch motivieren lassen. Auch wenn sich hierin bereits der Keim für die später entstehenden arbeitsteiligen und hierarchischen Strukturen ausmachen lässt, ist feststellbar, dass es ihm gerade durch dieses Verhalten gelingt, die anderen zur Beteiligung anzuregen und somit wirklich zu einer kollektiven Redaktion zu gelangen. Im Grunde genommen entspricht diese Konstellation der Ausgangsproblematik, wie sie die S.I. mit Blick auf die Methode der Situationskonstruktion skizziert hat: Es lässt sich anfangs nicht vermeiden, dass es einen Leiter der Situationskonstruktion gibt, genauso wie es einen ausführenden ›Stab‹ gibt und solche, die die konstruierte Situation lediglich erfahren. Problematisch wird dies jedoch, da sich dieses Problem in der Folgezeit nicht etwa auflöst, sondern sich die Arbeitsteilung und die Hierarchisierung immer mehr verfestigt und sich eine deutliche und dauerhafte Trennung zwischen Situationskonstrukteuren und -konsumenten ausbildet. Aus Sicht Debords scheint seine zentrale Stellung so lange nicht zum Problem für die Gruppe zu werden, wie er sie nur einnimmt, um dadurch motivierend auf die anderen einzuwirken. Eine entscheidende Bedeutung hat für ihn dabei die Figur des gleichwertigen Mitstreiters oder auch Konkurrenten - die Egalität der Beteiligung ist somit nicht zu trennen von einer grundlegenden Ausgewogenheit der Kompetenz der jeweiligen Mitglieder. »Pour faire une revue [...], il faut une véritable équipe. Autrement dit, il faut au moins trois ou quatre camarades, en plus de, par exemple, toi et moi. Et je veux dire: des gens au moins aussi capables que nous.«321 Genau diese ›Mannschaft‹ steht Debord zunächst zur Verfügung: sei es mit Constant, Jorn und Pinot-Gallizio bis 1960/61 oder danach mit Vaneigem, Kotányi und Khayati. Dass diese Mannschaft keineswegs mit Einheitlichkeit oder Einverständnis gleichzusetzen ist, wird besonders bei der ersten Phase deutlich, wie dies oben im Zusammenhang mit Jorns Konzeptionen des Ungleichgewichts und der produktiven Wirkung von Diskussion oder gar Streit bereits aufgezeigt wurde. Vielmehr setzt sich das Team aus einer Mehrzahl von dyadischen Beziehungen und themenspezifisch wechselnden Koalitionen 320 | Ohrt (1997), S. 265. 321 | Debord (2004a), S. 436, an Juvénal Quillet, 11.11.1971.
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zusammen, die Produktivität entsteht somit aus einem Gleichgewicht von Ungleichgewichtszuständen. Erst in dem Moment, als sich für Debord eine solche Konstellation in der S.I. bzw. im Redaktionskomitee nicht mehr aufbauen lässt, wie er dies selbst ab der Nr. 10 immer mehr erkennt, scheint er sich seiner zentralen Position bewusst zu werden. Einer Position, die sich durch das Fehlen von gleichwertigen Mitstreitern immer mehr von der eines ›primus inter pares‹ zu einer klassischen Macht- und Führungsposition wandelt. Aus einem Geben und Nehmen zwischen mehreren wird immer mehr ein Geben Debords und ein Sich-auf-dieses-Geben-Verlassen der Übrigen. Dennoch überrascht es vor dem Hintergrund der hier skizzierten und von Beginn an zu erkennenden Zentralität Debords, dass er in seinen Schreiben an die anderen Mitglieder über seine tatsächliche Machtposition verwundert zu sein scheint. Während Riesel bemerkt, dass »Guy [Debord, M.O.] a assuré la rédaction de plus de 70% du n° 12«322 , stellt Debord diese Aussage gleich wieder in Frage: »Je ne crois pas avoir écrit 70% de cette revue.«323 Zumindest scheint dies für ihn grundsätzlich noch kein Problem darzustellen: »[E]n tout cas je ne déplorerais pas trop, par quelque mesquine mesure quantitative, une tendance passagère à l’exploitation abusive d’une certaine compétence rédactionnelle.«324 Die negativen Folgen seiner Dominanz und deren Widerspruch zu den inhaltlich-theoretischen Aussagen der S.I. jedoch hebt er deutlich hervor. »Il est donc évident que, malgré quelques beaux bavardes sur l’égalité, la cohérence, la présence contre la représentation - et j’en passe - toutes les conditions objectives étaient réunies pour que cette revue (très importante pour la conduite de l’I.S. en général) soit purement et simplement la chose d’un seul de nous: à condition qu’il veuille bien penser et écrire un peu, une section toute contemplative n’était prête qu’à dire ›amen‹.«325
Um in der Lage zu sein, »[de] donner à tous l’occasion d’une collaboration à égalité, que la qualification spécialisée acquise par deux ou trois de nous dans le maniement de l’ancienne formule ne favorisait certainement pas«326 , gilt es, die Struktur des Redaktionskomitees grundlegend umzugestalten. Debord zieht daraus zunächst die grundlegende Konsequenz und legt nach dem Erscheinen der Nr. 12 seinen Posten als Chefredakteur nieder. Die von Debord dafür angeführte Begründung - »Le vieux principe révolutionnaire de la rotation des tâches, après si longtemps, suffirait à justifier cette décision.«327 - zeigt zunächst einmal 322 | Riesel (1969b). 323 | Debord (2004a), S. 111, an die französische Sektion der S.I., 1.9.1969. 324 | Ibidem, an die französische Sektion der S.I., 1.9.1969. 325 | Ibidem, S. 112, an die französische Sektion der S.I., 1.9.1969. 326 | Ibidem, S. 103, an die Mitglieder der französischen Sektion der S.I., 28.7.1969. 327 | Ibidem, an die Mitglieder der französischen Sektion der S.I., 28.7.1969.
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nur, dass Debord auch in dieser entscheidenden Situation den Humor nicht verloren hat. Denn anders als mit einem Augenzwinkern kann man die Argumentation der Ämterrotation nach 12 Ausgaben und sage und schreibe 13 Jahren nicht auffassen. Dementsprechend fasst Debord im Anschluss dann auch nochmal die zwei zentralen Argumente für seinen Rückzug zusammen. Eines bezieht sich auf die internen Strukturen der S.I. und deren Widerspruch zu den eigenen Theoriekonzepten und das zweite nimmt die Außenwirkung der S.I. und Debords in den Blick: »Il a d’autant plus de poids en la circonstance que plusieurs textes de l’I.S. ont grandement mis l’accent sur la cohérence et les capacités suffisantes de tous ses membres. D’autre part, beaucoup de nos adversaires étant portés à me présenter sottement comme ›le chef‹ de l’I.S., je crois que nous devons prendre garde, au point de vue des fabricants extérieurs de vedettes, à me faire rentrer dans l’ombre autant que nous pourrons.«328
Mit seinem Rückzug vom Posten des Chefredakteurs beginnt Debord damit, sein eigenes Verschwinden vorzubereiten und sich um der Egalität willen zurückzunehmen - in der Hoffnung, so seine Ersetzbarkeit unter Beweis zu stellen und die Qualität der Gesamtgruppe zu betonen. Nach dem Rückzug Debords wird Viénet zum neuen Chefredakteur ernannt und auch das Redaktionskomitee wird mit Beaulieu, Riesel und Sebastiani neu besetzt. Dabei wird sogar Debords Anmerkung zur Ämterrotation nochmals aufgegriffen: »Le directeur devra être pris parmi les camarades qui pourront l’être également. Il fera partie du comité de rédaction réduit de 2 à 4 membres qui aura le travail réel de ›direction‹ de la revue et devrait changer à échéances de 2 ou 3 numéros par exemple.«329 Diese Umstrukturierungen haben jedoch nicht die gewünschten Auswirkungen, die geplante Nr. 13 wird nicht mehr erscheinen. Auch wenn es keinen Sinn macht, es »Debord in die Schuhe zu schieben, dass die ›Kontemplativisten‹ unfähig sind, die Nummer 13 von Internationale situationniste zu erstellen«330 , so bestätigt Debord damit ungewollt seine zentrale Stellung. Er versucht zwar, sich gezielt aus dem Rampenlicht zurückzunehmen, aber gerade dadurch, dass dies als sein Beschluss durchgesetzt wird, formuliert er indirekt seinen Führungs- und Entscheidungsanspruch. Vor allem aber wird dadurch, dass die anderen in der Folge unfähig sein werden, sich egalitär zu beteiligen und seine Aufgaben zu übernehmen, durch sein Manöver - wenn auch ungewollt eben genau diese ihm nachgesagte Chef-Position bestätigt. Dieses Spiel, diesen Versuch der Aufhebung der hierarchischen Strukturen, der Ablehnung und gleichzeitigen Bestätigung seiner zentralen Stellung unternimmt Debord 1972 erneut. Noch ein letztes Mal wird er die Position als 328 | Debord (2004a), S. 103, an die Mitglieder der französischen Sektion der S.I., 28.7.1969. 329 | Riesel (1969b). 330 | Kaufmann (2004), S. 251.
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Chef der Gruppe ungewollt einnehmen - um sie zugleich für immer zu beseitigen: durch die Auflösung der S.I. Erst durch die Abschaffung von Chef und Gefolge, durch die Auflösung der Gruppe kann die Hierarchie aufgelöst und Egalität hergestellt werden. Alle sind nun gleichermaßen ehemalige Mitglieder der S.I.
4 Die S.I. im Spannungsfeld von Theorie und Praxis 4.1 Mitgliedschaft in der S.I. 4.1.1 Interpersonelle Beziehungen und Gruppenmitgliedschaft Das bereits erwähnte Valéry-Zitat ›L’esprit abhorre les groupements‹ und Thurns Anmerkungen zur ›Sozialität der Solitären‹ lassen die Entstehung einer Gruppe wie der S.I. zunächst unwahrscheinlich erscheinen. Der bloße Wille zur Ausarbeitung eines gemeinsamen Projekts dürfte alleine nicht ausreichen, um eine Vielzahl von Individualisten zu einer Gruppe zusammenzubringen.1 Vielmehr ist davon auszugehen, dass hierfür die zuvor zwischen den Beteiligten vorhandenen interpersonellen Beziehungen und Freundschaften einen entscheidenden zusätzlichen Antrieb liefern - nicht zuletzt, weil diese Beziehungen es häufig erst ermöglichen, dass die Idee für ein solches gemeinsames Projekt überhaupt entsteht. Umgekehrt wird dieses dadurch gefestigt, dass sich auf seiner Basis wiederum neue Beziehungen herausbilden können. Doch auch nach dem Moment der Gruppenbildung sind interpersonelle Beziehungen und Gruppenmitgliedschaft auf zwei Arten miteinander verbunden: So wie die Ersteren die Grundlage für Letztere bilden können, bietet die Gruppe den Rahmen, der die Entstehung von neuen interpersonellen Beziehungen ermöglicht. Doch gilt diese doppelte Verbindung nicht nur für die Anfänge von interpersonellen Beziehungen und Gruppenmitgliedschaft, sondern auch für deren Ende. So kann das Ende einer Freundschaft das Ende der Gruppenmitgliedschaft nach sich ziehen oder der Austritt/Ausschluss aus der Gruppe die Folge haben, dass auch die Freundschaft zerbricht. 1 | Das für Künstlergruppen von Thurn als zentral herausgearbeitete Problem der ›Sozialität der Solitären‹ wird bei der S.I. gerade bis 1962 immer wieder deutlich, wie sich u.a. an der Auseinandersetzung zwischen der S.I. und Platschek nach dessen Ausschluss zeigen lässt. Hier heißt es in den Telegrammen, die die beiden Seiten austauschen: »Platschek an S.I.: ›Die Pariser Concierges müssen eliminiert werden. Ihre Aufpassermentalität hat die revolutionären Intellektuellen infiziert. Das Wir ist hassenswert.‹ S.I. an Platschek: ›Der Individualist Platschek ist zu lieb. Er ist ein revolutionärer Intellektueller, wenn man nicht auf ihn aufpaßt. Doch die Aufpasser haben es sich zu leicht gemacht. Damit ist jetzt Schluß. Ohne das Wir fällt das Ich in die vorfabrizierte Masse zurück.‹« (Situationistische Internationale (1959a), S. 246) Weitere Überlegungen zum Verhältnis von Individuum und Gruppe finden sich in den Diskussionen zwischen Debord und Constant. Interessant ist vor allem, dass hier ein Zusammenhang hergestellt wird zwischen den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und der Notwendigkeit zur Überwindung der Vereinzelung. Die Gruppenbildung wird hier zur widerständigen Reaktion auf das gesellschaftliche Umfeld (vgl. Debord (1999), S. 197, an Constant, 28.2.1959).
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Im Folgenden geht es weniger um den Aspekt, inwiefern zuvor existierende interpersonelle Beziehungen zur Gruppengründung beigetragen haben,2 sondern vielmehr um die Untersuchung des vielschichtigen und vor allem spannungsreichen Verhältnisses zwischen interpersonellen Beziehungen und Mitgliedschaft im Rahmen einer bestehenden Gruppenkonstellation. Denn abgesehen davon, dass das Gruppenumfeld auch die Möglichkeit zur Entstehung neuer interpersoneller Beziehungen bietet, werden die bereits bestehenden und im Kern dyadischen interpersonellen Beziehungen im Rahmen einer Gruppenkonstellation vor neue Herausforderungen gestellt, können/müssen sich dieser neuen Umgebung anpassen oder können an ihr auch zerbrechen. Neben das von Thurn in den Mittelpunkt gerückte Problem von Individualität und Kollektivität tritt ein zweites: das Aufeinandertreffen von verschiedenen Dyaden in einer Gruppe und die Frage, inwieweit sich diese Dyaden hier verändern, überlagern, aufgebrochen werden, sich zu Triaden oder größeren Netzwerkstrukturen erweitern oder um diese ergänzt werden. Mit Blick auf die strukturelle Ebene geht es hierbei um die Verbindung bzw. Konfrontation von informellen und formellen Strukturen, bezogen auf die inhaltliche Ebene um das Aufeinandertreffen von Privatheit und Öffentlichkeit, von zusammen leben und zusammen arbeiten, von Sympathie und Theorie oder pointiert formuliert, um das Verhältnis zwischen Freundschaft und Mitgliedschaft. Ein erster Aspekt, über den der Begriff der Freundschaft mit dem Verständnis von Mitgliedschaft, wie es bei der S.I. anzutreffen ist, in Verbindung gebracht werden kann, ist der der Egalität. So wie Freundschaft als egalitäre Beziehungsform gesehen und so von interpersonellen Abhängigkeitsverhältnissen wie Patronage und Gönnerschaft zunächst abgegrenzt wird, so ist die Forderung nach Egalität innerhalb der Gruppe ein zentrales Merkmal der S.I. Dabei können jedoch beim Zusammentreffen von dyadischen Freundschaftskonstellationen und dem Gruppenkontext verschiedene Schwierigkeiten entstehen. Denn auch wenn die einzelne Dyade als egalitär aufgefasst wird, so kann doch durch eine Vielzahl von einander überkreuzenden Paar-Konstellationen die Egalität insgesamt wieder untergraben werden, wenn zum Beispiel unter den Mitgliedern dadurch eine Rangordnung entsteht, dass Einzelne innerhalb der Gruppe über unterschiedlich viele oder auch unterschiedlich wichtige dyadische Verbindungen verfügen und sich daher in Bezug auf die Zentralität ihrer Stellung und somit ihres Einflusses zum Teil deutlich voneinander unterscheiden.3 Zudem ist die Egalität innerhalb der Gruppe unter Umständen durch die sich innerhalb der Dyade entwickelnde Vertrautheit, durch das starke Zusammengehörigkeitsgefühl oder gar durch das sich dort herausbildende Geheimnis bedroht. Vor allem letz2 | Vgl. Bandini (1998), S. 49ff.; Ford (2007), S. 11ff. sowie Ohrt (1997), S. 99ff. 3 | Vgl. zum Begriff der Zentralität von Akteuren in Netzwerken und den damit eng verbundenen Aspekten von Prestige und Hierarchisierung u.a. Jansen (2003), S. 129ff.
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terer Aspekt ist vor dem Hintergrund der theoretischen Überlegungen der S.I. von besonderer Bedeutung, hat sie doch neben der Egalität vor allem die Transparenz von Kommunikation und Handlungen innerhalb der Gruppe gefordert. Freundschaft bzw. dyadische Beziehungen als Geheimnisse ausbildende Praxis der Trennung und Abschottung nach außen sind hier konfrontiert mit der Forderung nach einem transparenten Gruppengefüge.4 Ausgehend von dem Problem, inwieweit sich die grundsätzlich auf Freiwilligkeit beruhende Freundschaft in einen auch mit Verpflichtungen verbundenen Gruppenkontext einbinden lässt, ist des Weiteren festzustellen, dass Freundschaft im Vergleich zu Geistesgenossenschaft oder Bekanntschaft als relativ dauerhafte - und im Fall der idealen Freundschaft gar als lebenslange - Form der Bindung angesehen wird. Wie ist dieser dauerhafte Aspekt von Freundschaft mit dem in der Theorie der S.I. zentralen Aspekt des Momenthaften und - noch schwieriger - mit der Bewegung des Verschwindens in Einklang zu bringen? Ein erster Anhaltspunkt für diese Verbindung ergibt sich, wenn man beachtet, dass Freundschaft immer nur aus der Rückbetrachtung heraus dauerhaft sein kann und nie im Blick nach vorne. Denn aufgrund der ihr zugrunde liegenden Freiwilligkeit bietet sie keine Garantien für eine zukünftige Dauerhaftigkeit - sie ist ein Bitten und keine Verpflichtung. Freundschaft unter Gleichen lässt sich als gegenseitige, andauernde Einladung auffassen, aus der sich ein fortdauernder Prozess zufälliger Ereignisse ergibt. Sie ließe sich somit in den Worten der S.I. als eine aufeinander Bezug nehmende Reihe von konstruierten Situationen beschreiben. Dies hat zur Folge, dass sie als »riskante Vorleistung«5 stets nur ›auf Bewährung‹ vergeben wird, dass sie also das Ende oder den Bruch von Anfang an als Möglichkeit mit einschließt. Die Freiwilligkeit der Freundschaft, ihre Struktur als Bitten, legt es nahe, im Ethos der Gabe ein zentrales Charakteristikum von Freundschaft zu vermuten. Freundschaft ließe sich somit als Potlatch zwischen zwei Personen auffassen bzw. als Potlatch von mehreren Personen, die jedoch im Kern durch dyadische Beziehungen miteinander verbunden sind. Freundschaft als Potlatch setzt eine nicht ausbeutende Haltung aller Beteiligten voraus, ein Gleichgewicht von Gabe und Gegengabe sowie eine gewisse Selbstverständlichkeit im Geben. Das Ende von Freundschaften wäre somit in dem Moment zu erwarten, in dem der Potlatch zusammenbricht, dann also, wenn es innerhalb der Freundschaft zur ›Ausbeutung‹ kommt, d.h. in dem Moment, wo die Freundschaft - in den Worten der S.I. formuliert - spektakulär zu 4 | Ein weiterer mit der Egalitätsforderung zusammenhängender Aspekt ist in diesem Kontext noch zu erwähnen. Es handelt sich um die Frage, inwiefern die dyadische Grundstruktur und das dort auszumachende Zusammengehörigkeitsgefühl bzw. das sich dort ausbildende Geheimnis innerhalb eines größeren Gruppenkontextes zur Ausdifferenzierung verschiedener Rollen und zur Spezialisierung führen kann. Denn dies wäre eine Entwicklung, die die S.I. für sich selbst strikt ablehnt (vgl. Situationistische Internationale (1960e), S. 161). 5 | Luhmann (2000), S. 27ff.
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werden droht. An einem solchen potenziellen Ende kann eine Freundschaft, nicht zuletzt aufgrund der ihr immanenten Eigenschaften der Bindung, Öffnung und Nähe sehr leicht in ihr Gegenteil, die Feindschaft umschlagen oder doch zumindest einen vollständigen Kontaktabbruch zur Folge haben. So lange sie jedoch als Potlatch funktioniert, stellt sie sich gegen die ausbeutenden, bevormundenden, hierarchisierenden und trennenden Grundmechanismen der spektakulären Gesellschaft. Es deutet sich somit bereits an, dass die Begriffe der Freundschaft und der dyadischen Beziehungen vor dem Hintergrund der Theorie der S.I. nicht unproblematisch sind, da sie diesbezüglich eine zwiespältige Position einnehmen: Einerseits sind sie aufgrund der ihr zugeschriebenen Merkmale wie Gleichheit, Reziprozität, Loyalität, Vertrauen und Freiwilligkeit als Ausdruck von leidenschaftlichem Alltagsleben zu sehen, als die Gleichheit der Beteiligten zunächst befördernde Phänomene, als authentische Kommunikation und als die kleinste und wohl intensivste Form des Potlatch. Andererseits ist zu untersuchen, inwieweit sich eben diese Eigenschaften von dyadischer Freundschaft mit dem Gruppenkontext vereinbaren lassen. Es geht also darum, zu fragen, in welchem Verhältnis die Forderung der S.I. nach authentischer Kommunikation, nach Egalität und anti-hierarchischen Strukturen als Ziel all ihrer Bemühungen zur tatsächlich vorhandenen Kommunikation und zu den Strukturen innerhalb der eigenen Gruppe steht. Dabei kann das Freundschaftsverständnis eine wichtige Rolle spielen: Ist Freundschaft gemeinsames Denken, Reden und Handeln? Ist sie die diesem zugrunde liegende, aber verborgene Substanz? Oder hindert Freundschaft vielleicht an gemeinsamer Aktion, weil auf sie zuviel Rücksicht genommen werden muss und das Handeln und Denken somit an Radikalität einbüßt oder weil durch eine Vielfalt von Freundschaftsdyaden wieder Hierarchien, Trennungen und Geheimnisse in die Gruppe eingeführt werden? Dies erscheint umso interessanter und aufschlussreicher, als genau diese Frage nach der internen Funktionsweise der eigenen Gruppe für die S.I. zentral und aufs engste mit ihren theoretischen Positionen verknüpft ist: »Für die Gruppen, die es versuchen, eine revolutionäre Organisation neuen Typs zu schaffen, ist die größte Schwierigkeit die Aufgabe, neue menschliche Beziehungen innerhalb einer solchen Organisation zu schaffen.«6 Dennoch steht der Begriff der Freundschaft in den Texten der S.I. nicht im Mittelpunkt, und die Gruppe war auch weit davon entfernt, so etwas wie eine Theorie der Freundschaft zu entwickeln. Allerdings gibt es doch einige diesbezügliche Randbemerkungen, die einen ersten Eindruck davon vermitteln, wie die S.I. selbst zur Frage der Verbindung von Zusammenarbeit in einer Gruppe und den in ihr vorhandenen interpersonellen Beziehungen bzw. Freundschaften steht. Dass eine solche Verbindung nicht von der Hand zu weisen ist, wird deutlich zum Aus6 | Situationistische Internationale (1961a), S. 209.
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druck gebracht: »Eine Mitarbeit geistiger oder künstlerischer Art, wenn man sie so nennen will, innerhalb einer Gruppe, die ähnlich wie unsere Forschungen betreibt, verbindet unseren Gebrauch des alltäglichen Lebens. Diese Mitarbeit ist immer mit einer gewissen Freundschaft verquickt.«7 Die Verbindung zwischen Gruppenmitgliedschaft und Freundschaft wird hier also vor allem aus der Tatsache abgeleitet, dass das gemeinsame Arbeiten bis zu einem gewissen Punkt auch ein gemeinsames Leben zur Folge hat. Dies ist bei der S.I. nicht nur so aufzufassen, dass man aufgrund der inhaltlichen Zusammenarbeit viel Zeit miteinander verbringt, sondern auch dahingehend, dass die Beteiligten ihr Leben gemäß der theoretischen Positionen führen sollen, dass das Leben der Mitglieder als Praxis der eigenen Theorie zu bewerten ist. Die fehlende genauere Bestimmung des Freundschaftsbegriffs bei der S.I. zusammen mit der relativierenden Formulierung ›mit einer gewissen Freundschaft‹ führt dazu, dass die hier erwähnte Freundschaft in den Begriffen Kracauers eher unter Fachgenossenschaft und/oder Gesinnungsgenossenschaft, denn unter idealer Freundschaft zu subsumieren ist.8 Der Freundschaft wird dabei eine positive Wirkung auf die Zusammenarbeit zugeschrieben: So »kann eine solche gemeinsame Arbeit [...] nicht gedeihen, ohne mit Freundschaft verquickt zu sein«9 . Zugleich wird jedoch klargestellt, dass beide nicht zusammenfallen. Interessant ist hierbei vor allem die Begründung, warum Freundschaft und Zusammenarbeit bzw. Mitgliedschaft sich unterscheiden und warum Zusammenarbeit nicht als Freundschaft aufgefasst werden sollte: »Es stimmt aber auch, dass sie mit der Freundschaft nicht gleichgestellt werden kann und nicht den gleichen Schwankungen unterliegen sollte; und auch nicht denselben Formen von Kontinuität und Nachlassen.«10 Konfliktpotential zwischen Freundschaft und Zusammenarbeit kann also vor allem aufgrund der auf die emotionale Basis zurückführbaren Schwankungen der Ersteren entstehen. Diese können im schlimmsten Fall zu einem Nachlassen oder Ende der Freundschaft führen, während ein solches für das gemeinsame Projekt anscheinend nicht vorgesehen ist. Auch diese Ausführungen als indirekte Präzisierung des Freundschaftsbegriffs stärken die obige Annahme, dass dieser bei der S.I. weniger mit dem Begriff der idealen Freundschaft, sondern vielmehr mit derjenigen von mittlerer Freundschaft oder Gesinnungsgenossenschaft in Einklang zu bringen ist. Doch nicht nur das Ende einer Freundschaft kann problematisch für die Zusammenarbeit werden, auch umgekehrt können die beiden Aspekte in Konflikt miteinander geraten - wenn aufgrund inhaltlicher 7 | Bernstein (1958b), S. 30. 8 | Allerdings sollte der nüchterne Beiklang von ›Fachgenossenschaft‹ oder ›Gesinnungsgenossenschaft‹ nicht dazu führen, dass dieser die Leidenschaftlichkeit und das Konfliktpotential abgesprochen wird. 9 | Ibidem, S. 32; Hervorh. M.O. 10 | Ibidem.
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Differenzen die Kooperation beendet und ein Freund aus der Gruppe austreten oder aus ihr ausgeschlossen werden muss. »Denken wir also an die, die an dieser Verbindung teilgenommen haben und dann aus ihr ausgeschlossen wurden, so sind wir gezwungen zu bedenken, dass sie auch unsere Freunde gewesen sind. Manchmal ist das ein Vergnügen. Für andere aber ist es lächerlich und lästig zugleich.«11 Das Ende der Zusammenarbeit, die Einsicht, dass der Ausgetretene bzw. Ausgeschlossene den inhaltlich-theoretischen Ansprüchen der Gruppe nicht gerecht wurde, kann dazu führen, dass auch die Freundschaft in Frage gestellt werden muss oder den faden Beigeschmack bekommt, sich in diesem Freund, zwar nicht was die Ebene der Emotionen, aber doch was die der geistigen Fähigkeiten angeht, getäuscht zu haben. Genauso scheint es möglich zu sein, dass das Ende der Mitgliedschaft keine Auswirkungen auf die Freundschaft zeigt. Gründe für diese zwei Möglichkeiten werden jedoch keine angeführt, nach ihnen gilt es daher im weiteren Verlauf dieser Arbeit zu suchen. Was aber bereits deutlich wird, ist die Tatsache, dass die Freundschaft eine Auswirkung auf die Endgültigkeit des Bruchs hat. Bleibt die Freundschaft über den Moment des Ausschlusses hinaus erhalten, so bildet sie die Basis für eine mögliche erneute Zusammenarbeit unter anderen Bedingungen. In dieser Konstellation wird zudem deutlich, dass die Freundschaft trotz aller Schwankungen als dauerhafte Bindung angesehen wird, die sich - je nach der zur Diskussion stehenden inhaltlichen Frage - mal besser mal schlechter mit einer Zusammenarbeit im Rahmen einer Gruppe vereinbaren lässt. »Man muss zwar klar sehen, wann die Begegnung bei einer konkreten, kollektiven Aufgabe unmöglich wird, sich aber fragen, ob sie nicht unter veränderten Verhältnissen wieder möglich und zwischen Personen sogar wünschenswert ist, die sich weiter gegenseitig schätzen konnten.«12 Die Vereinbarkeit von Freundschaft und Mitgliedschaft wird also als eine meist nur situativ mögliche aufgefasst, informelle und formelle Bindungen erscheinen als zwei sich phasenweise kreuzende Wege. Die Möglichkeit einer erneuten Zusammenarbeit nach dem Ende einer ersten Phase des gemeinsamen Weges ist jedoch keine offizielle, erwartbare Option; sie kann sich vielmehr nur als zufällige, situationsabhängige und spontane inhaltliche Wiederannäherung ereignen13 - nicht zuletzt, da eine solche offizielle Option auf Rückkehr den theoretischen Positionen der S.I. von der Endgültigkeit des Bruchs widersprechen würde. Genau so ist es nicht möglich, die Mitgliedschaft in Krisenzeiten zwischenzeitlich ruhen zu lassen - man muss die Gruppe zu allen Zeiten
11 | Bernstein (1958b), S. 30. 12 | Ibidem, S. 32. 13 | Diese Konstellation findet sich u.a. beim Verhältnis zwischen Debord und Jorn, zwischen Debord und Chtcheglov oder als gescheiterter Versuch zwischen Debord und Straram sowie zwischen Debord und Constant.
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»ganz akzeptieren oder verwerfen. [...][Sie] verkauf[t] keine Details.«14 Genau einen solchen Versuch unternahm jedoch Constant vor seinem Austritt, bei dem er es Debord überlassen will, ob er ihn als vorübergehenden oder endgültigen Austritt auffasst.15 Diese Anfrage nach einem zeitweisen Rückzug wird von Debord scharf zurückgewiesen.16 Nachdem Constant weiterhin offen lässt, ob er sich endgültig oder vorübergehend aus der S.I. zurückziehen möchte, und er gleichzeitig diese Rigorosität, mit der Debord auf dieser Frage beharrt, als lächerlich bezeichnet,17 betont Debord abermals die Bedeutung und die Ernsthaftigkeit, die die Frage des Bruchs für die S.I. besitzt: »Mais comme tu nous laissais encore à juger si ton ›éloignement‹ serait ou non définitif, je t’ai prévenu qu’une démission confirmée serait sans retour parce que, précisément, ce qui constitue d’abord l’I.S. est le contrôle d’ensemble, exprimé par l’exclusion - ou la démission, qui est plus rare - contrôle dont il n’y a aucune raison de croire qu’il sera ›ridicule de parler‹.«18 Sowohl Austritt als auch Ausschluss werden also theoretisch als unwiderruflich und endgültig aufgefasst. Die Praxis der S.I. widerspricht diesem Prinzip jedoch in einzelnen Fällen. Denn in Situationen, in denen die Zusammenarbeit nach dem Austritt ein explizit spielerisches Moment hat, wie im Falle von Jorn, ist diese auf Basis einer stabilen Freundschaft durchaus möglich. Geht die Freundschaft aber zusammen mit dem Austritt/Ausschluss in die Brüche, so ist dieser unwiderruflich. »Wir wollen klar sagen, dass alle Situationisten die Erbschaft der Feindlichkeit ihrer ursprünglichen Gruppen beibehalten werden und dass keine Rückkehr mehr möglich ist für die, die wir einmal verachten mussten.«19 Deutlich wird hierbei zweierlei: zum einen die Tatsache, dass das Funktionieren einer inhaltlichen Zusammenarbeit zunächst grundsätzlich als wichtiger eingestuft wird als die damit verbundene interpersonelle Beziehung. Nicht die Qualität der Beziehung entscheidet über die Dauer der Zusammenarbeit, sondern die theoretischen Fähigkeiten und Gemeinsamkeiten. Zum anderen jedoch - und das schwächt die erste Feststellung etwas ab - ist zu erkennen, dass nicht nur das 14 | Situationistische Internationale (1962c), S. 270. 15 | Vgl. Constant (1960b). 16 | Vgl. Debord (1999), S. 339, an Constant, 2.6.1960. 17 | Vgl. Constant (1960e). 18 | Debord (1999), S. 340, an Constant, 21.6.1960. Vgl. zu dieser Auseinandersetzung zwischen Constant und Debord auch Kaufmann (2004), S. 196, Fußnote 114 und Ohrt (1997), S. 218. 19 | Bernstein (1958b), S. 32; Hervorh. M.O. Die einzige Ausnahme bezüglich der Unmöglichkeit der Rückkehr bildet hierbei Chtcheglov, der - Jahre nachdem er aus der L.I. ausgeschlossen worden war - zum Mitglied der S.I. - wenn auch ›aus der Ferne‹ - wird und zwar, ohne dass diese Besonderheit hervorgehoben oder erklärt würde. Bei dieser ›Erbschaft der Feindlichkeit‹ handelt es sich in erster Linie um die der L.I., die die S.I. in puncto Radikalität von Ausschlüssen noch übertroffen hat. Dies verdeutlicht die zentrale Stellung, die die L.I. - allen voran ihr Vordenker Debord - auch im Hinblick auf die ›Gruppentheorie‹, d.h. im Hinblick auf die Frage nach der Organisationsstruktur und Funktionsweise der S.I. hat.
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Ausmaß des inhaltlichen Dissenses einen Einfluss auf die Frage nach dem Weiterbestehen der interpersonellen Beziehung nach Beendigung der Zusammenarbeit hat, sondern auch die Intensität dieser Beziehung selbst. Hier wird eine implizite Unterscheidung zwischen punktueller, am Inhaltlich-Theoretischen ausgerichteter Geistesgenossenschaft und auf Emotionen basierender und dauerhafterer Freundschaft erkennbar. Dabei verlaufen Geistesgenossenschaft und Mitgliedschaft, wenn auch nicht zwangsläufig bei ihrer Anbahnung, so doch bei ihrer Beendigung, zeitlich parallel, während sich die Zeitstrukturen von Mitgliedschaft und Freundschaft weder beim Beginn noch beim Ende decken müssen. Beim Beginn sind beide Varianten denkbar: dass die Mitgliedschaft die Folge einer vorher bestehenden Freundschaft ist oder dass die Freundschaft als ›Surplus‹ zur Mitgliedschaft erst entsteht. Und auch beim Ende kann entweder das Ende der Freundschaft die Beendigung der Mitgliedschaft oder umgekehrt der Austritt oder Ausschluss aus der Gruppe das Zerbrechen der Freundschaft zur Folge haben. Als dritten Weg - und dies dürften die spannendsten Fälle sein - gibt es die Möglichkeit, dass die Freundschaft so eng und stabil ist, dass sie aus inhaltlichen Differenzen herausgehalten wird und vom Ende der Mitgliedschaft überhaupt nicht tangiert wird. Denn in diesem Fall wird um der Freundschaft willen und ganz entgegen der eigenen theoretischen Positionen strikt zwischen privat und gruppenöffentlich, zwischen Leben und Arbeiten, zwischen Theorie und Sympathie getrennt. Eine solche Freundschaft kann die Beteiligten in die Lage versetzen, sich über zentrale theoretische Positionen hinwegzusetzen. Hier wird eine ›politische‹ Flexibilität [deutlich], die hinsichtlich gewisser Verhaltensweisen völlig unvereinbar ist mit der Plattform, die sich die S.I. gegeben hat.«20 Der obige Hinweis auf die ›Erbschaft der Feindseligkeit‹ legt die Fährte zu einem weiteren in diesem Zusammenhang zentralen Text, der noch aus der Zeit und von den Mitgliedern der L.I. stammt, der hier aber aufgrund seiner auch für die S.I. grundlegenden Überlegungen zum Thema Mitgliedschaft und Freundschaft kurz vorgestellt werden muss. Zunächst wird auch hier die Verbindung von Zusammenarbeit und Freundschaft hervorgehoben und so indirekt eine Definition von Freundschaft geliefert: »Da wir nämlich zu so ziemlich jedem Aspekt des vorgefundenen Lebens haben Stellung beziehen müssen, legen wir besonderen Wert auf das Einverständnis mit einigen wenigen zu sämtlichen Positionen sowie zu bestimmten Forschungsrichtungen. Jede andere Form von Freundschaft, mondäne oder gar höfliche Beziehungen, ist uns gleichgültig oder zuwider.«21 20 | Kaufmann (2004), S. 183. Beim Vergleich der beiden Fälle ist zudem zu fragen, welche Rolle die Intensität der persönlichen Beziehungen zwischen Debord und Jorn einerseits und zwischen Debord und Constant andererseits, aber auch Jorns unbestrittene Rolle als Finanzier der S.I. für diese Flexibilität spielen. 21 | Debord (1955d), S. 156.
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Freundschaft wird als ›Übereinstimmung in sämtlichen Positionen‹ sowohl im Bereich der Theorie als auch bei den Forschungspraxen aufgefasst. Gleichzeitig erfolgt eine scharfe Abgrenzung dieses Freundschaftsverständnisses von der Vorstellung von Freundschaft als reiner Höflichkeit oder als repräsentativer Beziehung - Freundschaft wird also nicht in der Sphäre der Öffentlichkeit angesiedelt, sondern in der eher privaten innerhalb der eigenen Gruppe.22 Zudem wird wiederum die Verbindung zwischen zusammen arbeiten und zusammen bzw. der eigenen Theorieposition entsprechend leben hervorgehoben. Da der Kernaspekt der Theorie der S.I. das Alltagsleben ist, das es von spektakulären Zwängen vor allem von der Trennung von Leben und Arbeiten - zu befreien gilt, ist es nicht verwunderlich, dass gerade die Lebensweise der Mitglieder der eigenen Gruppe genau beobachtet wird und über Zugehörigkeit oder Nicht-Zugehörigkeit mit entscheidet:23 »Letztendlich wird das Urteil durch die Lebensweise des einen oder anderen gefällt. Die Promiskuitäten, die die meisten Ausgeschlossenen akzeptiert oder erneut akzeptiert haben, die durchweg entehrenden, bisweilen extremen Engagements, die sie eingegangen sind, all dies zeigt genau, wie schwerwiegend unsere, prompt gelösten Divergenzen waren und vielleicht auch, welche Bedeutung unserer Entente zukommt.«24
Durch die von den Situationisten angestrebte Entwicklung einer Theorie der Praxis rücken inhaltlich-theoretische Arbeit und der Lebensstil 22 | Dass mit dieser Zuordnung der Freundschaft eine Trennung zwischen privat und öffentlich eingeführt wird, ist vor dem Hintergrund des für die S.I. zentralen Widerstands gegen die Praxen der Trennung nicht unproblematisch. 23 | Zudem ist im obigen Zitat zu erkennen, dass bereits hier die Grundsatzentscheidung getroffen wird, die S.I. theoriebedingt als kleine Gruppe zu verstehen. An anderer Stelle heißt es ergänzend und in Abgrenzung von anderen avantgardistischen Gruppierungen: »Die S.I. kann unmöglich eine Massenorganisation sein, sie kann nicht einmal Anhänger akzeptieren, wie die konventionellen avantgardistischen Künstlergruppen. In diesem geschichtlichen Augenblick [...] kann die S.I. nur eine Verschwörung von Gleichen sein, ein Stab, der keine Truppen haben will.« (Situationistische Internationale (1963e), S. 35) Ein weiterer theoretischer Ansatz, der im Zusammenhang mit der Entscheidung, die S.I. als kleine Gruppe zu konzipieren, steht, ist die weiter noch zu untersuchende Frage nach der Egalität bzw. nach der anti-hierarchischen Struktur. Dazu heißt es: »Die S.I. musste sich also weniger deswegen auf eine sehr kleine Zahl von Individuen, deren Gleichheit vermutet wurde, beschränken, weil sie anti-hierarchisch ist; vielmehr war die S.I. gerade deswegen, weil sie nicht mehr als diese sehr kleine Anzahl unmittelbar in ihrer Aktion zum Einsatz bringen wollte, im wesentlichen ihrer Strategie tatsächlich anti-hierarchisch« (Debord, Guy/Gianfranco Sanguinetti (1972), S. 93). 24 | Debord (1955d), S. 156. Wie ernst die L.I. diese Ankündigung meinte und wie strikt sie sie umsetzte, wird daran deutlich, dass Wolman - der Mitautor dieses Textes und zudem die zentrale Figur der L.I. bei der Anbahnung der S.I.-Gründung - ihr selbst zum Opfer fiel und 1956 ausgeschlossen wurde. Zwar wurden die inhaltlichen und organisatorischen Leistungen Wolmans hervorgehoben, diese konnten aber sein Scheitern bei der Umsetzung dieser Theorie in die eigene Lebenspraxis nicht wettmachen (vgl. Lettristische Internationale (1957), S. 228f.).
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der daran Beteiligten als Praxis dieser Theorie eng zusammen. Die eigene Gruppe wird zum subkulturellen - beinahe schon biotopartigen - Erprobungsfeld der theoretischen Positionen. Die Bedeutung dieser Umsetzung der eigenen Theorie in der Gruppenpraxis für die Glaubhaftigkeit der eigenen Gruppe betont Debord an anderer Stelle auch mit Blick auf den Begriff der Freundschaft nochmals explizit: »Je ne prétends pas réduire les relations situationnistes à un sentiment comme l’amitié: mais je crois pourtant que nous nagerions plus que jamais dans les abstractions si nous prétendions porter dans le monde les valeurs du dialogue sans que l’I.S. paie d’exemple, au minimum par de l’amitié entre les situationnistes (ou par tout dépassement qui soit un enrichissement des rapports amicaux conventionnels, non leur liquidation désinvoltée).«25
Sowohl die Kriterien für Mitgliedschaft als auch diejenigen für interpersonelle Beziehungen bzw. Freundschaft müssen daher aus der eigenen Theorie entwickelt werden, mit dieser in Einklang stehen und in der Gruppe praktiziert werden. Dadurch beginnt hier die Grenze zwischen Mitgliedschaft und Freundschaft zu verschwimmen. Dementsprechend enge Verbindungen zwischen beiden Aspekten sind auch beim Blick auf deren Ende erkennbar: »Wir stellen überhaupt nicht in Abrede, daß sich für uns diese Feindseligkeiten an Personenfragen festmachen. Ganz im Gegenteil: Unsere Vorstellung von den menschlichen Beziehungen zwingt uns, daraus Personenfragen zu machen, die überdeterminiert von Ideenfragen, aber letztlich entscheidend sind. Die, die resignieren, verurteilen sich selbst: wir haben in keinster Weise gegen sie einzuschreiten und auch nichts zu entschuldigen.«26
Personenfragen sind somit für die S.I. nicht zu trennen von Ideenfragen. Das Verhältnis des Einzelnen zur gemeinsamen Idee, die persönliche Kraft und der Wille zur Verwirklichung dieser Idee sind entscheidend für die Aufrechterhaltung der Mitgliedschaft - und gegebenenfalls auch der Freundschaft. Doch auch die Situationskonstruktion als zentrale Methode der S.I. wirkt sich auf die Auffassungen bezüglich der Mitgliedschaft und der interpersonellen Beziehungen aus. Dies wurde bereits beim punktuellen Charakter der Zusammenarbeit bzw. der Geistesgenossenschaft deutlich. Der in der Situationskonstruktion enthaltene Aspekt der Beweglichkeit und der Vorläufigkeit betrifft jedoch auch in starkem Maße die Lebensweise der Mitglieder und damit zusammenhängend den Bereich der Freundschaft. »Es geht uns um eine Lebensweise, die ihren Weg über so manche Erkundung und provisorische Formulierung bahnen wird, eine Lebensweise, die selbst dazu neigt, nur im Provisorischen 25 | Debord (2001), S. 240f., an Raoul Vaneigem, 19.6.1963. 26 | Debord (1955d), S. 156.
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zu agieren.«27 Diese Vorläufigkeit der Lebensweise, das Prozesshafte der Ideenentwicklung, die Theorieproduktion als andauernde Suchbewegung kann dazu führen, dass sich verschiedene Auffassungen bezüglich des gemeinsamen Projekts entwickeln, dass Einzelne in ihrer Lebensweise oder in ihren theoretischen Auffassungen einen anderen Weg einschlagen, dass also die für eine Mitgliedschaft genau wie für eine Freundschaft geforderte ›Übereinstimmung in sämtlichen Positionen‹ verloren geht. Da für die Gruppe aber diese vollkommene Übereinstimmung zentral ist und daher gilt, dass man sie »ganz akzeptieren oder verwerfen [muss]«28 , stellt die L.I. und später die S.I. für solche Situationen klar fest: »Der Bruch ist die einzige Sanktion, die es für objektive Verstöße gegen diese Übereinkunft gibt.«29 Eine solche Abweichung hat unweigerlich den Ausschluss aus der Gruppe, das Ende der Mitgliedschaft zur Folge. Die Gruppe ›verteidigt‹ so ihre Idee gegen die von ihr abweichenden Mitglieder. Da aber diese Übereinstimmung mit der gemeinsamen Idee, dieses »be true to your school«30 nicht nur als Grundlage der Mitgliedschaft vorausgesetzt wird, sondern auch Kernelement der Freundschaftsauffassung ist, gelangt man zu der Feststellung: »Es ist besser, Freunde zu wechseln, als Ideen.«31 Dieses zunächst radikale Voranstellen der inhaltlich-theoretischen Arbeit gegenüber Mitgliedschaft und Freundschaft wird jedoch durch die Beweglichkeit der Idee, den Prozesscharakter der Theorieproduktion bei der S.I., die eine erneute Zusammenarbeit nicht grundsätzlich ausschließt, wieder abgeschwächt. Bringt man diese Aussage zudem mit den obigen Ausführungen von Bernstein in Zusammenhang, so wird hier die entscheidende Bedeutung der Freundschaft deutlich: Wenn auch die Mitgliedschaft aufgrund der fehlenden inhaltlichen Übereinstimmung sofort und strikt beendet werden muss, so muss dies die Freundschaft nicht unbedingt tangieren bzw. kann die Freundschaft die Basis bilden, auf der nach einer Phase der Latenz auch wieder die Möglichkeit der Zusammenarbeit aktualisiert wird. Zwar wird die Mitgliedschaft von der Übereinstimmung mit der gemeinsamen Idee abhängig gemacht bzw. dieser untergeordnet, die Freundschaft jedoch nicht. In ihrer ›vollen Härte‹ trifft die obige Aussage gerade nicht auf die angesprochenen Freunde zu, sondern auf die weniger starke Beziehung der Fachgenossen- oder Geistesgenossenschaft. Ein ›einfacher Mitstreiter‹ wird zugunsten der Idee ohne Bedenken aus der Gruppe ausgeschlossen und hat auch keine Aussicht auf eine Rückkehr. Statt ›Es ist besser, Freunde zu wechseln, als Ideen‹ sollte es hier heißen ›Es ist besser, Mitarbeiter/Mitstreiter zu wechseln, als Ideen‹. Mitgliedschaft auf Basis von punktueller Geistesgenossenschaft oder Fachgenossenschaft wird also 27 | Debord (1955d), S. 157. 28 | Situationistische Internationale (1962c), S. 270. 29 | Debord (1955d), S. 156. 30 | Wilson (1963). 31 | Debord (1955d), S. 156.
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bei unüberbrückbaren inhaltlichen Differenzen sofort beendet und der theoretischen Kohärenz der Gruppe untergeordnet. Demgegenüber ist für diejenigen Mitglieder, die einander freundschaftlich verbunden sind, zu beobachten, dass hier länger versucht wird, die inhaltlichen Punkte einander anzunähern, hier ist ein »Wohlwollen im Dialog (was Offenheit und Entschlossenheit nie ausschließt), [...] geduldiges Argumentieren und [...] ›politische‹ Flexibilität«32 erkennbar. Lassen sich die von den Beteiligten vertretenen Positionen trotz aller Bemühungen nicht vereinbaren und muss so zu einem bestimmten Zeitpunkt festgestellt werden, dass man inhaltlich nicht mehr zusammenarbeiten kann, so ist die Tendenz erkennbar, dass der Freund die Gruppe im Moment theoretischer Differenzen gerade deshalb verlässt, um die Freundschaft nicht zu gefährden, indem er sie aus den Zwängen der Gruppenkonstellation befreit. Im Zusammenhang mit dieser größeren Geduld und Verhandlungsbereitschaft scheint dem Freund viel eher als dem Geistesgenossen die Gelegenheit gegeben zu werden, der ›Schmach des Ausschlusses‹ durch einen Austritt zuvorzukommen, wie im Fall von Constant und Jorn und später dann u.a. bei Khayati und Vaneigem. Hier müsste der obige Satz umformuliert werden zu ›Es ist besser, Mitstreiter zu wechseln, als Freunde zu verlieren.‹ Es ist somit zu beobachten, dass in diesem Fall bei inhaltlichen Differenzen die Freundschaft über die Gruppenmitgliedschaft gestellt wird, da Letztere genau deshalb beendet wird, um die Freundschaft nicht durch ihre Einbindung in den engen Gruppenkontext zu zerstören. Die Art und Intensität der interpersonellen Beziehungen ist im Falle inhaltlicher Differenzen somit entscheidend nicht nur für die Endgültigkeit des Zerwürfnisses, sondern auch für die Frage nach der Gewichtung von Theorie und Sympathie. Bei der im obigen Zitat zentralen Forderung nach dem Festhalten an der Idee ist abermals der situative Charakter ebendieser Idee zu berücksichtigen, um falsche Vorstellungen von Beweglichkeit und Stagnation zu vermeiden. Die Idee nicht zu wechseln, heißt ja aus Sicht der S.I. letztendlich nichts anderes, als an einer sich stets fortentwickelnden Idee festzuhalten - also gerade beweglich zu bleiben. Aus der Innenwahrnehmung der S.I. und in der Bewegungsmetapher der Avantgarden ausgedrückt, sind die Ausgeschlossenen also hinter der sich fortbewegenden Idee zurückgeblieben, konnten nicht mit dieser Schritt halten. Die Verfolgung der gemeinsamen Idee, ihre beständige Weiterentwicklung steht eindeutig im Mittelpunkt. Einfache Geistesgenossen, Mitstreiter und Getreue bleiben dabei tatsächlich auf der Strecke oder verlassen den gemeinsamen Weg. »Es gibt also Leute, die aus der S.I. ausgeschlossen wurden. Einige haben sich in die Welt integriert, die sie bekämpften, anderen gelingt es nur, sich kläglich näher zu kommen, obwohl sie nichts anderes gemeinsam haben als ihren gerade aus gegensätzlichen
32 | Kaufmann (2004), S. 183.
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Gründen entstandenen Bruch mit uns.«33 Auch diese kontinuierliche Bewegung des Verschwindens, wie sie sich aus der Praxis des Ausschlusses ergibt, erschließt sich aus den inhaltlichen Überlegungen zur Momenthaftigkeit und Leidenschaftlichkeit des Alltagslebens. Gerade der Aspekt der Beweglichkeit und des Verschwindens ist aufs engste mit demjenigen der Leidenschaftlichkeit kombiniert. Dies gilt zunächst und vor allem für Debord: »Das Gefühl für das Verrinnen der Zeit ist auch das Gefühl für den tragisch vergänglichen Charakter der Leidenschaft, an deren Intensität sich ihr baldiges Ende messen läßt. Deshalb hat Debord mitunter Zerwürfnisse herbeigeführt [...]: als wolle er den Punkt vermeiden, an dem es zu spät ist, als wolle er der Leidenschaft nicht die Zeit geben, sich zu verletzen, um nicht ihr Verschwinden schlucken zu müssen.«34
Ähnliche Überlegungen finden sich jedoch auch bei Jorn. Auch wenn hier die Begriffe des Verrinnens und der Leidenschaft nicht explizit auftauchen, so sind sie doch in den Aspekten von Geschwindigkeit bzw. Bewegung und vitaler Aktion bzw. Aufwühlen implizit wiederzuerkennen: »Situation und Geschwindigkeit sind zwei einander entgegengesetzte Aspekte. Um den situationistischen Aspekt zu bewahren, muß man die Geschwindigkeit brechen. Wir haben gesehen, daß das genau die vitale Aktion ist. Etwas in eine Situation versetzen bedeutet, an einer Bewegung teilnehmen, indem man sich ihr widersetzt, indem man Widerstände einführt, die Abweichungen und Veränderungen in der Bewegung erzeugen, die sie aufwühlen oder überstürzen, die sich in Geschehen umwandeln. Die Bewegung ohne Bruch ist automatisch und existiert nicht.«35
Diejenigen, die dem gemeinsamen theoretischen Projekt dabei zusätzlich durch freundschaftliche Beziehungen verbunden waren, bleiben diesem gerade durch den Bruch erhalten und werden eben nicht der Vergangenheit überantwortet. Der Bruch ist aufzufassen als spontane Geste, die sich gegen die langweilige Kontinuität der Gruppenbewegung stellt, er verändert die Konstellation und schafft eine neue Situation. Er bietet den spontanen Impuls, auf dessen Basis das Ende der öffentlichen Mitgliedschaft und der Rückzug in die Privatheit oder gar Klandestinität der Freundschaft die Lebensdauer der Leidenschaftlichkeit zu erhöhen scheint. Hier läuft die der eigenen Theorie entsprechende radikale Rhetorik von Ausschluss, Bruch und Beweglichkeit quer zu den dahinter erkennbaren Vorstellungen und Verhaltensweisen von Kontinuität und 33 | Situationistische Internationale (1960a), S. 157. 34 | Kaufmann (2004), S. 85. 35 | Asger Jorn zitiert in: Ohrt (1997), S. 168. Französisches Original in Jorn (1957), S. 80.
220 | Situationistische Internationale
Treue, die innerhalb der Gruppe nicht möglich zu sein scheinen und daher durch einen Austritt oder Ausschluss erst wieder ermöglicht werden. »Wenn ich so über die Leute rede, dann sieht es vielleicht so aus, als ob ich sie belächelte; das soll man bloß nicht glauben. Ich habe ihren Wein getrunken. Ich halte ihnen die Treue.«36 Wer diejenigen sind, denen Debord auf diese nicht situationistische Art die Treue hält, wird am Ende seines Films Société du spectacle deutlich. Hier heißt es, kurz bevor Standbilder von Chtcheglov und Jorn zu sehen sind: »On meurt bien jeune ici [...]; un temps très court entre la naissance et la mort. Pas plus qu’ailleurs [...]; mais ici seules comptent pour années de vie les années qu’a duré une amitié. Buvons à l’amitié!«37
4.1.2 Theoretische Überlegungen der S.I. zur Mitgliedschaft Was heißt es konkret, Mitglied der S.I. zu sein? Gibt es - neben den Randbemerkungen im Kontext von Mitgliedschaft und interpersonellen Beziehungen - präzise Anforderungen, die die S.I. an ihre Mitglieder stellt? Und wenn ja: Wie lauten diese Mitgliedschaftskriterien im Einzelnen? Nimmt man einen der papillons in die Hand, die die S.I. verteilt und später auch in der I.S. abgedruckt hat, so erscheint der Umgang mit der Kategorie der Mitgliedschaft zunächst ein recht spielerischer zu sein.
Abbildung 3: Papillon der S.I. von 1958
Quelle: Internationale Situationniste (1997), S. 31.
Versucht man, diese ›Einladung‹ probeweise zunächst ernster zu nehmen, als sie gemeint gewesen sein dürfte, so lässt sich feststellen, dass die S.I. sowohl Männern als auch Frauen offen steht. Zudem werden keine ›Fachidioten‹ gesucht, sondern Menschen mit einer gewissen Neigung zum Spiel und zur doch etwas abstrakt anmutenden Tätigkeit
36 | Debord (1985), S. 56. 37 | Debord (1973), S. 1259.
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der (Selbst-)Überwindung.38 Zudem lässt sich der Aspekt des ›Mit-derGeschichte-Gehens‹ in den weiteren Kontext der Avantgarde-Problematik einordnen - genauso, wie sich die Aufforderung, man möge nicht anrufen, sondern schreiben oder vorsprechen, durchaus mit den späteren kommunikativen Gruppenpraxen der S.I. in Zusammenhang bringen lässt. Spätestens jedoch bei der Aussage, dass neben der Intelligenz auch Schönheit eine ausreichende Befähigung für die Mitgliedschaft darstellt, wollen wir die ernsthafte Analyse dieses papillon wieder hinter uns lassen.39 Einen etwas ergiebigeren Ausgangspunkt bei der Beantwortung dieser Fragen dürfte der Begriff des Situationisten und dessen Varianten bieten. Hierzu heißt es in den Definitionen unter dem Stichwort »Situationistisch/Situationist: All das, was sich auf die Theorie oder auf die praktische Tätigkeit von Situationen bezieht. Derjenige, der sich damit beschäftigt, Situationen zu konstruieren. Mitglied der Situationistischen Internationale.«40 Auch wenn diese Ausführungen noch keine wirklich aufschlussreichen Hinweise zu den genaueren Kriterien der Mitgliedschaft liefern, so enthalten sie doch eine erste wichtige Unterscheidung: die zwischen dem Situationisten im weiteren und im engeren Sinne dabei ist nur Letzterer offizielles Mitglied der S.I. Diese Unterscheidung wird folgendermaßen konkretisiert: »Zunächst ist derjenige ein Mitglied - im vollen und genauen Sinne des Wortes der S.I., der an allen Beratungen und Entscheidungen dieser Organisation teilnimmt und folglich die allgemeine Mitverantwortlichkeit für sie persönlich übernimmt. Andererseits kann von einem Individuum gesagt werden bzw. es kann 38 | Einer ähnlich abstrakten Beschäftigung widmet sich Gilles, die an Debord angelehnte Figur in Michèle Bernsteins Roman Tous les chevaux du roi. Doch auch hier wird diese Tätigkeit - in diesem Falle die Verdinglichung (réification) - mit einem Augenzwinkern ausgeübt: »Je vois, observa Caroline admirative. C’est un travail très sérieux, avec de gros livres et beaucoup de papiers sur une grande table. Non, dit Gilles, je me promène. Principalement, je me promène.« (Bernstein (2004), S. 26). 39 | Ein weiteres Argument für den spielerisch-ironischen Charakter dieses papillon ist die Tatsache, dass die S.I. niemals aktiv in der Öffentlichkeit nach Mitgliedern gesucht hat. Vielmehr bestand sie grundsätzlich darauf, dass sie es »nicht nötig [hat], Schüler bzw. Anhänger zu werben.« (Situationistische Internationale (1961a), S. 211). 40 | Situationistische Internationale (1958d), S. 18. Auf die Ablehnung des von ›Anti-Situationisten‹ geprägten Begriffs des ›Situationismus‹ sei nur am Rande hingewiesen (vgl. ibidem). Interessant ist diese Definition, weil, noch bevor der Begriff des Situationisten präzisiert wird, bereits sein Gegenpart der Anti-Situationist auftaucht, dem als zweite Negativ-Kategorie der Pro-Situationist zur Seite gestellt wird. Zusätzlich findet die Kategorie des Vorsituationisten Erwähnung. Während Anti- und Pro-Situationist als Abgrenzung des Situationisten dienen, verdeutlicht der Begriff des Vorsituationisten das Ausbreitungspotential der situationistischen Idee (vgl. Situationistische Internationale (1958k), S. 17). Auch das problematische Verhältnis zwischen Situationisten im weiteren und im engeren Sinne wird von der S.I. erläutert (vgl. Situationistische Internationale (1969f), S. 418f.) und genauso wird die Bedeutung einer strikten Grenzziehung zwischen S.I. und Situationisten im weiteren Sinne einerseits und den Anti-Situationisten bzw. der spektakulären Gesellschaft andererseits betont (vgl. Debord (1968), S. 461).
222 | Situationistische Internationale selbst sagen, es sei ein ›Situationist‹, insofern es unsere theoretischen Hauptpositionen billigt; oder weil es sich wegen seines persönlichen Geschmacks unserem Ausdrucks- und Lebensstil näher fühlt oder weil es einfach an Formen des subversiven Kampfes teilgenommen hat [...]. Beide Sinne - der genaue wie der weite - können korrekt gebraucht werden, unter der ausdrücklichen Bedingung, dass man keine Verwechslung unter ihnen entstehen lässt.«41
Nach dieser präzisierten Unterscheidung zwischen den Situationisten im Allgemeinen und den Mitgliedern der S.I. im Besonderen42 wenden wir uns nun den Letzteren zu. Eine erste Anforderung an Mitglieder der S.I. wird hier bereits genannt: die Teilnahme an den gemeinsamen Treffen und Beratungen43 sowie die Übernahme persönlicher Mitverantwortung für die getroffenen Entscheidungen. Der Begriff der Mitverantwortung aller Beteiligten verweist auf die Forderung nach Egalität innerhalb der Gruppe. »Situationist bin ich nur durch meine augenblickliche und unter gewissen Bedingungen stattfindende Teilnahme an einer Gemeinschaft, die sich zwecks einer Aufgabe gebildet hat, der sie gewachsen sein wird oder nicht. Den Begriff eines Leiters - und wäre es auch der einer kollegialen Leitung - in einem Projekt wie dem unseren zu akzeptieren, würde schon bedeuten, dass wir aufgeben.«44
Mitglied der S.I. zu sein, bedeutet also die bewusste und aktive Teilnahme an einer auf einer gemeinsamen Idee und Aufgabe beruhenden Gemeinschaft. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, wenn von den Mitgliedern Eigenschaften wie Verlässlichkeit und die Fähigkeit verlangt werden, diese gemeinsame Aufgabe in Angriff zu nehmen, denn »pour ce faire, il faut des gens sûrs et capables.«45 Diese von potentiellen Mitgliedern verlangten Fähigkeiten werden jedoch zunächst nicht weiter spezifiziert46 - dies sowohl unter Berücksichtigung der verschiedenen individuellen Ausprägungen derselben als auch mit Blick auf 41 | Situationistische Internationale (1969f), S. 418. 42 | Vgl. zur Bedeutung dieser Unterscheidung auch Debord (2001), S. 234f., an Raoul Vaneigem, 8.6.1963. Erneut ist bei dieser Unterscheidung eine deutliche Nähe zu Lenins Überlegungen zum Verhältnis zwischen der Arbeiterklasse im Allgemeinen bzw. als revolutionärer Potentialität und der leninistischen Kaderpartei im Besonderen bzw. als revolutionärer Aktualität erkennbar (vgl. Lenin (1987) und Lenin (1988). 43 | Bereits diese formale Anforderung erfüllen jedoch bei weitem nicht alle offiziellen Mitglieder der S.I. 44 | Debord (1960), S. 148. 45 | Debord (2001), S. 199, an Attila Kotányi und Raoul Vaneigem, 22.3.1963. 46 | An anderer Stelle heißt es: »Was eine kohärente und disziplinierte Vereinigung zur Durchführung eines gemeinsamen Programms betrifft, meinen wir, dass sie auf der Basis der S.I. möglich ist, unter der Bedingung, dass die Teilnehmer streng genug ausgewählt werden, damit alle genial sind.« (Martin, Jeppesen Victor/Jan Strijbosch/Raul Vaneigem/René Viénet (1964), S. 135f., Hervorh. M.O.) Dabei ist der Begriff der Genialität nicht nur wegen seiner mangelnden Präzision als détournement gängiger Mitgliedschaftskriterien aufzufassen, sondern auch deshalb, weil die S.I. jegliche klassische Form des Genie-Gedankens ablehnt. Diese ironische Bre-
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die historische Bedingtheit der jeweils benötigten Fähigkeiten. Die Betonung von Individualität und Situativität wird hier über die Formulierung eindeutiger Anforderungen gestellt: »D’abord il apparaît que nous pensons également que l’appartenance à l’I.S. (le fait d’être, dans la pratique, situationniste) est inséparable d’une certaine capacité. Cette ›capacité‹ ne peut évidemment être définie a priori parce qu’elle est, dans une certaine mesure, fluide et partiellement différente de l’un à l’autre des gens engagés dans cette tâche complexe: parce qu’elle est historique et variera avec différents stades de notre action: enfin parce qu’il n’est pas question de l’envisager comme entièrement donnée chez chacun de nos interlocuteurs.«47
Der unbestimmte, situative Charakter der geforderten Fähigkeiten, die eher als Potential denn als Faktum verlangt werden, lässt sich aus dem grundlegenden Ansatz der S.I. ableiten, die bislang unterdrückten Begierden im Alltagsleben zu fördern und ihre Verwirklichung zu ermöglichen. Dementsprechend genügt es für die Aufnahme in die S.I. nicht, sich lediglich mit der gemeinsamen Idee einverstanden zu erklären48 - wie dies beim Situationisten im weiteren Sinne ausreichend ist. Das
chung übersieht Marelli, wenn er diesbezüglich anmerkt: »Ils réaffirment aussi leur exigence que tous les adhérents ›soient assez sévèrement sélectionnés pour qu’ils aient tous du génie‹. L’âpreté avec laquelle ils traitèrent tous ceux qui voulurent faire partie de cette Conspiration des Égaux, sans posséder des qualités géniales, fait un violent contraste avec leur volonté d’être ›totalement populaire‹.« (Marelli (1998), S. 165, Hervorh. im Orig.) So berechtigt die Frage nach dem möglicherweise elitären und eben nicht ›populären‹ Charakter der S.I. im Zusammenhang mit ihrer ›Mitgliedschaftspolitik‹ ist - allein an der Verwendung des Begriffs des Genies lässt er sich nicht festmachen. 47 | Debord (2001), S. 238, an Raoul Vaneigem, 19.6.1963, Hervorh. im Orig. Im Zusammenhang mit diesen unbestimmten Anforderungen zur Befähigung der Mitglieder und zu deren Umgang miteinander erwähnt Debord immer wieder die Begriffe Vertrauen und Ehrlichkeit. So stellt er fest, dass »wir unter uns nur historische Beziehungen akzeptieren [dürfen] (ein kritisches Vertrauen und das Wissen um die Möglichkeiten bzw. Grenzen eines jeden) allerdings auf der Grundlage der grundsätzlichen Ehrlichkeit.« (Debord (1968), S. 462) Die Forderung nach Vertrauen und Ehrlichkeit (auch im Sinne von Transparenz) unter den Mitgliedern als Grundlage der gemeinsamen Aktion dient dabei zugleich einer Grenzziehung zwischen dem Innen der Gruppe und dem Außen der spektakulären Gesellschaft. »Le devoir de méfiance rév[olutionnaire] envers toutes les valeurs, les habitudes et les personnes liées au monde que nous voulons changer ne peut exister séparé du plaisir (devoir) de la confiance envers ceux qui sont nos camarades. Faire toujours confiance jusqu’à la véritable preuve de l’erreur.« (Debord (2001), S. 30, an Patrick Straram, 25.10.1960) Was hier zusätzlich deutlich wird, ist der Aspekt der Geduld und Nachsicht mit den Mitgliedern der Gruppe, auf den beim Blick auf die Ausschlusspraxen zurückzukommen ist. 48 | Wie wichtig dieses Einverständnis mit einer gemeinsamen Idee ist, wird bereits nach dem Weltkongress der freien Künstler in Alba 1956, der die Gründung der S.I. vorbereitete, betont (vgl. Debord (1957d), S. 38). Was zählt, ist die Idee an sich und nicht als Mittel zur Erreichung anderer Ziele - wie dem individuellen Erfolg. Auch dies verweist auf den Konflikt zwischen Individuum und Gruppe.
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Einverständnis mit der Idee muss sich vielmehr auch in praktischen Aktionen in der Öffentlichkeit äußern:49 »Keiner darf seine S.I.-Mitgliedschaft als eine einfache prinzipielle Übereinstimmung betrachten. Das hat zur Folge, dass die Tätigkeiten aller Mitglieder zum grossen Teil den gemeinsam ausgearbeiteten Perspektiven und den Notwendigkeiten einer disziplinierten Aktion entsprechen sollen - und zwar sowohl in der Praxis als auch bei öffentlichen Stellungnahmen.«50
Der Begriff der Disziplin taucht bei der S.I. immer wieder auf, sei es als ›disziplinierte Aktion‹ oder auch als »disziplinierte Organisation«51 . Diese Betonung der Disziplin scheint zunächst dem bislang skizzierten durchaus spielerischen Charakter der S.I. zu widersprechen. Dieser Eindruck relativiert sich jedoch wieder, wenn man berücksichtigt, was die S.I. unter dieser Disziplin versteht: »Dieses Übermass an Disziplin ist gerade nichts anderes als die Übereinstimmung der Situationisten, nach einem bestimmten Zusammenhang zwischen ihren Theorien und ihrer 49 | Des Weiteren betont die S.I., dass sich die Umsetzung der gemeinsamen Idee in der Praxis nicht auf die Handlungen in der Gruppe beschränken darf, sondern dabei auch das Alltagsleben des Einzelnen ausschlaggebendes Kriterium sein muss: »Von den Fähigkeiten wollen wir nichts wissen ausserhalb des revolutionären Gebrauchs, der sich von ihnen machen lässt, ein Gebrauch, der seinen Sinn im täglichen Leben bekommt.« (Vaneigem (1967), S. 286) Dies lässt sich auf die Bedeutung, die die S.I. dem Alltagsleben und dem dort vermuteten ›Qualitativen‹ in Abgrenzung zum ›Quantitativen‹ des Spektakels zumisst sowie auf die Verbindung von Mitgliedschaft und Freundschaft zurückführen. Gerade im Alltagsleben können und müssen die einzelnen Mitglieder ihre schöpferischen Fähigkeiten zum Ausdruck bringen: »Die Dummheiten, die zu begehen ein Individuum verzichtet, reichen natürlich nicht aus, um ihm dafür Verdienst zuzusprechen. Selbst sein ideologisches Einverständnis reicht nicht aus. Die Billigung seines Privatlebens ist ein entscheidendes Kriterium. [...] ›In Fragen des alltäglichen Lebens erkennt man am besten, bis zu welchem Grad jeder Mensch individuell das Resultat der Bedingungen und nicht deren Schöpfer ist [...]‹.« (Bernstein (1955), S. 318) Jahre später und schon in der Endphase der S.I. greift Debord die Thematik abermals auf und präzisiert: «Ce ›territoire de l’accord‹ - que j’ai désigné plus haut comme celui où se joue et se vérifie le qualitatif -, c’est évidemment l’essentiel de notre entreprise commune dans l’I.S. (et non tel talent précis ou telle erreur circonstancielle) et c’est aussi l’essentiel de la vie personnelle de chacun de nous (et non certes tel goût ou telle bizarrerie individuels).« (Debord (2004a), S. 269, an die Mitglieder der S.I., 27.7.1970) Interessant ist hier, dass das grundlegende Einverständnis nun auch dazu dient, über einzelne, konkrete Defizite oder Fehler - sei es bei Einstellungen oder Handlungen in der Gruppe oder im Privatleben - hinwegzusehen. Eine ›Großzügigkeit‹, die zu Beginn der S.I. nicht erkennbar war und die zeigt, dass die anfänglichen hohen Ansprüche an die Mitglieder aufgrund der praktischen Erfahrung in der Gruppe schließlich relativiert werden. 50 | Constant/Guy Debord (1958), S. 71f. Wie schwierig es ist, von der theoretischen Übereinstimmung Rückschlüsse auf die Fähigkeit zu einer praktischen Umsetzung derselben zu ziehen, betont Debord an anderer Stelle: »Une des pires sources d’erreurs, de discussions creuses et de pertes de temps dans l’I.S. depuis deux ans, a été de traiter trop souvent comme des gestes réels certaines tendances affectives que l’on pouvait déceler chez des gens.« (Debord (2001), S. 235). 51 | Wyckaert (1976), S. 178.
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möglichen Praxis zu suchen.«52 Disziplin wird hier synonym gebraucht mit der eingangs erwähnten prinzipiellen Übereinstimmung in Bezug auf eine gemeinsame Idee, hier erweitert um die Bereitschaft, diese Idee auch zu verwirklichen. Dabei ist zudem zu beachten, dass diese Idee selbst als in der gemeinsamen Diskussion veränderbar verstanden wird: »Es gibt keinen Situationismus. Keine sogenannte Doktrin. Situationistisch nennen wir ein praktisches Experiment«53 . Die Disziplin der gemeinsamen Aktion darf also nicht als ›Gleichschaltung‹ missverstanden werden, denn »[d]ie S.I. besteht selbstverständlich aus recht verschiedenartigen Individuen und sogar aus mehreren erkennbaren Tendenzen, deren Kräfteverhältnis schon oft wechselte. [...] In keiner Weise wollen wir ›Schöpfungen‹ verteidigen, die einigen und noch weniger einem einzigen von uns gehören würden - im Gegenteil halten wir es für sehr positiv, dass die Genossen, die sich uns anschliessen, von sich aus eine Experimentalproblematik erreicht haben, die sich mit der unseren deckt.«54
Was von den Mitgliedern verlangt wird, ist somit die Bereitschaft, ihre Ideen und Konzepte mit den anderen zu teilen, sie ihnen mitzuteilen, sie als in der gemeinsamen Debatte veränderbar zu begreifen. Die gemeinsame Idee, der sich das einzelne Mitglied zu verpflichten hat, ist also weniger ein fixes Konstrukt als vielmehr eine permanent in der Gruppe geführte Debatte, ein Widerstreit von sich ergänzenden oder auch widersprechenden, sich aber vor allem gegenseitig beeinflussenden und sich im Idealfall vorantreibenden Positionen. Der Zusammenhalt unter den Mitgliedern basiert nicht auf einer Doktrin, sondern auf gemeinsamen Perspektiven. Die Mitglieder sollen nicht zurückblicken auf starre Beschlüsse der Vergangenheit, sondern den Blick in eine als veränderbar aufgefasste Zukunft richten. »Bien sûr, aucune doctrine, jamais: des perspectives. Une solidarité en rapport avec celles-ci.«55 Dieses gemeinsame Ausarbeiten von Ideen, das als Kernmerkmal der S.I. gesehen werden kann, verlangt wiederum von den Mitgliedern »[la] reconnaissance des individus dans le dialogue inter-subjectif, la transparence de leurs rapports, l’ouverture de leur expérience.«56 Die Art und Weise, wie die S.I. ihre theoretischen Perspektiven entwickelt, hat eine bestimmte Art des Umgangs der Mitglieder untereinander zur Folge, die sich als der Versuch begreifen lässt, innerhalb der Gruppe die im Spektakel verschwundene authentische, leidenschaftliche Kommunikation zu etablieren. Aus der Art der Theorieproduktion sowie aus den theoretischen Überlegungen bezüglich verschiedener Kommunikationsformen heraus wird hier somit der Versuch unternommen, eine 52 | Situationistische Internationale (1963e), S. 31. 53 | Wyckaert (1976), S. 178. 54 | Debord (1960), S. 148. 55 | Debord (1999), S. 159, an Patrick Straram, 12.11.1958. 56 | Debord (2003), S. 209, vermutlich an Daniel Guérin, 27.2.1967.
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entsprechende Gruppenpraxis zu etablieren. Dabei spielen auch die Aspekte der Veränderbarkeit bzw. historischen Bedingtheit sowie der Situativität eine wichtige Rolle. »Es gibt schon gewisse Leute, die aus Faulheit glauben, sie können unser Projekt als ein vollkommenes, schon bestehendes, wunderbares und unangreifbares Programm ruhen lassen, zu dem sie nichts mehr zu tun haben. Man könnte sich nur noch in aller Enthaltung von Herzen für radikal erklären, da die S.I. schon alles am besten gesagt hätte. Wir sagen im Gegenteil, dass nicht nur das Wichtigste an den von uns aufgeworfenen Fragen immer noch [...] gefunden werden muss, sondern auch, dass das Wichtigste an dem, was wir gefunden haben, wegen unseres Mangels an allen Mitteln noch nicht bekannt gemacht wurde. [...] Diejenigen, die glauben, das ursprüngliche situationistische Denken sei schon zum geschichtlichen Gut geworden, womit die Zeiten sowohl der ingrimmigen Fälschung als auch der seligen Bewunderung gekommen wären, haben die Bewegung nicht verstanden, von der wir sprechen.«57
Zentral ist für die S.I. also die Bereitschaft der Mitglieder, sich selbst und die eigenen Leidenschaften in die Theorieproduktion einzubringen und diese als permanenten Prozess aufzufassen. Es geht der S.I. um eine Aufforderung zur »Beteiligung mit vollem Einsatz, zu einem Streit jenseits von Belanglosigkeiten und modischen Gedankenübungen. Dazu gehört als Voraussetzung die Härte der Auseinandersetzung und eine gewisse Kälte, eine innere Ungebundenheit, die es erlaubt, sich in ein Experiment hineinzubegeben.«58 Mit dem Begriff der Leidenschaft59 sind wir bei einem weiteren, zentralen Kriterium der Mitgliedschaft angelangt. Dieses bezieht sich zum einen auf die Leidenschaft der einzelnen Mitglieder und ihre Verwirklichung in der S.I. im Umgang miteinander - und verweist somit wieder auf das Problem von Individuum und Gruppe bzw. das der ›Sozialität der Solitären‹: »[L]’I.S. doit servir nos passions. Les réaliser. Et ceci bien sûr au sens où ›nous n’avons pas un seul vice mais plusieurs‹; et dans ce qu’elles peuvent avoir de plus profond, donc de réalisables dans ce 57 | Situationistische Internationale (1963e), S. 36. Zur Abgrenzung zwischen Pro-Situationisten, Situationisten im weiteren und Situationisten im engeren Sinne schreibt die S.I. zudem: »Im Wesen eines jeden Anhängers liegt es, Gewissheit zu fordern, aus wirklichen Problemen schwachsinnige Dogmen zu machen, um aus ihnen seine eigene Qualität und seinen geistigen Komfort herauszuschlagen [...]. Wir wollen solche Leute draussen lassen, weil wir alle bekämpfen, die aus der theoretischen S.I.-Problematik eine blosse Ideologie machen wollen; diese Leute sind äusserst benachteiligt und uninteressant gegenüber denen, die die S.I. ignorieren, aber ihr eigenes Leben betrachten. Dagegen können diejeinigen, die verstanden haben, in welche Richtung die S.I. geht, sich ihr anschliessen, weil die gesamte Aufhebung, von der wir sprechen, praktisch in der Wirklichkeit gefunden werden muss - und wir müssen sie gemeinsam finden.« (ibidem). 58 | Ohrt (1997), S. 308. 59 | Wie schon bei den situationistischen Stadtentwürfen ist auch in dieser Betonung des Begriffs der Leidenschaft eine implizite Anknüpfung an Charles Fourier zu erkennen.
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projet commun. Mais pas seulement en ce sens. L’I.S. ne doit pas gêner nos passions [...]. Donc chacun doit pouvoir choisir lui-même quelle attitude il préfère à une autre«60 . Es geht also darum, dem einzelnen Mitglied ein Aus- und Erleben seiner Emotionen und Leidenschaften auch innerhalb der Gruppe zu ermöglichen, diese als Experimentallabor neuer, anti-spektakulärer Kommunikations- und Lebensweisen zu etablieren. Zum anderen betrifft dies das Verhältnis des einzelnen Mitglieds zur S.I. als Ganzer. Hierbei wird gewissermaßen eine Ober- und eine Untergrenze der Leidenschaftlichkeit vorgegeben, zwischen der sich ein Mitglied der Gruppe bewegen sollte. Jeder soll seine Leidenschaft in die S.I. einbringen können, »mais sans jamais ›sacrifier‹ à l’I.S. une passion particulière.«61 Die S.I. als solche soll also nicht Objekt der Bewunderung werden, soll genau wie ihre Mitglieder nicht zum Star mutieren. Daher genügt es auch nicht, wenn sich einzelne Mitglieder bereits mit der »seule possession de leur ›carte de mouvement‹«62 zufriedengeben. Die S.I. pocht also - und auch dies relativiert den anfangs sehr einschränkend wirkenden Begriff der Disziplin erheblich - auf die Selbstständigkeit ihrer Mitglieder,63 da ohne diese das Projekt S.I. genau die Spannung verliert, die es für seine Entwicklung benötigt: »Les multiples carences qui ont affecté l’I.S. se ressemblent toutes en ceci qu’elles étaient le fait d’individus qui avaient besoin de l’I.S. pour être personnellement quelque chose; et ce quelque chose ne s’identifiait jamais à la réelle activité, que l’on peut dire révolutionnaire, de l’I.S., mais à son contraire. [...] Et pourtant l’alternative a toujours été fort simple: [...] Quant à nous ici, c’est seulement si nous n’avons pas besoin de l’I.S. que nous pouvons en faire partie. Il s’agit d’être par nous-mêmes, et ensuite, secondairement, d’associer en toute clarté nos possibilités et nos volontés précises (et précisées) pour une action commune.«64
Diese Selbstständigkeit und die Befähigung der Mitglieder wird zunächst einmal als Voraussetzung der Mitgliedschaft betrachtet, d.h. ein potentielles Mitglied muss über diese Eigenschaften bereits vor dem Eintritt verfügt und sie auch zum Ausdruck gebracht haben. Die S.I. wird nur denjenigen aufnehmen, »der den Beweis erbracht hat, dass er, indem er für sich selbst spricht und handelt, für viele spricht und handelt; sei es, dass ihm durch seine poetische Praxis (Flugblatt, Aufstand, Film, Agitation, Buch) eine Neugruppierung der revolutionären Kräfte gelingt, sei es, dass er sich in dem Experiment der Radikalisierung einer Gruppe als alleiniger Träger der Kohärenz herausstellt.«65 60 | Debord (2001), S. 232, an Raoul Vaneigem, 8.6.1963, Hervorh. im Orig. 61 | Ibidem, an Raoul Vaneigem, 8.6.1963. 62 | Ibidem, S. 233, an Raoul Vaneigem, 8.6.1963. 63 | Vgl. ibidem, S. 199, an Attila Kotányi und Raoul Vaneigem, 22.3.63. 64 | Debord (2004a), S. 345f., an alle Situationisten, 28.1.1971, Hervorh. im Orig. 65 | Vaneigem (1967), S. 286f.
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Genau diese Selbstständigkeit und die Verwirklichung der individuellen Leidenschaften soll nach dem Beitritt auch im Rahmen der S.I. weiterhin bestehen bleiben und die Grundlage individuellen wie kollektiven Handelns bilden. Dabei wird jedoch nicht ausgeblendet, wie problematisch diese Verbindung von selbstständigen, leidenschaftlichen Individuen in einer Gruppe mit gemeinsamen Zielen sein kann: »Le problème est bien l’action commune d’individus libres, liés seulement par et pour cette liberté créatrice réelle. Difficile, et non résolu par nous. Mais nous sommes peut-être sur la voie.«66 Dennoch wird die Kernforderung der leidenschaftlichen Beteiligung des Einzelnen aufrechterhalten und es wird versucht, diese auch im Gruppenkontext zu ermöglichen, indem gewissermaßen die individuelle und die kollektive Leidenschaft über die Bedingung der weitestgehenden Übereinstimmung zwischen diesen beiden zusammengeführt und zum Ausdruck gebracht werden sollen. »Mit anderen Worten: jeder Revolutionär muss zumindest die Leidenschaft haben, das zu verteidigen, was ihm am teuersten ist: seinen Willen zur individuellen Verwirklichung, das Verlangen, sein eigenes alltägliches Leben zu befreien. Verzichtet jemand darauf, im Kampf um seine Kreativität, um seine Träume, um seine Leidenschaften die Totalität seiner Fähigkeiten einzusetzen, und folglich darauf, diese zu entwickeln, sodass er durch diesen Verzicht auch auf sich selbst verzichtet, vergibt er sogleich die Chance, in seinem eigenen Namen zu sprechen und a fortiori im Namen einer Gruppe, die in sich die Chancen der Verwirklichung aller Individuen trägt.«67
Formulierungen wie ›Fähigkeiten einsetzen‹, ›Verwirklichung aller Individuen‹ oder ›spricht und handelt‹ führen uns zu einem weiteren Kriterium, das die Mitglieder der S.I. zu erfüllen haben: Die Verbindung von Theorie und Praxis, wie sie bereits in der situationistischen Verwendung des Begriffs der ›Disziplin‹ enthalten ist. Diese wurde implizit schon im Zusammenhang mit dem Aspekt der ›prinzipiellen Übereinstimmung‹ skizziert, die notwendig, aber nicht hinreichend ist, sondern sich auch in gemeinsamen Aktionen und Stellungnahmen nach außen manifestieren muss. Die gemeinsam entwickelte Theorie soll vielmehr explizit auf eine gemeinsame Praxis abzielen, nicht nur in dem Sinne, dass bereits die Theorieproduktion als gruppeninterner Mikrokosmos neuer Praxen aufzufassen ist, sondern auch mit Blick auf eine weit über die eigene Gruppe hinausgehende Praxis. Die S.I. verlangt also nicht nur theoretische Fähigkeiten von ihren Mitgliedern, sondern auch den Willen und die Fähigkeit zu deren Umsetzung, »weil wir [die S.I., M.O.] in keiner Weise ›Denker‹ als solche brauchen, das heißt Leute, die Theorien außerhalb des praktischen Lebens produzieren.«68 66 | Debord (1999), S. 159, an Patrick Straram, 12.11.1958. Nicht nur die theoretischen Ansätze werden somit als andauernder Prozess aufgefasst, sondern auch und gerade die Gruppenstruktur. 67 | Vaneigem (1967), S. 286f. 68 | Debord (1966), S. 139.
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Diese Forderung nach einer Praxis der Theorie bzw. einer Theorie der Praxis als Bedingung der Mitgliedschaft ist bei der S.I. eng mit dem Begriff der Kohärenz verknüpft:69 »Die einzige Grenze der Beteiligung an ihrer totalen Demokratie ist die Anerkennung und Selbstaneignung der Kohärenz ihrer Kritik durch alle ihre Mitglieder: diese Kohärenz muss einerseits in der eigentlichen kritischen Theorie und andererseits im Zusammenhang zwischen dieser Theorie und der Praxis liegen. Sie kritisiert radikal jede Ideologie als eine von den Ideen getrennte Macht und als Ideen der getrennten Macht.«70 Dabei sollte der Begriff der Kohärenz, ebenso wie derjenige der Disziplin nicht zwangsläufig als Vereinheitlichung aufgefasst werden - er bezieht sich zunächst einmal auf das Ausmaß des Engagements für die Ideen der Gruppe: »[N]ous nous attachons maintenant d’abord à donner à l’I.S. le maximum de cohérence - non dans une idéologie monolithique évidemment, mais dans le niveau de référence théorique et la participation créatrice à l’ensemble de nos problèmes.«71 Kohärenz lässt sich daher provisorisch zunächst mit ›Stimmigkeit‹, nicht aber mit Gleichschaltung übersetzen, da die Zusammenarbeit in der S.I. auf Basis dieser Kohärenz »n’interdit pas, bien sûr, des critiques réciproques sur tous les point de divergence.«72 Der Begriff der Kohärenz nicht nur der Theorie an sich, sondern auch zwischen Theorie und Praxis steht wiederum in Zusammenhang mit der von der S.I. vorgebrachten Kritik der spektakulären Trennung und verweist somit zugleich auf die eigene Gruppe als erstem Feld der Praxis der eigenen Theorie. »Die Kohärenz der Kritik und die Kritik der Inkohärenz sind eine einzige und gleiche Bewegung, die dazu verdammt ist, sich zu zerstören und sich zu einer Ideologie zu verfestigen, sobald sich zwischen den verschiedenen Gruppen einer Föderation, zwischen Individuen einer Organisation, zwischen der Theorie und der Praxis eines Mitglieds dieser Organisation die Trennung einstellt. Wenn wir in dem globalen Kampf, in dem wir stehen, auch nur geringfügig an der Front der Kohärenz zurückweichen, lassen wir die Trennung auf der ganzen Linie gewinnen.«73 69 | Vgl. Debord (1963). 70 | Vaneigem (1967), S. 284. 71 | Debord (2003), S. 164f., an Rodolphe Gashé, 22.9.1962. 72 | Ibidem, an Rodolphe Gashé, 22.9.1962. Kohärenz als Stimmigkeit lässt somit zunächst ein gewisses Maß an Vielstimmigkeit durchaus zu. Eine Tendenz in Richtung der Vereinheitlichung ist dennoch erkennbar, wenn Debord aus der Forderung nach Kohärenz diejenige nach einer kleinen Gruppengröße ableitet: »L’extension numérique rapide, qui menace toujours tout de suite les groupes d’avant-garde quand ils ont vraiment quelque chose à dire, doit être subordonnée à cette sorte de qualité [der Kohärenz, M.O.].« (ibidem, an Rodolphe Gashé, 22.9.1962. Vgl. hierzu noch eine Äußerung Debords aus der Schlussphase der S.I. (Debord (2004a), S. 228, an alle Sektionen der S.I., 27.4.1970) Diese wohl bereits ab dem Frühjahr 1962 zu beobachtende Tendenz in der S.I. gilt es im Verlauf der Arbeit - auch und gerade in Gegenüberstellung der diesbezüglichen Strategien Debords und Jorns kritisch zu beleuchten. 73 | Vaneigem (1967), S. 284.
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Es darf also innerhalb der eigenen Gruppe auf der inhaltlichen Ebene keine Trennung zwischen Theorie und Praxis entstehen, genauso wenig wie im Hinblick auf die Mitglieder eine Trennung zwischen Theoretikern und Praktikern toleriert werden soll. So klar, wie eine Trennung zwischen Theorie und Praxis innerhalb der S.I. abgelehnt wird, so deutlich wird eine Trennung zwischen innen und außen, zwischen der S.I. und anderen Gruppen durchgeführt, die sich wiederum direkt auf die Mitgliedschaftskriterien auswirkt. Denn eine der wenigen ganz klar formulierten Bedingungen für eine Mitgliedschaft in der S.I. hängt eng mit dem vollen Einverständnis mit der Gruppe zusammen, das die S.I. von ihren Mitgliedern fordert: »Man muss uns ganz akzeptieren oder verwerfen. Wir verkaufen keine Details.«74 Zusätzlich - und noch wichtiger - sollen die Mitglieder all ihre Energie in die S.I. und nur dort einbringen: »Et nous ne voulons pas davantage nous considérer comme un club intellectuel et philosophique dont les participants déploieraient leur véritable activité sur d’autres terrains.«75 Folglich darf derjenige, der Mitglied der S.I. werden möchte, keiner anderen Gruppe angehören, denn »bekanntlich kann die S.I. keine doppelte Zugehörigkeit zulassen, weil dann die Manipulation nicht weit wäre.«76 Nach dieser Skizze der impliziten und expliziten Anforderungen an die Mitglieder ist nun zu fragen, wie denn der Eintritt in die S.I. genau vonstatten geht, wie also die Grenze zwischen außen und innen überschritten werden kann.
4.2 Theorie und Praxis des Eintritts Die Überschreitung der Grenze zwischen außen und innen setzt zunächst voraus, dass eine solche Grenze existiert bzw. dass sich ein Innen als ein solches definiert. Daher lassen sich bei den Mitgliedern in Bezug auf die Art und Weise des Beginns der Mitgliedschaft nochmals zwei Kategorien unterscheiden: Zum einen gibt es diejenigen, die an der Definition der Grenze mitgewirkt haben und die daher nicht im eigentlichen Sinne beigetreten sind, sondern sich von Beginn an im Inneren der Gruppe befunden haben. Bei der S.I. gibt es insgesamt 16 solcher Gründungsmitglieder.77 Zunächst einmal sind dies unstrittig die acht Personen, die an der Gründungskonferenz im Juli 1957 teilgenommen 74 | Situationistische Internationale (1962c), S. 270. 75 | Debord (2004a), S. 116, an die italienische Sektion, 4.9.1969. 76 | Situationistische Internationale (1972), S. 105. 77 | Ohrt macht ebenfalls 16 Gründungsmitglieder ausfindig, indem er ein im Oktober 1957 in 17 nummerierten Exemplaren verschicktes internes Schreiben zugrunde legt. Ein Adressat bleibt somit unbekannt, zu vermuten ist, dass es sich dabei um Patrick Straram handelt. Zwei Abweichungen lassen sich beim Vergleich seiner Liste mit der hier vorgelegten erkennen: Zum einen rechnet er Chtcheglov nicht zu den Gründungsmitgliedern, zum anderen schreibt er Constant diesen Status zu - wenn auch nicht ganz widerspruchsfrei (vgl. Ohrt (1997), S. 156).
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haben.78 Auch wenn bereits wenig später mit Olmo, Rumney, Simondo und Verrone vier von ihnen wieder ausgeschlossen wurden, sind diese acht bzw. die verbleibenden vier Gründungsmitglieder Bernstein, Debord, Jorn und Pinot-Gallizio als der innere Kern der S.I. zu begreifen, da sie durch das zentrale Moment des Gründungsmythos verbunden sind. Die zentrale Bedeutung eines solchen Gründungsmythos, der meist als »anregend, belebend und erfrischend erlebt und erinnert wird«79 , ist darin zu sehen, dass hier erstmalig und besonders klar die Abgrenzung zwischen innen und außen, zwischen ›Wir‹ und ›die Anderen‹ vollzogen wird. Auch wenn das ›Wir‹ vielleicht inhaltlich noch gar nicht genauer ausgearbeitet ist, tritt es als das vom Außen abgegrenzte, als anfangs kleiner oder gar klandestiner Mikrokosmos deutlich hervor. So schreibt Debord dazu rückblickend: »En 1957, il n’y eut pas ›una mostra‹ à Turin, mais la conférence de fondation de l’I.S. à Cosio d’Arroscia, village complètement perdu dans la montagne, sans aucun témoin extérieur.«80 Zudem wird den Gründungsmitgliedern ein besonderer Status als zentrale, treibende Figuren zugeschrieben, wie dies im Falle der S.I. insbesondere für Jorn bis 1961 und für Debord gar bis zur Auflösung der Gruppe erkennbar ist.81 Zudem gibt es fünf weitere Gründungsmitglieder, die als bewährte Mitstreiter aus den Vorgängergruppen, die in der S.I. aufgingen, übernommen wurden.82 Die italienische Sektion wurde zudem quasi als ›Familienangelegenheit‹ um zwei weitere Mitglieder verstärkt.83 Zu guter Letzt ist auch Ivan Chtcheglov, wenn auch als ›Mitglied aus der Ferne‹, zu diesem Kreis zu rechnen. Zum anderen gibt es folglich weitere 54 Mitglieder, die zwischen 1957 und 1972 in die S.I. aufgenommen wurden, die also die Grenze zwischen innen und außen nicht um sich herum gezogen haben, sondern diese von außen nach innen zu überschreiten hatten. Wie diese Transgression im Einzelnen ablief und inwiefern sich diese als mehr oder weniger ausgeprägter ›rite de passage‹ begreifen lässt, soll im Folgenden verdeutlicht werden.
4.2.1 Theoretische Überlegungen der S.I. zum Eintritt Wie oben entwickelt, stellt die S.I. an potentielle Mitglieder sehr hohe, wenn auch größtenteils eher abstrakte Anforderungen. Dementspre78 | Michèle Bernstein, Guy Debord, Asger Jorn, Walter Olmo, Giuseppe PinotGallizio, Ralph Rumney, Piero Simondo und Elena Verrone. 79 | Frese (2000), S. 442. 80 | Debord (2004a), S. 81, an die italienische Sektion, 27.5.1967, Hervorh. M.O. 81 | Dieser Sonderstatus ist auch bei Bernstein und Pinot-Gallizio erkennbar, wenn man die außergewöhnlich versöhnlichen Stellungnahmen der S.I. zu PinotGallizio nach dessen Ausschluss sowie die Tatsache berücksichtigt, dass Bernstein, auch wenn sie kaum in der S.I. in Erscheinung trat, bis 1967 unter den Mitgliedern verblieben ist. 82 | Walter Korun aus dem M.I.B.I. sowie Mohamed Dahou, André Frankin, Abdelhafid Khatib und Alexander Trocchi aus der L.I. 83 | Giors Melanotte als Sohn von Pinot-Gallizio und Glauco Wuerich als sein bester Freund werden hier von Beginn an zu den Mitgliedern gerechnet.
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chend verwundert es kaum, wenn stets betont wird, »alle Kandidaturen müssten sorgfältig geprüft werden«84 , bevor sie in die S.I. aufgenommen werden können. Diese Überprüfung von potentiellen Mitgliedern vor deren Beitritt wird dabei aus drei verschiedenen theoretischen Überlegungen heraus gerechtfertigt: der Frage der Kohärenz, dem Zusammenhang von Eintritt und Ausschluss sowie dem Problem des Elite-Verdachts. Der Begriff der Kohärenz - und damit zusammenhängend derjenige der Disziplin sowie der inhaltlich-theoretischen Übereinstimmung - als Mitgliedschaftskriterium wurde ja bereits ausführlich dargestellt, seine zentrale Rolle bei der Überprüfung von Beitrittskandidaten dürfte daher auf der Hand liegen. Berücksichtigt man ferner noch die von der S.I. diagnostizierte Schwierigkeit, alleine von den Äußerungen der Kandidaten auf deren wirkliche Fähigkeiten in Theorie und Praxis zu schließen, wird eine solche Prüfung noch dringlicher, »damit die GANZ ZUVERLÄSSIGEN Elemente auserlesen werden. Anscheinend glauben verschiedene Sympathisanten, dass sie etwas zu gewinnen haben, indem sie so tun, als ob sie überzeugt wären.«85 Dabei räumt die S.I. durchaus ein, dass eine solche Überprüfung »sévère et très peu engageant«86 ist, da die Beitrittskandidaten - teilweise monatelang - auf die Probe gestellt werden und ihren Willen, Teil der S.I. zu werden, unter Beweis stellen müssen. Diese Praxis lässt sich für die S.I. nur folgendermaßen rechtfertigen und somit auf eine theoretische Grundlage stellen: »Notre seule raison, et notre seule excuse, pour jouer ainsi les examinateurs pénibles, c’est le niveau de cohérence réelle, que nous demandons pour une tâche qui l’exige effectivement.«87 Diese Kohärenz ist aber keineswegs eine abstrakte und irgendwo auf der S.I. als Ganzer basierende, sondern eine sehr konkrete, die aus den an der S.I. Beteiligten entsteht: »Je crois pourtant que toute discussion que nous devons mener jusqu’au bout sur ce point central - la cohérence comme réalité et non comme idéologie - ne peut qu’être placée dans la perspective éclairante de ta formule [...]: il n’y a nulle part d’entité ›I.S.‹ qui aurait une existence indépendamment des situationnistes réels. Autrement dit, la question de la cohérence (et de son rôle pratique) est inséparable de la question de l’organisation.«88
Diese strenge Prüfung und Auswahl von Beitrittskandidaten anhand des Kriteriums der Kohärenz, die sich auch als Komplexitätsreduktion der Gruppe an der Grenze zu ihrer Umwelt begreifen lässt, ist nur dann glaubhaft und zu rechtfertigen, wenn sie konsequent bei allen Anwärtern durchgeführt wird: »Si tout à coup nous avons l’air d’oublier nous-mêmes - de jeter allégrement par-dessus bord - la réalité de cette 84 | Situationistische Internationale (1962e), S. 277. 85 | Situationistische Internationale (1962d), S. 306, Hervorh. im Orig. 86 | Debord (2003), S. 118, an Raoul Vaneigem, 9.1.1966. 87 | Ibidem, an Raoul Vaneigem, 9.1.1966. 88 | Ibidem, S. 119, an Raoul Vaneigem, 9.1.1966, Hervorh. im Orig.
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difficulté de participation [...], nous sapons la seule légitimité de notre attitude. Nous donnons l’impression que cette participation dépend de notre bonne grâce éclairante.«89 Dies ist nicht zuletzt deshalb im Kontext der vorliegenden Arbeit besonders interessant, als durch diese Forderung zunächst persönliche Neigungen und Beziehungen als Grund für einen Beitritt ausgeklammert werden. Doch die strenge Prüfung ist noch aus einem zweiten Grund von großer Bedeutung. Es handelt sich hierbei um den Zusammenhang zwischen Eintritt und Ausschluss, zwischen der vorschnellen Aufnahme von Mitgliedern und der sich daraus eventuell ergebenden Notwendigkeit, diese aufgrund des sich während der Mitgliedschaft herausstellenden Mangels an Fähigkeiten oder aufgrund fehlender Kohärenz der Positionen wieder aus der Gruppe auszuschließen. Auch wenn die S.I. in der Außenwahrnehmung gerade für ihre Ausschlusspraxis berühmt oder berüchtigt ist, so versuchte sie doch, die Zahl der Ausgeschlossenen so gering wie möglich zu halten. »Dans toute la formation de l’I.S., il n’y a que trois démissions90 [...] et peutêtre deux dizaines d’exclusions absolument nécessaires parce que des gens se réclamant de nous disaient et faisaient des choses inacceptables pour notre projet commun. [...] Je pense encore que c’est trop de gens. Mais l’erreur était bien plus de les avoir acceptés trop vite que de les renvoyer quand on découvre que le crédit qu’on leur faisait est vraiment trop généreux et stupide.«91
Hier wird deutlich, dass die Aufnahme von Mitgliedern, so streng sie zuvor geprüft worden sein mögen, stets der Vergabe eines ›Vertrauenskredits‹ gleichkommt und eine riskante Vorleistung im Ideenpotlatch darstellt. Dieses Risiko lässt sich lediglich verringern, nie jedoch beseitigen, denn »[b]eim Beitritt werden wir uns noch - mehr oder weniger oft - täuschen.«92 Daher gilt es, den Beitritt zur S.I. soweit wie möglich zu erschweren, »[refuser] un bon nombre de ›fidèles disciples‹ sans leur laisser la possibilité d’entrer dans l’I.S., ni par conséquent d’être exclus.«93 Die Zahl der Ausschlüsse ist vor allem deshalb zu minimieren, da diese stets berechtigt sein müssen. Während bei der Aufnahme von Mitgliedern Irrtümer nicht zu vermeiden sind, heißt es in Bezug auf den Ausschluss ganz strikt: »Wir dürfen uns beim Bruch nicht irren.«94 Auch wenn die S.I. im Laufe ihrer Existenz insgesamt 45 Mitglieder ausgeschlossen hat, so wird diese Zahl doch immer noch als ›Erfolg‹ der eigenen strikten Eintrittsprüfung gewertet95 und der Zahl der abge89 | Debord (2003), S. 119, an Raoul Vaneigem, 9.1.1966. 90 | Nach unseren Recherchen beläuft sich die Zahl der Ausgetretenen zu diesem Zeitpunkt bereits auf sieben. 91 | Debord (2001), S. 212, an Alexander Trocchi, 22.4.1963, Hervorh. im Orig. 92 | Debord (1968), S. 462. 93 | Debord (2001), S. 156, an Asger Jorn, 23.8.1962. 94 | Debord (1968), S. 462. 95 | Vgl. hierzu auch eine Anmerkung von Debord: »Jonathan [Horelick, M.O.]
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wiesenen Anwärter gegenübergestellt: »Wir verdanken ihn [den Erfolg, M.O.] auch der Tatsache, dass die S.I. immer strenger ihre vorherigen Beschlüsse über die Prüfung derer, die ihr beitreten wollen, anwendet, und in derselben Zeit 50 bis 60 Anwärter abgelehnt hat - was uns entsprechend viele Ausschlüsse erspart hat.«96 Dabei ist die strikte Kandidatenprüfung zur Vermeidung unnötiger Ausschlüsse jedoch nicht nur theoretisch begründet, sondern hat auch mit der Tatsache zu tun, dass eine relativ kleine Gruppe wie die S.I. stets in hohem Maße von den in ihr bestehenden oder entstehenden interpersonellen Beziehungen geprägt ist - gerade wenn die Etablierung authentischer und anti-spektakulärer Kommunikationsformen sowie das Ausleben der Begierden des Alltagslebens zu den zentralen Anliegen gehören. Genau diese interpersonellen Beziehungen lassen Ausschlüsse nur als allerletzte Möglichkeit zu und erfordern somit wiederum eine strenge Zugangskontrolle: »[J]e veux tuer le moins de gens possibles (à tous sens imagés ou concrets du mot tuer) et en même temps je veux faire ou subir le moins de choses possibles de ce qui me déplaît. Et ceci dans l’I.S. aussi bien que dans le monde extérieur.«97 Auf der theoretischen Ebene gilt es noch einen dritten Aspekt zu berücksichtigen, der sich auf die Modalitäten des Eintritts bzw. dessen Beschränkung auswirkt: die Frage nach dem Verhältnis zwischen der S.I. und der übrigen ›revolutionären Bewegung‹ oder anders formuliert: die Elite-Problematik. Dabei sieht die S.I. die strikte Prüfung der Mitglieder und vor allem ihre daraus resultierende zahlenmäßige Beschränkung gerade als geeignetes Mittel an, eine elitäre Stellung der eigenen Gruppe zu verhindern: »Man muss offensichtlich unehrlich sein [...], um der S.I. vorzuwerfen, eine Organisation mit Führungsrolle zu sein.98 Denn wir haben alles getan, um es fast unmöglich zu machen, S.I.-Mitglied zu werden (was anscheinend jede konkrete Gefahr an der Wurzel fasst, gegenüber der geringsten Massenfraktion zu einer ›Führung‹ zu werden).«99 Die Zurückweisung von Beitrittsaspiranten versteht die S.I. als Versuch, diesen die Möglichkeit zum selbstständigen und von der S.I. unabhängigen Handeln zu ermöglichen und somit - wenn auch indirekt - wichtige theoretisch von der S.I. formulierte Ziele in der Praxis umzusetzen. »Anstatt sich über lauter Klatsch über uns zu interessieren, sollten alle diejenigen, die es wollen, sich nur unsere Methoden aneignen, [...] soulevait plutôt la question de l’adhésion prématurée. C’est une question que nous avons toujours envisagée depuis des années. Je ne sais si on peut la résoudre bien? Je lui ai expliqué que nous pensions avoir limité les dégâts, depuis deux ans, avec une ou deux exclusions au lieu de quarante ou cinquante. Peut on arriver à un résultat pur ?« (Debord (2004a), S. 142, an Eduardo Rothe, 8.11.1969, Hervorh. im Orig.). 96 | Situationistische Internationale (1969f), S. 420f. 97 | Debord (2001), S. 240, an Raoul Vaneigem, 19.6.1963. 98 | Gemeint ist hier die Führungsrolle nach außen, nicht die Führungsrolle eines Mitglieds im Inneren. 99 | Situationistische Internationale (1969f), S. 434.
Die S.I. im Spannungsfeld von Theorie und Praxis | 235
und sie werden um so unabhängiger von uns sein.«100 Genau in dieser Zurückweisung, in der strikten Grenzziehung um die eigene Gruppe herum, sieht die S.I. die Ursache für den Elitismus-Vorwurf: »Eigentlich wurde uns deshalb vorgeworfen, ›eine Elite‹ zu sein und folglich danach zu streben, diejenigen zu führen, die wir nicht einmal kennenlernen wollen, weil wir gewisse Leute verletzten, indem wir uns weigerten, mit ihnen in Kontakt zu treten oder sogar ihren Beitritt anzunehmen.«101 Aus Sicht der S.I. ist der Elitismus-Vorwurf also nichts anderes als eine Trotzreaktion aus gekränkter Eitelkeit. Und auch wenn sie es sich damit etwas zu einfach macht - aus der Ablehnung von Beitrittskandidaten alleine entsteht noch nicht zwangsläufig eine elitäre Gruppe, schon gar nicht, wenn diese Ablehnung so direkt über die eigenen theoretischen Positionen begründet werden kann. In genau diese Richtung argumentiert jedoch Bourseiller in Bezug auf die Weigerung der S.I., einige Mitglieder von Socialisme ou Barbarie aufzunehmen.102 »Bourseiller sieht hierin den Beweis für den elitären Charakter der S.I., als habe eine solche Organisation jemals irgendeine republikanische Pflicht zur Gastfreundschaft gehabt, als habe sie mit der Ablehnung von Aufnahmekandidaten gegen ihre elementarsten demokratischen Pflichten verstoßen. Eine Organisation, die Aufnahmekandidaten ablehnt, ist zwangsläufig elitär, so der Gedankengang. Und wenn gerade das Gegenteil der Fall wäre? Wenn die S.I. Aufnahmeanwärter nicht aus elitären Gründen ablehnt, etwa um eine jener ›Gesellschaften der Starken‹ zu bilden [...], sondern weil sie unaufhörlich vor der Möglichkeit ihres eigenen Verschwindens steht [...] ? Die S.I. weist Beitrittskandidaten zurück, weil sie gegen die Welt ist und nicht, wie sich das so viele Geheimgesellschaften und imaginäre Freimaurerbünde erträumen, um darin die Macht zu ergreifen, und noch weniger, um sie zu regieren.«103
Auch wenn eine Gruppe wie die S.I. keine ›demokratische Pflicht‹ zur Aufnahme einer großen Zahl von Mitgliedern hat, so erkennt doch die S.I. selbst die Gefahr, die von ihrer strikten Auswahl der Mitglieder für die Gruppe und ihre Außenwirkung ausgeht. Dabei geht es nicht darum, dass sich die S.I. alleine durch diese Auswahl als elitäre Gruppe sehen würde - im Gegenteil: Sie hält explizit daran fest und lehnt es weiterhin ab, die »Strenge bei der Auswahl der S.I.-Mitglieder und der Begrenzung ihrer Zahl auf[zu]geben.«104 Es geht ihr laut Debord vielmehr darum, »den schlechten, abstrakten Gebrauch dieser Strenge [zu] kritisier[en], die zum Gegensatz von dem, was wir wollen, führen könnte.«105 Denn sowohl durch die strikte Auswahl der Mitglieder als auch 100 | Situationistische Internationale (1969f), S. 434. 101 | Ibidem. 102 | Zum Ausgang des Konflikts zwischen Debord und Socialisme ou Barbarie sowie dem daraus abgeleiteten Elitismus-Vorwurf vgl. Bourseiller (1999), S. 225f. 103 | Kaufmann (2004), S. 253f. 104 | Debord (1968), S. 463. 105 | Ibidem. Vgl. hierzu auch Marelli (1998), S. 300.
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durch die daraus resultierende elitäre Außenwirkung kann sich unter denen, die schließlich aufgenommen werden, tatsächlich ein elitäres Grundgefühl und Verhalten entwickeln. Letzteres jedoch gilt es unbedingt zu vermeiden: »Der übertriebenen Bewunderung bzw. nachfolgenden Feindseligkeit all derer, die als unpassend leidenschaftliche Zuschauer von uns sprechen, darf keine ›Situ-Aufschneiderei‹ entsprechen, die unter uns zu dem Eindruck beitragen würde, die Situationisten seien Wunderknaben, die tatsächlich in ihrem Leben alle das besitzen, was sie als revolutionäre Theorie und Programm formuliert oder einfach gebilligt haben.«106
Auch hier wird wieder die Spannung zwischen Theorie und Praxis verdeutlicht bzw. darauf hingewiesen, dass auch und gerade die S.I. selbst und das Alltagsleben ihrer Mitglieder ein Ort der Praxis ihrer Theorie sein muss. Daraus ergeben sich für die S.I. in punkto Beitrittsregeln zwei Folgerungen, die eng mit der Forderung der Einheit von Theorie und Praxis verbunden sind. »Que les situationnistes soient uniquement définis par ce qu’ils font (théoriquement et pratiquement). Ainsi: que l’adhésion soit rendue impossible à qui ne fait rien. [...] Inversement, faciliter au maximum l’adhésion de tous ceux qui montrent qu’ils nous comprennent et nous approuvent dans la perspective d’une activité pratique dont ils peuvent avoir l’initiative et les capacités.107 Autrement dit, en finir avec toutes prétentions glorieuses sur le titre, la ›garantie‹ et la valeur que réprésenterait l’appartenance à l’I.S. (c’est sur une telle tendance au confort de l’auto-admiration que risquerait de (se) développer l’idéologie de l’I.S.«108
Die S.I. steht also bezüglich der Aufnahme von neuen Mitgliedern grundsätzlich vor zwei Problemen: Zum einen muss sie sich fragen, wie sich ihre hohen und zugleich recht diffusen Mitgliedschaftsanforderungen und die daraus abgeleiteten Eintrittsprozeduren, die zur Egalität innerhalb der Gruppe beitragen sollen, mit dem auch nach außen vertretenen anti-hierarchischen bzw. anti-elitären Selbstverständnis in Einklang bringen lassen. Und zum anderen muss sie die Entstehung einer elitären, selbstverliebten Passivität und somit indirekt hierarchische Gruppenstrukturen begünstigenden Grundstimmung in ihrem Inneren verhindern. »Die bisher ziemlich ungerecht ausgesuchte kleine Mitgliederzahl war zugleich Ursache und Folge einer lächerlichen Überschätzung, die man allen 106 | Debord (1968), S. 463. 107 | Gegen Ende ihrer Existenz verhängt die S.I. dann einen vollkommenen Aufnahmestop für neue Mitglieder, der wiederum aus den theoretischen Positionen und Zielen der Gruppe - wenn auch auf paradoxe Weise - abgeleitet wird. Die Aufnahme neuer Mitglieder hätte die Gruppe gestärkt - zu einem Zeitpunkt als sie geschwächt werden musste (vgl. Situationistische Internationale (1972), S. 108f.). 108 | Khayati (1966b), S. 142f., Hervorh. im Orig.
Die S.I. im Spannungsfeld von Theorie und Praxis | 237 S.I.-Mitgliedern ›offiziell‹ schon allein wegen der Tatsache zuteil werden liess, dass sie welche sind [...]. Eine solche zahlenmässige, pseudo-qualitative Begrenzung vergrössert die Bedeutung jeder besonderen Dummheit übermässig und ruft sie gleichzeitig hervor.«109
Wie nun diese ›ungerecht ausgewählte kleine Mitgliederzahl‹ im einzelnen zustande kam, gilt es im Folgenden an drei verschiedenen Beitrittsvarianten, an drei Wegen in die S.I. zu analysieren.
4.2.2 Aufnahme und Prüfung von Beitrittskandidaten: Hartstein Bislang war in Bezug auf den Eintritt vor allem von Aufnahme, Prüfung, Auswahl etc. die Rede - von Praxen also, die von der S.I. selbst ausgehen. Es gibt jedoch noch eine andere Bewegungsrichtung, die eher von den Beitrittskandidaten ausgeht und das ›Sich-auf-die-S.I.-Zubewegen‹ in den Mittelpunkt stellt, wie es zum Beispiel Formulierungen wie »Fühlung aufnehmen«110 oder »Sich-Anschließen«111 andeuten. Dabei gibt es, wie dies bereits beim oben vorgestellten papillon erkennbar war, nur zwei Arten, wie man mit der S.I. in Kontakt treten kann: »Wir erinnern daran, dass die beiden einzigen Wege, um mit der S.I. Fühlung zu nehmen, darin bestehen, entweder an unsere Adresse zu schreiben oder durch eine der organisierten Gruppen vorgestellt zu werden, zu denen wir eine Verbindung akzeptieren. In jeder Nummer dieser Zeitschrift werden immer wieder genug S.I.-Mitglieder namentlich genannt.«112 Auch beim Fühlung-Aufnehmen versucht die S.I. somit auf zwei Arten, das Heft in der Hand zu behalten. Zum einen, indem sie die Ansprechpartner innerhalb der Gruppe bekannt gibt und verdeutlicht, dass ohne eine solche direkte Kontaktaufnahme kein Eintritt möglich ist: »Wer behauptet, er könne es einem ermöglichen, diesen notwendigen Sieben zu entgehen, entpuppt sich damit selbst entweder als Mythomane oder als Provokateur. Achtung!«113 Zum anderen erfolgt dies dadurch, dass sie von den Beitrittsaspiranten eine Vorleistung verlangt, eine Art Bewerbung, die einen ersten Eindruck von deren Fähigkeiten zumindest auf dem Feld der Theorie vermittelt. Eine solche ›Stellenausschreibung‹ sieht folgende Vorgehensweise vor: 109 | Debord (1968), S. 462. 110 | Vgl. Bernstein (1958b), S. 33; Situationistische Internationale (1964b), S. 124 sowie Situationistische Internationale (1967b), S. 304. 111 | Vgl. Bernstein (1958b), S. 31; Debord (1960), S. 148; Situationistische Internationale (1960f), S. 166 sowie Situationistische Internationale (1963e), S. 36. 112 | Situationistische Internationale (1967b), S. 304. Dass dieses FühlungAufnehmen tatsächlich stattgefunden hat, verdeutlicht eine Anmerkung Debords: »Le n°3 continue de susciter des lettres de quasi-adhésion. La dernière, d’Israel [gemeint ist Jacques Ovadia, M.O.] - pays où nous avions diffusé au plus 3 exemplaires!« (Debord (1999), S. 309, an Constant, 12.2.1960). 113 | Situationistische Internationale (1967b), S. 304.
238 | Situationistische Internationale »SITUATIONISTISCHE INTERNATIONALE Anti-Public-Relations-Service Sie sind mit der S.I. einverstanden! Sie wollen der S.I. beitreten! Dann verlangen wir nur eine kleine Vorübung von Ihnen, um - in Ihrem wie in unserem Interesse - die Art und Weise objektiv kontrollieren zu können, wie Sie unsere Probleme wirklich in Angriff nehmen und inwieweit Sie fähig sind, an unserem Unternehmen völlig teilzunehmen (Die S.I. will keine Anhänger): 1. Wählen Sie selbst einen Punkt aus, den Sie in den Thesen der S.I. für wichtig halten und führen Sie einige mögliche Argumente und Folgerungen aus (minimale Länge: eine Schreibmaschinenseite, es wird kein Maximum vorgegeben). 2. Wählen Sie selbst einen angreifbaren Punkt in denselben Thesen aus und zerstören Sie diese Position (Bedingungen wie oben).«114
Allerdings ist hier, genau wie beim obigen papillon, die ironische Brechung dieses Aufrufs zu beachten, die bereits im Untertitel ›Anti-PublicRelation-Service‹ erkennbar ist. Zwar wird die in diesem Text enthaltene - und an anderer Stelle vielfach wiederholte - Aussage, die S.I. suche keine Anhänger, aufgrund der verlangten Kritik der Beitrittskandidaten an den Thesen der S.I. auch durch eine solche direkte Aufforderung zur ›Bewerbung‹ nicht in Frage gestellt, doch für einen weiteren Grundsatz der S.I. scheint dies nur bedingt zu gelten. Denn eine der Grundregeln der S.I. in Bezug auf den Beitritt lautete stets, dass »nous ne faisions pas du recrutement«115 - und genau wie eine solche mutet dieser Appell zunächst an. Allerdings ist die entscheidende Bedingung dafür, dass man aufgrund eines solchen Aufrufs von Mitgliederrekrutierung sprechen könnte, bei der S.I. nicht erfüllt, denn soweit dies bekannt ist, ist kein einziges ihrer Mitglieder aufgrund einer Antwort auf eine solche ›öffentliche Ausschreibung‹ aufgenommen worden. Diese Art von AntiWerbung sollte daher, wie der erwähnte papillon, eher als ein Spiel mit den Kategorien der Mitgliedschaft und des Beitritts aufgefasst werden, als détournement spektakulärer Organisationsstrukturen. Dennoch gibt es einige Beitritte, die in einem Herantreten des Kandidaten an die S.I. ihren Ursprung haben116 und bei denen somit in der Ausgangssituation beim Beitrittsaspiranten das von der S.I. geforderte aktive, selbstständige Element vorhanden ist und wo in der Folge das Phänomen der strengen Prüfung besonders gut erkennbar wird.117 114 | Situationistische Internationale (1963f), S. 71f., Hervorh. im Orig. 115 | Debord (2001), S. 101, an Attila Kotányi, 12.7.1961. 116 | Dies war bei den Mitgliedern der amerikanischen und der englischen Sektion sowie bei Herbert Holl, Anton Hartstein, Attila Kotányi, Jacques Ovadia und René Viénet der Fall. Jacqueline de Jong ersucht die S.I. ebenfalls ›offiziell‹ und erfolgreich um Aufnahme, hier waren aber andere Faktoren ausschlaggebend (vgl. Ohrt (1997), S. 227 sowie Debord (1999), S. 348, an Jacqueline de Jong, 6.7.1960). 117 | Als Gegenpol zu diesen Eintritten und als zusätzliche Bestätigung der strengen Kandidatenauswahl durch die S.I. gibt es neben einer großen Zahl nicht nachprüfbarer, weil nicht namentlich genannter Ablehnungen auch einige Fälle, in denen
Die S.I. im Spannungsfeld von Theorie und Praxis | 239
Beispielhaft soll hier der Fall des in Paris im Exil lebenden Rumänen Anton Hartstein skizziert werden. Dieser nimmt im Juli 1965 per Brief Kontakt zu Debord auf und kann diesen davon überzeugen, sich mit ihm zu treffen. Bereits diesem Treffen stimmt Debord jedoch nur unter der Bedingung zu, dass sich Hartstein von dem von Debord wenig geschätzten Richard Dabrowski118 distanziert, denn »nous n’aurons évidemment jamais aucun dialogue avec tout ce qui peut être mêlé à cette bande. Donc si vous en faites partie vous-mêmes, restons-en là [...]. Et dans le cas contraire, fixez-moi un rendez-vous où vous voudrez, un de ces jours.«119 Nun beginnt eine mehr als sechs Monate andauernde Phase der Überprüfung, die vor allem von Debord und Khayati durchgeführt wird. Dabei wird Hartstein unter anderem dazu angehalten, seine intellektuellen Fähigkeiten und seine Theoriekenntnisse zu erweitern, was ihm bis November 1965 anscheinend auch gelingt: »[S]on ›niveau‹ intellectuel [est] bon.«120 Allerdings räumt Hartstein selbst ein, »que ses informations sont déficientes sur plusieurs points.«121 Neben seinen konkreten Fähigkeiten wird jedoch auch seine »adhésion affective«122 im Auge behalten und im November 1965 als ernsthaft eingestuft. Da bei Hartstein somit sowohl auf der Ebene der inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Theorien der S.I. als auch, was das Verständnis der »attitude d’ensemble«123 und seine Bindung an die Gruppe betrifft, Fortschritte zu erkennen sind, »[o]n s’orienterait donc vers une acceptation, mais sans hâte.«124 Die Überprüfung bezieht sich also sowohl auf intellektuelle Fähigkeiten als auch auf das Verständnis der Funktionsweise der S.I. als Gruppe sowie auf die nötige Leidenschaftlichkeit des eigenen Tuns - sie ist aber noch nicht am Ende angelangt. Ein paar Tage später tauscht man sich wieder über die Fortschritte Hartsteins aus. Mittlerweile werden ihm dabei »capacités intellectuelles autonomes, à défaut namentlich genannte Beitrittsaspiranten zurückgewiesen wurden. Dies geschah meistens unter Berufung auf grundlegende theoretische Positionen der S.I., über die mit den Kandidaten entweder kein Einverständnis erzielt werden konnte oder die diese nach Meinung der S.I. nicht verstanden hatten. Genannt seien hier beispielhaft Cristina Sensenhauer und Puni Cesoni (vgl. Debord (2004a), S. 24, an die italienische Sektion, 7.2.1969), ein Herr Barret (vgl. ibidem, S. 278, an Jonathan Horelick und Tony Verlaan, 8.9.1970).) sowie eine namenlose Polin (vgl. Debord (2003), S. 65, an Mustapha Khayati, 28.9.1965). Des Weiteren können auch die oben erwähnten Rodolphe Gashé und Mario Perniola zu diesen abgelehnten Aspiranten gezählt werden - auch wenn die Grenzziehung hier phasenweise nicht ganz so deutlich war. 118 | Dabrowski war Mitglied von Socialisme ou Barbarie, mit denen Debord einige Jahre zuvor eine Zeit lang in engem Kontakt stand und sogar Mitglied war, bevor er aufgrund theoretischer Differenzen wieder austrat. Auf diese in Bezug auf das Verbot von Doppelmitgliedschaften für S.I.-Mitglieder interessante Konstellation kann hier nicht weiter eingegangen werden. Vgl. Bourseiller (1999), S. 197ff.; Gottraux (1997) sowie Quiriny (2003). 119 | Debord (2003), S. 53, an Anton Hartstein, 27.7.1965. 120 | Ibidem, S. 88, an Mustapha Khayati, 25.11.1965. 121 | Ibidem, an Mustapha Khayati, 25.11.1965. 122 | Ibidem, an Mustapha Khayati, 25.11.1965. 123 | Ibidem, an Mustapha Khayati, 25.11.1965. 124 | Ibidem, an Mustapha Khayati, 25.11.1965.
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d’information conceptuelle, et autre, suffisante«125 attestiert - Hartstein erfüllt nun also ein weiteres zentrales Mitgliedschaftskriterium. Zudem ist man sich auch bei der Einschätzung gemeinsamer Gegner einig: »Il a écouté Amédée [Henri Lefebvre, M.O.] aux Hautes Études, et le juge tout à fait comme nous.«126 Auf dieser Grundlage schlägt Debord vor, Hartstein weiterhin ›undercover‹ die Vorlesungen von Lefebvre besuchen zu lassen, ihn also noch nicht offiziell zum Mitglied der S.I. zu erklären.127 Daran ändert sich auch bis Dezember 1965 nichts, selbst wenn Hartstein in Debords Augen »paraît toujours mieux«128 . Erst im Januar 1966 scheint es Hartstein zu gelingen, von der S.I. als Mitglied angesehen zu werden: »Anton [...] nous commençons à accepter après des mois ›d’examen‹ sévère et très peu engageant.«129 Doch auch in der Folgezeit steht Hartstein weiterhin unter Beobachtung, was nicht zuletzt verdeutlicht, wie schwierig es für ein neues Mitglied auch nach der offiziellen Aufnahme noch ist, sich vollständig in eine bereits bestehende Gruppe einzubringen und einzufügen, auch wenn ihm (und Herbert Holl130 ) im Februar 1966 eine »forte chance de réussir leur processus d’accès à la cohérence souhaitable«131 zugestanden wird. Dennoch wird Hartstein noch nicht zugetraut, bei den zu diesem Zeitpunkt zentralen Aktionen bzw. Texten der S.I. mitzuwirken, da diese Aufgabe »n’est sans doute pas la meilleure et la plus efficace façon de commencer (même pour Herbert [Holl, M.O.]; et pour Anton [Hartstein, M.O.] cela saute aux yeux.) En tout cas, aucun n’a à prendre la responsabilité d’un mot.«132 Diese ›Schonung‹ der neuen Mitglieder bezüglich der gemeinsamen Tätigkeit ist jedoch vor dem Hintergrund der eigenen theoretischen Positionen äußerst problematisch, stellt sie doch die Egalität innerhalb der S.I. deutlich in Frage und etabliert eine Trennung und Spezialisierung der verschiedenen Mitglieder in Alteingesessene und Neue, in Ausführende und Zuarbeitende. Was sich durch die Verlängerung der ›Kandidatenprüfung‹ auch über deren Eintritt in die S.I. hinaus in der Gruppe entwickelt, sind genau die Lehrer-SchülerVerhältnisse, die die S.I. eigentlich strikt ablehnt.133 Eine solche Schüler125 | Debord (2003), S. 93, an Mustapha Khayati, 29.11.1965, Hervorh. M.O. 126 | Ibidem, an Mustapha Khayati, 29.11.1965. 127 | Es ist unklar, ob diese ›Unterwanderungsstrategie‹ tatsächlich umgesetzt wurde. 128 | Ibidem, S. 105, an Mustapha Khayati, 21.12.1965. 129 | Ibidem, S. 118, an Raoul Vaneigem, 9.1.1966. 130 | Auch bei Holl ist das Phänomen einer nach der offiziellen Aufnahme fortdauernden ›Probezeit‹ zu beobachten. So wird ihm noch knapp ein Jahr nach seinem Eintritt ein »progrès manifeste« attestiert und Debord ist daher »plus sûr de lui« (Ibidem, S. 125, an Mustapha Khayati, 13.2.1966) - nicht zuletzt, da er von ihm eine »lettre, assez satisfaisante« (ibidem, S. 136, an Mustapha Khayati, 19.4.1966) bekommt und sich wenig später mit ihm zu einer »[d]iscussion très satisfaisante« (ibidem, S. 138, an Mustapha Khayati, 22.4.1966) trifft. 131 | Ibidem, S. 125, an Mustapha Khayati, 13.2.1966. 132 | Ibidem, S. 126, an Mustapha Khayati, 13.2.1966, Hervorh. im Orig. 133 | Vgl. Situationistische Internationale (1961a), S. 211 sowie Debord (2001), S. 238, an Raoul Vaneigem, 19.6.1963.
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Position wird gerade bei Hartstein besonders greifbar, hat er doch regelrechte Hausaufgaben zu erledigen: »Anton, de son côté, semble très exactement suivre le programme que tu lui as proposé. Plus d’écritures théorico-automatiques, mais de grandes lectures (Lukács, Korsch) en prenant des notes.«134 Aus der strikten Kandidatenprüfung, die aus theoretischen Überlegungen der S.I. abgeleitet wird, können im Inneren der Gruppe wiederum Strukturen - aber auch Praxen - entstehen, die der eigenen Theorie widersprechen. Was hier zu beobachten ist, ist aber keine einfache Trennung von Theorie und Praxis, sondern ein komplexeres Problem: Denn gerade dadurch, dass der eigenen Theorie stets die Praxis an die Seite gestellt werden muss, um sie zu einer Theorie der Praxis zu machen, kommt es zu Widersprüchen und entsteht in der Einheit von Theorie und Praxis eine auch innerhalb der eigenen Gruppe spürbare Spannung zwischen beiden. Theoretische Überlegungen und Ansprüche, die sich vor allem auf das Verhältnis der S.I. zu ihrem Umfeld beziehen und auf praktische Veränderungen dieser Umgebung abzielen, führen, wenn sie als Praxis nach innen angewendet werden, zu einer Praxis, die teilweise im Widerspruch zur eigenen Theorie steht, wenn sie auch aus ihr abgeleitet wurde. Das Problem scheint vor allem aus der unterschiedlichen Stoßrichtung bzw. den unterschiedlichen Anwendungsfeldern von Theorie und Praxis zu entstehen. Sei es, dass nach außen gerichtete Theorie im Inneren zu einer der Theorie widersprechenden Praxis führt oder dass theoretische Überlegungen, die sich auf die eigene Gruppe beziehen, Praxen zur Folge haben, die nach außen als Widerspruch zur Theorie erscheinen. Beim Blick auf die problematische Konstellation, wie sie bei Hartstein in der Phase nach seinem Eintritt in die S.I. zu beobachten ist, fällt zudem auf, dass diese stark an die Anfangskonstellation der Situationskonstruktion erinnert. Denn fasst man die Aufnahme eines neuen Mitglieds als konstruierte Situation für diese Person auf, so ähneln die Probleme, die bei Hartstein erkennbar wurden, denjenigen, die die S.I. in punkto Situationskonstruktion zu bedenken gab. Diese ist in ihrer Anfangsphase ein »durch eine Forschergruppe ausgearbeitete[s] Situationsprojekt«135 , das von der Unterscheidung eines Leiters/Regisseurs des Projektes, den direkt beteiligten Konstrukteuren und den Zuschauern, die zur Handlung genötigt werden sollen, geprägt ist. Die hier implizierten Hierarchien, Lehrer-Schüler-Verhältnisse und der beinahe schon spektakuläre Charakter einer solchen ›angebotenen‹ Situation liegen gerade bei der Übertragung auf den Fall Hartstein - auf der Hand. Die S.I. war sich dieser Problematik in Bezug auf die Situationskonstruktion bewusst und betonte, dass sich dieser anfängliche Notbehelf »nicht zu einer Beziehung der Spezialisierung entwickeln«136 dürfe, da eine 134 | Debord (2003), S. 125, an Mustapha Khayati, 13.2.1966. 135 | Situationistische Internationale (1958k), S. 17. 136 | Ibidem.
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solche ja gerade am Spektakel kritisiert wurde. Ist der im Fall Hartstein sichtbare Widerspruch zwischen Theorie und Praxis tatsächlich nur ein anfängliches Übergangsstadium? Oder lässt sich der Widerspruch gegen die eigene Theorie unter Umständen dadurch rechtfertigen, dass er eben nur ein temporärer ist, der schließlich sowohl für Hartstein als auch für die S.I. zur Aufhebung des Lehrer-Schüler-Verhältnisses, zur egalitären Zusammenarbeit und somit zur Einheit von Theorie und Praxis führt? Ab Februar 1966 wird es zunächst ruhig um Hartstein. Weder ist etwas über weitere Prüfung seiner Fähigkeiten in Erfahrung zu bringen, noch wird er Mitglied des Redaktionskomitees der I.S. oder tritt als Verfasser von Texten in Erscheinung, lediglich an der 7. Konferenz der S.I. im Juli 1966 nimmt er teil. Dort überschlagen sich die Ereignisse dann plötzlich: »La conduite bizarre d’Anton est de plus en plus déplaisant«137 und einen Tag später heißt es knapp: »[O]n est tout à fait d’accord sur vos conclusions: exclusion d’Anton.«138 Insgesamt lässt sich für den Fall Hartstein zweierlei festhalten: Zum einen scheint es nicht gelungen zu sein, die problematische Lehrer-Schüler-Konstellation nach seinem Eintritt aufzulösen - sie war also keine zu vernachlässigende Übergangsphase, sondern ein deutlicher und anhaltender Widerspruch zur eigenen Theorie. Zum anderen verdeutlicht diese Situation, dass auch eine sechsmonatige genaue theoretische Überprüfung nicht in der Lage zu sein scheint, unbedingt die richtigen Beitrittskandidaten auszuwählen, da neben den theoretischen Fähigkeiten auch persönliche Eigenschaften und Einstellungen gegenüber der Gruppe notwendig sind, um vollwertiges Teil dieses ›Wir‹ zu werden. Dass sich die S.I. bei Hartstein so stark auf die theoretische Ebene konzentriert, verwundert sehr, hat sie doch selbst stets den Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis, zwischen Gruppenaktivität und Alltags- bzw. Privatleben betont. Hier agiert sie dennoch genau in einer solch einseitigen Weise, wie sie bei Mitgliedschaftsaspiranten stets abgelehnt wird. Vor diesem Hintergrund gilt es im Folgenden zu fragen, ob es noch andere Arten des Beitritts zur S.I. gibt, die andere Schwerpunkte setzen, die sich nicht nur auf eine theoretische Prüfung beschränken - nicht zuletzt, da diese schon an sich aufgrund ihrer Langwierigkeit im Widerspruch zum momenthaften und situativen Anspruch der S.I. zu stehen scheint.
4.2.3 Aufnahme und Prüfung von Beitrittskandidaten: die Enragés Eine solche Variante des Beitritts in die S.I. ist im Kontext des Mai 1968 zu beobachten und betrifft die Mitglieder François de Beaulieu, Patrick Cheval, Alain Chevalier, René Riesel und Christian Sebastiani. »Durch die schnelle Folge der Strassenkämpfe während der ersten zehn Maitage 137 | Debord (2003), S. 152, an Mustapha Khayati, 25.7.1966. 138 | Ibidem, S. 153, an Mustapha Khayati, 26.7.1966.
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waren die S.I.-Mitglieder, die ›Wütenden‹139 und noch einige Genossen [Beaulieu, Chevalier und Sebastiani, M.O.], gleich zusammengebracht worden. Am 14. Mai, am Tag nach der Besetzung der Sorbonne also, nahm diese Einigkeit Gestalt an, als sie sich zu einem ›Wütende-S.I.Komitee‹ zusammenschlossen.«140 Diese Art der Aufnahme neuer Mitglieder in die S.I. erscheint auf allen relevanten Ebenen das Gegenmodell zu dem bisher geschilderten Prozedere zu sein: Es gibt hier keine langwierige Prüfung, sondern man schließt sich spontan zusammen; es geht weniger um eine detaillierte Theoriediskussion, sondern um eine gemeinsame Praxis; keine der beiden Parteien (weder die S.I. noch die potentiellen Mitglieder) muss sich alleine auf das Gegenüber zubewegen, man trifft sich vielmehr in der Mitte, in einer situativen Praxis. Es scheint sich hier zunächst um einen spontanen, praxisorientierten Zusammenschluss zu handeln, der im Klartext den Eintritt von gleich fünf neuen Mitgliedern in die S.I. bedeutet. Bei genauerer Betrachtung werden jedoch auch Gemeinsamkeiten zwischen diesem Typ des Eintritts und dem oben skizzierten deutlich. Zum einen gab es auch hier eine Phase des ›Sich-Abtastens‹ - der Eintritt ist also weniger spontan oder situationsbedingt als zunächst dargestellt. »Die Kontakte zwischen den ›Wütenden‹ hatten am Tage nach der Veröffentlichung des von diesen am 21. Februar verteilten Flugblatts Form angenommen.«141 Auch der Aspekt der Prüfung, ob die Enragés und ihre Mitstreiter die von der S.I. als grundlegend für eine Mitgliedschaft erachteten Kriterien erfüllen, ist erkennbar: »Nachdem sie ihre Autonomie bewiesen hatten, konnten sich die ›Wütenden‹ mit der S.I. verständigen, die immer eine solche Autonomie als Voraussetzung jeder Vereinbarung angesehen hatte.«142 Erst nach dieser Phase der Annäherung und der Erfüllung grundlegender Mitgliedschaftskriterien kommt es schließlich im Mai 1968 zur offiziellen Zusammenarbeit zwischen der S.I. und den Enragés, in deren Folge die zwei Enragés und ihre drei Mitstreiter dann Anfang Juni 1968 Mitglieder der S.I. werden: »Am Ende der Besetzungsperiode kam das Komitee ›Wütende-S.I.‹ überein, diese Einheit innerhalb der S.I. fortzuführen.«143 Zwei Unterschiede zwischen den beiden Arten des Eintritts in die S.I. bleiben jedoch erkennbar. Der erste betrifft die Gewichtung zwischen Theorie und Praxis. Während die Prüfung Hartsteins sehr theorielastig ausgefallen ist, bezieht sie sich bei den Enragés fast vollständig auf die gemeinsame Praxis.144 Und so wie die theoretischen Fähigkeiten Hartsteins keinen Eindruck seiner praktischen Fähigkeiten vermitteln bzw. 139 | Cheval und Riesel waren Mitglieder der Wütenden bzw. Enragés. 140 | Situationistische Internationale (1969c), S. 350. 141 | Viénet (1977), S. 55, Anmerkung 3. 142 | Viénet (1977), S. 55, Anmerkung 3. 143 | Viénet (1977), S. 55, Anmerkung 3. 144 | Hier ist zu bedenken, dass eine gemeinsame Praxis aus Sicht der S.I. nur auf der Basis einer auch theoretischen Übereinstimmung möglich ist, selbst wenn diese zunächst nicht im Mittelpunkt der gemeinsamen Aktivität steht.
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sich in der Praxis der Gruppe nicht fortsetzen konnten, so wird bei den Enragés schnell erkennbar, dass man aus ihrer von der S.I. positiv bewerteten Praxis im Mai 1968 nur eingeschränkt - in manchen Fällen auch gar nicht - auf das Vorhandensein von Kompetenzen auf dem Gebiet der Theorie schließen kann.145 So heißt es in Bezug auf die theoretischen Fähigkeiten und Aktivitäten Riesels beispielsweise: »Doch die neue Situation zwang ihn, sich an verschiedene Aufgaben zu machen, für die er unfähiger war als irgendwer sonst. Ihm, der mit 17 (1968) Revolutionär war, war das seltene Missgeschick passiert, alt geworden zu sein, bevor er 19 war. Nie hatte sich ein solcher Versager so verzweifelt einem so extremen Erfolgsstreben ergeben, zu dem ihm alle Mittel verwehrt sind.«146 Sowohl beim Beitritt ›auf Antrag‹ als auch beim Beitritt nach einer gemeinsamen Praxis können sich also auf der Ebene der Gruppe Probleme ergeben, die mit den theoretischen Positionen der S.I. in Zusammenhang stehen oder gar aus diesen abgeleitet werden können. Das ausgeprägte Zusammendenken von Theorie und Praxis und die Weigerung, eine Trennung zwischen diesen beiden zu akzeptieren, da diese als ideologisch abgelehnt wird, scheinen dazu zu führen, dass sich die S.I. bei den verschiedenen Arten der ›Prüfung‹ von Beitrittskandidaten entweder auf den Aspekt der Theorie oder auf den der Praxis konzentriert - in der Annahme, dass die jeweils andere Seite der Medaille damit ebenfalls ausgeprägt ist. Genau dieses Zusammenspiel von Theorie und Praxis scheint aber bei einer Vielzahl von Mitgliedern nicht reibungslos zu funktionieren, sodass es wiederholt zur Enttäuschung dieser Erwartung an die Mitglieder kommt. Sei es, dass die theoretisch Geprüften keine Praxis der Theorie ausbilden können, sei es, dass die praktisch Geprüften nicht in der Lage sind, eine Theorie der Praxis zu entwickeln - stets hat dies Konflikte innerhalb der Gruppe zur Folge, die in vielen Fällen irgendwann zum Ausschluss der Betroffenen führen. Der zweite Unterschied bezieht sich auf den Aspekt der Egalität, der im Falle der Enragés eher gegeben zu sein scheint als im Falle Hartsteins. Die nach dem Eintritt in der Gruppe zu findende Egalität - oder eben ihr Fehlen - ließe sich somit bereits mit der Art und Weise der Anbahnung des Kontakts in Zusammenhang bringen: Erfolgt sie wie in diesem Falle gewissermaßen beiderseitig, so erhöht sich die Chance, dass sich diese 145 | Diese Schwierigkeit der Verbindung zwischen theoretischer und praktischer Arbeit wird von der S.I. jedoch rückblickend vollständig ausgeblendet. Vielmehr sieht sie die Bedeutung des von ihr diagnostizierten Zusammenhangs von Theorie und Praxis beim Blick auf die eigenen Mitglieder bestätigt: »Fügen wir noch eine Tatsache hinzu, die die dialektische Existenz der S.I. bestätigt: in ihr gab es keinerlei Gegensatz zwischen Theoretikern und Praktikern, der Revolution oder irgendetwas anderem. Die besten Theoretiker unter uns waren stets die besten in der Praxis, und die, die als Theoretiker die traurigste Figur abgaben, standen auch am hilflosesten vor jeder praktischen Frage.« (Debord, Guy/Gianfranco Sanguinetti (1972), S. 83f.) Diese Einschätzung gilt es jedoch zu hinterfragen, da zu vermuten ist, dass ein Teil der Konflikte innerhalb der S.I. gerade an dieser Grenzlinie zwischen Theoretikern und Praktikern entstanden ist. 146 | Situationistische Internationale (1972), S. 114.
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Ausgeglichenheit weiter fortsetzt und auch bei der Zusammenarbeit in der Gruppe fortbesteht. Ist jedoch der Beitrittskandidat derjenige, der explizit auf die S.I. zugeht, von ihr etwas verlangt, so befindet er sich von Beginn an in einer untergeordneten Position, die sich bei Intensivierung des Austauschs eventuell verfestigt. Vor diesem Hintergrund erscheint es interessant, noch einen dritten Typus von Eintritt in den Blick zu nehmen. Es handelt sich hier um die Konstellation, dass die S.I. auf potentielle Mitglieder zugeht, ihnen den Beitritt quasi anbietet. Dies ist nicht zuletzt deshalb besonders spannungsreich, da zu vermuten ist, dass diese Vorgehensweise eher informell oder gar heimlich vonstatten gehen muss, um den hierbei möglicherweise implizierten Widerspruch zur eigenen Theorieposition des ›nous ne faisons pas de recrutement‹ nicht zu deutlich werden zu lassen. Zudem ist zu untersuchen, ob es noch einen Mittelweg gibt zwischen der stark theoretisch ausgerichteten Aufnahme von neuen Mitgliedern und der eher über die gemeinsame Praxis argumentierenden Variante - einen Mittelweg also, der nicht zuletzt aufgrund der bei den entweder wegen einer theoretischen oder wegen einer praktischen Befähigung aufgenommenen Mitgliedern aus ebendieser Einseitigkeit resultierenden Schwierigkeiten dringend notwendig zu sein scheint.
4.2.4 Rekrutierung neuer Mitglieder: die unbemerkten Eintritte Eine solche Praxis der heimlichen Rekrutierung von Mitgliedern findet sich bei der S.I. vor allem in der Phase bis 1961/62. Die zunächst widersprüchlich anmutende Formulierung der ›heimlichen Rekrutierung‹ erscheint deshalb angebracht, da bei dieser Art des Beitritts deutlich eine Bewegung der S.I. in Richtung der Kandidaten zu erkennen ist, der öffentliche Aspekt der Ausschreibung bzw. der klassischen Rekrutierung jedoch fehlt. Die Spuren dieser Beitritte und Beitrittsverhandlungen lassen sich daher auch nicht in der I.S., sondern vielmehr in Briefwechseln und internen Dokumenten finden. Auffällig ist hierbei, dass der Aspekt der formalen Prüfung, sei es mit Blick auf die Theorie oder eher mit Blick auf die Praxis, weitgehend fehlt. Das bedeutet nicht, dass die Frage nach der Übereinstimmung mit den Positionen der Gruppe nicht auch hier zur Voraussetzung gemacht wird, aber zumindest wird diese Prüfung nicht so gründlich und nicht so offiziell wie später durchgeführt und auch innerhalb der Gruppe nicht so ausgeprägt diskutiert. Dies mag zum einen damit zusammenhängen, dass sich die S.I. in dieser Phase selbst noch sehr ausgeprägt im Prozess der Positionsbestimmung befindet und bislang lediglich ein Grundkonsens gefunden ist, auf dessen Basis die einzelnen Mitglieder jedoch sehr unterschiedliche Vorstellungen der genaueren Ausgestaltung des ›situationistischen Projekts‹ entwerfen.147 Zum anderen hängt dies damit zusammen, dass die S.I. aufgrund ih147 | Vgl. zur Anfangsphase der S.I. aus Sicht Debords Debord (1959b), S. 495.
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rer fehlenden öffentlichen Wirkung noch gar nicht in der Position ist, Mitgliedschaftsanwärtern zu begegnen, sie muss vielmehr gezielt auf mögliche Mitglieder zugehen - was umso dringlicher ist, als der S.I. in den ersten Jahren daran gelegen ist, die Zahl der Mitglieder zu erhöhen und auch ihre geographische Ausdehnung voranzutreiben. Die S.I. ist zu diesem Zeitpunkt noch kaum in der Öffentlichkeit sichtbar, sie gleicht vielmehr einem sich sortierenden, formierenden und konzipierenden eher privaten Kreis, der sein Auftauchen vorbereitet. Die dafür notwendigen Mitglieder werden daher auf ebenso ›private‹ Weise (verglichen mit den bislang erwähnten und eher (gruppen-)öffentlichen Beitritten) gesucht, gefunden und aufgenommen. Diese Art der Mitgliedersuche stützt sich dabei vor allem auf die bereits bestehenden Kontakte der einzelnen Mitglieder, sie basiert somit in erster Linie auf den der Mitgliedschaft vorausgehenden interpersonellen Beziehungen. Dieses Verfahren ist bei der S.I. keineswegs neu, denn bereits die Gründung lässt sich auf diese Weise auffassen und auch die ersten, ebenfalls sehr informellen, Aufnahmen neuer Mitglieder wie Mohamed Dahou, André Frankin, Abdelhafid Khatib, Walter Korun, Giors Melanotte und Glauco Wuerich basieren vor allem auf bereits in den Vorgängergruppen etablierten interpersonellen Beziehungen. Diese Vorgehensweise ließe sich durchaus neudeutsch als Networking bezeichnen - allerdings nicht mit dem Ziel, einfach nur ein Netzwerk aufzubauen, sondern gewissermaßen aus dem Netzwerk mit dem Netz der eigenen, noch recht lockeren Theoriemaschen die passenden Mitstreiter herauszufischen und in dem Prozess des Networkings eigentlich erst das klar definierte ›Kriteriennetz‹ zu erarbeiten. Denn erst durch die Integration der auf diese Weise gefundenen Mitglieder in die eigene Gruppe wird aus einem weiteren und loseren Netzwerk eine kleine und klar umgrenzte Gruppe geformt und somit letztendlich die Grenze formuliert, an der in der Folgezeit dann die genauere Überprüfung von Beitrittskandidaten stattfinden wird. Als treibende Kräfte in Sachen Mitgliederaufnahme auf Seiten der S.I. sind in der Zeit zwischen 1957 und 1961/62 in erster Linie Debord, Jorn und Pinot-Gallizio und - nach seinem Beitritt Mitte 1958 - dann auch Constant zu nennen. Wie konzentriert und ›erfolgreich‹ diese Praxis von der S.I. betrieben wurde, wird bei einem Blick auf die wesentlich umfangreichere Liste der auf diese Weise in die S.I. aufgenommenen Mitglieder deutlich.148 Interessant ist dabei, dass sich die so aufgenommenen Mitglieder von Beginn an durch denjenigen, der sie angeworben hat, relativ eindeutig bestimmten theoretischen Fraktionen innerhalb der S.I. zuordnen lassen. Dies gilt unter anderem für die von Debord in die Gruppe integrierten Constant, de Jong, Lausen, Martin und Vaneigem; für die von Constant vorgeschlagenen Alberts, Armando und Oudejans; für die 148 | Insgesamt lassen sich ca. 24 Mitglieder zu dieser Kategorie rechnen: Alberts, Armando, Constant, Eisch, Elde, Fischer, Höfl, de Jong, Kunzelmann, Larsson, Laugesen, Lausen, Lindell, Martin, Nash, Nele, Oudejans, Platschek, Prem, Stadler, Strid, Sturm, Vaneigem und Zimmer.
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von Pinot-Gallizio gleich zu Beginn in die italienische Sektion aufgenommenen Melanotte und Wuerich; für die von Jorn protegierten Mitglieder der Gruppe SPUR sowie für die von Jorn - und seinem Bruder Nash - ins Boot geholten Elde, Larsson, Lindell und Strid. Diese kurzen Anmerkungen weisen bereits darauf hin, dass diese Beitritte zwar im jeweiligen Einzelfall nicht ohne die zugrunde liegende interpersonelle Beziehung zustande gekommen wären, dass sie aber zugleich alles andere als ›theoriefrei‹ und noch weniger ›strategiefrei‹ sind - es deutet sich also eine enge Verwobenheit von interpersonellen Beziehungen als Möglichkeitsraum und den theoretisch-strategischen Überlegungen an, die das Agieren in diesem Möglichkeitsraum steuern, die aus dem offenen Raum eine geschlossene Gruppe herausfiltern.149 Doch es gibt noch eine weitere interessante Verbindung zwischen den Ebenen der Sympathie und der Theorie, die zudem deutlich macht, in welchem Maße interpersonelle Verbindungen in der Lage sind, Strategie und Theorie zusammenzuhalten und dazu beitragen, Differenzen zu ermöglichen und produktive Spannungen aufzubauen. So verweist die angedeutete Zuordnung neu aufgenommener Mitglieder zu verschiedenen theoretischen Fraktionen innerhalb der S.I. auf den eminent gruppendynamischen bzw. taktischen Aspekt der inoffiziellen Mitgliederrekrutierung. Jedem der Mitglieder des, wenn man so will, inneren Kerns der S.I. (zu diesem Zeitpunkt Constant, Debord, Jorn und Pinot-Gallizio) wird zunächst eine große Eigenständigkeit bei der Suche nach neuen Mitgliedern eingeräumt - was in diesem Fall meistens mit der Freiheit, die eigene Fraktion zu stärken und gegen die der anderen drei Mitglieder auszuspielen, gleichzusetzen ist. Vor allem aber werden die Vorschläge der jeweils anderen - trotz der offensichtlich strategischen Funktion, die diesen zukommt - ohne weitere Kontrollen oder Nachfragen akzeptiert. Dies ist nur möglich auf einer Vertrauensbasis, die sich zwischen diesen vier Kernmitgliedern aufgrund langjähriger interpersoneller Beziehungen ausbilden konnte. Die Empfehlung eines neuen Mitglieds z.B. durch Jorn reicht z.B. für Debord aus; er stimmt dem zu, im Vertrauen darauf, dass dieser Schachzug - wenn auch primär aus den strategischen Fraktionsinteressen Jorns heraus motiviert auch für die gesamte Gruppe positive Wirkungen haben wird. Die zur Beschreibung dieser Vorgänge verwendeten Begriffe deuten es bereits an: In der Vergrößerung der S.I. lässt sich in dieser Zeit sowohl ein strategisches als auch ein spielerisches Element erkennen, sie ist ein auf der Basis interpersoneller Beziehungen und dem Vertrauen in die grund149 | Einige Mitglieder jedoch kamen in die S.I. wie die Jungfrau zum Kinde bzw. wurden von der S.I. aus rein praktischen Gründen aufgenommen, ohne dass zuvor eine engere interpersonelle Beziehung erkennbar gewesen wäre. Dies gilt zum Beispiel für den Journalisten Heinz Höfl, der im April 1959 auf der Konferenz der S.I. in München zunächst als Dolmetscher fungierte und in Folge dessen dann auch offiziell Mitglied wurde (vgl. Debord (1999), S. 221, an Constant, 24.4.1959 sowie ibidem, S. 280, an Constant, 26.11.1959).
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sätzlich gleichen Ziele der Mitglieder des Gruppenkerns ermöglichtes Strategiespiel.
4.2.5 Rekrutierung neuer Mitglieder: Constant Diese Verbindung zwischen Sympathie und Theorie lässt sich sehr gut am Beispiel von Constants Eintritt in die S.I. verdeutlichen. Constant war mit den drei anderen zentralen Mitgliedern bereits vor der S.I.Gründung bekannt bzw. freundschaftlich verbunden. Jorn kannte er bereits seit 1946150 und hatte mit ihm die CoBrA ins Leben gerufen, ab 1956 trifft er sich regelmäßig mit Pinot-Gallizio in Italien,151 Debord schließlich lernt er im Dezember 1956 während einer Ausstellung in Turin kennen.152 Dass es ausgerechnet Debord - der ihn erst am kürzesten kennt - ist, der ihn eigentlich schon bei der Gründung der S.I. gerne dabei gehabt hätte153 und ihn in der Folgezeit knapp ein Jahr regelrecht umwirbt und zum Beitritt in die Gruppe ersucht, verdeutlicht, dass neben der Ebene der interpersonellen Beziehungen eben auch theoretische und strategische Überlegungen eine zentrale Rolle bei der Mitgliederauswahl spielen. Denn auch wenn Constant sowohl mit Jorn als auch mit Pinot-Gallizio bereits viel intensiver zusammengearbeitet hat als mit Debord, so ist er für diese beiden als Mitglied innerhalb der S.I. eher ein Feindbild. Diese Ablehnung lässt sich vor allem aus einem Richtungswechsel Constants auf der inhaltlich-theoretischen Ebene erklären, die ihn für Jorn und Pinot-Gallizio als Mitstreiter uninteressanter werden lässt und ihn einer anderen Fraktion innerhalb der neu gegründeten S.I. zuweist: »Ein Manifest zur Ausstellung kündigt das zukünftige Interesse für die Architektur an, und Constant stellt sie sogar höher als die Malerei. 1956 lässt er die Farbe nochmals fallen. Verworfene Flecken, Farbabfall, nachlässig und höhnisch in der Leinwand aufgefangen - dann erklärt Constant die Malerei für erledigt.«154 Constants theoretische Abwendung von der Malerei und hin zur Architektur ist zugleich eine Neuorientierung auf der interpersonellen Ebene weg von Jorn155 und Pinot-Gallizio, hin zu Debord. Die Beziehung zwischen Debord und Constant verfestigt sich ab Anfang 1957 aufgrund der immer deutlicher werdenden theoretischen Übereinstimmungen, in deren Zentrum 150 | Vgl. Ohrt (1997), S. 99. 151 | Vgl. ibidem, S. 118. 152 | Vgl. Horst (2001), S. 138. 153 | Debord informiert Constant regelmäßig über die Entwicklungen im Vorfeld der Gründung der S.I. und bringt bereits im Januar 1957 seinen Wunsch zum Ausdruck, Constant möge sich an der Gruppe beteiligen (vgl. Debord (1957a)). 154 | Vgl. Ohrt (1997), S. 110. 155 | Dass Jorn nicht allzu sehr an der Aufnahme Constants interessiert gewesen ist, mag auch auf das seit CoBrA-Zeiten etwas angespannte Verhältnis der beiden zurückzuführen sein. Diese Spannungen - die bereits zur Auflösung der CoBrA beigetragen hatten - gehen unter anderem darauf zurück, dass Constant 1949 von seiner Freundin verlassen wurde, die von nun an mit Jorn zusammenlebte (vgl. ibidem, S. 109).
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Debord die Frage der Psychogeographie, der Konstruktion von Umgebungen und Verhaltensweisen sowie der Architektur ausmacht, die er scharf von der in seinen Augen überholten Malerei und der Literatur abgrenzt.156 Auffällig bei der sich nun entwickelnden inhaltlichen Diskussion zwischen Debord und Constant bzw. bei Debords Versuchen, Constant zu einer Mitarbeit in der S.I. zu bewegen, ist vor allem, dass dies ein Vorgang ist, der einzig und allein zwischen diesen beiden abläuft - Debord informiert weder Jorn noch Pinot-Gallizio über sein Werben um Constant - sogar dessen Eintritt im Juni 1958 wird nicht an die anderen kommuniziert, bleibt ›Privatangelegenheit‹ und gelangt nicht an die (Gruppen-)Öffentlichkeit.157 Dieses Verhalten Debords verdeutlicht zweierlei: zum einen die große Freiheit, die die drei Protagonisten sich gegenseitig bei der Suche nach neuen Mitgliedern anscheinend zugestehen und zum anderen die taktischen Aspekte dieser Suche. So will Debord Constant ja gerade zur Stärkung seiner Fraktion gegen diejenige von Jorn und Pinot-Gallizio gewinnen, eine Einbindung dieser beiden in die Diskussion mit Constant über einen möglichen Beitritt wäre daher kontraproduktiv. Denn gerade die inhaltlichen Differenzen mit Jorn sind es, die Constant so lange von einem Eintritt in die S.I. abhalten: »Constant ne participera pas à la fondation de l’Internationale Situationniste [...], car il n’adhère pas à certaines idées développées dans le livre Pour la Forme d’Asger Jorn. Il fait part de ses objections dans des lettres adressées à Debord.«158 Debords Werben um den Beitritt von Constant scheint mehr und mehr ein vergebliches zu sein, denn dieser »verschärft gegenüber den Thesen von Pour la forme seine antikünstlerische Position und stellt mit seiner eigenen Radikalität die Unmöglichkeit einer Gemeinsamkeit zwischen ihm und der S.I. fest.«159 Da Debord aber genau eine solche Gemeinsamkeit sieht bzw. eine Gemeinsamkeit zwischen seinen eigenen Positionen und denen Constants, die er dafür nutzen möchte, ein Gegengewicht zu Jorn und Pinot-Gallizio zu etablieren,160 muss er seine Taktik ändern. Zwar verteidigt er gegenüber Constant weiterhin Jorns Thesen und betont dessen Radikalität, doch schickt er Constant auch das soeben erschienene Pour la forme, um ihm ein vollständiges Bild der jornschen Argumentation zu vermitteln: »Il y a là-dedans d’autres thèses de Jorn dont tu n’avais pu avoir connaissance jusqu’ici.«161 Gleichzeitig kommt Debord ihm aber auch entgegen, indem er ihm zu verstehen gibt, »daß er mit seiner Kritik übereinstimmt, daß die S.I. alles andere als eine neue 156 | Vgl. Debord (1957a). 157 | Vgl. Debord (1999). Lediglich gegenüber Pinot-Gallizio wird der Name Constant einmal erwähnt (vgl. ibidem, S. 38, an Giuseppe Pinot-Gallizio, 27.12.1957). 158 | Horst (2001), S. 138, Hervorh. im Orig. 159 | Ohrt (1997), S. 195, Hervorh. im Orig. 160 | Hier deuten sich bei Constant und Debord - aber auch und gerade bei Jorn unterschiedliche Ansprüche bezüglich der für eine gemeinsame Aktivität notwendigen inhaltlichen Übereinstimmung an. 161 | Debord (1999), S. 138, an Constant, 25.9.1958.
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Schule der Malerei sei und werden dürfe.«162 Vor allem aber beginnt er, aus seiner ›Geheimverhandlung‹ mit Constant eine Vermittlung zwischen Constant und Jorn zu machen und so die dyadische Diskussion auf einen weiteren Kontext zunächst triadischer Struktur zu erweitern und einen ersten Schritt zur Einbindung der Gruppenöffentlichkeit zu unternehmen. Debord trifft sich mit Jorn, debattiert mit ihm über die in den Briefen Constants formulierten Einwände und kann Letzterem wenig später mitteilen, dass Jorn »est naturellement lui-même d’accord sur ce principe.«163 Diese Versicherung eines grundsätzlichen Einverständnisses auch mit Jorn war es, was Constant bislang noch gefehlt hatte, nun »ist die S.I. für Constant offen.«164 Allerdings bleibt zu bedenken, dass die Auffassungen bezüglich des Ausmaßes dieses Einverständnisses bei Constant einerseits und Debord und Jorn andererseits durchaus voneinander abweichen, da Constant darunter eine umfassende Übereinstimmung versteht, während die beiden anderen unter diesem Einverständnis auch das produktive Zusammenbringen von Widersprüchen innerhalb der Gruppe subsumieren. Die dem Eintritt Constants vorangehenden und die ihm unmittelbar folgenden Diskussionen sind auch im Hinblick auf die Frage nach der Grenze, der Unterscheidung von Innen und Außen sowie im Spannungsfeld der verschiedenen Ebenen von Öffentlichkeit aufschlussreich. Geht es zunächst darum, die jeweiligen Positionen einander zumindest anzunähern - wenn auch nicht zu einer wirklichen Übereinstimmung zu bringen -, um Constant zum Beitritt zu bewegen, und erfolgt dies in der Phase vor dem Beitritt zunächst in einer dyadischen (und erst ganz am Schluss triadischen) Auseinandersetzung ohne jede Öffentlichkeit, so ändert sich dies nach dem Beitritt schlagartig. Jetzt, wo Constant Mitglied der S.I. ist, wird die produktive Wirkung dieser Auseinandersetzung betont und sowohl innerhalb der Gruppe als auch nach außen öffentlich gemacht. »Je crois que rendre public un débat sur ce point central est très bon aussi bien pour les situationnistes actuels que pour ceux qui s’intéressent à présent, de l’extérieur, à nos positions communes.«165 Debord und auch Jorn geht es vor allem um das Zusammenbringen verschiedener Positionen innerhalb der Gruppe, um produktive Auseinandersetzungen, die selbst wiederum als Teil der gemeinsamen Position aufgefasst werden können. Die ›positions communes‹ stecken somit nur das Themen- und Interessensgebiet ab, schließen aber widersprüchliche Auffassungen dazu nicht aus.166 162 | Ohrt (1997), S. 195. 163 | Debord (1999), S. 138, an Constant, 25.9.1958. Ungeklärt bleibt hier, ob dieses Einverständnis bei Jorn tatsächlich vorhanden war oder ob es von Debord nur aus strategischen Gründen gegenüber Constant behauptet wurde. 164 | Ohrt (1997), S. 196. 165 | Debord (1999), S. 139, an Constant, 25.9.1958. Die Veröffentlichung erfolgt in der I.S. Nr. 2 (vgl. Constant (1958)). 166 | Zugleich verwischen sie die Grenze zwischen Innen und Außen bzw. verschieben sie aus strategischen Gründen, da hier eine dem Beitritt vorausgehende
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Bereits kurz nach seinem Eintritt in die S.I. und basierend auf seinen engen Beziehungen vor allem zu Debord kann Constant zum inneren Kern der Gruppe gerechnet werden, da es ihm nun ebenfalls zugestanden wird, neue Mitglieder für die S.I. zu gewinnen. Im Zusammenspiel mit Debord nutzt er dabei die strategischen Implikationen der Aufnahme neuer Mitglieder und versucht, nicht zuletzt aufgrund seiner Skepsis gegenüber der in der Gruppe immer noch stark vertretenen künstlerischen bzw. malerischen Fraktion,167 die eigene Linie von Architektur und Urbanismus zu stärken. Er formuliert seine Forderung nach einer Stärkung der architektonischen Fraktion gegenüber Debord168 - und dieser gibt ihm, trotz einiger Skepsis, dafür grünes Licht: »Malgré ces difficultés [denjenigen der Spezialisierung, M.O.], il ne faut pas, bien évidemment, repousser mais au contraire attirer sociologues, architectes, etc. pour une collaboration de plus en plus large et consciente avec nous.«169 Ausgangspunkt für diese Anwerbung sind auch hier bereits bestehende interpersonelle Beziehungen - diesmal die von Constant, die nun nach Personen ›durchsucht‹ werden, die für eine Mitarbeit in der S.I. geeignet erscheinen. Diese Suche ist im Februar 1959 abgeschlossen und endet mit der Aufnahme von Armando, Alberts und Oudejans, die allesamt aus dem Umfeld Constants stammen, in die holländische Sektion. Man hat es hier mit einer ausgeprägten Co-Produktion von Debord und Constant zu tun: Während Constant seine Beziehungen und Kontakte nutzt bzw. den Freiraum zugestanden bekommt, selbstständig und ohne Kontrolle durch Debord oder Jorn und Pinot-Gallizio170 die neuen Mitglieder auszuwählen, so stammt die allgemeine strategische Marschroute, mit der Constant jedoch einverstanden ist, wiederum von Debord, der die Aufnahme neuer Mitglieder zur Stärkung seiner Fraktion forciert. »Daß sie [die drei Holländer, M.O.] aufgenommen werden, geschieht auf Drängen von Debord, dem an ausgebildeten Kräften, vor allem Architekten gelegen ist.«171 Wieso Debord so sehr darauf drängt, die architektonisch-urbanistische Linie zu stärken, wird an seiner diesbezüglichen Gratulation an Constant deutlich: »Bravo pour le recrutement des architectes! Excellent.172 Je compte beaucoup sur Oudejans et und um selbigen ringende Diskussion als interne Auseinandersetzung präsentiert wird. 167 | Vgl. Constant (1959c). 168 | Vgl. Constant (1959b). 169 | Debord (1999), S. 199, an Constant, 3.3.1959. 170 | Auch über diese ›Rekrutierung‹ werden Jorn und Pinot-Gallizio erst im Moment ihrer Vollendung informiert. 171 | Ohrt (1997), S. 196. 172 | Intern werden die Beitritte in dieser Phase also offen als ›recrutement‹ bezeichnet, während dies in der Folge und nach außen stets geleugnet wird. Dabei ist jedoch zu beachten, dass es sich bei diesem ›recrutement‹ um ein ›privates recrutement‹ handelt, das sich als Nutzbarmachung bereits bestehender interpersoneller Beziehungen der einzelnen Mitglieder für die S.I. verstehen lässt und nicht als ›öffentliches recrutement‹, das vollkommen Außenstehende an die S.I. heranführen würde.
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toi à Munich.173 Debord zählt auf die Unterstützung von Constant und den neuen Architekten und zwar ›à Munich‹, wo für April 1959 die dritte Konferenz der S.I. angesetzt ist, auf der auch die Fraktion der Maler neue Mitglieder präsentieren wird. Denn nicht nur Debord und Constant sind in den letzten Monaten, ohne die Gruppenöffentlichkeit darüber allzu sehr zu informieren, auf Mitgliedersuche gewesen - auch Jorn und etwas weniger ausgeprägt Pinot-Gallizio waren in dieser Zeit nicht untätig.
4.2.6 Rekrutierung neuer Mitglieder: die Gruppe SPUR Jorn war bereits im Sommer 1958 durch eine Ausstellung auf die Künstler der Gruppe SPUR aufmerksam geworden. Über die Vermittlung des Galeristen Otto van der Loo, mit dem er seit Ende 1957 zusammenarbeitete, wurde dann im September 1958 der Kontakt zwischen Jorn und der Gruppe SPUR hergestellt174 und in der Folgezeit zusammen mit PinotGallizio intensiviert.175 Die SPUR ist aus zwei Gründen ein Paradebeispiel für den Vorgang der inoffiziellen, informellen und interpersonellen Mitgliederrekrutierung. Zum einen ist hier die Bewegungsrichtung klar erkennbar: Die S.I. bzw. Jorn wird auf die SPUR aufmerksam, interessiert sich für sie und geht auf sie zu, um nicht zu sagen: rekrutiert sie. Umgekehrt ist jedoch bis zur Kontaktaufnahme durch Jorn kein Interesse der SPUR an der S.I. erkennbar, denn »[t]rotz ›Nervenruh! Keine Experimente!‹176 weiß die Gruppe SPUR bis zum Herbst 1958 noch nichts von der Bewegung, die jene dadaistischen Techniken und Provokationsmethoden zu einem aktuellen Programm arrangiert hatte.«177 Zum anderen verdeutlicht sie die Bedeutung der Netzwerke der an der S.I. beteiligten Personen für die Erweiterung der Gruppe, da der Kontakt von Jorn zur SPUR wiederum über den ›Mittelsmann‹ van de Loo hergestellt wird. Die SPUR wird über einen Dritten Teil des Netzwerks von Jorn, erst danach beginnt eine Phase des sich Abtastens und der langsamen Ausbildung von interpersonellen Beziehungen zwischen Jorn und den Mitgliedern der SPUR.178 Dass Jorn sich so intensiv mit der SPUR auseinandersetzt und schließ173 | Debord (1999), S. 202, an Constant, 11.3.1959, Hervorh. M.O. 174 | Vgl. Dornacher (1995), S. 43 sowie Loo (1988c), S. 8. 175 | Vgl. zum Verhältnis von Jorn und der Gruppe SPUR Bange (1996); Czerny (1995) sowie Czerny (2000), S. 34ff. 176 | Hierbei handelt es sich um ein Flugblatt, das bereits im Januar 1958 von Asger Jorn und Hans Platschek, dem damaligen Verteter der deutschen Sektion der S.I., in München veröffentlicht worden war und in dem einige grundlegende Informationen zur S.I. abgedruckt waren. 177 | Ohrt (1997), S. 187. Auch in der Folgezeit informiert sich Jorn sehr genau über die SPUR, während er umgekehrt wenig Informationen über die S.I. an die Münchner weitergibt, denn »auch kurz vor der gemeinsamen Konferenz im April 1959 hat man [die SPUR, M.O.] noch keine exakte Vorstellung von der SI.« (ibidem) Vgl. auch die Äußerungen von H.P. Zimmer in Zimmer (1991), S. 60. 178 | Während Debord also bei der Suche nach den holländischen Architekten die Verantwortung an Constant abgibt, nutzt Jorn zur Erweiterung seines Netzwerks mit van de Loo einen Außenstehenden und führt diesen an die S.I. heran - eine
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lich auf ihre Aufnahme in die S.I. hinwirkt, lässt sich - wie bereits bei den oben skizzierten Beispielen im Umfeld Debords - nicht nur aus den sich mit den Künstlern entwickelnden interpersonellen Beziehungen erklären, hier kommen zusätzlich ebenfalls theoretisch-taktische Aspekte ins Spiel. Jorn und die SPUR verbindet die Tatsache, dass beide ihre Kritik - so unterschiedlich sie im Detail auch gewesen sein mag - aus der malerisch-plastischen Arbeit, aus der Kunst heraus entwickelt haben. Die SPUR war zudem sowohl eigenständig als auch provokativ, wollte aber vor allem ernsthaft an der Malerei festhalten, ihr kritisches Potential erkunden anstatt sie als rückständig aufzugeben. Somit wird sie für Jorn - wie auch für Pinot-Gallizio - zu einem wichtigen taktischen Element in der S.I.-internen Auseinandersetzung mit Debord bzw. mit der theoretisch-urbanistischen Fraktion um Debord und Constant, die langfristig mit ihrer Kritik auf die Abschaffung der Malerei hinarbeiten. So wie Debord die Aufnahme der Architekten damit begründet, dass ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Fraktionen innerhalb der S.I. hergestellt werden müsse,179 hat die SPUR für Jorn die gleiche Funktion - wenn es ihm auch weniger um den Aspekt des Gleichgewichts als vielmehr um das Zusammenbringen von Gegensätzen innerhalb der S.I. geht. Diese unterschiedliche Schwerpunktsetzung bei der taktischen Funktion der Kontaktaufnahme zur SPUR macht auch verständlich, warum Jorn diese Annäherung an die SPUR relativ schnell an Debord - und somit an die konkurrierende Fraktion - kommuniziert. Selbst wenn der taktische Aspekt der Stärkung der eigenen Fraktion auch bei Jorn deutlich zu erkennen ist, so geht es ihm weniger um heimliches Taktieren als vielmehr um offene Konfrontation, um die Konstruktion von Widersprüchen. Jorn hatte bereits im November 1958 zusammen mit den Mitgliedern der Gruppe SPUR - ergänzt durch Erwin Eisch, Gretel Stadler, G. Britt und Dieter Rempt - das Manifest 180 veröffentlicht und es Debord auch zukommen lassen. Allerdings findet sich in Debords Briefen keinerlei Reaktion auf dieses Manifest. Eine solche ist erst im Februar 1959 zu erkennen, nachdem die Gruppe SPUR in München mit dem Bense-Skandal für Furore gesorgt hatte.181 Das provokative Vorgehen der SPUR im Bense-Skandal dringt bis zu Debord nach Paris vor bzw. wird von Jorn dorthin übermittelt. So kommt es zur ersten Kontaktaufnahme auch zwischen Debord und der SPUR und zu ihrer Einladung zu der für April auf Wunsch von Jorn in München angesetzten vierten Konferenz der S.I.182 Dieser erste Kontakt beschränkt sich jedoch auf Konstellation, die einige Zeit später noch zu Konflikten und Ausschlüssen führen wird. 179 | Vgl. Debord (1999), S. 199, an Constant, 3.3.1959. 180 | Abgedruckt in Loers (1986), S. 8. 181 | Vgl. zum Bense-Skandal u.a. Ohrt (1997), S. 198. 182 | Vgl. Debord (1999), S. 186f., an die Gruppe SPUR, 6.2.1959. Interessanterweise wird hier auch gleich der Ausschluss von Platschek verkündet, der bislang die deutsche Sektion der S.I. gebildet hatte und vor allem auf Drängen von Jorn
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rein organisatorische Fragen, eine inhaltliche Diskussion findet nicht statt - vor allem aber wird der Austausch vor dem Eintritt der SPUR im April 1959 von Debord auch nicht weiter fortgesetzt bzw. weiterhin Jorn überlassen. Da auch in den Briefen von Debord sowohl an Jorn als auch an Constant und Pinot-Gallizio bis zum Eintritt kaum die Rede von der SPUR ist, ist davon auszugehen, dass Debord genauso wenig oder gar noch weniger über diese Gruppe und ihre inhaltlichen Positionen weiß als diese über die der S.I. Insgesamt wird somit deutlich, dass allein Jorn für die Aufnahme der SPUR verantwortlich ist und auf diese gedrängt hat, während die Gruppe und ihre genaueren inhaltlichen Positionen von Constant und Debord vor ihrem Beitritt kaum zur Kenntnis genommen, geschweige denn überprüft werden. So berichtet Debord Constant dann auch erst nach der Konferenz in München: »Une journée supplémentaire passée en compagnie des Allemands confirme nos impressions de la sorte: Heinz Höfl et Zimmer: bien. Eisch: très probablement bien (la petite Gretel, dans un autre genre, est aussi plutôt dans ce camp). Les fâcheux sont Sturm et Prem, à des degrés divers.«183 Auch hier ist somit der Aspekt des Vertrauens in die Auswahl neuer Mitglieder durch andere Angehörige des inneren Kerns der S.I.184 erkennbar bzw. in diesem Fall eher die Bereitschaft, der ›Gegenseite‹ - in diesem Fall der Fraktion der Maler die Freiheit zuzugestehen, ihren Standpunkt auch personell zu stärken. Die interpersonellen Beziehungen im inneren Kern der S.I. sorgen dafür, dass sich die vier Protagonisten sehr viel Freiraum im Strategiespiel der verschiedenen Positionen lassen - auch dann, wenn, wie in diesem Fall von Debord, Bedenken geäußert werden, dass sich diese taktischen Mitgliederaufnahmen für die eigene Position (oder auch die Gesamtgruppe) negativ auswirken: »Tout cela susceptible d’une évolution très favorable.«185 Diese Zurückhaltung Debords und dieser Freiraum, den er Jorn in punkto SPUR zugesteht, ist umso bemerkenswerter, als er bereits vor der Konferenz in München sein prinzipielles Interesse bekundet, sich mit den Positionen der SPUR genauer auseinanderzusetzen bzw. diesen umgekehrt diejenigen der S.I. zu vermitteln. Dies hat wiederum eine eminent taktische Seite, da Debord vorhat, der SPUR ein ›richtiges‹ Bild der S.I. zu vermitteln - sprich das einer theoretischen und nicht das einer Künstlergruppe, wie es durch die Verbindung mit Jorn bei der SPUR entstanden sein könnte. »Il me semble utile de rencontrer sérieusement ces gens de Spur, qui, jusqu’ici, n’avaient eu justement que des renconausgeschlossen wird (vgl. Ohrt (1997), S. 199), um den Weg für den Beitritt der SPUR freizumachen. 183 | Debord (1999), S. 221, an Constant, 24.4.1959. 184 | In diesem Kern lassen sich mit Constant und Debord einerseits und Jorn und Pinot-Gallizio andererseits auf der Ebene der theoretischen Positionen zwei klare Fraktionen ausmachen, die aber durch die dazu querliegenden, langjährigen Freundschaften wieder durchbrochen werden. 185 | Ibidem, an Constant, 24.4.1959.
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tres très picturales et très peu théoriques avec les ›situationnistes‹.«186 Vor ihrem Eintritt wird die SPUR also zunächst noch Jorn überlassen, ab dem Eintritt jedoch wird sie zum Spielball in der Auseinandersetzung der beiden Hauptströmungen der S.I., repräsentiert durch Constant und Debord einerseits und Jorn und Pinot-Gallizio andererseits. Dass Jorn einen solchen Freiraum bekommt, ist umso erstaunlicher, wenn man berücksichtigt, welche Überlegungen während der Phase der Anwerbung der SPUR zwischen Constant und Debord an der Tagesordnung waren. Zum einen ist hier eine klare Hierarchie in der Wertung von Architekten und Künstlern erkennbar, die eine Zusammenarbeit mit Letzteren wenig reizvoll erscheinen lässt: »Dès à présent, il n’est pas douteux qu’un architecte qui adhère à nos projets est beaucoup plus intéressant qu’un peintre, et permet une collaboration supérieure.«187 Zum anderen planen Constant und Debord parallel zu Jorns Annäherung an die SPUR bereits selbst die oben erwähnte Aufnahme weiterer Architekten, die kurz darauf mit Alberts und Oudejans auch gefunden sind. »Le problème le plus urgent, tactiquement, est d’équilibrer d’abord, de dépasser au plus tôt, le nombre des peintres qui sont dans l’I.S. par le plus grand nombre possible d’architectes, urbanistes, sociologues et autres. Et ceci au plus vite, sous la seule réserve que leur accord soit un peu sérieux. Après, un développement favorable devrait créer chez certains individus de nouvelles activités unitaires.«188
Hier werden zwei Aspekte deutlich: Als erster die Tatsache, dass sich der Zeitpunkt der genauen Prüfung der neuen Mitglieder verglichen mit den Fällen von Hartstein und den Enragés verlagert. Fand sie bei diesen - als potentiellen Mitgliedern - außerhalb der Gruppengrenze statt und ermöglichte bei einem positiven Ergebnis die Überschreitung dieser Grenze nach innen in Form des Eintritts, wird sie nun ins Gruppeninnere verlagert und führt im Fall eines (nachträglichen) negativen Ergebnisses zur Grenzüberschreitung nach außen durch Austritt oder Ausschluss. Es ist somit bei Debord ein gewisser Grundoptimismus erkennbar. Denn auch wenn er feststellt, dass »il nous faut faire barrage à la conversion de nouveaux peintres aux situationnistes«189 , so ist er doch zugleich bereit, die Künstler der SPUR zunächst aufzunehmen, in der Überzeugung, »que dans le groupe allemand, il doit y avoir en ce moment un ou deux éléments capables d’une brutale évolution en avant.«190 An dieser Stelle werden Differenzen zu Constant deutlich, der viel stärker als Debord darauf drängt, keine weiteren Künstler aufzunehmen und sich voll auf das Konzept des unitären Urbanismus zu stützen. 186 | Debord (1999), S. 194f., an Constant, 28.2.1959. 187 | Ibidem, S. 199, an Constant, 3.3.1959. Vgl. hierzu auch Constant (1959b). 188 | Debord (1999), S. 199f., an Constant, 3.3.1959, Hervorh. im Orig. 189 | Ibidem, S. 200, an Constant, 3.3.1959. 190 | Ibidem, an Constant, 3.3.1959.
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Auch wenn sowohl Constant als auch Debord beide ein Interesse daran haben, die eigene ›theoretische‹ gegenüber der ›künstlerischen‹ Fraktion zu stärken, so sind die Vorstellungen, wie dies umgesetzt werden soll, doch unterschiedlich. Constant ist seine eigene Position das Wichtigste und sie scheint für ihn bereits sehr stabil zu sein, während Debord hofft, diese auch und gerade in der Auseinandersetzung mit der Gegenseite noch weiter entwickeln zu können und dadurch auf dieser Gegenseite vielleicht doch noch Mitstreiter gewinnen zu können. Damit deutet sich eine Parallele im Denken Debords und Jorns an, die die klare Fraktionierung der S.I. zu dieser Zeit zwar nicht aufhebt, aber doch etwas abschwächt. Debord und Jorn stehen, was die inhaltlich-theoretische Position angeht, in vielen Aspekten auf unterschiedlichen Seiten, in der Art und Weise jedoch, wie sie ihre jeweilige Position zu stärken versuchen, und in den Auswirkungen, die dies für die S.I. als Gruppe hat, sind sie sich recht ähnlich. Damit sind wir beim zweiten Aspekt angelangt, der aus dem obigen Zitat deutlich wird. Denn die dort von Debord verwendeten Begriffe zur Beschreibung seiner Vorgehensweise bezüglich des Beitritts neuer Mitglieder - ›équilibrer‹ und ›dépasser‹ - verweisen genau auf diese Gemeinsamkeit mit Jorn, auf das Spiel mit Gleichgewicht und Ungleichgewicht, auf das strategische Gegeneinander-Ausspielen unterschiedlicher Positionen auf der Basis einer grundlegenden Übereinstimmung. Zugleich lässt sich dieser permanente Wechsel von Gleichgewicht und Ungleichgewicht auch als das Grundprinzip, als die Funktionsweise des Potlatch bezeichnen, bei dem es ebenfalls um den Prozess des sich GegenseitigÜberbietens geht; um ein Gleichgewicht im Ungleichgewicht; um ein Gleichgewicht, das zu keinem einzelnen Zeitpunkt existiert, sondern nur im Prozess, in der Bewegung in der Zeit erkennbar wird und diese Bewegung gleichzeitig ermöglicht und notwendig macht und so ein Stillstehen verhindert. Während Jorn bis zu seinem Austritt im April 1961 - und durch seine Aktivitäten als Geheimmitglied George Keller auch darüber hinaus - an dieser Vorgehensweise festhält, rücken Debord und die S.I. in der Folgezeit mehr und mehr von dieser Politik der (relativ) offenen Tür, d.h. von der Mitgliederaufnahme basierend auf interpersonellen Beziehungen und einem recht diffusen ›accord un peu sérieux‹ ohne weitergehende Prüfung ab. Dies dürfte mehrere Gründe haben.
4.2.7 Wandlungen der Eintrittspolitik Erstens spielt dabei die Tatsache eine Rolle, dass die SPUR - aber genauso die von Constant angeworbenen Architekten191 - in Debords Augen dem ihr entgegengebrachten Vertrauen nicht gerecht wird, da es eben nicht gelingt, aus ihrem Kreis ›brauchbare‹ Mitglieder zu gewinnen, und die Gruppe insgesamt in seinen Augen auf der Ebene der Theorieproduktion enttäuscht. »Je ne vois pas quel renforcement nous apporte ce 191 | Vgl. Debord (1959c), S. 272, an Constant, 8.10.1959.
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groupe allemand, et même bien au contraire. [...] Comme il paraît de plus en plus qu’ils [die SPUR, M.O.] n’ont fait encore aucun progrès, on pourra envisager peut-être bientôt des exclusions de ce côté-là?«192 Dass es beim Ausschluss noch weit vor der SPUR die beiden Architekten treffen wird, macht deutlich, dass es Debord hierbei nicht um ein taktisches Manöver wie beim Eintritt geht, sondern es sich in beiden Fällen um eine Art von Prüfung nach dem Eintritt handelt - eine Prüfung, die in beiden Fällen negativ ausfällt und daher den Ausschluss zur Folge hat. Vor allem aber verwundert der Plan Debords, die Künstler alsbald auszuschließen, wenn man sich seine Abneigung gegenüber massenhaften Ausschlüssen in Erinnerung ruft. Bei genauerer Betrachtung jedoch macht sich eben jene Abneigung zu diesem Zeitpunkt erst langsam bemerkbar, und er beginnt mehr und mehr, einen Zusammenhang zwischen der genauen Kandidatenprüfung vor dem Eintritt und der Hoffnung auf eine geringe Zahl von notwendigen Ausschlüssen herzustellen. Rückblickend formuliert er dies folgendermaßen: »[b]ekanntlich konnte man z.B. bisher der skandinavischen Sektion genauso leicht beitreten wie der französischen Schule des ›Neuen Romans‹. Sollte diese Kontrolle durchgeführt werden, dann könnte die S.I. hoffen, ihre Aufgabe mit nur noch einigen Dutzend Ausschlüssen, d.h. mit geringsten Kosten, zu erfüllen.«193 Dementsprechend distanziert er sich mehr und mehr von der riskanten Vorleistung der ungeprüften Mitgliederaufnahme. Dabei »geht [es] ihm eindeutig weniger um den Dogmatismus, als darum, die Qualität einer Beziehung im Auge zu behalten, eine auf Gegenseitigkeit beruhende Großzügigkeit.«194 Man kann Debord einen Hang zur Großzügigkeit, zur Bereitschaft zur Vorleistung in interpersonellen Beziehungen oder auch innerhalb der Gruppe nicht absprechen - genau so groß ist jedoch die daraus entstehende Erwartung an die anderen Mitglieder, dass diese ebenfalls zu einem solchen Ideenpotlatch bereit sind. Ist dies nicht der Fall, so ist Debord nicht mehr bereit, sich auf diesen aus dem Gleichgewicht geratenden Austausch innerhalb der Gruppe einzulassen - die Bereitschaft zum Potlatch wird von nun an vor den Toren der S.I. zu überprüfen sein. Diese Wendung Debords bezüglich der Mitgliedschaftspolitik hat jedoch auch erhebliche Folgen im Bereich der interpersonnellen Beziehungen, da er sich mit seiner Kritik der Politik der offenen Tür direkt gegen Jorn und Pinot-Gallizio wendet. Denn für Debord »le fond du problème est cette ›tactique de la porte ouverte‹ que Jorn et Gallizio essaient d’appliquer partout.«195 Interessant ist dabei, dass sich Debord
192 | Debord (1999), S. 274, an Constant, 16.10.1959. 193 | Situationistische Internationale (1962d), S. 306. 194 | Kaufmann (2004), S. 188, Fußnote 101. 195 | Debord (1999), S. 274, an Constant, 16.10.1959. Debords Behauptung, er selbst habe sich dieser Politik von Beginn an widersetzt, ist zumindest in dieser Absolutheit für die ersten Jahre der S.I. anzuzweifeln.
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dabei mehr noch als gegenüber Jorn vor allem kritisch gegenüber PinotGallizio äußert, der für ihn »toujours le racoleur principal«196 ist. Die bis ungefähr Ende 1960 - und dies gilt es zu betonen: auch von Debord - praktizierte Politik-der-offenen-Tür hat nicht wie erhofft zu einem wirklichen Austausch geführt, es bleibt zwischen der Gründung der S.I. und dem Ausschluss der SPUR im Februar 1962 vor allem bei taktischen Manövern, in denen jede Fraktion die eigene Position zu stärken versucht. »Die Zeit von Juni 1960, als Constant sich verabschiedet, bis zum April 1962 scheint zunächst ausgesprochen produktiv zu sein. [...] doch dieses Bild der Schriften und Listen trügt. Die in der S.I. angelegten Gegensätze entwickeln sich jeweils in ihren Grenzen, ohne daß es zu einer gegenseitigen Beeinflussung oder zu einem Einigungsversuch kommt - von keiner Seite. Die unterschiedlichen Positionen arbeiten bald nur noch daran, Kräfte zu sammeln, um die Machtverhältnisse zu kippen - Debords Problem - oder um sich gegen die unangefochtene theoretische Stärke irgendwie halten zu können - die Taktik in München.«197
Sowohl die Fraktion Constant/Debord als auch Jorn und Pinot-Gallizio versuchen in den Jahren bis 1960/61, die Tür zur S.I. offen zu halten allerdings eben jeder seine eigene. Dabei lassen sich zwei unterschiedliche, wenn auch miteinander verwobene Motivationen dafür ausmachen, die Tür offen zu halten - und diese liegen quer zu den skizzierten Fraktionen. Einerseits geht es darum, die eigene Fraktion zu stärken - die offene Tür wird hier zum Mittel. Dieses rein strategische Vorgehen findet sich vor allem bei Constant und Pinot-Gallizio. Dieser Aspekt ist bei Debord und Jorn sicherlich auch erkennbar, allerdings kommt hier noch die offene Tür als Zweck hinzu. Es handelt sich dabei um den Versuch des bewussten Zusammenbringens von gegensätzlichen Elementen in der Hoffnung auf eine produktive Reaktion, um ein risikoreiches, spielerisches Vorgehen. Die Strategen Constant und Pinot-Gallizio sind dabei die Ersten, die ihrer eigenen Strategie zum Opfer fallen und die in dem Moment, als sie ihre Ziele nicht erreichen, aus der S.I. austreten bzw. ausgeschlossen werden. Die Strategiespieler Jorn und Debord bleiben länger dabei und versuchen länger, die aufgebauten Spannungen als Spannungen nutzbar zu machen. Insgesamt lässt sich beim Blick auf die Eintrittspolitik der offenen Tür festhalten: »Für die Künstler und Architekten hat die S.I. der Jahre 1958 bis 1962 etwas von einem Wartesaal.«198 Die S.I. ist in dieser Zeit ein 196 | Debord (1999), S. 274, an Constant, 16.10.1959. Diese Anschuldigung lässt sich kaum mit der tatsächlichen Mitgliederrekrutierung durch Pinot-Gallizio in Einklang bringen, beschränkte diese sich doch auf maximal fünf Mitglieder, die er im Umfeld der Gründung in die italienische Sektion geholt hatte. Demgegenüber war Jorn wesentlich aktiver und dürfte insgesamt für 15 Beitritte zur S.I. verantwortlich sein. Auf Debords ›Konto‹ gehen in der gleichen Zeitspanne knapp zehn Beitritte. 197 | Ohrt (1997), S. 222. 198 | Kaufmann (2004), S. 195.
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sehr zugiges Gebäude, ein Konstrukt, das noch auf der Suche ist, sowohl nach seinen genauen Grenzen als auch nach seinen Inhalten. »Les premières années de l’Internationale Situationniste furent certainement parmi les plus mouvementées, parce qu’il était nécessaire à la nouvelle organisation de se définir, aussi bien par rapport au contexte culturel et artistique dans lequel elle avait décidé d’étendre son action, qu’en vertu de sa spécificité interne.«199 Und beide Arten von Suche haben eine recht hohe Mitgliederfluktuation zur Folge bzw. benötigen eine solche sogar: Die Suche nach theoretischen Inhalten bedarf des Inputs idealerweise aus verschiedensten Richtungen - und die Suche nach der Grenze der eigenen Gruppe bedarf der Grenzüberschreitung (und dies in beide Richtungen). »Man hat Debord oft einen pathologischen Hang zum Ausschluß nachgesagt [...]. Eine so große Anzahl von Ausschlüssen in einem so kurzen Zeitraum und gegen Individuen, die gerade erst der S.I. beigetreten waren (32 Abgänge im Laufe der ersten vier Jahre) verweist jedoch darauf, daß es sich um das Vorspiel zu einer gemeinsamen Aktion handelt. Sie sind die Folge ergebnisloser Diskussionen oder von Mißverständnissen über ein wirkliches Programm.«200
Doch nicht nur die oben skizzierte enttäuschte Hoffnung über die Produktivität von Gegensätzen, über die Energie, die auf die Diskussionen um Eintritte und Ausschlüsse ver(sch)wendet werden musste, war ein Auslöser dafür, die Tür mehr und mehr zu schließen. Als zweiter Grund für die Umstellung der Beitrittspolitik auf die genauen Prüfungen vor dem Beitritt - seien sie eher theoretischer oder eher praktischer Art - lassen sich die recht radikalen Veränderungen auf der Ebene der Mitglieder der S.I. und die damit verbundenen Veränderungen bzw. Fokussierungen der theoretischen Positionen herausarbeiten. Denn mit dem Ausschluss von Pinot-Gallizio und den Austritten von Constant und Jorn verschwinden gerade diejenigen Mitglieder aus der Gruppe, die untereinander über langjährige Beziehungen und Freundschaften verbunden waren und zwischen denen im Laufe der Jahre eine stabile Vertrauensbasis geschaffen worden war, die auch gegenüber theoretisch-inhaltlichen Differenzen relativ robust war. Genau dieses Vertrauensverhältnis innerhalb des engen Kerns der S.I., dessen vier Protagonisten im Grunde alleine für die Anwerbung von neuen Mitgliedern zuständig waren, ermöglichte in den ersten Jahren die Politik der offenen Tür. Von entscheidender Bedeutung dürfte aus Sicht Debords dabei der Austritt von Jorn, als dem Hauptverfechter dieser Beitrittspolitik, gewesen sein. Dabei ist es nicht nur zentral, dass Jorn auf der Seite seiner Fraktion die Tür so offen hielt wie möglich und somit Debord indirekt zwang, dies selbst aus strategischen Gleichgewichtserwägungen auch zu tun. Man kann noch weitergehen und Debords Bereitschaft, sich 199 | Marelli (1998), S. 71. 200 | Kaufmann (2004), S. 197.
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überhaupt auf dieses Strategiespiel einzulassen, darauf zurückführen, dass er dieses Spiel als Entgegenkommen an Jorn auffasste, als einen auf ihrer Freundschaft gründenden Potlatch. Zur Fortsetzung dieses Potlatch auf der Ebene der Mitgliedschaft, für die Bereitschaft zur diesbezüglichen riskanten Vorleistung fehlen ab 1961 jedoch größtenteils die geeigneten Mitstreiter.201 Gleichzeitig ist mit dem Verschwinden der drei wichtigsten Mitglieder aus der S.I. aber auch eine inhaltliche Fokussierung bzw. Verarmung verbunden. Auch wenn es zu kurz greift, die weitere Entwicklung nur als Politisierung der S.I. zu beschreiben und so zur Abgrenzung zwischen einer künstlerischen und einer politischen Phase der Gruppe zu gelangen, so ist es doch von erheblicher Bedeutung für ihre weitere Entwicklung, dass das Ausmaß der in ihr erkennbaren grundsätzlichen Differenzen erheblich abnimmt. Nachdem das gezielte Zusammenbringen von Widersprüchen nicht die erhoffte Wirkung gezeigt hat, wird die Gruppe nun inhaltlich ausgedünnt, indem die eher künstlerisch und urbanistisch argumentierenden Standpunkte ausgeschlossen werden. Die S.I. hat mehr und mehr ihre inhaltliche Positionierung vorgenommen und ihre Außengrenze dadurch klarer definiert. Die Bandbreite der Positionen, die in die S.I. integriert werden können oder sollen, nimmt erheblich ab. Es gibt zwar auch weiterhin eine Tür, die in die Gruppe hineinführt, aber die Selektionskriterien werden schärfer. Drittens ist zu beobachten, dass sowohl die Mitgliedschaftskriterien als auch das Eintrittsprozedere formalisiert werden. Was anfangs vor allem über persönliche Kontakte und recht informell vonstatten ging, muss nach dem weitgehenden Wegfall dieser interpersonellen Beziehungen mehr und mehr formalisiert werden. Von nun an genügt nicht mehr die interpersonelle Beziehung zu einem Mitglied, um selbst Mitglied zu werden, man muss vielmehr einen immer genaueren Kriterienkatalog erfüllen und sich dann der Entscheidung der mittlerweile für den Eintritt zuständigen Gremien der S.I. - je nach Zeitpunkt die Konferenz, der Conseil Central oder die einzelne Sektion - stellen. Der Eintritt wird von der Entscheidung Einzelner zur Entscheidung der Teil- oder gar der Gesamtgruppe und orientiert sich mehr und mehr am Begriff der inhaltlichen Kohärenz statt an dem der spannungsreichen Widersprüche. Er wird somit gewissermaßen sowohl bürokratisiert und demokratisiert als auch durch eine Entpersonalisierung transparenter gemacht. Dabei geht diese Formalisierung des Beitritts mit einer allgemeinen Formalisierung der Organisationsstrukturen der S.I. einher. Dass sich die S.I. immer stärker abgrenzt und den Beitritt erheblich erschwert, lässt sich viertens mit der immer größer werdenden Außenwirkung der S.I. in Zusammenhang bringen. Denn anders als in der anfänglichen Phase der Beinahe-Klandestinität tritt die S.I. in der Folge201 | Ausnahmen bilden hierbei lediglich Mustapha Khayati, Gianfranco Sanguinetti und Raoul Vaneigem.
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zeit immer mehr in der Öffentlichkeit in Erscheinung - eine Entwicklung, die erst im Mai 1968 ihren Höhepunkt erreichen wird. Und während in der Phase der Klandestinität die Beitritte meist basierend auf interpersonellen Beziehungen ebenso ›heimlich‹ ohne Öffentlichkeitswirksamkeit nach außen, teilweise sogar ohne Gruppenöffentlichkeit sehr informell vollzogen wurden, so wird die S.I. mehr und mehr zur öffentlich sichtbaren Gruppe, die mit dem Phänomen des ›Antragstellers‹ konfrontiert wird.202 In dem Moment aber, wo der Impuls zur Kontaktaufnahme nicht mehr von der Gruppe selbst kommt, benötigt sie formellere Regelungen für den Beitritt, die auch nach außen kommunizierbar sein müssen. Zudem ist es bei der Präsentation der Gruppe nach außen notwendig, eine gewisse ›Linie‹ in die Mitgliedschaftspolitik zu bringen denn gerade bei einer Gruppe wie der S.I., die ihre inhaltliche Kohärenz so stark betont, ist eine zu starke Mitgliederfluktuation zu vermeiden. So wird die Vermeidung von Ausschlüssen immer mehr zur Begründung für die Eintrittsbeschränkungen.203 Insgesamt ist somit erkennbar, dass sich eine Veränderung in der Beitrittspolitik vollzieht, die mit Entpersonalisierung, Präzisierung, Formalisierung, Demokratisierung und Einschränkung verbunden ist. Sie führt vom Eintritt, basierend auf persönlichen Beziehungen über den Eintritt, basierend auf einer gründlichen theoretischen Prüfung hin zum Eintritt, basierend auf einer gemeinsamen praktischen Aktion als Überprüfung. Des Weiteren wird deutlich, dass die Frage des Eintritts und der Mitgliedschaftsanforderungen innerhalb der S.I. immer stärker thematisiert und als Problem begriffen wird, das es theoretisch zu diskutieren gilt, um eine diesbezüglich adäquate Praxis entwickeln zu können. Auch bei den theoretischen Ansätzen, die den Hintergrund der Mitgliedschaftsfrage bilden, sind dabei Wandlungen und Konjunkturen zu erkennen: Während sich die Anfangsphase eng mit dem Konzept des Potlatch zusammendenken lässt, treten im weiteren Verlauf immer stärker die Fragen nach der Kohärenz der Gruppe, nach der Abgrenzung von ihrem Umfeld sowie das mit der zunehmenden Außenwirkung verbundene Problem 202 | Blickt man in dieser späteren Phase mit den Augen von Mitgliedschaftsaspiranten auf die S.I., so sieht man weniger einzelne Mitglieder als Motivation für den Mitgliedschaftswunsch als vielmehr die Ausstrahlung der Institution als Ganzer. Diese Tendenz setzt sich bei den ›randständigen‹ Mitgliedern auch während ihrer Mitgliedschaft fort. Sie sind weniger mit einzelnen Mitgliedern durch interpersonelle Beziehungen, sondern eher der Gesamtgruppe und daher der Institution der S.I. verbunden. Damit zusammenhängend basiert das Gefühl der Zugehörigkeit zur S.I. bei diesen Mitgliedern vor allem auf einer Art ›Ehrgefühl‹, dieser Gruppe anzugehören. Die Mitgliedschaft wird hier mehr und mehr zum inhaltsleeren Selbstzweck. Diese Haltung ist vor dem Hintergrund der theoretischen Überlegungen zur Mitgliedschaft äußerst problematisch und sorgt in Kombination mit den fehlenden interpersonellen Bindungen dafür, dass solche Mitglieder relativ schnell wieder ausgeschlossen werden. 203 | Auch wenn die S.I. von Beginn an Kandidaten zurückgewiesen hat, so ist jedoch die Aussage Kaufmanns, die S.I. habe »zu keinem Zeitpunkt zu rekrutieren versucht« (Kaufmann (2004), S. 253), vor dem Hintergrund der Politik der offenen Tür für die Anfangsphase in Zweifel zu ziehen.
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der récupération in den Vordergrund. Anders als vielleicht zu erwarten, ist die Frage nach der Zugehörigkeit in der Anfangsphase ein weniger zentrales Problem und lässt viel Freiraum für die Entwicklung der eigentlichen Theoriestandpunkte. Demgegenüber wird sie gerade gegen Ende der S.I. zum immer wichtigeren Thema - was soweit geht, dass dieses Problemfeld beinahe alle übrigen theoretisch-inhaltlichen Überlegungen zu verdrängen droht. Dieser Gegensatz zwischen der Politik der offenen und der geschlossenen Tür wird von Debord rückblickend auf den Gegensatz zwischen den Positionen der Franzosen (und der Holländer) einerseits und der Skandinavier und der Deutschen andererseits reduziert: »Personnellement, j’ai toujours lutté contre les exclusions en soutenant une politique de ›la porte presque fermée‹. Mais là (Allemagne, Scandinavie) où fut pratiquée une ›politique de la porte ouverte‹ les exclusions ont été nombreuses.«204 Beim Blick gerade auf seine anfängliche Haltung muss diese Aussage jedoch stark relativiert und festgestellt werden, dass es sich vielmehr um einen zeitlichen Wandel von der Politik der offenen Tür zur immer genaueren und immer formalisierteren Prüfung an eben dieser Tür handelt - einen Wandel, der ganz wesentlich von der Veränderung der Mitgliederstruktur um 1961/62 beeinflusst wird. Doch trotz der sehr unterschiedlichen Arten des Umgangs mit der Frage des Beitritts, die im Laufe der Jahre von der S.I. ausprobiert werden, ist bei allen drei Typen das gleiche Problem erkennbar. Denn einmal abgesehen von den Widersprüchen, die sich zum Teil zwischen den Beitrittsregelungen und den eigenen Mitgliedschaftskriterien und Theoriepositionen ergeben, fällt vor allem eine Gemeinsamkeit auf: Aus keinem der Aufnahme- (oder Prüf-)Verfahren entstehen wirklich dauerhafte Mitgliedschaften, und es sind zwischen den verschiedenen Eintrittsvarianten auch keine wesentlichen Unterschiede bezüglich der Mitgliedschaftsdauer auszumachen. Auch wenn also die strenge ›Kontrolle‹ beim Eintritt und die hohen Mitgliedschaftsanforderungen mit dem Willen legitimiert werden, möglichst wenige wieder ausschließen zu müssen, so scheint dies doch nicht von Erfolg gekrönt zu sein. Wie kommt es zu diesen Austritten und Ausschlüssen? Welche Arten gibt es? In welchem Zusammenhang stehen sie mit der Art des Eintritts und der Frage nach den interpersonellen Beziehungen?
4.3 Theorie und Praxis des Austritts Auch wenn die S.I. im Allgemeinen vor allem für ihre rigide Ausschlusspolitik bekannt ist, sollte doch nicht übersehen werden, dass fast ein Drittel der Mitgliederfluktuation bzw. der Bewegung aus der Gruppe heraus durch Austritte zustande kam. Es gibt also nicht nur die Situation, dass sich die S.I. von ihren Mitgliedern trennt, sondern auch die 204 | Debord (2001), S. 212, an Alexander Trocchi, 22.4.1963.
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umgekehrte Konstellation, dass sich einzelne Mitglieder von der Gruppe lossagen. Dass diese freiwillige Bewegung heraus aus der S.I. in der Sekundärliteratur so wenig thematisiert wird, dürfte zwei Gründe haben: Zum einen werden die einzelnen Austritte von der S.I. selbst bei weitem nicht so öffentlich diskutiert wie die Ausschlüsse - lediglich die Hälfte wird überhaupt in der I.S. erwähnt. Zum anderen wird das Prozedere des Austritts und seine Bedeutung für die Gesamtgruppe, ganz anders als das des Ausschlusses, auch kaum als Problem auf der theoretischen Ebene reflektiert. Explizit erfolgt eine solche Thematisierung überhaupt nicht, lediglich implizit - häufig interessanterweise im Kontext mit der Problematik des Ausschlusses - lassen sich einige Anhaltspunkte ausmachen, welche Auffassung die S.I. zur Frage des Austritts vertritt.
4.3.1 Theoretische Überlegungen der S.I. zum Austritt Die Möglichkeit des Austritts, die Option auf eine Herauslösung aus der ›Sozialität der Solitären‹ basiert im Kern auf dem Begriff der individuellen Freiheit bzw. dem Willen zur Verwirklichung der eigenen Leidenschaften, wie er bereits als Mitgliedschaftskriterium gefordert wurde. Denn »jeder Revolutionär muss zumindest die Leidenschaft haben, das zu verteidigen, was ihm am teuersten ist: seinen Willen zur individuellen Verwirklichung, das Verlangen, sein eigenes alltägliches Leben zu befreien.«205 Die S.I. begreift sich selbst als eine »Gruppe, die auf der vollständigen Freiheit der Individuen beruht«206 und betont daher auch, wie wenig Einfluss sie auf die beteiligten Personen faktisch hatte oder haben wollte: »Nie wollten wir irgendwen daran hindern, seine Gedanken auszudrücken oder nach seinem Willen zu handeln (und wir haben nie versucht, die praktische Stellung zu erlangen, die es uns ermöglicht hätte, einen Druck in dieser Richtung auszuüben).«207 Entscheidend für eine ›erfolgreiche‹ und dauerhafte Mitgliedschaft in der S.I. ist es, diese Verwirklichung der Freiheit auch innerhalb der Gruppe zu ermöglichen; der Einzelne muss sowohl seine Freiheit als auch seine Autonomie innerhalb der Gruppe aufrechterhalten und sie zugleich für die Gruppe nutzbar machen können, was uns wieder zum Kernproblem der ›Sozialität der Solitären‹ zurückführt. »In unseren Augen bleibt jeder für sich selbst frei (dass diese Freiheit im allgemeinen arm ist, ist eine andere Frage, ohne die solche Unternehmen wie die S.I. zur Zeit überhaupt nicht notwendig wären)208 und indem wir ein Individuum, 205 | Vaneigem (1967), S. 286. 206 | Situationistische Internationale (1960a), S. 157. 207 | Situationistische Internationale (1966d), S. 221. 208 | Die hier anklingende negative Darstellung der begrenzten Möglichkeiten individuellen Handelns widerspricht im Grunde den eigenen theoretischen Annahmen bezüglich der im Einzelnen schlummernden Kreativitätspotentiale. Aus Sicht der S.I. als Gruppe ist dies aber durchaus nachvollziehbar - würde sie sich sonst selbst als überflüssig darstellen. Das Herunterspielen individueller Möglichkeiten soll zudem
264 | Situationistische Internationale das immer autonom geblieben ist, seiner alleinigen Freiheit übergeben, teilen wir dadurch nur mit, dass diese Autonomie sich innerhalb unseres gemeinsamen Projekts nicht entwickeln konnte. Indem wir einen nach den Spielregeln zurückweisen, deren Annahme er geglaubt bzw. vorgetäuscht hatte, weisen wir eigentlich unseren eigenen Verzicht zurück.«209
So wie die S.I. für ihre Ausschlüsse feststellt, dass diese lediglich die ›Freiheit‹ der Gruppe zum Ausdruck bringen,210 so muss sie umgekehrt durch die Betonung der individuellen Freiheit ihren einzelnen Mitgliedern ebenso das Recht einräumen, diese Freiheit für sich in Anspruch zu nehmen - und wenn dies in den Augen der Betroffenen nurmehr außerhalb der Gruppe möglich ist, eben durch einen Austritt. Denn genau so, wie die Gruppe den Einzelnen durch einen Ausschluss wieder seiner ›alleinigen Freiheit‹ übergeben kann, so kann dieser Schritt auch vom Einzelnen vollzogen werden, zum Beispiel dann, wenn er feststellen muss, dass die ›Spielregeln‹, die er beim Eintritt akzeptieren zu können glaubte, ihn in seiner Selbstverwirklichung zu stark einschränken, ihm zu große Kompromisse abverlangen. Wieder treffen hier somit die Interessen, Erwartungen und Anforderungen des Einzelnen auf diejenigen der Gruppe - oder in den Worten Debords: »J’ai parlé de la solitude comme acceptation fondamentale. Mais il n’est pas douteux que la solitude est préférable à une action collective compromise.«211 Der Austritt eröffnet für den Einzelnen die Möglichkeit, unerwünschte Kompromisse zu umgehen, genauso wie die Gruppe diese Option in Form des Ausschlusses besitzt. Da sich Austritt und Ausschluss gegen den Kompromiss als eine von der S.I. abgelehnte Kategorie richten, sind sie beide nicht nur als Entscheidung gegen, sondern auch als Entscheidung für etwas anzusehen, als Entscheidung dafür, den jeweils kompromisslosen Weg zu gehen, auch wenn dieser aus der Gruppe heraus führt oder für die Gruppe den Verlust eines Mitglieds zur Folge hat. Austritt und Ausschluss scheinen sich also zunächst in Bezug auf ihre Hintergründe und die geschilderten Legitimationen recht ähnlich zu sein. Der entscheidende Unterschied liegt darin, wer sich jeweils auf diese Gründe beruft, wer den ersten Schritt macht. Ob es zum Ausschluss kommt oder ein Austritt erfolgt, ist auch eine Machtfrage, eine Frage der Entscheidungsmacht. verhindern, dass die S.I. von Einzelnen als Sprungbrett dafür genutzt wird, die eigenen Potentiale zwar zu verwirklichen, diese Verwirklichung jedoch nur mit Hilfe oder auf Kosten der S.I., aber nicht innerhalb ihrer zu erreichen (vgl. Situationistische Internationale (1966d), S. 220). Diese Auffassung vom Verhältnis zwischen Individuum und Gruppe ist im Hinblick auf die weiteren theoretischen Konzepte der S.I. nicht unproblematisch. Denn die hier kritisierte Vorgehensweise, die S.I. als Sprungbrett zu nutzen, ließe sich - durch die Theoriebrille der S.I. betrachtet - doch auch als Versuch, die S.I. an sich als konstruierte Situation und somit als Durchgangsort zu sehen. 209 | Ibidem. 210 | Vgl. Ibidem, S. 221. 211 | Debord (1999), S. 198, an Constant, 3.3.1959.
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Ist derjenige, der die Gruppengrenze von innen nach außen überquert, Subjekt oder Objekt dieser Entscheidung? Im Zusammenhang mit der Positionierung des Austritts und Ausschlusses als Umgehung des ungeliebten Kompromisses ist an dieser Stelle ein Brief von Debord an Constant nach dessen Austritt zu erwähnen,212 in dem er den Begriff des Kompromisses zunächst als demjenigen der Kohärenz impliziten und nicht entgegengesetzten aufzufassen scheint. Debord betont hier, dass die Gruppe und ihre Forderung nach Kohärenz unter Umständen eine mäßigende und durchaus auf Kompromisse abzielende Wirkung auf die interpersonellen Beziehungen haben kann. Dies erscheint jedoch vor dem Hintergrund der theoretischen Ansätze der S.I. zunächst recht problematisch: Zum einen erscheint hier das mäßigende Element des Kompromisses auf einmal als etwas positiv konnotiertes, während es sonst grundsätzlich abgelehnt wird. Zum anderen - und noch wichtiger - scheint diese mäßigende Wirkung, die die Bedeutung der Aufrechterhaltung der Gruppe und ihrer Kohärenz auf die in ihr stattfindenden persönlichen Beziehungen hat, im diametralen Gegensatz zu der von der S.I. für diese Beziehungen geforderten Spontaneität und Authentizität zu stehen. Die Gruppe und die zur Aufrechterhaltung ihrer Kohärenz notwendigen Kompromisse scheinen im Zweifelsfall für die Mitglieder untereinander die authentische Kommunikation, die Erprobung neuer menschlicher Beziehungsformen gerade zu verhindern. Dieser Widerspruch lässt sich jedoch dadurch lösen, dass man ihn gerade als Ursache für die Wichtigkeit ansieht, die dem Austritt und dem Ausschluss als Exit-Option zugemessen wird. Gerade weil niemand zum Kompromiss gezwungen werden soll, sondern es im Gegenteil darum geht, den Einzelnen in seiner freien Entfaltung zu unterstützen, muss ihm diese Möglichkeit durch einen Austritt gewährt oder er durch Ausschluss zu seinem Glück ›gezwungen‹ werden, wenn sie im Rahmen der Gruppe nicht umsetzbar ist. Diese, dem wie auch immer gearteten Weg aus der Gruppe eingeschriebene positive Konnotation der ›Entscheidung für etwas‹ ist sowohl beim Austritt als auch beim Ausschluss erkennbar - in beiden Fällen handelt es sich um eine »suppression des obligations réciproques, et en rien une aggression.«213 Wer aber bekommt im konkreten Fall unter welchen Rahmenbedingungen diese Chance zum Austritt? Wer nutzt sie und welche Typen von Austritten lassen sich dabei ausmachen?
4.3.2 Spurlose Austritte Die Spuren der Austritte sind, wie bereits angedeutet, sowohl in der I.S. als auch in internen Dokumenten und Briefen insgesamt wesentlich undeutlicher als diejenigen der Ausschlüsse. Dennoch lässt sich genau mit dem Grad an Öffentlichkeit oder Nicht-Öffentlichkeit eine erste Unter212 | Vgl. Debord (1999), S. 366ff., an Constant, 11.8.1960. 213 | Ibidem, S. 352, an Asger Jorn, 16.7.1960, Hervorh. im Orig.
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scheidung zwischen verschiedenen Austritten ausmachen: Denn während gut die Hälfte der Austritte aus der S.I. zumindest irgendeinen manchmal deutlicheren, manchmal undeutlicheren - Niederschlag in den Texten der Gruppe gefunden hat, so ist die andere Hälfte ausgetreten, ohne irgendeine Spur zu hinterlassen. In diese zweite Kategorie gehören z.B. Mohamed Dahou, Heinz Höfl, Abdelhafid Khatib, Ndjangani Lungela und Jacques Ovadia. Diese Mitglieder sind einfach aus der Gruppe verschwunden, ohne dass etwas über die Beweggründe des Austretenden zu erfahren ist und ohne dass dies die verbleibenden Mitglieder in irgendeiner Weise zu interessieren oder zu tangieren scheint. Im Falle von Höfl, Lungela, Ovadia ist dies bei Mitgliedern zu beobachten, die nur relativ kurze Zeit Mitglied der S.I. waren und die zudem innerhalb der Gruppe kaum (Höfl) oder gar nicht (Lungela, Ovadia) in Erscheinung getreten sind. Am deutlichsten wird dies bei Lungela und Ovadia: So unmerklich sie in die S.I. aufgenommen wurden und so wirkungslos ihre Mitgliedschaft war, so spurlos ist wenig später auch ihr Verschwinden aus der Gruppe. Die Mitgliedschaft existiert hier im Grunde nur auf dem Papier, die gegenseitigen Erwartungen werden anscheinend schnell enttäuscht, ohne dass es zu größeren Auseinandersetzungen gekommen wäre. So formlos wie sie aufgenommen wurden, werden die ›obligations réciproques‹ nun wieder aufgehoben - in gegenseitigem Einvernehmen, wie es so schön heißt. Bei Dahou und Khatib handelt es sich zwar um Mitglieder, die länger als die Erstgenannten in der S.I. waren, die dort aber ebenso wenig in Erscheinung getreten sind. Auch wenn Dahou zeitweilig in Briefkontakt mit Debord stand und formell bei den Nummern 1 und 2 Mitglied im Redaktionskomitee der I.S. war, so hat er doch keinen Text publiziert und auch sonst keine Aktivität an den Tag gelegt. Von einer Tätigkeit von oder einer inhaltlichen Diskussion mit Khatib findet sich in den gesamten Dokumenten nicht die geringste Spur. Beide verschwinden ebenso unauffällig und informell wieder aus der S.I., wie sie in sie aufgenommen worden waren: Denn sowohl Dahou als auch Khatib wurden im strengen Sinne nie formell aufgenommen, sondern aus dem Mitgliederbestand der L.I. schlicht übernommen, es wurden also keinerlei Mitgliedschaftskriterien der S.I. auf die beiden angewandt oder gar irgendeine Art von Prüfung durchgeführt - genau wie umgekehrt ihre Zustimmung zu den von der S.I. entwickelten Positionen eine allenfalls implizite war. Bei diesen zwei Gruppen von Mitgliedern, denen die Möglichkeit des Austritts zugestanden wurde, lässt sich dies weniger auf besonders enge interpersonelle Bindungen zu anderen Mitgliedern noch auf eine besonders wichtige theoretische Position in der Gruppe zurückführen, sondern gerade auf das Fehlen einer solchen. So wie Kaufmann bezüglich des Verhältnisses von Eintritt und Ausschluss feststellte: »Groß ist die Zahl der Ausgeschlossenen, doch noch viel mehr haben nicht einmal dieses Glück gehabt, da sie ja erst gar nicht aufgenommen
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wurden«214 - so lässt sich hier vermuten, dass die bislang aufgeführten ausgetretenen Mitglieder sowohl auf der theoretischen als auch der interpersonellen Ebene schlicht nicht wichtig genug waren, um durch ihr Verhalten das Ausschlussprozedere in Gang zu setzen. Ein weiteres bislang noch nicht erwähntes Mitglied, dessen Austritt aus der S.I. ebenfalls keine sichtbaren oder lesbaren Spuren hinterlassen hat, ist Michèle Bernstein. Diese war über zehn Jahre lang Mitglied der S.I. und tritt während dieser Zeit auch wesentlich sichtbarer in Erscheinung als die bislang skizzierten Fälle. Doch es gibt einen weiteren, wichtigeren Aspekt, der Bernstein zu einem Sonderfall macht: Sie war nicht nur Mitglied der S.I., sondern bis 1964 die Freundin bzw. Ehefrau von Debord. Beide Besonderheiten verbinden sie mit der zweiten zentralen Frauenpersönlichkeit in der S.I., mit Jacqueline de Jong, die mit Jorn liiert war. Aufgrund dieser Sonderstellung sollen diese beiden Frauen nun etwas detaillierter in einem Exkurs dargestellt werden.215
Exkurs: Die Rolle von Michèle Bernstein und Jacqueline de Jong Unter den insgesamt 72 Mitgliedern der S.I. finden sich mit Michèle Bernstein, Édith Frey, Jacqueline de Jong, Katja Lindell, Renée Nele, Gretel Stadler und Elena Verrone lediglich sieben Frauen - nach dem Austritt von Bernstein im Dezember 1967 ist die S.I. bis zu ihrer Auflösung gar eine reine Männergruppe. Auffällig ist hierbei - neben der Tatsache, dass bis auf Bernstein alle Frauen nur relativ kurz Mitglied der S.I. waren216 - zumindest im Falle von Édith Frey, Katja Lindell, Renée Nele, Gretel Stadler und Elena Verrone die marginale Stellung, die diese fünf Frauen in der Gruppe einnehmen: Sie alle bleiben während ihrer Mitgliedschaft relativ oder vollkommen inaktiv.217 Da eine solche bei allen fünf von Beginn an erkennbare Inaktivität jedoch vor dem Hintergrund der theoretischen Mitgliedschaftsanforderungen der S.I. alles andere als unproblematisch ist, bleibt zu fragen, warum sie überhaupt in die Gruppe eintreten dürfen. Hier hilft ein Blick auf die interpersonellen Beziehungen weiter: So ist bei Lindell, Nele, Stadler und Verrone zu vermuten, dass diese in erster Linie in ihrer Rolle als ›Frau von‹ in die S.I. aufgenommen werden. Lindell ist die Partnerin von Nash, Nele die Freundin von Heimrad Prem, Stadler lebt mit Erwin Eisch zusammen und Verrone 214 | Kaufmann (2004), S. 253. 215 | Dies wird auch deshalb notwendig, weil es bei der Darstellung der Rolle von Bernstein und de Jong nicht nur um die hier erörterte Problematik des Austritts geht, sondern auch der Eintritt in den Blick genommen werden muss und zudem die Frage nach der Rolle der Frauen in der S.I. allgemein kritisch zu beleuchten ist. 216 | Bernstein: März 1957 bis Dezember 1967, Frey: März 1965 bis Januar 1967, de Jong: September 1960 bis März 1962, Lindell: September 1960 bis März 1962, Nele: Oktober 1959 bis Februar 1962, Stadler: April 1959 bis Februar 1962 und Verrone: Juli 1957 bis Januar 1958. 217 | Lediglich Édith Frey ist zumindest im Zusammenhang mit dem ›Skandal von Straßburg‹ in Erscheinung getreten.
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ist mit Simondo liiert.218 Diese These wird auch durch das Ende der jeweiligen Mitgliedschaft gestärkt: Lindell wird zusammen mit Nash, Nele und Stadler werden zusammen mit Prem und Eisch ausgeschlossen, genau wie Verrone die S.I. zeitgleich mit Simondo verlassen muss. Frey erklärt sich nach dem Ausschluss ihres Bruders mit dessen Position solidarisch und wird ebenfalls ausgeschlossen. Diese fünf Frauen tauchen also als eine Hälfte eines Paares in der S.I. auf und verschwinden auch zusammen mit ihren Partnern wieder. Diese marginale Stellung der fünf Frauen bestätigt auch de Jong: »Es gab das Problem ›Frau‹ in der S.I. nicht, da außer Michèle Bernstein und mir keine anderen aktiven Frauen beteiligt waren. Gretel Stadler und Katja Lindell [...] waren in Göteborg [bei der V. Konferenz im August 1961, M.O.] anwesend, aber eher als ›Frau von...‹, jedoch ohne andere Aktivitäten als Zuhören zu initiieren. Die Autonomie fehlte, wie Michèle Bernstein vor einigen Wochen sagte, als wir über die Frauen in der S.I. sprachen.«219
Die Aussage de Jongs, es gäbe in der S.I. das Problem ›Frau‹ nicht, weil überhaupt nur zwei aktive Frauen der Gruppe angehören, mutet sehr kurz gegriffen an. Gerade die Tatsache der Unterrepräsentation muss als Kern des ›Problems Frau‹ in der S.I. aufgefasst werden. Die Dominanz der Männer, mit der die S.I. in der Tradition beinahe aller Künstlergruppen des 20. Jahrhunderts steht, wird noch dadurch verstärkt, dass es »auf den informellen und formellen Treffen der S.I. immer deutlich mehr Vertreter des anderen Geschlechts [gab], als die Liste aller offiziellen Mitglieder festhielt, nur wurden sie in die Groupie- oder Ehefrauenposition abgedrängt.«220 Diese Nicht-Thematisierung der Rolle der Frau wird von de Jong auf interessante Weise indirekt mit dem auf das Ganze gerichteten und jegliche Trennung ablehnenden theoretischen Ansatz der S.I. in Verbindung gebracht: »Die ›Emanzipation der Frau‹ wurde, soweit ich mich erinnere, niemals angerührt. [...] Was uns interessierte war (in meiner Sicht) eher, wie sich die Änderungen in der Gesellschaft in einem kreativen Rahmen vollziehen konnten und was damit geschehen sollte; jedoch nicht die Unterdrückung der Frau. Die großen 218 | Diesen ›automatischen Beitritt‹ der PartnerInnen wird es in der späteren Phase nicht mehr geben (vgl. Debord (2003), S. 118f., an Raoul Vaneigem, 9.1.1966 sowie ibidem, S. 127f., an Mustapha Khayati, 13.2.1966). Deutlich wird dies auch an der Tatsache, dass Alice Becker-Ho, mit der Debord seit 1964 zusammenlebt und die er nach der Scheidung von Bernstein heiraten wird, über ihren Status als ›Freundin/Frau von‹ nicht auch Mitglied der S.I. wird. Bei Édith Frey ist die Situation weniger eindeutig. Hier ist jedoch zu vermuten, dass sie auf vergleichbare Weise als ›Schwester von‹ Théo Frey ihren Weg in die S.I. findet (vgl. Bourseiller (1999), S. 279). 219 | Jong (1998), S. 68f. 220 | Ohrt (2003), S. 107.
Die S.I. im Spannungsfeld von Theorie und Praxis | 269 Linien waren ja die totale Änderung der Umgebung, der Situation und des Lebensraumes der Gesellschaft, und nicht eines Teils davon, nämlich der ›Frau‹. Ich hätte mich übrigens auch nicht bei der S.I. zu Hause gefühlt, wenn es sich um solche eingeschränkten Themen gehandelt hätte.«221
So problematisch dieses randständige Dasein als »Ehefrauen mit einer absoluten, kritiklosen Solidarität Debord gegenüber und selbstverständlich auch mit den Ideen der S.I. im allgemeinen«222 sowohl aus Sicht der fünf bislang skizzierten Frauenfiguren als auch im Hinblick auf die Egalitätsforderung der S.I. selbst sein mag - im Zitat de Jongs wird noch eine andere Sichtweise dieser Konstellation angedeutet. Denn es ist durchaus denkbar, dass die minoritäre Position der Frauen, ihr »Sitz im Hintergrund«223 der S.I. nicht zwangsläufig in die Marginalität führen muss, sondern den Frauen - den Willen zur aktiven Beteiligung einmal vorausgesetzt - auch neue Handlungsspielräume eröffnen kann. Zwei solcher Handlungsoptionen werden nun am Beispiel Bernsteins und de Jongs dargestellt. Bernstein ist zwar bereits seit 1952 mit Debord liiert und später auch verheiratet, dennoch wird sie nicht als ›Frau von‹ in die S.I. aufgenommen, sondern - ähnlich wie Chtcheglov, Dahou, Frankin, Khatib und Trocchi - aus dem Mitgliederbestand der L.I., in der sie ebenfalls die einzig aktive Frauenfigur war, übernommen und nimmt an der Gründungskonferenz der S.I. teil. Diese bei Bernstein schon in der L.I. erkennbare Beteiligung setzt sich auch in der S.I. fort, und sie wird zur einzigen Frau, die bei den Situationisten wirklich über einen längeren Zeitraum aktiv beteiligt ist. In den gut zehn Jahren ihrer Mitgliedschaft veröffentlicht sie zwei Artikel in der I.S.,224 ist bei drei Nummern der Zeitschrift Mitglied des Redaktionskomitees, nimmt an vier Konferenzen und an einer Sitzung des Conseil Central teil, schreibt zwei Texte für Ausstellungskataloge von Pinot-Gallizio und Jorn225 sowie einen Artikel über die S.I. in der New York Times226 und publiziert zu Beginn der 60er Jahre noch zwei von der S.I. indirekt beeinflusste Romane.227 Gemessen an diesem Output gelingt es ihr jedoch, ein eher unauffälliges Mitglied zu bleiben, es sich auf dem ›Sitz im Hintergrund‹ bequem zu machen. Aber auch wenn sie sich an den gemeinsamen Diskussionen selten beteiligt, so ist sie doch als Chronistin der Ereignisse von zentraler Bedeutung. De Jong geht noch weiter und stellt fest: »Ohne Michèle [Bernstein, M.O.] wäre die Redaktion der S.I. [der I.S., M.O.] unmöglich gewesen.«228 Bernstein 221 | Jong (1998), S. 69. 222 | Michèle Bernstein zitiert in: ibidem. 223 | Ohrt (2003), S. 107. 224 | Vgl. Bernstein (1958b) sowie Bernstein (1962). 225 | Vgl. Bernstein (1958a) sowie Bernstein (1960a). 226 | Vgl. Bernstein (1964). 227 | Vgl. Bernstein (1960b) sowie Bernstein (1961). Vgl. hierzu auch Apostolidès (1999), S. 15ff. 228 | Jong (1998), S. 69.
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selbst führt ihre offizielle Zurückhaltung zunächst auf ihre »absolute, kritiklose Solidarität Debord gegenüber«229 zurück - eine Aussage, die es im Hinblick auf ihre Aktivitäten in der und für die S.I. zu überprüfen gilt. Beim Blick auf Bernsteins inhaltlichen Beitrag ist zunächst ihre von de Jong hervorgehobene Tätigkeit bei der Redaktion der I.S. zu erwähnen. Eine solche ist geradezu prädestiniert für ein Wirken im Hintergrund und dennoch für die S.I. von zentraler Bedeutung. Die I.S. ist das wichtigste Kommunikationsmedium der Gruppe nach außen und sowohl inhaltlich als auch optisch ihre Visitenkarte. Vor allem den Aspekt des Layouts gilt es hier hervorzuheben, denn durch ihn hebt sich die Zeitschrift von anderen Publikationen aus dem linken und künstlerischen Umfeld der S.I. deutlich ab. Die Gestaltung der I.S. dürfte jedoch, gerade was die Bildebene anbelangt, zu weiten Teilen auf Bernstein zurückgehen, da diese durch ihre Tätigkeit in der Werbebranche als einziges Gruppenmitglied über umfangreiche Erfahrungen in diesem Bereich verfügt. Interessanter jedoch sind ihre inhaltlichen Beiträge in Form der zwei Artikel in der I.S. Nr. 1 und Nr. 7. Liest man diese sowohl vor dem Hintergrund von Bernsteins Aussage der kritiklosen Solidarität gegenüber Debord als auch mit Blick auf den Umgang der S.I. mit der Frage der Autorschaft, so drängt sich die folgende Überlegung beinahe auf: Stammen diese beiden Texte überhaupt von Bernstein selbst? Oder hat sie hier ihren Namen unter Texte von Debord gesetzt und wenn ja: warum? Da die Signatur unter einem Artikel in der I.S. nicht zwangsläufig Rückschlüsse auf den Verfasser zulässt, gilt es, die beiden Texte genauer zu betrachten. Es lässt sich hierbei feststellen, dass diese, sowohl was den Inhalt als auch den Sprachduktus angeht, klar in Richtung Debord verweisen. Der erste Artikel behandelt die Frage nach der Art und Weise der Zusammenarbeit in der S.I. und der Radikalität des Ausschlusses; der zweite ist eine filmtheoretische Auseinandersetzung mit Alain Resnais - auch dies ein Feld, das vor allem mit Debord in Verbindung gebracht werden muss. Geht man daher einmal davon aus, dass diese beiden Texte zumindest aus einer Zusammenarbeit von Bernstein und Debord entstanden sind oder gar nur von Letzterem stammen, bleibt die Frage nach dem ›Warum?‹. Eine mögliche Erklärung liegt hier zunächst in dem Versuch, Debords Stellung als zentraler Autor und Denker der S.I. nicht noch weiter hervorzuheben, sondern stattdessen einige seiner Texte anderen Mitgliedern zuzuschreiben. Des Weiteren ist gerade in Bezug auf den ersten Text zu bedenken, dass es aus Sicht Debords für das Funktionieren der Gruppe und ihren egalitären Anspruch von eminenter Bedeutung ist, dass die diesbezüglichen theoretischen Überlegungen nicht von ihm alleine stammen, sondern dass diese von anderen Mitgliedern mitgetragen oder sogar, wie in diesem Falle, noch verschärft werden.230 Die 229 | Michèle Bernstein zitiert in: Jong (1998), S. 69. 230 | Interessant ist zudem, dass gerade im Zusammen-Arbeiten von Debord und
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Signatur Bernsteins unter diesen zwei Artikeln entlastet Debord sowohl in seiner Rolle des Kritikers nach außen als auch in derjenigen des ›Anführers‹ oder Vordenkers innerhalb der S.I. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen sind auch die beiden Katalogtexte Bernsteins zu Pinot-Gallizio und Jorn nochmal etwas genauer zu betrachten. Auch wenn hier der sprachliche Stil darauf hindeutet, dass diese Texte tatsächlich von Bernstein stammen, so sind ähnliche strategische Überlegungen nicht auszuschließen. Bei beiden Texten handelt es sich um dezidierte Lobeshymnen auf die beiden Mitglieder der S.I., was auch in Debords Sinne sein muss. Allerdings handelt es sich um Lobeshymnen auf das künstlerische Werk der beiden und dies ist eine Position, die Debord zumindest 1960 schon nicht mehr so klar nach außen vertreten kann oder will. Man kann sagen, dass Bernstein hier genau die Aussagen formuliert, die mit Blick auf die interpersonellen Beziehungen, die Debord 1958 mit Pinot-Gallizio und 1960 mit Jorn verbinden, auch von Debord getroffen werden könnten, die er aber vor dem Hintergrund seiner theoretischen Position so nicht nach außen kommunizieren kann. Bernstein spricht aus, was Debord persönlich formulieren möchte, aber aus theoretisch-strategischen Überlegungen heraus nicht mehr zum Ausdruck bringen darf. So wie Jorn aufgrund der Widersprüche auf der theoretischen Ebene zu Keller wird bzw. von nun an Keller für ihn spricht, so lässt Debord Bernstein für sich sprechen sei es, wie im Falle der Artikel in der I.S., um seine theoretische Position zu stärken oder, wie im Fall der Katalogtexte, um seine Bewunderung und seinen Respekt für Pinot-Gallizio und Jorn und somit seine enge interpersonelle Bindung zu diesen beiden zum Ausdruck zu bringen. Doch Bernstein beteiligte sich noch auf eine andere Art aktiv an der Arbeit der S.I.: Sie ist neben Jorn wohl die Einzige, die in der Lage ist, die Gruppe finanziell nennenswert zu unterstützen. Ermöglicht wird ihr dies zum einen dadurch, dass für Bernstein die üblicherweise von den Situationisten vertretene Parole ›Ne travaillez jamais‹ nicht zu gelten scheint und sie daher sowohl in der Werbebranche als auch als Horoskoptexterin tätig sein kann.231 Zum anderen - und dies erscheint vor dem Hintergrund der theoretischen Positionen der S.I. sehr problematisch - veröffentlicht sie zwei Romane und gibt einen Teil der Einnahmen an Debord und somit indirekt an die S.I. weiter: »Depuis 1954, elle aide Bernstein die wenigen konkreten Ausführungen theoretischer Art zum Verhältnis von Zusammen-Arbeiten und Zusammen-Leben, von Theorie und Freundschaft entwickelt werden. Dass diese aus einer Liebesbeziehung heraus entstehen, scheint bezeichnend, denn Debord und Bernstein versuchen, das Problem von Theorie und Praxis aus einer Konstellation heraus theoretisch zu formulieren, die in ihrer Praxis Theorie und Praxis miteinander zu verbinden sucht bzw. die bereits die der Theorie vorangehende Praxis ist. Auch wenn auf die Details dieser Beziehung hier nicht weiter eingegangen werden kann, sei noch auf Bernsteins ersten Roman Tous les chevaux du roi verwiesen, in dem diese Beziehung - wenn auch literarisch verarbeitet - erkennbar wird (für eine Interpretation dieses Textes vgl. Apostolidès (1999), S. 15ff.) 231 | Vgl. Lefebvre (2002), S. 268.
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Guy Debord du mieux qu’elle peut. Les deux époux partagent théoriqement les frais. Mais en pratique, c’est Michèle Bernstein qui gagne l’argent du couple. Elle remet à Debord un tiers de ce qu’elle touche.«232 Das Verfassen zweier Romane muss jedoch aus Sicht der S.I. als nicht minder konterrevolutionär eingestuft werden als die Malerei oder jede andere Art von Kunstproduktion. Dies erklärt, warum Bernstein die literarische Bedeutung dieser Texte stets herunterspielte und versicherte, dass »il n’a d’autre intérêt que pécuniaire«233 oder sie »les aurait réduits à l’état de plaisanteries.234 Egal, ob man sie nun als ›plaisanteries‹ und daher im weitesten Sinne als détournement in Bezug auf die bestehende Literaturproduktion oder als rein finanziell motiviert und daher als détournement in Bezug auf den Literaturmarkt ansieht, eines durften die Texte keinesfalls sein: Kunst. Es treffen hier - ähnlich wie auch im Fall Jorns - theoretische Positionen mit finanziellen Problemen zusammen, deren Konfrontation wiederum mit den Argumenten der eigenen Theorie zu lösen versucht wird: »1960 war Ebbe in der Kasse. Michèle muß einen Roman schreiben, sagte Debord. Ich kann keinen Roman schreiben, antwortete sie - mir fehlt die Phantasie. Jeder kann Kunst machen, erwiderte Debord. Aber Situationisten können keine tote Kunst praktizieren, sagte Bernstein, und wenn etwas tot ist, dann der Roman. Es gibt immer noch das [sic!] détournement, erwiderte Debord. Und so fabrizierte Bernstein ein Buch aus allen Fragmenten der Unterhaltungsliteratur; einen aus Fertigteilen zusammengesetzten Bestseller.«235
Ob es tatsächlich Debord ist, der Bernstein dazu bringt, diese Romane zu schreiben, lässt sich nicht zweifelsfrei feststellen - an den Theoriekonflikten ändert dies jedoch nichts.236 Dass sich die S.I. dieses Konflikts zwischen ihren theoretischen Positionen gegenüber der Kunstproduktion und ihrem eigenen Finanzbedarf durchaus bewusst ist, wird nicht zuletzt daran deutlich, dass die I.S. - ganz anders als sonst bei Publikationen ihrer Mitglieder üblich - »ne consacre une ligne à ce livre«237 . Genau wie die Finanzierung der S.I. durch Jorns Malerei verschwiegen wird, wird auch Bernsteins finanzielles Engagement nicht an die große Glocke gehängt. Auffällig ist die bei beiden ›Hauptfinanziers‹ der S.I. vorhandene enge interpersonelle, dyadische Beziehung zu Debord, in der diese Finanzierungsfragen abgeschirmt von der Gruppenöffentlichkeit ausgehandelt werden können: bei Jorn die Freundschaft und bei Bernstein 232 | Bourseiller (1999), S. 209. 233 | Michèle Bernstein zitiert in: ibidem. 234 | Apostolidès (1999), S. 24. Apostolidès bezweifelt diese Sichtweise und nimmt die Texte nicht nur als Literatur ernst, sondern liest sie zugleich als Hintergrundinformation zur Beziehung von Bernstein und Debord. 235 | Marcus (1993), Hervorh. im Orig. 236 | Allerdings würde dies Bernsteins Stellungnahme bezüglich ihrer ›absoluten, kritiklosen Solidarität‹ bestätigen. 237 | Bourseiller (1999), S. 209.
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die Paarbeziehung. Die Verknüpfung von finanziellen Notwendigkeiten und der interpersonellen Beziehung sorgt in beiden Fällen dafür, dass das entsprechende Mitglied nicht aus der S.I. ausgeschlossen wird und man sich über die theoretischen Überlegungen hinwegsetzt. Dies wird bei Bernstein deutlicher als bei Jorn: Denn während Jorn zumindest auch aufgrund dieser Probleme aus der Gruppe austreten wird, bleibt Bernstein unverändert Mitglied. Allerdings ist in den folgenden Jahren eine Veränderung zu erkennen, die verdeutlicht, dass zwar ihre formelle Mitgliedschaft als unabhängig von ihrer Beziehung zu Debord anzusehen ist, nicht aber ihr Engagement in der S.I. Entscheidend ist hierbei die Tatsache, dass die Beziehung zwischen Bernstein und Debord 1964 endet, Bernstein jedoch noch bis Dezember 1967 Mitglied der S.I. bleibt. Hier wird sehr strikt zwischen privaten, interpersonellen und ›dienstlichen‹ Beziehungen getrennt, da das Ende der Beziehung eben nicht zwangsläufig den Austritt oder Ausschluss Bernsteins zur Folge hat. So wie sie nicht als ›Frau von‹ in die Gruppe eingetreten ist, wird sie auch nicht als ›Ex-Frau von‹ ausgeschlossen, sondern tritt erst im Dezember 1967 spurlos aus der S.I. aus. Andererseits ist ebenso klar erkennbar, dass Bernstein ihr inhaltliches und ihr finanzielles Engagement für die S.I. in dem Moment beendet,238 als ihre Beziehung zu Debord scheitert. Diese interpersonelle Beziehung ist für sie also zumindest auch ein wichtiger Grund für ihre Beteiligung - wenn auch sicherlich nicht der einzige.239 Während Bernstein ihre inhaltliche und finanzielle Beteiligung in der S.I. somit vor allem im Hintergrund ausübt und auch ihre Beziehung mit Debord innerhalb der Gruppe nicht besonders thematisiert wird, tritt de Jong während ihrer verhältnismäßig kurzen Mitgliedschaft in der S.I. deutlicher in Erscheinung. Dies äußert sich jedoch nicht in Artikeln oder einer Mitarbeit im Redaktionskomitee wie bei Bernstein, sondern vielmehr in der aktiven Beteiligung an den innerhalb der S.I. geführten Debatten und in der Tatsache, dass de Jong hier eine eigene Position bezieht und diese auch »in voller Autonomie«240 vertritt. Die bernsteinsche ›absolute, kritiklose Solidarität‹ ist bei ihr nicht erkennbar. Welche Rolle spielt nun aber de Jongs Beziehung mit Jorn für ihren Eintritt und für ihre Aktivität während der Mitgliedschaft und inwiefern sind evtl. auch bei de Jong Spuren der Position als ›Frau von‹ erkennbar? De Jong und Jorn lernen sich zwar bereits im Februar 1958 kennen, 238 | Ihr letzter Artikel erscheint im September 1964. Danach nimmt sie nur noch an der VII. Konferenz 1966 teil. 239 | Ein interessantes Detail soll hier noch erwähnt werden: Trotz Debords Beziehung mit Becker-Ho bleiben er und Bernstein zunächst noch verheiratet. Erst im Januar 1972 lassen sie sich scheiden - also in etwa in dem Moment, in dem auch die S.I. aufhört zu existieren. Dies könnte - zusammen mit der Tatsache, dass Debord und Bernstein bis zur Auflösung der S.I. weiterhin in Kontakt stehen - auf die Verwobenheit dieser Ehe mit der Existenz der S.I. als einer Art gemeinsamen Projekts verweisen. 240 | Jong (1998), S. 69.
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ihre Beziehung oder Affäre beginnt jedoch erst im Mai 1959.241 Über die Vermittlung von Jorn lernt de Jong zunächst Constant und Armando sowie einige Künstler der Gruppe SPUR kennen - erst im März 1960 trifft sie gemeinsam mit Jorn erstmalig mit Debord zusammen242 - zu einer Zeit also, als dessen Auseinandersetzung mit den holländischen Architekten bereits in vollem Gange ist. Jorn trägt also zunächst entscheidend dazu bei, dass de Jong mit Constant, der SPUR und Debord in Kontakt kommt und so auch an die S.I. herangeführt wird. Bereits in dieser Phase befindet sich de Jong zwischen den konkurrierenden Theoriepositionen der S.I.: Sie steht in Kontakt mit den holländischen Architekten, arbeitet mit Pinot-Gallizio zusammen, ist mit Mitgliedern der Gruppe SPUR befreundet, lebt mit Jorn zusammen und wird aber auch von Debord theoretisch umworben.243 Vor allem das Spannungsfeld zwischen den Freunden Jorn und Debord, in dem sich de Jong befindet, ist von zentraler Bedeutung im Vorfeld ihres Eintritts: »Ma relation avec Jorn était par ailleurs de plus en plus notoire. Dans un tel contexte, Debord aurait bien aimé que je devienne son ›agent‹.«244 De Jong und Debord stehen im Sommer 1960 in Briefkontakt miteinander, was schließlich dazu führt, dass Debord aus strategischen Gründen in der Auseinandersetzung mit den holländischen Architekten de Jong die Mitgliedschaft in der S.I. anbietet: »Je ne vois rien de mieux à vous suggérer que de venir à notre prochaine conférence à Londres, à partir du 25 septembre. Les situationnistes hollandais ont été, en effet, réduits à rien [...]. Ainsi, pour le moment, toute la Hollande est à vous.«245 Debord möchte de Jong also schnellstmöglich zum Mitglied der S.I. machen, um dadurch nach dem Ausschluss der Architekten die holländische Sektion am Leben zu erhalten. Diese Annäherung zwischen Debord und de Jong erfolgt wohl zunächst ohne das Wissen Jorns. Zumindest informiert Debord ihn über die Ereignisse erst, nachdem er de Jong die Mitgliedschaft angeboten hat.246 Dies erfolgt nicht ohne Grund, einem Grund, der auch erklärt, warum de Jong dann doch erst im September 1960 offiziell Mitglied der S.I. wird. So beschreibt de Jong die Situation nach Debords ›Aufnahmeschreiben‹ folgendermaßen: »Pourtant, je ne suis pas encore formellement membre de l’I.S. Il faut dire qu’Asger [Jorn, M.O.] ne veut pas que je devienne situationniste. Il veut me garder pour lui tout seul. Je rejoins finalement l’I.S. à l’occasion de la conférence de Londres, entre le 24 et le 26 septem241 | Vgl. Bourseiller (2003c), S. 127. 242 | Vgl. Jong (2001), S. 24. 243 | De Jongs Positionierung zwischen den verschiedenen Mitgliederfraktionen der S.I. vor ihrem Eintritt erinnert insofern an die widerständige Positionierung und provokante Bewegung Jorns im Inneren der Gruppe. 244 | Ibidem, S. 26. 245 | Debord (1999), S. 348, an Jacqueline de Jong, 6.7.1960. 246 | Jorn gegenüber stellt Debord die Bewegungsrichtung dieser Annäherung anders dar als in seinem Brief an de Jong: »Jacqueline de Jong m’a écrit, qu’elle adhérait à l’I.S.« (Ibidem, S. 352, an Asger Jorn, 6.7.1960).
Die S.I. im Spannungsfeld von Theorie und Praxis | 275
bre 1960.«247 Hier wird zweierlei deutlich: Zum einen die Tatsache, dass de Jong nicht als ›Frau von‹ in die S.I. aufgenommen wird, sondern dass ihr Eintritt durch diesen Status gerade erschwert wird bzw. von ihr zunächst gegen den Willen Jorns durchgesetzt werden muss. Bereits beim Eintritt in die Gruppe ist somit eine deutliche Unabhängigkeit de Jongs erkennbar. Zudem treten hier die Unterschiede zwischen den Konstellationen Bernstein-Debord und de Jong-Jorn zutage: Während Erstere ihre Beziehung bereits lange vor der Gründung der S.I. etabliert haben und diese als bereits bestehende in die S.I. überführen, so verläuft die Gruppengrenze bei de Jong und Jorn zunächst zwischen den beiden Polen der Beziehungsdyade. Jorn ist bereits Mitglied, lernt de Jong als Außenstehende kennen und führt sie über seine interpersonellen Beziehungen an die Gruppe heran. Eine Überführung dieser Beziehung ins Innere der Gruppe erscheint für ihn - wohl nicht zuletzt aufgrund des damit verbundenen Konfliktpotentials und möglicherweise auftauchender Konkurrenten248 - zunächst nicht erstrebenswert. Dies verdeutlicht einerseits abermals das Abgrenzungspotential dyadischer Beziehungen. Andererseits zeigt es auch, dass Jorn zunächst strikt zwischen der privaten Dyade und der öffentlich-theoretischen Gruppe zu trennen versucht und auf den zwei Feldern unterschiedliche Konstellationen bzw. Bewegungsmuster verfolgen möchte. Im Privaten bevorzugt er eine klar dyadische, gleichgewichtige, somit aber auch geschlossene, feste Positionierung, während er innerhalb der Gruppe und ihrer theoretischen Arbeit eher flexible, ungleichgewichtige und offen-bewegliche Dreieckskonstellationen anstrebt. War die Beziehung zu Jorn für de Jong im Hinblick auf ihren Eintritt in die S.I. eher hinderlich, so ändert sich die Lage während ihrer Mitgliedschaft - nachdem Jorn ihren Eintritt anscheinend akzeptiert hat: Von nun an profitieren sie und ihre Arbeit in der Gruppe von dieser Beziehung. »Ich wollte tatsächlich mitmachen, beteiligt sein, als Freundin von Jorn hatte ich durch seine Großzügigkeit meine Freiheit, nicht nur als Künstler, sondern auch in der S.I. Ich konnte mich entwickeln. Debord, muss ich sagen, respektierte dieses auch ohne Problem.«249 Zum einen ermöglicht ihr Jorns Finanzkraft die Unabhängigkeit als Künstlerin, genauso wie die S.I. von seiner Unterstützung profitiert, und enthebt de Jong auch - anders als Bernstein - von der Verpflichtung, ihren Teil zur Finanzierung der Gruppe beizutragen. Zum anderen entsteht für sie durch Jorns zentrale Stellung - basierend auf seiner Freundschaft mit Debord und seiner Rolle als Hauptfinanzier - auch für ihre inhaltliche Tätigkeit ein relativ großer Handlungsspielraum.250 Jorn bzw. dessen enge Verbindung mit Debord hält ihr so den Rücken frei, eröffnet ihr Möglichkeiten 247 | Jong (2001), S. 27. 248 | Vgl. Ohrt (2003), S. 109. 249 | Jong (1998), S. 69. 250 | Dieser Freiraum äußert sich u.a. darin, dass ihr als Mitglied eine künstlerische Tätigkeit zunächst noch zugestanden wird.
276 | Situationistische Internationale
zur aktiven und selbstständigen Beteiligung in der S.I. Daher verwundert es nicht, wenn de Jong selbst ihre Position in der Gruppe, trotz der minoritären Stellung der Frauen insgesamt, sehr positiv beschreibt: »Je me sentais extrêmement bien dans ma peau de femme parmi les situationnistes, parce que j’arrivais à m’exprimer et à évoluer comme je le voulais. Aucune restriction n’était imposée aux femmes, mail il est vrai que, d’une manière générale, je me sentais beaucoup plus à l’aise avec les hommes qu’avec les femmes. Il y avait d’ailleurs très peu de femmes, à l’I.S.«251 De Jong hebt hier gerade die Vorteile hervor, die ihr aus der Unterrepräsentation der Frauen in der S.I. entstanden sind - auch wenn diese teilweise, vor allem von Seiten Pinot-Gallizios, relativ dreiste Annäherungsversuche zur Folge hatte.252 De Jong ist jedoch in der Lage, mit diesen Schwierigkeiten umzugehen und etabliert sich immer mehr als wichtiges Mitglied der Gruppe, nicht zuletzt, weil sie sich aufgrund ihrer Sprachkenntnisse für die Gruppe unentbehrlich macht: »Je jouissais quand même d’un statut particulier, puisque je m’occupais des traductions.«253 Ihr entscheidender Beitrag ist die Konzeption für die englischsprachige Zeitschrift der S.I., die von Debord Ende 1960 ohne Widerspruch abgesegnet wird.254 Auch wenn dieses Projekt weiter diskutiert und von de Jong und Jorn bzw. Keller vorangetrieben wird, kommt es jedoch nicht zur Umsetzung - zumindest nicht mehr im Rahmen der S.I. Denn bereits im März 1962 ist de Jongs Mitgliedschaft in der Gruppe nach nur eineinhalb Jahren wieder zu Ende. Offiziell wird de Jong zusammen mit Nash und den übrigen Skandinaviern aus der S.I. ausgeschlossen - also erst knapp ein Jahr nach Jorns Austritt bzw. nach seiner Verwandlung in Keller, was darauf hindeutet, dass diese beiden Bewegungen aus der S.I. heraus unabhängig voneinander erfolgen. Zudem ist zu beachten, dass es sich bei diesem Ausschluss um einen, wenn man so will, aktiven oder provozierten Ausschluss handelt. Denn er »war die Konsequenz der Solidarität mit der Gruppe SPUR. Die durch den Zentralrat ohne Kommentar herausgegebene Flugschrift ›Nicht Hinauslehnen‹ [...] war eine derartige Demagogie, daß wir total überrumpelt waren. Wir machten dann unser Gegenmanifest: Elde, Nash und ich wußten, die Konsequenz war der Ausschluß.«255 Was de Jong hier nicht erwähnt, ist die zentrale Rolle, die Jorn in dieser Situation spielt. Zwar sind Elde, de Jong und Nash vom Ausschluss der SPUR und seiner Form tatsächlich überrumpelt, doch stammt der entscheidende Anstoß für ihre Reaktion von Jorn.256 Ohne de Jong hier die Eigenständigkeit ihrer Entscheidung 251 | Jong (2001), S. 27. 252 | Jorn bezeichnete diese zunächst als ›viol mental‹ - der aber »eine durchaus körperliche Seite hat, die ihr gegenüber [...] in den Vordergrund trat und zur Verwirklichung drängte« (Ohrt (2003), S. 110). 253 | Jong (2001), S. 27. 254 | Vgl. ibidem, S. 28f. 255 | Jong (1998), S. 70. 256 | Vgl. Ohrt (1997), S. 262.
Die S.I. im Spannungsfeld von Theorie und Praxis | 277
absprechen zu wollen, lässt sich doch erkennen, dass Jorn einen guten Teil zu ihrem Ausschluss beigetragen hat. So wie er anfangs versuchte, de Jongs Eintritt in die S.I. zu verhindern oder hinauszuzögern, so sehr scheint er sich zu bemühen, sie dann wieder aus der Gruppe herauszulösen. Ein interessanter Aspekt soll abschließend noch erwähnt werden, der abermals auf die nicht zuletzt durch ihre Beziehung zu Jorn erklärbare Sonderstellung de Jongs hindeutet. Denn blickt man auf die dem Ausschluss folgende Auseinandersetzung zwischen der S.I. und den ausgeschlossenen Skandinaviern, so fällt auf, dass de Jong dabei kaum ins Visier gerät. Während die sogenannten ›Nashisten‹ - zu denen eigentlich auch de Jong zu zählen ist257 - von Debord und der S.I. aufs schärfste angegriffen werden, wird de Jongs Name hier nie erwähnt; sie wird in der gesamten Auseinandersetzung lediglich einmal indirekt als Herausgeberin der Situationist Times erwähnt. Denn dieses Projekt setzt sie nun außerhalb der S.I. alleine um - wenn auch wiederum nicht ohne finanzielle Unterstützung Jorns.
4.3.3 Der als Ausschluss empfundene Austritt: Trocchi Bei der anderen Hälfte der Austritte, deren Spuren sich in den Texten der S.I. wiederfinden lassen, sind in Bezug auf das Ausmaß, in dem diese in der I.S. diskutiert wurden und damit auf die Bedeutung, die ihnen innerhalb der Gruppe zugemessen wurde, nochmals deutliche Unterschiede erkennbar. Bei einer ersten Gruppe258 wird der Austritt zwar in der Zeitschrift erwähnt und auch kurz über die Gründe informiert, eine umfangreichere Auseinandersetzung zwischen den Parteien scheint es jedoch nicht gegeben zu haben.259 Dies ist bei Radcliffe und Viénet der Fall, bei denen es jeweils nur heißt, sie seien aus nicht näher erläuterten ›persönlichen Gründen‹ ausgetreten.260 Zu dieser Gruppe gehören zum anderen diejenigen Mitglieder, mit denen es inhaltlichtheoretische Differenzen oder Unstimmigkeiten bezüglich der aktiven Mitgliedschaft oder der Organisationsstruktur gab. So trat Frankin zurück, weil ihn »ernste Meinungsverschiedenheiten über die anstehende politische Aktion nach dem grossen Streik in Belgien von unseren belgischen S.I.-Genossen - und folglich von allen anderen Situationisten - im März 1961 getrennt hatten«261 - nicht ohne jedoch der S.I. in seinem Rücktrittsschreiben mitzuteilen, »dass er die Ideen der S.I. für 257 | Zum Verhältnis von de Jong zu der von Nash ins Leben gerufenen 2. S.I. Vgl. Jong (2001), S. 32. 258 | Zu dieser gehören: François de Beaulieu, Patrick Cheval, André Frankin, Charles Radcliffe, Rudi Renson, Christian Sebastiani, Alexander Trocchi und René Viénet. 259 | Auch in den Briefen Debords lassen sich hierzu keine weiteren Informationen finden. 260 | Vgl. zu Radcliffe Situationistische Internationale (1969f), S. 419 und zu Viénet Situationistische Internationale (1972), S. 114. 261 | Situationistische Internationale (1962d), S. 307.
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manipulierte Albernheiten von im Trüben fischenden Leuten hielt.«262 Renson hat wohl selbst nie offiziell seinen Rücktritt eingereicht, sondern ›wurde ausgetreten‹, als die S.I. irgendwann feststellte, »dass dieser schon seit langer Zeit zurückgetreten war, weil er mehr als ein ganzes Jahr lang vollkommen untätig gewesen - und sogar einfach verschwunden war.«263 Trocchi hingegen war gewissermaßen zu aktiv bzw. wurde er außerhalb der S.I. in einer zweiten Gruppierung tätig, die inhaltlich durchaus mit der S.I. in Einklang zu bringen war. Aufgrund des Verbots von Doppelmitgliedschaften wurde jedoch von beiden Seiten »einstimmig vereinbart«264 , dass Trocchi die S.I. verlässt. Interessant ist der letzte Satz dieser Austrittsmitteilung: »Nicht mehr als Mitglied der S.I. hat also seither unser Freund Alexander Trocchi eine Tätigkeit weiterentwickelt, die wir in mehreren Punkten vollkommen gutheissen.«265 Der Austritt erfolgt bei voller inhaltlicher Übereinstimmung lediglich aufgrund der organisatorisch-formalen Bestimmungen der S.I. und hat zugleich eine sehr strikte Unterscheidung zwischen Mitglied und Freund zur Folge. Allerdings ist dies nicht in dem Sinne zu verstehen, dass es sich hierbei um ein antagonistisches Begriffspaar handelt, sondern es verweist vielmehr auf die enge Verknüpfung von inhaltlicher Übereinstimmung und Freundschaft. Inhaltliche Übereinstimmung fällt in ihrer formalisierten Gestalt mit Mitgliedschaft zusammen, während sie im informellen Rahmen jenseits der Gruppe als Freundschaft bezeichnet wird. Neben dieser knappen Stellungnahme in der I.S. lassen sich jedoch im Falle Trocchis weitere Spuren dieses Austritts und eine Kontroverse darüber in den Briefen Debords und einem Interview mit Trocchi finden. Den ersten Schritt zu diesem ›einstimmig vereinbarten‹ Austritt scheint Trocchi gemacht zu haben - jedenfalls antwortet ihm Debord auf den diesbezüglichen Brief und noch bevor der Austritt in der I.S. verkündet wird: »Nous comprenons parfaitement comme le développement actuel de cette entreprise [Trocchis ›Sigma-Projekt‹, M.O.] impose de ne pas nous citer (l’organisation situationniste) trop directement. [...] Nous sommes donc bien d’accord pour considérer que tu dois avancer dans cette voie en toute liberté par rapport à nous. Nous espérons cependant que cette ›démission‹ de l’I.S. officielle ne t’empêchera pas de coordonner pour le mieux la suite de ton action avec ce que nous pouvons faire nous-mêmes.«266
Dreh- und Angelpunkt ist hier also das von Trocchi ins Leben gerufene Sigma-Projekt und das daraus entstehende Problem der von der S.I. abgelehnten Doppelmitgliedschaft, das Trocchi dazu veranlasst, seine beiden Aktivitäten strikt voneinander zu trennen und daher seinen Austritt 262 | Situationistische Internationale (1962d), S. 307. 263 | Situationistische Internationale (1967c), S. 306. 264 | Situationistische Internationale (1966c), S. 241. 265 | Ibidem. 266 | Debord (2001), S. 299f., an Alexander Trocchi, 12.10.1964.
Die S.I. im Spannungsfeld von Theorie und Praxis | 279
aus der S.I. anzubieten, ohne dass dabei von einer der beiden Seiten die prinzipielle inhaltliche Übereinstimmung in Frage oder der Austausch eingestellt würde. Aus dem nächsten Brief Debords jedoch wird erkennbar, dass Trocchi von dieser Entscheidung, von seinem Austritt doch überrascht ist. Jedenfalls beeilt sich Debord klarzustellen, dass dieser Austritt außer den formellen keine tiefgreifenden Folgen für Trocchi hat und betont abermals die inhaltliche Übereinstimmung. »1) Je ne retire rien à l’amitié personnelle entre nous. 2) Je ne dis pas que l’opération ›sigma‹ est contradictoire au projet situationniste en général; et je n’ai même pas refusé d’envisager une collaboration [...], soit personellement, soit à plusieurs. 3) Je pense - et je vois - que la référence formaliste, ›officielle‹, à une discipline de l’I.S. (au ›Conseil Central‹) n’entre pas dans tes projects actuels. Et je ne crois pas davantage moi-même qu’elle serait une bonne chose dans l’affaire ›sigma‹. Et inversement l’I.S. ne peut paraître responsable de ›sigma‹.«267
Die Freundschaft wird also im Falle des Austritts klar von der Frage nach der Mitgliedschaft getrennt, wird durch deren Ende nicht tangiert - allerdings liegt die Vermutung nahe, dass sie gleichzeitig nicht unabhängig ist von einer inhaltlichen Übereinstimmung, die die Grundlage weiteren Austauschs bildet. In der Folge wird deutlich, dass Trocchi zwar die Überlegungen angestellt zu haben scheint, auf die Debord hier rekurriert, dass er dies aber wohl nicht als ›Austrittserklärung‹ aufgefasst hat. Debord scheint ihn auch diesbezüglich beruhigen zu wollen und ihm das Heft in die Hand zu geben. »Cependant si, contre toutes les apparences, tu voulais cette référence, alors je n’aurais aucun droit de parler de ta ›démission officielle‹. Autrement dit: tu n’es pas ›démissionné‹! S’il y avait divergences d’intention là-dessus entre toi et moi, elle ne pourrait qu’être exposée à tous mes amis situationnistes. À tous [...], je t’ai toujours présenté et garanti comme notre ami, partageant nos bases fondamentales. Je n’ai rien dit d’autre maintenant.«268
An dieser Stelle bricht der Briefwechsel zwischen Debord und Trocchi ab - es folgt lediglich noch die zitierte Mitteilung über Trocchis Austritt aus der S.I. Ob Trocchi Debord auf den letzten Brief noch einmal geantwortet hat, ist nicht bekannt, zu vermuten ist dies jedoch, wenn man berücksichtigt, wie Trocchi Jahre später in einem Interview seine Sicht der Ereignisse schildert.269 »Er [Debord, M.O.] war wie Lenin; er war Absolutist, schmiß ständig Leute raus - bis er als einziger übrig war. Und die Ausschlüsse waren total. Sie bedeuteten Scherbengericht, völliges Ignorieren. Letztendlich heißt es, daß man Leute 267 | Debord (2001), S. 309f., an Alexander Trocchi, 1.12.1964. 268 | Ibidem, S. 310, an Alexander Trocchi, 1.12.1964. 269 | Vgl. hierzu auch Bourseiller (2004a), S. 101ff.
280 | Situationistische Internationale erschießt, darauf wäre es hinausgelaufen hätte Guy jemals ›die Macht übernommen‹. Und ich hätte keinen erschießen können. [...] Es war keine Frage der Loyalität, [...] Guy hatte meine Loyalität. Ich liebte diesen Mann.«270
Für Trocchi handelt es sich nicht um einen Austritt seinerseits, sondern um einen plötzlichen und für ihn nicht nachvollziehbaren Ausschluss durch Debord. Ob es sich hier um ein Missverständnis handelt, in dem Sinne, dass Trocchi »[...] Debords einschränkenden Hinweis als Ausschluß [verstand]«271 oder ob Trocchis erster Brief doch viel weniger in Richtung Austritt deutete, als dies Debords Antwort vom 12.10.1964 suggeriert, lässt sich nicht eindeutig rekonstruieren. Dennoch ist dieser Fall aus verschiedenen Gründen sehr aufschlussreich. Zum einen ist Trocchi einer der wenigen, die sich nach ihrem Austritt/Ausschluss aus der S.I. überhaupt nochmals zu diesen Vorkommnissen geäußert haben, während die große Mehrheit der Ausgeschlossenen schwieg: »Über die unmittelbar publik gemachten Argumente hinaus, die die Konflikte mit sich bringen, haben nur wenige der Ausgeschlossenen abrechnen wollen, persönliche Attacken wurden nie laut.«272 Dies ist bei Trocchi wie gesehen nicht der Fall, er geht scharf mit Debord ins Gericht, was umso erstaunlicher ist, da er doch offiziell gerade nicht als Ausgeschlossener gilt, sondern ihm der ›Austritt‹ ermöglicht - oder eben doch untergejubelt? - wurde. Zum anderen verdeutlicht dieser Fall, wie eng Austritt und Ausschluss miteinander inhaltlich verbunden sind, wie nah sie beieinander liegen - in diesem Fall so nah, dass es nur auf den Standpunkt ankommt. Deutlich wird hier, dass es bei der Unterscheidung von Austritt und Ausschluss um die Frage der Entscheidung geht, um die Frage, wer entscheidendes Subjekt und wer bloßes Objekt der Entscheidung bezüglich der Überschreitung der Gruppengrenze ist.273 Bei Trocchi ist hierbei die normalerweise zu erwartende Positionierung der Parteien umgekehrt: Nicht er beharrt darauf, dass es ein Austritt war und kein Ausschluss, sondern gerade die S.I. Er nimmt gerade nicht wie bei den anderen Fällen für sich in Anspruch, das entscheidende Subjekt gewesen zu sein, sondern betont vielmehr seine Rolle als Objekt, über das eine Entscheidung hereingebrochen ist.
270 | Alexander Trocchi zitiert in: Marcus (1993), S. 403. 271 | Ibidem. 272 | Kaufmann (2004), S. 258. 273 | Dieser Aspekt lässt sich auch sehr gut im Falle der ›Garnaultins‹ sowie der ›Nashisten‹ und ihrer Auseinandersetzung mit der S.I. nach dem Ende der Mitgliedschaft erkennen. Das in beiden Fällen zu erkennende Beharren der S.I. auf dem Begriff des Ausschlusses steht dabei in engem Zusammenhang mit dem Bedürfnis der Gruppe nach der Grenzziehung bzw. danach, stets selbst die Definitionsmacht im Prozess der Grenzziehung oder auch Grenzverschiebung zu behalten, um sich auch in der Veränderung der eigenen Identität versichern zu können.
Die S.I. im Spannungsfeld von Theorie und Praxis | 281
4.3.4 Erzwungene Austritte Diese Nähe zwischen Austritt und Ausschluss und das teilweise auftretende Problem, diese beiden Prozesse im Einzelfall exakt voneinander unterscheiden zu können, wird an den Austritten von Beaulieu, Cheval und Sebastiani nochmals auf andere Weise deutlich, da hier die SubjektObjekt-Rollenverteilung bezüglich des Grenzübertritts umgekehrt wird. Offiziell bzw. formell handelt es sich bei allen drei Fällen um Austritte - es klingt also zunächst so, als wären Beaulieu, Cheval und Sebastiani die entscheidenden Subjekte gewesen. Bei genauerer Lektüre erfährt man jedoch, dass die Austrittsmitteilung eine kleine, aber entscheidende Modifikation enthält: »Beaulieu und Cheval mußten demissionieren, aber aus ganz entgegengesetzten Motiven: Beaulieu, weil man ihm seine Dümmlichkeit und seine Würdelosigkeit vorwarf; Cheval, weil er nach einer Trinkerei, die er schlechter verkraftet hatte als die anderen, versucht hatte, Sebastiani, den er nicht erkannt hatte, aus dem Fenster zu stürzen.«274 Damit verlagert sich die Entscheidung aber ganz klar auf die Seite der S.I. - wer austreten muss, wird schlicht ausgeschlossen. Das gleiche Bild findet sich auch bei Sebastiani, hier heißt es: »Nous ne croyons plus pouvoir agir avec toi. Nous te considérons donc comme démissionnaire.«275 Interessant ist an diesen drei Fällen aus der Spätphase der S.I. zudem, dass mit einem - in diesen Beispielen erzwungenen - Austritt sehr unterschiedliche Wertungen verbunden sein können, während bei den Fällen der früheren Jahre der Umgangston beim Austritt stets verhältnismäßig freundlich geblieben war und die ›Abrechnungen‹ auf die Ausgeschlossenen beschränkt wurden. So heißt es mit Blick auf Cheval, dass er und die gleichzeitig offiziell ausgeschlossenen Eduardo Rothe und Paolo Salvadori »trotz der bedauerlichen Vorfälle, die uns zwangen, uns von ihnen zu trennen, schätzenswerte Genossen sind, die ohne Zweifel einen bemerkenswerten Beitrag zu späteren Momenten des revolutionären Prozesses dieser Zeit leisten können.«276 Auch Sebastiani wird nach seinem Austritt sehr positiv eingeschätzt: »Er hat in diesem Moment zwei aufeinanderfolgende Texte von unbestreitbarer Ehrlichkeit an uns gerichtet. Er übt darin Selbstkritik aufgrund der Tatsache, daß er viel zu inaktiv gewesen war, insbesondere im Schreiben. [...] Sebastiani ist, auch wenn ihm manchmal bis zur Unüberlegtheit gehende Sorglosigkeit vorgeworfen werden kann, immer unter uns offen, mutig und großzügig gewesen. Er ist schätzenswert aufgrund der Würde seines Lebens, und es ist angenehm, mit ihm zu verkehren.«277
Ganz anders stellt sich die Situation bei Beaulieu dar, hier wird nach 274 | Situationistische Internationale (1972), S. 107, Hervorh. M.O. 275 | Debord (2004a), S. 328, an Christian Sebastiani, 29.12.1970. 276 | Situationistische Internationale (1972), S. 108. 277 | Ibidem, S. 114.
282 | Situationistische Internationale
dem Austritt, ohne inhaltlich zu argumentieren, nachgetreten: Erneut wird ihm seine »ignoble imbécillité« 278 vorgehalten und festgestellt: »Beaulieu a été le plus con; le plus sordide; et un des pires truqueurs.«279 Dabei lässt sich zumindest bei der Außenwirkung so etwas wie ›Altersmilde‹ bei der S.I. ausmachen: Denn während in der frühen Phase Mitglieder, die eher am Rande der S.I. standen, sehr schnell und ohne viel Diskussion ausgeschlossen wurden, bekommen diese teilweise randständigen Mitglieder hier die Möglichkeit zum Austritt - eine ›Ehre‹, die anfangs nur zentralen Mitgliedern wie Constant oder Jorn zuteil wurde. Diese ›Altersmilde‹ der S.I. bei der Möglichkeit zum Austritt steht dabei in offenem Widerspruch zu den von der Gruppe diesbezüglich angestellten Überlegungen: »J’ai dit que, dans les circonstances actuelles, toute démission [...] serait malheureuse - parce que les autres sections n’auraient plus rien à dire (normalement et statuairement) après une démission. Par contre, nous pouvons contester une exclusion.«280 Die S.I. betont also auch in der Spätphase, welche Bedeutung es hat, die Kontrolle über Entscheidungen zur Beendigung der Mitgliedschaft zu behalten - diese Entscheidungsmacht behält sie zwar indirekt im Inneren durch die Vorgehensweise des ›erzwungenen Austritts‹, nach außen hin jedoch gibt sie sie auf, da es sich eben offiziell um einen Austritt und nicht um einen Ausschluss handelt. Zudem wird deutlich, dass die Unterscheidung zwischen Austritt und Ausschluss mehr und mehr eine willkürliche wird und nur noch wenig mit inhaltlichen Gründen zu tun hat. Beide Aspekte werden beim Vergleich der Aussagen zum ausgeschlossenen Rothe und zum ausgetretenen Sebastiani deutlich: »Eduardo Rothe, quoique son erreur soit indiscutable et ait été reconnue par tous, lui compris, est un des plus estimables camarades qui aient participé à l’I.S. Beaulieu [...] a été fort habile de démissionner au premier instant où il était critiqué, c’est-à-dire une heure environ avant d’être ignominieusement exclu pour avoir dissimulé et falsifié la correspondance de l’I.S. avec l’Espagne.«281
Diese ›Altersmilde‹ lässt sich jedoch eventuell auch als Versuch auffassen, die S.I. wieder spannungsreicher zu gestalten und die in ihr vorhandenen Differenzen nicht sofort durch Ausschlüsse aus dem Weg zu räumen. In diese Richtung jedenfalls deutet die ab Ende 1969/Anfang 1970 bestehende Möglichkeit zur Bildung von ›tendances‹ innerhalb der oder auch querliegend zu den Sektionen der S.I.282 Durch diese Möglichkeit, Differenzen innerhalb der S.I. offen zum Ausdruck zu bringen, sollen (vorschnelle) Austritte und Ausschlüsse vermieden werden und 278 | Debord (2004a), S. 342, an alle Situationisten, 28.1.1971. 279 | Ibidem, S. 326, an Jon Horelick und Tony Verlaan, 29.12.1970. 280 | Ibidem, S. 210, an Claudio Pavan, 3.2.1970, Hervorh. im Orig. 281 | Ibidem, S. 326, an Jon Horelick und Tony Verlaan, 29.12.1970. 282 | Vgl. Debord (1968), S. 462; Debord (2004a), S. 35 sowie Richier (1995), S. 109ff.
Die S.I. im Spannungsfeld von Theorie und Praxis | 283
für die S.I. aus der offenen Agonalität der Positionen positive Wirkungen erzielt werden.
4.3.5 Der formale Austritt: Khayati In diesem Zusammenhang soll hier noch knapp auf ein weiteres Mitglied der S.I. verwiesen werden, das in der späten Phase aus der Gruppe ausgetreten ist: Mustapha Khayati. Dessen Austritt wird in der I.S. nicht erwähnt - dies allerdings nur, da er sich zeitgleich mit dem Erscheinen der letzten Nummer im September 1969 ereignet. Sowohl in der Spaltung als auch in den internen Dokumenten und Debords Correspondance wird er jedoch mehr oder weniger ausführlich diskutiert. Khayatis Fall ist dabei recht schnell skizziert, allerdings ist er deshalb nicht weniger aufschlussreich. Die Eckdaten hierzu erfährt man aus der Spaltung: »Mustapha Khayati, der zu den intelligentesten und wirksamsten Genossen während der vergangenen Jahre der S.I. gezählt hatte, hatte auf der Konferenz von Venedig seinen Rücktritt eingereicht, die ihn annahm, aber nicht ohne seine Perspektiven für später zutiefst zu mißbilligen. Er hatte sich zwei Monate zuvor unvorsichtigerweise auf eine Teilnahme an den Aktivitäten der Palästinensischen Demokratischen Befreiungsfront [gemeint ist die Demokratische Volksfront zur Befreiung Palästinas (englisch: Democratic Front for the Liberation of Palestine, DFLP), M.O.] eingelassen [...] - und bekanntlich kann die S.I. keine doppelte Zugehörigkeit zulassen, weil dann die Manipulation nicht weit wäre.«283
Aus diesen knappen Informationen zum Austritt Khayatis wird zunächst der eingangs dieses Kapitels herausgearbeitete Aspekt der individuellen Freiheit bezüglich der Austrittsentscheidung bzw. der geringe Einfluss, den die Gruppe in diesem Fall formell besitzt, deutlich. Sie kann lediglich Stellung beziehen zu den Gründen des Austritts (in diesem Falle positiv) und ihre Missbilligung der Entscheidung an sich zum Ausdruck bringen, diese aber nicht verhindern. »Quant à Mustapha, il fera lui-même à la conférence un exposé sur [...] les raisons qui lui font choisir désormais de participer à une autre organisation. J’espère bien que la conférence jugera, comme nous ici, que c’est son droit; et que ses motivations personnelles sont tout à fait honorables. [...] Notez bien que le choix de Mustapha n’est pas ›encouragé‹; ni réellement approuvé par nous, en tant que stratégie révolutionnaire nécessaire. Mais c’est lui qui est concerné directement, et il nous semble qu’il ne nous est pas permis d’objecter.«284
Ein solcher Versuch, Khayati zu halten, wäre jedoch in diesem Fall auch nicht möglich bzw. nicht im Sinne der S.I. gewesen, da dieser durch 283 | Situationistische Internationale (1972), S. 105. 284 | Debord (2004a), S. 118f., an die italienische Sektion, 12.9.1969.
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seinen Eintritt in die DFLP gegen das immer noch gültige Verbot von Doppelmitgliedschaften verstoßen und sich bewusst für die DFLP und gegen die S.I. entschieden hatte. Eine solche Entscheidung muss die S.I. nicht nur akzeptieren, sondern explizit gutheißen: »Nous sommes tous adversaires d’une double appartenance. [...] La décision du camarade Khayati découlant de ce point, nous ne pouvons que l’approuver.«285 Neben der Gefahr der Manipulation wird in diesem Zusammenhang auch der zweite Grund hervorgehoben, der gegen eine Doppelmitgliedschaft spricht: Die Forderung der S.I., dass sich ihre Mitglieder voll und ganz in sie einbringen müssen, was bei doppelten Gruppenzugehörigkeiten nur schwer möglich ist.286 Dies verdeutlicht nicht nur die hohen Anforderungen, die die S.I. an ihre Mitglieder stellt, sondern auch den einschränkenden Charakter, den eine Mitgliedschaft für den Einzelnen haben kann. Die Aussage, man müsse die S.I. ganz akzeptieren oder verwerfen, lässt sich also nicht nur dahingehend verstehen, dass ein umfassender inhaltlicher Konsens Voraussetzung für die Mitgliedschaft ist, sondern zudem die Bereitschaft, sich ganz - und das heißt dann eben auch ausschließlich - in ihr zu engagieren. Die Option des Austritts für den Einzelnen ist - wie die Option des Ausschlusses für die S.I. - eine Art ›Überdruckventil‹: Für die S.I. gilt dies beim Ausschluss in dem Sinne, dass auf diese Weise sowohl Spannungen, die die Gruppe lähmen, abgebaut als auch einzelne Mitglieder quasi zur Autonomie gezwungen werden können. Für den Einzelnen und seinen Austritt ist dies dahingehend zu verstehen, dass er die Möglichkeit besitzt, selbst den Rahmen der Gruppe zu verlassen, wenn ihm dieser als Einschränkung seiner Handlungsoptionen oder Interessen erscheint. Sowohl Austritt als auch Ausschluss verweisen somit explizit auf das Problem der ›Sozialität der Solitären‹. Zugleich macht die zentrale Stellung, die diesen beiden Kategorien von der S.I. zugemessen wird, deutlich, wie zentral der Begriff der Autonomie für die Gruppe ist. Die ›Sozialität der Solitären‹ ist für die S.I. ein zentrales Problem ihrer Organisation und lässt sich hier übersetzen als Problem der Autonomie des Einzelnen in der Gruppe, aber auch - in Umkehrung - Autonomie der Gruppe von ihren Mitgliedern. Da diese Zentralität des Autonomiebegriffs bei der S.I. jedoch mit hohen Anforderungen an die Identifikation mit der Gruppe gekoppelt wird, entsteht dadurch kein loses Netzwerk, sondern vielmehr eine enge und eben ›hochexplosive‹ Gruppenkonstellation mit einer facettenreichen Mitgliederfluktuation. Doch auch beim angesprochenen Aspekt der Manipulation spielt der Begriff der Autonomie eine wichtige Rolle und es wird hier diesbezüglich eine Nuancierung erkennbar: Es geht nicht nur um die Manipulation der S.I. durch eine andere Gruppe, sondern auch um die umgekehrte Richtung der Beeinflussung: »[N]ous ne voulons aucunement essayer 285 | Debord (2004a), S. 120, an die italienische Sektion, 14.9.1969. 286 | Vgl. ibidem, S. 116, an die italienische Sektion, 4.9.1969.
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d’influencer une organisation extérieure au moyen d’agents plus ou moins secrets.«287 So wie die S.I. stets ihre eigene Autonomie betont und verteidigt (und diese auch in Bezug auf die Grundhaltung ihrer Mitglieder postulierte), so legt sie auch beim Blick auf andere revolutionäre Gruppierungen großen Wert auf diese Unabhängigkeit. Dabei ist zu beobachten, dass sich bei dieser wechselseitigen Autonomie der Schwerpunkt im Laufe der Entwicklung der S.I. in Zusammenhang mit ihrer zunehmenden Bekanntheit verschiebt. Stand anfangs die eigene Autonomie von anderen, teilweise bekannteren und einflussreicheren Gruppen im Vordergrund, so wird später die Forderung nach Unabhängigkeit ebendieser anderen Gruppen von einer sich mittlerweile zumindest implizit als meinungsbildender - oder eben avantgardistischster revolutionärer Gruppe verstehenden S.I. immer zentraler. Ganz so einvernehmlich und komplikationslos, wie es in der offiziellen Stellungnahme erscheint, war der Austritt Khayatis jedoch nicht, was bei einem genaueren Blick in die internen Dokumente und Briefe deutlich wird. Die Diskussionen beginnen hier jedoch erst nach dem Austritt, der Hauptvorwurf bezieht sich auf die zeitlichen Abläufe von Khayatis Austritt: »Tout le monde sait que Mustapha s’est engagé, à un moment resté inconnu de l’été 1969, dans une organisation palestinienne [...]. Quelques semaines ou quelques mois plus tard, il en informe l’I.S., et donc démissionne - alors seulement - puisque notre opposition à la ›double appartenance‹ est absolue, et qu’il partage tout à fait ce point de vue. Nous avons alors parlé de son mauvais choix plutôt que de sa mauvaise manière d’avoir fait un nouveau choix, parce que la question était résolue unilatéralement bien avant d’avoir été posée.«288
Vorgeworfen wird Khayati also zweierlei: zum einen, dass er schon vor seinem Austritt aus der S.I. in der DFLP engagiert oder gar Mitglied war und somit gegen das Verbot von Doppelmitgliedschaften verstoßen hat, während er behauptet hat, gerade aus Respekt vor diesem Verbot aus der S.I. zurückzutreten. Zum anderen geht es um die Art und Weise seiner Entscheidungsfindung: Hier wirft ihm die S.I. implizit vor, seine Überlegungen nicht innerhalb der Gruppe kommuniziert zu haben, bevor er seine Entscheidung getroffen hat. Das sich hier andeutende Problem bezieht sich somit auf das spannungsreiche Verhältnis zwischen der individuellen Freiheit und der Forderung nach Transparenz und authentischer Kommunikation innerhalb der Gruppe. Da ein Austritt - anders als ein Ausschluss - keinen Kontaktabbruch zur Folge haben muss, wird diese Diskussion auch mit Khayati selbst geführt und werden die Vorwürfe ihm gegenüber wiederholt: »Tu t’es bien engagé dans le F.D.P.L.P. avant de nous en prévenir et avant de démissionner de l’I.S.«289 287 | Debord (2004a), S. 116, an die italienische Sektion, 4.9.1969. 288 | Ibidem, S. 258, an die Mitglieder der S.I., 27.7.1970. 289 | Ibidem, S. 337, an Mustapha Khayati, 7.1.1971.
286 | Situationistische Internationale
Dass diese Diskussion in einem größeren Umfang überhaupt geführt wird, hängt mit einer Neuerung der Mitgliedschaftsfrage bei der S.I. zusammen: Seit der Konferenz von Venedig im September 1969 ist es prinzipiell möglich, nach einem Austritt auch wieder in die S.I. einzutreten die grundlegende inhaltliche Übereinstimmung einmal vorausgesetzt. Interessant ist hierbei, dass Khayati seinen Rücktritt just auf dieser Konferenz einreicht, obwohl er bereits zuvor in Palästina tätig war. Es scheint beinahe so, als ob er die Einführung der Möglichkeit eines erneuten Eintritts abwarten wollte, bevor er die S.I. verlässt. Denn genau von dieser Möglichkeit scheint er nach dem Scheitern seines Ausflugs in den Nahen Osten Gebrauch machen zu wollen: »Il revient en Europe, et rencontre d’abord les camarades italiens. Ceux-ci tirent de cette rencontre une conclusion principale, pour ne pas dire unique: qu’il serait excellent que Mustapha redevienne membre de l’I.S., puisqu’il est démystifié de son mirage jordanien, et puisqu’on peut espérer chez lui une telle intention. C’est réduire le problème à un à-côté négligeable, en faisant comme si nous n’avions eu avec Mustapha que certaines divergences - maintenant surmontées - dans l’appréciation politique des perspectives au Moyen-Orient.«290
Abgesehen von den sich abzeichnenden Meinungsverschiedenheiten zwischen der französischen und der italienischen Sektion wird hier deutlich, dass die Entscheidung Khayatis für die DFLP und seine Auffassungen zum Nahen Osten nur ein Aspekt der Unstimmigkeiten zwischen ihm und der S.I. waren; der für eine Wiederaufnahme notwendige Grundkonsens scheint durch seinen Austritt aus der DFLP nicht automatisch wiederhergestellt. Erneut wird auf seine verheimlichte Doppelmitgliedschaft rekurriert und diese letztendlich offiziell als Grund für die Ablehnung einer Wiederaufnahme genannt. Khayatis Strategie - falls es eine solche war - ist also nicht aufgegangen. »Si nous avons dit à Venise que le débat sur sa démission avait quelque chose d’académique, puisque son choix était fait, [...] [c]’est parce qu’il s’était déjà engagé formellement dans une autre organisation un ou deux mois avant de faire connaître sa démission à n’importe quelle adresse de l’I.S. Il serait donc très inamical de notre part de lui suggérer de présenter maintenant une demande de réadhésion (comme il en a évidemment le droit, d’après la résolution adoptée à Venise), dans des conditions où nous nous trouverions obligé de la repousser.«291
Die zunächst erkennbare theoretische Durchlässigkeit der Gruppengrenze in der Schlussphase der S.I. wird also nicht in die Praxis umgesetzt. Auch wenn dabei im Fall Khayatis sicherlich nicht nur die formale Ebene des Problems der verheimlichten Doppelmitgliedschaft aus290 | Debord (2004a), S. 258, an die Mitglieder der S.I., 27.7.1970. 291 | Ibidem, S. 249, an Gianfranco Sanguinetti, 20.7.1970, Hervorh. im Orig.
Die S.I. im Spannungsfeld von Theorie und Praxis | 287
schlaggebend ist,292 so ist doch insgesamt eine Formalisierung der Diskussion gegenüber den Anfangsjahren erkennbar, die mit der zunehmenden Formalisierung und Entpersonalisierung der Gruppenstruktur und der Regelungen zu Eintritt und Austritt Hand in Hand geht. Diese führt letztendlich auch in der Auseinandersetzung mit Khayati nach seinem Austritt zur Verhärtung der Fronten und wenig später zum Abbruch des Kontaktes. Die Potentiale, die der Austritt für einen weiteren Austausch über die Gruppengrenze hinweg eigentlich bereithalten soll und die für beide Seiten gerade seinen Vorteil gegenüber dem Ausschluss ausmachen, können hier - wie auch in allen anderen bislang skizzierten Fällen293 - nicht genutzt werden.
4.3.6 Der umstrittene Austritt: Constant Im Folgenden gilt es, den Blick noch einmal auf die Frühphase der S.I. bis 1961 zu richten, die in erster Linie von Ausschlüssen geprägt war und in der die ›Ehre des Austritts‹ neben den erwähnten ›Randgestalten‹ nur 292 | Zur Kritik von Debord an Khayati vgl. Debord (2004a), S. 337ff., an Mustapha Khayati, 7.1.1971. 293 | Dies gilt auch für einen weiteren Austritt in der Spätphase der S.I. - den von Raoul Vaneigem im November 1970. Auch hier kommt es zum Kontaktabbruch, nachdem sich in der Diskussion über die (Hinter)Gründe des Austritts die Fronten verhärtet haben. Vgl. hierzu zunächst Vaneigems Austrittserklärung (Vaneigem (1970b)); die dazugehörige Stellungnahme der S.I. (Debord, Guy/René Viénet (1970)) sowie die spätere Analyse der Ereignisse (Situationistische Internationale (1972), S. 112f.). Diese Funkstille ist umso erstaunlicher, als es sich bei Vaneigem um die - neben Debord - zentrale Figur der S.I. ab 1961 handelt, wie dies auch in den Stellungnahmen der Gruppe deutlich wird: Zunächst einmal wird festgestellt, dass »Vaneigem [...] in einer bestimmten Periode ein revolutionäres Buch geschrieben [hat].« (ibidem, S. 113) Seine Verdienste gehen jedoch weit über diese eine Veröffentlichung hinaus: »L’I.S. des années 1961-1964, et c’est une période importante pour l’I.S. comme pour les idées de la révolution moderne, a été fortement marquée par Vaneigem, plus peut-être que par tout autre.« (Debord (2004a), S. 313, an die Mitglieder der S.I., 9.12.1970) Doch neben diesem Lob wird auch mit Kritik nicht gespart - mit einer Kritik, die die hohen Ansprüche der S.I. an ihre Mitglieder abermals verdeutlicht. Die eng mit den theoretischen Konzepten verbundenen Vorwürfe richten sich dabei gegen die ›camarades contemplatifs‹, und es geht um Aspekte wie Hierarchie, Ungleichgewicht, Passivität, Unfähigkeit zu Beteiligung und zur Kommunikation, Festhalten am Bestehenden, Angst vor Veränderung, falscher Schein (in Bezug auf die angebliche Egalität, Kohärenz). Dabei ist »Vaneigem [...] resté, jusqu’au bout, le plus remarquable représentant de cette sorte de pratique.« (ibidem, S. 309, an die Mitglieder der S.I., 9.12.1970) Vaneigem wird insgesamt ein Erlahmen seiner Aktivität vorgeworfen, was für eine sich als avantgardistisch verstehende Gruppe wie die S.I. ein unvertretbares Stehenbleiben ist. Er wird zum Paradebeispiel des oft kritisierten ›pensionierten Denkers‹. Der Vorwurf des Stillstands wird zudem verbunden mit der Kritik, dass es Vaneigem an einer Praxis mangelte, denn das oben gelobte Buch, war »ein Buch, das er weder in die Praxis umsetzen noch mit den Fortschritten der revolutionären Epoche zu korrigieren vermochte.« (Situationistische Internationale (1972), S. 113) Das inhaltliche Stehenbleiben, das Vaneigem also bereits für die zweite Hälfte seiner Mitgliedschaft vorgeworfen wird, macht auch verständlich, warum die S.I. kein Interesse an einer weiteren Zusammenarbeit nach seinem Austritt zeigt, genauso wie umgekehrt Vaneigems Kritik an der S.I. bei ihm auf eine ebensolche Ablehnung schließen lässt.
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sehr wenigen, zentralen Mitgliedern vorbehalten war. Diese Ehre wurde in den ersten Jahren nur Constant und Jorn zuteil, deren Austritte vor dem Hintergrund sehr unterschiedlicher inhaltlicher Gründe erfolgt, die in unterschiedlichem Ausmaß innerhalb der Gruppe bzw. mit Debord diskutiert wurden und die vor allem gegensätzliche Konsequenzen für den Kontakt zwischen den Ausgetretenen und den Mitgliedern der S.I. hatten. Im Falle Constants war ja bereits der Eintritt ein langwieriges Ringen zwischen ihm, Debord und Jorn. Dabei standen drei verschiedene Aspekte im Mittelpunkt der Auseinandersetzung: die Debatte um differierende inhaltliche Positionen, die Auseinandersetzung um strategische Fragen bezüglich der Mitgliederkonstellation zwischen den verschiedenen Fraktionen der S.I. sowie das Problem des individuellen Engagements innerhalb einer Gruppe. Eben diese drei Aspekte werden bei seinem Austritt im Juni 1960 und in der sich daran anschließenden Diskussion mit Debord wieder deutlich und prägen auch die vergleichsweise informative Stellungnahme der S.I. zu Constants Austritt - wenn auch etwas durcheinander gewürfelt. Hier daher nun die Erläuterungen der S.I. nach den drei Gründen geordnet: »Auf einer tieferen Ebene war Constant in die Opposition gegen die S.I. geraten, da er sich vorrangig und fast ausschliesslich um die Strukturfragen gewisser Komplexe des unitären Urbanismus kümmerte, während andere Situationisten daran erinnerten, dass es beim gegenwärtigen Stadium eines solchen Projektes notwendig sei, seinen Inhalt (als den eines Spiels und der freien Schöpfung des alltäglichen Lebens) besonders zu betonen. Constants Thesen werteten also die Techniken der Bauformen gegenüber jedem Versuch einer globalen Kultur auf.«294
Was die inhaltlichen Differenzen betrifft, so geht es, wie dies bereits bei den Beitrittsverhandlungen deutlich wurde, um zweierlei. In der Auseinandersetzung mit Debord nimmt der Konflikt um die Ausgestaltung des unitären Urbanismus sowie die Frage, ob dieser als eine Methode unter anderen oder als das zentrale Konzept der S.I. angesehen werden soll, eine Schlüsselstellung ein.295 Demgegenüber kreisen die Auseinandersetzungen zwischen Constant und Jorn bzw. Pinot-Gallizio in erster Linie um die Rolle der Malerei und entzünden sich an Constants radika294 | Situationistische Internationale (1960g), S. 164. 295 | Die Spuren dieser Auseinandersetzung zwischen Constant und Debord finden sich in der I.S. u.a. in Situationistische Internationale (1959f) sowie in Situationistische Internationale (1959b). Vgl. hierzu weiterführend auch Ohrt (1997), S. 196. Am aufschlussreichsten ist diesbezüglich der Briefwechsel zwischen den beiden in der Zeit von Mitte 1958 bis Mitte 1960. Die Position Debords findet sich in Debord (1999); die Position Constants lässt sich größtenteils nur indirekt aus Debords Antworten erschließen. Einige von Constants Briefen sind aber im Archive Constant im Rijksbureau voor Kunsthistorische Documentatie in Den Haag zu finden.
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ler Ablehnung derselben.296 So wirft er Debord kurz vor seinem Austritt vor, dass er »sich von einer ›Bande ambitionierter Maler‹ mißbrauchen lasse.«297 Um diesen Streit über die Position des Urbanismus in den theoretischen Konzepten der S.I. insgesamt und insbesondere gegenüber der Malerei, »scheint es [...] beim Bruch zwischen Constant und den Situationisten wirklich zu gehen: um das, was in den ersten Nummern von Internationale situationniste nachzulesen ist. Die angeführten Gründe sind wie immer anekdotischer Natur und womöglich nur ein Vorwand.«298 Doch kann man dabei tatsächlich wie Kaufmann lediglich von einem Vorwand sprechen oder handelt es sich nicht vielmehr um einen weiteren, nicht weniger entscheidenden Grund für Constants Austritt, der auf die enge Verbindung von inhaltlichen und strategischen Überlegungen sowie den interpersonellen Beziehungen verweist? Einen ersten Eindruck von der nicht zu vernachlässigenden Bedeutung dieses ›Vorwands‹ erhält man, wenn man die bereits bei der inhaltlichen Auseinandersetzung erkennbaren Koalitionsbildungen berücksichtigt. Denn beim Blick auf die beiden im Kontext mit Constants Austritt diskutierten Fragen fällt sofort die Komplexität der damit verbundenen Fronten und Allianzen innerhalb der S.I. auf. Beim ersten Aspekt stehen sich Constant und Debord gegenüber und Ersterer kann sich dabei auf seine holländischen Mitstreiter verlassen, während sich Letzterer Unterstützung von Jorn holt. Hier wird also die Opposition zwischen Malern und Künstlern einerseits und Urbanisten und Theoretikern andererseits über die Dyade Debord-Jorn aufgebrochen. Diese Front tritt beim zweiten Aspekt hingegen wieder deutlich hervor, da sich hier primär Constant und Jorn gegenüberstehen. Auch hier wird Constant von den übrigen Holländern, aber auch von Debord unterstützt, während Jorns Position von Pinot-Gallizio und der Gruppe SPUR mitgetragen wird. Die Allianzen werden also zum einen sehr spezifisch bzw. situativ im Hinblick auf die jeweilige Auseinandersetzung geschlossen und haben in der jeweiligen Diskussion die Herausbildung klarer Frontlinien zur Folge. Zum anderen jedoch bleiben diese Allianzen im 296 | Die Auseinandersetzung zwischen Constant und Jorn bzw. den Urbanisten und den Malern/Künstlern ist am deutlichsten nachzulesen in Constant (1958) sowie in der von Constant und Debord verfassten Amsterdamer Erklärung (vgl. Constant/Guy Debord (1958)) bzw. in der diesbezüglichen Diskussion mit den Künstlern auf der Konferenz in München 1959, die zu einigen aufschlussreichen Umformulierungen führt (vgl. Situationistische Internationale (1959c)). Die genauere Ausarbeitung von Constants Position zum Urbanismus und seiner Kritik an der Malerei findet sich in Alberts (1959); in Constant (1959a) sowie in Constant (1960a). Die Künstler verdeutlichen ihren Standpunkt u.a. in Pinot-Gallizio (1959). Auffällig ist hierbei, dass sich Jorn zumindest in der I.S. nicht zu dieser Kontroverse äußert, er hat jedoch seine Position bereits 1957 im von Constant kritisierten Pour la Forme (vgl. Jorn (2001b)) sowie 1959 in einem Aufsatz mit dem Titel Peinture détournée dargelegt (vgl. Jorn (1959)). 297 | Ohrt (1997), S. 218. Vgl. auch den entsprechenden Brief von Constant (Constant (1960b)) sowie Debords Reaktion darauf (Debord (1999), S. 338, an Constant, 2.6.1960). 298 | Kaufmann (2004), S. 193.
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Ganzen betrachtet sehr beweglich, können sich verlagern, werden mit jeder neuen Frage neu durchmischt, wobei neben den theoretischen Positionierungen auch die interpersonellen Beziehungen eine wichtige Rolle spielen. Insgesamt ist hier somit ein strategischer Umgang im Hinblick auf die Koalitionsbildung erkennbar, dem jedoch auch eine spielerische Neigung innewohnt. Denn der strategische Aspekt der einzelnen Allianzen beschränkt sich nicht nur auf die konkrete Streitfrage, sondern lässt sich bei Jorn - und teilweise wohl auch bei Debord - auch als Strategiespiel im größeren Rahmen auffassen: als Aufforderung zum Spiel mit Spannungen, mit deren situativer Konstruktion. Dieses Spiel mit Ungleichgewichten und deren Verlagerung tritt noch deutlicher hervor, wenn man den zweiten von der S.I. erwähnten Grund für Constants Austritt berücksichtigt. »Dennoch wurde Constant, der ihr Verhalten [das von Melanotte, Pinot-Gallizio und Wuerich, M.O.] mit Recht denunziert hatte, durch diesen Bruch nicht zufriedengestellt. Er bedauerte, dass wir gezwungen worden waren, einige Monate vorher dieselben Massnahmen gegen Architekten der holländischen Sektion zu ergreifen, die sich nicht gescheut hatten, mit dem Bau einer Kirche anzufangen. [...] Und die blosse Gleichheit der Behandlung, welche das von den einen wie von den anderen verlangte minimale Verhalten betrifft, erschien ihm schon als unverhältnismässig hart.«299
So wie bereits bei Constants Eintritt erkennbar ist, dass dieser durch die Ausschlüsse von Olmo, Simondo und Verrone, aber auch den von Rumney ermöglicht wurde, so ist auch der Austritt von Constant nicht unabhängig von anderen Bewegungen aus der Gruppe hinaus zu sehen. Denn im Vorfeld seines Austritts kommt relativ viel Bewegung in die Mitgliederstruktur der S.I., es beginnt ein Taktieren verschiedener Fraktionen, bei dem zugleich die Verwobenheit und Vielschichtigkeit ebendieser Koalitionen deutlich wird. »Im Frühjahr 1960 beschließt die S.I. (d.h. vor allem Debord und Jorn), A. Alberts und Har Oudejans auszuschließen, zwei vielversprechende, soeben erst von Constant rekrutierte holländische Architekten.«300 Auch wenn hier die Bereitschaft der holländischen Architekten, eine Kirche zu bauen, als konkreter Anlass des Ausschlusses angegeben wird, so geht es doch vor allem um die oben skizzierte Auseinandersetzung um die Bedeutung der Architektur bzw. des Urbanismus im Theoriegefüge der S.I., die bereits längere Zeit, wenn nicht gar seit Constants Eintritt, zwischen ihm und Debord erkennbar ist. Debord forciert diese Auseinandersetzung, indem er sich mit Jorn zusammentut und die Position Constants durch den Ausschluss seiner wichtigsten Unterstützer schwächt. Dieser Konflikt entzündet sich bereits während der Vorbereitungen für eine Ausstellung im Stedelijk Museum in Amsterdam im Frühjahr 299 | Situationistische Internationale (1960g), S. 164. 300 | Kaufmann (2004), S. 193.
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1959, an denen sowohl Constant und die Holländer als auch Debord und Jorn beteiligt sind.301 Alberts, Constant und Oudejans setzen sich dabei über gemeinsame Beschlüsse der S.I. hinweg: »C’est d’ailleurs un assez fâcheux exemple de désinvolture des Hollandais, puisque nous avions convenu que la nécessité d’adopter un plan définitif avant le 1er février rendrait fatalement définitives que nous prenions ensemble ce jour-là. En outre, nous avons approuvé toute la structure du labyrinthe, sauf l’absence de portes. Et ceci est notre seule correction du travail des Hollandais. C’est une curieuse conception du travail collectif aussi bien que de la discipline, de proposer dès qu’ils se retrouvent en Hollande, d’effacer froidement la seule modification que l’I.S. a demandée pour approuver leur projet.«302
Der Hauptvorwurf richtet sich also gegen das eigenmächtige Handeln der Holländer in Bezug auf Details der geplanten Ausstellung - eine Kritik, die abermals das spannungsreiche Verhältnis zwischen der Autonomie des Einzelnen und einem gewissen Maß an Gruppendisziplin und Kompromissbereitschaft verdeutlicht. Denn es geht hier bislang lediglich darum, dass die Holländer eine von der gesamten S.I. getroffene Entscheidung nicht vollständig respektieren, nicht aber darum, dass sie ein Projekt durchführen, das den Grundsätzen der S.I. widerspricht. Diese Erweiterung der Kritik erfolgt jedoch kurz darauf, indem das Verhalten der Holländer bei der Ausstellungsplanung mit ihrer Bereitschaft zum Kirchenbau in Verbindung gebracht wird. »Asger est maintenant réconforté. Il faut avouer que la désinvolture de nos amis hollandais dans cette affaire [der Ausstellungsplanung, M.O.] est la même désinvolture qui a pu pousser - ou lasser - Har [Oudejans, M.O.] et Alberts à la construction d’une église sans penser que cela était incompatible avec l’appartenance à l’I.S.«303
Der Kirchenbau scheint Debord und Jorn also gelegen zu kommen, bietet er doch einen nach außen vertretbaren Grund für den Ausschluss der beiden Holländer. Dass es im Kern jedoch eher um Fragen der Gruppenstruktur und der Disziplin innerhalb der S.I. geht, wird deutlich, wenn man eine weitere Konsequenz des Kirchenbaus bzw. des daraus resultierenden Ausschlusses von Alberts und Oudejans berücksichtigt: »Asger et moi sommes d’accord sur ce point: la sanction de tout ceci est la dissolution du ›Bureau d’urbanisme unitaire‹.«304 Diese Auflösung von ›Binnengruppen‹ innerhalb der S.I. wird zum einen mit dem Problem der Doppelmitgliedschaft in Verbindung gebracht. Zum anderen geht es dabei um die Frage der individuellen Entfaltungsfreiheit innerhalb 301 | Vgl. Ohrt (1997), S. 219ff. 302 | Debord (1999), S. 315f., an Maurice Wyckaert, 14.2.1960. 303 | Ibidem, S. 322, an Maurice Wyckaert, 14.3.1960. 304 | Ibidem, an Maurice Wyckaert, 14.3.1960.
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der Gruppe, die für Debord nur möglich erscheint, wenn diese selbst als Einheit ohne weitere Binnendifferenzierung oder gar Zersplitterung in auch formal gefestigte Teilgruppen auftritt - Kohärenz und Disziplin sollen hier gerade die individuelle Entfaltung ermöglichen. »Nous n’avons pas les moyens [...] de promouvoir plus d’un mouvement, dans lequel il est assez prouvé que chacun a une assez grande liberté idéologique, et une totale liberté artistique. Ces ridicules proliférations de ›bureaux‹ ou de ›laboratoires‹ qui représentent, dans l’I.S., la plate-forme restreinte d’un individu ou deux, ne peuvent durer plus. Nous ne voulons connaître, dans chaque pays, qu’un groupe situationniste. Que sur cette base nous soyons 6, 14 ou 35 n’a qu’une importance secondaire. Mais au contraire l’envahissement par des éléments à la fois irresponsable et autonomes nous cause un tort capital.«305
Mit der Auflösung des Urbanismusbüros jedoch wird eines der Zugeständnisse rückgängig gemacht, die wesentlich für den Eintritt Constants waren und über das bereits damals intensiv zwischen ihm und Debord verhandelt worden war.306 Dennoch ist dieser Schritt (noch) nicht direkt gegen Constant gerichtet, ist keine rein taktische Überlegung von Seiten Debords und Jorns, sondern eine theoretisch fundierte Entscheidung bezüglich der eigenen Gruppenstruktur. Dies wird daran erkennbar, dass die Binnendifferenzierung der S.I. nicht nur im Hinblick auf das Urbanismusbüro, sondern auch bei der Gruppe SPUR kritisiert wird bzw. aufgehoben werden soll - und dies im Einverständnis zwischen Debord und Jorn, zwischen denen hier ein auf theoretischen Überlegungen basierender und sich auf die Ebene des (Un)gleichgewichts der Fraktionen auswirkender Potlatch erkennbar ist. »[D]e même que nous voulons plus accepter l’étiquette ›Gruppe SPUR‹ ni aucune sorte de double appartenance.«307 Dieses theoriebasierte Strategiespiel, das vor allem von Debord und Jorn praktiziert wird, zieht jedoch noch weitere Kreise, da es sich zudem auf die zweite der oben skizzierten theoretischen Auseinandersetzungen und die damit zusammenhängenden Fraktionsbildungen ausweitet und weitere Ausschlüsse zur Folge hat. Denn auch die Auseinandersetzung zwischen Constant und Debord einerseits und Jorn und Pinot-Gallizio andererseits spielt bei den Ereignissen im Umfeld von Constants Austritt eine wichtige Rolle. Denn »Constant nutzt den Ausschluss seiner Genossen Architekten jedenfalls dazu, um ein letztes Mal zu lavieren. Er nimmt ihn protestlos hin, beschließt aber dennoch, aus der S.I. auszutreten.«308 Bevor diese Entscheidung jedoch offiziell wird, beteiligt sich auch Constant am Strategiespiel und sorgt nochmals für eine Verschiebung der bisherigen Fraktionsgrenzen. Denn wie aus der zitierten Austrittsmitteilung in der I.S. hervorgeht, 305 | Debord (1999), S. 322, an Maurice Wyckaert, 14.3.1960. 306 | Vgl. Ohrt (1997), S. 196. 307 | Debord (1999), S. 322, an Maurice Wyckaert, 14.3.1960. 308 | Kaufmann (2004), S. 193.
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waren kurz zuvor im Mai 1960 mit Melanotte, Pinot-Gallizio und Wuerich drei Mitglieder der italienischen Sektion ausgeschlossen worden, die dem künstlerischen Flügel der S.I. zuzurechnen sind. Dieser Ausschluss erfolgte nicht zuletzt auf Drängen von Constant309 und zeigt somit Debords Bereitschaft, ihm gerade nach dem Ausschluss der Holländer und der Auflösung des Urbanismusbüros nochmals entgegenzukommen, um ihn eventuell doch in der S.I. zu halten. Denn trotz aller Differenzen zwischen ihm und Constant bezüglich des unitären Urbanismus ist er dennoch für Debord ein wichtiger Rückhalt in der Auseinandersetzung mit den Künstlern.310 Debords Verhältnis zu PinotGallizio war bereits im November 1959 ein sehr kritisches. So stellt er Constant gegenüber fest, »que Gallizio, à mon avis, représentait notre ›aile droite‹ avec plus de virtuosité que Spur«311 . Zugleich verweist der Ausschluss der drei Italiener auf Initiative von Constant und Debord auf eine noch offene Gegenleistung im Ausschluss-Potlatch zwischen Debord und Jorn. Denn Letzterer war die treibende Kraft hinter dem Ausschluss der Holländer, wie Debord auch gegenüber Constant verdeutlicht: »J’espère avoir bientôt des nouvelles d’Asger [Jorn, M.O.] - qui a déjà prévenu Paris par carte postale indignée de la trahision de nos deux architectes; de sorte que l’affaire est absolument sans retour.«312 Debord bietet Jorn den Ausschluss der Holländer an, obwohl dieser im größeren Rahmen seine eigene Position schwächt, bekommt dafür jedoch als ›Gegenleistung‹ die Möglichkeit, auch die künstlerische Fraktion wenig später ebenso zu schwächen. Der Ausschluss der drei Italiener erscheint als doppelter Kompromiss, als doppeltes Sich-aufeinanderZubewegen: einmal zwischen Constant und Debord als ›Entschädigung‹ für den Ausschluss der Holländer und einmal zwischen Debord und Jorn als Alternative zu dem von Debord angestrebten Ausschluss der SPUR. Denn auch wenn Debord Pinot-Gallizio kritischer bewertet als die SPUR, so betont er doch schon im März 1960 unter Bezugnahme auf den Ausschluss der Holländer und wie um Constant zu beruhigen: »Ce qui suppose aussi la liquidation de ce ridicule ›groupe Spur‹ - sans plus attendre.«313 Dieses Ziel erwähnt Debord auch gegenüber dem zu diesem Zeitpunkt bezüglich seines Ausschlusses noch ahnungslosen Pinot-Gallizio und verdeutlicht hier zugleich seine Rücksichtnahme auf Jorn: »Il y a certainement des épurations à faire à Munich dans le groupe 309 | Constant hebt seine Kritik an Pinot-Gallizio bzw. am ›künstlerischen Flügel‹ der S.I. nochmals in einem Brief an Debord hervor, der von der S.I. im Nachhinein als ›Lettre de démission‹ aufgefasst wird (vgl. Constant (1960b)). 310 | Hier verschiebt sich die Front von Constant vs. Debord und Jorn hin zu Constant und Debord vs. Jorn. 311 | Debord (1999), S. 281, an Constant, 26.11.1959. 312 | Ibidem, S. 320, an Constant, 11.3.1960. 313 | Ibidem, S. 326, an Constant, 30.3.1960. Diese Ankündigung eines möglichen Ausschlusses der SPUR gegenüber Constant erfolgt nur wenige Sätze, nachdem Debord den bereits erfolgten Ausschluss der Holländer und die Auflösung des Urbanismusbüros begründet hat, und verweist somit auf den Zusammenhang zwischen den beiden Bewegungen und auf den Potlatch-Charakter dieser Ausschlüsse.
294 | Situationistische Internationale
Spur, mais Asger pense que le moment est venu d’ouvrir un nouveau front, d’abord en Angleterre, puis en Suède«314 . Da Debord zu Beginn desselben Briefs nochmals den Ausschluss der Holländer erwähnt und betont, dass »nous avons mis bon ordre immédiatement«315 in Holland, wird der Zusammenhang zwischen diesem Ausschluss und dem geplanten der SPUR, der diesbezügliche Potlatch zwischen ihm und Jorn, noch deutlicher.316 Debord taktiert somit an verschiedensten Fronten: Mit Jorn versucht er, seine Position bezüglich des unitären Urbanismus gegen Constant durchzusetzen, was sich im Ausschluss der Holländer äußert und für Jorn zugleich eine Stärkung der Künstlerfraktion bedeutet - damit hat Debord bei Jorn etwas gut. Dieses ›Guthaben‹ nutzt er sogleich, um Constant in seiner Forderung nach Dezimierung ebendieser Künstlerfraktion entgegenzukommen, die ja auch in seinem Interesse liegt. Um seinen ›Kredit‹ bei Jorn jedoch nicht überzustrapazieren, nimmt er nicht die Gruppe SPUR - die zu diesem Zeitpunkt noch stark von Jorn protegiert wird - ins Visier, sondern begnügt sich (zunächst) mit dem Ausschluss der drei Italiener, in der Hoffnung, Jorn nicht zu brüskieren317 und Constant damit zufrieden zu stellen: »J’espère tout de même que ceci [der Ausschluss der drei Italiener, M.O.] te rassurera, s’il est encore possible de te rassurer - et surtout dans la mesure où tu m’avais dit naguère qu’une rupture avec Pinot [Gallizio, M.O.] ne serait jamais acceptée par les autres situationnistes.«318 Dieses Entgegenkommen genügt Constant jedoch nicht, er fühlt sich in der S.I. isoliert, kritisiert weiterhin den Ausschluss der Holländer und verlangt, diesen nochmals zu überdenken. Dies jedoch kommt für Debord - aber auch für Jorn - nicht in Frage. Die Bereitschaft zum Entgegenkommen, zur Beweglichkeit innerhalb bzw. zwischen verschiedenen Theoriepositionen hat hier ihre Grenze - nicht zuletzt vor dem Hintergrund der eigenen theoretischen Position bezüglich der Endgültigkeit bzw. Richtigkeit aller Ausschlüsse aus der S.I. Nun ist es Constant, der versucht, sich mittels eines Kompromisses Debord und Jorn anzunähern und sich nicht gleich völlig aus der S.I. zurückzuziehen. Wie sich jedoch schnell zeigt, ist dieser Versuch vergeblich - und auch hier wird in erster Linie auf Basis der eigenen Theoriepositionen argumentiert. 314 | Debord (1999), S. 333, an Giuseppe Pinot-Gallizio, 6.5.1960. 315 | Ibidem, an Giuseppe Pinot-Gallizio, 6.5.1960. 316 | Hier wird zudem deutlich, dass Ausschlüsse zwar stets theoretisch begründet werden, sie aber bei Bedarf aus taktischen Aspekten aufgeschoben werden können - sei es aus Rücksicht auf die Interessen anderer Mitglieder oder aufgrund strategischer Überlegungen bezüglich der weiteren Entwicklung der Gesamtgruppe. So verzichtet Debord im Juli 1960 auf Drängen Jorns vorerst auf den eigentlich von ihm für notwendig erachteten Ausschluss der SPUR (vgl. ibidem, S. 350, an Asger Jorn, 6.7.1960). 317 | Denn mit dem Ausschluss der drei Italiener ist Jorn sofort einverstanden: »Jorn a été le premier partisan de cette mesure d’exclusion.« (Ibidem, S. 338, an Constant, 2.6.1960). 318 | Ibidem, S. 339, an Constant, 2.6.1960.
Die S.I. im Spannungsfeld von Theorie und Praxis | 295 »Constant erklärte damals, im selben Monat Juni, dass er sich, da er mit der S.I. Disziplin nicht einverstanden sei, seine Freiheit in dieser Hinsicht und für eine Zeit wiedernehmen wolle, deren Dauer durch die folgenden Ereignisse bestimmt sein würde. Darauf erwiderten wir, dass - ausserhalb irgendeines Gedankens der Feindseligkeit bzw. der Schuld - es der Sinn einer PRAKTISCHEN WAFFE, für den wir seit langem bei jedem durch die S.I. verzeichneten Bruch gesorgt haben, nur erlaube, sofort zwischen einem endgültigen Rücktritt und dem Verzicht auf diese Form des Drucks zu wählen. Constant hat gewählt und die S.I. verlassen.«319
Neben den aufgezeigten inhaltlichen Konflikten ist ein weiteres Grundproblem beim Austritt Constants darin zu sehen, dass er und Debord bzw. die S.I. eine sehr unterschiedliche Auffassung vom Austritt und seinen Konsequenzen haben. Dabei wird bei Constant das Problem der Sozialität des Solitären deutlich, da er sich nach dem Ausschluss der Architekten in der S.I. bezüglich seiner Ziele und Ideen genau so isoliert fühlt wie vor seiner Mitgliedschaft und daher der Zugehörigkeit der Gruppe nichts Positives mehr abgewinnen kann.320 Dies gedenkt er dadurch zu lösen, dass er seine Mitgliedschaft zeitweise ruhen lässt, ohne sie grundsätzlich in Frage zu stellen. »Er sieht sich durch die S.I. nicht angemessen repräsentiert. Er möchte vorläufig von seinen ›Ämtern‹ zurücktreten. Debord macht ihm klar, dass es gegenüber der S.I. nur eindeutige Entscheidungen gibt. Daraufhin geht Constant.«321 Constant sieht sich und seine Positionen also nicht grundsätzlich im Widerspruch zur S.I., kann sich jedoch in der momentanen Konstellation kein Engagement in der Gruppe vorstellen.322 Ein solches temporäres ›Auf-EisLegen‹ kommt für eine ›heiße Gruppe‹ wie die S.I. jedoch nicht in Frage - so wie der Eintritt und die Mitgliedschaft volles Engagement verlangt, kann auch der Austritt oder Ausschluss keine halbe Sache sein, sondern muss eine klare, eindeutige und dauerhafte Grenzziehung beinhalten. »Au cas où tu maintiendrais ta démission, il est bien entendu que ce serait une démission décidée par toi seul, et en rien une ›exclusion‹; [...] mais que ce serait un choix public et definitif (car nous avons malheureusement trop à lutter de tous côtés pour laisser émousser la seule arme qui garantisse notre rigueur: le caractère definitif d’une sortie de l’I.S. - qui permet, par exemple, d’assurer que maintenant Pinot [Gallizio, M.O.] ne reparaîtra pas).«323
Eine solche klare Aussage findet sich jedoch in Constants Brief gerade nicht, er wirkt bei aller Kritik an den aktuellen Ereignissen um die Architekten und die Italiener unentschlossen. Dies erstaunt umso mehr, als er mit Blick auf die Künstler in der S.I. Debord gerade dessen Opportunismus vorwirft und betont, dass es Situationen gebe, in denen eine klare 319 | Situationistische Internationale (1960g), S. 164. 320 | Vgl. Constant (1960b). 321 | Ohrt (1997), S. 218. 322 | Vgl. Constant (1960b). 323 | Debord (1999), S. 339, an Constant, 2.6.1960, Hervorh. im Orig.
296 | Situationistische Internationale
Entscheidung notwendig sei.324 Er selbst jedoch ist zu einer solchen eindeutigen Entscheidung zunächst auch nicht fähig und fasst lediglich einen zeitweisen Rücktritt ins Auge - die endgültige Entscheidung darüber jedoch überlässt er Debord.325 Da die Option des zeitweisen Rücktritts im Rahmen der S.I. nicht vorgesehen ist, muss Debord dies als Austrittsgesuch oder Austrittsandrohung lesen. Allerdings ist er, ganz in der Art des strategischen Spielers, nicht sofort bereit, diesen Austritt zu akzeptieren, er spricht von ihm zunächst nur im Konjunktiv und versucht weiterhin, Constant doch noch zur Mitarbeit in der S.I. zu bewegen und verbleibt »[a]vec l’espoir d’une décision positive de ta part, si tu la juges possible.«326 Debord unterscheidet klar zwischen einem wirklichen Bruch im Sinne des Verlusts der gemeinsamen Basis und vorübergehenden Differenzen bezüglich einzelner inhaltlicher Punkte. Er gibt Constant die Möglichkeit zu einer erneuten Stellungnahme, gibt ihm Zeit, seine Entscheidung und ihre Konsequenzen zu überdenken - d.h. im Klartext, dass er die Entscheidung bzw. die Verantwortung für eine solche an Constant zurückgibt. Hier beginnt eine Art ›Verweigerungspotlatch‹ bezüglich der Entscheidung, mit dem er auch Constants Opportunismusvorwurf abwehrt: »Car tu sais bien que j’ai toujours pensé qu‹ ›il y a des moments où il faut savoir choisir‹; que tu n’as donc pas à me l’apprendre: et que s’il y a eu un certain opportunisme dans l’I.S., j’ai été de ceux qui le contrebalançaient (toi aussi).«327 Bis zum Eintreffen dieser eindeutigen Antwort ist er sogar bereit, sich über das Öffentlichkeits-Gebot hinwegzusetzen: »Je crois, que je dois attendre avant de diffuser ta lettre de démission du 1er juin. Je te demande de m’écrire au plus vite si, connaissant la fin de l’affaire Pinot, tu en maintiens les termes, ou non.«328 Auch wenn hier deutlich wird, dass Debord nicht bereit ist, sich von Constant durch die Androhung seines Austritts unter Druck setzen zu lassen, überlässt er ihm dennoch weiterhin die Entscheidungsmacht. Allerdings sind dabei gewisse Forderungen Debords bezüglich der Art und Weise des Umgangs miteinander bzw. der Diskussionskultur erkennbar. So stellt er mit Blick auf Constants aggressive und von Vorwürfen geprägte Argumentation329 fest: »Ce genre de dialogue, entre nous, doit cesser maintenant, d’une manière ou d’une autre. À toi de choisir cette manière.«330 Trotz dieser angespannten Stimmung hält Debord Constant also zu324 | Vgl. Constant (1960b). 325 | Vgl. ibidem. Constant beginnt zu taktieren, er schiebt Debord den schwarzen Peter der Entscheidung zu, setzt ihn unter Druck, stellt ihn vor die Alternative ›die Maler oder ich‹. 326 | Debord (1999), S. 339, an Constant, 2.6.1960. 327 | Ibidem, an Constant, 2.6.1960, Hervorh. im Orig. 328 | Ibidem, an Constant, 2.6.1960, Hervorh. im Orig. 329 | Die Vorwürfe beziehen sich auf die mangelhafte Informationspolitik Debords in der Affaire Pinot-Gallizio sowie auf seine fehlende Einbindung bei der Redaktion der Nr. 4 der I.S. (vgl. Constant (1960b)). 330 | Debord (1999), S. 339, an Constant, 2.6.1960, Hervorh. im Orig.
Die S.I. im Spannungsfeld von Theorie und Praxis | 297
nächst weiterhin die Tür zur S.I. offen und betont selbst für den Fall einer negativen Entscheidung Constants seine prinzipielle Kooperationsbereitschaft. Vor allem jedoch stellt er klar fest, dass es sich um einen Austritt, nicht aber um einen Ausschluss handelt und daher weiterhin ein freundschaftlicher Kontakt prinzipiell möglich ist und unterstreicht dies auch mit seiner Schlussformel: »En tout cas, amicalement, Guy«.331 Doch Constant ist mit dieser Antwort nicht zufrieden, im Gegenteil, er wiederholt und bekräftigt seine Vorwürfe, Debord lasse sich von einer Bande ambitionierter Maler missbrauchen und sei nicht in der Lage, die Konsequenz, von der er bezüglich des Bruchs spricht und die Constant von ihm verlangt, in die Praxis umzusetzen.332 Was hier im Hintergrund abläuft, ist die bereits bei Constants Eintritt erkennbare Auseinandersetzung zwischen ihm und Jorn, eine Konstellation, die sich durchaus als Eifersucht, als Buhlen um den Status des engsten Vertrauten Debords auffassen lässt. Constants Fragen an Debord weisen jedenfalls eindeutig in Richtung Jorn, auch wenn der Name nicht fällt. Constant versucht, Debord diesen Namen zu entlocken, indem er wieder und wieder fragt, wer Debord zu den für ihn unverständlichen Entscheidungen in Bezug auf die S.I.-Ausstellung in Amsterdam, den Ausschluss Pinot-Gallizios, die Publikation einer Monographie des Letzteren etc. bewogen hat.333 Für Constant erscheint das Verhalten Debords mehr als nur widersprüchlich, da dieser von klaren Brüchen und dem Kampf gegen den Opportunismus in der S.I. spricht, sich aber in Constants Augen im Verhältnis zu den Künstlern genau gegenteilig verhält - fast so, als sei er ›ferngesteuert‹. Von Jorn.334 Constant stellt Debord erneut vor die Alternative, sich zwischen dem unitären Urbanismus und der Kunst zu entscheiden und hält seinen Verbleib in der S.I. nur dann für möglich, wenn Debord bereit ist, mit ihm auf der Basis der Amsterdamer Erklärung zusammenzuarbeiten. Den Glauben an eine solche Zusammenarbeit hat er jedenfalls noch nicht verloren.335 Debords Reaktion auf diese Vorwürfe und Wahloptionen Constants beendet seine bislang erkennbare Verhandlungs- und Kooperationsbereitschaft jedoch abrupt und macht deutlich, dass aus seiner Perspektive die Entscheidung für oder gegen die S.I. bei Constant schon längst ge331 | Debord (1999), S. 339, an Constant, 2.6.1960, Hervorh. M.O. 332 | Vgl. Constant (1960e). 333 | Vgl. ibidem. 334 | Ganz falsch liegt Constant mit dieser Vermutung nicht - zumindest was die geplatzte Ausstellung der S.I. im Stedeleijk Museum in Amsterdam betrifft. Hier steht Jorn bereits bei der Planung im Austausch mit Debord (vgl. Debord (1999), S. 296, an Asger Jorn, 8.1.1960 sowie ibidem, S. 307, an Asger Jorn, 2.2.1960) und ist die treibende Kraft hinter der Absage. Denn es war Jorn, der mit dem Museumsdirektor Willem Sandberg verhandelte. Dieser erinnert sich: »Aber plötzlich, mitten in der Sache, platzte Jorn in mein Büro und sagte: ›Ich mag diese Ausstellung nicht. Ich will damit nichts mehr zu tun haben.‹ [...] [E]r wollte die Ausstellung boykottieren.« (Willem Sandberg zitiert in: Ohrt (1997), S. 220, dänisches Original in Andersen (1982), S. 129). 335 | Vgl. Constant (1960e).
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fallen ist, auch wenn dieser in seinen letzten zwei Briefen immer noch abzuwägen scheint, ob er seinen Weg innerhalb oder außerhalb der Gruppe fortsetzen solle. Dieser Unterschied zwischen Debords und Constants Wahrnehmung der aktuellen Lage wird zunächst einmal dadurch deutlich, dass Debord Constant gut zwei Wochen auf eine Antwort warten lässt und dann gleich zu Beginn seines Briefes sehr deutliche Worte findet, die das Herumlavieren beenden sollen. »D’autres choses étaient urgentes, et beaucoup moin la réponse à ta lettre du 6 juin, parce qu’elle paraît avoir été elle-même une réponse définitive qui clôt notre débat. Il faut pourtant le dire clairement. En écrivant que ›dans ce qui reste de l’I.S., actuellement, il serait trop ridicule de parler d’exclusion ou de démission‹, tu confirmes d’une manière éclatante et sans réplique que tu te places en dehors de l’I.S., comme m’en informait déjà ta lettre du 1er juin.«336
Vor allem die laxe und herablassende Haltung von Constant bezüglich der für die S.I. zentralen Frage von Austritt und Ausschluss verdeutlicht somit für Debord Constants Distanz zur Gruppe - genau wie dies für Debord bereits in Constants Brief vom 1.6.1960 an seiner Verweigerung, in der oder für die S.I. irgendeine Verantwortung zu übernehmen, erkennbar war. Ähnlich problematisch ist für Debord die Tatsache, dass Constant immer noch die ›Endgültigkeit‹ eines möglichen Austritts in Frage stellt und sich damit gegen die diesbezüglichen, grundsätzlichen theoretischen Überlegungen der S.I. stellt. Dass Debord zunächst noch zur Diskussion bereit ist, lässt sich damit erklären, dass er hofft, durch die Klärung der Affaire um den Ausschluss von Pinot-Gallizio könnten die Probleme mit Constant aus der Welt geschafft werden. Als sich diese Hoffnung jedoch nicht erfüllt, wirft er Constant sein taktisches Abwarten vor, da es bei ihm mit einer Infragestellung der Endgültigkeit des Austritts/Ausschlusses einhergeht: »Connaître l’exclusion de Pinot [Gallizio, M.O.] n’a rien changé à ta décision. J’en prends note. Tu semblais préférer, quand nous t’avons vu à Amsterdam, que les aventures de Pinot nous conduisent tous à une indulgence généralisée: garder Pinot, plus Oudejans retrouvé. C’est ton affaire. Moi, je ne veux ni Pinot, ni Oudejans, ni leurs amis.«337
Was Debord Constant also in erster Linie vorwirft, ist dessen strategische Kompromissbereitschaft, die soweit reicht, dass er, um die Architekten möglicherweise doch wieder in die S.I. zurückzuholen, auch bereit ist, die Künstler vorerst in der Gruppe zu belassen. Der Vorwurf richtet sich nicht gegen das Taktieren an sich, sondern gegen dessen Konsequenzen. Denn Debord selbst ist ebenfalls ein Stratege, der auch vor Ausschlüssen nicht zurückschreckt, allerdings scheint es ihm dabei - und hier werden 336 | Debord (1999), S. 340, an Constant, 21.6.1960. 337 | Ibidem, an Constant, 21.6.1960.
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grundlegende Differenzen zu Constant und zugleich seine Nähe zur Vorgehensweise von Jorn deutlich - zumindest nicht nur um die Stärkung der eigenen Position oder Fraktion zu gehen, sondern auch um eine auf das Gesamtprojekt S.I. bezogene Strategie. »Je suis avec l’I.S. et, aussi longtemps que j’y serai, j’y garderai le minimum de discipline qui exclut toute collaboration avec des éléments incontrôlés.«338 In Bezug auf die in Constants Überlegungen deutlich erkennbaren Konflikte zwischen individuellen und kollektiven Interessen und Zielen zeigt Debord jedoch durchaus Verständnis und verweist in diesem Zusammenhang auf den oben angesprochenen Aspekt der Freiheit des Einzelnen, die die S.I. auch dann zu respektieren habe, wenn sie aus der Gruppe hinausführt: »L’I.S., qui ne retient personne, n’est propriétaire de rien - ou seulement de son exigence de totalité.«339 Was Debord Constant jedoch vorwirft, ist dessen zögerliche Haltung, die zudem den für eine Mitgliedschaft in der S.I. ebenfalls zentralen Aspekt der Transparenz vermissen lässt. »Reprendre sa liberté vis-à-vis d’un mouvement avec lequel on n’est plus d’accord est parfaitement honorable: c’est même un devoir évident. Je regrette alors, que tu aies cessé, au dernier moment, de le dire franchement et naturellement.«340 Zudem nimmt er zu Constants ›Manipulationsvorwurf‹ Stellung, leitet ihn implizit aus Constants Eifersucht ab und bringt mit Blick auf die in der S.I. erkennbaren Fraktionsbildungen den Begriff der Freundschaft ins Spiel - allerdings genau wie Constant, ohne hierbei explizit den Namen Jorn zu erwähnen. »Je ne trouve naturel non plus de voir qualifier certains de mes amis de ›peintres ambitieux‹, et moi de dupe. [...] La passion t’égare. [...] [S]i tu rejettes en bloc mes amis, j’ai les plus sérieuses raisons de tenir à distance les tiens.«341 Auch wenn sich also die Differenzen zwischen Constant und Debord immer mehr vom inhaltlich-strukturellen Bereich auf den der interpersonellen Beziehungen ausweiten, hält Debord an seiner prinzipiellen Gesprächsbereitschaft mit Constant fest - auch und gerade, da diese nun nicht mehr innerhalb der S.I., sondern über deren Grenze hinweg stattfindet. Hier wird wieder deutlich, dass der Austritt, auch wenn er ebenso endgültig ist wie ein Ausschluss, gegenüber Letzterem für beide Seiten den Vorteil hat, dass er nicht zwangsläufig einen Kontaktabbruch zur Folge hat und somit der Ideenpotlatch - wenn auch in neuer Konstellation - fortgesetzt werden kann. Die Entscheidung über Ausmaß und Art des Kontakts überlässt er dabei wiederum Constant; ein letztes Mal wird hier die Entscheidungsmacht hin- und hergeschoben. »Les relations entre nous peuvent se placer sur divers terrains, depuis la coexistence bienveillante, particulièrement en ce qui concerne l’échange d’information et documents [...] jusqu’aux différents degrés de polémique. Je peux garantir, au 338 | Debord (1999), S. 341, an Constant, 21.6.1960. 339 | Ibidem, S. 342, an Constant, 21.6.1960, Hervorh. im Orig. 340 | Ibidem, S. 341, an Constant, 21.6.1960. 341 | Ibidem, an Constant, 21.6.1960, Hervorh. M.O.
300 | Situationistische Internationale nom des situationnistes, que c’est à toi que le choix sera laissé de chacun de ces terrains. Sur lesquels nous te suivrons aussitôt.«342
Constant trifft diese Entscheidung bereits zwei Tage später in einem Telegramm an Debord. Dabei verlässt er die bislang dominante inhaltliche und strategische Ebene der Diskussion und stellt die persönliche Ebene der Auseinandersetzung in den Mittelpunkt, wählt die von Debord ›angebotene‹ Polemik. Er greift Debords Vorwurf ›La Passion t’égare‹ auf und wirft ihm seinerseits vor, dass er sich von seiner Unentschlossenheit bezüglich der zu treffenden Entscheidungen verderben lasse,343 und setzt so unter die lange Zeit relativ produktiv geführte Diskussion einen zweizeiligen, endgültig erscheinenden Schlussstrich. Debord reagiert nicht auf dieses Telegramm, es herrscht gut sechs Wochen lang Funkstille. Doch Anfang August wendet sich Constant nochmals in einem langen Brief an Debord.344 Ganz entgegen der impliziten Aussage seines Telegramms betont er hier, dass er weiterhin an engen Beziehungen mit Debord und der S.I. interessiert sei und dies auch bereits deutlich gemacht habe. Bedingung hierfür sei jedoch das gegenseitige Vertrauen als Basis für einen solchen Austausch - genau dieses sieht Constant jedoch durch die Auseinandersetzung über seine Veröffentlichung von Debords Artikel Constant et la voie de l’urbanisme unitaire in Frage gestellt.345 Es handelt sich dabei um eine Diskussion, die bereits im Dezember 1959 zwischen Debord und Constant stattgefunden hatte und die eigentlich geklärt war. Nun aber, im Moment von Constants Austritt wird diese Debatte von Debord und ohne Absprache mit Constant in der I.S. wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Constant lässt verlauten, dass er Debord diese Provokation verzeiht, sofern sich solche Aktionen in der Zukunft nicht wiederholen und betont, dass er dann immer noch am Austausch mit Debord und der S.I. interessiert sei.346 Zugleich jedoch wird die Diskussion immer kleinlicher, es geht mehr und mehr um persönliche Differenzen und Missverständnisse sowie um kleine praktische Details, die die angespannte Stimmung verdeutlichen. So beschwert sich Constant zum Beispiel, dass er immer noch nicht die von ihm bestellten zehn Exemplare der Nr. 4 der I.S. erhalten habe und als Bedingung von der S.I. 200 Exemplare von seiner letzten Monographie eingefordert wurden. Er betont, dass ihm nur an einem Ideenaustausch gelegen sei, nicht aber am Handel mit Publikationen, und dass dieser Brief als Zeichen seines diesbezüglichen guten Willens zu verstehen sei.
342 | Debord (1999), S. 342, an Constant, 21.6.1960. 343 | Vgl. Constant (1960f). 344 | Vgl. Constant (1960d). 345 | Constant arbeitet sich in seinem Brief nochmals sehr detailliert an den diesbezüglichen Ereignissen und Stellungnahmen ab. Vgl. hierzu u.a. Situationistische Internationale (1960f) und Debord (1999), S. 284f., an Constant, 15.12.1959. 346 | Vgl. Constant (1960d).
Die S.I. im Spannungsfeld von Theorie und Praxis | 301
Das Spiel geht also weiter, jetzt ist - in den Worten Constants - wieder Debord am Zug.347 Debord reagiert seinerseits zunächst positiv auf Constants Angebot für einen weiteren Ideentausch: »[J]e souhaite que nos relations, du moment qu’elles ont quitté le terrain de l’I.S. se situent sur le plan le plus amical possible. Je suis content que tu répondes maintenant dans ce sens.«348 Interessant ist die hierbei erkennbare implizite Gegenüberstellung von Mitgliedschaft und Freundschaft: Ab dem Moment, wo sich die Beziehung Debord-Constant nicht mehr innerhalb des Rahmens der S.I. befindet und somit die daraus entstehenden inhaltlichen Differenzen ausgeklammert werden können, sind weiterer Austausch und freundschaftliche Beziehungen wieder möglich. Der Austritt, die Herauslösung der dyadischen Beziehung aus dem Gruppenkontext, scheint somit in diesem Fall das Weiterbestehen einer interpersonellen Beziehung zu ermöglichen. Das teilweise explosive Aufeinandertreffen von persönlichemotionalen und inhaltlichen Differenzen innerhalb der Gruppenkonstellation kann nun umgangen werden und zu einer Entspannung der interpersonellen Beziehung führen: »[P]endant nos dernières discussions dans l’I.S., j’ai essayé avec patience de modérer chez toi des réactions qui me semblaient aggraver les oppositions réelles, je n’ai heureusement plus rien à faire de tel maintenant. Je n’ai aucunement à juger ou à orienter l’attitude que tu prendras vis-à-vis de l’I.S.«349 Um die für die mögliche zukünftige interpersonelle Beziehung notwendige Vertrauensbasis zu schaffen, nimmt Debord nochmals Stellung zur Kontroverse um die Veröffentlichung von Constant et la voie de l’urbanisme unitaire und versucht, die diesbezüglichen Missverständnisse aufzuklären. Er macht deutlich, dass für ihn das Hauptproblem darin lag, dass Constant sein Vertrauen missbraucht habe: »[T]u m’as dit alors en présence de Maurice [Wyckaert, M.O.], que les coupures ne concernaient que quelque phrase du début. Je l’ai cru. Deux ou trois mois après seulement, je retrouve accidentiellement ce texte. Je compare [...] et je trouve que la fin aussi manque. Et que les coupures atteignaient presque la moitié du texte. Ceci étant en contradiction avec tes assurances, la responsabilité appartenait formellement à la galerie - qui aurait donc fait de nouvelles coupures. [...] Maintenant tu m’écris que le texte publié avait été réduit par toi-même à seulement un tiers du mien. Je ne peux pas discuter s’il s’agit exactement de 1/3, 6/10, ou la moitié. Mais ceci est loin de ce que tu m’as dit à la fin de janvier chez Maurice, et je ne sais que penser de ce nouveau malentendu.«350
Diese Kritik an Constants Verhalten des Wort- und Vertrauensbruchs und an seinen Verdächtigungen gegenüber Debord ist insofern einer 347 | Vgl. Constant (1960d). 348 | Debord (1999), S. 366, an Constant, 11.8.1960, Hervorh. im Orig. 349 | Ibidem, S. 368, an Constant, 11.8.1960. 350 | Ibidem, S. 367, an Constant, 11.8.1960, Hervorh. M.O.
302 | Situationistische Internationale
Entspannung der Lage nicht unbedingt förderlich, als sie selbst wiederum eine ganze Reihe von Verdächtigungen enthält. Genau diese aber lehnt Debord mit Blick auf den zukünftigen Austausch mit Constant strikt ab: »Mais dans la mesure seulement où tu sembles souhaiter comme moi que cette attitude soit réciproquement cordiale, et en tout cas correcte, il serait bon de détendre autant que possible l’actuelle ambiance de suspicion dans les idées et dans la pratique. Parce que si la suspicion est générale, c’est la polémique qui finira fatalement par l’emporter.«351
Auch zur Kritik Constants bezüglich des Inhalts und der Form ihrer zukünftigen Beziehung äußert sich Debord und betont, dass der Austausch von Informationen und Materialien ein wichtiger Bestandteil des zukünftigen Kontakts sein müsse. »Eine freundliche Plauderei interessiert Debord nicht«352 , ihm geht es um Inhaltliches. Die endgültige Entscheidung, ob ein solcher Austausch zustande kommt, wird aber wieder Constant überlassen, nicht ohne jedoch damit eine deutliche Kritik an seinem bisherigen Verhalten zu verbinden: »Mais c’est à toi de choisir, et tu n’avais encore rien répondu. J’ai vu assez souvent dans le passé des désaccords aller vite à l’extrême (se transformer, du simple refus d’être engagés collectivement sur tout un programme et sa tactique de réalisation, en un refus de toute relation), et tu as toi-même manifesté parfois une tendance à l’emportement, qui peut maintenant aboutir à un tel choix.«353
Doch trotz dieser Kritik scheint Debord noch daran zu glauben, dass die Beziehung zu Constant aufrechterhalten werden kann, sofern es gelingt, die gegenseitigen Verdächtigungen und die feindselige Grundhaltung hinter sich zu lassen. Dass eine solche aber eben auch seinen eigenen Brief prägt, wird an Constants Reaktion gut eine Woche später deutlich.354 Denn auch wenn bezüglich des Austauschs von Publikationen ein Einverständnis erzielt werden kann, greift Constant die Debatte um die Veröffentlichung von Constant et la voie de l’urbanisme unitaire355 nochmals auf; inhaltlich kommen jedoch keine neuen Argumente mehr hinzu, man dreht sich weiterhin im Kreis wechselseitiger Anschuldigungen und gegenseitigen Misstrauens. Den Widerspruch zwischen der inhaltlichen Aussage und dem Tonfall von Debords letztem Brief nimmt Constant zum Anlass, Debord vorzuwerfen, das Interesse an einem weiterhin ausgeglichenen Verhältnis nur vorzutäuschen.356 Zugleich beklagt er mit Blick auf die S.I., dass diese ihren ›linken‹ Flügel aufgegeben 351 | Debord (1999), S. 368, an Constant, 11.8.1960. 352 | Ohrt (1997), S. 218. 353 | Debord (1999), S. 368, an Constant, 11.8.1960. 354 | Vgl. Constant (1960c). 355 | Vgl. Debord (1959a). 356 | Vgl. Constant (1960c).
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habe, indem sie die Mitarbeit der Architekten und Urbanisten unmöglich gemacht hat. Doch trotz dieser eigentlich klaren Worte in Richtung Debord und S.I. scheint es Constant schwer zu fallen, sich endgültig von seinen bisherigen Mitstreitern loszusagen. Denn er schließt mit der Hoffnung, dass Debord eines Tages die Austragung der von ihm angesprochenen ›oppositions réelles‹ vermissen und die gemeinsame ›avantgardistische Tätigkeit‹ eventuell wieder aufnehmen werde, anstatt sie zu beschneiden.357 Diese Hoffnung wir jedoch von Debord wenige Tage später enttäuscht. Die Reihe der gegenseitigen Vorwürfe ändert ein weiteres Mal die Richtung und verlängert sich. »Je ne veux pas développer une polémique sur divers détails du passé. Ma dernière lettre ne te reprochait rien. [...] Il me semble que tu l’as lue, et que tu as répondue plutôt dans une perspective de polémique étant donné le terme ›abus de confiance‹.«358 Der abermals geäußerte Hauptvorwurf Debords bezieht sich auch in diesem Brief auf das zögerliche, taktierende und intransparente Verhalten von Constant bezüglich seiner Austrittsentscheidung.359 Damit verbunden ist ein weiterer zentraler Aspekt der langwierigen Auseinandersetzung zwischen Debord und Constant, der sich auf das Verhältnis zwischen der emotionalen und der inhaltlichen Ebene der geführten Debatten bezieht. Aufschlussreich ist hierbei die Diskussion über den Begriff ›modérer‹, bei der es sich wohl schlicht um ein Missverständnis handelt wenn auch eines mit weitreichenden Folgen. »Enfin, si je t’ai beaucoup conseillé la modération en une occasion, il ne s’agissait pas de modérer tes positions avant-gardistes [...]. Je te conseillais de dire avec calme ce que tu voulais irréductiblement; l’exclusion de Pinot? ou quoi d’autre (le retour de Oudejans)? - et je pense que même si tu voulais simplement rompre avec l’I.S. en tout cas, on aurait tous gagné du temps si tu l’avais dit froidement.«360
Debord bezieht sich also bei der Verwendung des Begriffs ›modérer‹ vor allem auf die Notwendigkeit, innerhalb des Gruppenkontexts die emotionalen Reaktionen der Beteiligten zu mäßigen, damit diese nicht die in Wirklichkeit nicht allzu großen inhaltlichen Differenzen überlagern oder gar vergrößern; Constant jedoch fasst - wie dies in seinem Brief vom 21.8.1960 deutlich wird - diesen Begriff dahingehend auf bzw. unterstellt Debord, dass es ihm um eine Abschwächung eben dieser inhaltlichen Positionen und somit um ein Abrücken vom avantgardistischen Projekt 357 | Vgl. Constant (1960c). 358 | Debord (1999), S. 371, an Constant, 24.8.1960. 359 | Berücksichtigt man Debords eigene Vorliebe fürs Taktieren und seine in Bezug auf die mögliche Ausgestaltung des zukünftigen Verhältnisses zu Constant ebenfalls alles andere als direkte und zielstrebige Haltung, so ist dieser Vorwurf nicht ganz unproblematisch bzw. ließe sich eigentlich auch in Richtung auf Debord selbst vorbringen. 360 | Ibidem, an Constant, 24.8.1960, Hervorh. M.O.
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gehe; ein Vorwurf, den Debord so nicht akzeptieren kann. Dennoch und dies spricht wieder einmal für Debords Geduld und Verhandlungsbereitschaft - scheint er weiterhin zu einem herzlichen gegenseitigen Umgang in der Zukunft bereit zu sein, wenn er dieser Bereitschaft auch eine deutliche Warnung hinterherschickt, die verdeutlicht, dass er eine klare Trennung sowohl zwischen der persönlich-emotionalen und der inhaltlichen Ebene sowie zwischen einer privat und einer öffentlich ausgetragenen Auseinandersetzung für unabdingbar hält: »Et il n’est pas douteux que la suite de lassantes disputes privées sur des points particuliers du passé nous entraînerait à une polémique publique et générale, au contraire.«361 Trotz aller bis hierhin erkennbaren Verhandlungsbereitschaft schließt Debord somit die Diskussion mit einer Drohung denn dies sollte sein letzter Brief an Constant gewesen sein. Einmal noch meldet sich Constant zu Wort, einmal noch wendet er sich in einem Brief an Debord362 und verzichtet dafür darauf, eine offizielle Stellungnahme zu seinem Austritt an die S.I. zu richten - und akzeptiert somit Debords Trennung zwischen privat und öffentlich. Was nach dem bisherigen Verlauf der Auseinandersetzung und vor allem nach dem Tonfall in Debords letztem Brief überrascht, ist die Sachlichkeit, die Nüchternheit, mit der Constant hier argumentiert - das Missverständnis bezüglich des ›modérer‹ scheint also aus der Welt geräumt zu sein, und Constant verlagert die Diskussion wieder von den eher emotionalen auf die inhaltlichen Fragen. Er arbeitet sich nochmals Schritt für Schritt an der offiziellen Mitteilung zu seinem Austritt in der I.S. ab; sein Brief an Debord hat also, sowohl was den Tonfall als auch was den Inhalt angeht, den Charakter der ursprünglich von Constant ins Auge gefassten offiziellen Stellungnahme. Er betont, dass er niemals den Ausschluss von Pinot-Gallizio gefordert habe, da dieser nicht für die ihm vorgeworfenen Fehler verantwortlich gemacht werden könne.363 Die erste Behauptung der S.I., seinem Austritt hätten strategisch-taktische Überlegungen zugrunde gelegen, weist er somit deutlich von sich. In dieselbe Richtung verweist auch seine Anmerkung, dass er keine Opposition in der S.I. repräsentiert habe, sondern sich in ihr vielmehr stets isoliert sah - denn mit dieser Andeutung distanziert er sich implizit von den holländischen Architekten und den mit ihrem Ausschluss möglicherweise verbundenen taktischen Manövern seinerseits. Im Folgenden hebt er vor allem die inhaltlichen Differenzen hervor und bezieht sich dabei abermals auf die Amsterdamer Erklärung. Diese ist für ihn das Dokument, in dem das grundlegende inhaltliche Einverständnis zwischen ihm und Debord bzw. der S.I. formuliert wurde und das somit den Rahmen seiner Mitgliedschaft in der S.I. absteckt. Diese Übereinstimmung sei jedoch innerhalb der S.I. nie umgesetzt worden, im Gegenteil: Mit der Unterstützung der Ausstellung von Pinot-Gallizio in Amsterdam 1960 habe die S.I. offen 361 | Debord (1999), S. 372, an Constant, 24.8.1960. 362 | Vgl. Constant (1960c). 363 | Vgl. ibidem.
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gegen Punkt drei dieser Erklärung verstoßen, in dem die Kollektivität des ›Projekts S.I.‹ gegenüber der individuellen Tätigkeit gestärkt wurde.364 In einem weiteren zentralen Aspekt jedoch geht Constants Brief deutlich über eine Stellungnahme zur Austrittsmitteilung hinaus: in seiner Kritik an den theoretischen Positionen Jorns. Nachdem er seine prinzipielle Wertschätzung für Jorn zum Ausdruck gebracht hat, expliziert er zunächst seine inhaltliche Kritik an Jorn, wie er sie bereits zu Zeiten seiner Mitgliedschaft in der S.I. geäußert hatte.365 Hauptkritikpunkt ist wiederum der individualistische Aspekt der künstlerischen Tätigkeit, die dem kollektiven Charakter der S.I. sowie Constants Auffassung einer nur kollektiv erreichbaren kulturellen und gesellschaftlichen Veränderung entgegensteht.366 Vor allem aber greift er hier nochmals explizit auf, was in vielen seiner bisherigen Briefe implizit mitschwang: die Kritik an Jorn bezüglich seines in Constants Augen negativen Einflusses auf Debord. Er wirft Jorn vor, sich zum Reaktionär zu entwickeln und Debord auf diesem Weg mitzureißen. So diagnostiziert Constant bei Debord eine negative Entwicklung: Constant hält Debords theoretische Ansätze aus der Zeit vor der S.I. bzw. bis zum Rapport als deren ›Gründungsdokument‹ für wesentlich wertvoller und revolutionärer als alles, was Debord innerhalb der S.I. zu Stande gebracht habe. Eine Gruppe aber, die zu einer solchen ›Mäßigung‹ der Ideen ihrer fortschrittlichsten Mitglieder führt, ist für ihn zum Scheitern verurteilt, und er hat kein Interesse, sich und seine Ideen in einen solchen Kontext einzubringen. Was hier wieder deutlich wird, ist das bei Constant sehr präsente Problem der ›Sozialität der Solitären‹, allerdings auf einer höheren Ebene, da er prinzipiell gerade ein Verfechter eben dieser kollektiven Handlungsweise ist und ihr Scheitern für ihn umso ernüchternder sein muss. Das Entscheidende jedoch ist, dass er die einschränkende Wirkung der Gruppe für den Einzelnen und ihre Tendenz, Radikalität abzuschwächen, hier nicht nur der abstrakten Einheit der Gruppe zuschreibt, sondern für diese Entwicklung mehr oder weniger explizit den Einfluss einzelner Mitglieder - in diesem Fall von Jorn - verantwortlich macht.367 Constant möchte sich daher aus dem Rahmen der S.I. befreien, nicht zuletzt, um mit Debord weiterhin in Kontakt bleiben und die durchaus vorhandenen gemeinsamen Ideen weiterentwickeln zu können, ohne dass dabei mit Jorn ein Dritter, sei es im Hintergrund oder in einer aktiven Rolle, mitmischt. Denn auch in diesem letzten Brief bringt Constant, in Anlehnung an Bernsteins Überlegungen zur Wiederaufnahme des Kontakts unter anderen Umständen368 , die Hoffnung zum Ausdruck, dass sich sein Weg und derjenige Debords noch einmal außerhalb der S.I. kreuzen werden. 364 | Vgl. Constant (1960c). 365 | Auch bei Constant ist somit eine klare Trennung zwischen privat und öffentlich bzw. zwischen persönlicher Sympathie und inhaltlicher Übereinstimmung erkennbar. 366 | Vgl. ibidem. 367 | Vgl. ibidem. 368 | Vgl. Bernstein (1958b), S. 32.
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Dieser letzte Brief von Constant, den er knapp drei Monate nach dem Beginn der Diskussion und nachdem sein Austritt bereits in der I.S. verkündet worden ist, an Debord schreibt, ist genau die Stellungnahme, die man gleich zu Beginn, sei es als Austrittserklärung oder spätestens als Reaktion auf die Austrittsmeldung in der I.S. erwartet hätte. Insofern liegt Debord mit seinem an Constant gerichteten Vorwurf der Unentschlossenheit und des taktischen Herauszögerns nicht ganz falsch - ist doch in den drei Monaten der Auseinandersetzung inhaltlich nichts Wesentliches diskutiert worden, was sich nicht durch diesen letzten Brief Constants und eine (nie geschriebene) Antwort Debords hätte klären lassen. Auffällig ist das bei Constant bis zum Schluss erkennbare Ringen um weiteren Austausch mit Debord auch nach seinem Austritt aus der S.I.: »Er glaubt, privat noch Kontakt zu Debord halten zu können, aber das stellt sich als Irrtum heraus.«369 Dass dieses Ringen um weiteren inhaltlichen Austausch nicht von Erfolg gekrönt ist, obwohl ein solcher doch nach einem Austritt prinzipiell möglich ist, dürfte verschiedene Gründe haben. Eine Rolle spielt dabei das von Debord kritisierte Herauszögern einer endgültigen Entscheidung; ein transparenter, klarer Bruch Constants mit der S.I. hätte eher die Möglichkeit zu einer Neuordnung der Beziehung zu Debord gegeben als der von ihm unternommene Versuch der langsamen (Rück)Transformation der Mitgliedschaft in eine außerhalb des Gruppenrahmens angesiedelte interpersonelle Beziehung. Noch erfolgversprechender wäre aus Sicht von Debord und Jorn der Versuch gewesen, die innerhalb der Gruppe erkennbaren Differenzen und Spannungen als produktiven Streit aufzufassen, ihm nicht auszuweichen, sondern sich ihm innerhalb der Gruppe zu stellen. Doch statt den Versuch zu unternehmen, das spannungsvolle Nebeneinander zweier dyadischer Konstellationen innerhalb der Gruppe nutzbar zu machen, zielt Constants Verhalten darauf ab, seine Beziehung zu Debord dadurch aufrechtzuerhalten, dass er sie aus dem Gruppenkontext herauslöst und diesen somit der Dyade Debord-Jorn überlässt. Vor allem aber dürfte seine Kritik an Jorn eine entscheidende Rolle gespielt haben. Denn so verständlich die inhaltliche Kritik aus seiner eigenen theoretischen Position heraus ist, ist doch fraglich, ob sich eine interpersonelle Beziehung zwischen Constant und Debord jenseits der S.I. gerade dadurch etablieren lässt, dass man eine andere dyadische Beziehung kritisiert oder aufzulösen versucht. Denn implizit war es genau das, was Constant in der dreimonatigen Auseinandersetzung mit Debord immer wieder - mal indirekter mal direkter - versucht hat: die inhaltliche Differenz zwischen Urbanisten und Theoretikern einerseits und Künstlern andererseits in die Gegenüberstellung von Constant vs. Jorn zu überführen. Klarer formuliert, hat Constant Debord vor die Alternative ›er oder ich‹, Constant oder Jorn, gestellt. Diese Rechnung ist zwar aufgegangen, aber nicht so,
369 | Ohrt (1997), S. 218.
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wie Constant sich das vorgestellt hatte, denn - in den Worten der S.I. gesprochen - : ›Debord hat gewählt und Constant verlassen.‹ Endgültig. Versucht man, die langwierigen und kleinteiligen Auseinandersetzungen um den Austritt von Constant zusammenzufassen, so lässt sich vor allem festhalten, dass Constant eine Art ›Zwischenstellung‹ im Spannungsfeld von Austritt und Ausschluss einnimmt. Denn auch wenn der Hergang seines Austritts durchaus komplex ist und seine schnelle Verkündung in der I.S. für ihn doch beinahe wie ein Ausschluss gewirkt haben mag, so wird ihm doch formal die Möglichkeit zum Austritt und somit zunächst die Chance eingeräumt, auch nach dem Ende der Mitgliedschaft in der S.I. mit deren Mitgliedern (allen voran mit Debord) in Kontakt zu stehen. Die Art und Weise jedoch, wie er seinen Austritt begründet, die Tatsache, dass er seinen endgültigen Charakter nicht anerkennt und sich somit nicht nur auf der rein inhaltlichen, sondern auch auf der Organisationsebene mit wichtigen theoretischen Positionen der S.I. nicht einverstanden zeigt, führt dann dazu, dass genau diese Potentiale des Austritts, die in ihm implizierte Möglichkeit zur Fortsetzung des Potlatch, nicht genutzt werden. Denn in den auf den Austritt folgenden intensiven Diskussionen mit Debord wird im Grunde nur über den Austritt und über einen möglichen zukünftigen Austausch gestritten, ein wirklicher inhaltlicher Austausch findet jedoch nicht statt und kann auf einer solchen Basis von zu klärenden Missverständnissen und gegenseitigen Vorwürfen wohl auch nicht stattfinden. Diese relative Inhaltsleere der Debatte, ihre Blickrichtung in die Vergangenheit statt in die Zukunft, ist jedoch für Debord einer der Gründe, den Kontakt schließlich doch und sehr brüsk abzubrechen. Tritt man noch einen weiteren Schritt von den konkreten Ereignissen zurück, so lässt sich feststellen, dass Constant mit seinem Austritt und den Diskussionen darüber versucht, sich am Strategiespiel von Debord und Jorn zu beteiligen. Dabei jedoch verkalkuliert er sich, da er dessen unausgesprochene Regeln nicht kennt und übersieht, dass dieses Spiel vor allem auf zwei Grundlagen beruht: einmal darauf, dass sich die Spieler einen größtmöglichen Freiraum gewähren, der sich jedoch innerhalb des ›Spielfelds‹ S.I. (bzw. im Einklang mit ihrer Definition dieses Spielfelds) befinden muss; und zum anderen darauf, dass dieser Freiraum als Grundlage des Potlatch dienen muss und auf einem ausgeprägten gegenseitigen Vertrauen basiert, das auf Ehrlichkeit und Offenheit angewiesen ist. Debord und Jorn spielen ein Strategiespiel, bei dem der spielerische Aspekt und derjenige der Strategie gleichwertig zu sein scheinen - und sie spielen dieses Spiel mit relativ offenen Karten. Constant hingegen spielt um der Strategie willen und ist zur Verschleierung bereit. Debord und Jorn spielen und taktieren nicht nur in der Gruppe, sondern auch für die Gruppe - und dies selbst dann, wenn sich dieses Spiel gegen langjährige und vertraute Mitstreiter richtet. Constant hingegen taktiert und spielt, um die Gruppe nach Bedarf betreten oder verlassen zu können, um das Verhältnis seiner individuellen Interessen und den Gruppen-
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interessen nach seinem Geschmack zu beeinflussen. Debord und Jorn leiten das Spiel und seine Regeln aus ihrer Vorstellung von der Gruppe und ihrer Funktionsweise ab, Constant leitet das Spiel und seine Regeln aus seinem Interesse an der Gruppe ab. Bei Debord und Jorn ist die Gruppe das Ziel des Spiels, sie spielen für die Gruppe; für Constant ist sie Mittel zum Spiel, er will mit ihr spielen. Und genau das wird ihm verweigert, und er verlässt das Spielfeld. Doch nicht nur für Constant als einem der zentralen Mitglieder der Anfangsphase der S.I. werden die Konflikte innerhalb der Gruppe bzw. die Differenzen zwischen den eigenen Zielen und Theoriepositionen und denen der Gruppe schließlich so groß, dass sie sich nur durch eine Überschreitung der Gruppengrenze lösen lassen; auch Jorn als weiteres Kernmitglied der S.I. wird die Gruppe nur knapp ein Jahr nach Constant ebenfalls verlassen - allerdings unter ganz anderen Umständen und mit anderen Auswirkungen.
4.3.7 Der spielerische Austritt: Jorn Asger Jorns Austritt aus der S.I. im April 1961 und derjenige von Constant ein knappes Jahr zuvor haben im Grunde genommen nur die Tatsache gemeinsam, dass es sich bei beiden Überschreitungen der Gruppengrenze formal betrachtet um Austritte handelt - sowohl in ihrer Begründung als auch in ihren Folgen unterscheiden sie sich jedoch grundlegend. Diese Unterschiede lassen sich nicht zuletzt aus der Stellung, die die beiden jeweils in der S.I. innehatten und aus der Art und Weise, wie sie Mitglied der Gruppe wurden, erklären. Denn während bei Constant bereits dem Eintritt eine komplexe theoretische Auseinandersetzung voranging und die dort erkennbaren Differenzen auch bei der Diskussion und Begründung seines Austritts wieder aufgegriffen werden - also Zusammenhänge zwischen dem Ablauf des Eintritts und demjenigen des Austritts erkennbar werden -, so stellt sich die Situation bei Jorn anders dar. Zwar sind auch hier Konvergenzen zwischen der Art des Eintritts und derjenigen des Austritts erkennbar, diese unterscheiden sich jedoch grundlegend von der bei Constant beobachteten Konstellation. Jorn ist während seiner Mitgliedschaft in der S.I. ein wesentlich unumstritteneres Mitglied als Constant und - noch wichtiger - er ist neben Debord das zentrale Gründungsmitglied der Gruppe. Das zentrale Gründungsmitglied neben Debord ist Jorn unter anderem deshalb, weil die Kontakte - und die daraus entstehende enge Freundschaft - zwischen ihm und Debord bereits knapp vier Jahre vor der Gruppengründung einsetzen und das entscheidende Bindeglied zwischen der L.I. Debords und Jorns M.I.B.I. darstellen. »In dieser Zeit [ab November 1954, M.O.] begann ihre enge Freundschaft, die sich trotz gegensätzlicher Positionen und getrennter Wege bis in die 70er Jahre hinein erhält, bis zu Jorns Tod.«370 Aus der Begegnung von Debord und Jorn, aus dem Zufall einer Freundschaft wird also der Grundstein zur Zusammenarbeit zwischen L.I. und 370 | Ohrt (1997), S. 144.
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M.I.B.I.: »Eine zeitlang bleiben diese Kontakte informell. Sie gründen in erster Linie auf der Freundschaft zwischen Debord und Jorn.«371 Offiziell werden sie dann schrittweise durch den Weltkongress der freien Künstler 1956 und schließlich mit der Gründung der S.I. im Juli 1957. Was Vincent Kaufmann für die S.I. der Jahre bis 1961 feststellt, lässt sich also zunächst und insbesondere auch für deren Entstehung diagnostizieren: »Ohne die reelle Freundschaft zwischen Debord und Jorn und ohne den reellen gegenseitigen Respekt, die es ermöglichten, inhaltliche Divergenzen zu überwinden (die sich in anderen Fällen rasch als unüberwindbar erweisen), hätte es die S.l. nie gegeben.«372 Die Konstellation Debord-Jorn ist für die S.I. in verschiedener Hinsicht besonders aufschlussreich: Zum einen bildet diese Dyade und die von ihren zwei Seiten vertretenen Positionen den Entstehungshintergrund der zentralen Konflikte innerhalb der S.I. bis 1962. Denn die grundlegende Auseinandersetzung zwischen den auf der Seite der Theorie und der Architektur zu verortenden Mitgliedern und denjenigen, die der Seite der Malerei zuzurechnen sind, ist innerhalb der Gruppe bereits dadurch angelegt, »daß die S.I. aus der Begegnung des Anti-Künstlers Debord und des Künstlers Jorn entstanden ist.«373 Zum anderen aber verdeutlicht diese Konstellation die produktive Rolle, die einer stabilen Freundschaft in einer solchen theoretischen Auseinandersetzung zukommen kann, da sie auf der interpersonellen Ebene eine Gegenkraft zu den Zentrifugalkräften theoretischer Auseinandersetzungen bildet. Dies wird daran erkennbar, dass über die freundschaftliche Verbindung zwischen Debord und Jorn immer wieder die aus den inhaltlichen Auseinandersetzungen resultierenden Fraktionsbildungen innerhalb der Gruppe aufgebrochen werden. Vor allem aber scheint diese Freundschaft stabil genug zu sein, um in entscheidenden Situationen über die theoretische Differenz gestellt zu werden - allerdings nicht, um Letztere zu vertuschen, sondern um sie innerhalb der Gruppe offenlegen zu können, ohne dass damit sofort die Frage nach der Zugehörigkeit auf die Tagesordnung gesetzt würde. Warum aber verlässt Jorn dann im April 1961 die S.I.? Welche Gründe sind dafür ausschlaggebend? Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht, dass die sehr knappe Austrittsmitteilung in der I.S. darüber zunächst keinen oder kaum Aufschluss gibt: »Dieselbe Ratsitzung hat Asger Jorns Rücktritt angenommen angesichts verschiedener persönlicher Umstände, die ihm von nun an jede Teilnahme an der organisierten S.I.-Tätigkeit äusserst schwierig machen; er bestand aber darauf, seine volle Übereinstimmung mit ihr schriftlich auszudrücken.«374 Anders als bei Constant, 371 | Kaufmann (2004), S. 180, Anmerkung 92. 372 | Ibidem, S. 196, Anmerkung 196. 373 | Ibidem. 374 | Situationistische Internationale (1961c), S. 249. Diese Stellungnahme Jorns an die S.I. ist nicht auffindbar. Es existiert aber eine Postkarte von Jorn an HP Zimmer, die die Mitteilung in der I.S. bestätigt: »Ich bin in volkommen einverstanden mit
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bei dem gleich eine Trias von theoretischen Gründen aufgeführt wird, fehlt eine solche inhaltliche Erläuterung bei Jorn; ganz im Gegenteil wird seine vollständige inhaltliche Übereinstimmung mit der S.I. betont. Seinem Austritt haftet - nicht nur wegen der Anführung ›persönlicher Gründe‹ - etwas Privates, um nicht zu sagen Klandestines an. Ein einziger knapper Satz - und das neben Debord wichtigste Mitglied der S.I. hat die Gruppe verlassen. Fast scheint es so, als bekäme Jorn das in der dyadischen Freundschaft mit Debord ausgebildete Geheimnis auch im weiteren Rahmen der Gruppenöffentlichkeit zugestanden. Das bei den meisten anderen Austritten und Ausschlüssen erkennbare und von der S.I. selbst stets betonte transparente Darlegen der Gründe fehlt hier bzw. wird durch die Angabe ›persönlicher Gründe‹ als irrelevant abgeblockt. Dieser Eindruck des Abblockens wird durch die Aussage, Jorn sei mit den inhaltlichen Positionen der S.I. voll und ganz einverstanden, noch verstärkt - bezogen sich doch die sonst vorgetragenen Gründe immer auf irgendeine Art von inhaltlich-theoretischen Differenzen. Diese Betonung der inhaltlichen Übereinstimmung ist umso erstaunlicher, als Jorn doch während seiner gesamten Mitgliedschaft (und bereits davor) stets die Differenzen zwischen sich und Debord, zwischen den Künstlern und den Theoretikern offen einräumte, um sie im Miteinander und Gegeneinander für die S.I. nutzbar zu machen. Sind diese offenen Differenzen nun doch zu groß geworden, sodass sie seinen Austritt notwendig machen - ohne dass jedoch er selbst oder die S.I. bereit gewesen wären, dies offiziell einzuräumen? Oder gibt es andere, vielleicht wirklich persönliche Gründe für seinen für die meisten Mitglieder der S.I. wohl überraschenden Rückzug? Einen ersten Hinweis erhält man, wenn man fragt, ob der Rückzug tatsächlich für alle Mitglieder überraschend kam oder ob er gar eine Kurzschlussreaktion von Jorn war. Denn diesbezüglich lässt sich schnell feststellen, dass sich Jorn bereits seit Juli 1960 mit Austrittsgedanken befasst und diese Debord gegenüber auch mitteilt.375 Seine ›persönlichen Gründe‹ sind somit zumindest in dem Sinne persönlich, als sie von Jorn zunächst nur innerhalb der vertrauensvollen Umgebung der Freundschaftsdyade kommuniziert werden und diese auch nicht verlassen.376 Der vertrauensvolle und diskrete Rahmen der Freundschaftsden Druckmittel der I.S. gegen die Galerie van de Loo. Da ich mich, wegen persönlichen Gründe in der Unmöglichkeit um dieses Mal die Situationistische Discipline zu folgen, befinde, bin ich verpflichtet meine Entlassung von den I.S. zu presentieren, die in diesem fall eine richtige und notwendige Haltung gefunden hat.« (Postkarte von Asger Jorn an HP Zimmer, April 1961, abgedruckt in Niggl (2006), S. 78, Orthographie wie im Original). 375 | Vgl. Jorn (1960a). 376 | Jedenfalls ist nicht bekannt, dass Debord diese Überlegungen Jorns an Dritte weitergegeben hat. Diese besondere Ausprägung des Vertrauensverhältnisses zwischen Jorn und Debord wird noch deutlicher, wenn man es mit anderen dyadischen Konstellationen innerhalb der S.I. vergleicht. So werden z.B. die Diskussionen zwischen Constant und Debord von Letzterem größtenteils an Jorn und Pinot-Gallizio kommuniziert, genau wie Jorn im oben zitierten Brief Informationen über eine Aus-
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dyade schafft für Jorn die Möglichkeit, gegenüber Debord Fragen und Probleme anzusprechen, die für ihn selbst, aber auch für die S.I. als Ganze von Bedeutung sind, die aber bei Mitgliedern, die auf der interpersonellen Ebene weniger stark in die Gruppe eingebunden sind, schnell zum Ausschluss führen würden. Die Freundschaft zwischen Jorn und Debord erlaubt eine offenere Diskussion, das direkte Ansprechen von Widersprüchen und Spannungen - sie ermöglicht somit in diesem Fall genau das von Jorn gewünschte Zusammenbringen von Widersprüchen innerhalb der Gruppe. Denn die Gründe, die Jorn für seine Austrittsüberlegungen anführt, sind keineswegs ›persönliche‹ Gründe im Sinne von wirklich ›privaten‹ Gründen, sondern sind explizit theoretischer Natur und betreffen direkt die Organisationsstruktur der S.I. und Jorns Stellung innerhalb dieses Gefüges. ›Persönlich‹ sind die Gründe Jorns also auch in dem Sinne, dass sie sich auf seine Rolle in der S.I. beziehen - sie sind somit ›persönlich‹ im Sinne von ›individuell‹, nicht aber im Sinne von ›privat‹. Denn der erste Aspekt, den Jorn in seinem Brief an Debord anspricht, ist die Frage der Finanzierung der S.I. bzw. seine Funktion als wichtigstem Finanzier der Gruppe. »Pinot [Gallizio, M.O.] est revenu sur le question du role economique que je joue dans le mouvement situationniste. Je voudrait bien pour qu’il n’aurait pas de dispositions defavorables pour le mouvement dans le futur pour des raisons economiques, ce que j’espere n’est qu’une inquietude sans fondement [...]. Le surplus economique que mon situation sociale en tant que peintre me donne trouve pour moi son meilleur placement dans le mouvement situationniste.«377
Jorn betont hier zunächst deutlich seine Bereitschaft, die S.I. aus seinen als Maler erworbenen Mitteln zu finanzieren. Zugleich stellt er klar, dass sein Interesse an der Gruppe keineswegs ein rein finanzielles ist, dass er sie also nicht als ›Investitionsobjekt‹ oder gar als Mittel eines nur finanziellen Potlatch betrachtet: »[P]our eviter toutes malentendues sur cette question [je voudrait bien] preciser que mon interet pour le mouvement situationniste est purement personelle et passionelle d’une facon directe.«378 Jorn ist sich jedoch durchaus der daraus entstehenden Probleme bewusst: Zum einen widerspricht die Tatsache, dass er als beinahe alleiniger Finanzier eine herausragende Stellung innerhalb der Gruppe einnimmt, deren egalitären Charakter. Denn hier entstehen deutliche Ungleichheiten, da sowohl die Gesamtgruppe als auch die anderen Einzelmitglieder in ihren Aktivitäten finanziell von Jorn abhängig einandersetzung mit Pinot-Gallizio an Debord weitergibt. Dies verweist auf die Unterschiede in den Beziehungen zwischen Jorn und Debord einerseits und Constant und Debord andererseits: Nur zwischen Debord und Jorn existiert eine freundschaftliche Pflicht zur Diskretion bzw. bildet sich hier ein gegenüber der Gruppenöffentlichkeit abgeschirmter Raum für vertrauliche Absprachen heraus. 377 | Jorn (1960a), S. 353f., Orthographie wie im Original. 378 | Ibidem, Orthographie wie im Original.
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sind und sich so neben egalitären auch asymmetrische Strukturen innerhalb der S.I. ausbilden. Damit verbunden ist die Gefahr, dass Jorn als international immer erfolgreicher werdender Maler auch für die angestrebte egalitäre Außenwirkung der S.I. zum Problem wird. Zum anderen aber, und dies ist wohl die größere Schwierigkeit, die Jorn auch explizit anspricht, ist es vor dem Hintergrund der theoretischen Positionen der S.I. gegenüber der Malerei und dem Kunsthandel kaum zu rechtfertigen, dass sich die Gruppe über den Verkauf der Bilder eines international bekannten Malers wie Jorn finanziert. Jorn liegt jedoch viel daran, sich finanziell in die S.I. einzubringen und er hält daran fest, »meme si le meme mouvement [die S.I., M.O.] serait oblige de m’attaquer pour pouvoir attaquer un situation a lequelle je ne peut pas echapper, mais qui gene le mouvement. Je sait bien que un tel situation est possible même si je fais tout pour l’eviter.«379 Jorn sieht also sehr präzise die Probleme, die aus seiner zunehmenden Berühmtheit und der damit verbundenen Einbindung in die Mechanismen des Kunstmarkts für die S.I. im Allgemeinen und seine Mitgliedschaft in ihr im Besonderen entstehen können. Nicht wie bei Constant die ›Sozialität des Solitären‹ ist hier das Kernproblem, sondern eher die marktbedingte ›récupération des Revolutionärs‹, die aber zugleich die notwendige Bedingung der Finanzierung des gemeinsamen Projekts ist. Dennoch versucht Jorn, diese komplizierte Situation relativ nüchtern zu betrachten und die Notwendigkeit der Finanzierung in den Vordergrund zu stellen. Zwar erkennt er diese Probleme an und ist auch bereit, die daraus resultierende Kritik zu akzeptieren - allerdings nur dann, wenn diese Kritik ihm nicht untersagt, die S.I. zu finanzieren. Mehr oder weniger explizit macht er seine Mitgliedschaft davon abhängig, ob er die S.I. finanzieren darf oder nicht: »Ca me donne en tout cas une assurence au sujet de la justification de ma presence dans le mouvement, si nous sommes d’accord pour que cette probleme ne change rien en ce qui concerne mon apport economique au mouvement.«380 Diese spannungsreiche Ausgangssituation hat zur Folge, dass Jorn in seinem Brief an Debord sogar noch einen Schritt weiter geht. Er ist nicht nur bereit, Kritik seitens der S.I. über sich ergehen zu lassen, sondern notfalls auch im Sinne der Gruppe auf seine Mitgliedschaft zu verzichten: »[S]i le developpemens inevitables des circonstances sociaux necessite mon exclusion du mouvement ceci ne change absolument en rien mon attitude purement economique envers cette mouvement.«381 Was hier deutlich wird, ist Jorns beinahe grenzenlose Unterstützung für die S.I. - selbst wenn diese ihn aus theoretischen Gründen ausschließen muss, will er sie weiterhin finanziell unterstützen bzw. hat es den Anschein, als würde er hier implizit die Bedingung stellen, dass er einen Ausschluss nur dann akzeptiert, wenn man ihm auch danach weiterhin 379 | Jorn (1960a), S. 354, Orthographie wie im Original, Hervorh. im Orig. 380 | Ibidem, Orthographie wie im Original. 381 | Ibidem, Orthographie wie im Original.
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die Finanzierung der S.I. gestattet. Trotz seines eingangs betonten ›intérêt personnelle et passionnelle‹ an der S.I. stellt er die Finanzierung über die Mitgliedschaft. Doch anders als im Falle Constants haben diese Überlegungen Jorns zunächst keine Auswirkungen auf seine Mitgliedschaft. Debord stimmt Jorns Argumentation zwar prinzipiell zu, betont aber gleichzeitig: »Mais il n’y a aucun problème. Je crois qu’on a à faire ensemble un immense travail qui commence à peine. Si peu de gens peuvent le faire dans un futur proche (j’espère en être), et j’espère que toi-même tu ne penses pas à t’absorber dans un travail particulier.«382 Dass Debord so gelassen auf Jorns Rücktrittsangebot reagiert - denn nichts anderes ist sein Brief - und dieses mehr oder weniger ignoriert, dürfte verschiedene Gründe haben. Zum einen ist sich auch Debord der Bedeutung von Jorns finanzieller Unterstützung bewusst; denn schließlich ist es er selbst, der Jorn immer wieder um Geld u.a. für die Drucklegung der I.S. bittet. Dabei ist ihm durchaus klar, dass Jorn dieses Geld nur aufgrund seines Erfolgs als Maler, durch eine Tätigkeit also, an deren Abschaffung innerhalb der S.I. Debord zu diesem Zeitpunkt bereits arbeitet, in die S.I. investieren kann. Auch Debord scheint also die Finanzierung des gemeinsamen Projekts über die strikte Umsetzung der eigenen Theorieposition zu stellen, der Zweck heiligt hier auch für ihn die Mittel. Dies reicht soweit, dass er selbst Jorn wiederholt auffordert, Bilder zu verkaufen oder ihm anbietet, dies für ihn zu tun: »Je renouvelle ma proposition de mettre en vente le grand tableau de toi que j’ai. Ainsi je paierai cela [die Kosten für die I.S., M.O.] sans que tu aies obligé de peindre autre chose.«383 Dass Jorn verglichen mit anderen Mitgliedern - einen großen Freiraum bezüglich seiner Tätigkeit als Maler zugesprochen bekommt, hängt jedoch nicht nur mit seiner Funktion als wichtigstem Finanzier zusammen. Auch die enge Freundschaft mit Debord spielt hier auf verschiedenen Ebenen eine wichtige Rolle. Zum einen ermöglicht sie in diesem Fall eine zunächst vertrauliche Diskussion der durch Jorns Erfolg entstehenden Probleme, ein internes Aushandeln von Lösungsstrategien oder zumindest von Absprachen, wie mit dem Problem umzugehen ist. Sowohl für Jorn als auch für Debord entstehen dadurch Erwartbarkeiten, was das Verhalten des anderen und die weitere Zusammenarbeit innerhalb (oder wenn nötig außerhalb) der Gruppe angeht. Dies ist für Debord umso wichtiger, als ihm, wie aus seinen Briefen an Jorn deutlich hervorgeht, viel daran liegt, Jorn in seiner Rolle als Mit-Streiter im Ideenpotlatch - im doppelten Wortsinne: als wichtigster Verbündeter und Partner einerseits und als ›Gegner‹, an dem man die eigene Position schärfen kann, andererseits - so lange wie möglich in der S.I. zu halten und die Zusammenarbeit auch nach einem möglichen Austritt oder Ausschluss weiterzuführen. Denn Jorn ist aus Sicht Debords das einzige 382 | Debord (1999), S. 354, an Asger Jorn, 16.7.1960. 383 | Ibidem, S. 287, an Asger Jorn, 31.12.1959.
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Mitglied der S.I. der frühen Jahre, mit dem ihn eine tiefgehende Freundschaft verbindet; das Verhältnis zu Jorn zeigt, dass Freundschaft auch innerhalb eines solchen Gruppenrahmens möglich ist. Zugleich ist die Freundschaft jedoch nicht nur an sich wertvoll, sondern sie ermöglicht einen für die Gesamtgruppe produktiven Ideenpotlatch zwischen zwei gleichwertigen Partnern, der auch dann fortgeführt werden kann, wenn die jeweils vertretenen Theoriepositionen weit auseinander liegen oder sich gar diametral gegenüberstehen. Die freundschaftliche Verbindung sorgt gerade dann für den nötigen Zusammenhalt, wenn die Zentrifugalkräfte theoretischer Auseinandersetzungen so groß werden, dass sie ohne die Freundschaft zur Grenzüberschreitung durch Austritt oder Ausschluss führen würden. Sie ermöglicht es, wie von Jorn angestrebt, Widersprüche nicht zu einer Frage der Grenzziehung zwischen innen und außen zu machen, sondern sie innerhalb der Gruppe produktiv aufeinander treffen zu lassen. Hat sich knapp ein Jahr später im April 1961 die Problemlage soweit zugespitzt, dass Jorn trotz aller Absprachen mit Debord aufgrund seiner für die S.I. problematischen Sonderstellung aus der Gruppe austritt? Um diese Frage klären zu können, ist ein kleiner Umweg zu den Ereignissen im unmittelbaren Vorfeld bzw. Umfeld von Jorns Austritt notwendig. Im Kern handelt es sich dabei um eine Auseinandersetzung zwischen der S.I. und dem Galeristen Otto van de Loo, mit dem sowohl Constant und Jorn als auch die Gruppe SPUR und Wyckaert engen Kontakt pflegten und bei dem sie ausgestellt haben. Van de Loo war, wie oben skizziert, zudem eine wichtige Vermittlerfigur, die den Kontakt zwischen Jorn und der SPUR hergestellt und somit deren Eintritt in die S.I. vorbereitet hat. Mit eben diesem Galeristen kommt es im Januar 1961 zum Konflikt. Der Anlass hierzu mutet zunächst wie eine Lappalie an, allerdings entsteht daraus ein ausufernder, tiefgehender und von gegenseitigen Anschuldigungen und Verdächtigungen geprägter Streit. Ausgangspunkt ist eine Mitteilung van de Loos, dass seine Galerie »mit der Entwicklung eines Labyratoir im Sinn des Urbanismus Unitaire befaßt [sei]«384 Damit jedoch ist die S.I. nicht einverstanden, da sie neben ihrem eigenen Büro des unitären Urbanismus in Brüssel keine zweite solche Einrichtung duldet. Diese Ablehnung hängt unter anderem damit zusammen, dass die S.I. hinter diesen Plänen zur Gründung eines zweiten Büros eine Aktion des mittlerweile aus der S.I. ausgetretenen Constant zur Vermarktung seiner - von der S.I. abweichenden - Auffassung des unitären Urbanismus vermutet und sie klarstellen möchte, dass sie mit diesem zweiten Urbanismus-Büro nichts zu tun hat.385 Doch worum ging es hier wirklich? Der Ausgangspunkt der Auseinandersetzung - die Gründung eines zweiten Urbanismusbüros - gerät im Laufe des Konflikts schnell in Vergessenheit und ist zudem kaum schwer384 | Loo (1988a), S. 101. 385 | Vgl. Debord (2001), S. 71, an Maurice Wyckaert, 4.2.1961.
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wiegend genug, um den Ausschluss von Wyckaert und den Austritt von Jorn nach sich zu ziehen. Einen ersten Hinweis auf die wirklichen Motive des Konflikts bieten die ›Nachwehen‹ dieser Debatte, denn diese ist mit der Mitteilung in der I.S. Nr. 6 noch nicht beendet: van de Loo reagiert auf diesen Artikel abermals mit einer offenen Erklärung,386 die die S.I. jedoch nicht veröffentlicht, sondern auf die sie ihrerseits mit einer scharfen Kritik an van de Loo in der nächsten Ausgabe der I.S. antwortet. Spätestens hier wird deutlich, worum es der S.I. bzw. Debord in der Auseinandersetzung mit van de Loo tatsächlich geht: »Wir bleiben also bei allen unseren früheren Bemerkungen (in der Nummer 6), wobei zu betonen ist, dass es uns nicht darauf ankommt, uns gegen einen bestimmten Kunsthändler solidarisch zu erklären [...], sondern dass wir die S.I. gegen jeden äusseren Druck mit den unerschütterlichsten Mitteln schützen wollen. Als Beweis dafür und um unter diesen Zwischenfall einen Schlusspunkt zu setzen, weisen wir darauf hin, dass alle, die diese Sammlerpartei bilden konnten, deren Herzlichkeit und Postkarten von van de Loo am 30. August [1961, M.O.] geprüft wurden, seither gezwungen worden sind, aus der S.I. auszutreten.«387
Es geht also zum einen um die Abgrenzung der S.I. nach außen, um ihre Unabhängigkeit gegenüber einer das Inhaltliche oder das Organisatorische betreffenden Einflussnahme von außen. Diese Forderung nach Unabhängigkeit ist zunächst eine finanzielle Frage, wie in der heftigen Reaktion der S.I. auf van de Loos ›Kopfgeld‹-Angebot388 deutlich wird. Doch auch in den internen Diskussionen über den Konflikt mit van de Loo spielt die finanzielle Seite immer wieder eine wichtige Rolle: »En cas de rupture avec Van de Loo, Asger pense pouvoir remplacer assez bien son soutien (par exemple, du groupe Spur), ne serait-ce qu’avec le marché scandinave.«389 Ohne Jorn und seine finanzielle Unterstützung ist also ein Bruch mit van de Loo für die S.I. wirtschaftlich nicht zu verantworten. Doch nicht nur für die S.I. selbst ist Jorn finanziell zentral, auch für van de Loo ist er von Bedeutung: »Asger estime qu’en tout cas lui-même se retirant des affaires Van de Loo, celles-ci subiraient un tel effondrement qu’il resterait bien incapable de soutenir ni Constant ni quelque groupe qui ce soit.«390 Durch den von Debord gewünschten Rückzug von Jorn aus der Galerie van de Loo würde diese also finanziell geschwächt - und die S.I. könnte sich somit einen Vorteil gegenüber ihren ›Konkurrenten‹ - allen voran Constant - erarbeiten. 386 | Vgl. Loo (1988a), S. 100. 387 | Situationistische Internationale (1962d), S. 311. 388 | Vgl. Loo (1988a), S. 101. 389 | Debord (2001), S. 73, an Maurice Wyckaert, 4.2.1961, Hervorh. im Orig. Hier wird deutlich, wie widersprüchlich der Versuch der S.I. ist, durch den Bruch mit van de Loo ihre Unabhängigkeit zu sichern. Denn auch die Finanzierung durch Jorn wird nur dann möglich sein, wenn dieser weiterhin Kunstwerke ausstellt und verkauft. 390 | Ibidem, an Maurice Wyckaert, 4.2.1961.
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Die S.I. visiert also von Anfang an einen Bruch mit van de Loo und nicht nur die Klärung der Frage nach dem Urbanismusbüro an. Letztere ließe sich zwar durch einen Bruch zwischen van de Loo und Constant und seinem neuen Mitstreiter Caspari lösen, letztendlich geht es jedoch um das Verhältnis der S.I. zu van de Loo. Diesbezüglich betont die S.I. ihre konsequente Bereitschaft, durch einen Bruch ihre Unabhängigkeit zu unterstreichen: »Cette affaire [...] devra se résoudre dans un très bref délai par une rupture totale, à l’un ou l’autre des maillons de la chaîne de complicité: la rupture peut avoir lieu entre Constant et Caspari [...], soit entre Caspari et Van de Loo [...], soit entre Van de Loo et tous les situationnistes. Peu nous importe où a lieu la rupture, puisque nous sommes à la fois parfaitement résolus à la provoquer et parfaitement maîtres de le faire.«391
Vorangetrieben wird dieser Schritt u.a. von Bernstein und de Jong, in erster Linie aber von Debord und Jorn. Die Tatsache, dass auch Jorn hinter dem Bruch steht, wird von Debord - nicht zuletzt wohl aufgrund der finanziellen Hintergründe - mehrfach betont. So heißt es zum Beispiel in Bezug auf die Verbreitung von van de Loos Berichtigung!: »Comprenez bien: ce n’est pas ›Debord‹ qui a fait cela contre Van de Loo: c’est avant tout Jorn. Et aussi Debord naturellement comme tous les situationnistes«392 . Doch Jorn steht nicht nur hinter dem Bruch, er ist auch der erste, der ihn - sozusagen als gutes Beispiel - zu vollziehen scheint, wie Debord der Gruppe SPUR mitteilt: »Après que Van de Loo ait agi de cette façon avec vous, nous ne pouvons garder dans l’I.S. un seul artiste travaillant en relation avec Van de Loo. Donc Jorn quitte Van de Loo.«393 Dass die S.I. keinen einzigen Künstler in ihren Reihen dulden will, der mit van de Loo kooperiert, verdeutlicht, dass der angestrebte Bruch mit van de Loo die Gefahr beinhaltet, dass er auch innerhalb der S.I. mit Konflikten verbunden ist. Dies wird von Anfang an erkannt, schwächt die Entschlossenheit der S.I. jedoch nicht ab: »[J]e suppose que l’on commence à nous connaître assez pour savoir, que nous ne reculerons devant aucun ›sacrifice‹, même ›regrettable‹ en soi«394 . Ganz im Gegenteil wird die Frage ›Er oder wir‹ zunächst in Bezug auf Wyckaert offen in den Raum gestellt: »Et Wyckaert doit aussi choisir de quitter toute de suite Van de Loo ou de quitter l’I.S.«395 Doch auch die Gruppe SPUR gerät ins Visier, zunächst interessanterweise in das von Jorn: »Asger a même envisagé le cas (qui me paraît improbable) où le groupe Spur ne serait pas immédiatement fidèle dans cette affaire. Il est alors résolu à rompre à l’instant avec n’importe lequel d’entre eux, et même avec tout le 391 | Debord (2001), S. 72, an Maurice Wyckaert, 4.2.1961, Hervorh. im Orig. 392 | Ibidem, S. 77, an die Gruppe SPUR, 29.3.1961, Hervorh. im Orig. 393 | Ibidem, S. 78, an die Gruppe SPUR, 29.3.1961, Hervorh. im Orig. 394 | Ibidem, S. 72, an Maurice Wyckaert, 4.2.1961. 395 | Ibidem, S. 78, an die Gruppe SPUR, 29.3.1961.
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groupe.«396 Interessant ist hier die Über-Kreuz-Struktur der Drohungen: Wyckaert gegenüber wird mit dem Ausschluss der SPUR gedroht, der SPUR gegenüber zunächst nur mit demjenigen von Wyckaert.397 Dies ändert sich erst, als die SPUR den klaren Bruch mit van de Loo hinauszögert: Jetzt wird ihr direkt der Austritt nahegelegt bzw. mit Ausschluss gedroht: »Si vous (Spur) n’êtes pas vraiment d’accord avec toute la discipline de l’I.S., voilà le moment de quitter l’I.S. avant d’être trop compromis comme situationnistes je vous dis cela sans ironie, et avec une objectivité et neutralité complètes. Mais si vous choisissez réellement d’être situationnistes, il faut évidemment quitter Van de Loo et le lui dire vite.«398
Die SPUR reagiert prompt auf diese Drohung, schickt van de Loo am 1.4.1961 das entscheidende Telegramm399 und sichert so zunächst den eigenen Verbleib in der S.I.; Wyckaert hingegen bricht den Kontakt zu van de Loo nicht ab und wird ausgeschlossen.400 Ging es der S.I. und Debord tatsächlich um den Bruch mit van de Loo, um eine Klärung der Fronten und um die Abschirmung der S.I. gegen äußere Einflüsse? Dies erscheint aus verschiedenen Gründen zweifelhaft. Zum einen unterhielt Debord selbst auch nach diesem Konflikt weiterhin enge freundschaftliche Beziehungen zu van de Loo - von einem wirklichen Bruch kann also kaum die Rede sein.401 Da Debord auch zu Wyckaert und Jorn nach dem Ende ihrer Mitgliedschaft weiterhin Kontakt hält - was im Fall des ausgeschlossenen Wyckaert verwundert und gegen die Richtlinien der S.I. verstößt -, bleibt eigentlich nur noch die SPUR als Ziel des Manövers. Ihr gegenüber formuliert Debord die deutlichsten Drohungen - auch wenn er selbst hier die Möglichkeit zum 396 | Debord (2001), S. 72, an Maurice Wyckaert, 4.2.1961, Hervorh. im Orig. Jorn hat Debord gegenüber bereits im Juli 1960 seine Enttäuschung über die SPUR geäußert (vgl. Debord (1999), S. 350, an Asger Jorn, 6.7.1960). 397 | Diese Kommunikation wird zusätzlich noch dadurch erschwert, dass van de Loo seinerseits fast nur mit der SPUR kommuniziert und Wyckaert sich nicht mit der SPUR austauscht. Vgl. hierzu auch Ohrt (1997), S. 247. 398 | Debord (2001), S. 78, an die Gruppe SPUR, 29.3.1961, Hervorh. im Orig. 399 | Gruppe SPUR zitiert in: Loo (1988a), S. 101. 400 | Interessant an dieser unterschiedlichen Reaktion auf die Frage ›Er oder wir?‹ ist die Tatsache, dass die SPUR der Drohung seitens Debord und Jorn zwar formell nachgibt, aber nicht im Ansatz dazu bereit ist, tatsächlich ihre Zusammenarbeit mit der Galerie van de Loo zu beenden. Es geht ihr lediglich darum, vor der Sitzung des Conseil Central die Wogen zu glätten und den Ausschluss zu vermeiden. Denn kurz darauf zeigt sich, dass das Telegramm vom 1.4.1961 kaum das Papier wert ist, auf dem es geschrieben wurde, wie auch van de Loo betont: »Eine Woche nach der dritten Sitzung des Conseil der I.S., die am 11.-13. April in München stattfand, nahm ich mit den Malern der Gruppe SPUR wieder Kontakt auf. Die Künstler waren mit mir derselben Ansicht, dass die vorausgegangenen Auseinandersetzungen mit der I.S. unsere freundschaftlichen und geschäftlichen Beziehungen nicht im geringsten trüben sollte. Sie untermauerten diese Auffassung mit dem Verkauf mehrerer Ölbilder an mich« (Ibidem). 401 | Vgl. Ohrt (1997), S. 247.
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Austritt gibt. Allerdings hat sich Debord bezüglich der SPUR verkalkuliert, sie ist - zumindest offiziell - bereit, mit van de Loo zu brechen, nimmt Debord damit den Wind aus den Segeln und entzieht sich dem von ihm anvisierten Ausschluss.402 Zum anderen wird im Laufe des Konflikts einer der zentralen Gründe für diese Auseinandersetzung geradezu ad absurdum geführt. Denn ein wichtiges Argument für den Bruch war doch, wie dies noch in der offiziellen abschließenden Stellungnahme in der I.S. bekräftigt wird, folgende Kritik am Verhalten van de Loos: »Es handelt sich dabei einzig und allein um den offensichtlichen Einmischungsversuch eines Kunsthändlers in die S.I.-Angelegenheiten, der mit mehreren Situationisten persönliche Beziehungen unterhielt und es auf nichts anderes abgesehen hatte, als durch Drohungen und Versprechungen seine eigene Fraktion in der S.I. zu bilden, um deren Politik zu lenken.«403 Die Art und Weise jedoch, wie die S.I. den Konflikt vorantreibt, ihn immer weiter zuspitzt, führt genau dazu, dass nicht nur das Verhältnis zu van de Loo, sondern in beträchtlichem Maße auch die Struktur der eigenen Gruppe in Frage gestellt wird. Auch wenn die SPUR vorerst noch Mitglied der S.I. bleibt, hat der Konflikt mit van de Loo doch den Ausschluss von Wyckaert und - viel einschneidender - den Austritt von Jorn zur Folge. »So konnte der Streit um einige Worte auf einer Einladungskarte [der Galerie van de Loo, M.O.] zuerst dazu führen, einem Galeristen einige Zugeständnisse abzuverlangen, dann plötzlich zur Frage des Einflusses dieses Galeristen auf die Belange der Organisation sich ausweiten, und - nachdem die näheren Umstände völlig übertrieben wurden und schließlich unerklärbar blieben - damit enden, daß Debord sich von der gemeinsamen Arbeit mit zwei Freunden verabschiedete. Auf diese Weise gab Debord der Galerie van de Loo die Möglichkeit, eine tiefgreifende Änderung in der S.I. einzuleiten.«404
Der Konflikt führt also genau zu der Einflussnahme van de Loos (wenn auch auf indirektem Wege), die er eigentlich verhindern sollte - vor allem aber trifft er nicht - wie vermutlich geplant - die SPUR, sondern mit Wyckaert und vor allem mit Jorn zwei Mitglieder der S.I., mit denen Debord sehr eng und weit über die reine Zusammenarbeit in der Gruppe hinaus verbunden war. Doch halt. Der Konflikt trifft Jorn? Jorn tritt aus der S.I. aus? Was ist hier im Hintergrund geschehen und warum ist Debord bereit, dies zu akzeptieren? Während der Auseinandersetzung mit van de Loo war Jorn doch der Erste, der der Forderung der S.I. nachgekommen ist und den Kontakt zur Galerie abgebrochen hat. Die Frage eines Austritts oder gar Ausschlusses Jorns aus der S.I. sollte somit eigentlich vom Tisch sein. Doch für die Behauptung Debords, Jorn habe mit van de Loo gebrochen, 402 | Vgl. Ohrt (1997), S. 247. 403 | Situationistische Internationale (1961c), S. 249. 404 | Ohrt (1997), S. 247.
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lassen sich keinerlei Anhaltspunkte finden, sie scheint ein - evtl. sogar mit Jorn abgesprochenes - taktisches Manöver gewesen zu sein, um die SPUR unter Druck zu setzen. Jorn selbst ist, was die Kritik an der SPUR betrifft, auf Debords Linie, klärt mit ihm die allgemeine Marschroute ab und hält sich dann während des Konflikts auffallend zurück. Schließlich wird er doch aktiv und reist zur Klärung der Situation nach München. Hier aber entscheidet er sich klar für van de Loo,405 zu dem er auch in den folgenden Jahren engen freundschaftlichen Kontakt hält und mit dem er auch weiterhin zusammenarbeitet.406 Obwohl der oben skizzierte und von Jorn bereits im Vorjahr mit Debord diskutierte Grund für seinen Austritt - seine herausragende Stellung als Künstler - eine vor dem Hintergrund der Theoriepositionen der S.I. schlüssige Erklärung gewesen wäre, wird er gerade nicht als offizieller Grund angeführt.407 Kaufmann liegt also falsch, wenn er schreibt: »Offiziell ist der Grund für Jorns Demission (anscheinend von Debord gefordert) dessen künstlerische Berühmtheit, die für unvereinbar mit dem anti-künstlerischen Projekt des Situationismus [sic!] gehalten wird.«408 Dieser Grund taucht aber gerade nicht explizit in der offiziellen Austrittsmitteilung auf, sondern wird etwas ominös vom theoretischen zum persönlichen Grund umdeklariert. Mit den Ereignissen der Affaire van de Loo lässt sich jedoch ein wirklich persönlicher Grund für Jorns Entscheidung ausmachen. Denn auch wenn theoretische Überlegungen bezüglich der Unabhängigkeit der S.I. und ihres Verhältnisses zum Kunstmarkt die Hintergrundfolie der Auseinandersetzung bilden und Debord und Jorn hier unterschiedlicher Meinung sind,409 so ist es letztlich Jorns Freundschaft mit van de Loo, die den Ausschlag für seine Entscheidung gibt, der Forderung der S.I. nicht zu folgen und den Kontakt zu van de Loo nicht abzubrechen.410 Dass eine solche Wahl, gerade vor dem Hintergrund der Tatsache, dass Wyckaert wegen genau der gleichen Entscheidung aus der S.I. ausge405 | Vgl. Andersen (2001), S. 366 sowie Ohrt (1997), S. 247. 406 | Vgl. Atkins (1977), S. 134 sowie Dornacher (1996). 407 | Intern wird dieser Grund jedoch immer wieder erwähnt. So schreibt Debord rückblickend an Martin: »Jorn n’est plus officiellement membre de l’I.S. depuis avril 1961. Il a choisi cette démission justement parce qu’il y avait trop de spectateurs qui disaient qu’il était un chef de l’I.S., et qui demandaient l’avis de Jorn avant de demander l’avis de la majorité.« (Debord (2001), S. 134, an Jeppesen Victor Martin, 28.3.1962). 408 | Kaufmann (2004), S. 196, Fußnote 114. Auch für die Behauptung, Jorns Austritt sei von Debord explizit gefordert worden, gibt es keine Anhaltspunkte. Zudem unterschätzt eine solche Aussage Jorns Eigenständigkeit. 409 | (Vgl. Andersen (2001), S. 366 sowie Debord (1999), S. 350, an Asger Jorn, 6.7.1960). 410 | Ein vergleichbarer Konflikt zwischen Mitgliedschaft und Freundschaft ist auch bei der Gruppe SPUR erkennbar. Denn auch wenn sie sich aus taktischen Gründen selbst zunächst für eine andere Vorgehensweise entscheidet, sieht sie doch im Konflikt dieser beiden Aspekte den Kern der Auseinandersetzung: »Wir haben den Situationisten Jorn verloren und den Kunsthändler van de Loo, wir haben den Freund Jorn gewonnen und den Sammler und Freund van de Loo.« (Heimrad Prem zitiert in: Danzker (2006), S. 79f.).
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schlossen wurde, nicht mit einem Verbleib in der Gruppe vereinbar ist, dürfte Jorn klar gewesen sein. Er zieht die Konsequenz und reicht seinen Rücktritt ein. Zumindest beim Konflikt mit van de Loo als dem konkreten Auslöser des Austritts handelt es sich also tatsächlich um einen persönlichen Grund. Jorn entscheidet sich hier für eine Freundschaft, ist nicht bereit, diese der Theorielogik der S.I. zu unterwerfen und sie aufzugeben und stellt in diesem Fall die Freundschaft über seine Mitgliedschaft in der S.I. Doch nicht nur in Bezug auf van de Loo ist es eine Entscheidung für eine Freundschaft, auch mit Blickrichtung Debord lässt sich diese Diagnose stellen. Die zum Zeitpunkt seines Austritts bereits seit gut sechs Jahren andauernde Freundschaft mit Debord ist für beide eine Beziehung, die sich deutlich von den übrigen Kontakten innerhalb der S.I. abhebt: »Zwischen und in den Zeilen der Briefe jener ersten Jahre der S.I. wird jedenfalls auch klar, daß nur die Beziehung zwischen Debord und Jorn, dessen Großzügigkeit ebenfalls gegen alles gefeit zu sein scheint, keine solche Dyssemetrie [sic!] aufweist. Kein Wunder also, wenn sie die dauerhafteste freundschaftliche Beziehung war, die Debord hatte.«411
Interessant ist dabei zunächst, dass Freundschaft hier explizit mit Gönnerschaft verbunden ist bzw. die Stellung Jorns als Finanzier412 der Freundschaft nicht zuwider läuft. Der Potlatch zwischen Debord und Jorn erstreckt sich auf verschiedene Felder, auf geistigen und materiellen Austausch, auf die Herstellung wichtiger Kontakte, auf gegenseitige Unterstützung wie auch auf offene Kritik an den Positionen des anderen. Entscheidend ist für beide vor allem, dass die Bereitschaft zur Gabe egal in welchem Bereich - klar erkennbar ist, dass sich eine die Grenzen überschreitende Struktur von Gabe und Gegengabe etablieren und so insgesamt eine symmetrische Beziehung entstehen kann. Dennoch droht gerade diese enge Freundschaft immer wieder vom sie umgebenden Gruppenkontext eingeengt oder gar gefährdet zu werden. Zum einen hängt dies damit zusammen, dass die finanzielle Unterstützung Jorns, die er einerseits »als seinen spezifischen Beitrag zu den Aktivitäten der S.I. geltend mach[t]«413 , die aber andererseits ein wichtiger Bestandteil nicht nur seiner Bindung an die S.I., sondern auch der Freundschaft mit Debord ist, sich nicht mit den auf Egalität und Autonomie abzielenden theoretischen Positionen der Gruppe vereinbaren lässt. Debord und die S.I. wissen genau, wie lebenswichtig für sie die aus Jorns Erfolg als Maler herrührende Finanzkraft ist - und dennoch können sie sie auf der theoretischen Ebene nicht akzeptieren. Die S.I. scheint aus ihrer Theorie heraus gezwungen zu sein, die Hand zu beißen, die sie 411 | Kaufmann (2004), S. 184. 412 | Jorn finanziert zwischen 1959 und 1961 auch die Filme Debords (vgl. ibidem, S. 69, Fußnote 78). 413 | Ibidem.
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füttert und daher nach Jorns Austritt »auf den künstlerischen, theoretischen und nicht zuletzt auf den finanziellen Beitrag Jorns verzichten [zu müssen].«414 Zum anderen ist diese Bedrohung der Freundschaft durch den Gruppenkontext darauf zurückzuführen, dass Debord und Jorn, die - auch wenn aus ihrer Zusammenarbeit zentrale Aspekte der theoretischen Positionen der Gruppe entstehen - bei entscheidenden Aspekten unvereinbare Meinungen vertreten bzw. aus ihrem jeweiligen Hintergrund vertreten müssen, durch den Gruppenrahmen gezwungen sind, in gewissem Maß Kompromisse zu erzielen, auf eine gemeinsame Linie einzuschwenken. Dieser Kompromiss aber hat zur Folge, dass der von beiden gewünschte Ideenpotlatch in Form des offenen Aufeinandertreffens und Sich-Aneinander-Reibens konträrer Meinungen zum Erliegen kommt. Diese Beendigung des Ideenpotlatch, sei es durch Kompromiss oder durch Ausschluss, diese »Disziplinierung, die Debord anstrebte, hatte Jorn nie gemocht.«415 Dennoch unterwirft er sich ihr zunächst durch seine Mitgliedschaft in der S.I. formell - allerdings nur, um sie von innen heraus in Frage zu stellen oder zu unterwandern. Denn Jorns Agieren liegt folgende Überlegung zugrunde: »Etwas in eine Situation versetzen bedeutet, an einer Bewegung teilnehmen, indem man sich ihr widersetzt, indem man Widerstände einführt, die Abweichungen und Veränderungen in der Bewegung erzeugen, die sie aufwühlen oder überstürzen, die sich in Geschehen umwandeln.«416 Jorn führt diesen Widerstand zunächst durch seine Mitgliedschaft in die S.I. ein. In dem Moment jedoch, wo diese Mitgliedschaft problematisch wird und zudem seine Freundschaft zu Debord gefährdet, wählt er den Austritt. Dass dieser Austritt nicht zuletzt der Freundschaft dienen soll, belegt die Tatsache, dass Jorn diese Möglichkeit bereits knapp ein Jahr zuvor mit Debord diskutiert und hier bereits deutlich macht, dass das Ende der Mitgliedschaft weder ein Ende der Freundschaft, noch eines für die Zusammenarbeit oder seine Unterstützung der S.I. bedeutet. Diese Bewegung Jorns aus der S.I. heraus lässt sich selbst wiederum als Widerstand deuten, den er - nun von außen - in die Gruppe einführt. Die Phase der gemeinsamen Bewegung hat jetzt zumindest offiziell ein Ende - um sich neu zu sortieren, um eine neue Situation zu konstruieren, die eine Fortsetzung dieser Bewegung ermöglicht. »Um den situationistischen Aspekt zu bewahren, muss man die Geschwindigkeit brechen. Wir haben gesehen, dass das genau die vitale Aktion ist. [...] Die Bewegung ohne Bruch ist automatisch und existiert nicht.«417 Dass dieser Austritt bereits im Vorfeld sehr eng mit Debord abgesprochen und von diesem auch gutgeheißen wird, da er die von der S.I. geforderte Endgültigkeit einer solchen Entscheidung - anders als im Falle Constants - akzeptiert, deutet bereits darauf hin, dass der Austritt Jorns 414 | Ohrt (1997), S. 247. 415 | Andersen (2001), S. 366. 416 | Asger Jorn zitiert in: Ohrt (1997), S. 168. 417 | Asger Jorn zitiert in: ibidem.
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verglichen mit demjenigen Constants ganz andere Konsequenzen hat. Denn während Constants Austritt in Folge der sich daran anschließenden Auseinandersetzungen mit Debord letztendlich die gleichen Folgen hat wie ein Ausschluss - den vollständigen Kontaktabbruch -, so ist Jorns Austritt der einzige Fall in der Geschichte der S.I., in dem die Potentiale des Austritts, seine für beide Seiten erkennbaren Vorteile gegenüber einem Ausschluss, voll genutzt werden. Dies betrifft im speziellen Fall Jorns zunächst einmal die Fragen der Finanzierung der S.I.: War diese während seiner Mitgliedschaft unter theoretischen Gesichtspunkten immer problematischer geworden, so ist sie nach seinem Austritt wieder möglich - wenn auch als klandestine. Offiziell ist Jorn nicht mehr Mitglied der S.I. und daher kann selbstverständlich nach außen versichert werden, dass damit auch seine finanzielle Unterstützung der S.I. beendet ist. Hinter den Kulissen bleibt jedoch alles beim Alten, wie dies Jorn und Debord bereits im August 1960 abgesprochen haben. Auch für diese monetären Fragen also ist die freundschaftliche Verbindung zwischen Debord und Jorn von entscheidender Bedeutung, da sie den Raum dafür bietet, die anstehenden Finanzfragen nach Jorns Austritt vor allem innerhalb dieser Dyade zu klären. Jorn legt Wert darauf, die S.I. weiterhin zu finanzieren, und Debord obliegt es, dieses Geld - dessen Herkunft jedoch auch für die übrigen Mitglieder bestenfalls ein offenes Geheimnis gewesen sein dürfte - innerhalb der Gruppe zu verteilen. Wie bereits während seiner Mitgliedschaft418 werden die Finanzfragen zunächst diskret zwischen Debord und Jorn geregelt und innerhalb der Gruppe dann auch nur den betroffenen Mitgliedern mitgeteilt.419 Dabei sind die Wege, die das Geld von Jorn in die S.I. nimmt, oft sehr verschlungen, selten zahlt er direkt an Debord oder an ein anderes Mitglied der Gruppe. Ein Beispiel für einen solchen Finanztransfer findet sich im Umfeld der Konferenz von Göteborg im August 1961. Jorn schreibt hier an Debord »J’ai ecrit a Nash de t’avancer 5000 kr. suédois (pour la revue) que il doit avoir la bas pour moi.«420 Jorn leitet das Geld über seinen Bruder Nash an Debord weiter. Dieser wiederum ist dafür zuständig, es Jacqueline de Jong zukommen zu lassen.421 Der Schwerpunkt der Finanzierung der S.I. durch Jorn ist bis 1965 auszumachen, und er hält auch dann an ihr fest, wenn er sich selbst in finanziellen Schwierigkeiten befindet. Zumindest punktuell dauert die Unterstützung sogar bis 418 | Vgl. Debord (1999), S. 286f., an Asger Jorn, 31.12.1959 sowie Debord (2001), S. 67f., an Asger Jorn, 31.1.1961. 419 | Vgl. ibidem, S. 162, an Uwe Lausen, 9.9.1962; Debord (2003), S. 35f., an Jeppesen Victor Martin, 8.5.1965 sowie Debord (2004a), S. 486, an Gianfranco Sanguinetti, 22.1.1972. Erst in den letzten Jahren werden Finanzfragen innerhalb der Gesamtgruppe diskutiert und es kommt zum Streit um die Gelder (vgl. ibidem, S. 132ff.; S. 283f. und S. 290f.). 420 | Asger Jorn zitiert in: Debord (2001), S. 105, Anmerkung 1, Orthographie wie im Original. 421 | Vgl. ibidem, S. 105, an Jacqueline de Jong, 31.8.1961.
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zur Auflösung der Gruppe an.422 Nicht nur intern wird dabei - soweit dies möglich ist - die Herkunft des Geldes verschleiert, vor allem nach außen wird Wert darauf gelegt, dass die S.I. nicht mit Jorn in Verbindung gebracht oder gar seine Finanzierung publik wird.423 So heißt es im Zusammenhang mit dem Anschlag auf das Büro der S.I. im dänischen Randers im März 1965:424 »Jorn veut nous aider, mais pas en se lançant ouvertement dans la bataille (sauf si les choses deviennent plus graves); et je préfère cette solution: que l’I.S. se défende - et attaque - seule! L’aide que Jorn doit te donner, c’est, à mon avis, avant tout, une aide économique. De l’argent. Plus, peut-être, des relations utiles (avec des imprimeurs ou même des galeries s’il veut). [...] Si Jorn peut faire plus, tant mieux! [...] [I]l n’est plus très riche.«425
Auch wenn diese Fragen der Finanzierung der S.I. bereits deshalb aufschlussreich sind, da sie verdeutlichen, wie wenig sich sowohl für Jorn als auch für die S.I. durch seinen Austritt ändert, werden sie ab der Abspaltung der ›Nashisten‹ und der Gründung der 2. Situationistischen Internationale im Frühjahr 1962 noch interessanter, da hier deutlich wird, dass Jorn seine Finanzmittel sehr strategisch einsetzt und so nicht zuletzt versucht, sein Konzept der in eine Bewegung einzuführenden Widerstände umzusetzen. Denn so bedingungslos und teilweise beinahe selbstlos, wie er die S.I. unterstützt, so selbstverständlich nimmt er sich nach seinem Austritt die Freiheit heraus, auch andere Gruppen insbesondere die Gegner und die Abtrünnigen der S.I. aufzubauen und finanziell zu unterstützen. Nach ihrem Ausschluss bzw. ihrer Abspaltung im März 1962 gründen offiziell Elde, de Jong, Larsson, Lindell, Nash und Strid in Skandinavien die 2. Situationistische Internationale und das Bauhaus Situationniste,426 doch die treibende Kraft hinter dieser Gründung ist niemand anderes als Jorn. »So gehört er als Geheimmitglied auch zu den skandinavischen Situationisten und finanziert zu der Zeit zwei Organisationen.«427 Doch nicht nur die 2. Situationistische Internationale und ihre Zeitschrift Drakabygget wird von Jorn finanziert, sondern auch die von de Jong herausgegebene Situationst Times kann nur mit seiner Unterstützung erscheinen, wie de Jong verdeutlicht: »Asger Jorn a payé les trois premiers numéros. Ensuite, nous avons partagé les frais. 422 | Vgl. Debord (2004a), S. 486, an Gianfranco Sanguinetti, 22.1.1972. 423 | Auch Jorns zwischenzeitliche Finanzprobleme - und die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten für die S.I. - sollen nicht nach außen durchdringen (vgl. Debord (2001), S. 162, an Uwe Lausen, 9.9.1962). 424 | Vgl. Situationistische Internationale (1966e). 425 | Debord (2003), S. 35, an Jeppesen Victor Martin, 8.5.1965, Hervorh. im Orig. 426 | Auch die einen Monat zuvor ausgeschlossenen Mitglieder der SPUR stehen in enger Verbindung zu dieser 2. Situationistischen Internationale (vgl. Morell (1981) sowie Slater (2001)). 427 | Ohrt (1997), S. 262. Dass Jorn dies finanziell möglich war, lag auch an seiner nach dem Austritt aus der S.I. wieder intensivierten Tätigkeit und seinem Erfolg als Maler (vgl. ibidem, S. 247).
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La revue était essentiellement financée par les ventes de nos tableaux. [...] Asger m’a aidée jusqu’au bout.«428 Diese Skizze der verschiedenen Finanzierungsprojekte Jorns lässt zwei interessante Schlussfolgerungen zu: Zum einen ist erkennbar, dass für Jorn die finanzielle Unterstützung nicht von einer wie auch immer gearteten engen interpersonellen Beziehung zu trennen ist: Mit der S.I. ist Jorn durch die Freundschaft mit Debord verbunden, die 2. Situationistische Internationale wird von seinem Bruder Nash geleitet und die Situationist Times wird von seiner damaligen Lebensgefährtin de Jong herausgegeben. Die idealtypisch auf Symmetrie basierenden interpersonellen Beziehungen wie Freundschaft, Verwandtschaft und Partnerschaft/Liebe stehen hier also nicht im Widerspruch zum asymmetrischen Phänomen der Gönnerschaft, sondern sind aufs engste mit ihm verbunden; sie sind die Bedingung dafür, dass Jorn zu einer solchen finanziellen Unterstützung bereit ist. Geld scheint für Jorn einfach nur eines der Tauschobjekte innerhalb einer solchen Zusammenarbeit zu sein und gleichberechtigt neben Ideen oder Kontakten zu stehen. Entscheidend ist die Gesamtsymmetrie des Austauschs, die sich eben auch aus gegenläufigen Asymmetrien bezüglich der einzelnen Tauschgüter entwickeln kann. Zum anderen wird aus seiner Finanzierung einander feindlich gesinnter Gruppen deutlich, dass die finanzielle Ebene als Teil des weiteren Potlatch für ihn stets auch mit der inhaltlichen Ebene verbunden ist und ihm die Möglichkeit gibt, seine Idee der produktiven Widersprüche bzw. sein zentrales theoretisches Konzept des triolektischen Denkens429 umzusetzen. Durch seine Finanzierung der S.I., der 2. Situationistischen Internationale und der Situationist Times spannt er gewissermaßen ein Dreieck von Widersprüchen auf - in der Hoffnung, dass diese sich gegenseitig befruchten. »Über das Jahr 1962 glaubte Jorn, in beiden Internationalen wirken zu können, um wenigstens unter der Hand die gegeneinander gerichteten Angriffe zu einem gemeinsamen Spiel zu arrangieren, bis sich eine bessere Organisationsform ergeben oder die Praxis neue Möglichkeiten eröffnet hätte.«430 Das finanzielle Engagement Jorns nach seinem Austritt aus der S.I. ist also nicht von seiner inhaltlichen Mitarbeit zu trennen. Wenn Jorn nun aber sogar seine finanzielle Unterstützung der S.I. fortsetzt, die einen der Gründe für seinen Austritt lieferte und diese zugleich, wie gezeigt, nicht frei ist von inhaltlichen Implikationen, so dürfte es nicht verwundern, wenn auch seine explizit inhaltliche Mitarbeit am Projekt S.I. mit seinem Austritt nicht plötzlich zu einem Ende findet hatte er doch bei seinem Austritt explizit seine vollständige inhaltliche Übereinstimmung mit der S.I. betont. Diese weitere inhaltliche Betei428 | Jong (2001), S. 30. 429 | Auf diesen Ansatz wird zurückzukommen sein. Jorn entwickelt ihn in Heil und Zufall und arbeitet ihn in Die Ordnung der Natur aus. Beide Texte finden sich in Jorn (1997) (vgl. Ohrt (1997), S. 287). 430 | Ibidem, S. 262.
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ligung hat bei Jorn zunächst eine Form oder ein Ausmaß, wie dies vor dem Hintergrund der Konzeption des Austritts durch die S.I. durchaus nicht außergewöhnlich ist. So erscheint beispielsweise in der I.S. Nr. 6 im August 1961 ein Artikel unter seinem Namen.431 Allerdings wird in der redaktionellen Anmerkung, die diesen Text ergänzt, sofort hervorgehoben, dass dieser noch aus der Zeit von Jorns Mitgliedschaft in der S.I. stammt. Dies verwundert etwas, da eine solche Veröffentlichung prinzipiell auch dann möglich wäre, wenn es sich um einen nach seinem Austritt entstandenen Text handelt.432 Es scheint hier ein großes Abgrenzungsbedürfnis der S.I. gegenüber Jorn - und womöglich auch umgekehrt - zu geben, denn dies wird das letzte Mal sein, dass Jorns Name im direkten Zusammenhang mit der S.I. - sei es intern oder nach außen - erwähnt wird. Jorns Name verschwindet, Jorn selbst taucht nur ab, geht namentlich in den Untergrund, um aus diesem in George Keller verwandelt mehr oder weniger direkt nach seinem Austritt433 wieder aufzutauchen.434 Doch alleine aus dem Abgrenzungsbedürfnis oder der bei der S.I. immer wieder zu beobachtenden Vorliebe fürs Spielerische lässt sich dieses aufwändige Versteckspiel kaum erklären - schließlich wird für Jorn kurzerhand die bislang unbekannte und den sonstigen Mitgliedschaftsregelungen der Gruppe zuwider laufende Kategorie des ›Geheimmitglieds‹ erfunden.435 Auf diesen Sonderstatus von Jorn weist auch Debord explizit hin: »Avec George Keller, nous pensons que c’est une ex431 | Vgl. Jorn (1976). 432 | Dies könnte sogar der Fall sein, wenn man berücksichtigt, dass Jorn bereits im April 1961 aus der S.I. ausgetreten ist, er den Text aber erst im Juli 1961 an Debord schickt (vgl. Debord (2001), S. 98, an Asger Jorn, 8.7.1961). 433 | Vgl. ibidem, S. 92, an Hans-Peter Zimmer, 30.5.1961 sowie ibidem, S. 95, an Hans-Peter Zimmer, 12.6.1961. Interessanterweise stammt diese Idee, Jorn unter einem Pseudonym sofort wieder in die S.I. einzuschleusen und mitarbeiten zu lassen vom SPUR-Mitglied Helmut Sturm (vgl. Sturm (2006), S. 57). 434 | Diese Verwandlung erscheint auch sprachspielerisch interessant: Aus Jorn bzw. jord=dänisch für Erde, Boden wird also der deutsche Keller (vgl. hierzu Ohrt (1997), S. 247). Dazu gesellt sich der aus dem Griechischen stammende Vorname George - auch er als ›Erd(be)arbeiter‹ der Erde direkt verbunden. Jorn lässt somit vom Vornamen den eigenen Nachnamen ausheben. Der im skandinavischen Boden verwurzelte Asger Jørgensen, der sich als Widerstandskämpfer gegen die deutschen Besatzer im 2. Weltkrieg den Namen Asger Jorn gab, sucht sich einen deutsch anmutenden Namen und taucht dadurch auch namentlich gleich zweifach wieder in den Untergrund bzw. Erd-Keller ab. Gleichzeitig ist beim frankophilen Jorn zu vermuten, dass er auch bei der Wahl des Vornamens George Hintergedanken hatte. Denn dieser ist im Französischen der französischen Aussprache von Jorn ebenfalls nicht unähnlich und löscht zudem durch fehlende Erinnerungen die Verbindungen zu seinem Vorleben als Asger Jorn. Die Idee für diesen Namen stammt von seiner damaligen Lebensgefährtin Jacqueline de Jong: »C’est moi qui lui avais trouvé ce pseudonyme, un jour que nous marchions le long de boulevard Kellermann, Paris XIIe. ›Keller‹, en allemand, c’est la cave. Il est devenue ›l’homme de la cave‹.« (Jong (2001), S. 30). 435 | Die Kategorie des Geheimmitglieds, die nur Jorn zugeschrieben wird, verweist zudem auf Chtcheglov, für den die Kategorie des ›Mitglieds aus der Ferne‹ geschaffen wird, um seine Mitgliedschaft in der S.I. zu ermöglichen.
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périence historique. Et nous allons tout faire pour que l’I.S. emploie bien les conséquences de cette aventure.«436 Jorns Austritt ist mehr als ein Austritt und weniger zugleich, er ist ein Abtauchen, ein Verschieben der Koordinaten, die Konstruktion einer neuen Situation. Nicht nur, dass nach dem Ende seiner Mitgliedschaft weiterhin der Informationsaustausch zwischen Jorn und der S.I. aufrechterhalten wird, es geht hier um mehr als die üblicherweise nach dem Austritt mögliche Zusammenarbeit zwischen der S.I. und Jorn, es handelt sich um die Mitarbeit von Jorn in der S.I. Es geht um einen nach außen kommunizierten Austritt, der in dieser Form nie stattgefunden hat und im Inneren der Gruppe gerade die Fortführung oder gar Intensivierung des Ideenpotlatches ermöglicht. Jorn werden durch seine Befreiung aus dem engen und offiziellen auf der Mitgliedschaft basierenden Gruppenrahmen neue Möglichkeiten eröffnet, er befindet sich von nun an außerhalb und innerhalb der S.I. - die Kategorie der Mitgliedschaft wird für ihn um eine paradoxe Dimension erweitert. Doch ganz neu sind die Möglichkeiten, die Jorn durch seine Bewegung vom Mitglied zum Geheimmitglied entstehen, nicht; es wird ihm lediglich möglich, auch weiterhin sein triolektisches Konzept auf die S.I. anzuwenden, die in der S.I. vorhandenen Widersprüche nunmehr von außen zusammenzuhalten - oder dies zumindest zu versuchen. Jorn denkt und agiert oftmals in Dreiecks-Konstellationen, in denen er mal vermittelnd, mal provozierend auftritt - immer mit dem Ziel, die sich widersprechenden Eckpunkte aneinander zu binden, um so im Inneren des Dreiecks ein Spannungsfeld zu erzeugen, das für die S.I. inhaltlich produktive Ergebnisse hervorbringt. Dass es Jorn nicht darum geht, die Eckpunkte des Dreiecks auf eine Linie oder gar einen Punkt zusammenzuführen, sondern sie als Dreieck aufrechtzuerhalten, wird deutlich, wenn man die Dreieckskonstellationen Jorns im Zeitverlauf betrachtet und seine Bewegung von einem Dreieck zum nächsten untersucht. Zunächst einmal lässt sich bereits die Gründung der S.I., an der Jorn ja maßgeblich beteiligt war, in diesen Kontext einordnen, da hier die drei Gruppen der L.I., des M.I.B.I. sowie des Psychogeographischen Komitees zu einer solchen Dreieckskonstellation zusammengeführt werden, auch wenn - oder aus Sicht Jorns: gerade weil - die dadurch entstehenden Spannungen von Anfang an klar erkennbar sind.437 Als dieses anfängliche Dreieck innerhalb der S.I. durch die Ausschlüsse von Rumney sowie Olmo, Simone und Verrone zu zerfallen droht, versucht Jorn sofort wieder, einen Widerspruch innerhalb der Gruppe aufzubauen. Denn auch die »Vorgänge zwischen München, Paris und Amsterdam können wir auf diese Weise interpretieren. Während Jorn Debord dazu drängte, Constant in das Gefüge der S.I. hineinzuziehen, und die ideologischen Hindernisse geschickt beiseite geschoben waren, suchte er in 436 | Debord (2001), S. 95, an Hans-Peter Zimmer, 12.6.1961, Hervorh. im Orig. 437 | Geht man in der ›Gruppengeschichte‹ Jorns zurück, findet man weitere konstruierte Dreieckskonstellationen: Sowohl der von Jorn ins Leben gerufene M.I.B.I. also auch die CoBrA gehen aus drei teils sehr unterschiedlichen Gruppen hervor.
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München einen neuen Gegensatz, der das Gleichgewicht zu den antikünstlerischen Tendenzen hielt und erneut Wahlmöglichkeiten herstellte.«438 Jorn holt also Anfang 1959 mit den Holländern und der Gruppe SPUR gezielt neue Widersprüche, neue Positionen in die S.I. hinein, um diese weiterhin als Dreieck mit den Eckpunkten - etwas schematisch formuliert - Theorie, Architektur und Malerei aufrechtzuerhalten. Doch auch dieses Spannungsfeld beginnt bereits Anfang 1960 mit den Ausschlüssen der holländischen Architekten und der italienischen Maler sowie dem folgenden Austritt Constants wieder zu zerfallen. Jorn versucht zwar in der Folgezeit, durch die Vergrößerung der skandinavischen Sektion den Eckpunkt der Malerei weiter zu stärken, die Konstruktion eines neuen Dreiecks jedoch gelingt ihm nicht. Nicht zuletzt deshalb konzentriert er sich nun auf das Münchner Umfeld, um gewissermaßen eine Ebene tiefer innerhalb der Malerei weiterhin triolektisch agieren zu können, denn »in München gestattete ihm der Kontakt zur Gruppe SPUR, sich in einem ähnlichen Mobile zu bewegen. Die Verbindung zur Galerie van de Loo und in einem weiteren Kreis zur Münchener Kunstszene überhaupt durchkreuzte er mit dem Kontakt zu den jungen Malern von der Akademie. So sahen sich auch hier die üblichen Erwartungen an den erfolgreichen Maler mit einer Entscheidung konfrontiert, die zu verstehen und zu akzeptieren nicht einfacher wurde, als er mit der Gruppe SPUR freche Manifeste in Umlauf brachte und Provokationen organisierte.«439
Doch auch dieses ›Ausweichdreieck‹ Jorns zerfällt schließlich im April 1961 durch den zumindest offiziell vollzogenen Bruch mit van de Loo. Insgesamt lassen sich also bereits während Jorns Mitgliedschaft mindestens drei solche Konstellationen auf verschiedenen Ebenen innerhalb der S.I. ausmachen, die die Bedeutung dieser Art der Situationskonstruktion für Jorn verdeutlichen. Tritt man nun von den konkreten Dreieckskonstellationen einen Schritt zurück und betrachtet die Gesamtsituation während Jorns Mitgliedschaft, so lässt sich die S.I. insgesamt »als eine Möglichkeit, als eine Position beschreiben, die mit Jorn und dem Kunstmarkt ein bewegliches Dreieck, eine ›Situation‹ bildet. Die S.I. war eine begründete Unverträglichkeit, die es Jorn gestattete, sich zu deplazieren, um sich erneut zu orientieren, um die Möglichkeiten und die Bedingungen kennenzulernen und in Bewegung zu halten.«440 Diese Funktion als Situation bewusst konstruierter Unverträglichkeiten jedoch beginnt die S.I. sowohl als Ganze als auch in Bezug auf einzelne Konstellationen in ihrem Inneren im April 1961 mehr und mehr zu verlieren. Jorn sieht keine Möglichkeit mehr, in der bisherigen Anordnung mit ihm selbst als Mitglied, d.h. als einer Position innerhalb der Gruppe, solcherlei 438 | Ohrt (1997), S. 287. 439 | Ibidem. 440 | Ibidem.
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Widersprüche herzustellen und aufrechtzuerhalten. Und genau diese Tatsache, dass die S.I. ihm als offiziellem Mitglied keinen Raum mehr für sein »Spiel der drei Positionen«441 bietet, dürfte der ›persönliche Grund‹ für seinen Austritt gewesen sein. Wie bereits skizziert wurde, ändert sich durch Jorns Austritt nur wenig an der Art und Weise und dem Umfang seiner inhaltlichen Mitarbeit in der S.I. - statt von einem Austritt sollte man aus der Innenperspektive der S.I. besser von einer Änderung des offiziellen Status, von einer Auswechslung sprechen, einer Auswechslung auf der Ebene des Namens. Jorn positioniert sich neu und bleibt in Bewegung - gerade indem er in die automatisch gewordene Bewegung der S.I. mit seinem Austritt einen Widerstand, einen Bruch einführt. Denn auch nach seiner Verwandlung in George Keller beteiligt er sich aktiv an den Debatten der S.I., nimmt an Konferenzen und Sitzungen des Conseil Central teil und versucht weiterhin, sein Dreiecksdenken in die Tat bzw. in der S.I. umzusetzen. Vier Monate nach Jorns Austritt findet in Göteborg die fünfte Konferenz der S.I. statt; Jorn ist zwar nicht persönlich anwesend, reicht aber eine schriftliche Erklärung ein, die für die Diskussion der Konferenz zentral ist und die explizit versucht, die Auseinandersetzungen innerhalb der Gruppe im Sinne der jornschen Widerstandslehre zu nutzen. Im Kern verlangt Jorn, »daß die beiden Positionen, zu denen er sich ohne Schwierigkeiten in Beziehung setzen konnte, ihre Beweglichkeit unter Beweis stellten und selbst zu einer Überwindung ihres Gegensatzes fanden.«442 Aus den zwei Positionen innerhalb der S.I. - der künstlerischen und der anti-künstlerischen - soll so in Kombination mit der neu geschaffenen Position Kellers wieder eine triolektische Struktur geschaffen werden. Grundlage hierfür ist seine Forderung nach der »Beherrschung der umherschweifenden dynamischen Einheit und eine genaue Kenntnis der Äquivalente, um wirkliche Störungen des Gleichgewichts als Ausgangspunkt aller Spiele herzustellen.«443 Deutlich wird hierbei wiederum Jorns Idee der Kraft des Widerspruchs, der aus dem Wechselspiel von zentrifugal wirkenden Gegensätzen und des zentripetal wirkenden Grundkonsenses entstehenden produktiven Dynamik. Diese Dynamik, die aus den innerhalb der S.I. zusammenzubringenden Verschiedenheiten resultiert, will Jorn »gegen die Sterilität ins Spiel [...] bringen, gegen die rationalistische Homogenität und die Gleichgültigkeit der wissenschaftlichen Gleichschaltung.«444 Jorn formuliert hier sehr deutlich, dass er die S.I. selbst und die in ihr stattfindenden Prozesse als das erste und engste Erprobungsfeld ihrer theoretischen Ansätze, als Praxis dieser Theorie auffasst. Die in der S.I. erkennbaren Gegensätze - zu diesem Zeitpunkt diejenigen zwischen Paris und München - sind nur im Zusammenspiel produktiv, jede Seite für sich genommen droht der Langeweile 441 | Ohrt (1997), S. 287. 442 | Ibidem. 443 | Asger Jorn zitiert in: Situationistische Internationale (1962a), S. 282. 444 | Asger Jorn zitiert in: Ohrt (1997), S. 260.
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anheim zu fallen. Genau dies versucht Jorn nun zu umgehen, indem er ein Auseinanderdriften der beiden Positionen durch ein ›Zusammenzwingen‹ der Gegensätze innerhalb der S.I. zu verhindern sucht. »Es geht Jorn darum, die Gegensätze so gegeneinander zu stellen und miteinander zu verbinden, daß ein wirkliches Ungleichgewicht entsteht, ›Ausgangspunkt aller Spiele‹; er verlangt von den verschiedenen Standpunkten mithin, sich im Wissen um tiefere Übereinstimmung dem Konflikt zu öffnen, und er rät der Diskussion, die Einheit der S.I. wirklich auf eine Probe zu stellen. Die Konferenz war zu beidem nicht fähig.«445
Letztendlich führt die Unfähigkeit oder der Unwillen der S.I., Jorns Vorschlag umzusetzen, zur Verschärfung der Konflikte, ohne jedoch deren produktives Potential zu nutzen. Ganz im Gegenteil driften die Positionen immer weiter auseinander, bis sie im Februar und März 1962 nicht mehr in der S.I. zusammengehalten werden können und sich die Wege der künstlerischen und der anti-künstlerischen Fraktion durch den Ausschluss der SPUR und die Abspaltung der Skandinavier um Nash endgültig trennen. Damit aber ist Jorns Projekt, durch seine eigene Austrittsbewegung nochmal Bewegung in die Konstellationen innerhalb der S.I. zu bringen, gescheitert. Zumindest ist Jorns Ansatz, sein Dreiecksdenken auf verschiedene Weisen innerhalb der S.I. umzusetzen, gescheitert. An der Idee hält er dennoch fest und unternimmt eine letzte Bewegung, indem er indirekt auf die Spaltung im Frühjahr 1962 hinarbeitet und versucht, die so entstehende Verschiebung der Positionen nochmals als Chance zu nutzen. Denn interessanterweise ist Jorn bei genau der Sitzung des Conseil Central im Februar 1962 anwesend, auf der der Ausschluss der SPUR verkündet wird - doch nicht nur das. Er sorgt zudem maßgeblich dafür, dass es in Folge dieses Ausschlusses nur einen Monat später im März 1962 auch noch zur Abspaltung der Skandinavier kommt. »Jorn sah die Gerichtsszene von der Seite. Ihm zur Linken saß die SPUR und ihr gegenüber konnte er Debord, Kotányi, Lausen, Nash und Vaneigem auf der Richterbank beobachten. Die Situation war so noch nicht wirklich geklärt. Nash und de Jong fühlten sich überrumpelt. Jorn bekräftigte sie, provozierte die Idee, den vorformulierten Zentralratsbeschluß anzuzweifeln und eine Gegenerklärung zu drucken. Damit konnte die Trennung der Gegensätze abgeschlossen werden.«446
Was Ohrt hier als Trennung der Gegensätze bezeichnet, ist genau genommen nur eine Trennung der Gegensätze innerhalb der S.I. und ihre Freisetzung aus diesem engen Rahmen. Eine Freisetzung, die - wie sich in der Folge zeigen wird - für Jorn nicht mit dem Ziel der Aufhebung 445 | Ohrt (1997), S. 261. 446 | Ibidem, S. 262.
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der Gegensätze verbunden ist, sondern vielmehr dazu dienen soll, diese auch weiterhin gegeneinander auszuspielen. Nachdem der Aufbau spannungsreicher Dreiecke innerhalb der S.I. nicht realisierbar war, geht Jorn nun dazu über, eine Konstellation zu entwickeln, in der die S.I. als Ganze nurmehr einen Eckpunkt eines solchen Dreiecks bildet. Zwei Eckpunkte dieses Dreiecks in den Jahren ab 1962 lassen sich, wie oben im Zusammenhang mit den Finanzfragen bereits angedeutet, leicht ausmachen: zum einen die S.I. und zum anderen die von Nash und den übrigen Skandinaviern gegründete 2. Situationistische Internationale, in der auch das bereits 1960 von Jorn gegründete Bauhaus Situationniste aufgeht. Die zwischen diesen beiden Gruppen herrschenden Gegensätze treten klar hervor und führen zu einer intensiven, vor allem in den jeweiligen Zeitschriften I.S.447 und Drakabygget 448 ausgetragenen Auseinandersetzung. Jorn engagiert sich nicht nur finanziell, sondern auch inhaltlich in beiden Gruppen,449 unterstützt aktiv deren Widersprüchlichkeit. Die dritte Position in diesem Spiel ist weniger klar zu erkennen. Ein erster Kandidat wäre die Gruppe SPUR, zu der Jorn auch nach dem Februar 1962 weiterhin Kontakt hält und die auch immer wieder, wie bereits im Jahr 1961, zu den Treffen der 2. Situationistischen Internationale nach Skandinavien reist. Diese enge Zusammenarbeit mit den Skandinaviern jedoch ist der Grund, warum die SPUR für Jorn mehr und mehr ihren Charakter als wirklich eigenständige dritte Position verliert. Zwar besteht sie formell als eigenständige Gruppe weiter, gibt aber aus Sicht Jorns immer mehr ihre künstlerische Eigenständigkeit auf.450 Zugleich steht die SPUR nach ihrem Ausschluss anfangs aufgrund der gegen sie angestrengten Gerichtsverfahren noch mit Debord und der S.I. in Kontakt. Bei Kunzelmann und Zimmer dauern diese Kontakte, wenn auch als indirekte Verbindung über Rodolphe Gashé, sogar noch länger an.451 Die SPUR ist mit beiden Eckpunkten verbunden, teilt sich auf die zwei bereits bestehenden gegensätzlichen Positionen auf, wird zwischen ihnen aufgerieben - eine dritte Position kann sie bis zu ihrer Auflösung 1966 nicht dauerhaft etablieren. Als weiterer Kandidat für den dritten Eckpunkt des jornschen Dreiecks ist die von de Jong herausgegebene Situationist Times452 ins Auge 447 | Vgl. Situationistische Internationale (1962d), S. 311f.; Situationistische Internationale (1963e), S. 30ff. sowie Situationistische Internationale (1963g), S. 76f. 448 | Vgl. Nash, Jørgen et al. (1962) sowie Nash, Jørgen/Jens Jorgen Thorsen/Hardy Strid/Ambrosius Fjord (sic!) (1963). Teilweise erschienen diese Stellungnahmen der 2. Situationistischen Internationale auch in der Situationist Times (vgl. Jong (1962) sowie Nash (1964)). 449 | Wie kritisch Jorn auch in den Folgejahren die Aktivitäten der S.I. beobachtet, verdeutlicht der Briefwechsel mit Debord aus dem Jahr 1964 (vgl. Debord (2001), S. 277ff., an Asger Jorn, 13.1.1964). 450 | Vgl. Ohrt (1997), S. 288. 451 | Vgl. zu dieser erneuten Annäherung zwischen der S.I. und den SPURMitgliedern Kunzelmann und Zimmer u.a. Debord (2001), S. 164ff., an Rodolphe Gashé, 22.9.1962. 452 | Vgl. hierzu den Überblick von Bourseiller (2003b).
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zu fassen. Auch wenn diese ursprünglich noch von der S.I. als englischsprachiger Ableger der I.S. geplant war,453 so steht sie doch ab ihrer ersten Nummer, die im Mai 1962 und somit erst nach de Jongs Ausschluss erscheint, in klarer Opposition zur S.I. Dies betrifft zunächst sowohl die Konzeption als auch das Layout, die sich grundsätzlich von der I.S. unterscheiden. Vor allem aber arbeiten an der Herausgabe dieser Zeitschrift neben de Jong diverse Personen mit, deren Beteiligung nur als Affront, als Front gegen die S.I. gewertet werden kann. Zu nennen sind hier in erster Linie der Pataphysiker und OuLiPien Noël Arnaud, der Schriftsteller und Musiker Boris Vian, zudem Jorns ehemalige CoBrA-Mitstreiter Pierre Alechinsky und Christian Dotremont, aber auch viele inzwischen ausgeschlossene Situationisten wie Elde, Jorn, Nash, Simondo sowie der der Gruppe SPUR nahestehende Rodolphe Gashé. Durch diese personelle Struktur und die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Ausschluss der SPUR und der skandinavischen Situationisten bildet die Situationist Times also im Hinblick auf die S.I. einen klaren Gegenpol, das von Jorn gewünschte Ungleichgewicht. Dies wird auch an den Reaktionen der S.I. deutlich: »Zu gleicher Zeit wurde eine kleine, vollkommen leere Zeitschrift - ›Situationist Times‹ - in Holland veröffentlicht, die sich durch diese besondere Eigenschaft auszeichnet, nur dadurch ›situationistisch‹ zu sein, dass sie gegen die S.I. gerichtet ist, während ihre zahllosen Gelegenheitsmitarbeiter nie Situationisten gewesen sind und nicht einmal daran denken, damit zu prahlen - mit der einzigen Ausnahme einer der beiden Herausgeber, der 18 Monate lang S.I.-Mitglied war und darüber reichlich erzählen kann.«454
Was jedoch beim Blick auf den Inhalt und die Mitarbeiter der Situationist Times zugleich auffällt, ist die bei den ersten Ausgaben fehlende klare Abgrenzung gegenüber der 2. Situationistischen Internationale. Die Situationist Times ist anfangs vor allem das Sprachrohr der ausgeschlossenen skandinavischen und deutschen Situationisten in der Auseinandersetzung mit der S.I. - eine wirklich eigenständige Profilierung als dritte Position ist auch hier kaum auszumachen. Eine solche ist erst ab der dritten Nummer im Januar 1963 etwas deutlicher zu erkennen, als Jorn immer stärker auf die inhaltliche Ausrichtung der Zeitung einwirkt. Hiermit sind wir beim dritten Kandidaten für die noch fehlende Position im jornschen Dreieck angelangt - eine Position, die Jorn selbst zu etablieren versucht. Denn auch wenn Jorn in den Jahren nach seinem Austritt aus der S.I. sehr eng sowohl mit der S.I. als auch mit der 2. Situationistischen Internationale zusammenarbeitet, so eröffnet er sich doch noch ein davon unabhängiges drittes Arbeitsfeld und gründet
453 | Vgl. Situationistische Internationale (1962a), S. 280f. 454 | Situationistische Internationale (1963e), S. 30.
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wohl noch im Jahr 1961 das Skandinavische Institut für vergleichenden Vandalismus.455 »Jorn coordinated and financed it all, and provided a philosophical framework for the project to inhabit. The ideas of the Institute are informed by Situationism, as a counter-modernist philosophy, as well as by Jorn’s personal experience of the difficulty of co-operation across boundaries of culture and thought. [...] Jorn and the Institute worked in compliance with the de-centred structure of the mapping and the derivé [sic!] but also with a great sensibility to myth, to the un-spoken and the irrational.«456
Als Publikationsorgan für diese dritte Position nutzt Jorn ab 1963 immer stärker die Situationist Times, die von nun an Ausgaben zu Themen wie ›Ring‹, ›verschränkte Ringe‹ und ›Kette‹ publiziert und versucht, Zusammenhänge zwischen diesen drei Begriffen und verschiedenen Aspekten von Jorns Überlegungen zur Topologie herauszuarbeiten. Inhaltlich scheint es Jorn, anders als der SPUR und der frühen Situationist Times, auf diese Weise zu gelingen, mit dem Skandinavischen Institut für vergleichenden Vandalismus einen wirklichen dritten Gegenpol zur S.I. und zur 2. Situationistischen Internationale aufzubauen. Zur Herausbildung eines wirklichen Dreiecks reicht dies jedoch trotzdem nicht aus, da die thematische Entfernung dieser dritten Position in diesem Falle zu groß ist, als dass sie sich mit den beiden anderen Punkten in ein spannungsvolles Verhältnis von produktiven Widersprüchen bringen ließe. Dies wird auch daran erkennbar, dass sich die S.I. nie inhaltlich zu diesem Projekt Jorns, sei es kritisch oder zustimmend, äußert und die beiden Positionen vielmehr reibungslos nebeneinander existieren. Jorns Versuch, durch seinen Austritt nochmals von außen eine triolektische Situation mit der gesamten S.I. als einer Position in diesem Spannungsgefüge zu konstruieren, ist somit insgesamt gescheitert. Dieses Scheitern wird noch deutlicher und endgültiger, wenn man berücksichtigt, dass der Konflikt zwischen der S.I. und der 2. Situationistischen Internationale ab 1963/64 immer mehr an Schärfe und Bedeutung verliert457 , dass sich zudem die Gruppe SPUR mehr und mehr in interne Konflikte zurückzieht, bevor sie sich 1966 endgültig auflöst, und dass die Situationist Times zwar ihre Eigenständigkeit gegenüber der 2. Situationistischen Internationale ab der dritten Ausgabe wiedererlangt - allerdings nur, um danach zum Sprachrohr des Skandinavischen Instituts für vergleichenden Vandalismus zu werden. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Jorns Engagement für seine eigenständige dritte Position 1965 ebenfalls zum Erliegen kommt und das Skandinavische 455 | Vgl. Andersen (2001), S. 386f.. Bourseiller hingegen datiert die Gründung auf November 1962 (vgl. Bourseiller (2003c), S. 136). 456 | Vgl. Henriksen (2003), S. 1. 457 | Vgl. die rückblickende Stellungnahme der S.I. in: Situationistische Internationale (1969a), S. 451.
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Institut für vergleichenden Vandalismus seine Arbeit wieder einstellt. Damit aber hat auch Jorns ›Geheimmitgliedschaft‹ in der S.I. für ihn an Bedeutung verloren, genauso wie eine Rückkehr in die Gruppe für ihn aufgrund ihrer mittlerweile erfolgten Vereinheitlichung auf eine, primär politische Position, wenig reizvoll erscheint. Das Abenteuer S.I. ist für Jorn und auch für Keller spätestens im Jahr 1965 endgültig vorbei - nach außen hin sichtbar wird dieser zweite Rückzug jedoch nicht. Wie auch? Jorn ist bereits offiziell aus der S.I. ausgetreten und der unmerklich als Geheimmitglied eingetretene George Keller kann kaum offiziell austreten. So unterirdisch Keller eingetreten ist und agiert hat, so unterirdischunmerklich endet schließlich seine Mitgliedschaft in der S.I. irgendwann im Jahr 1964. Was sind die wichtigsten Aspekte von Jorns Austritt und worin unterscheidet er sich von demjenigen Constants? Zunächst ist festzuhalten, dass die Geschehnisse im Umfeld von Jorns Austritt nicht weniger vielschichtig sind und dieser Austritt die S.I. sogar noch länger beschäftigt hat, als dies bei Constant der Fall war. Beide Austritte sind für die S.I. keine leichte Entscheidung gewesen, da sie jeweils nicht ohne tiefgreifende Folgen für die Gruppe blieben. Sowohl Jorn als auch Constant sind für die S.I. wichtige, um nicht zu sagen zentrale Mitglieder, denen man zwar unter gewissen Umständen die Möglichkeit bietet, aus der Gruppe auszutreten, allerdings in der Hoffnung, dass der Austausch dadurch nicht beendet wird. Damit sind wir bereits beim Ende der Gemeinsamkeiten zwischen den Austritten von Constant und Jorn angelangt. Denn während bei Constant der Austritt und die sich daran anschließende Diskussion eben doch zum Abbruch jeglichen weiteren Austauschs führt, ist bei Jorn deutlich geworden, dass hier die Potentiale des Austritts in vollem Maße und über das in den Mitgliedschaftsregelungen der S.I. vorgesehene Maß hinaus ausgeschöpft werden. So wie Constants Austritt sich letztendlich wie ein Ausschluss auswirkt, so hat auch Jorns Austritt Folgen, die nicht wirklich diejenigen eines Austritts sind - allerdings in entgegengesetzter Richtung. Der Austritt wird zwar formal vollzogen und auch in seiner Endgültigkeit anerkannt, faktisch ändert sich aber an Jorns Rolle in der S.I. bis 1964 nur wenig - lediglich ein namentliches Versteckspiel beginnt. Jorn bleibt der S.I. gerade durch seinen Austritt erhalten - und zwar auf allen Ebenen, auf denen er auch zuvor als Mitglied eine zentrale Rolle gespielt hatte: als Finanzier, als Netzwerker, als kreativer Theorie-Input, als Vermittler zwischen den Positionen und vor allem als produktiver Provokateur. Anstatt wie bei Constant lange über den Austritt und seine Folgen zu diskutieren, wird er nur knapp erwähnt und die Beteiligten konzentrieren sich auch weiterhin auf ihre inhaltliche und finanzielle Zusammenarbeit. Aus einer anderen Perspektive betrachtet, ändert sich jedoch durch die Verwandlung von Jorn in Keller sehr viel in seinem Verhältnis zur S.I.: Durch diese Verschiebung der Positionen ändert sich nicht nur Jorns Blickwinkel und seine Möglichkeiten der Einflussnahme in der und auf die S.I., vielmehr entsteht dadurch
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erst die Möglichkeit, diese Zusammenarbeit fortzusetzen. Durch die Verschiebung der formellen Personenkonstellation wird von und für Jorn eine neue Situation konstruiert, wird ein Widerstand in seine Bewegung innerhalb der S.I. eingeführt, die die produktive Fortsetzung seiner Bewegung mit der S.I. von außen gerade ermöglicht. Jorns Blick ist also, anders als der von Constant, nicht auf die Vergangenheit, sondern auf die Zukunft gerichtet, auf eine Verkettung von Situationen einzelner Bewegungen, von beweglichen Konstellationen. Diese Beweglichkeit Jorns, dieser Freiraum, der ihm in seinem Verhältnis zur S.I. zugestanden wird, basiert zum einen sicherlich auf der finanziellen Bedeutung, der Stellung als Gönner, die Jorn für die Gruppe besitzt. Zum anderen jedoch - und dies dürfte entscheidender sein - resultiert die Beweglichkeit bezüglich der Formen der Zusammenarbeit auf der Konstanz und Stabilität seiner Freundschaft mit Debord.458 Denn in der von gegenseitigem Vertrauen geprägten Freundschaftsdyade werden die meisten Bewegungen Jorns zuvor intern abgesprochen, bevor sie dann - und das auch nur teilweise - an die Gruppenöffentlichkeit kommuniziert werden. Das sowohl bei Jorn als auch Debord besonders ausgeprägte Interesse an einem sich auf verschiedene Felder erstreckenden Potlatch sorgt dafür, dass die beiden Mittel und Wege suchen, ihren gegenseitigen Potlatch und so auch die S.I. als Potlatch fortsetzen zu können - notfalls auch über die eigentlich bestehenden Regelungen bezüglich der Mitgliedschaft hinweg. Jorn hat so mit der Unterstützung Debords die Möglichkeit, sein Strategiespiel der drei Positionen sowohl innerhalb als auch außerhalb der S.I., aber stets für die S.I. zu spielen. Die Freundschaft zwischen Debord und Jorn hält die beiden zusammen, da sie ihnen die Chance zur Beweglichkeit gibt, um neue Konstellationen auszuprobieren, ohne die zugrunde liegende Dyade in Frage zu stellen.459 Genau eine solche Bindungskraft fehlt zwischen Debord und 458 | Entsprechend lobt auch Debord selbst Jorns Beweglichkeit (vgl. Debord (1972), S. 1193). 459 | Die Freundschaft zwischen Debord und Jorn bricht auch dann nicht auseinander, als nicht nur Jorn, sondern auch Keller seine Mitarbeit in der S.I. beendet. Zwar geht der Austausch zwischen Jorn und Debord ab 1965 zunächst etwas zurück, doch ab Mitte 1971 stehen sie wieder in engem Briefkontakt und treffen sich auch ab und an. Inhaltlich umfassen die Briefe eher private Freundschaftsbekundungen (vgl. Debord (2004a), S. 557, an Nanna und Asger Jorn, 4.5.1972), von der S.I. hingegen ist kaum die Rede - und vor allem fällt kein Wort zu deren offizieller Auflösung. Lediglich im Juni 1971 kommt Debord einmal auf die S.I. zu sprechen und deutet ihr nahendes Ende an - »la dernière position que l’I.S. va affirmer« (Debord (1971a), S. 384, an Asger Jorn, 17.6.1971) -, nachdem er Jorn sein Vorwort zur nie publizierten Neuauflage von Pour la forme geschickt hat. In diesem Vorwort (vgl. Debord (1971b); die endgültige Version des Textes findet sich in: Debord (1971a)) arbeitet er in erster Linie den Zusammenhang zwischen diesem Buch und der S.I. heraus, wobei er vor allem die interessante zeitliche Positionierung des Buchs betont. Die Erstausgabe erschien ein Jahr nach der Gründung der S.I., die Neuauflage sollte im Moment ihrer Auflösung in einer größeren Bewegung erscheinen: »Les éditions de ce livre ouvrent et ferment cette parenthèse organisationnelle!« (ibidem, S. 384, an Asger Jorn, 17.6.1971).
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Constant, die inhaltliche Auseinandersetzung im Gruppenrahmen führt hier zur Spaltung der Dyade, während deren Stabilität bei Debord und Jorn gerade eine solche Auseinandersetzung ermöglicht. Die Diskussion zwischen Constant und Debord nach dem Austritt bezieht sich vor allem auf Fragen der Organisationsstruktur bzw. der Regelungen bezüglich der Mitgliedschaft, was aufgrund der zuvor offen genannten inhaltlichen Differenzen bezüglich der theoretischen Positionen verwunderlich ist. Bei Debord und Jorn hätte man im Gegenzug eine solche Diskussion viel eher erwartet, denn schließlich wurden inhaltliche Differenzen von Jorn explizit verneint - und die erwähnten ›persönlichen Gründe‹ deuten ebenfalls in diese Richtung. Dabei erstaunt zunächst Jorns Bekundung seiner vollen inhaltlichen Übereinstimmung, da die inhaltlich-theoretischen Differenzen zwischen ihm und Debord immer klar erkennbar waren. Die Art und Weise von Jorns Austritt macht nun aber deutlich, worin diese Übereinstimmung liegt und was die ›persönlichen Gründe‹ Jorns sind. Die persönlichen Gründe mögen zwar zum Teil mit seiner Stellung in der Gruppe zu tun haben, primär handelt es sich dabei aber um sein Interesse an der Umsetzung seines triolektischen Denkens für die S.I. - nicht zwangsläufig in ihr. Jorns Übereinstimmung mit der S.I. meint nicht unbedingt eine Übereinstimmung in allen konkreten theoretischen Aspekten, sondern vielmehr eine tiefer liegende Übereinstimmung mit Debord. Es handelt sich dabei um die beiderseits dem Potlatch zugemessene Bedeutung, um die Beweglichkeit, um das Erkunden neuer Bewegungsmuster im Sinne von dérive und Psychogeographie, um die Erprobung neuer Personenkonstellationen im Sinne einer andauernden Deplatzierung, im Sinne eines détournement, kurz: um die Konstruktion von Situationen. Die inhaltliche Übereinstimmung von Jorn und Debord bezieht sich somit auf die zentralen Aspekte und Begriffe des situationistischen Theoriegebäudes und - in unserem Kontext noch wichtiger - auf die Auffassung, dass gerade die eigene Gruppe ein erstes Erprobungsfeld der Praxis dieser Theorie darstellen muss.
4.3.8 Austritte revisited: Khayati, Constant, Jorn An dieser Stelle sei noch ein kurzer Rückblick auf die Austritte gestattet. Auch wenn die diesbezüglichen theoretischen Überlegungen der S.I. recht knapp ausfallen, wurde deutlich, dass sie sich im Kern aus den weiteren inhaltlichen Ansätzen der S.I. ableiten lassen. Die theoretischen Überlegungen im Allgemeinen und die theoretischen Überlegungen zur eigenen Gruppenstruktur sind also auch in punkto Austritt aufeinander abgestimmt. Die eigene Gruppe wird von der S.I. als ein Praxisfeld der eigenen Theorie aufgefasst. Im Zentrum steht dabei im Hinblick auf die Option des Austritts die persönliche Freiheit des Einzelnen, sein Anspruch auf Verwirklichung seiner Ideen, die das einzelne Mitglied - sollte sie innerhalb der Gruppe nicht möglich sein - wieder aus der S.I. hinausführen kann. Lässt sich also das Konzept der kollektiven Arbeit an einer
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gemeinsamen Idee aus Sicht des Einzelnen nicht realisieren, schränkt sie ihn ein oder zwingt sie ihn, von seiner Idee abzurücken, so hat er die Option, den engen Rahmen der Gruppe zu verlassen.460 Der Austritt als Ausdruck der individuellen Freiheit gegenüber einem zwangsläufig Beschränkungen mit sich bringenden Gruppenkontext steht also auch in den Überlegungen der S.I. selbst im Zusammenhang mit dem Problem der ›Sozialität der Solitären‹. Vor diesem Hintergrund ist der Austritt eine individuelle oder gar private Entscheidung, und es ist daher nicht weiter erstaunlich, dass ungefähr die Hälfte der Austritte aus der S.I. mehr oder weniger unbemerkt erfolgt, d.h. nicht in der I.S. nach außen kommuniziert wird. Dies ist vor allem bei Mitgliedern der Fall, bei denen bereits der Eintritt relativ unbemerkt erfolgte - es sind somit gewisse Konvergenzen zwischen der Art des Eintritts und des Austritts erkennbar. Daneben gibt es eine weitere Gruppe von Mitgliedern, deren Austritt in der I.S. zwar erwähnt, aber weder dort noch in den internen Schriftwechseln zu größeren Diskussionen führt - man scheint sich mehr oder weniger ›im gegenseitigen Einvernehmen‹ zu trennen. Besonders interessant sind jedoch die wenigen Beispiele von Austritten, die - sei es davor oder danach - zu längeren Debatten innerhalb der S.I. führen, weil sie entweder auf Seiten des Austretenden oder auf Seiten der Gruppe nicht unumstritten sind. Zu nennen sind hierbei vor allem die Austritte von Khayati, Constant und Jorn. Bei diesen drei Beispielen ist erkennbar, dass dem Austritt seitens der Austretenden eine längere Phase des Zögerns und teilweise auch der Diskussion über einen möglichen Austritt vorangeht. Bei Constant ist zu beobachten, dass hier das Zögern auf seiner Seite vorherrscht, während die S.I. sofort die Möglichkeit nutzt, seine Überlegungen zu einem möglichen Austritt als Austrittserklärung zu interpretieren. Die sich daraus entwickelnden Diskussionen, in denen deutlich wurde, dass Constant neben theoretischen Differenzen mit Debord auch mit den grundlegenden Überlegungen zur Kategorie des Austritts und seiner Endgültigkeit nicht einverstanden ist, führen jedoch nicht zu einer Klärung der Unstimmigkeiten, sondern vielmehr dazu, dass die eigentlich im Austritt enthaltenen Potentiale der weiteren Zusammenarbeit ohne den Rahmen der Mitgliedschaft nicht genutzt werden und auch der persönliche Kontakt zwischen Constant und den Mitgliedern der S.I. abreißt. Bei Khayati hingegen ist das Zögern vor dem Austritt auf beiden Seiten erkennbar: Khayati wägt lange ab, ob er aus der S.I. austreten soll und auch die Gruppe äußert ihr Missfallen an dieser Überlegung und versucht, ihn umzustimmen. Letztlich erfolgt der Austritt doch, weil sich beide Seiten an die diesbezüglichen theoretischen Überlegungen - das Verbot von Doppelmitgliedschaften - halten und diese 460 | Interessanterweise behält sich die S.I. jedoch vor, ein Mitglied aus der Gruppe auszuschließen, wenn eine solche Situation eintritt, sie aber vom betroffenen Mitglied selbst nicht als solche wahrgenommen wird. Diese Nähe zwischen Austritt und Ausschluss wurde unter der Kategorie des ›erzwungenen Austritts‹ an den Beispielen von Beaulieu, Cheval und Sebastiani beschrieben.
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keine andere Möglichkeit zulässt. Dennoch werden hier sowohl der inhaltliche Austausch als auch die persönlichen Beziehungen fortgesetzt - schließlich wird sogar eine Wiederaufnahme Khayatis erwogen, dann aber ebenfalls vor dem Hintergrund theoretischer Überlegungen zur Mitgliedschaft nicht umgesetzt. Vergleicht man die Austritte von Khayati und Constant, so scheint das Einverständnis mit den theoretischen Überlegungen der S.I. zum Thema Austritt grundlegend dafür zu sein, dass dessen Potentiale genutzt werden können. Es lassen sich somit zwei Stufen des Zusammenspiels von Theorie und Gruppenpraxis ausmachen. Für die Mitgliedschaft ist zunächst sowohl eine grundlegende Übereinstimmung mit den theoretischen Positionen im Allgemeinen als auch mit den teilweise daraus abgeleiteten Konzeptionen von Mitgliedschaft, Eintritt, Austritt und Ausschluss notwendig. Kommt es auf einem dieser beiden Felder aus Sicht des einzelnen Mitglieds zum Konflikt, so steht diesem die Option des Austritts zur Verfügung. Für die Folgen, die der Austritt für die weitere Zusammenarbeit hat, ist entscheidend, auf welchem der beiden Theoriefelder es zu Differenzen kommt: Handelt es sich dabei um den Bereich der allgemeinen Theorie, so ist weiterer Austausch möglich und erwünscht - hier wirkt sich wohl nicht zuletzt das jornsche Widerspruchs-Denken aus. Handelt es sich aber um Meinungsverschiedenheiten bezüglich der theoretischen Überlegungen zur Funktionsweise der eigenen Gruppe, wie im Fall von Constant, so kann es zum Abbruch jeglicher Beziehungen kommen, da dadurch implizit die Gruppe an sich und ihre Organisationsstruktur bzw. Funktionsweise in Frage gestellt wird. Im letzten hier angeführten Beispiel, dem Austritt Jorns, sind die Hintergründe etwas komplexer. Auch hier wird zwar bei der Begründung des Austritts mit der Frage der Übereinstimmung in den zwei Bereichen der eigenen Theoriebildung argumentiert, letztendlich werden diese Überlegungen in diesem Fall jedoch wahlweise sehr großzügig interpretiert oder gleich übergangen oder für den ›Sonderfall‹ Jorn uminterpretiert. »C’est l’artiste qui est resté le plus longtemps, tout en continuant à faire ce qu’il voulait et à entretenir des relations avec qui il voulait. On peut dire que s’il y avait une discipline interne à l’I.S. qui était de ne plus avoir de rapports avec les exclus, quelqu’un comme Jorn s’asseyait allégrement dessus.«461 Dieser besondere Freiraum, den Jorn hier zugesprochen bekommt, verweist darauf, dass es innerhalb der S.I. Faktoren gibt, die dazu beitragen, dass man sich über die eigenen theoretischen Positionen bezüglich der Kategorie des Austritts - wenn auch so klandestin wie möglich - hinwegsetzt. Dafür ist eine Kombination von mindestens drei Aspekten ausschlaggebend: zum ersten Jorns Bedeutung als wichtiger Theorieproduzent der Gruppe, zum zweiten seine Stellung als finanzieller Gönner und zum dritten seine enge, freundschaftliche Verbundenheit mit Debord. Ein weiterer, im Hintergrund verborgener Faktor 461 | Rumney (1999), S. 45f.
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konnte zusätzlich herausgearbeitet werden: die Tatsache, dass das SichHinwegsetzen über die theoretischen Überlegungen zur Mitgliedschaft und die Schaffung der neuen Kategorie des ›Geheimmitglieds‹ es gerade ermöglicht, die weiteren, allgemeineren Theoriepositionen nicht nur im Ideenpotlatch weiterzuentwickeln, sondern sie zudem in die Praxis zu überführen - wenn auch nur im Rahmen der eigenen Gruppe. Bedingt durch die enge interpersonelle Bindung zwischen Debord und Jorn wird sowohl für Jorn als auch für die S.I. ein neuer Spiel-Raum eröffnet - durch einen Austritt, der kein Austritt ist und unter Umständen stattfindet, der in anderen Fällen, bei anderen Mitgliedern sogar den Ausschluss zur Folge hätte.
4.4 Theorie und Praxis des Ausschlusses Nicht für die Austritte, sondern für die Ausschlüsse ist die S.I. bekannt, denn diese sind es, die von außen in erster Linie wahrgenommen werden. Dies liegt zum einen daran, dass die Zahl der Ausgeschlossenen mit insgesamt 45 diejenige der Ausgetretenen um gut das Doppelte übertrifft, dass also insgesamt ungefähr zwei Drittel der Mitglieder im Laufe der Jahre aus der Gruppe ausgeschlossen wurden. Deutlich wird dadurch, dass die Frage der Zugehörigkeit nicht nur von Seiten der einzelnen Mitglieder als Problem der ›Sozialität der Solitären‹, sondern auch von Seiten der S.I. beinahe permanent gestellt wird und sich die Gruppe sowohl personell als auch inhaltlich in einem andauernden Prozess der Umbildung und Re-Definition befindet - oder sich gezielt in einen solchen Zustand versetzt. Zum zweiten sind es die Ausschlüsse und nicht die Austritte, die nach außen hin, meist in der I.S., kommuniziert und somit bis zu einem gewissen Grad transparent gemacht werden, was darauf hindeutet, dass der Ausschluss für die S.I. kein zu verheimlichendes Problem, sondern ein anerkannter Teil der Gruppenpraxis und auch der diesbezüglichen theoretischen Überlegungen ist. Beide Aspekte zusammen genommen verweisen auf die zentrale Bedeutung, die der Ausschluss für die S.I. hat. »Der Ausschluß spielt in der S.I. eine wesentlichere, eine fundamentalere Rolle als in den übrigen Gruppen der politischen oder künstlerischen Avantgarde. Er hat nichts zufälliges oder taktisches.«462 Diese besondere Bedeutung des Ausschlusses und die bei diesem erkennbare Verwobenheit von Theorie und Praxis wird vor allem daran ersichtlich, dass nicht nur beinahe alle Ausschlüsse erwähnt und erläutert werden, sondern dass der Ausschluss an sich nicht nur als Praxis, sondern ebenso als theoretische Kategorie, als theoretisches Problem reflektiert und mit den weiteren theoretischen Konzepten der S.I. in Zusammenhang gebracht wird. Bevor die Ausschlusspraxis untersucht wird, gilt es zunächst, diese theoretischen Überlegungen der S.I. zum Thema Ausschluss nachzu462 | Kaufmann (2004), S. 258.
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zeichnen, um herauszuarbeiten, inwiefern der Ausschluss tatsächlich als die zentrale Kategorie der S.I. aufzufassen ist. Dabei ist auch nach der Zufälligkeit oder nach taktischen Implikationen einer solchen Praxis zu fragen. Denn für beides, vor allem aber für die Zufälligkeit, scheint es zunächst Anhaltspunkte zu geben, wenn man sich die Situation im Umfeld von Jorns Austritt oder auch die inhaltliche Nähe zwischen Ausschluss und den ›erzwungenen Austritten‹ in Erinnerung ruft. Eine solche genauere Klärung der theoretischen Grundlagen erscheint umso dringlicher, als auch Kaufmann selbst, im Widerspruch zu obiger Feststellung, an anderer Stelle Folgendes diagnostiziert: »Ich erwähne diese situationistischen Anekdoten [die Austritte von Constant und Jorn und den Ausschluss von Pinot-Gallizio, M.O.] nur deshalb, weil sie den relativ vagen und zufälligen Charakter seiner Grundlagen bestätigen.«463 Gerade im Hinblick auf den von der S.I. betonten und weiter oben skizzierten Zusammenhang zwischen Eintritt und Ausschluss sowie auf die Funktion des Letzteren als ›taktischer Waffe‹ der Gruppe - auch im Sinne der permanenten Selbst(re)definition als Gruppe - gilt es im Folgenden, eben diesen unterstellten zufälligen Charakter der Grundlagen des Ausschlusses kritisch zu hinterfragen und den Ausschluss als theoretisch fundierte Zentralkategorie der Gruppenpraxis der S.I. herauszuarbeiten.
4.4.1 Theoretische Überlegungen der S.I. zum Ausschluss Der Ausschluss nimmt bei der S.I. eine merkwürdige Doppelstellung ein: Er ist einerseits eine zentrale Kategorie sowohl der theoretischen Reflexion als auch der Gruppenpraxis, wird aber andererseits als eine soweit wie möglich zu vermeidende oder zu minimierende Praxis angesehen, als eine wirkungsvolle Waffe, die mit Bedacht eingesetzt werden sollte. »Was die Ausschlüsse betrifft, einigte sich der Zentralrat, dass es ratsam wäre, ihre Zahl zu beschränken, indem man den allzu leichten Beitritt in die S.I. strenger kontrolliert [...]. Sollte diese Kontrolle durchgeführt werden, dann könnte die S.I. hoffen, ihre Aufgabe mit nur noch einigen Dutzend Ausschlüssen, d.h. mit geringsten Kosten, zu erfüllen.«464 Der Ausschluss bzw. die Zahl der Ausschlüsse wird somit direkt mit den Modalitäten des Beitritts zur S.I. in Zusammenhang gebracht - doch über eine strenge Zugangskontrolle allein lässt sich der Ausschluss nicht vermeiden, da beim Beitritt Fehlentscheidungen nicht auszuschließen sind.465 Zumindest als Möglichkeit, als letzter Ausweg muss daher die Kategorie des Ausschlusses zur Verfügung stehen. Abgeleitet wird die Notwendigkeit, die Option des Ausschlusses bereitzustellen, dabei zunächst aus der gesellschaftlichen Stellung der S.I., denn 463 | Kaufmann (2004), S. 187, Fußnote 101. 464 | Situationistische Internationale (1962d), S. 306, Hervorh. im Orig. 465 | vgl. Debord (1968), S. 462.
340 | Situationistische Internationale »[d]ie Bedingungen der S.I.-Arbeit erklären gleichzeitig ihre Disziplin und die Formen der Feindseligkeit, die sie trifft. Die S.I. will sich nicht im aktuellen Kunstgebäude behaupten, sondern sie untergräbt es. Die Situationisten stehen in den Katakomben der bekannten Kultur. Für die S.I. und den von ihr beabsichtigten Kampf ist der Ausschluss eine mögliche und notwendige Waffe. Er ist die einzige Waffe für jede Gruppe, die auf der vollständigen Freiheit der Individuen beruht. Keiner von uns kontrolliert oder beurteilt gern und diese Kontrolle taugt nur durch ihren praktischen Gebrauch und nicht als moralische Strafe.«466
Aus der randständigen, subkulturellen Position der S.I. lässt sich nicht nur ihr Verhältnis und ihr Verhalten gegenüber ihrer Umgebung, sondern auch ihre interne Struktur und ihre interne Handlungsweise ableiten. Dabei haben sowohl der interne Aspekt der Disziplin als auch das externe Moment der Feindseligkeit jeweils zwei Konsequenzen. Zunächst ein kurzer Blick auf das Außenverhältnis der S.I.: Die Feindseligkeit, die ›auf die S.I. trifft‹, wird von dieser wiederum als gezielte und bewusste Abgrenzung zurückgegeben - und dies nicht nur im Hinblick auf die hier angesprochene Sphäre der Kunst, sondern auch auf das Feld ihres direkten linksintellektuellen und des weiteren gesamtgesellschaftlichen Umfelds. Die subkulturelle Stellung der S.I. ist also nicht nur eine zugewiesene, sondern auch eine, die von der S.I. selbst gewählt wird und von der aus eine intensive Kommunikation der Abgrenzung, ein Potlatch der Kritik entsteht, der der S.I. nicht zuletzt dazu dient, ebendiese Stellung zu bewahren. Die Auseinandersetzung mit dem Umfeld nimmt jedoch nicht nur die Form der Kritik an, da auch im negativen und teils provokanten Austausch immer noch ein Austausch stattfindet. Im Hinblick auf manchen Gegner scheint der S.I. ein solcher Austausch, selbst wenn er die Form polemischer Kritik annimmt, noch zuviel zu sein und eine zu deutliche Verbindung zwischen der Gruppe und ihrem Umfeld herzustellen. In dieser Situation gibt es für die S.I. nur eine Möglichkeit: den Bruch. Zu solchen Brüchen mit dem Umfeld kommt es in der Geschichte der S.I. unzählige Male; mit Blick auf die Sphäre der Kunst sind die damit verbundenen theoretischen Überlegungen und die Praxen der S.I. ja bereits am Beispiel der Auseinandersetzung mit der Galerie van de Loo ausführlich geschildert worden. Doch auch mit dem linksintellektuellen Umfeld kommt es zu diversen Brüchen, die zentrale theoretische Ansätze der S.I. bzw. die diesbezüglichen Differenzen zwischen der Gruppe und ihrem Umfeld verdeutlichen. »Unter diesen Umständen wird man leicht den allgemeinen Ton unserer Beziehungen mit einer ohnmächtigen Intellektuellengeneration verstehen können. Wir werden kein einziges Zugeständnis machen. Es ist klar, dass aus den Massen, die spontan so denken wie wir, fast alle Intellektuellen ausgeschlossen werden 466 | Situationistische Internationale (1960a), S. 157. Ein ähnlicher Verweis auf den gesellschaftlichen Druck, der den Ausschluss notwendig macht, findet sich auch hier in Debord (1968), S. 462f.
Die S.I. im Spannungsfeld von Theorie und Praxis | 341 müssen, d.h. die Leute, die, da sie das heutige Denken gepachtet haben, sich zwangsläufig mit ihrem eigenen Denken als Denker begnügen müssen. Indem sie sich als solche und folglich als Ohnmächtige akzeptieren, diskutieren sie über die Ohnmacht des Denkens im allgemeinen (siehe die Clown-Redakteure der Nr. 20 von ›Arguments‹ [...].)467 Vom Anfang unserer gemeinsamen Aktion an waren wir deutlich. Aber nun ist unser Spiel so entscheidend geworden, dass wir nicht mehr mit Gesprächspartnern ohne Befähigung diskutieren können.«468
Was hier auffällt, ist die Betonung des spontanen, des situativen Elements im Denken der S.I., das scharf vom aus ihrer Sicht stagnierenden Denken der übrigen Intellektuellen abgegrenzt wird.469 Die fehlende Bereitschaft, das eigene Denken spontan und zugleich - als eine Aneinanderreihung konstruierter Denk-Situationen - permanent weiterzuentwickeln, wird zudem mit der Ohnmacht der zeitgenössischen Intellektuellen außerhalb der S.I. in Zusammenhang gebracht. Hiermit wird implizit noch eine weitere theoretische Position der S.I. in der Auseinandersetzung mit den Intellektuellen zur Anwendung gebracht: die Kritik der Trennung. Diese bezieht sich hier zunächst auf die zu erkennende Trennung von Denken und Handeln, von Theorie und Praxis, die von der S.I. ebenfalls strikt abgelehnt und unter dem Schlagwort der Kohärenz in der eigenen Gruppe zu vermeiden versucht bzw. unter dem Schlagwort der ›Ideologie‹ den übrigen Intellektuellen vorgehalten wird: »[D]iese Kohärenz muss einerseits in der eigentlichen kritischen Theorie und andererseits im Zusammenhang zwischen dieser Theorie und der Praxis liegen. Sie kritisiert radikal jede Ideologie als eine von den Ideen getrennte Macht und als Ideen der getrennten Macht.«470 Doch verweist die Formulierung, dass die S.I. ›kein einziges Zugeständnis‹ machen wird, noch auf eine weitere Ebene des Problems der Trennung bzw. die von der S.I. abgeleitete Totalitätsforderung - diesmal in Bezug auf die Gruppe selbst und ihre theoretischen Ansätze: »Was diejenigen betrifft, die gültige Gesprächspartner sein können, sollen sie wissen, dass sie mit uns keine harmlosen Beziehungen pflegen können. Wir befinden uns vor einer entscheidenden Wahl und, obwohl wir das 467 | Vgl. zur hier angeschnittenen Auseinandersetzung mit Henri Lefebvre und der Zeitschrift Arguments aus Sicht der S.I. u.a. Situationistische Internationale (1960g), S. 167 und Situationistische Internationale (1963b) sowie weiterführend Bourseiller (1999), S. 169ff. und 253ff.; Lefebvre (1975); Lefebvre (2002); Kaufmann (2004), S. 221ff.; Marelli (1998), S. 143ff. sowie Trebitsch (2004). Ein weiterer Bruch mit dem linksintellektuellen Umfeld ereignet sich bereits im Mai 1961 zwischen der S.I. und der Gruppe Socialisme ou Barbarie (vgl. hierzu u.a. Bourseiller (1999), S. 197ff.; Gottraux (1997) sowie Quiriny (2003)). 468 | Situationistische Internationale (1962c), S. 270. 469 | Vgl. auch die folgende Stellungnahme der S.I.: »Jüngst wurde gesagt, die Situationisten könnten untereinander keine ›pensionierten Denker‹ anerkennen. Das ist vollkommen richtig, denn das würde uns in eine intellektuelle Gilde verwandeln zum Zwecke der Verbreitung und der Anerkennung unserer ›Meisterwerke‹ und der festgelegten Doktrin, die aus ihnen abgeleitet und dann gelehrt werden könnte.« (Debord (1966), S. 139). 470 | Situationistische Internationale (1967b), S. 305.
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Ausmass unserer Irrtümer kennen, können wir trotzdem diese möglichen Verbündeten zu einer globalen Wahl zwingen. Man muss uns ganz akzeptieren oder verwerfen. Wir verkaufen keine Details.«471 Die Kritik der S.I. am Intellektuellenmilieu und ihre Abgrenzung von ihm sind aber noch auf eine dritte Art und Weise eng an die Kritik der Trennung gekoppelt. Es geht hierbei um den Aspekt der durch Spezialisierung entstehenden Trennung zwischen den Intellektuellen und der übrigen Gesellschaft, die die S.I. in ihrem Selbstverständnis als ›anti-hierarchische Gruppe von Anti-Spezialisten‹ ebenfalls ablehnt. »Die anerkannte Intelligenz als eine getrennte und spezialisierte Körperschaft [...], die letzten Endes zufrieden oder sogar mit ihrer mittelmässigen literarischen Unzufriedenheit zufrieden ist, stellt im Gegenteil den am spontansten anti-situationistischen gesellschaftlichen Sektor dar.«472 Was diese Ausführungen zum Bruch notwendig machte, ist die Tatsache, dass es eine gewisse inhaltliche Nähe zwischen Bruch und Ausschluss gibt - nicht zuletzt, da sich die Gründe für den Bruch und diejenigen für den Ausschluss bzw. die Vorwürfe, die die S.I. den jeweils von diesen Maßnahmen Betroffenen macht, durchaus ähneln. Die bislang explizit angeführten Gründe für den Bruch - der Mangel an Spontaneität und (geistiger) Beweglichkeit sowie die sich auf drei Aspekte beziehende Kritik der Trennung lassen sich, wie sich beim Blick auf die Beispiele zeigen wird, neben weiteren Argumentationslinien, auch beim Ausschluss ausfindig machen.473 Der Bruch stellt im Hinblick auf den Außenkontakt das dar, was der Ausschluss bezogen auf die gruppeninternen Vorgänge ist. Und so wie die ›Feindseligkeit‹ der S.I. nach außen aus ihrer randständigen gesellschaftlichen Position abgeleitet wird, so wird von der S.I. auch ein Zusammenhang zwischen dieser Randständigkeit und der internen Organisationsstruktur, der Disziplin der Gruppe hergestellt. »Notre ›intolérance‹ n’est jamais qu’une réponse - bien limitée à l’intolérance et l’exclusion pratiquement très solide que nous rencontrons partout dans l’‘intelligentsia installée‹ particulièrement.«474 Auch bezüglich der Disziplin der Gruppe sind zwei Wirkungsrichtungen der gesellschaftlichen Position der S.I. erkennbar, die beide dazu beitragen, den Prozess der Abgrenzung zu perpetuieren. Die von der S.I. sich selbst zugeschriebene Position ›in den Katakomben der Kultur‹, die von ih471 | Situationistische Internationale (1962c), S. 270, Hervorh. M.O. Diese Forderung ist insofern besonders interessant, als sie der Grundidee des détournement zuwiderzulaufen scheint. Die Kritik der Trennung bzw. die Forderung nach einer ›totalen‹ Akzeptanz der theoretischen Ansätze der S.I. gerät hier in Konflikt mit dem détournement als einem Aspekt dieser Theorie-Gesamtheit. 472 | Situationistische Internationale (1963d), S. 15. 473 | In diesem Zusammenhang ließe sich der Ausschluss als ›Trennung gegen die Trennung‹ auffassen: ein Ausschluss wird notwendig bei denen, die zwischen Theorie und Praxis oder zwischen einzelnen Theorieaspekten und der Gesamttheorie trennen oder sich selbst als Spezialisten von der als umfassend gedachten revolutionären Bewegung abgrenzen und somit dem Selbstverständnis der S.I. als Gruppe von Anti-Spezialisten widersprechen. 474 | Debord (2003), S. 90, an Branko Vucicovic, 27.11.1965.
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rem Umfeld wieder aufgenommen und auf die S.I. zurückgeworfen wird, sorgt zunächst einmal für eine klare Unterscheidung zwischen ›Wir‹ und ›Die‹, zwischen dem Innen der Gruppe und dem Außen der Gesellschaft - für eine Disziplin also im Sinne einer stark ausgeprägten Gruppenidentität, eines Zusammenrückens. Diese Gruppenidentität, basierend auf der strikten Abgrenzung, ist jedoch kein Selbstläufer, sondern muss aktiv aufrechterhalten werden - eine Aufgabe, die umso wichtiger, aber auch umso schwieriger wird, je bekannter und sichtbarer die Gruppe für ihre Umwelt wird. ›Je bekannter unsere Thesen werden, um so obskurer werden wir selbst sein.«475 Der Ausschluss als ›mögliche und notwendige Waffe‹ ist für die S.I. das zentrale Mittel, ihre Disziplin und ihre Abgrenzung aufrechtzuerhalten und damit für das Weiterbestehen ihrer Obskurität zu sorgen, sich zu bewegen und in dieser Bewegung zugleich ihre Spuren verwischend zu verschwinden. Denn die Abgrenzung der S.I. als Gruppe gerät immer wieder dadurch in Gefahr, dass sich einzelne Mitglieder aus Sicht der S.I. über eben diese Abgrenzung hinwegsetzen, aus der Gruppendisziplin ausscheren und einen zu engen Kontakt bzw. Dialog mit der Umgebung pflegen. »Die situationistische Praxis des Bruchs mit denen, die irgendein Fragment der gegenwärtigen Ordnung bejahen [...], sowie deren Grenzfall - der Ausschluss einiger S.I.-Mitglieder - ist unsere am meisten missverstandene Haltung, obwohl sie auch die natürlichste ist, die unmittelbar aus unseren grundsätzlichen Positionen folgt. [...] Diejenigen, die eine bzw. mehrere Varianten des vorhandenen falschen Dialogs akzeptieren, werden zu Verteidigern einer neuen Art des Freihandels im Namen eines abstrakten Rechts auf den Dialog um jeden Preis [...] und werfen uns vor, den falschen Dialog zu unterbrechen. Wir können uns jedoch nur dadurch und nicht anders als Träger des wirklichen Dialogs behaupten.«476
Abgesehen davon, dass der Ausschluss an sich bereits aufgrund der Tatsache, dass er eine von außen betrachtet un- oder missverständliche Praxis ist, einen wichtigen Beitrag zur Obskurität der S.I. leistet, so dient er, wie auch der Bruch, zur Unterbrechung des Dialogs und somit zur Grenzziehung zwischen der S.I. und ihrem Umfeld. Während beim Bruch diese Unterbrechung an der Grenze zwischen der S.I. und der Umwelt erfolgt, ohne dass ein Grenzübertritt nötig ist, wird sie beim Ausschluss dadurch erzielt, dass das den Dialog führende Mitglied der S.I. zum Teil der Umwelt erklärt und somit die Gruppengrenze verschoben bzw. enger gezogen wird. Die in diesem Zusammenhang von der S.I. betonte Gegenüberstellung von wahrem und falschem Dialog verdeutlicht die Unvereinbarkeit dieser beiden Kommunikationsformen und verweist auf die Notwendigkeit, dafür zu sorgen, dass sich der Grenzverlauf zwischen falschem und wahrem Dialog nicht innerhalb der eigenen 475 | Debord, Guy/Gianfranco Sanguinetti (1972), S. 99. 476 | Situationistische Internationale (1966d), S. 220.
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Gruppe befindet, sondern als Merkmal der Unterscheidung zwischen innen und außen dient. Wird der falsche Dialog mit dem Umfeld nun aber von Mitgliedern der S.I. praktiziert, so wird er in die Gruppe hineingetragen und sorgt - bezüglich der Kommunikationsformen - für eine Aufhebung der Grenzziehung. Eben diese soll durch den Ausschluss wieder hergestellt werden. Falscher Dialog steht für die S.I. somit nicht nur im Gegensatz zum wahren Dialog, sondern zu jedem Dialog und hat den vollständigen Abbruch jeglichen Austauschs zwischen der S.I. und dem entsprechenden Mitglied zur Folge. Diese Radikalität der Grenzziehung zwischen dem falschen und dem wahren Dialog wird verständlicher, wenn man diese beiden Formen des Dialogs in die ihnen zugrunde liegenden zentralen theoretischen Begriffe und Überlegungen der S.I. überführt. Denn bei der Unterscheidung zwischen wahrem und falschen Dialog geht es um eine der Kernforderungen der S.I., der authentischen Kommunikation gegenüber der spektakulären zur Durchsetzung zu verhelfen. Die Ausbreitungstendenz der spektakulären Kommunikation bzw. ihre von der S.I. diagnostizierte Ubiquität, macht eine Abgrenzung der Sphäre der authentischen Kommunikation umso notwendiger und lässt die Praxis des Ausschlusses gewissermaßen als Akt der Selbstverteidigung erscheinen: »Wenn die aufständische Generation, dazu entschlossen, eine neue Gesellschaft zu gründen, von grundlegenden und undiskutierbaren Prinzipien ausgehend darauf achtet, jeden Versuch der Rekuperierung zunichte zu machen, dann geschieht das keineswegs der Reinheit zuliebe, sondern aus einem einfachen Reflex der Selbstverteidigung.«477 Die S.I. versteht sich als Nucleus dieser Sphäre der authentischen Kommunikation und somit als Kern der kommenden gesellschaftlichen Organisationsform. Sie versucht daher vehement und beinahe paradox, sich selbst als Außen des ubiquitären Spektakels zu etablieren und kann daher keine Form der spektakulären Kommunikation in ihrem Inneren oder zwischen sich und der Gesellschaft zulassen. Der Ausschluss ließe sich somit als Abbruch des Dialogs um des Dialogs willen beschreiben, während der Austritt grundsätzlich die Möglichkeit der Aufrechterhaltung des Dialogs impliziert. Der Ausschluss ist eine Maßnahme, die die Gruppe und ihre Ziele über den Einzelnen stellt, ein Moment, in dem die Verbindung zwischen der Gruppe und dem Einzelnen von der Gruppe gekappt wird. So wie der Austritt eine Exit-Option für den Einzelnen bereithält, ist der Mechanismus des Ausschlusses das Äquivalent hierzu aus Sicht der Gruppe. Dementsprechend ähneln sich auch die für diese beiden Wege aus der S.I. angeführten Begründungen in vielen Fällen; entscheidend ist letztendlich, wer sich auf diese Gründe beruft, wer die Entscheidung für den Weg über die Gruppengrenze bzw. für deren Verschiebung trifft. Beim Austritt liegt diese Entscheidungsmacht beim Einzelnen, beim Ausschluss hingegen auf Seiten der Gruppe. In beiden Fällen handelt 477 | Vaneigem (1967), S. 284.
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es sich jedoch um eine Entscheidung gegen den Kompromiss und für die Verfolgung des eigenen Wegs. Dass eine solche Kompromisslosigkeit des Ausschlusses gerade bei einer kleinen Gruppe wie der S.I., die sich durch eine starke Gruppenidentität auszeichnet, welche zusätzlich häufig noch durch interpersonelle Beziehungen verstärkt wird, mit einem großen Konfliktpotential verbunden ist, liegt auf der Hand. Die S.I. scheint sich der Radikalität und der tiefgreifenden Wirkung dieses Vorgangs bewusst zu sein, bezeichnet sie ihn doch als ›notwendige Waffe‹, die nur als letztes Mittel eingesetzt werden sollte. Umso wichtiger ist daher die rein theoretische Fundierung des Ausschlusses, damit dieser nicht als ›moralische Strafe‹ eingesetzt wird. Eine wichtige theoretische Begründung für die Praxis des Ausschlusses wurde bereits zitiert: Er ist aus Sicht der S.I. die einzige Möglichkeit der Abgrenzung für eine Gruppe, die auf der ›vollständigen Freiheit der Individuen‹ basiert.478 Diese Argumentation, die uns schon im Zusammenhang mit dem Austritt begegnet ist, scheint im Hinblick auf den Ausschluss, bei dem ja die Gruppe eine Entscheidung fällt, die direkt das Individuum betrifft, zunächst einmal unverständlich. Wie passt die Freiheit der Individuen mit einer Gruppenentscheidung zusammen oder soll durch diese gar aufrechterhalten werden, wenn sich ebendiese Gruppenentscheidung ganz massiv auf den Handlungs(spiel)raum des Einzelnen auswirkt? Für Debord ist der Ausschluss nicht als Entscheidung gegen ein Mitglied oder als Ausnutzung desselben aufzufassen, sondern soll diesem die Möglichkeit geben, seine Freiheit zu verwirklichen, wenn es diese innerhalb der Gruppe nicht erreichen kann: »La pratique de l’exclusion me paraît absolument contraire à l’utilisation des gens: c’est plutôt les obliger à être libres seuls - en le restant soi-même si on ne peut s’employer dans une liberté commune.«479 Mit der Freiheit des Individuums bzw. der Möglichkeit der individuellen Verwirklichung wird hier ein Aspekt von der S.I. wieder aufgegriffen, der bereits als grundlegendes Kriterium der Mitgliedschaft erwähnt wurde und der eng mit der Egalitätsforderung verknüpft ist. Verständlicher wird diese Konstruktion, wenn man eine weitere Erläuterung der S.I. aus obigem Zitat hinzunimmt: ›Keiner von uns kontrolliert und beurteilt gerne‹. Eine solche Kontrolle des Verhaltens einzelner Mitglieder würde innerhalb der Gruppe hierarchische Strukturen etablieren und die individuelle Freiheit erheblich einschränken. Mit Blick auf das hier zunächst angesprochene Problem des wahren und des falschen Dialogs 478 | Vgl. hierzu auch noch die folgende Stellungnahme der S.I.: »Wir sind keine Macht innerhalb der Gesellschaft, so dass unsere ›Ausschlüsse‹ nur unsere Freiheit zum Ausdruck bringen, uns von dem um uns herum oder sogar unter uns vorhandenen Konfusionismus zu unterscheiden [...]. Nie wollten wir irgendwen daran hindern, seine Gedanken auszudrücken oder nach seinem Willen zu handeln [...]. Nur weigern wir uns, selbst gegen unsere Überzeugungen und Neigungen mit dem Konfusionismus vermischt zu werden.« (Situationistische Internationale (1966d), S. 221). 479 | Debord (2001), S. 156, an Asger Jorn, 23.8.1962, Hervorh. im Orig.
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ergibt sich daraus folgende Situation: Die S.I. ist nicht bereit und auch nicht in der Lage, ihre Mitglieder zur authentischen Kommunikation zu zwingen, gleichzeitig jedoch ist sie als Gruppe auf eben diese Kommunikationsform angewiesen, und die Forderung nach authentischer Kommunikation liegt als Mitgliedschaftsanforderung offen auf dem Tisch. Die ›Spielregeln‹ sind also bekannt. Ist nun ein Mitglied nicht gewillt oder nicht in der Lage, diese zu befolgen, so lässt ihm der Ausschluss gewissermaßen die Freiheit, weiterhin so zu agieren - nur nicht mehr im Rahmen der Gruppe. Kollidieren die Vorstellungen des Einzelnen und die der Gruppe, so muss die Gruppe, wenn sie ihrer Theorie der individuellen Verwirklichung eine Praxis zur Seite stellen will, dafür sorgen, dass diese dem Individuum möglich ist. »Wenn die S.I. jemanden ausschliesst, fordern wir von diesem Individuum keine Rechenschaft über sein Leben, sondern über das unsrige, über das gemeinsame Projekt, das er - zu feindlichen Zwecken oder aus Mangel an Einsicht - fälschen wollte. In unseren Augen bleibt jeder für sich selbst frei [...] und indem wir ein Individuum, das immer autonom geblieben ist, seiner alleinigen Freiheit übergeben, teilen wir dadurch nur mit, dass diese Autonomie sich innerhalb unseres gemeinsamen Projekts nicht entwickeln konnte. Indem wir einen nach den Spielregeln zurückweisen, deren Annahme er geglaubt bzw. vorgetäuscht hatte, weisen wir eigentlich unseren eigenen Verzicht zurück.«480
Hier wird also nicht zuletzt die Erwartbarkeit des Ausschlusses hervorgehoben, die dadurch hergestellt wird, dass die ›Spielregeln‹ in Gestalt der Mitgliedschaftsanforderungen von Anfang an bekannt sind und die Ausschlüsse vor diesem Hintergrund alles andere als überraschend oder willkürlich sind. Zudem betont die S.I. die Bedeutung der individuellen Verwirklichung nicht nur in Bezug auf die skizzierten Formen des wahren und des falschen Dialogs, sondern bezieht diese auf den weiteren Rahmen ihrer theoretisch-inhaltlichen Positionen und bringt sie zudem mit der Frage der Egalität in Verbindung. Die Forderung nach einer egalitären Gruppenstruktur ist dabei zugleich eines der zentralen Kriterien für die Abgrenzung der S.I. nach außen, da »[e]ine solche Organisation [...] jede Reproduzierung der hierarchischen Verhältnisse der herrschenden Welt in ihrem Inneren ab[lehnt].«481 Des Weiteren wird nochmals auf die Rolle hingewiesen, die der Ausschluss für die Radikalität der S.I. spielt, da er die Möglichkeit bietet, Kompromisslösungen im Inneren der Gruppe - aber auch für den Einzelnen, der sonst gezwungen wäre, sich zu verstellen und somit seine Autonomie und seine individuelle Verwirklichung aufzugeben - zu vermeiden. »Verzichtet jemand darauf, im Kampf um seine Kreativität, um seine Träume, um seine Leidenschaften die Totalität seiner Fähigkeiten einzusetzen, und folglich 480 | Situationistische Internationale (1966d), S. 220. 481 | Situationistische Internationale (1967b), S. 305.
Die S.I. im Spannungsfeld von Theorie und Praxis | 347 darauf, diese zu entwickeln, so dass er durch diesen Verzicht auch auf sich selbst verzichtet, vergibt er sogleich die Chance, in seinem eigenen Namen zu sprechen und a fortiori im Namen einer Gruppe, die in sich die Chancen der Verwirklichung aller Individuen trägt. Seine Vorliebe für das Opfer, seine Wahl des Unechten werden durch den Ausschluss oder den Bruch nur öffentlich konkretisiert, mit der Logik der Transparenz, gegen die er verstossen hat.«482
Mit dem Begriff der Transparenz wird hier ein weiterer wichtiger Aspekt der Ausschlusspraxis der S.I. und ihrer diesbezüglichen theoretischen Überlegungen eingeführt. Denn alle Ausschlüsse aus der S.I. werden - im Gegensatz zu den teils klandestinen Austritten - von der Gruppe in der I.S. bekanntgegeben, der Abbruch des Dialogs mit einem Mitglied (oder wie im Falle des Bruchs mit einem Außenstehenden) wird also kommuniziert, öffentlich gemacht. »Der Ausschluß aus der S.I. ist ein Ereignis, das umso öffentlicher ist, als es im Prinzip nichts anderes bedeutet als wieder in die Öffentlichkeit ›zurückgeworfen‹ zu werden.«483 Dies verweist abermals auf die Bedeutung, die der Ausschluss als Mittel der Abgrenzung für die S.I. hat - denn nur wenn der Grenzübertritt von innen nach außen sowohl nach innen als auch nach außen kommuniziert wird, kann er dazu beitragen, eben diese Grenze bzw. ihre Verschiebung zu markieren. Diese Vorgehensweise, dieser offensive Umgang mit dem Thema Ausschluss bietet aber zugleich eine mögliche Erklärung dafür, dass die S.I. häufig als ›ausschlusswütige‹ Gruppe wahrgenommen oder gar mit ›stalinistischen‹ Ausschlusspraktiken assoziiert wird. Dieser Auffassung ist jedoch aus mehreren Gründen zu widersprechen. Denn zum einen umfasst der Begriff der Transparenz nicht nur das Öffentlich-Machen der Ausschlüsse, sondern impliziert auch, dass ihre Gründe mitgeteilt werden und - zumindest in den meisten Fällen - »als politische Divergenzen zum Ausdruck kamen (niemals als persönliche Attacken).«484 Die Notwendigkeit, persönliche Attacken und Streitereien soweit wie möglich aus der S.I. und aus der Frage des Ausschlusses herauszuhalten, wird auch von Debord mehrfach betont: »Ce style inamical ne pourrait que rendre l’I.S. moins intéressante à l’intérieur, et un peu ridicule pour le témoin extérieur. Nous sommes, et ›méritons‹ d’être, tous juges sur la conduite du plus maladroit des situationnistes.«485 Dementsprechend wird der Ausschluss als formeller Akt konzeptiert, als eine Aufhebung der gegenseitigen Verpflichtungen, die man durch die Mitgliedschaft eingegangen ist und scharf von jeglicher Art der Aggression abgegrenzt: »Le manque d’intérêt et d’entente doit en effet être exprimé, ›officialisé‹, comme une fin, une suppression des obligations réciproques, et en rien une agression.«486 Es geht darum, Ausschlüsse nur auf Basis 482 | Vaneigem (1967), S. 286. 483 | Kaufmann (2004), S. 257. 484 | Ibidem. 485 | Debord (2001), S. 240, an Raoul Vaneigem, 19.6.1963. 486 | Debord (1999), S. 352, an Asger Jorn, 16.7.1960, Hervorh. im Orig.
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inhaltlicher, theoretischer Gründe zu vollziehen, sie als ›Offizialisierung‹ von solchen Differenzen zu verstehen, die innerhalb der Gruppe nicht mehr prozessiert werden können, da sie ihren Zusammenhalt und ihre Gruppenidentität zu sprengen drohen. Solche klaren und formulierbaren Gründe und Differenzen - seien sie bezogen auf die theoretischen Positionen im weiteren Sinne oder auf die Positionen der S.I. bezüglich der eigenen Organisationsstruktur - sind unabdingbare Voraussetzung für einen Ausschluss. »Il fallait attendre qu’il [Attila Kotányi, M.O.] ait ›fait quelque chose‹, afin que cette rupture soit bien comprise d’autres camarades, et dans tout le secteur intellectuel qui se réfère à l’I.S. [...]. Tu sais que je tiens ce style de rupture comme la meilleure arme des situationnistes, et donc je ne peux l’employer arbitrairement. Toutes nos armes devaient être employées avec sérieux.«487
Entsprechend der Bedeutung des Ausschlusses und der daraus resultierenden Vorsicht bei seiner Anwendung, ist dieser bei der S.I. eine Praxis, an der die gesamte Gruppe beteiligt ist und die nicht auf die möglicherweise stärker persönlich-emotional geprägte - Entscheidung eines Einzelnen zurückgeht.488 Einem Ausschluss geht daher in der Regel eine ausführliche und an inhaltlichen Fragen orientierte interne Diskussion voraus, was die Praxis des Ausschlusses in der S.I. deutlich von den »Säuberungen und willkürlichen Hinrichtungen [abhebt], die den Schlußstrich setzten unter widerwärtige, im Laufe geheimer Prozesse erzwungene Geständnisse.«489 Oder in den Worten der S.I. formuliert: »Der ›Terrorismus‹ des Ausschlusses in der S.I. kann mit derselben Praxis 487 | Debord (2001), S. 278, an Asger Jorn, 13.1.1964. 488 | Auch wenn also deutlich wurde, »daß die meisten Ausschlüsse nicht auf eine, ihre Macht mißbrauchende Person, sondern auf kollektive Beschlüsse zurückzuführen sind (und daß nicht selten bestimmte Situationisten es eiliger haben als Debord, reinen Tisch zu machen)« (Kaufmann (2004), S. 256), wird die Praxis des Ausschlusses in der Rezeption der S.I. häufig ausschließlich mit Debord assoziiert. Dies ist zum einen darauf zurückzuführen, dass sich nicht leugnen lässt, dass Debord eine der zentralen Figuren der Gruppe ist und als Sprachrohr nach außen wahrgenommen wird - nicht zuletzt aufgrund seiner posthumen ›Vormachtstellung‹ bezüglich der mittlerweile veröffentlichten Texte und Briefe von ehemaligen Situationisten. Dennoch muss festgehalten werden, dass man es bei Debord nicht mit einem ausschlusswütigen ›Neo-Breton‹ zu tun hat. Es sei hier nur auf seine Ausführungen im Zusammenhang mit der strikten Eintrittskontrolle verwiesen: »[J]e veux tuer le moins de gens possibles [...] et en même temps je veux faire ou subir le moins de choses possibles de ce qui me déplaît.« (Debord (2001), S. 240, an Raoul Vaneigem, 19.6.1963) Zum anderen steht die S.I. in der Tradition der L.I. - einer Gruppe, die verglichen mit der S.I. eine radikalere und emotionalere Ausschlusspraxis verfolgte (vgl. Debord (1955d) sowie Wolman (1952)). Diese Verwandtschaft wird auch von der S.I. selbst betont: »Die vor kurzer Zeit gebildete Situationistische Internationale hat die Frage von Einigkeit und Bruch wieder aktuell gemacht.« (Bernstein (1958b), S. 31, Hervorh. M.O.) Dennoch sollte dies weder zu einer Gleichsetzung der beiden Gruppen und ihrer Ausschlusspraxen führen, noch dazu, Debord als alleinigen Vollstrecker derselben zu sehen (vgl. weiterführend hierzu Kaufmann (2004), S. 256ff.). 489 | Ibidem, S. 256.
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in politischen Bewegungen durch Bürokraten, die Macht ausüben, überhaupt nicht verglichen werden.«490 Die interne Diskussion über mögliche Ausschlüsse ist umso wichtiger, als es darum geht, verschiedene Meinungen einzuholen, um den Ausschluss nicht zum Ausdrucksmittel persönlicher Streitereien491 werden zu lassen und ihn so möglicherweise in seiner Funktion als ›notwendige Waffe‹ zu diskreditieren, indem man Mitglieder fälschlicherweise ausschließt. »Il n’y jamais été dans la pratique de l’I.S. d’exclure quelqu’un sans longues délibérations, sans motifs connus de tout le monde. En un mot, nous savons que ceci est une arme sérieuse (et nous n’avons jamais fait cela que parce que c’est une arme sérieuse, sans laquelle nous n’aurions pas pu maintenir et développer notre base. Nous ne plaisantons pas stupidement avec cette idée d’exclusion).«492
Nur als theoretisch fundierte, sparsam eingesetzte, nach innen und außen transparente und im Inneren soweit wie möglich demokratische Praxis kann der Ausschluss seine Funktion »als strategische Waffe für die Bewegung«493 erfüllen. Zudem betont die S.I., dass der Ausschluss niemals ein taktisches Instrument innerhalb der Gruppe gewesen sei, um inhaltlich unbequeme Mitglieder aus der Gruppe zu entfernen. »Jamais une ›erreur‹ [inhaltlich-theoretischer Art, M.O.] n’a été sanctionnée par l’exclusion, qui, en effet, n’a rien de tactique.«494 Es geht beim Ausschluss nicht um eine irgendwie geartete ›Perfektionierung‹ der S.I. oder um die ›Bestrafung‹ von Fehlern oder Schwächen einzelner Mitglieder, sondern um eine Umsetzung der eigenen Theorie in die Praxis. »[L]es ruptures n’ont pas été faites au nom d’une perfection prétendue, contre des défauts sévèrement ou arbitrairement désignés, mais simplement à propos de faits précis que nous n’avons pas trouvé possible d’accepter.«495 Diese wiederholte Hervorhebung der Berechtigung und der Transparenz aller Ausschlüsse legt die Vermutung nahe, dass der Ausschluss für die S.I. eben doch nicht nur ›notwendiges Übel‹, sondern auch eine wichtige, wenn nicht gar zentrale Praxis der Gruppe ist, mit der diese ihre theoretischen Positionen umzusetzen versucht. Der Ausschluss richtet sich dann nicht nur gegen das Fehlen einer Praxis oder gegen Praxen, die der Theorie widersprechen, sondern versucht selbst direkt, dieser Theorie eine Praxis an die Seite zu stellen. Mit Blick auf die 490 | Situationistische Internationale (1960a), S. 157. 491 | Dass der Ausschluss eine Frage der Theorie und nicht der Sympathie ist und auf Theorie-Differenzen und nicht auf Antipathie basiert, verdeutlicht auch folgende Äußerung Debords: »Bien sûr, je n’emploie pas ces termes [indulgent, sévère, défaut, inacceptable, M.O.] au sens moral ou psychologique. Il ne s’agit pas d’être amicaux, ou d’être méchants. Il s’agit de définir d’une manière démystifiée ce que nous voulons et pouvons faire; et comment le faire effectivement.« (Debord (2004a), S. 296, an Jonathan Horelick und Tony Verlaan, 28.10.1970). 492 | Debord (2001), S. 211, an Alexander Trocchi, 22.4.1963, Hervorh. im Orig. 493 | Kaufmann (2004), S. 257. 494 | Debord (2004a), S. 148, an Gianfranco Sanguinetti, 13.11.1969. 495 | Ibidem, S. 296, an Jonathan Horelick und Tony Verlaan, 28.10.1970.
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eingangs skizzierte Frage nach dem Verhältnis von authentischer und spektakulärer Kommunikation zum Beispiel ließe sich der Ausschluss als Versuch auffassen, die spektakuläre Kommunikation innerhalb oder ausgehend von der S.I. dadurch in ihre Schranken zu verweisen, dass er selbst als authentische Kommunikation vollzogen wird. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die S.I. zu dem Urteil kommt, dass alle ihre Ausschlüsse berechtigt waren, sie also ihre Forderung, man dürfe sich diesbezüglich nicht irren, erfolgreich umgesetzt habe.496 Ihr einziger Fehler habe darin bestanden, zu nachsichtig gewesen zu sein, nicht genug Mitglieder ausgeschlossen zu haben.497 Aus Sicht der S.I. gibt es nur unberechtigte Nicht-Ausschlüsse oder unverdiente Mitgliedschaften, aber keine unberechtigten Ausschlüsse - eine Tatsache, die für Debord grundlegend für ihre Existenzberechtigung ist. »Il est en effet absurde [...] de craindre de subir ›une exclusion injuste‹. Je peux vous assurer qu’il n’y en a jamais eu dans l’I.S., et je ne pense pas que l’I.S. puisse durer après une seule exclusion injuste.«498 Um diese Aussage zur Berechtigung der bisherigen Ausschlüsse zu bekräftigen und wohl auch um eine erneute Diskussion über selbige zu vermeiden wird das Akzeptieren aller vorangegangenen Ausschlüsse ab 1970 sogar zur Bedingung eines Beitritts gemacht. »[T]oute adhésion à l’I.S. implique la reconnaissance de la justesse de toutes nos exclusions précédentes. Avec quelqu’un qui n’est pas d’accord là-dessus, nous ne pouvons discuter.«499 Diente der Wunsch, möglichst wenige Mitglieder ausschließen zu müssen anfangs als Legitimation für die strenge Beitrittsprüfung, so dienen am Schluss die Beitritte indirekt zur rückwirkenden Legitimation der bislang erfolgten Ausschlüsse. Die Bedeutung sowohl des am Ende geforderten Akzeptierens aller vorangegangenen Ausschlüsse als auch der wiederholten Betonung von deren grundsätzlicher Berechtigung und der bewusste, reflektierte und ›ernsthafte‹ Umgang mit dieser ›Waffe‹ lässt sich aus einem weiteren Merkmal dieser Praxis ableiten - einem Merkmal, das die Ausschlüsse aus der S.I. von denen aus anderen Gruppen wie den Surrealisten unterscheidet. »Der Ausschluß spielt in der S.I. eine wesentlichere, eine fundamentalere Rolle als in den übrigen Gruppen der politischen oder künstlerischen Avantgarde. [...] [A]uch wenn die Ausschlüsse dort nicht wirklich zahlreicher als sonst wo waren, so waren sie doch vor allem unwiderruflich.«500 So findet Bernstein bereits in der ersten Nummer der I.S. deutliche Worte zur Frage des zukünftigen Umgangs mit Ausgeschlossenen: »Wir wollen klar sagen, [...] dass keine Rückkehr mehr 496 | Vgl. zu dieser Frage auch Kaufmann (2004), S. 258f. 497 | Vgl. Debord (2004a), S. 296, an Jonathan Horelick und Tony Verlaan, 28.10.1970, Hervorh. im Orig. 498 | Ibidem, S. 148, an Gianfranco Sanguinetti, 13.11.1969. 499 | Debord (2003), S. 277, an Tony Verlaan und Robert Chasse, 24.4.1968, Hervorh. im Orig. 500 | Kaufmann (2004), S. 257f.
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möglich ist für die, die wir einmal verachten mussten.«501 Doch der Ausschluss ist nicht nur unwiderruflich, sondern auch ›total‹, da er den vollständigen Kontaktabbruch zur Folge hat und somit nicht nur die Mitgliedschaft, sondern auch die interpersonellen Beziehungen betrifft. Auch dies ist eine ›Erbschaft der Feindseligkeit‹ aus lettristischen Tagen: »Es ist gut, die Zerwürfnisse mit größerer Strenge zu verallgemeinern. [...] Dieses Urteil ist selbstverständlich unwiderrufbar bei jedem Rückgang des Interesses, den die Umstände im Verhalten eines Individuums zutagetreten lassen mögen. Man muß sich dann von ihm trennen und es soweit möglich vergessen.«502 Die Endgültigkeit des Ausschlusses und seine Verbindung mit der Kategorie des Vergessens, verdeutlicht abermals die Abgrenzungsfunktion, die er für die S.I. besitzt. Denn nur durch die Verbindung von Mitgliedschaft und interpersonellen Beziehungen bzw. den sich auf beide Felder erstreckenden Bruch kann der Ausschluss die Gruppengrenze und ihre Neupositionierung eindeutig machen. Zugleich verknüpft der Begriff des Vergessens und der Charakter des Ausschlusses als endgültigem und totalem Schlussstrich diesen mit dem Aspekt des Nach-vorne-Blickens und somit mit dem der Bewegung und des Voranschreitens. Diese Verknüpfung ist insofern zentral, als der Ausschluss aus der S.I. nicht nur das endgültige Ende der Mitgliedschaft in dieser Gruppe zur Folge hat, sondern aus Sicht der S.I. auch den Ausschluss aus dem Feld der Avantgarde und des avantgardistischen Denkens allgemein: »Es gibt also Leute, die aus der S.I. ausgeschlossen wurden. [...] Denken wir, dass sie mit der Avantgarde gebrochen, indem sie die S.I. verlassen haben? Ja, wir denken das. Es gibt zur Zeit keine andere Organisation, die sich eine so umfangreiche Aufgabe gestellt hat.«503 Trotz ihres kritischen Verhältnisses zum Begriff der Avantgarde werden hier bei der S.I. ganz klar Züge des klassisch avantgardistischen Diskurses deutlich: zum einen die Vorgehensweise, dass zur Avantgarde derjenige gehört, der sich selbst zur Avantgarde erklärt und zum anderen der Alleinvertretungsanspruch in Gestalt des ›Wir und nur wir sind die Avantgarde.‹ Gerade vor dem Hintergrund dieser - wenn auch zunächst nur postulierten - Folgen eines Ausschlusses aus der S.I. muss dieser eben nicht nur inhaltlich begründet, demokratisch beschlossen und transparent kommuniziert, sondern auch als total und endgültig konzipiert werden. Eine Umkehrung der Bewegungsrichtung, ja schon ein Stehenbleiben, kann sich die Avantgarde nicht leisten. Soviel zu den theoretischen Überlegungen der S.I. zum Konzept des Ausschlusses. Im Folgenden wird an den konkreten Fällen zu analysieren sein, inwiefern es der S.I. gelingt, ihre hier herausgearbeiteten Kriterien des Ausschlusses tatsächlich in die Gruppenpraxis zu überführen. 501 | Bernstein (1958b), S. 32. 502 | Bernstein (1955), S. 318. 503 | Situationistische Internationale (1960a), S. 157. Vgl. hierzu auch Ohrt (1997), S. 234.
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Ein erstes Untersuchungsfeld ist dabei die Frage nach der Transparenz der Entscheidungsfindung und nach ihrem demokratischen Charakter, die Gegenüberstellung von inhaltlich-theoretischen, strategischen oder möglicherweise doch persönlichen Motiven sowie die Analyse seiner Abgrenzungsfunktion nach außen und seinem möglichen Abschreckungspotential nach innen. Ein zweiter Aspekt, den es vor dem Hintergrund der zentralen Frage der vorliegenden Arbeit besonders im Auge zu behalten gilt, ist die Frage nach dem nicht unproblematischen Zusammenhang zwischen Ausschluss und interpersonellen Beziehungen, für den die Totalität bzw. Endgültigkeit des Ausschlusses die entscheidende Rolle spielen dürfte. Dass diese Problematik auch von der S.I. selbst gesehen wird, verdeutlicht eine Textstelle zum Ausschluss, in der - trotz aller vordergründigen Striktheit dieser Praxis - gewissermaßen eine Hintertür für nicht näher erläuterte ›Sonderfälle‹ geöffnet wird: »Den Bruch fassen wir aber nicht auf eine idealistische, abstrakte und absolute Weise auf. Man muss zwar klar sehen, wann die Begegnung bei einer konkreten, kollektiven Aufgabe unmöglich wird, sich aber fragen, ob sie nicht unter veränderten Verhältnissen wieder möglich und zwischen Personen sogar wünschenswert wird, die sich weiter gegenseitig schätzen konnten. Es gibt Leute zwei oder drei vielleicht - die wir kannten, die mit uns zusammen gearbeitet haben und dann weggegangen sind bzw. aus heute überholten Gründen gebeten wurden wegzugehen. Und die sich seither vor jedem Verzicht bewahrt haben wie wir wenigstens hoffen wollen. Da wir sie und ihre Fähigkeiten kennenlernen konnten, sind wir der Meinung, dass diese jetzt gleich geblieben sind oder sogar noch grösser geworden sind und dass sie ihren Platz noch einmal unter uns finden könnten.«504
Diese Überlegungen sind insofern von Bedeutung, als es in der (Vor)Geschichte der S.I. eben doch einen Ausschluss gibt, der auch offiziell rückgängig gemacht wird - auch wenn oder vielleicht gerade weil dadurch der Aspekt des Vergessens und Verschwindens nicht aufgehoben, sondern vielmehr bestärkt wird.
4.4.2 Unbemerkte Ausschlüsse am Rand der S.I. Anders als beim Austritt als ›privater‹ Entscheidung des Einzelnen handelt es sich beim Ausschluss um eine öffentlich gemachte Gruppenentscheidung. Ausschlüsse können daher nicht, wie manch Austritt, unbemerkt vollzogen werden - zumindest in der Theorie. Denn in der Praxis gibt es in der Geschichte der S.I. zwischen März 1960 und März 1963 acht Ausschlüsse, bei denen die Betroffenen in den diesbezüglichen Bekanntmachungen in der I.S. nicht oder nicht namentlich genannt werden.505 Dementsprechend ist zu fragen, ob sich das bei der 504 | Bernstein (1958b), S. 32. 505 | Strenggenommen gibt es insgesamt sogar 17 solche in der I.S. nicht erwähnten Ausschlüsse, da auch zwischen Oktober 1969 und September 1971 nochmals
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Darstellung der Austritte angewandte erste Unterscheidungskriterium öffentlich/nicht-öffentlich nicht auch beim Ausschluss zur Anwendung bringen lässt. Bei den acht nicht erwähnten Ausgeschlossenen handelt es sich im Einzelnen um Armando, Erwin Eisch, Steffan Larsson, Katja Lindell, Renée Nele, Gretel Stadler, Hardy Strid und Glauco Wuerich - also um Mitglieder aus der deutschen, holländischen, italienischen und skandinavischen Sektion der S.I. Dennoch lassen sich bei diesen Mitgliedern zwei Gemeinsamkeiten ausmachen, die beide auf ihre Weise darauf hindeuten, dass es sich in diesen Fällen nicht wirklich um unbemerkte oder nicht-öffentliche Ausschlüsse handelt und dass hier keine gezielte und somit der eigenen Theorieposition widersprechende Verschleierungstaktik vorliegt. Erstens werden die acht Ausgeschlossenen als Mitglieder ihrer Sektion bzw. ihrer Fraktion der S.I. größtenteils zeitgleich mit den anderen Mitgliedern der jeweiligen Sektionen ausgeschlosssen - dies wiederum sind jedoch Ausschlüsse, die in der I.S. erwähnt und begründet werden: Glauco Wuerich muss die S.I. im Mai 1960 gemeinsam mit Giors Melanotte und Giuseppe Pinot-Gallizio aus Italien verlassen;506 Renée Nele und Gretel Stadler werden im Februar 1962 zusammen mit den restlichen Mitgliedern der Gruppe SPUR vor die Tür gesetzt,507 genau wie Steffan Larsson, Katja Lindell und Hardy Strid als Mitglieder der skandinavischen Sektion zusammen mit Ansgar Elde, Jørgen Nash (und der ebenfalls, wenn auch nicht zu dieser Sektion, so doch zu dieser Fraktion zu zählenden Jacqueline de Jong) im März 1962 ausgeschlossen werden.508 Es handelt sich somit nicht um Einzelausschlüsse, sondern um den Ausschluss ganzer Mitgliedergruppen.509 Auch wenn die Namen der hier aufgeführten sechs Ausgeneun Mitglieder ausgeschlossen werden, ohne dass dies sofort öffentlich gemacht würde. Allerdings ist hierbei zu beachten, dass eine solche Erwähnung in diesen Fällen allein deshalb in der I.S. nicht erfolgte, weil sie alle erst nach dem Erscheinen der letzten Nummer der Zeitschrift im September 1969 ausgeschlossen wurden. In der 1972 veröffentlichten Spaltung (vgl. Situationistische Internationale (1972), S. 107 und S. 114f.) werden diese Ausschlüsse dann aber durchaus erwähnt. 506 | Vgl. Situationistische Internationale (1960g), S. 164. 507 | Vgl. Situationistische Internationale (1962a), S. 284 sowie Situationistische Internationale (1962d), S. 306. 508 | Vgl. ibidem, S. 311f. 509 | Einzig für Erwin Eisch gilt dies nicht in dieser Form, da er als Mitglied der deutschen Sektion nicht erst im Februar 1962 zusammen mit den übrigen Deutschen, sondern bereits im Juli 1960 ausgeschlossen wird, da er sich nach dem Ausschluss von Pinot-Gallizio mit diesem getroffen und sich mit ihm solidarisch erklärt hat (vgl. Debord (1999), S. 360, an Asger Jorn, 26.7.1960). Dennoch fällt er nicht vollkommen aus dem Rahmen, da auch sein Ausschluss, wenn auch in umgekehrter Weise, als ›Gruppenausschluss‹ aufzufassen ist. Denn Eisch wird aus der Gruppe SPUR ausgeschlossen und hört damit zugleich auf, Mitglied der S.I. zu sein, wie aus Debords Correspondance zu erfahren ist. »[S]i Eisch est séparé de vous, il ne peut plus être qualifié de situationniste; et l’I.S. ne s’intéresse plus à lui. C’est à vous que nous faisions confiance, collectivement, pour décider qui peut participer à notre action dans la section allemande.« (ibidem, S. 362, an Heimrad Prem, 26.7.1960) Jorn gegenüber begründet Debord diese Haltung etwas genauer: »[C]’est la seule politique cohérente pour nous puisque nous jouons la carte de l’unité et de la discipline du groupe
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schlossenen nicht explizit genannt werden, so sind sie doch unter ihre jeweilige Sektion zu subsumieren und daher als implizit begründete und indirekt öffentlich gemachte Ausschlüsse einzustufen. Diese Einschätzung lässt sich weiter bestärken, wenn man die zweite Gemeinsamkeit dieser Ausgeschlossenen hinzuzieht: Sie alle sind während ihrer Mitgliedschaft in der S.I. - sei es durch Beiträge in der I.S. oder durch die Teilnahme an gemeinsamen Konferenzen510 - kaum oder gar nicht in Erscheinung getreten, sind Randfiguren geblieben, die eher aufgrund von interpersonellen Beziehungen als aufgrund inhaltlichtheoretischer Kriterien in die Gruppe aufgenommen wurden. Da sie weder in der S.I. als Ganzer noch innerhalb ihrer jeweiligen Sektion besonders in Erscheinung getreten sind oder eine von der Position ihrer Sektion grundlegend abweichende Meinung vertreten haben, werden sie entsprechend mit den übrigen Mitgliedern ausgeschlossen. Die dabei für die Sektion genannten Gründe werden so implizit auch auf sie angewendet; als Einzelmitglieder sind sie, was ihren theoretischen Beitrag anbelangt, schlicht nicht wichtig genug, um beim Ausschluss explizit genannt zu werden.511 Sie gelangen unauffällig in die S.I., bleiben in ›Spur‹«. (Debord (1999), S. 360, an Asger Jorn, 26.7.1960) Damit ist Eisch insofern ein Sonderfall, als hier alleine die Gruppe SPUR und nicht die gesamte S.I. über den Ausschluss eines Mitglieds aus der S.I. entscheidet und Letztere diesen somit auch nicht öffentlich bekannt machen muss. Ein solcher Entscheidungsfreiraum der einzelnen Sektionen ist - auch wenn er zu diesem Zeitpunkt den organisatorischen Regeln der S.I. durchaus entspricht - für die theoretische Konzeption der Kategorie des Ausschlusses an sich äußerst problematisch, untergräbt er doch sowohl das Prinzip der Transparenz als auch das der Demokratie auf der Ebene der Gesamtgruppe erheblich. Diese doppelte Problematik für die Gesamtgruppe - welche zugleich das Problem der ›Sozialität der Solitären‹ als Problem der ›Sozialität der Sektionen‹ auf einer höheren Ebene wiederholt - ist eine mögliche Erklärung dafür, dass dieser anfängliche Freiraum der Sektionen außer im Fall Eisch nie genutzt wird und die Ausschlussentscheidungen entgegen den organisatorischen Bestimmungen stets von der Gesamtgruppe getroffen und so die allgemeinen theoretischen Überlegungen zum Ausschluss über die konkreten Organisationsstrukturen gestellt werden. In der Schlussphase wird dieser Entscheidungsfreiraum der Sektionen dann auch formell wieder abgeschafft. 510 | Auch in Debords Correspondance finden sich keine Hinweise auf eine aktive Beteiligung. 511 | Im Falle des Ausschlusses von Armando ist die Situation etwas komplexer. Auch bei ihm findet sich in der I.S. keine direkte Anmerkung zu seinem Ausschluss. Dieser wird allgemein auf den März 1960 datiert - also in Zusammenhang mit dem der übrigen Holländer Alberts und Oudejans gebracht (vgl. ibidem, S. 291 sowie Situationistische Internationale (1960f), S. 128), was darauf hindeutet, dass auch in diesem Fall die für deren Ausschluss angegebenen Gründe stillschweigend auf Armando übertragen werden. Dies erscheint jedoch insofern fragwürdig, als Armando, im Gegensatz zu den Architekten Alberts und Oudejans, als Maler tätig ist identische Ausschlussgründe scheinen hier nur schwierig auszumachen zu sein. Nimmt man den Fall genauer in den Blick, so ergibt sich in zweierlei Hinsicht ein anderes Bild und ist anzuzweifeln, dass es sich bei Armando ebenfalls um einen ›Gruppenausschluss‹ handelt. Denn beim Blick in die Correspondance Debords wird ersichtlich, dass die Ausschlussgründe der Architekten eben nicht auf Armando übertragen werden. Während den Architekten die Tatsache zur Last gelegt wird, eine Kirche zu bauen, so wird Armando zunächst attestiert, »au contraire très anticlérical«
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ihr unauffällig und werden ebenso unauffällig wieder ausgeschlossen. So nachvollziehbar und bis zu einem gewissen Punkt auch ›theoriekonform‹ diese Vorgehensweise zunächst sein mag, sind hier abschließend einige kritische Überlegungen notwendig. Denn auch wenn diese Vorgehensweise, einzelne unauffällige Mitglieder als Teil einer Fraktion oder Sektion auszuschließen, durch das Verhalten dieser Mitglieder selbst nahe gelegt wird, so beinhaltet sie doch das Problem, dass hier die von der S.I. auf der theoretischen Ebene stets betonten Potentiale des Einzelnen bzw. die Individualität des einzelnen Mitglieds übergangen zu werden scheint. Dies ist jedoch vor allem auf einer, wenn man so will, (Debord (1999), S. 334, an Giuseppe Pinot-Gallizio, 16.5.1960) zu sein und ihm stattdessen vorgeworfen, zusammen mit der holländischen Gruppe Informel weiterhin seine Malerei auszustellen (vgl. ibidem, S. 324, an Maurice Wyckaert, 29.3.1960). Des Weiteren wird Armando auch innerhalb der Kunst mangelnde Innovationsbereitschaft vorgeworfen. So bezeichnet Debord Armandos ›revolutionären Geist‹ und sein Engagement in der Gruppe Informel als »niaiserie inoffensive« (ibidem, an Maurice Wyckaert, 29.3.1960). Auch wenn es sich sowohl bei der Kritik gegenüber den Architekten als auch bei derjenigen gegenüber Armando auf einer abstrakteren Ebene um ›Verstöße‹ gegen die Forderung nach der Autonomie der S.I. sowie um die Enttäuschung ihres revolutionären Anspruchs handelt, wäre vor dem Hintergrund der unterschiedlichen konkreten Vorwürfe die Erwähnung seines Ausschlusses notwendig gewesen. Doch auch für die Frage, warum diese Darstellung ausbleibt, liefert die Correspondance einen Hinweis bzw. eine simple Antwort - Armando wird gar nicht zusammen mit den Architekten ausgeschlossen: »Armando n’est pas compris dans l’exclusion d’Oudejans et Alberts.« (ibidem, S. 334, an Giuseppe Pinot-Gallizio, 16.5.1960) So überraschend dies zunächst erscheint, so einleuchtend ist es bei genauerer Betrachtung. Denn die Tatsache, dass Armando seine Malerei ausstellt, dürfte zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu seinem Ausschluss führen, da dies auch bei einer Vielzahl weiterer Maler bis 1962 der Fall ist. »Cependant sa participation à un groupe informel hollandais‹ - de peintres publicitaires - pose un problème (moins grave et moins urgent).« (ibidem, an Giuseppe Pinot-Gallizio, 16.5.1960) Dementsprechend handelt es sich bei den Armando gegenüber geäußerten Vorwürfen zu diesem Zeitpunkt auch ›nur‹ um eine Kritik, nicht aber um die Begründung eines Ausschlusses. Vor allem aber geht es weniger um seine Tätigkeit als Maler an sich, sondern vielmehr um sein Engagement im Informel und somit um die sich andeutende Doppelmitgliedschaft Armandos. »Constant nous a assuré qu’Armando était beaucoup plus proche de nous que de ce groupe. Et nous avons chargé Constant de lui faire savoir que l’obligation d’un choix allait se poser, à bref délai (mais pas d’amalgame avec les architectes-curés...).« (ibidem, an Giuseppe Pinot-Gallizio, 16.5.1960) Das Problem von Armandos Doppelmitgliedschaft wird zwar zeitgleich mit dem Ausschluss der Architekten greifbar und es wird ihm ein Ultimatum gestellt, sich zwischen dem Informel und der S.I. zu entscheiden - ausgeschlossen wird Armando im März 1960 jedoch noch nicht. Doch sein Ausschluss ist nur noch eine Frage der Zeit, das Ultimatum läuft, und Armando scheint sich nicht deutlich genug für die S.I. auszusprechen bzw. sich nicht vom Informel und von den bereits ausgeschlossenen Architekten zu distanzieren, denn im Juli 1960 kann Debord de Jong mitteilen: »Les situationnistes hollandais ont été, en effet, réduits à rien.« (ibidem, S. 348, an Jacqueline de Jong, 6.7.1960) Armandos Ausschluss ist somit der einzige, der trotz des Vorliegens eindeutiger Gründe, die zudem von denen der übrigen Sektionsmitglieder abweichen, nicht in der I.S. dargelegt wird - und das, obwohl er nicht einmal zeitgleich mit dem der Architekten erfolgt. Während es sich bei der Frage nach dem Zeitpunkt des Ausschlusses um ein Rezeptionsproblem handelt, ist bezüglich der Gründe eine deutliche Neigung zur Intransparenz auf Seiten der S.I. erkennbar.
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indirekten Ebene problematisch: Denn das Verhalten im Falle der hier skizzierten Mitglieder deutet nicht auf eine Unterdrückung ihrer individuellen Potentiale hin, sondern eher darauf, dass sie nicht gewillt oder in der Lage sind, diese im Rahmen der S.I. einzubringen. Genau ein solches passives Verhalten wird von der S.I. jedoch stets abgelehnt und wäre, wenn man sich ihre Mitgliedschaftsanforderungen in Erinnerung ruft, ein klarer Grund für den Ausschluss. Gerade vor dem Hintergrund der Tatsache, dass vor allem in der Schlussphase der Gruppe einige Ausschlüsse exakt mit einer solchen Passivität innerhalb der S.I. begründet werden, liegt der Verdacht nahe, dass es sich die S.I. mit dem hier skizzierten Verfahren des ›Gruppenausschlusses‹ sehr einfach macht und versucht, die Diskussion nicht noch weiter zu verkomplizieren, indem sie die Ausschlussgründe, die für die aktiven Mitglieder einer Sektion dargelegt werden, einfach auch auf deren passive Mitglieder überträgt, anstatt eben diese Passivität selbst als Grund für den Ausschluss dieser Mitglieder herauszuarbeiten. Dies ist jedoch unter verschiedenen Gesichtspunkten problematisch. Zunächst einmal, weil sich die Gruppe durch diesen Weg des geringsten Widerstands nicht nur über das für den Ausschluss bestehende Transparenz-Postulat hinwegsetzt, sondern dadurch im Verhalten der Gruppe selbst eine gewisse Passivität erkennbar wird: Denn indem die Passivität der Auszuschließenden nicht aktiv kritisiert wird, verhält sich die Gruppe diesbezüglich selbst passiv, legt eine Passivität gegenüber der kritisierten Passivität an den Tag. Zum anderen aber ist diese Vorgehensweise nicht nur im Hinblick auf die theoretischen Überlegungen zum Ausschluss und zur Frage von Passivität und Aktivität bedenklich, sondern verdeutlicht auch die Probleme der S.I., ebendieser Theorie eine entsprechende Praxis - und sei sie nur bezogen auf die eigene Gruppe - an die Seite zu stellen. Die S.I. vergibt bei diesen ›unbemerkten‹ Ausschlüssen die Chance, ihrer Kritik der Passivität entsprechend zu handeln und aktiv gegen die bei diesen Mitgliedern erkennbare Passivität vorzugehen. Dadurch aber vergibt sie zugleich die Chance, von Beginn an ein klares Zeichen gegen diese Haltung der Passivität in ihrem Inneren zu setzen. Sie vergibt die Gelegenheit, deutlich zu machen, dass es ihr mit der Kritik der Passivität ernst ist und diese Kritik die entsprechende Praxis zur Folge hat - zunächst und vor allem im Rahmen der eigenen Gruppe. Auch wenn sich diese Haltung unter anderem dadurch erklären lässt, dass die S.I. in dieser Anfangsphase vor allem mit der Ausarbeitung der eigenen Theoriepositionen, mit der Herausbildung ihrer Gruppenidentität sowie ihrer Abgrenzung gegenüber ihrem Umfeld befasst ist und sich ihr Blick daher nur wenig auf das Innere der eigenen Gruppe als Praxisfeld der Theorie richtet, wird dieser anfängliche lockere Umgang mit dem Problem der Passivität die S.I. später nochmals einholen und gegen Ende das zentrale Thema der internen Diskussion und eine wichtige Ausschlussbegründung werden.
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4.4.3 Unauffällige Ausschlüsse am Rand der S.I. Doch nicht alle Ausschlüsse, die in dieser ersten Phase die eher randständigen Mitglieder der S.I. treffen, bewegen sich in der bislang skizzierten Grauzone bezüglich des Transparenz- und des Öffentlichkeitsanspruchs. So werden die Ausschlüsse von Anton Alberts, Walter Korun, Giors Melanotte, Har Oudejans, Hans Platschek, Ralph Rumney, Piero Simondo und Elena Verrone allesamt in der I.S. öffentlich gemacht und begründet - wenn auch meist in sehr knapper Form. Der erste Ausschluss in der Geschichte der S.I. erfolgt bereits ein halbes Jahr nach ihrer Gründung und trifft im Januar 1958 mit Olmo, Simondo und Verrone drei Mitglieder der italienischen Sektion, die damit deutlich von sieben auf vier Mitglieder reduziert wird. In der I.S. heißt es dazu zunächst knapp: »Durch diese neuen objektiven Bedingungen [die Gründung der S.I., M.O.] sind gewisse opportunistische Elemente zur offenen Opposition gezwungen und sofort beseitigt worden (Säuberung der italienischen Sektion).«512 Dieser Meldung lässt sich jedoch nur wenig Konkretes entnehmen: Sie gibt lediglich einen Hinweis auf nicht näher definierte Meinungsverschiedenheiten mit nicht namentlich genannten Mitgliedern der italienischen Sektion, die anscheinend so tiefgreifend sind, dass sie zum Ausschluss führen. Für wirkliche Transparenz sorgt diese Stellungnahme nicht. Doch noch in der selben Nummer der I.S. erfährt man sowohl die Namen der Ausgeschlossenen als auch einige Details zum genaueren Ablauf der Ereignisse: »Die Konferenz hat mit der italienischen Sektion aufgeräumt, in der eine Fraktion idealistische und reaktionäre Thesen verfochten und jede Selbstkritik unterlassen hatte, nachdem sie durch die Mehrheit widerlegt und missbilligt worden war. So beschloss die Konferenz, W. Olmo, P. Simondo, E. Verrone auszuschliessen.«513 Trotz der Kürze dieser Stellungnahme werden darin einige für die Konzeption des Ausschlusses grundlegende Aspekte angeführt. Abgesehen davon, dass der Ausschluss und die Namen der von ihm betroffenen Mitglieder durch diese Mitteilung öffentlich gemacht werden, deutet der Verweis auf den Konferenzbeschluss in Kombination mit dem Begriff der Mehrheit auf eine demokratische Entscheidungsfindung hin. Des Weiteren lässt sich herauslesen, dass dem Ausschluss intern eine längere und transparente Diskussion vorangegangen ist. Zudem werden hier, wenn auch weiterhin in vager Form, durch den Verweis auf ›idealistische und reaktionäre Thesen‹ Gründe für den Ausschluss genannt. Doch der Reihe nach. An der Konferenz der S.I. im Januar 1958 nehmen Bernstein, Debord, Jorn, Khatib und Pinot-Gallizio teil. Bei diesen fünf ist eine Mehrheit für den Ausschluss durchaus plausibel. Allerdings ist es nicht unproblematisch, dass bei dieser Konferenz, die eigentlich den Charakter einer Vollversammlung haben soll, nur ein Drittel der 512 | Bernstein (1958b), S. 31. 513 | Situationistische Internationale (1958m), S. 33f.
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Mitglieder anwesend ist. Kritischer ist jedoch die Tatsache, dass die Konferenz zu diesem Zeitpunkt gar nicht für Mitgliedschaftsfragen zuständig ist, da die Entscheidungsmacht darüber bei den einzelnen Sektionen liegt. Ein solches Ignorieren der eigenen Statuten wäre aber nicht unbedingt notwendig gewesen, da auch innerhalb der italienischen Sektion selbst eine Mehrheit von vier zu drei Stimmen für den Ausschluss realistisch gewesen wäre.514 Zu fragen bleibt daher, inwiefern der Ausschluss von Olmo, Simondo und Verrone auf eine Entscheidung der italienischen Sektion zurückgeht, die anschließend von der Konferenz bestätigt und bekanntgegeben wird, oder ob es sich um eine Aufhebung der Autonomie der Sektion in Mitgliedschaftsfragen durch die Konferenz handelt. Einige Anhaltspunkte erhält man, wenn man die dem Ausschluss vorangehende Diskussion innerhalb der S.I. hinzuzieht, die für sich genommen schon ein Signal für eine demokratische und transparente Entscheidungsfindung darstellt. Im Kern bezieht sich diese Diskussion auf die Auseinandersetzung mit Olmo bzw. weniger ausgeprägt mit Simondo515 und findet vor allem zwischen Dahou, Debord, Olmo, Pinot-Gallizio, Rumney und Simondo statt. Deutlich wird hierbei die zentrale Stellung, die Pinot-Gallizio in diesem Konflikt zugesprochen wird, denn ihm wird die Aufgabe zugewiesen, innerhalb der italienischen Sektion das ›Problem Olmo‹ zu klären, wenn auch Debord mit seiner Einschätzung der theoretischen Positionen Olmos dabei nicht gerade zurückhaltend ist: »Olmo cependant me semble avoir des capacités d’expérimentation réelles, mais il est victime de sa naïveté sur le plan idéologique. Il est à souhaiter que, lui, sache dans l’avenir renoncer à ces fausses idées reçues, et poursuivre son travail véritable. Tu vas sans doute le revoir bientôt à Alba. Nous te laissons le soin de juger son cas.«516
Pinot-Gallizio scheint diese Aufgabe auch in Angriff zu nehmen und sich 514 | Pinot-Gallizio distanziert sich bereits 1957 von den Positionen Olmos (vgl. Debord (1999), S. 36, an Giuseppe Pinot-Gallizio, 23.11.1957 sowie ibidem, S. 39, an Ralph Rumney, 27.12.1957), und seine zentrale Stellung in der italienischen Sektion lässt vermuten, dass mit ihm auch sein Sohn Melanotte und dessen Freund Wuerich für einen Ausschluss gestimmt hätten. Das gleiche gilt für Rumney, der in London und Venedig vor allem mit der Psychogeographie, nicht aber mit Malerei befasst ist und zudem anfangs der Fraktion um Debord nahe steht. 515 | Elena Verrone spielt hierbei keine Rolle, ihr Ausschluss lässt sich darauf zurückführen, dass sie sich mit den scharf kritisierten Thesen von Olmo solidarisch erklärt (vgl. Debord (1957e), S. 26). Dies gilt prinzipiell auch für den Ausschluss von Simondo. Allerdings kommt hier als weiterer Grund noch die Tatsache hinzu, dass es zwischen ihm und Debord auch inhaltliche Differenzen bezüglich des von Debord abgelehnten (vgl. Debord (1957c), S. 235), aber von Simondo weiterhin verwendeten Begriff des ›Situationismus‹ gibt (vgl. Debord (1999), S. 21, an Piero Simondo, 22.8.1957) und Simondo zudem bei der Textproduktion und Übersetzung für die für Anfang 1958 geplante Ausgabe von Eristica anscheinend alles andere als zuverlässig ist (vgl. ibidem, S. 31, an Ralph Rumney, 24.9.1957 sowie ibidem, S. 36, an Giuseppe Pinot-Gallizio, 23.11.1957). 516 | Ibidem, S. 36f., an Giuseppe Pinot-Gallizio, 23.11.1957.
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gegen Olmo und Simondo zu positionieren. »Gallizio combat bravement les Italo-expérimentalistes, qui paraissent foudroyés.«517 Dennoch zieht sich die Auseinandersetzung in die Länge, und kurz vor der Konferenz im Januar betont Debord abermals sein Vertrauen in die anstehende Entscheidung Pinot-Gallizios: »À propos d’Olmo: ici, nous avons tous confiance en toi. Je pense que tu as la responsabilité des recherches en Italie, et ton jugement suffit«518 . Insgesamt ist erkennbar, dass, auch wenn Debord - und wohl auch Jorn519 - in erheblichem Ausmaß Einfluss auf Pinot-Gallizio nehmen und ihre ablehnende Position gegenüber Olmo und auch Simondo520 immer wieder betonen, vor der Konferenz kein Ausschluss erfolgt und vermutet werden kann, dass dieser während der Konferenz von Pinot-Gallizio zusammen mit Melanotte, Rumney und Wuerich im Namen der italienischen Sektion bekanntgegeben und von den übrigen Mitgliedern angenommen wird. Auch für die übrigen Mitglieder der S.I., die nicht direkt in die Debatte eingreifen, kommt zumindest der Ausschluss von Olmo nicht überraschend, denn auch sie werden über deren Inhalte und somit über einen Teil der Gründe für den Ausschluss informiert. Diese umfassende interne Diskussion beginnt bereits im September 1957 und ist eine durch und durch theoretische Auseinandersetzung. Ihren Ursprung hat sie in einem Text von Olmo,521 der »avait été présenté à la section italienne en septembre 1957, et approuvé par tous ses membres, exceptés Giuseppe Pinot-Gallizio et son fils Giors Melanotte«522 und der somit die sich von Beginn an andeutende Spaltung der italienischen Sektion verfestigt. Von nun an stehen innerhalb der Sektion Olmo, Simondo und Verrone offen gegen Melanotte, Pinot-Gallizio, Rumney und Wuerich. Das Interessante an dieser Spaltung ist, dass sie bereits bei der Gründung der S.I. erkennbar ist und dass sich somit in der sich nun entwickelnden Auseinandersetzung ein von Beginn an nicht nur in der italienischen Sektion, sondern in der gesamten S.I. angelegter Konflikt entlädt und schließlich nur durch den Ausschluss beendet werden kann. Denn die Front, die sich hier zunächst innerhalb der italienischen Sektion herausbildet, entspricht dem Abstimmungsergebnis über die Gründung der S.I. im Juli 1957: Diese wurde mit fünf Pro-Stimmen bei einer Gegenstimme und zwei Enthaltungen beschlossen. Zugestimmt haben Bernstein, Debord, Jorn, Rumney und wahrscheinlich Pinot-Gallizio, die Enthaltungen stammten wohl von Olmo und Verrone, die Gegenstimme von Simondo.523 Dabei halten sich Olmo und Verrone, anders als Si517 | Debord (1999), S. 39, an Ralph Rumney, 27.12.1957. 518 | Ibidem, S. 51, an Giuseppe Pinot-Gallizio, 13.1.1958. 519 | Vgl. ibidem, S. 37, an Giuseppe Pinot-Gallizio, 23.11.1957. 520 | Vgl. ibidem, an Giuseppe Pinot-Gallizio, 23.11.1957. 521 | Vgl. Olmo (1957). 522 | Debord (1957e), S. 31, Randbemerkung. 523 | Vollständig lassen sich die Stimmabgaben nicht rekonstruieren. Grundlage für obige Einteilung bilden die Aussagen von Rumney (vgl. Rumney (1999), S. 43). Die Notizen von Debord (vgl. Debord (1957b)) stützen diese Einschätzung größtenteils,
360 | Situationistische Internationale
mondo, der seine Kritik offen äußert, während der gesamten Gründungskonferenz auffallend zurück: »Je ne me souviens pas d’interventions d’Olmo ni d’Elena [Verrone, M.O.]. [...] Et Piero [Simondo, M.O.] semblait s’inquiéter de l’idée du dépassement de l’art.«524 Olmo scheint einige Monate nach der Gründung der S.I. seine Position mit diesem Text klar zu formulieren - er stößt damit aber lediglich bei Simondo und Verrone auf Zustimmung, während er von Debord, der den Text ins Französische übersetzt, scharf kritisiert wird: »Toi-même, dans la faible mesure où ces considérations nous importent, tu me plais bien. [...] Je refuse absolument les idées ›théoriques‹ générales de ce texte, qui ne sont pas liées à ton travail en musique, et qui ne viennent même pas de toi personellement. [...] Je ne te rapproche évidemment pas, d’une façon générale, de subir des influences ou d’accepter les idées de quelqu’un. Je te reproche d’avoir accepté, en une circonstance nettement définie, quelques idées qui se trouvent être des sottises.«525
Auffällig ist hierbei, dass Debord, bevor er seine inhaltliche Kritik vorbringt, zunächst auf seine persönliche Beziehung zu Olmo hinweist, aber zugleich in diesem Fall die inhaltliche Zusammenarbeit als wichtiger erachtet, als eine wie auch immer geartete interpersonelle Beziehung, was er auch gegenüber Pinot-Gallizio nochmals betont: »Je ne tiens pas, personnellement, à ce qu’Olmo ait confiance en moi. Je ne crois pas, que cela ait de l’importance, bien que je trouve Olmo très sympathique, et bien que je n’aie évidemment jamais rien fait pour capter ou trahir la confiance d’Olmo - À quoi cela pourrait-il servir?«526 Erkennbar wird hier somit in erster Linie die strikte Trennung zwischen der persönlich-emotionalen und der inhaltlich-theoretischen Ebene, die dazu dienen soll, eine inhaltliche Kritik nicht zu einem persönlichen Angriff zu machen: »Mais si toute critique, entre nous, devait être prise comme une offense, cela enlèverait complètement sa valeur à notre approbation, qui serait alors simple politesse.«527 Was die vorgetragene inhaltliche Kritik angeht, so bezieht sich Debord hier nicht nur auf die von Olmo vertretene Theorieposition, sondern wirft ihm explizit vor, diese Position nicht eigenständig entwickelt sie sind aber aufgrund nachträglicher Korrekturen nicht ganz eindeutig. Möglich wäre ihnen zufolge auch, dass die zweite Enthaltung von Pinot-Gallizio und die fünfte Pro-Stimme von Olmo stammt. 524 | Rumney (1999), S. 43. 525 | Debord (1999), S. 33, an Walter Olmo, 18.10.1957. 526 | Ibidem, S. 51f., an Giuseppe Pinot-Gallizio, 13.1.1958, Hervorh. im Orig. Dennoch wird bei Olmo deutlich, dass eine solche interpersonelle Beziehung, in diesem Fall zu Pinot-Gallizio, die Entscheidung bezüglich der Zugehörigkeit zur S.I. zumindest beeinflussen bzw. den Ausschluss verzögern kann: »Nous préférions Olmo à d’autres à cause de ses relations passées avec les conceptions expérimentales du Bauhaus imaginiste, et à cause de l’amitié que tu lui manifestais encore.« (ibidem, S. 61, an Giuseppe Pinot-Gallizio, 10.2.1958). 527 | Ibidem, S. 51f., an Giuseppe Pinot-Gallizio, 13.1.1958, Hervorh. im Orig.
Die S.I. im Spannungsfeld von Theorie und Praxis | 361
und sich zudem auf die ›falschen‹ Ideengeber bezogen zu haben - der Aspekt der Eigenständigkeit spielt eine wichtige Rolle.528 Diese Kritik äußert er jedoch nicht nur Olmo direkt gegenüber, sondern macht sie in einer ausführlichen Version der gesamten S.I. zugänglich.529 Im Zentrum dieser Debatte steht das methodische Vorgehen Olmos bezüglich des Begriffs des ›comportement expérimental‹ und seiner möglichen Anwendungsfelder: »[N]ous sommes d’avis de pousser l’attitude expérimentale aussi loin que possible dans tous les domaines. Au contraire, les italo-expérimentaux [...] réduisent son domaine, pas même à la peinture, mais à l’esprit du peintre.«530 Im Kern geht es hier also um den unitären Charakter der Praxis der S.I., um die zentrale Frage von Totalität und Trennung, um die Ablehnung einer Spezialisierung. »La pensée italo-expérimentale atomise les problèmes, ce qui est une attitude typiquement idéaliste, et politiquement représentative de toute pensée de droite. L’activité situationniste, au contraire, est unitaire.«531 Zur Diskussion stehen hiermit also Aspekte, die später zu den Säulen der situationistischen Theorie gehören werden, die aber in dieser Phase der anfänglichen Positionsbestimmung noch alles andere als unumstritten oder gar tragend sind, wie sich auch im Konflikt mit den holländischen Architekten nochmals zeigen wird. Deutlich wird in dieser Auseinandersetzung um grundlegende theoretische Konzepte vor allem die Suche der S.I. nach einer Gruppenidentität, nach einem Programm bzw. nach der Richtung, in der ein solches gesucht werden soll. Die S.I. befindet sich zu diesem Zeitpunkt in einer Phase, in der die an ihr Beteiligten allesamt noch dabei sind, ihre Auffassung der situationistischen Ideen zu entwickeln, das Terrain abzustecken und die unterschiedlichen Bewegungsrichtungen, wenn möglich, aufeinander abzustimmen. Die Konflikte sind hier noch keine Auseinandersetzungen um einzelne Aspekte oder gar Details eines bestehenden Programms. Dass es dabei immer wieder, wie zuerst im Fall der Italiener, zu grundlegenden Widersprüchen kommen kann, liegt auf der Hand. »Ayant accepté de participer à une action collective, [...] ils osent nous dire que l’expérience est incompatible avec tout programme.«532 Die Italiener lehnen ein solches Programm ab, »au nom d’une ombre d’expérience qu’on n’a même pas encore vue.«533 528 | Eigenständigkeit ist für Debord nicht nur in Bezug auf Außenstehende und somit als Abgrenzung notwendig, sondern auch innerhalb der S.I., da sonst durch die Entstehung von Lehrer-Schüler-Verhältnissen die geforderte Egalität und die Transparenz in Frage gestellt würde: »Moi, je n’ai aucun besoin de fabriquer des disciples factices pour leur faire soutenir à ma place des idées que je n’oserais pas présenter ouvertement à mes amis« (Debord (1999), S. 51f., an Giuseppe PinotGallizio, 13.1.1958, Hervorh. im Orig.). 529 | Vgl. Debord (1957e). Auch in potlatch wird diese Kritik im November 1957 nochmals öffentlich gemacht (vgl. Debord (1957c), S. 235). 530 | Debord (1957e), S. 30. 531 | Ibidem, S. 31, Hervorh. im Orig. 532 | Ibidem, S. 30. 533 | Ibidem.
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In einem Punkt jedoch ist dieser Kritik Debords zu widersprechen: Denn erinnern wir uns an die Abstimmung zur Gründung der S.I., so wird deutlich, dass die Italiener der ›action collective‹ von Anfang an eher skeptisch gegenüberstanden und ihr eben nicht explizit zugestimmt haben. Nicht nur aufgrund der kurzen Dauer der Mitgliedschaft also ist die Bindung zwischen der S.I. und Olmo, Simondo und Verrone keine sonderlich enge; die Loslösung aus der Gruppe stellt für beide Seiten kein großes Problem dar, was nicht zuletzt daran erkennbar wird, dass diesem Ausschluss keine weitere Diskussion oder Auseinandersetzung in der I.S. mehr folgt.534 Der erste Auschluss aus der S.I. im Januar 1958 erfolgt somit zwar einerseits sehr früh, unter anderem Blickwinkel jedoch zugleich sehr spät, ist er doch so etwas wie die Aufhebung eines Beitritts unter Vorbehalt. Beim Ausschluss von Rumney nur zwei Monate später im März 1958 ergibt sich ein anderes, ja beinahe komplementäres Bild. Zunächst einmal gehört Rumney im Gegensatz zu den drei Italienern zu denjenigen, die explizit für die Gründung der S.I. gestimmt und sich an der Gründungskonferenz auch aktiv beteiligt haben.535 Auch nach der Gründung der Gruppe bleibt Rumney sehr aktiv: Er ist an der Konzeption des Designs der I.S. beteiligt und nimmt eine psychogeographische Untersuchung von Venedig in Angriff.536 Sein Ausschluss kommt vor diesem Hintergrund zunächst sehr überraschend - und er bleibt dies auch bei genauerer Betrachtung. Im Vorfeld lassen sich hier kaum Divergenzen oder diesbezügliche Diskussionen ausmachen, und die Verkündung seines Ausschlusses in der I.S. ist verhältnismäßig umfangreich und, was den Tonfall angeht, fast schon eine »déclaration charmante«537 , in der zunächst Rumneys ›Forschungsprojekt‹ und dessen anfänglicher Erfolg vorgestellt wird. »Der englische Situationist Ralph Rumney, der schon im Frühling 1957 einige psychogeographische Erkundungen in Venedig unternommen hat, hatte sich später die systematische Erforschung dieses Stadtbilds als Ziel gesetzt und hoffte, einen vollständigen Bericht darüber im Juni 1958 [...] erstatten zu können. Zunächst entwickelte sich das Unternehmen günstig.«538 Bis hierhin klingt das nicht einmal entfernt wie eine Ausschlussmeldung, und sogar Rumney selbst ist die im weiteren Verlauf der Meldung folgende Lobeshymne, gerade aufgrund des impliziten Vergleichs mit Chtcheglov, beinahe unangenehm: 534 | In einem Brief kommt Debord auf diesen Ausschluss zurück - allerdings nur, um dessen Endgültigkeit zu betonen und ein vergleichsweise emotionales Schlusswort zu sprechen: »Simondo et Olmo sont non seulement des idiots mais des gens répugnants à traiter exactement de la même manière, et cela, nous semble-t-il, jusque dans le détail de la vie quotidienne. À ne plus saluer.« (Debord (1999), S. 64, an Giuseppe Pinot-Gallizio, 16.2.1958). 535 | Vgl. Rumney (1999), S. 61. 536 | Vgl. ibidem, S. 53f. sowie die Ankündigung in potlatch Situationistische Internationale (1957), S. 239. 537 | Vgl. Rumney (1999), S. 61. 538 | Situationistische Internationale (1958j), S. 34.
Die S.I. im Spannungsfeld von Theorie und Praxis | 363 »J’ai même eu droit à un compliment que je trouve moyennement exagéré. C’est vrai que j’étais parvenu à établir les premiers éléments d’un plan de Venise dont la technique de notation surpasse nettement toute la cartographie psychogéographique antérieure. Mais il ne faut pas oublier Ivan Chtcheglov, qui à été le véritable inventeur de la psychogéographie.«539
Doch im weiteren Verlauf wird auch Kritik laut, eine Kritik jedoch, die sich weniger auf inhaltliche Divergenzen, sondern eher auf das langsame Scheitern des Projekts von Rumney bezieht. »Rumney [musste] einen Forschungspunkt nach dem anderen aufgeben, um schließlich, wie er uns in seiner ergreifenden Meldung am 20.3. mitteilte, sich mit einer rein statischen Stellungnahme begnügen zu müssen.«540 Auch hier ist also noch nicht von Ausschluss die Rede, und auch der Tonfall ist weiterhin eher gemäßigt bis verständnisvoll. Dennoch schließt die Mitteilung mit einem Satz, der - wenn auch noch immer implizit den Ausschluss Rumneys aus der S.I. bekanntgibt: »Der venezianische Dschungel hat gesiegt und schliesst sich hinter einem jungen Mann, voller Leben und Verheissung, der sich unter unseren vielfachen Erinnerungen verliert und auflöst.«541 So informativ der Artikel in der I.S. bezüglich des Projekts von Rumney ist, so ungenau bleibt er bei der Begründung des Ausschlusses. Der einzige Hinweis, der sich finden lässt, ist der auf das langsame Scheitern dieses Projektes, auf die gescheiterte Veröffentlichung des bereits angekündigten Berichts bzw. auf die Nicht-Einhaltung der diesbezüglichen Fristen. Betrachtet man die Vorgeschichte dieses Ausschlusses, so stellt man fest, dass auch hier keine weiteren Meinungsverschiedenheiten zu finden sind, lediglich die Terminfragen bezüglich des Textes von Rumney werden ab und an diskutiert. So heißt es bereits im Dezember 1957: »Nous préparons l’impression de la revue. Il faudrait envoyer vite au moins quelques pages déjà écrites de Psychogeographical Venice, pour que tu figures dans ce premier numéro.«542 Anscheinend jedoch kommt Rumney dieser Bitte zunächst nicht nach, denn im März 1958 wiederholt Debord diese Forderung in etwas verschärfter Form. »Nous nous avisons soudain que nous n’avons pas de nouvelles de toi depuis assez longtemps; que tu n’as encore fait aucun réel travail avec nous; et que cependant, tu n’hésites pas à faire mention de ta collaboration avec l’Internationale situationniste à propos de ton exposition ›apaisée‹ de Milan.«543 Die Kritik an Rumney bezieht sich somit nicht mehr nur auf die Tatsache, dass er bislang keinen Bericht seiner psychogeographischen Forschung abgeliefert hat, ihm wird vielmehr unterstellt, sich überhaupt nicht mehr an den Aktivitäten der S.I. zu beteiligen, sich aber dennoch bei seiner eigenen Ausstellung auf die 539 | Rumney (1999), S. 59, Hervorh. im Orig. Die kursivierte Passage zitiert die Ausschlussmitteilung. 540 | Situationistische Internationale (1958j), S. 34. 541 | Ibidem. 542 | Debord (1999), S. 39, an Ralph Rumney, 27.12.1999, Hervorh. im Orig. 543 | Ibidem, S. 71, an Ralph Rumney, 13.3.1957.
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S.I. zu berufen. Interessanterweise schließt sich daran eine Argumentation an, die wir - auch wenn die Ausgangssituation dort eine ganz andere ist - bereits vom Ausschluss der Italiener kennen. Es handelt sich um die Unterscheidung bzw. Trennung zwischen interpersoneller Beziehung und der inhaltlichen Mitarbeit sowie um die Betonung der Tatsache, dass sich Rumney aus freien Stücken für eine solche Zusammenarbeit entschieden habe.544 Rumney soll sich explizit für oder gegen die Fortsetzung dieser Zusammenarbeit entscheiden und bekommt ein Ultimatum gestellt, in dem von ihm verlangt wird, binnen zwei Wochen seinen Text abzuliefern und zugleich seine ›Untätigkeit‹ der letzten Monate zu erklären. »Dans le cas où tu voudrais participer encore à ce que nous faisons, il te suffira de nous envoyer avant la fin du mois de mars 1° - Le texte destiné à notre revue, qui est sous presse. 2° - Une relation satisfaisante sur tes activités dans ces dernières mois. Après le 31 mars, c’est inutile: la revue indiquera précisément les participants à notre action.«545
Auf dieses Ultimatum reagiert Rumney nun anscheinend, allerdings kann er nur die zweite Bedingung erfüllen und seine Untätigkeit in der von der S.I. in der Ausschlussmeldung erwähnten ›ergreifenden Mitteilung‹ erklären. Doch den eingeforderten Text kann er bis Ende März nicht liefern - und wird daher, wie angedroht, ausgeschlossen. Doch wird ein zentrales Mitglied der Gründungsgruppe ausgeschlossen, nur weil es einen Artikel nicht rechtzeitig einreicht? Rumney selbst bezweifelt dies: »J’ai fini par le [den Text, M.O.] réaliser mais malheureusement avec un petit retard vis-à-vis le planning de Guy. Il prétend que c’est ce qui a mené à mon exclusion, même si, pour citer Michèle Bernstein, Guy ne donnait pas toujours les vraies raisons des exclusions.«546 Der Schlüssel zu den Hintergründen und somit zum Verständnis dieses Ausschlusses dürfte in Rumneys ›ergreifender Mitteilung‹ zu finden sein.547 Aus dieser geht hervor, dass ein Großteil der Verzögerungen seiner Forschung in Venedig auf seine schwierigen privaten Lebensumstände zu dieser Zeit zurückzuführen sind, deren Besserung für Rumney zum damaligen Zeitpunkt oberste Priorität hat. Genau mit dieser Haltung, das Private wichtiger zu nehmen als die Tätigkeit als Situationist, sind die übrigen Situationisten, allen voran Bernstein und Debord, Rumney zufolge jedoch nicht einverstanden: »Michèle et Guy trouvaient que la 544 | Vgl. Debord (1999), S. 71, an Ralph Rumney, 13.3.1957. 545 | Ibidem, S. 72, an Ralph Rumney, 13.3.1957. 546 | Rumney (1999), S. 57. Dass diese Verspätung nicht der alleinige Ausschlussgrund gewesen sein dürfte, wird deutlich, wenn man berücksichtigt, dass den Mitgliedern der belgischen Sektion zur Einreichung ihrer Texte für die I.S. Nr. 1 eine Frist bis zum 25.4.1958 eingeräumt wird (vgl. Debord (1999), S. 83, an Walter Korun, 8.4.1958). 547 | Deren ungefähren Inhalt gibt Rumney an anderer Stelle wieder (vgl. Rumney (1999), S. 57ff.).
Die S.I. im Spannungsfeld von Theorie und Praxis | 365
naissance d’un enfant était une incongruïté qui ne saurait distraire un vrai révolutionnaire de son parcours.«548 Sollte dieses Verhalten Rumneys der tatsächliche Grund für seinen Ausschluss gewesen sein, so wird er dennoch nicht offiziell genannt, weil wohl auch Bernstein und Debord ahnen, dass er als alleiniger Grund nicht haltbar ist.549 Zudem wird aus den Formulierungen dieser »exclusion polie et gentille«550 deutlich, dass anscheinend doch ein gewisses Verständnis für Rumneys Lage vorhanden ist, die als Verkettung ungünstiger Umstände und ohne einen expliziten Vorwurf ihm gegenüber skizziert wird. »J’ai été dépassé par les événements, ce qui est une sorte de traduction de ce qu’on trouve dans le texte de mon exclusion.«551 Auch wenn man Rumneys Folgerung, dass »les mobiles des exclusions publiées dans Potlatch et dans l’I.S. n’ont aucun rapport avec les véritables raisons«,552 nicht unbedingt zustimmen kann, so bleibt doch in diesem Fall ein fader Beigeschmack, der ausgehend vom Anspruch des begründeten Ausschlusses vor allem die Frage nach der internen transparenten Vermittlung und Diskussion desselben betrifft.553 Weder werden alle tatsächlichen Gründe offengelegt, noch werden diese zuvor in der Gruppe diskutiert, und auch die Frage nach der demokratischen Entscheidungsfindung lässt sich in diesem Fall wohl nur negativ beantworten. Auch der Ausschluss von Walter Korun im Oktober 1958 wirft ähnliche Fragen auf, allerdings fällt hier die Mitteilung darüber in der I.S., wie schon bei den Italienern, sehr knapp aus. »W. Korun jedoch, der ausserstande war, das ganze im Mai für Belgien gebilligte Veröffentlichungsprogramm durchzuführen, wird vorerst der Verantwortung enthoben, die er in diesem Land für die S.I. auf sich genommen hatte.«554 Auch wenn hier die ›Minimalanforderungen‹ - das Öffentlich-Machen des Ausschlusses und die Angabe eines Grundes - erfüllt sind, ist es nicht gerade viel, was man auf diese Weise zu diesem Vorgang offiziell erfährt. Vor allem aber kommt auch dieser Ausschluss relativ überraschend. Denn im Widerspruch zur vorgebrachten Kritik an seiner Inaktivität wird Korun noch wenige Monate zuvor sowohl in der I.S. als auch in der Correspon548 | Rumney (1999), S. 59. 549 | Auch Rumney selbst scheint die Endgültigkeit des Ausschlusses nicht zu akzeptieren, was eine erneute Klarstellung in der nächsten Ausgabe der I.S. zur Folge hat: »Da der englische Ex-Situationist Rumney sich weigert, den endgültigen Charakter seines in unserer vorigen Nummer angekündigten Ausschlusses zu verstehen, sind wir gezwungen, noch einmal zu sagen, dass er uns sowohl durch seine Ideen, als auch durch sein Leben vollkommen uninteressant geworden zu sein scheint.« (Situationistische Internationale (1958i), S. 51) Wenn auch immer noch nicht offiziell, so scheint hier der von Rumney vermutete Ausschlussgrund etwas deutlicher durch. 550 | Rumney (1999), S. 59. 551 | Ibidem. 552 | Ibidem, S. 61, Hervorh. im Orig. 553 | So werden die privaten Hintergründe von Rumneys Ausschluss von Debord nur gegenüber Pinot-Gallizio und auch erst im Nachhinein kommuniziert (vgl. Debord (1999), S. 80, an Giuseppe Pinot-Gallizio, 4.4.1958). 554 | Situationistische Internationale (1958i), S. 51.
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dance mehrfach gelobt: sei es für einen Text über die S.I., den er in einer holländischen Zeitschrift veröffentlicht hatte,555 oder für die Organisation einer Ausstellung mit Werken Pinot-Gallizios in Brüssel556 oder für die erfolgreiche Planung und Durchführung einer Protestaktion in Belgien557 - vom Vorwurf der Inaktivität ist hier nichts zu spüren. Auch sonst lassen sich im Vorfeld kaum Spuren für einen sich ankündigenden Ausschluss oder für eine interne Diskussion über einen solchen finden - vor allem nicht in Bezug auf den offiziellen Ausschlussgrund, da es nirgendwo erkennbar wird, auf welches ›Veröffentlichungsprogramm‹ sich die S.I. hier eigentlich bezieht. Zwar wird Korun hin und wieder von Debord aufgefordert, seine Texte rechtzeitig fertigzustellen und weiterzuleiten,558 aber dies geht im Fall Koruns nicht über das normale Ausmaß von Debords Tätigkeit als Chefredakteur der I.S. hinaus und hat nirgendwo einen Unterton, der darauf hinweisen würde, dass dies zum Ausschluss führen könnte. Lediglich einmal ist bei Debord Enttäuschung darüber zu spüren, dass Korun seine Rolle als wichtiger Theoretiker nicht wie erhofft ausgefüllt und bislang auch keinen brauchbaren Text für die I.S. abgeliefert hat: »Tu te souviens sans doute qu’à plusieurs reprises je t’ai incité à prendre publiquement, dès le premier numéro de notre revue - dans le développement théorique de ce mouvement une place de premier plan. Toutes les discussions avec toi, ton rôle antérieur, m’ont persuadé que ce serait ton travail parmi nous. Comme je le pense encore [...]. Je n’ai pu le publier [einen Textentwurf von Korun, M.O.] dans notre ›organe officiel‹ dont la cohérence idéologique a été placée sous ma responsabilité. Mais on parle souvent de toi dans ce numéro et j’espère que tu rédigeras une grande partie du prochain.«559
Trotz der Kritik an Korun und seiner bisherigen Mitarbeit dominiert auch hier noch die Hoffnung auf eine produktive Mitarbeit in der Zukunft, was auch dadurch bestätigt wird, dass sich eine solche Kritik in der Zeit bis zu seinem Ausschluss nicht wiederholt. Allerdings deutet sich im Vorfeld des Ausschlusses eine Meinungsverschiedenheit inhaltlich-theoretischer Art an, die jedoch nichts mit dem offiziell genannten Grund gemein hat. Dabei geht es zum einen um Koruns Entwürfe für zwei Artikel für die I.S., deren Veröffentlichung 555 | Vgl. Debord (1999), S. 77, an Giuseppe Pinot-Gallizio, 21.3.1958 sowie Situationistische Internationale (1958e). 556 | Debord (1999), S. 70, an Giuseppe Pinot-Gallizio, 3.3.1958 sowie ibidem, S. 71, an Giuseppe Pinot-Gallizio, 8.3.1958. 557 | So wird vor allem Koruns Einsatz und Risikobereitschaft besonders hervorgehoben: »Unser Genosse Korun wird wegen seiner Rolle bei dieser Manifestation strafrechtlich verfolgt.« (Situationistische Internationale (1958a), S. 36) Vgl. hierzu außerdem Debord (1999), S. 88, an Giuseppe Pinot-Gallizio, 15.4.1958. 558 | Ibidem, S. 66, an Walter Korun, 21.2.1958; ibidem, S. 68f., an Maurice Wyckaert, 1.3.1958; ibidem, S. 83, an Walter Korun, 8.4.1958. 559 | Ibidem, S. 104, an Walter Korun, 16.6.1958.
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Debord ablehnt, da er ihnen »un manque fondamental de cohésion«560 attestiert und da er sie bezüglich des darin enthaltenen Kunstverständnisses für rückschrittlich hält: »Si on n’arrive pas à se servir effectivement des quelques nouvelles conceptions expérimentales que nous avons déjà définies, on retombera toujours dans le commerce des tableaux, à une pseudo-école de plus dans le même cadre artistique périmé.«561 Zum anderen - und dies dürfte das größere Problem gewesen sein geht es darum, dass Korun auch in seinen praktischen Aktivitäten dem ›commerce de tableaux‹ sehr nahe steht, da er zusammen mit Jorn enge Kontakte zu verschiedenen Galeristen und Künstlern pflegt. Auch wenn solche Kontakte zu diesem Zeitpunkt in der S.I. noch nicht grundsätzlich untersagt sind, so scheint die Art und Weise, wie Korun diese nutzt, Debord und Pinot-Gallizio ganz offensichtlich zu missfallen, wie bei den Vorbereitungen für eine Ausstellung von Pinot-Gallizio deutlich wird. »Asger et Korun ont décidé eux-mêmes de retarder ton exposition au 10 octobre. [...] [J]’ai été amené à exprimer ma profonde défiance pour les méthodes et même les intentions d’Asger et de Korun relativement à notre travail commun. (Ils se sont surtout préoccupés de lancer un peintre nommé Pierre Wemaëre, qui ignore même l’existence des situationnistes). C’est principalement Korun qui nous a déçus, par des maladroites ambitions de marchand de tableaux.«562
Dieser Vorwurf wird jedoch nicht als Ausschlussgrund genannt werden und sogar Korun selbst wird nie etwas davon erfahren.563 Umso überraschender kommt auch für ihn selbst sein Ausschluss. Doch nicht nur, dass sein Ausschluss ihn völlig unvermittelt trifft, er bekommt dafür einen Grund genannt, der weder mit dem offiziellen Ausschlussgrund übereinstimmt, noch sich aus den hier zitierten Vorwürfen Debords ableiten lässt. »[J]e suis convoqué à une réunion de l’I.S. chez Wyckaert [...]. Je m’y suis rendu de bon cœur, persuadé que j’aillais être félicité [für die Aktion in Belgien, M.O.]. Au lieu de cela, figurez-vous qu’on ne me laisse pas entrer! Et, alors que j’étais à la porte, Wyckaert est venu me dire: ›Piet, je regrette, mais tu es relevé de tes fonctions parce qu’ils ne veulent pas d’un militaire. Si tu veux vraiment t’engager dans l’avant-garde, tu dois quitter l’armée.‹«564
Der Hintergrund für den Ausschluss Koruns bzw. Grund, der ihm dafür präsentiert wird, ist schlicht die Tatsache, dass er ein Militärangehöriger ist. Dass ihm hierbei - wie einige Jahre später Khayati - ein Ultimatum gestellt wird, sich zwischen der S.I. und dem Militär zu entscheiden, scheint zunächst darauf hinzudeuten, dass dieser Zustand von 560 | Debord (1999), S. 104, an Walter Korun, 16.6.1958. 561 | Ibidem, an Walter Korun, 16.6.1958, Hervorh. im Orig. 562 | Ibidem, S. 92, an Giuseppe Pinot-Gallizio, 18.5.1958, Hervorh. im Orig. 563 | Vgl. Groof (2007), S. 269. 564 | Ibidem, S. 262.
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der S.I. unter dem Verbot von Doppelmitgliedschaften565 subsumiert wird. Gegen diese These spricht jedoch eindeutig die Tatsache, dass Debord und die übrigen Mitglieder über Koruns Tätigkeit beim Militär von Anfang an bestens informiert waren und es für Debord einen gewissen subversiven Reiz hatte, einen angehenden General in den Reihen der S.I. zu haben.: »Il [Debord, M.O.] savait que vous étiez dans l’armée et vous a intégré dans le mouvement. L’I.S. a donc compté dans ses membres un militaire professionnel [...]. Cela lui conférait en quelque sorte une fonction avant-gardiste réelle, dans les deux sens du terme.«566 Daher lässt sich das Ultimatum, das die S.I. Korun stellt, im Grunde nur als »une condition en réalité absolument factice« auffassen, denn dass Korun tatsächlich zugunsten der S.I. aus dem Militär austreten würde, war vollkommen unrealistisch.567 Ist die S.I. also einfach auf der Suche nach einem vermeintlichen Grund, um Korun loszuwerden, ohne dies mit seinem Verhalten im Vorfeld der Ausstellung von Pinot-Gallizio in Zusammenhang bringen zu müssen, da man dann auch Jorn hätte attackieren müssen? Warum aber wird der in seiner Militärangehörigkeit gefundene Grund dann nicht auch offiziell unter dem Label der Doppelmitgliedschaft angeführt? Die einzig schlüssige Erklärung hierfür ist darin zu sehen, dass man seine Tätigkeit als Militär nach außen hin weiterhin geheimhalten wollte, um das subversive Potential dieser Konstellation auch in Zukunft noch nutzen zu können. Wie aber will man dieses Potential nutzen? Warum schließt die S.I. Korun aus, wenn sie doch offensichtlich an einer Zusammenarbeit mit ihm weiterhin interessiert ist? Diese Frage macht es notwendig, noch einmal zum Anfang zurückzukehren und erneut die Ausschlussmeldung zu Rate zu ziehen. Hier nämlich stellt man bei genauerer Betrachtung fest, dass es sich womöglich gar nicht um einen wirklichen Ausschluss handeln sollte: »W. Korun jedoch [...] wird vorerst der Verantwortung enthoben«568 . Sollte dieser vermeintliche Ausschluss tatsächlich eher als vorübergehendes Abtauchen Koruns in die Klandestinität konzipiert gewesen sein, so scheitert dieser Plan grundlegend. Denn nicht zuletzt, weil diese Idee auch intern so gut getarnt bzw. verheimlicht wird, wird selbst der davon betroffene Korun nicht eingeweiht. »Debord a voulu jouer, pour ainsi dire, une partie avec un militaire de carrière«569 , unterlässt es aber, 565 | Die Doppelmitgliedschaft spiegelt sich bei Korun auch auf der Namensebene wider: Als Mitglied der S.I. trägt er den Künstlernamen Walter Korun, in der Armee seinen bürgerlichen Namen Piet de Groof. 566 | Gérard Berréby in Groof (2007), S. 282. Vgl. auch ibidem, S. 264 sowie 269f. 567 | Vgl. ibidem, S. 262f. 568 | Situationistische Internationale (1958i), S. 51, Hervorh. M.O., vgl. hierzu auch die Anmerkung Debords nach Koruns ›Ausschluss‹: »Wyckaert m’a téléphoné: il paraît que Korun est de nouveau bien résolument avec nous. Tant mieux.« (Debord (1999), S. 151, an Giuseppe Pinot-Gallizio, 14.10.1958) Noch Monate später erkundigt sich Debord abermals nach dem Verbleib von Korun: »As-tu des nouvelles de Korun? Je crois qu’il faut désespérer de lui. Mais rien ne nous presse plus.« (ibidem, S. 190, an Maurice Wyckaert, 10.2.1959). 569 | Gérard Berréby in Groof (2007), S. 282.
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seinen Partner Korun in dieses Spiel einzuweihen. Für Korun ist und bleibt es ein unvermittelter Ausschluss, den er in Form und Inhalt ablehnt. »Moi, je n’étais pas d’accord avec ces methodes. [...] La pratique de l’exclusion me dérangeait beaucoup. Le mérite, ça n’existe pas. [...] [U]ne telle exclusion: brutale, sans aucune politesse, sans que je puisse me défendre. Vous savez, je suis un homme d’honneur.«570 Die Figur des situationistischen Generals zerfällt in ihre Bestandteile: Korun lässt die S.I. enttäuscht hinter sich und wird als Piet de Groof tatsächlich einige Jahre später General. Im Vergleich zu diesen Manövern im Rücken von Korun ist der Ausschluss von Hans Platschek im Februar 1959 recht schnell skizziert weniger problematisch wird er dadurch jedoch nicht. Auch hierzu findet sich nur eine knappe und scharf formulierte Meldung in der I.S.: »In einer Notiz der ersten Nummer (15.7.1959) der neuen ›Potlatch‹Serie (›Über die Müllabfuhr in der Intelligenz‹) wird daran erinnert, dass Hans Platschek wegen seines Einverständnisses mit der ›dadaistischroyalistischen‹ Zeitschrift ›Panderma‹ im Februar ausgeschlossen wurde.«571 Auch in dem Artikel in potlatch, auf den hier verwiesen wird, erfährt man nicht viel mehr - allerdings ist der Tonfall hier noch etwas schärfer und wird die Endgültigkeit der Entscheidung stärker betont: »Seit du in Panderma rückfällig geworden bist, betrachtet dich die S.I. unwiderruflich als Kretin.«572 Offiziell wird Platschek also allein aufgrund seiner Mitarbeit an einer Zeitschrift, die von der S.I. als reaktionäre abgelehnt wird, ausgeschlossen. Dies ist an sich schon nicht ganz unproblematisch, da eine solche Mitarbeit noch nicht unter die Kategorie der Doppelmitgliedschaft fällt und im Fall Panderma - anders als wenig später in Bezug auf Arguments573 - von der S.I. auch kein explizites Verbot einer solchen Zusammenarbeit ausgesprochen wurde. Was jedoch noch stutziger macht und den Verdacht nahe legt, dass es sich hier bestenfalls um einen vorgeschobenen Ausschlussgrund handelt, ist die Tatsache, dass Platschek bereits seit längerer Zeit mit Panderma zusammenarbeitete, dies aber zuvor nirgendwo kritisiert wurde, obwohl es der S.I. durchaus bekannt war, wie man aus der Meldung in potlatch herauslesen kann. Daran, dass diese Mitarbeit an Panderma auf einmal als problematisch angesehen wird, ist Asger Jorn nicht ganz unbeteiligt, da er selbst, anders als Platschek, »das Angebot der Zeitschrift Panderma für eine Zusammenarbeit brüsk ablehnte«574 und damit sowohl die Zeitschrift als auch das Verhalten Platscheks diskreditiert, der sich weiterhin weigert, sich gegen Panderma zu entscheiden. Worum geht es hier also wirklich? Einen Hinweis darauf liefert der Zeitpunkt des Ausschlusses im Februar 1959 - also zwei Monate vor 570 | Vgl. Groof (2007), S. 266f. 571 | Situationistische Internationale (1959e), S. 92f. 572 | Situationistische Internationale (1959a), S. 246, Hervorh. im Orig. 573 | Vgl. Situationistische Internationale (1960g), S. 167. 574 | Ohrt (1997), S. 199, Hervorh. im Orig.
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dem Beitritt der Gruppe SPUR. Was sich hier andeutet, ist ein Konkurrenzverhältnis zwischen Platschek und der Gruppe SPUR; denn eine sowohl von Platschek als auch von der SPUR gebildete und somit in sich nochmals fraktionierte Sektion ist für die S.I. wohl nicht wünschenswert. Am Eintritt der Gruppe SPUR ist aber vor allem Jorn viel gelegen, was sein Verhalten gegenüber Platschek verständlich macht, auch wenn Jorn selbst es war, der Platschek in die S.I. geholt und mit ihm zusammen mit einem Flugblatt im Januar 1958575 die erste deutsche Sektion der Gruppe ins Leben gerufen hatte. Doch in dem Maße, wie Jorn sich mehr und mehr für die Künstler der Gruppe SPUR begeistert, um so mehr wendet er sich von Platschek ab. Jorn möchte die SPUR zur neuen deutschen Sektion machen - und der Rest der S.I., allen voran Debord, lässt ihn gewähren. Platschek wird so zum Spielball des jornschen Bewegungsdrangs, seines Interesses an der Konstruktion von Personenkonstellationen bzw. -situationen und zugleich zu einer Figur im Strategiespiel zwischen Jorn und Debord und verliert ab dem Moment, als Jorn die SPUR trifft und in ihr die interessantere Version dieser Sektion sieht, nach und nach die strategische Bedeutung, die er anfangs als alleiniger Vertreter der deutschen Sektion innehatte. Dieser Zusammenhang zwischen dem geplanten Eintritt der SPUR und dem Ausschluss von Platschek wird nicht zuletzt dadurch noch deutlicher, dass die SPUR als Erste über diesen Ausschluss in Kenntnis gesetzt wird - und das zu einem Zeitpunkt, als sie noch nicht zu den Mitgliedern der S.I. zählt. »Platschek ne sera pas invité [zur dritten Konferenz der S.I., M.O.]. Nous lui avons même télégraphié son exclusion [...]. Nous espérons que cette nécessaire sévérité a votre assentiment.«576 Im Falle Platscheks wird der Ausschluss also genau als das angewandt, was er nicht sein sollte: als taktische Maßnahme auf der Ebene der Gruppenstruktur und der persönlichen Interessen der Mitglieder. Dass Platschek sich seiner Rolle als Schachfigur im Moment seines Ausschlusses durchaus bewusst ist und sich ebenso bewusst entscheidet, diese Partie nicht mitzuspielen, verdeutlicht sein letztes Telegramm an die S.I., das interessanterweise in der potlatch-Meldung weggelassen wurde: »Après l’usage, fermez la tube.«577 Die bis hierhin skizzierten 14 Ausschlüsse zwischen Januar 1958 und März 1962 geben insgesamt ein sehr vielfältiges Bild der Ausschlusspolitik der S.I. ab. Angefangen vom grundlegenden Problem der fehlenden Öffentlichkeit bei der ersten Gruppe der unbemerkt Ausgeschlossenen wurde auch bei der zweiten Gruppe der unauffällig Ausgeschlossenen immer wieder erkennbar, wie schwer sich die S.I. mit der Umsetzung 575 | Vgl. Platschek (1958). 576 | Debord (1999), S. 187, an die Gruppe SPUR, 6.2.1959. Erst einige Tage später werden auch Melanotte (vgl. ibidem, S. 189, an Giors Melanotte, 10.2.1959) und Wyckaert (vgl. ibidem, S. 190, an Maurice Wyckaert, 10.2.1959) über diesen Vorgang informiert. 577 | Internationale Situationniste (1959), S. 255.
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ihrer eigenen Ansprüche in Sachen Transparenz und demokratischer Entscheidungsfindung tut. Zumindest die Forderung, alle Ausschlüsse publik zu machen und auch die jeweiligen Gründe dafür zu nennen, wird bei der zweiten Gruppe erfüllt. Auch der Anspruch, Ausschlüsse nur vor dem Hintergrund inhaltlich-theoretischer Differenzen, nicht aber als Ausdruck persönlicher Konflikte zu vollziehen, wird größtenteils - mit Ausnahme vielleicht von Rumney - umgesetzt. Beim genaueren Blick auf die angegebenen Gründe und theoretischen Differenzen fällt jedoch auf, dass hier doch eine große Diskrepanz zwischen den angegebenen und den tatsächlichen Gründen bzw. zwischen den als Grund genannten Auslösern und den wirklichen Gründen im Hintergrund erkennbar wird. Genau diese Diskrepanz aber ist es, die bereits hier Zweifel daran aufkommen lässt, dass der Ausschluss nicht als ›taktische Waffe‹ eingesetzt wird. Gerade der Fall Platschek weist deutlich in diese Richtung, da dieser Ausschluss dafür eingesetzt wird, die Gruppenstruktur bewusst zu verändern. Der Ausschluss entwickelt hier eine Eigendynamik, ist nicht mehr nur die eingangs skizzierte Verteidigungshaltung der S.I. gegenüber ihrer Umwelt, sondern wird gezielt im Gruppeninneren eingesetzt. Dies führt zu einer der wenigen Gemeinsamkeiten zwischen den bislang dargestellten Ausschlüssen: Sie alle treffen Mitglieder, die in dieser Phase eine randständige Position innerhalb der Gruppe innehaben578 und die im Prozess der Identitätsfindung und der Programmentwicklung der Gruppe zum Spielball zwischen den verschiedenen Fraktionen und ihren Protagonisten werden. Diese Ausschlüsse an den Rändern der S.I., dieses mit der anfänglichen inhaltlichen Suchbewegung der Gruppe in Verbindung zu bringende ›Begradigen‹ und Definieren der noch ausgefransten Ränder zu einer klaren Grenze legt in seiner Dominanz in den Jahren bis Mitte 1960 den Verdacht nahe, dass beim Ausschluss innerhalb der S.I. mit zweierlei Maß gemessen wird. Dies aber wäre vor dem Hintergrund der Egalitätsforderung der Gruppe äußerst problematisch. Doch auch wenn sich der Verdacht, dass beim Ausschluss neben dem tatsächlichen Ausmaß der ihn auslösenden inhaltlichen Differenzen die Stellung des einzelnen Mitglieds innerhalb der Gruppe und seine interpersonellen Beziehungen zu anderen Mitgliedern zumindest auch eine Rolle spielen, vorerst nicht vollkommen ausräumen lässt, so gilt es im Folgenden zwei Ausschlüsse der frühen Phase zu skizzieren, die mit Giuseppe Pinot-Gallizio und Maurice Wyckaert Mitglieder treffen, die die S.I. der frühen Jahre wesentlich geprägt haben. Ausschlüsse also, bei denen Mitglieder aus dem Zentrum der S.I. die Gruppe verlassen müssen.579 578 | Zu dieser Gruppe von Mitgliedern ist auch Melanotte zu zählen. Er wird im Mai 1960 zusammen mit seinem Vater Pinot-Gallizio ausgeschlossen - die beiden sind als ›Familienbande‹ eingetreten und müssen die S.I. auch gemeinsam wieder verlassen. Vgl. zum Ausschluss Melanottes die folgenden Ausführungen zu PinotGallizio. 579 | Die Ausschlüsse von Alberts und Oudejans sind zwischen den randständigen und den zentralen Ausschlüssen einzuordnen. Auf eine ausführliche Darstellung
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4.4.4 Auffällige Ausschlüsse im Zentrum der S.I.: Pinot-Gallizio und Wyckaert Das erste Mitglied aus dem Kern der S.I., das die Gruppe verlassen muss, ist Giuseppe Pinot-Gallizio, der im Mai 1960 zusammen mit seinem Sohn Giors Melanotte ausgeschlossen wird. Die Mitteilung dazu in der I.S. fällt zwar wieder einmal recht knapp aus, enthält aber doch eine Vielzahl von Informationen zu diesem Ausschluss: »Pinot-Gallizio und G. Melanotte sind im Juni [genau genommen am 31. Mai wird hier jedoch verzichtet, da auf beide Ausschlüsse im Zusammenhang mit dem Ausschluss von Armado sowie mit dem Austritt von Constant bereits eingegangen wurde. Lediglich auf einige weitere Kernaspekte ist noch hinzuweisen. So bestätigt Debord zunächst die Bedeutung der beiden Architekten und der holländischen Sektion für die Anfangsjahre der S.I.: »La Hollande est en passe de devenir la section dominante de notre Internationale, notre base la plus avancée.« (Debord (1999), S. 207, an Constant, 21.3.1959) In der Ausschlussmitteilung in der I.S. heißt es zu den beiden Holländern dann: »Indem die beiden Architekten Alberts und Oudejans es angenommen haben, in Volendam eine Kirche zu bauen, sind sie gleich und ohne Diskussion aus der S.I. ausgetreten. Unsere holländische Sektion wird die entsprechenden Schritte einleiten, um dieses unteilbare Ereignis der öffentlichen Meinung mitzuteilen.« (Situationistische Internationale (1960f), S. 128) Es wird also ein präziser Grund für den Ausschluss genannt, der vor dem Hintergrund der theoretischen Positionen der S.I. nachvollziehbar ist und bereits Monate zuvor mit den Holländern diskutiert wird. »Il est impossible de construire une église dans la perspective un peu cohérente de l’urbanisme unitaire. Et cela non seulement moralement, politiquement; mais pour des raisons directement architecturales, urbanistes.« (Debord (1999), S. 272, an Constant, 8.10.1959) Auch die mögliche Konsequenz eines Ausschlusses wird bereits formuliert, allerdings noch verbunden mit der Hoffnung, dass ein solcher nicht notwendig wird: »Je crois que Har [Oudejans, M.O.] et Alberts sont très sympathiques et intéressants. Ils sont évidemment intelligents. Ils peuvent suivre ce raisonnement, j’espère. Fais pour le mieux à ce propos, mais n’oublie pas que c’est une question qui peut, dans son développement, nécessiter une complète rupture.« (ibidem, an Constant, 8.10.1959. Vgl. auch ibidem, S. 258, an Constant, 7.9.1959). Diese Hoffnung ist jedoch vergebens, da Alberts und Oudejans am Kirchenbau festhalten. Wir haben es hier mit einem öffentlich gemachten Grund zu tun, der vorab intern transparent vermittelt wird. Lediglich die Frage nach der Demokratie der Entscheidungsfindung lässt sich nicht eindeutig klären. Da der Ausschluss aber nicht im Rahmen einer Konferenz beschlossen wird, sind diesbezüglich Zweifel angebracht. Zu beachten ist zudem, dass diese offizielle Begründung, wenn auch weniger ausgeprägt als bei den bislang skizzierten Fällen, zumindest nicht der einzige Grund für den Ausschluss gewesen ist und auch dieser Grund eher als konkreter Anlass, denn als Grund zu sehen ist. Denn neben der Frage des Kirchenbaus gibt es noch tiefergehende Differenzen zwischen den beiden Holländern und Debord bzw. dem Rest der S.I., die sich weitgehend mit den inhaltlich-theoretischen Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit Constants Austritt decken und sich primär auf die Stellung des unitären Urbanismus im Theoriegefüge der S.I. beziehen. Diese Kritik wird im Vorfeld des Ausschlusses mehrfach gegenüber Alberts und Oudejans formuliert und intern diskutiert (am pointiertesten in ibidem, S. 212ff., an Anton Alberts, Armando, Constant und Har Oudejans, 4.4.1959). Dass diese Auseinandersetzung in der Ausschlussbegründung nicht noch einmal explizit aufgegriffen wird, mag zum einen an ihrer Komplexität liegen und zum anderen damit zusammenhängen, dass sie bereits in den vorangegangenen Ausgaben der I.S. umfangreich dokumentiert und öffentlich gemacht wurde (vgl. zu dieser Kontroverse Kaufmann (2004), S. 189ff. sowie Ohrt (1997), S. 216ff.).
Die S.I. im Spannungsfeld von Theorie und Praxis | 373 1960, M.O.] aus der S.I. ausgeschlossen worden. Aus Naivität bzw. Strebertum hatten sie sich zu Kontaktaufnahmen und später zu einer Mitarbeit in Italien mit ideologisch unannehmbaren Kreisen verführen lassen. Ein erster Tadel (siehe die ›Situationistischen Nachrichten‹ unserer Nummer 4 über den bekanntermassen mit dem Jesuiten Tapié befreundeten Kunstkritiker Guasco) konnte ihre Politik nicht verbessern. Der Ausschlussbeschluss wurde also gefasst, ohne die beiden noch anzuhören.«580
Setzt man diese Meldung zunächst einmal in Beziehung zu den eigenen Ansprüchen der S.I. an ihre Ausschlüsse, so ergibt sich folgendes Bild: Der Ausschluss von Pinot-Gallizio wird öffentlich gemacht und er wird inhaltlich-theoretisch - und nicht taktisch-strategisch - begründet. Zudem wird angedeutet, dass die Differenzen, die zu diesem Ausschluss geführt haben, bereits vorab gegenüber Pinot-Gallizio kommuniziert wurden, dass also eine interne und transparente Diskussion darüber stattgefunden hat - auch wenn die Betroffenen bei der letztlichen Entscheidung nicht mehr hinzugezogen wurden. Die vorangegangene Diskussion und der Verweis auf einen ›Ausschlussbeschluss‹ deuten zudem auf eine mehrheitliche Entscheidung der Gruppe hin. Dennoch gilt es, vor allem nach der bisherigen Erfahrung bei der genaueren Analyse von Ausschlussmeldungen in der I.S., alle diese Aspekte - mit Ausnahme des unstrittigen Vorgangs des Öffentlich-Machens - im Folgenden kritisch zu hinterfragen. Bevor wir zur Frage nach der transparenten Diskussion kommen, die dem Ausschluss vorausgegangen sein soll bzw. vorausgehen sollte, muss zunächst die Frage nach dem demokratischen Charakter dieses Ausschlusses gestellt werden. Getroffen wird die Entscheidung durch »notre réunion de mardi soir [31.5.1960, M.O.] à Bruxelles«581 und zwar wie bei allen anderen Ausschlüssen im Sinne einer »conclusion définitive«582 aus den Vorwürfen. Wie aus dem weiteren Verlauf dieses Briefs hervorgeht, nehmen neben Debord (und wohl auch Bernstein) noch Jorn, Kotányi und Wyckaert an dieser Sitzung teil und stimmen für den Ausschluss; Constant ist nicht vor Ort, hatte aber bereits im Vorfeld seine Zustimmung gegeben. Die versammelten Situationisten beschließen den Ausschluss somit einstimmig. Dies ist jedoch keineswegs mit einer wirklichen Mehrheitsentscheidung zu verwechseln, da die S.I. zu diesem Zeitpunkt - inklusive der zwei Auszuschließenden - immerhin 22 Mitglieder hat und es gerade bei den neun Angehörigen der deutschen Sektion, die sowohl auf der theoretischen als auch auf der persönlichen Ebene eng mit Pinot-Gallizio verbunden sind, sehr fraglich ist, ob sie einem Ausschluss zugestimmt hätten.583 Auch dieser Ausschluss wird zwar im 580 | Situationistische Internationale (1960g), S. 164. 581 | Debord (1999), S. 338, an Constant, 2.6.1960. 582 | Ibidem, an Constant, 2.6.1960. 583 | Dementsprechend großen Klärungsbedarf scheint es von Seiten der Deutschen diesbezüglich auch noch zu geben, wie aus Debords Erklärungsversuchen
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Kreise der Entscheidenden mehrheitlich getroffen, aber eben nur mehrheitlich in Bezug auf einen Personenkreis, den man als den inneren Kern der S.I. bezeichnen könnte, der aber per se noch keine Mehrheit der S.I. vertritt. Diese Unterscheidung zwischen Zentrum und Peripherie, die sich bei der Entscheidungsfindung bezüglich der Ausschlüsse herauskristallisiert, ist jedoch für das Egalitätspostulat der Gruppe äußerst problematisch. Denn was sich hier bei der Abstimmung über Ausschlüsse andeutet, ist nicht nur eine wohl bei jeder Gruppe erkennbare Unterteilung in Zentrum und Peripherie, sondern im Grunde genommen eine Unterteilung in Subjekte und Objekte von Entscheidungen, in aktive und passive Mitglieder. Wie aber sieht es mit der internen Diskussion im Vorfeld dieses Ausschlusses aus? Der Vorwurf an Pinot-Gallizio, enge Kontakte mit dem Kunstkritiker Guasco gepflegt zu haben, wurde ja bereits in der Nummer 4 der I.S. laut - allerdings ist er hier offiziell noch nicht direkt gegen Pinot-Gallizio gerichtet, sondern in Form einer scharfen Kritik an Guasco formuliert.584 Doch auch intern wird über die Frage diskutiert und die Ablehnung von Guascos Text Pinot-Gallizio gegenüber kommuniziert: »Naturellement, nous désapprouvons tous le texte de Guasco.«585 Vor dem Hintergrund dieser Kritik wird Pinot-Gallizio aufgefordert, seine Kontakte zu Guasco586 abzubrechen: »Il avait été deux fois rappelé à la discipline par l’I.S., et il n’en avait pas tenu compte.«587 Doch PinotGallizio ist nach der ersten ›Ermahnung‹ im Februar 1960 nicht nur nicht bereit, seine Kontakte zu Guasco abzubrechen, »sondern ließ den Kritiker gar einen weiteren Katalogtext zu La Gibigianna im Juni 1960 schreiben.«588 Pinot-Gallizio ist also nicht gewillt, sich in seinen Kontakten durch die S.I. einschränken zu lassen, sich dem Programm der strikten Abgrenzung der Gruppe zu unterwerfen - nicht zuletzt, da diese Kontakte für seine eigene Tätigkeit als Maler von zentraler Bedeutung sind. Darauf bezieht sich wohl der Vorwurf des ›Strebertums‹. Sein Verhalten ist jedoch auch aus einem anderen Grund heraus verständlich, da die S.I. diesKontakte zwar kritisiert, ihm aber deswegen nicht explizit mit dem Ausschluss gedroht hat. Und mit einem solchen Ausschluss kann Pinotknapp zwei Monate später hervorgeht. »[L]’exclusion de Pinot [Gallizio, M.O.] a été décidée par une réunion tenue à Bruxelles, au début de juin, qui représentait l’opinion de la très grande majorité des situationnistes.« (Debord (1999), S. 362, an Heimrad Prem, 26.7.1960) Dieser Verweis auf die ›majorité des situationnistes‹ ist jedoch vor dem Hintergrund der hier skizzierten Mitgliederzahlen äußerst fragwürdig. 584 | Guascos Artikel über Pinot-Gallizio wird unter anderem als »schwachsinniges Sammelsurium« (Situationistische Internationale (1960h), S. 127) bezeichnet. Er ist abgedruckt in Guasco (1983). 585 | Debord (1999), S. 314, an Giuseppe Pinot-Gallizio, 14.2.1960. 586 | Guasco ist aber nicht der Einzige im Umfeld von Pinot-Gallizio, der von der S.I. sehr kritisch gesehen wird. Auch Pinot-Gallizios Kontakte zu den Kunstkritikern und Sammlern Luciano Pistoi und Michel Tapié sind als Hintergrund seines Ausschlusses zu sehen (vgl. ibidem, S. 338, an Constant, 2.6.1960). 587 | Ibidem, S. 361, an Heimrad Prem, 26.7.1960. 588 | Niggl (2007), S. 94, Hervorh. im Orig.
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Gallizio auch nicht wirklich rechnen, da es sich bei diesem Problem der Außenkontakte doch eher um ein nicht allzu dringliches Problem handelt, da es dabei um eine Konstellation geht, die zeitgleich auch bei weiteren Mitgliedern anzutreffen ist. Zudem ist sich Pinot-Gallizio aufgrund seiner Aktivitäten und seiner zentralen Stellung, die er innerhalb der Gruppe besitzt, so sicher, dass er nicht davon ausgeht, wegen einer solchen Lappalie ausgeschlossen zu werden. In diese Richtung dürfte der Vorwurf der ›Naivität‹ zu verstehen sein. Denn vielleicht ist er sich diesbezüglich auch zu sicher. Oder andersherum gefragt: Ist es wirklich sein Kontakt zu Guasco, der das Ende seiner Mitgliedschaft zur Folge hat oder gibt es auch in diesem Fall weitere Differenzen im Hintergrund, die den eigentlichen Ausschlag für diese Entscheidung geben? Geht es dabei vielleicht weniger um die Abgrenzung der Gruppe nach außen als vielmehr um interne inhaltlich-theoretische Konflikte oder gar um taktische Manöver zu Lasten Pinot-Gallizios? Für die Frage nach möglichen taktischen Manövern im Inneren der S.I. ist es hilfreich, neben dem Ausschluss Pinot-Gallizios auch noch das unmittelbare zeitliche Umfeld desselben zu berücksichtigen. Zu verweisen ist hier insbesondere auf den Ausschluss von Albert und Oudejans im März 1960 sowie auf den Austritt von Constant im Juni 1960, die hier die Rahmenhandlung bilden. Dass Constant ein wichtige Rolle beim Ausschluss von Pinot-Gallizio spielt, wurde bereits skizziert, es findet sich aber auch in der I.S. ein direkter Hinweis darauf. Denn unmittelbar auf die Ausschlussmeldung zu Pinot-Gallizio folgt hier die Mitteilung, dass Constant ausgetreten ist, da er mit dem Ausschluss der holländischen Architekten nicht einverstanden war und auch durch den gewissermaßen im Gegenzug als Ausgleich erfolgten Ausschluss von Pinot-Gallizio nicht besänftigt werden konnte. Dass dieser Ausschluss im wesentlichen auf Drängen Constants erfolgt, wird hier offen erwähnt, denn er ist es, »der ihr Verhalten [das von Melanotte, Pinot-Gallizio und Wuerich, M.O.] zu Recht denunziert hatte.589 Constant attackiert die Maler auch intern immer wieder und äußert grundsätzliche Bedenken gegenüber ihrer Mitgliedschaft in der S.I., da von ihnen aufgrund ihrer Einbindung in den reaktionären und spezialisierten Kunstsektor für die weitere Entwicklung der situationistischen Theorie nicht viel zu erwarten sei.590 Im Laufe der Zeit verschärft er seine Kritik und wirft Debord vor, sich von den Malern und ihren Interessen missbrauchen und sich zum Spielball der Künstler machen zu lassen.591 Aus dieser Kritik an den Malern entwickelt er eine immer deutlichere Opposition zwischen Malerei und seinem Ansatz des unitären Urbanismus und fordert von Debord am Ende explizit, sich zwischen diesen beiden Positionen zu entscheiden. Da die von Constant mehr oder weniger offen geforderte Wiederauf589 | Situationistische Internationale (1960g), S. 164, Hervorh. M.O. 590 | Vgl. Constant (1959d). 591 | Vgl. Constant (1960b) noch deutlicher in Constant (1960e).
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nahme von Alberts und Oudejans592 aus Sicht der S.I. inakzeptabel ist, »scheint es, als habe Debord mit Gallizios Ausschluss versucht, Constant zu besänftigen und zum Verbleib zu bewegen.«593 Ein solcher direkter Zusammenhang zwischen der Austrittsandrohung Constants und dem Ausschluss Pinot-Gallizios könnte erklären, warum dieser genau jetzt und so plötzlich erfolgt. Denn Debord steht, wenn er Constant in der S.I. halten will, diesbezüglich unter extremem Zeitdruck, wie er selbst einräumt: »Je suis sûr que, là, nous étions arrivés à ce point où l’I.S. devait immédiatement choisir.«594 Dieser Zeitdruck wiederum liefert eine mögliche Erklärung für die Gründe, die für diesen überstürzten Ausschluss genannt werden und die für sich betrachtet und im Zusammenhang mit der Stellung Pinot-Gallizios in der Gruppe als Lappalie eingestuft werden müssen. Die aus Constants strategischen Manövern entstehende Dringlichkeit einer Entscheidung für oder gegen Pinot-Gallizio führt dazu, dass - um am Prinzip des begründeten Ausschlusses festhalten zu können - hier schnell irgendein Grund gefunden werden muss und daher in erster Linie nach dem Motto ›Wenn dir manchmal die Gründe fehlen, nimm die, die grad im Weg herumstehen‹ argumentiert werden muss. Dennoch bleiben einige Zweifel an der These, dass Pinot-Gallizio von Debord und den übrigen Angehörigen des inneren Kerns der S.I. ›geopfert‹ wurde, um Constant in der Gruppe zu halten - nicht zuletzt, weil Debord sich immer strikt gegen Constants Vorwurf, sich zum Spielball der Maler machen zu lassen, gewehrt hat.595 Hätte er aber nun Pinot-Gallizio zugunsten von Constant ›geopfert‹, so wäre er genau zu einem solchen Spielball geworden, nur eben zu demjenigen von Constant. Doch diese Zweifel nähren sich auch aus der Bedeutung Pinot-Gallizios für die Gruppe, die nicht zuletzt in der Art und Weise deutlich wird, wie nach seinem Ausschluss mit ihm umgegangen wird. So veröffentlicht die S.I. trotz Ausschlusses seine Monographie596 - es kommt also nicht zur sonst üblichen Distanzierung. Zudem hebt die S.I. noch Jahre später - aus Anlass des Todes von Pinot-Gallizio 1964 - in der I.S. explizit seinen zentralen Beitrag in den Anfangsjahren der Gruppe hervor. »Er war entzweit zwischen der Suche nach einem ständigen Weitergehen und einem gewissen Festhalten am Geschmack dieser alten Periode. Durch einige seiner Neigungen und vor allem durch den Druck seiner Umgebung wurde seine Beteiligung an der S.I. schliesslich schwierig; ihm ist es aber gelungen, unabhängig zu bleiben. [...] Der Anfang der situationistischen Bewegung verdankt ihm viel.«597 592 | Vgl. Constant (1960b). 593 | Niggl (2007), S. 95. 594 | Debord (1999), S. 338, an Constant, 2.6.1960. 595 | Vgl. ibidem, S. 338f., an Constant, 2.6.1960. 596 | Vgl. Internationale Situationniste (1960). 597 | Situationistische Internationale (1964b), S. 128.
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Da die S.I. nicht gerade dafür bekannt ist, ihre einmal geäußerte Kritik zurückzunehmen oder rückblickend die Ereignisse zu beschönigen, gilt es, einige Details dieser Ausführungen genauer zu untersuchen, da sie Hinweise auf die wirklichen Gründe seines Ausschlusses liefern und die Zweifel an der Richtigkeit der offiziellen Gründe bestärken. Zwar tauchen diese offiziellen Gründe im Verweis auf den ›Druck seiner Umgebung‹ auch hier nochmals auf, sie werden allerdings durch die Feststellung, dass es ihm gelungen sei, ›unabhängig zu bleiben‹ ihrer Durchschlagskraft vollständig beraubt. Denn wenn Pinot-Gallizio dem Druck der Umgebung nicht nachgegeben und stattdessen seine Unabhängigkeit gegenüber dem künstlerischen Feld bewahrt hat, lässt sich sein Ausschluss nicht mehr als Vorgang der Abgrenzung nach außen auffassen. Dementsprechend finden sich einige Anmerkungen, die auf inhaltliche Differenzen verweisen, wie sein ›Festhalten am Geschmack dieser alten Periode‹. Denn trotz seines ›ständigen Weitergehens‹ auf dem Feld der industriellen Malerei, die von der S.I. ausdrücklich begrüßt und massiv gefördert wird, wird gerade im unmittelbaren Vorfeld seines Ausschlusses bei Pinot-Gallizio eine künstlerische Kehrtwende erkennbar, die dazu führt, dass seine Malerei »aus situationistischer Sicht traditionelle Leinwandware [wird], die Gallizio selbst kurz zuvor noch in seinem Manifest als ›gigantische Briefmarken‹ verunglimpft hatte.«598 Es ist also weniger die Tatsache, dass Pinot-Gallizio bei der Ausstellung und dem Katalog zur Werkserie La Gibigianna mit den verhassten Kunstkritikern Guasco und Pistoi zusammenarbeitet, die den konkreten Anlass zu seinem Ausschluss liefert, sondern vielmehr die Werkreihe an sich und die darin implizierte Abwendung von den theoretischen Positionen der S.I. Der wirkliche Anlass für Pinot-Gallizios Ausschluss scheint somit gefunden. Aber ist dieser Anlass auch der (alleinige) Grund? Reicht ein einziger ›Fehltritt‹ aus, um eine Person wie Pinot-Gallizio auszuschließen, der nicht nur eine zentrale Stellung innerhalb der Gruppe einnimmt, sondern auch mit Jorn und Debord auf der interpersonellen Ebene sehr eng verbunden ist? Denn Pinot-Gallizio ist in den Jahren zwischen 1957 und 1960 Debords wichtigster Korrespondenzpartner und bei der Lektüre dieses Briefwechsels fällt auf, dass Debord »enorm viel Energie darauf verwendet, das Werk seiner neuen Freunde in Wert zu setzen. Er rackert sich ab, um Ausstellungen von Pinot-Gallizio in Paris und fast überall sonst in Europa zu organisieren.«599 Sollte diese langjährige Verbindung nur aus dem skizzierten Anlass ein plötzliches Ende gefunden haben? Zwei Details deuten eine mögliche Antwort auf diese Frage an. Zum einen fällt bei einem letzten genauen Blick auf die Meldungen zum Ausschluss sowie zum Tode Pinot-Gallizios auf, dass neben dem inhaltlichen jeweils noch ein weiterer Kritikpunkt laut wird: 1960 wird ihm ›Strebertum‹ vorgehalten und 1964 erwähnt, dass ›einige seiner Nei598 | Niggl (2007), S. 92. 599 | Kaufmann (2004), S. 183.
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gungen‹ seinen Verbleib in der S.I. unmöglich gemacht hätten. Diese ›Neigungen‹ werden von Debord Constant gegenüber etwas präzisiert und ebenfalls als Strebertum, als »écœurant arrivisme«600 bezeichnet. Zum anderen fällt beim genauen Blick auf den umfangreichen Briefwechsel zwischen Debord und Pinot-Gallizio ein drastischer Rückgang der Kommunikation Ende April 1959 auf. Auch wenn die Anzahl der Briefe an Pinot-Gallizio bereits mit dem Eintritt Constants in die S.I. bzw. mit der Intensivierung des Briefwechsels zwischen ihm und Debord etwas zurückgeht und somit eine Schwerpunktverlagerung des Interesses Debords und eine Konkurrenzsituation zwischen Constant und PinotGallizio erkennbar ist - der wirkliche Einbruch, ja sogar vorübergehende Abbruch erfolgt erst im Mai 1959. Ist er mit dem Vorwurf des Strebertums in Verbindung zu bringen und liefert so einen Hinweis auf weitere Differenzen im Hintergrund des Ausschlusses von Pinot-Gallizio? Der zwischenzeitliche Abbruch des Briefkontakts zwischen Debord und Pinot-Gallizio Ende April 1959 kann aus den Ereignissen und Meinungsverschiedenheiten im Umfeld der im Mai 1959 stattfindenden Ausstellung der S.I. mit dem Titel Caverna dell’Antimateria in der Galerie Drouin erklärt werden.601 Allerdings ist dies nicht dahingehend zu verstehen - wie Bertolino dies vermutet - , »dass Debord von der Präsentation der Caverna überrascht gewesen sei und eigentlich eine Ausstellung ähnlich denen in Turin und München erwartet hätte.«602 Denn der Ausstellung geht bereits ab Januar 1958 eine Phase intensiver Kommunikation mit über 50 Briefen voraus, in denen Debord und PinotGallizio, neben der Planung weiterer Ausstellungen Pinot-Gallizios in Turin und München, mit der inhaltlichen Konzeption der Caverna befasst sind. Die Ausstellung wird in enger Abstimmung zwischen den beiden entworfen, ihr Inhalt an sich kann Debord also nicht überrascht haben. »Doch irgendetwas stimmt an diesem Szenario nicht. [...] Das ist der Bruch zwischen ihm [Debord, M.O.] und Gallizio.«603 Ein genauerer Blick in die Briefe der Planungsphase sowie die Erinnerung an den Vorwurf des Strebertums helfen hier weiter. Schon die Ausgangslage ist dabei recht komplex, da Drouin jegliche Zusammenarbeit mit den Situationisten ablehnt, zugleich aber unbedingt Pinot-Gallizios Industrielle Malerei ausstellen möchte. Genau diese widersprüchliche Haltung will sich Debord nun zunutze machen: »Drouin est absolument ennemi de tous les situationnistes (y compris Jorn; et même ennemi un peu de Pinot [Gallizio, M.O.] parce qu’il sait que Pinot est très solidement attaché à l’I.S.). [...] Drouin est absolument résolu à faire l’exposition de la peinture industrielle. Mon plan est le suivant: dans la période préparatoire, 600 | Debord (1999), S. 338, an Constant, 2.6.1960. 601 | Vgl. zu Pittura industriale und Caverna dell’Antimateria Niggl (2007), S. 58ff. und Ohrt (1997), S. 203ff. 602 | Niggl (2007), S. 93. Vgl. auch Bertolino (2001), S. 47. 603 | Ohrt (1997), S. 204.
Die S.I. im Spannungsfeld von Theorie und Praxis | 379 Pinot ne doit s’embarrasser d’aucune position théorique avec Drouin, et ne pas apparaître comme trop lié au reste du mouvement. [...] Au moment du vernissage, nous devrons prendre position théoriquement de notre côté [...], et Pinot devra être le situationniste placé en avant de cette manœuvre, même si elle déplaît fortement à Drouin.«604
Debord geht es darum, eine Ausstellung in die Wege zu leiten, die letztendlich als Plattform für die Präsentation der theoretischen Positionen der S.I. als Gesamtgruppe dienen soll. Dafür ist im Vorfeld der Verhandlungen mit Drouin die skizzierte Doppelstrategie notwendig, denn nur so kann diese Ausstellung zustande kommen und als Basis des situationistischen détournement dienen. Gegenüber Drouin soll also vor allem der Maler Pinot-Gallizio vermarktet werden, während der Situationist Pinot-Gallizio im Hintergrund bleiben soll. Um die Einbindung PinotGallizios nach außen hin so weit wie möglich zu verschleiern, wird er bei der zweiten Ausgabe der I.S. sogar aus deren Redaktionskomitee entfernt und dies auch offiziell verkündet.605 Es geht also nicht um eine Einzelausstellung Pinot-Gallizios, diese soll nur als Tarnung für eine Ausstellung der S.I. verwendet werden. Diese Bedeutung des Auftretens als einheitliche Gruppe wird von Debord mehrfach betont: »Il nous faut faire encore un effort pour que ce mouvement entreprenne réellement un travail commun vers des buts communs. Sinon, il n’existe pas.«606 Dementsprechend stellen die als Einzelkünstler tätigen Mitglieder der Gruppe bzw. ihre mögliche Herauslösung aus selbiger durch Einzelausstellungen die Hauptgefahr im Kontakt der S.I. mit dem Kunstsektor dar. »Pinot [Gallizio, M.O.] me dit que Pistoi ne croit pas à la réalité du groupe situationniste, mais y voit seulement des individus absolument autonomes [...] Je trouve cet état de choses extrêmenent fâcheux; et il conviendrait, pour Pinot et pour toi, d’envisager ensemble les moyens d’y remédier sans délai.«607 Genau ein solcher Versuch, diese von den Galeristen unternommene Praxis der Trennung zu unterlaufen, soll die Ausstellung von Pinot-Gallizio bei Drouin werden. Eine dementsprechende Warnung bekommt daher auch Pinot-Gallizio nochmal zu hören: »Drouin veut montrer ta peinture, mais en essayant de t’isoler, pour la présenter à son gré.«608 Debord sieht von Anfang an die Gefahr, dass sein doppeltes Spiel scheitern kann, sei es, weil Drouin es durchschaut und die Ausstellung platzen lässt oder weil Pinot-Gallizio sich doch von ihm einwickeln lässt oder das Ganze als seine Ausstellung auffasst: »Une erreur dans la première partie de ce plan risquerait d’empêcher l’exposition. Et si nous exécutons mal 604 | Debord (1999), S. 165, an Giors Melanotte, 9.12.1958, Hervorh. im Orig. Diesen Plan legt Debord auch Pinot-Gallizio selbst noch einmal vor (vgl. ibidem, S. 166, an Giuseppe Pinot-Gallizio, 17.12.1958). 605 | Vgl. Situationistische Internationale (1958i), S. 51. 606 | Debord (1999), S. 92, an die Familie Gallizio, 18.5.1958. 607 | Ibidem, S. 132f., an Asger Jorn, 20.8.1958. 608 | Ibidem, S. 166, an Giuseppe Pinot-Gallizio, 17.12.1958.
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la seconde partie nous verrons la peinture industrielle exploitée par Drouin-Tapie et Pistoi, mais contre nous.«609 Die erste Gefahr umgeht die S.I., die Ausstellung findet im Mai 1959 tatsächlich statt. Doch der zweite Teil des Plans scheint vollkommen gescheitert zu sein, wie sich Helmut Sturm, der damals in Paris war, erinnert: »Debord hatte Gallizio vorgeworfen, dass er seine Geschichten nicht mehr mitmachen würde. Er habe die S.I. verraten, da er sich an nichts hielte und nur persönlich als Künstler arrivieren wollte.«610 Dieser mangelnde Willen, sich und seine Kunst in den Dienst der Gruppe zu stellen und stattdessen die Gruppe und Debords Unterstützung bei der Ausstellungsorganisation als Sprungbrett für seine Kunst zu nutzen, dürfte der Hintergrund für den Vorwurf des Strebertums gegenüber Pinot-Gallizio sein. Dementsprechend vernichtend fällt Debords Fazit zur Ausstellung und zu Pinot-Gallizios Verhalten aus: »L’exposition de Pinot [Gallizio, M.O.] a été une bouffonnerie réactionnaire. C’est-à-dire que Drouin a fait son jeu assez habilement et Pinot n’a ni su ni voulu s’opposer.611 Bien entendu cette exposition ne représentait en rien le mouvement. [...] La plus grave déficience a été celle de Pinot, dans son attitude pratique envers le public parisien de la peinture. Il a plus ou moins consciemment accepté le rôle d’un artiste très ordinaire reconnu par ses pairs.«612
Der Konflikt zwischen dem einzelnen Mitglied und der Gruppe ist hier also der Hauptstreitpunkt und legt den Grundstein dafür, dass PinotGallizio genau ein Jahr später nicht mehr Mitglied dieser Gruppe sein wird. Doch dazu braucht es noch die Bestätigung, dass dieses Verhalten Pinot-Gallizios kein einmaliges war. Genau ein solches Ereignis findet sich ein Jahr später. Zwar sind die Rahmenbedingungen andere, aber dennoch scheint sich die Geschichte in ihren Grundzügen zu wiederholen. Wieder geht es um eine Ausstellung, diesmal im Stedelijk Museum in Amsterdam, wieder stehen sich dabei die Idee einer Gruppen- und einer Einzelausstellung gegenüber und wieder entscheidet sich Pinot-Gallizio für Letztere. Die Planung für die Ausstellung der S.I. in Amsterdam und die dabei auftauchenden Probleme und Differenzen innerhalb der Gruppe wurden bereits im Zusammenhang mit dem Austritt Constants dargestellt. Für die Frage nach dem Ausschluss Pinot-Gallizios sind im Grunde genommen nur zwei Eckpunkte relevant. Zum einen ist dies die Tatsache, dass diese Ausstellung als gemeinsame Präsentation der S.I. konzipiert wird,613 609 | Debord (1999), S. 165, an Giors Melanotte, 9.12.1958. 610 | Helmut Sturm zitiert in: Niggl (2007), S. 93f. 611 | Eine wichtige Rolle dürfte hier auch die Freundschaft spielen, die sich zwischen Pinot-Gallizio und Drouin im Laufe ihrer Zusammenarbeit entwickelt und die Pinot-Gallizio nicht aufgeben wollte (vgl. ibidem, S. 94). 612 | Debord (1999), S. 230f., an Constant, 20.5.1959. Vgl. zum Scheitern dieser Strategie Ohrt (1997), S. 207. 613 | Dieses Konzept wird von Sandberg anfangs auch akzeptiert (vgl. Debord (1999), S. 238, an Constant, 8.6.1959).
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und zum anderen die Tatsache, dass sie letztendlich genau aus diesem Grunde nicht zustande kommt. Denn als Sandberg Veränderungen und Einschränkungen der Ausstellung fordert, weigert sich die S.I., von dieser Konzeption als Gemeinschaftsausstellung der Gruppe Abstand zu nehmen: »Malheuresement, il nous est impossible d’envisager aucune sorte de restriction à la manifestation prévue. [...] Mais notre rôle, comme vous le comprendrez certainement, est de sauvegarder la totalité de notre démarche.«614 Die S.I. zieht also ihre geplante Ausstellung zurück und bricht mit dem Museumsdirektor Sandberg. Doch nicht alle Mitglieder tragen diesen Bruch mit Sandberg mit, im Gegenteil. Pinot-Gallizio nutzt den durch den Rückzug der S.I. im Stedelijk Museum freigewordenen Termin und stellt erneut seine schon bei Drouin zu sehende Caverna aus. Doch ist dies keine spontane ›Notlösung‹, sondern ein von Pinot-Gallizio schon seit Juni 1959 parallel zu den Verhandlungen der S.I. mit Sandberg geplanter Alleingang - sehr zum Verdruss der übrigen Situationisten.615 Bereits als die S.I. von diesen Plänen Pinot-Gallizios erfährt, ist von Ausschluss die Rede: »C’est-à-dire que les choses me paraissent venues à un point où nous devons envisager toutes les ruptures qu’il faudra, sur cette question.«616 Als es dann im Mai 1960 tatsächlich zur Ausstellung Pinot-Gallizios kommt und dieser »damit seine eigenen künstlerischen Ambitionen offensichtlich über die situationistische Idee gestellt [hatte]«617 und sich zum zweiten Mal der situationistischen ›Disziplin‹ entzieht, kommt es zum Ausschluss. Pinot-Gallizio selbst ist es also, der durch sein Verhalten bei den Ausstellungen in Paris und Amsterdam seinen Kredit sowohl bei Debord als auch bei Jorn verspielt und somit die Grundlage dafür schafft, dass die Kernmitglieder ihn schließlich, in dem Moment, als Constant darauf drängt, ausschließen und dafür einen aktuellen mit dem Außenverhältnis verbundenen Anlass, nicht aber den schon länger zurückliegenden inhaltlichen und internen Grund anführen. Pinot-Gallizio wird weder von Constant noch von Jorn oder von Debord zum Spielball gemacht, er scheint sich selbst in diese Position zu manövrieren. Er schwächt seine Stellung innerhalb der Gruppe so sehr, dass er schließlich in taktischen Manövern ›geopfert‹ wird. Pinot-Gallizio ist nicht bereit, seine Malerei in den Dienst der theoretischen Anliegen der S.I. zu stellen bzw. sie diesen unterzuordnen, und durch dieses Verhalten, das sich am deutlichsten bei den zwei Ausstellungen zeigt, hebt er sich aus der Gruppe heraus, widersetzt sich dem egalitären Diktum des ›un seul héros: L’I.S.‹. Er wird als Einzelkünstler sichtbar, damit angreifbar und letztendlich für die Gruppe unhaltbar. Ein weiterer Ausschluss, der ein in dieser Phase wichtiges Mitglied der S.I. trifft, ist derjenige von Maurice Wyckaert im April 1961. Wyckaerts 614 | Debord (1999), S. 319, an Willem Sandberg, 7.3.1960. 615 | Vgl. ibidem, S. 238, an Constant, 8.6.1959. 616 | Ibidem, an Constant, 8.6.1959. 617 | Niggl (2007), S. 95.
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zentrale Stellung in der S.I. ist zunächst nicht direkt sichtbar, da er in der I.S. nur mit einem kurzen Artikel in Erscheinung tritt. Doch im Hintergrund ist er eine wichtige Figur: Er nimmt an der dritten und vierten Konferenz teil, ist Mitglied des Conseil Central sowie des Redaktionskomitees der I.S. Nr. 1 bis Nr. 5. und ist, wie sich der Correspondance entnehmen lässt, ein wichtiger Diskussionspartner Debords und zudem der wichtigste Vertreter der sich langsam vergrößernden belgischen Sektion der S.I. Dass sein Ausschluss hier dennoch recht knapp skizziert werden kann, hängt damit zusammen, dass die nötigen Informationen zu dessen Hintergründen schon im Zusammenhang mit dem zeitgleichen Austritt von Jorn aufbereitet wurden. Zur Erinnerung: Kernpunkt ist dabei die Auseinandersetzung mit der Galerie van de Loo bzw. die Forderung der S.I. an alle ihre Mitglieder, den Kontakt zu van de Loo sofort abzubrechen. Während die SPUR zumindest zum Schein auf diese Forderung eingeht und somit zunächst in der S.I. verbleiben kann, und sich Jorn zwar weigert, aber dennoch die Möglichkeit zum Austritt eingeräumt bekommt, wird Wyckaert, der sich wie Jorn weigert, mit dem Galeristen zu brechen, aus der S.I. ausgeschlossen. Die wichtigsten Eckdaten dieses Ausschlusses und seiner Hintergründe werden wie üblich in der I.S. in einer trockenen Formulierung dargelegt: »Diese bemerkenswerte, in der Geschichte der kulturellen Avantgarde einmalige Geschichte [die Auseinandersetzung mit van de Loo, M.O.] [...] hatte leider Maurice Wyckaerts Abgang zur Folge. Dieser, der ebenfalls mit dem Händler in Verbindung war - jedoch in beträchtlich grösserem Stile - gab allen bekannt, dass er bereit war, mit van de Loo zu brechen, falls dieser mit der S.I. brechen würde. Der Rat hat es aber für vollkommen unannehmbar gehalten, dass es dem betreffenden Händler immernoch frei stehe, ›mit der S.I. zu brechen‹ oder nicht, da diese nie etwas mit ihm zu tun hatte. [...] Wyckaert wurde also ausgeschlossen.«618
Beschlossen wurde dieser Ausschluss vom Conseil Central, der zu diesem Zeitpunkt zwischen den Konferenzen für Fragen der Mitgliedschaft zuständig ist. An dessen Sitzung nehmen neben Wyckaert noch Debord, Kotányi, Nash und Prem teil, sodass in dieser Konstellation davon ausgegangen werden kann, dass es sich tatsächlich um einen Mehrheitsbeschluss mit den Pro-Stimmen von Debord, Kotányi und Prem handelt. Nashs Position lässt sich nicht eindeutig bestimmen, hier ist aber durchaus denkbar, dass er sich auf Wyckaerts Seite gestellt hat. Dass im Vorfeld des Ausschlusses in der S.I. eine ausführliche interne Diskussion über die Auseinandersetzung mit van de Loo geführt wird, ist bereits skizziert worden - Wyckaert wird in diese von Anfang an mit einbezogen.619 Interesssant ist hierbei die Tatsache, dass Debord zunächst auf Wyckaerts Solidarität mit der S.I. vertraut und auf ihn als Vermittler in Richtung 618 | Situationistische Internationale (1961c), S. 249. 619 | Debord (2001), S. 71f., an Maurice Wyckaert, 4.2.1961.
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SPUR und van de Loo baut. »Voici la base que nous avons absolument adoptée, et que nous soutiendrons à n’importe quel prix - je pèse mes mots - et je te demande de le faire bien comprendre aux amis.«620 Auch wenn in Bezug auf diese Auseinandersetzung von Anfang an auch die Möglichkeit von Ausschlüssen diskutiert wird, ist dabei von Wyckaert zunächst nicht die Rede. Doch dieses Bild ändert sich gut einen Monat später, da Wyckaert auf seiner ›Mission‹ bei van de Loo und der SPUR in München offenbar die Interessen der S.I. nicht eindeutig genug vertreten hat und auch bei der Verbreitung der Gegenerklärung der S.I. nicht zur Zufriedenheit Debords agiert. »Nous avons chargé Wyckaert d’obtenir cette diffusion [die Stellungnahme der S.I. gegen van de Loo, M.O.]. Mais l’attitude de Wyckaert à Munich a été très suspecte (trop ami de Van de Loo), et rien n’a été fait. (Wyckaert devait aussi vous donner toutes nos explications mais, à lire la lettre d’Heimrad et Helmut, je pense qu’il ne vous a rien expliqué?)«621
Durch dieses in den Augen der S.I. suspekte Verhalten Wyckaerts, das interessanterweise direkt mit seiner freundschaftlichen Bindung an van de Loo in Verbindung gebracht wird, verschiebt sich die Frontlinie langsam: nicht mehr die gesamte S.I. gegen van de Loo, sondern mehr und mehr die S.I. gegen van de Loo und Wyckaert. So heißt es im selben Brief bereits: »Nous avons averti - Wyckaert et Van de Loo que nous n’attendrions pas après le 16 mars [...].«622 Dementsprechend steht nun auch ein Ausschluss Wyckaerts zur Diskussion. Er wird vor die Wahl gestellt, sich zwischen van de Loo und der S.I. zu entscheiden Debords Vertrauen in die Solidarität des Belgiers scheint jedoch bereits zu bröckeln: »Wyckaert doit aussi choisir de quitter toute de suite Van de Loo ou de quitter l’I.S. (je ne sais pas encore ce que Wyckaert choisira [...])«.623 Für den Fall, dass sich Wyckaert gegen die S.I. stellen sollte, werden jedenfalls schon einmal die daraus resultierenden Konsequenzen angedroht: »[S]’il choisit Van de Loo, ce qui me paraît très possible, l’I.S. traitera Wyckaert en ennemi.«624 Wieder einmal wird hier somit eine klare Freund/Feind-Unterscheidung mit der Frage der Mitgliedschaft bzw. mit der Option des Ausschlusses verbunden. Und ähnlich wie schon im Fall von Pinot-Gallizio wird das Problem des Kontakts zwischen Künstlern und Kunsthändlern auch hier mit der Frage nach dem Verhältnis von Einzelkünstler und dem gemeinsamen Programm und der Gruppensolidarität verknüpft: »C’est la question de la dignité des artistes, et de leur programme commun devant la censure d’un seul petit marchand, qui a été posé là.«625 620 | Debord (2001), S. 72, an Maurice Wyckaert, 4.2.1961, Hervorh. im Orig. 621 | Ibidem, S. 77, an die Gruppe SPUR, 29.3.1961, Hervorh. im Orig. 622 | Ibidem, an die Gruppe SPUR, 29.3.1961, Hervorh. M.O. 623 | Ibidem, S. 78, an die Gruppe SPUR, 29.3.1961. 624 | Ibidem, an die Gruppe SPUR, 29.3.1961. 625 | Ibidem, an die Gruppe SPUR, 29.3.1961, Hervorh. im Orig.
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Doch wie vollzieht sich der Ausschluss konkret? Wie erfährt Wyckaert selbst davon? Wird ihm wirklich die Möglichkeit einer Entscheidung zwischen der S.I. und van de Loo eingeräumt? Wie bereits erwähnt, hatte die S.I. Wyckaert am 14.3.1961 per Telegramm angewiesen, sich bis spätestens zum 16.3. um die Verbreitung der Gegendarstellung zu kümmern. Wyckaert nimmt noch am selben Tag Stellung zu diesem Ultimatum. Allerdings versucht er, die Sache weiter zu verzögern und die S.I. nochmals von der Integrität van de Loos zu überzeugen und setzt sich weiter für ihn ein. Die erhoffte bzw. geforderte Distanzierung Wyckaerts von van de Loo bleibt aus, und die Dinge nehmen ihren Lauf. Am 15.3. verfasst die S.I. die offizielle Ausschlussmitteilung an Wyckaert, die die zentralen Vorwürfe zusammenfasst: »Notre télégramme, comme tu as dû le voir, était exactement un ultimatum. Nous ne souhaitons pas un supplément d’informations fallacieuses. Puisque nos conditions n’ont pas été appliquées, nous agissons désormais par nousmêmes. En vérité, nous n’avons aucune raison d’avoir confiance dans ton ami Van de Loo, qui a très imprudemment choisi de se mêler à des questions qui dépassent de beaucoup ses petites capacités de trafic pictural.«626
Auch hier wird nochmals auf die Freundschaft zwischen van de Loo und Wyckaert rekurriert, doch vor allem wird selbst in dieser zunächst recht schroffen Ausschlussmeldung eine gewisse Enttäuschung über die Entscheidung Wyckaerts spürbar: »Dans cette affaire, nous nous étions adressés à toi comme à un situationniste responsable; non comme à un portier de Van de Loo. Cette belle indifférence pour les vagues affaires de Van de Loo et de l’I.S. est assez amusante, venant de toi.«627 Interessant ist hier, aber auch bei Pinot-Gallizio, dass das Verhalten, das jeweils zum Ausschluss führt, zwar nicht allein mit einer freundschaftlichen Verbindung nach außen erklärt, aber doch explizit mit einer solchen in Zusammenhang gebracht wird. Von Bedeutung ist dies deshalb, da es sich bei Pinot-Gallizio und bei Wyckaert um Mitglieder handelt, die nicht nur auf der inhaltlich-theoretischen Ebene von großer Bedeutung sind, sondern die auch auf der interpersonellen Ebene eng mit den übrigen Mitgliedern des inneren Kerns verbunden sind. Dies wäre eine Erklärung dafür, dass Pinot-Gallizios Ausschluss zu den ›friedlichsten‹ gehört, die die S.I. je vollzogen hat, und auch bei Wyckaert im Ansatz eine Enttäuschung über die Entscheidung erkennbar ist. Zugleich hat es den Anschein, als würde die Frage ›Wir oder die?‹, mit der beide Ausgeschlossenen zuvor konfrontiert werden, hier auch auf der interpersonellen Ebene gestellt und so zumindest auch zu einer Frage der Entscheidung zwischen zwei Freundschaften gemacht wird. Dennoch sollte man nicht den Fehler machen, diese Ausschlüsse auf die Frage der Freundschaft zu reduzieren. Denn auch wenn die in diesen beiden Fällen erkennbaren 626 | Debord (2001), S. 80, an Maurice Wyckaert, 15.3.1961. 627 | Ibidem, an Maurice Wyckaert, 15.3.1961.
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interpersonellen Beziehungen beim Ausschluss eine Rolle spielen und diesen möglicherweise hinauszögern, geht es im Kern doch um inhaltliche Differenzen und diese werden ganz klar über die zwischen den Mitgliedern vorhandenen interpersonellen Beziehungen gestellt. Diese inhaltlichen Differenzen beziehen sich sowohl bei Pinot-Gallizio als auch bei Wyckaert auf das Verhältnis zwischen Einzelkünstler und Kunstmarkt, die Ausschlüsse lassen sich vor diesem Hintergrund als Abgrenzung der S.I. nach außen auffassen. Doch die zweite der inhaltlichen Differenzen bezieht sich auf das Verhältnis zwischen den Ambitionen des einzelnen Mitglieds und den Zielen der Gesamtgruppe und verweisen somit auf gruppeninterne Konflikte um den Begriff der Disziplin bzw. der Kohärenz. Da die Ziele der Gesamtgruppe jedoch stets eine Definitionssache sind und innerhalb der Gruppe zwischen verschiedenen Fraktionen ausgehandelt werden müssen, ist dies der Punkt, an dem neben die rein inhaltlichen auch noch taktisch-strategische Aspekte hinzutreten und der Ausschluss somit genau das wird, was er nach Auffassung der S.I. nicht sein sollte: eine ›taktische Waffe‹. Und zwar eine taktische Waffe, die nicht nur nach außen, sondern auch nach innen angewendet wird. Dieser taktische Aspekt wird deutlich, wenn man sich zum einen die herausgearbeiteten Zusammenhänge zwischen dem Ausschluss der holländischen Architekten, dem Ausschluss Pinot-Gallizios und dem Austritt Constants in Erinnerung ruft oder zum anderen darauf hinweist, dass auch Wyckaerts Ausschluss nicht losgelöst vom Austritt Jorns sowie von dem knapp ein Jahr später folgenden Ausschluss der Gruppe SPUR zu verstehen ist. Im Falle Wyckaerts ist jedoch nicht nur auf weitere Ausschlüsse zu verweisen, sondern auch auf zwei Eintritte, die kurz vor seinem Ausschluss erfolgen. Denn im Jahr 1960 vergrößert sich die belgische Sektion, die lange Zeit von Wyckaert fast im Alleingang getragen wurde, nach und nach. Im Mai tritt Attila Kotányi der S.I. bei, im November folgt dann noch Raoul Vaneigem. Es handelt sich jedoch hierbei nicht nur um eine Vergrößerung der belgischen Sektion, sondern auch um eine Veränderung derselben, um ihre theoretische Neuausrichtung - weg von der Kunst und hin zur Theorie. Genau dieser Wandel deutet sich jedoch nicht nur bei dieser Sektion an. Vielmehr lassen sich die Ausschlüsse von Pinot-Gallizio und Wyckaert sowie der Austritt von Jorn allesamt im Lichte dieser Veränderung auf der Ebene der Gesamtgruppe sehen. Es geht hier weniger um die offiziell stets angeführte Abgrenzung gegenüber dem Kunstmarkt, sondern vielmehr um den Beginn einer massiven internen Umstrukturierung und theoretischen Neuausrichtung der gesamten S.I. Es handelt sich nach dem ›Schritt zurück‹, den die Gründung der S.I. aus Sicht der theoretisch ausgerichteten Mitglieder durch die Allianz mit den Künstlern impliziert, nun um einen Schritt nach vorne, um die beginnende politische Radikalisierung der Gruppe. »Vor diesem Hintergrund wird die Geschichte der S.I. in den kommenden Jahren eine Geschichte der progressiven Rückkehr zur Radikalität der Lettristischen Internationale sein, die Ge-
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schichte einer Rückkehr zur Obskurität, die mit der Auflösung der S.I. enden wird. Doch bis dahin ist der Weg noch weit.«628 Der grundlegende Richtungswechsel ist jedoch mit den Ausschlüssen von Pinot-Gallizio und Wyckaert und dem Austritt von Jorn bereits vollzogen, und der nächste Schritt in diese Richtung lässt nicht lange auf sich warten.
4.4.5 Umstrittene Ausschlüsse I: die Gruppe SPUR und die Nashisten Die Frage nach der Stellung der Künstler innerhalb der S.I. und nach der Bedeutung der Kunst für das situationistische Projekt dominiert die Diskussionen der Gruppe bereits seit ihrer Gründung. Zwei Problemfelder stehen dabei im Mittelpunkt: Das erste betrifft die Frage nach der Verbindung zwischen den Künstlern und dem Kunstmarkt und ist somit als Problem der Abgrenzung der S.I. nach außen aufzufassen, während das zweite als S.I.-interne Spannung zu verstehen ist und um die Frage kreist, welche Bedeutung die Kunst für das revolutionäre Projekt besitzt bzw. ob eine solche aus der Kunst an sich oder nur durch ihre Aufhebung in einem weiteren situationistischen Ansatz entsteht. Vor allem die zweite Frage wird auf den drei Konferenzen, an denen die SPUR teilnimmt, intensiv diskutiert.629 Mit den Meinungsverschiedenheiten zu einer dieser Fragen oder der Kombination von beiden lassen sich fast alle Ausschlüsse - und auch einige Austritte - aus der S.I. bis Ende 1961 in Zusammenhang bringen. Eher mit der ersten Frage sind u.a. die Ausschlüsse von Eisch, Melanotte, Pinot-Gallizio, Wuerich und Wyckaert sowie der Austritt von Jorn verbunden, eher mit der zweiten diejenigen von Armando, Olmo, Simondo und Verrone. Es hat also zunächst den Anschein, als führten diese beiden Konfliktfelder zum schrittweisen Ausschluss der Künstler und somit im Grunde genommen zur Aufhebung genau desjenigen Kompromisses, der der Gründung der S.I. zugrunde lag. Dennoch sollte man hier nicht von einer systematischen Ausschlussstrategie oder gar von einer ›Säuberung‹ gegen die Künstler sprechen, sondern vielmehr von einem - auch intern viel diskutierten - Konkurrenzkampf verschiedener in der Gruppe vertretener Positionen, vom Prozess der Herausbildung einer klareren Gruppenidentität bzw. einer inhaltlichen Zielsetzung im Spiel der jornschen Positionen. Dass es nicht von Anfang an darum geht, die Künstler aus der S.I. auszuschließen, sondern die Frage nach der Rolle der Kunst für die S.I. als offene Frage im Raum steht, wird vor allem daran deutlich, dass die Ausschlüsse zum einen wie skizziert nach und nach stattfinden und jeweils sehr spezifisch diskutiert werden und zum anderen daran, dass auch nach den ersten Ausschlüssen von Künstlern aus der italienischen und deutschen 628 | Kaufmann (2004), S. 136. 629 | Vgl. einführend den Überblick über diese drei Versammlungen der S.I. in Reckert (2000), S. 277ff.
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Sektion mit der Gruppe SPUR und den Skandinaviern um Nash auch wieder neue Künstler in die Gruppe aufgenommen werden.630 Die Frage nach der Rolle der Kunst scheint also zumindest mit den zwei ›Ausschlussrunden‹ gegen die italienischen Maler sowie den Ausschlüssen von Armando, Eisch und Platschek noch nicht abschließend beantwortet zu sein. Vielmehr geht es immer noch darum, mit verschiedenen Beteiligten die Potentiale der Kunst für das situationistische Projekt auszuloten und die Spannungen innerhalb der S.I. bewusst aufrechtzuerhalten. Auf die Bedeutung Jorns für diese Vorgehensweise ist bereits hingewiesen worden, sein Austritt im April 1961 verweist auf das Scheitern dieses Unternehmens und markiert daher einen wichtigen Wendepunkt bzw. das Ende einer offenen und sich-suchenden S.I. Diese Verschiebung von einem spannungsvollen Ungleichgewicht hin zu einem relativ spannungslosen Gleichgewicht lässt sich innerhalb der S.I. nur dadurch erreichen, dass eine Position in diesem Ungleichgewicht aus dem Spannungsfeld verwiesen wird. Konkret äußert sie sich in den Ausschlüssen der Gruppe SPUR sowie den Mitgliedern der skandinavischen Sektion der S.I. im Februar und März 1962. Doch nicht nur inhaltlich sorgen diese beiden Ausschlüsse für eine radikale Neuordnung und Neupositionierung der S.I., auch im Hinblick auf die Strukturen der Praxis des Ausschlusses lassen sich deutliche Veränderungen ausmachen. Erstens handelt es sich in beiden Fällen um den Ausschluss ganzer - auch auf der Binnenebene klar definierter Gruppen von Mitgliedern. Somit wird hier zweitens auch rein quantitativ von den schrittweisen Ausschlüssen zu einer radikalen Reduktion der Mitgliederzahl von 21 auf nur noch acht binnen zwei Monaten übergegangen, die beinahe einer Neugründung der S.I. gleichkommt. Drittens lassen sich Veränderungen ausmachen, die die Prozesse vor und nach dem Ausschluss sowie die theoretische Konzeption des Ausschlusses an sich betreffen. Sind die ersten zwei Aspekte aus beiden Ausschlüssen abgeleitet bzw. für beide zutreffend, so lässt sich beim dritten feststellen, dass der Ausschluss der SPUR hier eine Art Übergangsstellung einnimmt, während die Veränderungen beim Ausschluss der Skandinavier in ihrem ganzen Ausmaß deutlich werden. Die erste Spur zum Ausschluss der SPUR findet sich in einem Artikel 630 | Zudem ist anzumerken, dass die Ausschlüsse in den Anfangsjahren nicht nur Künstler, sondern auch Psychogeographen, Architekten und Urbanisten wie Alberts, Oudejans und Rumney treffen. Auch diese Ausschlüsse lassen sich mit dem zweiten der oben genannten Hauptstreitpunkte in Verbindung bringen. Denn fasst man den zweiten Aspekt etwas weiter und bezieht ihn auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen einem einzelnen, speziellen Ansatz (Malerei, Architektur, Urbanismus) und der Gesamtheit der situationistischen Theorie, so lässt er sich auch auf die Architekten und Urbanisten übertragen. In den Anfangsjahren der S.I. kommt es im Spiel der drei Positionen auf allen Seiten zu ›Verlusten‹. Allerdings ist erkennbar, dass diese quantitativ auf Seiten der Urbanisten und der Künstler größer sind als bei der dritten, als ›theoretisch‹ zu bezeichnenden Position. Deren Verlust ist jedoch darin zu sehen, dass es nicht gelingt, die verschiedenen Positionen produktiv zusammenzubringen.
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zur skizzierten Auseinandersetzung über die inhaltliche Ausrichtung der Zeitschrift der Gruppe, hier heißt es ganz knapp: »Auf ihren Antrag hin [den der Gruppe SPUR, M.O.] ordnet die Konferenz Attila Kotányi und Jacqueline de Jong dem ›Spur‹-Redaktionskomitee bei [...] (im Januar wird dieser Beschluss allerdings durch die Herausgabe der Nummer 7 verhöhnt, die ohne deren Wissen verfasst wurde und den vorherigen gegenüber deutlicher ein Rückschritt war, was den Ausschluss der Verantwortlichen zur Folge hatte).«631 Doch bleibt es nicht bei dieser kurzen Bekanntmachung, ganz im Gegenteil folgt noch in derselben Ausgabe der I.S. eine Erläuterung zum Ausschluss der SPUR, die, sowohl was den Umfang als auch die Detailliertheit der Informationen angeht, alle bisherigen Ausschlussmitteilungen übertrifft. »Der Zentralrat der S.I. ist am 10. und 11. Februar in Paris zusammengekommen. Gemeinsam mit den 6 Delegierten des Zentralrats (Ansgar-Elde war entschuldigt abwesend)632 nahmen acht andere in Paris anwesende Situationisten an der Diskussion teil.633 In Anbetracht der Opposition gewisser Elemente der deutschen Sektion gegen die S.I. seit der Göteborger Konferenz und vor allem des Inhalts der Nummer 7 der Zeitschrift ›Spur‹, des Misstrauens bzw. der Feindseligkeit dieser Gruppe gegenüber Genossen, die den Anweisungen der S.I. in Deutschland und ausserhalb Deutschlands folgen, sowie ihrer jetzt unbestreitbarer Kollusion mit einigen herrschenden Kreisen der europäischen Kultur, forderte ein von Debord, Kotányi, Lausen und Vaneigem gestellter Antrag den Ausschluss Kunzelmanns, eines [sic!] der beiden deutschen Delegierten im Zentralrat, sowie den von Prem, Sturm und Zimmer.«634
Neben dem in der ›Kurzmeldung‹ bereits angeführten Grund, dass die SPUR bei der Herausgabe der Nummer 7 ihrer Zeitschrift die Zusammenarbeit mit de Jong und Kotányi verweigert, werden hier noch drei weitere genannt, die so oder in ähnlicher Form auch schon bei vorherigen Ausschlüssen angeführt wurden: Erstens ist dies das interne Problem inhaltlicher Differenzen, die zwar nicht näher ausgeführt, aber doch in der I.S. im entsprechenden Konferenzbericht nachgelesen werden können.635 Zweitens handelt es sich dabei um das Problem der Abgrenzung nach außen durch die Kontakte der SPUR zum Kunstmarkt im Allgemei631 | Situationistische Internationale (1962a), S. 282. 632 | Dies waren neben dem entschuldigten Elde Debord, Kotányi, Kunzelmann, Lausen, Nash und Vaneigem. 633 | Laut Ohrt nehmen de Jong und Jorn an der Sitzung teil (vgl. Ohrt (1997), S. 262). Vor allem die Teilnahme Jorns überrascht, da er zu diesem Zeitpunkt schon seit fast einem Jahr nicht mehr Mitglied der S.I. ist. Die Ausführungen verweisen zudem auf die Anwesenheit der ›Beschuldigten‹ Prem, Sturm, Zimmer sowie von Fischer. Die zwei weiteren Teilnehmer lassen sich nicht rekonstruieren. Dies spielt aber für die Abstimmung keine Rolle, da nur die Mitglieder des Conseil Central, nicht aber alle anwesenden Situationisten abstimmungsberechtigt sind. 634 | Situationistische Internationale (1962d), S. 306. 635 | Vgl. Situationistische Internationale (1962a) sowie Bourseiller (1999), S. 235ff.
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nen und zum Galeristen van de Loo im Besonderen.636 Der dritte hier geäußerte Vorwurf des ›Misstrauens bzw. der Feindseligkeit‹ ist weniger eindeutig, da nicht weiter ausgeführt wird und auch nicht genau rekonstruierbar ist, gegen welche Mitglieder der S.I. sich dieses Verhalten im Einzelnen gerichtet haben soll.637 Insgesamt lässt sich dieser Vorwurf jedoch dem Problem der ›Disziplin der S.I.‹ zuordnen; welche Rolle er für den Ausschluss genau gespielt hat, ist schwer festzustellen. Auch beim Ausschluss der SPUR ist somit wieder ein Konglomerat verschiedener Gründe erkennbar, mit dem Unterschied, dass sie in diesem Fall allesamt erwähnt werden. Die ursprünglich als Grund hervorgehobene Veröffentlichung der SPUR Nummer 7 dürfte dabei eher als konkreter Auslöser denn als Grund zu werten sein, wohingegen der Konflikt mit van de Loo ein knappes Jahr zuvor schon auf tiefergehende Differenzen verweist, die in anderen Fällen schon einen Ausschluss zur Folge hatten. Im Kern geht es aber auch hier um die inhaltlich-theoretischen Differenzen bezüglich der Rolle der Kunst im situationistischen Gesamtprojekt.638 Doch nicht nur die Gründe für den Ausschluss werden im Fall der SPUR detaillierter dargestellt als in anderen Fällen, auch die Informationen über den Ablauf des Entscheidungsprozesses, über die daran Beteiligten und die davon Betroffenen sind umfangreicher als üblich. So wird hier nicht nur auf eine Sitzung des Conseil Central verwiesen, sondern werden auch dessen Mitglieder und sogar die weiteren an der Sitzung teilnehmenden Situationisten explizit oder implizit genannt. Des Weiteren wird hervorgehoben, wer genau den Antrag auf den Ausschluss stellt und gegen wen sich dieser im Einzelnen richtet. Dabei ist die genaue Auflistung derjenigen, gegen die sich der Ausschlussantrag richtet auch im Hinblick auf die verschiedenen Gründe nochmals aufschlussreich. Der Antrag richtet sich gegen Kunzelmann, Prem, Sturm 636 | Dieser Vorwurf wird in dem den Ausschluss zuerst verkündenden Flugblatt der S.I. expliziert. Hier heißt es, »dass die Mitglieder dieser Gruppe vollkommen die Disziplin der S.I. missachtet haben, um als Künstler zu arrivieren.« (Debord, Guy/Attila Kotányi/Uwe Lausen/Raoul Vaneigem (1962a)) Verglichen mit der etwas vagen Formulierung in der I.S. wird hier deutlich, dass es nicht nur um eine Frage der Abgrenzung nach außen, sondern auch um den Konflikt zwischen Einzelinteressen und Gruppeninteressen im Inneren der S.I. geht. Zudem ist der Wortlaut dieser Erklärung beinahe identisch mit demjenigen beim Ausschluss von Pinot-Gallizio. 637 | Dieses Verhalten wird bereits im Bericht von der Konferenz in Göteborg im August 1961 kritisiert: »Natürlich verlangen die Situationisten der Prem-Tendenz diese übermässige Kontrollmacht [der Sektionen in Mitgliedschaftsfragen, M.O.], weil ihre in der S.I. gänzlich überstimmten Thesen (siehe die Debatte der IV. Konferenz) in Deutschland immer noch die Mehrheit besitzen, nachdem sie dort lange Zeit allein herrschten. Sie haben vor, aus der deutschen Sektion die Opponenten auszuschliessen, die in ihr die S.I.-Politik unterstützen.« (Situationistische Internationale (1962a), S. 277f.) Demzufolge handelt es sich also eher um ein Problem innerhalb der SPUR und das ›Misstrauen‹ dürfte sich vor allem gegen Kunzelmann richten, der den Positionen der S.I. am nächsten steht. 638 | Vgl. zur Vorgeschichte und zu den Hintergründen dieser Debatte u.a. Liebs (2006); Ohrt (1997), S. 200ff. sowie S. 222ff. sowie Schrage (1998a).
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und Zimmer, was den zunächst genannten Grund - die Veröffentlichung der Nummer 7 der SPUR - etwas relativiert, da Kunzelmann gar nicht an der Redaktion dieser Ausgabe beteiligt ist, während der zunächst nicht direkt beschuldigte Fischer sogar deren Chefredakteur ist. Die Veröffentlichung dieser Zeitschrift ist daher nicht an sich oder als Widerstand gegen die Kontrolle der S.I. der Ausschlussgrund, sondern nur insofern, als durch die Inhalte der Nummer 7 die theoretischen Differenzen zwischen der SPUR und der S.I. nochmals in aller Deutlichkeit hervortreten - und diese inhaltliche Position der SPUR auch von Kunzelmann unterstützt wird. Doch auch die genaue Nennung der Antragsteller ist ungewöhnlich und lässt sich als Versuch verstehen, den demokratischen Charakter dieser Entscheidung zu betonen, da vier Mitglieder des sieben Personen umfassenden Conseil Central - und somit dessen Mehrheit den Ausschluss fordern. Im Conseil Central spiegeln sich hier die zwei Fraktionen innerhalb der S.I. deutlich wider: Debord, Kotányi, Lausen und Vaneigem einerseits und Elde, Kunzelmann und Nash andererseits; hier existiert somit eine knappe Mehrheit für die anti-künstlerische Position - eine Mehrheit, die beim Blick auf die gesamte Mitgliederstruktur der S.I. zu diesem Zeitpunkt nicht vorliegt.639 Die Existenz des Conseil Central und seine Befugnisse bezüglich der Mitgliedschaftsfragen eröffnen der anti-künstlerischen Fraktion in diesem Fall erst die Möglichkeit, den Ausschluss der SPUR ›demokratisch‹ zu beantragen und dann auch durchzusetzen. Daraus wird häufig geschlossen, dass der Conseil Central von Debord und seiner Fraktion genau zu diesem Zweck überhaupt erst ins Leben gerufen wurde, um sich durch die Umstellung von der föderalistischbasisdemokratischen auf eine zentralistische und nur mehr indirekt demokratische Struktur die Mehrheit in der S.I. zu sichern. »Il demeure toutefois que l’instauration du Conseil Central constituait une régression autoritaire: ses décisions, adoptées à la majorité simple, engageaient tous les situationnistes, et puisqu’elles concernaient essentiellement les exclusions et les admissions au sein de l’organisation, le Conseil devenait non seulement un filtre, mais aussi un instrument de contrôle politique sur l’activité de toutes les sections nationales de l’I.S.«640 »Aussi, les conclusions de la Ve Conférence ont-elles déterminé un contrôle plus minutieux du Conseil Central sur les sections nationales pour uniformiser aussi bien la théorie que la pratique des militants de l’Internationale Situationniste. Ce qui permit, peu après, d’accomplir l’une des épurations les plus radicales de la minorité artistique.«641 639 | Hier ist die anti-künstlerische Fraktion mit acht Vertretern gegenüber 13 Künstlern klar in der Minderheit. 640 | Marelli (1998), S. 134. 641 | Ibidem, S. 158f. In abgeschwächter Form findet sich diese These auch bei Ohrt (1997), S. 222f.
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Dieser These ist jedoch aus mehreren Gründen teilweise zu widersprechen. Der Aussage, dass durch den Conseil Central die föderative Struktur abgeschafft wird und er somit innerhalb der Gruppe eine gewisse Machtposition einnimmt, ist zunächst zuzustimmen. Dass damit zwangsläufig eine Uniformisierung auf der inhaltlichen Ebene verbunden ist oder der Conseil Central gezielt für eine solche eingesetzt werden kann, ist jedoch anzuzweifeln. Denn zum einen muss festgehalten werden, dass die Einführung des Conseil Central selbst von der Konferenz der S.I. im September 1960 per Mehrheit beschlossen wird. Die dortigen Mehrheitsverhältnisse zugunsten der Künstler verdeutlichen, dass die Einführung des Conseil Central von diesen mitgetragen wird und als Alleingang der anti-künstlerischen Fraktion nicht möglich gewesen wäre.642 Zum anderen werden in der Folge auch die Mitglieder des Conseil Central von der Konferenz der S.I., d.h. von der Gesamtheit ihrer Mitglieder bestimmt. Es stehen sich nicht demokratische und autoritäre Strukturen gegenüber, sondern direkt-demokratische und repräsentativ-demokratische. Dennoch nutzt die Einführung des Conseil Central letztendlich der anti-künstlerischen Fraktion, da in ihm lediglich die verschiedenen nationalen Sektionen vertreten sind, während deren jeweilige Mitgliederzahl dabei nicht berücksichtigt wird. Somit wirkt sich die Überzahl der künstlerischen Fraktion, die auf der Ebene der Mitgliederzahl der Gesamtgruppe deutlich erkennbar ist, im Conseil Central weniger klar aus. Allerdings ist auch in diesem bei den ersten drei Sitzungen eine Mehrheit der künstlerischen Fraktion vorhanden. Dies ändert sich erst bei bzw. nach dessen dritter Zusammenkunft zugunsten der anti-künstlerischen Fraktion und ist aufs engste mit dem zu diesem Zeitpunkt stattfindenden Ausschluss von Wyckaert und dem Austritt von Jorn verbunden. Jorn und Wyckaert scheiden aus der S.I. und somit auch aus dem Conseil Central aus, gleichzeitig wird die freiwerdende Position der belgischen Sektion mit dem mittlerweile eingetretenen Vaneigem besetzt und zudem Lausen in den Conseil Central aufgenommen.643 Aus einer Minderheit von zwei gegen drei Stimmen bei der dritten Sitzung im April 1961 wird so aus Sicht der anti-künstlerischen Fraktion eine Mehrheit von vier zu drei Stimmen bei der vierten Sitzung im Februar 1962. Die Auseinandersetzung mit van de Loo, die sich ursprünglich auch gegen die SPUR gerichtet hat, aber durch deren taktischen Rückzug damals nicht zum Ausschluss der Gruppe aus der S.I. führte, hat 642 | Dennoch ist der Zeitpunkt der Einführung des Conseil Central im September 1960 sehr aussagekräftig, treten doch auf dieser Konferenz in London die Spannungen zwischen den verschiedenen Fraktionen innerhalb der S.I. immer deutlicher hervor und führen zu heftigen Kontroversen. Nicht zuletzt, um ein weiteres Auseinanderdriften der Positionen bis zur nächsten Konferenz zu verhindern, wird der Conseil Central eingeführt, der sich jedoch in der Folge immer mehr von einem Koordinierungs- zu einem Entscheidungsgremium wandeln wird. 643 | Dies geschieht auf Druck von Debord, der zuvor dafür gesorgt hatte, dass Lausen in die S.I. aufgenommen wurde, nachdem dieser als Dolmetscher an einer Zentralratssitzung teilgenommen hatte (vgl. Ohrt (1997), S. 260).
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diesen indirekt ein knappes Jahr später ermöglicht. Denn erst durch den Austritt von Jorn und den Ausschluss von Wyckaert im Rahmen dieser Auseinandersetzung verändern sich die Mehrheitsverhältnisse im Conseil Central so, dass ein Ausschluss der SPUR möglich wird. Dieser ist somit eng mit den anderen beiden Bewegungen aus der S.I. verbunden, auch wenn nicht davon auszugehen ist, dass dies von der Fraktion um Debord von Anfang an so geplant war. Was jedoch seit ihrem Eintritt spürbar ist, ist die große Skepsis, die der Gruppe SPUR gerade von der holländischen und der französischen Sektion entgegengebracht wird.644 Diese Skepsis geht soweit, dass bereits im Oktober 1959 die Option eines baldigen Ausschlusses der SPUR in Erwägung gezogen wird.645 Diese Option wird für Debord und Constant im Laufe kurzer Zeit immer dringlicher und realistischer. So heißt es im März 1960 schon deutlicher: »Ce qui suppose aussi la liquidation de ce ridicule ›groupe Spur‹ sans plus attendre.«646 Dass es dennoch zunächst nicht zu einem Ausschluss kommt, ist wohl in erster Linie Jorns Unterstützung der Gruppe SPUR und seinem diesbezüglichen Einfluss auf Debord zu verdanken, denn Jorn ist es, der im Juli 1960 bei Debord eine Art einjähriges Ultimatum für die SPUR durchsetzt, das von Debord jedoch an Bedingungen geknüpft ist: »D’accord pour le sursis d’un an à la fraction ›Spur‹. Essayons pendant ce temps d’élever le niveau.«647 Von nun an steht die SPUR somit unter noch kritischerer Beobachtung. Vor allem aber verliert sie mehr und mehr ihren Rückhalt in der Gruppe, sei es durch den Ausschluss von Pinot-Gallizio und den übrigen Italienern oder auch, weil sich Jorn langsam von ihr distanziert und sich ab Februar 1961 im Zusammenhang mit der Affaire van de Loo den Ausschlussüberlegungen anschließt und diese sogar vorantreibt.648 Im März 1961 ist die S.I. dann soweit, der SPUR auch direkt mit dem Ausschluss zu drohen,649 den diese allerdings durch ihr vorgetäuschtes Einlenken in der Auseinandersetzung mit van de Loo noch einmal aufschieben kann. Doch zurück zur Ausschlussmeldung im Fall SPUR. Die oben angesprochene ungewöhnlich detaillierte Auflistung der Antragsteller verweist noch auf einen anderen interessanten Aspekt des Ausschlusses der Gruppe SPUR: Er ist auch mit weiteren, nachfolgenden Ausschlüssen aufs engste verbunden, vor allem mit demjenigen von Nash und den übrigen Skandinaviern nur einen Monat nach der Gruppe SPUR. Dies gilt es bei der Analyse der Mitteilung zum Ausschluss der Gruppe SPUR zu 644 | Außer von Jorn wird die SPUR nur von den Italienern positiv aufgenommen, die in ihr eine Verstärkung der künstlerischen Seite der S.I. sehen und eng mit ihr zusammenarbeiten (vgl. Niggl (2006), S. 73ff. sowie Niggl (2007), S. 73ff.). 645 | Debord (1999), S. 274, an Constant, 16.10.1959. 646 | Ibidem, S. 326, an Constant, 30.3.1960. 647 | Ibidem, S. 350, an Asger Jorn, 6.7.1960. Zu den immer konkreter werdenden Ausschlussplänen und der Rolle, die Jorn bei ihrer Aufschiebung spielt vgl. ibidem, S. 333, an Pinot-Gallizio, 6.5.1960. 648 | Vgl. Debord (2001), S. 72, an Maurice Wyckaert, 4.2.1961. 649 | Vgl. ibidem, S. 78, an die Gruppe SPUR, 29.3.1961.
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berücksichtigen, da diese erst im April 1962 erscheint und somit auch die nachfolgenden Ereignisse bereits in die Argumentation und Darstellung miteinbezieht, was im weiteren Verlauf der Meldung besonders deutlich wird: »Nash hat das Vorgehen der ›Spur‹-Verantwortlichen getadelt und war für die Veröffentlichung einer Gegenerklärung, ohne aber bis zum Ausschluss gehen zu wollen. Nach der Debatte über diesen Punkt schloss sich Nash dem Ausschlussantrag an, der also mit fünf Stimmen gegen eine gebilligt wurde.«650 In dieser Sitzung des Conseil Central, die über den Ausschluss der SPUR entscheidet, ist bereits die oppositionelle Stellung Nashs erkennbar, der sich zunächst gegen diese Maßnahme ausspricht und versuchen möchte, die Spannungen innerhalb der S.I. zu halten oder zu lösen. Nash will somit die Ungleichgewichte innerhalb der Gruppe erhalten, sie produktiv zusammenzwingen und scheint hier in gewisser Weise als Agent seines Bruders aufzutreten. In Anbetracht der klaren Mehrheitsverhältnisse zieht Nash seinen Widerspruch allerdings zurück und stimmt ebenfalls für den Ausschluss der SPUR. Dabei handelt es sich jedoch mehr um ein taktisches Manöver, als um eine wirkliche Meinungsänderung, da Nash explizit an seiner Idee der spannungsreichen Gegensätze festhält. Allerdings wird sich der Gegensatz zwischen Kunst und Anti-Kunst nicht mehr innerhalb der S.I. entfalten, sondern wenig später von außen an die S.I. herangetragen werden. Auf den nur temporären, taktischen Aspekt dieses Manövers wird zurückzukommen sein. Es gibt jedoch noch einen weiteren erwähnenswerten Aspekt der Ausschlussmeldung. Denn auch bei der Frage, wer nun eigentlich ausgeschlossen werden soll, kommt es im Laufe der Sitzung noch zu kleineren Veränderungen gegenüber dem ursprünglichen Antrag: »Kunzelmann selbst war mit der gesamten Kritik des Zentralrates einverstanden und behauptete, er persönlich sei für keine der beschuldigten Tatsachen verantwortlich. Nachdem es ihm aber dann freigestellt wurde, sich effektiv von den anderen loszusagen, konnte er sich nicht dazu entscheiden und musste also unter den Ausgeschlossenen bleiben. Dieser Ausschluss wurde sofort durch das Flugblatt ›Nicht hinauslehnen!‹ bekannt gemacht. Der einzige unter den nicht beschuldigten Anwesenden, der bekannt gab, dass er mit der Stellungnahme der Ausgeschlossenen einverstanden war, Lothar Fischer, soll ebenso zu diesen gerechnet werden.«651
Der anfangs gar nicht auf der Ausschlussliste stehende Fischer, der aber bei der Sitzung anwesend ist, erklärt sich als Mitglied der SPUR mit den Positionen der Gruppe solidarisch und wird daher ebenfalls ausgeschlossen.652 Dass bei seinem Ausschluss so deutlich betont wird, 650 | Situationistische Internationale (1962d), S. 306. 651 | Ibidem. 652 | Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf das unmittelbar nach der Sitzung des Conseil Central, aber noch vor obiger Ausschlussmeldung veröf-
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dass dieser deshalb erfolgt, weil sich Fischer explizit der Position der SPUR anschließt, verdeutlicht nochmals den marginalen Einfluss, den die Herausgabe der SPUR Nummer 7, deren Chefredakteur und somit Hauptverantwortlicher Fischer ist, in diesem Zusammenhang tatsächlich hat und verweist zugleich auf die Bedeutung der inhaltlichen Divergenzen zwischen der künstlerischen und der anti-künstlerischen Position. Dieser Eindruck bestätigt sich durch die Ausführungen zu Kunzelmann, da auch bei ihm der Ausschluss letztlich damit begründet wird, dass er nicht bereit ist, sich von den Positionen der SPUR zu distanzieren. Interessant sind hierbei drei Aspekte: erstens die Tatsache, dass der Ausschlussantrag gegen Kunzelmann zunächst zurückgenommen wird, als dieser sich mit der darin vorgebrachten Kritik einverstanden erklärt; zweitens der darin erkennbare Versuch, ihn auf die Seite der anti-künstlerischen Fraktion zu ziehen und ihn in der S.I. zu halten und drittens die Tatsache, dass eben dieser Versuch letztendlich scheitert, da sich Kunzelmann für seine ursprüngliche und ihm nähere Gruppe SPUR und gegen die S.I. entscheidet, was wiederum auf die Binnendifferenzierung der S.I. bis zu diesem Zeitpunkt und die unterschiedliche Bindungskraft von Gesamt- und Teilgruppe verweist. Gerade die letzten beiden Aspekte sind besonders interessant, da hier von Seiten der S.I. der Versuch unternommen wird, die SPUR auch intern nochmals zu spalten und einzelne Mitglieder aus ihr herauszulösen. Dieser Versuch wird jedoch von der Fraktion um Debord nicht erst beim Ausschluss unternommen. Vielmehr ist erkennbar, dass die seit ihrem Eintritt gegenüber der SPUR herrschende Skepsis deren Mitglieder von Anfang an in sehr unterschiedlichem Ausmaß trifft und so von der Fraktion um Debord eine Unterscheidung zwischen ›guten SPURisten‹ und ›bösen SPURisten‹ eingeführt wird. Eine solche Unterscheidung erfolgt bereits unmittelbar nach der Aufnahme der Gruppe SPUR bei der Konferenz in München im April 1959: »Heinz Höfl et Zimmer: bien. Eisch: très probablement bien [...]. Les fâcheux sont Sturm et Prem, à des degrés divers. Tout cela susceptible d’une évolution très favorable. Détail non négligeable: tous - Prem mis à part - ont maintenant une certaine amitié à notre égard.«653 Sturm, vor allem aber Prem sind es also, die von Debord besonders kritisch gesehen werden, während Eisch, Höfl und Zimmer positiver eingeschätzt werden. Die Linie, die Debord hier innerhalb der SPUR zieht, wiederholt im Kleinen nochmals die Grenzziehung zwischen der S.I. und der SPUR, zwischen der anti-künstlerischen und der künstlerischen Fraktion. Die unterschiedliche Einschätzung der Mitglieder der SPUR wird zudem über das Bild von Nähe und Ferne zur fentlichte Flugblatt der S.I., in dem Fischer noch nicht unter den Ausgeschlossenen geführt wird. (Vgl. Debord, Guy/Attila Kotányi/Uwe Lausen/Raoul Vaneigem (1962a)). Dies deutet darauf hin, dass seine Entscheidung für die SPUR nicht, wie in der offiziellen Meldung dann später behauptet wird, noch während der Sitzung, sondern erst später gefallen ist. 653 | Debord (1999), S. 221, an Constant, 24.4.1959.
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S.I. bzw. zur SPUR beschrieben, was darauf verweist, dass die SPUR immer noch als mehr oder weniger abgeschlossene, selbstständige Gruppe innerhalb der S.I. aufgefasst wird. Nimmt man die sich immer weiter präzisierende Bewertung der Gruppe SPUR durch Debord und seine Versuche, die Gruppe zu spalten, noch etwas genauer in den Blick, so wird deutlich, dass es dabei nicht von Beginn an um die oft betonte Opposition von Kunst und Anti-Kunst geht, sondern vielmehr zunächst die Frage nach der Rolle der Kunst innerhalb der S.I. im Mittelpunkt steht, die sich erst später zur genannten klaren Entweder-oder-Opposition zuspitzen wird. »Höfl, qui paraît le plus proche de nous, reproche à tous les ›spuristes‹ leur activité étroitement picturale et plastique, mais attaque principalement Prem qu’il considère comme un simple arriviste artistique (j’ai conseillé à Höfl de travailler plus directement avec nous. [...]). Zimmer est le plus proche de Höfl, et sans doute aussi de nous. Mais ses critiques de Prem sont beaucoup plus amicales dans la forme, et modérées quant au fond: il reproche à Prem ses préoccupations uniquement picturales, alors que lui, Zimmer, veut un art unitaire (c’est-à-dire, pour le moment: une peinture pouvant s’intégrer dans le reste).«654
Es geht hier beim Blick auf die SPUR zunächst um das Problem der Spezialisierung auf die Malerei sowie um die Frage, ob der Malerei als solcher ein revolutionäres Potential innewohnt oder dieses erst durch die Verwendung der Malerei als einem Aspekt situationistischer Praxis entsteht. Was bei dieser Frage nach dem Verhältnis von Trennung und Totalität, von einem spezialisierten und einem unitären Ansatz zusätzlich implizit anklingt, ist das Problem der Bedeutungsgewichtung von Einzelnem und Gruppe. Fragen auf der theoretischen Ebene sind hier eng mit Fragen bezüglich der organisatorischen Ebene verknüpft. In diesem Fall ergibt sich dabei die paradoxe Konstellation, dass die theoretische Debatte über einen unitären Ansatz und über die Einheitlichkeit der S.I. gerade dazu führt, dass Debord mit Blick auf die SPUR wieder eine Trennung einführt bzw. eine solche in der SPUR vorhandene Trennung deutlich hervorhebt.655 Gesucht wird die Einheit der Gruppe, ein umfassender Standpunkt, gefunden oder gar hervorgebracht werden jedoch Fraktionierungen und Spezialisierungen. Interessant ist diese Diskussion über die Unterscheidung der verschiedenen Mitglieder der SPUR aber auch, weil Debord sie ausgerechnet mit Constant führt und damit beim Blick auf die SPUR 1959 die Grundzüge der ca. ein Jahr später folgenden Auseinandersetzung mit Constant bereits vorwegnimmt. Denn die Position, die Debord gegenüber der SPUR bezüglich der Rolle der Kunst im situationistischen Gesamtprojekt vertritt, entspricht seiner Haltung gegenüber dem unitären Urbanis654 | Debord (1999), S. 280f., an Constant, 26.11.1959, Hervorh. im Orig. 655 | Vgl. ibidem, S. 284, an Constant, 15.12.1959 sowie Debord (2001), S. 164, an Rodolphe Gashé, 22.9.1962.
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mus. In beiden Fällen lehnt er sich gegen eine zu große Spezialisierung und Isolierung der einzelnen Ansätze auf, begreift sie als Mittel nicht aber als Zweck der situationistischen Praxis und versucht, auch auf der organisatorischen Ebene offensichtliche Binnendifferenzierungen und Spezialisierungen aufzuheben.656 Die Frage nach der Konzeption der Gesamtheit des situationistischen Ansatzes betrifft alle seine einzelnen Bestandteile, den unitären Urbanismus und die Psychogeographie genauso wie die Malerei und sollte nicht vorschnell auf den Gegensatz Kunst/Anti-Kunst reduziert werden. Dennoch gelingt eine solche Zusammenführung der einzelnen Bestandteile nicht, das spannungsreiche Drei- bzw. Vieleck wird zerschlagen, die Diskussion über das Problem der Spezialisierung und Fraktionierung verstärkt Letztere vielmehr und verlagert sie durch Austritt und Ausschluss aus dem Gruppeninneren nach außen. Genau das Fraktionieren aber hatte die S.I. der SPUR vorgeworfen und sogar zur Begründung des Ausschlusses herangezogen. Doch nicht nur das. Der Vorwurf des Fraktionierens wird von der S.I. mit Blick auf die SPUR explizit mit inhaltlichen Differenzen und dem Unverständnis für die situationistische Theorie als Ganzer in Zusammenhang gebracht: »Es ist bewiesen, dass die fraktionistische Aktivität dieser Gruppe auf einem systematischen Missverständnis der situationistischen Thesen basierte.«657 Dadurch, dass die S.I. im Falle Kunzelmanns selbst fraktionierend agiert, wendet sich dieser Vorwurf nun gegen sie, und es stellt sich die Frage, inwieweit sie selbst gegen ihre theoretischen Grundlagen verstößt. Und der Begriff ›Grundlagen‹ ist zumindest in Bezug auf die theoretischen Überlegungen zur Struktur und Funktionsweise der eigenen Gruppe durchaus wörtlich zu nehmen, heißt es doch bereits im ›Gründungstext‹ der S.I. von 1957: Wir »müssen [...] die Sektiererei unter uns liquidieren [...]. Wir müssen dieses sektiererische Verhalten endgültig zugunsten von wirklichen Aktionen überwinden.«658 Doch mit dem Ausschluss der SPUR werden die Fraktionierung und die Sektiererei nicht liquidiert, vielmehr treten sie hier sehr deutlich zutage und werden von der S.I. praktiziert.659 Der Ausschluss der Gruppe SPUR ist also insofern ein besonderer, als 656 | Vgl. Debord (1999), S. 322, an Maurice Wyckaert, 14.3.1960. 657 | Debord, Guy/Attila Kotányi/Uwe Lausen/Raoul Vaneigem (1962a). 658 | Debord (1957d), S. 38. 659 | Vor allem aber ist dies der Punkt, an dem die S.I. die Fraktionierung im Sinne einer inhaltlichen Vielfalt zugunsten einer theoretischen Vereinheitlichung aufgibt, ohne dabei die Fraktionierung auf der Ebene der Gruppenstruktur beseitigen zu können. Der ›Schritt nach vorne‹, den der Ausschluss der Künstler aus Sicht der anti-künstlerischen Fraktion darstellt, wird zum Schritt nach vorne zurück, da sich in den internen Auseinandersetzungen der S.I. in den Folgejahren eine Bewegung zurück zum sektiererischen Verhalten der L.I. manifestieren wird. Der Ausschluss der SPUR und der Skandinavier ist der Punkt, an dem sich das Hauptaugenmerk der Diskussionen erstmals von inhaltlich-theoretischen Spannungen hin zu Auseinandersetzungen auf der Gruppen- und Organisationsebene wendet, von Inhalts- zu Formfragen.
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er durch seine ausführliche Darstellung einen tieferen Einblick in die Funktionsweise der S.I. ermöglicht, als dies bei den vorangehenden Ausschlüssen der Fall war. Aufschlussreich ist dies nicht zuletzt deshalb, da die ausführliche Darstellung gerade nicht zu einer größeren Transparenz oder zu einem besseren Verständnis dieser Vorgänge beiträgt, sondern vielmehr verdeutlicht, wie problematisch die Vorgänge im Umfeld des Ausschlusses vor dem Hintergrund der eigenen Theoriepositionen sind. Je mehr die S.I. sich zu erklären versucht, desto mehr scheint sie sich in Widersprüche zu verstricken. Der Begriff des Widerspruchs verweist jedoch noch auf eine zweite Besonderheit des Ausschlusses der Gruppe SPUR: Er ist der erste Ausschluss, dem offen, offiziell und innerhalb der Gruppe widersprochen wird, der erste Ausschluss, der sofort nach seiner Vollstreckung angefochten wird - und zwar nicht von den Ausgeschlossenen, sondern von Mitgliedern der S.I. selbst.660 Denn während die Mitglieder der Gruppe SPUR ihren Ausschluss, der, wenn sein Zeitpunkt die Gruppe vielleicht auch überrascht haben mag, nach allen vorangegangenen inhaltlichen Differenzen nicht vollkommen unerwartet gekommen sein dürfte, ohne weiteres und ohne Gegenerklärungen oder nachfolgende Diskussionen hinnehmen und von nun an als unabhängige Gruppe außerhalb der S.I. weiterarbeiten, so stößt dieser Ausschluss bei Elde, de Jong und Nash auf strikte Ablehnung und löst eine umfangreiche Debatte aus. Eine Debatte, die für die Funktionsweise der S.I. und die dabei erkennbaren Probleme sehr aufschlussreich ist und die zudem innerhalb von gut einem Monat zur wohl tiefgreifendsten personellen Neuordnung in der Geschichte der S.I. führt. Doch der Reihe nach. Versucht man zunächst, die an dieser Auseinandersetzung beteiligten Mitglieder den verschiedenen Fraktionen zuzuordnen, so wird klar, dass der Ausschluss der Maler der SPUR von der eher theorielastigen Fraktion um Debord vorangetrieben und letztendlich durchgesetzt wird, während die heftige Kritik daran von den Mitgliedern kommt, die der künstlerischen Fraktion zuzurechnen sind. Zu vermuten ist also, dass sich in den Diskussionen über den Ausschluss der SPUR in erster Linie die fast seit der Gründung der S.I. andauernde Auseinandersetzung über die Rolle der Kunst fortsetzt. Doch bei einem genaueren Blick auf die in dieser Debatte publizierten Texte der beiden Seiten fällt auf, dass zunächst ein ganz anderer Aspekt im Mittelpunkt steht und sich der Konflikt weniger an den inhaltlichen Differenzen oder den Gründen des Ausschlusses entzündet, sondern sich vielmehr auf den formal-organisatorischen Aspekt desselben bezieht. Nicht mit Blick auf die inhaltlich-theoretische Ebene wird der Ausschluss in Frage gestellt, sondern im Hinblick auf die dabei innerhalb der Gruppe ablaufenden formalen Prozesse. Kritisiert wird von der Gruppe um de Jong und Nash in erster Linie 660 | Zwar hatte auch Constant den Ausschluss von Alberts und Oudejans scharf kritisiert, er tat dies jedoch nur Debord gegenüber in einer privaten Auseinandersetzung, nicht aber in der Gruppenöffentlichkeit.
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die Intransparenz der Entscheidung und das Fehlen einer vorangehenden internen Diskussion über die Divergenzen und Konflikte innerhalb der Gruppe. Denn an einer solchen Auseinandersetzung sind prinzipiell auch die Abweichler interessiert, vor allem, was die Kritik an den Aktivitäten der Gruppe SPUR und den Vorwurf der Fraktionierung betrifft: »We came to the meeting also prepared to critizise the SPUR members, but in quite another way. We protest against all kinds of fractionist activity within the IS.«661 Es scheint also vor dem Hintergrund der Vorwürfe, die der Gruppe SPUR von beiden Seiten gemacht werden, zunächst so, als hätte sich zwischen den beiden Fraktionen durchaus eine offene Debatte über die Gruppe SPUR entwickeln können. Doch eine solche offene Debatte über einen möglichen Ausschluss der Gruppe SPUR wird von der Gruppe um Debord verweigert, indem sie gleich zu Beginn des Treffens eben diesen Ausschluss der SPUR verkündet. Denn auch wenn darin sowohl den Skandinaviern als auch der SPUR zunächst noch die Möglichkeit eingeräumt wird, zu den Vorwürfen mündlich Stellung zu beziehen, so ist hier das Verständnis des Begriffs der ›Diskussion‹ doch ein sehr zweifelhaftes, wenn das Ergebnis von Anfang an feststeht und die Diskussion als bereits abgeschlossen angesehen wird. »On the very first day of the meeting a previously printed ultimatum was presented by the four last named members declaring the German group of artists, SPUR [...] excluded in the name of the Conseil Central. [...] In this council meeting in Paris we were confronted with a fait acompli, which made an empty farce of the entire meeting.«662 »After having spoken and eaten with the Spur-group in the evening we met the group of 4 again with the intention of discussing. But what we got at the moment we were seated around the meeting table was ›NICHT HINAUSLEHNEN‹ with Debord’s remark ›of course if you had not accepted the exclusion of Spur this printed matter would have in any case been thrown on the table!‹ By coming we has accepted an exclusion of Spur but on another basis and not just on the manner of their lawsuit.«663
Doch nicht einmal die in der ersten Ausschlussmeldung angekündigte Anhörung der Skandinavier und der Gruppe SPUR findet in Paris wirklich statt, aus dem ›procès verbal‹ wird ein Austausch von Flugblättern und schriftlichen Erklärungen. Denn schon am zweiten Sitzungstag legt die Gruppe um Debord einen weiteren Text vor, mit dem die noch nicht einmal begonnene Diskussion endgültig beendet und der Ausschluss der SPUR erneut verkündet wird. 661 | Jong, Jacqueline de/Jørgen Nash/Ansgar Elde (1962), Orthographie wie im Original. 662 | Ibidem. 663 | Jong (1962), S. 4, Syntax wie im Original, Hervorh. im Orig.
Die S.I. im Spannungsfeld von Theorie und Praxis | 399 »Der Zentralrat der Situationistischen Internationale hat in der Zusammenkunft in Paris am 10. Februar 1962 beschlossen, aus der deutschen Sektion der S.I. die für die Herausgabe der Zeitschrift ›Spur‹ verantwortliche Gruppe auszuschließen (D. Kunzelmann, H. Prem, H. Sturm und H.-P. Zimmer). Es ist bewiesen, [...] dass die Mitglieder dieser Gruppe vollkommen die Disziplin der S.I. missachtet haben, um als Künstler zu arrivieren.«664
Zweimal also konfrontieren Debord, Kotányi, Lausen und Vaneigem den Rest der S.I. unter Berufung auf ihre Mehrheit im Conseil Central mit einer vorab getroffenen Entscheidung, verweigern jede inhaltliche Diskussion über die Frage des Ausschlusses der SPUR - eine Vorgehensweise, die umso paradoxer erscheint, als eben dieser Ausschluss wohl auch von den Skandinaviern mitgetragen worden wäre. Aus dem Versuch der Gruppe um Debord, einen Konflikt über diese inhaltliche Frage, den es wohl gar nicht gegeben hätte, zu umgehen, entsteht eine eskalierende Auseinandersetzung über diese vor dem Hintergrund der theoretischen Positionen der S.I. äußerst problematische Vorgehensweise. Aus der Frage nach einem konkreten Ausschluss, wird so eine Diskussion über den Ausschluss an sich und somit über die interne Funktionsweise der S.I. Denn selbst wenn die Gruppe um Debord mit ihren vier Stimmen tatsächlich die Mehrheit des Conseil Central gebildet haben sollte, ändert dies nichts an der Tatsache, dass eine solche Vorgehensweise gegen die Forderung der Transparenz und der offenen Kommunikation verstößt - zumal die Gruppe um Debord dem Rest der S.I. wohl ganz gezielt Informationen der Gruppe SPUR vorenthalten und erst bei der Sitzung zusammen mit der Ausschlussmeldung offengelegt hat.665 Damit aber reproduziert die S.I. in ihrem Inneren genau jene spektakulären Mechanismen der Intransparenz, der falschen Kommunikation und der Trennung, die sie in ihren theoretischen Stellungnahmen zur eigenen Gruppe stets ablehnt. »An organization whose essential decisions are not based on the principle of debate is totalitarian and does not agree with our rules of collaboration. This was a fractionist attack against us, which is unacceptable to the situationnists.«666 Vor allem der Aspekt der Trennung ist für Elde, de Jong und Nash ausschlaggebend, denn in diesen lässt sich das Problem der Fraktionierung rückübersetzen. Und genau eine solche Trennung wird bei diesem Ausschluss sichtbar. Allerdings geht es dabei weniger um eine Trennung im Sinne der kritisierten vorangegangenen Abschottung der SPUR oder einer aus dem Ausschluss resultierenden Trennung zwischen der SPUR und der S.I., sondern um eine Trennung, die die Fraktion um Debord durch die Art und Weise, wie sie den Ausschluss plant und durchführt, selbst vollzieht. Paradoxerweise entsteht hier eine zweifache Fraktionierung bei der Formulierung der Kritik an der Fraktionierung. Der gegen 664 | Debord, Guy/Attila Kotányi/Uwe Lausen/Raoul Vaneigem (1962a). 665 | Vgl. Jong (1962), S. 2. 666 | Jong, Jacqueline de/Jørgen Nash/Ansgar Elde (1962).
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die Gruppe SPUR gerichtete Vorwurf wird dementsprechend nun wiederum von Elde, de Jong und Nash gegen die Gruppe um Debord vorgebracht: »Those four [Debord, Kotányi, Lausen und Vaneigem, M.O.] go as far as to accuse SPUR of ›fractionist activity based on a systematic misunderstanding of the situationnist theses...‹ That is precisely what they themselves might be denounced for, if we chose to adopt their jesuit methods.«667 Wie aus dem ›if‹ sowie aus den vorangegangenen Zitaten deutlich wird, sind Elde, de Jong und Nash nicht bereit, das Vorgehen der Gruppe um Debord zu akzeptieren und veröffentlichen drei Tage nach der Ausschlussmeldung jene Gegenerklärung, die hier zugrunde gelegt wurde.668 Einige eher formale Aspekte dieser Gegenerklärung sind abschließend noch zu erwähnen. Verfasst wird sie von de Jong und Nash wohl am 11.2. und 12.2.1962, nachdem die beiden zwei Tage lang vergeblich versuchen, mit der Gruppe um Debord eine offene Diskussion über einen möglichen Ausschluss der SPUR zu führen. Elde, der zu diesem Zeitpunkt nicht in Paris ist, hat, auch wenn sich seine Signatur ebenfalls unter dem Dokument findet, mit der Entstehung der Erklärung nichts zu tun. Er erklärt sich erst im Nachhinein mit ihr solidarisch und unterzeichnet sie später - wann genau, ist nicht zu klären, auf jeden Fall vor der Veröffentlichung in der Situationist Times Nr. 1, die im Mai 1962 erscheint. Dennoch gibt es noch eine dritte Person, die an der Entstehung dieser Gegenerklärung beteiligt ist, die ihren Namen allerdings nicht unter den Text setzen kann: Asger Jorn. Für ihn bietet sich in dieser Auseinandersetzung die Möglichkeit, sein Dreiecksdenken nun - nachdem es im Inneren der S.I. als gescheitert angesehen werden muss - nicht aufzugeben, sondern es vielmehr nach außen zu verlagern, indem sich die Skandinavier ebenfalls aus der S.I. herauslösen.669 Der Begriff des ›Sich-Herauslösens‹ ist dabei mit Blick auf Elde, de Jong und Nash von entscheidender Bedeutung, da er die Frage aufwirft, inwiefern ihr Ausschluss überhaupt ein solcher ist oder ob es sich nicht um einen Austritt bzw. eine Abspaltung handelt. Denn auch wenn in der Gegenerklärung 667 | Jong, Jacqueline de/Jørgen Nash/Ansgar Elde (1962). 668 | Diese ist bereits durch ihren Titel als solche erkennbar: Hieß die Ausschlussmeldung Nicht hinauslehnen!, so betiteln die drei Kritiker ihre englischsprachige Stellungnahme mit Nicht Hinauslehnen! Ne pas se pencher au dehors! E pericoloso sporgesi! Danger! Do not lean out! Det är livsfarligt att luta sig ut! Niet naar buiten hangen! Dies ist nicht nur als ein auf den Titel bezogener détournement aufzufassen, sondern verweist auf die Frage der Internationalität der S.I., die in diesem Konflikt zur Diskussion steht. Denn anders als es die auf Deutsch und Französisch verfasste Ausschlussmeldung der S.I. suggeriert, handelt es sich nicht nur um eine Auseinandersetzung zwischen der deutschen und der französischen Sektion, sondern um einen grundlegenden Strukturkonflikt, der mit seiner Konsequenz des Ausschlusses sowohl der deutschen, als auch der holländischen und skandinavischen Mitglieder die Internationalität der S.I. insgesamt in Frage stellt. In dieser Internationalität und Vielfalt der Positionen sehen die Skandinavier das Potential der S.I., dessen Vergeudung sie den Franzosen hier vorwerfen. 669 | Vgl. Ohrt (1997), S. 262.
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nicht von Austritt die Rede ist, so sind sich ihre Verfasser doch bewusst, dass diese Stellungnahme nicht ohne tiefgreifende Konsequenzen auf der Ebene der Mitgliedschaft bleiben wird: »Wir machten dann unser Gegenmanifest: Elde, Nash und ich wußten, die Konsequenz war der Ausschluß.«670 Ruft man sich in Erinnerung, dass die Unterscheidung zwischen Austritt und Ausschluss nicht zuletzt darauf beruht, wer jeweils die Entscheidung trifft bzw. ob derjenige, der die Gruppengrenze überschreitet, Subjekt oder Objekt dieser Entscheidung ist, so ergibt sich für den Fall von Elde, de Jong und Nash eine merkwürdige Zwischenstellung: Die klare Formulierung eines Austritts fehlt in ihrer Erklärung, dennoch sind sie insofern als entscheidende Subjekte aufzufassen, da sie sich der Folge des Ausschlusses bewusst sind. Sie formulieren - paradox gesprochen - nicht den Austritt, sondern ihren eigenen Ausschluss auch wenn dieser dann formal von der S.I. verkündet wird. Wie schon der Ausschluss der SPUR wird auch derjenige von Elde, de Jong und Nash in zwei Schritten bekanntgegeben. Eine erste Reaktion der S.I. erfolgt mit einem Flugblatt am 23.3.1962,671 das auf die Gegenerklärung der drei Abtrünnigen Bezug nimmt und nochmals die Diskussionen über die Zusammensetzung des Conseil Central und die Ereignisse in Paris im Februar aufrollt und die drei diesbezüglich der Lüge sowie der Rückdatierung ihrer Erklärung bezichtigt.672 Interessanter als diese Streitereien um Details ist jedoch die Tatsache, dass in diesem Flugblatt nur Elde und Nash direkt erwähnt werden, de Jong als die eigentlich treibende Kraft aber nirgendwo genannt wird. Implizit jedoch wird auch sie angesprochen und zu den Ausgeschlossenen gezählt: »Considering these facts the Conseil Central of l’Internationale Situationniste, proclaims that all followers of Nash, the falsifier, and Elde, his agent, will be considered enemies of l’I.S.«673 Durch diese Formulierung betrifft der Ausschluss nicht nur die genannten Elde und Nash, sondern ebenso de Jong, Larsson, Lindell und Strid. Auffällig ist zudem, dass nicht, wie sonst üblich, ›nur‹ die Endgültigkeit und Totalität des Ausschlusses betont wird, sondern die Ausgeschlossenen durch den Ausschluss unmittelbar zu Feinden der S.I. ernannt werden. Das Ende der Mitgliedschaft ist hier also nicht nur eine Frage von Kommunikation vs. Kommunikationsabbruch, sondern wird sofort auf eine klare Freund-Feind-Unterscheidung zugespitzt.674 Dies lässt sich mit den Inhalten der Auseinandersetzung in Zusammenhang bringen: Denn es 670 | Jong (1998), S. 70. 671 | Vgl. Debord, Guy/Attila Kotányi/Uwe Lausen/Raoul Vaneigem (1962b). 672 | Dieser Vorwurf beruht darauf, dass die Erklärung, die de Jong und Nash am 13.2.1962 zusammen verfasst und auch auf diesen Tag datiert haben, erst am 15.3.1962 als Flugblatt veröffentlicht wird. 673 | Ibidem. 674 | Wenig später schreibt Debord einen kurzen Text über die Feinde der S.I. und ihre Kontakte und veranschaulicht ihn mit einer Graphik, ähnlich einer Landkarte (vgl. Debord, Guy/Attila Kotányi/Uwe Lausen/Raoul Vaneigem (1962c)). Interessant ist hierbei, dass diese ›Feinde‹ nicht mehr - wie zu Beginn der S.I. - nur aus Perso-
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geht hier nicht nur um Meinungsverschiedenheiten bezüglich konkreter inhaltlich-theoretischer Fragen, bei denen bei der S.I. eine gewisse Offenheit und ›Differenztoleranz‹ erkennbar ist und die, wenn sie an einen Punkt gelangen, an denen der Austausch innerhalb der S.I. nicht mehr produktiv erscheint, durch einen Ausschluss im Sinne eines Kommunikationsabbruchs beendet werden. Was in diesem Fall im Mittelpunkt steht, ist die Funktionsweise der S.I. selbst, ihre eigene Praxis. Die von de Jong und Nash vorgebrachte Kritik stellt also die S.I. als solche in Frage, indem sie in ihr hierarchische, fraktionistische und undemokratische Praxen ausmacht und kritisch zur Sprache bringt. Somit aber wird angezweifelt, dass die S.I. in ihrer eigenen (Gruppen)Praxis in der Lage ist, ihre theoretischen Positionen auch nur ansatzweise umzusetzen, und wird die S.I. mehr oder weniger deutlich als spektakulär bezeichnet. Es handelt sich hier um eine Kritik, die die Gruppe im Kern ihres Selbstverständnisses angreift. Die von de Jong und Nash geäußerte Kritik an der Organisationsstruktur und der Funktionsweise der S.I. löst eine Art Verteidigungsreflex aus, der eine langwierige Auseinandersetzung zwischen der S.I. und den ›Nashisten‹, wie die Skandinavier nach ihrem Ausschluss genannt werden,675 zur Folge hat.676 Darin liegt eine der Besonderheiten des Ausschlusses der Skandinavier, die ihn von allen vorherigen unterscheidet: Auch wenn es zwischen den Skandinaviern und der Fraktion um Debord Differenzen bezüglich der Rolle der Kunst gibt, genau wie dies auch bei der SPUR der Fall ist, und diese vor allem seit der Konferenz in Göteborg auch intensiv diskutiert werden - ein Ausschluss der Skandinavier steht dabei offiziell nie im Raum. Die sonst sichtbare Anbahnung des Ausschlusses fehlt hier vollständig, er ist vielmehr eine spontane Handlung der S.I. als Reaktion auf die ebenso spontane wie grundlegende Kritik der Skandinavier an dem - zumindest in seiner konkreten Durchführung - ebenfalls spontanen Ausschluss der SPUR. Während bei den vorangegangenen Ausschlüssen der Ausschluss weniger ein Moment bzw. eine Situation als vielmehr der erwartbare Schlusspunkt eines Prozesses ist, lassen sich im Umfeld des Ausschlusses der Skandinavier hingegen zwei Konstellationen ausmachen, die an eine konstruierte Situation erinnern und ihren Ausschluss als das Ergebnis einer Verkettung zweier konstruierter Situationen erscheinen lassen: der inszenierte, vorgefertigte Ausschlussbeschluss gegen die SPUR und die spontane Gegenerklärung dazu von de Jong und Nash. Beide versetzen die jeweilige Gegenseite in eine Situation, bringen über das Moment der Überraschung Dynamik nen bestehen, die von Anfang an außerhalb der Gruppe stehen, sondern mit den Skandinaviern und der SPUR zu mehr als der Hälfte ehemalige Mitglieder sind. 675 | Vgl. hierzu die Definition des Begriffs ›Nashismus‹ von Martin (1963). 676 | Diese beginnt mit der offiziellen Ausschlussmeldung in der I.S. Nr. 7 (vgl. Situationistische Internationale (1962d), S. 311) und setzt sich dann in der I.S. Nr. 8 weiter fort (vgl. Situationistische Internationale (1963e) sowie Situationistische Internationale (1963g), S. 76f.). Auch die Skandinavier melden sich noch mehrfach zu Wort (vgl. Jong (1962); Nash, Jørgen et al. (1962) sowie Nash (1964)).
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ins Spiel. Der daraus resultierende Ausschluss der Skandinavier ist im Vergleich dazu wieder erwartbar. Soviel zu den Besonderheiten im Vor- und Umfeld dieses Ausschlusses. Doch ein weiterer wichtiger Unterschied ist im Nachspiel zu sehen, das auf ihn folgt. Denn so wenig ausgeprägt die konkrete, direkte Auseinandersetzung zwischen den Skandinaviern und der S.I. im Vorfeld war, so umfangreich und feindselig entwickelt sie sich im Nachhinein. Eine solch ausufernde und öffentliche Auseinandersetzung nach dem Ausschluss war bei den skizzierten Fällen bislang nicht erkennbar. Diese Verlagerung der Diskussion vom Vorfeld des Ausschlusses auf die Zeit nach seiner ›Vollstreckung‹ dürfte vor allem zwei Ursachen haben: Zum einen bedeutet der ›Doppelschlag‹ gegen die SPUR und die Skandinavier für die S.I. sowohl auf der personellen als auch auf der inhaltlichen Ebene eine erhebliche, um nicht zu sagen grundlegende Neustrukturierung und Neuorientierung, die dazu führt, dass sich die Gruppe in einer Art zweiten Gründungsphase befindet, die von einem erhöhten Abgrenzungsbedürfnis gerade gegenüber ihren ehemaligen Mitgliedern bestimmt ist. Diese Tendenz wird dadurch verstärkt, dass zum anderen die ausgeschlossenen Mitglieder nicht von der Bildfläche verschwinden, sondern weiterhin sehr präsent sind - und zwar ebenfalls als Gruppen. Sei es, wie im Fall der SPUR, dass die Gruppe auch nach dem Ausschluss weiterbesteht, oder sei es, wie im Fall der Skandinavier, dass sie erst nach dem Ausschluss wirklich als Gruppe entstehen. Gerade der zweite Fall hat auf Seiten der S.I. ein erhöhtes Abgrenzungspotential zur Folge, da die Skandinavier unmittelbar nach ihrem Ausschluss die 2. Situationistische Internationale ins Leben rufen, die offensichtlich als ›Konkurrenzunternehmen‹ konzipiert ist. Gegen ein solches jedoch muss die S.I. massiv zu Felde ziehen, denn »[d]ie Aufgabe, extremistischer als die S.I. zu sein, kommt der S.I. zu - sie ist sogar das erste Gesetz ihrer Beständigkeit.«677 Wir haben es hier somit mit einem klassischen Fall der Dynamik der Avantgarde zu tun, bei dem eine Auseinandersetzung, die innerhalb einer Gruppe nicht mehr fortgeführt werden kann, zur Abspaltung einer Konfliktpartei führt und so den Streit zu einem Streit zwischen verschiedenen Gruppen transformiert. Auch wenn es zu weit führen würde, den vollständigen Verlauf dieses Konflikts, dieses Aufeinanderfolgens von Polemik und Gegenpolemik hier wiederzugeben, so ist doch auf einige seiner Aspekte zu verweisen, die im Hinblick bzw. Rückblick auf den Ausschluss der Skandinavier aufschlussreich sind. Denn auch wenn die Debatte teils sehr polemisch geführt wird und Aussagen wie »[w]eisen wir zum Schluss daraufhin, dass unseres Wissens ein durchschnittlicher Nashist elf Wochen existierte«678 mit der Feststellung »[a]fter their expulsion the Drakabygget Situationists achieved more in five months than the first Situationist 677 | Situationistische Internationale (1963e), S. 36. 678 | Situationistische Internationale (1963g), S. 77.
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International achieved in five years«679 gekontert werden, so werden doch hinter dieser Polemik zentrale Fragen verhandelt. Was zunächst in den Stellungnahmen sowohl der S.I. als auch der Skandinavier auffällt, ist die enge Verbindung, die von beiden Seiten immer wieder zwischen dem Ausschluss der SPUR und dem der Skandinavier hergestellt wird.680 Zusammenhänge zwischen verschiedenen Ausschlüssen gibt es in der S.I. zwar bereits zuvor, hier erreichen sie jedoch eine neue Qualität, da der Hauptgrund des Ausschlusses der Skandinavier ihre Kritik am Ausschluss der SPUR ist - und dies nicht in dem Sinne, dass dieser Ausschluss an sich in Frage gestellt wird oder gar rückgängig gemacht werden soll, wie dies die Forderung von Constant im Fall von Albert und Oudejans ist, sondern in dem Sinne, dass der Prozess - hier im doppelten Wortsinn - des Ausschlusses kritisiert wird. Im Zentrum der Kritik der Skandinavier steht somit weniger der Ausschluss der SPUR als vielmehr der Ausschluss der SPUR. Dabei betonen die Skandinavier zunächst, dass ihre Kritik an diesen Vorgängen nicht mit einer Kritik an der S.I. als solcher verwechselt werden sollte: »In our protest we do not attack the movement and its theory and action. We do indeed not even attack one single point of the IS. All we protest against is the organisation which 4 members of the IS have tried to establish and to put into that, which we have always and will always consider as situationist, the movement of the IS.«681 Aus Sicht der Gruppe um Debord handelt es sich aber um genau einen solchen Angriff auf die S.I. insgesamt, was sie in ihren Stellungnahmen auch deutlich zum Ausdruck bringt: »Am 15. März haben plötzlich Jørgen Nash und Ansgar Elde gegen die S.I. Stellung bezogen.«682 Die Aussage der Skandinavier, keine grundsätzliche Kritik an den inhaltlich-theoretischen Positionen der S.I. zu üben, sondern lediglich ihre organisatorische Praxis in Frage zu stellen, findet bei den Franzosen kein Gehör: »Ein für allemal und um nie wieder daran denken zu müssen, haben alle Nashisten zunächst erklärt, sie seien mit der gesamten S.I.-Theorie einverstanden - mit ihrer Praxis sind sie es aber keineswegs. Der einzige Punkt übrigens, den sie in dieser Praxis beanstanden, ist die übertriebene Disziplin in der S.I. Dieses Übermass an Disziplin ist gerade nichts anderes als die Übereinstimmung der Situationisten, nach einem bestimmten Zusammenhang zwischen ihren Theorien und ihrer möglichen Praxis zu suchen.«683
Worum es hier im Kern geht, ist die Frage nach dem, was ›situationistisch‹ ist, was den Kern dieses Projekts ausmacht. Während die Skandinavier dabei zwischen den allgemeinen theoretischen Ideen und der 679 | Nash, Jørgen/Jens Jorgen Thorsen/Hardy Strid/Ambrosius Fjord (sic!) (1963). 680 | Vgl. Situationistische Internationale (1963e), S. 32ff. sowie Nash, Jørgen et al. (1962). 681 | Jong (1962), S. 6. 682 | Situationistische Internationale (1962d), S. 311. 683 | Situationistische Internationale (1963e), S. 31.
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Gruppenpraxis unterscheiden, werden diese von den Franzosen als untrennbar miteinander verbunden angesehen. Die Frage danach, was ›situationistisch‹ ist, wird dadurch noch komplexer, dass sie mit der Frage verbunden ist, wer für die Beantwortung ebendieser Frage verantwortlich ist, sprich, wer die diesbezügliche Definitionsmacht besitzt. »And neither do I believe that I could attack the theories or actions which I have always considered as Situationist and of which movement I have chosen to be a member. Only the false use of this movement can feel necessary to be attacked. If the 4 will be right, that our protest is an attack against the situationist movement and against them and their personal activities then it will mean that ONLY they and what is theirs is situationist. In that case I must admit that my opinion on the Internationale Situationniste is was and will always be wrong.«684
Auch wenn es zunächst so erscheint, als träfen hier einfach zwei unterschiedliche Auffassungen über das, was die S.I. in Theorie und Praxis ausmachen sollte, aufeinander, tritt bei genauerer Betrachtung noch eine weitere tiefergehende Differenz zutage. Denn es treffen hier nicht nur zwei Fraktionen aufeinander, die miteinander unvereinbare Auffassungen bezüglich der Funktionsweise der S.I. als Gruppe sowie ihrer theoretischen Ausgestaltung vertreten, sondern wir haben es mit unterschiedlichen Positionen bezüglich der Frage, wie mit solchen unterschiedlichen Meinungen umzugehen ist, zu tun. Während bei den Franzosen hier die Begriffe von Disziplin und Übereinstimmung im Mittelpunkt stehen und daher eine Kritik im Detail als Angriff auf das Gesamtprojekt gesehen und somit aus der Gruppe verbannt werden kann oder gar muss, um ihren Zusammenhalt nicht zu gefährden, votieren die Skandinavier für die Möglichkeit offener Kritik innerhalb der Gruppe, um diese Widersprüche, ja sogar die Missverständnisse für die Gesamtgruppe produktiv zu nutzen. »Misunderstandings and contradictions are not only of an extreme value but in fact the basis of all art and creation, if not the source of all activity in general life. [...] Why is a protest against a non-accepted political action of four members an accusation against the entire IS movement? What the hell is left of the IS as a movement if the establishment of an organisation comes to that point where open protest against this establishment seems to be considered as against the movement?«685
Die von den Skandinaviern kritisierte Einheitlichkeit und Strenge der Organisation wird mehrfach als Grund für die Abspaltung genannt.686 Die Unmöglichkeit, die unterschiedlichen Positionen innerhalb der S.I. als widersprüchliche produktiv zu integrieren, führt zu einer formalen 684 | Jong (1962), S. 8, Hervorh. im Orig. 685 | Ibidem, S. 6f. 686 | Vgl. Nash, Jørgen et al. (1962).
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Trennung der beiden Auffassungen in zwei Gruppen - nicht um die Unterschiede aufzuheben, sondern um sie weiterhin produktiv gegeneinander stellen zu können: »For the sake of Europe it is very important that genuine differences and variants should not be supressed. On the contrary these characteristic differences have a vital part to play in the development of a Situcratic community.«687 Dementsprechend ›offen‹ wird die 2. Situationistische Internationale dann auch konzipiert, um so die Kritik an der S.I. bei der Formierung der eigenen Gruppe in die Praxis umzusetzen und um vor allem die Praxis von Eintritt und Ausschluss, die bei der S.I. mehr und mehr Raum einnimmt, aufzuheben: »Now anyone is free to become a Situationist without the need for special formalities. It is up to the individual to fulfil [sic!] the Situationist ideology in the best way that seems fit. This does away all problems of inclusion and exclusion.«688 Was hier also bei der Gegenüberstellung der beiden S.I.s auffällt, ist der schon innerhalb der S.I. zwischen der Gruppe um Debord und derjenigen um Jorn erkennbare Streit zwischen der Politik der offenen und der geschlossenen Tür. Die jeweils bevorzugte Haltung bezüglich der Eintrittspolitik lässt sich direkt mit dem jeweiligen Verständnis von der Art und Weise der ›Einheit‹ der Gruppe zusammenbringen: Debord und den Franzosen geht es um eine wirkliche Übereinstimmung, Jorn und den Skandinaviern um die Einheit der widersprüchlichen Vielfalt. Im Sinne dieser Vielfalt ist bei den Skandinaviern auch nicht - wie bei der S.I. - die Behauptung zu erkennen, ihr Verständnis der situationistischen Theorie sei das einzig richtige, während sich die Franzosen auf einem Irrweg befänden. Der sonst bei avantgardistischen Gruppen deutlich erkennbare Alleinvertretungsanspruch tritt hier zugunsten der Idee der produktiven Auseinandersetzungen verschiedener Positionen in den Hintergrund. »Let us assume that the Scandanavian and French programmes are both equally well meaning, intelligent and correct. [...] We are not saying that the French method is wrong or that it cannot be used successfully. We merely say that our two outlooks are incompatible, but they can be made to supplement one another.689 Eine Art des Beharrens auf der Richtigkeit der eigenen Idee lässt sich jedoch auch bei den Skandinaviern ausmachen, auch wenn diese beinahe paradox anmutet: Es handelt sich um die Forderung, die eigene Position von der Vielfalt der Positionen, von ihrem Miteinander im Gegeneinander als Grundlage der jeweiligen Arbeit anzuerkennen 687 | Nash, Jørgen et al. (1962), Orthographie wie im Original. 688 | Ibidem (vgl. auch Jong (1962), S. 11). Dennoch sind bei der Skizze der Organisationsstruktur der 2. Situationistischen Internationale deutliche Parallelen zu den theoretischen Überlegungen der S.I. erkennbar: »The second Situationist International is a freely organised movement. It is a voluntary association of autonomous work groups. [...] But as we are no missionaries, and our movement is absolutely anti-authoritarian, we don’t run around forcing people to sign our manifesto. [...] We want to make it possible for man to be free to gamble his life. This can only happen if everyone is allowed to have individual freedom of action« (Nash (1964)). 689 | Nash, Jørgen et al. (1962), Orthographie wie im Original.
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und die Abspaltung der Skandinavier von der S.I. und ihre Gründung einer 2. S.I. nicht als Angriff auf die Erstere zu sehen, sondern als Eingeständnis der momentanen Unmöglichkeit, diese beiden Positionen in einer Gruppe zusammenzubringen. »We must agree to differ in order to let the two opposing tendencies work out their own salvation. Any attempt to force them both into the same mould will lead to frustration and further conflict. Therefore the creation of a 2nd Situationist International is not a matter of progress or regression. It is the natural result of Situationist dichotomy which operates from two fundamentally different assumptions and programmes.«690
Entscheidend für die Idee, die hinter der Gründung der 2. Situationistischen Internationale steht, ist die Auffassung, dass diese Trennung zwar eine notwendige, aber ebenso eine möglicherweise nur temporäre ist. In Verbindung mit dem Vorhaben der Gründung einer dritten situationistischen Gruppe in Osteuropa tritt hier erneut das von der Idee der produktiven Widersprüche und der Beweglichkeit geprägte triolektische Denken Jorns deutlich hervor, das darauf abzielt, bewegliche Situationen und keine Zustände zu konstruieren. »The action [die Abspaltung, M.O.] has been forced upon us. At the same time we trust that the split will only be temporary. We foresee that our own Situationist evolution and that which has its roots in Paris will be followed by an East European Situationist Movement. The three groups each evolving from its own set of problems and attitudes shall one day unite into a Situationist International.«691
Das Konzept der Bewegung und des Akzeptierens von Widersprüchen macht für Jorn den Kern des skandinavischen Ansatzes aus, während die französischen Situationisten von der Idee der Position her argumentieren und agieren.692 »We shall then find that there is a fundamental difference of assumption between us. If we discard all prejudice we shall see that the problem, as seen by 690 | Nash, Jørgen et al. (1962). 691 | Ibidem. 692 | Zusätzlich bringt Jorn diese Gegenüberstellung von Bewegung und Position mit dem Problem von Theorie und Praxis in Zusammenhang. »We admit that Scandanavians are feeble planners and probably even feebler at carrying out other peoples plans. We do not always distinguish between theory and practice. We intend to produce our theories after the event. Now that we have become involved in a Situationist evolution we are planning towards feasible objectives. The French work exactly the other way round. They want everything straight before they start and everybody has to line up correctly.« (Ibidem, Orthographie wie im Original) Eine Diskussion zwischen Jorn und Debord über diese These, die Jorn noch zur allgemeinen Gegenüberstellung des skandinavischen des lateinisch-romanischen Denkens erweitert, findet sich in der Correspondance (vgl. Debord (2001), S. 278f., an Asger Jorn, 13.1.1964 sowie Jorn (1964a)).
408 | Situationistische Internationale Guy Debord from a Paris point of view, is purely a matter of position. This same applies to this analysis of situation. The Scandanavian outlook is completely different. It is based on movement and mobility. Once we understand this difference the split between the two groups seems natural and inevitable.«693
Jorns Beweglichkeitsdenken führt dazu, dass er selbst in dieser Situation noch daran glaubt oder darauf baut, dass sich die verschiedenen Ansichten über das, was das situationistische Projekt sein soll, auch nach der Abspaltung der Skandinavier und dem Ausschluss der Deutschen weiterhin so bewegen und verschieben könnten, dass eine erneute Zusammenarbeit innerhalb einer Gruppe möglich ist. Das Beweglichkeitsdenken akzeptiert somit den Ausschluss als Situation durchaus, akzeptiert seine Notwendigkeit, zugleich jedoch schließt es die Möglichkeit seiner Aufhebung in einer neuen Situation nicht aus. Wie reagiert die S.I. bzw. wie reagieren die französischen Situationisten um Debord auf diese einerseits scharfe und fundamentale andererseits jedoch zugleich produktive und kooperative Kritik an ihrer Vorgehensweise? Aus den Reaktionen auf die Vorschläge der skandinavischen Situationisten und insbesondere von Jorn lässt sich schließen, dass dieser bei seiner Einschätzung des ›positionalen‹ Denkens der Fraktion um Debord richtig liegt. Hier ist keinerlei Bewegung, dafür aber umso deutlicher ein Unverständnis für die skandinavische Politik der Bewegung und des momenthaften Zusammenschließens von Widersprüchen zu erkennen.694 Man hält an der eigenen Position strikt fest, abweichenden Meinungen wird jeglicher Bezug zu situationistischen Ideen abgesprochen, sie werden als reaktionär bezeichnet695 und jede weitere Zusammenarbeit wird auch für die Zukunft kategorisch ausgeschlossen. Mit dem Ausschluss der deutschen und der skandinavischen Mitglieder hat man Position bezogen, und diese Position muss - im Jargon von Debords Kriegsspiel formuliert - ›gehalten‹ werden. »Die nashistischen Gangster können mit keiner Versöhnung von unserer Seite rechnen. Am 23. März hat der Zentralrat der S.I. dem dänischen Situationisten J.V. Martin Vollmachten übertragen, um die S.I. in dem Gebiet zu vertreten, das bis zur Antwerpener Konferenz durch die skandinavische Sektion umfasst wurde (Dänemark, Finnland, Norwegen und Schweden), um dort alle authentischen Situationisten sofort zusammenzurufen und alle zum Kampf gegen Nash notwendigen Massnahmen zu ergreifen.«696 693 | Nash, Jørgen et al. (1962), Orthographie wie im Original. 694 | Dieses Unverständnis wird in Situationistische Internationale (1963g), S. 76 besonders greifbar. 695 | Ebendiese Einschätzung des skandinavischen Ansatzes durch die Franzosen hat Jorn bei der Unterscheidung zwischen positionalem und beweglichem Denken erwartet: »The Scandanavians strive towards reform whereas the French aim at Revolution. We build on the past and we let new ideas grow out of past experience. This can be called an organic principle, it can also be called ultra-conservatism.« (Nash, Jørgen et al. (1962), Orthographie wie im Original). 696 | Situationistische Internationale (1962d), S. 312. Vgl. hierzu auch die erneute
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Der Ausschluss in Kombination mit der beim Blick auf die ›Nashisten‹ hinzukommenden Freund-Feind-Unterscheidung wird hier nochmals in seiner Endgültigkeit greifbar, ist eine Positionsbestimmung, die unter keinen Umständen mehr zurückgenommen werden kann. Die bei den Skandinaviern erkennbare Kombination von (momentaner) Totalität des Ausschlusses und seiner zukünftigen Aufhebung ist für die Franzosen ein undenkbarer Widerspruch. Dies gilt insbesondere für den Ausschluss der SPUR und der ›Nashisten‹, da dieser von der S.I. dahingehend aufgefasst wird, dass damit der ›Schritt zurück‹ in der Allianz mit den Künstlern bei der S.I.-Gründung nun endlich von einem Schritt nach vorne abgelöst wird. Dies wird jedoch nicht als der Beginn einer unbestimmten Bewegung ins Offene hinein verstanden, die unter geänderten Rahmenbedingungen eine erneute Zusammenführung der produktiven Widersprüche möglich machen könnte, sondern als die endgültige Positionsbestimmung der S.I. als politisch-revolutionärer Gruppierung.697 Doch ist dies wirklich ein Schritt nach vorne bzw. die Beendigung eines lähmenden Konflikts zwischen unvereinbaren Positionen innerhalb der S.I.? Wird die S.I. durch die Aufhebung der internen und grundlegenden Widersprüche zwischen der künstlerischen und der anti-künstlerischen Fraktion beweglicher? De Jong und die skandinavischen Situationisten würden hier eine klare Antwort geben: »It is not only pointless but ridiculous indeed to pull the emergency brake when the train has already stopped.«698 Doch soweit sind wir noch nicht, noch rollt die S.I. - und steuert zielsicher auf die nächsten Ausschlüsse zu.
4.4.6 (Un)klare Ausschlüsse am Rand der S.I. Aufschlussreich bei den folgenden Ausschlüssen von Laugesen, Kotányi, Lausen und Strijbosch ist zum einen die Tatsache, dass sich hier einige der Veränderungen der Ausschlusspolitik, die durch den Ausschluss der ›Nashisten‹ eingeläutet wurden, deutlich bemerkbar machen. Dies betrifft die Verknappung der dem Ausschluss vorangehenden transparenten Diskussionen innerhalb der Gruppe sowie die Verlagerung der Auseinandersetzung von der inhaltlichen auf eine eher strukturelle oder organisatorische Ebene, von inhaltlichen Fragen zu Personenfragen. Zudem sind bei einigen der nachfolgenden Fälle immer wieder explizite Verweise auf den ›Nashismus‹ erkennbar, der somit selbst zum Ausschlussgrund wird. Des Weiteren sind die nächsten Ausschlüsse, ähnlich wie diejenigen der ›Nashisten‹ und der SPUR, sehr eng miteinander verbunden, ein Ausschluss resultiert aus dem anderen - sei es, weil sich Ablehnung jeglichen Dialogs mit den ›Nashisten‹ in Situationistische Internationale (1963e), S. 30. 697 | Die Aufhebung eines Ausschlusses wäre für die S.I. ein Schritt zurück auf eine alte Position. Die in den frühen Texten zum Ausschluss noch enthaltene Vorstellung von einem erneuten Zusammenschluss in einem neuen situativen Kontext ist somit inzwischen verschwunden. 698 | Jong, Jacqueline de/Jørgen Nash/Ansgar Elde (1962).
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ein Mitglied mit dem Ausgeschlossenen solidarisch erklärt oder weil der Ausschluss von einem Mitglied angezweifelt oder abgelehnt wird. Zum anderen fällt bei diesen Ausschlüssen auf, dass sie vorerst nicht stattfinden oder zumindest einige Zeit auf sich warten lassen. So liegen zwischen dem Ausschluss der Skandinavier und den darauf folgenden von Peter Laugesen und Attila Kotányi mehr als eineinhalb Jahre - die bislang in der Geschichte der S.I. längste Phase ohne Ausschluss. Nicht nur inhaltlich, sondern auch zeitlich wirkt der Ausschluss der ›Nashisten‹ und die damit ausgelöste Umstrukturierung der S.I. also nach. Die Phase der ›Ruhe‹ in der S.I. ließe sich auf zwei Arten mit dem Ausschluss der ›Nashisten‹ in Zusammenhang bringen: Zum einen ist auf die dadurch vollzogene inhaltliche Vereinheitlichung der S.I. hinzuweisen, die die großen Konfliktlinien zwischen Künstlern und Anti-Künstlern und somit eine ganze Reihe möglicher Ausschlussgründe aus der Gruppe entfernt hat. Zum anderen ist diese Vereinheitlichung nicht nur mit einer inhaltlichen Neuorientierung, sondern auch mit einem ›Zusammenrücken‹ der verbliebenen Mitglieder verbunden, was in einem direkten Zusammenhang mit der jahrelangen Auseinandersetzung mit den ›Nashisten‹ nach deren Ausschluss steht. Dieser Konflikt zwischen der S.I. und der 2. Situationistischen Internationale bindet jedoch nicht nur einen Großteil der ›Kapazitäten‹ der S.I., sondern trägt auch dazu bei, dass sich in dieser Zeit das Hauptaugenmerk der S.I. auf die Differenzen zwischen diesen beiden Gruppen richtet, während möglicherweise ebenso vorhandene Meinungsverschiedenheiten innerhalb der eigenen Gruppe aus dem Blickfeld geraten oder auch gezielt ausgeblendet werden, um eine zu diesem Zeitpunkt für den Fortbestand der S.I. äußerst gefährliche weitere interne Spaltung zu vermeiden. Nachdem die Auseinandersetzung mit den ›Nashisten‹ jedoch zu einem Ende kommt bzw. nicht mehr im Zentrum der Aktivitäten der S.I. steht, treten im Oktober 1963 mit dem Ausschluss von Kotányi genau solche internen Differenzen wieder zutage. Trotz aller Parallelen zu den Ereignissen im Zusammenhang mit den ›Nashisten‹ unterscheidet sich dieser Ausschluss in der Art und Weise, wie er kommuniziert wird, jedoch recht deutlich von den vorangegangenen. So findet sich in der I.S. hierzu nur eine recht knappe Meldung, die weit von den detailreichen Informationen bei den letzten zwei Ausschlüssen entfernt ist: »Attila Kotányi ist am 27. Oktober [1963, M.O.] aus der S.I. ausgeschlossen worden. Drei Wochen vorher hatte er den Situationisten einen Text unterbreitet, in dem er eine grundsätzliche theoretische Neuorientierung verlangte. Diese war äusserst rückschrittlich und ging sogar bis zum Mystizismus. Ihr Verfasser wurde einstimmig ausgeschlossen.«699 Sowohl in Bezug auf die Knappheit als auch auf die Schärfe des Tonfalls wirkt diese Ausschlussmeldung wie eine Rückkehr zu den Anfangstagen der S.I. oder gar noch einen Schritt weiter zurück zur Radikalität der L.I.700 699 | Situationistische Internationale (1964b), S. 124. 700 | Gerade Formulierungen wie ›äusserst rückschrittlich‹ und ›ging sogar bis
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Dass Kotányi ausgeschlossen wird, wird hier gleich zweimal festgehalten, und das genaue Datum sowie die Einstimmigkeit der Entscheidung werden betont. Diese beiden Aspekte verweisen auf die Lehren, die die S.I. aus den Kontroversen um den Ausschluss der Skandinavier zu ziehen versucht. Allerdings bleibt die Einstimmigkeit auch hier als nicht überprüfbare Behauptung stehen, da der Ausschluss weder auf einer Konferenz noch durch den Conseil Central beschlossen wird und somit kaum nachprüfbar ist, wer Träger dieser ›einstimmigen‹ Entscheidung gewesen sein soll. Strenggenommen müssten alle zwölf Mitglieder der S.I., mit Ausnahme von Kotányi selbst, für den Ausschluss gestimmt haben,701 doch wie man im weiteren Verlauf der Ausschlussmeldung erfährt, ist dies nicht der Fall: »Allein der dänische Situationist Peter Laugesen erklärte, dass er in diesem Text nichts besonders Anstössiges fand, worauf er selbst sofort ausgeschlossen wurde.«702 Die Tatsache, dass Laugesen die von der S.I. vorgebrachte Kritik an Kotányis Text nicht unterstützt, verdeutlicht, dass er wohl nicht für seinen Ausschluss gestimmt hat - damit aber ist es um die Einstimmigkeit geschehen. Will man diese Frage nach der Einstimmigkeit beantworten, lohnt sich ein Blick auf die genauen zeitlichen Abläufe, da der Ausschluss von Laugesen, anders als es das obige Zitat vermuten lässt, keine Folge des Ausschlusses von Kotányi ist, sondern diesem vorangeht und ihn in dieser Form sogar erst ermöglicht. Denn Kotányi legt seinen umstrittenen Text der S.I. bereits Anfang September vor und löst damit zunächst eine Diskussion, »marquée par une dizaine de textes qui ont circulé dans l’I.S.«703 aus. Diese Auseinandersetzung kommt jedoch recht schnell wieder zum Ende, denn von der S.I. werden »[l]es positions d’Attila Kotányi [...] unanimement jugées inacceptables, et même indiscutables«.704 Allerdings kristallisiert sich bereits in dieser kurzen Diskussion über Kotányis Text heraus, dass es mit Laugesen immerhin ein Mitglied zum Mystizismus‹ erinnern deutlich an den Ausschlussduktus der L.I. (vgl. Wolman (1952)). 701 | Lässt man Chtcheglov außen vor, so besteht die S.I. zu diesem Zeitpunkt aus elf Mitgliedern: Bernstein, Debord, Kotányi, Laugesen, Lausen, Martin, Renson, Strijbosch, Trocchi, Vaneigem und Viénet. Bei diesen elf Mitgliedern ist lediglich feststellbar, dass Laugesen und Kotányi gegen den Ausschluss sind, während sich die Pro-Stimmen nicht rekonstruieren lassen, da das entsprechende interne Dokument nur mit ›Internationale Situationniste‹ gezeichnet ist (vgl. Situationistische Internationale (1963h), S. 667). Debord und Vaneigem sprechen sich im Vorfeld für den Ausschluss aus, und Martin lässt sich auf ihre Seite ziehen (vgl. Debord (2001), S. 257, an Jeppesen Victor Martin, 24.9.1963). Über die Position und den Informationsstand von Bernstein, Renson, Strijbosch, Trocchi und Viénet ist nichts bekannt, Lausen erfährt erst nach dem Ausschluss von der Auseinandersetzung (vgl. Debord (1963), S. 263, an Uwe Lausen, 14.11.1963) und ist nicht zu den Befürwortern zu zählen. 702 | Situationistische Internationale (1964b), S. 124. 703 | Situationistische Internationale (1963h), S. 663. Weder der Text Kotányis noch diese Dokumente sind heute noch aufzufinden, eine genaue Rekonstruktion der hier erfolgten Diskussion ist daher an dieser Stelle nicht möglich. 704 | Ibidem, Hervorh. im Orig.
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gibt, das mit seiner Position einverstanden ist oder sie zumindest nicht sofort und nicht grundsätzlich ablehnt. »[S]eul Peter Laugesen a révélé à ce propos des hésitations extrêmement suspectes, et a donc été exclu à l’instant.«705 Laugesen, der während seiner gut einjährigen Mitgliedschaft in der S.I. ein sehr unauffälliges, um nicht zu sagen unsichtbares Mitglied bleibt, wird also ohne jede weitere Diskussion ausgeschlossen, weil er sich nicht umgehend von der Position Kotányis distanziert.706 Dies aber ist vor dem Hintergrund der theoretischen Überlegungen der S.I. zum Ausschluss eine höchst problematische Vorgehensweise, unterminiert sie doch die Forderung sowohl nach der Möglichkeit der gegenseitigen Kritik und nach einer Debatte über verschiedene Positionen als auch diejenige nach einer ausführlichen internen Diskussion über einen Ausschluss, der lediglich als letzte Möglichkeit zur Beendigung von nicht zu klärenden Meinungsverschiedenheiten in Betracht zu ziehen ist. Doch um die Meinungsverschiedenheiten zwischen der S.I. und Laugesen scheint es hier auch nicht zu gehen, sie können nicht als wirklicher Ausschlussgrund in Betracht gezogen werden. Denn weder wird Laugesen die Möglichkeit eingeräumt, diese Differenzen auszudiskutieren oder aus der Welt zu schaffen, noch kann ihm der Vorwurf gemacht werden, er unterstütze Positionen eines Ausgeschlossenen, da Kotányi selbst zu diesem Zeitpunkt ja noch Mitglied der Gruppe ist. Worum es hier geht, ist vielmehr die Tatsache, dass Laugesen der Einzige ist, der dem geplanten Ausschluss Kotányis im Weg steht. Laugesen wird also aus rein strategischen Gründen und noch vor Kotányi als dem Auslöser der Diskussion ausgeschlossen und zwar allein, um eben diesen Ausschluss Kotányis ›formal korrekt‹ als einstimmigen durchführen zu können. Laugesens Ausschluss ist somit ein eindeutiges Beispiel dafür, dass die S.I. hier beginnt, den Ausschluss entgegen ihren Beteuerungen ganz gezielt als taktische Waffe einzusetzen. Dieser Einsatz des Ausschlusses als taktische Waffe ist umso bedenklicher, als er hier gleich als Verknüpfung zweier Ausschlüsse eingeführt wird. Ein erster Ausschluss wird entgegen den eigenen Theoriepositionen ohne triftigen Grund durchgeführt, nur um einen zweiten Ausschluss besser rechtfertigen zu können. Laugesen wird ›geopfert‹, um danach Kotányi ausschließen zu können.707 705 | Situationistische Internationale (1963h), S. 663. 706 | Intern wird dabei von Debord kommuniziert, dass es Martin ist, der diesen Ausschluss vorgeschlagen oder gar beschlossen hat (vgl. Debord (2001), S. 261, an Jan Strijbosch und Rudi Renson, 12.11.1963). 707 | Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass Laugesen nach seinem Ausschluss diesen in der skandinavischen Presse öffentlich macht und sich über die Vorgehensweise der S.I. beschwert, was diese ihm dann wiederum zum Vorwurf macht (vgl. Situationistische Internationale (1964b), S. 124). Laugesen ist nach den Skandinaviern um Nash erst das zweite Mitglied der S.I., das sich nach dem Ausschluss nochmals kritisch zu Wort meldet, alle anderen Ausgeschlossenen haben geschwiegen. Interessant ist dies deshalb, da diese beiden Ausschlüsse weniger aufgrund von inhaltlich-theoretischen Differenzen, als vielmehr als strategische Entscheidung (Laugesen) oder vor dem Hintergrund von Meinungsverschiedenheiten
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Sowohl bei Laugesen als auch bei Kotányi wird jedoch noch eine weitere Veränderung der Ausschlusspolitik der S.I. erkennbar, die diese immer problematischer erscheinen lässt. Denn in beiden Fällen ist ein deutliches Defizit bezüglich der Streitkultur innerhalb der S.I. zu beobachten, da bislang die gegenseitige Kritik und die Diskussion über abweichende Positionen ein integraler Bestandteil der eigenen Theorieproduktion und des Selbstverständnisses der Gruppe war. In diesem Fall jedoch wird die Diskussion abgeblockt, bevor sie inhaltlich so richtig begonnen hat: Laugesens Zögern in der Bewertung von Kotányis Text wird sofort als ›suspect‹ eingestuft und er wird ›à l’instant‹ ausgeschlossen, genau wie die von Kotányi vorgebrachte Kritik schlicht als ›indiscutable‹ bezeichnet wird. Genau eine solche, hier ausbleibende, intensive Auseinandersetzung mit neuen oder abweichenden Meinungen innerhalb der Gruppe wurde jedoch von der S.I. lange Zeit als elementare Voraussetzung ihrer Ausschlusspraxis angesehen, da diese nur dann zu rechtfertigen sei, wenn der Ausschluss erst als letzte Handlungsoption in Betracht gezogen und über ihn auch intern vorab bereits transparent und mit allen Mitgliedern diskutiert wird. Interessanterweise wird dies noch einige Monate zuvor ausgerechnet mit Blick auf Kotányi betont, nachdem bereits im März 1963 von einer belgischen Gruppe eine Falschmeldung über seinen Ausschluss in Umlauf gebracht wurde708 und Trocchi auf diese hereingefallen war. »Il n’y a jamais été dans la pratique de l’I.S. d’exclure quelqu’un sans longues délibérations, sans motifs connus de tout le monde. En un mot, nous savons que ceci est une arme sérieuse [...]. Je suis peiné que tu puisses croire qu’une décision, grave et discutable, d’un groupe dont tu fais partie pourrait être prise sans que personne ait demandé ton avis.«709
Es erscheint beinahe wie eine kleine Ironie der Geschichte oder zumindest wie die Ironie dieser kleinen Geschichte, dass Trocchi ein gutes halbes Jahr später Mühe gehabt haben dürfte, die tatsächliche Meldung der S.I. zu den Ausschlüssen von Laugesen und Kotányi von der vorangegangenen Falschmeldung zu unterscheiden - schließlich fehlt auch hier eine ausführliche Diskussion und die Einbeziehung aller Mitglieder in die Entscheidung, genauso wie auch die Motive für den Ausschluss nicht wirklich dargelegt werden. bezüglich der Organisationsstruktur der Gruppe (Nash) erfolgen und von den Ausgeschlossenen dann auch unter diesen Gesichtspunkten kritisiert werden. Während auf diejenigen Ausschlüsse, die auf inhaltlich-theoretischen Differenzen beruhen, beiderseitiges Schweigen, der vollständige Kontaktabbruch, die Indifferenz folgt, ergibt sich hier, wo die Organisationsstruktur und die Gruppenpraxis der S.I. im Mittelpunkt stehen, eine Fortsetzung der Kommunikation, wenn auch als feindliche. Markierte der Ausschluss bislang die Grenze zwischen Reden und Schweigen, so führt er nun zum Wandel von Freund zu Feind. 708 | Vgl. Situationistische Internationale (1963h), S. 667. 709 | Debord (2001), S. 211, an Alexander Trocchi, 22.4.1963, Hervorh. im Orig.
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Denn auch das fällt an der oben zitierten Ausschlussmeldung zum Fall Kotányi in der I.S. auf: Über die Umstände und Gründe erfährt man hier zunächst nur wenig, es wird lediglich auf ein entsprechendes Rundschreiben ›Sur l’exclusion d’Attila Kotányi‹ verwiesen, das im Dezember 1963 an die Mitglieder der S.I. verschickt wird.710 Doch auch in diesem Text sind nur wenige Informationen zu Kotányis Vorschlägen und der sich daran anschließenden Diskussion zu finden; man erfährt lediglich, dass sich in Kotányis Ausführungen »un refus, poussé jusqu’à l’extrême caricature, de l’histoire et de la praxis, à tous leurs niveaux [äußert]. [...] Ceci accompagné d’une revendication du retour du mythe qui allait jusqu’à la collusion avec la pensée religieuse; et d’une dégradation de l’argumentation«.711 Diese spärlichen Details tragen nicht wirklich dazu bei, den Verlauf der Diskussion nachzuvollziehen. Das aber scheint zum Verständnis dieses Ausschlusses auch nicht unbedingt notwendig zu sein, da es hier vor allem um organisatorische Fragen bzw. das Verhalten Kotányis innerhalb der Gruppe und in ihrem Außenverhältnis geht. So stellt die S.I. selbst fest, dass »la discussion du ›Texte programmatique‹ est très vite devenue une discussion sur son auteur. Des actes inacceptables se révélèrent dès que la communication entre les situationnistes en fit paraître les connexions.«712 Denn während die S.I. nach wie vor an einer strikten Abgrenzung von ihrem Umfeld festhält, um ihr eigentliches Ziel, dieses grundlegend zu verändern, zu erreichen, geht Kotányi von einem eher reformerischen Ansatz aus und beschränkt den Begriff des ›Erfolgs‹ der S.I. »à notre reconnaissance par certains secteurs privilégiés de la culture dominante.«713 Im Kern geht es hierbei also wieder um die Frage, ob die S.I. als autonome und kleine Gruppe in radikaler Abgrenzung agieren oder mit anderen Gruppen Kompromisse eingehen soll, um sich mit diesen zu einer größeren Bewegung zusammenzuschließen. Wenn auch mit Blick auf das intellektuelle und politische Feld, so wiederholt sich hier doch ein Aspekt der Auseinandersetzung, die einige Jahre zuvor mit Blick auf die Sphäre der Kunst zwischen der anti-künstlerischen und der künstlerischen Fraktion der S.I. stattgefunden hat. Vor diesem Hintergrund wird auch Kotányis Verhalten innerhalb der S.I. scharf kritisiert. Zunächst jedoch wird nochmals betont, dass er bei seinem Eintritt im Mai 1960 »s’est déclaré d’accord à 100% avec ce qu’il découvrait de l’I.S. et a montré qu’en effet il comprenait nos positions«714 , genau wie seine aktive und bereichernde Teilnahme an den theoretischen Debatten und sein Einverständnis mit deren Ergebnis710 | Da dieses Rundschreiben, das die Mitglieder der S.I. über die Auseinandersetzung mit Kotányi informieren soll, jedoch erst im Nachhinein verschickt wird, verweist es abermals darauf, dass vor dem Ausschluss wohl kaum eine alle Mitglieder einbeziehende transparente Diskussion stattgefunden hat. 711 | Situationistische Internationale (1963h), S. 663. 712 | Ibidem, S. 664, Hervorh. im Orig. 713 | Ibidem, Hervorh. im Orig. 714 | Ibidem.
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sen hervorgehoben wird. Dies jedoch hat sich aus Sicht der S.I. nach einiger Zeit - genauer gesagt im Frühjahr 1962 - zum Negativen hin geändert: »En fait, depuis environ dix-huit mois, Attila Kotányi manifestait, dans presque chaque discussion pratique, une opposition demeurée d’ailleurs inopérante. Ses propositions avaient souvent été rejetées par tout le monde.«715 Was also an Kotányi bemängelt wird, ist die fehlende Praxis bzw. eine Praxis, die von den übrigen Mitgliedern abgelehnt wird und die zu den skizzierten und von der S.I. kritisierten Außenkontakten Kotányis führt. In diesem Zusammenhang wird eine erste Parallele zwischen Kotányi und den ›Nashisten‹ gezogen: »Kotányi, dans sa volonté passionnée de n’être pas mis au pied du mur de la pratique, rejoignait l’impuissance artistique nashiste.«716 Vor allem aber wird von der S.I. kritisiert, dass die Tatsache, dass Kotányis Ideen innerhalb der S.I. »aussi minoritaires qu’il est possible«717 sind, auch sein Verhalten innerhalb der Gruppe negativ beeinflusst, da sie zu »manœuvres bassement politique [...] d’une manière maladroite et délirante.«718 führen. Denn anscheinend pflegt Kotányi nicht nur Kontakte zu Personen außerhalb der S.I., die von dieser abgelehnt werden, sondern versucht auch, diese in die Gruppe hereinzuholen: »Ce dernier aspect de son entreprise a mené Attila Kotányi à l’emploi systématique d’invraisemblables calomnies [...] et en même temps à travailler à la baisse de conscience dans l’I.S. en essayant d’y faire entrer des ignorants, facile à manier. Cette tactique était littéralement nashiste, en ceci qu’elle sacrifiait le projet situationniste, par l’introduction des nullités maniables, pour des fins personnelles immédiates.«719
Kotányis Versuch, ihm wohlgesonnene Mitstreiter in die S.I. zu integrieren, wird somit direkt mit der Taktik der offenen Tür, wie sie die Skandinavier in den Anfangsjahren praktiziert haben, in Verbindung gebracht.720 Dass diese Taktik vor allem auf Jorn zurückzuführen ist, ist jedoch in der Auseinandersetzung mit den ›Nashisten‹ in den Hintergrund gerückt oder wurde in den Hintergrund gedrängt, um den Begriff des ›Nashismus‹ um eine weitere Negativkategorie zu erweitern und ihn somit ihm Falle Kotányis nochmals als implizites Ausschlussargument verwenden zu können. Auch nach dem Ende der direkten Auseinandersetzung zwischen der S.I. und der 2. Situationistischen Internationale 715 | Situationistische Internationale (1963h), S. 664. 716 | Ibidem. 717 | Ibidem. 718 | Ibidem, S. 665. 719 | Ibidem, Hervorh. im Orig. 720 | Allerdings wird betont, dass die S.I. aus den Erfahrungen mit Nash ihre Konsequenzen gezogen habe: »Alors que Nash, au début de 1961 encore, avait réussi à introduire ses gens au point de croire qu’il pouvait nous éliminer d’Allemagne ou de Scandinavie, les étranges propositions d’Attila Kotányi pour faire adhérer qui que ce soit avaient été repoussées toujours.« (Ibidem).
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dient die von der S.I. hervorgehobene Gefahr eines erneuten ›Nashismus‹ der Gruppe weiterhin als strategisches Argument auch bei der Rechtfertigung weiterer Ausschlüsse. Dies ist im Falle Kotányis besonders interessant, da hier nicht nur die strategischen Aspekte des Ausschlusses deutlich werden, sondern da auch seiner gesamten Mitgliedschaft ein strategischer Aspekt innewohnt, allerdings weniger von Seiten Kotányis - wie von der S.I. behauptet - als vielmehr von Seiten der S.I. Denn zunächst einmal ist, entgegen der fundamentalen Kritik der S.I. bei seinem Ausschluss, festzuhalten, dass Kotányi während seiner Mitgliedschaft in der S.I. zwischen Mai 1960 und Oktober 1963 eine zentrale Position innehat. So nimmt er an allen in dieser Zeit stattfindenden Konferenzen teil, ist Mitglied im Conseil Central und im Redaktionskomitee der I.S. und veröffentlicht auch drei Artikel in der Zeitschrift. Vor allem aber ist er auf der inhaltlichstrategischen Ebene eine wichtige Figur, da er derjenige ist, der auf der vierten, fünften und sechsten Konferenz die Gruppe um Debord massiv in der Auseinandersetzung mit den Künstlern unterstützt. In der Phase bis März 1962 ist Kotányi also alles andere als ein ›Nashist‹ - im Gegenteil: er spielt die Rolle des ›Anti-Nashisten‹ par excellence. Die rückblickende Kritik der S.I. an Kotányi setzt zeitlich ziemlich genau nach dem Ausschluss der ›Nashisten‹ ein. Dies legt den Verdacht nahe, dass Kotányi zu diesem Zeitpunkt aus Sicht der S.I. seine ›Schuldigkeit‹ getan hat und aufgrund des Endes dieser Auseinandersetzung jetzt überflüssig geworden ist. Dass er dennoch nicht sofort ausgeschlossen wird, hat mit dem eingangs skizzierten Reflex des Zusammenrückens und der Neudefinition der verbliebenen Mitglieder der S.I. zu tun, der während der nun folgenden Auseinandersetzung mit den Skandinaviern zu beobachten ist. Erst als auch dieser Konflikt beendet ist, verliert Kotányi innerhalb der S.I. mehr und mehr an strategischer Bedeutung bzw. richtet die S.I. den Blick wieder von den Differenzen mit anderen Gruppierungen auf die Meinungsverschiedenheiten im Inneren. Doch nicht nur die Rolle, die Kotányi für die S.I. in der Auseinandersetzung mit den ›Nashisten‹ spielt, verzögern seinen Ausschluss um gut eineinhalb Jahre, auch das strategische Verhalten Kotányis innerhalb der Gruppe spielt in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle. Nicht nur, dass er seinen programmatischen Text erst im September 1963 vorlegt, obwohl die Meinungsverschiedenheiten bereits Monate zuvor offen zutage getreten sind - auch sonst verhält er sich äußerst vorsichtig und versucht, wenig Angriffsfläche für mögliche Kritik zu bieten. »En résumé Kotányi, étant nul, avait tout pour faire un nashiste. Malheureusement, il était juste assez malin pour penser qu’il y avait plus de possibilités avec l’I.S. (même si plusieurs aspects l’en effrayaient). Il essayait à n’importe quel prix d’y rester. Cette grande prudence de sa part a rendu lent le processus de la rupture, dans son cas.«721 721 | Debord (2001), S. 278, an Asger Jorn, 13.1.1964.
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Diese Einschätzung vom strategischen Verhalten Kotányis wird jedoch nicht nur von Debord vertreten, auch Jorn schätzt ihn ähnlich ein: »C’est le type qui cache son propre impuissance avec des jolie paroles.«722 Der Fall Kotányi scheint die S.I. vor eine besondere Herausforderung zu stellen: Einerseits widerspricht sein Verhalten innerhalb der Gruppe deren Grundprinzipien von Offenheit, Transparenz, authentischer Kommunikation und gegenseitiger Kritik und wäre somit eigentlich bereits ein Ausschlussgrund. Zugleich jedoch führt genau dieses geschickte Verhalten Kotányis dazu, dass ein Ausschluss nur schwer zu rechtfertigen scheint und man vielmehr auf einen ›wirklichen Grund‹ warten muss: »Seulement, pour l’exclure, il fallait attendre qu’il ait ›fait quelque chose‹, afin que cette rupture soit bien comprise d’autres camarades.«723 Im Fall Kotányi treffen somit zwei Aspekte aufeinander, die sich zunächst zu widersprechen scheinen: zum einen die klare Forderung der S.I., dass der Ausschluss als ›notwendige Waffe‹ nur mit äußerster Vorsicht und in begründbaren Fällen anzuwenden ist, und zum anderen das Verhalten Kotányis, das zwar den ebenso klaren Vorstellungen davon, wie die Mitglieder innerhalb der Gruppe agieren sollten, widerspricht, aber dies auf eine Weise, die nur schwer als Ausschlussgrund formulierbar ist. Diese komplexe Situation und das daraus resultierende Zögern der S.I. beim Ausschluss Kotányis führen jedoch letztendlich genau dazu, dass dieser vor allem als taktische Operation erscheint, bei der die S.I. mindestens genauso strategisch und intransparent vorgeht, wie sie es Kotányi als Begründung des Ausschlusses vorwirft. Diese problematischen Implikationen des zögerlichen Verhaltens werden auch von der S.I. selbst wahrgenommen: »On nous accuse d’être sévères. Nous nous accusons d’être trop patient.«724 Auf die Problematik dieser ›Nachsichtigkeit‹ verweist die S.I. auch noch an anderer Stelle. Interessanterweise wird hier deutlich, dass gerade diese Frage kontrovers mit Kotányi diskutiert wird, der sich für eine weniger strenge Ausschlusspolitik eingesetzt hat, während die S.I. abermals die zentrale Bedeutung einer strikten und begründeten Ausschlusspolitik als ›Selbstverteidigung‹ der Gruppe hervorhebt. Hier heißt es: »Quand on demande, comme Attila, d’humaniser notre attitude envers ›des erreurs‹ que feront inévitablement l’un ou l’autre de nos camarades un jour, on se trompe sur la base: on parle comme si les exclusions avaient jamais eu lieu pour ›punir‹ une seule ›faute‹, du fait de colères individuelles ou collectives, peu importe. En réalité chaque exclusion a répondu à une série permanente et signifiante de gestes hostiles, non pour les punir, mais pour défendre notre ›existence‹ même.«725
Die Diskussion über den Ausschluss bzw. die differierenden Meinungen 722 | Jorn (1964a), S. 277f., Orthographie wie im Original. 723 | Debord (2001), S. 278, an Asger Jorn, 13.1.1964. 724 | Situationistische Internationale (1963h), S. 667. 725 | Debord (1963), S. 636, Hervorh. im Orig.
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darüber werden somit mehr und mehr zu einem Grund für Ausschlüsse. Wahrgenommen wird dieses Problem des Selbstreflexiv-Werdens der Kategorie des Ausschlusses zwar, wirklich gelöst jedoch nicht. Denn der Fall Kotányi weist einige Merkmale auf, die gerade bei den Ausschlüssen in der Schlussphase der S.I. erneut deutlich zutage treten werden. Dadurch aber verlagert sich der Schwerpunkt von einer inhaltlichtheoretischen hin zu einer organisatorischen Debatte. Der Ausschluss, der im Fall von Kotányi und Laugesen zum ersten Mal explizit als strategische Waffe eingesetzt wird, verliert seine produktive Wirkung für die Streitkultur und die Theorieproduktion, da er selbst zum Kernthema eben dieser Theoriediskussion wird und die Gruppe mehr und mehr in die selbstreflexive Abschottung treibt. Eine ähnliche Verbindung von geduldigem Zögern und strategischem Abwarten seitens der S.I. ist auch im Vorfeld des Ausschlusses von Uwe Lausen im März 1965 zu erkennen. Da hier jedoch die weiteren Rahmenbedingungen bei weitem nicht so komplex sind wie im Fall Kotányi/Laugesen und daher für die Analyse der Ausschlusspraxis der S.I. nur wenige neue Aspekte herausgearbeitet werden können, kann dieser Fall hier etwas kürzer behandelt werden. Äußerst knapp fällt bei Lausen auch die Ausschlussmeldung in der I.S. aus: »Gleichfalls im März wurde Uwe Lausen, nachdem er uns seine Absicht mitgeteilt hatte, in München ein ›happening‹ zu veranstalten, aus der S.I. ausgeschlossen.«726 So eindeutig diese Meldung zunächst erscheint, so merkwürdig ist sie bei genauerer Betrachtung. Lausen wird aus der S.I. ausgeschlossen, weil er ein Happening in München veranstaltet haben soll, oder um genauer zu sein: weil er geplant haben soll, ein solches zu veranstalten und diese Pläne den übrigen Mitgliedern mitgeteilt hat. In der Correspondance findet sich hierzu jedoch kaum ein Hinweis, zumindest stammt Debords letzte Antwort auf einen Brief von Lausen bereits aus dem Oktober 1964 und von einem Happening ist hier nicht die Rede.727 Die Projekte, die Lausen in vorangegangenen Briefen im Frühjahr 1964 wohl vorgeschlagen hat, sind anderer Natur und stoßen bei Debord auch auf ein durchweg positives Echo und werden in ihrer Durchführung unterstützt: »J’aime bien l’idée de la série des manifestes, ›la réaction‹. Aussi l’idée d’une ›galerie aliénée‹ était bonne. [...] On pourrait faire à Munich une manifestation du type Odense, ou mieux, si nous avons une liberté suffisante dans cette galerie.«728 Lediglich eine einzige Andeutung darauf, dass Anfang 1965 irgendetwas vorgefallen sein muss, findet sich in einem Brief Debords an Vaneigem - sehr aufschlussreich ist diese jedoch nicht, heißt es hier doch lediglich: »Quid, à propos d’Uwe?«729 Während die erwähnte Manifest-Serie tatsächlich veröffentlicht wurde, fehlt von der Umsetzung der ›galérie aliénée‹ jede Spur - vor allem aber 726 | Situationistische Internationale (1966c), S. 242. 727 | Vgl. Debord (2001), S. 298f., an Uwe Lausen, 4. Oktober 1964. 728 | Ibidem, S. 283, an Uwe Lausen, 10. März 1964. 729 | Debord (2003), S. 18, an Raoul Vaneigem, 2. Februar 1965, Hervorh. im Orig.
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bleibt das angeblich von Lausen geplante Happening und somit der offizielle Ausschlussgrund ein Phantom, denn »[d]ass Lausen tatsächlich plante oder sogar durchgeführt hat, was er da vorgeschlagen haben soll, konnte bislang niemand bestätigen.«730 Vor diesem Hintergrund liegt der Verdacht nahe, dass es sich bei diesem Grund eher um einen nichtigen Anlass oder gar um ein reines Alibi handelt. Denn was noch viel mehr verwundert als der knappe Inhalt dieser Ausschlussmeldung, ist die Tatsache, dass Lausen bis zum März 1965 überhaupt noch Mitglied der S.I. ist und nicht schon viel früher ausgeschlossen wird. Ein solcher früherer Ausschluss wäre aus rein formalen Gründen auch ohne weiteres möglich gewesen, da man Lausen mit dem Verweis auf das Verbot von Doppelmitgliedschaften bereits im Sommer 1961 hätte ausschließen können. Denn bereits zu diesem Zeitpunkt gründet er zusammen mit Frank Böckelmann und anderen in München die Gruppe Ludus, die in den folgenden Jahren recht aktiv wird und insgesamt unter der redaktionellen Verantwortung Lausens immerhin zehn Ausgaben der gleichnamigen Zeitschrift veröffentlicht.731 Für diese Doppelmitgliedschaft scheint sich in der S.I. jedoch niemand zu interessieren, denn es findet sich »[v]on all dem und auch von seiner erstaunlichen Karriere als Maler keine Spur in Debords Publikationen, den er doch hin und wieder in Paris besuchte«732 und der daher über diese Aktivitäten Lausens informiert gewesen sein muss. Ist Lausen einfach nicht wichtig genug, um ausgeschlossen zu werden und kann so ungestört und beinahe schon unbemerkt in der S.I. verbleiben? Mindestens zwei Aspekte sprechen gegen diese These: Zum einen hat Lausen formal ein gewisses ›standing‹ in der Gruppe, da er an der Konferenz von Antwerpen im November 1962 teilnimmt, von Februar 1962 bis Februar 1963 Mitglied des Conseil Central ist, von April 1962 bis August 1964 dem Redaktionskomitee der I.S. angehört und in deren Nummer 8 sowie in der ersten Ausgabe von Der Deutsche Gedanke auch jeweils einen Artikel veröffentlicht. Zum anderen, und dies dürfte entscheidend für seinen Verbleib in der Gruppe gewesen sein, hat Lausen eine wichtige strategische Bedeutung in der Auseinandersetzung zwischen den Fraktionen der S.I. Zunächst einmal gilt dies für die Auseinandersetzung mit der Gruppe SPUR. Denn auch wenn Lausen ihr als Maler zunächst nahe steht, so hat er sich doch bezüglich der Fraktionsbildungen in der S.I. auf die Seite der Gruppe um Debord geschlagen733 und ist durch seine Unterschrift maßgeblich für die knappen Ausschlussentscheidungen gegen die SPUR und die Gruppe um Nash mitverantwortlich. Diese strategische Rolle Lausens bis zum Frühjahr 1962 wird implizit auch durch 730 | Ohrt (2006), S. 13. 731 | Vgl. Ohrt (1997), S. 262. 732 | Ibidem. 733 | Diese Nähe zu Debord dürfte ihren Ausgangspunkt in der banalen Tatsache haben, dass Lausen der einzige Deutsche ist, der fließend Französisch spricht und so zum Ansprechpartner Debords wird (vgl. Ohrt (2006), S. 8).
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eine knappe Äußerung Debords bestätigt: »Je crois que nous sommes parfaitement d’accord sur Uwe [Lausen, M.O.] (bien dans l’I.S. de janvier 62, statique et inchangé depuis, donc extrêmement retardé).«734 Allerdings wird hier für die Zeit nach dem Ausschluss der Künstler zugleich eine massive Kritik an Lausen formuliert, die erneut die Frage aufwirft, warum er nicht bereits im Frühjahr 1962 ausgeschlossen wird, nachdem er seine strategische Funktion für die Fraktion um Debord die zu diesem Zeitpunkt mehr oder weniger alleine die S.I. bildet - verloren hat. Inhaltliche Gründe können dies kaum gewesen sein, denn auch in dieser Phase konnte, wie obige Bemerkung Debords bereits nahelegt, »von einer gemeinsamen Praxis [...] nicht die Rede sein.«735 Dementsprechend sind es wiederum strategische Überlegungen der S.I., die dazu führen, dass Lausen nicht in die Schusslinie gelangt und sein Ausschluss vorerst nicht zur Diskussion steht. Diesmal handelt es sich jedoch nicht um strategische Überlegungen in Bezug auf interne Fraktionskämpfe, sondern um eine Auseinandersetzung der S.I. mit ihrem Umfeld, die die Solidarisierung mit Lausen zur Folge hat. Denn dieser gerät zwischen Mai und Juli 1962 in eine ganz andere Schusslinie und zwar in die der deutschen Justiz, da er zusammen mit den Mitgliedern der SPUR wegen Gotteslästerung vor Gericht gestellt und zu einer kurzen Haftstrafe verurteilt wird.736 Die S.I. kritisiert diese Vorgehensweise massiv737 und setzt sich sowohl direkt beim Gericht738 als auch mit einem Flugblatt739 für Lausen ein - nicht zuletzt um die Berechtigung der eigenen Gesellschaftskritik an einem konkreten Beispiel aufzuzeigen und zudem nach den Ausschlüssen der Künstler den Gruppenzusammenhalt nach außen zu demonstrieren. Doch auch nachdem sich diese Wogen geglättet haben, und Lausen seine Haftstrafe abgesessen hat, bleibt er weiterhin Mitglied der S.I. - und das, obwohl die Kritik gerade von Debord und Vaneigem immer deutlicher wird. »Il serait fou de donner le ›label‹ de l’I.S. - surtout après Spur -, notre force théorique (juste châtrée pour qu’Uwe n’ait aucun inconvénient personnel ni fatigue) à quelqu’un qui est ›plutôt‹ contre la théorie, qui est même contre les revues, qui veut seulement avoir une revue à lui - mais sans y travailler un peu, ni avant de venir à Anvers, comme promis, ni sur place depuis! [...] Naturellement, je suis sûr qu’il est possible, et qu’il est bien meilleur d’écrire dans chaque nouvelle ›zone‹ de l’I.S. de nouveaux textes [...]. Mais voilà: pour ce faire, il faut des gens sûrs et
734 | Debord (2001), S. 197, an Attila Kotányi und Raoul Vaneigem, 22.3.1963, Hervorh. im Orig. 735 | Ohrt (2006), S. 13. 736 | Vgl. ibidem, S. 10f. 737 | Situationistische Internationale (1963e), S. 29 sowie Situationistische Internationale (1963g), S. 77. 738 | Vgl. Debord (2001), S. 140ff., an den Gerichtspräsidenten, 28.4.1962. 739 | Debord, Guy/Raoul Vaneigem (1962).
Die S.I. im Spannungsfeld von Theorie und Praxis | 421 capables, qui travaillent eux-mêmes. L’incapacité d’Uwe, au contraire, obligeait à se limiter au moins pour débuter, à très peu près aux traductions.«740
Die Kritik bezieht sich somit zunächst auf Lausens mangelhafte Kooperation bei der Herausgabe von Der Deutsche Gedanke, die diesen auf die Übersetzungen aus der I.S. zu beschränken droht, und führt dazu, dass Lausen Schritt für Schritt der Verantwortlichkeit für diese Zeitschrift enthoben wird.741 Doch auch seine Tätigkeit als Maler und die daraus resultierende Einbindung in den Kunstmarkt wird immer kritischer bewertet und als Grund für sein mangelndes Engagement in der S.I. angesehen - auch hier ist also wieder das Problem der ›Sozialität der Solitären‹ bzw. das Problem der Vereinbarkeit von individuellen und kollektiven Interessen erkennbar. »Je pense donc que son année d’inaction a eu aussi le sens d’un embourgeoisement ›artistique‹: la peinture avec un certain dégoût, plus la théorie avec davantage de dégoût. La seule suite risquerait d’être: l’argent (avec dégoût aussi: toujours trop peu). Nous devons nous garder de cela. Et, par la même occasion, nous en garderons Uwe [Lausen, M.O.] s’il est encore temps.«742
Trotz aller Deutlichkeit der Kritik wird also weiterhin an Lausen festgehalten, was jedoch weniger mit einer irgendwie gearteten Sympathie für Lausen743 oder dem Vertrauen in seine Fähigkeiten in Zusammenhang gebracht, sondern vielmehr mit der strategischen Bedeutung, die er auch in der Phase von Ende 1962 bis zu seinem Ausschluss für die S.I. immer noch besitzt, erklärt werden kann. Denn man darf nicht vergessen, dass Lausen zu diesem Zeitpunkt das einzige Mitglied der S.I. in Deutschland ist und somit neben Martin in Skandinavien der Einzige, der das internationale Moment der S.I. repräsentiert, da fast alle übrigen Mitglieder aus Frankreich stammen - lediglich zwei Belgier stehen ihnen noch zur Seite. Lausen ist aber nicht nur der einzige Repräsentant der 740 | Debord (2001), S. 198f., an Raoul Vaneigem, 22.3.1963, Hervorh. im Orig. 741 | Vgl. ibidem, S. 178, an Uwe Lausen, 17.12.1962; ibidem, S. 197ff., an Raoul Vaneigem, 22.3.1963 sowie ibidem, S. 215ff., an Uwe Lausen, 23.4.1963. 742 | Ibidem, S. 199, an Raoul Vaneigem, 22.3.1963, Hervorh. im Orig. 743 | Der Aspekt der Sympathie kann aber durchaus einen Beitrag zu Lausens langem Verbleib in der S.I. geleistet haben. Allerdings geht es hier um die Sympathie Debords für Chtcheglov und um die Wertschätzung seiner Meinung. Denn nach dem Ausschluss Kotányis, der demjenigen von Lausen voranging, schreibt Chtcheglov an Debord: »Was kann man noch zu A.K.’s [Attila Kotányi, M.O.] Ausschluss sagen?... Diese Ausschlüsse sollten aufhören. Ich weiss, dass es nicht leicht ist; man müsste die Entwicklungen voraussehen, die Verdächtigen von vornherein nicht annehmen - naja das wäre das Ideal sozusagen! Diese Ausschlüsse gehören zur situationistischen Mythologie.« (Chtcheglov (1964), S. 132) Lausen gar nicht erst aufzunehmen, dafür ist es zu diesem Zeitpunkt schon zu spät. So wie Debord in der Folge immer wieder die strenge Prüfung von Beitrittskandidaten fordert und in einzelnen Fällen (z.B. bei Hartstein) auch durchführt, so ist nicht auszuschließen, dass Debord hier versucht, auf diese Stimme aus dem Off zu hören und Lausens Ausschluss so lange wie möglich hinauszuzögern.
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S.I. in Deutschland, sondern auch ihr ›Kontaktmann‹ für diese Region. Denn Ende 1962 sind noch Überlegungen dahingehend erkennbar, die deutsche Sektion, die nach der Reorganisation der S.I. auf der Konferenz von Antwerpen im November 1962 unter dem Label ›Region Zentraleuropa‹ weitergeführt wird, um neue Mitglieder zu erweitern - und genau hier wird Lausen gebraucht. So schreibt ihm Debord: »J’ai eu quelques lettres de Rudolf Gashé. [...] [i]l est intéressé par nous [...]. Il faudra que tu lui parles. Avec moi, il paraissait bien.«744 Lausen bleibt also weiterhin Mitglied der S.I., auch wenn er sich weder an ihren Aktivitäten beteiligt noch in ihre Entscheidungen miteinbezogen wird. Vom Ausschluss Kotányis zum Beispiel erfährt er erst gut einen Monat nach dessen Vollzug und scheint darüber auch nur deshalb informiert zu werden, um diesen Anlass dafür zu nutzen, mögliche Theoriedifferenzen zwischen ihm und der übrigen S.I. zur Sprache zu bringen. »Je ne sais pas quel sera ton avis. Je pense qu’il y a eu certainement dans tes rapports avec nous, dans les huit derniers mois des problèmes [...]. C’est peur-être pour toi l’occasion de prendre conscience des divergences entre nous, si elles existent sur un point fondamental.«745 Auch wenn solche Differenzen, wie oben skizziert, durchaus vorhanden sind und nicht nur von Lausen, sondern auch von der S.I. erkannt werden müssten, scheint er sie nicht hervorzuheben, sondern vielmehr mit Blick auf den Ausschluss von Kotányi auf Debords Linie einzuschwenken. Denn auf Lausens Antwort erwidert Debord einige Monate später nur: »Je pense que je suis bien d’accord avec ta lettre.«746 Warum Lausen letztendlich im März 1965 doch ausgeschlossen wird, lässt sich nur mutmaßen - das angebliche Happening dürfte wohl kaum der Grund gewesen sein. Möglicherweise besinnt sich die S.I. auf ihre nach dem Ausschluss Kotányis getroffene Feststellung, dass sie bei den Ausschlüssen zu zögerlich sei und versucht nun, diesen Fehler - auch wenn diese Einsicht im Fall Lausens reichlich spät kommt - nicht noch einmal zu begehen. Oder aber Lausen muss die Gruppe verlassen, weil er seine strategische Bedeutung als einziges deutsches Mitglied ab Ende 1964 nach und nach verliert. Dies nicht etwa deshalb, weil die deutsche Sektion erweitert worden wäre, sondern im Gegenteil, weil sich zu diesem Zeitpunkt mit den aufeinander folgenden Eintritten von Mustapha Khayati, den Frey-Geschwistern, Jean Garnault und Herbert Holl sowohl der personelle als auch der inhaltliche Schwerpunkt der S.I. immer stärker und letztlich ausschließlich auf Frankreich verlagert. Der Fall Lausen ist insofern sehr interessant, als es hier weniger um die strategischen Implikationen des Ausschlusses an sich geht, sondern vielmehr die strategische Funktion des Nicht-Ausschlusses deutlich wird. Nicht der Ausschluss ist in diesem Fall ein strategisches Manöver, sondern sein Ausbleiben, die Mitgliedschaft Lausens in der S.I. Denn diese 744 | Debord (2001), S. 163, an Uwe Lausen, 9.9.1962. 745 | Ibidem, S. 263, an Uwe Lausen, 14.11.1963. 746 | Ibidem, S. 283, an Uwe Lausen, 10.3.1964.
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lässt sich nur aus verschiedenartigen strategischen Überlegungen der S.I. und den unterschiedlichen strategischen Funktionen, die Lausen für die Gruppe ausübt, erklären. Blickt man hingegen auf die Art und Intensität seiner inhaltlichen Mitarbeit in der Gruppe, so sieht man kaum eines der Mitgliedschaftskriterien der S.I. erfüllt. Die S.I. stellt hier den strategischen Nutzen über ihre inhaltlichen Anforderungen, missachtet ihre eigenen theoretischen Überlegungen bezüglich der Anforderungen an ihre Mitglieder sowie die Regelungen zum Ausschluss und toleriert ein Mitglied, das mehr Schachfigur als Mitglied zu sein scheint. Ein solcher Umgang mit der ›Waffe des Ausschlusses‹ lässt diese, wenn auch nicht stumpf, so doch zu einem zweischneidigen Schwert werden, was die Glaubhaftigkeit dieser Praxis angeht. Das am Fall Lausen deutlich gewordene Problem, dass man in den Jahren zwischen 1962 und 1965/66 in der S.I. ein sehr ruhiges Dasein führen konnte und dass dieses ruhige Mitschwimmen im Fahrwasser der Gruppe gegen beinahe alle ihre Mitgliedschaftsanforderungen verstößt, sieht auch die S.I. selbst und versucht, darauf zu reagieren. In den Jahren bis zum Frühjahr 1962 war die Frage der Mitgliedschaft vor allem eine Frage der Vereinbarkeit teilweise stark differierender oder gar konträrer Positionen. Im Mittelpunkt stand hier der permanente Streit verschiedener Ansichten bezüglich des situationistischen Projekts und der Versuch, dessen theoretische Grundlagen aus den verschiedenen Positionen herauszukristallisieren. Dementsprechend aktiv beteiligte sich die große Mehrheit der Mitglieder in der Gruppe, galt es doch stets, die eigene Position zu verteidigen oder ihr zum Durchbruch zu verhelfen. Das Problem von aktiven und passiven Mitgliedern ist daher hier noch nicht so präsent wie in der Folgezeit. Vor allem aber liegen die Karten auf dem Tisch, werden die Standpunkte innerhalb der Gruppe deutlich sichtbar vertreten, sodass diejenigen Meinungsverschiedenheiten, die sich nicht mehr im Rahmen der Gruppe vereinbaren lassen, recht schnell und klar erkennbar werden. Ausschlüsse sind in dieser Phase die Folge von zu weit voneinander abweichenden Positionen - die problematische Frage nach der Definitionsmacht bezüglich dieser Entscheidung muss hier nicht noch einmal diskutiert werden - und können daher auch mit Begründungen verschiedener Art gerechtfertigt werden. Durch die inhaltliche Vereinheitlichung, die der Ausschluss der Künstler im Frühjahr 1962 zur Folge hat, lassen die grundlegenden Positionskämpfe innerhalb der Gruppe nach, und es verringert sich auch der Zwang zur klaren Positionierung. Dies hat bei Kotányi zunächst ›nur‹ die Konsequenz, dass die vorhandenen inhaltlichen Differenzen lange Zeit verborgen bleiben können und erst nach mehreren Jahren klar formuliert zur Sprache gebracht werden, dann aber sofort zum Ausschluss führen. Bei Lausen hingegen geht es überhaupt nicht um abweichende Positionen und deren Formulierung, sondern um die Tatsache, dass Lausen innerhalb der Gruppe schlicht nicht mitarbeitet. Wenn aber der Ausschluss bisher in fast allen Fällen die Reaktion auf einen nicht mehr
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innerhalb der Gruppe fortführbaren Positionsstreit war, so leuchtet ein, warum sich die S.I. beim Ausschluss von Lausen so schwer tut: Hier ist keine inhaltliche Abweichung zu erkennen, er bietet im Hinblick auf die bisherige Ausschlusspraxis keine Angriffsfläche, liefert lange Zeit keinen handfesten Grund für einen Ausschluss. Dass sein Ausschluss letztendlich wegen eines wohl fiktiven Happenings wiederum mit einer solchen Abweichung von den gemeinsamen Positionen begründet wird, ist bezeichnend - er erfolgt gewissermaßen noch nach den alten Spielregeln. Ging es in der Phase bis 1962 um die streitbare Ausarbeitung der theoretischen Positionen der S.I. im Spannungsfeld von Kunst, Urbanismus und Politik, so ist diese inhaltliche Positionierung jetzt in den Grundzügen zugunsten der anti-künstlerischen Fraktion vollzogen, und es rückt die Frage nach einer Praxis dieser Theorie mehr und mehr in den Mittelpunkt. Die Frage nach Aktivität und Passivität wird ein immer wichtigeres Kriterium für die Mitgliedschaft. Diesen Wandel versucht die S.I. durch eine Überarbeitung ihrer Mitgliedschaftsanforderungen und der theoretischen Grundlagen für die Praxis des Austritts und Ausschlusses zu berücksichtigen. Die Modifikation der theoretischen Grundlagen der Gruppenpraxis erfolgt einige Zeit nach Lausens Ausschluss im Vorfeld der Konferenz von Paris im Juli 1966, auf der diese Veränderungen dann beschlossen werden. In Bezug auf die Anforderungen an die Mitglieder rückt dabei das skizzierte Verhältnis von Theorie und Praxis, von Aktivität und Passivität in den Mittelpunkt, und die S.I. verlangt von nun an »[q]ue les situationnistes soient uniquement définis par ce qu’ils font (théoriquement et pratiquement). Ainsi: que l’adhésion soit rendue impossible à qui ne fait rien.«747 Als Konsequenz aus den Problemen, die sich beim Ausschluss Lausens gezeigt haben, wird nun die Nicht-Beteiligung in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt und entsprechend der neuen Mitgliedschaftsanforderungen als Abweichung von den gemeinsamen Positionen definiert. Sie wird jedoch nicht direkt zum Ausschlussgrund erklärt, sondern es wird eine Lösung gefunden, die die ›Waffe des Ausschlusses‹ gewissermaßen entlastet. Denn diese muss in solchen Fällen der Inaktivität erst gar nicht zum Einsatz kommen, da »l’on considère comme démissionnaires automatiquement (sans aucune nuance de blâme) tous ceux qui resteraient quelque temps sans participation réelle à l’activité de l’I.S.«748 Aber auch das formale Vorgehen beim Ausschluss wird als Reaktion auf die diesbezüglich seit dem Frühjahr 1962 immer wieder aufkommenden Diskussionen nochmals expliziert, und es wird vereinbart, »que chacun vote sur une exclusion dont n’importe qui peut faire à tout moment la proposition motivée à propos de quelqu’un dont l’activité lui paraît en contradiction avec les bases de l’I.S.«749 Jedes Mitglied der S.I. hat somit das Recht, Ausschlüsse vorzuschlagen 747 | Khayati (1966b), S. 142, Hervorh. im Orig. 748 | Ibidem. 749 | Ibidem, S. 142f.
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und ebenso sollen alle Mitglieder bei den diesbezüglichen Abstimmungen miteinbezogen werden. Dennoch wird bereits auf dieser Ebene der theoretischen Neukonzeption von Austritt und Ausschluss ein Problem sichtbar: Die beiden Kategorien verschwimmen mehr und mehr miteinander. Denn auch wenn die Kategorie des ›automatischen Austritts‹ zunächst als Reaktion auf die Erfahrungen im Fall Lausen (und weniger deutlich bei Kotányi) schlüssig und hilfreich erscheint, so ist doch klar erkennbar, dass es auch hier jemanden geben muss, der die Passivität des entsprechenden Mitglieds feststellt. Diese Einschätzung muss dann von den anderen Mitgliedern mitgetragen und schließlich auch noch offiziell verkündet werden. Damit aber unterscheidet sich das formale Vorgehen beim automatischen Austritt im Grunde nicht mehr von demjenigen bei einem Ausschluss. Die einzige noch erkennbare Differenz liegt darin, dass der ›automatische Austritt‹ ›sans aucune blâme‹ erfolgt, während beim Ausschluss weiterhin mit einer klaren FreundFeind-Unterscheidung operiert wird. Wie ähnlich sich die beiden Kategorien sind, wird beim Blick auf den Ausschluss von Jan Strijbosch im Juli 1966 deutlich, der direkt mit dem ›automatischen Austritt‹ von Rudi Renson verbunden ist. Renson ist das erste Mitglied, bei dem diese neue Kategorie zur Anwendung kommt. »Einstimmige Meinung war, dass dieser schon seit langer Zeit zurückgetreten war, weil er mehr als ein ganzes Jahr vollkommen untätig gewesen - und sogar einfach verschwunden war.«750 Doch dieser Beschluss der Konferenz in Paris beschränkt sich nicht nur darauf, Renson als ›démissionaire‹ einzustufen, sondern beschließt zugleich den Ausschluss von Strijbosch. Dabei werden in beiden Fällen identische Begründungen angeführt: »La conférence de l’I.S. considère qu’un genre d’activité aussi invisible et incommunicable que celle qu’ont pu déployer jusqu’ici Jan Strijbosch et Rudi Renson ne peut absolument pas être admis comme participation au mouvement situationniste«751 . Wo aber liegen die Unterschiede im Verhalten der beiden, die dazu führen, dass Renson als ›démissionnaire‹ betrachtet, Strijbosch aber ausgeschlossen wird? Im Falle Rensons wird betont, dass bei ihm eine Einsicht bezüglich der eigenen Passivität erkennbar ist, und dementsprechend wird vor allem die Einvernehmlichkeit und ›Friedlichkeit‹ der Entscheidung hervorgehoben: »Quand Rudi est passé récemment à Paris il n’avait plus envisagé la moindre participation à l’I.S. après sa longue absence, et c’est sur cette base ›démissionnaire‹ que nous l’avons traité cordialement.«752 Renson selbst ist es also, der die Auffassung vertritt, dass sich sein bisheriges Verhalten nicht mehr mit den Mitgliedschaftsanforderungen vereinbaren lässt, und da er anscheinend keine Möglichkeit sieht, dieses Verhalten in Richtung einer stärkeren Beteiligung zu verändern, akzeptiert er den ›automatischen Austritt‹. 750 | Situationistische Internationale (1967c), S. 306. 751 | Debord (2003), S. 151, an Jan Strijbosch, 9.7.1966. 752 | Ibidem, an Jan Strijbosch, 9.7.1966.
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Strijbosch hingegen erweckt zunächst den Anschein, seine unzureichende Beteiligung nicht nur eingesehen zu haben, sondern sie auch verändern zu wollen. »Quand Jan depuis est venu demander à Raoul d’être invité à la conférence, il semblait vouloir changer, et c’était vraiment urgent. Sa dernière réponse manifeste qu’il n’avait pas réellement compris cette nécessité d’un changement pour la dernière occasion offerte.«753 Auch wenn Strijboschs Stellungnahme nicht im Wortlaut vorliegt, so kann doch ihr ungefährer Inhalt rekonstruiert werden. Im Kern geht es darum, dass er den Austritt Rensons nicht akzeptiert und dessen Wiederaufnahme in die S.I. fordert. So widersetzt er sich jedoch nicht nur der Forderung der Endgültigkeit des Mitgliedschaftsendes, sondern verdeutlicht auch, dass er Rensons und seine eigene passive Haltung nicht als Hinderungsgrund für eine weitere Mitgliedschaft ansieht. Damit aber steht Strijboschs Verhalten aus Sicht der S.I. im Widerspruch zu den auf der gleichen Konferenz explizierten Anforderungen bezüglich der aktiven Beteiligung. Die Konsequenz ist ebenso nahe liegend wie eindeutig: »Im Juli hat die 7. Konferenz beschlossen, Jan Strijbosch (Holland) auszuschliessen, da er Rudi Rensons Rückkehr in die S.I. verlangte. [...] Da Strijbosch selbst in derselben Zeitspanne eine kaum wahrnehmbare Tätigkeit an den Tag gelegt hatte, konnten wir nicht akzeptieren, über die Rechtfertigung einer Art ›Tendenz‹ der unmitteilbaren Beteiligung zu diskutieren. Wir wollen weiter betonen, dass wir nie einen anderen Vorwurf gegen diese Genossen hatten.«754
Auffällig ist an dieser Konstellation zweierlei: Zum einen die Tatsache, dass weder bei Renson noch bei Strijbosch Differenzen bezüglich der konkreten theoretischen Positionen vorliegen, sondern sich die Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden und der S.I. vielmehr auf das Selbstverständnis bezüglich der Gruppenpraxis beziehen. Zum anderen fällt auf, dass der Ausschluss von Strijbosch ein recht ›friedlicher‹ ist: Nicht nur, dass er trotz jahrelanger Passivität755 noch eine letzte Chance bekommt, zu den Vorwürfen Stellung zu beziehen und sein Verhalten zu ändern, auch, als er dazu nicht bereit ist, wird betont, dass ihm die S.I. sonst nichts vorzuwerfen habe. Die gerade bei den Ausschlüssen der SPUR und der ›Nashisten‹ erkennbaren polemischen Auseinandersetzungen bleiben hier aus. Damit aber scheint auch der 753 | Debord (2003), S. 151, an Jan Strijbosch, 9.7.1966. 754 | Situationistische Internationale (1967c), S. 306. 755 | So wurde Strijboschs Verhalten bereits im Oktober 1965 kritisiert und mit seinem Ausschluss aus dem Redaktionskomitee der I.S. sanktioniert: »Jan Strijbosch qui est trop absent de nos activités depuis plus d’un an pour figurer ainsi décorativement.« (Debord (2003), S. 71, an Mustapha Khayati, 14.10.1965) Diese Entfernung des passiven Strijbosch aus dem Redaktionskomitee erscheint dabei wie eine Umkehrung der anfänglichen Praxis der S.I., ganz bewusst unbeteiligte Mitglieder in diese Liste aufzunehmen. Aus Spiel wird Ernst.
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letzte oben skizzierte Unterschied zwischen ›automatischem Austritt‹ und Ausschluss zu verschwimmen.756
4.4.7 Umstrittene Ausschlüsse II: die Garnaultins Genau diese Differenz zwischen Austritt und Ausschluss, die Frage also nach dem Entscheidungsträger, rückt bei der nächsten Beendigung ei756 | Der Ausschluss von Anton Hartstein hingegen, der ebenfalls auf der Konferenz von Paris im Juli 1966 beschlossen wird, ist ein eindeutiger Ausschluss und kann hier sehr schnell skizziert werden. Zu Hartstein heißt es in der I.S. knapp: »Kurz danach wurde Anton Hartstein wegen einer theoretischen Unzulänglichkeit ausgeschlossen, die sich vor derselben Konferenz in seiner Intervention - über die Frage des Staates - klar herausgestellt hatte und fast sofort danach noch verschlechtert wurde durch die zögernde Art und Weise, wie er bei einer die praktische Solidarität der S.I. fordernden Angelegenheit reagierte.« (Situationistische Internationale (1967c), S. 306) Was sich hier zunächst wie eine doppelte Kritik sowohl seiner theoretischen Position als auch seiner Praxis liest und somit die neu formulierten Mitgliedschaftsanforderungen aufzunehmen scheint, ist bei genauerer Betrachtung eine Unterscheidung zwischen einer inhaltlich-theoretischen und einer persönlichen Kritik seines Verhaltens der Gruppe gegenüber. Denn ruft man sich die langwierige theoretische Prüfung Hartsteins vor seiner offiziellen Aufnahme in die S.I. im Januar 1966 und ihr Fortdauern während der ersten Monate seiner Mitgliedschaft in Erinnerung, so erscheint es - auch wenn uns Hartsteins Ausführungen während der Konferenz nicht vorliegen - fraglich, ob das angebliche Theoriedefizit tatsächlich der ausschlaggebende Grund gewesen ist. Eher dürfte der Vorwurf der fehlenden praktischen Solidarität der ausschlaggebende Grund für seinen Ausschluss sein. Was sich dahinter verbirgt, lässt sich nur erahnen: Vorgeworfen werden ihm eine »conduite bizarre« (Debord (2003), S. 152, an Mustapha Khayati, 25.7.1966) und »petits mensonges« (ibidem, S. 153, an Mustapha Khayati, 26.7.1966) Eine wichtige Rolle scheint dabei Hartsteins Verlobte, eine gewisse Monique G., zu spielen, die er in die geplanten Projekte der S.I. eingeweiht und somit das Gebot der Diskretion bzw. Klandestinität verletzt hat (vgl. ibidem, S. 152, an Mustapha Khayati, 25.7.1966). Es geht dabei um ein in der Planungsphase befindliches Projekt zur Finanzierung der I.S., dessen Geheimhaltung Hartstein dadurch gefährdet haben soll, dass er es seiner Verlobten gegenüber erwähnt (vgl. ibidem, S. 155, Randnotiz 3). Sollten wir mit diesen bruchstückhaften Vermutungen richtig liegen, so wird Hartstein in erster Linie ein Vertrauensbruch vorgeworfen, da er die Belange der Gruppe nach außen getragen und mit seinen privaten Angelegenheiten vermischt hat. In diese Richtung weist auch eine weitere Äußerung Debords im Rahmen der auf den Ausschluss folgenden Diskussion bzw. seine Reaktion auf den Versuch Hartsteins, ihn rückgängig zu machen. Hartstein selbst scheint von den Ereignissen überrascht worden zu sein und beschwert sich bei Nicholson-Smith über die ihm widerfahrene ungerechte Behandlung und seinen Ausschluss. Auf Vorschlag von Nicholson-Smith verlangt Hartstein in einem Brief an Debord eine Anhörung vor der Gruppe. Debord scheint demgegenüber zunächst aufgeschlossen zu sein: »Ce matin, je reçois une lettre d’Anton [Hartstein, M.O.] qui exploite le bon conseil de Donald [Nicholson-Smith, M.O.]. Il demande de s’expliquer devant le groupe; il est prêt à une véritable autocritique; il réaffirme que pas un mot de dénonciation n’a été dit sur notre projet en suspens. Je pense qu’il est hors de doute que nous devons accepter le principe.« (ibidem, S. 155, an Mustapha Khayati, 28.7.1966.) Doch Debord ist in Wirklichkeit keineswegs bereit, die Endgültigkeit des Ausschlusses in Frage zu stellen, - würde dies doch einen Widerspruch zu den diesbezügliche Theorieposition bedeuten denn es erscheint ihm »aussi évident qu’il [Hartstein, M.O.] s’y révélera incapable de nous convaincre qu’on peut lui faire confiance de nouveau.« (ibidem, an Mustapha Khayati, 28.7.1966.) Es geht also darum, Hartstein auflaufen zu lassen, so als wolle man ihm die Richtigkeit seines Ausschlusses nochmals vor Augen führen.
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ner Mitgliedschaft zunächst wieder in den Mittelpunkt der Diskussion zwischen der S.I. und den betroffenen Mitgliedern, ohne jedoch den inhaltlichen Kern der Auseinandersetzung auszumachen, auf den wir uns im Folgenden konzentrieren werden. Bei den Ausgeschlossenen handelt es sich um Édith Frey, Théo Frey, Herbert Holl und Jean Garnault, die allesamt am 15. Januar 1967 die S.I. verlassen (müssen) - nach einer Reihe von Einzelausschlüssen haben wir es hier also wieder mit dem Ausschluss einer ganzen Fraktion von Mitgliedern zu tun. Auch wenn die offizielle Meldung über diesen Ausschluss erst in der I.S. Nr. 10 im Oktober 1967 erscheinen wird, so liegen doch die interne Bekanntgabe des Ausschlusses vom 15. Januar 1967 sowie verschiedene Gegenerklärungen vor, die hier als Ausgangspunkt dienen sollen: »La réunion de l’Internationale situationniste tenue à Paris le 15 janvier 1967 a dû constater que des calomnies particulièrement basses ont été lancées en collusion contre Mustapha Khayati par trois membres de l’I.S., dans des buts tactiques, et pour camoufler leurs propres manœuvres. Les mensonges de Théo Frey, Jean Garnault et Herbert Holl ayant été mis en évidence, ils ont été exclus sur le champ, et l’I.S. refusera naturellement tout contact à l’avenir avec quiconque se compromettrait avec eux.«757
Was also sind für die S.I. die Gründe für diesen Ausschluss? Zunächst steht der Vorwurf der Verleumdung von Khayati zu taktischen Zwecken sowie zur Verheimlichung eigener ›Manöver‹ im Mittelpunkt. Die ›Garnaultins‹ sollen auf den Ausschluss von Khayati hingearbeitet, aber diese Tatsache zunächst verheimlicht und später vehement geleugnet haben.758 Was aber hat es mit diesen Vorwürfen auf sich? Warum versuchen die ›Garnaultins‹, den Ausschluss von Khayati zu erreichen? Die drei Straßburger Mitglieder rufen eine zunächst geheime Fraktion innerhalb der S.I. bzw. innerhalb der Straßburger Gruppe ins Leben, die sich zum Ziel setzt, die demokratische Partizipation aller Mitglieder der S.I. zu stärken und die bisherige, in ihren Augen autokratische, Funktionsweise der Gruppe zu kritisieren, die sie vor allem durch Debord repräsentiert sehen. Das eigentliche Ziel ist somit kein geringeres als die ›Entmachtung‹ Debords - dafür aber benötigen sie die Unterstützung von Khayati. »Comptant sur l’adhésion de Khayati à leur projet, sur son appui d’une demande de cohérence entre la pratique de l’organisation et la théorie anti-hierarchique qu’elle professait, les ›garnaultins‹ organisèrent une réunion, début décembre à Strasbourg, durant laquelle ils entendaient
757 | Bernstein, Michèle/Guy Debord/Mustapha Khayati/Donald NicholsonSmith/René Viénet (1967). 758 | Vgl. Bernstein, Michèle/Guy Debord/Mustapha Khayati/Jeppesen Victor Martin/Donald Nicholson-Smith/Raoul Vaneigem/René Viénet (1967), S. 747, Hervorh. im Orig.
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débattre de la marche à suivre.«759 Während dieser geheimen Sitzung jedoch stellt sich heraus, dass sie Khayatis Loyalität gegenüber Debord unterschätzt haben. In diesem Moment wandelt sich Khayati damit für die ›Garnaultins‹ vom potentiellen Kampfgefährten zu einem gefährlichen Mitwisser. Das Spiel von Verheimlichungen und Verleumdungen beginnt. »[L]e refus qu’opposa Khayati à une action anti-Debord, puis la crainte de s’être démasqués devant l’un de ses fidèles (ce qui les rendait passibles d’une exclusion immédiate), les portèrent à abandonner leur entreprise, non sans avoir d’abord calomnié Khayati pour provoquer son expulsion, et se défaire ainsi d’un ›temoin gênant‹ de leur complot.«760
Hier kommen einige Faktoren zusammen, die die Ereignisse verkomplizieren: Problematisch ist zunächst, dass die ›Garnaultins‹ ihre Kritik an der internen Funktionsweise der S.I. als geheime Fraktion planen und nicht versuchen, sie offen zu äußern. Auch wenn dies aus ihrer Wahrnehmung dieser Organisationsstruktur als ›diktatorischer‹ zunächst verständlich ist, so beinhaltet sie doch die paradoxe Schwierigkeit, dass Hierarchie und Intransparenz gerade durch die Einführung neuer Hierarchien und Intransparenzen kritisiert werden sollen. Dies aber diskreditiert den Versuch, möglicherweise vorhandene hierarchische Strukturen aufzubrechen und durch die egalitäre Beteiligung aller Mitglieder zu ersetzen, in zweierlei Weise: zum einen, weil die eigene Vorgehensweise selbst weder egalitär noch transparent ist, und zum anderen, weil sie sich in dieser Struktur den bislang in der S.I. vorhandenen Strukturen unterwirft, anstatt sie offen zu kritisieren. Interessant ist hierbei der Aspekt, dass es nicht zuletzt die stets präsente Möglichkeit bzw. Androhung des Ausschlusses ist, die die ›Garnaultins‹ zu einer solchen Vorgehensweise veranlasst haben dürfte. Denn es geht ihnen nicht darum, die S.I. lediglich zu kritisieren und sie notfalls zu verlassen, da sie mit einigen ihrer grundlegenden Praxen nicht einverstanden sind, ihr Ziel ist vielmehr eine Veränderung der S.I. und ihrer Organisationsstruktur - eine solche kann jedoch nur von innen erfolgen, der Ausschluss wäre somit das Ende dieses Vorhabens. Die von der S.I. stets konsequent und radikal eingesetzte ›Waffe‹ des Ausschlusses, ja allein das Wissen um ihre mögliche Anwendung scheinen in diesem Fall dafür zu sorgen, dass die Forderung der Transparenz nicht umgesetzt wird und sich innerhalb der Gruppe, paradoxerweise im Rahmen einer Kritik von Intransparenz 759 | Marelli (1998), S. 290. Vgl. hierzu auch Daniel Joubert zitiert in: Bourseiller (1999), S. 310. 760 | Marelli (1998), S. 290. Die ›Garnaultins‹ ihrerseits jedoch sehen gerade in Khayati den ›Lügner‹, der durch taktische Manöver versucht, in der Hierarchie der S.I. aufzusteigen: »Si Khayati a entrepris de lancer des calomnies particulièrement basses contre deux membres de l’I.S., c’est dans des buts tactiques et pour camoufler ses propres manœuvres.« (Frey, Théo/Jean Garnault/Herbert Holl (1967), unpaginiert).
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und Hierarchie, genau eine solche erneut ausbildet und perpetuiert. Die permanent präsente ›Exit-Option‹ erschwert oder unterdrückt in diesem Fall offene interne Kritik mehr, als dass sie sie ermöglicht.761 Dabei spielt bei den ›Garnaultins‹ die Erinnerung an den Ausschluss der ›Nashisten‹ eine wichtige Rolle, da es sich hierbei um den ersten und gleichzeitig letzten Versuch einer offenen Kritik an der Organisationsstruktur und der Funktionsweise der S.I. handelte - und eine solche den sofortigen Ausschluss der kritischen Stimmen zur Folge hatte. Was an diesen Parallelen zudem deutlich wird, ist die Tatsache, dass, beginnend mit dem Ausschluss der ›Nashisten‹, in der Funktionsweise der S.I. eine grundlegende Veränderung auf zwei Ebenen eintritt: Zum einen bezieht sich die von verschiedenen Mitgliedern vorgebrachte Kritik mehr und mehr auf gruppeninterne Belange wie die Frage der Mitgliedschaft, Eintritt, Austritt und Ausschluss bzw. auf die Strukturierung und Funktionsweise der Gruppe und die darin erkennbaren Widersprüche zu den diesbezüglichen theoretischen Positionen. Nicht mehr die Differenz verschiedener Theoriepositionen, sondern unterschiedliche Auffassungen bezüglich des Verhältnisses von Theorie und Praxis und insbesondere von ›Gruppentheorie‹ und ›Gruppenpraxis‹ stehen bei den Konflikten im Mittelpunkt. Zum anderen geht mit dieser inhaltlichen Verlagerung die ›Verhandlungsbereitschaft‹ der S.I. zurück, ein Ausdiskutieren von Widersprüchen oder gar deren produktives Neben- und Gegeneinander scheint hier nicht möglich, da jede Kritik als grundlegende Kritik oder gar als Angriff auf die Gruppe gesehen wird. Ein solcher ›Selbstverteidigungsreflex‹ führt jedoch selbst wiederum dazu, dass sich die Widersprüche zwischen den theoretischen Konzepten zur Funktionsweise der eigenen Gruppe und deren tatsächlicher Praxis vermehren, da Kritik entweder wie bei den ›Nashisten‹ sofort durch einen Ausschluss abgewehrt oder wie im Falle der ›Garnaultins‹ infolgedessen dann in die Klandestinität abgedrängt wird und die Herausbildung von Fraktionen zur Folge hat, die ihre Kritik in einer Vielzahl von taktischen Manövern zu formulieren und bei einem Scheitern dann rückwirkend zu verheimlichen suchen. Dieses Unterdrücken oder Verdrängen von interner Kritik vergrößert einerseits den Kritikbedarf, macht die Kritik jedoch andererseits angreifbar, da sie in diesem Fall einen Teil der kritisierten Vorgehensweisen selbst praktizieren muss. Auf diese Spirale der Kritik der Kritik sowie auf die ihr vorangehende Verheimlichung, Leugnung und Verleumdung soll nun noch einmal kurz am konkreten Beispiel der ›Garnaultins‹ eingegangen werden. Denn im 761 | Auf das Wechselspiel der Kritik der ›Garnaultins‹ und der Gegenkritik der S.I. soll nicht weiter eingegangen werden. Die Positionen sind in den jeweiligen Flugblättern gut dokumentiert (vgl. Frey, Édith/Théo Frey/Jean Garnault/Herbert Holl (1967); Bernstein, Michèle/Guy Debord/Mustapha Khayati/Jeppesen Victor Martin/Donald Nicholson-Smith/Raoul Vaneigem/René Viénet (1967) sowie Situationistische Internationale (1967a)). Für eine Skizze dieser Auseinandersetzung vgl. Marelli (1998), S. 290ff. und Bourseiller (1999), S. 310ff.
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Zentrum steht hier die Auseinandersetzung um die Vorwürfe der Bildung einer geheimen Fraktion und um die sich daran anschließenden Versuche, diese weiter zu verheimlichen oder zu leugnen. Auch wenn diese Diskussion zwischen der S.I. und den ›Garnaultins‹ nicht unabhängig von deren inhaltlicher Kritik gesehen werden kann, so entfernt sie sich doch schnell von diesem konkreten Gegenstand und wird, je länger sie andauert, immer polemischer und unproduktiver geführt, um sich letztendlich nur noch um die Frage Austritt oder Ausschluss zu drehen. Die Kontroverse um den von den ›Garnaultins‹ angestrebten Versuch des Ausschlusses von Khayati dauert so über einen Monat an, ohne dass eine irgendwie geartete Einigung erzielt werden kann. Im Gegenteil: die Atmosphäre ist mehr und mehr von gegenseitigem Misstrauen und Verdächtigungen geprägt. Am 10. Januar schließlich versucht die S.I., diesem Spiel ein Ende zu machen und endlich die Fakten auf den Tisch zu bekommen: »Une réunion de l’I.S. tenue le 10 janvier a décidé unanimement d’en finir avec cette ›crise‹ par la simple application du principe que tout menteur serait exclu sur-le-champ. Présent, Frey et Holl n’ont évidemment pas pu refuser ce principe.«762 Die S.I. versucht die ›Garnaultins‹ durch dieses neu eingeführte Ausschlusskriterium massiv unter Druck zu setzen bzw. formuliert bereits mit diesem implizit den Ausschluss der drei. Entweder lehnen sie diese Vereinbarung ab und machen sich noch verdächtiger oder aber sie stimmen ihr zu. Dann aber müssen sie entweder die Karten und ihre Pläne offen auf den Tisch legen und können so wahlweise wegen der Bildung einer geheimen Fraktion oder wegen der anschließenden Leugnung dieser Tatsache als ›Lügner‹ enttarnt und ausgeschlossen werden oder sie bleiben bei ihrer Geheimhaltung und werden durch die Aussage Khayatis ebenfalls enttarnt und ausgeschlossen. Die ›Garnaultins‹ spielen das Spiel also zunächst weiter mit und unterstützen auch diesen Beschluss noch - obwohl sie wissen, dass sie damit ihren eigenen Ausschluss absegnen - auch dies eine Parallele zur Konstellation bei den ›Nashisten‹. Bereits fünf Tage später spitzt sich die Situation ein letztes Mal zu: »D’abord, par des demi-aveux individuels, puis, pan par pan, reconnaissant le démantèlement de leur falsification. [...] Enfin, ils ont dû tout avouer. C’est alors seulement, se voyant exclus, qu’ils ont révélé - dans l’intention franchement délirante de se disculper - qu’ils avaient formé dans l’I.S. une fraction secrète qui avait nécessité tous les mensonges finalement démasqués.«763
Erst nach über einem Monat wird der Streit über Lügen und Verleumdungen wieder zurückgeführt auf die eigentliche Frage der Bildung einer geheimen Fraktion innerhalb der S.I. - und endet aus Sicht der S.I. mit 762 | Bernstein, Michèle/Guy Debord/Mustapha Khayati/Jeppesen Victor Martin/Donald Nicholson-Smith/Raoul Vaneigem/René Viénet (1967), S. 747. 763 | Ibidem, S. 747f., Hervorh. im Orig.
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dem Ausschluss der ›Garnaultins‹. Diese allerdings halten daran fest, dass sie vor dem Ausschluss bereits ihren Austritt bekanntgegeben haben. »Les signataires de ce texte démissionnent de cette ›organisation‹ et se proposent de publier dans les jours qui viennent une analyse plus complète de la situation et des perspectives qui en découlent.«764 Die hier angekündigte inhaltliche Auseinandersetzung tritt jedoch zunächst wieder in den Hintergrund bzw. wird von einer kleinlichen Diskussion um die Abfolge der Ereignisse des 15. und 16. Januar abgelöst. Diese ist jedoch insofern vollkommen unergiebig, als das Problem hier weniger als Frage der Reihenfolge von Austrittserklärung und Ausschlussmeldung aufzufassen ist, weil der Ausschluss bereits durch den Beschluss vom 10. Januar nicht mehr abzuwenden ist und somit - wenn auch auf andere Art und Weise als bei Strijbosch - gewissermaßen ›automatisch‹ erfolgt. Aus einem Grund jedoch ist die Austrittsmitteilung der ›Garnaultins‹ von zentraler Bedeutung: In ihr wird etwas zur Sprache gebracht, das in der über einmonatigen Diskussion nie thematisiert wird, aber doch der eigentliche Kern der Auseinandersetzung ist: die inhaltliche Kritik der drei Straßburger an den Organisationsstrukturen der S.I. Diese Kritik aber scheint durch die hier skizzierten Auseinandersetzungen, die letztendlich zur Ausblendung dieser konkreten Kritik geführt haben, um so berechtigter zu sein. Sie gilt es daher nun dazustellen und dabei die Frage im Kopf zu behalten, welche Aspekte dieser Kritik einen solch ausgeprägten Selbstverteidigungsreflex der S.I. ausgelöst haben könnten. Zwei verschiedene Stoßrichtungen der Kritik der ›Garnaultins‹ lassen sich dabei ausmachen: Die eine bezieht sich auf das Verhältnis der S.I. zu anderen Gruppierungen, die andere auf die internen Strukturen. Allerdings hängen diese beiden Aspekte eng zusammen und dementsprechend wird die diesbezügliche Kritik von den ›Garnaultins‹ auch mit Blick auf diese Verbindung hin entwickelt. Der Zusammenhang zwischen den beiden Blickrichtungen der Kritik gibt dabei auch einen Hinweis darauf, warum dieser Konflikt innerhalb der S.I. genau zu diesem Zeitpunkt, nach einer Phase relativer Ruhe, ausbricht. Denn die ›Garnaultins‹ äußern ihre Kritik mitten im Straßburger Skandal, der im Mai 1966 mit der Übernahme der dortigen Studentenvertretung durch einige mit der S.I. sympathisierende Studenten beginnt und in dessen Verlauf sich eine Zusammenarbeit zwischen der S.I. und diesen Studenten entwickelt, um dann im November mit der Publikation der Misère765 seinen vorläufigen Höhepunkt zu erreichen und dessen Nachwehen anschließend noch bis in den Sommer 1967 hinein andauern werden.766 764 | Frey, Édith/Théo Frey/Jean Garnault/Herbert Holl (1967), S. 72. 765 | Vgl. Internationale Situationniste (1966); Deutsch zwei Jahre später Situationistische Internationale (1968b). 766 | Die Ereignisse von Straßburg und die Rolle, die die S.I. hierbei spielt, können hier nicht im Einzelnen dargestellt werden, sie sind aber umfangreich dokumentiert und kommentiert (vgl. Bourseiller (1999), S. 291ff.; Dumentier (1990), S. 80ff.;
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Dieser Skandal ist, nach den Ausstellungen in den Anfangsjahren, das erste öffentliche In-Erscheinung-Treten der S.I., der erste Ansatz einer Praxis, der Versuch, die zentralen Beschlüsse der Konferenz von Paris im Juli 1966 direkt umzusetzen. Denn hier wurde als Marschroute für die S.I. Folgendes festgehalten: »Die Theorie der S.I. ist zumindest in einem Punkt klar: es muß von ihr Gebrauch gemacht werden. [...] [W]enn wir zusammen sind, dann um tatsächlich was zu tun? Diese Frage stellt sich auf eine sehr reale Weise, weil die Theoriegesamtheit der S.I., die das Gegenteil einer intellektuellen Spezialisierung ist, eine ziemlich große Komplexität von Elementen umfaßt; und, da das Einverständnis unter uns ursprünglich lediglich theoretisch ist, vor allem, weil seine ganze Realität letztlich von der Art und Weise abhängt, wie wir den Gebrauch dieser Theorie verstehen und realisieren. Worin muß diese gemeinsame Aktivität bestehen, für uns und in Richtung auf die anderen. Diese Frage ist eins.«767
Die konfliktreiche Phase der Theorieentwicklung wird als abgeschlossen angesehen, nun muss aus dieser Theorie eine gemeinsame Praxis entstehen, da diese Verbindung von Theorie und Praxis ein elementarer Bestandteil der Theorie selbst ist. Genau wie die eigene Theorieproduktion nicht als Ausdruck einer ›intellektuellen Spezialisierung‹ oder als Beschränkung auf das reine Denken aufgefasst wird, so wird auch ein Sich-Ausruhen auf den mittlerweile entwickelten Theoriepositionen abgelehnt: »Ich will damit sagen, dass die Existenz dieser abstrakten Positionen weder dazu dienen darf, irgendeine besondere Inaktivität zu beschönigen, noch das tatsächliche Leben von irgendeinem von uns beeinträchtigen darf. Das setzt selbstverständlich voraus, dass es eine tatsächliche Beteiligung an einer wirklichen gemeinsamen Aktivität gibt.«768 Ein erster Schritt zu einer solchen Aktivität ist die Anerkennung der Tatsache, dass sie bisher kaum zu erkennen war, und der sich daraus ergebende Willen, daran etwas zu ändern - immer jedoch unter Bezugnahme auf die bislang entwickelten Theoriepositionen, die dann im Wechselspiel mit der Praxis weiter zu entwickeln sind. So wie die Theorie als Ausgangspunkt der Praxis verstanden wird, ist diese der Ford (2007), S. 128ff.; Marelli (1998), S. 281ff.; Pencenat (2005) sowie die rückblickenden Analysen der S.I. in Situationistische Internationale (1967d) und Situationistische Internationale (1967a). 767 | Debord (1966), S. 135. 768 | Ibidem. Interessant ist, dass damit die bislang hervorgehobene Verbindung zwischen dem Verhalten innerhalb der Gruppe und im Privatleben mehr oder weniger aufgegeben und anfangs aufgehobene Trennung zwischen privat und öffentlich bzw. zwischen individuell und kollektiv wieder eingeführt wird - nicht zuletzt wohl, um das bislang in verschiedensten Varianten präsente Problem der ›Sozialität der Solitären‹ zu entschärfen. »Das heißt, das [sic!] wir uns nicht kollektiv mit individuellen Fragen belasten dürfen, die sich unserer gemeinsamen Aktivität entziehen; und ebensowenig braucht sich irgendeiner von uns in seinem individuellen Leben mit den kollektiven Ansprüchen der S.I. zu belasten, die über die wirklich gemeinsame Ebene hinausgehen.« (ibidem, S. 135f.).
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Startpunkt für weitere Theorieentwicklungen, eine strikte Unterteilung in eine theoretische und eine praktische Phase der gemeinsamen Tätigkeit wird abgelehnt: »Es ist sicher, daß unsere gemeinsame Aktivität erweitert werden muß. Ich schlage nun vor, der Realität ins Gesicht zu sehen, daß sie zurzeit, als praktische Aktivität, arm ist. Ihre Grenzen und ihre Armut müssen zugegeben werden, um sie praktisch zu erweitern. [...] Wir dürfen also nach meiner Auffassung nicht zusammen sein ohne Bezug auf eine Aktivität, die von unserem gemeinsamen Programm definiert wird (und die es weiter definiert).«769
Diese Suche nach einer Praxis der eigenen Theorie lenkt den Blick zunächst auf die Praxis der eigenen Gruppe, für die zentrale theoretische Aspekte wie die egalitäre Beteiligung aller Mitglieder, die antihierarchische Struktur, die Ablehnung der Spezialisierung, die Kultur der Transparenz und des offenen Dialogs etc. erneut als Grundlage der gemeinsamen Aktivitäten in den Mittelpunkt rücken. Doch die Praxis der S.I. darf sich nicht auf die interne Ebene beschränken. Konnte es bislang mit Blick auf die Praxis heißen: ›Unsere Taten, das waren unsere Schriften‹, so reicht eine solche primär gruppenimmanente Sichtweise nun nicht mehr aus. Denn neben die Ausformulierung theoretischer Positionen tritt »die Konstitution einer globalen kritischen Theorie und (daher untrennbar) ihre Kommunikation bei allen Sektoren, die objektiv bereits mit einer Negation begonnen haben, die subjektiv fragmentarisch bleibt. Die Definition, das Experimentieren, die langwierige Arbeit bezogen auf diese Frage der Kommunikation ist unsere hauptsächliche Aufgabe als organisierte Gruppe.«770
Aus der theoretischen Forderung nach einer umfassenden Kritik entspringt hier bei der S.I. zum ersten Mal die Erkenntnis, dass eine solche nicht im Alleingang, sondern nur in Kooperation mit anderen Gruppen und deren für sich genommen ebenfalls fragmentarischen Ansätzen zu erreichen ist. Dementsprechend beginnt die S.I. mehr und mehr, in die Öffentlichkeit zu treten - und zwar nicht mehr nur wie bislang durch die Veröffentlichung ihrer Texte (die auch nur eine sehr spezielle und kleine ›Öffentlichkeit‹ erreichen) in der I.S., sondern durch eine Beteiligung an und Unterstützung von einer wirklichen Praxis. Dies aber lässt die Frage nach dem Verhältnis zwischen der S.I. und anderen Gruppierungen immer dringlicher werden, denn ihre »Aktivität selbst ist aufgrund unseres Platzes in der Welt geboten, aufgrund dessen, was wir als Kritik der heutigen Welt zu tun haben, und als Begegnung kritischer Elemente, die in ihr erscheinen.«771 Nach einer Phase der radikalen Abgrenzung der S.I. von 769 | Debord (1966), S. 136. 770 | Ibidem, S. 137. 771 | Ibidem, S. 136, Hervorh. im Orig.
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ihrem primär künstlerischen Umfeld in den Anfangsjahren772 folgt nun der Schritt auf andere Gruppierungen zu, der Versuch der S.I., sich zu öffnen. Bei dieser Öffnung gegenüber dem Umfeld wird strikt zwischen einem Sich-Öffnen im Sinne der autonomen Zusammenarbeit, die angestrebt wird, und einer Öffnung im Sinne einer erhöhten Durchlässigkeit der Gruppengrenze, die weiterhin abgelehnt wird, unterschieden. Gesucht wird nicht nur nach einer Praxis der Theorie, sondern auch nach einer Praxis des von der S.I. stets als wichtig erachteten Dialogs und dies sowohl in ihrem Inneren als auch nach außen, »weil sich unsere Theorie des Dialogs nicht mit einem bloßen Dialog der Theorie begnügen kann: die Theorie des Dialogs ist, von ihrem Anfang an bis zu ihrer höchsten Entwicklung, eine Kritik der Gesellschaft.«773 Überaus deutlich wird hier der Versuch, existierende Trennungen aufzuheben, sowohl diejenige zwischen Theorie und Praxis, als auch diejenige zwischen innen und außen. So muss sich die intern entwickelte Theorie des Dialogs zunächst auch in einer entsprechenden Praxis innerhalb der Gruppe äußern und darf zudem weder auf der theoretischen noch auf der praktischen Ebene an der Gruppengrenze halt machen, sondern muss auf den Dialog mit anderen Gruppierungen ausgedehnt werden. Genau dieser Dialog nach außen, der Versuch, eine Kooperation der S.I. mit autonomen Gruppen zu etablieren und dabei auch im Außenverhältnis die im Inneren angelegten Maßstäbe von Egalität und anti-hierarchischer Kommunikation umzusetzen, gestaltet sich jedoch äußerst schwierig. Dies ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass die S.I. trotz aller Öffnung strikt an der eigenen Gruppengrenze festhält und Öffnung zu diesem Zeitpunkt explizit als Kooperation, nicht aber als Aufhebung der S.I. in einer weiteren Bewegung konzipiert. Eine solch strikte Abgrenzung zwischen ›Wir‹ und ›Die‹ und somit die Aufrechterhaltung einer Trennung innerhalb der revolutionären Bewegung ist nicht nur vor dem Hintergrund der diesbezüglichen Theorieposition der S.I. problematisch, sondern wirft ganz konkret die Frage nach der Egalität einer solchen Art der Kooperation und nach einem möglicherweise eben doch elitären Selbstverständnis der S.I. auf. Denn auch wenn die S.I. mehrfach den dialogischen Charakter einer Zusammenarbeit betont, bleiben sogar durch die Art und Weise, wie sie selbst eine ›Prestigeposition‹ innerhalb der Bewegung ablehnt, Zweifel bezüglich des wirklich egalitären Verständnisses zurück: »So selbstverständlich wie wir die ›Prestigerolle‹ in der S.I. ablehnen müssen, müssen wir auch jeden zurückweisen, der unter uns oder außerhalb das Gegenteil des Prestiges vorweisen würde: die Unzulänglichkeit bezüglich der Grundlagen, von denen wir ausgehen.«774 Was zunächst als Versuch der Etablierung einer ›Egalität der Mitte‹ wirken mag, erscheint bei genaue772 | Eine Ausnahme in der Kunstorientierung ist hier Debords kurzzeitige Mitarbeit bei Socialisme ou Barbarie. 773 | Debord (1966), S. 138. 774 | Ibidem, S. 139.
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rer Betrachtung als problematisch, da die S.I. sich herausnimmt, über die ›Unzulänglichkeit‹ ihrer potenziellen Mitstreiter zu entscheiden selbstverständlich auf Basis ihrer theoretischen Grundlagen. Ein Dialog scheint somit nur auf der Basis der eigenen Theorie möglich zu sein ›take it or leave it‹: Die S.I. gibt die Spielregeln vor. Dieses Einverständnis mit den situationistischen Positionen und somit die Einengung des offenen Dialogs auf einen Dialog in einem fest umgrenzten Raum, wird auch an anderer Stelle nochmal als Grundvoraussetzung angeführt. Diesmal allerdings nicht als Voraussetzung für eine Kooperation, sondern grundlegender bereits für das Verständnis dieser Positionen: »Im Gegensatz zu dem, was einige zu glauben scheinen, ist es nicht so schwer, uns theoretisch zu begreifen, wenn man mit uns in Kontakt steht und wenn man dazu neigt, die Realitäten, von denen wir sprechen, so zu nehmen wie wir.«775 Hier droht die Argumentation der S.I. jedoch zum Zirkelschluss zu werden: So wie das Verständnis der Theorie vom Einverständnis mit dieser Theorie abhängig gemacht wird, wird das Verständnis der Theorie als Voraussetzung einer Kooperation gerade durch einen bereits existierenden Austausch mit der S.I. erleichtert oder erst ermöglicht. Für einen offenen Dialog, in dem sich auch die S.I. inhaltlich bewegt oder vom Austausch mit anderen Gruppierungen profitiert, scheint hier wenig Raum zu sein, die Kommunikation wird eher als Einbahnstraße von der S.I. nach unten konzipiert. Diese Vermutung wird noch bestärkt, wenn man berücksichtigt, dass die S.I. in den obigen Ausführungen mehr oder weniger explizit davon ausgeht, dass es ihre Theorie ist, die sich ausbreiten muss - hier tritt der klassische Alleinvertretungsanspruch wieder deutlich hervor: Die Aufgabe, radikaler zu sein als die S.I., fällt nach wie vor der S.I. zu. Wie aber kommt die S.I. zu dieser eindeutig elitären Wahrnehmung ihrer eigenen Theorieposition? Ganz einfach, möchte man fast sagen: indem sie den anderen Gruppierungen fast grundsätzlich unterstellt, keine eigene Theorie entwickelt zu haben. Zwar räumt die S.I. zunächst nochmals die Mängel ihrer bisherigen Praxis ein, um sodann ihre theoretische Vormachtstellung, wenn auch in recht zurückhaltende Formulierungen verpackt, beinahe schon in Stein zu meißeln: »Wir müssen uns zumindest auf der Höhe der Befreiung befinden, die sich fast überall ohne theoretisches Bewußtsein zu zeigen beginnt; und lediglich das theoretische Bewußtsein zusätzlich haben.«776 Damit aber positioniert sich die S.I. klar über den anderen Gruppen, als Ideengeber, dem zu folgen ist, und führt zudem die zunächst als aufzuhebende angesehene Trennung zwischen Theorie und Praxis, zwischen Theoretikern und Praktikern wieder ein. Die Trennung zwischen Theorie und Praxis ist jedoch bei diesen Überlegungen insgesamt noch weniger klar zu erkennen bzw. verweisen sie 775 | Debord (1966), S. 138. 776 | Ibidem, S. 139.
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auf die wechselseitige Beeinflussung der beiden Aspekte. Denn sie entstehen im Sommer 1966 und sind somit nicht nur als theoretische Vorüberlegungen zu einer Praxis zu verstehen, sondern ebenso als theoretische Reaktion auf eine Praxis, als Rückwirkung der Praxis auf die Theorie, da sie sich als Antwort auf die Fragen lesen lassen, mit denen die S.I. durch den im Mai 1966 beginnenden Straßburger Skandal konfrontiert wird. Dass die S.I. die Ereignisse in Straßburg so interessiert verfolgt und sich schließlich an ihnen beteiligt, lässt sich dadurch erklären, dass der Auftakt zu diesem Skandal - die Wahl einiger mit der S.I. sympathisierenden Studenten in die Studentenvertretung, die durch das allgemeine Desinteresse an diesem Gremium möglich wird - sich als eine konkrete, praktische Anwendung des Konzepts des détournement par excellence auffassen lässt - und zwar als erste Anwendung überhaupt außerhalb der Sphäre der Kunst. Im weiteren Verlauf dieser Ereignisse treten jedoch die sich bereits in den theoretischen Überlegungen der S.I. abzeichnenden Probleme sowohl in Bezug auf die eigene Gruppenstruktur als auch mit Blick auf das Außenverhältnis deutlich hervor. Zwischen der Theorie der Praxis und einer Praxis der Theorie liegen Welten. Im Kern geht es um die Frage nach der Umsetzbarkeit von Egalität bzw. Anti-Hierarchie, die - soviel schon vorab - beim Blick auf den Straßburger Skandal negativ beantwortet werden muss. Doch gilt es im Folgenden nicht nur nachzuzeichnen, wer in den sich herausbildenden Hierarchien oben und wer unten steht, vielmehr ist diese Unterscheidung zu ergänzen um die Gegenüberstellungen von aktiven und passiven Beteiligten, von Theoretikern und Praktikern, die - wie auch die Frage nach der Hierarchie - innerhalb der S.I. genauso aufkommt wie zwischen der S.I. und den Straßburger Studenten. Des Weiteren gilt es zu überlegen, in welchem Verhältnis vor diesem Hintergrund Kooperation und Autonomie sowie Gruppenöffnung und Gruppenabgrenzung stehen. Auch wenn der Skandal von Straßburg mit der eigenständigen Aktion der Straßburger Studenten André Schneider und Bruno Vayr-Piova, sich in die Studentenvertretung A.F.G.E.S. (Association Fédérative Générale des Étudiants de Strasbourg) wählen zu lassen, um diese zu übernehmen, beginnt, so bildet sich bald eine enge Zusammenarbeit mit der S.I. heraus. Diese ist zu Beginn noch von wechselseitigen Interessen geprägt, von einem sich auf verschiedenen Feldern erstreckenden Potlatch. Während die Studenten von der inhaltlichen Beratung durch die S.I. profitieren, hat die S.I. ihrerseits ein Interesse daran, die Übernahme des A.F.G.E.S. durch mit ihr sympathisierende Studenten für ihre Zwecke zu nutzen, da »la structure syndicale pourrait aisément servir de support technique et financier à la diffusion massive des textes.«777 - für die notorisch finanzschwache S.I. ein nicht zu vernachlässigender Aspekt auf dem Weg zu mehr Öffentlichkeit. Für die S.I. handelt es sich hier um einen glücklichen Zufall, den sie zu nutzen versucht, und nicht 777 | Bourseiller (1999), S. 292.
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um eine geplante Aktion.778 Denn interessant an der Übernahme des A.F.G.E.S. ist vor allem, dass es sich hier um Studenten handelt, die lediglich mit der S.I. sympathisieren, ihr aber nicht als Mitglied angehören. Die in Straßburg ansässigen Mitglieder der S.I. - sprich die späteren ›Garnaultins‹ - sind an dieser ›feindlichen Übernahme‹ zunächst nicht direkt beteiligt und bleiben auch im weiteren Verlauf der Ereignisse eher im Hintergrund - von Khayati einmal abgesehen, der als Hauptvermittler zwischen den Studenten und der S.I. agiert. Insofern ist es auch noch nicht als Etablierung eines Abhängigkeitsverhältnisses zu interpretieren, dass die Straßburger Studenten nach ihrer Wahl auf die S.I. zugehen und sie um Rat fragen, wie sie mit der neu gewonnenen Macht umgehen sollen. Die S.I. übt hier zunächst eine beratende Funktion aus: »In diesem Stadium haben wir uns darauf beschränkt, die Verfassung und Veröffentlichung einer von allen Studenten geschriebenen allgemeinen Kritik der Studentenbewegung und der Gesellschaft zu empfehlen [...]. Wir betonten außerdem, dass die Verfügung über Geldmittel und Geltung das Hauptsächliche und Nützliche an der lächerlichen, ihnen so unvorsichtig überlassenen Autorität sei [...]. Die Genossen stimmten unseren Empfehlungen zu. Während der weiteren Entwicklung dieses Projekts blieben sie besonders durch Mustapha Khayati mit der S.I. in Fühlung.«779
Allerdings wird bereits hier eine Binnendifferenzierung der S.I. erkennbar, da diese ›Beratung‹ in erster Linie durch Khayati und in Rücksprache mit Debord,780 nicht aber durch die ›Garnaultins‹, die den Kontakt zu Schneider und Vayr-Piova hergestellt hatten, erfolgt. Es deutet sich schon in der Anfangsphase eine dreifache Staffelung der Verantwortung von Debord über Khayati zu den Straßburger Studenten und unter fast vollständiger Umgehung der ›Garnaultins‹ an. Doch auch im Verhältnis zwischen der S.I. und den Studenten wird aus dem anfänglichen Potlatch - strategische Beratung im Tausch gegen Publikationsmöglichkeiten und ›Öffentlichkeitsarbeit‹ - recht bald ein Ungleichgewicht von Geben und Nehmen, von aktiv und passiv und von Theoretikern und Praktikern, das den Grundstein legt für sich mehr und mehr herausbildende Verhältnisse der Abhängigkeit und der Hierarchie. Zwar bleibt das Grundmodell des Austauschs zwischen der S.I. und den Studenten weiterhin erhalten, da beide Seiten auf einander angewiesen sind, um die Situation für ihre Zwecke zu nutzen. Allerdings bildet sich in diesem Geben und Nehmen dennoch eine Struktur von aktiven und passiven Beteiligten heraus: denn während die Straßburger Studenten 778 | Vgl. hierzu auch Situationistische Internationale (1967d), S. 269. 779 | Ibidem, S. 270. 780 | Wie eng die Zusammenarbeit ist, belegt der intensive Briefverkehr zwischen Debord und Khayati ab der zweiten Jahreshälfte 1966 (vgl. Debord (2003), S. 154ff.). Auch wenn Debord in Straßburg nicht selbst tätig wird, verdeutlichen diese Briefe seinen Einfluss auf die Vorgehensweise der S.I. und somit auf die Ereignisse in Straßburg.
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gewissermaßen ›passiv‹ geben, indem sie durch ihre Zusammenarbeit mit der S.I. dieser über ihre Position im A.F.G.E.S. als Brückenkopf zur Studentenschaft dienen, ist der Beitrag der S.I. ein deutlich aktiverer, da sie die Straßburger Studenten im Laufe der Zeit nicht nur strategisch berät, sondern ihnen auch massive inhaltliche Hilfestellung leistet und ihnen mehr oder weniger die Worte bzw. die Theoriepositionen in den Mund legt. »Alle waren mit dem Inhalt der vorzubringenden Kritik einverstanden und genauer mit den Grundlinien, wie sie ihnen von Khayati vor Augen geführt worden waren, es wurde für sie aber sichtbar, dass sie unfähig waren, zu einer zufriedenstellenden Formulierung zu kommen [...]. Unter diesen Umständen kam Khayati dazu, die wesentlichen Teile des Textes fast alleine zu verfassen, die dann in dem Masse, wie sie fertiggestellt wurden, innerhalb dieser Studentengruppe in Strassburg diskutiert und gebilligt wurden, sowie von den Situationisten in Paris, die als einzige irgendwie nennenswerte und übrigens zahlenmäßig begrenzte Zusätze hinzufügten.«781
Auch wenn es für die Frage nach einem möglicherweise elitären Selbstverständnis der S.I. nicht unwesentlich ist, ob die Studenten tatsächlich selbst ihre ›Unfähigkeit‹ erkennen oder ob ihnen eine solche nur von der S.I. unterstellt wird und diese so die Verfassung des Textes an sich reißt, was hier auf jeden Fall deutlich wird, ist die Vormachtstellung der S.I. bei der Formulierung der theoretischen Positionen des Straßburger Skandals, die anschließend von den Studenten nur noch durchgewunken werden können. Beim Blick auf die theoretische Ebene ist also eine klare Unterscheidung zwischen der gebenden S.I. und den empfangenden Studenten, zwischen aktiven und passiven Akteuren erkennbar. Dieser Trennung zwischen aktiv und passiv auf deer theoretischen Ebene steht eine ebensolche Trennung auf dem Feld der Praxis gegenüber - hier allerdings mit umgekehrten Vorzeichen. Denn noch vor der Veröffentlichung der Misère beginnen die Straßburger Studenten mit verschiedenen Aktionen für Aufsehen zu sorgen und den Universitätsbetrieb zu stören: »Ainsi le 26 octobre, les cours inaugural de la chaire de psycho-sociologie attribué à Abraham Moles est perturbé par des lanceurs de tomates. [...] A part les perturbations de cours, les étudiants strasbourgeois déclenchent l’irritation de certains par la diffusion de textes particulièrement provocateurs. Au début du mois de novembre, l’affichage d’un tract-bandes dessinés, Le Retour de la Colonne Durutti, conçu par André Bertrand, attire l’attention des étudiants.«782
Auch wenn sowohl die Praxis der Vorlesungssprengungen als auch das 781 | Situationistische Internationale (1967d), S. 270f. 782 | Dumentier (1990), S. 85, Hervorh. im Orig.
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détournement-Comic Le Retour de la Colonne Durutti783 aus den theoretischen Positionen der S.I. abgeleitet werden können bzw. mit diesen im Zusammenhang gesehen werden müssen, so geht in diesem Fall zumindest in der Wirkung nach außen die Aufsehen erregende Praxis der detaillierten Darlegung der theoretischen Positionen voraus. Zentraler ist jedoch die Tatsache, dass alle diese Aktionen allein von den »étudiants pro-situationnistes, tout au plus une douzaine«784 und nicht von den Mitgliedern der S.I. durchgeführt werden. Anders als bei der Formulierung der theoretischen Grundlagen sind es in Bezug auf die konkrete Praxis die Studenten, die die aktive Rolle übernehmen, während die S.I. vollkommen passiv bleibt. Auch wenn sich somit die Verteilung der aktiven und der passiven Rollen zwischen der S.I. und den Straßburger Studenten insgesamt auszugleichen scheint, ergeben sich dadurch zwei Probleme. Das erste Problem betrifft die Frage von Kooperation und Abgrenzung und von Mitgliedschaft und Autonomie. Die Straßburger Studenten leisten einen zentralen Beitrag zur Publikation und zur Verbreitung der Misère, einen noch größeren aber zur Verbreitung des situationistischen Gedankenguts im Allgemeinen. Sie und nicht die Straßburger Situationisten sind es, die für die S.I. arbeiten und den Kontakt zur weiteren Studentenschaft herstellen. Gerade vor dem Hintergrund der Diskrepanz zwischen der Aktivität der Straßburger Studenten für die S.I. und der diesbezüglichen Passivität ihrer Straßburger Mitglieder keimt bei einigen der aktiven Studenten der Wunsch nach Aufnahme in die S.I. auf, was von dieser unter Verweis auf ihr Konzept »eine[r] gemeinsame[n] Aktion zwischen selbstständigen Gruppen« abgelehnt wird.785 Diese klare Grenzziehung erfolgt jedoch noch aus einem anderen Grund: Im Laufe der Ereignisse wird der Skandal von Straßburg in der lokalen und nationalen Presse786 zu einem situationistischen Skandal, nicht zuletzt, da verschiedene Aktivisten Erklärungen und Flugblätter im Namen der S.I. veröffentlichen. Eine solche reduzierte Wahrnehmung der Ereignisse als ›situationistisch‹ lehnt die S.I. aber ab. Dies erstaunt zunächst, da es doch ein erklärtes Ziel der S.I. und Grund ihrer Zusammenarbeit mit den Studenten gewesen ist, verstärkt in die Öffentlichkeit zu treten. Aber »die Situationisten mussten sich gegen die Rekuperierung durch die Presseaktualität bzw. die intellektuelle Mode zur Wehr setzen.«787 Denn ihr wird nun in der Öffentlichkeit genau der Führungsanspruch zugeschrieben, den sie vor dem Hintergrund ihrer theoretischen Ansätze ablehnen muss: 783 | Vgl. zu diesen Aktionen u.a. Bourseiller (1999), S. 293; Dumentier (1990), S. 84ff. sowie Situationistische Internationale (1967d), S. 271. Der Comic ist abgedruckt in Ford (2005), S. 115. 784 | Dumentier (1990), S. 84. 785 | Situationistische Internationale (1967d), S. 272. 786 | Die wohl umfangreichste Sammlung dieser Pressemeldungen findet sich im S.I.-Archive im IISG, Amsterdam. 787 | Ibidem.
Die S.I. im Spannungsfeld von Theorie und Praxis | 441 »Schliesslich war die Broschüre [die Misère, M.O.] zum S.I.-Text geworden: wir hatten es nicht für richtig gehalten, diesen Genossen unsere Hilfe zu verweigern, die dem System eine Wunde schlagen wollten und leider hatte diese Hilfe nicht geringer sein können. Durch diesen Einsatz der S.I. wurde uns für die Dauer der Operation selbst de facto eine Führungsrolle verliehen, die wir auf keinen Fall über diese begrenzte Dauer hinaus verlängern wollten.«788
Dementsprechend weist die S.I. nicht nur eine Vielzahl von Beitrittskandidaten zurück, sondern verlangt sogar von denjenigen Studenten im A.F.G.E.S., mit denen sie eng zusammenarbeitet, eine explizite Distanzierung von der S.I., eine Klarstellung bezüglich des autonomen Charakters ihrer Aktion - einer Autonomie, die zumindest bei der Misère faktisch jedoch nicht gegeben ist. Dennoch beharrt die S.I. auf einer deutlichen Grenzziehung und zwingt die Mitglieder des A.F.G.E.S. zu folgender Erklärung: »Keiner der Mitglieder unseres Büros gehört zur S.I., einer Bewegung, die seit einiger Zeit die gleichnamige Zeitschrift herausgibt, wir haben aber öffentlich unser völlig solidarisches Einverständnis mit ihren Analysen und Perspektiven bekanntgegeben.«789 Erst auf Basis dieser Distanzierung ist die S.I. zu einer weiteren Zusammenarbeit bereit - auch hier ist sie es also, die die Spielregeln vorgibt und paradoxerweise gerade durch die Veröffentlichung einer Autonomieerklärung ihre dominante Stellung verdeutlicht.790 Das zweite - und vor dem Hintergrund der kurz vor dem Skandal von Straßburg von der S.I. angestellten theoretischen Überlegungen zentralere - Problem ist die sich in diesen Ereignissen manifestierende Trennung zwischen Theoretikern und Praktikern. So wie die Straßburger Studenten bei der Theorieproduktion scheitern, sind die Mitglieder der S.I. - allen voran die Straßburger ›Garnaultins‹ - kaum in der Lage oder kaum gewillt, sich an einer entsprechenden Praxis zu beteiligen. Während diese praktische Passivität bei Khayati unter Umständen noch dadurch zu erklären ist, dass er mit der Verfassung der Misère beschäftigt ist, greift dieses Argument bei den ›Garnaultins nicht. Denn bei ihnen ist zu erkennen, dass sie nicht nur auf dem Feld der Praxis, sondern auch auf dem der Theorieproduktion so gut wie gar nicht in Erscheinung treten. Somit aber lassen die Ereignisse von Straßburg auch im Inneren der S.I. eine Trennung zwischen aktiven und passiven Mitgliedern erkennbar werden. Genau diese theoretische und praktische Passivität wird 788 | Situationistische Internationale (1967d), S. 272. 789 | A.F.G.E.S. zitiert in: ibidem, S. 273. Die vollständige Erklärung ist abgedruckt in A.F.G.E.S. (1967). 790 | Insgesamt ist beim Verhalten der S.I. gegenüber ihren Mitstreitern eine Dreiteilung erkennbar: Volle Unterstützung und Solidarität erhalten diejenigen, die außerhalb der S.I. autonom agieren; abgewiesen und mit Abbruch des Dialogs belegt werden diejenigen, die sich der S.I. nähern und um Aufnahme bitten, ohne die dafür notwendige Aktivität vorzuweisen; ausgeschlossen werden schließlich mit den ›Garnaultins‹ diejenigen, die als Mitglied der Gruppe eben diese Defizite an den Tag legen.
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- neben der gescheiterten Verbindung von Theorie und Praxis - zum Kernpunkt der Auseinandersetzung beim Ausschluss der ›Garnaultins‹ - und sie wird paradoxerweise von beiden Seiten als Kritikpunkt vorgebracht. Die ›Garnaultins‹ bemängeln zunächst die Theorie-Fixiertheit der S.I. und stellen fest, »que le développement de ses thèses produit à l’intérieur de l’I.S. les conditions de son propre dépassement en tant que ›groupe de théoriciens‹.«791 Diagnostiziert wird hier somit genau die Tendenz zur Spezialisierung, zur Trennung von Theorie und Praxis, die die S.I. grundsätzlich strikt ablehnt und einige Monate zuvor auf der Konferenz von Paris im Juli 1966 auch aktuell noch einmal scharf kritisiert hatte. Vor allem aber wird bemängelt, dass es bereits innerhalb der Gruppe einen deutlichen Widerspruch zwischen den theoretischen Überlegungen zur Funktionsweise der Gruppe und deren tatsächlicher interner Praxis gebe bzw. dass die ausführliche theoretische Reflexion über Fragen der Praxis über deren Defizite in der Realität hinwegtäuschen solle. An dieser Stelle kommt dann auch der Aspekt von aktiv und passiv und die Forderung nach egalitärer Beteiligung aller Mitglieder zur Sprache. So sei diesbezüglich klar erkennbar, »que le projet réformiste et abstrait d’une participation accrue de tous ne sert qu’à masquer les rapports réels: une forme subtile et d’un nouveau type de la relation maître-disciple, où se reconstituent hiérarchie, dépendance et par la même idéologie.«792 Die S.I. als rein theoriebasierte und in ihrem Inneren von Hierarchie, Lehrer-Schüler-Verhältnissen, Abhängigkeiten und Ideologie geprägte Gruppe - schärfer und umfangreicher kann die Kritik an der Gruppe kaum ausfallen, zumal auch noch deren interne Kommunikations- und Diskussionskultur angegriffen werden und die Rede ist von einer »situation de mensonge générale«793 und von einem »refus de discuter«.794 Aber die ›Garnaultins‹ beschränken sich nicht auf eine Kritik der internen Widersprüche zwischen Theorie und Praxis der S.I. Auch mit Blick auf das Außenverhältnis der S.I. heben sie genau diese gescheiterte Synthese von Theorie und Praxis und die dadurch entstandenen Abhängigkeitsverhältnisse und Hierarchien zwischen der S.I. und der Studentenschaft hervor. So stellen sie fest, »que l’I.S. est historiquement incapable de se transformer en une organisation révolutionnaire conséquente, médiatrice entre la théorie et la pratique: tous les efforts entrepris dans ce sens n’ont conduit qu’à une pratique sous-bolchévique.795 Die von den ›Garnaultins‹ im Inneren der S.I. diagnostizierten Widersprüche zwischen Theorie und Praxis und die daraus entstehenden hierarchischen Abhängigkeitsverhältnisse lassen sich somit aus ihrer Sicht auch im Verhältnis der S.I. zu anderen Gruppierungen ausmachen. Was schon 791 | Frey, Édith/Théo Frey/Jean Garnault/Herbert Holl (1967), S. 72. 792 | Ibidem. 793 | Ibidem. 794 | Ibidem. 795 | Ibidem.
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innerhalb der eigenen kleinen Gruppe nicht funktioniert, ist in einem größeren und komplexeren Rahmen noch weniger zu erreichen. Die Folgerungen der ›Garnaultins‹ aus dieser massiven Kritik am hierarchischen und elitären Charakter der S.I. sind ebenso grundlegend; die Bekanntgabe ihres Austritts ist dabei noch der am wenigsten bedeutsame Aspekt. Viel grundlegender ist die Tatsache, dass sie der S.I. ihren revolutionären Führungsanspruch und damit ihre Existenzberechtigung absprechen. Dass sie dies mit den Worten der S.I. bzw. mit einem détournement einer ihrer zentralen Aussagen formulieren, unterstreicht den grundlegenden Charakter ihrer Kritik abermals. So heißt es am Ende ihrer Erklärung kurz und präzise: »La tâche d’être plus extrémiste que l’I.S. n’appartient désormais plus à l’I.S.«796 Doch so radikal diese Kritik seitens der ›Garnaultins‹ ist, so radikal wird sie von der S.I. auch zurückgewiesen.797 Dass dabei statt von einem Austritt vom Ausschluss der Straßburger Situationisten gesprochen wird, ist auch hier nur der Ausgangspunkt einer grundlegenden Kritik an deren Verhalten sowohl innerhalb der Gruppe als auch während der Ereignisse von Straßburg. Der zentrale Ansatzpunkt der Gegenkritik der S.I. ist hierbei die Tatsache, dass die Kritik an der Passivität und Hierarchie in der S.I. mit den ›Garnaultins‹ gerade von Mitgliedern vorgetragen wird, die selbst auffällig passiv bleiben und somit selbst zur Unterscheidung von aktiven und passiven Mitgliedern beitragen. Die S.I. wendet nun die von den ›Garnaultins‹ vorgebrachte These von der hierarchischen Struktur gegen sie, indem der Begründungszusammenhang umgekehrt wird. Aus der Sicht der S.I. ist nicht die angebliche Hierarchie für die Passivität der ›Garnaultins‹ verantwortlich, indem sie ihre Potentiale unterdrückt, sondern vielmehr wird die Hierarchie von den ›Garnaultins‹ quasi herbeigeredet, um ihre Passivität zu rechtfertigen: »Sie [die ›Garnaultins‹, M.O.] haben die Mehrheit, die sie von sich wies - sie bestand eigentlich aus allen, die nicht zu ihrer so entdeckten Fraktion gehörten - einer Diktatur Debords und dessen fanatischen Anhängern zugeschrieben. Sie haben diese persönliche Macht innerhalb der S.I. erfunden, um auf sie die Dialektik von Herr und Sklave anzuwenden. Sie glauben sie seien Sklaven gewesen, die Guy Debords Zielen gedient hätten und dadurch bestimmt, zu Herren zu werden. Vielleicht waren sie ja Sklaven - aus persönlichem Geschmack: das wussten wir nicht. In diesem Fall waren sie aber Sklaven, die nicht arbeiteten.«798
Neben dem Versuch, die Existenz hierarchischer Strukturen als strategisches Konstrukt zu entlarven, wird hier somit implizit der Vorwurf laut, dass es gerade die ›Garnaultins‹ als Kritiker der Hierarchie seien, die eine solche zu etablieren versuchen - dann allerdings mit ihnen selbst in der 796 | Frey, Édith/Théo Frey/Jean Garnault/Herbert Holl (1967), S. 72. 797 | Vgl. hierzu auch nochmals das entsprechende Flugblatt der S.I. Situationistische Internationale (1967c). 798 | Situationistische Internationale (1967a), S. 322.
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Position der Herren. Eine ähnliche Argumentation der S.I. lässt sich auch in Bezug auf den von den ›Garnaultins‹ geäußerten Vorwurf der Intransparenz, der Verschleierung der tatsächlichen Gruppenstrukturen sowie der mangelnden Offenheit für abweichende Meinungen ausmachen: »Um diesen Jux zu unterstützen - nach dem Debord allein immer alles geleitet und gemacht haben soll - müssen die dümmsten Verfahren mit mehr als zehn offensichtlichen Lügen herhalten: so z.B. die Meinung, es hätte nie Oppositionen innerhalb der S.I. gegeben, während unsere Garnault-Anhänger ganz im Gegenteil die erste dieser Oppositionen gewesen sind, die feige geheim geblieben ist.«799
Der S.I. gelingt es, durch eine konsequente Umkehrung der Argumentation, nicht mehr das Verhalten der ›Garnaultins‹ als Resultat der defizitären Gruppenstrukturen erscheinen zu lassen, sondern im Gegenteil diesem Verhalten die Schuld dafür zu geben, dass diese nicht-egalitären und intransparenten Strukturen überhaupt entstehen können. »[C]e qu’ils attaquent post festum dans l’I.S., c’est uniquement l’effet de leur propre présence.«800 Passivität und Geheimhaltung werden umgedeutet von der Reaktion auf bestehende Strukturen hin zu deren Ursache, um im gleichen Atemzug auch den Ideologie-Vorwurf zurückzugeben: »Ihrer geheim gebildeten Fraktion lag das Thema der in der S.I. herzustellenden Gleichheit zugrunde und diese Ideologen der reinen Gleichheit waren verblendet genug, um nicht einzusehen, dass ihre Bildung als geheime Fraktion [...] sie über die gesamte S.I. stellte und die erste objektive Ungleichheit darstellte, die in den Beziehungen zwischen Situationisten hergestellt und institutionalisiert wurde.«801
Interessant an dieser Auseinandersetzung zwischen der S.I. und den ›Garnaultins‹ ist vor allem, dass beide Seiten mehr oder weniger die gleichen Argumente ins Spiel bringen, aber aufgrund einer Umkehrung der Begründungszusammenhänge zu vollkommen konträren Ergebnissen kommen. Diese gegensätzlichen Einschätzungen beziehen sich dabei sowohl auf die Analyse der Gruppenstruktur innerhalb der S.I. als auch auf das Verhältnis der S.I. zu anderen Gruppierungen. Während sich die ›Garnaultins‹ auf die Kritik der Strukturen konzentrieren und dementsprechend zu dem Schluss kommen, dass die S.I. in ihrer bisherigen Gestalt aufgehoben oder zumindest durch einen Austritt missbilligt werden muss, weist die S.I. eine solche Kritik zurück und richtet den Fokus ihrer Gegenkritik folgerichtig auf das Verhalten der die Gruppenstrukturen 799 | Situationistische Internationale (1967a), S. 324. 800 | Bernstein, Michèle/Guy Debord/Mustapha Khayati/Jeppesen Victor Martin/Donald Nicholson-Smith/Raoul Vaneigem/René Viénet (1967), S. 750, Hervorh. im Orig. 801 | Situationistische Internationale (1967a), S. 322.
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ihrer Meinung nach zu Unrecht kritisierenden Mitglieder und vollzieht deren Ausschluss. Zudem fällt auf, dass die Auseinandersetzung zwischen den ›Garnaultins‹ und der S.I. - ähnlich wie dies bereits im Fall der ›Nashisten‹ erkennbar war - gegenüber den inhaltlich-theoretischen Kontroversen der Anfangsjahre an Radikalität gewinnt, aber zugleich an Produktivität verliert. Dies hängt damit zusammen, dass diese Art der Kritik sich nicht mehr an einzelnen Theoriepositionen orientiert, sondern die Struktur und die Funktionsweise - in anderen Worten die Praxis - der S.I. in den Blick nimmt und somit schnell an den Punkt gelangt, die Gruppe als solche in Frage zu stellen. Dementsprechend radikal reagiert die S.I. wiederum auf eine solche Kritik, was weder im Fall der ›Nashisten‹ noch bei den ›Garnaultins‹ zu einer produktiven Debatte, sondern sehr schnell zum Ausschluss der Kritiker führt, an den sich eine meist langwierige und polemische Gegenkampagne anschließt. Dieser bei der S.I. zu erkennende Selbstverteidigungsreflex gegenüber jeder Kritik an der eigenen Gruppenpraxis ist jedoch für eine Gruppe, die den Entwurf einer umfassenden Kritik anstrebt, problematisch. Denn eine umfassende Gesellschaftskritik entwerfen und dabei zugleich die eigene Gruppe aus dem Feld einer solchen Kritik ausklammern zu wollen, erscheint äußerst fragwürdig. Des Weiteren wirkt sich hier die ›Disziplin‹ der Gruppe und ihre Ausschlusspraxis - in Kombination mit der strikten Aufnahmepolitik - auch negativ auf ihr Außenverhältnis aus. Denn durch den Ausschluss der ›Garnaultins‹, der als Folge einer internen Spaltung der S.I. bzw. als Reaktion auf die in ihr erkennbare Differenz zwischen aktiven und passiven Mitgliedern erfolgt, wird auch nach außen eine Spaltung eingeleitet. Dies betrifft einerseits das Verhältnis zwischen der S.I. und der Studentenschaft insgesamt und zum anderen die Studentenschaft an sich, da bei dieser nun wiederum eine Differenz zwischen den Anhängern der S.I. und denjenigen, die den ›Garnaultins‹ die Treue halten, entsteht.802 Die rigide Ausschlusspolitik, die der Kohärenz und der Einheit der Gruppe dienen soll, führt nach außen gerade zum Gegenteil: zu einer Spaltung der protestbereiten Studentenschaft. Auf der einen Seite stehen diejenigen Studenten, die mit ihrem autonomen Status außerhalb der S.I. einverstanden sind, weiterhin mit ihr kooperieren und gemeinsam mit der S.I. eine Front bilden gegen diejenigen Studenten, die gerne in die S.I. eingetreten wären, aber von ihr abgewiesen wurden und die sich nun mit den ›Garnaultins‹ zusammentun und gewissermaßen eine ›Fraktion der Abgewiesenen‹ bilden.803 Die internen Konflikte und die Praxis des Ausschlusses als ›Konfliktlösungsstrategie‹ erschweren oder verhindern in diesem Fall die Entstehung einer sowohl autonomen als auch kohärenten Studentenbewegung. 802 | Vgl. Marelli (1998), S. 291. 803 | Vgl. zu dieser Fraktionsbildung Situationistische Internationale (1967d), S. 274ff.
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Doch noch unter einem weiteren Blickwinkel ist diese Entwicklung kritisch zu werten: Denn der Ausgangspunkt dieser Auseinandersetzung ist das Verhältnis von Theorie und Praxis und die Erkenntnis der S.I., dass es an der Zeit sei, die gegenüber ihrer Theorie noch defizitäre Praxis zu stärken, der Theorie eine Praxis an die Seite zu stellen, um diese beiden Aspekte im Wechselspiel produktiv weiter zu entwickeln. Dass nun bereits beim ersten Ansatz zu einer solchen Praxis bzw. zur Verbindung von Theorie und Praxis die diesbezüglichen Probleme sehr deutlich hervortreten, ist dabei nicht der Kern des Problems. Dieser ist vielmehr darin zu sehen, dass die S.I. nicht in der Lage ist, dieser Praxis die notwendige Zeit einzuräumen, sich zu entwickeln, und dass hier also viel weniger Differenztoleranz erkennbar ist, als bei der anfänglichen theoretischen Positionssuche. Vor allem führen die Probleme der Praxis ›nach außen‹ gerade dadurch, dass sie stets auch auf die Defizite der internen Praxis verweisen, dazu, dass sich die Gruppe zunächst wieder aus dieser zurückzieht und sich erneut auf die rein theoretische Diskussion einer möglichen Praxis beschränkt, auf eine Diskussion jedoch, die sich mehr und mehr auf die Gruppe selbst bezieht. Standen anfangs inhaltlich-theoretische Fragen im Mittelpunkt und haben den Austritt und Ausschluss diverser Mitglieder zur Folge, so wird nun die Frage der Organisation immer zentraler. Sie legt den Grundstein dafür, dass sich die S.I. zu einem Zeitpunkt, an dem sie beginnt, mit ihren theoretischen Konzepten nach außen praktisch wirksam zu werden, immer mehr nach innen kehrt bzw. einen Großteil ihrer Kapazitäten für organisatorischstrukturelle Diskussionen, für die Theorie der internen Praxis verwendet. Dadurch fehlen jedoch Kapazitäten sowohl für eine tatsächliche interne Praxis als auch für die Weiterentwicklung einer nach außen orientierten Theorie der Praxis. Diese Konzentration auf die Frage nach der internen Organisationsstruktur und der damit einhergehende Rückzug aus der Öffentlichkeit und aus jeglicher Praxis ist in Reinform jedoch erst nach dem Mai 1968 zu beobachten. Zwar ist auch nach den Ereignissen von Straßburg ein temporärer Rückzug aus der Öffentlichkeit und eine Gewichtsverlagerung von der Praxis zurück zur theoretischen Reflexion dieser Praxis erkennbar, dies entspricht jedoch den Ansätzen zum Wechselverhältnis von Theorie und Praxis, wie sie auf der Konferenz von Paris im Juli 1966 diskutiert wurden. Vor allem aber ist mit dieser erneuten Konzentration auf die theoretische Reflexion der Organisationsstruktur noch keine Beschränkung auf die eigene Gruppe und ihrer internen Strukturen verbunden. Vielmehr werden die Fragen der internen Organisation und Praxis explizit mit der Frage nach den Außenkontakten der S.I. verknüpft - insofern sind diese theoretischen Reflexionen des Jahres 1967 eine direkte Reaktion auf die im Straßburger Skandal aufgetauchten Probleme und zielen auf ein kommendes Praktisch-Werden dieser Theorie ab.
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4.4.8 Die Organisationsdebatte und ihre Ausschlüsse I Bereits kurz nach dem Ausschluss der ›Garnaultins‹ und noch bevor die Ereignisse von Straßburg zu ihrem wirklichen Ende gefunden haben, wird von Debord eine Debatte über die Organisationsstruktur der S.I. eingefordert bzw. begonnen. Diese wird jedoch entsprechend der dabei im Mittelpunkt stehenden zwei Fragenkomplexe - Struktur der S.I. und ihre Außenkontakte - nicht nur zwischen den Mitgliedern der Gruppe, sondern auch und in wesentlichen Anteilen mit anderen Gruppierungen geführt, die für eine Kooperation in Frage kommen. Die zentralen Aspekte dieser Überlegungen gilt es hier zu skizzieren, da diese zum einen in der zweiten Organisationsdebatte nach dem Mai 1968 wieder aufgegriffen werden und sie zum anderen von Bedeutung sind für den Ausschluss der Engländer im Dezember 1967, der in erster Linie auf Differenzen bezüglich der Außenkontakte zurückzuführen ist. Zunächst stehen bei der 1967 aufgenommenen Organisationsdebatte - wie der Name schon nahelegt - Fragen der Organisation der eigenen Gruppe im Mittelpunkt. Auch wenn dabei immer wieder auf die ›Garnaultins‹ Bezug genommen wird, wird jedoch gleichzeitig betont, dass es nicht um die Frage nach der Berechtigung dieses Ausschlusses an sich geht, sondern dass das Verhalten der ›Garnaultins‹ vielmehr auf Probleme innerhalb der eigenen Gruppe hinweist. »Si l’exclusion des trois trucqueurs ne pose presque aucun problème pratique [...], elle semble au contraire imposer une nouvelle clarification théorique: le fait qu’il y ait eu une fraction secrète dans un groupe proclamé ›cohérent‹ doit nous mener à préciser: 1) la cohérence théorico-pratique que nous voulons effectivement, et à quel niveau on doit atteindre la participation démocratique à la gestion de l’ensemble de notre activité.«804
Wie bereits nach dem Ausschluss der ›Nashisten‹ steht auch hier die Frage nach der demokratischen und egalitären Struktur der S.I. im Mittelpunkt, ergänzt um die seit der Konferenz von Paris im Juli 1966 auf der Tagesordnung stehenden Frage nach der Einheit von Theorie und Praxis, die die Anforderungen an die Mitglieder der S.I. erhöht. Doch die hier aufgeworfenen Überlegungen beziehen sich nicht nur auf die ehemaligen und die aktuellen Mitglieder der S.I., sondern ebenso auf die zukünftigen und stoßen somit eine erneute Debatte über die Frage von Beitritt, Mitgliedschaft und Ausschluss an. Diese aber ist, wie das Beispiel der ›Garnaultins‹ deutlich zeigt, als Scharnier zwischen rein internen Problemen und dem Problem der Außenkontakte anzusehen. 804 | Debord (2003), S. 207f., an die Mitglieder der S.I., 7.2.1967, Hervorh. im Orig. Auf die Rolle der ›Garnaultins‹ als Auslöser der Organisationsdebatte weist auch Vaneigem im Oktober 1967 hin. Allerdings steht bei ihm nicht der Begriff der Kohärenz, sondern der der Transparenz im Mittelpunkt (vgl. Vaneigem (1967), S. 285).
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Das Überschreiten der Gruppengrenze und die dabei angelegten Maßstäbe verbinden die Anforderungen im Inneren mit denen, die nach außen gestellt werden. »[...] [D]oit nous mener à préciser: [...] 2) Quelles gens - dans quelles conditions précises - nous pouvons désormais admettre (en fonction de réponse au premier point). À propos de ceci, nous devions bien voir que la sévérité vers l’extérieur montrée par l’I.S. l’année dernière est partiellement entachée d’arbitraire puisquelle couvrait des Frey-Garnault-Holl.«805
Hier rekurriert Debord auf das im Skandal von Straßburg erkennbare Problem, dass sich unter den Aktivisten, die die S.I. nicht hatte aufnehmen wollen, solche fanden, die aktiver und in deutlicherer Übereinstimmung mit den Positionen der S.I. agierten, als dies bei einigen Mitgliedern der Gruppe der Fall war. Damit aber werden die Ansprüche der S.I. gegenüber Außenstehenden unglaubwürdig. Daraus wird implizit die Feststellung abgeleitet, dass die strikte Mitgliedschaftspolitik der S.I. nur dann gerechtfertig ist, wenn sie in ihrem Inneren dazu führt, dass die Praxis der eigenen Theorie entspricht, dass also die eigene Gruppe gewissermaßen mit gutem Beispiel für die in einem größeren Rahmen angestrebten Kommunikations- und Handlungsmuster vorangeht. Gleiches gilt für den Kontakt mit weiterhin autonom bleibenden Gruppen, da auch hier die Ansprüche der S.I. nach außen nicht von deren Umsetzung im Inneren zu trennen sind. Dementsprechend setzt Debord die Frage nach dem Außenkontakt als dritten Aspekt auf die Tagesordnung der Organisationsdebatte: »[...] doit nous mener à préciser: [...] 3) Les relations avec des groupes autonomes (en fonction des réponses aux deux premiers points.)«806 Dass die alte Frage des Eintritts in die S.I., ergänzt um die der Kooperation mit anderen Gruppen, nun wieder so im Zentrum steht, ist aus der zunehmenden Attraktivität der S.I. zu erklären, die aus ihrem Schritt in die Öffentlichkeit während des Straßburger Skandals resultiert. Hier beginnt das Problem der ›Pro-Situs‹, der von der S.I. abgelehnten Anhänger, da sie grundlegende Aspekte des situationistischen Projekts nicht beachten und maßgeblich zu seiner récupération beitragen. In einer recht widersprüchlichen Argumentation begründet die S.I. die Zurückweisung dieser Anhänger zum einen damit, dass sie versuchen muss, den ihr von diesen zugeschriebenen elitären Führungsanspruch abzuwehren, um zum anderen zugleich auf deren inhaltliche Unzulänglichkeiten hinzuweisen und den eigenen Vorbildcharakter zu betonen. »Bei dem Versuch, den neuen revolutionären Kräften ein Modell theoretischer wie praktischer Kohärenz zu präsentieren, findet sich die S.I. in jedem Moment 805 | Debord (2003), S. 208, an die Mitglieder der S.I., 7.2.1967. 806 | Ibidem, an die Mitglieder der S.I., 7.2.1967.
Die S.I. im Spannungsfeld von Theorie und Praxis | 449 in der Lage und dazu aufgefordert, durch Ausschluß oder Bruch die Versäumnisse, die Unzulänglichkeiten, die Kompromittierungen derjenigen zu sanktionieren, die sie zu dem am weitesten fortgeschrittenen experimentellen Stadium ihres gemeinsamen Projekts machen - oder es in ihr erkennen.«807
Mag dies für die Frage nach den internen Strukturen und für den Ausschluss, wie oben skizziert, noch einleuchten, so ist diese Haltung nach außen doch problematisch. Im Hinblick auf die zentralen Fragen der Organisationsdebatte ist jedoch entscheidend, dass auch bei Vaneigem der Zusammenhang zwischen internen Strukturen und externen Kontakten, zwischen Außenwirkung und Abgrenzung, zwischen dem Wunsch nach der Ausdehnung der revolutionären Bewegung insgesamt und der Notwendigkeit einer klaren Abgrenzung der eigenen Gruppe deutlich hervortritt. »Wir haben oft wiederholt, dass es wichtig ist, sich nicht über Personen zu täuschen, das gilt es unaufhörlich zu beweisen und dadurch die Unmöglichkeit zu vergrössern, sich über uns zu täuschen. Und was für Personen gilt, gilt ebenso für Gruppen.«808 An den hohen Ansprüchen der S.I. gegenüber ihren eigenen Mitgliedern und ihrer dementsprechend stets praktizierten ›Strenge‹ bei deren Auswahl wollen also weder Debord noch Vaneigem zu diesem Zeitpunkt etwas ändern - es gilt nun vielmehr, diese ›Strenge‹ auch beim Blick nach außen, und zwar auf ein Außen, das keine Ambitionen hat, ins Innere der Gruppe zu gelangen, sondern als Außen autonom zu kooperieren, anzuwenden. Dementsprechend werden die Fragen nach der internen Struktur, nach der Aufnahme von Mitgliedern und nach dem Verhältnis der S.I. zu autonomen Gruppierungen auch immer stärker im Austausch mit anderen Gruppen erörtert und in ihren Zusammenhängen nochmals präzisiert. Dadurch werden die Hürden auf dem Weg zu einer Zusammenarbeit nochmals erhöht, da neben der inhaltlichen Übereinstimmung auch ein Einverständnis bezüglich der Struktur der Zusammenarbeit erzielt werden muss. Dies wird im Austausch mit der Gruppe Internationale anarchiste in Rennes, die mit der S.I. zusammenarbeiten oder gar mit ihr fusionieren möchte, deutlich. Im Dialog mit dieser Gruppe wird für die S.I. »à côté de notre accord sur des points fondamentaux, et justement produite par l’existence incontestable de cet accord - une divergence sur la question de l’organisation«809 erkennbar, die 807 | Vaneigem (1967), S. 284. 808 | Ibidem. Dieses Spannungsverhältnis von Abgrenzung und Kooperation, von der Entwicklung der eigenen Position und ihrer Verbreitung wird auch in folgender Passage nochmals betont: »Da die Internationale heute über einen theoretischen und praktischen Reichtum verfügt, der sich nur noch vermehrt, sobald ihn die revolutionären Elemente teilen, sich aneignen und erneuern (bis die S.I. und die autonomen Gruppen ihrerseits im revolutionären Reichtum verschwinden), ist sie es sich schuldig, nur diejenigen aufzunehmen, die es in Kenntnis dessen, worum es geht, wünschen.« (ibidem, S. 286f.). 809 | Debord (2003), S. 226f., an die Gruppe Internationale anarchiste in Rennes, 16.7.1967.
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eine Zusammenarbeit erschwert. Denn »tandis que nous sommes nettement partisans de la multiplication des organisations révolutionnaires autonomes, le Reste [der Wortführer der Gruppe in Rennes, M.O.] pense plûtot à leur fusion.«810 Die S.I. begründet ihre ablehnende Haltung bezüglich der Fusion mit anderen Gruppen zum einen mit ihrer Skepsis bezüglich der Funktionsweise und Handlungsfähgkeit großer Gruppen und stellt daher zunächst fest: »Le ›renforcement‹ numérique considéré comme un avantage univoque ne peut être admis par nous.«811 Die Frage nach dem Außenkontakt als Fusion wird also sofort zurückgeführt auf die Frage der eigenen Gruppenstruktur. Und auch wenn hier sicherlich der grundlegende Wunsch der S.I. mitschwingt, den Zugang zur eigenen Gruppe strikt kontrollieren zu können, so wird diese Haltung doch auch inhaltlich begründet und mit der Forderung nach einer aktiven und nicht nur formalen über die abstrakte Kategorie der bloßen Mitgliedschaft definierte - Beteiligung all ihrer Mitglieder an einer wirklichen gemeinsamen Praxis verbunden: »Il [die Vergrößerung der Gruppe, M.O.] peut être néfaste d’un point de vue interne, s’il introduit un déséquilibre entre ce que nous avons réellement à faire et les effectifs qui n’y seraient qu’abstraitement employables, et donc subordonnés - du fait d’obstacles géographiques ou autres.«812 Hier klingt jedoch bereits das zweite Argument der S.I. gegen eine Fusion mit anderen Gruppen an: ihre Ablehnung jeglicher Hierarchie. Dieses Argument wird einmal mit Blick auf das Problem von Hierarchien zwischen verschiedenen autonomen Gruppen angewendet und einmal mit Blick auf die Gefahr der Herausbildung von Hierarchien innerhalb der Gruppe. Genau eine solche interne Hierarchie könnte aus Sicht der S.I. durch ein Zusammengehen mit anderen Gruppen entstehen, da es eine deutliche und sprunghafte Vergrößerung der eigenen Gruppe zur Folge hätte. »Nous pensons [...] que cette hiérarchie menace à l’intérieur d’une organisation, du moment que certains peuvent y être conduit à approuver et exécuter ce qui est décidé par l’organisation, alors qu’ils auraient là moins de pouvoir que d’autres pour influencer ce résultat.«813 Aus Sicht der S.I. lassen sich ihre Forderungen nach einer demokratischen, egalitären und transparenten Praxis innerhalb der eigenen Gruppe nur bei einer relativ überschaubaren Mitgliederzahl verwirklichen. Mit der Realisierung dieser Forderungen aber steht und fällt die Glaubwürdigkeit der S.I. bezüglich ihrer Praxis der Theorie. Der Probleme ihrer internen 810 | Debord (2003), S. 227, an die Gruppe Internationale anarchiste in Rennes, 16.7.1967. 811 | Ibidem, S. 228, an die Gruppe Internationale anarchiste in Rennes, 16.7.1967. 812 | Ibidem, an die Gruppe Internationale anarchiste in Rennes, 16.7.1967. Doch auch in der externen Perspektive kann eine solche Vergrößerung problematisch werden, da sie die Überschätzung der eigenen Machtposition innerhalb der Gesellschaft, eine »volonté de pseudo-puissance« (ibidem, an die Gruppe Internationale anarchiste in Rennes, 16.7.1967) zur Folge haben kann. 813 | Ibidem, an die Gruppe Internationale anarchiste in Rennes, 16.7.1967.
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Praxis scheint sich die S.I. somit durchaus bewusst zu sein - wenn sie auch ausblendet, dass diese auch schon bei einer kleinen Mitgliederzahl nur schwer zu verwirklichen ist, wie die bisher skizzierten Konflikte innerhalb der Gruppe deutlich gemacht haben. Demgegenüber sieht die S.I. die Gefahr der Herausbildung hierarchischer Verhältnisse zwischen verschiedenen autonomen Gruppen nicht als gegeben an. »Nous sommes désaccord avec Loïc le Reste quand il considère que l’autonomie d’organisations différentes peut introduire entre elles une hiérarchie. [...] [N]ous comprenons pas comment une organisation effectivement autonome - et, bien sûr, rejetant toute double appartenance - pourrait subir un pouvoir extérieur.«814 Im Verhältnis zu anderen Gruppen traut die S.I. sich und ihren Kooperationspartnern somit eine größere Widerstandsfähigkeit gegen das Problem der Hierarchie zu als bei den gruppeninternen Prozessen - eine Einschätzung, die nach den Ereignissen und Schwierigkeiten des Straßburger Skandals etwas verwundert. Eventuell lässt sich das Ausblenden dieses Problems seitens der S.I. dadurch erklären, dass der Hinweis auf solche Hierarchien im Außenverhältnis ein Kernpunkt gerade der Kritik der ›Garnaultins‹ war: »Sans doute une telle idée a déjà connu une expression ›garnautine‹«815 . Genau diese Kritik wies die S.I. jedoch aufs schärfste von sich, nicht zuletzt, da sie mehr oder weniger explizit mit dem Vorwurf des elitären Auftretens der S.I. gegenüber anderen Gruppierungen verbunden war - ein Vorwurf, der so gar nicht zum sowohl intern wie auch extern egalitären Selbstverständnis der S.I. passt. Auch wenn in dieser Organisationsdebatte der Aspekt der Außenkontakte verstärkt ins Blickfeld rückt, sind insgesamt kaum neue Gesichtspunkte oder gar eine Änderung der Handlungsstrategie der S.I. erkennbar. Sie hält weiterhin an ihrer Ausschlusspolitik und an der strengen Prüfung von Beitrittskandidaten fest - beides unter Verweise auf die Forderung nach einer transparenten und egalitären Gruppenstruktur. Mit dem gleichen Argument werden Fusionen mit anderen Gruppierungen abgelehnt. Eine egalitäre Zusammenarbeit ist aus Sicht der S.I. nur auf der Basis einer autonomen Kooperation der Beteiligten bei inhaltlicher Übereinstimmung derselben möglich - und dies sowohl innerhalb einer Gruppe als Kooperation autonomer Invidividuen als auch zwischen verschiedenen Gruppierungen. An die Mitgliedschaft und an die Kooperation werden mit denselben Argumenten vergleichbare Ansprüche gestellt. Doch auch auf eine andere - problematische - Weise sind die Fragen von Mitgliedschaft und Kooperation miteinander verbunden. Denn die strenge Auswahl der Mitglieder der eigenen Gruppe sorgt - in Kombination mit der doch recht überzeugten Außendarstellung der von ihr entwickelten Theoriepositionen - dafür, dass die S.I. als elitäre Gruppe wahrgenommen und ihr sowohl von der Öffentlichkeit als auch von an814 | Debord (2003), S. 228, an die Gruppe Internationale anarchiste in Rennes, 16.7.1967, Hervorh. im Orig. 815 | Ibidem, an die Gruppe Internationale anarchiste in Rennes, 16.7.1967.
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deren Gruppierungen ein Führungsanspruch zugeschrieben wird, wie dies in Straßburg klar erkennbar wird. Doch auch die S.I. selbst unterstreicht diesen Führungsanspruch ungewollt, da sie bei ihrer eigentlich auf egalitäre, autonome Kooperation abzielenden Kommunikation mit anderen Gruppen vor allem von einer ›Prüfung‹ dieser Gruppen spricht. Eine solche ›Prüfung‹ aber, ob die potentiellen Kooperationspartner mit einer autonomen Zusammenarbeit einverstanden sind und ob ihre Positionen mit denen der S.I. übereinstimmen bzw. ob sie Letztere als bereits vorhandene akzeptieren, beinhaltet von Beginn an die Gefahr der Herausbildung hierarchischer Beziehungen, da die S.I. so stets die Spielregeln vorgibt. Die Strategie der Strenge, die bei der Auswahl der eigenen Mitglieder an den Tag gelegt wird - und deren Erfolg bereits auf der gruppeninternen Ebene sehr zweifelhaft ist - wirkt sich somit bereits an sich explizit auf die Außenwirkung und auf das Außenverhältnis der S.I. aus. Dass sie nun auch noch auf die Auswahl der Kooperationspartner übertragen wird, macht die Sache nicht einfacher und trägt nicht dazu bei, den Elitismus-Vorwurf aus der Welt zu räumen. Doch noch auf eine ganz andere, konkrete Art und Weise sind die Fragen nach der internen Struktur und den Außenkontakten miteinander verbunden und haben die Außenkontakte umgekehrt einen direkten Einfluss auf die interne Struktur und die Mitgliedschaft. Denn durch die Ergänzung des Kriteriums der inhaltlichen Übereinstimmung als Bedingung einer Zusammenarbeit um das Kriterium des übereinstimmenden Organisationsverständnisses bei der Prüfung von möglichen Kooperationspartnern, wird auch innerhalb der S.I. neues Konfliktpotential geschaffen, da es nun zwei Teilaspekte gibt, bei denen ihre Mitglieder im Einzelfall unterschiedliche Meinungen entwickeln können. So aber erhöht sich die Gefahr, dass die Meinungen innerhalb der S.I. über mögliche Kooperationspartner außerhalb so stark voneinander abweichen, dass sich nicht nur die Frage nach dem Bruch oder der Kooperation mit dem Außen stellt, sondern die unterschiedlichen Antworten darauf auch einen Ausschluss zur Folge haben können. Eine solche Konstellation ist im Fall des Ausschlusses von Timothy Clarke, Christopher Gray und Donald Nicholson-Smith im Dezember 1967 erkennbar. Bereits in der Ausschlussmeldung in der I.S. wird auf den Zusammenhang zwischen diesem Ausschluss und der Frage nach den Außenkontakten hingewiesen - interessanterweise geht es dabei nicht um die Kontakte der ausgeschlossenen englischen Mitglieder, sondern um die Kontakte der neu gegründeten amerikanischen Sektion: »Die Meinungsverschiedenheiten, die bei allen anderen Punkten nicht vorhanden oder unbemerkt geblieben waren, haben sich plötzlich nicht daran entzündet, was in England gemacht wurde, sondern an der Frage der Beziehungen und der möglichen Aktion der S.I. in den Vereinigten Staaten.«816 Die erhoffte Internationalisierung der S.I. durch die Gründung einer amerikani816 | Situationistische Internationale (1969e), S. 419.
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schen Sektion ist somit nur teilweise erfolgreich, da sie gleichzeitig das Verschwinden der kompletten englischen Sektion zur Folge hat. Die S.I. steht über Raoul Vaneigem seit längerem im Kontakt mit Robert Chasse und Tony Verlaan in New York, und im Dezember 1967 wird auf der inhaltlichen Ebene das Einverständnis mit den beiden Amerikanern festgestellt: »À New York, Raoul s’accordait (comme nous souhaitions) avec les camarades qui étaient déjà les plus proches des positions de l’I.S.«817 Entsprechend den Kernpunkten der skizzierten Organisationsdebatte ist neben der inhaltlichen Übereinstimmung mit den Positionen der S.I. auch die klare Abgrenzung von anderen Gruppierungen, die die S.I. für rückschrittlich hält, ein zentrales Kriterium für die Aufnahme der beiden in die S.I.818 Der Bruch, um den es geht, ist derjenige mit Ben Morea, dem Herausgeber der Zeitschrift Black Mask,819 »mit dem unsere amerikanischen Genossen über so gut wie alle Fragen der revolutionären Aktion in Konflikt geraten waren und dessen intellektuelle Ehrlichkeit sie sogar bezweifelten.«820 Dieser Bruch, den die beiden Amerikaner noch vor ihrer Mitgliedschaft in der S.I. vollziehen, wird nun von der S.I. als ›ihr‹ Bruch angesehen und hat zur Folge, dass auch Vaneigem bei seinem Aufenthalt in New York jegliche Kommunikation mit Morea verweigert, worüber sich dieser wiederum bei den englischen Situationisten beklagt und behauptet, er sei von den Amerikanern bei Vaneigem verleumdet worden. Die Engländer verlangen daraufhin eine gemeinsame Stellungnahme der S.I. an Morea, da sie sein Verhalten auf ein Missverständnis zurückführen. Die S.I. akzeptiert diesen Wunsch der Engländer, obwohl sowohl Vaneigem als auch die Amerikaner strikt gegen eine Antwort an Morea sind: »Déjà, nos amis américains nous écrivaient qu’ils regrettaient même notre réponse; qu’ils trouvent bien superflue, avec un imbécile confusioniste tel que Morea.«821 Die S.I. knüpft daher die gemeinsame Antwort an Morea an die Bedingung, dass dies der letzte Kontakt mit ihm sein müsse. Die Probleme innerhalb der S.I. beginnen nun, als Morea wider Erwarten auf diesen Brief reagiert und seine Anschuldigungen gegenüber den Amerikanern und gegen Vaneigem wiederholt. Entgegen der vorherigen Abmachung antworten die Engländer nochmals eigenmächtig und führen so den Dialog weiter: »Gegen Morea wurden sie immer nachsichtiger und gegenüber unseren amerikanischen Freunden immer misstrauischer und sogar gegenüber Vaneigem, obwohl sie das nicht zugeben wollten.«822 Doch nicht nur die Tatsache, dass sich die Engländer nicht an den Kommunikationsabbruch halten, führt zu Konflikten 817 | Debord (2003), S. 248, an Jeppesen Victor Martin, 22.12.1967. 818 | Vgl. ibidem, S. 239, an die englische Sektion, 28.11.1967. 819 | Vgl. ibidem, S. 248, an Jeppesen Victor Martin, 22.12.1967. 820 | Situationistische Internationale (1969e), S. 419. 821 | Debord (2003), S. 249, an Jeppesen Victor Martin, 22.12.1967, Hervorh. im Orig. 822 | Situationistische Internationale (1969e), S. 419.
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innerhalb der S.I. - explizit wird hier auch die Solidarität innerhalb der Gruppe derjenigen zu Personen außerhalb der Gruppe gegenübergestellt. Vor allem aber wird die Tatsache, dass die Engländer die erneute Kontaktaufnahme mit Morea ohne Absprache mit den übrigen Mitgliedern unternehmen, kritisiert. Denn erst kurz zuvor war bei der Gründung der amerikanischen Sektion nochmals betont worden, dass die Frage des Bruchs nur gemeinsam mit allen Mitgliedern zu beantworten sei und nur in Ausnahmefällen im Ermessen der einzelnen Sektionen oder Mitglieder läge.823 Dabei geht es der S.I. jedoch nicht nur um eine gemeinsame Entscheidungsfindung innerhalb der Gruppe, sondern auch und vor allem um eine einheitliche Stellungnahme nach außen, um den Auftritt als kohärente Gruppe. Ähnlich wie schon den ›Garnaultins‹ wird den Engländern vorgeworfen, eine Fraktion innerhalb der Gruppe eingeführt und somit deren Einheit in Frage gestellt zu haben: »Les Anglais se sont effectivement conduits comme groupe particulier dans une question qui nous concernait tous.«824 Auch wenn ein solches kohärentes Auftreten der S.I. durch die Aktion der Engländer bereits unterlaufen wurde, werden sie dennoch aufgefordert, sich zumindest im Nachhinein klar und öffentlich der Position der restlichen S.I. anzuschließen. »Raoul et René sont allés à Londres le 19, portant nos exigences: que les Anglais corrigent tout de suite leur faute en publiant leur rupture avec Morea et autres menteurs à New York.«825 Die weitere Zugehörigkeit der Engländer zur S.I. wird hier also explizit von ihrem Bruch mit Morea abhängig gemacht. Diese Drohung erzielt ihre Wirkung jedoch nur zur Hälfte: »Donald et les deux autres disaient qu’ils ne veulent pas la rupture avec nous; mais ils ne veulent pas non plus se rallier aux exigences de la solidarité - et de la majorité de l’I.S.«826 Die Reaktion der Engländer verdeutlicht die Probleme, die beim Versuch entstehen können, die S.I. sowohl als kohärente als auch als auf Egalität und demokratischer Entscheidungsfindung basierende Gruppe zu konzipieren. Was die inhaltliche Übereinstimmung angeht, sehen sie ihren Platz innerhalb der S.I., doch zur bedingungslosen Unterordnung unter ihre Entscheidungen sind sie in diesem Fall nicht bereit.827 Damit aber stellen sie aus Sicht der S.I. innerhalb der Gruppe ein nicht zu tolerierendes Maß an Inkohärenz her - mit den üblichen Konsequenzen: »Maintenant, nous constatons qu’il y a eu ef823 | Vgl. Debord (2003), S. 241, an Robert Chasse und Tony Verlaan, 5.12.1967. 824 | Ibidem, S. 246, an Robert Chasse, Tony Verlaan und Bruce Elwell, 21.12.1967. 825 | Ibidem, S. 250, an Jeppesen Victor Martin, 22.12.1967. 826 | Ibidem, an Jeppesen Victor Martin, 22.12.1967. 827 | Dieses Beharren auf dem Dialog mit Morea und die Forderung der Engländer, sich hier nicht an die Entscheidung der Mehrheit der Gruppe halten zu müssen, ist für die S.I. vor allem deshalb nicht zu tolerieren, da es sich in diesem Fall nicht um direkte Außenkontakte der Engländer, sondern um die der Amerikaner handelt. Diese Problematik schwächt sich auch dadurch nicht ab, dass es den Engländern nicht einmal darum geht, den Bruch mit Morea als solchen anzuzweifeln, sondern sie nur ›geduldiger‹ im Umgang mit ihm sind als der Rest der S.I.
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fectivement incohérence dans l’I.S. Nous corrigeons naturellement cette incohérence, comme d’habitude. Ci-joint lettres de rupture à Morea, à Murray [Bookchin, M.O.], et aux ›situationnistes anglais‹.«828 Wer die Kohärenz der S.I. gefährdet und sich ihrer Disziplin nicht unterordnet, wird so auch in diesem Fall sehr schnell vom echten Situationisten zum ›Situationisten‹ in Anführungszeichen. Die beim Ausschluss der Engländer im Zentrum stehende Frage der Kohärenz der Gruppe gehörte zwar bei der S.I. schon früh zu den wichtigen Diskussionsthemen ihrer internen Auseinandersetzungen, dennoch werden an diesem Beispiel einige Veränderungen erkennbar - Veränderungen, die sich hier besonders deutlich zeigen, die aber bereits mit dem Ausschluss der ›Nashisten‹ einsetzten. Die Forderung nach Kohärenz hatte seit den Anfängen der S.I. so manchen Austritt und Ausschluss zur Folge, allerdings bezog sich der Begriff der Kohärenz vor allem bis 1962 in erster Linie auf inhaltlich-theoretische Fragen, war mit der Positionssuche und mit dem Versuch verbunden, aus der Vielfalt und der Differenz eine gemeinsame Stimme herauszufiltern. Im Fall der ›Nashisten‹ treten zu dieser inhaltlichen die organisatorische Ebene und die dort erkennbaren Differenzen hinzu. Wenn auch nur auf der gruppeninternen Ebene, so bezieht sich hier die Forderung nach Kohärenz nicht mehr nur auf die Ebene der Theorie, sondern auch auf diejenige der Praxis: Sie wird zur Forderung nach der Kohärenz von Theorie und Praxis. Diese Entwicklung verstärkt sich bei den ›Garnaultins‹: Hier rücken rein theoretische Fragen vollkommmen aus dem Blickfeld, und es geht in erster Linie um die Kohärenz von Theorie und Praxis, sowohl im Inneren der Gruppe als auch bei der nach außen gerichteten Praxis. Bei den Engländern wird die Kohärenz bezüglich der theoretischen Positionen sogar explizit betont und auch bezüglich der internen Praxis sind zunächst keine Differenzen oder Probleme erkennbar. Die Frage der Kohärenz wird hier mit Blick auf die Außenkontakte der Gruppe gestellt - und dies nicht einmal konkret auf die Außenkontakte an sich, sondern eher auf den Umgang mit ihnen bzw. als Forderung einer kohärenten Stellungnahme nach außen. Auch nachdem die Forderung der rein theoretischen Kohärenz ab 1962 weitgehend erfüllt ist, bleibt die Frage der Kohärenz mit Blick auf das Verhältnis von Theorie und Gruppenpraxis und von Theorie und Praxis im Allgemeinen einer der entscheidenden Streitpunkte in der S.I. und somit auch der wichtigste Grund für Ausschlüsse. Die Forderung nach Kohärenz scheint sich im Laufe der Jahre immer weniger auf grund828 | Debord (2003), S. 245f., an Robert Chasse, Tony Verlaan und Bruce Elwell, 21.12.1967, Hervorh. im Orig. Interessanterweise taucht dieser Verweis auf das Problem von Kohärenz und Inkohärenz in der offiziellen Ausschlussmeldung nicht auf. Hier heißt es lediglich: »Dann haben wir die drei Engländer aufgefordert, diese öffentlich verbreitete Unsicherheit wieder gut zu machen, und mit dem Fälscher und seinem Mystiker unverzüglich zu brechen. Sie akzeptierten dies zwar prinzipiell, lavierten dann aber und weigerten sich schließlich praktisch zu handeln. Dann mussten wir mit ihnen brechen.« (Situationistische Internationale (1969e), S. 419).
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legende theoretische Problemstellungen und - über ihre Kopplung mit der Frage der Gruppenpraxis - immer mehr auf organisatorische, formale Bereiche zu beziehen. Sie betrifft, gemessen an den Leistungen der S.I. auf dem Gebiet der Theorieproduktion, immer kleinlichere Details und radikalisiert sich somit gewissermaßen, da die Forderung nach Kohärenz auch bei diesen primär gruppeninternen Organisationsdetails nach wie vor bei Nichterfüllung schnell zum Ausschluss führt. Im Fall der Engländer aber trifft dieser Ausschluss Mitglieder, die auf allen anderen Ebenen sowohl inhaltlich-theoretischer als auch strategischer Art eine Bereicherung für die S.I. waren. Dieses Problem wird sogar von der S.I. selbst bei der internen Bewertung dieses Ausschlusses erkannt: »[I]l s’est malheureusement produit un regrettable incident, entraînant notre rupture avec Donald et deux autres Anglais (évidemment, nous regrettons particulièrement Donald).«829 Dementsprechend zentral wird die Frage nach der Kohärenz von Theorie und Praxis gerade auf der Ebene der eigenen Gruppe auch in den letzten Jahren der S.I. bleiben. Denn bereits im April 1968 steht sie erneut im Mittelpunkt der nächsten Organisationsdebatte, die jedoch von den Ereignissen des Mai 1968 zunächst unterbrochen wird - allerdings nur um danach die Aktivität der S.I. bis zu ihrer Auflösung 1972 entscheidend zu prägen und sich auch auf die letzten Ausschlüsse auszuwirken.
4.4.9 Die Organisationsdebatte und ihre Ausschlüsse II Diese Fortsetzung der Organisationsdebatte wird aus verschiedenen Gründen notwendig.830 Denn wir haben gesehen, dass mit dem Ab829 | Debord (2003), S. 248, an Jeppesen Victor Martin, 22.12.1967. Das Bedauern über den Ausschluss von Nicholson-Smith wird dabei mehrfach betont (vgl. Situationistische Internationale (1969e), S. 420). 830 | In den folgenden Ausführungen zum zweiten Teil der Organisationsdebatte nach dem Mai 1968 wird dabei die detaillierte Analyse der jeweiligen Ausschlüsse und der unterschiedlich umfangreichen diesbezüglichen Diskussionen in den meisten Fällen in einzelne Exkurse im Online-Anhang ausgelagert, während wir uns hier auf die Hauptlinien der Auseinandersetzung und ihr Zusammenhang mit der Organisationsdebatte konzentrieren werden. Diese Vorgehensweise hat mehrere Gründe. Zum einen soll sie die Nachvollziehbarkeit der Organisationsdebatte, das Verfolgen ihres roten Fadens zwischen 1968 und 1972 erleichtern, um so ihre Kernaspekte, aber auch ihre zentralen Probleme klarer herausarbeiten zu können. Dies würde durch eine zwischengeschaltete genauere Darstellung jeder einzelnen Ausschlussdiskussion unnötig erschwert, da diese ab diesem Zeitpunkt immer ausufernder und dabei kleinteiliger und haarspalterischer werden. Umgekehrt wird genau dieser Charakter der Ausschlussdiskussionen besser erkennbar, wenn man sie in Form aufeinander folgender Exkurse im Online-Anhang ›am Stück‹ lesen kann. Zum anderen lässt sich eine solche Auslagerung der konkreten Ausschlussbeispiele zwischen 1968 und 1971 auch durch die Struktur der Debatte innerhalb der S.I. selbst begründen. Denn anders als in der vorangehenden Phase, in der die konkreten Ausschlüsse und die Diskussion über die Fragen der Mitgliedschaft und somit die Praxis und die Theorie der Mitgliedschaft aufs engste miteinander verknüpft waren, laufen nach dem Mai 1968 zwei Stränge parallel: die Organisationsdebatte einerseits und die daraus resultierenden und den weiteren Diskussionsverlauf wiederum prägenden
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schluss der grundlegenden inhaltlichen Positionsbestimmung im Frühjahr 1962 weder die internen Konflikte noch die Ausschlüsse zu einem Ende gelangt sind. Es ist zwar erkennbar, dass sich die Zahl der Ausschlüsse nach dem Frühjahr 1962 deutlich reduziert (von 21 bzw. 27 zwischen Januar 1958 und März 1962 auf nur noch elf zwischen Oktober 1963 und Dezember 1967) und dass die S.I. gerade zwischen Januar 1967 und September 1969 abgesehen vom Ausschluss der Engländer beinahe zur Ruhe zu kommen scheint. Diese Entwicklung hebt sie auch selbst hervor und verweist dabei nochmals explizit auf den Erfolg ihrer strengen Beitrittspolitik.831 Aber auch wenn die Erhöhung der inhaltlichen Kohärenz durch die Verringerung der Anzahl der in der S.I. vertretenen und vertretbaren Positionen - erreicht durch die Ausschlüsse der Künstler - zur Absenkung der Zahl der Ausschlüsse geführt hat, bleibt der Ausschluss auch nach 1962 auf der Tagesordnung. Diese weiterhin erkennbare Aktualität der Frage von Eintritt und Ausschluss ist damit zu erklären, dass die dabei im Zentrum stehende Frage der Kohärenz im Frühjahr 1962 nicht geklärt, sondern nur vom Bereich der Ausarbeitung der grundlegenden Theoriepositionen auf die Frage nach der Kohärenz von Theorie und Praxis sowie nach der Präsentation der S.I. als kohärenter Einheit nach außen verlagert wird. »Encore une fois, c’est la recherche d’une cohérence extrême, d’une autodiscipline consentie sur les bases d’un projet collectif, qui justifie la limitation de l’I.S. à un nombre réduit de participants.«832 Doch wie die weiterhin stattfindenden Ausschlüsse belegen, ist diese Kohärenz von der S.I. auch mit einer verhältnismäßig kleinen Mitgliederzahl noch nicht erreicht worden. Ganz im Gegenteil sind gerade beim Blick auf das spätestens seit dem Skandal von Straßburg im Mittelpunkt des Interesses stehende Verhältnis von Theorie und Praxis bzw. auf die Theorie einer Praxis deutliche Defizite erkennbar: »Conjuguant sa théorie critique avec une pratique adéquate, l’I.S. ne rencontre pas moins certaines difficultés dans la réalisation de l’organisation révolutionnaire, telle qu’elle est définie à la Septième Conférence. Les relations internes de l’I.S. sont loin de parvenir à la perfection.«833 Während die strikte Ausschlusspraxis der frühen Jahre dazu beigetragen hat, eine gewisse Kohärenz bezüglich der grundlegenden Theoriepositionen herzustellen, scheitert die S.I. bislang trotz oder gerade wegen dieser strikten Handhabung der Mitgliedschaftsfrage bei der Umsetzung dieser Theorie in die Praxis der eigenen Gruppe. Genau diese Praxis ist es nun aber, die mit dem öffentlichen In-Erscheinung-Treten der Gruppe in Straßburg und den weiteren Ausschlüsse andererseits. Diese sind zwar nicht unabhängig voneinander, dennoch ist eine deutlichere Trennung zwischen der Theorie und der jeweiligen Praxis zu erkennen - und interessanter Weise ist gerade diese Trennung von Theorie und Praxis wiederum eine Kernfrage der theoretischen Organisationsdebatte und bildet zugleich den Hintergrund der Praxis des Ausschlusses. 831 | Situationistische Internationale (1969e), S. 420f. 832 | Dumentier (1990), S. 65. 833 | Ibidem, S. 75f.
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Kontakten zu autonomen Gruppen im Vorfeld des Mai 1968 für die S.I. zur zentralen Frage wird. »Wenn die Revolution noch sehr weit entfernt ist, ist die schwierige Aufgabe der revolutionären Organisation vor allem die Praxis der Theorie. Wenn die Revolution beginnt, ist ihre schwierige Aufgabe, mehr und mehr, die Theorie der Praxis; dann aber hat die revolutionäre Organisation ein ganz anderes Gesicht.«834 Diese Frage nach einer Theorie der Praxis als Umsetzung der Theorie innerhalb der eigenen Gruppe wird für die S.I. zum Beginn des Jahres 1968 immer dringlicher, da sich auf diesem Feld trotz der seit der Pariser Konferenz im Juli 1966 erkennbaren Überlegungen und Bemühungen und vor allem trotz der massiven Kritik Debords an der fehlenden egalitären Beteiligung der Mitglieder keine Verbesserung der Praxis der Gruppe ausmachen lässt, sondern im Gegenteil die internen Schwierigkeiten gerade im Skandal von Straßburg und in der Auseinandersetzung mit den Engländern immer deutlicher hervortreten und in beiden Fällen erneute Ausschlüsse zur Folge haben. Dieses Andauern der Ausschlüsse jedoch wird für die S.I. mehr und mehr zum Problem, da es in Kombination mit der weiteren strengen Zugangskontrolle dafür sorgt, dass ihr nach und nach die Mitglieder ausgehen. So besteht die S.I. unmittelbar vor dem Mai 1968 formal gerade mal aus acht Mitgliedern. Berücksichtigt man zusätzlich die Tatsache, dass neben dem ›Mitglied aus der Ferne‹ unter diesen acht Situationisten mit Martin, der isoliert in Skandinavien agiert, und den gerade erst hinzugekommenen und geographisch weit entfernten zwei Amerikanern noch drei weitere sind, die sich kaum an der realen Praxis der Gruppe beteiligen (können), reduziert sich die Zahl schlussendlich auf ganze vier Mitglieder - ein absoluter Tiefststand in der bisherigen Geschichte der S.I. Dass auch bei dieser geringen Mitgliederzahl irgendwo zwischen vier und acht im Inneren der Gruppe die Umsetzung der Theorie in eine Praxis unter egalitärer Beteiligung aller Mitglieder nicht gelingt, lässt den ›Erfolg‹ der bisherigen strengen Mitgliedschaftspolitik - abgeleitet aus der Frage nach der Kohärenz - sehr zweifelhaft erscheinen. Zudem muss sich die S.I. auch in Bezug auf ihre Wirkung bzw. Praxis nach außen die Frage stellen, in welcher Art und in welchem Umfang eine solche Praxis von einer Gruppe - mögen ihre theoretischen Positionen auch noch so differenziert ausgearbeitet sein - überhaupt erwartet werden kann, wenn sie zu diesem Zeitpunkt nur noch aus einer Hand voll Mitgliedern besteht. Das Ziel der im Folgenden in ihren Grundzügen darzustellenden Organisationsdebatte, der ›Theorie der Praxis‹, ist also kein geringeres, als die Suche nach dem ›anderen Gesicht‹, das die S.I. für das Praktisch-Werden ihrer Theorie benötigt. Auch wenn der grundlegende Text dieser Debatte erst im September 1969 in der I.S. Nr. 12 erscheint, so wird sie doch bereits im April 1968 angestoßen - und zwar wiederum von Debord, der den später veröffentlichten Text als Ergänzung zu seinen organisatorischen Anmerkungen 834 | Debord, Guy/Gianfranco Sanguinetti (1972), S. 89.
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an die neuen Mitglieder der amerikanischen Sektion verschickt.835 Debord knüpft hier zunächst an seine Kritik der Funktionsweise der S.I. aus dem Juli 1966 an - vor allem an seine Forderung nach egalitärer Beteiligung - und stellt dabei weiterhin den Begriff der Kohärenz in dreifacher Weise in den Mittelpunkt: als Kohärenz der Theoriepositionen an sich, als Kohärenz zwischen Theorie und Praxis nach außen und als Kohärenz zwischen Theorie und Praxis innerhalb der eigenen Gruppe. Letztere basiert für ihn auf der »Solidarität in den Fragen - vielen aber nicht allen -, in denen einer von uns die Verantwortung der anderen mit ins Spiel bringen muss. Sie kann aber nicht eine Garantie der Überlegenheit für irgendjemand sein, der den Ruf hat, sich unsere theoretische Basis so gut angeeignet zu haben, dass er aus ihr automatisch das unbestreitbar gute Verhalten folgern kann. Sie kann nicht die Forderung (und noch weniger die Anerkennung) einer gleichen Vorzüglichkeit aller bei allen Fragen oder Operationen sein.«836
Der Begriff der Kohärenz wird deutlich abgegrenzt von der völligen Übereinstimmung der Mitglieder in allen Fragen und der Forderung nach einer umfassenden Identität der individuellen Fähigkeiten - er lässt also durchaus Raum für Meinungsverschiedenheiten und für Aufgabenteilung. Im letztgenannten Aspekt jedoch schwingt weiterhin die Kritik Debords an der Neigung einiger Mitglieder zu einer kontemplativen Haltung sowie an der daraus entstehenden Gefahr der Herausbildung hierarchischer Strukturen innerhalb der Gruppe mit, die er bereits 1966 geäußert hatte. Dementsprechend steht und fällt diese Kohärenz mit der egalitären Beteiligung aller Mitglieder an der gemeinsamen Praxis.837 Hier deutet sich eine Änderung der Blickrichtung der Kritik an, die von nun an verstärkt die eigene Gruppe und ihre Praxis ins Visier nimmt. Doch Debord beschränkt sich nicht darauf, seine Kritik von 1966 zu erneuern und zu präzisieren, er geht deutlich über sie hinaus und berücksichtigt dabei vor allem die Erfahrungen, die die Gruppe in dem hinter ihr liegenden Skandal von Straßburg gemacht hat. Im Zentrum steht das Öffentlich-Werden der S.I. und die dadurch dringlicher werdende Frage nach der Außenwirkung der S.I. und ihrer Abgrenzung von der Umwelt - sowohl von ihren Kritikern als auch von ihren Anhängern. Der Begriff der récupération der S.I. durch die Gesellschaft des Spektakels rückt hier - wie auch in Debords mittlerweile erschienener Monographie - immer stärker ins Blickfeld. »Parallel dazu wird die S.I. nicht mehr verschwiegen; sie muss, um es strategisch auszudrücken - aus diesem Durchbruch Nutzen ziehen. Man kann nicht verhindern, dass das Wort ›situationistisch‹ hier und dort Mode wird. Wir müssen es so 835 | Vgl. Debord (2003), S. 277ff., an Robert Chasse und Tony Verlaan, 24.4.1968. 836 | Debord (1968), S. 461f. 837 | Vgl. ibidem, S. 462.
460 | Situationistische Internationale einrichten, dass diese (normale) Erscheinung uns mehr nützt als schadet. ›Was uns nützt‹ lässt sich meines Erachtens nicht von dem trennen, was dazu nützt, vereinzelte Kämpfe zu vereinigen und zu radikalisieren. Das ist die Aufgabe der S.I. als Organisation.«838
Der durch das Öffentlich-Werden der S.I. einsetzenden récupération muss nun also aus der Theorielogik der S.I. heraus mit einem erneuten détournement entgegengetreten und die récupération wieder zum Nutzen der Gruppe eingesetzt werden. Die Praxis des Gegners ist hier also zunächst eine Bestätigung der eigenen Theorie, genauso wie die Praxis der Gruppe hier ganz direkt als eine Praxis ihrer Theorie aufzufassen ist. Dies beschränkt sich jedoch nicht nur auf die Konzepte von détournement und récupération, sondern schließt auch die Situationskonstruktion mit ein. Das Konzept der Situationskonstruktion ist zunächst in der Eigenwahrnehmung der S.I. als einer Art Katalysator für die ›vereinzelten Kämpfe‹ in ihrem Umfeld zu erkennen; es wird aber noch deutlicher, wenn man berücksichtigt, dass diese Funktion des Katalysators nur als vorübergehende angesehen wird, »[d]a wir die S.I. nie für ein Ziel, sondern immer für einen Moment der historischen Aktivität gehalten haben.«839 Denn so wie im obigen Zitat bereits auf den Zusammenhang des Nutzens für die S.I. und des Nutzens für eine weiter gefasste revolutionäre Bewegung verwiesen wurde, so wird dieser Übergangscharakter der S.I. als spezifischer und klar abgegrenzter Organisation im Folgenden deutlicher herausgearbeitet und damit implizit schon hier ihre Aufhebung angedeutet. »Darüber hinaus könnte das Wort ›situationistisch‹ eine bestimmte Epoche des Denkens bezeichnen (es ist schon gut, das eingeleitet zu haben), an der sich aber jeder nur durch sein persönliches Handeln ohne Bezug auf eine organisatorische Gemeinschaft beteiligt. Solange diese Gemeinschaft vorhanden ist, muss es ihr gelingen, sich von dem zu unterscheiden, was von ihr spricht, ohne sie selber zu sein.«840
Hier sind in Bezug auf die Praxis der S.I. deutliche Anleihen an das Konzept der Situationskonstruktion erkennbar - aber eben auch an die damit verbundenen Schwierigkeiten und Gefahren. Diese beziehen sich vor allem auf die dauerhafte Etablierung einer Unterscheidung zwischen Situationskonstrukteuren und denjenigen, für die diese Situationen konstruiert werden. Denn genau eine solche Unterscheidung in aktive und passive Akteure wurde während des Skandals von Straßburg sowohl im Außenverhältnis der S.I. zu anderen Gruppen als auch in ihrem Inneren erkennbar. Wie schon bei der Ausarbeitung des theoretischen Konzepts 838 | Debord (1968), S. 461. 839 | Ibidem. 840 | Ibidem.
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der Situationskonstruktion wird dieses vor dem Hintergrund der Forderung nach Egalität nicht zu vernachlässigende Problem von der S.I. als vorübergehendes aufgefasst bzw. wird die Perspektive seiner Lösung skizziert, die nicht von Veränderungen bezüglich der eigenen Organisationsform zu trennen ist und letztendlich auf deren Aufhebung abzielt: »Die S.I. muss jetzt ihre Wirksamkeit in einer weiteren Entwicklungsstufe der revolutionären Aktivität beweisen - oder verschwinden.«841 So lange diese Organisation aber als getrennte existiert und gewissermaßen als Situationskonstrukteur auftritt und ihr dieser Status von außen zugeschrieben wird, muss sie sich klar von ihrer Umwelt abgrenzen. Die strikte Abgrenzung wird hier somit abstrakt als Bedingung bzw. Vorstufe zu einer späteren Aufhebung konzipiert. Genau an dieser Schwelle scheint die S.I. nun zu stehen, denn diese Überlegungen wirken sich auch ganz konkret auf die Organisationsstruktur der S.I. aus. »Alles, was bisher von der S.I. bekannt ist, gehört zu einer glücklicherweise abgeschlossenen Epoche.«842 Die S.I. und ihre Organisationsstruktur werden somit selbst als momenthaft, als Durchgangsort angesehen, den es stets unter Berücksichtigung der jeweiligen historischen Umstände neu zu konstruieren gilt. Denn aufgrund der in Straßburg erkennbaren Probleme der tatsächlich ausgeübten oder zugeschriebenen Rolle der S.I. als Situationskonstrukteur und dem damit verbundenen Problem der récupération der S.I. und des Labels ›situationistisch‹ leitet die Gruppe Veränderungen ihrer Organisationsstruktur ein, die sich sowohl auf die internen als auch auf die externen Inkohärenzen von Theorie und Praxis beziehen. Veränderungen, die so grundlegend sind, dass sie sich als auf die récupération reagierendes détournement der eigenen Gruppenstruktur und der Mitgliedschaftspolitik beschreiben lassen und die zugleich den Schritt voran mit einem Blick zurück zu verbinden scheinen. Um diese Wandlungen einleiten zu können und die S.I. für die bevorstehenden Aufgaben vorzubereiten, ist ein genauer und vor allem kritischer Blick auf die bisherige Funktionsweise der Gruppe notwendig, denn »[u]m einige Chancen für diese Wirksamkeit zu haben, müssen wir einige Wahrheiten über die S.I. einsehen und bekanntgeben, die selbstverständlich auch früher schon stimmten.«843 Dieser Blick auf die eigene Gruppe richtet sich zunächst einmal auf die Mitgliedschaftspolitik und ihre Auswirkungen sowohl auf die Außenwirkung der Gruppe als auch auf die in ihrem Inneren sich herausbildenden Strukturen. Zentral bei dieser Analyse sind auch hierbei wieder die Erfahrungen im Kontext des Straßburger Skandals: »Die bisher ziemlich ungerecht ausgesuchte kleine Mitgliederzahl war zugleich Folge und Ursache einer lächerlichen Überschätzung, die man allen S.I.-Mitgliedern ›offiziell‹ schon alleine wegen der Tatsache zuteil werden liess, 841 | Debord (1968), S. 461. 842 | Ibidem. 843 | Ibidem.
462 | Situationistische Internationale dass sie welche sind, obwohl viele von ihnen keineswegs tatsächliche minimale Fähigkeiten bewiesen hatten. [...] Eine direkte Folge dieser Ausleseillusion war nach aussen die mythologische Anerkennung autonomer Pseudogruppen, die ruhmreich auf die S.I.-Ebene gestellt wurden, während sie nur deren schwachsinnige Bewunderer - und zwangsläufig nach kurzer Zeit unredliche Verleumder waren.«844
Sowohl die Elite-Problematik als auch das Phänomen der Pro-Situs wird direkt mit der Mitgliedschaftspolitik der S.I. in Zusammenhang gebracht und führt zu einer Kritik derselben. Doch es deutet sich bereits an, dass die strenge Selektion der Mitglieder und die damit verbundenen Gefahren der Überschätzung und der Selbstüberschätzung auch im Inneren der Gruppe zu Problemen geführt hat. Was zählt, ist bei einigen wohl allein der Status ›Situationist‹, während eine tatsächliche Aktivität auf Basis der situationistischen Theorie oder auch eine Weiterentwicklung derselben ausbleibt. Die strenge Selektion der Mitglieder sorgt somit gerade nicht für eine Steigerung der Qualität der situationistischen Aktivitäten, sondern durch den unerwünschten Nebeneffekt einer kontemplativen, aus dem mit der Mitgliedschaft verbundenen Status entstehenden Haltung für deren qualitative und quantitative Absenkung. Zudem führt die quantitative Beschränkung der Mitgliederzahl, die die Gefahr beinhaltet, als qualitative aufgefasst zu werden, dazu, dass die Handlungen des einzelnen Mitglieds von übermäßiger Bedeutung sind: »Eine solche zahlenmäßige, pseudo-qualitative Begrenzung vergrößert die Bedeutung jeder besonderen Dummheit übermässig und ruft sie zugleich hervor.«845 Die Strenge bei der Auswahl ihrer Mitglieder verlängert sich somit bei der S.I. ins Gruppeninnere hinein als Strenge gegenüber ihren Mitgliedern. Somit aber hat die strikte Kandidatenprüfung, die zu einer kleinen Gruppengröße führt, die Folge, dass es zwar absolut betrachtet weniger Ausschlüsse gibt, relativ betrachtet jedoch unter Umständen sogar mehr, da der Erwartungshorizont gegenüber jedem Einzelnen enorm hoch ist. Eine solche Erwartungshaltung und genaue Kontrolle jedes einzelnen Mitglieds hat jedoch noch eine andere unerwünschte Nebenwirkung: Sie muss nicht zwangsläufig motivierend oder aktivierend wirken, sondern kann als implizite und permanente Ausschlussdrohung auch lähmend wirken und ein abwartendes, kontemplatives und konfliktscheues Verhalten zur Folge haben. Damit aber führt die strenge Selektion eben gerade nicht zur Herausbildung einer egalitären Gruppenstruktur, sondern zur Entstehung der Unterscheidung zwischen aktiven und passiven, zwischen redenden und schweigenden, zwischen entscheidenden und Entscheidungen erfahrenden Mitgliedern, zwischen Lehrern und Schülern, Vordenkern und Nachbzw. Nicht-Denkern und holt somit das Elite-Problem auch ins Innere der Gruppe. 844 | Debord (1968), S. 462. 845 | Ibidem.
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Der Lösungsansatz für diese vielfältigen aus der geringen Gruppengröße resultierenden Probleme ist so einfach wie grundlegend und scheint einen radikalen Wandel einzuleiten: »Diese Praxis erfordert jetzt mehr Teilnehmer an der S.I., die von denen aufgenommen werden können, die ihre Übereinstimmung behaupten und ihre Fähigkeiten zeigen.«846 In einem Satz wird hier die inzwischen seit knapp elf Jahren zu den tragenden Säulen des organisatorischen Selbstverständnisses der S.I. zählende Praxis der Zugangsbeschränkung, ja ihr Charakter als kleine Gruppe, in Frage gestellt. Doch damit nicht genug, denn diese Öffnung der S.I., ihr Wille zur Vergrößerung hat auch für weitere Aspekte ihrer internen Struktur tiefgreifende Folgen. Denn auch wenn weiterhin die ›Übereinstimmung‹ mit den theoretischen Positionen der S.I. als Aufnahmekriterium beibehalten wird, so impliziert eine solche Öffnung und die Erhöhung der Mitgliederzahl stets die Möglichkeit bzw. Gefahr, dass auf diese Weise eine größere Vielfalt von Positionen und somit Differenzen in die Gruppe hineingeholt werden. Diese aber müssen, sollen sie nicht zu einem ebenso deutlichen Anstieg der Ausschlüsse führen, von nun an innerhalb der Gruppe ausgehalten werden können; die Differenztoleranz muss daher erhöht werden, ohne jedoch zugleich die Forderung nach Kohärenz aufzugeben. Debord schlägt diesbezüglich Folgendes vor: »Meines Erachtens sollte die Möglichkeit von Tendenzen in verschiedenen taktischen Fragen bzw. Entscheidungen in der S.I. zugelassen werden, unter der Bedingung, dass unsere allgemeine Basis nicht infrage gestellt wird.«847 Durch den Verweis auf eine ›allgemeine Basis‹ wird am Begriff der Kohärenz festgehalten und zugleich beim Blick auf spezifische Aspekte des situationistischen Projekts der Abweichung mehr Raum gegeben. Dies ist nicht zuletzt als Reaktion auf die Ereignisse im Zusammenhang mit dem Ausschluss der Engländer zu verstehen, bei dem die Anwendung eines umfassenden Kohärenzbegriffs dazu geführt hat, dass Mitglieder, bei denen genau diese ›allgemeine Basis‹ vorhanden war, wegen anderweitiger und relativ unbedeutender Meinungsverschiedenheiten ausgeschlossen wurden, und somit das von ihnen in die S.I. eingebrachte Potential verschenkt wurde. Doch auch die Erfahrungen mit den ›Garnaultins‹ dürfte für diese Entscheidung eine Rolle spielen, soll doch die offizielle Erlaubnis zur Bildung von Tendenzen innerhalb der Gruppe dazu beitragen, die Herausbildung geheimer Fraktionen zu verhindern und die Forderung nach Transparenz umzusetzen. Dies soll zu einer offenen und produktiven Auseinandersetzung zwischen voneinander abweichenden Positionen innerhalb der Gruppe führen und somit zugleich einen Beitrag zur egalitären Beteiligung aller Mitglieder leisten, da durch diese Option der offenen Äußerung von Differenzen das oben skizzierte Problem der permanenten Ausschlussandrohung etwas abgeschwächt wird. 846 | Debord (1968), S. 462. 847 | Ibidem.
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Auch der dritte und letzte Umstrukturierungsvorschlag Debords votiert sowohl für mehr Differenz als auch für eine selbstverantwortliche Beteiligung der Mitglieder, hebt zugleich die Einteilung der S.I. in große regionale Einheiten auf und führt die ursprüngliche Unterteilung in nationale Sektionen wieder ein: »Gleichfalls sollten wir eine vollständige praktische Autonomie der nationalen Gruppen anstreben, in dem Masse, wie sie sich tatsächlich bilden können.«848 Auch diese Forderung nach autonom agierenden Sektionen dürfte unter anderem mit Blick auf die jüngsten Konflikte zwischen den englischen und den amerikanischen Situationisten und deren Auswirkungen auf die gesamte Gruppe formuliert worden sein. Zudem sind sie als Versuch aufzufassen, gerade in Bezug auf eine mögliche Praxis der S.I. die spezifischen und unterschiedlichen Situationen in den verschiedenen Ländern stärker zu berücksichtigen. Insgesamt sind diese drei Modifikationen der Organisationsstruktur verglichen mit der theoretischen Diskussion und der Funktionsweise der S.I. zwischen 1962 und 1967 durchaus grundlegend. Sie reagieren vor allem auf das Problem der trotz inhaltlicher Übereinstimmung anhaltenden Ausschlüsse, das aus der immer umfassenderen und immer strikteren Anwendung des Kohärenzbegriffs entsteht sowie auf die damit verbundene Gefahr der elitären Außenwirkung und der Herausbildung hierarchischer Strukturen im Inneren der Gruppe. Zusammengenommen verweisen die Ideen der Öffnung nach außen, der Tendenzbildung im Inneren sowie der Autonomie der Sektionen auf eine grundlegende Umstrukturierung der S.I., gemessen an der Phase von 1962 bis 1967. Doch wirklich neu sind diese drei Ansätze nicht, sie verweisen vielmehr, wenn auch nicht explizit, so aber doch sehr deutlich auf die Anfangsjahre der S.I. Denn zwischen 1957 und 1962 waren alle diese Konzepte Grundbestandteil der Praxis der S.I. oder zumindest eines Teils ihrer Mitglieder. Die relativ umfangreiche Aufnahme von neuen Mitgliedern, eine erhebliche Toleranz gegenüber teilweise grundlegenden Theoriedifferenzen und auch das autonome Agieren der Sektionen gehörte zu den zentralen Merkmalen der frühen S.I. Ist die Neuorientierung also weniger ein Schritt nach vorne als vielmehr ein Schritt zurück oder gar eine Reminiszenz Debords an die Hauptaspekte von Jorns Gruppenkonzeption? In einem Punkt verweist diese Neustrukturierung auf eine Überlegung Jorns, denn es handelt sich bei den drei Vorschlägen zunächst um einen theoretischen Entwurf einer möglichen Praxis, während die S.I. in der frühen Phase von einer Praxis geprägt wurde, die der diesbezüglichen Theorie vorausging. Genau diese unterschiedliche Herangehensweise, die umgekehrte Abfolge von Theorie und Praxis macht Jorn als Hauptmerkmal der Unterscheidung zwischen dem lateinischen und dem skandinavischen Denken aus. Man kann also sagen, dass die hier 848 | Debord (1968), S. 462.
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skizzierten Umstrukturierungsvorschläge Debords zwar deutlich an die Funktionsweise der frühen S.I. anknüpfen, diese aber gewissermaßen latinisieren, sprich, sie zunächst als Theorie einer möglichen Praxis entwickeln. Aus einer spontanen Praxis wird eine formalisierte theoretische Anleitung zur Praxis. Ob aber eine anfangs als Praxis funktionierende Praxis auch als theoretische Konzeption einer möglichen Praxis in eine reelle umsetzbar ist oder auf dem Niveau der theoretischen Vorüberlegung stehen bleibt, wird die weitere Entwicklung der S.I. zeigen müssen. Dabei gilt es gerade bei den Aspekten der Differenztoleranz und der egalitären Beteiligung zu berücksichtigen, dass deren Verwirklichung in starkem Maße nicht nur von der Organisationsstruktur, sondern vor allem von den Individuen, die diese Struktur mit Leben erfüllen, und ihren interpersonellen Beziehungen abhängt, genau wie diese Umsetzbarkeit nicht von den historischen Rahmenbedingungen, in denen sich die Gruppe bewegt, zu trennen ist. Genau diese Rahmenbedingungen sind es, die zunächst dafür sorgen, dass die theoretische Reflexion über eine mögliche Praxis nicht fortgesetzt wird, sondern von der Praxis der Praxis eingeholt wird. Denn knapp zwei Wochen, nachdem Debord diese Thesen formuliert hat und sie auch an einige der S.I. nahe stehenden Personen wie Mario Perniola verschickt wurden, wird die S.I. voll und ganz von den Ereignissen des Mai 1968849 und deren anschließender Aufarbeitung850 in Beschlag genommen und wird die Organisationsdebatte bis zum Februar 1969 auf Eis gelegt. In der Praxis des Mai 1968 und in den Folgemonaten werden einige von Debords Vorschlägen bereits umgesetzt. Dies betrifft zunächst die relative Öffnung der S.I. für neue Mitglieder, da nach der Zusammenarbeit mit den Enragés bei der Besetzung der Sorbonne insgesamt fünf Personen aus dem Umfeld dieser Gruppe in die S.I. aufgenommen werden und im Laufe des Jahres auch die amerikanische Sektion nochmals verstärkt wird. Im Januar 1969 kommen schließlich weitere vier Mitglieder hinzu, die gemeinsam die italienische Sektion bilden. Auch der Aspekt der autonom agierenden Sektionen wird in der Praxis bereits umgesetzt, da die S.I. durch die neuen Mitglieder nach einer Phase der Frankreich-Zentrierung wieder eine wirkliche Internationale wird, deren vier Sektionen in Frankreich, Italien, Skandinavien und den USA zunächst weitgehend eigenständig agieren. Alle neuen Mitglieder werden in erster Linie deshalb in die S.I. aufgenommen, weil sie zuvor ihre Fähigkeit zu einer autonomen Aktion in Übereinstimmung mit den Grundpositionen der S.I. unter Beweis gestellt hatten, wie es von der S.I. als Bedingung für eine Kooperation vorgegeben worden war.851 Aufgrund der von Debord vorgeschlagenen Öffnung der S.I. wird diese Koopera849 | Die Rolle der S.I. im Mai 1968 ist umfangreich und aufschlussreich dokumentiert. Vgl. hierzu vor allem Bourseiller (1999), S. 341ff.; Dumentier (1990), S. 115ff.; Gilcher-Holtey (1995), S. 73ff.; Marelli (1998), S. 301ff. sowie Martos (1989), S. 227ff. 850 | Vgl. Situationistische Internationale (1969c) und Viénet (1977). 851 | Vgl. Situationistische Internationale (1967b).
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tion nun gerade im Falle der Enragés in eine Mitgliedschaft überführt - in eine Mitgliedschaft, die den Aspekt der Autonomie zumindest im Hinblick auf die Sektionsarbeit aufrechterhalten will. Dies jedoch stellt die Gruppe vor einige Herausforderungen und sorgt erneut für Diskussionsbedarf, da die für die Verhältnisse der S.I. recht massive Aufnahme neuer Mitglieder zu einer grundlegenden Wandlung ihrer Mitgliederstruktur führt. Zunächst einmal lässt sich das an den bloßen Zahlen ablesen: Aus einer Gruppe von im besten Falle acht Mitgliedern im Mai 1968 ist im Januar 1969 eine Gruppe von immerhin 18 Personen geworden - ein Zuwachs, wie er sonst fast nur direkt nach der Gruppengründung zu beobachten war. Diese neuen Mitglieder gilt es nun in die Gruppe zu integrieren, um eine Spaltung in alte und neue Mitglieder zu verhindern, die zugleich eine Unterscheidung zwischen alten und jungen Mitgliedern und somit eine Art Generationenkonflikt bedeuten würde. Diese Integration ist umso schwieriger, als es sich bei den neuen Mitgliedern sowohl bei den Enragés als auch bei den Italienern um bereits zuvor bestehende Gruppen handelt. Das aber ist eine Konstellation, die eine weitere Binnendifferenzierung der S.I., die über das gewünschte Ausmaß an Autonomie der Sektionen hinausgeht, zur Folge haben könnte. Dies ist vor allem im Hinblick auf die Franzosen ein nicht zu vernachlässigendes Problem, da hier eine bereits bestehende Gruppe von deutlich jüngeren Neu-Mitgliedern in eine eingespielte Sektion von deutlich älteren Mitgliedern integriert werden muss. Zudem gilt es ebenso, die Frage nach dem Zusammenhang von Theorie und Praxis zu stellen und die neuen Mitglieder, die sich die Positionen der S.I. in der und als Praxis angeeignet haben, auch in die theoretische Weiterentwicklung dieser Positionen mit einzubeziehen. All diese mehr oder weniger deutlich erkennbaren Grenzlinien und Differenzen gilt es zu berücksichtigen und soweit wie möglich in einem gemeinsamen Projekt aufzuheben. Die Frage nach der Kohärenz der Gruppe bzw. nach dem Verhältnis der Kohärenz im Sinne eines Grundkonsenses und der Autonomie bei spezifischen Fragen steht nun wieder auf der Tagesordnung, genauso wie diejenige nach der Kohärenz im Sinne der egalitären Beteiligung aller an diesem Projekt. Diese Kontinuität der Problemstellung hebt auch Debord selbst deutlich hervor, baut dabei zugleich jedoch auf einen Lerneffekt aus den Ereignissen des Mai 1968: »Les problèmes que j’ai posés alors à l’I.S. [im April 1968, M.O.], je pense bien qu’ils se posent encore - et pour longtemps. Simplement, je constate que notre conduite en mai a été assez bonne pour que ces problèmes puissent continuer d’être posés parmi nous, et sur une base enrichie par l’expérience.«852 Im Februar 1969 werden daher die Ansätze zu einer Organisationsdebatte aus dem April 1968 wieder hervorgeholt und fortgeführt.853 Wie notwendig eine solche Fortsetzung gerade im Hinblick auf das Problem 852 | Debord (2004a), S. 55, an Mario Perniola und die italienische Sektion, 6.4.1969. 853 | Vgl. Debord (1969).
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der egalitären Beteiligung und eine mögliche Spaltung in Alt- und Neumitglieder ist, wird schnell deutlich - allerdings weniger an den Inhalten der im Folgenden verfassten Texte, als vielmehr an der Struktur der Debatte. Denn es ist wieder Debord, der versucht, diese Diskussion erneut in Gang zu bringen. Sein erster Ansatz dazu liegt schon fast ein Jahr zurück, die Thesen liegen auf dem Tisch, und doch hat sich noch kein anderes Mitglied dazu geäußert, weder affirmativ noch kritisch. Und auch Debords Weiterentwicklung der Thesen zur Organisationsstruktur und Funktionsweise der Gruppe sind keine Reaktion auf eine interne Stellungnahme, sondern antworten auf einen Text des der S.I. nahe stehenden Nicht-Mitglieds Mario Perniola, der seinerseits einige Überlegungen zur Umstrukturierung der S.I. anstellt und diese mit Debord und wohl auch den Mitgliedern der italienischen Sektion diskutiert. Bis hierhin ist die Organisationsdebatte im Inneren der S.I. ein Organisationsmonolog Debords, ein Monolog auf der Suche nach Dialog. Diese Suche nach Dialog wird bereits an den einleitenden Anmerkungen deutlich, mit denen Debord seinen Text an die italienische Sektion schickt: »Je vous envoie mes propositions sur l’organisation, en même temps qu’à Mario. C’est très sommaire, il doit y avoir beaucoup de choses à ajouter. Mais je crois que l’essentiel est dit [...]. [C]eci est une ébauche de statuts d’organisation, que je présente seulement à titre personnelle. [...] [C]’est écrit très vite, et je ne tiens pas aux mots précis, mais aux points de vue généraux évoqués.«854
Diese Ausführungen verdeutlichen, wie Debord diesen Text verstanden wissen will: Es handelt sich dabei lediglich um seinen persönlichen Beitrag zu einer Diskussion, nicht um die Position der französischen Sektion, um eine vorläufige Skizze der Grundzüge der Organisationsstruktur, an der gemeinsam noch einiges zu verändern sein wird. Zugleich verweisen bereits sowohl der Umfang des Texts als auch sein Arbeitstitel ›ébauche de statuts d’organisation‹ darauf, dass Debord hier über seinen Ansatz aus dem Vorjahr hinausgeht und dass es ihm nun um eine mit den neuen Mitgliedern gemeinsam ausgearbeitete Festlegung, eine Präzisierung dessen, was die S.I. ist, geht - schließlich sind aus der ›Frage nach der Organisation für die S.I.‹ die ›Statuten der Organisation‹ geworden, wenn auch noch als vorläufiger Entwurf. Im Zentrum von Debords dreigeteilten Ausführungen stehen dabei wieder die Aspekte der egalitären Partizipation und der demokratischen Entscheidungsfindung, die Frage nach dem Grad der Autonomie der Sektionen sowie als zusätzlicher Punkt die Frage nach der Koordination und Kommunikation zwischen den Sektionen und somit der Versuch, Sektionsautonomie und Gesamtgruppenkohärenz auf einen Nenner zu bringen. Hier soll zunächst nicht detaillierter auf Debords Überlegungen eingegangen werden - nicht zuletzt, da sie uns und der S.I. schon 854 | Debord (2004a), S. 32, an die italienische Sektion, 21.2.1969, Hervorh. im Orig.
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bald wieder begegnen werden. Entscheidend ist ein anderer, ein struktureller Aspekt: Auch dieser Text Debords, explizit als Entwurf, als Diskussionsvorschlag konzipiert und kommuniziert, löst bei den übrigen Mitgliedern zwar eine Reaktion, aber so gut wie keine Diskussion aus von einer Kritik oder einem Gegenvorschlag ganz zu schweigen. »Mon ébauche de ›statuts‹ a été communiquée aux autres groupes, ainsi que le projet de Mario. Les camarades de Paris approuvent mon projet (toujours: en tant qu’ébauche).«855 Eine wirkliche Diskussion über Debords Thesen entwickelt sich innerhalb der S.I. nicht, vor allem die Mitglieder der französischen Sektion scheinen ihr vorbehaltlos zuzustimmen bzw. keine eigene Position zu den hier aufgeworfenen Fragen zu entwickeln. Dies ist höchst problematisch, bezieht sich doch eine oder gar die wichtigste dieser Fragen auf das Problem der egalitären Beteiligung. Genau eine solche jedoch ist nicht erkennbar und die Einstimmigkeit gerade der französischen Sektion gerät für Debord mehr und mehr in Verdacht, als Deckmantel einer kontemplativen Haltung vor allem der neuen Mitglieder zu dienen, denn »rien n’est plus facile que de suivre cette mauvaise pente ›naturelle‹: approuver toujours l’individu qui paraît ›le meilleur‹ sur les questions qui nous réunissent. On risque d’avoir un groupe toujours ›intelligent‹ et ›efficace‹ - selon nos critères - qui en réalité dépend de la présence de celui qui est le plus capable de réagir correctement aux problèmes qui se posent.«856
Gegen diese kontemplative Einstimmigkeit setzt Debord auf bewusste Abweichung in Einzelfragen, auf die belebende Wirkung des Streits auf einer gemeinsamen Basis und greift damit implizit sein Konzept der Bildung von Tendenzen innerhalb der Gruppe wieder auf und macht sich somit nicht nur für die Autonomie der Sektionen, sondern auch und vor allem für die Autonomie eines jeden Mitglieds stark. »Il vaut beaucoup mieux supporter l’inconvénient de quelques discordances ou fausses manœuvres tactiques que de jouir d’une telle unanimité. [...] [n]ous voyons clairement que nous ne sommes pas seulement des partisans de l’autonomie individuelle, mais que nous sommes condamnés à cette autonomie.«857 Dieses schwierige Wechselverhältnis von individueller Autonomie und Gruppenkontext, von Auseinandersetzung und Übereinstimmung, von Differenz und Kohärenz wird unter dem Begriff der ›interchangeabilité‹ zusammengefasst, der versucht, die Forderung nach einer aus einer Pluralität von autonomen Individuen entstehenden 855 | Debord (2004a), S. 39, an Gianfranco Sanguinetti, 3.3.1969. Die einzigen wirklichen Diskussionen, die in der französischen Sektion stattfinden, beziehen sich auf die Positionen von Perniola (vgl. ibidem, S. 40, an die italienische Sektion und Mario Perniola, 12.3.1969). 856 | Ibidem, S. 53, an Mario Perniola und die italienische Sektion, 6.4.1969, Hervorh. im Orig. 857 | Ibidem, an Mario Perniola und die italienische Sektion, 6.4.1969, Hervorh. im Orig.
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Kohärenz von der Gleichschaltung aller innerhalb der Gruppe abzugrenzen und so das Problem der ›Sozialität der Solitären‹ zu entschärfen: »Cette ›interchangeabilité‹ n’est pas celle des talents, des goûts, de l’approbation monolithique d’une doctrine, ou des propositions et interventions qui peut surgir. Elle est la reconnaissance lucide et correcte d’une base centrale, sur laquelle tout devient possible; et hors de laquelle tout nous semble inacceptable [...]. Ainsi cette ›interchangeabilité‹ (toujours vérifiable et provisoire) est à la fois une exigence fondamentale, et aussi nettement limitée.«858
Der Begriff der ›interchangeabilité‹ löst den der Fähigkeiten als wichtiges Mitgliedschaftskriterium ab, berücksichtigt stärker als dieser die individuellen und situativen Unterschiede und zielt in erster Linie auf einen auf einem Grundkonsens basierenden Willen zur Beteiligung ab, die ganz explizit gegenseitige Kritik beinhalten soll und so Raum für punktuelle Abweichungen gibt. Durch die Rückbindung an einen Grundkonsens, die Überprüfbarkeit und den ihr zugeschriebenen provisorischen Charakter ist die ›interchangeabilité‹ jedoch nicht mit Beliebigkeit zu verwechseln. Sie stellt weiterhin klare Anforderungen an die Mitglieder, betont den Bewährungsaspekt, an den die Mitgliedschaft nach wie vor gekoppelt ist, um die Mitglieder so zur Mitarbeit und zur klaren Entscheidung für und aktiven Beteiligung am situationistischen Projekt zu bewegen. Die ›interchangeabilité‹, die sich in der Praxis der Gruppe zeigen muss, ist weniger abstrakt als der Begriff der Fähigkeit, und ihre Existenz oder ihr Fehlen scheint leichter - und auch etwas objektiver zu bestimmen zu sein, als dies bei der Forderung nach nicht allzu konkret definierten Fähigkeiten der Fall war: »›L’interchangeabilité‹ dans l’I.S. ne saurait être une utopie glorieuse, mais une nécessité concrète limitée, qui est concrètement vérifiée dans la pratique.«859 Durch ihre Überprüfbarkeit und ihren Charakter als grundlegende Bedingung einer produktiven Zusammenarbeit innerhalb der Gruppe stellt sie eine klare Handlungsaufforderung an die Mitglieder der Gruppe dar und ist somit im Umkehrschluss auch weiterhin implizit mit einer Ausschlussandrohung verbunden. Doch auch diese erneute theoretische Reflexion Debords über die Probleme der Gruppenpraxis scheint trotz der darin enthaltenen klaren Handlungsaufforderungen bei den übrigen Mitgliedern - insbesondere der französischen Sektion - nicht auf fruchtbaren Boden zu fallen. Weder entwickelt sich auf der Basis seiner Vorschläge eine vielstimmige theoretische Debatte, noch führt seine Kritik auf der Ebene der Praxis zu positiven Veränderungen. Sieht man einmal von der zu diesem Zeitpunkt sowohl theoretisch als auch praktisch verhältnismäßig aktiven 858 | Debord (2004a), S. 53, an Mario Perniola und die italienische Sektion, 6.4.1969, Hervorh. im Orig. 859 | Ibidem, S. 54, an Mario Perniola und die italienische Sektion, 6.4.1969.
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italienischen Sektion ab, mit der auch Debord zu dieser Zeit intensiven Kontakt hat, so bleibt die restliche S.I. weiterhin auf beiden Feldern relativ inaktiv. Die zunächst naheliegende Begründung für diese Zurückhaltung bezüglich der Beteiligung an der Organisationsdebatte - die Vorbereitung der Nr. 12 der I.S. - kann bei genauerer Betrachtung jedoch nicht aufrechterhalten werden. Zwar sind fast alle Mitglieder der französischen Sektion offiziell ins Redaktionskomitee eingebunden, doch eine aktive Beteiligung ist nur bei den wenigsten erkennbar - der Großteil der Arbeit wird auch hier von Debord selbst übernommen. Aus der scheinbaren Entschuldigung wird somit eher noch eine Verschärfung des Problems. Dementsprechend rücken die Probleme bei der Herausgabe der Nr. 12 auch bald ins Zentrum des Interesses, da Debord kurz vor dem Erscheinen der Zeitschrift im September 1969 seinen Rücktritt vom Posten des Chefredakteurs bekanntgibt860 und dies nochmals explizit mit dem Verweis auf die Notwendigkeit einer egalitären Beteiligung aller Mitglieder an den Aktivitäten der Gruppe begründet: »Ce renouvellement devra donner à tous l’occasion d’une collaboration à égalité, que la qualification spécialisée acquise par deux ou trois de nous dans le maniement de l’ancienne formule ne favorisait certainement pas.«861 Nachdem seine theoretischen Überlegungen und Aufforderungen zum Dialog keine Veränderung bewirkt haben, geht Debord nun zur Praxis über und schafft Fakten, verschiebt die bislang unerschütterlich scheinenden Koordinaten, konstruiert eine neue Situation, die die anderen zur Beteiligung zwingen soll. Dabei greift er auch den Begriff der ›interchangeabilité‹ indirekt nochmals auf, indem er betont, dass es ihm bei diesem Schritt auch darum gehe, »l’illusion que je pourrais avoir, en quoi que ce soit, un rôle irremplaçable«862 aus der Welt zu schaffen. Doch die Reaktion der übrigen Sektionsmitglieder auf diesen bedeutenden Rückzug Debords aus der redaktionellen Arbeit sowie die weitere Entwicklung der I.S. in den folgenden Monaten lässt vielmehr seine Hoffnung als illusionär erscheinen. Zwar entwickelt sich in den Monaten nach seinem Rücktritt innerhalb der französischen Sektion eine Diskussion über eine Neustrukturierung der redaktionellen Arbeit, doch bringt diese die von Debord angesprochenen Probleme nur noch deutlicher zum Vorschein. Denn zum einen beteiligen sich die Mitglieder der Sektion wiederum in sehr unterschiedlichem Ausmaß an dieser Debatte, sie wird vor allem und beinahe alleine zwischen Riesel und Debord863 geführt und verweist somit deutlich auf die mangelnde Egalität. Zum anderen ist diese Debatte selbst kaum als 860 | Vgl. Debord (2004a), S. 103ff., an die französische, amerikanische, italienische und skandinavische Sektion, 28.7.1969. 861 | Ibidem, S. 103, an die französische, amerikanische, italienische und skandinavische Sektion, 28.7.1969. 862 | Ibidem, S. 103f., an die französische, amerikanische, italienische und skandinavische Sektion, 28.7.1969. 863 | Vgl. Riesel (1969a) und Debord (2004a), S. 110ff., an die französische und die übrigen Sektionen, 1.9.1969.
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Debatte im engeren Sinne aufzufassen, da in ihr jeglicher Widerspruch fehlt. Auch wenn Riesel einige konkrete Vorschläge zur Umstrukturierung macht, die Debord noch nicht selbst dargelegt hatte, wird seine doch grundlegende Kritik an der Funktionsweise des Redaktionskomitees von den übrigen Situationisten lediglich zur Kenntnis genommen, sie stimmen ihr zu und geloben Besserung. Vor allem aber beziehen sie Debords Kritik in erster Linie auf die Probleme der Herausgabe der I.S., während dies für Debord nur das Symptom einer tiefgreifenden Krise und somit der Ausgangspunkt einer grundlegenden Revision der S.I. ist. »L’absence d’un minimum d’activité correcte pour ce numéro 12 n’est qu’un symptôme d’une crise de la participation réelle et générale. [...] Je ne crois pas qu’il y ait parmi nous des camarades qui soient incapables de cette participation [...]. Par contre, je pense que certains ne veulent pas cette participation précise, ou tout au moins souhaitent autant que possible l’éviter.«864
Für Debord ist die im Redaktionskomitee zu beobachtende Problematik der nicht-egalitären Mitarbeit, des Abnickens von Entscheidungen und die mangelnde Kritikfähigkeit auch in der gesamten französischen Sektion oder gar mit Blick auf die gesamte S.I. das zentrale Problem, das die S.I. zu lösen hat. Es geht ihm um die Beseitigung der kontemplativen Passivität und des Widerspruchs zwischen Worten und Taten: »On a pu voir que quelques frappantes contradictions entre ce que certains de nous déclarent et ce qu’ils font réellement prêtaient à rire dans nos réunions. Il faudrait maintenant bannir cette sorte de complicité vulgairement ›amicale‹, et envisager la question avec sérieux.«865 Die S.I. soll alles andere als ein ›Freundeskreis‹ sein, Ziel ist vielmehr ein produktives Miteinander-Arbeiten, das auf gegenseitiger Kritik basiert und nicht ein friedliches Sich-gegenseitig-Bestätigen »sur la bonne marche de notre inactivité«866 Die S.I. muss wieder ein Forum der radikalen Kritik - nach außen, aber auch nach innen - werden, wenn sie nicht ihre Daseinsberechtigung verlieren will. Denn für den Fall, dass diese Umstrukturierung nicht erfolgreich umgesetzt werden kann, findet Debord klare Worte: »Mais il est évident dans ce cas que la conférence de l’I.S. qui suivra celle de Venise devrait déclarer dissoute sa section française, et en élire une autre.«867 Doch Debord begnügt sich nicht damit, die eigene Sektion unter besondere Beobachtung zu stellen oder sie nur ›auf Bewährung‹ aufrechtzuerhalten, er stellt die jetzigen Mitglieder einzeln vor die Entscheidung, ob sie an diesem Prozess mitwirken wollen oder nicht: »Demander à tous les camarades qui ne veulent pas s’engager sur cette base minimum de démissionner sans délai de l’I.S.«868 Dass er 864 | Debord (2004a), S. 112, an die französische und die übrigen Sektionen, 1.9.1969, Hervorh. im Orig. 865 | Ibidem, S. 113, an die französische und die übrigen Sektionen, 1.9.1969. 866 | Ibidem, an die französische und die übrigen Sektionen, 1.9.1969. 867 | Ibidem, an die französische und die übrigen Sektionen, 1.9.1969. 868 | Ibidem, an die französische und die übrigen Sektionen, 1.9.1969.
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dabei in einer Situation, in der schon Mitglieder ohne lange Diskussion ausgeschlossen wurden, nicht explizit mit Ausschlüssen droht, sondern die Tür zum Austritt offen hält, verweist auf das Vertrauen, das er auch zu diesem Zeitpunkt noch in seine Mitstreiter zu haben scheint. Wie nach den knappen Anmerkungen zum Umgang der übrigen Mitglieder mit Debords Kritik schon zu vermuten war, nimmt jedoch keiner diese Austrittsoption wahr, sondern unterstützen alle vorbehaltlos das Projekt der Neuausrichtung der S.I.: »À notre réunion avant-hier, les cinq camarades [...] ont évidemment choisi unanimement [...], qu’il fallait tout de suite changer le style de travail de l’I.S. française, en exigeant effectivement de tous une participation égale et complète.«869 So positiv diese Einigung zunächst für die Zukunft der S.I. erscheinen mag ein fader Beigeschmack haftet ihr trotzdem an: Denn dass der Entwurf für ein Modell der egalitären Beteiligung von einem einzelnen Mitglied vorgebracht werden muss und von den Übrigen kaum kommentiert, geschweige denn kritisiert und nurmehr wieder einstimmig angenommen wird, verdeutlicht und reproduziert lediglich das Problem, um das es hier geht. Es wird eine Kritik vorgebracht und sogleich akzeptiert. Es werden in theoretischen Gedankenübungen praktische Handlungsmodelle für die Zukunft definiert. Debord führt einen äußerst kritischen Monolog, die Übrigen hören und stimmen zu - in dem Gefühl oder der Hoffnung, dass es mit der abstrakten Kritik bereits getan ist - ›Problem erkannt, Problem gebannt‹. Die von Debord vorgebrachte Kritik der Praxis verbleibt auf dem Niveau einer theoretischen Kritik; eine wirkliche Praxis, in der diese Kritik umgesetzt wird, wird auf die Zukunft vertagt.870 Man erkennt die Kritik in ihrer Bedeutung als Kritik an, hält die Probleme der Gruppe durch die theoretische Kritik schon beinahe für gelöst und teilt diese Lösung den übrigen Mitgliedern der S.I. mit. Die über die I.S. hinausgehenden Schwierigkeiten der französischen Sektion bzw. der gesamten S.I. werden ebenfalls kommuniziert und auf die Tagesordnung der bevorstehenden Konferenz in Venedig gesetzt871 - wiederum jedoch als theoretisches Problem. Die Konferenz von Venedig steht also vor großen Herausforderungen, vor der zwei Aspekte umfassenden Frage nach dem ›Was tun?‹. Denn zum einen ist nach dem Mai 1968 mit dem Blick nach außen eine politische Neu-Positionierung und die Entwicklung der weiteren Perspektiven der S.I. notwendig und zum anderen geht es um die Lösung der sich ebenfalls seit dem Mai 1968 immer deutlicher abzeichnenden internen Krise der Gruppe - zwei sehr unterschiedliche und doch aus Sicht der S.I. eng miteinander verbundene Problemstellungen. Zumindest beim 869 | Debord (2004a), S. 113, an die italienische Sektion, 4.9.1969. Zur Zustimmung Vaneigems vgl. ibidem, S. 117, an die italienische Sektion, 10.9.1969. 870 | Auch hier könnte man mit Jorn wieder die Eigenheiten des ›lateinischen Denkens‹ erkennen: Bevor an eine tatsächliche Praxis auch nur zu denken ist, ist eine fundierte theoretische Konzeption dieser Praxis notwendig. 871 | Ibidem, S. 119, an die Sektionen der S.I., 14.9.1969.
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ersten Aspekt scheint die Konferenz zu Ergebnissen gekommen zu sein, denn »[e]inem Teil der Konferenz gelang es, gute Analysen der revolutionären Politik in Europa und Amerika zu formulieren; und vor allem die Entwicklung der sozialen Krise Italiens in den folgenden Monaten vorauszusehen, sowie unsere Interventionsmöglichkeiten.«872 Doch im Hinblick auf die internen Fragen ist die Konferenz weit weniger erfolgreich, was umso problematischer ist, als die Funktionsweise der Gruppe selbst als wichtige Grundlage für ihre Position nach außen, als eine Voraussetzung für die Glaubwürdigkeit ihrer Theorie der Praxis angesehen wird. Genau bei dieser Praxis wird jedoch in Venedig deutlich, »daß die besten Aspekte dessen, was die S.I. ebenfalls bedeutete, als grundlegende Theorie, Kritik und Kreation in der Gesamtheit des Lebens, oder einfach nur als Fähigkeit zum wirklichen Dialog zwischen autonomen Individuen [...] dort völlig fehlten.«873 Welcher Art diese Defizite waren, lässt sich zum einen aus dem bislang skizzierten Diskussionsverlauf innerhalb der französischen Sektion bereits erahnen, es deutet sich zum anderen aber auch im vorletzten Zitat an. Denn hier ist davon die Rede, dass die Erfolge bei der Diskussion der ersten Frage nur auf einen ›Teil der Konferenz‹ zurückzuführen sind. Auch wenn sich aus Mangel an Quellen zum genauen Verlauf der Konferenz nicht zweifelsfrei klären lässt, ob dieser ›Teil‹ zeitlich oder personell gemeint ist, so weisen doch die folgenden Aussagen Debords zum Verlauf der Debatte auf die zweite Möglichkeit und somit auf die Perpetuierung des Problems der nicht-egalitären Beteiligung hin - auch und gerade bei der Diskussion darüber, wie genau dieses Problem beseitigt werden kann. »Während einige Genossen systematisch Vaneigems vorsichtiges Schweigen imitierten, verbrauchte die Hälfte der Teilnehmer dreiviertel der Zeit, um mit größter Entschlossenheit die gleichen vagen Gemeinplätze zu wiederholen, die jeder vorangegangene Redner bestätigt hatte [...]. Jeder dieser redefreudigen Genossen verfolgte selbstverständlich allein das Ziel, hervorzuheben, daß er genauso Situationist war wie jeder andere; um gewissermaßen seine Anwesenheit bei dieser Konferenz zu rechtfertigen, so als wäre er rein zufällig dort.«874
Auch wenn diese Skizze des Konferenzverlaufs etwas überzeichnet sein mag, so ist sie vor dem Hintergrund der Ereignisse der letzten Monate alles andere als unglaubwürdig. Je mehr Debord und auch die italienischen Mitglieder eine egalitäre Aktivität aller einfordern, desto vehementer wird dem zugestimmt, ohne einen eigenständigen Beitrag dazu zu leisten. Die Aktivität einzelner Mitglieder führt nicht zur Motivation der übrigen, sondern dazu, dass diese sich gerade mit der Affirmation der bloßen Forderung nach Aktivität begnügen. So aber verfestigt sich das 872 | Situationistische Internationale (1972), S. 104. 873 | Ibidem. 874 | Ibidem.
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von Beginn an erkennbare Grundproblem dieser internen Fragen immer mehr: Die Forderung nach egalitärer Beteiligung, vorgetragen von den wenigen aktiven Mitgliedern, zementiert die Unterscheidung zwischen aktiven und passiven Mitgliedern mehr, als dass sie sie aufhebt. Das Fazit zur Konferenz von Venedig fällt dementsprechend vernichtend aus: »Kurz, die Situationisten waren achtzehn an der Zahl, aber sie hatten den Geist von vieren.«875 Pointierter kann man die damalige Lage der S.I. kaum beschreiben - und auch nicht deutlicher zu verstehen geben, dass sich daran etwas ändern muss. Doch hat sich nicht bereits etwas geändert? Werden nicht auf eben dieser Konferenz die grundlegenden Forderungen und organisatorischen Umstrukturierungen in den Statuts provisoires de l’I.S.876 ausgearbeitet und zur Grundlage der weiteren Aktivität gemacht? Was zunächst wie ein Widerspruch zu Debords Wahrnehmung des Konferenzverlaufs erscheint, stellt sich bei genauerer Betrachtung als Bestätigung oder gar Verschärfung der Probleme dar. Denn der von der Konferenz verabschiedete Beschluss ist alles andere als das Ergebnis einer gemeinsamen Diskussion, er wurde nicht gemeinsam erarbeitet, da es sich um genau den Text handelt, den Debord den übrigen Mitgliedern bereits im Februar 1969 vorgelegt hatte.877 Um einen Text also, den Debord explizit als flüchtigen Entwurf bezeichnet hat, der zu diskutieren, zu überarbeiten und zu ergänzen ist und der nun, von minimalen Zusätzen abgesehen, inhaltlich unverändert und fast im genauen Wortlaut - wir erinnern uns an Debords Anmerkung zu seinem Entwurf: ›je ne tiens pas aux mots précis‹ - übernommen wird. Die S.I. hatte auf der Konferenz von Venedig also nicht einmal den Geist von vieren, sondern - zumindest was den zentralen Beschluss bezüglich der Organisationsstruktur angeht - nur noch den von einem, von Debord. Wie sieht also die organisatorische Zukunft für die S.I. nach diesen Statuten aus? Welche Aspekte und Bereiche der jüngsten Diskussion werden in ihnen festgehalten? Ohne die 14 Thesen hier im Detail darstellen zu wollen, lässt sich zunächst einmal festhalten, dass es sich bei den statuts provisoires um eine exakte und bis ins letzte Detail ausgearbeitete Definition der Organisationsstruktur der S.I. handelt, die sich, sowohl was den Inhalt als auch was den Duktus angeht, beinahe wie eine Vereinssatzung oder ein Parteiprogramm liest. Dieser Text ist somit der bisherige Höhepunkt der Formalisierung der Gruppenpraxis der S.I., der den Übergang von der beweglichen, auf interpersonellen Beziehungen basierenden Gruppe zur starren und von formalen Bestimmungen dominierten Organisation oder gar Institution markiert. Das situative Element ist auf dem besten Wege, von der Bürokratie erstickt zu werden. Das Einzige, was noch auf das situative Moment verweist, ist der Hinweis, dass es sich um provisorische Statuten handelt. Die zentralen 875 | Situationistische Internationale (1972), S. 105. 876 | Vgl. Situationistische Internationale (1969g). 877 | Vgl. Debord (1969).
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Formulierungen dieser Statuten gehen dabei im Grunde genommen auf die Überlegungen Debords aus dem April 1968 zurück und betonen den egalitären und demokratischen Charakter der Gruppe, die auf einer gemeinsamen Basis von nun an auch individuelle Unterschiede und Abweichungen zulassen soll. »L’I.S. est une association internationale d’individus égaux dans tous les aspects de sa gestion démocratique, et ayant fait la preuve d’une égalité de capacités en général, non dans tous les détails - pour notre activité commune théorique et pratique. La décision majoritaire est exécutée par tous; la minorité ayant le devoir de scissionner si l’opposition lui paraît concerner une question fondamentale parmi les bases d’accord jusque là reconnues.«878
Auch wenn der Begriff der ›tendance‹ hier nicht explizit genannt wird, so ist dieses Konzept zur Einbindung einer gewissen Differenztoleranz in den Formulierungen doch erkennbar.879 Allerdings erscheint hier die Idee der ›scission‹, die aus Bildung einer ›tendance‹ resultieren kann, wenn sich die Meinungsverschiedenheiten auf Dauer nicht lösen lassen oder den Grundkonsens der Gesamtgruppe in Frage stellen. Diese Ergänzung ist insofern interessant, als sie die Bildung einer ›tendance‹, die ursprünglich dazu dienen sollte, Abweichungen innerhalb der Gruppe zu ermöglichen und dazu motivieren sollte, die eigene Position - auch wenn sie nicht mehrheitsfähig ist - zur Sprache zu bringen, nun wieder mit der Drohung versieht, dass diese Abweichung auch der Beginn einer Bewegung aus der Gruppe hinaus sein kann. »Si les mêmes problèmes et divergences se rencontrent en plusieurs occasions successives, les membres de l’I.S. qui se trouvent en accord sur une de ces options ont droit de constituer ouvertement une tendance, et de rédiger des textes pour préciser et soutenir leur point de vue, jusqu’à la résolution finale (par unanimité retrouvée, ou scission, ou bien par le dépassement pratique du débat).«880
Zugleich jedoch ist in diesem Zusammenhang explizit nicht von Ausschluss die Rede, sondern eben von der ›scission‹, die am ehesten mit einem kollektiven Austritt zu vergleichen ist. Wie schon die relative Öffnung für Differenzen innerhalb der Gruppe lässt sich auch die Einführung der ›scission‹ als Versuch Debords lesen, die Eigeninitiative und die Eigenverantwortung der Mitglieder zu stärken und zugleich die Gesamt-
878 | Situationistische Internationale (1969g). 879 | Er wird zudem im weiteren Verlauf der statuts beim Blick auf die Organisation der einzelnen Sektionen nochmals explizit erwähnt und erläutert. Dabei wird wiederum der Aspekt der offenen Meinungsäußerung und der Transparenz besonders hervorgehoben. 880 | Ibidem.
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gruppe von der permanenten Beschäftigung mit der Frage nach dem Ausschluss zu entlasten.881 In eine ähnliche Richtung scheint zunächst auch die wieder gestärkte Autonomie der Sektionen zu weisen. Zwar bleibt die Versammlung aller Mitglieder der S.I. auch weiterhin »le seul pouvoir de décision sur l’ensemble des choix théorique et pratique«,882 aber abgesehen von dieser Richtlinienkompetenz der Gesamtgruppe haben die Sektionen weitgehend freie Hand, sowohl bei ihren Aktionen und bei ihren Außenkontakten, als auch bei der Herausgabe einer Zeitschrift und bei der Aufnahme neuer Mitglieder. Mit Blick auf die Egalität und Kohärenz der Gesamtgruppe wird hier jedoch unter bestimmten Bedingungen eine Einschränkung der Autonomie notwendig: »Elle [die Sektion, M.O.] prend seulement dans ce cas la responsabilité, devant l’ensemble de l’I.S., de contrôler tout ce qui pourrait abaisser le niveau général de l’I.S. [...] ou introduire une inégalité notable entre participants.«883 Eine ähnliche Vorgehensweise wird im Hinblick auf den Ausschluss festgelegt, denn auch hier wird zunächst die Autonomie der Sektionen festgeschrieben, um allerdings durch zwei Ausnahmen gleich wieder erheblich eingeschränkt zu werden: »Chaque section nationale est maître de ses exclusions, en devant fournir immédiatement à toutes les autres sections les motifs et tous les documents utiles. Dans le cas où les faits seraient contestés par les camarades exclus, ou bien dans le cas où une autre section de l’I.S. demanderait une nouvelle discussion portant sur le fond même du débat, ces exclusions seraient suspendues jusqu’à une Conférence générale de l’I.S. (ou une réunion de délégués), qui prendrait la décision définitive.«884
Sowohl der Ausgeschlossene selbst als auch die Mitglieder der übrigen Sektionen können somit einen Ausschluss in Frage stellen. Damit aber sind die Sektionen nur in der Lage, gewissermaßen ›auf Probe‹ auszuschließen, was letztlich die Autonomie bezüglich der Ausschlüsse auf ein Vorschlagsrecht beschränkt. Vor allem aber wird dadurch die bislang grundlegende Haltung der S.I., dass alle ihre Ausschlüsse endgültig und berechtigt sind, wenn auch nicht aufgehoben, so doch erheblich aufgeweicht. Die Pseudo-Autonomie der Sektionen bei der Frage des Ausschlusses wird noch an einer dritten Ausnahme deutlich, da bei grundlegenden theoretischen Differenzen auch ohne Widerspruch grundsätzlich erst die gesamte S.I. zu Rate gezogen werden muss, denn »il n’est pas admissible que des oppositions théoriques ou programmatiques, même graves, soient sanctionnées par l’exclusion avant qu’une 881 | Ein ähnlicher Hintergrund ist auch bei folgender Neuregelung zu vermuten: »Tous divergence ou tout choix qui n’exigent pas l’exclusion permettent la démission.« (Situationistische Internationale (1969g)). 882 | Ibidem. 883 | Ibidem. 884 | Ibidem.
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réunion générale de l’I.S. ait pu en discuter.«885 Auch wenn diese Regelung die Sektionsautonomie endgültig zum Papiertiger macht, so ist sie vor dem Hintergrund des Versuchs, innerhalb der S.I. mehr Differenzen zu ermöglichen, doch eine nachvollziehbare Ergänzung und verweist darauf, dass auch die gemeinsame Basis nach wie vor als in einem gewissen Rahmen verhandelbar und veränderbar aufgefasst wird. Lediglich in einer einzigen Situation sind es tatsächlich die Sektionen, die alleine über Ausschlüsse entscheiden können. Hier bleibt auch die bisherige Strenge und Kompromisslosigkeit der S.I. bezüglich des Ausschlusses erhalten: »Mais tous manquements pratiques doivent être sanctionnés d’urgence, sur place.«886 Interessanterweise hat sich also der Bereich, in dem diese Strenge nach wie vor erkennbar ist, vom Feld der Theorie auf das der Praxis verlagert - eine Verschiebung, die sich aus den Problemen seit dem Mai 1968 erklären lässt und sich vor allem gegen die kontemplativen Mitglieder richtet. Sie wird die S.I. bis zu ihrem Ende prägen. Wie wirken sich diese theoretischen Überlegungen zur Organisationsstruktur, die zu einem großen Teil aus den Erfahrungen der Praxis bzw. der fehlenden Praxis der Gruppe entwickelt wurden, in den folgenden Monaten und Jahren auf die Praxis der Gruppe aus? Sorgen sie für ein Ansteigen oder einen Rückgang der Ausschlüsse? Vereinfachen sie das diesbezügliche Prozedere oder verkomplizieren sie es? Kurz: lassen sie Raum für eine Praxis jenseits der Praxis des Ausschlusses und eine Theorie jenseits der Theorie des Ausschlusses? Blickt man auf die hier skizzierten Regelungen zum Eintritt, aber vor allem auf die zum Ausschluss, muss man vermuten, dass die Sektionsautonomie, die nicht zuletzt eine Entlastung der Gesamtgruppe in Organisationsfragen herbeiführen sollte, aufgrund der im Namen der Kohärenz eingeführten Ausnahmen gerade bei der Frage nach dem Ausschluss eher das Gegenteil bewirken und auch weiterhin dafür sorgen dürfte, dass die S.I. einen großen Teil ihrer Kapazitäten für organisatorische Fragen und den Streit über die nächsten Ausschlüsse aufwenden muss. Zumindest lässt der nächste Ausschluss nicht lange auf sich warten. Er erfolgt wenige Tage nach der Konferenz von Venedig und trifft Alain Chevalier aus der französischen Sektion. Hierbei handelt es sich um einen Ausschluss wie aus dem Lehrbuch, der die zentralen Aspekte der soeben beschlossenen Statuten in die Praxis umsetzt - ganz so als wolle man die praktische Wirksamkeit und ›Effizienz‹ der neuen Statuten der Gruppe demonstrieren und auch den weiteren inaktiven Mitgliedern abermals verdeutlichen, wie schnell ihr kontemplatives Verhalten zum Ausschluss führen kann.887 Das Problem der kontemplativen Stagnation, der Inkohärenz und der daraus resultierenden nicht-egalitären Strukturen sieht Debord vor 885 | Situationistische Internationale (1969g). 886 | Ibidem. 887 | Vgl. zu den Details des Ausschlusses den Exkurs C.1. im Online-Anhang C.
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allem in seiner eigenen französischen Sektion und setzt direkt nach dem Ausschluss von Chevalier die diesbezügliche Diskussion und seine Kritik daran fort. Eine Kritik, die immer grundlegendere Vorwürfe beinhaltet und mehr und mehr auf Debords Frustration bezüglich des Verlaufs der Debatte und auch ganz konkret über seine Mitstreiter bzw. seine Jasager verweist - und die dennoch von allen Mitgliedern der Sektion einstimmig angenommen wird: »Pour élever la section française au niveau de cohésion qu’ont montré à Venise les autres sections, il ne suffit pas de proscrire - et sanctionner, cf. Alain - toutes les suites éventuelles de la désinvolture qui était installée en janvier-juin. [...] Dans les autres sections, non seulement il y a plus d’égalité dans la participation aux débats et à l’écriture, mais surtout on y constate plus d’intérêt réel pour notre théorie et son emploi: il y a plus d’activité personnelle, plus de lectures, plus d’idées.«888
Die Defizite der französischen Sektion sind somit nicht nur für diese selbst problematisch, sondern auch für die gesamte S.I., da die mangelnde Aktivität der Franzosen auch auf der Ebene der Gesamtgruppe Inkohärenzen und nicht-egalitäre Strukturen einführt. Umso dringender ist die Beseitigung dieser Mängel in seiner Sektion für Debord. Da jedoch die bisherigen Aufforderungen genau wie die erneute Ausschlussandrohung keine Wirkung gezeigt haben, sondern auf der Ebene des leeren Geredes verblieben sind, macht Debord konkrete Vorschläge, wie die Sektionsarbeit in Zukunft zu gestalten ist.889 Ab sofort sind sowohl der Turnus als auch die Dauer und der Ablauf der Sektionstreffen genau festgelegt, wird für die Mitglieder eine Residenzpflicht in Paris eingeführt und die Teilnahme an allen Treffen obligatorisch. Nachdem also die gegenseitigen Beteuerungen, dass sich an der Funktionsweise der Sektion etwas ändern müsse, keine Wirkung gezeigt haben, setzen ihre Mitglieder nun auf eine gegenseitige und formell festgehaltene Verpflichtung. Ob aus einer solch starren, formalisierten Struktur jedoch ein von individuellem Interesse getragenes Mehr an Ideen und Aktivität resultieren kann, erscheint fragwürdig. Diese Zweifel werden dadurch verstärkt, dass es nicht nur bei der beinahe schon vertraglich anmutenden gegenseitigen Verpflichtung bezüglich der Sektionstreffen bleibt,890 sondern diese wiederum mit einer expliziten Ausschlussdrohung verbunden wird. Diese Ausschlussdro888 | Debord (2004a), S. 127, an die Mitglieder der französischen Sektion, 15.10.1969, Hervorh. im Orig. 889 | Vgl. ibidem, an die Mitglieder der französischen Sektion, 15.10.1969. 890 | Diese Regelungen heben auch die Rücksichtnahme auf die individuelle Autonomie, die vor kurzem noch erkennbar war, wieder auf: »[i]l ne faut plus dire à l’I.S. qu’une obligation extérieure empêche d’être présent un jour de réunion: il faut dire aux obligations extérieures qu’une obligation plus impérieuse empêche tout autre engagement à ces dates.« (Ibidem, S. 128, an die Mitglieder der französischen Sektion, 15.10.1969).
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hung lässt sich jedoch als eine Art ›automatischer Ausschluss‹ bezeichnen, denn in Anlehnung an die schon erwähnte Kategorie des ›automatischen Austritts‹ aufgrund von Inaktivität erfolgt auch dieser ohne weitere Diskussion, ohne weitere Begründung und als rein formaler, bürokratischer Akt: »Au cas où quelqu’un serait en retard ou absent pour l’exécution d’un de ses engagements, et si la majorité de la section ne veut pas admettre qu’il se trouve excusé par des circonstances précises, on devra prendre acte formellement du fait. S’il se renouvelle, l’exclusion est automatique.«891
Ähnlich wie bereits bei der ›scission‹ wird hier ein Mechanismus eingeführt, der dazu beitragen soll, die Mitgliederzahl der S.I. wenn nötig zu reduzieren und zwar, ohne dass dies die Gruppe allzu sehr in Anspruch nimmt und von der wirklichen theoretischen und praktischen Aktivität abhält. Ausschlaggebend für diese Abwendung von der Idee der Öffnung der Gruppe ist die Enttäuschung darüber, dass genau diese Öffnung und die aus ihr resultierende Vergrößerung vor allem in der französischen Sektion nicht zu einer Verbesserung der gemeinsamen Arbeit, sondern im Gegenteil gerade zu deren Blockade geführt und zudem dazu beigetragen hat, dass innerhalb der Gruppe Strukturen entstanden sind, die im Widerspruch zu grundlegenden theoretischen Forderungen stehen. Dementsprechend scheint man sich nun wieder auf die Vorteile einer kleineren Gruppe zu besinnen und stoppt die Aufnahme weiterer Mitglieder: »Seit der Konferenz von Venedig, und während dieser gesamten Krise, bestand Einigkeit darüber, dass die S.I. keinen neuen Beitrittsgesuchen stattgeben würde, bevor sie nicht eindeutig Herr der Schwierigkeiten geworden war, die sie in sich selbst fand.«892 Auch wenn es hier noch so klingt, als glaube man an eine Lösung der internen Krise, so bleibt es doch nicht nur beim Aufnahmestopp von neuen Mitgliedern, sondern es wird explizit darauf hingewiesen, dass eine Verkleinerung der Gruppe von Vorteil sein könnte: »Il est sûr que trois situs dont les rapports seraient bons constituaient une bien meilleure et efficace section que sept ou huit s’ennuyant en commun.«893 Da jedoch unter den gegebenen Umständen zumindest in der französischen Sektion kaum mit freiwilligen Austritten zu rechnen ist, kann diese Verkleinerung der Gruppe zur Steigerung ihrer Produktivität nur durch Ausschlüsse erfolgen, die nochmals ausdrücklich als Waffe gegen die Ideenlosigkeit angedroht werden: »Pas une idée nouvelle n’a été formulée dans les réunions de cette periode [...]. Là est la racine de l’inertie qu’il nous faut supprimer, par autant d’exclusions qu’il sera nécessaire.«894 891 | Debord (2004a), S. 128, an die Mitglieder der französischen Sektion, 15.10.1969. 892 | Situationistische Internationale (1972), S. 108. 893 | Debord (2004a), S. 127, an die Mitglieder der französischen Sektion, 15.10.1969. 894 | Ibidem, an die Mitglieder der französischen Sektion, 15.10.1969.
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Erscheinen diese Überlegungen zur Reduktion der Mitgliederzahl hier zunächst noch als nicht zu vermeidende Option, um die S.I. und ihre Funktionsweise zu verbessern und zur Kohärenz von Theorie und Praxis zu gelangen, so ändert sich dieses Bild, wenn man der weiteren Entwicklung ein wenig vorgreift. Denn was sich innerhalb der französischen Sektion abspielt, ist genau die Entwicklung, die Debord hier noch fast scherzhaft skizziert hat: die konsekutive Verkleinerung der Sektion von acht Mitgliedern im Oktober 1969 auf drei Mitglieder im Moment der offiziellen Auflösung der S.I. im April 1972. Vor diesem Hintergrund erscheinen die im Oktober 1969 von Debord vorgelegten - und paradoxerweise von den zukünftig auszuschließenden Mitgliedern abgesegneten Vorschläge beinahe wie ein systematischer Plan für die letzten Jahre der S.I. - einer S.I. jedoch, die nicht mehr zu stärken, sondern zu schwächen ist895 und deren Funktion für Debord nicht mehr in der Existenz, sondern im Verschwinden liegt, um so aus der Erstarrung der Wirklichkeit als Organisation ein letztes Mal in ihrer eigenen Aufhebung in die situative Bewegung überführt zu werden. Doch bevor diese Bewegung in der französischen Sektion umgesetzt werden kann, melden sich zunächst die übrigen Sektionen mit ihren Schwierigkeiten und Konflikten zu Wort, verkünden und widerrufen Ausschlüsse, deren Struktur ebenfalls als Versuch der Umsetzung der statuts anzusehen ist. Diesmal allerdings in einer Weise, die die S.I. monatelang in Beschlag nimmt und ihre Energie an endlose und ermüdende Formaldebatten bindet, die in einer erneuten Organisationsdebatte münden - und so im Ganzen betrachtet vor allem eines verdeutlicht: das Ausmaß der inhaltlichen Erstarrung der S.I. Den Anfang machen dabei die Konflikte und Ausschlüsse der amerikanischen Sektion, die zwischen November 1969 und Januar 1970 zu beobachten sind. In der aus vier Mitgliedern bestehenden amerikanischen Sektion sind von Beginn an und teilweise auch geographisch bedingt nochmals zwei Fraktionen erkennbar: die permanent in New York ansässigen Robert Chasse und Bruce Elwell einerseits und die zeitweise auch in Europa agierenden Jon Horelick und Tony Verlaan andererseits. Zwischen diesen beiden Fraktionen kommt es im November 1969 zu ernsthaften Konflikten, zu Konflikten jedoch, die sich kaum an inhaltlichen Differenzen festmachen lassen, sondern sich in erster Linie auf formal-organisatorische Meinungsverschiedenheiten beziehen.896 Insgesamt ist bei dieser Auseinandersetzung zu erkennen, dass die S.I. zunächst lange versucht, sich bei der Austragung dieses Konflikts an die statuts zu halten und vor allem die Sektionsautonomie zu respektieren. Als dies aber nicht, wie vielleicht erhofft, zu einer Versachlichung und produktiven Lösung des Streits führt, sondern diesen im Gegenteil immer weiter verkompliziert, mischt sich die restliche S.I. immer stärker 895 | Vgl. hierzu auch Situationistische Internationale (1972), S. 109. 896 | Vgl. zu den Diskussionen im Umfeld dieses Ausschlusses den Exkurs C.2. im Online-Anhang C.
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in die Belange der Amerikaner ein - und macht den Konflikt damit nur noch komplizierter. Das Spannungsfeld zwischen Sektionsautonomie und den Belangen der Gesamtgruppe sowie zwischen den formalen statuts und der realen, emotionalen Auseinandersetzung lässt sich nicht lösen. Dies führt letztendlich dazu, dass eine Debatte, die nicht zuletzt aufgrund der anfänglichen Einhaltung der eigenen Statute sehr verworren wurde, letztendlich nur noch dadurch beendet werden kann, dass die Mehrheit Fakten schafft und sich dabei über die in den Statuten vorgegebene Verfahrensweise hinwegsetzt. Fast die gesamte Diskussion wird im Nachhinein als überflüssig dargestellt, da der Ausschluss von Chasse und Elwell als ›automatischer Ausschluss‹ zurückdatiert wird: »Tu as vu que la dernière circulaire de la section française considère que Robert et Bruce sont déjà exclus, automatiquement, à partir du moment où toute l’I.S. a refusé leur fausse exclusion de Tony.«897 Diese Art der Konfliktbeendigung erscheint aus mehreren Gründen problematisch: Zum einen werden dadurch die in dieser Diskussion aufgeworfenen Fragen zur Funktionsweise der S.I. als Gruppe vernachlässigt bzw. totgeschwiegen und zum anderen führt diese abrupte Beendigung vor einer in den statuts vorgesehenen Delegiertenversammlung dazu, dass dieser Konflikt nur aus der Sicht einer Seite, derjenigen der S.I., nicht aber aus der Sicht von Chasse und Elwell beendet ist, wie deren Widerspruch gegen ihren Ausschluss verdeutlicht.898 Auf diesen Einspruch reagiert die S.I. aber überhaupt nicht mehr, sie schweigt ihn wie schon die vorher aufgeworfenen Probleme - tot und muss sich selbst dadurch genau den gleichen Vorwurf bezüglich ihrer Kommunikationsstruktur machen lassen, mit dem sie den Ausschluss von Chasse und Elwell begründet hat. Doch nicht nur der Verlauf und die Beendigung des Konflikts erscheinen problematisch, auch sein Inhalt wirft Fragen auf. Denn durch die Konzentration auf die rein formalen Fragen nach der Berechtigung von Ultimaten und der Einhaltung der statuts geraten wirklich inhaltliche Aspekte in den Hintergrund. Diese klingen in Bezug auf Verlaan zwar kurz an - und dies sogar als fundamentale Theoriedifferenzen -, gehen aber im Formalismus der Debatte schnell unter. Somit aber sorgt die Beendigung der Auseinandersetzung durch den Ausschluss von Chasse und Elwell lediglich für die Wiederherstellung der formalen Kohärenz, während die Frage nach der inhaltlichen Kohärenz unbeantwortet bleibt. Denn genau diese Differenzen zwischen Verlaan und Horelick bzw. zwischen Verlaan und der S.I. bleiben bestehen und manifestieren sich darin, dass Verlaan nach dem Ausschluss 897 | Debord (2004a), S. 195, an Jeppesen Victor Martin, 23.12.1969, Hervorh. im Orig. 898 | Die beiden kritisieren den Ablauf der Ereignisse und folgern: »We recognize this situation, and we must go beyond it; therefore we submit our collective resignation from the S.I. as the only possible protest against these intolerable conditions.« (Chasse, Robert/Bruce Elwell (1969)) Der Ausschluss wird aus ihrer Sicht zum Austritt.
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von Chasse und Elwell sogar die Auflösung der amerikanischen Sektion fordert899 und sich die S.I. selbst zwischenzeitlich fragt, ob ›nous serons obligé de désavouer complètement Tony.«900 Eine Auseinandersetzung, die anfangs die vollständige Erhaltung der amerikanischen Sektion mit vier Mitgliedern zum Ziel hatte, sorgt also zum einen dafür, dass nur zwei Mitglieder übrig bleiben, die zudem noch untereinander so zerstritten sind, dass auch die Auflösung der Sektion zur Diskussion steht. Zum anderen führt der Konflikt durch seinen formalistischen Verlauf dazu, dass die reellen Differenzen zunächst verdrängt und nicht gelöst werden. Auch wenn die Auflösung der amerikanischen Sektion zu diesem Zeitpunkt noch nicht vollzogen wird, wird diese Problematik die S.I. ein Jahr später nochmals einholen und sie weiter zwingen, sich beinahe ausschließlich mit den internen, organisatorischen Querelen zu befassen. Doch zunächst einmal kann die S.I. nach der Beendigung dieser Auseinandersetzung, und durch sie erneut um zwei Mitglieder geschrumpft, beim Delegiertentreffen in Luxemburg wieder zur inhaltlichen Arbeit zurückkehren - zumindest ist dies ihre Hoffnung: »Ainsi, on espère que Luxembourg pourra être consacré à des discussions plus importantes.«901 Allerdings befasst sich auch dieses Treffen zunächst noch einmal mit den Differenzen zwischen Horelick und Verlaan902 und bestätigt erneut den Ausschluss von Chasse und Elwell.903 Es folgen Berichte der Vertreter der drei weiteren Sektionen, die jedoch kaum darüber hinausgehen, die übrigen Mitglieder auf den aktuellen Stand der Dinge zu bringen, und die darauf hinweisen, wie ausgeprägt die Autonomie der Sektionen im negativen Sinne als Zersplitterung bereits fortgeschritten ist. Beispielhaft sei hier die Beschwerde von Martin aus der skandinavischen Sektion genannt: »Martin denounced the complete and scandalous lack of interest of the whole International about the scandinavian area. Consequently, the delegates of the other sections committed themselves to seriously bring that to the attention of their respective sections.«904 Dass diese Unverbundenheit der verschiedenen Sektionen jedoch nicht alleine eine Frage des Interesses ist, sondern auf ganz grundlegende um nicht zu sagen simple Schwierigkeiten zurückzuführen ist, wird an einem der wenigen konkreten Beschlüsse des Treffens deutlich, der festhält, dass alle Mitglieder ihre Fremdsprachenkenntnisse verbessern sollten: »Stating the difficulty of mutual complete understanding due to language barriers, the delegates formally insist at the ensemble of the Internatio899 | Verlaan (1969). 900 | Debord (2004a), S. 207, an Jon Horelick, 6.1.1970. 901 | Ibidem, S. 195, an Jeppesen Victor Martin, 23.12.1969. 902 | Vgl. Martin, Jeppesen Victor/Claudio Pavan/René Riesel/Tony Verlaan (1970b). 903 | Vgl. Martin, Jeppesen Victor/Claudio Pavan/René Riesel/Tony Verlaan (1970a). 904 | Martin, Jeppesen Victor/Claudio Pavan/René Riesel/Tony Verlaan (1970b).
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nal to make a consequent effort to eliminate these barriers.«905 Nach knapp 13 Jahren Existenz als ›Internationale‹ schickt die S.I. ihre Mitglieder also in den Sprachkurs! Doch das geringe Interesse für die Arbeit der anderen Sektionen ist nach wie vor vor allem auf einen weiteren Faktor zurückzuführen: auf die Tatsache, dass die meisten Sektionen voll und ganz mit sich selbst beschäftigt sind und zwar nicht aufgrund von theoretischen oder praktischen Aktivitäten, sondern aufgrund interner Konflikte. Nach der französischen und der amerikanischen Sektion ist nun die italienische an der Reihe. Die Hoffnung auf eine Rückkehr zur produktiven Zusammenarbeit wird also erneut im Keim erstickt. Die Probleme der italienischen Sektion beginnen bereits Ende 1969, sie werden allerdings aufgrund der Auseinandersetzung mit den Amerikanern kaum beachtet. Ab Januar 1970 werden sie dann immer mehr zum Diskussionsthema vor allem zwischen der italienischen und der französischen Sektion,906 bevor es im Februar und März zu einer ersten Eskalation kommt. Die Auseinandersetzung weist einige Parallelen zum Konflikt in der amerikanischen Sektion auf, denn auch hier geht es um gegenseitige Kritik, um das Nicht-Formulieren von notwendiger Kritik, um persönliche Antipathien und Vorwürfe, um implizite und explizite Ausschlussforderungen, die letztendlich mit dem Austritt oder Ausschluss desjenigen enden, der sie aufgestellt hat. So wird zunächst von Pavan und Rothe der Ausschluss von Sanguinetti gefordert, doch bald schon wird wiederum Rothe von Pavan, Salvadori und Sanguinetti scharf attackiert. Die restliche S.I. stellt sich jedoch hinter Rothe und schließt daraufhin Pavan aus. Doch auch Rothe gerät nochmals in die Schusslinie und wird kurze Zeit später ebenfalls ausgeschlossen.907 Die Italiener scheinen nichts aus den Erfahrungen der Amerikaner gelernt zu haben, ein solcher Lerneffekt ist lediglich mit Blick auf das Verhalten der übrigen Sektionen erkennbar, die sich sehr viel früher und mit mehr Nachdruck bemühen, den Konflikt zu schlichten. Ein Grund für dieses nachdrückliche Eingreifen der übrigen Mitglieder ist darin zu sehen, dass die italienische Sektion seit ihrer Gründung im Januar 1969 und bis zum Beginn ihrer internen Probleme die einzige Sektion der S.I. ist, die sowohl auf dem Feld der Theorie als auch auf dem der Praxis eine nennenswerte Aktivität und diverse Erfolge vorzuweisen hat. Genau diese, von den übrigen Sektionen immer als vorbildlich bezeichnete, letzte ›Aktivitätszelle‹ der S.I. droht nun durch den aufflammenden Konflikt ebenfalls zu erstarren bzw. sich sogar in ihre Bestandteile aufzulösen. In den ersten Wochen der Auseinandersetzung tritt dabei vor allem die französische Sektion als externe Beraterin der italienischen Mitglieder auf - Grundlage ihrer Vorgehensweise ist somit auch hier wieder die in den statuts vereinbarte Autonomie der Sektionen, die eine direkte 905 | Martin, Jeppesen Victor/Claudio Pavan/René Riesel/Tony Verlaan (1970b). 906 | Vgl. Debord (2004a), S. 204ff., an Claudio Pavan, 3.1.1970. 907 | Vgl. zu den Details dieser Auseinandersetzung den Exkurs C.3. im OnlineAnhang C.
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Einmischung oder gar eine Mitentscheidung untersagt. Auch wenn die Franzosen den Italienern keine Entscheidungen vorgeben, so ist doch bereits hier ein intensiver Austausch und die Entwicklung von Strategien zur Problemlösung zu erkennen. Vor allem aber wird deutlich, dass die französische Sektion versucht, die Konsequenzen aus dem Fiasko bezüglich der amerikanischen Sektion zu ziehen, die zu einem großen Teil aus dem Konflikt zwischen Sektionsautonomie und Belangen der Gesamtgruppe entstanden sind. In Bezug auf die italienische Sektion versuchen die übrigen Mitglieder daher unter Berücksichtigung der statuts, diese produktiv nutzbar zu machen - im Sinne einer Einflussnahme der anderen Sektionen und einer gemeinsamen Problemlösung. Die S.I. unterzieht die statuts, wenn man so will, nur vier Monate nach ihrer Verabschiedung einem détournement, das dazu beitragen soll, die statuts zugleich einzuhalten und zu umgehen. Formal respektiert wird zunächst der Aspekt der Sektionsautonomie, gleichzeitig werden jedoch Mittel und Wege gesucht, auf denen eine direkte Einflussnahme der übrigen Sektionen auf die internen Belange der Italiener doch möglich ist. Und dafür halten die statuts, wie wir bereits gesehen haben, einige Hintertüren bereit - Hintertüren, die in Sonderfällen die Interessen der Gesamtgruppe über die Sektionsautonomie stellen. So versucht die französische Sektion zunächst, die Italiener von Austritten abzubringen und stattdessen lieber Ausschlüsse zu vollziehen. Was zunächst in Bezug auf eine mögliche Konfliktlösung kontraproduktiv erscheint, wird beim Blick auf die formalen Bedingungen von Austritt und Ausschluss nachvollziehbar: »[D]ans les circonstances actuelles, toute démission [...] serait malheureuse - parce que les autres sections n’auraient plus rien à dire (normalement, et statutairement) après une démission. Par contre nous pouvons contester une exclusion.«908 Durch die statuts wird also die individuelle Entscheidung des Austritts gegenüber der kollektiven des Ausschlusses abgewertet, da die Gruppe nur bei Letzterer über ein Widerspruchsrecht verfügt. Die Regelungen in den statuts, die im Grunde zur Stärkung sowohl der individuellen als auch der Sektionsautonomie führen sollten, werden somit im Sinne der Kohärenz der Gesamtgruppe so weit ausgehöhlt und so strategisch genutzt, dass sie dieses Ziel ad absurdum führen bzw. unter dem Schein der Autonomie und der Vielfalt nach wie vor eine Tendenz zu zentralistischen Mehrheitsentscheidungen erkennbar bleibt. Für solche Entscheidungen der Gesamtgruppe ist es jedoch von zentraler Bedeutung, dass die internen Konflikte an alle Mitglieder kommuniziert werden, damit sie die nötigen Kenntnisse über den Konfliktverlauf besitzen. Und genau eine solche Kommunikation erfordern sowohl der Ausschluss als auch der Austritt, die somit dafür verwendet werden können, Sektionsinterna
908 | Debord (2004a), S. 210, an Claudio Pavan, 3.2.1970, Hervorh. im Orig.
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an die Gruppenöffentlichkeit zu bringen: »[J]e conseillerais dans certain cas une démission ›pour permettre de poser le problème‹.«909 Aufgrund der Erfahrungen mit dem Problem der Intransparenz und der fehlenden Positionsbestimmung im amerikanischen Konflikt wird zudem verstärkt darauf gedrängt, innerhalb der italienischen Sektion auf das ebenfalls in den statuts verankerte Prinzip der Bildung von Tendenzen - und der Abspaltung - zurückzugreifen, das zu einer eindeutigen und öffentlichen Positionierung der Konfliktparteien beitragen soll.910 Auch dieser Ratschlag dient nicht nur der sektionsinternen Transparenz, sondern auch der Transparenz innerhalb der Gesamtgruppe, da die Tendenzen verpflichtet sind, ihre Positionen klar zu formulieren und an alle Mitglieder zu kommunizieren. Wie bereits Ausschluss und Austritt zielt auch die Bildung einer Tendenz darauf ab, die Möglichkeiten der Einflussnahme für die Gesamtgruppe zu verbessern. Dies wird bei der eventuell auf die Tendenzbildung folgenden Abspaltung noch deutlicher. Hier geht es nicht mehr nur um Transparenz, sondern um eine Entscheidung der Gesamtgruppe, da die Abspaltung eine Maßnahme ist, »qui mettra le reste de l’I.S. devant ses responsabilités«911 , denn »les autres sections auraient évidemment à choisir quelle moitié doit être considérée comme en accord avec elles.«912 Neben dem bislang skizzierten und kritisch zu bewertenden Versuch, die statuts mit den statuts soweit aufzuheben bzw. einem détournement zuzuführen, dass es letztendlich doch die Gesamtgruppe ist, die eine Entscheidung trifft, ist hier erkennbar, dass die S.I. darauf abzielt, die vorhandenen Konflikte innerhalb der Sektionen nicht nur zu schlichten, sondern sie auch für die anderen Sektionen und für die Gesamtgruppe nutzbar zu machen. Dies wird allerdings weniger im Sinne eines direkten Lerneffekts angestrebt, denn für einen solchen sind die Konflikte trotz der strukturellen Ähnlichkeiten doch zu sehr an die beteiligten Mitglieder und ihre interpersonellen Beziehungen und Probleme gekoppelt. Vielmehr scheint es vor allem der französischen Sektion darum zu gehen, sich nicht hinter dem Konflikt der Italiener zu ›verstecken‹ und diesen nicht dafür zu nutzen, die Probleme der eigenen Sektion zu verdrängen, sondern diese Auseinandersetzung zum Anlass zu nehmen, sich die in der eigenen Sektion schwelenden Probleme bewusst zu machen. Denn die Forderung nach mehr Transparenz, nach klarer Positionierung und aktiverer Beteiligung ist auch in der französischen Sektion noch lange nicht umgesetzt. Genau eine solche Positionierung und Aktivierung jedoch würde innerhalb der französischen Sektion durch Austritte, Ausschlüsse oder die Bildung von Tendenzen und durch Abspaltung notwendig. Die Konflikte der italienischen Sektion sollen somit dazu 909 | Debord (2004a), S. 210, an Claudio Pavan, 3.2.1970. 910 | Vgl. ibidem, S. 214, an die italienische Sektion, 11.2.1970. 911 | Ibidem, S. 210, an Claudio Pavan, 3.2.1970. 912 | Ibidem, an Claudio Pavan, 3.2.1970.
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beitragen, sowohl die Probleme der eigenen Sektion zu verdeutlichen als auch ihre ›Frontlinien‹ so klar wie möglich abzustecken. Doch eine solche Selbstpositionierung der französischen Sektion - erweitert um Mitglieder anderer Sektionen - ist nicht erst als Reaktion auf Ausschlüsse und Abspaltungen bei den Italienern möglich, sie wird auch aktiv angestrebt, indem die Franzosen selbst eine Tendenz bilden,913 um ihre Position im Hinblick auf den Konflikt der Italiener zu verdeutlichen. Auch wenn diese Bildung einer Tendenz in den statuts ausdrücklich vorgesehen ist, so ist sie in diesem Fall problematisch, weil sie die direkte Einflussnahme auf den Konflikt der italienischen Sektion zum Ziel hat und so die Sektionsautonomie nicht respektiert. Dieses Problem wird jedoch durch drei Faktoren etwas entschärft: Erstens trifft die Tendenz keine direkte Entscheidung über die italienische Sektion, sondern beschränkt sich darauf, diese Entscheidung zu beeinflussen und befindet sich somit noch auf dem schmalen Grat zwischen Beratung und Bevormundung. Zweitens ist mit Rothe auch ein Italiener Mitglied dieser Tendenz, was die klare Unterteilung nach nationalen Sektionen und die Differenzierung zwischen internen Angelegenheiten und Belangen der Gesamtgruppe ebenfalls abschwächt. Zum dritten wurde bereits vor der Bildung dieser Tendenz festgehalten, dass der Verlauf des italienischen Konflikts diesen mehr und mehr zu einer Frage für die Gesamtgruppe macht: »Il faut constater que la confusion du débat dans la section italienne - que vous avez tous dénoncée - est en train de s’étendre aux relations entre nos sections.«914 Insgesamt ist dennoch festzuhalten, wie problematisch und lückenhaft die Umsetzung der Sektionsautonomie als einem Kernaspekt der statuts in der Praxis der S.I. nach wie vor ist. Vor allem aber wird deutlich, dass der Spagat zwischen den verschiedenen Aspekten der statuts, zwischen Autonomie und Kohärenz, zwischen der Umsetzung der statuts und ihrem geschickten détournement oder ihrer mehr oder weniger offensichtlichen Umgehung zu einer erhöhten Konfliktkomplexität und zu einer Formalisierung und Bürokratisierung der Auseinandersetzungen führen. Der Ausschluss von Rothe und der Austritts-Ausschluss von Pavan sind bezeichnend für die Situation, aus der heraus er sich entwickelt hat: Eine interne Krise, in der taktisch und emotional agiert wird, schafft eine Atmosphäre, die von gegenseitigen Anschuldigungen, Rechtfertigungs913 | Vgl. Debord, Guy/Eduardo Rothe/Christian Sebastiani (1970). Dass der Versuch, damit auch mögliche Differenzen in der eigenen Sektion aufzuzeigen, scheitert, ist daran erkennbar, dass die Tendenz, die von Debord, Rothe und Sebastiani am 14.2.1970 begründet wird, bereits am 18.2.1970 um Beaulieu, Riesel, Vaneigem und Verlaan erweitert wird. Somit gehören ihr bis auf Viénet alle Mitglieder der französischen Sektion an. Dies aber ist vor dem Hintergrund der bisherigen und der zukünftigen Konflikte zwischen diesen Mitgliedern weniger auf eine reelle Einigkeit als vielmehr auf den Wunsch nach Einigkeit, den spektakulären Schein von Einigkeit zurückzuführen. Insofern gelingt es der Tendenz indirekt doch, auf das Kernproblem der französischen Sektion hinzuweisen. 914 | Debord (2004a), S. 213, an die italienische Sektion, 11.2.1970.
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versuchen, persönlichen Animositäten und Auseinandersetzungen um kleinste Details geprägt ist, und führt zu Verhaltensweisen, die im völligen Widerspruch zu den Theoriepositionen der S.I. stehen und die daher beinahe zwangsläufig zu Austritten oder Ausschlüssen führen - und dies auch bei Mitgliedern, die sich mit eben diesen Theoriepositionen vollkommen solidarisch erklären. Diese Diskrepanz ließe sich einerseits so auffassen, dass sie auf einen Widerspruch hindeutet zwischen der Tatsache, sich mit den Theoriepositionen einverstanden zu erklären und dem Scheitern, dieses erklärte Einverständnis auch in die Praxis umzusetzen und es so als kontemplativ-fiktives zu enttarnen. Andererseits kann dieses Spannungsverhältnis, das auf die situationistische Grundfrage des Zusammenspiels von Theorie und Praxis verweist, auch darauf hindeuten, dass in der Endphase der S.I. die zunehmende Formalisierung und Institutionalisierung der Gruppenstruktur und des Gruppenhandelns, die eine Art Verrechtlichung interpersonneller Beziehungen nach sich zieht, dazu führt, dass auf dieser Ebene deutlich mehr Spannungen entstehen als in der weniger strukturierten Anfangsphase der S.I. Vor allem aber hat diese Formalisierung eine Verlagerung der Konflikte von der inhaltlichen auf die organisatorische Ebene zur Folge, die dazu führt, dass eine Umsetzung der grundlegenden und weitreichenden Theoriepositionen in der Praxis der eigenen Gruppe verunmöglicht wird oder dass sie zumindest vom Versuch der Umsetzung lediglich der organisationsspezifischen Theorieaspekte verdrängt wird. Was sich hier neben der inhaltlichen Verlagerung zusätzlich verschiebt, ist die Art und Weise der Auseinandersetzungen innerhalb der S.I.: Denn neu ist der Aspekt des Streits bei dieser Gruppe ja keineswegs, er prägte sie vielmehr von ihrer Gründung an. Was sich jedoch beobachten lässt, ist eine Wandlung vom für die eigene Theorieproduktion produktiven Streit hin zu einem die Gruppe lähmenden Streit, von Streitlust zu Streitfrust, von einer von Offenheit geprägten Streitkultur zu einer starren Streit-Bürokratie. Dass Letztere auch bei der Umsetzung der bürokratischen Streit-Theorie in eine produktive Streitpraxis weitgehend scheitert und es mehr zu einer Praxis des Konflikts als zu einer Praxis der Theorie kommt, verweist darauf, dass Streit bei allen notwendigen Regelungen zu seiner Begrenzung und Beendigung einen gewissen Freiraum benötigt, um sich produktiv entfalten zu können und dass er nicht zuletzt auf die Streitkultur der an ihm Beteiligten angewiesen ist. Der lähmende Charakter der Auseinandersetzungen in der Schlussphase der S.I. deutet sowohl auf eine defizitäre Praxis als auch auf eine defizitäre Theorie der eigenen Gruppenstruktur hin - zumindest dann, wenn man davon ausgeht, dass eine solche formalisierte Organisationsstruktur zu einem reibungslosen Funktionieren der Gruppe beitragen soll. Dass ein solches ›reibungsloses Funktionieren‹ gerade in den letzten Monaten nicht zustande gekommen ist, wird von der S.I. im März 1970 zunächst explizit auf die Konflikte der amerikanischen und der italienischen Sektion zurückgeführt:
488 | Situationistische Internationale »Les difficultés des quatre derniers mois dans les sections américaine et italienne ont été particulièrement regrettables en ceci qu’elles ont ralenti le développement extensif de l’I.S. [...]. Il faut reprendre et poursuivre ce mouvement extensif, mais aussi reprendre tout de suite notre développement intensif pratico-théorique.«915
Diese intensive Beschäftigung mit den verschiedenen internen Krisen ist jedoch nicht nur deshalb von Bedeutung, da sie die S.I. von jeglicher theoretischen und praktischen Arbeit abhält, sondern auch, da die aus ihr resultierenden Ausschlüsse nicht dazu beigetragen haben, in der Folgezeit die Produktivität der S.I. zu steigern. Vor allem aber haben sie nicht dazu geführt, das den Konflikten zugrunde liegende Problem der kontemplativen Haltung vieler Mitglieder, die lediglich die Unterstützung von Kritik an anderen, nicht aber die notwendige grundlegende Gesamt- und Selbstkritik zur Folge hat und die auch den Schritt von der theoretischen Kritik zu ihrer Umsetzung in die Praxis verhindert, tatsächlich zu lösen. »Diese Vorfälle konnten, gerade weil sie nicht nur die Schlechtesten, und nicht einmal sämtliche Schlechtesten ausgelesen hatten, weder die Qualität unserer Denker noch den Schwung unserer Redakteure steigern. Obwohl sich alle immer wie ein Mann an die Verurteilung der Ausgeschlossenen gemacht hatten, tolerierten sich viele Situationisten weiterhin untereinander.«916
Interessant ist hier vor allem der zum ersten Mal explizit im Zusammenhang mit dem Ausschluss auftauchende Begriff der Auslese, der darauf verweist, dass es der S.I. bei ihren Ausschlüssen nicht nur um die Frage von inhaltlicher Abweichung und Kohärenz, sondern eben auch um eine Anhebung des Niveaus der Gruppe geht. Diese Frage des Niveaus ist jedoch noch schwieriger zu klären, als die der Abweichung vom inhaltlichen Gruppenkonsens, da sich hier noch deutlicher das Problem der Definition dieses Niveaus stellt. Wer legt es fest und wie ist es nachzuweisen? Diese Unbestimmtheit des Niveaubegriffs aber öffnet der Willkür bei der Frage des Ausschlusses Tür und Tor, genau wie sie die klare Unterscheidung zwischen dem Ausschluss als inhaltlicher, nicht aber strategischer oder gar persönlicher ›Waffe‹ verschwimmen lässt. Der persönliche Aspekt trat bei den zuletzt genannten Fällen schon deutlich zutage - und er wird bei den kommenden Ausschlüssen noch sichtbarer werden - doch auch der strategische wird immer wichtiger. Denn auch dies geht aus dem obigen Zitat und dem Begriff der ›Auslese‹ hervor: Die strategische Funktion wird in der Schlussphase der S.I. immer stärker in den Mittelpunkt gerückt. Der Ausschluss soll nicht nur 915 | Debord (2004a), S. 223, an alle Sektionen der S.I., 17.3.1970, Hervorh. im Orig. 916 | Situationistische Internationale (1972), S. 108.
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das Niveau anheben, er wird zugleich mehr und mehr als Mittel zur Lösung der in der Organisationsdebatte diskutierten Probleme eingesetzt. Gerade dadurch jedoch, dass inhaltliche Überlegungen dabei immer seltener die ausschlaggebende Rolle spielen und der Ausschluss selbst immer mehr auf der Basis von formalen Begründungen durchgeführt wird, trifft er unter inhaltlichen Gesichtspunkten auch immer häufiger die Falschen und wirkt sich somit auf das Niveau der Gruppe kontraproduktiv aus. Doch auch als Mittel zur Lösung der organisatorischen Probleme taugt er nur bedingt, da diese durch die Ausschlüsse nicht, wie erhofft, als Phänomen an sich thematisiert werden, sondern von der Mehrzahl der Situationisten nur als spezifische Defizite des jeweils Ausgeschlossenen aufgefasst werden. Der Zusammenhang zwischen diesen sicherlich vorhandenen individuellen Defiziten und den zugrunde liegenden Strukturproblemen wird nicht hergestellt; anstatt diese zu thematisieren, werden sie durch den Ausschluss als gelöst angesehen, wird die Eigenverantwortung abgewälzt auf die Fehler des Ausgeschlossenen - der Ausschluss funktioniert mehr und mehr nach dem SündenbockPrinzip. Ein Einzelner wird aus der Gruppe ausgeschlossen, doch anstatt dies als einen Hinweis auch auf eigene Defizite oder auf eine Fehlfunktion der Gruppe insgesamt zu verstehen, wird die Gruppe dadurch für die verbliebenen Mitglieder wieder zur ›harmonischen Gemeinschaft‹. ›L’enfer, c’est les autres‹ - auch innerhalb der eigenen Gruppe. Alle unterstützen die Kritik am Ausgeschlossenen und verstellen sich dadurch den Blick auf eine Selbstkritik bezüglich der grundlegenden Probleme der Passivität und des vorgeschobenen Einverständnisses. Dieses reproduziert sich, bei der französischen Sektion, bis hinein in die Diskussionen um die Ausschlüsse aus den übrigen Sektionen, da auch hier wieder kaum jemand Stellung bezieht oder eine abweichende Meinung formuliert, wie die umfassende Ausweitung der oben skizzierten Tendenz verdeutlicht hat. »Quand une critique est réellement prise au sérieux et suivie d’effets [...] un individu est exclu. Il est retranché de l’harmonieuse communion, peut-être même sans avoir jamais été critiqué auparavant [...]. Et tous décident à l’instant qu’il ne faudra continuer ainsi; que les choses doivent changer; etc. Mais comme personne ne se soucie des modalités pratiques, on se contente d’une espérance, et la chose pourra bien se reproduire dix fois.«917
Voller Elan schließt man sich der von einem Mitglied - meist eben von Debord - geäußerten Kritik an, führt in diversen Stellungnahmen aus, dass das Verhalten von diesem und jenem Mitglied nicht zu tolerieren sei und ergeht sich in Willensbekundungen, dass ein solches in Zukunft innerhalb der S.I. vermieden werden müsse. Doch letztendlich passiert 917 | Debord (1970), S. 264.
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genau das nicht, weil man das konkrete Problem durch den Ausschluss als gelöst betrachtet und es dadurch andauernd reproduziert. Die Gruppe versteckt sich mehr und mehr hinter den Ausschlüssen und sorgt somit indirekt dafür, dass die Reihe der Ausschlüsse immer länger wird. Während der Ausschluss in den Anfangsjahren der Gruppe ein Prozess der Kritik, des Streits und der offenen und direkten Auseinandersetzung ist, der zur Folge hat, dass Positionen klar herausgearbeitet werden, dass die verbleibenden Mitglieder auf dieser herausgearbeiteten Basis zusammenrücken usw., ist gegen Ende zu erkennen, dass der Ausschluss nichts an der Streit-Unlust und der Passivität ändert, ja, dass er diese sogar noch bestärkt, da er für die verbleibenden Mitglieder eine Art Alibi-Reinigung, einen Deckmantel für die eigene Passivität darstellt. Anfangs wird durch den Ausschluss ein inhaltlicher Konflikt aus dem Inneren der Gruppe entfernt und durch den Ausschluss die Sprengung des Gruppenzusammenhangs verhindert. Der Ausschluss dient hier als Überdruckventil und hat teilweise durchaus produktive Wirkungen, da er Differenzen formuliert und der Gruppe die Möglichkeit gibt, sich ihrer Identität zu versichern und sich in einer neuen Formation weiterzuentwickeln. Gegen Ende wird der Ausschluss zu einem Mittel, die Probleme und Differenzen innerhalb der eigenen Gruppe zu kaschieren oder sie nur vorgeblich zu lösen. Somit aber wird der Ausschluss auf lange Sicht zum Auslöser zwar nicht für die Explosion wohl aber für die Implosion der Gruppe werden. Für die in den Anfangsjahren der S.I. zentrale Kategorie der Auseinandersetzung und der gegenseitigen Kritik innerhalb der Gruppe, die eingerahmt ist von den Extrem- oder Ausnahmefällen der Übereinstimmung sowie der Unvereinbarkeit der Positionen (die auch damals zum Ausschluss führt), scheint gegen Ende die Bereitschaft zu einer solchen Kritik zu fehlen. »Entre la rupture et le contentement de principe, il semble donc qu’il n’y a pas de place pour la critique réelle.«918 Dies ist umso bedenklicher, als man in der Schlussphase der S.I. nicht mehr klar unterscheiden kann, ob es sich beim Fehlen von Widerspruch um ein wirkliches Einverständnis oder eben um ein bloßes ›contentement de principe‹ handelt. Letzteres ist jedoch in der Frühphase kaum möglich, da sich die Gruppe noch mitten im Prozess der Positionssuche befindet, es also noch gar nicht klar ist, welcher Position stillschweigend zugestimmt werden soll. Gegen Ende hält die S.I. jedoch eine solche Position bereit bzw. hat sie im Mai 1968 auch schon nach außen präsentiert, sodass vor allem bei den nach dem Mai 1968 aufgenommenen Mitgliedern eine solche zustimmende Haltung erkennbar wird. Die S.I. ist immer weniger ›Bewegung‹ und wird immer mehr zu dem, was sie nie sein wollte: eine Lehre, die aufgrund der damit verbundenen fehlenden Weiterentwicklung zur Leere zu werden droht. Die fehlende Weiterentwicklung der S.I. in den Jahren 1969/70 ist 918 | Debord (1970), S. 265.
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insgesamt auf einen Mangel an produktivem Streit, an kritischer inhaltlicher Auseinandersetzung zurückzuführen, der selbst wiederum aus zwei verschiedenen Grundproblemen resultiert. In der amerikanischen und der italienischen Sektion basiert er auf einem Übermaß an Auseinandersetzung, die sich jedoch kaum auf inhaltliche, sondern vor allem auf organisatorische und persönliche Differenzen beschränkt und die Kapazitäten nicht nur der jeweils betroffenen Sektionen, sondern aufgrund der Bedeutung dieser Fragen für die Gesamtgruppe auch der übrigen Mitglieder absorbiert: »Dans les quatre mois précédents, pour la première fois, le côté administratif et disciplinaire interne l’a nettement emporté dans l’I.S. sur sa part de créativité ou d’expérimentation [...]. Il faut tout de suite renverser ce rapport des facteurs, parce que, si celui-ci se maintenait, l’I.S. n’aurait aucune justification à se maintenir elle-même.«919
Hier wird deutlich, dass die S.I. diese Konzentration auf die internen Angelegenheiten als äußerst problematisch ansieht und dadurch sogar die Existenzberechtigung der Gruppe insgesamt in Frage stellt. Auch wenn die organisatorischen Fragen und interpersonellen Probleme angesprochen und kritisiert werden müssen, so darf dies nicht in einem solchen Ausmaß erfolgen, dass es darüber hinaus keine wirkliche Praxis der Gruppe mehr gibt. Die Praxis innerhalb der Gruppe darf lediglich der Ausgangspunkt ihrer Praxis sein, die sich vor allem jenseits der Gruppengrenze bemerkbar machen muss. »Nous avons tous à choisir et à juger notre activité commune; mais être juges comme seule activité, ceci n’est pas acceptable.«920 Beim Blick auf die inzwischen beendeten Konflikte in der amerikanischen und italienischen Sektion scheint eine solche erneute Hinwendung zu einer wirklichen theoretischen und praktischen Arbeit durchaus möglich. Hier ist grundsätzlich eine Diskussions- und Streitbereitschaft erkennbar, die nun wieder auf die inhaltliche Arbeit angewendet und somit von einem lähmenden in einen produktiven Streit transformiert werden muss. Doch die französische Sektion steht vor einem ganz anderen Problem, da ihre Unproduktivität nicht nur auf ihre Einbindung in die Konflikte der übrigen Sektionen zu erklären ist, sondern auch aus einem grundlegenden Mangel am Willen zur Auseinandersetzung. Diese Kontemplativität in Bezug auf die egalitäre Beteiligung im Allgemeinen und in Bezug auf die Formulierung produktiver Kritik im Besonderen ist, wie skizziert, von Debord schon mehrfach als Problem angesprochen worden, ist aber während der zurückliegenden Konflikte etwas in den Hintergrund getreten bzw. konnte durch diese kaschiert werden - nun aber stehen diese Fragen wieder auf der Tagesordnung. Die S.I. steht also vor einem komplexen Problem: Einerseits 919 | Debord (2004a), S. 223, an alle Sektionen der S.I., 17.3.1970, Hervorh. im Orig. 920 | Ibidem, an alle Sektionen der S.I., Hervorh. im Orig.
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hat sie soeben diagnostiziert, dass die Klärung interner Probleme sie massiv von der inhaltlichen Arbeit abhält, die sie als conditio sine qua non der Gruppe festgeschrieben hat. Andererseits ist eine solche Klärung unvermeidlich, da auch die Probleme der französischen Sektion an sich einer solchen produktiven Auseinandersetzung im Wege stehen. Eine erneute Organisationsdebatte als erster Schritt auf dem Weg zur praktischen Arbeit ist dabei nicht nur für die französische Sektion, sondern auch für die Gesamtgruppe umso dringlicher, als die Franzosen zu diesem Zeitpunkt über die Hälfte der Mitglieder der S.I. stellen. Auch wenn die bisherigen Erfahrungen mit der von der französischen Sektion bereits mehrfach angestoßenen Organisationsdebatte als Lösungsansatz sowohl für die Defizite auf der Ebene der Theorieproduktion als auch auf der Gruppenebene mehr als ernüchternd waren, hält die S.I. aufgrund der engen Verwobenheit der beiden Faktoren weiterhin an dieser Vorgehensweise fest: »Non seulement aucune réelle discussion théorique n’a été tenue, mais la réalité de l’I.S. en tant qu’internationale de sections est assez compromise. La relation dialectique entre les deux choses me semble devoir poser à nouveau de l’existence organisationnelle de l’I.S.«921 Ab März 1970 beginnt daher die nächste Organisationsdebatte innerhalb der S.I., die entsprechend der aktuellen Problemschwerpunkte zunächst vor allem von den Mitgliedern der französischen Sektion geführt wird. Doch von Beginn an verdeutlicht diese Debatte mehr die Schwierigkeiten, um die es geht, als dass sie zu ihrer Lösung beiträgt. Zwar werden die Probleme immer und immer wieder benannt, doch scheint sich die Kritik stets auch mit einer gewissen Selbstzufriedenheit zu vermischen, genauso wie die wiederholt vorgebrachten Lösungsvorschläge größtenteils auf einem sehr allgemeinen und eher theoretischen als praktischen Niveau verbleiben: »[I]l me semble que dans la période qui s’ouvre comme dans celle qui est finie, l’existence d’un groupe uni de théoriciens critiques a de grandes justifications et la plus grande utilité historique. Encore faut-il qu’il en soit réellement un. [...] Cette existence passe nécessairement par un renouveau d’une pratique collective de l’imagination, qui doit entraîner maintenant la passion des idées comme la passion dans les débats, toutes choses qui nous font tristement défaut.«922
Das Problem einer fehlenden gemeinsamen Praxis durch die bloße Forderung nach einer solchen lösen zu wollen, führt jedoch nicht wirklich weiter. Vor allem aber wird eines deutlich: Die Möglichkeit einer gemeinsamen Praxis wird hier explizit an eine Leidenschaftlichkeit bezüglich der Ideenproduktion und der gemeinsamen Debatte bzw. der gegenseitigen Kritik geknüpft - an Faktoren also, die eher auf der individuellen oder interpersonellen Ebene liegen. Ob sich solcherlei Defizite jedoch durch eine formelle Organisationsdebatte lösen lassen, ist zu bezweifeln, 921 | Riesel (1970a). 922 | Ibidem.
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nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass die kritisierten individuellen Verhaltensweisen bereits die Produktivität einer solchen Diskussion in erheblichem Ausmaß und wohl eher negativ beeinflussen. Wir nähern uns hier einem Zirkelschluss an, denn das Problem der mangelnden Diskussionsbereitschaft soll in einer Diskussion gelöst werden - ob eine solche eingeforderte Diskussion jedoch mehr hervorbringt als eine Debatte, die die zu lösenden Probleme immer wieder demonstriert und reproduziert, erscheint mehr als fraglich. Der weitere Verlauf der Diskussion bestätigt diese Vermutung. Zwar beteiligen sich die meisten Situationisten an der Organisationsdebatte, doch entwickelt sich keine wirkliche Auseinandersetzung, es werden immer wieder ähnliche und ähnlich abstrakte Verbesserungsvorschläge gemacht, man stimmt den Vorrednern zu, greift bereits Gesagtes in minimalen Nuancierungen wieder auf, erklärt sein Einverständnis mit dem situationistischen Projekt. Insgesamt überwiegt die Repetition gegenüber der Innovation - die erhoffte Leidenschaftlichkeit der Ideenproduktion geschweige denn einer über die Idee hinausgehenden Praxis aber kommt nicht auf.923 Lediglich von Sebastiani kommt ein konkreter Vorschlag, der vorsieht, dass die Gruppe eine Art theoretisches Brainstorming abhält, bei dem jeder einige theoretische Fragen formuliert, die ihm von besonderem Interesse zu sein scheinen, um so die Bandbreite der in der S.I. vorhandenen Positionen besser zu erkennen und unter Umständen eine wirkliche Diskussion über mögliche Differenzen in Gang zu setzen. Zugleich soll durch diese Auseinandersetzung mit den Positionen der S.I. beim einzelnen Mitglied ein Prozess in Gang gesetzt werden, den er als »ré-adhérer à l’I.S.«924 bezeichnet. Doch auch dieser Vorschlag, auf den zwar immer wieder verwiesen wird, erfährt keine praktische Umsetzung, sodass auch weiterhin Allgemeinplätze wiederholt werden, das Sich-Gegenseitig-Zustimmen weitergeführt wird und auch nach zwei Monaten immer noch die gleichen vagen Forderungen formuliert werden, die bereits den Ausgangspunkt der Debatte bildeten. So zum Beispiel, wenn Riesel im Mai 1970 anmerkt: »Si nous voulons que ces débats entraînent un renouveau théorico-pratique il faut donc que nous définissions le minimum de style-pratique situationniste [...] pour pouvoir faire le travail théorique indispensable et nécessairement spécifique des situationnistes.«925 So dringlich und richtig diese Überlegung bereits im März war, so verdeutlicht die Tatsache, dass sie zwei Monate später immer noch als bloße Forderung unverändert auf dem 923 | Die gesammelten Dokumente dieser Debatte befinden sich im S.I.-Archive im IISG in Amsterdam, dort »kann man die Masse uninteressanter Dokumente und den ungenießbaren Briefwechsel studieren, die in dieser Zeit diejenigen produziert haben, die nicht anders zu tun wußten.« (Situationistische Internationale (1972), S. 107) So uninteressant oder unproduktiv diese Dokumente bezüglich der in ihnen unterbreiteten Vorschläge zu einer Neuorientierung der S.I. sein mögen, so aufschlussreich sind sie als Symptom ihrer Krise in den letzten Jahren. 924 | Sebastiani (1970a). 925 | Riesel (1970b).
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Tisch liegt, diese Dringlichkeit erneut und verweist darauf, dass die S.I. bislang nicht in der Lage war, aus diesen theoretischen Forderungen praktische Maßnahmen abzuleiten. Der Erste, der dies erneut als Problem anspricht, ist Vaneigem, der daraus wiederum zwei Forderungen für das Verhalten der Mitglieder ableitet - Forderungen, die ohne eine entsprechende Praxis jedoch genau so leere Formeln bleiben wie die zuvor gemachten Vorschläge: »L’accord répété sur nos faiblesses n’a pas encore abouti à un accord pratique sur la positivité de ce que nous tentons de réaliser ensemble. Deux principes sont donc désormais indiscutables: pas de désinvolture dans et avec l’I.S.; et participation générale par la preuve ininterrompue des capacités de créativité (la re-adhésion permanente dont parle Christian [Sebastiani, M.O.]).«926
Nur Debord bringt nochmals einen neuen oder zumindest einen lange nicht mehr angesprochenen Kritikpunkt ein: das Problem der in der S.I. entstehenden hierarchischen Strukturen. Diese lassen sich auch im Verlauf der Debatte daran wiedererkennen, dass es einige wenige sind, die wirkliche Kritik und Verbesserungsvorschläge vorbringen, denen die anderen dann lediglich noch zustimmen. Genau diese der Egalität zuwider laufenden Strukturen gilt es zu beseitigen: »[I]l faut surmonter toute hiérarchie cachée dans nos relations, non par la ruse de ceux qui domineraient trop, mais par le silence de ceux qui ne dominent pas assez leurs propres activités.«927 Er fasst die Herausbildung hierarchischer Strukturen nicht als Ergebnis einer bewussten Handlung der in der Gruppe dominanten Mitglieder auf, sondern als Resultat des Verhaltens der schweigenden Mehrheit, die sich durch ihr Schweigen und ihre Passivität mehr oder weniger freiwillig in die Position des Entscheidungsempfängers begibt und den aktiveren Mitgliedern, ob sie es gutheißen oder nicht, die Entscheidungen überlassen. Eine solche Konzentration der Entscheidungsmacht auf einige wenige Mitglieder - oder wie im Fall der S.I. beinahe auf ein einziges - hat jedoch neben dem Problem der Hierarchie noch weitere bedenkliche Folgen: »[S]i un groupe antihiérarchique prend l’habitude de laisser à un seul de ses membres la fonction d’avoir raison [...], ce groupe dépendrait en fait du caprice de cet individu.«928 Die Gruppe begibt sich in die Abhängigkeit von einem ihrer Mitglieder und verweigert sich somit sowohl der Idee der gemeinsamen Ideenproduktion als auch der gemeinsamen Verantwortung und führt so eine Trennung nicht nur zwischen aktiven und passiven Mitgliedern, sondern auch zwischen den Mitgliedern und der Gruppe ein, macht 926 | Vaneigem (1970a). Den vorläufigen Höhepunkt an Redundanz in dieser ›Schein-Debatte‹ bildet ein weiterer Beitrag von Sebastiani, der beinahe vollständig aus affirmativen Verweisen auf und Zitaten aus vorangegangenen Texten besteht (vgl. Sebastiani (1970b)). 927 | Debord (2004a), S. 245, an Gianfranco Sanguinetti, 10.7.1970, Hervorh. im Orig. 928 | Debord (1970), S. 269, Hervorh. im Orig.
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diese zu einer abstrakten Einheit jenseits der Pluralität ihrer Mitglieder. Die S.I. wird zum ›seul héros‹, aber in einer Form, die den Grundideen der Gruppe konträr entgegensteht.929 Damit entsteht ein sich selbst verstärkender Prozess, denn dieser Vorgang hat auch eine abnehmende Identifikation der Mitglieder mit der Gruppe zur Folge, welche wiederum die Bereitschaft zur Beteiligung weiter verringert. Zwar nimmt die Identifikation der Mitglieder mit der Gruppe nicht als solche ab, denn in Bezug auf die S.I. als abstrakte, gewissermaßen a priori existierende Gruppe dürfte sie eher noch zunehmen. Das aber bedeutet nichts anderes als das problematische Spektakulär-Werden der S.I. nicht nur für Außenstehende sondern auch für ihre eigenen Mitglieder. Dennoch nimmt die Identifikation auf eine andere Art und Weise ab: mit der S.I. als einer Gruppe, die als permanent zu aktualisierende Gesamtheit der gemeinsamen Aktivitäten aufzufassen ist, eine Identifikation mit der S.I. als immer wieder zu konstruierende Situation, die ohne diesen aktiven Beitrag ihrer Mitglieder schlicht aufhört zu existieren. Zusätzlich führt diese mangelnde Verantwortungsübernahme und Beteiligung einer Vielzahl von Mitgliedern zu einer inhaltlichen Verarmung der Gruppe, was am bisherigen Verlauf der Organisationsdebatte sehr deutlich wurde. »Après déjà quatre mois de débat d’orientation, nous n’avons pas vu apparaître de divergences théoriques, ce qui était assez prévisible. On peut plutôt se demander si ces textes [...] ne s’accumulent pas, comme autant de monologues, sans être guère utilisés? [...] [D]éclarer que l’on ne sépare pas la théorie et la pratique, ceci n’est pas encore pratiquer la théorie.«930
Neben dem grundlegenden Problem, dass die Debatte bislang nicht über die bloße Debatte hinausgekommen ist, sondern dass man lediglich theoretisch darüber diskutiert hat, Theorie und Praxis nicht trennen zu wollen, wird hier zudem das Fehlen jeglicher Theoriedifferenzen angesprochen und somit der Debatte zusätzlich noch der Debattencharakter abgesprochen und diese als Aneinanderreihung von Monologen entlarvt. Wäre eine solche theoretische Übereinstimmung das Ergebnis einer intensiven und egalitären Diskussion und somit die Folge einer Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Positionen (egal, ob als Kompromiss oder als aktive Anerkennung einer Position) gewesen, so 929 | Diese Entwicklung ließe sich nicht nur aus dem Verhalten der Mitglieder, sondern auch aus der Formalisierung der Organisationsstruktur erklären, da Letztere eine solche Abstraktion bzw. Trennung nahe legt. Der fluide Charakter der S.I. in den Anfangsjahren führte dazu, sie als bewegliches Moment, das sich im Prozess der aktuellen Handlungen der Mitglieder konstituiert, aufzufassen. Die Formalisierung macht die S.I. starrer, sie scheint als Organisationsstruktur unabhängig von ihren jeweiligen Mitgliedern als Konstante zu existieren. Dies wirft die Frage auf, ob die aktuellen Probleme der S.I. als Organisation zu lösen sind, wenn sie permanent als Frage der Organisation diskutiert werden und man diese formalen Strukturen immer präziser ausformuliert. 930 | Debord (1970), S. 257, Hervorh. im Orig.
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ließe sie sich positiv als Erreichen eines Grundkonsenses, als gemeinsame Ausarbeitung einer kohärenten Position auffassen. In der gegenwärtigen Lage der Gruppe jedoch steht eine solche Einigkeit unter dem Verdacht, das bloße Resultat der Trägheit bezüglich der Entwicklung einer eigenständigen, möglicherweise von den anderen abweichenden Theorieposition zu sein. Der als gemeinsam anerkannte Standpunkt wird eben gerade nicht mehr gemeinsam entwickelt, ist nicht mehr die in einer streitbaren Auseinandersetzung erreichte Synthese verschiedener Positionen, sondern er ist schlicht die Position eines Einzigen oder einiger weniger Mitglieder, die zu einer Stellungnahme bereit sind, die dann von den übrigen Mitgliedern nur noch bestätigt wird. Was der S.I. hier vollkommen abhanden gekommen ist, ist das kompetitive Element, die Bereitschaft zur oder gar die Freude an der inhaltlichen Auseinandersetzung. Die fehlende Streitlust einiger Mitglieder bei der inhaltlichen Diskussion und die daraus resultierende mangelnde aktive Beteiligung äußern sich jedoch nicht nur in der Tendenz zu einer affirmativen Grundhaltung, sondern führen zudem dazu, dass manche Stellungnahmen gänzlich ohne Reaktion bleiben und dies nicht nur bei theoretischen Debatten, sondern auch bei Konflikten innerhalb der Gruppe. Dies wird u.a. beim Blick auf eine Auseinandersetzung zwischen Riesel und Khayati deutlich,931 in deren Verlauf Riesel Khayati in einem Brief, den er allen Mitgliedern zukommen lässt, scharf angreift. Doch keiner nimmt dazu Stellung. »Je ne trouve pas du tout anormal qu’elle [der Brief Riesels, M.O.] n’entraîne pas l’adhésion immédiate de tous [...]. Mais il est anormal que cette lettre ait été totalement négligée. Les camardes qui peuvent penser sur cette question autrememt que René-Doantion auraient dû lui répondre, essayer de combattre sa position sévère etc. [...], car dans une organisation on ne peut négliger la prise de position de personne; on peut seulement l’approuver ou s’y opposer.«932
Die mangelnde Bereitschaft zur Stellungnahme erstreckt sich auch auf den Bereich der internen Konflikte und führt dazu, dass, wenn es zu Ausschlüssen kommt, diese als plötzlich und unvermittelt wahrgenommen werden, da die Betroffenen zuvor meist kaum oder gar nicht kritisiert wurden. In dem Moment aber, in dem dann ein Mitglied eine solche Kritik vorbringt, geht es sehr schnell: »Tout le monde en convient, parfois même sans se donner la peine de prendre la parole, tant le fait apparaît clair et indiscutable, mais ennuyeux.«933 Im Kern lassen sich sowohl die fehlende Bereitschaft zur Auseinandersetzung auf der inhaltlichen Ebene als auch die Eskalation so manches internen Konflikts auf eine 931 | Vgl. Debord (1970), S. 260. 932 | Ibidem, Hervorh. im Orig. 933 | Ibidem, S. 264, Hervorh. im Orig.
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mangelhafte Kritikfähigkeit zurückführen, mangelhaft sowohl beim Austeilen als auch beim Einstecken von Kritik. Der S.I. als Gruppe kritischer Theoretiker fehlt in ihrem Inneren immer mehr der Raum für eine produktive Kritik. Diese Kritik kann sich nicht entfalten, da die Unterscheidung sowohl zwischen einer punktuellen und einer grundlegenden inhaltlichen Kritik als auch diejenige zwischen einer inhaltlichen Kritik und einem persönlichen Angriff mehr und mehr zu verschwimmen scheint - und das nicht nur beim Kritisierten selbst, sondern auch bei den übrigen Mitgliedern: »La moindre critique est ressentie comme mise en cause totale, défiance absolue, manifestation inamicale«934 . Dies aber führt in den meisten Fällen dazu, dass Kritik überhaupt nicht mehr geäußert wird. Dieser Verlust an Kritikfähigkeit gerade im Vergleich zur Anfangsphase der S.I. ist mit Blick sowohl auf die Theorieentwicklung als auch auf die gemeinsame Praxis besonders problematisch, da deren produktives Moment vor allem vom massiven Einsatz von negativer wie auch von positiver gegenseitiger Kritik abhängig ist, die nicht zuletzt für die Beweglichkeit der Gruppe sorgt: »Il va de soi qu’en parlant de ›critique‹, je ne déplore pas seulement le sommeil de la critique dans son aspect ›negatif‹, mais aussi bien du côté ›positif’: approuver utilement, développer, tendre à réemployer telle théorie ou tel acte d’un des camarades. [...] Le sous-développement de la critique interne dans l’I.S. signifie nettement, en même temps qu’il le favorise, le sous-développement de notre action (théorico-pratique).«935
Was sich hier zusätzlich andeutet, ist ein Widerspruch zwischen der Kritik im Inneren und der Kritik nach außen sowie zwischen einer Theorie der Kritik und einer Praxis der Kritik. Denn so grundlegend die Konzeption als Gruppe kritischer Theoretiker für die S.I. ist, so umfangreich sie eine kritische Theorie der Gesellschaft ausgearbeitet und so scharf sie diese Kritik auch nach außen hin praktiziert hat, so defizitär ist die Praxis der kritischen Theorie in ihrem Inneren im Laufe der Jahre geworden. Diese Selbstkritik der Gruppe, basierend auf der gegenseitigen Kritik ihrer Mitglieder, ist aber eine der zentralen Bedingungen auch für ihre Kritik nach außen.936 Denn zum einen kann nur sie das BeweglichBleiben der Gruppe garantieren und diese so in die Lage versetzen, auf den sich verändernden gesellschaftlichen Kontext zu reagieren - um so als Avantgarde mit der Wirklichkeit Schritt zu halten. »In dem Moment, wo die S.I. einige Aspekte ihres eigenen Erfolgs zu kritisieren 934 | Debord (1970), S. 263. 935 | Ibidem, S. 265. 936 | Debord schließt sich selbst dabei explizit in diese Kritik mit ein, versucht seine Selbstkritik der Gruppe auch mit einer Selbstkritik seiner Person zu verbinden. Vor allem aber fordert er diese Kritik seiner Person von den anderen Mitgliedern ein (vgl. ibidem, S. 256).
498 | Situationistische Internationale hatte, der ihr zugleich gestattete und sie verpflichtete, weiter voranzugehen, war sie besonders schlecht zusammengesetzt und kaum zur Selbstkritik in der Lage. Viele ihrer Mitglieder enthüllten sich als unfähig, wenigstens an der einfachen Fortsetzung ihrer vorangegangenen Aktivitäten persönlich teilzunehmen: für sie war es daher näherliegend, die vergangenen Verwirklichungen schon recht beachtlich zu finden, die für sie bereits unerreichbar waren, anstatt sich in der Aufhebung noch schwierigere Aufgaben zu stellen.«937
Zum anderen ist die interne Kritik als Legitimation für die nach außen gerichtete Kritik notwendig. Bildet die S.I. selbst spektakuläre Formen aus - sei es in Form hierarchischer Strukturen, Trennungen oder defizitärer Kommunikationsformen - und blendet sich selbst aus ihrer Kritik aus, so muss sie sich selbst auch aus der Kritik der spektakulären Gesellschaft ausklammern. Dies jedoch lässt ihre Kritik im Inneren und nach außen ebenfalls spektakulär werden. Diese Spektakularisierung der eigenen Gruppe lässt sich auch in Bezug auf einen anderen Aspekt des internen Kritik-Defizits ausmachen. So verweist das Ausbleiben der Kritik nur eingeschränkt auf ein Fehlen von Differenzen oder von Konfliktpotential. Dabei kommt wieder die bereits skizzierte Vermischung der inhaltlichen und der persönlichen Ebene ins Spiel. Denn es hat den Anschein, als wären auf der persönlichen Ebene durchaus massive Differenzen vorhanden, die jedoch genau wie die inhaltlichen im Kontext der Gruppenöffentlichkeit nicht angesprochen werden: »Elle [die Kritik, M.O.] reste inutile, et passe pour de la mauvaise humeur (cependant n’allez pas à croire qu’une mauvaise humeur bien plus réelle n’existe pas chez presque tous, en proportion inverse de leur indulgence dans la critique ouverte: dans presque toute rencontre personnelle avec un situationniste, on voit bien une sorte de mécontentement vague qui contraste avec la tranquillité de la plupart des réunions.«938
Somit aber werden die persönlichen Konfliktpotentiale nicht nur aufrechterhalten und angestaut, vielmehr leidet darunter auch eine inhaltliche Auseinandersetzung, da die persönlichen Konfliktlinien gerade durch das explizite Demonstrieren inhaltlicher Einigkeit verschleiert werden. Damit aber wird die S.I. zur Brutstätte inauthentischer Kommunikation, spektakulärer Intransparenz und heimlicher Fraktionsbildung. Dies führt letztendlich dazu, dass diese Kommunikations- und Kritikprobleme von Debord als theoretisches Problem auf der Gesamtgruppenebene als nicht lösbar erachtet werden, denn »il [das Problem, M.O.] se dissimule quand on mène une discussion théorique, d’ailleurs presque sans contenu, puisque l’unanimité s’y ferait tout de suite, sans conséquence.«939 Stattdessen schlägt er einen kleinteiligeren und informelleren Ansatz vor, der versucht, sich die größere Offenheit innerhalb 937 | Debord, Guy/Gianfranco Sanguinetti (1972), S. 78f. 938 | Debord (1970), S. 265, Hervorh. im Orig. 939 | Ibidem, S. 270.
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von dyadischen Gesprächskonstellationen zunutze zu machen, um diese als Raum für produktive Kritik zu etablieren und diese Kritik dann Schritt für Schritt wieder auf den Gruppenkontext auszuweiten. Nur so scheint der von Sebastiani vorgeschlagene Prozess des ›ré-adhérer à l’I.S.‹ umsetzbar zu sein. »Je crois que chacun de nous pourrait essayer de trouver d’abord avec un autre situationniste, par affinité et par expérience, et après discussion très complète, un accord théorico-pratique [...]. Cet accord pourrait s’étendre ensuite, avec la même prudence, à un autre, etc. On aurait peut-être ainsi quelques regroupements qui seraient capables de dialoguer ensemble, pour s’opposer ou s’accorder?«940
Was Debord hier vorschlägt, kommt einer vollständigen Neuformierung der S.I. gleich, einem Neuaufbau, der beim Individuum beginnt, um sich von dort langsam über dyadische und triadische Konstellationen möglicherweise wieder zu einer gemeinsam agierenden Gruppe zu entwickeln. Doch noch bevor die anderen Mitglieder zu diesem Vorschlag Stellung beziehen oder sich zu Diskussions-Dyaden zusammenfinden können, zersplittert die Gruppe weiter, löst sich die nächste formelle Sektions-Dyade in primär persönlichen Konflikten in ihre Bestandteile auf. Wieder wird die Gruppe mit einem internen Konflikt ohne jegliche Vorzeichen konfrontiert und wieder richtet sich ihr Blick dabei nach Italien. Denn Ende Juli verkündet Salvadori plötzlich den Ausschluss von Sanguinetti aus der italienischen Sektion. Eine solche Konstellation, dass ein einzelnes Mitglied ein anderes aus einer Sektion ausschließt, hatte es zuvor noch nicht gegeben - aufgrund der schrumpfenden Sektionen der S.I. jedoch ist ein solches Ereignis fast absehbar. Aufgrund der Probleme, die eine solche Situation im Hinblick auf die Ansprüche einer transparenten und demokratischen Entscheidungsfindung beeinhaltet, hatte die S.I. in ihren statuts festgelegt, dass diese Form des Ausschlusses nur dann zulässig sei, wenn er »correspond à quelque grave manquement pratique qui risquait de nous compromettre publiquement«941 Dass eine solche Ausnahmesituation so unvermittelt auftauchen kann, verweist zunächst einmal erneut auf die mangelnde Streitkultur innerhalb der S.I., denn das Verhalten Sanguinettis war ja bereits im Dezember 1969 kritisiert worden - ja sogar sein Ausschluss stand hier schon zur Diskussion -, diese Kritik war dann aber schnell wieder verstummt. Dadurch jedoch verwehrt die S.I. Sanguinetti auch die Möglichkeit, auf eine solche Kritik zu reagieren und die eigene Position deutlich zu machen oder zu verändern. So aber kann sich eine Spirale des Verschweigens von Problemen und deren Eskalation bilden. Insgesamt kommen im Konflikt zwischen Salvadori und Sanguinetti beinahe alle zuvor in der Organisationsdebatte thematisierten Probleme zum Vorschein: sei es 940 | Debord (1970), S. 270f., Hervorh. im Orig. 941 | Debord (2004a), S. 271, an die französische Sektion, 31.7.1970.
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die fehlende vorangegangene Kritik Salvadoris und der übrigen Mitglieder an Sanguinetti, sei es die Vermischung einer inhaltlichen und persönlichen Diskussionsebene bei Salvadori oder dessen unpräzise und intransparente Begründung des Ausschlusses oder auch das kritiklose Hinnehmen dieses Vorgangs durch die übrigen Mitglieder und vor allem durch den Ausgeschlossenen Sanguinetti selbst - all dies verweist auf die angesprochenen grundlegenden Defizite der Streitkultur innerhalb der S.I. und auf den Versuch der Verschleierung dieser Defizite wahlweise durch stillschweigende Akzeptanz oder durch eine falsch verstandene Radikalität auf der persönlichen Ebene. Und auch das Ergebnis kommt uns bekannt vor, denn letztendlich ist es der den Ausschluss Sanguinettis fordernde Salvadori, der ausgeschlossen wird.942 Auf einen Aspekt dieser Auseinandersetzung soll hier jedoch noch hingewiesen werden. Denn interessant auch für die weiteren Ereignisse ist die Tatsache, dass Debord trotz der fundamentalen Kritik an Salvadori nicht für einen Ausschluss, sondern für eine Spaltung plädiert.943 Dies lässt sich vor allem aus strategischen Erwägungen Debords erklären. Denn auf diese Weise soll vermieden werden, dass der Ausschluss Salvadoris wiederum ein Ausschluss nach dem Sündenbock-Prinzip wird und somit die durch ihn mitnichten gelösten Probleme weiterhin kaschiert werden. Ein Ausschluss würde eine schweigende Rückkehr zur ›Normalität‹ ermöglichen und eine weiterführende Selbstkritik der Gruppe überflüssig erscheinen lassen. Die Alternative Debords - eine Spaltung der Gruppe - lässt sich als Versuch lesen, den Konflikt, wenn er die S.I. schon für mehrere Wochen in Beschlag genommen hat, für diese doch wenigstens produktiv zu nutzen. Dies führt Debord zu seiner bereits am Beginn geäußerten Kritik des Verhaltens der Mitglieder seiner eigenen Sektion zurück, die die Vorgehensweise Salvadoris lange Zeit unbedenklich fanden.944 Diese Inaktivität und dieses Schweigen kann jedoch nicht durch einen Ausschluss Salvadoris, sondern nur durch eine Spaltung der gesamten Gruppe, die eine aktive Positionierung aller Mitglieder erfordern würde, aufgehoben werden. Allerdings kann sich Debord mit dieser Haltung für den Augenblick nicht durchsetzen, da der Ausschluss von Salvadori bereits beschlossene Sache ist. Dennoch sorgt seine hier deutlich erkennbare anhaltende Frustration über die Funktionsweise der S.I. dafür, dass er das Projekt einer Spaltung nach dem Ausschluss Salvadoris keineswegs aufgibt, sondern es bereits zwei Monate später in die Tat umsetzt. Doch zuvor wird die Idee einer Spaltung - wenn auch zunächst in ihrer abgemilderten Form der Tendenz-Bildung - von zwei anderen Mit942 | Vgl. zur Entstehung dieser Kertwende den Exkurs C.4. im Online-Anhang C. 943 | Vgl. Debord (2004a), S. 280, an Gianfranco Sanguinetti, 8.9.1970. 944 | Auch die Amerikaner kritisieren das Verhalten der Franzosen, und Debord selbst wiederholt diese Kritik noch an verschiedenen Stellen (vgl. ibidem, S. 281, an Gianfranco Sanguinetti, 8.9.1970; ibidem, S. 283, an Jeppesen Victor Martin, 10.9.1970 sowie ibidem, S. 284, an Jon Horelick und Tony Verlaan, 14.9.1970).
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gliedern aufgegriffen, und zwar unmittelbar nach dem Ausschluss Salvadoris von Horelick und Verlaan. Die beiden Amerikaner legen Ende September eine umfassende Kritik der S.I. und ihrer theoretischen und praktischen Defizite und vor allem ihrer internen Konflikte vor - eine Kritik, die sich in vielen Aspekten mit derjenigen von Debord deckt und die ihren Ausgangspunkt bei der Diagnose einer »total paralysis of the S.I. in its recent period, where organizational seperations exist in themselves alone«945 nimmt. Diese resultiert auch für die Amerikaner daraus, dass es der S.I. nicht gelungen ist, nach dem Mai 1968 auf der Basis einer umfassenden Selbstkritik sowohl intern als auch nach außen eine neue Positionierung zu entwickeln, da sie die meiste Zeit mit internen Konflikten oder den mehr oder weniger unproduktiven Diskussionen darüber befasst war. »If we see a second disastorous force, besides the objective vagueness of the S.I. toward itself for a long while, it comes in the exclusions; there we showed that we have not learned how to ›wait‹, perhaps having lost all insight into organizational situations. The S.I. failed to maximize in extreme moments the autonomy of sections. [...] With the terrain of practise remaining abstract, and the introduction of an organizational spontaneism, an implicit ideologization has intervened through the exclusions in the S.I.«946
Auch wenn die Amerikaner hier in vielen Aspekten an Debord anknüpfen, so ist ihre Initiative doch klar von der Haltung der französischen Sektionsmitglieder zu unterscheiden, die sich darauf beschränken, bereits Gesagtes affirmativ zu wiederholen. Die Amerikaner formulieren deutlich ihre - zumindest in Teilaspekten eigenständige - Position und nehmen so genau die von Debord geforderte kritische Haltung ein, die auch den Aspekt der Selbstkritik einschließt. Ein zentraler Aspekt ihrer Kritik, der sich deutlich von den Positionen Debords unterscheidet, ist ihre Forderung, einige der in letzter Zeit erfolgten Ausschlüsse nochmals zu überprüfen und gegebenenfalls im Sinne einer Neuformierung der S.I. rückgängig zu machen, da »some of our old friends who were excluded may have themselves deserved more than exclusion, that is to say, the chance of supercession within the S.I.«947 Auch wenn hier, ähnlich wie bei Debord, der Versuch erkennbar ist, die Ausschlüsse für die Gruppe konstruktiv zu nutzen, Lehren aus ihnen zu ziehen und sie nicht nach dem die Probleme perpetuierenden Sündenbock-Prinzip durchzuführen, so geht die Idee einer nachträglichen In-Frage-Stellung bereits erfolgter Ausschlüsse doch in eine andere Richtung als Debords Vorschlag der schrittweisen dyadischen Neuformierung der Gruppe oder der Bildung von Tendenzen. Zugleich jedoch greifen die Amerikaner diese Idee der Tendenzen auf und gründen eine 945 | Horelick, Jon/Tony Verlaan (1970), Orthographie wie im Original. 946 | Ibidem, Orthographie wie im Original. 947 | Ibidem.
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solche, die die skizzierte Ausschlussrevision zum Kern ihres Programms macht und dementsprechend fordert, »that the S.I. should be capable of reconsidering, in the light of the collective responsibility for some of the individual failures which ended in exclusions, and for some basic failures presently unresolved, the participation in a dialogue toward regrouping by some of those most directly expressing those failures. As mentioned above, the immediate pre-condition for such a participation is their auto-critique.«948
Um diesen Prozess in Gang zu setzen und ihre Tendenz zu stärken, schlagen sie Debord als demjenigen, der sich bislang am deutlichsten für eine solche umfassende Selbstkritik eingesetzt hat, vor, ihrer Tendenz beizutreten. Debord entgegnet, dass er mit den grundlegenden Positionen von Horelick und Verlaan einverstanden ist, und hebt zunächst lobend hervor, dass die beiden überhaupt die ersten sind, die, neben ihm selbst, eine präzise Kritik der S.I. formuliert haben. Auch die Bildung ihrer Tendenz unterstützt er: »Je crois que vous avez raison de vouloir former une tendance, car des regroupements précis sont évidemment la seule voie pour sortir d’une paralyse dérisoire que s’est étalée dans l’I.S. depuis Venise.«949 Trotz dieser prinzipiellen inhaltlichen und formalen Zustimmung lehnt Debord jedoch den angebotenen Beitritt ab. Er begründet dies zunächst damit, dass ihm sowohl die Analyse der vergangenen Defizite als auch die Ausarbeitung eines Programms für die Zukunft nicht präzise und umfassend genug seien, um dadurch die Gründung einer Tendenz zu rechtfertigen und nimmt diese Kritik der Kritik zum Anlass, abermals seine Kritik an der S.I. und seine Perspektiven für die Gruppe auszuarbeiten.950 Vor allem widerspricht Debord dabei der Forderung nach einer Revision vergangener Ausschlüsse: »Il n’y a pas eu d’exclusion injustifiée (ou plutôt les trois seules tentatives ont été rejetées). Nous avons toujours été trop indulgents, et nullement trop sévères. Il n’y a pas eu trop de ›défauts‹ sanctionnés comme inacceptables; il y en a eu trop peu.951 Hier deutet sich bereits an, dass Debord mittlerweile kaum noch an die produktive Wirkung der Bildung von Tendenzen und der damit verbundenen klaren Formulierung von Positionen glaubt, sondern dass er zu der Überzeugung gelangt ist, dass für eine Aktivierung der Mitglieder der Zwang zu einer klaren Positionierung notwendig ist, wie er nur durch eine Spaltung erreicht werden kann. Die Frustration über die anhaltende Passivität vieler Mitglieder wird in seiner auf diese Ausführungen zum Programm der Amerikaner folgenden Selbstkritik deutlich, die Debords eigenen Anteil an den momentanen Schwierigkeiten der S.I. äußerst präzise beleuchtet. 948 | Horelick, Jon/Tony Verlaan (1970). 949 | Debord (2004a), S. 293, an Jon Horelick und Tony Verlaan, 28.10.1970. 950 | Ibidem, S. 294ff., an Jon Horelick und Tony Verlaan, 28.10.1970. 951 | Ibidem, S. 296, an Jon Horelick und Tony Verlaan, 28.10.1970, Hervorh. im Orig.
Die S.I. im Spannungsfeld von Theorie und Praxis | 503 »[J]’ai considérablement sous-estimé la place et l’utilité de mon activité personnelle dans l’I.S., par rapport à celle d’autres camarades. J’ai trop souvent, sans m’en apercevoir et sans que jamais personne ne s’avise de le faire remarquer [...], répondu à des problèmes objectifs (théoriques ou même tactiques) à la place de ceux qui préféraient ne formuler aucune réponse [...]. J’ai cru à l’autonomie et à la participation essentiellement égalitaire d’autres situationnistes [...] pour beaucoup plus que ce qu’en montrait la réalité effective. J’explique ceci par le fait que je suis peu habitué à compter, et grandement dépourvu du sens de la hiérarchie dans les relations interpersonnelles.«952
Diese Anmerkungen Debords sind unter verschiedenen Gesichtspunkten besonders aufschlussreich. Zum einen fällt die zentrale Rolle, die Debord den interpersonellen Beziehungen zuschreibt, ins Auge, die deutlich macht, dass er die S.I. nicht als abstrakte Gruppe oder als von den an ihr beteiligten Individuen getrenntes Konstrukt auffasst, sondern als Pluralität solcher miteinander verwobener persönlicher Beziehungen. Und wie seine Vorschläge zur Regruppierung der S.I. nahelegen, konzipiert er diese interpersonellen Beziehungen zunächst dyadisch. Die Dyade als Raum für kritische und offene Diskussionen scheint für ihn nach wie vor der produktive Kern, die Keimzelle der gemeinsamen Theorieproduktion zu sein. Vor allem aber fasst er diese Dyade, ganz klassisch, als egalitär auf, als Paar gleichwertiger und gleichrangiger, sich gegenseitig respektierender, aber auch kritisierender Partner im Ideenpotlatch. Die Gruppe entsteht nun für ihn dadurch, dass solche Dyaden schrittweise zu Triaden und größeren Einheiten erweitert und vernetzt werden. Für Debord besteht auf dieser Basis die Chance, dass sich die Egalität der Dyade quasi schrittweise ausbreitet und dass so letztendlich eine Gruppe entsteht, die einem horizontalen Netz ähnelt, nicht aber einer Pyramide. Nach den hier bislang vorgelegten Analysen der Gruppenstruktur der S.I. liegt es auf der Hand, dass Debord diese Konzeption nicht abstrakt entwickelt, sondern damit im Grunde genommen eine recht genaue Skizze der Funktionsweise der S.I. in den ersten Jahren liefert. Diese Verbindung von Debords dyadischer und auf interpersonellen Beziehungen basierender Gruppenkonzeption und der Praxis der Frühphase der S.I. liefert jedoch wertvolle Hinweise zum Verständnis der Probleme der Gruppe vor allem in der Spätphase. Zum einen - und dies scheint so banal wie zentral - ist eine solche Konzeption in großem Maße von den an der Gruppe beteiligten Individuen abhängig; genau diese Träger der Gruppe wurden jedoch im Laufe der Jahre - bis auf Debord selbst - vollständig ausgetauscht. Zum anderen sind zwei strukturelle Veränderungen erkennbar: Während anfangs die interpersonelle dyadische Beziehung der Gruppenzugehörigkeit vorausging und so den Schlüssel zum Eintritt darstellte, so werden später Personen aufgenommen, die 952 | Debord (2004a), S. 296, an Jon Horelick und Tony Verlaan, 28.10.1970, Hervorh. im Orig.
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nicht über enge interpersonelle Bindungen zu einzelnen Mitgliedern verfügen, sodass die Mitgliedschaft der Herausbildung dyadischer Strukturen vorausgeht. Doch bei der Aufnahme neuer Mitglieder ist noch ein weiterer Wandel erkennbar: Zwar ist die Gründung der S.I. selbst ein Zusammenschluss von zuvor existierenden Gruppen, dennoch werden in der Anfangsphase, mit Ausnahme der SPUR, vor allem einzelne Personen aufgenommen, während es in den späteren Jahren mit den ›Garnaultins‹, den Enragés und den Mitgliedern der amerikanischen und italienischen Sektion vermehrt Gruppen sind, die ihren Weg in die S.I. finden. Somit aber treffen in der S.I. weniger einzelne Individuen, als vielmehr Gruppen von Individuen aufeinander, die ›Cluster‹, aus denen sich die Gruppe zusammensetzt, werden größer. Zudem grenzen sich diese Bestandteile stärker voneinander ab, da die interpersonelle Dyadenbildung über die Grenzen der schon zuvor bestehenden Gruppen hinweg wesentlich unwahrscheinlicher ist als innerhalb der jeweiligen Gruppen oder zwischen einzelnen Personen ohne vorangehende Gruppenbindung.953 Vor dem Hintergrund dieser vielfältigen strukturellen und grundlegenden personellen Wandlungen in der S.I. erscheint es fraglich, ob ein Modell, das aus einer bestimmten Personenkonstellation abgeleitet ist und das bei einer spezifischen Konstellation von Individuen in einem Gruppenkontext ansatzweise funktioniert und eine produktive Gruppe hervorgebracht hat, sich beliebig auf andere Personenkonstellationen und Strukturen übertragen lässt. Denn Debords Modell steht und fällt mit dem Verhalten der einzelnen Individuen, mit ihren interpersonellen Beziehungen, mit ihrem Willen und ihrer Fähigkeit, diese als egalitären Tausch von Ideen zu konzipieren. Gerade die interpersonellen Beziehungen jedoch haben sich mit dem Austausch der Mitglieder grundlegend gewandelt. Denn nicht nur die Quantität dyadischer Konstellationen innerhalb der S.I. hat sich gewandelt, sondern auch ihre Qualität. Bei dieser ist eine Verschiebung von, zumindest auch, freundschaftlichen Beziehungen hin zu einer auf bloße Zusammenarbeit abzielenden Struktur erkennbar. Diese Verschiebung führt zu einem Problem, das zunächst paradox erscheint. Denn durch das Fehlen der freundschaftlichen Bindung scheint in der Schlussphase die Kritikfähigkeit abzunehmen und jede geäußerte Kritik als persönlicher Angriff gewertet zu wer953 | In Bezug auf eine vorangegangene Gruppenbindung der Mitglieder ist noch ein weiterer Wandel interessant, der sich auf das Ausmaß der Gruppenerfahrung bezieht: So hatten die Personen, die der S.I. in den Jahren bis ca. 1962 beitreten, fast alle bereits vor ihrer Mitgliedschaft in der S.I. langjährige Gruppenerfahrung gesammelt, sei es in der CoBrA, bei den Lettristen oder in der SPUR. In Bezug auf die Frage nach möglichen Konflikten innerhalb der Gruppe hat man es hier mit ›alten Hasen‹ zu tun. Die Mitglieder hingegen, die ab ca. 1963 in die Gruppe eintreten, kommen zwar aktuell aus einem bestehenden Gruppenkontext, dabei handelt es sich jedoch meist um ›junge‹ Zusammenschlüsse ohne eine lange Gruppenpraxis. Die Erfahrungen mit der Funktionsweise einer Gruppe und ihren spezifischen Problemen fehlt weitgehend und kann erst in der S.I. gesammelt werden.
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den. Demgegenüber war in der Anfangsphase deutlich erkennbar, dass es gerade die freundschaftlich verbundenen Mitglieder sind, die sich am kritischsten äußern und die Positionen des anderen am schärfsten angreifen. Freundschaft scheint hier gegenseitige Kritik zu begünstigen. Sei es im aktiven Sinne des Kritik-Austeilens dadurch, dass das Kritisieren des anderen als Verpflichtung gegenüber dem Freund aufgefasst und somit auch die wechselseitige Kritik als Bestandteil des Potlatch aufgefasst wird, oder sei es im passiven Sinne des Kritik-Einsteckens dadurch, dass eine solche Kritik als sachliche Kritik aufgefasst wird, die das zugrunde liegende freundschaftliche Band eben nicht gefährdet. Fehlt eine solche freundschaftliche Verbindung jedoch und besteht die Beziehung zwischen den Mitgliedern nur als Zusammenarbeit, so stellt eine geäußerte Kritik die Verbindung als solche in Frage und wird persönlich genommen. Dies wiederum führt dazu, dass sich die Auseinandersetzungen immer häufiger von einer produktiv-inhaltlichen Sachebene auf eine destruktiv-persönliche und emotionale Ebene verlagern. Der zweite Aspekt, der in der Selbstkritik Debords besonders aufschlussreich ist, hängt ebenfalls mit der Bedeutung zusammen, die er den interpersonellen Beziehungen zumisst, bezieht sich aber vor allem auf seine Enttäuschung bezüglich dieser Beziehungen - eine Enttäuschung, die sich bei Debord auf den bei vielen Mitgliedern erkennbaren mangelnden Willen zur Kritik bezieht. Diese Enttäuschung formuliert er umso deutlicher, da sie auch zur fehlenden Kritik an seinem eigenen Verhalten geführt und somit dazu beigetragen hat, dass Debord sich letztendlich in der zentralen Stellung an der Spitze der Gruppe wiederfindet - an einer Spitze, die es seiner Meinung nach gar nicht geben dürfte. Was hier enttäuscht wird, ist seine Forderung nach gegenseitiger Kritik als Kernbestandteil produktiver interpersoneller Beziehungen. Diese Enttäuschung scheint sich mehr und mehr zur Frustration zu entwickeln, da auch sein wiederholtes Einfordern von Kritik zu keiner Veränderung geführt hat, weder in Bezug auf die S.I. insgesamt noch in Bezug auf seine eigene Position innerhalb der Gruppe. Nicht einmal sein Rücktritt aus der Redaktion der I.S., der bereits ein überdeutliches Signal seiner Frustration ist, bewirkt eine praktische Verbesserung. Außer einer verhaltenen theoretischen Kritik an der mangelnden Kritik, der keinerlei kritische Praxis folgt, tut sich nichts. Dieser zweite Aspekt führt uns noch einmal zum Tagesgeschehen in der S.I. und zu Debords Weigerung zurück, der Tendenz der Amerikaner beizutreten. So sehr Debord der Forderung der Amerikaner nach einer Neustrukturierung der S.I. auf Basis intensiver interpersoneller Kontakte im Prinzip zustimmt, so geht ihm doch die Kritik nicht weit genug. Die Amerikaner bilden ›nur‹ eine Tendenz, sie verlangen nur eine Kritik und sie bewegen sich nach wie vor im Rahmen der bestehenden Mitgliederkonstellation der S.I. bzw. sind sogar bereit, nochmals einen Schritt zurück auf ehemalige Mitglieder zuzugehen. Das scheint Debord zu wenig zu sein, zu rückwärtsgewandt und für einen solchen reformativen Blick zurück ist
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seine Frustration inzwischen zu groß.954 Ihm geht es um den Zwang zur Positionierung und zur Kritik, um die Bildung einer Tendenz als Vorstufe zur Abspaltung, ihm geht es nicht um eine Umstrukturierung, sondern um eine Neuformierung der S.I. für die Zukunft, notfalls auch ohne ihre derzeitigen Mitglieder, um eine Neuformierung der S.I. jenseits ihrer gegenwärtigen Struktur, um eine Neuformierung der S.I. außerhalb ihrer selbst, um eine Neugründung in der Auflösung. Der erste Schritt in diese Richtung ist allerdings auch bei Debord die Gründung einer Tendenz, einer Tendenz jedoch, die viel stärker auf Konfrontation abzielt. Debord ruft diese Tendenz zusammen mit Riesel und Viénet ins Leben, sie umfasst somit über die Hälfte der Mitglieder der französischen Sektion und ein Drittel der Gesamtmitglieder der S.I. und gibt ihre Position mit einer umfangreichen Erklärung am 11.11.1970 bekannt. Diese beginnt mit einer knappen Skizze der gegenwärtigen Krise als Auslöser der Gründung dieser Tendenz. Im Mittelpunkt steht hierbei wie schon so oft die passive Haltung vieler Mitglieder, ihre Kritikunwilligkeit und das Schweigen über eben diese Defizite.955 Genau dieses Schweigen will die Tendenz brechen, indem sie selbst spricht, indem sie die anderen zum Sprechen zwingt. Sie verlangt eine konkrete theoretische Stellungnahme aller Mitglieder und deren Umsetzung in die Praxis - und vor allem verlangt sie eine grundlegende und präzise Selbstkritik sowohl der Gruppe als auch der Einzelpersonen: »Elle veut une définition exacte de l’activité collective dans l’organisation I.S., et de sa démocratie effectivement possible. Elle en veut l’application effective. [...] Nous voulons une critique radicale, c’est-à-dire ad hominem.«956 Genau diese Radikalität unterscheidet sie von der amerikanischen Tendenz, die nun, ganz anders als zuvor in Debords Brief, scharf angegriffen und als Bluff bezeichnet wird, der eine wirkliche Kritik auch weiterhin verhindert, da sie die S.I. stattdessen in die gefährliche »fuite devant la critique réelle«957 treibt. Die neue Tendenz stellt demgegenüber ganz klare Forderungen: »Voilà un silence honteux qui va cesser immédiatement, parce que nous, maintenant, nous exigeons, au nom des droits et des devoirs que nous donnent le passé de l’I.S. et ce que nous sommes présentement, que chacun prenne ses responsabilités sur-le-champ.«958 Ziel ist die Wiederankurbelung eines kritischen Diskurses, der nicht vor seinen Konsequenzen zurückschreckt, sowie die Aufhebung der mit dem Schweigen verbundenen Intransparenz und die Übernahme von individueller Verantwortung 954 | Dementsprechend schlägt er den Amerikanern dann auch vor, aus ihrer Tendenz eine Abspaltung zu machen, um sie zugleich vor einer erneuten Kontaktaufnahme mit ehemaligen Mitgliedern zu warnen, die er für vollkommen unproduktiv hält, da sie lediglich die Reproduktion der immergleichen Debatten zur Folge hätte (vgl. Debord (2004a), S. 300, an Jon Horelick und Tony Verlaan, 28.10.1970). 955 | Vgl. Debord, Guy/René Riesel/René Viénet (1970), S. 302, Hervorh. im Orig. 956 | Ibidem, S. 303, Hervorh. im Orig. 957 | Ibidem. 958 | Ibidem, Hervorh. im Orig.
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sowohl für den Zustand der S.I. als auch für den eigenen Verbleib in dieser Gruppe. Vor allem soll die formulierte Kritik nicht im Widerspruch zum eigenen Verhalten stehen, es wird also eine bezüglich Theorie und Praxis kohärente Kritik gefordert. Insgesamt sollen die übrigen Mitglieder somit auf allen Feldern aus der Reserve gelockt werden, um klar zutage zu fördern, was die S.I. ist und wo diejenigen stehen, die an ihr beteiligt sind. »S’il existait chez certain des buts cachés différents des nôtres, nous voulons qu’ils apparaissent, et se traduisent, normalement, en actions distinctes sous des responsabilités distinctes. Et s’il existait quelque part une véritable absence de but [...], disons seulement que nous ne pouvons pas contribuer à couvrir une pseudo-unité enrichie des ›penseurs à la retraite‹ ou de révolutionnaires en chômage.«959
Dass Ausschlüsse nicht die beste Wahl sind, um Probleme und Differenzen aufzuzeigen, hat die jüngste Vergangenheit der S.I. zur Genüge demonstriert. Es ist daher nachvollziehbar, dass die neu gegründete Tendenz betont, dass ihr Ziel nicht der Ausschluss von Mitgliedern sei, sondern dass sie sich - vor dem Hintergrund der bislang nur vermuteten und alsbald hoffentlich offensichtlichen Differenzen - als Vorstufe einer notwendigen Spaltung versteht: »Nous déclarons nettement que nous ne recherchons l’exclusion de personne (et que moins encore nous pourrions nous contenter de l’exclusion d’un quelconque bouc émissaire). Mais [...] nous sommes prêts à toute scission dont la discussion imminente fixera les frontières.«960 Dass die Tendenz schon zu Beginn der Auseinandersetzung nahe an einer Spaltung ist, verdeutlicht nicht nur die Skepsis bezüglich eines möglichen Einverständnisses auf der momentanen Mitgliederbasis innerhalb der S.I., sondern auch die abschließende Feststellung, dass die Tendenz ihre Positionen nicht nur innerhalb der S.I., sondern auch außerhalb verbreiten wird.961 Damit begeben sich Debord, Riesel und Viénet implizit bereits auf die Suche nach neuen Mitstreitern, und dies nicht im Sinne einer Suche nach neuen Mitgliedern für die S.I., sondern als Neuorientierung in einem anderen Gruppenzusammenhang, denn »la patience est morte. Des ruptures sont inévitables.«962 Diese klare Positionierung und die klaren Forderungen der Tendenz zeigen unmittelbare Wirkung - allerdings nicht mehr innerhalb der Gruppe. Zwar äußern sich Vaneigem und Sebastiani, wie verlangt, sowohl kritisch als auch selbstkritisch, allerdings tun sie dies im Rahmen ihrer Austrittserklärungen. Wie angekündigt kommt es darüber hinaus jedoch nicht zu Ausschlüssen. Die Tendenz hat somit ihre Ziele insofern erreicht, als sie zu einer Klärung der Positionen beigetragen hat, sie hat zwar keine produktive Veränderung innerhalb der S.I. 959 | Debord, Guy/René Riesel/René Viénet (1970), S. 304, Hervorh. im Orig. 960 | Ibidem. 961 | Vgl. ibidem, S. 305. 962 | Debord (2004a), S. 305, an Gianfranco Sanguinetti, 14.11.1970.
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zur Folge, wirkt sich aber aus ihrer Sicht produktiv für die S.I. aus. Daher bleibt die Tendenz auch nach den beiden Austritten erhalten und wird nicht, wie im Falle der ersten Tendenz im Zusammenhang mit dem Ausschluss von Pavan, sofort nach Erreichen des ersten konkreten Ziels wieder aufgelöst. Treten wir kurz einen Schritt zurück und betrachten die Zusammensetzung der S.I. Ende 1970: Insgesamt hat sie noch acht Mitglieder, zwei davon bilden die amerikanische Tendenz, vier die französische, der sich inoffiziell Anfang Dezember auch Sanguinetti anschließt, und schließlich Martin, der weiterhin freischwebend und alleine die skandinavische Sektion bildet. Von einer internationalen Gruppe kann also kaum noch die Rede sein, die S.I. reduziert sich mehr und mehr auf die französischitalienische Tendenz. Doch die Zerschlagung der S.I. wird von dieser weiter vorangetrieben. Denn Ende Dezember bringt sie nochmals die deutlichen Differenzen zwischen sich und der amerikanischen Tendenz zum Ausdruck.963 Die Folgerung aus diesen Differenzen ist so knapp wie eindeutig und setzt Debords Vorschlag, aus der Tendenz eine Abspaltung zu machen, den die amerikanische Tendenz für sich selbst abgelehnt hat, nun ihrerseits in die Tat um: »En conclusion donc, nous constatons dès maintenant que la scission est faite.«964 Interessanterweise jedoch spaltet sich nicht die französische Tendenz ab, sondern die französische Tendenz spaltet aktiv die amerikanische ab: »Désormais votre activité situationniste autonome pourra, sous votre seule responsabilité, rechercher le dialogue qui vous conviendra avec Beaulieu, ou Chevalier, ou toute autre personne avec laquelle nous n’avons plus voulu garder de contact. [...] Mais nous ne sommes plus intéressés par une correspondance ›interne‹ dont la base organisationnelle n’existe plus.«965
Damit aber ist es eindeutig die amerikanische Tendenz, die von nun an als autonome situationistische Gruppe außerhalb der S.I. steht und nicht die französische. Diese ›aktive‹ Abspaltung ist daher nichts anderes als ein kollektiver Ausschluss der beiden amerikanischen Mitglieder ein Ausschluss, der die S.I. auf nunmehr sechs Mitglieder reduziert, von denen vier der französischen Tendenz angehören, die unter diesen Umständen den Namen ›Tendenz‹ schon fast lächerlich erscheinen lässt.966 Und doch soll auch dieser Ausschluss noch nicht der Letzte gewesen sein. 963 | Vgl. Debord, Guy/René Riesel/Gianfranco Sanguinetti/René Viénet (1970), S. 325. 964 | Ibidem, S. 327. 965 | Ibidem, S. 327f. 966 | Die Bezeichnung als ›Tendenz‹ innerhalb der S.I. wird noch sinnentleerter, als im Januar 1971 mit Martin auch das fünfte und letzte nicht-französische Mitglied der S.I. seinen Beitritt zu dieser Tendenz bekannt gibt (vgl. Martin (1971)). Damit gehören ihr fünf von sechs Mitgliedern der S.I. an.
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Zunächst jedoch müssen sich die verbliebenen Mitglieder nach den zahlreichen Austritten, Ausschlüssen und Abspaltungen in der zweiten Jahreshälfte 1970 sowohl mit Blick auf die Organisationsstruktur als auch auf die theoretischen und praktischen Vorhaben neu sortieren. Den Auftakt macht hierbei wiederum Debord, der sich Anfang 1971 nochmals an seine Mitstreiter wendet und dabei einerseits ein positives Fazit der vorangegangenen Ereignisse zieht, andererseits aber erneut ein stärkeres Engagement für die Zukunft der S.I. einfordert: »En rejetant à leur néant les contemplatifs et les incapables qui croyaient pouvoir figurer perpétuellement dans l’I.S., nous venons de faire un grand pas. Il nous faudra donc continuer à marcher. [...] Cependant, depuis déjà quelques semaines, une certaine lenteur recommence à se manifester (à mon avis, sans plus avoir aucune des excuses ou semi-justifications précédentes) quand il s’agit de développer nos positions présentes.«967
Drei Aufgaben, von denen keine wirklich neu ist, stellt Debord in den Mittelpunkt: erstens eine erneute Analyse und offene Kritik der Probleme, die während der letzten zwei Jahre zur Lähmung der S.I. beigetragen haben; zweitens die Frage nach der Organisation der S.I. im Speziellen verbunden mit der Frage nach potentiellen neuen Mitgliedern und drittens - und erst nach Klärung der vorangegangenen Aspekte - den Entwurf einer grundlegenden Theorie der revolutionären Organisation im Allgemeinen unter Berücksichtigung der Erfahrungen des Mai 1968. Debord selbst beschränkt sich zunächst auf einige Anmerkungen zur internen Krise der letzten Jahre - diese jedoch haben eine grundlegende Kritik der S.I. zur Folge und eröffnen eine neue Perspektive auf die Zukunft der Gruppe. Bereits vorab wird deutlich, dass er das Projekt der Erhöhung der Mitgliederzahl der S.I. nach dem Mai 1968 und die Idee des Zusammenbringens produktiver Vielfalt für mehr oder weniger gescheitert hält. Dies äußert sich zum einen darin, dass er trotz der momentan minimalen Mitgliederzahl der erneuten Aufnahme weiterer Personen eher skeptisch gegenüber steht: »Ici se posera une question précise: qui voulons nous éventuellement recevoir dans l’I.S.? - ou bien personne?«968 Zum anderen ist dies an den Forderungen erkennbar, die er an das Prozedere bei der Ausarbeitung der gemeinsamen Positionen stellt, da dieses deutlich auf das Prinzip sowohl der offenen Diskussion als auch der Einstimmigkeit verweist und auf diese Weise alle Mitglieder der S.I. stärker in die Aktivitäten der Gruppe einzubinden versucht: »Il faudra donc que chacun énonce son opinion (ou ses doutes) sur tout cela. La seule condition sine qua non de notre conclusion commune, c’est qu’elle satisfasse fondamentalement chacun de nous, et de sans rien contenir, comme précédemment, de trouble ou de mensonger.«969 967 | Debord (2004a), S. 340f., an alle Situationisten, 28.1.1971. 968 | Ibidem, S. 341, an alle Situationisten, 28.1.1971. 969 | Ibidem, an alle Situationisten, 28.1.1971, Hervorh. im Orig.
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Es scheint Debord somit darum zu gehen, zunächst das Zusammengehörigkeitsgefühl der aktuellen Mitglieder zu stärken und auf dieser Basis dann eine Perspektive für die Zukunft der S.I. auszuarbeiten. Dieser Blick nach vorne beginnt jedoch abermals mit einem Blick zurück auf die interne Krise seit Anfang 1967. Interessant ist daran vor allem die Tatsache, dass die Frage nach der Gruppenidentität und dem Zusammengehörigkeitsgefühl hier, wie in der Anfangsphase der S.I., weniger über die Bezugnahme auf eine gemeinsame Position, sondern mit Hilfe einer Abgrenzung nach außen beantwortet wird. Mit einer Abgrenzung nach außen jedoch, die sich deutlich von derjenigen der Anfangsphase unterscheidet, da es sich nun um eine Abgrenzung gegenüber einem Außen handelt, das sich früher im Inneren der Gruppe befand. Denn die Frage ›Wer oder was sind wir?‹ wird jetzt vor allem in Abgrenzung von den ehemaligen Mitgliedern beantwortet und so implizit umformuliert zur Frage ›Wer oder was sind wir nicht?‹ - die positive inhaltliche Positionsbestimmung wird somit mehr und mehr von einer NegativDefinition abgelöst. Doch die Kritik Debords richtet sich nicht nur gegen eine Vielzahl von Einzelmitgliedern, sondern auch gegen die S.I. als Ganze, gegen das, was aus ihr durch die internen Probleme der letzten Jahre geworden ist. Auch bei dieser Blickrichtung setzt sich die Negativ-Bestimmung zunächst fort, denn die S.I. ist auf dem besten Weg, das zu werden, was sie nie sein wollte: »L’I.S. a couru effectivement le risque de devenir récemment, non seulement inactive et dérisoire, mais récupératrice et contre-révolutionnaire. Les mensonges qui avaient grandi à l’intérieur commençaient à avoir un effet mystificateur, et de désarmement, à l’extérieur. L’I.S. pouvait, au nom même de ce qu’elle a fait de bon dans la précédente époque, devenir la dernière forme du spectacle révolutionnaire.«970
Folgt man dieser Einschätzung Debords - und die skizzierten internen Strukturen und die Außenwirkung der S.I. seit dem Skandal von Straßburg stützen seine These eindrucksvoll971 - so wird verständlich, warum sich die S.I. mit einer positiven Bestimmung ihrer zukünftigen Struktur und ihrer Funktion so schwer tut. Denn welche Perspektive hat die S.I. noch, wenn sie als seit Jahren scharfer Kritiker der spektakulären Gesellschaft nun selbst spektakulär bzw. zu einem Teil dieser spektakulären Gesellschaft zu werden droht oder es bereits geworden ist? Wenn die von ihr diagnostizierten Mechanismen der récupération in ihrem vollen Ausmaß auf sie selbst wirken? Das Kernproblem der ›späten‹ S.I. liegt in den Defiziten, die bei der Anwendung der eigenen Theorie erkennbar sind. Und solche Defizite 970 | Debord (2004a), S. 343, an alle Situationisten, 28.1.1971, Hervorh. im Orig. 971 | Auch Horelick kommt bei seiner Kritik der S.I. zu einem ähnlichen Ergebnis (vgl. Horelick (1971)).
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werden sowohl bei der Entwicklung dieser Theorie an sich - dies betrifft vor allem die internen Probleme - als auch bei der daraus abzuleitenden revolutionären Praxis - dies betrifft primär die Außenkontakte sichtbar. »[L]’I.S. ne s’est pas élevée jusqu’à appliquer sa propre théorie dans l’activité même de formulation de cette théorie, ni dans la conduite générale de sa lutte.«972 Was zunächst altbekannt und vertraut nach der erneuten Aufforderung zur Entwicklung einer mit der eigenen Theorie übereinstimmenden Praxis, nach der Kohärenz von Theorie und Praxis der eigenen Gruppe klingt, erhält vor dem Hintergrund der zuvor geäußerten Kritik der S.I. als spektakulärer Erscheinung eine neue Dimension bzw. eine entscheidende Wendung. Denn es gilt nicht mehr allein, die eigene Theorie auf die Gruppenpraxis zu übertragen, sondern explizit den zentralen Aspekt der aus der Theorie entwickelten Kritik, die Kritik des Spektakels, auf die eigene Gruppe anzuwenden. »Il fallait donc appliquer à l’I.S. la critique même qu’elle a appliquée, souvent si bien, à la société dominante moderne.«973 Die S.I. muss von nun an nicht mehr nur die praktische Anwendbarkeit ihrer Theoriepositionen unter Beweis stellen, sondern auch selbst ihrer eigenen Kritik standhalten. Wir haben es hier somit mit einer Umkehrung der Blickrichtung zu tun: Die als Kritik nach außen entwickelte Theorie des Spektakels richtet den Blick nun nach innen, auf die S.I. selbst. Auf die drohende récupération durch das Spektakel, die die theoretischen Überlegungen der S.I. zu bestätigen scheint, reagiert die S.I. gewissermaßen mit der Praxis des détournement eines zentralen Aspekts ihrer Kritik, indem sie sich selbst zum Objekt dieser Kritik macht. Worauf jedoch zielt ein solcher détournement der Kritik des Spektakels ab? Inwiefern kann sich die S.I. durch diese letzte Wendung tatsächlich der récupération entziehen? Die Anwendung der Kritik des Spektakels auf die S.I. selbst ist aus ihrer Theorielogik so folgerichtig wie konsequent, sie hat jedoch für die S.I. als Gruppe die Entwicklung einer zunächst paradox erscheinenden ›Perspektive‹ zur Folge. Denn sieht man von den Einzelaspekten der Kritik des Spektakels - wie Kritik der Trennung, der Hierarchie, der unauthentischen Kommunikation etc., die ja auch bislang schon innerhalb der S.I. zur Anwendung kamen, aber nicht in der Lage waren, ihre Spektakularisierung zu verhindern - einmal ab und nimmt das übergeordnete Ziel dieser Kritik in den Blick, so ergibt sich daraus für die S.I. eine eindeutige Perspektive: Von nun an geht es auch explizit um die aktive Praxis der eigenen Aufhebung.974 Die Betonung liegt dabei auf ›explizit‹, denn implizit wurde die Mög972 | Debord (2004a), S. 345, an alle Situationisten, 28.1.1971, Hervorh. im Orig. 973 | Ibidem, an alle Situationisten, 28.1.1971. 974 | In diese Richtung der Aufhebung der eigenen Gruppe als Aufgabe eben dieser Gruppe deutet auch ein neues von Debord formuliertes Mitgliedschaftskriterium: »Quant à nous, ici, c’est seulement si nous avons pas besoin de l’I.S. que nous pouvons en faire partie.« (Ibidem, an alle Situationisten, 28.1.1971, Hervorh. im Orig.). Und ein erster Schritt in Richtung dieser kontinuierlichen Auflösung der S.I. erfolgt als unmittelbare Reaktion auf diese Vorschläge Debords, die mit einer Kritik
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lichkeit einer Aufhebung der S.I. seit 1968 schon mehrfach in Erwägung gezogen.975 Dieses Verschwinden lässt sich dabei vor allem als Projekt Debords verstehen, der mit dieser Bewegung des Verschwindens zumindest wieder irgendeine Art von Bewegung in die erstarrte Gruppe zu bringen versucht. Vor diesem Hintergrund ließe sich auch sein schrittweiser Rückzug aus den Aktivitäten der S.I. anders lesen, denn nach einer langen Phase, in der er vergeblich versucht hat, die übrigen Mitglieder zur aktiven Mitarbeit zu bewegen, scheint er hiermit seine Strategie beinahe unbemerkt zu ändern. Das sichtbarste Signal ist dabei sein Rückzug aus dem Redaktionskomitee der I.S., der dazu führt, dass die I.S. verschwindet und somit die S.I. nach außen verstummt. Daneben bleibt Debord zwar in der internen Organisationsdebatte nach wie vor die treibende Kraft, er bleibt jedoch nur in den Bereichen und auf eine solche Art aktiv, die es ihm ermöglicht, die Auflösung der Gruppe voranzutreiben. Nachdem sein Versuch einer produktiven Kritik der Passivität gescheitert ist, scheint er durch sein weiteres Verhalten die Berechtigung dieser Kritik zu demonstrieren und zudem die Passivität der übrigen Mitglieder für sein Projekt des Verschwindens zu nutzen. Dies wird bei den in Venedig verabschiedeten statuts deutlich erkennbar, denn Debord alleine ist es, der diesen Text ausarbeitet, der dann von den übrigen Mitgliedern unverändert abgesegnet wird. Diese statuts aber, so sehr sie zunächst wie der Versuch einer produktiven Neustrukturierung der Gruppe wirken, enthalten eine Vielzahl von Regelungen, die, wie die Praxis der folgenden Monate zeigt, vor allem die Zerschlagung der Gruppe durch Austritte, Ausschlüsse und Abspaltungen erleichtern. Die zwei entscheidenden Veränderungen, die Debord 1969 in die S.I. einführt - einmal als Bewegung des Rückzugs aus der Redaktion und einmal als Bewegung des Vorangehens bei der Organisationsfrage - beinhalten beide die Option des zunächst unmerklichen, später dann immer deutlicher werdenden Verschwindens der S.I. Ein Verschwinden, das jedoch weniger punktuell als vielmehr schrittweise erfolgt, ein klandestines Verschwinden, keine Auflösung, sondern ein Sich-Auflösen.976 Dieser Prozess des schleichenden Sich-Auflösens scheint beinahe überfällig, denn Anfang 1971 ist die S.I. im Grunde genommen bereits verschwunden: Nach außen tritt sie nicht mehr in Erscheinung und auch im Inneren herrschen Stille und Stillstand, da nicht ein einziges Mitglied auf Debords Vorschläge reagiert. Die einzige Bewegung in Richtung Aktivität ist im September 1971 zu erkennen - bezeichnenderweise geht es dabei um eine Auseinandersetzung zwischen Debord und Sanguinetti einerseits und Riesel andererseits,977 die jedoch frei von jeglichen am Verhalten von Viénet enden: Denn wenige Tage später tritt ebendieser aus der S.I. aus (vgl. Debord (2004a), S. 347, an Jeppesen Victor Martin, 26.2.1971). 975 | Vgl. Debord (1968), S. 461. 976 | Dementsprechend findet sich auch in Debords gesamter Korrespondenz kein expliziter Hinweis auf die ›offizielle‹ Auflösung der S.I. - sie scheint vielmehr nach und nach zu verschwinden. 977 | Vgl. Debord (2004a), S. 400f., an René Riesel, 7.9.1971; ibidem, S. 402f., an
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inhaltlich-theoretischen Aspekten ist. Im Kern geht es um den Vorwurf Riesels, Debord und Sanguinetti hätten beide eine Affaire mit seiner Frau, was die beiden jedoch abstreiten. Man ergeht sich einige Tage lang in gegenseitigen Polemiken und Beleidigungen und kommt schnell zum unvermeidlichen Ergebnis: »Nous pouvons donc considérer Riesel comme le dernier des exclus.«978 Der Ausschluss von Riesel soll also der letzte in der Geschichte der S.I. gewesen sein und Debord beginnt, sich der Ausarbeitung des Auflösungstextes, der scission, zu widmen. Doch was ist mit Martin, der nach wie vor die skandinavische Sektion der S.I. bildet? Auch hier leiten Debord und Sanguinetti nochmals eine Spaltung ein, als Martin seine Freundin Maria Isabel Supak zum Mitglied der S.I. erklärt, was strikt abgelehnt wird. Allerdings wird nicht mehr der Versuch gemacht, Martins Schritt rückgängig zu machen, um ihn in der S.I. zu halten - im Gegenteil: »Je ne vous conteste évidemment pas le droit d’agir selon des perspectives complètement différentes, mais vous le ferez donc, comme il est normal, pour votre compte.«979 Die Entscheidung, die hier nur in Andeutungen erkennbar ist, wird wenige Zeilen später noch expliziert: »Je constate seulement que notre responsabilité commune n’est plus engagée dans ce que peut faire la ›région Nord de l’I.S.‹ dans ses publications, adhésions, ruptures, etc. Et réciproquement votre résponsabilité n’est plus engagée dans ce que nous allons faire.«980 Damit steht auch Martin von nun an außerhalb der noch von Debord und Sanguinetti repräsentierten S.I. Doch was ist es, was diese auf eine Dyade reduzierte Gruppe unternehmen will? Sich gegenseitig auszuschließen, kommt wohl nicht in Frage, allerdings kommt auch keine wirkliche Zusammenarbeit mehr zustande. Die letzte ›Aktivität‹ der S.I., wenn man es so nennen kann, wird wiederum von Debord im Alleingang unternommen: die Ausformulierung der scission. Zwar wird Sanguinetti vorab über den Inhalt dieses Texts informiert und unterzeichnet ihn schließlich auch zusammen mit Debord - an seiner Entstehung jedoch ist er nicht beteiligt. Debord alleine ist es, der die S.I. offiziell auflöst und somit auf den letzten Metern der Bewegung der Aufhebung auch zwischen Sanguinetti und sich selbst noch eine Abspaltung vornimmt. Debord löst somit im April 1972 eine Gruppe auf, die zu diesem Zeitpunkt bereits seit längerer Zeit nicht mehr als Gruppe existiert. Er löst sich gewissermaßen selbst auf, um so die Bewegung des Verschwindens zu vervollständigen. So scheint sich mit dem Ende der S.I. der Kreis zu ihren Anfängen zu schließen. Denn so wie die Gründung im Juli 1957 nur die Offizialisierung eines Jahre zuvor begonnenen Annäherungsprozesses der Beteiligten war, so ist auch der offizielle Auflösungstext aus dem April 1972 nur Gianfranco Sanguinetti, 13.9.1971 sowie Debord (2004a), S. 404ff., an Gianfranco Sanguinetti, 16.9.1971. 978 | Ibidem, an Gianfranco Sanguinetti, 16.9.1971, Hervorh. im Orig. 979 | Ibidem, S. 489, an Jeppesen Victor Martin und Maria Isabel Supak, 7.2.1972. 980 | Ibidem, an Jeppesen Victor Martin und Maria Isabel Supak, 7.2.1972.
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der formale Schlussstrich unter einen ebenso jahrelangen Prozess der Zersetzung und Zerschlagung der Gruppe. So überrascht es nicht, dass auch in diesem letzten Text nicht von der Auflösung der S.I. die Rede ist, es geht hier ›nur‹ um Austritte, Ausschlüsse und schließlich um die Spaltung der Gruppe, um ihr Verschwinden. Die S.I. hat sich nicht aufgelöst, sie hat sich aufgehoben, hat ihre Mitglieder nach und nach aus dem Gruppeninneren verschwinden lassen, bis in diesem Inneren nichts zurückbleibt, außer demjenigen, der diesen Prozess des Verschwindens rückblickend-abschließend beschreibt: Debord. Debord und einer, der diesem Verschwinden aus der Ferne zusieht, der durch sein eigenes vorangegangenes Verschwinden diesem Prozess entgeht und so am Ende aus der Ferne als einziger im Zentrum zurückbleibt, dort, wo er für Debord immer war. Und zusammen mit Debord, der nach der Aufhebung der Gruppengrenze nun aus dem Zentrum wieder in die Ferne blicken kann und seine Beweglichkeit zurückgewinnt, setzt er die dérive aus der Ferne in die Ferne fort. Alles auf Anfang. Unsere Situationen werden ohne Zukunft, sie werden Durchgangsorte sein. Buvons à l’amitié.
5 Mythomanie und Deutungswahn Doch bevor wir unser Glas erheben, gilt es noch einmal inne zu halten, einen Schritt zurück zu treten und aus der Ferne den Blick über die S.I. schweifen zu lassen. Die Entwicklung der S.I. zwischen 1957 und 1972, die auf den vorangegangenen Seiten unter verschiedenen Blickwinkeln Schritt für Schritt in ihrem Detailreichtum und in ihrer Vielfalt dargestellt wurde und die einen mit ihren leidenschaftlichen Diskussionen, mit ihrer Produktivität, aber auch mit ihrem lähmenden Stillstand begleitet, umgeben und eingesogen hat, soll abschließend noch einmal aus einer anderen Perspektive betrachtet werden. Und diese Perspektive ist die der S.I. selbst, die ihrer theoretischen Ansätze. Ging es bislang darum, die theoretischen Positionen der S.I. bezüglich der Gruppenstruktur, der Mitgliedschaft sowie der Kategorien von Eintritt, Austritt und Ausschluss zu analysieren und mit der jeweiligen Praxis gegenzulesen, so soll nun der Fokus erweitert werden und die skizzierte Gesamtentwicklung der S.I. als Zusammenspiel und/oder Widerspruch von Theorie und Praxis mit ihren übergeordneten, allgemeinen Theoriepositionen in den Blick genommen werden. Es gilt zu fragen, inwiefern sich die Entwicklung und die Probleme der S.I. als einer theorieproduzierenden Gruppe auf der Suche nach einer Praxis neu erschließen lassen, wenn man sie mit den von der Gruppe selbst in dieser Zeit entworfenen theoretischen Begriffen wie Spektakel, Alltagsleben, détournement, récupération, Situationskonstruktion oder dérive beschreibt. Die für die S.I. zentrale Frage nach dem Zusammenspiel von Theorie und Praxis kann so unter einem anderen Blickwinkel betrachtet werden. Die hier vorgeschlagene Perspektive knüpft dabei zunächst an die Aussage von Michèle Bernstein an, die die Frage nach der Praxis der S.I. folgendermaßen beantwortet: »Unsere Taten können auf den Tisch gelegt werden; unsere Taten, das waren unsere Schriften.«1 Doch die Überlegungen dieses Schlusskapitels gehen über die These, dass die Theorieproduktion an sich bereits Praxis ist, hinaus und versuchen, die Gesamtentwicklung der S.I. als Gruppe sowohl auf dem Feld der Theorie als auch auf dem der Praxis wiederum als Praxis ebendieser Theorie zu skizzieren. Denn die S.I. produziert nicht nur eine Theorie, die immer schon zugleich auch Praxis ist, sondern sie selbst ist als Gruppe - bestehend aus kontinuierlich wechselnden Einzelpersonen - nochmals die Praxis dieser Theorie. Es geht also um das Flussersche ›Zurücktreten vom Gegenstand‹, das sich jedoch von diesem nicht entfernt, sondern sich ihm vielmehr über 1 | Michèle Bernstein zitiert in: Marcus (1993), S. 367.
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den mit dem Zurücktreten verbundenen Perspektivwechsel erneut annähert. Die S.I. und die Frage nach Theorie und Praxis soll mit der Theorie der S.I. gelesen, die S.I. somit gewissermaßen von außen mit ihren eigenen Augen betrachtet werden. Es handelt sich beim Folgenden daher weder um ein klassisches Fazit oder eine Zusammenfassung, noch um einen Ausblick, sondern um den Versuch, sich aus dem Detailreichtum der bisherigen Analysen zu lösen und stattdessen zu lesen, zu schauen, die Gedanken schweifen zu lassen und sich so auf eine gedankliche dérive zu begeben. Damit soll auch der Versuch unternommen werden, am Ende der vorliegenden Arbeit - und nachdem sich für die S.I. im Prozess der Formalisierung die Beweglichkeit stark eingeschränkt hat - den Raum nochmals zu öffnen, ein Moment der Beweglichkeit oder gar des Spielerischen zu ermöglichen und so zurückzukehren zu den ebenso beweglichen und offenen Anfängen der S.I. Zweimal bereits sind wir in den vorliegenden Ausführungen von den Anfängen der S.I. zu ihrer Auflösung bzw. Aufhebung gelangt, nun gilt es, die Erstarrung der Endphase zum Ausgangspunkt zu machen, um von dort und von den dort erkennbaren Schwierigkeiten Schritt für Schritt zurückzugehen, die Beweglichkeit wieder zu erlangen und mit Hilfe der verschiedenen Theoriekonzepte der S.I. unterschiedliche, besonders prägnante und aufschlussreiche Aspekte ihrer Entwicklung herauszuarbeiten und dabei auch noch einmal auf wichtige Protagonisten dieser Entwicklung und ihre Beziehungen hinzuweisen. Es handelt sich dabei nicht um einen geraden Weg zurück zu den Anfängen, nicht um eine umgekehrte Chronologie der Einzelereignisse, sondern um eine von Umwegen geprägte dérive, die einzelne Situationen rekonstruiert und so das Moment der Ent-Täuschung enthalten soll und will.
5.1 Kritik der Trennung: Spektakel und Alltagsleben Die Probleme in der Schlussphase der S.I., deren Beginn spätestens nach dem Mai 1968 anzusetzen ist, beziehen sich sowohl bei der Organisationsdebatte als solcher, als auch bei der Diskussion über die konkreten Austritte und Ausschlüsse vor allem auf die Frage nach der egalitären Beteiligung aller Mitglieder. Damit sind jedoch mindestens zwei Problemfelder bzw. zwei Dichotomien angesprochen: die von Hierarchie und Egalität und die von Passivität und Aktivität. Diese beiden Aspekte lassen sich vor dem Hintergrund der zentralen Rolle, die der Frage nach der Diskussion und Kommunikation dieser internen Schwierigkeiten zugeschrieben wird, noch um die Gegenüberstellung von diskursiver und dialogischer Kommunikation, von der Praxis der Nicht-Einmischung und der authentischen Kommunikation sowie von Verschleierung und Transparenz ergänzen. Diese Reihe lässt sich mit Blick auf die Ziele, die die verschiedenen Mitglieder bei der Diskussion dieser Probleme implizit oder explizit zum Ausdruck bringen, noch um die Gegenüberstellung
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von Stagnation und Veränderung bzw. von Dauerhaftigkeit und Momenthaftigkeit verlängern. Dabei verweisen alle diese Begriffe bzw. die jeweils erstgenannte Seite der Begriffsdichotomien auf die von der S.I. zu diesem Zeitpunkt in den Mittelpunkt gerückte Theorie des Spektakels, während die zweitgenannten ›Positiv-Kategorien‹ dem Feld des Alltagslebens und den dort vermuteten Kreativitätspotentialen zuzuordnen sind. Die zentrale Praxis der spektakulären Gesellschaft, die Praxis der Trennung, taucht hier zwar nicht explizit auf, ist jedoch in den obigen Dichotomien bereits implizit enthalten, sei es durch die Gegenüberstellung zweier Begriffe - am deutlichsten in derjenigen zwischen aktiv und passiv -, oder sei es in einem der beiden Begriffe, wie z.B. demjenigen der Hierarchie oder der Verschleierung. Doch auf eine andere Art und Weise wirkt diese Trennung nicht mehr als Trennung, da sie ihren Charakter als Unterscheidungsmerkmal zwischen innen und außen, zwischen der S.I. und der Gesellschaft, zwischen den in der S.I. angestrebten und den spektakulären Umgangsformen im Laufe der Jahre verloren hat. Die Trennung hat sich vor allem nach dem Mai 1968 in die S.I. hinein verlagert, als Trennung zwischen aktiven und passiven, zwischen in der Hierarchie höher und niedriger gestellten Mitgliedern, zwischen Lehrern und Schülern, zwischen Elite und Masse etc. Diese Mechanismen der hierarchischen Trennung, die von der S.I. seit dem Skandal von Straßburg vor allem als Problem in ihrem Außenverhältnis zu anderen Gruppierungen und Personen angesehen wurde, spielen sich nun vor allem innerhalb der S.I. ab. Interessant ist dabei, dass gerade die beiden Mitglieder der S.I., die die theoretischen Ansätze zu Spektakel und Alltagsleben ausgearbeitet und die Kritik der Trennung am deutlichsten formuliert haben - Debord und Vaneigem - diejenigen sind, die sich ungewollt als Lehrer auf der einen Seite dieser Trennung innerhalb der S.I. wiederfinden und die Position der Vordenker einnehmen. Mit der Zentralität der von den beiden ausgearbeiteten Konzepte geht also die Zentralität ihrer Urheber innerhalb der Gruppe einher, die wiederum die Wichtigkeit der theoretischen Konzepte perpetuiert hat. Die Kritik der Trennung, die hier nicht mehr als gemeinsame, sondern als selbst getrennte Theorieleistung zweier Einzelmitglieder erfolgt, etabliert somit innerhalb der S.I. die Strukturen, die sie zu überwinden sucht. Diese in die S.I. verlagerten verschiedenartigen hierarchischen Trennungen etablieren zugleich eine Trennung zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zwischen Theorie und Praxis der eigenen Gruppenstruktur, die letztendlich auch zwischen Debord und Vaneigem einen Keil treibt. Debord radikalisiert seine Kritik der Trennung und versucht, sie auf die eigene Gruppe, deren spektakuläre Züge für ihn nach und nach deutlicher hervortreten, anzuwenden und sie in die Praxis zu überführen, während Vaneigem sich weiterhin rein auf der Ebene der Theorie bewegt und weiterhin auf Potentiale neuer Umgangsformen verweist, für die jedoch in der Praxis der Gruppe zu diesem Zeitpunkt keinerlei Anhaltspunkte mehr zu finden sind.
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Während sich die ›narkotische Wirkung des Spektakels‹ im Allgemeinen so auffassen lässt, dass sich die im Spektakel integrierten Personen ihrer Potentiale nicht bewusst werden können und sie durch ihre Handlungen entscheidend zur ständigen Reproduktion dieser Strukturen beitragen, so ergibt sich innerhalb der S.I. ein anders gelagertes, paradoxes Bild. Hier scheinen sich die Mitglieder ihrer Potentiale durchaus bewusst zu sein, analysieren und reflektieren auch in extenso ebendiese narkotische Wirkung des Spektakels, dennoch reproduzieren sie die bestehenden Strukturen weiterhin mit ihren Handlungen und NichtHandlungen, die mehr oder weniger losgelöst und unbeeinflusst von der zuvor erfolgten Problemreflexion ablaufen. Auch hier liegt das Kernproblem also in der Trennung zwischen Theorie und Praxis, denn auch wenn die theoretische Reflexion den täuschenden und lähmenden Charakter der spektakulären Bilder und Strukturen im Inneren der Gruppe durchschaut, so vermag die Mehrheit der Mitglieder keine dagegen gewandte kritische Praxis mehr zu etablieren. Dabei ist bereits in der Art und Weise der Kommunikation über das Problem der Spektakularisierung der eigenen Gruppe ebendieser Vorgang erkennbar, da es sich um eine über weite Strecken diskursive, nicht aber um eine dialogische, authentische Kommunikation handelt. In dieser wird einerseits die Trennung zwischen aktiven und passiven Mitgliedern reproduziert und diese Trennung andererseits zugleich von den passiven Mitgliedern durch die permanente Zustimmung zur Kritik zu verschleiern versucht. Interessanterweise sind es gerade die passiven Mitglieder, die diese Trennung zwischen aktiv und passiv innerhalb der S.I. aufrechterhalten, indem sie die Trennung zunächst als Faktum anerkennen und in einem weiteren Schritt auch die theoretische Kritik daran unterstützen und eine Änderung fordern, die aber nicht in die Praxis umgesetzt wird. Umgekehrt bestehen die aktiven Mitglieder - zuletzt dann nur noch Debord sowohl auf der Zur-Kenntnisnahme dieser Trennung als auch auf ihrer praktischen Aufhebung, die sich letztendlich nur durch die Aufhebung der Gruppe insgesamt erreichen lässt. In der Endphase der S.I. werden somit in ihrem Inneren die zentralen Techniken des Spektakels erkennbar: die Praxis der Trennung von aktiv und passiv sowie von Theorie und Praxis und der gleichzeitigen imaginären Vereinigung dieser getrennten Aspekte. Für den Großteil der Mitglieder ist die S.I. nach dem Mai 1968 kein aktives, gemeinsames und bewegliches Projekt mehr, sondern ein passives, konsumierbares, vorgefertigtes Produkt. Die S.I. wird nicht zum Spektakel an sich, aber zumindest doch zum revolutionären Spektakel. Biegen wir noch einmal ab und kehren zu der für diese Spektakularisierung der S.I. entscheidenden Trennung zwischen aktiven und passiven Mitgliedern und der sich an diese Trennung anschließenden Frage nach Egalität und Hierarchie zurück. Letztere wurde bislang häufig als Alternative ›Egalität oder Hierarchie‹ dargestellt, doch gilt es hier, noch einmal einen etwas differenzierteren Blickwinkel einzunehmen. Denn
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wie wir uns erinnern, hat Debord rückblickend festgestellt, dass die S.I. zwar immer anti-hierarchisch gewesen sei, dass es jedoch gerade gegen Ende nicht gelungen sei, sie zu einer egalitären Gruppe zu machen. Für Debord handelt es sich bei den Begriffen Egalität und Hierarchie somit nicht um ein Paar sich ausschließender Gegensätze, sondern um zwei verschiedene Dichotomien etwa in der Gestalt von Egalität und Ungleichheit bzw. von Hierarchie und Anti-Hierarchie. Debords Aussage zum anti-hierarchischen und zugleich nicht egalitären Charakter erschließt sich, wenn man berücksichtigt, dass diese beiden Begriffe unterschiedliche Bezugsebenen haben. Die Frage nach der Hierarchie bzw. Anti-Hierarchie ist in erster Linie ein Problem auf der Ebene der Gruppe und ihrer Organisationsstruktur und umfasst Aspekte wie formale Rangordnung, Arbeits- und Funktionsteilung, verschiedene Gremien, Grade von Mitgliedschaft etc. Demgegenüber bezieht sich die Frage nach der Egalität bzw. Ungleichheit viel stärker auf die Ebene der Individuen und ihrer interpersonellen Beziehungen und basiert auf der Ausprägung der persönlichen Fähigkeiten, dem Mitteilungsbedürfnis, der Dominanz und Zentralität der Position im ›Beziehungsnetzwerk‹ der Gruppe etc. Die Hierarchie-Frage ist somit eine formal-strukturelle Frage, die auf der Gruppenebene anzusiedeln ist, während die Frage nach der Egalität sich auf der individuellen und interpersonellen Ebene abspielt und viel stärker auf die persönliche Aktivität und Beteiligung der Mitglieder angewiesen ist. Eine anti-hierarchische Gruppenstruktur kann beschlossen werden - und ist innerhalb der S.I. auch weitgehend umgesetzt worden. Egalität ereignet sich bestenfalls im Zusammenspiel individueller Handlungen - und ist in der S.I. nur phasenweise erkennbar. Bei der Frage nach der anti-hierarchischen Struktur der Gruppe haben die Individuen einen direkten Einfluss auf die Gruppe, bei der Forderung nach Egalität fehlt der Gruppe ein solcher Einfluss auf die Individuen. Zudem ist die Hierarchie-Frage, wie sie hier aufgefasst wird, eine kollektive theoretische bzw. eine theoretisch lösbare Frage, während die Egalität zwar theoretisch gefordert, aber nur als Summe der Praxis individueller Handlungen auch erreicht werden kann. Die einzige Einflussmöglichkeit der Gruppe auf die Frage nach der Egalität ist im Mechanismus der Zugangskontrolle und des Ausschlusses von Mitgliedern zu sehen, die sich somit als aus der theoretischen Egalitätsforderung resultierende Praxis auffassen lassen. Beide Mechanismen jedoch spielen sich an der Grenze zur Gruppe ab, im ›Davor‹ und im ›Danach‹ der Mitgliedschaft; innerhalb der Gruppe bzw. während der Mitgliedschaft ist die Gruppe gegenüber ihren Mitgliedern relativ machtlos oder gar von ihnen abhängig. Hier können Theorie und Praxis weit auseinanderfallen. Debords Einschätzung bezüglich des zwar anti-hierarchischen, aber nicht egalitären Charakters der S.I. verweist somit auf die Tatsache, dass die Gruppe zwar die theoretisch-formale und eher statische Frage der Anti-Hierarchie gelöst hat, aber bei der Umsetzung der praktischen und sich permanent in verschiedenen Konstellationen neu stellenden Frage
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der Egalität gescheitert ist und somit zwischen Theorie und Gruppenpraxis, trotz aller wechselseitiger Bedingtheit, deutliche Diskrepanzen erkennbar sind. Das Scheitern bei der Frage nach der Egalität der Mitglieder beruht dabei ganz zentral auf der sich mehr und mehr etablierenden Trennung zwischen aktiven und passiven Personen innerhalb der Gruppe gerade in der Schlussphase. Dieser Vorgang ist umso gravierender, als die Forderung nach einer aktiven Beteiligung stets im Mittelpunkt der Mitgliedschaftsanforderungen stand und die S.I. daher durch die diesbezüglichen Defizite mehr und mehr ihre Legitimation verliert. Dieser Legitimationsverlust rührt jedoch nicht nur daher, dass der Großteil der Mitglieder diese zentrale Anforderung nicht mehr erfüllt, sondern auch daher, dass die Forderung nach aktiver Beteiligung ebenfalls sehr eng mit den übergeordneten Theoriepositionen verwoben ist. Denn sie verweist explizit auf die Kategorie des Alltagslebens und seiner Potentiale, die es gegen das Spektakel in Stellung zu bringen gilt. Und genau als Keimzelle dieses neuen Alltagslebens sieht sich die S.I., sie will die erste Sphäre der Erprobung neuer kritischer Kommunikations- und Lebensformen sein, nicht nur ein theoretischer, sondern auch ein praktischer détournement des Spektakels. Doch genau an diesem Punkt scheitert die S.I. nach dem Mai 1968, denn, analog zur passiven Haltung der meisten Mitglieder, steht statt der aktiven Kategorie des détournement, die sowohl Theorie als auch Praxis ist, in erster Linie die passive und aus Sicht der S.I. rein theoretisch-analytische der récupération auf der Tagesordnung.
5.2 Passiv und aktiv: récupération und détournement Von der Dominanz der analytischen Kategorie des Spektakels in der Zeit seit 1966/67 und noch ausgeprägter nach dem Mai 1968 gelangen wir somit zunächst zu einer weiteren, ebenfalls analytischen Kategorie: der récupération. Diese ist dabei jedoch nur aus Sicht der S.I. eine analytische Kategorie, aus Sicht des Spektakels hingegen ist sie eine aktive Praxis. Und so, wie bereits die Kategorien Spektakel und Alltagsleben jeweils einem Aspekt der obigen Dichotomien zugeordnet werden können, lässt sich die récupération den negativen Begriffen zuschreiben bzw. resultiert der negative Aspekt aus Sicht der S.I. aus der spektakulären récupération. Auf der anderen Seite stünde dann die situationistische Methode des détournement - doch dazu später mehr. Denn zunächst fällt auf, dass der Schwerpunkt bei allen Diskussionen der Organisationsdebatte innerhalb der S.I. auf der Gefahr der récupération liegt, nicht zuletzt, da diese im Laufe der Zeit gewissermaßen umfassender geworden ist: Ging es in den Anfangsjahren um die punktuelle récupération einzelner Mitglieder durch den Kunstmarkt, so droht seit dem Skandal von Straßburg und noch deutlicher seit dem Mai 1968 die gesamte Gruppe vom Spek-
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takel aufgesogen zu werden; spätestens, als sich diese récupération von außen auch im Inneren der Gruppe bemerkbar macht und ihre, wenn man so will, interne récupération beginnt. Die analytische Kategorie der récupération verdrängt die praktische des détournement mehr und mehr. Diese Dominanz des Begriffs der récupération ist schon alleine deshalb gerade für die Schlussphase der S.I. aufschlussreich, als es sich um eine rein defensive Kategorie handelt - und genau in einer solchen Defensive, in einer solchen Phase des Rückzugs und der Selbstbezogenheit befindet sich die Gruppe seit dem Ende des Mai 1968. Die S.I. scheint sich in den letzten Jahren vom produktiven Wechselspiel von détournement und récupération abzuwenden und sich nur noch auf die Analyse und Abwendung der Letzteren zu konzentrieren - und verliert genau durch diese Einseitigkeit ihre Beweglichkeit und ihr aktives Kritikpotential aus den Augen. Sowohl die Veränderungen in ihrem Umfeld im Sinne eines immer näher an die S.I. heranrückenden Spektakels als auch die reflexive Theoriefixiertheit auf den Begriff der récupération im Inneren, führen auf der Ebene der Gruppenstruktur dazu, dass deren beweglicher und situativer Charakter mehr und mehr zugunsten einer starren und formalisierten Organisationsstruktur aufgegeben wird. Vor allem aber ist erkennbar, dass die S.I., anstatt den Blick auf die eigene spontane Produktivität und ihr aktives Kritikpotential zu richten, durch das permanente - und teilweise übertrieben-paranoid wirkende - Schauen auf den ›Gegner‹ die eigene Entwicklung massiv hemmt und die eigene Gruppe spektakularisiert. Das Spektakel und die drohende récupération scheint die S.I. beinahe dazu zu zwingen, sich selbst zu spektakularisieren bzw. hat die intensive Auseinandersetzung der S.I. mit diesem Problem eine solche Spektakularisierung auf paradoxe Weise zur Folge: Denn die Organisationsdebatte soll eigentlich dazu beitragen, anti-spektakuläre Umgangs- und Organisationsformen im Inneren der eigenen Gruppe zu ermöglichen, Aktivität und Egalität zu fördern und somit die gesamte Organisationsstruktur und die interpersonellen Beziehungen innerhalb der Gruppe zum immer wieder zu aktualisierenden détournement bestehender spektakulärer Strukturen und Umgangsformen zu machen. Doch in der Realität hat diese Debatte als rein defensive Einführung starrer Regelungen das genaue Gegenteil zur Folge und sorgt für die Lähmung der ursprünglichen Beweglichkeit und aktiven Praxis der Gruppe. Die einseitige Konzentration auf den Aspekt der récupération führt zu einer beinahe paradox anmutenden Situation: Einerseits ist die Analyse der Prozesse der spektakulären récupération die Grundlage für die Entwicklung der eigenen détournements und trägt dazu bei, die Notwendigkeit des eigenen Beweglich-Bleibens herauszuarbeiten, andererseits scheint es ab 1968 gerade die anhaltende Debatte über genau diese Gefahr der récupération zu sein, die die Gruppe lähmt und dazu führt, dass auch in diesem Feld der Schritt von der Theorie der récupération zur Praxis des détournement nicht mehr erfolgt. Theorie und Praxis bleiben auch hier voneinander getrennt bzw. wird die Pra-
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xis dem ›Gegner‹ überlassen. Der erste Schritt wird in der Schlussphase der S.I. immer mehr dem Gegner eingeräumt. Ging der détournement wenn auch in einer insgesamt zirkulären Struktur - in den Anfangsjahren der S.I. der récupération scheinbar voraus und wurde Letztere als Antwort auf einen bereits erfolgten détournement angesehen, so scheint sich diese Reihenfolge nun umgekehrt zu haben: Aus der récupération als spektakulärer Reaktion wird eine Aktion, aus dem détournement als kritischer oder gar revolutionärer Aktion eine Reaktion - oder er bleibt ganz aus. Dadurch aber unterbricht die S.I. in ihren letzten Jahren das Wechselspiel von détournement und récupération und hebt so den von ihr diagnostizierten momenthaften Charakter sowie den für sie selbst durchaus produktiven Aspekt dieses wechselseitigen Prozesses auf. Sie unterbricht die spiralförmige Steigerungsbewegung von détournement und récupération und nimmt dadurch beiden Aspekten ihren Charakter als Situation, als Durchgangsort einer Bewegung bzw. sorgt durch den fehlenden erneuten détournement dafür, dass die récupération zum Zustand werden kann - zum Zustand, der den eigenen Stillstand zur Folge hat. Doch ganz zum Stillstand gekommen ist die S.I. Anfang der 70er Jahre noch nicht, noch einmal kommt die Methode des détournement zum Einsatz, bringt Bewegung hinein, macht aus dem Zustand eine Situation. Entsprechend der zu diesem Zeitpunkt omnipräsenten Organisationsdebatte handelt es sich dabei um einen détournement bezüglich der eigenen Gruppenstrukturen - allerdings nicht in dem Sinne, dass diese Strukturen an sich oder die damit verbundenen Mechanismen von Eintritt, Austritt und Ausschluss noch einmal radikal verändert würden, sondern als détournement der mit diesen Strukturen und Praxen verbundenen Ziele. Denn von nun an sollen mögliche Eintritte, Austritte und Ausschlüsse nicht mehr die Stärkung der Gruppe, sondern ihre Schwächung bewirken. Die Auflösung der Gruppe, ihr schrittweises Verschwinden wird zu ihrem Ziel. Dieser détournement der Schwächung der S.I. lässt sich jedoch selbst wiederum als die letzte der S.I. zur Verfügung stehende Möglichkeit zu ihrer Stärkung auffassen. Die Bewegung des Verschwindens wird zum détournement gegen die spektakuläre récupération, wie sie die S.I. nach dem Mai 1968 von außen und in ihrem Inneren erfahren hat. Denn während das Spektakel sichtbar machen, verstetigen, fixieren und die S.I. somit zum handhabbaren Gegner machen will, versucht die S.I., sich durch diese letzte Wendung diesem Prozess zu entziehen, sich unsichtbar zu machen, zu verschwinden und so in Bewegung zu bleiben. In diesem Verschwinden bringt sie noch einmal ihre Kritik des Spektakels zum Ausdruck, stellt ein letztes Mal den Aspekt des Vergänglichen und des Situativen in den Mittelpunkt. Damit aber kehrt sie auf dem Höhe- bzw. Schlusspunkt der Kritik des Spektakels im Grunde genommen zu ihren ursprünglichen Theoriekonzepten zurück: Sie unternimmt eine letzte Situationskonstruktion, begibt sich auf eine
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letzte dérive ins Ungewisse und macht sich selbst zum Durchgangsort eben dieser dérive.
5.3 Rein und raus: détournement auf Personen- und Gruppenebene Doch bevor wir uns auf diese dérive begeben, gilt es noch einmal abzubiegen, einen kleinen Umweg zu einem zweiten Aspekt des détournement zu unternehmen. Denn wie in der obigen Skizze der Selbstaufhebung der S.I. als détournement bereits angedeutet wurde, ist der détournement nicht nur eine nach außen, gegen das Spektakel gerichtete kritische Praxis, sondern kommt auch innerhalb der eigenen Gruppe zur Anwendung. Während es beim Schlusspunkt der Selbstaufhebung der S.I. um einen radikalen détournement des Ziels geht und er sich somit eher auf die theoretische Ebene bezieht - auch wenn er explizit praktische Folgen hat -, so ist der détournement zugleich in der gesamten Geschichte der S.I. als ganz konkrete Praxis auf der Ebene der Gruppenstruktur bzw. Mitgliederfluktuation erkennbar. Die gesamte Mitgliederfluktuation der S.I. lässt sich als eine Aufeinanderfolge einer Vielzahl von détournements auffassen, genauso wie sich der Eintritt und der Austritt oder Ausschluss eines Mitglieds als ein détournement ebendieser Person lesen lassen. Dabei unterscheidet sich der Charakter des détournement beim Eintritt von demjenigen beim Ausschluss in einem Punkt: Anders als beim Eintritt handelt es sich beim Ausschluss um einen unvollständigen détournement, da die Person zwar dekontextualisiert, aber eben nicht mehr rekontextualisiert, sondern in eine unbestimmte Freiheit entlassen wird. Sie wird aus dem eng umgrenzten Raum der Gruppe in den offenen Raum jenseits der Gruppe geführt - und vielleicht liegt gerade in dieser Unbestimmtheit der Bewegung das ›Drohpotential‹ des Ausschlusses. Das für die Gruppe zentrale Element der Veränderung der Personenkonstellation innerhalb der Gruppe, die Herstellung neuer Zusammenhänge ist jedoch in beiden Bewegungen erkennbar. Beim Vergleich von Austritt und Ausschluss sind ebenfalls Unterschiede erkennbar, da sich aus Sicht des Einzelnen der Austritt als aktiver, der Ausschluss hingegen als passiver détournement begreifen lässt. Diejenigen Mitglieder, die aus der S.I. austreten, agieren aktiv, dekontextualisieren sich selbst, wenden die Methode des détournement auf sich selbst an. Demgegenüber werden die Mitglieder, die ausgeschlossen werden zum passiven Objekt eines von den anderen Mitgliedern der Gruppe durchgeführten détournement. Die bei der Bewegung aus der Gruppe heraus erkennbare Unvollständigkeit des détournement lässt sich auf eine andere Art und Weise jedoch auch beim Eintritt als détournement erkennen und verdeutlicht den Unterschied zwischen dem détournement auf Personenebene und demjenigen auf der diesem Konzept ursprünglich
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zugrunde gelegten materiell-künstlerischen Ebene. Während auf Letzterer der Prozess des De- und Rekontextualisierens von ›totem Material‹ nicht mit ›Widerstand‹ dieses Materials zu rechnen hat - der Erfolg des détournement lediglich von der Kreativität und der Produktivität des durchführenden Subjekts abhängt -, so ist beim détournement auf Mitgliederebene solch ein Widerstand zu erwarten und kann zu einem unvollständigen détournement führen. Denn hier ist das ›Material‹, das Objekt des détournement, ein wollendes Subjekt, das sich, auch wenn es sich willentlich in neue Personenkonstellationen einbringen und anordnen lässt, dabei jedoch nie vollständig von seinem alten Kontext lösen kann oder will. Diese Unvollständigkeit des détournement, diese weiterbestehende Bindung des Einzelnen an vorangegangene Personenkonstellationen kann jedoch für die Gruppe zum grundlegenden Problem werden. Bei der Gründungskonstellation der S.I. war dieses Problem noch handhabbar und wurde dadurch zu lösen versucht, dass die alten Kontexte zumindest formell aufgelöst wurden und die einzelnen Elemente diesen Kontext zwar noch als vergangenes Außen in die S.I. einbrachten, aber dieses Außen im neugeschaffenen Innen grundlegend aktualisieren mussten. Problematisch wird es spätestens beim Beitritt der Gruppe SPUR, die auch innerhalb der S.I. als Personenkonstellation weiter existiert. Die Spuristen werden zwar in einen neuen Kontext eingebunden, nicht aber aus ihrem alten herausgelöst, da dieser weiterhin parallel zur S.I. aktualisiert wird. Die SPUR wird auch nach dem Beitritt zur S.I. von ihren Mitgliedern nicht nur als vergangenes Außen, sondern als gegenwärtiges Parallel-Innen oder Innen-Innen, als Kreis im Kreis mitgeführt. So aber entsteht genau die vor dem Hintergrund der Egalitäts- und Transparenzforderung problematische Struktur der verschiedenen Binnengruppen und der unterschiedlichen Öffentlichkeitsebenen innerhalb der Gesamtgruppe S.I. Doch nicht nur die Bewegungen einzelner Mitglieder in die Gruppe hinein oder aus ihr heraus lassen sich auf diese Weise interpretieren, bereits die Gründung der Gruppe kann als eine solche De- und Rekontextualisierung der beteiligten Personen verstanden werden. Die Gründung der S.I. als eine ›Gruppe von Gruppen‹ löst die Gründungsmitglieder aus ihrem bisherigen Gruppenkontext heraus (im Falle der Gründung verschwinden dabei die Vorgängergruppen gleich mit), um sie in den neuen Kontext der S.I. zu integrieren, um ihnen durch diese Bewegung neue kritische Bedeutung zukommen zu lassen. Außerdem sorgt diese Art des détournement dafür, dass sich neue interpersonelle Beziehungen herausbilden und somit auf dieser Ebene Beweglichkeit entsteht. Doch da dieser détournement, wie jede konstruierte Situation, die récupération stets bereits in sich trägt, ist es mit dem einmaligen détournement der Gruppengründung nicht getan, sie ist nur ein momenthafter Schritt voraus, dem ein Eingeholt-Werden beinahe zwangsläufig folgt. Ist der Vorsprung und das ebenfalls mit dem détournement verbundene Überraschungsmoment dahin und kommt es zur récupération des vor-
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angegangenen détournement, so müssen die Personenkonstellationen wieder in Bewegung gebracht werden und erneut durch einen détournement verändert werden, um so die durch die récupération erstarrte Anordnung innerhalb der Gruppe durch Austritte und Ausschlüsse sowie durch Neueintritte zu verändern. Das Wechselspiel dieser beiden Bewegungen des Voranlaufens und des Eingeholt-Werdens sowie die theoretischen Überlegungen der S.I. zu diesem Phänomen prägen somit die Gruppe während ihrer gesamten Existenz auch ganz direkt auf der Ebene der Mitgliederstruktur. Der permanente Mitgliederwechsel ist eine ständige und doch punktuelle Ausweichbewegung, ein Ausweichen vor der Trägheit, ein In-Bewegung-Bleiben, der Versuch, der récupération stets einen Schritt voraus zu sein. Der détournement in seiner Anwendung auf die Mitglieder der eigenen Gruppe ist die zentrale Praxis der S.I. als Avantgarde. Bei der Anwendung des détournement auf die Mitglieder der eigenen Gruppe ist in der Entwicklung der S.I. eine Veränderung erkennbar, die ihrerseits wieder in Zusammenhang steht mit der Mitgliederfluktuation. Die entscheidende Rolle spielt hierbei Jorn bzw. der Wandel, den sein Austritt im April 1961 auslöst. Denn der détournement ist in der Phase bis 1961 stark von Jorns Idee der produktiven Zusammenführung von Gegensätzen und Widersprüchen geprägt - Jorn ist derjenige, der die auf dem künstlerischen Feld entwickelte Theorie des détournement am stringentesten auf die Gruppe anzuwenden versucht.2 In dieser Phase ist der Eintritt nicht nur aus Sicht des neuen Mitglieds ein détournement, sondern auch aus Sicht der Gruppe, da er auch ihre Anordnung teilweise grundlegend verändert, neue Positionen einführt, die das sich bildende Gleichgewicht in Bewegung bringen. Die entstehenden Konstellationen sind extrem spannungsreich, haben aber durch ihre Vielfalt und ihre Andersartigkeit im Vergleich zu den vorangegangenen Kontexten ein großes Potential und beinhalten ein Moment der Offenheit und der Überraschung und somit einen relativ großen ›Vorsprung‹ vor der récupération. Mit Jorns Austritt, der selbst wiederum ein détournement aller bisherigen Austrittspraxen ist, werden die Eintritte in die Gruppe für die Gruppe selbst immer weniger als détournement wahrnehmbar. Es wird von nun an immer weniger Vielfalt oder gar Gegensätzlichkeit in die Gruppe hineingeholt, die bestehende Konstellation wird durch die Eintritte nicht mehr so deutlich aus dem Gleichgewicht gebracht. Fast hat es den Anschein, als würden die ab 1962 hinzukommenden Mitglieder vielmehr anhand des Kriteriums der inhaltlichen, theoretischen 2 | Eine in der theoretischen Konzeption des détournement enthaltene radikale Veränderung der Mitgliedschaftspolitik wird jedoch auch von Jorn nicht genutzt. Denn der prinzipiell als wiederholbar, als steigerbar aufgefasste détournement und das ebensolche Wechselspiel von détournement und récupération würde eigentlich auf der Ebene von Mitgliedschaft und Ausschluss die Möglichkeit bieten, auch ausgeschlossene Mitglieder zu einem späteren Zeitpunkt wieder ›neu entwendet‹ aufzunehmen. Theoretische Überlegungen in diese Richtung werden lediglich von Bernstein unternommen, umgesetzt werden sie innerhalb der S.I. jedoch nie.
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Übereinstimmung mehr oder weniger ›gecastet‹. Dadurch aber verarmt die Gruppe theoretisch, büßt an Beweglichkeit ein und erleichtert somit dem Spektakel ihre récupération. In diesem Zusammenhang ist zudem zu fragen, ob eine solche Aufnahme von neuen Mitgliedern, die innerhalb der Gruppe nicht mehr als détournement des Bestehenden wirkt, die keine neue PersonenSituation mehr konstruiert, nicht als récupération eben dieser neuen Mitglieder durch die S.I. zu lesen ist. In diesem Fall wäre es die Gruppe selbst, die schon sehr früh selbst quasi spektakulär agiert und die durch die Aufgabe des détournement bei der Praxis der Mitgliederaufnahme den Grundstein für die spätere Ausbildung spektakulärer Strukturen in ihrem Inneren legt. Denn in dem Moment, in dem der détournement nicht mehr von der Theorie in die Praxis überführt wird, kommt das Wechselspiel von détournement und récupération zum Erliegen, die Bewegung kommt zum Stillstand. Als bloße Theorie ist der détournement nutzlos, er muss - auch und gerade innerhalb der eigenen Gruppe - praktiziert, immer und immer wieder aktualisiert werden, die Theorie muss im Alltagsleben praktisch werden, wenn sie als Mittel des Widerstands gegen spektakuläre Praxen wirksam bleiben soll. Insgesamt betrachtet ist der détournement somit nicht nur explizit eine Theorie der Praxis, sondern verbindet (im Wechselspiel mit seinem Gegenpart der récupération) auf seinen beiden Anwendungsfeldern ganz explizit Theorie und Gruppenpraxis bzw. -struktur. Er ist eine Theorie einer Praxis, die bei der Theorieentwicklung selbst bereits angewendet wird. Zunächst als theoretisches Konstrukt entwickelt, kommt der détournement als Praxis nach außen zum Einsatz, anfangs vor allem in der Kunstsphäre. Beginnt die récupération dieses détournement, so erfolgt entweder noch einmal ein gesteigerter détournement oder sowohl die Gruppe als auch das von der récupération am stärksten betroffene Mitglied, beispielsweise Pinot-Gallizio, werden durch den Ausschluss dieses Mitglieds einem détournement unterzogen. So wie jede Situation ihre Aufhebung bzw. ihre Umkehrung in sich trägt, folgt in der spektakulären Gesellschaft auf jeden détournement früher oder später die récupération - auf die mit einem erneuten détournement reagiert werden muss.3 Sowohl détournement als auch récupération sind somit, was ihre Zeitstruktur betrifft, Durchgangsorte bzw. Situationen. Daher ließe sich die 3 | Die Phasen und Momente von détournement und récupération, wie sie in der Gruppengeschichte erkennbar sind, ließen sich in einem weiteren Gedankensprung auch jeweils mit dem Auf- und Abtauchen, mit der Wirksamkeit der Gruppe in der Öffentlichkeit in Zusammenhang bringen. Der détournement als Praxis nach außen sorgt für ein öffentliches In-Erscheinung-Treten der Gruppe, das die Grundlage für den einsetzenden Prozess der récupération bildet. Darauf reagiert die S.I. zum einen mit einem détournement auf der Gruppenebene, gefolgt von einem phasenweisen Rückzug in die relative Klandestinität. Dieser Rückzug in die Klandestinität ließe sich somit als détournement der spektakulären Bilderpraxis bzw. Praxis des Sichtbarmachens, des Scheins etc. auffassen und dient der Vorbereitung des nächsten nach außen gerichteten détournement.
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Mitgliederfluktuation der S.I. als Aufeinanderfolge von konstruierten Personal- und Theoriesituationen und als ständiges Wechselspiel von détournement und récupération betrachten. Beim Blick auf die Personalebene bedeutete dies, dass für den Problemfall, dass die gesamte Gruppe oder einzelne Mitglieder der spektakulären récupération anheim zu fallen drohen - seien es in der Anfangsphase die Künstler oder gegen Ende die passiven Neumitglieder -, aus Sicht der Theorielogik der S.I. nur ein détournement als Lösung in Betracht zu ziehen ist. Dieser kann aber auf der Personenebene nur in Form der ›Auswechslung‹ von Mitgliedern erfolgen, die ihrerseits wiederum in der weiteren Entwicklung einen starken Einfluss auf die Theorie und Praxis der Gruppe hat. Dieser geht in manchen Fällen - zu denken ist hier an den Rückzug von Jorn - so weit, dass man auch diesbezüglich nochmals von einem détournement oder im Falle Jorns gar von einem détournement der Theorie und Praxis des détournement selbst - sprechen könnte.
5.4 Theorie und Praxis: Debord und Jorn Der Weg unserer Überlegungen hat uns bislang vorbeigeführt an den Aspekten Spektakel und Alltagsleben sowie récupération und détournement bzw. hat uns dort zum Verweilen eingeladen. Handelte es sich beim ersten Begriffspaar noch um rein analytische, theoretische Konstrukte, so deutete sich in der Gegenüberstellung von récupération und détournement, vor allem aber beim Konzept des détournement selbst bereits ein weiterer wichtiger Knotenpunkt an, der ein nächstes innehaltendes Umkreisen nahelegt: die Gegenüberstellung bzw. die Kohärenz von Theorie und Praxis. Beim ersten Blick auf diesen wichtigen Aspekt auf der Ebene der inhaltlichen Positionen und Diskussionen der S.I. wurde bereits dessen Verwobenheit mit der Ebene der Gruppenstruktur bzw. mit der zentralen Rolle, die Jorn - im Zusammenspiel mit oder als Gegenpol zu Debord - dabei spielt, deutlich. Bei dieser Rolle der Spiel(er)figur Jorn gilt es, noch ein wenig stehen zu bleiben und den Versuch zu unternehmen, ihre Bewegungen nachzuvollziehen, da diese, ausgehend von der Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis, für die Gesamtentwicklung der S.I. sowohl auf der inhaltlichen als auch auf der Gruppenebene einen großen Einfluss ausüben. Denn wenn man die S.I. von ihren Extrempunkten, sprich von der Anfangs- und der Schlussphase, betrachtet, so werden die großen Unterschiede bezüglich des Stellenwerts von Theorie und Praxis besonders deutlich. In der Schlussphase ist erkennbar, dass die einzige überhaupt noch sichtbare Praxis der S.I. ihre Gruppenpraxis ist, die aber von einer theoretischen Reflexion ebendieser Praxis überlagert wird - hinzu kommt selbstverständlich noch die theoretische Reflexion über die vergangene Praxis im Mai 1968 und über eine mögliche Praxis in der Zukunft. Je mehr die S.I. über die Praxis theoretisch reflektiert und sie
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theoretisch konzipiert, desto weniger scheint sie zustande und die S.I. mehr und mehr zum Stehen zu kommen. Im Gegensatz dazu sind die ersten Jahre der Gruppe von einer regen Praxis verschiedener Mitglieder auf unterschiedlichen Feldern gekennzeichnet; von einer Praxis, die sich sowohl im Inneren der Gruppe als auch nach außen abspielt, und von einer Praxis, die dennoch die Theorie nicht verdrängt, da genau im Prozess dieser Praxis die wesentlichen Theoriekonzepte der S.I. nach und nach entwickelt werden. Betrachtet man diese Differenz und die Rolle, die Jorn für ihre Entstehung spielt, durch die ›Theoriebrille‹ von Jorn selbst bzw. vor dem Hintergrund seiner Unterscheidung zwischen dem lateinischen und dem skandinavischen Denken, deren unterschiedlicher Gewichtung von Theorie und Praxis sowie der beim Letzteren zentralen Idee des Zusammenbringens spannungsreicher Widerstände, so wird es an dieser Stelle interessant. Denn nimmt man dabei die gesamte Entwicklung der S.I. in den Blick, so wird deutlich, dass diese von einer skandinavischen Phase - deren prototypischer Vertreter Jorn ist - in eine lateinische Phase - repräsentiert in erster Linie durch Debord - übergeht. Diese Bewegung ist sowohl auf der inhaltlichen Ebene als auch auf der Ebene der Gruppenstruktur der S.I. zu erkennen. Anfangs dominiert die Praxis, die der Theorie vorausgeht, bzw. dominiert hier eine Praxis, in deren Verlauf sich die Theoriepositionen entwickeln. Sowohl Theorie als auch Praxis sind dabei von Vielfältigkeit und Widersprüchen geprägt. In der Folge aber (ab ca. 1962, endgültig dann nach dem Mai 1968) verfestigt und vereinheitlicht sich diese Theorie immer mehr und geht der Praxis voraus, was im Falle der S.I. gegen Ende zur Folge hat, dass weder eine wirkliche Praxis stattfindet, noch die Theorie weiterentwickelt wird. Diese Entwicklung auf der inhaltlichen Ebene findet sich auch auf derjenigen der Gruppenstruktur - zumindest was die Bewegung von widersprüchlicher, beweglicher Vielfalt hin zu einer kohärenten, aber auch weniger beweglichen Position betrifft. Denn anfangs wurde auf der Gruppenebene im Zusammentreffen von Widersprüchen in erster Linie agiert und erst dann auch darüber reflektiert; Strukturen bildeten sich nach und nach im Agieren heraus und blieben dementsprechend veränderlich. In der Spätphase geht es hingegen primär um die Reflexion über tatsächliches oder fiktives zukünftiges Handeln innerhalb der Gruppe, es werden Regelwerke und Organisationsprinzipien aus dieser Reflexion entwickelt, die die Struktur der Gruppe immer mehr verfestigen und eine Praxis beinahe vollständig zu verhindern scheinen. Der entscheidende Wendepunkt für diese Entwicklung ist - neben den Veränderungen im Umfeld der S.I. und ihrer zunehmenden öffentlichen Präsenz - in der massiven internen Umstrukturierung im Frühjahr 1962 zu suchen und in dem diese Umstrukturierung ermöglichenden Austritt von Jorn ein Jahr zuvor. Interessanterweise unternimmt auch Debord eine Phaseneinteilung der S.I., die der aus den jornschen Überlegungen abgeleiteten nicht unähnlich ist, auch wenn sie die Entwicklung
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von der Vielfalt zur Kohärenz nicht mit berücksichtigt. Er unterscheidet dabei eine erste Phase der Praxis der Theorie von einer zweiten der Theorie der Praxis.4 Was zudem auffällt, ist die Gegensätzlichkeit der Faktoren, die als Auslöser für diese Entwicklung herangezogen werden. Während bei Jorn diese Entwicklung untrennbar mit den an der Gruppe beteiligten Personen zusammenhängt, er somit vor allem interne Faktoren berücksichtigt, führt Debord sie in erster Linie auf die Veränderung der gesellschaftlichen Umstände im Sinne der ›Nähe‹ und ›Ferne‹ einer möglichen revolutionären Umwälzung und damit auf externe Faktoren zurück. Doch noch einmal zurück zu Jorns Überlegungen. Wie dargestellt, wird in der Entwicklung der S.I. das skandinavische Denken und das Modell Jorn vom lateinischen Denken und dem Modell Debord abgelöst.5 Doch unterscheiden sich diese beiden Modelle nicht nur bezüglich der unterschiedlichen Reihen- bzw. Rangfolge, die Theorie und Praxis in diesen Ansätzen jeweils einnehmen, sondern auch und gerade bezüglich ihrer Position im Hinblick auf die Rolle des Streits, wie es unter Verweis auf die Bewegung von der Vielfalt zur Kohärenz bereits angedeutet wurde. Debord geht dabei - unter Rückgriff auf die theoretische Forderung nach Egalität - tendenziell von gleichwertigen Verhältnissen aus, Jorn hingegen - mit Blick auf die in der Praxis erkennbaren individuellen Unterschiede zwischen den Mitgliedern - von Ungleichgewichten. Nicht nur, dass Jorn dabei die Realität der S.I. treffender beschrieben haben dürfte - sein Modell scheint auch eher Beweglichkeit zu ermöglichen als das von Debord. Denn Gleichgewicht beinhaltet die Gefahr von Ruhe, Sicherheit, Zufriedenheit und Stillstand, während bei einer Fundierung der Gruppe auf Ungleichgewichten und Spannungen Unsicherheiten vorhanden und stetige Bewegungen notwendig sind, um das Gruppenkonstrukt überhaupt zusammenzuhalten. Genau diese ständigen Gewichtsverlagerungen zwischen den verschiedenen Positionen führen in der Frühphase der S.I. zu einer produktiven Gruppenpraxis und der die Phase kennzeichnenden ›leidenschaftlichen‹ Theoriearbeit. 4 | Ob diese Einteilung der jornschen entspricht oder diese genau umkehrt, hängt jedoch teilweise davon ab, wo man im debordschen Spiel mit dem Genitiv jeweils die Betonung setzt. 5 | Eine wichtige Anmerkung ist in diesem Zusammenhang noch zu machen: Denn interessant bei diesem als Übergang von jornschen zum debordschen Modell bezeichneten Übergang ist, dass das Modell Jorn in der frühen Phase nicht alleine das Feld beherrscht, sondern sein Ansatz ganz im Gegenteil auch zu diesem Zeitpunkt stets gegen das Modell Debord steht. Die beiden müssen sich permanent miteinander auseinandersetzen und gerade dadurch kann das Modell Jorn seine Richtigkeit, seine produktive Stimmigkeit unter Beweis stellen - auch wenn sich letztendlich das Modell Debord durchsetzt. Der Spieler Jorn ›verliert‹ hier gegen den Strategen Debord, dabei zieht sich der Spieler jedoch strategisch zurück, und der Stratege lässt den Spieler spielerisch verschwinden. Und ganz zuletzt scheint es doch der Spieler zu sein, der wieder die Oberhand gewinnt, da am Schluss selbst Debord im letzten détournement der Selbstaufhebung der S.I. wieder spielerischer zu werden scheint.
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Die Ungleichgewichte, die sich gegenseitig nur situativ in ein Gleichgewicht bringen lassen und somit für einen permanenten Prozess des konfrontativen Aushandelns sorgen, bringen eine produktive Streitkultur hervor, in deren Praxis eine vielfältige und selbst wiederum bewegliche Theorie entstehen kann.6 Der Aspekt der produktiven Streitkultur und der Beweglichkeit, die Gegenüberstellung des skandinavischen und des lateinischen Denkens bei Jorn, die Abgrenzung einer Phase der Praxis der Theorie von einer der Theorie der Praxis bei Debord sowie in einem weiteren Schritt die Gegenüberstellung des Modells Jorn und des Modells Debord führen zu einer weiteren interessanten Überlegung bezüglich des sich in der Entwicklung der S.I. verändernden Verhältnisses zwischen Theorie und Praxis. So ist erkennbar, dass lediglich in der ersten Phase Theorie und Praxis vereint sind. In einer gemeinsamen, streitbaren Praxis der Theorie entsteht eben diese Theorie und kommt als Praxis zur Anwendung. Nur in den Jahren bis 1962 ist sowohl innerhalb der Gruppe als auch in ihrem nach außen gerichteten Handeln eine wirkliche Übereinstimmung von Theorie und Praxis erkennbar. Demgegenüber entsteht in der Schlussphase aus einer wenig streitbaren Theorie der Praxis keine Praxis mehr. Nach außen ist eine solche Praxis nach 1968 gar nicht mehr erkennbar und im Inneren der Gruppe bleibt sie auf der Ebene der theoretischen Überlegungen einer möglichen Praxis stehen, während die konkrete Praxis in massivem Widerspruch zu den bisherigen Theoriepositionen steht.7 Dass dieser Praxis der Theorie in der Schlussphase der 6 | So gesehen erscheint Jorn auf seine Weise radikaler als Debord, da er am Kampf um die Idee, an der konfliktreichen Herstellung von Ideenräumen festhält und der Gruppe mehr Konflikte zumutet, ihr damit aber auch mehr zutraut. Debord ist zwar, wie die Anfangsjahre gezeigt haben, zunächst nicht weniger konfliktbereit, doch wird in der Entwicklung ab 1961/62 deutlich, dass sich seine Radikalität in erster Linie auf die Radikalität seiner Idee und ihrer Durchsetzung bezieht. Diese Radikalität jedoch sorgt indirekt dafür, dass das produktive Konfliktpotential mehr und mehr aus der Gruppe verschwindet bzw. entfernt wird. Während Jorn spielerisch und prozessorientiert vorgeht, agiert Debord strategischer und zielorientierter. Interessanterweise führt diese Zielorientiertheit Debords dazu, dass er in einigen Fällen in Personalfragen eine größere Kompromissbereitschaft und Geduld an den Tag legt als Jorn, der diesbezüglich oftmals radikaler erscheint und im Prozess des Zusammenbringens von Widersprüchen Kontakte teilweise ebenso abrupt wieder abbricht, wie er sie aufgebaut hat, wenn er feststellt, dass das Gegenüber nicht die erhoffte Reibungsfläche bietet. Debord beendet Beziehungen und Kontakte bei zu großer Differenz, Jorn hingegen dann, wenn sie auf einen reibungslosen Konsens oder Kompromiss hinauslaufen. 7 | Die in dieser pointierten Gegenüberstellung nicht skizzierte Phase zwischen 1962 und dem Mai 1968 ist dabei nicht nur zeitlich als Übergangsphase einzustufen, auch bezüglich des Verhältnisses von Theorie und Praxis ist hier ein stufenweiser Wandel erkennbar. Während im Handeln der S.I. nach außen - sei es in Straßburg oder in Paris - durchaus eine praktische Umsetzung der Theoriepositionen in eine Praxis und somit die Kohärenz dieser beiden Aspekte erkennbar ist, beginnen sich im Inneren der Gruppe bereits deutliche Probleme herauszubilden bzw. beginnt die Gruppenpraxis, immer mehr von der Theorie abzuweichen. Somit aber tut sich hier eine von der S.I. auch selbst als problematisch angesehene Inkohärenz zwischen dem internen und dem externen Handeln der Gruppe auf. Eine solche ist in der
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S.I. keine aus der Theorie der Praxis abgeleitete weiterführende Praxis (eine ›Praxis der Praxis‹) entgegengestellt werden kann, dürfte dabei auf verschiedene externe und interne Gründe zurückzuführen sein. Extern betrachtet dürfte der Aspekt von privat bzw. geheim und öffentlich entscheidend gewesen sein. Die relative Klandestinität der Anfangsphase ermöglicht es der S.I., sich auf die Entwicklung ihrer ›Angriffsstrategien‹, ihrer Methoden und ihrer Kritik zu konzentrieren. Der Fokus liegt auf der Arbeit innerhalb der Gruppe, aus der heraus die S.I. punktuell in die Öffentlichkeit tritt, um dort ihre Theorie, vor allem des détournement, in der Praxis zu überprüfen - und um sich gleich danach wieder in die Klandestinität zurückzuziehen. Sie taucht in dieser Phase lediglich punktuell auf, agiert aber die meiste Zeit im Verborgenen, im Schutzraum der eigenen Gruppe und ist noch nicht der ständigen BeobFrühphase in dieser Form nicht vorhanden und auch in der Schlussphase verschwindet sie wieder - hier allerdings im negativen Sinne der beiderseitigen Widersprüche zwischen Theorie und Praxis. Eine besonders interessante Figur in und für diese Übergangsphase ist Vaneigem. Er tritt im November 1960 ein und nimmt, was die enge Verbindung mit Debord angeht, in den folgenden Jahren bis ca. 1967 innerhalb der Gruppe mehr oder weniger die zentrale Stellung von Jorn ein. Im Zusammenspiel und in der Auseinandersetzung zwischen Vaneigem und Debord erfolgt nach dem Austritt der Künstler 1962 die theoretische Neuausrichtung der S.I., die 1967 mit der Traité Vaneigems und Debords Société du spectacle dann die zentralen Begriffe Alltagsleben und Spektakel in Buchform vorlegt. Auch was die inhaltliche Position Vaneigems angeht, kann er als Figur des Übergangs bezeichnet werden: Eingetreten ist er noch in der ›künstlerischen Phase‹ und nimmt in seiner Konzeption des Alltagslebens und der darin enthaltenen Potentiale das Moment der (dann nicht mehr nur künstlerischen) Kreativität wieder auf, arbeitet es im Laufe der Jahre zur Traité aus - und erhält der S.I. somit einen im weiteren Sinne künstlerisch-kreativen Aspekt. Parallel dazu jedoch vertieft Debord seine Arbeit am Begriff des Spektakels, der in seiner Rohfassung bereits beim Ausschluss der Künstler, aber auch bei demjenigen von Constant und den übrigen Architekten vorgelegen und eine Rolle gespielt haben dürfte. Die beiden zentralen diagnostischen Begriffe der S.I. werden im Wechselspiel und im Austausch zwischen Debord und Vaneigem entwickelt und ergänzen sich gegenseitig. Wie die bisherigen Ausführungen gerade zur Schlussphase der S.I. gezeigt haben, setzt sich jedoch sowohl in den theoretischen Diskussionen als auch in der Praxis letztendlich Debords Ansatz mehr und mehr durch. Damit einhergehend wird auch Vaneigem selbst zu einer immer kritischer bewerteten Figur innerhalb der S.I. Tritt man nun einen Schritt zurück, so ergibt sich eine weitere interessante Perspektive: Von außen und mit Blick auf die Gesamtentwicklung der S.I. betrachtet, lässt sich die Traité indirekt als eine Art Rückblick auf die Frühphase der S.I. - wenn nicht gar auf die L.I. - lesen. Sie bietet ein Programm, das innerhalb der Gruppe bereits praktiziert wurde und das im Mai 1968 nach außen noch einmal zur Praxis findet. Innerhalb der Gruppe kann es jedoch kaum noch praktiziert werden. Demgegenüber gibt die Société du spectacle, die in der Phase des Übergangs mehr als implizite Hintergrundfolie vieler Entscheidungen und Debatten gedient hat - auch wenn sie eine umfangreiche Auseinandersetzung mit vergangenen theoretischen und künstlerischen Ansätzen beinhaltet - die Marschrichtung für die Zukunft nach dem Mai 1968 vor. Eine Richtung jedoch für einen Marsch, der nicht mehr so recht in Tritt kommen will. Auch inhaltlich lässt sich die Dyade Debord-Vaneigem somit mit derjenigen von Debord und Jorn vergleichen: Debord als Vertreter des lateinischen Denkens mit Fokus auf der Theorie bzw. mit einer der Praxis vorangehenden Theorie, Vaneigem hingegen mit einem deutlicheren Fokus auf der Praxis der Kreativität bzw. mit einer Theorie, die teilweise als Rückblick auf eine bereits erfolgte Praxis innerhalb der Gruppe aufzufassen ist.
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achtung durch die Öffentlichkeit ausgesetzt. Genau mit einer solchen permanenten Beobachtung durch Anhänger wie auch durch Gegner, die mit der récupération Hand in Hand geht, hat die S.I. in der Schlussphase zu kämpfen. Diese macht einen Verteidigungsreflex notwendig, der mit einem Rückzug auf die theoretische Reflexion des Problems der récupération sowie auf die Frage nach der eigenen Außenwirkung und nach der Gestaltung der Außenkontakte einhergeht und der durch diese Außenfixierung die aktive inhaltliche Weiterentwicklung im Inneren erschwert.8 Neben dem Unterschied zwischen eher punktuellen und eher dauerhaften Außenkontakten sind zwei weitere Aspekte für den verschiedenartigen Umgang der S.I. mit diesen Kontakten - und zwar sowohl zu Verbündeten als auch zu Gegnern - ausschlaggebend: Einmal derjenige von freiwilligen aktiven Kontakten in der Anfangsphase und aufgezwungenen passiven in der Schlussphase. Die Kontakte zu den ›Gegnern‹ zum Beispiel in der Kunstsphäre in der Anfangsphase sind gewissermaßen ›Angriffe‹ der S.I. auf ihr Umfeld und haben stets die praktische Umsetzung des theoretischen Konzepts des détournement zum Ziel - sie sind notwendiger und aktiver Bestandteil der Praxis der eigenen Theorie. In der Schlussphase sind die Kontakte zwischen der S.I. und ihren ›Gegnern‹, zu denen in gewisser Weise auch ihre Anhänger zu zählen sind, ›Angriffe‹ dieser Gegner auf die S.I., gegen die sie sich vor dem Hintergrund der rein theoretischen Kategorie der récupération zu verteidigen versucht. Dieser Wandel des Charakters der Außenkontakte von Angriff und détournement zu Verteidigung und récupération ist eng mit dem zweiten Aspekt verbunden: Während es sich in der Frühphase 8 | Auch die Unterscheidung geheim/öffentlich lässt sich zumindest als relative für eine Phaseneinteilung der S.I. nutzbar machen. Auch wenn bereits die Kontakte zum Kunstmarkt eine gewisse Öffentlichkeitswirkung der Gruppe zur Folge hatten, lässt sich die Phase bis 1962 (oder gar 1965) als die geheime Konstitutionsphase bezeichnen, die ab Straßburg abgelöst wird von einer Phase des öffentlichen InErscheinung-Tretens. Diese Unterscheidung ist aber auch beim Blick auf die interne Funktionsweise der Gruppe erkennbar, wenn man versucht, geheim/öffentlich mit privat/öffentlich oder in einem weiteren Schritt mit interpersonell/formalistisch zu parallelisieren. Denn privat/öffentlich lässt sich nicht nur als Unterscheidung von innen und außen lesen, sondern kann auch zur Abgrenzung verschiedener Phasen in der internen Entwicklung der S.I. dienen, da die S.I. bis 1962 stärker von engen interpersonellen Beziehungen geprägt ist als gegen Ende. Diese Bedeutung interpersoneller Beziehungen verweist zugleich sowohl in der Dyade als auch im weiteren ›Freundeskreis‹ stets auf den Aspekt des Geheimnisses bzw. der Klandestinität. Auch wenn dieses ›Geheimnis‹ der S.I. im Sinne ihrer eigenen stets reproduzierten Legende beim Öffentlich-Werden nicht ganz verschwindet, so tritt es doch zurück gegenüber einer gewissen Transparenz und Kommunikation mit dem Umfeld - gerade weil dieses Umfeld nun versucht, die ›Legende S.I.‹ gegen sie zu wenden. Diese Aufgabe des Geheimnisses, das Heraustreten aus der Klandestinität fällt jedoch zeitlich mit einer schrittweisen Aufhebung auch der engen interpersonellen Beziehungen als zentraler Bindungskategorie innerhalb der Gruppe zusammen, die von 1962 an nach und nach von formalisierten und Transparenz einfordernden Beziehungsformen abgelöst werden. Die Veränderung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und die Veränderungen im Verhältnis der S.I. zu diesem Umfeld wirken sich hier deutlich auf die Gruppenstruktur aus.
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um, wenn man so will, funktionsteilige Außenkontakte zum Beispiel zum Kunstmarkt handelt, um Kontakte zu Gruppen und Personen, die Aufgaben für die S.I. übernehmen, die sie selbst nicht erfüllen kann, so haben wir es ab dem Skandal von Straßburg mit Kontakten zu gleichartigen Personen und Gruppen zu tun, die ebenfalls dem linken, politischen oder studentischen Milieu zuzurechnen sind, die aber diese Funktion für die S.I. nicht erfüllen können und sich für die S.I. auch durch einen détournement nur schwer nutzbar machen lassen, sondern die vielmehr die S.I. für ihre Zwecke gebrauchen wollen.9 Intern ist als Erklärung für diesen Wandel des Verhältnisses von Theorie und Praxis bei der inhaltlichen Arbeit vor allem die Veränderung der Mitgliederstruktur heranzuziehen sowie die diese Veränderung einlei9 | Die Frage nach der Abgrenzung der Gruppe nach außen ist stets auf engste mit dem Problem von Inklusion und Exklusion verbunden. Entscheidend ist die Frage ›zugehörig/nicht zugehörig?‹ - Inklusion und Exklusion sind hier also nicht gleichzusetzen mit dem Eintritt und dem Ausschluss aus der Gruppe. Dabei lassen sich bei der S.I. zwei Phasen unterscheiden, die vor allem durch den Grad der Sichtbarkeit bzw. der Außenwirkung der Gruppe charakterisiert sind. Anfangs geht es für die S.I. um die mit der inhaltlichen Positionsbestimmung verbundene Frage ›Wer sind wir und was wollen wir?‹ Die Gruppengrenze ist dabei vor allem für das Gruppeninnere von Bedeutung, stellt für das Innen das Zusammengehörigkeitsgefühl her. Dementsprechend ist eher die Inklusion als die Exklusion von Bedeutung, sie ist der Hauptmechanismus der Gruppenabgrenzung. Daher steht die Suche nach neuen Mitgliedern auf der Basis interpersoneller Beziehungen im Mittelpunkt. Hier geht es primär um die Konsolidierung (personell, inhaltlich und identitär) des Innen, die Außenwirkung ist zunächst sekundär. Ist die inhaltliche Positionsbestimmung jedoch abgeschlossen und die Frage nach Gruppenidentität halbwegs geklärt, verschiebt sich die Perspektive - nicht zuletzt, da von nun an die Gruppe mehr und mehr öffentlich in Erscheinung tritt und somit auf ihr Umfeld eine Anziehungskraft ausübt. Damit aber wird der Mechanismus der Inklusion umgestellt von der auf interpersonellen Beziehungen basierenden aktiven Annäherung der Gruppe an Beitrittsaspiranten zu einer passiveren Haltung der Gruppe, der sich ›ungefragt‹ Personen annähern. Dementsprechend wird der Mechanismus der Exklusion immer wichtiger und werden sich annähernde Personen auf der Basis formaler Kriterien zurückgewiesen. Der Schwerpunkt der Abgrenzung und Identitätsbildung der Gruppe liegt nicht mehr in ihrem Innern (›Wer sind wir?‹), sondern in der Abgrenzung gegenüber einem nichtzugehörigen Außen (›Wer sind wir nicht?‹). Die Gruppengrenze wird somit auch für das Außen immer wichtiger und immer sichtbarer und die Exklusion wird zum Hauptmechanismus der Gruppenabgrenzung. Zudem ist insgesamt erkennbar, dass die Abgrenzung in der frühen Phase viel mehr eine Abgrenzung von verschiedenen Gegnern ist, während sich später der Schwerpunkt dieses Sich-Abgrenzens verlagert auf die Abgrenzung gegenüber Anhängern und Unterstützern. Die S.I. kämpft nun in punkto Inklusion/Exklusion gewissermaßen an zwei Fronten. Zudem lässt sich die Frage der Inklusion/Exklusion einer Vielzahl von Anhängern nur auf der Basis von formalisierten Kriterien schlüssig vermitteln bzw. beantworten, nicht aber auf Grund von Sympathie/Antipathie, da die für eine so begründete Auswahl notwendige interpersonelle Nähe zwischen einem Mitglied der Gruppe und einem außenstehenden Anhänger nur in den seltensten Fällen gegeben ist. Das nach dem Skandal von Straßburg und dem Mai 1968 immer wichtiger werdende Problem der Abgrenzung von Anhängern der S.I. trägt somit auch zur fortschreitenden Formalisierung im Inneren der Gruppe bei und sorgt indirekt dafür, dass das, was sich da abgrenzt, sich in diesem Prozess der Abgrenzung im Inneren strukturell und inhaltlich so verändert, dass es sich selbst in das verwandelt, wovon es sich abgrenzt oder ursprünglich abgrenzen wollte.
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tende und durch sie dann wiederum verstärkte Verringerung der Differenztoleranz und der Streitkultur. Der Austritt von Jorn bildet dabei sowohl den Auftakt als auch bereits den entscheidenden Wendepunkt in dieser Entwicklung, die nach den Ausschlüssen der SPUR und der ›Nashisten‹ im März 1962 dann abgeschlossen ist. Bevor wir zu den Folgen dieser Vereinheitlichung kommen, wollen wir kurz abbiegen und einige Überlegungen zu den Hintergründen bzw. zum Prozess dieser Umstrukturierung der S.I. vom Wegesrand aufsammeln. Der Vorgang der inhaltlichen Vereinheitlichung lässt sich positiv formuliert auch als Herausbildung einer Gruppenidentität beschreiben und eine solche Gruppenidentität ist leichter herauszubilden und stabiler, wenn sich die Frage ›Wer sind wir und was wollen wir?‹ mit einer, möglichst eindeutigen Aussage beantworten lässt. Im Modell Debord hat das ›Wir‹ eine Stimme und wer diese Tonlage nicht trifft, kann nicht Teil der Gruppe sein. Im jornschen Modell hingegen wäre die Antwort ebenso vielstimmig und widersprüchlich wie der Kreis der Fragesteller, die Gruppenidentität wäre hier gerade eine Vielfalt, würde sich als Vielfalt konstituieren. Das ›Wir‹ ist hier ein Wir, das sich aus immer noch deutlich erkennbaren und voneinander abgegrenzten individuellen Personen zusammensetzt. Das verbindende Element, die wirkliche Gruppenidentität ist eher darin zu sehen, dass sich alle beteiligten Individuen auf eben diese unbestimmte Widersprüchlichkeit einlassen und sich in sie einbringen wollen. Die in der Anfangsphase vorherrschende Unbestimmtheit der Positionen und Ziele einer neu gegründeten Gruppe begünstigt zunächst das Modell Jorn. Je deutlicher sich jedoch in dem auf die Gründung folgenden Prozess der Theoriediskussion die verschiedenen Positionen herauskristallisieren, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass eine dieser Stimmen den Anspruch erhebt, die gemeinsame Stimme zu werden. Doch noch ein weiterer Faktor ist entscheidend dafür, dass sich letztendlich das Modell Debord und zugleich seine Position in der Gruppe durchsetzt und somit bereits das angelegt ist, was zum Schluss das Hauptproblem der S.I. wird: dass sie fast nur noch mit der Stimme Debords spricht. Dieser zweite Faktor ist der Eintritt von Constant in die S.I., da er, wenn auch mit inhaltlich abweichenden Positionen, eher ein Vertreter des Modells von Debord ist. Constant ist für Debord somit ein wichtiger Mitstreiter in der Auseinandersetzung mit Jorn - ein Mitstreiter, der umso wertvoller ist, als er zugleich gewissermaßen zwischen Debord und Jorn anzusiedeln ist. Mit Jorn teilt er die Wahrnehmung der S.I. als Ansammlung von Widersprüchen und Konflikten; das vereinigende Moment liegt auch für ihn zunächst weniger in einer Übereinstimmung bezüglich der theoretischen Positionen als vielmehr in einer gemeinsamen Abneigung gegen das Umfeld. Die S.I. hat für Constant daher den Charakter eines ›Negativzusammenschlusses‹, eines Schutzraums gegen das von den Mitgliedern auf verschiedenen Feldern kritisierte gesellschaftliche Umfeld. Zugleich jedoch liegt er eindeutig auf der Linie von Debord, da er diesen negativen Zusammenschluss für nicht
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ausreichend und vor allem die in der S.I. erkennbare Vielfalt und Fragmentierung für problematisch hält und einer derjenigen ist, der sie ganz massiv durch Ausschlüsse zu vereinheitlichen sucht. Es geht ihm, wie Debord, um die Herausbildung einer Position - allerdings im Sinne der Durchsetzung der eigenen Idee. Diese Ähnlichkeit in der Vorgehensweise und Zielsetzung von Constant und Debord führt letztendlich jedoch gerade zur Spaltung zwischen den beiden. Beide halten an ihrer Position fest, versuchen sie mit allen Mitteln gegen die andere durchzusetzen, anstatt sie miteinander in produktive Wechselwirkung treten zu lassen. Was sich hier bereits andeutet, ist der im Modell Debord von Beginn an angelegte Aspekt des Machtkampfs verschiedener Positionen, die auf ihre Durchsetzung drängen. Während Jorns Ansatz darauf abzielt, innerhalb der Gruppe Freiräume für den Einzelnen aufrecht zu erhalten - nicht zuletzt, um das oft skizzierte und auch von ihm selbst in diversen Vorgängergruppen erfahrene Problem der ›Sozialität der Solitären‹ etwas zu entschärfen - und so gerade durch Offenheit die Bindung des Einzelnen an die Gruppe zu stärken, enthält Debords Ansatz von Beginn an die Figur des Einzelnen als Souverän und somit das der Gruppe als Pluralität von Souveränen. Eine Vielzahl von Souveränen jedoch innerhalb einer Gruppe vereinigen zu wollen, erscheint äußerst problematisch, haftet doch der Figur des Souveräns ein Alleinvertretungsanspruch oder gar totalitärer Charakter an. Denn eine solche Grundstruktur duldet kein Nebeneinander verschiedener Positionen, sondern drängt auf die Durchsetzung der jeweils eigenen und setzt die Machtfrage und somit den Aspekt von Über- und Unterordnung auf die Tagesordnung. Jorns vielfältiges Neben- und Gegeneinander ist somit wesentlich einfacher als egalitäre Struktur vorstellbar, als die von Debord und Constant angestrebte eine Position, die das Ergebnis eines Durchsetzungsprozesses eben dieser einen gegen andere Positionen ist und somit stets ein hierarchisches bzw. zumindest nicht egalitäres Moment beinhaltet. Und diese nicht-egalitäre Grundstruktur findet sich nicht nur im Prozess der Durchsetzung einer Position, sondern setzt sich auch weiter fort, da der Beitritt zur Gruppe in der Folgezeit ein Akzeptieren der bestehenden Position voraussetzt - und somit eine Unterordnung unter deren Vertreter wahrscheinlicher erscheinen lässt, als in dem Falle, wenn wie beim Modell Jorn ein neues Mitglied gerade deshalb in die Gruppe aufgenommen wird, weil es eine neue, abweichende Position in sie einbringen kann. Dieses Problem der Unterordnung bzw. ihrer Kritik bringt jedoch permanent Konfliktpotential in die Gruppe hinein, ein Konfliktpotential, das sich aber in erster Linie im Streit um strukturelle Probleme der Gruppe und nicht in der produktiven Auseinandersetzung um verschiedene inhaltliche Positionen und deren mögliches Wechselspiel entlädt. Zudem ist dieser Streit von Beginn an ein Streit unter Ungleichen, ein Streit mit vorhersehbarem Ausgang, ein Streit, der auf seine Beendigung abzielt, während Jorns Modell einen Streit unter Gleichen ermöglicht, dessen
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Ausgang wesentlich offener ist und der vor allem auf den produktiven Prozess des Streitens an sich ausgerichtet ist. Mit dieser Verringerung der Theorievielfalt und der damit verbundenen nachlassenden Streitkultur bzw. der Umstellung von einer auf Streitprozesse und Positionsvielfalt abzielenden Streitkultur auf eine auf Streitbeendigung und die Durchsetzung einer Position abzielenden Streitkultur geht jedoch noch eine andere Veränderung einher: Die Vereinigung von Theorie und Praxis als Praxis der Theorie in der Frühphase ist explizit eine prozesshafte, ja sogar eine momenthafte Vereinigung. Sowohl die Praxis als auch die daraus entstehende Theorie sind im Entstehen begriffen, müssen stets im spannungsreichen Gruppenkontext verhandelt werden, verändern sich permanent und verändern auch die Gruppenstruktur permanent. Diese Praxis der Theorie ist eine permanente Konstruktion von Theorie- und Personalsituationen. Zudem ist diese Praxis der Theorie die Praxis einer Theorie, die selbst Praxis ist: Denn die theoretischen Konzepte, die zu dieser Zeit im Mittelpunkt stehen (dérive, Psychogeographie, unitärer Urbanismus, détournement, Situationskonstruktion etc.), sind allesamt zumindest auch Praxen der S.I. In der Frühphase hat man es also mit einer Praxis der Theorie der Praxis zu tun, die in einem spannungsreichen Gegeneinander ein prozesshaftes, momenthaftes Miteinander in einem offenen und Beweglichkeit ermöglichenden und erfordernden Raum zur Folge hat. Dieser Prozess der Praxis der Theorie endet jedoch mehr oder weniger direkt mit dem Übergang von der skandinavischen zur lateinischen Phase 1962. Die Widersprüche, die Spannungen lösen sich bzw. werden von den Vertretern des lateinischen Denkens gezielt aus der Gruppe verdrängt und in eine Unterscheidung zwischen innen und außen überführt. Damit aber nimmt auch die Beweglichkeit ab. Die Praxis der Theorie bzw. die Theorieentwicklung als Prozess von Widersprüchen und Ungleichgewichten scheint beendet zu sein. Aus der Theorie als Bewegung wird trotz aller anderslautenden Beteuerungen der S.I. die Theorie als Standpunkt. Allerdings ist anzumerken, dass in der Phase unmittelbar nach dem Ende der Widersprüche durchaus noch eine gewisse theoretische Beweglichkeit erkennbar wird. Diese bezieht sich jedoch auf die nun anstehende Ausarbeitung und Verfestigung des neuen und vor allem einheitlichen Standpunkts, ist nur noch eine relative Beweglichkeit innerhalb eines klar umgrenzten Raums.10 Ausgehend von dieser Theorie 10 | Diese Entwicklung von der S.I. als einem offenen zu einem immer mehr geschlossenen Raum - eine Wandlung, die mit Blick sowohl auf die Theorieentwicklung als auch auf die Gruppenstruktur zu beobachten ist und die diese beiden Aspekte eng miteinander verknüpft - lässt sich wiederum mit den Raumvorstellungen der beiden Protagonisten Jorn und Debord in Verbindung bringen. Jorn versteht Beweglichkeit als Aufeinandertreffen von Widersprüchen und ist, was Spannungen in der Gruppe angeht, risikofreudiger. Für ihn benötigt Beweglichkeit und Vielfalt einen relativ offenen Raum, in dem sich Bewegung als Moment, als Prozess spielerisch entfalten kann und die S.I. so selbst zum offenen Raum einer unbestimmten dérive werden kann. Demgegenüber ist Debords Verständnis von Beweglichkeit eher an
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als Standpunkt, wie sie implizit Mitte der 60er Jahre vorliegt, nun aber noch einmal eine bewegliche Praxis zu entwickeln, die sich noch dazu ab 1966 den sich radikal ändernden Umständen anpassen, ihnen immer noch voranschreiten und zudem das - zwar auch als Bestätigung der eigenen Gesellschaftsdiagnose, aber eben auch als Scheitern empfundene - Ende des Mai 1968 verarbeiten muss, erscheint jedoch Ende 1968 beinahe unmöglich. Die personellen Umstrukturierungen und die damit verbundenen Veränderungen bei den theoretischen Positionen und der Art und Weise der Theorieproduktion hat in der Schlussphase jedoch auch noch einen Widerspruch auf der Theorieebene bzw. zwischen Theorie und Praxis zur Folge. Denn die Theorie der Praxis, die die S.I. sich in dieser Phase laut Debord zum Ziel gesetzt hat, krankt an einem Widerspruch zu den eigenen theoretischen Grundpositionen: Sie hat ihre Beweglichkeit und ihre relative Unabhängigkeit verloren, das situative Moment ist abhanden gekommen, genauso wie die Konzeption und die Praxis der Theorieproduktion als Potlatch innerhalb der Gruppe nicht mehr umgesetzt werden kann. In der Frühphase entsprach die Praxis der Theorie der erst einen geschlossenen Raum gekoppelt. Ihm geht es um die Auflösung von Widersprüchen, um die Entwicklung einer Idee, die sich nicht spielerisch durch einen offenen Raum bewegt, sondern in einem eher umgrenzten Raum vorangetrieben wird. Er ist, was das Aufspannen von Theorie- und Personenräumen anbelangt, weniger risikofreudig und agiert mehr als Stratege denn als Spieler. Seine Beweglichkeit in einem tendenziell geschlossenen Raum hat viel stärker eine Richtung und ein Ziel, während es Jorn um die Bewegung an sich, um den konfliktreichen Weg durch einen offenen Raum geht. Dieses unterschiedliche Verhältnis zum Raum und seinen Offenheits-Potentialen lässt sich auch an Debords und Jorns eigenem Verhalten im realen Raum wiedererkennen: Debord ist eher statisch, Jorn hingegen sehr mobil. Ähnliches gilt für das eng mit Raumfragen verbundene Verhältnis zur Zeit - gerade im Hinblick auf die gewählten Kommunikationsformen. Zeit ist für Debord der Raum der Umsetzung einer präexistenten Idee: Er schreibt, hält fest, macht nachlesbar und macht damit die Idee zum Ausgangspunkt der Bewegung durch Zeit und Raum. Für Jorn hingegen ist Zeit der Raum, in dem eine noch nicht existente Idee entstehen kann. Dementsprechend ist er ein Mann des Wortes, bewegt sich durch den Raum, fixiert nicht, weil das erst im Entstehen Begriffene nicht fixierbar ist. Interessanterweise findet sich bereits 1959 in Debords Sur le passage de quelques personnes à travers une assez courte unité de temps eine Äußerung, in der er selbst auf die oben skizzierten Hierarchie-Probleme und die einschränkende Wirkung der Gruppe als einem geschlossenen Raum hinweist - und das zu einem Zeitpunkt, zu dem die S.I. noch relativ offen ist und diese Äußerung eher als kritischer Rückblick auf die L.I. zu lesen ist. »Quand elle s’exerce dans un circuit fermé, la liberté se dégrade en rêve, devient simple représentation d’elle-même.« (Debord (1959d), S. 475.) Genau zu einem solchen geschlossenen Raum hat er selbst aber in der Folgezeit die S.I. gemacht oder werden lassen. Denn auch die letzte scheinbar verbliebene ›Offenheit‹ der S.I. - in Form von Eintritt, Austritt und Ausschluss - dient nach dem Austritt Jorns mehr der Abschließung des Gruppenraums als seiner wirklichen Öffnung, eher seiner Fixierung als seiner Beweglichkeit. Lediglich die Auflösung der Gruppe, ihre Aufhebung lässt sich als ein Versuch Debords lesen, die für die S.I. als Gruppe nicht mehr zu erreichende Öffnung doch noch umzusetzen, die Gruppe als geschlossenen Raum aufzuheben und sie ins Offene zu überführen. Vor diesem Hintergrund verweist Debords Aufhebung der S.I. implizit auf Jorns Konzeption von offenem Raum und Bewegung.
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in dieser Theorie prozesshaft entwickelten Forderung nach Prozesshaftigkeit und Situativität, während die Theorie der Praxis das mittlerweile erstarrte theoretische Konstrukt der Situativität kaum noch umsetzen kann - wohl auch, weil diese Situativität genauso wie der Ideenpotlatch innerhalb der Gruppe abhanden gekommen ist. Eine Position ist weniger beweglich, als zusammengezwungene Widersprüche. Ein noch offener Theorie-Raum ermöglicht mehr Beweglichkeit, als ein geschlossener. Die Klandestinität ermöglicht mehr Bewegung, mehr Experiment als die Öffentlichkeit und die damit einhergehende Notwendigkeit der Außenpositionierung oder gar der Selbstverteidigung. Die Beweglichkeit der S.I. fällt somit, wenn man so will, einerseits ihrer personellen Umstrukturierung zum Opfer, die selbst wiederum das Ergebnis oder Nebenprodukt der Entstehung eben dieser beweglichen Theorie war. Und andererseits fällt sie dem ›Erfolg‹ ihrer bis dato entwickelten Positionen und ihrer Außenwirkung zum Opfer. Sie fällt mehr und mehr der récupération anheim, spektakularisiert sich - und verweist somit indirekt nochmals auf die Notwendigkeit und auf die inhaltliche ›Richtigkeit‹ ihrer Theoriepositionen bzw. vor allem ihrer Analysekategorien und ihrer Gesellschaftskritik.
5.5 Wie du mir, so ich dir: Potlatch, Streit, Freundschaft Auch wenn bislang zur Beschreibung der innerhalb der S.I. ablaufenden Prozesse vor allem der Begriff des Streits herangezogen wurde, so ist doch auch der Begriff des Potlatch und sein Zusammenbruch in verschiedenen Zusammenhängen bereits erwähnt worden. Bei ihm gilt es noch einmal kurz zu verweilen und ihn und seine Funktion für die S.I. präziser herauszuarbeiten. Dabei ist vor allem seine Verbindung mit dem Phänomen des Streits zu verdeutlichen, aber auch auf seine Nähe zu den übrigen Theoriekonzepten der Gruppe wie zum Beispiel dem détournement oder der Situationskonstruktion hinzuweisen. Zudem haben wir - nachdem bislang vor allem die Unterschiede zwischen dem jornschen und dem debordschen Denken herausgearbeitet wurden mit dem auch und gerade von Debord praktizierten und eingeforderten Potlatch eine Kategorie an der Hand, die das jornsche Denken in Ungleichgewichten auch als wichtigen Aspekt des Denkens und Handelns von Debord erkennbar macht. Auch wenn dieses Denken in Ungleichgewichten von Debord im Rahmen des Potlatch eher dyadisch und nicht wie bei Jorn in triolektischen Konstellationen konzipiert wird, kann es - jenseits aller übrigen Unterschiede und Differenzen zwischen den beiden Protagonisten der Frühphase der S.I. - eine Erklärung für die Produktivität dieser Dyade liefern. Der Potlatch als Struktur von sich gegenseitig steigerndem Geben und Nehmen basiert ganz fundamental und auf verschiedenen Ebenen auf dem Prinzip des Ungleichgewichts. Als Prozess ist er ein kontinuier-
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liches Aneinanderreihen, ein Sich-Ablösen verschiedener punktueller Ungleichgewichte, im Moment erzeugt er stets eine asymmetrische Konstellation. Erst in der Gesamtschau, im Rückblick wird deutlich, dass diese Vielzahl von asymmetrischen Konstellationen insgesamt auf ein Gleichgewicht, auf eine symmetrische Anordnung verweist. Im Falle seines Funktionierens verbindet der Potlatch somit auf interessante Weise Asymmetrie und Symmetrie oder verbindet, genauer gesagt, Momente der Asymmetrie, des Ungleichgewichts und der Differenz zu einer Struktur der Symmetrie, des Gleichgewichts und der Übereinstimmung. Diese Struktur jedoch ist keine starre, sondern eine, die aufgrund ihrer asymmetrischen Konstitutionseinheiten nach stetiger Fortführung und Veränderung verlangt. Die für den Potlatch grundlegende Struktur der situativen Asymmetrie bzw. des Ungleichgewichts erstreckt sich dabei auf zwei Ebenen, auf eine inhaltliche und eine zeitliche, die insgesamt drei Arten von wechselnden Ungleichgewichten entstehen lassen. Entscheidend ist dabei zunächst die zeitliche Ebene, da diese für die Fortführung des Potlatch und somit für sein Gelingen als aus Asymmetrien Symmetrie bildender Prozess von zentraler Bedeutung ist. Im Kern setzt sich der Potlatch zusammen aus den zeitversetzten Akten von Gabe und Gegengabe, aus einer riskanten Vorleistung und deren späterer Beantwortung. Es wird hier durch die Gabe bewusst ein Ungleichgewicht hergestellt, eine Situation der Asymmetrie konstruiert, in der der Andere handeln muss und diese Gabe im Idealfall durch eine Gegengabe erwidert und aufhebt. Doch diese Beantwortung der Gabe durch die Gegengabe bringt den Potlatch nicht zum Stillstand, sondern trägt aktiv zu seiner Fortführung bei, denn sie selbst stellt wieder ein Ungleichgewicht her, da Gabe und Gegengabe sich voneinander unterscheiden müssen. Die Gesamtsymmetrie des Potlatch entsteht somit durch eine Verkettung bewusst hergestellter und aufeinander Bezug nehmender Asymmetrien. Die einzelne Situation der Asymmetrie ist dabei stets nur Durchgangsort, sie beinhaltet nicht nur eine Anknüpfungsmöglichkeit, sondern vielmehr eine unausgesprochene Anknüpfungsaufforderung zur Herstellung der - bezüglich der Richtung der Asymmetrie dann spiegelverkehrten - Folgesituation. Diese Grundstruktur von Gabe und Gegengabe ähnelt derjenigen von Frage und Antwort, allerdings nur dann, wenn die Antwort auch wieder eine Gegenfrage beinhaltet und so die Rollen zwischen Fragesteller und Antwortgeber hin und her wechseln. Der Potlatch ließe sich als eine abstrakte Art des Dialogs bzw. der dialogischen Kommunikation auffassen und weist so eine deutliche strukturelle Nähe zu der von der S.I. stets geforderten authentischen Kommunikation auf.11 Somit aber 11 | Diese strukturelle Ähnlichkeit zwischen dem Potlatch und der authentischen Kommunikation verweist noch auf einen weiteren interessanten Aspekt: auf die primär dyadische Ausprägung beider Prozesse, die ihrerseits in einem weiteren Schritt auf klassische Freundschaftskonzeptionen hindeutet. Egalitärer Tausch und authentische Kommunikation sind gerade für dyadische, freundschaftliche Beziehungen eine
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lässt sich der Potlatch auch als Kritik an spektakulären Umgangs- und Kommunikationsformen lesen. Denn die für die spektakuläre Kommunikation charakteristische Trennung von Sender und Empfänger, die eine Festlegung der Kommunikationsrichtung zur Folge hat, wird im Potlatch aufgehoben. Zwar lässt sich bei den Beteiligten in der jeweils konkreten Situation bzw. der einzelnen Asymmetrie ein Gebender und ein Nehmender unterscheiden, doch durch die dem Potlatch implizite permanente wechselseitige Umkehrung dieser Rollenverteilung und die wesentliche Bedingung und dürften umgekehrt in einem solchen engen Rahmen auch wesentlich einfacher umzusetzen sein als im komplexeren Kommunikationsnetz einer Gruppe. Dies bedeutet aber mit Blick auf die S.I. zum einen, dass sie enorm hohe Anforderungen an ihre Mitglieder stellt, wenn sie verlangt, diese Art der Kommunikation auch auf der Gruppenebene umzusetzen. Dieser Anspruch wird zudem noch dadurch gesteigert, dass die zunächst dyaden-basierte authentische Kommunikation, auch wenn sie sich nicht darauf beschränken lässt, sich sowohl als dyadische als auch in ihrer erhofften Erweiterung vor allem in einer Face-to-faceKonstellation entwickeln und etablieren kann. Eine solche ist jedoch im Rahmen einer international zerstreut agierenden Gruppe auf Dauer nur sehr schwer herzustellen bzw. ist bei der S.I. zu erkennen, dass die Intensität des direkten Kontakts zwischen den Sektionen in der Anfangsphase deutlich höher ist als in der Spätphase - auch hier spielt der reisende und netzwerkende Jorn eine wichtige Rolle. In der Spätphase hingegen spielt sich der persönliche Kontakt mehr und mehr innerhalb der Sektionen ab, während die übrigen Beziehungen weitgehend auf den für Missverständnisse wesentlich anfälligeren Postweg beschränkt sind. Zum anderen bietet dies einen weiteren Erklärungsansatz, warum sich die Kommunikationsstrukturen innerhalb der Gruppe mit dem Verschwinden der zentralen dyadischen Konstellationen der Anfangsphase (zu denken ist hier zum Beispiel an Debord und Jorn, an Constant und Debord, an Constant und Jorn, an Jorn und Pinot-Gallizio, an Debord und Pinot-Gallizio sowie etwas weniger klassisch dyadisch an Jorn und die SPUR) immer weiter von diesem angestrebten Ideal entfernt. Zugleich jedoch ist erkennbar, dass Debord auch nach dem Umbruch von 1961/62 gerade versucht, solche recht engen dyadischen Beziehungen fortzuführen. So fällt auf, dass Debord, nachdem die Dyade mit Jorn innerhalb der S.I. nicht mehr fortgeführt werden kann, in der Zeit bis 1964 sehr eng mit Vaneigem verbunden ist und mit ihm und gegen ihn die theoretische Neupositionierung in Richtung Spektakel und Alltagsleben vornimmt. Diese Dyade verliert ab 1964 an Bedeutung und wird abgelöst von der engen Zusammenarbeit zwischen Debord und Khayati bis 1969, der seinerseits dann von Sanguinetti ›beerbt‹ wird. Unterhalb der von ihm ins Zentrum gestellten Arbeit in der Gruppe legt Debord also während der gesamten Existenz der S.I. großen Wert auf dyadische Beziehungen zu einzelnen Mitgliedern - sei es wie bei Constant, Jorn, Vaneigem, Khayati und Sanguinetti als reale, persönliche Nahbeziehung oder wie im Falle Chtcheglovs als, darum nicht weniger intensive, Beziehung aus der Ferne. Dennoch sind hier zwei wichtige und für das Zusammenbrechen der authentischen Kommunikation bzw. des Potlatch wichtige Unterschiede zwischen der Anfangsund der Schlussphase der S.I. erkennbar. Anfangs haben wir es mit einer Vielzahl von sich überlagernden und überkreuzenden Dyaden zu tun, die nicht alleine von Debord ausgehen. Und es handelt sich um Dyaden, die nicht nur auf Einverständnis basieren, sondern ihren Reiz häufig vielmehr aus der Differenz gewinnen. In der späten Phase hingegen sind enge dyadische Konstellationen zum einen weniger zahlreich, zum anderen sind sie fast grundsätzlich um Debord herum konstruiert. Vor allem aber sind diese Dyaden - wie auch die gesamte Gruppe -, nun viel stärker auf der inhaltlichen Übereinstimmung als auf Abweichung aufgebaut. Die anfangs erkennbare produktive Wirkung der Bindungskraft dyadischer Strukturen für die Entwicklung einer für die Gesamtgruppe förderlichen Streitkultur kann sich hier nicht mehr entfalten.
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damit einhergehende ständige Änderung der Richtung von Gabe und Gegengabe wird dieser Unterschied im Potlatch zu einem rein situativen und wird somit insgesamt aufgehoben. Vor diesem Hintergrund ist der Potlatch selbst wiederum als détournement spektakulärer Umgangsformen aufzufassen. Diese Wahrnehmung des Potlatch als Kritik am Spektakel wird noch verstärkt, wenn man berücksichtigt, dass er ganz fundamental auf den Aspekten der Freiwilligkeit und des Vertrauens basiert, die für den stets riskanten Akt einer Gabe ›ins Ungewisse‹ notwendig sind. Er ist ein Akt des freiwilligen, informellen Tauschs, bietet keine Sicherheit, keine Garantie, nur das Jetzt oder Nie der leidenschaftlichen Gabe und grenzt sich somit als auf individuellen Handlungen beruhende Verkettung von Situationen fundamental von der auf Dauer und Erwartbarkeit abzielenden spektakulären Ökonomie und Kommunikation ab. Der Potlatch impliziert eine bewusste Ebene der Zeitlichkeit und der Vergänglichkeit, er ist Bewegung, aktualisiert sich stets nur im Moment der riskanten Vorleistung, die die Spannung und das Ungleichgewicht aufbaut, das seine Fortsetzung und seine dialogische Struktur ermöglicht. Diese dialogische Struktur des Potlatch, seine Konzeption als sich gegenseitig herausforderndes punktuelles Ungleichgewicht von Gabe und Gegengabe, das seinen Fortgang ermöglicht, beinhaltet stets den Aspekt der Überbietung und der Steigerung. Dies verweist zum einen auf die Notwendigkeit einer gewissen Leidenschaftlichkeit im Agieren der Beteiligten und somit auf die situationistische Forderung, die im Alltagsleben verborgen schlummernden Begierden auszuloten und auch der in vielerlei Hinsicht bei den Situationisten erkennbare Aspekt der Maßlosigkeit wird hier zumindest angeschnitten. Zum anderen lässt sich in einem weiteren Gedankensprung eine Parallele ziehen zu dem auch beim Wechselverhältnis von détournement und récupération erkennbaren Spiel von Frage und Antwort, Gabe und Gegengabe, von Vorsprung und Eingeholt- oder Überholt-Werden, von der gegenseitigen Steigerung der beiden Mechanismen. Wenn auch der Aspekt der Freiwilligkeit und der interpersonnelle Charakter des Tauschs fehlen, so ließe sich das Verhältnis zwischen détournement und récupération in Bezug auf seine grundlegende Struktur und Funktionsweise ebenfalls mit dem Begriff des Potlatch beschreiben - als Potlatch zwischen der S.I. und der Gesellschaft, der allerdings einen wesentlich strategischeren - um nicht zu sagen kriegerischeren - Charakter hat, als der teilweise spielerisch anmutende interne Potlatch. Genau zu diesem internen Potlatch und den dabei zentralen Ungleichgewichten gilt es noch einmal zurückzukehren und einen weiteren Aspekt in den Blick zu nehmen, der zu ihrer Entstehung beiträgt. Die Ungleichgewichte entstehen nicht nur durch die jeweils versetzte zeitliche Struktur von Gabe und Gegengabe, sie erstrecken sich auch auf die inhaltliche Ebene, auf das, was im Prozess des Sich-gegenseitigÜberbietens ausgetauscht wird. Auch wenn der Potlatch innerhalb der
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S.I. in erster Linie auf der Ebene der Theorieproduktion stattfindet, ein Ideen-Potlatch ist, so werden doch bei weitem nicht nur Ideen ausgetauscht. Gerade in den Anfangsjahren gibt es viele Personenkonstellationen innerhalb der Gruppe, in denen ganz unterschiedliche Dinge getauscht werden und nicht nur eine Idee gegen eine andere gestellt wird. Neben den Ideen sind dabei materielle Dinge wie Geld oder Infrastruktur, aber auch halbmaterielle wie Kontakte, Organisationsleistungen und Netzwerkstrukturen wichtige Tauschgüter. Im Potlatch werden somit ganz verschiedene Güter eingebracht oder Leistungen erbracht, die in ihrer Unterschiedlichkeit für die Existenz der Gruppe allesamt maßgeblich sind, da auch eine Gruppe, deren Hauptziel die Theorieproduktion ist, die Theorie ohne Kontakte bzw. Netzwerke und ohne finanzielle Mittel weder umsetzen noch nach außen kommunizieren kann. Diese Vielfalt an notwendigen Tauschgütern erklärt die Bedeutung, die in dieser Phase Mitglieder wie Constant oder Pinot-Gallizio für die Gruppe haben, da sie beide sowohl über die für ihre Projekte notwendige Infrastruktur als auch über gute Netzwerke gerade im Bereich der Kunstsphäre verfügen. Vor allem aber verdeutlicht dies die zentrale Stellung gerade von Jorn, der im Grunde genommen das einzige Mitglied ist, das alle inhaltlichen Felder des Potlatch bedienen kann: Er unterstützt die Gruppe durch den Verkauf seiner Werke in entscheidendem Ausmaß finanziell, bietet ihnen in Skandinavien mit seinem Landgut Drakkabygget einen infrastrukturellen Sammelpunkt und ist ein europaweit agierender leidenschaftlicher Netzwerker, der eine Vielzahl von für die S.I. wesentlichen Kontakten herstellt. Da er darüber hinaus jedoch auch noch einen ganz zentralen Beitrag zur Konzeption der Funktionsweise der Gruppe und vor allem zu ihrer Theorieproduktion leistet, ist er - mehr noch als Debord, dem zumindest die infrastrukturellen und finanziellen Mittel fehlen - die Schlüsselfigur innerhalb der Gruppe und der prototypische Vertreter der Idee eines multidimensionalen und leidenschaftlich-beweglichen Potlatch. Doch auch auf der Kernebene des Potlatch der S.I., auf dem Feld der Ideen, ist die Entstehung und Perpetuierung von Ungleichgewichten maßgeblich von der Unterschiedlichkeit der Tauschgüter, in diesem Fall der eingebrachten Ideen abhängig. Denn von einem Ideentausch, von einem Dialog, kann nur dann die Rede sein, wenn von den Beteiligten auch tatsächlich voneinander abweichende Positionen eingebracht werden. Diese müssen gegeneinander gestellt werden, die eine muss die andere zur Folge haben und diese Tauschreihe fortsetzungswürdig erscheinen lassen. Es geht gerade nicht darum, die beiden Ideen zur Deckung zu bringen oder zu vereinheitlichen - dies würde zur Beendigung des Potlatch führen und aus einer beweglichen Kette von Situationen einen unbeweglichen Zustand machen -, sondern es geht darum, sie im Prozess des Potlatch als sich gegenseitig bedingende Einzelsituationen fortzuführen und sie gerade durch ihre Widersprüchlichkeit als zusammengehörig, als ein bewegliches Gegeneinander anzuerkennen.
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Dies verweist auf die strukturelle Ähnlichkeit zwischen dem Ideenpotlatch und dem Streit bzw. zwischen dem primär von Debord in die S.I. eingebrachten Konzept des Potlatch und dem jornschen Denken in Widersprüchen. Zugleich liefert dieser Aspekt jedoch einen möglichen Anhaltspunkt für das innerhalb der Gruppe zu beobachtende Nachlassen und das schließliche Ende des Potlatch. Denn auch wenn es Debord ist, der das Prinzip des Potlatch innerhalb der S.I. maßgeblich vertritt, der zu einer Vielzahl von Gaben bereit ist, sich gewissermaßen für die Gruppe verausgabt, so duldet oder fördert er doch innerhalb der Gruppe eine Entwicklung, die dem Ideenaustausch nach und nach die Grundlage raubt. Denn sein - vor allem von Constant unterstütztes - strategisches Handeln zur Durchsetzung einer Position aus der anfänglichen Positionsvielfalt hat die Verarmung genau dieser für das Fortbestehen des Ideenpotlatch unverzichtbaren Widersprüche zur Folge. Um die einem solchen Potlatch von Widersprüchen sicherlich immanente Gefahr einer gegenseitigen Blockade der Gegensätze zu umgehen, scheint sich Debord unter Mithilfe von Constant für die Vereinheitlichung der Positionen zu entscheiden, um die Beweglichkeit und die Handlungsfähigkeit der Gruppe zu gewährleisten und ihre Zersplitterung zu verhindern. Dadurch jedoch entsteht eine Situation, in der sich das Konzept des Potlatch kaum noch oder gar nicht mehr realisieren lässt. Denn seit dem Austritt von Jorn und dem Ausschluss sämtlicher Künstler ist die S.I. inhaltlich, zumindest was die ›großen Fragen‹ angeht, bereits so vereinheitlicht, dass im Grunde genommen - und schematisch gesprochen nur noch die Gabe A mit der identischen Gegengabe A erwidert werden kann - damit aber wird der Tausch unproduktiv, erzeugt nichts, sondern bestätigt bloß Bestehendes und kommt so zum Erliegen. Doch es ist nicht nur zu beobachten, dass der Potlatch innerhalb der S.I. bereits ab 1962 mehr und mehr zum Erliegen kommt, zugleich ist auch eine scheinbar gegensätzliche Bewegung erkennbar: Debord selbst nämlich scheint, was sein Verhalten und sein Engagement in der Gruppe und seine Forderungen an die übrigen Mitglieder betrifft, nach wie vor an diesem Konzept und seiner Umsetzung, an der Praxis der leidenschaftlichen Gabe festzuhalten. Doch genau diese Umsetzung kann vor dem Hintergrund der skizzierten mangelnden Differenzen nicht mehr im gleichen Ausmaß gelingen wie in den produktiven Anfangsjahren. Die als ›Tauschgüter‹ zur Verfügung stehenden Ideen gleichen sich immer mehr an, und in dem Maße, wie die Produktivität des Potlatch nachlässt, scheint er für die meisten Mitglieder an Reiz zu verlieren und die Bereitschaft, sich an einem solchen - häufig anstrengenden streitbaren Tausch zu beteiligen, sinkt immer weiter ab. Dadurch aber, dass Debord nach wie vor versucht, einen Potlatch in Gang zu bringen, entstehen innerhalb der Gruppe Strukturen, die der Grundidee dieses Tauschs widersprechen und vor allem in der Schlussphase gewissermaßen zu seiner spektakulären récupération führen. Zum einen wird aus
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dem wechselseitigen Steigerungsverhältnis verschiedener Theoriepositionen ein bloßes Vorschlagen und Akzeptieren einer Position. Aus dem Wechselspiel von Gabe und Gegengabe wird eine Struktur von wiederholten Gaben und ihrer Annahme. Dadurch jedoch kann sich die anfangs nur situative und stets die Richtung ändernde Trennung von Gebendem und Nehmendem nicht mehr im Prozess des Potlatch aufheben, sondern verfestigt sich: Debord gibt, die anderen nehmen. Aus den Ungleichgewichten wird kein Gleichgewicht mehr, aus den Asymmetrien bildet sich insgesamt keine symmetrische Struktur mehr heraus, aus dem wechselseitigen Dialog wird ein einseitiger Diskurs. Der zunächst als détournement spektakulärer Kommunikations- und Austauschstrukturen konzipierte und praktizierte Potlatch - und in seiner Folge die S.I. selbst - bricht in seiner ursprünglichen Form zusammen. Dabei ist es gerade der vor allem von Debord immer wieder vergeblich unternommene Versuch, ihn wieder in Gang zu bringen, der in der Folge dazu führt, dass sich innerhalb der Gruppe mehr und mehr diskursive, einseitige und letztendlich nicht-egalitäre Strukturen ausbilden. Neben diesen strukturellen Aspekten bzw. Problemen des Ideenpotlatch wurden im Verlauf dieser Überlegungen jedoch bereits weitere eher individuelle und personenbezogene - Aspekte angedeutet, die diesen Austausch charakterisieren und auf seine Verwobenheit mit dem Phänomen des Streits, aber auch mit dem der interpersonellen Beziehungen und der Freundschaft hinweisen. Diese Verbindungen jedoch sind ihrerseits ein weiterer Anhaltspunkt für das Verständnis des langsamen Niedergangs des Ideenpotlatch innerhalb der Gruppe. Wie eingangs skizziert, basiert der Potlatch auf der riskanten Vorleistung der Gabe ohne eine einklagbare Gegengabe. Er ist ein von einem Vertrauensvorschuss gekennzeichneter informeller Akt. Genau dieser Aspekt der Freiwilligkeit, die Struktur des Potlatch als leidenschaftliches Geben mit der nur impliziten Bitte um eine Erwiderung verbindet ihn mit dem Begriff der Freundschaft. Denn diese ließe sich ebenfalls als Potlatch auf verschiedenen Ebenen beschreiben: Auch die Freundschaft ist als Geben und Nehmen zu verstehen, das eine nicht-ausbeutende Haltung der Beteiligten, eine nicht zu hinterfragende Selbstverständlichkeit des Gebens aber auch des Nehmens voraussetzt, um auf dieser Basis aus den wechselnden Ungleichgewichten von Gabe und Gegengabe im Zeitverlauf ein Gleichgewicht, eine symmetrische Struktur entstehen zu lassen. Diese Ähnlichkeit zwischen Potlatch und Freundschaft, die es nahe legt, im Potlatch eine der grundlegenden Freundschaftspraxen zu sehen, führt zu der These, dass es zumindest auch die zwischen verschiedenen Mitgliedern in der Anfangsphase der S.I. erkennbaren relativ engen interpersonellen Beziehungen sind, die den Potlatch ermöglichen oder erleichtern. Die Freundschaft ermöglicht das Vertrauen in das Gegenüber, das für die erste Gabe notwendig ist, auf ihrer Basis kann sich die Haltung des leidenschaftlichen Gebens bzw. der Wunsch, zu geben, was
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man zu geben vermag, entwickeln. Doch nicht nur für die Bereitschaft zur Gabe ist die dem Potlatch in dieser Anfangsphase quasi vorgeschaltete Freundschaft hilfreich. Denn die prinzipiell egalitäre Konzeption einer solchen Beziehung erhöht auch die Fähigkeit zum Aushalten der durch die Gabe entstehenden temporären Asymmetrien und sorgt so dafür, dass der Potlatch nicht so schnell als gescheitert angesehen wird. Doch die entstehenden Asymmetrien können auf diese Weise nicht nur länger ausgehalten werden, auch ihr Ausmaß kann größer sein. Widersprüchliche Positionen stellen den Grundzusammenhalt der Freundschaftsdyade nicht gleich in Frage, im Gegenteil, im Verständnis von Debord aber auch von Jorn gehört gegenseitige Kritik zu den Kernaspekten und zentralen Anforderungen an die Freundschaft. Diese steht somit dem Potlatch der Kritik nicht im Weg, sondern begünstigt, ja fordert ihn vielmehr. Freundschaft und Streit sind in dieser Wahrnehmung kein Widerspruch, sondern der Streit ist wichtiger Bestandteil einer produktiven Freundschaft. Der innerhalb der S.I. zu beobachtende Zusammenbruch des Potlatch, die inhaltliche Vereinheitlichung, die nachlassende Streitkultur und das Wegfallen von für die Gruppe zentralen Freundschaftsdyaden bedingen sich somit gegenseitig. So dürfte zum Beispiel die mangelnde Streitkultur und der Zusammenbruch des Potlatch in der Schlussphase auf die fehlenden dyadischen Verbindungen und die Bindekraft der Freundschaften zurückzuführen sein. Wenn nur noch die inhaltliche Kohärenz für die Mitgliedschaft und den Verbleib in der Gruppe eine Rolle spielt und diese zudem als Wert an sich angesehen wird, so verschwindet der Wille zur Abweichung. Die zusätzliche Bindekraft der Freundschaft in der Frühphase hingegen ermöglicht mehr Abweichung, mehr Auseinandersetzung. Sie ist die Zentripetalkraft gegen die Zentrifugalkraft des Streits. Umgekehrt erschwert die mangelnde Streitkultur und die fehlende offene Kritik ihrerseits die Herausbildung stabilerer interpersoneller Beziehungen, da sie eine Atmosphäre von gegenseitigen Verdächtigungen und Intransparenz entstehen lässt. Dabei ist zu beachten, dass der Begriff des Potlatch und seine Anwendung auf die Gruppenprozesse noch aus der Zeit der L.I. stammt und dann von der S.I. übernommen wurde. Es ist daher zu fragen, inwieweit er sich jenseits von Debords und Jorns Verhalten in der S.I. wirklich etablieren konnte und ob er nicht primär auf dieser von der Leidenschaftlichkeit des Widerspruchs zusammengehaltenen Dyade basierte. Denn eines fällt gerade beim Blick auf Debords Verhalten auf: Nur im Zusammenspiel mit oder gegen Jorn duldet er über längere Zeit hinweg Widersprüche, nur hier gehört Abweichung zum Spiel dazu, nur hier entfaltet sich der Potlatch wirklich als produktives Ungleichgewicht verschiedener Positionen. Diese enge Bindung des Potlatch an die Existenz interpersoneller Beziehungen und das zeitlich parallel verlaufende schrittweise Verschwinden beider Aspekte aus der S.I. führt zu einer weiteren Frage bezüglich der Konjunkturen des Potlatch. Denn auch die mit den Wandlungen der
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interpersonellen Beziehungen verbundene Veränderung der Organisationsstruktur ist als Faktor und Ergebnis dieser gegenseitigen Beeinflussung zu berücksichtigen und den oben genannten Aspekten hinzuzufügen. Der Potlatch ist eine explizit informelle Praxis, deren Umsetzung vor allem in der relativ informellen Anfangsphase der S.I. erfolgt, während sie innerhalb der stärker formalisierten S.I. der späten Phase kaum noch zu beobachten ist bzw. ihr Nicht-Funktionieren implizit den Kern der Organisationsdebatte um Hierarchie, Egalität, Beteiligung etc. ausmacht. Dabei verdeutlicht gerade das Scheitern von Debords Initiativen zur Wiederankurbelung des Potlatch, dass dieser nicht eingefordert oder beschlossen werden kann, sondern auf einem individuellen Ethos der Gabe basieren muss und er somit ›von sich aus‹ aktiv aus den Begierden des Alltagslebens und nicht als verordneter Widerstand gegen die spektakuläre Gesellschaft entstehen muss. Damit aber ist der Potlatch in hohem Maße abhängig von denjenigen, die ihn tragen oder eben nicht tragen. Und genau diese Bereitschaft zum Potlatch scheint bei vielen Mitgliedern gerade nach dem Mai 1968 nicht mehr vorhanden zu sein - nicht zuletzt, da in ihrem Fall die Grundform der in der S.I. erkennbaren interpersonellen Beziehungen keine egalitäre mehr ist, sondern die der Lehrer-Schüler-Dyade. Dieses Wegbrechen der egalitären Konzeption der Dyade als kleinster ›Konstruktionseinheit‹ der Gruppe jedoch erschwert den Potlatch zusätzlich auch auf der strukturellen Ebene und verhindert so ein Wieder-Aufbrechen der etablierten nicht-egalitären Strukturen in das nur noch temporäre Ungleichgewicht des Potlatch. Insgesamt verweisen alle diese vielfältigen Vernetzungen auf die enge und wechselseitige Verflechtung der Entwicklung auf der Ebene der theoretischen Positionen bzw. der Art und Weise der Theorieproduktion und den Veränderungen auf der Ebene der an dieser Theorieproduktion beteiligten Personen, ihrer interpersonellen Beziehungen und der daraus resultierenden Gruppenstruktur. So wie die Theorie aus der Gruppe hervorgeht, geht auch die Gruppe aus der Theorie hervor.
5.6 Ent-Täuschung und Enttäuschung: Situationskonstruktion Das zentrale und namensgebende theoretische Konzept der S.I. ist bislang noch nicht explizit dargestellt worden, wir haben seinen Weg aber bereits mehrfach gekreuzt - zum Beispiel bei der Darstellung des détournement, aber auch im Zusammenhang mit den Begriffen des Spektakels und des Potlatch. Die Rede ist von der Situationskonstruktion, die sich sowohl als konkrete Methode als auch in ihrer Funktion als den Methoden der dérive und des détournement übergeordnete Kategorie als Kernaspekt des situationistischen Denkens ausmachen lässt. Vor dem Hintergrund der zentralen Stellung, die die Situationskonstruktion bei der S.I. einnimmt, gilt es nun zu fragen, inwiefern sich diese Methode
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auch auf der Ebene der eigenen Gruppe als Praxis wiederfindet, inwiefern sich ihre Anwendung nach außen auf die Gruppenstruktur auswirkt. Dabei lassen sich grob vier mögliche Szenarien entwickeln: Erstens ist in einem Gedankenspiel zu fragen, inwiefern die S.I. als Ganze als konstruierte Situation aufzufassen ist. Zweitens soll skizziert werden, ob und wie diese Methode innerhalb der Gruppe auf der Ebene der Mitglieder zum Einsatz kommt, ob sich also die S.I. als eine Vielzahl aneinander gereihter Personen-Situationen beschreiben lässt. Drittens soll diese Frage der Anwendung der Situationskonstruktion innerhalb der Gruppe von der Personenebene auf die der Theorieproduktion übertragen und skizziert werden, ob die Gruppe somit auch als eine Verkettung unterschiedlicher Theorie-Situationen darstellbar ist. Viertens gilt es auszuführen, inwiefern die S.I. insgesamt als Situationskonstrukteurin nach außen auftritt, welche Probleme daraus entstehen und wie diese mit der internen Anwendung dieser Methode in Zusammenhang zu bringen sind. Nehmen wir zunächst die S.I. als Ganze, als von 1957 bis 1972 existierendes Konstrukt, in den Blick. Inwiefern lässt sich eine Gruppe, die immerhin knapp 15 Jahre bestand, als Situation, als konstruierte Situation beschreiben? Auch wenn 15 Jahre eine ›lange Situation‹ darstellen, so ist beim Blick auf die S.I. doch festzustellen, dass zentrale Charakteristika der konstruierten Situation auch bei ihr erkennbar sind. Denn der Gruppe ist von Beginn an, sowohl durch ihre Zuordnung zum Feld der Avantgarde als auch insbesondere durch die von ihr entwickelten theoretischen Ansätze und ihre interne Praxis, der Aspekt der Beweglichkeit, der Vergänglichkeit und letztendlich des Verschwindens immanent. Sie ist weder als starres Konstrukt noch für die Ewigkeit konzipiert. Dies gilt sowohl für die einzelnen Mitgliederkonstellationen als auch für die Gesamtexistenz der Gruppe. Die S.I. ist sowohl für ihre jeweiligen Mitglieder als auch als Gruppe im weiteren Kontext der Avantgarde ein Durchgangsort und ähnelt somit, was ihren Bezug zur Zeitebene betrifft, strukturell der konstruierten Situation. Doch auch inhaltlich lassen sich Parallelen ausmachen. So ist die S.I. ein explizit kollektives Projekt und zwar eines, das sich nicht als starrer Handlungsrahmen für seine Mitglieder versteht, sondern diesen einen Handlungs(spiel)raum bieten und sie zur kreativen Aktivität anregen möchte. Es gilt, die Situation zu schaffen, in ihr zu agieren, sie zu verändern, anstatt sie nur zu interpretieren. Somit ist auch der formale Aspekt der Konstruktion deutlich erkennbar, denn eine Gruppe wie die S.I. ›passiert‹ nicht einfach, sie wird bewusst gegründet. Eine solche bewusste Gründung konstruiert einen neuen Rahmen, einen Zusammenhang, einen Raum, in dem bislang unverbundene Personen aufeinander treffen, handeln, verhandeln usw. Dieser Wille zur Konstruktion eines neuen kritischen Handlungsraumes, einer neuen Situation der Kritik wird auch dadurch von der S.I. verdeutlicht, dass ihr Gründungstext - wenn man einen solchen ausmachen will - Debords theoretischer Entwurf zur Konstruktion von Si-
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tuationen ist. Dessen vollständiger Titel Rapport über die Konstruktion von Situationen und die Organisations- und Aktionsbedingungen der internationalen situationistischen Tendenz verweist zudem explizit auf den Zusammenhang zwischen der Situationskonstruktion und den Fragen nach den Handlungsmöglichkeiten und der Organisationsstruktur der diese Theorie umsetzenden Gruppe. In der Gründung der S.I. als Situationskonstruktion wird also bereits ihr Charakter als konstruierte Situation angedeutet und darauf hingewiesen, dass sowohl ihre Struktur als auch ihre Praxis nicht unabhängig von diesem zentralen theoretischen Konzept zu sehen sind. Werfen wir noch einen kurzen Blick auf die Probleme, die sich aus Sicht der S.I. bei der Situationskonstruktion ergeben können und die sich im Kern auf die Trennung zwischen Situationskonstrukteuren und denen, für die eine Situation konstruiert wird, beziehen - auf die Trennung also zwischen aktiv und passiv, aus der sich im Falle ihrer Perpetuierung sehr schnell asymmetrische bzw. nicht-egalitäre Strukturen entwickeln können. Bei den theoretischen Überlegungen zur Methode der Situationskonstruktion werden diese Probleme von der S.I. jedoch nur als Anfangsschwierigkeiten aufgefasst; das Problem der skizzierten Trennungen soll sich im Laufe der Zeit immer mehr abschwächen, da immer mehr Personen sich aktiv an der Situationskonstruktion beteiligen und letztendlich alle zu Situationskonstrukteuren werden und zugleich konstruierte Situationen erfahren. Die S.I. geht somit von einer Ausweitung der Praxis der Situationskonstruktion aus, die dann die anfängliche deutliche Trennung auflöst, sie in eine nur momenthafte Trennung überführt und so aus der einzelnen Situationskonstruktion einen Potlatch von Situationskonstruktionen macht. Nehmen wir nun die S.I. wieder versuchsweise als konstruierte Situation in den Blick, so ist hier eine gegenteilige Tendenz erkennbar. Das Problem der Trennung zwischen aktiv und passiv ist sowohl bei der Gründung als auch bei der Entwicklung in den ersten Jahren viel weniger deutlich erkennbar als in der späteren Phase. Zwar haben sich auch zu Beginn nicht alle Mitglieder an der Konstruktion der S.I. beteiligt, aber der Anteil der aktiven Personen gegenüber den passiven war hier deutlich höher als gegen Ende. Es ist hier ähnlich wie beim Potlatch im Laufe der Jahre ein deutliches Nachlassen der aktiven Beteiligung auszumachen. Dies lässt sich darauf zurückführen, dass sich die Bezugsebenen der Situationskonstruktion im Laufe der Jahre verschieben bzw. multiplizieren: Ist die S.I. in der mehr oder weniger klandestinen Anfangsphase vor allem eine Situationskonstruktion von und für ihre eigenen Mitglieder, so tritt neben diese Ebene im Laufe der Jahre mit der zunehmenden öffentlichen Sichtbarkeit noch der Aspekt der S.I. als konstruierter Situation für andere bzw. aus dem Blickwinkel ihres Umfelds. Da aber auf die Details dieser Entwicklung und auf ihre möglichen gruppeninternen und gruppenexternen Ursachen an anderer Stelle noch genauer eingegangen wird, sollen diese Überlegungen hier zurückgestellt werden.
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Abschließend sei hier nur noch knapp auf die im Zusammenhang mit der Situationskonstruktion problematische Figur der passiven Randgestalt verwiesen. Denn solche Randgestalten gab es in der S.I. bereits direkt nach der Gründung, was der These von der Gründung als relativ problemfreier Situationskonstruktion zu widersprechen scheint. Dieser Einwand lässt sich zwar nicht vollkommen entkräften, seine Bedeutung kann jedoch mit zwei Argumenten etwas relativiert werden. Zum einen führt diese Existenz der Randgestalten der Anfangsphase nicht zur dauerhaften Etablierung von nicht-egalitären Verhältnissen, da diese Mitglieder die Gruppe relativ schnell wieder verlassen haben oder sie verlassen mussten. Sowohl sie selbst als auch die S.I. scheinen sich ihrer Stellung als Randgestalten und der daraus möglicherweise entstehenden Probleme bewusst gewesen zu sein und sie nicht kaschieren zu wollen. Damit unterscheiden sich die frühen Randgestalten deutlich von den späteren. Denn diese verbleiben wesentlich länger in der Gruppe, setzen alles daran, ihre Passivität zu verschleiern oder sie auf strukturelle Probleme innerhalb der Gruppe zurückzuführen, um ihre Mitgliedschaft aufrechtzuerhalten. Zum anderen erfüllen die passiven Mitglieder in der Anfangsphase auch in ihrer Passivität noch eine theoretische Funktion für die S.I. und sind somit, wenn auch nur indirekt, für die Gruppe durch ihre bloße Mitgliedschaft aktiv ›tätig‹: Diese Mitglieder sollen schlicht die Mitgliederzahl vergrößern, der konstruierten Situation S.I. mehr Bedeutung verleihen. Ein zweiter Zugang, die S.I. und ihre Entwicklung mit ihrem Theoriekonzept der Situationskonstruktion gegenzulesen, besteht darin, nicht die S.I. insgesamt als eine konstruierte Situation aufzufassen, wie es bislang und nicht ohne Schwierigkeiten versucht wurde, sondern sie als Aneinanderreihung einer Vielzahl konstruierter Situationen zu betrachten, als eine permanente Konstruktion und Aktualisierung von Situationen. Dabei erscheint es sinnvoll, zunächst zwischen der Ebene der Gruppenstruktur und derjenigen der Theorieproduktion zu differenzieren, um dann in einem zweiten Schritt die Zusammenhänge zwischen diesen beiden Anwendungsfeldern der Situationskonstruktion innerhalb der Gruppe zu skizzieren. Im Folgenden steht daher die Situationskonstruktion auf der Gruppen- und Personenebene im Mittelpunkt, die S.I. und ihre Entwicklung sollen somit als eine Aufeinanderfolge einer Vielzahl von auseinander hervorgehenden Personal-Situationen betrachtet werden. Dabei lassen sich die im Fokus der vorliegenden Arbeit stehenden Bewegungen von Eintritt, Austritt und Ausschluss als ein solcher Versuch der Situationskonstruktion auffassen. Durch die Gründung und in ihrer Folge durch jeden neuen Eintritt in die S.I. werden Menschen relativ überraschend und in neuen Konstellationen zusammengebracht, in der Absicht, aus dieser Vereinigung, aus diesem Handlungsraum neues und kritisches Potential entstehen zu lassen. Die Situationskonstruktion als punktueller, momenthafter Vorgang soll die spektakuläre Routine
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durchbrechen, soll den spektakulären Schein ent-täuschen. Dabei ist der Aspekt der Herstellung einer neuen Situation sowohl für die Gruppe als auch für den Einzelnen deutlich erkennbar: Der Einzelne erfährt im Moment seines Eintritts sehr deutlich sowohl eine De- als auch eine Rekontextualisierung; doch auch für die Gruppe entsteht durch seinen Eintritt eine neue Konstellation, wird die bisherige Situation von einer neuen abgelöst, verschiebt sich der Handlungsraum, kommt es zu einer gezielten Ent-Täuschung sowohl der spektakulären Routine, als auch derjenigen, die sich innerhalb einer zu lange unveränderten Gruppenstruktur ausbilden kann. Die Anknüpfungen und Parallelen zu den Ausführungen zum détournement bzw. zum Eintritt und Ausschluss als détournement sind hier nicht nur rein zufällig, handelt es sich doch beim détournement um eine der zentralen Praxen zur Konstruktion von Situationen, um einen Mechanismus der Ent-Täuschung, der Umkehrung. Sowohl die konstruierte Situation als auch der détournement richten sich stets gegen etwas und tragen zugleich auch selbst ihre eigene Aufhebung in sich. Sie sind Momente, die Anknüpfungen, Steigerungen und Bewegungen notwendig machen, sie sind weder Ziel noch Zweck, sondern Prozess. Dabei ist beim Vorgang des Eintritts erkennbar, dass an dieser Art der Situationskonstruktion beide Seiten in gleicher Weise beteiligt sind, da man der S.I. weder ungefragt beitreten kann, noch ungefragt zum Mitglied gemacht wird - das Problem einer Trennung zwischen aktiven Konstrukteuren und passiven Konsumenten der Situation ist in diesem Falle zumindest zwischen Eintretendem und Gruppe nicht zu erkennen. Es lässt sich jedoch innerhalb der Gruppe ausmachen, da gerade die Eintritte ein meist wenig transparenter Vorgang sind, der nicht allen Mitgliedern der Gruppe kommuniziert oder mit ihnen abgestimmt wird, sondern vielfach auf den der Mitgliedschaft vorausgehenden interpersonellen Beziehungen eines oder mehrerer Mitglieder zum Beitrittskandidaten beruht. Hier wird das Grundproblem der Situationskonstruktion deutlich erkennbar: Einzelne Mitglieder konstruieren eine neue Personal-Situation für die Übrigen. Auch in diesem Fall ist eine Entwicklung erkennbar, die der beim Potlatch skizzierten ähnelt. Anfangs ist das Problem der Trennung nicht so gravierend, da es sich lediglich um temporäre Trennungen handelt, um Asymmetrien, die sich jedoch von Eintritt zu Eintritt wieder verschieben können, da in den Jahren bis 1962 mehr oder weniger alle Mitglieder abwechselnd an der ›Anwerbung‹ neuer Mitglieder beteiligt sind. Genau diese sich ausgleichenden temporären Asymmetrien verschwinden mehr und mehr, verfestigen sich zu einer dauerhaften Trennung zwischen aktiven und passiven Mitgliedern, da die Aufgabe der Aufnahme oder Ablehnung einem immer kleiner werdenden Personenkreis und schließlich mehr oder weniger Debord alleine übertragen bzw. stillschweigend überlassen wird. In ähnlicher Weise lassen sich Austritt und Ausschluss als Situationskonstruktion auf der Gruppenebene beschreiben - und auch an dieser
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Stelle sind strukturelle Ähnlichkeiten mit dem détournement erkennbar. Allerdings gibt es hier einige wesentliche Unterschiede zur Bewegung des Eintritts, die sich in erster Linie wieder auf die Frage der Trennung zwischen aktiv und passiv Beteiligten beziehen. Zwar ist auch beim Austritt und beim Ausschluss zunächst festzustellen, dass die Situationskonstruktion sowohl für das einzelne Mitglied als auch für die Gruppe erkennbar ist, jedoch unterscheiden sich die beiden Wege aus der S.I. grundlegend bezüglich der Rollenverteilung in dieser Bewegung - ein Aspekt, der an anderer Stelle unter dem Stichwort der Entscheidungsmacht diskutiert wurde. Während es beim Austritt das einzelne Mitglied ist, das für sich und die Gruppe eine neue Konstellation erzeugt, ist es beim Ausschluss die Gruppe, die eine neue Personal-Situation konstruiert. Bei beiden Vorgängen ist somit eine klare und vor dem Hintergrund der theoretischen Konzeption der Situationskonstruktion problematische Trennung zwischen aktiv und passiv zu erkennen, die sich zudem weder beim Austritt noch beim Ausschluss durch eine Überführung in nur temporäre Asymmetrien aufheben lässt. Im Gegenzug ist jedoch die beim Eintritt erkennbare Trennung innerhalb der Gruppe beim Ausschluss weniger deutlich. Dieser ist ein wesentlich transparenterer Prozess, an dem mehr Mitglieder beteiligt sind und bei dem die Entscheidung in den meisten Fällen als gemeinsame oder zumindest mehrheitliche Entscheidung getroffen wird und man sich so zusammen aktiv eine neue Personal-Situation innerhalb der Gruppe konstruiert. Zwar gibt es auch hier immer wieder einzelne Mitglieder, die einen Ausschluss besonders zu forcieren versuchen, doch wird diese Rolle vor allem in der Phase bis 1962 von wechselnden Personen eingenommen und führt somit lediglich zu temporären Asymmetrien zwischen aktiv und passiv Beteiligten. Dies ändert sich jedoch in der Schlussphase. Zwar werden auch hier die Ausschlussentscheidungen offiziell gemeinsam getroffen, sie haben jedoch aufgrund des Zusammenbruchs des Potlatch innerhalb der Gruppe mehr und mehr den Charakter von Einzelentscheidungen, die von den übrigen Mitgliedern abgenickt werden. Auch innerhalb der S.I. und auf der Ebene der Gruppenstruktur verweist die Praxis der Situationskonstruktion also stets auf das Problem der Trennung von aktiv und passiv, die die Grundlage zur Herausbildung nicht-egalitärer Strukturen bildet. Umgekehrt ist die Existenz nicht-egalitärer Strukturen ihrerseits eine denkbar ungünstige Ausgangslage für die Situationskonstruktion bzw. für deren Ausweitung als aktive Praxis aller Mitglieder. Theorie, Praxis und Gruppenstruktur der S.I. stehen also auch im Hinblick auf die Situationskonstruktion im Inneren der Gruppe in einem vielfältigen wechselseitigen Spannungsverhältnis. Auf einen weiteren Aspekt soll hier abschließend noch hingewiesen werden. Versucht man, die Eintritte, Austritte und Ausschlüsse als praktische Umsetzung der Theorie der Situationskonstruktion auf der Ebene der Gruppenstruktur aufzufassen, so wird deutlich, warum es in der
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gesamten Geschichte der Gruppe keine längere Phase der konstanten Gruppenzusammensetzung gegeben hat, sondern mehr oder weniger permanent Mitglieder neu hinzukommen oder die Gruppe wieder verlassen. Denn die konstruierte Situation ist, als Situation, nicht von Dauer, ist ein Durchgangsort, trägt - wie der détournement - ihre Umkehrung bereits von Beginn an in sich. Eine konstruierte Situation impliziert somit immer die Notwendigkeit einer Anknüpfungshandlung, der nächsten Situationskonstruktion - hier ist die inhaltliche Nähe zum Wechselspiel von détournement und récupération wieder offensichtlich.12 Auf die Ebene der Gruppenstruktur übertragen bedeutet dies aber die permanente In-Frage-Stellung bzw. Neuordnung dieser Struktur durch Eintritte, Austritte und Ausschlüsse. Genau diese Abfolge von konstruierten Personal-Situationen aktualisiert zugleich jedoch die Frage ›Wer sind wir und was wollen wir?‹ immer wieder und verweist somit direkt auf die inhaltliche Ebene der Theorieproduktion und beeinflusst diese in ihrer Entwicklung maßgeblich. Aufgrund der engen Verwobenheit der personellen Ebene mit derjenigen der Theorie erscheint es naheliegend, die Blickrichtung noch einmal zu ändern und auch die Theorieproduktion innerhalb der S.I. durch die Brille der Situationskonstruktion zu betrachten. Zwar lässt sich nicht zeigen, dass jede einzelne Konstruktion einer Personal-Situation auch eine neue Theorie-Situation zur Folge hat oder dass jede neu konstruierte Theoriesituation eine Umstrukturierung auf der Gruppenebene notwendig macht, dennoch sind, wie die bisherigen Ausführungen gezeigt haben, deutliche Zusammenhänge zwischen diesen beiden Bewegungen erkennbar und verdeutlichen den Charakter der Theorie als Produkt der Gruppe und umgekehrt der Gruppe als Produkt ihrer Theorie. Am sichtbarsten werden diese wechselseitigen Beeinflussungen bei der Diskussion um den unitären Urbanismus und dem Austritt von Constant bzw. dem Ausschluss der holländischen Architekten 1960; bei der Auseinandersetzung um die Rolle der Kunst und dem Austritt Jorns bzw. dem Ausschluss der SPUR und der ›Nashisten‹ 1961/62; bei der Problematik der Zusammenarbeit mit dem studentischen Milieu und dem Ausschluss der ›Garnaultins‹ 1966/67 sowie bei der Frage nach einer möglichen Ausweitung der revolutionären Bewegung und den Austritten und Ausschlüssen während der damit verbundenen Organisationsdebatte 1969/70. Vor allem jedoch wird beim Blick auf die Theorieproduktion als Situationskonstruktion deutlich, dass hier ähnliche Probleme auftreten wie bei der Situationskonstruktion auf der Gruppenebene, da auch hier das Problem der Trennung von aktiv und passiv ungelöst bleibt bzw. im Laufe der Entwicklung der Gruppe immer deutlicher als Problem sichtbar wird und schließlich zu ihrem theoretischen Kollaps führt. 12 | Zudem erschließt sich dadurch, warum sich die S.I. als Ganze nur strukturell bzw. bezüglich ihrer Grundidee als eine konstruierte Situation beschreiben ließ. Aus der theoretischen Konzeption der Methode der Situationskonstruktion heraus betrachtet, kann eine konstruierte Situation nicht 15 Jahre andauern.
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Das mit der Situationskonstruktion verbundene Problem der Trennung und Hierarchisierung zwischen Konstrukteuren und Empfängern der konstruierten Situation allgemein, aber auch seine relativ kontinuierliche Vergrößerung im Laufe der Entwicklung der S.I. lässt sich auch beim Blick auf die Theorieproduktion erkennen. Auch diese ist daher bestenfalls als Versuch der praktischen Umsetzung dieses theoretischen Konzepts innerhalb der eigenen Gruppe aufzufassen, dessen Entwicklung und mögliche Erklärungen für die dabei auftretenden Probleme es nun zu skizzieren gilt. Blickt man zunächst auf die Gründung und die Anfangsjahre der S.I., so liegt die Verbindung zwischen Situationskonstruktion und Theorieproduktion beinahe auf der Hand bzw. scheint die Theorieproduktion tatsächlich eine praktische Umsetzung dieses theoretischen Konzepts zu sein. Neben der Tatsache, dass Debords theoretische Ausführungen zu den Problemen der Situationskonstruktion der Gründungs- und Grundlagentext der neu entstandenen Gruppe sind, verweist auch die enorme Beweglichkeit der Theoriepositionen, das Auftauchen und Verschwinden einzelner Theorieaspekte im Prozess der Herausbildung eines gemeinsamen Standpunkts auf die konstruierte Situation als Durchgangsort. Des Weiteren tritt auch der Aspekt, dass Situationen stets etwas sind, das gegen etwas konstruiert wird, deutlich hervor, ist doch die Theorie der S.I. eine explizit kritische und in einigen Aspekten von Beginn an revolutionäre Theorie. Dies gilt jedoch nicht nur in dem Sinne, dass die Theorie der S.I. explizit gegen das Umfeld, gegen das Außen gerichtet ist - diese Abzweigung merken wir uns und werden ihr später folgen - sie ist auch, und das ist für die Lesart der Theorieproduktion als Situationskonstruktion in der Anfangsphase entscheidend, auch in ihrem Inneren gegen etwas gerichtet. Dieses interne ›Gegen‹ resultiert aus der anfänglichen Positionsvielfalt. Die einzelnen Mitglieder treten hier zunächst als Situationskonstrukteure ihrer jeweiligen Theoriesituation auf, es werden verschiedene Situationen gewissermaßen gegeneinander konstruiert. Die Positionsvielfalt, das Aushalten von Widersprüchen wirkt sich also auf die Situationskonstruktion ebenso produktiv aus, wie dies bereits im Hinblick auf die Streitkultur und den Potlatch gezeigt werden konnte. Denn die Existenz eines internen Widerparts, gegen den man die eigene Theoriesituation zu konstruieren hat, führt zu einer verhältnismäßig regen Beteiligung der Mitglieder an dieser Auseinandersetzung. Zu denken ist hierbei in erster Linie an Constant, Debord, Jorn und Pinot-Gallizio und etwas später dann auch an die holländischen Architekten, die ›Nashisten‹, die SPUR sowie an Kotányi und Vaneigem. Hier treten wechselweise beinahe alle Mitglieder als Situationskonstrukteure auf und werden zugleich mit den konstruierten Situationen der anderen konfrontiert. Dadurch entstehen Über-Kreuz-Konstellationen von Konstrukteur und Empfänger, in denen jeder mal die eine, mal die andere Position einnimmt und somit (vergleichbar wie beim sich auf verschiedene Felder erstreckenden Potlatch) insgesamt eben keine feste, sondern allenfalls eine tem-
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poräre, situative Trennung von aktiv und passiv entsteht, aus der sich zunächst keine deutliche und dauerhafte Hierarchie ausbildet. Die wenigen Mitglieder, die sich auch in dieser Phase nicht aktiv am Wettkampf der Situationen beteiligen und somit auf eine beginnende Trennung hinweisen, werden entweder schnell aus der Gruppe ausgeschlossen oder dürfen noch vorübergehend in ihr verbleiben, da sie auch als inhaltlich passive Figuren eine aktive strategische Funktion für die konstruierten Theoriesituationen besitzen, da sie die jeweilige Fraktion rein numerisch verstärken. Das ›Gegen‹, gegen das die Theorie-Situationen zu diesem Zeitpunkt konstruiert werden - und dies entspricht der Einschätzung dieser Phase als Phase der Klandestinität bzw. Ausbildung der Gruppenidentität -, ist dabei also erst sekundär das äußere ›Gegen‹, die primäre Abgrenzungsfolie sind zunächst die anderen Theorie-Situationen innerhalb der Gruppe. Dennoch ist das äußere ›Gegen‹ von Bedeutung für diese Phase der internen Situationskonstruktion, denn das hier zu beobachtende produktive, aber eben auch auseinandertreibende Gegeneinander konstruierter Situationen stellt die Gruppe vor eine permanente Zerreißprobe. Diese Zentrifugalkraft der gegeneinander konstruierten Situationen wird nun durch die Zentripetalkraft des äußeren ›Gegen‹ wieder abgeschwächt. Das zunächst sekundäre äußerliche ›Gegen‹ verweist jenseits der internen Widersprüche auf einen gemeinsamen Gegner, hält die Gruppe zusammen und ermöglicht somit in der Anfangsphase der S.I. gerade die produktive Konkurrenz verschiedener Theorie-Situationen. Die zweite wichtige Kraft, die diesen Wettkampf der Theorie-Situationen ermöglicht bzw. verhindert, dass dieser zur sofortigen Spaltung führt, sind zu dieser Zeit, wie schon mehrfach erwähnt, die interpersonellen Beziehungen. Diese tragen entscheidend dazu bei, dass sich die Mitglieder aktiv an dieser teilweise sehr harten inhaltlichen Auseinandersetzung beteiligen und die Bereitschaft an den Tag legen, die riskante Vorleistung der ersten Gabe im Potlatch oder auch die der Konstruktion der eigenen Theoriesituation zu leisten. Doch die Rolle der interpersonellen Beziehungen verweist nicht nur auf die strukturelle Nähe von Potlatch und Situationskonstruktion, sie sind im Hinblick auf die Situationskonstruktion auf Theorieebene noch in einer anderen Weise von Bedeutung: Sie tragen in der Anfangsphase dazu bei, dass das der Situationskonstruktion implizite Hierarchie- und Trennungsproblem nicht so deutlich zutage tritt wie gegen Ende der S.I. Zwar ist auch in der Anfangsphase der Konstrukteur der aktive und der Empfänger der passive Part in der Situationskonstruktion. Dabei ist jedoch, neben dem skizzierten nur situativen Charakter dieser Trennung, zu beachten, dass selbst in dieser punktuellen Trennung das passive Gegenüber des Situationskonstrukteurs aufgrund der freundschaftlichen Beziehungen stets als egalitär, als gleichwertig anerkannt und adressiert wird. Die egalitäre Konzeption der Beziehungen sowie die Bereitschaft zur Gabe, die für die Situationskonstruktion ebenso wichtig ist wie für den Potlatch, sorgen somit dafür,
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dass in der Anfangsphase der S.I. bei der Konstruktion von TheorieSituationen zum einen lediglich situative Trennungen bzw. Hierarchien auftreten und zum anderen deren nicht-egalitärer Charakter zusätzlich - in der Wahrnehmung der Beteiligten - noch abgeschwächt wird. Das in der Theorie der Situationskonstruktion skizzierte ›Anfangsproblem‹ dieser Praxis lässt sich bei der S.I. in den ersten Jahren also gar nicht oder nur sehr schwach ausgeprägt finden. Es tritt jedoch im weiteren Verlauf ihrer Entwicklung deutlicher hervor, die Trennung zwischen Konstrukteur und Empfänger der Theorie-Situation wird immer klarer und für die Gruppe immer problematischer. Die Entwicklung der Praxis der Situationskonstruktion auf Theorieebene innerhalb der S.I. kehrt somit die theoretisch skizzierte quasi um, und die Situationskonstruktion scheint mehr und mehr zur Sackgasse zu werden. Denn das anfänglich erkennbare Gegeneinander verschiedener Theorie-Situationen, das immer auch ein Nebeneinander und Miteinander dieser Positionen war, wird mehr und mehr zu einem Gegeneinander, das auf die Durchsetzung einer dieser Positionen ausgerichtet ist bzw. wird. Dadurch aber transformieren sich die wechselseitig situativen Trennungen zwischen aktiv und passiv in eine andauernde Trennung; aus den situativen, sich im Zeitverlauf ausgleichenden Asymmetrien entsteht eine andauernde Asymmetrie. Zudem kommt die vom Gegeneinander der Theorie-Situationen ausgelöste permanente Bewegung immer mehr zum Stillstand, die Durchgangsorte verschiedener Situationen werden im Moment der Durchsetzung einer dieser Positionen in der einen Theorie-Situation fixiert. Diese eine Theorie-Situation büßt in diesem Moment einen Großteil ihrer Beweglichkeit ein, wird von einer Situation als Durchgangsort zu einer Situation als Zustand. Dieser Verlust an Beweglichkeit und an Vielfalt bei der Theorieproduktion wirkt sich in der Folge dann immer negativer auf die Praxis der Situationskonstruktion auf der Theorieebene aus und sorgt dafür, dass die mit dieser Verfestigung ihren Ausgangspunkt nehmenden nichtegalitären Strukturen und Trennungen sich immer klarer abzeichnen und sich ebenfalls verfestigen. Denn die Durchsetzung der einen Position sorgt dafür, dass diese auch nach außen bzw. für die neu hinzukommenden Mitglieder immer sichtbarer und als fixierte Position wahrgenommen wird. Wurde man am Anfang durch den Eintritt Teil eines Prozesses, eines Widerstreits, einer Bewegung, die als durch die eigene Beteiligung veränderbare erfahren wurde, so tritt man nun einer Lehre bei. Ließ man sich anfangs auf ein offenes Experiment ein, so weiß man nun - oder meint fälschlicherweise zu wissen -, was man ›bekommt‹. Trat man anfangs einem offenen Raum sich überkreuzender Dyaden bei, so betritt man nun einen klar umgrenzten Raum einer Gruppe oder gar einer stark strukturierten Organisation. Somit aber befinden sich neue Mitglieder von Beginn an in der passiven Empfängerposition, sind Konsumenten einer schon zuvor konstruierten Situation, die zudem ihren situativen Charakter mehr und mehr verliert. Diese Schräglage
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und Wurzel der Trennung zwischen aktiv und passiv und die daraus entstehenden nicht-egalitären Verhältnisse innerhalb der Gruppe werden einerseits, wie skizziert, noch durch die fehlenden interpersonellen, als egalitär konzipierten Beziehungen verstärkt. Doch auch umgekehrt wird ein Zusammenhang erkennbar: Die Ausgangssituation beim Eintritt in die späte S.I. ist durch ihren von Beginn an hierarchischen Charakter eine denkbar schlechte Grundlage für die nachfolgende Herausbildung egalitärer Beziehungen innerhalb der Gruppe. Vor diesem Hintergrund ist es nicht weiter erstaunlich, dass die Bereitschaft, sich aktiv an der Konstruktion von Theorie-Situationen zu beteiligen, im Laufe der weiteren Entwicklung deutlich nachlässt. So ist seit dem Skandal von Straßburg bzw. seit dem Mai 1968 erkennbar, dass die Zahl der aktiven Konstrukteure stetig abnimmt, bis am Schluss eigentlich nur noch Debord übrig bleibt, während sich die übrigen Mitglieder größtenteils auf ihre Rolle als ›Situationskonsumenten‹ beschränken. Doch auch Debord selbst trägt zur Verfestigung dieser Strukturen bei, da er relativ lange am Konzept der Situationskonstruktion auf Theorieebene festzuhalten scheint, um dieser Theorie einen Rest an Beweglichkeit zu erhalten. Immer wieder konstruiert er auf der Theorieebene neue Situationen - und auch auf der Ebene der Gruppenstruktur ist dies erkennbar - und versucht, die übrigen Mitglieder aus ihrer Passivität herauszulocken. Doch gerade dadurch festigt er seine Position als Hauptkonstrukteur und Vordenker. Erst ganz gegen Ende scheint er sich dieser Mechanismen bewusst zu werden und verweigert von nun an die Situationskonstruktion nach dem bisherigen Muster. Doch am Konzept an sich hält er fest, konstruiert mehr und mehr Situationen, die sich explizit gegen die bisherige Trägheit richten, zum Beispiel als er von seinem Redakteursposten zurücktritt. Doch seine Hoffnung, dadurch die Konstruktion neuer Theoriesituationen durch die übrigen Mitglieder anzuregen oder zu erzwingen, erfüllt sich nicht, er zeigt dadurch lediglich, dass ohne seinen Einsatz gar keine Theorieproduktion mehr stattfindet. Auch die gesamte, mehr oder weniger von Debord im Alleingang bestrittene Organisationsdebatte lässt sich als ein weiterer Versuch von seiner Seite auffassen, innerhalb der S.I. eine Situation zu konstruieren, in der die Unterscheidung von Konstrukteuren und Empfängern aufgehoben wird. Doch auch und gerade dadurch verfestigt er weiterhin seine Position als Konstrukteur. Schließlich sieht er die Vergeblichkeit und Perspektivlosigkeit seines Unterfangens ein - und konstruiert eine letzte Situation: die der Aufhebung der S.I. Denn erst durch die Aufhebung der Gruppe verschwindet die Trennung zwischen aktiv und passiv, lassen sich die nicht-egalitären Strukturen auflösen, da von nun an alle (ehemaligen) Mitglieder zwangsläufig zu Konstrukteuren neuer Situationen außerhalb der S.I. werden. Doch auch hier bleibt Debord an der Spitze, denn er allein ist es, der die Situation der Aufhebung konstruiert und somit indirekt die Notwendigkeit dieser letzten Situationskon-
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struktion verdeutlicht. Diese paradoxe Situation bezüglich der durch die Situationskonstruktion auf Theorie- und auf Gruppenebene im Inneren entstehenden Probleme, lassen sich, wie gleich erkennbar wird, in vergleichbarer Form auch im Außenverhältnis der Gruppe, in ihrer Situationskonstruktion nach außen erkennen. Auf beiden Feldern kann das der Situationskonstruktion implizite Problem der Trennung und der nicht-egalitären Strukturen nur dadurch ›gelöst‹ werden, dass es sich ein letztes Mal manifestiert bzw. es in einer letzten Situationskonstruktion bewusst in Kauf genommen wird. Kehren wir zu der Abzweigung zurück, die wir weiter oben an uns haben vorbeiziehen lassen und fragen nach einer weiteren Anwendung der Situationskonstruktion. Ruft man sich die sogar namensgebende Zentralität des Konzepts der Situationskonstruktion in der Methodenpluralität der S.I. in Erinnerung, so liegt es nahe, nicht nur die S.I. intern sowohl im Hinblick auf Eintritt und Ausschluss als auch in Bezug auf die Theorieproduktion als permanente Situationskonstruktion bzw. als Aneinanderreihung konstruierter Situationen aufzufassen, sondern dieses theoretische Konzept auch als Grundlage ihres Handelns nach außen aufzufassen. Dieser Aspekt wurde durch den Verweis auf das äußere ›Gegen‹ der Situationskonstruktion bereits angeschnitten und soll nun etwas genauer in den Blick genommen werden. Denn die S.I. konstruiert nicht nur für sich selbst oder für ihre Mitglieder fortlaufend Situationen, sie tritt auch nach außen als Situationskonstrukteurin auf, als Konstrukteurin von Situationen, die auch hier stets gegen etwas konstruiert werden, die eine systematische und permanente Enttäuschung von Verhaltenserwartungen implizieren und so als der Kern des kritischen Potentials der Gruppe identifiziert werden können. Auch bei dieser Zielrichtung der Situationskonstruktion wird also deren enge Verwobenheit mit der Theorie und Praxis des détournement sehr deutlich. Durch diese neu hinzukommende Bezugsebene der Situationskonstruktion und die im Folgenden zu skizzierende Veränderung bzw. Verschiebung innerhalb dieses zweiten Anwendungsfelds wird jedoch auch die Verbindung mit dem Konzept der dérive erkennbar. Denn die Situationskonstruktion findet in einem mal konkreteren, mal abstrakteren Raum statt und bewegt sich in diesem Raum gegen diesen Raum. Sie versucht, neue Blickwinkel auf diesen Raum zu ermöglichen, ihn zu verändern und zu verschieben oder ihn gar auf den Kopf zu stellen. Sie will ihn seiner ursprünglichen Funktion und Funktionsweise entheben und ihn sich aneignen - ähnlich wie dies das Ziel der dérive und der Psychogeographie in Bezug auf den konkreten Stadt-Raum ist. Doch auch diese Abzweigung werden wir uns noch eine Weile merken müssen und verfolgen zunächst weiter den Weg der Situationskonstruktion. Auffällig ist dabei, dass es keinerlei Spuren von Situationskonstruktionen der S.I. im einfachsten Sinne des Wortes gibt, als Konstruktion von Alltagssituationen für Unbeteiligte, wie dies in den theoretischen Entwürfen als erstes Stadium der Situationskonstruktion skizziert wurde.
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Die ersten sichtbaren und dokumentierten Situationskonstruktionen sind schon deutlich umfassenderen Ausmaßes, handelt es sich dabei doch bereits um die Konstruktion von Ausstellungssituationen. Egal, ob es sich dabei um Gemeinschaftsausstellungen der S.I. oder um Einzelausstellungen ihrer Mitglieder handelt, versucht die S.I. hier stets die Situation ›Ausstellung‹ neu zu konstruieren, sie umzuwenden und so die Verhaltenserwartungen sowohl des einzelnen Besuchers als auch der Kunstsphäre insgesamt zu enttäuschen und der Kunst einen neuen, kritischen Raum zu schaffen. Auch wenn dieses Konzept anfangs durchaus aufgeht, so stößt es recht schnell an seine Grenzen, was sowohl interne als auch externe Ursachen hat. Denn zum einen lässt sich diese Art der Situationskonstruktion und das ihr innewohnende Enttäuschungspotential nicht unbeschränkt wiederholen bzw. aufrechterhalten. Sei es, dass die Ausstellungsbesucher die Enttäuschung als Enttäuschung bereits erwarten und so das Moment der Überraschung verloren geht, oder dass die S.I. überhaupt keine Möglichkeit zur Konstruktion von Ausstellungssituationen mehr bekommt, da die Galeristen ihrerseits wissen, was sie erwartet und die Ausstellungen von vornherein verhindern. In beiden Fällen wird die Enttäuschung als Enttäuschung erwartbar und verliert damit ihr kritisches Potential, wird verhältnismäßig schnell Ziel der récupération durch die Kunstsphäre. Zudem weitet sich das Konzept der Situationskonstruktion nicht aus, die Zahl der Konstrukteure nimmt nicht zu, weder bei den Besuchern, noch bei den Galeristen, noch bei anderen Künstlern. Die S.I. droht sich somit als einzige Situationskonstrukteurin zu etablieren und so die abgelehnte Trennung zwischen aktiv und passiv zu verstetigen. Zum anderen gibt es innerhalb der S.I. divergierende Auffassungen bezüglich der Konstruktion von Ausstellungssituationen, was besonders im Falle Pinot-Gallizios deutlich wird. Während Debord dessen Ausstellung als umfassende und komplexe Situationskonstruktion konzipiert und das Enttäuschungsmoment aufrechterhalten will, strebt Pinot-Gallizio eine ganz ›normale‹ Ausstellung an. Hier ist innerhalb der S.I. eine klare Trennung erkennbar - allerdings nicht wie bislang eine Trennung zwischen Konstrukteuren und Empfängern von Situationen, sondern zwischen denen, die sie konstruieren wollen, und denen, die die Anwendung dieser kritischen Praxis ablehnen. Dass ein solcher Widerspruch bezüglich der grundlegenden Positionen der S.I. nicht innerhalb der Gruppe gehalten werden konnte, haben wir gesehen. Dieser drohenden récupération durch die Kunstsphäre kann sich die S.I. nur entziehen, indem sie im Jahr 1962 eine neue Situation konstruiert und ein neues Anwendungsfeld für die Situationskonstruktion sucht. Diese Bewegung ist jedoch nicht ohne eine Situationskonstruktion im Inneren denkbar. Die S.I. muss sich personell umstrukturieren und inhaltlich neu ausrichten, zugleich folgt auf eine Phase punktueller öffentlicher Sichtbarkeit der vorübergehende Rückzug in die Klandestinität. Mit diesem Rückzug verschwindet auch die Konstruktion solch kon-
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kreter Situationen zwischen 1962 und 1966 weitgehend von der Tagesordnung. Doch das Konzept an sich bleibt von zentraler Bedeutung - nur sein Bezugsfeld und der damit anvisierte ›Gegner‹ verändern sich. Von nun an wird die S.I. nicht mehr in der getrennten Sphäre der Kunst aktiv; der Gegner, gegen den jetzt Situationen konstruiert werden, wird diffuser und vor allem umfassender - eine Veränderung, die darauf hindeutet, dass die S.I. hier somit auch bei der Auswahl des Gegners ihre Kritik der Trennung umzusetzen versucht. Denn von nun an steht die Gesellschaft insgesamt im Mittelpunkt des situationistischen Angriffs und die Situation, die sie zu konstruieren versucht, ist nichts weniger als die revolutionäre Situation. Eine revolutionäre Situation gegen die bestehenden Verhältnisse und mit dem Ziel, diese aufzuheben. Dabei lässt sich das nächste öffentliche In-Erscheinung-Treten der S.I. im Skandal von Straßburg, ihr nächster Versuch der Situationskonstruktion, zunächst was die Ausweitung des Bezugsfeld angeht, noch als eine Art Zwischenschritt verstehen. Der Skandal von Straßburg markiert die Abwendung von der Sphäre der Kunst hin zum Studentenmilieu und somit von einer Sphäre zur anderen. Denn auch wenn die Situation von Straßburg schon sehr deutlich auf den weiteren Rahmen verweist, erfolgt die Hinwendung zur Gesellschaft insgesamt erst im Mai 1968 - doch selbst hier ist noch eine deutliche Fokussierung auf das studentische Milieu auszumachen. Ganz klar greifbar wird die gesamtgesellschaftliche Ausrichtung der Situationskonstruktion im Grunde genommen erst in den rückblickenden Analysen und den Diskussionen über das weitere Vorgehen nach dem Mai 1968 - in theoretischen Diskussionen, die jedoch keine erkennbare Praxis der Situationskonstruktion mehr zur Folge haben. Sowohl in Straßburg als auch noch deutlicher in Paris versucht die S.I., eine revolutionäre Situation zu konstruieren, was mit Blick auf den konkreten Moment bzw. die Vielzahl konstruierter Einzelsituationen während der Tage des Mai 1968 auch teilweise gelingt. Vor allem in Paris ist dabei durch den in der Bewegung der Besetzungen, Demonstrationen und Barrikaden implizierten Raum-Aspekt und durch den darin erkennbaren Versuch der Aneignung und Um-Definition des Raums auch die Verbindung zwischen Situationskonstruktion und dérive wieder deutlich zu erkennen. Unter zwei Aspekten jedoch schlägt diese Situationskonstruktion fehl: Zum einen erfüllt sie, was das Bezugsfeld betrifft, nicht die Ansprüche, die sich die S.I. selbst gegeben hat: Es handelt sich nicht um eine umfassende Situation, da die von der S.I. erhoffte Wirkung ihrer Situationskonstruktion als eine Art Katalysator ausbleibt und sie sich nur punktuell und in einigen Momenten ausweitet, die Gesamtgesellschaft aber nie wirklich erfasst. Die angestrebte umfassende revolutionäre Situation bleibt fragmentarisch, scheint weder, was die gesellschaftliche, noch, was die zeitliche Ausweitung angeht, anschlussfähig zu sein. Auch dieses Problem ist in Straßburg deutlicher erkennbar als in Paris. Zum anderen - und dies ist das Entscheidende auch für die weitere Entwicklung der S.I. - ist sowohl in Straßburg als auch weniger
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deutlich in Paris erkennbar, dass es in erster Linie die S.I. ist, die diese Situation für andere, für die übrige revolutionäre Bewegung und deren Sympathisanten konstruiert. Genau eine solche Vormachtstellung muss die S.I., wie skizziert, jedoch schon aus der theoretischen Konzeption der Situationskonstruktion heraus vehement ablehnen. Denn ruft man sich die theoretischen Ausführungen zur Situationskonstruktion in Erinnerung, so wird klar, dass die S.I. sich selbst lediglich zu Beginn mit dieser ›Aufgabe‹ anfreunden kann, sie aber eigentlich erwartet, dass sie von ihrer Rolle als Konstrukteur bald zurücktreten kann, dass sie nur ›Öl hinbringen muss, wo Feuer ist‹ und nach und nach alle zu Situationskonstrukteuren werden. Genau dies jedoch erfolgt nicht. Weder in Straßburg noch im Pariser Mai oder danach kommt die S.I. aus dieser Rolle heraus - die Situationskonstruktion, die Situation und die anfängliche Trennung zwischen Konstrukteur und Konsument wird eben nicht zum Durchgangsort. Und genau dadurch wird die Situation und die S.I. als ihre Konstrukteurin spektakulär. Die S.I. wird, genau wie die Situationen, die sie konstruiert, vorhersehbar; das Überraschungsmoment, die Möglichkeit zur Enttäuschung von Erwartungshaltungen geht verloren - und damit auch ihr aus der Praxis des in der Situationskonstruktion implizierten détournement resultierendes kritisches Potential. So wie die S.I. auch schon aus ihrer sich herausbildenden dauerhaften Rolle als Situationskonstrukteurin in der Kunstsphäre nur dadurch herauskommen konnte, dass sie eine neue Situation konstruierte, so ist dies auch nach Straßburg und nach dem Mai 1968 die einzige Möglichkeit aus ihrer Vormachtstellung herauszukommen. Auch diesbezüglich scheint Straßburg jedoch lediglich eine Art Zwischenschritt, eine Vorübung für die weitere Politisierung und Ausweitung des Bezugsfelds der Situationskonstruktion - nicht aber für dessen erneute grundlegende Verschiebung - im Mai 1968 zu sein. Denn nach dem Skandal von Straßburg ist, wie schon 1961/62, ein wenn auch kurzer Rückzug aus der Öffentlichkeit erkennbar. Dieser ist wiederum verbunden mit der Konstruktion einer neuen Personalsituation innerhalb der Gruppe - doch auch diese ist längst nicht so einschneidend wie die von 1962. Vor allem aber ist nach Straßburg keine Situationskonstruktion auf der Ebene der Theorieproduktion erkennbar, hier wird lediglich infolge der Analyse der vergangenen Situationskonstruktion nach außen leicht modifiziert. Eine grundlegende Neuausrichtung wie 1962 erfolgt nicht, die eingeschlagene Richtung wird weiterverfolgt. Nach dem Mai 1968 jedoch scheinen die Probleme schwerwiegender zu sein, und es erfolgt spätestens nach der letzten Ausgabe der I.S. im September 1969 ein erneuter und dauerhafter Rückzug in die Klandestinität. Dies ist nicht nur auf die sich verfestigenden Schwierigkeiten der Situationskonstruktion nach außen zurückzuführen, sondern wird verstärkt durch die oben skizzierten, zumindest zeitlich parallel verlaufenden Probleme der Situationskonstruktion im Inneren auf der Ebene der Gruppenstruktur wie auch der Theorieproduktion. Sowohl nach au-
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ßen als auch im Inneren muss die S.I. eine grundlegend neue Situation konstruieren, eine Situation, die so beschaffen ist, dass sie selbst darin nicht mehr die Rolle der Konstrukteurin spielt und auch die Trennung zwischen Konstrukteuren und Konsumenten der Situation in ihrem Inneren aufgehoben wird. Dies aber ist eine Situation, die für die S.I. tiefgreifende Folgen hat, denn es ist eine Situation, in der sie aufhört, als Gruppe zu existieren. Die Situation, die die S.I. somit konstruiert, ist die Situation ihrer eigenen Aufhebung. Genau darin dürfte das Grundproblem, das Paradox der späten S.I. liegen: In Straßburg und Paris verfestigt sich ihre Rolle als dauerhafte Situationskonstrukteurin, die sie aus der theoretischen Konzeption der Situationskonstruktion heraus ablehnen muss, und zugleich verfestigt sich eine analoge Problemstruktur im Inneren. Aus dieser Situation kommt sie aber nur heraus, indem sie die neue Situation ihrer Aufhebung konstruiert, indem sie sich also selbst als Situationskonstrukteurin verschwinden lässt - und genau in diesem Vorgang ein letztes Mal als eine solche Situationskonstrukteurin auftritt. Selbst in ihrer Aufhebung manifestiert sich somit erneut das der Aufhebungsentscheidung zugrunde liegende Problem. In der letzten Situationskonstruktion der S.I., in der sie ihren Führungsanspruch ablehnt und ablegen will, formuliert sie genau diesen ein letztes Mal. Sie versucht, durch ihr Verschwinden einen Führungsanspruch für die Zukunft unmöglich zu machen, manifestiert ihn damit aber für den konkreten Moment und legt eventuell sogar den Grundstein für sein Fortbestehen in der Zukunft.
5.7 Bewegen und Kartieren: dérive und Psychogeographie Nachdem in den bisherigen Ausführungen bereits an verschiedenen Stellen der Aspekt der - wenn auch nachlassenden - Beweglichkeit der S.I. sowohl auf der Gruppen- als auch auf der Theorieebene angesprochen wurde und sich diese Anmerkungen selbst als umherschweifender Blick aus verschiedenen Perspektiven auf die S.I. bzw. als eine Art dérive mit der und um die Gruppe und ihre Entwicklung herum verstehen, soll abschließend eben dieses Konzept der dérive die Brille sein, durch die wir die S.I. betrachten. Zu ergänzen sind diese Überlegungen zur dérive um den Begriff der Psychogeographie, da zum einen diese beiden Konzepte gerade in ihrer Verwobenheit interessante Aufschlüsse über die S.I. geben können und da zum anderen auch die vorliegenden Anmerkungen als schriftliche Aufzeichnung, als psychogeographische Notizen zur dérive der S.I. gelesen werden können. Ein erster Ansatzpunkt für eine solche Betrachtung liegt darin, die gesamte Entwicklung der S.I. zwischen 1957 und 1972 als eine dérive aufzufassen. Dies ist zum einen im Hinblick auf die Theorieproduktion möglich, die als ein Umherschweifen zwischen verschiedenen Theoriepositionen, als Entwicklung von
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Theoriepositionen aus der Bewegung heraus und, um Beweglichkeit zu ermöglichen, gelesen werden kann. Zum anderen ließe sich auch die permanente Umstrukturierung der Gruppe bezüglich ihrer Mitglieder, aber auch ihrer Struktur als eine solche dérive verstehen, als Bewegung, der sich Personen für einen gewissen Zeitraum anschließen und danach wieder verschwinden. Die bei der S.I. von Beginn an erkennbare und sich immer stärker ausweitende selbstreflexive, theoretische Komponente sowohl bezüglich der Theorieentwicklung und ihrer praktischen Umsetzung als auch im Hinblick auf die Gruppenstruktur und Gruppenpraxis nimmt in diesem Blickwinkel dann die Rolle der diese dérive aufarbeitenden und das weitere Umherschweifen theoretisch fundierenden Psychogeographie ein. Doch es lohnt sich ein genauerer Blick, ein längeres Umkreisen dieses Themenkomplexes, der über diese erste Annäherung hinausgeht, da es noch einen weiteren Grund gibt, der es interessant erscheinen lässt, die S.I. unter dem Blickwinkel von dérive und Psychogeographie zu untersuchen. Denn die dérive an sich ist - wie auch die bereits skizzierten theoretischen Ansätze der Situationskonstruktion und des détournement - vor allem eine eminent praktische Theorie, eine Theorie der Praxis. Wenn man nach einer konkreten Praxis dieser Theorie bei der S.I. sucht, so findet man jedoch nicht allzu viele Hinweise auf die Praxis der dérive. Denn als konkrete Praxis spielt die dérive bei der S.I. gerade im Vergleich mit der L.I. so gut wie keine Rolle mehr. Abgesehen vom gescheiterten Venedig-Projekt von Rumney und einer dérive bzw. einer psychogeographischen Analyse des Hallen-Viertels in Paris durch Khatib taucht die dérive vor allem als theoretisches Konzept, aber kaum als Praxis auf. Aus der lettristischen dérive als spontaner Praxis der Theorie ist bei der S.I. von Beginn an eher eine Theorie der Praxis geworden - einer Praxis, die kaum noch praktiziert wird. Dies ist insofern interessant, als sich diese Entwicklung selbst wiederum mit dem Begriffspaar dérive und Psychogeographie in Zusammenhang bringen lässt: Die dérive als Praxis wird mehr und mehr abgelöst von der Psychogeographie als Reflexion dieser Praxis. Die dérive wird theoretisiert und somit indirekt verdrängt vom Konzept der Psychogeographie - sie findet sich nur noch als theoretische, als potentielle Praxis zum Beispiel als Tätigkeit der Bewohner von Constants New Babylon oder als Hintergrund psychogeographischer Karten, Stadtpläne und Analysen. Mit einer ähnlichen Konstellation sind wir bereits bei der Situationskonstruktion konfrontiert worden: Sie war ebenfalls eine Theorie der Praxis, der die konkrete Praxis fehlte. Auch mit Blick auf die dérive gilt es daher zu fragen, ob sich nicht die S.I. als solche bzw. ihre Entwicklung als dérive sowohl auf der Gruppen- als auch auf der Theorieebene auffassen lässt. Hinzu kommt hier noch die Überlegung, inwieweit auch das Zusammenspiel bzw. der Übergang von der praktischen dérive zur eher reflexiven Psychogeographie bei der S.I. insgesamt sichtbar wird. In einem ersten Schritt lässt sich die S.I. insofern als dérive lesen, als
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es sich in beiden Fällen um ein explizit kollektives Projekt handelt, in dessen Mittelpunkt die Veränderung, die Neugier und die zunächst unbestimmte Bewegung im Raum stehen, als ein Projekt, das von Beginn an als momenthaftes, vergängliches Unterfangen, als Durchgangsort konzipiert ist. Auch beim genaueren Blick auf den kollektiven Charakter dieses Projekts und die an ihm beteiligten Personen lassen sich Parallelen ausmachen, da dieses Kollektiv in beiden Fällen kein dauerhaft festgelegtes ist. Nicht nur, dass sich von einer dérive zur nächsten die Teilnehmer ändern, auch innerhalb einer dérive ist eine solche Fluktuation erkennbar: Man trifft unterwegs fremde oder bekannte Personen, die sich dem Umherschweifen anschließen, andere hingegen gehen auf dem Weg verloren, biegen anders ab. Zwischen dem Anfang einer dérive und ihrem Ende verändert sich somit stetig die personelle Zusammensetzung; das für die dérive charakteristische Moment des Zufalls und der Unbestimmtheit erstreckt sich somit auch auf die Ebene der beteiligten Personen. Es geht weder darum, einen vorgeschriebenen Weg abzulaufen, noch darum, genau mit denjenigen, mit denen man die dérive begonnen hat, auch bis zu ihrem Ende zu gehen. Das Ziel ist die Ziellosigkeit, ein kollektives Sich-Treiben-Lassen, das die Zusammensetzung eben dieses Kollektivs permanent verändern kann, genau wie seine Zusammensetzung einen Einfluss auf die eingeschlagene Richtung und ihre permanente Veränderung hat. Eine variable Pluralität von Personen begibt sich auf einen unbestimmten Weg bzw. setzt sich in Bewegung im Bewusstsein, dass auch die zu gehenden Wege in einer unbekannten Vielfalt vor ihnen liegen. Kollektive Unbestimmtheit, Neugier und Bewegung und daher auch ein Sich-Einlassen auf Ungewissheiten sind somit zentrale Merkmale der dérive - aber eben auch einer Gruppe wie der S.I., auf die sich dieses Bild vom kollektiven Sich-Treiben-Lassen auf einem zunächst unbestimmten Weg übertragen lässt. Auch diese Sichtweise auf die S.I. als Praxis ihrer theoretischen Konzepte ist - wie dies bereits bei den Konzepten der Situationskonstruktion, des Potlatch, des détournement etc. gezeigt wurde - vor allem für die Anfangsjahre der Gruppe anwendbar. Das Kommen und Gehen von Mitgliedern ist in der S.I. zwar während ihrer gesamten Existenzphase an der Tagesordnung, dennoch lässt sich, sowohl zahlenmäßig als auch im Hinblick auf das spontane und bewegliche Element dieser Wandlungen, ein deutlicher Schwerpunkt in den Jahren bis 1962 ausmachen. Die ersten Jahre der S.I. als Gruppe sind stark vom ›Zufall‹ interpersoneller Beziehungen geprägt, man nimmt Mitglieder schnell auf, man schweift auf der Suche nach der Gruppenidentität umher, Mitglieder verlassen die Gruppe wieder - einige, weil sie eine andere Richtung verfolgen und irgendwo abbiegen wollen, andere, weil sie unterwegs schlicht verloren gehen. Es geht hier um ein zunächst noch recht unsystematisches und flexibles Erkunden des Terrains, um das Ausloten und intuitive Abstecken des theoretischen Raums der Gruppe. Es gilt, sich treiben zu lassen und das Umfeld sowie das, was die einzelnen Mitglieder in die
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Gruppe einbringen, auf sich wirken zu lassen und nach und nach eine Position zu entwickeln. Es ist zu diesem Zeitpunkt noch möglich, relativ frei umherzuschweifen und in dieser Bewegung offen zu sein für neue Mitglieder - auch und gerade mit abweichenden Positionen, weil das, wovon diese neuen Positionen abweichen, noch gar nicht genau geklärt ist. Unterwegs begegnet man interessanten Personen, die sich der dérive anschließen, man geht ein Stück Weg gemeinsam, bis sich die Wege und Interessen wieder trennen. Auch wenn sich bereits in dieser frühen Phase langsam genauere Kriterien für die Teilnahme an dieser dérive bzw. für die Mitgliedschaft in der S.I. entwickeln, so scheint ein Kriterium zunächst der Wille zur Beteiligung an dieser Bewegung zu sein. Dies bedeutet zu diesem Zeitpunkt aber in erster Linie die Bereitschaft, sich auf ein Abenteuer einzulassen, auf neue Kontakte, neue Konstellationen, neue und widersprüchliche Ideen und auch die Vergänglichkeit, die Veränderung und das Abbrechen von Kontakten als Teil dieses Prozesses zu akzeptieren. Hier wird bereits deutlich, dass die dérive der S.I. auf der Ebene der Gruppe untrennbar mit der ebenfalls sehr deutlichen dérive auf der Ebene der Theorie verbunden ist. Denn auch im Hinblick auf die Theorieentwicklung und die theoretische dérive der S.I. ist es vor allem die Phase bis 1962, die von Beweglichkeit, Unbestimmtheit und Richtungswechseln geprägt ist. Die anfängliche relative Unbestimmtheit und Vielfältigkeit des gemeinsamen Projekts ermöglicht auch auf der Ebene der Theorie ein freies Umherschweifen, die Durchquerung verschiedener Theorie-Räume. Und so wie dieses theoretische Erkunden eine Offenheit zur Folge hat, die sich positiv auf die dérive auf der Gruppenebene auswirkt, so wirkt diese ihrerseits zurück auf die Theorieproduktion. Die personelle und die inhaltliche Vielfalt bedingen sich in dieser Anfangsphase wechselseitig, tragen zur Veränderbarkeit des jeweils anderen Aspekts bei, ermöglichen auf beiden Feldern eine dérive in einem noch relativ unbestimmten Raum. Wir haben es hier mit einer dérive zu tun, die unbewusst gelenkt wird vom Wechselspiel der verschiedenen Positionen, vom Kommen und Gehen der Mitglieder und die somit geprägt ist vom Zufall des beweglichen Aufeinandertreffens und von plötzlichen Richtungswechseln. Dieses theoretische Umherschweifen hat noch keinen Anführer, der die Richtung vorgibt, kein klares Ziel, das es zu erreichen gilt; ihre Beweglichkeit und ihr Überraschungsmoment entsteht gerade aus dem kollektiven, egalitären Sich-Treiben-Lassen, in dem die Beteiligten nacheinander oder auch konfliktreich gleichzeitig die Richtungsänderungen vorschlagen oder durchführen. Wie auch die konkreten dérives aus lettristischer Zeit ist bei dieser dérive der S.I. anfänglich das Moment der Offenheit und der Unbestimmtheit deutlich erkennbar, der dérive haftet der Charakter des Sich-Verausgabens, der Exzessivität, der Radikalität und des Rauschhaften an. Doch dieser Rausch verfliegt spätestens mit der grundlegenden personellen und inhaltlichen Neustrukturierung der S.I. im Frühjahr 1962.
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Denn mit der personellen und inhaltlichen Vereinheitlichung der Gruppe verengt sich der Raum für die dérive erheblich, sie verliert mehr und mehr ihren offenen, zufälligen Charakter. Was nun beginnt, ließe sich beim Blick durch die Theoriebrille der S.I. als Psychogeographisierung der Gruppe beschreiben. Dieser Wandel ist, wie unter anderen Blickwinkeln bereits skizziert, kein plötzlicher, sondern aufgrund der Wechselwirkungen zwischen der doppelten Beweglichkeit auf der Ebene der Gruppe wie auch der Theorie ein prozesshafter, der jedoch seinen Höhepunkt bzw. vorläufigen Abschluss im Frühjahr 1962 findet.13 Aus dem Sich-Treiben-Lassen und dem unbestimmten Blick nach vorne wird mehr und mehr ein Blick zurück, eine Reflexion sowohl der eigenen Theorie als auch der eigenen Praxis sowohl nach außen als auch nach innen. Damit verbunden ist eine zunehmende Ziel-Fixierung dieser Bewegung, die jedoch paradoxerweise gerade die Verlangsamung dieser Bewegung zur Folge zu haben scheint. Nach einer Phase der Bewegung tritt die S.I. mehr und mehr ein in die Phase der Kartierung zurückliegender und der Planung zukünftiger Bewegungen. Dies betrifft sowohl die Gruppe an sich als auch ihre Theoriepositionen. Auf der Ebene der Gruppenstruktur setzt eine immer umfangreichere Auseinandersetzung mit den Problemen von Eintritt, Austritt und Ausschluss ein, die am Ende dann auch noch um die Reflexion der bislang bereits erfolgten Ausschlüsse ergänzt wird. Nicht mehr die aktuelle oder zukünftige dérive steht im Mittelpunkt, sondern die Analyse der bisherigen, um auf dieser Basis für die weitere Entwicklung den Aspekt der Zufälligkeit zu reduzieren. Dabei ist das für dérive und Psychogeographie bezeichnende Wechselverhältnis zu beachten: Die dérive geht der psychogeographischen Analyse voran, bildet ihr Material und zugleich sind die psychogeographischen Erkenntnisse die Grundlage, auf der dann 13 | Dass die Psychogeographisierung und Kartographierung bereits vor diesem Einschnitt einsetzt, wird gerade im Hinblick auf die theoretische dérive deutlich. Denn schon zum Zeitpunkt der theoretischen Vielfalt der Positionen beginnt Debord im Jahr 1958, diese flexible Vielfalt erstmals zu kartographieren, ihr Wechselspiel in einen festen Zusammenhang zu bringen, hierarchische Strukturen zwischen den verschiedenen Theoriekonzepten zu etablieren. Diese Fixierung der theoretischen Flexibilität und ihre Hierarchisierung ist als der erste Schritt auf dem Weg zur Vereinheitlichung, zur Durchsetzung eines Theoriekonzeptes anzusehen. In diesem Fall geht die theoretische Entwicklung der Veränderung der Gruppenstruktur voraus bzw. bedingt sie. Debord legt vor, die anderen ziehen mit oder eben nicht. Debord begibt sich also bereits sehr früh in die Position des Situationskonstrukteurs bzw. in diesem Falle in die des Anführers der dérive, die aber genau durch diese Figur des Anführers mit klarer Zielvorgabe ihren ursprünglichen Charakter als zufällige dérive verliert. Zwar bleibt die dérive der S.I. formal nach wie vor ein kollektives Projekt in dem Sinne, dass an ihr mehrere Personen beteiligt sind, sie verliert ihren kollektiven Charakter inhaltlich jedoch mehr und mehr dadurch, dass diese Mehrzahl von Personen keine Mehrzahl von Theoriepositionen mehr vertritt. Aus der wirklich kollektiven dérive der Anfangsjahre, die sich bildlich als verstreute, kreisförmige Ansammlung verschiedener Personen und Positionen mit unterschiedlichen, konfligierenden Bewegungsrichtungen beschreiben lässt, wird mehr und mehr ein zielgerichteter Gänsemarsch auf einer Linie in eine vorgegebene Richtung.
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weitere dérives erfolgen können, die dann jedoch stärker systematisiert und weniger vom Zufall geprägt sind. Die zunehmende Reflexion und Formalisierung der eigenen Gruppenstruktur jedoch verkompliziert und verlangsamt den Prozess von Eintritt, Austritt und Ausschluss und somit die folgenden dérives auf der Gruppenebene und verengt so den Raum, in dem eine solche stattfinden kann. Zudem scheint die Psychogeographie der eigenen Gruppe deren Kapazitäten so in Anspruch zu nehmen, dass eine offene dérive wie in den Anfangsjahren immer schwieriger wird. Diese Verlagerung bzw. dieser Versuch der Eliminierung des Zufalls ist auch auf der Ebene der Theorie erkennbar, denn ein großer Teil der anfänglichen Vielfalt beruhte auf der zumindest auch vom Zufall geprägten Verschiedenheit der Mitglieder. Zudem ist hier erkennbar, dass der Anteil der psychogeographischen Analyse der eigenen Theorie, die Reflexion der eigenen theoretischen Position gegenüber der dérive auf der Theorieebene immer mehr in den Vordergrund tritt und diese dérive immer strukturierter und zielorientierter abläuft. Somit aber entfernt sich die Theorieentwicklung der Gruppe nach und nach von der Idee der dérive und wird, wenn man so will, zum vorgezeichneten Marsch von A nach B. Das dabei auf der Strecke bleibende Moment des produktiven Konflikts und der Überraschung sorgt jedoch für eine solche Verlangsamung, dass das Ziel nicht näher rückt, sondern paradoxerweise durch die andauernde Kartographierung des Wegs dorthin aus dem Blick gerät. Das Ziel wird zunächst wichtiger als der Weg, die Wegbeschreibung dann wichtiger als die Bewegung, die reflexive Psychogeographie verdrängt die aktive dérive. Damit aber führen uns die dérive und die Psychogeographie erneut zur Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis und können auch diese beiden Begriffe für eine grobe Unterscheidung verschiedener Phasen der S.I. nutzbar gemacht werden. Denn aus dem bislang Skizzierten wird deutlich, dass die dérive der Seite der Praxis zuzuordnen bzw. als Praxis der Theorie einzustufen ist, während die Psychogeographie sich eher auf Seiten der Theorie befindet bzw. eine Theorie der Praxis darstellt. Das theoretisch entwickelte Konzept der dérive kann nur als Praxis wirksam werden, deren weitere theoretische Fundierung dann die Psychogeographie leisten soll. Die beiden Konzepte befinden sich somit in einem Wechsel- und Steigerungsverhältnis zueinander, wie dies in ähnlicher Weise bereits für den détournement und die récupération skizziert wurde, auch wenn es sich in diesem Fall nicht um ein Wechselspiel zwischen der S.I. und dem Spektakel, sondern um zwei theoretischpraktische Prozesse innerhalb der Gruppe handelt. Dennoch ist eine weitere Parallele zwischen diesen zwei Begriffspaaren erkennbar: Nicht nur die Zuordnung zu den Feldern von Theorie und Praxis, sondern auch diejenige zu den Aspekten von aktiv und passiv lässt sich auf die dérive als aktives und die Psychogeographie als passives oder zumindest reflexives Moment übertragen. Vor allem aber verweisen auch diese beiden Konzepte - wenn auch in komplexerer Form als bei den bisherigen
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theoretischen Ansätzen - wieder auf die unterschiedliche Rang- bzw. Reihenfolge von Theorie und Praxis: Die dérive ist in ihrer ursprünglichen Form eine Praxis, die der Theorie vorangeht, die Psychogeographie hingegen ist eine Theorie, die die Grundlage einer zukünftigen Praxis bilden soll.14 Diese Gegenüberstellung der beiden Konzepte ist beim Blick auf die Entwicklung der S.I. auf Gruppenebene auch zeitlich als eine Verlagerung von der dérive hin zur Psychogeographie zu verstehen: Anfangs praktiziert die S.I. hier eine dérive, die Mitgliederfluktuation scheint einfach als Praxis zu ›passieren‹, während im weiteren Verlauf immer deutlicher eine Reflexionsebene vorgeschaltet wird. Von der dérive als einer von Vergänglichkeit und Momenthaftigkeit geprägten Aktivität, die im Augenblick ihrer Durchführung bereits wieder vergangen zu sein scheint, entwickelt die S.I. durch die Psychogeographisierung auf der Gruppenebene immer mehr greifbare und haltbare Kriterien für Eintritt, Austritt und Ausschluss, die die Bewegung der weiteren dérive kontrollierbar machen sollen, sie letztendlich jedoch inhaltlich lähmen. Was hier deutlich erkennbar wird, ist die Bewegung weg vom spielerisch offenen Raum der Praxis dérive hin zum strategisch geschlossenen Raum der theoretischeren Psychogeographie und zugleich wiederum diejenige vom skandinavischen Denken Jorns hin zum lateinischen Denken Debords. Auch hier ist es vor allem Jorn, der die dérive antreibt, sie durch Widersprüche in Bewegung hält. Ab dem Punkt, wo er schrittweise beginnt, seine eigene dérive außerhalb der S.I. fortzusetzen, kommt sie innerhalb der Gruppe nach und nach zum Erliegen. Auch die dérive scheint somit auf Vielfalt und Widerspruch angewiesen zu sein, auf unterschiedliche Sichtweisen und ›Gehdanken‹ der an ihr beteiligten Personen, um als kreative und kritische Praxis wirksam zu werden. Die dérive muss innerhalb der Gruppe als dialogische Vielfalt praktiziert werden, als eine Bewegung, bei der alle Beteiligten einen Einfluss auf die Bewegungsrichtung haben. Genau diese Vielfalt geht jedoch ab 1962 mehr und mehr verloren, da sich ohne Jorn die eine widersprüchliche dérive aufspaltet und sich aus ihr zwei eher einheitliche Bewegungen herausbilden. Dies führt jedoch auf beiden Seiten - deutlicher auf derjenigen des lateinischen Denkens, bei der im weiteren Verlauf die dialogische Struktur immer mehr von einer diskursiven abgelöst wird - zur Herausbildung einer Zielvorgabe, die das spontane, produktive Moment der dérive, ihren notwendigen Frei-Raum einengt und dazu führt, dass die dérive als Modell der Entwicklung und Veränderung der eigenen Gruppe 14 | Die Psychogeographie stellt jedoch nicht nur eine der zukünftigen Praxis der dérive vorangehende, sondern auch eine aus der Praxis vergangener dérives resultierende Theorie dar. Umgekehrt ist die dérive ursprünglich im Rahmen der L.I. eine Praxis fast ohne theoretische Fundierung, die jedoch in der S.I. immer mehr zum rein theoretischen Konzept wird, dem keine konkrete Praxis mehr folgt. Dies macht die vorliegenden Überlegungen umso wichtiger, denn sie versuchen, in der S.I. selbst und ihrer Entwicklung eine oder gar die letzte wirkliche Praxis der dérive auszumachen.
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und ihrer Theoriepositionen gegenüber der Psychogeographie immer mehr an Bedeutung verliert. Für die Psychogeographisierung und das Erlahmen der dérive auf der Gruppen- und der Theorieebene sind jedoch nicht nur die aus der anfänglichen dérive resultierenden inhaltlichen Positionen und personellen Konstellationen verantwortlich, auch externe Faktoren haben hierbei eine bedeutende Rolle gespielt. Denn wie die konkrete dérive im Stadtraum stattfindet, spielt sich auch die dérive der S.I. im Raum bzw. in einem gesellschaftlichen Kontext ab, dessen Beschaffenheit sich deutlich auf die dérive auswirkt. Diese Praxis ist somit aufs engste mit dem Raum verbunden, in dem sie stattfindet. Dabei sind unterschiedliche Verhältnisse und Wechselwirkungen zwischen der dérive und dem Raum erkennbar: Zunächst hat die Praxis das Ziel, sich vom Raum leiten zu lassen, ihn und seine Wirkungen zu erkunden, sie zu analysieren, zu kartographieren und psychogeographisch auszuwerten, um die Wirkungsweise des Raums auf die eigenen Bewegungsmuster herauszuarbeiten. Auf dieser Basis geht es dann in einem zweiten Schritt darum, in den Raum einzugreifen, ihn zu verändern. Versucht man, dies auf die S.I. als dérive zu übertragen, ergeben sich einige interessante Überlegungen. Die dérive steht in einem permanenten Wechselverhältnis mit dem Raum, in dem sie stattfindet, sie ist ein Ringen, eine Auseinandersetzung mit diesem Raum sowohl auf der theoretischen als auch auf der praktischen, auf der analytischen wie auch auf der aktiv eingreifenden Ebene. Mit Blick auf die S.I. verweist die dérive somit auf die kontinuierliche Auseinandersetzung der S.I. mit der Gesellschaft, auf ihre Gesellschaftsanalyse und die Praxis der Kritik, auf die Versuche der S.I., ihre Umgebung zu verändern, aber auch auf die Wirkung dieser gesellschaftlichen Umgebung auf die Gruppe - und dies, wie skizziert, sowohl auf der inhaltlichen Ebene als auch derjenigen der Gruppenstruktur. Bereits hier werden Parallelen zwischen dem Verhältnis von dérive und Raum und dem Wechselspiel zwischen détournement und récupération deutlich: Theorie und Praxis der dérive und des détournement als kritische Eingriffe der S.I., die Wirkung des Raums bzw. die récupération als Reaktion darauf, als Versuch, diese Praxen zu unterbinden oder sie ihres kritischen Potentials zu berauben. Und genau wie im Hinblick auf détournement und récupération bei der S.I. im Laufe der Jahre und insbesondere nach 1968 eine Fokussierung auf den zweiten Aspekt und somit eine gewissermaßen defensive, analytische Haltung herausgearbeitet werden konnte, ist bei der dérive erkennbar, dass auch hier in der Schlussphase das aktive, praktische Moment immer mehr in den Hintergrund tritt und die Auseinandersetzung mit den Wirkungen des gesellschaftlichen Raums auf die S.I. immer zentraler wird. Diese Psychogeographie der eigenen Theorie und Gruppenstruktur führt jedoch nicht erneut zu aktiven Eingriffen in den Kontext, bringt keine neue dérive mehr hervor. Ähnlich wie bereits bei détournement und récupéra-
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tion kommt hier das Wechselspiel von Angriff und Gegenangriff, von Aktion und Analyse in der Schlussphase zum Stillstand, konzentriert sich die S.I. auf einen Aspekt dieser Bewegung, wird von ihrem Umfeld auf einer Seite festgehalten, gibt das aktive Moment aus der Hand, was in diesem Fall dazu führt, dass die dérive dauerhaft von der Psychogeographie abgelöst wird. Ein wichtiger äußerer Faktor ist auch hier der Grad an Öffentlichkeit, den die S.I. erreicht. Denn genau wie die Praxis der konkreten dérive, wie sie ursprünglich von den Lettristen durchgeführt wurde und ansatzweise bei der frühen S.I. noch zu finden ist, eine zwar kollektive, aber zugleich auch quasi private, klandestine Praxis ist, findet auch die anfängliche dérive auf der Gruppen- und der Theorieebene der S.I. in relativer Klandestinität statt. Zwar ist sie von Beginn an als kritische Auseinandersetzung mit dem Umfeld aufzufassen, hat jedoch in diesem nicht die gleiche Sichtbarkeit zur Folge, wie dies seit dem Skandal von Straßburg der Fall ist. Diese zunehmende Sichtbarkeit in der Öffentlichkeit, die mit einer Vergrößerung der Angriffsfläche für die Gegenbewegung der récupération verbunden ist, wird hier als eines der zentralen Probleme bzw. als Paradoxie in der Entwicklung der S.I. erkennbar. Denn einerseits zielen ihre theoretischen und praktischen Ansätze allesamt auf eine solche Sichtbarkeit ab, benötigen sie, um ihr kritisches Potential zu entfalten, doch andererseits ist es genau diese Sichtbarkeit, die die S.I. jeweils aus der aktiven in die passive, aus der Angriffs- in die Verteidigungsposition bringt, einen Rückzug aus der Öffentlichkeit zur Folge hat und weitere kritische Eingriffe unterbindet. So ist die dérive der S.I. in den Anfangsjahren in erster Linie eine interne Herausbildung der theoretischen Positionen und der Gruppenstruktur, die sich erst nach und nach deutlicher nach außen wendet und die S.I. öffentlich sichtbar macht. Der Raum, in dem diese dérive dann stattfindet, ist aber zunächst ›nur‹ die Kunstsphäre, doch auch hier werden die skizzierten Mechanismen der récupération schnell wirksam, wirkt der Raum massiv auf die dérive zurück, hat grundlegende inhaltliche und personelle Auswirkungen auf die S.I. und bewirkt somit einen ersten Rückzug aus der Öffentlichkeit und eine Fixierung auf die psychogeographische Analyse der bisherigen Praxis. Dass dieser erste Rückzug zunächst nur ein temporärer ist, der der Vorbereitung der nächsten dérive dient, ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die S.I. hier die Option hat, die Bezugssphäre für das nächste Öffentlich-Werden zu verschieben, für ihre nächste dérive einen anderen Raum zu wählen. Egal, ob man dies positiv als Erweiterung des Bezugsrahmens auf den gesamtgesellschaftlichen Kontext bzw. als Ausweitung und Radikalisierung der Kritik sieht oder als Kapitulation vor der beginnenden récupération der Kunstsphäre bzw. als Ausweichbewegung, ist diese Bewegung mit einem grundlegenden Problem verbunden. Denn sie erfolgt, nachdem die anfängliche dérive der S.I. zum Stillstand gekommen ist, nachdem ihr Handlungsspielraum in der Sphäre der Kunst massiv eingeschränkt
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wurde, nachdem die psychogeographische Analyse dieser ersten dérivePhase im Inneren der Gruppe durch die personelle und inhaltliche Umstrukturierung zu einer deutlichen Verengung des Blickwinkels geführt hat. Und genau mit diesem verengten Blickwinkel betritt die S.I. nun einen deutlich erweiterten, ja sogar umfassenden Handlungsraum.15 In diesem Raum wird die S.I. dann in Straßburg und Paris zum explizit öffentlichen Akteur, wird sichtbar und damit erneut angreifbar - und dieser Angriff wird dadurch noch bedrohlicher, dass er aus der Theorielogik der S.I. sowohl von ihren Gegnern als auch von ihren Anhängern durchgeführt wird. Denn nicht nur die S.I. hat sich nach 1962 aktiv einen neuen Handlungsraum gesucht, auch dieser selbst hat sich durch das - in den Worten Debords - Aufkommen einer revolutionären Situation massiv verändert. Die S.I. muss von nun an den für ihr Handeln als Avantgarde grundlegenden ›Vorsprung‹ nicht mehr nur gegenüber ihren Gegnern verteidigen, sie droht ihn mehr und mehr auch gegenüber ihren Unterstützern zu verlieren. Immer mehr Personen versuchen, sich der dérive der S.I. anzuschließen, die jedoch eine solche Erweiterung weiterhin ablehnt und sich dabei auch auf die theoretischen Ausführungen zur zahlenmäßigen Begrenzung der Teilnehmer an einer dérive berufen kann. Die récupération nähert sich der Gruppe somit gewissermaßen von zwei Seiten an, und das Umfeld, in dem die nach außen gerichtete dérive der S.I. der Jahre 1966 und 1968 stattfindet, wirkt nun massiv auf die Gruppe zurück. In dem Moment also, in dem die S.I. aktiv auf das Umfeld einwirkt und es verändert, scheint die Bewegung zum Stillstand zu kommen. Dies ist nach dem Mai 1968 für die S.I. insofern problematischer als 1962, als die dérive innerhalb der Gruppe bereits zum Erliegen 15 | Es lässt sich noch ein weiterer Zusammenhang zwischen der dérive und dem Raum, in dem sie stattfindet, zwischen den Aktionen der S.I. und ihrer Zielrichtung ausmachen. Denn die skizzierte Entwicklung von einer spielerisch offenen und aktiven dérive-Phase bis 1962 hin zu einer systematischen, reflexiven und relativ statischen Phase der Psychogeographisierung der eigenen Gruppe vor allem nach dem Mai 1968 verläuft zeitlich parallel mit der Verschiebung des Bezugsfelds der S.I. von der tendenziell offeneren, spielerischen Sphäre der Kunst hin zur strukturierteren und formalisierteren der Politik. Sowohl die Gruppenstruktur als auch die Art und Weise der Theorieproduktion der S.I. ist somit nicht unabhängig vom Gegner, gegen den sie gerichtet ist. Auch die Entwicklung von der spontanen und kreativen Praxis der Theorie hin zur reflexiven formalisierten Theorie der Praxis kann hier - wenn auch nur als vereinfachte Gegenüberstellung - nochmals aufgegriffen werden. Die Kunst ist eine Sphäre des Handelns, Kunst ist stets der Prozess einer Praxis; Politik hingegen ist zumindest auch Reden über mögliches Handeln, ist Planen und Entwerfen von zukünftigen Handlungsmodellen. Die Kunst schafft permanent Neues, ist beweglich, ist permanenter Wandel; die Politik hingegen verspricht Neues, kündigt Wandel an. In der Kunst findet die Revolution im Kleinen andauernd statt und kann rückblickend als solche oder auch als grundlegende Revolution erkennbar werden; in der Politik ist die Revolution im Großen meist nur Perspektive, und dieses Warten auf die große Revolution kann den Blick auf die bereits stattfindende Revolution im Kleinen verstellen oder ihre Realisierung gar verhindern. Und damit sind wir wieder bei der zentralen Rolle, die die personelle Zusammensetzung der S.I. für ihre theoretische Entwicklung spielt, sehen wir doch auch hier im Hintergrund wieder ihre zentralen Figuren Debord und Jorn miteinander ringen.
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gekommen ist und daher eine inhaltliche und personelle Ausweichbewegung wie am Ende der Anfangsphase nicht mehr möglich zu sein scheint. Es bleibt nur der Rückzug in die diesmal dauerhafte Klandestinität und der Versuch einer erneuten psychogeographischen Analyse der vergangenen Ereignisse und ihrer Auswirkungen auf die Gruppe und ihre Theorie. Dieser Ansatz einer Neusortierung jedoch scheitert, nicht zuletzt, da die für eine inhaltliche dérive notwendige Vielfalt, der dialogische Charakter sowie die grundsätzliche Beweglichkeit abhanden gekommen sind. Die dérive entwickelt sich nicht mehr, wie in den Anfangstagen, als relativ spontane Praxis aus den widersprüchlichen Positionen innerhalb der Gruppe, sondern sie muss von Debord eingefordert werden und verliert genau dadurch ihren Charakter als dérive. Sie verliert das dialogische, überraschende und spontane Moment, wird von einer immer diskursiveren Psychogeographie überlagert. Diese rein reflexive, von Debord angeleitete Psychogeographie der eigenen Gruppenstruktur und der Theoriepositionen ist jedoch nur noch ein Kreisen um sich selbst, die Beweglichkeit der frühen dérive ist der S.I. auf beiden Ebenen nach dem Mai 1968 verloren gegangen. Nur beim genauen Blick auf die Gruppenstruktur ist noch ein letzter Rest dieser dérive erkennbar, denn auch weiterhin gehen Mitglieder unterwegs verloren. Sie gehen allerdings nicht in einer Bewegung verloren, sondern im Stillstand. Nicht wegen einer Bewegung, sondern wegen des Stillstands. Und es gehen nur noch Mitglieder verloren, ohne dass neue hinzukommen, die nochmals für Bewegung sorgen könnten. Alle Versuche, gerade von Debord, noch einmal von der Psychogeographie zur dérive überzuleiten, scheitern in den Jahren zwischen 1969 und 1971. Die S.I. ist - sowohl was die inhaltliche als auch die personelle Vielfalt und Widersprüchlichkeit anbelangt - zu verarmt und sie ist zudem trotz ihres vermeintlichen Rückzugs in die Klandestinität zu sichtbar, besitzt eine zu große Ausstrahlungs- und Anziehungskraft sowohl nach außen als auch auf ihre eigenen Mitglieder, als dass sie sich - wie 1962 - erneut umstrukturieren und neu positionieren könnte, um danach erneut mit ihrer Kritik öffentlich zu agieren. Doch eine letzte Bewegungsoption scheint sie noch zu haben, eine Option jedoch, die die bisherige Richtung ihrer externen und internen Kritik umkehrt, die nicht in die Öffentlichkeit, sondern zum Verschwinden führt. Noch einmal setzt sie sich - beinahe schon reduziert auf die Figur Debord - also in Bewegung, wird von Debord zu einer dérive ins Ungewisse gezwungen. Eine letzte dérive, ein letzter détournement, eine letzte Situationskonstruktion, alles wider die Sichtbarkeit, gegen die récupération, gegen das die Gruppe vereinnahmende Spektakel. Eine letzte dérive, die zwar vom Grad ihrer vorherigen Planung so gar nichts mehr mit den ursprünglichen dérives gemeinsam hat, die aber deren Überraschungsmoment nochmals aufgreift und die ihnen, was das Ergebnis betrifft, um so ähnlicher ist. Man hat gemeinsam in der Zeit den Raum durchschritten, man hat Mitstreiter unterwegs verloren und neue durch die Zufälle des Weges
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hinzugewonnen, man hat den Raum mit allen seinen Faktoren auf sich wirken lassen, diese Wirkungen zu kartieren versucht, um letztendlich ohne etwas Konkretes in der Hand, aber um Erfahrungen reicher zum Ausgangspunkt zurückzukehren. Zu einem Ausgangspunkt, der nicht mehr der Gleiche ist, da die Situationen der zurückliegenden dérives Durchgangsorte ohne Zukunft waren. Der Einzige, der auf dieser dérive schrittgehalten hat mit den sich verändernden Wirklichkeiten, ist einer, der diese Praxis ursprünglich mit erfunden und sie im eigenen Leben eindrucksvoll gelebt hat - in einem Leben als Einzelner, der der Gruppe nur aus der Ferne verbunden war, nachdem er wegen ›Mythomanie, Deutungswahn und mangelndem revolutionären Bewusstsein‹ aus dem Kreis ausgeschlossen worden war. Einer, der seine geistige Beweglichkeit und seine geistige Freiheit auf eine radikale Weise bewahrt hat.
Fazit Insgesamt drei Mal haben wir die S.I. im Laufe der vorliegenden Ausführungen von ihren Anfängen bis zu ihrem Ende begleitet und dabei immer wieder die Perspektive auf das Phänomen der kollektiven Theorieproduktion und der Reflexion der eigenen Gruppenstruktur und Gruppenpraxis verändert. Von der einführenden, eher strukturellorganisatorischen Sicht sind wir zur genaueren Analyse der Mitgliederfluktuation, der Eintritte, Austritte und Ausschlüsse und deren theoretischer Hintergründe gelangt. Zum Abschluss haben wir die S.I. und ihre Entwicklung durch ihre eigenen Theoriekonzepte hindurch betrachtet. Dabei haben wir ihre theoretische und strukturelle Bewegung vom Anfang zum Ende unter verschiedenen Blickwinkeln mit dem Spektakelbegriff, der Frage nach der Kohärenz von Theorie und Praxis sowie den Konzepten des détournement, der récupération, der Situationskonstruktion und schließlich der Psychogeographie und der dérive analysiert. Ein letztes Mal soll nun vom Ende nochmals zum Anfang zurückgekehrt werden, nicht als Kapitulation vor der Materialmenge, sondern als knappe Rekapitulation der Kernaspekte; eine Rückkehr zum Anfang dieser Untersuchung, zu ihren zentralen Fragen, die anhand von Debords Aussage ›Es ist besser, Freunde zu wechseln, als Ideen.‹ prägnant greifbar werden bzw. vorgestellt wurden.1 In unserer mikrosoziologischen Perspektive stand die S.I. als theorieproduzierende Gruppe im Mittelpunkt, um beim Blick auf diesen sozialen Zusammenhang zu analysieren, welche theoretischen Positionen von gesamtgesellschaftlicher Relevanz, vor allem aber in Bezug auf die eigene Gruppe dort entwickelt wurden. Die dabei herausgearbeiteten engen Zusammenhänge und Wechselwirkungen zwischen der Ebene der Theorieproduktion und den Gruppenprozessen, die die eine Ebene jeweils als Hintergrund und Resultat der anderen erscheinen lassen, verweisen auf die Fruchtbarkeit dieser eng angelegten Untersuchungsperspektive und lassen zugleich das Eingangszitat Debords in neuem Licht erscheinen. Können Freunde und Ideen tatsächlich gegeneinander gestellt bzw. ausgespielt werden? Übersieht man dabei nicht die Tatsache, dass die Idee, ihre Entstehung und Weiterentwicklung nicht von dem sozialen Zusammenhang der Gruppe und den in ihr vorhandenen interpersonellen Beziehungen getrennt zu verstehen ist? Ist die Idee nicht bereits selbst ein sozialer Zusammenhang oder zumindest das Ergebnis eines solchen? Oder umgekehrt: Bildet sich der soziale Zu1 | Bei dieser Rückkehr zum Anfang der vorliegenden Untersuchung rekurrieren wir zugleich auf das Ende einer anderen Studie (vgl. Eßbach (1988), S. 417ff.).
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sammenhang nicht um eine - anfangs noch vage - Idee herum? Sind die Veränderungen auf der Ebene der Idee überhaupt von den Veränderungen der Gruppenzusammensetzung und -struktur zu trennen? Fallen diese zwei Aspekte nicht in der Frage ›Wer sind wir und was wollen wir?‹ zusammen und prägen sie nicht gerade gemeinsam in der kontinuierlichen Aktualisierung dieser Frage die S.I.? Die Bedeutung dieser Frage nach dem ›Wer?‹ und ›Was?‹ der eigenen Gruppe lässt sich daraus ableiten, dass die gemeinsame Arbeit an einer Idee im Rahmen einer Gruppe stets sehr viele Unwägbarkeiten enthält, viel Raum für Unvorhersehbares bietet. Weder die Entwicklung der Idee noch diejenige der Gruppe scheint vorhersehbar oder planbar zu sein. Der Umgang mit dieser Unabsehbarkeit ist eine der spezifischen Herausforderungen der Intelligenz als sozialem Zusammenhang. Bei der S.I. wurde deutlich, dass auch der Umgang mit der Unerwartbarkeit selbst wieder unerwartbar ist und sich grundlegend wandeln kann. Denn hier ließen sich zwei verschiedene Arten des Umgangs mit dieser Unabsehbarkeit herausarbeiten: Eine erste in der Phase bis 1962 (oder, wenn auch weniger eindeutig, bis 1965) versuchte, sie in ihrer Unabwägbarkeit zunächst zu akzeptieren, sie als konfliktreiche Suchbewegung zu verstehen und sie gewissermaßen ungeplant laufen zu lassen, während in der zweiten Phase ab 1966 oder spätestens ab 1968 der Versuch im Mittelpunkt stand, sowohl die Theorie als auch die eigene Gruppenstruktur greifbarer und erwartbarer zu machen. Diese Formalisierung führte jedoch nicht zu einer Verringerung des Konfliktpotentials, sondern lediglich zu einer Verschiebung von produktiven zu lähmenden Auseinandersetzungen. Die Frage nach der Selbstdefinition der Gruppe verbindet aufs engste sowohl die Theorie mit der Praxis der eigenen Gruppe als auch die darüber hinausgehende allgemeine Theorie mit der dazugehörigen Praxis - und zudem im Falle der S.I. diese beiden Felder nochmals miteinander. Die Selbstdefinition soll einerseits die Theorieproduktion erleichtern und die Mitglieder motivieren und setzt andererseits klare Grenzen, legt fest, was zur Gruppe gehören, was innerhalb der Gruppe an Widersprüchen ausgehalten werden kann und was sich außerhalb ihrer Grenzen befindet. Auch diese Grenzziehung verweist, dadurch dass sich die durch sie eingeführte Unterscheidung zwischen zugehörig und nichtzugehörig stets sowohl auf die Ebene der Theorieposition als auch auf diejenige der Mitgliedschaft bezieht, auf den grundlegend sozialen Charakter der Idee. Die oben skizzierte Unterscheidung zweier Phasen des Umgangs mit der Unwägbarkeit, die eine offene und eine immer abgeschlossener werdende Selbstdefinition kontrastiert, lässt sich durch eine zweite Sichtweise ergänzen. Die Selbstdefinition stellt dabei zunächst einen Versuch dar, die Bedeutungsvielfalt im Prozess der Ideenproduktion im Inneren der Gruppe handhabbar zu machen, die Vielfalt zu reduzieren und die Positionen zu vereinheitlichen, wie dies in der S.I. vor allem bis 1962 zu beobachten war. In einem zweiten Schritt dient
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diese so entwickelte Selbstdefinition dann dazu, dass sich die Gruppe auch nach außen klar positionieren kann, dass sie aus der klandestinen Suchbewegung zu einer öffentlichen Positionierung übergeht, wie die S.I. dies ab 1966 nach und nach unternimmt. Damit aber wird deutlich, dass die Frage ›Wer sind wir und was wollen wir?‹ eine doppelt umkämpfte Grenzziehung darstellt, die sowohl beim Blick aus dem Inneren der Gruppe als auch beim Blick von außen von zentraler Bedeutung vor allem aber im Falle der S.I. permanent umstritten ist. Die Frage ›Wer sind wir und was wollen wir?‹ scheint die S.I. damit zu beantworten, dass sie eine Gruppe ist, die permanent fragt, wer sie ist und was sie will. Dabei lassen sich zwei Konstellationen ausmachen, in denen diese Selbstdefinition als permanente Frage der Selbstdefinition besonders aktuell und problematisch wird. Beide lassen sich als Momente des Umbruchs beschreiben. Die erste dieser Situationen des Umbruchs ist weniger eine Situation als vielmehr eine Phase: von der Gründung bis 1962. In dieser Zeit ist die S.I. ein permanenter Umbruchprozess, ein Streit und ein Konkurrieren teilweise grundverschiedener Antworten auf die Frage der Selbstdefinition. Als konkrete Situation des Umbruchs, in der die Frage der Selbstdefinition aktuell wird, ist der Moment anzusehen, in dem dieser anfängliche Suchprozess 1962 zum Ende kommt. An diesem Punkt ist die Bedeutungsvielfalt innerhalb der Gruppe reduziert und eine erste Positionsbestimmung vollzogen worden - eine Positionsbestimmung jedoch, mit der sich nur wenige der bisherigen Mitglieder identifizieren können, wollen oder dürfen. Durch diese Ausgrenzung bislang innerhalb der Gruppe prozessierbarer grundlegender Differenzen jedoch verliert sowohl die Idee als auch die Frage der Selbstdefinition bereits an diesem Punkt einen Großteil ihres sozialen, vor allem aber ihres dialogischen Charakters. Die S.I. beginnt hier gewissermaßen, sich von ihren Mitgliedern zu lösen, wird zum abstrakten Repräsentanten einer von den konkreten Mitgliedern losgelösten Idee. Die S.I. bleibt zwar auch weiterhin eine theorieproduzierende Gruppe, die um Ideen streitet und sie weiterentwickelt und auch weiterhin die Frage der Selbstdefinition aktualisiert. Allerdings verändert sich diese dahingehend, dass sie nicht mehr ›Wer sind wir und was wollen wir?‹, sondern ›Wer ist die S.I. und was will sie?‹ zu lauten scheint. Die Idee, so beweglich sie auch jetzt noch sein mag, ist gegeben; sie wird zwar im sozialen Zusammenhang der Gruppe diskutiert und weiterentwickelt, geht diesem jedoch zeitlich voran. Traten die Mitglieder anfangs in eine Gruppe ein, um dort eine noch sehr unvorhersehbare Idee zu entwickeln bzw. ihren Beitrag zu dieser Entwicklung zu leisten, so scheint man nun mehr und mehr einer Idee beizutreten, die in einem Gruppenkontext vorzufinden ist. Von einem Ort der gemeinsamen Ideenproduktion entwickelt sich die S.I. vor allem für einige der später eingetretenen Mitglieder mehr und mehr zu einem Ort der Konsumption dieser Ideen. Ließen sich die Konfliktlinien zwischen den Mitgliedern bis 1962 an
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den differierenden Positionen bezüglich der noch zu entwickelnden Idee festmachen, so verlagern sie sich teilweise auf verschiedene Generationen von Mitgliedern: diejenigen, die der Gruppe bereits in der Phase der ungewissen Offenheit angehörten und die Idee mitentwickelt haben, und diejenigen, die sich dieser Idee erst später angeschlossen haben und sie ›nur noch‹ weiterentwickeln können. Damit geht noch eine weitere Veränderung einher, die die in der Gruppe vorhandenen interpersonellen Beziehungen und deren Intensität betrifft. Waren diese in der Phase bis 1962 klar erkennbar und vor dem Hintergrund der noch unbestimmten gemeinsamen Idee dringend notwendig, um überhaupt eine Bindung innerhalb der Gruppe bzw. an die Gruppe herzustellen, so verlieren sie mehr und mehr an Bedeutung, treten gegenüber der Bindung des Einzelnen an die abstraktere Einheit der Gruppe zurück. Was sich hier im Zusammenspiel mit der immer klarer zu beantwortenden Frage ›Was wollen wir?‹ verändert, ist der Blickwinkel auf die Frage ›Wer sind wird?‹ Nicht nur, dass diese in Bezug auf die konkreten Mitglieder vor 1962 bis auf wenige Ausnahmen vollständig anders zu beantworten ist als danach - auch die Formulierung der Antwort ändert sich. Es heißt nun nicht mehr ›Wir alle zusammen, ausgehend von unseren interpersonellen Beziehungen und mit dem gemeinsamen Interesse an einer offenen Theoriebildung bilden die S.I.‹, sondern die Antwort lautet nun eher ›Ich bin Mitglied der S.I., weil ich ihre Theorie unterstütze‹ oder ›Ich und er und sie sind Mitglieder der S.I., weil wir ihre Theorie unterstützen.‹ Der Schwerpunkt der bestehenden Bindungen verlagert sich von der interpersonellen zur organisatorischen Ebene, von der Freundschaft zur Mitgliedschaft. Dies liefert auch einen Teil der Erklärung, warum die Bewegung der Austritte und Ausschlüsse auch nach der Beendigung der grundlegenden Konflikte im Prozess der Theorieproduktion anhält: die Mitgliedschaft ist eine wesentlich losere Bindung als die interpersonelle Beziehung, ermöglicht längst nicht so ein großes Maß an inhaltlichen Differenzen im Inneren der Gruppe und trägt daher nicht zu einer konfliktreichen - damit aber auch produktiven - Weiterentwicklung der Theorie bei. Die zweite Situation des Umbruchs, in der die Selbstdefinition problematisch wird, unterstützt diese schrittweise Erstarrung der Idee. Hierbei steht nicht mehr das Problem konkurrierender Definitionen im Mittelpunkt, sondern die Konfrontation der bestehenden Gruppendefinition mit ihrem Außen, die zunächst im Inneren eine genaue Fixierung dieser Definition notwendig macht, die dann - einmal in Umlauf geraten - auch von außen immer wieder als fixierte an die Gruppe herangetragen wird. Diese Festsetzung der S.I. durch ihr gesellschaftliches Umfeld erfolgt in zwei Schritten, in Straßburg 1966 und vor allem dann im Mai 1968 in Paris. Die S.I. wird hier sichtbar und greifbar, aus der unbestimmten und in einer Art klandestinem Freundeskreis agierenden und Differenzen austragenden Theorie- und Gruppenbewegung wird die öffentliche Position einer Organisation, die sowohl in der Außenwahrnehmung, aber
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auch im Inneren immer klarer und unbeweglicher wird. Dabei wird auch die Tendenz zur Formalisierung fortgesetzt, denn nicht nur inhaltlich, sondern auch bezüglich der Organisationsstruktur verlangt das Mehr an Öffentlichkeit eine klare Festlegung. Doch auch die interne Entwicklung der Gruppe begünstigt dies. Zum einen machen die fehlenden oder weniger stark ausgeprägten interpersonellen Beziehungen eine immer formalere Regelung des Umgangs miteinander sowie der Frage der Zugehörigkeit notwendig und zum anderen sorgt die mehr oder weniger abgeschlossene Theorieproduktion, die Erstarrung der Idee dafür, dass die für eine umfangreiche Organisationsdebatte notwendigen Kapazitäten überhaupt vorhanden sind. Die Geschlossenheit der Idee hat somit eine verstärkte Fixierung auf die Frage der Organisationsstruktur zur Folge, die dadurch selbst immer formaler und geschlossener wird. Die Beweglichkeit beschränkt sich mehr und mehr auf die Bewegung des Eintritts, Austritts und Ausschlusses sowie der theoretischen Reflexion derselben. Diese Beweglichkeit ist jedoch nicht mehr Resultat und Ursache der Beweglichkeit auf der Ebene der allgemeineren Theorieproduktion, sondern ersetzt diese. Es lässt sich also in der Gesamtbetrachtung der S.I. feststellen, dass die Offenheit und Geschlossenheit von Idee und Gruppenstruktur eng miteinander verwoben sind. Zwar ist die Frage nach der Mitgliedschaft sowie nach Eintritt, Austritt und Ausschluss von Anfang an von zentraler Bedeutung, dennoch lässt sich ein Wandel von einer Phase der Offenheit in Ideenproduktion und Gruppenstruktur hin zu einer Phase der Festschreibung bzw. Geschlossenheit dieser beiden Aspekte diagnostizieren. Diesem Wandel entspricht eine vergleichbare, jedoch in der Abfolge umgekehrte Veränderung auf der Ebene der interpersonellen Beziehungen: Offenheit bei Ideenproduktion und Gruppenstruktur sind in einer Phase erkennbar, die von relativ engen interpersonellen Beziehungen geprägt ist, während in der Phase der inhaltlichen und strukturellen Geschlossenheit die weniger enge Bindung der bloßen Mitgliedschaft dominiert. Die S.I. beginnt als ein auf interpersonellen Beziehungen basierendes Sich-Gruppieren um eine vage Idee, um einen noch offenen Mittelpunkt, als ein auf der persönlichen Ebene zusammengehaltenes Ringen um Ideen mit noch unklarem Ziel. Und sie endet als eine auf Mitgliedschaft basierende, sich klar und öffentlich positionierende Organisation, die auch von außen immer mehr ›festgehalten‹ wird und sich gerade beim Versuch, dieser Festsetzung zu entgehen auch im Inneren immer mehr blockiert. Dies führt letztendlich dazu, dass die S.I. sich selbst deutlich kritischer gegenübertritt, als dies von außen geschieht gerade die affirmative Haltung des Außen scheint sie in ihrer Selbstkritik zu bestärken. Die Entbehrlichkeit der S.I. wird dementsprechend auch nicht, wie dies sonst im intellektuellen oder avantgardistischen Feld häufig der Fall ist, von außen festgestellt, sondern von der Gruppe selbst, einer Gruppe jedoch, die an diesem Punkt schon beinahe vollständig auf Debord reduziert ist. Nicht im gemeinsamen Dialog, sondern als
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einsame Entscheidung erklärt sich die S.I. für entbehrlich. Diese Entbehrlichkeit bezieht sich aus Sicht der S.I. allerdings gerade nicht auf ihre Ideen, sondern auf die S.I. als Gruppe, deren formalistische Erstarrung die Idee und ihre Entwicklung ebenfalls hat erstarren lassen. So wie die Gruppe am produktivsten agierte, als sie noch nicht über eine ausformulierte und somit festgelegte Position verfügte, so kann sich nun die Idee nur außerhalb des sichtbaren und erstarrten Gruppenrahmens weiterentwickeln - eine Sichtweise, die durch die vielfältigen Anknüpfungen an diese Theoriepositionen in den Folgejahren auch bestätigt wird. Fassen wir zusammen: Je mehr die S.I. sich nach außen bewegt, desto weniger bewegt sie sich selber. In Bezug auf die Theorieentwicklung ist daher nicht die Unterscheidung zwischen einer künstlerischen und einer politischen Phase aufschlussreich, sondern die zwischen einer beweglichen und einer unbeweglichen bzw. einer umherschweifendsuchenden, klandestinen und einer zielgerichteten, positionierten öffentlichen Phase; zwischen einer Phase der internen Suche und Entwicklung der Position aus Widersprüchen heraus und dem sich daran anschließenden Versuch der Umsetzung dieser Theorie nach außen. Dabei ist in Bezug auf die Gruppenstruktur zu erkennen, dass hier eine vergleichbare Entwicklung vom klandestinen, interpersonell-informellen zum klar strukturierten, transparenten, formalisierten Modell zu erkennen ist. Dabei erfolgt die Entwicklung von der Offenheit zur Geschlossenheit auf der Ebene von Theorie und Gruppenstruktur einerseits und von interpersonellen Beziehungen andererseits gegenläufig. Die permanent von der S.I. selbst gestellten Fragen nach dem ›Wer?‹ und dem ›Was?‹, nach der Zusammensetzung und der Zielsetzung müssen auch beim Blick von außen zusammen gestellt werden, denn inhaltliche und strukturelle Entwicklung bedingen sich gegenseitig und sind beide im höchsten Maße abhängig von den Trägern der Gruppe und der Art und Intensität ihrer interpersonellen Beziehungen. Der Wendepunkt dabei ist und bleibt der Austritt von Jorn, mit dem das Denken in Widersprüchen, die produktive Streitkultur, die bewegliche Vielfalt aus der Gruppe verschwindet. Mit dem Verschwinden der zentralen Freundschaftsdyade aus dem Gruppenkontext - das gerade nicht das Ende, sondern die Fortsetzung der Freundschaft zwischen Debord und Jorn zur Folge hat - ist der Grundstein gelegt für ihre schrittweise inhaltliche Reduktion und organisatorische Formalisierung, die schließlich in der letzten Bewegung ihrer Aufhebung mündet; einer Aufhebung, wie sie auch Jorn gefallen hätte; einer Aufhebung, die zeitlich so erfolgt, dass die Neuauflage von Jorns Pour la forme, dessen Erstausgabe 1957 mit der Gründung der S.I. zusammenfiel, für Debord auch den Schlusspunkt unter die S.I. zu setzen scheint. Ein Zufall sicherlich, aber ein Zufall, der symbolisch auf die Bedeutung dieser Freundschaft nicht nur für die an ihr Beteiligten, sondern auch für ›ihre‹ Gruppe, die S.I., verweist. Mit diesem Schlusspunkt ist die S.I. als Gruppe auf ihrer dérive also
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1972 an ihrem Ende angelangt, einem Ende, das sie in gewisser Weise wieder zu ihren Anfängen zurückgeführt hat; einem auf der Ebene der Theorie offenen Ende, das einen erneuten Anfang ermöglicht. Einem Ende, das der Ausgangspunkt weiterer Fragen ist. Diese bleiben jedoch an diesem Punkt so offen, wie das Ende der S.I. »Les idées situationnistes, sans doute, iront bien au-delà de cette organisation délimitée, si indispensable que doive être reconnu son rôle, et précisément parce qu’elle s’est toujours prononcée pour l’autonomie de tous. Ces idées se sont déjà mêlées, et ne cesseront de se développer, dans le jeu nouveau qui revendique maintenant le détournement total des conditions existantes.«2
Die Herstellung und Auflösung von Verbindungen sowohl interpersoneller als auch theoretischer Art kommen zumindest im Rahmen der S.I. zu ihrem Ende. Die S.I. löst sich auf und übergibt damit ihre Ideen der Geschichte. Und genau an diesem Punkt ist auch die vorliegende Ideengeschichte der S.I. an ihrem Ende angelangt.
2 | Debord (1971b), S. 387.
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Personen- und Gruppenregister
2. Situationistische Internationale, 164, 318, 319, 325– 327, 397, 400, 401, 404, 410 A.F.G.E.S. (Association Fédérative Générale des Étudiants de Strasbourg), 188, 189, 426, 431–435, 439 Adbusting, 14 Alberts, Anton, 167, 242, 246, 250, 285–287, 349, 351, 366, 367, 370, 381, 391 Alechinsky, Pierre, 116, 326 Appel, Karel, 116 Aragon, Louis, 93 Armando, 167, 242, 246, 269, 347, 349, 350, 381 Arnaud, Noël, 116, 326 Baj, Enrico, 116, 117, 179 Bauhaus Situationniste, 318, 325 Beaulieu, François de, 25, 165, 200, 238, 273, 276–278, 330, 479, 501 Becker-Ho, Alice, 26–28, 263 Berna, Serge, 115 Bernstein, Michèle, 61, 107, 115, 117, 118, 136, 146, 167, 191, 213, 216, 226, 227, 262–271, 301, 311, 345, 352, 354, 359, 368, 405, 509, 519 Bookchin, Murray, 448 Brau, Eliane, 29 Brau, Jean-Louis, 29, 115 Breton, André, 50, 93, 108, 109 Bulsara, Farrokh, 11
Cesoni, Puni, 234 Chasse, Robert, 164, 446, 474– 476 Cheval, Patrick, 165, 238, 273, 276, 277, 330 Chevalier, Alain, 238, 471, 501 Chtcheglov, Ivan (Ivain, Gilles), 26, 115, 150, 158, 164, 166, 169, 180, 191, 208, 209, 216, 226, 227, 264, 320, 357, 405, 415, 534, 566 Clarke, Timothy, 446 CoBrA, 31, 53, 105, 113–117, 243, 244, 321, 326, 497 Collège de ’Pataphysique, 326 Comité Enragés/Situationnistes, 57, 238, 239 Constant, 25–27, 29, 35, 48, 106, 112, 115–117, 138–141, 154, 165, 166, 168, 173, 176–178, 185–187, 198, 203, 208–210, 214, 226, 242–255, 260, 269, 277, 283–303, 305–311, 317, 321, 322, 328, 329, 331, 332, 334, 350, 366–372, 375, 376, 379, 386, 390, 391, 398, 525, 528, 529, 534, 536, 537, 546, 547, 556 Culture Jamming, 14 Dabrowski, Richard, 234 Dada, 14, 15, 31, 33, 61, 62, 84, 85, 89, 92–95, 102–105, 107–111, 113, 115, 131,
626 | Situationistische Internationale
142–144, 147, 152, 156, 190, 248 Dahlmann-Olsen, Robert, 163 Dahou, Mohamed, 115, 117, 164, 191, 227, 241, 261, 262, 264, 353 Dangelo, Sergio, 116 Debord, Guy, 11, 12, 23–30, 34– 36, 41, 43, 47, 48, 50, 85, 95, 105–107, 112, 115, 117–121, 127, 130, 131, 133, 135–137, 139, 141, 146–151, 153, 155, 157, 158, 160, 163, 166– 168, 173, 175–177, 179– 181, 184–189, 191–200, 203, 208–210, 212, 215, 216, 219, 220, 225–227, 229–231, 233–236, 241– 255, 257, 260, 262–275, 278, 282–317, 319–321, 324, 325, 329–332, 340, 342, 343, 345, 348–350, 352–356, 358–364, 366– 368, 370–374, 376–378, 382–387, 389–398, 400, 402, 403, 405, 406, 410– 416, 421–423, 428, 432, 437, 438, 440, 442, 443, 451–453, 457–469, 471– 473, 479, 483, 485, 487, 492–499, 501–503, 505– 507, 511–513, 521–525, 528–532, 534, 536–541, 544, 547, 550, 552, 559, 561, 564, 565, 567, 571, 572 Dotremont, Christian, 116, 117, 326 Eisch, Erwin, 242, 249, 263, 347, 348, 381, 389 Elde, Ansgar, 165, 242, 272, 318, 326, 348, 382, 384, 391, 394–396, 398 Elwell, Bruce, 474–476
Enragés, 30, 238–240, 251, 459, 460, 497 Ericson, Bengt, 163 Experimentele Groep, 116 Falcou, Hervé, 26 Fillon, Jacques, 118 Fischer, Klaus, 117 Fischer, Lothar, 242, 383, 384, 388 Fjord, Ambrosius, 163 Frankin, André, 164, 188, 227, 241, 264, 273 Frey, Édith, 64, 167, 262, 263, 417, 422, 441 Frey, Théo, 64, 167, 263, 417, 422, 425, 441 Futurismus, 84–86, 92–95, 102– 104 Garnault, Jean, 167, 417, 422, 438 Garnaultins, 276, 422–426, 432, 435–441, 445, 447, 449, 457, 497, 546 Gashé, Rodolphe, 164, 234, 325, 326, 416 Glob, P.V., 163 Graffin, Gregory Walter, 11 Gray, Christopher, 446 Gruppe Spur, 24–27, 29, 31, 35, 48, 62, 103–106, 109, 111, 167, 168, 173, 178, 180, 195, 242, 247–253, 269, 272, 285, 287–289, 309–314, 318, 320, 322, 324–327, 348, 364, 365, 376, 377, 380–398, 403, 404, 414, 415, 421, 497, 518, 528, 534, 546, 547 Høst, 113–116 Hartstein, Anton, 164, 166, 234– 240, 251, 415, 421, 422 Helhesten, 115 Höfl, Heinz, 242, 249, 261, 389
Personen- und Gruppenregister | 627
Holl, Herbert, 167, 234, 236, 417, 422, 425 Horelick, Jon, 229, 474, 475, 494, 495, 504 Internationale anarchiste, 443 Isou, Isidore, 115, 148 Johansson, Ingemar, 163 Jong, Jacqueline de, 25, 167, 168, 180, 234, 242, 262–265, 269–272, 311, 317–320, 324–326, 348, 350, 382, 383, 391, 392, 394–397, 403 Jorn, Asger, 24, 25, 27, 29, 34, 35, 41, 43, 48, 50, 64, 105, 106, 115–118, 137, 146, 147, 149, 150, 165–168, 173, 176–180, 185, 188, 189, 191, 194, 195, 198, 208–210, 214–216, 225– 227, 242–255, 262, 265– 272, 277, 283–290, 292, 294, 300–334, 348, 352– 354, 361, 363, 364, 368, 372, 373, 376, 380–382, 386, 387, 395, 400–402, 410, 411, 458, 466, 519, 521–525, 528–532, 534, 536, 537, 539, 546, 547, 561, 564, 572 Joubert, Daniel, 423 Keller, George, 165, 194, 252, 267, 271, 272, 320, 323, 327– 329 Khatib, Abdelhafid, 164, 227, 241, 261, 262, 264, 352, 556 Khayati, Mustapha, 26, 173, 186, 188, 189, 198, 214, 235, 255, 278–282, 331, 362, 417, 422, 423, 425, 432, 433, 435, 489, 534 Knyphausen, Gisbert zu, 539
Korun, Walter (Groof, Piet de), 25, 116, 164, 227, 241, 351, 360–363 Kotányi, Attila, 169, 192, 198, 234, 324, 342, 368, 377, 380, 382–384, 393, 394, 404–412, 415, 416, 418, 419, 547 Kotik, Jan, 117, 163 Kunzelmann, Dieter, 25, 242, 325, 382–384, 388, 390, 393 Laboratorio Sperimentale (du M.I.B.I), 105, 106, 113, 115, 117 Larsson, Steffan, 165, 242, 318, 347, 348, 396 Laugesen, Peter, 168, 180, 242, 404–408, 412 Lausen, Uwe, 166, 169, 242, 324, 382–384, 386, 393, 394, 404, 405, 412–419 Le Corbusier, 138, 140, 141 Lefebvre, Henri, 21, 57, 121, 122, 125, 136, 140, 235, 335 Lettrismus, 113–115, 127, 148, 497 Lettristische Internationale (L.I.), 18, 24–26, 30, 31, 105, 113–115, 117, 118, 127, 133, 137, 138, 148, 150, 164, 179, 209–211, 213, 227, 262, 264, 304, 321, 343, 345, 380, 391, 405, 525, 531, 539, 556, 558, 561, 563 Lindell, Katja, 165, 242, 262, 263, 318, 347, 348, 396 Linien, 115 Loo, Otto van de, 25, 26, 106, 247, 248, 305, 309–315, 322, 335, 376–379, 383, 384, 386, 387 Lungela, Ndjangani, 261 Martin, Jeppesen Victor, 166, 168,
628 | Situationistische Internationale
242, 314, 403, 405, 406, 416, 452, 476, 501, 502, 506 Martos, Jean François, 27–29 Melanotte, Giors, 64, 117, 164, 167, 169, 227, 241, 242, 285, 288, 348, 351–354, 365–367, 370, 381 Morea, Ben, 447, 448 Mosconi, Patrick, 26, 185 Mouvement des occupations, 30 Mouvement International pour un Bauhaus Imaginiste (M.I.B.I.), 31, 105, 113, 115–118, 164, 227, 304, 321, 355 Movimento Nucleare, 113, 116 Nash, Jørgen, 64, 115, 164, 165, 172, 178, 242, 263, 272, 317–319, 324–326, 348, 377, 381, 382, 384, 387, 391, 392, 394–398, 403, 407, 410, 414 Nashisten/Nashismus, 195, 272, 276, 318, 396, 398, 399, 403–405, 409–411, 421, 424, 425, 438, 439, 441, 449, 528, 546, 547 Nele, Renée, 242, 262, 263, 347, 348 Nicholson-Smith, Donald, 421, 446, 448, 450 Nieuwenhuys, Jan, 116 Olmo, Walter, 117, 118, 166, 169, 226, 285, 321, 351–356, 381 Oudejans, Har, 167, 242, 246, 247, 250, 285–287, 294, 298, 349, 351, 366, 367, 369, 370, 381, 391, 398 OuLiPo, 326 Ovadia, Jacques, 233, 234, 261
Pavan, Claudio, 169, 476, 480, 501 Perec, Georges, 135, 136, 148, 149 Perniola, Mario, 234, 459–461 Picabia, Francis, 104 Pinot-Gallizio, Giuseppe, 25, 27, 29, 34, 35, 48, 64, 113, 114, 116–118, 146, 150, 163, 164, 166–169, 173, 176–178, 191, 198, 226, 227, 242–245, 247–250, 253–255, 265–267, 269, 271, 284, 285, 288, 289, 291–293, 299, 300, 306, 334, 348, 352–355, 360, 361, 363, 366–376, 378– 381, 383, 387, 520, 534, 536, 547, 552 Platschek, Hans, 168, 203, 242, 248, 249, 351, 363–365, 381 Pommerand, Gabriel, 115 Prem, Heimrad, 107, 174, 242, 249, 263, 315, 377, 383, 384, 389, 393 Psychogeographisches Komitee, 113, 115, 118 Rada, Pravoslav, 117 Radcliffe, Charles, 273 Reclaim the Streets, 14 Reflex, 113, 114, 116 Renson, Rudi, 165, 167, 169, 170, 273, 405, 419, 420 Riesel, René, 189, 196, 199, 200, 238, 239, 464, 479, 487, 489, 499, 501, 506 Rivabella, Augusta, 163 Rothe, Eduardo, 169, 277, 278, 476, 479, 480 Rumney, Ralph, 25, 118, 166, 168, 169, 226, 285, 321, 351– 354, 357–360, 365, 381, 556
Personen- und Gruppenregister | 629
Salvadori, Paolo, 169, 277, 476, 492–494 Sandberg, Willem, 292, 375 Sanguinetti, Gianfranco, 169, 173, 255, 476, 492, 493, 501, 506, 507, 534 Sartre, Jean-Paul, 128 Schneider, André, 431, 432 Sebastiani, Christian, 200, 238, 273, 276–278, 330, 479, 486, 487, 492, 501 Sensenhauer, Cristina, 234 Sex Pistols, 14, 31 Simondo, Piero, 25, 113, 114, 116– 118, 166, 169, 226, 263, 285, 326, 351–354, 356, 381 Skandinavisches Institut für vergleichenden Vandalismus, 326, 327 Socialisme ou Barbarie, 30, 230, 234, 336, 428 Sottsass, Ettore, 116, 118 Stadler, Gretel, 242, 249, 263, 347, 348 Straram, Patrick, 115, 163, 208, 226 Strid, Hardy, 165, 166, 242, 318, 347, 348, 396 Strijbosch, Jan, 167, 169, 404, 405, 419–421, 426 Sturm, Helmut, 25, 242, 249, 320, 374, 383, 384, 389, 393 Supak, Maria Isabel, 506 Surréalisme Révolutionnaire, 113, 114, 116 Surrealismus, 14, 15, 23, 30–33, 53, 61, 62, 84–86, 89, 92–95, 102–105, 107– 113, 115, 129, 131, 134, 142, 143, 145, 146, 151, 345 Swedberg, Richard, 163 Tlili, Béchir, 164 Travers, Phil, 164
Trocchi, Alexander, 164, 227, 264, 273–276, 405, 407, 408 Tzara, Tristan, 93 Vaneigem, Raoul, 25, 29, 34, 107, 121, 136, 164, 168, 169, 171, 173, 182, 185, 189, 192, 193, 196, 198, 212, 214, 218, 219, 222, 228, 230, 235, 236, 242, 255, 263, 282, 283, 324, 342, 343, 380, 382–384, 386, 393, 394, 405, 413, 415, 441–443, 446, 447, 465, 467, 479, 487, 501, 511, 525, 534, 547 Vayr-Piova, Bruno, 431, 432 Verlaan, Tony, 164, 446, 474, 475, 479, 494, 495 Verrone, Elena, 117, 118, 166, 169, 226, 263, 285, 321, 351–354, 356, 381 Viénet, René, 189, 200, 234, 273, 405, 479, 499, 501, 505 Vian, Boris, 326 Wolman, Gil J., 115, 117, 118, 146, 211 Wuerich, Glauco, 164, 167, 169, 227, 241, 242, 285, 288, 347, 348, 352, 354, 370, 381 Wyckaert, Maurice, 25, 106, 188, 191, 296, 309–313, 315, 362, 363, 365, 366, 368, 376–381, 386 Zimmer, Hans-Peter, 25, 26, 103, 242, 248, 249, 305, 325, 383, 384, 389, 393
Kulturen der Gesellschaft Stefan Bauernschmidt Fahrzeuge auf Zelluloid Fernsehwerbung für Automobile in der Bundesrepublik des Wirtschaftswunders. Ein kultursoziologischer Versuch April 2011, ca. 254 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1706-1
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