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German Pages 391 [394] Year 2011
Martin Lutz Siemens im Sowjetgeschäft
perspektiven der wirtschaftsgeschichte Herausgegeben von Clemens Wischermann und Katja Patzel-Mattern Band 1
Martin Lutz
Siemens im Sowjetgeschäft Eine Institutionengeschichte der deutsch-sowjetischen Beziehungen 1917–1933
Franz Steiner Verlag
Umschlagabbildung: Siemens-Turboaggregat im Torfkraftwerk Šatura bei Moskau (Siemens-Archiv A 158. Das Foto ist nicht genau datiert, es stammt aus den Jahren vor 1934. Die Kleinstadt Šatura liegt ungefähr 120 Kilometer östlich von Moskau.) Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © 2011 Franz Steiner Verlag, Stuttgart Druck: Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-09802-1
Vorwort Das vorliegende Buch zum Sowjetgeschäft von Siemens ist aus einem Projekt hervorgegangen, das im Jahr 2009 an der Universität Konstanz als Dissertation angenommen wurde. Ich danke sehr herzlich meinen Eltern, die mir den weg zum Abitur ermöglicht und mich während meines Studiums unterstützt haben. Prof. Bianka Pietrow-Ennker an der Universität Konstanz hat mich nach dem Magisterstudium zur Fortsetzung an meiner Arbeit über Siemens ermuntert und mir bei der Suche nach einer Finanzierungsgrundlage für das Dissertationsprojekt sehr geholfen. Sie hat mich mit Vertrauen und Zuversicht bis zum Abschluss des Projekts begleitet. während meiner Promotionszeit genoss ich viele Freiheiten, die ich zum Beispiel im rahmen von zwei sehr lehrreichen Auslandsaufenthalten an der russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität in Moskau und an der Columbia University in New York nutzen konnte. Prof. Clemens wischermann, ebenfalls an der Universität Konstanz, hat mich in die welt der Institutionentheorie eingeführt. In seinem Forschungskolloquium hat meine Arbeit ihre theoretische Verortung gefunden und ihre konzeptionelle Gestalt angenommen. Beiden danke ich für die persönliche und fachliche Begleitung meiner Promotion. Prof. Volker Berghahn, Columbia University, hat mich sehr freundlich während meines Aufenthalts als Visiting Scholar in New York aufgenommen und sich bereit erklärt, die rolle des Drittgutachters zu übernehmen. Ich danke Prof. Joachim Blatter, vormals an der Universität Konstanz und mittlerweile an der Universität Luzern, von dem ich wichtige methodische und organisatorische Grundlagen wissenschaftlichen Arbeitens gelernt habe. Herr Helmut Maurer, Prof. em. der Universität Konstanz, hat mir sehr dabei geholfen, während des oft trockenen Studiums meine Freude an der Geschichte zu bewahren. Besonders herzlich danke ich dem Leiter des Siemens-Archivs Dr. Frank wittendorfer sowie seinen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen. Herr wittendorfer hat mich schon während meines Studiums unterstützt und hat großen Anteil daran, dass ich meine Arbeit über das Sowjetgeschäft von Siemens zu Ende bringen konnte. Herrn Christoph Frank danke ich für seine Unterstützung bei Auswahl und Bearbeitung der Bilder und dem Besucherbetreuer Herrn Ulrich Kreutzer für die vorzügliche Betreuung während meiner Archivaufenthalte. Von Seiten des SiemensArchivs gab es zu keinem Zeitpunkt den Versuch einer inhaltlichen Einflussnahme. Für den Inhalt meiner Arbeit bin allein ich verantwortlich. Für inhaltliche Anregungen und sprachliche Korrekturen danke ich: Benjamin Geissert, Yvonne von Hunnius, Sven Jüngerkes, Angelika Molk, Felix Netzer, tobias ott, Jessica Pape, Henning Petersen, Friederike Plucinski, Anna Pohlschmidt, Eva Schnadenberger, Michael Vögele, Carolin weckert und Andrea ZemskovZüge. Letzterer danke ich auch für ihre Hilfe bei der Übersetzung russischer Zitate. Ein kollektiver Dank geht an die von Dr. Sibel Vurgun geleitete Schreibgruppe an
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Vorwort
der Universität Konstanz sowie an die Arbeitsgruppe in der Staatsbibliothek zu Berlin. Bedanken möchte ich mich bei der Studienstiftung des Deutschen Volkes, die mich im rahmen eines Promotionsstipendiums nicht nur finanziell unterstützt hat. Die VG wort hat mir einen Druckkostenzuschuss für die Publikation gewährt. Ich danke den Herausgebern Prof. Clemens wischermann und Prof. Katja Patzel-Mattern für die Aufnahme des Buchs in die reihe Perspektiven der wirtschaftsgeschichte. Dem Franz Steiner Verlag und insbesondere Herrn Harald Schmitt danke ich für die Hilfe bei der Vorbereitung der Publikation. Ich widme das Buch meiner Frau Corey Barber und danke ihr sehr herzlich für die Unterstützung in den vergangenen Jahren.
INHALtSVErZEICHNIS Teil I Untersuchungsgegenstand ..................................................................... 17 1 Einleitung ........................................................................................................ 17 2 Problemstellung .............................................................................................. 2.1 Forschungsdiskussion ............................................................................... 2.2 Forschungskritik ....................................................................................... 2.3 Fragestellung ............................................................................................
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3 theoretischer rahmen .................................................................................... 3.1 Unternehmen und transnationale Beziehungen ........................................ 3.2 Neue Institutionenökonomik und akteurszentrierter Institutionalismus... 3.3 Erklärungsmodell und Arbeitshypothesen ................................................
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4 Methodischer Ansatz....................................................................................... 4.1 Präzisierung der analytischen Begriffe ..................................................... 4.2 Umsetzung des methodischen Konzepts .................................................. 4.3 Quellen......................................................................................................
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5 Das Unternehmen Siemens bis 1914 .............................................................. 81 Teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen Wandels .................................................................................. 87 1 Zeitraum 1917–1921: Die fundamentale Krise............................................... 92 1.1 Historischer Überblick: Von Brest-Litovsk in die Nachkriegszeit ........... 92 1.2 Informationen und wissen über Sowjetrussland ...................................... 104 1.3 L. B. Krasin und Siemens ......................................................................... 108 1.4 Verfügungsrechte I: Enteignung und Entschädigung ............................... 113 1.5 Verfügungsrechte II: Konzessionen und internationales Konsortium ...... 119 1.6 wege aus der Krise ................................................................................... 123 2 Zeitraum 1921–1924: Formalisierung und Versagen von Institutionen.......... 129 2.1 Historischer Überblick: Neue Ökonomische Politik und rapallo ............ 129 2.2 Der Aufbau eines wirtschaftlichen Nachrichtendienstes .......................... 141 2.3 Institutionen des sowjetischen Außenhandelsmonopols........................... 145 2.4 Konzessionen und gemischte Gesellschaften ........................................... 149 2.5 Konflikt über die Zukunft der Unternehmensstrategie ............................. 156 2.6 Der Boykott von 1923/24 ......................................................................... 164
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Inhaltsverzeichnis
3 Zeitraum 1924–1928: Der Aufbau institutioneller Sicherungsmechanismen .. 169 3.1 Historischer Überblick: wirtschaftsabkommen und Berliner Vertrag ...... 169 3.2 Staatliche Exporthilfen: Die Kreditfinanzierung ...................................... 177 3.3 Verhandlungen mit dem Schwachstromtrust ............................................ 181 3.4 Deutsche Marktmacht und sowjetische Diversifizierungspolitik ............. 187 3.5 wirtschaftspolitische Störfaktoren: AEG im Šachty-Prozess ................... 192 3.6 Grundlage der Großaufträge: Sicherheit durch Ausfallbürgschaften ....... 196 4 Zeitraum 1928–1933: Die „Blütejahre“ im Sowjetgeschäft? ......................... 199 4.1 Historischer Überblick: Erster Fünfjahresplan und weltwirtschaftskrise .. 200 4.2 Der russlandausschuss der Deutschen wirtschaft ................................... 211 4.3 Siemens und die Großprojekte des ersten Fünfjahresplans ...................... 217 4.4 Institutionen der Konfliktlösung: Die Schiedsgerichte............................. 226 4.5 weltwirtschaftskrise und eine Verschiebung von bargaining power ....... 231 4.6 Höhepunkt und Ende des weimarer Sowjetgeschäfts .............................. 236 Teil III Siemens im Sowjetgeschäft: Eine Institutionenanalyse ................... 247 1 Unternehmenskultur: Die Zielpräferenzen von Siemens ................................ 248 1.1 Individuelle Akteure und begrenzte rationalität ...................................... 250 1.2 Formale und informelle organisationsstrukturen ..................................... 262 1.3 Zielpräferenzen von Siemens im Sowjetgeschäft ..................................... 268 2 Externe Netzwerke: Die Kommunikation mit der Umwelt ............................ 276 2.1 Kommunikation mit dem sowjetischen Außenhandelsapparat ................. 278 2.2 Kommunikation mit der deutschen Außenwirtschaftspolitik ................... 288 2.3 Kommunikation mit nicht-staatlichen Akteuren....................................... 294 2.4 Kooperationen und Konflikte im Sowjetgeschäft von Siemens ............... 301 3 wandel und Persistenz sekundärer Institutionen im Sowjetgeschäft .............. 304 3.1 transaktionskosten und institutionelle Effizienz ...................................... 305 3.2 Ex ante-Kosten: Informationsbeschaffung im Sowjetgeschäft................. 311 3.3 Ex post-Kosten: Die Kontrolle unvollständiger Verträge ......................... 318 3.4 Institutionelle Effizienz und der Gestaltungsspielraum von Siemens ...... 321 4 wandel und Persistenz der Zielpräferenzen von Siemens .............................. 326 4.1 Eine theorie zum wandel von Zielpräferenzen ....................................... 326 4.2 Konfrontation: Stabilität durch eine „Durchlöcherung“ des Außenhandelsmonopols?.................................................................... 334 4.3 Kooperation: Stabilität durch Vertrauen und explizite Verträge? ............. 340 4.4 Fehlende Anpassung: Fundamentales Misstrauen und die Grenzen der institutionellen Stabilisierung ................................. 345
Inhaltsverzeichnis
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Teil IV Ergebnisse: Akteure und institutionelle Strukturen im Sowjetgeschäft von Siemens 1917–1933 ......................................................... 351 1 Begrenzte rationalität und institutionelle Instabilität im Sowjetgeschäft ...... 353 2 Siemens in den deutsch-sowjetischen Beziehungen ....................................... 358 Quellen- und Literaturverzeichnis ................................................................. 368 1 Quellen ............................................................................................................ 368 2 Literatur........................................................................................................... 371 Register ............................................................................................................. 387 Personenregister ................................................................................................. 387 organisationen ................................................................................................... 388 Sach- und ortsregister........................................................................................ 390
ABBILDUNGSVErZEICHNIS Abbildung 1: Hermann Görz (Mitte sitzend) im Kreis seiner Mitarbeiter ........ 84 Abbildung 2: L. B. Krasin (Mitte sitzend) im Kreis von Mitarbeitern .............. 110 Abbildung 3: Siemens-Protos-wagen für die sowjetische telefonverwaltung.. 157 Abbildung 4: werbekarte des tB ost für die Sowjetunion ............................... 184 Abbildung 5: Firmenzeichen der Siemens-reiniger-Veifa auf russisch ........... 198 Abbildung 6: Carl Köttgen................................................................................. 215 Abbildung 7: Kraftwerk von Zemo-Avchalsk ................................................... 219 Abbildung 8: Bau des Staudamms von Dneprostroj.......................................... 221 Abbildung 9: Planentwurf von SBU für Metrostroj .......................................... 225 Abbildung 10: Carl Friedrich von Siemens ....................................................... 252 Abbildung 11: Hermann Görz............................................................................ 255 Abbildung 12: robert Hellfors .......................................................................... 257 Abbildung 13: Georg Berg, Eduard Pollitz und Edgar Schwartz vom tB ost.. 259 Abbildung 14: Die Vorstände des tB ost .......................................................... 263 Abbildung 15: Hermann reyß ........................................................................... 265 Abbildung 16: Briefkopf der Siemens-Vertretung in Moskau ........................... 284
VErZEICHNIS DEr SCHAUBILDEr Schaubild 1: Einflussvariablen im Sowjetgeschäft von Siemens ...................... 66 Schaubild 2: Institutionelle Effizienz und Effektivität von Zielpräferenzen ..... 70 Schaubild 3: wandel von Zielpräferenzen und sekundären Institutionen.......... 75 Schaubild 4: Unternehmenskultur von Siemens ................................................ 250 Schaubild 5: Externe Netzwerke von Siemens im Sowjetgeschäft ................... 277 Schaubild 6: transaktionskosteneffizienz und der wandel sekundärer Institutionen .................................................................................. 310 Schaubild 7: Effektivität und der wandel von Zielpräferenzen ......................... 333
VErZEICHNIS DEr tABELLEN tabelle 1: Deutsch-russisch/sowjetischer Handel 1913, 1918–1935 ................. 35 tabelle 2: Sowjetische Elektroimporte 1913, 1920–1935 in Millionen rubel .. 80 tabelle 3: Ergebnisse des tB ost und Gesamtergebnis von Siemens für die Geschäftsjahre 1919/20–1934/35 in tausend reichsmark ............... 158 tabelle 4: Übersicht über die Personalentwicklung des tB ost 1921–1932 ..... 180 tabelle 5: Einkaufsvolumen von Ėlektroimport in den Geschäftsjahren 1928/29–1930/31 in Millionen rubel ............................................... 191 tabelle 6: Deutscher Elektroexport in die Sowjetunion 1929–1933 ................. 199 tabelle 7: Deutsch-sowjetischer Handel 1929–1933 in Millionen rubel ......... 209 tabelle 8: Sowjetischer Außenhandel 1929–1933 in Millionen rubel ............. 242
ABKÜrZUNGSVErZEICHNIS AA AB AEG BA
Auswärtiges Amt Abteilung Bahnen (im Unternehmen Siemens) Allgemeine Electricitäts-Gesellschaft Berliner Abteilung (der russischen Siemens-Gesellschaften in Siemensstadt) BBC Brown Boveri & Cie DDP Deutsche Demokratische Partei DNVP Deutschnationale Volkspartei DVP Deutsche Volkspartei EAG Elektrizitäts-Aktiengesellschaft vormals Schuckert & Co Ėto Ėlektrotechničeskij otdel pri VSNCh (Elektrotechnische Abteilung am obersten Volkswirtschaftsrat) Glavkonzesskom Glavnyj Koncessionyj Komitet (Hauptkonzessionskomitee am rat für Arbeit und Verteidigung, auch: GKK) GoĖLro Gosudarstvennaja Komissija po Ėlektrifikacii rossii (Staatliche Kommission zur Elektrifizierung russlands) IFAGo Industrie-Finanzierungsgesellschaft-ost MoGĖS Moskovskoe ob‘edinenie Gosudarstvennych Ėlektričeskich Stancii (Moskauer Vereinigung der staatlichen elektrischen Stationen) NĖP Novaja Ėkonomičeskaja Politika (Neue Ökonomische Politik) NKSnab Narodnyj Komissariat Snabženija (Volkskommissariat für Versorgung) NKtorG/ Narodnyj Komissariat torgovli (Volkskommissariat für Handel) Narkomtorg NKtiP Narodnyj Komissariat torgovli i Promyšlennosti (Volkskommissariat für Handel und Industrie) NKVD Narodnyj Komissariat Vnutrennyx Del (Volkskommissariat für innere Angelegenheiten) NKVt Narodnyj Komissariat Vnešnej torgovli (Volkskommissariat für Außenhandel) NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei oGPU ob‘edinennoe Gosudarstvennoe Političeskoe Upravlenie (Vereinigte Staatliche Politische Verwaltung, Geheimpolizei) ÖSSw Österreichische Siemens-Schuckertwerke rDI reichsverband der Deutschen Industrie rEw S&H russische Elektrotechnische werke Siemens & Halske rSFSr rossijskaja Sovetskaja Federativnaja Socialističeskaja respublika (russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik)
14 rSDrP/b rSSw rwMi S&H SBU SNK SPD Specotdel SSw Sto tB VSNCh wPA ZEK (VCIK) ZtB ZV ZVEI
Abkürzungsverzeichnis
rossijskaja Social-Demokratičeskaja rabočaja Partija/ bol‘ševikov (russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei/der Bol‘ševiki) russische Aktiengesellschaft Siemens-Schuckert reichswirtschaftsministerium Siemens & Halske AG Siemens Bauunion Sovet Narodnych Komissarov (rat der Volkskommissare) Sozialdemokratische Partei Deutschlands Special‘nyj otdel (Spezialabteilungen der sowjetischen Handelsvertretungen im Ausland) Siemens-Schuckertwerke GmbH Sovet truda i oborony (rat für Arbeit und Verteidigung) technisches Büro (Geschäftsstelle in der Vertriebsorganisation von Siemens) Vysšij Sovet Narodnogo Chozjajstva (oberster Volkswirtschaftsrat) wirtschaftspolitische Abteilung (im Unternehmen Siemens) Vserossijskij Central‘nyj Ispolnitel‘nyj Komitet (Zentrales Exekutivkomitee des Allrussischen rätekongresses) Zentralstelle für die technischen Büros (1930 gegründete Vertriebszentrale von Siemens) Zentral-Verkehrsverwaltung (Vertriebsabteilung von SSw) Zentralverband der Deutschen Elektrotechnischen Industrie
„Das russlandgeschäft ist eine Angelegenheit der stärkeren Nerven. Die nüchterne Beurteilung der Lage und psychologische Momente spielen hier eine grössere rolle als irgendwo!“ Das Zitat stammt aus der Einleitung eines Vortrags von Hermann reyß, gehalten in der Vorstandssitzung des russlandausschusses der Deutschen wirtschaft am 7. Mai 1935. reyß war Vorstandsmitglied der Siemens-Schuckertwerke, langjähriger Leiter des Direktionsausschusses für russland im Unternehmen und seit 1933 Vorstandsvorsitzender des russlandausschusses der Deutschen wirtschaft. Der Begriff „russlandgeschäft“ wurde von Siemens bis in die späten 1930er Jahre als Bezeichnung für das Sowjetgeschäft gebraucht. Quelle: SAA 8182.
tEIL I UNtErSUCHUNGSGEGENStAND Gegenstand des Buchs ist das Sowjetgeschäft von Siemens zwischen 1917 und 1933. Ich argumentiere, dass Siemens als transnationaler Akteur einen eigenen Zugang zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen besaß und diesen Zugang zur Umsetzung unternehmensspezifischer Ziele nutzte. Die Studie basiert auf der Annahme, dass Institutionen – verstanden als die Spielregeln menschlicher Interaktion – ökonomisches Handeln beeinflussen. Dazu entwickle ich einen erweiterten Ansatz im rahmen der Neuen Institutionenökonomik, der die subjektive Handlungsrationalität von Akteuren berücksichtigt und die wechselwirkung zwischen Akteuren und institutionellen Strukturen analytisch erfassbar macht. Im Ergebnis zeige ich, dass ideologisch motiviertes Misstrauen die Entwicklung des Sowjetgeschäfts von Siemens maßgeblich beeinflusste. Die russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (kurz Sowjetrussland) wurde im Januar 1918 ausgerufen, am 30. Dezember 1922 erfolgte die formale Gründung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSr). Ich verwende die Bezeichnung Sowjetrussland, wenn ein inhaltlicher Bezug zum Zeitraum bis 1922 gegeben ist. Bis zur Kalenderumstellung am 1. Februar 1918 werden alle in russland datierten Angaben nach dem julianischen Kalender, für die Folgezeit nach dem gregorianischen Kalender zitiert. Alle im Deutschen wiedergegebenen Zitate aus russischen Quellen basieren auf eigener Übersetzung. Die Umschrift russischer Begriffe und Namen erfolgt nach dem transliterationssystem des Fachs osteuropäische Geschichte. Ausnahmen sind im Deutschen übliche Eigennamen wie Moskau und St. Petersburg, die in der deutschen transkription wiedergegeben werden. In den deutschsprachigen Quellen wird die alte rechtschreibung belassen (zum Beispiel „rußland“ anstelle von „russland“), ebenso wie russische Namen in deutschsprachigen Quellen in ihrer Umschrift. russische Bezeichnungen werden im text kursiv gesetzt, Abkürzungen von Eigennamen (zum Beispiel NKVt oder Narkomtorg) dagegen nicht. Auf eine besondere Kennzeichnung des Geschlechts verzichte ich. Dies bedeutet, dass zum Beispiel bei der Erwähnung von Siemens-Mitarbeitern sowohl die männlichen als auch die weiblichen Mitarbeiter eingeschlossen sind. 1 EINLEItUNG Das Unternehmen Siemens wurde 1847 in Berlin gegründet und entwickelte sich bis 1914 zum größten elektrotechnischen Unternehmen Europas mit einer starken internationalen Ausrichtung. russland war ein Schwerpunkt dieser Auslandsaktivitäten. Bereits seit 1852 etablierte der Unternehmensgründer werner von Siemens in mehreren reisen persönliche Kontakte zur zaristischen wirtschaftsverwaltung, die den Grundstein für den späteren wirtschaftlichen Erfolg legten. Siemens entwi-
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teil I Untersuchungsgegenstand
ckelte sich zum größten elektrotechnischen Unternehmen in russland, baute eine eigene Fabrikation auf und unterhielt in zahlreichen Städten von riga bis Vladivostok Vertriebsniederlassungen. Gewisse Einschränkungen seines russlandgeschäfts erfuhr Siemens mit Beginn des Ersten weltkriegs, der Bestand des Unternehmens blieb aber zunächst gesichert. Erst durch das Nationalisierungsdekret der Bol‘ševiki vom 28. Juni 1918 wurde Siemens enteignet und verlor die Kontrolle über seine russischen tochtergesellschaften. während des Bürgerkriegs in Sowjetrussland kamen die deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen weitgehend zum Erliegen und wurden erst nach 1921 wieder schrittweise aufgenommen. Ausgehend von diesem tiefpunkt entwickelte sich das Sowjetgeschäft von Siemens in den folgenden Jahren positiv. Es erreichte besonders während der weltwirtschaftskrise einen hohen Stellenwert, als zeitweilig beinahe sieben Prozent des gesamten Unternehmensumsatzes auf sowjetische Bestellungen entfielen. Hintergrund dieser positiven Geschäftsentwicklung war die sowjetische Industrialisierungs- und Elektrifizierungspolitik. Besonders die Elektrifizierung hatte in der sowjetischen wirtschaftsplanung eine außerordentlich wichtige Funktion in wirtschaftlicher, gesellschaftspolitischer und ideologischer Hinsicht, die Lenin wie folgt zusammenfasste: „Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes.“1 Im Februar 1920 begann die auf Initiative Lenins gegründete Staatliche Kommission zur Elektrifizierung russlands (Gosudarstvennaja Komissija po Ėlektrifikacii Rossii, GoĖLro) mit der Ausarbeitung einer langfristigen Elektrifizierungsstrategie für Sowjetrussland. Lenin bezeichnete den GoĖLroPlan, der im Dezember 1920 vom 8. Allrussischen rätekongress als erster Perspektivplan für die Entwicklung der sowjetischen wirtschaft verabschiedet wurde, als „zweites Parteiprogramm“2. Der Plan sah eine umfassende Versorgung von Industrie, Landwirtschaft, transportwesen und Privathaushalten mit Elektrizität vor, blieb in seiner wirkung allerdings begrenzt. Erst nach Verabschiedung des ersten Fünfjahresplanes im Jahr 1928 wurde die Elektrifizierung in mehreren Großprojekten intensiviert. Die Zielvorgaben für die Elektroindustrie konnten jedoch aufgrund der technischen, personellen und finanziellen Defizite der sowjetischen wirtschaft nur durch eine enge Zusammenarbeit mit ausländischen Unternehmen umgesetzt werden. Der Import elektrotechnischer Produkte hatte deshalb eine vorrangige Stellung im sowjetischen Außenhandel, wovon vor allem deutsche Unternehmen profitieren konnten. Der deutsche Anteil an der sowjetischen Elektroeinfuhr lag seit Mitte der 1920er Jahre bei über 50 Prozent. Die wirtschaftsinteressen der deutschen Unternehmen im Sowjetgeschäft trafen auf eine Außenpolitik des Deutschen reichs, die seit den frühen 1920er Jahren den Aufbau enger wirtschaftsbeziehungen mit der Sowjetunion verfolgte. Hintergrund war das Ziel aller regierungen der weimarer republik, den Vertrag von Ver1
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w. I. Lenin: Bericht über die tätigkeit des rats der Volkskommissare am 22. Dezember 1920, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED (Hg.): Lenin – werke. April–Dezember 1920 (Lenin – werke 31). 5. Auflage. Berlin (ost) 1972, S. 483–515, hier 513. Lenin: Bericht über die tätigkeit des rats der Volkskommissare (1972), S. 511.
1 Einleitung
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sailles zu revidieren und den Status des Deutschen reichs als europäische Großmacht wiederherzustellen. Mit Sowjetrussland, dem zweiten „Paria“3 im internationalen System der Nachkriegszeit, erwuchs dem reich ein quasi natürlicher Partner. Mit diesem verband sich Deutschland zu einer „Schicksalsgemeinschaft“4, um die Versailler ordnung zu zerstören. Der Vertrag von rapallo 1922 steht stellvertretend für diesen „teufelspakt“5, der zu einem „Musterbeispiel für die Kooperation zwischen Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung“6 wurde. Nach dem Ende der ruhrbesetzung stand die weimarer Außenpolitik zwar einerseits unter dem Zeichen einer verstärkten westorientierung, die 1925 im Vertrag von Locarno kulminierte. Zweites Standbein und Gegengewicht zur westpolitik blieb jedoch die „unheilige Allianz“7 mit der Sowjetunion. Locarno fand in Stresemanns Balancepolitik folgerichtig ein Jahr später seine Ergänzung im deutsch-sowjetischen Vertrag von Berlin. während der weltwirtschaftskrise erreichte das deutsch-sowjetische Freundschaftsverhältnis schließlich seinen Höhepunkt und ließ einen so starken Druck auf die westmächte entstehen, dass eine teilrevision des Versailler Vertrags zum Beispiel in der reparationsfrage durchgesetzt werden konnte.8 Nach 1933 kühlten sich die bilateralen Beziehungen zunächst stark ab, um sechs Jahre später im Hitler-Stalin-Pakt auf spektakuläre weise revitalisiert zu werden. Die deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen waren nicht nur ein politisches Instrument der weimarer revisionspolitik. Maßgeblich begünstigt wurde das „Sonderverhältnis“9 mit Sowjetrussland durch die gegenseitigen wirtschaftsinteressen. Deutschland und russland waren komplementäre Volkswirtschaften, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts einen sehr hohen Verflechtungsgrad etabliert hatten. Diese tradition enger deutsch-russischer wirtschaftsbeziehungen wurde im Ersten weltkrieg nur vorübergehend unterbrochen. Bereits im Vertrag von Brest-Litovsk vom März 1918 kam der Versuch der deutschen wirtschaft zum tragen, sich einen privilegierten Zugriff auf den wirtschaftsraum in osteuropa zu verschaffen. Nach der deutschen Kriegsniederlage wurde dieses Ziel von deutschen Industriellen weiterhin vertreten. rapallo und der Berliner Vertrag waren auch wichtige wirtschaftsabkommen, die die politischen Beziehungen ergänzten. Schwer- und Elektroindustrie, Maschinenbau und chemische Industrie prägten diese 3 4 5 6 7 8 9
Aleksandr M. Nekrich: Pariahs, Partners, Predators. German-Soviet relations 1922–1941. New York 1997. Kurt rosenbaum: Community of Fate. German-Soviet Diplomatic relations, 1922–1928. Syracuse 1965. Sebastian Haffner: Der teufelspakt. Die deutsch-russischen Beziehungen vom Ersten zum Zweiten weltkrieg. Zürich 1988. Manfred Pohl: Geschäft und Politik. Deutsch-russisch/sowjetische wirtschaftsbeziehungen; 1850–1988. Mainz 1988, S. 110. Gerald Freund: Unholy Alliance: russian-German relations from the treaty of Brest-Litovsk to the treaty of Berlin. New York 1957. Hans-werner Niemann: Die russengeschäfte in der Ära Brüning, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und wirtschaftsgeschichte 22 (1985), 2, S. 153–174, hier 164. Klaus Hildebrand: Das Deutsche reich und die Sowjetunion im internationalen System 1918– 1932. Legitimität oder revolution? (Frankfurter Historische Vorträge 4). wiesbaden 1977, S. 22ff.
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teil I Untersuchungsgegenstand
„wirtschaftsräson“10 in der Außenpolitik und bauten die deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen kontinuierlich aus. In der weltwirtschaftskrise erreichte das Sowjetgeschäft schließlich seinen quantitativen Höchststand und sicherte vielen deutschen Unternehmen das Überleben. Nach dem vorübergehenden Absinken des bilateralen Handels nach 1933 wurde im Hitler-Stalin-Pakt wieder an diese tradition angeknüpft. Sowjetische Lieferungen garantierten im westfeldzug die rohstoffversorgung des Dritten reichs, deutsche Maschinenlieferungen gingen in die Sowjetunion. Im Jahr 1941 begann schließlich mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion die letzte Phase deutscher ostexpansion. Lebensraum war auch wirtschaftlicher Ergänzungsraum. Insofern lagen Brest-Litovsk, rapallo und Zweiter weltkrieg auf einer Kontinuitätslinie des deutschen „ökonomischen Imperialismus“11 in osteuropa. Dieser kurze Überblick fasst die Ergebnisse der historischen Forschung zusammen, die den wissenschaftlichen Diskurs bis in die 1980er Jahre und darüber hinaus stark beeinflussten. Auf den ersten Blick scheint die Interpretation der deutsch-sowjetischen Beziehungen auf diese weise plausibel, sie birgt aber eine reihe von Problemen. Es ist nach meiner Einschätzung erstens fragwürdig, den intersystemaren deutsch-sowjetischen Handel nach 1917 als kontinuierliche Fortsetzung deutscher Kriegs- und Vorkriegspolitik zu bewerten oder ihm gar einen „Kontinuitätszwang“12 zu unterstellen. Im Außenhandel zwischen kapitalistischen Unternehmen und der Sowjetunion könnte vielmehr a priori ein wichtiger Einfluss ideologischer Faktoren vermutet werden, die machtpolitische Zielsetzungen überlagern würden. Die unterschiedlichen „wirtschaftskulturen“ wurden jedoch bisher kaum berücksichtigt. Zweitens erscheinen die deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen zur Zeit der weimarer republik in der Forschung meist als Anhang der deutschen revisionspolitik. Die Forschung ging wie selbstverständlich davon aus, dass der Faktor wirtschaft einen zentralen Stellenwert in der außenpolitischen Konzeption des reichs einnahm und die deutschen Unternehmen die revisionspolitik aus nationalökonomischen Gesichtspunkten heraus befürworteten.13 Dies leitet zum dritten Kritikpunkt über, der den Untersuchungsgegenstand der bisherigen Forschung betrifft. Die Historiographie der deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen war 10 Hartmut Pogge von Strandmann: Großindustrie und rapallopolitik. Deutsch-sowjetische Handelsbeziehungen in der weimarer republik, in: Historische Zeitschrift 222 (1976), 2, S. 265– 341, hier 338. 11 rolf-Dieter Müller: Das tor zur weltmacht. Die Bedeutung der Sowjetunion für die deutsche wirtschafts- und rüstungspolitik zwischen den weltkriegen (wehrwissenschaftliche Forschungen 32). Boppard am rhein 1984, S. 357. 12 Unter „Kontinuitätszwang“ versteht Hartmut Pogge von Strandmann den wirtschaftlichen Druck nach einer wiederaufnahme enger Handelsbeziehungen mit Sowjetrussland angesichts der schwierigen Lage deutscher Unternehmen nach 1918. Pogge von Strandmann: Großindustrie und rapallopolitik (1976), S. 269. 13 Hartmut von Pogge von Strandmann: Industrial Primacy in German Foreign Policy? Myths and realitites in German-russian relations at the End of the weimar republic, in: richard J. Bessel/Edgar Joseph Feuchtwanger (Hg.): Social Change and Political Development in weimar Germany. London 1981, S. 241–267, hier 245.
1 Einleitung
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bisher weitgehend auf die wirtschaftsbeziehungen zwischen dem deutschen und dem sowjetischen Staat beschränkt. Mag dieser Blick für die sowjetische Planwirtschaft möglicherweise noch gerechtfertigt sein, so ist eine solche Begrenzung für das Deutsche reich überaus fragwürdig. Staatliche Politik hat in internationalen wirtschaftsbeziehungen zwar einen prägenden Einfluss, für nicht-planwirtschaftlich organisierte Volkswirtschaften ist ein ausschließlicher Fokus auf den Staat jedoch nicht zulässig. Vielmehr können Unternehmen und deren Interessenvertretungen einen maßgeblichen Einfluss auf die staatliche Außenwirtschaftspolitik ausüben. Seit den 1980er Jahren ist eine reihe von Publikationen erschienen, die ein differenzierteres Bild der deutsch-sowjetischen Beziehungen in der Zwischenkriegszeit zeichnen. Diplomatiegeschichte wird darin um Kulturgeschichte erweitert und der Fokus auf staatliche Außenpolitik um nicht-staatliche Akteure ergänzt. Mehrere Studien handeln von nicht-staatlichen Akteuren und ihrem Einfluss auf das Verhältnis zwischen Deutschem reich und Sowjetunion.14 Es hat sich auch die Interpretation der wirtschaftsbeziehungen verändert, deren Stellenwert für deutsche Unternehmen nun relativiert wird. Ein Paradigmenwechsel ist in der Historiographie der deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen bisher jedoch nicht auszumachen, nach wie vor dominieren staatliche über private Akteure. Bisher gibt es keine Detailstudie zur Strategie eines deutschen Unternehmens im Sowjetgeschäft. Meine Fallstudie zu Siemens eröffnet einen neuen Ansatz zum Verständnis der deutsch-sowjetischen Beziehungen nach der oktoberrevolution. Siemens tritt im Folgenden als eigenständiger Akteur in den deutsch-sowjetischen Beziehungen auf, eine Begrenzung auf „wirtschaftsbeziehungen“ unterlasse ich bewusst. Vielmehr erfordert die Analyse wirtschaftlicher Beziehungen zwischen unterschiedlichen Gesellschaftssystemen methodische Instrumente, die einen detaillierten Blick auf die Handlungsmotivationen von Akteuren erlauben. Einen solchen methodischen Blick bietet der theoretische Ansatz der Neuen Institutionenökonomik, der Institutionen als die Spielregeln menschlicher Interaktion zum Untersuchungsgegenstand macht.15 Institutionen können sowohl eine formale als auch eine infor14 Vgl. vor allem Hans-Jürgen Perreys Studie zum russlandausschuss der Deutschen wirtschaft aus dem Jahr 1985: Hans-Jürgen Perrey: Der rußlandausschuß der Deutschen wirtschaft. Die deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen der Zwischenkriegszeit. Ein Beitrag zur Geschichte des ost-west-Handels. (Studien zur modernen Geschichte 31). München 1985; sowie: wolfgang Müller: rußlandberichterstattung und rapallopolitik. Deutsch-sowjetische Beziehungen 1924–1933 im Spiegel der deutschen Presse. Saarbrücken 1983. Aus den frühen 1990er Jahren vgl. besonders: Christoph Mick: Sowjetische Propaganda, Fünfjahrplan und deutsche russland-Politik 1928–1932 (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa 42). Stuttgart 1995. Christoph Mick: Kulturbeziehungen und außenpolitisches Interesse. Neue Materialien zur „Deutschen Gesellschaft zum Studium osteuropas“ in der Zeit der weimarer republik, in: osteuropa 43 (1993), 10, S. 914–928; Siehe dazu auch den ausführlichen Forschungsüberblick in Kapitel 2. 15 Vgl. die Einführung von rudolf richter: rudolf richter: the New Institutional Economics. Its Start, Its Meaning, Its Prospects. http://www.uni-saarland.de/fak1/fr12/richter/home-ger.htm, Stand: 3.10.2008 (zuletzt geprüft am 5.7.2010). Erstmals abgedruckt in: rudolf richter: the New Institutional Economics. Its Start, Its Meaning, Its Prospects, in: the European Business
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melle Dimension einnehmen, sie werden kommunikativ vermittelt und sind in den kulturellen Kontext der handelnden Akteure eingebunden. Ich übernehme diesen Ansatz und erweitere ihn durch eine konzeptionelle trennung zwischen fundamentalen Zielpräferenzen von Akteuren und sekundären überindividuellen Institutionen. Diese um Akteure erweiterte Neue Institutionenökonomik bietet methodische Instrumente, wie die Handlungsmotivation von Siemens im Sowjetgeschäft und die Unternehmensstrategie in den deutsch-sowjetischen Beziehungen analytisch fassbar gemacht werden können. Mit meiner Fallstudie verfolge ich zwei historiographische Ziele im Kontext der deutsch-sowjetischen Beziehungen und ein theoretisch-methodisches Ziel. Anhand des Fallbeispiels werde ich erstens untersuchen, ob sich eine Kontinuität des deutschen wirtschaftsimperialismus in osteuropa zwischen 1914 und 1945 im Sowjetgeschäft von Siemens während der weimarer republik nachweisen lässt. Zweitens und daraus abgeleitet werde ich eine Position zum Stellenwert ökonomischer Interessen in den deutsch-sowjetischen Beziehungen zwischen 1917 und 1933 beziehen. Drittens will ich mit der Verwendung des sozialwissenschaftlichen Ansatzes der Neuen Institutionenökonomik zeigen, dass sich einerseits solche methodischen Instrumente sehr gut auf historische Arbeiten übertragen lassen, und andererseits die Geschichtswissenschaft einen Beitrag zur theoretischen Entwicklung in den Sozialwissenschaften leisten kann. Die Arbeit ist in vier teile mit jeweils mehreren Kapiteln gegliedert. In teil I werden zunächst der Forschungsstand dargestellt und aus der Forschungskritik heraus die zentralen Untersuchungsfragen entwickelt. Ein theoretischer Überblick zeigt anschließend die Einordnung der Arbeit in die Diskussion um den Stellenwert nicht-staatlicher Akteure in transnationalen Beziehungen sowie in den institutionenökonomischen Ansatz. Aus diesen theoretischen Annahmen leite ich ein methodisches Konzept ab, das das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte der Interaktion zwischen Akteuren und Institutionen versteht. Den Abschluss von teil I bildet ein Überblick über die Unternehmensgeschichte von Siemens bis zum Ersten weltkrieg. teil II beschreibt die Entwicklung des Sowjetgeschäfts von Siemens als eine chronologische Geschichte institutionellen wandels. In teil III folgt die methodische Analyse dieser Institutionengeschichte. Basierend auf den Annahmen der Neuen Institutionenökonomik betrachte ich sowohl den internen Diskussionsprozess im Unternehmen als auch die externen Beziehungen von Siemens mit zentralen Akteuren in den deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen. Anschließend analysiere ich mit Bezug auf die Begriffe Effizienz und Effektivität den wandel sekundärer Institutionen und fundamentaler Zielpräferenzen im Sowjetgeschäft von Siemens. Die Ergebnisse der Analyse werden in teil IV diskutiert und in den Kontext der Fragestellung meiner Arbeit integriert.
organization Law review 6 (2005), 2, S. 161–200. Im Folgenden wird das Internetdokument zitiert.
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2 ProBLEMStELLUNG In meiner Fallstudie folge ich der Forderung Manfred Berghoffs und berücksichtige die Interaktion zwischen dem Unternehmen und seiner Umwelt.16 Die Geschichte des Sowjetgeschäfts von Siemens wird deshalb in den historischen Kontext der deutschen Außenwirtschaftspolitik, der sowjetischen Elektrifizierungspolitik und der Entwicklung der deutsch-sowjetischen Beziehungen eingebettet. Es folgen zunächst ein Überblick über die Forschungsliteratur und eine Forschungskritik, auf deren Basis ich die Fragestellung der Fallstudie ableite. 2.1 Forschungsdiskussion Außenwirtschaftsgeschichte der Weimarer Republik Die Außenwirtschaftspolitik von weimar wurde und wird in der Forschung im wesentlichen unter dem Schlagwort revisionismus betrachtet.17 In einem breiteren Forschungskontext geht es darin auch um die Frage, ob sich eine Kontinuität deutscher ökonomischer Expansionspolitik zwischen 1914 und 1945 nachweisen lässt. Die Forschung in der tradition Fritz Fischers bejaht diese Frage ausdrücklich. Marshall Lee und wolfgang Michalka gingen zum Beispiel 1987 von einer Kontinuität wilhelminischer Eliten am Übergang vom Kaiserreich zur weimarer republik aus.18 Sie schlossen daraus, dass die nationalsozialistische Lebensraumpolitik ihren direkten Vorläufer in einer informellen Großmachtpolitik aus der Zeit vor 1933 hatte, die wiederum in zentralen Elementen auf Kriegszielen aus dem Ersten weltkrieg basierte. Fischer fasst seine Position zur Kontinuität deutscher Außenpolitik folgendermaßen zusammen: „Diese Zielsetzungen [gemeint ist die deutsche Expansionspolitik] waren im Kaiserreich entstanden, führten zum Ersten weltkrieg, behaupteten sich im weltkrieg und latent im Interregnum der weimarer republik, die sich weiter reich nannte, und steigerten sich im Dritten reich bis in den Zweiten weltkrieg hinein.“19 16 Hartmut Berghoff: Zwischen Kleinstadt und weltmarkt. Hohner und die Harmonika 1857– 1961. Unternehmensgeschichte als Gesellschaftsgeschichte. Paderborn 1997, S. 15. Der Begriff Umwelt bezeichnet die natürliche und die „künstliche“ (wirtschaftliche, politische, technische und gesellschaftliche) Umgebung von Unternehmen. Vgl.: Gabler wirtschaftslexikon. 16. Auflage. wiesbaden 2004, S. 3003. In einigen im Folgenden zitierten werken wird auch die Bezeichnung Umfeld benutzt. 17 Vgl. dazu den immer noch hervorragenden Überblick in: Peter Krüger: Die Außenpolitik der republik von weimar. Darmstadt 1985. Ebenfalls: Gottfried Niedhart: Die Außenpolitik der weimarer republik (Enzyklopädie deutscher Geschichte 53). München 1999. 18 Marshall M. Lee/wolfgang Michalka: German Foreign Policy, 1917–1933. Continuity or Break? Leamington Spa, New York 1987. 19 Fritz Fischer: Der Stellenwert des Ersten weltkriegs in der Kontinuitätsproblematik der deutschen Geschichte, in: Historische Zeitschrift 229 (1979), 1, S. 25–53, hier 52. Vgl. dazu den Überblick: Arnold Sywottek: Die Fischer-Kontroverse. Ein Beitrag zur Entwicklung des politisch-historischen Bewußtseins in der Bundesrepublik, in: Imanuel Geiss/Bernd Jürgen wendt
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Neuere Studien lehnen Fischers Position zwar nicht vollständig ab, urteilen jedoch vorsichtiger. Jürgen Elverts Untersuchung zum Mitteleuropa-Konzept bestätigt einerseits die these des „deutschen Sonderwegs“ seit Mitte des 19. Jahrhunderts, der schließlich in das Dritte reich und in den Zweiten weltkrieg mündete.20 Andererseits argumentiert er, dass sich daraus keine Zwangsläufigkeit der historischen Entwicklung ableiten lasse, sondern die Kontinuitätsthese allenfalls als Annahme ex post methodisch einzusetzen sei. Auch Volker Berghahn widmet sich in einem Sammelband der Frage, inwieweit sich eine Kontinuität an den Strategien deutscher Großunternehmen in den 1920er Jahren nachweisen lässt.21 Ausgangspunkt des Sammelbands ist die Feststellung, dass die Frage von Kontinuität und Diskontinuität der deutschen Außenpolitik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch keinesfalls abschließend geklärt sei. Ähnlich argumentiert Gerd Koenen und unterstellt besonders der deutschen osteuropa-Forschung eine voreingenommene Fixierung auf eine historisch gewachsene deutsche russlandphobie: „Die gesamte deutsch-russische Beziehungsgeschichte erscheint in diesem Lichte stark verdunkelt.“22 weitgehender Konsens besteht in der Forschung darin, dass die Außenwirtschaft von den Zeitgenossen als „einzige verbliebene Hoffnung auf Besserung der inneren und vor allem der außenpolitischen Lage Deutschlands“23 sowie als Grundlage für den wiederaufstieg des reichs zur Großmacht gesehen wurde. revisionspolitik war demnach gleichbedeutend mit einer wiederherstellung des deutschen außenwirtschaftlichen Machtpotentials. Kontrovers werden in der Forschung allerdings die Interessen verschiedener wirtschaftsbranchen, zum Beispiel diejenigen der Agrarwirtschaft und der Industrie, diskutiert.24 Mehrere Studien thematisieren auch einen Gegensatz zwischen dem Protektionismus der Schwerindustrie und der
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(Hg.): Deutschland in der weltpolitik des 19. und 20. Jahrhunderts. Fritz Fischer zum 65. Geburtstag. Düsseldorf 1973, S. 19–47. Jürgen Elvert: Mitteleuropa! Deutsche Pläne zur europäischen Neuordnung (1918–1945) (Historische Mitteilungen, Beiheft 35). Stuttgart 1999, S. 24. „Mitteleuropa“, das erstmals 1915 von Friedrich Naumann als wirtschaftsimperialistisches Konzept definiert wurde, bezieht sich auf einen kontinentaleuropäischen deutsch dominierten wirtschaftsraum in Abgrenzung von einem global ausgerichteten Kolonialismus. Zur Forschungsdiskussion über den deutschen „Sonderweg“ zuletzt: Helmut walser Smith: the Continuities of German History. Nation, religion, and race across the Long Nineteenth Century. Cambridge 2008. Siehe dazu auch die Mehrfachrezension in: Sehepunkte 9 (2009), Nr. 1. Volker r. Berghahn (Hg.): Quest for Economic Empire. European Strategies of German Big Business in the twentieth Century. Providence, oxford 1996. Gerd Koenen: Der russland-Komplex. Die Deutschen und der osten 1900–1945. München 2005, S. 8. Vgl. ebenfalls: Volker r. Berghahn: ostimperium und weltpolitik. Gedanken zur Langzeitwirkung der „Hamburger Schule“, in: H-Soz-u-Kult (2006). http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2006-04-001 (zuletzt geprüft am 5.7.2010). Krüger: Die Außenpolitik der republik von weimar (1985), S. 144. Vgl. dazu: Matthias Schulz: Deutschland, der Völkerbund und die Frage der europäischen wirtschaftsordnung 1925–1933. Hamburg 1997, S. 60; Jürgen Bellers: Außenwirtschaftspolitik und politisches System der weimarer republik und der Bundesrepublik (Studien zur Politikwissenschaft 11). Münster 1988; Dietmar Petzina: Die deutsche wirtschaft in der Zwischenkriegszeit. wiesbaden 1977; Guido Goldman: Heavy Industry and Foreign Policy in the wei-
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weltmarktorientierung von Elektro- und Chemieindustrie, der aber von Peter Hayes grundsätzlich infrage gestellt wird.25 Hayes plädiert vielmehr für eine stärkere Differenzierung der Interessenpolitik einzelner Großunternehmen in der Forschung. Ein zentrales Element der Forschungsdiskussion um revisionismus und Großmachtpolitik des reichs ist der Stellenwert osteuropas für die deutsche Außenwirtschaftspolitik. Darunter fällt auch die Diskussion um die „Mitteleuropa-Strategie“ deutscher Unternehmen, die sich spätestens mit Friedrich Naumanns Veröffentlichung im Jahr 1915 als Schlagwort der wirtschaftsimperialen Kriegszielpolitik etablierte.26 Ungeklärt ist in der Forschung noch immer, ob und wie stark diese Konzeption einen Einfluss auf die wirtschaftspolitische Zielsetzung deutscher Unternehmen nach dem Ersten weltkrieg ausübte. Es wird jedoch argumentiert, dass die unzureichende reintegration Deutschlands in den weltmarkt den Blick deutscher Industrieller zunehmend auf Mittel- und osteuropa lenkte und ebenso das Potential einer deutsch-sowjetischen Zusammenarbeit erheblich verstärkte.27 Volker Berghahn interpretiert die deutsche wirtschaftspolitik in osteuropa zwischen 1914 und 1945 im Kern als eine Diskussion über einen formalen oder informellen Imperialismus.28 Im Vertrag von Brest-Litovsk vom März 1918 setzten sich demnach die Verfechter eines formal empire durch, zu denen viele Unternehmer gehörten und die eine weitgehende machtpolitische Ausweitung des deutschen Einflussgebietes in Mittel- und osteuropa forderten. während der weimarer republik orientierten sich zwar viele deutsche Unternehmen wieder in richtung weltmarkt und profitierten so zum Beispiel von den Angeboten des US-amerikanischen Kapitalmarkts. Die Diskussion um Mitteleuropa und die Errichtung eines kontinentalen wirtschaftsraums endete jedoch nicht, sondern intensivierte sich im Zuge der weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre wieder. Zunächst blieb diese Diskussion auf das Ziel eines informal empire beschränkt, das die informelle wirtschaftliche Kontrolle weiter Gebiete Mittel- und osteuropas unter Einschluss der „Kornkammer“ Ukraine bezeichnete. Daraus entwickelte sich unter dem Eindruck der nationalsozialistischen rüstungspolitik und der zunehmenden Autarkiebestrebungen des reichs die Strategie eines formalen ostimperiums, das seit 1939 beziehungsweise seit 1941 auch militärisch angestrebt wurde.29
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mar republic: the ruhr and reparations in Germany after the First world war. Cambridge, Mass. 1969. Peter Hayes: Industrial Factionalism in Modern German History, in: Central European History 29 (1991), 2, S. 122–131. Siehe: Elvert: Mitteleuropa (1999); reinhard opitz (Hg.): Europastrategien des deutschen Kapitals 1900–1945. Köln 1977. Müller: Das tor zur weltmacht (1984), S. 30. Volker r. Berghahn: Introduction: German Big Business and the Quest for a European Economic Empire in the twentieth Century, in: Volker r. Berghahn (Hg.): Quest for Economic Empire. European Strategies of German Big Business in the twentieth Century. Providence, oxford 1996, S. 1–33. Eckart teichert: Autarkie und Grossraumwirtschaft in Deutschland 1930–1939. Aussenwirtschaftspolitische Konzeptionen zwischen wirtschaftskrise und Zweitem weltkrieg (Studien zur modernen Geschichte 30). München 1984.
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trotz einer Vielzahl von Publikationen zur Außenwirtschaftsgeschichte der weimarer republik besteht in wichtigen Forschungsfragen noch kein Konsens. Dazu gehören die themenkomplexe um Kontinuität und Diskontinuität der kaiserlichen Kriegszielpolitik nach 1918, die west- und ostorientierung der weimarer republik sowie der Einfluss wirtschaftlicher Interessen auf die deutsche Außenpolitik. Hervorgehoben wird in der Forschung besonders, dass zur Beantwortung dieser Fragen Fallstudien zu deutschen Unternehmen nötig sind. Hayes begründet dies folgendermaßen: „[…] the number of major firms and Vorständler in, for example the electrical industry is just too small for individual peculiarities to even out […]. In consequence, understanding the interests and behavior of large firms must start from a close analysis of each corporation’s business, not from aggregate national or branch-specific data that blur critical issues.“30
Siemens, das während der weimarer republik das drittgrößte deutsche Industrieunternehmen und größtes deutsches Elektrounternehmen mit einer starken internationalen Ausrichtung war, bietet sich dafür als möglicher Untersuchungsgegenstand an. Geschichte der sowjetischen Wirtschafts- und Außenpolitik Einer der am gründlichsten erforschten Bereiche sowjetischer wirtschaftsplanung ist die Elektrifizierungspolitik der 1920er Jahre. Die sowjetische Historiographie widmete sich diesem thema bereits früh, vor allem dem Elektrifizierungsplan der GoĖLro. Aus den 1960er Jahren stammen mehrere Quelleneditionen zur GoĖLro31 sowie eine Vielzahl historiographischer Studien, die vor allem die technischen und ökonomischen Erfolge in den Vordergrund rücken.32 Auch die westliche Forschung hat sich mit dem thema ausgiebig beschäftigt, dabei die Erfolge der sowjetischen wirtschaftsplanung jedoch eher kritisch bewertet. Dies trifft sowohl für das Elektrifizierungsprogramm der frühen 1920er Jahre als auch für die Fünfjahrespläne Stalins zu.33 30 Hayes: Industrial Factionalism (1991), S. 130. 31 Dazu exemplarisch: P. P. Kovalev/M. I. Kul‘kova/L. V. Fomina/I. A. Gladkov (Hg.): Ėlektrifikacija SSSr. Sbornik Dokumentov i Materialov, 1926–1932 gg. Moskau 1966; V. S. Kulebakin/V. I. Vejc/K. D. Egorov (Hg.): trudy Gosudarstvennoj Komissii po Ėlektrifikacii rossii GoĖLro. Materialy po Ėlektrifikacii otdel‘nyx rajonov. Moskau 1964; V. S. Kulebakin/V. I. Vejc/K. D. Egorov (Hg.): trudy Gosudarstvennoj Komissii po Ėlektrifikacii rossii GoĖLro. Dokumenty i Materialy. Moskau 1960. 32 Vgl.: Z. K. Zvezdin: ot Plana GoĖLro k Planu Pervoj Pjatiletki. Stanovlenie socialističeskogo Planirovanija v SSSr. Moskau 1979; Michail N. Laptin/Evgenij I. Ponomarjow: Lenin zur sozialistischen wirtschaftsführung. Berlin (ost) 1970. Aus der neueren russischen Forschung: Jurij Korjakin: Kto že byl Iniciatorom i Vdochnovitelem Ėlektrifikacii rossii, in: NG. Nauka (1999), 11. 33 Zur Elektrifizierungspolitik siehe besonders: Jonathan Coopersmith: the Electrification of russia, 1880–1926. Ithaca 1992; Anne D. rassweiler: the Generation of Power. the History of Dneprostroi. New York, oxford 1988; Edward Hewett: Energy, Economics and Foreign Policy in the Soviet Union. washington, D. C. 1984; Heiko Haumann: Beginn der Planwirt-
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Zentrale Bestandteile der sowjetischen Elektrifizierungs- und Industrialisierungspolitik waren der Import von Investitionsgütern und der technologietransfer. Sowjetische und westliche Geschichtsschreibung betonen beide den grundsätzlich wichtigen Stellenwert des Außenhandels für die sowjetische Industrie in der rekonstruktionsperiode nach dem Bürgerkrieg.34 Die Gewichtung variiert jedoch. Von westlichen Autoren wie von Anthony C. Sutton wird im Außenhandel die entscheidende Ursache gesehen, warum sich die sowjetische Industrie in den Fünfjahresplänen relativ schnell entwickelte. Sutton untersuchte in seiner quantitativen Studie den Einfluss des Außenhandels auf alle (!) sowjetischen Industriebetriebe bis 1965 und kam zu folgendem Urteil: „the rapid growth of the 1920s was dependent on foreign operative and technical skills. […] the western contribution to Soviet production between 1917 and 1930 was total. No important process has been isolated which was not a west-to-East transfer.“35
Die Studien von werner Beitel, Jürgen Nötzold oder Michael r. Dohan stützen dieses Ergebnis weitgehend, weisen aber auch auf die eng begrenzten Importkapazitäten des sowjetischen Außenhandels hin.36 So verfügte die Sowjetunion zu keinem Zeitpunkt über genügend ressourcen, um den hohen Importbedarf an technik und Investitionsgütern ausreichend zu finanzieren. während des ersten Fünfjahresplans wurde deshalb die Importsubstitution (der rapide Aufbau einer eigenen Investitionsgüterindustrie) zu einem prägenden Merkmal der sowjetischen Planung. Sie hatte schwerwiegende Konsequenzen für die Nachhaltigkeit des wirtschaftswachstums. schaft. Elektrifizierung, wirtschaftsplanung und gesellschaftliche Entwicklung Sowjetrußlands 1917–1921 (Studien zur modernen Geschichte 15). Düsseldorf 1974. 34 Exemplarisch dazu: Michael Gotthelf: Außenhandelsentwicklung und Außenhandelsstrategie in der Sowjetunion: die Entwicklung des Außenhandels der Sowjetunion mit den westlichen Industrienationen und die sowjetische Außenhandelsstrategie in den Jahren 1918–1978. Frankfurt am Main 1979; K. P. Pavlov: rol‘ Gosudarstvennoj Monopolii Vnešnej torgovli s Postroenii Socialisma v SSSr 1918–1937. Moskau 1960. Zu den Handelsbeziehungen der Sowjetunion mit den USA vgl. Floyd J. Fithian: Soviet-American Economic relations, 1918–1933. American Business in russia During the Period of Nonrecognition. Ann Arbor 1981. 35 Antony C. Sutton: western technology and Soviet Economic Development 1917 to 1930. Stanford 1968, S. 340. Vgl. ebenfalls die beiden Folgebände: Antony C. Sutton: western technology and Soviet Economic Development 1930 to 1945. Stanford 1971; Antony C. Sutton: western technology and Soviet Economic Development 1945 to 1965. Stanford 1973. Sutton fokussiert sich jedoch auf britische und US-amerikanische Unternehmen. Die Vollständigkeit seiner Studie ist somit stark zu bezweifeln. 36 Michael r. Dohan: Foreign trade and Soviet Investment Strategy for Planned Industrialization 1928–1938, in: robert w. Davies (Hg.): Soviet Investment for Planned Industrialisation, 1929–1937. Policy and Practice. Berkeley 1984, S. 107–135; werner Beitel/Jürgen Nötzold: technologietransfer und wirtschaftliche Entwicklung. Zur Konzeption der Sowjetunion in der Zeit der Neuen Ökonomischen Politik und des Ersten Fünfjahrplanes (Berichte des osteuropaInstituts an der Freien Universität Berlin 120). Berlin 1979; werner Beitel/Jürgen Nötzold: Deutsch-sowjetische wirtschaftsbeziehungen in der Zeit der weimarer republik: Eine Bilanz im Hinblick auf gegenwärtige Probleme (Internationale Politik und Sicherheit 3). Baden-Baden 1979.
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Die sowjetische Historiographie erkannte zwar die grundsätzliche Notwendigkeit von Importen aus dem westen an, relativierte aber deren Bedeutung für den industriellen Aufbau stark.37 Aus sowjetischer Perspektive waren auch die westlichen Industrieländer nach dem Ersten weltkrieg auf eine revitalisierung des Außenhandels angewiesen. V. A. Šiškin kritisiert unter anderem, die westliche Forschung (und speziell Sutton) habe den wert des Außenhandels und technologietransfers überhöht und die eigenständige Aufbauleistung der Sowjetunion vernachlässigt.38 westliche und sowjetische Forschung sind sich jedoch weitgehend darin einig, dass vor allem Deutschland die Möglichkeiten des deutsch-sowjetischen Handels seit Beginn der Neuen Ökonomischen Politik (Novaja Ėkonomičeskaja Politika, NĖP) stark nutzen konnte. während der weltwirtschaftskrise sicherten die sowjetischen Aufträge in Deutschland vielen Unternehmen das Überleben. In der sowjetischen Historiographie erschienen Industrialisierungspolitik und Außenhandel weitgehend als ein von der Partei beziehungsweise den Parteiführern erfolgreich geplantes und durchgeführtes Programm. Diese ideologisch überhöhte Sicht wurde von der westlichen Geschichtsschreibung nicht übernommen. Aber auch westliche Historiker sahen in der sowjetischen wirtschaftsplanung lange Zeit einen zentralistischen Apparat, der stark bürokratisiert nach streng hierarchischen Prinzipien arbeitete. In den neueren Dissertationen von Patricia Flor, regine Heubaum und oleg Kashirskikh wird dies jedoch anders interpretiert.39 Heubaum betont in ihrer Studie zur Entwicklung des Volkskommissariats für Außenhandel die Kompetenzstreitigkeiten zwischen verschiedenen Behörden. Flor und Kashirskikh zeigen schlüssig, dass die Außenwirtschaftspolitik stets sehr starken politischen Zielsetzungen ausgesetzt war und dieser politische Einfluss die Entwicklung der Außenhandelsbeziehungen nachhaltig behinderte. Von einer wirtschaftlich effizienten Außenhandelsorganisation kann somit zumindest für die Sowjetunion der 1920er Jahre nicht die rede sein. 37 Ein Überblick sowie eine Kritik an der frühen sowjetischen Forschung finden sich bei: KasparDietrich Freymuth: Ursprung und Grundlegung der sowjetischen Aussenhandelsorganisation 1917–1921 (Berichte des osteuropa-Instituts an der Freien Universität Berlin 80). Berlin 1967, S. 11ff.; sowie: Hubert Schneider: Das sowjetische Außenhandelsmonopol 1920–1925 (Abhandlungen des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und Internationale Studien 28). Köln 1973, S. 19ff. 38 V. A. Šiškin: Polosa Priznanij i vnešneėkonomičeskaja Politika SSSr (1924–1928 gg.). Moskau 1983; V. A. Šiškin: V. I. Lenin i vnešne-ėkonomiceskaja Politika sovetskogo Gosudarstva (1917–1923 gg.). Leningrad 1977. 39 oleg Kashirskikh: Die deutsch-sowjetischen Handelsbeziehungen in den Jahren 1925–1932. Deutschlands rolle im außenwirtschaftlichen Integrationsbestreben der Sowjetunion (Europäische Hochschulschriften reihe 3, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 1032). Frankfurt am Main, Berlin, Bern u. a. 2006; regine Heubaum: Das Volkskommissariat für Außenhandel und seine Nachfolgeorganisationen 1920–1930. Der Außenhandel als zentrale Frage der sowjetischen wirtschaftspolitik. Berlin 2001, S. 134, http://edoc.hu-berlin.de/dissertationen/heubaum-regine-2001-07-31/HtML/front.html (zuletzt geprüft am 5.7.2010); Patricia Flor: Die Sowjetunion im Zeichen der weltwirtschaftskrise. Außenhandel, wirtschaftsbeziehungen und Industrialisierung 1928–1933 (osteuropastudien der Hochschulen des Landes Hessen: reihe 1, Giessener Abhandlungen zur Agrar- und wirtschaftsforschung des europäischen ostens 210). Berlin 1995, S. 299.
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In der russischen Forschung diskutiert Šiškin in einem neueren Aufsatz von 1998 den ideologischen Einfluss auf die sowjetische Außenwirtschaftspolitik, der seiner Meinung nach seit den frühen 1920er Jahren zunehmend Merkmale einer nationalstaatlich und machtpolitisch orientierten Interessenpolitik aufwies.40 trotz dieser „Normalisierung“ sowjetischer Außenwirtschaftspolitik blieb aber das 1918 etablierte staatliche Außenhandelsmonopol erhalten, das sich zu einem effektiven Instrument zur Durchsetzung sowjetischer Interessen gegenüber ausländischen Unternehmen entwickelte. Der grundsätzlich wichtige Stellenwert der Außenwirtschaftsbeziehungen für den Aufbau der sowjetischen Industrie wird damit jedoch nicht angezweifelt. Das gilt insbesondere für die Elektrifizierungspolitik, die den Import moderner Investitionsgüter und moderner technologie und damit eine Kooperation mit ausländischen Unternehmen erforderte. Historiographie der deutsch-sowjetischen Beziehungen Eine erste historische Auseinandersetzung mit den deutsch-sowjetischen Beziehungen der weimarer republik begann nach dem Zweiten weltkrieg und zielte darauf ab, diese Beziehungen im Hinblick auf die totalitäre Allianz von 1939 zu erklären. Im Fokus der Forschung standen zunächst der Vertrag von rapallo und die Entwicklung der deutschen ostpolitik bis zum Jahr 1933. Dabei wurde rapallo vor allem in der englischsprachigen Forschung lange Zeit als Symbol der deutschen ostorientierung zu Beginn der weimarer republik interpretiert.41 Neuere Studien sehen die wirkung des rapallo-Vertrags hingegen kritischer und konzentrieren sich 40 V. A. Šiškin: Meždu real‘nost‘ju i Utopiej. Ideologija i vnešneėkonomičeskie Politika poslerevoljucionnoj rossii, in: rossija i Sovremennyj Mir 20 (1998), 3, S. 36–46. 41 Ein guter Überblick über die ältere Forschung findet sich bei Karl Schlögel: Karl Schlögel (Hg.): russian-German Special relations in the twentieth Century. A Closed Chapter? (German Historical Perspectives 19). oxford 2006. Exemplarisch zur älteren englischsprachigen Forschung: Harvey Leonard Dyck: weimar Germany & Soviet russia, 1926–1933. A Study in Diplomatic Instability. London 1966; rosenbaum: Community of Fate (1965); Freund: Unholy Alliance (1957). Vgl. ebenfalls die Bewertung rapallos von robert Himmer, der die Handlungsmotivation der beteiligten Akteure (darunter vor allem walther rathenau) im rahmen der Kontinuitätsthese interpretiert: robert Himmer: rathenau, russia, and rapallo, in: Central European History 9 (1976), 2, S. 146–183, hier 149f. Zur französischen Sicht auf rapallo vgl.: renata Bournazel: rapallo, ein französisches trauma. Köln 1976. Zur frühen (west-) deutschen rapallo-Forschung vgl.: Herbert Helbig: Die träger der rapalloPolitik (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 3). Göttingen 1958; theodor Schieder: Die Probleme des rapallo-Vertrags. Eine Studie über die deutsch-russischen Beziehungen 1922–1926 (Arbeitsgemeinschaft für Forschung des Landes Nordrheinwestfalen, Geisteswissenschaften 43). Köln 1956; Hans-wilhelm Gatzke: Von rapallo nach Berlin: Stresemann und die deutsche rußlandpolitik, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 4 (1956), 1, S. 1–29. Grundlegend zur rapallo-Forschung noch immer: Horst Linke: Deutschsowjetische Beziehungen bis rapallo (Abhandlungen des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und Internationale Studien 22). Köln 1970. Eine Zusammenfassung der frühen Forschungsliteratur bei: Hermann Graml: Die rapallo-Politik im Urteil der westdeutschen Forschung, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 18 (1970), 4, S. 367–391.
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stärker auf den spezifischen historischen Kontext, in dem der Vertrag zustande kam.42 Alfred Anderle und Günter rosenfeld stehen stellvertretend für die DDr-Forschung, die die deutsch-sowjetischen Beziehungen der Zwischenkriegszeit als herausragendes Beispiel einer Politik der „friedlichen Koexistenz“ der Sowjetunion interpretierte. Den „Kapitäne[n] des deutschen Monokapitals“ wird dagegen das Ziel einer „wiederaufrichtung des deutschen Imperialismus“ sowie einer „restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion“ unterstellt.43 rosenfelds Artikel zu rapallo und sein späteres zweibändiges werk zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen bieten eine gute Zusammenfassung dieser Position. Er konstatiert darin ein großes Interesse deutscher Unternehmen „an der ökonomischen und damit auch politischen Beherrschung rußlands“44. Aus der umfangreichen sowjetischen Forschung sind die außenwirtschaftspolitischen Studien von A. A. Achtamzjan und Šiškin zu erwähnen.45 wie in der DDrForschung wurde auch hier rapallo als Beispiel der friedlichen Koexistenz und der wirtschaftlichen Zusammenarbeit hervorgehoben; beziehungsweise das Scheitern der rapallo-Beziehungen wurde in direktem Zusammenhang mit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion interpretiert. Im westdeutschen Forschungsdiskurs seit den 1960er Jahren sind zwei zentrale Diskussionsstränge auszumachen. Die erste Fragestellung betrifft den themen42 Zur neueren rapallo-Forschung vgl.: Eva Ingeborg Fleischhauer: rathenau in rapallo. Eine notwendige Korrektur des Forschungsstandes, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 54 (2006), 3, S. 365–415; Sergej A. Gorlov: Moskau-Berlin. Die militärpolitische Zusammenarbeit in der rapallo-Periode (1920–1933), in: Jahrbücher für Geschichte osteuropas 46 (1998), 2, S. 256–268; Horst Linke: Der weg nach rapallo. Strategie und taktik der deutschen und sowjetischen Außenpolitik, in: Historische Zeitschrift 264 (1997), 1, S. 55–109; Carole Fink: Genoa, rapallo, and European reconstruction in 1922. washington, D. C. 1991. 43 Günter rosenfeld: Auswirkungen des rapallo-Vertrages auf die deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen, in: Alfred Anderle (Hg.): rapallo und die friedliche Koexistenz. Berlin 1963, S. 108–125, hier 115. Zur DDr-Forschung vgl. außerdem: Berthold Puchert: Die Entwicklung der deutsch-sowjetischen Handelsbeziehungen von 1918 bis 1939, in: Jahrbuch für wirtschaftsgeschichte (1973), 4, S. 11–37; Alfred Anderle: Die deutsche rapallo-Politik. Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1929 (Veröffentlichungen des Instituts für Geschichte der Völker der UdSSr an der Martin-Luther-Universität, Halle-wittenberg, reihe B 4). Berlin 1962; Alfred Anderle: Die deutsch-sowjetischen Verträge von 1925/26, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 5 (1957), 3, S. 470–501; werner Basler: Deutsch-sowjetische Beziehungen in der Zeit der weimarer republik. Berlin (ost) 1954. Der Versuch einer Annäherung zwischen westlicher und sozialistischer Forschung wurde anlässlich des 65. Jahrestags von rapallo im rahmen eines Sammelbandes unternommen: Ulrike Hörster-Philipps/Norman Paech/Erich roßmann/Christoph Strässer (Hg.): rapallo – Modell für Europa? Friedliche Koexistenz und internationale Sicherheit heute (Kleine Bibliothek 433). Köln 1987. 44 Günter rosenfeld: Sowjetrussland und Deutschland 1917–1922. 2. Auflage. Berlin (ost) 1984. Erstmals veröffentlicht 1960, S. 89. Vgl. außerdem den Folgeband: Günter rosenfeld: Sowjetunion und Deutschland 1922–1933. 2. Auflage. Berlin (ost) 1984. Erstmals veröffentlicht 1960. 45 Šiškin: V. I. Lenin (1977); A. A. Achtamzjan: rapall‘skaja Politika. Sovetsko-germanskie diplomatičeskie otnošenija v 1922–1932 Godach. Moskau 1974.
2 Problemstellung
31
komplex von Kontinuität und Diskontinuität der deutschen Außenpolitik gegenüber der Sowjetunion. Nach Koenen dominierte bis in die 1980er Jahre eine Forschungsperspektive, die die deutsch-sowjetischen Beziehungen nach dem Ersten weltkrieg primär unter dem Einfluss von Brest-Litovsk betrachtete.46 Es gab demnach eine Kontinuität von der kaiserlichen Kriegszielpolitik im Ersten weltkrieg bis zur nationalsozialistischen Lebensraumpolitik, die sich auch für die weimarer republik nachzeichnen lässt. Dieser wissenschaftliche Fokus auf den „deutschen Drang nach osten“47 und die „hyperimperialen ostraumpläne“48 sowie die Annahme einer linearen Kontinuität der deutschen ostpolitik wird von Koenen kritisiert. Er fordert vielmehr, ost- und westpolitik des reichs nicht isoliert zu betrachten, sondern stärker in Bezug zueinander zu setzen. Im zweiten Diskurs der westdeutschen Forschung wurde der Stellenwert ökonomischer Interessen in den deutsch-sowjetischen Beziehungen intensiv diskutiert. Eine Forschungsposition vertrat darin den Ansatz, die Beziehungen zur Sowjetunion seien auf deutscher Seite im wesentlichen in politischem Kalkül begründet gewesen. So interpretiert Klaus Hildebrand die weimarer Außenpolitik streng unter dem Gesichtspunkt des politischen revisionismus.49 Außenwirtschaftspolitik war demnach zwar ein wichtiges Instrument der revisionspolitik, entfaltete jedoch keine eigenständige Dynamik. Deutsch-sowjetische wirtschaftsbeziehungen werden vielmehr als Mittel zum Zweck interpretiert: als Versuch der deutschen Außenpolitik, den eigenen Handlungsspielraum gegenüber den westmächten zu erhöhen.50 Der deutsche osthandel war deshalb nach Hildebrand und Martin walsdorff in die Strategie der Stresemannschen ost-west-Balance eingebunden.51 Marshall 46 Koenen: Der russland-Komplex (2005). Vgl. dazu auch: Andreas Hillgruber: Kontinuität und Diskontinuität in der deutschen Außenpolitik von Bismarck bis Hitler. Düsseldorf 1971. 47 Dazu: Henry Meyer: Drang nach osten: Fortunes of a Slogan Concept in German-Slavic relations 1849–1990. Berlin, New York 1996. 48 Koenen: Der russland-Komplex (2005), S. 8. 49 Hildebrand: Das Deutsche reich und die Sowjetunion (1977). Vgl. dazu auch die Zusammenfassung zur deutschen Außenpolitik: Klaus Hildebrand: Das vergangene reich. Deutsche Außenpolitik von Bismarck bis Hitler 1871–1945. Stuttgart 1995; sowie den Aufsatz: Klaus Hildebrand: reich – Großreich – Nation. Betrachtungen zur Geschichte der deutschen Außenpolitik 1871–1945 (Schriften des historischen Kollegs 42). München 1995. Vgl. ebenfalls Karl Dietrich Erdmann und Helmut Grieser, die die eigentlichen träger der rapallopolitik vor allem in den bürgerlichen Parteien sehen: Karl Dietrich Erdmann/Helmut Grieser: Die deutsch-sowjetischen Beziehungen in der Zeit der weimarer republik als Problem der deutschen Innenpolitik. text eines referats für das deutsch-sowjetische Historikertreffen in Leningrad 1.–5. April 1975, in: Geschichte in wissenschaft und Unterricht 26 (1975), 7, S. 403–426. 50 Vgl. dazu auch den Aufsatz von r. P. Morgan aus dem Jahr 1963. Morgan kommt auf Basis seiner empirischen Studie zum Auswärtigen Amt zu dem eindeutigen Schluss, dass in den wirtschaftsbeziehungen mit der Sowjetunion primär politische Motive verfolgt wurden: „Although […] certain industrial and commerical interests in Germany pressed for agreements with the Soviet Union for the simple motive of economic gain, Germany‘s main motive was political.“ r. P. Morgan: the Political Significance of German-Soviet trade Negotiations, 1922–5, in: the Historical Journal 6 (1963), 2, S. 253–271, hier 254. 51 Hildebrand: Das Deutsche reich und die Sowjetunion (1977); Martin walsdorff: westorientierung und ostpolitik. Stresemanns rußlandpolitik in der Locarno-Ära. Bremen 1971.
32
teil I Untersuchungsgegenstand
Lee und wolfgang Michalka argumentieren ähnlich und sprechen von einer „community of negative interests“52 zwischen Sowjetunion und Deutschem reich, die im Kern auf politischer Berechnung beruhte. Auch Hermann Graml vertrat in einem 1970 erschienen Aufsatz die Position, dass es mehr als problematisch sei, „die deutschen wirtschaftsinteressen zur Erklärung der rapallo-Politik heranzuziehen“53. Demgegenüber argumentiert eine andere Forschungsposition, die deutsche ostpolitik sei von primär wirtschaftlichen Interessen dominiert worden. Nach Autoren wie Hartmut Pogge von Strandmann entwickelte „die wirtschaft“ eine erhebliche Eigendynamik in den deutsch-sowjetischen Beziehungen und forderte deren Intensivierung nachdrücklich. Pogge von Strandmann beschreibt die Interessen der „deutschen Industriellen“ wie folgt: „For the industrialists, ostpolitik meant in the first place economic opportunities in Soviet russia. these in turn would contribute to Germany‘s greater industrial strength and thus help to restore Germany as a great power.“54
Gordon Mueller und Hélène Seppain argumentieren ähnlich. Letztere spricht sogar von einer „rapallo-Lobby“: „the German industrialists wanted to penetrate the russian market by at least regaining their prewar influence in russian industry.“55 Diese Forschungsposition wurde von der militärhistorischen Forschung stark geprägt, nach der eine Allianz aus Industrie und reichswehr die deutsche ostpolitik der 1920er Jahre maßgeblich beeinflusste. Ausgangspunkt für diese Interpretation ist – in Anlehnung an die Kontinuitätsdiskussion – die deutsche Kriegszielpolitik des Ersten weltkriegs und speziell der Vertrag von Brest-Litovsk. Nach dem Ende des Ersten weltkriegs forderten demnach deutsche Führungseliten eine Fortsetzung der Expansionspolitik in osteuropa, angesichts des fehlenden militärischen Machtpotentials allerdings im rahmen eines friedlichen wirtschaftsimperialismus. Der Militärhistoriker rolf-Dieter Müller fasst diese Position folgendermaßen zusammen: „[Die] Analyse wirtschaftspolitischer Zielsetzungen deutscher Führungseliten gegenüber der Sowjetunion [hat] ein Maß an Kontinuität aufgezeigt, das die Geschichte des Deutschen reiches vom Ersten bis zum Zweiten weltkrieg nachhaltig beeinflußt hat. […] Die Zielvorstellung eines von Deutschland beherrschten ostimperiums wurde schließlich zu einem wichtigen Faktor der zumindest partiellen Übereinstimmung zwischen Nationalsozialisten und den nationalkonservativen Führungseliten. So gesehen können Brest-Litovsk, rapallo und Hitler-StalinPakt als Kulminationspunkte einer ost-option gelten.“56
Die neuere Forschungsdiskussion entfernte sich schrittweise von diesen Grundsatzdiskussionen um Kontinuität versus Diskontinuität beziehungsweise um „Primat der Politik“ versus „Primat der wirtschaft“. Bereits Hans-Jürgen Perrey be52 53 54 55
Lee/Michalka: German Foreign Policy (1987), S. 152. Graml: Die rapallo-Politik im Urteil (1970), S. 379. Pogge von Strandmann: Industrial Primacy in German Foreign Policy (1981), S. 245. Hélène Seppain: Contrasting US and German Attitudes to Soviet trade, 1917–91. Politics by Economic Means. Basingstoke, New York 1992, S. 51; Gordon Mueller: the road to rapallo: Germany‘s relations with russia 1919–1922. Chapel Hill 1970. 56 Müller: Das tor zur weltmacht (1984), S. 342f.
2 Problemstellung
33
tonte 1985 in seiner Studie zum russlandausschuss der Deutschen wirtschaft, dass von verschiedenen Akteuren differierende politische und wirtschaftliche Interessen in den deutsch-sowjetischen Beziehungen vertreten wurden. Bezüglich des Faktors wirtschaft kam er zu einem eindeutigen Urteil: „Neben dem politischen ‚rapallo‘ gab es kein wirtschaftliches. Bis zu Beginn der weltwirtschaftskrise dokumentierte die deutsche wirtschaft mit Ausnahme einiger weniger Unternehmen Unzufriedenheit und Zurückhaltung im deutsch-sowjetischen Geschäft, und der Staat war es, der sich auf fast allen Gebieten als Motor der handelspolitischen Entwicklung erwies.“57
Ausgehend von dieser Einschätzung etablierte sich seit den frühen 1990er Jahren eine Forschungsinterpretation, die den Stellenwert wirtschaftlicher Interessen in den deutsch-sowjetischen Beziehungen kritisch bewertet.58 2.2 Forschungskritik Die Forschungsliteratur zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen ist umfangreich: „Entire libraries have been written about German-russian relations in the twentieth century.“59 Eine detaillierte Fallstudie zu den Interessen eines deutschen Unternehmens in den deutsch-sowjetischen Beziehungen liegt bisher jedoch nicht vor. Vielmehr lesen sich in der Forschungsliteratur Unternehmensinteressen noch immer vorwiegend als die Interessen der „deutschen wirtschaft“ oder der „deutschen Industrie“.60 Exponierte Beispiele wie Krupp, Stinnes, otto wolff, AEG und auch Siemens werden zwar in vielen Studien angeführt. Sie stehen in der Forschung überwiegend aber als Stellvertreter eines breiten rahmens deutscher wirtschaftsinteressen. Eine genaue Definition dessen, was „die wirtschaft“ bedeutet, erfolgte in der Literatur allenfalls anhand von wirtschaftsbranchen.61 57 Perrey: rußlandausschuß der Deutschen wirtschaft (1985), S. 335. 58 Vgl. dazu die Beiträge in: Jürgen Förster (Hg.): Deutschland und das bolschewistische rußland von Brest-Litowsk bis 1941 (Veröffentlichung des Göttinger Arbeitskreises 8). Berlin 1991. Darunter vor allem: Hans-werner Niemann: Die deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen von rapallo (1922) bis zum Angriff auf die Sowjetunion (1941), in: Jürgen Förster (Hg.): Deutschland und das bolschewistische rußland von Brest-Litowsk bis 1941 (Veröffentlichung des Göttinger Arbeitskreises 8). Berlin 1991, S. 87–110. Vgl. ebenfalls: robert M. Spaulding: osthandel and ostpolitik. German Foreign trade Policies in Eastern Europe from Bismarck to Adenauer. oxford 1997; Hartmut Unger: Zwischen Ideologie und Improvisation. Moritz Schlesinger und die rußlandpolitik der SPD 1918–1922 (Europäische Hochschulschriften reihe 3, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 694). Frankfurt am Main 1996; Ingmar Sütterlin: Die „russische Abteilung“ des Auswärtigen Amtes in der weimarer republik (Historische Forschungen 51). Berlin 1994. 59 Karl Schlögel: russian-German Special relations in the twentieth Century. A Closed Chapter?, in: Karl Schlögel (Hg.): russian-German Special relations in the twentieth Century. A Closed Chapter? (German Historical Perspectives 19). oxford 2006, S. 1–10, hier 1. 60 Siehe: Seppain: Contrasting US and German Attitudes (1992), S. 51; Müller: Das tor zur weltmacht (1984), S. 19; Schneider: Das sowjetische Außenhandelsmonopol (1973), S. 82. 61 Diese Kritik trifft auch auf die ansonsten sehr gut belegte Studie über die Anfänge der sowjetischen Elektroindustrie von Heiko Haumann zu. Haumann zeigt zwar klar die Initiative von AEG bei der Aufnahme von Beziehungen mit Sowjetrussland, weitet seine Schlussfolgerungen
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teil I Untersuchungsgegenstand
Fragwürdig ist in der Forschung ebenfalls die Einordnung von Unternehmen in die deutsche Außenwirtschaftspolitik. Der Überblick im vorangegangenen Kapitel zeigte, dass sich die bisherigen Forschungsergebnisse weitgehend auf zwei Positionen zusammenfassen lassen. Eine Position postuliert einen Primat der Politik über die wirtschaft und ordnet die deutschen Unternehmensinteressen den Zielen der deutschen Außenpolitik unter. Nach der Argumentation der zweiten Position beeinflussten im wesentlichen ökonomische Interessen die deutsche Außenwirtschaftspolitik gegenüber der Sowjetunion.62 Unternehmen tauchen in beiden Forschungsrichtungen jedoch kaum als eigenständig handelnde Subjekte auf. Ihre Interessen werden vielmehr in der Forschung oftmals pauschal einer allgemeinen außenwirtschaftspolitischen Ausrichtung des Deutschen reichs untergeordnet, die auf eine ökonomische Expansion in osteuropa abzielte. Gemäß dieser Argumentation befand sich die deutsche wirtschaftspolitik in osteuropa nach 1918 in einer direkten Kontinuitätslinie des Vertrags von Brest-Litovsk. rolf-Dieter Müller kommt stellvertretend für beide Forschungsrichtungen zu dem Urteil, dass in Deutschland zwar verschiedene Details der ostpolitik diskutiert wurden, „aber hinsichtlich der grundlegenden Ziele, die mit einer wirtschaftlichen Penetrationspolitik […] verfolgt werden sollten, gab es keine gravierenden Differenzen“63. Unabhängig von der Frage, ob die wirtschaftsbeziehungen aus politischem Kalkül oder aus ökonomischen Interessen vertreten wurden, besteht in der Forschung weitgehende Einigkeit darin, dass der deutsche osthandel in der tradition eines imperialistischen Expansionismus stand. Dieser hatte das Ziel, den Großmachtstatus des reichs wiederherzustellen. Im Ergebnis erwies sich die „wirtschaftliche Penetrationspolitik“ allerdings als nur begrenzt erfolgreich. wie aus der tabelle 1 ersichtlich wird, blieb das Volumen des deutschen Sowjetgeschäfts nach dem Ersten weltkrieg deutlich unter dem Niveau der Vorkriegszeit. Es ist zwar der quantitative Sprung in den Jahren 1927/1928 und 1931/1932 augenscheinlich, infolgedessen die Elektroimporte aus dem Deutschen reich den wert von 1913 kurzzeitig deutlich übertrafen. Dieses sprunghafte wachstum basierte aber weitgehend auf der Übernahme staatlicher Ausfallbürgschaften durch die reichsregierung, die die Ausweitung der Exportgeschäfte auf Kreditbasis finanziell ermöglichte.
jedoch ohne entsprechende Quellenbelege auf Siemens aus. Haumann: Beginn der Planwirtschaft (1974), S. 136f. 62 Als Vertreter eines Primats der Politik sind zu nennen: Klaus Hildebrand, Hans-werner Niemann, Hans-Jürgen Perrey, Kurt rosenbaum und robert Spaulding. Zu den Vertretern des Primats der wirtschaft zählen Hartmut Pogge von Strandmann, Jürgen Beitel, werner Nötzold und Gordon Mueller. 63 Müller: Das tor zur weltmacht (1984), S. 39.
35
2 Problemstellung
tabelle 1: Deutsch-russisch/sowjetischer Handel 1913, 1918–1935 Sowjetische Importe aus dem Deutschen reich in Millionen rubel
Sowjetische Importe aus dem Deutschen reich in Prozent der Gesamtimporte
Sowjetische Elektroimporte aus dem Deutschen reich in Millionen rubel
1913
2276,2
47,5%
97,7
1580,8
29,8 %
1918
1,3
0,3 %
–
2,0
7,7 %
Sowjetische Exporte in das Deutsche reich in Millionen rubel
Sowjetische Exporte in das Deutsche reich in Prozent der Gesamtexporte
1919
0,9
8,1 %
–
–
–
1920
22,3
22,3 %
–
–
–
1921
189,5
23,1 %
–
5,0
5,7 %
1921/22
292,1
30,9 %
9,1
28,8
13,0 %
1922/23
214,2
41,4 %
15,4
150,9
32,0 %
1923/24
157,6
19,4 %
17,7
231,6
17,9 %
1924/25
357,8
14,2 %
25,3
304,5
15,6 %
1925/26
613,7
23,3 %
30,4
389,0
16,5 %
1926/27
563,2
22,6 %
59,1
611,7
21,7 %
1927/28
1035,4
26,3 %
135,7
858,2
23,8 %
1929
678,4
22,1 %
57,5
749,7
23,3 %
1930
874,2
23,7 %
74,7
716,9
19,8 %
1931
1431,1
37,2 %
97,1
450,8
15,9 %
1932
1142,1
46,5 %
144,6
350,2
17,5 %
1933
515,9
42,5 %
32,0
298,8
17,3 %
1934
100,2
12,0 %
12,7
343,0
23,5 %
1935
75,6
9,0 %
8,6
230,1
18,0 %
Quelle: Zusammengestellt aus den Zahlen des sowjetischen Außenhandelsministeriums: Ministerstvo Vnešnej torgovli SSSr: Vnešnjaja torgovlja SSSr za 1918-1940 gg. Statističeskij obzor, Moskau 1960. Die Zahlen basieren auf dem wert des rubels vom 1. März 1950. Die Angaben für 1921/22 bis 1926/27 beziehen sich auf den Zeitraum 1. oktober bis 30. September, die Zahlen für 1927/28 beinhalten den Zeitraum 1. September 1927 bis 31. Dezember 1928. Die Zahlen für 1913 gelten für das gesamte territorium des Zarenreichs mit Ausnahme Finnlands. Ein direkter Vergleich mit dem sowjetischen Außenhandel ist daher nicht möglich. Alexander Baykov schätzt, dass das Handelsvolumen des Zarenreichs von 1913 um circa 20 Prozent gesenkt werden muss, um einen direkten Vergleich zum Außenhandel der Sowjetunion zu bekommen. Doch auch bei dieser statistischen Anpassung ist festzustellen, dass das Volumen der deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen nicht mehr den Stellenwert von 1913 erreichte. Vgl.: Baykov, Alexander: Soviet Foreign trade, Princeton 1946, S. 28. Ein kurzer Überblick über die Probleme der sowjetischen Statistik wird auf S. 79 gegeben.
36
teil I Untersuchungsgegenstand
Manche Studien führen die Abhängigkeit des Sowjetgeschäfts von staatlicher Exportförderung auf den sowjetischen Kapitalmangel zurück.64 Das niedrige Niveau der deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen wird so auf ein reines Finanzierungsproblem reduziert und andere Einflussfaktoren werden vernachlässigt. Dies erklärt jedoch nicht, warum zum Beispiel viele der deutsch-sowjetischen Kooperationsprojekte (wie fast alle der Joint-Venture-Gesellschaften) in den 1920er Jahren scheiterten. Bisher gibt es kaum eine wirtschaftshistorische Untersuchung, die den genauen Zusammenhang zwischen den außenwirtschaftspolitischen Interessen der reichsregierung und den Interessen der am Sowjetgeschäft beteiligten Unternehmen eingehend untersucht.65 Auch die neuere Forschung hat keine grundsätzliche Differenzierung „der wirtschaft“ in einzelne Unternehmen vorgenommen. Fallstudien sind die Ausnahme und oftmals werden ihre Ergebnisse unreflektiert auf einen breiten Forschungskontext übertragen.66 Ausgehend von den Statistiken relativiert zwar die neuere Forschung die quantitative Bedeutung des deutschen Sowjetgeschäfts. Allerdings wird auch hier eine staatszentrierte Perspektive eingenommen, in der die eigenständigen Interessen deutscher Unternehmen nur eine marginale rolle spielen. Daraus ergibt sich erstens ein methodisches Problem, das den Untersuchungsgegenstand betrifft. Es stellt sich die Frage, wer überhaupt Außenwirtschaftspolitik „macht“ beziehungsweise wie die Interessen nicht-staatlicher Akteure (zum Beispiel Unternehmen) im Kontext der deutsch-sowjetischen Beziehungen zu analysieren sind. Dies führt zweitens zum empirischen Problem. Bis auf wenige Ausnahmen hat die Forschung nicht-staatliche Akteure in den deutsch-sowjetischen Beziehungen entweder vernachlässigt oder die Ergebnisse einzelner Fallstudien vorschnell generalisiert. Für die neuere Forschung zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen kam Berghahn 2006 zu dem Schluss, dass die Alltags- und Kulturgeschichtsschreibung den Bereich wirtschaft in den 1980er und 1990er Jahren „so gut wie völlig aus den Augen verloren“67 hat. wichtige Fragen, wie die nach dem Einfluss der wirtschaftseliten auf die weimarer ostpolitik, der Fortsetzung expansionistischer Ziele nach 1918 in der tradition von Brest-Litovsk oder dem Zusammenhang zwischen wirtschaftlicher Interessenpolitik und politischen revisionszielen sind bislang nicht geklärt. 64 Exemplarisch: Pogge von Strandmann: Industrial Primacy in German Foreign Policy (1981), S. 245ff.; Beitel/Nötzold: technologietransfer und wirtschaftliche Entwicklung (1979), S. 15. 65 Vgl. dazu: Martin Lutz: Siemens und die Anfänge des Sowjetgeschäfts: Zur Bedeutung von Vertrauen für ökonomisches Handeln, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 52 (2007), 2, S. 135–155, hier 137. 66 Diese Kritik äußerte bereits Perrey: Perrey: rußlandausschuß der Deutschen wirtschaft (1985), S. 154. Bezeichnend ist, dass abseits der Schwerindustrie oftmals die AEG und walther rathenau als Beispiel der Interessenpolitik anderer Branchen vorgebracht wird (wie zum Beispiel in: Koenen: Der russland-Komplex (2005), S. 287f.). rathenau kann jedoch kaum als typischer Vertreter der Großindustrie betrachtet werden, da er als Politiker außenwirtschaftliche Ziele verfolgte, die über die Interessenpolitik der AEG weit hinausreichten. Vgl. dazu auch: Unger: Zwischen Ideologie und Improvisation (1996), S. 26. 67 Berghahn: ostimperium und weltpolitik (2006), S. 11.
2 Problemstellung
37
2.3 Fragestellung Begründung der Fallauswahl Eine wichtige Grundlage der sowjetischen wirtschaftsplanung nach dem Ende des Bürgerkriegs war die Elektrifizierung. Beim Aufbau einer eigenständigen Elektroindustrie war Sowjetrussland weitgehend auf den technologie- und Maschinentransfer angewiesen, und damit auf eine Kooperation mit ausländischen Unternehmen. Außer den deutschen Unternehmen Siemens und AEG partizipierten vor allem General Electric und westinghouse aus den USA, die britische Metropolitan Vickers, ASEA und Ericsson aus Schweden sowie die schweizerische Brown, Boveri & Cie (BBC) am Sowjetgeschäft.68 Die Fallauswahl gründet sich auf folgenden Überlegungen: Siemens war das größte und traditionsreichste elektrotechnische Unternehmen im zaristischen russland. Die oktoberrevolution hatte den wichtigen Stellenwert von Siemens in der sowjetischen Elektroindustrie zwar stark verändert, aber nicht grundsätzlich infrage gestellt. Erstens bestanden personelle Kontinuitäten zu ehemaligen Mitarbeitern der russischen tochtergesellschaften. Zweitens war Siemens-technologie in Sowjetrussland weit verbreitet und eine Umstellung auf die Produkte anderer Unternehmen wäre mit sehr hohen Kosten verbunden gewesen.69 Siemens bietet sich deshalb als Fallstudie eines Unternehmens in den deutsch-sowjetischen Beziehungen an. Zeitlicher Rahmen Die chronologische Eingrenzung des themas muss sowohl die Entwicklung der deutsch-sowjetischen Beziehungen als auch Spezifika des Unternehmens Siemens berücksichtigen. Die Festlegung auf den Zeitraum von 1917 bis 1933 wurde vorgenommen, um eine umfassende Analyse des Sowjetgeschäfts von Siemens bis zur nationalsozialistischen Machtübernahme zu ermöglichen. Eine Begrenzung auf die weimarer republik ist nicht sinnvoll, da in der ersten Hälfte des Jahres 1918 wichtige Grundlagen für die spätere Unternehmensstrategie gelegt wurden. Allerdings ist die zeitliche Begrenzung nicht absolut. Es wird vielmehr aufgezeigt, dass Kontinuitäten, vor allem personeller Art, eine signifikante rolle in den ersten Jahren des Sowjetgeschäfts spielten. Um diese Kontinuitäten angemessen zu erfassen, wird eingangs ein Überblick über die Unternehmensgeschichte von Siemens in russland bis zur oktoberrevolution gegeben. 68 In Mannheim befand sich ein wichtiger Produktionsstandort von BBC, weshalb das Unternehmen stark in die deutsche Elektroindustrie integriert war und in sowjetischen Quellen teilweise auch als deutsche Firma bezeichnet wird. 69 Ähnlich argumentiert auch Žuravlev: S. V. Žuravlev: Biznes c Bol‘ševikami: Firma „Simens“ v Bor‘be za Vychod na sovetskij rynok v 1920-e gg., in: the Soviet and Post-Soviet review 33 (2006), 2f., S. 115–152, hier 121.
38
teil I Untersuchungsgegenstand
Auch nach der nationalsozialistischen Machtübernahme ist kein vollständiger Bruch im Unternehmensgeschäft auszumachen. Zwar wird in der Forschungsliteratur weitgehend angenommen, dass im Jahr 1933 das deutsch-sowjetische „Sonderverhältnis“ der rapallo-Ära endete.70 Im Sowjetgeschäft von Siemens vollzog sich jedoch ein allmählicher Übergang, der in die Fallstudie mit einbezogen wird. Fragestellung In der Forschung besteht ein weitgehender Konsens, das parteiübergreifende Ziel fast aller politischen Gruppen der weimarer republik darin zu sehen, den Status Deutschlands als europäische Großmacht wiederherzustellen. Die weimarer Außenpolitik stand demnach in einer Kontinuität deutscher Großmachtansprüche, die sich vom späten 19. Jahrhundert bis 1945 verfolgen lässt. Ebenfalls ist in der Forschung weitgehend akzeptiert, dass während des Ersten weltkriegs die deutsche Kriegszielpolitik von einer globalen Kolonialpolitik zu einem kontinentaleuropäischen Imperialismus überging. Der Vertrag von Brest-Litovsk steht darin stellvertretend für das deutsche Kriegsziel, ein wirtschaftsimperium in osteuropa zu errichten. Dieses Ziel wurde im Nationalsozialismus wieder aufgenommen, zu einer rassischen Lebensraumpolitik weiter entwickelt und im Zweiten weltkrieg unter dem Einsatz brutaler Gewalt militärisch verfolgt. Die genaue Einordnung der weimarer republik in eine Kontinuität dieser kontinentaleuropäischen Großmachtpolitik wird in der Forschung jedoch weiterhin kontrovers diskutiert. Vor allem die deutsch-sowjetischen Beziehungen haben eine Umdeutung erfahren, nach der zum Beispiel die Bedeutung des rapallo-Vertrags im Vergleich zur deutschen westpolitik weitaus geringer bewertet wird, als dies in der älteren Forschung der Fall war. Für den Bereich wirtschaft ist allerdings noch nicht umfassend geklärt, welchen Stellenwert der deutsche Außenhandel mit der Sowjetunion einnahm und welche Akteure welche Interessen im Sowjetgeschäft verfolgten. An dieser Stelle setzt die Studie zu Siemens in den deutsch-sowjetischen Beziehungen ein. Anhand des Fallbeispiels Siemens analysiere ich die Strategie eines deutschen Unternehmens im Sowjetgeschäft. Ziel ist es, das Ergebnis der Fallstudie in den Kontext der oben skizzierten Forschungskontroverse über Kontinuität und Diskontinuität der deutschen Großmachtambitionen in osteuropa sowie in die Kontroverse über den Stellenwert wirtschaftlicher Interessen in den deutsch-sowjetischen Beziehungen zu integrieren. Die wirtschaftsbeziehungen zwischen dem Deutschen reich und der Sowjetunion werden damit nicht auf die staatliche Außenwirtschaftspolitik reduziert. Ich vertrete vielmehr die these, dass erst durch die Berücksichti70 Hildebrand: Das Deutsche reich und die Sowjetunion (1977), S. 39. Ebenso: Alexander Fischer: Sowjetische Außenpolitik in der weltwirtschaftskrise 1929–1933, in: Josef Becker/ Klaus Hildebrand (Hg.): Internationale Beziehungen in der weltwirtschaftskrise 1929–1933. referate und Diskussionsbeiträge eines Augsburger Symposions 29. März bis 1. April 1979 (Schriften der Philosophischen Fakultäten der Universität Augsburg 18). München 1980, S. 65–83, hier 83.
3 theoretischer rahmen
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gung von Unternehmen als eigenständige Akteure die Frage beantwortet werden kann, welchen Stellenwert wirtschaftliche Interessen in den deutsch-sowjetischen Beziehungen einnahmen. Einen zentralen Anhaltspunkt bieten dabei die von Berghahn vorgeschlagenen Begriffe formal empire und informal empire, die den wirtschaftspolitischen und territorialen Expansionismus des Deutschen reichs in osteuropa zwischen 1914 und 1945 bezeichnen. Aus diesem übergeordneten historiographischen Kontext leite ich die beiden Leitfragen der Fallstudie ab: 1. Am Fallbeispiel Siemens untersuche ich, ob sich in der Unternehmensstrategie während der weimarer republik eine Kontinuität der deutschen Kriegszielpolitik von Brest-Litovsk beziehungsweise die Zielsetzungen eines wirtschaftspolitischen informal empire in osteuropa nachweisen lassen. Grundlage hierfür ist eine Untersuchung der Handlungsrationalität des Unternehmens im Sowjetgeschäft. 2. Die Ergebnisse der Fallstudie integriere ich in den Kontext der Forschungskontroverse über den Stellenwert des Faktors wirtschaft in den deutschsowjetischen wirtschaftsbeziehungen. Ich beziehe eine Position zur Frage, ob die Entwicklung des Sowjetgeschäfts von Siemens primär durch eine ökonomische rationalität des Unternehmens oder durch das Kalkül der deutschen Außenwirtschaftspolitik zu erklären ist. Aus der Fragestellung ergeben sich zwei konzeptionelle Probleme: wie kann erstens der Einfluss eines Unternehmens in internationalen Beziehungen beschrieben werden? Und welche Möglichkeit gibt es zweitens, die Handlungsrationalität eines Unternehmens analytisch zu erfassen? Beides wird durch eine Anbindung der Fallstudie an theoretische Ansätze aus der Politik- und wirtschaftswissenschaft ermöglicht. 3 tHEorEtISCHEr rAHMEN Das Kapitel 3 gibt zunächst eine Einführung in die theorie der Internationalen Beziehungen, aus der ich eine Definition von Siemens als „transnationaler Akteur“ in den deutsch-sowjetischen Beziehungen ableite. Im zweiten Schritt wird unter rückgriff auf die Neue Institutionenökonomik ein theoretischer rahmen vorgestellt, durch den sich die Handlungsrationalität von Unternehmen analytisch erfassen lässt. Auf Basis dieser beiden theoretischen Ansätze formuliere ich drittens meine Arbeitshypothesen.
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3.1 Unternehmen und transnationale Beziehungen Außenpolitik und internationale Beziehungen Die vom Historismus geprägte Geschichtswissenschaft beschränkte sich bei der Erforschung internationaler Beziehungen lange Zeit auf die Außenpolitik souveräner Staaten. Seit den 1960er Jahren wurde dieser Staatszentrismus von den Vertretern einer gesellschaftlich orientierten Geschichtswissenschaft zunehmend infrage gestellt. Damit begann die Forschung, auch jenseits des Staates neue Bereiche der politischen Geschichte zu erschließen. Es entwickelte sich in der historischen Politikforschung eine lang andauernde Kontroverse, die sich auf die Gegenpole „Primat der Innenpolitik“ sowie „Primat der Außenpolitik“ konzentrierte.71 Hans-Ulrich wehler ging 1996 in einer Kritik an Klaus Hildebrand erneut auf diese Kontroverse ein und stellte fest, dass trotz der langjährigen Diskussion kein methodischer Fortschritt in der politischen Geschichtsschreibung erzielt werden konnte.72 Auch für die Historiographie der deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen ergab sich zunächst keine Erweiterung des Forschungshorizonts. Erst Ende der 1990er Jahre wurde die Kontroverse um den „Primat der Außenpolitik“ und den „Primat der Innenpolitik“ durch neue theoretische Ansätze erweitert. In einem Sammelband kritisieren wilfried Loth und Jürgen osterhammel das „Lagerdenken in der deutschen Geschichtswissenschaft“73 und stellen neue Ansätze 71 Im Kern ging es in der Kontroverse um die Positionierung von Außenpolitik in einer modernen politischen Geschichtsschreibung. So wies beispielsweise Andreas Hillgruber einerseits auf einen methodischen rückstand des Faches hin und trug mit innovativen Ansätzen zu dessen Modernisierung bei. Andererseits verwahrte er sich gegen eine Vereinnahmung durch Sozialund wirtschaftsgeschichte und postulierte eine relative Autonomie der Außenpolitik von der Innenpolitik (Primat der Außenpolitik). Dem entgegengesetzt forderte Hans-Ulrich wehler eine weitgehende Einordnung der politischen Historiographie in die moderne Sozialgeschichte sowie eine Einbettung staatlicher Außenpolitik in ihren gesellschaftlichen Kontext (Primat der Innenpolitik). Ein Überblick über die Kontroverse findet sich in: Luise Schorn-Schütte: Historische Politikforschung. Eine Einführung. München 2006, S. 34ff.; Ute Frevert: Neue Politikgeschichte: Konzepte und Herausforderungen, in: Ute Frevert/Heinz-Gerhard Haupt (Hg.): Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung. Frankfurt am Main, New York 2005, S. 7–26; Eckart Conze: „Moderne Politikgeschichte“. Aporien einer Kontroverse, in: Guido Müller (Hg.): Deutschland und der westen. Internationale Beziehungen im 20. Jahrhundert (Historische Mitteilungen, Beiheft 29). Stuttgart 1998, S. 19–30. Zu den zeitgenössischen Positionen exemplarisch: Klaus Hildebrand: Geschichte oder „Gesellschaftsgeschichte“? Die Notwendigkeit einer politischen Geschichtsschreibung von den internationalen Beziehungen, in: Historische Zeitschrift 223 (1976), 2, S. 328–357; Hans-Ulrich wehler: Moderne Politikgeschichte oder „Große Politik der Kabinette“?, in: Geschichte und Gesellschaft 1 (1975), 2/3, S. 344–369; Andreas Hillgruber: Politische Geschichte in moderner Sicht, in: Historische Zeitschrift 216 (1973), 3, S. 529–552. 72 Hans-Ulrich wehler: „Moderne Politikgeschichte“? oder: willkommen im Kreis der Neorankeaner vor 1914, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), 2, S. 257–266. rezensiert wurde: Hildebrand: Das vergangene reich (1995). 73 wilfried Loth/Jürgen osterhammel (Hg.): Internationale Geschichte. themen – Ergebnisse Aussichten (Studien zur Internationalen Geschichte 10). München 2000, S. X.
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zur Erforschung internationaler Geschichte vor. Eckart Conze stellt in diesem Sammelband die bisher in der Geschichtswissenschaft allgemein akzeptierte Annahme einer Souveränität des Staates auf der Ebene internationaler Beziehungen grundsätzlich infrage.74 Unter Verweis auf den in der Politikwissenschaft geprägten Begriff der „Globalisierung“ schlägt er vor, in der politischen Geschichtsschreibung die Interdependenz zwischen Gesellschaft und Politik sowohl innerhalb eines Staates als auch über Staatsgrenzen hinaus stärker zu berücksichtigen. Es wird eine Anbindung an aktuelle theoretische Konzepte aus den Sozialwissenschaften gefordert, um das Instrumentarium der politischen Geschichtsschreibung zu erweitern.75 Parallel zur Primatskontroverse in der Geschichtswissenschaft entwickelte sich in der Politikwissenschaft eine intensive Diskussion darüber, was überhaupt unter internationalen Beziehungen zu verstehen sei und welchen Stellenwert staatliche Außenpolitik darin einnehme. Internationale Beziehungen waren in der Forschung als die Beziehungen zwischen Staaten definiert, der Untersuchungsgegenstand beschränkte sich damit auf staatliche Außenpolitik. Seit den 1960er Jahren wurde diese enge Definition zunehmend kritisiert und alternative Zugänge zu internationalen Beziehungen vorgeschlagen.76 Die Kritik verschiedener Autoren richtete sich gegen den älteren Forschungsansatz, der internationale Beziehungen auf die Beziehungen zwischen „souveränen westfälischen Nationalstaaten“77 beschränkte. Ausgehend von der – unter dem Begriff „Globalisierung“ zusammengefassten – Veränderung des Systems westfälischer Nationalstaaten wiesen diese Kritiker auf den zunehmenden Kompetenzverlust des Staates in allen Funktionsbereichen, auch im Bereich Außenpolitik, hin. Der souveräne Nationalstaat wurde nicht mehr als alleinige Schnittstelle zwischen Innen- und Außenpolitik gesehen. Vielmehr gingen die Autoren davon aus, dass auch Akteure unterhalb der nationalstaatlichen Ebene einen potentiell sehr wichtigen Zugang zur internationalen Arena besitzen.78 74 Eckart Conze: Zwischen Staatenwelt und Gesellschaftswelt. Die gesellschaftliche Dimension in der internationalen Geschichte, in: wilfried Loth/Jürgen osterhammel (Hg.): Internationale Geschichte. themen – Ergebnisse – Aussichten (Studien zur Internationalen Geschichte 10). München 2000, S. 118–140. 75 Dazu auch: Friedrich Kießling: Der „Dialog der taubstummen“ ist vorbei. Neue Ansätze in der Geschichte der internationalen Beziehungen des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Historische Zeitschrift 275 (2002), 3, S. 651–681. 76 Vgl. die Beiträge in: Ernst-otto Czempiel (Hg.): Die anachronistische Souveränität. Zum Verhältnis von Innen- und Außenpolitik. opladen 1969; sowie: Ernst-otto Czempiel: Der Primat der Auswärtigen Politik. Kritische würdigung einer Staatsmaxime, in: Politische Vierteljahresschrift 4 (1963), 2, S. 266–287. 77 James Caporaso versteht darunter das webersche Ideal rationaler Bürokratie und einer „centralized policy-making authority“ des souveränen Staates. Der Staat ist demnach innerhalb eines territorial definierten raumes als einziger Akteur für Außen- oder Außenwirtschaftsbeziehungen mit anderen souveränen Staaten verantwortlich. James A. Caporaso: the European Union and Forms of State. westphalian, regulatory or Post-Modern?, in: Journal of Common Market Studies 34 (1996), 1, S. 29–52, hier 34. 78 Zur Diskussion in der Geschichtswissenschaft vgl. die Beiträge in: Jens Siegelberg/Klaus Schlichte (Hg.): Strukturwandel internationaler Beziehungen. Zum Verhältnis von Staat und internationalem System seit dem westfälischen Frieden. wiesbaden 2000.
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Die Kritik beschränkte sich bis in die 1990er Jahre vor allem auf die Beschreibung aktueller Globalisierungsprozesse. Neuere Ansätze gehen indes einen Schritt weiter und bezweifeln, ob der Idealtypus des souveränen westfälischen Nationalstaats überhaupt jemals existiert hat.79 Dieser Forschungsdiskurs verwendet einen offenen Begriff von internationalen Beziehungen und bezieht auch explizit deren nicht-staatliche Dimension mit ein. Transnationale Beziehungen und transnationale Akteure Das aus dieser Diskussion heraus entstandene und in den 1960er Jahren in der Politikwissenschaft entwickelte Konzept der „transnationalen Beziehungen“ schlägt einen vollständig neuen Zugang zum Untersuchungsgegenstand der internationalen Beziehungen vor.80 Der Staatszentrismus der älteren Forschung wird darin hinterfragt und internationale Beziehungen um nicht-staatliche Akteure ergänzt. In den Anfangsjahren fokussierte sich die Diskussion noch darauf, die Unterschiede zwischen Staat und gesellschaftlichen Akteuren in transnationalen Beziehungen aufzuzeigen und beide voneinander abzugrenzen. transnationale Politik wurde sehr breit definiert „als jene politischen Prozesse zwischen nationalstaatlichen regierungen und/oder zwischen transnationaler Gesellschaft und regierung(en), deren Anstoß von Interaktionen in der transnationalen Gesellschaft gegeben wurde“81. In neueren Ansätzen wird dieser weite Definitionsrahmen, der eine Vielzahl höchst unterschiedlicher Prozesse umfasst, kritisiert. Der Politikwissenschaftler thomas risse-Kappen fasst den Begriff enger und definiert transnationale Beziehungen als „regular interactions across national boundaries when at least one actor is a non-state agent or does not operate on behalf of a national government or an intergovernmental organization“82. In dieser Definition bleibt der Analyserahmen zwar weiterhin sehr breit, der Fokus verschiebt sich allerdings von den Prozessen hin zu den Akteuren. transnationale Akteure sind zum Beispiel Verbände, Nichtregierungsorganisationen oder Unternehmen. Sie können eigenständige Interessen in
79 Neil Brenner/Bob Jessop/Martin Jones/Gordon MacLeod (Hg.): State/Space. A reader. oxford, Boston 2003. Vgl. auch die Arbeiten Stephen D. Krasners zur Staatssouveränität: Stephen D. Krasner (Hg.): Problematic Sovereignty. Contested rules and Political Possibilities. Cambridge 2001; Stephen D. Krasner: Sovereignty. organized Hypocrisy. Princeton 1999. Aus der geschichtswissenschaftlichen Diskussion vgl.: Heinz Duchhardt (Hg.): Der westfälische Friede. Diplomatie, politische Zäsur, kulturelles Umfeld, rezeptionsgeschichte (Historische Zeitschrift, Beiheft 26). München 1998. 80 Aus der älteren Forschung siehe die Beiträge in: robert o. Keohane/Joseph S. Nye (Hg.): transnational relations and world Politics. Cambridge, Mass. 1972. 81 Karl Kaiser: transnationale Politik. Zu einer theorie der multinationalen Politik, in: Ernstotto Czempiel (Hg.): Die anachronistische Souveränität. Zum Verhältnis von Innen- und Außenpolitik. opladen 1969, S. 80–109, hier 95. 82 thomas risse-Kappen: Bringing transnational relations Back in: Introduction, in: thomas risse-Kappen (Hg.): Bringing transnational relations Back in Non-State Actors, Domestic Structures and International relations. Cambridge 1995, S. 3–33, hier 3.
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transnationalen Beziehungen vertreten, dabei aber durchaus mit der staatlichen Außenpolitik interagieren. Aus der Definition risse-Kappens ergibt sich ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen Unternehmen und transnationalen Beziehungen. Angesichts des globalen waren- und Dienstleistungsaustauschs in der modernen wirtschaft haben auch wirtschaftsgeschichte und wirtschaftswissenschaft die theorie der transnationalen Beziehungen aufgenommen.83 Global orientierte Großunternehmen werden als multinationale Akteure (Multinational Enterprises, MNE) oder transnationale Akteure (Transnational Corporations, tNC) bezeichnet. Anstelle einer älteren Definition, die tNC nur anhand von ausländischen Direktinvestitionen betrachtet hat, wird zum Beispiel von Peter Hertner ein weitergehender Ansatz vorgeschlagen.84 Demnach können auch Unternehmensbeteiligungen im Ausland oder ausländische Vertriebsstrukturen eines Unternehmens für eine Definition als tNC ausreichen. In historischen Untersuchungen (unter anderem zu Siemens) wird argumentiert, dass MNE beziehungsweise tNC keine Phänomene der gegenwärtigen globalisierten wirtschaft sind, sondern ihren ersten Höhepunkt bereits vor dem Ersten weltkrieg erlebten.85 In neuen Publikationen wird der Ansatz der transnationalen Beziehungen auch in der Geschichtswissenschaft rezipiert. Autoren wie Jürgen osterhammel oder Eckart Conze erweitern das Konzept und machen es für historische Fragestellungen nutzbar.86 Dieser neue analytische rahmen löst das ältere historiographische Konzept von internationaler Geschichte als der Geschichte staatlicher Außenpolitik 83 Geoffrey Jones: Multinationals and Global Capitalism. From the Nineteenth to the twentyFirst Century. oxford 2005; Geoffrey Jones (Hg.): transnational Corporations. A Historical Perspective (the United Nations Library on transnational Corporations 2). London, New York 1993; Geoffrey Jones/Harm G. Schröter (Hg.): the rise of Multinationals in Continental Europe. Aldershot 1993; John H. Dunning (Hg.): the theory of transnational Corporations. London, New York 1993; Alice teichova (Hg.): Multinational Enterprise in Historical Perspective. Cambridge 1989. Aus der älteren Literatur vgl.: Edward L. Morse: transnational Economic Processes, in: robert o. Keohane/Joseph S. Nye (Hg.): transnational relations and world Politics. Cambridge, Mass. 1972, S. 23–47. 84 Peter Hertner: German Multinational Enterprise before 1914: Some Case Studies, in: Geoffrey Jones (Hg.): transnational Corporations. A Historical Perspective (the United Nations Library on transnational Corporations 2). London, New York 1993, S. 109–129. 85 Zu Siemens vgl.: Harm G. Schröter: Continuity and Change: German Multinationals since 1850, in: Geoffrey Jones/Harm G. Schröter (Hg.): the rise of Multinationals in Continental Europe. Aldershot 1993, S. 28–48; Peter Hertner: Financial Strategies and Adaptation to Foreign Markets: the German Electro-technical Industry and its Multinational Activities: 1890s to 1939, in: Alice teichova (Hg.): Multinational Enterprise in Historical Perspective. Cambridge 1989, S. 145–159. 86 Eckart Conze: Abschied von Staat und Politik? Überlegungen zur Geschichte der internationalen Politik, in: Eckart Conze/Ulrich Lappenküper/Guido Müller (Hg.): Geschichte der internationalen Beziehungen. Erneuerung und Erweiterung einer historischen Disziplin. Köln 2004, S. 15–43; Jürgen osterhammel: Geschichtswissenschaft jenseits des Nationalstaats. Studien zu Beziehungsgeschichte und Zivilisationsvergleich (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 147). Göttingen 2003; Jürgen osterhammel: transnationale Gesellschaftsgeschichte. Erweiterung oder Alternative?, in: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001), 3, S. 464–479. Eine kritische Besprechung dieser Ansätze in: Berghahn: ostimperium und weltpolitik (2006), S. 3.
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ab und verbreitert die Perspektive der internationalen Beziehungen in der Geschichtswissenschaft. Auch in der osteuropäischen Geschichte wird zunehmend auf diese Ansätze zurückgegriffen.87 Siemens als transnationaler Akteur in den deutsch-sowjetischen Beziehungen Siemens entwickelte sich vor dem Ersten weltkrieg zu einem transnationalen Großunternehmen mit globaler Präsenz. Zwar geht die Forschung davon aus, dass im Ersten weltkrieg die relative offenheit globaler Märkte zugunsten einer renationalisierung staatlicher Außenwirtschaftspolitik aufgegeben wurde.88 Dennoch bewahrte Siemens auch nach 1918 seine starke globale Ausrichtung. Das Unternehmen wurde Anfang der 1920er Jahre wieder zunehmend auf ausländischen Märkten aktiv, gründete in zahlreichen Ländern tochtergesellschaften und erneuerte das dichte Vertriebsnetz aus der Vorkriegszeit. Im Jahr 1925 erreichte der Anteil des Auslandsgeschäfts am Gesamtumsatz circa 30 Prozent.89 Siemens wird in Anlehnung an risse-Kappen im Folgenden als ein transnationaler Akteur bezeichnet, der eigenständig und von der deutschen Außenwirtschaftspolitik zumindest partiell unabhängig agieren konnte. Die deutsch-sowjetischen Beziehungen werden in der Fallstudie nicht auf die zwischenstaatlichen Beziehungen zwischen Deutschem reich und Sowjetunion beschränkt. Siemens wird vielmehr als eigenständig handelndes Subjekt mit unternehmensspezifischen Interessen in den deutsch-sowjetischen Beziehungen betrachtet.90 87 Vgl. dazu: Martin Schulze wessel: Neue Ansätze in der Geschichte der internationalen Politik, in: Jahrbücher für Geschichte osteuropas 56 (2008), 1, S. 1f.; Eva-Maria Stolberg: transnationale Forschungsansätze in der osteuropäischen Geschichte, in: H-Soz-u-Kult: Artikelserie transnationale Geschichte, 2005. http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/index.asp?id=584& pn=texte (zuletzt geprüft am 5.7.2010). Siehe ebenfalls das Heft 2006/2 der Zeitschrift „zeitenblicke“, das der rezeption neuer theoretischer Ansätze in der osteuropäischen Geschichte gewidmet ist. Stellvertretend für die Historiographie der deutsch-sowjetischen Beziehungen während der weimarer republik steht jedoch noch immer die diplomatiegeschichtliche Zusammenfassung von Hildebrand. Hildebrand bezieht sich darin explizit auf die theorie des realismus im Fach der Internationalen Beziehungen. Hildebrand: Das Deutsche reich und die Sowjetunion (1977), S. 4. Allerdings grenzte sich Bianka Pietrow bereits 1983 in ihrer Studie zur Außenpolitik Stalins klar von der traditionellen Diplomatiegeschichte ab. Vgl.: Bianka Pietrow: Stalinismus Sicherheit – offensive. Das „Dritte reich“ in der Konzeption der sowjetischen Aussenpolitik 1933–1941 (Kasseler Forschungen zur Zeitgeschichte 2). Melsungen 1983, S. 12ff. 88 Michael Brzoska: Staat und internationales System im kurzen 20. Jahrhundert, in: Jens Siegelberg/Klaus Schlichte (Hg.): Strukturwandel internationaler Beziehungen. Zum Verhältnis von Staat und internationalem System seit dem westfälischen Frieden. wiesbaden 2000, S. 231– 252, hier 231; Kevin H. o‘rourke/Jeffrey G. williamson: Globalization and History. the Evolution of a Nineteenth Century Atlantic Economy. Cambridge 1999. 89 wilfried Feldenkirchen: Siemens 1918–1945. München 1995, S. 662. Vgl. auch den Überblick über das Unternehmen in Kapitel 5. 90 Vgl. dazu als Gegensatz das grafische Modell der deutsch-sowjetischen Beziehungen bei Perrey. Grundannahme des Modells ist erstens eine hierarchische trennung zwischen Politik und Unternehmen. Zweitens wird die potentielle Interaktion zwischen Unternehmen und der Sow-
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Ist angesichts der besonderen Staatsstruktur und Staatsideologie der Sowjetunion überhaupt die Annahme zulässig, dass Siemens mit dem sowjetischen Staat transnationale Beziehungen aufnehmen konnte? Auf einer ersten Ebene ist diese Frage positiv zu beantworten. Im rahmen des sowjetischen Außenhandelsmonopols war der Austausch mit ausländischen Unternehmen nicht nur vorgesehen, sondern ausdrücklich erwünscht. Daraus ergab sich ein gewisser Spielraum für die Aufnahme transnationaler Beziehungen zwischen Unternehmen und verschiedenen Behörden des sowjetischen Außenhandelsapparats. Auf einer zweiten Ebene sind im theoretischen Modell transnationale Beziehungen zwischen rein nicht-staatlichen Akteuren zwar möglich. Nicht-staatliche „private“ Akteure parallel zu staatlichen organisationen sah die sowjetische wirtschaftsstruktur jedoch nicht vor, ganz besonders nicht im Bereich Außenhandel. Zumindest auf einer formalen Ebene ist die obige Frage somit zu verneinen. Es wird aber im Verlauf der Arbeit deutlich, dass Siemens verschiedene informelle Kommunikationsbeziehungen zu sowjetischen Akteuren aufbaute, die dem Bild eines straff bürokratisierten und formalisierten sowjetischen Außenhandelsapparats widersprechen. Darüber hinaus etablierte Siemens transnationale Beziehungen mit anderen nicht-staatlichen Akteuren (vor allem mit Verbänden und anderen Unternehmen), die sich im Sowjetgeschäft engagierten. Die Definition von Siemens als transnationaler Akteur leitet zur Frage über, welche Interessen das Unternehmen entwickelte und wie diese Interessen verfolgt wurden. Die Fallstudie erfordert eine theorie darüber, welche Handlungsmotivation der Interessenpolitik von Siemens in den deutsch-sowjetischen Beziehungen zugrunde lag. 3.2 Neue Institutionenökonomik und akteurszentrierter Institutionalismus Ich formuliere mit Bezug auf das Fallbeispiel zunächst eine institutionenökonomische Kritik an der neoklassischen theorie. Darauf folgen ein Überblick über verschiedene institutionenökonomische Ansätze sowie eine Vorstellung des akteurszentrierten Institutionalismus, die beide die Basis für die Generierung der Arbeitshypothesen bilden. Das neoklassische Paradigma Das neoklassische Paradigma dominiert bis heute den analytischen Zugang der wirtschaftswissenschaft zu ihrem Untersuchungsgegenstand.91 In der welt der Neoklassik existiert das Idealmodell eines freien und friktionslosen Marktes, desjetunion auf die Berliner Handelsvertretung als repräsentanz des sowjetischen Außenhandelsmonopols in Deutschland reduziert. Perrey: rußlandausschuß der Deutschen wirtschaft (1985), S. 32. 91 Eine kurze Einführungen in das neoklassische Paradigma findet sich in: Michael Häder: Umweltpolitische Instrumente und neue Institutionenökonomik. wiesbaden 1997, S. 5ff.
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sen Benutzung keine reibungsverluste verursacht. Der Mensch ist in dieser welt ein vollständig informierter und mit objektivem wissen ausgestatteter Nutzenmaximierer, ein Homo Oeconomicus, der seine Interessen rational und zielgerichtet verfolgt. Ziel des Akteurs ist es, in einer welt der knappen Güter den größtmöglichen Eigennutz aus seinem Handeln zu ziehen. Der Markt dient dabei als Handlungsplattform, auf dem ökonomische Akteure miteinander interagieren. Marktbeziehungen werden in der Neoklassik durch das Verhältnis von Angebot und Nachfrage beschrieben. Verschieben sich Angebot oder Nachfrage eines bestimmten Gutes, wird durch die „unsichtbare Hand“92 des Marktes ein neues Gleichgewicht (Preisequilibrium) geschaffen. In N. Gregory Mankiws (Professor für Volkswirtschaftslehre an der Harvard University) Standardeinführung in die wirtschaftstheorie lesen sich diese neoklassischen Grundannahmen wie folgt: „If a person had never seen a market economy in action, the whole idea might seem preposterous. Economies are large groups of people engaged in many interdependent activities. what prevents decentralized decision making from degeneration into chaos? what coordinates the actions of the millions of people with their varying abilities and desires? what ensures that what needs to get done does in fact get done? the answer, in a word, is prices. If market economies are guided by an invisible hand, as Adam Smith famously suggested, then the price system is the baton that the invisible hand uses to conduct the economic orchestra.“93
wie müsste man sich nun das Unternehmen Siemens in den deutsch-sowjetischen Beziehungen im weltbild der Neoklassik vorstellen? Vereinfacht ausgedrückt würde im neoklassischen Paradigma die sowjetische Nachfrage nach elektrotechnischen Investitionsgütern sowie das Angebot von Siemens die Entwicklung des Unternehmensgeschäfts bestimmen. Es wäre dann allerdings festzustellen, dass die Sowjetunion gar kein freier Markt war. Vielmehr trat der sowjetische Staat als Monopolist auf, der den gesamten Außenwirtschaftsverkehr organisierte und überwachte. Für außen stehende Unternehmen war es außerordentlich schwierig, Einblicke in die sowjetische wirtschaftsentwicklung und deren wachstumspotentiale zu bekommen. An Stelle eines reibungslosen Marktes bestand eine Situation, in der unzureichend informierte Akteure hohe reibungsverluste zum Beispiel durch Informationsdefizite in Kauf nehmen mussten. Diese Kosten erhöhten sich noch dadurch, dass Verträge durch den formalen rechtlichen rahmen im Sowjetgeschäft nicht ausreichend abgesichert wurden. Für viele Unternehmen ergaben sich zum Beispiel durch den fehlenden Patentschutz oder aufgrund fehlender Schlichtungsmechanismen bei Vertragsbruch erhebliche risiken. Der sowjetische Außenhandel war insgesamt sehr stark von ideologischen und politischen Zielen geprägt. Mit dieser Kritik wird eine Grundannahme der Neoklassik, dass sich Preise durch den Einfluss der „unsichtbaren Hand“ im wechselspiel zwischen Angebot und Nachfrage bilden, angezweifelt. wenn ein Akteur wie die Sowjetunion in Außenhandelsbeziehungen nicht nur ökonomische Ziele verfolgte, dann stellt sich die 92 Der Begriff der „unsichtbaren Hand“ geht auf Adam Smith zurück. Durch ihn werden in der Neoklassik die „unsichtbaren“ Verhandlungsprozesse beschrieben, die auf dem Markt zur Preisbildung führen. 93 N. Gregory Mankiw: Principles of Economics. 3. Auflage. Mason 2004. Erstmals veröffentlicht 1998, S. 84.
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grundsätzliche Frage, welche Mechanismen ökonomisches Handeln beeinflussen. Diese Frage betrifft nicht nur die Sowjetunion. Vielmehr ist auch für Siemens zu bezweifeln, dass das Unternehmen in den deutsch-sowjetischen Beziehungen nur zweckrationale ökonomische Ziele verfolgte. Allein die ideologischen Differenzen zwischen dem kapitalistischen Unternehmen und dem sowjetischen Staat boten ausreichend Potential für Handlungsentscheidungen, die von dem neoklassischen Modell des Homo Oeconomicus abweichen würden. Die Annahme einer „unsichtbaren Hand“, die die deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen über den Preismechanismus reguliert hat, lässt sich somit kaum aufrechterhalten. Die Neoklassik verliert dann an Erklärungspotential, wenn Märkte nicht – wie in den neoklassischen Modellen zugrunde gelegt wird – vollständig übersichtlich sind, wenn Informationen nicht frei verfügbar sind und wenn Akteure nicht im neoklassischen Verständnis rational handeln. Das Paradigma der Neoklassik ist deshalb nicht in der Lage, das Unternehmensgeschäft von Siemens in den deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen adäquat zu erfassen. An diesem Punkt setzt die Kritik der Neuen Institutionenökonomik ein. Institutionenökonomische Kritik am neoklassischen Paradigma Institutionen sind im Verständnis der Neuen Institutionenökonomik allgemein die Spielregeln wirtschaftlicher Interaktion. Nach rudolf richter beruht der institutionenökonomische Ansatz auf drei theoretischen Grundannahmen.94 Erstens steht aufgrund der Annahme eines methodologischen Individualismus der individuelle Akteur im Zentrum des Ansatzes. Das Handeln kollektiver Akteure, wie zum Beispiel von Unternehmen, basiert demnach auf den Handlungen der einzelnen Unternehmensmitglieder. Zweitens übernimmt der Ansatz zwar die neoklassische Annahme rationalen Handelns. Handeln wird jedoch nicht nur durch die persönliche Nutzenmaximierung, sondern auch durch andere Faktoren beeinflusst, so dass die Neue Institutionenökonomik von einer begrenzten rationalität (bounded rationality) ausgeht. Drittens lehnt die Neue Institutionenökonomik die Annahme eines friktionslosen Marktes ab. Vielmehr entstehen in Marktbeziehungen reibungsverluste, die als transaktionskosten (tAK) bezeichnet werden. Ausgangspunkt für die Entwicklung der Neuen Institutionenökonomik war ronald H. Coases 1937 erstmals publizierter Aufsatz „the Nature of the Firm“.95 Die Überlegungen von Coase begannen mit der Frage, warum überhaupt Unternehmen entstehen, da doch der Markt scheinbar die günstigsten Voraussetzungen für ökonomische Austauschprozesse bietet. Coase erkannte, dass Märkte nie unter vollkommen reibungslosen Bedingungen funktionieren, sondern bei der Marktbenutzung transaktionskosten anfallen. Unternehmen entstehen deshalb, weil sie unter gewissen Voraussetzungen besser als der Markt in der Lage sind, transaktionskos94 rudolf richter: Institutionen ökonomisch analysiert. Zur jüngeren Entwicklung auf einem Gebiet der wirtschaftstheorie. tübingen 1994, S. 4. 95 ronald H. Coase: the Nature of the Firm, in: Economica 4 (1937), S. 386–405. Coase erhielt für seine Forschungen 1991 den Nobelpreis für wirtschaft.
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ten effizient zu nutzen. rudolf richter definiert transaktionskosten sehr allgemein als „Kosten der Betreibung eines wirtschaftssystems“96. Seinen Schätzungen zufolge sind transaktionskosten sehr umfangreich und umfassen circa 70–80 Prozent der Leistung einer Volkswirtschaft. Aus dem ursprünglichen Ansatz von Coase entwickelte sich seit den 1960er Jahren ein breites Forschungsfeld, das sich mit den institutionellen Bedingungen ökonomischen Handelns beschäftigt. Zwar berücksichtigte auch die neoklassische wirtschaftstheorie Institutionen, jedoch nur als statische randbedingungen. Erst in den institutionenökonomischen Ansätzen werden Institutionen selbst zum Untersuchungsgegenstand. Diesen Ansätzen gemeinsam ist die Kritik am neoklassischen Menschenbild des Homo Oeconomicus und an der „unsichtbaren Hand“ des Marktes: „Common to all these approaches is that they, unlike neoclassical economics, do not assume the institutional framework as given but make it the object of research and also seek to consider the implications of any given institutional arrangements for economic behavior. they do not ask ‚what would self-interested rational actors do?‘, but ‚How would rational actors be constrained (or constrain themselves) not to pursue their self-interest?‘“97
wichtige Impulse erhielt der institutionenökonomische Ansatz durch die Arbeiten Herbert Simons, der die neoklassische Grundannahme des rationalen Handelns infrage stellte. Simon entwickelte einen handlungstheoretischen Ansatz, der von einer begrenzten rationalität (bounded rationality) ausgeht.98 Auch wenn ein Akteur rationales Handeln im Sinne des nutzenmaximierenden Homo Oeconomicus intendiert, ist ihm dies aufgrund unvollständiger Informationen nicht immer möglich. Der neoklassische vollständig informierte Akteur, der unter allen verfügbaren Handlungsoptionen die für ihn günstigste auswählen kann, existiert in dieser welt begrenzter Verarbeitungskapazitäten nicht. Individuelle Handlungen sind ebenfalls keinen naturgegebenen objektiven Gesetzen unterworfen, sondern immer subjektiv und von den kognitiven Fähigkeiten des Akteurs abhängig. Der Begriff Neue Institutionenökonomik oder New Institutional Economics selbst wurde erstmals 1975 von oliver E. williamson verwendet.99 In den 1970er Jahren entwickelten sich auf Basis der frühen Arbeiten von Coase zwei institutio96 richter: Institutionen ökonomisch analysiert (1994), S. 5. Die Definition lehnt sich an Kenneth Arrow an. Vgl. auch: Hartmut Berghoff: transaktionskosten: Generalschlüssel zum Verständnis langfristiger Unternehmensentwicklung? Zum Verhältnis von Neuer Institutionenökonomik und moderner Unternehmensgeschichte, in: Jahrbuch für wirtschaftsgeschichte (1999), 2, S. 159–176. 97 richter: the New Institutional Economics, S. 2. Folgender Überblick über die Entwicklung der Neuen Institutionenökonomik basiert auf richter. 98 Vgl. die Aufsatzsammlung in: Herbert Simon: Models of Man, Social and rational. Mathematical Essays on rational Human Behavior in a Social Setting. 5. Auflage. New York 1967. Erstmals veröffentlicht 1957. Für einen Überblick über Herbert Simon Handlungstheorie vgl. auch: Hartmut Esser: Sinn, Kultur und „rational Choice“, in: Friedrich Jaeger/Burkhard Liebsch (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften Band 2. Paradigmen und Disziplinen. Stuttgart, weimar 2004, S. 249–265, hier 259. 99 oliver E. williamson: Markets and Hierarchies. Analysis and Antitrust Implications. New York 1975, S. 1.
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nenökonomische Hauptströmungen, die richter in Transaction Cost Economics (nach williamson) und New Institutional Economics of History (nach Douglass North) trennt. williamson argumentiert in einem evolutionären Ansatz, dass effiziente Institutionen transaktionskosten reduzieren und sie sich deshalb im wettbewerb gegenüber ineffizienten Institutionen durchsetzen. Allerdings sieht sich der Mensch in einer durch transaktionskosten geprägten welt einer ständigen Gefahr ausgesetzt: Akteure orientieren sich am Eigennutz (opportunistisches Verhalten) und scheuen auch vor unmoralischem Handeln nicht zurück, um ihre Ziele zu erreichen (moral hazard). Besonders gefährdet ist dabei der Auftraggeber (Prinzipal) in den Vertragsbeziehungen mit seinem Auftragnehmer (Agent). In der institutionenökonomischen welt sind Verträge nicht vollständig, sondern können aufgrund zu hoher Kosten nie alle Eventualitäten abdecken. Verträge lassen deshalb immer einen gewissen Handlungsspielraum, der durch das Konzept der „relationalen Verträge“100 bezeichnet wird. Diesen Spielraum kann der opportunistische Agent nutzen und dem Prinzipal Kosten verursachen. Aus diesem negativen Bild des Menschen leitet die an williamson angelehnte Forschung folgende Handlungsmaxime für ökonomische Akteure ab: „organisiere Deine transaktion so, daß Dir aus Deiner begrenzten rationalität möglichst geringe Kosten entstehen, und versuche gleichzeitig, Dich vor möglichem opportunistischen Verhalten Deines Vertragspartners zu schützen!“101
Gelingt es dem Prinzipal, durch institutionelle Beschränkungen den Agenten von opportunistischem Verhalten abzubringen, kann dadurch die Effizienz von Verträgen erheblich erhöht werden. Douglass North und die Neue Institutionenökonomik in der Geschichtswissenschaft Der Erklärungsansatz der New Institutional Economics of History basiert auf der theorie der Verfügungsrechte (property rights). Verfügungsrechte sind Institutionen, die „die Verfügung über bestimmte ressourcen […] bestimmten Subjekten zuschreiben“102. Ihren Einzug in die wirtschaftsgeschichte hielt die Neue Institutionenökonomik durch die Arbeiten des Historikers Douglass C. North. North beschäftigte sich in seinem 1973 erstmals erschienenen werk „the rise of the wes100 richter: Institutionen ökonomisch analysiert (1994), S. 16ff. 101 Mark Ebers/wilfried Gotsch: Institutionenökonomische theorien der organisation, in: Alfred Kieser (Hg.): organisationstheorien. 4. Auflage. Stuttgart 2001. Erstmals veröffentlicht 1993, S. 199–251, hier 227. 102 Hansjörg Siegenthaler: regelvertrauen, Prosperität und Krisen. Die Ungleichmäßigkeit wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung als Ergebnis individuellen Handelns und sozialen Lernens (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften 81). tübingen 1993, S. 29. wischermann übersetzt property rights als „Handlungsrechte“. Clemens wischermann: Der Property-rightsAnsatz und die „neue“ wirtschaftsgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 19 (1993), 2, S. 239–258, hier 240.
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tern world“ mit der Frage nach dem wirtschaftlichen Aufstieg westeuropas seit dem Frühmittelalter.103 Diesen Aufstieg begründet er mit einer Spezifizierung von regeln der wirtschaftlichen Interaktion, die zunächst in England und den Niederlanden begann. Das wirtschaftswachstum im 19. Jahrhundert infolge der Industrialisierung wird deshalb kausal mit dem institutionellen rahmen verknüpft, der in den Jahrhunderten zuvor gelegt wurde. Die Spezifizierung von Verfügungsrechten und nicht die technischen Entwicklungen ermöglichte demnach die so genannte industrielle revolution und ein nachhaltiges wirtschaftswachstum. Eine zentrale Erkenntnis in „the rise of the western world“ ist, dass Institutionen ökonomische Sicherheit herstellen können. Im 17. Jahrhundert führten zum Beispiel die Entstehung von Aktiengesellschaften und eines Versicherungswesens in England dazu, dass wirtschaftliches risiko verteilt und abgesichert werden konnte. Dadurch wurde risiko kalkulierbar und Unsicherheit vermindert. In „the rise of the western world“ konzentriert sich North noch weitgehend auf Verfügungsrechte. Dagegen fasst er in „Institutions, Institutional Change and Economic Performance“ den Institutionenbegriff weiter und definiert ihn sehr breit als „rules of the game“104. Der Schwerpunkt der Institutionenanalyse verschiebt sich dadurch von rein formalen regeln hin zu sozialen Konventionen und Verhaltenskodizes: „[Informal constraints] come from socially transmitted information and are part of the heritage that we call culture“.105 Ebenfalls dominiert in den früheren Hauptwerken von North noch der auf williamson basierende Ansatz, dass sich im wettbewerb effiziente institutionelle Strukturen durchsetzen. Diese Perspektive relativiert er später und wendet sich vielmehr der Frage zu, warum in vielen Fällen ineffiziente Institutionen weiter bestehen.106 Die Antwort auf diese Frage liegt nach North in der theorie des institutionellen wandels. Institutionen sind konservativ, pfadabhängig und entwickeln sich in einem historischen Prozess. Sie können deshalb sehr resistent gegen Veränderungen sein und ihr wandel kann hohe Kosten verursachen. Einen evolutionären wettbewerb, der auf einem von der Natur vorgegebenen Prinzip des survival of the fittest resultiert, lehnt North ab. Effiziente Institutionen bleiben für ihn historische Ausnahmen. Im 2005 erschienenen werk „Understanding the Process of Economic Change“ widmet sich North schließlich der Frage, welchen Einflussfaktoren menschliches Handeln auf der motivationalen Ebene zugrunde liegt. Aus verschiedenen biologischen, psychologischen und sozialwissenschaftlichen theoretischen Bausteinen bildet North darin einen Ansatz, der die Pfadabhängigkeit menschlicher Entwicklung in einen biologisch-evolutionären sowie einen soziokulturellen Kontext einbettet. 103 Douglass C. North/robert P. thomas: the rise of the western world. A New Economic History. Cambridge 2006. Ein Überblick über das werk Norths findet sich in: wischermann: Der Property-rights-Ansatz (1993), S. 241ff. 104 Douglass C. North: Institutions, Institutional Change and Economic Performance. Cambridge 1990, S. 3. 105 North: Institutions, Institutional Change and Economic Performance (1990), S. 37. 106 North: Institutions, Institutional Change and Economic Performance (1990), S. 7. Vgl. dazu auch: Douglass C. North: Structure and Change in Economic History. New York 1981.
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Menschen sind demnach zunächst von ihrer genetischen Ausstattung (genetic architecture) geprägt, die sie zu intentionalem und bewusstem Handeln befähigt (consciousness). Auf Basis dieser biologischen Ausstattung agieren Menschen in ihrer Umwelt, lernen aus ihrer sozialen Umgebung und werden damit teil der Kultur ihrer Gesellschaft: „Humans start out with genetic features which provide the initial architecture of the mind; the mind interacts with the cultural heritage and the experiences of individuals to shape learning.“107
Ausgestattet mit ihren gegebenen biologischen sowie ihren gelernten soziokulturellen Fertigkeiten sind Menschen damit in der Lage, gezielt ihre soziale Umgebung zu beeinflussen. Hierdurch können sie den institutionellen wandel ihrer Gesellschaft aus individuellen rationalen Gesichtspunkten heraus gestalten. Douglass North hatte einen wichtigen Anteil an der rezeption der Neuen Institutionenökonomik in der Geschichtswissenschaft. Allerdings musste sich der Ansatz gegen große widerstände behaupten und erst in den 1990er Jahren wurde damit begonnen, ihn in Deutschland intensiv zu rezipieren. Noch 2005 kam richter zu der kritischen Einschätzung, dass das analytische Potential der Neue Institutionenökonomik auch in der wirtschaftswissenschaft bislang weitgehend ungenutzt blieb.108 Krisen und institutioneller Wandel: Das Lernen von Regelvertrauen bei Hansjörg Siegenthaler Ein wichtiger Beitrag Norths war die Integration zeitlicher Dynamik in den bislang statischen Ansatz der Neuen Institutionenökonomik. Die Geschichtswissenschaft ist dadurch in der Lage, ein eigenes Profil innerhalb der Neuen Institutionenökonomik zu entwickeln und die wirtschaftswissenschaftliche Forschung um eine historische Dimension zu bereichern: „History matters because institutional evolution is mediated through existing economic, social, and political structures.“109 welchen Prinzipien folgen institutionelle wandlungsprozesse? Vom wirtschaftshistoriker Hansjörg Siegenthaler stammt ein Ansatz zur Erklärung institutioneller wandlungsprozesse auf der Basis individuellen Handelns.110 Sein Ausgangs107 Douglass C. North: Understanding the Process of Economic Change. Princeton, oxford 2005, S. 71. 108 richter: the New Institutional Economics, S. 24. Zu einer kritischen rezeption von Norths werk in den wirtschaftswissenschaften vgl. zuletzt: Ingo Pies/Martin Leschke (Hg.): Douglass Norths ökonomische theorie der Geschichte (Konzepte der Gesellschaftstheorie 15). tübingen 2009. 109 Stephen Nicholas: the New Business History: theory, Quantification and Institutional Change, in: Graeme D. Snooks (Hg.): Historical Analysis in Economics. London 1993, S. 143–157, hier 143. 110 Siegenthaler: regelvertrauen, Prosperität und Krisen (1993). Zu Siegenthalers Ansatz vgl. ebenfalls: Andreas Ernst/thomas Gerlach/Patrick Halbeisen/Bettina Heintz/Margit Müller (Hg.): Kontinuität und Krise. Sozialer wandel als Lernprozess. Festschrift für Hansjörg Siegenthaler. Zürich 1994.
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punkt ist die Frage, wie aus wirtschaftlichen Krisen heraus neues wachstum entsteht. Im Unterschied zu North konzentriert sich Siegenthaler dabei weniger auf Verfügungsrechte, als vielmehr auf individuelles Handeln und das Zusammenspiel zwischen Institutionen und Akteuren. Auch bei Siegenthaler bleibt das Bild des rational handelnden Homo Oeconomicus bestehen, allerdings wie bei North im Sinne einer institutionell begrenzten rationalität. Der Akteur ist kommunikativ, in ein soziales Netz eingebunden und er kann durch Kommunikation neue regeln lernen. Institutionen schließen bei Siegenthaler sowohl gesellschaftliche Normen und staatliche regeln als auch internalisierte Zwänge ein: „Diese werden den individuellen Aktoren in primärer Sozialisation eingepflanzt. Sie entziehen sich der reflexion durch die Aktoren und sind robust gegenüber sporadischen äußeren Einflüssen.“111 Siegenthaler entwirft einen dynamischen wandlungsprozess institutioneller Strukturen, der sich auf die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit von Akteuren auswirkt. Intensiviert sich der institutionelle wandlungsprozess, gerät die Gesellschaft in eine Krise. Der Mensch ist dann ein „gefährdetes wesen“112 und verliert sein Vertrauen in den bestehenden institutionellen rahmen: „Er kennt die regeln nicht, denen sich die Ereignisse fügen könnten, und wenn er sich solche regeln ausdenkt oder sich schon formulierte regeln vergegenwärtigt, dann bleibt er doch weit davon entfernt, sich auf diese regeln zu verlassen.“113
Bei Siegenthaler wird der Krisenbegriff institutionell verstanden. wirtschaftskrisen oder politische Krisen sind für ihn die Folge einer bereits vorher eingesetzten Veränderung des institutionellen Gefüges: „Die Gesellschaft gerät nicht in eine Krise, wenn sich regelvertrauen zersetzt; sie befindet sich schon in ihr. Der Verlust an regelvertrauen macht den Kern der Krise aus.“114 Selbst wenn der Akteur in Krisen rational handeln will, ist es für ihn unklar, was rational eigentlich bedeutet. Informationen sind vieldeutig, der bestehende institutionelle orientierungsrahmen hat sich aufgelöst und der Akteur befindet sich in einer Situation fundamentaler Unsicherheit.115 Anhand eines auch von Siegenthaler verwendeten Beispiels trifft tanja ripperger in ihrer Dissertation über die Genese ökonomischen Vertrauens folgende Unterscheidung zwischen objektiver und subjektiver Unsicherheit: In einer Urne befinden sich drei rote und sieben weiße Kugeln. weiß ein Akteur um die Verteilung der Kugeln, so kann er beim Ziehen einer Kugel das Ergebnis als stochastische wahrscheinlichkeit voraussagen. Die wahrscheinlichkeit, eine rote Kugel zu ziehen, liegt bei 30 Prozent. weiß der Akteur jedoch nicht, wie viele rote Kugeln sich in der Urne befinden, besteht keine Möglichkeit zur stochastischen Vorhersage über das 111 112 113 114 115
Siegenthaler: regelvertrauen, Prosperität und Krisen (1993), S. 59. Siegenthaler: regelvertrauen, Prosperität und Krisen (1993), S. 40. Siegenthaler: regelvertrauen, Prosperität und Krisen (1993), S. 88. Siegenthaler: regelvertrauen, Prosperität und Krisen (1993), S. 178. Vgl. dazu auch: Hansjörg Siegenthaler: Learning and its rationality in a Context of Fundamental Uncertainty, in: Journal of Institutional and theoretical Economics 153 (1997), S. 748– 761.
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Ergebnis der Ziehung.116 ripperger teilt deshalb Unsicherheit in zwei Dimensionen ein: „objektive Unsicherheit wird verursacht durch das, was gemeinhin mit dem Begriff Zufall beschrieben wird [der Akteur weiß, wie viele rote und weiße Kugeln in der Urne sind und kann deshalb bei vollständiger Information die wahrscheinlichkeit, eine rote Kugel zu ziehen, zumindest theoretisch vorhersagen]. Subjektive Unsicherheit hingegen entsteht erst durch einen zusätzlichen Mangel an Informationen bzw. durch mangelhafte Fähigkeiten, Informationen korrekt zu verarbeiten [der Akteur weiß nicht um die Verteilung der Kugeln].“117
Akteure sind in Krisen hoher subjektiver Unsicherheit ausgesetzt. Bei Siegenthaler setzt die fundamentale Krise allerdings einen Lernprozess in Gang, in dem internalisierte Normen des Akteurs grundsätzlich infrage gestellt und neu konstruiert werden. Akteure transformieren subjektive Unsicherheit schrittweise in kalkulierbares risiko und generieren dadurch neue Stabilität für wirtschaftliche Austauschprozesse. Aus den zyklisch wiederkehrenden Krisen heraus entstehen so mit der Konstruktion neuen regelvertrauens neue wirtschaftliche wachstumsperioden. In den worten Clemens wischermanns erfolgt dies „über eine kommunikationsabhängige Annäherung an neue weltbilder und soziale Gruppen“118. Handlungsrationalität und die „kulturelle Erweiterung“ der Neuen Institutionenökonomik Die an North angelehnte Institutionenökonomik beschäftigt sich seit den frühen 1990er Jahren mit der Frage, wie sich die kulturellen rahmenbedingungen einer Gesellschaft auf ökonomisches Handeln auswirken. North und Arthur Denzau stellten dazu 1994 in einem Aufsatz fest, dass Menschen oftmals auf Basis von Mythen, Dogmen und Ideologien handeln und diese kulturellen belief systems einen erheblichen Einfluss auf Entscheidungsprozesse haben können.119 Akteure mit einem ähn116 tanja ripperger: Ökonomik des Vertrauens. Analyse eines organisationsprinzips (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften 101). tübingen 1998, S. 16. Bei Siegenthaler bedeutet Sicherheit, dass die wahrscheinlichkeit, mit einem sechsseitigen würfel eine bestimmte Zahl zu würfeln, bei einem Sechstel liegt (objektive Unsicherheit bei ripperger). Das Handlungsrisiko wird dadurch kalkulierbar. Gibt es die wahrscheinlichkeit der Vorhersage einer Handlung nicht, besteht nach Siegenthaler Handlungsunsicherheit (subjektive Unsicherheit bei ripperger). Siegenthaler: regelvertrauen, Prosperität und Krisen (1993), S. 85f. 117 ripperger: Ökonomik des Vertrauens (1998), S. 16. Eine ähnliche Abgrenzung nimmt auch North vor: North: Institutions, Institutional Change and Economic Performance (1990), S. 126. 118 Clemens wischermann: Einführung in Geschichte und theorie der internen Unternehmenskommunikation, in: Ferrum 78 (2006), S. 6–10, hier 10. wischermann bezieht sich dabei auf Siegenthaler. Siehe auch: Clemens wischermann: Kooperation, Vertrauen und Kommunikation: Ein rahmenmodell des Unternehmens auf institutionenökonomischer Grundlage, oder: was macht ein Unternehmen handlungsfähig?, in: Clemens wischermann/Anne Nieberding (Hg.): Unternehmenskommunikation deutscher Mittel- und Großunternehmen. theorie und Praxis in historischer Perspektive (Untersuchungen zur wirtschafts-, Sozial- und technikgeschichte 23). Dortmund 2003, S. 76–92, hier 90. 119 Arthur t. Denzau/Douglass C. North: Shared Mental Models: Ideologies, and Institutions, in: Kyklos 47 (1994), S. 3–31, hier 27. Die Autoren beziehen sich in ihrem Ansatz auf die Ergeb-
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lichen kulturellen Hintergrund teilen solche gemeinsamen mentalen Modelle (shared mental models) und weisen ähnliche Verhaltensmuster auf. wie formale Institutionen entwickeln sich auch informelle kulturelle Institutionen in historischen Prozessen weiter. Akteure lernen nach North aus ihren Interaktionen und formen durch ihr Handeln den kulturellen Entwicklungspfad einer Gesellschaft: „Learning entails developing a structure by which to interpret the various signals received by the senses. the initial architecture of the structure is genetic, but the subsequent scaffolding is a result of the experiences of the individual – experiences coming from the physical environment and from the socio-cultural linguistic environment. […] thus the mental models may be continually redefined with new experiences, including contacts with others’ ideas.“120
In Anlehnung an North schlug wischermann 1998 eine Synthese aus Institutionentheorie und dem Konzept des kulturellen Gedächtnisses unter dem Begriff der „wirtschaftskultur“ vor, indem er Kultur als „institutionalisierte Sinnwelten“ bezeichnet.121 wischermann lehnt die Annahme anderer institutionenökonomischer Ansätze ab, die Kultur lediglich auf das Lernen von Informationen reduzieren. Vielmehr geht er davon aus, dass Informationen vom Akteur interpretiert werden und wissen immer in einen spezifischen individuellen Sinnhorizont eingebunden ist. wissen ist deshalb nie ein objektives Speicherwissen, sondern entsteht erst durch die Interpretation des Akteurs.122 Daraus leitet wischermann die Forderung ab, dass sich die Neue Institutionenökonomik noch weiter vom wirtschaftswissenschaftlichen rationalitätsprinzip emanzipieren und ökonomisches Handeln mit Lebensweltkonzeptionen verbinden solle: „Institutionen ebenso wie Märkte, organisationen und ihre Akteure wirtschaften in geschichts- und kulturgeprägten Kontexten.“123 Dem Faktor Kultur wie zum Beispiel Unternehmenskultur wird dadurch ein weitaus größerer Stellenwert zugemessen, als dies in älteren institutionenökonomischen Ansätzen der Fall ist.124
120
121 122 123
124
nisse der Kognitionspsychologie. Siehe ebenfalls: North: Understanding the Process of Economic Change (2005), S. 6. North verwendet die Begriffe beliefs, belief systems und belief structures ohne eine Abgrenzung vorzunehmen. Ebenfalls wird bei North nicht klar, ob er mental models und belief systems synonym versteht oder nicht. North: Understanding the Process of Economic Change (2005), S. 25. Zu einem überwiegend negativen Urteil dieser „kognitive Erweiterung“ der Neuen Institutionenökonomik kommt: thomas Döring: Douglass North und das Problem der „Shared Mental Models“: Gehaltvolle kognitive Erweiterung oder halbherzige Modifikation des ökonomischen Ansatzes?, in: Ingo Pies/Martin Leschke (Hg.): Douglass Norths ökonomische theorie der Geschichte (Konzepte der Gesellschaftstheorie 15). tübingen 2009, S. 145–187. Clemens wischermann: Vom Gedächtnis und den Institutionen. Ein Plädoyer für die Einheit von Kultur und wirtschaft, in: Eckart Schremmer (Hg.): wirtschafts- und Sozialgeschichte. Gegenstand und Methode. Stuttgart 1998, S. 21–33, hier 22. wischermann: Vom Gedächtnis und den Institutionen (1998), S. 30. Clemens wischermann: Von der „Natur“ zur „Kultur“. Die neue Institutionenökonomik in der Geschichts- und kulturwissenschaftliche Erweiterung, in: Karl-Peter Ellerbrock/Clemens wischermann (Hg.): Die wirtschaftsgeschichte vor der Herausforderung durch die New Institutional Economics (Untersuchungen zur wirtschafts-, Sozial- und technikgeschichte 24). Dortmund 2004, S. 17–30, hier 17. Zur Diskussion über den Begriff Unternehmenskultur: Clemens wischermann: Unternehmenskultur, Unternehmenskommunikation, Unternehmensidentität, in: Clemens wischermann/
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In den letzten Jahren intensivierte sich die wissenschaftliche Diskussion über den Zusammenhang von Kultur, Institutionen und wirtschaftlichem Handeln. Hartmut Berghoff und Jakob Vogel gaben 2004 einen Sammelband heraus, der sich dem Perspektivenwechsel in der wirtschaftsgeschichte vorsichtig annähert. Jakob tanner wirft darin die Frage nach einer „kulturalistischen wende“ in der ökonomischen Handlungstheorie auf.125 In dieser Diskussion wird die Annahme rationalen Handelns als Grundannahme der ökonomischen theorie hinterfragt. Die rationalität des Handelns wurde von Vertretern der Neuen Institutionenökonomik nicht abgelehnt, sondern vielmehr um den Zusatz „begrenzte“ rationalität erweitert. Nach Viktor Vanberg ist das rationalitätsprinzip grundsätzlich nicht widerlegbar, da es lediglich die Abhängigkeit des Handelnden von den ihm verfügbaren theorien beschreibt: „wie exzentrisch auch immer die Präferenzen und theorien eines Handelnden sein mögen, solange sein Handeln mit ihnen logisch konsistent ist, ist es im Sinne des rationalitätsprinzips als rational anzusehen.“126 Die Annahme von rationalität bezeichnet demnach die subjektive Konsistenz zwischen den theorien des Akteurs und seinem Handeln, legt jedoch kein objektives Kriterium fest, welche Handlungsinhalte rational sind. Der Politologe Gerhard Göhler geht vielmehr davon aus, dass die rationalität von Akteuren in ihren individuellen Präferenzhierarchien begründet ist: Anne Nieberding (Hg.): Unternehmenskommunikation deutscher Mittel- und Großunternehmen. theorie und Praxis in historischer Perspektive (Untersuchungen zur wirtschafts-, Sozialund technikgeschichte 23). Dortmund 2003, S. 21–41; Anne Nieberding: Unternehmenskultur im Kaiserreich. J. M. Voith und die Farbenfabriken vorm. Friedr. Bayer & Co. München 2003; Ulrich Brinkmann: „Unternehmenskultur“. Aufstieg und Niedergang eines Konzepts, in: Urte Helduser/thomas Schwietring (Hg.): Kultur und ihre wissenschaft. Beiträge zu einem reflexiven Verhältnis. Konstanz 2002, S. 103–130. 125 Jakob tanner: Die ökonomische Handlungstheorie vor der „kulturalistischen wende“? Perspektiven und Probleme einer interdisziplinären Diskussion, in: Hartmut Berghoff/Jakob Vogel (Hg.): wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels. Frankfurt am Main 2004, S. 69–98. Vgl. dazu ebenfalls: Hansjörg Siegenthaler: Geschichte und Ökonomie nach der kulturalistischen wende, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), 2, S. 276–301; sowie eine im Grundsatz positive Bewertung dieser „wende“ aus wirtschaftswissenschaftlicher Perspektive von: Martin Petrick: Informale regeln und die kulturelle wende in Douglass Norths theorie des institutionellen wandels. Kommentar, in: Ingo Pies/Martin Leschke (Hg.): Douglass Norths ökonomische theorie der Geschichte (Konzepte der Gesellschaftstheorie 15). tübingen 2009, S. 136–141. 126 Viktor Vanberg: rationalitätsprinzip und rationalitätshypothesen. Zum methodologischen Status der theorie rationalen Handelns, in: Hansjörg Siegenthaler (Hg.): rationalität im Prozess kultureller Evolution. rationalitätsunterstellungen als eine Bedingung der Möglichkeit substantieller rationalität des Handelns (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften 132). tübingen 2005, S. 33–63, hier 35. Ebenfalls: Viktor Vanberg: rules and Choice in Economics. London, New York 1994. Siehe auch Siegenthaler, für den das ökonomische rationalitätsprinzip „keinen empirischen Gehalt“ aufweist. Hansjörg Siegenthaler: theorienvielfalt in den Geschichtswissenschaften und die besondere Aufgabe der Ökonomie, in: Jan-otmar Hesse/Christian Kleinschmidt/Karl Lauschke (Hg.): Kulturalismus, Neue Institutionenökonomik oder theorienvielfalt. Eine Zwischenbilanz der Unternehmensgeschichte (Bochumer Schriften zur Unternehmens- und Industriegeschichte 9). Essen 2002, S. 161–173, hier 170.
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teil I Untersuchungsgegenstand „Es [das rationalitätsprinzip] postuliert, daß ein Individuum in einer gegebenen Situation stets diejenige Verhaltensalternative wählt, von der es den größten Nutzen (bzw. die geringsten Kosten) für sich erwartet und daß es dazu eine Präferenzordnung verwendet, um die Möglichkeiten seinen subjektiven wünschen entsprechend in eine vollständige und widerspruchsfreie rangfolge zu bringen. rational ist die Entscheidung für diejenige Alternative, die in seiner Präferenzordnung den höchsten rang einnimmt.“127
Die Fähigkeit eines Akteurs, seine Zielpräferenzen umzusetzen, wird durch die Annahme rationalen Handelns messbar: „Das ökonomische Handlungsprinzip der Zweckrationalität bezieht sich […] auf die Maximierung des subjektiv wahrgenommenen Nutzens und basiert damit ausschließlich auf Effizienzkriterien.“128 tanner unterscheidet mit costly bounded rationality und truly bounded rationality zwei Formen von begrenzter rationalität.129 Die von Herbert Simon in den 1950er Jahren begründete costly bounded rationality geht weiterhin vom neoklassischen Modell einer rein ökonomischen nutzenmaximierenden optimierung menschlichen Handelns aus. Akteure folgen in diesem Modell einer grundlegenden ökonomischen optimierungsprämisse, allerdings unter Berücksichtigung von transaktionskosten auf unvollständigen Märkten. Dagegen gehen Ansätze wie die von Vanberg und Göhler einen Schritt weiter. Handlungen werden nicht auf einen durch Kosten begrenzten Entscheidungsprozess reduziert, sondern die individuellen Verhaltensmuster von Akteuren werden in ein allgemeines Handlungsmodell einbezogen. Es wird eine truly bounded rationality propagiert, die die subjektive motivationale Ebene menschlichen Handelns explizit berücksichtigt. Handeln ist demnach nicht durch ein objektives Kostenkalkül determiniert. Vielmehr entwickeln Akteure ihre individuellen Präferenzen in einem kommunikativen Lernprozess, in dem sie die Impulse aus ihrer Umwelt aufnehmen und die shared mental models ihrer Gesellschaft reflektieren. Dieser Ansatz löst den statischen und auf ökonomische Präferenzen fixierten Blick der costly bounded rationality ab. „Akteure [werden] nicht mehr als eine Art digitaler Entscheidungsmaschinen konzipiert“130, sondern ihr Handeln wird in ihren kulturellen Kontext eingebettet. Historical Institutionalism und akteurszentrierter Institutionalismus Der Institutionenbegriff der modernen Neuen Institutionenökonomik ist umfassend und beinhaltet Verfügungsrechte, formale regeln einer Gesellschaft sowie kulturelle Einflüsse auf menschliches Handeln. Eine grundlegende Kritik an diesem sehr breiten Verständnis von Institutionen wird im Neo-Institutionalismus in der Politik127 Gerhard Göhler: Ökonomische theorie politischer Institutionen. Einführung, in: Gerhard Göhler/Kurt Lenk/rainer Schmalz-Bruns (Hg.): Die rationalität politischer Institutionen. Interdisziplinäre Perspektiven. Baden-Baden 1990, S. 155–167, hier 161. 128 ripperger: Ökonomik des Vertrauens (1998), S. 203. 129 Jakob tanner: „Kultur“ in den wirtschaftswissenschaften und kulturwissenschaftliche Interpretationen ökonomischen Handelns, in: Friedrich Jaeger/Burkhard Liebsch (Hg.): Handbuch der Kulturwissenschaften Band 3. themen und tendenzen. Stuttgart, weimar 2004, S. 195– 224. 130 tanner: „Kultur“ in den wirtschaftswissenschaften (2004), S. 213.
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wissenschaft vorgebracht. Peter Hall und rosemary taylor unterscheiden dabei zwischen sociological institutionalism, historical institutionalism und rational choice institutionalism.131 Vertreter des historical institutionalism begründen ihre Kritik damit, dass Akteure zwar institutionellen regeln folgen, diese aber nicht ausschließlich menschliches Handeln beeinflussen. Vielmehr besage die theorie rationalen Handelns, Akteure seien einerseits durchaus den Bedingungen ihrer Institutionellen Umwelt unterworfen. Allerdings seien sie andererseits in der Lage, die Möglichkeiten und Begrenzungen dieser Institutionen zu analysieren und sie für die Verfolgung eigener Ziele strategisch zu nutzen.132 Anstatt sich ausschließlich auf die institutionelle Begrenzung menschlichen Handelns zu fokussieren, solle die Institutionentheorie stärker auf die Historizität der Handlungsziele von Akteuren eingehen: „we need a historically based analysis to tell us what they [die Akteure] are trying to maximize and why they emphasize certain goals over others.“133 Die Annahme einer rationalität menschlichen Handels wird vom historical institutionalism nicht infrage gestellt. Institutionen bilden wie auch in der rational choice-theorie den Kontext, innerhalb dessen Akteure strategisch agieren und versuchen, ihren individuellen Nutzen zu maximieren. Beide Ansätze divergieren jedoch deutlich in ihren Annahmen, wie die Präferenzstrukturen von Akteuren zustande kommen. während in der theorie des rational choice Zielpräferenzen von Akteuren als gegeben vorausgesetzt werden, widmet sich der historical institutionalism auch der Formation von Präferenzen: „Historical institutionalists in general find strict rationality assumptions overly confining. First, in contrast to some (though not all) rational choice analyses, historical institutionalists tend to see political actors not so much as all-knowing, rational maximizers, but more as rule-following ‘satisfiers’ […]. In short, people don’t stop at every choice they make in their lifes and think to themselves, ‘Now what will maximize my self-interest?’ Instead, most of us, most of the time, follow societally defined rules, even when so doing may not be directly in our self-interest. Second, and perhaps most centrally, rational choice and historical institutionalism diverge 131 Peter A. Hall/rosemary C. r. taylor: Political Science and the three New Institutionalisms, in: Political Studies 44 (1996), S. 936–957, hier 936. Einen kurzen Überblick über den Neuen Institutionalismus in der Politikwissenschaft bietet: Sven Steinmo: the New Institutionalism, in: Barry Clark/Joe Foweraker (Hg.): the Encyclopedia of Democratic thought. London 2001. Zitiert nach: stripe.colorado.edu/~steinmo/foweracker.pdf (zuletzt geprüft am 5.7.2010). Für einen ausführlichen Überblick vgl.: Sven Steinmo/Kathleen thelen/Frank Longstreth (Hg.): Structuring Politics. Historical Institutionalism in Comparative Analysis. Cambridge 1992. 132 Mark Aspinwall/Gerald Schneider: Institutional research on the European Union: Mapping the Field, in: Gerald Schneider/Mark Aspinwall (Hg.): the rules of Integration. Institutionalist Approaches to the Study of Europe. Manchester 2001, S. 1–18, hier 15. Schneider und Aspinwall schlagen im Folgenden eine „Arbeitsteilung“ zwischen Konstruktivismus und rational choice-theorie vor: Der Konstruktivismus solle sich auf die Frage konzentrieren, wie individuelle Präferenzen überhaupt entstehen. Die rational choice-theorie wäre geeignet zu erklären, wie Akteure diese Präferenzen innerhalb ihrer institutionellen Umwelt in Handlungen umsetzen. 133 Kathleen thelen/Sven Steinmo: Historical Institutionalism in Comparative Politics, in: Sven Steinmo/Kathleen thelen/Frank Longstreth (Hg.): Structuring Politics. Historical Institutionalism in Comparative Analysis. Cambridge 1992, S. 1–32, hier 9.
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teil I Untersuchungsgegenstand rather sharply on the issue of preference formation. while rational choice deals with preferences at the level of assumptions, historical institutionalists take the question of how individuals and groups define their self-interest as problematical. rational choice institutionalists in effect ‘bracket’ the issue of preference formation theoretically […], though of course in the context of specific analyses they must operationalize self-interest, and generally they do so by deducing the preferences of the actors from the structure of the situation itself. this is quite different from historical institutionalists, who argue that not just the strategies but also the goals actors pursue are shaped by the institutional context.“134
Der historical institutionalism legt erstens menschlichem Handeln eine truly bounded rationality zugrunde: Individuelle Zielpräferenzen sind nicht gegeben und objektivierbar, sondern sie sind in den spezifischen Handlungskontext des Akteurs eingebettet. Sie entwickeln sich über einen zeitlichen Horizont und werden von der Interaktion des Akteurs mit seiner Umwelt beeinflusst. Zweitens betont der Ansatz weitaus stärker als die rational choice-theorie die hohe Dynamik institutionellen wandels.135 Die rational choice-theorie geht davon aus, dass Stabilität beziehungsweise ein institutionelles Equilibrium der Normalzustand einer Gesellschaft ist. wandel kommt darin allenfalls durch plötzliche Schocks zustande, in denen sich die betroffenen Akteure jedoch schnell durch kommunikative Lernprozesse verständigen und ein neues Gleichgewicht schaffen. Demgegenüber propagiert der historical institutionalism die aus der Evolutionsbiologie stammende these eines ständigen evolutionären wandels, der allenfalls durch Phasen kurzer Stabilität unterbrochen ist. Aushandlungsprozesse zwischen relevanten Akteursgruppen einer Gesellschaft können zwar kurzzeitig ein Gleichgewicht herstellen. Die permanente Auseinandersetzung zwischen Akteuren führe aber dazu, dass Equilibria bald wieder infrage gestellt werden und institutioneller wandel eine der wenigen Konstanten menschlicher Geschichte ist. In der deutschen Institutionenforschung widmete sich ein DFG-Schwerpunktprogramm von 1989 bis 1995 unter Leitung Gerhard Göhlers der Entwicklung einer theorie politischer Institutionen.136 Darin wurde zunächst der Begriff der politischen Institution präzisiert und auf Basis dieser Definition ein analytisches Untersuchungsmodell entwickelt. Dieses Modell geht unter anderem auch auf den Anthropologen Arnold Gehlen zurück, dessen institutionentheoretischer Ansatz eine instrumentalistische und eine symbolische Funktion von Institutionen einschließt.137 Institutionen setzen demnach erstens einen rahmen zur Steuerung menschlicher Interaktion, der in der evolutionären Entwicklung des Menschen zum Beispiel die 134 thelen/Steinmo: Historical Institutionalism in Comparative Politics (1992), S. 7f. 135 Steinmo: the New Institutionalism (2001). 136 Gerhard Göhler (Hg.): Institution – Macht – repräsentation. wofür politische Institutionen stehen und wie sie wirken. Baden-Baden 1997. Das DFG-Projekt basierte auf einem von der Deutschen Vereinigung für Politische wissenschaft geförderten Vorgängerprojekt ebenfalls unter Leitung Göhlers, aus dem mehrere Publikationen zu politischen Institutionen entstanden sind. Zur Institutionentheorie Göhlers vgl. ebenfalls: Gerhard Göhler (Hg.): Institutionenwandel (Leviathan Sonderheft 16). opladen 1996. 137 Vgl.: Gerhard Göhler: Der Zusammenhang von Institution, Macht und repräsentation, in: Gerhard Göhler (Hg.): Institution – Macht – repräsentation. wofür politische Institutionen stehen und wie sie wirken. Baden-Baden 1997, S. 11–62, hier 21f.
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Arbeitsteilung möglich machte. Zweitens bilden Institutionen eine ideative Grundlage zur Integration kollektiver Gruppen und zur Schaffung kollektiver Identitäten wie zum Beispiel durch riten in archaischen Gesellschaften. Gleichzeitig und zum teil mit Bezug auf Göhler entwickelten Fritz Scharpf und renate Mayntz im rahmen eines mehrjährigen Forschungsprojekts am MaxPlanck-Institut für Gesellschaftsforschung einen Ansatz, der den Akteur stärker in der Institutionentheorie verankerte. Die Grundlagen des akteurszentrierten Institutionalismus wurden 1995 in einem Sammelband vorgestellt. Der Ansatz basiert auf vier Prämissen:138 1. Der Institutionenbegriff wird enger gefasst und auf den Aspekt der Steuerung konzentriert. 2. Mayntz und Scharpf betonen die analytische trennung zwischen Akteur und Institution. regelsysteme handeln nicht, sondern sie beeinflussen Akteure. 3. Institutionen steuern einerseits menschliches Handeln, sie werden aber andererseits durch menschliches Handeln konstituiert. Institutionen können deshalb sowohl als abhängige als auch als unabhängige Variable betrachtet werden. Eine Analyse der institutionellen Strukturen kommt ohne Akteure ebenso wenig aus wie eine Analyse von Akteuren ohne deren institutionelle Bezüge. 4. Institutionen beeinflussen menschliches Handeln, haben aber keine determinierende wirkung. Vielmehr bilden Institutionen einen Handlungskontext, der dem Akteur Spielraum für eigene Entscheidungen belässt. In seinem spieltheoretischen werk „Games real Actors Play“ formuliert Scharpf eine grundsätzliche Kritik am institutionenökonomischen Ansatz und lehnt den Institutionenbegriff von North als ein „ill-defined concept“139 ab: „we must remain aware of the fact that although institutions constitute composite actors, create and constrain options, and shape perceptions and preferences, they cannot influence choices and outcomes in a deterministic sense. Institutionalized rules, even if they are completely effective, will rarely prescribe one and only one course of action. Instead, by proscribing some and permitting other actions, they will define repertories of more or less acceptable courses of action that will leave considerable scope for the strategic and tactical choices of purposeful action. […] More generally, the influence of institutions on perceptions and preferences, and hence on intentions, can never be complete. […] thus a knowledge of institutions will tell us much about the options, perceptions, and preferences of given actors, but it certainly cannot tell us all.“140
Zur Beschreibung der Handlungsmotivation individueller Akteure führt Scharpf deshalb die Kategorie intrinsischer Einflussfaktoren ein: „Actors are characterized 138 renate Mayntz/Fritz Scharpf: Der Ansatz des akteurszentrierten Institutionalismus, in: renate Mayntz/Fritz Scharpf (Hg.): Gesellschaftliche Selbstregelung und politische Steuerung. Frankfurt am Main 1995, S. 39–72, hier 45f. 139 Fritz Scharpf: Games real Actors Play. Actor-Centered Institutionalism in Policy research. Boulder 1997, S. 38. 140 Scharpf: Games real Actors Play (1997), S. 42.
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by their specific capabilities, specific perceptions, and specific preferences.“141 Diese Perzeptionen und Präferenzen können von Institutionen beeinflusst werden, der Akteur behält jedoch die willensfreiheit, eigene Entscheidungen zu treffen. Institutionen bleiben auch im akteurszentrierten Institutionalismus ein wichtiger Einflussfaktor auf menschliches Handeln, sie haben aber keinen deterministischen Einfluss auf den Ablauf der Handlung. Vielmehr verfügt der Akteur innerhalb eines gegebenen institutionellen Handlungsrahmens über die Möglichkeit, durch seine Entscheidungen intrinsische Präferenzen zu verfolgen: „obwohl bestimmte Fähigkeiten des Menschen maschinentheoretisch gedeutet werden können, ist er natürlich nicht auf eine Maschine reduzierbar. Der Mensch kann sowohl über sein Funktionieren reflektieren, als auch in seine eigene ‚Steuerungssoftware‘ eingreifen. Insofern ist sein Handeln niemals in der weise zu steuern wie über Instruktionsfolgen programmierbare Maschinen.“142
Das Verdienst der Neo-Institutionalisten liegt darin, dass sie den Akteur zurück in die institutionentheoretische Diskussion gebracht haben. Zumindest in historischen institutionenökonomischen Untersuchungen fällt eine starke Institutionenfixierung auf, die den Akteur weitgehend ausblendet.143 Das Erkenntnisinteresse liegt in diesen Studien darin, institutionellen wandel anhand historischer Pfadabhängigkeiten zu erklären, und nicht das Zusammenspiel zwischen institutioneller Struktur und den handelnden Akteuren. Institutionen werden als ein umfassendes Erklärungsmuster für menschliches Handeln verwendet, so dass der handelnde Akteur kaum mehr ins Gewicht fällt. Dagegen erklären im akteurszentrierten Institutionalismus erst der institutionelle rahmen und die intrinsische Handlungsmotivation des Akteurs zusammen menschliches Handeln. „Causality flows both ways – while agents choose institutions, institutions then constrain agents.“144 Gegen die Kritik des akteurszentrierten Institutionalismus ist allerdings einzuwenden, dass wichtige Grundlagen dieses Ansatzes auch schon bei North und Siegenthaler zu finden sind. Nach North steuern Institutionen einerseits das Handeln von Akteuren, sie sind andererseits aber zugänglich für menschliche Einflussnahme. North unterscheidet hierbei zwei unterschiedliche Ebenen von Institutionen:
141 Scharpf: Games real Actors Play (1997), S. 42. An dieser Stelle ist auch der Ansatz Avner Greifs hervorzuheben, der ebenfalls versucht, die motivationale Ebene menschlichen Handelns in ein institutionentheoretisches Gerüst einzubetten. wie auch Scharpf beruft er sich dabei auf spieltheoretische Grundlagen. Besonders eindrucksvoll ist es, wie Greif seinen theoretischen Ansatz auf historische Fallbeispiele überträgt und damit dessen operationalisierbarkeit für geschichtswissenschaftliche Studien unter Beweis stellt. Siehe: Avner Greif: Institutions and the Path to the Modern Economy. Cambridge 2006. 142 Volker Schneider/Patrick Kenis: Verteilte Kontrolle: Institutionelle Steuerung in modernen Gesellschaften, in: Patrick Kenis/Volker Schneider (Hg.): organisation und Netzwerk. Institutionelle Steuerung in wirtschaft und Politik. Frankfurt am Main 1996, S. 9–43, hier 12. 143 So sind alle Hauptwerke Norths durch eine weitgehende Abwesenheit individueller Akteure sowie eine starke Fokussierung auf institutionelle Strukturen geprägt. 144 Aspinwall/Schneider: Institutional research (2001), S. 10.
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„[…] there are the fundamental institutions that specify the basic ‘ground rules’ such as the underlying ‘constitutional’ basis of property rights and basic decision rules with respect to political decision-making, and then there are the secondary institutional arrangements which may be created without altering the basic institutions.“145
Bei Siegenthaler findet sich eine Unterscheidung zwischen institutionellen regeln einer Gesellschaft und internalisierten Zwängen eines Akteurs, die in einer Krisensituation infrage gestellt werden und sich durch fundamentales Lernen verändern können. Eine ähnliche Einteilung nimmt auch Helmut Dietl vor, der von fundamentalen und sekundären Institutionen spricht.146 Fundamentale Institutionen sind bei Dietl vom Akteur nicht direkt beeinflussbar, sondern werden in Sozialisationsprozessen internalisiert und steuern das Verhalten unbewusst. Dagegen sind sekundäre Institutionen dem Akteur direkt zugänglich. Sie können strategisch verändert und vom Akteur für eine nutzenmaximierende Verwirklichung langfristiger Ziele verwendet werden. Sowohl der akteurszentrierte Institutionalismus als auch die Neue Institutionenökonomik verfügen somit über analytische Instrumente, die wechselwirkung zwischen Akteuren und Institutionen zu erfassen. Ein anderer Versuch, Akteure stärker in den institutionenökonomischen Ansatz zu integrieren, findet sich bei tanja ripperger unter rückgriff auf die Sozialtheorie James Colemans.147 Coleman teilt die Persönlichkeit des Akteurs in ein objective self und ein acting self. Das objective self bezeichnet die Fähigkeit des Akteurs, Zufriedenheit aus Ereignissen der Umwelt (zum Beispiel durch die Kontrolle von ressourcen) zu gewinnen. Das acting self steuert die Fähigkeit des Akteurs, ressourcen in seinen Handlungen einzusetzen: „Actors take action, modifying outcomes of events in the world, in order to make those outcomes more compatible with an order that exists inside each of them.“148 ripperger geht davon aus, dass Akteure grundsätzlich das Ziel verfolgen, ihre individuelle Zufriedenheit zu maximieren. Allerdings ist der „Erfolg“ ihres Handelns von den rahmenbedingungen der Umwelt abhängig: „Die Eignung einer gegebenen Präferenzstruktur, das Nutzenniveau eines Akteurs innerhalb eines spezifischen sozialen Umfelds langfristig zu maximieren wird […] als die Effektivität einer Präferenzstruktur bezeichnet. […] Ein und dieselbe Nutzenfunktion kann also in verschiedenen sozialen Umfeldern unterschiedliche Grade an Effektivität aufweisen, in Abhängigkeit von den geltenden Spielregeln und den Strategien der anderen Akteure.“149
Der Akteur kann nach ripperger erstens seine Handlungen so strukturieren, dass sie ihm die Befriedigung seines objective self ermöglichen. Zweitens kann der Akteur das objective self selbst verändern und seine Handlungen dazu einsetzen, neue Ziele zu erreichen. Eine Veränderung individueller Präferenzen kann zum Beispiel dann notwendig werden, wenn die Handlungseffektivität in einem gegebenen insti145 North/thomas: the rise of the western world (2006), S. 7. 146 Helmut Dietl: Institutionen und Zeit (Die Einheit der Gesellschaftswissenschaften 79). tübingen 1993, S. 71ff. 147 ripperger: Ökonomik des Vertrauens (1998), S. 208. Vgl. dazu auch: James S. Coleman: Foundations of Social theory. Cambridge, Mass. 1990, S. 508. 148 Coleman: Foundations of Social theory (1990), S. 517. 149 ripperger: Ökonomik des Vertrauens (1998), S. 45.
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tutionellen Arrangement gering ist und der Akteur aus seinen Handlungen keine Befriedigung ziehen kann. In diesem Fall ist der Akteur gezwungen, sich mit seinen Zielpräferenzen auseinanderzusetzen und sie gegebenenfalls an die institutionelle Umwelt anzupassen. Aus tanja rippergers Kombination von Colemans Sozialtheorie mit dem institutionenökonomischen Ansatz ergibt sich folgendes Handlungsmodell: Fundamentale Institutionen definieren die Zielpräferenzen von Akteuren. Sekundäre Institutionen werden von Akteuren funktional konstruiert und genutzt, um ihre Ziele strategisch in der Umwelt zu verwirklichen. Die aktuelle geschichtswissenschaftliche Diskussion: Vertrauen als institutionelle Beziehung Anfang des Jahres 2007 veröffentlichte die Vierteljahrschrift für Sozial- und wirtschaftsgeschichte ein Panel zum thema „Kultur in der wirtschaftsgeschichte“. Darin stellt Hartmut Berghoff fest, dass der Einfluss von Institutionen auf ökonomisches Handeln in der wirtschafts- und Geschichtswissenschaft heute weitgehend anerkannt ist: „Der homo oeconomicus ist zwar nicht tot, aber ihm stehen ein homo culturalis und ein homo sociologicus zur Seite.“150 Hartmut Berghoff kritisiert jedoch in einem 2004 erschienenen Sammelband über „Die wirtschaftsgeschichte vor der Herausforderung durch die New Institutional Economics“ auch die Northsche Forschungstradition, die sich im wesentlichen auf die staatliche Zuteilung und Überwachung von Verfügungsrechten beschränkt hat. Im negativen Menschenbild der Neuen Institutionenökonomik neigen Akteure zu opportunistischem Verhalten und können nur durch vom Staat etablierte Institutionen darin eingeschränkt werden. Diese Definition impliziere nach Berghoff eine staatszentrische Perspektive: Ein vom Staat garantierter institutioneller rahmen hätte in dieser welt von moral hazard und opportunistischem Verhalten die Aufgabe, Unsicherheit zu verringern und Vertrauen in ökonomische transaktionen herzustellen. „Das Geschichtsbild der Neuen Institutionenökonomik im Allgemeinen und der Arbeiten von Douglass North im Besonderen weist eine markante obrigkeitslastigkeit auf.“151 150 Hartmut Berghoff: Nutzen und Grenzen des kulturwissenschaftlichen Paradigmas für die wirtschaftsgeschichte, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und wirtschaftsgeschichte 94 (2007), 2, S. 178–185, hier 178. 151 Hartmut Berghoff: Vertrauen als ökonomische Schlüsselvariable. Zur theorie des Vertrauens und der Geschichte seiner privatwirtschaftlichen Produktion, in: Karl-Peter Ellerbrock/Clemens wischermann (Hg.): Die wirtschaftsgeschichte vor der Herausforderung durch die New Institutional Economics (Untersuchungen zur wirtschafts-, Sozial- und technikgeschichte 24). Dortmund 2004, S. 58–71, hier 63. Dem ist allerdings hinzuzufügen, dass North sich zwar in „rise of the western world“ sehr stark auf die Entwicklung staatlicher Strukturen und die Zuteilung von Verfügungsrechten durch den Staat konzentrierte. In seinen späteren werken wird zumindest auf einer theoretischen Ebene jedoch deutlich, dass auch North den nicht-staatlichen Bereich kultureller Normen explizit berücksichtigt. Vor diesem Hintergrund verliert Berghoffs Kritik an Schärfe.
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Berghoff wirft davon ausgehend die Frage auf, ob nicht die Akteure selbst „aus ihrer sozialen Umwelt Vertrauen quasi mitbringen“152. Vertrauen hätte in diesem Fall einen erheblichen Einfluss auf die Ausgestaltung von Kooperationsmechanismen parallel zu einem vom Staat etablierten Institutionenrahmen. Berghoff definiert den Begriff Vertrauen in Anlehnung an Niklas Luhmann als „Mechanismus zur reduktion sozialer Komplexität“ und entwickelt auf dieser Grundlage einen Ansatz, der Vertrauen als wichtigen Kapitalfaktor bezeichnet. Mit Bezug zu Kenneth Arrow bezeichnet Berghoff Vertrauen auch als „Schmiermittel der Gesellschaft“153. Auch wischermann setzt an der Frage an, wie effiziente Kooperation zwischen ökonomischen Akteuren erklärt werden kann. Vertrauen ist bei ihm eine Art Ersatz für den institutionellen Sanktionsmechanismus. Es steht „für den Verzicht auf opportunismus, auch wenn ein regelverstoß nicht mit Sanktionen belegt wird oder belegt werden kann“154. wischermann zeigt am Beispiel von Unternehmen, dass die Konstruktion einer Sinndeutungsgemeinschaft zur Vertrauensbildung und damit zur Kooperation zwischen den Unternehmensmitgliedern führen kann, die nicht auf dem Einsatz institutioneller Sanktionen beruht. Vertrauen ist damit in der Lage, zwar nicht kostenfrei, aber doch kostengünstiger als die formale Kontrolle Kooperationsprozesse innerhalb eines Unternehmens zu steuern. Vertrauen ist eines der zentralen themen der aktuellen theoretischen Diskussion in der Neuen Institutionenökonomik.155 Es konkurrieren jedoch sehr unterschiedliche Konzepte von Vertrauen, die zum teil auf unterschiedlichen theoretischen Hintergrundannahmen beruhen. In der Soziologie steht dem Systemvertrauen Luhmanns das handlungstheoretische Vertrauen bei James Coleman gegenüber.156 In der politischen Philosophie sowie der politischen Historiographie wird dem Begriff ebenfalls zunehmende Beachtung geschenkt.157 Folgende ökonomische Definition stammt von tanja ripperger: „Vertrauen ist die freiwillige Erbringung einer riskanten Vorleistung unter Verzicht auf explizite vertragliche Sicherungs- und Kontrollmaßnahmen gegen opportunistisches Verhalten in der Erwartung, daß sich der andere, trotz Fehlen solcher Schutzmaßnahmen, nicht opportunis152 Berghoff: Vertrauen als ökonomische Schlüsselvariable (2004), S. 63. 153 Hartmut Berghoff: Die Zähmung des entfesselten Prometheus? Die Generierung von Vertrauenskapital und die Konstruktion des Marktes im Industrialisierungs- und Globalisierungsprozess, in: Hartmut Berghoff/Jakob Vogel (Hg.): wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels. Frankfurt am Main 2004, S. 143–168, hier 145. Ausführlich: Niklas Luhmann: Vertrauen. Ein Mechanismus der reduktion sozialer Komplexität. 4. Auflage. Stuttgart 2000. Erstmals veröffentlicht 1968. 154 wischermann: Kooperation, Vertrauen und Kommunikation (2003), S. 87. 155 Siehe dazu auch die Beiträge in: richard H. tilly (Hg.): Vertrauen/trust. Jahrbuch für wirtschaftsgeschichte (2005), 1. Berlin 2005. 156 Vgl. dazu den Überblick bei: Kay Junge: Vertrauen und die Grundlagen der Sozialtheorie. Ein Kommentar zu James S. Coleman, in: Hans-Peter Müller/Michael Schmid (Hg.): Norm, Herrschaft und Vertrauen. Beiträge zu James S. Colemans Grundlagen der Sozialtheorie. opladen 1998, S. 26–63. 157 Siehe zum Beispiel: Ute Frevert (Hg.): Vertrauen. Historische Annäherungen. Göttingen 2003; Francis Fukuyama: trust. the Social Virtues and the Creation of Prosperity. New York 1995.
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teil I Untersuchungsgegenstand tisch verhalten wird. […] Explizite Verträge und Vertrauen bilden funktional äquivalente Strategien zur Verringerung von Handlungskomplexität.“158
Aus rippergers Definition von Vertrauen als funktionales Äquivalent von expliziten Verträgen ergibt sich ein institutionelles Verständnis des Begriffs. Vertrauen kann darin als impliziter Vertrag zwischen Vertrauensgeber (Prinzipal) und Vertrauensnehmer (Agent) interpretiert werden, der der sozialen Interaktion einen orientierungsrahmen gibt, Handlungserwartungen stabilisiert und Sozialkapital generiert. Empirisch zu prüfen wäre allerdings die these rippergers, ob Vertrauen generell eine effiziente Strategie darstellt.159 Die Neue Institutionenökonomik und das Sowjetgeschäft von Siemens Unter dem Einfluss der Northschen Arbeiten entwickelte sich in der wirtschaftsund Unternehmensgeschichte ein breites institutionenökonomisches Forschungsfeld.160 Es ist aber festzustellen, dass sich die geschichtswissenschaftliche Diskussion bisher weitgehend auf theoretischem Niveau bewegt hat. Ebenfalls ist sie von zum teil sehr unterschiedlichen Ansätzen geprägt, die die Etablierung eines einheitlichen methodischen rahmens erschweren. Die aktuelle Diskussion zeigt, dass nach der kulturwissenschaftlichen Öffnung der institutionenökonomischen Handlungstheorie noch Präzisionsbedarf besteht. Von manchen Autoren wird sogar in Zweifel gestellt, ob der Ansatz diese Erweiterung überhaupt leisten kann.161 Die Neue Institutionenökonomik erhebt jedoch einen universalen Geltungsanspruch. Sie erlaubt aufgrund eines weit gefassten Institutionenbegriffs Anschlussmöglichkeiten an andere Disziplinen wie an die Soziologie oder die Politikwissenschaft und verfügt darüber hinaus über eine fundierte Handlungstheorie. Die Gefahr eines „ökonomischen reduktionismus“162 sehe ich nicht. Vielmehr ist es gerade der offene Ansatz der Neuen Institutionenökonomik, durch den eine breite Kontextualisierung von wirtschafts- und Unternehmensgeschichte um ihren „ökonomischen Kern“163 möglich wird. Insbesondere in einer akteurszentrierten Erwei158 ripperger: Ökonomik des Vertrauens (1998), S. 45f. Auch ripperger bezieht sich dabei auf Luhmann. Vgl. ebenfalls: wischermann: Kooperation, Vertrauen und Kommunikation (2003), S. 86. 159 Dieser empirische Nachweis wird von ripperger nicht erbracht. ripperger: Ökonomik des Vertrauens (1998), S. 258. 160 Jan-otmar Hesse/Christian Kleinschmidt/Karl Lauschke: Herausforderungen und Perspektiven der Unternehmensgeschichte, in: Jan-otmar Hesse/Christian Kleinschmidt/Karl Lauschke (Hg.): Kulturalismus, Neue Institutionenökonomik oder theorienvielfalt. Eine Zwischenbilanz der Unternehmensgeschichte (Bochumer Schriften zur Unternehmens- und Industriegeschichte 9). Essen 2002, S. 9–15. 161 Vgl. Berghoffs Beschreibung konkurrierender Forschungsansätze in der wirtschaftsgeschichte: Hartmut Berghoff: wozu Unternehmensgeschichte? Erkenntnisinteressen, Forschungsansätze und Perspektiven des Faches, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 49 (2004), 2, S. 131– 148. 162 Berghoff: wozu Unternehmensgeschichte? (2004), S. 142. 163 Peter Borscheid: Der ökonomische Kern der Unternehmensgeschichte, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 46 (2001), 1, S. 5–10.
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terung des institutionenökonomischen Ansatzes sehe ich ein großes Potential auch für historische Arbeiten, die wechselwirkung zwischen Akteuren und institutionellen Strukturen analytisch zu erfassen. welchen Gewinn bringt eine Geschichte von Siemens in den deutsch-sowjetischen Beziehungen als Institutionengeschichte? Erstens ermöglicht die Neue Institutionenökonomik auf theoretischer Ebene eine hochgradige Anschlussfähigkeit an die Sozialwissenschaften sowie an kulturwissenschaftliche Ansätze. wirtschaftsbeziehungsweise Unternehmensgeschichte steht im institutionenökonomischen Paradigma nicht isoliert von der theoretischen Entwicklung in anderen Fachbereichen, sondern sie kann durch eigene Beiträge diese Entwicklung reflektieren und beeinflussen. Historische Untersuchungen sind besonders dafür geeignet, einen institutionellen wandel über einen längeren Zeithorizont zu verfolgen. Die oftmals vorhandene Statik wirtschaftswissenschaftlicher Ansätze wird so um zeitliche Dynamik erweitert. Zweitens bietet die Neue Institutionenökonomik mit ihren Konzepten einen konkreten Analyserahmen für empirische Untersuchungen. Sie ermöglicht es, Entscheidungsfindungsprozesse innerhalb kollektiver Akteure sowie das strategische Handeln von Akteuren innerhalb ihrer institutionellen Umgebung zu erklären. Der Stellenwert von Unternehmensinteressen in den deutsch-sowjetischen Beziehungen, der bisher in der Forschung weitgehend vernachlässigt wurde, wird durch diesen theoretischen Ansatz zugänglich. 3.3 Erklärungsmodell und Arbeitshypothesen Die Neue Institutionenökonomik bildet meine theoretische Grundlage für die Analyse des Unternehmensgeschäfts von Siemens in den deutsch-sowjetischen Beziehungen. Das analytische Modell wird in einem deduktiv-nomologischen Vorgehen entwickelt und ein kausaler wirkungszusammenhang zwischen einer erklärenden Variable (Explanans) und einer zu erklärenden Variable (Explanandum) hergestellt.164 Ich nehme an, dass das Sowjetgeschäft von Siemens (das zu Erklärende) auf der Ausgestaltung des institutionellen Arrangements der deutsch-sowjetischen Beziehungen (dem Erklärenden) basierte. In anderen worten ausgedrückt bildeten die deutsche Außenwirtschaftspolitik, das sowjetische Außenhandelsmonopol sowie die deutsch-sowjetischen Vertragsbeziehungen als unabhängige Variable die institutionelle Grundlage für das Sowjetgeschäft von Siemens als abhängige Variable. Unternehmen können allerdings auch als eigenständige Akteure in zwischenstaatlichen Beziehungen auftreten. Ihre Aktivitäten dürfen deshalb nicht ausschließlich in Abhängigkeit von einem gegebenen staatlichen Handlungsrahmen betrachtet werden, sondern sie verdienen eine eigenständige Betrachtung. Siemens wird deshalb als aktiv handelndes Subjekt, als ein transnationaler Akteur, in das Modell integriert. Folgendes Schaubild verdeutlicht den wirkungszusammenhang meines Modells. 164 Zur Anwendung des deduktiv-nomologischen Vorgehens in der Geschichtswissenschaft vgl. Jörn rüsen/Hans Süssmuth (Hg.): theorien in der Geschichtswissenschaft. Düsseldorf 1980.
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teil I Untersuchungsgegenstand
Schaubild 1: Einflussvariablen im Sowjetgeschäft von Siemens
Die Unternehmensstrategie war nach diesem Modell zwar von den Vorgaben des gegebenen institutionellen orientierungsrahmens abhängig. Siemens konnte aber eine eigene Handlungsrationalität entwickeln, eigene Unternehmensstrategien formulieren und versuchen, diese in der Umwelt umzusetzen. Dieser Handlungsspielraum, den Siemens in den deutsch-sowjetischen Beziehungen besaß, wird als intervenierende Variable bezeichnet. Er beschreibt das Potential des Unternehmens, als transnationaler Akteur eigenständig in den deutsch-sowjetischen Beziehungen zu agieren. Gemäß dieser Annahme war die Entwicklung des Sowjetgeschäfts von Siemens als abhängige Variable ein situatives Ergebnis der Unternehmensaktivitäten in den deutsch-sowjetischen Beziehungen. Abgeleitet aus diesen theoretischen Grundannahmen formuliere ich nun zwei Arbeitshypothesen, die als richtlinien für den empirischen teil der Fallstudie dienen: Hypothese 1: Siemens vertrat als transnationaler Akteur eigene Interessen im Sowjetgeschäft, die in der unternehmensspezifischen Handlungsrationalität begründet waren. Das Unternehmen verfügte über einen eigenen Zugang zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen und wird als eigenständig handelndes Subjekt betrachtet, das den institutionellen wandel seiner Umwelt beeinflussen konnte. Hypothese 2: Die Zielpräferenzen des kollektiven Akteurs Siemens im Sowjetgeschäft basierten auf den individuellen Entscheidungen der Mitarbeiter im Unternehmen. Ich unterstelle der Handlungsmotivation von Akteuren eine truly
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bounded rationality, nach der kulturelle Einflüsse wie Ideologie sowie persönliche Erfahrungen die Unternehmensstrategie maßgeblich beeinflussen konnten. Ziel des Modells ist es, die Unternehmensstrategie von Siemens in den deutschsowjetischen Beziehungen methodisch zugänglich zu machen. Die Modellierung ist deshalb kein Selbstzweck, sondern analytisches Instrument. Auf Basis einer um Akteure erweiterten Neuen Institutionenökonomik wird nun die historische Fragestellung der Fallstudie in einen methodischen Ansatz eingebettet. 4 MEtHoDISCHEr ANSAtZ In den folgenden Schritten spezifiziere ich zunächst die zentralen Begriffe und übertrage anschließend mein theoretisches Modell auf den empirischen Gegenstand. 4.1 Präzisierung der analytischen Begriffe wie lässt sich ein institutionenökonomischer Blick auf das Sowjetgeschäft von Siemens spezifizieren? Ich beginne zunächst mit dem Akteur. Die Neue Institutionenökonomik vertritt einen methodologischen Individualismus, wonach das Handeln kollektiver Akteure auf den Handlungen individueller Akteure basiert. Zum primären Untersuchungsgegenstand der Fallstudie werden damit die Mitarbeiter im Unternehmen Siemens, die in das Sowjetgeschäft involviert waren. In der Neuen Institutionenökonomik neigen Menschen grundsätzlich zu opportunistischem Verhalten, das allerdings durch gesellschaftliche regeln begrenzt werden kann. Institutionen werden in der Literatur deshalb oft auch als Handlungsbeschränkungen bezeichnet. Es stellt sich jedoch die Frage, ob Institutionen grundsätzlich nur opportunistisches Verhalten begrenzen und ob Akteuren generell ein Hang zum opportunismus unterstellt werden kann. Manfred Berghoff wirft in diesem Zusammenhang die Frage auf, ob die Neue Institutionenökonomik mit ihrem negativen Menschenbild überhaupt eine umfassende Handlungstheorie bieten kann.165 Ich bin der Ansicht, dass eine um den akteurszentrierten Ansatz erweiterte Neue Institutionenökonomik dies leistet. In Anlehnung an den akteurszentrierten Institutionalismus unterstelle ich Akteuren eine truly bounded rationality. Demnach ist die rationalität menschlichen Handelns nicht nur durch Informationsbeschaffungs- und Informationsverarbeitungskapazitäten beeinflusst, sondern auch durch die Präferenzen des Akteurs. Der Akteur bleibt zwar ein rationaler Nutzenmaximierer, allerdings in Abhängigkeit individueller Handlungsmotivationen. Mit Bezug auf Douglass North und auf James Colemans Sozialtheorie treffe ich eine Unterscheidung zwischen fundamentalen 165 Vgl. Berghoff: Vertrauen als ökonomische Schlüsselvariable (2004), S. 62f.; Berghoff: Die Zähmung des entfesselten Prometheus (2004), S. 146.
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und sekundären Institutionen, um den analytischen Unterschied zwischen den Präferenzen eines Akteurs und Institutionen (verstanden als sozial konstruierte Spielregeln menschlicher Interaktion) deutlich zu machen.166 Fundamentale Institutionen definieren die Ziele von Akteuren. Sie entwickeln sich über einen langen Zeithorizont und sind nur schwer veränderbar. ob sich die individuelle Handlungsmotivation aus internalisierten Institutionen oder nicht-institutionellen Präferenzen (wie der genetischen Ausstattung des Menschen bei North) speist, wird im Folgenden nicht weiter diskutiert. Ich gebrauche vielmehr die Begriffe fundamentale Institution und Zielpräferenz synonym. wichtig ist die klare analytische Abgrenzung unterschiedlicher Hierarchien von Handlungseinflüssen: Fundamentale Institutionen formen die individuellen Zielpräferenzen des Akteurs in einem gegebenen institutionellen Arrangement. Sie definieren die individuellen belief systems von Menschen, wie zum Beispiel ihre ideologische Ausrichtung, und haben nach North einen bestimmenden Einfluss auf menschliches Handeln: „[t]he beliefs that humans hold determine the choices they make that, in turn, structure the changes in the human landscape.“167 In Ermangelung einer eindeutigen terminologischen Abgrenzung von North verwende ich die Begriffe belief system und mental model im Folgenden synonym. Sekundäre Institutionen werden durch menschliche Interaktion aktiv konstruiert und können vom Akteur in Abhängigkeit seiner Ziele strategisch gestaltet werden. Eine Strategie ist in diesem Verständnis als die „grundsätzliche, langfristige Verhaltensweise [von Akteuren] gegenüber ihrer Umwelt zur Verwirklichung der langfristigen Ziele“168 definiert. Der Begriff Institution im Verständnis der Neuen Institutionenökonomik – die Spielregeln menschlicher Interaktion – bezeichnet in meinem Ansatz somit sekundäre Institutionen. Folgende Definition rudolf richters ist auf sekundäre Institutionen allerdings übertragbar: „Eine Institution im hier verwendeten Sinne ist ein auf ein bestimmtes Zielbündel abgestelltes System von Normen einschließlich deren Garantieinstrumente, mit dem Zweck, das individuelle Verhalten in eine bestimmte richtung zu steuern.“169 Eine Institution umfasst somit nicht nur die regel, sondern auch Sanktionsmechanismen für den Fall eines regelverstoßes. Institutionen haben allerdings keine determinierende wirkung. Sie handeln nicht, sondern sie geben dem Akteur eine Handlungsorientierung in Abhängigkeit seiner Zielpräferenzen vor. Sie filtern die Informationen, die Menschen aus ihrer Umwelt aufnehmen und strukturieren dadurch „unser tägliches Leben und verringern auf diese weise dessen Unsicherheiten“170. wissen ist daher kein objektives Speicherwissen von akkumulierten Informationen, sondern es wird erst durch die individuelle Interpretation des Akteurs generiert. 166 North/thomas: the rise of the western world (2006), S. 7; Coleman: Foundations of Social theory (1990), S. 517. Zum Begriff fundamentale Institution vgl. auch: Dietl: Institutionen und Zeit (1993), S. 71ff. 167 North: Understanding the Process of Economic Change (2005), S. 23. 168 Gabler wirtschaftslexikon (2004), S. 2833. 169 richter: Institutionen ökonomisch analysiert (1994), S. 2. 170 richter: Institutionen ökonomisch analysiert (1994), S. 2.
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In der sozialen Interaktion erfüllen Institutionen zwei wichtige Funktionen. Erstens erbringen sie Steuerungsleistungen in einer Gesellschaft oder in einer organisation wie im Unternehmen Siemens. Zweitens schaffen sie einen integrierenden orientierungsrahmen für die Mitglieder des Kollektivs, indem sie eine Identifikation mit den Unternehmenszielen herstellen und dadurch kollektive Identität produzieren.171 Eine entscheidende Leistung der Neuen Institutionenökonomik ist es, dass sie neben formalen (wie Verfügungsrechte, schriftliche Verträge oder das formale recht) auch informelle Institutionen berücksichtigt. Unter informelle Institutionen fallen „in der jeweiligen Kultur weitergegebene Normen und werte, Verhaltensregeln, Sitten, Gebräuche, Konventionen“172 oder ideologiegeprägte weltbilder. Ideologie wird mit Denzau/North definiert als „shared framework of mental models that groups of individuals possess that provide both an interpretation of the environment and a prescription as to how this environment should be structured“173. Auch der Begriff Vertrauen lässt sich in dieser Perspektive als eine informelle Institution bezeichnen. Der Begriff drückt die hoffnungsvolle Zukunftshaltung des Akteurs aus, dass eine Institution auch ohne Sanktionsmechanismus ein gewünschtes Verhalten beim Interaktionspartner hervorruft. Vertrauen wird deshalb als positive Erwartungshaltung eines Akteurs definiert, in Abwesenheit von Sanktionsmechanismen auf die Gültigkeit einer Institution zu hoffen. Vertrauen und sein funktionales Äquivalent Misstrauen werden in dieser Definition institutionell verstanden, sie stellen Handlungssicherheit oder Handlungsunsicherheit her: „Mißtrauen basiert auf der Erwartung opportunistischen Verhaltens und manifestiert sich in der Allokation von ressourcen in explizite Sicherungs- und Kontrollmechanismen. wer hingegen vertraut, der investiert keine ressourcen in Schutzmaßnahmen gegen opportunistisches Verhalten, da er nicht mit einem Verhalten rechnet, welches eine solche Investition rechtfertigen würde.“174
Durch den Verzicht auf Investitionen in Schutzmaßnahmen gegen potentiell opportunistisches Verhalten können Akteure Sozialkapital generieren. ripperger bezeichnet dieses in Anlehnung an James Coleman als sozialstrukturelle ressource, die sich aus einer institutionalisierten Vertrauensbeziehung ergibt.175 Akteure verfügen nach North grundsätzlich über die Fähigkeit, sowohl die sekundären Institutionen ihrer Umwelt strategisch zu beeinflussen als auch ihre fundamentalen Zielpräferenzen an die gegebenen Umweltbedingungen anzupassen.176 Institutioneller wandel bezieht sich daher auf die Zielpräferenzen von Akteuren 171 Göhler: Der Zusammenhang von Institution, Macht und repräsentation (1997), S. 16ff. 172 Clemens wischermann/Anne Nieberding: Die institutionelle revolution. Eine Einführung in die deutsche wirtschaftsgeschichte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts (Grundzüge der modernen wirtschaftsgeschichte 5). Stuttgart 2004, S. 26. 173 Denzau/North: Shared Mental Models (1994), S. 4. 174 ripperger: Ökonomik des Vertrauens (1998), S. 44. Auch Misstrauen reduziert Komplexität. wer misstraut, entscheidet sich dazu, kein risiko zu übernehmen und vereinfacht dadurch Handeln. Vgl. dazu: Luhmann: Vertrauen (2000), S. 92ff. 175 ripperger: Ökonomik des Vertrauens (1998), S. 165. Vgl. auch: Coleman: Foundations of Social theory (1990), S. 302ff. 176 North: Understanding the Process of Economic Change (2005), S. 116f.
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und auf das sekundäre institutionelle Arrangement der Umwelt. In rippergers Modell entscheiden Akteure anhand der Effizienz sekundärer Institutionen darüber, welches institutionelle Arrangement ihnen eine rationale Befriedigung der gegebenen Zielpräferenzen ermöglicht: „Die Effizienz einer Produktionstechnologie bemißt sich daran, inwieweit die Art wie das handelnde Selbst agiert geeignet ist, die subjektiven Interessen des dispositionalen Selbst zu befriedigen. Effizienz entspricht dem traditionellen ökonomischen rationalitätspostulat, nämlich den eigenen Nutzen auf Basis der gegebenen Präferenzen durch entsprechendes Handeln mit einem möglichst geringen Mitteleinsatz zu maximieren. Effizienz bezieht sich also ausschließlich auf das Verhältnis zwischen dem Einsatz von ressourcen durch das handelnde Selbst (Input) und dem dadurch erzielten output in Form unterschiedlich hoher Befriedigungsgrade der subjektiven Präferenzen.“177
Eine Bewertung der Effektivität des institutionellen Arrangements ermöglicht es dem Akteur hingegen, seine grundsätzliche Fähigkeit zur Befriedigung der individuellen Zielpräferenzen in der gegebenen Umwelt zu überprüfen: „Die Effektivität einer Produktionstechnologie […] bemißt sich daran, inwieweit das, was aufgrund der derzeitigen subjektiven Präferenzen produziert bzw. maximiert wird, also die Art des outputs der Nutzenproduktionsfunktion, innerhalb eines spezifischen Umfelds auch tatsächlich geeignet ist, die Metapräferenzen eines Akteurs zu befriedigen.“178
Die Abgrenzung zwischen Effizienz und Effektivität kann folgendermaßen grafisch dargestellt werden:
Schaubild 2: Institutionelle Effizienz und Effektivität von Zielpräferenzen
Sowohl fundamentale als auch sekundäre Institutionen evolvieren über Zeit. Sie sind deshalb historischen Pfadabhängigkeiten unterworfen, die es verhindern können, dass sich ökonomisch effiziente Institutionen durchsetzen. Diese Einbettung von Institutionen in ihren historischen Kontext bedeutet, dass die in einer Gesellschaft gewachsenen kulturellen Normen widerstandsfähig gegen wandel sind (institutionelle Persistenz). Besonders der wandel fundamentaler Zielpräferenzen wird 177 ripperger: Ökonomik des Vertrauens (1998), S. 213. 178 ripperger: Ökonomik des Vertrauens (1998), S. 213f.
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dadurch erschwert und ist meist nur unter spezifischen Umweltbedingungen möglich. Dies trifft zum Beispiel auf Krisensituationen zu. In institutionellen Krisen verlieren bisher gültige regeln ihre Verbindlichkeit: „Eine Krise ist die wahrgenommene Gefährdung eines institutionalisierten Handlungsmusters.“179 Den Akteuren fehlt ein stabiler orientierungsrahmen und ihre Handlungen werden durch Unsicherheit geprägt. Ist die Krise tief gehend, dann werden auch die grundlegenden Zielpräferenzen von Akteuren hinterfragt und es handelt sich um eine fundamentale Krise. Die Auswirkungen des Erstens weltkriegs und der oktoberrevolution auf das russlandgeschäft von Siemens werden im Folgenden als fundamentale Krise betrachtet.180 In fundamentalen Krisen herrschen sowohl objektive Unsicherheit („Zufall“ nach ripperger) als auch subjektive Erwartungsunsicherheit (verursacht durch Mangel an Informationen oder durch mangelhafte Informationsverarbeitungskapazitäten von Akteuren). Gleichzeitig stellen Krisen offene Entscheidungssituationen dar, die verschiedene Handlungsalternativen zulassen. Der Akteur strebt danach, seine subjektive Unsicherheit zu verringern und seine Handlungen durch risiko kalkulierbar zu machen. Zur Abgrenzung der beiden Begriffe wird folgende Definition von North übernommen: „By uncertainty I mean here a condition wherein one cannot ascertain the probability of an event and therefore cannot arrive at a way of insuring against such an occurrence. risk on the other hand implies the ability to make an actuarial determination of the likelihood of an event and hence insure against such an outcome.“181
Die Verringerung von subjektiver Unsicherheit durch das Lernen in Krisen erlaubt es dem Akteur, im rahmen seiner begrenzten rationalität die Folgen einer Entscheidung wieder rational zu bewerten.182 Unsicherheit wird dadurch kalkulierbar und durch ein bewertbares risiko ersetzt. Akteure können so ex ante die Effekte 179 Jürgen Friedrichs: Gesellschaftliche Krisen. Eine soziologische Analyse, in: Helga Scholten (Hg.): Die wahrnehmung von Krisenphänomenen. Fallbeispiele von der Antike bis in die Neuzeit. Köln, weimar, wien 2007, S. 13–26, hier 14. Zum Krisenbegriff vgl. auch Helga Scholten: Gemeinsame tendenzen in der wahrnehmung von Krisenphänomenen?, in: Helga Scholten (Hg.): Die wahrnehmung von Krisenphänomenen. Fallbeispiele von der Antike bis in die Neuzeit. Köln, weimar, wien 2007, S. 323–338; wolfgang Hardtwig (Hg.): ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933. München 2007; Detlev J. K. Peukert: Die weimarer republik. Krisenjahre der klassischen Moderne. 7. Auflage. Frankfurt am Main 1997. Erstmals veröffentlicht 1987. 180 Vgl. dazu besonders den kurzen Überblick Norths über Aufstieg und Zerfall der Sowjetunion aus institutionenökonomischer Perspektive: North: Understanding the Process of Economic Change (2005), S. 146ff. Zum institutionellen wandel infolge der oktoberrevolution sowie zu institutionellen Kontinuitäten vgl. ebenfalls: Erhard Stölting: wandel und Kontinuität der Institutionen: rußland – Sowjetunion – rußland, in: Gerhard Göhler (Hg.): Institutionenwandel (Leviathan Sonderheft 16). opladen 1996, S. 181–203. Manfred Hildermeier: Die russische revolution 1905–1921 (Neue Historische Bibliothek 534). Frankfurt am Main 1989, S. 12. 181 North: Institutions, Institutional Change and Economic Performance (1990), S. 126. Vgl. dazu die entsprechende Unterscheidung bei Häder zwischen „echter Unsicherheit“ und risiko. Häder: Umweltpolitische Instrumente (1997), S. 71. 182 ripperger: Ökonomik des Vertrauens (1998), S. 18ff.
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teil I Untersuchungsgegenstand
einer Handlung abschätzen und entsprechende Sicherungsmechanismen in ihre transaktionen integrieren. Der Gegenpol von Unsicherheit wird im Folgenden als institutionelle Stabilität bezeichnet. Institutionelle Stabilität beschreibt das Potential eines institutionellen Arrangements, die subjektive Unsicherheit von Akteuren zu verringern und ein institutionelles Gleichgewicht (institutionelles Equilibrium) in einer Gesellschaft herzustellen. Unter dem Begriff Gleichgewicht verstehe ich den Zustand eines institutionellen Arrangements, wenn keiner der betroffenen Akteure ein Interesse daran hat, etwas an dem Zustand zu ändern und damit den institutionellen wandel fortzusetzen. Für die Fragestellung meiner Fallstudie ist es besonders relevant, wie Siemens die institutionelle Ausgestaltung des „Markts“ im Sowjetgeschäft bewertete. Der Markt ist im institutionenökonomischen Modell die Plattform wirtschaftlicher transaktionen. Im Gegensatz zur Neoklassik wird der Markt allerdings nicht friktionslos von einer unsichtbaren Hand regiert, sondern durch Institutionen konstituiert. wirtschaftliches Handeln findet deshalb nicht allein auf der Basis von Angebot und Nachfrage statt. Vielmehr hat die institutionelle Gestaltung des Markts einen entscheidenden Einfluss darauf, wie sich die Akteure am Markt verhalten. Im Fallbeispiel zeigt sich die Unvollständigkeit des Markts (unvollständig gemessen am neoklassischen Ideal des friktionslosen Markts) beispielsweise durch die Existenz des sowjetischen Außenhandelsmonopols. Die sowjetische Nachfrage orientierte sich nicht allein an einem ökonomisch rationalen Kalkül, sondern auch an ideologischen und politischen Vorgaben des Staates. Aus der Unvollständigkeit des Marktes wird im institutionenökonomischen Ansatz die Existenz von transaktionskosten abgeleitet. Diese Kosten beschreiben allgemein die reibungsverluste, die sich aus transaktionen auf unvollständigen Märkten ergeben. transaktionskosten werden im institutionenökonomischen Ansatz noch weiter präzisiert und direkt in Bezug zu Institutionen gesetzt. rudolf richter definiert sie als diejenigen Kosten, die das „Zustandekommen, Benutzen, Sichern usw. einer Institution“183 ermöglichen. Diese Definition, die auch Informationskosten, die Kosten von Verfügungsrechten oder Vertragskosten mit einschließt, wird im Folgenden verwendet. Angesichts der hohen institutionellen Unübersichtlichkeit auf dem „Markt“ der deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen sind a priori hohe reibungsverluste und somit potentiell hohe transaktionskosten im Sowjetgeschäft zu erwarten. Unternehmen entstehen nach Coase dadurch, dass sie aus Effizienzgründen Marktprozesse internalisieren, um dadurch transaktionskosten effizienter einzusetzen. Aus einer modernen institutionenökonomischen Perspektive sind Unternehmen allerdings mehr als nur die effizientere Alternative zum Markt: Unternehmen werden als soziale Gebilde verstanden, als eine institutionelle „Deutungsgemeinschaft“184. Darunter sind alle formalen und informellen Handlungsanleitungen zusammengefasst, die dem Unternehmen als kollektivem Akteur einen gemeinsamen 183 rudolf richter: Sichtweise und Fragestellung der Neuen Institutionenökonomik, in: Zeitschrift für wirtschafts- und Sozialwissenschaften 110 (1990), S. 571–591, hier 573. 184 wischermann: Von der „Natur“ zur „Kultur“ (2004), S. 25.
4 Methodischer Ansatz
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Handlungsrahmen geben. Dieser kollektive orientierungsrahmen wird als Unternehmenskultur definiert, als eine „Grundgesamtheit gemeinsamer wert- und Normvorstellungen sowie geteilter Denk- und Verhaltensmuster, die die Entscheidungen, Handlungen und Aktivitäten der organisationsmitglieder“185 von Siemens im Sowjetgeschäft prägte. In der terminologie Douglass Norths kann Unternehmenskultur auch als shared mental model oder als shared belief system bezeichnet werden, in das die individuellen mentalen Modelle bzw. die beliefs der Mitarbeiter einflossen. Die Annahme einer truly bounded rationality lässt sich damit auch auf kollektive Akteure wie auf das Unternehmen Siemens übertragen. Unternehmen sind einerseits Empfänger von externen Impulsen, anderseits können sie die Ausgestaltung des sekundären Arrangements ihrer Umwelt aktiv beeinflussen. Sie sind in der Lage, mit anderen Akteuren in Verbindung zu treten und eigene Unternehmensinteressen in der Umwelt zu verfolgen. Diese Kontakte von Siemens mit anderen Akteuren in den deutsch-sowjetischen Beziehungen werden durch den Begriff externe Netzwerke erfasst. Es wird eine Definition aus der Policy-Forschung übernommen, wonach Netzwerke institutionalisierte, protoorganisatorische Beziehungen zwischen Akteuren sind: „Institutionalisierung bedeutet, daß die Beziehungen nicht auf zufälligem Zusammentreffen beruhen, sondern daß es gewisse (auch informelle) regeln bezüglich der Art und weise der Kooperation gibt.“186 Siemens hatte dadurch die Möglichkeit, seine Zielpräferenzen im Sowjetgeschäft durch institutionalisierte Netzwerke mit anderen Akteuren zu verfolgen. Es folgt nun ein Überblick darüber, wie das methodische Konzept auf das Fallbeispiel Siemens im Sowjetgeschäft übertragen wird. 4.2 Umsetzung des methodischen Konzepts Ich schreibe die Geschichte von Siemens in den deutsch-sowjetischen Beziehungen zwischen 1917 und 1933 als eine Geschichte institutionellen wandels. Ausgangspunkt der Fallstudie ist die fundamentale Krise, deren Beginn sich mit dem Ausbruch des Ersten weltkriegs festmachen lässt. Infolge dieser Krise wurde im Unternehmen ein Lernprozess in Gang gesetzt, der die Entwicklung des Sowjetgeschäfts bis 1933 prägte. Mit der Umsetzung des methodischen Konzepts am empirischen Gegenstand verfolge ich zwei Ziele. Erstens wird die Entwicklung des Sowjetgeschäfts von Siemens in ihrer zeitlichen Dimension erfasst. Zweitens werden auf Basis der analytischen Instrumente aus dem institutionenökonomischen Ansatz die Handlungsrationalität von Siemens sowie die Unternehmensstrategie in den deutsch-sowjetischen Beziehungen untersucht. Daraus ergibt sich die Zweiteilung des empirischen 185 Gabler wirtschaftslexikon (2004), S. 3040. 186 Christian ricken: Determinanten der Effektivität der Umweltpolitik. Frankfurt am Main 1997, S. 53. Vgl. dazu auch den Netzwerkbegriff bei: Florian triebel/Jürgen Seidl: Ein Analyserahmen für das Fach Unternehmensgeschichte, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 46 (2001), 1, S. 11–26, hier 17.
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teil I Untersuchungsgegenstand
teils der Fallstudie in einen chronologischen Überblick (teil II) und in einen analytischen teil (teil III). Die Entwicklung des Sowjetgeschäfts von Siemens wird in teil II in vier chronologisch aufeinander folgende Phasen gegliedert. Die Einteilung erfolgt aus der Perspektive des Unternehmens und weicht von anderen Periodisierungen der deutsch-sowjetischen Beziehungen teilweise ab.187 Am Anfang jedes Zeitabschnitts werden jeweils kurz die institutionellen rahmenbedingungen wie zum Beispiel die deutsch-sowjetischen Verträge dargestellt. In den weiteren Unterkapiteln folgen die Entwicklungsschritte von Siemens im Sowjetgeschäft, die sich nach thematischen Schwerpunkten gliedern. Die chronologische Abgrenzung der Zeitabschnitte wird dabei nicht immer strikt eingehalten, sondern kann je nach thema des Unterkapitels auch zu zeitlichen Überschneidungen führen. Am Ende jeder Periode wird eine Zusammenfassung gegeben und der Zeitabschnitt in den Kontext des institutionellen wandels von Siemens im Sowjetgeschäft eingeordnet. In teil III übertrage ich die analytischen Instrumente meines institutionentheoretischen Ansatzes auf das empirische Fallbeispiel. Zunächst wird in Kapitel 1 der unternehmensinterne Prozess verfolgt, der zur Ausbildung einer Siemens-spezifischen Unternehmenskultur im Sowjetgeschäft führte. Dies beinhaltet erstens die Vorstellung ausgewählter Kurzbiographien mehrerer individueller Akteure im Unternehmen, zweitens einen Überblick über die organisationsstrukturen und drittens eine rekonstruktion der Zielpräferenzen von Siemens im Sowjetgeschäft. Im anschließenden Kapitel 2 folgt eine Analyse, wie Siemens durch Kommunikation in externen Netzwerken seine Interessen in der Umwelt der deutsch-sowjetischen Beziehungen verfolgte. Dazu wurden drei große Akteursgruppen ausgewählt, mit denen Siemens im Untersuchungszeitraum institutionelle Beziehungen etablierte: Sowjetische Akteure, deutsche politische Akteure sowie nicht-staatliche Akteure wie zum Beispiel andere Unternehmen oder wirtschaftliche Interessenverbände. Im nächsten Schritt analysiere ich die institutionelle Dynamik des Sowjetgeschäfts von Siemens. Meine Analyse basiert in Anlehnung an ripperger und Coleman auf einem Modell, das sowohl fundamentale Zielpräferenzen von Akteuren als auch sekundäre Institutionen berücksichtigt (vgl. das Schaubild auf der nächsten Seite). In dem Modell wird ausgedrückt, dass Siemens unternehmensspezifische Zielpräferenzen in den deutsch-sowjetischen Beziehungen entwickelte und diese durch den Einfluss auf das sekundäre institutionelle Arrangement im Sowjetgeschäft verfolgte. Abhängig von seinen Zielpräferenzen versuchte das Unternehmen, die Effizienz sekundärer Institutionen zu erhöhen und durch den wandel sekundärer Institutionen deren Kosten-Nutzen-relation zu verbessern. war Siemens über einen längeren Zeitraum allerdings nicht in der Lage, seine Interessen im Sowjet187 Die Periodisierung aus Siemens-Perspektive deckt sich jedoch weitgehend mit der Sütterlins (Sütterlin: Die „russische Abteilung“ des Auswärtigen Amtes (1994), S. 18ff.) sowie der Chronologie, die Knorre der Entwicklung des sowjetischen Außenhandels zugrunde legt: werner von Knorre: Der Ausbau des Außenhandelsmonopols, in: werner Markert (Hg.): osteuropa-Handbuch Sowjetunion. Das wirtschaftssystem. Köln 1965, S. 461–483. Zu anderen Periodisierungen vgl.: Hildebrand: Das Deutsche reich und die Sowjetunion (1977), S. 22ff.; Achtamzjan: rapall‘skaja Politika (1974), S. 10.
4 Methodischer Ansatz
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geschäft effizient durchzusetzen, so konnte das Unternehmen die Effektivität seiner Zielpräferenzen überprüfen und diese gegebenenfalls an das sekundäre institutionelle Arrangement anpassen.
Schaubild 3: wandel von Zielpräferenzen und sekundären Institutionen
Zu beachten ist, dass Siemens nicht autonom agierte, sondern immer der wechselwirkung mit anderen Akteuren der Umwelt ausgesetzt war. Der wandel oder die Persistenz von Zielpräferenzen und sekundären Institutionen im Sowjetgeschäft war somit immer auch ein Ergebnis dessen, wie das Unternehmen seine Interessen gegenüber konkurrierenden Akteuren durchsetzen konnte. 4.3 Quellen Das Unternehmen Siemens steht als transnationaler Akteur in den deutsch-sowjetischen Beziehungen im Zentrum der Arbeit. Aus dieser Eingrenzung des Untersuchungsgegenstands ergibt sich die Quellenbasis der Studie, die sich im wesentlichen auf Siemens-Archiv-Akten (SAA) stützt. Zusätzliches Quellenmaterial wurde allerdings ergänzend hinzugezogen. Folgender Überblick gibt eine Zusammenfassung der Quellenbestände, auf denen die Fallstudie basiert. 1. Bei den Quellen aus dem Siemens-Archiv handelt es sich sowohl um Akten aus der internen Kommunikation als auch um Dokumente aus den externen Beziehungen des Unternehmens mit verschiedenen Akteuren, die im Sowjetgeschäft involviert waren. Es wurden alle im Siemens-Archiv verfügbaren Unterlagen zum Sowjetgeschäft ausgewertet. Die ausgewerteten Bestände umfassen die Nachlässe mehrerer Siemens-Direktoren sowie Doku-
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teil I Untersuchungsgegenstand
mente mehrerer Abteilungen wie der rechtsabteilung, der Personalabteilung, der wirtschaftspolitischen Abteilung und besonders der für das Sowjetgeschäft verantwortlichen Abteilung tB ost. Im aktuellen Signatursystem des Siemens-Archivs werden die Akten fortlaufend nummeriert, das ältere System besteht aus einer alpha-numerischen Signatur. Hervorhebenswert sind die Dokumente aus dem so genannten Dornburg-Bestand. Dabei handelt es sich um Akten, die im Staatsarchiv der DDr in Dornburg verwahrt waren und teilweise erst in den 1990er Jahren der westlichen Forschung zugänglich gemacht wurden.188 Ein teil dieser Akten wird hier zum ersten Mal in eine wissenschaftliche Studie einbezogen. Außer auf Siemens-Archiv-Akten wird auf verschiedene unternehmensinterne Publikationen zurückgegriffen. Dabei handelt es sich um die jährlichen Geschäftsberichte des Unternehmens und die seit 1919 erscheinende Unternehmenszeitschrift „wirtschaftliche Mitteilungen aus dem SiemensKonzern“ (im Verlauf des Jahres 1921 durch die „Siemens-Zeitschrift“ ersetzt), in der regelmäßig Beiträge zum Sowjetgeschäft erschienen. Zusätzlich standen interne Studien und Datenbanken zu einzelnen Bereichen der Unternehmensgeschichte zur Verfügung, darunter Kurzbiographien von Mitarbeitern und historische rückblicke zu thematischen Aspekten.189 2. Aus dem Staatlichen russischen wirtschaftsarchiv (Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Ėkonomiki, rGAĖ) wurden folgende Bestände hinzugezogen, die die Kommunikation zwischen dem sowjetischen Außenhandelsapparat mit Siemens beleuchten: Bestand des Volkskommissariats für Außenhandel (Narodnyj Komissariat Vnešnej Torgovli, NKVt, Fond 413); Bestand der Staatlichen Kommission für die Elektrifizierung russlands (Gosudarstvennaja Komissija po Ėlektrifikacii Rossii, GoĖLro, Fond 5208); Bestand des Volkskommissariats für Handel (Narodnyj Komissariat Torgovli, Fond 5240); Bestand der Allsowjetischen Vereinigung für den Import der Industriegüter, rohstoffe und Halbfabrikate für die Elektroindustrie und die Elektrifizierung (Vsesojuznoe Ob’edinenie po Importu Oborudovanyja, Syrja i Polufabrikatov dlja Ėlektropromyšlennosti i Ėlektrostroitel’stva, Ėlektroimport, Fond 8340). In den untersuchten Beständen sind Auszüge aus dem Schriftverkehr sowjetischer Behörden mit Siemens und mit weiteren elektrotechnischen Firmen überliefert. Ein weiterer teil der Akten stammt aus der Kommunikation innerhalb der sowjeti188 Zur Geschichte des Dornburg-Bestands vgl.: wilfried Feldenkirchen: werner von Siemens. Erfinder und internationaler Unternehmer. 2. überarbeitete und ergänzte Auflage. München 1996. Erstmals veröffentlicht 1992, S. 248. 189 Die unternehmensinternen Publikationen sind in einigen Fällen allerdings kritisch zu betrachten. So weisen die Chronik des tB ost von Ernst Eue (SAA 10756, Ernst Eue: Chronik des tB ost. Berlin 1944) oder die wirtschaftsgeschichte zu Siemens von theodor Hafeneder (theodor Hafeneder: Das Haus Siemens in der weltwirtschaftskrise, 4 Bände. Ein Beitrag zur wirtschaftsgeschichte der Siemens Aktiengesellschaft. Großhesselohe 1969) erstens einen deutlich rechtfertigenden Duktus auf. Zweitens fanden sich bei einigen retrospektiv abgefassten Berichten wie bei Eues Chronik auch inhaltlich falsche Angaben.
4 Methodischer Ansatz
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schen Bürokratie. Über diese Briefwechsel können der Ablauf der sowjetischen Auftragsvergabe und die Probleme beim Umgang mit ausländischen Unternehmen rekonstruiert werden. Die Quellenangaben erfolgen anhand der russischen Bezeichnungen f. für fond (Bestand), op. für opis‘ (Findbuch), d. für delo (Akte) und l. für list (Blatt). Außerdem ist der Artikel S. V. Žuravlevs zum Sowjetgeschäft von Siemens nach der oktoberrevolution hervorzuheben, der im rahmen der 150-Jahrfeier des Unternehmens in russland entstand.190 Der Autor bezieht sich darin auf Quellen aus dem rGAĖ sowie dem russischen Staatsarchiv für Sozialpolitische Geschichte (Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Social‘noPolitičeskoj Istorii, rGASPI), die einige Ausschnitte des Unternehmensgeschäfts der frühen 1920er Jahre aus sowjetischer Perspektive beleuchten. Der wirtschaftsjournalist E. P. Žirnov gibt in einem Buch sowie in zwei Artikeln im wirtschaftsmagazin Kommersant-Den‘gi weitere Einblicke in das frühe Sowjetgeschäft von Siemens.191 Žirnov bezieht sich darin zum teil auf Žuravlev, zum teil basiert seine Arbeit auf anderen Quellen. Da sowohl im Buch als auch in den beiden Artikeln keine Quellen- und Literaturangaben gemacht werden, ist eine Überprüfung der Inhalte allerdings nicht möglich. Als ergiebig erwies sich die seit 1921 erscheinende Halbmonatsschrift, die von der Berliner Handelsvertretung der UdSSr herausgegeben wurde (zunächst unter der Bezeichnung „Aus der Volkswirtschaft der rSFSr“ beziehungsweise „der UdSSr“, später unter dem Namen „Die Volkswirtschaft der UdSSr“ und seit 1931 unter dem Namen „Sowjetwirtschaft und Aussenhandel“). 3. Zahlreiche Quelleneditionen dokumentieren die deutsch-sowjetischen Beziehungen192 sowie die sowjetische Industrialisierungs- und Elektrifizie190 Žuravlev: Biznes c Bol‘ševikami (2006). 191 E. P. Žirnov: Kak zakaljalcja Brėnd. Inostrannye Firmy v rossii: tajnye Istorii. Moskau 2005; E. P. Žirnov: Kak zakaljalcja Brėnd. 150 Let slošnych razgovorov, in: Kommersant-Den‘gi (15.12.2003), 49, S. 112; E. P. Žirnov: Kak zakaljalcja Brėnd. 150 Let slošnych razgovorov, in: Kommersant-Den’gi (8.12.2003), 48, S. 112. 192 Horst Linke (Hg.): Quellen zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen 1917–1945 (Quellen zu den Beziehungen Deutschlands zu seinen Nachbarn im 19. und 20. Jahrhundert 8). Darmstadt 1998; G. H. Sevost‘janov (Hg.): Duch rapallo. Sovetsko-germanskie otnošenija 1925–1933. Ekaterinburg, Moskau 1997; rolf Elias (Hg.): Die deutsch-sowjetischen Beziehungen teil 1: 1917–1945. Eine Auswahl von Verträgen, Erklärungen und reden. Berlin 1979; Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDr/Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSr (Hg.): Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925. Vom rapallovertrag bis zu den Verträgen vom 12. oktober 1925 (zwei Halbbände). Berlin (ost) 1978; Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDr/Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSr (Hg.): Deutsch-sowjetische Beziehungen von den Verhandlungen in Brest-Litowsk bis zum Abschluß des rapallovertrages. Band 2: 1919–1922. Berlin 1971; Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDr/Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSr (Hg.): Deutsch-sowjetische Beziehungen von den Verhandlungen in Brest-Litowsk bis zum Abschluß des rapallovertrages. Band 1: 1917–1918. Berlin 1967; Jonas Kreppel (Hg.): Der Friede im
78
teil I Untersuchungsgegenstand
rungspolitik.193 Als hilfreich erwies sich ebenfalls die digitalisierte Ausgabe des reichsgesetzblatts (rGB), die im Internet abrufbar ist und die unter anderem vollständige Ausgaben der deutsch-sowjetischen Verträge enthält.194 Eine wertvolle Ergänzung boten die edierten Briefe L. B. Krasins an seine Frau aus den Jahren 1917 bis 1922.195 4. Es konnte auf die Memoiren mehrerer Vertreter aus Politik und wirtschaft zurückgegriffen werden, die die Entwicklung der deutsch-sowjetischen Beziehungen prägten. Aus dem Bereich der Politik sind dies der deutsche Botschafter Herbert von Dirksen in Moskau, der deutsche Botschaftsrat in Moskau Gustav Hilger sowie Moritz Schlesinger, der als Sonderberater für sowjetische Fragen im Auswärtigen Amt die deutsche ostpolitik der 1920er Jahre maßgeblich gestaltete.196 Die Erinnerungen von Allan Monkhouse, Ingenieur beim britischen Elektrounternehmen Metropolitan Vickers, über seine Arbeitserfahrung in der Sowjetunion Ende der 1920er Jahre bieten einen interessanten Vergleich zu Siemens.197 Einen Einblick in das Innenleben der sowjetischen Handelsvertretung in Berlin gibt Alexander rapoport in einem Überblick über seine tätigkeit als Leiter der rechtsabteilung.198 5. Von zeitgenössischen Beobachtern ist eine umfangreiche Anzahl an Beiträgen zum sowjetischen Außenhandel überliefert, von denen mehrere werke verwendet wurden. Darunter fallen das Handbuch zum Außenhandel mit der UdSSr von Herbert Lorenz, die volkswirtschaftliche Dissertation von Kurt Germer und der Kommentar von raphael Glanz zum deutsch-sowjetischen Vertrag von 1925.199 Auf sowjetischer Seite wurden von A. Goldštein und A. rapoport zwei Bände zum sowjetischen wirtschaftsrecht im Außenhandel vorgelegt.200
193 194 195 196
197 198 199
200
osten. Noten, Manifeste, Botschaften, reden, Erklärungen, Verhandlungsprotokolle und Friedensverträge mit der Ukraine, russland und rumänien. wien 1918. Vgl. den Überblick auf S. 26. http://alex.onb.ac.at (zuletzt geprüft am 5.7.2010). Ju. G. Fel‘štinskij/G. I. Černjavskij: L. B. Krasin: Pis‘ma Žene i Detjam, 1919–1921, in: Voprosy Istorii (2002), 3, S. 79–104. Moritz Schlesinger/Hubert Schneider: Erinnerungen eines Außenseiters im diplomatischen Dienst. Köln 1977; Gustav Hilger: wir und der Kreml. Deutsch-sowjetische Beziehungen 1918–1941; Erinnerungen eines deutschen Diplomaten. Frankfurt am Main 1964; Herbert von Dirksen: Moskau, tokio, London. Erinnerungen und Betrachtungen zu 20 Jahren deutscher Außenpolitik 1919–1939. Stuttgart 1949. Allan Monkhouse: Moscow, 1911–1933. Boston, München 1934. A.Ju. rapoport: Sovetskoe torgpredstvo v Berline. Iz Vospominanij bezpartijnogo Speca. New York 1981. Kurt Germer: Die Entwicklung der Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und Sowjetrußland. Jena 1931; Herbert Lorenz: Handbuch des Aussenhandels und Verkehrs mit der UdSSr und der Staats- und wirtschaftspolitischen Verhaeltnisse der Sowjetunion. Berlin 1930; raphael Glanz (Hg.): Deutsch-russisches Vertragswerk vom 12. oktober 1925. Für den praktischen Gebrauch der am deutsch-russischen Handel beteiligten Kreise. Berlin 1926. A. Goldstein/A.Ju. rapoport: Das Sowjet-wirtschaftsrecht im Geschäftsverkehr mit dem Auslande. I. Heft. Berlin 1931; A. Goldstein/A.Ju. rapoport: Das Sowjet-wirtschaftsrecht im Geschäftsverkehr mit dem Auslande. II. Heft. Berlin 1931.
4 Methodischer Ansatz
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Auf die Quellenrecherche in weiteren Archiven zur Kommunikation von Siemens mit Akteuren der deutschen Außenpolitik oder mit anderen nicht-staatlichen Akteuren wurde verzichtet. Für das Auswärtige Amt, das in der deutschen ostpolitik eine zentrale Stellung einnahm, liegen mit den Untersuchungen von Joel D. Cameron und Ingmar Sütterlin zwei Studien vor, die die Kommunikation mit wirtschaftlichen Akteuren sehr gut nachzeichnen.201 Ebenfalls gibt es zum reichsverband der Deutschen Industrie (rDI), zum russlandausschuss der Deutschen wirtschaft sowie zu den Positionen der politischen Parteien grundlegende Arbeiten, auf die im Folgenden zurückgegriffen wird.202 Ziel der Quellenauswahl war es, im rahmen des institutionenökonomischen Modells das Sowjetgeschäft von Siemens analytisch fassbar zu machen. Es wird ein qualitativer Ansatz vertreten, weshalb sich die rekonstruktion der Institutionengeschichte im wesentlichen auf textliche Quellen aus der Unternehmenskommunikation stützt. Ergänzend wurde es jedoch notwendig, Argumente durch statistische Angaben zu unterstützen, wie zum Beispiel bei der Quantifizierung von transaktionskosten. Diese Quantifizierung konnte anhand von unternehmensinternen Daten an einigen Beispielen durchgeführt werden. Ebenso war eine umfassende Darstellung möglich, wie sich das Unternehmensgeschäft im Untersuchungszeitraum quantitativ entwickelte. Auf makroökonomischer Ebene standen Statistiken verschiedener Provenienz zur Verfügung, um die Entwicklung der deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen zu verfolgen.203 Als problematisch erwies sich allerdings die Verwendung sowjetischer Daten. Erstens kann die Verlässlichkeit sowjetischer wirtschaftsstatistiken allgemein bezweifelt werden.204 So zeigt folgende tabelle auf S.80 einen Überblick der offiziellen sowjetischen Außenhandelsstatistik über die quantitative Entwicklung der sowjetischen Elektroimporte insgesamt sowie aus den größten Lieferländern Deutsches reich, USA und England. In der Auflistung der Gesamtimporte werden Energie- und Elektrotechnische Ausrüstung (Ėnergetičeskoe i ėlektrotechničeskoe Oborudovanie) unter der Nomenklatur 11 zusammengefasst und diese Bezeichnung auch auf die Länderstatistiken übertragen. werden aber die Importzahlen verglichen, so liegen allein die Einfuhren aus Deutschland in den Jahren 1922 bis 1925 über dem Gesamtwert. Den Grund dieser Unstimmigkeit konnte ich nicht ermitteln. 201 Joel D. Cameron: the Politics of trade: the German Foreign office and Economic relations with Soviet russia, 1919–1928. Minnesota 1997; Sütterlin: Die „russische Abteilung“ des Auswärtigen Amtes (1994). 202 Stephanie wolff-rohé: Der reichsverband der Deutschen Industrie 1919–1924/25 (Europäische Hochschulschriften reihe 3, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 892). Frankfurt am Main 2001, S. 274ff.; Perrey: rußlandausschuß der Deutschen wirtschaft (1985). Zu den Positionen der politischen Parteien gegenüber der Sowjetunion vgl. ausführlich: Bellers: Außenwirtschaftspolitik und politisches System (1988), S. 399ff. 203 Zum Beispiel sind die Statistischen Jahrbücher für das Deutsche reich digitalisiert und im Internet einsehbar: www.digizeitschriften.de (zuletzt geprüft am 5.7.2010). 204 Vgl.: Sutton: western technology and Soviet Economic Development 1917–1930 (1968), 11ff.; Gail L. owen: the Metro-Vickers Crisis: Anglo-Soviet relations between trade Agreements, 1932–1934, in: Slavonic and East European review 49 (1971), S. 92–112, hier 108.
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teil I Untersuchungsgegenstand
tabelle 2: Sowjetische Elektroimporte 1913, 1920–1935 in Millionen rubel Gesamt
Deutsches reich
USA
England
1913
130,0
97,7
2,7
19,3
1920
0,4
–
–
–
1921
8,4
–
–
–
1921/22
21,0
9,1
–
0,8
1922/23
11,3
15,4
–
0,1
1923/24
12,1
17,7
0,1
1,2
1924/25
25,1
25,3
2,1
11,2
1925/26
35,8
30,4
5,8
8,4
1926/27
74,7
59,1
6,3
10,1
1927/28
150,6
135,7
19,1
11,8
1929
169,9
57,5
18,9
11,6
1930
297,1
74,7
42,6
12,7
1931
377,9
97,1
44,5
10,6
1932
295,7
144,6
16,8
25,2
1933
68,6
32,0
3,6
9,9
1934
44,1
12,7
7,4
1,7
1935
42,6
8,6
14,1
2,0
Quelle: Zusammengestellt aus den Zahlen in: Ministerstvo Vnešnej torgovli SSSr: Vnešnjaja torgovlja SSSr za 1918–1940 gg. Statističeskij obzor, Moskau 1960.
Ein zweites Problem bei der Quantifizierung des deutschen Sowjetgeschäfts liegt darin, dass die sowjetische Statistik, das Statistische reichsamt und die Unternehmen unterschiedliche Nomenklaturen verwendeten, wodurch ein direkter quantitativer Vergleich erschwert wird.205 Vielfach werden diese statistischen Defizite in der Forschungsliteratur nicht berücksichtigt oder nicht explizit erwähnt. So werden zum teil ohne Erklärungen verschiedene Daten in tabellen vermischt.206 Der große Vorteil der Daten des sowjetischen Außenhandelsministeriums liegt allerdings darin, dass sie eine umfassende Zusammenstellung von Zahlen zwischen 1918 und 1940 sowie einen Vergleich zum Jahr 1913 bieten. Alle Angaben sind auf 205 Siehe dazu die Statistiken in der Halbmonatsschrift der Berliner Handelsvertretung, in denen zum teil sehr unterschiedliche Nomenklaturen im Vergleich mit Siemens oder dem Statistischen reichsamt verwendet werden. 206 Vgl. zum Beispiel die Statistik zum deutsch-sowjetischen Handel in: Beitel/Nötzold: Deutschsowjetische wirtschaftsbeziehungen (1979), S. 208. Die Autoren verwenden darin ohne genaue Abgrenzung Daten des sowjetischen Außenhandelsministeriums und Daten aus anderen Quellen.
5 Das Unternehmen Siemens bis 1914
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der Preisbasis des rubels von 1950 kalkuliert, so dass langfristige Entwicklungen der sowjetischen Außenhandelspolitik erkennbar werden.207 Im Folgenden wird auf verschiedene Daten der sowjetischen Statistik, interne Statistiken von Siemens sowie auf statistische Angaben deutscher wirtschaftsverbände zurückgegriffen. 5 DAS UNtErNEHMEN SIEMENS BIS 1914 Siemens und die Elektrotechnik Das Unternehmen wurde 1847 von werner Siemens und Johann Georg Halske in Berlin als telegraphen-Bauanstalt von Siemens & Halske, kurz S&H, gegründet.208 S&H war anfangs im Bereich telegrafie (als Schwachstromtechnik bezeichnet) tätig. Der technische Fortschritt ermöglichte seit den 1860er Jahren jedoch eine zunehmende Erweiterung des Geschäftsfelds. Infolge des 1866 von werner Siemens angemeldeten Patents auf den elektrischen Dynamo entwickelte sich die so genannte Starkstromtechnik bald zum wichtigsten Geschäftsbereich des Unternehmens.209 Die deutsche Elektroindustrie insgesamt nahm nach der reichsgründung 1871 eine rasante Entwicklung und besonders S&H wuchs in den folgenden Jahrzehnten zu einem der größten deutschen Industrieunternehmen. In der von Emil rathenau gegründeten Allgemeinen Electricitäts-Gesellschaft (AEG) erwuchs S&H seit den 1880er Jahren der größte Konkurrent auf dem deutschen Markt.210 Dieser zunehmende wettbewerb erhöhte den Druck auf S&H zur 207 Einen vergleichbaren Überblick bietet Alexander Baykov: Soviet Foreign trade. Princeton 1946. 208 werner Siemens wurde 1888 in den erblichen Adelsstand erhoben, Halske schied 1867 aus dem Unternehmen aus. Zur Unternehmensgeschichte vgl. Feldenkirchens Gesamtdarstellungen: wilfried Feldenkirchen: Siemens: Von der werkstatt zum weltunternehmen. 2. aktualisierte und erweiterte Auflage. München 2003. Erstmals veröffentlicht 1997; Feldenkirchen: Siemens 1918–1945 (1995). Vgl. ebenfalls die ältere Darstellung von Georg Siemens in zwei Bänden: Georg Siemens: Der weg der Elektrotechnik. Geschichte des Hauses Siemens. 2. wesentlich überarbeitete Auflage. Freiburg, München 1961. Erstmals veröffentlicht 1947; sowie die Biographie zu werner von Siemens: wilfried Feldenkirchen/Almuth Bartels: werner von Siemens. München 2000. 209 Feldenkirchen beschreibt das Aufgabengebiet der Elektroindustrie wie folgt: „Die Elektroindustrie befasst sich mit der Anwendung der elektrischen und magnetischen Grundvorgänge der Physik, so mit der Stromleitung in den verschiedensten Medien, den Zusammenhängen der elektrischen Strömung mit magnetischen Feldern und dem Induktionsvorgang. Zur Starkstromtechnik gehört alles, was zur Erzeugung, Fortleitung und Verteilung elektrischer Energie sowie zu ihrer Umsetzung in mechanische Energie, Lichtenergie und technisch verwendete wärmeenergie beiträgt. Die Schwachstromtechnik beschäftigt sich mit der Übermittlung von Nachrichten in Form von Zeichen, ton und Bild mittels drahtgebundener und drahtloser Systeme.“ Feldenkirchen: Siemens 1918–1945 (1995), S. 441. 210 Jürgen Kocka: Siemens und der unaufhaltsame Aufstieg der AEG, in: tradition 17 (1972), 3/4, S. 125–142. Für eine ausführliche Unternehmensgeschichte der AEG, die jedoch nur ansatzweise wissenschaftlichen Ansprüchen genügt, vgl.: Peter Strunk: Die AEG. Aufstieg und Niedergang einer Industrielegende. Berlin 2002.
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Anpassung der organisationsstrukturen erheblich. Ende der 1890er Jahre führte die allgemeine Konjunkturkrise zu einem Konzentrationsprozess in der deutschen Elektroindustrie, in dessen Folge sich S&H und AEG als dominierende Unternehmen etablierten. Im Jahr 1903 erwarb S&H eine Mehrheitsbeteiligung am Nürnberger Unternehmen Schuckert und fasste in den Siemens-Schuckertwerken GmbH (SSw) den Geschäftsbereich Starkstromtechnik zusammen.211 Darüber hinaus waren S&H und SSw an zahlreichen in- und ausländischen tochtergesellschaften beteiligt.212 Eine Besonderheit von Siemens lag in seiner spezifischen Unternehmenskultur.213 Ursprünglich als offene Handelsgesellschaft gegründet, wurde das Unternehmen 1897 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Allerdings konnte sich die Familie Siemens weiterhin eine dominierende Stellung sichern, indem die Statuten der Aktiengesellschaft dem Aufsichtsratsvorsitzenden besondere Vollmachten, wie den direkten Einfluss auf die Geschäftsführung, gewährten. Da die Familie Siemens bis 1981 ununterbrochen den Aufsichtsratsvorsitzenden stellte, wies das Unternehmen trotz seiner rechtsform bestimmte Merkmale eines an patriarchalischen Grundsätzen orientierten Familienunternehmens auf. Dazu gehörte unter anderem ein umfangreiches Sozialleistungssystem, das zumindest in der Angestelltenschaft einen hohen Identifikationsgrad mit dem Unternehmen herstellen konnte.214 Mit der seit der Jahrhundertwende errichteten werks- und wohnsiedlung Siemensstadt in Spandau (heute ein Stadtteil Berlins) verfügte das Unternehmen darüber hinaus über ein geographisches Zentrum. Anfang des 20. Jahrhunderts bauten S&H und SSw das Unternehmensgeschäft stark aus. Insgesamt beschäftigten beide Siemens-Gesellschaften 1914 fast 82.000 Mitarbeiter, die Holding Siemens war damit das drittgrößte Industrieunternehmen im Deutschen reich und das weltgrößte Elektrounternehmen.215 Die deutsche Elektroindustrie insgesamt entwickelte bis 1914 eine zunehmend globale Dominanz. Vor dem Ersten weltkrieg entfiel ungefähr ein Drittel der weltelektroproduktion auf deutsche Unternehmen, mit einem Anteil von fast 50 Prozent beteiligten sich
211 Minderheitseigner an SSw war die Elektrizitäts-Aktiengesellschaft vormals Schuckert & Co (EAG). Feldenkirchen: Siemens 1918–1945 (1995), S. 68f. S&H und SSw bildeten die rechtlich selbstständigen Stammgesellschaften des Unternehmens, eine formale Fusion erfolgte erst 1966 durch Gründung der Siemens AG. Infolge der Mehrheitsbeteiligung von S&H an SSw wurde allerdings eine einheitliche Unternehmensführung gewährleistet. Die Bezeichnung Siemens wird im Folgenden verwendet, wenn kein direkter Bezug auf eine der beiden Stammgesellschaften oder auf eine der anderen Unternehmensbeteiligungen gegeben ist. 212 Vgl. die Übersicht in: Feldenkirchen: Siemens 1918–1945 (1995), S. 85. 213 Feldenkirchen: Siemens 1918–1945 (1995), S. 62f., 526; Jürgen Kocka: Unternehmensverwaltung und Angestelltenschaft am Beispiel Siemens 1847–1914. Zum Verhältnis von Kapitalismus und Bürokratie in der deutschen Industrialisierung (Industrielle welt 11). Stuttgart 1969, S. 553. 214 Zur betrieblichen Sozialpolitik vgl.: Feldenkirchen: Siemens 1918–1945 (1995), S. 411ff.; Kocka: Unternehmensverwaltung und Angestelltenschaft (1969), S. 303ff. 215 Sowohl nach Umsatzzahlen als auch nach Mitarbeitern. Hertner: Financial Strategies and Adaptation (1989), S. 145.
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deutsche Unternehmen darüber hinaus überproportional am weltweiten Elektroaußenhandel. Auch bei den Siemens-Stammgesellschaften nahm das globale Unternehmensgeschäft einen wichtigen Stellenwert ein. Im Geschäftsjahr 1913/14 entfielen bei S&H 35 Prozent und bei SSw 36,2 Prozent des Gesamtumsatzes auf das Auslandsgeschäft.216 Darüber hinaus waren beide Stammgesellschaften an zahlreichen ausländischen tochtergesellschaften beteiligt oder organisierten den Vertrieb durch eigene Niederlassungen vor ort (durch technische Büros, kurz: tB). Bis zum Ersten weltkrieg entwickelte sich neben England vor allem russland zu einem Schwerpunkt des ausländischen Geschäfts. Siemens im Zarenreich Den ersten Auftrag aus russland erhielt S&H im Jahr 1851 zur technischen Ausrüstung einer telegrafenlinie von St. Petersburg nach Moskau.217 Um persönlich den Ausbau des Unternehmensgeschäfts zu fördern, reiste werner von Siemens 1852 und 1853 mehrmals unter teils abenteuerlichen Umständen ins Zarenreich. Die Geschäftspraxis in russland basierte weitgehend auf informellen Kontakten und persönlichen Beziehungen zum Zarenhof. werner von Siemens berichtet zum Beispiel in seinen Erinnerungen, dass die Auftragsvergabe für den Bau der telegrafenlinien nur aufgrund seiner Bekanntschaft mit dem Leiter der russischen telegrafenverwaltung Graf P. A. Kleinmichel zustande kam: „Der Graf hatte Vertrauen zu mir gewonnen und übertrug dasselbe später in vollem Maße auf meinen Bruder Carl. Nur seinem mächtigen Schutze verdankten wir die Möglichkeit, die großen werke, deren Ausführung er uns übertrug, glücklich durchzuführen.“218 Aufgrund dieser persönlichen Beziehungen erhielt Siemens mehrere Folgeaufträge zum Ausbau des russischen telegrafennetzes und gründete 1853 eine Niederlassung in St. Petersburg, deren Leitung werners jüngerem Bruder Carl übertragen wurde.
216 Feldenkirchen: Siemens 1918–1945 (1995), S. 662. 217 Zur russischen Industrialisierung vgl.: Peter Gatrell: the tsarist Economy 1850–1917. London 1986; william L. Blackwell: the Industrialization of russia. A Historical Perspective. New York 1970. Die Geschichte der deutschen Elektroindustrie in russland wird ausführlich bei Kirchner behandelt: walther Kirchner: Die deutsche Industrie und die Industrialisierung russlands 1815–1914. St. Katharinen 1986; siehe auch die kürzeren Zusammenfassungen: walther Kirchner: Siemens and AEG and the Electrification of russia, 1890–1914, in: Jahrbücher für Geschichte osteuropas 30 (1982), 3, S. 399–428; walther Kirchner: the Industrialization of russia and the Siemens Firm 1853–1890, in: Jahrbücher für Geschichte osteuropas 22 (1974), 3, S. 321–357. Vgl. ebenfalls den Überblick wilfried Feldenkirchens: Feldenkirchen: Siemens im russischen reich, von den Anfängen bis 1970. Unveröffentliches Manuskript. München 2003. 218 werner von Siemens: Lebenserinnerungen. München 2008. Erstmals veröffentlicht 1892, S. 196. werner von Siemens beschreibt in seinen Memoiren ausführlich die Anfänge des russlandgeschäfts und unterstreicht damit dessen wichtigen Stellenwert in den ersten Jahren nach Unternehmensgründung.
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Abbildung 1: Hermann Görz (Mitte sitzend) im Kreis seiner Mitarbeiter Quelle: Siemens-Archiv EB VII 2. Das Bild stammt aus dem Jahr 1908. Görz war zu diesem Zeitpunkt Leiter der Siemens-Niederlassung in russland.
Der Ausbruch des Krimkriegs 1853 gab dem Unternehmensgeschäft einen weiteren Schub. S&H erhielt den Auftrag zum Bau einer strategisch wichtigen telegrafenlinie von Moskau über Kiev und odessa nach Sevastopol auf der Krim, die innerhalb kurzer Zeit fertig gestellt wurde. Darüber hinaus schloss das Unternehmen 1855 einen exklusiven wartungsvertrag für die bestehenden Linien ab, der über ein Jahrzehnt sichere Einnahmen gewährleistete. Carl von Siemens hatte mit Unterbrechungen bis 1894 seinen ständigen wohnsitz in St. Petersburg und wurde angesichts seiner Verdienste für die Entwicklung der russischen Elektroindustrie 1895 von Zar Nikolaus II. in den erblichen Adelsstand erhoben.219 Nach Carls rückkehr nach Berlin übernahm Hermann Görz, vormals stellvertretendes Vorstandsmitglied bei AEG, das russlandgeschäft von S&H. Seit den 1880er Jahren dehnte S&H die Unternehmensaktivitäten in russland auf weitere Anwendungsbereiche der Elektrotechnik aus.220 Die von Siemens und anderen Unternehmen gegründete Gesellschaft für elektrische Beleuchtung vom 219 Sigfrid von weiher: Carl von Siemens 1829–1906. Ein deutscher Unternehmer in rußland und England, in: tradition 1 (1956), 1, S. 13–25, hier 25. Auch folgender Bildband enthält eine biographische Übersicht über Carl von Siemens: Bodo von Dewitz/Ludwig Scheidegger (Hg.): Die Geschichte von Gostilitzy. Schloss und Gut des Carl von Siemens bei St. Petersburg. Schwerin 2009. 220 Siemens errichtete unter anderem eine Kabelfabrik in St. Petersburg und nahm auch die Fabrikation von Zubehör für Eisenbahnanlagen sowie von Dynamos und Elektromotoren auf. Zu den deutschen Unternehmen in russland seit Ende des 19. Jahrhunderts vgl. auch: Brigitte
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Jahre 1886 (auch als Lichtgesellschaft bezeichnet) führte mehrere prestigeträchtige Projekte aus, wie die Beleuchtung des Nevskij-Prospekts und des winterpalasts in St. Petersburg. Sie etablierte für mehrere Jahre ein Monopol im Bereich Beleuchtungstechnik. Allerdings sah sich Siemens auch in russland in den 1880er Jahren zunehmender Konkurrenz und einem schärfer werdenden wettbewerb ausgesetzt, der von AEG angeführt wurde. Im Jahr 1898 wurde die russische Niederlassung von S&H in die Aktiengesellschaft russische Elektrotechnische werke Siemens & Halske (rEw S&H) umgewandelt.221 Der Zusammenschluss elektrotechnischer Unternehmen vollzog sich im Zarenreich analog zu den Fusionen im Deutschen reich und Siemens übernahm unter anderem die 1899 gegründete russische Schuckert & Co. Im Jahr 1913 wurde schließlich mit Gründung der russischen Aktiengesellschaft Siemens-Schuckert (rSSw) das russlandgeschäft nach dem Vorbild der Muttergesellschaften aufgeteilt: rSSw bearbeitete das Starkstromgeschäft des Unternehmens, rEw S&H das Schwachstromgeschäft. Nach einer Auflistung aus dem Jahr 1918 hielten die deutschen S&H und SSw an den russischen tochtergesellschaften circa 84 Prozent der Anteile, die restlichen sechzehn Prozent verteilten sich auf russische Investoren.222 Beide Gesellschaften hatten ihren Sitz in St. Petersburg und verfügten dort über eigene Fabrikationsanlagen. trotz der Konkurrenz zur AEG gab es mehrere Gemeinschaftsprojekte zwischen den Großunternehmen, wie eine gemeinsame Beteiligung an der Lichtgesellschaft und an den Vereinigten Kabelwerken (VKw) mit Sitz in St. Petersburg. Siemens und AEG kontrollierten bei Ausbruch des Ersten weltkriegs 68 Prozent aller Kapitalanlagen in der russischen Elektroindustrie.223 rEw S&H und rSSw beschäftigten 1914 zusammen über 4000 Mitarbeiter, von denen der überwiegende teil in St. Petersburg tätig war. Die weiteren Mitarbeiter verteilten sich auf 14 Geschäftsstellen im Zarenreich, von riga bis Vladivostok.224 Die beiden russischen Siemens-Gesellschaften unterhielten ein gemeinsames Verbindungsbüro in Siemensstadt, Berliner Abteilung genannt, durch das eine stabile Kommunikation und der persönliche Austausch mit den Muttergesellschaften gewährleistet wurde. Ein Großteil des Führungspersonals in russland kam an-
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Löhr: rußlandstrategien der deutschen wirtschaft 1899–1914, in: Vierteljahrschrift für Sozialund wirtschaftsgeschichte 72 (1985), 1, S. 27–64. Kirchner: Die deutsche Industrie und die Industrialisierung russlands (1986), S. 80ff. SAA 4 Lk 162, Carl Friedrich von Siemens: Brief an das Auswärtige Amt betr. Entschädigungsansprüchen. Siemensstadt 14.6.1918. Zu den Beteiligungen von Siemens in russland vgl. auch: Kirchner: Die deutsche Industrie und die Industrialisierung russlands (1986), S. 68ff. Einen sehr guten Überblick bieten ebenfalls: SAA 50 Ls 238, Peter von Buxhoeveden: Mitteilung an Fritz Jessen, in Anlage Aufzeichnung über den Siemens-Besitz in russland vor dem weltkrieg. Siemensstadt 26.7.1941; sowie: SAA 4 Lf 686, Arthur Lietke: Bericht über Investitionen von Siemens in russland und den deutsch-russischen Friedensvertrag. Siemensstadt 10.9.1918. Haumann: Beginn der Planwirtschaft (1974), S. 18. SAA 68 Li 141, Alfred A. Schwartz: Bericht über rEw S&H und rSSw. Berlin 1938, S. 30. Vgl. auch: SAA 68 Li 141, rSSw: Bericht über die Geschäftseinteilung. St. Petersburg 1914. Nach Feldenkirchen beschäftigten rEw S&H und rSSw zusammen beinahe 6000 Mitarbeiter. Feldenkirchen: Siemens 1918–1945 (1995), S. 85.
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fangs von den deutschen Muttergesellschaften oder wurde unter deutschstämmigen russischen Staatsbürgern rekrutiert, die Arbeiterschaft war weitgehend russisch. Erst seit der wende zum 20. Jahrhundert beschäftigte Siemens zunehmend auch russisches Fachpersonal in höheren Positionen. So konnten mehrere sowjetische wirtschaftsspezialisten wie L. B. Krasin (Volkskommissar für Außenhandel), B. S. Stomonjakov (Leiter der sowjetischen Handelsvertretung in Berlin), r. E. Klasson (technischer Experte der GoĖLro) oder G. M. Kržižanovskij (Leiter der GoĖLro) auf eine Karriere im Unternehmen Siemens oder in dessen tochtergesellschaften zurückblicken.225 Siemens war bei Ausbruch des Ersten weltkriegs das weltgrößte elektrotechnische Unternehmen und hatte sich auch in russland als Marktführer etabliert. Das Zarenreich nahm im Unternehmen allerdings nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht eine wichtige Stellung ein.226 Vielmehr prägte russland in entscheidender weise das Selbstverständnis von Siemens als ein global agierendes Unternehmen mit dem Anspruch, technisch anspruchsvolle Innovationen auch unter schwierigen rahmenbedingungen in unbekannter Umgebung umzusetzen. Die Erinnerung im Unternehmen an die erste Siemens-Generation – an werners reisen an den Zarenhof, an Carls jahrzehntelangen Aufenthalt in russland sowie an die reisen der SiemensBrüder in den Kaukasus – verdeutlicht, wie das russlandgeschäft an der Konstruktion einer Siemens-spezifischen Unternehmenskultur besonderen Anteil hatte.227 An diese tradition wurde in jüngster Zeit anlässlich der 150-Jahrfeier des Unternehmens in St. Petersburg im Jahr 2003 wieder angeknüpft. Auffallend ist dabei allerdings, dass sowohl der damalige Vorstandsvorsitzende Heinrich von Pierer als auch Bundeskanzler Gerhard Schröder in ihren reden die Sowjetzeit nur am rande streiften.228 In der Erzählung der Unternehmensgeschichte stellt die oktoberrevolution noch immer einen tief gehenden Bruch dar, der erst nach dem Ende der Sowjetunion überwunden wurde.
225 Žuravlev: Biznes c Bol‘ševikami (2006), S. 121ff.; Haumann: Beginn der Planwirtschaft (1974), S. 65. Zu Kržižanovskij ausführlich: Kulebakin/Vejc/Egorov: trudy Gosudarstvennoj Komissii po Ėlektrifikacii rossii (1960), S. 259ff. 226 Feldenkirchen: Siemens (2003), S. 100. 227 Vgl. dazu die Unternehmerbiographien zur Familie Siemens sowie die werke Feldenkirchens, Georg Siemens‘ und anderer Autoren zur frühen Unternehmensgeschichte. Im Jahr 2009 befand sich ein Buch der Siemens-Unternehmenskommunikation in Moskau in Vorbereitung, die die tradition des Unternehmens in russland zu Marketingzwecken nutzen wird. 228 Zitiert in: Martin Lutz: Siemens und die Sowjetunion nach dem Ersten weltkrieg. Grundlagen und rahmenbedingungen für die Geschäftsbeziehungen. Magisterarbeit Universität Konstanz 2004, S. 5. http://www.ub.uni-konstanz.de/kops/volltexte/2007/2313/pdf/Lutz_Mag.pdf (zuletzt geprüft am 28.7.2010).
tEIL II DAS SowJEtGESCHÄFt VoN SIEMENS ALS EINE GESCHICHtE INStItUtIoNELLEN wANDELS In teil II gebe ich die chronologische Entwicklung des Sowjetgeschäfts von Siemens nach der oktoberrevolution wieder. Die insgesamt vier Zeitabschnitte beginnen jeweils mit einem einführenden Kapitel über den zeithistorischen Kontext, das den Handlungsrahmen des Unternehmens skizziert. Darin werden in Unterkapiteln außenpolitische sowie wirtschaftliche Grundlagen zur Sowjetunion und zum Deutschen reich dargestellt, die Entwicklung der deutsch-sowjetischen Beziehungen nachgezeichnet und das Unternehmen Siemens in seine wirtschaftspolitische Umwelt eingeordnet. Die themenbildung der weiteren Unterkapitel folgt den Schwerpunkten der zeitgenössischen Unternehmensstrategie. Jeweils am Ende jedes Zeitabschnitts wird ein Zwischenfazit gezogen und dieses in die Chronologie des institutionellen wandels von Siemens im Sowjetgeschäft eingeordnet. Ausgangspunkt der chronologischen Beschreibung ist zunächst der Beginn der institutionellen Krise mit Ausbruch des Ersten weltkriegs. ProLoG: DIE INStItUtIoNELLE KrISE BEGINNt In einem Bericht des Abteilungsleiters Ernst Bätge von rEw S&H über die geschäftliche Entwicklung seit Beginn des Ersten weltkriegs findet sich folgende Passage zur Lage der russischen Siemens-Betriebe nach der oktoberrevolution: „Chaos und Auflösung. Dieses tritt nun auch im Herbst 1918 ein, nachdem im August 1918 der Zusatzvertrag zum Friedensvertrag [von Brest-Litovsk] abgeschlossen wurde. Hiernach gehen die Unternehmungen, an denen deutsches Kapital beteiligt war, an den russischen Staat über und dieser verfügt nun seinerseits die Nationalisierung der werke zum 15. Sept. 1918. Mit diesem Moment hört das alte Siemens & Halske-Unternehmen auf. Die nachbleibenden 25 Beamte und 80 Arbeiter des Petersburger Hauses stellen wohl nichts mehr als eine Bewachungsmannschaft des Inventars dar. Der Betrieb schlummert ein, nach Jahren erfolgreicher und zielbewusster tätigkeit.“1
Die Verstaatlichung der russischen Industrie durch die Bol‘ševiki, die Bätge hier so eindrücklich beschreibt, markierte aus seiner Sicht das Ende der russischen Siemens-werke. Sie war jedoch kein Abschluss, sondern vielmehr der vorläufige Höhepunkt eines institutionellen wandlungsprozesses, der bereits einige Jahre zuvor eingesetzt hatte. Dieser wandlungsprozess begann mit Beginn des Ersten weltkriegs, als die russischen Siemens-Unternehmen Ziel einer „wüste[n] Hetze der chauvinistischen 1
SAA 68 Li 141, Ernst Bätge: Ein Bild der Verhältnisse in den russischen Elektrotechnischen werken Siemens & Halske A.-G. während der Kriegs- und revolutionsjahre 1914–1918. Berlin Dezember 1918, S. 18.
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teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels
Presse“2 wurden, die die Enteignung der deutschen Industriebetriebe im Land forderte. Deutsche Staatsangehörige wurden in Lagern interniert und Siemens befürchtete, als feindliches Unternehmen bei staatlichen Aufträgen benachteiligt zu werden. Die Unternehmensleitung von rEw S&H blieb zunächst in den Händen von Alfred Schwartz, der zwar deutscher Abstammung war, aber die russische Staatsangehörigkeit besaß. Dagegen ergaben sich für rSSw durch den Kriegsausbruch Führungsprobleme, da die beiden Direktoren Hermann Görz und Bernhard Zeitschel ausreisen mussten, um einer drohenden Internierung zu entgehen. Im November 1914 schrieb Görz von der Notwendigkeit, „jetzt einen russen in erster Stellung zu haben“3, um eventuellen Benachteiligungen als Feindunternehmen vorzubeugen. Die Geschäftsleitung von rSSw wurde deshalb an den russischen Ingenieur L. B. Krasin übertragen. Aufgrund des zunehmenden öffentlichen Misstrauens gegen deutsche Unternehmen machten schließlich die Siemens-Gesellschaften selbst den Vorschlag, das Unternehmensgeschäft durch eine staatliche Kontrollinstanz beaufsichtigen zu lassen.4 Im Herbst 1915 wurden zwei staatliche Inspektoren ernannt, die einen vollständigen Zugriff auf interne Unternehmensabläufe erhielten. Die Arbeit dieser Inspektoren verbesserte den Status der Siemens-Unternehmen vor allem bei der Vergabe staatlicher Aufträge deutlich. So bekam rEw S&H 1915 einen größeren Lieferauftrag für militärisches Zubehör zugesprochen, der den Ausgangspunkt für weitere umfangreiche rüstungsaufträge bildete.5 Von mehreren Siemens-Angehörigen in russland wird berichtet, dass sich das Geschäft während des Ersten weltkriegs sehr positiv entwickelte. Das Unternehmen profitierte in hohem Maße von rüstungsaufträgen und produzierte Feldtelefone, Zünder und andere militärische Ausrüstung. Den Abbruch der offiziellen Lieferbeziehungen mit den deutschen Stammwerken kompensierten die russischen Siemens-Gesellschaften daher schnell.6 Die Petrograder werke wurden stark erweitert und seit Herbst 1915 in Nižnij Novgorod ein neues werk errichtet. Es verdreifachte sich die Arbeiterschaft der Gesellschaften zwischen 1914 und 1917, die Dividende von rSSw an die Aktionäre erhöhte sich von 5 Prozent (1914) auf 7,5 Prozent (1916), die von rEw S&H sogar auf 12,5 Prozent.7 B. S. Stomonjakov, der 2 3 4 5
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SAA 68 Li 141, Ernst Bätge: Ein Bild der Verhältnisse in den russischen Elektrotechnischen werken Siemens & Halske A.-G. während der Kriegs- und revolutionsjahre 1914–1918. Berlin Dezember 1918, S. 2. SAA 4 LK 162, Hermann Görz: Brief an Carl Friedrich von Siemens. Siemensstadt 9.11.1914, S. 1f. SAA 68 Li 141, Alfred A. Schwartz: Bericht über rEw S&H und rSSw. Berlin 1938, S. 31. Vgl. dazu den ausführlichen Bericht Krasins an Görz: SAA 4 Lk 162, Hermann Görz: Bericht diktiert von L. B. Krasin in Stockholm am 25.2.1918. Stockholm 4.3.1918; sowie: SAA 11 Lg 735, Alfred A. Schwartz: Brief an Görz mit Bericht über die rEw S&H. Petrograd 11.6.1918; SAA 68 Li 141, J. Marquardt: Brief an SSw, russische Abteilung, über die tätigkeit der Petersburger Abteilung der SSw Petersburg in Helsingfors. Helsingfors 4.10.1918. trotz des Kriegs erhielten die Petrograder werke jedoch weiterhin Lieferungen der deutschen Siemens-Gesellschaften, die über Stockholm abgewickelt wurden. SAA 11 Lg 735, Fritz Jessen: Mitteilung an Henrich über Geschäfte während des weltkriegs. Siemensstadt 3.6.1918. SAA 68 Li 141, Ernst Bätge: Ein Bild der Verhältnisse in den russischen Elektrotechnischen
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während des Kriegs bei der Stockholmer Siemens-Niederlassung tätig war, berichtete im November 1915 anlässlich eines Aufenthalts in Berlin an Görz: „Herr Krasin versichert, dass zu irgendwelcher Beunruhigung keine Veranlassung vorliegt. Die Geschäfte gehen glänzend.“8 Die Strategie von Siemens, durch eine enge Zusammenarbeit mit regierungsstellen ein günstiges Geschäftsklima zu schaffen, bewährte sich bis 1916. Allerdings hatten rEw S&H und rSSw dabei empfindliche Einschränkungen ihrer Eigenständigkeit hinnehmen müssen. Sämtliche finanzielle Ausgaben der Unternehmen mussten seit 1915 durch die staatlichen Inspektoren bestätigt werden, die außerdem an den Sitzungen des Verwaltungsrats teilnahmen und Zugang zu den Sitzungsprotokollen hatten. Im Jahr 1916 wurde darüber hinaus eine außerordentliche Verwaltung eingesetzt, die durch Vertreter des Staates weitgehend kontrolliert wurde. Die ersten beiden Kriegsjahre führten so zu erheblichen Beschränkungen der russischen Siemens-Gesellschaften.9 Siemens im revolutionsjahr 1917 Im rechenschaftsbericht von rSSw für das Geschäftsjahr 1916 wurde den Aktionären mitgeteilt, dass ein Beschluss des russischen Ministerrats vom Dezember 1916 die Auflösung von rSSw und rEw S&H vorsah.10 Aus den beiden Gesellschaften solle ein russisches Unternehmen Siemens mit einer staatlichen Beteiligung von bis zu 35 Prozent des Aktienkapitals gebildet werden. russischen Staatsangehörigen sowie Angehörigen der alliierten und neutralen Staaten würde die Gelegenheit gegeben, ihre Anteile in Aktien des neuen Unternehmens umzutauschen. Für deutsche Anteilseigner bestünde diese Möglichkeit nicht. Der Beschluss des Ministerrats galt auch für die anderen deutschen elektrotechnischen Unternehmen; beispielsweise wurde die russische AEG bis Anfang des Jahres 1917 aufgelöst. Der russische Staat übernahm zunächst circa 60 Prozent der AEG-Aktien, an den weiteren Anteilen beteiligte sich unter anderem General Electric.11 werken Siemens & Halske A.-G. während der Kriegs- und revolutionsjahre 1914–1918. Berlin Dezember 1918, S. 12. 8 SAA 4315, Hermann Görz: Bericht Boris Stomonjakovs über Personalien. Siemensstadt 20.11.1915, S. 1. In unternehmensinternen Quellen und zum teil auch in der Forschungsliteratur findet sich die Schreibweise „Krassin“. Der besseren Lesbarkeit wegen wird im Folgenden auch in Zitaten der Name als „Krasin“ wiedergegeben und auf eine besondere Kennzeichnung verzichtet. 9 Die wichtigsten Quellen hierzu sind der umfangreiche Bericht von Krasin an Görz aus dem Jahr 1918 (SAA 4 Lk 162, Hermann Görz: Bericht diktiert von L. B. Krasin in Stockholm am 25.2.1918. Stockholm 4.3.1918, S. 5f.) sowie die Erinnerungen von Alfred Schwartz aus dem Jahr 1938: SAA 68 Li 141, Alfred A. Schwartz: Bericht über rEw S&H und rSSw. Berlin 1938. Zur Forschung über die russische wirtschafts- und rüstungspolitik während des Erstens weltkriegs vgl.: Coopersmith: the Electrification of russia (1992), S. 100ff. 10 SAA 15 Ld 157, rSSw: rechenschaftsbericht vom 1. Januar bis 31. Dezember 1916. Petrograd 24.4.1917, S. 1. 11 SAA 4 Lk 162, Hermann Görz: Bericht diktiert von L. B. Krasin in Stockholm am 25.2.1918.
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teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels
welche Konsequenzen ergaben sich aus dieser geplanten Umstrukturierung der russischen Siemens-Gesellschaften? Der Beschluss des Ministerrats war auf den ersten Blick gleichbedeutend mit einer faktischen Enteignung der deutschen Muttergesellschaften, da deutschen Staatsangehörigen der Erwerb von Aktien an der neuen russischen Gesellschaft Siemens untersagt wurde. Aus späteren Berichten über das Unternehmensgeschäft während des Ersten weltkriegs geht jedoch hervor, dass Siemens rechtzeitig Vorkehrungen für den Fall einer Enteignung deutscher Unternehmen in russland getroffen hatte. Demnach übernahmen bei Ausbruch des Ersten weltkriegs die beiden töchter Carl von Siemens‘, die Baroninnen Charlotte von Buxhoeveden und Marie von Graevenitz, die beide russische Staatsangehörige waren, einen Großteil der Aktien von rEw S&H sowie einen teil der rSSw-Aktien.12 Die deutschen Siemens-Stammgesellschaften hielten danach nur noch einen sehr geringen Anteil: „Diese Verteilung hatte den Zweck, die Firma als russisches Unternehmen erscheinen zu lassen, um damit einem Zugriff des russischen Staates während des weltkrieges zu entgehen.“13 Eine Auflösung von rSSw und rEw S&H hätte somit keine unmittelbaren Folgen für die Eigentumsstruktur der russischen Siemens-Unternehmen gehabt. Der Beschluss des Ministerrats vom Dezember 1916 konnte für Siemens jedoch nicht umgesetzt werden, da sich für die Aktien der neuen Gesellschaft nicht genügend Käufer fanden.14 Allerdings übernahm am 29. Januar 1917 eine staatliche Verwaltungskommission die Geschäftsführung von rSSw und rEw S&H.15 Die Anteilseigner verfügten somit nur noch über einen geringen Einfluss auf das Unternehmen, als in Petrograd die Februarrevolution ausbrach. In den Berichten Krasins und Bätges finden sich detaillierte Beschreibungen darüber, wie sich das Arbeitsumfeld für rSSw und rEw S&H nach der Februarrevolution durch die Gründung von Arbeiterräten, Lohnsteigerungen und verkürzte Arbeitszeiten stark verschlechterte. Als Folge sank die Produktion bei Siemens stark ab, laut Bätge bei rEw S&H zunächst um mehr als 50 Prozent. Zu Zerstörungen kam es in den Siemens-Betrieben allerdings nicht.16 Einen guten Überblick über die Lage der Geschäftsführung in russland bietet auch der Brief des Ingenieurs Adolf Hoffmann an den kaufmännischen Leiter der Stockholm 4.3.1918, S. 8. 12 SAA 68 Li 141, Alfred A. Schwartz: Bericht über rEw S&H und rSSw. Berlin 1938, S. 31. Vgl. auch: Kirchner: Die deutsche Industrie und die Industrialisierung russlands (1986), S. 88. 13 SAA 50 Ls 238, Peter von Buxhoeveden: Mitteilung an Fritz Jessen, in Anlage Aufzeichnung über den Siemens-Besitz in russland vor dem weltkrieg. Siemensstadt 26.7.1941, S. 2. 14 SAA 68 Li 141, Ernst Bätge: Ein Bild der Verhältnisse in den russischen Elektrotechnischen werken Siemens & Halske A.-G. während der Kriegs- und revolutionsjahre 1914–1918. Berlin Dezember 1918, S. 4. 15 SAA 50 Ls 238, rEw S&H: Übersetzung eines Berichts der Verwaltungsratssitzung. Petrograd 24.4.1917, S. 3; SAA 15 Ld 157, rSSw: rechenschaftsbericht vom 1. Januar bis 31. Dezember 1916. Petrograd 24.4.1917, S. 3. 16 SAA 68 Li 141, Ernst Bätge: Ein Bild der Verhältnisse in den russischen Elektrotechnischen werken Siemens & Halske A.-G. während der Kriegs- und revolutionsjahre 1914–1918. Berlin Dezember 1918, S. 4.
Prolog: Die institutionelle Krise beginnt
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Berliner Abteilung otto von Have im Juni 1917.17 Hoffmann, der von der SiemensNiederlassung in Stockholm aus den Kontakt zur Geschäftsleitung in Petrograd aufrecht hielt, gibt darin eine präzise Momentaufnahme der Unternehmensentwicklung zwischen den revolutionen. wie auch Krasin und Bätge berichtet Hoffmann von einem starken rückgang der Produktion. Krasin sei zwar formal noch Leiter der Geschäftsführung von rSSw, die staatlichen Pläne zur Umwandlung der Siemens-Gesellschaften wären jedoch nicht aufgegeben worden. Eine Prognose über die künftige gesellschaftspolitische Entwicklung in russland wagte Hoffmann nicht. Vielmehr könne man sich anhand seines Berichts „leicht die Unsicherheit der Lage“18 vorstellen. Der zunehmende Einfluss der Arbeiterschaft wurde von Hoffmann beklagt, aber nicht als existentielle Bedrohung eingestuft. Als weitaus gefährlicher sah er die unsicheren Zukunftsperspektiven bezüglich der Verfügungsrechte an dem Unternehmen an. Der noch unter zaristischer regierung ausgearbeitete Plan einer Umwandlung von S&H und SSw in ein russisches Unternehmen Siemens wurde auch nach der Februarrevolution weiter verfolgt. Hoffmann teilte in dem Brief mit, dass die Großaktionäre von Buxhoeveden und von Graevenitz mittlerweile als deutsche Aktionäre behandelt werden würden. Damit behielt sich der Staat das recht vor, diesen teil der Siemens-Aktien als deutsches Eigentum zu konfiszieren. Die institutionelle Krise im russlandgeschäft Der institutionelle wandel von Siemens im russlandgeschäft, der 1914 schrittweise eingesetzt hatte, intensivierte sich im revolutionsjahr 1917 dramatisch. Bisher gültige regeln der gesellschaftlichen ordnung verloren in diesem fundamentalen transformationsprozess ihre Verbindlichkeit und hinterließen ein institutionelles Vakuum, das traditionelle wirtschaftliche Handlungsmuster grundsätzlich infrage stellte. Aus der Perspektive von Siemens befand sich das russlandgeschäft damit in einer fundamentalen Krise. Im Sommer 1918, im Zuge der deutsch-sowjetischen Verhandlungen um verstaatlichtes deutsches Eigentum in Sowjetrussland, zog der spätere Aufsichtsratsvorsitzende Carl Friedrich von Siemens deshalb folgendes Fazit: „Die seit 1917 in russland eingetretenen Umwälzungen und die aus ihnen für alle industriellen Unternehmungen sich ergebenden Verhältnisse scheinen es uns z. Z. unmöglich zu machen, auf Grund des Artikels 13 des deutsch-russischen Zusatzvertrages [von Brest-Litovsk] eine wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu erstreben. [Dieser Entschluss fällt uns schwer], da wir damit die Ergebnisse und die Aussichten einer mehr als 60-jährigen zielbewussten und auch für das deutsche wirtschaftsleben nützlichen tätigkeit in russland endgültig aufgeben.“19 17 Hoffmann war vermutlich für rSSw tätig, seine genaue Position im Unternehmen geht aus dem Brief jedoch nicht hervor. SAA 6361, Adolf Hoffmann: Brief an otto von Have. Stockholm 14.6.1917. 18 SAA 6361, Adolf Hoffmann: Brief an otto von Have. Stockholm 14.6.1917, S. 2. 19 SAA 4 Lk 162, Carl Friedrich von Siemens: Brief an das Auswärtige Amt betr. Entschädigungsansprüchen. Siemensstadt 14.6.1918, S. 2.
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Carl Friedrich von Siemens‘ Schlussfolgerung war jedoch voreilig. Siemens gab den sowjetrussischen Markt nicht auf. Das Unternehmen wurde vielmehr nach der oktoberrevolution teil eines institutionellen wandlungsprozesses, der zur Aufnahme von Kommunikationsbeziehungen mit den Bol‘ševiki und zur Etablierung eines neuen Handlungsrahmens wirtschaftlicher Interaktion führte. 1 ZEItrAUM 1917–1921: DIE FUNDAMENtALE KrISE Die deutsch-russisch/sowjetischen Beziehungen der Jahre 1917 bis 1921 waren durch mehrere einschneidende Brüche geprägt, wie die beiden russischen revolutionen von 1917, den Vertrag von Brest-Litovsk im März 1918, den Abbruch deutsch-sowjetischer Beziehungen im November 1918 und den Aufbau neuer bilateraler Beziehungen seit 1920. Aus der Sicht von Siemens verband jedoch ein gemeinsames Element diesen Zeitraum: die fundamentale Unsicherheit über die künftige Entwicklung des Sowjetgeschäfts. 1.1 Historischer Überblick: Von Brest-Litovsk in die Nachkriegszeit Bürgerkrieg in Russland und die Anfänge sowjetischer Staatlichkeit Nachdem am 25. oktober beziehungsweise 7. November 1917 im Handstreich die regierung Kerenskij aus Petrograd vertrieben worden war, begannen die Bol‘ševiki erste institutionelle Grundlagen sowjetischer Staatlichkeit zu legen und ihre Macht von der Hauptstadt aus auf ganz russland auszudehnen.20 Am 8. November 1917 20 Für einen Überblick über die revolution vgl. zuletzt die von Haumann herausgegebene Einführung: Heiko Haumann (Hg.): Die russische revolution 1917. Köln, weimar, wien 2007; sowie: Helmut Altrichter: Staat und revolution in Sowjetrussland 1917–1922/23 (Erträge der Forschung 148). 2. erweiterte Auflage. Darmstadt 1996. Erstmals veröffentlicht 1981. Als Bol‘ševiki werden im Folgenden die Mitglieder der Kommunistischen Partei russlands bezeichnet (1903–1918 Rossijskaja Social-Demokratičeskaja Rabočaja Partija/bol‘ševikov, russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei/der Bol‘ševiki, kurz rSDrP/b; 1918–1925 Rossijskaja Kommunističeskaja Partija/bol‘ševikov, russische Kommunistische Partei/der Bol‘ševiki, kurz: rKP/b; 1925–1952 Vsesojuznaja Kommunističeskja Partija/bol‘ševikov, Kommunistische Allunionspartei/der Bol‘ševiki, kurz: VKP/b; seit 1952 Kommunističeskja Partija Sovetskogo Sojuza, Kommunistische Partei der Sowjetunion, kurz: KPSS, auf deutsch: KPdSU). Die Entwicklung staatlicher Strukturen in der Sowjetunion war im gesamten Untersuchungszeitraum von einer hohen Dynamik gekennzeichnet. Im Folgenden werden einige der wesentlichen politischen und wirtschaftlichen organisationen kurz vorgestellt, jedoch nicht ausführlich behandelt. Nur auf die im Außenhandel tätigen organisationen wird näher eingegangen. Für eine umfassende Beschreibung der Staats- und Parteiorganisation in der Sowjetunion vgl.: Manfred Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion 1917–1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates. München 1998. Für die ersten Jahre bis zum tod Lenins besonders: thomas H. rugby: Lenin‘s Government: Sovnarkom 1917–1922. Cambridge 1979; walter Pietsch: revolution und Staat. Institutionen als träger der Macht in Sowjetrußland
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wurde der rat der Volkskommissare (Sovet Narodnych Komissarov, SNK) als exekutives regierungsorgan eingerichtet und drei Monate später die russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik (Rossijskaja Sovetskaja Federativnaja Socialističeskaja Respublika, rSFSr) ausgerufen. Die zentralen Botschaften der Bol‘ševiki an das Volk hießen Umverteilung und Frieden. In der Sitzung des 2. Allrussischen Sowjetkongresses am 8. November 1917 stellte Lenin das Friedensdekret vor, das ein sofortiges Ende des Ersten weltkriegs und einen Frieden auf Basis des Selbstbestimmungsrechts der Völker forderte. In derselben Sitzung wurde durch das Landdekret privates Grundeigentum aufgehoben und die Arbeiterkontrolle in den industriellen Betrieben etabliert. Angesichts der unsicheren machtpolitischen Lage im revolutionären russland erwies sich jedoch eine unmittelbare Umsetzung dieser Dekrete als nicht durchführbar. Im Frühjahr 1918 formierte sich der erste militärische widerstand gegen die Bol‘ševiki.21 Die verschiedenen Gruppen der so genannten weißen Armee wurden dabei von den westalliierten unterstützt, die seit März 1918 eigene truppen nach russland entsandten und gegen Sowjetrussland ein Handelsembargo verhängten.22 Gleichzeitig besetzen japanische truppen Vladivostok. trotz der schwierigen militärischen Lage verteidigten die Bol‘ševiki ihre Stellungen um Petrograd und in Zentralrussland und verbuchten Ende des Jahres 1918 sogar größere Gewinne. Nach dem Einmarsch der roten Armee wurden Anfang 1919 die weißrussische und die Ukrainische Volksrepublik ausgerufen. Im Sommer 1919 führte der weiße General N. N. Judenič vom Baltikum aus eine offensive gegen Petrograd, die nur unter äußersten Kraftanstrengungen zurückgeworfen wurde. Nach dem Scheitern dieser offensive gewann die rote Armee allmählich die militärische oberhand und drängte die weißen Armeen im Süden russlands immer weiter zurück. In der letzten Phase des Kriegs im Frühsommer 1920 führte eine polnische offensive in der Ukraine zum sowjetisch-polnischen Krieg, der im oktober mit einem waffenstillstand endete. Bis Ende des Jahres 1920 hatte die rote Armee ihren Machtbereich über große teile des alten russlands ausgedehnt. Nur die baltischen Staaten, Finnland und Polen verteidigten ihre Unabhängigkeit. Der Sieg der Bol‘ševiki wurde von einer roten Armee erkämpft, die von 100.000 Soldaten im April 1918 auf fünf Millionen im Jahr 1920 anwuchs. Eine zentrale Grundlage der militärischen Erfolge war die schnelle Errichtung staatlicher Entscheidungs- und Steuerungsstrukturen. Mit dem sechsköpfigen rat für Arbeiter- und Bauernverteidigung (Sovet Rabočej i Krest‘janskoj Oborony, kurz: Sovet Oborony; 1920 in rat für Arbeit und Verteidigung umbenannt, Sovet Truda i Oborony, Sto) wurde ein zentrales Entscheidungsorgan etabliert, das die verfügbaren ressourcen in der Versorgungsdiktatur des so genannten „Kriegskommunis1917–1922 (Abhandlungen des Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und Internationale Studien 20). Köln 1969. 21 Zur Literatur über den Bürgerkrieg exemplarisch: Bruce w. Lincoln: red Victory. A History of the russian Civil war. New York 1989; Evan Mawdsley: the russian Civil war. Boston 1987. 22 Norbert H. Gaworek: Allied Economic warfare Against Soviet russia From November 1917 to March 1921. Madison 1970.
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mus“ weitgehend militärischen Zwecken unterordnete.23 Im Dezember 1917 nahm der oberste Volkswirtschaftsrat (Vysšij Sovet Narodnogo Chozjajstva, VSNCh) als formal höchstes organ der wirtschaftsplanung seine Arbeit auf. Am 28. Juni 1918 verfügte das Nationalisierungsdekret die Enteignung aller industriellen Großunternehmen, die zwei Jahre später im November 1920 auch auf Kleinbetriebe ausgeweitet wurde. Die nationalisierte Industrie wurde innerhalb des VSNCh in Zentralund Hauptverwaltungen (kurz: centry und glavki) eingeteilt und nach Branchen getrennt zusammengefasst. Der im Entstehen begriffene bürokratische Apparat konnte allerdings nicht annähernd die gewaltige Aufgabe der wirtschaftsplanung bewältigen.24 Vielfach blieben die früheren Eigentümer weiter in den Führungspositionen ihrer nationalisierten Unternehmen und wurden lediglich auf Loyalität und rechenschaft gegenüber dem sowjetischen Staat verpflichtet. Eine nachhaltige wirtschaftsentwicklung wurde während des Bürgerkriegs vernachlässigt, beziehungsweise konnte angesichts der prekären machtpolitischen Lage der Bol‘ševiki kaum angegangen werden. Vielmehr verstärkte sich der Niedergang von Industrie und Landwirtschaft durch die institutionellen wirtschaftsreformen wie die Verstaatlichung sowie durch Zwangsrequisitionen weiter und am Ende des Bürgerkriegs lagen Agrar- und Industrieproduktion am Boden.25 Außenpolitisches Kernziel der Bol‘ševiki war die sozialistische weltrevolution. Dabei bestand anfangs kein Konzept für die Aufnahme formaler Beziehungen mit kapitalistischen Staaten.26 Im Friedensdekret vom oktober 1917 schwang vielmehr die Hoffnung mit, dass sich die russische revolution bald internationalisieren würde. Angesichts der inneren Entwicklung im Bürgerkrieg und des Ausbleibens von revolutionen in anderen Ländern wurde jedoch bereits Ende des Jahres 1917 eine Anpassung der außenpolitischen Strategie an die machtpolitischen Gegebenheiten notwendig. Lenin warnte davor, alle Kräfte blind auf die Entfachung der weltrevolution zu konzentrieren. Er forderte vielmehr einen taktisch bedingten vorübergehenden „rückzug“ in der Außenpolitik und einen politischen Ausgleich mit Deutschland, der die notwendige „Atempause“ zur Sicherung des eigenen Machtbereichs gewährleisten sollte. Das außenpolitische „Paktieren“ und „Lavieren“ mit 23 Silvana Malle: the Economic organization of war Communism, 1918–1921. Cambridge 1985. Aus der neueren russischen Forschung: L. V. Borisova: Voennyj Kommunism: Nasilie kak Ėlement chozjajstvennogo Mechanizma (Naučnye Doklady 126). Moskau 2001. Zum Begriff Kriegskommunismus vgl. auch: Altrichter: Staat und revolution (1996), S. 94f. 24 Pietsch: revolution und Staat (1969), S. 104. Zu den sowjetischen wirtschaftsorganisationen ebenfalls: Hans raupach: Das Planungssystem, in: werner Markert (Hg.): osteuropa-Handbuch Sowjetunion. Das wirtschaftssystem. Köln 1965, S. 140–157. 25 Die Industrieproduktion des Jahres 1921 kann trotz statistischer Probleme auf maximal 1/3 des wertes von 1913 geschätzt werden. Die Getreideernte sank auf weniger als 50 Prozent des Vorkriegswertes ab und führte 1921 zu einer schweren Hungersnot mit mehreren Millionen toten. Die Angaben beziehen sich hier auf: Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion (1998), S. 253, 1173. 26 Zur frühen sowjetischen Außenpolitik vgl. die Beiträge in: Ludmila thomas/Viktor Knoll (Hg.): Zwischen tradition und revolution. Determinanten und Strukturen sowjetischer Aussenpolitik 1917–1941. Stuttgart 2000.
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dem ideologischen Gegner sowie die Ausnutzung der Gegensätze zwischen Deutschland und den westalliierten wurden damit eine wichtige Grundlage der sowjetischen Machtpolitik.27 Auf diese weise näherten sich die Bol‘ševiki immer stärker einer nationalstaatlichen Außenpolitik an, die doch überwunden werden sollte. Im Februar 1920 teilte Lenin schließlich dem Zentralen Exekutivkomitee des Allrussischen rätekongresses (Vserossijskij Central‘nyj Ispolnitel‘nyj Komitet, VCIK) mit, dass Sowjetrussland endgültig „in der Sphäre der weltweiten zwischenstaatlichen Beziehungen“28 angekommen sei. ohne das ideologische Fernziel der weltrevolution ganz aufzugeben, stand der Aufbau einer „friedlichen Koexistenz“ mit den kapitalistischen Mächten nun im Vordergrund sowjetischer Außenpolitik.29 Parallel zur Außenpolitik entwickelten die Bol‘ševiki erste Ansätze für die Aufnahme außenwirtschaftlicher Beziehungen, für die zunächst das Volkskommissariat für Handel und Industrie zuständig war (Narodnyj Komissariat Torgovli i Promyšlennosti, NKtiP).30 Am 22. April 1918 wurde der gesamte Außenhandel Sowjetrusslands monopolisiert und der Kontrolle des NKtiP untergeordnet. Die Leitung des Kommissariats übernahm im November 1918 L. B. Krasin, während des Bürgerkriegs konnten sich jedoch formale Außenhandelsbeziehungen kaum entwickeln. Erst im Februar 1920 durchbrach ein Handelsabkommen mit Estland erstmals das alliierte Handelsembargo und schuf ein Muster für bald folgende Ver27 Dazu ausführlich: walter Grottian: Lenins Anleitung zum Handeln: theorie und Praxis sowjetischer Außenpolitik. Köln, opladen 1963, S. 106, 217ff. Nach Lenin sind im Klassenkampf zwar taktische „rückzüge“ erlaubt, auf der Ebene strategischer Ziele forderte er jedoch eine strikte Kompromisslosigkeit. Peter Sager: Die theoretischen Grundlagen des Stalinismus und ihre Auswirkungen auf die wirtschaftspolitik der Sowjetunion. Bern 1953, S. 39ff. Zur theorie und Praxis der sowjetischen Außenpolitik vgl. außerdem: teddy J. Uldricks: Diplomacy and Ideology. the origins of Soviet Foreign relations 1917–1930. London 1979. 28 w. I. Lenin: Bericht über die Arbeit des Gesamtrussischen Zentralexekutiv-Komitees und des rats der Volkskommissare auf der ersten tagung des Gesamtrussischen ZEK der VII. wahlperiode, 2. Februar 1920, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim Zentralkomitee der SED (Hg.): Lenin – werke. September 1919 – April 1920 (Lenin – werke 30). 5. Auflage. Berlin (ost) 1974, S. 305–327, hier 307. Das Zentrale Exekutivkomitee des Allrussischen rätekongresses (ZEK) war formal die höchste Gewalt im sowjetischen Staat, die auch den rat der Volkskommissare stellte und kontrollierte. Das ZEK stand jedoch bereits während des Bürgerkriegs in großer Konkurrenz zum Apparat der kommunistischen Partei. Unter ihrem Generalsekretär Stalin entwickelte sich das Politbüro als engeres Führungsgremium der Partei seit 1922 zur eigentlichen Machtzentrale der Sowjetunion. Pietsch: revolution und Staat (1969), S. 62ff. Zur Parteigeschichte allgemein siehe: Leonard Schapiro: the Communist Party of the Soviet Union. 2. erweiterte Auflage. London 1970. Erstmals veröffentlicht 1960. 29 Der Begriff wurde 1920 erstmalig vom sowjetischen Außenminister G. V. Čičerin verwendet. Günter rosenfeld: Zum Geleit. Die Problematik der sowjetischen Außenpolitik zwischen den beiden weltkriegen, in: Ludmila thomas/Viktor Knoll (Hg.): Zwischen tradition und revolution. Determinanten und Strukturen sowjetischer Aussenpolitik 1917–1941. Stuttgart 2000, S. 9–30, hier 12. Vgl. ebenfalls: Adam B. Ulam: Expansion and Coexistence: Soviet Foreign Policy, 1917–73. 2. Auflage. New York 1974. Erstmals veröffentlicht 1969, S. 76ff. 30 Zur Entwicklung sowjetischer Außenhandelsstrukturen vgl.: Heubaum: Das Volkskommissariat für Außenhandel (2001); Schneider: Das sowjetische Außenhandelsmonopol (1973); Freymuth: Ursprung und Grundlegung (1967).
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träge mit weiteren Ländern.31 Im Juni 1920 wurde das NKtiP in Volkskommissariat für Außenhandel (Narodnyj Komissariat Vnešnej Torgovli, NKVt) umbenannt, dessen Leitung wieder Krasin übernahm. Der Import von Investitionsgütern aus dem Ausland war angesichts des desolaten Zustands eine Notwendigkeit für den Aufbau der sowjetischen wirtschaft.32 Allerdings war der finanzielle Spielraum für Importe gering, da Sowjetrussland kaum für den Export produzieren konnte. Getreide und rohstoffe, die bis 1914 die russische Ausfuhr dominiert hatten, reichten in den Bürgerkriegswirren nicht dafür aus, den eigenen Bedarf zu decken. Einzig die russischen Goldreserven, die nun in den Händen der Bol‘ševiki lagen, konnten für den Einkauf von Investitionsgütern im Ausland verwendet werden. Krasin vertrat deshalb den Ansatz, den waren- und technologietransfer nach Sowjetrussland durch internationale Kredite und Konzessionsverträge mit ausländischen Unternehmen auszuweiten. Der Ursprung der sowjetischen Konzessionspolitik reicht bis zum Dezember 1917 zurück, als der neu gegründete oberste Volkswirtschaftsrat die Erteilung von wirtschaftskonzessionen an ausländische Unternehmen als grundsätzlich wünschenswert bezeichnete.33 Die Notwendigkeit zur Zusammenarbeit mit ausländischen Unternehmen, die hinter der Konzessionspolitik stand, zeigte sich während des Jahres 1918 immer deutlicher. russland war bereits vor dem Ersten weltkrieg auf den Import von Hochtechnologie und Investitionsgütern angewiesen und vor allem technologieintensive Branchen wie die Elektroindustrie lagen überwiegend in den Händen ausländischer Unternehmen. Diese Importabhängigkeit verstärkte sich zusätzlich durch die Zerstörungen während des Bürgerkriegs. Die Bol‘ševiki standen vor dem Dilemma, einerseits die Hilfe der Unternehmen für den schnellen Aufbau der Industrie zu benötigen. Andererseits sollte eine rückkehr des Kapitalismus in die wirtschaft Sowjetrusslands verhindert werden. Konzessionen zur Bewirtschaftung sowjetischer Fabriken oder im rohstoffsektor boten einen weg, ausländische Investitionen anzuziehen, ohne dadurch das staatliche wirtschaftsmonopol aufzugeben. Vor allem Krasin wurde in den folgenden Jahren zum großen Befürworter einer Konzessionspolitik gegenüber ausländischen Unternehmen.
31 Knorre: Der Ausbau des Außenhandelsmonopols (1965), S. 466. 32 Beitel/Nötzold: Deutsch-sowjetische wirtschaftsbeziehungen (1979), S. 45; Sutton: western technology and Soviet Economic Development 1917–1930 (1968), S. 4. 33 Unter Konzessionen wurde die begrenzte Erlaubnis an ausländische Unternehmen verstanden, auf dem Gebiet der Sowjetunion wirtschaftlich tätig zu werden. Darunter fielen zum Beispiel Konzessionen zum Abbau von rohstoffen, zur Agrarwirtschaft oder zum Aufbau von Fabriken. Sutton: western technology and Soviet Economic Development 1917–1930 (1968), S. 6. Zur sowjetischen Konzessionspolitik vgl. exemplarisch: Beitel/Nötzold: technologietransfer und wirtschaftliche Entwicklung (1979), S. 28ff., 67ff.; sowie den zeitgenössischen Überblick in: Goldstein/rapoport: Das Sowjet-wirtschaftsrecht im Geschäftsverkehr (1931), S. 39ff. Siehe ausführlich Kapitel 1.5.
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Die deutsche Kriegs- und Nachkriegspolitik Ein Sonderfrieden mit russland, der seit Kriegsbeginn 1914 immer wieder von der deutschen Führung diskutiert wurde, schien nach der oktoberrevolution in greifbarer Nähe zu sein.34 Gesellschaftspolitische Botschaften der Bol‘ševiki wie die Umverteilung des Grundeigentums erreichten bald die Frontsoldaten und führten zu Auflösungsprozessen in der russischen Armee. Die deutschen truppen nutzten die revolutionswirren aus und erzielten an der ostfront schnell Erfolge. Dennoch strebte die deutsche Führung eine vertragliche Absicherung ihrer Interessen in osteuropa an, um im Jahr 1918 die militärische Entscheidung an der westfront zu suchen. Ein Frieden mit den Bol‘ševiki sollte die Verlagerung von truppen an die westfront sowie die Versorgung Deutschlands mit dringend benötigten rohstoffen und Nahrungsmitteln gewährleisten. trotz der militärischen Überlegenheit stand das reich daher unter dem Druck, möglichst schnell Verhandlungen mit der sowjetischen Führung über den Abschluss eines waffenstillstands aufzunehmen. Im Dezember 1917 begannen in der Kleinstadt Brest-Litovsk die diesbezüglichen Verhandlungen. Von Seiten der obersten Heeresleitung (oHL) wurden darin allerdings weitgehende expansionistische Ziele ausgegeben, die auf eine territoriale Schwächung russlands unter anderem durch die Abspaltung der Ukraine hinausliefen. Damit geriet die oHL in schwere Konflikte besonders mit dem Auswärtigen Amt, das eine eher gemäßigte Linie vertrat und auf einen gewissen Ausgleich mit den Bol‘ševiki bedacht war.35 In wirtschaftlicher Hinsicht riefen die deutschen Erfolge an der ostfront große Begehrlichkeiten vor allem von Seiten der Schwerindustrie hervor. Im so genannten Stahlhof-treffen am 16. Mai 1918 in Düsseldorf formulierten Vertreter der Schwerindustrie ihr Programm für die Kriegszielpolitik in osteuropa, das sich weitgehend mit den expansiven territorialen Forderungen der oHL deckte. Gegen dieses Übergewicht schwerindustrieller Interessen sammelte sich wenig später im Zentralverband der Deutschen Elektrotechnischen Industrie (ZVEI) der widerstand der Elektrounternehmen, die eine eher dem Auswärtigen Amt entsprechende Kriegszielpolitik befürworteten. Guenter Holzer zufolge wurden Siemens und AEG so direkt in die Auseinandersetzung um die wirtschaftspolitische Kriegszielpolitik des Jahres 1918 eingebunden: „In June [1918] the German government considered two plans with regard to its economic policies in the east; one originated at the ‘Stahlhof’, the other at ‘Siemensstadt’; one recommended force, the other friendly co-operation.“36
Alle deutschen Kriegszielpläne wurden jedoch durch den waffenstillstand mit den westalliierten am 9. November 1918 obsolet.
34 Vgl. ausführlich: winfried Baumgart: Deutsche ostpolitik 1918. Von Brest-Litowsk bis zum Ende des Ersten weltkrieges. München 1966. 35 Baumgart: Deutsche ostpolitik 1918 (1966), S. 19. 36 Guenter Holzer: the German Electrical Industry in russia: From Economic Entrepreneurship to Political Activism 1890–1918. Lincoln 1970, S. 215.
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während des russischen Bürgerkriegs war die deutsche Außenpolitik gegenüber Sowjetrussland durch tiefe widersprüche geprägt und ließ eine klare Linie vermissen. Nach dem waffenstillstand mit den Alliierten führte die reichsregierung zunächst eine auf Ausgleich ausgerichtete Politik. Sie sollte auf einer gemeinsamen antikommunistischen Haltung basieren und ein starkes Deutschland als Verteidiger gegen die sowjetische Expansion nach westen etablieren. Parallel dazu verfolgte das Auswärtige Amt aber eine Doppelstrategie. Sie ließ eine Kooperation mit Sowjetrussland gegen den westen grundsätzlich offen und gedachte diese als Druckmittel in den Pariser Friedensverhandlungen zu instrumentalisieren: Gewährten die Alliierten Deutschland einen erträglichen Frieden, bot sich das reich als Partner gegen den Bolschewismus an. Andernfalls zeigte sich selbst Ulrich von Brockdorff-rantzau, bis Juni 1919 erster Außenminister der republik und ein entschiedener Antikommunist, durchaus offen für eine strategische Allianz mit den Bol‘ševiki gegen den westen.37 Im Ergebnis erwies sich die deutsche Außenpolitik für alle potentiellen Partner als „unberechenbar und unzuverlässig“38 und nicht geeignet, die Friedensverhandlungen nachhaltig zu beeinflussen. Vielmehr zeigte sich nach Abschluss des Versailler Vertrags klar die Undurchführbarkeit einer deutsch-sowjetischen Allianz gegen den westen im Sinne Brockdorff-rantzaus. In ihrer militärischen, politischen und wirtschaftlichen ohnmacht waren beide Länder nicht in der Lage, ein Gegengewicht zu den Versailler Vertragspartnern zu bilden. Doch trotz dieser Fehlkalkulation etablierte sich das Lavieren zwischen ost und west als eine taktik, die die deutsche Außenpolitik während der gesamten Zeit der weimarer republik stark beeinflusste.39 Nach dem Ende des sowjetisch-polnischen Kriegs im Herbst 1920 ging das Auswärtige Amt von einer weitgehenden machtpolitischen Stabilisierung der Bol‘ševiki aus und bereitete auf Basis dieser Annahme eine diplomatische Annäherung an das sowjetische russland vor. Im Zuge einer breiten Strukturreform im Auswärtigen Amt wurden 1920 die Sowjetrussland betreffenden Aufgaben im russischen referat (von Sütterlin auch als russische Abteilung bezeichnet) zusammengefasst. Dessen Mitarbeiter fühlten sich größtenteils dazu verpflichtet, „durch Anlehnung an die potentielle Großmacht rußland einen Beitrag zur revision der Versailler Bestimmungen zu leisten“40. Die Arbeit und der politische Einfluss der 37 Zu Brockdorff-rantzaus russland-Politik im Jahr 1919 vgl.: Christiane Scheidemann: Ulrich Graf Brockdorff-rantzau (1869–1928). Eine politische Biographie. Frankfurt am Main, New York 1998, S. 387ff. 38 So das Urteil von: Krüger: Die Außenpolitik der republik von weimar (1985), S. 53. 39 Selbst der spätere Außenminister Gustav Stresemann, der eine westanbindung des reichs eindeutig befürwortete, bewahrte den instrumentalen Charakter der deutsch-sowjetischen Beziehungen. walsdorff: westorientierung und ostpolitik (1971). 40 Sütterlin: Die „russische Abteilung“ des Auswärtigen Amtes (1994), S. 16. Anstelle von russischem referat verwendet Sütterlin auch die Bezeichnung „russische Abteilung“ für alle Stellen im Auswärtigen Amt, die in die deutsch-sowjetischen Beziehungen involviert waren. Zur Strukturreform im Auswärtigen Amt siehe ausführlich: Kurt Doß: Das deutsche Auswärtige Amt im Übergang vom Kaiserreich zur weimarer republik. Die Schülersche reform. 2. Auflage. Düsseldorf 1977.
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russischen Abteilung wurden in den Anfangsjahren im wesentlichen durch ihren Leiter Ago von Maltzan sowie durch den wirtschaftlicher Sonderberater Moritz Schlesinger geprägt. Auch Brockdorff-rantzau, seit 1922 Botschafter in Moskau, setzte sich engagiert für den Ausbau der deutsch-sowjetischen „Schicksalsgemeinschaft“41 ein. Ähnlich wie im Auswärtigen Amt bestand auch im reichswirtschaftsministerium eine Abteilung für die Handelsbeziehungen mit Sowjetrussland, die sich jedoch den politischen Vorgaben des Auswärtigen Amts weitgehend unterordnete.42 Als zweiter wichtiger Akteur in den deutsch-sowjetischen Beziehungen etablierte sich vielmehr seit 1919 die reichswehr. Hans von Seeckt, von 1920 bis 1926 Chef der Heeresleitung, setzte große Hoffnung darauf, durch eine deutsch-sowjetische Zusammenarbeit die revisionspolitik auch militärpolitisch offensiv zu gestalten. Die Zusammenarbeit zwischen reichswehr und roter Armee, die nach 1920 schrittweise aufgenommen wurde, ging maßgeblich auf das Engagement von Seeckts zurück.43 Von wirtschaftlicher Seite war die wiederaufnahme deutsch-sowjetischer Beziehungen zum teil mit großen Erwartungen verbunden. Unter den Unternehmern, die sich besonders für das Sowjetgeschäft interessierten, sind aus der Schwerindustrie Hugo Stinnes und otto wolff hervorzuheben; aus der Elektroindustrie sind es walther rathenau und Felix Deutsch von AEG, die seit 1919 in regelmäßigem Austausch mit dem sowjetischen Abgesandten Karl radek in Berlin standen.44 Siemens wird in der Forschung häufig in einem Atemzug mit AEG erwähnt, obwohl, wie zu zeigen ist, sich die Strategien beider Unternehmen zum teil deutlich unterschieden. Die Anfänge der deutsch-sowjetischen Beziehungen Die deutsch-sowjetischen Verhandlungen in Brest-Litovsk begannen Ende des Jahres 1917 und gestalteten sich auch aufgrund interner Uneinigkeit in beiden Delega-
41 Schieder: Die Probleme des rapallo-Vertrags (1956), S. 56. 42 Sütterlin: Die „russische Abteilung“ des Auswärtigen Amtes (1994), S. 14. 43 Zur Kooperation zwischen reichswehr und roter Armee siehe: Manfred Zeidler: reichswehr und rote Armee 1920–1933. wege und Stationen einer ungewöhnlichen Zusammenarbeit (Beiträge zur Militärgeschichte 36). 2. Auflage. München 1994. Erstmals veröffentlicht 1993. Zu von Seeckt: Friedrich von rabenau: Seeckt. Aus seinem Leben 1918–1936. Leipzig 1941. 44 Zur Strategie rathenaus und Deutschs im Sowjetgeschäft vgl.: Haumann: Beginn der Planwirtschaft (1974), S. 136ff.; sowie: Christian Schölzel: walther rathenau. Eine Biographie. Paderborn 2006, S. 232ff. Zu Hugo Stinnes: Gerald D. Feldman: Hugo Stinnes. Biographie eines Industriellen; 1870–1924. München 1998, S. 584ff. Zu otto wolff: Dietmar Dahlmann: Das Unternehmen otto wolff: Vom Alteisenhandel zum weltkonzern (1904–1929), in: Peter Danylow/Soénius, Ulrich S. (Hg.): otto wolff. Ein Unternehmen zwischen wirtschaft und Politik. München 2005, S. 13–97, hier 43ff. Einen guten Überblick über die frühe deutsche Außenwirtschaftspolitik gegenüber Sowjetrussland bietet: robert Himmer: Harmonicas for Lenin? the Development of German Economic Policy toward Soviet russia, December 1918 to June 1919, in: the Journal of Modern History 49 (1977), 2, S. 1221–1247.
100 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels tionen als äußerst schwierig.45 Auf sowjetischer Seite forderte Lenin einen Frieden um jeden Preis, L. D. trockij hingegen war nicht bereit, Deutschland allzu umfangreiche territoriale Zugeständnisse zu machen. Von Seiten Deutschlands bestand zwar Einigkeit darin, die militärische Schwäche der Bol‘ševiki so weit wie möglich auszunutzen. Es standen sich jedoch die weit reichenden Annexionspläne der oHL, vertreten durch General Max Hoffmann, und die Position des Verhandlungsleiters richard von Kühlmann, Staatsekretär des Auswärtigen Amts, gegenüber, der sich gegen exzessive territoriale Forderungen aussprach. Im Ergebnis setzte sich die Expansionsstrategie der oHL weitgehend durch. Im Vertrag von Brest-Litovsk, der am 3. März 1918 abgeschlossen wurde, musste die Sowjetregierung umfangreiche territoriale Verluste akzeptieren und mit der Unabhängigkeit der baltischen Länder, Polens und der Ukraine einige der wirtschaftlich wichtigsten Gebiete russlands verloren geben. Im am gleichen tag abgeschlossenen deutsch-sowjetischen Zusatzvertrag von Brest-Litovsk verpflichteten sich die Bol‘ševiki überdies zu umfangreichen wirtschaftlichen Leistungen an das Deutsche reich.46 Lenin brachte die Bol‘ševiki nur gegen große widerstände unter Verweis auf die notwendige „Atempause“ zur Annahme der deutschen Bedingungen.47 Seit Anfang Juni 1918 wurden die deutsch-sowjetischen Gespräche über offene territoriale und wirtschaftliche Fragen in Berlin fortgesetzt.48 Die sowjetische Delegation unter Leitung von A. A. Joffe und Krasin verfolgte darin das Ziel, der expansionistischen Politik von oHL und Schwerindustrie entgegenzutreten und bot stattdessen eine wirtschaftliche Kooperation zum beiderseitigen Vorteil an. Krasin war hierfür aufgrund seiner Kontakte zu Siemens hervorragend geeignet und etablierte schnell ein ausgedehntes Kontaktnetzwerk mit Vertretern aus Politik, Militär und wirtschaft. Aus diesen Kontakten ergab sich auch der Abschluss eines umfangreichen Vertrags mit Hugo Stinnes zur Lieferung von Kohle nach Sowjetrussland.49 Die deutsch-sowjetischen Verhandlungen endeten am 27. August 1918 mit dem Abschluss des Ergänzungsvertrags zum Vertrag von Brest-Litovsk sowie den am 45 Baumgart: Deutsche ostpolitik 1918 (1966); werner Hahlweg: Der Diktatfrieden von BrestLitowsk 1918 und die bolschewistische weltrevolution (Schriften der Gesellschaft zur Förderung der westfälischen wilhelms-Universität zu Münster 44). Münster 1960. Vgl. auch die Quellensammlung: winfried Baumgart/Konrad repgen: Brest-Litovsk (Historische texte/ Neuzeit 6). Göttingen 1969. 46 Vgl. den Vertragstext mit Anlagen in: Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDr/ Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSr: Deutsch-sowjetische Beziehungen 1917–1918 (1967), S. 455ff. Darin wird das Abkommen vom 3.3.1918 als „Zusatzvertrag bezeichnet“, das spätere Abkommen vom 27.8.1918 hingegen als „Ergänzungsvertrag“. In der Literatur und auch in den Siemens-Quellen werden beide Bezeichnungen häufig vertauscht, im Folgenden jedoch die Bezeichnungen aus den Vertragstexten beibehalten. 47 Lenin verglich Brest-Litovsk mit dem von Napoleon oktroyierten tilsiter Frieden von 1807, der zwar Preußen kurzfristig erniedrigte, aber mittelfristig den nötigen Spielraum für eine innere Stabilisierung ließ und damit den machtpolitischen wiederaufstieg ermöglichte. Baumgart: Deutsche ostpolitik 1918 (1966), S. 33. 48 Vgl. dazu die Quellensammlung in: Hans-wilhelm Gatzke: Zu den deutsch-russischen Beziehungen im Sommer 1918, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 3 (1955), 1, S. 67–98. 49 r. F. Karpova: L. B. Krasin. Sovetskij Diplomat. Moskau 1962, S. 46.
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gleichen tag abgeschlossenen ergänzenden Finanz- und Privatrechtsabkommen.50 Die territorialen Bestimmungen des Vertrags von Brest-Litovsk wurden darin weitgehend bestätigt, darüber hinaus wurden dem reich umfangreiche Entschädigungszahlungen für verstaatlichtes deutsches Eigentum zugesichert. trotzdem war die reaktion der Bol‘ševiki auf den Vertrag nach dem Urteil Baumgarts überaus positiv. Der Sowjetstaat hatte sich nicht nur erfolgreich in seinem Kernbestand gegen den deutschen Imperialismus behauptet. Darüber hinaus fanden in den Ergänzungsverträgen fundamentale Errungenschaften der revolution, wie die Nationalisierung der sowjetischen Industrie, erstmals ihre Bestätigung in einem internationalen Abkommen. Das Zentrale Exekutivkomitee ratifizierte die Ergänzungsverträge einstimmig. Auf die deutsche Kriegsführung hatten die Ergänzungsverträge kaum einen Einfluss, da der waffenstillstand mit den westmächten am 9. November 1918 die bestehenden Verträge annullierte. Vertragliche Beziehungen zwischen Sowjetrussland und dem Deutschen reich bestanden fortan nicht mehr und auch die formalen Beziehungen auf diplomatischer Ebene wurden vorübergehend abgebrochen. In den folgenden Monaten bestand die sowjetische Deutschlandpolitik aus einer eigenartigen Mischung. Sie beinhaltete einerseits die Unterstützung für die revolutionären Kräfte im reich sowie andererseits eine Pflege von Kontakten zu verschiedenen Persönlichkeiten aus Politik und wirtschaft. So reiste der einflussreiche Bol‘ševik Karl radek Ende 1918 ursprünglich mit dem Ziel nach Berlin, die dortigen Arbeiter- und Soldatenräte zu unterstützen.51 Nach seiner Inhaftierung im Jahr 1919 begann radek jedoch auch intensive Gespräche mit General von Seeckt, aus der sich später die Zusammenarbeit zwischen reichswehr und roter Armee entwickelte, sowie mit walther rathenau über die Zukunft der beiderseitigen wirtschaftsbeziehungen zu führen. radek bereitete damit einen Neubeginn der deutschsowjetischen Beziehungen für den (nach dem Scheitern des KPD-Aufstands vom Januar 1919 nunmehr wahrscheinlichen) Fall vor, dass in Deutschland die revolution scheitern würde. Gleichzeitig entwickelte sich auf deutscher Seite die auf Betreiben Moritz Schlesingers gegründete reichszentrale für Kriegs- und Zivilgefangene zu einer wichtigen Instanz, durch die die deutsch-sowjetische Kommunikation über die vertragslose Zeit hinweg aufrechterhalten wurde.52 Die Verhandlungen über den Aus50 Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDr/Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSr: Deutsch-sowjetische Beziehungen 1917–1918 (1967), S. 724ff. Zur Interpretation der Vertragsbestimmungen vgl.: Baumgart: Deutsche ostpolitik 1918 (1966), S. 297. 51 radek war Leiter der Mitteleuropaabteilung im Volkskommissariat für Äußeres und Deutschlandexperte. Zum Aufenthalt radeks in Berlin vgl.: Marie-Luise Goldbach: Karl radek und die deutsch-sowjetischen Beziehungen 1918–1923 (Schriftenreihe des Forschungsinstituts der Friedrich-Ebert-Stiftung 97). Bonn 1973; otto-Ernst Schüddekopf: Karl radek in Berlin. Ein Kapitel deutsch-russischer Beziehungen im Jahre 1919. Hannover 1962; sowie die Übersetzung von Auszügen aus radeks Erinnerungen in: Edward H. Carr: radeks „Political Salon“ in Berlin 1919, in: Soviet Studies 3 (1952), 4, S. 411–430. 52 Schlesinger/Schneider: Erinnerungen eines Außenseiters (1977), S. 81. Ebenfalls ausführlich: Unger: Zwischen Ideologie und Improvisation (1996).
102 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels tausch von Kriegsgefangenen mit Sowjetrussland zogen sich über mehrere Monate hin und führten schließlich am 19. April 1920 zum Abschluss des ersten deutschsowjetischen Abkommens der Nachkriegszeit.53 Sowjetrussland richtete im Anschluss an das Abkommen eine offizielle Vertretung in Berlin unter Leitung von Viktor Kopp ein, der Ende 1920 auch eine kleine Handelsabteilung beigeordnet wurde.54 Doch trotz dieser ersten Annäherungsversuche waren die deutsch-sowjetischen Beziehungen 1920 und 1921 noch weitgehend von Instabilität geprägt. Beiden Ländern war es aufgrund innenpolitischer Krisen (Kriegsniederlage, Novemberrevolution, Versailler Vertrag, rechte und linke Aufstände in Deutschland; Bürgerkrieg, alliierte Intervention, ideologische Differenzen über die Ziele der revolution und wirtschaftlicher Niedergang in Sowjetrussland) nicht möglich, eine konsistente außenpolitische Linie zu etablieren. Vielmehr wiesen die deutsch-sowjetischen Beziehungen sowohl in formaler Hinsicht (fehlende Verträge) als auch informell (extreme ideologische Gegensätze) die Merkmale einer fundamentalen Krise auf. Die Beteiligten der deutsch-sowjetischen Kommunikation konnten zwar auf die Erfahrungen des Jahres 1918 zurückgreifen, sie mussten sich jedoch unter den Voraussetzungen des Versailler Systems in einem langsamen Prozess nach 1919 grundlegend neu ausrichten. Dieser Prozess betraf nicht nur die diplomatischen Beziehungen auf staatlicher Ebene, sondern galt ebenso für transnationale nicht-staatliche Akteure in den deutsch-sowjetischen Beziehungen. Die Herausforderung für Siemens Der Erste weltkrieg führte zum weitgehenden Zusammenbruch des Auslandsgeschäfts von Siemens. Erstens war das Unternehmen von den internationalen rohstoffmärkten weitgehend abgeschnitten. Zweitens verlor es in den mit Deutschland verfeindeten Staaten seine Auslandsniederlassungen und Patentrechte. Schließlich stellte die Umstellung von der rüstungs- auf die Friedensproduktion Siemens nach 1918 vor enorme Probleme.55 53 Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDr/Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSr: Deutsch-sowjetische Beziehungen (1971), S. 210ff. Das Abkommen wurde am 7.7.1920 und am 22.1.1921 durch weitere Abkommen ergänzt. 54 Kerstin Herbst: Die sowjetische Handelsvertretung in Berlin. Probleme der Durchsetzung des sowjetischen staatlichen Außenhandelsmonopols in Deutschland, in: Jahrbuch für Geschichte der sozialistischen Länder Europas 33 (1989), S. 143–163, hier 143. 55 Feldenkirchen: Siemens 1918–1945 (1995), S. 113; Peter Czada: Die Berliner Elektroindustrie in der weimarer Zeit. Eine regionalstatistisch-wirtschaftshistorische Untersuchung. Berlin 1969, S. 141ff. Zu den rahmenbedingungen der deutschen Exportwirtschaft vgl. ebenfalls: Verena Schröter: Die deutsche Industrie auf dem weltmarkt 1929 bis 1933. Außenwirtschaftliche Strategien unter dem Druck der weltwirtschaftskrise (Europäische Hochschulschriften reihe 3, Geschichte und ihre Hilfswissenschaften 251). Frankfurt am Main 1984; Peter wulf: Die Vorstellungen der deutschen Industrie zur Neuordnung der wirtschaft nach dem 1. weltkrieg, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 23 (1987), 1, S. 23–42.
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Eine rückkehr der deutschen elektrotechnischen Unternehmen auf den weltmarkt wurde in der Nachkriegszeit durch mehrere Faktoren erschwert. Zahlreiche Länder, in denen Siemens und AEG bis 1914 eine marktbeherrschende rolle innegehabt hatten, bauten während des Kriegs eine eigene elektrotechnische Industrie auf oder öffneten ihre Märkte den Großunternehmen aus den USA. Gegenüber General Electric oder westinghouse waren die deutschen Unternehmen bis 1918 sowohl bezüglich Kapitalkraft als auch in technologischer Hinsicht in einen großen rückstand geraten, da während des Erstens weltkriegs diesbezügliche Investitionen weitgehend aufgeschoben worden waren. Der Versailler Vertrag behinderte die rückkehr deutscher Unternehmen auf ausländische Märkte zusätzlich durch Bestimmungen wie den einseitigen Vorbehalt der Meistbegünstigung für die alliierten Länder oder hohe Zollschranken gegen deutsche Produkte. Diese Bestimmungen trafen vor allem die Elektroindustrie, die bis 1914 eine der am stärksten auf den Export ausgerichteten deutschen wirtschaftsbranchen war. In Verkaufszahlen gemessen standen Siemens und AEG, die bis 1914 die weltweit führenden Elektrounternehmen waren, nach dem Ersten weltkrieg hinter den Konkurrenten General Electric und westinghouse aus den USA zurück. Der Stellenwert deutscher Unternehmen im weltweiten Elektrogeschäft aus der Vorkriegszeit wurde nach 1918 nicht mehr erreicht.56 Unter diesen Voraussetzungen stand der seit 1919 amtierende Aufsichtsratsvorsitzende der beiden Stammgesellschaften, Carl Friedrich von Siemens, vor der Aufgabe, die Strategie des Unternehmens neu auszurichten.57 Auf dem Heimatmarkt Deutschland traf Carl Friedrich mit AEG und anderen Firmen zahlreiche Abkommen, um den wettbewerb zu regulieren und dadurch den Anpassungsdruck auf die einzelnen Unternehmen zu vermindern. Darüber hinaus sollte auch das Auslandsgeschäft wieder zu einem wichtigen Standbein werden. Siemens begann deshalb trotz der ungünstigen Voraussetzungen kurz nach Kriegsende, das internationale Geschäft neu aufzubauen. Das russlandgeschäft, bis 1914 einer der wichtigsten ausländischen Absatzmärkte von Siemens, lag nach der oktoberrevolution in trümmern. Ausgehend von dieser fundamentalen Krise wird im Folgenden untersucht, welche Interessen das Unternehmen in den deutsch-sowjetischen Beziehungen verfolgte und wie Siemens in einer Umwelt fundamentaler Unsicherheit die institutionellen Voraussetzungen für das Unternehmensgeschäft mit den Bol‘ševiki schuf. Die Grundlage für die anstehenden unternehmensstrategischen Entscheidungen war zunächst der wissensstand der Siemens-Mitarbeiter über Sowjetrussland.
56 Harm G. Schröter: the German Question, the Unification of Europe, and the European Market. Strategies of Germany‘s Chemical and Electrical Industries, 1900–1992, in: the Business History review 67 (1993), 3, S. 369–405, hier 380ff.; Hertner: Financial Strategies and Adaptation (1989), S. 154. 57 Feldenkirchen: Siemens 1918–1945 (1995), S. 233ff. Zu Carl Friedrich von Siemens vgl. ausführlich S.251.
104 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels 1.2 Informationen und wissen über Sowjetrussland Der Nachrichtenaustausch zwischen russland und Deutschland wurde seit Beginn des Ersten weltkriegs stark beeinträchtigt und auch nach der oktoberrevolution war die Nachrichtenlage über Sowjetrussland sehr schlecht.58 Bis 1921 basierten die Berichte der deutschen Presse weitgehend auf Quellen aus den baltischen und skandinavischen Ländern sowie auf Berichten russischer Emigranten. Die Nachrichtenagentur wolffsches telegraphenbüro unterhielt eigene Niederlassungen im Baltikum, verfügte jedoch über keine Korrespondenten in Sowjetrussland und konnte daher kaum auf Informationen aus erster Hand zurückgreifen. Erst nach 1920 verbesserte sich der Informationsaustausch und es wurden zum Beispiel mit dem ost-Express die ersten organe für eine Berichterstattung über Sowjetrussland gegründet. Von sowjetischer Seite gab es zunächst neben der politischen Propaganda während des Bürgerkriegs keine Verbindungen zur internationalen Presse. Erst nach 1921 etablierte die staatliche Nachrichtenagentur roStA (Rossijskoe Telegrafnoe Agenstvo, seit 1925 Telegrafnoe Agenstvo Sovetskogo Sojuza, kurz: tASS) Kooperationen mit ausländischen Zeitungen.59 Informationen über Märkte sind eine zentrale Grundlage ökonomischer Entscheidungsprozesse. Eine erste Aufgabe von Siemens lag somit darin, nach der oktoberrevolution einen Zugang zu Nachrichten über die gesellschaftspolitische und wirtschaftliche Entwicklung in Sowjetrussland zu finden. Siemens konnte hierbei erstens auf Verbindungen zu ehemaligen Mitarbeitern in Sowjetrussland zurückgreifen. Zweitens versuchte das Unternehmen, durch unternehmensexterne Kontakte seine Informationsbasis zu verbreitern. Die Kontakte zu den ehemaligen Mitarbeitern während des Ersten weltkriegs wurde ein Großteil der Kommunikation zwischen Siemensstadt und Petrograd über die Niederlassungen in neutralen Ländern, vor allem über Schweden, organisiert. Stockholm blieb auch während des russischen Bürgerkriegs ein wichtiger Knotenpunkt. Andere Kommunikationswege von Siemens sind schwer oder gar nicht zu erfassen, da in den überlieferten Briefen fast nie die Übermittler auftauchen.60 Im Siemens-Archiv findet sich jedoch eine größere Menge an Dokumenten, die klar den Fortbestand der Kommunikation zwischen der 58 Müller: rußlandberichterstattung und rapallopolitik (1983). Vgl. auch die gekürzte Fassung: wolfgang Müller: Informationen über die Sowjetunion: Zum Problem der deutschen Berichterstattung über die UdSSr 1924–1933, in: Gottfried Niedhart (Hg.): Der westen und die Sowjetunion. Einstellungen und Politik gegenüber der UdSSr in Europa und in den USA seit 1917. Paderborn 1983, S. 53–60. Ebenfalls: Mick: Sowjetische Propaganda, Fünfjahrplan und deutsche russland-Politik (1995), S. 30. 59 Müller: rußlandberichterstattung und rapallopolitik (1983), S. 10. 60 Eine Ausnahme ist der Brief K. Kuleszas von der Kiever Vertretung von rSSw an Görz, der im Mai 1918 durch den (wohl in der Ukraine stationierten) deutschen Leutnant Korb übermittelt wurde. SAA 11 Lg 735, K. Kulesza: Bericht über das Geschäft der rSSw, Kiever Abteilung. Kiev 15.5.1918.
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Unternehmenszentrale und ehemaligen Mitarbeitern der russischen tochtergesellschaften auch nach der oktoberrevolution zeigt. Im Folgenden wird zunächst ein Überblick über diese Kontakte von Siemens in Sowjetrussland gegeben. Aus den Jahren 1917 und 1918 sind mehrere Berichte überliefert, die belegen, dass Siemens sowohl für Petrograd und Moskau als auch für mehrere Außenstellen einen guten Einblick in die Lage im revolutionären russland hatte. So legte Ernst Bätge nach seiner Emigration im Dezember 1918 in Berlin seine Erinnerungen über die Kriegs- und revolutionszeit in einem umfangreichen Bericht nieder. Ebenso ist vom ehemaligen Mitarbeiter der Vereinigten Kabelwerke w. Christian ein längerer Bericht über seinen Aufenthalt in Petrograd im April 1918 überliefert.61 Darüber hinaus blieb ein regelmäßiger Briefwechsel zwischen Siemensstadt und mehreren Siemens-Mitarbeitern erhalten, die in Sowjetrussland verblieben waren. Ein Großteil dieses Briefwechsels wurde von Hermann Görz geführt, der als ehemaliger Direktor von rSSw die Kommunikation mit Sowjetrussland weitgehend koordinierte. Görz erhielt unter anderem Berichte von Alfred Schwartz aus Petrograd, vom Leiter der rSSw-Niederlassung in odessa Bialkowski, von der Niederlassung in Char‘kov, vom Leiter der rSSw-Niederlassung in Baku Stenzel sowie vom Leiter der rSSw-Niederlassung in Moskau Feldhausen.62 Görz wiederum nutzte die Möglichkeit der Briefverbindung dazu, den Geschäftsstellen die Unterstützung der Stammhäuser zu versichern und berichtete von den Entscheidungen in Siemensstadt über die Zukunft des Unternehmensgeschäfts mit Sowjetrussland. Die Intensivierung des russischen Bürgerkriegs führte allerdings dazu, dass die Kommunikationslinien 1919 weitgehend unterbrochen wurden und nur noch vereinzelte Berichte ihren weg nach Siemensstadt fanden. Im März 1919 hatte zum Beispiel robert Klasson, ehemals Leiter der Moskauer Niederlassung der Lichtgesellschaft, einen kurzen Aufenthalt in Berlin und gab dort einen detaillierten Überblick über die wirtschaftliche Entwicklung sowie die allgemeinen Lebensverhältnisse während des Bürgerkriegs.63 Außerdem schilderte robert Hellfors, kaufmän61 SAA 68 Li 141, Ernst Bätge: Ein Bild der Verhältnisse in den russischen Elektrotechnischen werken Siemens & Halske A.-G. während der Kriegs- und revolutionsjahre 1914–1918. Berlin Dezember 1918; SAA 11 Lg 735, w. Christian: Bericht über seinen Besuch bei den VKw in Petrograd. Berlin 3.6.1918. 62 Vgl. dazu folgende Briefe: SAA 11 Lg 735, rSSw: Brief der Abteilung Char‘kov an Görz. Char‘kov 29.7.1918; SAA 4 Lf 686, Alfred A. Schwartz: Brief an Görz. Petrograd 19.6.1918; SAA 11 Lg 735, Feldhausen: Brief an Görz wegen Bericht über die Moskauer Filiale. Moskau 12.6.1918; SAA 11 Lg 735, Alfred A. Schwartz: Brief an Görz mit Bericht über die rEw S&H. Petrograd 11.6.1918; SAA 4 Lf 686, Alfred A. Schwartz: Brief an Görz. Petrograd 18.5.1918; SAA 4 Lk 162, Ludwig Stenzel: Brief an Görz. Baku 5.5.1918; SAA 11 Lb 93, Bialkowski: Brief an Görz. odessa 10.4.1918. 63 SAA 4 Lk 162, Breul, J.: Niederschrift betr. Besuch des Herrn Klasson. Siemensstadt 10.3.1919. Der Elektroingenieur r. E. Klasson engagierte sich seit den 1890er Jahren gemeinsam mit Krasin in marxistischen Kreisen, zog sich dann aber aus der politischen Arbeit weitgehend zurück. Seit 1920 beteiligte er sich an der Ausarbeitung des GoĖLro-Plans. Klassons reise nach Berlin im Jahr 1919 diente der Bestellung von Maschinen im Auftrag der sowjetischen
106 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels nischer Angestellter bei rEw S&H in Petrograd, in einem Bericht sehr genau die Lebensverhältnisse bei seiner Ausreise am 23. Mai 1919.64 Ein weiterer Bericht erreichte Siemens durch den rSSw-Ingenieur Sroczynski aus Moskau, der ebenfalls 1919 nach Deutschland ausreiste.65 welchen wert hatten die Berichte der Siemens-Mitarbeiter für das Unternehmen? Die Informationen, die durch diese Berichte vermittelt wurden, waren immer nur auf einen sehr engen raum begrenzt. Stenzel berichtete aus Baku über den Einfluss der dortigen Arbeiterräte auf das Unternehmen, aus odessa kamen Mitteilungen über warenknappheit, aus Char‘kov Nachrichten über die Schließung vieler Hüttenwerke und deren Folgen für die rSSw-Niederlassung. Aus diesen Berichten ergab sich zwar ein sehr anschauliches Bild der politischen und militärischen Lage, der wirtschaftlichen Probleme sowie der dramatischen Verschlechterung der Lebensverhältnisse vor ort. Die Berichte waren jedoch selektiv und nicht ausreichend, um in Siemensstadt ein umfassendes Bild über die Entwicklung in Sowjetrussland entstehen zu lassen. Für eine grundlegende Analyse der Unternehmensperspektive in Sowjetrussland reichten die Berichte der ehemaligen Mitarbeiter nicht aus. Siemens begann deshalb frühzeitig, über unternehmensexterne wege die Informationsbasis zu verbreitern. Externe Informationsnetzwerke Eine erste wichtige Grundlage dafür waren die Kontakte von Siemens zu anderen Unternehmen. Die Häufigkeit dieser Kommunikation kann im Einzelnen nicht nachvollzogen werden, da nur einzelne Briefe aus längeren Briefwechseln erhalten sind. Aus Sitzungsprotokollen und aus den erhaltenen Briefen wird allerdings deutlich, dass Siemens seit Anfang 1918 versuchte, entsprechende Kontakte zu institutionalisieren. Vor allem mit AEG, die eine ähnliche Interessenlage in Sowjetrussland hatte, blieb Siemens in regelmäßiger Verbindung.66 Im Jahr 1920 intensivierte sich zusätzlich der Kontakt zwischen Görz und Karl Fehrmann, dem Leiter der russischen Abteilung im Stinnes-Konzern. Fehrmann war ehemaliger Leiter der Stinnes-Niederlassung in russland und verfügte ähnlich wie Görz über eine große persönliche Erfahrung im russlandgeschäft. Zwischen Görz und Fehrmann institutionalisierte sich eine regelmäßige Kommunikation, in der gegenseitige Informationen ausgetauscht und strategische Entscheidungen besprochen wurden.67
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regierung. Vgl. den Eintrag zu Klasson in der Bol‘šaja Sovetskaja Ėnciklopedija, Ausgabe von 1970. SAA 4746, robert Hellfors: Bericht über die Verhältnisse in Petersburg wie sie bei meiner Abreise am 23. Mai 1919 bestanden. Berlin 30.6.1919. M. Sroczynski: Stimmungsbilder aus dem bolschewistischen russland, in: wirtschaftliche Mitteilungen aus dem Siemens-Konzern 1 (1919), 8, S. 34. Vgl. dazu die Niederschrift otto Henrichs über eine Besprechung über die russischen tochtergesellschaften. SAA 11 Lb 93, otto Henrich: Auszug aus der Niederschrift vom 10. Mai 1918 betr. Aktienbesitz und Forderung an die russischen Häuser. Siemensstadt 14.6.1918, S. 2. So der Bericht Fehrmanns über seine reise nach Moskau 1921: SAA 68 Li 141, Karl Fehrmann: Bericht über die Besprechung in Moskau mit den Herren der SSw und der S&H. Berlin
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Zweitens war Siemens in wirtschaftsverbänden organisiert, wie im 1899 gegründeten Deutsch-russischen Verein zur Pflege und Förderung der gegenseitigen Handelsbeziehungen. Siemens-Mitarbeiter nahmen regelmäßig an Mitglieder- und Informationsveranstaltungen teil, daneben erhielt das Unternehmen über den Verein Mitteilungen zu verschiedenen Aspekten der sowjetischen wirtschaftsentwicklung.68 1921 trat Siemens auf Betreiben von Görz außerdem in den Verband russischer Großkaufleute, Industrieller und Financiers e. V. sowie den Deutsch-Ukrainischen wirtschaftsverband ein, die beides organisationen der russischen Emigration in Deutschland waren. Drittens nutzte Siemens Kontakte zum Auswärtigen Amt und zum reichswirtschaftsamt (1919 umbenannt in reichswirtschaftsministerium), um dort die Unternehmensinteressen zum Beispiel bezüglich Entschädigungszahlungen zu vertreten. Über diese Netzwerke konnte das Unternehmen auch die Verhandlungen zu den deutsch-sowjetischen Verträgen im Sommer 1918 verfolgen und an vertrauliche Informationen über den Stand der Gespräche gelangen.69 Die staatlichen Akteure profitierten ihrerseits vom Engagement des Unternehmens in den deutsch-sowjetischen Beziehungen, indem sie auf die Erfahrungen und die Kontakte von Siemens zurückgreifen konnten. So vermittelte Hermann Görz im Juli 1918 ein persönliches treffen zwischen Krasin und dem Staatssekretär des Auswärtigen Amts Paul von Hintze sowie dem Unterstaatssekretär Heinrich Göppert vom reichswirtschaftsamt.70 Die Erfolge dieser Vernetzung wurden im Unternehmen positiv beurteilt und der Informationsstand über die Entwicklungen in Sowjetrussland weitgehend als befriedigend angesehen. Görz reagierte daher gereizt auf den von ZVEI und reichswirtschaftsministerium 1921 eingebrachten Vorschlag, einen wirtschaftlichen Sachverständigen oder eine gemeinsame Kommission auf Informationsreise nach Sowjetrussland zu entsenden: „Ich halte aber diese ganze Kommissionswirtschaft für Blech und für nutzlos.“71 In institutionenökonomischer Perspektive sind Informationen niemals objektiv, sondern sie werden von Akteuren innerhalb ihres persönlichen Erfahrungshorizonts subjektiv verarbeitet. wissen ist deshalb nie eindeutig und immer an eine individuelle Interpretation gebunden. Zwischen 1917 und 1921 war es nicht absehbar, welche Entwicklung Sowjetrussland und die deutsch-sowjetischen Beziehungen neh-
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21.4.1921. Zu Fehrmann und die Unternehmenspolitik von Stinnes vgl.: Feldman: Hugo Stinnes (1998), S. 372ff. wie anlässlich der deutsch-sowjetischen Verträge vom August 1918: SAA 3865, Deutsch-russischer Verein: Mitteilung an die Mitglieder. Berlin 8.10.1918. Zum Deutsch-russischen Verein vgl. ausführlich teil III, Kapitel 2.3. Vgl. das als vertraulich bezeichnete Gespräch zwischen Breul und dem Leiter der rechtspolitischen Abteilung im Auswärtigen Amt Johannes Kriege: SAA 4315, Breul, J.: Besprechung mit Exz. Kriege im Auswärtigen Amt betr. Entschädigungen. Berlin 30.5.1918. SAA 6397, Auswärtiges Amt: Brief an Görz im Auftrag von Hintzes. Berlin 28.7.1918; SAA 11 Lg 735, Hermann Görz: Brief an Henrich über die Besprechung mit Krasin und Göppert vom reichswirtschaftsamt. Berlin 18.6.1918. SAA 4 Lf 813, Hermann Görz: Brief an von Have über Kommission nach russland. Siemensstadt 6.7.1921, S. 1.
108 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels men würden. In dieser institutionellen Krise des Sowjetgeschäfts fehlte ein verlässlicher orientierungsrahmen für die Interpretation der Nachrichten aus Sowjetrussland. Informationen wurden dadurch vieldeutig und verlässliches wissen konnte sich nicht ausbilden. Die Akteure befanden sich in einer Lage fundamentaler Unsicherheit und konnten kaum rationale Entscheidungen treffen, weil es vollkommen unklar war, was rational unter den gegebenen Umweltbedingungen überhaupt bedeutete. Eine Prognose der weiteren Entwicklung in Sowjetrussland beziehungsweise eine Übersetzung von Unsicherheit in kalkulierbare Aussagen über die Zukunft des Sowjetgeschäfts waren unter diesen rahmenbedingungen kaum möglich. Daran hätte, wie Görz in obigem Zitat andeutet, auch eine Kommissionsreise nichts geändert. Dem Unternehmen musste es daher als Glücksfall erscheinen, dass der ehemalige Siemens-Ingenieur Krasin als Volkskommissar für Außenhandel in eine der einflussreichsten Positionen in der sowjetischen regierung aufstieg. 1.3 L. B. Krasin und Siemens Die folgende kurze Episode gibt einen ersten Einblick in das Verhältnis zwischen Krasin und Siemens nach der oktoberrevolution. Anfang des Jahres 1918 reiste der stellvertretende Direktor von rEw S&H wilhelm riehl nach Moskau und berichtete dem dortigen Abteilungsleiter Edgar Schwartz, dass dessen Bruder Alfred in Petrograd verhaftet werden solle. Schwartz suchte sofort Krasin auf und schilderte ihm den Vorfall, worauf beide gemeinsam zum Kreml fuhren und er Lenin vorgestellt wurde. Lenin sprach kurz mit Schwartz, forderte ihn dazu auf, künftig für die Bol‘ševiki zu arbeiten, und schon war die Audienz beendet. Auf der rückfahrt erhielt Schwartz von Krasin den Durchschlag eines telegramms an den Vorsitzenden des Petrograder Sowjets G. E. Zinov‘ev, das seinem Bruder helfen sollte. Krasin hatte so bereits zu einem frühen Zeitpunkt seine persönliche Verbundenheit und Bereitschaft gezeigt, Siemens nach Kräften zu unterstützen.72 Im Folgenden werden zunächst Krasins persönlicher Hintergrund und seine Beziehungen zu Siemens chronologisch dargestellt.73 Die Frage, wie er die strategische Diskussion im Unternehmen beeinflussen konnte, wird in Kapitel 1.6 wieder aufgenommen.
72 SAA 12 Ll 928, Edgar Schwartz: Brief an Sigfrid von weiher mit Bericht über die Abteilung ost. Berlin 11.7.1957. Von einem ähnlichen Erlebnis aus dem Jahr 1919 berichtet robert Hellfors von rEw S&H in Petrograd, für den Krasin Ausreisepapiere beschafft hatte: SAA 12 Ll 4, robert Hellfors: Lebensgeschichte. Berlin 1921, S. 163 73 Vgl. im Folgenden ausführlich: Martin Lutz: L. B. Krasin und Siemens. Deutsch-sowjetische wirtschaftsbeziehungen im institutionenökonomischen Paradigma, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und wirtschaftsgeschichte 95 (2008), 4, S. 391–409.
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Biographischer Hintergrund Krasins Der Elektroingenieur L. B. Krasin wurde 1870 in Sibirien geboren und engagierte sich seit seinem Studium der Elektrotechnik in St. Petersburg in sozialistischen Kreisen.74 Nach der Aufspaltung der russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei im Jahr 1903 folgte Krasin Lenins Flügel der Bol‘ševiki und wurde auch in deren Vorstand gewählt. Zu Lenin selbst hatte er allerdings ein angespanntes persönliches Verhältnis, das sich in den folgenden Jahren weiter verschlechterte. Krasin musste 1908 nach der Beteiligung an mehreren Überfällen, die der Parteifinanzierung dienten, überhastet ausreisen und ging nach Berlin ins Exil. Er hatte in russland für mehrere elektrotechnische Firmen, darunter auch die Lichtgesellschaft, gearbeitet und wurde aufgrund dieser referenzen im Herbst 1908 von Siemens übernommen. Krasin versprach zuvor Görz, der ihn in die Berliner Abteilung einstellte, „sich jeglicher politischer Betätigung zu enthalten“75. Aus der Parteiarbeit zog er sich in Berlin vollständig zurück und widmete sich ganz seiner beruflichen tätigkeit. Nach mehrjähriger Arbeit in Siemensstadt bekam Krasin 1912 die Leitung der Siemens-Niederlassung in Moskau übertragen, die er aufgrund des Einflusses des Unternehmens ohne polizeiliche Probleme antreten konnte. Mit Beginn des Ersten weltkriegs ernannte Görz Krasin schließlich zum Direktor der rSSw: „Als solcher bewährte er sich während des Krieges geradezu als Sturmbock gegen alle Anfeindungen, die von nationalistischer Seite, namentlich auch von der Presse, gegen unsere russischen Unternehmungen gerichtet waren […].“76 Krasin gilt in der Forschung als Pragmatiker unter den wirtschaftsexperten der Bol‘ševiki.77 Er verfügte über ein umfangreiches technisches wissen, war mit der 74 Zur Biographie Krasins zuletzt: S. S. Chromov: Leonid Krasin. Neizvestnye Stranicy Biografii. 1920–1926 gg. Moskau 2001; V. A. Šiškin: L. B. Krasin i ėkonomičeskie otnošenija meždu rossiej i Zapadom v 1920-e gody, in: V. A. Vinogradov (Hg.): rossija vo vnešnėkonomičeskich otnošenijach. Uroki Istorii i Sovremennost‘. Materialy Konferencii. Moskau 1993, S. 89–104; timothy E. o‘Connor: the Engineer of revolution. L. B. Krasin and the Bolsheviks. 1870– 1926. Boulder 1992. Aus der älteren Forschung: Michael G. Kort: Leonid Krasin: Engineer of revolution. 1870–1908. New York 1973; william P. Morse: Leonid Borisovich Krasin. Soviet Diplomat 1918–1926. Madison 1971; Michael Glenny: Leonid Krasin. the Years Before 1917. An outline, in: Soviet Studies 22 (1970), 2, S. 192–221. Aus der umfangreichen sowjetischen Literatur zu Krasin exemplarisch: B. L. Mogilevskij: Nikitič. (Leonid Borisovič Krasin). Moskau 1963; Karpova: L. B. Krasin (1962). Vgl. ebenfalls die im Londoner Exil verfassten Aufzeichnungen Ljubov‘ Krasinas, die allerdings sehr wertend sind: Lubov Krassin: Leonid Krassin. His Life and work. London 1929. 75 SAA 6397, Hermann Görz: Bericht an Prof. von Stein über die Unterredungen mit Krasin 1918 und 1920. Siemensstadt 21.7.1920, S. 2. Zum Berliner Aufenthalt Krasins vgl. auch: Jochen Häusler: Die Zehlendorfer Lehrjahre des Volkskommissars Leonid B. Krassin, in: Jahrbuch für Zehlendorf 2004, S. 71–75. Allerdings finden sich bei Häusler keine Quellenbelege. 76 SAA 6397, Hermann Görz: Bericht an Prof. von Stein über die Unterredungen mit Krasin 1918 und 1920. Siemensstadt 21.7.1920, S. 2. 77 Nach der Einschätzung Šiškins war Krasin der wichtigste Akteur beim Aufbau wirtschaftlicher Außenbeziehungen Sowjetrusslands: V. A. Šiškin: Stanovlenie vnešnej Politiki poslerevoljucionnoj rossii (1917–1930 gody) i kapitalističeskij Mir. ot revoljucionnogo „Zapadničestva“ k „Nacional-bol‘ševizmu“. očerk Istorii. St. Petersburg 2002, S. 12.
110 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels
Abbildung 2: L.B. Krasin (Mitte sitzend) im Kreis von Siemens-Mitarbeitern Quelle: Siemens-Archiv EB IV 724. In der Bildsignatur werden als Entstehungszeitraum die Jahre 1908 oder 1909 angeben. Das Foto stammt jedoch möglicherweise erst aus der Zeit ab 1912, als Krasin eine Leitungsfunktion im Unternehmen Siemens einnahm.
Arbeitsweise in Großunternehmen vertraut und hatte mehrere Führungspositionen im Unternehmen Siemens eingenommen. Krasin war zwar Sozialist, stand aber der oktoberrevolution zunächst skeptisch gegenüber, da er sie als verfrüht betrachtete. Eine Zusammenarbeit mit Lenin lehnte er, wohl auch wegen persönlicher Animositäten, anfänglich ab. Erst auf trockijs Drängen hin erklärte sich Krasin Anfang 1918 bereit, als wirtschaftsexperte an den deutsch-sowjetischen Verhandlungen in Brest-Litovsk und Berlin teilzunehmen. Nun begann der steile Aufstieg seiner politischen Karriere, die ihn noch im gleichen Jahr zum Leiter der Außerordentlichen Kommission zur Versorgung der roten Armee sowie zum Volkskommissar für Außenhandel werden ließ.78 In letzterer Funktion beeinflusste Krasin maßgeblich den Aufbau sowjetischer Außenhandelsbeziehungen. Sein Verhältnis zu Lenin hatte sich in der Zwischenzeit stark verbessert. Gemeinsam mit ihm erarbeitete Krasin die Grundlagen der sowjetischen Außenhandelspolitik, die im Kern auf dem staatlichen Außenhandelsmonopol basierten. Beide gingen davon aus, dass der Aufbau der sowjetischen Industrie ohne den Import von Investitionsgütern und den transfer moderner technologie nicht zu verwirklichen sei. Krasin sah deshalb eine wichtige Aufgabe darin, im Ausland für den sowjetischen Außenhandel zu werben.79 78 Zu den „drei Leben“ Krasins (revolutionär, Ingenieur, Diplomat) vgl.: B. L. Mogilevskij/V. A. Prokof‘ev: tri Žizni Krasina. Biogr. Povest‘. Moskau 1968. 79 Zu den Grundlagen von Krasins Außenwirtschaftspolitik vgl. die posthum herausgegebene
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Kontinuität im Sowjetgeschäft: Krasin und Görz Mit Krasin verfügte Siemens über einen direkten Kontakt zur obersten Führungsspitze der Bol‘ševiki. Diese Verbindung wurde vor allem von Görz gepflegt, der mit Krasin seit ihrer gemeinsamen tätigkeit bei rSSw persönlich verbunden war. Ihr erstes treffen seit Beginn des Ersten weltkriegs fand im Februar 1918 in Stockholm statt, als Krasin auf der rückreise von Brest-Litovsk seine vorübergehend in Schweden wohnende Familie besuchte. Darin gab Krasin Görz einen detaillierten Überblick über die Folgen der revolution in russland, den Stand der deutsch-sowjetischen Verhandlungen in Brest-Litovsk sowie die Lage der russischen Siemenswerke. Ebenfalls berichtete er sehr offen über die politischen Ziele der Bol‘ševiki und seine eigenen Vorstellungen über die Zukunft der sowjetischen Industrie. Krasin ging, den Erfolg der revolution vorausgesetzt, von einer allgemeinen Verstaatlichung der Industrie aus. Gleichzeitig versicherte er Görz, dass auch in der sowjetischen wirtschaftsordnung kapitalistische Elemente weiter bestehen werden würden: „Das Sprichwort: es wird nichts so heiss gegessen wie gekocht, kommt für die Bolschewiki in höchstem Masse in Anwendung.“80 Görz schloss seinen umfangreichen Bericht allerdings mit der Einschätzung, dass es unter den gegebenen Umständen „wohl kaum möglich [sei], bestimmtere Perspektive für den weiteren Fortbestand resp. Entwicklung des Unternehmen [in Sowjetrussland] zu entwerfen“81. Anlässlich der deutsch-sowjetischen Verhandlungen in Berlin im Frühsommer 1918 ermöglichte Görz die Einreise Krasins nach Deutschland.82 Dieser hielt sich mehrere Monate in Berlin auf und nutzte die Gelegenheit auch zu einigen Besprechungen in Siemensstadt über die Zukunft der russischen tochtergesellschaften.83 Darin informierte er das Siemens-Direktorium eingehend über die Lage der Siemens-werke in Petrograd, einschließlich der negativen Folgen der oktoberrevolution. Krasin warb zwar nachdrücklich für ein weitergehendes Engagement von Sie-
80 81 82
83
Schriftensammlung: L. B. Krasin: Voprosy Vnešnej torgovli. Moskau 1928; sowie: L. B. Krasin: Planovoe Chozjajstvo i Monopolija Vnešnej torgovli. Moskau 1925. SAA 6397, Hermann Görz: Bericht über das treffen mit Krasin in Stockholm. Siemensstadt 18.2.1918, S. 4. Von dem treffen sind mehrere Niederschriften von Görz überliefert, vgl.: SAA 6397. SAA 4 Lk 162, Hermann Görz: Bericht diktiert von L. B. Krasin in Stockholm am 25.2.1918. Stockholm 4.3.1918, S. 21. Laut Krasin wurde bei seiner Einreise im Gegensatz zu allen anderen Passagieren nicht einmal sein Gepäck kontrolliert: „Diese Zuvorkommenheit war, wie mir scheint, nicht so sehr das resultat meines diplomatischen ranges, wie des Zettels [wohl eine Art Passagierschein] von Görz.“ Ju. G. Fel‘štinskij/G. I. Černjavskij: L. B. Krasin: Pis‘ma Žene i Detjam, 1917–1926, in: Voprosy Istorii (2002), 2, S. 91–118, hier 96. Siehe dazu auch: Albrecht Buchholz: Leonid Krasin und sein Verhältnis zu Deutschland, in: Uwe Liszkowski (Hg.): rußland und Deutschland (Kieler historische Studien 22). Stuttgart 1974, S. 295–309. Es fanden am 23. Mai und am 11. Juni zwei Besprechungen statt, an denen außer Carl Friedrich von Siemens und Görz noch mehrere weitere Direktoren teilnahmen. SAA 11 Lg 735, otto von Have: Niederschrift einer Besprechung über den russischen Siemens Konzern. Siemensstadt 23.5.1918; SAA 11 Lg 735, otto von Have: Niederschrift der Besprechung über Handelsbeziehungen mit russland vom 11.6.1918. Siemensstadt 12.6.1918.
112 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels mens in Sowjetrussland. Er gab aber durchaus zu, dass „noch Jahre vergehen [werden], ehe sich das wirtschaftliche und geschäftliche Leben wieder in regelrechten Bahnen abspielt“84. Siemens erhielt von Krasin erneut einen detaillierten Einblick in die aktuelle Entwicklung in Sowjetrussland. Im Gegenzug wurde er von Görz in die wirtschaftlichen und politischen Führungszirkel in Berlin eingeführt. Dadurch erhielt Krasin Gelegenheit zu Gesprächen unter anderem mit Gustav Stresemann, walter Simons, Mathias Erzberger und Ulrich von Brockdorff-rantzau. Im Juni 1918 reiste Krasin in Begleitung eines von ihm nicht namentlich erwähnten Siemens-Direktors zum Hauptquartier der oHL nach Spa und hatte dort eine längere persönliche Unterredung mit Erich Ludendorff.85 Nach Unterzeichnung der Verträge vom 27. August und der Abreise der sowjetischen Delegation kam der Kontakt mit Siemens allerdings vorübergehend zum Erliegen; eine Kommunikation mit dem Unternehmen ist für das Jahr 1919 nicht belegbar. Erst 1920 erneuerte Görz wieder die Verbindung zu Krasin. Er fuhr im April nach Kopenhagen, wo sich Krasin als Leiter einer sowjetischen Handelsdelegation aufhielt. Diese reiste über Skandinavien nach London und vergab erste umfangreiche Aufträge an ausländische Unternehmen. trotz der langen Unterbrechung wurde Görz sehr freundlich empfangen und „es begann in alter freundschaftlicher weise unsere Unterhaltung“86. wie 1918 berichtete Krasin auch in Kopenhagen sehr ausführlich und detailliert sowohl über den Stand der verstaatlichten Siemens-Betriebe als auch über die aktuellen wirtschaftspolitischen Entscheidungen der Bol‘ševiki. Unter anderem gab er einen kurzen Überblick über die rote Armee, deren Versorgung er während des Bürgerkriegs organisiert hatte. Grundsätzlich erschien Krasin Görz weitaus optimistischer als noch im Jahr 1918. In der Frage der wirtschaftsentwicklung Sowjetrusslands blieb er jedoch nach wie vor skeptisch und ging von einem sehr lange andauernden Aufbauprozess aus. Anlässlich Krasins Aufenthalt in London kam im November 1920 ein erneutes treffen mit Görz zustande, bei dem es auch um den Erwerb einer Konzession für die telefunken-Gesellschaft ging, an der Siemens und AEG jeweils 50 Prozent der Anteile besaßen. Krasin hielt den Plan für realisierbar und bemerkte, dass „Lenin & Genossen bereit seien, heute Zugeständnisse in Bezug auf kapitalistische wirtschaftsformen zu machen“87. Ebenfalls berichtete er ausführlich über den Fortgang der sowjetisch-britischen Verhandlungen und wies Görz darauf hin, dass die sowje84 SAA 11 Lg 735, otto von Have: Niederschrift einer Besprechung über den russischen Siemens Konzern. Siemensstadt 23.5.1918, S. 1. 85 Fel‘štinskij/Černjavskij: L. B. Krasin: Pis‘ma 1917–1926 (2002), S. 101. Nach Günter Holzer handelte es sich um otto Henrich von SSw: Holzer: the German Electrical Industry (1970), S. 209. 86 SAA 11 Lg 735, Hermann Görz: Bericht über das treffen mit Krasin in Kopenhagen vom 12. bis 14. April 1920. Berlin 16.4.1920, S. 2. Zur Delegationsreise vgl. auch: Judith Garamvölgyi: Aus den Anfängen sowjetischer Außenpolitik: Das britisch-sowjetrussische Handelsabkommen von 1921. Köln 1967. 87 SAA 6397, Hermann Görz: Niederschrift über den Besuch bei L. B. Krasin am Freitag, den 5. Nov. 1920 in London. Siemensstadt 13.11.1920, S. 2.
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tische Seite weitaus größere Hoffnungen in die wirtschaftsbeziehungen mit Deutschland setzen würde. Zur Lage der ehemaligen russischen Siemens-Betriebe in Sowjetrussland notierte Görz nach seiner Unterredung mit Krasin Folgendes: „Unsere Fabriken sind nach Aussage und dank des Schutzes Krasins im Gegensatz zu anderen im wesentlichen intakt und daher zur wiederaufnahme eines verstärkten Betriebes vornehmlich geeignet.“88 Diese Aussage wurde später auch in einem Brief von Alfred Schwartz aus Petrograd bestätigt.89 Eine Übernahme der ehemaligen Fabriken im rahmen der sowjetischen Konzessionspolitik schien dadurch grundsätzlich möglich und aussichtsreich zu sein. Doch zuvor mussten die Eigentumsverhältnisse eindeutig geklärt und eine abschließende regelung der Verfügungsrechte an den ehemaligen russischen Siemens-Gesellschaften getroffen werden. 1.4 Verfügungsrechte I: Enteignung und Entschädigung Verfügungsrechte weisen Akteuren die Kontrolle über ressourcen zu und sind daher ein elementarer Bestandteil wirtschaftlichen Handelns.90 Die institutionelle Krise im revolutionären russland führte dazu, dass eine klare Zuteilung dieser rechte nicht mehr gegeben war. russische Unternehmen mit deutschen Anteilseignern waren bereits unter der zaristischen regierung in ihrer Selbständigkeit eingeschränkt worden. Nach der Februarrevolution schritt dieser Enteignungsprozess weiter fort und erreichte mit dem Nationalisierungsdekret der Bol‘ševiki vom 28. Juni 1918 einen Höhepunkt. Angesichts der prekären machtpolitischen Lage der jungen Sowjetregierung war allerdings nicht absehbar, ob sich das neue regime überhaupt behaupten werden würde. Der beginnende russische Bürgerkrieg und der ungeklärte Status der deutsch-sowjetischen Beziehungen erlaubten zunächst keinerlei Aussagen über das Eigentum von Siemens sowie über die grundsätzliche Zukunft der Privatwirtschaft in Sowjetrussland. Siemens und der Vertrag von Brest-Litovsk Görz stellte bereits im Januar 1917 fest, dass Siemens wohl nicht mehr mit einer restitution seiner dominierenden Position auf dem elektrotechnischen Markt russlands rechnen könne. Daher beurteilte er den Plan der zaristischen regierung, die Aktienanteile an deutschen Unternehmen zu übernehmen, unter den gegebenen Umständen als durchaus positiv: „wenn wir die Aktien zu pari abgeben müssen, und unser Guthaben voll ausgezahlt erhalten, woran ich eigentlich nicht zweifele, halte ich diese Lösung bei der Länge des Krieges und der 88 SAA 6397, Hermann Görz: Bericht über die reise nach London vom 3.–7. Nov. 1920. Siemensstadt 11.11.1920, S. 5. 89 SAA 68 Li 141, Alfred A. Schwartz: Brief an Görz. Moskau 24.4.1921, S. 1f. 90 North/thomas: the rise of the western world (2006), S. 3.
114 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels Verhetzung für günstig. Es scheint ganz ausgeschlossen, dass wir nach Beendigung des Krieges in der früheren weise wieder arbeiten können. Die russ. regierung kann und wird sich das Auftreten eines so ausschlaggebenden Einflusses auf die [Siemens-] Gesellschaften, wie es fast in dem gesamten Aktienbesitz liegt, nicht gefallen lassen.“91
Im Zuge von Februar- und oktoberrevolution blieb die Eigentumslage des Unternehmens in Sowjetrussland jedoch völlig unklar und an eine Entschädigung für die russischen Siemens-Gesellschaften war nicht zu denken. Dies änderte sich erst durch den Abschluss des deutsch-sowjetischen Vertrags von Brest-Litovsk am 3. März 1918, der deutschen Unternehmen ein recht auf Entschädigung einräumte. In Artikel 13 wurde in Bezug auf Zivilschäden Folgendes festgehalten: „Der Angehörige eines vertragsschließenden teiles, der im Gebiete des anderen teiles infolge von Kriegsgesetzen durch die zeitweilige oder dauernde Entziehung von Urheberrechten, gewerblichen Schutzrechten, Konzessionen, Privilegien und ähnlichen Ansprüchen oder durch die Beaufsichtigung, Verwahrung, Verwaltung oder Veräußerung von Vermögensgegenständen einen Schaden erlitten hat, ist in angemessener weise zu entschädigen, soweit der Schaden nicht durch wiedereinsetzung in den vorigen Stand ersetzt wird. Dies gilt auch von Aktionären, die wegen ihrer Eigenschaft als feindliche Ausländer von einem Bezugsrecht ausgeschlossen worden sind.“92
Auf Basis dieser rechtlichen Grundlage fiel im Unternehmen Anfang des Jahres 1918 eine wichtige Grundsatzentscheidung: Siemens sah zunächst vom Versuch ab, die Verfügungsgewalt über die russischen tochtergesellschaften zurückzugewinnen. Das Unternehmen entschied sich vielmehr dafür, im rahmen des Vertrags von Brest-Litovsk finanzielle Kompensation zu fordern. Krasin, dem diese Entscheidung in einer Besprechung in Siemensstadt am 23. Mai mitgeteilt wurde, bemerkte dazu spitz, Siemens würde „lieber rubel für seine Aktien erhalten, als bei einem solchen Zerfall Geschäfte anzunehmen“93. Dennoch erkannte Krasin den Anspruch auf Entschädigungen grundsätzlich an und sagte dem Unternehmen hierfür seine Unterstützung zu. Die Entscheidung von Siemens, auf eine wiedereinsetzung in die Verfügungsrechte zu verzichten, war in der wahrnehmung der fundamentalen institutionellen Krise in Sowjetrussland begründet. Carl Friedrich von Siemens verwies gegenüber dem Auswärtigen Amt auf die „seit 1917 in russland eingetretenen Umwälzungen“94, die eine weitere Betätigung des Unternehmens verhinderten. Carl Friedrich trug schwer an diesem Entschluss. Doch angesichts der institutionellen Unsicherheit und der vollkommen unklaren Zukunftsperspektiven schien der rückzug aus dem Sowjetgeschäft als die bessere Alternative, um den Schaden für das Unternehmen zu minimieren. 91 SAA 6361, Hermann Görz: Notiz über Enteignungspläne in russland. Berlin 12.1.1917, S. 1. 92 Abgedruckt in: Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDr/Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSr: Deutsch-sowjetische Beziehungen 1917–1918 (1967), S. 494. 93 Fel‘štinskij/Černjavskij: L. B. Krasin: Pis‘ma 1917–1926 (2002), S. 96. 94 SAA 4 Lk 162, Carl Friedrich von Siemens: Brief an das Auswärtige Amt betr. Entschädigungsansprüchen. Siemensstadt 14.6.1918, S. 2. Vgl. das längere Zitat von Carl Friedrich von Siemens auf S.91.
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Gemäß dem deutsch-sowjetischen Zusatzvertrag von Brest-Litovsk wurde der Entschädigungsanspruch des Unternehmens damit begründet, dass im Februar 1917 der Aktienanteil von Siemens an den russischen tochtergesellschaften auf die regierung übertragen und dieser Beschluss nachträglich von sowjetischer Seite bestätigt worden war: „Demgemäß ist dahin zu wirken, dass der unter der zaristischen regierung herausgekommene und von den Bolschewiki anerkannte Erlass vom Februar 1917, der die Umwandlung [von rEw S&H und rSSw] in eine russische Gesellschaft Siemens festsetzt, als massgebend betrachtet und dass auf Grund dieses Erlasses die Auszahlung des Aktienkapitals […] erstrebt wird.“95
Der erste Antrag auf Entschädigung von Siemens beim Auswärtige Amt wurde allerdings bald durch den Abschluss der deutsch-sowjetischen Ergänzungsverträge vom 27. August 1918 überholt.96 Für deutsche Entschädigungsansprüche aus dem Zivilbereich sah Artikel 2 des Finanzabkommens eine Pauschalsumme von sechs Milliarden reichsmark vor, aus denen auch die Zahlungen an Unternehmen zu begleichen waren. Diese Summe beinhaltete ausdrücklich alle Schäden, die durch Enteignungen vor dem 1. Juli 1918 (inklusive der Enteignungen durch das Nationalisierungsdekret vom 28. Juni) entstanden waren. weitere Enteignungen seitens der sowjetischen regierung untersagte der Vertrag zwar nicht; sie durften jedoch nur im Falle einer sofortigen Entschädigung des Eigentümers durchgeführt werden (Artikel 11, Absatz 1). Darüber hinaus erhielten deutsche Unternehmen in Artikel 14 das recht zugesprochen, auch direkt vom sowjetischen Staat wiedergutmachung für Enteignungen zu fordern. Angesichts der unsicheren Zukunft Sowjetrusslands ging Dr. Arthur Lietke, Prokurist bei S&H, im September 1918 aber davon aus, dass „gewiss noch eine längere Zeit vergehen [wird], bis unsere Ansprüche eine definitive Erledigung finden können, zumal wohl auch der russ. Staat selbst noch nicht weiß, was er mit unseren russ. Gesellschaften und überhaupt mit den russ. elektrotechnischen Fabrikationsfirmen anfangen wird“97. Siemens erhob auf Basis der deutsch-sowjetischen Ergänzungsverträge vom August 1918 erstens einen Anspruch auf Entschädigung aus den Mitteln der sechs Milliarden reichsmark und führte dazu mit dem Auswärtigen Amt einen kontroversen Briefwechsel über die Höhe der Entschädigungsansprüche. Der Prozess der Entschädigungszahlungen war alles andere als eindeutig und dem Auswärtigen Amt wurde eine „willkürliche Auslegung der Vertragsbestimmungen“98 vorgeworfen. Zweitens reichte Siemens am 1. November 1918 auf der Grundlage des Arti95 SAA 11 Lb 93, otto Henrich: Auszug aus der Niederschrift vom 10. Mai 1918 betr. Aktienbesitz und Forderung an die russischen Häuser. Siemensstadt 14.6.1918, S. 1. 96 Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDr/Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSr: Deutsch-sowjetische Beziehungen 1917–1918 (1967), S. 724ff. 97 SAA 4 Lf 686, Arthur Lietke: Bericht über Investitionen von Siemens in russland und den deutsch-russischen Friedensvertrag. Siemensstadt 10.9.1918, S. 6. 98 Vgl. dazu einen Brief der Deutschen Bank, mit der Siemens in Fragen der Entschädigungszahlungen kooperierte: SAA 11 Lb 93, Deutsche Bank: Brief an die Finanzabteilung von SSw wegen Entschädigungen. Berlin 19.10.1918.
116 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels kels 14 ein Entschädigungsgesuch beim sowjetischen Generalkonsulat in Berlin ein, das jedoch ebenfalls zu keinem Ergebnis führte.99 wenige tage später schloss das Deutsche reich den waffenstillstand mit den westalliierten ab, in dessen Folge die deutsch-sowjetischen Abkommen annulliert wurden. Eine abschließende Klärung der Eigentums- und Entschädigungsansprüche von Siemens in Sowjetrussland konnte auf Basis der deutsch-sowjetischen Vertragsbeziehungen im Jahr 1918 nicht erzielt werden. Die Verfügungsgewalt über rEw S&H und rSSw blieb zunächst entschädigungslos in den Händen der Bol‘ševiki. Für das Jahr 1919 geben die Quellen kaum einen Anhaltspunkt über die weitere unternehmensinterne Diskussion. Erst seit Anfang 1920 lässt sich im Unternehmen wieder eine Diskussion über die Frage der Verfügungsrechte in Sowjetrussland nachweisen. Verzicht auf die Verfügungsrechte und Entschädigungsforderungen an das Reich Nach seinem treffen mit Krasin im April 1920 in Kopenhagen notierte Görz bezüglich Entschädigungen Folgendes: „Die Frage der Entschädigungen […] erläuterte er [Krasin] mir dahin, dass von irgendwelchem Ersatz für Verluste, die durch die soziale Umwälzung entstanden sind, also z. B. für alles nationalisierte Eigentum, keine rede sei. […] Diese Erklärungen Kr.‘s stehen in schroffem Gegensatz zu denjenigen vom Februar 1918. Damals unterhielt ich mich eingehend mit Kr., in welcher weise wir für den Verlust unserer russischen Unternehmen entschädigt werden könnten, wie es möglich wäre, sie wieder in die Hände zu kriegen usw. Jetzt davon kein wort; nur die kurze und sehr bestimmte Auslassung: Entschädigt wird nicht!“100
was war in der Zwischenzeit passiert? Das sowjetische regime stand 1920 im Vergleich mit dem Jahr 1918 nicht mehr mit dem rücken zur wand, sondern trat international selbstbewusst und mit weitaus stärkerem Verhandlungspotential als zwei Jahre zuvor auf. Entschädigungen für das verstaatlichte deutsche Eigentum in Sowjetrussland konnten unter diesen Umständen nicht mehr durchgesetzt werden, wie Krasin gegenüber Görz unmissverständlich klarstellte. Unter diesem Eindruck fokussierte Siemens seine Entschädigungspolitik auf finanzielle Beihilfen, die die reichsregierung betroffenen Unternehmen in Aussicht stellte. Eine erste Eingabe wurde allerdings im November 1920 von der zuständigen Spruchkommission für Auslandsschäden mit der Begründung abgelehnt, die Beweisführung von Siemens wäre unvollständig.101 Die Spruchkommission bearbeitete nur Anträge, die sich auf Enteignungen vor dem Nationalisierungsdekret der Bol‘ševiki bezogen. Das Unternehmen konnte nach Meinung der Spruchkommission nicht den Nachweis erbringen, dass die russischen tochtergesellschaften bereits im Februar 1917 in russisches Staatseigentum übergegangen waren. In einer 99 SAA 3865, SSw: Brief an das russische Generalkonsulat. Siemensstadt 1.11.1918. 100 SAA 11 Lg 735, Hermann Görz: Bericht über das treffen mit Krasin in Kopenhagen vom 12. bis 14. April 1920. Berlin 16.4.1920, S. 16. 101 SAA 50 Ls 238, S&H: Aktennotiz über die Verhandlung vor der Spruchkommission betr. Entschädigungen. Siemensstadt 23.11.1920.
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erneuten Eingabe im Jahr 1921 betonte Siemens daher ausdrücklich den Zeitpunkt der Enteignungen: „Aufgrund des von der russischen Zarenregierung erlassenen Gesetzes am 1./14. Februar 1917 wurden unsere beiden vorgenannten Unternehmungen [gemeint sind rEw S&H und rSSw] mit allem Besitztum uns ohne jede Entschädigung entzogen und in neue russische Aktien-Gesellschaften umgewandelt.“102
Im Februar 1921 erkannte der reichskommissar für Auslandsschäden erstmals den grundsätzlichen Anspruch des Unternehmens auf Entschädigung an. Es bestanden allerdings erhebliche Differenzen über die Höhe der Zahlungen.103 Gemäß dem am 28. Juli 1921 Auslandsschädengesetz konnte Siemens Entschädigungen von bis zu 50 Prozent des Aktienkapitals fordern. Mit Blick auf die starke Entwertung der russischen Siemens-Aktien wies der reichskommissar aber darauf hin, dass nur ein geringer Prozentsatz des ursprünglichen wertes ausgezahlt werden könne.104 Der Streit zog sich mehrere Monate hin und wurde schließlich vor dem reichswirtschaftsgericht verhandelt. Siemens forderte in dem Prozess, nicht den gegenwärtigen Aktienwert der Entschädigung zugrunde zu legen: „[Es] existieren die wertpapiere (Aktien) überhaupt nicht mehr, von einer Entwertung kann daher gar nicht gesprochen werden, und es ist ganz unmöglich, den jetzigen wert von längst nicht mehr existierenden wertpapieren der Entschädigung zugrunde zu legen. In wahrheit handelt es sich gar nicht um den Verlust von wertpapieren, sondern um die Einbusse unserer Beteiligungen an den von uns geschaffenen Unternehmungen, die in engsten technischen und kaufmännischen Beziehungen zu uns standen.“105
Die Entschädigungspolitik von Siemens stand wie im Jahr 1918 vor einem Dilemma. Kurz vor dem Ersten weltkrieg hatten die deutschen Muttergesellschaften ihre Anteile an rEw S&H und rSSw russischen Staatsbürgern übertragen und in der offiziellen Kommunikation immer stärker den russischen Charakter des Unternehmens betont. Durch diese Maßnahmen sollten rEw S&H und rSSw als russische Gesellschaften ausgegeben und dadurch eventuellen restriktionen gegen deutsche Unternehmen vorgebeugt werden. In den Entschädigungsverhandlungen seit 1920 ging es allerdings darum, den Nachweis zu erbringen, dass die russischen tochtergesellschaften auch während des Kriegs ein integraler Bestandteil des deutschen Siemens-Konzerns geblieben waren. Für die Übertragung seiner Aktien an russische Staatsbürger im Jahr 1914 gab das Unternehmen folgende Begründung: 102 SAA 50 Ls 238, S&H/SSw/EAG: Antrag auf Gewährung einer Beihilfe gemäss §20 des Auslandsschädengesetzes. Siemensstadt 1921, S. 5. 103 Vgl. dazu zwei Briefe aus dem Briefwechsel zwischen dem reichskommissar für Auslandsschäden und Karl Burhenne, Leiter der Sozialpolitischen Abteilung von Siemens: SAA 50 Ls 238, Karl Burhenne: Brief an den Vorsitzenden der Spruchkommission für Auslandsschäden. Siemensstadt 12.2.1921; SAA 50 Ls 238, reichkommissar für Auslandsschäden: Einspruch gegen den Entscheid der Spruchkommission betr. Entschädigung. Berlin 5.2.1921. 104 SAA 50 Ls 238, reichkommissar für Auslandsschäden: Einspruch gegen das Urteil der Spruchkommission vom 11.5.1921. Berlin 18.7.1921. 105 SAA 50 Ls 238, Max Haller: Brief an das reichswirtschaftsgericht wegen Entschädigung. Siemensstadt 15.9.1921, S. 2.
118 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels „Siemens & Halske [gemeint ist rEw S&H] und die russische-Aktiengesellschaft SiemensSchuckert sind unsere, von uns geschaffene tochterunternehmungen gewesen, die wir zwar aus wirtschaftlichen und politischen Zweckmässigkeitsgründen in die Form selbstständiger russischer Aktien-Gesellschaften gekleidet hatten, die aber nach ihrer technischen und kaufmännischen organisation und den bei ihrer Gründung beabsichtigten und unverändert gebliebenen Zwecken lediglich Filialen von uns waren. Sie bildeten eine wirtschaftliche Einheit mit uns, und die ihnen gehörenden werte gehörten tatsächlich uns.“106
Nach weiteren Verhandlungen entschied das reichswirtschaftsgericht schließlich am 9. März 1922, Siemens eine Entschädigungsbeihilfe von insgesamt zehn Millionen reichsmark zuzusprechen.107 wie Krasin 1920 klar zum Ausdruck gebracht hatte, bestand dagegen kaum eine Aussicht auf Entschädigungen von Seiten des sowjetischen Staates. Einen formalen Schlussstrich unter die Entschädigungsforderungen deutscher Unternehmen gegen Sowjetrussland setzte der Vertrag von rapallo. Darin heißt es in Artikel 2: „Deutschland verzichtet auf die Ansprüche, die sich aus der bisherigen Anwendung der Gesetze und Maßnahmen der r.S.F.S.r. auf deutsche reichsangehörige oder ihre Privatrechte sowie auf die rechte des Deutschen reiches und der Länder gegen rußland sowie aus den von der r.S.F.S.r. oder ihren organen sonst gegen reichsangehörige oder ihre Privatrechte getroffenen Maßnahmen ergeben, vorausgesetzt, daß die regierung der r.S.F.S.r. auch ähnliche Ansprüche dritter Staaten nicht befriedigt.“108
Zwar hielt der letzte Absatz noch eine Hintertür für Entschädigungen offen, diese option wurde aber von Siemens nicht in Anspruch genommen. Eine interne Analyse der wirtschaftspolitischen Abteilung kam vielmehr zu dem Schluss, dass auf finanzielle Entschädigungen seitens des sowjetischen Staates keine Aussicht bestünde.109 Als weitaus wichtiger erwies sich für das Unternehmen vielmehr die Frage nach der künftigen wirtschaftsordnung in Sowjetrussland und welche Möglichkeiten sich ergeben werden würden, zumindest einen indirekten Zugriff auf die ehemaligen tochtergesellschaften zu erhalten. Der Erwerb von Verfügungsrechten im rahmen der sowjetischen Konzessionspolitik eröffnete hierfür einen potentiellen Zugang.
106 SAA 50 Ls 238, S&H: Brief an das reichswirtschaftsgericht betr. Entschädigung. Siemensstadt 23.11.1921, S. 2. 107 SAA 50 Ls 238, reichswirtschaftsgericht: Urteil XI3 A. V. 594/21-3. Berlin 9.3.1922. Am 30 April erhielt ebenfalls EAG (als ehemaliger Anteilseigner von rSSw) Entschädigungen zugesprochen. SAA 50 Ls 238, reichswirtschaftsgericht: Vergleich in der Entschädigungsfrage. Berlin 30.4.1923. 108 Artikel 2 des Vertrags, abgedruckt in: Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDr/ Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSr: Deutsch-sowjetische Beziehungen (1971), S. 585ff. 109 SAA 50 Ls 238, werner Jacobi: Notiz über Entschädigung. Siemensstadt 17.5.1924.
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1.5 Verfügungsrechte II: Konzessionen und internationales Konsortium während der deutsch-sowjetischen Verhandlungen im Sommer 1918 unterbreitete die sowjetische Delegation deutschen Unternehmen erstmals Vorschläge zum Erwerb von Konzessionen. Nach Baumgart waren diese Angebote jedoch kaum ernst gemeint, sondern dienten lediglich als Anreize, um die „Atempause“ der Bol‘ševiki beim Ausbau der Machtposition im Inneren und Äußeren zu sichern.110 Deutschen Unternehmen sollte eine Beteiligung am wirtschaftlichen wiederaufbau Sowjetrusslands angeboten und dadurch ein Gegengewicht zur territorialen Expansionspolitik der oHL hergestellt werden. Zu Abschlüssen von Konzessionsverträgen kam es nicht. Siemens und die sowjetische Konzessionspolitik während seines Aufenthalts in Berlin im Sommer 1918 machte Krasin Siemens keine konkreten Vorschläge zu Konzessionen. Er teilte Görz jedoch mit, die Sowjetregierung werde es der Elektroindustrie wohl ermöglichen, „in Form von vertrusteten Aktiengesellschaften unter Staatskontrolle weiterzuarbeiten“111. Krasin deutete damit zumindest an, dass trotz der fundamentalen institutionellen Veränderungen in der sowjetischen wirtschaft eine indirekte Beteiligung von Siemens an den ehemaligen russischen tochtergesellschaften grundsätzlich möglich war. Erst nach dem siegreich beendeten Bürgerkrieg begann der Aufbau eines institutionellen rahmens für die Beteiligung ausländischer Unternehmen in der sowjetischen Industrie. Lenin und Krasin stießen mit der Konzessionspolitik jedoch innerhalb der Partei auf großen widerstand, da viele Bol‘ševiki befürchteten, ausländische Unternehmen würden durch die Hintertür der Konzessionsverträge den Kapitalismus in Sowjetrussland restituieren. Diesen Befürchtungen hielt Lenin entgegen, die sowjetischen Außenwirtschaftsbeziehungen würden durch das Außenhandelsmonopol unter strikter staatlicher Kontrolle bleiben. In einem Vortrag vor dem rat der Volkskommissare am 22. Dezember 1920 verteidigte Lenin die Konzessionspolitik folgendermaßen: „wir müssen sagen, daß von einem Verkauf russlands an die Kapitalisten keine rede sein kann, daß es sich um Konzessionen handelt, wobei jeder Konzessionsvertrag an eine bestimmte Frist, ein bestimmtes Abkommen gebunden und mit allen Garantien versehen ist […]. Und uns tut es nicht leid, daß die Kapitalisten dabei Extraprofite einstecken – wenn es uns nur gelingt, die wirtschaft wiederaufzubauen.“112
Lenin setzte sich mit seiner Politik gegen große widerstände innerhalb der Partei durch. Schließlich stellte er mit dem Dekret über das Konzessionswesen vom 110 Baumgart: Deutsche ostpolitik 1918 (1966), S. 266f. Vgl. dazu auch Schneider, der die Konzessionspolitik des Jahres 1918 als eine provisorische Maßnahme zur Vorbereitung der weltrevolution bezeichnet: Schneider: Das sowjetische Außenhandelsmonopol (1973), S. 10. 111 SAA 11 Lg 735, Hermann Görz: Besprechung mit walter Simons und Krasin. Berlin 5.6.1918, S. 2. 112 Lenin: Bericht über die tätigkeit des rats der Volkskommissare (1972), S. 489.
120 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels 23. November 1920 die institutionellen weichen für eine Beteiligung ausländischer Unternehmen am Aufbau der sowjetischen wirtschaft. Eine besondere Attraktivität der Konzessionen lag für die ehemaligen Eigentümer nationalisierter Unternehmen in russland darin, dass sie den Erwerb einer, wenn auch begrenzten Verfügungsgewalt über das verstaatlichte frühere Eigentum ermöglichten. Erste Gespräche zwischen Krasin und Görz über eine Konzessionsbeteiligung von Siemens an der sowjetischen Elektroindustrie fanden im April 1920 in Kopenhagen statt. Krasin berichtete, dass zwar die Konzessionäre in Sowjetrussland „die sozialen Bestimmungen befolgen [müssten], aber sonst nach dem kapitalistischen System produzieren“113 könnten. Er schilderte dazu den Plan zur Vergabe mehrerer Großkonzessionen, die sich vor allem auf die rohstoffgewinnung und den Export von rohstoffen bezogen. Darunter fielen der Bau einer Öl-Pipeline sowie mehrere Projekte zum Abbau von Bodenschätzen wie der torfabbau zur Energiegewinnung. Krasin berichtete ausführlich über die Energieknappheit und die Notwendigkeit, die Stromversorgung Sowjetrusslands rasch wieder aufzubauen. Ein umfangreiches Fotoalbum mit Bildern zu Industrieprojekten, das Krasin zu werbezwecken mit sich führte, sollte das Vertrauen potentieller ausländischer Konzessionsnehmer in die bisherigen Erfolge der sowjetischen wirtschaftspolitik stärken. Görz reagierte auf das ihm vorgelegte werbematerial allerdings sehr skeptisch und wurde darin auch indirekt bestätigt. Auf seine Bemerkung hin, „dass man sich bei diesen Bildern wohl die rosinen aus dem bolschewistischen Kuchen herausgepickt hätte, stimmte Kr. lachend zu“114. Die Bilder reichten nicht aus, die Zuversicht von Görz in die Investitionssicherheit in Sowjetrussland ausreichend zu stärken. In einer Besprechung in Berlin am 26. Mai 1921, an der außer Krasin auch Vertreter weiterer Großunternehmen teilnahmen, äußerte er sich entsprechend negativ: „russland war schon im Frieden gerade in bezug auf Konzessionen ein ausserordentlich schwieriges Land, und unter den heutigen Verhältnissen ist es gar nicht abzusehen, wann eine Konzession wirklich ertragsfähig wird.“115
Siemens sah deshalb zunächst von einer eigenen Beteiligung an Konzessionen ab. Das Scheitern einer internationalen Kooperation Dagegen eröffnete die seit 1920 immer stärker vorhandene Bereitschaft des britischen Premierministers David Lloyd George, einen Ausgleich mit Deutschland und eine europäische Lösung der wirtschaftlichen Probleme zu finden, neuen Spielraum.116 Im Herbst 1920 begann Siemens, die Möglichkeiten einer internationalen 113 SAA 11 Lg 735, Hermann Görz: Bericht über das treffen mit Krasin in Kopenhagen vom 12. bis 14. April 1920. Berlin 16.4.1920, S. 1f. 114 SAA 11 Lg 735, Hermann Görz: Bericht über das treffen mit Krasin in Kopenhagen vom 12. bis 14. April 1920. Berlin 16.4.1920, S. 19. 115 Unter den Anwesenden waren auch Felix Deutsch (AEG) und Karl Fehrmann (Stinnes). SAA 4 Lf 685, Hermann Görz: Besprechung über die Anbahnung von wirtschaftsbeziehungen zu russland am 26.5.1921. Siemensstadt 28.5.1921, S. 5. 116 Zur Politik Lloyd Georges bezüglich der deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen siehe:
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Kooperation im Sowjetgeschäft zu sondieren und führte dazu Gespräche mit der britischen Marconi wireless Co. in London, die vor der oktoberrevolution stark auf dem russischen Markt vertreten gewesen war. Ein von Marconi ausgearbeiteter Plan enthielt zwei Ziele.117 Erstens sollte unter britischer Federführung eine Handelsgesellschaft für die Durchführung von Exportgeschäften nach Sowjetrussland gegründet werden. Zweitens sah der Plan vor, eine gemeinsame Konzession zum Betrieb der ehemaligen werke zu erwerben. Görz, der zwar an den eigentlichen Verhandlungen nicht teilnahm, aber in London mehrere Unterredungen mit Generaldirektor Isaacs von Marconi wireless führte, fasste den Vorschlag folgendermaßen zusammen: „Neben der Vermittlung des Handelsgeschäfts übernimmt die Gesellschaft den Betrieb russischer Schwachstromfabriken, in erster Linie S&H und Marconi, in der weise, dass die Sowjetregierung Arbeiter und, soweit vorhanden, Materialien stellt, während die Gesellschaft für Ingenieure, Zeichnungen usw. sorgt und die Betriebsleitung übernimmt.“118
Görz bekundete Isaacs gegenüber das große Interesse von Siemens an einer Zusammenarbeit, hielt sich aber mit konkreten Zusagen zurück. Vielmehr machte er deutlich, dass eine internationale Kooperation für Siemens nur dann sinnvoll sei, wenn sich alle früheren Eigentümer russischer Elektrobetriebe daran beteiligen würden: „Ein Abkommen mit der Sowjetregierung z. B. für die Unternehmen des Schwachstromtrustes nur von einem teil der früheren Interessenten geschlossen, bietet Gefahren für den Augenblick in dem die Sowjetregierung verschwindet. Unter den Anhängern des alten regimes in russland, namentlich den im Auslande weilenden, herrscht grosse Erbitterung darüber, dass mit der Sowjetregierung überhaupt verhandelt bezw. Geschäfte gemacht werden. Gewinnen diese Kreise auf russland Einfluss, wenden sich alle diejenigen an sie, die früher Besitz in russland hatten. Ein scharfer Gegensatz zu derjenigen Gruppe, die mit der Sowjetregierung vertragliche Verbindungen eingegangen war, ist die unausbleibliche Folge. Ein Vorgehen im Sinne Isaacs erscheint daher für die Zukunft nur dann unbedenklich, wenn dem Elektrotrust der Sowjetregierung gewissermassen ein trust der Vorbesitzer gegenübergestellt wird.“119
trotz anfänglich positiver Gespräche mit Isaacs scheiterte ein Abkommen im Bereich Schwachstromtechnik schließlich daran, dass unter den betroffenen Unternehmen keine Einigung erzielt werden konnte. Eine künftige internationale Koordination im Sowjetgeschäft wurde dadurch allerdings nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Sie fand vielmehr einen großen Befürworter in walther rathenau, der sich bereits im Februar 1920 in einer Denkschrift an reichspräsident Friedrich Ebert für eine verstärkte außenpolitische orientierung des reichs an Sowjetrussland ausgesprochen hatte.120 rathenau ging darin von einer realistischen EinschätKrüger: Die Außenpolitik der republik von weimar (1985), S. 152ff. 117 Vgl. dazu den ausführlichen Bericht von Görz aus London: SAA 6397, Hermann Görz: Bericht über die reise nach London vom 3.–7. Nov. 1920. Siemensstadt 11.11.1920. 118 SAA 6397, Hermann Görz: Bericht über die reise nach London vom 3.–7. Nov. 1920. Siemensstadt 11.11.1920, S. 2. 119 SAA 6397, Hermann Görz: Bericht über die reise nach London vom 3.–7. Nov. 1920. Siemensstadt 11.11.1920, S. 5. 120 Abgedruckt in: Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDr/Ministerium für Aus-
122 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels zung des begrenzten deutschen Finanzierungspotentials aus und sah eine Kooperation mit internationalen Kreditgebern als notwendige Voraussetzung an, die deutschen Exportgeschäfte mit Sowjetrussland substantiell zu steigern.121 In Anlehnung an rathenau unternahm Felix Deutsch in der Besprechung mit Krasin, Fehrmann und Görz am 26. Mai 1921 einen Anlauf, ein internationales Konsortium zu gründen.122 Dabei betonte er die Bereitschaft der deutschen elektrotechnischen Unternehmen, auf die Finanzkraft eines internationalen Kreditsyndikats zurückzugreifen, dessen Kapital deutsche Exportgeschäfte nach Sowjetrussland ermöglichen sollte. Die Voraussetzung sei aber, dass die Bol‘ševiki internationale Geschäftsregeln befolgen und eingegangene Verpflichtungen erfüllen würden. Görz kam in seinem Diskussionsbeitrag auf diesen Punkt zurück: „Das wertvollste und zunächst ausreichend wäre Kredit, den das Syndikat russland zum waren-Einkauf und später -Austausch zur Verfügung stellt, und ist der Kredit international, so liegt darin schon eine gewisse Garantie für die Sicherheit von Mensch und Kapital.“123
Im Zitat wird deutlich, warum Görz einer internationalen Kooperation zur Finanzierung sowjetischer Importe eine so hohe Attraktivität beimaß. Angesichts der weiterhin unsicheren politischen Lage in Sowjetrussland im Jahr 1921 schien das Ausfallrisiko jeder Kreditfinanzierung im Sowjetgeschäft sehr groß zu sein. Es gab noch keinerlei Erfahrungen damit, wie die Bol‘ševiki mit ausländischen Krediten verfahren würden und ob angesichts der revolutionären rhetorik überhaupt jemals mit einer rückzahlung zu rechnen war. Ein internationales Kreditkonsortium hätte das Sowjetgeschäft in zweifacher Hinsicht abgesichert. Erstens würde deutschen Unternehmen dadurch der Markt zu den kapitalkräftigeren britischen Banken eröffnet werden. Zweitens hätte die Internationalität des Konsortiums einen weitaus größeren Druck aufgebaut, die Bol‘ševiki zur Befolgung von regeln der Kreditfinanzierung anzuhalten, als dies bei rein deutsch-sowjetischen Kreditgeschäften der Fall gewesen wäre. Krasin stellte sich jedoch entschieden gegen ein umfassendes Finanzierungsabkommen. Aus sowjetischer Sicht galt es, ein europäisches Kreditkonsortium unter allen Umständen zu verhindern, da es den Verhandlungsspielraum Sowjetrusslands mit den einzelnen Ländern drastisch verringert hätte.124 Hinzu kam, dass die Bol‘ševiki eine kapitalistische Einkreisung befürchteten und eine europäische Ko-
wärtige Angelegenheiten der UdSSr: Deutsch-sowjetische Beziehungen (1971), S. 182ff. 121 Vgl. auch: Schölzel: walther rathenau (2006), S. 238; Niemann: Die deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen (1991), S. 92. 122 Vgl. dazu auch: Peter Borowsky: Sowjetrußland in der Sicht des deutschen Auswärtigen Amts und der reichswehrführung 1918–1923, in: Gottfried Niedhart (Hg.): Der westen und die Sowjetunion. Einstellungen und Politik gegenüber der UdSSr in Europa und in den USA seit 1917. Paderborn 1983, S. 27–51, hier 42. 123 SAA 4 Lf 685, Hermann Görz: Besprechung über die Anbahnung von wirtschaftsbeziehungen zu russland am 26.5.1921. Siemensstadt 28.5.1921, S. 5f. 124 Vgl. dazu auch einen bei Žuravlev zitierten Brief Stomonjakovs an Carl Friedrich von Siemens, in dem er sich klar gegen ein internationales Konsortium aussprach. Žuravlev: Biznes c Bol‘ševikami (2006), S. 130.
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ordination des wirtschaftlichen wiederaufbaus Sowjetrusslands ablehnten.125 Ein zentrales Element der sowjetischen Außenpolitik war vielmehr, bilaterale Beziehungen aufzubauen und einen westlichen Einheitsblock zu verhindern. Endgültig scheiterte das Konsortium schließlich an den politischen Verwerfungen nach Abschluss des rapallo-Vertrags, die eine deutsch-britische Zusammenarbeit im Sowjetgeschäft unmöglich machten. Dieses Scheitern erwies sich retrospektiv als ein schwerer rückschlag für die deutschen wirtschaftsinteressen und war mit dafür verantwortlich, dass eine substantielle Steigerung der deutschen Exporte nach Sowjetrussland um mehrere Jahre verzögert wurde. 1.6 wege aus der Krise Für Siemens blieb das sowjetische russland auch nach der oktoberrevolution als potentieller Markt grundsätzlich sehr interessant. In einem von Günter rosenfeld wiedergegebenen Zitat äußerte sich Carl Friedrich von Siemens im Dezember 1917 folgendermaßen gegenüber dem Staatssekretär im reichswirtschaftsamt Hans Karl Freiherr von Stein: „Der russische elektrische Markt, der im letzten Jahrzehnt an Aufnahmefähigkeit ständig zunahm, verspricht auch für die Zukunft bedeutende Absatzmöglichkeiten […].“126 Allerdings belegt dieses Zitat keineswegs eine dem deutschen Kapitalismus inhärente imperialistische Expansionsstrategie in osteuropa, wie Günter rosenfeld argumentiert (vgl. S. 30). Die letztendliche Aufnahme von Geschäftsbeziehungen zwischen Siemens und den Bol‘ševiki stand nicht am Ende eines von Anfang an determinierten Entscheidungsprozesses. Vielmehr stellte die institutionelle Krise zu Beginn des Sowjetgeschäfts eine grundsätzlich offene Entscheidungssituation dar, in der auch alternative Lösungsansätze zur Diskussion standen. Dabei ist erstens festzustellen, dass die maßgeblichen Entscheider im Unternehmen einen zum teil radikalen Antikommunismus vertraten. So sprach sich zum Beispiel otto Henrich, Vorstandsvorsitzender von SSw, strikt gegen jede Form von Geschäftsbeziehungen mit Sowjetrussland aus, da diese „lediglich eine Unterstützung des Bolschewismus“127 bedeuteten. wie zweitens die Quellen zeigen bewertete Siemens die Entwicklung im russischen Bürgerkrieg aber auch nicht nur unter ideologischen Gesichtspunkten, sondern reagierte situativ und pragmatisch auf die sich rasch verändernden rahmenbedingungen. Dies verdeutlichen die folgenden Beispiele.
125 Ulam: Expansion and Coexistence (1974), S. 78. 126 rosenfeld: Sowjetrussland und Deutschland 1917–1922 (1984), S. 105. 127 So otto Henrich in einer Sitzung des ZVEI. SAA 4 Lf 730, ZVEI: Niederschrift der Vorstandsratssitzung des ZVEI. Berlin 15.8.1919, S. 7.
124 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels Handlungsoptionen nach der Oktoberrevolution In einem rückblick aus dem Jahr 1923 auf seine rolle bei der Begründung des Sowjetgeschäfts betont Hermann Görz, dass aus seinem Kontakt zu Krasin keine einseitige orientierung an den sowjetischen Staat abgeleitet werden dürfe. Im Gegenteil sei seine Position immer von den unsicheren Zukunftsperspektiven im Hinblick auf die machtpolitische Entwicklung im russischen Bürgerkrieg bestimmt gewesen: „Nachdem die Sowjetregierung sich bemühte, wirtschaftliche Beziehungen, namentlich durch Vermittlung Krasins anzuknüpfen, habe ich mich diesen Bemühungen gegenüber niemals ablehnend verhalten, allerdings darauf hingewiesen, dass mit rücksicht auf die doch noch recht unsichere Lage geschäftliche transaktionen keinerlei politischen Beigeschmack haben dürften und insbesondere von jeder russischen regierung als für russland selbst nützlich anerkannt werden müssten. Es war das zu einer Zeit, wo der Herrschaft der Bolschewiken auch von allen Kennern russischer Verhältnisse nur ein sehr kurzes Ziel gesetzt war, und wo weite Kreise, namentlich auch des deutschen wirtschaftslebens, sich jeglicher Anteilnahme an Geschäften mit russland glaubten enthalten zu müssen.“128
Aus der Anfang 1918 beginnenden kommunikativen Annäherung von Siemens an die Bol‘ševiki einen deterministischen Prozess abzuleiten, ist angesichts solcher Aussagen nicht zulässig. Das Unternehmen behielt sich vielmehr mehrere Handlungsoptionen offen, beobachtete aufmerksam die militärische Entwicklung im Bürgerkrieg und versuchte parallel zum sowjetischen russland auch Beziehungen mit anderen quasi-staatlichen Einheiten des untergehenden Zarenreichs zu institutionalisieren. Ein erster Schritt war die Gründung der Abteilung ZV 11 im Sommer 1918 unter Leitung von Arthur Lietke und otto von Have, die die sich aus dem Vertrag von Brest-Litovsk ergebenden Geschäftsmöglichkeiten mit der formal unabhängigen Ukraine nutzen sollte.129 Das Büro bestand allerdings nur kurze Zeit und wurde mit dem Einmarsch der roten Armee in die Ukraine wieder aufgelöst. Ebenso war die Zusammenarbeit von Siemens mit der Ausfuhr GmbH, einer Exportgesellschaft für den Handel mit osteuropa, nur von kurzer Dauer.130 Schon im oktober 1919 kündigte Siemens die Zusammenarbeit mit der Ausfuhr GmbH, die seit 30. September 1918 das Unternehmensgeschäft mit der Ukraine abgewickelt hatte, da Lie128 SAA 4 Lf 685, Hermann Görz: Bericht über Krasin. Siemensstadt 15.2.1923, S. 2. 129 SAA 4315, ZV: Mitteilung Nr. 324: Gründung der russischen Abteilung ZV 11. Siemensstadt 28.5.1918. Bei der ZV handelt es sich um die SSw-Vertriebsabteilung, im Unternehmen als Zentral-Verkehrsverwaltung bezeichnet. 130 SAA 4746, otto von Have: Niederschrift der Besprechung über den Geschäftsverkehr mit russland. Siemensstadt 8.8.1919, S. 3. Zur Ausfuhrgesellschaft ost, die im Sommer 1918 von mehreren deutschen Großunternehmen mit der Durchführung von Export- und Importgeschäften betraut wurde, siehe: SAA 3865, Ausfuhr-Gesellschaft m.b.H.: Merkblatt Nr. 1. Berlin 15.8.1918. Vgl. dazu ausführlich: Pogge von Strandmann: Großindustrie und rapallopolitik (1976), S. 277ff. Zu den Absprachen zwischen Siemens und den verschiedenen Exportgesellschaften vgl. die Aktennotiz: SAA 11 Lg 735, Arthur Lietke: Aktennotiz über eine Besprechung mit Direktor Litwin, Ausfuhr G.m.b.H., und Görz am 15.6.1918. Siemensstadt 17.6.1918; sowie die Schriftwechsel in SAA 4 Lf 673.
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ferungen „durch die Entwicklung der politischen Verhältnisse“131 unmöglich geworden waren. Ähnlich verlief die Entwicklung des Unternehmensgeschäfts mit der im Mai 1918 ausgerufenen republik Georgien. Im September 1918 wurde Lietke bei einem treffen „der am Geschäftsverkehr mit Georgien interessierten Firmen“ in eine Kommission gewählt, die das Exportpotential für die deutsche wirtschaft sondieren sollte.132 Noch am 6. November 1918 legte Siemens einer in Berlin ansässigen wirtschaftskommission der georgischen regierung ein Angebot zur Lieferung von elektrischen Lampen unter anderem für die tifliser Straßenbahn vor.133 Doch wie der Ukraine war auch Georgien nur eine kurze Phase der staatlichen Unabhängigkeit beschieden. Bis Februar 1921 besetzte die rote Armee Georgien und beendete damit dessen unabhängige wirtschaftliche Beziehungen mit Siemens. Für Siemens lässt sich während des russischen Bürgerkriegs noch eine weitere Handlungsoption nachweisen. Im Jahr 1921, als die rote Armee bereits weite teile des früheren Zarenreichs besetzt hielt, wurde in einer internen Aktennotiz an die Geschäftsführung von S&H und SSw bezüglich des kürzlich eingetroffenen Gesandten Erich Freiberg aus Sibirien Folgendes mitgeteilt: „Dieser [Freiberg] ist der Beauftragte des Hetmans Semenoff, welcher bekanntlich der eigentliche regent ost-Sibiriens ist, dessen Verfügungsgewalt sich nach mir gewordenen Nachrichten [sic] über das Gebiet von wladiwostok und die westlich davon gelegenen Gegenden bis ungefähr zum Baikalsee erstreckt. wie mir mitgeteilt wird, ist Herr Freiberg beauftragt, hier in Deutschland den Einkauf der für ost-Sibirien zur Zeit dringend nötigen Erzeugnisse zu besorgen. Hierzu gehören vor allen Dingen werkzeuge, Maschinen, namentlich auch landwirtschaftliche, und jedenfalls auch im Zusammenhange elektrotechnische Artikel.“134
Der Verfasser empfahl weiter, „mit oberst Freiberg so schnell als irgend möglich in Verbindung zu treten“, um Näheres über die geplanten Aufträge an deutsche Unternehmen zu erfahren. Doch auch in diesem Fall wurde Siemens schnell von der militärischen Entwicklung überholt. Sibirien und die Fernöstliche republik wurden bald von der roten Armee besetzt und 1922 in die rSFSr eingegliedert.135
131 SAA 3865, SSw: Brief an die Direktion der Ausfuhr GmbH. Siemensstadt 10.10.1919. 132 SAA 3865, Arthur Lietke: Aktennotiz zum Geschäft mit Georgien. Siemensstadt 6.9.1918. 133 SAA 3865, Abteilung Bahnen: Brief an Professor Bernstein, Mitglied der Berliner wirtschaftskommission der georgischen regierung. Siemensstadt 6.11.1918. 134 SAA 6339, Verfasser unbekannt: Bericht über die ost-Sibirische regierung. Siemensstadt 11.7.1921. 135 Zum Kosakenführer Ataman G. M. Semenov und zur Geschichte des russischen Fernost während des Bürgerkriegs vgl. ausführlich: Canfield F. Smith: Vladivostok Under red and white rule. revolution and Counterrevolution in the russian Far East, 1920–1922 (Publications on russia and Eastern Europe of the Institute for Comparative and Foreign Area Studies 6). Seattle 1975.
126 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels Krasins Einfluss auf den unternehmensinternen Diskussionsprozess Die Entwicklung im russischen Bürgerkrieg war für externe Beobachter kaum durchschaubar. Angesichts der hohen Dynamik machtpolitischer Veränderungen konnten lange Zeit keine verlässlichen Zukunftsprognosen erstellt werden. Unter diesen rahmenbedingungen einer sich rasch ändernden Umwelt bot der Kontakt zu Krasin Verlässlichkeit und Siemens eine Anbindung an die tradition des Unternehmensgeschäfts im vorrevolutionären russland. Krasin sorgte nicht nur dafür, den Bestand der russischen Siemens-Fabriken über den Bürgerkrieg hindurch zu erhalten, sondern kümmerte sich auch intensiv um das wohl der in Sowjetrussland verbliebenen früheren Mitarbeiter. Auf sein Betreiben hin wurde Alfred Schwartz zum Leiter der Petrograder Schwachstrombetriebe ernannt und nach einer kurzzeitigen Inhaftierung im Herbst 1919 auf Veranlassung Krasins aus dem Gefängnis entlassen.136 Darüber hinaus erklärte sich Krasin im Herbst 1920 dazu bereit, die Übermittlung finanzieller Hilfeleistungen von Siemens an Schwartz zu übernehmen. wie weitere Beispiele zeigen handelte es sich hier um keinen Einzelfall. Die Quellen belegen Krasin zwischen 1917 und 1921 als den zentralen Akteur in den Beziehungen zwischen Siemens und dem sowjetischen Staat. In mehreren persönlichen treffen mit Krasin sowie durch einen regelmäßigen Briefverkehr erhielt Görz einen hervorragenden – und im Vergleich mit anderen deutschen Unternehmen wohl einzigartigen – Einblick in die Ziele der sowjetischen Außenwirtschaftspolitik. In den Jahren 1918 und 1920/1921 war Krasin für Siemens in allen Fragen des Sowjetgeschäfts die weitaus wichtigste Informationsquelle. Er berichtete nicht nur über die Entwicklung der ehemaligen russischen tochtergesellschaften, sondern teilte darüber hinaus auch seine persönlichen Ansichten über die wirtschaftspolitischen Ziele der Bol‘ševiki mit. Siemens verfügte damit über einen Informations- und wissensvorsprung gegenüber anderen Unternehmen. Görz schrieb im Juli 1920 über seine Gespräche mit Krasin in Stockholm und Kopenhagen Folgendes: „Ich habe aber feststellen müssen, dass vieles von dem, was er [Krasin] mir 1918 sagte, tatsächlich eingetroffen ist, dass er also die damalige Lage auch in ihren Folgen im wesentlichen zutreffend beurteilt hat. Ich kann mich daher der Empfindung nicht verschliessen, dass der Ansicht Krasins, die, so einseitig sie sicher orientiert, sich auf genauester Kenntnis der Verhältnisse aufbaut, doch erhebliche Bedeutung zugesprochen werden muss.“137
Aus institutionellen Krisen heraus kann durch eine „kommunikationsabhängige Annäherung an neue weltbilder und soziale Gruppen“ (vgl. das Zitat wischermanns auf S. 53) der Grundstein für institutionelle Stabilität gelegt werden. Krasin erreichte es in der fundamentalen Krise des russlandgeschäfts von Siemens, ein Klima der vorsichtigen Annäherung des Unternehmens an das gesellschaftspolitische und wirtschaftliche weltbild der Bol‘ševiki herzustellen. 136 SAA 11 Lg 735, Hermann Görz: Bericht über das treffen mit Krasin in Kopenhagen vom 12. bis 14. April 1920. Berlin 16.4.1920, S. 3f. 137 SAA 6397, Hermann Görz: Bericht an Prof. von Stein über die Unterredungen mit Krasin 1918 und 1920. Siemensstadt 21.7.1920, S. 6.
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wie allerdings auffällt ergaben sich daraus zunächst keine direkten ökonomischen Vorteile für Siemens. Denn vor allem Hermann Görz bewertete die wirtschaftlichen Perspektiven gerade aufgrund seiner Gespräche mit Krasin sehr skeptisch und sprach sich zum Beispiel gegen eine Beteiligung von Siemens im rahmen der sowjetischen Konzessionspolitik aus. Die institutionellen rahmenbedingungen erlaubten für Görz noch kein langfristiges Engagement von Siemens im Sowjetgeschäft. Ergebnisse der unternehmensinternen Diskussion bis 1921 In den Jahren der fundamentalen Krise war es Siemens nicht möglich, eine konsistente Unternehmensstrategie gegenüber Sowjetrussland zu entwickeln. Vielmehr zeigte sich in Anbetracht der hohen Dynamik der Umwelt, dass Entscheidungen oftmals rasch durch militärische oder politische Ereignisse überholt wurden. Diese fundamentale Unsicherheit der Umwelt konnte auch durch den engen Kontakt zu Krasin nicht vollständig kompensiert werden. Brest-Litovsk im März 1918, die Ergänzungsverträge im August 1918, der waffenstillstand im oktober 1918, der Abschluss des Versailler Vertrags im Juni 1919 und der bis 1920 nicht entschiedene Bürgerkrieg in Sowjetrussland erlaubten keinerlei verbindliche Zukunftsprognosen.138 Unter diesen Umständen zog Siemens einen vorläufigen Schlussstrich unter das direkte Engagement in der russischen Elektroindustrie. Das Unternehmen richtete seit 1918 alle Anstrengungen darauf, im rahmen der deutsch-sowjetischen Verträge eine finanzielle Entschädigung zu erhalten. Erst im Verlauf des Jahres 1920 vollzog sich angesichts der militärischen Erfolge der Bol‘ševiki eine allmähliche wende. Bis Anfang 1920 hatte die rote Armee die drei großen weißen Armeen Judeničs, Kolčaks und Vrangel‘s besiegt und den Bürgerkrieg militärisch entschieden. Das regime der Bol‘ševiki schien damit weitgehend stabilisiert, auch wenn die Details der künftigen Gesellschafts- und wirtschaftsordnung Sowjetrusslands noch völlig unklar waren. Unter diesen Voraussetzungen brachte das treffen zwischen Görz und Krasin in Kopenhagen im April 1920 die Erkenntnis, Siemens müsse „alle Aussichten auf wiedererlangung [des] russischen Besitzes“139 aufgeben. Für weitergehende strategische richtungsentscheidungen war es allerdings noch zu früh, wie Görz im Mai in einem Brief an Karl Fehrmann ausführte: „Für mich liegt die Frage lediglich so: was hat zu geschehen, wenn es den gegenwärtigen russischen Machthabern gelingt, sich noch weiter am ruder zu halten und tatsächlich, wenn auch langsam, Verbesserungen in den so überaus trüben Verhältnissen in russland zu erzielen. ob sie dabei mehr oder weniger von ihren kommunistischen Grundsätzen aufgeben, erscheint belanglos, weil, wenn dieselben Leute am ruder bleiben, es doch immer die Bolschewiki sind,
138 Zur Entwicklung der ehemaligen Siemens-werke in Petrograd vgl.: Žuravlev: Biznes c Bol‘ševikami (2006), S. 119. 139 SAA 11 Lg 735, Hermann Görz: Bericht über das treffen mit Krasin in Kopenhagen vom 12. bis 14. April 1920. Berlin 16.4.1920, S. 22.
128 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels die etwas erreicht haben […]. Daraus ergibt sich zunächst für mich: abwarten in jeder Beziehung, und darin sind wir ja wohl auch einig.“140
Erst in der zweiten Hälfte des Jahres 1920 gab Görz ausgehend von der Stabilisierung des sowjetischen Staates seine abwartende Haltung auf. Er setzte dabei große Hoffnung in die Zusicherung Krasins, dass „die heute für politische und wirtschaftsfragen führenden Männer auch einmal ein Abweichen von den Grundsätzen des Bolschewismus zugestehen“141 werden würden. Im Falle einer solchen Anpassung der Bol‘ševiki an marktwirtschaftliche Prinzipien schien ein Neuaufbau des Unternehmensgeschäfts für Görz möglich und wirtschaftlich lukrativ zu sein. Ausgehend von dieser Einschätzung ging Siemens daran, die nötigen organisationsstrukturen für das erwartete Sowjetgeschäft zu schaffen. Bereits im August 1919 hatten sich führende Direktoren von S&H und SSw zu einer Besprechung über den „Geschäftsverkehr mit russland“ getroffen. Die Diskussionsbeiträge im Besprechungsprotokoll zeigen deutlich die Unsicherheit der Führungsspitze von Siemens angesichts der fundamentalen Krise in Sowjetrussland, zu der keiner der Anwesenden eine verlässliche Zukunftsprognose abzugeben wagte. Dennoch zweifelte keiner der Direktoren das grundsätzliche Ziel an, dass sich Siemens künftig am Geschäft mit russland beteiligen solle. Vor allem Görz sprach sich trotz der unklaren Zukunftsperspektiven nachdrücklich dafür aus, „eine ähnliche organisation, wie sie früher in der Berliner Abteilung der russischen Siemens-Häuser bestanden hat, wieder ins Leben zu rufen“142. Am Ende der Besprechung wurde die Gründung einer neuen Geschäftsstelle anstelle des 1918 kurz bestehenden Büros ZV 11 beschlossen, die vorbereitende Maßnahmen für die erwartete Aufnahme des Sowjetgeschäfts von Siemens treffen sollte.143 Am 3. September 1919 gaben S&H und SSw in einem rundschreiben die Gründung der Abteilung ZV 3br bekannt, die „in ähnlicher weise wie die frühere Berliner Abteilung […] unserer Petersburger Häuser tätig sein soll“144. „wenn auch der Zeitpunkt für die Anbahnung engerer wirtschaftlicher Beziehungen verfrüht erscheint, ist es doch notwendig, schon jetzt Vorbereitungen zu treffen, um bei erster Möglichkeit geschäftliche Verbindungen wieder aufnehmen zu können. Es wird daher Aufgabe der neuen Geschäftsstelle sein, zweckdienliche Erkundungen bei den in Frage kommenden deutschen regierungsstellen, bei wirtschaftlichen Verbänden oder Unternehmungen, bei Firmen oder Privatpersonen und endlich auch bei in Deutschland weilenden russischen Staatsangehörigen einzuziehen.“145
140 SAA 6397, Hermann Görz: Brief an Karl Fehrmann. Siemensstadt 12.5.1920, S. 2. 141 SAA 11 Lg 735, Hermann Görz: Bericht über das treffen mit Krasin in Kopenhagen vom 12. bis 14. April 1920. Berlin 16.4.1920, S. 22. 142 SAA 4746, otto von Have: Niederschrift der Besprechung über den Geschäftsverkehr mit russland. Siemensstadt 8.8.1919, S. 3. 143 Zur Geschichte des späteren tB ost vgl. besonders den ausführlichen Bericht: SAA 10756, Ernst Eue: Chronik des tB ost. Berlin 1944, S. 1ff. 144 SAA 68 Li 141, Carl Friedrich von Siemens/Adolf Franke: Mitteilung an alle Abteilungen betr. russische Geschäftsstelle. Siemensstadt 3.9.1919, S. 1. 145 SAA 68 Li 141, Carl Friedrich von Siemens/Adolf Franke: Mitteilung an alle Abteilungen betr. russische Geschäftsstelle. Siemensstadt 3.9.1919, S. 1.
2 Zeitraum 1921–1924: Formalisierung und Versagen von Institutionen
129
Nach weiteren reorganisationen wurde die zwischenzeitlich auch als Abteilung ost bezeichnete Geschäftsstelle im Juli 1921 in technisches Büro ost (tB ost) umbenannt. Das tB ost entwickelte sich zur unternehmensinternen Koordinationsstelle für die Positionierung von Siemens in den deutsch-sowjetischen Beziehungen und die Abwicklung sowjetischer Aufträge. Ein erster überlieferter Auftrag stammt vom Dezember 1920 und beinhaltet Bestellungen von Messinstrumenten, transformatoren sowie einer Fernsprechanlage.146 Der weitere Ausbau des Sowjetgeschäfts von Siemens konnte beginnen. 2 ZEItrAUM 1921–1924: ForMALISIErUNG UND VErSAGEN VoN INStItUtIoNEN Allerdings erforderte die zunehmende institutionelle Formalisierung des sowjetischen Außenhandelsapparats eine weitgehende Kehrtwende der Unternehmensstrategie. Bisher hatte sich Siemens vor allem auf die Unterstützung Krasins verlassen und war davon ausgegangen, dass „Herr Direktor Krasin bei der Sowjet-regierung schon alles mögliche in unserem Interesse tun“147 werde. Dieser persönliche Bezug war seit 1921 nicht mehr ausreichend, um die Unternehmensinteressen im Sowjetgeschäft erfolgreich zu vertreten. Siemens stand vielmehr vor der Aufgabe, sich an die entstehenden formalen Strukturen im sowjetischen Außenhandel anzupassen. 2.1 Historischer Überblick: Neue Ökonomische Politik und rapallo Sowjetische Außenwirtschaftspolitik während der Neuen Ökonomischen Politik Im Jahr 1921 war der russische Bürgerkrieg militärisch entschieden, die alliierte Intervention abgewehrt und die rote Armee herrschte über weite teile des alten Zarenreichs.148 Die Bol‘ševiki hatten ihre Macht gefestigt und konnten mit dem wirtschaftlichen wie auch dem gesellschaftlichen Aufbau des neuen russlands beginnen. Der Aufbau einer sozialistischen Gesellschaftsordnung stand allerdings vor äußerst ungünstigen Voraussetzungen. Keine Arbeiterbewegung in anderen Ländern war dem Beispiel der russischen revolution gefolgt, die weltrevolution stand in weiter Ferne und Sowjetrussland sah sich isoliert einer Umwelt nicht-sozialistischer Staaten ausgesetzt. Unter diesen Voraussetzungen verlor die von trockij propagierte theorie der „permanenten revolution“ auf dem weg zum Kommunismus an tragkraft, da sie auf einer Internationalisierung der revolutionären Bewegung beruhte.149 Die Bol‘ševiki stellten sich im Gegenteil seit den frühen 1920er Jahren 146 SAA 6339, tB ost: Bestellung. Siemensstadt 30.12.1920. 147 SAA 4746, otto von Have: Niederschrift der Besprechung über den Geschäftsverkehr mit russland. Siemensstadt 8.8.1919, S. 6. 148 Mawdsley: the russian Civil war (1987), S. 242ff. 149 Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion (1998), S. 180ff.
130 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels schrittweise hinter die von Stalin ausgegebene Parole des „Sozialismus in einem Land“. Sie beruhte auf den machtpolitischen Gegebenheiten und eröffnete eine Möglichkeit, auf dem bisher Erreichten in Sowjetrussland aufzubauen. Lenin musste sich nach einem Schlaganfall im November 1922 sowohl aus dem öffentlichen als auch aus dem politischen Leben weitgehend zurückziehen und konnte auf die anstehenden Entscheidungen kaum mehr Einfluss nehmen. Bereits bei der formalen Gründung der UdSSr im Dezember 1922 war er zu keinem öffentlichen Auftritt mehr fähig. Nach Lenins tod 1924 entbrannte dann der offene Kampf zwischen trockij und Stalin um die Führungsnachfolge. In den Außenbeziehungen hielten die Bol‘ševiki einerseits ihre Unterstützung für revolutionäre Gruppen in anderen Ländern aufrecht. Andererseits orientierte sich die sowjetische Außenpolitik an den machtpolitischen Gegebenheiten und setzte ihre Bemühungen fort, die friedliche Koexistenz mit den kapitalistischen Nachbarn institutionell zu formalisieren.150 Nach dem ersten außenpolitischen Erfolg, dem Abschluss eines Friedensvertrags mit Estland im Februar 1920, folgten im Sommer 1920 die Friedensverträge mit Litauen, Lettland und Finnland. Am 16. März 1921 wurde das wichtige und von Krasin maßgeblich geförderte sowjetischbritische Handelsabkommen als erster Vertrag mit einer Großmacht abgeschlossen.151 Ausgangspunkt des inneren wirtschaftlichen Aufbaus war der desolate Zustand der Industrie und Landwirtschaft. Nahrungsmittelknappheit, zunehmende Streikbereitschaft der Arbeiterschaft sowie offene Aufstände von Bauern, Soldaten und Arbeitern zwangen die Parteiführung zu einer Kurskorrektur und zu weitgehenden institutionellen reformen der Zwangswirtschaft aus den Jahren des Bürgerkriegs.152 Ein nahtloser Übergang zu einer kommunistischen Gesellschaftsordnung, dem ideologischen Kernziel der Bol‘ševiki, erwies sich unter diese Voraussetzungen als nicht durchführbar. Erste Diskussionen über eine reform der wirtschaftspolitik begannen 1920 und wurden noch maßgeblich von Lenin beeinflusst. Lenin und seinen Anhängern ging es weniger darum, fundamentale ideologische Zielpräferenzen der Bol‘ševiki außer Kraft zu setzen. Vielmehr sollte eine begrenzte Zulassung marktwirtschaftlicher Freiheit in Landwirtschaft und Kleinbetrieben dazu dienen, kurzfristig die Versorgungsengpässe bei Lebensmitteln und Konsumgütern zu überbrücken. Auf dem 10. Parteitag im März 1921 wurde schließlich das Programm der Neuen Öko150 Zur sowjetischen Außenpolitik während der NĖP: Ulam: Expansion and Coexistence (1974), S. 76ff. 151 Das Abkommen kam einer diplomatischen Anerkennung Sowjetrusslands gleich und Großbritannien akzeptierte damit faktisch auch das Außenhandelsmonopol. Garamvölgyi: Aus den Anfängen sowjetischer Außenpolitik (1967). Zur Beteiligung Krasins siehe auch: o‘Connor: the Engineer of revolution (1992), S. 230ff. 152 Im Sommer 1920 brachen in mehreren teilen Sowjetrusslands Aufstände gegen die staatlichen Getreiderequirierungen aus. Ein Höhepunkt war der Aufstand der in Kronstadt bei Petrograd stationierten Matrosen gegen die Bol‘ševiki. Lenin und trockij gingen militärisch gegen die Matrosen vor und ließen den Aufstand blutig niederwerfen. Der widerstand der Matrosen, die im Bürgerkrieg eine der wichtigsten Stützen der Bol‘ševiki gewesen waren, beschleunigte den Kurswechsel in der wirtschaftspolitik. Mawdsley: the russian Civil war (1987), S. 245.
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nomischen Politik (NĖP) verabschiedet: „Mit der NEP wurde der Plan des ‚unmittelbaren Übergangs zum Kommunismus‘ aufgegeben.“153 Das zentrale Element der NĖP war eine teilweise reprivatisierung der Agrarwirtschaft, der Kleinindustrie und des Handwerks. Industrielle Großunternehmen, die „Kommandohöhen der wirtschaft“154, blieben dagegen weiterhin unter direkter staatlicher Kontrolle. Allerdings konnten Bauern ihre Überschüsse auf Märkten frei verkaufen und Kleinbetriebe erhielten größere Unabhängigkeit von staatlichen Planungsorganisationen zugesprochen. Ebenfalls kämpften die Bol‘ševiki erfolgreich gegen die Inflation an und stabilisierten die währung. Aufgrund dieser reformen bekam die sowjetische wirtschaft einen eigenartigen Charakter aus markt- und planwirtschaftlichen Elementen, was schnell zu ersten Erfolgen führte. Die handwerkliche und kleinindustrielle Produktion stieg deutlich an und auch die Getreideernten von 1922 und 1923 lagen deutlich über dem Stand des Hungerjahres 1921. retrospektiv betrachtet bewahrte die NĖP die sowjetische wirtschaft – und wohl auch die Herrschaft der Bol‘ševiki – „vor dem Untergang“155. Doch trotz aller reformmaßnahmen war sie nur als eine wirtschaftliche „Atempause“ auf dem weg zur sozialistischen Planwirtschaft und schließlich zum Kommunismus vorgesehen. Als eine der organisatorischen reformen verlor der rat für Arbeit und Verteidigung (Sto) seine außerordentlichen Kompetenzen und wurde zu einer verteidigungs- und wirtschaftspolitischen Kommission beim rat der Volkskommissare umgebildet.156 Er blieb damit zwar weiterhin die zentrale Koordinationsinstanz für den wirtschaftsaufbau Sowjetrusslands, jedoch bestanden mehrere organisationen nebeneinander. Sie nahmen unterschiedliche wirtschaftspolitische Funktionen wahr und konkurrierten miteinander um Kompetenzen. Der 1917 beim rat der Volkskommissare gegründete oberste Volkswirtschaftsrat (VSNCh) war formal für die Verwaltung der verstaatlichten Unternehmen und die Ausarbeitung von wirtschaftsplänen verantwortlich. Nach Alec Nove führten aber die überhastete Zusammenfassung der Betriebe in glavki (Hauptverwaltungen) sowie eine überforderte Bürokratie zu weitgehendem Chaos: „the result was a monstrous growth of bureaucratic tangle, an unworkable degree of centralization (‚glavkism‘), waste and inefficiency.“157 Die häufigen organisationsreformen des VSNCh in den ersten Jahren seines Bestehens änderten nichts an der Unfähigkeit 153 Altrichter: Staat und revoution (1996), S. 234. Zu den theoretischen Grundlagen der NĖP siehe: Sager: Die theoretischen Grundlagen des Stalinismus (1953), S. 76. Ebenso: Alexander Erlich: the Soviet Industrialization Debate, 1924–1928 (russian research Center Studies 41). Cambridge, Mass. 1960, S. 3ff. 154 Altrichter: Staat und revolution (1996), S. 117. 155 Erlich: the Soviet Industrialization Debate (1960), S. 11. 156 Eine hervorragende Gesamtdarstellung über die Entwicklung der sowjetischen wirtschaftsorganisation bietet noch immer: Alec Nove: An Economic History of the USSr. 1917–1991. 3. Auflage. London 1992. Erstmals veröffentlicht 1969. Vgl. ebenfalls: Hans raupach: Geschichte der Sowjetwirtschaft (rowohlts deutsche Enzyklopädie203/204). reinbek bei Hamburg 1970. Erstmals veröffentlicht 1960; sowie die Materialien in: Heiko Haumann: Grundlagen der sowjetischen wirtschaftsverfassung. Materialien (Hochschulschriften Sozialwissenschaften 9). Meisenheim am Glan 1977. 157 Nove: An Economic History of the USSr (1992), S. 87.
132 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels der Bol‘ševiki, in kurzer Zeit eine funktionierende wirtschaftsverwaltung aufzubauen. Im Bereich Elektrotechnik bestand am VSNCh seit Dezember 1917 eine Elektrotechnische Abteilung (Ėlektrotechničeskij Otdel, Ėto), die im Verlauf der Nationalisierung die Administration der verstaatlichten Unternehmen übernahm. Sie ging 1921 im Glavėlektro (Hauptelektroverwaltung) auf, dessen Zuständigkeit die Verwaltung der Elektroindustrie und die Elektrizitätsversorgung umfasste.158 Parallel zur Ėto wurde im Mai 1918 ein Staatliches Baukomitee (Komitet Gosudarstvennych Sooruženii, KGS) unter Leitung Kržižanovskijs gegründet, dessen Subkomitee Ėlektrostroj (Elektrobau) für den Bau neuer elektrotechnischer Anlagen verantwortlich war. Der Zentrale Elektrotechnische rat (Centraln‘yj Ėlektrotechničeskij Sovet, CĖC), in dem auch Krasin einen Sitz hatte, sollte dafür die technische Expertise bereitstellen. Den Bol‘ševiki gelang es dadurch zwar, sehr schnell eine staatliche Administration im Bereich Elektrotechnik aufzubauen. Die Kompetenzbereiche zwischen den einzelnen Behörden waren jedoch nicht klar abgetrennt, was zu ständigen inter-organisationalen Konflikten und großen Ineffizienzen führte. Erst seit 1921 wies der VSNCh begrenzte Erfolge auf, indem er einzelne Fabriken nach betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten in kleineren trusts (russisch Trest) zusammenfasste und diesen eine größere Autonomie gewährte. Im Bereich Elektrotechnik waren dies der Moskauer Starkstromtrust, der Petrograder Starkstromtrust, der Schwachstromtrust und der Akkumulatorentrust.159 Im Jahr 1925 wurden mehrere dieser trusts in den Staatlichen Elektrotechnischen trust (Gosudarstvennyj Ėlektrotechničeskij Trest, GĖt) integriert. Allerdings gelang es dem VSNCh nicht, einen umfassenden Perspektivplan für die Entwicklung der gesamten sowjetischen Volkswirtschaft zu entwerfen. Die maßgeblich von Lenin initiierte GoĖLro, die sich im Februar 1920 unter dem Vorsitz Kržižanovskijs an der Ėto konstituierte, hatte genau dies zum Ziel.160 In den folgenden Monaten erarbeitete die Kommission einen Plan für den Aufbau der sowjetischen Industrie auf Basis der Elektrizität. Er sah eine umfassende Energieversorgung von Industrie, Verkehr und Privathaushalten vor und sollte Sowjetrussland innerhalb kürzester Zeit in eine sozialistische Zukunft führen. In seiner rede vor dem Zentralen Exekutivkomitee der Partei am 2. Februar 1920 hob Lenin 158 Die Leitung von Glavėlektro wechselte zwischen 1920 und 1926 insgesamt fünf Mal (auch trotskij übernahm kurzzeitig die Leitung). Eine kontinuierliche Führung konnte unter diesen Umständen nicht aufgebaut werden. Einen hervorragenden Überblick über die Entwicklung staatlicher organisationsstrukturen in der sowjetischen Elektroindustrie bietet: Coopersmith: the Electrification of russia (1992), S. 126ff. 159 Aus den Quellen geht hervor, dass Siemens über diese organisatorischen Maßnahmen gut unterrichtet war: SAA 11 Lf 449, ZV 10: Liste der den russischen Elektrotrusts unterstellten Fabriken. Siemensstadt 1922. Vgl. auch den Bericht der wirtschaftspolitischen Abteilung: SAA 4200, wPA: Bericht aus der „Beilage zur Neuen Freien Presse“ (wien) über „Die elektrotechnische Industrie Sowjetrusslands“ vom 31.12.1925 Nr. 114 an Görz. Siemensstadt 5.1.1926. Zu den trusts in der sowjetischen Elektroindustrie siehe auch: Sutton: western technology and Soviet Economic Development 1917–1930 (1968), S. 186f. 160 Coopersmith: the Electrification of russia (1992), S. 157ff.; Haumann: Beginn der Planwirtschaft (1974), S. 59ff.
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ausdrücklich die wichtige ideologische Funktion der Elektrifizierungspolitik hervor: „Das Zeitalter des Dampfes ist das Zeitalter der Bourgeoisie, das Zeitalter der Elektrizität – das ist Sozialismus. wir müssen für den neuen ökonomischen Aufbau eine neue technische Basis haben. Diese neue technische Basis ist die Elektrizität. Auf dieser Basis werden wir alles aufbauen müssen.“161
Die Verabschiedung des GoĖLro-Plans im Dezember 1920 markiert den Übergang von der bürgerkriegsbedingten Notwirtschaft hin zum Aufbau einer nachhaltigen wirtschaftsplanung: „In 1920, electrification became a state technology and a technological utopia in russia.“162 Glavėlektro, in dessen Vorstand neben Kržižanovskij auch trockij saß, wurde vom VSNCh damit beauftragt, den Elektrifizierungsplan der GoĖLro zu implementieren. Die GoĖLro ging im Februar 1921 in der Staatlichen Allgemeinen Planungskommission (Gosudarsdvennaja Obščeplannovaja Komissija pri STO, Gosplan) auf, der formal die gesamtwirtschaftliche Planung Sowjetrusslands unterstand.163 Ein größeres Eigengewicht entwickelte Gosplan allerdings erst bei der Vorbereitung des ersten Fünfjahresplans. Im Jahr 1931 wurde Gosplan nach einer reorganisation in Staatliche Planungskommission am rat der Volkskommissare (Gosudarstvennaja Planovaja Komissija pri SNK SSSR) umbenannt und zur zentralen wirtschaftlichen Planungsinstanz der Sowjetunion ausgebaut. Im Außenhandel standen die Bol‘ševiki vor einem vollständigen Neuanfang. Zwar wurden bereits während des Bürgerkriegs Bestellungen ins Ausland vergeben, an denen auch deutsche Unternehmen partizipierten. Das Volumen der Importe war jedoch äußerst gering. Eine substantielle Steigerung konnte nur durch eine vertraglich gesicherte Zusammenarbeit mit den Industrieländern zustande kommen. Unter diesen Voraussetzungen eröffnete die internationale wiederaufbaukonferenz von Genua im April 1922 eine Gelegenheit, sowjetische Außenwirtschaftsinteressen zu vertreten und gleichzeitig das sowjetische russland auf internationalem Parkett zu etablieren (es handelte sich um die erste teilnahme der Bol‘ševiki an einer internationalen Konferenz). Außenminister G. V. Čičerin äußerte sich in seiner Eröffnungsrede entsprechend kooperationsbereit: „Die russische Delegation, die nach wie vor die Grundsätze des Kommunismus vertritt, ist der Ansicht, daß in der heutigen Zeit, die eine Parallelexistenz der alten und der im werden begriffenen neuen sozialen ordnung möglich macht, die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen den, diese beiden wirtschaftssysteme vertretenden Staaten, für den allgemeinen wirtschaftlichen Aufbau eine gebieterische Notwendigkeit ist.“164
Die inneren reformen und die auf Verständigung mit kapitalistischen Ländern orientierte Außenpolitik führten schnell zu einer Verbesserung der äußeren sicher161 Lenin: Bericht über die Arbeit des Gesamtrussischen Zentralexekutiv-Komitees (1974), S. 325. Lenin bezieht sich hierbei auf eine von Kržižanovskij herausgegebene Broschüre zur Elektrifizierung. 162 Coopersmith: the Electrification of russia (1992), S. 188. 163 Coopersmith: the Electrification of russia (1992), S. 197. 164 Zitiert nach: Alexander Fischer: Sowjetische Außenpolitik 1917–1945. Stuttgart 1973, S. 38.
134 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels heitspolitischen Lage wie auch zu einer Erholung der sowjetischen wirtschaft. Doch schon im Sommer 1923 zeigten sich die ersten Probleme der neuen Politik. Das sowjetische russland war im wesentlichen eine Agrarwirtschaft geblieben. Für ihre Produkte konnten sich die Bauern zu wenig kaufen, als dass sich eine Ausweitung ihrer landwirtschaftlichen Produktion gelohnt hätte. Die staatlichen Unternehmen hatten ihrerseits Schwierigkeiten, ihren Arbeitern die vorgeschriebenen Löhne zu zahlen, worauf Entlassungen und Streiks folgten. An dieser „Scherenkrise“ (steigende Industrie- und sinkende Agrarpreise) entzündete sich 1923 der Streit in der Partei um die Fortsetzung der bisherigen wirtschaftspolitik.165 Auch in der Außenwirtschaftspolitik regte sich heftiger widerstand gegen die reformen im rahmen der NĖP. Zur Nagelprobe wurde die Vergabe einer Bergbaukonzession an den britischen Unternehmer Leslie Urquhart, Vorsitzender der russo-Asiatic Consolidated Corporation, die in der Vorkriegszeit größere Bergbauunternehmen in russland betrieben hatte. Krasin leitete die Verhandlungen mit Urquart und präsentierte Lenin 1922 einen Vertragsentwurf.166 Das Ergebnis war für ihn ernüchternd. Das Zentralkomitee der Partei sprach sich gegen die Vergabe der Konzession an Urquhart aus. Ebenso teilte Lenin Krasin mit, dass er den Antrag nicht unterstützte. Der Grund der Ablehnung waren die fundamentalen Vorbehalte, die eine Mehrheit der Bol‘ševiki gegen eine allzu großzügige Vergabe von Verfügungsrechten an ausländische Unternehmen hatte. Die Grenze sowjetischer reformbereitschaft wurde im Falle Urquharts überschritten und Krasins wirtschaftlicher Pragmatismus konnte sich nicht gegen politische Ideologie durchsetzen. Im Ausland wurde diese Entscheidung aufmerksam registriert und als erstes Anzeichen einer künftigen restriktiven Konzessionspolitik gewertet. Für Krasin, der nach wie vor von der Notwendigkeit von Konzessionen überzeugt war, bedeutete dies einen schweren rückschlag seiner Politik. Deutsche Handlungsspielräume nach dem Versailler Vertrag Innenpolitisch stand die weimarer republik vom Zeitpunkt ihrer Gründung an vor schweren Aufgaben.167 Der Versailler Vertrag erhitzte die öffentliche Diskussion über das Verhältnis zu den Alliierten, die Dolchstoßlegende entlastete das kaiserliche regime von seinem Versagen und die Koalition aus bürgerlichen und sozialdemokratischen Kräften zur Stützung der republik erwies sich als überaus labil. Aufstände von rechts und links gefährdeten die innere Sicherheit und die reichswehr zeigte sich als höchst unzuverlässiger Partner bei der Verteidigung der Demokratie. Die republik überlebte zwar die inneren wirren der ersten Nachkriegsjahre, jedoch stand sie vor gewaltigen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen.168 165 Nove: An Economic History of the USSr (1992), S. 88ff. 166 o‘Connor: the Engineer of revolution (1992), S. 271ff. 167 Vgl. im Folgenden: Heinrich August winkler: weimar 1918–1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie. München 1993. 168 Aus der Literatur über die wirtschaftsentwicklung der weimarer republik exemplarisch: Pet-
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Im Zentrum der deutschen Außenpolitik nach 1919 stand die revision des Versailler Vertrags. Außer einer territorialen revision (die aufgrund fehlender Machtmittel in weiter Ferne lag) betraf dies vor allem die Modalitäten der reparationszahlungen. In der maßgeblich von reichskanzler Joseph wirth und rathenau (seit Januar 1922 Außenminister) propagierten „Erfüllungspolitik“ versuchte die reichsregierung, den Alliierten die Unmöglichkeit der Belastungen des Versailler Vertrags aufzuzeigen und dadurch mittelfristig den weg für eine revision zu öffnen.169 Die Mittel zur Durchsetzung konkreter außenpolitischer Ziele waren aber sehr begrenzt. Das Dilemma der Alliierten bestand darin, dass einerseits ohne eine wirtschaftliche Erholung Deutschlands kaum umfangreiche reparationszahlungen an die Siegermächte möglich waren; andererseits sollte der wiederaufstieg des reichs zu einer wirtschaftsmacht unbedingt verhindert werden. Die Konferenz von Genua, die eine wirtschaftliche reintegration Europas nach der weitgehenden Desintegration seit 1914 zum Ziel hatte, eröffnete somit für das reich einen gewissen Handlungsspielraum. Die vor allem vom britischen Premierminister David Lloyd George favorisierte Lösung der reparationsfrage bestand in der Einbindung Sowjetrusslands in den Kreislauf von wirtschaftlicher Erholung und Zahlungsfähigkeit Deutschlands. Britisches und US-amerikanisches Kapital sollte deutsche Exporte nach Sowjetrussland auf Kreditbasis finanzieren, diese Exporte wiederum die wirtschaftliche Erholung des reichs gewährleisten sowie die deutsche Zahlungsfähigkeit bei reparationen erhöhen, und dadurch Frankreich und Großbritannien die rückzahlung der interalliierten Schulden an die USA ermöglichen. Zu diesem Zweck wurde während der Konferenz von Cannes im Januar 1922 ein internationales Konsortium gegründet, das in Genua weiter ausgebaut werden sollte. Allerdings verschlechterte sich in Folge des deutschen Alleingangs von rapallo das Verhältnis zu den westalliierten rapide und ein Ausgleich in der reparationsfrage kam nicht zustande. Auf die Besetzung des ruhrgebiets im Januar 1923 reagierte die reichsregierung mit der Proklamation des passiven widerstands und umfangreichen finanziellen transferleistungen in die besetzten Gebiete. Die dadurch drastisch gestiegenen Haushaltsbelastungen wurden im wesentlichen durch eine Erhöhung der Geldumlaufmenge finanziert. Im Ergebnis stand Deutschland nach ruhrbesetzung, Hyperinflation, Zahlungsunfähigkeit und schweren regierungskrisen Ende 1923 mit dem rücken zur wand. Einen außenpolitischen Spielraum eröffneten einerseits die Beziehungen zu den USA und Großbritannien. Sie waren beide weitaus stärker als Frankreich an einer wirtschaftlichen Erholung Deutschlands sowie einer reintegration des reichs in ein europäisches Gleichgewicht interessiert. Andererseits etablierte sich im Auswärtigen Amt unter dem Einfluss Ago von Maltzans eine Politik, die die deutschen zina: Die deutsche wirtschaft in der Zwischenkriegszeit (1977); Hans Mommsen/Dietmar Petzina/Bernd weisbrod (Hg.): Industrielles System und politische Entwicklung in der weimarer republik. Verhandlungen des Internationalen Symposiums in Bochum vom 12.–17. Juni 1973. Düsseldorf 1974. 169 Krüger: Die Außenpolitik der republik von weimar (1985), S. 132ff.
136 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels revisionsziele durch eine Anbindung an Sowjetrussland umzusetzen hoffte. während des Jahres 1922 konnten die ostpolitiker im Auswärtigen Amt ihre Agenda in zentralen Punkten umsetzen und im Vertrag von rapallo die deutsch-sowjetischen Beziehungen ausbauen.170 Die Hoffnungen, die die deutschen ostpolitiker in ein Bündnis mit Sowjetrussland setzten, wurden auch durch die vielversprechenden Signale in Folge der sowjetischen wirtschaftsreformen genährt. Das Auswärtige Amt beurteilte die Neue Ökonomische Politik außerordentlich positiv und ging von einer weitgehenden rückkehr zur kapitalistischen wirtschaftsordnung und von großen Möglichkeiten für die deutsche Exportwirtschaft aus.171 Der gewaltige Investitions- und Importbedarf Sowjetrusslands schien einen Königsweg zum wiederaufbau des deutschen wirtschaftspolitischen Handlungspotentials zu bieten, das sich mittelfristig auch als Instrument der revisionspolitik einsetzen ließe. wie in der Forschungsliteratur vielfach betont wird, teilten auch einige deutsche Unternehmen diese Ansicht. Namentlich bei AEG und mehreren Unternehmen der Schwerindustrie wurden große Erwartungen an die Neue Ökonomische Politik sowie an den Ausbau der deutschsowjetischen Beziehungen geknüpft.172 Die deutsch-sowjetischen Beziehungen 1921–1924 Im deutsch-sowjetischen Abkommen über den Austausch von Kriegsgefangenen vom April 1920 wurde die erste formale Basis für eine künftige diplomatische Annäherung gelegt. Angesichts der sowjetisch-britischen Verhandlungen über ein wirtschaftsabkommen intensivierten sich Ende 1920 die deutschen Bemühungen nach weitergehenden vertraglichen Beziehungen mit Sowjetrussland. Vor allem von teilen der Industrie wurde aus wirtschaftlichen Motiven heraus nachdrücklich eine Annäherung an Sowjetrussland gefordert, um gegenüber britischen Interessen nicht ins Hintertreffen zu geraten.173 Anfang des Jahres 1921 erhielt Paul Stähler als Handelssachverständiger des Auswärtigen Amts die Einreiseerlaubnis und nahm in Moskau seine Arbeit auf.174 170 Zur ostpolitik des Auswärtigen Amtes vor rapallo: Sütterlin: Die „russische Abteilung“ des Auswärtigen Amtes (1994), S. 180; Himmer: rathenau, russia, and rapallo (1976). Aus der neueren Literatur ist besonders die Interpretation rapallos durch Linke hervorzuheben, der den Vertrag in den Kontext der allgemeinen deutschen revisionspolitik und der sowjetischen Sicherheitspolitik integriert. Linke: Der weg nach rapallo (1997), S. 106ff. 171 Dazu besonders: Borowsky: Sowjetrußland (1983), S. 39. 172 Zur Politik der Gutehoffnungshütte im Jahr 1922: Pogge von Strandmann: Großindustrie und rapallopolitik (1976), S. 293f. Zur Abstimmung zwischen rathenau und Stinnes siehe: Schölzel: walther rathenau (2006), S. 337. Zu Stinnes, der im Januar 1922 selbst mit radek Gespräche über die deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen führte, siehe: Feldman: Hugo Stinnes (1998), S. 750ff. 173 Borowsky: Sowjetrußland (1983), S. 32; Linke: Deutsch-sowjetische Beziehungen bis rapallo (1970), S. 125ff. 174 Sütterlin: Die „russische Abteilung“ des Auswärtigen Amtes (1994), S. 112; Linke: Deutschsowjetische Beziehungen bis rapallo (1970), S. 125.
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Am 6. Mai 1921 führten die deutsch-sowjetischen Verhandlungen zum Abschluss des so genannten vorläufigen Abkommens. Vorläufig war das Abkommen deshalb, weil es keine formale Aufnahme diplomatischer Beziehungen beinhaltete. Faktisch kam es jedoch einer völkerrechtlichen Anerkennung Sowjetrusslands durch das Deutsche reich gleich. Das Abkommen regelte in erster Linie die Aufnahme offizieller Handelsbeziehungen und ermöglichte die Eröffnung einer ständigen deutschen Vertretung in Moskau sowie einer sowjetischen Handelsvertretung in Berlin. In Artikel XVI wurde der beiderseitige wille einer künftigen Intensivierung der wirtschaftsbeziehungen festgehalten: „Bis zum Abschluß eines künftigen Handelsvertrages soll dieses Abkommen die Grundlage der wirtschaftlichen Beziehungen der beiden Länder bilden und im Geiste gegenseitigen wohlwollens zur Förderung der wirtschaftlichen Beziehungen ausgelegt werden.“175
Ausgehend vom vorläufigen Abkommen wurden die Gespräche um einen weiteren Ausbau der deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen fortgesetzt. Darin profilierten sich vor allem Felix Deutsch und walther rathenau als Verfechter einer Politik, die im rahmen einer gesamteuropäischen Koordination deutsche Exportkapazitäten nach osteuropa lenken sollte.176 Beide standen in Verbindung mit Krasin, der sich von London aus weiterhin an der Diskussion in Berlin beteiligte. rathenau legte im Mai 1921, nach der Ernennung zum reichsminister für wiederaufbau, seine Funktion als Präsident der AEG nieder und konzentrierte sich darauf, seine außenwirtschaftlichen Ziele auf politischer Ebene umzusetzen.177 Auf Basis der sich entwickelnden bilateralen Vertragsbeziehungen wurde Deutschland nach 1921 größter Außenhandelspartner Sowjetrusslands. Zusätzlich zu reinen Liefergeschäften nutzten mehrere deutsche Unternehmen auch die Möglichkeiten, die ihnen das sowjetische Konzessionswesen bot. Im Herbst 1922 schloss Krupp einen agrarwirtschaftlichen Konzessionsvertrag ab, um damit einen Einstieg in das Geschäft mit Landmaschinen zu erhalten. Am 9. oktober 1922 folgte unter der Beteiligung von otto wolff die Gründung der Deutsch-russischen Aktien-Handelsgesellschaft (Russko-germanskoe Torgovoe AO, rUSGErtorG), die eine Handelskonzession für Sowjetrussland erhielt. weitere deutsche Beteiligungsgesellschaften waren die Deutsch-russische transportgesellschaft (DErUtrA) mit Beteiligung von HAPAG, die Deutsch-russische Luftverkehrsgesellschaft (DErULUFt), die Deutsch-russische Saatbau-Aktiengesellschaft (DrUSAG) und die rUStrANSIt, eine transportgesellschaft für den transitverkehr durch sowjetisches territorium nach Asien.178 Parallel zu den wirtschaftsbeziehungen intensivierte sich die militärische Zusammenarbeit zwischen reichswehr und roter Armee.179 Ausgehend von den Ge175 Abgedruckt in: Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDr/Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSr: Deutsch-sowjetische Beziehungen (1971), S. 383ff. 176 Schölzel: walther rathenau (2006), S. 325ff.; Linke: Der weg nach rapallo (1997), S. 96f. 177 Linke: Deutsch-sowjetische Beziehungen bis rapallo (1970), S. 142. 178 Pohl: Geschäft und Politik (1988), S. 73f. 179 Dazu die umfangreiche Darstellung von: Zeidler: reichswehr und rote Armee (1994). Ebenfalls: Gorlov: Moskau-Berlin (1998); Linke: Deutsch-sowjetische Beziehungen bis rapallo (1970), S. 152ff.
138 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels sprächen, die in den vergangenen Jahren mit Karl radek geführt worden waren, legte Hans von Seeckt im winter 1920/21 mit Gründung der Sondergruppe russland die organisatorische Basis für eine Formalisierung und Ausweitung dieser Kooperation. Die Verhandlungen führten schließlich zur Gründung der „Gesellschaft zur Förderung gewerblicher Unternehmungen“ (Gefu) mit Sitz in Berlin und Moskau, die entsprechende Projekte deutscher rüstungsunternehmen koordinieren sollte. Vor allem Krupp und der Flugzeugbauer Junkers zeigten großes Interesse am Aufbau einer rüstungsproduktion in Sowjetrussland. Das Jahr 1921 brachte somit eine zunehmende Institutionalisierung deutschsowjetischer Kommunikationswege auf politischer, wirtschaftlicher und militärischer Ebene. Mit diesen Erfahrungen im Hintergrund begannen im Vorfeld der Konferenz von Genua die Verhandlungen zwischen Auswärtigem Amt und Karl radek, die ihren Abschluss am 16. April 1922 im Vertrag von rapallo fanden. In rapallo verzichteten beide Länder erstens auf gegenseitige Entschädigungsansprüche. Sowjetrussland schied damit aus dem Kreis der Länder aus, die reparationsforderungen an Deutschland für Schäden aus dem Ersten weltkrieg stellten. Deutschland verzichtete im Gegenzug auf alle Ansprüche auf nationalisiertes Eigentum in Sowjetrussland unter der Voraussetzung, dass keinen Drittländern entsprechende Entschädigungen gewährt werden würden. Zweitens enthielt der Vertrag eine willenserklärung, „den wirtschaftlichen Bedürfnissen der beiden Länder in wohlwollendem Geiste wechselseitig entgegenkommen“180. Es wurde das gegenseitige recht auf Meistbegünstigung eingeräumt (Artikel 4) und von deutscher regierungsseite den Unternehmen indirekt politische Unterstützung im Sowjetgeschäft zugesagt. Drittens etablierte rapallo erstmals seit 1918 wieder formale diplomatische Beziehungen zwischen Deutschland und Sowjetrussland. Im Herbst 1922 nahm Ulrich von Brockdorff-rantzau seine tätigkeit als deutscher Botschafter in Moskau auf. Der seit Ende 1921 in Berlin amtierende bevollmächtigte Vertreter der Sowjetunion in Deutschland N. N. Krestinskij erhielt ebenfalls die Befugnisse eines Botschafters.181 rapallo galt in der Forschung bis in die 1980er Jahre als Symbol des deutschsowjetischen „teufelspakts“. Neuere Untersuchungen sehen dagegen die Bedeutung des Vertrags weitaus kritischer.182 In der jüngeren historiographischen Interpretation wird vielmehr auf die engen Grenzen der in rapallo manifestierten und 180 Artikel 5 des Vertrags, abgedruckt in: Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDr/ Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSr: Deutsch-sowjetische Beziehungen (1971), S. 585ff. 181 Formal entsandte die Sowjetunion keine Botschafter, sondern ernannte einen bevollmächtigten Vertreter (Polnomočnyj Predstavitel‘, Polpred), der allerdings die Funktion eines Botschafters ausübte. 182 Dazu: Linke: Der weg nach rapallo (1997), S. 106; sowie: Unger: Zwischen Ideologie und Improvisation (1996), S. 286ff. Zur Bewertung des Faktors wirtschaft im rapallo-Vertrag in der älteren Forschung vgl. besonders: Hartmut von Pogge von Strandmann: rapallo – Strategy in Preventive Diplomacy: New Sources and New Interpretations, in: Volker r. Berghahn/Martin Kitchen (Hg.): Germany in the Age of total war. Essays in Honour of Francis Carsten. London 1981, S. 123–146. Dagegen interpretierte die sowjetische Forschung rapallo als gelungenes, auf Gleichberechti-
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auf Unabhängigkeit von den westmächten bedachten Außenpolitik des Deutschen reichs verwiesen. Die diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Sowjetrussland konnten demnach die deutsche Außenpolitik nur ergänzen. An eine dauerhafte Lösung der Frage der reparationszahlungen, eine wirtschaftliche Erholung des reichs sowie eine Klärung der offenen territorialen Fragen war ohne einen Ausgleich mit den westmächten nicht zu denken. rapallo verhinderte diesen Ausgleich mit den westmächten durch die vorschnelle und einseitige Bindung Deutschlands an Sowjetrussland. Frankreich wurde durch den Vertrag brüskiert und Großbritannien sah sich nicht mehr in der Lage, eine gesamteuropäische Einigung in Genua zu erzielen. Sowohl für Deutschland als auch für Sowjetrussland hatte rapallo schließlich negative wirtschaftliche Folgen. rathenau, der im Grunde eine gesamteuropäische Lösung favorisierte, versuchte dies zu verhindern. Er stimmte dem Vertrag aber unter dem Druck kurzfristiger machtpolitischer Interessen aus der russischen Abteilung im Auswärtigen Amt widerstrebend zu.183 So konnten die Hindernisse, die bis 1922 eine Ausweitung des deutsch-sowjetischen Handels verhindert hatten, auch nach Genua nicht ausgeräumt werden.184 Vor allem die Finanzierung sowjetischer Importe blieb ein großes Problem der deutschen Unternehmen. Es rächte sich, dass Deutschland und Sowjetrussland in Genua die Chance verspielt hatten, mit den westmächten die Grundlage für einen europäischen Ausgleich im rahmen eines umfassenden Finanzierungskonsortiums zu schaffen. Im Juli 1923 wurde zwar ein deutsch-sowjetisches Abkommen geschlossen, das mittels Krediten den sowjetischen Getreideexport finanzierte und dadurch Importe deutscher Industriewaren ermöglichte.185 Zur Finanzierung wurde ein Konsortium gegründet, an dem sich unter anderem die Deutsche Bank, AEG, SSw, Stinnes und Krupp beteiligten. Der begrenzte Umfang dieser Kredite (es handelte sich um warenlieferungen im Austausch gegen sowjetische Getreideexporte) war allerdings nur ein schlechter Ersatz für das fehlgeschlagene internationale Finanzierungskonsortium. Auf politischer Ebene führte die sowjetische Unterstützung der von der KPD getragenen Aufstände in thüringen und Sachsen im Sommer und Herbst 1923 zu tiefen Verstimmungen. Ihren Höhepunkt erlebten die diplomatischen Probleme schließlich im Mai 1924, als die sowjetische Handelsvertretung in Berlin rechtswidrig von der Polizei durchsucht wurde. Die seit 1923 laufenden Verhandlungen über ein umfassendes deutsch-sowjetisches Handels- und Finanzierungsabkommen verzögerten sich dadurch und eine Einigung konnte erst 1925 erzielt werden. Es zeigte sich, dass trotz aller bisherigen Annäherungsversuche die deutsch-sowjetischen Beziehungen noch nicht ausreichend stabilisiert worden waren. gung basierendes Beispiel der intersystemaren Verständigung: Achtamzjan: rapall‘skaja Politika (1974), S. 288. 183 Fleischhauer: rathenau in rapallo (2006), S. 414; Himmer: rathenau, russia, and rapallo (1976), S. 182. 184 Dazu ausführlich: Beitel/Nötzold: Deutsch-sowjetische wirtschaftsbeziehungen (1979), S. 62ff. 185 rosenfeld: Sowjetunion und Deutschland 1922–1933 (1984), S. 77f.
140 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels Die Herausforderung für Siemens Eine erste reaktion von Siemens auf die wirtschaftlichen Probleme der Nachkriegszeit war, das Unternehmen durch eine breite vertikale Aufstellung abzusichern.186 Im Jahr 1920 beteiligte sich Siemens an der Gründung der Siemens-rheinelbe-Schuckert-Union (SrSU), einer Interessengemeinschaft mit Hugo Stinnes und anderen Vertretern der Schwerindustrie, durch die das Unternehmen einen direkten Zugriff auf die Versorgung mit rohstoffen und Zulieferprodukten erhielt. Die Interessengemeinschaft führte Siemens durch die Inflationskrise des Jahres 1923. Langfristig erwies sie sich jedoch nicht als vorteilhaft und wurde 1924 wieder aufgelöst. Siemens behielt aber auch als Mitglied der SrSU seinen Status als eigenständiges Unternehmen.187 Gleichzeitig führte Siemens mehrere unternehmensinterne rationalisierungsmaßnahmen durch und legte dabei unter anderem Geschäftsbereiche von S&H und SSw in gemeinsamen tochtergesellschaften zusammen. Daraus ging zum Beispiel die Siemens-Bauunion (SBU) hervor, in der Siemens alle Bauaktivitäten des Unternehmens zusammenfasste, wozu vor allem die Geschäftsbereiche Untergrundbahnbau und Kraftwerksbau zählten.188 SBU beteiligte sich während des ersten Fünfjahresplans an mehreren sowjetischen Großprojekten (vgl. dazu Kapitel 4.3). Außerdem fusionierten S&H, AEG und weitere Unternehmen 1920 in einem Gemeinschaftsprojekt ihre Glühlampenproduktion in der osram GmbH, die damit zu einem der drei weltgrößten Glühlampenproduzenten wurde.189 Auch osram beteiligte sich in den folgenden Jahren am Sowjetgeschäft. Nach der währungsstabilisierung von 1923 profitierte Siemens vom allgemeinen wirtschaftsaufschwung und steigerte Umsatz sowie Belegschaft deutlich.190 Auch der Anteil des Auslandsumsatzes erreichte zumindest für SSw wieder den wert der Vorkriegszeit, obwohl der Zugang zu den westeuropäischen Märkten aufgrund von Zollschranken und den Bedingungen des Versailler Vertrags weiterhin schwierig blieb. Nur in osteuropa konnte die deutsche Elektroindustrie wieder annähernd den Status der Vorkriegszeit erreichen.191 Im Sowjetgeschäft verbesserten sich die institutionellen rahmenbedingungen allmählich. Die deutsch-sowjetischen Beziehungen, die zwei Jahre lang weitgehend durch informelle Kommunikation geprägt waren, wurden seit Ende 1920 schrittweise auf eine formale vertragliche Grundlage gestellt. Ausgehend von den Verträgen über den Austausch von Kriegsgefangenen etablierte das Abkommen 186 Feldenkirchen: Siemens 1918–1945 (1995), S. 188ff. 187 Herbert Goetzeler/Lothar Schoen: wilhelm und Carl Friedrich von Siemens. Die zweite Unternehmergeneration. Stuttgart 1986, S. 76ff. 188 Zur SBU vgl.: Feldenkirchen: Siemens 1918–1945 (1995), S. 366ff. 189 Zur osram GmbH vgl.: Feldenkirchen: Siemens 1918–1945 (1995), S. 353ff. 190 Czada: Die Berliner Elektroindustrie (1969), S. 164. 191 Harm G. Schröter: Europe in the Strategies of Germany‘s Electrical Engineering and Chemical trusts, 1919–1939, in: Volker r. Berghahn (Hg.): Quest for Economic Empire. European Strategies of German Big Business in the twentieth Century. Providence, oxford 1996, S. 35–54, hier 43.
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vom 6. Mai 1921 erstmals einen rechtlichen rahmen für die bilateralen wirtschaftsbeziehungen. Gleichzeitig gewährte das sowjetische Außenhandelsmonopol ausländischen Unternehmen zunehmend Beteiligungsmöglichkeiten. Für Siemens eröffneten sich dadurch mehrere Alternativen, am Aufbau der sowjetischen Elektroindustrie zu partizipieren. 2.2 Der Aufbau eines wirtschaftlichen Nachrichtendienstes Durch unternehmensinterne Kanäle sowie durch die Vernetzung mit anderen Akteuren stand Siemens kurz nach der oktoberrevolution eine breite Informationsgrundlage über Sowjetrussland zur Verfügung. Die Interpretation dieser Informationen war angesichts der unsicheren Entwicklung im russischen Bürgerkrieg zwar schwierig, doch der Kontakt zwischen Görz und Krasin konnte einige der Unsicherheiten kompensieren. Zumindest führten die kritischen Berichte Krasins dazu, dass sich der Enthusiasmus bei Siemens über die Zukunftsperspektiven im Sowjetgeschäft in engen Grenzen hielt. Seit 1920 und besonders im Verlauf des Jahres 1921 trat hier ein wandel ein. Der sowjetische Staat war machtpolitisch stabilisiert und die Bol‘ševiki konnten mit dem Aufbau der neuen wirtschafts- und Gesellschaftsordnung beginnen. Im GoĖLro-Plan wurden umfassende Ziele für den Aufbau der Industrie definiert und bald darauf begann man, konkrete Projekte in der Praxis umzusetzen. Gleichzeitig entwickelte das Volkskommissariat für Außenhandel einen institutionellen rahmen für die Abwicklung von Importgeschäften mit ausländischen Unternehmen. Informationen verloren sich angesichts der zunehmenden Stabilisierung der sowjetischen wirtschaftsordnung nicht mehr in institutioneller Unsicherheit. Vielmehr stellte der sowjetische Staat einen orientierungsrahmen für Unternehmen bereit, der – wie es schien – die Verlässlichkeit von Informationen erhöhte. Siemens konnte dadurch potentiell subjektive Unsicherheit verringern und die risiken im Sowjetgeschäft besser einschätzen. Seit 1922 gab die Berliner Handelsvertretung eine Publikation namens „Aus der Volkswirtschaft der rSFSr“ beziehungsweise „der UdSSr“, später unter dem Namen „Die Volkswirtschaft der UdSSr“ und seit 1931 unter dem Namen „Sowjetwirtschaft und Aussenhandel“ heraus. Sie wurde in den folgenden Jahren erweitert und erschien zweimal monatlich. Die Zeitschrift gab einen umfassenden Überblick über wirtschaftspolitische Entscheidungen sowie grundlegende geographische, politische, wirtschaftliche und demographische Informationen der Sowjetunion. Hierzu gehörten ebenso wirtschaftsstatistiken, ausführliche Berichte zu den Strukturen der sowjetischen wirtschaftsplanung und rechtliche Hinweise für den Außenhandel. Für Unternehmen boten Ausschreibungen oder Ankündigungen von Projekten eine Möglichkeit, sich auf potentielle Geschäfte vorzubereiten. Allerdings garantierte die offizielle sowjetische Kommunikation nur bedingt eine Verlässlichkeit von Informationen. Verlässliches wissen konnte sich auf Basis der stark propagandistisch gefärbten offiziellen sowjetischen Nachrichtenpolitik kaum ausbilden. Um eine bessere Bewertung der Geschäftsrisiken zu gewährleisten, ver-
142 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels suchte Siemens deshalb, weiterhin auf alternative Methoden der Informationsbeschaffung zurückzugreifen. Finanzierung von Reisen nach Sowjetrussland Seit Anfang 1920 wurden bei Siemens die „Allgemeinen wirtschaftlichen Berichte“ der Abteilung ost im Abstand von zwei bis drei Monaten herausgegeben und dem Vorstand sowie mehreren weiteren Abteilungen im Unternehmen zugestellt.192 Der erste Bericht vom März 1920 war ausführlich dem thema Informationsbeschaffung gewidmet. Es wurde darauf hingewiesen, dass die Beschaffung von Informationen angesichts des Bürgerkriegs außerordentlich schwierig und ein Briefverkehr nur auf inoffiziellen wegen möglich sei. Die Abteilung ost konzentrierte sich deshalb vor allem auf die Auswertung der deutschen und internationalen Presse sowie die Verbindungen mit anderen Unternehmen, die in die deutsch-sowjetischen Beziehungen involviert waren. Darüber hinaus pflegte die Abteilung eine „ständige Fühlung“193 mit dem Auswärtigen Amt zum Informationsaustausch. Über eigene Kontakte nach Sowjetrussland verfügte Siemens seit 1920 kaum mehr, da ein Großteil der früheren Mitarbeiter der russischen Siemens-Gesellschaften mittlerweile emigriert war oder keine Verbindung mit Siemensstadt bestand. Das Unternehmen musste deshalb auf andere Informationsquellen zurückgreifen und beteiligte sich zu diesem Zweck auch an der Finanzierung von Informationsreisen nach Sowjetrussland. Siemens versuchte zunächst, eigene Mitarbeiter nach Sowjetrussland zu schicken, obgleich diese reisen mit einem hohen logistischen und finanziellen Aufwand verbunden waren. So hielt sich der S&H-Mitarbeiter Kunz im winter 1921/1922 mehrere wochen in Petrograd auf, um dort Gespräche bezüglich einer Konzession im Fernsprechbetrieb zu führen.194 Kunz hatte jedoch kein offizielles Visum erhalten und konnte nur unter Lebensgefahr illegal auf dem Seeweg einreisen. Sein Aufenthalt führte bald zu Problemen mit der Geheimpolizei (Vserossijskaja Črezvyčajnaja Komissija, Allrussische Außerordentliche Kommission, VČK), die ihn zwar nicht verhaftete, doch seine Ausreise über einen Monat lang verweigerte. Nach einem Schiffbruch und einer erneuten vorübergehenden rückkehr nach Petrograd gelangte Kunz erst im Januar 1922 nach Stettin. Im Unternehmen wurde nach dieser Erfahrung zunächst von weiteren Mitarbeiterreisen nach Sowjetrussland abgesehen. 192 Vgl. die Berichte in SAA 527. Einen Überblick über den Empfängerkreis im Unternehmen bietet die Verteilerliste in: SAA 527, Abteilung ost: Allgemeiner wirtschaftlicher Bericht Nr. 6 der Abteilung ost. Siemensstadt 11.8.1920, S. 1. 193 SAA 527, Abteilung ost: Allgemeiner wirtschaftlicher Bericht Nr. 1 der Abteilung ost. Siemensstadt 1.3.1920, S. 2. 194 SAA 6339, Kunz: Bericht über die reise nach Petersburg vom 28. oktober 1921 bis 21. Januar 1922. Siemensstadt 25.1.1922. Vgl. dazu auch einen bei Žuravlev zitierten Bericht, nach dem Kunz versuchte, als tourist nach Sowjetrussland einzureisen. Žuravlev: Biznes c Bol‘ševikami (2006), S. 127.
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Im Dezember 1921 erhielt der Vorstandsvorsitzende von SSw Carl Köttgen eine Anfrage Hans Humanns aus dem Pressebüro von Stinnes, ob Siemens die reise des Journalisten Georg Cleinow nach Sowjetrussland mit unterstützen würde. Cleinow verfügte über einschlägige russlanderfahrungen und schrieb unter anderem für die Deutsche Allgemeine Zeitung sowie seit 1925 für die Zeitschrift osteuropa.195 Das Ziel der reise sei laut Humann, den an der Finanzierung beteiligten Unternehmen „vertrauliche Berichte über einzelne, sie näher interessierende Fragen wirtschaftlicher und politischer Art zu liefern, die selbstverständlich nur diesem engsten Kreis zugänglich gemacht werden“196 sollten. Siemens willigte ein und beteiligte sich an der Finanzierung einer reise, die Cleinow im März 1922 nach Moskau unternahm. Cleinows Bericht an Siemens ist voller Details über die Lage des sowjetischen transportwesens, der Industrie sowie über parteiinterne Diskussionen hinsichtlich der weiteren Entwicklung der wirtschaftspolitik. Grundsätzlich stufte Cleinow die Planwirtschaft wie auch das Außenhandelsmonopol als positiv für die deutschen Exporteure ein. Nur eine zentrale Kontrolle des Staates über die sowjetische Industrie werde garantieren, dass sich deutsche Unternehmen gegenüber den weitaus kapitalstärkeren britischen und US-amerikanischen Konkurrenten auf Dauer durchsetzten könnten. Die Perspektiven der wirtschaftsentwicklung bewertete Cleinow als uneingeschränkt positiv: „Lenins ‚neue Politik‘ führt mit unerbittlicher Logik aus dem Kommunismus heraus […].“197 Cleinow drückte damit eine Erwartungshaltung aus, die während der Neuen Ökonomischen Politik von vielen deutschen Unternehmen geteilt wurde. Angesichts der erhofften Öffnung der sowjetischen wirtschaft stieg der Bedarf nach verlässlichen Informationen über die allgemeine wirtschaftspolitische Entwicklung in Sowjetrussland und nach Berichten über konkrete Beteiligungsmöglichkeiten für deutsche Unternehmen. Auch Siemens beteiligte sich intensiv an der Diskussion über die Gründung eines formalisierten Nachrichtendienstes, um das Sowjetgeschäft auf eine bessere Informationsbasis zu stellen. Formalisierung des Nachrichtenwesens Die Anfänge der Diskussion über einen allgemeinen wirtschaftlichen Informationsdienst reichen bis ins Jahr 1921 zurück.198 Auf der Vorstandssitzung des rDI am 6. September 1922 wurde dieser Punkt erstmals auf die tagesordnung gesetzt und Verhandlungen mit Dr. Karl Johann von Voß begonnen, dem Herausgeber des seit 1920 bestehenden „ost-Express“, um einen Zusammenschluss bestehender Publi195 Zu Cleinow vgl.: Müller: rußlandberichterstattung und rapallopolitik (1983), S. 103. 196 SAA 11 Lf 449, Hans Humann: Brief an Köttgen wegen reise von Georg Cleinow nach russland. Berlin 29.12.1921, S. 1. 197 SAA 11 Lf 449, Georg Cleinow: Bericht über den Aufenthalt in Moskau im März 1922. ort unbekannt 1922, S. 36. 198 Vgl. dazu Brief und Anlagen von Voß über die Geschichte des Nachrichtendienstes: SAA 4200, Karl Johann von Voß: Vertraulicher Brief an Görz mit 13 Anlagen. Berlin 12.5.1925.
144 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels kationsorgane zu erreichen.199 Diese Verhandlungen führten jedoch unter anderem aufgrund der fehlenden Finanzierungsbereitschaft der Unternehmen zu keinen greifbaren resultaten. Daher beschränkte sich die Unterstützung des rDI für den ost-Express zunächst nur auf Empfehlungsschreiben. Schließlich startete der Zentralverband des Deutschen Großhandels eine neue Initiative. Am 19. Januar 1923 fand eine Besprechung im Zentralverband statt, die zur Gründung eines „Aktionsausschusses zum Ausbau des ostnachrichtenwesens“ führte, in dessen sechsköpfiges Gremium auch Hermann Görz gewählt wurde.200 Der Aktionsausschuss nahm bald Verhandlungen mit dem ost-Express und der telegraphen-Union auf, um aus beiden einen einheitlichen Nachrichtendienst zu formen. Mitte des Jahres 1923 waren die Vorbereitungen so weit fortgeschritten, dass zur Finanzierung des ostnachrichtendienstes Anteile zur Zeichnung an interessierte Unternehmen ausgegeben wurden.201 In der Finanzierungsfrage stieß Görz jedoch auf Schwierigkeiten, da nur wenige Unternehmen bereit waren, feste Zahlungsverpflichtungen zu übernehmen. Im Juli 1923 musste er deshalb das Fehlen einer ausreichenden finanziellen Unterstützung für einen wirtschaftsinformationsdienst seitens der Unternehmen feststellen. So verlief auch diese Initiative ergebnislos. In Anbetracht des großen Interesses, das einem Nachrichtendienst jedoch grundsätzlich entgegengebracht wurde, schlug er als Alternative die weitere Förderung eines der bestehenden Publikationsorgane vor. Görz sprach sich für den „ostExpress“ aus, der seit 1921 über einen eigenen Korrespondenten in Moskau verfügte und anfangs vor allem offizielle Nachrichten aus Sowjetrussland publizierte. Der ost-Express entwickelte sich nach wolfgang Müller zu einem „einzigartigen“ Nachrichtendienst für deutsche Unternehmen, „da andere gesicherte Nachrichten über die wirkliche wirtschaftliche Lage des Sowjetstaates kaum vorlagen“202. während des Jahres 1923 führte Görz einen intensiven Schriftverkehr mit Unternehmen, Banken und Verbänden, um die für den Ausbau des ost-Express erforderlichen finanziellen Mittel einzuwerben.203 Im August 1924 kam das Projekt zum Abschluss. Der ost-Express fusionierte mit der ostabteilung des otto-StollbergVerlags zum „ostwelt-Verlag“. Unter der Leitung von Karl Johann von Voß gab der neue Verlag seit 1924 den ost-Express (bis zu zweimal täglich), den ost-Merkur 199 SAA 4 Lf 665, reichsverband der Deutschen Industrie: Einladung zur Vorstandssitzung am 6.9.1922. Berlin 28.8.1922. Der Deutsch-russische Verein gab seit 1912 „Die ostwirtschaft“ heraus, darüber hinaus bestanden bei mehreren deutsche Zeitungsverlagen eigene Nachrichtendienste für osteuropa. 200 SAA 6405, Zentralverband des Deutschen Grosshandels: Brief an Görz, in Anlage Niederschrift der Aussprache vom 19.1.1923 über ostnachrichtendienst. Berlin 10.2.1923. Siehe dazu auch: SAA 4200, Aktionsausschuss zum Ausbau des ostnachrichtenwesens: Anlage 10 zum Brief von Voß an Görz: Leitsätze für den Ausbau des ostnachrichtenwesens. Berlin 1925. 201 SAA 6405, Hermann Görz: Aktennotiz über Diskussion mit AEG über ostnachrichtendienst. Siemensstadt 1.6.1923. 202 Müller: rußlandberichterstattung und rapallopolitik (1983), S. 39. Zum ost-Express vgl. auch: Mick: Sowjetische Propaganda, Fünfjahrplan und deutsche russland-Politik (1995), S. 39ff. 203 Darunter die Deutsche Bank, HAPAG, Stinnes, AEG, der rDI und der Zentralverband des Deutschen Großhandels (vgl. dazu den umfangreichen Schriftverkehr in SAA 6405).
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(monatlich) und die ostwirtschaft (halbjährlich) heraus, die alle von Siemens abonniert wurden.204 Mit dem Deutsch-russischen Verein sowie dem osteuropa-Institut in Breslau hielt der ostwelt-Verlag enge Beziehungen. Auch das Auswärtige Amt und das reichsministerium für wirtschaft unterstützten sowohl die Gründung des Verlags als auch dessen spätere Finanzierung. Görz hatte sich intensiv an der Diskussion um den Ausbau des deutschen wirtschaftsnachrichtendienstes beteiligt und, so von Voß, durch seine „entscheidende Unterstützung“205 die Gründung des ostwelt-Verlags maßgeblich gefördert. Die Publikationen gaben einen regelmäßigen und detaillierten Einblick in die sowjetische wirtschaftspolitik. Ebenfalls ermöglichten gut recherchierte Kommentare, die offizielle Politik in einen realistischen Erwartungshorizont einzuordnen. Mit der Gründung des ostwelt-Verlags wurde die Institutionalisierung eines zentralen wirtschaftsnachrichtendienstes für Sowjetrussland im wesentlichen abgeschlossen. Dennoch blieb der Zugriff auf Informationen über die wirtschaftliche Entwicklung der Sowjetunion durch die Institutionen des Außenhandelsmonopols weiterhin eng begrenzt. 2.3 Institutionen des sowjetischen Außenhandelsmonopols In den Krisenjahren zwischen 1917 und 1920 etablierte sich Krasin als Schlüsselfigur für die Positionierung von Siemens in den deutsch-sowjetischen Beziehungen. Es war seinem Einfluss zu verdanken, dass Siemens Kommunikationsbeziehungen mit den Bol‘ševiki aufnahm, die ideologische Abwehrhaltung überwand und sich zur Beteiligung am Sowjetgeschäft entschloss. Noch über das Jahr 1921 hinaus ist eine regelmäßige Kommunikation mit Krasin nachzuweisen. Allerdings basierte der Kontakt fast ausschließlich auf der informellen Beziehung zu Hermann Görz, die seit 1920 mit der zunehmenden Formalisierung des sowjetischen Außenhandels kollidierte. Im rahmen dieser Formalisierung entwickelte sich die Handelsvertretung in Berlin als Kommunikationszentrum der sowjetischen Außenwirtschaftspolitik in Deutschland.206 Institutionelle Ausgestaltung des Außenhandelsmonopols Ausgangspunkt des sowjetischen Außenhandelsmonopols war das Dekret vom 22. April 1918, das angesichts der unsicheren machtpolitischen Lage der Bol‘ševiki jedoch nur einen „deklarativen Charakter“207 hatte. Die eigentliche institutionelle 204 SAA 4200, Karl Johann von Voß: Vertraulicher Brief an Görz mit 13 Anlagen. Berlin 12.5.1925. Ebenfalls: Müller: rußlandberichterstattung und rapallopolitik (1983), S. 40. 205 So im Dankesschreiben von Voß an Görz: SAA 6405, Karl Johann von Voß: Brief an Görz, im Anhang Geschäftsplan des ost-Express. Berlin 9.4.1924. 206 Heubaum: Das Volkskommissariat für Außenhandel (2001), S. 44ff. 207 John B. Quigley: the Soviet Foreign trade Monopoly. Institutions and Laws. Columbus 1974, S. 22. Ebenso: Schneider: Das sowjetische Außenhandelsmonopol (1973), S. 10.
146 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels Ausgestaltung des Monopols begann erst zwei Jahre später, als die politischen rahmenbedingungen die Aufnahme geregelter Außenhandelsbeziehungen erlaubten. Am 11. Juni 1920 betraute der rat der Volkskommissare das Volkskommissariat für Außenhandel (NKVt) mit der Abwicklung aller Außenhandelsbeziehungen der rSFSr.208 Gleichzeitig wurden die bereits bestehenden Handelsrepräsentanzen im Ausland formalisiert, der Autorität des NKVt unterstellt und ihnen die operative Durchführung von Import- und Exportgeschäften übertragen. In den folgenden Jahren kam es zu mehreren strukturellen reformen, die die Kompetenzen der Handelsvertretungen weiter stärkten. Es zeigten sich jedoch bald die großen reibungsverluste, die sich aus dieser organisation des Außenhandels ergaben.209 Das NKVt konkurrierte mit anderen Volkskommissariaten um Einfluss und zum obersten Volkswirtschaftsrat bestand keine klare Abtrennung der Planungskompetenz. Schließlich blieb die Frage offen, wie die Schnittstelle zwischen Binnen- und Außenhandel institutionell gestaltet werden würde. Im Ergebnis wurde bald die vollkommene Überforderung von NKVt und Handelsvertretungen bei der Planung und operativen Durchführung des Außenhandels deutlich. Unter diesen Voraussetzungen setzte Mitte 1921 eine innerparteiliche Diskussion ein, die ein Festhalten am Außenhandelsmonopol grundsätzlich infrage stellte.210 Seine Gegner (darunter N. I. Bucharin, Zinov‘ev, G. J. Sokol‘nikov) wiesen unter anderem darauf hin, die Komplexität der Außenwirtschaftsbeziehungen wäre unmöglich durch ein einzelnes Volkskommissariat zu bewältigen und könne nur zu unzureichenden Ergebnissen führen. Mit Verweis auf die Erfolge der NĖP bei der begrenzten Zulassung eines privaten Binnenhandels argumentierten sie, ähnliche Instrumente sollten auch im Außenhandel eingesetzt werden. Krasin wandte sich allerdings vehement gegen die von ihm befürchtete Aufweichung des Monopols, da er erstens eine rückkehr kapitalistischer Kräfte nach Sowjetrussland befürchtete. Zweitens erforderte der Aufbau der Planwirtschaft im Inneren seiner Meinung nach im Außenhandel unbedingt ein Äquivalent. Doch nur die Autorität Lenins, der mit Krasin weitgehend übereinstimmte, konnte die Angriffe abwehren. Schließlich bestätigte das Zentralkomitee der Partei auf dem 12. Parteikongress am 16. Dezember 1922 den Fortbestand des Monopols sowie des NKVt als zentrale Instanz für die Durchführung und Überwachung des sowjetischen Außenhandels. Mit Gründung der Sowjetunion wurde das NKVt Unionskommissariat und für den Außenhandel aller Sowjetrepubliken verantwortlich. 208 Ausnahmen, wie die Außenhandelsaktivitäten des Zentralverbands der Konsumgenossenschaften, Centrosojuz, wurden nur nach Begründung genehmigt. Kaspar-Dietrich Freymuth: Die historische Entwicklung der organisationsformen des sowjetischen Außenhandels 1917–1961 (Berichte des osteuropa-Instituts an der Freien Universität Berlin 58). Berlin 1963, S. 26. Vgl. dazu auch: Heubaum: Das Volkskommissariat für Außenhandel (2001), S. 47. Parallel zum NKVt war das Volkskommissariat für Binnenhandel (Narodnyj Komissariat Vnutrennej Torgovli) für den innersowjetischen Handel zuständig. 209 Heubaum: Das Volkskommissariat für Außenhandel (2001), S. 53. 210 Zur Diskussion vgl.: Heubaum: Das Volkskommissariat für Außenhandel (2001), S. 56; sowie: Quigley: the Soviet Foreign trade Monopoly (1974), S. 24ff.
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In einigen Fragen hatten die Gegner des Monopols aber wichtige institutionelle Veränderungen bewirkt. Ein Dekret des Zentralen Exekutivkomitees vom 13. März 1922 ermöglichte zum Beispiel die Gründung gemischter Handelsgesellschaften (smešannoe obščestvo) mit ausländischen Investoren, an denen sich neben dem NKVt auch andere sowjetische organisationen beteiligen konnten. Dabei war die Voraussetzung, dass der sowjetische Anteil an der Gesellschaft zumindest 50 Prozent des Kapitals betrug. 1925 bestanden bereits 42 solcher Gesellschaften, die für jeweils eine festgelegte warengruppe den Export oder Import durchführten.211 weiterhin wurde dem NKVt während des Jahres 1922 die Möglichkeit eingeräumt, durch regionale Handelskontore für Import- und Exportgeschäfte (Gosudarstvennaja Torgovaja Kontora, Staatliches Handelskontor, Gostorg) eine Schnittstelle zwischen Außen- und Binnenhandel zu schaffen. Diese Handelskontore kauften für den Export bestimmte Güter in den Unionsrepubliken auf und verkauften sie im Ausland über die Handelsvertretungen. Importgeschäfte wurden in die umgekehrte richtung abgewickelt.212 Am Ende der innerparteilichen Diskussion des Jahres 1922 stand im Außenhandel ein komplexes Gebilde aus verschiedenen institutionellen Strukturen. regionale organisationen (Gostorgy) konkurrierten mit warengebundenen organisationen (Import- und Exportgesellschaften). Das NKVt hatte außerordentliche Probleme, die Bedürfnisse der wirtschaftsorganisationen in der Sowjetunion, die vom Außenhandel abgeschnitten waren, bedarfsgerecht zu befriedigen: „Die organisationsstruktur des Außenhandels zeigte in den Jahren 1923/24 alles andere als einheitliche Züge.“213 Krasins Politik, auf einer strikten Einhaltung des Außenhandelsmonopols zu beharren, hatte sich dennoch weitgehend durchgesetzt. Ein direkter Kontakt des sowjetischen Auftraggebers zum ausländischen Lieferanten war ausgeschlossen. Die Kommunikation hatte vielmehr einem komplexen bürokratischen Prozess zu folgen. Dieser führte den sowjetischen Betrieb zunächst zum regionalen Gostorg oder zur Importgesellschaft und dann über die jeweilige Handelsvertretung im Ausland zum Lieferanten. Die Handelsvertretungen waren die Schnittstelle zwischen dem sowjetischen Auftraggeber und ausländischen Auftragnehmer. B. S. Stomonjakov und die Geschäftspolitik der Berliner Handelsvertretung Seit Ende 1920 bestand an der sowjetischen Fürsorgestelle für Kriegsgefangene in Berlin eine kleine Handelsabteilung, die aber keine größere Aktivität entfaltete.214 Die eigentliche Gründung der Handelsvertretung basierte vielmehr auf dem Ab211 Dazu ausführlich: Freymuth: Die historische Entwicklung der organisationformen (1963), S. 80ff. 212 Quigley: the Soviet Foreign trade Monopoly (1974), S. 47; Glen Alden Smith: Soviet Foreign trade. organization operations and Policy; 1918–1971. New York 1973, S. 49. 213 Heubaum: Das Volkskommissariat für Außenhandel (2001), S. 67. 214 Zu den ersten Aufträgen Kopps an deutsche Unternehmen vgl.: rGAĖ f. 413, op. 3, d. 1015, Berliner Handelsvertretung: Briefwechsel mit deutschen Unternehmen. Berlin 1921.
148 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels schluss des Abkommens vom 6. Mai 1921. Darin wurde in Artikel XII Folgendes festgehalten: „Die russische Handelsvertretung in Deutschland ist als staatliche Handelsstelle für den rechtsverkehr auf deutschem Gebiete als legitimierte Vertreterin der russischen regierung anzusehen.“215
Erster Leiter der Handelsvertretung wurde auf Betreiben Krasins der Elektroingenieur B. S. Stomonjakov.216 Dieser kam aus der sozialistischen Bewegung Bulgariens, hatte in der Vorkriegszeit mehrere Jahre im Exil gelebt und in der Berliner Abteilung der russischen Siemens-Gesellschaften gearbeitet. während des Ersten weltkriegs organisierte Stomonjakov Liefergeschäfte von Siemens nach russland, die über die Niederlassung in Stockholm abgewickelt wurden.217 Durch die Ernennung Stomonjakovs zum Handelsvertreter blieb die Kontinuität ehemaliger Siemens-Mitarbeiter in Schaltstellen der sowjetischen Außenwirtschaftsorganisation erhalten. Die Handelsvertretung in Berlin etablierte sich nach ihrer Gründung als zentraler Ansprechpartner für deutsche Unternehmen. Schon im Mai 1921 nahm Stomonjakov an einer ersten Besprechung mit Görz, Deutsch und Fehrmann über die Zukunft des deutschen Sowjetgeschäfts teil. In den folgenden Monaten übernahm er die alleinige Führung des sowjetischen Außenhandelsapparats in Deutschland. Dieser entfaltete eine stark zunehmende Bestelltätigkeit, wodurch das reich im Jahr 1922 zum größten Außenhandelspartner der Sowjetunion aufstieg. Auch Siemens reichte eine große Zahl an Angeboten ein und erhielt mehrere Bestellungen für elektrotechnisches Zubehör.218 Der Ausbau der Berliner Handelsvertretung war teil der sich allgemein ausweitenden institutionellen Formalisierung des sowjetischen Außenhandels in der 215 Abgedruckt in: Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDr/Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSr: Deutsch-sowjetische Beziehungen (1971), S. 383. 216 Zur Biographie Stomonjakovs vgl.: V. V. Sokolov: Na Postu Zamestitelja Narkoma Innostrannyx Del SSSr. o Žizni i Dejatel‘nosti B. S. Stomonjakova, in: Novaja i Novejšaja Istorija (1988), 5, S. 111–126. Žuravlev zeichnet anhand von Quellen aus der intrasowjetischen Kommunikation ein Bild Stomonjakovs, das ihn als außergewöhnlich intelligenten und ehrlichen, aber auch in Verhandlungen äußerst unnachgiebigen Menschen ausweist. Žuravlev: Biznes c Bol’ševikami (2006), S. 125. Zur Berliner Handelsvertretung siehe besonders die Erinnerungen rapoports: rapoport: Sovetskoe torgpredstvo v Berline (1981). Ebenfalls: Herbst: Die sowjetische Handelsvertretung in Berlin (1989). Allgemein zu den sowjetischen Handelsvertretungen vgl.: John B. Quigley: Soviet Foreign trade Agencies Abroad: A Note, in: Law and Contemporary Problems 37 (1972), 3, S. 465–473. 217 Fritz Jessen von der Finanzabteilung wurde diesbezüglich 1918 von der Staatsanwaltschaft vernommen. SAA 11 Lg 735, Fritz Jessen: Mitteilung an Henrich über Geschäfte während des weltkriegs. Siemensstadt 3.6.1918. 218 Dazu exemplarisch: rGAĖ f. 413, op. 3, d. 973a, Berliner Handelsvertretung: Briefwechsel über Aufträge von Glavėlektro. Berlin 1921; rGAĖ f. 413, op. 3, d. 989, Berliner Handelsvertretung: Briefwechsel mit ausländischen Firmen. Berlin 1921. Die Statistik des tB ost weist für das Geschäftsjahr 1921/22 einen deutlichen Anstieg der Bestelleingänge aus. Siehe dazu auch Kapitel 2.5.
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ersten Hälfte der 1920er Jahre. Individuelle Geschäftsabschlüsse auf persönlicher Basis, wie das von Krasin im Sommer 1918 abgeschlossene Lieferabkommen mit Hugo Stinnes, waren unter diesen Bedingungen kaum mehr möglich. Vielmehr setzte das NKVt einen regelkatalog durch, der den sowjetischen Außenhandel immer mehr bürokratisierte.219 Dazu gehörten öffentliche Ausschreibungen von Aufträgen sowie die Formalisierung von Lieferungs- und Zahlungsbedingungen. Die gleichzeitig immer beibehaltene Unterordnung des sowjetischen Außenhandels unter politische Zielsetzungen war für die Unternehmen hingegen kaum einsichtig. wie sich an der Entwicklung des Sowjetgeschäfts in den folgenden Jahren zeigte, hatten jedoch die politischen Motive im sowjetischen Außenhandel eine zentrale Bedeutung. 2.4 Konzessionen und gemischte Gesellschaften Nach der typologie Suttons bestanden zu Beginn der 1920er Jahre drei rechtsformen für eine Beteiligung ausländischer Unternehmen in der sowjetischen wirtschaft: reine Konzessionen (pure concessions), gemischte Gesellschaften (mixed company concessions) und technische Hilfsverträge (technical assistance contracts).220 Die reine Konzession gewährte dem ausländischen Unternehmen das recht, sich in einem vertraglich definierten rahmen an einem sowjetischen wirtschaftsbetrieb zu beteiligen. Das Unternehmen verpflichtete sich dazu, Kapital zu investieren und eigene technologien zu verwenden. Verfügungsrechte wurden dem Unternehmen hingegen nicht gewährt. Es erhielt lediglich das recht zugesprochen, einen vorher definierten Anteil des Gewinns einzubehalten. Gemischte Gesellschaften entstanden ursprünglich als gemeinsame Beteiligungsgesellschaften sowjetischer und ausländischer Anteilseigner, später wurde der sowjetische Anteil auf mindestens 51 Prozent erhöht. Diese Gesellschaften gab es sowohl im Bereich des Außenhandels als auch im Bereich der Produktion. wie bei reinen Konzessionen brachten die ausländischen Anteilseigner technisches wissen und Kapital in die Gesellschaft ein, während die sowjetischen Partner für die Vorbereitung und Durchführung der Projekte in der UdSSr verantwortlich waren. Als dritter typus ermöglichten technische Hilfsverträge den wissenstransfer, allerdings nahmen sie erst zum Ende der 1920er Jahre einen größeren Umfang an. Bei technischen Verträgen handelte es sich nicht um direkte Konzessionen an aus219 Zur organisationsstruktur einer sowjetischen Handelsvertretung im Jahr 1924 vgl. die graphische Darstellung in: Freymuth: Die historische Entwicklung der organisationsformen (1963), S. 68. Vgl. ebenfalls den detaillierten Überblick über die organisation der Handelsvertretung aus dem Jahr 1927 in: Die Volkswirtschaft der UdSSr 6 (1927), 9, S. 48ff. 220 Sutton: western technology and Soviet Economic Development 1917–1930 (1968), S. 8. Vgl. ebenfalls die rechtliche Abgrenzung in: Goldstein/rapoport: Das Sowjet-wirtschaftsrecht im Geschäftsverkehr (1931), S. 39ff. Lorenz fasst gemischte Gesellschaften dagegen als Konzessionen auf. Lorenz: Handbuch des Aussenhandels (1930), S. 237ff.
150 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels ländische Unternehmen. Vielmehr erwarb die UdSSr im rahmen der Hilfsverträge das recht, Patente ausländischer Unternehmen zu nutzen. Bis 1930 wurden insgesamt 134 technische Hilfsverträge abgeschlossen. Deutsche Unternehmen standen dabei mit insgesamt 53 Verträgen knapp hinter den USA mit 55 Verträgen.221 Zur Durchführung und Überwachung der Konzessionsverträge wurde nach längeren Diskussionen am 12. April 1923 das Hauptkonzessionskomitee (Glavnyj Koncessionyj Komitet, Glavkonzesskom) beim rat für Arbeit und Verteidigung eingerichtet, das alle Anfragen ausländischer Unternehmen bearbeitete.222 Das NKVt selbst war an der Entscheidung über Konzessionsanträge nicht direkt beteiligt, konnte aber durch seine Gutachterfunktion Einfluss auf den Entscheidungsprozess nehmen. Glavkonzesskom wurde so die zentrale Instanz zur Bearbeitung von Konzessionen. Ziel der strengen regulierung des Konzessionswesens war es, den Einfluss ausländischer Unternehmen bei ihrer tätigkeit in der UdSSr zu kontrollieren und gleichzeitig den technologietransfer möglichst weitgehend zu nutzen. Die von Lenin geforderten „Garantien“ in der Konzessionspolitik, die eine rückkehr kapitalistischer wirtschaftsprinzipien verhindern sollten (vgl. das Zitat Lenins auf S. 119), wurden im Glavkonzesskom institutionalisiert.223 Reine Konzessionen und Siemens Hermann Görz führte im Jahr 1920 erstmals mit Krasin Gespräche über den Erwerb einer Konzession, die aufgrund der unsicheren rechtslage aber zunächst ergebnislos verliefen. Vielmehr gab Alfred Schwartz, zu diesem Zeitpunkt Vorsitzender des Petrograder Schwachstromtrusts, in einem Brief an Görz Folgendes zu Bedenken: „Ich und meine Kollegen glauben nicht an die Möglichkeit eines Konzessionsabschlusses unter den gegenwärtigen Verhältnissen. trotzdem sind wir der Ansicht, dass es wünschenswert wäre, wenn unsere Stammhäuser Verhandlungen wegen Konzessionen mit der hiesigen regierung anknüpften, um auf diese weise unliebsame Umwälzungen auf unseren werken oder aber die Uebergabe eines unserer werke in Konzession oder Arrende an irgend einen outsider, worüber bereits diverse Gerüchte hier kursierten, zu vermeiden. […] wie schon gesagt, glaube ich zurzeit nicht an die Möglichkeit eines Abschlusses, aber die erforderlichen Vorarbeiten zu den Verhandlungen ebnen den weg zu dem Zusammenschluss aller in Frage kommenden Firmen zu dem gegebenen Zeitpunkt, da man wieder wird ernst an die Arbeit gehen können.“224
Erst 1921 nahm Siemens, wohl auch unter dem Einfluss der laufenden sowjetischbritischen Verhandlungen in London sowie dem zunehmenden Engagement von 221 Beitel/Nötzold: Deutsch-sowjetische wirtschaftsbeziehungen (1979), S. 105ff. Vgl. dazu auch die Übersicht in: Die Volkswirtschaft der UdSSr 8 (1929), 4, S. 35ff. 222 Dazu ausführlich: Goldstein/rapoport: Das Sowjet-wirtschaftsrecht im Geschäftsverkehr (1931), S. 39. 223 Vgl. einen Mustervertrag für Konzessionen in: Beitel/Nötzold: Deutsch-sowjetische wirtschaftsbeziehungen (1979), S. 219ff. 224 SAA 68 Li 141, Alfred A. Schwartz: Brief an Görz. Moskau 24.4.1921, S. 3.
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Unternehmen wie Ericsson, Marconi und General Electric im Sowjetgeschäft, wieder Gespräche über Konzessionen auf. Ende 1921 konkretisierten sich diese Gespräche offenbar, denn im November entsandte S&H den Ingenieur Kunz nach Petrograd, um dort das Potential eines Konzessionsvertrags zum Betrieb der Petrograder telefonzentrale auszuloten (vgl. Kapitel 2.2). Der ausführliche Bericht von Kunz über seine reise nach Petrograd im winter 1921/22 bietet einen guten Einblick in den Verlauf der Verhandlungen. Kunz führte mehrere Gespräche mit der Leitung der Petrograder telefonzentrale und zeigte sich bestürzt über den schlechten Zustand der Anlage. Darüber hinaus konnte er sich durch treffen mit Alfred Schwartz und Gustav Hilger, dem Leiter der Fürsorgestelle für Kriegsgefangene in Moskau, eingehend über allgemeine wirtschaftspolitische Entscheidungsstrukturen informieren. Hilger mahnte Kunz ausdrücklich zur Vorsicht, da „die politischen Verhältnisse in rußland […] so wechselnd und ungegoren seien, daß ein System fester Handelsverbindung hierauf nicht aufzubauen sei“225. Schwartz beurteilte eine Siemens-Konzession zwar grundsätzlich positiv, hielt aber eine ausreichende finanzielle Absicherung für unbedingt erforderlich: „Über seine [Alfred Schwartz‘] Meinung hinsichtlich einer Konzession für den Fernsprechbetrieb befragt, erklärte er, daß eine solche Konzession seiner Meinung nach für recht vorteilhaft gehalten werden könne, vorausgesetzt, daß russischerseits die nötigen Garantien geboten werden. Die Gebühren allein, welche ja wohl nur in Sowjet-währung bezahlt werden und die keinen Gegenwert darstellen, können selbstverständlich als Garantie nicht aufgefaßt werden. Man müsse also an die Hinterlegung einer Garantiesumme in Goldrubel denken, welche in diesem Fall der Konzessionsgeber, also die russische regierung, zu leisten habe.“226
Der Bericht von Kunz endet mit einer kritischen Einschätzung. Einerseits sei der Einstieg von S&H seitens der sowjetischen telefonverwaltung erwünscht und technisch auch durchführbar. Andererseits seien die Gewinnmöglichkeiten äußerst fragwürdig und wohl allenfalls auf der „primitiven Basis des tauschhandels“227 möglich. Sinnvoll wäre ein Konzessionsgeschäft von Siemens nur dann, wenn von sowjetischer Seite die nötigen Garantien für die rentabilität gegeben würden. Darüber hinaus kritisierte Kunz den komplexen bürokratischen Apparat und die unklare Zuordnung von Kompetenzen in der sowjetischen wirtschaftsverwaltung: „Für den Abschluß von Geschäften kommt niemals eine Behörde oder Person allein in Betracht, sondern, sobald sich das Projekt zu realisieren scheint, tauchen immer weitere sogenannte verantwortliche Personen auf und suchen ihren Vorteil zu erreichen.“228
Angesichts dieser negativen Bewertung entschied sich S&H schließlich gegen ein Konzessionsabkommen mit der Petrograder telefonzentrale. 225 SAA 6339, Kunz: Bericht über die reise nach Petersburg vom 28. oktober 1921 bis 21. Januar 1922. Siemensstadt 25.1.1922, S. 5. 226 SAA 6339, Kunz: Bericht über die reise nach Petersburg vom 28. oktober 1921 bis 21. Januar 1922. Siemensstadt 25.1.1922, S. 1. 227 SAA 6339, Kunz: Bericht über die reise nach Petersburg vom 28. oktober 1921 bis 21. Januar 1922. Siemensstadt 25.1.1922, S. 7. 228 SAA 6339, Kunz: Bericht über die reise nach Petersburg vom 28. oktober 1921 bis 21. Januar 1922. Siemensstadt 25.1.1922, S. 6.
152 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels Parallel zu S&H führte auch SSw mit der Berliner Handelsvertretung Gespräche über eine Konzession zum Bau einer Straßenbahn und eines Kraftwerks in Baku. Am 13. Dezember 1922 schrieb Stomonjakov an Lenin, dass die Verhandlungen weit gediehen seien und SSw eine Gruppe von Ingenieuren auf eigene Kosten zu Vorbereitungsarbeiten nach Baku entsenden würde. Zwar solle das Projekt erst nach einer öffentlichen Ausschreibung Anfang 1923 vergeben werden, laut Stomonjakov hatte SSw jedoch gute Aussichten auf die Konzession: „Bei gleichen Bedingungen müssen wir der Firma Siemens-Schuckert den Vorzug geben, als Ausgleich für die Ausgaben und Bemühungen, die sie jetzt hat.“229 Doch wie bei S&H kam auch das Konzessionsprojekt von SSw nicht zum Abschluss, sondern scheiterte im Verlauf des Jahres 1923 an sich vertiefenden Differenzen zwischen Siemens und der Handelsvertretung (dazu ausführlich Kapitel 2.6). Die Mologa-Konzession und die Probleme der sowjetischen Konzessionspolitik Die einzige Konzession, an der sich Siemens in den 1920er Jahren direkt beteiligte, war die im September 1923 abgeschlossene Mologa-Konzession (Mologoles, Mologo-wald).230 Hauptaktionär war die Himmelsbach AG aus dem Schwarzwald. weitere Anteilseigner waren die Stinnes-Gruppe sowie die Baufirmen Grün-Bilfinger und die Hoch-tief AG. Siemens hielt über die tochtergesellschaft SBU drei Prozent der Anteile, die sie durch Sachlieferungen (wie Baumaschinen und Arbeitsleistung) in die Gesellschaft einbrachte.231 Aufsichtsratsvorsitzender war der ehemalige reichskanzler Joseph wirth. Die Mologa war eine der größten Holzkonzessionen der Sowjetunion. Sie umfasste das recht auf Holzeinschlag an der oberen wolga, die Holzverarbeitung sowie die Verpflichtung zum Bau einer Infrastruktur für die Verarbeitung und den transport des Holzes. Mit dem Bau einer Eisenbahnlinie durch das Konzessionsgebiet wurde SBU beauftragt. Nach anfänglichen Erfolgen geriet die Mologa 1925 in finanzielle Schwierigkeiten, da das Kapital nicht für die Durchführung der nötigen Infrastrukturprojekte ausreichte. Als dann 1927 ein Großteil der Investitionen abgeschlossen war und der Betrieb weitgehend funktionierte, tauchten Probleme anderer Art auf. Ein Bericht der Geheimpolizei (seit 1924 unter dem Namen Ob‘edinennoe Gosudarstvennoe 229 Brief Stomonjakovs an Lenin vom 22.12.1922, in: Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDr/Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSr: Deutsch-sowjetische Beziehungen 1922–1925 (1978), S. 138. Vgl. auch: rGAĖ f. 413, op. 2, d. 1518, l. 28, Berliner Handelsvertretung: Brief an Ležava, Glavkonzesskom. Berlin 16.10.1922. 230 Zur Mologa siehe: Ulrike Hörster-Philipps: Joseph wirth 1879–1956. Eine politische Biographie (Veröffentlichungen der Kommission für Zeitgeschichte, reihe B: Forschungen 82). Paderborn 1998, S. 285ff.; rosenfeld: Sowjetunion und Deutschland 1922–1933 (1984), S. 87f.; sowie die Erinnerungen Gustav Hilgers: Hilger: wir und der Kreml (1964), S. 171ff. Die russische Fassung des Konzessionsvertrags ist abgedruckt in: Sevost‘janov: Duch rapallo (1997), S. 17f. 231 Vgl. die Liste der Anteilseigner in: SAA 11 Lf 330, Heinrich Kress: Brief an Köttgen wegen Beteiligung an der Mologa. Berlin 8.10.1923.
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Političeskoe Upravlenie, Vereinigte Staatliche Politische Verwaltung, oGPU) stellte große Mängel bei der Nutzung der Holzkonzession fest und klagte das Unternehmen der Bestechung und Ausbeutung örtlicher Mitarbeiter an.232 Mehrere russische Mitarbeiter der Mologa wurden daraufhin in einem der ersten Schauprozesse der Sowjetunion wegen Bestechung zum tode verurteilt und verloren ihr Leben. Die Finanzprobleme und der fehlende politische rückhalt seitens der Sowjetunion machten schließlich den weiteren Betrieb der Mologa unmöglich. Im April 1927 willigte der Aufsichtsrat in die Aufhebung der Konzession ein und die bereits fertig gestellten Anlagen wurden von einem sowjetischen trust übernommen. Nach Sutton war dieser Umgang mit ausländischen Konzessionsnehmern durchaus typisch: „the accusation of bribery was a characteristic move to force expulsion of the concession as soon as production was organized and sufficient equipment introduced into the concession.“233 Angesichts der geringen Aktienbeteiligung der SBU hielt sich der finanzielle Schaden für Siemens in Grenzen. Das Unternehmen hatte von Anfang an nicht geplant, durch die Beteiligung direkte Gewinne zu erwirtschaften. Kurz nach der Gründung der Mologa informierte SBU Carl Köttgen über die eigentlichen Ziele der Beteiligung: „Nachdem in einer […] Besprechung mit Herrn Dr. C. F. von Siemens, Herrn Dr. Franke, Herrn Geheimrat Görz und Herrn Direktor reyß festgestellt worden war, dass der Siemenskonzern Interesse daran hat, bei dieser Gesellschaft mitzugehen und zwar einmal, um auf diese weise in russland Fuss zu fassen und Gelegenheit zu haben, sich über die dortige Marktlage eingehend zu unterrichten und des weiteren, um mit den über einen ganz ausserordentlichen Einfluss in russland verfügenden Herren reichskanzler a. D. Dr. wirth und Staatsrat Dr. Haas [Ludwig Haas, reichstagsabgeordneter der DDP] in Verbindung zu kommen, traten wir der Gesellschaft mit einem Aktienkapital von 10 000 Pfund bei.“234
Insofern diente die Beteiligung von SBU an der Mologa AG primär einer Investition in die Informationsbeschaffung und in die institutionelle Vernetzung im Sowjetgeschäft. Im Fall der Mologa zeigten sich deutlich die Probleme, die der sowjetischen Konzessionspolitik inhärent waren. Eine langfristige Einbindung ausländischer 232 So nach einem bei Nekrich zitierten Bericht der oGPU: Nekrich: Pariahs, Partners, Predators (1997), S. 13f. Ebenso in: A. M. Plechanov: VČK-oGPU. V Gody novoj ėkonomičeskoj Politiki 1921–1928. Moskau 2006, S. 446. 233 Sutton: western technology and Soviet Economic Development 1917–1930 (1968), S. 156; siehe ebenso: Hörster-Philipps: Joseph wirth (1998), S. 349ff. In einer Gegendarstellung der Berliner Handelsvertretung wurde das Scheitern der Konzession dagegen ausschließlich auf den Kapitalmangel zurückgeführt und die Verantwortung den deutschen Konzessionsnehmern zugeschoben. Die Volkswirtschaft der UdSSr 6 (1927), 6, S. 36ff. Hilger gibt zwar den deutschen Konzessionseignern eine teilschuld am wirtschaftlichen Misserfolg der Mologa. Das letztliche Scheitern wurde jedoch „entscheidend beeinflußt und vertieft […] durch das Unvermögen und den mangelnden willen der Sowjetregierung, Verhältnisse zu schaffen, unter denen ausländisches Kapital erfolgreich hätte arbeiten können“. Hilger: wir und der Kreml (1964), S. 172. 234 SAA 11 Lf 330, Heinrich Kress: Brief an Köttgen wegen Mologa. Berlin 12.10.1923, S. 1f.
154 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels Unternehmen in die wirtschaftsentwicklung der Sowjetunion wurde durch die Konzessionen nicht verfolgt. Vielmehr sollten sie kurzfristig den transfer von technologie und Investitionsgütern ermöglichen. Die Generierung von Vertrauen zwischen Unternehmen und sowjetischen wirtschaftsorganisationen war unter diesen Umständen kaum möglich. In fast allen Fällen führte die Beteiligung deutscher Unternehmen an sowjetischen Konzessionen zu unbefriedigenden Ergebnissen. Hugo Stinnes verlor deshalb bereits 1922 das Vertrauen in die reformbereitschaft der Bol‘ševiki und „weitgehend das Interesse am rußlandgeschäft“235. Auch Krupp zog sich bald aus der landwirtschaftlichen Konzession zurück und otto wolff kündigte im Januar 1924 seinen Vertrag mit der Gesellschaft rUSGErtorG auf.236 Es ist nicht davon auszugehen, dass die genannten Unternehmen ihre hohen Anfangsinvestitionen in die Konzessionen erwirtschaften konnten.237 Verhandlungen über die Gründung einer gemischten Gesellschaft In den Verhandlungen zur Gründung einer gemischten Gesellschaft verfolgten S&H und SSw jeweils eigene Projekte. S&H stand seit 1922 in Verhandlungen mit Lev Zausmer vom Schwachstromtrust, vormals Vorstandsmitglied der russischen AEG, über die Gründung einer gemischten Gesellschaft. In einem von Alfred Schwartz aufgestellten Entwurf war vorgesehen, dass der trust, der auch die früheren S&H-werke in Petrograd kontrollierte, unter Beteiligung von Siemens und AEG den Vertrieb elektrotechnischer Importwaren in der Sowjetunion organisieren solle.238 Gefordert wurde in dem Vertragsentwurf ein recht auf eine fünfzigprozentige Beteiligung an der Gesellschaft sowie eine Laufzeit von 30 Jahren. Die Verhandlungen brachten zunächst kein Ergebnis und zogen sich über ein Jahr hin. Im Mai 1923 hielt sich eine vierköpfige sowjetische Kommission zu einem mehrtägigen Besuch bei S&H in Siemensstadt auf, um sich dort über die Produktion zu informieren und mit dem tB ost ohne Beteiligung von AEG weitere Verhandlungen zu führen.239 Schließlich reichte der Schwachstromtrust im Sommer 1923 bei S&H ein Vertragsangebot für eine umfassende Zusammenarbeit auf ver235 Feldman: Hugo Stinnes (1998), S. 817. 236 Zu Krupp siehe: Linke: Deutsch-sowjetische Beziehungen bis rapallo (1970), S. 174. Zu otto wolff: Dahlmann: Das Unternehmen otto wolff (2005), S. 49. 237 Zu den gescheiterten Konzessionen vgl. insbesondere den Überblick in: Germer: Die Entwicklung der Handelsbeziehungen (1931), S. 92. 238 Vgl. den Briefentwurf von Schwartz: SAA 11 Lf 449, Alfred A. Schwartz: Entwurf eines Briefs an die Elektroabteilung des obersten Volkswirtschaftsrats. Siemensstadt 7.9.1922. Das Schreiben wurde am 7.9.1922 von reyß und August Pfeffer von AEG unterzeichnet. Siehe ebenfalls den Vertragsentwurf: SAA 11 Lf 449, Alfred A. Schwartz: Grundsätze für ein wiederaufbauAbkommen des russischen Elektro-trustes durch Mitarbeit eines deutschen Konzerns. Siemensstadt 7.9.1922. Nach Sutton arbeitete Zausmer bis zur oktoberrevolution bei der russischen General Electric. Sutton: western technology and Soviet Economic Development 1917– 1930 (1968), S. 186. 239 SAA 6339, tB ost: Bericht über den Besuch von vier Herren des Schwachstrom-trusts im wernerwerk. Siemensstadt 5.5.1923.
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schiedenen Fabrikationsgebieten ein. Dieses Angebot wurde am 18. Juni in einer Besprechung von S&H und tB ost eingehend analysiert. wie der Vorstandsvorsitzende von S&H Adolf Franke zusammenfasste, stand Siemens hierbei vor einem Dilemma: „wir müssen uns darüber klar sein, dass die russen sich in der Fabrikation so weit als möglich vom Ausland unabhängig machen wollen, d. h., dass wir durch unsere Unterstützung die russen auf unseren eigenen Fabrikationsgebieten selbstständig machen. Dagegen würden wir, bis dieses Ziel erreicht ist, durch einen evtl. Vertrag eine wenn auch nicht ausschliessliche, so doch stark bevorzugte Stellung erhalten, die nicht in russland hergestellten Fabrikaten auf Jahre hinaus noch liefern zu können.“240
S&H sprach sich deshalb nicht generell gegen eine langfristige Kooperation mit dem Schwachstromtrust aus, sondern wandte sich gegen den Vorschlag eines umfassenden Vertrags über mehrere technische Gebiete: „wir haben eine grosse Anzahl von Fabrikaten, von denen wir die Einzelheiten nicht abgeben und deren Fabrikation wir noch in der Hand behalten wollen.“241 Angesichts der unsicheren rechtlichen Lage über den Schutz geistigen Eigentums in der Sowjetunion bestand bei S&H keine Bereitschaft, umfassendes technisches wissen preiszugeben. Es wurde deshalb in einer erneuten Besprechung am 19. Juni 1923 beschlossen, das Vertragsangebot abzulehnen. Noch am gleichen tag teilte Franke dem Leiter des Schwachstromtrustes die Ablehnung mit. Zugleich bot er jedoch neue Verhandlungen an, die auf einzelne technische Bereiche begrenzt sein sollten (vgl. dazu Kapitel 3.3).242 Parallel zu den Verhandlungen von S&H beteiligte sich SSw im rahmen der Siemens-rheinelbe-Schuckert-Union mit Hugo Stinnes und otto wolff an Gesprächen über die Gründung einer gemischten Gesellschaft.243 Nach robert Melchers, der die Verhandlungen für Siemens leitete, zog sich SSw im Sommer 1922 zunächst zurück, da es „einmal den russischen regierungsvertretern nicht gelang, das erforderliche Vertrauen bei der Gegenseite zu erwerben und auf der anderen Seite die von ihnen geplante Monopol-organisation (grosse gemischt-wirtschaftliche Gesellschaft) zu bürokratisch veranlagt war, als dass die SSw bei einer Beteiligung an einer solchen, genügende Bewegungsfreiheit und genügend Selbstbestimmungsrecht gefunden hätte“244. 240 Zitiert in: SAA 6339, Franz Berrenberg: Aktenvermerk über eine Besprechung über einen Vertrag mit dem Schwachstromtrust. Siemensstadt 18.6.1923, S. 2. 241 SAA 6339, Franz Berrenberg: Aktenvermerk über eine Besprechung über einen Vertrag mit dem Schwachstromtrust. Siemensstadt 18.6.1923, S. 1. 242 SAA 6339, Adolf Franke: Brief an den Allrussischen Schwachstromtrust z. Hd. Johann Schukoff, z.Zt. Berlin. Siemensstadt 19.6.1923. Gleichzeitig führte osram Verhandlungen über die Gründung einer gemischten Gesellschaft für elektrische Lampen. rGAĖ f. 413, op. 2, d. 1518, l. 224, Berliner Handelsvertretung: Brief an Ležava und Krasin. Berlin 2.10.1922. 243 Der Verlauf der Verhandlungen aus sowjetischer Perspektive ist hervorragend beschrieben in: Žuravlev: Biznes c Bol‘ševikami (2006), S. 131ff. 244 SAA 4 Lf 685, robert Melchers: Bericht über die Massnahmen, die ergriffen werden müssen um einen Zusammenbruch unseres russischen wiederaufbaugeschäftes zu verhindern. Siemensstadt 19.12.1922, S. 1.
156 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels Melchers setzte die Verhandlungen aber eigenständig ohne Stinnes und wolff fort, reiste Ende 1922 nach Petrograd und Moskau und schloss dort einen Liefervertrag mit Glavėlektro ab. Nach seiner rückkehr gerieten die Verhandlungen mit der Berliner Handelsvertretung allerdings ins Stocken. Eine erneute Einreise nach Sowjetrussland wurde Melchers verwehrt, wofür dieser zunächst keine Erklärung hatte. Stomonjakov bemerkte allgemein, die Verhandlungen mit anderen deutschen Unternehmen über gemischte Gesellschaften seien weit gediehen. Er erwarte, dass künftig ein Großteil der elektrotechnischen Bestellungen über diese Gesellschaften abgewickelt würde und kaum mehr Bedarf nach Siemens-Produkten bestünde.245 Auf nochmaliges Nachfragen hin wurde Melchers ein weiterer Grund für die ablehnende Haltung gegenüber SSw mitgeteilt. Stomonjakov zeigte sich empört über Verbindungen, die Siemens seines wissens zu russischen Emigrantenkreisen pflegte, und prangerte die vermeintliche „Doppelpolitik“246 des Unternehmens gegenüber der Handelsvertretung an. Eine Beteiligung von SSw an einer gemischten Gesellschaft schloss er unter den gegebenen Umständen aus. Angesichts dieser Vorwürfe versuchte Melchers, im Unternehmen auf die drohenden Auswirkungen für das Sowjetgeschäft hinzuweisen und entsprechende Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Er stieß damit jedoch auf große unternehmensinterne widerstände, die in den unterschiedlichen Geschäftsgrundsätzen der betroffenen Entscheidungsträger begründet waren. 2.5 Konflikt über die Zukunft der Unternehmensstrategie Die sowjetische Importpolitik der frühen 1920er Jahre orientierte sich im Bereich Elektrotechnik an den Anforderungen des GoĖLro-Plans.247 Als erstes Planziel wurde angestrebt, nach dem Ende des Bürgerkriegs die Elektrizitätsversorgung wiederherzustellen und dabei zunächst auf bestehende Kraftwerke zurückzugreifen. Zwar sah der GoĖLro-Plan auch einen umfangreichen Ausbau der Kapazitäten durch neue Großkraftwerke vor, allerdings erst in einer späteren Planphase. während der NĖP hatte die rekonstruktion der Anlagen, die aus der Zarenzeit stammten, unter Beteiligung der ursprünglichen Hersteller Priorität. Im Unternehmen Siemens wurde die Diskussion über den GoĖLro-Plan allerdings mit großer Skepsis aufgenommen und eine baldige Umsetzung der Planziele nicht erwartet. Georg Kandler vom tB ost fällte vielmehr im Sommer 1920 ein knappes Urteil
245 AEG schloss 1923 einen Konsignationsvertrag mit rUSGErtorG zum Import von Installationsmaterialien, Elektromotoren und Elektrowerkzeugen ab. Vgl.: SAA 4 Lf 685, AEG: Abschrift eines Vertrages zwischen AEG und der Deutsch-russischen Handels-Aktiengesellschaft. Berlin 1923. 246 SAA 4 Lf 685, robert Melchers: Bericht über die Massnahmen, die ergriffen werden müssen um einen Zusammenbruch unseres russischen wiederaufbaugeschäftes zu verhindern. Siemensstadt 19.12.1922, S. 6. 247 Coopersmith: the Electrification of russia (1992), S. 185ff. Haumann: Beginn der Planwirtschaft (1974), S. 117ff.
2 Zeitraum 1921–1924: Formalisierung und Versagen von Institutionen
157
Abbildung 3: Siemens-Protos-wagen für die sowjetische telefonverwaltung Quelle: Siemens-Archiv FS I 27, undatiert. Es handelt sich um einen Kabelmesswagen von Siemens-Protos im Vordergrund sowie um einen Protos-Begleitwagen im Hintergrund. Das Bild wurde vor der orthodoxen Kirche in der russischen Kolonie in Potsdam aufgenommen. Aus der Bildbeschreibung geht hervor, dass beide wagen an die „Staatliche telephon-Verwaltung der russischen, Sozialistischen, Föderativen Sowjet-republik“ geliefert wurden. Aus der Negativnummer lässt sich eine Datierung auf das Jahr 1923 ableiten.
über den sowjetischen Elektrifizierungsplan: „Ein gut gemeinter optimismus, weit von jeder wirklichkeit.“248 Doch trotz dieser Skepsis konnte Siemens seit 1920 zunehmend an sowjetischen Aufträgen im rahmen des Elektrifizierungsprogramms partizipieren. SSw war unter anderem an der Projektierung für den Ausbau der Dampfkraftwerke Kašira und Šatura beteiligt, die einen Großteil des Strombedarfs von Moskau deckten.249 Ein weiterer teil der Aufträge an Siemens bestand aus elektrotechnischem
248 Siehe den Bericht Kandlers im Anhang an den Brief von Görz: SAA 4 Lf 686, Hermann Görz: Brief an Carl Friedrich von Siemens mit angehängtem Bericht Georg Kandlers. Siemensstadt 2.8.1920, S. 7. 249 Vgl. dazu die Übersicht in: Siemens Archiv: Leistungen des Hauses Siemens: Undatiert. Ebenso: rGAĖ f. 413, op. 3, d. 684, l. 4, Berliner Handelsvertretung: Liste der importierten waren für Kašira und Šatura. Berlin 1921.
158 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels Zubehör (darunter wassermesser, Sicherungen, Kabel, Isolatoren, telefonanlagen und kleine Elektromotoren).250 Außerdem erhielt S&H im rahmen des wiederaufbaus der Verkehrsinfrastruktur mehrere Aufträge für die Lieferung von Eisenbahnzubehör.251 Umfangreiche Aufträge an Siemens wurden auch deshalb vergeben, weil das Unternehmen einen hohen Bekanntheitsgrad in Sowjetrussland hatte und über große Erfahrung bei der Arbeit unter „russischen Bedingungen“252 verfügte. Dies war zum Beispiel der ausschlaggebende Grund für die Bestellung von Zubehör für die telefonanlage im Kreml, die auf Siemens-technik basierte.253 Die Auftragsentwicklung des Sowjetgeschäfts von Siemens lässt sich aus folgender Übersicht des tB ost verfolgen: tabelle 3: Ergebnisse des tB ost und Gesamtergebnis von Siemens für die Geschäftsjahre 1919/20–1934/35 in tausend reichsmark Bestelleingang
Umsatz
Gewinn / Verlust
Gesamtumsatz Siemens
Anteil des tB ost
1919/20
58
36
–
–
–
1920/21
169
83
–
–
–
1921/22
1.462
439
–
–
–
1922/23
1.826
2.378
–
–
–
1923/24
1.261
820
–
–
–
1924/25
2.909
3.071
+105
–
–
1925/26
3.909
2.999
+187
691.000
0,4 %
250 Vgl. dazu die Bestellungen: rGAĖ f. 413, op. 6, d. 164, l. 145, Berliner Handelsvertretung: Aufträge an SSw und Metropolitan Vickers. Berlin 1924; SAA 11 Lf 449, Carl Köttgen: Brief an Fessel wegen einer Lieferung von wasserzählern an die Handelsvertretung. Siemensstadt 3.10.1923; SAA 6339, tB ost: Mitteilung tB ost über Bestellung von wassermessern. Siemensstadt 22.5.1923; SAA 6339, Denkert/Junge: Brief an die Handelsabteilung der Hauptverwaltung der Kommunal-wirtschaft in Moskau. Siemensstadt 8.3.1923; rGAĖ f. 413, op. 2, d. 1530, l. 83, Berliner Handelsvertretung: Bericht über Aufträge. Berlin 16.2.1922; SAA 12971, SSw/Berliner Handelsvertretung: Vertrag über Schnelltelegraphen-Endämter. Berlin 19.10.1921; rGAĖ f. 413, op. 3, d. 455, l. 6, Narkomtorg: Brief an Ėlektrostroj. Moskau 1.9.1921; rGAĖ f. 413, op. 3, d. 973a, Berliner Handelsvertretung: Briefwechsel über Aufträge von Glavėlektro. Berlin 1921; rGAĖ f. 413, op. 3, d. 989, Berliner Handelsvertretung: Briefwechsel mit ausländischen Firmen. Berlin 1921. 251 SAA 4 Lf 685, Hermann Schwerin: Brief an Carl Friedrich von Siemens, Liste der Eisenbahnanfragen von 1918 bis 1923. Siemensstadt 16.1.1923. 252 rGAĖ f. 413, op. 6, d. 162, l. 379, Narkomtorg: Brief an Herrn Dymnin (Berliner Handelsvertretung). Moskau 3.5.1924. 253 rGAĖ f. 413, op. 2, d. 1531, l. 24, Berliner Handelsvertretung: Auftrag an Siemens zur Lieferung von zwei Schnelltelegraphenendämtern. Berlin 29.3.1922; rGAĖ f. 413, op. 2, d. 1530, l. 94, Berliner Handelsvertretung: Brief an Krasin. Berlin 22.2.1922. Eine erste diesbezügliche Bestellung erhielt Siemens bereits im Januar 1921. SAA 6339, Abteilung ost: Mitteilung über eine telegrafenanlage für den Kreml. Siemensstadt 6.1.1921.
2 Zeitraum 1921–1924: Formalisierung und Versagen von Institutionen
159
1926/27
32.379
12.201
+1.552
757.000
1,6 %
1927/28
7.260
23.313
+2.166
811.000
2,9 %
1928/29
11.325
10.842
+1.084
910.000
1,2 %
1929/30
15.535
15.397
-443
876.000
1,8 %
1930/31
33.109
18.265
+720
695.000
2,6 %
1931/32
11.339
29.398
+1.911
452.000
6,5 %
1932/33
3.935
5.318
+184
368.000
1,4 %
1933/34
533
2.375
-148
455.000
0,5 %
1934/35
376
267
-237
597.000
0,1 %
Quelle: SAA 10756, Ernst Eue: Chronik des tB ost, Berlin 1944, S. 20. Zum Gesamtumsatz von Siemens siehe: Feldenkirchen, wilfried: Siemens 1918–1945, München 1995, S. 685ff. Im reingewinn oder -verlust sind nur die Zahlen für SSw ohne S&H enthalten. Die werte für die Geschäftsjahre 1919/20–1923/24 wurden vom tB ost aus Papiermark und verschiedenen Auslandswährungen berechnet, bei Feldenkirchen sind für die Geschäftsjahre bis 1925/26 keine Umsatzzahlen für das gesamte Unternehmen angegeben. Nach Peter Czada beziehen sich die Zahlen des tB ost für die Zeit ab 1928/29 nur für das Sowjetgeschäft von SSw ohne S&H (siehe: Czada, Peter: Die Berliner Elektroindustrie in der weimarer Zeit. Eine regionalstatistisch-wirtschaftshistorische Untersuchung, Berlin 1969, S. 146). Ein entsprechender Hinweis findet sich in den Unterlagen des tB ost allerdings nicht.
wird die quantitative Entwicklung des Sowjetgeschäfts von Siemens nach 1921 bewertet, so ergibt sich ein zwiespältiges Bild. Einerseits baute das Unternehmen sein Engagement stetig aus und erhöhte ausgehend von den verschwindend geringen Beträgen der Bürgerkriegsjahre den Umsatz im Sowjetgeschäft substantiell (von 83.000 reichsmark im Geschäftsjahr 1920/21 auf beinahe 2,4 Millionen reichsmark zwei Jahre später). Siemens war im Sommer 1922 auch das erste Unternehmen überhaupt, das dem sowjetischen Staat einen warenkredit gewährte.254 Andererseits zeigt die tabelle auch, dass sich der wirtschaftliche Erfolg im Sowjetgeschäft in der ersten Hälfte der 1920er Jahre in engen Grenzen hielt. Erstens war der Umsatz gemessen am Gesamtumsatz im Unternehmen verschwindend gering. Überdies wurde er nicht überwiegend im Sowjetgeschäft, sondern in den baltischen Staaten erwirtschaftet, die das tB ost bis 1925 ebenfalls betreute. Gewinne brachten die sowjetischen Aufträge in diesem Zeitraum kaum.255 Zweitens hatten die bisherigen Verhandlungen über Konzessionen oder gemischte Gesellschaften, die zu Beginn der 1920er Jahre viele Unternehmen als Grundlage für einen lukrativen Einstieg ins Sowjetgeschäft betrachteten, keine Ergebnisse gebracht. Im Verlauf des Jahres 1922 führte dieser unbefriedigende Zustand bei Siemens zu großen Auseinandersetzungen über die Zukunft der Unternehmensstrategie. 254 Vgl. die Zeitungsmeldung aus dem New York Herald vom 26.8.1922 in den Unterlagen der wPA (SAA 11 Lf 449). Ebenso: rGAĖ f. 413, op. 2, d. 1531, l. 144, Berliner Handelsvertretung: Brief an SSw wegen warenkredit. Berlin 24.7.1922. 255 Vgl. dazu die Bilanzen der Jahre 1919 bis 1923 in SAA 1090, SAA 1091, SAA 1092, SAA 1095, SAA 1096.
160 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels Robert Melchers: Eine Neuausrichtung der Unternehmensstrategie? Das Sowjetgeschäft nahm in der organisationsstruktur von Siemens eine Sonderstellung ein. Die Abteilung ost beziehungsweise seit 1921 das tB ost waren zwar in die Vertriebsstruktur von SSw integriert. Es wurde jedoch in einer Aussprache der beiden Stammgesellschaften festgehalten, dass „für das von der Abteilung ost bearbeitete Gebiet die Zusammenfassung der S&H-Geschäfte mit den SSw-Geschäften zweckmässig und erforderlich ist“256. Die Abteilung ost übernahm deshalb auch die Bearbeitung des Schwachstromgeschäfts und behielt einen Anteil der S&H-Gewinne ein. Im Gegenzug verpflichtete sie sich, S&H regelmäßig über die Geschäftsentwicklung zu unterrichten. Diese Struktur erwies sich aus Sicht des Unternehmens bald als unzureichend. Am 12. Juni 1922 wurde deshalb gemeinsam mit S&H, SSw und SBU die Abteilung ZV 10 russland (auch als russland-Büro bezeichnet) gegründet, die künftig als Zentralstelle für alle Siemens-Gesellschaften im Sowjetgeschäft fungieren sollte.257 Mit der Leitung des russland-Büros wurde der bereits erwähnte robert Melchers beauftragt, der aus einem anderen Unternehmensbereich als Neuling zum Sowjetgeschäft kam. Das tB ost behielt seine Aufgaben bei der Durchführung des Sowjetgeschäfts (Anfragen, Angebote, Bestellungen). Dem russland-Büro oblag dagegen die Zusammenfassung aller „vorbereitenden Massnahmen für den Aufbau des russischen Geschäfts“258 und damit die Koordination der Unternehmensinteressen sowie die Entwicklung einer umfassenden Strategie im Sowjetgeschäft. Melchers erhielt die richtlinien der Geschäftspolitik von einem ebenfalls neu gegründeten Direktionsausschuss für russland unter dem Vorsitz von Hermann Görz. robert Melchers kam aus dem Unternehmen Siemens, hatte sich aber in anderen Geschäftszweigen, vor allem im Bereich rüstungstechnik während des Ersten weltkriegs, betätigt. Im Sowjetgeschäft wurde er eingesetzt, weil er über große Erfahrungen bei Sondergeschäften sowie über „freundschaftliche Beziehungen zu den massgebenden Personen“259 der Berliner Handelsvertretung verfügte. Kurz vor seinem Antritt als Leiter des russland-Büros entwarf Melchers ein „Programm für den Aufbau des russischen Geschäfts“, das auf folgender Einschätzung basierte: „Ein längeres Abwarten der heutigen Verhältnisse ist für die S.S.w. nicht ratsam. […] Die Anerkennung von privaten Eigentums- bezw. Ausbeutungsrechten durch die Sowjets und die Erlaubnis, Handel auch mit dem Auslande zu treiben, wie sie kooperativen Vereinigungen [gemeint ist die Konsumgenossenschaft Centrosojuz] seitens der räteregierung erteilt wird, beweisen, dass man sich in russland umgestellt hat und sich dem Zeitpunkt nähert, wo die Verhältnisse die Aufnahme von Geschäften ermöglichen.“260 256 SAA 10756, tB ost: Niederschrift über eine Besprechung betreffend die Bearbeitung der S&H-Geschäfte durch die Abteilung ost. Siemensstadt 4.7.1921, S. 2. 257 SAA 6339, ZV: ZV 6 rundschreiben Nr. 56 zur Gründung der Abteilung ZV 10 unter Melchers. Siemensstadt 12.6.1922. 258 SAA 6339, ZV: ZV 6 rundschreiben Nr. 56 zur Gründung der Abteilung ZV 10 unter Melchers. Siemensstadt 12.6.1922, S. 1. 259 So nach eigener Aussage in einem Brief an Carl Friedrich von Siemens. SAA 4 Lf 685, robert Melchers: Brief an Carl Friedrich von Siemens. Siemensstadt 13.10.1923, S. 2. 260 SAA 11 Lg 735, robert Melchers: Programm für den Aufbau des russischen Geschäfts. Sie-
2 Zeitraum 1921–1924: Formalisierung und Versagen von Institutionen
161
Daraus folgerte Melchers eine baldige Ausweitung des sowjetischen Außenhandels und entsprechende Geschäftsmöglichkeiten für Siemens. Die Zeit des Abwartens sei vorbei. Nun müsse das Unternehmen konkrete Schritte unternehmen, um gegenüber der Konkurrenz nicht ins Hintertreffen zu geraten. Melchers forderte, Siemens solle die sich bietenden Geschäftsmöglichkeiten aktiv nutzen und sie eigenständig mitgestalten: „wenn die SSw sich bei dem zu erwartenden Aufschwung die ihnen gebührende Stellung sichern wollen, so ist jetzt der Zeitpunkt gekommen, positive Entschlüsse zu fassen, und die Entwicklung nicht nur aus der Ferne zu verfolgen, sondern sich in sie einzufügen, sie mitzumachen und mit ihr gross zu werden. Die geschäftlichen Möglichkeiten werden sich hierbei von selbst ergeben durch das Eindringen in die Verhältnisse an ort und Stelle, die Fühlungsnahme mit den Sowjets und Kooperativen, die Beobachtung der tätigkeit anderer Firmen und die Möglichkeit persönliche Beziehungen zu schaffen, auf die das Geschäft in entscheidender weise angewiesen sein wird; dies umsomehr, da man sich durchaus primitiven und ungewöhnlichen Verhältnissen gegenüber befindet, die sich in neuen, unbekannten Formen entwickeln werden.“261
Melchers scheiterte allerdings im Sommer 1922, wie oben geschildert, in den Verhandlungen über die Beteiligung von Siemens an einer gemischten Gesellschaft, die er als Basis für den quantitativen Ausbau des Sowjetgeschäfts betrachtete. Diese Niederlage veranlasste Melchers zur Abfassung des Strategiepapiers vom 19. Dezember 1922, in dem er dringend Maßnahmen forderte, die (so der titel des Papiers) „ergriffen werden müssen, um einen Zusammenbruch unseres russischen wiederaufbaugeschäftes zu verhindern“. Ausgangspunkt seiner Analyse war folgendes Szenario: „Das Fazit der Situation ist demnach, dass die SSw, die bisher in der Entwicklung der deutschrussischen Handelsbeziehungen die führende rolle eingenommen hatten, aus dieser rolle nicht nur verdrängt, sondern von jeder nennenswerten Beteiligung an dem russischen wiederaufbau in der Zukunft ausgeschlossen erscheinen und dass ihnen sogar die tür zur Aufnahme privatwirtschaftlicher Verbindungen in russland verschlossen ist.“262
Vor diesem Hintergrund forderte Melchers eine grundlegende Erneuerung der Unternehmensstrategie. Angesichts der zunehmenden Zentralisierung im sowjetischen Außenhandel müsse sich Siemens unbedingt auf die veränderten Bedingungen des Sowjetgeschäfts einstellen: „Die bisherige Politik des Gewährenlassens nach der einen richtung und das Hinneigen nach der anderen wird in Zukunft einer einheitlichen und bewussten Einstellung auf die neue richtung Platz machen müssen. Die durch die Verhältnisse geschaffene wirtschaftsmacht der Sowjets ist unverkennbar. wir sind mit dem Ausschluss bedroht und müssen daher die Gefühlsseite zum opfer bringen.“263 mensstadt 21.3.1922, S. 1. 261 SAA 11 Lg 735, robert Melchers: Programm für den Aufbau des russischen Geschäfts. Siemensstadt 21.3.1922, S. 1f. 262 SAA 4 Lf 685, robert Melchers: Bericht über die Massnahmen, die ergriffen werden müssen um einen Zusammenbruch unseres russischen wiederaufbaugeschäftes zu verhindern. Siemensstadt 19.12.1922, S. 6. 263 SAA 4 Lf 685, robert Melchers: Bericht über die Massnahmen, die ergriffen werden müssen
162 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels Melchers hob in seinem Bericht hervor, dass andere Unternehmen bereits Konzessionsverträge unterzeichnet hätten oder deren Verhandlungen weit gediehen seien. Seiner Ansicht nach würde nur durch den Erwerb einer Konzession eine künftige Partizipation von Siemens an umfangreichen Aufträgen gewährleistet werden. Als Sofortmaßnahme forderte Melchers erstens eine „völlige Neueinstellung auf die Mentalität der in russland führenden Personen“264. Siemens solle im Sowjetgeschäft ausschließlich mit der Handelsvertretung kommunizieren und Kontakte zu anderen Akteuren, insbesondere jeden Kontakt zu russischen Emigranten, künftig unterlassen. Zweitens forderte er, unverzüglich Verhandlungen zum Erwerb einer Handelskonzession und zur Gründung einer gemischten Gesellschaft aufzunehmen. Beide Forderungen standen der bisherigen, maßgeblich von Görz verantworteten Unternehmensstrategie diametral entgegen. Die Reaktion im Unternehmen Bei der Gründung des russland-Büros ging Melchers von dessen baldiger Fusion mit dem tB ost sowie der Zusammenfassung in einer einheitlichen Abteilung unter seiner Leitung aus. Dass diese Fusion nicht zustande kam, lag nach Melchers am widerstand von Görz: „Dieser Plan [die Fusion von tB ost und russland-Büro] wurde hintertrieben durch Herrn Geheimrat Görz, der erkannt hatte, dass ich von Anfang an für eine offene und loyale Behandlung der russen eintrat, während er eine Politik nach zwei Seiten führen wollte. wie er nämlich selbst äußerte, wollte er mich als „Spürhund“ in den russischen Angelegenheiten benutzen und verlangte von mir, dass ich nicht nur mit den offiziellen regierungsstellen in Verbindung träte, sondern dass ich auch mit den Emigrantenkreisen Fühlung nähme, um deren Bestrebungen für die Firma nutzbar zu machen.“265
Melchers sprach sich entschieden gegen diese Form der Geschäftspolitik aus. Unter anderem opponierte er gegen die Mitgliedschaft von Siemens im Verband russischer Großkaufleute, Industrieller und Financiers, mit dessen Vorstand A. A. Davidov Görz seit seiner tätigkeit in St. Petersburg bekannt war. Laut Görz trat Siemens im Jahr 1921 vor allem deshalb in den Exilantenverband ein, weil dieser „begründet war von dem langjährigen Mitglied der Verwaltung der russischen Elektrotechnischen werke Siemens & Halske A.-G., St. Petersburg, Herrn A. A. Dawidoff, und einer reihe von Herren, mit denen wir früher in russland sehr angenehme und enge geschäftliche Beziehungen unterhalten haben“266. Angesichts seiner engen persönlichen Bindungen aus dem vorsowjetischen russlandgeschäft um einen Zusammenbruch unseres russischen wiederaufbaugeschäftes zu verhindern. Siemensstadt 19.12.1922, S. 5. 264 SAA 4 Lf 685, robert Melchers: Bericht über die Massnahmen, die ergriffen werden müssen um einen Zusammenbruch unseres russischen wiederaufbaugeschäftes zu verhindern. Siemensstadt 19.12.1922, S. 15. 265 SAA 4 Lf 685, robert Melchers: Brief an Carl Friedrich von Siemens. Berlin 30.11.1923, S. 3f. 266 SAA 6877, Hermann Görz: Brief an Generalsekretariat wegen Austritt aus dem Verband russischer Großkaufleute. Siemensstadt 5.2.1923, S. 1.
2 Zeitraum 1921–1924: Formalisierung und Versagen von Institutionen
163
wehrte sich Görz gegen die von Melchers vertretene Neuausrichtung der Unternehmensstrategie. Folgendes Beispiel verdeutlicht die unterschiedliche Geschäftsphilosophie von Görz in der unternehmensinternen Auseinandersetzung. Im Frühjahr 1922 schrieb Görz an Krasin, er habe von zwei ehemaligen Mitarbeitern aus Petrograd den Vorschlag erhalten, „unsere alten Beziehungen, allerdings in einer durch die Zeitverhältnisse veränderten Form, wiederaufzunehmen“267. Es ging um den Vorschlag, eine private Firma unter dem Namen turboremont zur reparatur elektrotechnischer Anlagen in Petrograd zu gründen. Dabei wurde überlegt, ob diese Firma künftig auch die Vertretung von Siemens-Produkten in Sowjetrussland übernehmen könne. Görz beurteilte den Vorschlag sehr positiv und stellte unter der Voraussetzung, dass daran „in erster Linie unsere alten Beamten beteiligt“268 seien, warenkredite von Siemens an derartige Vertretungen in Sowjetrussland in Aussicht. Zwei Monate später ging Görz in einem telefonat mit Krasin erneut auf diesen Vorschlag ein. Darin hielt er Krasin jedoch auch entgegen, dass er „ebenso wenig wie [er] seinerzeit seinen Enthusiasmus für Konzessionen hätte teilen können, auch heute seine Hoffnungen auf die G. G. [gemischten Gesellschaften für] nicht gerechtfertigt hielte“269. Vielmehr kritisierte er die überzogenen Erwartungen der Bol‘ševiki in westliche Aufbaukredite und forderte zunächst die Zulassung von mehr privater Initiative in der sowjetischen wirtschaft. Den gegenwärtigen Stand des sowjetischen Außenhandels beurteilte Görz sehr kritisch: „Von einer wirklichen Aufbauarbeit – zurzeit würde nur verhandelt – könne nur dann die rede sein, wenn von möglichst vielen Seiten praktische Kleinarbeit geleistet würde. An erfolgreiche Kleinarbeit knüpfe sich Vertrauen und damit auch die Möglichkeit, Großarbeit in Angriff zu nehmen […].“270
Die unterschiedlichen Konzepte von Görz und Melchers über die Ausrichtung von Siemens im Sowjetgeschäft werden damit augenscheinlich. während Melchers offensiv die Möglichkeiten des sich ausbildenden sowjetischen Außenhandelsapparats nutzen wollte, vertrat Görz eine vorsichtige Politik. Mit der Anbindung von Siemens an personelle Kontinuitäten aus dem vorsowjetischen russland hoffte er, Vertrauen zu generieren und dadurch eine sichere Basis für die Ausweitung des Sowjetgeschäfts zu legen. Dieser Prozess war bei Görz auf einen längeren Zeithorizont angelegt, während Melchers durch schnelle Aktionen Siemens einen Vorsprung vor der Konkurrenz verschaffen wollte. Die Differenzen um die Unternehmensstrategie entwickelten sich zu einem Konflikt zwischen Görz und Melchers, in dem sich letzterer nicht behaupten konnte und schließlich im November 1923 entlassen wurde. Die Auseinandersetzung blieb jedoch nicht auf die unternehmensinterne Diskussion beschränkt. Vielmehr hatte 267 SAA 6397, Hermann Görz: Brief an Krasin. Siemensstadt 9.3.1922, S. 1. 268 SAA 6397, Hermann Görz: Brief an Krasin. Siemensstadt 9.3.1922, S. 2. 269 SAA 6397, Hermann Görz: Bericht über ein Gespräch mit Krasin über gemischt-wirtschaftliche Gesellschaften. Siemensstadt 10.6.1922, S. 1. 270 SAA 6397, Hermann Görz: Bericht über ein Gespräch mit Krasin über gemischt-wirtschaftliche Gesellschaften. Siemensstadt 10.6.1922, S. 2.
164 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels der Konflikt schwerwiegende Folgen für die Beziehungen von Siemens zur sowjetischen Handelsvertretung. Der Geschäftsboykott, den die Handelsvertretung im Sommer 1923 gegen Siemens verhängte, stand unmittelbar im Zusammenhang mit der internen Auseinandersetzung zwischen robert Melchers und Hermann Görz. 2.6 Der Boykott von 1923/24 Mit der Berliner Handelsvertretung stand Siemens seit ihrer Gründung im Frühjahr 1921 in Kontakt. Inwieweit B. S. Stomonjakov als ehemaliger Mitarbeiter des Unternehmens die Kommunikation mit seinem früheren Arbeitgeber besonders beeinflusste, geht aus den Quellen zwar nicht hervor. Siemens konnte jedoch frühzeitig an Aufträgen der Handelsvertretung partizipieren und zwischen 1921 und 1923 mehrere Lieferverträge abschließen. Allerdings verschlechterte sich im Verlauf des Jahres 1923 zunehmend das Klima zwischen Siemens und Stomonjakov. Die Hintergründe Erste Anzeichen einer drohenden Verschlechterung der Beziehung zwischen Siemens und der Handelsvertretung lassen sich erstmals seit Ende des Jahres 1922 nachweisen.271 Nach den bis dahin erfolgreich verlaufenen Verhandlungen robert Melchers‘ mit Glavėlektro über die Gründung einer gemischten Gesellschaft wurden die Gespräche abrupt unterbrochen, als Stomonjakov Melchers ein weiteres Einreisevisum nach Moskau verweigerte. In einem Brief an den stellvertretenden Vorsitzenden des obersten Volkswirtschaftsrats G. L. Pjatakov berichtete Stomonjakov, er habe von „geheimen Gesprächen [von Siemens] mit Emigrantenkreisen“272 erfahren und dem Unternehmen daraufhin mitgeteilt, es könne künftig nicht mehr auf sein wohlwollen bei der Auftragsvergabe zählen. Nach einem persönlichen Gespräch mit Stomonjakov zur Jahreswende 1922/23 konnte Melchers zwar die wogen glätten, musste aber folgende Zusagen machen. Erstens forderte Stomonjakov die volle „Loyalität“273 von Siemens gegenüber sowjetischen Außenhandelsorganisationen und verbat den weiteren Umgang mit russischen Emigranten. Zweitens sollte das Unternehmen die politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten im nachrevolutionären russland nun endgültig akzeptieren. Am 23. Januar 1923 sandte Melchers daher im Einverständnis mit Carl Friedrich von Siemens eine Erklärung an Stomonjakov, in der er eine „absolut loyale Politik“274 gegenüber der Handelsvertretung versprach. Bereits am folgenden tag antwortete Stomonjakov, nahm die Erklärung freudig zur Kenntnis und regte eine 271 Vgl. besonders den Aufsatz Žuravlevs, auf den im Folgenden zum teil zurückgegriffen wird. Žuravlev: Biznes c Bol‘ševikami (2006), S. 134ff. 272 Brief Stomonjakovs an Pjatakov vom 1.2.1923, zitiert in: Žuravlev: Biznes c Bol‘ševikami (2006), S. 134f. 273 Žuravlev: Biznes c Bol‘ševikami (2006), S. 136. 274 Žuravlev: Biznes c Bol‘ševikami (2006), S. 136.
2 Zeitraum 1921–1924: Formalisierung und Versagen von Institutionen
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sofortige wiederaufnahme der Verhandlungen an. Die Handelsvertretung gehe nun davon aus, Siemens könne sowohl an einer Handelskonzession als auch an einer Konzession zur Produktion elektrotechnischer waren in der Sowjetunion beteiligt werden. Die Verhandlungen zogen sich aber erneut mehrere Monate ohne eine Einigung hin. Siemens forderte für den Fall einer Einigung weitgehende Monopolrechte, die ihr von sowjetischer Seite nicht gewährt wurden. In dieser Situation erfuhr Stomonjakov, dass Siemens entgegen aller Loyalitätsbekundungen seine Kontakte zu Gruppen der russischen Emigration nicht aufgegeben hatte. Im Frühjahr 1923 zog er deshalb erstmals in Betracht, einen Geschäftsboykott gegen Siemens auszusprechen und erhielt dafür in den folgenden Monaten Unterstützung von höchster Ebene in Moskau.275 Aus den Angaben Žuravlevs, aus Siemens-Archiv-Akten sowie aus Quellen des Moskauer wirtschaftsarchivs lassen sich insgesamt drei Vorwürfe rekonstruieren, die Stomonjakov gegen Siemens erhob. Erstens war dies die oben erwähnte Mitgliedschaft des Unternehmens im Verband russischer Großkaufleute, Industrieller und Financiers. Auf Druck Stomonjakovs hatte Siemens im Februar 1923 erstmals erwogen, aus dem Verband auszutreten. Der entsprechende Antrag wurde aber nach einer Aussprache zwischen Görz und Verbandspräsident Davidov wieder zurückgezogen und die Mitgliedschaft aufrechterhalten.276 Zweitens hatten die sowjetischen Vorwürfe eine persönliche Dimension. Görz und Alfred Schwartz wurden namentlich als Hauptschuldige bezeichnet, die eine konspirative und antisowjetische Unternehmensstrategie von Siemens verantwortet hätten. Besonders gegen Schwartz erhob Stomonjakov den Vorwurf, er habe 1918 in Petrograd unter anderem mit Ericsson und Marconi wireless einen „Geheimvertrag“ der Schwachstromunternehmen zur Durchsetzung kapitalistischer Interessen abgeschlossen.277 In diesem „Geheimvertrag“ ging es zwar lediglich um eine informelle Zusicherung der Unternehmensvertreter, sich in den Bürgerkriegswirren gegenseitig zu unterstützen.278 Stomonjakov interpretierte dies allerdings als eine Verfolgung konterrevolutionärer Ziele. In einer Mitteilung nach Moskau wurden Schwartz und Görz auch als „Feinde des sowjetischen russland“ bezeichnet, die eine „Strömung im Konzern Siemens unterstützen, die sich gegen eine Konzessionstätigkeit in russland und für eine Politik des Abwartens bezüglich der sowjetischen regierung ausspricht, und sich auf die Annahme von Aufträgen gegen Barzahlung von unserer Handelsvertretung in Berlin beschränkt“279. 275 Seitens des obersten Volkswirtschaftsrats, des rats der Volkskommissare und des rats für Arbeit und Verteidigung. Nach Žuravlev sprach sich auch Krasin für einen Boykott gegen Siemens aus, allerdings wird dies nicht belegt. Žuravlev: Biznes c Bol‘ševikami (2006), S. 141. 276 SAA 6877, Hermann Görz: Brief an Generalsekretariat wegen Austritt aus dem Verband russischer Großkaufleute. Siemensstadt 5.2.1923. Vgl. dazu den Briefwechsel zwischen Davidov und Görz in SAA 6877. 277 Žuravlev: Biznes c Bol‘ševikami (2006), S. 145. 278 Vgl. dazu eine kurze Übersicht in: SAA 4 Lf 685, Hermann Görz: Bericht über Krasin. Siemensstadt 15.2.1923, S. 2f. 279 rGAĖ f. 413, op. 2, d. 1663, l. 606–607, Verfasser unbekannt: Brief an A. C. Gol‘cman. Moskau 27.1.1923.
166 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels Drittens ging es in dem Konflikt um die konkrete Ausgestaltung der gemischten Gesellschaft im Bereich Elektrotechnik, für die sich auch eine Unternehmensgruppe um AEG, Stinnes und Krupp interessierte. Carl Friedrich von Siemens stand kurzzeitig mit dieser Gruppe in Verhandlungen über eine Beteiligung, die aber bald scheiterten.280 Siemens verfolgte daraufhin das Ziel, im rahmen einer eigenen Gesellschaft für den Bereich Elektrotechnik ein weitgehendes Monopol im sowjetischen Außenhandel zu erhalten. Stomonjakov wiederum lehnte die Vergabe von Monopolrechten an einzelne Unternehmen strikt ab und mokierte sich darüber hinaus über robert Melchers‘ unangenehmes Auftreten in den Verhandlungen. Auch P.A. Bogdanov vom Außenhandelsapparat, mit dem Melchers bei seiner reise nach Moskau 1922 zusammentraf, hatte von ihm einen „äußerst ungünstigen Eindruck“281. Nach weiteren rücksprachen mit Moskau setzte Stomonjakov schließlich am 3. August 1923 die Vergabe neuer Aufträge an Siemens aus und reduzierte die Kommunikation mit dem Unternehmen auf ein Minimum. Lediglich die bestehenden Liefervereinbarungen wurden weiter ausgeführt. Ein Machtkampf um Spielregeln In institutionenökonomischer Perspektive lässt sich dieser Boykott als Versuch des sowjetischen Außenhandelsapparats interpretieren, die eigenen Spielregeln gegenüber dem Unternehmen durchzusetzen. Der Vorwurf gegen Siemens, das Unternehmen würde anti-sowjetische Ziele unterstützen, war Ausdruck einer tiefer gehenden Auseinandersetzung um die institutionelle Gestaltung des sowjetischen Außenhandels. Im April 1923 schrieb Stomonjakov an Krasin: „Außerdem habe ich Kenntnis, dass in der letzten Zeit Görz und andere Direktoren von Siemens, Gegner der sowjetischen Staatsmacht, die oberhand über die andere Partei [gemeint ist wohl Melchers] gewonnen haben, die hinter der Arbeit mit uns stand und für Konzessionen und anderes war. Ich würde es für notwendig halten, Druck auf Siemens auszuüben, in dem Sinne, damit das Unternehmen seine Politik in der von uns gewünschten richtung festlegt, und erst dann mit ihnen die von uns benötigten Verträge abschließen.“282
wenn Stomonjakov von Siemens eine „loyale Haltung gegenüber der Sowjetregierung“283 forderte, so ist dies als eine Aufforderung an das Unternehmen zu verstehen, die institutionelle Struktur des Außenhandelsmonopols zu akzeptieren und sich am Konzessionsprogramm zu beteiligen. Stomonjakovs Forderungen be280 SAA 4 Lf 685, Carl Friedrich von Siemens: Handschriftliche Notizen über das Sowjetgeschäft. Siemensstadt 1923. 281 rGAĖ f. 413, op. 2, d. 1531, l. 110, Bogdanov: Brief an Stomonjakov. Moskau 27.7.1922. Vgl. auch die Briefe Stomonjakovs: rGAĖ f. 413, op. 2, d. 1931, l. 150, B. S. Stomonjakov: Brief an Frumkin. Berlin 19.7.1922; rGAĖ f. 413, op. 2, d. 1931, l. 149–149а, B. S. Stomonjakov: Brief an A. M. Ležava. Berlin 16.7.1922. 282 rGAĖ f. 413, op. 2, d. 1663, l. 282–287, B. S. Stomonjakov: Brief an Krasin. Berlin 14.4.1923, S. 5. 283 SAA 4 Lf 685, B. S. Stomonjakov: Brief an Carl Friedrich von Siemens. Berlin 10.11.1923, S. 11.
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inhalteten darüber hinaus sowohl den vollständigen Verzicht von Siemens auf Kommunikation mit russischen Exilantenverbänden als auch auf den Abschluss von „Geheimverträgen“ mit anderen Unternehmen, die im vorrevolutionären russland tätig gewesen waren. Die einzige repräsentanz des sowjetischen Außenhandels in Deutschland war die Berliner Handelsvertretung und Siemens hatte sich den regeln der Handelsvertretung zu unterwerfen. Der unmittelbare Erfolg in diesem Konflikt lag vollständig auf sowjetischer Seite. Zwar versuchte Carl Friedrich von Siemens Ende 1923 zu vermitteln und einen Kompromiss zu erzielen. Allerdings brachten seine Briefe an Stomonjakov sowie mehrere persönliche Gespräche in der Handelsvertretung keinen Erfolg.284 Siemens gab noch im August 1923 endgültig die Mitgliedschaft in den russischen Exilantenverbänden auf und versicherte, künftig würden keinerlei Absprachen mit anderen Unternehmen wider sowjetische Interessen getroffen werden. wie Žuravlev ausführt, wurde außerdem Alfred Schwartz, den Stomonjakov hauptsächlich für die Kontakte zu russischen Emigranten verantwortlich machte, seiner Position im tB ost enthoben.285 Siemens zeigte sich im Folgenden peinlich darum bemüht, nichts zu unternehmen, das als Unterstützung anti-sowjetischer Ziele ausgelegt werden könnte. Adolf Franke von S&H erläuterte dies 1924 in einem Brief an Stomonjakov folgendermaßen: „Es ist ein Grundsatz der im Siemens-Konzern vereinigten Firmen, sich als rein wirtschaftliche Unternehmen zu betrachten und politische Angelegenheiten nicht in den Bereich ihrer tätigkeiten zu ziehen. Es ist daher auch seitens der Leitung der Firmen denjenigen Kreisen, welche die Veränderung der politischen Verhältnisse in rußland anstreben, keinerlei Unterstützung solcher Bestrebungen zugesagt oder in Aussicht gestellt, noch viel weniger Abmachungen schriftlicher oder mündlicher Art getroffen, welche die Firmen in diesem Sinne verpflichten würden. Es ist Vorsorge getroffen, daß dies auch in Zukunft nicht geschieht und nach Möglichkeit alles vermieden wird, was zu Mißverständnissen in dieser richtung Veranlassung geben könnte.“286
Auch wenn die Aufrichtigkeit Adolf Frankes bezüglich der apolitischen Ausrichtung von Siemens in Zweifel gezogen werden kann, so stand doch im Ergebnis des Boykotts eine weitgehende Unterwerfung des Unternehmens unter die Forderungen Stomonjakovs. Bereits Anfang 1924 normalisierten sich die Beziehungen und im Geschäftsjahr 1923/1924 erzielte Siemens trotz des Boykotts den bislang höchsten Umsatz im Sowjetgeschäft. Das Ziel des Unternehmens, mittels einer gemischten Gesellschaft weitgehende Monopolrechte im sowjetischen Elektrogeschäft zu erhalten, war allerdings gescheitert. 284 Vgl.: SAA 4 Lf 685, Carl Friedrich von Siemens: Brief an Stomonjakov. Siemensstadt 20.12.1923; SAA 4 Lf 685, Carl Friedrich von Siemens: Brief an Stomonjakov. Siemensstadt 2.10.1923. 285 Žuravlev: Biznes c Bol‘ševikami (2006), S. 135. Nach den Angaben der Personalkarteikarte des Siemens-Archivs zu Alfred Schwartz wurde dieser allerdings schon am 1.7.1922 in die Abteilung Übersee versetzt. Ein direkter Zusammenhang mit dem Boykott ist deshalb nicht nachweisbar. 286 SAA 4 Lf 685, Adolf Franke: Brief an Stomonjakov. Siemensstadt 6.3.1924, S. 2f.
168 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels ob Stomonjakovs restriktives Vorgehen aber zu einem dauerhaften Erfolg der Handelsvertretung beziehungsweise zu einer erfolgreichen „Zähmung“ von Siemens führte, wie Žuravlev folgert, ist stark zu bezweifeln.287 Erstens hatte der Boykott auch unmittelbare negative Auswirkungen auf die sowjetische Importpolitik. wie der seit 1926 amtierende Berliner Handelsvertreter K. M. Begge in einem Brief an Außenhandelskommissar A. I. Mikojan mitteilte, war die Handelsvertretung während des Boykotts gezwungen, weiterhin Siemens-Produkte einzukaufen, um die Vorgaben des Importplans zu erfüllen. Da die direkte Auftragsvergabe an das Unternehmen von Stomonjakov unterbrochen worden war, mussten die waren über Umwege und zu deutlich überhöhten Preisen beschafft werden.288 Zweitens endete die Siemens-interne Auseinandersetzung über die Zukunft der Geschäftspolitik im November 1923 mit der fristlosen Entlassung robert Melchers‘. In einer ausführlichen Begründung wies Carl Friedrich von Siemens sowohl auf charakterliche Schwächen als auch auf die Arbeitsmethoden Melchers‘ hin, die mit der Unternehmenskultur von Siemens kollidierten und seine weitere Beschäftigung unmöglich machten.289 Mit Melchers verlor die Handelsvertretung denjenigen Siemens-Mitarbeiter, der sich am stärksten für eine Unterordnung der Unternehmensstrategie unter die Vorgaben des sowjetischen Außenhandelsapparats und für eine Beteiligung an Konzessionsverträgen stark gemacht hatte. Noch ein dritter Punkt ist zu nennen, warum der Geschäftsboykott der Handelsvertretung langfristige sehr negative Folgen auf die Zusammenarbeit mit deutschen Unternehmen haben konnte. Carl Friedrich von Siemens kritisierte in seinen Briefen an Stomonjakov, dass dessen Verhalten kaum dazu geeignet war, ein positives Geschäftsklima herzustellen. Ein „vertrauensvolles geschäftliches Zusammenarbeiten“290 mit der Handelsvertretung, das im beiderseitigen Interesse liege, könne sich unter diesen Umständen kaum entwickeln. Im Boykott von 1923/24 versagten alle bisher etablierten Kommunikationsformen im Sowjetgeschäft von Siemens. Der über ein halbes Jahr andauernde Machtkampf mit der Handelsvertretung endete zwar damit, dass sich Stomonjakov mit seinen Forderungen durchsetzen konnte. Es zeigte sich jedoch in dem Konflikt das Fortbestehen fundamentaler Differenzen zwischen dem Unternehmen und der Handelsvertretung bezüglich elementarer Grundlagen der wirtschaftlichen Interaktion. Eine vertrauensvolle Zusammenarbeit war unter diesen Umständen kaum denkbar, mit entsprechenden Konsequenzen für die weitere Entwicklung des Sowjetgeschäfts von Siemens.
287 Žuravlev: Biznes c Bol‘ševikami (2006), S. 143. 288 rGAĖ f. 5240, op. 18, d. 290, l. 76–77, K. M. Begge: Brief an Mikojan. Berlin 15.10.1928, S. 2. 289 SAA 4 Lf 685, Carl Friedrich von Siemens: Brief an Melchers. Berlin 17.12.1923. 290 SAA 4 Lf 685, Carl Friedrich von Siemens: Brief an Stomonjakov. Siemensstadt 20.12.1923, S. 7.
3 Zeitraum 1924–1928: Der Aufbau institutioneller Sicherungsmechanismen
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3 ZEItrAUM 1924–1928: DEr AUFBAU INStItUtIoNELLEr SICHErUNGSMECHANISMEN Die rahmenbedingungen der deutsch-sowjetischen Zusammenarbeit verbesserten sich zwischen 1921 und 1924 fühlbar und gewannen in mehreren bilateralen Verträgen auch an formaler Stabilität. Allerdings wirkte sich diese Stabilisierung nur begrenzt auf den deutsch-sowjetischen Handel aus. Zwar konnte seit 1921 auf eine substantielle Steigerung zurückgeblickt werden, dennoch blieb das Volumen sowohl hinter dem Vergleichsmaßstab der Vorkriegszeit als auch hinter den Erwartungen auf deutscher und sowjetischer Seite deutlich zurück. Ein Kern des Problems war weiterhin das begrenzte sowjetische Finanzierungspotential, das eine Steigerung der Importe nach wie vor nicht zuließ.291 Eine diesbezügliche Veränderung trat erst in der Mitte der 1920er Jahre ein. 3.1 Historischer Überblick: wirtschaftsabkommen und Berliner Vertrag Sowjetische Wirtschaftsplanung: Industrialisierungsdebatte und das Ende der NĖP Die NĖP warf in der Scherenkrise von 1923 ihre ersten Probleme auf. Es zeigte sich, dass die begrenzte Zulassung privatwirtschaftlicher Aktivität nur eine vorübergehende Linderung der akuten Probleme bei der Nahrungsmittelversorgung und der Industrieproduktion gebracht hatte. Einen Königsweg zum langfristigen wirtschaftlichen Aufbau bot die NĖP nicht. Vielmehr verstärkte die Scherenkrise den in der Partei schwelenden Konflikt um den künftigen wirtschaftspolitischen Kurs des Landes, der nicht nur ökonomische Fragen betraf, sondern auch den Kern der ideologischen Zielsetzung der Bol‘ševiki. Angesichts dieser prekären Lage fand zwischen 1924 und 1928 in der Sowjetunion eine Diskussion über den künftigen wirtschaftspolitischen Kurs des Landes statt, an der sich sowohl kommunistische theoretiker als auch Ökonomen intensiv beteiligten.292 Ausgangslage der so genannten Industrialisierungsdebatte war der Sieg der russischen revolution bei gleichzeitigem Ausbleiben revolutionärer Erfolge in den Industrieländern. Die Diskussion kreiste um die Frage, wie die wirtschaftsentwicklung der Sowjetunion ohne sozialistische Aufbauhilfe aus dem Ausland gestaltet werden konnte. Zwei Konzepte standen zur Diskussion. Die „linke opposition“ (mit den Hauptvertretern trockij, Zinov‘ev, L. B. Kamenev und dem wirtschaftstheoretiker E. A. Preobraženskij) stellte sich entschie291 Harold James: the reichsbank and Public Finance in Germany 1924–1933. A Study of the Politics of Economics During the Great Depression (Schriftenreihe des Instituts für Bankhistorische Forschung 5). Frankfurt am Main 1985, S. 305. 292 Folgender Abschnitt basiert vor allem auf: Erlich: the Soviet Industrialization Debate (1960). Vgl. ebenfalls: robert V. Daniels: the Conscience of the revolution. Communist opposition in Soviet russia. Cambridge, Mass. 1960.
170 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels den gegen den NĖP-Kurs, der bisher vor allem den Bauern genützt hatte.293 Das Ziel der Linken war der schnelle Ausbau der Großindustrie als Grundlage für die spätere Modernisierung der Landwirtschaft. Die „sozialistische Akkumulation“ sollte primär durch den wertetransfer aus der Landwirtschaft in die Industrie erzielt werden. Nutznießer dieser Politik wäre die Arbeiterschaft, die in der industriell unterentwickelten Sowjetunion weiterhin eine marginale Minderheit darstellte. Die Linken argumentierten, nur eine rasche und massive Vergrößerung der Arbeiterschaft könne die gesellschaftliche Grundlage für den Aufbau des Sozialismus bilden. Dagegen sprach sich die „rechte opposition“ (mit den Hauptvertretern N. I. Bucharin, A. I. rykov, M. P. tomskij und anfangs auch Stalin) für eine graduelle Industrialisierung aus. Zunächst sollte die Kaufkraft der Bauern weiter gesteigert und so die Nachfrage nach Industriegütern allmählich erhöht werden. Nachdem im Zuge der NĖP sowohl die Industrie- als auch die Agrarproduktion erheblich ausgeweitet worden war, geriet die linke opposition im innerparteilichen richtungsstreit ins Hintertreffen.294 Ihre Anhänger verloren bis 1927 alle Ämter in der Partei wie auch in der regierung und trockij musste schließlich 1929 ins Exil gehen. Aus der Auseinandersetzung ging, zunächst gestützt von der rechten opposition, Stalin siegreich hervor. Doch schon bald nach dem Sieg über die Linken wandte sich Stalin gegen die rechten, die er im Zuge der Vorbereitungen zum ersten Fünfjahresplan entmachtete. Bis 1930 etablierte er sich vollends im machtpolitischen Zentrum der Sowjetunion. Seine Losung vom „Sozialismus in einem Land“ legte die ideologische Basis für die bald folgende Industrialisierungs- und Kollektivierungskampagne sowie für die äußere Absicherung der Sowjetunion in einer kapitalistischen Umwelt. Außenpolitisch setzte die Sowjetunion den 1920 begonnenen Kurs der internationalen Integration weiter fort. Im August 1924 wurde ein Abkommen mit der Labour-regierung Großbritanniens abgeschlossen, das die erste diplomatische Anerkennung der Sowjetunion durch eine westliche Siegermacht bedeutete. Die tiefen bilateralen Spannungen konnten dadurch allerdings nur vorübergehend überbrückt werden. Im Mai 1927 brach die neu gewählte konservative regierung Großbritanniens die diplomatischen Beziehungen wieder ab, nachdem die Sowjetunion ihre revolutionären Ziele durch ihre Unterstützung britischer Gewerkschaften zu deutlich offenbart hatte. Mit den USA bestanden weiter keine formalen diplomatischen Beziehungen, obwohl US-amerikanische Unternehmen begannen, sich stärker am Sowjetgeschäft zu beteiligen.295 Das Deutsche reich blieb zunächst der wichtigste politische Partner der Sowjetunion. Im Bereich des Außenhandels konkurrierten in der Auseinandersetzung zwischen rechter und linker opposition zwei unterschiedliche Ansätze. Sie konzipierten jedoch beide die Industrialisierung der Sowjetunion bis zu einem gewissen 293 Einen kurzen Überblick über linke und rechte opposition bietet: Ulam: Expansion and Coexistence (1974), S. 128ff. Ausführlich: Schapiro: the Communist Party of the Soviet Union (1970), S. 271ff., 365ff. 294 Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion (1998), S. 185ff. 295 Fithian: Soviet-American Economic relations (1981), S. 184ff.
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Grad in Abhängigkeit von Außenwirtschaftsbeziehungen.296 Besonders in der Industrialisierungskonzeption der rechten opposition nahm der Außenhandel eine wichtige rolle ein. Auf der Basis einer starken Landwirtschaft sollte der Export von Agrarprodukten wie im Zarenreich den Import industrieller Investitionsgüter gewährleisten. Der Ansatz der linken opposition sah den raschen Aufbau einer sowjetischen Schwerindustrie vor, der ohne einen technologietransfer aus dem Ausland kaum in kurzer Zeit zu bewältigen war. Anstelle einer Finanzierung durch Agrarexporte favorisierte Preobraženskij dagegen ausländische Kredite.297 Im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung zwischen linker und rechter opposition kam es Mitte der 1920er Jahre auch zu einer weitgehenden reform des Außenhandelsapparats. Im November 1925 wurden die bisher eigenständigen Volkskommissariate für Binnenhandel und Außenhandel zu einem einheitlichen Handelskommissariat (Narodnyj Komissariat Torgovli, NKtorG oder Narkomtorg) zusammengelegt.298 Die Ursache dieser Zentralisierung lag erstens in den großen Defiziten der bestehenden organisation des Außenhandels, die vor allem die Handelsvertretungen im Ausland heillos überforderte. trotz einer deutlichen Steigerung seit Ende des Bürgerkriegs blieb das wachstum des Außenhandels weit hinter den Erwartungen zurück, wofür auch organisatorische Defizite verantwortlich gemacht wurden. Zweitens hatte die Fusion der beiden Volkskommissariate auch personalpolitische Ursachen. Krasin sowie mehrere weitere Vertreter einer pragmatischen Außenwirtschaftspolitik wurden bei der Besetzung von Spitzenpositionen nicht berücksichtigt. Krasin zum Beispiel wurde auf den Posten des stellvertretenden Volkskommissars zurückgestuft. Die Leitung des Narkomtorg übernahm zunächst L. B. Kamenev, der jedoch schon 1926 als Vertreter der linken opposition im Machtkampf mit Stalin abgesetzt wurde. Sein Nachfolger Mikojan, der das Narkomtorg bis 1930 leitete, war ein Gefolgsmann Stalins. Mit der Gründung des Narkomtorg ging eine weitgehende reorganisation im operativen Bereich des Außenhandels einher. Schon seit 1922 gab es parallele Strukturen von branchenspezifischen Export- und Importgesellschaften (Ėksportnoimportnye Obščestva) und den Gostory, die in den Unionsrepubliken den Import und Export im Auftrag des NKVt durchführten. Im Zuge der reformen von 1925 wurde die Stellung der branchenspezifischen Handelsorganisationen weiter gestärkt und die Gründung von Aktiengesellschaften in den wichtigsten Branchen beschlossen.299 Die Anteilseigner der Gesellschaften waren die bedeutendsten wirtschaftsorganisationen und die Industriebetriebe der jeweiligen Branche. Ihre Leitung blieb dem Narkomtorg vorbehalten. Durch diese Struktur sollte eine enge Bindung zwischen Narkomtorg und den sowjetischen Produzenten beziehungsweise den Konsumenten hergestellt und eine reibungslose Durchführung der Importe und 296 Jürgen Nötzold: Außenwirtschaftsbeziehungen und Industrialisierungsstrategien am Ende der Neuen Ökonomischen Politik, in: Gernot Erler/walter Süß (Hg.): Stalinismus. Probleme der Sowjetgesellschaft zwischen Kollektivierung und weltkrieg. Frankfurt am Main 1982, S. 66– 87, hier 66. Siehe auch: Dohan: Foreign trade (1984), S. 110f. 297 Erlich: the Soviet Industrialization Debate (1960), S. 14, 45. 298 Heubaum: Das Volkskommissariat für Außenhandel (2001), S. 73ff. 299 Freymuth: Die historische Entwicklung der organisationsformen (1963), S. 78ff.
172 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels Exporte gewährleistet werden. Das staatliche Monopol im Außenhandel wurde durch die restrukturierung nicht infrage gestellt. Im Bereich Elektrotechnik wurde am 7. Mai 1926 die Aktiengesellschaft Ėlektroimport für den Import elektrotechnischer waren gegründet.300 Größter Anteilseigner an Ėlektroimport war Narkomtorg. Darüber hinaus hielten mehrere weitere organisationen wie GĖt und Glavėlektro Anteile. Im dreiköpfigen Vorstand der Importgesellschaft war unter anderem I. E. Korostaševskij, vormals bei Glavėlektro, vertreten. Eine besondere Beziehung zu Siemens ist bei keinem der höheren Mitarbeiter von Ėlektroimport auszumachen. Um den Import- und Exportgesellschaften einen besseren Zugang zu den internationalen Märkten zu verschaffen, wurde ihnen das recht eingeräumt, bei den sowjetischen Handelsvertretungen im Ausland eigene Abteilungen einzurichten.301 Diese Spezialabteilungen (special‘nye otdely, kurz: specotdely) unterstanden administrativ der Handelsvertretung. Sie waren aber bei der Ausführung des operativen Geschäfts an die weisungen der jeweiligen Muttergesellschaft gebunden. Zusätzlich wurde im Dezember 1926 die Einrichtung so genannter „führender Handelsvertretungen“ beschlossen, die Importe in einzelnen Branchen auf jeweils ein Land konzentrieren sollten. Für die Elektroindustrie nahm Berlin die rolle der führenden Handelsvertretung ein. Im ersten Geschäftshalbjahr vergab Ėlektroimport 76,3 Prozent seiner gesamten Aufträge über das Berliner specotdel.302 Dawes-Plan, Locarno und Völkerbund: Deutsche Außenpolitik unter Gustav Stresemann Nach dem Ende der ruhrbesetzung und der währungsstabilisierung begann 1924 eine Phase der inneren und äußeren Stabilisierung der weimarer republik. In wirtschaftlicher Hinsicht beendete die Einführung der rentenmark im November 1923 die Inflation und legte die Grundlage für einen mehrjährigen wirtschaftsaufschwung. In der Außenpolitik setzte Gustav Stresemann, von 1923 bis zu seinem tod am 3. oktober 1929 Außenminister in allen reichsregierungen, die zentralen Akzente. 300 Die offizielle russische Bezeichnung war: Akcionernoe Obščestvo po Importu Predmetov Oborudovanija, Polufabrikatov i Syr‘ja dlja Ėlektropromyšlennosti i Ėlektrostroitel‘stva. Vgl. dazu die Satzung in: rGAĖ f. 5240, op. 18, d. 1931, l. 58–70, Ėlektroimport: Zusammensetzung von Ėlektroimport. Moskau 1926. Siehe ebenfalls den ausführlichen ersten Halbjahresbericht: rGAĖ f. 5240, op. 18, d. 1120, l. 49–97, Ėlektroimport: Bericht über die tätigkeit im ersten Halbjahr des Geschäftsjahrs 1926/27. Moskau 9.7.1927. 301 Goldstein/rapoport: Das Sowjet-wirtschaftsrecht im Geschäftsverkehr (1931), S. 10; Freymuth: Die historische Entwicklung der organisationsformen (1963), S. 83ff. 302 rGAĖ f. 5240, op. 18, d. 1120, l. 49–97, Ėlektroimport: Bericht über die tätigkeit im ersten Halbjahr des Geschäftsjahrs 1926/27. Moskau 9.7.1927, S. 9. Im August 1926 verfügte das Berliner specotdel bereits über einen Personalbestand von 36 Mitarbeitern: rGAĖ f. 8340, op. 1, d. 14, l. 9–10, Ėlektroimport: Mitarbeiterliste. Moskau 18.8.1926. Zur rolle der führenden Handelsvertretungen ausführlich: Kashirskikh: Die deutsch-sowjetischen Handelsbeziehungen (2006), S. 78ff.
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In Bezug auf den „größten Staatsmann von weimar“ (Jonathan wright) besteht in der Forschung über seine rolle als deutscher Nationalist und Großmachtpolitiker einerseits und seine rolle als Verfechter einer europäischen Ausgleichspolitik andererseits noch immer kein Konsens.303 weitgehende Einigkeit besteht allerdings darin, dass Stresemann den Kern seiner Arbeit als revisionspolitik betrachtete: Das Deutsche reich sollte aus den Fesseln des Versailler Vertrags befreit werden und ihm sein rechtmäßiger Platz als europäische Großmacht wieder zukommen. Allerdings basierte sein außenpolitischer Ansatz auf der Einsicht, dass nur durch den Ausgleich mit den westmächten eine rückkehr Deutschlands als Großmacht und eine teilrevision von Versailles möglich seien. Den Einsatz militärischer Mittel schloss Stresemann aus. Vielmehr sah er das außenwirtschaftliche Potential des reichs, das trotz des Versailler Vertrags im wesentlichen intakt geblieben war, als eines der wichtigsten Instrumente seiner Politik an.304 Hierfür bildete die währungsstabilisierung eine wichtige Grundlage, da sie die Neuregelung der reparationszahlungen und im Zuge dessen eine reintegration des reichs in die weltwirtschaft ermöglichte. Der im Sommer 1924 vom reichstag angenommene Dawes-Plan stellte die jährlichen Zahlungen auf eine stabile wirtschaftliche Grundlage und öffnete dem reich gleichzeitig einen Zugang zum internationalen und vor allem zum US-amerikanischen Kreditmarkt.305 Am 1. Januar 1925 lief außerdem die im Versailler Vertrag festgelegte einseitige Meistbegünstigung der Alliierten aus. Deutschland erhielt dadurch seine außenwirtschaftliche Souveränität zurück.306 Ausgehend vom Dawes-Plan legte Stresemann die Grundlage für einen weitgehenden Ausgleich in territorialen Fragen. Der Vertrag von Locarno im oktober 1925 fixierte den Verzicht auf militärische Gewalt an Deutschlands westgrenzen und gab Frankreich und Belgien eine Sicherheitsgarantie, die durch Großbritannien und Italien als Garantiemächte stabilisiert wurde. Locarno eröffnete im Folgenden auch den weg zum Beitritt des reichs zum Völkerbund im September 1926.307 Stresemann führte das reich damit aus der in rapallo manifestierten einseitigen Bindung an die Sowjetunion in eine gesamteuropäische Verständigungspolitik. Die deutsch-sowjetischen Beziehungen wurden aber auch unter Stresemann als Druck303 Jonathan r. C. wright: Gustav Stresemann. weimar‘s Greatest Statesman. oxford, New York 2002. Zur Forschungskontroverse über Stresemann vgl. auch: Dirk Stegmann: „Mitteleuropa“ 1925–1934. Zum Problem der Kontinuität deutscher Außenhandelspolitik von Stresemann bis Hitler, in: Dirk Stegmann/Bernd Jürgen wendt/Peter-Christian witt (Hg.): Industrielle Gesellschaft und politisches System. Festschrift für Fritz Fischer zum 70. Geburtstag. Bonn 1978, S. 203–221; walsdorff: westorientierung und ostpolitik (1971). 304 Krüger: Die Außenpolitik der republik von weimar (1985), S. 144. 305 Karl Heinrich Pohl: weimars wirtschaft und die Aussenpolitik der republik 1924–1926. Vom Dawes-Plan zum Internationalen Eisenpakt. Düsseldorf 1979, S. 14. 306 Schulz: Deutschland, der Völkerbund und die Frage der europäischen wirtschaftsordnung (1997), S. 47ff. 307 Zu Locarno vgl.: Peter Krüger: Locarno und die Frage eines europäischen Sicherheitssystems unter besonderer Berücksichtigung ostmitteleuropas, in: ralph Schattkowsky (Hg.): Locarno und osteuropa. Fragen eines europäischen Sicherheitssystems in den 20er Jahren. Marburg 1994, S. 9–27.
174 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels mittel, zum Beispiel bezüglich einer revision der deutsch-polnischen Grenze, gepflegt und ausgebaut. Klaus Hildebrand kam 1977 zu folgender Einschätzung, die auch durch die Stresemann-Biographie von wright im wesentlichen bestätigt wird: „Sie [Stresemanns Außenpolitik] war dadurch ausgezeichnet, daß sie eine absolute option zwischen dem westen und osten vermied und der Einbindung in Allianzen entging. Vielmehr entschied sie sich für eine Politik der west-ost-Balance und ließ dabei niemals Zweifel darüber aufkommen, daß Deutschland wirtschaftlich und gesellschaftlich fest im westlichen System verankert war, politisch aber die Beziehungen zur Sowjetunion als Gegengewicht zur westorientierung funktional zu benutzen verstand, um Bewegungsspielraum und Handlungsfreiheit für eine revisionistisch orientierte, aber friedlich prozedierende Außenpolitik zu erhalten und eine deutsche Großmacht im rahmen der zu etablierenden europäischen (Friedens-) ordnung wiederaufzurichten. Denn angesichts des Mangels an militärischer Macht war Stresemann darauf angewiesen, das verbliebene wirtschaftliche Instrumentarium des reiches gewissermaßen als Schwungrad zu nutzen, um außenpolitische Erfolge anzustreben.“308
Die Festigung der wirtschaftsbeziehungen zur Sowjetunion bildete weiterhin einen Schwerpunkt der deutschen Außenpolitik. Vor allem im Auswärtigen Amt herrschte angesichts der wirtschaftlichen Erholung infolge der NĖP großer optimismus, durch den Ausbau des Sowjethandels dessen revisionspolitische Bedeutung weiter zu erhöhen.309 Die deutsch-sowjetischen Beziehungen 1924–1928 Zwischen 1921 und 1924 hatten sich die deutsch-sowjetischen Beziehungen weitgehend positiv entwickelt. Der bilaterale Handel war allerdings deutlich hinter den Erwartungen vieler deutscher Unternehmer und Politiker zurückgeblieben. Als Haupthindernis erwies sich das begrenzte Finanzierungspotential der Sowjetunion bei Importgeschäften, weshalb die Kreditfinanzierung des deutschen Sowjetgeschäfts seit rapallo im Zentrum der bilateralen Verhandlungen stand. Zwar gewährten die Deutsche Bank und die Deutsche orientbank bereits seit 1922 begrenzte Kredite im Sowjetgeschäft. Die Spannungen auf politischer Ebene, die sich unter anderem an den KPD-Aufständen in Sachsen und thüringen oder der polizeilichen Durchsuchung der Berliner Handelsvertretung entzündeten, verzögerten jedoch den Abschluss eines umfassenden wirtschaftsabkommens um mehrere Jahre. Erst am 12. oktober 1925 führten die Verhandlungen zum Abschluss eines Konsularvertrags, eines Abkommens über rechtshilfe sowie eines umfangreichen wirtschaftsvertrags.310 Die insgesamt sieben teile des wirtschaftsvertrags regelten detailliert Fragen wie den persönlichen und gewerblichen rechtsschutz oder Schlichtungsverfahren im Konfliktfall. Damit setzte das Vertragswerk erstmals einen umfassenden rechtlichen rahmen für den Ausbau der bilateralen Handelsbe308 Hildebrand: Das Deutsche reich und die Sowjetunion (1977), S. 18. Ebenfalls: wright: Gustav Stresemann (2002), S. 512. rolf-Dieter Müller sieht dagegen klare Anzeichen einer „ostexpansion“ in Stresemanns Außenpolitik. Müller: Das tor zur weltmacht (1984), S. 15. 309 Sütterlin: Die „russische Abteilung“ des Auswärtigen Amtes (1994), S. 187. 310 reichsgesetzblatt 1926, II, S. 1ff.
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ziehungen und fixierte gleichzeitig eine grundsätzliche Anerkennung des sowjetischen Außenhandelsmonopols durch das Deutsche reich. Darüber hinaus wurde in teil II, Artikel 1 des Abkommens das Ziel formuliert, nach Möglichkeit den bilateralen Handel „auf das Vorkriegsmaß [auf den Stand vor 1914] zu bringen“. Diese ehrgeizige Absichtserklärung setzte einerseits ein klares Signal, dass seitens der deutschen Politik eine Intensivierung der wirtschaftsbeziehungen ausdrücklich erwünscht war. Andererseits bildete sie auch eine schwere Hypothek. Angesichts der bis 1925 absolut unzureichenden Steigerungsraten im bilateralen Handel konnte eine solche Zielvorgabe leicht zu großen Enttäuschungen führen. So ganz schien auf deutscher Seite der weiteren Entwicklung auch nicht vertraut zu werden, weshalb die Laufzeit der Einzelabkommen auf zwei beziehungsweise vier Jahre begrenzt wurde. raphael Glanz bemerkt in seinem umfangreichen Kommentar zu dem Abkommen Folgendes: „In deutschen wirtschaftlichen Kreisen ist vielfach die Auffassung vertreten, daß die Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse in der U.d.S.S.r. sich noch im Flusse befindet und selbst für die nächsten Jahre schwer zu übersehen ist. Es sind deshalb von den in dem Vertrage vom 12. oktober 1925 vereinigten Abkommen nur das Abkommen über Handelsschiedsgerichte und das Abkommen über gewerblichen rechtsschutz wegen ihres besonderen Charakters auf vier, die anderen Abkommen dagegen nur auf zwei Jahre fest abgeschlossen worden.“311
Doch trotz aller Skepsis bildete die vertragliche Formalisierung der deutsch-sowjetischen Beziehungen eine wichtige rechtliche Grundlage für die Kreditfinanzierung durch deutsche Banken. Zeitgleich mit dem Abkommen vom 12. oktober 1925 wurde der Sowjetunion von einem Konsortium unter Federführung der Deutschen Bank ein erster Großkredit in Höhe von 100 Millionen reichsmark zu wareneinkäufen in Deutschland gewährt.312 Die Laufzeit betrug allerdings nur drei Monate und der Kredit konnte daher nur zu 80 Prozent ausgeschöpft werden. Deutsche Banken und Unternehmen bemühten sich deshalb 1926 intensiv um längere Finanzierungsfristen. Kurz nach Abschluss des wirtschaftsabkommens festigte der Berliner Vertrag vom 24. April 1926 die politische Dimension der deutsch-sowjetischen Beziehungen.313 Im Kern bestätigte der Vertrag die in rapallo getroffene Vereinbarung einer bilateralen Zusammenarbeit auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet. Der Berliner Vertrag erhielt angesichts von Locarno und dem deutschen Beitritt zum Völkerbund eine wichtige Bedeutung, indem er den Stellenwert der deutsch-sowjetischen Beziehungen erneut unterstrich und mit der politischen willenserklärung die Basis für den Ausbau der wirtschaftlichen Zusammenarbeit festigte:
311 Glanz: Deutsch-russisches Vertragswerk (1926), S. 32. 312 Manfred Pohl: Die Finanzierung der russengeschäfte zwischen den beiden weltkriegen. Die Entwicklung der 12 großen rußlandkonsortien (Beiheft der tradition 9). Frankfurt am Main 1975, S. 16. 313 Vgl. den Vertragstext in: Linke: Quellen zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen (1998), S. 145f.
176 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels „the treaty of Berlin completed Stresemann’s policy of balancing first economic agreements with the west (Dawes) and the Soviets (12 october 1925), and then defensive political agreements with the west (Locarno) and the Soviets (Berlin treaty).“314
Auch aus sowjetischer Sicht war der Berliner Vertrag insofern ein wichtiger außenpolitischen Erfolg, da er parallel zur deutschen westpolitik von Locarno die bilaterale deutsch-sowjetische Zusammenarbeit festigte und erneut den Geist von rapallo beschwor (siehe dazu Artikel 1 des Vertrags). Das reich blieb weiterhin ein zentraler Faktor in den sowjetischen Außenbeziehungen.315 Die Herausforderung für Siemens Siemens wie auch die gesamte deutsche Elektroindustrie profitierten von der Stabilisierung der deutschen wirtschaft seit 1924. Der Umsatz des Unternehmens übertraf 1925 den wert der Vorkriegszeit und stieg bis zur weltwirtschaftskrise weiter kontinuierlich an.316 Auf dem deutschen Markt behauptete Siemens seine starke Position und an der Mitarbeiterzahl gemessen war das Unternehmen sogar der weltgrößte Elektrokonzern. Ebenfalls baute Siemens trotz der umfangreichen Verluste von Patenten und tochtergesellschaften im Ersten weltkrieg seit Mitte der 1920er Jahre seine Auslandspräsenz wieder auf.317 Als Problem erwies sich jedoch weiterhin die schwierige Lage am deutschen Kapitalmarkt, der nicht in der Lage war, die für das künftige wachstum nötigen finanziellen Anleihen bereitzustellen. Die großen US-Unternehmen wie westinghouse, General Electric oder At&t waren bei Finanzierungsgeschäften deutlich besser aufgestellt. Dies galt insbesondere für den Starkstromsektor, der hohe Investitionen erforderte und auf langfristige Kredite angewiesen war. Die Umwandlung von SSw in eine Aktiengesellschaft im Jahr 1927 stand deshalb auch im Zusammenhang mit einer geplanten langfristigen Anleihe in den USA.318 Doch trotz der Finanzierungsprobleme verlief die wirtschaftliche Entwicklung von Siemens nach 1924 außerordentlich positiv. Dagegen fiel die Bilanz im Auslandsgeschäft gemischt aus.319 während SSw den Anteil des Auslandsumsatzes nach 1924 nahezu auf den wert von 1913 erhöhen konnte, lag er für S&H deutlich niedriger. Es zeigte sich, dass das Unternehmen bei der rückkehr auf seine früheren Auslandsmärkte vor großen Problemen stand. Sie waren in den Folgen des Versailler Vertrags sowie in der großen Konkurrenz durch US-Firmen begründet. Be-
314 Spaulding: osthandel and ostpolitik (1997), S. 193. Zu dieser Schlussfolgerung kommt ebenfalls: Morgan: the Political Significance of German-Soviet trade Negotiations (1963), S. 271 315 Ulam: Expansion and Coexistence (1974), S. 157. 316 Feldenkirchen: Siemens 1918–1945 (1995), S. 184. 317 Schröter: Europe in the Strategies (1996), S. 46. 318 Zur Finanzierungspolitik des Unternehmens vgl.: Feldenkirchen: Siemens 1918–1945 (1995), S. 390ff.; sowie: Hertner: Financial Strategies and Adaptation (1989), S. 153ff. 319 Zur Entwicklung des Auslandsgeschäfts in der Zwischenkriegszeit: Feldenkirchen: Siemens 1918–1945 (1995), S. 233ff.
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sonders in Südamerika, aber auch auf vielen europäischen Märkten konnte Siemens den Stellenwert der Vorkriegszeit nicht mehr erreichen. Bezüglich der Zukunft des Sowjetgeschäfts herrschte im Unternehmen dagegen großer optimismus, wie folgende Einschätzung von Hugo Schwichtenberg, kaufmännischer Vorstand des tB ost, aus dem Jahr 1925 zeigt: „Zu dem Umsatz im laufenden Geschäftsjahr ist noch zu sagen, dass er aus dem Grunde nicht grösser war, weil die russen infolge schlechter Ernten und im Bestreben, die Handelsbilanz aktiv zu gestalten, nur die dringendsten Bestellungen vergaben. Alles spricht aber dafür, dass wir jetzt in dieser Beziehung vor einem grossen Umschwung stehen. […] Man erwartet ein Vielfaches der in den letzten Jahren an die Elektrotechnik vergebenen Bestellungen für das nächste Jahr. Da unsere Beziehungen zur russischen Handelsvertretung jetzt ungetrübte sind, da wir ausserdem mit der russisch-österreichischen Handels- u. Industrie AG, Moskau und wien, in freundschaftlichem Geschäftsverkehr stehen und auch von neuen [Handels-] Gesellschaften, die teils von der Deutschen Bank und teils von der Deutschen orient-Bank kontrolliert werden, bei der Vergebung von Aufträgen für russland in erster Linie berücksichtigt werden müssen, so haben wir berechtigte Aussichten auf einen grossen Anteil an dem zu erwartenden Geschäft.“320
wie Schwichtenberg jedoch im weiteren ausführt, lag das Haupthindernis für die Ausweitung des Geschäfts im fehlenden Finanzierungspotential der Sowjetunion. 3.2 Staatliche Exporthilfen: Die Kreditfinanzierung Nach Aussage Schwichtenbergs etablierten tB ost und Berliner Handelsvertretung im Anschluss an den Boykott von 1923/24 eine Geschäftskultur, die aus Perspektive von Siemens einen weitgehend reibungslosen Ablauf von Lieferaufträgen gewährleistete. Im zweiten teil seines Berichts an Fritz Fessel schlug er deshalb vor, stärker als bisher auch Geschäftsverträge auf Kreditbasis abzuschließen. Siemens hatte erstmals im Jahr 1922 Lieferaufträge auf Kredit angenommen, die jedoch nur ein geringes Volumen einnahmen. Schwichtenberg forderte 1925 eine drastische Ausweitung der Kreditfinanzierung: „Ich bitte aus vorstehenden Ausführungen entnehmen zu wollen, dass das russische Geschäft, in der nächsten Zeit jedenfalls, mit keinem aussergewöhnlichen risiko verknüpft ist, dass es uns aber einen grossen Umsatz mit befriedigendem Nutzen bringen kann, und dass es für uns besonders wertvoll sein wird in Zeiten, in denen unsere werke umfangreiche Aufträge brauchen werden. Deshalb müssen wir vorsorgend uns unseren Anteil am russischen Geschäft sichern, und weil es dank der grossen Konkurrenz nicht möglich ist, nur Kasse-Geschäfte hereinzuholen, müssen wir auch Kredit-Aufträge gegen Accept-Deckung annehmen. Um erfolgreich arbeiten zu können, bitte ich, dem tB ost die Genehmigung zu erteilen, Kredit-Geschäfte gegen Accept-Deckung […] bis zu 5 Millionen Mark für SSw-Geschäfte hereinholen zu dürfen.“321
320 SAA 4314, Hugo Schwichtenberg: Bericht an Direktor Fessel über Geschäfte mit russland. Siemensstadt 28.7.1925, S. 1f. 321 SAA 4314, Hugo Schwichtenberg: Bericht an Direktor Fessel über Geschäfte mit russland. Siemensstadt 28.7.1925, S. 4f.
178 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels Allerdings teilten die verantwortlichen Entscheider im Unternehmen, die wie Fritz Fessel im Direktionsausschuss für russland vertreten waren, Schwichtenbergs optimistische Zukunftserwartung offenbar nicht. Entgegen der Forderung aus dem tB ost wurde eine substantielle Ausweitung des Kreditvolumens nicht genehmigt. Vielmehr konzentrierte sich Siemens wie auch andere deutsche Unternehmen darauf, gemeinsam mit Banken ein umfassendes Finanzierungswesen für die Kreditvergabe im Sowjetgeschäft zu etablieren. Von zentraler Bedeutung war hierbei das Engagement der reichsregierung, die deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen durch Ausfallbürgschaften zu unterstützen. Die Industrie-Finanzierungsgesellschaft-Ost Deutsche Unternehmen und Banken gewährten seit 1921 mehrfach kleinere Kredite für deutsche Exporte nach Sowjetrussland. Doch erst Ende 1924 institutionalisierten einige Großunternehmen (darunter Siemens, AEG, Stinnes, Krupp) unter Leitung der Deutschen Bank die Ausfuhrvereinigung ost GmbH zur Finanzierung von Liefergeschäften auf Kreditbasis. Ein weiteres Kreditkonsortium mit dem Namen Deutsche Industrie-Vereinigung für den osten (DIVo) entstand 1925 unter Leitung der Badischen Staatsbank.322 Allerdings blieb die Höhe dieser Kredite begrenzt, sie hatten nur geringe Auswirkungen auf das deutsche Exportvolumen. Die im sowjetischen Außenhandelsplan vorgesehenen Importe großer Industrieanlagen waren durch diesen limitierten Finanzierungsspielraum nicht durchführbar. Diese erforderten vielmehr einen deutlich größeren Kreditumfang mit einem auf mehrere Jahre angelegten Zahlungszeitraum. Doch zunächst hielten sich die deutschen Banken mit der Finanzierung größerer Kreditvolumen zurück, da ihnen hierfür „jede rechtliche Absicherung fehlte“323. Dies änderte sich erst, als der reichstag am 25. Februar 1926 beschloss, für Exporte in die Sowjetunion eine Ausfallbürgschaft in Höhe von 35 Prozent bis zu einem Betrag von 300 Millionen reichsmark zu übernehmen. Durch eine weitere Ausfallbürgschaft der Länder in Höhe von 25 Prozent ergänzt, waren nun Exporte im wert von 300 Millionen reichsmark mit einer Bürgschaft von 60 Prozent durch die öffentliche Hand abgesichert.324 Ein Anlass für die staatliche Unterstützung des deutschen Sowjetgeschäfts war die positive Auswirkung auf den Arbeitsmarkt, die im Bereich der Exportwirtschaft erwartet wurde. Im Hintergrund standen jedoch auch langfristige strategische Überlegungen, die vor allem das Auswärtige Amt in den deutsch-sowjetischen Beziehungen verfolgte: „German motives in offering this credit were complex. Naturally, the government hoped that trade would increase and alleviate unemployment in Germany. these were the arguments that featured in the cabinet session which voted the credit and in the approving German press commentaries thereafter. But the Foreign Ministry view articulated by Schlesinger stressed politics: 322 Pohl: Geschäft und Politik (1988), S. 78. Zu den Kreditgeschäften deutscher Unternehmen vgl. auch: Schneider: Das sowjetische Außenhandelsmonopol (1973), S. 88. 323 Pohl: Die Finanzierung der russengeschäfte (1975), S. 14. 324 Vgl. dazu auch: Germer: Die Entwicklung der Handelsbeziehungen (1931), S. 49ff.
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‘the more we involve ourselves in russia economically, the more we will strengthen the foreign policy position of the Soviet Union and thereby our own as well. that is to say, seen politically, our value as an ally (Bündniswert) will be raised for the balancing out of our general policy’. In short, the 300-million credit was to supplement the political treaty [Berliner Vertrag] still under negotiation.“325
Zur Durchführung der Kreditgeschäfte wurde im Juli 1926 die Industrie-Finanzierungsgesellschaft-ost (IFAGo) gegründet. Ziel der IFAGo war es, „der mit der ausländischen Konkurrenz in schwerem Kampfe um den Absatz auf dem weltmarkte stehenden deutschen Industrie die Möglichkeit zu geben, Aufträge auf Lieferung von Maschinen und Ausrüstungen von der russischen regierung“326 anzunehmen. Die IFAGo sollte vor allem die Zwischenfinanzierung im Sowjetgeschäft übernehmen und dadurch auch kleinen und mittleren Unternehmen den Zugang zu sowjetischen Aufträgen ermöglichen.327 Zur Finanzierung der Kredite bildeten sich zwei Konsortien unter Leitung der Deutschen Bank und der Amsterdamschen Bank. Siemens übernahm knapp sieben Prozent der IFAGo-Anteile und war bis 1933 ständig in deren Aufsichtsrat vertreten. In den ersten Jahren nahm Carl Köttgen diesen Sitz ein, er wurde 1930 von Hermann reyß abgelöst. Die Ausfallbürgschaft des reichs war für Kredite vorbehalten, die für Liefergeschäfte im Bereich der industriellen Infrastruktur verwendet wurden (darunter fielen unter anderem Kraftwerke oder die Ausrüstung von Industriebetrieben). Die Deckung der Ausfallbürgschaft bezog sich zu 50 Prozent auf Kredite mit einer zweijährigen Laufzeit und zu 50 Prozent auf Kredite mit einer vierjährigen Laufzeit. Deutschen Unternehmen wurde es damit ermöglicht, sowjetische Aufträge auch auf langfristiger Finanzierungsbasis anzunehmen, was den Spielraum bei der Annahme von Großaufträgen erheblich vergrößerte.328 Ursprünglich war die Bürgschaft auf die Vergabe von Aufträgen bis zum 31. Dezember 1926 begrenzt. Der Zeitraum wurde jedoch um drei Monate verlängert. 1927 entwickelte sich das Finanzierungsgeschäft dann so stark, dass die reichsregierung eine zusätzliche Garantie über 23,5 Millionen reichsmark gewährte.329 Im Geschäftsjahr 1927 nutzten bereits 382 deutsche Unternehmen die Finanzierung durch die IFAGo. Laut sowjetischem Importplan waren von der Gesamtsumme von 300 Millionen reichsmark circa 25 Prozent für den Bereich Elektrotechnik vorgesehen.330 325 Dyck: weimar Germany & Soviet russia (1966), S. 52. 326 So formuliert im Geschäftsbericht für das Geschäftsjahr 1926. SAA 7289, IFAGo: Geschäftsbericht 1926. Berlin 31.12.1926, S. 2. Zu den Satzungen der IFAGo vgl.: SAA 7289, IFAGo: Satzungen der IFAGo. Berlin 10.8.1926. 327 Perrey: rußlandausschuß der Deutschen wirtschaft (1985), S. 92. 328 Nach Niemann umfassten die sowjetischen Aufträge aus dem 300-Millionen-Kredit ca. 8–9 Prozent der Gesamtproduktion des deutschen Maschinenbaus und der Elektroindustrie. Niemann: Die deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen (1991), S. 98. 329 Vgl. dazu: SAA 7289, IFAGo: Geschäftsbericht 1927. Berlin 31.12.1927; SAA 7289, IFAGo: Geschäftsbericht 1926. Berlin 31.12.1926. 330 Germer: Die Entwicklung der Handelsbeziehungen (1931), S. 53. Vgl. dazu auch einen Bericht über den „Import von elektrotechnischen Erzeugnissen 1926/27“ in: Die Volkswirtschaft der UdSSr 7 (1928), 8/9, S. 51ff.
180 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels Die Ausfallbürgschaften im Sowjetgeschäft von Siemens Siemens profitierte außerordentlich stark von der staatlichen Exportfinanzierung. Interner Statistiken des tB ost an die Siemens-Finanzabteilung zufolge basierte der Auftragseingang im Geschäftsjahr 1926/27 zu über 80 Prozent auf den Ausfallbürgschaften.331 Angesichts dieses wachstums meldete das tB ost im Juni 1926 einen drastisch gestiegenen Personalbedarf: „Leider sind wir nicht mehr imstande, mit unserm technischen Personalbestande die im Anschluss des 300 MillionenKredites immer mehr anwachsenden Arbeiten zu bewältigen.“332 Das Personal im tB ost wuchs im Folgenden auf zeitweise über 100 Mitarbeiter an: tabelle 4: Übersicht über die Personalentwicklung des tB ost 1921–1932 tB ost nur Sowjetgeschäft
tB ost inkl. baltische Länder 1921 (Juli)
28
1926 (Januar)
64
1922 (Juni)
70
1926 (August)
75
1923 (Januar)
97
1926 (Dezember)
90
1924 (Januar)
97
1927 (Februar)
115
1924 (August)
102
1927 (September)
85
1925 (Januar)
104
1928 (September)
76
1925 (August)
91
1929 (September)
76
1930 (September)
73
1932 (März)
75
Quelle: Die Angaben stammen aus den Personallisten des tB ost in SAA 47, SAA 4732, SAA 10707 und SAA 13 Le 374. Bis zum 1.10.1925 bearbeitete das tB ost das Geschäftsgebiet der Sowjetunion und der baltischen Länder. Die in der tabelle für Januar 1926 angegebene Mitarbeiterzahl ist deshalb die erste, die sich ausschließlich auf das Sowjetgeschäft bezieht.
Nach dem Ausnahmejahr von 1926/27 mit einem Auftragseingang von 32 Millionen reichsmark sackte der Auftragseingang bei Siemens zwar zunächst ab, stabilisierte sich jedoch auf einem Niveau, das deutlich über den werten der frühen 1920er Jahre lag. SSw erhielt mehrere Großaufträge zur Ausrüstung von Kraftwerken, wie zum Beispiel für die Kraftwerke Kašira und Šatura bei Moskau.333 Eben331 SAA 4732, tB ost: Bestelleingänge für die Geschäftsjahre 1919/20 bis 1928/29. Siemensstadt 1929. Hinzu kamen umfangreiche Aufträge der sowjetischen Handelsvertretung in Österreich an die Österreichischen Siemens-Schuckertwerke (ÖSSw), die durch eine Ausfallbürgschaft der Stadt wien finanziert wurden. Zu den sowjetischen Aufträgen an ÖSSw vgl. besonders: SAA 3814, SAA 4460, SAA 4463. Vgl. ebenfalls den Überblick in: Die Volkswirtschaft der UdSSr 6 (1927), 19, S. 2ff. 332 SAA 524, tB ost: Brief an ZV3 bezüglich technischen Personals. Siemensstadt 3.6.1926. 333 Siemens-Zeitschrift 6 (1926), 5, S. 215. Insbesondere auch: Karl Dietel: Die Versorgung der Stadt Moskau mit elektrischer Energie, in: Siemens-Zeitschrift 7 (1927), 7, S. 511–514.
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falls fielen in diesen Zeitraum erste Großaufträge zur Ausrüstung von Industrieanlagen und SSw lieferte unter anderem Motoren für walzanlagen.334 SSw und SBU erstellten gemeinsam Expertisen für mehrere große Infrastrukturprojekte, wie zur Strom- und wasserversorgung von Moskau und tiflis.335 SBU beteiligte sich darüber hinaus an der Projektierung einer Eisenbahnlinie nach Persien und erstellte einen Entwurf für den Bau des wasserkraftwerks am Dnepr (vgl. dazu ausführlich Kapitel 4.3).336 Gleichzeitig entfielen auf S&H mehrere Großaufträge in den Bereichen Kommunikations- und Medizintechnik.337 Insgesamt beliefen sich die Aufträge von Siemens im rahmen der Ausfallbürgschaft auf 28 Millionen reichsmark. Damit basierten fast 50 Prozent des gesamten Sowjetgeschäfts von Siemens bis 1929 auf diesen staatlichen Exporthilfen. Parallel zu den Liefergeschäften aus dem 300-Millionen-Kredit nahm das Unternehmen auch neue Verhandlungen im rahmen der sowjetischen Konzessionspolitik auf. 3.3 Verhandlungen mit dem Schwachstromtrust technische Hilfsverträge waren eine der drei Varianten, die Sutton als Beteiligungsmöglichkeit ausländischer Unternehmen im rahmen der sowjetischen Konzessionspolitik identifiziert.338 Diesbezügliche Gespräche führte S&H erstmals 1923 mit dem Schwachstromtrust. Die Verhandlungen scheiterten allerdings im Sommer 1923 daran, dass Siemens nicht die von sowjetischer Seite geforderten umfangreichen Patente in den Konzessionsvertrag einbringen wollte (vgl. S. 154). Nach dem Scheitern dieser Verhandlungen schloss Ericsson 1925 mit dem Schwachstromtrust im Bereich automatischer telefonanlagen einen umfangreichen Vertrag zur technischen Hilfe ab.339 Dieser Vertrag gewährte Ericsson das ausschließliche recht zur Produktion und zum Verkauf von telefonanlagen in der Sowjetunion über eine Laufzeit von sechs Jahren. Der Zugang zum sowjetischen telekommunikationsmarkt wurde für Siemens durch die Ericsson-Konzession vorerst versperrt. Siemens hatte 1923 in den Verhandlungen mit dem Schwachstromtrust auch auf die überlegene Qualität der eigenen technik im Vergleich mit Ericsson hingewiesen. Der Vorzug des Angebots von Ericsson war dem tB deshalb nicht nach334 Vgl. den Beitrag in: Siemens-Zeitschrift 7 (1927), 2, S. 118. 335 SAA 11 Lf 225, Abteilung Bahnen: Jahresbericht Geschäftsjahr 1924/25. Siemensstadt 1925; SAA 9111, SBU: Liste von Aufträgen in den Jahren 1923–1932 in der UdSSr und im Baltikum 30.9.1942. 336 SAA 11 Lf 140, SBU: Mitteilung an Köttgen über Vertragsentwurf für Dneprostroj. Siemensstadt 24.1.1927. Zum geplanten Bau der Eisenbahnlinie nach Persien vgl. die Mitteilung des Narkomtorg: rGAĖ f. 5240, op. 18, d. 2695, l. 317, Narkomtorg: Auskunft des Narkomtorg über die transpersische Eisenbahn. Moskau 11.9.1928. 337 SAA 12279, Berliner Handelsvertretung/S&H: Vertrag über die Konsignation von röntgengeräten und elektromedizinischen Apparaten. Berlin 15.2.1929. 338 Dazu auch: Beitel/Nötzold: Deutsch-sowjetische wirtschaftsbeziehungen (1979), S. 105. 339 rGAĖ f. 5240, op. 18, d. 528, l. 43–51, Schwachstromtrust/Ericsson: Vertrag. ort unbekannt 13.11.1925.
182 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels vollziehbar. In den Erinnerungen von Edgar Schwartz findet sich allerdings eine Bemerkung zur Konkurrenz im telefongeschäft der 1920er Jahre. Demnach hatte es Ericsson vor allem den ehemaligen Mitarbeitern der russischen Niederlassung zu verdanken, dass der Großauftrag für telefonanlagen 1925 nicht an S&H vergeben wurde. Laut Informationen des tB ost war der Schwachstromtrust aber bis 1928 lediglich in der Lage, eine einzige telefonanlage in Leningrad zu installieren, die auch nur sehr unregelmäßig funktionierte. Siemens sah darin eine Chance, trotz der exklusiven rechte von Ericsson an sowjetischen telefonaufträgen zu partizipieren. Görz empfahl dem tB ost daher: „Sie wissen ja selbst aus Erfahrung, dass die russen gegen niedrige Preise, selbst wenn anderweitige Verpflichtungen vorliegen, nicht gefühllos bleiben, und wenn wir dabei weiter nichts erreichen, als Erikson [sic] das Leben in russland etwas zu erschweren, so ist das auch schon ein Vorzug. Ich würde aber unter keinen Umständen nun von jeglicher Behandlung des Fernmeldewesens mit russland Abstand nehmen.“340
Die folgenden Verhandlungen mit dem Schwachstromtrust geben einen hervorragenden Einblick darin, wie Siemens die Freiräume des sowjetischen Außenhandelsmonopols auszunutzen versuchte. Das Unternehmen verfolgte zwei parallele Strategien. Offizielle Verhandlungen mit dem Schwachstromtrust Zunächst nahm das tB ost 1926 offizielle Verhandlungen mit dem Schwachstromtrust auf, die von der Berliner Handelsvertretung koordiniert wurden.341 Das Unternehmen verwies darin auf die überlegene technologie der Siemens-Anlagen sowie auf die großen Produktionskapazitäten. Der umfassende Ausbau des sowjetischen telefonnetzes (geplant waren bis zu 200.000 neue Anschlüsse pro Jahr) sei durch die Ericsson-Konzession nicht zu schaffen. Zwar wurden von Siemens erneut Bedenken bezüglich des Aufbaus einer eigenen Fabrikation in der Sowjetunion geäußert, da man die eigenen Patente ungern aus der Hand geben wollte. Das Unternehmen zeigte sich allerdings bereit, bei einer Zusicherung langfristiger Lieferverträge die Produktion allmählich in die Sowjetunion zu verlagern: „Die Fabrikation und ihre Entwicklung müsse aber vollständig unserem Einfluss unterstellt bleiben, die Leitung unumschränkt deutsch sein, nur im Verwaltungsrat könnten russische Persönlichkeiten sein; eine Minoritätsbeteiligung des Schwachstromtrusts wäre uns nicht nur angenehm, sondern der ganze Gedanke könnte nur unter wirklicher Freundschaft des Schwachstromtrustes einen Sinn haben.“342
Der Vorstand des Schwachstromtrusts I. I. Žukov zeigte sich mit diesem Vorschlag grundsätzlich einverstanden. S&H reichte daraufhin im Sommer 1926 einen Ver340 SAA 4314, Hermann Görz: Brief an Georg Kandler. Siemensstadt 24.1.1928, S. 1. 341 Vgl. dazu den Bericht Maximilian Esterers: SAA 4200, Maximilian Esterer: Anmerkungen über die Besprechung im Hotel Fürstenhof am 14. Juni 1926. Siemensstadt 15.6.1926. 342 SAA 4200, Maximilian Esterer: Anmerkungen über die Besprechung im Hotel Fürstenhof am 14. Juni 1926. Siemensstadt 15.6.1926, S. 5.
3 Zeitraum 1924–1928: Der Aufbau institutioneller Sicherungsmechanismen
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tragsentwurf zur technischen Zusammenarbeit bei der Fabrikation und dem Vertrieb von elektrischen Apparaten ein.343 Besonderen wert legte das Unternehmen darin auf den Schutz der Patentrechte und fügte in den Entwurf detaillierte vertragliche Sicherungsmechanismen ein. Es wurde ausdrücklich betont, dass die Fabrikationsrechte ausschließlich beim Schwachstromtrust liegen würden. Eine weitergabe der rechte an andere sowjetische Betriebe sollte streng untersagt werden. Darüber hinaus plante S&H, sich einen dominierenden Einfluss auf die technische Leitung der Fabrik zu sichern. Das S&H-Angebot wurde für Siemens überraschend im November 1926 von Žukov abgelehnt, da der Entwurf angeblich nicht den im Sommer besprochenen Bedingungen entsprach.344 Diese reaktion rief im Unternehmen große Entrüstung hervor. In einer eigens einberufenen Sitzung des Direktionsausschusses für russland am 25. November 1926 wurde Folgendes festgehalten: „Die Absage der russen ist so kategorisch und bedeutet eine solche Brüskierung unserer Firma, dass es ein Zeichen von Schwäche sein würde, wollten wir dem trust gegenüber unmittelbar an diesen Brief anknüpfen und uns nach einer Möglichkeit zur Fortsetzung der Verhandlungen erkundigen. Dies umsomehr, als die russen es nicht einmal für nötig erachtet haben, auf unsern Vorschlag einer mündlichen Erörterung des Vertragsentwurfs einzugehen. “345
Dennoch sah S&H die Absage des Schwachstromtrusts nicht als endgültig an: „Da dem Briefe des trusts offiziell keine Folge gegeben werden kann, müssen die Verhandlungen mindestens einstweilen als gescheitert angesehen werden. Es hängt vom Interessenstandpunkt ab, ob dieses Ergebnis zu bedauern ist. Nach den in andern Fällen (zum Beispiel osram) gesammelten Erfahrungen bedeutet das Verhalten der russen auf deren Seite nicht notwendig einen endgültigen Bruch, so dass die Möglichkeit besteht, dass eines tages von russland aus unser Entwurf wieder aufgegriffen wird.“346
Siemens setzte seine Bemühungen um den Abschluss eines technischen Hilfsvertrags deshalb fort. Das Unternehmen machte sich dabei die heterogenen Strukturen der sowjetischen wirtschaftsverwaltung zunutze.
343 SAA 11 Lf 140, S&H: Vertrag über Zusammenarbeit in einem Unternehmen für Fabrikation und Vertrieb von elektrischen Apparaten und Zubehör. Siemensstadt 1926. Im Entwurf sind unter anderem Schalttafelmessinstrumente und Stromzähler aufgelistet. 344 SAA 11 Lf 140, I. I. Žukov: Brief an wernerwerk wegen des Vertragsentwurfs. Leningrad 13.11.1926. 345 SAA 11 Lg 89, Eberhard Pelkmann: Aktenvermerk über eine Besprechung über die Antwort des Schwachstromtrusts vom 13.11.1926 auf den Vertragsentwurf von S&H vom 25.9.1926. Siemensstadt 25.11.1926, S. 1. 346 SAA 11 Lg 89, Eberhard Pelkmann: Aktenvermerk über eine Besprechung über die Antwort des Schwachstromtrusts vom 13.11.1926 auf den Vertragsentwurf von S&H vom 25.9.1926. Siemensstadt 25.11.1926, S. 1f.
184 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels
Abbildung 4: werbekarte des tB ost für die Sowjetunion Quelle: Siemens-Archiv EB III 268. Die Karte stammt aus dem Jahr 1925. In der Beschreibung heißt es: „Explorator röntgenapparat für Privatärzte. Siemens & Halske AG technisches Büro ost Berlin-Siemensstadt“.
Siemens-Werbung in der Sowjetunion Große Hoffnungen wurden von Siemens vor allem in die reorganisation des Volkskommissariats für Außenhandel von 1925 sowie in die kürzlich neu gegründete Gesellschaft Ėlektroimport gesetzt. Besonders Ėlektroimport bot nach Meinung von S&H eine „günstige Gelegenheit, Beziehungen anzuknüpfen“ und dadurch eine „rückwirkung auf die Haltung des [Schwachstrom-] trusts in der Fabrikfrage“347 zu erzielen. Hermann reyß initiierte Ende 1926 erste Gespräche mit Korostaševskij von Ėlektroimport und war zuversichtlich, durch diesen Kontakt auch den Abschluss des technischen Hilfsvertrags fördern zu können. Parallel zu diesen Gesprächen führte das tB ost eine umfassende werbeaktion in der Sowjetunion durch: 347 SAA 11 Lg 89, Eberhard Pelkmann: Aktenvermerk über eine Besprechung über die Antwort des Schwachstromtrusts vom 13.11.1926 auf den Vertragsentwurf von S&H vom 25.9.1926. Siemensstadt 25.11.1926, S. 3f.
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„wir waren in dieser Zeit nicht müssig, sondern haben Klapp-Prospekte, werbeblätter in russischer Sprache, in 100ten von Exemplaren nach russland versandt, jedem dieser Klapp-Prospekte war eine Postkarte angeheftet. Auf Grund dieser ausgedehnten reklame erhielten wir Anfragen auf etwa 400 Postkarten.“348
In Folge dieser Anfragen sandte das tB ost mehrere hundert Angebote an sowjetische Elektrobetriebe. Der widerstand des Schwachstromtrusts verhinderte es zwar, dass sich aus der werbeaktion direkte Aufträge für Siemens ergaben. Allerdings war es dem tB ost möglich, unmittelbaren Kontakt zu potentiellen Endkunden in der Sowjetunion aufzunehmen. Die über mehrere Jahre durchgeführten werbesendungen wurden daher als ein wirksames Instrument betrachtet, „eine große reihe von Konsumenten sofort an der Hand“349 zu haben, falls das Ericsson-Monopol aufgeweicht werden würde. Darüber hinaus führte das tB ost direkte Verhandlungen mit dem Volkskommissariat für Postwesen, das nach Siemens-Informationen „mit dem [Schwachstrom-] trust ausserordentlich unzufrieden“ sei und nach Möglichkeiten suche, „sich von der Monopolstellung desselben zu befreien“.350 Die Siemens-Strategie führte zumindest zu teilerfolgen. Im Mai 1928 teilte die Handelsvertretung mit, die Verhandlungen mit S&H würden wieder offiziell und unter Beteiligung des Schwachstromtrusts aufgenommen werden.351 Außerdem hatte bereits im September 1927 telefunken, an der Siemens beteiligt war, einen Vertrag zur technischen Hilfe bei der Produktion von Schnellzeigertelegrafen sowie im Bereich radiotechnik abgeschlossen.352 Der Vertrag hatte eine Laufzeit von fünf Jahren und beinhaltete die Nutzung von Patenten im Bereich der Bildübertragung mittels radio. Ein umfassendes Abkommen von S&H zur technischen Hilfe kam allerdings nicht zustande. Vielmehr zeigen auch spätere Verhandlungen im rahmen des ersten Fünfjahresplans, dass das Unternehmen sehr skeptisch gegenüber langfristigen Verpflichtungen im Sowjetgeschäft blieb. Es war nicht bereit, Patentrechte ohne entsprechende Sicherungsgarantien aus der Hand zu geben.353 Siemens konnte dabei auch von den Erfahrung profitieren, die AEG mit einem 1926 abgeschlossenen Konzessionsvertrag mit dem Staatlichen Elektrotrust GĖt über die Fabrikation von Generatoren, Motoren, transformatoren und anderen elektrischen Apparaten ge348 SAA 4314, tB ost: Brief an Görz betr. Vertrag Ericsson mit Schwachstromtrust. Siemensstadt 2.2.1928, S. 1f. Die genauen Distributionswege dieser werbeaktion gehen aus dem Bericht nicht hervor. Es war ausländischen Unternehmen grundsätzlich gestattet, werbematerial in die Sowjetunion einzuführen. Lorenz: Handbuch des Aussenhandels (1930), S. 276. 349 SAA 4314, tB ost: Brief an Görz betr. Vertrag Ericsson mit Schwachstromtrust. Siemensstadt 2.2.1928, S. 3. 350 SAA 4314, tB ost: Brief an Görz betr. Vertrag Ericsson mit Schwachstromtrust. Siemensstadt 2.2.1928, S. 2. 351 rGAĖ f. 5240, op. 18, d. 953, l. 287–288, K. M. Begge: Brief an rojzenman. Berlin 21.5.1928. 352 rGAĖ f. 5240, op. 18, d. 2809, l. 1–3, Glavkonzesskom: Liste der Konzessionsverträge. ort unbekannt 1927; Die Volkswirtschaft der UdSSr 7 (1928), 1, S. 51. 353 So stellte der stellvertretende Vorsitzende von Ėlektroimport G. V. turbin 1930 in einer internen Mitteilung fest, dass eine Beteiligung von Siemens an einem technischen Hilfsabkommen für die Industriekombinate in Magnitogorsk und Kuznetsk nicht zu erwarten sei. rGAĖ f. 8340, op. 1, d. 95, l. 67, G. V. turbin: Brief an ocerskij. Moskau 22.12.1930.
186 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels macht hatte. Vom Januar 1927, weniger als ein Jahr nach Abschluss der Konzession, ist folgender Auszug aus einer Besprechung zwischen reyß und Joseph Bleimann, Leiter der Abteilung russland bei AEG, überliefert: „[reyß]: Sind Sie bereit, mir einige Fragen zu beantworten, die sich auf diesen Vertrag beziehen, würden Sie diesen Vertrag heute noch einmal abschließen? Bleimann: Ich bin sicher, daß die A.E.G. diesen Vertrag heute nicht mehr machen würde, denn alle Herren, die damit zu tun haben, sind unzufrieden, mit Ausnahme vielleicht des Herrn Pfeffer [Direktor August Pfeffer von AEG] und auch dieser wohl nur deshalb, weil er den Vertrag aufgesetzt und abgeschlossen hat. wir haben dauernd etwa 2 Dtz. russen, Ingenieure und Vorarbeiter, in unseren Fabriken, und ich darf mich bei den Fabrik-Direktoren nicht sehen lassen, ohne daß ich böse worte über diese Belästigung höre. Jeder dieser 24 Mann braucht natürlich einen zuweilen auch 2 unserer eigenen Leute zur Beantwortung seiner Fragen, oder seiner sonstigen Instruktionen und zur Beaufsichtigung. [reyß]: Haben Sie feststellen können, daß der eine oder andere dieser 24 russen kommunistische Propaganda unter Ihren Arbeitern betreibt? Bleimann: Für die erste Zeit will ich das nicht in Abrede stellen. wir sehen aber jetzt scharf darauf, daß wir nur Leute bekommen, die jede politische tätigkeit unterlassen, aber sie können natürlich außerhalb der Arbeitszeit von uns nicht kontrolliert werden. Eine Einwirkung auf unsere Arbeiterschaft können wir z. Z. nicht bemerken. Sehr unangenehm haben wir aber empfunden, daß uns die russen verschiedene werkmeister und gute Arbeiter zu erheblich höheren Löhnen fortengagiert haben, ohne daß wir es hindern konnten. [reyß]: Haben Sie auf Grund dieses Vertrages vom Starkstromtrust Aufträge auf komplette Maschinen oder teillieferungen erhalten? Bleimann: Nicht das geringste. [reyß]: Verursacht der Starkstromtrust auf Grund des Vertrages eine große Arbeit durch Überlassung von Zeichnungen, Konstruktions- und rechnungs-Daten? Bleimann: Enorme. wir senden ganze waggonladungen von Zeichnungen, die verlangt werden, nach rußland. Die damit verbundene Arbeit und Unkosten stehen in gar keinem Verhältnis zu den Lizenzabgaben, die wir bereits erhalten haben, dabei verlangen die russen an Zeichnungen viel unnützes Zeug, sogar veraltete Konstruktionen mit der Begründung, sich ein Archiv anlegen zu müssen, das die Entwicklung der heutigen Ausführungen historisch enthält. wir haben keine Mittel das Verlangen abzuschlagen.“354
Diese negativen Erfahrungen von AEG schienen die ablehnende Haltung von Siemens gegenüber langfristigen Verpflichtungen im Sowjetgeschäft zu bestätigen. Allerdings geriet das Unternehmen Ende der 1920er Jahre seitens der US-amerikanischen Konkurrenten unter zunehmenden Druck, die sich dank überlegener Kapitalkraft auch an umfassenden Konzessionsverträgen im Sowjetgeschäft beteiligten.
354 SAA 11 Lg 89, Hermann reyß: Mitteilung über einen Vertrag von AEG mit dem Schwachstromtrust. Siemensstadt 14.1.1927, S. 1f. Zu der AEG-Konzession vgl.: Die Volkswirtschaft der UdSSr 6 (1927), 1, S. 46. Auch für das Jahr 1929 sind aus dem Protokoll einer Unterredung zwischen I. I. Žukov, mittlerweile Vorsitzender des GĖt, und Pfeffer Streitpunkte bezüglich des Vertrags überliefert. rGAĖ f. 5240, op. 18, d. 1590, l. 119, I. I. Žukov: Protokoll einer Unterredung mit Pfeffer. ort unbekannt 24.10.1929.
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Ende der 1920er Jahre übertraf die Anzahl abgeschlossener technischer Hilfsverträge von Unternehmen aus den USA die der deutschen Hilfsverträge.355 3.4 Deutsche Marktmacht und sowjetische Diversifizierungspolitik Bis zum Ersten weltkrieg dominierten deutsche Elektrounternehmen den russischen Markt. Das Zarenreich importierte überwiegend deutsche technik und Ausrüstung, russische Ingenieure wurden vielfach in Deutschland ausgebildet und nach der Ausbildung bei tochtergesellschaften deutscher Unternehmen in russland beschäftigt. Insofern schien es konsequent, dass die sowjetische Elektroindustrie in den 1920er Jahren an die traditionen aus der Vorkriegszeit anzuknüpfen versuchte. Institutionelle Pfadabhängigkeit war ein wichtiges Merkmal des GoĖLro-Plans.356 Allerdings zeigten sich in der grundsätzlichen Ausrichtung der sowjetischen Industrialisierungsstrategie auch klare Brüche mit dem Zarenreich. Zum eigentlichen Vorbild des industriellen Aufbaus der Sowjetunion avancierte nicht das Deutsche reich, sondern die USA.357 Leitbilder der sowjetischen Industrialisierung in den 1920er Jahren wurden taylorismus (wissenschaftliches Betriebsmanagement), Fordismus (Fließbandarbeit) und die Konzentration auf Großprojekte.358 Industrielle Massenproduktion hieß das Schlagwort, mit dem die sowjetischen Planer hofften, die wirtschaftliche rückständigkeit des Landes in möglichst kurzer Zeit zu überwinden. Als orientierung dienten dabei die modernen Produktionsmethoden aus den USA. Deutsche Elektrounternehmen dagegen waren zwar in Europa nach wie vor führend. Im Vergleich mit den USA galten sie jedoch in vieler Hinsicht als altmodisch und den Anforderungen des groß angelegten Elektrifizierungsplans in der Sowjetunion nicht gewachsen. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre stand die sowjetische Importpolitik somit vor einem Dilemma: Einerseits wurde die US-wirtschaft als Vorbild der eigenen Industrialisierung gesehen. Andererseits sprachen vielfältige wirtschaftliche Verbindungen sowie die engen politischen Beziehungen zum Deutschen reich für deutsche Unternehmen. Daraus folgte auch ein sehr hoher Anteil deutscher Produkte am sowjetischen Elektroimport.
355 Beitel/Nötzold: Deutsch-sowjetische wirtschaftsbeziehungen (1979), S. 108. 356 Coopersmith: the Electrification of russia (1992), S. 259; Haumann: Beginn der Planwirtschaft (1974), S. 196. 357 Fithian: Soviet-American Economic relations (1981), S. 256. Vgl. dazu exemplarisch den Aufbau des Automobilwerks in Nižnij Novgorod durch die Austin Company aus Cleveland, ohio, in dem seit den frühen 1930er Jahren Lastwagen und traktoren in Lizenz von Ford produziert wurden. richard C. Austin: Building Utopia. Erecting russia‘s First Modern City, 1930. Kent 2004. 358 Beitel/Nötzold: technologietransfer und wirtschaftliche Entwicklung (1979), S. 85; Kendall E. Bailes: technology and Society Under Lenin and Stalin. origins of the Soviet technical Intelligentsia, 1917–1941. Princeton 1978, S. 50.
188 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels Grundlagen der Diversifizierungspolitik Nach Abschluss der Kreditabkommen von 1925 und 1926 entwickelte sich Deutschland zum größten Lieferanten der Sowjetunion; insgesamt kamen über 20 Prozent aller Importe aus Deutschland. Dies zeigte sich auch im Bereich Elektrotechnik. In den Jahren 1927 und 1928 gingen zum Beispiel im Bereich elektrische Maschinen jeweils über 20 Prozent aller deutschen Exporte in die Sowjetunion.359 Auf sowjetischer Seite wurde diese Entwicklung seit Mitte der 1920er Jahre mit zunehmender Skepsis betrachtet. In den folgenden Diskussionen des Außenhandelsapparats über eine stärkere Diversifizierung der Importpolitik standen drei Argumente im Vordergrund. Erstens folgte der sowjetische Außenhandel nicht nur rein ökonomischen Motiven, sondern war in hohem Maße auch politischen Zielsetzungen unterworfen. Die zentrale wirtschaftsplanung und das Außenhandelsmonopol boten eine hervorragende Grundlage, Import- und Exportgeschäfte zur Verfolgung politischer Ziele zu instrumentalisieren.360 Insofern war die Intensivierung des deutsch-sowjetischen Handels in der ersten Hälfte der 1920er Jahre auch teil der Strategie, Deutschland politisch an die Sowjetunion zu binden und eine Einheit der kapitalistischen Mächte zu verhindern. Seit Locarno ging die sowjetische Außenpolitik allerdings stärker dazu über, sich von einer allzu engen Bindung an das reich zu lösen. Vermehrte Aufträge an US-Unternehmen dienten auch als Druckmittel für die weiter ausstehende diplomatische Anerkennung durch die USA. Zweitens basierte der rapide Aufbau der sowjetischen Industrie im wesentlichen auf der Einfuhr moderner technologien aus dem Ausland. trotz der in Europa führenden Stellung von Siemens und AEG richtete sich im Bereich der Elektrotechnik der sowjetische Blick auf die US-Unternehmen General Electric und westinghouse. Diese hatten während des Ersten weltkriegs einen technologischen Vorsprung gegenüber ihren deutschen Konkurrenten aufgebaut. Von sowjetischer Seite wurde deutschen Unternehmen auch vorgeworfen, dass sie sich im Vergleich mit ihren US-amerikanischen Konkurrenten viel zu zaghaft auf langfristige Verpflichtungen im Sowjetgeschäft einließen. Dies betraf im Bereich Elektrotechnik zum Beispiel mehrere Konzessionsabkommen mit General Electric, westinghouse und auch den Unternehmen Metropolitan Vickers aus England sowie Ericsson und ASEA aus Schweden. Die deutschen Elektrounternehmen beteiligten sich hingegen nur im Fall von AEG und telefunken an Konzessionen.361 Drittens zeigte sich der sowjetische Außenhandelsapparat seit Mitte der 1920er Jahre zunehmend besorgt darüber, dass deutsche Unternehmen in einigen warengruppen beinahe eine Monopolstellung einnahmen. Laut eines Hinweises von Ėlektroimport im ersten Halbjahresbericht waren bisher über 70 Prozent aller Auf359 Beitel/Nötzold: Deutsch-sowjetische wirtschaftsbeziehungen (1979), S. 217. 360 Vgl. besonders: Kashirskikh: Die deutsch-sowjetischen Handelsbeziehungen (2006), S. 199. 361 Außer den Konzessionen von AEG und telefunken ist in der Übersicht Suttons zu den Konzessionsbeteiligungen kein deutsches Elektrounternehmen vermerkt. Sutton: western technology and Soviet Economic Development 1917–1930 (1968), S. 363ff.
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träge an deutsche Unternehmen vergeben worden.362 Besonders hoch war die Abhängigkeit bei elektrotechnischem Zubehör für Dampfkesselanlagen. In diesem Bereich stammten über 80 Prozent der Importe aus Deutschland.363 Ėlektroimport befürchtete, aufgrund dieser Abhängigkeit von der deutschen Elektroindustrie künftig überhöhte Preise zahlen zu müssen. Im Zuge der organisatorischen reform des Außenhandelsapparats seit 1925 wurde deshalb größeres Gewicht auf eine breitere internationale Verteilung der sowjetischen Aufträge gelegt. Ėlektroimport und die Umsetzung der Diversifizierungspolitik Ein knappes Jahr nach Gründung von Ėlektroimport erläuterte das Vorstandsmitglied I. E. Korostaševskij in einem Lagebericht ausführlich, warum er als zentrale Hauptaufgabe der organisation die Diversifizierung des Elektroaußenhandels betrachtete. Er begann mit einer eindringlichen Aufforderung: „Die einzige Möglichkeit, unsere Abhängigkeit von der deutschen elektrotechnischen Industrie zu verringern, ist die geschickte Ausnutzung der internationalen Konkurrenz.“364 Ausgangslage war seiner Meinung nach die dominierende Stellung der deutschen Elektroindustrie, die „russland schon immer die eigenen Bedingungen diktieren konnte“365. Korostaševskij wies darauf hin, dass es zwischen den deutschen Unternehmen verschiedene offizielle und inoffizielle Absprachen gab, die in überhöhten Preisen für sowjetische Bestellungen resultierten. Er warnte vor der Gefahr einer möglichen Verstärkung dieser Entwicklung in den kommenden Jahren. Unter anderem kritisierte er, die Berliner Handelsvertretung verfüge bereits über mehrjährige intensive Beziehungen zu deutschen Unternehmen, so dass alternative Lieferfirmen in anderen Ländern kaum mehr in Betracht gezogen würden.366 während eines Aufenthalts in Paris sei ihm zu ohren gekommen, dass französische Unternehmen mittlerweile überhaupt keine Angebote mehr einreichen würden, da Aufträge im Bereich Elektrotechnik ausschließlich an deutsche Unternehmen gingen. Als ersten Schritt regte Korostaševskij die Gründung einer neutralen Kommission im Außenhandelsapparat an, die den internationalen wettbewerb analysieren sollte. 362 rGAĖ f. 5240, op. 18, d. 1120, l. 49–97, Ėlektroimport: Bericht über die tätigkeit im ersten Halbjahr des Geschäftsjahrs 1926/27. Moskau 9.7.1927, S. 9. Siehe auch: Kashirskikh: Die deutsch-sowjetischen Handelsbeziehungen (2006), S. 199. 363 rGAĖ f. 8340, op. 1, d. 38, l. 72–73, Ėlektroimport: Brief an die Konzessionskommission des Narkomtorg. Moskau 29.7.1927, S. 2. 364 rGAĖ f. 5240, op. 18, d. 952, l. 116–117, I. E. Korostaševskij: Auszug aus dem Bericht über die Auslandsreise. Moskau 28.5.1927, S. 1. Vgl. ebenso: rGAĖ f. 8430, op. 1, d. 5, l. 34–39, Ėlektroimport: Brief an Narkomtorg, im Anhang: Bericht über die Fragen der Handelspolitik. Moskau 2.5.1927. 365 rGAĖ f. 5240, op. 18, d. 952, l. 116–117, I. E. Korostaševskij: Auszug aus dem Bericht über die Auslandsreise. Moskau 28.5.1927, S. 1. 366 Noch zwei Jahre nach Abfassung des Berichts bemängelte Korostaševskij in einem Brief an Mikojan, dass von der Berliner Handelsvertretung überhöhte Preise an Siemens gezahlt wurden. rGAĖ f. 5240, op. 18, d. 289, l. 5, I. E. Korostaševskij: Brief an Mikojan. Moskau 25.3.1929.
190 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels In weiteren Berichten forderte Ėlektroimport angesichts der dominierenden Stellung von Siemens und AEG die mittelfristige „Emanzipation von Deutschland“367. Nach längeren Diskussionen fiel in einer Sitzung des Narkomtorg im September 1927 der Beschluss, die planmäßigen Importe aus Deutschland generell zu reduzieren und Bestellungen auf einen breiteren Kreis von Ländern zu verteilen.368 wie sich jedoch schnell zeigte, stieß die Umsetzung des Diversifizierungsprogramms auf starke widerstände im sowjetischen Außenhandelsapparat. Vor allem die Berliner Handelsvertretung war nicht bereit, sich einer Modifizierung des Importplans ohne weiteres unterzuordnen. Kashirskikh schreibt von einem „bitteren widerstand“369 in Berlin gegen die Forderung des Narkomtorg, Aufträge in die USA zu verlagern. Für den Bereich Elektrotechnik traf dies besonders zu. Anlässlich der Pläne des Narkomtorg legte Konstantin Finkel‘, Leiter der Abteilung für Kraftanlagen und Elektrotechnik (Krafttorg) in der Berliner Handelsvertretung, im Juli 1927 eine reihe von Gründen für den hohen Stellenwert der deutschen Elektrotechnik im sowjetischen Importplan dar.370 Erstens nannte er technische (hohe Qualität), finanzielle (die Kreditabkommen) und traditionelle (die Erfahrung sowjetischer Ingenieure) Argumente, die für eine Fortführung der intensiven Zusammenarbeit mit deutschen Unternehmen sprachen: „Die Verbraucher […] haben seit vielen Jahren Erfahrungen mit den Erzeugnissen von Siemens, AEG, Brown Boveri und anderen und wollen in ihren werken keine ihnen unbekannte Ausrüstung einführen.“371
Zweitens erhielten sowjetische Bürger für Deutschland viel einfacher als für andere Länder ein Einreisevisum. Schließlich kam Finkel‘ drittens auf die direkte Zusammenarbeit mit den deutschen Unternehmen zu sprechen, die sich in den vergangenen Jahren hervorragend entwickelt habe. Anfragen würden zuverlässig bearbeitet und selbst als nach 1926 die Kreditgeschäfte eine große Arbeitsbelastung mit sich brachten, hätten die Firmen stets ihre vollste Unterstützung gezeigt. Die Gefahr einer Monopolstellung deutscher Unternehmen wurde von Finkel‘ zwar im Grundsatz anerkannt, aber zumindest für einige Bereiche der Elektrotechnik als eher gering erachtet. Die Bemühungen des Narkomtorg, schrittweise Aufträge an andere Länder zu vergeben, beurteilte Finkel‘ sehr skeptisch. So kritisierte er die ineffiziente Einkaufspolitik anderer Handelsvertretungen: „[wir haben] ausgehend von dem traditionellen Vorurteil, das gegenüber der Qualität englischer waren im Allgemeinen besteht, zugelassen, dass zu viel für die englischen waren bezahlt
367 368 369 370
rGAĖ f. 8430, op. 1, d. 5, l. 21–23, Ėlektroimport: Bericht über AEG und SSw. Moskau 1927. Kashirskikh: Die deutsch-sowjetischen Handelsbeziehungen (2006), S. 70. Kashirskikh: Die deutsch-sowjetischen Handelsbeziehungen (2006), S. 64. rGAĖ f. 8340, op. 1, d. 34, l. 146–159, Konstantin Finkel‘: Bericht über die Importpolitik und Importarbeit bei Aufträgen von Kraftanlagen und elektrotechnischen Produkten. Berlin 17.7.1927. 371 rGAĖ f. 8340, op. 1, d. 34, l. 146–159, Konstantin Finkel‘: Bericht über die Importpolitik und Importarbeit bei Aufträgen von Kraftanlagen und elektrotechnischen Produkten. Berlin 17.7.1927, S. 7.
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wurde [my dopuskali pereplaty]. Diese Überbezahlung [pereplata] haben wir aus politischen Gründen zugelassen, die die Vergabe einiger Aufträge in England erforderten.“372
Auch angesichts dieser Ineffizienzen erwies sich die Diversifizierungspolitik des Narkomtorg als nur bedingt erfolgreich. Politische Spannungen mit Großbritannien führten vielmehr 1927 beinahe zu einem völligen Abbruch der wirtschaftsbeziehungen und auch der Handel mit den USA entwickelte sich nur langsam.373 Die deutsche Elektroindustrie blieb weiterhin überproportional am Sowjetgeschäft beteiligt, wie folgende Übersicht von Ėlektroimport zeigt: tabelle 5: Einkaufsvolumen von Ėlektroimport in den Geschäftsjahren 1928/29–1930/31 in Millionen rubel 1928/29
1929/30
1930/31
Ėlektroimport gesamt
53
57
60
Deutschland
21
20
20
5
8
8
10
12
12
Großbritannien
8
12
15
Andere Länder
9
5
5
40 %
35 %
33,3 %
Frankreich USA
Deutschlands Anteil in %
Quelle: rGAĖ f. 8340, op. 1, d. 60, l. 38, Narkomtorg: Bericht an Mikojan, Moskau 9.7.1929
Nicht nur die politischen rahmenbedingungen begünstigten das Sowjetgeschäft deutscher Elektrounternehmen. Vielmehr erwiesen sich auch die vielfältigen institutionellen Bindungen zwischen der sowjetischen Elektroindustrie und deutschen Unternehmen, die seit den frühen 1920er Jahren aufgebaut worden waren, als belastbar. Hervorzuheben ist dabei besonders, dass sich die Einrichtung eigener Abteilungen im Sowjetgeschäft für die deutschen Unternehmen auszahlte. Finkel‘ erwähnt in seinem Bericht lobend die russland-Abteilungen der großen Elektrounternehmen Siemens, AEG, BBC und Bergmann, aufgrund derer „der Geschäftskontakt mit diesem Firmen zu allgemein sehr günstigen resultaten“374 führte.
372 rGAĖ f. 8340, op. 1, d. 34, l. 146–159, Konstantin Finkel‘: Bericht über die Importpolitik und Importarbeit bei Aufträgen von Kraftanlagen und elektrotechnischen Produkten. Berlin 17.7.1927, S. 3f. 373 Gordon w. Morrell: Britain Confronts the Stalin revolution. Anglo-Soviet relations and the Metro-Vickers Crisis. waterloo (Canada) 1995, S. 29; Fithian: Soviet-American Economic relations (1981), S. 253. 374 rGAĖ f. 8340, op. 1, d. 34, l. 146–159, Konstantin Finkel‘: Bericht über die Importpolitik und Importarbeit bei Aufträgen von Kraftanlagen und elektrotechnischen Produkten. Berlin 17.7.1927, S. 8. Die Probleme mit dem tB ost im Zusammenhang mit dem Boykott von 1923 verschweigt Finkel‘ allerdings in seinem Bericht.
192 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels wie sich allerdings bereits im folgenden Jahr zeigte, war der deutsch-sowjetische Handel Einflussfaktoren unterlegen, die den Interessen der Berliner Handelsvertretung übergeordnet waren. Anfang 1928 gerieten die Verhandlungen über die Verlängerung der Kreditfinanzierung in eine schwere Krise, als die Geheimpolizei oGPU sich in das Sowjetgeschäft deutscher Unternehmen einmischte. 3.5 wirtschaftspolitische Störfaktoren: AEG im Šachty-Prozess Am 7. März 1928 verhaftete die sowjetische Geheimpolizei fünf deutsche Ingenieure der Unternehmen AEG und Knapp, die sich zur Montage in der Industrieregion Donbass (Doneckij Bassejn, Doneckbecken) aufhielten, wegen angeblicher Unterstützung konterrevolutionärer Gruppen. Dieser Vorwurf wurde im Folgenden auf Joseph Bleimann, Leiter der Abteilung russland bei AEG, ausgeweitet. Bleimann habe von der Existenz einer konterrevolutionären Bewegung in der Sowjetunion gewusst und stehe gar selbst im Zentrum dieser Bewegung.375 Zwei der Ingenieure wurden kurz nach der Verhaftung wieder entlassen und reisten nach Deutschland aus. Gegen die drei verbliebenen Deutschen sowie gegen 50 sowjetische Fachleute entwickelte sich der erste große Schauprozess der Sowjetunion. Nach sechswöchigen Gerichtsverhandlungen erging am 7. Juli das Urteil. Zwei der Deutschen wurden unmittelbar entlassen, der Ingenieur Badstieber erhielt eine einjährige Gefängnisstrafe wegen Bestechung. Dagegen verurteilte das Gericht elf der sowjetischen Angeklagten zum tode. Gegen AEG wurde ein Geschäftsboykott erhoben, der über ein halbes Jahr andauerte.376 Hintergründe des Šachty-Prozesses Nach der jüngsten Interpretation durch oleg Kashirskikh stand der Šachty-Prozess in engem Zusammenhang mit dem Zustand der deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen Anfang 1928.377 Der bilaterale Handel hatte sich zwar infolge der staatlichen Ausfallbürgschaften in den vergangenen Jahren deutlich intensiviert, er konnte aber über den 300-Millionen-Kredit hinaus keine weitergehende Eigendynamik entwickeln. Von sowjetischer Seite wurden daher seit 1927 eine Neuauflage der Kreditfinanzierung und ein größeres Entgegenkommen in Finanzierungsfragen seitens der deutschen wirtschaft gefordert. 375 Kurt rosenbaum: the German Involvement in the Shakhty trial, in: russian review 21 (1962), 3, S. 238–260, hier 247. 376 rGAĖ f. 5240, op. 18, d. 1590, l. 351, I. I. Žukov: Brief an Mikojan, rojzenman und Begge. Moskau 9.10.1929. Vgl. ebenfalls: Šiškin: Stanovlenie vnešnej Politiki (2002), S. 299f. Die Bezeichnung Šachty-Prozess leitet sich aus der Stadt Šachty im Donbass ab, wo der Prozess stattfand. Zu den Folgen des Prozesses für die technische Intelligenz der Sowjetunion vgl.: Susanne Schattenberg: Stalins Ingenieure. Lebenswelten zwischen technik und terror in den 1930er Jahren (ordnungssysteme 11). München 2002, S. 85ff. 377 Kashirskikh: Die deutsch-sowjetischen Handelsbeziehungen (2006), S. 82ff.
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Dieser Forderung begegnete die Mehrheit der Unternehmen mit großer Skepsis. Im rahmen des 300-Millionen-Kredits hatte eine große Zahl deutscher Firmen sowjetische Aufträge angenommen und war dabei mit den bürokratischen Unwägbarkeiten des Außenhandelsmonopols konfrontiert worden. Als im Herbst 1927 die Verlängerung des deutsch-sowjetischen wirtschaftsabkommens von 1925 anstand, gab es deshalb zahlreiche Stimmen, die nach Neuverhandlungen und einer Modifikation des Vertrags riefen.378 Im Kern zielte die Kritik auf das Außenhandelsmonopol, das vom rDI als Haupthinderungsgrund gegen eine Ausweitung des deutschsowjetischen Handels ausgemacht wurde.379 Angesichts des als unerträglich empfundenen Monopols intensivierten sich die Diskussionen im rDI über eine stärkere Koordination deutscher wirtschaftsinteressen im Sowjetgeschäft. Diese Gespräche führten Ende 1927 zur Bildung einer von mehreren Spitzenverbänden getragenen „Arbeitsgemeinschaft für rußlandhandelsfragen“, dem Vorläufer des ein Jahr später gegründeten russlandausschusses. Auf sowjetischer Seite wurde diese zunehmende Koordination zwischen deutschen Unternehmen und den wirtschaftsverbänden mit Sorge betrachtet. Unmittelbarer Auslöser des Šachty-Prozesses war nach Kashirskikh der Vorschlag der reichsregierung, Anfang 1928 eine bilaterale Konferenz in Berlin einzuberufen, um darin die grundsätzlichen Probleme der bilateralen wirtschaftsbeziehungen zu klären. Nach zweiwöchigen Gesprächen zeigte sich, dass die sowjetische Delegation mit ihren Forderungen nach einem Ausbau der Kreditfinanzierung keinerlei Aussicht auf Erfolg hatte. In dieser Situation fiel im Politbüro Ende Februar 1928 die Entscheidung, die Konferenz abzubrechen und ein klares warnsignal an die deutschen Unternehmen abzugeben. Allerdings war ein einseitiger Abbruch der Konferenz nicht gewollt, da negative Auswirkungen auf die internationale reputation der sowjetischen Außenwirtschaftspolitik befürchtet wurden. Der Ausweg aus dem Dilemma war, so die these Kashirskikhs, der Einsatz der Geheimpolizei gegen die AEG-Ingenieure, der von deutscher Seite aus zum sofortigen Abbruch der Berliner Verhandlungen führte.380 Angesichts dieser politischen Dimension des Prozesses interpretiert Kurt rosenbaum Šachty im Kern als eine warnung Stalins, der sich 1928 schon weitgehend im Machtzentrum der Sowjetunion etabliert hatte, an die deutsche Außenwirtschaftspolitik im Sowjetgeschäft: „the Shakhty trial proved that all of the recent actions of the Soviet government were part of a well-conceived plan. […] Stalin had made it abundantly clear that the Communist Party did not approve of the conditions under which German-russian relations, dating back to rapallo, were conducted.“381
Die milden Strafen für die deutschen Ingenieure zeigen, dass es der sowjetischen Führung nicht darum ging, die angeblichen konterrevolutionären Aktivitäten deutscher Unternehmen auf internationaler Ebene ideologisch auszunützen. Zwar hatte 378 379 380 381
Perrey: rußlandausschuß der Deutschen wirtschaft (1985), S. 67ff. Perrey: rußlandausschuß der Deutschen wirtschaft (1985), S. 104f. Kashirskikh: Die deutsch-sowjetischen Handelsbeziehungen (2006), S. 91ff. rosenbaum: the German Involvement in the Shakhty trial (1962), S. 259.
194 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels Šachty große innenpolitische Konsequenzen und wurde intensiv zu Propagandazwecken genutzt.382 Außenpolitisch hatte die Sowjetunion jedoch ein vitales Interesse daran, nach dem vorübergehenden Scheitern der deutsch-sowjetischen wirtschaftskonferenz die Beziehungen wieder zu normalisieren. Das internationale Vertrauen, von dem die sowjetische Kreditwürdigkeit abhing, sollte nicht verspielt werden.383 Die Konsequenzen aus dem Šachty-Prozess Der Ausgang des Šachty-Prozesses erinnert an das Ende des Boykotts gegen Siemens von 1923/24. Nach anfänglichen Irritationen zeigte sich AEG verhandlungsbereit und willens, den Konflikt so schnell als möglich zu beenden. In einem Gespräch mit I. I. Fen‘kėvi, Leiter des Berliner specotdel von Ėlektroimport, am 16. Juni 1928 versicherte AEG-Direktor roos, das Unternehmen würde keinerlei antisowjetische Ziele unterstützen und selbstverständlich gerne weiter im Sowjetgeschäft aktiv sein: „Unser Standpunkt […] besteht im wesentlichen darin, daß wir, das heißt Pfeffer und ich, denen diese Angelegenheiten [gemeint ist die Lösung des Šachty-Konflikts] überantwortet sind, bereit sind, alle Anstrengungen zu übernehmen, um die Angelegenheit in ordnung zu bringen und gute gegenseitige Beziehungen wieder herzustellen. Ich bitte Sie nicht zu denken, daß wir irgendwelche Schwierigkeiten machen wollen oder den Handel mit der UdSSr nicht weiter fortführen wollen. […] wir bitten Sie sehr, zumindest ein kleines Brückchen zur Annäherung an unsere Forderung zu bauen und dann kommen wir ihnen sofort in allen Fragen entgegen.“384
Die Vermittlungsversuche von roos und Pfeffer zahlten sich bald aus. Anfang des Jahres 1929 erhielt AEG von der Handelsvertretung wieder einen Auftrag und beteiligte sich in den folgenden Jahren in großem Stil an den sowjetischen Importen im rahmen des ersten Fünfjahresplans. Kashirskikh schließt seine Interpretation zu Šachty deshalb mit dem Fazit, dass „bei deutschen Industriellen, im besonderen bei denen, deren Interesse an dem sowjetischen Markt notorisch war, die Profiterwartung wieder schwerer wog als sonstige Gründe“385. rosenbaum kommt zu ähnlichen Schlussfolgerungen.386 Blieb Šachty somit folgenlos und wurde die Unruhe deutscher Unternehmen nach der Verhaftung von AEG-Ingenieuren vollständig durch Profiterwartungen überlagert? Aus institutionenökonomischer Perspektive lässt sich eine abweichende Bewertung ableiten. Der Šachty-Prozess führte internationalen Beobachtern vielmehr eindrucksvoll die Unbeständigkeit der sowjetischen wirtschafts- und Außen382 Zur Konstruktion einer äußeren Bedrohung und deren Instrumentalisierung im rahmen der stalinistischen Mobilisierungsdiktatur vgl. exemplarisch: Fischer: Sowjetische Außenpolitik in der weltwirtschaftskrise (1980), S. 67. 383 Ulam: Expansion and Coexistence (1974), S. 166. 384 rGAĖ f. 8340, op. 1, d. 40, l. 20–28, Josef Fen‘kėvi: Aktennotiz über die Besprechung zwischen roos und Fen‘kėvi am 2.7.1928. Berlin 3.7.1928, S. 1. 385 Kashirskikh: Die deutsch-sowjetischen Handelsbeziehungen (2006), S. 112. 386 rosenbaum: the German Involvement in the Shakhty trial (1962), S. 260.
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wirtschaftspolitik vor. ob das Doppelspiel, die Anklage gegen AEG als Vorwand zum Abbruch der Berliner wirtschaftskonferenz zu nutzen, im Ausland bekannt war, ist in diesem Zusammenhang belanglos. weitaus wichtiger war für die Unternehmen die Erkenntnis, dass sich Ideologie und Geheimpolizei auf erschreckend einfache weise als ein Instrument sowjetischer Außenwirtschaftspolitik einsetzen ließen. Die oGPU wurde so zum Symbol für die rücksichtslose und im Verständnis der deutschen Unternehmen nicht an rationale Geschäftsregeln gebundene Durchsetzung sowjetischer Interessen. Auch die milde Behandlung der deutschen Angeklagten änderte nichts an der negativen wirkung des Schauprozesses. Siemens hatte bereits im Mologa-Prozess von 1927 ähnliche Erfahrungen mit der willkür der sowjetischen Geheimpolizei bei der Durchsetzung staatlicher Interessen gemacht. Auch im Šachty-Prozess lief das Unternehmen Gefahr, selbst in die Verhandlungen einbezogen zu werden, als einer der sowjetischen Angeklagten Siemens der Bestechung beschuldigte.387 Der in der regierungszeitung Izvestija formulierte Vorwurf, deutsche Unternehmen hätten durch eine enge Kooperation mit russischen Emigrantenvereinigungen konterrevolutionäre Ziele unterstützt, ließ sich potentiell auch gegen Siemens verwenden. Diese Bedenken wogen umso schwerer, da das tB ost im Frühjahr 1928 mehrere Ingenieure in das DonbassGebiet entsandt hatte, von denen einer sogar direkt in Šachty beschäftigt war.388 Zwar wurde Siemens schließlich nicht vom Šachty-Prozess betroffen, jedoch war das sowjetische Vorgehen zur Vertrauensbildung bei deutschen Unternehmen kaum geeignet. In einem Land, in dem wirtschaftspolitik durch die Geheimpolizei gemacht wurde, war die Sicherheit wirtschaftlicher Handlungsregeln im Sinne der deutschen Unternehmen nicht gewährleistet.389 Auch auf politischer Ebene verstärkte der Šachty-Prozess im reich die zunehmende Skepsis gegenüber den deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen. Im Auswärtigen Amt, das seit rapallo das Sowjetgeschäft politisch zu instrumentalisieren versucht hatte, kam es sogar zu einem umfangreichen Personalwechsel.390 Ministerialdirektor Erich wallroth und der referent für wirtschafts- und Außenhandelsfragen Bruno Hahn aus der ostabteilung, die die bisherige wirtschaftsorientierte ostpolitik im Auswärtigen Amt maßgeblich verantwortet hatten, verloren jegliche Illusion über die Zukunft ihrer Politik und ließen sich versetzen. Im September 1928 verstarb schließlich Botschafter Brockdorff-rantzau, der den Begriff der deutsch-sowjetischen „Schicksalsgemeinschaft“ erstmals geprägt hatte. Somit bildete das Jahr 1928 auch personell einen einschneidenden Bruch der deutschen Politik gegenüber der Sowjetunion: „Vor aller welt wurde demonstriert, daß von einem deutsch-sowjetischen Sonderverhältnis keine rede mehr sein konnte.“391 387 rosenbaum: the German Involvement in the Shakhty trial (1962), S. 252. 388 Es handelte sich dabei um den Ingenieur Georg Stroh von SBU. SAA 4 Lf 685, tB ost: Brief an von witzleben betr. Montage-Personal in russland. Siemensstadt 16.3.1928. 389 wenige Jahre später, im Frühjahr 1933, spielte sich ein ähnlicher Prozess gegen das britische Unternehmen Metropolitan Vickers ab. Morrell: Britain Confronts the Stalin revolution (1995); owen: the Metro-Vickers Crisis (1971). 390 Cameron: the Politics of trade (1997), S. 315. 391 Sütterlin: Die „russische Abteilung“ des Auswärtigen Amtes (1994), S. 216ff.
196 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels 3.6 Grundlage der Großaufträge: Sicherheit durch Ausfallbürgschaften Der dritte Zeitabschnitt im Sowjetgeschäft von Siemens schien nach dem überstandenen Boykott von 1923/24 vor einer vielversprechenden Zukunft zu stehen. Zunächst profitierte Siemens im rahmen des 300-Millionen-Kredits stark von den sowjetischen Großaufträgen. Mit dem wachsenden Geschäft ging auch eine weitere Ausdifferenzierung der geschäftlichen Spielregeln einher. Verdichtung des sekundären institutionellen Arrangements Um eine standardisierte Grundlage für die sowjetischen Lieferaufträge zu schaffen, formulierten Siemens und weitere Unternehmen Anfang des Jahres 1926 unter Leitung des ZVEI gemeinsam mit der Berliner Handelsvertretung allgemeine Lieferbedingungen für das Sowjetgeschäft. In den Erinnerungen Maximilian Freses, ehemals Geschäftsführer des ZVEI, wird dabei die Leistung zweier Vertreter des tB ost besonders hervorgehoben: „Für das russengeschäft wurden etwa im Jahre 1926–28 besondere Lieferungs- und Abnahmebedingungen gemeinsam mit der russischen Handelsvertretung aufgestellt, was zu einer wesentlichen Vereinfachung des russlandgeschäftes führte. An den Beratungen beteiligten sich insbesondere die am russlandgeschäft interessierten Firmen. Die Verhandlungen waren ausserordentlich schwierig und die Namen der verdienstvollen Männer, die die Verhandlungen führten – Bleimann für die AEG und Kandler sowie Schwichtenberg für SSw – sollten nicht vergessen werden. An diesen Verhandlungen nahm auch der Verein Deutscher Maschinenbauanstalten teil, so dass für das gesamte Gebiet der Elektro- und Maschinenindustrie einheitliche Lieferbedingungen für das russlandgeschäft aufgestellt werden konnten.“392
Die Lieferbedingungen waren ursprünglich nur für die Abwicklung der Aufträge aus den ersten Kreditabkommen von 1926 vorgesehen. Sie blieben jedoch mit leichten Änderungen bis 1931 bestehen. Sie setzten einen wichtigen Standard im Sowjetgeschäft, indem sie vergleichbare Bedingungen für alle deutschen Lieferfirmen schufen und einen formalen rahmen für die Ausführung von Aufträgen vorgaben. Von großer wichtigkeit war in diesem Zusammenhang auch die Institution des Schiedsgerichts, die im deutsch-sowjetischen Vertrag vom 12. oktober 1925 etabliert worden war. Im Konfliktfall stand damit ein formalisierter weg zur Beilegung von Vertragsstreitigkeiten zur Verfügung. wichtig war vor allem, dass die Schiedsgerichte ihren Sitz in Berlin hatten und deutschem recht unterworfen waren. Den Unternehmen wurde damit erheblich mehr rechtssicherheit gegeben, als wenn die Schiedsverfahren sowjetischem recht unterworfen gewesen wären. Diese zunehmende rechtliche Formalisierung der deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen erhöhte deutlich die institutionelle Verlässlichkeit für die Unternehmen. Siemens ging daher auch dazu über, sich über die Annahme reiner Lieferaufträge hinaus stärker im Sowjetgeschäft zu engagieren. Am 18. Dezember 1925, nur zwei 392 SAA 61 Lm 854, Maximilian Frese: Die Geschichte der Spitzenverbände der elektrotechnischen Industrie. ort unbekannt 1956, S. 80.
3 Zeitraum 1924–1928: Der Aufbau institutioneller Sicherungsmechanismen
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Monate nach Abschluss des deutsch-sowjetischen wirtschaftsabkommens, fiel im Direktionsausschuss für russland die Entscheidung, Verhandlungen über den Aufbau von Konsignationslagern in der Sowjetunion aufzunehmen.393 Nach längeren Verhandlungen schloss SSw am 7. Juni 1927 mit der Berliner Handelsvertretung einen ersten Vertrag zur Konsignation elektrotechnischer Messgeräte in Höhe von 200.000 reichsmark ab. Kurze Zeit später folgte ein ähnlicher Vertrag von S&H über die Konsignation von elektromedizinischen Geräten.394 Die Handelsvertretung verpflichtete sich darin zum Vertrieb der Siemens-Produkte in der Sowjetunion. Sie plante, in Leningrad sowie gegebenenfalls auch in Moskau und Char‘kov Konsignationslager einzurichten. Mit den Konsignationslagern stand Siemens eine Möglichkeit offen, den Produktvertrieb in der Sowjetunion stark auszuweiten. Die begrenzte Wirkung der Ausfallbürgschaften Das große quantitative wachstum des Sowjetgeschäfts zwischen 1924 und 1928 basierte allerdings fast ausschließlich auf staatlichen Sicherheitsgarantien im rahmen der Ausfallbürgschaften. Die Bürgschaftserklärung von 1926 wurde von der deutschen Politik aber nur als akute Maßnahme zur Exportförderung verstanden und nicht als dauerhafte Institution zur Finanzierung des deutschen Sowjetgeschäfts.395 Sie diente keiner umfassenden Förderung deutscher Unternehmensinteressen, sondern erstreckte sich auf einen fest definierten rahmen von Lieferaufträgen. So wurde ein Antrag von SSw auf die Übernahme einer Garantie für ein reparaturgeschäft abgelehnt, da die Ausfallbürgschaften solche Geschäfte nicht beinhalteten.396 Auch Konzessionen, die von Siemens bislang als besonders unsicher betrachtet worden waren, erfasste die reichsgarantie nicht. Es zeigte sich, dass die staatliche Exportförderung das Fehlen privater Finanzierungsmechanismen zwar teilweise kompensieren, nicht aber vollständig ersetzen konnte. 393 SAA 4314, Hugo Schwichtenberg: Aktenvermerk zur Sitzung des Direktionssauschusses für russland am 18.12.1925. Siemensstadt 19.12.1925. Im Konsignationshandel wird die zu verkaufende ware in das Konsignationslager eines Verkaufsagenten übergeben. Sie bleibt aber Eigentum des Konsignanten. Diese Geschäftsform eignet sich besonders bei waren, die sich besser nach persönlicher Begutachtung durch den Konsumenten verkaufen lassen. Vgl. dazu den Eintrag in: Gabler wirtschaftslexikon (2004), S. 1726. Zu Konsignationslagern im Sowjetgeschäft ausführlich: Germer: Die Entwicklung der Handelsbeziehungen (1931), S. 94ff. 394 SAA 12267, Berliner Handelsvertretung/SSw: Vertrag über die Konsignation von elektronischen Meßgeräten über 200.000,00 reichsmark. Berlin 7.6.1927; SAA 12279, Berliner Handelsvertretung/S&H: Vertrag über die Konsignation von röntgengeräten und elektromedizinischen Apparaten. Berlin 15.2.1929. Einen dritten Vertrag zur Konsignation elektrischer werkzeuge schloss SSw 1930 ab. SAA 12267, SSw/Berliner Handelsvertretung: Konsignationsvertrag über Bohrmaschinen, Schleifmaschinen, Staubsauger etc. im Umfang von 200.000,00 reichsmark. Berlin 12.7.1930. 395 Niemann: Die deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen (1991), S. 98. 396 SAA 11 Lg 89, Zentrale Finanzverwaltung: Mitteilung an Köttgen und Haller wegen reichsgarantie. Siemensstadt 27.12.1926.
198 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels
Abbildung 5: Firmenzeichen der Siemens-reiniger-Veifa auf russisch Quelle: Siemens-Archiv A 761, das Firmenzeichen stammt aus dem Zeitraum 1925–1935. Die Siemens-reiniger-Veifa Gesellschaft für medizinische technik mbH war eine 1925 gegründete tochtergesellschaft für Medizintechnik.
Bereits im Mai 1926 kritisierte deshalb Hans von raumer, Vorsitzender des ZVEI, in einer Vorstandssitzung die überzogenen Erwartungen, die von deutscher regierungsseite in die Ausfallbürgschaften gesetzt wurden: „Abschließend möchte er [von raumer] bemerken, dass unter Berücksichtigung der vielseitigen Schwierigkeiten und risiken, die das russische Geschäft mit sich bringt, es fraglich erscheinen muss, ob überhaupt die Erwartung der regierung, die sie in die Ausfallbürgschaft zwecks Behebung der Arbeitslosigkeit setzt, eintreten wird.“397
Die Hoffnung der reichsregierung im Zuge der staatlichen Exportförderung werde sich auch die private Finanzwirtschaft stärker an der Kreditfinanzierung beteiligen, erfüllte sich nicht. Laut erstem Geschäftsbericht der IFAGo ermöglichte es die stabile wirtschaftliche Lage vieler Unternehmen im Jahr 1926 zunächst, Lieferkredite im Sowjetgeschäft selbstständig zu finanzieren. Aus diesem Grund gingen anfangs überraschend wenige Kreditanträge bei der IFAGo ein.398 Doch schon ein Jahr später zeigten sich die Grenzen der privaten Finanzierung. Am 5. April 1927 fand dazu eine Besprechung in der Berliner Handelsvertretung statt, an der ein ausgewählter Kreis von Vertretern aus Politik, wirtschaft und Banken teilnahm. reyß, der Siemens in der Besprechung repräsentierte, notierte dazu folgenden Auszug aus dem Beitrag eines anwesenden Bankiers: „russland kann nicht erwarten von den deutschen Bankiers Geld zu erhalten. Geld kann in Europa sowohl wie auch drüben in Amerika nur das Publikum schaffen, allerdings durch Vermittlung der Banken. wenn man aber das Publikum zur Zeichnung einer Anleihe gewinnen
397 SAA 4 Lf 730, ZVEI: Niederschrift 4027/2 Sitzung des Vorstands des ZVEI. Berlin 11.5.1926. 398 SAA 7289, IFAGo: Geschäftsbericht 1926. Berlin 31.12.1926, S. 8.
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will, müssen die Vorbedingungen dafür erfüllt werden; schon aus psychologischen Gründen sei es heute unmöglich, eine Anleihe für russland aufzulegen.“399
Die Ausfallbürgschaften erhöhten das deutsche Kreditpotential, konnten aber das strukturelle Defizit der sowjetischen Importfinanzierung nicht ausgleichen. Insofern blieb der 300-Millionen-Kredit eine punktuelle Hilfe staatlicher Exportförderung, die politisch motiviert war.400 4 ZEItrAUM 1928–1933: DIE „BLÜtEJAHrE“ IM SowJEtGESCHÄFt? Der vierte und letzte Zeitabschnitt der chronologischen Darstellung behandelt das Sowjetgeschäft von Siemens während der weltwirtschaftskrise und des ersten Fünfjahresplans. Ein Blick auf die Handelsstatistik zeigt, dass sowjetische Aufträge an deutsche Elektrounternehmen auch nach dem Ausnahmegeschäft von 1927/1928 stiegen und 1932 sogar 21,5 Prozent des gesamten deutschen Elektroexports ausmachten: tabelle 6: Deutscher Elektroexport in die Sowjetunion 1929–1933 In Millionen reichsmark In Prozent des deutschen Elektroexports
1929
1930
1931
1932
1933
25,456
35,049
52,791
75,83
18,831
4,0 %
5,6 %
9,8 %
21,5 %
7,6 %
Quelle: Nach Angaben des ZVEI, zitiert in: Czada, Peter: Die Berliner Elektroindustrie in der weimarer Zeit. Eine regionalstatistisch-wirtschaftshistorische Untersuchung, Berlin 1969, S. 146. Vgl. ebenfalls die statistischen Berichte des ZVEI in SAA 61 Lf 632.
während der weltwirtschaftskrise trug das Sowjetgeschäft bei vielen deutschen Unternehmen vor allem aus den Branchen Maschinenbau und Elektrotechnik signifikant dazu bei, den wegfall anderer Aufträge zumindest teilweise zu kompensieren. ob aber der Zeitraum zwischen 1928 und 1933 deshalb als „Blütejahre“401 der deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen zu bezeichnen ist, bleibt fraglich. Vielmehr ist zu prüfen, wie sich die institutionelle Basis im Sowjetgeschäft nach 1928 entwickelte und welche Faktoren das kurzzeitig starke wachstum der deutschen Exporte beeinflussten.
399 SAA 4200, Hermann reyß: Notiz betreffend Finanzlage russlands. Siemensstadt 8.4. 1927, S. 4. 400 Dyck: weimar Germany & Soviet russia (1966), S. 52. 401 Perrey: rußlandausschuß der Deutschen wirtschaft (1985), S. 202.
200 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels 4.1 Historischer Überblick: Erster Fünfjahresplan und weltwirtschaftskrise Stalin, die Kollektivierung der Landwirtschaft und der erste Fünfjahresplan Am Ende der 1920er Jahre stand die Sowjetunion vor gewaltigen sozialen, politischen und wirtschaftlichen Veränderungen, die in der Forschung retrospektiv als erste Phase des Stalinismus bezeichnet werden. Zentrale Elemente dieses transformationsprozesses waren der politische Aufstieg Stalins zum Diktator, die drastische Beschleunigung der Industrialisierung durch den ersten Fünfjahresplan sowie die Kollektivierung der Landwirtschaft.402 Stalin hatte sich im Streit um den wirtschaftlichen Kurs des Landes Mitte der 1920er Jahre zunächst auf die Seite der rechten opposition geschlagen und geschickt seine Gegner der linken opposition ausgeschaltet. trockij ging 1929 ins Exil. Die anderen Vertreter der linken opposition kamen größtenteils in den Schauprozessen der 1930er Jahre ums Leben. Stalin ging es in der Industrialisierungsdebatte aber weniger um die Durchsetzung von wirtschaftlichen Inhalten als vielmehr um den Ausbau seiner politischen Macht. Kurz nach dem endgültigen Sieg über trockij wandte sich Stalin gegen die verbliebene rechte opposition um Bucharin, rykov und tomskij. Zur Plattform der Auseinandersetzung wurde die Diskussion um den Kurs der sowjetischen Industrialisierung. Stalin setzte sich auch hier uneingeschränkt als Sieger durch und etablierte sich bis 1929 endgültig im Machtzentrum der Sowjetunion. In seinem wirtschaftlichen Entwicklungsprogramm übernahm Stalin dann Ansätze sowohl der linken als auch der rechten opposition. Er ging jedoch weit über alle bisherigen Zielvorstellungen hinaus.403 Das graduelle wachstum im rahmen der NĖP sollte überwunden und die Sowjetunion innerhalb kürzester Zeit in eine moderne Industrie- und Agrargesellschaft verwandelt werden. Es galt die von Stalin 1930 ausgegebene Parole, in zehn Jahren den wirtschaftlichen Stand zu erreichen, für den westeuropa 50 Jahre benötigt hatte. Im „wettkampf um den schnellsten weg zum Sozialismus“404 konnte sich ökonomischer Sachverstand nicht gegen ideologisch geprägte utopische Zielvorstellungen durchsetzen. Für die Landwirtschaft hieß dies, dass seit 1929 eine umfassende Kollektivierungskampagne die Bauern in Kolchosen (russischer Singular: kollektivnoe chozjajstvo, gemeinsame wirtschaft) zwang, um die reste bäuerlicher Selbstverwaltung zu beseitigen und die Agrarwirtschaft unter die Planungsautorität des sowjeti402 Aus der Forschungsliteratur zum Stalinismus exemplarisch: Manfred Hildermeier (Hg.): Stalinismus vor dem Zweiten weltkrieg. Neue wege der Forschung (Schriften des historischen Kollegs 43). München 1998. Zur sowjetischen Industrialisierung siehe die Zusammenfassung in mehreren Bänden aus der Serie „A History of Soviet russia“: Edward H. Carr/robert w. Davies: Foundations of a Planned Economy, 1926–29. London 1969. 403 Erlich: the Soviet Industrialization Debate (1960), S. 163ff. Vgl. ebenfalls: Sager: Die theoretischen Grundlagen des Stalinismus (1953), S. 77ff. 404 Hildermeier: Geschichte der Sowjetunion (1998), S. 371. Die Veränderung der wirtschaftspläne und die Steigerung der Planvorgaben lassen sich sehr anschaulich an einer tabellarischen Übersicht bei Flor nachvollziehen: Flor: Die Sowjetunion im Zeichen der weltwirtschaftskrise (1995), S. 354ff.
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schen Staates zu stellen. In Folge der Kollektivierung verschwand die bäuerliche Gesellschaft des alten russlands innerhalb kurzer Zeit. So erreichte 1932 der offizielle Anteil der kollektivierten Bauernwirtschaften bereits 61,5 Prozent.405 Doch auch abgesehen von allen menschlichen opfern (inklusive der großen Hungersnot von 1932–1934 starben mehrere Millionen Menschen) erfüllte die Kollektivierung die in sie gesetzten wirtschaftlichen Ziele nicht. Erstens war die Nahrungsmittelversorgung der Sowjetunion, wie sich in der großen Hungersnot deutlich zeigte, weiterhin nicht gewährleistet. Zweitens konnte die Agrarwirtschaft nur unter großen opfern dazu beitragen, durch einen wertetransfer die industrielle Entwicklung zu unterstützen. Das Industrialisierungsprogramm der Sowjetunion musste angesichts von weltwirtschaftskrise und sinkender Erträge im rohstoff- und Getreideexport unter äußerst widrigen Umständen umgesetzt werden.406 Der erste Fünfjahresplan für die Entwicklung der sowjetischen Industrie, der im oktober 1928 verabschiedet wurde, ging als Maximalvariante aus der Industrialisierungsdebatte hervor.407 rechte und linke Konzeptionen fanden sich in den Entwürfen des Gosplan, der sich als zentrale Planungsinstanz für die industrielle Entwicklung etablierte. Zum Maßstab der Planer wurden mehr und mehr auch ideologische Vorgaben: Geschwindigkeit und Umfang der Industrialisierung bestimmten die Auseinandersetzung, nicht realistische Annahmen und nachhaltiger Aufbau. In der letzten Planfassung, die das Zentralkomitee der Partei im April 1929 ratifizierte, wurde eine phantastische Produktionssteigerung der Industrie um 31,2 Prozent innerhalb des ersten Jahres und um insgesamt 230 Prozent bis 1933 vorgesehen. Es passte ins Bild des überhöhten Erwartungsdrucks, dass die Planvorgabe nach offizieller Lesart bereits 1932 erreicht und die „Erfüllung“ des ersten Fünfjahresplans damit um ein Jahr vorgezogen wurde.408 Ein elementarer Bestandteil des ersten Fünfjahresplans war der umfangreiche Ausbau von Elektroindustrie und Stromproduktion, wobei auch auf den GoĖLroPlan zurückgegriffen werden konnte.409 Zwischen 1928 und 1933 war eine Steigerung der Elektrizitätserzeugung um 500 Prozent von 5,2 Milliarden auf 22 Milliarden kwh vorgesehen, ein Ziel, das 1930 auf 26 Milliarden kwh nach oben korrigiert wurde. Der Plan beinhaltete sowohl den Ausbau bestehender Anlagen, wie mehrere Dampfkraftwerke um Moskau und Leningrad, als auch den umfangreichen Neubau in anderen regionen. Darunter waren unter anderem Dampfkraftwerke für die neuen Industriezentren Magnitogorsk und Čeljabinsk im Ural sowie 405 Stephan Merl: Bauern unter Stalin. Die Formierung des sowjetischen Kolchossystems 1930– 1941 (osteuropastudien der Hochschulen des Landes Hessen: reihe 1, Giessener Abhandlungen zur Agrar- und wirtschaftsforschung des europäischen ostens 175). Berlin 1990, S. 215. Vgl. ebenfalls: robert w. Davies: the Socialist offensive. the Collectivisation of Soviet Agriculture 1929–1930 (the Industrialisation of Soviet russia 1). Cambridge, Mass. 1980. 406 Nötzold: Außenwirtschaftsbeziehungen und Industrialisierungsstrategien (1982), S. 77ff. 407 Nove: An Economic History of the USSr (1992), S. 189ff. 408 Jasny geht allerdings davon aus, dass die hohen Planziele weitgehend Propagandazwecken dienten und dass die Planer selbst nicht von der Durchführbarkeit des ersten Fünfjahresplans überzeugt waren. Naum Jasny: Soviet Industrialization 1928–1952. Chicago 1961, S. 65. 409 Die Volkswirtschaft der UdSSr 9 (1930), 11, S. 13ff. Vgl. dazu auch: Zvezdin: ot Plana GoĖLro k Planu Pervoj Pjatiletki (1979), S. 5ff.
202 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels wasserkraftwerke im Kaukasus und am Dnepr. Gleichzeitig sollte das Netz der Hochspannungsleitungen von 2.965 km im Jahr 1927 auf 15.950 km im Jahr 1933 vergrößert werden. Diese wenigen Zahlen verdeutlichen die Dimensionen der angestrebten Elektrifizierung im rahmen des ersten Fünfjahresplans. Parallel zum Ausbau der Kapazitäten der Elektrizitätserzeugung wurde der Aufbau einer eigenen elektrotechnischen Industrie forciert, um die Abhängigkeit von Importen möglichst rasch zu verringern.410 Die Umsetzung des ersten Fünfjahresplans basierte auf einer innen- und auf einer außenwirtschaftlichen Säule. Erstens sollten die Planziele durch die Mobilisierung der inneren Kräfte (Erhöhung der Arbeitsproduktivität, Verzicht auf Konsum, Konzentration der Investitionen auf zentrale wachstumsbereiche) erreicht werden. Zweites Standbein war der Import ausländischer Investitionsgüter und moderner technik in weitaus größerem Umfang, als er bisher schon als Instrument des wirtschaftlichen Aufbaus genutzt wurde.411 Die Finanzierung der Importe sollte erstens auf Krediten und zweitens auf dem Export dessen basieren, was die sowjetische wirtschaft auf dem weltmarkt anbieten konnte (vor allem rohstoffe und Nahrungsmittel). Die Importfinanzierung hing deshalb im wesentlichen von der Höhe der Getreideproduktion sowie von einer stabilen Aufnahmefähigkeit des weltmarkts ab. Die Folgen dieser Abhängigkeit waren gewaltig. Ernteausfälle und überzogene Planvorgaben trugen zur Hungerkatastrophe in den Jahren 1932 und 1933 mit Millionen von toten bei.412 Gleichzeitig führte die weltwirtschaftskrise zu einem starken Verfall der weltmarktpreise für sowjetische Exportwaren und zu einer protektionistischen Schutzzollpolitik der Abnehmerländer. Infolgedessen fiel der Preisindex für sowjetische Getreideexporte von 100 im Jahr 1928 auf 29 fünf Jahre später.413 Zwar hatte die wirtschaftskrise in den Industrieländern auch positive Auswirkungen auf die sowjetische Importpolitik, da angesichts von Überangebot und geringer Nachfrage die Konkurrenz unter den Lieferfirmen ausgenutzt werden konnte. Jedoch wirkte sich die wirtschaftskrise auch stark in einem Sektor aus, der für die Durchführung der Importe von elementarer Bedeutung war: Die Finanzierung von Krediten wurde angesichts der Bankenkrise deutlich erschwert und war zum Beispiel im Fall deutscher Banken ohne staatliche Bürgschaften nicht in großem Stil durchführbar.414 Angesichts dieser Herausforderungen erhielt der sowjetische Außenhandel 1930 wieder ein neues strukturelles Gesicht.415 Das Einheitskommissariat für Han410 Sutton: western technology and Soviet Economic Development 1930–1945 (1971), S. 154ff. 411 Zur Bedeutung des Außenhandels im ersten Fünfjahresplan vgl. den hervorragenden Überblick in: Michael r. Dohan: the Economic origins of Soviet Autarky 1927/28–1934, in: Slavic review 35 (1976), 4, S. 603–635. 412 Hiroaki Kuromiya: the Soviet Famine of 1932–1933 reconsidered, in: Europe-Asia Studies 60 (2008), 4, S. 663–675, hier 665. 413 Zur Verschlechterung der terms of trade im sowjetischen Außenhandel siehe: Dohan: the Economic origins of Soviet Autarky (1976), S. 613ff. 414 Zur Lage der deutschen Finanzwirtschaft in der weltwirtschaftskrise: James: the reichsbank and Public Finance (1985), S. 310f. 415 Heubaum: Das Volkskommissariat für Außenhandel (2001), S. 83; Freymuth: Die historische
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del Narkomtorg wurde im September 1930 in ein binnenwirtschaftliches Volkskommissariat für Versorgung (Narodnyj Komissariat Snabženija, NKSnab) und ein Volkskommissariat für Außenhandel (wieder unter der Bezeichnung NKVt) geteilt, zu dessen Leiter Stalin A. P. rosengol‘c ernannte. Bereits im Januar 1930 hatte Narkomtorg eine zweite strukturelle reform des Außenhandels eingeleitet.416 Die seit 1926 bestehenden Import- und Exportgesellschaften wurden aufgewertet und erhielten für ihren jeweiligen Bereich ein Monopol im Außenhandel. Seit Februar 1930 bestanden insgesamt 36 Monopolgesellschaften unter Leitung des Narkomtorg beziehungsweise nach der trennung der Volkskommissariate unter Leitung des NKVt. Für den Bereich Elektrotechnik erhielt Ėlektroimport das Handelsmonopol zugesprochen. Durch das Kollektivierungs- und Industrialisierungsprogramm beschleunigte Stalin den wandel in der sowjetischen Gesellschaft dramatisch. Allerdings lag in der hohen Dynamik des wandlungsprozesses auch ein außenpolitisches risiko, da die Sowjetunion in dieser Phase unbedingt auf äußere sicherheitspolitische Stabilität angewiesen war. Die internationale Absicherung des innersowjetischen wandels wurde zum Ende der 1920er Jahre zu einem prägenden Merkmal der sowjetischen Außenpolitik. Sie sah sich dabei mit mehreren Problemen konfrontiert. Erstens hatte sich der so genannte Geist von rapallo in der Zusammenarbeit mit dem Deutschen reich nur begrenzt bewährt und die deutsch-sowjetischen Beziehungen waren schon mehrfach in ernste Krisen geraten.417 Darüber hinaus hatte die deutsche Außenpolitik in Locarno deutlich gemacht, dass sie sich von einer zu engen Bindung an die Sowjetunion lösen und sich stärker in ein gesamteuropäisches Sicherheitskonzept einbinden wollte. Zweitens stand die Sowjetunion seit der japanischen Invasion in die Mandschurei 1931 vor einer großen Herausforderung auf einem neuen geographischen Schauplatz. Unter diesen Bedingungen begann der seit 1930 amtierende Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten M. M. Litvinov eine neue sowjetische Außenpolitik unter dem Primat der kollektiven Sicherheit zu verfolgen. Litvinov schloss 1932 die ersten Sicherheitsabkommen mit den westlichen Anrainerstaaten (darunter besonders Polen) sowie mit Frankreich ab. Im November 1933 folgte die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit den USA. Die Politik der äußeren kollektiven Sicherheit hatte als Garant für die Absicherung des inneren transformationsprozesses oberste Priorität.418
Entwicklung der organisationsformen (1963), S. 91ff. 416 Quigley: the Soviet Foreign trade Monopoly (1974), S. 60ff. 417 Zur sowjetischen Außenpolitik während des ersten Fünfjahresplans vgl. detailliert: Jonathan Haslam: Soviet Foreign Policy, 1930–33. the Impact of the Depression. New York 1983, S. 71ff. 418 Fischer: Sowjetische Außenpolitik in der weltwirtschaftskrise (1980), S. 75ff. Zur Politik der kollektiven Sicherheit ebenfalls: J. A. Large: the origins of Soviet Collective Security Policy, 1930–32, in: Soviet Studies 30 (1978), 2, S. 212–236.
204 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels Das Deutsche Reich in der Weltwirtschaftskrise Nach mehreren Jahren relativer wirtschaftlicher Erholung und politischer Stabilität zeigten sich 1928 in Deutschland erste Symptome eines Umschwungs. Dieser äußerte sich unter anderem in einem Anstieg der Arbeitslosigkeit sowie in einem steigenden öffentlichen Haushaltsdefizit.419 Auch der Kapitalzufluss aus den USA, der die Boomjahre der weimarer republik im wesentlichen finanziert hatte, geriet im Herbst 1928 ins Stocken und im Zuge der Börsenkrise kehrte er sich seit oktober 1929 in einen rapiden Kapitalabzug aus dem reich um. Diese Finanzkrise entfaltete eine große Sogwirkung mit schwerwiegenden Auswirkungen auf die europäische und vor allem die deutsche wirtschaft. Sie entwickelte sich zur bislang schwersten Krise der modernen weltwirtschaft. Der Produktionsgüterindex im Deutschen reich sank von 100 im Jahr 1928 auf 59 im Jahr 1932, die Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt waren katastrophal.420 Nach einem leichten Anstieg im Jahr 1929 auf 16,8 Prozent verdoppelte sich die Arbeitslosenquote bis 1932 auf 32,7 Prozent. Da es sich dabei nur um die versicherten Arbeitslosen handelte, lag die Dunkelziffer wohl noch höher. Parallel zur Intensivierung der wirtschaftskrise nahm auch die deutsche Politik eine Entwicklung, die allmählich zu einer ernsten Herausforderung für die Demokratie wurde. Nach dem tod Gustav Stresemanns im oktober 1929, der in den vorherigen Jahren eine maßgebliche Stütze der republik gewesen war, nahm der politische Einfluss der gemäßigten bürgerlichen Parteien mit Ausnahme des Zentrums stark ab.421 Kurze Zeit später, nach der Auflösung der großen Koalition aus SPD und bürgerlichen Parteien im März 1930, eröffnete reichspräsident Paul von Hindenburg mit der Ernennung Heinrich Brünings zum Kanzler die Ära der Präsidialkabinette. In den folgenden reichstagswahlen im September 1930 wurde die NSDAP mit 18,3 Prozent der Stimmen zur Massenpartei und auch die KPD konnte signifikante Gewinne verbuchen. Brüning blieb allerdings in einer Koalition aus bürgerlichen Parteien unter tolerierung der SPD weiterhin reichskanzler. Sein Mittel zur Bekämpfung der Krise war die drastische Kürzung der Staatsausgaben bei gleichzeitiger Erhöhung von Steuern und Abgaben. Ziel dieser Deflationspolitik war die Sanierung des Staatshaushalts, der durch hohe Ausgaben in den vergangenen Jahren stark belastet worden war.422 Dieser rigide Sparkurs verhinderte staatliche Ausgaben zur Unterstützung der wirtschaft und verstärkte die Krisensymptome noch. Ausnahmen bildeten die Agrarwirtschaft und in geringerem Maße einige Industriesektoren, die durch staatliche Hilfspakete gestützt wurden. 419 Vgl. im Folgenden den hervorragenden Überblick von: theo Balderston: the origins and Course of the German Economic Crisis. November 1923 to May 1932 (Schriften der historischen Kommission zu Berlin 2). Berlin 1993. Ebenfalls: Harold James: Deutschland in der weltwirtschaftskrise 1924–1936. Darmstadt 1988. Erstmals veröffentlicht 1986; Petzina: Die deutsche wirtschaft in der Zwischenkriegszeit (1977), S. 96ff. 420 Die folgenden Zahlen sind entnommen aus: Balderston: the origins and Course (1993), S. 5ff. 421 winkler: weimar 1918–1933 (1993), S. 334ff. 422 Zum Budgetdefizit des reichs in den Jahren 1924 bis 1933 vgl. die tabelle in: Balderston: the origins and Course (1993), S. 268ff.
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Besonders die Agrarwirtschaft, die im Kabinett Brüning wirkungsvoll ihre Interessen vertreten konnte, wurde durch direkte Subventionen sowie indirekt durch eine Erhöhung der Importzölle überproportional bevorzugt.423 Der Sturz Brünings im Mai 1932 wurde durch eine Koalition rechtsgerichteter Kräfte vorbereitet.424 Auf die Entlassung Brünings folgten die Ernennung Franz von Papens zum reichskanzler und Ende Juli 1932 Neuwahlen, in denen die NSDAP ihren Stimmenanteil auf 37,3 Prozent steigern konnte. Zwar blieb das Präsidialkabinett Papen noch zweieinhalb Monate im Amt, nach einem erfolgreichen Misstrauensantrag wurden jedoch Mitte November erneut reichstagswahlen abgehalten, in denen die NSDAP an Stimmen verlor. Diese Verluste führten aber nicht zu einer Stabilisierung der regierung. Schließlich entließ Hindenburg im Dezember das Kabinett Papen und ernannte Kurt von Schleicher zum Kanzler des dritten Präsidialkabinetts, das nur knapp zwei Monate amtierte. Am 30. Januar 1933 übertrug er dem vierten Präsidialkabinett, bestehend aus einer Koalition von NDSDAP und DNVP unter reichskanzler Adolf Hitler, die regierungsgewalt. In der Außenpolitik profitierte Brüning seit 1930 zunächst von der Politik Stresemanns, der im Young-Plan eine neue regelung der reparationszahlungen und den vollständigen Abzug der alliierten truppen aus dem rheinland erreicht hatte.425 Doch trotz dieser Erfolge verschrieb sich Brüning einer immer offensiver ausgerichteten revisionspolitik, die von der Verständigungsbereitschaft Stresemanns allmählich abrückte. Er strebte vielmehr eine endgültige Aussetzung aller reparationszahlungen an und nutzte dazu die anhaltende wirtschaftskrise im reich als Instrument, um die westmächte von der deutschen Zahlungsunfähigkeit zu überzeugen. Eine Verschärfung der wirtschaftskrise im reich wurde dabei als notwendiges Übel in Kauf genommen.426 Das Hoover-Moratorium, das die Zahlung von reparationen sowie der interalliierten Schulden für ein Jahr aussetzte, war ein erster Erfolg dieser Politik. Schließlich beschlossen die Siegermächte des Erstens weltkriegs im Juli 1932 die Streichung aller deutschen reparationszahlungen. Ein zentrales Ziel der revisionspolitik war damit erreicht. Die deutsche Exportindustrie wurde von den Folgen der weltwirtschaftskrise getroffen; allerdings in weitaus geringerem Maße als auf dem eigenen Binnenmarkt.427 Vielmehr konzentrierten sich viele Unternehmen in den Krisenjahren auf den Export, um dadurch dem rückgang der Nachfrage im reich zu begegnen. Grundsätzlich hatte auch die deutsche Politik ein großes Interesse an der Förderung des deutschen Auslandsabsatzes. Dieser versprach erstens Linderung für den Ar423 Dieter Gessner: Agrardepression und Präsidialregierungen in Deutschland 1930–1933. Probleme des Agrarprotektionismus am Ende der weimarer republik. Düsseldorf 1977, S. 31ff. 424 Ulrike Hörster-Philipps: Konservative Politik in der Endphase der weimarer republik. Die regierung Franz von Papen (Pahl-rugenstein-Hochschulschriften Gesellschafts- und Naturwissenschaften 102). Köln 1982, S. 241ff. 425 Zur deutschen Außenpolitik nach 1928 vgl.: Krüger: Die Außenpolitik der republik von weimar (1985), S. 428ff. 426 Petzina: Die deutsche wirtschaft in der Zwischenkriegszeit (1977), S. 102. Vgl. ebenfalls die Bewertung der Folgen der weltwirtschaftskrise auf das Deutsche reich in: Balderston: the origins and Course (1993), S. 400ff. 427 Schröter: Die deutsche Industrie auf dem weltmarkt (1984), S. 504.
206 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels beitsmarkt und konnte zweitens in revisionspolitischer Hinsicht instrumentalisiert werden. Einer unmittelbaren Exportförderung waren jedoch durch die restriktive Haushaltspolitik Brünings enge Grenzen gesetzt. Sie beschränkte sich fast ausschließlich auf die staatliche Garantie von Exportkrediten.428 Hinzu kam, dass die Agrarwirtschaft ihre Interessen immer erfolgreicher auf politischer Ebene vertreten konnte.429 Im Verlauf des Jahres 1930 führte die reichsregierung Brüning mehrere Maßnahmen zum Schutz der deutschen Landwirtschaft, wie eine Erhöhung der Importzölle oder Importkontingente ein. Diese Zölle richteten sich vor allem gegen sowjetische Agrarimporte, die zum teil zu Dumpingpreisen unter weltmarktniveau verkauft wurden und dadurch die deutsche Landwirtschaft unter erheblichen Druck setzten.430 Gleichzeitig orientierten sich die Präsidialregierungen Brünings und besonders Franz von Papens immer stärker an den Maßstäben von Autarkie und einem deutsch dominierten Großwirtschaftsraum. Bis zum Machtwechsel des Januars 1933 ließen sie vor allem die südosteuropäischen Länder ins Zentrum der Außenwirtschaftspolitik geraten. Unter diesem Einfluss setzte zu Beginn der 1930er Jahre ein langsamer Politikwechsel ein, in dessen Folge die Sowjetunion als politischer und wirtschaftlicher Bündnispartner des reichs an Bedeutung verlor.431 Die politische Basis für eine Fortführung der deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen ist somit für die Schlussphase der weimarer republik ambivalent zu beurteilen. Einerseits sprachen wirtschaftliche, arbeitsmarkt- sowie revisionspolitische Interessen für eine Förderung der deutschen Exporte; andererseits gab es dagegen starke politische sowie agrarwirtschaftliche widerstände. Der weitere Ausbau der deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen hing deshalb auch davon ab, inwieweit die am Export interessierten Unternehmen ihre Interessen auf politischer Ebene umsetzen konnten. Die deutsch-sowjetischen Beziehungen 1928–1933 Nach der Beilegung der Šachty-Krise wurden die deutsch-sowjetischen Verhandlungen im November 1928 wieder aufgenommen. Sie führten am 21. Dezember 1928 zur Unterzeichnung des Moskauer Protokolls, das unter anderem reiseerleichterungen beinhaltete und den rechtsschutz deutscher Staatsangehöriger in der Sowjetunion verbesserte.432 Doch eine substantielle Stabilisierung der deutsch-sowjetischen Beziehungen konnte durch das Abkommen nicht erzielt werden und im Jahr 1929 verschlechterte sich das bilaterale Verhältnis wieder. Angesichts der 428 Schröter: Die deutsche Industrie auf dem weltmarkt (1984), S. 512. 429 Zu den in der DNVP vertreten Agrarinteressen und deren Einfluss auf das Sowjetgeschäft siehe ausführlich: Gessner: Agrardepression und Präsidialregierungen (1977), S. 399ff.; sowie: James: Deutschland in der weltwirtschaftskrise (1988), S. 254ff. 430 Zum sowjetischen Dumping: Dohan: the Economic origins of Soviet Autarky (1976), S. 620f. 431 Gessner: Agrardepression und Präsidialregierungen (1977), S. 78ff. Zum Konzept der Großraumwirtschaft vgl. ebenfalls: Müller: Das tor zur weltmacht (1984), S. 235ff. 432 Vgl. dazu einen Bericht rapoports in: Die Volkswirtschaft der UdSSr 7 (1928), 24, S. 8ff.
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Zwangskollektivierung der wolga-Deutschen, der repressionen gegen die Kirchen sowie der gewaltsamen Gleichschaltung der sowjetischen Gesellschaft wurde in allen politischen Lagern im reich, mit Ausnahme der KPD, starke Kritik an der weiteren Zusammenarbeit mit der Sowjetunion laut.433 Gleichzeitig wurden von sowjetischer Seite die zunehmenden wahlerfolge der NSDAP und der KPD aufmerksam und mit ambivalenten reaktionen betrachtet.434 Einerseits begrüßte man aus ideologischen Gründen die Polarisierung der deutschen Politik und den Niedergang der bürgerlichen Kräfte. Andererseits bestand keinerlei Interesse an einer Destabilisierung der weimarer republik, da die Umsetzung des ersten Fünfjahresplans entscheidend auf stabilen internationalen rahmenbedingungen und den Lieferungen deutscher Investitionsgüter beruhte. Die antikommunistische Ausrichtung von Hitlers NSDAP war bekannt. Es wurde allerdings auch das anti-westliche Moment in Hitlers außenpolitischen Zielsetzungen registriert, das Potential versprach, die westbindung des reichs im rahmen des LocarnoVertrags zu untergraben. Auf politischer Ebene bewegte sich in den deutsch-sowjetischen Beziehungen nach Unterzeichnung des Moskauer Protokolls von 1928 wenig.435 Zwar wurde im Juni 1931 die Verlängerung des Berliner Vertrags von 1926 beschlossen, die ratifizierung scheiterte jedoch an der starken innenpolitischen opposition, vor allem seitens der Agrarlobby. Eine Neuauflage des 300-Millionen-Kredits, der 1929 ausgelaufen war, konnte unter diesen Voraussetzungen nicht umgesetzt werden. Gleichzeitig wurde von den Unternehmen der erste Fünfjahresplan überwiegend mit großer Skepsis aufgenommen und dementsprechend auch die Bewertung des risikos im Sowjetgeschäft erhöht.436 Nach Harold James warnte die Deutsche Bank, die sich bisher sehr stark an der Finanzierung des Sowjetgeschäfts beteiligt hatte, im Frühjahr 1929 angesichts der infolge von Kollektivierung und Fünfjahresplan erwarteten Produktions- und Ernteausfälle vor einem vollständigen Kollaps der Sowjetunion.437 Die Stimmung der deutschen Unternehmen im Hinblick auf die Zukunft des Sowjetgeschäfts befand sich somit zu der Zeit an ihrem tiefpunkt, als die Sowjetunion ihre wirtschaftsentwicklung zunehmend an eine außenwirtschaftliche Verflechtung band. Erst als sich die wirtschaftliche Not im reich weiter verstärkte und sich die Sowjetunion gleichzeitig zu einem immer bedeutenderen Importeur westlicher Investitionsgüter entwickelte, begann sich die politische Stimmung im reich zu verändern. Vor allem die im russlandausschuss vertretenen Unternehmen forderten nachdrücklich eine Erneuerung staatlicher Ausfallbürgschaften. 433 Erdmann/Grieser: Die deutsch-sowjetischen Beziehungen (1975), S. 414. 434 Haslam: Soviet Foreign Policy (1983), S. 58ff. 435 Zur Entwicklung der deutsch-sowjetischen Beziehungen zwischen 1929 und 1933 vgl.: Karlheinz Niclauß: Die Sowjetunion und Hitlers Machtergreifung. Eine Studie über die deutschrussischen Beziehungen der Jahre 1929 bis 1935 (Bonner historische Forschungen 29). Bonn 1966, S. 43ff. 436 Perrey: rußlandausschuß der Deutschen wirtschaft (1985), S. 130ff. Dazu auch rolf-Dieter Müller, der zum Beispiel die kritischen Stimmen von MAN, IG-Farben und Carl Bosch zu den Perspektiven im Sowjetgeschäft zitiert: Müller: Das tor zur weltmacht (1984), S. 200f. 437 James: the reichsbank and Public Finance (1985), S. 308.
208 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels Die regierung Brüning stand neuen Bürgschaften im Sowjetgeschäft zunächst skeptisch gegenüber, da die strikte Haushaltspolitik kaum größere Ausgaben zur wirtschaftsförderung erlaubte. Sie entschied sich aber aus zwei Gründung für die Unterstützung der deutschen Sowjetexporte. Erstens sollte das Sowjetgeschäft für Linderung auf dem deutschen Arbeitsmarkt sorgen. Zweitens verfolgte Brüning aus reparationspolitischen Gründen eine Steigerung der deutschen Exporte, „hoffte Brüning doch, […] die reparationsgläubiger vom guten willen Deutschlands, zugleich aber auch von der objektiven Unmöglichkeit des transfers der reparationen überzeugen zu können“438. Brüning legte damit die politische Basis für eine umfassende Neuauflage des Kreditabkommens im Frühjahr 1931, das von einer Delegationsreise deutscher Unternehmer in die Sowjetunion vorbereitet wurde. Das reich übernahm in Folge des so genannten ersten Pjatakov-Abkommens vom 14. April 1931, benannt nach G. L. Pjatakov, eine Ausfallbürgschaft in Höhe von 70 Prozent für Kreditgeschäfte im Volumen von 300 Millionen reichsmark.439 Unter Führung der Deutschen Bank bildete sich daraufhin ein Konsortium zur Finanzierung von Lieferkrediten, die sich zunächst auf 100 Millionen reichsmark beliefen.440 Für die Durchführung der Kreditfinanzierung war erneut die IFAGo zuständig. Da die Kreditsumme bereits nach wenigen Monaten vergeben war – ein Anzeichen dafür, wie wichtig und seitens der Unternehmen höchst willkommen die Kredite waren – wurde das Volumen in den folgenden Monaten auf über 300 Millionen reichsmark erhöht. Am 15. Juni 1932 wurde das Abkommen verlängert. Allerdings senkte die reichsregierung ihre Bürgschaftsgarantie auf 60 Prozent ab. Bis Ende 1932 erhöhten sich die von deutschen Bankkonsortien gewährten Kredite im Sowjetgeschäft, die durch Ausfallbürgschaften des reichs gesichert waren, auf insgesamt 610 Millionen reichsmark. Angesichts Brünings rigider Deflations- und Sparpolitik ist diese Summe bemerkenswert. Nach Harold James sicherten die Aufträge aus dem Sowjetgeschäft mindestens 150.000 direkte Arbeitsplätze. Sie bewahrten eine Vielzahl kleinerer und mittlerer Unternehmen, vor allem in den Bereichen Maschinenbau und Elektroindustrie, vor dem ruin.441 Dagegen erreichten die deutschen Agrarimporte aus der Sowjetunion nicht die von sowjetischer Seite gewünschte Höhe. Vielmehr zeigte sich die politische Interessenvertretung der deutschen Agrarwirtschaft außerordentlich erfolgreich darin, durch protektionistische Maßnahmen den Getreideimport aus der Sowjetunion sogar zu verringern.442 Bei stark steigenden Importen und gleichzeitig sinkenden Exporten wuchs das sowjetische Defizit im Außenhandel mit dem Deutschen reich rapide an. Mittelfristig erwies sich so der „sich verschärfende agrarprotektionistische Kurs 1931/32 als nahezu unüberwindliches Hindernis für den deutsch-sowjetischen 438 Niemann: Die russengeschäfte in der Ära Brüning (1985), S. 154. 439 Zu den richtlinien der Bürgschaft vgl.: SAA 10756, Ernst Eue: Chronik des tB ost. Berlin 1944, S. 40. 440 Zu den Finanzierungskonsortien der beiden Pjatakov-Abkommen detailliert: Pohl: Die Finanzierung der russengeschäfte (1975), S. 29ff. 441 James: the reichsbank and Public Finance (1985), S. 311. 442 Dohan: the Economic origins of Soviet Autarky (1976), S. 621.
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4 Zeitraum 1928–1933: Die „Blütejahre“ im Sowjetgeschäft?
Handel“443, da ohne eine Ausweitung sowjetischer Exportkapazitäten die Importe auf Dauer nicht bezahlbar waren. tabelle 7: Deutsch-sowjetischer Handel 1929–1933 in Millionen rubel Sowjetische Exporte nach Deutschland
Sowjetische Importe aus Deutschland
Saldo
1929
749,7
678,4
71,3
1930
716,9
874,2
-157,3
1931
450,8
1431,1
-980,3
1932
350,2
1142,1
-791,9
1933
298,8
515,9
-217,1
Quelle: Zusammengestellt aus den Zahlen des sowjetischen Außenhandelsministeriums: Ministerstvo Vnešnej torgovli SSSr: Vnešnjaja torgovlja SSSr za 1918–1940 gg. Statističeskij obzor, Moskau 1960.
während der kurzen Kanzlerschaft Franz von Papens verschärfte sich diese tendenz weiter.444 Angesichts protektionistischer Stimmen aus der Landwirtschaft verweigerte sich der Kanzler der sowjetischen Forderung, die Einfuhr von Agrarprodukten nach Deutschland zu erleichtern. Ebenfalls lehnte die reichsregierung den sowjetischen Vorschlag nach einer dritten Auflage des Pjatakov-Abkommens ab. Zwar bemühte sich Kurt von Schleicher noch einmal um eine Verbesserung der deutsch-sowjetischen Beziehungen, jedoch konnte er mit Ausnahme eines unbedeutenden wirtschaftsabkommens vom 17. Januar 1933 zur Zwischenfinanzierung sowjetischer Schulden keine Impulse mehr geben.445 Die Herausforderung für Siemens Siemens wie auch die gesamte deutsche Elektroindustrie waren von den Auswirkungen der weltwirtschaftskrise stark betroffen. Der Umsatz des Unternehmens verringerte sich von 820 Millionen reichsmark im Jahr 1929 auf 330 Millionen reichsmark vier Jahre später. Die Mitarbeiterzahl sank im gleichen Zeitraum von 138.069 auf 78.588.446 Siemens litt besonders unter dem enormen rückgang der Inlandsnachfrage seit 1928, bei einer relativ geringer gesunkenen Auslandsnachfrage. Das Auslandsgeschäft wurde vielmehr noch weitaus stärker als bisher zu einer tragenden Säule des Unternehmens. Sein Anteil am Gesamtumsatz stieg um 443 Gessner: Agrardepression und Präsidialregierungen (1977), S. 77. 444 Hörster-Philipps: Konservative Politik (1982), S. 314; Niemann: Die deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen (1991), S. 103. 445 Niclauß: Die Sowjetunion und Hitlers Machtergreifung (1966), S. 71. 446 Feldenkirchen: Siemens 1918–1945 (1995), S. 102, 680.
210 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels circa 20 Prozent und erreichte im Geschäftsjahr 1931/1932 bei S&H 45 Prozent, bei SSw sogar 53 Prozent.447 Aufgrund der zunehmend schwierigen wirtschaftslage entschlossen sich sowohl Siemens als auch AEG zu einer engeren Kooperation mit den großen Elektrounternehmen aus den USA.448 General Electric beteiligte sich 1929 an einer Kapitalerhöhung von AEG und übernahm insgesamt 25 Prozent der AEG-Aktien.449 Siemens hatte schon 1924 ein erstes Abkommen zur technischen Kooperation mit westinghouse abgeschlossen und begann Ende der 1920er Jahre auch mit General Electric Gespräche über eine Zusammenarbeit.450 Zwar wurde die Übernahme eines größeren Aktienpakets, wie im Fall von AEG, entschieden abgelehnt. Stattdessen sah sich Siemens jedoch zur Aufnahme einer Anleihe gezwungen, um die wettbewerbsfähigkeit des Unternehmens im internationalen Schwachstromgeschäft im Vergleich mit den Konkurrenten aus den USA zu gewährleisten.451 Ende 1929 führte Siemens Gespräche mit dem New Yorker Bankhaus Dillon read über eine Anleihe in Höhe von 15 Millionen US-Dollar. Infolge der dramatischen Kursstürze der Börsen im oktober 1929 sah sich die Bank allerdings nicht in der Lage, den Anleihebetrag auf dem Kapitalmarkt aufzubringen. Nach persönlicher Absprache zwischen Carl Friedrich von Siemens mit Gerard Swope, Präsident von General Electric, sowie mit dem Vorstandsmitglied Clark H. Minor übernahm General Electric zehn Millionen Dollar der Anleihe, die eine Laufzeit von 999 (!) Jahren hatte. wie theodor Hafeneder schreibt, wollte General Electric damit „freundliche Beziehungen zum Hause Siemens“452 herstellen. während die meisten Geschäftsbereiche von Siemens von der weltwirtschaftskrise sehr stark betroffen waren, bewertete das tB ost die unmittelbaren Geschäftsperspektiven als günstig. In einer internen Übersicht aus dem Jahr 1930 findet sich folgende Einschätzung zur weiteren Entwicklung des Sowjetgeschäfts: „Die Geschäftsaussichten werden, abgesehen vom Kreditrisiko, weiterhin günstig beurteilt, zumal das Programm des Fünfjahresplanes mit aller Energie durchgeführt werden soll, und im Zusammenhang hiermit mit der Placierung weiterer grösserer russischer Aufträge in Deutschland in nächster Zukunft gerechnet werden kann.“453
Das Zitat belegt aber auch, dass das risiko von Kreditgeschäften entgegen aller optimistischen Erwartungen bezüglich des ersten Fünfjahresplans weiterhin als hoch bewertet wurde. Siemens und andere am Sowjetgeschäft interessierte Unternehmen forderten daher eine Neuauflage der staatlichen Ausfallbürgschaften aus 447 Feldenkirchen: Siemens 1918–1945 (1995), S. 122. 448 Schröter: Europe in the Strategies (1996), S. 43; Hertner: Financial Strategies and Adaptation (1989), S. 155. 449 Laut Hafeneder erhöhte General Electric später seinen Anteil an AEG auf 30 Prozent. Hafeneder: Das Haus Siemens (1969), S. 163. 450 Hafeneder: Das Haus Siemens (1969), S. 261f. Zur Kooperation von Siemens mit westinghouse vgl. auch: Feldenkirchen: Siemens 1918–1945 (1995), S. 240f. 451 Hafeneder: Das Haus Siemens (1969), S. 263ff. 452 Hafeneder: Das Haus Siemens (1969), S. 260. 453 SAA 4732, tB ost: Übersicht über das russische Geschäft für das Jahr 1929/30. Siemensstadt 1.8.1930, S. 5.
4 Zeitraum 1928–1933: Die „Blütejahre“ im Sowjetgeschäft?
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dem Jahr 1926. Besonders der im Herbst 1928 gegründete russlandausschuss der Deutschen wirtschaft nahm dabei eine Schlüsselrolle ein, die Unternehmensinteressen gegenüber der reichsregierung zu vertreten. 4.2 Der russlandausschuss der Deutschen wirtschaft Die Zentralisierung der gesamten außenwirtschaftlichen tätigkeit in den Händen staatlicher organisationen seit Gründung des sowjetischen Staates rief unter deutschen Unternehmen Unverständnis und Ablehnung hervor. Als reaktion gab es seit 1918 mehrere Versuche, dem sowjetischen Außenhandelsmonopol ein Gegengewicht deutscher wirtschaftsinteressen entgegenzustellen, die jedoch weitgehend scheiterten. Deutsche Interessen im Sowjetgeschäft wurden zunächst in einzelnen Fachverbänden (wie dem ZVEI) oder im rDI vertreten. Eine einheitliche organisation bestand nicht. Mehrere organisationen wie der Deutsch-russische Verein oder der vom rDI 1921 initiierte Deutsch-russische Ausschuss, in dem Hermann Görz Siemens repräsentierte, agierten nebeneinander.454 Auch waren die Unternehmen trotz aller Ablehnung des Außenhandelsmonopols nicht bereit, im Sowjetgeschäft auf gewohnte marktwirtschaftliche Prinzipien, wie zum Beispiel auf die Ausnutzung der Konkurrenz unter den Lieferfirmen bei der Auftragsakquise, zu verzichten. Dem Außenhandelsmonopol hatten die deutschen Unternehmen bis zum Ende der 1920er Jahre keine vergleichbare zentrale Interessenvertretung entgegenzusetzen. Verschiedene Großunternehmen, die wie Siemens mit dem tB ost eigene Strukturen im Sowjetgeschäft aufgebaut hatten, waren im Vergleich mit kleineren und mittleren Unternehmen zwar weitaus besser gestellt. Doch auch für Großunternehmen zeigten sich mit der Intensivierung des deutsch-sowjetischen Handels seit 1925 zunehmende Probleme angesichts des übermächtigen Außenhandelsapparats.455 Die Gründung des Russlandausschusses der Deutschen Wirtschaft Die Gründung des russlandausschusses der Deutschen wirtschaft am 4. September 1928 war eine „Negativreaktion der deutschen wirtschaft auf die nach wie vor als Misstände empfundenen Hemmnisse und Schwierigkeiten“456 im Sowjetgeschäft. Sie fiel erstens mit dem zehnjährigen Jubiläum des sowjetischen Außenhan454 Perrey nennt auch das Büro zur Vorbereitung des ostsyndikats, den Deutsch-russischen wirtschaftsverbund und den Deutsch-osteuropäischen wirtschaftsverband. Perrey: rußlandausschuß der Deutschen wirtschaft (1985), S. 58. Zum rDI im Sowjetgeschäft siehe: wolff-rohé: Der reichsverband der Deutschen Industrie (2001), S. 274. 455 Vgl. dazu die Erinnerungen Hilgers bezüglich der „harten und lästigen Auswirkungen des sowjetischen Außenhandelsmonopols auf den deutsch-russischen wirtschaftsverkehr“. Hilger: wir und der Kreml (1964), S. 164. 456 Perrey: rußlandausschuß der Deutschen wirtschaft (1985), S. 64. Zur Gründung und zur Poli-
212 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels delsmonopols zusammen: Eine grundlegende restrukturierung oder gar eine reprivatisierung des sowjetischen Außenhandels war kaum mehr zu erwarten. Zweitens hatte sie im Krisenjahr der deutsch-sowjetischen Beziehungen 1928 einen akuten Anlass. Ende 1927 begannen die Verhandlungen zur Verlängerung des wirtschaftsabkommens vom 12. oktober 1925. Diese zogen sich bis ins Folgejahr hin und wurden durch die Šachty-Affäre empfindlich gestört. Angesichts der sowjetischen willkür im Šachty-Prozess wurde der ruf nach einer stärkeren Zentralisierung deutscher Unternehmensinteressen immer lauter. Aus den Gesprächen zwischen mehreren wirtschaftsverbänden ging zunächst Ende 1927 eine lose Arbeitsgemeinschaft hervor, die im September 1928 im russlandausschuss der Deutschen wirtschaft auf eine formale Grundlage gestellt wurde. Die Gründung des Ausschusses war eine reaktion auf die „Schwierigkeiten und Belastungen, denen die deutsche wirtschaft im Handel mit der Sowjetunion ausgesetzt war“457. organisatorisch war der russlandausschuss eng an den rDI angegliedert, auch wenn sich eine reihe weiterer Fachverbände an seiner Gründung beteiligten.458 Im russlandausschuss gingen unter anderem der Deutsch-russische Verein und der Deutsch-russische Ausschuss des rDI auf. Als Publikationsorgan übernahm er die „ostwirtschaft“ vom Deutsch-russischen Verein. Erster Vorstandsvorsitzender wurde Hans Kraemer, ehemals Vorsitzender des Deutsch-russischen Ausschusses. Ein weiteres Gründungsmitglied war otto wolff. Sein Sohn otto wolff von Amerongen beeinflusste nach dem Zweiten weltkrieg maßgeblich die Neugründung des ost-Ausschusses der Deutschen wirtschaft und den Beginn der wirtschaftsbeziehungen zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik in den 1950er Jahren.459 Der russlandausschuss hatte nach Perrey grundsätzlich defensiven Charakter. Seine Hauptaufgabe lag darin, deutsche Unternehmensinteressen zu koordinieren und diese nach außen hin geschlossen zu repräsentieren. Es handelte sich nicht um eine „Monopolisierung“ deutscher wirtschaftsinteressen, wie es von sowjetischer Seite unterstellt wurde.460 Die Eigenständigkeit der einzelnen Unternehmen wurde nicht eingeschränkt. Ein vergleichbares Gegengewicht zum Außenhandelsmonopol war der russlandausschuss nicht. Der russlandausschuss engagierte sich vielmehr bei der Koordination zwischen staatlichen und privatwirtschaftlichen Interessen und versuchte, auf diese weise einen verbesserten Austausch mit der reichsregierung zu erzielen. Perrey kommt deshalb zu dem Urteil, dass die Gründung des russlandausschusses letztlich nichts anderes war als „der Ausdruck einer tief sitzenden Skepsis“461 der deutschen Unternehmen gegenüber der Sowjetunion. Nicht optimismus im Sowjetgeschäft, sondern das Streben nach einer institutionalisier-
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tik des russlandausschusses vgl. auch: Bellers: Außenwirtschaftspolitik und politisches System (1988), S. 258ff. Perrey: rußlandausschuß der Deutschen wirtschaft (1985), S. 75. Perrey: rußlandausschuß der Deutschen wirtschaft (1985), S. 73ff. Zum ost-Ausschuss siehe: http://www.ost-ausschuss.de (zuletzt geprüft am 5.7.2010). So auch in der DDr-Forschung zum russlandausschuss Kurt Laser: Der rußlandausschuß der Deutschen wirtschaft 1928–1941, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 20 (1972), 11, S.1382–1400. Perrey: rußlandausschuß der Deutschen wirtschaft (1985), S. 335.
4 Zeitraum 1928–1933: Die „Blütejahre“ im Sowjetgeschäft?
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ten Koordination deutscher Unternehmensinteressen stand hinter der Gründung des Ausschusses. Nach mehrjährigem widerstand akzeptierte schließlich auch die Sowjetunion bis 1931 den russlandausschuss als Verhandlungspartner.462 während der weltwirtschaftskrise entfaltete der russlandausschuss ein großes Engagement dabei, die deutschen Unternehmen bei der Bewältigung des stark steigenden Umfangs sowjetischer Bestellungen zu unterstützen. Seine tätigkeit kam vor allem kleinen und mittleren Unternehmen zugute, die keine eigenen Spezialabteilungen hatten und über wenig Erfahrung im Sowjetgeschäft verfügten. Aber auch Großunternehmen wie Siemens profitierten vom Potential des Ausschusses, die Verbindung zwischen Unternehmensinteressen und der deutschen Außenwirtschaftspolitik zu koordinieren sowie als zentrales organ in direkten Gesprächen mit dem sowjetischen Außenhandelsapparat aufzutreten. Siemens im Russlandausschuss Siemens war 1928 Gründungsmitglied des russlandausschusses und beteiligte sich auch personell an verschiedenen Unterausschüssen. Hermann reyß nahm einen Sitz in der Kommission für dringende Spezialfragen ein,463 Carl Köttgen war in der Kommission für allgemeine Geschäftsabkommen464 und Georg Kandler vom tB ost in der Kommission für Lieferbedingungen465 vertreten. Im Juli 1933 wurde reyß einstimmig zum Vorstandsvorsitzenden des russlandausschusses gewählt. Der ost-Express kommentierte die wahl wie folgt: „Dr. reyß gilt in allen am russlandgeschäft interessierten Kreisen, darunter auch bei den deutschen amtlichen Stellen, als ein besonders geeigneter Führer des russland-Ausschusses. Seine rege, mehr als zehnjährige Mitarbeit im russland-Ausschuss und dessen Vorläufer dem Deutsch-russischen Ausschuss des reichsverbandes der Deutschen Industrie haben ihm auch in allen deutsch-russischen Geschäftsfragen grundsätzlicher Natur, die über den Geschäftskreis seiner Firma hinausgehen, umfassende Kenntnisse und eine klare Beurteilung der grossen Probleme, die mit russland zusammenhängen, verschafft.“466
In den ersten Jahren seines Bestehens beschränkte sich der russlandausschuss weitgehend darauf, seine Funktionen als Koordinationsinstanz zwischen Unternehmen und der deutschen Politik zu erfüllen. Dies änderte sich 1931, als sich der Ausschuss direkt an den deutsch-sowjetischen Verhandlungen um ein neues wirtschaftsabkommen beteiligte und dessen Abschluss maßgeblich ermöglichte.
462 Zu einer ersten negativen reaktion auf die Gründung des russlandausschusses vgl.: Die Volkswirtschaft der UdSSr 7 (1928), 17, S. 4. 463 SAA 6876, russlandausschuss der deutschen wirtschaft: Brief an reyß betr. Sitzung der Kommission des russlandausschusses für Spezialfragen am 8.12.1932. Berlin 7.12.1932. 464 SAA 6876, russlandausschuss der deutschen wirtschaft: Brief an Köttgen. Berlin 12.12.1932. 465 SAA 6876, russlandausschuss der deutschen wirtschaft: Brief an Kandler. Berlin 12.12.1932. 466 SAA 11 Lf 292, wPA: Mitteilung an Köttgen, Auszug aus dem ost-Express Nr. 29 vom 26. Juli. Siemensstadt 27.7.1933.
214 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels Die Industriellenreise von 1931 nach Moskau als transnationales Ereignis Der russlandausschuss war eine Vereinigung von wirtschaftsverbänden zur Förderung deutscher Interessen im Sowjetgeschäft. Es handelte sich um eine nicht-staatliche organisation, die allerdings eng in die zwischenstaatlichen Beziehungen zwischen dem Deutschen reich und der Sowjetunion eingebunden war. Der transnationale Charakter des russlandausschusses zeigt sich besonders bei der reise deutscher Industrieller in die Sowjetunion vom 26. Februar bis 11. März 1931. Hintergrund der reise waren entsprechende Kommissionsreisen britischer und US-amerikanischer Unternehmer seit 1929, die in der deutschen wirtschaftspresse als große Bedrohung für das Sowjetgeschäft wahrgenommen wurden. Es setzte sich bei den Unternehmen allmählich die Einsicht durch, dass sie als Folge der zunehmenden internationalen Konkurrenz stärker ihre Interessen im Sowjetgeschäft parallel zur staatlichen Außenpolitik vertreten mussten. Die Sowjetunion begrüßte diese direkten Gespräche auf wirtschaftlicher Ebene auch angesichts der deutschsowjetischen politischen Spannungen ausdrücklich. Unmittelbarer Anlass der reise war schließlich die Einladung des obersten Volkswirtschaftsrats an 17 Vertreter deutscher Großunternehmen zu einer Informationsreise in die Sowjetunion Anfang 1931.467 Darin hieß es wie folgt: „Der oberste Volkswirtschaftsrat der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, welcher die gesamte Industrie der UdSSr vereinigt und verwaltet, misst der Herstellung eines unmittelbaren Kontaktes mit den Führern der deutschen wirtschaft grosse Bedeutung bei. Zur Erreichung dieses Zieles betrachtet er es als sehr erwünscht, einen direkten Meinungsaustausch zwischen den Vertretern der deutschen und der Sowjet-Industrie herbeizuführen.“468
Die teilnahme von Siemens an der reise ist durch die Unterlagen im Nachlass Carl Köttgens, der anstelle Carl Friedrich von Siemens‘ nach Moskau fuhr, sehr gut belegt.469 weitere teilnehmer waren Führungskräfte von Großunternehmen wie AEG, 467 Nach Pogge von Strandmann ging die ursprüngliche Initiative dazu von den Unternehmen aus, einen Beleg dafür liefert er jedoch nicht. Pogge von Strandmann: Industrial Primacy in German Foreign Policy (1981), S. 248. Demgegenüber beschreibt Perrey, dass die im russlandausschuss organisierten Unternehmen zunächst sehr skeptisch auf die sowjetische Einladung reagierten. Perrey: rußlandausschuß der Deutschen wirtschaft (1985), S. 148. 468 SAA 4 Lf 685, Botschaft der UdSSr in Berlin: Brief an Carl Friedrich von Siemens und Einladung zu den Gesprächen in Moskau. Berlin 7.2.1931. 469 Siehe insbesondere den ausführlichen Bericht Köttgens an Clark Minor von General Electric: SAA 11 Lf 292, Carl Köttgen: Brief an Clark H. Minor. Berlin 30.3.1931. Exemplarisch aus Köttgens Unterlagen: SAA 11 Lf 292, reichsverband der Deutschen Industrie: Liste der teilnehmer an der reise nach Moskau. Berlin 11.3.1931; SAA 11 Lf 292, reichsverband der Deutschen Industrie: tagesprogramm der Industriellenreise nach Moskau. Berlin 1931. Aus dem reiseprogramm wird ersichtlich, dass der Besuch mehrere Industrieanlagen in Moskau und in Leningrad vorgesehen waren, darunter ein ehemaliges Siemens-werk. Das kulturelle Beiprogramm beinhaltete den Besuch der tretjakov-Galerie in Moskau, eine Stadtführung durch Leningrad, sowie den Besuch einer oper (Evgenij onegin), eines Balletts (Coppélia) und einer operette (Das Land des Lächelns). Erhalten ist auch der Passagierschein Carl Köttgens: SAA 11 Lf 292, Berliner Handelsvertretung: Passierschein für Köttgen für die reise nach Moskau. Berlin 24.2.1931. Zur sowjetischen rezeption der reise vgl.: Sowjetwirtschaft und Aussenhandel 10 (1931), 4, S. 6 und 5, S. 9.
4 Zeitraum 1928–1933: Die „Blütejahre“ im Sowjetgeschäft?
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Abbildung 6: Carl Köttgen Quelle: Siemens-Archiv CII. Das Foto stammt aus dem Jahr 1925. Köttgen war zu diesem Zeitpunkt Vorstandsvorsitzender von SSw.
Krupp, otto wolff, Vereinigte Stahlwerke und Gutehoffnungshütte. Geleitet wurde die Delegation von dem Industriellen Peter Klöckner. In seiner Eröffnungsrede am 28. Februar in Moskau nannte der Leiter des obersten Volkswirtschaftsrats G. K. ordžonikidze die beiden zentralen Punkte, auf die es aus sowjetischer Sicht in den Verhandlungen ankam.470 Erstens wollte er durch eine direkte Kommunikationsebene zwischen der sowjetischen wirtschaftsadministration und den deutschen Unternehmern Lösungen für die zahlreichen Probleme bei der Durchführung der Importgeschäfte finden. Als Beispiel nannte ordžonikidze einen deutschen Maschinenbauer, dessen bereits verpackte Lieferung längere Zeit nicht in die Sowjetunion abgesandt werden konnte, weil der Lieferfirma die Adresse des sowjetischen Empfängers fehlte. Zweitens kam er auf den Faktor Stabilität in den deutsch-sowjetischen Beziehungen zu sprechen: „Der zweite wesentliche Punkt ist das Fehlen einer entsprechenden Stabilität [in den deutschsowjetischen wirtschaftsbeziehungen] trotz der bedeutenden Grösse unserer Ausrüstungs- und Halbfabrikatsbestellungen deutscher Provenienz. wir sind bedeutendste Besteller und dabei 470 Vgl. eine Übersetzung der rede: SAA 11 Lf 292, reichsverband der Deutschen Industrie: Begrüßungsansprache von ordžonikidze. Moskau 28.2.1931. Perrey bietet einen detaillierten Überblick über den Verlauf der Verhandlungen: Perrey: rußlandausschuß der Deutschen wirtschaft (1985), S. 155ff.
216 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels Besteller von höchst konzentrierter Natur. Dieser Umstand gewährt ihnen einen ungeheuren Vorteil, aber er hat auch manchmal eine Schattenseite: die Auslieferung einer bedeutenden Bestellung, der keine neue folgt, trägt in den Betrieb ihrer Unternehmen manchmal ein Element der Unsicherheit hinein. Kann man dem aus dem wege gehen? Gänzlich ist dies natürlich nicht zu vermeiden; der Käufer kann immer mit dem Verkäufer in bezug auf die Bedingungen (Preis, Qualität, Lieferungstermine, Zahlungsbedingungen usw.) uneinig bleiben, aber bei dem Vorhandensein eines wunsches der beiden Parteien kann man unserer Arbeit grössere Stabilität und Kontinuität verleihen.“471
wie ordžonikidze im Folgenden weiter ausführte, schwebte ihm als Lösung ein umfassendes rahmenlieferungsabkommen mit mehrjähriger Laufzeit vor, das das Volumen der deutschen Exporte in die Sowjetunion mindestens verdoppeln sollte. Ein solches rahmenabkommen würde für die Lieferanten die langfristige Planungssicherheit deutlich erhöhen, was von deutschen Unternehmen in den vergangenen Jahren immer wieder gefordert worden war. Als Bedingung verlangte ordžonikidze ein weitgehendes Entgegenkommen der Deutschen in Bezug auf die Laufzeit der Kreditfristen. Für die Unternehmen hätte dies eine substantielle Erhöhung des finanziellen risikos bedeutet und rief große Skepsis auf Seiten der deutschen Delegation hervor. In den folgenden tagen fanden mehrere Besprechungen im engeren Kreis statt, an denen auf deutscher Seite auch Carl Köttgen teilnahm.472 wie die Gesprächsprotokolle zeigen war die deutsche Delegation grundsätzlich sehr am Abschluss eines rahmenlieferungsabkommens interessiert, erwartete aber substantielle Änderungen an den Kreditbedingungen. Eine vollständige Einigung wurde deshalb bis zur Abfahrt der deutschen Delegation am 9. März nicht mehr erreicht. Es gab allerdings in letzter Minute eine Verständigung auf die Absicht, gemeinsam ein deutschsowjetisches Lieferabkommen in Höhe von 300 Millionen reichsmark zu vereinbaren. Im abschließenden Pressekommuniqué wurde bekannt gegeben, dass beide Parteien beabsichtigten, weiter daran zu arbeiten.473 Nach der rückkehr der deutschen Delegation begannen intensive Verhandlungen zwischen dem russlandausschuss und der reichsregierung über die Moskauer Ergebnisse wie auch über das weitere Vorgehen, an denen erneut Köttgen federführend beteiligt war.474 Im Zentrum der Gespräche stand dabei die vom russlandausschuss geforderte Übernahme von Ausfallbürgschaften durch das reich, die wie 471 SAA 11 Lf 292, reichsverband der Deutschen Industrie: Begrüßungsansprache von ordžonikidze. Moskau 28.2.1931, S. 2f. 472 Auf sowjetischer Seite waren ordžonikidze, Pjatakov, das Politbüro-Mitglied S. V. Kosior sowie der stellvertretende Leiter der Berliner Handelsvertretung G. S. Bitker anwesend. Auf deutscher Seite waren in den Verhandlungen Klöckner als Delegationsleiter, Köttgen für Siemens, wolfgang reuter (DEMAG), Klotzbach (Krupp) und Poensgen (Vereinigte Stahlwerke) vertreten. Siehe dazu: SAA 11 Lf 292, Carl Köttgen: Niederschrift der Besprechung bei ordžonikidze. Moskau 5.3.1931; SAA 11 Lf 292, Carl Köttgen: Niederschrift der Besprechung bei ordžonikidze. Moskau 8.3.1931; SAA 11 Lf 292, Carl Köttgen: Niederschrift der Besprechung mit ordžonikidze. Moskau 9.3.1931. 473 SAA 11 Lf 292, G.K ordžonikidze/reichsverband der Deutschen Industrie: Pressekommuniqué zu der Vereinbarung. Moskau 9.3.1931. 474 SAA 11 Lf 292, russlandausschuss der deutschen wirtschaft: Einladung an Köttgen zu einer Besprechung mit reichskanzler Brüning. Berlin 12.3.1931; SAA 11 Lf 292, russlandaus-
4 Zeitraum 1928–1933: Die „Blütejahre“ im Sowjetgeschäft?
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schon 1926 das finanzielle risiko der Unternehmen verringern sollte. Noch im März gab das Kabinett seine Zustimmung für eine siebzigprozentige Ausfallbürgschaft und ermöglichte damit die Unterzeichnung des ersten Pjatakov-Abkommens am 14. April 1931. Der deutsche Staat hatte somit erneut als Garant aufzutreten, um Stabilität und wachstum der deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen zu gewährleisten. Unterschrieben wurde das Abkommen von repräsentanten aus dem russlandausschuss, wozu auch Carl Köttgen zählte. wie die „Sowjetwirtschaft und Aussenhandel“ im Heft 23 des Jahres 1931 bemerkte, war das Abkommen deshalb so außergewöhnlich, weil es sich formal um kein zwischenstaatliches Abkommen handelte. Vielmehr wurde es vom sowjetischen Staat und der deutschen Privatwirtschaft abgeschlossen.475 Auch im zweiten Pjatakov-Abkommen vom Juni 1932, das Carl Köttgen wieder mit unterzeichnete, trat der russlandausschuss als transnationaler Akteur in den deutsch-sowjetischen Beziehungen auf.476 4.3 Siemens und die Großprojekte des ersten Fünfjahresplans Der erste Fünfjahresplan war ein gigantisches Investitionsprogramm in die industrielle Infrastruktur der Sowjetunion.477 Priorität hatte darin der Aufbau der Energieversorgung und die Entwicklung der Schwerindustrie in regionalen industriellen Zentren. So wurden Projekte wie Magnitogorsk im Ural, Kuzneck in Sibirien oder die Metall- und Aluminiumkombinate bei Zaporož‘e am unteren Dnepr zu Leitbildern des industriellen Aufbruchs der Sowjetunion. Die deutschen Unternehmer hatten während ihres Aufenthalts in der Sowjetunion im März 1931 Gelegenheit, einige dieser neuen Industriebetriebe in Moskau und Leningrad zu besichtigen. Nach den Aufzeichnungen Carl Köttgens zollten die Industriellen den sowjetischen Leistungen durchaus respekt: „Es läßt sich nicht leugnen, dass alle 17 deutschen Herren, die an der reise teilnahmen, überaus stark beeindruckt waren durch das grosse Ausmass des Fünfjahrplans und die Energie, mit der er von den leitenden Persönlichkeiten durchgeführt wird.“478 Im Folgenden wird ein Überblick über die Schwerpunkte des Geschäfts von Siemens im rahmen des ersten Fünfjahresplans gegeben, das sich vor allem auf die
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schuss der deutschen wirtschaft: Brief an Köttgen, im Anhang Protokoll der Sitzung des Vorstandes am 27.3.1931. Berlin 31.3.1931. Vgl. dazu auch den Kommentar in der „Sowjetwirtschaft und Aussenhandel“, wo das Abkommen nicht als zwischenstaatlicher Vertrag, sondern überschwänglich als eine „Vereinbarung zwischen den Industriellen beider Länder“ gepriesen wird: Sowjetwirtschaft und Aussenhandel 10 (1931), 23, S. 2. SAA 11 Lf 292, russlandausschuss der deutschen wirtschaft: rahmenlieferungsabkommen vom 15.6.1932 (an Carl Köttgen zur Unterschrift). Berlin 15.6.1932. Der Plan sah unter anderem eine Steigerung der rohstoffproduktion (wie Kohle, Eisenerz und Öl) um 350 Prozent bis 1931 vor. Im Bereich elektrotechnischer Güter sollte die Produktion gar um das beinahe Sechsfache gesteigert werden. Nove: An Economic History of the USSr (1992), S. 190f. SAA 11 Lf 292, Carl Köttgen: Brief an Clark H. Minor. Berlin 30.3.1931, S. 1.
218 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels Bereiche Industrieanlagen, transportwesen und Kraftwerksbau konzentrierte.479 Ein besonderes Projekt war der Entwurf von SBU für den Bau der Moskauer Metro. Industrieanlagen Der umfangreichste teil der Bestellungen aus dem ersten Fünfjahresplan entfiel auf den Bereich Industrieanlagen, den die Abteilung Industrie (AI) bearbeitete. Zu einem der größten Abnehmer von Siemens wurde das Hüttenwerk von Magnitogorsk im Ural. Dabei handelte es sich um ein werk des Ural-Kuzneck-Kombinats (Uralo-Kuzneckij Kombinat, UKK), das die Kohlevorkommen von Kuzneck (Kuzneckij Bassejn, abgekürzt: Kuzbass) im westlichen teil Sibiriens mit den Eisenerzvorkommen im Ural verband. Im ersten Fünfjahresplan war Magnitostroj (Magnito-Bau) ein Zentrum der schwerindustriellen Entwicklung, das auch propagandistisch mit großem Aufwand gefeiert wurde.480 Als größtes Hüttenwerk der Sowjetunion wurde es ein Symbol der sozialen Mobilisierung und des wirtschaftlichen Fortschritts. Sowohl beim Bau der Industrieanlagen als auch bei der Ausrüstung mit Maschinen war Magnitostroj weitgehend von ausländischen Fachleuten und von Importen abhängig.481 Auch SBU bewarb sich um eine Beteiligung an der Bauausführung. Sie verlor aber die Ausschreibung gegen das US-amerikanische Ingenieurbüro McKee, das in den USA einen hervorragenden ruf beim Bau großer Industrieanlagen hatte. SSw erhielt allerdings in großem Umfang Bestellungen für die maschinelle Ausrüstung von Magnitogorsk und Kuzneck. Allein die Aufträge für walzen- und Streifenstraßen hatten einen wert von über 350.000 Dollar und gehören zu den größten von Siemens gelieferten Industrieanlangen im Sowjetgeschäft.482 Darüber hinaus lieferte SSw umfangreiche elektrische Ausrüstung für den Kohletrust Donugol im Donecker Kohlebecken, darunter Zubehör für Kohlefördermaschinen, Lokomotiven und Bohrmaschinen.483 Ebenso wurden viele weitere sowjetische Industriebetriebe von SSw mit elektrotechnischen Anlagen ausgestattet.484 479 Vgl. im Folgenden auch die unternehmensinternen Übersichten über die Beteiligung von Siemens an Großprojekten im Sowjetgeschäft: SAA 10756, Ernst Eue: Chronik des tB ost. Berlin 1944, S. 22ff.; SAA 68 Li 141, SBU: Die wichtigsten von SBU in und für rußland abgewickelten Arbeiten 1923–1932. Siemensstadt September 1942; SAA 11 Lf 292, tB ost: Bericht über das Siemens-Geschäft mit der UdSSr. Siemensstadt Februar 1931; SAA 11754, SSw: Hervorhebenswerte SSw-Aufträge. Siemensstadt 1931. 480 Zu Magnitostroj ausführlich: Stephen Kotkin: Magnetic Mountain. Stalinism as a Civilization. Berkeley 1995. 481 Sutton: western technology and Soviet Economic Development 1930–1945 (1971), S. 74. 482 Vgl. dazu die Bestellungen: SAA 11 Lc 917, Berliner Handelsvertretung: Bestellung beim tB ost wegen Lieferungen für Ėlektroimport. Berlin 5.12.1932; SAA 11 Lc 917, Berliner Handelsvertretung: Bestellung der Krafttorg beim tB ost (elektrische Ausrüstung für zwei 315mm Streifenstrassen). Berlin 30.10.1932; SAA 11 Lc 917, Berliner Handelsvertretung: Bestellung der Krafttorg beim tB ost (elektrische Ausrüstung von einer 270mm walzenstrasse). Berlin 27.8.1932. 483 SAA 11 Lf 292, tB ost: Bericht über das Siemens-Geschäft mit der UdSSr. Siemensstadt Februar 1931, S. 6f. 484 Vgl. dazu die Übersicht in: SAA 10756, Ernst Eue: Chronik des tB ost. Berlin 1944, S. 24ff.
4 Zeitraum 1928–1933: Die „Blütejahre“ im Sowjetgeschäft?
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Abbildung 7: Kraftwerk von Zemo-Avchalsk Quelle: Siemens-Archiv A 397. Das Foto stammt aus dem Zeitraum 1924-1926. Das Kraftwerk liegt am Fluss Kura nördlich von tiflis.
Ein weiterer Großauftrag war der Neubau eines Ferromanganwerkes in Sestaphoni in Georgien, der von SBU und S&H gemeinsam ausgeführt wurde.485 Geplant war eine Jahresproduktion in Höhe von 50.000 tonnen mit Erweiterungsmöglichkeiten auf bis zu 150.000 tonnen, wodurch Sestaphoni zum größten Ferromanganwerk der Sowjetunion werden sollte. Den baulichen teil des Auftrags führte SBU durch, die Ausrüstung der Anlage übernahm S&H. Außerdem lieferte Siemens mehrere Elektroöfen an das Schmelzwerk in Čeljabinsk486 und das Stahlwerk in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) im südlichen Ural487 sowie das Aluminiumwerk in Zaporož‘e488. In den Auftragsmeldungen des tB ost sind ferner Lieferungen unter anderem an die Importgesellschaften Metalloimport und Chimimport sowie an die Kombinate Uralugol, Eletrotok und Jugostal aufgeführt.489 Nach einer Meldung in der SiemensZeitschrift rüstete das Unternehmen auch mehrere sowjetische textilbetriebe mit elektrischen Motoren aus.490
485 Siemens-Zeitschrift 12 (1932), 5, S. 174ff.; Vgl. ebenfalls den Beitrag in: Siemens-Zeitschrift 13 (1933), 7/8, S. 192ff. 486 Vgl. den Beitrag in: Siemens-Zeitschrift 10 (1930), 12, S. 650. 487 Vgl. den Beitrag in: Siemens-Zeitschrift 8 (1928), 3, S. 238. 488 Vgl. den Beitrag in: Siemens-Zeitschrift 12 (1932), 11, S. 407f. 489 Vgl. dazu die Auftragsmeldungen in SAA 4732. Siehe auch die Zusammenfassung: SAA 11754, SSw: Hervorhebenswerte SSw-Aufträge. Siemensstadt 1931. 490 Vgl. den Beitrag in: Siemens-Zeitschrift 7 (1927), 10, S. 703f.
220 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels Elektrizitätsversorgung: Siemens und der Kraftwerksbau Zweites großes Arbeitsgebiet von Siemens war der Kraftwerksbau. Für die drei großen Kraftwerke der Moskauer Elektrizitätsversorgung (Moskovskoe Ob‘edinenie Gosudarstvennych Ėlektričeskich Stancii, MoGĖS) Kašira, Šatura und Klasson sowie für das Moskauer Leitungsnetz verkaufte SSw Ausrüstung im Umfang von mehr als zwei Millionen Dollar.491 weiter lieferte SSw Ausrüstung für das Elektrizitätswerk in Nižnij Novgorod, die Šachtinskaja Stancija und Šterovka im Donbass-Gebiet sowie für das Kraftwerk Krasnyj oktjabr‘ in Leningrad. Außerdem war SBU am Bau des Kraftwerks Zemo-Avchalsk (georgisch Zemo-Avčaly) an der Kura bei tiflis beteiligt.492 Ein wichtiges Großprojekt des ersten Fünfjahresplans war Dneprostroj (DneprBau), das den Bau eines wasserkraftwerkes zwischen Dnepropetrovsk und Zaporož‘e am unteren Dnepr sowie mehrerer angeschlossener Industriekomplexe umfasste. Die Bauplanung begann 1926 auf Basis des GoĖLro-Programms. Bei seiner Fertigstellung 1932 war der nach Lenin benannte Staudamm der größte Europas und die turbinen der DneproGĖS (Dnepro-Gidro-Ėlektrostancija, Dneprwasserkraftwerk) lieferten Strom für die Entwicklung einer ganzen Industrieregion. wie auch Magnitostroj wurde Dneprostroj propagandistisch genutzt und als Sinnbild der sowjetischen Elektrifizierungspolitik aufgebaut.493 SBU bewarb sich 1927 um die Ausführung der Bauarbeiten am Staudamm. Dazu reichte das Unternehmen einen umfangreichen und detailliert ausgearbeiteten Projektentwurf ein, der wohl auch auf der Arbeit von Siemens-Ingenieuren vor ort basierte.494 SBU stand dabei in Konkurrenz zum Ingenieurbüro Cooper aus den USA, das über Erfahrung bei der Durchführung ähnlicher Großprojekte verfügte. Im Ergebnis entschlossen sich die sowjetischen Planer allerdings dazu, den Bau weitgehend ohne ausländische Hilfe auszuführen. wie rassweiler schreibt, war dieser Entschluss erstens in einer generellen Ablehnung begründet, ausländische Spezialisten an dem prestigeträchtigen Projekt zu beteiligen. Zweitens schienen weder SBU noch Cooper geneigt, für ein derartiges Großprojekt umfassende Garantien zu übernehmen: „[…], although both Cooper and the Siemens Bau Union firm estimated that they could do the job in four and a half years for one hundred million rubles, neither one would offer significant guarantees or accept any substantial penalty clause for delays or cost overruns.“495 491 Vgl.: SAA 11 Lf 292, tB ost: Bericht über das Siemens-Geschäft mit der UdSSr. Siemensstadt Februar 1931; sowie: SAA 11754, SSw: Hervorhebenswerte SSw-Aufträge. Siemensstadt 1931. Ebenfalls: Dietel: Die Versorgung der Stadt Moskau (1927). 492 SAA 9111, SBU: Liste von Aufträgen in den Jahren 1923–1932 in der UdSSr und im Baltikum 30.9.1942; SAA 9869, SBU: 40 Jahre SBU: Vortrag des Betriebsführers Enzweiler. Siemensstadt 9.1.1937. 493 Zu Dneprostroj siehe: rassweiler: the Generation of Power (1988). 494 SAA 35–26 Lf 629, SBU: Entwurf für die Baustelleneinrichtung Dneprostroj. Siemensstadt 1927. 495 rassweiler: the Generation of Power (1988), S. 62. Vgl. dazu auch die Mitteilung in: Die Volkswirtschaft der UdSSr 6 (1927), 3, S. 21ff.
4 Zeitraum 1928–1933: Die „Blütejahre“ im Sowjetgeschäft?
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Abbildung 8: Bau des Staudamms von Dneprostroj Quelle: EB III 269. Das Bild stammt aus einer Druckschrift von SBU.
Cooper erhielt einen Vertrag für die technische Beratung der Bauleitung, da sowjetische Ingenieure ein derartiges Großprojekt nicht ohne technische Expertise aus dem Ausland umsetzen konnten. Siemens wurde mit kleineren Aufträgen an der Bauausführung beteiligt. wie das Hauptkonzessionskomitee in einem Informationsschreiben mitteilte, schien es zweifelhaft, ob SBU das nötige Kapital für ein Großprojekt wie Dneprostroj aufbringen könne.496 Auch bei den Folgeaufträgen konnte Siemens nicht in dem Ausmaß profitieren, wie es im Unternehmen erwartet wurde. obwohl SSw umfangreiche Aufträge bei der technischen Ausrüstung des Kraftwerks sowie der anliegenden Industriekombinate erhielt, blieb der von Siemens wohl erwartete Hauptanteil an Aufträgen aus.497 Einen teil der Generatoren produzierte die Sowjetunion selbst im Generatorenwerk Ėlektrosila in Leningrad, das auch ehemalige SSw-Fabriken umfasste und seit 1931 technische Hilfe von Metropolitan Vickers erhielt.498 Bei der Ausschreibung der anderen Generatoren erhielt General Electric den Zuschlag. In einer internen Auflistung an Direktor reyß kommentierte SSw verwundert, dass General Electric trotz höherer Produktionskosten den Zuschlag für die Generatoren erhalten hatte. Im Unternehmen wurde konsterniert festgestellt, das US-Unternehmen habe 496 rGAĖ f. 5240, op. 18, d. 864, l. 25–31, Glavkonzesskom: Informationsschreiben Nr. 20. Moskau 26.10.1926. 497 Die Höhe eines Einzelauftrags der Abteilung Zentralen von SSw zur Lieferung von transformatoren und Ölschaltern wird mit 2,3 Millionen reichsmark angegeben. SAA 11754, SSw: Hervorhebenswerte SSw-Aufträge. Siemensstadt 1931. 498 Zum technischen Hilfsvertrag von Metropolitan Vickers vgl. Monkhouses Erinnerungen: Monkhouse: Moscow, 1911–1933 (1934), S. 194.
222 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels „etwa zu Material plus Lohn“499 verkauft. Dneprostroj wurde so zu einem weiteren Beispiel dafür, dass die kapitalstarken US-Unternehmen zu Bedingungen Aufträge annahmen, mit denen Siemens nicht konkurrieren konnte. Elektrifizierung des sowjetischen Eisenbahnnetzes: Das Suram-Projekt Dritter Kernbereich des Unternehmensgeschäfts in der Sowjetunion war die Elektrifizierung des Eisenbahnnetzes, an der sich Siemens im rahmen mehrerer Projekte beteiligte. Dies beinhaltete zum Beispiel die Elektrifizierung des Schienennetzes um Moskau.500 Ebenfalls war das Unternehmen Mitglied eines Firmenkonsortiums, das sich um den Bau der transpersischen Magistrale, einer Bahnverbindung vom europäischen teil der Sowjetunion nach Persien, bewarb.501 Eines der wichtigsten und technisch anspruchsvollsten sowjetischen Eisenbahnprojekte war die Elektrifizierung des Suram-Passes im Kaukasus, ein teilstück der strategisch wichtigen Verbindung zwischen dem Industriezentrum Baku am Kaspischen Meer und den georgischen Schwarzmeerhäfen Batumi und Poti. Zwei Gründe sprachen für eine Elektrifizierung dieser Strecke: Erstens sind Elektrolokomotiven leistungsfähiger als Diesel- oder Dampflokomotiven, was sich vor allem in gebirgigem terrain wie im Kaukasus vorteilhaft auswirkt. Zweitens bestand die Möglichkeit, die in der region vorhandenen wasserkräfte auszunutzen. Am 20. Juni 1929 erhielt die Abteilung Bahnen (AB) von SSw in Siemensstadt Besuch einer sowjetischen Kommission, die sich über die Entwicklung der SuramLinie beraten ließ.502 Die Abteilung war seit 1925 an der Ausarbeitung eines Elektrifizierungsplanes für das Projekt beteiligt und konnte den Besuchern deshalb einen detaillierten Entwurf vorstellen. Geplant war zunächst die Elektrifizierung eines teilstückes von 63,2 km, später eine Verlängerung bis nach tiflis mit einer Gesamtlänge von 190 km.503 Siemens stand unter hohem Zeitdruck, da von General Electric und Metropolitan Vickers ähnliche Entwürfe vorlagen und General Electric versichert hatte, alle Vorentwürfe für das Projekt würden kostenlos ausgearbeitet werden.504 Die Abteilung Bahnen reichte der Handelsvertretung Ende 1929 erste Voranschläge zur Aus499 SAA 11 Lf 140, reichelt: Preisvergleich zwischen SSw und General Electric wegen Generatoren für Dneprostroj. Siemensstadt 19.4.1929. 500 Vgl. dazu einen Hinweis in einem Artikel der Siemens-Zeitschrift über Signalwerke, in: Siemens-Zeitschrift 18 (1938), 8, S. 411ff. Siemens selbst produzierte zwar keine Lokomotiven, rüstete aber die Aufbauten anderer Hersteller elektrisch aus. So stattet Siemens Lokomotiven von Borsig aus, die an die Sowjetunion geliefert wurden. Vgl. dazu den Briefverkehr in SAA 3348. 501 rGAĖ f. 5240, op. 18, d. 2695, l. 317, Narkomtorg: Auskunft des Narkomtorg über die transpersische Eisenbahn. Moskau 11.9.1928. 502 Vgl. im Folgenden: SAA 3348, Abteilung Bahnen: Aktenvermerk zu einer Besprechung mit einer sowjetischen Kommission zur Bahn am Suram-Pass. Siemensstadt undatiert, vermutlich Ende 1929. 503 Sutton: western technology and Soviet Economic Development 1930–1945 (1971), S. 202. 504 SAA 3348, wPA: Bericht über amerikanische Projekte für die Elektrifizierung des Suram-
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rüstung von Lokomotiven und der Bahnstrecke ein, die teilweise in Zusammenarbeit mit BBC ausgearbeitet wurden.505 Im Ergebnis konnte Siemens zwar einen teil der Bahnstrecke ausrüsten. Der Hauptauftrag inklusive der Lieferung der Elektrolokomotiven ging jedoch vermutlich aufgrund preislicher Vorteile und besserer Lieferfristen an General Electric.506 SBU und die Projektierung der Moskauer Metro Der Bau der Moskauer Metro seit Anfang der 1930er Jahre war eines der prestigeträchtigsten Projekte des Frühstalinismus und wurde als Musterbeispiel des sozialistischen Aufbruchs mit großem propagandistischem Aufwand inszeniert.507 Die Planer konnten dabei auf frühere Ansätze aus der Zeit vor dem Ersten weltkrieg zurückgreifen, die eigentliche Konzeption der Metro begann Mitte der 1920er Jahre. Im Jahr 1926 erstellte SBU, die über große Erfahrung im Bau von Untergrundbahnen verfügte, einen ersten Planentwurf für die Stadt Moskau, der sich im wesentlichen an dem von Siemens maßgeblich beeinflussten Bau der Berliner Untergrundbahn orientierte.508 Allerdings wurde das Projekt zunächst nicht in den ersten Fünfjahresplan aufgenommen, da dieser sich vor allem auf die Entwicklung der Schwerindustrie konzentrierte. Die Projektierung und der Baubeginn der Metro verzögerten sich um mehrere Jahre und konkretisierten sich erst 1931. Im August 1931 wurde der bisherige Leiter von Dneprostroj Ingenieur P. P. rotert mit der Durchführung des U-Bahn-Projekts beauftragt. Sein Stellvertreter wurde K. S. Finkel‘, der in Deutschland studiert, von 1911 bis 1914 bei S&H in der Bahnabteilung und Mitte der 1920er Jahre als Leiter der Elektroabteilung in der Berliner Handelsvertretung gearbeitet hatte. Mit beiden begründete SBU nach Aussage von rudolf Briske, Leiter der Abteilung ost bei SBU, ein hervorragendes Arbeitsverhältnis.509
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Passes. Siemensstadt 28.12.1929; SAA 3348, wPA: Bericht aus dem ost-Express über Kaukasische Bahn und Suram-Pass. Siemensstadt 22.3.1929. SAA 3348, tB ost: Kostenanschlag Nr. 36857 für den Suram-Pass für die Handelsvertretung. Siemensstadt undatiert, vermutlich Ende 1929; SAA 3348, tB ost: Brief an Brown&Boveri bezüglich Suram-Bahn. Siemensstadt 30.11.1929; SAA 3348, Abteilung Bahnen: Kostenanschlag für 15 elektrische Güterzug- bzw. Personenzuglokomotiven für die transkaukasische Eisenbahn. Siemensstadt 25.11.1929. SAA 3348, restle: Brief an SSw bezüglich einer Besprechung über die Suram-Pass-Bahn. Moskau 27.1.1930. Vgl. dazu ausführlich: Dietmar Neutatz: Die Moskauer Metro. Von den ersten Plänen bis zur Grossbaustelle des Stalinismus (1897–1935) (Beiträge zur Geschichte osteuropas 33). Köln 2001. Einen Auszug bietet Neutatz in: Dietmar Neutatz: Von der Stadtduma ins Politbüro? Entscheidungsprozesse bei der Projektierung der Moskauer Untergrundbahn 1897–1935, in: Jahrbücher für Geschichte osteuropas 44 (1996), 3, S. 322–343. SAA 35–39 Lm 323, rudolf Briske: Bericht über das Gutachten der SBU zum Bau der U-Bahn Moskau für das Siemens-Archiv. Berlin 31.1.1959. SAA 35–39 Lm 323, rudolf Briske: Bericht über das Gutachten der SBU zum Bau der U-Bahn Moskau für das Siemens-Archiv. Berlin 31.1.1959, S. 2. Vgl. auch: Neutatz: Die Moskauer Metro (2001), S. 88.
224 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels Im September 1931 erhob der rat der Volkskommissare Metrostroj (MetroBau) zur leitenden Dachorganisation des Projekts und wies ihr den Status hoher Dringlichkeit (Udarnaja Strojka, Stoßbaustelle) zu. wenige wochen später stand SBU in Verhandlungen mit einer Kommission von Metrostroj unter Leitung von rotert zur Ausarbeitung eines neuen Gutachtens.510 Laut Briske erwartete das Unternehmen kaum, unmittelbaren Gewinn durch den Bauentwurf zu erwirtschaften. Vielmehr reizte die bauliche Herausforderung und wohl auch die Hoffnung auf Folgeaufträge bei der Ausstattung der Metro: „In diesem Sinne gab auch Dr. Ing. Carl Friedrich v. Siemens, der stets großes Interesse an der rußland-Betätigung der SBU bekundet hatte, seine Zustimmung.“511 Das von SBU in Zusammenarbeit mit Ingenieur Bousset im April 1932 eingereichte Gutachten basierte auf den 1926 durchgeführten Vorarbeiten.512 Außer bei SBU gab Metrostroj noch zwei weitere Gutachten bei einem britischen und einem französischen Ingenieurbüro in Auftrag, die sich in der geplanten Bauausführung stark unterschieden. SBU schlug die in Berlin angewandte Ausführung vor, die auf flachen tunneln entlang von Straßenläufen basierte. In den beiden anderen Entwürfen wurden jeweils tieftunnel vorgeschlagen, die sich an der Bauweise der Londoner und der Pariser Untergrundbahn orientierten. Die großen Vorteile des SBUEntwurfs lagen erstens in den relativ geringen Kosten und in einer schnelleren Bauweise, da die tunnel knapp unter der Straßenoberfläche verliefen. Zweitens konnte diese Flachbauweise auch in ungünstigen Bodenverhältnissen einfach durchgeführt werden. Der große Nachteil lag darin, dass während der Bauphase der Straßenverkehr empfindlich behindert werden würde. Zunächst legte sich Metrostroj unter dem Einfluss von rotert und dem mit der Berliner Bauweise vertrauten Finkel‘ auf den SBU-Entwurf fest und begann den Bau eines Versuchstunnels in Flachbauweise, der auf den Plänen von 1926 basierte.513 Nach einer intensiven Diskussion beschloss die politische Führung (auch Stalin war involviert) jedoch, die tiefbauweise anzuwenden. Der Planungsvorschlag der SBU wurde abgelehnt, auch wenn die Linienführung größtenteils beibehalten wurde. Vielmehr übernahm Metrostroj die Bauausführung im wesentlichen in eigener regie und reduzierte die Beteiligung ausländischer Unternehmen auf ein Minimum. In der Bauausführung zeigten sich genau diejenigen Probleme, vor denen SBU gewarnt hatte: wassereinbrüche, die Bodenverhältnisse und fehlendes Ingenieurwissen führten zu zahlreichen Unfällen auch mit todesfolge, die den Bau empfindlich beeinträchtigten. Die schnelle Bauzeit der ersten Metro-Linien (die erste Verbindung wurde im Mai 1935 eröffnet) war nur unter den für die stalinistische Industrialisierung charakteristischen opfern innerhalb der Arbeiterschaft möglich. 510 Vgl. dazu die Niederschrift einer Besprechung von SBU und SSw in der Berliner Handelsvertretung, an der auch der Vorsitzende des Moskauer Sowjets Sternberg teilnahm. SAA 11 Lf 292, SBU/Dust: Niederschrift einer Besprechung in der Handelsvertretung betreffend Untergrundbahn Moskau am 26.10.1931. Siemensstadt 27.10.1931. 511 SAA 35–39 Lm 323, rudolf Briske: Bericht über das Gutachten der SBU zum Bau der U-Bahn Moskau für das Siemens-Archiv. Berlin 31.1.1959, S. 4. 512 SAA 35–39 Lm 323, SBU: Gutachten zum Bau der U-Bahn Moskau. Berlin 30.4.1932. 513 Neutatz: Die Moskauer Metro (2001), S. 94ff.
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Abbildung 9: Planentwurf von SBU für Metrostroj Quelle: SAA 35-39 Lm 323. Die Zeichnung stammt aus dem Bericht rudolf Briskes über das Gutachten der SBU aus dem Jahr 1959. Die Streckenführung des SBU-Entwurfs weist deutliche Parallelen zur heutigen Streckenführung auf.
Für Siemens war es anfangs ein rätsel, warum der Entwurf der Flachtunnel trotz aller offensichtlichen Vorteile abgelehnt worden war. Die Möglichkeit, die tieftunnel als Luftschutzbunker zu nutzen, wurde bei der Erstellung des Entwurfs nicht berücksichtigt.514 Den, nach Meinung Briskes, Hauptgrund für die Bauweise mit tieftunneln erhielt Ingenieur Bousset erst Jahre später von Lord Ashfield, dem Leiter des öffentlichen Nahverkehrs in London, mitgeteilt. Dieser berichtete von großen Problemen beim Bau der Londoner U-Bahn im 19. Jahrhundert mit den privaten wohnungsbau- und Versorgungsgesellschaften. Eine Flachtunnelbauweise hätte zu langwierigen Verhandlungen über den Grunderwerb oder die Grundstücksnutzung mit diesen Gesellschaften geführt. Ashfield teilte dies dem Vorsitzenden des Moskauer Sowjets Boris Sternberg bei dessen Besuch in London 1931 mit.515 Sternbergs Antwort gibt Briske wie folgt wieder: 514 SAA 35–39 Lm 323, rudolf Briske: Bericht über das Gutachten der SBU zum Bau der U-Bahn Moskau für das Siemens-Archiv. Berlin 31.1.1959, S. 27. 515 Sternberg befand sich auf einer reise nach Deutschland und London, um dort verschiedene Methoden des U-Bahn-Baus zu studieren. Sowjetwirtschaft und Aussenhandel 10 (1931), 20, S. 47.
226 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels „Das ist großartig – Stalin verlangt die Fertigstellung der U-Bahn in 2 Jahren – baulich werden das unsere Ingenieure immer schaffen, aber unsere größten Sorgen sind die Verhandlungen mit den trusts, die für die Häuser und für die Versorgungsleistungen zuständig sind, und die nicht, wie einst in London, mit Geld abzufinden wären; wir sparen diese langwierigen Verhandlungen und bauen den tieftunnel!“516
Die Zuverlässigkeit von Briskes Aufzeichnungen mag zwar angezweifelt werden, da sich in der Studie von Neutatz kein entsprechender Verweis findet. Jedoch verdeutlicht das Beispiel Metrostroj die hohe Komplexität der Entscheidungsprozesse bei sowjetischen Großprojekten. wie auch Neutatz aufzeigt, stand die Planung der Moskauer Metro seit 1931 unter starker politischer Beobachtung und war Einflussfaktoren ausgeliefert, die weder mit einer ingenieurwissenschaftlichen noch einer wirtschaftlichen rationalität erklärbar waren. Vielmehr war die endgültige Entscheidung über die Bauweise der Metro das Ergebnis der Auseinandersetzung zwischen rivalisierenden Parteikadern und Ingenieursgruppen und hatte eine gewichtige machtpolitische Dimension.517 Für Siemens war die rationalität solcher internen Entscheidungsprozesse nicht nachvollziehbar. Infolge mehrerer Fehlschläge wurde die Bauplanung bereits 1933 revidiert und in wesentlichen Punkten wieder auf den Entwurf von SBU umgestellt. Das Unternehmen konnte davon jedoch nicht profitieren, da die Durchführung des Baus in sowjetischer Eigenregie verblieb. Nach der Ablehnung des Planungsentwurfs hatte Siemens allerdings die Möglichkeit, sich an der Ausstattung der Metro zu beteiligen. wie Neutatz schreibt, bot Siemens 1932 in der Hoffnung auf die Vergabe von Aufträgen an, einen waggon als Probeexemplar zu testzwecken nach Moskau zu schicken. Metrostroj kaufte schließlich aber keine waggons bei ausländischen Unternehmen, sondern ließ sie in eigenen Fabriken nach deren Mustern bauen. ob dabei Siemens-technik verwendet beziehungsweise kopiert wurde, geht aus den Quellen nicht hervor, kann allerdings vermutet werden.518 4.4 Institutionen der Konfliktlösung: Die Schiedsgerichte Im Zuge der starken Ausweitung des Sowjetgeschäfts deutscher Unternehmen erhöhte sich auch das Konfliktpotential enorm.519 Dem Schiedsverfahren als institutionalisierte Form der Konfliktlösung kam deshalb eine immer wichtigere Bedeutung zu. Schiedsverfahren als ein außergerichtlicher Mechanismus zur Beilegung vertraglicher Streitigkeiten sind vor allem im internationalen Handel eine wichtige
516 SAA 35–39 Lm 323, rudolf Briske: Bericht über das Gutachten der SBU zum Bau der U-Bahn Moskau für das Siemens-Archiv. Berlin 31.1.1959, S. 29. 517 Neutatz: Die Moskauer Metro (2001), S. 99ff. 518 Neutatz: Die Moskauer Metro (2001), S. 145. Zu sowjetischen Imitaten bei der Schienenausrüstung siehe: Sutton: western technology and Soviet Economic Development 1930–1945 (1971), S. 205. 519 Perrey: rußlandausschuß der Deutschen wirtschaft (1985), S. 70.
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Form der Konfliktlösung.520 Dies betrifft gerade wirtschaftliche Vereinbarungen, die zwischen Akteuren aus fundamental unterschiedlichen Gesellschafts- und rechtsordnungen abgeschlossen werden, wie in den deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen. Das Schlichtungsabkommen aus dem wirtschaftsvertrag vom 12. oktober 1925 hatte deshalb eine wichtige Funktion darin, Konflikte bei der Auslegung vertraglicher Vereinbarungen im Sowjetgeschäft zu formalisieren und eine regelgebundene Verbindlichkeit bei der Konfliktlösung herzustellen.521 Diese regelungen fanden auch in die Lieferbedingungen im Sowjetgeschäft Eingang. Allerdings zeigten sich trotz der vertraglichen Formalisierung zahlreiche Probleme in der praktischen Umsetzung der Schiedsverfahren. Maximilian Frese vom ZVEI fasst in seinen Erinnerungen die Eindrücke von den Schiedsgerichten im Sowjetgeschäft folgendermaßen zusammen: „Das Eigenartige dieser für das russische Geschäft geltenden Bedingungen lag darin, daß die ordentlichen Gerichte für alle entstandenen Streitigkeiten ausgeschaltet wurden. An ihre Stelle traten Schiedsgerichte, bestehend aus drei Schiedsrichtern, von denen je einer vom Besteller und vom Lieferanten benannt wurde. Die beiden Beisitzer hatten aus einer vorher mit den russen vereinbarten Liste den Vorsitzenden zu wählen. Zum Vorsitzenden wurde meist für die Elektroindustrie ein alter erfahrender Jurist […] benannt. Die Prozesse waren sehr interessant und gewährten, namentlich wenn Zeugenvernehmungen stattfanden, einen tiefen Einblick in das damalige russische wirtschaftsleben. Sie zogen sich unendlich lange, oft jahrelang hin, da die Prozessvertreter der russen jeweils erst Informationen aus russland, meist aus Moskau, einholen mußten.“522
Für Siemens sind zwei Fälle rekonstruierbar, in denen das Unternehmen in Schiedsgerichtsverfahren gegen die Berliner Handelsvertretung stand und die im Folgenden kurz skizziert werden. Die Auswertung im rahmen des institutionenökonomischen Ansatzes wird in teil III, Kapitel 3 vorgenommen. Schlichtungsverfahren 1: Ein Turbogenerator für das Kraftwerk Kašira Ein Großauftrag von Siemens war die Lieferung eines turbogenerators für das Kraftwerk Kašira bei Moskau. Die Bestellung wurde im Jahr 1927 von SSw angenommen, der Generator 1929 ausgeliefert und 1930 durch eigenes Personal in Kašira montiert. Am 20. November 1931 führte eine, nach Aussage des tB ost, durch einen „Fremdkörper verursachte mechanische Beschädigung“523 zum Ausfall des Generators, der sich im Januar 1932 nochmals wiederholte. Aufgrund des entstandenen Schadens wurden umfangreiche reparaturen notwendig, die Ingenieure von SSw Anfang 1932 ausführten. Ėlektroimport und Handelsvertretung machten 520 Vgl. dazu die Einträge zu Schiedsklausel und Schlichtung in: Gabler wirtschaftslexikon (2004), S. 2612, 2616. 521 Nach Glanz war das deutsch-sowjetische Schlichtungsabkommen von 1925 ein Novum im internationalen recht. Glanz: Deutsch-russisches Vertragswerk (1926), S. 149. 522 SAA 61 Lm 854, Maximilian Frese: Die Geschichte der Spitzenverbände der elektrotechnischen Industrie. ort unbekannt 1956, S. 81. 523 SAA 11 Lc 917, tB ost: Brief an Ėlektroimport wegen Schadensfall Kašira. Siemensstadt 4.2.1932.
228 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels die unzureichende Qualität des Generators für den Schaden verantwortlich. Siemens die unsachgemäße Behandlung durch das sowjetische Kraftwerkspersonal. Eine Einigung darüber, wer die reparaturkosten zu tragen hatte, konnte nicht erzielt werden, was zur Eröffnung eines Schiedsgerichtsverfahrens im Frühjahr 1932 führte. In ihrer Klageschrift an das Schiedsgericht Berlin vom 12. Mai 1932 forderte die Handelsvertretung Schadensersatz von SSw für die erforderlichen reparaturen.524 Es wurde auf die Garantieverpflichtung aus den Lieferbedingungen verwiesen und argumentiert, dass der Schaden im rahmen der Garantie von Siemens zu begleichen war. Die Berliner Handelsvertretung übernahm als rechtlicher Vertreter von MoGĖS, der Kašira unterstellt war, die Prozessführung. Zur Leitung des Schiedsgerichts in Berlin-Charlottenburg wurde der pensionierte Kammergerichtsrat Hauchecorne bestellt. Ihm waren die Schiedsrichter Max Kloss und Fritz Löwenthal beigeordnet. Am 21. Mai 1932 reichte SSw ihrerseits Klage gegen die Handelsvertretung ein, in der darauf verwiesen wurde, nur eine unsachgemäße Behandlung von sowjetischer Seite habe die Schäden verursachen können. Drei Argumente wurden von Ernst Ladwig aus der rechtsabteilung von Siemens angeführt: Erstens war der Generator erst ein Jahr nach Auslieferung in Kašira überhaupt montiert worden: „Die Maschinenteile lagen während dieser Zeit im Hof der Zentrale [Kašira] in verpacktem Zustande, jedoch nur geschützt durch Planen und teerpappe.“525 Angesichts der rauen witterung traten so vermutlich die ersten Schäden auf, da der rostschutz nicht auf eine Außenlagerung ausgelegt war. Zweitens wurden bei der reparatur an der Schadensstelle Fremdkörper entdeckt, die in der ursprünglichen Bauausführung von Siemens nicht vorhanden waren und die einen reibungslosen Betrieb des Generators verhinderten. Drittens bestätigten auch die Aussagen sowjetischer Ingenieure, dass kurz nach Betriebsbeginn ein Leck im Kühler auftrat und so Feuchtigkeit in den Generator eindrang. Zusammenfassend stellte die Klageschrift heraus, es seien nach der Montage „in der Beaufsichtigung, wartung und Bedienung des Generators schwerwiegende Fehler seitens des [sowjetischen] Personals gemacht worden“526. Eine Verantwortung von Siemens wurde abgelehnt und die Handelsvertretung dazu aufgefordert, die reparaturkosten selbst zu decken. Die umfangreichen Unterlagen des Schiedsverfahrens dokumentieren detailliert den Verlauf der Streitschlichtung.527 Beide Parteien erstellten zunächst umfangreiche technische Gutachten, in denen die Handelsvertretung auf die personelle Unterstützung von Ėlektroimport und MoGĖS zurückgreifen konnte. Siemens dagegen berief sich auf die Schadensberichte der eigenen Ingenieure, die zur Montage und reparatur nach Kašira entsandt worden waren. Schiedsrichter Kloss, Professor für Ingenieurwesen, hielt mit den Sachverständigen beider Parteien mehrere 524 SAA 11 Lc 917, Kurt Boenheim: Klageschrift in der Streitsache Kašira. Berlin 12.5.1932. 525 SAA 11 Lc 917, Ernst Ladwig: Brief an das Schiedsgericht Hauchecorne im Verfahren SSw gegen Handelsvertretung in der Streitsache Kašira. Siemensstadt 21.5.1932, S. 6. 526 SAA 11 Lc 917, Ernst Ladwig: Brief an das Schiedsgericht Hauchecorne im Verfahren SSw gegen Handelsvertretung in der Streitsache Kašira. Siemensstadt 21.5.1932, S. 3. 527 Vgl. dazu die Prozessdokumentation in SAA 11 Lc 917.
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Besprechungen ab, in denen die technischen Ursachen des Schadens geklärt werden sollten. Als teil des umfangreichen technischen Prüfungsverfahrens wurden weitere externe Experten hinzugezogen und in Berlin eine mit Kašira vergleichbare Anlage besucht. Kloss neigte in seinem Abschlussbericht der Meinung von Siemens zu und führte aus, die Beschädigung des Generators wäre wohl durch unsachgemäße Behandlung verursacht worden.528 Gleichzeitig wies er jedoch darauf hin, dass der genaue Vorgang nicht nachvollzogen werden konnte. Sämtliche Beweismittel aus Kašira wurden von der Handelsvertretung vorgelegt, eine anderweitige Überprüfung durch unabhängige Gutachter vor ort war nicht möglich. Der Bericht endet mit einer nachdrücklichen Aufforderung zu einem Vergleich, der kurze Zeit später am 13. August 1932 unter Vermittlung von Hauchecorne geschlossen wurde.529 Die SSw führte die wiederinstandsetzung des Generators aus und übernahm 50 Prozent der reparaturkosten. Die Verhandlungskosten des Schiedsgerichts wurden von beiden Parteien zu gleichen Anteilen getragen. Schlichtungsverfahren 2: Elektromotoren für Magnitostroj Zweites und ebenfalls sehr gut dokumentiertes Beispiel für die Funktionsweise der Schiedsverfahren ist eine Streitsache über die Lieferung von Industrieausrüstung für Magnitostroj. Im Jahr 1932 erhielt SSw im rahmen des zweiten Pjatakov-Abkommens von der Handelsvertretung einen umfangreichen Auftrag zur Lieferung von Elektromotoren für Hochöfen und Stahlwerke in Magnitogorsk.530 Der Gesamtwert der Bestellungen lag bei über 500.000 Dollar. Es handelte sich um einen der größten Aufträge von Siemens im Sowjetgeschäft. Einer der teilaufträge war die Bestellung von mehreren Elektromotoren für walzenstraßen, die SSw bis zum Sommer 1933 ausführte. Bei der Abnahme der Motoren durch Angehörige der Berliner Handelsvertretung fielen den sowjetischen Gutachtern technische Mängel auf, aufgrund derer die Annahme verweigert wurde. Nach längeren ergebnislosen Verhandlungen rief SSw schließlich im April 1934 ein Schiedsgericht an, um die Handelsvertretung zur Abnahme der Motoren und zu Entschädigungszahlungen für die zeitliche Verzögerung zu verpflichten.531 Den Vorsitz des Schiedsgerichts nahm erneut Hauchecorne ein. In mehreren Verhandlungen wurden umfangreiche technische Gutachten eingeholt. Sie führten zu keinen eindeutigen Ergebnissen, so dass am 10. Juli erneut 528 SAA 11 Lc 917, M. Kloss: Bericht über zwei Besprechungen in der Schiedsgerichtssache Kašira. Berlin 2.8.1932. 529 SAA 11 Lc 917, Hauchecorne: Protokoll der Sitzung des Schiedsgerichts im Fall Handelsvertretung gegen SSw in der Streitsache Kašira. Berlin 13.8.1932. 530 Vgl. die Bestellscheine wie in: SAA 11 Lc 917, Berliner Handelsvertretung: Bestellung der Krafttorg beim tB ost (elektrische Ausrüstung von einer 270mm walzenstrasse). Berlin 27.8.1932. 531 SAA 11 Lc 917, SSw: Brief an das Schiedsgericht Berlin wegen Klage gegen die Handelsvertretung über walzmotoren für Magnitostroj und tomski. Siemensstadt 19.4.1934.
230 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels ein Vergleich geschlossen wurde.532 Darin verpflichtete sich die Handelsvertretung zwar zur Abnahme der bisher beanstandeten walzmotoren und Zubehörteile, verknüpfte dies jedoch mit mehreren Bedingungen an Siemens. SSw musste erstens die kostenlose Lieferung mehrerer Ersatzteile und zweitens die Verlängerung der Garantiefrist um ein Jahr gewähren. Drittens sagte SSw zu, sowohl die Ersatzteile als auch alle verbliebenen waren aus dem ursprünglichen Auftrag innerhalb weniger wochen auszuliefern. Beide Parteien trugen die eigenen Prozesskosten selbst. Die Kosten des Schiedsgerichts wurden gleichmäßig geteilt.533 Rechtssicherheit durch Schiedsgerichte? In raphael Glanz‘ Kommentar zu den deutsch-sowjetischen Verträgen vom 12. oktober 1925 wird die außerordentlich wichtige Bedeutung des Schiedsabkommens hervorgehoben. Der Verfasser erwartete, dass dieser institutionalisierte Konfliktlösungsmechanismus dazu beitragen würde, die rechtliche Unsicherheit im Sowjetgeschäft abzubauen: „Aus diesen Gründen [gemeint sind die Unsicherheiten der sowjetischen rechtsprechung] ist es von großem Vorteil, daß für die deutschen wirtschaftskreise die Möglichkeit geschaffen und vertraglich festgelegt wird, alle zivilrechtlichen Streitigkeiten durch Schiedsgerichte erledigen zu lassen.“534
In der Praxis zeigten sich allerdings bald große Probleme bei der Durchführung von Schiedsgerichtsverfahren, wie an den Beispielen Kašira und Magnitostroj verdeutlicht wurde. Für die frühen 1930er Jahre kommt Sutton deshalb zu dem Schluss, dass die sowjetischen rechtsschutzabkommen kaum eine stabilisierende wirkung erzielten. Ebenfalls garantierten die Schiedsabkommen keinen Schutz von Verfügungsrechten, und so war zum Beispiel die Absicherung von Patenten in der Sowjetunion ein fast aussichtsloses Unterfangen. Für Siemens ist im gesamten Untersuchungszeitraum kein Fall überliefert, in dem das Unternehmen den Versuch unternahm, ein Patent in der Sowjetunion anzumelden. Suttons Fazit zu den institutionellen Mechanismen bei Herstellung und Durchsetzung von rechtsschutz fällt daher entsprechend negativ aus: „the basic problem facing these foreign equipment manufacturers and accounting for their anxiety was that no meaningful protection could be acquired against Soviet expropriation of industrial property. russian law offered no protection, and the expensive exercise of filing a foreign patent in the Soviet Union was a wasted time. on the other hand, western manufacturers needed protection, as equipment was being openly copied with no regard at all for property rights. Larger companies, such as General Electric and westinghouse, have made agreements concerning patented devices and probably the Soviets have lived by such agreements […]. It 532 SAA 11 Lc 917, Berliner Handelsvertretung/SSw: Vergleich im Schiedsgerichtsverfahren. Berlin 10.7.1934. 533 SAA 11 Lc 917, Berliner Handelsvertretung: Brief an das Schiedsgericht Hauchecorne mit Vergleich. Berlin 13.7.1934. 534 Glanz: Deutsch-russisches Vertragswerk (1926), S. 150.
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was the medium-sized manufacturers […] who suffered – they had no bargaining power, and this weakness was ruthlessly exploited by the Soviets.“535
Nicht die rechtlich formalisierten Mechanismen waren der Grund dafür, dass die Sowjetunion die Spielregeln beim Schutz von Verfügungsrechten befolgte, sondern allein das Gewicht von Großunternehmen, von deren Kooperation der sowjetische Industrialisierungsplan in hohem Maße abhängig war. Diese informelle bargaining power, die zumindest einige Großunternehmen bis zum Ende der 1920er Jahre etabliert hatten, verschob sich im Verlauf der weltwirtschaftskrise immer stärker zu Gunsten des sowjetischen Außenhandelsapparats. 4.5 weltwirtschaftskrise und eine Verschiebung von bargaining power Im Zuge der weltwirtschaftskrise war der sowjetische Außenhandelsapparat immer besser in der Lage, seinen Status als Großeinkäufer gegenüber den Lieferunternehmen auszunutzen.536 Besonders in den Bereichen Maschinenbau und Elektrotechnik wurde die Sowjetunion nach 1930 für kurze Zeit der weltgrößte Importeur von Investitionsgütern.537 Das zunehmende Gewicht der Sowjetunion als ein global wichtiger Auftraggeber sowie die wachsende Konkurrenz US-amerikanischer Unternehmen führten dazu, dass deutsche Firmen einen steigenden Verlust von bargaining power gegenüber dem sowjetischen Außenhandelsapparat hinnehmen mussten. Dies zeigte sich zum Beispiel an den Zahlungsbedingungen im Sowjetgeschäft. Zahlungsbedingungen bei Liefergeschäften: Die Umstellung auf Reichsmark Die ersten Liefergeschäfte zwischen Siemens und Sowjetrussland Anfang der 1920er Jahre wurden in reichsmark abgerechnet.538 Im Zuge der deutschen Inflation von 1923 setzte die Berliner Handelsvertretung aber eine Umstellung der Zahlungen auf Dollar durch, um währungsverlusten dadurch vorzubeugen. Mit Siemens und AEG schloss die Handelsvertretung am 25. April 1923 eine Vereinbarung ab, nach der alle Aufträge an die beiden Unternehmen künftig in Dollar abgerech-
535 Sutton: western technology and Soviet Economic Development 1930–1945 (1971), S. 311f. 536 Antizyklisch zur weltwirtschaftskrise, die sich in einem starken rückgang internationaler Handelsbeziehungen äußerte, erreichte die Sowjetunion zwischen 1930 und 1932 Höchstwerte bei Importen und Exporten. Flor: Die Sowjetunion im Zeichen der weltwirtschaftskrise (1995), S. 205ff. 537 Gert Meyer: Deutsch-sowjetischer wirtschaftsaustausch nach Abschluß des rapallo-Vertrags (1922–1933), in: Ulrike Hörster-Philipps/Norman Paech/Erich roßmann/Christoph Strässer (Hg.): rapallo – Modell für Europa? Friedliche Koexistenz und internationale Sicherheit heute (Kleine Bibliothek 433). Köln 1987, S. 198–217, hier 201. 538 Vgl. dazu den Überblick des tB ost: SAA 3867, tB ost: Dollar-währung im russland-Geschäft. Siemensstadt 1933.
232 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels net werden sollten.539 Die Abrechnung der Liefergeschäfte in Dollar wurde bis zum Beginn der 1930er Jahre beibehalten. Erst als in der weltwirtschaftskrise die sowjetischen Exporte in die USA und dadurch die Dollardevisen stark zurückgingen, forderte Pjatakov im Zuge der Nachverhandlungen zum Kreditabkommen von 1931 eine erneute rückkehr zur Abrechnung in reichsmark.540 Am 9. September 1931 fand dazu unter dem Vorsitz von reyß eine Besprechung der großen deutschen elektrotechnischen Unternehmen statt, an der AEG, BBC, Bergmann und Sachsenwerk teilnahmen. Eingangs verwies reyß darauf, dass es Carl Köttgen noch im August Pjatakov gegenüber strikt abgelehnt hatte, das Sowjetgeschäft von Siemens in reichsmark abzurechnen. Allerdings war die Einheit der deutschen Elektroindustrie mittlerweile von AEG durchbrochen worden, da das Unternehmen Ende August einen sowjetischen Auftrag in reichsmark angenommen hatte. Von den Anwesenden wurde beschlossen, reyß mit den weiteren diesbezüglichen Verhandlungen zwischen den Unternehmen und der reichsbank zu beauftragen. Am 14. September 1931 erklärte reyß gegenüber reichsbank-Direktor Fuchs die Position der Elektroindustrie wie folgt: „Ich erläuterte Herrn Dir. Fuchs den Devisenbedarf der deutschen Elektrotechnik im allgemeinen, führte aus, daß die elektrischen Großfirmen ihr gesamtes Auslandsgeschäft in fremder währung machen, um eben diese Devisen zu erhalten und erklärte, dass wir auch russland gegenüber seit der Inflationszeit keine Ausnahme gemacht haben. Von den russen Dollarwechsel zu bekommen, sei auch deswegen für uns wertvoll, da wir solche wechsel leichter als Markwechsel im Ausland finanziert bekämen. wir hätten in vergangenen Jahren einen Grossteil unserer russischen Dollar-wechsel in anderen Ländern diskontieren können und hofften, dazu auch später wieder in der Lage zu sein.“541
Gegenüber den Forderungen Pjatakovs nach einer Umstellung des Sowjetgeschäfts auf die Verrechnung in reichsmark verhielt sich Siemens daher weiter ablehnend. Im Zuge der Gespräche um eine Verlängerung des ersten Pjatakov-Abkommens zeigte sich jedoch, dass dem widerstand der deutschen Unternehmen in der währungsfrage enge Grenzen gesetzt waren. Die wirtschaftlichen Probleme vieler Unternehmen hatten mittlerweile ein Ausmaß erreicht, das ein Scheitern der Verhandlungen an der währungsfrage nicht erlaubte. Am 22. Dezember 1931 ging Siemens im rahmen eines deutsch-sowjetischen wirtschaftsprotokolls erstmals eine Vereinbarung ein, wonach für alle laufenden Aufträge 50 Prozent der wechsel in reichsmark einzulösen waren.542 Pjatakov zeigte sich mit diesem Ergebnis je539 SAA 11 Lg 89, SSw/AEG/Berliner Handelsvertretung: Protokoll der Konferenz am 25.4.1923. Berlin 25.04.1923. Vgl. auch den Überblick über die währungsverhandlungen in: SAA 3867, Joine Kissmann: Aktennotiz der Besprechung über währungsfragen im Siemenshaus. Berlin 28.6.1933. 540 SAA 4 Lf 685, Hermann reyß: Vertrauliche Aktennotiz über währungsfragen im russlandgeschäft. Siemensstadt 14.9.1931. Siehe dazu auch: Niemann: Die russengeschäfte in der Ära Brüning (1985), S. 171. Zur währungs- und Devisenpolitik der reichsregierung ausführlich: Michael Ebi: Export um jeden Preis. Die deutsche Exportförderung von 1932–1938 (Vierteljahrschrift für Sozial- und wirtschaftsgeschichte, Beiheft 174,2). Stuttgart 2004, S. 19ff. 541 SAA 4 Lf 685, Hermann reyß: Vertrauliche Aktennotiz über währungsfragen im russlandgeschäft. Siemensstadt 14.9.1931, S. 2. 542 SAA 11 Lg 89, S&H/SSw/Berliner Handelsvertretung: Vereinbarung über Akzepte. Berlin
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doch noch nicht zufrieden und forderte in der währungsfrage ein weiteres Entgegenkommen der deutschen Unternehmen. Angesichts dieses zunehmenden Drucks legten Köttgen und reyß in einem Brief an den neuen Handelsvertreter in Berlin Israel weicer die Position von Siemens folgendermaßen dar: „wir haben gestern unsere schon so oft angeführten Gründe wiederholt, die uns dazu zwingen, für die Bezahlung unserer Lieferungen an Sie einen teil in fremder Valuta zu erhalten. Nachdem wir bis Ende v. Js. alle Geschäfte mit Ihnen in eff. Dollars abschlossen, wünschten Sie seitdem einen immer grösseren teil in Mark zu zahlen. wir waren Ihnen in Anerkennung der Gründe, die Sie hierzu veranlassten, darin entgegengekommen und waren bereit, 50 % in eff. Dollars, 50 % in Dollars zahlbar auf Berlin in Mark anzunehmen und zwar auch für bereits abgeschlossene Geschäfte, was, wie Sie zugeben werden, ein grosses Entgegenkommen darstellte. Auch diese teilung haben wir in den letzten wochen noch zu Ihren Gunsten dahin geändert, dass wir für neue Geschäfte nur 40 % in eff. $ und 60 % auf $ in Berlin, zahlbar in Mark, anzunehmen bereit erklärten. wir sagten Ihnen gestern und wollen dies auch heute noch einmal wiederholen, dass dies das Äusserste ist, was wir in dieser richtung tun können […].“543
Zur Bereitschaft von Siemens, mit der Handelsvertretung weitere Gespräche über die Abrechnung in reichsmark zu führen, setzten Köttgen und reyß einen klaren rahmen: „wenn wir daher jetzt weitere Geschäfte mit Ihnen machen wollen, so dürfen die Bedingungen, die Sie uns dabei stellen nicht die Grenzen überschreiten, die für uns das Äusserste darstellen, was wir in der gegenwärtigen Lage tun können.“544
Noch im April 1932 teilte Köttgen dem Vorsitzenden des russlandausschusses Kraemer, der die Verhandlungen von Verbandsseite aus koordinierte, Folgendes mit: „Ich möchte keinesfalls, dass wir einen geringeren Prozentsatz als 40 % in Valuta erhalten und wäre Ihnen dankbar, wenn Sie dies auch bei Ihren Verhandlungen berücksichtigen würden.“545
Die weiteren Verhandlungsergebnisse in den kommenden Monaten zeigen allerdings deutlich, wie sich Siemens allmählich den sowjetischen Forderungen annäherte. Im März 1932 wurde die Abrechnung in reichsmark zunächst auf 60 Prozent und im April 1932 auf 65 Prozent angehoben.546 Eine abschließende Einigung erzielten reyß und Köttgen stellvertretend für die gesamte deutsche Elektroindustrie in einer Besprechung mit weicer am 28. Mai 1932.547 Darin wurde festgelegt, künftig 70 Prozent der Auftragssumme in reichsmark, sowie 30 Prozent nach wahl des Lieferanten in US-Dollar, britischen Pfund, holländischen Gulden, französischen Franc oder schweizer Franken auszustellen. Diese Vereinbarung bezog sich auch
543 544 545 546 547
23.12.1931. Zum deutsch-sowjetischen wirtschaftsprotokoll vom 22.12.1931 vgl. die Mitteilung in: Sowjetwirtschaft und Aussenhandel 11 (1932), 9, S. 2ff. SAA 3867, Carl Köttgen/Hermann reyß: Brief an weicer. Berlin 31.3.1932, S. 2. weicer war Nachfolger I. E. Ljubimovs und übernahm Anfang 1932 die Leitung der Handelsvertretung. SAA 3867, Carl Köttgen/Hermann reyß: Brief an weicer. Berlin 31.3.1932, S. 1. SAA 11 Lf 292, Carl Köttgen: Brief an Kraemer. Siemensstadt 7.4.1932, S. 3f. SAA 4 Lf 685, Verfasser unbekannt: Besprechung über russengeschäft. Berlin 18.4.1932. SAA 3867, Hermann reyß: Brief an die Berliner Handelsvertretung. Berlin 3.6.1932.
234 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels auf alle Aufträge an elektrotechnische Unternehmen aus dem zweiten PjatakovAbkommen vom 25. Juni 1932. Köttgens Ziel, mindestens 40 Prozent der Zahlungen in Devisen zu erhalten, wurde somit verfehlt. Vielmehr konnte Pjatakov in wesentlichen Punkten die sowjetischen Forderungen gegen die Interessen der deutschen Elektroindustrie durchsetzen. In einer von reyß geleiteten Besprechung des russlandausschusses am 10. oktober 1934 kam daher deutliche Kritik an den bestehenden Lieferbedingungen zur Sprache. Karl Lange, Direktor der wirtschaftsgruppe Maschinenbau, fasste diese folgendermaßen zusammen: „In immer stärkerem Masse hätten die russen angesichts der vielfach schwachen Stellung der deutschen Firmen bei Abschluss der Lieferverträge eine ständige Verschlechterung der Bedingungen erreicht. wenn auch grosse Lieferfirmen oder Firmen mit einer Monopolstellung für ihr Erzeugnis ihre wünsche hinsichtlich Gestaltung der Lieferbedingungen in gewissem Masse bei Abschluss von Verträgen durchsetzen konnten, hatte die Mehrzahl der am russlandgeschäft beteiligten Firmen einen schweren Stand […].“548
Das Beispiel zeigt, wie stark sich das Potential von Siemens und anderen deutschen Unternehmen in der weltwirtschaftskrise verringerte, eigene Interessen gegenüber dem sowjetischen Außenhandelsapparat erfolgreich zu vertreten. Besonders infolge der Konkurrenz aus den USA gerieten die deutschen elektrotechnischen Unternehmen unter einen immer stärker werdenden wettbewerbsdruck. Konkurrenz im Sowjetgeschäft: Die Unternehmen aus den USA Von Seiten der Berliner Handelsvertretung wurde nach Auslaufen des 300-Millionen-Kredits wiederholt auf die unzureichenden Finanzierungsmöglichkeiten hingewiesen und die deutschen Unternehmen aufgefordert, im Sowjetgeschäft bessere Kreditmöglichkeiten zu schaffen.549 Im Herbst 1929, als die ersten Großaufträge aus dem Fünfjahresplan vergeben wurden, hieß es in der Zeitschrift der Handelsvertretung dazu: „So sind auch die übrigen großen Aufträge der letzten Zeit bei bedeutend erweiterten Kreditfristen und bei Verbesserung der allgemeinen Bedingungen, und zwar seitens der führenden amerikanischen Firmen, [in den USA] untergebracht worden. In dieser Gestaltung der gegenseitigen wirtschaftlichen Beziehungen kommt sowohl die allgemeine tatsache zum Ausdruck, daß die amerikanische wirtschaft in energischer weise an das Problem der Exportförderung herangegangen ist, wie auch die besondere tatsache, daß das Interesse am Sowjetmarkt jenseits des ozeans ständig wächst und daß man bemüht ist, den Bedingungen des Sowjetmarktes rechnung zu tragen.“550
548 SAA 32 La 495, russlandausschuss der deutschen wirtschaft: Protokoll der Sitzung am 10.10.1934. Berlin 3.11.1934, S. 3. 549 Vgl. die Beiträge in: Die Volkswirtschaft der UdSSr 7 (1928), 20/21, S. 5 sowie 22, S. 11; Die Volkswirtschaft der UdSSr 8 (1929), 11/12, S. 6f., sowie Heft 17/18, S. 3, Heft 20, S. 20; Die Volkswirtschaft der UdSSr 9 (1930), 13, S. 11f. 550 Die Volkswirtschaft der UdSSr 8 (1929), 11/12, S. 7f.
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Diese Mitteilung war als unverhohlene Drohung an die deutsche Exportwirtschaft zu verstehen, die Finanzierungsbedingungen deutlich zu verbessern. Elektrounternehmen aus den USA wie besonders die Großunternehmen General Electric und westinghouse beteiligten sich bis zur Mitte der 1920er kaum am Sowjetgeschäft. Dies änderte sich erst mit dem Übergang zum ersten Fünfjahresplan, als sowjetische Großprojekte wie Dneprostroj und Magnitostroj in vielen Fällen nach Vorbildern in den USA konzipiert wurden und sich die beiden Unternehmen zu bedeutenden Lieferanten entwickelten. Die US-Unternehmen konnten dabei besonders ihre überlegene Kapitalstärke ausspielen. So schloss General Electric im oktober 1928 einen viel beachteten rahmenvertrag mit der sowjetischen Handelsvertretung in den USA ab, der eine Laufzeit von insgesamt sechs Jahren hatte und dem Unternehmen Aufträge in Höhe von 26 Millionen Dollar zusicherte. Die Zahlungsbedingungen zeigen klar den Vorteil des US-Unternehmens bei der Finanzierungsgeschäften. 25 Prozent der Auftragssumme war in bar zu zahlen, die restsumme wurde durch bis zu fünfjährige Kredite mit sehr günstigen Konditionen abgedeckt.551 Im Vergleich dazu hatten die Kredite von Siemens eine maximale Laufzeit von 24 Monaten.552 Siemens registrierte die Geschäftspolitik von General Electric aufmerksam und war sich der Gefahr einer zunehmenden Verlagerung sowjetischer Aufträge in die USA bewusst. reyß wies schon im November 1928 darauf hin, dass er in den Verhandlungen mit der Berliner Handelsvertretung „den G.E.-Vertrag oft zu hören“553 bekäme. Besonders aufgrund ihrer Bereitschaft, im Sowjetgeschäft langfristige Verträge mit umfangreichen Patentrechten und großzügigen Kreditbedingungen abzuschließen, konnten sich die US-Unternehmen in vielen Ausschreibungen von Großprojekten gegen ihre deutschen Konkurrenten durchsetzen.554 Dies zeigte sich zum Beispiel im Jahr 1930, als General Electric einen langfristigen technischen Hilfsvertrag abschloss. Dieser Vertrag beinhaltete unter anderem den Bau eines turbinenwerks in Char‘kov, das nach seiner Fertigstellung 1935 die weltweit größte Fabrik ihrer Art war. Ebenfalls im Jahr 1930 setzte sich die McKee Corporation aus Indiana gegen SSw in der Ausschreibung von Magnitostroj durch, die Bauausschreibung für Dneprostroj gewann das Ingenieurbüro Cooper und die turbinen des Kraftwerks lieferte General Electric. Auch bei weiteren Großaufträgen wie bei der Elektrifizierung des Suram-Passes wurde Siemens nicht den eigenen Erwartungen entsprechend berücksichtigt.555 551 Sutton: western technology and Soviet Economic Development 1917–1930 (1968), S. 198. Die Volkswirtschaft der UdSSr 7 (1928), 20/21, S. 5. 552 Vgl. dazu die Übersicht des tB ost über die Zahlungsbedingungen im Sowjetgeschäft von Siemens, General Electric und weiteren Firmen: SAA 11 Lf 292, tB ost: Bericht über das Siemens-Geschäft mit der UdSSr. Siemensstadt Februar 1931, S. 5f. 553 SAA 11 Lg 89, Hermann reyß: Brief an Dr. K. G. Frank betr. General Electric und russland. Siemensstadt 24.11.1928, S. 3. 554 wladimir Naleszkiewicz: technical Assistance of the American Enterprises to the Growth of the Soviet Union, 1929–1933, in: russian review 1966 (25), 1, S. 54–76. 555 Für weitere Beispiele siehe: Sutton: western technology and Soviet Economic Development 1930–1945 (1971), S. 74f.; Sutton: western technology and Soviet Economic Development 1917–1930 (1968), S. 203.
236 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels 4.6 Höhepunkt und Ende des weimarer Sowjetgeschäfts In der Forschung wird die Geschichte der deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen während der weltwirtschaftskrise weitgehend als eine Erfolgsgeschichte geschrieben.556 Die Investitionspolitik der Sowjetunion bot der deutschen Industrie demnach eine hervorragende Gelegenheit, die Auswirkungen der wirtschaftskrise zu mildern und zum Höhepunkt der weltwirtschaftskrise sicherten sowjetische Aufträge vielen deutschen Unternehmen das Überleben. Zwischen 1928 und 1933 erreichten die deutschen Exporte in die Sowjetunion sowohl in absoluten Zahlen als auch in ihrer prozentualen Bedeutung am gesamten Außenhandel ihren Höhepunkt. Aufgrund dieser Aufträge konnte auch das tB ost in der weltwirtschaftskrise seinen Personalbestand weitgehend halten, während im gesamten Unternehmen die Mitarbeiterzahl von 138.069 im Jahr 1929 auf 75.149 im Jahr 1932 zurückging.557 Bereits vor Abschluss des ersten Pjatakov-Abkommens bearbeitete das tB ost ca. 300 Anfragen auf Kostenvoranschläge im Monat. Seit 1928 verfügte das Unternehmen überdies über eine ständige Vertretung in Moskau.558 Dennoch ist für die Zeit der weltwirtschaftskrise festzustellen, dass der quantitative Umfang des Sowjetgeschäfts deutscher Unternehmen in hohem Maße von der Kreditfinanzierung und von staatlichen Ausfallbürgschaften abhing. Dies galt auch für Siemens. Der Ruf nach dem Staat: Ausfallbürgschaften in der Weltwirtschaftskrise Anfangs wurden die 1928 beginnenden deutsch-sowjetischen Gespräche über eine Neuauflage der Kreditgeschäfte von einer großen Skepsis seitens der deutschen Industrie begleitet. wie Perrey detailliert aufzeigt, waren die im rDI organisierten Unternehmen zunächst alles andere als von einer Neuauflage des 300-MillionenKredits angetan.559 Zu groß waren die bisherigen Probleme der Exportgeschäfte, zu unsicher die rechtslage und zu umständlich die sowjetische Bürokratie. Im Zentrum der vom rDI vorgetragenen Kritik stand die Institution des Außenhandelsmonopols, die aus Sicht der deutschen Unternehmen einem Ausbau der wirtschaftsbeziehungen entgegenstand. wie Hans Kraemer, Vorsitzender des Deutsch-russischen Ausschusses, in einer Besprechung mit Brockdorff-rantzau und Dirksen klar stellte, würde sich der rDI unter diesen Umständen nicht für eine Verlängerung des wirtschaftsabkommens von 1925 einsetzen. Eine Neuauflage des Großkredits von 1926 wurde so trotz der diesbezüglichen sowjetischen wünsche nicht erzielt. Vielmehr stellte der russlandausschuss noch im April 1930 fest, dass deutsche Banken und Unternehmen unter den gegebenen 556 Vgl. dazu den Forschungsüberblick in teil I, Kapitel 2.1. 557 Vgl. die tabelle zum Personalbestand des tB ost auf S. 180 sowie die Übersicht über die Mitarbeiterentwicklung in: Feldenkirchen: Siemens 1918–1945 (1995), S. 680. 558 SAA 11 Lf 292, tB ost: Bericht über das Siemens-Geschäft mit der UdSSr. Siemensstadt Februar 1931, S. 7. Zum Siemens-Büro in Moskau vgl. ausführlich S. 283. 559 Perrey: rußlandausschuß der Deutschen wirtschaft (1985), S. 70ff.
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Bedingungen nicht bereit wären, der Sowjetunion umfangreiche Kredite zur Importfinanzierung zu gewähren.560 Erst im Verlauf des Jahres 1930, als die Arbeitslosenzahlen im reich immer neue Höchststände erreichten, kam neue Bewegung in die Kreditverhandlungen. Ausgangspunkt dafür waren die Motive der regierung Brüning, die sowohl aus beschäftigungs- als auch aus reparationspolitischen Gründen einen Ausbau der deutschen Sowjetexporte befürwortete. Auf Seiten der Unternehmen wurde die zunehmende Einbindung der Politik in die deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen stark begrüßt. Aufgrund langer Zahlungsfristen galten die Kredite im Sowjetgeschäft als besonders risikoreich, weshalb viele Unternehmen trotz der wirtschaftskrise nicht willens oder nicht in der Lage waren, sowjetische Aufträge anzunehmen. Der „ruf nach dem Staat“561 zur Absicherung sowjetischer Aufträge wurde daher immer lauter, wie Perrey folgendermaßen erläutert: „In dieser Situation [gemeint ist die weltwirtschaftskrise] wurde die staatliche Hilfe zu einem entscheidenden Faktor. Das Grundmuster eines privatwirtschaftlichen Hilferufs sah deshalb immer gleich aus: Sowjetische Aufträge in beträchtlicher Höhe waren einem Unternehmen offeriert und nicht selten sogar fest vereinbart worden. Sie konnten die Entlassung großer teile der Belegschaft verhindern, wenn nicht sogar die baldige Stillegung des werkes. Um diese ‚russenaufträge‘ jedoch hereinzunehmen und abwickeln zu können, waren Bank- oder IFAGo-Finanzierung erforderlich. Die teilnahme am IFAGo-Verfahren oder die Kreditgewährung durch andere Banken waren in der regel von der Erteilung der staatlichen Ausfallgarantie abhängig […].“562
wie wichtig die Bürgschaften auch für Siemens waren, zeigen zahlreiche Eingaben des Unternehmens im reichswirtschaftsministerium, in denen sich Carl Köttgen über die unzureichende Berücksichtigung der Elektroindustrie an den Bürgschaften beschwerte. Im oktober 1931 hielt Köttgen Ministerialrat Moßdorf vom reichswirtschaftsministerium unter anderem vor, dass Siemens Aufträge in Höhe von sieben Millionen reichsmark angenommen hatte, die nun entgegen bestehender Absprachen nicht durch Bürgschaften gedeckt waren.563 Ein knappes halbes Jahr später unterstrich Köttgen erneut den Anspruch auf die angemessene Beteiligung der Elektroindustrie an den Bürgschaften, wie folgendes Zitat aus einem Bericht über seine Unterredung mit Hermann Bücher von AEG bei reichswirtschaftsminister Hermann warmbold zeigt: „Jede Firma, und auch die beiden grossen Elektrizitätsfirmen [Siemens und AEG], seien heute darauf angewiesen, auf Erhaltung des Betriebskapitals zu achten, und wir hätten deshalb ein grosses Interesse daran, dass bei der kommenden Finanzierung von russenwechseln auch an die Elektrotechnik gedacht würde.“564
Die beiden Pjatakov-Abkommen, die erst nach der Übernahme von Ausfallbürgschaften durch die reichsregierung abgeschlossen wurden, hatten einen großen 560 561 562 563 564
James: the reichsbank and Public Finance (1985), S. 311. Perrey: rußlandausschuß der Deutschen wirtschaft (1985), S. 66. Perrey: rußlandausschuß der Deutschen wirtschaft (1985), S. 138. Vgl. dazu: SAA 11 Lf 292, Carl Köttgen: Brief an Ludwig Kastl. Siemensstadt 26.10.1931. SAA 4 Lf 685, Carl Köttgen: Bericht über die Unterredung mit reichswirtschaftsminister warmbold. Siemensstadt 8.3.1932, S. 1.
238 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels Einfluss auf das Sowjetgeschäft von Siemens. Aus den Unterlagen des tB ost geht hervor, dass sich der Auftragseingang im Geschäftsjahr 1930/31 im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelte.565 Allein in den Monaten April bis August 1931 akquirierten SSw und S&H sowjetische Aufträge im wert von 30 Millionen reichsmark, was über fünf Prozent des Gesamtauftragseingangs des Unternehmens im Geschäftsjahr 1930/31 ausmachte. Im folgenden Geschäftsjahr 1931/32 stieg der Anteil des Umsatzes im Sowjetgeschäft am Gesamtumsatz von Siemens auf circa 6,5 Prozent.566 Die Finanzberichte des tB ost aus den Jahren 1931 bis 1933 zeigen, dass circa 50 Prozent der sowjetischen Aufträge durch Ausfallbürgschaften gedeckt waren.567 wie auch Köttgen in obigem Zitat gegenüber reichsminister warmbold ausführte, waren die Ausfallbürgschaften der reichsregierung während der weltwirtschaftskrise das tragende Element im Sowjetgeschäft von Siemens wie auch von zahlreichen anderen Unternehmen.568 Doch den stark ansteigenden Exporten infolge der beiden Pjatakov-Abkommen waren enge Grenzen gesetzt. Ein zentrales Problem war vor allem die zunehmende sowjetische Verschuldung. wegen rapide fallender Preise auf den internationalen rohstoffmärkten war der sowjetische Außenhandel kaum noch in der Lage, die Erfüllung der ambitionierten Importpläne aus dem ersten Fünfjahresplan ausreichend durch Exporte zu finanzieren. Zwar stiegen die sowjetischen Importe aus dem reich infolge der beiden Pjatakov-Abkommen stark an. Jedoch stagnierten die deutschen Importe aus der Sowjetunion auf niedrigem Niveau, was zu einer drastischen Vergrößerung des sowjetischen Handelsdefizits führte. Schließlich setzte die reichsregierung unter Brüning die Grenze sowjetischer Kreditverpflichtungen bei einer Milliarde reichsmark fest, über die hinaus keine staatlichen Ausfallgarantien mehr gewährt wurden.569 Die Berliner Handelsvertretung forderte deshalb schon seit Ende der 1920er Jahre eine stärkere Öffnung des deutschen Markts für sowjetische Exporte. In der Zeitschrift der Berliner Handelsvertretung finden sich allein für das Jahr 1931 fünf Artikel zu den deutschen Handelshemmnissen. Nachdrücklich wies auch Israel weicer in einem Brief an Köttgen vom Dezember 1932 auf das große sowjetische Handelsdefizit hin, das eine weitere Steigerung sowjetischer Bestellungen an deutsche Unternehmen verhindern würde.570 565 Zur Bedeutung der Bürgschaften für Siemens vgl. auch die jährlichen Übersichten des tB ost über das risiko im Sowjetgeschäft in SAA 11707. Darin wird der Anteil der Geschäfte ersichtlich, die durch eine Ausfallbürgschaft abgesichert waren. 566 SAA 4 Lf 685, Hermann reyß: Brief an Carl Friedrich von Siemens. Siemensstadt 4.9.1931. Vgl. die Umsatzzahlen in: Feldenkirchen: Siemens 1918–1945 (1995), S. 664. 567 Vgl. dazu die Berichte des tB ost an die Abteilungen ZV 1 und ZV 4 in SAA 11707; sowie die Übersicht von 1933: SAA 6876, SSw/S&H: Augenblickliches russland-Geschäft. Siemensstadt 1933. 568 Vgl. dazu ausführlich: Pohl: Die Finanzierung der russengeschäfte (1975), S. 29ff.; Pohl: Geschäft und Politik (1988), S. 88ff. 569 Perrey: rußlandausschuß der Deutschen wirtschaft (1985), S. 186. 570 SAA 11 Lf 292, Israel weicer: Brief an Köttgen wegen deutsch-sowjetischer wirtschaftsbeziehungen. Berlin 10.12.1932.
4 Zeitraum 1928–1933: Die „Blütejahre“ im Sowjetgeschäft?
239
Der russlandausschuss unterstützte eine Öffnung des deutschen Markts für sowjetische rohstoffe und Agrarprodukte in der begründeten Hoffnung, dadurch den Spielraum deutscher Exporte in die Sowjetunion weiter zu erhöhen. Allerdings sahen sich die Industrieunternehmen starken widerständen deutscher Agrarinteressen ausgesetzt, die vor allem in der DNVP organisiert waren und sich einer Ausweitung sowjetischer Agrarimporte entschieden widersetzten.571 Die regierung Brüning hatte noch in Ansätzen die Interessen der Exportwirtschaft vertreten und das Sowjetgeschäft gefördert, doch nach dem regierungswechsel im Mai 1932 blockierte der neue reichskanzler Franz von Papen im Sinne der Agrarlobby eine weitere Lockerung der deutschen Einfuhrbeschränkungen. Bereits vor der nationalsozialistischen Machtübernahme deutete sich somit ein Kurswechsel der deutschen Exportförderung im Sowjetgeschäft an. Nach Auslaufen des zweiten Pjatakov-Abkommens wurde das große Volumen deutscher Exporte in die Sowjetunion nicht mehr erreicht. Die, wie Perrey schreibt, „Blütejahre der deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen“ von 1931 und 1932 basierten im wesentlichen auf den von den Unternehmen hart erkämpften Maßnahmen staatlicher Exportförderung. Dieter Gessner kommt deshalb zu dem Schluss, dass das Potential der deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen während der weltwirtschaftskrise keineswegs ausgeschöpft wurde: „Damit gehört der Versuch einer Forcierung des deutsch-russischen Handels auch bei Berücksichtigung der tatsächlich erreichten Steigerung des warenaustausches zwischen beiden Ländern, gemessen an den volkswirtschaftlichen Möglichkeiten, zu den durch die innenpolitischen Prämissen der wirtschaftspolitik seit 1930 ‚blockierten Alternativen‘ der deutschen Politik dieser Jahre. Die rücksichten der Präsidialregierungen auf den deutschen Agrarprotektionismus und seine träger erscheinen deutlich als hemmender Faktor für ein erforderlich stärkeres Engagement im Sinne antiyzyklischer außenwirtschaftlicher Maßnahmen.“572
Parallel dazu vollzog sich im reich am 30. Januar 1933 mit der Ernennung Adolf Hitlers zum reichskanzler ein Machtwechsel, der zusätzlich zu allen wirtschaftlichen Einflussfaktoren auch große politische Konsequenzen für die deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen erwarten ließ. 1933: Eine fundamentale Krise im Sowjetgeschäft von Siemens? Die nationalsozialistische Machtübernahme wird in der Forschungsliteratur überwiegend als einschneidende Epochengrenze der deutsch-sowjetischen Beziehungen gewertet.573 Auch Botschafter Dirksen notierte als Zeitgenosse bei seinem Ab571 Bellers: Außenwirtschaftspolitik und politisches System (1988), S. 55ff. Zur Politik des russlandausschusses in der Agrarfrage: Perrey: rußlandausschuß der Deutschen wirtschaft (1985), S. 195ff. 572 Gessner: Agrardepression und Präsidialregierungen (1977), S. 78. 573 Exemplarisch dazu: Niemann: Die deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen (1991), S. 103; rosenfeld: Sowjetunion und Deutschland 1922–1933 (1984), S. 446ff.; Hildebrand: Das Deutsche reich und die Sowjetunion (1977), S. 39f.
240 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels schied aus Moskau 1933: „Das rapallo-Kapitel ist abgeschlossen.“574 Es stellt sich allerdings die Frage, wie sich die Veränderungen auf politischer Ebene auf die wirtschaftsbeziehungen auswirkten und ob es gerechtfertigt ist, das Jahr 1933 im Sowjetgeschäft von Siemens als fundamentalen Einschnitt beziehungsweise als eine institutionelle Krise zu interpretieren. wie im Folgenden ausgeführt wird, hatte die nationalsozialistische Machtübernahme zwar mittelfristig sehr große Konsequenzen für die deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen. Die Ursache für den unmittelbaren Einbruch sowjetischer Importe aus Deutschland war jedoch vor allem durch ökonomische Faktoren begründet. Hitler hatte schon vor 1933 seine rassisch unterlegte Lebensraumideologie und seine darin enthaltenen Expansionsziele gegen die Sowjetunion dargelegt.575 Es fällt jedoch auf, dass der Machtwechsel in Berlin kaum unmittelbare Konsequenzen für die deutsch-sowjetischen Beziehungen hatte. Vielmehr traf die neue reichsregierung bald Entscheidungen, die auf eine reibungslose Fortsetzung der bisherigen Politik schließen ließen. So äußerte sich Hitler in seiner regierungserklärung anlässlich des Ermächtigungsgesetzes am 23. März 1933 folgendermaßen: „Gegenüber der Sowjetunion ist die reichsregierung gewillt, freundschaftliche, für beide teile nutzbringende Beziehungen zu pflegen. Gerade die regierung der nationalen revolution sieht sich zu einer solchen positiven Politik gegenüber Sowjetrußland in der Lage. Der Kampf gegen den Kommunismus in Deutschland ist unsere innere Angelegenheit, in der wir Einmischung von außen niemals dulden werden. Die staatspolitischen Beziehungen zu anderen Mächten, mit denen uns gemeinsame Interessen verbinden, werden davon nicht berührt.“576
Bereits in den ersten wochen seiner regierungszeit ließ Hitler diesen Aussagen taten folgen. Am 25. Februar wurde als erste Maßnahme ein umfangreicher Überbrückungskredit in Höhe von 200 Millionen reichsmark gewährt, der der Sowjetunion einen größeren Spielraum bei der rückzahlung ihrer Schulden einräumte. Am 5. Mai 1933 folgte mit zweijähriger Verzögerung die ratifikation der Verlängerung des Berliner Vertrags von 1926; gleichzeitig wurde auch das Schiedsabkommen von 1929 verlängert.577 Hintergrund der deutschen Politik war die sowjetische Verschuldung, die mittlerweile mit einer Milliarde reichsmark große Ausmaße erreicht hatte. Die sichere rückzahlung der Kredite war ein wichtiger Grund für Hitler, zunächst einen deutsch-sowjetischen Ausgleich auf wirtschaftlicher Ebene zu suchen.
574 Zitiert in: Perrey: rußlandausschuß der Deutschen wirtschaft (1985), S. 222. 575 Ausführlich zu Hitler: Joachim Fest: Hitler. Eine Biographie. Frankfurt am Main 1973. Zu seiner Politik gegenüber der Sowjetunion besonders S. 305ff. Vgl. ebenfalls den Überblick in: Müller: Das tor zur weltmacht (1984), S. 246ff. 576 Zitiert in: Max Domarus: Hitler: reden und Proklamationen. Band I: triumph, erster Halbband 1932–1934. wiesbaden 1973, S. 236. 577 Pohl: Die Finanzierung der russengeschäfte (1975), S. 38ff. Zu den deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen nach 1933 vgl. im Folgenden auch: Karl Helmer: Der Handelsverkehr zwischen Deutschland und der UDSSr in den Jahren 1933–1941 (Berichte des osteuropa-Instituts an der Freien Universität Berlin 13, 3). Berlin 1954; sowie: Niemann: Die deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen (1991), S. 104ff.
4 Zeitraum 1928–1933: Die „Blütejahre“ im Sowjetgeschäft?
241
Doch trotz dieser positiven Botschaften seitens der reichsregierung liefen parallel erste Maßnahmen an, die die antisowjetische Grundausrichtung der neuen deutschen Politik klar verdeutlichen.578 Sowjetische Zeitungen im reich wurden verboten. Ferner kam es nach dem reichstagsbrand zu gewalttätigen Übergriffen gegen sowjetische Staatsangehörige sowie selbst gegen exterritoriale sowjetische Einrichtungen. Auch in der Außenpolitik zeichnete sich ein wandel ab. Seit rapallo hatte die gemeinsame Gegnerschaft gegenüber Polen das deutsch-sowjetische Verhältnis wie eine Klammer zusammengehalten. Die seit Herbst 1933 laufenden deutsch-polnischen Verhandlungen, die schließlich zum Nichtangriffsabkommen vom 26. Januar 1934 führten, zeigten der Sowjetunion mit letzter Deutlichkeit, dass sich die deutsche Außenpolitik an der Schwelle einer grundlegenden Neuausrichtung befand.579 Aus sowjetischer Perspektive war die Verlässlichkeit des seit rapallo bestehenden Zweckbündnisses mit dem Deutschen reich bereits seit Ende der 1920er Jahre mehrfach infrage gestellt worden.580 Hitlers Machtübernahme 1933 hatte für die Sowjetunion zur Folge, parallel zur japanischen Bedrohung in ostasien auch in Europa durch eine expansive Macht in ihren grundlegenden Sicherheitsinteressen bedroht zu sein. Unter dem Eindruck dieser sicherheitspolitischen Bedrohung trat die Sowjetunion schließlich im September 1934 dem Völkerbund bei, den sie bisher stark bekämpft hatte. Das Land, das sich vor nicht allzu langer Zeit dem revolutionsexport verschrieben hatte, avancierte damit endgültig von einer revolutionären zur einer stabilisierenden Macht.581 Auch in ihrer außenwirtschaftspolitischen Ausrichtung vollzog die Sowjetunion 1933 einen grundlegenden wandel. wie Dohan in seiner Analyse der sowjetischen Importpolitik nachweist, zeigten sich in der Spätphase des ersten Fünfjahresplans erste Anzeichen, die auf eine drastische Verfehlung der Planziele hindeuteten. 1930 kam es deshalb zu einer „Metallisierung“ der Importe zulasten von Konsumgütern, da die sowjetische Schwerindustrie weit davon entfernt war, die im Plan vorgesehen Ziele zu erreichen.582 Langfristiges Ziel der sowjetischen Importpolitik war es zwar durchaus, eine weitgehende Unabhängigkeit vom Ausland zu erreichen: „[t]he U.S.S.r. was importing, in the course of the Five Year Plan, tools to make tools.“583 Allerdings argumentiert Dohan, der starke rückgang des sowjetischen Außenhandels im zweiten Fünfjahresplan seit 1932 sei kein teil der ursprünglichen Strategie der sowjetischen Planer gewesen. Vielmehr zwang der Preisverfall auf den internationalen rohstoffmärkten infolge der weltwirtschaftskrise die Sowjetunion, die Industrialisierung weitgehend unter Verzicht auf externe Hilfe fortzuführen: „[…] the forces leading to the collapse of Soviet foreign trade 578 Niclauß: Die Sowjetunion und Hitlers Machtergreifung (1966), S. 101ff. 579 Müller: Das tor zur weltmacht (1984), S. 260. 580 Fischer: Sowjetische Außenpolitik in der weltwirtschaftskrise (1980), S. 81f.; Haslam: Soviet Foreign Policy (1983), S. 118ff. 581 Hildebrand: Das Deutsche reich und die Sowjetunion (1977), S. 38ff. 582 Dohan: the Economic origins of Soviet Autarky (1976), S. 118. Vgl. dazu auch Baykov: Soviet Foreign trade (1946), S. 60. 583 James: the reichsbank and Public Finance (1985), S. 314.
242 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels in 1931–34 were largely outside the control of the planners or were a distinctly unanticipated result of their policies.“584 Angesichts niedriger weltmarktpreise für rohstoffe und niedriger Steigerungsraten in der Produktion war es nicht möglich, die Industrialisierung des Landes durch den Investitionsgüterimport in geplanter Höhe durchzuführen. Vielmehr fielen die Exporterlöse seit 1931 so stark ab, dass die Importfinanzierung kaum mehr aufrechterhalten werden konnte. Die Politik der Importsubstitution, die ein prägendes Merkmal des zweiten Fünfjahresplans von 1933 bis 1937 wurde, basierte somit nicht auf einer geplanten Strategie. Sie war im Gegenteil in hohem Maße den außenwirtschaftlichen Zwängen infolge der weltwirtschaftskrise unterworfen. tabelle 8: Sowjetischer Außenhandel 1929–1933 in Millionen rubel Exporte
Importe
Saldo
1929
3219
3069
+150
1930
3611
3690
-79
1931
2827
3851
-1024
1932
2003
2453
-450
1933
1727
1213
+514
Quelle: Zusammengestellt aus den Zahlen des sowjetischen Außenhandelsministeriums: Ministerst vo Vnešnej torgovli SSSr: Vnešnjaja torgovlja SSSr za 1918–1940 gg. Statističeskij obzor, Moskau 1960.
welche Schlussfolgerungen lassen sich nun bezüglich der Frage ziehen, ob das Jahr 1933 eine Krise im Sowjetgeschäft von Siemens bedeutete? obige Überlegungen ergeben ein Bild, das den starken rückgang des deutschen Sowjetgeschäfts in zwei Faktoren begründet sieht. Erstens war auf deutscher Seite die öffentliche Exporthilfe für Unternehmen schon in der späten weimarer republik an die Grenzen dessen gestoßen, das politisch durchsetzbar war. Auch unter Hitler war eine Neuauflage der Ausfallbürgschaften nicht zu erwarten, da die deutsche Aufrüstungspolitik zunächst nur in geringem Maß auf eine außenwirtschaftliche Verflechtung mit der Sowjetunion setzte. Hitler strebte keine Verlängerung des deutsch-sowjetischen Bündnisses in der tradition von rapallo an. Die Verlängerung des Berliner Vertrags und der Abschluss einiger wirtschaftsabkommen dienten ausschließlich dem kurzfristigen Ziel, die innere Machtübernahme außenpolitisch abzusichern sowie die rückzahlung des riesigen sowjetischen Schuldenbergs zu gewährleisten. Mittelfristig basierte die nationalsozialistische Außenwirtschaftsstrategie weniger auf dem deutsch-sowjetischen Handel, als vielmehr auf einem Ausbau der Mitteleuropa-Pläne, die schon seit der regierung Brüning immer stärker vertreten wurden. In dieses Bild passt auch das abrupte Ende der militärischen Zusammenarbeit zwischen reichswehr und roter Armee unter Hitler, die seit 1921 eine der tragenden 584 Dohan: the Economic origins of Soviet Autarky (1976), S. 119.
Epilog: Die Abwicklung des weimarer Sowjetgeschäfts
243
Stützen der deutsch-sowjetischen Beziehungen war.585 Dies sollte sich erst im Hitler-Stalin-Pakt von 1939 ändern. Zweitens zeigt Dohans Analyse der sowjetischen Außenwirtschaftspolitik, dass eine Fortsetzung des Außenhandels mit dem Deutschen reich erwünscht und geplant, im rahmen der gegebenen ökonomischen und politischen Zwänge während der weltwirtschaftskrise aber kaum durchzuführen war. Die Importfinanzierung durch Kredite war an ihre Grenzen gestoßen und nicht mehr auf dem Niveau des ersten Fünfjahresplans aufrechtzuerhalten. Angesichts der sich abzeichnenden außenwirtschaftspolitischen Neuausrichtung des Deutschen reichs und der Sowjetunion ist es bemerkenswert, dass im Sowjetgeschäft von Siemens zumindest keine unmittelbaren fundamentalen Veränderungen festzustellen sind. Das tB ost blieb weiter als eigenständige Abteilung bestehen, wickelte die restlichen Aufträge aus den beiden Pjatakov-Abkommen ab und verzeichnete weiterhin, wenn auch äußerst geringe Auftragseingänge (vgl. die Statistik auf S. 158). Parallel dazu liefen mehrere Schiedsverfahren weiter, ohne dass ein Einfluss der veränderten politischen rahmenbedingungen erkennbar wäre. Zu recht konstatiert Perrey deshalb eine Kontinuität der deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen nach 1933, auch wenn diese nur „sehr oberflächlicher Art“586 war. Der 30. Januar 1933 beendete das weimarer Sowjetgeschäft von Siemens zumindest nicht unmittelbar. Es gibt zwar gute Gründe, das Jahr 1933 retrospektiv als das eigentliche Ende des weimarer Sowjetgeschäfts zu interpretieren. Doch dieser Bruch wurde von den Zeitgenossen im Unternehmen nicht wie die oktoberrevolution von 1917 als einschneidende fundamentale Krise wahrgenommen. EPILoG: DIE ABwICKLUNG DES wEIMArEr SowJEtGESCHÄFtS Im Unternehmen Siemens wurden zunächst keine strukturellen Konsequenzen aus dem rapiden Bedeutungsverlust des Sowjetgeschäfts nach 1933 gezogen. Abgesehen vom starken Personalabbau blieben die Unternehmensstrukturen erhalten und das tB ost wurde als organisationseinheit nicht aufgelöst. Ebenfalls bestand das Siemens-Büro in Moskau noch bis 1936 fort.587 Allerdings zeigten sich auch für Siemens die Auswirkungen der veränderten Importpolitik der Sowjetunion. Der Eingang sowjetischer Bestellungen sank schon im Geschäftsjahr 1932/33 stark ab, in den folgenden beiden Jahren brach er regelrecht ein. Die Ausführung bestehender Aufträge wurde noch abgeschlossen, aber der Auftragseingang betrug im Geschäftsjahr 1934/35 lediglich ein Prozent des werts von 1930/31. Schon im Frühjahr 1933 meldete das tB ost, das im Gegensatz zum Gesamtunternehmen während der weltwirtschaftskrise seinen Personalbestand weitgehend gehalten hatte,
585 Zeidler: reichswehr und rote Armee (1994), S. 302. 586 Perrey: rußlandausschuß der Deutschen wirtschaft (1985), S. 222. 587 SAA 10756, Ernst Eue: Chronik des tB ost. Berlin 1944, S. 8.
244 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels infolge des geringen Auftragseingangs könne „Personal zur Aushilfe an andere Abteilungen des Hauses“588 abgegeben werden. Ein wandel in der deutschen Außenwirtschaftspolitik zeichnete sich erst ab, als die ersten Engpässe der rohstoffversorgung der deutschen Industrie absehbar wurden. Sie führten Anfang 1934 zur Finanzierung eines neuen Kreditkonsortiums mit einem Volumen von 50 Millionen reichsmark durch die IFAGo.589 Am 9. April 1935 folgte ein Kreditabkommen in Höhe von 200 Millionen reichsmark mit einer Laufzeit von fünf Jahren, an dem auch das tB ost partizipieren und den Auftragseingang auf über zwei Millionen reichsmark erhöhen konnte.590 Die neuen Kreditabkommen hatten jedoch keine nachhaltige wirkung und im Geschäftsjahr 1937/38 fiel der Auftragseingang bei Siemens fast auf Null ab. Unter diesen Umständen stellte sich die Frage, ob eine weitere Finanzierung des tB ost, dessen Personalbestand bis 1939 auf nur 14 Mitarbeiter gesunken war, überhaupt noch gerechtfertigt werden konnte. In Anbetracht der drohenden endgültigen Auflösung sandte das tB ost im Januar 1939 eine ausführliche Begründung an Hermann reyß, die den wichtigen Stellenwert der Abteilung folgendermaßen darstellt: „wenn unsere Firma auf einen angemessenen Anteil an den Geschäften nach diesem grossen Lande nicht verzichten und in Erwartung einer wiederbelebung des deutsch-russischen warenaustausches die Beziehungen zu den infrage kommenden Stellen in der UdSSr aufrecht erhalten will, so ist hierzu eine Zentralstelle [im original unterstrichen] unbedingt erforderlich. Der geschäftliche Verkehr mit den russischen Behörden kann nicht von den einzelnen Gruppen der Verkehrsabteilungen [gemeint sind die Siemens-Vertriebsabteilungen] durchgeführt werden, erstens schon deshalb nicht, weil so eine einheitliche Praxis gegenüber dem einen, und zwar einem recht schwierigen Kunden, nicht möglich erscheint. Dazu kämen die sprachlichen Schwierigkeiten, die besonders dadurch zu tage treten, dass die Auftragsvergebungen nur noch direkt aus Moskau erfolgen und die Verhandlungen darüber in der Mehrzahl telefonisch und dann auch noch in russischer Sprache erfolgen. So ist auch im Schriftverkehr ohne die russische Sprache nicht auszukommen […]. Die kaufmännische Abwickelung der hereingenommenen Aufträge würde den Verkehrsabteilungen […] ebenfalls erhebliche Schwierigkeiten verursachen. Alle diese Arbeiten erfordern ein im russland-Geschäft bewandertes und eingearbeitetes Personal, es würde nicht möglich sein, ohne dass es dauernd zu Differenzen mit dem Kunden führte, das russische Geschäft in Form einer Nebenbeschäftigung seitens der Verkehrsabteilungen zu behandeln. wenn das aber nicht der Fall ist, so würde eine Verlagerung des russenGeschäfts nach den Verkehrsabteilungen auch keine Unkosten-Ersparnis mit sich bringen, eher würde das Gegenteil eintreten.“591
Dieser Bericht unterstreicht die besondere Stellung, die das Sowjetgeschäft im Unternehmen einnahm und die die drohende Schließung des tB ost auch verhinderte.
588 SAA 10707, tB ost: Personalabbau tB ost. Siemensstadt 18.5.1933. 589 Pohl: Die Finanzierung der russengeschäfte (1975), S. 41ff. Vgl. auch: SAA 7289, IFAGo: Geschäftsbericht 1934. Berlin 31.12.1934. 590 Vgl. dazu die kurze Übersicht in: SAA 10756, Ernst Eue: Chronik des tB ost. Berlin 1944, S. 12f. 591 SAA 10756, tB ost: Bericht an reyß über die geschäftliche Lage des tB ost. Siemensstadt 24.1.1939, S. 3f.
Epilog: Die Abwicklung des weimarer Sowjetgeschäfts
245
Infolge des Hitler-Stalin-Pakts erlebte das Sowjetgeschäft von Siemens zwischen 1939 und 1941 nochmals einen kurzen Aufschwung.592 Insgesamt wurden in diesem Zeitraum sowjetische Aufträge in Höhe von 35 Millionen reichsmark angenommen und das tB ost übernahm kurzzeitig die Koordination in einem auch quantitativ wieder bedeutenden Geschäftsbereich.593 Von den umfangreichen Aufträgen kamen jedoch nur circa zehn Prozent zur Ausführung, da der deutsche Angriff auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 die Lieferungen abrupt beendete. Aus der Chronik des tB ost geht hervor, dass Siemens dadurch große finanzielle Ausfälle hatte, die aber „in großzügiger weise“594 vom reich entschädigt wurden. Ende 1941 erhielt das tB ost die ersten Bestellungen von der wehrmacht, die vor allem die wiederherstellung der Infrastruktur in den besetzten Gebieten der Ukraine betrafen. Siemens baute innerhalb eines Jahres eigene Vertriebs- und Montagebüros in Kiev, Nikolajev, Stalino (das heutige Doneck) und Dnepropetrovsk auf, um die rasch steigenden Anfragen befriedigen zu können und beschäftigte bald circa 50 eigene Ingenieure in der Ukraine.595 Im Jahr 1943 hatte das Ukraine-Geschäft ein so umfangreiches Ausmaß angenommen, dass die lokalen Niederlassungen im August in der Siemens Ukraine GmbH zusammengefasst wurden.596 Unter den Aufträgen an Siemens befanden sich zahlreiche Großprojekte, die SBU ausführte, wie der wiederaufbau des wasserkraftwerks am Dnepr oder der wiederaufbau von Eisenbahnverbindungen. Als Bauherren werden in einer Übersicht von SBU fast ausschließlich die organisation todt und der Baustab Speer angegeben.597 Allerdings führte die militärische Lage bereits wenige Monate nach Gründung der Siemens Ukraine GmbH zu einer raschen Verkleinerung des Arbeitsgebiets. In der Nacht vom 15. auf den 16. Februar 1944 wurden die räumlichkeiten des tB ost in Berlin-Siemensstadt bei einem Fliegerangriff getroffen und im folgenden Brand die laufenden Geschäftsunterlagen weitgehend vernichtet. Die Abteilung wurde nach dem Brand nach Zwickau ausgelagert und von 48 Mitarbeitern lediglich 13 behalten. Am 13. November 1944 meldete das ausgelagerte Büro folgende Prognose für das neue Geschäftsjahr nach Siemensstadt: „Durch den Verlust unseres Arbeitsgebietes ist mit neuen Aufträgen vorläufig nicht zu rechnen. Unsere Hauptaufgabe im neuen Geschäftsjahr wird die Abwicklung der restlichen Aufträge sein.“598 592 Dazu ausführlich: Heinrich Schwendemann: Die wirtschaftliche Zusammenarbeit zwischen dem Deutschen reich und der Sowjetunion von 1939 bis 1941. Alternative zu Hitlers ostprogramm? (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa 31). Berlin 1993. 593 SAA 4 Lf 685, Hermann reyß: rundschreiben betr. Ausfuhr nach rußland. Siemensstadt 28.3.1940; siehe auch: SAA 4 Lf 685, Hermann reyß: Brief an von Buol. Im Anhang Liste über die werte des deutsch-russischen warenaustausches seit Kriegsbeginn und den Anteil der Siemens-Firmen. Siemensstadt 2.8.1940; SAA 10756, Ernst Eue: Chronik des tB ost. Berlin 1944, S. 27. 594 SAA 10756, Ernst Eue: Chronik des tB ost. Berlin 1944, S. 14. Eue verweist darauf, dass das reich eine Ausfallbürgschaft in Höhe von 100 Prozent für die Aufträge übernommen hatte. 595 SAA 10756, Ernst Eue: Chronik des tB ost. Berlin 1944, S. 15. 596 Vgl. dazu die Unterlagen in: SAA 11 Lo 552. 597 SAA 68 Li 141, SBU: Bauaufgaben von SBU während des russlandfeldzuges 1941–1944. 598 SAA 10756, tB ost: Mitteilung an reyß. Zwickau 13.11.1944.
246 teil II Das Sowjetgeschäft von Siemens als eine Geschichte institutionellen wandels Es handelt sich bei diesem Bericht um eine der letzten überlieferten Mitteilungen des tB ost vor Kriegsende. Seit dem 9. April 1945 war die Arbeit in Zwickau infolge ständiger Fliegeralarme so gut wie eingestellt, bis schließlich US-amerikanische truppen die Stadt am 17. April besetzten. Ein teil der Belegschaft des tB ost hatte die vergangenen Nächte gemeinsam im Luftschutzkeller des Büros verbracht und traf sich nach einer zweitägigen Ausgangssperre zu einer ersten Lagebesprechung. Der für den 23. April anberaumte Arbeitsbeginn musste jedoch aufgrund der Kälte in den unbeheizten räumen auf den Folgetag verschoben werden. Für den 24. April vermeldet der letzte Vorstand des tB ost Ernst Eue in seinen Aufzeichnungen trocken: „Vormittags den Bürobetrieb aufgenommen. Sonst sind besondere Ereignisse nicht zu verzeichnen.“599 Die verbliebene Belegschaft des tB ost zählte noch fünf Mitarbeiter. Einige tage zuvor, am 20. April 1945, war auch in Berlin-Siemensstadt der Betrieb eingestellt worden. Infolge der deutschen Kriegsniederlage geriet Siemens unter alliierte Kontrolle und das tB ost wurde im Zuge der reorganisation nach Kriegsende aufgelöst.
599 SAA 10727, Ernst Eue: Notiz über die Bürotätigkeit während der letzten 14 tage. Zwickau 24.4.1945, S. 3.
tEIL III SIEMENS IM SowJEtGESCHÄFt: EINE INStItUtIoNENANALYSE Das Ziel meiner Fallstudie ist es, anhand des Beispiels Siemens den Stellenwert wirtschaftlicher Interessen in den deutsch-sowjetischen Beziehungen zu bewerten. Im vorangegangenen teil habe ich den institutionellen wandel im Sowjetgeschäft von Siemens in einem chronologischen Überblick dargestellt. In den folgenden Kapiteln wird es darum gehen, diese Erkenntnisse konzeptionell zu bündeln und in das in teil I, Kapitel 4 entwickelte Modell institutionellen wandels zu integrieren. Ausgangspunkt der Analyse ist die Frage, wie sich ökonomische Akteure unter den Bedingungen einer fundamentalen Krise verhalten. Eine erste Antwort darauf findet sich in den theoretischen Überlegungen Douglass Norths zu ökonomischen wandlungsprozessen. North, der sich dabei auf neuere Ergebnisse aus der biologischen Evolutionsforschung und der Kognitionspsychologie beruft, sieht in der reduktion von Unsicherheit einen zentralen Antrieb menschlichen Handelns: „what is the deep underlying force driving the human endeavor – the source of the human intentionality that comes from consciousness? It is the ubiquitous effort of humans to render their environment intelligible – to reduce the uncertainties of that environment.“1
Da menschliches Handeln aber immer in seinen kulturellen Kontext eingebunden ist, können Unsicherheit beziehungsweise Sicherheit und Stabilität nie objektiviert werden, sondern sind an die subjektive wahrnehmung und Interpretation des Akteurs gebunden. Menschen bewerten North zufolge ihre Umwelt auf Basis internalisierter Normen und richten ihr Handeln entsprechend situativ an den gegebenen Umweltbedingungen aus. Auch Siegenthaler nimmt an, dass die unbewusste Suche nach Stabilität in der Natur menschlichen Handelns liegt: „Bei geringem regelvertrauen und hoher, durch keinerlei tauschakte reduzierbarer Unsicherheit neigen individuelle und kollektive Aktoren dazu, stabilitätsträchtige Prozesse zu begünstigen.“2 Ein Akteur, der unter den Bedingungen von Unsicherheit nach Stabilität sucht, tritt bei Siegenthaler zunächst in kommunikative Interaktion mit seinen Mitmenschen: „Ein individueller Aktor im Zustand vollkommener Ungewißheit darüber, in was für regeln der Selektion, der Klassifikation und der Interpretation von Informationen er noch Vertrauen setzen darf, führt ein Gespräch […]. Interaktive Kommunikation wird dabei selber zur gemeinsamen Erfahrung, die auch dann noch zu Gebote steht, wenn Menschen aus ganz unterschiedlichen welten zusammentreffen. weder übereinstimmende soziale Herkunft, gleichartige Lebenskarrieren und ähnliche Betroffenheit durch Ergebnisse wirtschaftlicher Entwicklung oder durch solche der Krise, noch gemeinsam verfügbare kognitive regelsysteme sind eine Voraussetzung für erfolgreiche interaktive Kommunikation […]. Diese Bedingungen sind wenig res1 2
North: Understanding the Process of Economic Change (2005), S. 4. Siegenthaler: regelvertrauen, Prosperität und Krisen (1993), S. 182.
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teil III Siemens im Sowjetgeschäft: Eine Institutionenanalyse triktiv, und eben dies, daß sie so wenig restriktiv sind, erklärt die oftmals so rätselhaft kunterbunte Vermischung von Menschen der unterschiedlichsten Herkunft in neu sich bildenden Kommunikationsgemeinschaften.“3
Bei Siegenthaler steht das „Gespräch“ am Beginn eines Prozesses, der zur Ausbildung neuen regelvertrauens und damit aus Krisen heraus zu neuer Stabilität führen kann. Akteuren unterstellt Siegenthaler dabei grundsätzlich ein nutzenmaximierendes Verhalten. Sie sind in ihrer Handlungsrationalität jedoch durch ihre kognitiven Fähigkeiten, ihre Sozialisation und ihre historischen Erfahrungen begrenzt, die als internalisierte Normen die Formulierung der individuellen Zielpräferenzen beeinflussen. Ich übertrage im Folgenden die Handlungsmodelle Douglass Norths und Hansjörg Siegenthalers auf das Sowjetgeschäft von Siemens. Ausgangspunkt ist die kommunikative Annäherung von Siemens an die Bol‘ševiki nach der oktoberrevolution und der Versuch, eine stabile institutionelle Grundlage für das Unternehmensgeschäft zu etablieren. Auf Basis des in teil I, Kapitel 4.2 vorgestellten methodischen Ansatzes gehe ich zunächst in Kapitel 1 der Frage nach, welche Diskussionen die individuellen Akteure im Unternehmen führten und welche Zielpräferenzen Siemens als kollektiver Akteur in den deutsch-sowjetischen Beziehungen entwickelte. Dies wird mit dem Begriff Unternehmenskultur erfasst. In Kapitel 2 werden anschließend die externen Netzwerke untersucht, die Siemens etablierte, um durch Kommunikation mit anderen Akteuren seine Zielpräferenzen in der Umwelt zu verfolgen. Die beiden folgenden Kapitel untersuchen die institutionellen wandlungsprozesse im Sowjetgeschäft von Siemens. Kapitel 3 geht dem wandel auf der Ebene sekundärer Institutionen nach. Es wird darin analysiert, inwieweit die Effizienz von transaktionskosten den wandel sekundärer Institutionen im Sowjetgeschäft erklären kann und über welchen Spielraum Siemens verfügte, seine institutionelle Umwelt aktiv zu gestalten. Abschließend behandelt Kapitel 4 die Frage, ob die wahrnehmung von institutioneller Effektivität den wandel fundamentaler Zielpräferenzen im Unternehmen Siemens beeinflusste und bis zu welchem Grad das Unternehmen institutionelle Stabilität im Sowjetgeschäft generieren konnte. 1 UNtErNEHMENSKULtUr: DIE ZIELPrÄFErENZEN VoN SIEMENS Institutionen schließen nach Siegenthaler internalisierte Normen ein, die in primärer Sozialisation erworben werden und sehr widerstandsfähig gegen äußere Einflüsse sein können. In seinen Betrachtungen zum menschlichen Verhalten stellt Siegenthaler die Frage, unter welchen Umständen ein Individuum seine internalisierten Normen überhaupt verändern kann und stellt dazu folgende these auf: „wie an anderer Stelle schon angedeutet, möchten wir vermuten, es werde solcher Zugriff
3
Siegenthaler: regelvertrauen, Prosperität und Krisen (1993), S. 183f.
1 Unternehmenskultur: Die Zielpräferenzen von Siemens
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genau in jenen Lebensphasen möglich, in denen fundamentales Lernen sich vollzieht.“4 Es stellt sich allerdings die Frage, wie aus den fundamentalen Zielpräferenzen individueller Akteure übergeordnete Zielpräferenzen kollektiver Akteure (wie Unternehmen) hervorgehen. Von Coleman stammt dazu ein Ansatz, der auf der empirischen Beobachtung von „Unternehmenshandlungen“ beruht: „the operational meaning of persons‘ subjective interests is as indicators of direction of action and level of motivation to act. Since subjective interests of persons (interests of the acting self) are operationally defined in this way, there is no insuperable barrier to using this concept for corporate actors. that is, although it is neither reasonable nor possible to specify the psychic state of a corporate actor, it is possible to determine its actions. the actions of a corporate actor are the actions of its agents, sometimes as implementation of corporate decisions and sometimes on the basis of their own decisions, using resources of the corporate actor.“5
Folgt man Colemans Argumentation, so lässt sich die Formulierung von Zielpräferenzen eines kollektiven Akteurs anhand der Handlungen seiner „Agenten“ nachvollziehen. Zu vermuten ist dabei einerseits, dass Führungskräfte in Entscheiderpositionen einen maßgeblichen Einfluss auf die Ausrichtung von Zielpräferenzen nehmen. Andererseits stellt ein Unternehmen einen raum dar, in dem auch Mitarbeiter unterer Hierarchieebenen zur Gestaltung einer gemeinsamen Identität beitragen und das Steuerungspotential des Managements begrenzen können. In dieser Perspektive bildete die Unternehmenskultur, verstanden als „Grundgesamtheit gemeinsamer wert- und Normvorstellungen sowie geteilter Denk- und Verhaltensmuster“ der organisationsmitglieder, den institutionellen rahmen, innerhalb dessen Siemens als kollektiver Akteur seine Zielpräferenzen im Sowjetgeschäft definierte (vgl. das Zitat auf S. 73). Ausgangspunkt meiner Analyse ist die institutionenökonomische Annahme des methodologischen Individualismus, wonach das Handeln des kollektiven Akteurs Siemens auf den Entscheidungen individueller Akteure basierte: Untersuchungsgegenstand sind somit diejenigen Siemens-Mitarbeiter, die in das Sowjetgeschäft involviert waren. Im ersten Schritt stelle ich die Biographien einiger ausgewählter Siemens-Mitarbeiter vor und analysiere deren Handlungsmotivation im Sowjetgeschäft im rahmen ihrer begrenzten rationalität. Es wird danach gefragt, wie sich persönliche Erfahrungen der Mitarbeiter auf ihre Einstellungen gegenüber dem Sowjetgeschäft und auf ihre individuellen Zielpräferenzen auswirkten. Einen Anspruch auf repräsentativität erhebt die Personenauswahl nicht. Es werden jedoch bestimmte Grundmuster in der Mitarbeiterstruktur von Siemens deutlich. Zweitens gehe ich der Frage nach, wie die Mitarbeiter innerhalb des Unternehmens interagierten. Hier werden die Prozesse der internen Unternehmenskommunikation vorgestellt und es wird aufgezeigt, welche formalen und informellen Strukturmuster sich dabei herausbildeten. Im dritten Schritt rekonstruiere ich die Ergebnisse des unternehmensinternen Kommunikationsprozesses und untersuche, welche Zielpräferenzen Siemens als kollektiver Akteur im Sowjetgeschäft ver4 5
Siegenthaler: regelvertrauen, Prosperität und Krisen (1993), S. 59f. Coleman: Foundations of Social theory (1990), S. 527.
250
teil III Siemens im Sowjetgeschäft: Eine Institutionenanalyse
folgte. Die operationalisierung dieses Konzepts von Unternehmenskultur ist in folgendem Schaubild dargestellt:
Schaubild 4: Unternehmenskultur von Siemens
Der rechteckige Kasten repräsentiert das Unternehmen Siemens als kollektiven Akteur in seiner Umwelt. Im Modell gehe ich davon aus, dass die Mitarbeiter durch Umweltbedingungen sowie durch ihre individuellen Erfahrungswerte geprägt waren (Kapitel 1.1). Als individuelle Akteure konstruierten sie durch Kommunikation formale und informelle organisationsstrukturen (Kapitel 1.2) und formulierten die Zielpräferenzen des Unternehmens als kollektiven Akteur (Kapitel 1.3). Diese Zielpräferenzen hatten erstens eine auf das Unternehmen bezogene steuernde und integrierende Funktion. Zweitens bildeten sie die Grundlage der Geschäftsstrategie, die das Unternehmen in seiner Umwelt verfolgte (siehe dazu das anschließende Kapitel zu den externen Netzwerken im Sowjetgeschäft). 1.1 Individuelle Akteure und begrenzte rationalität Durch die folgende Auswahl von vier Akteuren werden mehrere hierarchische Ebenen im Unternehmen erfasst. Carl Friedrich von Siemens war als Aufsichtsratsvorsitzender und oberhaupt der Familie die einflussreichste Persönlichkeit im Unternehmen. Die Fallstudie zu Hermann Görz repräsentiert das höhere Management. Mit robert Hellfors steht ferner die Biographie eines verdienten Siemens-Mitarbeiters aus dem Zarenreich zur Verfügung. Er steht stellvertretend für andere deutschstämmige Mitarbeiter, die zum Zeitpunkt der oktoberrevolution auf eine lange tä-
1 Unternehmenskultur: Die Zielpräferenzen von Siemens
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tigkeit bei den russischen tochtergesellschaften zurückblicken konnten. Als vierte und letzte Biographie repräsentiert robert Melchers den Quereinsteiger. Melchers hatte schon längere Zeit bei Siemens gearbeitet, allerdings in anderen Unternehmensbereichen. Er kam 1921 als Neuling zum Sowjetgeschäft und geriet dort schnell in Konflikt mit den bestehenden organisationsstrukturen. Die Beschreibung der Akteure beschränkt sich weitgehend auf den Zeitraum von 1917 bis zum Beginn der zwanziger Jahre und damit auf die formative Phase des Sowjetgeschäfts von Siemens. Für diesen Zeitraum lässt sich besonders deutlich zeigen, wie sich der individuelle Hintergrund der Akteure auf ihre Positionierung im Sowjetgeschäft auswirkte. wie die folgenden Beispiele verdeutlichen, war das Handeln der Siemens-Akteure mit ihrem jeweiligen persönlichen Erfahrungshorizont verknüpft und einer individuellen truly bounded rationality unterworfen. Carl Friedrich von Siemens: Der „Chef des Hauses Siemens“ Carl Friedrich von Siemens, 1872 als jüngster Sohn des Unternehmensgründers werner von Siemens geboren, übernahm 1919 den Aufsichtsratsvorsitz der beiden Stammgesellschaften S&H und SSw.6 Er galt bis zu seinem tod 1941 als „Chef des Hauses Siemens“ und führte das Unternehmen in einem benevolent-patriarchalischen Stil. Nach dem Ersten weltkrieg basierte die Unternehmensentwicklung maßgeblich auf Carl Friedrichs Führung. In das operative Geschäft mischte er sich allerdings nur selten ein, sondern ließ den Vorständen von S&H und SSw weitgehenden Gestaltungsfreiraum.7 Parallel zu seiner unternehmerischen tätigkeit engagierte sich Carl Friedrich politisch und nahm als wirtschaftsliberal eingestellter Industrieller für die Deutsche Demokratische Partei zwischen 1920 und 1924 einen Sitz im reichstag ein. Carl Friedrich beteiligte sich mehrfach und teils sehr engagiert an den unternehmensinternen Diskussionen über das Sowjetgeschäft. Dies überrascht zunächst, da es sich dabei in den ersten Jahren nach der oktoberrevolution um einen quantitativ vollkommen unbedeutenden Geschäftsbereich handelte. Auch fiel die Aufnahme deutsch-sowjetischer wirtschaftsbeziehungen in eine Zeit, in der das Unternehmen durch den Versailler Vertrag, politische Unruhen im reich und die währungskrise von 1923 mit elementaren Problemen konfrontiert war. Gerade in dieser schwierigen Übergangszeit beteiligte sich Carl Friedrich intensiv am unternehmensinternen Diskurs über das Sowjetgeschäft. Verschiedene Briefe, die teilnahme an Besprechungen sowie die Anteilnahme am Schicksal der ehemaligen russischen werke und Mitarbeiter belegen dieses rege Interesse. welche Position vertrat Carl Friedrich von Siemens im Sowjetgeschäft? 6
7
Zur Siemens-spezifischen Position des Vorstandsvorsitzenden als „Chef des Hauses“ vgl.: Feldenkirchen: Siemens 1918–1945 (1995), S. 526f. Zu Carl Friedrich von Siemens vgl. auch die Biographie von Georg Siemens, die jedoch – wie im titel angedeutet – stark wertend ist und auch ohne Quellenangaben auskommt: Georg Siemens: Carl Friedrich von Siemens. Ein grosser Unternehmer. Freiburg, München 1960. Goetzeler/Schoen: wilhelm und Carl Friedrich von Siemens (1986), S. 68.
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teil III Siemens im Sowjetgeschäft: Eine Institutionenanalyse
Abbildung 10: Carl Friedrich von Siemens Quelle: Siemens-Archiv A IV. Das Bild stammt aus dem Jahr 1924.
Vorangestellt sei ein kurzer rückblick auf das Jahr 1916. In einem Brief an den konservativen Publizisten Paul rohrbach erläuterte Carl Friedrich von Siemens ausführlich seine Position zur deutschen Kriegszielpolitik und bezeichnete darin russland in einer völkischen Perspektive folgendermaßen: „Ich muss Ihren Ausführungen, dass dem Deutschen reich wohl die grösste Gefahr in späteren Jahrzehnten von russland droht, durchaus beipflichten. Die größte Kraft eines Volkes liegt in seiner Vermehrung und darin ist rußland allen anderen Staaten bei weitem überlegen. […] Mir kommt dies vor wie eine Naturgewalt, die durch keine noch so hohe menschliche Kunst auf die Dauer eingedämmt werden kann.“8
Carl Friedrich lehnte allerdings im weiteren die territoriale Aufteilung des Zarenreichs nach dem erwarteten deutschen Sieg ab, da diese aus wirtschaftlichen Gründen für ein Exportunternehmen wie Siemens von Nachteil wäre. Vielmehr forderte er eine Unterordnung der deutschen Kriegszielpolitik in osteuropa unter ökonomische Gesichtspunkte: „wirtschaftlich ist es für Deutschland von dem wesentlichsten Interesse, dass uns das russische Absatzgebiet erhalten bleibt. Deutschlands Industrie ist doch nun mal zum grössten teil auf 8
SAA 4 Lf 514, Carl Friedrich von Siemens: Brief an Dr. Paul rohrbach. Siemensstadt 20.3.1916, S. 1. Zu Paul rohrbach vgl.: Horst Bieber: Paul rohrbach – Ein konservativer Publizist und Kritiker der weimarer republik (Dortmunder Beiträge zur Zeitungsforschung 16). München 1972.
1 Unternehmenskultur: Die Zielpräferenzen von Siemens
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den Export angewiesen, der durch die Folgen des Krieges […] eine bedeutende Erschwerung erleiden wird. wir haben also ein wesentliches Interesse, dass durch den Friedensschluss mit russland eine Erschwerung des wirtschaftlichen Verkehrs nicht stattfindet.“9
Auch nach der oktoberrevolution hielt Carl Friedrich die Meinung aufrecht, dass russland als Absatzmarkt der deutschen Exportindustrie potentiell eine wichtige Bedeutung zukommen könne. Allerdings war er zunächst sehr skeptisch, ob dies auch bei einem Sieg der Bol‘ševiki der Fall wäre. Im Juni 1918, als der deutsche ostimperialismus seinen Höhepunkt erreicht hatte, sah Carl Friedrich keine Möglichkeit, in naher Zukunft das russische Siemens-Geschäft wieder aufzubauen. während des Jahres 1918 richteten sich seine Anstrengungen deshalb darauf, zumindest eine finanzielle Entschädigung für die enteigneten russischen tochtergesellschaften zu erhalten (siehe dazu das Zitat auf S. 91). Der Ideologie der Bol‘ševiki stand Carl Friedrich äußerst ablehnend gegenüber. Angesichts der Stabilisierung des jungen Sowjetstaates nach Ende des russischen Bürgerkriegs erkannte er zwar das enorme Entwicklungspotential der sowjetrussischen wirtschaft und unterstützte den Neuaufbau des Sowjetgeschäfts von Siemens mit großem persönlichem Engagement. Seine moralische Beurteilung des Sozialismus blieb jedoch vernichtend. Im Jahr 1931, auf dem Höhepunkt der weltwirtschaftskrise, als die Aufträge des ersten Fünfjahresplans einen wichtigen Bestandteil des Unternehmensgeschäfts ausmachten, bezeichnete er die Planwirtschaft der Sowjetunion als „das Schlimmste […], was einem Volk passieren kann“10. Geschäfte mit den Bol‘ševiki waren in den Augen Carl Friedrichs primär von der wirtschaftlichen Notwendigkeit geprägt, den Auslandsabsatz von Siemens nach dem Ersten weltkrieg wieder aufzubauen und dabei das große Entwicklungspotential der Sowjetunion zu nutzen. Diese ökonomische rationalität im Sinne des wirtschaftlichen Erfolgs des Unternehmens zu handeln, überwog seine großen ideologischen Vorbehalte. Doch neben rein wirtschaftlichen Interessen liefert auch die Familiengeschichte einen möglichen Anhaltspunkt, warum sich Carl Friedrich so auffallend stark im Sowjetgeschäft engagierte. Sein Vater werner hatte das russlandgeschäft in den 1850er Jahren durch mehrere reisen nach St. Petersburg und in den Kaukasus persönlich begründet. Sein onkel Carl hatte es bis in die 1880er Jahre weiter ausgebaut und zwei weitere onkel (walter und otto) hatten mehrere Jahre die SiemensNiederlassung in Georgien geleitet. In werner von Siemens‘ Erinnerungen nimmt der Aufbau des Unternehmensgeschäfts im Zarenreich einen großen raum ein, der die Bedeutung der russischen Aufträge für das junge Unternehmen reflektiert.11 Carl Friedrich von Siemens war der tradition des Unternehmens und der Familie außerordentlich stark verpflichtet (zur Siemens-spezifischen Unternehmenskultur vgl. den Überblick in teil I, Kapitel 5). Diese persönliche Verbundenheit war mög9
SAA 4 Lf 514, Carl Friedrich von Siemens: Brief an Dr. Paul rohrbach. Siemensstadt 20.3.1916, S. 3f. 10 SAA 4 Lf 665, Carl Friedrich von Siemens: Vortrag in der Sitzung des Hauptausschusses des rDI. Berlin 19.6.1931, S. 9. 11 werner von Siemens: Lebenserinnerungen (2008), S. 177ff.
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licherweise ein weiterer Faktor, warum er sich trotz aller moralischer Ablehnung und ideologischer Vorbehalte so auffallend stark im Sowjetgeschäft engagierte. Hermann Görz: Ehemaliger Direktor der REW S&H Der Elektroingenieur Hermann Görz, geboren 1861 in Mainz als Sohn eines Notars, wechselte 1893 nach längerer tätigkeit für AEG zu Siemens und übernahm die Leitung der Filiale in St. Petersburg.12 Er trat dort an die Stelle des jüngsten Bruders aus der Gründergeneration, Carl von Siemens. Dieser hatte seit 1853 das Geschäft in russland unter großem persönlichem Einsatz aufgebaut und das Unternehmen als größtes elektrotechnisches Unternehmen im Zarenreich etabliert. Görz modernisierte die mittlerweile veraltete Fabrikation sowie die Verwaltungsstrukturen und richtete das Unternehmen auf diese weise auf den wachsenden wettbewerb in der russischen Elektroindustrie aus. Seit 1893 war er in den weiteren Kreis der Familie Siemens eingebunden, da seine Schwester Georg von Siemens (Direktor der Deutschen Bank und werner von Siemens‘ Neffe zweiten Grades) geheiratet hatte. 1908 verlegte Görz seinen ständigen wohnsitz nach Berlin, blieb aber weiterhin Direktor von rEw S&H und übernahm 1913 auch die Leitung von rSSw. Bei Kriegsausbruch 1914 meldete sich Görz zum Militärdienst und wurde zunächst als referent im militärischen Versorgungswesen eingesetzt. Zu diesem Zeitpunkt hatte er 21 Jahre lang die Entwicklung von rEw S&H dominiert und einen Großteil dieser Zeit in russland gelebt. Als 1918 die ersten Annäherungsversuche zwischen Siemens und den Bol‘ševiki begannen war Görz im Kriegsministerium tätig. Zu diesem Zeitpunkt nahm er keine offizielle Funktion im Unternehmen Siemens wahr. Umso bemerkenswerter ist, dass Görz seit seinen Gesprächen mit Krasin in Stockholm im Februar 1918 die Positionierung von Siemens in den deutsch-sowjetischen Beziehungen maßgeblich beeinflusste. Auch nach der Übernahme des Personalreferats von Siemens im Jahr 1919 hatte Görz keine direkte Funktion im Bereich Sowjetrussland. Sein Engagement bei der Entwicklung des Sowjetgeschäfts setzte er jedoch weiter fort. In der Erinnerungsschrift des Siemens-Archivs wird Görz als disziplinierter, selbstsicherer, bescheidener und gleichzeitig anspruchsvoller Mann charakterisiert.13 Er verhielt sich gegenüber den Mitarbeitern korrekt, bewahrte sich aber eine gewisse Zurückhaltung. was ihn auszeichnete waren sein Arbeitsethos, sein Verantwortungsbewusstsein gegenüber seinen Mitarbeitern, seine wertschätzung von Leistung und Qualität sowie seine Verbundenheit mit dem Unternehmen Siemens. Für Politik interessierte er sich kaum. Allerdings lässt sich aus seinen Aussagen ein gemäßigtes konservatives weltbild ableiten. welche Positionen vertrat Görz gegenüber dem sowjetischen russland? 12 Ausführliche biographische Angaben finden sich in einer Festschrift zu Ehren des 100. Geburtstags von Görz, die 1961 vom Siemens-Archiv herausgegeben wurde und zahlreiche Quellenverweise enthält: Siemens Archiv: Hermann Görz 1861–1930. Eine Erinnerungsschrift anlässlich seines 100. Geburtstages. München 1961. 13 Siemens Archiv: Hermann Görz (1961), S. 5.
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Abbildung 11: Hermann Görz Quelle: Siemens-Archiv EB III 266, undatiert.
Alle Informationen über die oktoberrevolution und den Bürgerkrieg ließen ihm die Bol‘ševiki in einem schlechten Licht erscheinen: Chaos statt ordnung, Niedergang statt Aufbau, willkür statt Verantwortung, orientierungslosigkeit statt Stabilität. Umso mehr überrascht es, dass sich Görz unter diesen Umständen eine bemerkenswerte Fähigkeit zur nüchternen Analyse der gesellschaftspolitischen Veränderungsprozesse in Sowjetrussland bewahrte. Pragmatisch warnte er im Mai 1920 in einem Brief an Karl Fehrmann davor, aus rein ideologischer Motivation heraus „grollend neben dem Sowjetwagen herzulaufen“14. Dies bedeutete nicht, dass Görz „dem Bolschewismus bezw. der Sowjetregierung irgendwelche Erleichterungen oder gar Unterstützung“15 gewähren wollte. Vielmehr wurde zum Maßstab seiner Analyse die Frage „was zu geschehen hat, wenn den Bolschewiki, wahrscheinlich in wesentlich modifizierter Form, eine längere Lebensdauer beschieden sein sollte“16. trotz aller ideologischen Vorbehalte entwickelte Görz deshalb frühzeitig eine pragmatische Haltung gegenüber den Bol‘ševiki und dem sowjetischen russland. Seine langjährige persönliche Erfahrung in russland sowie sein Pragmatismus in geschäftlichen Angelegenheiten waren ein Grund für diese überraschend offene 14 SAA 6397, Hermann Görz: Brief an Karl Fehrmann. Siemensstadt 12.5.1920, S. 1. 15 SAA 6397, Hermann Görz: Bericht an Prof. von Stein über die Unterredungen mit Krasin 1918 und 1920. Siemensstadt 21.7.1920, S. 7. 16 SAA 6397, Hermann Görz: Bericht an Prof. von Stein über die Unterredungen mit Krasin 1918 und 1920. Siemensstadt 21.7.1920, S. 7.
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Haltung. Sie reichen aber als Erklärungsmuster nicht aus. Beispielsweise konnte auch Karl Fehrmann auf eine lange tätigkeit für Hugo Stinnes in russland zurückblicken und stand gerade aufgrund seiner hervorragenden Landeskenntnisse dem sowjetischen Staat sehr negativ gegenüber.17 Görz gab folgende Begründung für seine besondere Haltung gegenüber den Bol‘ševiki: „Es ist etwas viel verlangt, wenn man Menschen und Verhältnissen, die von meinem Standpunkte aus gesehen, eine Lebensarbeit vernichtet haben, besondere Sympathie entgegenbringen soll. trotzdem ist meine Stellung der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung in russland gegenüber immer eine eigenartige gewesen, aus der tatsache heraus, dass ich insbesondere einen führenden Mann der neuen Bewegung, L. B. Krasin, seit Jahrzehnten kannte und ihn als langjährigen Mitarbeiter hoch schätzte.“18
Das russlandgeschäft war Görz‘ Lebenswerk. Der fundamentale institutionelle Bruch der oktoberrevolution bedeutete allerdings nicht, dass seine Einstellung im Sowjetgeschäft durch eine antikommunistische Handlungsrationalität einseitig geprägt wurde. Vielmehr ermöglichte ihm das besondere Verhältnis zu Krasin einen persönlichen Ansatzpunkt, auch nach der oktoberrevolution wege für die geschäftliche Zukunft von Siemens in den deutsch-sowjetischen Beziehungen zu finden. Unter diesen besonderen Vorzeichen wurde Görz zum Verfechter einer pragmatischen Unternehmensstrategie im Sowjetgeschäft. Robert Hellfors: Kaufmann bei REW S&H robert Hellfors wurde 1876 in St. Petersburg, wohl als Sohn finnischer Untertanen, geboren und trat 1898 als Kaufmann bei rEw S&H ein. Mehrere Jahre war er an verschiedenen Standorten im Zarenreich beschäftigt, bis er 1910 in die Unternehmenszentrale nach St. Petersburg versetzt wurde. Er erlebte die oktoberrevolution persönlich in der Hauptstadt und arbeitete auch nach 1917 zunächst weiter bei Siemens. Erst 1919 gelang ihm unter abenteuerlichen Umständen die Ausreise. Anfangs wurde Hellfors bei der finnischen SSw-tochter in Helsinki beschäftigt und im Juni 1921 beim tB ost in Siemensstadt als kaufmännischer Leiter übernommen. Die Zeit zwischen der oktoberrevolution 1917 und der Ausreise 1919 wurde zu einem prägenden Erlebnis für Hellfors. Ausführlich beschreibt er in seinen Aufzeichnungen die allgemeinen Lebensumstände in Petrograd, wie den Hunger, den Mangel an Heizmaterial, Krankheiten und seine eigene materielle Verelendung.19 Sein Unternehmen rEw S&H ging im Anschluss an das Nationalisierungsdekret im Petrograder Schwachstromtrust auf. Die frühere Betriebsleitung kämpfte um den Erhalt der Unternehmenssubstanz und wehrte sich gegen Diebstahl oder die Zerstörung von Maschinen. An einen geregelten Betrieb war aber nicht mehr zu 17 SAA 6397, Karl Fehrmann: Brief an Görz. Berlin 21.5.1920. 18 SAA 4 Lf 685, Hermann Görz: Bericht über Krasin. Siemensstadt 15.2.1923, S. 1. 19 SAA 4746, robert Hellfors: Bericht über die Verhältnisse in Petersburg wie sie bei meiner Abreise am 23. Mai 1919 bestanden. Berlin 30.6.1919.
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Abbildung 12: robert Hellfors Quelle: Siemens-Archiv A 10. Das Foto stammt aus dem Jahr 1928.
denken. Hellfors blieb nach der Verstaatlichung nur unter großen inneren widerständen weiter an seinem Arbeitsplatz: „widerlich war es zu arbeiten bei der Sowjetregierung. – Diese räuber und Mörder! – Mein ganzes Leben lang eifrig gearbeitet, geschuftet und nun lag vor mir der Untergang.“20 Hellfors‘ Ausreise aus Sowjetrussland erfolgte überstürzt, da er sich einer bevorstehenden Verhaftung entziehen musste. In der Nacht zum 23. Mai 1919 bestach er den rotarmisten mit wodka, der für seine Verhaftung abkommandiert war. Von Krasin erhielt er die nötigen Ausreisepapiere ausgestellt und verließ mit dem Morgenzug Petrograd in richtung Finnland. Seinen persönlichen Besitz musste Hellfors zurücklassen und an der finnischen Grenze noch eine lebensbedrohliche Situation überstehen, die er wie folgt kommentiert: „Unversöhnlicher Haß aber gegen Marxisten loderte in mir wie Feuer.“21 während seines zweijährigen Aufenthalts in Helsinki begann sich Hellfors politisch zu engagieren, denn er „wollte nützlich sein, wo [er] nur konnte, bei der Arbeit gegen den Bolschewismus“22. Dabei stellten ihn der Umzug nach Berlin und seine Anstellung beim tB ost vor große Probleme:
20 SAA 12 Ll 4, robert Hellfors: Lebensgeschichte. Berlin 1921, S. 161. 21 SAA 12 Ll 4, robert Hellfors: Lebensgeschichte. Berlin 1921, S. 165. 22 SAA 12 Ll 4, robert Hellfors: Lebensgeschichte. Berlin 1921, S. 170.
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teil III Siemens im Sowjetgeschäft: Eine Institutionenanalyse „In Deutschland aber, meiner Anstellung wegen, mußte ich die [politische] Arbeit aufgeben, denn ich war gezwungen, wieder [sic] meinen willen, mit der russischen Handelsvertretung zu arbeiten. Denn ich mußte doch meinen Lohn auf die Beine kriegen und zu meinem kläglichen Brot kommen. Ich konnte doch nicht bei der Firma sagen: ‚Nein, das tue ich nicht, in die Handelsvertretung gehe ich nicht‘, wo ich doch für das technische Büro ost engagiert wurde, also in eine Abteilung wo nur russische Angelegenheiten bearbeitet wurden.“23
Der Gegensatz zu Görz, der eine vollkommen andere Position im Sowjetgeschäft vertrat, ist bei Hellfors augenscheinlich. ob er für Siemens auch typisch war, könnte nur anhand vergleichbarer Biographien anderer Mitarbeiter festgestellt werden. Einen gewissen Aufschluss gibt allerdings die Personalpolitik von Siemens. Im ersten wirtschaftspolitischen Bericht der Abteilung ost von 1920 wurde vermerkt, dass bereits über 50 ehemalige Mitarbeiter aus russland bei S&H und SSw untergekommen waren.24 Ein Blick auf die Gehaltsliste des tB ost aus dem Jahr 1927 sowie eine Übersicht in Ernst Eues Chronik des tB ost zeigt neben robert Hellfors auch eine reihe bekannter Namen aus dem alten russlandgeschäft: Georg Berg, vormals bei rEw S&H, nach 1919 aus Petrograd emigriert; Georg Kandler, ehemals Prokurist bei rSSw; Edgar Schwartz, ehemals bei rEw S&H, 1918 aus Petrograd emigriert; Eduard Pollitz, Leiter des Moskauer Büros des tB ost und vormals bei rSSw in St. Petersburg.25 Im ersten Leitungsgremium des tB ost waren 1919 vertreten: otto von Have, vormals kaufmännischer Leiter der Berliner Abteilung; Ernst Bätge, vormals Leiter der Schwachstromabteilung in russland, 1918 aus Petrograd emigriert; Ingenieur Max Schneider, vormals bei rEw S&H in St. Petersburg und in der Berliner Abteilung. Alfred Schwartz kam nach seiner Emigration aus Petrograd 1922 zunächst ebenfalls im tB ost unter.26 Von keinem dieser Mitarbeiter sind ebenso umfangreiche autobiographische Aufzeichnungen wie von robert Hellfors überliefert. Ihre Biographien lassen jedoch auf einen vergleichbaren Erfahrungshintergrund mit ähnlichen Konsequenzen für ihre individuelle Handlungsrationalität schließen: Alle oben genannten Personen erlebten die oktoberrevolution sowie den Niedergang der russischen SiemensGesellschaften, für die sie zum teil seit Jahrzehnten tätig gewesen waren, persönlich mit. Es ist zu vermuten, dass Hellfors‘ Gewissenskonflikt unter den Mitarbeitern des tB ost kein Einzelfall war. Robert Melchers: Der ambitionierte Quereinsteiger Die Vergangenheit robert Melchers‘ im Unternehmen lässt sich nicht genau rekonstruieren. Laut eigener Aussage war er im Ersten weltkrieg vor allem im rüstungsgeschäft tätig und konnte nach Kriegsende bei der restabwicklung dieser Aufträge 23 SAA 12 Ll 4, robert Hellfors: Lebensgeschichte. Berlin 1921, S. 170. 24 SAA 527, Abteilung ost: Allgemeiner wirtschaftlicher Bericht Nr. 1 der Abteilung ost. Siemensstadt 1.3.1920, S. 10. 25 SAA 13 Le 374, tB ost: Personalliste. Siemensstadt 7.2.1927. 26 SAA 10756, Ernst Eue: Chronik des tB ost. Berlin 1944, S. 1, 18.
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Abbildung 13: Georg Berg, Eduard Pollitz und Edgar Schwartz vom tB ost Quelle: Siemens-Archiv A 10, von links nach rechts. Die Fotos stammen aus dem Jahr 1928.
„ausserordentliche Erfolge“27 für Siemens erzielen. Zum Sowjetgeschäft kam er erst im Jahr 1922, nachdem im Unternehmen längere Zeit nach einer angemessenen Position für ihn gesucht worden war.28 Als Leiter des russland-Büros wurde er zu einer Schlüsselfigur beim Aufbau institutionalisierter Beziehungen zur Berliner Handelsvertretung. Allerdings blieb Melchers dabei ein Außenseiter: Im Vergleich mit Görz oder mit den Mitarbeitern des tB ost konnte er keine eigenen Erfahrungen im russlandgeschäft vorweisen. Über seine Persönlichkeit gibt nur die stark subjektiv gefärbte Kommunikation zwischen Melchers, Carl Friedrich von Siemens und Hermann Görz Auskunft. Sie ist jedoch deshalb von Interesse, weil sie deutlich die komplexen Kommunikationsprozesse im Unternehmen und den Einfluss von Individualität innerhalb eines kollektiven Akteurs aufzeigt. Anhand dieser Aussagen wird nun die Stellung von Melchers im Sowjetgeschäft rekonstruiert. Carl Friedrich von Siemens schildert Melchers als verhältnismäßig jungen und zielstrebigen Manager mit großem Potential, den er persönlich förderte und ihm so eine Karriere im Unternehmen ermöglichte.29 Am 1. April 1922 übernahm Melchers die Leitung des russland-Büros und begann mit großer tatkraft die Ausarbeitung einer eigenen Strategie im Sowjetgeschäft. Sein im Dezember 1922 vorgelegter „Bericht über die Maßnahmen, die ergriffen werden müssen um einen Zusammenbruch unseres russischen wiederaufbaugeschäfts zu verhindern“ (vgl. S. 27 SAA 4 Lf 685, robert Melchers: Brief an Carl Friedrich von Siemens. Berlin 30.11.1923, S. 3. 28 SAA 4 Lf 685, Carl Friedrich von Siemens: Brief an Krell über Melchers. Siemensstadt 20.5.1921. 29 SAA 4 Lf 685, Carl Friedrich von Siemens: Brief an Melchers. Berlin 17.12.1923.
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155) war eine grundlegende Abrechnung mit der bisherigen Unternehmensstrategie. Melchers‘ Analyse begann mit der Einschätzung, Siemens müsse dringend große Anstrengungen unternehmen, um im wettbewerb mit anderen Unternehmen bestehen zu können. Konkret nannte er Konzessionsprojekte, für die sich zunehmend deutsche und internationale Unternehmen interessierten. Melchers forderte eine schnelle Beteiligung von Siemens an Konzessionen, da nur sie einen sicheren Ausbau des Sowjetgeschäfts gewährleisten würden. Die Probleme der operativen Geschäftspolitik waren für ihn nur ein Ergebnis tiefer liegender Ursachen. Er kritisierte die bisherige Praxis dahingehend, dass Siemens zu spät und nur unzureichend auf die Veränderungen in Sowjetrussland reagiert hatte. was Melchers forderte, war nichts weniger als eine vollständige Neuausrichtung der Unternehmensstrategie: „Die neuere Entwicklung der deutsch-russischen Beziehungen erfordert eine völlige Einstellung auf die Mentalität der in russland führenden Personen. Es muss daher in Zukunft alles unterlassen werden, das den russen auch nur einen vermeintlichen Anlass zu der Befürchtung geben könnte, in uns keinen loyalen Vertragsgegner zu finden. Hierzu gehört öffentlicher und geheimer Verkehr mit den Emigrantenkreisen, abfällige Kritik der Sowjets oder Sowjetvertreter und das Herausstellen von Persönlichkeiten, die den Sowjets gegenüber kompromittiert sind.“30
Melchers führte bald nach seinem Amtsantritt Kommunikations- und Verhandlungsmethoden im Sowjetgeschäft ein, die er offenbar aus seiner erfolgreichen tätigkeit in anderen Geschäftsbereichen kannte. Als Leiter der Abteilung ost nahm er sofort direkte und offensive Verhandlungen mit Stomonjakov auf, um den baldigen Abschluss eines Konzessionsabkommens zu erreichen. Melchers‘ Ziel sich auch persönlich zu profilieren, lässt sich darin deutlich erkennen. Sein Strategiepapier vom Dezember 1922 endet mit einer selbstbewussten Aufforderung an die Unternehmensleitung: „Zur Beteiligung am russischen wiederaufbaugeschäft und zum Aufbau einer organisation des sich eröffnenden Absatzgebiets ist der Erwerb einer Handelskonzession die unumgängliche Voraussetzung. Herr Melchers wird beauftragt, über die Bedingungen über den Erhalt einer solchen Handelskonzession für den Siemens-Konzern mit Herrn Stomoniakoff persönlich baldmöglichst zu verhandeln.“31
Persönlichkeit und strategische Konzeption Melchers‘ bedeuteten einen tiefen Bruch mit der bisherigen Ausrichtung des Sowjetgeschäfts. Dies provozierte viele widerstände – vor allem von Hermann Görz, der das bisherige Vorgehen von Siemens im Sowjetgeschäft maßgeblich verantwortet hatte. Melchers zeigte einen großen Ehrgeiz darin, seine früheren Erfolge im Unternehmen auch in der Abteilung ost fortzusetzen. Die Handlungsmotivation von 30 SAA 4 Lf 685, robert Melchers: Bericht über die Massnahmen, die ergriffen werden müssen um einen Zusammenbruch unseres russischen wiederaufbaugeschäftes zu verhindern. Siemensstadt 19.12.1922, S. 15f. 31 SAA 4 Lf 685, robert Melchers: Bericht über die Massnahmen, die ergriffen werden müssen um einen Zusammenbruch unseres russischen wiederaufbaugeschäftes zu verhindern. Siemensstadt 19.12.1922, S. 16.
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Melchers lag in seinen Karriereambitionen begründet. Persönliche Beziehungen mit Akteuren des sowjetischen Außenhandelsapparats oder eine besondere ideologisch motivierte Abneigungen gegen die Bol‘ševiki sind in den Quellen nicht erkennbar. Im Ergebnis war seine Geschäftspolitik desaströs: Melchers Kommunikations- und Geschäftsmethoden stießen im Unternehmen auf starken widerstand und der Boykott des Jahres 1923 ist auch auf ihn zurückzuführen. Sein Konflikt mit Görz wurde zu einer schweren Belastung für die Funktionsfähigkeit der organisationsstruktur im Sowjetgeschäft. Truly bounded rationality und individuelles Handeln im Unternehmen Die Analyse der mentalen Modelle der vier Siemens-Akteure verdeutlicht die Komplexität ihrer Handlungsrationalität. Die Handlungsmotivation wurde nicht nur durch die Erwartung eines ökonomischen Nutzens für das Unternehmen bestimmt, sondern durch die Präferenzen im rahmen der individuellen truly bounded rationality. Dabei zeigen sich teilweise große Unterschiede. Hellfors und vermutlich ein Großteil der ehemaligen Mitarbeiter von rEw S&H und rSSw waren durch die furchtbaren Erfahrungen aus der revolutionszeit gezeichnet. Der Aufbau des Sowjetgeschäfts bereitete ihnen Probleme, da ihr persönlicher Erfahrungshintergrund zu großen Vorbehalten gegen jegliche Kommunikation mit den Bol‘ševiki führte. robert Melchers dagegen kannte keine ideologische Hemmschwelle. Sein Ziel war eine offensive Ausrichtung der Unternehmensstrategie und die rasche Intensivierung des Sowjetgeschäfts – auch im Sinn seiner eigenen Karriere. Melchers führte dazu neue Methoden der Verhandlungsführung ein und ging daran, die unternehmensinternen Entscheidungsstrukturen grundlegend zu verändern. Zwar ist bei Carl Friedrich von Siemens und Hermann Görz festzustellen, dass bei beiden der wirtschaftliche Erfolg des Unternehmens eine wichtige Handlungsmotivation war. Dennoch wurde auch die zentrale rolle deutlich, die Einflussfaktoren wie das Familienerbe für Carl Friedrich von Siemens oder rEw S&H als das Lebenswerk von Görz spielten. Carl Friedrich von Siemens war primär der Entwicklung und der Zukunft des Gesamtkonzerns in der schwierigen transformationsphase nach dem Ersten weltkrieg verpflichtet. Gleichzeitig zeigte er ein starkes Bewusstsein für die besondere Aufbauleistung der vorangegangenen Siemens-Generation in russland und widmete sich dem Sowjetgeschäft auch in Detailfragen mit einer besonderen Aufmerksamkeit. Ebenfalls ist Hermann Görz‘ persönliches Interesse für seine Lebensarbeit als sehr hoch einzuschätzen. Görz entwickelte eine große Energie darin, die Zukunftsperspektiven von Siemens im Sowjetgeschäft neu auszurichten. Seine persönliche Beziehung zu Krasin spielte hier eine tragende rolle. Ausgehend von dieser Analyse der truly bounded rationality individueller Siemens-Mitarbeiter untersuche ich im Folgenden, wie sich das Zusammenspiel der Akteure bei der Konstruktion einer Unternehmenskultur im Sowjetgeschäft gestaltete.
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1.2 Formale und informelle organisationsstrukturen Nach Anne Nieberding und Clemens wischermann drückt sich Unternehmenskultur in Kommunikationsakten, -ritualen, -praktiken und -strategien immer wieder neu aus.32 Durch Kommunikation schufen die Akteure im Unternehmen Siemens einen strukturellen rahmen, der nun in seiner formalen und informellen Dimension rekonstruiert wird. Formale Strukturen: Das TB Ost Mit der Gründung der Abteilung ZV 11 im Mai 1918 etablierte Siemens nach der oktoberrevolution eine feste organisationsstruktur. Sie sollte in der tradition der früheren Berliner Abteilung das Geschäft mit dem ehemaligen Zarenreich und vor allem mit der Ukraine übernehmen (vgl. teil II, Kapitel 1.6). In einer ersten reorganisation wurde das Sowjetgeschäft im September 1919 dem Aufgabenbereich der Abteilung ZV 3br übertragen, die der Zentralabteilung ZV 3b für die ausländischen Siemens-Geschäftsstellen unter Leitung von Hermann reyß unterstand. Nur zwei Monate später ging im November 1919 die ZV 3br in der neu gegründeten Abteilung ost auf. Diese wurde 1921 in tB ost umbenannt.33 Der erste Vorstand des tB ost bestand aus Georg Kandler, Joine Kissmann und Hugo Schwichtenberg. Seit Gründung des so genannten russland-Büros ZV 10 unter Leitung Melchers‘ im April 1922 bestand eine zweite organisationsstruktur parallel zum tB ost. Das tB ost sollte das operative Geschäft übernehmen, das russland-Büro war für strategische Aufgaben und die Kommunikation mit der Berliner Handelsvertretung zuständig. Ein genaues Datum der Auflösung des russland-Büros ist zwar nicht überliefert, jedoch taucht diese Abteilungsbezeichnung nach der Entlassung von Melchers im Jahr 1923 in den Quellen nicht mehr auf. Die alleinige Zuständigkeit des tB ost für das gesamte Sowjetgeschäft von Siemens wurde wieder hergestellt und bestand ohne weitere Veränderungen über mehrere Jahre. Das tB ost, das in die Vertriebsabteilung von SSw eingebettet war, bildete damit die zentrale Schaltstelle im Unternehmen für Kommunikation und Auftragsabwicklung im Sowjetgeschäft.34 Innerhalb des tB ost bearbeitete die Abteilung 32 Anne Nieberding/Clemens wischermann: Unternehmensgeschichte im institutionellen Paradigma, in: Zeitschrift für Unternehmensgeschichte 43 (1998), 1, S. 35–48, hier 35f. 33 SAA 10756, Ernst Eue: Chronik des tB ost. Berlin 1944, S. 1f. Zum Aufbau der Vertriebsstrukturen vgl. auch: SAA 3865, ZV: ZV-Mitteilung Nr. 421. Siemensstadt 30.6.1919. 34 Die beiden Stammgesellschaften von Siemens verfügten bis 1930 über grundsätzlich unterschiedliche Vertriebssysteme. Bei S&H war jedes einzelne werk für den Produktvertrieb direkt gegenüber dem Kunden oder in Zusammenarbeit mit den technischen Büros zuständig. Dagegen war bei SSw der Vertrieb von der Produktion getrennt in insgesamt fünf so genannten Verkehrsabteilungen nach Produktbereichen organisiert. Das tB ost war in dieser organisationsstruktur als einzige Ausnahme für einen festen regionalen Markt zuständig. Erst 1930 wurde der Vertrieb von S&H und SSw in der Zentralstelle für die technischen Büros (ZtB) zusammengefasst. Feldenkirchen: Siemens 1918–1945 (1995), S. 182ff.
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Abbildung 14: Die Vorstände des tB ost Quelle: Siemens-Archiv A 10. Zu sehen sind von links nach rechts: Georg Kandler und Joine Kissmann (technische Vorstände), sowie Hugo Schwichtenberg (kaufmännischer Vorstand). Die Fotos stammen aus dem Jahr 1928.
S&H unter Leitung von Edgar Schwartz den Geschäftsbereich Schwachstromtechnik. Ein Antrag von S&H im Jahr 1921, die sowjetischen Aufträge künftig eigenständig zu bearbeiten, wurde mit dem Hinweis auf die hohe Komplexität der deutsch-sowjetischen Beziehungen abgelehnt und die Zentralisierung im tB ost aufrecht erhalten. Es wurde allerdings vorbehalten, im Fall eines deutlichen Anstiegs sowjetischer Aufträge das Stark- und Schwachstromgeschäft getrennt zu behandeln. Darüber hinaus legte S&H großen wert darauf, zeitnah und detailliert in die Arbeit des tB ost eingebunden zu sein. So wurde eine regelmäßige Kommunikation zwischen S&H und SSw schriftlich vereinbart und diese auch durch personelle Verbindungen institutionell verankert.35 Die Struktur erwies sich jedoch als zum teil ineffizient und anfällig für Konflikte. So äußerte sich das tB ost im Jahr 1923 erstaunt darüber, dass die wassermesserabteilung von S&H einen Auftrag der Berliner Handelsvertretung direkt und ohne vorherige rücksprache angenommen hatte. Empört wurde darauf hingewiesen, das tB ost vertrete „die Interessen sämtlicher Abteilungen […] im russischen Geschäft“36 und alle Geschäftsabschlüsse müssten von ihm durchgeführt werden. Das Kernproblem dieser Zentralisierung lag allerdings darin, dass die einzelnen Fachabteilungen nur sehr umständlich in die Geschäftsabschlüsse einbezogen wer35 SAA 10756, tB ost: Niederschrift über eine Besprechung betreffend die Bearbeitung der S&H-Geschäfte durch die Abteilung ost. Siemensstadt 4.7.1921. 36 SAA 6339, tB ost: Mitteilung tB ost über Bestellung von wassermessern. Siemensstadt 22.5.1923.
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den konnten. Vor allem S&H sah sich durch die strukturelle Verortung des tB ost im Vertrieb von SSw benachteiligt. Im Frühsommer 1927 begann deshalb eine von S&H initiierte Diskussion darüber, die bisherigen Strukturen zugunsten einer dezentralen organisation des Sowjetgeschäfts zu ändern. S&H brachte darin drei Argumente vor: Erstens wurde angeführt, die finanzielle Abrechnung der Einzelgeschäfte sei durch die zentrale Bearbeitung im tB ost zu undurchsichtig. Zweitens konzentriere sich die SSw-Vertriebsabteilung vor allem auf das Starkstromgeschäft und weniger auf die Entwicklung des Schwachstromsektors. Als dritter und übergeordneter Punkt wurde bemängelt, die Kommunikationsfähigkeit von S&H sei sowohl innerhalb des Unternehmens als auch gegenüber dem sowjetischen Kunden durch die Vormundschaft von SSw empfindlich eingeschränkt. Erich thürmel, stellvertretendes Vorstandsmitglied bei S&H, schlug deshalb vor, das S&H-Geschäft aus dem tB ost auszugliedern und beide Geschäftsbereiche künftig eigenständig zu bearbeiten.37 Dagegen argumentierte das tB ost mit Nachdruck, es würde angesichts des sowjetischen Außenhandelsmonopols nur eine zentrale Bearbeitung gewährleisten, die Interessen des gesamten Unternehmens im Sowjetgeschäft wirksam zu vertreten. In einer gemeinsamen Erklärung an Hermann reyß begründeten Kissmann, Kandler und Schwichtenberg ihre Meinung wie folgt: „Die jetzt bestehende und im Laufe der Jahre entwickelte Einheitsfront der Siemens-Firmen (tB ost) gegenüber der Einheitsfront des russischen Aussenhandels-Monopols würde zum Nachteil der Firmen durchbrochen werden. Selbst bei Aufstellung von richtlinien für Lieferungs- und Zahlungsbedingungen würden die russen immer wieder in einzelnen Punkten Zugeständnisse durchzudrücken versuchen, wodurch bei durchbrochener Front leicht ein Abbröckeln von den richtlinien möglich ist, wie sich das schon zwischen den einzelnen KonkurrenzFirmen abzuspielen pflegt.“38
Nach einer mehrere Monate andauernden Diskussion wurde im September 1927 von beiden Stammfirmen ein gemeinsames Programm zur reorganisation erarbeitet.39 Das Schwachstromgeschäft bearbeitete mit wirkung vom 1. oktober 1927 ein eigenes S&H tB ost, das Starkstromgeschäft verblieb im bestehenden tB ost von SSw. Ziel der reform war eine größere Eigenständigkeit der Unternehmensbereiche bei der Geschäftsentwicklung sowie klare Abrechnungsstrukturen. Es wurde aber besonderen wert darauf gelegt, die Einheitlichkeit der Geschäftsführung nicht zu gefährden. Gegenüber dem Kunden im Sowjetgeschäft sollte Siemens weiterhin als einheitlicher Akteur unter dem Namen „tB ost der Siemens & Halske A.G. und der Siemens-Schuckertwerke A.G.“ auftreten.40 Deshalb sah die reorganisation auch eine enge institutionelle Vernetzung beider tB ost vor, die formal durch überlappende Personalstrukturen sowie räumlich 37 Vgl. den formalen Antrag: SAA 10756, Erich thürmel: Mitteilung an reyß betr. organisation des tB ost. Siemensstadt 12.5.1927. 38 SAA 10756, tB ost: Mitteilung an reyß betr. organisation des tB ost. Siemensstadt 30.5.1927, S. 1. 39 SAA 10756, tB ost: Aktennotiz betr. organisation des tB ost. Siemensstadt 14.9.1927. 40 SAA 10756, Erich thürmel: Mitteilung an reyß betr. organisation des tB ost. Siemensstadt 17.8.1927.
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Abbildung 15: Hermann reyß Quelle: Siemens-Archiv EB III 293. Das Foto stammt aus dem Zeitraum 1930–1939.
durch nebeneinander liegende Büros gewährleistet werden sollte. Die richtlinienkompetenz für das Sowjetgeschäft des Gesamtunternehmens erhielt Direktor reyß von SSw, unter dessen Vorsitz eine tB ost-Zentralstelle eingerichtet wurde.41 Diese Zentralstelle erhielt das recht, „in alle Angelegenheiten des S&H-t. B.s Einblick zu nehmen“42. Gleichzeitig wurde reyß jedoch verpflichtet, die Direktoren thürmel und Franz Berrenberg von S&H über Entscheidungen das tB ost betreffend vorab zu unterrichten. Eine personelle Verbindung bildete Georg Kandler vom SSw tB ost, der im Vorstand des S&H tB ost einen Sitz einnahm. Das Sowjetgeschäft hatte eine Sonderstellung in der Unternehmensstruktur von Siemens. Vergleichbare Steuerungsinstrumente wurden in keinem anderen Vertriebsbereich eingesetzt.43 Zwei Herausforderungen versuchte das Unternehmen damit zu begegnen: Erstens musste auch im Sowjetgeschäft der hohen organisatorischen Komplexität des Siemens-Konzerns rechnung getragen werden. Doch während in anderen Ländern S&H und SSw getrennt auftraten, erforderte zweitens das Sowjetgeschäft einen Aufbau besonderer organisationsstrukturen. Der referenzpunkt war dabei die Institution des sowjetischen Außenhandelsmonopols, wie das tB ost ausdrücklich betonte: 41 SAA 10756, tB ost: Aktennotiz betr. organisation des tB ost. Siemensstadt 4.10.1927. 42 SAA 10756, tB ost: Aktennotiz betr. organisation des tB ost. Siemensstadt 4.10.1927, S. 3. 43 Vgl. dazu das organigramm in: Feldenkirchen: Siemens 1918–1945 (1995), S. 289.
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teil III Siemens im Sowjetgeschäft: Eine Institutionenanalyse „Mit rücksicht darauf, daß wir nur mit einem [im original unterstrichen] Kunden zu tun haben, der geschickt die einzelnen Lieferanten gegeneinander ausspielt, sind auch wir der Meinung, daß eine einheitliche oberleitung für die allgemeinen richtlinien, nach denen das Geschäft bearbeitet werden soll, für S&H und SSw bestehen bleibt.“44
Diese organisationsstruktur barg einerseits risiken, indem sie zum Beispiel den reibungslosen Ablauf im operativen Geschäft beeinträchtigen konnte. Die entstehende organisationsstruktur der beiden tB ost und der Zentralstelle tB ost führte zu personellen wie auch funktionalen Überschneidungen und barg vielfältige Ineffizienzen. Andererseits sah die Unternehmensleitung die Bearbeitung des Sowjetgeschäfts in einer zentralen Abteilung als übergeordnetes Ziel an und nahm dafür doppelte Strukturen in Kauf. Informelle Strukturen: Der Direktionsausschuss für Russland Zeigte sich auf der Ebene des operativen Sowjetgeschäfts ein hoher Grad an Formalisierung, der sich in den schriftlich fixierten Aufgabenzuweisungen an das tB ost nachweisen lässt, so waren übergeordnete richtungsentscheidungen durch einen hohen Grad an Informalität geprägt. Dies trifft vor allem für die ersten Jahre nach der oktoberrevolution zu, in denen Hermann Görz einen maßgeblichen Einfluss auf das Sowjetgeschäft ausübte, obwohl er selbst keine diesbezügliche formale Position in der Unternehmensorganisation einnahm. Ebenfalls beteiligte sich der Vorstandsvorsitzende Carl Friedrich von Siemens als so genannter Chef des Hauses punktuell und mit großem Einfluss an der Diskussion über die grundsätzliche Ausrichtung der Unternehmensstrategie in den deutsch-sowjetischen Beziehungen. Auch nach Abschluss der ersten Phase im Sowjetgeschäft von Siemens, die weitgehend durch situative Ad-hoc-Entscheidungen geprägt war, blieb diese Informalität zum teil bestehen. Eine zentrale rolle spielte dabei seit seiner Gründung im Juni 1922 der Direktionsausschuss für russland. Direktionsausschüsse waren in der organisationsstruktur von Siemens große Ausnahmen und wurden nur in den seltenen Fällen eingesetzt, in denen eine einzige Abteilung das Gesamtgeschäft für beide Stammfirmen übernahm. Über disziplinarische Kompetenzen verfügten die Ausschüsse nicht. Allerdings ermöglichten die Sonderausschüsse einen gleichberechtigten Zugriff von S&H und SSw auf Informationen wie auch die Partizipation an der strategischen Ausrichtung des jeweiligen Geschäftsbereichs.45 Im Direktionsausschuss für russland nahm Hermann Görz den Vorsitz ein, zudem waren die Vorstandsmitglieder Fritz Fessel und Hermann reyß (SSw), Georg Grabe (S&H) sowie das stellvertretende Vorstandsmitglied Erich thürmel von S&H vertreten. Hinzu kamen später noch Max Haller und Heinrich von Buol (ebenfalls Vorstandsmitglieder von S&H).46 44 SAA 10756, tB ost: Aktennotiz betr. organisation des tB ost. Siemensstadt 4.10.1927, S. 1f. 45 SAA 4 Lf 685, Carl Friedrich von Siemens: Brief an Melchers. Berlin 17.12.1923, S. 2. 46 SAA 6339, ZV: ZV 6 rundschreiben Nr. 56 zur Gründung der Abteilung ZV 10 unter Melchers. Siemensstadt 12.6.1922, S. 2. Zur personellen Zusammensetzung des Direktionsaus-
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Das tB ost unterstand in disziplinarischer Hinsicht Hermann reyß, dem Leiter der SSw-Vertriebsabteilung für die ausländischen Geschäftsstellen. Die richtlinienkompetenz im Sowjetgeschäft nahm der Direktionsausschuss ein. Hiermit konnte Siemens auf die Erfahrung von Hermann Görz zurückgreifen, der sich an wichtigen richtungsentscheidungen zum Beispiel zu Lieferbedingungen und zu Konsignationslagern beteiligte und dadurch noch bis zur Mitte der 1920er Jahre das Sowjetgeschäft von Siemens maßgeblich beeinflusste.47 Durch diese Unternehmensstruktur blieb eine wichtige personelle Kontinuität erhalten, bis reyß 1927 die Leitung der Zentralstelle der tB ost übernahm und der Direktionsausschuss vermutlich aufgelöst wurde. Unternehmenskommunikation und Ausbildung von strukturbildenden Institutionen Die organisationsstrukturen im Sowjetgeschäft von Siemens bildeten sich in einem inkrementalen diskursiven Prozess heraus und reflektierten sowohl die externen Umweltbedingungen im sowjetischen Außenhandel als auch unternehmensinterne Spezifika. Dieser Diskurs verlief zeitweise sehr kontrovers und war durch konkurrierende Interessen geprägt. Konflikte zwischen einzelnen Unternehmensbereichen (SSw versus S&H) kamen ebenso zum Ausbruch wie persönliche Konflikte. Dies betrifft besonders die Auseinandersetzung zwischen Görz und Melchers in den Jahren 1922 und 1923, die nicht nur die Ausrichtung der Unternehmensstrategie im Sowjetgeschäft berührte, sondern auch elementare Grundlagen der Unternehmenskultur von Siemens. wie ein sehr emotional verfasster Brief Carl Friedrich von Siemens‘ an Melchers zeigt, verletzte dieser in der Auseinandersetzung zentrale regeln der Kommunikationskultur des „Hauses“.48 So soll sich Melchers nicht regelmäßig an den üblichen gemeinsamen Frühstückstreffen der Führungskräfte beteiligt und sich auch in unangemessener weise über seinen Vorgesetzten Görz beschwert haben. Darüber hinaus empfand es Carl Friedrich von Siemens als eine überaus enttäuschende Pflichtverletzung, dass Melchers während des Boykotts im Jahr 1923 kaum an seinem Arbeitsplatz anzutreffen war: „was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht? Bei etwas Nachdenken mußte Ihnen doch klar sein, daß Sie gar kein recht dazu hatten, kein Beamter kann vom Dienst weg bleiben, ohne beurlaubt zu sein. wenn Sie nichts zu tun hatten, so war es Ihre Pflicht, sich bei Ihrem Vorgesetzten zu melden. Das zu wissen, verlangt man von dem jüngsten Angestellten.“49
schusses vgl. ebenfalls: SAA 11 Lg 89, Hermann reyß: Mitteilung betr. Vortrag von Cleinow. Siemensstadt 10.12.1926; SAA 11 Lf 449, Hermann Görz: Einladung zu einer Besprechung des Direktionsausschusses für russland. Siemensstadt 31.1.1923. 47 Vgl. dazu exemplarisch die Sitzung des Direktionsausschusses im Dezember 1925 zu Konsignationslagern: SAA 11 Lg 89, Hugo Schwichtenberg: Aktenvermerk zur Sitzung des Direktionsausschusses für russland am 18.12.1925. Siemensstadt 19.12.1925. 48 SAA 4 Lf 685, Carl Friedrich von Siemens: Brief an Melchers. Berlin 17.12.1923, S. 2. 49 SAA 4 Lf 685, Carl Friedrich von Siemens: Brief an Melchers. Berlin 17.12.1923, S. 4f.
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Im Ergebnis wurde Melchers‘ Abweichen von elementaren Normen der Unternehmenskultur streng sanktioniert und führte schließlich zu seiner Kündigung. Görz konnte im Folgenden seine Konzeption im Sowjetgeschäft weitgehend umsetzen, die auf einer vorsichtigen Analyse der Geschäftsperspektiven und auf einer langfristig angelegten Unternehmensstrategie basierte. Von entscheidender Bedeutung war in den folgenden Jahren, dass innerhalb des Unternehmens eine institutionalisierte Kommunikationsebene zu Sachfragen im Sowjetgeschäft etabliert werden konnte. Auf der Ebene des operativen Geschäfts ist dies deutlich erkennbar. So nahmen zum Beispiel an den Besprechungen über die Arbeit des tB ost immer Vertreter von S&H, von SSw und aus dem tB ost teil. Durch regelmäßige rundschreiben sowie periodische Informationsblätter des tB ost wurde das gesamte Unternehmen über den Entwicklungsprozess im Sowjetgeschäft informiert. Die unternehmensinterne Kommunikation im operativen Geschäft ist daher als weitgehend transparent und inklusiv zu bezeichnen: Unter Einschluss eines erweiterten Personenkreises sollten die unterschiedlichen Präferenzen von S&H und SSw berücksichtigt sowie in offenen Diskussionen ein für alle Akteure zufrieden stellendes Ergebnis erzielt werden. Besonderer wert wurde darauf gelegt, diesen Kommunikationsprozess zu formalisieren und eine Verbindlichkeit der regeln im operativen Geschäft herzustellen. Demgegenüber steht auf der Ebene strategischer richtungsentscheidungen bis zur Mitte der 1920er Jahre eine weitgehende Informalität. Diese war auf einen engen Personenkreis beschränkt, der außer Carl Friedrich von Siemens und Hermann Görz nur einige wenige Direktoren von S&H und SSw umfasste. Die eigentliche Entscheidungsfindung ist anhand der Quellen nur in Ansätzen zu rekonstruieren. Der Direktionsausschuss für russland sowie die persönliche Autorität Carl Friedrich von Siemens‘ und Hermann Görz‘ spielten hier vermutlich eine entscheidende rolle. Insgesamt war der unternehmensinterne Diskurs in seiner formalen und informellen Dimension von großer Dynamik geprägt. Siemens erwies sich als eine lernende organisation, die interne Defizite sowie Impulse aus der Umwelt verarbeiten und in die weiterentwicklung der Unternehmensstruktur integrieren konnte. 1.3 Zielpräferenzen von Siemens im Sowjetgeschäft Eine institutionell verstandene Unternehmenskultur vereint zwei Funktionen: Erstens schafft sie einen integrierenden orientierungsrahmen, der den Akteuren Sicherheit bietet und ihrem Handeln Sinn gibt. Zweitens dienen die unternehmensinternen regeln als Steuerungsinstrument, um Vorgaben der Unternehmensleitung umzusetzen sowie um Einheitlichkeit und Verbindlichkeit der individuellen Handlungen in der organisation herzustellen. Allerdings ist „Kultur“ nicht rational und hierarchisch steuerbar. Sie wird vielmehr in einem dynamischen Kommunikationsprozess durch die Unternehmensmitglieder konstruiert, nimmt deren begrenzt rati-
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onale Zielpräferenzen auf und ist von der Unternehmensleitung nur teilweise strategisch zu beeinflussen.50 Beide Funktionen – Integration und Steuerung – von Unternehmenskultur werden nun im Sowjetgeschäft von Siemens analysiert. Anschließend rekonstruiere ich die Zielpräferenzen, die Siemens als kollektiver Akteur in den deutsch-sowjetischen Beziehungen entwickelte. Unternehmenskultur als integrierender Orientierungsrahmen: Die Mitarbeiter im Sowjetgeschäft Alle mit dem Unternehmensgeschäft im Zarenreich betrauten Siemens-Mitarbeiter nahmen die oktoberrevolution sehr intensiv als Zäsur wahr, sowohl als einschneidendes Erlebnis für das Unternehmen als auch für die eigene Persönlichkeit. Das russlandgeschäft von Siemens schien entsprechend ihrer wahrnehmung nach 1917 in einer tiefen institutionellen Krise zu sein. Zwar zogen die einzelnen Mitarbeiter individuelle Schlussfolgerungen aus dieser Erkenntnis, jedoch herrschte im Unternehmen weitgehende Einigkeit darüber, dass die Krise im russlandgeschäft vor allem eines bedeutete: fundamentale Unsicherheit. Die Krisenwahrnehmung bezog sich erstens auf die objektive Unsicherheit über die Entwicklung des sowjetischen Staates. Diese folgte keiner linearen Entwicklung, sondern war zum Beispiel im Bürgerkrieg, während der NĖP und im ersten Fünfjahresplan mehreren grundlegenden Brüchen unterworfen. So war es beispielsweise nicht absehbar, dass der parteiinterne Konflikt über die künftige wirtschaftspolitik Mitte der 1920er Jahre nur kurze Zeit später in der politischen Alleinherrschaft Stalins sowie dem waghalsigen Experiment von Kollektivierung und beschleunigter Industrialisierung enden würde. Hinzu kamen zweitens die großen Informationsdefizite, die vor allem in der Anfangsphase des Sowjetgeschäfts eine Analyse der wirtschaftlichen Perspektiven stark behinderten. Angesichts der sowjetischen Außenhandelspolitik, die eine eigene und von westlichen Unternehmen stark abweichende Handlungsrationalität verfolgte, wurde diese subjektive Unsicherheit auch in späteren Jahren nicht substantiell gesenkt. Es gab aus der Perspektive von Siemens nach 1917 keinen verlässlichen institutionellen rahmen, der die stabile Durchführung des Sowjetgeschäfts ermöglicht hätte. Aus dieser hohen Sensibilität für Unsicherheit folgte bei Siemens zunächst ein rückgriff auf die Kontinuitäten und traditionen des vorrevolutionären russlandgeschäfts. Anhand der terminologie der unternehmensinternen Kommunikation lässt sich zeigen, wie stark die Sprache der Mitarbeiter in der Vergangenheit verhaftet war. Begriffe wie „Sowjetrussland“, „Sowjetunion“ oder „Sowjetgeschäft“ finden sich bis zum Ende der 1920er Jahre nur selten in den Quellen. Stattdessen 50 Herbert Matis: Unternehmenskultur und Geschichte, in: wilfried Feldenkirchen/Frauke Schönert-röhlk/Günther Schulz (Hg.): wirtschaft, Gesellschaft, Unternehmen. Festschrift für Hans Pohl zum 60. Geburtstag (Vierteljahrschrift für Sozial- und wirtschaftsgeschichte, Beiheft 120b). Stuttgart 1995, S. 1028–1053, hier 1029; Ebenso: wischermann: Von der „Natur“ zur „Kultur“ (2004), S. 25.
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wurde vom „russland- oder russengeschäft“, von „russland“ und „den russen“ geschrieben. Erst mit dem Ende der NĖP und dem Übergang zum ersten Fünfjahresplan begann Siemens allmählich, die neuen termini in der Unternehmenskommunikation zu verwenden.51 Die starke Bindung an traditionen in der Unternehmenskultur von Siemens wird zum Beispiel im Umgang mit den ehemaligen Mitarbeitern der russischen tochtergesellschaften deutlich. Eine patriarchalische Unternehmenskultur hatte sich bei Siemens im ausgehenden 19. Jahrhundert entwickelt. Sie zeigte sich an sozialen Projekten wie wohnungsbau und Pensionskassen. Ebenso führte sie dazu, dass zumindest die Angestellten eng an das „Haus“ Siemens gebunden wurden und sich durch einen hohen Grad an Identifikation mit dem Unternehmen auszeichneten (vgl. dazu teil I, Kapitel 5). Im Verhältnis mit den ehemaligen Mitarbeitern der russischen tochtergesellschaften war dies besonders offensichtlich. während des Ersten weltkriegs gewährte Siemens regelmäßige finanzielle Leistungen an in Not geratene oder internierte Mitarbeiter in russland sowie an deren Familien in Deutschland.52 Diese Zahlungen wurden auch über die oktoberrevolution hinaus aufrechterhalten und nicht nur an deutsche oder deutschstämmige, sondern auch an russische Unternehmensangehörige geleistet.53 Darüber hinaus fanden viele der seit 1918 aus russland emigrierten Mitarbeiter eine neue Heimat in Siemensstadt und Arbeit im Unternehmen. Im September 1920 schrieb Görz, der die Unterstützung der Mitarbeiter aus russland maßgeblich verantwortete, an Krasin: „wir haben ja, wie Ihnen bekannt, alle Angehörigen unserer früheren russischen Häuser, unabhängig von ihrer Nationalität, soweit irgend möglich unterstützt oder untergebracht.“54
Die Motivation hinter dieser Unterstützung für die ehemaligen Mitarbeiter war zum einen funktional begründet: Die Unternehmensleitung wollte die Fachkräfte an Siemens binden und ein reservoir an qualifizierten Mitarbeitern für den Neuaufbau des Sowjetgeschäfts bilden. Zum anderen zeigte sich besonders im Umgang zwischen Görz und den emigrierten Mitarbeitern aus russland ein hoher Grad an persönlicher Verbundenheit wie auch wechselseitiger Verantwortung. Die starke Identifikation mit dem Unternehmen, die sich bei fast allen im Sowjetgeschäft fassbaren Siemens-Mitarbeitern zeigt, basierte deshalb nicht nur auf einer rein funktionalen Beziehung. Vielmehr unterstreicht die zum teil aufopfernde Hingabe, mit der 51 Zur Verwendung von „Sowjetunion“ und „sowjetisch“ im deutschen Sprachgebrauch vgl. auch: Koenen: Der russland-Komplex (2005), S. 12. 52 Dazu: SAA 6388, Hermann Görz: Brief an SSw und S&H betr. regelung der Bezüge ehemaliger Angestellter der russ. Häuser. Siemensstadt 10.7.1918; SAA 6388, rSSw/rEw S&H: Abrechnung der Berliner Abteilung. Siemensstadt 30.6.1918, S. 7f. Vgl. auch die Bittschreiben in SAA 6362 und die Unterlagen der Berliner Abteilung in SAA 6388. 53 SAA 6388, Berliner Abteilung: Abrechnung der Berliner Abteilung. Berlin 31.8.1918; SAA 6388, Berliner Abteilung: Kontoauszüge der Unterstützungszahlungen von ehemaligen Angestellten in russland. Siemensstadt 1918. 54 SAA 6397, Hermann Görz: Brief an Krasin wegen Hilfe für Alfred Schwartz. Siemensstadt 15.9.1920, S. 1. Vgl. auch: SAA 6362, Hermann Görz: Niederschrift der Besprechung mit Direktor Natalis und von Have vom 20.8.1918 über Unterstützungen an Angestellte bezw. Frauen von Angestellten der rEw S&H und rSSw. Siemensstadt 16.12.1918.
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sich die in Sowjetrussland verbliebenen Mitarbeiter darum bemühten, im Chaos des Bürgerkriegs den Unternehmensbestand ohne jede Zukunftsperspektive zu wahren, das außerordentliche Integrationspotential der Unternehmenskultur. Es ist zum Beispiel bemerkenswert, dass ein Alfred Schwartz noch 1920, als er unter schwierigen Bedingungen für den Petrograder Schwachstromtrust arbeiten musste, in einem Brief an Görz von „unseren werken“ sprach und sich große Sorgen um die Zukunft der russischen Siemens-Betriebe machte.55 Dieses historisch gewachsene Beziehungsgeflecht im Unternehmen erwies sich auch in der fundamentalen Krise als äußerst widerstandsfähig. Zahlreichen Emigranten von rSSw und rEw S&H aus russland kamen nach 1918 im tB ost in Siemensstadt unter. wie sich allerdings ebenso zeigte, kamen manche der russlandflüchtlinge nur schwer mit dem im Aufbau begriffenen Sowjetgeschäft zurecht. robert Hellfors oder Alfred Schwartz stehen vermutlich stellvertretend für weitere Mitarbeiter im tB ost, die infolge eigener Erfahrungen die Geschäfte zwischen Siemens und den Bol‘ševiki ablehnten oder ihnen zumindest sehr kritisch gegenüber standen. Eine ausgeprägte antikommunistische Grundhaltung ist vermutlich bei einem Großteil der kaufmännischen Angestellten sowie bei Mitarbeitern in Führungspositionen als ein wichtiges shared mental model in der Unternehmenskultur von Siemens auszumachen. So lässt sich das Fazit ziehen, dass die Unternehmenskultur von Siemens einerseits eine starke integrierende wirkung auf die ehemaligen Mitarbeiter der russischen tochtergesellschaften ausübte. Sie bot den Flüchtlingen nach dem weit gehenden Verlust ihrer bisherigen beruflichen und privaten Lebenswelt direkte materielle Hilfeleistungen und eine Zukunftsperspektive im Unternehmen. Andererseits bestand die Gefahr, dass die individuellen Erfahrungen dieser Mitarbeiter im widerspruch zu den übergeordneten wirtschaftlichen Interessen der Unternehmensleitung standen, die unter anderen von Carl Friedrich von Siemens oder Hermann Görz vertreten wurden. Unternehmenskultur als Steuerungsinstrument: Die Siemens-Zeitschriften Carl Friedrich von Siemens als Aufsichtsratsvorsitzender und als Großaktionär Miteigentümer des Unternehmens sowie Hermann Görz als Führungskraft stehen stellvertretend für die obere Führungsebene im Unternehmen. Beide waren wie auch die Mitarbeiter des tB ost einer truly bounded rationality unterworfen, infolge derer die ideologische Ablehnung des sowjetischen Staates ein wichtiges Merkmal ihrer mentalen Modelle war. Besonders nach der Novemberrevolution von 1918, als im Deutschen reich kommunistische Gruppen mit Hilfe Sowjetrusslands für die revolution kämpften, wurden von der Unternehmensführung große Anstrengungen zur gegenrevolutionären Beeinflussung der Arbeiterschaft unternommen. 55 SAA 68 Li 141, Alfred A. Schwartz: Brief an Görz. Moskau 24.4.1921, S. 3. Vgl. auch den Überblick in teil I, Kapitel 1.2.
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Dazu gehörte die Berichterstattung in der seit Anfang 1919 herausgegebenen Unternehmenszeitschrift „wirtschaftliche Nachrichten aus dem Siemens-Konzern“. Darin gab es eine rubrik unter dem titel „Stimmungsbilder aus dem bolschewistischen russland“, in der über mehrere Monate hinweg Augenzeugenberichte von emigrierten Siemens-Mitarbeitern aus russland oder Pressemitteilungen veröffentlicht wurden. Diese Berichte dienten auch einer ideologischen Beeinflussung der Belegschaft. So ist in der Ausgabe vom oktober 1919 in einem Bericht des Ingenieurs Sroczynski, vormals bei der Siemens-Niederlassung in Moskau, Folgendes zu lesen: „Es ist fast unglaublich, dass es Menschen geben kann, welche unter dem Vorwande, der Menschheit ein Paradies auf Erden zu bereiten, eine wahre Hölle geschaffen haben.“56 Ähnliche Berichte finden sich auch in weiteren Ausgaben der „wirtschaftlichen Nachrichten“. Die Art der antikommunistischen Berichterstattung war ein wichtiger teil der unternehmensinternen Kommunikation; zumindest solange, bis sich die weimarer republik politisch stabilisiert hatte. Gleichzeitig stand bei Carl Friedrich von Siemens und Hermann Görz seit 1918 ebenfalls das ökonomische Interesse des Unternehmens im Blickfeld. Angesichts der schweren wirtschaftlichen Lage von Siemens nach dem Ersten weltkrieg besaß Sowjetrussland das Potential, sich mittel- bis langfristig zu einem wichtigen Absatzmarkt des Unternehmens zu entwickeln. Besonders Görz beurteilte die wirtschaftlichen Perspektiven im Sowjetgeschäft langfristig als positiv. Nachdem sich die deutsche republik gegen kommunistische Umsturzversuche erfolgreich verteidigt hatte und auch der sowjetische Staat siegreich aus dem Bürgerkrieg hervorgegangen war, wurde diese Neuausrichtung der Unternehmensstrategie auch in die offene Unternehmenskommunikation übernommen. Bereits in der Siemens-Zeitschrift vom Februar 1921 ist eine kurze und auf rein wirtschaftliche Informationen beschränkte Mitteilung zur Lage der Elektroindustrie in Sowjetrussland enthalten. In einer späteren Ausgabe vom Juni 1922 findet sich schon ein längerer Beitrag über die Bedeutung des sowjetischen Marktes für deutsche Unternehmen, der die neue Einstellung der Unternehmensleitung veranschaulicht. Mit Bezug auf die Konferenz von Genua vom April 1922 beginnt der Artikel mit folgender Einschätzung: „Die Erkenntnis, daß unter der Erkrankung eines großen und wichtigen teils der Erde alle Länder zu leiden haben, und daß ohne dessen wiederherstellung eine Gesundung der weltwirtschaft nicht möglich ist, hat zu der internationalen wirtschaftskonferenz in Genua geführt […]. Als die beherrschende Grundfrage ist von vornherein die der wiedereinführung rußlands in den weltzusammenhang und die wiederherstellung dieses am schwersten erkrankten teils der Erde hervorgetreten.“57
Im Folgenden spricht der Autor von dem „ungeheure[n] Staats- und wirtschaftsgebiet“ russlands und den „gewaltigen Möglichkeiten“ der wirtschaftlichen Entwicklung. Der Artikel endet mit einem Verweis auf das große Absatzpotential, das der sowjetische Markt deutschen Unternehmen bieten könnte: 56 wirtschaftliche Mitteilungen aus dem Siemens-Konzern 1 (1919), 8, S. 34. Die Zeitschrift erschien 1921 und 1922 unter der Bezeichnung „Siemens wirtschaftliche Mittelilungen“. 57 Siemens wirtschaftliche Mitteilungen 39 (1922), S. 267.
1 Unternehmenskultur: Die Zielpräferenzen von Siemens
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„wir Deutsche sind vor anderen dazu befähigt, auf dem neu sich eröffnenden Unternehmensgebiet im osten uns zu betätigen, nicht allein vermöge unserer Lage und althergebrachter Beziehungen, sondern auch, weil wir vieles zu bieten haben, was der slawischen Volksart weniger gegeben ist und was der russischen wirtschaft dringend not tut: technisches Können, Erfahrung, tatkraft, organisationsgeist, geschulte Arbeitsleiter und Arbeiter.“58
Aus den folgenden Jahren finden sich in der Siemens-Zeitschrift regelmäßige Beiträge über die allgemeine wirtschaftliche Entwicklung in der Sowjetunion, den Elektrifizierungsplan sowie Einzelheiten aus dem Sowjetgeschäft des Unternehmens. Die anfänglich negativen Artikel aus den Jahren 1919 und 1920 über die schlimmen Folgen der oktoberrevolution und das Elend in Sowjetrussland wichen einer wirtschaftlich orientierten Berichterstattung. Auch in den Geschäftsberichten des Unternehmens lässt sich seit Anfang der 1920er Jahre eine Betonung des ökonomischen Entwicklungspotentials nachvollziehen. Bereits im Geschäftsbericht von SSw aus dem Jahr 1922 findet sich im Vorwort folgende unverfängliche Mitteilung: „Unser Geschäft nach den östlichen randstaaten und auch nach rußland ist in guter Entwicklung begriffen.“59 Interpretiert man die Beiträge der Siemens-Mitarbeiterzeitschrift als ein Steuerungsinstrument der Unternehmensführung, um die strategische Ausrichtung des Unternehmens an untere Hierarchieebenen zu kommunizieren, so spielte sich zwischen 1919 und 1922 ein tief gehender wandel ab. In dieser Form der Unternehmenskommunikation wurde die Sowjetunion nicht mehr als ideologischer Gegner, sondern als ein potentiell sehr wichtiger Absatzmarkt für Siemens dargestellt. Besonders in den späten 1920er Jahren wurden regelmäßig die besonderen Leistungen von Siemens bei der Elektrifizierung der Sowjetunion hervorgehoben, wie beim Aufbau der Elektrizitätsversorgung von Moskau oder beim Bau der Industrieanlagen um Dneprostroj.60 Durch diese Veröffentlichungen ging die wahrnehmung des Sowjetgeschäfts als wichtiges Arbeitsgebiet in die Unternehmenskultur von Siemens ein. Zielpräferenz des kollektiven Akteurs Siemens im Sowjetgeschäft Ausgangspunkt des Entwicklungsprozesses, der zur Herausbildung einer Zielpräferenz von Siemens im Sowjetgeschäft führte, war die wahrnehmung einer fundamentalen Krise seit 1917. Unter dem Eindruck der Machtverhältnisse im russischen Bürgerkrieg veränderten sich fundamentale Normen in russland und setzten bisherige Prinzipien wirtschaftlichen Handelns außer Kraft. Angesichts dieser rahmen-
58 Siemens wirtschaftliche Mitteilungen 39 (1922), S. 269. 59 SSw, 21. Geschäftsbericht 1. oktober 1921 bis 30. September 1922. Aus der Sammlung der Geschäftsberichte im Siemens-Archiv. 60 Dietel: Die Versorgung der Stadt Moskau (1927). Siehe auch den Beitrag des Ingenieurs walch aus dem Siemens-Jahrbuch 1928: SAA VVA, otto walch: Der Ausbau der wasserkraft-Anlage Dnjeprostroj. Siemensstadt 1928; sowie den Bericht über die Lieferung von ofentransformatoren an Dneprostroj, in: Siemens-Zeitschrift 12 (1932), 11, S. 407–408.
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teil III Siemens im Sowjetgeschäft: Eine Institutionenanalyse
bedingungen stand Siemens vor der Frage, ob sich das Unternehmen grundsätzlich am Geschäft mit Sowjetrussland beteiligen werde. Eine erste Grundsatzentscheidung fiel kurz nach der oktoberrevolution: trotz aller ideologischen Gegensätze entschied sich Siemens im Jahr 1918 dafür, Kommunikationsbeziehungen mit den Bol‘ševiki aufzunehmen. In der Kommunikationspolitik gegenüber dem zerfallenden Zarenreich beschränkte sich das Unternehmen zwar nicht ausschließlich auf den sich allmählich etablierenden sowjetischen Staat. Vielmehr hielt sich Siemens mehrere Handlungsoptionen offen. Das Unternehmen sprach zum Beispiel auch mit Vertretern der georgischen Nationalregierung, führte über die Ausfuhrgesellschaft ost mehrere Liefergeschäfte mit der kurzzeitig unabhängigen Ukraine durch und hegte noch längere Zeit offene Sympathien für die Vertreter der russischen Exilgemeinde in Deutschland. Festzuhalten ist jedoch, dass Siemens seit 1918 mit einem regime kommunizierte, das fundamental unterschiedliche wertvorstellungen verkörperte. Dass L. B. Krasin den Sowjetstaat in den Verhandlungen mit Siemens vertrat, hat diesen Entschluss ungemein erleichtert. Darauf gehe ich in Kapitel 4.3 ausführlich ein. Zunächst brachte der Kontakt mit Krasin keine konkreten wirtschaftlichen Ergebnisse. Der Versuch scheiterte, Entschädigungen für die nationalisierten russischen tochtergesellschaften zu bekommen. Auch waren angesichts der deutschen Kriegsniederlage und des russischen Bürgerkriegs die rahmenbedingungen für eine wirtschaftliche Interaktion nicht gegeben. Das Unternehmen verfolgte deshalb bis 1920 weitgehend eine Strategie des Abwartens. Erst als die Bol‘ševiki ihre politische Macht stabilisiert hatten und mit dem Aufbau von Außenwirtschaftsbeziehungen begannen, traf Siemens an der Jahreswende 1920/21 die zweite Grundsatzentscheidung: Das Unternehmen erkannte die Autorität des siegreichen sowjetischen Staates an und nahm Gespräche über konkrete Beteiligungsmöglichkeiten am Aufbau der sowjetrussischen Elektroindustrie auf. Siemens schätzte das Potential des russischen Absatzmarkts für die deutsche Industrie auch im rahmen einer sozialistischen Gesellschaftsordnung als hoch ein. Insbesondere angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Lage nach dem Ersten weltkrieg und dem Verlust zahlreicher Auslandsmärkte bot Sowjetrussland, das die Elektrifizierung im GoĖLro-Plan zur Grundlage des wirtschaftlichen Aufbaus erhoben hatte, einen potentiell wichtigen Absatzmarkt. Die Entscheidung von Siemens, sich nach 1921 am Sowjetgeschäft zu beteiligen, basierte auf dieser maßgeblich von Carl Friedrich von Siemens und Hermann Görz vertretenen ökonomischen rationalität. Konkrete Messzahlen, anhand derer sich die Zielpräferenz von Siemens quantifizieren ließe, sind aus den Unternehmensquellen nicht rekonstruierbar.61 Görz 61 Einen Anhaltspunkt bieten die deutsch-sowjetischen Verträge vom 12. oktober 1925. In Artikel 1 des wirtschaftsabkommens verpflichteten sich beide Vertragsparteien dazu, eine Ausweitung des bilateralen Handels auf „das Vorkriegsmaß“ anzustreben (reichsgesetzblatt 1926, II, S. 4). Als richtwert, um den „Erfolg“ im Sowjetgeschäft zu bewerten, konnte im Folgenden der Vergleichsmaßstab von 1913 dienen. Inwieweit Siemens eine Ausweitung des Sowjetgeschäfts in dieser Größenordnung erwartete, geht aus den Quellen allerdings nicht hervor.
1 Unternehmenskultur: Die Zielpräferenzen von Siemens
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spricht lediglich allgemein von einem „ausserordentlich umfangreiche[n]“62 Geschäftspotential. Es finden sich aber mehrere Hinweise darauf, dass Görz allenfalls langfristig von einem starken Bedeutungszuwachs des sowjetischen Absatzmarkts für deutsche Unternehmen ausging. Görz und die anderen maßgeblichen Entscheider im Unternehmen betrachteten den Sowjetstaat auch nach 1921 mit großer Skepsis sowie mit großen ideologisch motivierten Vorbehalten und einer hohen wahrnehmung von Unsicherheit. Die Zielpräferenz von Siemens könnte auf den ersten Blick als „ökonomische Gewinnmaximierung im Sowjetgeschäft“ bezeichnet werden. Dies bedeutet allerdings nicht, dass Siemens einen nutzenmaximierenden Vorteil im Sowjetgeschäft suchte, ohne die institutionellen rahmenbedingungen zu berücksichtigen. Vielmehr ging das Unternehmen Anfang der 1920er Jahre fest von einem allmählichen wandel der sowjetischen wirtschaftsordnung und einer schrittweisen rückkehr zu marktwirtschaftlichen ordnungsmustern aus. Das war eine Hoffnung, die insbesondere durch Krasins Berichte über die reformen der NĖP stark genährt wurde. In einer Sitzung des rDI zum Sowjetgeschäft im oktober 1924 äußerte sich Carl Friedrich von Siemens dazu folgendermaßen: „So lange das Außenhandelsmonopol besteht, ist ein Geschäft von irgendwelcher Bedeutung nicht zu denken. Das Monopol kann sich auf die Dauer nicht halten, weil es der ganzen weltwirtschaftlichen Einstellung widerspricht.“63
Dieses Zitat reflektiert ein zentrales Merkmal der Mentalität der Siemens-Entscheider: Ein Ausbau des Sowjetgeschäfts wurde nur dann erwartet und befürwortet, wenn sich die Bol‘ševiki an den regeln der „ganzen weltwirtschaftlichen Einstellung“, also den institutionellen Grundlagen kapitalistischen Handelns orientieren würden. Zielpräferenz von Siemens war zwar der aus ökonomischen Interessen heraus motivierte Aufbau des Sowjetgeschäfts, allerdings nur unter den Bedingungen der eigenen mentalen Modelle beziehungsweise im institutionellen rahmen des eigenen weltbildes.64 Diese Bedingungen waren zu Beginn der 1920er Jahre nicht gegeben. Vielmehr standen sich die fundamental unterschiedlichen werte eines kapitalistischen Unternehmens und eines revolutionären sozialistischen Staates gegenüber. Angesichts dieser Differenzen hegte Siemens keine Hoffnung auf kurzfristige wirtschaftliche Erfolge, sondern legte seine Geschäftsziele auf einen längeren Zeithorizont an. Diese an Sicherheit orientierte Strategie wurde zu einem prägenden Merkmal der Unternehmenskultur im Sowjetgeschäft und unterschied sich von den Strategien anderer Unternehmen. Denn wie die Beispiele von Krupp, Stinnes, otto wolff und AEG zeigen, waren diese Unternehmen bereits frühzeitig bereit, im Sowjetgeschäft ein größeres risiko einzugehen. Exemplarisch sei auf die Konzessionsverträge von Krupp und otto wolff aus den Jahren 1921 und 1922 verwiesen. Im 62 SAA 4 Lf 685, Hermann Görz: Bericht über Krasin. Siemensstadt 15.2.1923, S. 5. 63 SAA 4 Lf 665, reichsverband der Deutschen Industrie: Brief an Carl Friedrich von Siemens, im Anhang Bericht über die Besprechung am 14.10.1924 im Auswärtigen Amt über das rapallo-Abkommen. Berlin 18.10.1924, S. 8. 64 Lutz: L. B. Krasin und Siemens (2008), S. 408.
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Vergleich mit diesen Unternehmen agierte Siemens weitaus vorsichtiger und mit einem größeren Bewusstsein für das potentielle risiko, wie im folgenden Zitat aus einem rückblick von Görz zum Ausdruck kommt: „Bei der Behandlung der Geschäftsbeziehungen zu russland habe ich […] immer den Standpunkt vertreten, dass es bei der Stellung unseres Hauses in Deutschland und früher in russland unwürdig sei, dasselbe zu tun, was vielfach […] deutsche wirtschaftskreise tun: den Sowjetleuten nachzulaufen, um mich nicht eines naheliegenden drastischeren Ausdrucks zu bedienen. Ich habe stets Zurückhaltung empfohlen und auch allzu grosser Eile widerraten, denn ich halte die Geschäftsmöglichkeiten in russland für die Zukunft für so ausserordentlich umfangreich, dass, selbst wenn wir heute nicht in jedem Falle die ersten sind, wir dadurch keinen Schaden erleiden, im Gegenteil, aus den Erfahrungen anderer Nutzen ziehen können.“65
Der Entwicklungspfad der Unternehmensstrategie war damit zu Beginn der 1920er Jahre in groben Zügen vorgegeben. Siemens strebte eine Partizipation am Sowjetgeschäft im rahmen des eigenen mentalen Modells beziehungsweise des eigenen wertehorizonts an. Dieser orientierte sich an marktwirtschaftlichen Normen und war dem Paradigma der sozialistischen wirtschaftsordnung grundsätzlich entgegengesetzt. Solange die fundamentalen Differenzen mit dem sowjetischen Staat wie vor allem das Außenhandelsmonopol bestanden, agierte Siemens sehr vorsichtig und versuchte, seine subjektive Unsicherheit durch den Aufbau sekundärer Institutionen zu verringern. Grundlage hierfür war die externe Kommunikation des Unternehmens mit anderen Akteuren in den deutsch-sowjetischen Beziehungen. 2 EXtErNE NEtZwErKE: DIE KoMMUNIKAtIoN MIt DEr UMwELt Bei Siegenthaler steht ein einfaches „Gespräch“ zwischen Akteuren am Beginn eines Kommunikationsprozesses, der aus fundamentalen Krisen heraus zu neuer Stabilität in wirtschaftlichen Beziehungen führen kann (vgl. das Zitat auf S. 247). Siegenthaler leitet aus dieser Annahme zwei Schlussfolgerungen ab. Erstens geht er davon aus, dass die Kommunikation eine strukturbildende Funktion einnimmt. Durch kommunikative Interaktion generieren Akteure Mechanismen, die ihnen eine Verknüpfung aktueller Beobachtungen mit historischen Erfahrungen erlauben und sie dazu ermächtigen, neuartige Umweltzustände durch neue Interpretationsmechanismen zu erfassen. Zweitens führt Kommunikation dazu, dass sich Akteure auf gemeinsame Erfahrungen oder gemeinsame Interessen besinnen und durch den Austausch darüber ihre sozialen Beziehungen stabilisieren. Dieser rückgriff auf gemeinsame Erfahrungswerte zeigte sich im vorangegangenen Kapitel bei der Ausbildung einer Unternehmenskultur im Sowjetgeschäft von Siemens. So führten einerseits ähnliche biographische Hintergründe der emigrierten Mitarbeiter aus russland zu einer gemeinsamen ablehnenden Haltung gegenüber den Bol‘ševiki. Andererseits bot das Unternehmen einen Integrationsrahmen, der diese Mitarbeiter auffing, ihnen im tB ost eine neue berufliche Zukunft ermöglichte und sie auf das Geschäft mit dem ideologischen Gegner vorbereitete. 65 SAA 4 Lf 685, Hermann Görz: Bericht über Krasin. Siemensstadt 15.2.1923, S. 5.
2 Externe Netzwerke: Die Kommunikation mit der Umwelt
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Schaubild 5: Externe Netzwerke von Siemens im Sowjetgeschäft
Im Folgenden untersuche ich, wie Siemens auf Basis seiner fundamentalen Zielpräferenzen die Kommunikation mit Akteuren der Umwelt gestaltete. Die Ausbildung dieser Kommunikationsbeziehungen wird mit dem Begriff externe Netzwerke konzeptionell erfasst. Netzwerke bezeichnen sekundäre Institutionen, die auf formalen und informellen Beziehungen zwischen Akteuren beruhen (vgl. die Definition auf S. 73). Ein entscheidendes Kriterium im institutionellen Verständnis von Netzwerken ist, dass diese Beziehungen nicht zufällig zustande kommen, sondern an regelhaftigkeit gebunden sind. Unter externen Netzwerken werden im Folgenden die formalen und informellen institutionalisierten Beziehungen verstanden, die Siemens mit anderen Akteuren im Sowjetgeschäft etablierte. Diese Beziehungen konzentrierten sich auf drei Akteursgruppen: sowjetische Akteure, deutsche staatliche Akteure sowie nicht-staatliche Akteure.66 Siemens entwickelte zwischen 1917 und 1921 fundamentale Zielpräferenzen im Sowjetgeschäft, die das Unternehmen als kollektiver Akteur in seiner Umwelt verfolgte. Dazu bildete es in den deutsch-sowjetischen Beziehungen Kommunikationsnetzwerke mit anderen Akteuren aus. Das Schaubild 5 verweist darauf, dass dieser Prozess nicht statisch verlief. Vielmehr entwickelten sich die Netzwerke in einem dynamischen Prozess sozialer Interaktion, der pfadabhängig war, aber nicht 66 Eine Kommunikation mit politischen Parteien ist im Sowjetgeschäft von Siemens nicht direkt nachweisbar. Zu den Positionen der deutschen Parteien über die Sowjetunion vgl. ausführlich: Bellers: Außenwirtschaftspolitik und politisches System (1988), S. 33ff.
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linear verlaufen musste. Besonders in der Ausbildung von Kommunikationsnetzwerken in fundamentalen Krisen ist a priori eine hohe Dynamik zu erwarten, die sowohl zur Ausbildung von Kooperationsmechanismen als auch zu Konflikten führen kann. Als Mitgestalter seiner institutionellen Umwelt nahm der transnationale Akteur Siemens so einen aktiven Einfluss auf die Entwicklung der deutsch-sowjetischen Beziehungen. 2.1 Kommunikation mit dem sowjetischen Außenhandelsapparat Mit dem Dekret vom 22. April 1918 über die Monopolisierung des Außenhandels etablierten die Bol‘ševiki einen grundsätzlich neuen institutionellen rahmen, der dem Staat als einzigem Akteur die Kompetenz zur Planung und Durchführung der Außenwirtschaftsbeziehungen zusprach. Zwar waren während des russischen Bürgerkriegs die Zukunft des sowjetischen Staates und die endgültige institutionelle Gestaltung des sowjetischen Außenhandels nicht absehbar. Dennoch existierte mit dem Außenhandelsdekret ein grobes raster, das ausländischen Unternehmen als erster orientierungsrahmen dienen konnte. Erste kommunikative Annäherung von Siemens an den sowjetischen Staat Zeitlich begann Siemens den Aufbau eines Kommunikationsnetzwerks durch den rückgriff auf die tradition des vorrevolutionären russlandgeschäfts allerdings bereits vor dem Außenhandelsdekret. Das informelle treffen zwischen Görz und Krasin im Februar 1918 in Stockholm ist als eigentlicher Beginn der Kommunikation mit den Bol‘ševiki anzusehen. Dass es Krasin war, der seit November 1918 als Volkskommissar auch formal den sowjetischen Außenhandel repräsentierte, musste den Zeitgenossen im Unternehmen als Glücksfall erscheinen. wie die Quellen zeigen, war Siemens bereits während des russischen Bürgerkriegs sehr gut über die Verwaltungsstrukturen in der sowjetischen Industrie unterrichtet.67 Es entsteht jedoch der Eindruck, dass das Unternehmen diese Strukturen sehr skeptisch bewertete und die Etablierung einer funktionierenden Bürokratie durch die Bol‘ševiki in so kurzer Zeit nicht für möglich hielt. So war es für Görz bei der wiederaufnahme der Kommunikation im Frühjahr 1920 nahe liegend, zunächst auf die bewährte Kooperation mit Krasin zurückzukommen. Dieser Fokus auf ein personenbezogenes Netzwerk schien sich zu bewähren. So berichtete auch Georg Cleinow nach seiner rückkehr aus Petrograd im Frühjahr 1922 Folgendes an Siemens: „Das Geschäft in russland ist trotz aller bürokratischen Hemmungen so persönlich wie nur irgend möglich, und es wird es auch bleiben, wenn die Ideen Krasins sich restlos durchsetzen sollten. […] Der deutsche Exporteur, der das alte russland kennt und alte persönliche Beziehungen erneuern kann, wird auch unter den heutigen Verhältnissen glänzende Geschäfte in und mit russland machen können, wenn er imstande ist, die grossen Generalunkosten aufzutreiben, 67 Vgl. die „Allgemeinen wirtschaftlichen Berichte“ der Abteilung ost in SAA 527.
2 Externe Netzwerke: Die Kommunikation mit der Umwelt
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die die Erkundung der Personalien in den verschiedenen Gegenden des reiches erfordern. Sind aber einmal die persönlichen Verbindungen wieder neu geknüpft, so hat er in den ihn interessierenden Behörden so viel und so einflussreiche Bundesgenossen, dass er auch auf die Gesetzgebung einwirken kann wie in keinem kultivierten Staate […].“68
Cleinow täuschte sich allerdings in dieser Einschätzung. richtig war zwar, dass während des Bürgerkriegs so gut wie kein formaler Handel stattgefunden hatte und so der institutionelle rahmen der sowjetischen Außenhandelsorganisation äußerst schwach entwickelt war. Dies änderte sich aber, als im Verlauf des Jahres 1920 der Außenhandel allmählich in den Vordergrund der sowjetischen Politik rückte. Mit der Zunahme von bilateralen wirtschaftsverträgen seit 1920 und dem quantitativen wachstum des Außenhandels stiegen auch die institutionellen Anforderungen an den bürokratischen Apparat. Die Informalität persönlicher Beziehungen, die zum Beispiel im Sommer 1918 den Abschluss eines Liefervertrags zwischen Krasin und Stinnes ermöglicht hatte, erwies sich dabei als unzureichend. Vielmehr stand der sowjetische Außenhandelsapparat 1920 vor der Herausforderung, die Planung und Durchführung des Handels rasch an die gestiegenen Anforderungen anzupassen. Es vollzog sich davon ausgehend ein tief gehender wandel in der organisation des Außenhandelsapparats, der nach der weitgehenden Improvisation während des Bürgerkriegs zur Ausbildung formalisierter Strukturen führte. Dies beinhaltete erstens die Schaffung einer leistungsfähigen organisation und zweitens die Etablierung verbindlicher bürokratischer regeln.69 Diese Formalisierung des sowjetischen Außenhandels wirkte sich zunehmend auch auf die deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen aus. Ende des Jahres 1920 erhielt die sowjetische Kriegsfürsorgestelle in Berlin einen wirtschaftsattaché zugeteilt. wenige Monate später wurde im Abkommen vom 6. Mai 1921 der institutionelle raum für deutsch-sowjetische Handelsgeschäfte erstmals vertraglich definiert. Die Berliner Handelsvertretung erhielt darin die Zuständigkeit für die Abwicklung von sowjetischen Import- und Exportgeschäften in Deutschland zugesprochen und Krasin zog sich in den folgenden Jahren immer stärker aus den deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen zurück. Es fällt somit auf, dass nach 1921 zwei institutionelle Entwicklungspfade in der Vernetzung von Siemens mit sowjetischen Akteuren kollidierten: Erstens ein informeller Pfad, der auf einer Kontinuität der persönlichen Beziehungen zwischen Görz und Krasin basierte; und zweitens der formale Pfad der weitgehend entpersonalisierten sowie funktionalen sowjetischen Außenhandelsbürokratie. Die Handelsvertretung und ein Konflikt von Geschäftskulturen Aus diesen unterschiedlichen institutionellen Entwicklungspfaden entwickelte sich in den Jahren 1922 und 1923 ein grundsätzlicher Konflikt über die Zukunft der Unternehmensstrategie von Siemens. Auf der einen Seite stand darin robert Melchers, 68 SAA 11 Lf 449, Georg Cleinow: Bericht über den Aufenthalt in Moskau im März 1922. ort unbekannt 1922, S. 37. 69 Vgl.: Freymuth: Ursprung und Grundlegung (1967), S. 76ff.
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der die Unternehmensstrategie umgestalten und offensiver ausrichten wollte. Auf der anderen Seite blieb Hermann Görz dem institutionellen Entwicklungspfad verhaftet, der unter seiner Führung 1918 eingeschlagen worden war. Görz stand erstens weiterhin in Kontakt mit Krasin, zog ihn bei strategischen Entscheidungen zu rate und baute keine eigenen Beziehungen mit der Berliner Handelsvertretung auf. Zweitens pflegte Görz noch 1921, als die Machtposition der Bol‘ševiki in Sowjetrussland bereits weitgehend gefestigt war, Kontaktnetzwerke zu russischen Exilantenorganisationen in Deutschland. Den Zielen des sowjetischen Außenhandels lief diese Kommunikationsstrategie klar zuwider (vgl. teil II, Kapitel 2.6). Der Konflikt zwischen Siemens und der Handelsvertretung, der 1923 im vorübergehenden Boykott mündete, ist deshalb im Kern als ein institutioneller Konflikt zu verstehen. Seine Ursache lag in der Zentralisierung des sowjetischen Außenhandels und in der Formalisierung von regeln, die mit der auf Personalität, tradition und Informalität ausgerichteten Strategie von Siemens kollidierten. Es standen sich in diesem Konflikt zwei unterschiedliche Kulturen gegenüber, die auf grundsätzlich andersartigen institutionellen orientierungsmustern beruhten. Ein Beispiel aus dem Briefwechsel, den Carl Friedrich von Siemens und Stomonjakov während des Boykotts führten, soll dies verdeutlichen. In diesen Briefen zeigen sich fundamentale Differenzen darin, welche Erwartungen in den kommunikativen und geschäftlichen Umgang miteinander gesetzt wurden. Carl Friedrich von Siemens verteidigte darin die Mitgliedschaft des Unternehmens in den russischen Exilantenvereinen.70 Dies sei keine Unterstützung für konterrevolutionäre Gruppen, sondern lediglich ein Zeichen dafür, dass sich Siemens aus tradition und Freundschaft den ehemaligen Geschäftspartnern weiterhin verpflichtet fühle. Stomonjakov erwiderte darauf ironisch, Siemens stünde natürlich frei, seine Geschäftsfreunde selbst zu wählen. Die Handelsvertretung nehme lediglich genau dieselbe Freiheit bei der Vergabe ihrer Aufträge in Anspruch: „Der regierung der Sowjetunion, wie jeder anderen regierung, steht es frei, ihre Geschäftsfreunde zu wählen oder zu wechseln und sie ist niemandem rechenschaft über die Beweggründe schuldig, die sie bei ihrer wahl bestimmen. Sie sprechen […] wiederholt in Ihrem Schreiben von Vorwürfen, ja sogar von schweren Vorwürfen, die meine regierung gegen Ihre Firma erhoben haben soll. Demgegenüber muss ich feststellen, dass es weder den Absichten meiner regierung (wie selbstverständlich auch den meinigen) noch den tatsachen entspricht, dass wir Vorwürfe gegen Ihr Haus erhoben haben. Im Gegenteil […] habe ich auf das nachdrücklichste betont, dass wir es vielmehr als ein selbstverständliches recht Ihrer Firma ansehen, diejenige Haltung der Sowjet-regierung gegenüber einzunehmen, die Ihre Firma für angebracht hält, und dass wir für uns lediglich vollkommene Freiheit bei der Vergebung unserer Aufträge in Anspruch nehmen wollen.“71
Der Briefwechsel zwischen Stomonjakov und Carl Friedrich von Siemens gibt ein beeindruckendes Zeugnis davon, wie schwierig sich die Kommunikation zwischen dem Bol‘ševik und dem Vorstandsvorsitzenden des Großunternehmens gestaltete. Argumente wurden langatmig umschrieben, eindeutige Aussagen finden sich nur 70 SAA 4 Lf 685, Carl Friedrich von Siemens: Brief an Stomonjakov. Siemensstadt 2.10.1923. 71 SAA 4 Lf 685, B. S. Stomonjakov: Brief an Carl Friedrich von Siemens. Berlin 10.11.1923, S. 2.
2 Externe Netzwerke: Die Kommunikation mit der Umwelt
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selten. was Stomonjakov im oberen Zitat so umständlich formulierte, war eine unverhohlene Drohung: entweder Siemens würde den Kontakt zu russischen Exilantenorganisationen abbrechen, oder die Handelsvertretung würde das Unternehmen bei der Auftragsvergabe künftig nicht mehr berücksichtigen. Carl Friedrich von Siemens dagegen wollte sich in seiner unternehmerischen Freiheit nicht einschränken lassen und begründete dies auch mit einem rückgriff auf seine persönliche Geschäftsethik: „Ich bin durchaus Ihrer Ansicht, daß juristisch auch der langjährigste Kunde keine Verpflichtung hat, seinen Lieferanten Aufklärung darüber zu geben, warum er die geschäftliche Verbindung mit ihnen nicht mehr aufrecht erhalten will. Dieses recht ändert aber nichts an der tatsache, daß es im geschäftlichen Leben höchst ungewöhnlich ist, wenn ein Kunde dies tut, ganz besonders, wenn dieser Kunde die regierung eines bedeutenden Staates ist. […] In Ihrem Schreiben stellen Sie die geschäftlichen Beziehungen in den Vordergrund. Selbstverständlich bedauern wir die eingetretene Unterbrechung der geschäftlichen Beziehungen. Jedes wirtschaftlich tätige Unternehmen hat für die Aufrechterhaltung derselben zu sorgen, aber die geschäftliche Seite der Angelegenheit hat mich weniger veranlaßt, Sie aufzusuchen und an Sie zu schreiben, als der ruf des Hauses, der mir höher steht als alle geschäftlichen Belänge. Ich lege auch wenig wert darauf, ob meine Auffassung und Eindrücke hoher juristischer Kritik standhalten können, als daß sie einer normalen menschlichen Auffassung entsprechen.“72
Der Appell an die „normale menschliche Auffassung“ blieb ohne Ergebnis. Die tiefen Unterschiede der mentalen Modelle zwischen Carl Friedrich und Stomonjakov waren nicht zu überbrücken und der Konflikt mündete im vorübergehenden Geschäftsboykott gegen das Unternehmen. Im Ergebnis konnte sich die Handelsvertretung durchsetzen: Siemens trat aus den russischen Exilantenvereinen aus und auch der Kontakt des Unternehmens zu Krasin brach fast vollständig ab. Die personalisierten Netzwerke von Siemens verschwanden und wichen einer weitgehenden Ausrichtung des Unternehmens auf die Kommunikation mit der Handelsvertretung als repräsentanz des sowjetischen Außenhandelsmonopols im Deutschen reich. Ėlektroimport und neue Kooperationsmechanismen wichtigster Impuls für die starke Ausweitung der deutschen Exporte in die Sowjetunion seit 1925 war die Institution der Ausfallbürgschaften, die deutschen Unternehmen Anreize bot, sowjetische Aufträge gegen Kredit anzunehmen. Das Volkskommissariat für Außenhandel begegnete dem großen Anstieg der Importe mit einer rapiden Ausweitung der personellen Kapazitäten und einer Ausdifferenzierung der Bürokratie.73 Der mittlerweile fast vollständig zentralisierte sowjetische Außenhandel sah folgendes Muster der Auftragsvergabe vor: Im Importplan wurden die Quoten für die Einfuhr elektrotechnischer Güter festgelegt.74 Der „Konsument“, das heißt die 72 SAA 4 Lf 685, Carl Friedrich von Siemens: Brief an Stomonjakov. Siemensstadt 20.12.1923, S. 1f. 73 Heubaum: Das Volkskommissariat für Außenhandel (2001), S. 31f. 74 Im Folgenden nach: Quigley: the Soviet Foreign trade Monopoly (1974), S. 49ff.
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staatlichen Betriebe in der Sowjetunion, richtete im rahmen des Importplans Anfragen an Narkomtorg, der diese an die Handelsvertretungen im Ausland weiterleitete. Seit 1926 übernahm zwar die neu gegründete Gesellschaft Ėlektroimport mit Sitz in Moskau alle Importgeschäfte im Bereich Elektrotechnik, am Grundmodell der Durchführung änderte sich jedoch nichts: Verbraucher und Lieferanten blieben strikt voneinander getrennt. Der einzige Kommunikationspartner für Siemens war die Handelsvertretung beziehungsweise seit 1926 das Berliner specotdel von Ėlektroimport. In einem rundschreiben vom Juli 1926 warnte der reichsverband der Automobilindustrie seine Mitglieder unbedingt davor, abseits der offiziellen Kommunikationswege zur Handelsvertretung im Sowjetgeschäft tätig zu werden.75 Allerdings schien dieses Idealmodell des strikt bürokratisierten Außenhandels nicht in allen Fällen zu funktionieren. Im Sommer 1926 monierte die Berliner Handelsvertretung zum Beispiel mehrere Verstöße gegen ihr Kommunikationsmonopol gegenüber deutschen Lieferanten. In einem Brief vom 15. Juli beschwerte sich die Kontrollabteilung in Berlin bei Narkomtorg, dass die Verwaltung der Stadt Smolensk eine direkte Anfrage an SSw abgegeben hatte, ohne den vorgeschriebenen weg über die Handelsvertretung zu nehmen.76 wenige wochen später wurde derselbe Vorwurf gegen das elektrotechnische Laboratorium des technischen Instituts in Moskau erhoben, das einen Auftrag direkt an AEG gerichtet hatte.77 Ein weiterer Fall ist der Brief der Zentralen Kontrollkommission des Narkomtorg an das Volkskommissariat für Arbeiter- und Bauerninspektion, in dem diese schwerwiegende Mängel bei der Ausschreibung von Aufträgen anprangerte. Demnach hatte der Schwachstromtrust 1928 einen nach Leningrad gereisten Siemens-Vertreter vorab über eine Ausschreibung informiert. Ein Jahr später hatte er auch den Auftrag an Siemens vergeben, obwohl von anderen Unternehmen deutlich günstigere Angebote eingereicht wurden.78 Interessant an diesen Beispielen ist erstens, dass es durchaus wege für die sowjetischen Abnehmer gab, unter Umgehung der vorgegebenen Kommunikationsstrukturen direkt in Kontakt mit deutschen Elektrounternehmen zu treten. Zweitens ist die reaktion des Außenhandelsapparats auffallend. Die betroffenen wirtschaftsorganisationen wurden zwar ermahnt und dazu aufgefordert, künftig alle Anfragen an die Berliner Handelsvertretung zu richten. Gleichzeitig setzte jedoch eine inten75 SAA 49 Ls 478, reichsverband der Automobilindustrie: Mitteilung an die Mitglieder, betrifft Verkehr mit russland. Berlin 10.7.1926. Siemens war vermutlich über die Automobiltochter Protos Mitglied des Verbandes. 76 rGAĖ f. 5240, op. 18, d. 528, l. 115, Berliner Handelsvertretung: Brief an Narkomtorg. Berlin 15.7.1926. Siehe dazu auch den Brief des Leiters der wirtschaftsabteilung des Volkskommissariats für innere Angelegenheiten (Narodnyj Komissariat Vnutrennyx Del, NKVD): rGAĖ f. 5240, op. 18, d. 528, l. 112, Anochin: Brief an die Smolensker Gebietsverwaltung. Moskau 10.8.1926. 77 rGAĖ f. 5240, op. 18, d. 528, l. 111, Berliner Handelsvertretung: Brief an die Import-ExportVerwaltung des Narkomtorg. Berlin 26.7.1926. Vgl. ebenso den Brief des Leiters der ImportExport-Verwaltung des Narkomtorg Šarov: rGAĖ f. 5240, op. 18, d. 528, l. 110, Šarov: Brief an das Moskauer technologische Institut. Moskau 13.8.1926. 78 rGAĖ f. 8340, op. 1, d. 79, l. 84, Central‘naja Kontrol‘naja Komissija: Brief an das Kollegium des NKrKI. Moskau 7.1.1930.
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sive Diskussion über die großen Ineffizienzen der Importorganisation ein, in der einige Elemente der bisherigen institutionellen Ausgestaltung des Außenhandelsmonopols grundsätzlich infrage gestellt wurden. Ein wichtiges Ergebnis dieser Diskussion war die reform der Kommunikationswege im Jahr 1928. Künftig war es einer reihe sowjetischer wirtschaftsorganisationen erlaubt, eigenständig Kontakt mit ausländischen Unternehmen aufzunehmen, was zum Beispiel die Bestellung von Ersatzteilen ungemein erleichterte.79 Am Grundprinzip des staatlichen Monopols im Außenhandel änderten diese Maßnahmen zwar nichts, da die Geschäftspartner ausländischer Unternehmen im Sowjetgeschäft ausschließlich staatliche organisationen blieben. Dennoch ermöglichten die reformen zumindest, die zentralisierten Kommunikationsstrukturen zu verbreitern. Ausländische Unternehmen hatten dadurch einen deutlich erweiterten Spielraum zum Aufbau von Kommunikationsnetzwerken mit einer größeren Gruppe sowjetischer Akteure. Für ein im wettbewerb stehendes Unternehmen ist dieser direkte Kontakt mit dem Endkunden eine zentrale Voraussetzung für den Geschäftserfolg. Auch angesichts der zunehmenden internationalen Konkurrenz erachteten deutsche Unternehmen die lokalen Netzwerke zu sowjetischen Industriebetrieben als wichtige Maßnahme, sich im Sowjetgeschäft erfolgreich zu positionieren. Siemens verfolgte deshalb seit Mitte der 1920er Jahre die Eröffnung eines Vertretungsbüros in Moskau und sah dessen Genehmigung 1928 als einen großen Erfolg an. Das Siemens-Büro in Moskau Die Einrichtung eines ständigen repräsentationsbüros in Moskau verfolgte das tB ost seit Mitte der 1920er Jahre aus mehreren Gründen.80 Erstens sollte das Büro die Abwicklung von bereits abgeschlossenen Geschäften unterstützen und zweitens reparaturarbeiten auch kurzfristig vor ort ausführen. Drittens wollte Siemens durch ein eigenes Büro in der Sowjetunion einen direkten Kontakt zu potentiellen Kunden herstellen und dadurch das Antragsverfahren der Berliner Handelsvertretung umgehen. Doch genau deshalb blieben die Bemühungen des Unternehmens um eine Genehmigung des Büros lange vergeblich. Narkomtorg befürchtete eine Aufweichung des Außenhandelsmonopols und genehmigte nur in wenigen Ausnahmefällen Vertretungen ausländischer Unternehmen in der Sowjetunion. Ein erster Antrag des tB ost wurde 1926 abgelehnt.81 79 Lorenz: Handbuch des Aussenhandels (1930), S. 255f. 80 Zwar existierte bereits seit 1924 eine ständige Vertretung von SBU in Moskau unter Leitung des Ingenieurs willy Mewis. Diese hatte jedoch nur einen eingeschränkten wirkungsbereich und beschäftigte sich ausschließlich mit den von SBU betreuten Projekten. SAA 35–39 Lm 323, rudolf Briske: Bericht über das Gutachten der SBU zum Bau der U-Bahn Moskau für das Siemens-Archiv. Berlin 31.1.1959, S. 1. 81 SAA 11 Lg 89, tB ost: Mitteilung an thürmel wegen Vertretung in Moskau. Siemensstadt 20.12.1926; Zum widerstand des Narkomtorg gegen eine Siemens-repräsentanz in der Sowjetunion vgl.: rGAĖ f. 8340, op. 1, d. 38, l. 29, I. o. Šlejffer/Ju. V. Gold‘štejn: Brief an den Vorstand von Ėlektroimport. Moskau 9.3.1927.
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Die Gründung von fachspezifischen Import- und Exportgesellschaften wie Ėlektroimport eröffnete jedoch einen neuen Verhandlungsspielraum. Hermann reyß führte 1926 erstmals Gespräche mit dem Leiter von Ėlektroimport Korostaševskij, der Siemens beim Genehmigungsverfahren einer Unternehmensvertretung in Moskau seine volle Unterstützung versprach. Siemens-intern hieß es zu den Gesprächen Folgendes: „Es herrscht Übereinstimmung darüber, dass diese räumliche Verbindung mit der A.G. [gemeint ist Ėlektroimport] für uns vorteilhaft werden kann dadurch, dass sie einen engeren geschäftlichen und persönlichen Verkehr zwischen den russischen Dezernenten und unsern periodisch in das Büro zu entsendenden Spezialisten begünstigt und die Bedeutung, die unserm Büro als solchen zukommt, steigert; ausserdem ist dieser räumlichen Lage eine gewisse Schutzwirkung nicht abzusprechen.“82
Die Grundlage für die Genehmigung eines Moskauer Siemens-Büros, die schließlich durch die Fürsprache Korostaševskijs 1928 erfolgte, war eine Verordnung vom 1. Juni 1928. Nach dieser konnten die Import- und Exportgesellschaften direkten Kontakt mit ausländischen Unternehmen aufnehmen.83 Das Siemens-Büro wurde organisatorisch und räumlich an Ėlektroimport angegliedert und befand sich in deren Gebäude an der Kuzneckij Most-Straße im Zentrum Moskaus. Die Leitung unterstand den Ingenieuren Eduard Pollitz (SSw) und wittkowsky (S&H), die sich primär mit der Bearbeitung von Anfragen beschäftigten. Die Annahme von Aufträgen war dem Büro zunächst untersagt.84 Darüber hinaus betreute Pollitz die Siemens-Mitarbeiter, die sich im rahmen des Fünfjahresplans in immer größerer Zahl zur Montage von Maschinen und Anlagen in der Sowjetunion aufhielten. Scheinbar erreichte Siemens mit der Eröffnung des Büros in Moskau ein wichtiges Ziel, da nun über den seit Jahren geforderten Zugang zu den Endkunden verfügt wurde.
Abbildung 16: Briefkopf der Siemens-Vertretung in Moskau Quelle: SAA 3348. Der Briefkopf stammt aus einem Schreiben an SSw bezüglich einer Besprechung über die Suram-Pass-Bahn vom 27.1.1930. 82 SAA 11 Lg 89, Eberhard Pelkmann: Aktenvermerk über eine Besprechung über die Antwort des Schwachstromtrusts vom 13.11.1926 auf den Vertragsentwurf von S&H vom 25.9.1926. Siemensstadt 25.11.1926. 83 Kashirskikh: Die deutsch-sowjetischen Handelsbeziehungen (2006), S. 119. 84 SAA 11 Lf 292, tB ost: Bericht über das Siemens-Geschäft mit der UdSSr. Siemensstadt Februar 1931; SAA 68 Li 141, Erich thürmel/Franz Berrenberg/Hermann reyß: rundschreiben an die Direktion von S&H und SSw betr. Siemens-Beratungsstelle in Moskau. Siemensstadt 22.8.1929.
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Demgegenüber zeichnet die interne sowjetische Diskussion ein völlig anderes Bild von den Hintergründen, die zur Genehmigung des Siemens-Büros in Moskau führten. Narkomtorg hatte sich zunächst einer registrierung ausländischer Unternehmen in Moskau widersetzt, nach längerer Diskussion aber den Forderungen von Ėlektroimport nachgegeben. Folgende Gründe waren für die Zulassung des Siemens-Büros, abseits aller Erleichterungen bei der praktischen Durchführung von Importgeschäften, ausschlaggebend: Erstens wurden in der bisherigen Praxis Geschäftsverträge ausschließlich durch die Vermittlung der Handelsvertretungen im Ausland abgeschlossen und waren damit der rechtsprechung des jeweiligen Landes unterworfen.85 Die registrierung ausländischer Unternehmen in der Sowjetunion erlaubte es, Vertragsabschlüsse sowjetischem recht zu unterstellen, mit weit reichenden Folgen zum Beispiel bezüglich der Ausgestaltung von Schiedsgerichten.86 Zweitens betonte Ėlektroimport, eine Ausnutzung der internationalen Konkurrenz unter den Lieferfirmen wäre erst dann möglich, wenn die großen Unternehmen in räumlicher Nähe von Ėlektroimport lägen und so der wettbewerb besser ausgenutzt werden könne. Seit 1929 verfügten General Electric und Metropolitan Vickers über repräsentanzen in Moskau. In einem Bericht von Ėlektroimport wurden entsprechende Anträge weiterer Firmen erwartet.87 Entgegen der Erwartungen des tB ost hielten sich die Vorteile des Moskauer Büros deshalb für Siemens sehr in Grenzen. Es konnte weder der Standortvorteil gegenüber der Konkurrenz ausgenutzt werden, noch wurde der Verwaltungsablauf bei der Auftragsannahme und -durchführung substantiell vereinfacht. Vielmehr verdeutlicht folgendes Zitat aus einem Bericht Erich thürmels von S&H den weiterhin bestehenden großen bürokratischen Aufwand, den Siemens wegen des Außenhandelsmonopols im Sowjetgeschäft betreiben musste: „Den Bestimmungen des russischen Aussenhandels-Monopols gemäss geschieht die Abwicklung des kaufmännischen teiles (Abgabe von Kostenanschlägen, Hereinnahme von Aufträgen etc.) nach wie vor zwischen der hiesigen russischen Handelsvertretung [in Berlin] und dem t. B. ost, sodaß sich also die genannte Moskauer Beratungsstelle mit solchen Fragen, insbesondere bezüglich der Preise, nicht befassen darf. […] Mit rücksicht auf die durch das Aussenhandelsmonopol und die sonstigen Verhältnisse bedingte Eigenart ist es nicht zulässig, daß andere Geschäftsstellen als das t. B. ost mit Herrn Pollitz, bezw. der Beratungsstelle, direkt korrespondieren. Etwaige Schreiben und telegramme […] sind dem t. B. ost […] zur weiterleitung zuzustellen. Letzteres wird darüber wachen, daß diese Mitteilungen sich mit rücksicht auf die Aussenhandels-Bestimmungen im zulässigen rahmen halten.“88
85 Vgl. dazu das rundschreiben des Leiters von Glavėlektro S. S. Lobov, das eine umfassende Begründung für die registrierung von Unternehmen in Moskau beinhaltet: rGAĖ f. 5240, op. 18, d. 292, l. 106–109, S. S. Lobov: rundschreiben an Mikojan und andere. Moskau 24.10.1928. 86 Quigley: the Soviet Foreign trade Monopoly (1974), S. 66. 87 rGAĖ f. 8340, op. 1, d. 64, l. 58, Ėlektroimport: Brief an Narkomtorg. Moskau 9.4.1929. Zur Vertretung von Metropolitan Vickers vgl. auch die Erinnerungen Monkhouses: Monkhouse: Moscow, 1911–1933 (1934), S. 228. 88 SAA 68 Li 141, Erich thürmel/Franz Berrenberg/Hermann reyß: rundschreiben an die Direktion von S&H und SSw betr. Siemens-Beratungsstelle in Moskau. Siemensstadt 22.8.1929, S. 1f.
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Von einer bürokratischen Vereinfachung und einer Verbesserung der institutionellen rahmenbedingungen im Sowjetgeschäft ist angesichts dieser bürokratischen Hürden kaum zu sprechen. Vielmehr waren der Ausbildung von Netzwerken zu sowjetischen Endkunden enge Grenzen gesetzt. Nur in einigen Fällen gelang es Siemens, informelle Beziehungen parallel zu den formalen Strukturen aufzubauen. Informelle Netzwerke mit sowjetischen Akteuren Die reform der sowjetischen Außenhandelsstruktur von 1925/26, in deren Folge branchenspezifische Importgesellschaften wie Ėlektroimport gegründet wurden, hatte zwei Ziele. Erstens sollten die organisation der Verwaltung vereinfacht, Kompetenzen klar abgetrennt sowie eine einheitliche Leitung von Außen- und Binnenhandel geschaffen werden. Zweitens sah die reform eine Formalisierung von Entscheidungsprozessen vor. Durch die Gründung der Importgesellschaften schuf sie ein Instrument, um unabhängig von den Partikularinteressen der Handelsvertretungen im Ausland die Konkurrenz internationaler Anbieter auszunutzen. Ėlektroimport beziehungsweise die an den Handelsvertretungen angesiedelten specotdely erhielten deshalb getrennte technische und kaufmännische Abteilungen mit eigenen Konten und eigener rechnungsführung.89 Die technischen und kaufmännischen Abteilungen wurden jeweils in Kessel-, turbinen-, Motoren- und weitere Abteilungen aufgegliedert, die getrennt ihre Aufgaben wahrnahmen. Das Element der Individualität sollte durch die straffe organisationsstruktur sowie die übergeordnete Kontrolle durch Narkomtorg ausgeschaltet werden. Besonders interessant sind angesichts dieser institutionellen Formalisierung die Fälle, in denen Siemens informelle Beziehungen auf persönlicher Ebene etablieren konnte. Zwei kurze Beispiele sollen dies verdeutlichen. Erstes Beispiel ist die Entsendung des früheren deutschen Marineattachés in Norwegen Hilmers im Herbst 1925 nach Moskau. Er führte im Auftrag von Siemens Gespräche mit sowjetischen Militärs, in denen es wohl um die Lieferung von elektrotechnischem Material an die rote Armee ging. Durch die Hilfe des deutschen Botschafters Brockdorff-rantzau gelang es Hilmers 1925, Kontakte zu wichtigen Entscheidern zu knüpfen. Aufgrund dieser positiven Erfahrungen entschloss sich S&H ein halbes Jahr später, den mittlerweile fest angestellten Hilmers erneut zu Gesprächen nach Moskau zu entsenden. In einer Mitteilung an Hans-Henning von Pentz aus dem Mitarbeiterstab Carl Friedrich von Siemens‘ heißt es dazu Folgendes: „Herr Kapitän Hilmers wird […] in etwa 10 tagen wieder nach Moskau fahren, um unter Ausnutzung seiner persönlichen Verbindungen die Geschäftsbeziehungen zwischen S&H und der russischen Militärbehörde aufzunehmen und möglichst umfangreich zu gestalten. tatkräftige
89 rGAĖ f. 5240, op. 18, d. 432, l. 47–49, Ėlektroimport: Sitzungsprotokoll bez. der Frage nach der organisation von Ėlektroimport. Moskau 27.2.1926; rGAĖ f. 5240, op. 18, d. 1120, l. 49–97, Ėlektroimport: Bericht über die tätigkeit im ersten Halbjahr des Geschäftsjahrs 1926/27. Moskau 9.7.1927.
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Unterstützung unserer Bestrebungen ist bisher erfolgt und wird auch weiter uns zu teil werden durch den deutschen Botschafter in Moskau, Herrn Grafen von Brockdorff-rantzau.“90
Der weitere Verlauf sowie die Ergebnisse der Gespräche von Hilmers sind nicht bekannt. Festzuhalten ist allerdings, dass entgegen aller Bestrebungen von Narkomtorg im sensiblen rüstungsbereich eine Umgehung der formalen richtlinien des Außenhandelsapparats möglich war. Voraussetzung dafür waren persönliche Beziehungen zu sowjetischen Entscheidern. Zweites Beispiel ist der Kontakt von Siemens zu Ingenieur rotert, vormals Bauleiter von Dneprostroj und seit 1931 Leiter des U-Bahnbaus in Moskau. SBU beteiligte sich an der Planung und Baudurchführung des Staudamms am Dnepr und war dort mit eigenem Personal auch vor ort vertreten.91 In den Erinnerungen des SBU-Ingenieurs Briske konnten sich dadurch persönliche Beziehungen mit der Bauleitung entwickeln: „Ein enges Vertrauensverhältnis bestand zwischen dem russischen Bauleiter von Dnjeprostroi, Ingenieur rotert, und den leitenden Herren der SBU.“92 Auf dieses Vertrauensverhältnis konnte SBU während der Planung der Moskauer Metro zurückgreifen, als der von Siemens eingereichte Bauentwurf nachdrücklich von rotert unterstützt wurde. Beide Beispiele zeigen, dass trotz der wachsenden Bürokratisierung und der damit einhergehender Entpersonalisierung im sowjetischen Außenhandel persönliche Kontakte nicht nur möglich, sondern wie im Falle Hilmers sogar notwendig waren. wie im Verlauf der 1920er Jahre deutlich wurde, kam selbst der stark funktional ausgerichtete Außenhandelsapparat der Sowjetunion in der Interaktion mit Unternehmensvertretern nicht ohne persönliche Elemente aus. So erhielt Carl Köttgen 1928 eine Einladung vom sowjetischen Botschafter Krestinskij, den elften Jahrestag der oktoberrevolution mit Gemahlin im Berliner Botschaftsgebäude der Sowjetunion zu feiern.93 Ebenfalls sind seit Ende der 1920er Jahre bei Abschieden leitender Mitarbeiter der Berliner Handelsvertretung persönliche Schreiben an Siemens überliefert. Vor seiner Abreise aus Berlin schrieb zum Beispiel der sowjetische Handelsvertreter weicer an Carl Friedrich von Siemens: „Meine bevorstehende Abreise aus Deutschland gibt mir Veranlassung, Ihnen für Ihr wohlwollendes Verständnis, das Sie meiner tätigkeit in Deutschland entgegenbrachten, und für die freundliche Zusammenarbeit meinen Dank auszusprechen. In der Hoffnung, dass Sie mir Ihr geschätztes wohlwollen auch weiterhin bewahren und dieses auch auf meinen Nachfolger zu übertragen die grosse Güte haben werden, wiederhole ich meine Danksagung und verbleibe mit ausgezeichneter Hochachtung [gezeichnet weicer].“94 90 SAA 4 Lf 685, wernerwerk: Brief an Hans-Henning von Pentz. Siemensstadt 9.3.1926, S. 1. wernerwerk war die Bezeichnung für das 1905 errichtete Fernmeldewerk in Berlin-Siemensstadt. 91 Vgl. die Liste des Siemens-Personals in der Sowjetunion: SAA 4 Lf 685, tB ost: Liste von Montagepersonal in russland. Siemensstadt 15.3.1928. Einen Überblick über die Einsatzorte von Siemens bietet ebenfalls: SAA 10756, Ernst Eue: Chronik des tB ost. Berlin 1944, S. 19. 92 SAA 35–39 Lm 323, rudolf Briske: Bericht über das Gutachten der SBU zum Bau der U-Bahn Moskau für das Siemens-Archiv. Berlin 31.1.1959, S. 2. 93 SAA 11 Lf 140, Botschaft der UdSSr in Berlin: Einladung an Carl Köttgen. Berlin November 1928. 94 SAA 4 Lf 685, Israel weicer: Mitteilung an Carl Friedrich von Siemens über die bevorstehende
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ob es sich bei den Aussagen weicers um reine Höflichkeitsfloskeln oder um aufrichtige Dankbarkeit handelte ist zweitrangig. wichtig ist vielmehr, dass zusätzlich zu den formalen bürokratischen Strukturen im sowjetischen Außenhandel solche persönlichen Elemente in die Kommunikation mit deutschen Unternehmen integriert wurden. wohl auch aufgrund dieser Kombination aus funktionalen und persönlichen Beziehungselementen stellte K. Finkel‘ von der Berliner Handelsvertretung 1927 in einem Bericht fest, dass die Zusammenarbeit mit den elektrotechnischen Großunternehmen hervorragend funktionierte.95 Allerdings waren den persönlichen Beziehungen zwischen sowjetischen Akteuren und Siemens sehr enge Grenzen gesetzt. Netzwerke, die über ihre funktionale Bedeutung hinaus zur Ausbildung von Vertrauen führten, sind mit Ausnahme der Beziehung zwischen Görz und Krasin nicht nachweisbar. 2.2 Kommunikation mit der deutschen Außenwirtschaftspolitik Erste Kontakte zwischen Siemens und der reichsregierung bezüglich der deutschsowjetischen Beziehungen sind seit Anfang des Jahres 1918 belegbar. Erwähnenswert ist zum Beispiel der Bericht von Görz über sein treffen mit Krasin in Stockholm im Februar 1918, der auch dem Auswärtigen Amt übergeben und selbst an den reichskanzler weitergeleitet wurde.96 Für die folgenden Monate sind die Quellen ebenfalls ergiebig. Sie geben einen guten Einblick in die Kommunikationsnetzwerke des Unternehmens zum Auswärtigen Amt, wie zu Staatssekretär Paul von Hintze, Ministerialdirektor Johannes Kriege oder zum Justitiar der rechtsabteilung walter Simons. Erstens dienten diese Kontakte dem gegenseitigen Informationsaustausch. Zweitens bemühte sich Siemens darum, durch die politischen Kanäle eigene Interessen in Fragen von Entschädigungsansprüchen gegenüber Sowjetrussland zu vertreten. Mehrfach machte das Unternehmen während der Verhandlungen um die Ergänzungsverträge von Brest-Litovsk entsprechende Eingaben beim Auswärtigen Amt.97 Ein abschließendes Ergebnis wurde in der Entschädigungsfrage zwar nicht erzielt, Siemens konnte jedoch ein Netzwerk persönlicher Beziehungen zu staatlichen Entscheidungsträgern aufbauen. Aus den Quellen wird ebenso offensichtlich, Abreise. Berlin 20.8.1934. Vgl. auch einen ähnlichen Brief zum Abschied des Botschafters L. M. Chinčuk an Carl Friedrich von Siemens: SAA 4 Lf 685, L. M. Chinčuk: Mitteilung an Carl Friedrich von Siemens über die bevorstehende Abreise. Berlin 21.7.1934; sowie den Brief des 1930 und 1931 amtierenden Vorgängers von weicer I. E. Ljubimov an Köttgen anlässlich seiner Verabschiedung aus Berlin: SAA 11 Lf 292, I. E. Ljubimov: Brief an Köttgen wegen seines Abschieds. Berlin 30.12.1931. 95 rGAĖ f. 8340, op. 1, d. 34, l. 146–159, Konstantin Finkel‘: Bericht über die Importpolitik und Importarbeit bei Aufträgen von Kraftanlagen und elektrotechnischen Produkten. Berlin 17.7.1927, S. 8. 96 SAA 6397, Auswärtiges Amt: Brief an Görz wegen Krasins Berichte. Berlin 27.2.1918. 97 Dazu exemplarisch: SAA 11 Lb 93, SSw: Brief an das Auswärtige Amt, rechtsabteilung, wegen Entschädigungen. Siemensstadt 18.10.1918; SAA 4 Lk 162, Carl Friedrich von Siemens: Brief an das Auswärtige Amt betr. Entschädigungsansprüchen. Siemensstadt 14.6.1918.
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dass Siemens dabei kein passiver Empfänger von politischen Vorgaben aus dem Auswärtigen Amt war. Vielmehr profitierte auch die deutsche Außenpolitik von der Expertise und von den Kontakten des Unternehmens wie zum Beispiel zu Krasin. Anlässlich der deutsch-sowjetischen Verhandlungen im Sommer 1918 führte Görz darüber hinaus Gespräche mit Unterstaatssekretär Heinrich Göppert vom reichswirtschaftsamt, in denen es vor allem um die Frage nach der Koordination zwischen Staat und Unternehmen im Sowjetgeschäft ging. Zwischen Görz und Göppert herrschte Einigkeit hinsichtlich des Punkts, dass aufgrund der momentanen Unsicherheit bezüglich der weiteren innenpolitischen Entwicklung in Sowjetrussland die Unternehmen zunächst von allen eigenen Maßnahmen absehen sollten. Vielmehr würden die „ersten Versuche [im Handel mit Sowjetrussland] von regierung zu regierung und mit den bestehenden staatlichen Stellen“98 organisiert werden. Das reichswirtschaftsamt übernahm die übergeordnete Koordination in den Verhandlungen mit der sowjetischen Delegation und Görz stellte sich als fachkundiger Berater zur Verfügung. Die hohe Intensität der Kommunikation zwischen Siemens und den beiden Ministerien während der kurzen Phase von Brest-Litovsk wurde nach 1918 nicht mehr erreicht. Dagegen etablierten sich die wirtschaftsverbände, vor allem seit seiner Gründung 1928 der russlandausschuss, als die eigentlichen träger der Koordination zwischen Unternehmen und der staatlichen Außenwirtschaftspolitik (vgl. dazu das anschließende Kapitel). Es sind für Siemens jedoch einige Fälle nachweisbar, in denen das Unternehmen eine unmittelbare und eigenständige Kommunikation mit dem Auswärtigen Amt und in geringerem Ausmaß auch mit dem reichswirtschaftsministerium führte. Die deutsche Diplomatie und Siemens Nach Ingmar Sütterlin entwickelte sich die russische Abteilung im Auswärtigen Amt unter Leitung Ago von Maltzans seit 1920 zum Zentrum einer wirtschaftsorientierten ostpolitik: „Alle Beamten der russischen Abteilung, von denen zu diesen Fragen Stellungnahmen überliefert sind, waren sich darin einig, daß Deutschland weiterhin auf rußland als wirtschaftlichen und politischen Partner angewiesen sei.“99
Gemäß dieser politischen Grundausrichtung legte die russische Abteilung besonderen wert auf eine enge Verzahnung zwischen der Diplomatie und der deutschen Exportwirtschaft. Der Aufbau von Konsulaten in der Sowjetunion hatte zum Beispiel auch den Zweck, ein flächendeckendes Informationsnetzwerk für wirtschaftliche Zwecke zu etablieren.100 In einer Besprechung des Siemens-Mitarbeiters C. G. Schulze mit dem wirtschaftsreferenten der russischen Abteilung Bruno Hahn im 98 SAA 11 Lg 735, Hermann Görz: Brief an Henrich über die Besprechung mit Krasin und Göppert vom reichswirtschaftsamt. Berlin 18.6.1918, S. 1f. 99 Sütterlin: Die „russische Abteilung“ des Auswärtigen Amtes (1994), S. 194. 100 Sütterlin: Die „russische Abteilung“ des Auswärtigen Amtes (1994), S. 187.
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November 1921 ging es um diesen verstärkten Informationsaustausch zwischen Diplomatie und Unternehmen. Hahn wies darauf hin, dass das Auswärtige Amt über hervorragende Informationskanäle in Sowjetrussland verfüge und er kritisierte die Zurückhaltung seitens der deutschen Industrie, die diese Möglichkeiten bisher noch kaum ausgeschöpft habe: „Er [Hahn] wäre jederzeit gern bereit, dem Vertreter einer grossen Firma wie Siemens alle gewünschte Auskunft zu erteilen auch über solche Angelegenheiten, die man in der Presse nicht veröffentlichen könne.“101
Der politische wille, die deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen zu fördern, verstärkte sich besonders nach den reichstagswahlen vom Juni 1920 unter der bürgerlichen Minderheitsregierung, die aus Zentrum, DDP und DVP bestand. Der neue Außenminister walter Simons hielt am 26. Juli 1920, einen tag nach seiner Ernennung, eine Aufsehen erregende außenpolitische Grundsatzrede im reichstag, in der er den Stellenwert Sowjetrusslands für die deutsche wirtschaft stark betonte. Er erwähnte darin besonders die Elektroindustrie, für die er im Zuge der sowjetischen Elektrifizierungspolitik hervorragende geschäftliche Aussichten erblickte: „Meine Damen und Herren! wir haben nicht vor, die Sowjetrepublik als Paria zu behandeln, weil uns ihre regierungsmethoden nicht gefallen, wir haben selbst zu sehr unter der Behandlung als Paria gelitten, als daß wir diese Behandlung anderen angedeihen lassen wollten. […] Meine Herren, wenn Sie wüßten, wie in rußland das Problem der Vereinfachung der Kraftvermittlung im Lande und das der Parallelisierung der gegeneinanderlaufenden Kräfte, der Vereinheitlichung der Kraftquellen jetzt in Angriff genommen wird und in Angriff genommen ist [gemeint ist der GoĖLro-Plan], so würden sie vor der tatkraft und der Kenntnis der damit vertrauten Spezialisten respekt haben.“102
Interessant ist die reaktion von Siemens auf die rede, die sich aus einem Brief von Görz an Carl Friedrich von Siemens vom 2. August 1920 rekonstruieren lässt. Görz verweist darin auf ein vertrauliches Gespräch zwischen ihm, Carl Friedrich von Siemens und Außenminister Simons.103 Es fällt erstens auf, dass Simons bereits in 101 SAA 6339, C. G. Schulze: Niederschrift über ein treffen mit Dr. Bruno Hahn. Siemensstadt 8.11.1921, S. 1. Auch in späteren Jahren konnte Siemens vom Informationsnetzwerk des Auswärtigen Amts profitieren. Aus dem Jahr 1932 sind zum Beispiel zwei ausführliche Berichte Gustav Hilgers über seine rundreise durch die Sowjetunion mit detaillierten Angaben zum Stand der industriellen Entwicklung überliefert, die vom russlandausschuss an die Vorstandsmitglieder verteilt wurden. SAA 6876, Gustav Hilger: Aufzeichnungen über die reise in das Uralgebiet und nach Sibirien (18. September bis 9. oktober 1932). Moskau 11.10.1932; SAA 6876, Gustav Hilger: Bericht über die reise durch den europäischen teil der UdSSr (30. August bis 16. September 1932). Moskau 17.9.1932. 102 Vortrag walter Simons am 26.7.1920 im reichstag, in: Verhandlungen des reichstags, Stenographische Berichte, 1. wahlperiode, 10. Sitzung, S. 251ff. Nach Peter Borowsky basierten Simons‘ Aussagen auf der Denkschrift walther rathenaus und Felix Deutschs an reichspräsident Ebert über die Zukunft der deutschen Außenwirtschaftspolitik gegenüber Sowjetrussland, die im Februar eingereicht worden war. Borowsky: Sowjetrußland (1983), S. 37. Der text der Denkschrift ist abgedruckt in: Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der DDr/Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSr: Deutsch-sowjetische Beziehungen (1971), S. 182ff. 103 SAA 4 Lf 686, Hermann Görz: Brief an Carl Friedrich von Siemens mit angehängtem Bericht
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der ersten woche nach Amtsantritt Zeit für ein Gespräch mit den beiden Vertretern des Unternehmens fand. Zweitens legte Görz dem Brief ein Positionspapier des tB ost bei, das von Georg Kandler bezüglich des GoĖLro-Plans angefertigt worden war. Unter Bezug auf die rede von Simons‘ wurde darin der Planentwurf Kržižanovskijs ausführlich besprochen: „Die Mitteilung des reichsministers Dr. Simons in der reichstagssitzung vom 26. Juli über die Leistungen der Sowjetregierung auf wirtschaftlichem Gebiet hat berechtigtes Aufsehen erregt, da sie zu den bisherigen Nachrichten aus zuverlässigen Quellen in starkem widerspruch steht.“104
Kandler kam im Folgenden zu einem negativen Urteil über den GoĖLro-Plan und stellte Simons‘ optimistische Zukunftserwartung grundsätzlich infrage. Eine politische Instrumentalisierung der deutschen Elektroindustrie durch das Auswärtige Amt, um im rahmen des GoĖLro-Plans die deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen zu intensivieren, stieß im Unternehmen auf Ablehnung. Doch trotz dieser Skepsis, die auch von anderen Unternehmen geteilt wurde, setzte die russische Abteilung ihre Bemühungen um einen Ausbau der deutschen Exporte in die Sowjetunion fort.105 Dies galt vor allem für den deutschen Botschafter in Moskau Brockdorff-rantzau, der einer der stärksten Verfechter enger deutschsowjetischer Beziehungen war. Anlässlich der Gespräche zwischen Hilmers und sowjetischen Militärs Ende 1925 (vgl. S. 286) dankte Carl Friedrich von Siemens ausdrücklich für die „tatkräftige persönliche Unterstützung“106, die der Botschafter dem Unternehmen gewährt hatte. Zwei Jahre später hatte Brockdorff-rantzau erneut einen erheblichen Anteil daran, die Verhandlungen zwischen Siemens und Narkomtorg bezüglich einer registrierung des Unternehmensbüros in Moskau zu beschleunigen. Mikojan vermerkte in einer diesbezüglichen Notiz das besondere Interesse Brockdorffs an einer schnellen Genehmigung für Siemens.107
104 105 106 107
Georg Kandlers. Siemensstadt 2.8.1920. Görz kannte Simons bereits aus den Verhandlungen mit Krasin im Jahr 1918. SAA 11 Lg 735, Hermann Görz: Besprechung mit walter Simons ohne Krasin. Siemensstadt 6.6.1918; SAA 11 Lg 735, Hermann Görz: Besprechung mit walter Simons und Krasin. Berlin 5.6.1918. SAA 4 Lf 686, Hermann Görz: Brief an Carl Friedrich von Siemens mit angehängtem Bericht Georg Kandlers. Siemensstadt 2.8.1920, S. 5. Sütterlin: Die „russische Abteilung“ des Auswärtigen Amtes (1994), S. 183ff. SAA 4 Lf 685, Carl Friedrich von Siemens: Brief an Brockdorff-rantzau. Siemensstadt 11.11.1925, S. 2. rGAĖ f. 5240, op. 18, d. 292, l. 179–186, A. I. Mikojan: Niederschrift der Besprechung mit dem deutschen Botschafter Brockdorff-rantzau. Moskau 22.11.1927, S. 4. Die deutsche Botschaft war sich allerdings nicht zu schade, von Siemens auch entsprechende Gegenleistungen einzufordern. So machte Carl Graap von der deutschen Botschaft in Moskau in einem Brief an Görz den Auftrag für eine telefonanlage, die das Unternehmen an die Botschaft liefern sollte, mit Verweis auf die hervorragende werbewirkung dieses Auftrags von einem rabatt abhängig: „Ich kann die Erwerbung des neuen Apparates aber nur befuerworten, wenn Ihre werke in ruecksicht auf die Bedeutung, die die Aufstellung eines Apparates in der Deutschen Botschaft fuer Sie haben wird, eine Ermaessigung in dem Gesamtpreis […] eintreten lassen […].“ SAA 4314, Carl Graap: Brief an Görz. Moskau 20.10.1923, S. 2.
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Entgegen der großen Erwartungen Brockdorff-rantzaus zeigte Carl Friedrich von Siemens aber klar die Grenzen des Engagements von Siemens auf. Eine starke Intensivierung des Sowjetgeschäfts, die sich der Botschafter erhoffte, sei angesichts der Kapitalschwäche der deutschen Unternehmen nicht zu erwarten. Carl Friedrich äußerte sich vielmehr eher skeptisch über die unmittelbaren Zukunftsperspektiven: „Die grosse wirtschaftliche Not, in der sich die deutsche Industrie befindet, verhindert natürlich grosse Geldausgaben, die nicht in absehbarer Zeit wieder hereinkommen.“108 Die Vernetzung von Siemens mit der deutschen Diplomatie ist somit ambivalent zu beurteilen. Einerseits war sich das Unternehmen dem wert dieser Kontakte bewusst und versuchte sie für die Umsetzung der eigenen Zielpräferenzen nutzbar zu machen.109 Andererseits ist in der Ausrichtung der Unternehmensstrategie zu keinem Zeitpunkt ersichtlich, dass sich Siemens politischen Zielsetzungen des Auswärtigen Amts unterordnete. Im Gegenteil. Seit 1920 hatte sich im Auswärtigen Amt eine Position durchgesetzt, die auf eine Intensivierung der deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen hinarbeitete. Dieses Ziel war über alle personellen Brüche hinweg bis 1933 immer zumindest latent vorhanden. Es fällt auf, dass trotz der versuchten Einflussnahme walter Simons’ oder Brockdorff-rantzaus Siemens nie von seiner vorsichtigen Unternehmensstrategie abrückte. Siemens und das Reichswirtschaftsministerium Für die frühen 1920er Jahre ist eine regelmäßige Kommunikation zwischen Siemens und dem reichswirtschaftsministerium nicht belegbar. Einziger Hinweis darauf, dass es zumindest einen sporadischen Austausch über das Sowjetgeschäft gab, ist eine Mitteilung Köttgens an Görz aus dem Jahr 1923. Köttgen erwähnt darin ein telefonat mit oberregierungsrat ruelberg vom reichswirtschaftsministerium, in dem es um die Beteiligung von Siemens am Bau einer elektrischen Bahn in Baku ging: „Das rwM [reichswirtschaftsministerium] sei gerade dabei, Unterlagen für seine wirtschaftlichen Verhandlungen mit russland aufzustellen und hätte dabei ein starkes Interesse, nicht nur die Form dieses Geschäftes, sondern auch unsere allgemeinen Anschauungen über Geschäftsmöglichkeiten mit russland kennen zu lernen.“110
Görz wurde dazu aufgefordert, die Beamten des Ministeriums über das diesbezügliche Engagement des Unternehmens zu unterrichten. Inwieweit es darüber hinaus zu einem institutionalisierten Austausch über das Sowjetgeschäft von Siemens kam, geht aus den Quellen nicht hervor. 108 SAA 4 Lf 685, Carl Friedrich von Siemens: Brief an Brockdorff-rantzau. Siemensstadt 11.11.1925, S. 2. 109 Mit Dr. Max Haller war S&H auch im Verwaltungsrat der Handelsabteilung im Auswärtigen Amt (Abteilung X) vertreten, die eine Verzahnung deutscher wirtschaftsinteressen mit der Diplomatie gewährleisten sollte. SAA 11 Lb 348, Auswärtiges Amt: Liste der Mitglieder des Verwaltungsrats der Aussenhandelsstelle des Auswärtigen Amts. Berlin 1.11.1920. 110 SAA 11 Lf 449, Carl Köttgen: Brief an Görz. Siemensstadt 29.1.1923.
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Eine intensive Kommunikation zwischen Siemens und dem reichswirtschaftsministerium ist erst im rahmen der Pjatakov-Abkommen von 1931 und 1932 nachweisbar.111 Darin ging es vor allem um die Verteilung der Ausfallbürgschaften auf einzelne wirtschaftsbranchen und den Stellenwert der Elektroindustrie in der Exportförderung des reichs. Carl Köttgen stand in diesen Diskussionen in Kontakt mit reichswirtschaftsminister warmbold sowie mit Ministerialrat Moßdorf und nahm mehrfach an Besprechungen über die Kreditvergabe teil. Zweierlei fällt bei der Analyse dieser Besprechungsprotokolle auf. Einerseits war Köttgen in der Lage, sich einen eigenen Zugang zur Führungsebene im reichswirtschaftsministerium zu verschaffen und dort persönlich die Interessen von Siemens zu vertreten. Aufgrund dieser Einflussnahme versprach warmbold zum Beispiel in einem Gespräch mit Köttgen und Hermann Bücher von AEG, die Interessen der Elektroindustrie künftig stärker zu unterstützen.112 Andererseits wurde jedoch deutlich, dass das Potential von Siemens, die Kommunikation mit dem reichswirtschaftsministerium für die Verfolgung von Unternehmensinteressen zu nutzen, sehr begrenzt war. Erstens standen Siemens und die anderen elektrotechnischen Unternehmen während der weltwirtschaftskrise in harter Konkurrenz mit der Schwerindustrie um die Vergabe der Ausfallbürgschaften. Zweitens mussten sich die exportorientierten Unternehmen insgesamt gegen die Lobbyarbeit der deutschen Agrarwirtschaft wehren. Diese übte einen großen Einfluss auf die Präsidialkabinette aus und gefährdete ernsthaft den politischen rückhalt im Sowjetgeschäft. Ein einzelnes Unternehmen, auch wenn es sich dabei um ein Großunternehmen wie Siemens handelte, konnte in dieser Situation nur bedingt erfolgreich seine eigenen Interessen vertreten. Festzustellen ist deshalb, dass Siemens zwar Kommunikationskanäle zum reichswirtschaftsministerium etablierte, sich der Erfolg für das Unternehmen allerdings in Grenzen hielt. wie vielmehr im Verlauf der 1920er Jahre deutlich wurde, waren einzelne Unternehmen kaum in der Lage, ihre Interessen erfolgreich in den deutsch-sowjetischen Beziehungen zu vertreten. Diese rolle nahmen immer stärker die wirtschaftsverbände ein (vgl. dazu ausführlich das anschließende Kapitel). Siemens und die Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und Roter Armee Die Zusammenarbeit zwischen reichswehr und roter Armee wurde seit 1919 vorbereitet. Sie entwickelte sich in den folgenden Jahren zu einer wichtigen triebkraft hinter den deutsch-sowjetischen Beziehungen.113 Auch einige deutsche Unternehmen waren aktiv in diese Zusammenarbeit eingebunden, darunter vor allem Jun111 Vgl. dazu die Briefwechsel und Besprechungsprotokolle im Nachlass Carl Köttgens (SAA 11 Lf 292) und im Nachlass Carl Friedrich von Siemens‘ (SAA 4 Lf 685). 112 SAA 4 Lf 685, Carl Köttgen: Bericht über die Unterredung mit reichswirtschaftsminister warmbold. Siemensstadt 8.3.1932. 113 Manfred Zeidler: reichswehr und rote Armee 1920–1933, in: Jürgen Förster (Hg.): Deutschland und das bolschewistische rußland von Brest-Litowsk bis 1941 (Veröffentlichung des Göttinger Arbeitskreises 8). Berlin 1991, S. 25–47.
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kers und Krupp. Im Herbst 1921 wurden diese Aktivitäten in der Gesellschaft zur Förderung gewerblicher Unternehmungen (Gefu) zusammengefasst. An der Gründung dieser tarngesellschaft, die besonders die Entwicklung von dem Deutschen reich laut Versailler Vertrag verbotenen Militärtechnologien förderte, war auf sowjetischer Seite maßgeblich Krasin beteiligt. In der Forschungsliteratur wird von mehreren Autoren die Beteiligung von Siemens an sowjetischen rüstungsaufträgen erwähnt. So schreibt rolf-Dieter Müller auf der Grundlage von Akten aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amts, dass Siemens 1931 in Verhandlungen über die Lieferung von elektrischen Steuerungsanlagen für militärische Zwecke stand. Sie sollte über die tochtergesellschaft des Unternehmens in Italien abgewickelt werden, um die Bestimmungen des Versailler Vertrags zu umgehen.114 S. S. Kapistka nennt in seinem Beitrag über sowjetische Importe im Bereich Luftfahrtechnik einen Auftrag an Siemens. Nach Angaben aus dem russischen Staatlichen Militärarchiv (Rossijskij Gosudarstvennyj Voennyj Archiv, rGVA) beinhaltete der Auftrag, an dem sich auch telefunken beteiligte, die Lieferung von radiotechnik und elektrotechnischem Zubehör für die sowjetische Bomber- und Jägerflotte.115 Ebenfalls wird bei S. A. Gorlov Siemens in einer reihe mit deutschen Unternehmen erwähnt, die sich im rüstungsgeschäft mit der Sowjetunion betätigten. Einen Quellenbeleg liefert er jedoch nicht.116 Aus Siemens-Archiv-Akten ist eine direkte Beteiligung von Siemens an der Gefu oder an anderen rüstungsprojekten, die die reichswehr in der Sowjetunion durchführte, nicht nachweisbar. So geht aus dem Briefwechsel zwischen Carl Friedrich von Siemens und Brockdorff-rantzau nicht hervor, ob die reise Hilmers‘ im Auftrag von S&H im Zusammenhang mit der Kooperation zwischen reichswehr und roter Armee zu sehen ist.117 Es fand sich lediglich ein Hinweis darauf, dass das Unternehmen im Untersuchungszeitraum elektrotechnisches Zubehör an die rote Armee verkaufte. Allerdings stand dieser Auftrag nicht in Verbindung mit der Gefu, sondern wurde von der Berliner Handelsvertretung abgewickelt.118 2.3 Kommunikation mit nicht-staatlichen Akteuren Die Netzwerke von Siemens zu nicht-staatlichen Akteuren beinhalteten erstens die Verbandsaktivitäten des Unternehmens im Deutsch-russischen Verein, im russlandausschuss der Deutschen wirtschaft sowie im Zentralverband der Elektrotech114 Müller: Das tor zur weltmacht (1984), S. 231. 115 V. V. Kapistka: Aviacionnyj Import SSSr pered Vtoroj Mirovoj Vojnoj, in: Voenno-istoričeskij Žurnal 11 (2004), S. 24–29, hier 24. 116 Gorlov: Moskau-Berlin (1998), S. 262. 117 SAA 4 Lf 685, Carl Friedrich von Siemens: Brief an Brockdorff-rantzau. Siemensstadt 11.11.1925. 118 rGAĖ f. 413, op. 6, d. 162, Berliner Handelsvertretung: Dokumente über einen Auftrag an S&H. Berlin 1923–1924. Es handelte sich dabei um einen Auftrag der militärtechnischen Abteilung der roten Armee im Namen des Volkskommissariats für Militär- und Marinewesen (Narodnyj Komissariat po Voennym i Morskim Delam, Voenno-techničeskoe Upravlenie Raboče-krestianskoj Krasnoj Armii).
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nischen Industrie. Die drei Verbände und vor allem der russlandausschuss spielten eine außerordentlich wichtige rolle dabei, die Kommunikation zwischen Unternehmen und der deutschen Politik zu koordinieren, die Interessen der Unternehmen auf politischer Ebene zu vertreten und Konflikte zu lösen. Zweitens ermöglichte die direkte Vernetzung von Siemens mit anderen am Sowjetgeschäft beteiligten Unternehmen eine Abstimmung mit Akteuren, die vergleichbare Interessen verfolgten. Siemens im Deutsch-Russischen Verein Der Deutsch-russische Verein zur Pflege und Förderung der gegenseitigen Handelsbeziehungen wurde 1899 gegründet.119 obwohl der Verein nach der oktoberrevolution viele seiner Mitglieder verlor, konnte er sich 1920 wieder als zentrales organ der deutschen wirtschaft in Fragen der politischen Interessenvertretung etablieren. Siemens trat 1915 dem Verein bei und wurde dadurch in das Verteilernetz aufgenommen, das deutsche Unternehmen seit 1917 regelmäßig mit Informationen über die Lage in Sowjetrussland versorgte.120 Das Unternehmen machte sich die Angebote des Deutsch-russischen Vereins vor allem in den frühen 1920er Jahren zunutze. Siemens abonnierte die halbmonatlich erscheinende Vereinspublikation „ostwirtschaft“ und wurde durch rundschreiben über die Aktivitäten des Vereins unterrichtet. Auch nahmen Vertreter des Unternehmens regelmäßig an den Veranstaltungen des Vereins teil. Bei diesen Informationsveranstaltungen legte der Deutsch-russische Verein einen besonderen wert darauf, die Vernetzung zwischen Unternehmen und der deutschen Außenwirtschaftspolitik zu verbessern. wiederholt wurden aktive oder ehemalige Vertreter des Auswärtigen Amts zu Vorträgen eingeladen.121 Auffallend ist, dass der Deutsch-russische Verein nach der oktoberrevolution sofort eine klare Position gegen die Bol‘ševiki bezog. während des russischen Bürgerkriegs kümmerte er sich vor allem um die Unterstützung der russischen Exilgemeinde in Deutschland und den Postverkehr in die „nichtbolschewistische[n] teile rußlands“122. Noch Ende des Jahres 1920 ist in einem Bittschreiben des Vereins an Siemens bezüglich der Unterstützung des russischen roten Kreuzes Folgendes zu lesen:
119 Löhr: rußlandstrategien der deutschen wirtschaft (1985), S. 33. 120 Vgl. dazu mehrere Informationsschreiben des Deutsch-russischen Vereins in SAA 6388. 121 Vgl. die Vorträge der Konsuln Graap und Bartels (dazu: SAA 11 Lf 449, Liebach: Aktennotiz über eine Besprechung im Deutsch-russischen Verein. Siemensstadt 27.1.1923; SAA 49 Ls 60, Georg Kandler: 22. ordentliche Mitgliederversammlung des Deutsch-russischen Vereins am 4.11.1920. Siemensstadt 6.11.1920) sowie des Staatssekretärs a. D. Müller (SAA 49 Ls 60, Deutsch-russischer Verein: Mitteilung an die Mitglieder. Berlin 13.5.1922). Der Deutsch-russische Verein hatte bereits seit seiner Gründung 1899 enge Kontakte zu staatlichen Stellen aufgebaut. Perrey: rußlandausschuß der Deutschen wirtschaft (1985), S. 58. 122 SAA 3865, Deutsch-russischer Verein: rundschreiben Nr. 16. Berlin 12.8.1919.
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teil III Siemens im Sowjetgeschäft: Eine Institutionenanalyse „Es ist doch damit zu rechnen, dass über kurz oder lang, jedenfalls in absehbarer Zeit, die Sowjetregierung zusammenbricht, und dann werden nach und nach diejenigen Kreise, welche jetzt als russische Emigranten im Auslande sich aufhalten und zum allergrössten teile bittere Not leiden, die träger der russischen wirtschaft sein, und man wird es den deutschen Kreisen des Handels und der Industrie Dank wissen, dass wir in Zeiten der Not nach Möglichkeit hilfsbereit gewesen sind.“123
trotz dieser offensichtlichen ideologischen Ausrichtung begann die sowjetische Handelsvertretung in Berlin frühzeitig, mit dem Deutsch-russischen Verein zu kooperieren. Vorbehalte, die später von sowjetischer Seite dem russlandausschuss entgegengebracht wurden, bestanden nicht. wie Perrey schreibt, sah die Handelsvertretung den Deutsch-russischen Verein vielmehr als einen wichtigen Partner an, um Kontakte zu Unternehmen herzustellen.124 Der Deutsch-russische Verein bot Siemens eine Plattform zur Kommunikation sowohl mit anderen Unternehmen als auch mit politischen Akteuren. Die Bedeutung dieser institutionalisierten Kommunikationsebene wurde auch von anderen Unternehmen als sehr wichtig eingeschätzt. Bis 1923 wuchs die Mitgliederzahl im Deutsch-russischen Verein auf fast 1.000 Unternehmen an, hinzu kamen zahlreiche Handelskammern und wirtschaftsverbände. Zur 22. Mitgliederversammlung des Vereins im November 1920, als den deutschen Unternehmen das Schicksal des sowjetischen Staates weiterhin äußerst unsicher schien, schreibt Georg Kandler von einem „sehr regen“ Besuch und besonders strengen Einlasskontrollen.125 Der Deutsch-russische Verein etablierte sich nach 1917 als wichtigstes Sammelbecken nicht-staatlicher deutscher wirtschaftsinteressen im Sowjetgeschäft. Siemens hielt seine Mitgliedschaft bis 1928 aufrecht, als der Deutsch-russische Verein im russlandausschuss der Deutschen wirtschaft aufging. Siemens im Reichsverband der Deutschen Industrie Der rDI als Dachorganisation der deutschen Industrieverbände nahm seit seiner Gründung im April 1919 eine Schlüsselrolle darin ein, die Interessen der Industrie gegenüber anderen wirtschaftsverbänden und dem Staat zu vertreten.126 Carl Friedrich von Siemens hatte seit 1919 einen Sitz im Vorstand und Präsidium inne und wurde kurzzeitig sogar als Kandidat für den Verbandsvorsitz gehandelt. Der rDI engagierte sich während der Konferenz von Genua 1922 erstmals intensiv in den deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen und bemühte sich auch in den folgenden Jahren darum, die Interessen der Industrie zu vertreten. Ein Blick auf die Einladungsschreiben zu Vorstandssitzungen zeigt, dass das Sowjetgeschäft regelmäßig auf der tagesordnung erschien und darin zeitweise, wie im rahmen des 123 SAA 49 Ls 60, Deutsch-russischer Verein: Mitteilung an die SSw, Abteilung ZVbr. Berlin 11.12.1920, S. 1. 124 Perrey: rußlandausschuß der Deutschen wirtschaft (1985), S. 59. 125 SAA 49 Ls 60, Georg Kandler: 22. ordentliche Mitgliederversammlung des Deutsch-russischen Vereins am 4.11.1920. Siemensstadt 6.11.1920, S. 1. 126 Dazu ausführlich: wolff-rohé: Der reichsverband der Deutschen Industrie (2001), S. 58ff.
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wirtschaftsabkommens vom 12. oktober 1925, einen wichtigen Stellenwert einnahm.127 Siemens war durch Hermann reyß sowie Hermann Görz im Deutschrussischen Ausschuss des rDI vertreten und beteiligte sich später maßgeblich an der Arbeit des russlandausschusses der Deutschen wirtschaft (vgl. dazu teil II, Kapitel 4.2). Für Konfliktpotential im rDI sorgte jedoch die breite Ausrichtung der Verbandsstruktur. Sie führte bereits in der Gründungsphase zu Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Branchen, wie zwischen Schwer-, Elektro- und chemischer Industrie bei der wahl des Vorsitzenden.128 Auch im Sowjetgeschäft zeigten sich die unterschiedlichen Interessen der Mitgliedsverbände und so kam es zum Beispiel während der Abwicklung der Liefergeschäfte aus den Pjatakov-Abkommen von 1931 und 1932 zu heftigen Konflikten zwischen schwerindustriellen und elektrotechnischen Unternehmen über die Vergabe von Ausfallbürgschaften. Angesichts dieser heterogenen Strukturen im rDI fiel vor allem den Branchenverbänden die Aufgabe zu, die Interessen ihrer Mitgliedsunternehmen zu vertreten. Siemens im Zentralverband der Deutschen Elektrotechnischen Industrie wichtigster Branchenverband für Siemens war der Zentralverband der Deutschen Elektrotechnischen Industrie, dessen Gründung sich am 8. März 1918 in direktem Zusammenhang mit den deutsch-sowjetischen Beziehungen vollzog.129 Der Verband ging aus zwei Vorgängerorganisationen hervor und war eine unmittelbare reaktion der Elektroindustrie auf den Abschluss des Vertrags von Brest-Litovsk. Mit der Gründung des ZVEI wollten die elektrotechnischen Unternehmen ihre Kräfte bündeln und der Schwerindustrie eine eigene zentrale Interessenvertretung gegenüberstellen. Siemens war als größtes deutsches Elektrounternehmen entscheidend daran beteiligt, die zum teil sehr unterschiedlichen Interessen der Elektroindustrie zusammenzufassen. Carl Friedrich von Siemens übernahm den ersten Vorstandsvorsitz des ZVEI und blieb bis 1933 in dieser Position. Maximilian Frese schreibt in seinen Erinnerungen Folgendes über den Einfluss Carl Friedrichs: „Die günstige Atmosphäre, die [im ZVEI] herrschte, war hauptsächlich den Persönlichkeiten zu danken, welche die maßgeblichsten Firmen in den Vorstand und Vorstandsrat entsandt hatten. Vor allem war es Carl Friedrich von Siemens, dessen objektivität und schlichte Sachlichkeit von allen […] anerkannt und geschätzt wurde.“130
Ein Kernziel des ZVEI nach dem Ersten weltkrieg lag darin, die außenwirtschaftlichen Interessen der deutschen Elektroindustrie, traditionell ein Schwerpunkt der
127 128 129 130
Vgl. dazu die Schreiben des rDI in SAA 4 Lf 665. wolff-rohé: Der reichsverband der Deutschen Industrie (2001), S. 47ff. Zur Gründung des ZVEI vgl. ausführlich Holzer: the German Electrical Industry (1970). SAA 61 Lm 854, Maximilian Frese: Die Geschichte der Spitzenverbände der elektrotechnischen Industrie. ort unbekannt 1956, S. 133.
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Branche, zu vertreten.131 Den deutsch-sowjetischen Beziehungen widmete der ZVEI dabei besondere Aufmerksamkeit. Für den gesamten Untersuchungszeitraum sind Beispiele nachweisbar, in denen der ZVEI eine wichtige Vermittlerrolle sowohl zwischen den Elektrounternehmen untereinander als auch zwischen wirtschaftlichen und politischen Interessen einnahm. Im Jahr 1921 koordinierte er zum Beispiel in Zusammenarbeit mit dem reichswirtschaftsministerium eine Sachverständigenreise nach Sowjetrussland.132 Ein Jahr später organisierte er eine Diskussion mit den Verbandsmitgliedern über die Gründung von Unternehmensvertretungen in Moskau.133 Ebenfalls war der ZVEI als Mitglied des Deutsch-russischen Ausschusses im rDI direkt in die Verhandlungen zum wirtschaftsvertrag vom 12. oktober 1925 eingebunden. Zwar wurden der Vertragsabschluss und die folgenden Kreditabkommen aus Perspektive der Elektroindustrie kritisch beurteilt (vgl. dazu das Zitat von raumers auf S. 198). Der ZVEI nahm jedoch einen Sitz im Verwaltungsrat der IFAGo ein und konnte dadurch die Interessen der Elektrounternehmen bei der Kreditvergabe vertreten. Aus dem Geschäftsbericht von 1926 geht hervor, dass der Verband eine besonders wichtige Funktion beim Informationsaustausch mit den Unternehmen hatte: „Über die näheren Bestimmungen für die Ausfallbürgschaft wie auch für die Inanspruchnahme der IFAGo sind unsere Mitglieder durch ausführliche rundschreiben von uns laufend eingehend informiert worden.“134
Als die sowjetischen Aufträge deutscher Elektrounternehmen infolge des 300-Millionen-Kredits stark anstiegen, koordinierte der ZVEI eine Vereinheitlichung der Preispolitik sowie die Standardisierung der Liefergeschäfte. 1926 wurden in langwierigen Verhandlungen mit der Berliner Handelsvertretung allgemeine Lieferbedingungen schriftlich fixiert, die nach Frese zu einer „wesentlichen Vereinfachung des russlandgeschäfts“135 führten. Von Siemens waren darin maßgeblich Georg Kandler und Hugo Schwichtenberg vom tB ost involviert. Auch im rahmen der Aufträge aus den beiden Pjatakov-Abkommen von 1931 und 1932 fungierte der ZVEI als Sprachrohr in übergeordneten Fragen des Sowjetgeschäfts, wie bei Liefer- und Zahlungsbedingungen. Er vertrat die Interessen der Elektrounternehmen in Konflikten gegen das reichswirtschaftsministerium oder gegenüber anderen Verbänden zum Beispiel bei der Verteilung der Ausfallbürgschaften,136 sowie gegen131 SAA 61 Lm 854, Maximilian Frese: Die Geschichte der Spitzenverbände der elektrotechnischen Industrie. ort unbekannt 1956, S. 55; 108ff. Seit 1924 existierte im ZVEI auch eine statistische Abteilung, die die Mitgliedsfirmen durch detaillierte Berichte über die Entwicklung des Elektroaußenhandels informierte. 132 SAA 4 Lf 813, ZVEI: Brief des ZVEI an Carl Friedrich von Siemens mit angehängtem Brief des reichswirtschaftsministers an den ZVEI. Berlin 30.6.1921. 133 SAA 4 Lf 730, ZVEI: Sitzungsbericht 4027/3. Berlin 28.3.1922. 134 SAA 61 Lf 632, ZVEI: Geschäftsbericht 1926. Berlin 3.12.1926, S. 54. 135 SAA 61 Lm 854, Maximilian Frese: Die Geschichte der Spitzenverbände der elektrotechnischen Industrie. ort unbekannt 1956, S. 80. Vgl. dazu ausführlich teil II, Kapitel 3.6. Zur Neuverhandlung der Lieferbedingungen nach 1931, an der der ZVEI erneut federführend beteiligt war, vgl. den umfangreichen Schriftverkehr in SAA 32 La 495. 136 Vgl. dazu SAA 32 La 495.
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über der Berliner Handelsvertretung wie zum Beispiel in Fragen der Zahlungsbedingungen bei Lieferverträgen.137 Der ZVEI bemühte sich, unter den Elektrounternehmen eine möglichst einheitliche Haltung herzustellen. Angesichts der Konkurrenz zwischen den Großunternehmen der Branche untereinander wie auch des Gegensatzes zwischen Groß- und kleineren Spezialunternehmen war dies oftmals eine schwere Aufgabe. So konnte auf einer Vorstandssitzung im Jahr 1926 keine einheitliche Linie bezüglich der Beteiligung des ZVEI an einer Vertretung des rDI in Moskau gefunden werden, da sich AEG einem diesbezüglichen Vorschlag von reyß widersetzte.138 Dennoch hatte der ZVEI eine wichtige Funktion darin, die Interessen der Elektroindustrie gegenüber der deutschen Außenwirtschaftspolitik, anderen Interessenverbänden oder dem sowjetischen Außenhandelsapparat zu vertreten. Mit dem ehemaligen reichswirtschaftsminister Hans von raumer verfügte der ZVEI über einen profilierten Vorsitzenden mit großer Erfahrung im russlandgeschäft und einem hervorragenden Kontaktnetzwerk zu politischen Entscheidern. Netzwerke mit anderen Unternehmen Parallel zu den Verbandsaktivitäten etablierte Siemens zum teil sehr enge Netzwerke mit anderen am Sowjetgeschäft interessierten Unternehmen, die sich über den gesamten Untersuchungszeitraum verfolgen lassen. Ziel dieser Netzwerke war erstens der Informationsaustausch. Zweitens versuchten die Unternehmen, diese Netzwerke für die Durchsetzung gemeinsamer Interessen zu nutzen. Auf diesen letzten Punkt gehe ich in Kapitel 4.2 näher ein. Es folgt nun ein Überblick über wichtige Unternehmensnetzwerke von Siemens im Sowjetgeschäft. An erster Stelle ist hier AEG zu nennen. AEG war einerseits der größte deutsche Konkurrent von Siemens, verfügte aber andererseits auch über ähnliche Interessen, da russland in der Vorkriegszeit der größte Auslandsmarkt des Unternehmens gewesen war. Aufgrund dieser gemeinsamen Interessenlage strebten Siemens und AEG zum Beispiel in Fragen der Entschädigungen eine enge Koordination an, die an die Kooperationserfahrung aus der Vorkriegszeit anknüpfte und die weitgehend informell verlief.139 Carl Friedrich erhielt bereits im März 1918 eine Anfrage von Felix Deutsch, sich über „gemeinsame Schritte, russischen Besitz betreffend“140 zu verständigen. Nach einer diesbezügliche Sitzung von S&H und SSw herrschte Einigkeit darüber, „in allen diesen allgemeinen Fragen [die ehemaligen russischen tochtergesellschaften betreffend] sich mit der A.E.G. in Verbindung zu halten“141. 137 Vgl. dazu die Dokumentation in SAA 3867. 138 SAA 4 Lf 730, ZVEI: Niederschrift 4027/5 über die Sitzung des Vorstands. Berlin 2.12.1926. 139 Vgl. dazu auch Holzer: „Carl Friedrich Siemens and Felix Deutsch had a gentleman‘s agreement to co-operate on matters pertaining to their russian properties.“ Holzer: the German Electrical Industry (1970), S. 221. Zu der Kooperation zwischen Siemens und AEG im russlandgeschäft vor 1914 vgl. auch SAA 6358. 140 SAA 4 Lf 514, Carl Friedrich von Siemens: Brief an Görz. Siemensstadt 4.3.1918, S. 1. 141 SAA 11 Lb 93, otto Henrich: Auszug aus der Niederschrift vom 10. Mai 1918 betr. Aktienbe-
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Diese Abstimmung setzte sich nach 1928 unter Deutschs Nachfolger Bücher fort. Auf der Ebene der Fachabteilungen gab es desgleichen eine regelmäßige Abstimmung zwischen tB ost und Joseph Bleimann, Leiter der Abteilung russland bei AEG. Darüber hinaus stand Siemens in zum teil enger Verbindung mit anderen deutschen Unternehmen, die nicht im Bereich Elektrotechnik tätig waren. Mit Karl Fehrmann, Leiter der Abteilung russland im Stinnes-Konzern, pflegte Hermann Görz Anfang der 1920er Jahre einen regelmäßigen Kontakt.142 In einer handschriftlichen Notiz vermerkte Carl Friedrich von Siemens, auch eine „enge Fühlung mit otto wolff“143 zu halten. Ebenfalls stand Siemens schon kurz nach der oktoberrevolution mit ausländischen Unternehmen in Kontakt, um Informationen auszutauschen und gemeinsame Interessen im Sowjetgeschäft zu sondieren. Im Jahr 1919 schlossen Siemens und AEG dazu ein informelles Abkommen mit Ericsson, Marconi wireless und weiteren Unternehmen ab, die in Petrograd über Niederlassungen verfügten. Dieses Abkommen wurde 1921 zwischen S&H und Ericsson erneuert und durch western Electric, eine tochtergesellschaft von At&t aus den USA, erweitert.144 Über diese frühen informellen Abkommen hinaus sind besonders einige Hinweise darauf hervorzuheben, dass Siemens auch in der letzten Phase des weimarer Sowjetgeschäfts mit den Konkurrenten aus den USA nicht nur kommunizierte, sondern sogar Kooperationsmechanismen institutionalisierte. Die Quellen aus dem Siemens-Archiv geben darauf nur einen spärlichen Hinweis. Anhand zweier Beispiele ist dies jedoch nachweisbar. Erstes Beispiel ist der Briefwechsel zwischen Carl Köttgen und Clark Minor von General Electric bezüglich der reise deutscher Industrieller nach Moskau im März 1931.145 Minor bat um einen Einblick in die Einzelheiten der Moskauer Verhandlungen. Er erhielt noch im selben Monat einen ausführlichen und vertraulichen Bericht über die persönlichen Eindrücke Köttgens und das Ergebnis der Verhandlungen aus Siemens-Perspektive. Der tonfall und indirekte Verweise in den Briefen deuten darauf hin, dass es sich hier um keinen Einzelfall handelte, sondern dass seit längerem ein entsprechender Kontakt zwischen Minor und Köttgen bestand. wie Minor später mitteilte, hatte er Köttgens Bericht auch an den Präsidenten von General Electric Gerard Swope sowie an das Vorstandsmitglied owen D. Young weitergeleitet. sitz und Forderung an die russischen Häuser. Siemensstadt 14.6.1918, S. 2. 142 Vgl. den Briefwechsel in SAA 6397. Zur Koordination zwischen Siemens, AEG und Stinnes im Sowjetgeschäft vgl. auch die Besprechung mit Krasin im Mai 1921, an der Görz, Fehrmann und Deutsch teilnahmen. SAA 4 Lf 685, Hermann Görz: Besprechung über die Anbahnung von wirtschaftsbeziehungen zu russland am 26.5.1921. Siemensstadt 28.5.1921. 143 SAA 4 Lf 685, Carl Friedrich von Siemens: Handschriftliche Notizen über das Sowjetgeschäft. Siemensstadt 1923, S. 1. 144 Vgl. den Brief des Direktors Johansson von Ericsson: SAA 6339, Henning Johansson: Brief an Franke (S&H) mit Memorandum über das Abkommen der Schwachstromfirmen. Stockholm 26.11.1921; sowie: SAA 6339, Erich thürmel: Brief an Görz mit angehängtem Memorandum über Abmachungen in russland. Siemensstadt 15.12.1921. 145 Vgl. dazu den Briefwechsel in SAA 11 Lf 292.
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Zweitens Beispiel ist ein Brief des Vizepräsidenten der europäischen tochter von westinghouse, in dem es um den Informationsaustausch über Arbeitsbedingungen in der Sowjetunion ging.146 Zwar handelt es sich hier nur um einen einzigen Brief, der jedoch auf eine regelmäßige Kommunikation zwischen Siemens und westinghouse hinweist. Es wird darin angedeutet, dass bereits mehrfach persönliche treffen stattgefunden hatten, in denen das Vorgehen beider Unternehmen im Sowjetgeschäft diskutiert worden war. während der weltwirtschaftskrise sowie des ersten Fünfjahresplans war das Sowjetgeschäft für deutsche und US-amerikanische Unternehmen von eminent wichtiger Bedeutung und entsprechend hart umkämpft. Doch trotz dieser großen Konkurrenz weisen die beiden Beispiele darauf hin, dass Siemens mit westinghouse und General Electric in einem gewissen rahmen kooperierte und den Kontakt zumindest zum gegenseitigen Erfahrungsaustausch nutzte. 2.4 Kooperationen und Konflikte im Sowjetgeschäft von Siemens Siemens institutionalisierte bald nach der oktoberrevolution vielfältige externe Netzwerke mit der Umwelt durch die Kommunikationsbeziehungen mit Akteuren des sowjetischen Außenhandelsapparats, mit deutschen Ministerien sowie mit Unternehmen und Verbänden. Ziel des Unternehmens war es erstens, durch die Kommunikation mit der Umwelt die fundamental veränderten Umweltbedingungen im Sowjetgeschäft besser zu erfassen und neue Mechanismen für die Verarbeitung von Informationen zu generieren. Zweitens versuchte Siemens, die externen Netzwerke zur Umsetzung der Unternehmensziele strategisch einzusetzen und das Sowjetgeschäft in der Umwelt institutionell zu stabilisieren. Im Folgenden wird diskutiert, inwieweit diese Kommunikationsprozesse kooperativ verliefen und warum insbesondere die Interaktion zwischen Siemens und dem sowjetischen Außenhandelsapparat weitgehend durch fehlendes Verständnis charakterisiert war. Das Potential von Siemens, seine institutionelle Umwelt gezielt zu beeinflussen, werde ich im anschließenden Kapitel untersuchen. Kooperationspotential im Sowjetgeschäft: Die Netzwerke mit Unternehmen, Verbänden und der deutschen Außenwirtschaftspolitik Nach Siegenthaler wird es Akteuren durch Kommunikation ermöglicht, in fundamentalen Krisen Verständnis für neue Umweltbedingungen zu entwickeln und neue regeln zur Stabilisierung der Umwelt auszubilden:
146 SAA 11 Lf 292, westinghouse Electric: Brief des Vizepräsidenten der europäischen Niederlassung an Köttgen. London 16.6.1931.
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teil III Siemens im Sowjetgeschäft: Eine Institutionenanalyse „radikale Unsicherheit und vollkommener Verlust an regelvertrauen gibt, wie gesagt, dem Gespräch die Chance, zu einem verstehens- und verständigungsorienierten zu werden, das sich gemeinsamer Erfahrung im Entwurf neuen Denkens bemächtigt.“147
Insbesondere in den Netzwerken von Siemens mit anderen Unternehmen wird dieser rückgriff auf gemeinsame Erfahrungen im vorrevolutionären russlandgeschäft deutlich. Mit AEG verband Siemens eine gemeinsame Geschichte auf dem russischen Markt, die trotz der Konkurrenz nach der revolution zu weitgehenden Interessenidentitäten führte. Sie ermöglichte bereits Anfang 1918 eine informelle Kooperation zwischen Carl Friedrich von Siemens und Felix Deutsch. Darüber hinaus traf Siemens mit mehreren Schwachstromfirmen aus dem Ausland, darunter Ericsson und Marconi wireless, ein informelles Abkommen zur gegenseitigen Unterstützung ihrer – nunmehr verstaatlichten – tochtergesellschaften im revolutionären Petrograd. Diese Netzwerke boten eine institutionalisierte Plattform zum Austausch über gemeinsame Interessen, die zur Kooperation und in manchen Fällen auch zur Entwicklung gemeinsamer Geschäftsstrategien führte. Im Verlauf der 1920er Jahre wurden die rein unternehmensbezogenen Netzwerke zwar zum teil durch das Engagement von Siemens im rDI und ZVEI abgelöst. Sie blieben jedoch weiterhin ein elementarer Bestandteil der Unternehmensstrategie, besonders um durch Preiskartelle und andere informelle Absprachen dem sowjetischen Außenhandelsmonopol einen einheitlichen Block der Lieferunternehmen entgegenzustellen. Dagegen zeigt sich, dass das Potential der Kooperation zwischen Siemens und der deutschen Außenwirtschaftspolitik begrenzt war. Nach der intensiven Kommunikation im Frühsommer 1918, als Siemens sowohl mit dem Auswärtigen Amt als auch mit dem reichswirtschaftsamt in enger Verbindung stand, lässt sich eine vergleichbare Kommunikation für die weimarer republik nicht nachweisen. Vielmehr werden in den überlieferten Schriftwechseln grundsätzliche Unterschiede in den Zielvorstellungen deutlich, die Siemens und insbesondere das Auswärtige Amt in den deutsch-sowjetischen Beziehungen verfolgten. So traf die rede des Außenministers Simons über die Beteiligungsmöglichkeiten der deutschen Elektroindustrie im rahmen des GoĖLro-Plans im Unternehmen auf große Skepsis. Auch einige Jahre später wurde die implizite Aufforderung Brockdorff-rantzaus an Carl Friedrich von Siemens, das Unternehmen möge sich stärker als bisher im Sowjetgeschäft engagieren, von diesem mit Verweis auf die hohen risiken zurückgewiesen. Die Vernetzung mit dem Auswärtigen Amt diente primär dem Zweck, das Unternehmensgeschäft auch auf diplomatischer Ebene institutionell abzusichern. Eine expansive Strategie im Sowjetgeschäft, wie sie den ostpolitikern im Auswärtigen Amt vorschwebte, hat Siemens nicht verfolgt.
147 Siegenthaler: regelvertrauen, Prosperität und Krisen (1993), S. 185.
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Fehlendes Verständnis und Konflikt: Die gestörte Kommunikation zwischen Siemens und dem sowjetischen Außenhandelsapparat In seinen Überlegungen zur Kommunikation in fundamentalen Krisen geht Siegenthaler davon aus, Akteure würden im Normalfall über ein repertoire an gemeinsamen Erfahrungen und Interessen verfügen, die die soziale Interaktion stabilisieren können. Siegenthaler berücksichtigt zwar auch die Möglichkeit, dass in fundamentalen Krisen Akteure zusammentreffen können, die über keine gemeinsame Erinnerungsbasis verfügen. Er bezeichnet ein solches Zusammentreffen jedoch als große Ausnahme: „Der […] Grenzfall, in dem keine andere Erfahrung vorliegt, an die das Gespräch anknüpfen könnte, als der Prozeß interaktiver Kommunikation selber, ist dabei der regelfall natürlich nicht. Im regelfall sind andere gemeinsame Erfahrungen verfügbar.“148
Dieser „Grenzfall“ wird von Siegenthaler nicht weiter diskutiert. Er geht vielmehr darauffolgend auf die Kommunikation zwischen Akteuren ein, die über gemeinsame Erfahrungswerte verfügen. wie aber zu vermuten ist, treten solche Grenzfälle besonders in der Kommunikation zwischen Akteuren auf, die fundamental differierende Zielpräferenzen verfolgen. Ein solcher Fall war die Kommunikation zwischen Siemens und den Akteuren des sowjetischen Außenhandelsmonopols. Es fällt dabei zunächst auf, dass Siemens zumindest in der Anfangsphase des Sowjetgeschäfts vor allem mit Akteuren kommunizierte, mit denen das Unternehmen eine gemeinsame Geschichte verband. Hervorzuheben ist insbesondere die Kommunikation zwischen Krasin und Görz, deren lange gemeinsame tätigkeit für Siemens einen rückgriff auf gemeinsame Erfahrungen und dadurch ein gegenseitiges Verständnis auch nach der oktoberrevolution ermöglichte. Das „Gespräch“ zwischen dem sowjetischen Außenhandelskommissar und dem repräsentanten des Großunternehmens wurde durch dieses historisch bedingte gegenseitige Verständnis sehr erleichtert (vgl. dazu ausführlich Kapitel 4.3). Aus der Kommunikation zwischen Görz und seinem ehemaligen Mitarbeiter Krasin ist allerdings kein Automatismus abzuleiten. wie das Beispiel Stomonjakovs zeigt, konnten frühere Siemens-Mitarbeiter im sowjetischen Außenhandelsapparat durchaus auf Konfrontationskurs zum Unternehmen gehen. Der Briefwechsel zwischen Carl Friedrich von Siemens und Stomonjakov während des Konflikts von 1923 verdeutlicht, wie schwierig es war, eine gemeinsame Sprache als Basis der Kommunikation zu finden. Das „Gespräch“ hatte damit kaum eine Chance, zu einem „verstehens- und verständigungsorientierten“ (Siegenthaler) zu werden. Vielmehr standen sich die fundamental differierenden Positionen Carl Friedrich von Siemens‘ und Stomonjakovs unversöhnlich gegenüber. Ein gegenseitiges Verständnis entwickelte sich nicht. Auch an einigen späteren Beispielen aus der Kommunikation zwischen Siemens und sowjetischen Akteuren wurden diese fundamentalen Gesprächsbarrieren deutlich. So bezeichnete Eberhard Pelkmann die rüde Ablehnung eines Konzessionsangebots von Siemens durch den Schwachstromtrust als „eine solche Brüskie148 Siegenthaler: regelvertrauen, Prosperität und Krisen (1993), S. 186.
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rung unserer Firma“, dass er die weiteren Verhandlungen zunächst aussetzte (vgl. das Zitat auf S. 183). Ebenfalls sind in den Verhandlungen mit Ėlektroimport oder in den Schiedsverfahren gegen die Berliner Handelsvertretung regelmäßig Fälle nachweisbar, in denen grundsätzliche Differenzen über die Form und die Inhalte der Kommunikation auftraten. Derartige Differenzen sind nicht nur auf die Kommunikation zwischen Akteuren beschränkt, die fundamental unterschiedliche mentale Modelle verkörpern. Sie könnten im Gegenteil auch in der Interaktion zwischen Akteuren auftreten, die auf Basis gemeinsamer weltbilder ähnliche Zielpräferenzen verfolgen. Das Besondere im Sowjetgeschäft lag allerdings darin, dass der von Siegenthaler beschriebene Grenzfall der weitgehende regelfall war: Es gab mit Ausnahme Krasins für Siemens kaum die Möglichkeit, in der Kommunikation mit sowjetischen Akteuren auf gemeinsame Erfahrungen, gemeinsame weltbilder oder gemeinsame fundamentale Zielpräferenzen zu rekurrieren. wie sich vielmehr zeigte, erschwerten die fundamental differierenden mentalen Modelle die Kommunikation und verhinderten weitgehend die Ausbildung von gegenseitigem Verständnis sowie eine Kooperation auf Basis wechselseitigen Vertrauens.
3 wANDEL UND PErSIStENZ SEKUNDÄrEr INStItUtIoNEN IM SowJEtGESCHÄFt Siemens etablierte im Sowjetgeschäft vielfältige unternehmensexterne Netzwerke und trug dazu bei, die institutionelle Umwelt der deutsch-sowjetischen Beziehungen aktiv zu gestalten. Im Folgenden untersuche ich, wie stark das Unternehmen dabei den institutionellen wandel der Umwelt strategisch und in Abhängigkeit seiner Zielpräferenzen beeinflussen konnte. Ausgangspunkt ist die institutionenökonomische Annahme, dass Institutionen den Einsatz von transaktionskosten erfordern. Unter Verweis auf die truly bounded rationality von Akteuren übernehme ich diese Annahme und entwickle ein Modell, das institutionelle Effizienz in Abhängigkeit individueller Zielpräferenzen betrachtet. Akteure verfolgen in meinem Modell zwar das Ziel, ihren Nutzen zu maximieren. Sie sind dabei jedoch einer begrenzten rationalität unterworfen und versuchen, ihre institutionelle Umwelt durch den strategischen Einsatz von transaktionskosten effizient zu gestalten, um so ihren subjektiven Nutzen maximieren zu können. Das Modell wird in den Unterkapiteln 2 und 3 auf empirische Fallbeispiele übertragen und die tragfähigkeit des Konzepts überprüft. In Kapitel 3.4 folgt eine Beurteilung darüber, inwieweit Siemens den wandel sekundärer Institutionen im Sowjetgeschäft gestalten konnte.149
149 Vgl. dazu auch Häders Umsetzung des transaktionskostenansatzes am Beispiel des institutionellen wandels im Bereich Umweltpolitik: Häder: Umweltpolitische Instrumente (1997).
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3.1 transaktionskosten und institutionelle Effizienz transaktionskosten wurden auf S. 72 als diejenigen Kosten definiert, die bei der Herstellung, Veränderung und Nutzung von Institutionen entstehen. Ein Kernproblem der Institutionenökonomik ist es, dieses Konzept empirisch messbar zu machen. Clemens wischermanns Kritik aus dem Jahr 1993 ist noch heute gültig: „Das eigentliche, bislang kaum gelöste Problem stellt die empirische operationalisierung des transaktionskostenansatzes dar, denn bis heute sind kaum zuverlässige Feststellungen oder gar Prognostizierungen der Höhe von transaktions- bzw. organisationskosten möglich.“150
Im institutionenökonomischen Verständnis von oliver williamson bietet der transaktionskostenansatz einen Vergleichsmaßstab: Ein institutionelles Arrangement ist dann effizienter als ein anderes, wenn bei einer transaktion vergleichsweise geringere Kosten entstehen.151 Das Kriterium zur Beurteilung von Effizienz ist die relation zwischen eingesetzten Kosten und daraus resultierendem Nutzen. In einem evolutionären Prozess setzen sich bei williamson diejenigen Institutionen durch, die sich im wettbewerb mit anderen als effizienter erweisen. Dieses Effizienzmodell könnte folgendermaßen aussehen: – Fall 1: Kosteneinsatz 100, Nutzen 200, Differenz 100 – Fall 2: Kosteneinsatz 100, Nutzen 150, Differenz 50
Im Beispiel wäre das institutionelle Arrangement in Fall 1 effizienter als in Fall 2, da die gleiche Höhe von transaktionskosten einen höheren Ertrag erbringt. Folglich würde sich Fall 1 im Prozess des institutionellen wandels gegen Fall 2 durchsetzen. Die historische Institutionenforschung hat diese Interpretation des institutionellen wandels als „survival of the fittest“ grundlegend kritisiert. wischermann geht in Anlehnung an North vielmehr davon aus, dass effiziente Institutionen historische Ausnahmen sind.152 Aufgrund von Pfadabhängigkeiten ist institutioneller wandel auch dann sehr schwierig, wenn sich bestehende Institutionen bereits als ineffizient erwiesen haben. Vielmehr sind historisch gewachsene und in einer Gesellschaft tief verankerte regeln gegen Effizienzdruck sehr widerstandsfähig. Häder schreibt dazu: „Die mentalen Modelle der Individuen, insbesondere die von den Individuen geteilten Ideologien, nehmen in einer welt unvollständiger Information erheblichen Einfluß auf die wahrneh150 Clemens wischermann: Firma versus Fabrik? Frühindustrielle Unternehmensgeschichte in institutionalistischer Perspektive, in: Geschichte und Gesellschaft 19 (1993), 4, S. 453–474, hier 455. Vgl. dazu den Versuch von Nicholas, transaktionskosten als Vertragskosten zu operationalisieren: Nicholas: the New Business History (1993). 151 Ebers/Gotsch: Institutionenökonomische theorien der organisation (2001), S. 225. Die entscheidende Leistung effizienter Institutionen liegt deshalb nicht in der quantitativen Senkung von transaktionskosten, sondern in einem höheren Ertrag. wischermann: Kooperation, Vertrauen und Kommunikation (2003), S. 80. 152 wischermann: Vom Gedächtnis und den Institutionen (1998), S. 28; North: Institutions, Institutional Change and Economic Performance (1990), S. 92; North: Structure and Change (1981), S. 6.
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teil III Siemens im Sowjetgeschäft: Eine Institutionenanalyse mung und Bewertung institutioneller regeln. Die subjektiven Modelle von Individuen, die in verschiedenen Lebensräumen mit unterschiedlichen kulturellen und sprachlichen Hintergründen entstehen, können höchst divergent sein. Identische regeln können infolgedessen sehr unterschiedlich aufgenommen werden, können auf Akzeptanz oder aber Ablehnung stoßen. ob effiziente oder ineffiziente Institutionen evolvieren, hängt somit wesentlich von den ideologiegeprägten wahrnehmungsmustern ab, die in einer Gesellschaft bestehen.“153
Die Beurteilung von institutioneller Effizienz basiert demnach auf den subjektiven Zielpräferenzen der handelnden Akteure. Effizient ist eine Institution für den Akteur dann, wenn der Einsatz von transaktionskosten die Zielpräferenzen rechtfertigt, die er verfolgt.154 In wirtschaftlichen Austauschprozessen trifft dies besonders für die Institution des Vertrags zu. Transaktionskosten und Verträge Verträge wie zum Beispiel Kaufverträge sind Institutionen, deren Erschaffung, Veränderung und Überwachung den Einsatz von transaktionskosten erfordert.155 Sie werden auf verschiedenen Ebenen wirtschaftlicher Interaktion sowohl zwischen den Marktteilnehmern als auch innerhalb von Unternehmen abgeschlossen. Im neoklassischen Modell ist der Vertrag „vollständig“, das heißt die regelungen sind umfassend und legen bei Vertragsabschluss alle Eventualitäten zwischen den Vertragspartnern fest. Die Annahme vollständiger Verträge wird von der Neuen Institutionenökonomik grundsätzlich infrage gestellt. Vielmehr geht der institutionenökonomische Ansatz davon aus, dass Verträge nie (oder nur sehr selten) die Beziehungen zwischen Vertragspartnern bis in das kleinste Detail regeln können. Es bleiben auch in umfangreichen Vertragswerken immer inhaltliche Lücken, die zu füllen entweder nicht möglich ist oder zu teuer wäre. Die Neue Institutionenökonomik spricht deshalb von unvollständigen „relationalen Verträgen“ zwischen Auftragnehmer (Agent) und Auftraggeber (Prinzipal): „Der klassische Vertrag ist umfassend. Leistung und Gegenleistung werden für alle Eventualität ex ante bis zum Ende der Zeit, über die sich der Vertrag erstreckt, festgelegt. was die Parteien offen lassen, wird durch Vertragsrecht abgedeckt […]. Der relationale Vertrag läßt dagegen Lücken in den Vereinbarungen (weil es zu kostspielig wäre, sich über alle künftigen Eventualität ex ante zu einigen). Die Lücken werden nicht durch Vertragsrecht geschlossen. Der relationale Vertrag ist in ein soziales Beziehungssystem eingebettet, dessen Anfang und Ende nicht genau bestimmbar ist.“156
153 Häder: Umweltpolitische Instrumente (1997), S. 88f. 154 Vgl. auch die Definition in: Gabler wirtschaftslexikon (2004), S. 779. In Abgrenzung dazu wird Effektivität als relation zwischen Ziel und Ergebnis betrachtet. Vgl. dazu das Schaubild auf S. 70. 155 richter: Institutionen ökonomisch analysiert (1994), S. 16ff.; sowie Ebers/Gotsch: Institutionenökonomische theorien der organisation (2001), S. 209. 156 richter: Sichtweise und Fragestellung (1990), S. 583.
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Diese Einbindung von Verträgen in ein soziales Beziehungsgeflecht ermöglicht es, die Unzulänglichkeiten expliziter schriftlicher regeln durch persönliche Bindungen zu kompensieren: „Das persönliche Verhältnis der Vertragsparteien spielt eine rolle. […] Anders als beim klassischen Vertrag, bei dem annahmegemäß alles perfekt funktioniert, ist das Konzept des relationalen Vertrags auf ‚trouble‘ abgestellt, auf die Notwendigkeit fortlaufender Verhandlungen zur Lösung immer neuer Probleme, wie sie in einer welt unvorhersehbarer Ereignisse nun einmal auf uns zukommen.“157
Zwei wichtige Schlussfolgerungen lassen sich aus dem Modell relationaler Verträge ableiten. Legt man erstens die institutionenökonomische Annahme opportunistischen Verhaltens zugrunde, dann laden unvollständige Verträge Akteure dazu ein, sich aus der Unvollständigkeit von Verträgen einen nutzenmaximierenden Vorteil zu verschaffen. Ein Agent könnte sich zum Beispiel seinen Informationsvorsprung gegenüber dem Prinzipal zu Nutze machen und bei Vertragsabschluss dieses wissen verheimlichen, um einen späteren Nutzen daraus zu ziehen (hidden information). Ebenfalls wäre ein Agent in der Lage, vom Prinzipal unbemerkt vertragsverletzende Handlungen durchzuführen (hidden action).158 Zweitens besagt die institutionenökonomische Vertragstheorie, dass das Vertragsverhältnis zwischen Prinzipal und Agent modelltheoretisch nicht nur auf eine explizite Dimension begrenzt werden kann, sondern dass Verträge auch in ein soziales Beziehungssystem integriert sind. Ein Vertrag, vor allem wenn er langfristig angelegt ist, erfordert persönliche Beziehungen zwischen den Vertragspartnern, um Stabilität zu gewährleisten. Zumindest in langfristigen Verträgen fließen deshalb auch implizite Steuerungsmechanismen wie in erster Linie Vertrauen ein. Sie werden zwar nicht schriftlich fixiert, tragen aber dennoch entscheidend zur Einhaltung der expliziten regelungen bei.159 Sowohl explizite als auch implizite Verträge sind deshalb „Mechanismen zur Stabilisierung unsicherer Erwartungen und zur Verringerung von Handlungskomplexität“160. Da im institutionenökonomischen Ansatz relationale Verträge in ein soziales Beziehungsgeflecht eingebunden sind folgt daraus, dass die Interpretation von Verträgen durch Akteure von ihrer individuellen Handlungsrationalität beziehungsweise von ihren subjektiven mentalen Modellen abhängt. Im Vergleich zu den Interpretationsmustern eines kapitalistischen Unternehmens wie Siemens gab es dabei im sowjetischen Außenhandel gravierende Unterschiede.
157 158 159 160
richter: Institutionen ökonomisch analysiert (1994), S. 59. Ebers/Gotsch: Institutionenökonomische theorien der organisation (2001), S. 213. richter: Institutionen ökonomisch analysiert (1994), S. 20. ripperger: Ökonomik des Vertrauens (1998), S. 29.
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Truly bounded rationality und subjektive Effizienz im sowjetischen Außenhandel Das Außenhandelsmonopol war ein Kernelement der sowjetischen wirtschaftspolitik. Es war eine der wirtschaftlichen „Kommandohöhen“, die als unabdingbar für den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft angesehen wurden. Mit Ausnahme einer kurzen Phase zu Beginn der 1920er Jahre stand ein Verzicht auf das Außenhandelsmonopol nicht zur Diskussion, auch wenn sich frühzeitig große Probleme in der praktischen Durchführung der Import- und Exportpolitik zeigten. Das Effizienzkriterium im Außenhandel war nicht primär auf dessen wirtschaftlich effiziente Durchführung im Sinne einer costly bounded rationality ausgerichtet, sondern lag vielmehr in den besonderen Zielpräferenzen begründet, die die Bol‘ševiki verfolgten. Zielpräferenz der Sowjetunion im Außenhandel war es, den technischen Vorsprung des westens für den Aufbau der eigenen Industrie auszunutzen. Gleichzeitig sollte der Staat dabei seinen hoheitlichen Einfluss in der Interaktion mit ausländischen Unternehmen unbedingt bewahren. Die Effizienz der Außenwirtschaftspolitik wurde deshalb an der Frage gemessen, ob die Sowjetunion ihre Industrialisierungsziele erreichen und gleichzeitig einen Einfluss kapitalistischer Spielregeln auf die eigene wirtschaft verhindern konnte. Die wirtschaftspolitischen Entscheider nahmen im rahmen ihrer truly bounded rationality ökonomische Ineffizienzen in Kauf, um ideologische Ziele zu verwirklichen. Es stellt sich allerdings die Frage, ob der institutionelle wandel in einem längeren Zeitraum gedacht nicht doch ökonomisch effiziente Institutionen im Sinne des evolutionären Ansatzes bei williamson begünstigte. Zum Beispiel könnte argumentiert werden, dass die wirtschaftliche Stagnation und schließlich der Zerfall der Sowjetunion im wesentlichen auch durch ökonomische Ineffizienzen im Bereich des Außenhandels bedingt waren. Die wirtschaftliche Integration des westens durch einen marktwirtschaftlichen Außenhandel hatte sich als überlegen erwiesen und das sowjetische Außenhandelsmodell im wettbewerb langfristig verdrängt. Ich sehe in einer solchen Interpretation zwei Probleme. Erstens schwingt darin ein Determinismus mit, nach dem „das Ende der Geschichte“ mit dem Erfolg ökonomisch rationaler und effizienter Institutionen westlichen typus begründet wird.161 Zweitens beschränkt sich der Untersuchungszeitraum der Fallstudie auf die Jahre zwischen 1917 und 1933. In diesem Zeitraum, besonders während des ersten Fünfjahresplans, erfüllte der sowjetische Außenhandel eine wichtige Funktion, um die für die Industrialisierung dringend benötigte technik und die notwendigen Maschinen bereitzustellen. Gleichzeitig erwies sich der Außenhandelsapparat als außerordentlich leistungsfähig darin, den Einfluss ausländischer Unternehmen zum Beispiel im rahmen der Konzessionen stark zu minimieren. Ein tief greifender institutioneller wandel der sowjetischen wirtschaft, wie er im Ausland vor allem während der NĖP vielfach erwartet wurde, fand nicht statt.
161 Zu Francis Fukuyama siehe die Kritik von: Howard williams/David Sullivan/E. Gwynn Matthews: Francis Fukuyama and the End of History. Cardiff 1997.
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Die staatliche repression bei der Getreidebeschaffung für den Export führte zwar unter anderem in den Jahren 1932/33 zur großen Hungerkatastrophe. In der kurzfristig angelegten Strategie der politischen Führung schienen die opfer jedoch gerechtfertigt, da sie der Finanzierung des Importplans zugute kamen. Eventuelle langfristige Folgen der Hungersnot oder gar moralische Skrupel blieben unberücksichtigt.162 Es müsste somit zumindest zwischen kurz- und langfristigen Folgen institutionellen wandels unterschieden werden. Deutlich wird jedenfalls, dass der sowjetische Staat im Außenhandel einer gänzlich anderen Handlungsrationalität unterworfen war als das Unternehmen Siemens.163 Messbarkeit von Transaktionskosten im Sowjetgeschäft von Siemens In den folgenden Kapiteln analysiere ich den wandel sekundärer Institutionen im Sowjetgeschäft von Siemens. Mein Modell basiert auf der Annahme, dass sich die deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen nicht auf einem neoklassischen reibungslosen Markt abspielten. Vielmehr war das Sowjetgeschäft von Siemens erstens an die gegebenen institutionellen rahmenbedingungen der Umwelt gebunden (wie beispielsweise das Außenhandelsmonopol, die deutsch-sowjetischen Vertragsbeziehungen). Zweitens konstruierte das Unternehmen Verträge im Sowjetgeschäft, die den Einsatz von transaktionskosten erforderten. Diese werden unterteilt in: – Ex ante-Kosten: Kosten, die vor dem Vertragsabschluss entstehen (Informationskosten, Verhandlungs- und Vertragskosten) – Ex post-Kosten: Kosten, die nach dem Vertragsabschluss entstehen (Kosten, die für die Absicherung, Durchsetzung und Anpassung vertraglicher Vereinbarungen eingesetzt werden)164
162 Hätte die sowjetische Führung während der Hungersnot ihre Getreideexporte ausgesetzt, wären mehrere Millionen Menschenleben gerettet worden. Eine aktuelle Zusammenfassung der Diskussion findet sich bei: Kuromiya: the Soviet Famine of 1932–1933 (2008). Vgl. dazu auch die außenwirtschaftliche Analyse Dohans: Dohan: the Economic origins of Soviet Autarky (1976), S. 632. 163 Vgl. dazu auch Norths Kapitel zur Erklärung des Aufstiegs und Falls der Sowjetunion aus institutionenökonomischer Perspektive. Nach North lag die entscheidende Ursache für den Untergang darin, dass die Sowjetunion nicht auf flexiblen institutionellen Strukturen beruhte, die an veränderte Umweltbedingungen angepasst werden konnten. North: Understanding the Process of Economic Change (2005), S. 146ff. 164 Ebers/Gotsch: Institutionenökonomische theorien der organisation (2001), S. 225. richter verwendet eine abweichende Einteilung von tAK in Kosten bei der Anbahnung von Verträgen, Kosten des Abschlusses von Verträgen sowie Kosten der Überwachung und Durchsetzung von Leistungspflichten: richter: Sichtweise und Fragestellung (1990), S. 577. Die grundsätzliche Unterscheidung des tAK-Ansatzes in Kosten vor und Kosten nach Abschluss eines Vertrags bleibt in diesem Modell jedoch weiter bestehen. Im Folgenden wird die Dichotomie von Ex ante- und Ex post-Kosten beibehalten.
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Der transaktionskostenansatz wird im Folgenden durch Ex ante-Kosten am Beispiel von Informationskosten bei der Vertragsanbahnung und Ex post-Kosten am Beispiel von Kontrollkosten bei der Überwachung unvollständiger Verträge operationalisiert. Unternehmen können Ex ante-Kosten und Ex post-Kosten entweder internalisieren oder unternehmensextern in der Umwelt einsetzten. Folgendes Schaubild verdeutlicht mein Modell des wandels sekundärer Institutionen:
Schaubild 6: transaktionskosteneffizienz und der wandel sekundärer Institutionen
In Abhängigkeit der Zielpräferenzen verfolgte Siemens seine Interessen im Sowjetgeschäft durch eine strategische Nutzung des sekundären institutionellen Arrangements in den deutsch-sowjetischen Beziehungen. Das Unternehmen versuchte dabei, die Effizienz der eingesetzten externalisierten und internalisierten transaktionskosten zu steigern. ob Siemens dazu den Versuch unternahm, die bestehenden Institutionen zu verändern, hing von der Bewertung der Effizienz der eingesetzten transaktionskosten ab. Ein potentieller wandel sekundärer Institutionen war allerdings nicht nur von Siemens abhängig, sondern auch von der Fähigkeit des Unternehmens, gegenüber anderen Akteuren seine Interessen erfolgreich zu vertreten. Siemens sah sich bei der strategischen Gestaltung der institutionellen Umwelt insbesondere den konkurrierenden Zielpräferenzen des sowjetischen Staates, anderer Unternehmen und der deutschen Außenwirtschaftspolitik ausgesetzt. Aus dem dargelegten Verständnis institutioneller Effizienz ergeben sich für die operationalisierung zwei Herausforderungen. Da Effizienz die relation von Kosten und Nutzen beschreibt, muss erstens ein kausaler Zusammenhang zwischen
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eingesetzten transaktionskosten und daraus resultierendem Nutzen erkennbar sein. Zweitens stellt sich die Frage, wie transaktionskosten überhaupt messbar gemacht werden können. wird, wie es die moderne Institutionenökonomik fordert, mit einem offenen Institutionenbegriff gearbeitet, stellt sich das Problem der Messbarkeit von transaktionskosten vor allem bei informellen Institutionen wie Vertrauen. Insbesondere in historischen Studien fehlen häufig die entsprechenden Daten für quantitative Messungen.165 Ich nehme in den folgenden Beispielen eine quantitative Messung von transaktionskosten dann vor, wenn es das verfügbare Datenmaterial erlaubt. In den anderen Fällen basiert die Bewertung institutioneller Effizienz im Sowjetgeschäft von Siemens auf einer qualitativen Interpretation: Effizienz im rahmen einer truly bounded rationality von Akteuren ist nicht objektiv, sondern sie hängt von der subjektiven Interpretation des Akteurs ab. Aus der retrospektiven Analyse lassen sich somit rückschlüsse darauf ziehen, wie die Siemens-Akteure die Effizienz der vom Unternehmen im Sowjetgeschäft eingesetzten transaktionskosten beurteilten. In den folgenden beiden Kapiteln wird zunächst die Vertragseffizienz im Sowjetgeschäft anhand von Ex ante-Kosten und Ex post-Kosten an ausgewählten Beispielen analysiert. Ausgangspunkt ist die Frage, wie angesichts der fundamentalen Krise nach der oktoberrevolution neue vertragliche Institutionen konstruiert wurden. 3.2 Ex ante-Kosten: Informationsbeschaffung im Sowjetgeschäft Informationskosten fallen bei der Anbahnung von Verträgen an, wie zum Beispiel Kosten bei der Erstellung von Marktanalysen oder bei der Suche nach Kunden. Nach wischermann sind Informationen nie objektiv eindeutig, sondern bedürfen immer der „Interpretation, der Deutung, der Einbindung in einen Sinnhorizont“166. Sie durchlaufen einen individuellen Filter und werden im rahmen der persönlichen orientierungsmuster von Akteuren interpretiert. Informationskosten machen einen großen teil von transaktionskosten aus, da zum Beispiel auch diejenigen Ausgaben eingerechnet werden, die schließlich doch nicht zu erfolgreichen Vertragsabschlüssen führen. Dies trifft besonders in Krisen zu, in denen eine hohe institutionelle Dynamik zu großen Problemen der Informationskommunikation führen kann: „Information on shocks is costly to collect and communicate.“167 In Krisen kann nicht nur der 165 Zu den Problemen bei der Messbarkeit von transaktionskosten in historischen Studien vgl. besonders den Aufsatz von wallis und North: John J. wallis/Douglass C. North: Measuring the transaction Sector in the American Economy, 1870–1970, in: Stanley L. Engerman/robert E. Gallman (Hg.): Long-term Factors in American Economic Growth. Chicago 1986, S. 95–161. 166 wischermann: Von der „Natur“ zur „Kultur“ (2004), S. 30. 167 Mark Casson: Information and organization. A New Perspective on the theory of the Firm. oxford 2001, S. 76. Casson entwickelt im Folgenden allerdings ein Modell, das den Faktor Information stärker ins Zentrum seiner Analyse stellt, als dies die Neue Institutionenökonomik macht.
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Informationsfluss zwischen Akteuren stark behindert werden, sondern auch die Kriterien zur Bewertung von Informationen ändern sich angesichts des fundamentalen institutionellen wandels. Dadurch gehen bisher verbindliche orientierungsmuster verloren, die dem Akteur eine Einordnung der verfügbaren Informationen in seinen subjektiven Erwartungskontext erlauben. Insofern hindern Krisen den Akteur in doppelter Hinsicht daran, sich ein Bild seiner im wandel begriffenen Umwelt zu machen: Erstens steigt die objektive Erwartungsunsicherheit. Zweitens verliert der Akteur seine Fähigkeit, anhand von verlässlichen Informationen seine subjektive Unsicherheit zu vermindern. Die institutionelle Krise in Sowjetrussland führte zu einer unübersichtlichen Informationslage, in der für Siemens die Zukunft des Unternehmensgeschäfts mit den Bol‘ševiki nicht absehbar war (vgl. teil II, Kapitel 1.2). In der Internalisierung der Informationsbeschaffung durch die Kommunikation mit den Mitarbeitern der früheren russischen tochtergesellschaften lag für Siemens eine erste Möglichkeit, an verlässliche Berichte über die sich fundamental verändernde Umwelt zu gelangen. Internalisierung im Unternehmen: Kommunikation mit den früheren Mitarbeitern Im Vergleich zu späteren Jahren erhielt Siemens 1918 noch einen stetigen Zustrom von Informationen der ehemaligen Mitarbeiter aus Sowjetrussland. Die Kommunikation verlief fast ausschließlich per Post, in einigen Fällen auch persönlich und gewährte Siemens einen detaillierten Einblick in die wirtschaftspolitische Entwicklung im Land. Dem tB ost wurde deshalb bei seiner Gründung auch die Aufgabe zugewiesen, den Kontakt mit ehemaligen Mitarbeitern der russischen tochtergesellschaften für die Informationsbeschaffung zu nutzen: „wenn auch ein direkter warenverkehr mit russland zurzeit noch nicht möglich ist, wird es doch erforderlich sein, schon jetzt Vorbereitungen zur späteren Anbahnung geschäftlicher Beziehungen zu treffen. Es ist daher Aufgabe der neuen Geschäftsstelle [das tB ost], bei den infrage kommenden regierungsstellen, bei wirtschaftlichen Verbänden oder Unternehmungen u. s. w. zweckdienliche Erkundigungen einzuziehen, sowie nach Möglichkeit in Verbindung mit den früheren russischen organisationen und deren Leiter zu treten, gegebenenfalls die letzteren zur Einreise nach Deutschland zu veranlassen, oder durch reisen nach russland Einblick in die dortigen Verhältnisse zu gewinnen. Ueber das Ergebnis ihrer taetigkeit hat die Abteilung den Vorständen und zuständigen Stellen von Zeit zu Zeit Mitteilung zu machen.“168
In den Jahren 1918 und 1920 profitierte Siemens insbesondere vom Kontakt zwischen Görz und Krasin, der dem Unternehmen einen hervorragenden Einblick in Entscheidungsabläufe auf der sowjetischen Führungsebene gewährte (vgl. teil I, Kapitel 1.3). Der Aufwand an transaktionskosten ist für diese Kommunikation als gering einzuschätzen, da sie in bereits etablierten persönlichen Interaktionsstrukturen verlief und angesichts der starken Unternehmenskultur von Siemens die Verlässlichkeit der Berichte als sehr hoch einzuschätzen ist. 168 SAA 4746, Hermann Görz: Niederschrift über das Ergebnis der Besprechung über den Geschäftsverkehr mit russland. Siemensstadt 8.8.1919, S. 2.
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Allerdings waren Siemens beim Bestreben, die bestehenden Mitarbeiternetzwerke zu nutzen, Grenzen gesetzt, zum Beispiel nachdem ein geregelter Postverkehr mit Sowjetrussland seit 1919 kaum mehr funktionierte. Ebenfalls herrschte in Anbetracht der Lage im russischen Bürgerkrieg im Direktorium große Skepsis darüber, reisen von Unternehmensmitgliedern nach Sowjetrussland zu organisieren. Im Sommer 1919 wurde ein diesbezüglicher Vorschlag mit „rücksicht auf die eigene Lebensgefahr“169 abgelehnt. Ein potentieller Informationsgewinn schien das große risiko für die Mitarbeiter nicht zu rechtfertigen und Siemens erlaubte reisen von Unternehmensangehörigen erst nach Ende des russischen Bürgerkriegs.170 Das tB ost beschränkte sich zunächst weitgehend darauf, bestehende Kontakte nach Sowjetrussland so gut es ging zu pflegen. welche Effizienz kann dieser Methode, die Informationsbeschaffung im Unternehmen zu internalisieren, bescheinigt werden? Eine Quantifizierung der Informationskosten des tB ost oder die Herstellung eines kausalen Zusammenhangs zwischen eingesetzten Kosten und Nutzen der Informationen ist aufgrund der Quellenlage nicht möglich. Ein retrospektiver Abgleich zwischen der Methode der Informationsbeschaffung und dem Ergebnis erlaubt es jedoch, qualitative Aussagen über die Kommunikation des Unternehmens zu den ehemaligen Mitarbeitern zu treffen. Dies wird an zwei kurzen Beispielen erläutert. Erstes Beispiel ist eine Einschätzung von Direktor Breul über die Zukunft der sowjetischen Elektroindustrie. Breul bezog sich dabei auf die Aussagen von robert E. Klasson, vormals Leiter der Niederlassung der Lichtgesellschaft in Moskau, im Frühjahr 1919: „Herr Klasson glaubt nicht, dass die Verstaatlichung der Industrie im allgemeinen und der Elektrizitätswerke im besonderen aufrecht gehalten werden könnte. Das sei auch ganz allgemeine Ansicht. […] Beamte und Arbeiter rechneten mit der wiederkehr der alten Verhältnisse und verhielten sich demgemäss.“171
Zweites Beispiel ist der Brief eines rSSw-Mitarbeiters aus Vladivostok vom 29. Januar 1920, der im „Allgemeinen wirtschaftlichen Bericht“ Nr. 6 des tB ost abgedruckt wurde. In dem Brief ging der Verfasser zunächst auf die politische Entwicklung und die Besetzung der Stadt durch japanische truppen ein und schloss mit einem Fazit über die wirtschaftlichen Perspektiven für Siemens: „Meine persönlichen Beobachtungen über die Marktlage und über die Stimmung in der Bevölkerung haben mich zu der Ansicht gebracht, dass, sobald der [Geschäfts-] Verkehr wieder aufgenommen ist, Deutschland wieder die herrschende Stellung auf dem russischen Markt auf allen Gebieten der Industrie und des Verbrauchers einnehmen wird […].“172 169 SAA 4746, otto von Have: Niederschrift der Besprechung über den Geschäftsverkehr mit russland. Siemensstadt 8.8.1919, S. 6. 170 Siehe: SAA 6339, Kunz: Bericht über die reise nach Petersburg vom 28. oktober 1921 bis 21. Januar 1922. Siemensstadt 25.1.1922; SAA 11 Lf 140, Joine Kissmann: Allgemeiner Bericht über russland. Siemensstadt 1926. 171 SAA 4 Lk 162, Breul, J.: Niederschrift betr. Besuch des Herrn Klasson. Siemensstadt 10.3.1919, S. 4. Breul war Direktor der Elektrischen Licht- und Kraftanlagen AG, einer Finanzierungsgesellschaft von S&H. 172 SAA 527, Abteilung ost: Allgemeiner wirtschaftlicher Bericht Nr. 6 der Abteilung ost. Sie-
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In der weiteren Entwicklung im russischen Bürgerkrieg erwiesen sich beide Prognosen als falsch. weder kam es zu einer „wiederkehr der alten Verhältnisse“ noch konnte der Geschäftsverkehr zwischen Deutschland und Sowjetrussland wieder nahtlos aufgenommen werden. Beide Beispiele verdeutlichen die großen Defizite einer regional begrenzten und subjektiv gefärbten Analyse der ehemaligen Mitarbeiter. Im Ergebnis führten diese Berichte 1922 zu einer gravierenden Fehleinschätzung des russland-Büros unter Leitung robert Melchers‘, das die Zukunft der Neuen Ökonomischen Politik folgendermaßen bewertete: „Die Neue wirtschaftspolitik […] hat endgültig gesiegt und so ziemlich alle kommunistischen Überbleibsel des politischen und wirtschaftlichen Systems beseitigt.“173 Informationen reflektieren keine objektiv gegebene realität und erlauben deshalb auch keinen deterministischen Blick in die Zukunft. Dies gilt vor allem in Zeiten starken institutionellen wandels wie während des russischen Bürgerkriegs. Insofern reflektieren die Quellenbeispiele kein „Versagen“ der Siemens-Mitarbeiter, den Ausgang des russischen Bürgerkriegs richtig einzuschätzen. Allerdings stellte sich für das Unternehmen durchaus die Frage, ob die bisherige Methode der Informationsbeschaffung überhaupt einen Nutzen im Sinne eines verlässlichen wissens brachte. In Anbetracht der bestehenden Informationsdefizite sowie als Folge der nach 1920 stark abnehmenden Kommunikation mit Krasin und den früheren Mitarbeitern in Sowjetrussland stand Siemens deshalb eine grundsätzliche Neuausrichtung der bisherigen Informationspolitik bevor. Das Unternehmen hatte bereits während des russischen Bürgerkriegs immer mehr die Möglichkeiten in Anspruch genommen, Informationen aus unternehmensexternen Quellen als Grundlage für Entscheidungen zu nutzen. Seit 1920 verstärkte Siemens seine Bemühungen weiter, transaktionskosten für die Informationsbeschaffung auch extern einzusetzen. Finanzierung von Expertenreisen: Das Beispiel Georg Cleinow Eine Möglichkeit zur Informationsbeschaffung bestand in der finanziellen Beteiligung an reisen deutscher russlandexperten, wie das folgende Beispiel der reise des Journalisten George Cleinow nach Sowjetrussland zeigt. Die Aufforderung an Carl Köttgen, sich an der Finanzierung dieser reise zu beteiligen, kam im Dezember 1921 von Direktor Humann aus dem Stinnes-Konzern: „Geh.rat Cleinow will sich verpflichten, den Konzern-Firmen vertrauliche Berichte über einzelne, sie näher interessierende Fragen wirtschaftlicher und politischer Art zu liefern, die selbstverständlich nur diesem engsten Kreis zugängig gemacht werden, daneben auch allgemeine Berichte und schliesslich auch reiseberichte für unsere Zeitungen zu schreiben.“174
mensstadt 11.8.1920, S. 3f. 173 SAA 6339, ZV 10: russlands wirtschaft. wochenbericht. Siemensstadt 1922, S. 2. 174 SAA 11 Lf 449, Hans Humann: Brief an Köttgen wegen reise von Georg Cleinow nach russland. Berlin 29.12.1921, S. 1.
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Von der reise, an der sich auch AEG beteiligte, erhoffte sich Humann einen außerordentlichen Gewinn, da Cleinow als einschlägiger russlandexperte galt. Die anfallenden Kosten schätzte er auf maximal 10.000 reichsmark für jedes Unternehmen. Köttgen antwortete auf den Vorschlag sehr schnell und versprach die Unterstützung von Siemens, „umsomehr da die Unkosten […] ja keine hohen sind“175. Cleinow reiste Anfang April 1922 für mehrere wochen nach Sowjetrussland und erstattete nach seiner rückkehr einen ausführlichen schriftlichen und mündlichen Bericht an Siemens, der von Köttgen sehr positiv kommentiert wurde.176 Das Beispiel zeigt, wie Siemens als Prinzipal einen (vermutlich informellen) Vertrag mit dem Agenten Cleinow schloss, um einen exklusiven Zugang zu den Ergebnissen der reise nach Sowjetrussland zu erhalten. Nach den oben festgelegten Kriterien für eine transaktionskostenanalyse ist in dem Beispiel erstens der kausale Zusammenhang zwischen eingesetzten Kosten und erreichtem Nutzen belegbar. Die Kosten umfassten einen Betrag von maximal 10.000 reichsmark (der abschließende Betrag ist nicht bekannt). Der Nutzen bestand in einem schriftlichen und mündlichen vertraulichen Bericht über die wirtschaftspolitische Entwicklung in Sowjetrussland von Cleinow an Siemens.177 Zweitens kann die Bewertung der Vertragseffizienz anhand der Aussagen von Köttgen rekonstruiert werden: Köttgen beurteilte den Einsatz von 10.000 reichsmark als niedrig und zeigte sich mit dem Ergebnis (den Berichten) sehr zufrieden.178 Siemens konstruierte durch den impliziten Vertrag mit Cleinow eine Institution zur Informationsübermittlung. Der Einsatz der transaktionskosten, die der Vertrag erforderte, wurde aus der Perspektive des Unternehmens durch den Nutzen der reiseberichte gerechtfertigt. Infolge dieser positiven Bewertung finanzierte das Unternehmen auch weitere reisen Cleinows und anderer Sachverständiger. Expertenreisen waren zumindest bis zur Mitte der 1920er Jahre eine wichtige Informationsquelle für das Unternehmen.179
175 SAA 11 Lf 449, Carl Köttgen: Brief an Direktor Humann, Hugo Stinnes, wegen der reise von Georg Cleinow nach russland. Siemensstadt 2.1.1922, S. 1. 176 SAA 11 Lf 449, Carl Köttgen: Brief an Humann wegen des Berichts von Cleinow. Siemensstadt 30.3.1922. 177 Der Bericht umfasst insgesamt 39 Seiten: SAA 11 Lf 449, Georg Cleinow: Bericht über den Aufenthalt in Moskau im März 1922. ort unbekannt 1922. Vgl. ebenfalls die Einladung von Görz an mehrere Direktoren zu einem mündlichen Bericht von Cleinow: SAA 11 Lf 449, Hermann Görz: Einladung zu einem Vortrag von Georg Cleinow. Siemensstadt 27.12.1922. 178 Vgl. den Dankesbrief an Humann: SAA 11 Lf 449, Carl Köttgen: Brief an Humann wegen des Berichts von Cleinow. Siemensstadt 30.3.1922. 179 Vgl. dazu exemplarisch eine weitere reise Cleinows: SAA 11 Lg 89, Hermann reyß: Mitteilung betr. Vortrag von Cleinow. Siemensstadt 10.12.1926. Ebenfalls: Sütterlin: Die „russische Abteilung“ des Auswärtigen Amtes (1994), S. 156.
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Externalisierung der Informationsbeschaffung im Ostwelt-Verlag Allerdings konnten die vereinzelten Expertenreisen nicht das Fehlen eines umfassenden Informationswesens kompensieren. Seit Anfang der 1920er Jahre beteiligte sich Siemens deshalb federführend an der Diskussion um den Aufbau eines allgemeinen Nachrichtendienstes für deutsche Unternehmen (vgl. teil II, Kapitel 2.2). Besonders Görz schätzte die Bedeutung eines umfassenden Informationsorgans als sehr hoch ein und nahm einen maßgeblichen Einfluss auf die Gründung des ostwelt-Verlags im Jahr 1924. Das Unternehmen abonnierte mehrere Publikationen des Verlags wie den ost-Express, die ostwirtschaft und den ost-Merkur. Die finanziellen Belastungen von Siemens für diese Form der Nachrichtenbeschaffung sind zum teil quantifizierbar. Seit 1923 beteiligte sich das Unternehmen an der Mitfinanzierung des ost-Express und gab zu diesem Zweck monatlich 25 Dollar aus.180 Interessant für die Fragestellung des Kapitels ist jedoch weniger die absolute Höhe der transaktionskosten, sondern vielmehr die Frage nach der Effizienz des Nachrichtendienstes. Dies kann durch einen kurzen Blick auf die Veränderung des Aufgabenspektrums im tB ost beantwortet werden. Die wirtschaftlichen Berichte des tB ost, die anfangs die Basis der unternehmensinternen Analysen über Sowjetrussland gebildet hatten, verschwanden nach 1920 vollständig. In den folgenden Jahren beriefen sich die internen Mitteilungen von tB ost oder der wirtschaftspolitischen Abteilung (wPA) fast ausschließlich auf Artikel in ost-Express und ostwirtschaft. Diese Entwicklung zeigt, dass der ostwelt-Verlag aus Sicht von Siemens im Vergleich zum tB ost eine effizientere Nutzung der Kosten für die Informationsbeschaffung ermöglichte.181 Informationsasymmetrien und hidden information im Sowjetgeschäft Allerdings gelang es Siemens auch durch die Externalisierung des Nachrichtendienstes nicht, eine umfassende Versorgung mit Informationen herzustellen. Selbst „freie“ Märkte sind nie vollständig transparent und für die Marktteilnehmer nie gänzlich zu überblicken. Dies galt in noch viel stärkerem Maße für die Sowjetunion. Sie reglementierte seit Mitte der 1920er Jahre den Informationsfluss immer stärker und versuchte speziell im Außenhandel, durch eine restriktive Informationspolitik eigene Interessen durchzusetzen. Auch für Siemens gibt es mehrere Beispiele von Informationsasymmetrien, von denen zwei kurz vorgestellt werden. Erstes Beispiel ist ein Bericht aus der Zeitschrift Finanznachrichten vom 14. Januar 1930, der von der wirtschaftspolitischen Abteilung unter anderem an reyß, tB ost und SBU geleitet wurde. Der Bericht handelt von einer Sitzung des Volkskommissariats für Verkehr, in der das Projekt einer nördlichen Eisenbahnverbindung von Murmansk durch Sibirien bis zum Pazifischen ozean diskutiert worden 180 SAA 6405, Verfasser unbekannt: Interner Bericht an Görz zum ost-Express. Siemensstadt 29.8.1923. 181 Zur positiven resonanz auch der deutschen Presse und des Auswärtigen Amts auf den ostweltVerlag siehe ausführlich: Müller: rußlandberichterstattung und rapallopolitik (1983), S. 40f.
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war.182 Es stand der Vorschlag im raum, diese Linie elektrisch zu betreiben, was für Siemens ein enormes Auftragspotential bedeutet hätte. Das Unternehmen hatte allerdings kaum eine Möglichkeit, die innersowjetischen Entscheidungsprozesse über solche Infrastrukturprojekte auch nur annähernd nachzuvollziehen und sich entsprechend auf Ausschreibungen vorzubereiten. Die Eisenbahnlinie wurde nicht gebaut und stand auch weit außerhalb dessen, was die sowjetische wirtschaft im rahmen ihrer Möglichkeiten zu leisten imstande war. Zwar ist eine direkte reaktion von Siemens auf den Vorschlag der nördlichen Eisenbahnlinie nicht bekannt. Das Beispiel verdeutlicht jedoch die grundsätzliche Unfähigkeit des Unternehmens, angemessen auf solche Projektvorschläge zu reagieren. Ebenso finden sich in der Zeitschrift „Sowjetwirtschaft und Außenhandel“ viele Beispiele, in denen für eine Beteiligung von Unternehmen an sowjetischen Industrieprojekten geworben wurde. Eine Verifizierung der angebotenen Projekte war angesichts der restriktiven sowjetischen Informationspolitik allerdings kaum möglich. Zweites Beispiel ist der Versuch von SBU, am Bau der Metro in Moskau zu partizipieren. Siemens reichte 1932 einen Vorschlag zur Flachbauweise der tunnel ein, den der Bauleiter rotert unterstützte und der sich auch retrospektiv aus Sicht von Ingenieur Briske als sinnvoll erwiesen hätte. Stattdessen wurde auf politischer Ebene entschieden, die tunnel als tieftunnel und in sowjetischer Eigenregie zu bauen. Ein wichtiger Faktor dieser Entscheidung war auch die Möglichkeit, die tieftunnel als Luftschutzbunker nutzen zu können. wie Briske schreibt, hatte man bei Siemens daran „wohl nicht gedacht“183, weil die entsprechende Information von sowjetischer Seite nicht mitgeteilt worden war. Der aufwändige Planentwurf von SBU wurde zwar vergütet, jedoch deckten die sowjetischen Zahlungen gerade die Unkosten und brachten keinen Gewinn. Laut Briske hatte deshalb der GutachterAuftrag für Siemens „geschäftlich gesehen, trotz der Krisenzeit von 1932 wenig wert“184. Vielmehr setzte Siemens transaktionskosten in die Vorbereitung eines erhofften größeren Bauauftrags ein, der aufgrund der spezifischen Umstände bei der Planung von Metrostroj nicht zustande kam. Auch dieses Beispiel zeigt die Probleme auf, mit denen Unternehmen im Sowjetgeschäft aufgrund von Informationsdefiziten und fehlendem Einblick in die Entscheidungsrationalität sowjetischer Akteure konfrontiert wurden. wird die Informationsübermittlung als ein Prinzipal-Agent-Problem angesehen, dann konnten soziale Beziehungsnetzwerke zwischen Unternehmen und sowjetischen Akteuren potentiell stabilisierend wirken und die negativen Auswirkungen von hidden information verringern. Für Siemens trifft dies besonders auf die erste Phase im Sowjetgeschäft zu, als das Unternehmen noch über verschiedene Kontakte zu ehemaligen Mitarbeitern in Sowjetrussland verfügte, die wie Krasin, robert Klasson und Alfred Schwartz zum teil sogar höhere Ämter in der sowjeti182 SAA 3348, wPA: Bericht über eine Sitzung des Verkehrskommissariats über die grosse nördliche Eisenbahnlinie. Siemensstadt 14.1.1930. 183 SAA 35–39 Lm 323, rudolf Briske: Bericht über das Gutachten der SBU zum Bau der U-Bahn Moskau für das Siemens-Archiv. Berlin 31.1.1959, S. 27. 184 SAA 35–39 Lm 323, rudolf Briske: Bericht über das Gutachten der SBU zum Bau der U-Bahn Moskau für das Siemens-Archiv. Berlin 31.1.1959, S. 4.
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schen wirtschaftsorganisation bekleideten. Die Unternehmenskultur bot dabei einen institutionellen rahmen, in dem sich die Mitarbeiter entweder noch stark mit Siemens identifizierten (wie Alfred Schwartz) oder aufgrund persönlicher Beziehungen auf die Ausnutzung von Informationsasymmetrien zumindest weitgehend verzichteten (wie Krasin). Allerdings galt dies ausschließlich für die Anfangszeit im Sowjetgeschäft von Siemens. Zwar sind ebenso für die späteren Jahre einige wenige Beispiele nachweisbar, in denen das Unternehmen Netzwerke mit sowjetischen Akteuren etablieren konnte. Dennoch kam im gesamten Untersuchungszeitraum nur ein einziger Fall vor, in dem ein soziales Netz das Potential hatte, die Vertragsbeziehungen von Siemens im Sowjetgeschäft durch Vertrauen abzusichern. Auf diese Vertrauensbeziehung zwischen Görz und Krasin gehe ich in Kapitel 4.3 ausführlich ein. weder die Internalisierungsstrategie von Siemens bis 1921 noch die Externalisierung der Informationsbeschaffung im ostwelt-Verlag konnten die Gefahr von hidden information im Sowjetgeschäft substantiell verringern. Auch ohne umfassende quantitative Belege ist deshalb davon auszugehen, dass der Einsatz von Ex ante-transaktionskosten im Sowjetgeschäft für das Unternehmen relativ hoch war. Ähnlich verhielt es sich bei den Kosten für die Ex post-Kontrolle von Verträgen. 3.3 Ex post-Kosten: Die Kontrolle unvollständiger Verträge Institutionalisierte Beziehungen zwischen Vertragspartnern können einen expliziten formalen Vertrag unterstützen und so die Effizienz der eingesetzten transaktionskosten erhöhen. Dies gilt sowohl für die Kosten der Vertragsanbahnung als auch der Vertragssicherung. Besteht zwischen Prinzipal und Agent jedoch keine soziale Bindung, kann dies im Umkehrschluss den Kosteneinsatz in die Ex post-Überwachung von Verträgen erhöhen. Für Siemens wird nun die Vertragspolitik im Sowjetgeschäft anhand der Beispiele Lieferverträge und Streitfall Kašira untersucht. „Erst Geld, dann Ware“: Lieferverträge und die Vermeidung von Ex post-Kosten Als Ergebnis des internen Diskussionsprozesses stand 1921 im Unternehmen einerseits eine grundsätzliche Bereitschaft von Siemens zur Aufnahme von Geschäftsbeziehungen mit Sowjetrussland. Andererseits war sich das Unternehmen in Abwesenheit von Garantieinstrumenten zur Durchsetzung von Verträgen der großen rechtlichen Unsicherheit bewusst. Vor diesem Hintergrund war es eine Kernstrategie des Unternehmens, das Sowjetgeschäft durch das Beziehungsnetzwerk zu Krasin informell abzusichern. Dies galt besonders für den Abschluss langfristiger Investitionsprojekte: In Fragen des Konzessionswesens, der gemischten Gesellschaften oder der Konsignationslager reduzierte sich die Siemens-interne Diskussion fast ausschließlich auf die Frage, ob Krasin dem Unternehmen Unterstützung gewähren würde. Es zeigte sich jedoch nach 1921 immer deutlicher, dass Krasin allein das Sowjetgeschäft von Siemens nicht stabilisieren konnte. Angesichts feh-
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lender institutioneller Mechanismen der formalen oder sozialen Kontrolle gab es für Siemens keine Sicherheiten, die die Ex post-Umsetzung von Verträgen garantierten. Das Ex post-risiko eines Vertragsbruchs wurde vom Unternehmen entsprechend als hoch beurteilt. In Anbetracht dieser Unsicherheit reduzierte das Unternehmen seine Geschäftsbeziehungen auf den Abschluss von Lieferverträgen, die zum Großteil auf Barzahlung beruhten. Aus dem Jahr 1920 ist eine unternehmensinterne Mitteilung über eine sowjetische Bestellung überliefert, die einen Einblick in die Lieferbedingungen von Siemens im Sowjetgeschäft gibt.185 Es handelte sich hierbei um eine Bestellung der Berliner Handelsvertretung von Messinstrumenten, transformatoren, Glühlampen sowie einer vollautomatischen Fernsprechanlage, die von Edgar Schwartz vermittelt wurde. Bei Annahme der Bestellung erhielt das tB ost 50 Prozent der Gesamtsumme als Anzahlung, bei jeder teilauslieferung forderte das tB ost den jeweiligen restbetrag ein. Leistungsgarantien oder reparaturverpflichtungen wurden nicht gewährt. Langfristige Verpflichtungen oder ein finanzielles risiko ging Siemens mit dieser Art von Lieferverträgen nicht ein.186 Ein ähnliches Vertragsmodell wurde auch bei der Lieferung von zwei Schnelltelegrafen-Endämtern im Jahr 1921 angewendet, von der ein Vertragstext erhalten ist.187 Die Handelsvertretung verpflichtete sich darin zur Anzahlung von 20 Prozent der Gesamtsumme, die restlichen 80 Prozent fielen bei der Auslieferung an. Auch bei diesem Liefergeschäft bestand für Siemens kaum ein finanzielles risiko. Zwar senkte Siemens den Anzahlungsbetrag auf 20 Prozent der Liefersumme, der restbetrag wurde jedoch auch weiterhin bei warenabnahme fällig. Der, wie es Hugo Schwichtenberg vom tB ost in einem Aktenvermerk ausdrückte, Grundsatz „erst Geld dann ware“188 wurde weiter beibehalten. Das Unternehmen vermied dadurch in der frühen Phase des Sowjetgeschäfts den Einsatz von transaktionskosten in langfristige Vertragsverpflichtungen. Die Vertragspolitik von Siemens änderte sich erst nach dem Abschluss des deutsch-sowjetischen wirtschaftsabkommens vom 12. oktober 1925, das erstmals eine umfassende formale rechtsgrundlage im Sowjetgeschäft etablierte. Die Lieferbedingungen in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre nahmen an Komplexität zu und beinhalteten immer mehr langfristige Verpflichtungen wie ratenzahlungen, Garantien sowie eine Festsetzung von Schiedsverfahren im Konfliktfall.189
185 SAA 6339, tB ost: Bestellung. Siemensstadt 30.12.1920. 186 Vgl. auch: SAA 10756, Ernst Eue: Chronik des tB ost. Berlin 1944, S. 5. 187 SAA 12971, SSw/Berliner Handelsvertretung: Vertrag über Schnelltelegraphen-Endämter. Berlin 19.10.1921. 188 SAA 6339, Hugo Schwichtenberg: Aktenvermerk über eine Besprechung der Zahlungsbedingungen bei den russischen Geschäften. Siemensstadt 26.7.1922. 189 Vgl. dazu die Lieferbedingungen in: SAA 32 La 495, Berliner Handelsvertretung: Lieferbedingungen, Anlage 1 im Brief der Handelsvertretung an Siemens vom 9.8.1932. Berlin 9.2.1927.
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Unvollständige Verträge und Ex post-Kosten am Beispiel Kašira Auch komplexe Verträge regeln allerdings nie abschließend alle Eventualitäten, wie zum Beispiel in Schadensfällen, in denen eine Garantieverpflichtung des Verkäufers vom Käufer in Anspruch genommen wird. Dies kann zu schweren Konflikten zwischen den Vertragspartnern über die Auslegung der Garantieverpflichtung führen und den Einsatz von Ex post-Kosten erfordern, wie im Folgenden anhand des Beispiels Kašira erläutert wird. Siemens lieferte im Jahr 1929 einen Generator an das Kraftwerk Kašira bei Moskau, an dem kurz nach Inbetriebnahme schwere Schäden auftraten (vgl. dazu auch S. 227). Über die Ursache der Schäden konnte ebenso wenig eine Einigung erzielt werden wie darüber, ob das Unternehmen für die Schadensbehebung verantwortlich war. Mit Bezug auf die Lieferbedingungen im Kaufvertrag wurde ein Schiedsgericht angerufen, das im Frühsommer 1932 seine Arbeit aufnahm. Die Positionen im Fall Kašira waren klar abgesteckt. Laut Handelsvertretung wurde der Schaden am Generator durch Materialfehler verursacht. Die Verantwortung für die reparatur lag demnach bei SSw. Dagegen argumentierte Siemens, dass der Schaden durch grobe wartungs- und Nutzungsfehler auf sowjetischer Seite hervorgerufen worden war und lehnte jegliche Garantieverpflichtung ab. während des Schiedsverfahrens wurden umfangreiche Versuche an vergleichbaren Anlagen in Berlin durchgeführt, der rat von Sachverständigen eingeholt sowie ausführlich die Schadensberichte aus Kašira analysiert. Am 9. August 1932 endete das Schiedsverfahren mit einem Vergleich: Die Gerichtskosten wurden geteilt, Siemens verpflichtete sich zur wiedereinsetzung des Generators und übernahm 50 Prozent der reparaturkosten. In seiner Beurteilung kam Schiedsrichter Kloss zwar zu keinem klaren Ergebnis und empfahl deshalb einen Vergleich. wird jedoch seiner Argumentation bei der Ursachenforschung des Schadens Folge geleistet, so lässt sich eine eindeutige Zustimmung zur Argumentation von Siemens feststellen. Kloss stimmte grundsätzlich mit der Version von Siemens überein, die Ursache des Schadens in unsachgemäßer Bedienung des Generators vonseiten des sowjetischen Personals zu sehen. Das Problem lag allerdings darin, dass der Schadenshergang nicht eindeutig nachgewiesen werden konnte. Erstens wurde während des Schiedsverfahrens deutlich, dass die Handelsvertretung nicht dazu bereit war, alle technischen Details aus dem Schadensfall zu veröffentlichen. Kloss beanstandete unter anderem die von sowjetischen Ingenieuren am Generator vorgenommenen testversuche, die vermutlich zu einer starken Überbelastung führten. trotz seiner wiederholten Aufforderung sei die Handelsvertretung nicht in der Lage gewesen, eine Auskunft über diese tests zu erteilen.190 Zweitens erhielten Siemens-Mitarbeiter zwar Zutritt zum beschädigten Generator, jedoch nur um dort die notwendigen reparaturmaßnahmen vorzubereiten.191 Eine genaue Prüfung und eine rekonstruktion des Schadenshergangs war 190 SAA 11 Lc 917, M. Kloss: Bericht über zwei Besprechungen in der Schiedsgerichtssache Kašira. Berlin 2.8.1932, S. 8. 191 Vgl. die beiden Berichte von SSw: SAA 11 Lc 917, SSw: Protokoll einer Kommission wegen
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ihnen nicht möglich. Ebenfalls wurden unabhängige Experten nicht zugelassen, um die Schadensursache genauer zu untersuchen. Das Schiedsgericht war bei der Beurteilung der Streitsache somit ausschließlich auf die Informationen der Handelsvertretung angewiesen. Der Bericht von Schiedsrichter Kloss impliziert in der Streitsache Kašira das Vorliegen eines Falls von hidden action seitens der sowjetischen Ingenieure. Aufgrund der restriktiven Zugangsbeschränkungen für ausländische Ingenieure in der Sowjetunion war es den Betreibern von Kašira möglich, Versuche am Generator durchzuführen, die den vertraglichen Bedingungen zuwider liefen. Die von der Handelsvertretung konstruierte Informationsasymmetrie im Schiedsverfahren führte dazu, dass weder das Schiedsgericht noch Siemens über den Vorgang dieser hidden action im Bilde waren. Die Handelsvertretung konnte somit die Unvollständigkeit des Kaufvertrages mit Siemens dazu ausnutzen, die vermutlich durch eigene Fehler verursachten Kosten am Generator zumindest zur Hälfte auf Siemens zu übertragen. Der Einsatz von Ex post-Kosten im Schiedsverfahren Kašira belief sich für Siemens auf 2.571,05 reichsmark Gerichtskosten sowie auf reparaturkosten in Höhe von 14.500 Dollar. 3.4 Institutionelle Effizienz und der Gestaltungsspielraum von Siemens Die in den vorangegangenen beiden Kapiteln vorgestellten Beispiele lassen keine umfassenden quantitativen Aussagen über die Effizienz des sekundären institutionellen Arrangements von Siemens im Sowjetgeschäft zu. Sie ermöglichen es jedoch, durch eine qualitative Analyse die relation zwischen transaktionskosteneinsatz und wahrgenommenem Nutzen aus Unternehmensperspektive zu beurteilen. Damit erlauben sie Schlussfolgerungen bezüglich des Potentials von Siemens, seine institutionelle Umwelt im Sowjetgeschäft strategisch zu beeinflussen. Die Effizienz sekundärer Institutionen im Sowjetgeschäft Ausgehend von der fundamentalen Krise des Jahres 1917 begann Siemens, das Unternehmensgeschäft in den deutsch-sowjetischen Beziehungen neu auszurichten. Der Lernprozess, der zur Ausbildung sekundärer Institutionen führte, begann nicht bei Null. Siemens konnte vielmehr bestehende institutionelle Pfadabhängigkeiten nutzen und so zum Beispiel auf die Kontaktnetzwerke zu den ehemaligen Mitarbeitern der russischen tochtergesellschaften zurückgreifen. Dennoch ist festzuhalten, dass die Krise einen weitgehenden Bruch mit formalen und informellen Geschäftspraktiken im revolutionären russland bedeutete. Das Jahr 1917 stand am Anfang eines institutionellen wandlungsprozesses, in dem der überwiegende teil der regeln wirtschaftlichen Handels in Sowjetrussland neu konstruiert wurde. Ziel Unfall in Kašira. Siemensstadt 16.1.1932; SAA 11 Lc 917, SSw: Niederschrift einer Besichtigung des Kraftwerks Kašira. Siemensstadt 26.11.1931.
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von Siemens war es dabei, institutionelle Stabilität zu generieren und die fundamentale Unsicherheit im Sowjetgeschäft zu vermindern. Nach 1921 ist ein sprunghaftes wachstum sekundärer Institutionen zu beobachten, die das Sowjetgeschäft deutscher und anderer Unternehmen mit einem immer dichteren Netz von regeln überzogen. Aus den oben diskutierten Beispielen der Informationsbeschaffung und Vertragskontrolle geht allerdings hervor, dass den institutionellen Arrangements nur eine begrenzte Effizienz zu bescheinigen ist. Informationsbeschaffung im Sowjetgeschäft war aufwändig, teuer und im Fall von reisen nach Sowjetrussland nicht nur mit einem enormen Kostenaufwand, sondern anfangs auch mit einem hohen Sicherheitsrisiko für die Siemens-Mitarbeiter verbunden. Die Externalisierung der Informationsbeschaffung im ostwelt-Verlag brachte eine gewisse Verbesserung, die die Unzulänglichkeiten der Informationsbeschaffung aber nur begrenzt beseitigen konnte. Eine grundlegende Öffnung des Außenhandelsmonopols fand nicht statt. Der Zugang ausländischer Unternehmen zu sowjetischen Endkunden blieb weitgehend verwehrt und die Planung des Außenhandels beziehungsweise die Vergabe von Aufträgen basierte auf Prozessen, die für Unternehmen äußerst intransparent waren. Hidden information blieb im gesamten Untersuchungszeitraum eines der großen Probleme im Sowjetgeschäft und führte zu einem beträchtlichen Aufwand von Ex ante-Kosten wie bei der Vorbereitung von Projektanträgen. Ebenso war eine Kontrolle von Verträgen vor allem in der Anfangsphase des Sowjetgeschäfts kaum möglich, so dass Siemens in den frühen 1920er Jahren Aufträge fast ausschließlich nur gegen Barzahlung annahm. Seit dem deutsch-sowjetischen wirtschaftsabkommen von 1925 bestand zwar ein rahmenvertrag, der Zahlungs- und Lieferbedingungen sowie Mechanismen der Konfliktlösung formalisierte. Am Beispiel des Schiedsverfahrens Kašira wurden jedoch die weiter bestehenden Unzulänglichkeiten der unvollständigen Verträge im Sowjetgeschäft deutlich. Hidden action war für die Akteure des sowjetischen Außenhandelsapparats einfach und wurde häufig als Instrument angewandt, um eigene Interessen gegenüber den Unternehmen durchzusetzen. Konflikte erforderten deshalb von Siemens einen hohen Einsatz von Ex post-Kosten, ohne dass dadurch eine aus Sicht des Unternehmens befriedigende Konfliktlösung möglich wurde. Zwar etablierte das Unternehmen Mitte der 1920er Jahre mit der Berliner Handelsvertretung eine Geschäftskultur, die sowohl nach sowjetischen Angaben als auch nach Aussage des tB ost zumindest oberflächlich weitgehend funktionierte.192 Ebenfalls wurde das Sowjetgeschäft von Siemens durch externe Netzwerke mit der deutschen Außenwirtschaftspolitik, Verbänden und anderen Unternehmen auf eine breite Grundlage gestellt. Doch diese Kommunikation über externe Netzwerke war mit einem teilweise erheblichen Aufwand verbunden. Dieser nahm Mitarbeiter aller Hierarchieebenen bis hin zum Vorstandsvorsitzenden in Anspruch und führte vielfach nur zu unbefriedigenden Ergebnissen (vgl. dazu ausführlich das 192 Zur sowjetischen Beurteilung vgl. die Einschätzung Finkel‘s auf S. 191. Zur Beurteilung des tB ost siehe auch den Bericht Schwichtenbergs für das Geschäftsjahr 1924/25: SAA 4314, Hugo Schwichtenberg: Bericht an Direktor Fessel über Geschäfte mit russland. Siemensstadt 28.7.1925, S. 2.
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folgende Kapitel). Darüber hinaus zeigten sich insbesondere in der Interaktion mit sowjetischen Akteuren große Schwierigkeiten, personenbezogene Netzwerke herzustellen. Eine Einbettung von Geschäftsverträgen zwischen Siemens und der Handelsvertretung in eine auf Vertrauen basierende Geschäftskultur wurde nicht erreicht. Die Effizienz des institutionellen Arrangements im Sowjetgeschäft von Siemens ist auf Basis dieser qualitativen Einschätzung als gering zu beurteilen. Der Kosteneinsatz sowohl bei der Anbahnung als auch bei der Überwachung von Verträgen blieb bis 1933 sehr hoch. Transaktionskosten im Sowjetgeschäft Aus den überlieferten Daten ist eine umfassende quantitative Messung und Interpretation der von Siemens im Sowjetgeschäft eingesetzten transaktionskosten nicht möglich. Zwar veranschaulichen mehrere interne Übersichten detailliert die Ausgaben des tB ost über mehrere Jahre hinweg. In einem Fall werden sogar die Unterschiede in der Ausgabenstruktur zwischen dem Sowjetgeschäft und anderen Geschäftsbereichen deutlich.193 Für eine Beurteilung dieser Zahlen fehlen jedoch unter anderem Informationen darüber, wie das tB ost zum Beispiel die Begriffe „Unkosten“ und „Gesamtunkosten“ definierte, ob sich darunter transaktionskosten subsumieren lassen und inwieweit sich die Höhe dieser Kosten im tB ost von anderen Abteilungen unterschied. Aus der Chronik des tB ost geht lediglich hervor, dass im Sowjetgeschäft zumindest zwischen 1924 und 1933 überwiegend Gewinne erwirtschaftet wurden (vgl. die tabelle auf S. 158). In der Forschungsliteratur findet sich allerdings bei Alexander Baykov ein allgemeiner Hinweis auf die Höhe von transaktionskosten im Sowjetgeschäft. Baykov kommt auf Basis seiner Analyse des sowjetischen Außenhandels zu dem Urteil, dass vor allem bei Aufträgen, die im rahmen staatlicher Ausfallbürgschaften an feste Liefersummen gebunden waren, zusätzliche transaktionskosten entstanden. Das Ergebnis seiner Analyse fasst er in folgenden Punkten zusammen: „(1) Despite the state guarantee, the credits granted were regarded by suppliers as credits from private firms, and this led inevitably to an increase in the prices of the goods supplied. (2) the guarantee covered only 60–75 per cent of the value, and the supplying firms insured against risks on the remainder by raising the prices on the good supplied. (3) Most banks refused to discount the unguaranteed part of the credits; consequently some suppliers resorted to the black market and included the high black market rates of discount in the prices of the goods sold.
193 Vgl. dazu besonders die internen Übersichten in: SAA 4732 (Monatsberichte der Zentral-Finanzverwaltung über das Geschäft des tB ost für die Jahre 1929 und 1930); SAA 11707 (Übersichten der Zentral-Finanzverwaltung über das „russenrisiko“ und das „risiko im russlandgeschäft“ für die Jahre 1926 bis 1939); sowie in SAA 11 Lf 44 ein Vergleich der Geschäftsergebnisse der Abteilung Bahnen mit und ohne des Anteils aus dem Sowjetgeschäft für die Jahre 1931 und 1932.
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teil III Siemens im Sowjetgeschäft: Eine Institutionenanalyse (4) the actual form of credits from firms, i. e. the acceptance of long-term bills of exchange, made their discounting difficult since banks usually do not discount long-term credits. (5) the very system of guaranteed credits meant that guarantees were allotted to firms from a center, and this facilitated the formation of ‘blocs’ among suppliers for the purpose of forcing up the prices on goods for the USSr. Government committees, which were often connected with big industrial concerns and leading industrial magnates, were in a position to refuse guarantees to firms keeping aloof from such ‘blocs’ and willing to offer the Soviet organizations easier terms. By its very nature, the state guarantee given to private firms‘ credits limited the freedom of action of Soviet agencies in the choice of firms, and prevented them from deriving an advantages from competition between accredited suppliers and outsiders while, at the same time, the difficulty encountered by firms in discounting the unguaranteed part of their outlay was not alleviated. All these circumstances were reflected in the prices of import goods as well as in the actual cost of credit.“194
wie in den Punkten 1 bis 4 deutlich wird äußerte sich die wahrgenommene Unsicherheit der Unternehmen im Sowjetgeschäft trotz staatlicher Ausfallbürgschaften in höheren warenpreisen. Die Unternehmen berücksichtigten darin zum Beispiel, dass ihre langfristigen sowjetischen wechsel nur begrenzt handelbar waren und rechneten dies sowie den unversicherten Anteil der Aufträge in ihre Preise mit ein. Der zeitgenössische Ausspruch „russenwechsel sind bares Geld“195, mit dem Manfred Pohl eine angeblich hohe wirtschaftliche Effizienz der wechselgeschäfte belegt, ist somit vorsichtig zu beurteilen. Von Baykov wird demgegenüber klar gezeigt, wie sich sowohl die hohe perzipierte Unsicherheit der Unternehmen als auch der finanzielle Mehraufwand der Kreditgeschäfte in höheren transaktionskosten und damit in höheren Preisen im Sowjetgeschäft spiegelten. Die staatlichen Ausfallbürgschaften führten nicht dazu, dass sich diese Form von institutioneller Sicherheit in niedrigeren Preisen auswirkte. Vielmehr war die Vergabe der Bürgschaften, wie Baykov in Punkt 5 zusammenfasst, an ökonomisch ineffiziente regeln der Auftragszuweisung gebunden, limitierte dadurch den wettbewerb und führte zu einer substantiellen Steigerung der transaktionskosten und höheren Preisen bei sowjetischen Aufträgen. Das Steuerungspotential von Siemens Nach der theorie des institutionellen wandels können Akteure ihre institutionelle Umwelt aktiv beeinflussen und versuchen, die strategische Verfolgung ihrer Zielpräferenzen effizienter zu gestalten. wie das Schaubild auf S. 310 verdeutlicht, sind Akteure dabei konkurrierenden Strategien anderer Akteure ausgesetzt. Im Folgenden diskutiere ich, wie angesichts dieser Konkurrenz der Gestaltungsspielraum von Siemens im Sowjetgeschäft zu bewerten ist. werden die fundamental unterschiedlichen Zielpräferenzen der Bol‘ševiki mit denen von Siemens verglichen, so überrascht es zunächst, dass zwischen dem sow194 Baykov: Soviet Foreign trade (1946), S. 49. 195 Pohl: Geschäft und Politik (1988), S. 110. Einen Quellenbeleg über die Herkunft des Zitats gibt Pohl nicht.
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jetischen Staat und dem Unternehmen seit 1918 eine reihe von Kommunikationsund Geschäftsregeln etabliert wurden. In vielen Belangen passte sich der sowjetische Staat den gegebenen rahmenbedingungen an, gab das Ziel der unmittelbaren weltrevolution auf, schloss internationale Verträge ab und unterwarf sich in seinen Außenwirtschaftsbeziehungen vertraglichen regeln. Besonders zu Beginn der NĖP herrschte deshalb in vielen Unternehmen großer optimismus, es würde zu einer weitgehenden Anpassung der sowjetischen wirtschaftsordnung an die eigenen kapitalistischen Normen kommen. Mehrere deutsche Unternehmen wie Krupp, Stinnes und otto wolff nutzten seit 1921 die Geschäftsmöglichkeiten, die das sowjetische Konzessionswesen bot, schlossen langfristige Verträge ab oder beteiligten sich an Lieferaufträgen. Dagegen reagierte Siemens weitaus vorsichtiger auf die sich bietenden Geschäftschancen. wie in Kapitel 1 erläutert, wurde die wahrnehmung von Unsicherheit zu einem prägenden Merkmal der Unternehmenskultur im Sowjetgeschäft. Siemens versuchte zwar, die institutionellen Grundlagen der deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen aktiv zu verändern und dadurch Stabilität zu generieren. Siemens-Mitarbeiter waren unter anderem an der Spezifizierung von Zahlungsund Lieferbedingungen beteiligt. Sie bemühten sich im rahmen der IFAGo um die Finanzierung von Kreditgeschäften und waren durch die Unternehmerreise von 1931 in die Vorbereitung des ersten Pjatakov-Abkommens maßgeblich involviert. Im Ergebnis zeigte sich allerdings, dass dem Gestaltungswillen des Unternehmens enge Grenzen gesetzt waren. Vielmehr belegen mehrere Beispiele, dass der sowjetische Außenhandelsapparat überaus erfolgreich seine Interessen gegenüber Siemens durchsetzen konnte. In Konfliktfällen wie im Boykott von 1923/24 oder im Streit um die Zahlungsbedingungen von 1932 musste das Unternehmen die von sowjetischer Seite vorgegebenen Spielregeln akzeptieren.196 Das sowjetische Außenhandelsmonopol stellte einen zu starren institutionellen referenzrahmen dar, dessen Persistenz nur schwer zu erschüttern war. Auch die externen Netzwerke mit der deutschen Außenwirtschaftspolitik, mit anderen Unternehmen oder das Engagement in Verbänden konnten die Durchsetzungsfähigkeit von Siemens nur bedingt erhöhen. Das Potential des Unternehmens, das sekundäre institutionelle Arrangement der Umwelt strategisch zu steuern und die Effizienz der eingesetzten transaktionskosten im Sowjetgeschäft zu erhöhen, war sehr begrenzt. Es stellt sich daher die Frage, inwieweit Siemens angesichts dieser Umweltbedingungen grundsätzlich in der Lage war, seine Interessen im Sowjetgeschäft erfolgreich durchzusetzen. Die Antwort auf diese Frage erfordert zunächst eine theorie zur Persistenz und zum wandel internalisierter Zielpräferenzen von Akteuren.
196 Vgl. dazu auch das Urteil Hubert Schneiders. Demnach lag es „jederzeit in den Händen der Sowjets, durch ihr Monopol Umfang und Zeitraum solcher Zusammenarbeit [mit ausländischen Unternehmen] zu bestimmen“. Schneider: Das sowjetische Außenhandelsmonopol (1973), S. 198.
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4 wANDEL UND PErSIStENZ DEr ZIELPrÄFErENZEN VoN SIEMENS Zielpräferenz von Siemens im Sowjetgeschäft war die ökonomische Gewinnmaximierung in Abhängigkeit des eigenen weltbildes. Sie setzte eine weitgehende institutionelle Stabilisierung der deutsch-sowjetischen Beziehungen voraus. Den Aufbau von Geschäftsbeziehungen mit Sowjetrussland nach der oktoberrevolution musste das Unternehmen allerdings in einer fundamental veränderten Umwelt unter Bedingungen hoher Erwartungsunsicherheit angehen: Erstens führte das Nationalisierungsdekret der Bol‘ševiki im Juni 1918 auf einer formalen Ebene zum Verlust aller Verfügungsrechte in Sowjetrussland und der Abbruch der deutsch-sowjetischen Beziehungen im November 1918 brachte die Auflösung aller bestehenden bilateralen Verträge mit sich. Zweitens folgte auf die oktoberrevolution ein fundamentaler institutioneller Strukturwandel in der sowjetrussischen wirtschaft, der mit einer weitgehenden Veränderung traditioneller Geschäftsregeln einherging. In den folgenden Jahren bestand weder ein formalrechtlicher rahmen, der deutschen Unternehmen Sicherheit gewährt hätte, noch war die revolutionäre rhetorik der Bol‘ševiki dazu geneigt, einem Unternehmen große Zuversicht in die Verbindlichkeit impliziter regeln zu vermitteln. Akteure sind im institutionenökonomischen Ansatz in der Lage, die Effektivität ihrer Zielpräferenzen in einer gegebenen Umwelt zu reflektieren und sie gegebenenfalls an die Umweltbedingungen anzupassen (vgl. das Schaubild auf S. 75). Im Folgenden untersuche ich, ob Siemens zu einer solchen Anpassung seiner Zielpräferenzen in der Lage war. 4.1 Eine theorie zum wandel von Zielpräferenzen In Siegenthalers theorie institutionellen wandels stehen fundamentale Krisen am Beginn eines Lernprozesses, in dem Akteure Normen aus der Umwelt internalisieren und durch die Interaktion mit anderen Akteuren neue Zielpräferenzen entwickeln können. Ihr Ziel ist es, dadurch subjektive Unsicherheit zu verringern und das Handlungsrisiko kalkulierbar zu machen. Im Folgenden zeige ich einen methodischen weg auf, um den wandel und die Persistenz von Zielpräferenzen zu erklären. Zunächst werden dazu die Grundlagen von tanja rippergers Ansatz zu „objektiven“ Zielpräferenzen vorgestellt und kritisiert. Anschließend leite ich mit Bezug auf die theoretischen Annahmen von North und Siegenthaler ein Modell ab, das den Einfluss von truly bounded rationality auf die Persistenz und den wandel von Zielpräferenzen berücksichtigt.197
197 Zu den Schwierigkeiten der Sozialwissenschaften, eine fundierte theorie zum wandel internalisierter Präferenzen zu entwickeln, vgl.: Coleman: Foundations of Social theory (1990), S. 516. Coleman kritisiert an dieser Stelle besonders die fehlende Bereitschaft der Sozialwissenschaften, auf das breite Angebot an theorien aus der Kognitionspsychologie zurückzugreifen.
4 wandel und Persistenz der Zielpräferenzen von Siemens
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Kritik an Rippergers Theorie der Internalisierung „objektiver“ Zielpräferenzen Ein zentraler Bestandteil in tanja rippergers theorie zur Genese von Vertrauen betrifft das Potential eines Akteurs, seine internen Zielpräferenzen unter rationalen Gesichtspunkten zu verändern, um seinen individuellen Nutzen innerhalb gegebener Umweltbedingungen zu steigern. ripperger kritisiert dabei die in der Ökonomie weit verbreitete Annahme stabiler Präferenzen, die dem Menschen die „Freiheit der eigenen Persönlichkeitsbildung“198 nicht zugestehe, sondern ihn vielmehr auf einen statischen Akteur mit festen Verhaltensweisen reduziere. Dass Akteure ihre Zielpräferenzen selbst zum Gegenstand einer Prüfung machen und sie gegebenenfalls verändern können, werde dadurch nicht berücksichtigt. Akteure seien so, in den worten rippergers, „im Extremfall gefangen in der effizienten realisierung ineffektiver Präferenzen“199. Ausgehend von dieser Kritik entwickelt sie ein Handlungsmodell, das den wandel individueller Zielpräferenzen einbezieht. Die Basis ihres Ansatzes ist die Annahme eines objective self und eines acting self aus der Sozialtheorie Colemans (vgl. dazu S. 61). Akteure sind demnach nicht darauf beschränkt, in ihrem Handeln (acting self) ressourcen zur Befriedigung gegebener Präferenzen (objective self) einzusetzen. Vielmehr können auch die Präferenzen selbst einer Prüfung unterzogen und ihre Effektivität in einer gegebenen Umwelt kritisch hinterfragt werden. ripperger führt an dieser Stelle den Begriff der „objektiven Präferenzen“ in das Modell ein, die dem Akteur als Maßstab für die Bewertung seiner Zielpräferenzen dienen: „objektive Präferenzen können […] interpretiert werden als diejenige abgeleitete Präferenzstruktur, welche innerhalb der gegebenen institutionellen rahmenbedingungen die höchste Effektivität in Bezug auf die realisierung der Metapräferenzen besitzt.“200
Das Handeln eines Akteurs ist bei ripperger nur dann effektiv, wenn seine Zielpräferenzen sich unter den gegebenen Umweltbedingungen umsetzen lassen. Ist dies nicht der Fall, so wäre es im Sinne der individuellen Nutzenmaximierung notwendig, die individuellen Zielpräferenzen an die gegebene Umwelt anzupassen. Nach ripperger erreicht der Akteur dies durch die Internalisierung von gegebenen Normen aus der Umwelt: „Die Internalisierung von Normen kann damit ökonomisch erklärt werden als die optimierung von Präferenzen auf Basis des Prinzips der langfristigen Nutzenmaximierung unter institutionell und sozial vorgegebenen Handlungsrestriktionen.“201
rationale Akteure besitzen damit eine Möglichkeit, ihren langfristigen Nutzen durch die Anpassung der Zielpräferenzen zu maximieren: „Akteure können ihren Nutzen nicht nur durch aktive Einflußnahme auf ihre Umwelt und ihre künftigen Handlungsrestriktionen maximieren, sondern auch dadurch, daß sie die Art ihrer 198 ripperger: Ökonomik des Vertrauens (1998), S. 203. 199 ripperger: Ökonomik des Vertrauens (1998), S. 204. 200 ripperger: Ökonomik des Vertrauens (1998), S. 212. Unter Metapräferenzen versteht ripperger zum Beispiel das Ziel, Freundschaften mit anderen Menschen zu schließen. 201 ripperger: Ökonomik des Vertrauens (1998), S. 213.
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teil III Siemens im Sowjetgeschäft: Eine Institutionenanalyse subjektiven Präferenzen in gewissem Maße an die institutionellen Gegebenheiten ihres sozialen Umfelds anpassen. während sie im ersten Fall durch verändertes Verhalten lediglich die Effizienz ihrer Nutzenproduktionsfunktion steigern können, können sie im zweiten Fall auch deren Effektivität steigern, d. h. die Eignung ihrer subjektiven Präferenzstruktur, ihr Nutzenniveau innerhalb eines spezifischen sozialen Umfelds langfristig zu maximieren. Dies erfordert insofern ein erweitertes Verständnis von rationalität, als ein Akteur in der Lage sein muß, nicht nur die wirkung seiner Handlungen, sondern auch die wirkungen seiner subjektiven Präferenzen bzw. die Auswirkungen ihrer Veränderung auf sein langfristiges Nutzenniveau zu erkennen.“202
wie der Begriff „objektive Präferenzen“ andeutet, basiert rippergers Handlungsmodell auf der Annahme einer costly bounded rationality. Die Spezifizierung von begrenzter rationalität, die sie als Ausgangspunkt ihrer theoriebildung nimmt, begründet ripperger mit der unvollständigen Information und den begrenzten Informationsverarbeitungskapazitäten von Akteuren.203 weitere menschliche Verhaltensbeschränkungen werden durch diese reduktion von rationalität auf ökonomische Kostenfaktoren nicht erfasst. Die Kritik des historical institutionalism an dieser ökonomischen reduktion von Handlungsrationalität habe ich in teil I, Kapitel 3.2 aufgezeigt und mit truly bounded rationality ein erweitertes rationalitätskonzept vorgestellt. Darin basiert menschliches Handeln auf einer vollständig begrenzten rationalität, die Handlungsmotivationen infolge kultureller oder sozialer Faktoren mit einschließt. rippergers Ansatz, der die Internalisierung von Zielpräferenzen durch ökonomisch „objektive“ Kostenfaktoren erklärt, greift zu kurz. Es ist vielmehr grundsätzlich anzuzweifeln, ob Zielpräferenzen überhaupt objektivierbar sind. Auch Coleman, auf den sich ripperger beruft, spricht nicht von objektiven Präferenzen. Die Internalisierung von Normen aus der Umwelt basiert in Colemans Ansatz vielmehr auf der Fähigkeit eines Akteurs, effektive Normen zu erkennen, diese als eigene Interessen zu internalisieren und sein objective self dahingehend zu erweitern. Nach Coleman ist diese „expansion of the objective self“204 ein lebenslanger Lernprozess ohne festen Abschluss. Auch die Neo-Institutionalisten Kathleen thelen und Sven Steinmo argumentieren, die Ziele von Akteuren würden ebenso wie ihre Strategien von ihrem institutionellen Handlungskontext beeinflusst werden, der nicht objektivierbar ist.205 Die empirische Anwendung zeigt ebenfalls deutlich die Grenzen des Konzepts der costly bounded rationality auf, wenn sich wie im Beispiel Siemens im Sowjetgeschäft die soziale Interaktion zwischen Akteuren mit fundamental unterschiedlichen weltbildern abspielt. Es wird zwar im Folgenden die Annahme übernommen, dass Akteure unter bestimmten Bedingungen Normen internalisieren und dadurch den Einsatz ihrer transaktionskosten im rahmen der gegebenen institutionellen Umwelt optimieren können. Ich bin allerdings der Ansicht, diese Internalisierung lässt sich nur dann vollständig erklären, wenn den Akteuren eine truly bounded 202 203 204 205
ripperger: Ökonomik des Vertrauens (1998), S. 230. ripperger: Ökonomik des Vertrauens (1998), S. 21f. Coleman: Foundations of Social theory (1990), S. 517ff. thelen/Steinmo: Historical Institutionalism in Comparative Politics (1992), S. 7.
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rationality zugestanden wird. Das Potential von Akteuren, in fundamentalen Krisen aus ihrer Umwelt zu lernen, basiert in entscheidendem Maß auf ihrer Fähigkeit zur kommunikativen Annäherung an die mentalen Modelle ihrer Interaktionspartner. Im Fallbeispiel Siemens betraf dies vor allem das Außenhandelsmonopol der Bol‘ševiki. Truly bounded rationality im Sowjetgeschäft und das Außenhandelsmonopol als institutioneller Referenzrahmen von Siemens wie lässt sich der Einfluss institutioneller Umweltbedingungen auf die Entwicklung der Zielpräferenzen von Siemens im Sowjetgeschäft genauer spezifizieren? Hierbei sind mehrere wichtige Faktoren zu nennen, die die Unternehmensstrategie beeinflussten. Hervorzuheben sind zum Beispiel die reichsregierungen, die mit ihrer zwischenstaatlichen Vertragspolitik die Grundlage für die Entwicklung der wirtschaftsbeziehungen mit der Sowjetunion legten oder auch die Politik der Siegermächte des Ersten weltkriegs gegenüber dem Deutschen reich. Der historische Überblick in teil II zeigte, dass sowohl die Politik der Siegermächte als auch die deutsche Außenpolitik einen institutionellen rahmen vorgaben, der das Sowjetgeschäft deutscher Unternehmen nicht nur ermöglichte, sondern zeitweise sogar explizit förderte. In meiner folgenden Analyse konzentriere ich mich allerdings auf den Einfluss des sowjetischen Außenhandelsmonopols bei der Formulierung von Zielpräferenzen von Siemens im Sowjetgeschäft. Diese analytische Fokussierung basiert auf folgenden Überlegungen: Erstens hatte die sowjetische Außenwirtschaftspolitik ein großes Interesse an der Aufnahme von Außenwirtschaftsbeziehungen und eröffnete mit ihrer Vertragspolitik einen raum, den die Unternehmen für ihre Geschäftspolitik nutzen konnten. Zweitens war das Monopol sowohl in seiner funktionalen Bedeutung für den sowjetischen Außenhandel als auch in seiner symbolischen Bedeutung ein zentraler referenzpunkt für Siemens (vgl. dazu den Überblick in teil II, Kapitel 2.3). Dabei ist jedoch zu beachten, dass die Zielpräferenzen der Bol‘ševiki in der Außen- und Außenwirtschaftspolitik nicht statisch blieben, sondern in den ersten Jahren nach Gründung des sowjetischen Staates einem fundamentalen wandlungsprozess unterworfen waren. Besonders deutlich wird dieser wandel sowjetischer Zielpräferenzen, wenn der ideologische Einfluss auf das Handeln der Bol‘ševiki betrachtet wird.206 Im oktober 1917 stand der revolutionsexport in die kapitalistischen Länder an oberster Stelle auf der politischen Agenda. Der Aufbau von Außenpolitik und Außenhandel im nationalstaatlichen Kontext wurde zunächst nicht in Betracht gezogen. Diese Einstellung änderte sich bereits wenige Monate später unter dem Druck der Verhandlungen in Brest-Litovsk. Der Abschluss der deutsch-sowjetischen Verträge im Jahr 1918 sowie das Dekret über das Außenhandelsmonopol im April 1918 können 206 Zur großen Anpassungsbereitschaft der Bol‘ševiki in den ersten Jahren nach der revolution vgl. besonders: Pietsch: revolution und Staat (1969), S. 159.
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daher als eine Internalisierung externer Impulse durch die Bol‘ševiki interpretiert werden, die zur optimierung der Zielpräferenzen an die gegebenen Umweltbedingungen führte. Schließlich geriet bis Anfang der 1920er Jahre das Ziel der weltrevolution immer weiter in den Hintergrund. Es wurde vom Konzept des „Sozialismus in einem Land“ abgelöst, das die Sowjetunion als quasi nationalstaatlichen Akteur in internationalen Beziehungen etablierte. Nach Abschluss dieses wandlungsprozesses lassen sich die sowjetischen Zielpräferenzen im Außenhandel folgendermaßen bestimmen: Das ökonomische Ziel der Sowjetunion lag darin, den Außenhandel so rasch wie möglich auf das Niveau der Vorkriegszeit von 1913 anzuheben.207 Die Instrumente, mit denen dieses Ziel erreicht werden sollte, deckten sich weitgehend mit denen der Zarenzeit. Der Export von rohstoffen und Agrarprodukten sollte den Import von Investitionsgütern finanzieren und dadurch den Industrialisierungsprozess der Sowjetunion beschleunigen. Allerdings gab es im Vergleich zum Zarenreich einen wesentlichen Unterschied: Abseits aller ökonomischer Interessen lag das Ziel der Bol‘ševiki darin, den Außenhandel im rahmen des eigenen ideologischen wertehorizonts zu gestalten. Dies bedeutete, dass die staatliche Kontrolle der Außenwirtschaftsbeziehungen absolute Priorität hatte. Entgegen aller Hoffnungen, auch der deutschen Unternehmen, kam es während der NĖP deshalb nur zu einer sehr begrenzten Zulassung marktwirtschaftlicher Strukturen, die sich außerdem ausschließlich auf den Binnenhandel und die Kleinindustrie beschränkte. Der Außenhandel wurde zwar mehrfach reformiert, allerdings hatte die Sowjetunion keinerlei Interesse daran, organisationsstrukturen westlichen Musters einzuführen. Die Zulassung von Konzessionen oder die Gründung von Handelsgesellschaften wie Ėlektroimport stellten das Außenhandelsmonopol nicht infrage. Eine Beurteilung der Performanz des sowjetischen Außenhandels bis in die 1930er Jahre ergibt daher ein zweifaches Ergebnis. Einerseits wurde das ökonomische Ziel, den Außenhandel auf das Niveau von 1913 zu heben, klar verfehlt. Ebenso wurden von sowjetischer Seite die großen Ineffizienzen der Außenhandelsstrukturen eingestanden. So bezeichneten A. Goldstein und A.Ju. rapoport die Konzessionen an ausländische Unternehmen als einen „Fremdkörper im Sowjetorganismus“208. Andererseits zeigte sich das Monopol außerordentlich erfolgreich darin, trotz der wachsenden außenwirtschaftlichen Verflechtung die Einflussnahme von ausländischen Unternehmen auf die sowjetische Industrie zu unterbinden. Allerdings basierten Planung und Ausgestaltung des sowjetischen Außenhandels kaum auf einer in sich geschlossenen rationalität. Vielmehr ist anhand der Forschungsliteratur wie auch anhand mehrerer Beispiele aus dem Sowjetgeschäft von Siemens festzustellen, dass die Akteure innerhalb der Bürokratie zum teil stark divergierende Interessen verfolgten.209 Erstens hatte dies gravierende Folgen auf 207 Dohan: Foreign trade (1984), S. 112. 208 Goldstein/rapoport: Das Sowjet-wirtschaftsrecht im Geschäftsverkehr (1931), S. 40. 209 Vgl. dazu auch eine Mitteilung Begges an Chinčuk bezüglich des Boykotts gegen AEG im Jahr 1929. Darin beschwert er sich über eine Einladung des Staatlichen Elektrotrusts GĖt an Pfeffer, in Moskau persönlich eine Lösung des Konflikts zu diskutieren. Begge verbat sich ausdrücklich die Einmischung des GĖt: „Unsere Genossen aus dem GĖt glauben wohl, dass sie
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die bürokratische Effizienz. Zweitens war es für Unternehmen nicht möglich, die konkurrierenden ideologischen oder machtpolitischen Handlungsrationalitäten zwischen einzelnen Akteuren im sowjetischen Außenhandel nachzuvollziehen. Dies galt sowohl für den Zeitraum der NĖP und die Industrialisierungsdebatte als auch für den ersten Fünfjahresplan. Zwar konstatiert Kashirskikh, Stalins Sieg in der machtpolitischen Auseinandersetzung um die Nachfolge Lenins habe den deutschen Unternehmen Stabilität und eine „größere Berechenbarkeit“210 gegeben. Dennoch ist auch für den Zeitraum des ersten Fünfjahresplans zu sagen, dass sich der sowjetische Außenhandel kaum an ökonomischen Handlungsmustern orientierte, die für Unternehmen ohne weiteres einsehbar oder gar verständlich gewesen wären. Vielmehr blieb der Außenhandel unter Stalin einer Handlungsrationalität unterworfen, die zum Beispiel im Fall der Moskauer Metro die innersowjetischen Entscheidungsprozesse für Siemens nicht nachvollziehbar erscheinen ließ. Im Ergebnis ist deshalb zu sagen, dass der Außenhandel einer der Sowjetunion spezifischen Handlungsrationalität unterworfen war, die als Mischung aus ökonomischen, machtpolitischen und ideologiegebundenen Interessen zu bezeichnen ist. Infolge der zahlreichen formalen und informellen regeln war der „Markt“ im Sowjetgeschäft sehr stark reglementiert und vielfältigen institutionellen Begrenzungen unterworfen. Zwar strebte die Sowjetunion wie auch Siemens eine institutionelle Stabilisierung der Umwelt an, um ihre Interessen im Außenhandel durchzusetzen. Allerdings hatten die Bol‘ševiki eine grundsätzlich andere Vorstellung davon, was Stabilität bedeutet, als das kapitalistische Unternehmen. Seit dem Dekret vom 22. April 1918 entwickelte sich die Institution des Außenhandelsmonopols zum wichtigsten referenzrahmen von Siemens im Sowjetgeschäft. Nicht nur sah man sich von Unternehmensseite im Handel mit den Bol‘ševiki einem ideologisch motivierten Partner gegenüber, dessen langfristiges Ziel der weltrevolution auf eine Gefährdung der eigenen Lebenswelt hinführte. Sondern ebenso wirkte das staatliche Monopol in der konkreten wirtschaftlichen Interaktion wie ein Fremdkörper auf Siemens und wohl auch auf die Mehrzahl der anderen am Sowjetgeschäft beteiligten Unternehmen. Monopole waren grundsätzlich nichts Außergewöhnliches für westeuropäische und nordamerikanische Elektrounternehmen.211 Die ideologisch motivierte Verstaatlichung von Privateigentum und der ausschließliche Anspruch des Staates auf die Kontrolle allen wirtschaftlichen Handelns waren jedoch Maßnahmen, die weit über den bisherigen Erfahrungshorizont kapitalistisch geprägter ökonomischer Akteure hinausgingen. Die wirtschaftsordnung, die die Bol‘ševiki nach ihrer Machtübernahme etablierten, stieß bei Siemens auf strikte Ablehnung. ein Staat im Staate sind, und dass für sie keinerlei Gesetze geschrieben wurden.“ rGAĖ f. 5240, op. 18, d. 1590, l. 352, K. M. Begge: Brief an Chinčuk betr. GĖt und AEG. Berlin 30.9.1929, S. 2. 210 Kashirskikh: Die deutsch-sowjetischen Handelsbeziehungen (2006), S. 109. 211 Zu den Kartellierungsstrategien deutscher und US-amerikanischer Elektrounternehmen vgl.: Harm G. Schröter: A typical Factor of German International Market Strategy: Agreements between the US and German Electrotechnical Industries up to 1939, in: Alice teichova (Hg.): Multinational Enterprise in Historical Perspective. Cambridge 1989, S. 160–170.
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Effektivität und Wandel der Zielpräferenzen von Siemens im Sowjetgeschäft Die Entscheidungsfindung des kollektiven Akteurs Siemens basierte auf den Zielpräferenzen der individuellen Mitarbeiter, die einer truly bounded rationality unterworfen waren. Der fundamentale Lernprozess im Sowjetgeschäft führte bei maßgeblichen Entscheidern wie Görz und Carl Friedrich von Siemens zwischen 1917 und 1921 zu einer ersten Internalisierung gegebener Umweltbedingungen. In deren Folge wurden die Existenz des sowjetischen Staates und die Kommunikation mit den Bol‘ševiki als Voraussetzung für das Unternehmensgeschäft akzeptiert. Zielpräferenz von Siemens im Sowjetgeschäft war die ökonomische Gewinnmaximierung im rahmen des eigenen wertehorizonts (vgl. S. 275). wie im gesamten Untersuchungszeitraum deutlich wird, beinhaltete dies starke, ideologisch begründete Vorbehalte gegenüber dem sowjetischen Staat. In den folgenden Kapiteln gehe ich der Frage nach, wie Siemens die Effektivität seiner Zielpräferenzen bewertete, und ob es im Untersuchungszeitraum zu einem wandel von fundamentalen Zielpräferenzen und zu einer optimierung der Zielpräferenzen an die gegebenen Umweltbedingungen (in der Analyse reduziert auf das Außenhandelsmonopol) kam. Ziel ist es, den „Erfolg“ der Unternehmensstrategie von Siemens im Sowjetgeschäft aufzuzeigen. Der Begriff „Erfolg“ bezeichnet den Zusammenhang zwischen den Zielpräferenzen des Akteurs und dem output seines Handelns (vgl. das Schaubild auf S. 70). Die Grundlage meiner Analyse sind theoretische Überlegungen zur Frage, wie Akteure vorgehen, wenn ihre Zielpräferenzen nicht mit den gegebenen Umweltbedingungen vereinbar sind. Coleman führt dazu Folgendes aus: „Actors take action, modifying outcomes of events in the world, in order to make those outcomes more compatible with an order that exists inside each of them. […] if the actor is engaged in the task of maximizing the satisfaction of his interests, the task can be accomplished in either of two ways: He may take action to restructure the outside world, by gaining control over certain events that are important to him; or he may restructure the internal self, by gaining interest in some events and losing interest in others.“212
Diese Dichotomie Colemans von „restructure the outside world“ (im Folgenden als „Konfrontation“ bezeichnet) und „restructure the internal self“ (im Folgenden als „Anpassung“ bezeichnet) wird übernommen und von mir um den Punkt „Kooperation“ erweitert. Unter Kooperation verstehe ich das Potential von Siemens, trotz gegebener fundamentaler Differenzen mit den Bol‘ševiki im Sowjetgeschäft neues regelvertrauen zu generieren. Siemens standen somit drei Strategien zur Verfügung, um institutionelle Stabilität im Sowjetgeschäft herzustellen: 1. Konfrontation: Konnte Siemens seine gegebenen Zielpräferenzen effektiv verfolgen und die Unternehmensinteressen gegen das sowjetische Außenhandelsmonopol erfolgreich durchsetzen?
212 Coleman: Foundations of Social theory (1990), S. 517.
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2. Kooperation: Konnte Siemens bei gegebenen, unterschiedlichen Zielpräferenzen in der Interaktion mit dem sowjetischen Außenhandelsapparat regelvertrauen generieren? 3. Anpassung: Passte Siemens seine Zielpräferenzen an die gegebenen Umweltbedingungen an und generierte durch diese Internalisierung Stabilität? Die Umsetzung des Konzepts basiert auf dem in folgendem Schaubild skizzierten Zusammenhang zwischen Zielpräferenzen, Unternehmensstrategien, Effektivität und wandel:
Schaubild 7: Effektivität und der wandel von Zielpräferenzen
Siemens versuchte mittels der Strategien Konfrontation, Kooperation und Anpassung seine Zielpräferenzen im Sowjetgeschäft umzusetzen. Zentraler referenzpunkt war dabei das sowjetische Außenhandelsmonopol, mit dem die Sowjetunion die eigenen Zielpräferenzen im Außenhandel mit ausländischen Unternehmen verfolgte. Durch eine Evaluation der drei genannten Strategien konnte Siemens die Effektivität der eigenen Zielpräferenzen im Sowjetgeschäft überprüfen. ob diese Evaluation gegebenenfalls zu einer Änderung der Zielpräferenzen führte, hing vom Potential des Unternehmens ab, einen solchen fundamentalen wandel zu vollziehen. In den folgenden Kapiteln wird erstens die konfrontative reaktion von Siemens auf die Institution des Außenhandelsmonopols untersucht. Im zweiten Schritt analysiere ich, inwieweit Siemens in der Lage war, trotz der Persistenz des Außenhandelsmonopols durch Vertragsbeziehungen das Sowjetgeschäft zu stabilisieren. Das dritte Kapitel geht der Frage nach, ob es Siemens gelang, Normen aus der Umwelt zu internalisieren und dadurch seine eigenen Zielpräferenzen an die Umwelt-
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bedingungen anzupassen.213 Siemens verfolgte die drei Strategien Konfrontation, Kooperation und Anpassung im Untersuchungszeitraum zum teil parallel. Eine eindeutige zeitliche Abgrenzung ist nicht möglich. Es wird durch die analytische trennung allerdings ein weg eröffnet, der die Persistenz und den wandel fundamentaler Zielpräferenzen von Siemens im Sowjetgeschäft erklären kann. 4.2 Konfrontation: Stabilität durch eine „Durchlöcherung“ des Außenhandelsmonopols? Nach Perrey und anderen Autoren war die Institution des Außenhandelsmonopols seit Beginn des deutschen Sowjetgeschäfts Zielscheibe fundamentaler Kritik seitens der Unternehmen und Verbände. Dies traf auch auf Siemens zu. In einer gemeinsamen Sitzung zwischen dem Auswärtigen Amt und dem Unternehmen im oktober 1924, in der es um die laufenden Verhandlungen mit der Sowjetunion zum Abschluss des wirtschaftsabkommens von 1925 ging, äußerte sich Ministerialrat Sjöberg über das Monopol wie folgt: „Um die grundsätzliche Anerkennung des Außenhandelsmonopols, also auch der russischen Handelsvertretung, werden wir nicht herumkommen, weil diese Frage zu sehr mit dem Bestand der ganzen Sowjetregierung verknüpft ist. […] Die Abschwächung der wirkung des Außenhandelsmonopols wird die deutsche Seite durch eine Durchlöcherung des Monopols zu erwirken suchen. Hierfür dienen in erster Linie die Kontingente, der Konsignationsverkehr, das Niederlassungsrecht, der Postpaketverkehr […], der freie Durchgangsverkehr, die Ermöglichung der Einreise deutscher Staatsangehöriger und ihr recht, mit alten und neuen Geschäftsfreunden zu sprechen, offerten abzugeben, Berichte und Unterlagen für geschäftliche Möglichkeiten in rußland zu erstatten und mitzunehmen.“214
Die anwesenden Industriellen, unter ihnen Carl Friedrich von Siemens, Hermann Görz, Felix Deutsch und Karl Fehrmann, stimmten Sjöberg zu. Die Diskussion beendete Carl Friedrich von Siemens mit der Forderung: „Die Durchlöcherung des Außenhandelsmonopols muß unter allen Umständen angestrebt werden.“215 Die Strategie, eine „Durchlöcherung“ des Monopols zu erzielen, lässt sich für Siemens in verschiedenen Formen seit den Anfängen des Sowjetgeschäfts nachzeichnen. Sie zeigte sich erstens in den im obigen Zitat Sjöbergs genannten Maßnahmen. Zweitens und parallel dazu bemühte sich Siemens intensiv um Abspra213 Dies bedeutet nicht, dass Siemens dazu sozialistische Ideologien internalisieren musste. Beispielsweise wäre die Vorstellung möglich, dass das Unternehmen mit der Zeit sein grundsätzliches Misstrauen gegen das sowjetische werte- und wirtschaftssystem ablegen und auf Basis einer akzeptierten Koexistenz ideologisch unvoreingenommen in wirtschaftliche Interaktion treten könnte. 214 SAA 4 Lf 665, reichsverband der Deutschen Industrie: Brief an Carl Friedrich von Siemens, im Anhang Bericht über die Besprechung am 14.10.1924 im Auswärtigen Amt über das rapallo-Abkommen. Berlin 18.10.1924, S. 3f. 215 SAA 4 Lf 665, reichsverband der Deutschen Industrie: Brief an Carl Friedrich von Siemens, im Anhang Bericht über die Besprechung am 14.10.1924 im Auswärtigen Amt über das rapallo-Abkommen. Berlin 18.10.1924, S. 8.
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chen mit anderen Firmen, um die aus Unternehmensperspektive negativen wirtschaftlichen Auswirkungen des Monopols zu kompensieren. Institutionelle Aushöhlung des Außenhandelsmonopols Die von Ministerialrat Sjöberg vorgeschlagenen Maßnahmen zur Durchlöcherung des Außenhandelsmonopols lassen sich auch im Sowjetgeschäft von Siemens nachweisen. In chronologischer reihenfolge stehen hier zuerst die reisen von Unternehmensangehörigen in die Sowjetunion. Die erste nachweisbare reise des Ingenieurs Kunz im winter 1921/22 verlief zwar noch ohne offizielle Genehmigung, in den folgenden Jahren etablierte sich jedoch ein regelmäßiger und offizieller reiseverkehr von Siemens-Mitarbeitern. Ebenfalls ermöglichte das Abkommen vom 12. oktober 1925 die Aufnahme einer direkten werbetätigkeit gegenüber sowjetischen Industriebetrieben als Endkunden. Schließlich bedeutete die Gründung des Siemens-Büros in Moskau im Jahr 1928, dass Siemens erstmals seit der oktoberrevolution wieder über eine eigene repräsentanz in der Sowjetunion verfügte. Alle diese Maßnahmen konnten nur mit Billigung der Sowjetunion durchgeführt werden und standen nicht grundsätzlich im widerspruch zum Außenhandelsmonopol. Siemens hatte dadurch jedoch die Möglichkeit, informell die sich bietenden Freiräume der Informationsbeschaffung und der Kommunikation zu nutzen, wie zum Beispiel durch den Aufbau persönlicher Kontakte durch eigenes Personal in Moskau. Ebenfalls nutzte das Unternehmen die reiseberichte der Mitarbeiter als eine wichtige Grundlage, um die wirtschaftliche Entwicklung in der Sowjetunion zu bewerten und das geschäftliche risiko kritisch zu analysieren. Siemens schuf sich dadurch mehrere informelle Freiräume.
Absprachen und Preiskartelle mit anderen Unternehmen Parallel dazu ging Siemens mehrere informelle Absprachen mit anderen Unternehmen ein, um der zentralen organisation des sowjetischen Außenhandelsapparats ein Gegengewicht entgegenzustellen. Zwischen Carl Friedrich von Siemens und Felix Deutsch bestand seit Anfang 1918 ein „gentlemen‘s agreement“ zur Koordination der gemeinsamen Interessen gegenüber den Bol‘ševiki (vgl. dazu S. 299). Die Absprachen zwischen Siemens und AEG intensivierten sich trotz aller Konkurrenz in den 1920er Jahren und führten zu vielfältigen Vereinbarungen wie zu Lieferungs- und Zahlungsbedingungen oder bei der Bezahlung deutscher Monteure in der Sowjetunion.216 Bereits im Sommer 1919 dachte Hermann Görz an, das künf-
216 Zu den Absprachen bei der Bezahlung von Monteuren vgl.: SAA 6876, AEG/BBC: Briefe der AEG und der BBC bezüglich Überstunden. Berlin 6.12.1932. Zu den Lieferbedingungen siehe S. 231.
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tige Sowjetgeschäft durch Preisabsprachen weitgehend zu regulieren. Im Protokoll der unternehmensinternen Besprechung am 8. August 1919 heißt es dazu: „Im übrigen erscheint ihm [Görz] eine Frage von ganz besonderer Bedeutung, nämlich die, dass man in Zukunft zur Bearbeitung russlands eine Vereinbarung mit der deutschen Konkurrenz zu erzielen sucht, um die Preisschleuderei, wie sie vor dem Krieg bestanden hat, möglichst auszuschalten.“217
Zwischen Siemens und AEG bestanden seit Anfang der 1920er Jahre konkrete Absprachen bei Preisen. So wurde in einem Schreiben des tB ost darauf verwiesen, dass beide Unternehmen im Bereich Bahnen regelmäßig ihre Preise abstimmten, bevor Angebote bei der Handelsvertretung eingereicht wurden.218 In einem späteren Fall, in dem es um die elektrische Ausrüstung von Kränen ging, wurde sogar festgelegt, zwischen Siemens und AEG solle „das Los“219 über die Auftragsannahme entscheiden. Im Verlauf der 1920er Jahre kam es darüber hinaus zu umfassenden Kartellregelungen, an denen sich auch weitere Elektrounternehmen beteiligten. Kartelle hatten in der deutschen Elektroindustrie eine jahrzehntelange tradition. Im Zuge der Fusionswelle elektrotechnischer Unternehmen zu Beginn des 20. Jahrhunderts bildete sich in Deutschland ein Duopol, als Siemens und AEG den deutschen Markt sowie zahlreiche andere europäische Märkte weitgehend dominierten und durch Absprachen den wettbewerb stark regulierten.220 Diese Absprachen traten nach dem Ersten weltkrieg zum teil wieder in Kraft und wurden durch eine internationale Kooperation mit General Electric, Metropolitan Vickers, westinghouse sowie anderen Unternehmen weiter ausgebaut. Im Ergebnis stand eine weitgehende globale Aufteilung von Interessensphären durch die elektrotechnischen Großunternehmen.221 Auch Siemens war an zahlreichen Kartellen maßgeblich beteiligt. Nach den Unterlagen Hafeneders war das Unternehmen Ende der 1920er Jahre Mitglied in mindestens vier Kartellen in den Bereichen Kabel, iso-
217 SAA 4746, otto von Have: Niederschrift der Besprechung über den Geschäftsverkehr mit russland vom 11.6.1918. Siemensstadt 8.8.1919, S. 5. 218 SAA 3348, tB ost: Brief an Abteilung Bahnen bezüglich gefordertem Angebot der Handelsvertretung. Siemensstadt 10.9.1925. 219 SAA 11 Lf 44, tB ost: Niederschrift über eine Besprechung betreffend die Vergebung von russischen Aufträgen. Siemensstadt 21.5.1932, S. 1. 220 wilfried Feldenkirchen: Big Business in Interwar Germany: organizational Innovation at Vereinigte Stahlwerke, IG Farben, and Siemens, in: the Business History review 61 (1987), 3, S. 417–451, hier 442. 221 Dazu ausführlich für die Elektroindustrie: Hertner: Financial Strategies and Adaptation (1989), S. 154ff.; Schröter: A typical Factor of German International Market Strategy (1989), S. 160ff.; Schröter: Die deutsche Industrie auf dem weltmarkt (1984), S. 341ff. Allgemein zu Kartellen: Clemens A. wurm: Politik und wirtschaft in den internationalen Beziehungen. Internationale Kartelle, Aussenpolitik und weltwirtschaftliche Beziehungen 1919–1933: Einführung, in: Clemens A. wurm (Hg.): Internationale Kartelle und Außenpolitik. Beiträge zur Zwischenkriegszeit/International Cartels and Foreign Policy (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Beiheft 23). Stuttgart 1989, S. 1–31.
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lierte Leitungen, Zähler und Glühlampen. Hinzu kamen umfassende Absprachen bei Anlagen zur Energieerzeugung und -weiterleitung sowie im Bereich Bahnen.222 Auch im Sowjetgeschäft nahmen diese Absprachen zwischen den Unternehmen einen hohen Stellenwert ein. Siemens konnte dabei besonders auf ein informelles Abkommen im Bereich Starkstromtechnik zurückgreifen, das seit der Jahrhundertwende existierte und das unter der Bezeichnung „Vertrauliche Correspondenz“ (VC) die Verständigung zwischen den Unternehmen bei der Bewerbung um Großprojekte regelte.223 Ziel dieser Absprachen war es, das risiko der hohen Entwicklungs- und Projektkosten zu minimieren sowie durch Mindestpreise und eine Quotenregelung den wettbewerbsdruck zu mindern. wie aus einem internen Bericht des tB ost aus dem Jahr 1930 deutlich wird, setzte man im Sowjetgeschäft das Instrument der Quotenregelung besonders bei der Vergabe von Aufträgen aus dem ersten Fünfjahresplan ein.224 Diese Übersicht zeigt, dass die Auftragsannahme bei turbinen und elektrischem Zubehör vollständig durch eine Festsetzung von Quoten für einzelne Unternehmen geregelt wurde. Ebenfalls werden für weitere Geschäftsbereiche Auftragsquoten zum Beispiel für Dneprostroj erwähnt. obwohl die genauen Mechanismen der Auftragszuweisung an die Unternehmen aus dem Dokument nicht hervorgehen wird der rückgriff der Elektroindustrie auf Preisabsprachen im Sowjetgeschäft in hohem Maße deutlich. Ebenfalls lässt sich anhand mehrerer Dokumente zeigen, dass sich Quoten- und Preisregelungen nicht nur auf die Elektroindustrie beschränkten, sondern Siemens auch mit Unternehmen anderer Branchen Absprachen initiierte. Carl Köttgen bemerkte zum Beispiel gegenüber G. Lippart, Direktor von MAN, im November 1925 Folgendes: „Ich habe das Gefühl, es ist höchste Zeit, dass die elektrische und mechanische Industrie gemeinschaftlich derartige [Zahlungs-] Bedingungen besprechen […]. Uns würde dies sehr recht sein, da wir alsdann einer gewissen russischen Liebe mehr widerstand entgegensetzen können.“225
Besonders im Lokomotivbau bestanden solche branchenübergreifenden Absprachen zwischen den Lieferfirmen. So sind bei der Vergabe der Großaufträge aus dem ersten Fünfjahresplan mehrere Fälle von Preisabsprachen nachweisbar, an denen sich Siemens und weitere Unternehmen wie BBC oder die Maffei-Schwartzkopff AG beteiligten. Bei der Ausschreibung eines Auftrags zur Lieferung von Elektrolokomotiven für Magnitostroj wurde zum Beispiel folgende Vereinbarung getroffen: „Für das oben erwähnte Geschäft [Elektrolokomotiven für Magnitostroj], das ein objekt von ungefähr Mark 4 Millionen darstellt, sind die Firmen S.S.w., A.E.G., B.B.C. und Maffei 222 Aus den Siemens-internen Unterlagen zum Starkstromkartell: Hafeneder: Das Haus Siemens (1969), S. 274. 223 Vgl. dazu ausführlich: Hafeneder: Das Haus Siemens (1969), S. 274ff. 224 SAA 4732, tB ost: Übersicht über das russische Geschäft für das Jahr 1929/30. Siemensstadt 1.8.1930, S. 4ff. Siehe dazu auch: SAA 11 Lf 429, russlandausschuss der deutschen wirtschaft: Protokoll der Sitzung des Schiedsgerichts in der Streitsache Magnitostroj. Berlin 14.6.1932, S. 6ff. 225 SAA 11 Lf 140, Carl Köttgen: Brief an Dr. G. Lippart, Direktor von MAN. Siemensstadt 26.11.1925, S. 2.
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teil III Siemens im Sowjetgeschäft: Eine Institutionenanalyse Schwartzkopff-werke übereingekommen, ungefähr gleiche Preise abzugeben und einen Mindestpreis für Annahme des Auftrages festzulegen. Dabei sollen die Firmen, die den Auftrag ganz bezw. teilweise erhalten, 3 % ihrer Auftragssummen in einen Pool zahlen, der unter alle Firmen gleichmässig zu verteilen ist.“226
Auf einem anderen Fabrikationsgebiet bestand zwischen SSw und Zeiss 1930 bei Scheinwerfern eine Vereinbarung, die in folgendem rahmen schriftlich fixiert wurde: „SSw und Zeiss verpflichten sich, im Interesse der deutschen wirtschaft und ihrer Firmen bei den von beiden Parteien mit der Sowjet-regierung vor einiger Zeit eingeleiteten Verhandlungen betreffend ein größeres Scheinwerferspiegelgeschäft in Verbindung mit Zurverfügungstellung der Fabrikationsunterstützung und Lieferung von Maschinen auf diesem Gebiete gemeinschaftlich vorzugehen und dabei folgende richtlinien einzuhalten: 1. Die äußersten Preise, Lieferbedingungen, Zahlungsbedingungen, Liefertermine usw. werden vorher gemeinsam festgelegt. 2. Die jeweils abgegebenen offerten, Annahmebedingungen und sonstigen Vertragsbedingungen werden ausgetauscht. 3. Beide Parteien verpflichten sich gegenseitig, sich über mündliche Verhandlungen oder schriftliche Erläuterungen zu der offerte restlos auf dem Laufenden zu erhalten und der anderen Partei von dem Briefwechsel mit der Handelsvertretung Abschriften zu geben. 4. Keine Partei ist berechtigt, ohne Zustimmung der anderen Partei unter die gemeinsam vereinbarten Mindestbedingungen herunterzugehen.“227
Die genannten Beispiele verdeutlichen, dass die Auftragsannahme deutscher Unternehmen im Sowjetgeschäft in einzelnen Geschäftsbereichen bis in Details geregelt wurde. Die Ineffektivität der konfrontativen Strategie Die reisen von Unternehmensangehörigen in die Sowjetunion, die Einrichtung von Konsignationslagern und die Gründung der Siemens-repräsentanz in Moskau führten zwar zu einer Verbreiterung der Informations- und Kommunikationswege, die sich auch positiv auf die im Sowjetgeschäft aufgewendeten transaktionskosten auswirkte. Eine weitgehende Durchlöcherung oder gar eine Auflösung der institutionellen Bestimmungen des sowjetischen Außenhandelsmonopols, wie sich dies Siemens noch bis zur Mitte der 1920er Jahre erhoffte, ließ sich dadurch jedoch nicht umsetzen. Ebenfalls war die langfristige Effektivität der Absprachen mit anderen Unternehmen äußerst begrenzt. 226 SAA 11 Lf 292, Abteilung Bahnen: Notiz über Absprachen im Lokomotivgeschäft Magnitostroj. Siemensstadt 16.3.1931, S. 1. weitere Fälle von Preisabsprachen zwischen SSw und BBC sind dokumentiert in: SAA 3348, tB ost: Brief an Brown&Boveri bezüglich Suram-Bahn. Siemensstadt 30.11.1929; SAA 3348, Abteilung Bahnen: Aktenvermerk zur Suram-Pass-Bahn. Siemensstadt 31.1.1930. 227 SAA 12895, SSw/Carl Zeiss: Absprache zwischen SSw und Carl Zeiss Jena betr. Geschäft mit der UdSSr. Berlin 1.10.1930, S. 1–2.
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Hintergrund dieser Absprachen war es, sich gegen die Unsicherheiten bei der Annahme von Großaufträgen abzusichern. Im Sowjetgeschäft, in dem kaum transparente Informationen über die Vergabe von Aufträgen verfügbar waren und somit der transaktionskosteneinsatz im Ausschreibungswettbewerb potentiell sehr hoch war, schienen Absprachen zwischen den Unternehmen ein gewisses Maß an Sicherheit gewähren. Hafeneder beschreibt die Absprachen im rahmen der „Vertraulichen Correspondenz“ deshalb als erfolgreiche Maßnahme, den wettbewerbsdruck unter den Lieferunternehmen zu vermindern. Es stellt sich allerdings retrospektiv die Frage, ob durch diese Absprachen eine dauerhafte Stabilität im Sowjetgeschäft generiert wurde. wie dabei zunächst festzustellen ist, blieben die Absprachen deutscher Elektrounternehmen auf sowjetischer Seite nicht unbemerkt. So erwähnt Konstantin Finkel‘ 1927 ein Kesselkartell (kotel‘nyj kartel), bestehend aus einem blok (Block) deutscher Unternehmen, an dem auch Siemens beteiligt gewesen sein soll.228 Ebenfalls berichtet die Zeitschrift der Handelsvertretung im Heft Nr. 22 von 1928 entrüstet von einer Kartellvereinigung deutscher turbinenhersteller.229 Als Konsequenz kam es vor, dass Aufträge zum teil nicht an Siemens vergeben wurden, sondern an andere Unternehmen, die an den Kartellen nicht beteiligt waren.230 Die Bildung von Preiskartellen hatte somit negative Auswirkungen auf die Auftragsvergabe. Sie war einer der wesentlichen Gründe dafür, warum der sowjetische Außenhandel seit Ende der 1920er Jahre immer stärker die internationale Konkurrenz ausnutzte. Vor allem US-amerikanische Elektrounternehmen konnten davon profitieren.231 Gleichzeitig erwiesen sich die Absprachen von Siemens mit anderen Unternehmen als instabil. Im Bericht des tB ost vom August 1930 werden diese Defizite der „Vertraulichen Correspondenz“ mit deutlichen worten angesprochen: „Das Zusammenarbeiten im V. C. ist dadurch sehr erschwert, [dass] es ausserordentlich schwierig ist, ein Einvernehmen der Firmen gen Führung bezw. Schutz für einzelne Geschäfte herbeizuführen, damit kostspielige Projektierungsarbeiten für jeweilig zurückstehende Firmen vermieden werden können. Die hinter den Vertriebs-Abteilungen der beteiligten Firmen stehenden Fachabteilungen wollen auch vielfach von Anfang an 100 %ig am Umsatz auf ihrem Gebiete beteiligt sein, was natürlich undurchführbar ist.“232 228 rGAĖ f. 8340, op. 1, d. 34, l. 146–159, Konstantin Finkel‘: Bericht über die Importpolitik und Importarbeit bei Aufträgen von Kraftanlagen und elektrotechnischen Produkten. Berlin 17.7.1927, S. 13. 229 Die Volkswirtschaft der UdSSr 7 (1928), 22, S. 16. Vgl. dazu auch Kashirskikh: Die deutschsowjetischen Handelsbeziehungen (2006), S. 56. 230 rGAĖ f. 8340, op. 1, d. 34, l. 174–194, Berliner Handelsvertretung: Bericht über die Arbeit der Abteilung für Kraftanlagen und Elektrotechnik. Berlin 17.6.1927. Zu den Maßnahmen der Handelsvertretung gegen die deutschen Elektrokartelle vgl. besonders den Bericht Finkel‘s: rGAĖ f. 8340, op. 1, d. 34, l. 146–159, Konstantin Finkel‘: Bericht über die Importpolitik und Importarbeit bei Aufträgen von Kraftanlagen und elektrotechnischen Produkten. Berlin 17.7.1927. 231 rGAĖ f. 8430, op. 1, d. 5, l. 34–39, Ėlektroimport: Brief an Narkomtorg, im Anhang: Bericht über die Fragen der Handelspolitik. Moskau 2.5.1927, S. 4f. 232 SAA 4732, tB ost: Übersicht über das russische Geschäft für das Jahr 1929/30. Siemensstadt
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teil III Siemens im Sowjetgeschäft: Eine Institutionenanalyse
Diese Differenzen führten zum Beispiel im Falle des Lokomotivgeschäfts Magnitostroj zu einer Klage von Siemens und BBC gegen AEG, da angeblich die getroffenen Absprachen verletzt worden waren. Das über hundertseitige Protokoll der diesbezüglichen Schiedsverhandlung dokumentiert ausführlich die vielfältigen Probleme, die mit derartigen Absprachen verbunden waren.233 Das Ziel von Siemens, durch den widerstand gegen das Außenhandelsmonopol eine stabile institutionelle Grundlage für das Unternehmensgeschäft zu etablieren, erwies sich langfristig als nicht durchführbar. Eine tief gehende reform des Monopols fand nicht statt und die versuchte „Durchlöcherung“ des Monopols stieß bald an ihre Grenzen. Auch die Vereinigung deutscher Unternehmen in Verbänden, wie insbesondere im russlandausschuss der Deutschen wirtschaft, entwickelte nicht die erhoffte Durchschlagskraft als Gegengewicht zum sowjetischen Außenhandelsapparat.234 Insofern ist die Effektivität der konfrontativen Strategie von Siemens im Sowjetgeschäft als niedrig zu beurteilen. 4.3 Kooperation: Stabilität durch Vertrauen und explizite Verträge? Siemens bemühte sich allerdings parallel zu den Durchlöcherungsversuchen schon frühzeitig darum, trotz fundamental differierender weltbilder sekundäre institutionelle Brücken zum sowjetischen Staat zu bauen und dadurch die Kommunikation zu stabilisieren. Der Vertrauensbeziehung zwischen Görz und Krasin kam hierbei eine zentrale Bedeutung zu. Explizite Verträge stabilisieren wirtschaftliche Interaktion. Die institutionenökonomische Vertragstheorie lehnt allerdings die Annahme vollständiger Verträge ab, sondern geht davon aus, dass Verträge immer in ein soziales Beziehungssystem eingebettet sind. Durch Vertrauen wird es möglich, explizite Verträge durch ein soziales Beziehungsgeflecht zu ergänzen und zu stabilisieren. tanja ripperger definiert Vertrauen als einen impliziten Vertrag, der die Beziehung zwischen Prinzipal und Agent bezeichnet: „Vertrauen manifestiert sich in der Erbringung einer riskanten Vorleistung durch den Vertrauensgeber. Die Annahme der riskanten Vorleistung begründet einen impliziten Vertrag zwischen diesem und dem Vertrauensnehmer und damit eine Vertrauensbeziehung. […] Kern der Vertrauensproblematik ist damit ein Principal-Agent-Problem bzw. ein Motivationsproblem. Indem er vertraut, geht der Vertrauensgeber davon aus, daß der Vertrauensnehmer motiviert ist, sich ihm gegenüber vertrauenswürdig zu verhalten. Die Vertrauensbeziehung kann damit als eine Principal-Agent-Beziehung modelliert werden, in der der Vertrauensgeber die rolle des Principals und der Vertrauensnehmer die rolle des Agenten einnimmt.“235
Im theoretischen Modell rippergers hat der Prinzipal grundsätzlich ein Interesse daran, die Vertrauensbeziehung zum Agenten in ein reziprokes Verhältnis zu trans1.8.1930, S. 6. 233 SAA 11 Lf 429, russlandausschuss der deutschen wirtschaft: Protokoll der Sitzung des Schiedsgerichts in der Streitsache Magnitostroj. Berlin 14.6.1932, S. 12ff. 234 Perrey: rußlandausschuß der Deutschen wirtschaft (1985), S. 62. 235 ripperger: Ökonomik des Vertrauens (1998), S. 73.
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formieren, um dadurch ein Anreiz- und Sanktionspotential für langfristige Kooperation aufzubauen. Der graduelle Aufbau einer Vertrauensbeziehung zwischen Prinzipal und Agenten ist somit spieltheoretisch als tit-for-tat-Strategie modellierbar.236 Auf Basis dieser Annahmen analysiere ich nun das Verhältnis zwischen Hermann Görz und L. B. Krasin als eine Beziehung zwischen Prinzipal und Agent. Das Vertrauen zwischen Görz und Krasin als Prinzipal-Agent-Beziehung Die historische Entwicklung der Beziehung zwischen Görz und Krasin lässt sich seit 1908 verfolgen.237 Görz trat mehrfach als Mentor und Förderer Krasins auf. Er verschaffte ihm 1908 erstmals eine Stellung im Unternehmen Siemens, setzte sich 1912 für seine Beförderung zum Leiter der Moskauer Niederlassung ein und schlug schließlich bei Ausbruch des Ersten weltkriegs vor, Krasin die Geschäftsführung von rSSw zu übertragen. Görz war maßgeblich dafür verantwortlich, dass Krasin während seines politischen Exils in Deutschland nicht nur ein materielles Auskommen fand, sondern sich technisch und in Führungspositionen im Unternehmen Siemens weiterbilden konnte. Im Gegenzug zeigte Krasin mehrfach, dass dieser Vertrauensvorschuss gerechtfertigt war. Die wirtschaftliche Entwicklung von rSSw während des Erstens weltkriegs verlief unter seiner Leitung außerordentlich positiv. Darüber hinaus engagierte sich Krasin stark dabei, den staatlichen Einfluss auf das Unternehmen einzudämmen und wehrte sich noch zum Jahreswechsel 1916/17 gegen eine Verstaatlichung der russischen Siemens-Gesellschaften. Auch für das revolutionsjahr ist aus verschiedenen Quellen Krasins großer persönlicher Einsatz für das Unternehmen und dessen Mitarbeiter belegt. Institutionalisiert sich im theoretischen Modell rippergers eine Vertrauensbeziehung zwischen Prinzipal und Agenten durch tit-for-tat über einen längeren Zeithorizont, so kann daraus ein reziproker Altruismus abgeleitet werden: Vertrauensnehmer und Vertrauensgeber investieren ressourcen in die Erfüllung einer Vertrauenserwartung in der Hoffnung, dass der Andere den „sich hieraus ergebenden moralischen Anspruch einlöst und im Falle einer zukünftigen Umkehrung der Vertrauensbeziehung sich […] ebenfalls vertrauenswürdig verhalten wird“238. Diese reziproke altruistische Erwartungshaltung kann zur Genese von Sozialkapital führen: „Sozialkapital bildet sich also vor allem aus interpersonalen obligationen sozialer Art, die sich aus dem moralischen Anspruch auf reziprok altruistisches Verhalten ergeben. Ein Akteur, der
236 ripperger: Ökonomik des Vertrauens (1998), S. 165, sowie 197f. Tit-for-tat ist ein Begriff aus der Spieltheorie zur Bezeichnung von Kooperationsstrategien von Akteuren. Im Spiel wird einem Akteur in der ersten runde Kooperation angeboten, worauf dieser ebenfalls mit kooperativem Verhalten reagiert. Der Verzicht auf opportunismus ist eine Voraussetzung für erfolgreiche Kooperation, von der beide Akteure profitieren können. 237 Vgl. dazu den biographischen Hintergrund Krasins in teil II, Kapitel 1.3. 238 ripperger: Ökonomik des Vertrauens (1998), S. 165.
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teil III Siemens im Sowjetgeschäft: Eine Institutionenanalyse über Sozialkapital verfügt, kann auf das Human- und Sachkapital sowie auf das ‚Informationskapital‘ [anderer Akteure] zurückgreifen und dadurch seine eigenen ressourcen potenzieren.“239
Im Folgenden gehe ich davon aus, dass in der langjährigen Vertrauensbeziehung zwischen Görz und Krasin vor 1917 ein Grundstock an Sozialkapital generiert worden war. Sozialkapital in der Vertrauensbeziehung zwischen Görz und Krasin Von Görz sind mehrere Aussagen überliefert, die seine hohe wertschätzung für den russischen Ingenieur belegen. So beginnt einer seiner Berichte über das treffen in Stockholm im Februar 1918 mit folgender Einschätzung: „Krasin kann, soweit ich ihn in den 10 Jahren kennen gelernt habe, geschäftlich und persönlich nur das allerbeste Zeugnis in jeder Beziehung ausgestellt werden.“240
wenige Monate nach dem Stockholmer treffen bemerkte Görz gegenüber walter Simons, er habe aufgrund seiner „persönlichen Erfahrungen keine Veranlassung, an der Loyalität Krasins zu zweifeln“241. Ebenso betont Görz in späteren Quellen aus den Jahren 1920 und 1921 regelmäßig das beiderseitige freundschaftliche Verhältnis. Görz vertraute Krasin auch über die oktoberrevolution hinaus und setzte damit den impliziten Vertrag zwischen ihm als Prinzipal und Krasin als Agenten fort. Er erbrachte als Vertrauensgeber eine riskante Vorleistung, die auf der Erwartung von vertrauenswürdigem Verhalten seitens Krasins basierte. Görz eröffnete mit diesem impliziten Vertrag einen Spielraum für Krasin, den dieser zu opportunistischem Verhalten zum Beispiel mittels hidden information und hidden action zur Verfolgung eigener Interessen nutzen konnte. wie wurde diese Vorleistung seitens Görz‘ von Krasin angenommen? Bei dieser Frage ist einerseits festzustellen, dass Krasin als Außenhandelskommissar primär die Interessen der sowjetischen Außenwirtschaftspolitik verfolgte. Er war Sozialist, seit mehreren Jahrzehnten aktives Mitglied der revolutionären Bewegung russlands und hatte 1908 unter anderem wegen seiner Beteiligung an Banküberfällen zur Parteifinanzierung russland verlassen müssen. Dass Krasin, wie Ernst Bätge noch 1919 behauptete, „schon alles mögliche in unserem [Siemens-] Interesse tun“242 würde, mutet angesichts seiner Stellung als Führungspersönlichkeit der Bol‘ševiki beinahe naiv an. Die Aussage verdeutlicht jedoch das hohe Ansehen, das er sich in seiner zehnjährigen tätigkeit bei Siemens erarbeitet hatte. 239 ripperger: Ökonomik des Vertrauens (1998), S. 166. ripperger bezieht sich hier auf die Definition Colemans, der Sozialkapital als ressource bezeichnet, die aus sozialen Beziehungen generiert wird. Vgl.: Coleman: Foundations of Social theory (1990), S. 300ff. 240 SAA 6397, Hermann Görz: Bericht über das treffen mit Krasin in Stockholm. Siemensstadt 18.2.1918, S. 1. 241 SAA 11 Lg 735, Hermann Görz: Besprechung mit walter Simons ohne Krasin. Siemensstadt 6.6.1918, S. 1. 242 SAA 4746, otto von Have: Niederschrift der Besprechung über den Geschäftsverkehr mit russland vom 11.6.1918. Siemensstadt 8.8.1919, S. 6.
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Von Krasin selbst sind keine eindeutigen Aussagen über seine Einstellung zu Görz überliefert. Eine Ausnahme sind lediglich einige Erwähnungen in Krasins Briefen an seine Frau vom Sommer 1918, als er sich anlässlich der Verhandlungen über die Ergänzungsverträge von Brest-Litovsk in Berlin aufhielt. Darin beschreibt Krasin mehrere treffen mit Görz und äußert sich zum teil auch in spöttischem ton darüber, wie er als Abgesandter der sowjetischen regierung im Unternehmen Siemens empfangen wurde. Ein Beispiel ist folgender Auszug aus Krasins Bericht über eine Einladung zum Abendessen in Görz‘ Villa in Berlin-Grunewald: „Er [Görz] ist außerordentlich liebenswürdig. Heute war ich wieder bei ihm bei einer Essenseinladung mit 2–3 Exzellenzen. Frau Geheimrat [im russischen text auf Deutsch geschrieben] übergab mir zum Abschied eine tüte mit irgendwelchen Krägelchen und tüchlein für die Mädels [Krasins töchter]. Ich weiß nicht, ob sie besonders berührt sein werden von diesem Ausdruck deutscher Freundschaft. Ich musste mich auf jeden Fall verbeugen und danken.“243
Solche Bemerkungen sind meiner Meinung nach allerdings nicht überzubewerten und reflektieren keine grundsätzliche Abneigung Krasins gegen seinen früheren Förderer Görz. Auch in weiteren Briefen finden sich Beispiele für den Spott Krasins über Siemens, der sich dabei zum teil an die wortwahl Lenins anlehnte.244 Dass er dabei die Vertrauensbeziehung zu Görz grundsätzlich infrage stellte, nehme ich nicht an. Vielmehr weihte Krasin Görz schon im Sommer 1918 sehr offen in seine Zukunftsvorstellungen ein. Es konnte nach diesen Aussagen keinen Zweifel an Krasins Loyalität gegenüber der revolution geben. Gleichzeitig repräsentierte er aber auch einen wirtschaftlichen Pragmatismus.245 Krasin lehnte die weltrevolution ab und sprach sich vielmehr für den graduellen wirtschaftlichen Aufbau des sowjetischen russlands und seiner Elektroindustrie aus, an dem er vor allem Siemens beteiligt sehen wollte. Auch von seiner Seite aus bestand daher ein Interesse, das Vertrauensverhältnis zu Görz fortzusetzen. Krasin etablierte sich nach der oktoberrevolution als Schlüsselfigur für Siemens. Es war die Vertrauensbeziehung zwischen Görz und Krasin, die die Einstellung von Siemens gegenüber den Bol‘ševiki nachhaltig beeinflusste. Sie war ein entscheidender Grund für den bereits frühzeitigen Eintritt des Unternehmens in Kommunikationsbeziehungen mit dem sowjetischen Staat. Görz war sich infolge seines Vertrauens sicher, dass Krasin dabei auf eine bewusste täuschung durch hidden information verzichten würde. So verwies er in seinen Berichten über das 243 Fel‘štinskij/Černjavskij: L. B. Krasin: Pis‘ma 1917–1926 (2002), S. 103. 244 So bezeichnet Krasin im Brief an seine Frau vom 25.5.1918 die Siemens-Direktoren als „erzsatte Leute“ (archisytye ljudi). Fel‘štinskij/Černjavskij: L. B. Krasin: Pis‘ma 1917–1926 (2002), S. 96. Die Vorsilbe „archi-“ (erz-) wurde häufig von Lenin gebraucht und dient an dieser Stelle zur Verstärkung des abwertenden Verweises auf die „satten“ Siemens-Direktoren. 245 Žuravlev weist darauf hin, dass gerade die ehemaligen Mitarbeiter von Siemens im sowjetischen Außenhandelsapparat unter einem erheblichen rechtfertigungsdruck standen, sich von ihrem früheren Arbeitgeber abgrenzen zu müssen. Für Krasin, dessen hohe Position und persönliches Prestige ihn gegen potentielle Anfeindungen weitgehend schützten, galt dies zwar in geringerem Maße. Stomonjakovs provokatives Verhalten gegen Siemens im Jahr 1923 könnte damit allerdings erklärt werden. Žuravlev: Biznes c Bol‘ševikami (2006), S. 124.
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treffen in Kopenhagen vom April 1920 zwar darauf, Krasins Aussagen über die Aufbauleistung der Bol‘ševiki seien „sehr optimistisch“ und „einseitig“246. Dies sei jedoch zu relativieren: „Es finden sich mehrfach widersprüche in seinen Mitteilungen, sicher aber sind sie reichlich optimistisch. Kr. sagte mir aber selber, in seiner Lage könne er nichts andres als optimist sein. Dass er mir mit Absicht Unrichtiges gesagt hat, nehme ich nicht an. Er sowohl wie seine am 14. IV. in Kopenhagen angekommene Gattin sind mir gegenüber ganz die alten geblieben […].“247
Görz ging davon aus, dass Krasins Berichte über die wirtschaftliche Lage in Sowjetrussland auf dessen genauen Kenntnissen beruhten und hob auch hervor, er sei sehr kritisch über die Entwicklung im Land informiert worden. Dies ermöglichte Görz eine gründliche Analyse der risiken und war maßgeblich für seine vorsichtige Haltung im Sowjetgeschäft verantwortlich. Ein direktes Engagement von Siemens zum Beispiel durch den Konzessionsbetrieb der früheren Fabriken in Petrograd schien für Görz unter diesen Voraussetzungen unverantwortbar zu sein. Die begrenzte Effektivität der Kooperation: Persönliches Vertrauen und Wissensgewinn Die Vertrauensbeziehung zwischen Görz und Krasin wuchs in einem mehrere Jahre andauernden Prozess und setzte sich über die oktoberrevolution hinaus fort. Sie bot eine stabile Grundlage, auf der die kommunikative Annäherung von Siemens an das weltbild der Bol‘ševiki auf Basis einer persönlichen Pfadabhängigkeit getragen und erleichtert wurde. Diese Vertrauensbeziehung konnte fundamental unterschiedliche weltbilder überbrücken und ermöglichte die Kooperation zwischen dem Außenhandelskommissar des sowjetischen Staates und dem Manager des Unternehmens Siemens. Das Sozialkapital aus der Vertrauensbeziehung zu Krasin gewährte Görz vor allem einen exklusiven Zugriff auf vertrauliche Informationen. Gerade weil Görz Zugriff auf diese Informationen hatte, bewertete er die rahmenbedingungen im Sowjetgeschäft überaus kritisch. Krasins ausführliche Berichte der Jahre 1918 und 1920 an Görz enthielten auch Aussagen über die katastrophalen Lebensverhältnisse, über die Schwierigkeiten der Bol‘ševiki beim Aufbau staatlicher Strukturen sowie über die großen wirtschaftlichen Probleme des jungen sowjetischen Staates. Eine unmittelbare positive Entwicklung im Sowjetgeschäft, wie sich dies viele andere Unternehmen erhofften, erwartete Görz daher nicht. Vielmehr sprach er sich in Anbetracht der von ihm wahrgenommenen hohen Unsicherheit für eine abwartende Haltung aus. Görz‘ Strategie im Sowjetgeschäft war auf einen längeren Zeithorizont angelegt und basierte auf der Annahme einer zumindest partiellen restitution
246 SAA 6397, Hermann Görz: Bericht an Prof. von Stein über die Unterredungen mit Krasin 1918 und 1920. Siemensstadt 21.7.1920, S. 6f. 247 SAA 11 Lg 735, Hermann Görz: Bericht über das treffen mit Krasin in Kopenhagen vom 12. bis 14. April 1920. Berlin 16.4.1920, S. 21f.
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der privaten Marktwirtschaft in Sowjetrussland, in der er auch von Krasin bestärkt wurde. Für Görz war allerdings nicht absehbar, dass Krasin bald keine entscheidende rolle mehr in der sowjetischen Außenwirtschaftspolitik spielen würde. Nach Lenins tod am 21. Januar 1924 verlor er stark an Autorität und wurde 1925 bei der reorganisation des Volkskommissariats für Außenhandel nur dessen Stellvertreter. Zur Entwicklung der deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen und des Sowjetgeschäfts von Siemens konnte er nichts mehr beitragen. Im November 1926 starb Krasin nach längerer Krankheit in London. Zwar bestanden zu diesem Zeitpunkt schon seit mehreren Jahren formale Vertragsbeziehungen von Siemens mit der Berliner Handelsvertretung, diese waren aber nie in ein Vertrauensverhältnis eingebettet. Der Verlust Krasins war für Siemens daher nicht ersetzbar; im weiteren Verlauf des Sowjetgeschäfts entwickelte sich kein vergleichbares Sozialkapital. Im Ergebnis erwies sich das Vertrauen zu Krasin zwar als eine überaus effektive Strategie von Görz, kurzfristig subjektive Unsicherheit im Sowjetgeschäft zu vermindern. Sie war jedoch nicht effektiv darin, dauerhaft kooperative Mechanismen im Sowjetgeschäft zu etablieren. Außer zu Krasin gab es im Sowjetgeschäft von Siemens keine Vertrauensbeziehung zu anderen Akteuren und die bestehenden expliziten Verträge genügten nicht, die subjektive Unsicherheit des Unternehmens substantiell zu vermindern. Görz‘ Hoffnung aus dem Jahr 1922, durch „praktische Kleinarbeit“248 Vertrauen herstellen zu können, erfüllte sich nicht. Siemens sprach sich deshalb weiterhin gegen eine Beteiligung an risikoreichen langfristigen Geschäften aus und lehnte auch die Gewährung von warenkrediten ohne entsprechende Sicherungsmechanismen ab. Ein starkes quantitatives wachstum des Sowjetgeschäfts war auf der bestehenden institutionellen Grundlage nicht zu erreichen. 4.4 Fehlende Anpassung: Fundamentales Misstrauen und die Grenzen der institutionellen Stabilisierung Eine ökonomische Analyse der Entwicklung des Sowjetgeschäfts von Siemens zwischen 1917 und 1933 zeigt in mehrfacher Hinsicht ein weitgehendes Scheitern. Mit Ausnahme der Kreditgeschäfte von 1926/27 und 1931/32 waren die sowjetischen Aufträge gemessen am Gesamtumsatz des Unternehmens und am Volumen des russlandgeschäfts von 1913 verschwindend gering. Der Boykott von 1923/24 und der Šachty-Prozess von 1928 hatten ebenfalls die Abhängigkeit der sowjetischen Aufträge von Einflüssen gezeigt, die für die Siemens-Entscheider kaum rational erklärbar waren. Eine wesentliche Ursache der marginalen quantitativen Bedeutung des Sowjetgeschäfts lag darin begründet, dass die Bemühungen von Siemens, die institutionelle Umwelt im Sowjetgeschäft zu stabilisieren, weitgehend gescheitert waren. Das Außenhandelsmonopol bestand weiter fort und wurde sogar durch eine zuneh248 SAA 6397, Hermann Görz: Bericht über ein Gespräch mit Krasin über gemischt-wirtschaftliche Gesellschaften. Siemensstadt 10.6.1922, S. 2.
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mend formalisierte Bürokratie weiter gestärkt. Gleichzeitig war es dem Unternehmen nicht gelungen, durch die Etablierung von Vertrauen oder expliziten Verträgen die Stabilität des sekundären institutionellen Arrangements zufriedenstellend zu erhöhen. Aufgrund der wahrgenommenen hohen Unsicherheit beteiligte sich Siemens an keiner sowjetischen Konzession, keiner gemischten Gesellschaft und keinem technischen Hilfsabkommen. Siemens vermied damit zwar Fehlschläge, wie sie zahlreiche andere Unternehmen hinnehmen mussten. Doch zur Mitte der 1920er Jahre geriet Siemens infolge der auf Sicherheit fokussierten Strategie in eine Lage, in der das Festhalten an überkommenen Leitbildern den quantitativen Ausbau des Sowjetgeschäfts zunehmend behinderte. Zugleich drohte das Unternehmen von seinen Konkurrenten immer stärker überflügelt zu werden. Vor allem der Abschluss des umfassenden rahmenabkommens von General Electric im Jahr 1928 führte dies deutlich vor Augen. tanja ripperger zufolge ist es einem Akteur unter diesen Umständen möglich, seine Zielpräferenzen rational und in Abhängigkeit von gegebenen Umweltbedingungen zu optimieren: „Nutzen wird nicht länger nur auf der Basis gegebener Präferenzen optimiert, sondern Präferenzen werden optimiert auf der Basis des Prinzips der Nutzenmaximierung. Ökonomische rationalität kann hier nicht länger auf eine effiziente Nutzenproduktion auf Basis der gegenwärtigen subjektiven Präferenzen eines Akteurs beschränkt bleiben. Vielmehr muß ökonomische rationalität hier auch die Effektivität dieser Präferenzen selbst einer kritischen Analyse unterziehen, d. h. ihre qualitative Eignung, innerhalb eines spezifischen institutionellen und sozialen Umfelds und den damit verbundenen Handlungsrestriktionen, den langfristigen Nutzen eines Akteurs zu optimieren, prüfend mit einkalkulieren.“249
wird dieses Handlungsmodell rippergers zugrundegelegt, so stand Siemens zur Mitte der 1920er Jahre vor der rationalen Entscheidung, seine bisherige Unternehmensstrategie weiterzuverfolgen oder sie an die gegebenen rahmenbedingungen des sowjetischen Außenhandelsmonopols anzupassen (expansion of the objective self nach Coleman). Ich definiere Anpassung als das Potential von Siemens, das sowjetische Außenhandelsmonopol als gegebene Umweltbedingung zu akzeptieren. Im Folgenden werden der diesbezügliche wandel beziehungsweise die Persistenz der Zielpräfenzen von Siemens unter den Bedingungen von truly bounded rationality analysiert. Truly bounded rationality und fundamentales Misstrauen Die fundamentale Krise im russlandgeschäft setzte nach der oktoberrevolution im Unternehmen einen Diskussionsprozess über die Unternehmensstrategie gegenüber den Bol‘ševiki in Gang. Diese Diskussion war von den individuellen Erfahrungen der beteiligten Mitarbeiter geprägt. Sie spiegelt die truly bounded rationality der Entscheidungsträger im Unternehmen wider, die das Gesellschafts- und wirtschaftsmodell der Bol‘ševiki ablehnten. Im Jahr 1921, am Ende des ersten 249 ripperger: Ökonomik des Vertrauens (1998), S. 211.
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chronologischen Untersuchungszeitraums, bestand allerdings trotz der ideologischen Differenzen die Bereitschaft des Unternehmens zur teilnahme am Sowjetgeschäft. Gründe für diese Entscheidung waren erstens die Vertrauensbeziehung zwischen Görz und Krasin und zweitens eine Analyse der Umweltbedingungen: Die Bol‘ševiki waren als Sieger aus dem Bürgerkrieg hervorgegangen und ein Machtwechsel schien im sowjetischen russland nach 1921 ausgeschlossen zu sein. Im Sinne der ökonomischen Nutzenmaximierung musste Siemens mit den Bol‘ševiki in Geschäftsbeziehungen treten, um am Sowjetgeschäft partizipieren zu können. Das Unternehmen als kollektiver Akteur internalisierte die Existenz des sowjetischen Staates als gegebene Umweltbedingung und stellte damit eine ökonomisch begründete rationalität über ideologische Bedenken. Im Jahr 1921 war durch diese Entscheidung die Ausgangsbedingung dafür geschaffen, dass ein kapitalistisches Unternehmen mit dem sowjetischen Staat in geschäftliche Beziehungen treten konnte. Allerdings ist keinesfalls zu sagen, dass diese Internalisierung zur einer vollständigen Ablösung bestehender mentaler Modelle bei den Siemens-Entscheidern geführt hat. Im Gegenteil bestanden wichtige Elemente dieser weltbilder weiter fort. Die Internalisierung zentraler Merkmale des sowjetischen Staates wie die kommunistische Ideologie, die Abschaffung des Privateigentums oder die ausschließliche Kontrolle des Staates in allen wirtschaftlichen Belangen war für die Akteure im Unternehmen nicht zu leisten. Eine weitergehende Anpassung der Zielpräferenzen von Siemens an die Umweltbedingungen im rahmen des sowjetischen Außenhandelsmonopols fand deshalb nicht statt. Ein „normales“ Geschäft war das Sowjetgeschäft für Siemens nicht.250 Es zeigt sich vielmehr das sehr begrenzte Potential von Siemens, als kollektiver Akteur einen fundamentalen wandel von internalisierten Normen zu leisten. Ideologische Normen, die in einer truly bounded rationality begründet waren, erwiesen sich als sehr widerstandsfähig gegen wandel. Die expansion of the objective self bewegte sich auch bei pragmatischen Akteuren wie Hermann Görz und Carl Friedrich von Siemens nur in einem engen rahmen. Siemens handelte als kollektiver Akteur zwar ökonomisch rational, indem das Unternehmen eine an Gewinnmaximierung orientierte Strategie im Sowjetgeschäft verfolgte, die bestimmte Zielpräferenzen der Mitarbeiter wie einen ideologischen Antikommunismus überlagerte. Allerdings basierte die Analyse des ökonomischen risikos im Sowjetgeschäft in hohem Maße auf der wahrnehmung von institutioneller Instabilität und darin zeigte sich die Persistenz bestehender mentaler Modelle bei den Mitarbeitern: Zwischen 1917 und 1933 entwickelte sich kein regelvertrauen der Siemens-Mitarbeiter in den sowjetischen Staat und seine Außenwirtschaftspolitik. Das Sowjetgeschäft von Siemens war deshalb nicht nur durch eine costly bounded rationality (wie unvollständige Informationen und begrenzte Verar-
250 Niemann stellt auch für andere Unternehmen fest, dass noch 1930 große ideologische Vorbehalte gegen den sowjetischen Staat bestanden. Zur Stellung zum Beispiel der IG Farben im Sowjetgeschäft vgl.: Niemann: Die russengeschäfte in der Ära Brüning (1985), S. 115.
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teil III Siemens im Sowjetgeschäft: Eine Institutionenanalyse
beitungskapazitäten) beeinflusst, sondern vor allem auch durch die ideologiegeprägten wahrnehmungsmuster der Mitarbeiter. In der Einleitung zu teil III wurde auf das „Gespräch“ verwiesen, das Siegenthaler zufolge Akteure in fundamentalen Krisen suchen, um durch Interaktion Stabilität zu generieren. Voraussetzung für diese Kommunikation ist nach Siegenthaler die Bereitschaft der Akteure, Verständnis für den Anderen zu entwickeln: „Es genügt die Neigung, Verstehen und Verständigung zu suchen, der radikale Zweifel an allem, was man bislang für gesichert gehalten hat, und Vertrauen in den anderen, insbesondere Vertrauen in die Konsistenz seiner Aussagen, die es erlaubt, zu erschließen, was er mit seiner Aussage meint.“251
Eine solche Verständigungsbereitschaft entwickelten die Siemens-Mitarbeiter gegenüber dem sowjetischen Außenhandelsapparat nicht. Vielmehr bestand das fundamentale Misstrauen von Siemens gegen den sowjetischen Staat im gesamten Untersuchungszeitraum fort. Subjektive Unsicherheit von Siemens und die Ausfallbürgschaften Dieses fundamentale Misstrauen führte bei Siemens zur wahrnehmung von großer subjektiver Unsicherheit im Sowjetgeschäft. Das Unternehmen versuchte zwar, durch sekundäre Institutionen Stabilität zu generieren. Bei der Analyse des Sowjetgeschäfts von Siemens fällt auf, dass sich das sekundäre institutionelle Arrangement ausgehend von der fundamentalen Krise sehr rasch entwickelt hat und bereits seit Mitte der 1920er ein regelwerk zur Verfügung stand, das den Ablauf des Sowjetgeschäfts bis in Details institutionell steuerte. Die Effizienz dieser Institutionen war allerdings sehr begrenzt, ihr Funktionieren erforderte einen hohen Einsatz von transaktionskosten. Das Unternehmen hat es dadurch nicht erreicht, die subjektive Unsicherheit im Sowjetgeschäft in kalkulierbares risiko umzuwandeln. Unter diesen Bedingungen boten die staatlichen Ausfallbürgschaften eine institutionelle Absicherung für deutsche Unternehmen, denn sowohl der 300-Millionen-Kredit von 1926 als auch die beiden Pjatakov-Abkommen von 1931 und 1932 führten zu einer „Sozialisierung des Ausfuhrrisikos“252. Die reichsregierung hatte an einer Ausweitung der deutschen Exporte aus zwei Gründen großes Interesse. Erstens konnte der Ausbau des Sowjetgeschäfts dazu beitragen, die Arbeitslosigkeit im reich zu vermindern. Zweitens verfolgten Stresemann 1926 und Brüning während der weltwirtschaftskrise das Ziel, aus revisionspolitischen Gesichtspunkten das deutsche Sowjetgeschäft zu instrumentalisieren, um Druck auf die westmächte auszuüben.253 Allerdings waren auch die Ausfallbürgschaften kein effektiver Mechanismus, dauerhafte Stabilität im Sowjetgeschäft herzustellen. Sie waren erstens punktuelle 251 Siegenthaler: regelvertrauen, Prosperität und Krisen (1993), S. 184. 252 Perrey: rußlandausschuß der Deutschen wirtschaft (1985), S. 161. 253 Zu den revisionspolitischen Zielen Brünings im Sowjetgeschäft vgl.: Niemann: Die russengeschäfte in der Ära Brüning (1985), S. 164.
4 wandel und Persistenz der Zielpräferenzen von Siemens
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wirtschaftsfördernde Maßnahmen der reichsregierung, die in hohem Maße von aktuellen politischen Strömungen abhängig waren. Zweitens trugen die Ausfallbürgschaften nicht dazu bei, eine langfristig stabile ökonomische Basis für den bilateralen Handel mit der Sowjetunion zu schaffen. Vielmehr verhinderten deutsche Agrarinteressen, dass sowjetische Exporte ins reich ausgeweitet werden konnten und damit die Grundlage für ein dauerhaftes wachstum des bilateralen Handels geschaffen wurde. Die Abzahlung der Finanzierungskredite brachte die hoch verschuldete Sowjetunion daher zu Beginn der 1930er Jahre in große Schwierigkeiten und führte zu einer weitgehenden strategischen Umorientierung im Außenhandel wie auch zu verstärkter Importsubstitution. Die Ausfallbürgschaften boten kurzfristig eine institutionelle Absicherung im Sowjetgeschäft, generierten aber keine dauerhafte Stabilität. Instabilität im Sowjetgeschäft und die Ineffektivität fundamentaler Zielpräferenzen Im gesamten Untersuchungszeitraum war das Sowjetgeschäft von Siemens durch die wahrnehmung von hoher Unsicherheit und durch hohes Misstrauen geprägt. Dieses Misstrauen erwies sich besonders bis zur Mitte der 1920er Jahre als äußert effektiv darin, das ökonomische risiko im Sowjetgeschäft zu bewerten. So blieben Siemens wirtschaftliche Fehlschläge erspart, wie die Beteiligung an sowjetischen Konzessionen, die bei anderen Unternehmen in fast allen Fällen zu hohen Verlusten führte.254 Gegen Ende der 1920er Jahre und insbesondere mit Beginn des ersten Fünfjahresplans zeigten sich allerdings die Nachteile des persistenten Misstrauens. Siemens stand immer stärker unter dem Konkurrenzdruck anderer Unternehmen, besonders der kapitalstarken Unternehmen aus den USA, die im Sowjetgeschäft weitaus risikobereiter agierten und auch langfristige Kreditverpflichtungen sowie Konzessionsverträge eingingen. Es stellt sich daher die Frage, ob sich das persistent hohe Misstrauen und die Beharrung auf dem eigenen weltbild als effektiv darin erwiesen haben, den ökonomischen Nutzen im Sowjetgeschäft dauerhaft zu maximieren. Bereits von Zeitgenossen wurde darauf hingewiesen, dass die Zahlungsmoral der Sowjetunion in ihren Außenwirtschaftsbeziehungen immer sehr hoch war. So kommt Kurt Germer in seiner wirtschaftswissenschaftlichen Dissertation zum deutsch-sowjetischen Handel aus dem Jahr 1931 zu folgendem Urteil: „Der wenn auch etwas schwerfällige Verkehr mit der sowjetrussischen Handelsvertretung hat sich im Laufe der Jahre im allgemeinen gut eingespielt. […] Ein Geschäft mit Sowjetrußland abzuschließen, birgt trotz allem zur Zeit ein risiko nicht in sich, bisher ist die Handelsvertretung ihren Verpflichtungen stets nachgekommen. Man muß dabei berücksichtigen, daß die von
254 Vgl. dazu S. 154. Die bei Sutton erwähnte Beteiligung von SSw an einer Konzession zur Kupfergewinnung im Kaukasus ließ sich aus Siemens-Akten nicht bestätigen. Sutton: western technology and Soviet Economic Development 1917–1930 (1968), S. 85.
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teil III Siemens im Sowjetgeschäft: Eine Institutionenanalyse ihr erteilten Bestellungen Staatsaufträge sind und die von ihr hierdurch eingegangen Verpflichtungen solche des sowjetrussischen Staates darstellen.“255
Auch aus heutiger Sicht zeigt ein Blick auf das sowjetische Zahlungsverhalten, dass die Sowjetunion immer ihre Auslandsschulden beglichen hat. Deshalb hätte, wie Perrey feststellt, eine „größere Verschuldung im Sowjetgeschäft […] für das reich und die Unternehmen nach heutigem Kenntnisstand kein risiko bedeutet“256. Auch im Sowjetgeschäft von Siemens hatte zum Beispiel der einzige Ausfall eines Großauftrags keine negativen wirtschaftlichen Folgen. Als im Jahr 1930 die britische Konzession Lena Goldfields bankrott ging, die in Sibirien Goldminen betrieb, wurden die ausstehenden Forderungen von Siemens an das Konzessionsunternehmen durch Ausfallbürgschaften abgedeckt. Es gelang dadurch, „diesen Auftrag ohne jeglichen Verlust abzuwickeln“257. In rippergers Handlungsmodell wäre Siemens deshalb durchaus in der Lage gewesen, durch eine Anpassung an „objektive Umweltbedingungen“ Ende der 1920er Jahre, wie zum Beispiel durch eine Beteiligung an langfristigen Kreditaufträgen oder im rahmen von Konzessionsabkommen, den ökonomischen Nutzen im Sowjetgeschäft zu erhöhen. Umweltbedingungen sind jedoch nicht objektivierbar, sondern immer der Interpretation durch den Betrachter unterworfen. weil Siemens sein fundamentales Misstrauen gegenüber dem sowjetischen Staat nie vollständig ablegte, konnte die dem Sowjetgeschäft inhärente Instabilität nie vollständig beseitigt werden. Vielmehr erwiesen sich die mentalen Modelle der Entscheider im Unternehmen als sehr resistent gegen wandel und begrenzten ihre Fähigkeit, gegebene Umweltbedingungen weitergehend zu internalisieren. In diesem Sinne kann das Streben von Siemens nach einer institutionellen Stabilisierung des Sowjetgeschäfts im rahmen des eigenen weltbilds als Versuch interpretiert werden, ineffektive Zielpräferenzen zu realisieren.
255 Germer: Die Entwicklung der Handelsbeziehungen (1931), S. 108. Auch in der „Sowjetwirtschaft und Aussenhandel“ wurde 1934 die absolute Zahlungszuverlässigkeit der Sowjetunion betont: „Diese Zahlungen [die rückzahlung der Kredite] wurden mit außerordentlicher Genauigkeit und Pünktlichkeit durchgeführt […].“ Sowjetwirtschaft und Aussenhandel 13 (1934), 11/12, S. 3. 256 Perrey: rußlandausschuß der Deutschen wirtschaft (1985), S. 168. 257 SAA 10756, Ernst Eue: Chronik des tB ost. Berlin 1944, S. 11.
tEIL IV ErGEBNISSE: AKtEUrE UND INStItUtIoNELLE StrUKtUrEN IM SowJEtGESCHÄFt VoN SIEMENS 1917–1933 Bald nach der oktoberrevolution begann die unternehmensinterne Auseinandersetzung von Siemens über die Zukunft des Geschäfts mit Sowjetrussland. Diese Auseinandersetzung war kontrovers und reflektierte die individuellen Zielvorstellungen sowie die zum teil starken ideologischen Prägungen der einzelnen Mitarbeiter. Dieser Zeitraum war durch eine Dominanz informeller Kommunikationsbeziehungen mit sowjetischen Akteuren gekennzeichnet, die sich vor allem auf das Vertrauensverhältnis zwischen Hermann Görz und dem Außenhandelskommissar L. B. Krasin konzentrierten. Ich habe aufgezeigt, wie Siemens bis 1921 einen Prozess fundamentalen Lernens durchlief, dessen Ergebnis eine grundsätzliche Bereitschaft des Unternehmens war, mit den Bol‘ševiki in Kommunikationsbeziehungen zu treten. Als Überschrift über diesen Zeitraum kann allerdings die von Görz formulierte Strategie des „Abwartens in jeder Beziehung“ (siehe das Zitat auf S. 127) dienen: Die Entwicklung einer Zukunftsstrategie von Siemens im Sowjetgeschäft setzte ein Mindestmaß an institutioneller Stabilität voraus, die angesichts der unsicheren rahmenbedingungen bis 1921 nicht gegeben war. Schwerpunkte der Unternehmensstrategie waren deshalb zunächst die Herstellung erster Kommunikationsbeziehungen mit den Bol‘ševiki sowie der Aufbau unternehmensinterner organisationsstrukturen, was insbesondere den Aufbau des tB ost beinhaltete. Gleichzeitig hielt sich das Unternehmen weitere Handlungsoptionen offen. Es pflegte zum Beispiel den Kontakt mit russischen Emigrantenorganisationen in Deutschland, um im Fall einer sowjetischen Niederlage im russischen Bürgerkrieg eine günstige Ausgangsposition für die Markterschließung eines nicht-sozialistischen russlands einzunehmen. Die Gründung der sowjetischen Handelsvertretung in Berlin im Frühjahr 1921 markiert den Übergang zum nächsten Zeitabschnitt. Mit dem Ende des russischen Bürgerkriegs war die sowjetische Herrschaft gesichert und ein baldiger Systemwandel schien ausgeschlossen zu sein. Partner von Siemens für das Unternehmensgeschäft im neuen russland waren damit allein die Bol‘ševiki. Ausgehend von diesen stabilisierten machtpolitischen rahmenbedingungen wurde die Kommunikation zwischen dem Unternehmen und der Berliner Handelsvertretung zunehmend intensiviert und formalisiert. Gleichzeitig baute Siemens das tB ost zum Knotenpunkt des operativen Geschäfts aus, das sich allerdings weiter auf einem sehr niedrigen quantitativen Niveau bewegte und nur einen Bruchteil am Gesamtumsatz des Unternehmens ausmachte. Denn bislang hatte sich aus Perspektive des Unternehmens die institutionelle Stabilität im Sowjetgeschäft nicht wesentlich verbessert. risikoreiche Geschäfte wie der Erwerb von Konzessionen wurden deshalb weiterhin sehr skeptisch beurteilt und fast ausschließlich reine Lieferaufträge gegen Barzahlung angenommen. Der Endpunkt dieses Zeitabschnitts war die Krise der Jahre
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teil IV Ergebnisse: Akteure und institutionelle Strukturen
1923 und 1924, als die Handelsvertretung einen vorübergehenden Boykott gegen Siemens verhängte. Die Handelsvertretung konnte darin mit Erfolg einige institutionelle Pfadabhängigkeiten brechen und zum Beispiel den Austritt des Unternehmens aus organisationen der russischen Emigration in Deutschland erzwingen. Der Prozess der gegenseitigen Vertrauensbildung wurde dadurch allerdings empfindlich gestört. Nach dem überstandenen Boykott nahm das Unternehmensgeschäft im dritten Zeitabschnitt zwischen 1924 und 1928 deutlich zu. Die Exportförderung der reichsregierung im rahmen des 300-Millionen-Kredits von 1926 bot eine finanzielle Absicherung, die Siemens sowie anderen deutschen Unternehmen Geschäftsabschlüsse auf Kreditbasis ermöglichte und der Sowjetunion eine deutliche Ausweitung ihrer Importe aus Deutschland erlaubte. Siemens war maßgeblich an der Gründung der Finanzierungsgesellschaft IFAGo beteiligt und stand diesbezüglich in engem Austausch mit anderen Unternehmen, Verbänden und Ministerien. Im Vergleich mit dem Geschäftsjahr 1925/26 verzehnfachte sich 1926/27 der Bestelleingang des tB ost auf über 32 Millionen reichsmark. Gleichzeitig musste das Unternehmen allerdings auch rückschläge im Sowjetgeschäft hinnehmen. Im Jahr 1927 wurde die Mologa-Konzession wegen ihres wirtschaftlichen Misserfolgs aufgelöst und damit die einzige sowjetische Konzession, an der sich Siemens direkt beteiligte. Ebenfalls führte der Šachty-Prozess von 1928, als mehrere AEG-Ingenieure der konterrevolutionären Agitation angeklagt wurden, den deutschen Unternehmen die weiter bestehenden Unwägbarkeiten im Sowjetgeschäft deutlich vor Augen. Nach dem Auslaufen des 300-Millionen-Kredits war das Unternehmen daher nicht bereit, umfangreiche warenkredite aus eigenen Mitteln zur Verfügung zu stellen und der Bestelleingang sank 1928 wieder stark ab. Zwischen 1928 und 1933 schließlich stand das Sowjetgeschäft von Siemens ganz im Zeichen der weltwirtschaftskrise und des ersten Fünfjahresplans. Siemens war unter anderem an der Planung des Großkraftwerks von Dneprostroj beteiligt und lieferte Ausrüstung für Magnitostroj wie auch weitere sowjetische Industriekombinate. Gleichzeitig engagierte sich das Unternehmen intensiv im russlandausschuss der Deutschen wirtschaft und nahm damit einen erheblichen Einfluss auf die Gestaltung des institutionellen rahmens der deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen. So war Carl Köttgen von SSw im Jahr 1931 an der Unternehmerreise nach Moskau beteiligt, die zum Abschluss eines umfassenden Finanzierungsabkommen führte. Aufgrund seines spezifischen Entstehungszusammenhangs ist es als ein transnationales Abkommen zwischen sowjetischem Staat, deutschen Unternehmen und der deutschen reichsregierung zu bezeichnen. Der Umfang der sowjetischen Bestellungen beim tB ost erreichte in diesem Zeitraum mit bis zu 6,5 Prozent des gesamten Auftragseingangs von Siemens seinen Höhepunkt. wie allerdings auch im vierten Zeitabschnitt festzustellen ist, bildeten die staatlichen Ausfallbürgschaften nach wie vor die wichtigste institutionelle Grundlage des Sowjetgeschäfts von Siemens. Der Ausblick auf den Zeitraum nach 1933 zeigte, dass Siemens auch weiterhin das Interesse an der Fortführung des Sowjetgeschäfts aufrecht erhielt. Im Zuge der politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Interessenverschiebung nach der
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nationalsozialistischen Machtübernahme nahm die Bedeutung der deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen allerdings stark ab. Zwar wurden die bestehenden Verträge erfüllt, jedoch spielte für Siemens das Sowjetgeschäft bis zur renaissance der wirtschaftsbeziehungen infolge des Hitler-Stalin-Pakts von 1939 nur eine sehr untergeordnete rolle. In den folgenden beiden Kapiteln fasse ich die Ergebnisse der Fallstudie zusammen. Erstens handelt es sich dabei um die Ergebnisse bezüglich der Handlungsrationalität von Siemens im Sowjetgeschäft. Anschließend werden die Schlussfolgerungen in die historiographische Fragestellung zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen eingeordnet, die ich in teil I, Kapitel 2.3 aus der Forschungsdiskussion abgeleitet habe. 1 BEGrENZtE rAtIoNALItÄt UND INStItUtIoNELLE INStABILItÄt IM SowJEtGESCHÄFt In Anlehnung an die Neue Institutionenökonomik und an den akteurszentrierten Institutionalismus habe ich die Hypothese 2 formuliert (vgl. S. 66), wonach das Handeln in kollektiven Akteuren auf den Zielpräferenzen individueller Akteure beruht und diese einer truly bounded rationality unterworfen sind. Zunächst gehe ich auf die Ergebnisse zur Handlungsrationalität im Unternehmen Siemens sowie zur wahrnehmung von Instabilität im Sowjetgeschäft ein. Anschließend werden einige Vorschläge für die weitere theoriebildung im rahmen der Neuen Institutionenökonomik formuliert. Truly bounded rationality und die Zielpräferenzen von Siemens im Sowjetgeschäft In Anlehnung an den akteurszentrierten Institutionalismus und den historical institutionalism aus der Politikwissenschaft wurde in der Fallstudie der Entwicklung von individuellen und kollektiven Zielpräferenzen ein besonderer Stellenwert zugesprochen. Mehrere Kurzbiographien von Siemens-Mitarbeitern zeigten den Einfluss von persönlichen Erfahrungen auf individuelles Handeln und insbesondere die Pfadabhängigkeit mentaler Modelle, wie eine ideologisch motivierte antikommunistische Grundhaltung vieler dieser Mitarbeiter. Douglass North beschäftigt sich in „Understanding the Process of Economic Change“ unter anderem mit der Frage, wie Akteure die Impulse ihrer Umwelt reflektieren und diese in einem Lernprozess in ihre individuellen mentalen Modelle beziehungsweise in ihre belief systems integrieren. Unter der Überschrift „Getting It right and Getting It wrong“ argumentiert North in Kapitel 9 des Buchs, dass das Potential eines Akteurs, „es richtig zu machen“, folgenden Bedingungen unterworfen ist:
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teil IV Ergebnisse: Akteure und institutionelle Strukturen „Getting it right through time means that we perceive correctly changes in the human environment, incorporate those perceptions in our belief system, and alter the institutions accordingly. Doing so would entail that 1. the implications of the novel changes would be understood […]; 2. this new knowledge would be incorporated in the belief systems of those in a position to modify the institutional matrix; 3. the formal rules, the informal constraints, and the enforcement characteristics would be altered accordingly and would produce the desired changes in societal performance.“1
Dass Akteure diese Bedingungen jemals vollständig erfüllen, ist laut North jedoch kaum anzunehmen. Vielmehr verfügen Akteure nie über eine objektive Sicht auf die Folgen ihres Handelns, sondern sie sind in ihren individuellen Handlungskontext eingebunden. Dieser speist sich aus internalisierten Zielpräferenzen und dem gegebenen sekundären institutionellen Arrangement der Umwelt: „we tend to get it wrong when the accumulated experiences and beliefs derived from the past do not provide a correct guide to future decision making. there are two reasons. the set of mental models, categories, and classifications of the neural networks that have evolved in our belief system through which the new evidence gets filtered have no existing patterns that can correctly assess the new evidence. And in cases where conflicting beliefs have evolved, the dominant organizations (and their entrepreneurs) may view the necessary changes as a threat to their survival. to the degree that the entrepreneurs of such organizations control decision making they can thwart the necessary changes.“2
werden diese Aussagen Douglass Norths zur begrenzten Lernfähigkeit von Akteuren mit der Entwicklung der Unternehmenskultur von Siemens im Sowjetgeschäft verbunden, so lässt sich daraus eine Erklärung für die Persistenz von Zielpräferenzen im Unternehmen Siemens ableiten: Erstens waren die mentalen Modelle beziehungsweise die belief systems der Entscheider im Unternehmen durch historische Pfadabhängigkeiten geprägt, die noch lange nach der oktoberrevolution keinen angemessenen „Filter“ für die fundamental veränderten rahmenbedingungen darstellten. Zweitens war insbesondere während der Phase fundamentalen Lernens zwischen 1917 und 1921 die russische revolution ein externer Schock, der die Lebensverhältnisse der Siemens-Entscheider grundsätzlich bedrohte. Die Verstaatlichung der russischen tochtergesellschaften 1918 und auch die Aufstände der KPD in Deutschland stellten das Überleben des Unternehmens innerhalb der gewohnten institutionellen ordnung von Grund auf infrage. Aus diesem Grund ging eine weitgehende Annäherung an das weltbild der Bol‘ševiki über das Maß hinaus, das von Seiten der Siemens-Entscheider zu leisten war. Das Potential von Siemens, aus der Umwelt zu lernen und die Unternehmenskultur an die veränderten rahmenbedingungen anzupassen, war dadurch stark eingeschränkt. Vielmehr führte die truly bounded rationality der Siemens-Entscheider dazu, dass die Unternehmenskultur im Sowjetgeschäft nur begrenzt wandelbar war. wirtschaftliche Interessen spiegelten sich zwar in der Bereitschaft von Siemens wider, trotz aller ideologischen Differenzen am Sowjetgeschäft zu partizipieren, 1 2
North: Understanding the Process of Economic Change (2005), S. 116f. North: Understanding the Process of Economic Change (2005), S. 117.
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um einen Zugang zu diesem langfristig als lukrativ betrachteten Markt zu gewinnen. Allerdings blieb die prinzipielle Ablehnung des sowjetischen Gesellschaftsmodells und das fundamentale Misstrauen gegenüber den Bol‘ševiki bestehen. Dieser ideologische Einfluss fand Eingang in das shared mental model der Siemens-Akteure und führte dazu, dass die wahrnehmung von großer Unsicherheit im Sowjetgeschäft im gesamten Untersuchungszeitraum nicht substantiell verringert wurde. Zielpräferenz des Unternehmens im Sowjetgeschäft war die ökonomische Gewinnmaximierung. Diese Präferenz wurde jedoch durch das Beharren auf das eigene kapitalistische weltbild ergänzt: Das Sowjetgeschäft von Siemens sollte im rahmen der gewohnten Handlungsmuster ökonomischer Interaktion verlaufen, weshalb das sowjetische Außenhandelsmonopol bei Siemens auf fundamentale Ablehnung stieß. Der Aufbau institutioneller Stabilität im Sowjetgeschäft erwies sich angesichts dieser fundamental differierenden Zielpräferenzen zwischen Siemens und dem sowjetischen Außenhandelsapparat als nicht umsetzbar. Die Effektivität der Unternehmensstrategie war sehr begrenzt. Fundamentales Misstrauen und institutionelle Instabilität im Sowjetgeschäft Vielmehr zeigte sich gerade beim Aufbau von externen Netzwerken des Unternehmens, dass die institutionellen rahmenbedingungen im Sowjetgeschäft für Siemens nur schwer strategisch zu beeinflussen waren. Es entstand zwar im Verlauf der 1920er Jahre eine reihe von informellen Netzwerken zwischen Siemens und anderen am Sowjetgeschäft beteiligten Unternehmen. Diese Netzwerke hatten jedoch nur eine begrenzte Stabilität und zeigten eine hohe Konfliktanfälligkeit zum Beispiel angesichts der Konkurrenzsituation zwischen AEG und Siemens bei sowjetischen Auftragsausschreibungen. Ebenfalls erwies sich der russlandausschuss der Deutschen wirtschaft nur als begrenzt erfolgreich darin, dem sowjetischen Außenhandelsmonopol eine vergleichbare einheitliche organisation der deutschen Lieferunternehmen entgegenzustellen. Besonders in der Kommunikation zwischen Siemens und dem sowjetischen Außenhandelsapparat zeigten sich immer wieder grundsätzliche Differenzen über die institutionelle Ausgestaltung der Geschäftsbeziehungen. Dabei erwies es sich von großem Nachteil, dass mit Ausnahme der Vertrauensbeziehung zwischen Hermann Görz und L. B. Krasin kein persönliches Netzwerk zwischen Siemens und sowjetischen Akteuren entwickelt wurde, das das Unternehmensgeschäft substantiell hätte stabilisieren können. Vielmehr erforderten die unvollständigen Verträge im Sowjetgeschäft einen hohen Einsatz an transaktionskosten durch Siemens, ohne dass den Gefahren von hidden information und hidden action seitens der sowjetischen Geschäftspartner ausreichend begegnet werden konnte. Da ein auf Vertrauen basierendes Sozialkapital im Sowjetgeschäft weitgehend fehlte, zeichneten sich die Vertragsbeziehungen von Siemens im Sowjetgeschäft durch eine hohe Ineffizienz aus.
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teil IV Ergebnisse: Akteure und institutionelle Strukturen
Der Ausgangspunkt meiner institutionenökonomischen Analyse des Sowjetgeschäfts von Siemens war die Frage, wie Akteure aus fundamentalen wirtschaftlichen Krisen heraus die Grundlage für neue wirtschaftliche Interaktion legen können. Hansjörg Siegenthaler versucht diese Frage zu beantworten, indem er den Fokus auf den kommunikativen Austausch von Akteuren in Krisen richtet. Ausgehend von einer kommunikativen Annäherung beseitigen Akteure die Ursachen der Krise (Vertrauensverlust), und so stehen laut Siegenthaler die „wiederherstellung von regelvertrauen und ein damit verbundener Abbau von Unsicherheit […] am Anfang einer neuen Strukturperiode von wiederum starker Kapitalbildung“3, die zu neuer wirtschaftlicher Prosperität führt. Auch Siemens begann die Aufnahme des Sowjetgeschäfts nach der oktoberrevolution zunächst mit einer kommunikativen Annäherung an die Bol‘ševiki als Vertreter des im Entstehen begriffenen sowjetischen Staates. Diese Kommunikation führte jedoch nicht zu dem von Kashirskikh konstatierten „steigende[n] Vertrauen der ausländischen Gläubiger [gemeint sind Banken und Lieferunternehmen] in die Sowjetwirtschaft“4. Auch war das Unternehmensgeschäft nicht, wie Pohl schreibt, von gegenseitiger „höchster wirtschaftlicher Loyalität geprägt“5. Vielmehr hatten die im gesamten Untersuchungszeitraum bestehenden grundlegenden ideologischen Differenzen zwischen Siemens und den Akteuren des sowjetischen Außenhandelsapparats zur Folge, dass das fundamentale Misstrauen der Entscheider im Unternehmen gegenüber dem sowjetischen Staat nicht substantiell vermindert wurde. regelvertrauen beziehungsweise das gegenseitige Vertrauen in einen gemeinsamen institutionellen Handlungsrahmen wurde nicht in ausreichendem Maß generiert und Siemens konnte seine kollektive Unsicherheit im Sowjetgeschäft nicht in kalkulierbares risiko transformieren. Ein stabiles institutionelles Equilibrium kam daher nicht zustande, sondern die fundamental differierenden Zielpräferenzen zwischen dem Unternehmen und den sowjetischen Akteuren führten dazu, dass die fundamentale Krise im Sowjetgeschäft von Siemens zwischen 1917 und 1933 nie vollständig überwunden wurde. Siemens im Sowjetgeschäft und die Theoriebildung im Rahmen der Neuen Institutionenökonomik Aus den Ergebnissen meiner Fallstudie zum Sowjetgeschäft von Siemens leite ich sechs zentrale Aussagen ab, die für eine weiterführende theoriebildung im rahmen des institutionenökonomischen Ansatzes verwendet werden können:
3 4 5
Siegenthaler: regelvertrauen, Prosperität und Krisen (1993), S. 205. So das abschließende Fazit in: oleg Kashirskikh: Deutsch-sowjetische wirtschaftsbeziehungen in den Jahren 1926/1927 im Lichte neuer sowjetischer Quellen, in: Vierteljahrschrift für Sozial- und wirtschaftsgeschichte 91 (2004), 2, S. 155–184, hier 184. Pohl: Geschäft und Politik (1988), S. 110.
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1. Die trennung zwischen fundamentalen und sekundären Institutionen bietet einen vielversprechenden weg, die Komplexität menschlichen Handelns analytisch zu erfassen. 2. Fundamentale Zielpräferenzen sind stabil und resistent gegen wandel, selbst wenn durch externe Schocks ein großer Handlungsdruck auf den Akteur ausgeübt wird. Dagegen sind sekundäre Institutionen für den Akteur angehbar und in Abhängigkeit seiner Zielpräferenzen strategisch veränderbar. 3. Auf der Ebene fundamentaler Institutionen kann Ideologie einen prägenden Einfluss auf die Definition von Zielpräferenzen individueller Akteure haben und die Zielpräferenz der ökonomischen Nutzenmaximierung zumindest teilweise überlagern. 4. Solche ideologisch motivierten Zielpräferenzen individueller Akteure können sich auf der Ebene kollektiver Akteure spiegeln und im Fall von Unternehmen Eingang in die Unternehmenskultur finden. 5. Institutionalisiertes Vertrauen zwischen Akteuren ist ein wichtiger Einflussfaktor auf menschliches Handeln, der wirtschaftliche Interaktion stabilisieren kann. Im Umkehrschluss heißt dies, dass in Abwesenheit von vertrauensbasierten persönlichen Netzwerken wirtschaftliche transaktionen durch relativ größere Ineffizienz gekennzeichnet sind. 6. Die Herstellung eines stabilen institutionellen Equilibriums ist sehr schwierig, wenn die ökonomische Interaktion zwischen Akteuren stattfindet, die fundamental differierende Zielpräferenzen verfolgen. Meiner Einschätzung nach bieten zwei theoretische Ansätze die Möglichkeit, das Erklärungspotential der Neuen Institutionenökonomik weiter zu erhöhen. Erstens ist dies die Erweiterung des rationalitätsbegriffs hin zu einer truly bounded rationality, die sich von rein ökonomischen Vorstellungen von Handlungsrationalität abwendet und rationales Handeln in Abhängigkeit individueller Zielpräferenzen betrachtet. Mit einer solchen Subjektivierung von Zielpräferenzen wird es zweitens notwendig, den Akteur in institutionenökonomischen Erklärungsmodellen angemessen zu berücksichtigen. Eine Vorreiterrolle spielen hier die verschiedenen Spielarten des akteurszentrierten Institutionalismus. Sie wenden sich von einer ausschließlichen Fokussierung auf Institutionen als sozial konstruierte Handlungsanleitungen ab und berücksichtigen auch, wie individuelle Handlungsmotivationen von Akteuren überhaupt zustande kommen. Ich sehe großen Bedarf an einer theoretischen weiterentwicklung der Neuen Institutionenökonomik. Bezüglich der rolle von Institutionen in ökonomischen transaktionsprozessen ist der institutionenökonomische Ansatz mit seinen Konzepten gut aufgestellt und verfügt auch über eine breite empirische Basis. Hinsichtlich der rolle von Akteuren, der Genese von Akteurspräferenzen oder der Pfadabhängigkeit dieser Präferenzen besteht allerdings großer theoretischer und empirischer Nachholbedarf. Insbesondere folgende drei Punkte sehe ich als Kern einer um Akteure erweiterten Institutionenökonomik:
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1. Die Einflussfaktoren auf die truly bounded rationality von Akteuren sind zu präzisieren. Die Neue Institutionenökonomik sollte sich dabei auch den neueren Ergebnissen aus der Kognitionspsychologie, der Evolutionsbiologie und der Evolutionsanthropologie bezüglich der menschlichen Handlungsrationalität öffnen. 2. Es müssen institutionenökonomische Erklärungsmodelle für das Handeln in Gruppen geschaffen werden. Dies betrifft besonders die Frage, wie aus individuellen mentalen Modellen überindividuelle shared mental models zum Beispiel in Unternehmen entstehen. 3. Die analytische trennung zwischen fundamentalen internalisierten Institutionen und sekundären Institutionen ist weiter zu spezifizieren. Dazu gehört auch die Frage, wie Akteure auf Basis ihrer Zielpräferenzen überindividuelle Institutionen schaffen. Douglass North hat in „Understanding the Process of Economic Change“ einen ersten Überblick darüber vorgelegt, wie sich durch eine solche theoretische Erweiterung die Zielpräferenzen von Akteuren im rahmen des institutionenökonomischen Ansatzes erfassen lassen. Auch wenn es für eine Umsetzung zum Beispiel der von North angesprochenen kognitionspsychologischen Ansätze im rahmen historischer Studien momentan vielleicht noch zu früh ist, so wird damit ein möglicher weg in die Zukunft aufgezeigt, wie sich die sozialwissenschaftliche Handlungstheorie künftig an naturwissenschaftliche Ansätze anbinden kann.6 Ich bin der Meinung, dass eine solche Anbindung grundsätzlich auch in der Geschichtswissenschaft nutzbringend eingesetzt werden kann. Denn eine um Akteure erweiterte Institutionentheorie bietet die Möglichkeit, die wechselwirkung zwischen Individuen und institutionellen Strukturen in einen umfassenden theoretischen Ansatz zu integrieren. 2 SIEMENS IN DEN DEUtSCH-SowJEtISCHEN BEZIEHUNGEN In teil I, Kapitel 2 habe ich die Forschungsdiskussion zu den deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen dargestellt und kritisiert, dass bislang keine umfassende Fallstudie zur Strategie eines deutschen Unternehmens im Sowjetgeschäft vorliegt. Grundsätzliche Fragen zum Stellenwert des Faktors wirtschaft in den deutsch-sowjetischen Beziehungen während der weimarer republik sind daher ungeklärt. Dies betrifft erstens die Frage von Kontinuität und Diskontinuität der deutschen wirtschaftsimperialistischen Großmachtpolitik in der tradition von Brest-Litovsk und 6
Hiermit widerspreche ich der Einschätzung von Ingo Pies, dass sich North darin „methodologisch auf Abwege begeben hat.“ Pies führt weiter aus: „Seine [Norths] Investition in die Kognitionspsychologie war eine Fehl-Investition, die sich weder für seine theoretischen noch für seine normativen Forschungsinteressen mit einer positiven rendite ausgezahlt hat.“ Siehe: Ingo Pies: theoretische Grundlagen demokratischer wirtschafts- und Gesellschaftspolitik – Der Ansatz von Douglasse North, in: Ingo Pies/Martin Leschke (Hg.): Douglass Norths ökonomische theorie der Geschichte (Konzepte der Gesellschaftstheorie 15). tübingen 2009, S. 1–32, hier 28.
2 Siemens in den deutsch-sowjetischen Beziehungen
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ihre Auswirkungen auf die Strategien der Unternehmen. Zweitens und damit verbunden liegen bislang keine eindeutigen empirischen Ergebnisse dazu vor, ob die Entwicklung des Sowjetgeschäfts deutscher Unternehmen primär durch eine ökonomische rationalität der wirtschaftlichen Akteure oder durch außenwirtschaftspolitische Zielsetzungen der reichsregierung zu erklären ist. Mit Verweis auf den theoretischen Ansatz der transnationalen Beziehungen wurde in teil I, Kapitel 3.1 argumentiert, dass Unternehmen als eigenständige Akteure über einen eigenen Zugang zu internationalen Beziehungen verfügen. Aus dieser Annahme leitete ich die Hypothese 1 (vgl. S. 66) ab, dass Siemens als transnationaler Akteur in den deutsch-sowjetischen Beziehungen zu verstehen ist, das Unternehmen darin eigene Handlungsziele verfolgte und seine institutionelle Umwelt aktiv gestaltete. Die Unternehmensstrategie von Siemens wurde deshalb als intervenierende Variable bezeichnet, die in Abhängigkeit des gegebenen institutionellen rahmens (unabhängige Variable) die Entwicklung der deutsch-sowjetischen Beziehungen beeinflussen konnte. Das Sowjetgeschäft von Siemens resultierte daher als abhängige Variable aus dem Zusammenspiel der institutionellen rahmenbedingungen mit der kollektiven Handlungsrationalität des Unternehmens. Auf Basis der institutionenökonomischen Analyse der Handlungsrationalität von Siemens wird im Folgenden zunächst die Frage beantwortet, ob sich in der Unternehmensstrategie der Einfluss wirtschaftsimperialistischer Zielsetzungen im Sinne eines informal empire nachweisen lässt (vgl. dazu die Fragestellung in teil I, Kapitel 2.3). Anschließend diskutiere ich, wie sich die Ergebnisse der Fallstudie in die Forschungskontroverse zwischen „Primat der wirtschaft“ und „Primat der Politik“ in den deutsch-sowjetischen Beziehungen integrieren lassen. Kontinuitäten des deutschen Wirtschaftsimperialismus und die Handlungsrationalität von Siemens Ergebnis der institutionenökonomischen Analyse der Handlungsrationalität war, dass Siemens zwar das Ziel einer ökonomischen Gewinnmaximierung im Sowjetgeschäft verfolgte. Gleichzeitig waren die Akteure im Unternehmen jedoch einer truly bounded rationality unterworfen und reagierten auf die grundlegenden gesellschaftlichen Veränderungen im sowjetischen russland mit großen Misstrauen. Die wahrnehmung von Unsicherheit und institutioneller Instabilität war angesichts der fundamental differierenden weltbilder zwischen den Siemens-Akteuren und den Bol‘ševiki die Ursache dafür, dass Siemens im Sowjetgeschäft sehr vorsichtig agierte und im gesamten Untersuchungszeitraum ökonomische risiken weitgehend mied. Einen „Kontinuitätszwang“ und damit einen Einfluss wirtschaftsimperialistischer Zielsetzungen in der tradition von Brest-Litovsk, wie ihn Pogge von Strandmann deutschen Unternehmen unterstellt (siehe dazu S. 20), lässt sich in der Unternehmensstrategie von Siemens nicht belegen. Ebenfalls ist das in der DDr-Forschung vertretene Argument, die deutschen Unternehmen hätten während der weimarer republik eine „wiederaufrichtung des deutschen Imperialismus“ in osteu-
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ropa angestrebt, auf Basis der Fallstudie zu Siemens nicht haltbar. Es ist zwar belegbar, dass Siemens durchaus an einer „restauration des Kapitalismus in der Sowjetunion“ (Günter rosenfeld, siehe S. 30) interessiert war und ebenso ein grundsätzliches Interesse daran hatte, seine dominierende Stellung auf dem russischen Markt wieder herzustellen. Allerdings entwickelte das Unternehmen eine eigenständige Handlungsrationalität, die keinen Bezug zu der in Brest-Litovsk manifestierten deutschen Kriegszielpolitik erkennen lässt. Eine Übereinstimmung mit Zielsetzungen, die sich unter dem Begriff informal empire fassen lassen und die einen wirtschaftspolitischen Imperialismus des Deutschen reichs in osteuropa bezeichnen, ist für Siemens während der weimarer republik nicht nachzuweisen. Damit ist im Sowjetgeschäft von Siemens zwischen 1917 und 1933 auch kein „deutsche[r] Drang nach einem politisch-ökonomischen Engagement im osten“7 erkennbar. Für Siemens war es zwar wichtig, angesichts des eingeschränkten Zugangs deutscher Unternehmen zu den westeuropäischen Märkten nach dem Ersten weltkrieg neue Absatzmöglichkeiten zu finden. Insbesondere die Sowjetunion mit ihren reichen Bodenschätzen, der größten Bevölkerung aller europäischen Länder und ihrem wirtschaftlichen Modernisierungsbedarf bot ein langfristig großes wachstumspotential für deutsche Exporte. Allerdings zeigte sich im Verlauf der 1920er Jahr und desgleichen während der weltwirtschaftskrise, dass dieses wachstum zumindest kurz- und mittelfristig sehr engen Grenzen unterworfen war. Selbst im Jahr 1931, als das Sowjetgeschäft der weimarer republik den Höchstwert erreichte, betrugen die deutschen Exporte in die Sowjetunion nur 63 Prozent des Vergleichswerts von 1913. Auch das Sowjetgeschäft von Siemens erreichte trotz der positiven Entwicklung seit Ende der 1920er Jahre nicht mehr den Stellenwert der Vorkriegszeit. Mit diesem Ergebnis im Hintergrund wäre zu fragen, ob nicht anstelle eines ökonomischen „Drangs nach osten“ eine erfolgreiche reintegration Deutschlands in die weltwirtschaft zumindest für die exportorientierten Unternehmen weitaus günstigere wirtschaftliche Perspektiven gegeben hätte. Zumindest argumentiert Harm G. Schröter, dass die deutschen Elektrounternehmen die Ausgleichspolitik Stresemanns unterstützten und insbesondere einen politischen Ausgleich mit Frankreich als Grundlage einer wirtschaftlichen Integration der westeuropäischen Volkswirtschaften stark befürworteten.8 Auch Hans-Jürgen Perrey relativiert die Bedeutung des zeitgenössischen Diskurses um einen „handelspolitischen Drang nach osten“9. Die wahrnehmung der Sowjetunion als potentiell wichtiger rohstoffund Absatzmarkt der deutschen wirtschaft sei zwar in der weimarer republik ein Allgemeinplatz in der öffentlichen Diskussion gewesen. Doch gerade in Anbetracht der großen Unsicherheiten im Sowjetgeschäft entschieden sich viele Unternehmen dafür, „dem attraktiveren weltmarkt bei jeder Gelegenheit den Vorzug zu geben“10. Ausgehend von dieser Feststellung wäre für Siemens in einer weitergehenden Arbeit zu prüfen, wie der Stellenwert des Sowjetgeschäfts im Vergleich mit anderen 7 8 9 10
Müller: Das tor zur weltmacht (1984), S. 45. Schröter: Europe in the Strategies (1996), S. 44. Perrey: rußlandausschuß der Deutschen wirtschaft (1985), S. 103. Perrey: rußlandausschuß der Deutschen wirtschaft (1985), S. 104.
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Absatzmärkten in der Unternehmensstrategie während der weimarer republik zu interpretieren ist. Volker Berghahn stellte in dem 1996 erschienen Sammelband zum deutschen wirtschaftspolitischen Expansionismus im 20. Jahrhundert die Forderung auf, die Europastrategien deutscher Unternehmen stärker in die Forschungsdiskussion über den Entstehungskontext der deutschen Expansionspolitik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einzubeziehen.11 In Anlehnung an Berghahn habe ich die Frage formuliert, ob sich im Sowjetgeschäft von Siemens während der weimarer republik Anzeichen für eine rezeption des Konzepts informal empire nachweisen lassen (vgl. S. 39). Für den Untersuchungszeitraum von 1917 bis 1933 ist als Ergebnis festzuhalten, dass keine Zielvorstellungen eines deutschen wirtschaftlichen informal empire in osteuropa in die Unternehmenskultur von Siemens Eingang fanden. Das Sowjetgeschäft des Unternehmens in der weimarer republik lässt sich damit nicht in eine Kontinuitätslinie einbinden, die ausgehend von Brest-Litovsk linear in die nationalsozialistische Lebensraumpolitik des Zweiten weltkriegs mündete. Allerdings soll damit nicht ausgedrückt werden, dass die Unternehmenskultur von Siemens auch über den Untersuchungszeitraum hinaus stabil blieb. Internalisierte Zielpräferenzen von Akteuren sind persistent gegen wandel. Sie können sich jedoch unter dem Einfluss veränderter rahmenbedingungen an die Umwelt anpassen. Folgendes Zitat von Hermann reyß aus seiner Eröffnungsansprache anlässlich der Vorstandssitzung des russlandausschusses am 7. Mai 1935 gibt einen Ausblick darauf, wie sich Siemens mit den veränderten institutionellen rahmenbedingungen nach der nationalsozialistischen Machtübernahme auseinandersetzte: „Der wert des russischen Marktes ist für die deutsche wirtschaft so groß, daß wir […] beharrlich bleiben müssen auch über alle Divergenzen weltanschaulicher Art hinweg. Ich habe mich überzeugt davon, daß dies auch der wunsch und wille unseres Führers und reichskanzlers ist. […] Verlieren wir den russischen Markt mit seiner grossen Bedeutung für die wirtschaftliche wiederbelebung Deutschlands und für die weitere Entfaltung unserer wirtschaftlichen Kräfte, so wird es schwer, vielleicht nur nach langer Zeit möglich sein, ihn wieder zu gewinnen.“12
In der Annahme der grundsätzlich wichtigen Bedeutung des sowjetischen rohstoff- und Absatzmarktes ließ sich offenbar eine Annäherung zwischen Hitler und der im russlandausschuss organisierten deutschen Exportwirtschaft erzielen. Vor diesem Hintergrund konnte Siemens einige Jahre später in großem Maße an den Aufträgen im rahmen des Hitler-Stalin-Pakts von 1939 und während des Zweiten weltkriegs an den Industrie- und Infrastrukturprojekten in den besetzten Gebieten partizipieren. Für die weimarer republik bleibt allerdings als Ergebnis stehen, dass Siemens im rahmen seiner truly bounded rationality ein starkes Misstrauen gegen den sowjetischen Staat entwickelte und angesichts der wahrgenommenen institutionellen Instabilität ein risikoreiches Engagement im Sowjetgeschäft ablehnte. Es stellt sich
11 Berghahn: Introduction (1996), S. 2. 12 SAA 8182, Hermann reyß: Eröffnungsansprache bei der Vorstandssitzung des russland-Ausschusses. Berlin 7.5.1935, S. 1f.
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nun die Frage, wie auf Basis dieser Feststellung der Stellenwert wirtschaftlicher Interessen in den deutsch-sowjetischen Beziehungen zu interpretieren ist. Siemens und der Stellenwert wirtschaftlicher Interessen in den deutsch-sowjetischen Beziehungen Die historische Forschung wertete die Entwicklung des Sowjetgeschäfts deutscher Unternehmen während der weimarer republik lange als einen wichtigen Bestandteil der politischen Annäherung zwischen Deutschland und der Sowjetunion. Im Hinblick auf den 300-Millionen-Kredit bezeichnete Manfred Pohl die deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen gar als „Musterbeispiel für die Kooperation zwischen Staaten unterschiedlicher Gesellschaftsordnung“ und das Deutsche reich als „Vorreiter im modernen ost-west-Handel“13. Auch von anderen Autoren wird der wichtige Einfluss wirtschaftlicher Interessen auf die deutsche Außenpolitik gegenüber der Sowjetunion betont und daraus ein „Primat der wirtschaft“ in den deutsch-sowjetischen Beziehungen abgeleitet. Pogge von Strandmann fasst diese Position folgendermaßen zusammen: „At the end of the day, it was the [German] industrialists‘ wish to sell in russia and the russian desire to buy in Germany which were the key factors in the foreign policy of the two countries between 1921/2 and 1933.“14 Die Ergebnisse meiner Fallstudie zu Siemens widersprechen dieser these des „Primats der wirtschaft“ in den deutsch-sowjetischen Beziehungen. Vielmehr wurde am Fallbeispiel Siemens deutlich, dass angesichts der hohen wahrgenommenen Unsicherheit im Unternehmen die punktuell starke Zunahme des Sowjetgeschäfts in den Jahren 1926/27 und 1931/32 fast ausschließlich auf staatlichen Ausfallbürgschaften basierte. Dies erklärt auch, warum der deutsche Export in die Sowjetunion nach Ablauf der Ausfallbürgschaften wieder deutlich zurückging. Die Bedeutung der Ausfallbürgschaften als dauerhaft stabilisierendes Element in den deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen wird deshalb in der Forschung mittlerweile kritisch beurteilt. Bereits Perrey kam 1985 in seiner Bewertung des 300-Millionen-Kredits von 1926 zu folgender Einschätzung: „Die spektakuläre Kreditaktion von 1926, mit der erstmalig öffentliche Exportgarantien von staatlicher Seite verbunden gewesen waren, schien rückblickend für manchen Industriellen nichts anderes als ein kurzfristiges konjunkturpolitisches Strohfeuer darzustellen, denn in den Augen der wirtschaft hatte sie nicht die oft verlangte Stetigkeit in das rußlandgeschäft gebracht.“15
regelvertrauen ist eine Grundvoraussetzung bei der Vergabe von Krediten. In Abwesenheit institutionalisierten Vertrauens fehlte es dem deutschen Sowjetgeschäft 13 Pohl: Geschäft und Politik (1988), S. 110. 14 Pogge von Strandmann: Industrial Primacy in German Foreign Policy (1981), S. 262. Vgl. auch das ähnliche Fazit Gordon Muellers: Mueller: the road to rapallo (1970), S. 440. 15 Perrey: rußlandausschuß der Deutschen wirtschaft (1985), S. 148. Vgl. auch: James: the reichsbank and Public Finance (1985), S. 315f.
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an Nachhaltigkeit, um das Volumen der Exporte dauerhaft auf einem hohen Niveau zu halten. In dieser Perspektive waren die staatlichen Ausfallbürgschaften kein Zeichen einer Stärke der deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen, sondern Ausdruck fehlenden Vertrauens. Das kurzfristige wachstum der deutschen Exporte von 1926/27 und 1931/32 war von politischen Einflüssen abhängig und trug sich nicht selbst. Mit diesem Ergebnis lässt sich die Fallstudie zu Siemens an Forschungsergebnisse anbinden, die eine „Priorität politischer Motive“16 bei der Entwicklung der deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen betonen. wenn das Interesse der deutschen Unternehmen am Sowjetgeschäft damit als begrenzt zu werten ist, so stellt sich die Frage, durch welche deutschen Interessengruppen die Entwicklung der wirtschaftsbeziehungen mit der Sowjetunion gefördert und ausgebaut wurde. Der Politologe Jürgen Bellers kommt auf Basis einer quantitativen und qualitativen Analyse der weimarer Außenpolitik zu einem Ergebnis, das den zentralen Einfluss einer politischen Akteurskoalition auf Entscheidungsprozesse im Hinblick auf die deutsche Exportförderung im Sowjetgeschäft konstatiert. Bellers sieht die umfangreichen staatlichen Hilfen für die deutschen Unternehmen seit Mitte der 1920er Jahre in fünf Faktoren begründet:17 1. Die bürgerlichen Parteien und insbesondere Außenminister Stresemann wollten die deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen als Gegengewicht zur westlich orientierten Locarno-Politik ausbauen, um dadurch ihre revisionspolitischen Ziele zur Unterminierung des Versailler Vertrags zu unterstützen. 2. während der weltwirtschaftskrise wurde diese Koalition durch SPD und Gewerkschaften ergänzt, die bislang dem Sowjetgeschäft sehr skeptisch gegenüber gestanden waren, die aber die Exportförderung als wichtiges arbeitsmarktpolitisches Instrument betrachten. 3. rechte politische Gruppen wie die DNVP unterstützen den bürgerlichen Kurs der Annäherung an die Sowjetunion, um dadurch einen revisionspolitischen Druck auf die westmächte auszuüben.18 4. Die Agrarlobby nahm zumindest bis zur weltwirtschaftskrise keinen blockierenden Einfluss auf die deutsche Außenwirtschaftspolitik gegenüber der Sowjetunion. 5. Es fand im Deutschen reich ein Institutionalisierungsprozess statt, in dessen Verlauf sich die Akteurskoalition, die das Sowjetgeschäft befürwortete, stabilisieren konnte. Dazu gehören unter anderem die Gründung der IFAGo und des russlandausschusses der Deutschen wirtschaft. 16 Niemann: Die deutsch-sowjetischen wirtschaftsbeziehungen (1991), S. 95. Vgl. dazu auch die Ergebnisse Morgans: Morgan: the Political Significance of German-Soviet trade Negotiations (1963), S. 171. 17 Bellers: Außenwirtschaftspolitik und politisches System (1988), S. 524f. Zur statistischen Auswertung der Positionen der politischen Parteien zu den deutsch-sowjetischen Beziehungen vgl. S. 647ff. 18 Zu ergänzen wäre hier noch die reichswehr.
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Aufgrund meiner Ergebnisse zum Sowjetgeschäft von Siemens stimme ich der Argumentation von Bellers zu und widerspreche der Schlussfolgerung Perreys, der mit Verweis auf Manfred Pohl folgendes konstatiert: „‚Einen besseren Handelspartner hätte Deutschland sich nicht wünschen können‘, schreibt Manfred Pohl mit Blick auf die wirtschaftsbeziehungen dieser Jahre [gemeint ist die weltwirtschaftskrise]. Dem ist schon allein deshalb zuzustimmen, weil der wirtschaftsverkehr in der schwierigen Zeit der weltwirtschaftskrise von beiden Ländern mit viel Umsicht und Entgegenkommen gehandhabt wurde. Die Sowjetregierung stellte für die deutsche Industrie einen unentbehrlichen, berechenbaren und fairen Geschäftspartner dar.“19
Nicht „Berechenbarkeit“ und „Fairness“ bildeten in den Beziehungen zwischen Siemens und dem sowjetischen Außenhandelsapparat die Stütze des Unternehmensgeschäfts. Sondern erst die staatlichen Ausfallbürgschaften, die aus außenpolitischen Motiven heraus das Sowjetgeschäft deutscher Unternehmen förderten, boten Siemens eine stabile institutionelle Grundlage, die Annahme sowjetischer Aufträge stark auszuweiten. Die primäre Ursache für den zeitweise wichtigen Stellenwert des Sowjetgeschäfts für Siemens sehe ich nicht in den ökonomischen Interessen des Unternehmens begründet, sondern in den revisionistischen Interessen einer politischen Akteurskoalition. Siemens als ein transnationaler Akteur in den deutsch-sowjetischen Beziehungen Zu Beginn der Fallstudie habe ich Siemens als einen transnationaler Akteur bezeichnet, der über das Potential verfügte, von der deutschen Außenwirtschaftspolitik zumindest teilweise unabhängige Interessen im Sowjetgeschäft zu entwickeln und diese zumindest zum teil eigenständig in den deutsch-sowjetischen Beziehungen zu verfolgen. Im Schaubild auf S. 66, das den kausalen wirkungszusammenhang im Sowjetgeschäft von Siemens modellhaft darstellt, ist dieses Potential als „intervenierende Variable“ bezeichnet. Es wurde in der Analyse der Unternehmensstrategie deutlich, dass Siemens seinen Handlungsspielraum nutzte. In einem kontroversen Diskussionsprozess entwickelte das Unternehmen Anfang der 1920er Jahre die Zielpräferenz, sich im Sowjetgeschäft zu engagieren, um seinen ökonomischen Nutzen zu maximieren. Ausgehend von dieser Zielsetzung beteiligte sich Siemens aktiv an der institutionellen Gestaltung der deutsch-sowjetischen Beziehung. Insbesondere der Aufbau von externen Netzwerken des Unternehmens zeigt den transnationalen Charakter der Unternehmensstrategie. Siemens etablierte erstens vielfältige institutionelle Netzwerkstrukturen mit anderen deutschen Unternehmen und Verbänden. Daraus ging zum Beispiel das deutsch-sowjetische Pjatakov-Abkommen von 1931 hervor, das einen dezidiert transnationalen Charakter hatte. Zweitens ist die Kommunikation und geschäftliche Interaktion zwischen Siemens und den repräsentanten des sowjetischen Außenhandelsmonopols als transnational zu bezeichnen, da hierin ein pri19 Perrey: rußlandausschuß der Deutschen wirtschaft (1985), S. 201. Vgl. auch: Pohl: Die Finanzierung der russengeschäfte (1975), S. 36.
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vatwirtschaftlicher nicht-staatlicher Akteur in direkter Interaktion mit staatlichen Akteuren stand. Hervorzuheben ist insbesondere, dass sich die Interaktion zwischen Siemens und dem sowjetischen Staat nicht nur auf die im rahmen des Außenhandelsmonopols konformen, formalen Kommunikationsstrukturen beschränkte. Vielmehr war es Siemens auch möglich, zumindest in einigen Fällen diese formalen Strukturen zu umgehen und mit sowjetischen Akteuren informelle Kommunikationsbeziehungen aufzubauen. Die Analyse der Unternehmensstrategie von Siemens als transnationaler Akteur im Sowjetgeschäft konnte das historische Bild der deutsch-sowjetischen Beziehungen von 1917 bis 1933 erweitern. Doch war Siemens ein typisches Beispiel für ein Unternehmen in den deutsch-sowjetischen Beziehungen und wie steht es um die Generalisierbarkeit der Fallstudie? Siemens ist dabei erstens als Großunternehmen der Elektroindustrie von der Schwerindustrie abzugrenzen. Zweitens war auch die Gruppe der „neuen Industrien“ (Elektro- und chemische Industrie) nicht homogen und selbst innerhalb der Elektroindustrie ist es problematisch, die Strategie eines Unternehmens auf die gesamte Branche zu übertragen.20 So verfolgte zum Beispiel AEG als größter Konkurrent von Siemens im Sowjetgeschäft eine risikoreichere Strategie. Es ist deshalb nicht davon auszugehen, dass sich die Handlungsrationalitäten der deutschen Unternehmen im Sowjetgeschäft ohne weiteres verallgemeinern lassen. Eine pauschale Generalisierbarkeit der Ergebnisse ist nicht gegeben. Es können aus der Fallstudie allerdings zwei Schlussfolgerungen zum Sowjetgeschäft deutscher Unternehmen sowie zum generellen Handlungspotential von Unternehmen in internationalen wirtschaftsbeziehungen abgeleitet werden: 1. Außer Siemens entwickelten andere deutsche Großunternehmen in den 1920er Jahren ebenfalls ein großes Misstrauen gegenüber dem sowjetischen Staat. Dies betrifft auch Hugo Stinnes und otto wolff, die sich zunächst mit weitaus größerer risikobereitschaft im Sowjetgeschäft engagierten. Es ist daher davon auszugehen, dass die wahrnehmung von Unsicherheit und institutioneller Instabilität im Sowjetgeschäft nicht nur auf Siemens beschränkt war, sondern auch für weitere deutsche Unternehmen anzunehmen ist. 2. Das Steuerungspotential von Unternehmen ist im Geschäft mit autoritären Staaten sehr begrenzt, vor allem, wenn in der wirtschaftlichen Interaktion fundamental differierende weltbilder aufeinandertreffen. Diese Aussage betrifft nicht nur das Sowjetgeschäft deutscher Unternehmen während der weimarer republik, sondern lässt sich möglicherweise auch auf intersystemare wirtschaftsbeziehungen mit anderen Ländern in anderen Zeiträumen ausdehnen. Um allerdings allgemeine und empirisch fundierte Aussagen sowohl zum Stellenwert wirtschaftlicher Interessen in den deutsch-sowjetischen Beziehungen als auch generell zu den transnationalen wirtschaftsbeziehungen von Unternehmen mit autoritären Staaten treffen zu können, sind weitere Fallstudien nötig. 20 Vgl. dazu: Hayes: Industrial Factionalism (1991), S. 130.
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Ausblick: Institutionelle Pfadabhängigkeit im Sowjetgeschäft von Siemens Nach der deutschen Kriegsniederlage von 1945 stand Siemens vor einer äußerst unsicheren Zukunft, in der das Fortbestehen des Unternehmens grundsätzlich infrage gestellt war. In der sowjetischen Besatzungszone begann bald nach Kriegsende die weitgehende Demontage von Industrieanlagen und auch in den westlichen Besatzungszonen war die Einheit des Unternehmens mehrere Jahre lang nicht gesichert.21 Erst 1948 wurde das Verfahren der westalliierten Militärbehörden bezüglich einer Zerschlagung von Siemens eingestellt. Im April 1949 erfolgte mit dem Umzug der Firmenzentrale von Berlin nach München eine wichtige weichenstellung für die Zukunft. In dieser fundamentalen Krise, die den Kernbestand des Unternehmens grundsätzlich infrage stellte, findet sich eine überraschende Pfadabhängigkeit der Unternehmensstrategie, die den Neuaufbau des Unternehmensgeschäfts mit der Sowjetunion betraf. Am 11. März 1950 teilten Ernst von Siemens (seit 1949 Vorstandsvorsitzender von S&H) und Gerd tacke (Verantwortlicher für den Vertrieb) in einem rundschreiben betreffend das „russland-Geschäft“ des Unternehmens folgendes mit: „Die vor kurzem erfolgte Begründung der russischen Handelsvertretung in Berlin lässt darauf schliessen, dass demnächst wieder Aufträge aus der UdSSr zu erhalten sein werden. Der Aufgabenbereich des tB Berlin, welches das gesamte ostzonengeschäft betreut und damit bereits heute zu den russischen Behördenstellen eine gute Fühlung hat, lässt es als richtig erscheinen, ihm für den Anlauf auch die wahrnehmung des russlandgeschäftes zu übertragen. […] Damit übernimmt das tB Berlin die alleinige Vertretung der Interessen unseres Hauses bei der russischen Handelsvertretung. Sämtliche Dienststellen leiten bereits vorliegende oder bei ihnen eingehende Anfragen und Aufträge dem tB Berlin als der zuständigen Stelle zur weiterbearbeitung zu.“22
Der wortlaut verdeutlicht, wie stark sich der geplante Neuaufbau des Unternehmensgeschäfts mit der Sowjetunion an den traditionen der weimarer republik orientierte. Mit einigen wenigen inhaltlichen Änderungen deckt sich der Inhalt des rundschreibens weitgehend mit den entsprechenden Ankündigungen bezüglich der Gründung des tB ost zu Beginn der 1920er Jahre, als es ebenfalls eine fundamentale Krise im Sowjetgeschäft zu überwinden galt. Und wie auch zu Beginn der weimarer republik stand das Sowjetgeschäft von Siemens nach dem Zweiten weltkrieg unter dem Vorzeichen, zunächst Kommunikationsbeziehungen zur sowjetischen Handelsvertretung in Berlin aufzubauen. Nach einer mehrjährigen Vorbereitungsphase, die von den institutionellen rahmenbedingungen des sich verschärfenden Kalten Kriegs geprägt war, konnte das Unternehmen den ersten Großauftrag im Sowjetgeschäft nach dem Zweiten weltkrieg verbuchen. Im Jahr 1959 rüstete Siemens 20 von Krupp gebaute Lokomotiven mit elektrischem Zubehör aus, die die Sowjetunion für den Güterzugverkehr in Sibirien bestellt hatte.23 21 Feldenkirchen: Siemens (2003), S. 265. 22 SAA 68 Li 141, Ernst von Siemens/Gerd tacke: ZtB-rundschreiben Nr. 265. München 11.3.1950, S. 1. 23 Feldenkirchen: Siemens im russischen reich (2003), S. 65.
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Auch über die fundamentale Krise des Jahres 1945 hinaus bestanden institutionelle Pfadabhängigkeiten, deren Ursprünge in der weimarer republik lagen und die Siemens nach dem Zweiten weltkrieg wichtige Anknüpfungspunkte für den Neuaufbau des Sowjetgeschäfts boten.
QUELLEN- UND LItErAtUrVErZEICHNIS 1 QUELLEN Siemens-Archiv Fortlaufende Signatur (Auflistung aller ausgewerteten Akten): SAA 524; SAA 527; SAA 528; SAA 529; SAA 667; SAA 722; SAA 2250; SAA 3348; SAA 3769; SAA 3772; SAA 3812; SAA 3861; SAA 3865; SAA 3867; SAA 4089; SAA 4200; SAA 4213; SAA 4218; SAA 4314; SAA 4315; SAA 4360; SAA 4460; SAA 4463; SAA 4732; SAA 4746; SAA 5828; SAA 6339; SAA 6343; SAA 6350; SAA 6356; SAA 5359; SAA 6358; SAA 6361; SAA 6362; SAA 6388; SAA 6391; SAA 6394; SAA 6397; SAA 6398; SAA 6405; SAA 6560; SAA 6876; SAA 6877; SAA 7024; SAA 7076; SAA 8182; SAA 8227; SAA 8252; SAA 8686; SAA 8715; SAA 9085; SAA 9111; SAA 9467; SAA 9484; SAA 9701; SAA 9771; SAA 9775; SAA 9789; SAA 9869; SAA 9884; SAA 9965; SAA 9989; SAA 10695; SAA 10722; SAA 10723; SAA 10727; SAA 10724; SAA 70748; SAA 10756; SAA 11123; SAA 11414; SAA 11583; SAA 11604; SAA 11605; SAA 11639; SAA 11648; SAA 11707; SAA 11712; SAA 11754; SAA 11784; SAA 12267; SAA 12279; SAA 12612; SAA 12895; SAA 12971; SAA 12993; SAA 15668; SAA 15719; SAA 15720; SAA 15722; SAA 15769. Alphanumerische Signatur (Auflistung aller ausgewerteten Akten): SAA 4 Lb 845; SAA 4 Lf 514; SAA 4 Lf 543; SAA 4 Lf 606; SAA 4 Lf 665; SAA 4 Lf 673;SAA 4 Lf 685; SAA 4 Lf 686; SAA 4 Lf 724; SAA 4 Lf 730; SAA 4 Lf 738; SAA 4 Lf 812; SAA 4 Lf 813; SAA 4 Lf 815; SAA 4 Lf 816; SAA 4 Lf 817; SAA 4 Lf 818; SAA 4 Lk 133; SAA 4 Lk 162; SAA 10 Lb 1; SAA 10 Lc 14; SAA 10 Lp 144; SAA 11 La 337; SAA 11 La 932; SAA 11 Lb 53; SAA 11 Lb 93; SAA 11 Lb 323; SAA 11 Lb 348; SAA 11 Lb 382; SAA 11 Lb 900; SAA 11 Lc 379; SAA 11 Lc 917; SAA 11 Lf 44; SAA 11 Lf 46; SAA 11 Lf 140; SAA 11 Lf 156; SAA 11 Lf 157; SAA 11 Lf 181–182; SAA 11 Lf 221; SAA 11 Lf 225; SAA 11 Lf 265; SAA 11 Lf 292; SAA 11 Lf 330; SAA 11 Lf 376; SAA 11 Lf 417; SAA 11 Lf 429; SAA 11 Lf 435; SAA 11 Lf 449; SAA 11 Lf 455; SAA 11 Lf 500; SAA 11 Lg 89; SAA 11 Lg 735; SAA 11 Lg 825; SAA 11 Lm 69; SAA 11 Lo 552; SAA 12 Lh 583; SAA 12 Ll 4; SAA 12 Ll 928; SAA 12 Lm 905; SAA 13 Le 374; SAA 13 Lt 143; SAA 14 Lr 490; SAA 15 Ld 27; SAA 15 Ld 157; SAA 15 Le 67; SAA 15 Ls 183; SAA 17 Le 372; SAA 17 Le 378; SAA 17 Ls 664; SAA 17 Ls 732; SAA 29 Lg 476; SAA 29 Lk 415; SAA 29 Lp 355; SAA 29 Ls 272; SAA 32 La 495; SAA 32 Lc 323; SAA 35 Lf 629; SAA 35 Lk 234; SAA 35 Lm 323; SAA 35–26 Lf 629; SAA 35–39 Lm 323; SAA 35– 63 Lt 168; SAA 36 Ld 184; SAA 49 La 150; SAA 49 La 581; SAA 49 Lb 441; SAA 49 Lb 457; SAA 49 Le 526; SAA 49 Lp 989; SAA 48 Ls 60; SAA 49 Ls 163–166; SAA 49 Ls 172–175; SAA 49 Ls 478; SAA 50 Ls 238; SAA 51 Lb 563; SAA 55 Le 178; SAA 60 Lc 752; SAA 60 Ld 276; SAA 60 Lg 965; SAA 61 Lc 710; SAA 61 Lc 711; SAA 61 Le 810; SAA 61 Lf 632; SAA 61 Lm 854; SAA 61 Lp 788; SAA 68 Lf 112; SAA 68Li 80; SAA 68 Li 141; SAA 68 Li 153. Bildarchiv: A 10; A 158; A 397; A 761; A IV; C II; EB III 266; EB III 268; EB III 269; EB IV 724; EB VII 2; FS I 27. Hafeneder, theodor: Das Haus Siemens in der weltwirtschaftskrise, 4 Bände. Ein Beitrag zur wirtschaftsgeschichte der Siemens Aktiengesellschaft. Großhesselohe 1969. Siemens Archiv: Hermann Görz 1861–1930. Erinnerungsschrift. München 31.1.1961. Siemens Archiv: Leistungen des Hauses Siemens. ohne ort und undatiert. Siemens-Geschäftsberichte. Durchgesehene Jahrgänge: 1918–1938. Unternehmensinterne Datenbank mit Kurzbiographien der Mitarbeiter.
Quellen- und Literaturverzeichnis
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Unternehmenszeitschriften: Seit 1919: „wirtschaftliche Mitteilungen aus dem Siemens-Konzern“. Seit 1921: „Siemens-Zeitschrift“. Durchgesehene Jahrgänge: 1919–1944.
Bestände des russischen Staatlichen wirtschaftsarchivs (Rossijskij Gosudarstvennij Archiv Ėkonomiki, RGAĖ) Bestand des Volkskommissariats für Außenhandel (Narodnyj Komissariat Vnešnej Torgovli, NKVt, Fond 413) Bestand der Staatlichen Kommission für die Elektrifizierung russlands (Gosudarstvennaja Komissija po Ėlektrifikacii Rossii, GoĖLro, Fond 5208) Bestand des Volkskommissariats für Handel (Narodnyj Komissariat Torgovli, Fond 5240) Bestand der Allsowjetischen Vereinigung für den Import der Industriegüter, rohstoffe und Halbfabrikate für die Elektroindustrie und die Elektrifizierung. (Vsesojuznoe Ob’edinenie po Importu Oborudovanija, Syrja i Polufabrikatov dlja Ėlektropromyšlennosti i Ėlektrostroitel’stva, Ėlektroimport, Fond 8340)
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Kandler, Georg 156, 157 (Anm.), 182 (Anm.), 196, 213, 258, 262, 263, 264, 265, 291, 295 (Anm.), 296, 298 Kissmann, Joine 232 (Anm.), 262, 263, 264, 313 (Anm.) Klasson, r. E. 86, 105, 106 (Anm.), 313, 317 Korostaševskij, I. E. 172, 184, 189, 284 Köttgen, Carl 143, 152 (Anm.), 153, 158 (Anm.), 179, 181 (Anm.), 197 (Anm.), 213, 214, 215, 216, 217, 232, 233, 234, 237, 238, 287, 288 (Anm.), 292, 293, 300, 301 (Anm.), 314, 315, 337, 352 Krasin, L. B. 78, 86, 88, 89, 90, 91, 95, 96, 100, 105 (Anm.), 107, 108, 109, 110, 111, 112, 113, 114, 116, 118, 119, 120, 122, 124, 126, 127, 128, 129, 130, 132, 134, 137, 141, 145, 146, 147, 148, 149, 150, 155 (Anm.), 158 (Anm.), 163, 165 (Anm.), 166, 171, 254, 255 (Anm.), 256, 257, 261, 270, 274, 275 (Anm.), 276 (Anm.), 278, 279, 280, 281, 288, 289, 291 (Anm.), 294, 300 (Anm.), 303, 304, 312, 314, 317, 318, 340, 341, 342, 343, 344, 345, 347, 351, 355 Krestinskij, N. N. 138, 287 Kržižanovskij, G. M. 86, 132, 133, 291 Lenin 18, 92 (Anm.), 93, 94, 95, 100, 108, 109, 110, 112, 119, 130, 132, 133 (Anm.), 134, 143, 146, 150, 152, 187, 220, 331, 343, 345 Ljubimov, I. E. 233 (Anm.), 288 (Anm.) Maltzan, Ago von 99, 135, 289 Melchers, robert 155, 156, 160, 161, 162, 163, 164, 166, 168, 251, 258, 259, 260, 261, 262, 266 (Anm.), 267, 268, 279, 314 Mikojan, A. I. 168, 171, 189 (Anm.), 191, 192 (Anm.), 285 (Anm.), 291 ordžonikidze, G. K. 215, 216 Papen, Franz von 205, 206, 209, 239 Pjatakov, G. L. 164, 208, 216 (Anm.), 232, 234 rathenau, walter 36 (Anm.), 99, 101, 121, 122, 135, 136 (Anm.), 137, 139, 290 (Anm.)
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register
reyß, Hermann 15, 153, 154 (Anm.), 179, 184, 186, 198, 199 (Anm.) 213, 221, 232, 233, 234, 235, 238 (Anm.), 244, 245 (Anm.), 262, 264, 265, 266, 267, 284, 285 (Anm.), 297, 299, 315 (Anm.), 316, 361 Schlesinger, Moritz 78, 99, 101, 178 Schwartz, Alfred 85 (Anm.), 88, 89 (Anm.), 90 (Anm.), 105, 108, 113, 126, 150, 151, 154, 165, 167, 258, 270 (Anm.), 271, 317, 318 Schwartz, Edgar 108, 182, 258, 259, 263, 319 Schwichtenberg, Hugo 177, 178, 196, 197 (Anm.), 262, 263, 264, 267 (Anm.), 298, 319, 322 (Anm.) Siemens, Carl Friedrich von 85 (Anm.), 88 (Anm.), 91, 92, 103, 111 (Anm.), 114, 122 (Anm.), 123, 128 (Anm.), 140 (Anm.), 153, 157 (Anm.), 158 (Anm.), 160 (Anm.), 162 (Anm.), 164, 166, 167, 168, 210, 214, 224, 238 (Anm.), 250, 251, 252, 253, 259, 261, 266, 267, 268, 271, 272, 274, 275, 280, 281, 286, 287, 288 (Anm.), 290, 291, 292, 293 (Anm.), 294, 296, 297, 298
(Anm.), 299 (Anm.), 300, 302, 303, 332, 334, 335, 347 Simons, walter 112, 119 (Anm.), 288, 290, 291, 292, 302, 342 Stalin 26, 95 (Anm.), 130, 170, 171, 193, 200, 203, 226, 269, 331 Stinnes, Hugo 3, 99, 100, 107 (Anm.), 136 (Anm.), 140, 149, 154, 155, 156, 256, 315 (Anm.), 365 Stomonjakov, B. S. 86, 88, 89 (Anm.), 122 (Anm.), 147, 148, 152, 156, 164, 165, 166, 167, 168, 260, 280, 281, 303, 343 (Anm.) Stresemann, Gustav 98 (Anm.), 112, 172, 173, 174, 176, 204, 205, 348, 360, 363 trockij, L. D. 100, 110, 129, 130, 133, 169. 170, 200 warmbold, Hermann 237, 238, 293 weicer, Israel 233, 238, 287, 288 wirth, Joseph 135, 152, 153 wolff, otto 33,99, 137, 154, 155, 156 212, 215, 275, 300, 325, 365
2 orGANISAtIoNEN Allgemeine Electricitäts-Gesellschaft (AEG) 33, 36 (Anm.), 37, 81, 82, 84, 85, 89, 97, 99, 103, 106, 112, 120 (Anm.), 136, 137, 139, 140, 144 (Anm.), 154, 156 (Anm.), 166, 178, 185, 186, 188, 190, 191, 192, 193, 194, 195, 196, 210, 214, 231, 232, 237, 254, 275, 282, 293, 299, 300, 302, 315, 330 (Anm.), 331 (Anm.), 335, 336, 337, 340, 352, 355, 365 Auswärtiges Amt 31, 78, 79, 85, 91 (Anm.), 97, 98, 99, 100, 107, 114, 115, 135, 136, 138, 139, 142, 145, 174, 178, 195, 275 (Anm.), 288, 289, 290, 291, 292, 294, 295, 302, 316 (Anm.), 334 Brown Boveri & Cie. (BBC) 37, 190, 191, 223, 232, 335 (Anm.), 337, 338 (Anm.), 340 Direktionsausschuss für russland (im Unternehmen Siemens) 15, 160, 178, 183, 197 (Anm.), 266, 267, 268 Deutsche Bank 115 (Anm.), 139, 144 (Anm.), 174, 175, 177, 178, 179, 207, 208, 254 Deutsch-russischer Verein zur Pflege und Förderung der gegenseitigen Handelsbeziehungen 107, 144 (Anm.), 211, 212, 294, 295, 296
Dneprostroj 181 (Anm.), 220, 221, 222, 223, 235, 273, 287, 337, 352 Ėlektroimport 76, 172, 184, 185 (Anm.), 188, 189, 190, 191, 194, 203, 218 (Anm.), 227, 228, 281, 282, 283 (Anm.), 284, 285, 286, 304, 330, 339 (Anm.) Ericsson 37, 151, 165, 181, 182, 185, 188, 300, 302 General Electric 37, 89, 103, 151, 154 (Anm.), 176, 188, 210, 214 (Anm.), 221, 222, 223, 230, 235, 285, 300, 301, 336, 346 Gesellschaft für elektrische Beleuchtung vom Jahre 1886 (Lichtgesellschaft) 84f., 85, 105, 109, 313 Glavėlektro 132, 133, 148 (Anm.), 156, 158 (Anm.), 164, 172, 285 (Anm.) Glavnyj Koncessionyj Komitet (Glavkonzesskom, Hauptkonzessionskomitee) 150, 152 (Anm.), 185 (Anm.), 221 Gosudarstvennyj Ėlektrotechničeskij trest (GĖt, Staatlicher Elektrotechnischer trust) 132, 172, 185, 186 (Anm.), 330 (Anm.), 331 (Anm.) Gosudarstvennaja Komissija po Ėlektrifikacii rossii (GoĖLro, Staatliche Kommission
register zur Elektrifizierung russlands) 18, 26, 76, 86, 105 (Anm.), 132, 133, 141, 156, 187, 201, 220, 274, 290, 291, 302 Gosudarsdvennaja obščeplannovaja Komissija (Gosplan, Staatliche Allgemeine Planungskommission) 133, 201 Handelsvertretung (der Sowjetunion in Berlin) 45 (Anm.), 77, 78, 80 (Anm.), 86, 137, 139, 141, 145, 146, 147, 148, 149 (Anm.), 152, 153 (Anm.), 155 (Anm.), 156, 157 (Anm.), 158 (Anm.), 159 (Anm.), 160, 162, 164, 165, 167, 168, 171, 172, 174, 177, 181 (Anm.), 182, 185, 189, 190, 192, 194, 196, 197, 198, 214 (Anm.), 216 (Anm.), 218 (Anm.), 222, 223, 224 (Anm.), 227, 228, 229, 230, 231, 232 (Anm.), 233, 234, 238, 258, 259, 262, 263, 279, 280, 281, 282, 283, 285, 287, 288, 294, 296, 298, 299, 304, 319, 320, 321, 322, 323, 334, 336, 338, 339, 345, 349, 351, 352, 366 Industrie-Finanzierungsgesellschaft-ost (IFAGo) 178, 179, 198, 208, 237, 244, 298, 325, 352, 263 Krupp 33, 137, 138, 139, 154, 166, 178, 215, 216 (Anm.), 275, 294, 325, 366 Magnitostroj/Magnitogorsk 185 (Anm.), 201, 217, 218, 220, 229, 230, 235, 337, 338 (Anm.), 340, 352 Marconi wireless 121, 151, 165, 300, 302 Metrostroj/Metro Moskau 218, 223, 224, 225, 226, 287, 317, 331 Mologa-Konzession 152, 153, 195, 352 Narodnyj Komissariat Vnešnej torgovli (NKVt, Volkskommissariat für Außenhandel) 17, 76, 96, 141, 146, 147, 149, 150, 171, 184, 203, 281, 345 Narodnyj Komissariat torgovli (Narkomtorg, Volkskommissariat für Handel) 17, 76, 158 (Anm.), 171, 172, 181 (Anm.), 189 (Anm.), 190, 191, 203, 222 (Anm.), 282, 283, 285, 286, 287, 291, 339 (Anm.) osram 140, 155 (Anm.), 183 reichsverband der Deutschen Industrie (rDI) 79, 143, 144, 193, 211, 212, 214 (Anm.), 215 (Anm.), 216 (Anm.), 236, 253 (Anm.), 275, 296, 297, 298, 299, 302, 334 (Anm.) reichswehr 32, 99, 101, 134, 137, 242, 293, 294, 363 (Anm.)
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reichswirtschaftsministerium/reichswirtschaftsamt 99, 107, 123, 145, 237, 289, 292, 293, 298, 302 Aktiengesellschaft russische Elektrotechnische werke Siemens & Halske (rEw S&H) 85, 87, 88, 89, 90, 105 (Anm.), 106, 108, 115, 116, 117, 118, 254, 256, 258, 261, 270 (Anm.), 271 rote Armee 93, 99, 101, 110, 112, 124, 125, 127, 129, 137, 242, 286, 293, 294 russische Aktiengesellschaft Siemens-Schuckert (rSSw) 85, 88, 89, 90, 91, 104 (Anm.), 105, 106, 109, 111, 115, 116, 117, 118, 254, 258, 261, 270 (Anm.), 271, 313, 341 russlandausschuss der Deutschen wirtschaft 15, 21 (Anm.), 33, 79, 193, 207, 211, 212, 213, 214, 216, 217, 233, 234, 236, 239, 289, 290 (Anm.), 294, 295, 296, 297, 337 (Anm.), 340, 352, 355, 361, 363 Siemens-Bauunion (SBU) 140, 152, 153, 160, 181, 195 (Anm.), 218, 219, 220, 221, 223, 224, 225, 226, 245, 283 (Anm.), 287, 316, 317 tB ost (im Unternehmen Siemens) 76, 128 (Anm.), 129, 148 (Anm.), 154, 155, 156, 158, 159, 160, 162, 167, 177, 178, 180, 181, 182, 184, 185, 191 (Anm.), 195, 196, 208 (Anm.), 210, 211, 213, 218 (Anm.), 219, 220 (Anm.), 220 (Anm.), 223 (Anm.), 227, 229 (Anm.), 231 (Anm.), 235 (Anm.), 236, 238, 243, 244, 245, 246, 256, 257, 258, 259, 262, 263, 264, 265, 266, 267, 268, 271, 276, 283, 284 (Anm.), 285, 287 (Anm.), 291, 298, 300, 312, 313, 316, 319, 322, 323, 336, 337, 338 (Anm.), 339, 350 (Anm.), 351, 352, 366 telefunken 112, 185, 188, 294 Verband russischer Großkaufleute, Industrieller und Financiers 107, 162, 165 Vysšij Sovet Narodnogo Chozjajstva (VSNCh, oberster Volkswirtschaftsrat) 94, 131, 132, 133 westinghouse 37, 103, 176, 188, 210, 230, 235, 301, 336 Zentralverband der Deutschen Elektrotechnischen Industrie (ZVEI) 97, 107, 123 (Anm.), 196, 198, 199, 211, 227, 297, 298, 299, 302
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register
3 SACH- UND ortSrEGIStEr 300-Millionen-reichsmark-Kredit (von 1926) 178, 179, 180, 181, 192, 193, 196, 199, 207, 234, 236, 298, 348, 352, 362 Agrarwirtschaft (deutsche, und deren politische Interessenvertretung) 24, 137, 204, 205, 206, 208, 239, 293, 363 Agrarwirtschaft (sowjetische, und Kollektivierung) 96 (Anm.), 131, 134, 200, 201, 207, 269, 309 Ausfallbürgschaft 34, 178, 179, 180, 181, 192, 196, 197, 198, 199, 207, 208, 210, 216, 217, 236, 237, 238, 242, 245 (Anm.), 281, 293, 297, 298, 323, 324, 348, 349, 350, 352, 362, 363, 364 Außenhandelsmonopol 29, 45, 65, 72, 95 (Anm.), 96 (Anm.), 102 (Anm.), 110, 119, 130 (Anm.) 141, 143, 145, 146, 147, 166, 172, 175, 182, 188, 193, 203, 211, 212, 236, 264, 265, 275, 276, 281, 283, 285, 302, 303, 308, 309, 322, 325, 329, 330, 331, 332, 333, 334, 335, 338, 340, 345, 346, 347, 355, 364, 365 Berliner Vertrag (vom 24. April 1926) 19, 169, 175, 176, 179, 207, 240, 242 Brest-Litovsk (Vertrag vom 3. März 1918) 19, 20, 25, 31, 32, 34, 36, 38, 39, 87, 91, 92, 97, 99, 100, 101, 110, 111, 113, 114, 124, 127, 289, 297, 329, 358, 359, 360, 361,,364 Eisenbahn-technik 84 (Anm.), 152, 158, 181, 218, 222, 223 (Anm.), 245, 316, 317, 337, 338 (Anm.), 340, 366 Ergänzungsvertrag von Brest-Litovsk (vom 27.8.1918) 87, 91, 100, 101, 115, 127, 288, 343 Erster weltkrieg 18, 19, 22, 23, 25, 28, 31, 32, 34, 38, 43, 44, 71, 73, 82, 83, 85, 86, 87, 88, 89 (Anm.), 90, 93, 95 (Anm.), 96, 102, 103, 104, 109, 111, 117, 138, 148, 160, 171, 176, 187, 188, 205, 223, 251, 253, 258, 261, 270, 272, 274, 297, 329, 336, 341, 360 Fünfjahresplan, erster 18, 26, 27, 133, 140, 170, 185, 194, 199, 200, 201, 202, 203 (Anm.), 207, 210, 217, 218, 220, 223, 234, 235, 238, 241, 243, 253, 269, 270, 284, 301, 308, 331, 337, 349, 352 Fünfjahresplan, zweiter 26, 27, 241, 242 Gemischte Gesellschaft 149, 154, 155, 156, 159, 161, 162, 163, 164, 166, 167, 345 (Anm.), 346
Hitler-Stalin-Pakt 19, 20, 32, 243, 245, 353, 361 Kartell 302, 331 (Anm.), 336, 337 (Anm.), 339 Kašira 157, 180, 220, 227, 228, 229, 230, 318, 320, 321, 322 Konzession 96, 112, 113, 114, 118, 119, 120, 121, 127, 134, 137, 142, 149, 150, 151, 152, 153, 154, 159, 162, 163, 165, 166, 168, 181, 182, 185, 186, 188, 189, 197, 260, 275, 303, 308, 318, 325, 330, 344, 346, 349, 350, 351, 352 Kraftwerk 140, 152, 156, 157, 179, 180, 181, 201, 202, 218 , 219, 220, 221, 227, 228, 235, 245, 273 (Anm.), 320, 321 (Anm.), 352 Kreditgeschäft 122, 178 (Anm.), 179, 190, 208, 210, 236, 324, 325, 345 Lieferbedingungen 196, 213, 227, 228, 234, 267, 298, 319, 320, 322, 325, 335 (Anm.), 338 Moskauer Protokoll (vom 21. Dezember 1928) 206, 207 Nationalisierungsdekret (vom 28. Juni 1918) 94, 113, 115, 116, 256, 326 Novaja Ėkonomičeskaja Politika (NĖP, Neue Ökonomische Politik) 28, 129, 130f., 131, 134, 136, 143, 146, 156, 169, 170, 174, 200, 269, 270, 275, 308, 314, 325, 330, 331 ost-Express (Zeitschrift) 104, 143, 144, 145 (Anm.), 213, 223 (Anm.), 316 ostwirtschaft (Zeitschrift) 144 (Anm.), 145, 212, 295, 316 Pjatakov-Abkommen (erstes, vom 14. April 1931) 208, 217, 232, 236, 237, 238, 243, 293, 297, 298, 325, 348, 364 Pjatakov-Abkommen (zweites, vom 15. Juni 1932) 208, 217, 229, 234, 237, 238, 239, 243, 293, 297, 298, 348 Preisabsprache 336, 337, 338 (Anm.) rapallo (Vertrag vom 16. April 1922) 19, 20, 29, 30, 32, 33, 38, 118, 123, 129, 135, 136, 138, 139, 173, 174, 175, 176, 193, 195, 240, 241, 242, 275 (Anm.), 362 (Anm.) reparationen 19 (reparationenfrage), 135 (reparationenzahlungen/-frage), 138 (reparationenforderungen), 139 (reparationenzahlungen), 173 (reparationenzahlung), 205 (reparationenzahlungen), 208 (reparationspolitische Gründen, reparati-
register onsgläubiger), 237 (reparationspolitische Gründe) revisionspolitik 19, 20, 24, 31, 36 (revisionsziele), 99, 136, 173, 205, 348 (revisionspolitische Ziele) Šachty-Prozess 192, 193, 194, 195, 212, 345, 352 Šatura 157, 180, 220 Suram-Pass-Bahn 222, 223 (Anm.), 284, 338 (Anm.) technischer Hilfsvertrag 149, 150, 181, 183, 184, 185 (Anm.), 187, 221 (Anm.), 235, 346 telefon-technik 88, 129, 151, 157, 158, 181, 182, 291 (Anm.)
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Versailler Vertrag 18f., 19, 98, 102, 103, 127, 134, 135, 140, 173, 176, 251, 294, 363 Vorläufiges Abkommen (vom 6. Mai 1921) 137, 141, 148, 279 wirtschaftsabkommen (vom 12. oktober 1925) 169, 174, 175, 176, 193, 196, 197, 212, 227, 230, 236, 274 (Anm.), 297, 298, 319, 322, 334, 335 Zahlungsbedingungen 149, 216, 231, 235, 264, 298, 299, 319 (Anm.), 322, 325, 335, 338 Zemo-Avchalsk/Zemo-Avčaly (Kraftwerk von) 219, 220 Zweiter weltkrieg 20, 23, 24, 29, 32, 38, 212, 361, 366, 367
»Kommunismus – das ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes.« Dieser Leitspruch Lenins war eine Grundlage dafür, dass nur wenige Jahre nach der Oktoberrevolution das kapitalistische Unternehmen Siemens Telefonanlagen, Generatoren, elektrische Motoren und zahlreiche weitere elektrotechnische Produkte an den sozialistischen Staat liefern konnte. Anhand des Fallbeispiels Siemens untersucht Martin Lutz, welchen Stellenwert der Faktor Wirtschaft in den deutsch-sowjetischen Beziehungen zwischen 1917 und 1933 einnahm. Grundlage der Analyse ist ein erweiterter institutionentheoretischer Ansatz, der den Einfluss von Ideologie auf begrenzt rationale Akteure empirisch erfassbar macht. Das Ergebnis zeigt, dass die Wahrnehmung von Unsicherheit und Misstrauen das Sowjetgeschäft von Siemens maßgeblich beeinflussten.
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ISBN 978-3-515-09802-1
9 7 83 5 1 5 09802 1