Siegfried Schubenz: Initiativen und Perspektiven [1 ed.] 9783737010801, 9783847110804


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Siegfried Schubenz: Initiativen und Perspektiven [1 ed.]
 9783737010801, 9783847110804

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ppt – Schriften zur Psychotherapie

Band 1

Herausgegeben vom Institut für Psychologische Psychotherapie und Beratung Berlin e.V.

Lars Hauten / Thomas Nölle / Tobias Fenster (Hg.)

Siegfried Schubenz Initiativen und Perspektiven

Mit 16 Abbildungen

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber https://dnb.de abrufbar.  2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung:  Sebastian Proll Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2699-8092 ISBN 978-3-7370-1080-1

Inhalt

Vorwort der Herausgeber

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Siegfried Schubenz Psychotherapie oder (Pädagogisch-)Psychologische Therapie . . . . . . .

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Rainer Brockmann Siegfried Schubenz als Hochschullehrer : Studying by doing . . . . . . . .

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Roland Geckle Vermächtnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Rainer Brockmann Siegfried Schubenz privat: Ein PS und gern auch ein paar mehr

. . . . .

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Henning Siemens Erinnerung an Siegfried Schubenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Thomas Nölle Psychische Störung als Beziehungsgeschehen . . . . . . . . . . . . . . . .

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Monika Schlösser Die wechselseitige Bezogenheit im therapeutischen Prozess und das gemeinsam gestaltete Dritte. Gedanken zur Bedeutung der therapeutischen Beziehung im Konzept von Siegfried Schubenz und in der neueren Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Lars Hauten Schubenz 2.0 – Gedanken zum 10. Todestag von Prof. Siegfried Schubenz

91

6 Roland Geckle Zur Bedeutung der therapeutischen Beziehung in der Verhaltenstherapie

Inhalt

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Ariane Mossakowski Wer sind wir, das ppt? Bericht über die Tätigkeit des »Arbeitskreises Konzeption und Kooperation« (2014/2015) . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Roland Geckle Ausbildung im Verfahrensdialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Lars Hauten Medizin und Psychologie – quo vadis, Psychotherapie? . . . . . . . . . . 125 Lutz Gawe Von Projekten, Methoden, Medien und Mediatoren in den Anfängen der Pädagogisch-Psychologischen Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 Wolfgang Nutt / Eva Menschik Siegfried Schubenz und das Legasthenie-Zentrum Berlin . . . . . . . . . 153 Angelika Papke / Sabine Hanneder Das Pferdeprojekt der FU Berlin – Der Einsatz von Pferden als Medium in der Psychotherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Siegfried Schubenz »Ohne Sympathie keine Heilung.« Oder : Die Fragmentierung der Beziehungsarbeit in der pädagogischen, medizinischen und psychologischen Versorgung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

Vorwort der Herausgeber

Dieses Buch ist das erste in einer Reihe, die regelmäßig erweitert werden soll. Thematisches Zentrum der Reihe soll die Psychotherapie sein, hier aber nicht allein neue Behandlungstechniken oder Störungstheorien. Vielmehr soll Psychotherapie als soziale und heilkundliche Praxis auch in ihrem gesellschaftlichen Umfeld sichtbar werden – wie es seit seiner Gründung zum Selbstverständnis des »Instituts für Psychologische Psychotherapie und Beratung« (ppt) gehört. Seit über 30 Jahren wird am ppt Psychotherapie stets mit Blick auf ihren gesellschaftlichen Kontext erlernt und gelehrt: zunächst mit einem strikt integrativen Ansatz, der behaviorale, systemische, gestalt- und gesprächspsychotherapeutische sowie psychodynamische Aspekte beinhaltete; dann – seit der Einführung des Psychotherapeutengesetzes 1999 – in enger Verzahnung von Verhaltenstherapie (VT) und Tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie (TP) in zwei Ausbildungsgängen. Da die mit dem Psychotherapeutengesetz geregelten Bedingungen, unter denen unsere Ausbildung stattfindet, jedoch zu wenig Raum für eine gesellschaftliche Auseinandersetzung bieten, fiel der Entschluss, das Curriculum des Instituts um eine Veranstaltung zu erweitern, die sich diesen Aspekten zuwendet: das »Offene Forum Psychotherapie«. Die hier gehaltenen Vorträge und Veranstaltungen sowie auch weitere Artikel und Essays aus dem Kreis der Dozentinnen und Dozenten und interessierten Fachöffentlichkeit sollen die Grundlage der weiteren Bände dieser Reihe bilden.1 Dieser erste Band widmet sich dem Institutsgründer Prof. Dr. Siegfried Schubenz (1933–2007). An seinem 10. Todestag im Jahr 2017 würdigten wir ihn und sein Wirken mit einer Gedenkveranstaltung. Neben sehr originellen Ideen, die er während seiner Laufbahn als Universitätslehrer und -forscher entwickelte, 1 In den folgenden Beiträgen werden abwechselnd das generische Maskulinum und das generische Femininum verwendet. Wir sind uns bewusst, dass wir die Geschlechtervielfalt mit diesem Vorgehen nicht abbilden können, hoffen aber, im Sinne der Gendergerechtigkeit eine kompromisshafte Annäherung gefunden zu haben.

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Vorwort der Herausgeber

besaß er eine herausragende Fähigkeit, andere – Kolleginnen und Kollegen, Studentinnen und Studenten, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – zu inspirieren und zu begeistern. Schubenz verstand es, Menschen zu ermutigen, neue Wege zu gehen, der psychotherapeutischen Praxis neue Felder zu erschließen und auch in der Theorie über die Tellerränder der Psychotherapie-Schulen zu blicken. Eine, aber keineswegs die einzige, der Gestalt gewordenen Inspirationen von Siegfried Schubenz ist das Institut für ppt. Im Selbstverständnis und in der Praxis des Instituts gewannen seine Ideen Form und Inhalt. Dies wird zum einen daran deutlich, dass für die Behandlungen der Aspekt der therapeutischen Beziehung im Fokus steht; zum anderen daran, dass die enge Bezogenheit aller Beteiligten aufeinander fest in der Lern- und Lehrstruktur des Instituts verankert ist. Denn eine stabile Identität, schon gar eine psychotherapeutische, lässt sich nicht auf Vereinzelung, sondern nur auf soziale Bezogenheit gründen. Auch dies ist eine zentrale Einsicht, die Schubenz’ Schaffen – in Form seiner Schriften und Lehrtätigkeit, aber auch in seinem praktischen Wirken – immer wieder zum Ausdruck bringt. Zu Beginn und zum Ende des vorliegendes Bandes kommt Siegfried Schubenz selbst zu Wort. Ausgewählt wurden eine programmatische Schrift und ein Vortrag, die sich auf unterschiedliche Weise dem Thema der Psychotherapie, der therapeutischen Beziehung und dem von ihm entwickelten Störungs- und Heilungsrational widmen. In einer Zeit, in der sich durch die Novellierung des Psychotherapeutengesetzes ein technokratisches Verständnis von Psychotherapie durchzusetzen droht, sind diese Schriften von ungebrochener Aktualität. Die Schriften von Siegfried Schubenz lassen sich oft nicht leicht lesen. Häufig bleiben seine Begriffsbestimmungen vage, sein Schreibstil lässt viel Raum für Interpretationen. Dieser für wissenschaftliche Publikationen eher unübliche, gar irritierende Schreibstil ist aber gleichzeitig Ausdruck der oben bereits beschriebenen und von vielen Autorinnen und Autoren dieses Bandes immer wieder herausgestellten Fähigkeit von Schubenz, bei seinem Gegenüber Neugier zu wecken, Spielräume zu eröffnen, Eigeninitiative zu fördern und zu tätigem Probieren anzuregen. In diesem Sinne sind seine Schriften keineswegs vage, sondern klar und eindeutig: Sie legen nichts fest, stellen aber eine Provokation dar, die zum Innehalten und Weiterdenken auffordert. Innerhalb dieses Rahmens haben wir Beiträge von Autorinnen und Autoren versammelt, die Schubenz in unterschiedlichen Zusammenhängen und Phasen seines Lebens kennengelernt haben. Diese Beiträge zeigen die Multiperspektivität, den Facettenreichtum und die Kreativität von Schubenz’ Wirken auf: – Rainer Brockmann spannt in zwei Texten einen Bogen zwischen der Privatperson und dem Professor. Als langjähriger beruflicher Wegbegleiter von Schubenz verleiht uns Brockmann einen Einblick in das Zusammenspiel von beruflichem Schaffen und persönlichem Werden.

Vorwort der Herausgeber

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– Roland Geckle legt dar, wie aus einer sehr persönlichen Begegnung fundamentale Einsichten in die Behandlungstechnik generiert werden können. In einem weiteren Text legt Geckle das Konzept des »Verfahrensdialogs« aus, wie es innerhalb des Instituts für ppt als Selbstverständnis konsentiert ist. In einem dritten Text formuliert er seine Überlegungen zu einer Verhaltenstherapie, in der der gemeinsame Beziehungs- und Entwicklungsprozess von Therapeutin/Therapeut und Patientin/Patient die Grundlage psychotherapeutischen Handelns darstellt. – Henning Siemens lässt uns teilhaben an seinen Erinnerungen an Siegfried Schubenz. Es werden die wichtigen Entwicklungsanstöße, die Schubenz mit Blick auf die »Legasthenie« gab, in ihrem zeithistorischen und persönlichen Kontext nachvollziehbar. – Wolfgang Nutt und Eva Menschik beschäftigen sich mit der gleichen Thematik, den von Schubenz mitgegründeten Legasthenie-Zentren. Aus einer historischen und politischen Perspektive heraus wird einfühlsam verdeutlicht, wie Siegfried Schubenz auf die psychosoziale Versorgung Berlins produktiv Einfluss nahm. – Thomas Nölle greift in seinem Text das zentrale Konzept der therapeutischen Beziehung auf und vertieft es aus der Perspektive einer gegenwärtigen und zukunftsfähigen verfahrensdialogischen Psychotherapie. – Monika Schlösser schildert ebenfalls ihre persönlichen Erfahrungen mit Schubenz in Verbindung mit theoretisch-konzeptionellen Überlegungen zum Schubenzschen Beziehungskonzept in Kombination mit der relationalen Psychoanalyse. – Lars Hauten untersucht in zwei Texten, auf welche Weise Schubenz’ theoretische Grundannahmen und die am Institut für ppt vorliegende Struktur für eine zukünftige Weiterentwicklung der Psychotherapie genutzt werden können. – Ariane Mossakowski macht einen Prozess der Selbstverständigung des Institutes transparent. Es wird die Arbeit eines institutsinternen Arbeitskreises dargestellt, was zugleich einen Blick in die Entwicklungsstrukturen des Instituts für ppt erlaubt. – Lutz Gawe gibt uns einen Einblick in die gesellschaftspolitischen Hintergründe, auf deren Boden Schubenz seine Projekte »pflanzte«. Die pädagogisch-psychologische Psychotherapie wird dadurch in ihrem politischen Anspruch erkennbar, ebenso wie Schubenz’ Einsatz von Tieren als Mediatoren in der Behandlung. – Dem »Pferdeprojekt« widmen sich auch Angelika Papke und Sabine Hanneder. Auf eindrückliche Weise werden hier die theoretischen Grundlagen der Mensch-Tier-Beziehung vor dem Hintergrund der persönlichen Entwicklung von Projekten sichtbar.

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Vorwort der Herausgeber

Siegfried Schubenz lebt in diesem Band nicht allein in den beiden von ihm verfassten Beiträgen, sondern auch in der Vielgestaltigkeit der weiteren Beiträge. Es wird ein Bogen gespannt von der Vergangenheit in die Zukunft: Was war psychologische Therapie? Was ist sie heute? Was könnte sie werden? Und vor diesem Hintergrund ein zweiter zur Frage: Was sollte psychologische Psychotherapie sein? Die hier gesammelten Beiträge und Blickwinkel auf sein Schaffen zeigen damit, dass Siegfried Schubenz (nach-)wirkt: durch seinen kritischen Geist, durch seine Initiativen und Perspektiven. Berlin, Januar 2020 T. Fenster, L. Hauten, T. Nölle

Siegfried Schubenz

Psychotherapie oder (Pädagogisch-)Psychologische Therapie1

Psychotherapie ist kein Äquivalent zu spezifischen medizinischen Heilverfahren, die als unterschiedliche technologische Settings verstanden werden können, sondern sie verweist auf ein anderes Paradigma des Heilens, das allen gegenwärtigen medizinischen Versuchen des Heilens gegenübersteht. Da sich aber im Verlaufe der jüngeren Geschichte des Gesundheitswesens dieser Begriff durch die historische Weiterentwicklung und Differenzierung selbst in die Nähe von psycho-technischen Einzelverfahren bewegt hat, die an ihrer Oberfläche untereinander keine verbindende Einheit erkennen lassen, erscheint es mir geboten, aus der wissenschaftlichen Position heraus nach dem Verbindenden unter den unterschiedlichen Ansätzen zu fragen, die zusammen dieses neue Paradigma verkörpern. Ich tue das auch hier unter Verwendung des Begriffs, der die Einheit betont, dem der »Psychologischen Therapie«. Der besondere Begriff, unter dem wir über lange Zeit an der lokalen Entwicklung teilgenommen haben, heißt »Pädagogisch-Psychologische Therapie« (PPT). Dieser ist aber nur eine Feindifferenzierung des Begriffs »Psychologische Therapie«, auf dessen Nähe zu besonders ausgestalteten Erziehungsprozessen damit hingewiesen werden soll. PPT ist der Name für einen Integrationsansatz, dessen theoretische und methodische Anteile am Psychologischen Institut der Freien Universität2 und 1 Das Manuskript wurde den Herausgebern der neuen Rechtschreibung angepasst und leicht gekürzt. 2 Das Psychologische Institut wurde nach der Teilung der Psychologie an der Freien Universität Ende 1970 und in der selbst gewählten Zuordnung zum damaligen Fachbereich 11, in dem sich die Philosophie, die Sozialwissenschaften und einige geisteswissenschaftliche Fachrichtungen zusammengefunden haben, der Ort, an dem in einem weitreichenden Konsens Psychologie in kritischer Grundhaltung als Sozialwissenschaft gelehrt, erforscht und in der Praxis eingesetzt und überprüft wurde. Besonders die ersten Jahre der kooperativen Arbeit am Psychologischen Institut haben ein neues Verständnis von der Psychologie als Wissenschaft von Menschen ermöglicht, die unter anderem oft in selbst nicht mehr weiter tragbaren gesellschaftlichen Verhältnissen leben und in diesen Situationen Veränderungen erleiden, die Krankheitswert haben. Der gesamte hier genannte Zusammenhang ist als eine wesentliche Grundlage in das Konzept der Pädagogisch-Psychologischen Therapie eingegangen. Das Psychologische Institut und seine Gegengründung, das Institut für Psychologie, wurden am 01. 04. 1995 auf-

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dessen institutionell-praktische Anteile in den großen Einrichtungen Berlins3 entwickelt wurden, die seit Anfang der 1970er Jahre Therapie bei drohender oder eingetretener psychosozialer Entwicklungsbehinderung anboten und damit Kindern aus Familien zu helfen versuchten, für die ein Anspruch der Finanzierung dieser Betreuung nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG) oder heute nachrangig nach dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) (§ 39 und folgende) festgestellt werden konnte. Erste Fassungen dieses Konzeptes standen noch unter der Bezeichnung »Legasthenie-Therapie«. In der Auseinandersetzung mit der allgemein als Legasthenie bezeichneten schwerwiegenden Beeinträchtigung schulischer Entwicklung und daran gebundener Lebensentwicklung wurde die für uns bis heute gültige und im Namen des Konzepts verankerte besondere pädagogische Arbeit am Symptom – oder wie es später heißen sollte: die Vorstellung von psychologischer Therapie als einem Erziehungsprozess unter besonders ungünstigen Umständen – ausgearbeitet. Dabei griffen wir auf die Ergebnisse psychologischer Forschung und Theorienbildung in ihrer ganzen Breite zurück. Das wissenschaftliche Material, das sich dabei mit dem in anderen psychologischen Instituten anderer Universitäten deckte, ergab einen Rahmen, aus dem auch die Verhaltenstherapie hervorgegangen ist. Was sich aber darüber hinaus am früheren Psychologischen Institut der Freien Universität hier in Berlin an kritisch-wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit den Gegenständen ergab, unterscheidet das Konzept der PPTvon dem der Verhaltenstherapie in systematischer Weise. Pädagogisch-Psychologische Therapie ist eine in den wissenschaftlichen Forschungsprozess integrierte Variante von Verhaltenstherapie. Sie hat mit ihr die Verankerung in der Grundlagenforschung der akademischen Psychologie gemeinsam. Die besonderen Merkmale menschlichen Seins werden in diesem Konzept als komplexe Ergebnisse sozial organisierter Lern- und Motivationsprozesse begriffen. Entsprechend wird vom Therapieprozess erwartet, dass er soziale Lern- und Motivationsangebote macht, die dem Umfang und der Qualität nach denen entsprechen, die sonst im primären Erziehungsbereich zur Herbeiführung mindestens durchschnittlicher Lebens- und Leistungsfähigkeit führen. Hinausgehend über den Stand der Verhaltenstherapie, die zusammen gelöst und in einem Studiengang Psychologie nach Ausbildungsabschnitten im Fachbereich Erziehungswissenschaft, Psychologie und Sportwissenschaft neu geordnet. 3 Dieser Entwicklungsprozess hat sich in den ersten Jahren im Legasthenie-Zentrum e. V. vollzogen. Er hat sich ab 1976 auf das Kindertherapiezentrum Kreuzberg e. V. erweitert. Beide Praxiseinrichtungen waren Gründungen von Mitarbeitern und Studierenden der Abteilung Kinderpsychotherapie des Psychologischen Instituts. In den sehr entscheidenden Aufbaujahren dieser Theorie-Praxis-Beziehung zwischen 1970 und 1978 durchdrangen sich die wissenschaftlichen und die praktischen Anteile in dieser Zusammenarbeit in fruchtbarer Weise unter der Absicht, Dienstleistung, Ausbildung und Forschung so eng wie möglich aneinander zu binden.

Psychotherapie oder (Pädagogisch-)Psychologische Therapie

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mit dem durchschnittlichen Selbstverständnis der akademischen Psychologie nur ein quantitatives Störungsmodell besitzt, haben wir in den Jahren am PI mit der Vorstellung von der psychosozialen Entwicklungsbehinderung und der Möglichkeit ihrer prinzipiellen Aufhebbarkeit einen qualitativen Ansatz von der Genese psychischer Beeinträchtigungen begründet. Dieser ermöglicht es, zwischen dem psychoanalytischen und tiefenpsychologisch orientierten Ansatz der Entstehung und therapeutischen Überwindung von Neurosen und der Entstehung und Überwindung von im Prinzip allen Graden der Störung der Entwicklung der Persönlichkeit zu vermitteln. Nicht jede beliebige Andersartigkeit des einen gegenüber dem anderen Menschen, sondern die gefährliche Nachwirkung eines psychischen Traumas ist danach der mögliche Ausgangspunkt für die Empfehlung oder den eigenen Anspruch einer psychologischen Therapie, die dann diesen Unterschied aufzuheben hätte. Dieses von Freud dem physischen Trauma gleichgesetzte Prinzip der spezifisch menschlichen lebensgefährlichen Schädigung des eigenen Seins ist im Prinzip das gesellschaftliche Äquivalent der medizinischen Krankheit und schafft oft eben diese (vgl. Freud, XI, S. 284; XV, S. 100; XVI, S. 177). Auch in der individuellen Trägerschaft ist die Äquivalenz zum medizinischen Bereich festzuhalten. Es ist abhängig von der Durchsetzung des gesellschaftlichen Aufklärungsgrades bei dem je einen Individuum, ob es einen an der eigenen Person erfahrenen langsamen oder schnellen Veränderungsprozess als blinde Wirkung des Schicksals sprachlos erduldet – oder ob es angesichts des in jedem Falle als gefährlich erfahrenen eigenen Veränderungsprozesses die gesellschaftliche Solidarität anruft und in der Gestalt der Organisation der Gesundheitsversorgung und des einen Arztes um die Therapie der Krankheit nachsucht. Im Rahmen des Konzepts der Pädagogisch-Psychologischen Therapie gibt es einen diagnostischen Ansatz, der auf Antrag des Betroffenen oder seiner Familie (wenn es sich um ein Kind handelt) nicht verarbeitete psychische Traumen sichtbar machen kann und das Ausmaß der dadurch entstandenen Schädigung des individuellen Lebensvollzuges nachweist, einschließlich der einer schweren körperlichen Krankheit gleichen oder erkennbar in eine körperliche Krankheit einmündenden Dynamik, die eine akute Lebensbedrohung darstellt. Wie unter dem bisher allein gültigen medizinischen Krankheitsmodell ist es auch bei der Abschätzung der lebensschädigenden Folgen von psychischen Traumatisierungen im Rahmen des Konzepts der Pädagogisch-Psychologischen Therapie eine Frage der gesellschaftlichen Verantwortung, vertreten durch den diagnostizierenden Klinischen Psychologen, dasjenige wissenschaftlich begründete und in der Anwendung auch wissenschaftlich kontrollierte Verfahren zu empfehlen, das diese Gefahr für das individuelle Leben verringern oder aufheben kann. Die gesamtgesellschaftliche Aufklärung unter Einschluss des Entwicklungsstandes ihrer einzelnen Wissenschaften und den in ihnen formulierten Schritten der

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Gestaltung eines würdigen und demokratisch gleichberechtigenden Lebensvollzuges entscheidet über das, was unter dem Begriff der Krankheit als gesellschaftliche Anstrengung ihrer Abwehr möglich und dadurch auch zum Recht des davon Betroffenen geworden ist. Die stürmische Entwicklung in der Medizin verweist uns auf die damit verbundenen Probleme der materiellen Tragfähigkeit einer Gesellschaft gegenüber einer solchen moralisch-ethischen Selbstverpflichtung. Aber das, was im Bereich der Medizin gegenwärtig unter dem Stichwort der Kostenexplosion im Gesundheitswesen zu beherrschen versucht wird, zeigt keineswegs, dass die neu erkannten Probleme der Folgen psychischer Traumatisierungen für das individuelle Leben und die krankheitsgleichen, die Lebensqualität beschränkenden, Zustände nicht unter die Aufgaben gesellschaftlicher Solidarität der Kostenträgerschaft für die neuen klinischen Praxisangebote der psychologischen Therapie gestellt werden müssen, wenn diese so gut begründet sind wie die Pädagogisch-Psychologische Therapie. Wenn Krankheit der Prozess ist, den eine Gesellschaft mit allen ihren Mitteln der Selbstaufklärung gelernt hat, den von außen beeinflussbaren Ablauf der progressiven Lebensgefährdung zu nennen – und danach nur diejenigen Individuen sich selbst krank nennen dürfen und damit der allgemeinen Toleranz sicher sein können, die sich hilflos zeigen und um Pflege bitten –, dann ist mit Freuds Lehre von der traumatisch bedingten Neurose und der längst anerkannten Praxis der Finanzierung einer analytischen Therapie durch die Krankenversicherungen eine historische Grenze überschritten worden: Krankheit ist nicht mehr fest an ein organisches Symptom gebunden, sondern an den mit wissenschaftlichen Mitteln geführten Nachweis der größeren Gefährdung des individuellen Lebensvollzuges und des Nachweises eines Weges, diese abzuwehren. Zu den theoretischen Grundlagen der Pädagogisch-Psychologischen Therapie gehört der erweiterte Traumabegriff und der auf ihm aufbauende Begriff einer psychosozialen Entwicklungsbehinderung mit Krankheitswert, der die Grundlage des Abschlusses eines Behandlungsvertrages und der Kostenübernahme durch die Solidargemeinschaft der arbeitsfähigen Bürger mit dem betroffenen Einzelnen bildet. Den Weg zu dieser Ausweitung hat Bowlby (1983; 1986; 1987) mit seiner Schule beschrieben, in der die frühe Mutter-Kind-Bindung und ihre traumatische Unterbrechung in der Trennung von Mutter und Kind und damit das erste soziale Verhältnis eines Kindes als das in ganz besonderer Weise traumatisch störbare System gilt. Bowlby sieht in seiner auch ethologisch abgesicherten Bindungs-Trennungs-Theorie die Nachfolge von Freuds Modell der Genese frühkindlicher psychischer Störungen. Die Hauptaussage der Bowlbyschen Theorie ist die, dass die zwangsweise von außen gesetzte Auflösung einer frühen Bindung eines Kindes an seine Mutter oder die entsprechende primäre Bezugsperson traumatische Folgen zeigt, die

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den von der Psychoanalyse veröffentlichten klinischen Bildern schwerer Neurosensymptomatiken gleichen. Als Bindung wird in diesem Theoriezusammenhang beobachtbares Verhalten der Kinder bezeichnet, wie es nach dem dritten Lebensmonat auftritt und das in dem als sozial beabsichtigt identifizierbaren Lächeln, im Greifen nach der Mutter, im Anklammern an sie und in allen sicher differenzierbaren intentionalen Lautäußerungen besteht, die die Distanz zur Mutter zu verkleinern suchen, also die Bindung an sie aktiv vom Kind aus konstituieren. Noch nicht enthalten ist in diesem Modell das nicht ohne Weiteres beobachtbare bindungsorientierte Verhalten des Kindes und auch nicht das Bindungsverhalten der Mutter bzw. der primären Bezugsperson an das Kind. Entwicklungspsychologische Untersuchungen der frühen Mutter-Kind-Interaktionen vom ersten Lebenstag an (vgl. Schaffer, 1978; Stern, 1985; 1993) haben hier das Material für die erweiterte Theorie der Rolle der besonderen Verbindung zwischen einem Säugling und seiner ersten Bezugsperson bereitgestellt und bilden eine der Grundlagen für die Auffassung von der Genese psychischer Störungen im Rahmen des Konzepts der Pädagogisch-Psychologischen Therapie. Hinzu kommen die langsam heranwachsenden Erkenntnisse der perinatalen Psychologie, die uns erste Hinweise auf die große Bedeutung der vorgeburtlichen Mutter-Kind-Interaktion geliefert hat. Aus allem zusammen lässt sich folgendes Bild zeichnen: Wir Menschen haben in den meisten Fällen nicht erst eine ausreichend feste Bindung an unsere Mütter oder primären Bezugspersonen von der Zeit an, zu der wir sie für jeden uns beobachtenden Menschen differenziert praktizieren. Diese Fähigkeit, sich selbst in der Nähe der Mutter zu halten, ist bei uns Menschen erst eine fortgeschrittene Qualität der frühen Mutter-Kind-Interaktion. Sie ist in dieser Weise bereits bei den uns nächst verwandten Primaten, bei den Gorillas, angelegt. Gorillas und Menschen zeichnen sich in ihren frühen Mutter-Kind-Interaktionen durch einen Vorlauf der spezifischen Mutter-Aktivitäten gegenüber den Säuglingen aus. Gorilla-Mütter müssen und können ihren Säugling nach der Geburt gleichermaßen stützen und halten, damit er bei ihnen bleibt, wie es die menschlichen Mütter können. Das Gegenstück in der Primatenreihe ist z. B. die Totenkopfaffen-Mutter, die einen außerordentlich aktiven Säugling zur Welt bringt. Dieser greift schon während der Geburt gezielt in das Fell der Mutter, kann sich selbst aus dem Geburtskanal befreien und danach sicher und differenziert Bewegungen ausführen, die ihn zu den Brustwarzen und zu verschiedenen Plätzen am Körper der Mutter führen, die für den Schlaf oder die schnelle Fluchtbewegung den genügenden Schutz bieten. In den ersten Tagen erscheint dagegen die Mutter wie unbeteiligt. Sie macht den Eindruck, als ob sich ihre Bindung an ihr Kind erst nach und nach praktisch ausformt.

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Im Unterschied zu den Gorillas ist aber der Bindungsvorlauf der menschlichen Mutter an ihren Säugling plastischer und dadurch im Ergebnis variantenreicher. Alle denkbaren Formen psychischer und räumlicher Distanzierungen von menschlichen Müttern gegenüber ihren eigenen Säuglingen treten in der Zeit auf, in der sich der Säugling nicht gezielt dagegen wehren kann. In der Natur außerhalb der menschlichen Daseinsform nicht tolerierbar und zum sicheren Tode des Säuglings führend, ist die spezifische Gesellschaftlichkeit des Menschen der kompensierende Ausgleich, die Kraft der Überwindung der gefährlichen Verunsicherung des Kindes am Lebensanfang, aber selbst auch der Grund für eine Mutter, solche Distanzierungen vom eigenen Säugling zu praktizieren. Erlebte Hilflosigkeit sei das eigentliche Wesen des psychischen Traumas, sagt Freud. Wenn es so ist, gibt es eine traumatische Grunderfahrung aller Menschen. Die extreme Hilflosigkeit eines jeden menschlichen Säuglings nach seiner Geburt schafft so etwas wie das traumatische Urerlebnis des Entbundenseins von seiner Mutter, der ersten Trennung von ihr, ohne dass das eigene Bedürfnis nach Bindung vom Kind selbst in erfolgreiche Handlung umgesetzt werden und die Mutter in ihrer Bindungshandlung den Mangel des Säuglings vollständig kompensieren kann. Denn auch die Mutter handelt noch zu dieser Zeit in der Folge ihrer ersten traumatisch erlebten Trennung von ihrer eigenen Mutter. Mutter und Kind realisieren so am Beginn ihrer Begegnungen nach der Geburt das spezifisch-menschliche Prinzip der schwachen ersten Verbindung. Diese schwache erste Verbindung von Mutter und Kind nach der körperlichen Entbindung ist die Erfahrung des Urtraumas durch das Kind und die Wiederholung dieses Urtraumas bei der Mutter. Das ist der Anfang eines jeden spezifisch menschlichen Lebens. Das hilflose soziale Isoliertsein in einer Weise, die das Kind nicht will, ist die Konstituierung eines psychischen Traumas. Jede größere Regelmäßigkeit seiner Wiederkehr und/oder die Länge seiner ersten und/oder wiederholten Dauer und der Zeitpunkt des Auftretens dieser traumatisierenden Trennung von der Mutter (der primären Bezugsperson) und damit der für das ganze Leben prägenden sozialen Isolierung des Kindes bewirken besondere Grade und Qualitäten von psychischer Entwicklungsbehinderung. Wenn wir darüber aufgeklärt sind, uns gemeinsam das Urteil gebildet haben, dass wir das so nicht wollen, und uns mit größter gemeinsamer Anstrengung (also auch mit den elaboriertesten wissenschaftlichen Mitteln) die Möglichkeit zur Überwindung dieses Zustandes verschafft haben, nennen wir sie heilbare psychosoziale Krankheiten. Die unterschiedlichen Intensitäten und der unterschiedliche Erfolg für das eigene Leben, mit dem ein Kind nach dem ersten Viertellebensjahr aktives Bindungsverhalten gegenüber seiner Mutter zeigt, ist die Folge der Mutter-KindVerbindung oder die Wirkung der kompensatorischen Kraft der Mutter, sich von

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der Geburt an oder, wie wir jetzt schon recht differenziert wissen, seit der Konzeption an ihr Kind zu binden. Ich formuliere also jetzt über Bowlby hinausgehend, ihn aber einschließend, dass alle späteren faktischen Trennungen des Kindes von seiner Mutter und alle früheren faktischen und über psychische Befindlichkeiten der Mutter vermittelten Distanzierungen seiner Mutter traumatische Erlebnisse des Kindes sind, die in Abhängigkeit von der Erheblichkeit dieser Trennung die weitere Persönlichkeitsentwicklung des Kindes behindern werden. Alle bekannten Verkürzungen des Menschseins sind Folgen solcher Traumatisierungen, die niemand kompensiert hat. Bowlby und seine Schule weisen nach, dass alle unregelmäßigen und nur kurzfristigen Trennungen von der Mutter im frühen Kindesalter zu keinen folgenreichen Fixierungen des traumatischen Erlebnisses führen, dass aber lange und regelmäßige Trennungen zu eben den Erscheinungen führen, die als klinische Bilder im späteren Leben eines Menschen beschrieben werden können.4 Diese klinisch erheblichen Folgen von frühen psychischen Traumatisierungen sind nur über das Mittel der Psychologischen Therapie zu kompensieren. In einer Gesellschaft, die noch keine Psychologische Therapie kennt, werden solche anhaltenden Folgen früherer Traumatisierungen schicksalshafte Beschränkungen individuellen Lebens genannt, die jeder ohne eine sichere Vermutung auf mögliche Hilfe hinnimmt. Therapie ist aber ein gesellschaftlich formiertes Angebot für Menschen, deren Lebensbehinderung als schwerwiegend und doch nicht hinzunehmen, als krankheitsäquivalent, eingestuft wird und für die man eine Kur, also ein relativ sicheres Mittel zur Abhilfe gefunden hat. Damit ist alle anerkannte Psychologische Therapie im Prinzip aller anerkannten medizinischen Therapie gleichgesetzt. Über die immer breiter und fester werdende Brücke der Psychosomatik wird Psychologische Therapie auch immer enger mit medizinischer Therapie verbunden. Im Lager der Klinischen Psychologen werden die Stimmen zahlreicher und lauter, die sagen, dass es eigentlich keine rein körperliche Erkrankung gibt, dass also die Psychosomatik nicht ein Teilgebiet der Medizin sei, sondern das zukünftige Modell der Gesundheitsversorgung der Bevölkerung in der engen und gleichberechtigten Kooperation von medizinischen Therapeuten mit Psychologischen Therapeuten bestehen müsse. 4 Aus den von Bowlby zugrunde gelegten Untersuchungen lässt sich folgern, dass in Übereinstimmung mit der gesicherten Basis medizinisch-therapeutischer Tätigkeiten und ihrer theoretischen Begründungen traumatische Lebenserfahrungen von erfahrener körperlicher oder psychosozialer Hilflosigkeit, mit der sich ein Betroffener resignativ abgefunden hat, aus der er aus diesem Grunde selbst nicht mehr herausfindet und die deshalb das Weiterleben zentral bedroht, Krankheit genannt werden dürfen, wenn die Gesellschaft ein gemeinsam verantwortetes Verfahren gefunden hat, mit dem dieser resignativ hingenommene Zustand der Hilflosigkeit überwunden werden kann.

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Auf der Grundlage des Modells psychischer Traumatisierung am Lebensanfang mit der Folge der lebenslangen Behinderung aller auf Existenzsicherung gerichteten Handlungen lässt sich bereits erkennen, dass die gefährlichen körperlichen Krankheitssymptome die Spätfolgen nicht rechtzeitig behandelter und psychosozial fixierter traumatischer Trennungserlebnisse des frühen Kindesalters sind. Zwischen den Überforderungen der menschlichen Organe (Herz, Atemwege, Haut, Magen Darm usw.), den Überforderungen der Erlebnisfähigkeit (Neurosen, Psychosen usw.) und den Überforderungen der Leistungsfähigkeit (Lernbehinderungen, geistige Behinderungen usw.) ist ein Gradient immer tiefer angelegter, also immer näher am Lebensanfang und vor der Geburt angelegter traumatischer sozialer Isolationserfahrungen von uns Menschen zu erkennen. Wenn nach einem Einstieg in die politische Diskussion der gesellschaftlichen grundsätzlichen Kostenträgerschaft für Psychologische Therapie bei allen Menschen, für deren psychisches Leiden es bereits eine wissenschaftlich kontrollierte und in ihren Erfolgschancen untersuchte Psychologische Therapie gibt, gesucht wird, ist hier das Stichwort der relativen Präventivität einer Maßnahme zu nennen. Danach wirkt eine im Lebenslauf früher angesetzte und erfolgreiche Therapie im Ganzen weitreichender als eine später angesetzte. Körperlich wirkende Altersleiden haben geringere Chancen der völligen Überwindung gegenüber der Therapie ihrer Frühformen; psychische Krankheit zu heilen verhindert in der Regel Somatisierungen, und die psychischen Leiden im Kindesalter zu therapieren verhindert ihr späteres Erscheinen. Dabei sind alle Frühformen von menschlicher Krankheit mit quantitativ geringerem Aufwand erfolgreich zu therapieren als alle Spätformen. Am Ende bleibt trotz gigantischer Aufwendungen für die Herstellung von Hilfsangeboten oft nur noch eine sehr aufwendige Praxis der Linderung unerträglicher Ausmaße menschlichen Leidens. Bedenkt man die gesellschaftlichen Kosten, die durch die Vollformen menschlicher Erkrankungen verursacht werden, dann ist es überhaupt keine Frage, dass es unser vielleicht jetzt schon mehrheitsfähiger politischer Wille ist, offensiv in Therapien mit höhergradigem präventiven Charakter zu investieren und damit die wissenschaftlich überprüften und in ihrer Anwendung kontrollierten Psychologischen Therapien energisch zu unterstützen. Das Konzept der Pädagogisch-Psychologischen Therapie ist darauf aufgebaut, dass die, das individuelle Leben einschränkenden, frühkindlichen und seitdem psychosozial fixierten traumatischen Trennungserfahrungen konkret überwunden werden müssen, denn sie sind das über die bisherige Lebenslänge überdauernde Modell und dadurch auch das andauernd wirksame Schicksal von immer noch bestehender sozialer Isolation. Damit wird das Prinzip der durchschnittlich gelingenden frühen Mutter-Kind-Interaktion zum Modell der Pädagogisch-Psychologischen Therapie. Im Laufe der Geschichte der Psychothe-

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rapieforschung war es Carl Rogers (1973), der hier die entscheidenden Weichen für die Psychologische psychologische Therapie gestellt hat. Seine grundlegende Annahme hat er in den Satz gefasst: »Es gibt allen Grund anzunehmen, daß die therapeutische Beziehung nur einen Fall zwischenmenschlicher Beziehungen darstellt, und daß die gleiche Gesetzmäßigkeit alle sozialen Beziehungen regelt« (ebd., S. 50). Er hat in seinem Leben als Psychologischer Therapeut und Wissenschaftler herausgefunden, dass es nicht darum gehen kann, »wie ich diesen Menschen behandeln oder heilen oder verändern kann […, sondern, wie ich] eine Beziehung herstellen [kann], die dieser Mensch zu seiner eigenen Persönlichkeitsentfaltung benutzen kann.« (ebd., S. 46) Er fährt fort: Kein Ansatz, der sich auf Wissen, auf Training, auf die Annahme irgendeiner Lehre verlässt, kann von Nutzen sein. […] Das höchste, was sie erreichen können, ist eine temporäre Veränderung, die bald verschwindet und den Einzelnen überzeugter denn je von seiner Unfähigkeit zurücklässt. Das Mißlingen eines jeden solchen intellektuellen Ansatzes hat mich zu der Erkenntnis gezwungen, dass wirkliche Veränderung durch Erfahrung in einer Beziehung zustande kommt. […] Wenn ich eine gewisse Art von Beziehung herstellen kann, dann wird der andere die Fähigkeit in sich selbst entdecken, diese Beziehung zu seiner Entfaltung zu nutzen, und Veränderung und persönliche Entwicklung finden statt. (Ebd., S. 46 f.)

Einer der Verbindungssätze zu der hier geführten Diskussion ist der : »Die Sicherheit, als Mensch gemocht und geschätzt zu werden, ist anscheinend ein höchst wichtiges Element einer hilfreichen Beziehung« (ebd., S. 47). Ich bin mit ihm auch der Meinung, »dass in einer solchen Beziehung der Einzelne sich auf den bewußten wie unbewußten Ebenen seiner Persönlichkeit dergestalt neu organisieren wird, daß er mit dem Leben auf eine konstruktivere, intelligentere, sozialere und auch befriedigendere Art und Weise fertig wird« (ebd., S. 49). In einem anderen Satz zeigt sich dann die Grenze zwischen Rogers und uns: Wenn der Verwaltungsbeamte, eine militärische oder industrielle Führungskraft ein solches Klima [der sozial hilfreichen Beziehung, d. A.] innerhalb der jeweiligen Organisation herstellt, werden die Mitarbeiter mehr Selbstvertrauen entwickeln, kreativer werden, eher in der Lage sein, sich an neue Probleme anzupassen, grundlegender kooperativ werden. Wir haben es hier möglicherweise mit dem Auftauchen eines neuen Bereichs von zwischenmenschlichen Beziehungen zu tun, in dem wir genau angeben können, daß gewisse definierbare Veränderungen stattfinden werden, sofern bestimmte Einstellungsvoraussetzungen gegeben sind. (Ebd., S. 51)

Rogers (1973) hat mit seiner Operationalisierung hilfreicher sozialer Beziehung, die er mit den Attributen »Authentizität und Transparenz der Gefühle«, »warmes Akzeptieren und Schätzen des anderen«, »Einfühlung in den anderen« belegt hat, unserer Meinung nach die Eigenschaften beschrieben, die in unserer Gesellschaft eine hinreichend gute Mutter zur Verfügung hat. Er versäumte es jedoch, zu untersuchen, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen diese

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produktiv einsetzbar sein können. Nach unserer eigenen Analyse sind das aber Kräfte des Menschen, die aus der frühen Mutter-Kind-Interaktion nur in wirklich analoge Bedingungen zu übertragen sind. Pädagogisch-Psychologische Therapie versteht sich als ein Beziehungsangebot eines Therapeuten an seinen Klienten im strikten Sinne des ersten MutterKind-Verhältnisses, also im Sinne einer hinreichend festen ersten Bindung einer Mutter an ihren eigenen Säugling, durch die die Bindungskräfte des Säuglings (des Klienten) in der uns Menschen möglichen Weise wachsen und so das Ausgangsmodell einer hilfreichen sozialen Beziehung entsteht, nach der alle späteren geformt oder interpretiert werden können. Psychologische Therapie im Sinne der Reaktivierung eines frühen angemessenen Mutter-Kind-Verhältnisses hat ihre Grenzen da, wo es dem Therapeuten nicht gelingt, die prinzipielle Symmetrie des Wertetausches nachzubilden. Gelingende Psychologische Therapie, so wie auch das hinreichend feste erste Mutter-Kind-Verhältnis, sind Verhältnisse des wechselseitigen Aufeinanderangewiesenseins, wie sie außerhalb von funktionsfähigen Familien (oder den Bedingungen ihres Entstehens) und neben produktiven psychologisch-therapeutischen Bündnissen nach dem Zuschnitt unserer Gesellschaft bisher nicht herstellbar sind. Pädagogisch-Psychologische Therapie ist ein Hilfsangebot für Menschen, die sich in fixierter und deswegen lebensbedrohlicher Weise sozial ausgegrenzt sehen und diesen Zustand selbst oder vermittelt über ihre Familien oder andere soziale Verantwortung tragende Institutionen ändern wollen. Sie gestaltet sich in einem Prozess, in dem als größtes zu lösendes Teilproblem eine therapeutische Beziehung herbeigeführt werden muss, die eine Leistung des Therapeuten ist, vergleichbar mit der einer Mutter, die ihrem selbst geborenen, aber völlig hilflosen Säugling eine Bindung anbietet, die es diesem erlaubt, sich an sie als seine Mutter zu binden. Im Zustand des dabei hergestellten wechselseitigen Aneinandergebundenseins werden dann im längsten Verlauf der Psychologischen Therapie gemeinsame neue Welterfahrungen im Sinne des Erfahrungsvorsprunges des Therapeuten gemacht, indem der Klient dessen Leben als eines im Stande der hinreichenden sozialen Integration erfahren kann, es für sich als ein tragfähiges und akzeptierbares Modell übernimmt und im allmählich wachsenden Nachvollzug dessen Nützlichkeit realisiert. Psychologische Therapie ist insofern ein Erziehungsprozess oder eben eine Pädagogisch-Psychologische Therapie. Das Ziel aller gemeinsamen neuen Erfahrungen ist schließlich die Gewissheit des Klienten, dass die Zeit seiner sozialen Isolation, in der sein frühes Trauma der gefährlichen Hilflosigkeit perpetuiert wurde, zu Ende ist. Mit dieser neuen Gewissheit löst sich die Bindung zwischen Klient und Therapeut wieder auf. Die in der Therapie gemachten neuen Erfahrungen werden wachsend erfolgreich auf andere persönliche Verhältnisse angewendet. Die neu gewonnene Beziehungs- und Liebesfähigkeit bildet die Grundlage für neue Dimensionen der

Psychotherapie oder (Pädagogisch-)Psychologische Therapie

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persönlichen Leistungs- und Arbeitsfähigkeit. Die Erinnerung an das frühkindliche Trauma verwandelt sich kontinuierlich zu dem, was sie bei jedem Menschen ist: nämlich in die Urerfahrung der besonderen Hilflosigkeit von uns Menschen, die wir mit der Arbeit an den Konturen unserer Gesellschaftlichkeit Schritt um Schritt gemeinsam zu kompensieren versuchen. Alle bei psychosozialen Symptomen mit erheblichem Krankheitswert wirksamen psychologisch-therapeutischen Methoden beruhen zumindest in der Praxis erfahrener Kolleginnen und Kollegen implizit auf diesen Grundlagen.

Literatur Bowlby, J. (1983). Verlust, Trauer und Depression. Frankfurt a. M.: Fischer. Bowlby, J. (1986). Bindung – Eine Analyse der Mutter-Kind-Beziehung. Frankfurt a. M.: Fischer. Bowlby, J. (1987). Bindung. In: K. E. Grossmann & K. Grossmann (Hrsg.). Bindung und menschliche Entwicklung. John Bowlby, Mary Ainsworth und die Grundlagen der Bindungstheorie und Forschung (S. 22–26). Stuttgart: Klett-Cotta. Freud, S. (1968). Gesammelte Werke in 18 Bänden. Frankfurt a. M.: Fischer. Rogers, C. R. (1973). Entwicklung der Persönlichkeit. Stuttgart: Klett-Cotta. Schaffer, H. R. (1978). Mütterliche Fürsorge in den ersten Lebensjahren. Stuttgart: KlettCotta. Stern, D. N. (1985). The Interpersonal World of the Infant. New York City : Basic Books. Stern, D. N. (1993). Tagebuch eines Babys. Was ein Kind sieht, spürt, fühlt und denkt. München: Piper.

Rainer Brockmann

Siegfried Schubenz als Hochschullehrer: Studying by doing

Das erste Mal begegnete ich Siegfried Schubenz im Grundkurs der Erziehungsberatung am Psychologischen Institut (PI) der FU Berlin im Wintersemester 1965/66. Was auffiel: Es ging oft um die Stute und ihr Fohlen. Vergleichende Verhaltensforschung nennt man solche Ausflüge in die Zoologie. Siegfried hat sie gern unternommen. Ich war damals Student und er Assistent bei Prof. Hörmann, mit dem er zusammen aus Göttingen nach Berlin gekommen war. Das letzte Mal trafen wir uns wenige Wochen vor seinem Tod im Jahr 2007. Dazwischen lagen über 40 Jahre gemeinsamer Berufserfahrung und eine ebenso lange Freundschaft. Es sollte mir leichtfallen, eine erschöpfende Würdigung seiner Person anzubieten. Geht aber nicht. Und da sind wir schon bei seiner vielleicht auffälligsten Besonderheit: Siegfried Schubenz lässt sich nicht wirklich entschlüsseln. Zumindest ist es mir nicht gelungen. Das macht sicher einen wesentlichen Teil der Faszination aus, die von ihm ausging. In der Erinnerung derer, die ihn kennengelernt haben, dominiert der persönliche Eindruck regelmäßig die Inhalte, für die er stand. Und die waren weiß Gott nicht ohne. Diese Feststellung dürfte ihn nicht kränken. Er war in seiner Rolle als Universitätsprofessor seinem eigenem Verständnis nach immer mehr Entwicklungshelfer als Lehrer. Siegfried war ein von den Inhalten seines Faches in besonderer Weise berührter Mann, zutiefst solidarisch mit dem empfindsamen Wesen Mensch, dessen Verletzlichkeit ihm persönlich vertraut war. Psychologe zu sein bedeutete für ihn, ein Mandat zu haben. Er war gleichgültig gegenüber Moden und materiellen Verlockungen, Karriere interessierte ihn nur, insoweit sie seinen Wirkungskreis sicherte. Lehre und Forschung mit Praxis zu verbinden war für ihn selbstverständlich, lange bevor es 1968 vorübergehend zur Pflicht wurde. Gemeinsam mit der Schulpsychologischen Beratungsstelle Wedding entwickelte er seine Morphemmethode zur Behandlung der Legasthenie. Als dieser Kontakt – paradoxerweise von den rebellischen Studenten erzwungen – aufgegeben werden musste, schuf er sich 1971 mit der Gründung des Legasthenie-Zentrums ein

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Rainer Brockmann

eigenes außeruniversitäres Praxisfeld. Den Studenten war er deswegen nicht gram. Er war einer der Ersten aus dem Lehrkörper, die sich ihren Forderungen anschlossen. Als es ihm gelang, das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) für die Finanzierung der Legasthenietherapie aufzuschließen (einmalig im gesamten Bundesgebiet), war die materielle Voraussetzung geschaffen für die Gründung weiterer Institutionen gleicher Art in ganz Westberlin. Das größte in der Rheinstraße in Berlin-Steglitz, wo eine ganz Fabriketage angemietet wurde, war Ende der 1970er Jahre, im Verbund mit den übrigen Einrichtungen in Berlin, der größte Anbieter ambulanter Kinderpsychotherapie in der Bundesrepublik. Mehr als 60 Therapeuten, die meisten von ihnen Studenten, betreuten über 400 Kinder. Wissenschaftssenator Peter Glotz kam zu Besuch. Die Stimmung war aufgeräumt. Man sagte sich, was Sache war. Siegfried: »Herr Glotz, 12 % der Berliner Schüler sind Legastheniker.« Glotz: »Herr Schubenz, Berlin hat so viele Legastheniker, wie es sich leisten kann.« Der inhaltlichen Weiterentwicklung angepasst, entstanden schließlich auch Einrichtungen ohne Anbindung an das Störungsbild Legasthenie, z. B. das Kindertherapiezentrum. Die letzte Gründung dieser Art war das Pferdeprojekt auf dem Gelände der Domäne Dahlem. Hier wurden Pferde als Medium der Psychotherapie eingesetzt. Im Pferdeprojekt fanden Siegfrieds persönliche Leidenschaft für Pferde und die therapeutische Arbeit mit Kindern zusammen. Im Unterschied zu den vorausgegangenen Gründungen war das Pferdeprojekt wegen des größeren materiellen Aufwandes ein Universitätsprojekt. Zur wissenschaftlichen Begleitung wurde das forschungsbezogene Wahlpflichtfach »Psychologie der Mensch-Tier-Beziehung« in den allgemeinen Studienplan aufgenommen. Die weitgehend autonomen Praxiseinrichtungen waren Orte des Lernens und Forschens für Studierende, Lehrende und nicht zuletzt für Siegfried selbst. Hier entwickelte sich in vielen Jahren aus einem Rechtschreibtraining für Legastheniker ein methoden- und medienoffener Kinderpsychotherapieansatz mit der Gruppe als bevorzugtem Setting, die pädagogisch-psychologische Therapie. Das Kürzel PPT wurde zum Qualitätszeichen in der psychosozialen Versorgung von Kindern und Jugendlichen in Berlin. Wir haben es als Bekenntnis zu unseren Wurzeln trotz aller Änderungen – den entwicklungsbedingten und den vom Psychotherapeutengesetz (PsychThG) erzwungenen – bis heute beibehalten. Obwohl seine Morphemmethode in der praktisch-therapeutischen Arbeit relativ früh an Bedeutung verlor, blieb Siegfried der Erforschung der Morpheme weiter treu. Die Zeit als deutschsprachiges Veröffentlichungsorgan mit dem umfassendsten Wortschatz war ebenso immer in seiner Nähe wie der PC, der seiner Sprachforschung ganz neue Möglichkeiten erschloss. Siegfried war einer der ersten Hochschullehrer am PI, die sich dieses neue Werkzeug aneigneten,

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nicht nur für die Forschung, sondern auch als potenzielles Hilfsmittel zum Schriftspracherwerb. Im Forschungsprojekt »Computerunterstützter Unterricht« (CUU) wurde daran gearbeitet. Es lag Siegfried besonders am Herzen. Die gemeinsame Arbeit im Kinderpsychotherapie-Projekt, zu dem neben den genannten Praxiseinrichtungen auch eine Kinderpsychotherapie-Ambulanz am PI gehörte, war gekennzeichnet von einem weitgehenden Verzicht auf hierarchische Strukturen. Die kollektive Verantwortung der praktischen Arbeit, das dichte Projektcurriculum mit wöchentlichen Veranstaltungen zur Supervision und Selbsterfahrung, die Teilnahme an Wochenendseminaren und Tagungen, die Möglichkeit des umfassenden Erfahrungsaustausches über ein eigenes Informationsblatt (LZ-Info): All das bot Orientierung und Halt ohne Beeinträchtigung von Kreativität und Lebendigkeit, wie es bei einer hierarchisch angelegten Arbeitsweise zu erwarten ist. Und lebendig war das Ganze tatsächlich. Nicht jeder hat das gleich gut ausgehalten. Manch einem fehlten die ordnende Hand sowie eindeutigere inhaltliche Vorgaben. Siegfried weigerte sich in geradezu provozierender Weise, die ihm per Amt zugehörige Rolle des Besserwissers einzunehmen. Er half lieber beim Nachdenken. Das lag sicher auch an seiner Sicht auf den Gegenstand. Psychotherapie war für Siegfried Beziehungsgeschehen, das sich in seiner Komplexität der Idee einer Standardisierung grundsätzlich entzog. Und das zu einer Zeit, in der andere Vertreter des Fachs das Therapeutenverhalten in bis zu 24 Variablen zu operationalisieren begannen (Schmidtchen). Die unausbleibliche Folge des Machtvakuums, mit dem Siegfried sich umgab, waren regelmäßige Palastrevolten. Die meisten erschöpften sich in heißen Diskussionen, einige führten zu Abspaltungen und Fortgängen. In einer Praxiseinrichtung bekam Siegfried vorübergehend Hausverbot. Wollte Siegfried keine Macht oder »konnte« er sie nicht? Alles in allem hat es der Entwicklung des Projektstudiums mehr genutzt, als ihr geschadet. So gesehen kann man es im Nachhinein auch als pädagogische Strategie deuten – als seinen Beitrag zur Idee der antiautoritären Erziehung. Siegfried war auch ein 68er. Die marktüblichen schulengebundenen Therapiemethoden waren für Siegfried lediglich »gültige Handlungshilfen«, für den Therapeuten wichtiger als für seine Klienten. Sie können ihm Halt bieten, müssen sich aber der Rahmenvorstellung einer umfassenden Entwicklungsunterstützung unterordnen. Siegfried wusste um die Attraktivität dieser Methoden für die Studierenden. Viele von ihnen hatten sie schon »privat« irgendwo eingekauft und waren nicht bereit, in der Projektarbeit darauf zu verzichten. Natürlich war das in Ordnung. Erstens, weil PPT methodenoffen war, und zweitens, weil Siegfried nicht der Typ war, der im Kampf gegen etwas gewinnen wollte. Jeder durfte sich ausprobieren. Ein

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umfangreicher Teil des Projektcurriculums bestand ohnehin in der Einführung in die gängigen Ansätze der Kinderpsychotherapie. Das von Siegfried entwickelte Konstrukt der »schwachen ersten Bindung« ist das zentrale ätiologische Moment in seinem Ansatz. Die Störung selbst wird als frühkindliche Entwicklungsbehinderung verstanden. Diesem Störungsverständnis entsprechend ist die »hinreichend gute Mutter« (Winnicott) das übergeordnete Handlungsmodell der psychotherapeutischen Arbeit. »Mütterlichkeit« nannte es Siegfried. Ein schwieriges Modell, dem Alltagsbegriff der Mutter verhaftet, eingeklemmt zwischen Idealisierung und Verteufelung, eher ein Bild als ein theoretisches Konstrukt. Orientierungsmuster von so allgemeiner Art pflegt man in der Psychotherapietheorie als »Einstellung« zu bezeichnen, und so ist es wohl auch gemeint. Der therapeutische Ansatz lässt sich insgesamt der tiefenpsychologischen Bindungstheorie zuordnen. Trotz aller Bedenken lässt sich dem Modell der »hinreichend guten Mutter« einiges abgewinnen. Aus der Sicht der Verhaltensbiologie ist es ein über Jahrtausende optimiertes Muster von Entwicklungsunterstützung bei höher entwickelten Säugetieren, selbst, wenn der evolutionäre Blick beim Menschen durch kulturelle Überformung unscharf ist. Die Nähe des Modells zum Alltagsverhalten hebt die einschränkenden Spezialisierungen der Mainstream-Psychotherapie weitgehend auf. Das Modell agiert unvermittelt direktiv und nichtdirektiv, es deutet und klärt auf, es verstärkt und setzt Grenzen, es spiegelt, konfrontiert und modelliert. Authentisch ist es ohnehin. Ihm steht das gesamte änderungsrelevante Verhalten zur Verfügung, und es braucht kein spezielles. Die besondere Qualität der Entwicklungsunterstützung bekommt es durch eine besondere »Einstellung«. Diese ist der natürlichen Mutter bei hinreichender sozialer Unterstützung spontan gegeben, der Therapeut muss sie lernen. 1991 hat Siegfried seinen Ansatz in einer zweisemestrigen Vorlesung zum ersten Mal umfassend veröffentlicht. Er war sich der polarisierenden Potenz des Textes durchaus bewusst und bat mich um Beisitz. Das anfänglich rein studentische Publikum tauschte sich schnell gegen eine gemischte Zuhörerschaft aus, mehrheitlich bestehend aus Praktikern aus allen Ecken Berlins. Einer nannte das, was er sich dabei abholte, eine »konstruktive Irritation erheblichen Ausmaßes«. Für die meisten war es eine höhere Form von Supervision. Das Vorlesungsmanuskript wurde von ihm für den Buchdruck (Psychologische Psychotherapie bei Entwicklungsbehinderung, 1993) ergänzt und überarbeitet. Es entstand ein zum Teil schwer lesbarer Text. Zum Glück ist dieser insgesamt so redundant, dass man nicht jeden Satz verstehen muss, um zu verstehen. Ich empfehle die Lektüre.

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Das 1998 beschlossene und 1999 in Kraft getretene Psychotherapeutengesetz (PsychThG), das seine Schatten berufspolitisch lange vor seinem Inkrafttreten vorauswarf, hat die Weiterarbeit an diesem Ansatz weitgehend zum Stillstand gebracht. Schon bald ging es vor allem um Anpassung an das, was sich am Horizont abzeichnete. Um zu überleben, musste das 1986 gegründete Institut für ppt ein Akkreditierungsverfahren bestehen, das unter anderem die Zuordnung der Ausbildungsinhalte zu einem der etablierten Therapieverfahren (PA, VT) erzwang. Mit der von Siegfried entwickelten pädagogisch-psychologischen Therapie war da nichts zu machen. Wenn es um die Wurst ging, konnte Siegfried erstaunliche Kompromisse eingehen. Die grundsätzliche Methodenoffenheit der PPT nährte die Hoffnung, dass man mit einer Art »Verhaltenstherapie light« durchkommen könnte. Siegfried O-Ton: »Jetzt müssen wir wohl bald so tun, als hätten wir nie etwas anderes gemacht als Verhaltenstherapie.« Formal wertete Siegfried seine Verhandlungsposition durch einen Geniestreich auf. 1990, ein Jahr nach seiner schweren Bypass-Operation, gelang es ihm, dem Präsidialamt in zähen Verhandlungen einen Kooperationsvertrag abzuringen, ohne den es dieses Institut in seiner gegenwärtigen Form wohl nicht geben würde. Das Institut war damit praktisch eine Universitätseinrichtung und Siegfried auf Augenhöhe mit den etablierten Playern der Psychotherapieausbildung. Nach dem zusätzlichen Verzicht auf unsere traditionelle pädagogische Ausrichtung stand einer Akkreditierung nichts mehr im Wege. Mit der Zulassung zu zwei Verfahren schien es möglich, die für die PPT kennzeichnende Ganzheitlichkeit zu retten. Die im PsychThG durch das Gutachterwesen etablierte Kontrolle über die Sprache und die Anbindung an die psychiatrische Diagnostik ließen jedoch keine Lösungen durch die Hintertür zu. Die Bemühungen, es offiziell zu schaffen, führten in das Desaster der Integrationsdebatte. Tiefenpsychologie und Verhaltenstherapie lassen sich theoretisch offensichtlich nicht en passant miteinander verbinden. Kein Wunder, schließlich handelt es sich bei ihnen um Markenartikel, über Jahrzehnte auf Alleinstellung getrimmt. Unsere in der PPT gemachten gegenteiligen Erfahrungen sind unter der Realität des PsychThG nur noch Makulatur. Es geht auch nicht um Erfahrung, nicht einmal um die bessere Theorie. Es geht darum, was gewollt ist, und vor allem, wer es will. Es geht um Macht. Das Auswechseln des Begriffs »integrativ« gegen »verfahrensdialogisch« nimmt merkbar Druck aus dem Kessel. Siegfried hätte er gefallen. Wo sind wir damit gelandet? Hoffentlich nicht bei der alten Absicht, nur mit Tarnkappe. Wir sollten den Begriff als Botschaft benutzen, als eine Art ceterum censio: Wir, das Institut für ppt und seine Mitglieder, sind grundsätzlich gegen die Schulzwänge, die das PsychThG der Psychotherapie auferlegt. Wir interessieren uns mehr für

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die Gemeinsamkeiten als für das Trennende und arbeiten daran. Aber bitte eher spielerisch-kreativ als unter dem Zwang fester Erwartungen. Auch das würde Siegfried unter den gegebenen Verhältnissen sicher gefallen. Wir sind übrigens nicht die Einzigen, die mit der Absicht, die unterschiedlichen Therapieverfahren integrativ zu vereinen, gegen die Wand gelaufen sind. In der sinnfälligen Annahme, dass ein solches Anliegen nicht über die Köpfe der Betroffenen hinweg zu verwirklichen sei, hat Klaus Grawe in den 1990er Jahren namhafte Vertreter der verschiedenen Schulen zu einem entsprechenden Dialog aufgefordert. An den Anfang setzte er die Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner. Sein Vorschlag, das Problemlösungsparadigma als solches zu akzeptieren, stieß auf heftigen Widerstand. Die Bemühungen scheiterten, noch ehe sie richtig begonnen hatten. Die Verfahren selbst wollten offenbar keinen Dialog. Wenn man sich an einen Menschen erinnert, der gestorben ist, fallen einem auch Dinge ein, die er noch erledigen wollte. Siegfried wollte noch ein Buch über Macht schreiben – vielleicht das zentrale Thema seines Lebens. Seine kritische Einstellung zur Macht durchzog sein gesamtes Denken und Handeln, wobei man den Eindruck gewinnt, Macht und Machtmissbrauch waren für ihn Synonyme, d. h., es gibt keine gute Macht. Schon Hierarchie als Trittleiter der Macht ist kontaminiert. In seinen Ausführungen zur psychologischen Psychotherapie (Schubenz, 1993) wird man durchgängig fündig, teilweise wirken seine Worte verstörend: Ich wage zu sagen, dass Menschen für Menschen die ersten und bis auf den heutigen Tag wichtigsten »Haustiere« gewesen sind. Ich meine damit alle die Haustiereigenschaften konstituierenden Momente. Und das gilt wirklich nicht nur bis zum Ende der Sklavenhaltung, sondern das Prinzip lebt in jeder Hierarchie von heute weiter, die für das Funktionieren des allgemeinen Marktes typisch ist. (S. 234)

Das muss man sich erst mal zu sagen trauen. Neben den im PsychThG gebündelten fachpolitischen Herausforderungen, denen sich Siegfried stellen musste, gab es eine zweite, weitgehend verdeckte Front, an der er kämpfen musste. Mit der Abschaffung der 1968 erkämpften Mitbestimmung begann an der Freien Universität Anfang der 1990er Jahre ein Prozess der Entdemokratisierung, der mit einer Organisationsstruktur vergleichbar der eines großen Industrieunternehmens enden sollte – Top-down nennt man sie. Auf dem turbulenten Weg dorthin wurde Siegfried als Universitätsprofessor qua Amt von einer Berufsgruppe vereinnahmt, die mit restaurativer Ständepolitik für sich selbst zu retten versuchte, was doch nicht mehr zu retten war. Das war nicht mehr seine Universität. Ich führe die Verschlechterung seines Gesundheitszustandes sowie die vorzeitige Emeritierung vor allem auf die

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mit diesen Entwicklungen verbundenen Zumutungen zurück, gegen die er sich offensichtlich nicht wirksam abgrenzen konnte. Wer war Siegfried? Er war offensichtlich vor allem ein Rebell, und das galt jedem Teil der Welt, dem er sich engagiert zuwandte. Er hat nichts hingenommen, nur weil es schon da war und irgendwie auch funktionierte. Er war ein politischer Mensch und selbst in dieser Rolle ein Rebell. Wenn es nicht zu umgehen war, hat er sich als »links« eingeordnet. Man spürte, dass ihm das nicht behagte. Siegfried ließ sich von keiner Ideologie vereinnahmen und entsprechend auch keiner Ideologie widerspruchsfrei zuordnen. Nicht einmal von sich selbst. Kein Wunder, Ideologien sind Machtinstrumente. Er hatte ihn in sich, den Kompass seines Handelns. Er brauchte keine Anleitung von außen. So verstanden war er – obwohl immer von Menschen umgeben – auch ein einsamer Mann. Was bleibt, neben den Erinnerungen? Gut ein Dutzend Praxiseinrichtungen in Berlin, u. a. mehrere Standorte des Legasthenie-Zentrums, die mit Siegfrieds Hilfe gegründet wurden und trotz aller Wandlungen bis auf den heutigen Tag lebendige psychotherapeutische Arbeit leisten. Eine Ausbildungsstätte der Psychologischen Psychotherapie, der es wirtschaftlich recht gut geht, die etwas Speck angesetzt hat und sich verständlicher- und bedenklicherweise dann am wohlsten fühlt, wenn nichts passiert. Viele hundert Kollegen, die Siegfried einen einmaligen studentischen Entwicklungsraum verdanken und die Ergebnisse in sich tragen. Und ein Buch, das, mit Neugier gelesen, noch immer in der Lage ist, eine »konstruktive Irritation« auszulösen.

Literatur Schubenz, S. (1993). Psychologische Therapie bei Entwicklungsbehinderung. Gefährdende Lebensbedingungen und Grundlagen für die Bewältigung ihrer Folgen im Klient-Therapeut-Verhältnis. Frankfurt a. M.: Peter Lang.

Roland Geckle

Vermächtnis1

Liebe Kolleginnen und Kollegen, liebe Auszubildende, sehr geschätzte Besucherinnen und Besucher dieses Gedenkabends, ich habe mir im Hinblick auf den 10. Todestag von Siegfried Schubenz und im Vorfeld dieser Veranstaltung vorgenommen, sein theoretisches Vermächtnis mit meinen Worten darzulegen. Dies ist schon deshalb schwer genug, weil sein Vermächtnis – v. a. auch in seinen Auswirkungen auf die Lehrgestaltung und auf die Lehrinhalte unseres Instituts – weit über das hinausgeht, was Siegfried uns mit seinen Veröffentlichungen hinterlassen hat. Gleichsam wurde ich aber auch von der Organisation dieses Gedenktages dazu ermahnt, mich dabei möglichst knapp zu halten. Wäre dies allein schon ein sehr schwieriges Unterfangen, so habe ich es noch mit meinem persönlichen Bedürfnis verknüpft, die Wirkung von Siegfried Schubenz auf meine eigene Entwicklung zum Psychologischen Psychotherapeuten nachzuvollziehen und ihm damit noch einmal so zu danken, wie ich es gern noch zu seinen Lebzeiten getan hätte. Einige Zeit schleppte ich diese Maßgaben und Wünsche an meinen Vortrag sozusagen wie einen Gordischen Knoten mit mir herum, bis ich ihn mit dem Geistesblitz zerschlug, dies eben mit den eigenen Worten von Siegfried zu versuchen, nämlich so, wie er es mir selbst gegenüber an einem für mich sehr denkwürdigen Abend tat: an dem Abend, an dem ich ihn persönlich kennenlernen durfte. Diesen Versuch unternehme ich nun auch auf die Gefahr hin, dass ich bei der Wiedergabe seiner Worte all den Verzerrungen, Idealisierungen und Romantisierungen unterliege, die dem Gedächtnis allgemein bei einer solchen mündlichen Überlieferung und besonders bei einem so persönlich bedeutsamen Ereignis unterlaufen können. Um Ihnen die Bedeutung und den Kontext dieses Abends nahezubringen, muss ich Sie leider vorweg ein wenig mit meiner eigenen Biografie behelligen. 1 Vortrag im Rahmen des Gedenkabends zum 10. Todestag von Siegfried Schubenz am 30. 11. 2017.

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Ich war als abgehender Student in den späten 1980er Jahren – so wie viele andere – vom damaligen Integrationsfieber erfasst, das in vielen Bereichen der Wissenschaft und der Gesellschaft zu dieser Zeit aufblühte. Mich beschäftigte allerdings zunächst nicht die Integration irgendwelcher Therapieverfahren, sondern ein ganz anderes, für mich sehr persönliches Thema. Nachdem ich mich vor dem Hintergrund entsprechender eigener biografischer Erfahrungen in meinem nicht-psychologischen Studium mit ganzheitlichen anthropologischen, quasi philosophischen Spieltheorien befasst hatte, traf ich im Rahmen des Kindertherapieprojekts auf die verschiedenen Spielbegriffe der Klinischen Psychologie. Aus meiner ganzheitlichen Perspektive erschienen mir diese Spielbegriffe nun sehr einseitig, verkürzt und instrumentell. Sie ließen meiner Ansicht nach viele Entwicklungschancen des kindlichen Spiels fahrlässig aus. Aus dieser Situation heraus unternahm ich dann den Versuch, die am weitesten entwickelten Spielbegriffe der Psychologie – nämlich die der Psychoanalyse, der genetischen Entwicklungstheorie von Piaget und der Tätigkeitstheorie der kultur-historischen Schule – wieder zusammenzuführen. Dieses Anliegen mündete in meine Dissertation, die ich nach weiteren vier Jahren an meine Gutachter weiterreichte: an meinen Doktorvater Martin Hildebrand-Nilshon, der an der FU Berlin den Lehrstuhl für Entwicklungspsychologie innehatte, und an Siegfried Schubenz, Professor für Klinische Psychologie, an dessen Kindertherapieprojekt und Psychotherapieausbildung ich zwar teilgenommen hatte, zu dem ich aber bis dahin keinen persönlichen Kontakt gehabt hatte. Während das Gutachten von Hildebrand-Nilshon meinen Erwartungen durchaus entsprach, wurde ich bereits beim ersten Überfliegen von Siegfrieds Zeilen sehr missbilligend, weil dort mehrmals die Begriffe »Pädagogik« und »pädagogischer Ansatz« auftauchten, die meiner Ansicht nach mein wissenschaftliches Anliegen völlig verkannten. Ich weiß nicht, ob ich dieses Gutachten jemals in Ruhe zu Ende gelesen habe, auf jeden Fall machte ich mich gleich an meinen Computer, um in bitterer Empörung ein Antwortschreiben zu verfassen und am selben Tag abzusenden. Eine Unsitte, die ich heute eher zu vermeiden versuche, die aber auch immer wieder durchrutscht. Einige Kolleginnen mussten schon darunter leiden. Anders als erwartet, erschien mir Siegfried jedoch in der darauffolgenden Disputation zunächst völlig unbeeindruckt von meiner entrüsteten Reaktion und diskutierte mit mir sehr freundlich, gleichmütig und gelassen über ganz andere Punkte meiner Doktorarbeit. Dann jedoch sprach er mich nach der Absegnung nochmals persönlich auf dem Flur an. Er habe meinen Brief erhalten und respektiere meine Entgegnung; gerne würde er sie bei einem Glas Wein mit mir ausdiskutieren. Und so kam es zu dem Abend, der sich bei mir so deutlich eingebrannt hat, dass ich nun versuche, seinen integrativen Ansatz für die Klinische Psychologie mit seinen Worten auszudrücken.

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Zunächst begegnete er mir wieder überaus freundlich und mit einem fast väterlichen Blick, der mir sogleich die Wucht aus meinem immer noch anhaltenden Unmut nahm. Gleichwohl zeigte er sich zunächst sehr irritiert über meine Abwertung der Pädagogik und deren Ausschluss aus dem psychotherapeutischen Prozess. Er nenne ja den Ansatz, den er in seiner wissenschaftlichen Arbeit ausarbeite und sowohl im Kindertherapieprojekt als auch in seinem Ausbildungsinstitut verfolge, selbst »Pädagogisch-Psychologische Therapie« (PPT), wobei er mit seinem Pädagogikbegriff weit über das hinausgehen wolle, was die so bezeichnete »Wissenschaft« uns vermitteln wolle. Er selbst meine damit vielmehr ein hochqualitatives Bindungsangebot von der Therapeutin an ihre Klientin, das an Fürsorglichkeit und Nähe der primären Bindung der Mutter an ihr Kind nahekomme und hierdurch die erlittenen Entwicklungsdefizite der Klientin auf der Basis von Bindungssicherheit und Geborgenheit auszugleichen versuche. Dies solle gelingen, indem die Therapeutin der Klientin mit all ihren Unterstützungsmöglichkeiten bei ihrer weiteren Entwicklung beiseitestehe – einer Entwicklung, die v. a. auf die sukzessive Linderung ihrer inneren Unsicherheit und ihres sozialen Ausgrenzungs- und Isolationsgefühls abziele, also ein Bindungsangebot mache, das – so seine Worte – mit »pädagogischer Liebe« beseelt sei. Ein solches Angebot sei bitter nötig, da wir im Grunde genommen alle, aber im besonderen Maße unsere Klientinnen, in diesem Sinne entwicklungsbedürftig seien. Diesen Kerngedanken erläuterte Siegfried wie folgt: Wir alle seien insofern entwicklungsbedürftig, als wir aus (spezifisch menschlichen) schwachen Bindungen hervorgegangen seien, die gesellschaftlich bedingt und insofern die Kosten unserer Zivilisationsentwicklung seien, als unsere Eltern als primäre Bezugspersonen gleichzeitig Kulturschaffende seien und sich somit nicht ausschließlich unserer Entwicklung würden widmen können. Dies bewerte er erst einmal nicht moralisch. Er sei auch kein Kulturpessimist, Romantiker oder gar Maschinenstürmer ; er fühle sich aber als Wissenschaftler und Psychologe dazu aufgerufen, die notwendige Kehrseite dieser Menschheitsentwicklung näher zu beleuchten. Und hier zeige sich nun einmal: Die Unsicherheit von Menschen in sozialen Begegnungen und Zusammenhängen sei – und das gelte auch für den Vergleich zwischen Therapeutin und Patientin – bestenfalls gradueller Natur. Qualitativ unterschiedlich seien wir nur in unseren Bewältigungs- und Kompensationsstrategien, und so könnten wir davon ausgehen, dass auch so selbstsicher erscheinende Persönlichkeiten wie Helmut Schmidt »im Kern« unsicher seien. Selbstunsicherheit sei unsere gemeinsame Entwicklungsbehinderung, sozusagen unser gemeinsames Schicksal. Aber Siegfried hatte auch eine gute Nachricht: dass der Mensch gleichzeitig enorm entwicklungs- und anpassungsfähig sei. Wir alle seien dazu in der Lage, diese Unsicherheiten – und v. a. das gesellschaftliche Tabu, das über sie herr-

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sche – zu erkennen und aktiv zu reflektieren. Hierbei sei die Therapeutin sicherlich weiter als die Klientin, aber auch nie gänzlich ausgereift, weil sie immer wieder verunsichernde Erfahrungen mache. Allerdings könne die Therapeutin ihre Entwicklungsbedingungen ständig dadurch verbessern, dass sie sich mit Kolleginnen zusammentue und unter dem Schutz der sogenannten Supervisionsfamilie und auch darüber hinaus in ihrer identitätsgebenden Institution ihre Entwicklungsbehinderung so angstfrei wie möglich zu erfassen und fortwährend zu bearbeiten versuche. So sollte sie durch die Ausbildung, aber auch durch ihre permanente Reflexions- und Entwicklungsbereitschaft in der Lage sein und sich aktiv darum bemühen, der Klientin ein Beziehungsangebot zu machen, das ihr den notwendigen Entwicklungsfreiraum und die Angstfreiheit bereitstelle, um ihre Unsicherheiten bearbeiten und lindern zu können. Damit sagte Siegfried nichts anderes, als dass der therapeutische Prozess als ein beiderseitiger Entwicklungsprozess zu verstehen sei. Auch die Therapeutin stoße in der Auseinandersetzung mit der Problematik der Klientin auf eigene, tiefliegende Gefühle und werde je nach Problematik Wiedererkennungseffekte oder Befremdungseffekte erleben, derer sie sich in unterschiedlichem Maße gewahr werden würde. Dieses Verständnis des therapeutischen Entwicklungsprozesses möchte ich in einem kleinen Exkurs und in Siegfrieds Sinne genauer erläutern. Einerseits ist es von entscheidender Bedeutung, wie tiefgehend und aufrichtig die Therapeutin sich diesem Selbstreflexionsprozess hingibt und inwieweit sie so der Klientin das Gefühl vermittelt, selbst offen und entwicklungsbereit zu sein. Andererseits besteht bei aller Analogie und Gleichzeitigkeit von persönlichen Auseinandersetzungen aber doch ein ganz wichtiger Unterschied zwischen Therapeutin und Klientin: Die Therapeutin hat die Verantwortung für diesen Entwicklungsprozess, also Sorge dafür zu tragen, dass die Problematik und die psychische Befindlichkeit der Klientin durchgängig im Zentrum des Therapieprozesses stehen. Nur wenn dies gewahrt bleibt, kann sich die Therapeutin im Therapieprozess an zentralen Stellen persönlich zeigen und muss sich nicht hinter methodischen Ge- und Verboten verbergen. Siegfrieds Entwicklungsbegriff schließt also sehr stark die Subjektivität der Therapeutin mit ein. Enthalten sind all die Selbstwahrnehmungen, -reflexionen und Beurteilungen der Therapeutin, all ihre Möglichkeiten und Grenzen zur Vertiefung in die Klientin, all ihre Sensibilität im Umgang mit sich selbst und den eigenen Kränkungen, natürlich auch ihre Sensibilität im Umgang mit den Kränkungen der Klientin. Diese Sichtweise fällt wohl unter die Rogersche Grundkategorie der Echtheit und Kongruenz der Therapeutin. Generell stellen die Rogerschen Basiskategorien der therapeutischen Grundhaltung ein sehr hilfreiches Werkzeug bei der Erörterung des Entwicklungsbegriffes der PPT bereit. Bei den drei Basiskate-

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gorien »Empathie«, »bedingungslose Wertschätzung/Akzeptanz« sowie »Echtheit/Kongruenz« stellt sich nämlich m. E. die Frage, in welchem Verhältnis diese Kategorien zueinanderstehen: Ergänzen sie sich sozusagen in einem größeren Sinnzusammenhang oder stehen sie in einem Spannungsverhältnis zueinander und können sich teilweise auch widerstreiten? Für die zweite These spricht m. E. die Schwierigkeit, die darin liegt, dass nach der zweiten Grundkategorie einerseits die Therapeutin bei ihrem Eintritt in die Welt der Klientin – so wie es Rogers formuliert – ihr Selbst zur Seite legen, sie aber nach der dritten Grundkategorie der Klientin als reale und authentische Person gegenübertreten sollte, die mit ihrem Gefühlsleben in ständigem Kontakt steht. Abgesehen davon, ob es tatsächlich möglich ist, das eigene Selbst auch nur für kurze Zeit beiseitezulegen, stellt sich auch für mich die Frage, ob man nicht damit auch eines der wichtigsten Erkenntnisinstrumente der Psychotherapie beiseitelegen würde. Denn es ist für mich unvorstellbar, dass ein Verständnis der Persönlichkeit der Klientin auf der Basis einer Abstraktion von der eigenen Person herstellbar ist, also entweder auf der Grundlage eines nur theoretischen Wissens oder auf der Grundlage eines nur offenen und unbeschriebenen Empfindens. Klingelt es bei uns nicht ständig, wenn wir Anteil nehmen am psychischen Geschehen der anderen? Signalisiert uns dies nicht stets, dass das eine uns selbst bekannt und vertraut ist, während uns das andere schwer verständlich und fremd ist? Und lässt sich diese Klingel überhaupt jemals abstellen? Deshalb erachte ich es als angemessener, den Verständnisprozess als ein Spannungsverhältnis, ja als ein dialektisches Verhältnis zwischen Bekanntem und Unbekanntem zu begreifen, wobei sich die Entwicklung der Therapeutin darin abzeichnet, dass sie sukzessive ihr ursprünglich Unbekanntes, so weit wie ihr möglich, erschließt und somit ihr Selbst ständig entwickelt. Voraussetzung dafür ist aber zuallererst, dass der Therapeutin das, was sie aktuell erlebt, zu einem gewissen Maße auch tatsächlich bekannt ist, sie also ihre Gefühlsqualitäten wie z. B. Wut, Trauer oder Hilflosigkeit differenziert wahrnehmen kann und auch bestimmte Vorverständnisse über deren autobiografische Herkunft erschlossen hat. Dies sollte in der therapeutischen Ausbildung in der Selbsterfahrung und Supervision angeregt werden, was zugleich auch immer die Bereitschaft zu einem ständigen Dialog mit sich selbst einschließt. Auf dieser Basis wird die Therapeutin tatsächlich zwischen Bekanntem und Unbekanntem zunächst unterscheiden können. Doch was macht sie nun mit diesem »Gefühlsmaterial«? Meiner Ansicht nach sollte sie ihre Gefühle als ein vorläufiges Verstehen, sozusagen als Hypothesen behandeln, denn sowohl das Bekannte als auch das Unbekannte können trügerisch sein, weil es Bereichen entspringt, die unserem Bewusstsein bestenfalls nur teilweise zugänglich sind. Die Behandlung der eigenen Gefühle und deren Verständnis als Hypothesen

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machen die Therapeutin offen und zugänglich für die Welt der Klientin, denn – um im Bild zu bleiben – die Therapeutin braucht ja stets neues Material, um die Hypothesen zu prüfen und gegebenenfalls zu modifizieren oder gar zu korrigieren. Die ständige Suche nach neuem Material ist m. E. das, was Rogers »Empathie« nennt, also das Einfühlungsvermögen und die Bereitschaft der Therapeutin zum Miterleben auf der ständigen Suche nach dem, was es eigentlich ist, was die Klientin und damit auch sie selbst ständig beschäftigt. Auf dieser Suche werden wir ständig mit Fragen konfrontiert werden, die etwa so lauten können: Warum erlebe ich mich an dieser Stelle der Erzählung der Klientin emotionaler, als ich sie erlebe? Warum ärgert mich das, was sie sagt? Warum werde ich so müde? Warum bin ich in der Situation so strapaziert? Warum kann ich ihre Freude nicht teilen? Die Therapeutin sammelt also während einer Sitzung ständig Fragen an sich selbst in Bezug auf die Gefühlswelt der Klientin. Die Therapie ist allerdings nicht der Ort, an dem sich die Therapeutin ihren Fragen ausgiebig stellt, denn die Klientin gibt die Reise vor. Sie kann wieder an einem ganz anderen Ort sein, an dem sich andere Fragen auftun. Idealtypisch gedacht, sammelt die Therapeutin während der Sitzung Fragen, mit denen sie sich – und darin liegt auch ihre Verantwortung – außerhalb der Therapie in ihrer »Supervisionsfamilie« beschäftigt, um das Verständnis ihrer eigenen Gefühlswelt stetig zu erweitern. Auch wenn auf dieser Suche und in der ständigen Auseinandersetzung mit diesen Fragen ein endgültiges Ziel oder eine endgültige Antwort nicht zu erwarten ist, so bedeutet diese Beschäftigung ständige Entwicklung und Wachstum der eigenen Persönlichkeit und ist damit sowohl Widerspiegelung als auch Anregung zur Beschäftigung der Klientin mit sich selbst. Ich bin überzeugt davon, dass die Klientin sehr sensibel wahrnimmt, ob die Therapeutin sich diesem Prozess hingibt oder nicht – und je nachdem wird dies Motivation oder Blockade für ihre Auseinandersetzung mit sich selbst sein. Mit dem eben Erwähnten wollte ich verdeutlichen, dass das Spannungsverhältnis zwischen der bedingungslosen Akzeptanz der Klientin in der Therapie und der Kongruenz der Therapeutinnenpersönlichkeit immer ein Spannungsverhältnis bleibt und nie ganz aufzulösen sein wird. Die treibende Kraft für die Verringerung dieser Spannung ist zwar die Empathie der Therapeutin; diese führt aber zu weiteren Fragen, die das Verhältnis wieder von Neuem dynamisieren. So sind der Therapieprozess und die Entwicklung der therapeutischen Beziehung ein ständiges Ineinander- und Auseinanderziehen. Sie werden Identifikationen wie auch Befremdungen und Krisen zeitigen, denen sich die Therapeutin zu stellen hat. Dies ist keineswegs tragisch, sondern sehr lebensnah und damit wirksam. Es ist auf jeden Fall Entwicklung.

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Tragisch wäre vielmehr die selbstlose Vertiefung, um nicht zu sagen Vergrabung in die Klientin, oder die totale Identifizierung und Verschmelzung mit ihr. Dies wäre dann eine Art Symbiose, bei der eine Trennung späterhin nicht mehr denkbar wäre. Tragisch für die Klientin wäre auch der Umstand, dass sich die Therapeutin ihrer eigenen Gefühlswelt nicht annimmt, also ihre in der Therapie ausgelösten Emotionen unbearbeitet lässt und sich abschottet. Dies wäre für die Klientin in gewisser Hinsicht eine wiederholt traumatisierende Erfahrung, die sie bereits aus ihren Primärbeziehungen kennt, gegen die sie mit ihrem aus der Not heraus entwickelten un- oder überangepassten Verhalten anrennt und sich dabei von Neuem verwundet. Nach den Worten von Siegfried versucht nun die Pädagogische-Psychologische-Therapie, eine Klammer zwischen der allgemeinen Entwicklungsbedürftigkeit des Menschen auf der einen Seite und seiner allgemeinen Entwicklungsfähigkeit auf der anderen Seite zu bilden, und weist dadurch den am Institut für ppt angebotenen Verfahren ihren Platz zu. Aus den klinischen Erfahrungen und Erkenntnissen der Psychoanalyse (TP gab es damals noch nicht) könnten wir, so Siegfried, in puncto Entwicklungsbedürftigkeit sehr viel lernen, wenn wir die Entwicklungsbehinderung nicht als Versagung libidinöser Energie, sondern als Resultat schwacher Bindung mit der Folge von sozialer Ausgrenzung und Isolation begriffen. Von der Verhaltenstherapie könnten wir in puncto Entwicklungsfähigkeit sehr viel abschauen, wenn wir sie immer unter dem Schutz und der Gewährleistung eines qualitativ hochwertigen Bindungsangebotes einsetzen und sie mit pädagogischer Liebe beseelen würden. Er sei in dieser Hinsicht auch von meinen Vorstellungen von den Entwicklungsmöglichkeiten des kindlichen Spiels nicht weit entfernt. Siegfried beendete seinen Vortrag mit dem Hinweis, dass er mir – in Anbetracht meines Temperaments und meines Gestaltungswillens – die Verhaltenstherapie nahelegen wolle. Dieser Rat brachte mein Blut schon fast wieder in Wallung, da ich mich damals mehr der Psychoanalyse verpflichtet fühlte. Doch meine Gegenargumente verloren vor seinem väterlichen Blick zunehmend an Kraft, und letztlich tat der Wein sein Übriges. Ein Jahr nach diesem Gespräch bot mir das ppt eine Dozentenstelle an, zwei weitere Jahre später wurde ich Vorstandsmitglied und auf dieser Ebene Kollege von Siegfried, der meine damaligen Aufwallungen und Aufregungen um die weitere Entwicklungen unseres Institutes immer wieder mit seinen Worten, aber auch mit seinem Blick zu besänftigen vermochte. Gemeinsam machten wir uns an die staatliche Anerkennung des Instituts und gestalteten das entsprechende Curriculum, das wir zunächst an der Klammer zwischen PA und VT, zwischen Entwicklungsbedürftigkeit und Entwicklungsfähigkeit auszurichten versuchten. Unvergesslich bleibt mir auch Siegfrieds Blick während unserer Diskussion über die Erweiterung unseres Lehrangebotes um das sich neu formierende Verfahren

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der Tiefenpsychologie, und zwar just in dem Moment, in dem – wohl in alter Reminiszenz an meine früheren wissenschaftlichen Bemühungen – bei mir ein Impuls entstand, mich für dieses neue Verfahren zu erwärmen. Dieser Blick drückte für mich sowohl das Verständnis für meine Erwägungen als auch die Versicherung aus, dass ich mit der Verhaltenstherapie bereits meinen festen Ort in der psychotherapeutischen Landschaft gefunden hatte. Wichtig war es für Siegfried, bei seinem weiteren Wirken an unserem Institut und auch nach der staatlichen Anerkennung, dass wir uns gemeinsam weiterhin als eine Supervisionsfamilie begreifen, uns also aktiv und kollegial mit unseren jeweiligen Entwicklungsbehinderungen auseinandersetzen und nicht nach der Verfahrensdifferenzierung auseinanderdriften. In diesem Bestreben war seine Person auch immer eine Klammer zwischen den Verfahren und den sie vertretenden Personen. Ebenso wichtig war ihm, dass unsere Lehrgestaltung analoge Gruppierungen bei den Auszubildenden fördert und wir im Institut gemeinsam eine familiäre Atmosphäre schaffen, die unseren Auszubildenden den nötigen Rückhalt gibt, sich ebenfalls mit sich und ihren Entwicklungsbehinderungen auseinanderzusetzen und damit ihren Patientinnen ein entwicklungsförderliches, pädagogisch liebendes Bindungsangebot machen zu können. Die hier versammelten Mitarbeiterinnen und Auszubildenden mögen selbst beurteilen, wie wir mit diesem Vermächtnis von Siegfried seit seinem Ableben umgegangen sind. Ich wünsche mir natürlich, dass von Siegfrieds Geist bei euch allen möglichst viel übriggeblieben ist.

Rainer Brockmann

Siegfried Schubenz privat: Ein PS und gern auch ein paar mehr

Neunzehnhundertachtundsechzig. An den Unis war Aufstand. Neben dem OttoSuhr-Institut (OSI) war das Psychologische Institut (PI) einer der Hotspots an der Freien Universität Berlin. Das Institut war besetzt. Ein irreführender Begriff. Eigentlich war es frei wie nie zuvor. Es kamen viele Leute zu Besuch, auch solche, die lange nicht mehr oder nie an einer Uni gewesen waren. Es wurde rund um die Uhr diskutiert, musiziert, getanzt, gegessen und geschlafen. Irgendjemand baute sich im Hörsaal eine größere Menge von Bücherregalen. Man rückte respektvoll zur Seite. Die Mainstreampsychologie, als Herrschaftswissenschaft entlarvt, war bis auf Weiteres suspendiert. Ich war wissenschaftlicher Tutor und hatte mein Diplom erst vor einem Jahr erhalten. Nun fühlte es sich so an, als könnte ich das Dokument – jetzt wertlos geworden – wegschmeißen. Angst machte das nicht. Es herrschte Euphorie. Die Studenten trieb es auf die Straße. Am Bahnhof Zoo lieferten sie sich Straßenschlachten mit der Polizei. Die Tagesschau berichtete täglich. Pünktlich um 20:16 Uhr rief meine Mutter aus Westdeutschland an, ob ich noch wohlauf sei. Die neuen Ideen hatten nicht nur die Öffentlichkeit erobert, sie griffen auch ein ins Privatleben, ermutigten zu experimentellen Lebensentwürfen. Die »Kommune I« steht exemplarisch für diese Entwicklung. Siegfried Schubenz kaufte sich ein arabisches Hengstfohlen – Nirwan. Ein befreundeter Verleger überließ ihm ein voll erschlossenes Grundstück am Wilden Eber, beste Grunewaldlage und nicht weit weg vom PI. Er bestellte sich eine für Wohnzwecke geeignete Wohnbaracke, die er nach seinen Bedürfnissen geplant hatte. Zwei Wohnräume mit jeweils eigenem Eingang, ein Schlafraum sowie zwei weitere Räume für Küche und Bad. Der eine Wohnraum war für Nirwan, der andere für Siegfried. Nirwan konnte seine Eingangstür selbst bedienen. Die beiden Wohnräume waren durch eine Schiebetür getrennt, die Nirwan ebenfalls selbstständig öffnen konnte. Ob Nirwan auch in der Lage war, sie zu schließen, weiß ich nicht. Er hätte es sowieso nicht getan. Bei geöffneter Schiebetür trennte nur noch ein Balken Mensch und

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Tier. Nicht wirklich, denn Nirwans Kopf ragte in der Regel über den Balken hinweg weit in Siegfrieds Zimmer hinein, er war ein geselliges Tier. An der gegenüberliegenden Wand stand ein großes Sofa. Hier – Auge in Auge mit Nirwan – war Siegfrieds Lieblingsplatz. Hier empfing er seine Gäste, die es sich auf den zahlreich vorhandenen Sitzkissen bequem machen durften. Stühle waren in der Zeit out. Nicht jedem Besucher behagte die Nähe zu einem so großen Tier. Für solche Fälle konnte man die Schiebetür verriegeln. Erwünscht war es nicht, das spürte man. Viele halfen beim Aufbau des kleinen Hauses. Hier offenbarte sich eine der besonderen Fähigkeiten von Siegfried. Es gelang ihm mühelos, Menschen an sich zu ziehen und mit dem Gefühl einer gemeinsamen Sache tätig werden zu lassen. Dabei war es erlaubt, eigene Vorstellungen umzusetzen, sofern sie sich in sein Konzept einfügten. Der Kollege Siegfried Jäger kaufte sich ein isländisches Hengstfohlen, Jasir, und baute entsprechend an. Zwei Nachbarskinder, Uta und Kathrin, waren ständig im Einsatz. Ohne sie hätte die Versorgung der Tiere nicht geklappt. Zu ihren Aufgaben gehörte es u. a., die Tiere regelmäßig auszuführen. Da passierte es schon mal, dass sie sich an den Zierpflanzen in der Nachbarschaft gütlich taten. Siegfried wurde nach einigen Schadensmeldungen die Aufkündigung der Pferdehaftpflicht angedroht. Er war außer sich. Siegfrieds Mensch-Tier-Biotop blieb auch nach Abschluss der Bauarbeiten ein Ort von großer sozialer Anziehungskraft. Man ging hin, wenn man gerade nichts zu tun hatte oder einfach nicht allein sein wollte. Irgendjemand war immer da, manchmal auch Siegfried. Hier offenbarte sich eine weitere Besonderheit: Siegfried war unglaublich kontaktstabil. Sein Haus war immer für alle offen. Nie habe ich ihn abweisend erlebt oder Ruhe einfordernd. Selbst wenn er für einen Moment einnickte, war das keine Aufforderung, ihn allein zu lassen. Angemessener erschien es, selbst ein Nickerchen zu machen. Auch hinsichtlich der Anzahl der Besucher, die ihn gleichzeitig aufsuchen durften, gab es keine Grenzen. Je mehr, desto besser, schien die Regel. Häufig gingen wir abends mit Siegfried in den Altensteiner Krug. Da gab es leckere Bratkartoffeln ohne Alles und preiswertes Bier. Es war immer voll und die Stimmung revolutionär. Beliebt waren auch Besuche im Capitol, dem Hauskino der FU. Bevorzugt wurden französische Krimis, allen voran solche mit Eddi Constantine mit wegweisenden Titeln wie Und zum Nachtisch blaue Bohnen oder Auf Ihr Wohl, Herr Interpol! Unvergessen: Eddi und der blonde Satan. Wenn Eddi zum Angriff überging, sei es, um einen Gegner zu Boden zu strecken oder um eine schöne Frau zu erobern, griffen die Besucher zur mitgebrachten Perkussion, um sie unter anfeuernden »Eddi-Eddi«-Rufen in Betrieb zu nehmen. Es entstand ein ungeheuerliches Getöse und es war Katharsis.

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Dem aufrührerischen Zeitgeist gemäß waren die Helden in diesen Filmen die Gesetzesbrecher und nicht die Gesetzeshüter. Selbst Jean Gabin spielte damals in seinen besten Krimis den intelligenten und charmanten Obergangster, der die Polizei alt aussehen ließ. Wunderbare Identifikationsobjekte für die auf Widerstand gegen die Staatsgewalt eingeschworenen Studenten. Ein verlorenes Genre. Inzwischen war die Tierwelt durch eine weitere Art bereichert. Ich hatte ein Flugentengelege besorgt und dieses nach Lorenz’scher Art am Institut für Geflügelzucht ausbrüten lassen. Bald lief ich – gefolgt von einer Perlenschnur gelber Piepmätze – durch das Gelände. Bis auf ein Pärchen – Otto und Twiggy – wurden alle an der Havel ausgesetzt. Das Pärchen sorgte dafür, dass für Jahre der Nachwuchs gesichert war. Ab sofort war es allerdings riskanter, das Grundstück zu betreten. Otto war ein eifersüchtiger Erpel. Wer ihm bedrohlich erschien, der wurde in geduckter Haltung laut zischend angesteuert und in die Wade gezwickt. Meistens traf es das weibliche Geschlecht. Neben meiner Anstellung als wissenschaftlicher Tutor arbeitete ich über Werkvertrag als Kinderpsychotherapeut an der Erziehungsberatungsstelle Steglitz. Oft ging ich mit meinen Jungengruppen auf Siegfrieds Grundstück. Interessiert beobachteten wir die Dynamik, die die Begegnung mit den Tieren in der Gruppe auslöste. Eine Vorstellung von tiergestützter Psychotherapie gab es damals im deutschsprachigen Raum noch nicht, aber die Idee war nun geboren. Hier wird deutlich, wie schwer es ist, über Siegfrieds Privatleben zu schreiben, zumindest eines, das von seinem Berufsleben trennbar war. Gelingen kann nur eine Art Perspektivwechsel. Siegfried war immer und in erster Linie Psychologe in seiner ganz besonderen Art. Davon ließ er sich weder an der Uni abbringen noch beim Bier in der Kneipe oder bei sich zu Hause. Sein psychologischer Rigorismus schimmerte überall durch, manchmal schoss er über und konnte dann sehr irritierend sein. Ich habe eine Pferdehaar-Allergie, ein schweres Erbe in der Beziehung zu Siegfried. Nach einigen Stunden in seinem Haus begannen die Bronchien zu pfeifen. Als es einmal besonders heftig war, schaute er mich nachdenklich an: »Ich glaube, Du hast was gegen mich.« Er konnte richtig piksen, wenn ihm danach war. Neunzehnhundertdreiundsiebzig. Siegfrieds Mensch-Pferd-Idylle musste aufgegeben werden. Der Grundstückseigentümer wollte bauen. Sein Haus steht noch heute, eine große Villa im Gasometerstil. An der Uni war es ruhiger geworden, aber nur ein bisschen. Das Psychologische Institut hatte sich gespalten. Es gab nun ein linkes und ein rechtes Institut, in zwei unterschiedlichen Fachbereichen. Vom Professor bis zum Erstsemester hatte sich jeder zuordnen müssen. Viele Beziehungen blieben auf der Strecke. Siegfried Schubenz verlor seinen väterlichen Freund und Mentor Professor Hörmann, mit dem er aus Göttingen nach Berlin gekommen war. Es schien

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jedoch eher eine Befreiung als ein Verlust zu sein. Sein Outfit wandelte sich z. B. sofort. Früher stets korrekt gekleidet im dunklen Anzug mit Krawatte, trug er jetzt Sweatshirts und Jeans und im Gesicht einen wilden Bart. Allein die Goldrandbrille hielt Gegenwart und Vergangenheit zusammen. Eine neue Form des Studiums entwickelte sich am PI. Den akademischen Überbau lieferte Klaus Holzkamp mit seiner Kritischen Psychologie. Das wirklich Neue jedoch war das praxisintegrierende Studium mit seinen zahlreichen Projekten, von denen Siegfried – inzwischen Professor geworden – gleich mehrere initiierte. Privat stand Siegfried vor der Notwendigkeit, für sich und Nirwan ein neues Zuhause zu finden. Nach einigen Zwischenlösungen fand er in Düppel ein etwa 10 000 qm großes, umzäuntes ehemaliges Postgrundstück, Bauerwartungsland für den alliierten Wohnungsbau. Strom musste gelegt, ein Brunnen gebohrt werden. Ein Wohncontainer diente den Menschen als Aufenthalt, da nicht gebaut werden durfte; Unterstände für Pferde waren erlaubt. Nirwan hatte nun kein eigenes Zimmer mehr, dafür bekam er eine hübsche Araberstute, die bald ein Fohlen zur Welt brachte. Er dürfte mit dem Tausch zufrieden gewesen sein. Alte und neue Freunde schlossen sich dem neuen Projekt an, mit oder ohne Pferd. Bald tummelte sich eine kleine Herde auf dem Gelände – und Hunde, schöne Hunde. Es war sicher kein Zufall, dass sich die Kollegin Helga Renfordt, passend zu den Araber-Pferden, für persische Windhunde entschied (Salukis), als sie ihre Hundeliebe entdeckte. Die Tiere wurden zu Therapiehunden ausgebildet und im Kindertherapieprojekt über viele Jahre zur Behandlung ängstlicher Kinder eingesetzt. Siegfried nahm sich eine kleine Wohnung in der Fischerhüttenstraße und er lernte seine spätere Frau Margret kennen. Neunzehnhunderteinundachtzig. Siegfried und Margret wurden Eltern von Marie. Zusammen mit Helga Renfordt und ihrem Mann zog die Familie in ein Einfamilienhaus in der Pfarrlandstraße. Zwei Jahre später heirateten Siegfried und Margret – heimlich. Man darf vermuten, dass ihm die schrittweise Verbürgerlichung seiner Existenz zu schaffen machte, geredet hat er darüber nicht. Die Familiengründung und die Bautrupps, die sich trotz einer Bürgerinitiative zur Rettung des Düppeler Feldes immer näher an das Pferdegelände heranarbeiteten, verlangten eine neuerliche Zukunftsplanung. Traum war der Kauf eines Bauernhofs in Westdeutschland, möglichst mit Freunden zusammen. Interessenten gab es viele. Nach umfangreichen Recherchen war 1984 ein entsprechendes Objekt gefunden. Ein über 400 Jahre alter reetgedeckter Bauernhof in der Lüneburger Heide. Das Haupthaus hatte das Ausmaß eines Kirchenschiffes und es gab genügend Nebengebäude für die Freunde. Lintzel heißt der winzige Ort in der Nähe

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von Uelzen, einen Steinwurf entfernt von der Heide. Siegfried war angekommen, auch wenn er mit dem Kauf vor erheblichen Herausforderungen stand. Die Reparatur des großen Reetdaches war nur eine davon. Nirwan samt Stute und Fohlen zogen mit in die Heide. Andere Pferde des Postgeländes, für die Siegfried sich verantwortlich fühlte, bildeten die Grundausstattung für das Pferdeprojekt auf der Domäne Dahlem. »Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen unter Einsatz von Pferden« hieß es mit vollem Namen. Siegfried lebte ab jetzt an zwei Orten. Seine Familie mit inzwischen drei Kindern (Marie, Paul und Clara) blieb in Lintzel, er selbst war dort nur an den Wochenenden, sonst in wechselnden Quartieren in Berlin. Eine Pendelexistenz, wie sie vor dem Mauerfall häufig war. Trotz des Umzugs in die Heide und entgegen anfänglicher Befürchtungen konnte Siegfried mit den Gründungen des Pferdeprojekts und des Instituts für Psychologische Psychotherapie sein Engagement in Berlin noch steigern. Wir Kollegen machten uns keine Sorgen um ihn, bis ihm sein Körper 1989 eine deutliche Warnung zuteilwerden ließ. Er erlitt einen Herzinfarkt, musste sich einer aufwändigen Bypassoperation unterziehen und war mehr als ein halbes Jahr krankgeschrieben. Jetzt zahlte sich aus, dass er ein Meister der Delegation war. Seine Projekte liefen weitgehend unbeschadet weiter. Das Landleben, vor allem das Zusammensein mit Nirwan, trug sicher viel zu seiner Genesung bei. Als Reitpferd war Nirwan allerdings ungeeignet. Er litt an einer angeborenen Fesselschwäche und Siegfried war ein schwerer Mann. Die bevorzugte Aktivität der beiden waren und blieben gemeinsame Spaziergänge in der Heide. Aber er hatte ja noch andere Pferde, auf denen Ausritte möglich waren, oft mit Margret zusammen. Ein leidenschaftlicher Reitersmann ist Siegfried nicht geworden. Ihm ging es ohnehin eher um die Beziehung zu den Tieren. Ob es an Nirwans schwachen Fesseln lag oder an Siegfrieds überemphatischer Beziehung zu ihm, die nicht jeder gelassen hinnehmen konnte – irgendetwas musste passiert sein bei einem Besuch des örtlichen Hufschmieds, den man ja braucht als Pferdebesitzer. Siegfried wirkte traumatisiert, wenn es um diesen Berufsstand ging. Einmal erzählte er, dass klassische Hufschmiede einen großen Holzhammer parat hätten, mit dem sie Pferden mit voller Wucht auf die Brust schlagen, wenn diese Mätzchen machten. Hatte Nirwan etwa Mätzchen gemacht? Was immer da auch geschehen war, es war wohl der Auslöser für Siegfrieds jahrelange Arbeit an einem Hufüberzieher aus Silikon, der das Hufeisen ersetzen sollte. Die Prototypen überzeugten, eine Vermarktung gelang jedoch nicht. Die traditionell ausgerichtete Zunft der Reiter klebt ganz offensichtlich am Eisen. Nirwan wurde alt, sehr alt. Siegfried zog mit ihm seine Runden, solange dieser laufen konnte, ein schneeweißer ausgemergelter Pferdegreis. Einigen Nachbarn

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gefiel der Anblick nicht. Sie erlebten es als Tierquälerei und ließen Siegfried nicht im Unklaren darüber. Es ist in Deutschland offensichtlich nicht üblich, Nutztiere alt werden zu lassen. Nirwan durfte es. Neunzehnhundertsiebenundneunzig. Nach seiner Emeritierung im Jahr 1997 trat Siegfried der örtlichen SPD bei. Er wollte politisch noch etwas bewirken. Als Parteisoldat mit viel Arbeit und wenig Einfluss taugte er jedoch nicht. Enttäuscht zog er sich zurück. Erfolgreicher war er über viele Jahre als Psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis in Uelzen. Als Familienvater hatte Siegfried es nicht leicht. Seine Erziehungshaltung war ausgeprägt antiautoritär. Siegfried wollte nicht erziehen, sondern beim Wachsen helfen, wie bei den Studierenden an der Uni. Das fand jedoch seine Grenze in dem Anspruch der Kinder, auch einmal ein »Machtwort« zu hören, zu erfahren, was er für richtig und was für falsch hielte. Ich habe ihn in keinem Zusammenhang so verunsichert erlebt wie in diesen »Erziehungsfragen«. Wenn man Siegfried als Privatperson gerecht werden will, dann darf man seine zweite Leidenschaft nicht unbenannt lassen, auch wenn sie weniger Raum einnahm als seine Pferdeliebe. Siegfried war ein Autofan! Vom Unimog über den großen Audi bis zum Luxusliner von Citroen – er hatte viele Autos und wechselte häufig. Er war treuer Abonnent von auto motor und sport und diskutierte gern über technische Neuerungen im Automobilbau. In seinem sozialwissenschaftlich geprägten Umfeld fand er jedoch nur wenig Gelegenheit dazu, am ehesten vielleicht bei Margret. Sie fuhr Motorrad. Siegfried fuhr gerne schnell und das forderte er auch ein, wenn er chauffiert wurde. »Warum fährst Du denn so langsam?«, rüffelte er mich auf einer gemeinsamen Fahrt zu einem auswärtigen Seminar. Ich fuhr 180 km/h. Ein Kollege brachte es auf 200 km/h, Siegfried war zufrieden. Etliche Jahre nach seiner Emeritierung rief er mich an. Er wollte sich in Berlin ein Auto kaufen. Wir fuhren in die Bruno-Taut-Siedlung in Zehlendorf. Vor einem Haus stand ein Mungo von Auto-Union im Originalzustand. Der Kübelwagen der Bundeswehr der 1970er Jahre und der Traumwagen von jungen Männern, um damit bei gutem Wetter den Ku’damm rauf und runter zu fahren. Bei der Probefahrt pfiff der Wind durch das Verdeck, mir wurde kalt. »Willst Du mit dem Ding jetzt bis in die Heide durchbrettern?«, fragte ich besorgt. Er schaute mich an, als verstünde er nicht. Wahrscheinlich war ich es wieder einmal, der nicht verstand. Sein letztes Auto war ein Citro[n Berlingo, den er campinggerecht ausgebaut hatte. Mit Margret zusammen fuhr er damit oft auf Reisen, auch nach Berlin. 2006 trafen wir uns auf dem Campingplatz »Himmelreich« in Caputh. Er hatte ein neues Hobby gefunden und noch viele Reisen vor.

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Zweitausendsieben. Seine nächste Reise entschied anders. Der 19. September 2007 war ein ganz normaler Tag in Lintzel. Nach dem Frühstück las Siegfried wie immer die Tageszeitung und brachte sie anschließend zum Nachbarn Uli, wie fast jeden Tag. Als Uli die Zeitung um 15 Uhr zurückbrachte, fand er Siegfried tot in der Küche liegend. Sein zweiter Herzinfarkt ließ ihm keine Chance. Es gab keine Vorwarnung, wenig Tage zuvor war er noch zum Fitnessstudio geradelt. Siegfrieds Beerdigung am 28. September 2007 glich einem Volksfest. Es war ein sonniger Herbsttag. Weit über hundert Menschen waren angereist, die meisten aus Berlin. Viele kannten sich. Siegfrieds Sarg stand gut sichtbar unter einem Vordach, sein Reiterhut obenauf. Ringsumher eine Menge Tische und Stühle. Margret hatte vorgesorgt. Zahlreiche Helferinnen bewirteten die Gäste mit Getränken und selbstgebackenem Kuchen. Es herrschte eine angeregte Stimmung. Einige Gäste fingen an, ihre vorbereiteten Reden zu halten. Spontane Beiträge folgten. Fast jeder hatte etwas zu sagen. Es wurde immer lebendiger und es wurde viel gelacht. Nicht Trauer beherrschte das Geschehen, sondern das heitere Glück, jemanden gekannt zu haben wie Siegfried. Der Friedhof wirkte erstaunlich naturbelassen. Siegfrieds offenes Grab, an dem man Abschied nehmen konnte, lag separat an einem Grashang, der Abendsonne zugeneigt, die alles in ein goldenes Licht tauchte. Von hier aus hatte man einen herrlichen Blick weit in die Heidelandschaft hinein, über Pferdekoppeln und verstreute Bauminseln hinweg. Ich dachte, schön hast Du es hier, Siegfried!

Henning Siemens

Erinnerung an Siegfried Schubenz

Ich erinnere mich an Siegfried Schubenz als meinen Lehrer, älteren Freund und erfahrenen Kollegen. Siegfried war ein Humanist, der den Menschen und das menschliche Wohl in das Zentrum seines tätigen und forschenden Interesses gestellt hatte. Er vertrat einen humanistischen Optimismus bezüglich der Entwicklungsmöglichkeiten von Einzelnen und Gemeinschaften sowie der Wege, ihre Entwicklungsbehinderungen zu minimieren bzw. ihnen entgegenzuwirken. Lern- und Entwicklungsfähigkeit sind, so sein Standpunkt, naturgegeben. Finden jedoch Lern- und Entwicklungsprozesse nicht oder nur in eingeschränkter, unangemessener Weise statt, so muss dieses Phänomen wissenschaftliches Erstaunen erwecken, auf die einschränkenden Bedingungen hin erforscht und mit geeigneten menschlichen und optimierten methodischen Angeboten korrigiert werden. Siegfried erforschte solche strukturellen Einschränkungen (»Entwicklungsbehinderungen«) und vertrat in Forschung, Lehre und im persönlichem Handeln einen wissenschaftlich-tätigen Entwicklungsoptimismus für diejenigen, die von diesen Einschränkungen besonders gravierend betroffen waren. Nach der Ausarbeitung und Erprobung seiner ursprünglichen, methodisch nach Lern- und Sprachgesetzmäßigkeiten ausgearbeiteten Morphemmethode – als Leitfaden zur Vermittlung von Schriftsprache insbesondere für benachteiligte Legastheniker – war er in seiner weiteren Entwicklung offen für Methoden und Hilfsmittel aller Art, deren Ausarbeitung er in seinen verschiedenen Projekten vorantrieb bzw. unterstützte. Niemals verabsolutierte er aber eine Methode – und vor allem setzte er Methoden nie vor eine förderliche menschliche Beziehung, geschweige denn an ihre Stelle. Nach Gründung des Legasthenie-Zentrums (LZ) hatte ich, ein noch unsicher schwimmender Psychologiestudent, die Chance, mit Siegfried gemeinsam (gemäß unseres »Zwei-Therapeuten-Prinzips«) eine Therapiegruppe für legasthene Schüler zu leiten, um diesen die Integration in eine gelingende Grundschullaufbahn mit Lese- und Rechtschreibkompetenz zu ermöglichen. Anderenfalls drohte ihnen die Aussonderung in eine Sonderschule für Lernbehinderte (Aussonderung und die damit einhergehenden Stigmatisierungen sind an sich

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Henning Siemens

entwicklungseinschränkende Faktoren und sollten daher vermieden werden). Tatsächlich wurden wir als universitäre Theoretiker und therapeutische Anfänger (ich jedenfalls) in der beginnenden Praxis zunächst fast erschlagen von ausufernden und divergierenden Verhaltensauffälligkeiten und Konkurrenzkämpfen unserer Klienten, die primär nach dem Kriterium der Lese-Rechtschreibschwäche zu einer Gruppe zusammengestellt worden waren. Wir verfügten nicht über die üblichen »pädagogischen« Motivierungs- und Disziplinierungsinstrumente und waren folglich zu Beginn in vielen Situation hilflos. Da es anderen Kollegen damals ähnlich ging, fanden neben dem regelmäßigen Erfahrungsaustausch unter uns auch heftige Diskussionen über das Für und Wider von verhaltenstherapeutischem Motivations- bzw. Disziplinierungsinstrumentarium statt (schließlich kamen wir ja aus dem damals lern- und verhaltenspsychologisch dominierten Psychologischen Institut PI). Zu dessen konsequenter Anwendung mochten wir beide uns jedoch niemals ganz durchringen, da wir unsere Klienten schließlich nicht »behandeln« wollten, sondern ein therapeutisches Bündnis mit ihnen in einem herrschaftsfreien therapeutischen Raum anstrebten, frei von Autoritarismus und Angst, zur Erweckung eigener Motivation und Initiative. Nebenbei entsprachen extrinsische Motivations- und Disziplinierungsmittel uns beiden auch menschlich nicht. Aber was wir damals entwickelten und ich grundlegend lernte – ich als Student im Ringen mit der Hilflosigkeit, Siegfried mehr aus Erfahrung und gefestigter therapeutischer Einstellung –, war das therapeutische Prinzip des Verstehens: Nach jeder Gruppensitzung besprachen wir so lange die Gruppendynamik und das Agieren jeden einzelnen Kindes, bis wir die subjektive und situative Sinnhaftigkeit bzw. Notwendigkeit jeder Aktion, Reaktion und Eskalation nicht als willkürlich oder gar »bösartig«, sondern als unumgänglich aus den gegebenen Bedingungen und Voreinstellungen jedes Handelnden begriffen hatten. Für mich war die damals mit Siegfried gewonnene Erkenntnis prägend und beruflich richtungsweisend, dass auch destruktive Fehlverhaltensweisen nicht zuerst einer Willkür oder charakterlichen Mängeln entspringen (Systeme persönlichkeitsdisponierender Charakterstrukturen lernte ich erst später kennen), sondern einer inneren und äußeren Notwendigkeit – im Wortsinne also, um eine subjektive Not zu wenden. Das zu verstehen und dabei zu helfen, diese Not effektiver zu wenden, ist die therapeutische Aufgabe. Erst ein alternativ zu schaffender Beziehungsrahmen kann – zunächst von außen wirkend und unter fortgesetzter Beständigkeit nach innen dringend – die alte, strukturell bestimmend gewordene Not wenden. Mein Credo, dass die unterstützende therapeutische Beziehung Vorrang vor jeder therapeutischen Methodik haben muss, entstand damals in dieser gemeinsam erarbeiteten Erfahrung mit Siegfried. Es leitet bis heute meine Arbeit, auch wenn wir heutzutage – im Gegensatz zu

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früher – aus einem fast unüberschaubar gewordenen unterstützenden Methodenfundus schöpfen können. In der sich damals wiederholt stürmisch entfaltenden Gruppendynamik machten wir zudem die fast magisch wirkende Erfahrung, dass die auf ein gefühltes Desaster folgende Gruppensitzung stets anders verlief, als wir sie sorgenvoll erwartet hatten. Als hätte unser Ringen um Verstehen in der Nachbereitung ein Wunder bewirkt; als sei dieses empathische Verstehen das eigentliche therapeutische Medium mit einer erstaunlichen Wirksamkeit gewesen; als hätten wir in der Zwischenzeit mit allen einzelnen Geistern gerungen, nicht um sie zu besiegen, sondern um sie zu einem Gruppengeist werden zu lassen. Diese Erfahrungen haben sich seither oft bestätigt, viele kennen Ähnliches aus Superund Intervisionsklärungen. Es ist, als hätten die Klienten gelauscht, sich verstanden und angenommen gefühlt. In dieser ersten unserer Gruppen und im Team mit den Kollegen ergaben sich im Verlauf mehrere Ideen und Anregungen, die wir in der Folge zunehmend ausbauen sollten: – Wir experimentierten mit verschiedenen Sprach- und Schreibmedien, mit Tonbandgeräten oder Schreibmaschinen. Siegfried war davon überzeugt, dass für Menschen mit Lernbehinderungen nur die besten technischen Lösungen in Frage kommen, also nicht die alte mechanische Schreibmaschine, auf der ich gerne hämmerte: Es sollten moderne elektrische sein. Später setzten wir unter Anleitung erfahrener und experimentierfreudiger Kollegen die ersten bezahlbaren Computer ein, die im Wesentlichen mit schriftsprachlichen Programmen liefen. Das wurde die Geburt des »CUU-Projekts« (ComputerUnterstützter Unterricht). – Um den Erfahrungsraum unserer Berliner Stadtkinder zu erweitern und den Gruppenzusammenhalt durch gemeinsame Explorationen zu unterstützen, machten wir Ausflüge zu Siegfrieds Pferdegrundstück in Düppel, ein eingezäuntes kleines Paradies am Rande der Stadt (im Wortsinn: direkt an der damaligen Mauergrenze gelegen, ein ursprünglich streng bewachtes Grundstück für amerikanische Kalte-Kriegs-Sendeantennen). Für unsere Kiezkinder war das eine neue Welt, mit freilaufenden Pferden und Hunden, denen man nicht mit Angst begegnen brauchte, sondern nur mit Respekt und Einfühlungsvermögen. Hier entstanden erste Ideen für eine tiergestützte Therapie, aus denen später das »Pferdeprojekt« wurde. In Düppel hatte Siegfried in einem Wohncontainer eines seiner Domizile aufgeschlagen. Er war bereit, alle Interessierten – Pferdeleute wie Kollegen, aber auch Klienten – in diesen erweiterten persönlichen Lebensbereich einzubeziehen. Inwieweit dies entwicklungsförderlich ist oder zu einer Abhängigkeitsbeziehung und Belastung für Therapeuten wegen fehlender Abgrenzung führen

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kann, wurde in der Folge erprobt und innerhalb des gesamten sich bildenden Pferdeteams diskutiert. Diejenigen Kinder unserer Gruppe, die offensichtlich am schwersten geschädigt waren, überführten wir zuletzt in eine nachfolgende Phase der Einzelbetreuung. Auch hier galt: weniger Methode, keine »Behandlung«, mehr anerkennende Zuwendung, Geduld und ein hartnäckiger therapeutischer Optimismus – Siegfrieds Grundeinstellung. Auch wenn Siegfried mir in seiner Kenntnis strukturierter Lernprozesse und institutioneller Erziehungsberatung voraus war, sehe ich rückblickend: Es war mutig, mit wie wenig Therapiekenntnissen wir uns in das komplexe Gebiet der Lernschwächen, neurotischen Entwicklungsbehinderungen und krassen Verhaltensauffälligkeiten in vivo hineingewagt haben – und letztlich beachtlich erfolgreich. Unsere Mittel waren optimistische Zuwendung, der Austausch, das forschende Begreifen bedingender Zusammenhänge und die Erarbeitung der »Not-wendenden« Beziehungsund Sachangebote. Das war lebendige Wissenschaft. Im Umkreis von Siegfried Schubenz geschah viel. Er war (im naturwissenschaftlichen Bild) wie ein »Kondensationskern«, um den herum sich etwas manifestiert, ein Art »Katalysator«, der bestimmte Prozesse erst ermöglicht. Um ihn herum bildeten sich wiederholt Gruppen von einschlägig interessierten, oft auch freundschaftlich verbundenen Menschen: – Da waren seine universitären Kollegen, mit denen er zeitweise zusammenlebte und schrittweise das Studium am PI in Richtung eines curricular aufgebauten Studiums reformierte (auch an Klaus Holzkamp sei in diesem Zusammenhang gedacht). Als ich 1968 zu studieren begann, gab es kein für mich erkennbares Curriculum am PI. Als Student im ersten Semester war man alleingelassen (das noch verständlichste Angebot war das Tutorium von Rainer Brockmann). Siegfried vertrat in der Ausdifferenzierung des Studienangebotes im Schwerpunkt die Sinnhaftigkeit des Projektstudiums als Integration von Theorie, Praxis und Forschung. Ich selbst konnte mich als junger Student erst für die Psychologie begeistern und vermochte psychologische Zusammenhänge erst ansatzweise zu durchdringen, als ich in meinem dritten Semester in ein solches »Projekt« ging. Erst auf dieser, mit der Arbeit mit lebenden Menschen verbundenden, Erfahrungsbasis erschlossen sich mir weitere psychologische Zusammenhänge. – Da war das Legasthenieprojekt, in dem am Anfang neben lehrenden Psychologen und Psychologiestudenten auch nicht-akademische Praktiker mitarbeiteten. Mit diesen zusammen wurde dann der gemeinnützige Verein »Legasthenie-Zentrum« als Praxiseinrichtung gegründet – mit seiner spezifischen Verbindung zu Siegfried und dem PI in Lehre und Forschung. – Daraus und mithilfe weiterer außeruniversitärer Pferdeleute, mit denen Siegfried im Team zur offenen, artgerechten und menschennahen Pferde-

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haltung auf seinem hierfür idealen Düppeler Grundstück arbeitete, entwickelte sich das Pferdeprojekt, das später auf ein Grundstück der Freien Universität in der Domäne Dahlem wechselte, um vollständig in ein eigenes universitäres Forschungsprojekt umgewandelt zu werden. Innerhalb des LZ wuchs unter der Leitung von Siegfried und einigen computerbegeisterten Kollegen das CUU-Projekt heran, in dem zunehmend eigene Arbeits- und Trainingsprogramme entwickelt wurden. Parallel zum LZ wurde das Kindertherapie-Zentrum KiTZ als eigenständiger Praxis- und Ausbildungsverein gegründet, später weitere Therapievereine in Berlin. Auch ganze Studiengruppen anderer Universitäten besuchten uns zur Durchführung von Praktika und zur Erfahrungsgewinnung für die spätere Gründung eigener Therapieeinrichtungen am Heimatort. Für mich selbst, wie für andere Studenten, war die Mitarbeit im Projekt ein Teil meiner Ausbildung zum Psychologen. Dies galt auch für die anderen, nachfolgenden Studenten, die zunächst Praktika in den schon bestehenden Gruppen absolvierten, bevor sie eigene therapeutische Verantwortung übernehmen konnten. Schließlich zeichnete sich auf dem sich rasant entwickelnden Therapiemarkt der 1970er und 1980er Jahre rasch die Notwendigkeit einer zusätzlichen berufsqualifizierenden Postgraduierten-Ausbildung ab. So gründeten wir unter Siegfrieds universitär-wissenschaftlicher Leitung und Schirmherrschaft das Institut für ppt.

Siegfried konnte sich für alle neuen Ideen begeistern. Er beteiligte sich intensiv an der Ausarbeitung der Ideen, half allen Projektgruppen und gegründeten Einrichtungen freundschaftlich und blieb mit ihnen meist formell als wissenschaftlicher Leiter, Beirat oder Verbindungsperson zur Universität verbunden. Auf ihn als wissenschaftlich-fachliche Autorität konnten sich alle berufen, mit ihm konnte man sich beraten. Aber er sah sich selbst allenfalls als ein primus inter pares. Eine richtungsbestimmende, gar autoritäre Leitung lag ihm fern, genauso fern wie die therapeutische »Behandlung« von »Patienten«. Er verweigerte die Übernahme des traditionell ärztlichen Paradigmas, nach dem die Fachautorität Arzt den passiv leidenden »Patienten« zum Zwecke der Heilung »zu behandeln« hat. Siegfried sprach nur von »Klienten« und vertrat die Psychotherapie vehement als einen herrschaftsfreien Raum (wie natürlich auch die lehrende und forschende Wissenschaft). Diese Haltung nahm er in seiner Zusammenarbeit mit allen formellen und informellen Beziehungsgruppen ein, ebenso wie in Forschung und Lehre am PI sowie in allen durch seine Mitarbeit gegründeten und gewachsenen Einrichtungen.

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Ein persönliches Projekt Siegfrieds wurde nicht zu einem wissenschaftlichen: Zusammen mit seiner Frau Margret und seiner entstehenden Familie sowie einigen Berliner Freunden aus dem Umfeld des alten Düppeler Pferdegrundstücks erwarb er einen Resthof mit mehreren Gebäuden in der Lüneburger Heide. Auch in dieser informellen Gruppe hatte er nach meiner Kenntnis wieder die Stellung als ein integrativ wichtiger, ermutigender Partner, Freund und Nachbar, in dessen Umfeld eine neue, weitere Gemeinschaft Gestalt annehmen konnte – ein weiteres »Zentrum«.

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Psychische Störung als Beziehungsgeschehen

Im Rahmen des von Siegfried Schubenz geleiteten Kindertherapieprojekts an der FU Berlin gab es auch ein sich vor allem auf Theorien von Wolfgang Jantzen beziehendes Projekt, das sich der psychotherapeutischen Versorgung von schwerst-mehrfach behinderten Kindern und Jugendlichen annahm. Wolfgang Jantzen war bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2006 Professor für Behindertenpädagogik an der Universität Bremen. Das sogenannte »Behindertenprojekt« als Bestandteil des von Siegfried Schubenz geleiteten Kindertherapieprojekts kooperierte mit der Spastikerhilfe Berlin e. V. Ich selbst war Student in diesem Projekt. Mein Motiv, diesen Artikel zu schreiben, speist sich aus einem Unbehagen an einer sich immer weiter »technisierenden« Praxis in der Psychotherapie und an problematischen theoretischen Grundlagen einer Psychotherapie, die diese Entwicklung begleitet und in gewisser Weise auch mit ermöglicht. Lange dachte ich, dass eine kultur- oder geisteswissenschaftliche Grundlage, wie sie z. B. typisch für psychodynamische Verfahren ist, eine hinreichende Immunität gegen Technisierung in der Psychotherapie böte. Aber ich musste erkennen, dass das ziemlich naiv ist. Mit dem Geist gegen wirtschaftliche und gesellschaftliche Prozesse anzutreten – dabei gewinnen immer die Windmühlen! Theoretiker wirken dabei nicht selten wie der Ritter von der traurigen Gestalt aus Cervantes Roman Don Quijote. Die Windmühlen gesellschaftlicher Entwicklungen, die eine Normativität des Faktischen schaffen, setzen sich allerdings nicht unmittelbar durch. Damit aus Normen eine Praxis wird, müssen sie zunächst mittels Begriffe und Konzepte durch unser Gehirn hindurch. Und einer der für unsere Praxis wichtigsten Begriffe ist nun mal der der psychischen Störung. Mit diesem Begriff und seiner Bestimmung haben sich Siegfried Schubenz und Wolfgang Jantzen von ähnlichen Prämissen ausgehend, aber in unterschiedlicher Weise, auseinandergesetzt. Ihre »Begriffsgeschichten« haben mich beruflich begleitet. Ich habe mich von ihnen immer mal wieder entfernt und bin darüber hinaus gegangen. Aber sie haben mich auch immer wieder eingeholt. Ich möchte die Konzepte von Schu-

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benz und Jantzen hier einer kritischen Würdigung unterziehen und ihre Relevanz für die Gegenwart und aktuelle Entwicklungen darlegen. Zentral bei beiden Autoren ist eine Verbindung der Konzepte von psychischer Störung und Beziehung. Nun ist das Thema Beziehung und psychische Störung bereits von anderen, beginnend bei Freud, vielfach bedacht worden. Aber Schubenz und Jantzen wagten etwas Neues. Sie schufen nicht neue Konzepte des Zusammenhangs von psychischer Störung und zwischenmenschlichen Beziehungen und reihten sich so neben bestehenden Theorien ein. Sie dachten psychische Störung als Beziehungsgeschehen, also Beziehung und deren Prozesshaftigkeit als Kern, als Wesen psychischer Störung. Um den Unterschied zu den bis dato bestehenden Theorien darzulegen, umreiße ich zunächst kurz einige der Kennzeichen der allgemein anerkannten Theorien.

Zur Kritik der »Psychischen Störung« als einem substanziellen Begriff Fast alle medizinischen, psychologischen und psychotherapeutischen Theorien über psychische Störungen sehen dysfunktionale Beziehungsmuster als eines ihrer wesentlichen Merkmale. Sie alle stimmen darin überein, dass psychische Störungen immer mit Störungen zwischenmenschlicher Interaktionen, auch als Beziehungsstörungen bezeichnet, einhergehen. An dieser Stelle hören aber die Gemeinsamkeiten auch schon auf. Denn die Konzepte unterscheiden sich in mehrfacher Hinsicht. Zunächst einmal wollen wir betrachten, inwieweit sie sich hinsichtlich der Rolle unterscheiden, die Beziehungsstörungen bei psychischen Störungen spielen. Zum einen kann dysfunktionalen Beziehungsmustern eine Rolle als Ursache psychischer Störungen zugewiesen werden. Vor allem dysfunktionale Beziehungsmuster in der Herkunftsfamilie können bereits in der Kindheit oder später psychische Störungen evozieren. Aber auch später einsetzende Erfahrungen sozialer Traumatisierung (wie Demütigung, Ausgrenzung, Gewaltanwendung, Erfahrungen sozialer Ohnmacht) können zum ursächlichen Ausgangspunkt psychischer Störungen werden. Aber genauso gut kann der umgekehrte Zusammenhang hergestellt werden: Beziehungsstörungen als Folge von psychischen Störungen. So können psychische Störungen als ursächlich für das Auftreten von Beziehungsstörungen verstanden werden. Eine Psychose, eine Sucht oder ausgeprägte Persönlichkeitsstörungen bewirken Beziehungsstörungen, oft in einem Ausmaß, die die soziale Integration der Patientin essentiell gefährden können.

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Die Theorien, mit denen sich die psychotherapeutischen Schulen und Richtungen das Auftreten und die Ursachen psychischer Störungen wie auch ihr Verhältnis zu Beziehungsstörungen erklären, sind dabei sehr unterschiedlich. Allen gemeinsam ist, dass sie dabei mit dem Henne-Ei-Problem zu tun haben. Sind nun psychische Störungen ursächlich für Beziehungsstörungen oder ist es anders herum? Wäre stattdessen von einer Wechselwirkung auszugehen und wenn ja, wie sähe diese Wechselwirkung aus? Es ist schon erstaunlich, dass bei einer so wichtigen Frage, der nach Ursache-Wirkung und Wechselwirkung, selbst innerhalb der psychotherapeutischen Schulen/Paradigmen kein Konsens herzustellen ist. Neben der Frage, in welchem Umfang der Beziehungsstörung nun ein Ursachen-, Wirkungs- oder Wechselwirkungscharakter zukommt, unterscheiden sich die Theorien darin, in welchem Umfang Beziehungsstörungen überhaupt Bedeutung zugemessen wird. Wie weiter unten noch genauer zu erläutern sein wird, resultiert das Henne-Ei-Problems aus der Objektivierung des Konzepts und dem substantivierten Begriffsgebrauch »Psychische Störung«. In den psychodynamischen Störungsrationalen haben Beziehungsstörungen traditionell eine hohe Relevanz. Dies hat sicher auch den Grund darin, dass in deren Hilferational die therapeutische Beziehung (fast) seit dem Beginn psychoanalytischer Theorieproduktion eine zentrale Rolle spielte. Die therapeutische Beziehung, als Übertragung und Gegenübertragung begrifflich gefasst, stellt hier das zentrale Agens der Veränderung dar. Zentrales Agens heißt, dass eine (gute) therapeutische Beziehung nicht allein als Mittel zum Zweck (einer guten Behandlung) verstanden wird, als Technik1, sondern das Wesen der ganzen Veranstaltung selbst ausmacht, als (ethisch) gutes und notwendig erforderliches Tun (Praxis). Therapeutische Beziehung als zentrales Agens in der Psychotherapie bedeutet in einigen neueren Konzepten, wie dem der intersubjektiven Psychoanalyse, den Veränderungsprozess nicht nur bei der Patientin zu verorten, sondern Therapie als einen Prozess zu verstehen, in dem beide Partner anders aus ihm heraustreten, als sie in ihn hineingegangen sind. Bei den behavioralen Verfahren spielten Beziehungsstörungen lange Zeit eine eher untergeordnete Rolle. Krankheit, deren Entstehung, Ausgestaltung und Aufrechterhaltung waren eher eine Sache des dunkel bleibenden Inhalts in einer Blackbox. Das änderte sich allerdings grundlegend, nachdem in der Blackbox allmählich die kognitiven Lämpchen angeschaltet wurden. Mittlerweile nehmen in vielen verhaltenstherapeutischen Konzepten Beziehungsstörungen einen 1 Für Aristoteles bezeichnet »Techne« einen Bestandteil menschlichen Handelns, den man mit Handwerk bezeichnen könnte. Davon zu unterscheiden ist der Begriff »Praxis«, der auf den ethischen Gehalt einer Handlung bezogen ist und der in etwa die Bedeutung des »guten Tuns« hat. Im sozialwissenschaftlichen Diskurs wird der Begriff »Praxis« heute, insbesondere von Marx ausgehend, als sinnlich-gegenständliche Tätigkeit des Menschen gefasst und beschreibt gesellschaftlich vorfindbare Formen konkreter Tätigkeiten.

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wichtigen Platz ein. Bei der Schematherapie z. B. haben dysfunktionale Beziehungsmuster sowohl in der Ermittlung der Störungsgenese wie auch in der Behandlungsstrategie einen zentralen Stellenwert. Ein weiteres Beispiel wäre CBASP oder auch die Interaktionelle Psychotherapie, die theoretisch und praktisch Anleihen sowohl bei der der Neopsychoanalyse Sullivans wie auch bei der KVT macht (vgl. Conci, 2005). Bei den humanistischen Verfahren stellen Beziehungsaspekte von Beginn an wichtige Teile ihrer Störungs- wie auch Behandlungskonzepte dar. Dies wird z. B. in der Gestalttherapie allein schon am zentralen Begriff des Kontakts deutlich, der vor allem den sozialen Kontakt fokussiert. In der Gesprächspsychotherapie markiert z. B. der Begriff der Authentizität ein Selbst- und Sozialverhältnis, das als unverzichtbar für eine erfolgreiche Therapie angesehen wird. Trotz der Bedeutung, welche dysfunktionale Beziehungsmuster sowohl in den Störungs- wie auch den Behandlungskonzepten in den letzten Jahrzehnten gewonnen haben, versteht fast jede Psychotherapeutin unter diesen sowie den analog gebrauchten Begriffen etwas (oft deutlich) Unterschiedliches. Folge und Ausdruck dieser Situation ist ein wirres Durcheinander im Bereich psychotherapeutischer Theorien. Das führt zu einer fast unübersehbaren Vielfalt von Störungs- und auch von Hilferationalen. Selbst innerhalb der verschiedenen Schulen, die ja jeweils über einen gemeinsamen Rahmen von Grundannahmen verfügen (sollten), existiert ein fast unübersehbares Wirrwarr von Konzepten. Nun stellt das Vorhandensein einer Vielzahl von Theorien bei einem so komplexen Gegenstand, wie es die menschliche Psyche ist, eigentlich kein grundsätzliches Problem dar, sondern scheint dem Gegenstand angemessen zu sein. Das eigentliche Problem ist aber, dass es keinen theoretischen und begrifflichen Rahmen gibt, in dem sich die diversen Theorien selbst innerhalb ihrer jeweiligen (behavioralen, psychodynamischen, humanistischen usw.) Paradigmen aufeinander beziehen könnten. Ein weiteres, nicht minder gravierendes Problem stellt die Substantivierung dar, die mit der Verwendung von Begriffen, wie dem des dysfunktionalen Beziehungsmusters oder dem der Beziehungsstörung, einhergeht. Dabei ist Substantivierung nicht im Sinn der grammatikalischen Verwendung der Begriffe als Substantive gemeint. Substantivierung meint hier, Begriffe wie Beziehungsstörung zu verwenden, als handle es sich um Tatsachen im Sinne von Dingen, als gäbe es eine Beziehungsstörung, wie es zum Beispiel ein Auto, ein Haus, oder einen Baum gibt. Denn über die Verwendung der Begriffe in substantivierter Form kann eine psychische Störung einem Individuum als Attribut zugeordnet werden. Und das passiert auch! Person xy hat dann eine Beziehungsstörung, so wie sie blonde Haare oder einen Leberfleck hat. Sie hat diese so, als wäre die psychische Störung ein Teil von ihr, als befinde sie sich in der Person oder als besäße sie diese wie einen Besitz. Oder ist es vielleicht umgekehrt – die Bezie-

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hungsstörung hat Besitz von der Person ergriffen? Plötzlich wirkt es skurril. Irgendetwas scheint daran nicht zu stimmen – und gleichzeitig wirkt dieses Denken auch sehr vertraut. Die Selbstverständlichkeit, mit der wir denken, dass wichtige Merkmale unserer Person tief in uns liegen, uns als Attribute zukämen, dass wir eine Persönlichkeit haben (einen inneren Wesenskern mit bestimmten Eigenschaften usw.) ist darauf zurückzuführen, dass diese Form des Denkens und der Konstruktion des Selbst eine bis in die Renaissance zurückreichende Tradition hat und gewissermaßen zum inkorporierten Kulturgut des modernen Europas gehört. War platonisches Denken noch von der Vorstellung bestimmt, dass das, was uns ausmacht, außerhalb von uns im Reich der Ideen zu finden wäre, so steht spätestens für Descartes fest, dass mein Sein nur in meinem Inneren begründet sein kann (vgl. Taylor, 1996, S. 262 ff.). Substantivierungen und die damit einhergehenden Attribuierungen von Eigenschaften erleichtern die Orientierung und stellen eine Form der Komplexitätsreduktion dar, die angesichts der verwirrenden Vielfalt menschlicher Interaktionsprozesse kaum vermeidbar erscheint. Allerdings sind damit unweigerlich auch Zuschreibungen und Diskriminierungen verbunden. Bekannte Beispiele dafür sind die Zuschreibungen gemäß des Geschlechts (Frauen sind halt …, Männer sind demgegenüber …). Ein Konzept, wie z. B. das der menschlichen Rassen, das als biologische Realität, wie wir heute wissen, gar nicht existiert, stellt in Wirklichkeit einen abstrakten, aber im Gebrauch substantivierten Begriff dar, mit dem eine große Zahl von Attributen (Minder- oder Höherwertigkeit, …) mit dem Ziel der Diskriminierung bestimmter Menschen im Dienste von Kolonialisierung, Herrschaft und wirtschaftlicher Ausbeutung transportiert wird. Substantivierungen und Eigenschaftsattribuierungen sind gewissermaßen mit Nebenwirkungen verbunden, die besonders im Bereich der Psychiatrie und Psychotherapie unbedingt vermieden werden sollten. Gerade die Psychiatrie lieferte in der Vergangenheit in Deutschland, aber auch in der ehemaligen Sowjetunion erschreckende Beispiele dafür, wie mit Zuweisungen von Eigenschaften Unterschiede konstruiert wurden, mit denen dann Ausgrenzung bis hin zum Mord gerechtfertigt werden konnten. Angesichts der Tatsache, dass wir ohne Komplexitätsreduktion nicht auskommen, stecken wir in unserer Berufstätigkeit als Psychotherapeuten in einem Dilemma. Ein bekanntes Beispiel von Komplexitätsreduktion in der psychotherapeutischen Praxis ist die Bildung eines Behandlungsfokus. Auch jeder Bericht im Rahmen des Antragsverfahrens ist ein theoretisches Konstrukt, das auf einer massiven Reduktion von Komplexität beruht, wenn auf zwei DIN-A4Seiten nicht nur ein Beschwerdebild phänomenologisch und in seiner inneren Struktur dargestellt werden soll, sondern auch dessen Genese in Bezug auf die

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Biografie der Patientin sowie weiterhin besondere psychische, körperliche und soziale Rahmenbedingungen der Patientin und das Hilferational. Ohne Komplexitätsreduktion bewältigen wir unsere Praxis nicht. Mit ihr geraten wir allerdings in Gefahr, Individuen Merkmale zuzuschreiben. Diese sind aber in Wirklichkeit nicht substanzielle Eigenschaften der Einzelnen, sondern Resultate sozialer Praxen. Diese Praxen manifestieren sich z. B. in Formen des Umgangs miteinander. In Umgangsformen zeigen sich u. a. Hierarchien, Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse. So ist ein Untertan jemand, der unterworfen wurde. Im Begriff »Untertan« erscheint die soziale Praxis »Unterwerfung« als Wesensmerkmal des Subjekts. Aus Gründen der Komplexitätsreduktion sind und bleiben wir verführbar, unserem Gegenüber die Praxen des sozialen Umgangs mit ihm als ihm eigene Wesensmerkmale zuzuschreiben. So wird unsichtbar, dass eine vermeintliche Eigenschaft in Wirklichkeit aus dem sozialen und gesellschaftlichen Miteinander, also aus diesen Verhältnissen resultiert.

»Psychische Störung« als Verhältnisbegriff Siegfried Schubenz stellt sich für mich als jemand dar, der es versucht hat, dieses Dilemma zu überwinden. Sein Motiv war wohl zunächst kein theoretisches oder epistemisches. Sein Motiv war eher ein praktisches. Er hat nicht hinnehmen wollen, dass bis zu diesem Zeitpunkt einem großem Teil von psychisch leidenden Menschen keine psychotherapeutische Hilfe zuteilwurde, weil ihnen die Fähigkeit, davon profitieren zu können, schlichtweg abgesprochen wurde. Diese Attribuierung der personalen Eigenschaft, nicht von Psychotherapie profitieren zu können, war nichts anderes als eine ideologische Rechtfertigung einer gesellschaftlichen Praxis, die bestimmten Menschen keine oder nur verminderte Bildungs- und Entwicklungsfähigkeit zugestehen wollte. Sichtbar waren für ihn zunächst einmal besonders Kinder aus der Unterschicht, vor allem in den proletarisch geprägten Wohnvierteln des damaligen Westberlins. Ihre Verhaltensund Lernschwierigkeiten wurden, von wenigen Ausnahmen abgesehen, weder begrifflich in den damals vorherrschenden psychiatrischen oder psychoanalytisch geprägten Therapietheorien gefasst noch praktisch psychotherapeutisch behandelt. Für Schubenz stellte das einen Skandal dar, dem er theoretisch und praktisch abhelfen wollte. Praktisch war er hier überaus erfolgreich, indem er an führender Stelle eine therapeutische Infrastruktur gefördert und mit aufgebaut sowie auf politischer Ebene ein Finanzierungsmodell durchgesetzt hat, das beispielgebend für die Bundesrepublik wurde. Theoretisch hat er in seiner Veröffentlichung Psychologische Therapie bei Entwicklungsbehinderung (1993) eine Metatheorie entwickelt, in deren Rahmen er versuchte, die Gesamtheit psychischer Störungen und Entwicklungsbehinderungen begrifflich zu fassen

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und dabei auf Eigenschaftsattribuierungen und Substantivierungen weitgehend zu verzichten. Denn nur, wenn Letzteres theoretisch gelingt, kann man argumentativ und stringent dem praktizierten Ausschluss von Menschen aus den psychotherapeutischen Versorgungssystemen wirksam entgegentreten. Das ist ihm aus meiner Sicht auch ein gutes Stück weit gelungen. Allerdings hat ihn dann doch das Dilemma der Komplexität des Psychischen in der Form eingeholt, dass er sich sprachlich in unglaublich langen und verschraubten Satzkonstruktionen verfing, die wohl auch dazu führten, dass seinem Ansatz nicht die Aufmerksamkeit zuteilwurde, die er verdient hätte. Ein anderer Protagonist eines neuen auf Eigenschaftsattribuierungen und Substantivierungen verzichtenden Theorie- und Praxiskonzepts war Wolfgang Jantzen. Auf einer streng marxistischen Grundlage kritisierte er die Diskriminierungsprozesse in Theorie und Alltag, denen Behinderte aller Schweregrade ausgesetzt sind und die verhindern, dass sie am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und sich die kulturellen und materiellen Güter aneignen können, die ihnen zustehen. Kurz und knackig formuliert lautet seine zentrale These: Nicht die Behinderten sind behindert, sondern die Gesellschaft behindert sie, indem sie ihnen aktiv gesellschaftliche Teilhabe verwehrt oder, ihre Probleme ignorierend, nicht die Hilfen entwickelt und bereitstellt, sodass diese ihr Potenzial realisieren können. Unter diesen Bedingungen entwickeln die Betroffenen psychische Anpassungsmechanismen (unter diesen Bedingungen zwar hochfunktional, aber z. T. skurril wirkend), die ihnen dann als Merkmale ihrer Behinderung attribuiert werden.2 Eine Grundthese, in denen die beiden Ansätze von Schubenz und Jantzen übereinstimmen, könnte man so formulieren: Psychische Störung/Behinderung ist keine Eigenschaft/Eigenart/Merkmal eines Subjekts, sondern die spezifische soziale Bewegungsform von Menschen, die unter Bedingungen von Diskriminierung, Entwicklungsbehinderung oder Isolation leben und sich unter ihnen entwickeln müssen. Der Begriff »Soziale Bewegungsform« beschreibt Merkmale des Handelns der Individuen sowohl untereinander als auch das Handeln Einzelner, soweit dieses auf einen sozialen Kontext bezogen ist. So zeigen sich selbstverständlich in allen Interaktionen spezifische soziale Bewegungsformen. Aber auch in einem Selfie (also einer Art

2 Ich erinnere mich, dass wir in der Gründungsphase des Behindertenprojekts oft von Mitstudentinnen angesprochen wurden, ob und wie man denn überhaupt mit Schwerstbehinderten Psychotherapie machen könnte. Solche Fragen entsprangen teilweise wirklichem Interesse. Wir erlebten an dieser Stelle aber am eigenen Leib auch die Diskriminierungsprozesse (allerdings in eher homöopathischer Dosierung), die Behinderte tagtäglich treffen. Wir reagierten zunehmend verärgert und genervt auf solche Ansprachen und kamen überein, darauf etwa so zu antworten: »Stimmt, hast ja recht, die haben ja eigentlich gar keine Seele.«, um so unsere Gesprächspartnerin verdutzt in der Ecke stehen zu lassen.

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der Selbstinszenierung) können soziale Bewegungsformen zum Vorschein kommen. Zur Illustration der Ansätze von Schubenz und Jantzen hier zwei einleitende Zitate. Schubenz (1993): »[D]ie Voraussetzung für psychologische Therapie [die psychische Störung, T.N.] [ist] die drohende oder eingetretene soziale Ausgrenzung eines einzelnen aus seiner sozialen Umgebung […], die dann mit eigenen Mitteln nicht mehr überwunden werden kann« (S. 18). Jantzen (1979): Isolation ist als Kategorie zu begreifen, die […] die Totalität von Identitätszerstörung, Behinderung, Zerstörung des Subjekts widerspiegelt. Sie bezieht sich auf organische wie psychische wie soziale Fakten[.] […] Isolation trennt das Individuum als je konkret-historisches von der umfassenden Aneignung des gesellschaftlichen Erbes[.][…] Isolation meint damit die Stoffwechselstörung des menschlichen Individuums mit Natur und Gesellschaft durch Arbeit und Kooperation. (S. 36)

Im Folgenden möchte ich mich zunächst mit den Unterschieden beider Konzepte befassen. Beide Theorien formulieren eine ganze Reihe anthropologischer Grundannahmen, von denen sie ausgehen. Es sind beides Metatheorien, große Theorien, etwas, das zurzeit ein wenig aus der Mode gekommen zu sein scheint. Aber so groß und scheinbar auch unbestimmt diese Theorien sind, so wenig sie sich in empirischer Forschung verifizieren lassen und damit Evidenzkriterien entsprechen können, so besteht doch ihr großer Vorteil darin, dass sie sich nicht so leicht von gesellschaftlichen Praxisformen kapern lassen, die dann den Individuen als Eigenschaften untergeschoben werden können. Solche Theorien sind eben nicht evidenzbasiert im Sinne der RCT-Studien, aber evident im ursprünglichen Sinne des Begriffs: unmittelbar einsichtig.3 3 Evidenz bezeichnet zunächst das unmittelbar Einsichtige. Die mittlerweile auch in Sozialwissenschaften geforderte empirische Evidenz fordert, dass Theorien aufgrund empirischer Erhebungen aufgestellt oder durch empirische Daten bestätigt werden müssen. Das ist im Grunde ein Widerspruch, denn dann sind die daraus gewonnenen Erkenntnisse nicht mehr unmittelbar einsichtig. Damit könnten wir auch leben, würde nicht zunehmend allein empirische Evidenz als Kriterium für wissenschaftliche Erkenntnis installiert. Das ist aber höherer Blödsinn. Denn menschliche Erkenntnis kann sich nicht allein auf Empirie stützen. Das wusste schon Kant (1781/87): »Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind« (A48, B75). Heute wissen wir sogar noch ein wenig mehr. Neben Erfahrung (Sinnlichkeit) und den Apriori-Kategorien des Verstandes kommt nämlich noch das Vertrauen hinzu. Es gibt keine menschliche Erkenntnis ohne Vertrauen! Denn nur das Wenigste, was wir wissen, können wir nämlich empirisch überprüfen. Das meiste Wissen, über das wir verfügen, haben andere Menschen erworben und uns nahegebracht. Ohne den kulturellen Schatz, den wir auf Vertrauens- und Beziehungsbasis erworben haben, wüssten wir nicht einmal, was z. B. die oben geforderte empirische Überprüfung überhaupt ist. Wir müssen dem vertrauen und auf das bauen, was andere zuvor erkannt haben, selbst wenn wir wissen, dass sich ein Teil dessen späterhin als Irrtum herausstellen wird. Die Vertrauensbasis unserer Erkenntnis ist ein schönes Beispiel für die soziale Natur unseres Erkenntnisvermögens und unserer Psyche überhaupt. Darauf gehe ich am Ende des Essays noch mal ein.

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Konzeption von Schubenz Das Schubenzsche Störungsrational stellt sich im Einzelnen folgendermaßen dar : Der zentrale Begriff, von dem Schubenz ausgeht, ist der der Bindung. Er schließt hier an die Forschungen der Bindungstheorie von John Bowlby (1984) an. Die Bindungstheorie ist im Kern eine psychologische Theorie, die von der Annahme ausgeht, dass Kinder und ihre Bezugspersonen durch starke Gefühle aneinandergebunden sind. Konrad Lorenz (1953) und Nikolaas Tinbergen (mit Lorenz, 1938) untersuchten bereits in den Jahrzehnten vorher das angeborene Verhalten von Tieren. Bowlby sieht in diesen Forschungen seine These bestätigt, dass Menschen ebenso mit angeborenen Verhaltensweisen ausgestattet sind wie andere Säugetiere und Vögel. Schubenz postuliert nun, dass im Gegensatz zu den anderen sozial lebenden Säugetieren beim Menschen zwischen Mutter und Kind nur schwache erste Bindungen aufgebaut werden. Starke erste Bindungen wie im Tierreich prägen das Verhalten der Folgegenerationen in sehr prägnanter Weise im Sinne einer optimalen Anpassung an die jeweilige Umwelt. Die deutlich schwächer ausgebildete erste Bindung führe nun beim Menschen zu einer Verhaltensoffenheit, die damit erst die biologische Grundlage für Sprach- und Kulturentwicklung böte. Die zunächst als Nachteil erscheinende schwächere erste Bindung werde kulturell kompensiert und schaffte dem Menschen so einen evolutionären Vorteil, der ihn zum seit langer Zeit herrschenden »Tier« auf unserem Planeten gemacht habe. Logisch gesehen, stellt die schwache erste Bildung zwar die Voraussetzung der Kulturentwicklung dar ; historisch wird aber von einem wechselseitigen Prozess allmählich sich etablierender schwacher erster Bindungen und einsetzender Kulturentwicklung auszugehen sein. Mit dem Gedanken der Verhaltensoffenheit vor dem Hintergrund einer im Vergleich zu Tieren weniger festgelegten quasi instinktiven Verhaltensdisposition steht Schubenz ebenso in der Tradition der Anthropologie von Arnold Gehlen (1950; 1956) wie in der Tradition der mit Gehlens konkurrierenden Theorien von Klaus Holzkamp (1983) und Volker Schurig (1975) (auf den sich Schubenz allerdings in seiner Schrift nicht ausdrücklich bezieht). Die schwachen ersten Bindungen beim Menschen ermöglichen somit erst Instinktoffenheit und Kulturentwicklung. Sie bergen aber auch die Gefahr, dass bei zu geringer Bindungsqualität Entwicklungsbehinderungen entstehen oder sich psychische Störungen entwickeln. Schubenz spricht in diesen Fällen vom Vorliegen von besonders unsicheren ersten Bindungen. Auf jeden Fall steige mit besonders unsicheren ersten Bindungen die Vulnerabilität für das Auftreten psychischer Störungen zu einem späteren Zeitpunkt. Psychische Störungen, die aus dieser gesteigerten Vulnerabilität resultieren, stellen in diesem Konzept lediglich besondere Varianten der für den Menschen normalen Entwicklung unter Bedingungen schwacher erster Bindungen dar. Hier setzt Schubenz einen anderen

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Akzent, als es z. B. Jantzen, aber auch viele andere etablierte Störungskonzepte tun, die psychische Störung vor allem als einen im Grunde funktionalen Anpassungsprozess unter schädigenden Bedingungen sehen. Das Ziel menschlicher Individualentwicklung ist in diesem Konzept die gelungene soziale Integration, die die Voraussetzung dafür bildet, im Rahmen des je gesellschaftlichen und historischen Entwicklungsstandes, das eigene Leben zu gestalten und sich materielle, soziale und kulturelle Güter anzueignen. Prozesshaftigkeit psychischer Störungen: Ursache und gleichzeitig auch kennzeichnendes Charakteristikum psychischer Störungen ist ein sozialer Prozess, der als ontogenetisch mit der ersten besonders schwachen Bindung verknüpft ist und sich später in Prozessen sozialer Isolation manifestiert. In diesen Prozessen greifen die unter den Bedingungen besonders schlechter Bindungsqualität entstandenen interaktionellen Muster sowie Selbstverhältnisse (Selbstbilder) und die Reaktionen der Interaktionspartner ineinander. Dies geschieht auf eine Weise, die zu einer Verstetigung dieser Muster führen und so das Bild einer psychischen Störung entstehen lässt, die wiederum dem Subjekt als Wesenseigenschaft attribuiert, d. h. substantiviert und auf diesen Wege zusätzlich verfestigt wird. Hilferational: Schubenz sieht als Voraussetzung für das Gelingen jeder psychologischen Therapie den Aufbau einer Beziehung, die in ihrer Intensität und Qualität ihren Maßstab in der frühen und gelingenden Mutter-Kind-Bindung findet. Alle darüber hinausgehenden therapeutischen Techniken und Verfahren stellen möglicherweise notwendige, aber nie hinreichende Bedingungen für eine erfolgreiche Therapie dar. Schubenz sieht aber die Therapie nicht als rein dyadischen Prozess. Wie eine Mutter eine Einbettung in ein funktionierendes soziales Umfeld benötigt, – in der Regel ist es die Familie –, so braucht auch die Therapeutin einen solchen Rahmen (ein Gedanke, den bereits Winnicott (1984) entwickelt hat, auf den sich Schubenz gleichfalls bezieht). Idealerweise sollte eine Therapie auch von einem Therapeutinnenpaar ausgeführt werden. Schubenz spricht hier von einer familienangenäherten Therapie. Im Bewusstsein, dass sich diese Therapieform so in der Regel nicht durchsetzen wird, plädiert Schubenz, durchaus als Teil seines Hilferationals, für eine feste Einbettung von Therapeutinnen in Teams, in Institutionen, wenigstens aber in kontinuierliche und verbindliche Supervisionszusammenhänge. Hier wird ein Zug der Schubenzschen Konzeption deutlich, die handlungsleitend für seine gesamte Praxis werden sollte. Obgleich er im Institut für ppt Psychotherapeutinnen auch auf eine Berufstätigkeit in Einzelpraxen vorbereitete, war sein Bestreben darauf gerichtet, psychotherapeutische Institutionen zu gründen, zu fördern und in ihrer Entwicklung zu begleiten. Hier hat Siegfried Schubenz aus meiner Sicht modellbildende und weit über seine Zeit hinausreichende Konzepte und neue Praxisformen entwickelt.

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Zur Kritik am Störungs- und Hilferational: Im Konzept des Modells der frühen Mutter-Kind-Bindung und der familienangenäherten Therapie zeigt sich aber auch eine der große Schwächen der Schubenzschen Konzeption. Obgleich er an einigen Stellen darauf verweist, dass diese Form der Bindung und Beziehung Modellcharakter hat, also für Väter-Kind-Beziehungen und für alle hilfreichen pädagogischen Beziehungen gilt, so liest sich der Text, in dem zigmal die Mutter-Kind-Beziehung beschworen wird, wie ein hohes Lied auf die MutterKind-Dyade. Ähnlich verhält es sich mit dem Begriff der »Familien-angenäherten-Therapie«, der unausgesprochen auf einem Modell der bürgerlichen Kleinfamilie beruht. Damit treten historisch und/oder in anderen Kulturen verankerte kollektivere Familien- und Erziehungsformen völlig in den Hintergrund. Gravierender erscheint mir aber, dass die Rolle der Peers für Persönlichkeitsentwicklung und natürlich auch für Entwicklung in und durch Therapie damit aus dem Blick gerät. Es scheint fast so, als würde der Mensch psychologisch nur einmal geboren, in der frühen Kindheit nämlich. Aber diese Sichtweise erscheint mir sehr verkürzt, ist Ausdruck des klassischen psychoanalytischen Entwicklungsmodells, das wiederum Ausdruck der sich im 19. Jahrhundert ausdifferenzierten bürgerlichen Kleinfamilie ist. Auch wenn Psychoanalyse verdienstvoll versucht hat, bestimmte Beschränkungen der damit verbundenen intergeschlechtlichen sowie intergenerationalen sozialen Praxen sowie Praktiken der Selbstkonstitution zu kritisieren und zu überwinden, bleibt sie doch dem Modell der bürgerlichen Kleinfamilie verhaftet, das Freud in Totem und Tabu (1913) bis in die Steinzeit hinein versucht hat, rückwirkend zu begründen. Das kann man als akademischen Streit abtun, eine solche Theorie hat aber praktische Konsequenzen. Wenn der Mensch psychologisch als nur einmal in der frühen Kindheit geboren angesehen wird, Pubertät und Adoleszenz sowie auch spätere Lebensetappen und Umbrüche letztlich nur zweitrangig erscheinen, können auch die Peerbeziehungen sowohl in möglicherweise pathologischen Auswirkungen, vor allem aber als Ressource in der Therapie nicht in Erscheinung treten und genutzt werden. Denn, wenn alles Weh in der frühen Kindheit liegt (Störungsrational), dann wird auch nur nach diesem Modell – auch noch reduziert auf die Dyade der Mutter-Kind-Beziehung – das Wohl- bzw. das Hilferational konstruiert. Eine solche Konstruktion war schon zum Zeitpunkt des Erscheinens von Schubenz Schrift veraltet. Ich will hier keineswegs den Einfluss der Herkunftsfamilie und der frühen Kindheit bestreiten. Diese haben entscheidenden Einfluss auf Charakter wie auch auf Vulnerabilität für spätere Störungen. Ich plädiere aber für eine deutlich stärkere Beachtung späterer Lebensetappen mit den in ihnen sich manifestierenden Störungen, aber auch Ressourcen. Nun steht Schubenz ja mit seinem »kindheitsbasierten« Störungs- und Hilferational beileibe nicht allein da. Es ist das Mainstream-Modell psychischer

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Entwicklung. Wie kam es zur Konzentration auf die frühe Kindheit als Quelle allen Wohles und Wehs? Zunächst einmal wird die Kindheit als eigenständige und möglicherweise entscheidende Phase der Individualentwicklung erst in der früh-bürgerlichen Gesellschaft entdeckt. Zuvor wurden Kinder eher als noch unreife Mini-Erwachsene betrachtet. Erst hier entwickelt sich Pädagogik als eigenständige Praxis und später als Wissenschaft. Initiationsrituale am Beginn der Geschlechtsreife markierten zwar schon früher den Eintritt in das Erwachsenenleben. Aber sie stellten den Eintritt in ein Erwachsensein dar, das sich nicht von dem der Vorgängergenerationen unterschied. Adoleszenz und ihre Riten sollten genau das inszenieren und absichern. Im Lauf der letzten 200 Jahre bekommen Pubertät und Adoleszenz allmählich immer stärker den Charakter einer Zäsur, ab der Subjekte aufgefordert sind, ihren eigenen Lebensentwurf zu kreieren, der sich zunehmend von dem der Eltern unterscheiden darf und sich allmählich auch immer mehr vom Alten unterscheiden soll. In den letzten 100 Jahren hat sich die Adoleszenz deutlich verlängert. In Deutschland begann die Arbeitswelt bis in die 1950er Jahre für die meisten Jugendlichen mit 14 Jahren. Die Erfordernisse moderner Arbeitsmärkte und Gesellschaften verlängern die Ausbildung und verschieben den Zeitpunkt, ab dem ein junger Mensch selbstständig und autonom sein Leben entwerfen und gestalten kann (in den an Gewicht immer weiter zunehmenden akademischen Berufen teilweise bereits über die Schwelle des 30. Lebensjahrs hinaus). Das liegt nicht allein an der verlängerten Ausbildung, sondern ist gleichermaßen ein Zeichen dafür, dass sich die Lebensformen der Jugend und der späteren Erwachsenen in einer der Beschleunigungslogik unterworfenen Gesellschaft immer gravierender unterscheiden, was auch die Übergangsphase komplizierter macht und verlängern muss (vgl. Rosa, 2016, S. 410 ff.). Das Störungsrational der Psychoanalyse, auf dessen bindungstheoretischer Variante auch das Schubenzsche Störungskonzept beruht, ging bei dessen Konzeptionierung vor 120 Jahren noch von der selbstverständlichen Hegemonie bürgerlicher Kleinfamilien aus. Im Verlauf der sich entwickelnden modernen Gesellschaften wurde allmählich die transgenerationale, weitgehend unveränderte Weitergabe von Kulturgütern und Lebensentwürfen abgelöst von einer monogenerationalen. Mit »monogenerational« wird eine Entwicklung bezeichnet, in der jede Generation eigene Lebensentwürfe in Beruf, im privaten Leben, in den politischen und ethischen Grundzügen zu entwickeln aufgefordert ist. Allerdings wirkten soziale Praktiken der Interaktion und des Selbstbezugs in die nächste Generation weiter, da in ihnen der Anspruch innewohnt, auch für die folgende Generation lebenslang gültig zu sein. Zu deutlichen Veränderungen kommt es in der Regel erst dann, wenn gravierende, nicht selten als katastrophal empfundene Brüche diese Kontinuität unterbrechen (Beispiele: die beiden Weltkriege, die 68er-Revolte, …). Trotz Revolutionen und wirtschaftlich-ge-

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sellschaftlichen Umwälzungen, die das Bürgertum in Gang setzte, versuchten die bürgerlichen Familien innerhalb ihres eigenen Bezugsrahmens, eine transgenerationale Weitergabe ihrer Lebenskonzepte durchzusetzen. Somit waren die frühen sozialen Interaktions- und Selbsterfahrungspraktiken des Bürgertums (und nur an diese Schicht richtete sich die frühe Psychotherapie) für die Fortsetzung des Familienbetriebs, des väterlichen Berufs oder der mütterlichen Familienrolle (etc.) tatsächlich prägend für das ganze Leben. Aus diesem sozialen Zusammenhang bezieht das Störungsrational der Psychoanalyse seine Gültigkeit. Nicht nur für die Psychoanalyse, für alle psychotherapeutischen Störungsrationale gilt die große Erzählung, dass Kindheit und die Verhältnisse in der Herkunftsfamilie determinierend für alle wesentlichen Vulnerabilitäten des erwachsenen Subjekts sind. Inwieweit kann diese »große Erzählung« der Kindheit als Quelle allen Wohls und Wehs aufrechterhalten werden in einer Gesellschaft, die sich immer schneller verändert? Von modernen Subjekten wird mittlerweile verlangt, sich immer wieder neu zu erfinden, mehrfach im Leben Beruf, Wohnort, unter Umständen auch Lebenspartner, ja ganze Lebensentwürfe zu wechseln. Hartmut Rosa (2012, S. 410 ff.) spricht hier von intragenerationalen Wechseln im Unterschied zu den trans- und monogenerationalen früherer Epochen. Angesichts dieser Veränderung der sozialen Strukturen müssen wir uns somit die Frage stellen, wie weit die gängigen Störungsrationale noch ihre volle Gültigkeit beanspruchen können. Eine aus meiner Sicht notwendige Veränderung unserer Störungsrationale hätte aber auch Auswirkungen auf die Vorstellungen, wie Menschen zu helfen wäre. Werfen wir noch mal einen Blick auf das Hilferational der Psychoanalyse, auf das sich auch Schubenz weitgehend bezieht. Die Hilferationale der psychodynamischen Verfahren leiten sich direkt aus dem psychoanalytischen Modell psychischer Entwicklung sowie dem damit korrespondierenden Störungsrational ab. Am deutlichsten ist das in der analytischen Psychotherapie selbst. In ihr sollen in regressionsfördernder Arbeitsweise in der Beziehung zur Therapeutin frühkindliche Interaktions- und Erlebnisformen wiederbelebt und im Licht des nun erwachsenen Ichs erkannt, neu bewertet und korrigiert werden (vgl. Hohage, 2011). Nicht viel anders hört sich das bei Schubenz an, wenn die MutterKind-Dyade und eine »heile« Therapieversion der »unheilen« Herkunftsfamilie das ausschließliche Modell bilden, in dessen Rahmen psychische Störungen zu behandeln wären. Aber wenn wir Hilfe vor allem aus dem Blickwinkel und mit den Mitteln einer Re-Konstruktion von Vergangenheit betreiben, besteht die Gefahr, dass wir uns damit auch den Blick auf aktuelle Ressourcen wenigstens erschweren, wenn nicht unmöglich machen. In der Praxis hat Schubenz allerdings therapeutische Konzepte entwickelt, die weit über das von ihm propagierte Hilferational hinausgehen. Nur um ein Bei-

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spiel zu benennen: Im Pferdeprojekt, in dem eine Form tiergestützter Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen entwickelt wurde, stellten er und seine Mitarbeiterinnen einen Rahmen bereit, in dem in einer zugewandten Beziehungsatmosphäre körperliche und soziale Resonanzerfahrungen ermöglicht werden sollten, die therapeutisch hoch wirksam sind. Die therapeutische Wirksamkeit von Tieren kann nur mit sehr viel Fantasie aus einem Störungsrational abgeleitet werden, das sich im Wesentlichen aus den Verhältnissen der Herkunftsfamilie begründet. Hier zeigt sich: Schubenz war seiner Theorie voraus. Das macht ihn mir umso sympathischer. Allerdings erwächst aus der Erkenntnis auch der Auftrag an uns, unsere Praxis theoretisch besser zu verstehen und damit die Theorieentwicklung weiterzutreiben, weil wir nur so der Gefahr entgegentreten können, uns in der Gefangenschaft alter Konzepte einzurichten.

Konzeption von Jantzen Im Anschluss an die Kritik des Schubenzschen Konzepts wende ich mich dem Ansatz von Wolfgang Jantzen zu. Bei aller Ähnlichkeit in Begriffsverwendungen wie Isolation, sozialer/gesellschaftlicher Verhältnisse usw. verfolgt Jantzen gegenüber Schubenz doch einen deutlich anderen Ansatz. Jantzen baut seine Konzeption einer neuen Behindertenpädagogik, aber auch die Beiträge zu einer allgemeinen Psychopathologie und Psychotherapie, auf einem stringenten marxistisch-leninistischen Wissenschaftsverständnis auf, wie es in den 1970er und 1980er Jahren in Westdeutschland und Westberlin von den sich politischideologisch am »Realsozialismus« orientierenden Linken gepflegt wurde. Er bezieht sich im Wesentlichen auf die psychologischen Grundlagentheorien von A. N. Leontjew (1964; 1982), L. S. Wygotski (1934) und A. L. Lurija (2002), mithin als »Kulturhistorische Schule« der sowjetischen Psychologie und Tätigkeitstheorie bekannt. Er begreift sich als Vertreter »Kritischer Psychologie«, obwohl er auch deutliche Differenzen zu dessen Hauptvertreter Klaus Holzkamp erkennen lässt. Im Folgenden finden sich einige wesentliche Aspekte seiner Konzeption psychischer Störungen und deren Behandlung. Ich beginne mit einem Abriss der Jantzenschen entwicklungspsychologischen Konzeption. Ziel menschlicher Individualentwicklung ist nach Jantzen die umfassende Teilhabe an den gesellschaftlichen Werten in all ihren Formen auf den jeweils erreichten historischen Stand der Entwicklung.4 Dieses Entwicklungsziel galt für 4 Nach Bourdieu (1982) wäre das dann ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital. (Jantzen bezieht sich in seinen Texten nicht selbst auf Bourdieu. Ich halte Bourdieus Konzepte aber für grundlegend und beziehe mich später auch auf sie, weshalb ich sie hier bereits in Beziehung zu Jantzens Ansatz stelle.)

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ihn auch für die schwerstmehrfachbehinderten Menschen, die, wie alle Gesunden auch, ihre spezifischen Möglichkeiten realisieren sollen. Der Prozess gelingender Teilhabe stellt sich für Jantzen damit für Behinderte wie Nichtbehinderte über die Tätigkeit durch Aneignungsprozesse und vor allem in Form von Arbeit her. Arbeit wird von Jantzen, der Marxschen Tradition folgend, als anthropologische Kategorie verwendet, in diesem Kontext als bestimmendes Mensch-Welt-Verhältnis verstanden und ist somit keinesfalls auf Erwerbsarbeit beschränkt. Aneignung wird gleichfalls im Marxschen Sinne als materieller (Eigentum und Verfügungsrechte), personaler (Fähigkeiten) und sozialer (Kooperation) Prozess verstanden. In diesen Rahmen integriert Jantzen eine Vielzahl weiterer Theorien und Konzepte. So bilden die in den Naturwissenschaften wie Neurologie, Genetik und Verhaltensforschung als auch in der Bindungsforschung, der Soziologie und Psychologie behandelten Gegenstandsbereiche weitere Voraussetzungen einer menschlichen, als Aneignungsprozess verstandenen Entwicklung. Jantzen bezeichnet seinen Ansatz als »synthetische Humanwissenschaft«. Prozesshaftigkeit psychischer Störungen: Psychische Störungen und Behinderungen sind für Jantzen keine Merkmale der betroffenen Personen. Behinderung und psychische Störung stellen für ihn Formen von Isolationsprozessen dar. Diese sind sozialer Natur. Im Kern sind es Prozesse von Ausschluss, Ausgrenzung, Tabuisierung, also vom Charakter her exklusiv. Demnach ist also nicht der Behinderte behindert, sondern seine soziale Umgebung behindert ihn und seine Entwicklung aktiv durch Ausschluss (bis hin zur Euthanasie) oder durch passivere Formen, wie z. B. das Nicht-zu-Verfügung-Stellen gesellschaftlich bereits erreichter Hilfeformen und Ressourcen. Gleiches gilt für ihn für psychische Störungen. Behinderung und psychische Störung bezeichnen somit einen gestörten, nicht an der möglichen Entwicklung des Subjekts orientierten Stoffwechselprozess. Dieser Stoffwechselprozess kann auch durch Bereiche des nicht originär Sozialen ausgelöst und an diesen sichtbar werden, wie z. B. genetische Defekte oder somatische Noxen aller Art. Er bleibt aber im Kern ein sozialer Prozess. Beispielhaft illustriere ich das am Down-Syndrom. Trisomie 21 ist eine genetische Variante des Menschen. Somit ist es keine Krankheit. Nach Jantzen ist das Down-Syndrom aber auch keine Behinderung. Denn, wenn die Betroffene durch angemessene Hilfe alle ihre genetischen Möglichkeiten ausschöpfen kann, dann ist sie eben nicht behindert. Dabei ist das Menschenmögliche immer gestaltet/begrenzt/geformt durch den gesellschaftlichen Stand der Entwicklung. Behinderung beschreibt Jantzen als einen Vorgang, in dem ein Subjekt durch andere Akteurinnen daran gehindert wird, seine Potenziale zu realisieren. Wie schön! Eine Genvarianz ist keine Akteurin, ebenso wenig wie z. B. ein schwerer Unfall, der die Betroffene an den Rollstuhl bindet. Und auch ein geschädigter

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Körper stellt aus dieser Sicht zwar ein Problem dar und kann Quelle großen Leids sein. Trotzdem ist und bleibt auch der geschädigte Körper die Bedingung des Daseins auf der Welt und nicht dessen Behinderung! Psychische Störungen werden hier also nicht von den auslösenden Faktoren (genetische Variationen, somatische Noxen etc.) abgeleitet und verstanden wie in den gängigen psychotherapeutischen Störungsrationalen. Sie werden auch nicht durch ihre Symptomatik definiert, wie es im DSM oder im ICD der Fall ist. Sie werden als ein sozialer Prozess verstanden, der den auslösenden Ereignissen folgt und die psychische Störung erst entstehen lässt. Dies soll nun ein wenig genauer skizziert werden. Störungsrational psychischer Störungen: Unabhängig davon, ob ein Mensch unter Einschränkungen körperlicher oder geistiger/seelischer Art leidet oder nicht, sind es erst behindernde Bedingungen (oder Isolation, wie es Jantzen nennt), die zu seelischen Störungen führen. Noxen auf unterschiedlichen Ebenen stellen dabei Auslöser für spätere Störungen dar. Ganz bewusst wird hier von Auslöser gesprochen, nicht von Ursache. Auslöser können genetische Variationen, vorgeburtliche oder perinatale Schädigungen, körperliche Erkrankungen aller Art (Epilepsie, Masernencephalitis etc.), Unfallfolgen, aber auch traumatische Beziehungserfahrungen (so sie nicht von langer Dauer sind), Traumen oder soziale Stigmatisierungsprozesse sein. Diese Erfahrungen erzeugen zunächst einmal (nur) Leid. Soma und Psyche stellen sich mit Stressreaktionen darauf ein und beginnen in funktionaler, aber doch in anderer Weise zu funktionieren als zuvor. Ein wesentliches Kennzeichen eines seelischen Stresses besteht in der Erfahrung des Allein-damit-fertig-werden-Müssens. An dieser Stelle setzt der Prozess der Isolation ein. Der der menschlichen Natur entsprechende soziale, auf Kooperation und Kommunikation beruhende, Stoffwechsel bricht an einer potenziell lebensbedrohlichen Stelle zusammen, wenn Hilfe und Unterstützung als besondere Formen der Kooperation ausbleiben. Der sich zwischen Subjekt und Welt daraufhin entwickelnde Prozess nimmt dann nach Jantzen die Form einer psychischen Störung an. Psychische Störung verstanden und ganz deutlich markiert als ein sozialer Prozess! Die Kennzeichnung psychischer Störung als funktionaler Prozess unter schädigenden Bedingungen ist nicht neu. Wir finden dies in den behavioralen Verfahren sowohl mikro- als auch makroanalytisch, und in psychodynamischen Verfahren ist das auch nichts Neues. Zu finden ist es bereits bei Freud. Seine große Leistung besteht ja gerade im Aufbau einer Theorie, die vom Alltagshandeln über Fehlleistungen und Träume bis hin zu schweren psychischen Krankheiten überall die gleiche Logik am Werk sah. Eine Logik, die in der Fehlleistung den nur teilweise gelingenden Versuch sah, zwischen inneren Konflikten eine Lösung zu finden. Mentzos hat das in seinem 2009 erschienenen Buch Lehrbuch der Psychodynamik sehr prägnant im Untertitel des Werkes Die

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Funktion der Dysfunktionalität psychischer Störungen zum Ausdruck gebracht. Neu bei Jantzen ist, dass er nicht die »innere Mechanik«, sondern den durch den damit in Gang gehaltenen sozialen Stoffwechselprozess als Kern und Wesenselement psychischer Störungen definiert. Jantzen besteht immer wieder darauf, dass dieser Prozess nicht nur eine Subjektseite, sondern auch eine objektive, vor allem auch sozial und gesellschaftlich begründete Seite hat. Wenn nun nicht rechtzeitig Hilfe eintrifft, und somit das Leid/Problem durch angemessenes kooperatives und kommunikatives Handeln behandelt5 wird, wird der Stress chronisch, es entwickelt sich eine psychische Störung nicht mehr nur als Stoffwechselstörung im Zwischenraum, also an der Membran zwischen Subjekt und sozialer Welt, sondern auch im Binnenraum des Subjekts. Das Selbstverhältnis des Subjekts auf all den bereits oben beschriebenen Ebenen (der epigenetischen, somatischen, psychischen und sozialen) beginnt sich in Anpassung an die isolierenden Bedingungen dauerhaft umzustrukturieren. Hier »sedimentieren« die sozialen Prozesse der Isolation und der ihr folgenden psychischen Störung im Subjekt selbst zu inneren Strukturen und führen dazu, dass die unter isolierenden Bedingungen aufgebauten funktionalen Umgestaltungen auch unter möglicherweise wiederhergestellten gesunden Bedingungen aufrechterhalten werden. Das ist häufig erst der Punkt, an dem Subjekte auffällig werden und ihnen daraufhin eine psychische Störung als Eigenschaft attribuiert wird. Mit der Eigenschaftsattribuierung wird der Prozess ihrer Entstehung, der Prozess der sozialen Verursachung unsichtbar. Die psychische Störung kann nun »erfolgreich« im Subjekt verortet und bekämpft werden, ohne dass die Gefahr besteht, die sozialen Prozesse unter die Lupe nehmen zu müssen, die nach Jantzen die wirkliche Ursache psychischer Störungen sind. Allgemein vorherrschendes Hilferational: Bevor ich genauer auf die Therapiekonzeption von Jantzen eingehe, werde ich im Kontrast zu dieser die Grundlage gängiger psychotherapeutischer Hilferationale einer kritischen Würdigung unterziehen. Meiner ironischen Einlassung der »erfolgreichen Verortung und Bekämpfung psychischer Störungen im Subjekt« kann ja hier nicht unwidersprochen bleiben, ohne vielen meiner Kolleginnen Unrecht zu tun. Denn sie bekämpfen ja erfolgreich psychische Störungen im Subjekt. Und das tun sie insgesamt mit einer deutlich höheren Erfolgsquote als in der somatischen Medizin, vor allem wenn wir berücksichtigen, dass die deutliche Mehrzahl der psychischen Störungen, wegen der oben beschriebenen Prozesshaftigkeit ihres Entstehens, einen chronischen Charakter haben. Wenn also die Jantzensche 5 »Behandeln« heißt nicht unbedingt ein Zum-Verschwinden-Bringen eines Problems/Leids. Das erreichen wir oft nicht. Behandeln heißt, dass Leid oder Probleme (wieder) in einen sozialen Rahmen eingebettet werden. Damit ist nicht unbedingt das Leid aufgehoben, aber die soziale Isolation. Diese macht krank. Das Leid ist hier der subjektive, der psychisch erlebte Pol eines Schadensereignisses. Aber Leid verursacht nicht unbedingt eine psychische Störung.

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Theorie richtig ist, dann müsste sie erklären können, warum die ganz »normale« Psychotherapie hilft, obwohl diese die psychische Störung im Subjekt verankert sieht, was ja nach seiner Theorie nicht richtig ist. Kann das so heftig kritisierte »falsche« Störungsrational denn überhaupt Grundlage einer »richtigen«, einer funktionierenden Therapie sein? Das beantworten die Theorien von Jantzen nicht. Und das ist m. E. (neben dem marxistisch-leninistischen Duktus seiner Schriften) auch der Grund dafür, dass seine Modelle bis heute in Kolleginnenkreisen so wenig Resonanz gefunden haben. Denn, wer tatsächlich heilt – und das tun in der weit überwiegenden Mehrzahl Kolleginnen, die nicht Anhängerinnen seiner Konzeption sind –, hat recht, wie gut oder schlecht auch immer die zugrundeliegende Theorie sein mag. Wie also kann eine Therapie wirken, die den Ort psychischer Störung nicht im sozialen Prozess, sondern im Subjekt selbst festmacht? Die Verortung einer psychischen Störung im tiefen Inneren eines Subjekts als z. B. einer wichtigen verschlüsselten Mitteilung, als Ausdruck eines ungelösten biografischen Konfliktes oder eines im prozeduralen Gedächtnis niedergelegten Lernprozesses, entspricht einer Sichtweise, die sich schrittweise in den letzten fünf Jahrhunderten in Europa entwickelt hat und die mit dem Entstehen bürgerlicher Gesellschaftsordnungen zum allgemein anerkannten Selbstverhältnis wurde. Dieses neue Selbstverhältnis der Subjekte spricht in uns und zu uns in Worten wie etwa in diesen: »Nicht von göttlichen und äußeren Mächten werden wir mehr beherrscht, und wenn wir uns an ihrer Stelle Tribunen unterwerfen, dann nur noch den von uns selbst gewählten. Nein, tief in mir sind die Motive (verborgen oder auch bewusst), denen ich folge und durch die ich mich in die Welt hineinentwickle.« Dies ist der Kern des bürgerlichen Subjektmodells. Wenn nun ein solches Subjekt bei gegebenen ausreichenden äußeren Bedingungen dauerhaft und immer wieder an der Realisierung seines biografischen Selbstentwurfs scheitert, dann kann es nach dieser Logik nur am Subjekt selbst oder, besser gesagt, in ihm selbst liegen. Folgerichtig wird die psychische Störung im und am Subjekt behandelt. Und das funktioniert auch. Zumindest in den Fällen, in denen es sich um bürgerliche Subjekte handelt. Bürgerliche Subjekte verfügen neben den bürgerlichen und staatlich garantierten Rechten zu Selbstbestimmung auch über die materiellen und persönlich angeeigneten Bedingungen (ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital), ohne welche die Realisierung eines eigenen biografischen Selbstentwurfs nicht möglich wäre. Von daher wundert es nicht, dass Psychotherapie, und das war lange allein die Psychoanalyse, trotz ihres enormen Einflusses auf Gesellschaft, Kultur und Wissenschaft eine exklusive Veranstaltung überwiegend nur für Bürgerinnen war. Das begann sich erst in den letzten Jahrzehnten allmählich zu ändern. Ausdruck dieser Veränderungen ist z. B. in den psychodynamischen Verfahren die zunehmende Relevanz struktureller Faktoren, sowohl in der Dia-

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gnostik als auch in der Therapie. Neben der klassischen konflikthaften Störung, wie wir sie im Freudschen Modell noch ausschließlich finden, tritt die strukturelle Dimension. Strukturqualitäten sind personal skills und gehören damit zum kulturellen Kapital. Über das verfügen Unterschichten in deutlich geringerem Umfang. Sollen Menschen aus diesen Schichten von Psychotherapie profitieren, erfordert das einen pädagogischen Prozess innerhalb der Behandlung. Dieser wird auch zunehmend geleistet. Strukturbezogene Therapie ist eine pädagogische Tätigkeit im Rahmen einer heilkundlichen Behandlung. Aus der geringeren Verfügung der Unterschichten über das kulturelle Kapital kann nun nicht der Schluss gezogen werden, Menschen aus bildungsfernen Schichten seien im Durchschnitt strukturell gestörter. Aber aufgrund der anderen Lebensbedingungen weisen sie deutlich verschiedene Strukturqualitäten auf. Das Problem bei Aufbau und diagnostischer Anwendung des Strukturkonzepts liegt aus meiner Sicht in der darin impliziten Annahme, die dort aufgeführten Strukturqualitäten seien allgemein menschlicher Natur, damit ahistorisch und auch schichtunspezifisch. Damit wären Strukturmerkmale die ersten psychologischen Kategorien, die völlig losgelöst von allen kulturellen Einflüssen existierten. Das zu verifizieren wäre zumindest mal eine größer angelegte empirische Untersuchung wert. Und um hier gleich die Alternativthese zu liefern, um deren Verifizierung es bei einer solchen Untersuchung ginge: Gute Strukturqualität bildet eine Norm ab, die Basisqualifikationen zumindest durchschnittlich gebildeter, gesellschaftlich integrierter Menschen in entwickelten modernen, d. h. kapitalistischen Industriegesellschaften beschreibt. Einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der Veränderungen der social skills im letzten Jahrhundert, ihrer allmählichen sozialen Verbreiterung auch in die »unteren Schichten« sowie dem Anteil, den Psychologie und Psychotherapie dabei haben, leistet Eva Illouz in Die Errettung der modernen Seele (2011). Viele der dort beschriebenen neuen sozialen Interaktions- wie auch der Selbstpraktiken finden wir normativ in den Merkmalen guter Strukturqualitäten wieder. Das heißt aber im Umkehrschluss auch, dass alle, die nicht über die oben beschriebenen Ressourcen verfügen, von der Psychotherapie nicht allein wegen nicht ausreichender Finanzierung ausgeschlossen waren. Es bedeutet, dass bei ihnen eine Psychotherapie, die von einem bürgerlichen Subjekt mit Vorhandensein der entsprechenden Ressourcen ausgeht, gar nicht helfen kann. Denn es müsste neben der Behandlung der inneren Bedingungen auch um Hilfen bei der Bewältigung der äußeren Situation gehen, denn über die Kapitalien, dies selbst zu tun, verfügen nicht-bürgerliche Subjekte nicht. Jantzen und seine Mitarbeiterinnen – und in gewisser Weise auch Schubenz und seine Weggefährtinnen – gehörten zu jenen, die Subjektivität nicht allein den Bürgerinnen zugestehen wollten, sondern allen Menschen. Und somit brauchte auch die Psychotherapie eine neue Grundlage, auf der jene Menschen zu behandeln wären, die nicht das

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Privileg hatten, über ausreichend ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital zu verfügen. Jantzen und seine Mitarbeiterinnen waren mit ihren Konzeptionen, mit ihren Theorien von Störung und Behandlung, die sogar Menschen mit schwerstmehrfachen Behinderungen einschließen sollten, die Radikalsten von allen. Das mussten sie sein, wollten sie ihrer Klientel gerecht werden. Von diesem Erkenntnisinteresse geleitet, haben sie erreicht, psychische Störung mit einer Stringenz als sozialen Prozess zu konzeptionieren, wie es zuvor nicht gelungen ist. Jantzens Hilferational hat er an verschiedenen Stellen dargelegt (vgl. etwa Jantzen, 1979, S. 198). Es beruht auf einem differenzierten Störungsmodell und zeichnet sich durch eine ausgeprägte Systematik und Detailliertheit aus. Es beschreibt die unterschiedlichen Ansatzpunkte für Hilfen auf den verschiedenen hierarchisch aufgebauten Ebenen der Handlungs- und Tätigkeitsregulation. Diese beginnen bei der genetischen, gehen über die Ebene des biochemischen Stoffwechsels über körperliche Funktionssysteme bis hin zu den Beziehungen der Individuen im Kontext der gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen die Klientinnen leben (vgl. Jantzen, 1980, S. 69). Sein Störungs- und das daraus abgeleitete Hilfemodell umfasst nicht nur die Praxisfelder der Pädagoginnen und der Psychotherapeutinnen. In seinem Ansatz bezieht es Ärztinnen, Physiound Ergotherapeutinnen, Sozialarbeit sowie Funktions- und Behandlungspflege mit ein. Es bringt ein Modell von Störung und Behandlung hervor, das einen Rahmen bildet, in dem sich die verschiedenen Praxisfelder und ihre Akteurinnen kooperativ aufeinander beziehen können. Dies ist auch notwendig, wenn man mit schweren Formen von Behinderung arbeiten will. Die psychotherapeutische Profession hingegen grenzt sich stärker als ihre organmedizinischen Schwestern von anderen Hilfeformen, medizinischen wie auch sozialpädagogischen, ab. Die Abgrenzung der Psychotherapeutinnen hat durchaus einen in der Sache liegenden Grund: Psychotherapie ist heikel, ein Geschäft, das wegen der mit psychischen Störungen immer verbundenen Scham und der in der Behandlung besonders ausgeprägten Abhängigkeit der Patientinnen von den Therapeutinnen in besonderer Weise Verschwiegenheit, Abstinenz und Schutz der Privatheit von Behandlerin und Patientin erfordert. Das macht Kooperation mit anderen Berufsgruppen schwierig, treibt die Psychotherapie und ihre Akteurinnen aber auch in eine Isolation, die Resignation in gleicher Weise befördern kann wie Hybris. Hier ein breiter aufgestelltes Modell von Störung und Hilfe konzipiert zu haben, das Therapie als kooperatives Verhältnis zur Patientin wie auch berufsgruppen-übergreifend denkt, ist aus meiner Sicht ein großer Verdienst von Jantzen und seinen Mitarbeiterinnen. Darüber hinaus stellt Jantzen Störung und Behandlung, »Gestörte« und »Behandelnde« in ihren gesellschaftlichen Zusammenhängen und Widersprüchen dar. Auch das ist ein sehr heilsames Unterfangen. Vor allem für einen Berufsstand, der sich zwar

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professionell und kompetent in dem dyadischen Behandlerin-Patientin-Kontexten reflektiert, aber in weiten Teilen Ignoranz zeigt, sich und die eigene Tätigkeit in gesellschaftlichen Zusammenhängen zu denken. Aber genau an dieser Stelle verfehlt Jantzen aus meiner Sicht auf tragische Weise sein Ziel. Im Stil, aber auch in seinen sachlichen Überlegungen ideologisiert er diese so wichtigen Zusammenhänge durch eine aus meiner Sicht krude Einengung auf marxistisch-leninistische Denk- und Deutungsmuster. Ein Beispiel: Er gliedert seine Überlegungen im Abschnitt »Prinzipien meiner therapeutischen Arbeit« durch die weiteren Kapitelüberschriften: »1. Radikale Parteinahme für den Klienten«, »2. Demokratisierung der Therapieprozesse und Beseitigung der Mystifikation der Therapeutenrolle«, »3. Absolute Eindeutigkeit des eigenen Handelns«, »4. Positive Lösung der Machtfrage« … und so fort (Jantzen, 1979, S. 133 ff.). Durch Stil und Art der Argumentation kommen selbst mir gelegentlich Zweifel, ob seine Theorie im Dienste der Emanzipation seines Klientels steht oder doch mehr im Dienste der Kritik am Kapitalismus insgesamt. Damit teilt Jantzen das Schicksal vieler Linker der 1970er und 1980er Jahre, die ihre Ansichten und Einsichten damit auch nicht »über die Zeiten« retten konnten. Der Grund dafür lag nur zum Teil im Zusammenbruch der sozialistischen Staaten und dem Schock, der die Linken der unterschiedlichsten Couleur dann traf. Vielmehr ist ein Grund auch in der selbst verschuldeten Isolation zu suchen, als Folge des besserwisserischen Habitus derjenigen, die glaubten, die Gesetze und den Gang der Geschichte zu kennen, einer Haltung, von der ich zu dieser Zeit sicher auch nicht ganz frei war. Das hat es denjenigen, die an einer Aufrechterhaltung des Status Quo interessiert waren, leicht gemacht, die immer auch irritierenden An- und Einsichten dieser linken Protagonistinnen zu diskreditieren.

Conclusio Schubenz und Jantzen sind auch in ihrer Unterschiedlichkeit typische Vertreter der durch die 1968er angestoßenen Reformbewegungen. Eine lange Friedensperiode sowie ein langer wirtschaftlicher Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg in Westeuropa und Nordamerika schufen ein Klima und die materiellen Voraussetzungen, Reformen in Psychiatrie und Behindertenfürsorge in Gang zu setzen sowie neue Formen von Psychotherapie zu entwickeln. Im Bereich der Psychotherapie führte das zu einer deutlichen Erweiterung der Indikationen. Es half zusätzlich bei der enormen Verbreiterung der sozialen Basis, d. h. einer Öffnung der Psychotherapie bis tief in die unteren sozialen Milieus hinein. Im Gefolge der gesellschaftlichen Veränderungen, die von immer mehr Individuen (nicht nur den klassischen Bürgerinnen) einen eigenen biografischen Selbst-

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entwurf fordert, musste sich auch die Psychotherapie umgestalten, wollte sie ihrer Aufgabe gerecht werden, der Einzelnen Hilfen bei ihrem biografischen Projekt anzubieten. Schubenz und Jantzen waren Akteure dieser Umgestaltung, indem sie Psychotherapie aus den Fesseln einer Heilkunde befreiten, die sich der Beseitigung von Störungen verschrieben hatte, die sie im Wesentlichen im Individuum begründet sah. Beide verstehen psychische Störungen als soziale Prozesse und machen auch hier nicht den Fehler, sie lediglich auf zwischenmenschliche Beziehungsprobleme zu reduzieren. Vielmehr verstehen sie Psychotherapie als eine soziale Praxis, die nicht die Bedürftigen mittels einer heilkundlichen Methode genesen lässt, sondern es ihnen erlaubt, kooperativ die Beziehung zu ihrem Gegenüber stimmig zu gestalten. Sie bietet Bedürftigen Hilfestellungen an, sich selbst und ihre Lebensverhältnisse besser zu verstehen und zu verändern. Wenn psychische Störung in ihrem Kern als Isolationsprozess, als (Zer-) Störung des mitmenschlichen kooperativen und kommunikativen Stoffwechsels verstanden werden muss, dann kann Heilung nur auf dem Wege einer (Wieder-)Herstellung eines kooperativ-kommunikativen Verhältnisses erreicht werden, die als heilende Beziehung verstanden wird. »Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.«, schreibt Ernst Bloch (1963, S. 13). kurz und knackig. Natürlich können eine Vielzahl von Störungen, die Kooperation und Kommunikation beeinträchtigen, wie z. B. viele somatische Störungen und Prozesse nicht durch gute Beziehung allein »geheilt« werden. Aber ohne eine kooperative und kommunikative Praxis verkommt die Ärztin/Psychotherapeutin zur reinen Dienstleisterin und der leidende Mensch zur Kundin (vgl. Maio, 2011). Natürlich ist ein solches Verhältnis viel praktischer für die Realisierung geschäftlicher Interessen. Aber wenn wir Geschäftsleute sein wollen, was ja auch gelegentlich ein honoriges Unterfangen sein kann, dann sollten wir es auch ehrlich sagen. Immer mehr Kolleginnen sehen die Gefahr, dass Psychotherapie sich zu einer reinen »wertfreien« Technik im Dienste der Optimierung der Ware Arbeitskraft entwickelt oder in milderer Form zu einer Variante von Psycho-Wellness wird, wenn Sauna, Pilates und Yoga mal nicht ausreichen sollten.6 Wollen wir es dazu 6 Noch mal Eva Illouz (2011) zu den Nebenwirkungen psychologischer Praxis, die antritt als eine Hilfe zur Entwicklung des Selbst in Absehung der Verhältnisse, die das moderne Selbst sozial konstituieren: »Je mehr Ursachen von Leid im Selbst lokalisiert werden, desto stärker wird das Selbst im Zeichen seiner Notlage verstanden und desto mehr wirkliche Krankheiten des Selbst werden verursacht. Weil die therapeutische Erzählung Notlagen des Selbst diskutiert, etikettiert und erklärt, ist das Selbst gehalten, sich im Licht eines Berges von emotionalen und psychischen Problemen zu begreifen. Statt tatsächlich dabei zu helfen, mit den Widersprüchen und Zwickmühlen der modernen Identität zurechtzukommen, vertieft der psychologische Diskurs sie womöglich nur. Während die Erfahrung von Leid ein kulturelles System früher vor grundsätzliche Legitimationsprobleme stellte, hat sich das Leid in der

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nicht kommen lassen, dann reichen ethische Standards und Appelle, so wichtig sie auch sind, nicht aus. Es bedarf auch weiterhin sich entwickelnder Theorien, Verfahren und auf ihnen sich gründender Praxen. Dabei wird es nicht darauf ankommen, inflationär immer neue therapeutische Methoden aus der Taufe zu heben. Ich habe bei dieser Entwicklung oft den Eindruck, dass wir uns vor allem aus einem Gefühl tiefer Verunsicherung gierig auf jede neue Methode stürzen – in der Hoffnung, dass ihre Anwendung uns endlich von unseren Zweifeln erlösen möge. Aber so wichtig die Entwicklung neuer therapeutischer Werkzeuge im Einzelnen auch sein mag, die Gefühle von Insuffizienz, die so typisch für unseren Berufsstand sind, verweisen aus meiner Sicht weniger darauf, dass wir nicht genügend oder zu stumpfe »Werkzeuge« in unseren »Koffern« haben. Ich möchte die These aufstellen, dass der Zweifel vielmehr daher rührt, dass wir uns unseres ethischen Fundaments zunehmend unsicher sind. Denn Psychotherapie scheint mir allmählich ihren Charakter zu verändern. Sie wird von den wichtigen gesellschaftlichen Akteurinnen (Politik, Krankenkassen, Arbeitgeberinnen etc.) auf dem Hintergrund steigender Krankheitskosten und Fehltage ausschließlich als eine Technik zur Beseitigung von Störungen verstanden. Das ist aus ihrer Interessenlage heraus nachvollziehbar, setzt aber unsere Profession zunehmend unter Druck. Einen Druck, dem wir uns nur entgegenstellen können, wenn wir uns zum einen einer ethischen Debatte stellen, zum anderen und im gleichen Zuge aber auch die Theorien und Konzepte weiterentwickeln, die psychische Störung nicht am und im Individuum festmachen. Das ist das Vermächtnis von Siegfried Schubenz, von Wolfgang Jantzen und ihren Mitarbeiterinnen. Europa hat seit der Renaissance die Seele immer mehr vom Individuum her gedacht, ein Prozess, der sich seit der bürgerlichen Revolution und der Durchsetzung der kapitalistischen Wirtschaftsweise noch einmal beschleunigt und vertieft hat. Aber die Seele ist nicht vom Individuum her zu denken. Die Individualseele ist nur ein Knoten in einem Netzwerk, das durch Kooperation und Kommunikation geknüpft ist und das den Namen Kultur trägt. Der Mensch ist kein einzelnes Etwas. So wie er uns entgegentritt, steht er für die Beziehungen und Verhältnisse, in denen er verwoben ist. Im Original, in der sechsten Feuerbachthese von Karl Marx (1845), heißt das so: »Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« (S. 533).

zeitgenössischen therapeutischen Weltsicht in ein von Experten der Seele zu managendes Problem verwandelt.« (S. 405)

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Monika Schlösser

Die wechselseitige Bezogenheit im therapeutischen Prozess und das gemeinsam gestaltete Dritte. Gedanken zur Bedeutung der therapeutischen Beziehung im Konzept von Siegfried Schubenz und in der neueren Psychoanalyse1

Liebe Kollegen und Kolleginnen, anlässlich dieser Gedenkfeier heute, zum 10. Todestag von Siegfried Schubenz, habe ich noch einmal genauer in seinem Buch Psychologische Therapie bei Entwicklungsbehinderung gelesen. Vor Jahren habe ich es schnell beiseitegelegt, konnte damit wenig anfangen. Ich las vorrangig seine mir vertraute Psychoanalysekritik heraus, die mich immer wieder in ihrer Vehemenz zum Widerspruch herausgefordert hatte, z. B. bei den Themen Macht und Neutralität, Distanz, Abstinenz und Deutungshoheit des Therapeuten. Beim erneuten Lesen des Buches ging es mir anders: Ich habe mit z. T. verändertem Blick gelesen und noch einmal neu hingehört, was Siegfried zu sagen hat. Dabei konnte ich für mich einige Annäherungen entdecken zwischen dem, was Siegfrieds Anliegen in der Psychotherapie war, und neueren Bewegungen in der psychoanalytischen Theorie, Forschung und Praxis. Dazu möchte ich einige Ausführungen machen. Es geht dabei um das Thema Beziehung. 1975 bin ich Siegfried erstmals begegnet. Ein Jahr zuvor hatte ich meinen Magisterabschluss in Germanistik, Linguistik und Soziologie gemacht. Auslöser für den Kontakt war, dass ich gehört hatte, Siegfried versuche mit einer speziellen wissenschaftlichen Methode, der Morphemmethode (MM), zusammen mit Studenten des Psychologischen Instituts (PI) der Freien Universität Berlin, Kindern und Jugendlichen mit Lese-Rechtschreibschwäche (Legasthenie) Schriftsprachenkompetenz zu vermitteln. Zu diesem Zweck hatte Siegfried zusammen mit einigen Mitarbeitern 1971 die Praxiseinrichtung und Institution »Legasthenie-Zentrum« (LZ) gegründet und aufgebaut. Ich habe Siegfried schon in den ersten Gesprächen als einen sehr zugewandten, offenen, lebendigen, begeisterungsfähigen und Begeisterung we-

1 Vortrag im Rahmen des Gedenkabends zum 10. Todestag von Siegfried Schubenz am 30. 11. 2017.

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ckenden Menschen und Professor erlebt und freute mich auf eine spannende Zusammenarbeit. 1976 begann ich mit einer Gruppe von sechs Kindern im LZ nach der MM zu arbeiten. Im Verlauf einer mit der Zeit immer heftiger werdenden Diskussion zwischen den Studenten, Siegfried und anderen Universitätsvertretern darüber, wie den betroffenen Kindern erfolgreich Schriftsprachenkompetenz zu vermitteln sein könnte und was die Möglichkeiten und Grenzen der MM sind, zeigte sich immer deutlicher – die Kinder und Jugendlichen lehrten es uns –, dass Legasthenie vorrangig ein Symptom ist, hinter dem sich ungelöste psychische Konflikte, Probleme und Ängste aus der frühen Kindheit verbergen, die zu Blockierungen, Entwicklungsbehinderungen und gesellschaftlichen Ausgrenzungserfahrungen führen. Das Lese-Rechtschreibtraining und die MM erwiesen sich zunehmend als unzureichend oder ungeeignet, um eine konstruktive Veränderung und Entwicklung bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen in Gang zu setzen. Im Prozess intensiver fachlicher Auseinandersetzung setzte sich dann zunehmend – wir waren getrieben von der psychischen Not der betroffenen Kinder – eine Veränderung von einer primär pädagogischen Haltung und Handlungsweise hin zu einem psychotherapeutischen Verständnis des Problems durch (Ende der 1970er Jahre). Diese Bewegung basierte auf der wachsenden Erkenntnis, dass nur dann, wenn die psychischen Probleme und Konflikte, die u. a. zur Legasthenie geführt haben, wahrgenommen, ernst genommen und als Resultat einer entgleisten Beziehungsgeschichte verstanden werden, positive Veränderung (Heilung) – d. h. die Überwindung der Entwicklungsbehinderung bzw. der sozialen Ausgrenzung – in Gang gesetzt werden kann. Siegfried entwickelte vor diesem Hintergrund sein Konzept der »besonders schwachen ersten Bindung« (Schubenz, 1993, S. 33) und leitete daraus bestimmte psychotherapeutische Konsequenzen ab. Im Mittelpunkt standen dabei für ihn die zwischenmenschliche Beziehung und die wechselseitige Bezogenheit, sowohl hinsichtlich der Genese der Störung als auch hinsichtlich der Behandlung von Entwicklungsbehinderung. Technik und Methode waren von da an, anders als vorher, eher zweitrangig. Der Weg der Wandlung vom pädagogischen zum psychotherapeutischen Verstehen und Handeln war z. T. ein mühseliger, von kontroversen Positionen bestimmter Prozess. Siegfried ermutigte dabei jeden, seine Position zu entfalten, zu vertreten, im entsprechenden Handeln auszuprobieren und zu reflektieren. Das führte u. a. dazu, dass anfänglich in diesem Prozess auch völlig konträre psychotherapeutische und/oder pädagogische Konzepte gleichzeitig praktiziert wurden. In dem damals zeitweise herrschenden, teils auch sehr produktiven Chaos habe ich mir manchmal schon eine mehr strukturierende, Orientierung gebende und leitende Haltung von Siegfried gewünscht.

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Der gesamte fortlaufende Prozess von fachlicher Diskussion, theoretischer und praktischer Auseinandersetzung mit dem Thema psychische Entwicklungsbehinderung und Psychotherapie mündete dann 1986 in die Idee und schließlich die Entscheidung von Siegfried und seinen Mitarbeitern, ein Konzept und ein Curriculum zu entwickeln für die Weiterbildung von Diplom-Psychologen zu Psychotherapeuten. Damit verbunden war eine Institutsgründung. Die anfängliche Namensgebung »Institut für pädagogisch-psychologische Therapie bei psychischer Entwicklungsbehinderung« wurde später verändert in »Institut für Psychologische Psychotherapie«, bei Beibehaltung des Kürzels ppt. Planung und Aufbau des Instituts und des Curriculums fanden in einer kleinen Gruppe diplomierter, psychotherapeutisch erfahrener, universitärer und außeruniversitärer enger Mitarbeiter von Siegfried statt, mit denen er sich die Umsetzung seiner Ideen vorstellen konnte. Ich habe diese Phase als sehr spannend, kreativ, konfliktreich und natürlich auch sehr arbeitsintensiv erlebt. Im Verlauf der weiteren Jahre konzentrierte sich die psychotherapeutische Arbeit immer mehr auch auf erwachsene Patienten. Mit Inkrafttreten des Psychotherapeutengesetzes 1998/1999 wurde das Institut dann staatlich anerkannt, mit den beiden Vertiefungssträngen Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (TP) und Verhaltenstherapie (VT). Der von Anfang an praktizierte Dialog zwischen diesen beiden Verfahren ist eine Besonderheit des Instituts für ppt, die auch im aktuellen Curriculum in bestimmten verfahrensübergreifenden Veranstaltungen deutlich zum Ausdruck kommt. Nach dieser kurzen Darstellung des Weges hin zum heutigen Instituts für ppt werde ich jetzt einige mir wesentlich erscheinende Aspekte von Siegfrieds Konzept der, von ihm so benannten, »Psychologischen Therapie bei Entwicklungsbehinderung« genauer darstellen. Ich beziehe mich dabei im Wesentlichen auf sein entsprechend betiteltes Buch und viele Jahre gemeinsamer Erfahrungen im LZ und im Institut für ppt. Grundlegend ist für Siegfried (1993)2 der Begriff der schwachen ersten Bindung. Die »besonders schwache erste Bindung eines Kindes an seine primäre Bezugsperson« (S. 32) wird von ihm als Ausgangspunkt und Ursache einer sich später zeigenden Entwicklungsbehinderung verstanden. Winnicotts Vorstellung von der genügend guten Mutter sei von vielen Müttern aufgrund großer sozialer und psychischer Belastungen und Ausgrenzungserfahrungen kaum realisierbar. Die Folge sei, dass deren Kinder eine besonders schwache erste Bindung aufwiesen, die dann eine weitgehende Entwicklungsbehinderung und gesellschaftliche Ausgrenzung in vielen relevanten Bereichen (u. a. Schule) nach sich ziehe. Dies treffe insbesondere für die aus bildungsfernen Schichten stammenden Mütter und Kinder im LZ zu (vgl. S. 32 ff.; S. 248 f.). Siegfrieds These lautet: 2 Schubenz (1993) wird im Folgenden nur mit Angabe der Seitenzahl zitiert (die Herausgeber).

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Je schwächer die erste Bindung, desto gravierender die spätere Entwicklungsbehinderung und soziale Ausgrenzung: Die eigene soziale Ungeschütztheit […] entzieht der Bindung zwischen solchen Müttern und ihren Kindern zusätzlich zur Grundverunsicherung die Kraft, aus der allein die Entwicklung […] sicher erfolgen kann. Und so entstehen alle Erscheinungsformen von Entwicklungsbehinderung. (S. 248)

An anderer Stelle heißt es: Wer selbst eine schwache erste Bindung erfahren hat, wird in akuten Lebenskrisen weniger als diese anzubieten haben, auch und gerade dann, wenn er ein neugeborenes Kind versorgen soll. Die in unserer Gesellschaft so häufigen besonders schwachen ersten Bindungen sind überhaupt nur zu verstehen auf der Grundlage schwacher erster Bindungen von uns allen als erste Lebenserfahrungen. (S. 33)

Aus diesem Verstehenszusammenhang heraus entwickelte Siegfried »das Konzept einer familienangenäherten psychologischen Therapie« (S. 46). Hier versuchen zwei psychologische Psychotherapeuten einer Kindergruppe in der Nacharbeit die Gewissheit schwacher und besonders schwacher erster Bindungen in die andere Gewissheit von noch immer wachsender je eigener Bindungsfähigkeit (also auch der der psychologischen Therapeuten) umzuwandeln. Das Mittel dazu ist die zugelassene Regression und das therapeutische Angebot von Bindungen, die fester sind als die primär erlebten und frei von geheimen Aufträgen. (S. 46 f.)

Um diese Aufgabe erfüllen zu können, sei die Einbindung der Therapeuten in ein »äquivalentes Familienannäherungsangebot« (S. 47) notwendig bzw. der Schutz und die Unterstützung durch eine »therapeutische Institution« (S. 76), z. B. »die Supervisionsfamilie« (S. 47) bzw. die in diesem Sinne zu verstehende »Therapie der Therapeuten«, wie Siegfried es später einmal nannte. Nur wenn, so eingebettet, die Therapeuten das Angebot einer festeren Bindung machen können, seien die Voraussetzungen dafür gegeben, dass für die Kinder/Patienten neue konstruktive Beziehungserfahrungen möglich werden, Beziehungs- und Bindungsfähigkeit entwickelbar und Entwicklungsbehinderungen überwindbar werden (vgl. S. 48 f.). Noch ein weiterer Gedanke von Siegfried erscheint mir wichtig, der in sein Verständnis von korrigierender heilender Beziehungserfahrung in der Therapie miteinfließt: »Wir treten unseren nachgeburtlichen Lebensweg mit der primär negativen Erfahrung der ›Ungeborgenheit bei uns selbst‹ an« (S. 305). Wenn man dem zustimmt, dass die frühe Erfahrung von Ungeborgenheit für jeden Menschen gilt, dann gibt es zwischen »krank« und »gesund«, zwischen Therapeut und Patient keinen grundsätzlichen Unterschied, sondern nur einen graduellen. Der Therapeut ist dann – u. a. aufgrund von Supervisionsfamilie, Selbstreflexion und schützender sozialer Eingebundenheit – dem Patienten nur ein Stückchen

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voraus auf dem Weg der Bewältigung von psychischer Not, Ängsten und Konflikten. Man könnte m. E. auch sagen: Eine gewisse Gleichheit zwischen Patient und Therapeut, aufgrund einer von beiden gemachten frühen Erfahrung von Ungeborgenheit, eröffnet dem Therapeuten erst die Möglichkeit, über Empathie und Verstehen einen emotionalen Zugang zum Patienten zu erlangen und heilend und entwicklungsfördernd wirksam zu werden. In diesem Zusammenhang der Wirkkraft von Psychotherapie betont Siegfried das Prinzip der Mütterlichkeit, womit eine Mutter gemeint ist, die sich auf ihren Säugling oder ihr kleines Kind einlassen, sich feinfühlig mit ihm abstimmen, sich zur Verfügung stellen kann, die selbst nicht so belastet ist, dass ihr das kaum mehr möglich ist. Mütterlichkeit sieht Siegfried als eine therapeutische Grundhaltung: »Erfolgreiche Psychotherapie ist immer das Wirksamwerden des Prinzips der Mütterlichkeit« (S. 217 f.); bzw.: »›Ich liebe dich, gerade so, wie du jetzt bist‹« (S. 220). Persönlichkeitsentwicklung kann nach Siegfried nur durch die Wirksamkeit einer »bindungsbereiten« (S. 218) und begegnungsoffenen Beziehung stattfinden. Sie allein habe psychotherapeutische Wirkkraft »nach der Art eines frühen Mutter-Kind-Verhältnisses« (S. 218). Siegfried bezieht sich dabei auf Winnicott (1984), der die Aufgabe des Therapeuten darin sieht, seinen Patienten zu halten, wie eine Mutter ihren Säugling hält, sich einzufühlen, zu spiegeln, zu identifizieren und zu verstehen (vgl. S. 69 ff.; S. 317), wobei der Fokus für Siegfried darüber hinaus auf dem gemeinsam gestalteten Beziehungs- und Begegnungsgeschehen liegt, in das sich beide, Therapeut und Patient, mit ihrer ganzen Persönlichkeit, ihrer Subjektivität einbringen. Das heißt, er fordert, dass der Therapeut sich nicht nur mit der »primären Liebe« des Patienten »besetzen läßt«, sondern sie auch in »äquivalenter Weise zurückgibt« (Schubenz, 1993, S. 219). Siegfried kritisiert an dieser Stelle die Psychoanalyse, insbesondere deren Beziehungsverständnis. Sie setze allein auf die Bindungsfähigkeit des Klienten/ Patienten und halte den Arzt bzw. den Therapeuten frei davon, »ein äquivalentes Bindungsangebot an seinen Klienten zu machen« (S. 51). Das Beziehungsverständnis in der Psychoanalyse wird damit als eine Art Einbahnstraße kritisiert: Im Mittelpunkt stehe der Patient mit seiner Übertragung und nicht das gemeinsame Beziehungsgeschehen, die wechselseitige Bezogenheit. Aus dieser Perspektive bleibt der Therapeut weitgehend in der Beobachterposition, in Distanz und damit auch in einer besonderen Machtstellung. Eine Übertragungstheorie, die nicht eine »aktive Gegenübertragungstheorie« (S. 75), d. h. die »eigene Bindung an den Klienten« (S. 76) mitumfasst, führe dazu, dass sich psychologische Therapie in den Grenzen des medizinischen Verständnisses von Therapie bewege. Aktive Gegenübertragung heißt für Siegfried, der Beziehung, die der Patient zum Therapeuten aufnimmt, »den Schein des Künstlichen […] zu

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nehmen. Die zugelassene Gegenübertragung macht möglich, dass hier eine wirkliche Beziehung entsteht, die dann auch die Macht entfalten kann, ein glaubwürdiges Beispiel für eine Erfahrung von intensiver sozialer Integration zu sein« (S. 75 f.). Ich verstehe diese Äußerungen von Siegfried so, dass der Therapeut sich als aktiver, »emotional engagierter« (Altmeyer, 2010, S. 150) Mitgestalter des Beziehungsgeschehens, des gemeinsamen Prozesses begreifen sollte, in dem sich in der Begegnung wechselseitige Einflussnahme ereignet, sodass sich der Entwicklungsprozess als ein gemeinsam gestaltetes Drittes vollzieht. Ich denke, dass Siegfried mit seiner Kritik ein zentrales Problem der psychoanalytischen und tiefenpsychologischen Theorie und Therapie benennt: Über lange Zeit hinweg hat man sich hier weitgehend innerhalb einer Einpersonen- und dann Zweipersonen-Perspektive bewegt (vgl. Ermann, 2017, S. 36), einhergehend mit einem Beziehungsverständnis, bei dem sich der Psychotherapeut wenig als Person, aktiver Teilnehmer und Mitgestalter eines gemeinsamen Prozesses einbringen und verstehen musste. Vielmehr blieb er in einer weitgehend distanzierten Beobachterposition, verdeckt und versteckt hinter einem bestimmten Neutralitäts- und Abstinenzverständnis3, was insbesondere für Patienten mit strukturellen bzw. Persönlichkeitsstörungen, die ein aktiv beteiligtes, sich emotional zeigendes und antwortendes Gegenüber brauchen, wenig hilfreich ist: Der Psychotherapeut kann sie auf diese Weise kaum da abholen und erreichen, wo sie gerade stehen. Das jedoch ist notwendig, um Entwicklung, über Begegnung, in Gang setzen zu können (vgl. Heigl-Evers et al., 1993, S. 213 ff.). Aber in der Psychoanalyse deutet sich seit einigen Jahren eine Veränderung an. Man spricht von der Entwicklung hin zu einer »intersubjektiven Wende«. Dieser Veränderungsprozess wurde u. a. durch die Objektbeziehungstheorie, Bindungstheorie und Säuglingsforschung angestoßen, einhergehend damit, dass die »affektive Beteiligung« (Ermann, 2017, S. 36) des Therapeuten, sein Umgang mit der Gegenübertragung und die Beziehung »als Rahmen für die Entwicklung« (ebd., S. 66) mehr ins Blickfeld genommen wurden. Das bedeutete eine Veränderung von der Einpersonen- zur Zweipersonenperspektive. In einem weiteren Schritt entwickelte sich dann das, was die intersubjektive Wende genannt wird: Der Blick richtet sich zentral auf das Miteinander, die wechselseitige Einflussnahme und Bezogenheit, wodurch die »Bedeutung des realen Anderen« 3 Das gilt insbesondere für die Einpersonen-Perspektive. Mit der Entwicklung hin zu einer Zweipersonen-Perspektive verändern sich ein Stück weit Bedeutung und Funktion des Therapeuten im therapeutischen Geschehen, in dem die Gegenübertragung mehr in den Blick rückt: Mit seiner Fähigkeit, »Gegenübertragungen in sich aufzunehmen und diese zu verarbeiten, [leistet der Therapeut] einen aktiven Beitrag zum psychoanalytischen Prozess« (Ermann, 2017, S. 36).

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(ebd., S. 9) und das, was sich zwischen Therapeut und Patient ereignet, verstärkt in den Mittelpunkt rückt. Das bedeutet: Der Therapeut wird nun verstanden als aktiver Teilnehmer und Mitgestalter des therapeutischen Prozesses. Der Blick ist damit nicht mehr nur zentral auf den Patienten gerichtet, sondern auch auf die ganze Persönlichkeit des Psychotherapeuten und vor allem auf die Dynamik des gemeinsamen Beziehungsprozesses, auf das, was sich zwischen beiden Beteiligten in einem spezifischen Zusammenspiel entwickelt, was beide gemeinsam gestalten. Ermann spricht von einem erneuten Paradigmenwechsel, der sich vollzieht, weg von der Ein- oder Zweipersonen-Perspektive hin zur intersubjektiven Wende bzw. einem »Paradigma der Bezogenheit« (vgl. ebd., S. 12; S. 66). Entwicklung vollziehe sich im Rahmen eines intersubjektiven Feldes »als eine gemeinsame (nämlich intersubjektive) Konstruktion« (ebd., S. 12). Aus dieser Sicht sei »die Entwicklung des Patienten in der Analyse das Ergebnis einer Begegnung, in der beide Beteiligte, Analysand und Analytiker, aufeinander Einfluss nehmen und sich in gewisser Weise auch verändern« (ebd., S. 94). Und aus dieser Sicht wird die therapeutische Situation als ein Miteinander verstehbar, in dem »ein Zwischen«, ein gemeinsames Drittes entsteht.4 Für die Psychotherapie heißt das: Psychotherapeut und Patient bringen sich beide vor dem Hintergrund ihrer subjektiven Geschichte und Lebenssituation ein, mit ihren je eigenen Ängsten, Konflikten und Symptomen, immer auch geleitet von unbewussten Kräften. Erst ein Wahr- und Ernstnehmen der Intersubjektivität der therapeutischen Beziehungssituation ermöglicht m. E. ein gemeinsames und hilfreiches Verstehen von dem, was sich in der konkreten Beziehungssituation, der Begegnung, ereignet. Dieser Fokus erscheint mir besonders bei traumatisierten, strukturell gestörten Patienten hilfreich. Gerade hier kommt es immer wieder zu Enactments (Handlungsdialogen), szenischen Darstellungen von frühen (verstörenden) Erfahrungen, die nicht bewältigt werden konnten, noch nicht verbalisierbar sind, die sich manifestieren in Szenen in der therapeutischen Beziehungssituation und die gemeinsam verstanden werden wollen. Bei diesen Patienten ist, so könnte man es mit Spitz (1976) sagen, in der frühen Kindheit, »wo das Ich noch nicht errichtet oder noch in statu nascendi ist« (S. 104), »der Dialog entgleist« (S. 90). Es ist ein »Zusammenbruch der Kommunikation« (S. 103) eingetreten und damit eine fundamentale Ver4 Bohleber (2010, S. 209 ff.) weist darauf hin, dass die intersubjektive Wende in der heutigen Psychoanalyse und die damit einhergehende zentrale Bedeutung von Begriffen wie »Begegnung«, »Gegenseitigkeit« und »das Zwischen« nicht ohne den Einfluss einer bestimmten philosophischen Richtung des vorigen Jahrhunderts, »einer Philosophie des Dialogs« (ebd., S. 210) zu verstehen ist. »Alle diese Ansätze betonen die fundamentale Bedeutung der Intersubjektivität in der menschlichen und auch in der therapeutischen Beziehung« (ebd., S. 211). Ein Vertreter dieser Richtung ist Martin Buber, vgl. sein Buch Das dialogische Prinzip (1954/ 1986).

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störung in der Beziehung. Spitz meint hier nicht den verbalen Dialog, vielmehr den gesamten emotionalen Austauschprozess zwischen primärer Bezugsperson und Kind in der frühkindlichen präverbalen Entwicklungsphase (ebd., S. 90 ff.; S. 103 f.). Im therapeutischen Prozess geht es dann zunächst nicht primär um Einsicht, um das Bearbeiten von Abwehr und Widerstand oder Arbeit am Konflikt, um Deuten und Verbalisieren; es geht zunächst vorrangig um korrigierende Beziehungserfahrung mit dem Fokus auf wechselseitige Bezogenheit und Einflussnahme. Zentral ist das gemeinsame Verstehen dessen, was sich im Hier und Jetzt des Beziehungsgeschehens, im Wechsel- bzw. Zusammenspiel zwischen Therapeut und Patient – verbal und nonverbal – ereignet, mit dem Ziel, den Patienten handlungs- und sprachfähiger zu machen und die Entwicklungsbehinderung zu überwinden. Siegfried hat in seinem Entwurf zur therapeutischen Beziehung eine für ihn entscheidende therapeutische Grundhaltung formuliert: die Bedeutung der Begegnung als intersubjektives Beziehungsgeschehen mit Blick auf die wechselseitige Einflussnahme und das gemeinsam gestaltete Dritte. Ich habe damals Siegfrieds Ansatz als einen im wörtlichen Sinne »Grund legenden« und wesentlichen Baustein auf dem Weg hin zu einer differenzierten Psychotherapiekonzeption (Störungsmodell und Behandlungskonzept) verstanden, die dann aber von ihm nicht entwickelt oder gefördert wurde. Meine Erwartung dahingehend beruhte vermutlich auch auf einem Missverständnis: Siegfried hatte wohl eher ein pädagogisch-psychologisches als ein psychotherapeutisches Konzept im Sinn. Meine Erwartung an ihn war aber vorrangig begründet in meiner zunehmend deutlicher werdenden Erfahrung in der Praxis, dass die therapeutische Grundhaltung, die er formuliert hat, nicht hinreicht, um die als dringend notwendig erlebte psychotherapeutische Kompetenz und Handlungsfähigkeit zu erlangen. Es fehlte mir – und auch anderen Therapeuten im LZ – ein konkreteres, differenzierteres psychotherapeutisches Konzept. So habe ich mir entsprechende Unterstützung und Orientierung woanders suchen müssen. In der Psychoanalyse/TP habe ich eine mich überzeugende Psychotherapiekonzeption und -theorie gefunden, die mich bis heute leitet und mich auch aufgrund entsprechender eigener Psychotherapieerfahrung überzeugt und handlungsfähig macht. Allerdings habe ich dort zugleich lange Zeit ein Stück von Siegfrieds therapeutischer Grundhaltung vermisst. Mit der intersubjektiven Wende in der Psychoanalyse scheint mir da eine Bewegung und Veränderung in Gang gekommen zu sein, die den von mir erlebten Mangel kompensieren kann. Der Fokus richtet sich ein Stück weit neu auf das gemeinsame Beziehungs- und Begegnungsgeschehen in der Therapie, in dem nun etwas andere Akzente gesetzt werden, Therapeut und Patient gleichermaßen und in gewisser Weise symmetrisch beteiligt sind, in dem »die Gegenwart und die Geschichte der beiden

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Akteure ins Spiel [kommen]: als Übertragungen und Gegenübertragungen und als Widerstände gegen diese Übertragungsdynamik« (Ermann, 2017, S. 98). Therapeut und Patient erschaffen in einer je spezifischen Begegnungssituation in einem Prozess der wechselseitigen Bezogenheit ein gemeinsames Hier und Jetzt, ein gemeinsam gestaltetes Drittes. Es ist ein »Zwischen«, das sich zwischen den beiden Beteiligten in der therapeutischen Beziehungssituation entwickelt und verändert, bei gleichzeitiger Veränderung von Patient und Therapeut. Die Frage ist, wie sich dieses »Zwischen« deutlicher beschreiben und begreifen, mit welchen Begriffen es sich erfassen lässt. Für Bohleber (2018) geht es dabei darum, »das intersubjektive Entstehen einer neuen Erfahrung zu konzeptualisieren«. Es sei entscheidend, »die Interaktion selbst« zu konzeptualisieren, davon ausgehend, dass eine »Begegnung […] stets mehr [ist] als die Wirkung, die sie für die sich Begegnenden hat« (S. 728). Pohlmann (2013) erläutert, auf diese Aufgabe bezogen, sein Beziehungsverständnis folgendermaßen: »›Beziehung‹ ist nicht als eine ›Und-Verbindung‹ zu begreifen, sondern als ein Ganzes in Bewegung, als eine Handlungseinheit, die ›mehr‹ und ›anders‹ ist als die Summe der daran Beteiligten« (S. 266). Altmeyer (2010) betont den zentralen Stellenwert von Intersubjektivität im gesamten therapeutischen Geschehen: »Intersubjektivität [geht] der Subjektivität voraus. Erst auf der sicheren Basis von intersubjektiver Verbundenheit entwickeln wir die Fähigkeit zur Abgrenzung und Auseinandersetzung, zu Aggression und Konflikt« (S. 156). Die Bedeutung der intersubjektiven Perspektive wird innerhalb der Psychoanalyse auch kontrovers und kritisch diskutiert. So warnt Bohleber (2010) z. B. davor, das individuelle Subjekt begrifflich zu verwässern und letztlich im intersubjektiven Kontext aufzulösen. Um nicht theoretisch in einer unhaltbaren Position von Verschmelzung und Fusion zu versinken, bedürfen solche intersubjektiven Theorien der Ergänzung durch Differenz und Getrenntheit bzw. Autonomie in der gegenseitigen Beziehung. (S. 205)

Deshalb ist es wichtig, dass mit der intersubjektiven Wende nicht alles, was vorher für das Verstehen des therapeutischen Prozesses bedeutsam war, über Bord geworfen wird. Die Bedeutung einiger Begriffe wird sich u. U. verändern und differenzierter betrachtet werden müssen (z. B. Abstinenz, Neutralität, Distanz). Zugleich muss aber eine gewisse Differenz zwischen Patienten- und Therapeutenrolle bestehen bleiben. So bleibt z. B. nach Ermann (2017) eine »Asymmetrie in der Struktur« (S. 100) der therapeutischen Beziehung: Der Therapeut ist in besonderer Weise verantwortlich für das, was sich in der Begegnungssituation ereignet. Er hat eine spezifische »berufliche Kompetenz, den Prozess zu führen« (ebd.). Das bedeutet auch: Neben aller intersubjektiven Bezogenheit und aktiven Mitgestaltung des Therapeuten an dem gemeinsam

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gestalteten Dritten ist für ihn gleichzeitig eine gewisse Distanz erforderlich, die es ihm ermöglicht, seine Beteiligung bzw. (notwendige) Verstrickung in das, was sich zwischen beiden Beteiligten ereignet, zu reflektieren.5 Neben dieser »Asymmetrie in der Struktur« steht nach Ermann eine »Symmetrie der Inhalte« (ebd.), die die gleichwertige Beteiligung von Patient und Therapeut betrifft. Entscheidend ist: Der Patient, seine innere Welt, seine Gegenwart und Geschichte stehen in diesem gesamten Prozess des Miteinanders im Mittelpunkt. Ziel der Behandlung ist seine Entwicklung, wobei sich auch der Therapeut entwickelt, verändert. Es geht auch weiterhin um das Deuten und Durcharbeiten, das Bearbeiten von Widerstand, Konflikt und Abwehr, aber zugleich – und manchmal zunächst vorrangig – um korrigierende Beziehungserfahrung, vor allem bei Patienten mit strukturellen Störungen, früher Traumatisierung. Hier erscheint mir die »Intersubjektivitätsperspektive«, d. h. der Blick auf die gemeinsam gestaltete und zu verstehende Beziehungssituation, mit der Erfahrung heilsamer Begegnung, besonders bedeutsam und entwicklungsfördernd. Letztendlich, so formuliert es Mertens (2014), »müssen wir von einer Dialektik von Subjektivität und Intersubjektivität, von intrapsychisch und intersubjektiv ausgehen, auch wenn das Intrapsychische sich nurmehr als ein Subsystem des Intersubjektiven begreifen lässt« (S. 177). Es gehe, wie Altmeyer und Thomä (2010) es sagen, nicht darum, »eine reine Innenweltzentrierung durch eine reine Außenweltzentrierung zu ersetzen«, sondern um eine »neue Balance zwischen einer intra- und einer intersubjektiven Perspektive«, darum, jenen eigentümlichen Vermittlungen von Subjektivität, Intersubjektivität und Objektivität auf die Spur zu kommen, die von der menschlichen Psyche geleistet werden müssen: ihnen nachzudenken (Grundlagentheorie), nachzuspüren (klinische Praxis) und nachzuforschen (wissenschaftliche Forschung). (S. 26)

Noch ein weiterer Aspekt erscheint mir bedeutsam: Infolge der intersubjektiven Wende rückt die therapeutische Beziehung teilweise in ein neues Licht, mit der Folge, dass der Fokus verstärkt auf die Komplexität des Beziehungsgeschehens als Prozess der gegenseitigen Einflussnahme gerichtet ist, was sich z. T. bewusst und z. T. unbewusst vollzieht (hinter unserm Rücken). Dieses Geschehen kann sicherlich über die Analyse der Übertragungs-/Gegenübertragungsdynamik – u. a. in der Supervision – ein Stück weit verstehbar und zugänglich werden, 5 Ramshorn-Privitera (2013) spricht in diesem Zusammenhang von der »Notwendigkeit, die in das Zusammenspiel mit dem Patienten hinein erweiterte selbstreflexive Funktion auch begrifflich zu fassen« (S. 1206), und schlägt den Begriff »Haltung von reflexiver Abstinenz« vor (ebd.). Wichtig ist ihr : »Bei aller Anerkennung der faktischen Verwobenheit der Prozesse im Behandlungszimmer muss jedoch ›Abstinenz‹ im Sinne einer nicht-verstrickten Beziehung als innerer Bezugspunkt für die Analytikerin erhalten bleiben« (ebd., S. 1207).

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aber vermutlich sind in diesem so vielschichtigen Gewebe des Miteinanders auch (unbewusste) Aspekte wirksam, die jedoch damit noch nicht genügend erfasst werden können. In diesem Zusammenhang wird m. E. noch einmal mehr deutlich, wie zentral für den Therapeuten – neben Supervision und Selbstreflexion – eine intensive Eigentherapieerfahrung ist. Sonst ist zu befürchten, dass der Therapeut eigene unbewusste Ängste, Konflikte und Bedürfnisse unerkannt in die Therapie- bzw. Beziehungssituation hineinträgt, auf den Patienten überträgt und Verwicklungen unverstanden bleiben, sodass die Entwicklung des Patienten (erneut) behindert wird. Da das Unbewusste unbewusst ist, sind Selbstreflexion und Supervision m. E. nicht hinreichend, um genügend Licht ins Dunkel zu bringen. Im Prozess der Begegnung in der Eigen- oder Lehrtherapie eröffnet sich dem angehenden Therapeuten ein Zugang zum eigenen Unbewussten. Sie ermöglicht neue Selbstbegegnung und -erkenntnis, neue Erfahrungen von Freiheit und Offenheit und hilft, die Begegnungs- und Handlungsmöglichkeiten in einem intersubjektiven Prozess zu erweitern. Erst die in Eigentherapie erfahrbaren Dimensionen der Wirkmächtigkeit von Begegnung und wechselseitiger Bezogenheit befähigen zu einer entsprechenden Haltung und Handlungsmöglichkeit als Therapeut. In den letzten Jahren hat sich in der Psychoanalyse eine Tendenz hin zu einer intersubjektiv orientierten Psychotherapie entwickelt, in der der therapeutische Beziehungsprozess deutlicher als bisher als ein gemeinsam von Patient und Therapeut gestalteter verstanden wird, in dem es nachdrücklicher auch ein Wagnis für den Therapeuten darstellt, sich auf einen Beziehungsprozess einzulassen, und in dem es auch um gemeinsame Veränderung, um gemeinsam gefundene und entwickelte (intersubjektive) Wahrheiten und Bedeutungen geht. In der Reflexion eines solchen Miteinanders von wechselseitiger Einflussnahme, im Nachsinnen über die Frage: »Wie verschränken sich die subjektiven Gefühlswelten der beiden Beteiligten in einem intersubjektiven Prozess?« (Mertens, 2014, S. 174) – in der Thematisierung einer solchen Dynamik würde Siegfried sich vielleicht mit seinem Anliegen der zentralen Bedeutung der therapeutischen Beziehung als eines speziellen Miteinanders und mit seiner Kritik an der herkömmlichen Psychoanalyse ein Stück weit gesehen fühlen und wiederfinden. Ich selbst versuche, mich in meinem therapeutischen Handeln und in meiner Ausbildungstätigkeit am Institut für ppt von der psychotherapeutischen Grundhaltung Siegfrieds, die mich geprägt hat, leiten zu lassen, diese Haltung an die Ausbildungskandidaten zu vermitteln und weiterzugeben. Zugleich sehe ich, dass diese Haltung und Ausrichtung auch im Psychotherapiekonzept der Psychoanalyse inzwischen ein größeres Gewicht bekommt. Beides gehört für mich untrennbar zusammen: die von Siegfried vermittelte psychotherapeutische Grundhaltung der Begegnung und eine konkrete, differenzierte Psychotherapiekonzep-

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Monika Schlösser

tion, die von dieser emotionalen Grundhaltung der Begegnung und Intersubjektivität, die es in ihrer Dynamik und ihrem Facettenreichtum immer wieder neu zu erforschen gilt, getragen und durchdrungen wird. Ich wünsche mir, dass uns diese Verbindung in unserem Institut nicht verloren geht, dass wir versuchen und es uns gelingt, sie in unserem therapeutischen Handeln immer wieder lebendig werden zu lassen und für uns und die Auszubildenden erfahrbar zu machen. Ich möchte meine Ausführungen abschließen mit einem Zitat von Habermas (2005), der m. E. das Wesentliche einer Begegnung, eines intersubjektiven Prozesses zwischen Menschen, pointiert zum Ausdruck bringt: Werden wir uns nicht erst in den Blicken, die ein Anderer auf uns wirft, unserer selbst bewusst? In den Blicken des Du, einer zweiten Person, die mit mir als einer ersten Person spricht, werde ich meiner nicht nur als eines erlebenden Subjekts überhaupt, sondern zugleich als eines individuellen Ichs bewusst. Die subjektivierenden Blicke des Anderen haben eine individuierende Kraft. (S. 19)

Literatur Altmeyer, M. (2011). Die zeitgenössische Psychoanalyse zwischen Fundamentalismus und Moderne. In P. Diederichs, J. Frommer & F. Wellendorf (Hrsg.). Äußere und innere Realität (S. 145–161). Stuttgart: Klett-Cotta. Altmeyer, M. & Thomä, H. (2010). Einführung: Psychoanalyse und Intersubjektivität. In M. Altmeyer & H. Thomä (Hrsg.). Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse (S. 7–31). Stuttgart: Klett-Cotta. Bohleber, W. (2010). Intersubjektivismus ohne Subjekt? Der Andere in der psychoanalytischen Tradition. In M. Altmeyer & H. Thomä (Hrsg.): Die vernetzte Seele. Die intersubjektive Wende in der Psychoanalyse (S. 203–226). Stuttgart: Klett-Cotta. Bohleber, W. (2018). Übertragung – Gegenübertragung – Intersubjektivität. Zur Entfaltung ihrer intrinsischen Komplexität. Psyche, 72 (9/10), S. 702–733. Buber, M. (1954/2002). Das dialogische Prinzip (9. Auflage). Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Ermann, M. (2017). Der Andere in der Psychoanalyse: Die intersubjektive Wende (2. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer. Habermas, J. (2005). Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Heigl-Evers, A., Heigl, F. & Ott, J. (Hrsg.) (1993). Lehrbuch der Psychotherapie. Stuttgart: G. Fischer. Mertens, W. (2014). Psychoanalytische Erkenntnishaltungen und Interventionen (2. aktual. u. erw. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer. Pohlmann, W. (2013). »Intersubjektivität« – ein neues Paradigma? Psyche, 67 (3), S. 251–275. Ramshorn-Privitera, A. (2013). Die Abstinenzregel. Psyche, 67 (12), S. 1191–1211. Spitz, R. (1976). Vom Dialog. Stuttgart: Klett.

Die wechselseitige Bezogenheit im therapeutischen Prozess

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Schubenz, S. (1993). Psychologische Therapie bei Entwicklungsbehinderung. Gefährdende Lebensbedingungen und Grundlagen für die Bewältigung ihrer Folgen im Klient-Therapeut-Verhältnis. Frankfurt a. M.: Peter Lang. Winnicott, D. W. (1984). Reifungsprozesse und fördernde Umwelt. Studien zur Theorie der emotionalen Entwicklung. Frankfurt a. M.: Fischer.

Lars Hauten

Schubenz 2.0 – Gedanken zum 10. Todestag von Prof. Siegfried Schubenz

Tradition ist nicht die Anbetung der Asche, sondern die Weitergabe des Feuers Mein persönlicher Kontakt mit Siegfried Schubenz war vergleichsweise kurz, aber eindrucksvoll. Ich habe ihn nicht als Hochschullehrer, sondern als Dozent am Institut für ppt kennengelernt. Und diese Begegnung war sehr besonders. Institutionell vorgegebenen Autoritäten vertraue ich nicht vorab, sondern ich fordere sie erst einmal heraus. Und genau das hat bei Siegfried Schubenz nicht funktioniert. Seine zuweilen sehr steilen Thesen haben in Diskussionen ebenso meinen Widerspruch provoziert wie seine Favorisierung der Verhaltenstherapie gegenüber der Tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie. Der Ablauf solcher Diskussionen war dann aber ganz anders, als man es bei einem beliebigen Hochschulprofessor erwarten würde. Das gewöhnliche »Spiel« zwischen dem sich verteidigenden »alten Hasen« und dem nassforschen, besserwisserischen »Emporkömmling« wollte sich einfach nicht einstellen. Stattdessen begegnete Schubenz meiner teils harsch und emotional vorgetragenen Kritik mit Offenheit und Neugier. Er hörte sich alles an, versuchte zu verstehen. Zwar blieb er meist bei seiner Auffassung, dies aber, ohne uns von dieser überzeugen zu wollen. Ich kann nicht behaupten, dass ich heute, gut zwanzig Jahre später, noch sonderlich viel von den Inhalten der wenigen Schubenz-Seminare wüsste, die ich damals besucht habe. Ein umso lebendigeres Bild habe ich jedoch nach wie vor von der Lernatmosphäre, von der Beziehung, in die sich Lehrender und Lernende miteinander begeben haben. Das ppt-Spezifische, das ich aus der Begegnung mit Schubenz mitgenommen habe, liegt demnach mehr in der Form als im Inhalt. Es ist die Dynamik einer lebendigen Begegnung, eines auch in der Kontroverse herzlichen Austausches. Es ist ein recht spezifischer, schwer zu beschreibender, gemeinsam geschaffener Raum, in dem das entstehen kann, was für mich das ppt ausmacht und ausmachen sollte. Im Folgenden versuche ich, diese etwas

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flüchtige Prozessfigur mit dem theoretischen Schaffen von Schubenz zu verbinden.

1.

Das Buch: Psychologische Therapie bei Entwicklungsbehinderung

In dem Buch Psychologische Therapie bei Entwicklungsbehinderung ist sehr kondensiert die Gedankenwelt von Siegfried Schubenz niedergelegt. Und die Lektüre ist, vorsichtig ausgedrückt, eine sehr große Herausforderung. Ein Auszug: Wir Menschen sind durch unsere Sprache bestimmt. Unsere Sprache, das mit ihr gekoppelte Denken, die Kumulation davon über das bisherige Leben und über die Geschichte aller vor uns gewesenen Menschen hinweg, unser Bewusstsein und das, was man das Unbewusste nennt, ist das neue »Organ«, das wir Menschen in die Natur eingebracht haben, das aber kein evolutionärer Schritt dieser Natur ist, sondern das sich in einer evolutionären »Pause« als die qualitative Summe von Realerfahrungen gebildet hat. Wir haben mit dieser Sprache uns als die evolutionären Menschen, die mit einer nahezu letalen Grundunsicherheit ihren Weg angetreten sind, einen Überlebensvorteil verschafft, der alle übrige Natur hinter sich lässt, solange die evolutionäre »Pause« währt, solange nicht im komplexen Entwicklungsgang der Gesamtnatur die Überlebensbedingungen für unsere Art geschwunden sind, aus welchem Grunde auch immer. Es ist zu vermuten, daß dieser Punkt für unsere menschliche Art im Vergleich mit anderen Arten eher früher als später eintreten wird, weil wir selbst uns in die Lage versetzt haben, unsere Überlebensbedingungen mit größter Effektivität zu verbrauchen, und weil wir uns selbst sehr dynamisch und unter Einsatz von außerordentlich umfangreichen von uns Menschen freigesetzten Naturkräften auf den Punkt hinsteuern, an dem kein weiteres menschliches Leben, auch nicht auf ursprünglich vegetativer Ebene, mehr möglich ist. Dabei sind die Atombombe und die außer Kontrolle geratenen Kernkraftwerke nichts anderes als eine besonders deutlich sprechende Metapher. (Schubenz, 1993, S. 308)

Ein ziemliches Satzmonster … Wer will das eigentlich wirklich lesen? Was ist das eigentlich für ein Buch, das Schubenz da verfasst hat? Es hat jedenfalls wenig zu tun mit moderner convenience brainfood-Fachlektüre: keine freundliche Gebrauchsanweisung, die einem das bedarfsorientierte Lesen einzelner Kapitel erlaubt und empfiehlt; keine kleinen Kondensthesen-Kästchen, die einem das Lesen ganzer Abschnitte ersparen sollen. Stattdessen gibt es lauter Verweise auf später oder früher »Gezeigtes« und selten einen Satz unter drei Zeilen. Keine Klo-Lektüre eben. Warum ist das so? Konnte Siegfried einfach nicht pointierter schreiben? Ist es eine aus den 1970er Jahren stammende Liebe zu Mammutschachtelsätzen, die das Lesen so anstrengend macht? Ich möchte behaupten, dass sein Buch deshalb so schwer zugänglich ist, weil Schubenz in beinahe jedem Satz der Komplexität des Gegenstandes gerecht zu

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werden versucht. Sein Buch stellt nicht weniger dar als den Entwurf einer psychologisch-psychotherapeutischen Großtheorie. Und da solche Unternehmungen derzeit ganz schön aus der Mode gekommen sind, ist es mir umso wichtiger, zu betonen, worum es Schubenz in seinem Hauptwerk ging: Auf der Grundlage der jeweiligen historischen Möglichkeiten und im Bewusstsein der damit einhergehenden Begrenzungen wollte er ein möglichst umfassendes und zutreffendes Bild des Forschungsgegenstandes entwerfen. Ein Unterfangen, das notwendigerweise eine Reflexion der historischen und gesellschaftlichen Bedingungen und Begrenztheiten des Forschungsprozesses selbst beinhaltet – und entsprechend komplex in seiner Zugänglichkeit ausfallen musste. So verstandene Wissenschaft kommt immer wieder zu Aussagen, die als »wahr« bezeichnet werden können, ohne dass ein Katechismus entwickelt werden müsste. Vielmehr handelt es sich dann um Aussagen, die lediglich für den historischen Moment und in einer spezifischen gesellschaftlichen Situation als wahr zu gelten haben Damit erfordern sie auch eine stetige Überprüfung und Modifikation in Bezug auf die Veränderungen der Rahmenbedingungen und/ oder in Bezug auf den Erkenntniszuwachs über die Rahmenbedingungen. Genau diese Sensibilität für den Forschungsgegenstand und die eigene forschende Rolle macht den Umgang mit Schubenz’ Großtheorie ebenso schwierig wie faszinierend und lehrreich. Die Lektüre von Schubenz’ Werk ist eine Zumutung – aber eine äußerst lohnenswerte. Im Rahmen der Ausbildung habe ich den Kandidatinnen diese Zumutung immer mal wieder bereitet. Die Reaktionen der Ausbildungsteilnehmerinnen auf Schubenz-Texte waren über die Jahrgänge hinweg immer einigermaßen konsistent: Viele hatten den Text nicht gelesen, viele ihn nur überflogen und nicht verstanden. Einige waren genervt davon, wenige gar empört über die, so der Vorwurf, aus der Luft gegriffenen Behauptungen. Andere fanden die Gedankengänge nachvollziehbar und bedenkenswert, wenige unter diesen waren sogar begeistert von ihnen. Immer aber ist es gelungen, die Kandidatinnen nach einem Vormittag voller Rollenspiele und der Mittagspause wieder aufzuwecken und in eine lebendige, oft kontroverse Diskussion darüber zu verwickeln, was das eigentlich sein soll, Psychotherapie, und warum sie das machen wollen. Das war auch meine Intention. Es ging mir nicht darum, wie bei einem Kapitalkurs den Schubenz einzupeitschen, sondern darum, eine Diskussion um Grundsätzliches anzuregen. Warum dies auf der Grundlage von Schubenz’ Denken funktioniert, lege ich nun anhand einzelner Ideen aus seinem Buch dar.

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Störungsverständnis

Schubenz (1993) begreift als die Ursache für jedwede seelische Störung »[d]ie spezifische Grundunsicherheit bei der Gestaltung einer primären Bindung durch menschliche Mütter […]. Wir treten unseren nachgeburtlichen Lebensweg mit der primär negativen Erfahrung der ›Ungeborgenheit bei uns selbst‹ an« (S. 305). Den Begriff der Krankheit definiert er als »Prozesse, die auf die soziale Isolierung ihres Trägers gerichtet sind, an deren absehbarem Ende der Tod steht« (ebd., S 296). Für Schubenz sind also nur solche Krankheiten wirklich Krankheit zu nennen, die auf eine tödliche soziale Desintegration hinauslaufen. Der Großteil dessen, was wir unter medizinischer Perspektive als Krankheit begreifen, ist demnach keine: Eine Blume, die verwelkt, ist nicht krank, sondern sie stirbt einfach, weil das zum Leben gehört. Schubenz’ Ausgangshypothese ist, dass jede menschliche Erkrankung eine Verbindungslinie zur Menschheitsgeschichte hat. Es ist eine Besonderheit des Menschen, dass die menschlichen Mütter gegenüber ihren Kindern eine im Vergleich zu anderen Primaten schwache erste Bindung herstellen. Erst diese schwache Bindung ermöglicht es, variante Mitglieder der Gesellschaft zu erzeugen. Und mit der Variation entstehen auch besonders schwache erste Bindungen: »Diese besonders schwachen ersten Bindungen sind der Preis für die Ermöglichung der Variation« (ebd., S. 34). Das, was Menschen in die Psychotherapie führt, begreift Schubenz damit im Kern als eine durch äußere Bedingungen verursachte Entwicklungsbehinderung: Es ist in der Vorbereitung dieser psychologischen Therapeuten sicherzustellen, daß sie alle Menschen […] auf deren Weg aus der primären Bindung herausgehend »sehen« können. Sie »sehen« dann, wie die Klienten auf ihrem Weg gehen, der sie in die Mitte der Gemeinschaft führt. […] Im Grunde sind alle Menschen ohne Ausnahme zu jedem Zeitpunkt ihres eigenen Lebens auf diesem Wege. Gehindert werden sie nur von außen. Nimmt man diese Behinderung weg, dann geben sie dieser Bewegung auf die Integration in die Gemeinschaft sogleich die Beschleunigung, die das Ziel erreichbar werden lässt. (Ebd., S. 302 f.)

Anders ausgedrückt: Jeder Mensch erfährt eine unsichere erste Bindung, manche Menschen erfahren eine besonders schwache erste Bindung. Diese Menschen werden in der Folge krank und können daran sterben, dass sie (von außen) an der Integration in die Gemeinschaft gehindert werden. Also eine monokausale Ätiologie und eine im Kern monosyndromatische Nosologie – ein Schlag ins Gesicht der Störungsspezifität! Es mag zwar nicht so recht überzeugen, dass wirklich alle Menschen an nur einer Art von Störung leiden. Aus meiner Sicht ist dieser Gedankengang dennoch

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sehr verwertbar, wenn man ihn nicht wörtlich nimmt, sondern als Denkfigur1 begreift.

3.

Heilungsverständnis

Das Störungsverständnis von Schubenz ist also recht universal und vor allem im sozialen Kontext gedacht. Gleiches gilt auch für das Heilungsverständnis: Wie die Krankheit ist auch die Heilung konsequent als soziales Ereignis gedacht. Das rückt im Gegensatz zur Technik vor allem die Person und die Persönlichkeit der therapeutischen Personen in den Fokus: »Es muß die Person des psychologischen Therapeuten selbst sein, die als dieses Identifikationsmodell in aller Vollständigkeit und Praxisentfaltetheit zur Verfügung steht, damit mit der Herstellung der neuen festen Bindung auch der Inhalt der gesellschaftlich durchschnittlich entfalteten Persönlichkeit als das Ziel der Überwindung von schwerwiegender Entwicklungsbehinderung erreicht werden kann. Psychologische Therapeuten, die sich als diese universellen mütterlichen Identifikationsfiguren verweigern, erreichen niemals dieses Ziel der Überwindung der Entwicklungsbehinderung, sondern sie erzeugen nur Hoffnungen, die sie dann nicht erfüllen.« (Schubenz, 1993, S. 325)

Im Kern geht es bei Siegfrieds Heilungsverständnis um Folgendes: Wenn alle Menschen die spezifisch menschliche Grunderfahrung der unsicheren primären Bindung erfahren haben, dann gilt das auch für die Therapeutinnen. Als »Heilende« sind wir demnach nicht von vornherein »gesünder« als die »Kranken«. Aber wir haben es geschafft, uns dem Prozess der sozialen Desintegration entgegenzustellen, und haben in uns auf diese Weise die Krankheit, wenn schon nicht überwunden, dann doch zumindest gelindert.2 Anders aus1 Ein bisschen wie beim Ödipuskomplex: Kaum jemand, den ich kenne, glaubt ernsthaft daran, dass kleine Jungs Sex mit ihrer Mama haben wollen und nur aus Angst vor der Kastrationsschere dann zum richtigen Manne werden. Und dass umgekehrt kleine Mädchen schon mit der Kastrationserfahrung starten und dann in den Ödipuskomplex wie in einen Hafen einlaufen. Dennoch hält sich die Denkfigur des Ödipuskomplexes hartnäckig (z. B. im neuesten Faber/ Haarstrick als Illustration psychodynamischen Denkens; vgl. Dieckmann, Dahm & Neher, 2018, S. 35). Und das zu Recht: Die schmerzliche Entwicklung der psychosozialen Geschlechtsidentität ist tatsächlich ein ganz individuelles »Drama« (wenn auch nicht immer eine Tragödie) und lässt sich mit dem Begriff der »ödipalen Entwicklung« in ausreichender Buntheit bezeichnen, wenn danach die Entfaltung des individuellen Dramas statt eines schematischen Ablaufes folgt. 2 Indes, die Forschung deutet in eine andere Richtung: Nebenergebnis einer DFT-Studie zur Therapieausbildung ist, dass die jungen Kandidatinnen tatsächlich seelisch gesünder zu sein scheinen, als gemeinhin angenommen wird (vgl. Taubner et al., 2015; Möller, 2016). Das ist doch ein schönes, ermutigendes Ergebnis: Vielleicht haben die Bemühungen der 68er-Generation doch etwas gebracht! Vielleicht wachsen die jüngeren Menschen tatsächlich unter

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gedrückt: Diejenigen, die das Leid zu lindern antreten, können nur dann erfolgreich sein, wenn sie die krankmachenden Bedingungen von innen her kennen, aus dem eigenen Leben, nicht aus dem Lehrbuch. Besonders sympathisch an diesem Gedanken ist, dass wir dann als Menschen alle im gleichen Boot sitzen: Patientinnen und Therapeutinnen, Dozentinnen und Kandidatinnen. Wohl gerade deshalb habe ich bei den Aufnahmegesprächen neuer Kandidatinnen immer am meisten Bauchweh, wenn diese von ihrer glücklichen Kindheit berichten. Ich gehe da eher mit Freud (1937) davon aus, dass Therapeutinnen »in ihrer eigenen Persönlichkeit nicht durchwegs das Maß von psychischer Normalität erreicht haben, zu dem sie ihre Patienten erziehen wollen« (S. 93). Auch Rieken (2011) beschreibt das sehr schön: Ähnlich wie ein Medizinstudent, der auf einmal glaubt, all jene Krankheitssymptome zu spüren, von denen er in den Lehrveranstaltungen gehört hat, sieht sich der Ausbildungskandidat plötzlich mit einer Unzahl neurotischer Merkmale konfrontiert – und das nicht einmal vollkommen unbegründet. Zum einen sind die Grenzen zwischen seelischer Gesundheit und Krankheit äußerst fließend, zum anderen sind es in der Regel psychisch Leidende, die sich zu diesem Beruf hingezogen fühlen. Das ist im Grunde sinnvoll, man möchte die Beschwerden produktiv verarbeiten und in Formen verwandeln, die der Gesellschaft nützen. Außerdem kann man die seelischen Nöte anderer am ehesten dann verstehen, wenn man sie selber erlebt oder zumindest teilweise bzw. in Spuren erlebt hat. (S. 399)

Ich weiß zwar nicht, ob ich das aus Siegfrieds Überlegungen nahegelegte Ideal einer Äquivalenz von therapeutischer und primärer Beziehung so uneingeschränkt teile. Ich finde, dass es durchaus Sinn ergibt, auch über Wirkmechanismen in Therapien nachzudenken, die über den berühmten common factor hinausgehen. Dessen ungeachtet erfasst dieser Gedanke jedoch die Wirkmächtigkeit der therapeutischen Beziehung sehr gut: In der neuen, der ursprünglichen Erfahrung entgegengesetzten Bindungserfahrung, der therapeutischen Beziehung, kann etwas deshalb »repariert« werden, weil die Therapeutin nicht von außen an der Patientin »herumdoktert«, sondern weil sie sich mit ihrer Gesamtpersönlichkeit, mit ihrem eigenen Leiden und dessen Überwindung auf das Beziehungsgeschehen einlässt. Daran wird auch deutlich, dass Psychotherapie mehr ist als nur »gute Beziehungsarbeit«, denn wir lassen uns ein auf sehr intensive Begegnungen, die im besten Falle beide verändern. So erlebe ich meine eigenen Behandlungen (zumindest diejenigen, die mir gut erscheinen) und so mag ich es auch lehren: Es geht um die einzigartige Schicksalhaftigkeit der Begegnung in der Therapie! besseren Entwicklungsbedingungen auf und sind deshalb auch weniger gestört, als ich es annehme bzw. selber bin. Dennoch kann uns der Gedanke von Siegfried helfen, die Beziehungsfigur von Therapeutin und Patientin besser zu fassen.

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4.

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Stachel 1: Akademisch?

Kommen wir nun zu den für uns als Ausbildungsinstitut vielleicht etwas unbequemen und schmerzhaften Aspekten von Schubenz’ Theorie. Zum Verhältnis von Psychologie und Medizin äußert sich Schubenz (1993) sehr deutlich: Nur wer vom objektiven Krankheitswert einer Erscheinung von Entwicklungsbehinderung ausgeht und jede Entwicklungsbehinderung als im Prinzip – wenn auch nicht in jedem Fall schon jetzt – aufhebbar ansieht und die Überwindung mit pädagogischpsychologischen Mitteln anstrebt, betreibt psychologische Therapie, die den Anspruch erheben kann, ein Äquivalent zur medizinischen Therapie zu sein. Die akademische klinische Psychologie erfüllt diese Bedingungen in der Tendenz, indem sie es unterläßt, Grenzen zu errichten, über die hinaus die Forschung nicht zugelassen wird. (S. 293)

Und an anderer Stelle: Psychologische Therapie, die an dieser Weiterentwicklung des Krankheitsbegriffes nicht aktiv interessiert ist, ist mit Recht unter die Aufsicht der Medizin gestellt, weil sie das historisch gewachsene System, das von der medizinischen Klinik am differenziertesten ausgestaltet worden ist, implizit akzeptiert, sich selbst – beinahe freiwillig – unter diese Medizin subsumiert. Psychologische Therapie, die sich gegen diese Subsumtion nicht wehrt, ist nicht Bestandteil der akademischen Psychologie, sie ist in der Tat Bestandteil der Medizin und befördert die Entwicklung, dass solche psychologische Therapie als die neuere Variante in das Arsenal der symptombehandelnden Interventionen der Medizin aufgenommen, gelehrt und angewendet wird. Doch die Entwicklung der Heilkunde kommt damit keinen Schritt über die Ausgangssituation hinweg, die Freud seinerzeit vorfand. (S. 297)

Schubenz war hier, wie ich finde, sehr weitsichtig, denn er hat nicht nur die Kampflinie zwischen Psychologie und Medizin aufgezeigt, sondern auch die Gefahren für die Entwicklung der psychologischen Profession vorausgeahnt. Das ppt besteht fast ausschließlich aus Psychologinnen. Die Psychotherapie allgemein wird überwiegend von Psychologinnen gemacht. Daher ist es nur konsequent, dass wir als Bezugspunkt des Kampfes gegen eine Medizinalisierung der Seele die akademische Psychologie um Hilfe bitten sollten. Dass Psychologinnen die Hoheit über die Psychotherapie haben, erscheint sowohl uns, aber auch der Allgemeinbevölkerung als Selbstverständlichkeit. Ist es aber nicht. Martin Göring hat 1940 (oder 1943, die Quellenlage ist uneindeutig) – aus einer versorgungstechnischen Not heraus – den Begriff der »Behandelnden Psychologen« eingeführt. An der psychotherapeutischen Versorgung waren Psychologinnen nach dem Krieg erst seit 1972 wieder beteiligt. Um die Zuständigkeit für die Psychotherapie gab es also einen langen Kampf zwischen Psychologie und Medizin. Und dann ist etwas Furchtbares geschehen: Wir haben gewonnen!

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Mit der Einführung des Psychotherapeutengesetzes 1998/1999 haben wir als Psychologinnen endlich die ersehnte Gleichstellung mit den »anderen« Fachärztinnen erhalten. Das war jedoch nicht ohne Preis. Im Gegenzug dafür, am Futtertrog der Regelversorgung zugelassen zu werden, mussten wir uns auch an die Spielregeln des medizinischen Systems halten. Niedergelassene und Institute leben davon ganz gut. Und es ist seitdem ziemlich ruhig geworden in den Reihen der Psychologinnen. Aufruhr ist eigentlich nur noch im Zusammenhang mit skandalöser Unterbezahlung zu erwarten – nicht mehr im Zusammenhang mit skandalösen gesellschaftlichen Bedingungen. Das Modell der individuellen Krankenbehandlung auf Chipkarte fügt sich jedoch stromlinienförmig ein in das große gesundheitspolitische Projekt des Neoliberalismus: die Individualisierung von gesellschaftlich erzeugtem Leid. Dieser Prozess der »Subsumtion von Psychologischer Therapie unter die Medizin« hat sich mehr oder weniger stillschweigend – wenn nicht gar durch unsere Mithilfe, so zumindest ohne unsere Gegenwehr – in den letzten beiden Dekaden vollzogen. Dieser Prozess soll nun durch die Parallelisierung von psychotherapeutischer und medizinischer Ausbildung ordnungspolitisch vollendet werden. Das stellt die Institute vor große Herausforderungen, die weit darüber hinausgehen, den Fortbestand der etablierten Ausbildungsinstitute zu sichern. Denn es steht zu erwarten, dass sich die neu zu schaffende Direktausbildung zunächst konsequent am Mainstream evidenzbasierter Forschung orientieren wird. Es gibt jedoch Grund zur Hoffnung. Denn im Zuge dieses Prozesses werden »Ritzen und Lücken« entstehen, an denen man ansetzen kann, um die Psychologische Therapie wieder in einer adäquaten psychologischen Forschung zu begründen. Wenn wir Siegfrieds mahnende Worte ernst nehmen wollen, dann ergibt sich daraus eine sehr klare Handlungsanleitung: Wenn es eine akademische Psychologie nicht gibt, die einen adäquaten wissenschaftlichen Boden für die Psychologische Therapie bereitstellt, dann müssen wir diese eben schaffen. David vs. Goliath, nächste Runde!

5.

Stachel 2: Scheuklappen

»Psychologische Therapie wirkt durch ihre Äquivalenz zu primären Bindungen« (Schubenz, 1993, S. 245). Wie vermitteln wir dies in der Ausbildung? Die Psychotherapie-Richtlinien geben einen klaren verfahrensbezogenen Rahmen vor. Es gibt einen »Grundstein«, der verfahrensübergreifend gültig ist: – Krankheit wird als ursächliches Geschehen aufgefasst (Ätiologie); – Krankheit wird als ganzheitliches Geschehen begriffen (bio-psycho-soziales Modell).

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Die Komplexität seelischer Erkrankungen soll in beiden Verfahren mit dem biopsycho-sozialen Störungsmodell abgebildet werden. Das Ätiologie-Verständnis hingegen wird verfahrensspezifisch ausdifferenziert: – Verhaltenstherapie: Analyse der vorausgehenden und der aufrechterhaltenden Bedingungen; – psychoanalytisch begründete Verfahren: Analyse der unbewussten Psychodynamik. Im Unterschied zum wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie werden die psychoanalytisch begründeten Verfahren jedoch nicht als ein psychodynamisches Verfahren, sondern als zwei unterscheidbare definiert: – Analytische Psychotherapie: Nutzung von Übertragung, Gegenübertragung und Widerstand; breitere Zielsetzung; Regressionsförderung; – Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie: Beachtung von Übertragung, Gegenübertragung und Widerstand; fokussiertere Zielsetzung; Regressionsbegrenzung. Diese Definitionen wirken zuweilen recht schematisch, sie bilden aber den verbindlichen Rahmen der Psychotherapie zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung. Inhaltlich ist damit gemeint, dass die behandlungstechnischen Unterschiede, die auf eine Förderung oder eine Begrenzung der Regression abzielen, zugleich eine unterschiedliche Akzentsetzung in der Zielsetzung erlauben (und damit auch unterschiedliche Indikationsbereiche abstecken). Unsere Kandidatinnen investieren eine Menge Lebenszeit, Energie, Herzblut und Geld in ihre Ausbildung. Als krönender Abschluss der Ausbildung winkt die Approbation zur Psychologischen Psychotherapeutin. Das ist es, womit die Kandidatinnen die Dozentinnen des Institutes beauftragen: sie so auszubilden, dass sie im Rahmen der geltenden Psychotherapierichtlinien zur eigenständigen Berufsausübung »befähigt« werden. Polemisch gesagt, beauftragen uns die Kandidatinnen damit, ihnen Scheuklappen aufzusetzen. Das steht im Konflikt mit allem, was wir bisher über Siegfrieds Ansatz gehört haben. Die konsequente Orientierung an der Heilkraft der therapeutischen Beziehung sowie die menschheitsgeschichtlich begründete Ätiologie sind schlichtweg nicht richtlinienkompatibel. Wie sollten wir dieser Widersprüchlichkeit begegnen? Nun, wir können einfach mehr tun, als wir müssten. Es steht uns ja frei, über das für die Approbationsprüfung geforderte Wissen hinaus einen Raum bereitzustellen, in dem dann all jene Inhalte untergebracht werden können, die nicht zu den Richtlinien passen wollen. Das Richtlinienwissen müssen wir dennoch vermitteln. Aber wir dürfen das, was wir lehren, durchaus einer kritischen Wendung unterziehen.

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Das ist im Trubel des »Tagesgeschäfts« nicht immer einfach im Blick zu behalten – und beim gegenwärtigen Zustand der akademischen Psychologie, die gerade mit der Selbstabschaffung durch vorauseilende Unterwerfung unter das medizinische Modell beschäftigt ist, brauchen wir hier keine Schützenhilfe zu erwarten. Aber wir dürfen uns trostsuchend allen Quellen zuwenden, die uns hier unterstützen können. Ironischerweise entspringen die stärksten mir bekannten gegenwärtigen Argumente gegen das medizinische Modell ausgerechnet der Medizin selbst. So stellt der Mediziner und Philosoph Giovanni Maio (2017) mahnend fest: [M]edizinethische Fragen verweisen unweigerlich auf existenzielle Grundfragen und zugleich auf eine bestimmte Lebensgeschichte, auf eine ganz konkrete Situation, in der sich der einzelne kranke Mensch befindet. Diese Situation des kranken Menschen macht geradezu unabdingbar eine hermeneutische Herangehensweise notwendig und sie verweist zugleich auf eine Haltung, die man als eine Haltung der Sorge bezeichnen könnte. (S. V)

7.

Zusammenfassung: Was bleibt?

Zusammengefasst scheinen mir folgende Aspekte aus Siegfrieds theoretischem Ansatz gut für eine beziehungsorientierte Psychotherapie-Ausbildung geeignet: – Seelische Störung ist immer eine Entwicklungsbehinderung von außen. – Jede Entwicklungsbehinderung gründet in der Menschheitsgeschichte. – Die spezifisch menschliche unsichere primäre Bindung führt zu einer Erfahrung von »Grundunsicherheit«. – Krankheiten sind lethale Prozesse sozialer Desintegration. – Heilung und Linderung sind nur möglich innerhalb von Beziehungen, die der sozialen Isolation entgegenwirken. – Heilungsangebote machen Menschen, die einen Weg in die Einbindung in eine Sozietät gefunden haben. Der Gewinn von Schubenz’ Werk liegt indes nicht in den eigentlichen Inhalten, sondern in unserem Umgang damit. Es geht um die je eigenen, sehr subjektiven Gedanken und Gefühle dazu: Was spricht mich an, was erzeugt eine emotionale Resonanz und erscheint mir deshalb (und nicht wegen der korrekten QuellenHerleitung) evident? Was halte ich dagegen für Kokolores, was sehe ich ganz anders? Das lässt sich nicht frontal lehren, sondern nur diskursiv und dialogisch herstellen.

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8.

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Fazit: Was wird?

Die Stärke einer Gemeinschaft zeigt sich erst im Dissens. Die Stärke des ppt liegt in der Dialogfähigkeit. Wenn wir schon die Integration nicht so hinbekommen haben, wie wir ursprünglich wollten, dann sollten wir uns auf diese Kernkompetenz besinnen. So möchte ich unsere konzeptionellen Bemühungen der letzten Jahre gern begreifen: dass die begriffliche Umorientierung von der Integration weg und zum »Verfahrensdialog« hin (vgl. Geckle, Kap. 11 in diesem Band) nicht einfach ein pragmatischer »Downgrade« war, sondern eine Rückbesinnung auf unseren Kern. Gelingt uns dies, dann ist mehr erreicht als ein bloßer Dialog der Verfahren. Denn wenn das ppt-Spezifische nicht in den vermittelten Inhalten versteckt ist, sondern im Kommunikationsraum entsteht, dann geht es um den Dialog einer Sozietät untereinander : den Dialog von Therapeutinnen – solchen, die es schon sind, mit solchen, die es werden. Die schöne, eingangs zitierte Metapher von Feuer und Asche wird meist Gustav Mahler zugeschrieben, manchmal auch Benjamin Franklin, Papst Johannes XIII. oder Thomas Morus. Vermutlich stammt sie jedoch vom französischen Sozialisten Jean JaurHs (1910). In der Fehl- und Umzuschreibung des Zitats steckt eine ironische Bestätigung seines Inhalts: Es geht nicht darum, wer wann was erfunden hat. Es geht nicht darum, was falsch und was richtig zitiert ist. Es geht nicht um Evidenzklassen. Sondern es geht darum, was richtig ist, weil es funktioniert; was funktioniert, weil es lebt; was lebt, weil es sich bewegt; und die Richtung der Bewegung ist: Integration! Unter Integration wird gemeinhin die Einpassung einer Sub- in eine Leitkultur verstanden. Korrekt aus dem Lateinischen übersetzt bedeutet »integratio« allerdings Erneuerung. Man kann Integration verstehen als jenen von Siegfried Schubenz beschriebenen Prozess der Bewegung zur Mitte hin. Wenn wir uns darauf besinnen, dass wir mehr Haltung als Technik vermitteln, wenn wir das ppt mehr als eine Kultur des Dialog-Raumes denn als Schule begreifen, dann brauchen wir gar keine Schubenz-Kurse anzubieten. Wer eine Flamme weitergeben möchte, muss in die Glut pusten! Dann bleibt Siegfried Schubenz bei uns.

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Lars Hauten

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Roland Geckle

Zur Bedeutung der therapeutischen Beziehung in der Verhaltenstherapie

Kurzer historischer Abriss und konzeptionelle Überlegungen Würde man die Frage nach der Bedeutung der therapeutischen Beziehung in der Verhaltenstherapie nach der landläufigen Meinung vieler Klinikerinnen beantworten, so wäre die Antwort kurz und prägnant: Sie habe, wenn überhaupt, nur unterstützende Qualität für den Therapieprozess, da dieser im Wesentlichen von den eingesetzten verhaltenstherapeutischen Methoden strukturiert werde. Dieser Sichtweise folgend besteht die wissenschaftliche Ausarbeitung der VT maßgeblich in der Erweiterung des Störungswissens und der Verfeinerung der darauf basierenden Methoden – und misst durch diese Schwerpunktsetzung der therapeutischen Beziehung weiterhin wenig Bedeutung bei. So wird in den meisten Lehrbüchern der VT die therapeutische Beziehung im Vergleich zum technisch-methodischen Aspekt des Behandlungsprozesses relativ dürftig behandelt, obwohl es seit den 1980er Jahren hierzu systematische und wissenschaftliche Bemühungen gab (vgl. Zimmer, 1983; Schindler, 1991; Margraf & Brengelmann, 1993). Diese Systematisierungen hoben aber mehr darauf ab, was mit der therapeutischen Beziehung erreicht werden solle (z. B. Schaffung eines kooperativen Arbeitsbündnisses, Vermittlung der Störungszusammenhänge, Vorbereitung, Motivierung und Verstärkung von Zielerreichungsverhalten etc.), weniger darauf, wie dies im Einzelnen zu gestalten sei. Anders ausgedrückt: Sie begriffen die therapeutische Beziehung eher als ein unspezifisches Mittel zur Erreichung eines spezifischen Zwecks, nämlich der Therapieziele, die kooperativ, partnerschaftlich und transparent im therapeutischen Dialog erarbeitet und verfolgt werden sollen. In Anbetracht der therapeutischen Praxis gleicht diese Vernachlässigung der therapeutischen Beziehung in Theorie und Forschung bis in die Mitte der 1990er Jahre hinein nahezu einem Selbstmissverständnis der Verhaltenstherapie, denn die Beziehungsaspekte waren und sind in der Umsetzung der methodischen Behandlungsstrategie für den Verlauf des therapeutischen Prozesses und letztlich für den Genesungsprozess ebenso maßgeblich wie die methodische Sorgfalt

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(vgl. etwa Grawe et al., 1994). Dieses Gefälle von Theorie und Praxis der VT hatte zur Folge, dass sich Verhaltenstherapeutinnen bei der Anwendung ihres Behandlungsinstrumentariums im klinischen Einzelfall an der jeweiligen Persönlichkeit der betreffenden Patientin eher intuitiv verhielten und hierdurch die therapeutische Beziehung (mit-)gestalteten, ohne dass ihnen im gleichen Maße Leitlinien und Verhaltensorientierungen zu ihrer Gestaltung zur Verfügung standen wie bei der methodischen Strukturierung. Belegt wurde dieses Manko schon früh: Bereits in den 1970er Jahren wurde festgestellt, dass auf der zu beobachtenden und empirisch zu fassenden Ebene Verhaltenstherapeutinnen in ihrem Beziehungsverhalten der klientinnenzentrierten Grundhaltung (im Vergleich zu psychoanalytischen Kolleginnen) weitaus näherkamen (vgl. Sloane et al., 1975). Dies könnte auf den ersten Blick auf eine mehr oder weniger (un-)reflektierte Übernahme und Anwendung der entsprechenden Basisvariablen der Empathie, Akzeptanz und Kongruenz zurückgehen, also auf das oben dargestellte Manko verweisen, dass Verhaltenstherapeutinnen mangels eigener beziehungsgestaltender Leitlinien anderweitig aus dem Fundus klinischen Wissens schöpften und sich somit in der Praxis eklektisch ausrichteten. Auf diesem Wissensstand war die Frage nach einer VT-spezifischen Beziehungshaltung wieder negativ beantwortet, da sich die Verhaltenstherapeutin entsprechend einem Baukastenmodell anderweitiger Elemente und Module der klinischen Psychologie bediente und ihrem Störungswissen und ihrer methodischen Handfertigkeit sozusagen ein Beziehungswissen hinzufügte. Allerdings galt es dann auch, die Frage zu überprüfen, ob dieser Eklektizismus tatsächlich problem- bzw. einzelfallangemessen war und ist, denn die jeweilig übernommenen klientinnenzentrierten Variablen zur Beziehungsgestaltung könnten sich mit den eingesetzten Methoden zumindest auf diesem unreflektierten Niveau als inkompatibel erweisen, sodass beide Elemente auch gegeneinander arbeiten und sich im schlechtesten Fall in ihrer Wirkung aufheben können. Deshalb setzte sich in den 1990er Jahren ein zunehmend größerer Teil der wissenschaftlichen Forschung mit der Frage nach einer angemessenen und verfahrensspezifischen Beziehungskonzeption der VTauseinander, was auch mit einer zunehmend deutlicheren Akzentuierung der Bedeutung der therapeutischen Beziehung einherging. So wurden z. B. die Konzepte der funktionalen Beziehungsgestaltung (vgl. Zimmer, 1983; Zimmer & Zimmer, 1996), der ressourcenorientierten und komplementären Beziehungsgestaltung (vgl. Casper, 1996; Grawe, 1998), der fallkonzeptionellen Beziehungsgestaltung (vgl. Bruch, 2000), der therapiephasenorientierten Beziehungsgestaltung (vgl. Hoffmann, 2000; Kanfer & Schmelzer, 1991) und der therapeutischen Allianz des Selbstmanagementansatzes (vgl. Kanfer & Schmelzer, 1991) für die therapeutische Praxis ausgearbeitet und im deutschsprachigen Raum zunehmend relevanter. Gemeinsam ist diesen Konzepten, dass sie konstante und fallübergreifende

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Standards insoweit ablehnen, als sie diese nicht dazu in der Lage sehen, den störungsspezifischen Indikationen, den sozialen Grundbedürfnissen und Leitmotiven oder gar den problemspezifischen Anforderungen in verschiedenen Therapiephasen gerecht werden zu können. Sie erfordern von der Therapeutin eine – je nach Störungs-, Bedürfnis-/Kognitions- und Problemstruktur der Patientin – zunehmende Differenziertheit und Flexibilität ihres Beziehungsverhaltens. Damit findet die therapeutische Beziehungsdynamik ihr bewegendes und gestaltendes Moment überwiegend in der Problemlage und hierdurch in der Persönlichkeit der Patientin, auf die sich die Therapeutin persönlich einzustellen hat, sich also je nach Störung und Behandlungsphase in einem Spektrum von Verhaltensdimensionen (z. B. direktiv vs. nondirektiv oder unterstützend vs. fordernd, validierend vs. konfrontierend) orientieren muss (vgl. Bruch, 2000). So sehr diese zunehmend idiografischen, also auch einzelfallbezogenen, Konzeptionalisierungen aus meiner Sicht für die Entwicklung der modernen Verhaltenstherapie zu würdigen sind, so sehr stellt sich aber auch bei diesen Ansätzen die Frage, inwieweit und v. a. mit welchen Konsequenzen die Therapeutin in ihrer jeweiligen Persönlichkeit in der Beziehungsdynamik ausgenommen bleibt, da sie mit ihren eigenen persönlichen Werten, Sicht- und Herangehensweisen an verschiedene Problemlagen konzeptionell nur in der Art Berücksichtigung findet, dass jede Therapeutin ihren persönlichen Stil hat oder findet. Der Hauptakzent dieser Konzeptionen liegt also nach wie vor auf der Beziehungsgestaltung, also auf der Entwicklung von kommunikativen und interaktionellen Fähigkeiten (Beziehungskompetenzen) der Therapeutin, die eindeutig klientinnenzentriert bzw. -fokussiert und damit mehr oder weniger zu erlernen sind. Sie schöpfen weniger aus dem Potenzial der je individuellen Therapeutinnen-Persönlichkeit mit ihren individuellen Voraussetzungen, also den persönlichen Möglichkeiten und Grenzen zur Beziehungsgestaltung. Die idiografische Herangehensweise wird also nicht im gleichen Maße auf das emotionale, kognitive und behaviorale Spektrum der Therapeutinnen-Persönlichkeit angewendet und differenziert, wie dies bei der Problemformulierung für die Patientinnen und der daran orientierten Beziehungsgestaltung konzipiert ist. Deshalb unternehme ich an dieser Stelle den Versuch, eine VT-spezifische und theorieimmanente Beziehungshaltung zu skizzieren, bei der nicht nur der Persönlichkeit der Patientin, sondern auch der der Therapeutin bei der Interaktions- und Entwicklungsdynamik der therapeutischen Beziehung Rechnung getragen wird. Diese Untersuchung soll also im Blick haben, dass die Persönlichkeit der Therapeutin in der therapeutischen Beziehung enthalten ist und sie sich damit tatsächlich als ein dynamisches und intersubjektives Verhältnis darstellt und erweist.

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Paradigmatische Grundlagen für eine verhaltenstherapeutische Beziehungskonzeption Eine verfahrensimmanente Beantwortung der Frage nach der Bedeutung der therapeutischen Beziehung und ihrer Wirksamkeit geht davon aus, dass bereits in dem allgemeinen Konzept der bislang entwickelten Verhaltenstherapie beziehungsorientierte Implikationen enthalten sind, die durch eine entsprechende Analyse deutlicher expliziert werden können, sodass daraus Orientierungen zur Beziehungsgestaltung resultieren, die dem Verfahren selbst nicht fremd oder gar widerständig sind. Dabei ist zu berücksichtigen, dass die generelle Behandlungsstrategie der VT selbst unterschiedliche Behandlungssegmente und -phasen durchläuft, die dem therapeutischen Verlauf folgen bzw. ihn gestalten sollen. In diesem Sinne ist also nicht von einer konstanten und den gesamten Therapieprozess überdauernden Beziehungshaltung auszugehen. Heuristisch leitführend für eine derartige Untersuchung sollte m. E. zunächst das allgemeine Herangehen, also das klinische Paradigma der Verhaltenstherapie sein, von dem sich dann die einzelnen Beziehungsaspekte oder Beziehungsorientierungen ableiten lassen. Das Paradigma der VT werde ich kurz als problem- und lösungsorientiert skizzieren, sodass es sich einerseits in eine problemverstehende und -erkennende, andererseits in eine davon abzuleitende, zielführende und aktiv problemverändernde, möglichst problemlindernde Behandlungskomponente differenzieren lässt. Dies spiegelt sich wider in der Erarbeitung einer sorgfältigen und auf den Einzelfall abgestimmten Verhaltensund Bedingungsanalyse als Voraussetzung für eine gezielte und problemangemessene, methodisch strukturierte Behandlungsplanung und -durchführung. Dabei sind diese beiden Aspekte der Behandlung nicht ausschließlich als zeitlich aufeinanderfolgende Phasen des Therapieprozesses zu verstehen. Auch wenn zu Beginn der Behandlung der Akzent zunächst stark auf das Erkennen eines Problems gelegt wird und werden muss, so können hierüber zunächst nur hypothetische, d. h. vorläufige Aussagen gemacht werden, die im weiteren Verlauf der Therapie verfeinert, aber auch prinzipiell umformuliert werden können, sodass sich diese Problemerkenntniskomponente eigentlich über die gesamte Behandlung hinwegzieht. Zugleich impliziert jeder Erkenntnisschritt bereits Lösungsoptionen, die zumindest richtungsweisend für entsprechende Lösungsversuche sind. Dabei ergänzen sich Problemerkenntnis und Lösungsverhalten in der Art, dass einerseits jeder Lösungsversuch zu Erfahrungen führt, die das bisherige Problemverständnis weiter ausdifferenzieren, sowie andererseits jede so gewonnene Erkenntnis modifizierte und der Problematik angemessenere Lösungsversuche nach sich zieht. Sollten sich an diese beiden Komponenten des verhaltenstherapeutischen Vorgehens unterschiedliche Beziehungshaltungen

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anknüpfen, so sollten sich diese Haltungen ähnlich komplementär zueinander verhalten. Doch zu Beginn einer Therapie ist es tatsächlich Aufgabe für Therapeutin und Patientin, einem von der Patientin als leidvoll erlebten und mit ihren Vermittlungs- und Kommunikationsmöglichkeiten hervorgebrachten Problem auf die Spur zu kommen, das sich nach dem Verständnis der Verhaltenstherapie lebensgeschichtlich entwickelt und derart ausgeformt hat, dass es insbesondere wegen des hierdurch entstandenen Leidensdrucks behandlungsbedürftig erscheint. Diese Spurensuche orientiert sich an problemanalytischen Fragestellungen, die der Patientin zu einem guten Teil noch selbst verschlossen und rätselhaft sind, sodass sie diese nicht unmittelbar und keineswegs auf rein rationaler Ebene beantworten kann. Als ein wichtiges analytisches Kriterium fungiert dabei oft die Frage nach den persönlichen Orientierungen der Patientin in ihren sozialen und familiären Lebens- und Tätigkeitszusammenhängen, die es ihr aktuell schwermachen, mit den in diesen Zusammenhängen gegebenen situativen Bedingungen so zurechtzukommen, dass sie symptomfrei reagiert. Dabei verlässt sich die Verhaltenstherapie spätestens seit der kognitiven Wende nicht mehr nur auf rein empirische Daten, also nur intersubjektiv überprüfbare und gut zu beobachtende Verhaltensweisen der Patientin. Die kognitive Verhaltenstherapie geht vielmehr von grundlegenden Orientierungen und Glaubensregeln in der Beziehungs- und Tätigkeitsgestaltung aus, die sich nicht unmittelbar, d. h. im Verhältnis von 1:1, im Verhalten und in den Aussagen der Patientin widerspiegeln, sondern mehr als Ausdruck von dahinterstehenden Überzeugungen und Plänen zu verstehen sind. Die kognitive Verhaltenstherapie begibt sich damit auf die nicht bewusstseinspflichtige Motivebene menschlichen Verhaltens und Erlebens, versucht also, die entscheidenden und verborgenen Wirkmechanismen aus dem verfügbaren empirischen Material herauszulesen, zu verstehen und zu interpretieren. Insofern ist sie mit solchen hermeneutischen Vorgehensweisen wie etwa denen der qualitativen Sozialforschung vergleichbar, die das Motiv menschlichen Verhaltens über die verschiedenen Schichten der kognitiven Verzerrungen, Selbstverklärungen und Vermeidungs- und Fluchttendenzen mit dem Ziel freizulegen versucht, zum Kern des problematischen Handelns und Reagierens vorzudringen (vgl. Flick et al., 1991). Dabei kann die kognitive Verhaltenstherapie von den Erfahrungen der qualitativen Sozialforschung profitieren, die nicht nur immerwährend betont, dass sie bei diesen hermeneutischen Suchprozessen stark auf die Mithilfe der Untersuchten angewiesen ist. Sie betont ebenfalls, dass sie für dieses Unternehmen erst gewonnen werden müssen, was keineswegs ein rein technischer Vorgang oder eine rein kommunikative Strategie ist, sondern nur durch die Bereitschaft und den Versuch der Untersucherin hergestellt werden kann, sich in ihr Denken, Fühlen und Handeln hineinzuversetzen (vgl. Lechler, 1982; Legewie, 1987; Kvale, 1993).

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Zu dieser Erkenntnis gelangt auch jede Verhaltenstherapeutin, wenn sie die Disputationen mit der Patientin im Rahmen der kognitiven Umstrukturierung als rein kommunikativ-strategische Mittel zur Überzeugung oder gar als Überredungsakt begreift und entsprechend einzusetzen versucht. Sie wird dann immer wieder auf eine gewisse Widerständigkeit der Patientin, auf eine Beharrlichkeit der kognitiven Verzerrungen und Selbstverklärungen sowie auf vielfältige Vermeidungs- und Fluchtstrategien während der Disputation stoßen, wobei noch zusätzlich die Gefahr besteht, dass sie dies ausschließlich als ein Selbstmissverständnis der Patientin interpretiert und damit für sich external attribuiert. So geht es m. E. bei der kognitiven Verhaltenstherapie nicht allein um das Aufspüren und Herantragen von Rationalitäten bzw. Irrationalitäten nach dem Fach- und Störungswissen und Wertesystem der Therapeutin. Es gilt auch für die Therapeutin, sich das Bezugs- und Wertesystem der Patientin so weit wie möglich zu eigen zu machen. Das bedeutet, dass sie ihr eigenes System so weit öffnet, dass entsprechende Vermittlungs- und Austauschprozesse möglich sind, was letztlich bedeutet, dass sie selbst lernwillig und entwicklungsbereit ist. Dies stimmt mit einer zentralen These der Pädagogisch-Psychologischen Therapie überein, dass die therapeutische Beziehung durch einen gemeinsamen und beiderseitigen Entwicklungsprozess gekennzeichnet ist (vgl. Pilz, 1982; Lühe, 1987; Schubenz, 1993). Aus diesem Grund ist es auch zur Analyse und Gestaltung der therapeutischen Beziehung erforderlich, Entwicklungstheorien heranzuziehen, die den Entwicklungsprozess der therapeutischen Beziehung in seiner Dynamik adäquat erfassen.

Entwicklungstheoretische Grundlagen für eine verhaltenstherapeutische Beziehungshaltung Wenn man nun die Prozesshaftigkeit und Wirkungsweise von Entwicklungsverläufen strukturalistisch und entwicklungstheoretisch zu fassen versucht (vgl. Piaget, 1973; Grawe et. al., 1996), so ist prinzipiell von zwei Prozessen auszugehen, die sich zwar diametral zueinander verhalten, sich aber in ihrer Wirkung ergänzen. Der eine Prozess findet seinen Ausgangspunkt in einem bereits entwickelten Schema (als ein Komplex von individuellen kognitiven Sichtweisen, emotionalen Wertungen und Handlungs- und Reaktionsmustern), das dem Individuum als einstweiliges Resultat seiner bisherigen Umweltauseinandersetzungen für den Entwicklungsprozess zur Verfügung steht, um von dort aus neue Erfahrungen assimilativ zu integrieren. Der andere Prozess hat seinen Ausgangspunkt darin, dass sich die neuen Erfahrungen nicht in allen Aspekten reibungslos einverleiben lassen, sondern eine Modifikation des bisherigen

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Schemas erfordern, was wir als den Prozess der Akkomodation begreifen können. Auf die therapeutische Beziehung übertragen bedeutet dies, dass die Therapeutin die Problematik der Patientin zunächst im Sinne ihres bisherigen Fachwissens und im Sinne ihrer sehr persönlichen Bewertungen und Sichtweisen vor dem Hintergrund eigener Erfahrungen mit dem Problem zu assimilieren versucht, aber auch einer Akkomodation dieses Schemas gegenüber offen sein muss. Die Patientin erlebt und erkennt dann an dieser Entwicklungsbereitschaft und -fähigkeit der Therapeutin in ihrer fachlichen und persönlichen Auseinandersetzung mit dem Problem die potenzielle Entwicklungs- und Veränderungsfähigkeit des Problems selbst, was wiederum sie dazu motiviert, an diesem Entwicklungsprozess gestaltend teilzunehmen und ihrerseits weitere Ausdifferenzierungsprozesse einzugehen und zuzulassen. In diesem dialektischen Zusammenspiel von einerseits konservativen und beharrlichen, sich selbst erhaltenden und reproduzierenden Interpretationssowie emotionalen und kognitiven Reflexionsschemata und andererseits progressiven und innovativen Ausdifferenzierungsprozessen, die durch die gegenwärtige Erfahrung in der therapeutischen Beziehung auf das bisherige Schema rekursiv wirken (Assimilation und Akkomodation), sind auch die klientinnenzentrierten Basisvariablen der Empathie, Akzeptanz und Kongruenz jeweils zu verorten. Ihr Zusammenspiel ist bei der Behandlungs- und Beziehungsgestaltung nicht additiv zu verstehen, so wie es etwa in der klientinnenzentrierten Gesprächspsychotherapie nahegelegt wird. Vielmehr bekommen die Basisvariablen erst in dem skizzierten Spannungsfeld ihre jeweilige Bedeutung und Funktion für die Entwicklung der therapeutischen Beziehung. Die Kongruenz auf Seiten der Therapeutin umfasst den assimilativen Aspekt, also das Hineintragen persönlicher Erlebnis- und Umgangsweisen mit dem Problem sowie die Vermittlung von Störungswissen in den therapeutischen Prozess, das dort – aber nicht nur dort, wie später zu zeigen sein wird – eine Erweiterung und Verfeinerung erfährt. Die Akzeptanz der Klientin in ihrer Einzigartigkeit und Besonderheit ist demnach als ein Resultat des empathischen Prozesses zu verstehen, der die persönlichen und fachlichen Sichtweisen der Therapeutin ausdifferenziert hat. Diese Akzeptanz und Wertschätzung der Patientin durch die Therapeutin ist also weder von vornherein gegeben noch bedingungsfrei, sondern Resultat der empathischen Bemühungen der Therapeutin. Dies verläuft also nur unter der Voraussetzung, dass die Therapeutin entwicklungsbereit ist und sich diesem Prozess aktiv widmet und stellt, was die Hinterfragung und Relativierung persönlicher Sichtweisen, ja selbst die ihres Fachwissens prinzipiell einschließt. Diese aktive und persönliche Auseinandersetzung der Therapeutin auch mit sich selbst sollte durch Supervision und ähnliche Reflexionsmöglichkeiten emotional und fachlich abgesichert sein, damit sie die notwendige Stabilität

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dafür erhält, die Verantwortung für den gemeinsamen Entwicklungsprozess (die sie jederzeit zu tragen hat) schultern zu können. Die Supervision und die alltäglichen Dialoge der Therapeutin mit sich selbst und mit anderen, die die Problemlagen und Entwicklungsanforderungen ihrer Patientinnen zum Thema haben, sind somit ebenfalls Prozesse der Akkomodation. In dieser sehr persönlich geführten Auseinandersetzung der Therapeutin mit dem Problem der Klientin spielen natürlich auch die Prozesse von Übertragung und Gegenübertragung eine Rolle, die im verhaltenstherapeutischen und schematheoretischen Sinne als Assimilationsschemata von Klientin und Therapeutin zu begreifen sind. Sie werden in Hinblick auf das aktuell fokussierte Problem in die therapeutische Beziehung hineingetragen und können im Rahmen eines akkomodierenden Prozesses in der aktuellen Begegnung jeweils weiterentwickelt, differenziert und bereichert werden. Die Arbeit mit der Übertragung ist deshalb in der VT die Arbeit an der heilsamen Entwicklung und Überwindung der entwicklungshemmenden Übertragungswahrnehmungen, was entscheidend auch die aktive »Gegenübertragungsanalyse« beinhaltet und erfordert. Gemeint ist damit die aktive Selbstreflexion der Therapeutin, also die verantwortliche Arbeit an ihren eigenen emotionalen Bewertungen, kognitiven Selbstverzerrungen und -vereinseitigungen, an ihren in der aktuellen Begegnung aufkommenden Gefühlen, ihren blinden Flecken etc. Entwicklungshinderliche Wahrnehmungen und Sichtweisen erfahren so eine Differenzierung und Veränderung innerhalb der therapeutischen Beziehung, sodass sich diese grundlegend als ein Lern- und Entwicklungsmedium erweist, was für die Entwicklung der grundlegenden Orientierungen und Glaubensregeln der Patientin von außerordentlicher Bedeutung ist.

Gemeinsame Konflikt- und Krisenbewältigungsprozesse zur Aufhebung von Entwicklungsbehinderungen Unter den oben genannten Voraussetzungen sollten Therapeutin und Patientin befähigt sein, in der Problemerkenntnisphase die entsprechenden Widerstände gegenüber dem Grundproblem, das nach problemanalytischen Gesichtspunkten prinzipiell einen Konflikt birgt und deshalb auch angstbesetzt ist, in einem auf Verständigung und Verständnis bedachten Dialog nach und nach aufzuweichen. Der Konflikt besteht darin, dass die derzeit hinderlichen und beeinträchtigenden Grundorientierungen auch als Anpassungsleistungen an die früheren Entwicklungsbedingungen zu verstehen sind und ehemals be- und verstärkt wurden, was sich auch heute noch in den kurzfristigen Konsequenzen abbilden und damit aufrechterhalten werden kann, obwohl es längerfristig Leidensdruck erzeugt.

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Dieser Konflikt birgt sozusagen sowohl das Irrationale als auch das emotional Nachvollziehbare am Problem, denn jegliche Veränderung eines Anpassungsverhaltens wird von Unsicherheit und Angst begleitet; und dies umso mehr, je erfolgreicher und dauerhafter diese Anpassungsleistung war, wobei das Sichern des existenziellen Überlebens oberstes Ziel dieses Bestrebens war und ist. Bereits die Offenlegung und Verdeutlichung dieses Konflikts erzeugt Angst, nicht nur, weil jede Erkenntnis – wie bereits oben beschrieben – Veränderung bedeutet, sondern auch, weil mit der Offenlegung auch die ursprünglichen schmerzhaften Emotionen aktualisiert werden, die ja durch das Anpassungsverhalten zunächst einstweilig bewältigt erschienen. Da somit jeder Erkenntnis- und Freilegungsprozess für die Patientin schmerzhaft ist, bedarf es des entsprechenden emotionalen Beistands sowie der Fähigkeit und Bereitschaft der Therapeutin, den Schmerz mit der Patientin gemeinsam zu erleben, ihn auszuhalten und dabei emotionale Stärke und Mitgefühl für die Patientin zu entwickeln und zu bewahren. Da dies ein schwieriges, kompliziertes und für die Patientin nahezu unglaubliches Unterfangen darstellt, ist sie entsprechend skeptisch und zögerlich im Erkenntnisprozess. Für die Gestaltung der therapeutischen Beziehung heißt dies, das Aufkommen des Schmerzes sensibel wahrzunehmen, ihn weder zu ersticken noch zu dramatisieren, dabei die eigene Schmerz- und Krisenbewältigungskompetenz zu erfahren und zu prüfen sowie der Patientin gegenüber die Bereitschaft zum Miterleben zu signalisieren. Meines Erachtens entwickelt die Patientin erst nach einer entsprechenden Sichtung und Prüfung das Vertrauen in die emotionale Stärke der Therapeutin, sodass sie ihr erst danach in die Niederungen und Tiefe des eigentlichen Erkenntnisprozesses und der damit verknüpften Entwicklungsaufgabe folgen wird, was ja für die auf Problemveränderung bedachten einzelnen Methoden und die hierfür erforderliche aktive Mitarbeit der Patientin von entscheidender motivationaler Bedeutung ist. Bei dieser Sichtung wird im Vorfeld der eigentlichen Problembearbeitung die Fähigkeit der Therapeutin zur Identifikation und Bewältigung von Krisen von der Patientin her ausgelotet, was sich in der Dynamik der therapeutischen Beziehung (z. B. in Form von Beziehungstests) abbildet. So kann eigentlich erst nach Sichtung, Prüfung und Bestehen der Krisenbewältigungskompetenz der Therapeutin in der therapeutischen Beziehung das pädagogische Moment der verhaltenstherapeutischen Beziehungsgestaltung wirksam werden, das in der Verhaltenstherapie oft stärker akzentuiert wird als das hermeneutisch-einfühlsame Moment. Dabei ist dieses pädagogische Moment insbesondere bei den in der Therapie organisierten Lösungsversuchen in erster Linie als ein fürsorgliches und anleitendes Prinzip zu verstehen. Die pädagogische Führung der Therapeutin wird zunächst von ihrem Störungswissen und Problemverständnis her ausgerichtet, aber auch von ihrer persön-

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lichen Kenntnis und ihren alltäglichen Erfahrungen mit den widerstreitenden Kräften der Entwicklung, die sich im Wesentlichen in ein vorantreibendes Moment des Entwicklungsbedürfnisses und in ein konservatives Moment der Angst (vor Entwicklung) differenzieren lassen. Ihren Antrieb jedoch erhält die pädagogische Führung der Therapeutin durch deren persönliche Stärke und ihre Fähigkeit, Krisen zu identifizieren, zu fokussieren und zum Gegenstand der persönlichen Auseinandersetzung zu machen und dabei Bewältigungskompetenz zu entwickeln, indem sie die vorantreibenden und konservativen Kräfte der Entwicklung in sich selbst aufspürt, bewusst macht und zur Bewältigung der gegenwärtig identifizierten Krise mobilisiert. Mit diesen beiden Qualitäten verleiht also die Therapeutin dem gemeinsamen Entwicklungsprozess, der in einer Gegenbewegung zur Störungsgenese verläuft, Kraft und Richtung – und ist dabei sowohl Modell und soziale Verstärkerin als auch emotional anteilnehmende Begleiterin dieser Entwicklung. Mithilfe ihrer Kraft wird es auch möglich sein, belastete Themen und angstbesetzte Fragen aufzugreifen, die die Patientin in ihren Gedanken und ihrem Handeln zu vermeiden sucht, womit die Therapeutin auch eine aktive und fürsorgliche Rolle bei der Problemexploration einnimmt. Diese aktive, nicht abstinente Funktion der Therapeutin muss dabei stets die Entwicklungsrealität und die psychische Verträglichkeit der Patientin im Auge haben, um sie nicht bei den anstehenden Angst- und Konfliktbewältigungsversuchen zu überfordern. Ihre Kraft und Ausdauer gewährleistet aber auch durchwegs die emotionale Unterstützung und Ermutigung der Patientin für diesen kritischen Prozess, die gerade dann erforderlich ist, wenn die eingesetzten Methoden (noch) keine befriedigenden und weiter motivierenden Ergebnisse zeitigen. Auch in dieser lösungsorientierten Phase wird es insbesondere in mikroanalytischer Hinsicht immer wieder erforderlich sein, die Blockaden und Hemmnisse der Patientin als Ausdruck ihres Grundkonfliktes und als Wirkung der darauf basierenden und sich widerstreitenden Entwicklungsprozesse zu verstehen. Dies gilt es, in der Bestandsaufnahme weiter zu explorieren, damit die in Betracht kommenden Methoden weiter abgestimmt und in ihrer unterstützenden und behelfenden Funktion optimiert werden können. Letztlich ist für diesen schwierigen krisen-, konflikt- und problembewältigenden Prozess eine optimistische und von Grund auf positive Haltung der Therapeutin gegenüber Entwicklungsprozessen erforderlich, die der Patientin in ihrer Gegenbewegung fortwährend Halt und Zuversicht vermittelt, bis sie selbst Erfahrungen macht, die sie für diese Gegenbewegung motivieren und stärken, sodass sie nach und nach ihre Entwicklung allein in die Hand nehmen kann und möchte. Damit wird sie sich aber zunehmend von der Therapie und von der Therapeutin emanzipieren wollen, worauf die Therapeutin in der Endphase der

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Therapie emotional vorbereitet sein sollte. Analog zum allgemeinen Entwicklungs- und Individuationsprozess wird sich dies wiederum über interindividuelle Konflikt- und Abgrenzungsprozesse vermitteln, die in der therapeutischen Beziehung aufkommen und dort in der Art ausgetragen werden, dass die Patientin dies als Ausdruck ihrer Autonomie und Individualität, letztlich als ihre in der Therapie gewonnene psychische Stärke begreifen und zukünftig für ihre weitere Entwicklung nutzen kann.

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Roland Geckle

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Ariane Mossakowski

Wer sind wir, das ppt? Bericht über die Tätigkeit des »Arbeitskreis Konzeption und Kooperation« (2014/2015)

Mitglieder des AK: Dr. Roland Geckle, Lars Hauten, Regine Laschinger, Dr. Ortwin Lüers, Ariane Mossakowski, Eva Stahl und Jürgen Voigt Im Angesicht der bevorstehenden Reform des Psychotherapeutengesetzes und der damit verbundenen, in der Fachwelt diskutierten, Neugestaltung der psychotherapeutischen Ausbildung gründeten wir im Februar 2014 einen Arbeitskreis, der sich mit der Frage befassen sollte, wie die Zukunft des ppt aussehen könnte. Unser Ziel war es nicht nur, uns einen Überblick über die Universitäten zu verschaffen, an denen Psychologiestudiengänge angeboten werden, also über mögliche Kooperationspartner. Wir wollten auch herausarbeiten, was wir in eine mögliche Kooperation einbringen könnten, welches Konzept genau das ppt verfolgt. Hierzu stellten sich Fragen danach, was uns ausmacht und was wir wollen. Klar war allen Beteiligten, dass ein wesentliches Merkmal der ppt-Identität in der Integration verschiedener Therapiemethoden besteht. Die einzelnen Lehrkräfte hatten hier mehr oder minder übereinstimmende Vorstellungen, ein ausformuliertes Konzept jedoch gab es nicht. Zudem verdeutlichte sich, dass wir nicht genau wussten, wie nahe beieinander Wunsch und Wirklichkeit tatsächlich lagen. Was von dem, wie wir uns das Institut vorstellen, wird von den Ausbildungskandidaten so auch wahrgenommen? Was hat einen nachhaltigen Einfluss auf die spezifische Therapeutenidentität der im ppt ausgebildeten Therapeuten? Diese Fragestellungen brachten mich selbst dazu, als damals relativ neue Dozentin am Institut, mich noch einmal mit meinem eigenen »Gewordensein« zu befassen. Was hatte mich eigentlich dazu bewogen, meine Ausbildung am ppt zu absolvieren und mich hernach weiterhin für dieses Institut zu engagieren? Mein Studium habe ich an der Technischen Universität Berlin absolviert. Hier hatte ich das Glück, in meiner, von Beginn an angestrebten, Spezialisierung auf den klinischen Bereich Frau Prof. Dr. Eva Jaeggi in ihren Vorlesungen kennenlernen zu dürfen. Später wurde sie die Betreuerin meiner Diplomarbeit. Jaeggi, die als ausgebildete Verhaltenstherapeutin deutlich später noch die Ausbildung

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Ariane Mossakowski

zur Psychoanalytikerin abschloss, vermittelte in ihren Vorlesungen eine sehr menschliche und greifbare Umgangsweise mit den theoretischen Hintergründen der gesamten Psychotherapie. Die gelebte Trennung zwischen den unterschiedlichen Verfahren erschien mir so bereits in meinem Studium überholt. Entsprechend unentschlossen stand ich nach Abschluss des Studiums der Frage gegenüber, welche Vertiefungsrichtung ich wählen sollte. An der gängigen Praxis konnte ich so schnell nichts ändern, einzig war es möglich, ein Institut zu wählen, das möglichst viele Inhalte aller Vertiefungsrichtungen zu vermitteln in der Lage ist, ohne alles zu vermischen. So fand ich zum ppt. Wie der gesamte Arbeitskreis interessierte ich mich sehr dafür, welche Wege meine Kollegen gegangen waren, welche Haltungen und Hintergründe sie bewogen hatten, sich dem ppt anzuschließen, und welche »Corporate Identity« tatsächlich entstanden war. Dazu überlegten wir uns gemeinsam, eine Umfrage unter den Kandidaten, den Alumni sowie den Dozenten durchzuführen. Wir entschieden uns für das Forschungsdesign einer Freitextumfrage, das qualitative Daten erzeugt. Dies zum einen, weil insbesondere die Kontrastierung von Dozenten und Auszubildenden mit hermeneutischen Methoden besser abbildbar erschien, zum anderen, weil angesichts einer erwartbar eher kleineren Stichprobe qualitative Methoden bei entsprechender Bearbeitung auch aus wenig Rohdatenmaterial aussagekräftige Ergebnisse extrahieren können. Es wurde ein Fragebogen mit 15 Fragen konstruiert, der sich an Alumni sowie an die Kandidaten richtete. Ein weiterer Fragebogen mit 14 Fragen entsprechenden Inhaltes, in jedoch notwendiger sprachlicher Abwandlung, ging an die Dozenten. Zuvor wurde in einem internen Pretest die Funktionalität der Erhebungsmethode geprüft und nach einigen Anpassungen für geeignet befunden. Die eigentliche Erhebung erfolgte in Form eines SoSci-Panels online ab Juni 2014 mit einer Erinnerungsrunde nach zwei Monaten. Es wurden 312 Fragebögen verschickt, von denen 69 Rückläufe auswertbar waren (45 Kandidaten, 11 Alumni, 13 Dozenten). Das entspricht einer Rücklaufquote von 22 %. Für die Auswertung der Umfrage nutzten wir eine Kombination aus Grounded Theory, zirkulärem Dekonstruieren und qualitativer Inhaltsanalyse. Zunächst wurden Hypothesen generiert und dann Cluster gebildet, die der weiteren Bearbeitung zugänglich gemacht wurden. Der Umfang war erheblich und bestand aus mehreren Schritten, die wir teils in Einzelarbeit, teils in Gruppenarbeit unternahmen. So konnten wir trotz der eher geringen Datenbasis belastbare Ergebnisse erzielen. In einem ersten Schritt wurde das Datenmaterial in Einzelarbeit subjektiv abstrahiert, indem sämtliche Antworten in zusammenfassende Stichworte oder prägnante Zitate überführt wurden. Im nächsten Schritt kam die gesamte Arbeitsgruppe zusammen, um die Einzelergebnisse intersubjektiv zu validieren. So

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entstand eine Auswertungs-Rohfassung. Im dritten Schritt wurde das Datenmaterial einer weiteren Verdichtung zugeführt und so die intersubjektive Matrix »erzählbarer« gemacht. Es wurden Unterschiede, Überschneidungen und Disparitäten herausgearbeitet. Die Leitfragen, die das so entstandene und verdichtete Material im vierten Schritt Vier zu beantworten hatte, lauteten folgendermaßen: – Ist eine integrative Ausbildung wünschenswert? – Wenn ja, wie sieht die/eine Idealvorstellung von Integration aus? – Was deckt das ppt von der Idealvorstellung der Integration bereits ab? – Was könnte das ppt darüber hinaus abdecken? Im letzten Schritt der Auswertung unseres Datenmaterials ging es nun darum, die Ausgangsfrage zu beantworten: Was machen, haben und wollen wir? Es wurde deutlich, dass den verfahrensübergreifenden Lehrangeboten in Doppeldozentenschaft eine besondere Bedeutung zukommt. Es scheint nicht nur notwendig, dass solche Veranstaltungen überhaupt angeboten werden; wichtig ist zudem, wie diese Angebote gestaltet sind. Ein offener und respektvoller Umgang der Dozenten untereinander und eine glaubhaft erfahrbare Offenheit gegenüber dem anderen Verfahren zeigten sich genauso wirksam wie eine transparente Diskussionskultur innerhalb der gesamten Dozentenschaft. Die »Besonderheit« unseres Institutes scheint sich so nicht allein über harte Fakten zu definieren. Vielmehr bildete sich in dem Datenmaterial auch eine Art »atmosphärischer Charakter« ab. Diese (vielleicht sogar) »Familiarität« lässt sich zwar nicht in ein Curriculum planen, scheint jedoch aufzuzeigen, dass die Pflege der Institutskultur von besonderer Bedeutung ist.

Konzeptionelle Überlegungen – Was haben wir anzubieten? Die Diskussionen bei der Auswertung im Rahmen der Arbeit im Arbeitskreis, aber auch am Institut, mündeten u. a. darin, dass eine kurze konzeptionelle Darstellung des ppt-Grundverständnisses erarbeitet wurde. Dr. Geckle hat diese dann aufgeschrieben und mit dem von ihm geschaffenen und von allen konsentierten Begriff des »Verfahrensdialogs« umschrieben bzw. belegt. Das »Konzeptpapier« ist seitdem auf der Homepage des Instituts zu finden (vgl. auch Kap. 11). Seine Kernpunkte sind: – die Förderung von Kommunikation, respektvollem und angstfreiem Austausch und Versprachlichung im Verfahrensdialog; – die Ermöglichung und Förderung einer individuellen psychotherapeutischen Entwicklung und Identitätsbildung der Kandidaten;

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Ariane Mossakowski

– die gegenseitige Bereicherung der psychotherapeutischen Verfahren durch Kenntnisse des jeweils anderen Verfahrens; – die Erlangung eines umfänglicheren Störungsverständnisses durch Hinzuziehung verschiedener Entstehungsmodelle für psychische Störungen; – die Anreicherung der jeweils zur Verfügung stehenden Behandlungsstrategien zur Bewältigung auch herausfordernder Therapien, ohne dabei das Schwerpunktverfahren aufzuweichen; – die Bildung von Ausbildungsgruppen, bestehend aus Teilnehmern desselben Jahrgangs und beider Schwerpunktverfahren, die sich in ihrer verfahrensspezifischen Ausbildung aber auch immer wieder trennen, um das gewählte Verfahren zu vertiefen und sich das jeweils gewählte Störungs- und Behandlungsparadigma anzueignen; – die Förderung eines Gemeinsamkeitsgefühls zur Verhinderung von Isolation und Alleingängen in der Ausbildung sowie zum überdauernden Dialog über Übereinstimmung, Abhebung und Ergänzung der eigenen Position bzw. des eigenen Entwicklungsstandes; – eine Dialog- und Verständigungsbereitschaft, die modellhaft auch in der Mitarbeiterschaft des Institutes gepflegt und in ihrer Arbeits- und Kooperationsstruktur klar erkennbar ist: z. B. in verfahrensspezifischen und verfahrensübergreifenden Fachgremien, die auch dazu dienen, die verfahrensdialogische Ausrichtung zu beobachten und weiter zu optimieren; – die Beibehaltung und der Ausbau der verfahrensübergreifenden Lehrveranstaltungen und deren möglichst praxisnahe Gestaltung, um unterschiedliche und gemeinsame Sichtweisen am Einzelfall kenntlich und für beide Vertiefungsgebiete verwertbar zu machen; – das Anliegen, mit dem Konzept des Verfahrensdialogs auch unter berufspolitischen Gesichtspunkten einen Beitrag dafür liefern, dass sich der Berufsstand des Psychologischen Psychotherapeuten weiter vereinheitlichen kann, indem er gegenüber der Öffentlichkeit, aber auch gegenüber anderen klinischen Berufsgruppen, ein klareres Profil entwickelt und sich so in der Gesundheitsversorgung noch besser verankert.

Schlussfolgerungen Aus der Synopse der Studienergebnisse ließen sich für uns sehr konkrete Handlungsempfehlungen ableiten. Das Augenmerk musste weiterhin auf dem Ausbau der Veranstaltungen in Doppeldozentenschaft liegen, wobei insbesondere dem Umgang der Dozenten miteinander Beachtung geschenkt wurde. Die verfahrensübergreifende Kasuistik stellte sich hier als eine besondere Chance dar, den Verfahrensdialog zu beleben. In den nachfolgenden Jahren hielten wir

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uns an die herausgearbeiteten Strategien und implementierten mehrere verfahrensübergreifende Lehrveranstaltungen – und tun dies weiterhin. Die Kasuistik wurde verfahrensübergreifend ausgebaut und erhielt ein klares Durchführungskonzept, das die Vorstellung jeweils eines Falles aus der VT und der TP innerhalb einer Veranstaltung vorsieht, angeleitet von jeweils einem Dozenten aus beiden Vertiefungsgebieten (vgl. Hauten & Jungclaussen, 2018). Die Aufrechterhaltung der Jahrgangsstruktur scheint eine Voraussetzung zu sein, die wesentlich zum Gelingen des Dialoges der Verfahren beiträgt. Gruppenselbsterfahrung und Gruppensupervision innerhalb des jeweiligen Jahrgangs helfen, eine Atmosphäre zu schaffen, die eine wechselseitige Unterstützung der Kandidaten untereinander ermöglicht sowie Offenheit, Kritikfähigkeit und die Sicherheit im eigenen Vertiefungsgebiet als wichtige Voraussetzungen für einen fruchtbaren Verfahrensdialog entstehen lässt. Auch Veranstaltungen zur Aufrechterhaltung der Dialogkultur innerhalb der Dozentenschaft und zur Pflege der Institutskultur stärken weiterhin die herausgearbeitete Identität des ppt. Es finden regelmäßig gemeinsame Fachgruppen statt, wesentliche Entscheidungen werden auf breiter Basis verfahrensübergreifend diskutiert. Es gibt parallele Gremien für die Vertiefungsgebiete und gleichwertig viele Gremien der Vertiefungsgebiete zusammen, in denen inhaltliche, strategische, personelle und curriculare Fragen diskutiert werden. Auch die Supervisorenrunden werden verfahrensübergreifend durchgeführt. Jährlich wird eine gemeinsame Fachtagung organisiert und ebenso ein Sommerfest, bei dem der neue Jahrgang feierlich begrüßt und die Absolventen verabschiedet werden. Ein gemeinsames »Jahresanfangsessen« aller Mitarbeiter des Institutes symbolisiert jährlich den Aufbruch in eine neue, gemeinsam zu gestaltende Zeit. Das Konzeptpapier, das sich letztlich aus der Studienauswertung ergab, stellt den Ansatz und das Selbstverständnis des ppt dar und kann nun als Grundlage für die Außendarstellung in Kooperationsverhandlungen ebenso verwendet werden wie für eventuelle Marketingstrategien. Alles in allem hat uns diese gemeinsame Zeit der Beschäftigung mit unserem Institut gezeigt, dass wir einen zukunftsweisenden Ausbildungsort geschaffen haben, in dem ein wertschätzender Umgang unter allen Anwesenden etabliert ist, in dem sich die Verfahren gegenseitig bereichern und sich so umfänglich ausgebildete, dem psychotherapeutischen Berufsethos folgende Therapeutenpersönlichkeiten entwickeln können. Auch wenn wir mit unserem Arbeitskreis keine Kooperation mit einer Universität herbeiführen konnten, wussten wir also am Ende unserer Forschungsreise in »unser Inneres«, dass das ppt für uns alle ein mehr als würdiger Ort ist, in dem Menschlichkeit, Freundlichkeit und gegenseitiger Respekt wahrhaftig gelebt werden und den wir gemeinsam weiterentwickeln wollen und werden.

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Literatur Hauten, L. & Jungclaussen, I. (2018). Kasuistik im Verfahrensdialog (KiV) – Neue didaktische Wege in der verfahrensdialogischen Ausbildung am Berliner Institut für ppt. In S. Preiser, M. Krämer & K. Brusdeylins (Hrsg.). Psychologiedidaktik und Evaluation XII. Herzogenrath: Shaker. https://www.psycharchives.org/handle/20.500.12034/851 (zuletzt aufgerufen am 31. 01. 2020).

Roland Geckle

Ausbildung im Verfahrensdialog

Als eines von wenigen Instituten bundesweit bietet das ppt sowohl die Ausbildung im Richtlinienverfahren Verhaltenstherapie (VT) als auch im Verfahren Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (TP) an. Diese Besonderheit des ppt erschöpft sich jedoch nicht schon darin, dass die Ausbildenden und die Auszubildenden beider Verfahren »unter einem Dach« lernen und lehren. Wir wollen es unseren Auszubildenden ermöglichen, eine besondere und individuelle psychotherapeutische Identität auszuprägen, und sie so dazu befähigen, ihr Vorgehen genau auf die jeweiligen Bedürfnisse ihrer Patientinnen abzustimmen. Deshalb ist die Ausbildung am ppt inhaltlich und strukturell so konzipiert, dass alle Beteiligten im regen Austausch miteinander stehen – im ständigen Verfahrensdialog.

Was bedeutet »Verfahrensdialog«? Die dialogische Struktur der Ausbildung im ppt verbindet Auszubildende und Ausbildende beider Schwerpunktverfahren mit- und untereinander. Unser Ziel ist es hierbei jedoch nicht, das Störungs- und Behandlungsparadigma des jeweils gewählten Schwerpunktverfahrens »aufzuweichen«. Vielmehr soll es durch therapeutische und diagnostische Konstrukte und Behandlungsansätze, die auf einem reichhaltigen Fundus klinischer Erfahrungen und Erkenntnisse sowie bewährter Behandlungsstrategien basieren, ergänzt und erweitert werden. So können aus der Sicht des Richtlinienverfahrens Verhaltenstherapie tiefenpsychologische Störungsverständnisse und Theoreme für die Aufarbeitung der prädisponierenden und auslösenden Bedingungen von großen Nutzen sein, um eine nachhaltige und (rückfall-)vorbeugende Behandlung der problematischen Persönlichkeitsaspekte in einer fortgeschrittenen Therapiephase zu gestalten. Aus tiefenpsychologischer Sicht können zahlreiche Behandlungstools und störungsspezifische Interventionen zur weiteren Ausdifferenzierung des tiefenpsychologisch fundierten Vorgehens der Therapie eingeflochten werden.

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Roland Geckle

Diese dialogische Weiterentwicklung des therapeutischen Vorgehens orientiert sich ebenso sehr an den Bedürfnissen der jeweiligen Patientin wie an der – beide Aspekte hängen untrennbar miteinander zusammen – persönlichen Identitätsentwicklung der Auszubildenden, die im Laufe ihrer Ausbildung Entwicklungsaufgaben an sich wahrnehmen und aktiv angehen. Unter einer entwicklungspsychologischen Sichtweise lässt sich dabei der jeweilige Entwicklungsstand der Auszubildenden als ein Schema begreifen, innerhalb dessen sie den spezifischen Einzelfall sowohl dem bislang erworbenen Wissensstand wie auch der aus den bisherigen Praxiserfahrungen resultierenden Handlungskompetenzen zu assimilieren versuchen. Dieses Schema sollte aber auch immer sensibel für die nicht assimilisierungsfähigen Aspekte des Einzelfalls sein, also für die Notwendigkeit, den eigenen Wissensstand und die eigenen Handlungskompetenzen durch Hinzuziehung weiterer Konstrukte und Interventionen, die eine gewisse Plausibilität und Stimmigkeit für den Einzelfall haben, akkomodativ zu erweitern. Um genau diesen Spielraum für eine konkrete und individuelle Entwicklung möglichst umfangreich zu gestalten, halten wir die verfahrensübergreifende Auseinandersetzung mit Wissensbeständen und bewährten Anwendungsmöglichkeiten der Klinischen Psychologie für unerlässlich. Die Ausbildung und die Berufstätigkeit bergen jedoch ein doppeltes Isolationsrisiko: Einerseits sind Psychotherapeutinnen in der niedergelassenen Einzelpraxis in einer grundsätzlichen »Vereinzelungsgefahr«. Andererseits drohen die Verfahren, sich von den jeweils anderen Verfahren so weit abzugrenzen, dass fast keinerlei Berührungspunkte mehr bestehen. Hier setzt der Verfahrensdialog darauf, von dem gewählten Schwerpunkt aus die Verortung des eigenen Entwicklungsstandes in enger Verbindung mit dem anderen Verfahren herzustellen.

Wie schlägt sich der Verfahrensdialog in der Ausbildung nieder? Es ist fraglos eine zentrale Bedingung für eine erfolgreiche und erfüllende psychotherapeutische Ausbildung, dass alle Beteiligten unser Institut als einen Raum wahrnehmen, in dem eine vertrauliche und vertrauensbildende, eine angstfreie und von gegenseitigem Respekt getragene Dialog- und Diskussionsbereitschaft herrscht. Um dies zu gewährleisten, werden bei uns Ausbildungsgruppen gebildet, die die Teilnehmerinnen desselben Jahrgangs und aus beiden Schwerpunktverfahren umfassen. Diese Jahrgangsgruppen werden sich zwar in ihrer verfahrensspezifischen Ausbildung immer wieder trennen, um das gewählte Verfahren auch tatsächlich vertiefen und sich das jeweils gewählte Störungs- und Behandlungsparadigma aneignen zu können. Die Auszubildenden beider Vertiefungsrichtungen kommen aber während ihrer gesamten Ausbildung immer wieder in verfahrensübergreifenden Lehrveranstaltungen zusam-

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men, wo sie in einen konstruktiven Austausch mit den Auszubildenden und Ausbildenden des jeweils anderen Schwerpunktverfahren gehen können, um über Übereinstimmung, Abhebung und Ergänzung die eigene Position bzw. den eigenen Entwicklungsstand genauer verorten und weiterentwickeln zu können. Diese Bereitschaft zur fortlaufenden Beobachtung und Bestimmung der eigenen therapeutischen Identitätsentwicklung wird modellhaft unter den Ausbildenden des Institutes gepflegt und ist in deren Arbeits- und Kooperationsstruktur angelegt: In den verfahrensübergreifenden Lehrveranstaltungen treten Ausbildende beider Vertiefungsrichtungen für die Auszubildenden sicht- und hörbar miteinander in einen Dialog über ihre jeweiligen Störungs- und Behandlungsverständnisse und stellen dabei Unterschiedlichkeiten und Übereinstimmungen fest. Insbesondere bei der Reflexion und Nachbereitung der konkreten klinischen Praxis stellen wir dabei oft fest, dass mit unterschiedlichen Begrifflichkeiten ähnliche Prozesse und Erfahrungen verstanden und festgehalten werden. Dies ist für uns auch ein Grund, diese verfahrensübergreifenden Lehrveranstaltungen möglichst praxisnah zu gestalten, um unterschiedliche und gemeinsame Sichtweisen am Einzelfall kenntlich und damit auch für die weitere therapeutische Identitätsentwicklung der Auszubildenden verwertbar zu machen. Auch in seiner Koordinations- und Organisationsstruktur orientiert sich das ppt an der Idee des Verfahrensdialogs. So wurden verfahrensspezifische und verfahrensübergreifende Fachgremien eingerichtet, nicht nur, um den Ausbildungsbetrieb mit dem gesamten Ausbildungsteam zu überblicken und zu koordinieren, sondern auch, um ihn in seiner curricularen Entwicklung und insbesondere in seiner verfahrensdialogischen Ausrichtung zu beobachten und weiter zu optimieren. Neben den regelmäßig tagenden Gremien finden deshalb besondere Fachtagungen statt, die zu bestimmten Ausbildungsthemen und -inhalten bei Diskussionsbedarf eingerichtet werden. Diese fortlaufenden und zum Teil sehr persönlich geführten Verständigungs- und Diskussionsprozesse, an denen nicht nur Ausbildende, sondern auch Auszubildende teilnehmen, schaffen eine familiäre Gesamtatmosphäre am Institut, die von allen Beteiligten sehr geschätzt wird und sich nicht nur in den beschriebenen Arbeitszusammenhängen, sondern auch in unterschiedlichen gemeinsamen Feierlichkeiten manifestiert. Nicht zuletzt soll unsere Ausbildung im Verfahrensdialog unter berufspolitischen Gesichtspunkten dazu beitragen, dass sich der psychotherapeutische Berufsstand mehr durch das Verbindende als durch Unterschiede auszeichnet. Denn auf diese Weise, so unsere Überzeugung, gewinnt er nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch gegenüber anderen klinischen Berufsgruppen ein klareres Profil und verankert sich noch tiefer in der Gesundheitsversorgung.

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Roland Geckle

Mit der Betonung der Gemeinsamkeiten ist eine Betonung der Wichtigkeit des therapeutischen Beziehungsgeschehens verbunden. Am ppt werden therapeutische Beziehungen gelehrt und gelernt, die sich vor allem in Langzeittherapien entfalten. Im Dialog der Verfahren werden die Gemeinsamkeiten von Begegnungsprozessen in der Psychotherapie erfahrbar gemacht. Aus einer Praxisperspektive wird so ein Gegengewicht geschaffen zum gegenwärtigen Trend zur Verkürzung und Technisierung von Psychotherapie.

Lars Hauten

Medizin und Psychologie – quo vadis, Psychotherapie?

Wer es »am Kopp hat«, benötigt Hilfe von Spezialisten für seelische Störungsangelegenheiten. Früher wurde man damit zum »Macke-Arzt« geschickt. Heute würde man vielleicht sagen: »Ick gloob, ick muss ooch bald zum Psycholojen.« Die Vorstellung vom »Seelenklempner« hat sich also gewandelt – heute geht man selbstverständlich davon aus, dass Psychotherapie von Psychologen gemacht wird. Und liegt damit richtig: Im ambulanten Sektor stellen mehr als 80 % der Leistungserbringer die Psychologen (vgl. KBV, 2017). Das war durchaus nicht immer so. Die Geschichte beginnt im Prinzip 1869. Mit der Gewerbeordnung (GeWO) des Norddeutschen Bundes wurde eine faktische Kurierfreiheit geschaffen, weil die heilkundliche Tätigkeit dort nicht geregelt wurde. Dies rief umgehend eine Gegenbewegung auf Seiten der Ärzteschaft aus. Im »Kampf gegen die Kurpfuscherei« ging es dabei jedoch nicht nur um den Patientenschutz, sondern parallel dazu natürlich auch um die Verteidigung eines Alleinvertretungsanspruches: Nur die Mediziner (und nicht die Kräuterkundler) sollten heilkundlich tätig sein dürfen. Dies betraf auch die ab dem Beginn des 20. Jahrhunderts ins Interesse gerückte Psychotherapie. In Österreich war die »Laienanalyse« (also Psychotherapie durch Nichtärzte) verboten, in Deutschland nicht. Freud hat sich sehr eindeutig für die Möglichkeit der Laienanalyse ausgesprochen: »Nun, für den Kranken ist es gleichgültig, ob der Analytiker Arzt ist oder nicht« (Freud, 1926, S. 279). »Kurpfuscherei« wäre es aus seiner Sicht, wenn nicht entsprechend ausgebildete Therapeuten Psychoanalyse betrieben. Der Grundberuf sei dabei nicht so entscheidend. Dennoch hat er sich der überwiegenden Meinung seiner (ärztlichen) Anhängerschaft angepasst. Freuds eigenen Angaben zufolge waren die Psychoanalytiker seinerzeit ganz überwiegend Ärzte: »Vier Fünftel der Personen, die ich als meine Schüler anerkenne, sind ja ohnedies Ärzte« (Freud, 1926, S. 261). Diese Kontroverse (Kurpfuscherei vs. Kurierfreiheit) war also zunächst aufgestellt als Kontroverse zwischen Medizin und Psychoanalyse. Darin verwoben ist die

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Lars Hauten

spannungsreiche innerärztliche Auseinandersetzung zwischen Psychiatrie und Psychotherapie. Diese wechselhafte Geschichte wird bis heute innerhalb der ärztlichen »Psy-Fächer« (Psychiatrie, Psychosomatik, Psychotherapie) sorgfältig und durchaus auch kritisch reflektiert (vgl. Weinmann, 2019; Helmchen, 2017; Jäger, 2015; Freyberger, 2015; Helmchen et al., 1982). Psychologie spielte in diesem Zusammenhang noch keine Rolle. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war die Psychologie noch weitgehend eine Teildisziplin der Philosophie. Für den gemeinhin als »Gründervater« der akademischen Psychologie angesehenen Wilhelm Wundt war dies die richtige Zuordnung, während sich Ebbinghaus eher für eine »Emanzipation« der Psychologie als eine eigene (naturwissenschaftliche!) Disziplin stark machte. Die Widersprüchlichkeit und Uneindeutigkeit der Ein- und Zuordnung der Psychotherapie zu einem Wissenschaftsgebiet lässt sich gut am damaligen populärwissenschaftlichen Diskurs ablesen: In Meyers Konversationslexikon von 1908 findet sich ein langer und differenzierter Eintrag zum Stichwort »Psychologie«, in dem die Psychologie als nicht eindeutig zuordenbar, jedoch als »vermittelndes Band aller Geisteswissenschaften« dargestellt wird (Meyer, 1908, S. 425). Psychotherapie hingegen ist dort sehr knapp beschrieben als »Heilung durch seelische Einwirkung auf den Kranken« (ebd., S. 430). Geuter (1984) stellt den Weg der Emanzipation der Psychologie als wissenschaftliche Disziplin detail- und kenntnisreich dar. Deutlich wird in seiner Analyse, wie die gesellschaftlichen Umbrüche und machtpolitischen Verschiebungen während des Nationalsozialismus die Etablierung der Psychologie als eigenständige Disziplin ermöglicht und befördert haben. Bei Einführung der Diplomprüfungsordnung 1941 waren an über 20 Standorten Lehrstühle mit Psychologen besetzt (vgl. ebd., S. 132 f.). Allerdings war Psychotherapie gerade nicht eines der »Kerngeschäfte« dieser nun vergleichsweise starken wissenschaftlichen Gruppe. Denn mit dem Heilpraktikergesetz von 1939 wurde auch in Deutschland die Kurierfreiheit abgeschafft. Theoretisch war dadurch eine psychotherapeutische Behandlung durch Nichtärzte verboten. Mit der Regel kam aber sogleich die Ausnahme. Martin Göring sah sich als Leiter des »Deutschen Instituts für psychologische Forschung und Psychotherapie« mit einem Versorgungsengpass konfrontiert: Einerseits sollte die »Neue Deutsche Seelenheilkunde« eine möglichst flächendeckende psychotherapeutische Versorgung ermöglichen. Andererseits waren durch die »Arisierung« der Psychotherapie (vor allem der Psychoanalyse) schlichtweg nicht genügend Behandler verfügbar. So kam es ca. 1940/43 zum sogenannten »Göring-Erlass«.1 1 Eine exakte Datierung scheint hier nicht möglich. Faber und Haarstrick (1989, S. 83) datieren den Göring-Erlass auf 1940. Lockot (1985, S. 238 ff.; 2010, S. 1208) sortiert die unübersichtliche Quellenlage (eine Reihe von Rundschreiben, die kriegsbedingt keinen Gesetzesstatus

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Inhalt des Erlasses war, dass im »Deutschen Institut« ausgebildete sogenannte »Behandelnde Psychologen« unter ärztlicher Aufsicht zur Durchführung von Psychotherapie berechtigt waren – was neben einer recht ordentlichen Bezahlung auch eine Freistellung vom Arbeitsdienst mit sich brachte. Macht- und wissenschaftspolitisch gesehen war dies eine eindeutige Zementierung des ärztlichen Anspruchs auf Hoheit über die Psychotherapie (vgl. Hauten in diesem Band; Hauten & Jungclaussen, 2019; Hauten, 2018). Das Verhältnis von Medizin und Psychologie lässt sich an der (zumindest theoretischen) Konstellation der Beteiligten so darstellen: »Der Arzt bestimmt die Therapie, der Psychologe führt sie durch.« Die Neuorientierung der Psychotherapie nach dem Zweiten Weltkrieg war ebenfalls eine eher innerärztliche Angelegenheit. Winkler (1977, S. 80) stellt eine jahrzehntelange Entwicklung dar, die auf dem 59. Deutschen Ärztetag 1956 in die Einführung der Zusatzbezeichnung »Psychotherapie« mündete. Zeitgleich änderte sich die öffentliche Wahrnehmung seelischer Störung, was letztlich zu einer höchstrichterlichen Gleichstellung der seelischen mit den körperlichen Erkrankungen führte. Vor dem BSG wurde 1964 ein Rentenbegehren aufgrund einer neurotische Störung verhandelt. Das BSG (1964) legte in diesem Zuge die Auffassung von der Krankheitswertigkeit auch seelischer Störungen aus, die im Prinzip bis heute gültig ist: Seelische Störungen, die die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit in einer vom Betroffenen selbst nicht zu überwindenden Weise »hemmen«, sind aber eine Krankheit im Sinne der §§ 27 AVG aF, 23 Abs. 2 AVG nF. Der Krankheitsbegriff dieser Vorschriften kann nicht auf die Beeinträchtigung der Gesundheit im körperlichen und geistigen Bereich beschränkt werden; er umfaßt auch die seelischen (seelisch bedingten) Störungen, wenn sie – wie körperliche und geistige Gesundheitsstörungen – durch Willensentschlüsse des Betroffenen nicht oder nicht mehr zu beheben sind. Dabei ist es ohne Bedeutung, ob die seelischen Störungen eine Fähigkeit, wie die Arbeits- oder Erwerbsfähigkeit, »lediglich hemmen« oder sie »einschränken oder aufheben«; in jedem Falle ist die Fähigkeit im maßgebenden Zeitpunkt beeinträchtigt, weil der Betroffene sie nicht entfalten kann. (S. 5)

Diese sogenannte »Neurosenurteil« stellte eine Legalnotwendigkeit für die Einführung einer öffentlich finanzierten Psychotherapie dar. Die Frage war nicht mehr, ob Psychotherapie durch die Krankenkassen zu finanzieren wäre, sondern nur noch, wie. Für die Einführung der Richtlinienpsychotherapie 1967 stellten die empirischen Bemühungen am Berliner »AOK-Institut«, maßgeblich voranerlangten) etwas anders, sodass der Göring-Erlass auf den 18. 3. 1943 datiert wird. Geuter (1984, S. 243 f.) beschreibt, dass das Reichsinnenministerium dem »Göring-Institut« eine Zuordnung der »Behandelnden Psychologen« zu den ärztliche Hilfsberufen zugesichert habe, es zu einer Ausformulierung der entsprechenden Bestimmungen im Krankenpflege-Gesetz aber nicht mehr kam.

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getrieben von Annemarie Dührssen, die wichtigste Grundlage für die Verhandlungen mit den Kostenträgern dar (vgl. Rudolf & Rüger, 2016; Dührssen, 1994; 1962). Wie seinerzeit im »Deutschen Institut« unter Göring stellte sich jedoch auch hier ein bedarfsplanerisches Problem: Eine flächendeckende psychotherapeutische Versorgung war ausschließlich mit »Vollanalytikern« nicht zu gewährleisten. Neben inhaltlichen Überlegungen (vgl. Faber, 1968; Kohlhausen, 1967) scheinen es auch solch pragmatische Erwägungen gewesen zu sein, die die Einführung von zwei psychotherapeutischen Verfahren (AP und TP) notwendig machte. Praktischerweise war damit auch eine mögliche Kompromisslinie zwischen voll ausgebildeten Psychoanalytikern auf der einen und Ärzten mit der Zusatzbezeichnung »Psychotherapie« auf der anderen Seite erkennbar (vgl. Helmchen et al., 1982). Der oben beschriebene Konflikt zwischen Medizin und Psychotherapie wurde damit im Prinzip befriedbar. Rüger (2019) drückte es so aus: »Beide Gruppen (etwas verkürzt: DGPT-Instituts-Ausgebildete und AÄGPorientiert Weitergebildete) mussten sich in den Psychotherapie-Richtlinien wiederfinden« (pers. Mitt.). Erneut spielten Psychologen keine Rolle. Indes, der Bedarf an Psychotherapie stellte sich als größer dar als erwartet und war auch unter gemeinsamer Anstrengung der beiden Gruppen ärztlicher Psychotherapeuten nicht zu decken. Ebenfalls wurde erneut auf einen Kunstgriff aus dem »Deutschen Institut« zurückgegriffen. Wie seinerzeit die »Beratenden Psychologen« wurden ab 1972 Diplom-Psychologen im Rahmen des sogenannten »Delegationsverfahrens« in die psychotherapeutische Versorgung einbezogen (vgl. Faber & Haarstrick, 1989) – inklusive der oben beschriebenen Machtkonstellation. Damit war es möglich, dass Psychologen unter ärztlicher Delegation heilkundlich im Bereich der Psychotherapie tätig wurden. Bis zur Einführung des Psychotherapeutengesetzes konnten (bzw. mussten zur berufsrechtlichen Absicherung) Psychologen mit ihrem Diplom eine auf Psychotherapie eingeschränkte Zulassung nach dem Heilpraktikergesetz von 1939 beantragen. Dadurch wurde bescheinigt, dass sie keine »Gefahr für die Volksgesundheit« darstellen. Schulte (2019) beschreibt lebhaft einen 30 Jahre währenden Prozess der Emanzipation der Psychologie im Rahmen der psychotherapeutischen Versorgung. Im Prinzip ist dieser Prozess der »Psychologisierung der Psychotherapie« im Ringen um ein Psychotherapeutengesetz ablesbar. Getragen von einer erstarkenden akademischen Psychologie und begleitet von gesellschaftlich beachteten psychotherapeutischen »Neuerungen« gegenüber der Psychoanalyse (in Deutschland vor allem Gesprächspsychotherapie, Verhaltenstherapie sowie systemische Ansätze), wurde ein Gesetz zur Psychotherapie gefordert und entwickelt (vgl. Hauten & Jungclaussen, 2019).

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Nach vielen zähen Kämpfen und mehreren Anläufen (vgl. Schulte, 2019) wurde schließlich 1998 ein Psychotherapeutengesetz beschlossen. Mit der Einführung einer eigenen Approbation für »Psychologische Psychotherapeuten« und »Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten« war eine faktische Gleichstellung der approbierten Psychologen mit den Fachärzten erreicht. In den 20 Jahren seit der Einführung des Psychotherapeutengesetzes ist die »Psychologisierung der Psychotherapie« weiter fortgeschritten. Ein wachsender Bedarf an Psychotherapie ist erkennbar. Gleichzeitig werden mehr Psychologische Psychotherapeuten ausgebildet, als Kassensitze zur Verfügung stehen. Während für eine lange Zeit ein gewisses Kontingent an Sitzen für ärztliche Psychotherapeuten »reserviert«, aber mangels Nachwuchs nicht besetzt werden konnte, sind die Kassensitze für Psychologische Psychotherapeuten zu einem raren Gut auf dem Gesundheitsmarkt geworden – mit der unsäglichen Folge, dass seinerzeit kostenfrei ausgegebene Kassensitze zu horrenden Preisen auf dem Markt verschachert werden. Die psychotherapeutische Versorgung im ambulanten Sektor wird heute überwiegend von Psychologen abgedeckt. In die oben genannte Zahl von 80 % sind noch nicht einmal diejenigen Kollegen eingerechnet, die im Rahmen der Kostenerstattung den Versorgungsmangel aufzufangen versuchen. Das Psychotherapeutengesetz von 1998 hat also eine formale und normative Gleichstellung von Psychologen und Ärzten, mithin von Psychologie und Medizin im Bereich der Psychotherapie gesetzt. Die Praxis der Versorgung hat seitdem zu einem deutlichen Übergewicht der Psychologen im Feld geführt. Genau diese Linie nimmt die Novellierung des Psychotherapeutengesetzes von 2020 auf. Unter dem Stichwort »Direktausbildung« soll vornehmlich eine Harmonisierung der Arzt- und Psychotherapieausbildung erreicht werden. Indes, die Gesetzesreform beinhaltet vielfältige, auch berufs- und standespolitische, Elemente. Unter anderem schreiben sich hier Konflikte zwischen öffentlicher Gesundheitspolitik und Selbstverwaltung fort (vgl. G-BA, 2019). Mit Blick auf die Kontroverse um die Hoheit über die Psychotherapie zwischen Medizin und Psychologie wird eine eindeutige Vormachtstellung der Psychologie konzeptionell festgeschrieben. Die in der Novellierung vorgesehene Verkürzung der Berufsbezeichnung zu »Psychotherapeut«, die nur bei Ärzten mit dem Zusatz »ärztlich« versehen wird, stellt mehr als eine sprachkosmetische Korrektur dar. Vielmehr wird damit schon sprachlich erkennbar, dass Psychotherapie vor allem eine psychologische Angelegenheit ist, dass ärztliche Psychotherapie die erwähnenswerte Ausnahme und nicht die Regel ist. Im 150 Jahre währenden »Kampf um die Psychotherapie« hat also die Psychologie gewonnen. Ist das aber für uns als Psychotherapeuten wirklich ein Grund zum Feiern?

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Für Siegfried Schubenz (1993) war die akademische Psychologie notwendigerweise die wissenschaftliche Heimat der Psychotherapie: »Gute klinische Psychologen und gute psychologische Therapeuten werden an Universitäten ausgebildet und nicht an privaten Schulen« (S. 183). Ganz wesentlich war dabei Schubenz’ Vorstellung einer Integration, die für ihn zwangsläufig an den reflexiven Raum der Universität gebunden war. Ausbildungsstätten, die nur jeweils eine Richtung verfolgten, lehnte er ab: »Psychotherapiepraxis, die den Konzeptentwurf eines einzelnen Praktikers (oder auch Theoretikers) oder doch von ganz wenigen in institutionelles Handeln vieler Berufstätiger umzusetzen versucht, verspielt mit dieser Konstruktion ihren Aufklärungsanteil« (ebd., S. 185). Weiterhin war für Schubenz die akademische Psychologie der naheliegende und notwendige Gegenpol zum Menschenbild der Medizin, das er als naturwissenschaftlich-mechanistisch begriff. Aus seiner Sicht stand der medizinische Ansatz für die »Gerätemedizin« sowie die gewinnorientierte »Gesundheitswirtschaft«: »[D]er medizinische Krankheitsbegriff reicht nicht mehr aus« (ebd., S. 120), denn erkenntnistheoretische Reflexion, sozial- und geisteswissenschaftliche Ansätze sind, so Schubenz, in einem technisiert verstandenen Medizinbetrieb nicht vorgesehen. Im Gegenteil, die auf Profitmaximierung abgestellte »Gesundheitsindustrie« verschleiere geradezu absichtsvoll den Blick auf die gesellschaftlich vermittelten und bedingten Krankheitsgeschehen: »Die beiden größten Geschäftsbereiche, die es heute und auch schon einige Zeit gibt, sind die Verteidigungsvorkehrungen gegen äußere Feinde (die kommunistischen Staaten) und die Verteidigung gegen innere Feinde (die Krankheitserreger)« (ebd., S. 128). Demnach muss es die akademische Psychologie sein, die einen umfassenden Blick auf psychologische Entwicklungen und ihre Behinderungen werfen kann. Als Grundlagenwissenschaft kann die Psychologie die menschheitsgeschichtlich begründete und gesellschaftlich vermittelte Entwicklung individuellen Leidens verstehbar machen. Dies setzt allerdings eine akademische Psychologie voraus, die ihren gesellschaftlichen Auftrag außerhalb der »Gesundheitsindustrie« anzunehmen bereit ist, was aus heutiger Sicht bezweifelt werden darf. Auch wenn es am Institut für ppt keinen »Schubenz-Kanon« gibt, so sind doch einige Essentials für unser Verständnis vom seelischen Leiden und seiner Linderung aus Schubenz’ Ansatz destillierbar : – Seelisches Leid ist als Entwicklungsbehinderung zu verstehen; – Behinderung findet von außen statt, was eine Analyse gesellschaftlicher Bedingungen zwangsläufig erscheinen lässt; – Heilung oder Linderung seelischen Leidens kann ausschließlich in Beziehung stattfinden, nicht in der Anwendung manualisierter Interventionstechniken;

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– Psychotherapie ist daher auch ein längerfristiger Prozess, der die Persönlichkeiten der Beteiligten im Blick behält und nicht auf eine schnelle Symptomreduktion ausgerichtet ist. Möglicherweise war Schubenz’ Blick auf die akademische Psychologie schon bei Erscheinen seines Buches 1993 verklärt. Ganz sicher jedoch hat sich die akademisch-psychologische Landschaft – und darin vor allem der Bereich der Psychotherapieforschung – in den letzten Jahrzehnten dergestalt verändert, dass die geistes- und sozialwissenschaftlichen Züge der Erkenntnisbemühungen kaum noch erkennbar sind. Denn der »Katzengoldstandard« in der Psychotherapieforschung sind RCT-Studien. Das bedeutet, es wird so getan, als seien Psychotherapien so etwas wie blaue oder rote Pillen, deren Wirksamkeit dann auf die Inhaltsbestandteile hin exakt untersucht werden könnte. Es wird so getan, als wäre Psychotherapie nicht ein interaktionelles Geschehen zwischen zwei Menschen, sondern eine Abfolge von manualisiert vermittelbaren technischen Verrichtungen. Stimmen, die für eine andere wissenschaftlich und wissenschaftstheoretische Grundhaltung in der Psychotherapieforschung einstehen, sind sehr leise und werden bislang wenig gehört. Ein wenig Bewegung scheint in die wissenschaftstheoretische Diskussion gekommen zu sein, seitdem Wampold und Imel 2015 ihren Beitrag zur Great Psychotherapy Debate geleistet haben. Es steht zu hoffen, dass durch die adaptierende Übersetzung ins Deutsche (Wampold et al., 2018) auch die hiesige Wahrnehmung dieser für die Psychotherapie so ausgesprochen wichtigen wissenschaftstheoretischen Erkenntnisse vorangetrieben werden kann. Wampold und Imel nehmen eine gründliche und umfängliche Untersuchung der verfügbaren Metaanalysen zur Wirksamkeit von Psychotherapie vor. Vor allem die widersprüchlichen empirischen Befunde rund um die Wirkfaktoren (»DodoBird-Verdict«2) sind es, die mit den Mitteln der Psychotherapieforschung selbst nicht erklärbar sind, sondern einer weiteren wissenschaftstheoretischen Abstraktion bedürfen. Untersucht werden dabei die den Forschungen zugrundeliegenden Metamodelle.3 Wampold und Imel (2015) konstatieren, dass das von ihnen so benannte »Medizinische Modell« als (unerkanntes und unbenanntes) 2 Die verblüffend einfache Argumentation lautet im Original: »Not only is it sound to believe that the same conclusion cannot follow from opposite premises but when such a contradiction appears, as seems to be true in the present instance, it is justifiable to wonder (1) whether the factors alleged to be operating in a given therapy are identical with the factors that actually are operating, and (2) whether the factors that actually are operating in several different therapies may not have much more in common than have the factors alleged to be operating« (Rosenzweig 1936, S. 412). 3 Die Begriffe »Medical Model« und »Contextual Model« werden in der Übersetzung als »Medizinisches Metamodell« und »Kontextuelles Metamodell« gefasst.

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erkenntnistheoretisches Paradigma der Psychotherapieforschung nicht taugt: »The Medical Model fails to explain the evidence« (S. 259). Alternativ zum Medizinischen Modell schlagen sie ein anderes erkenntnistheoretische Paradigma vor, das »Kontextuelle Metamodell«: Die grundlegende Prämisse des Modells ist, dass der Nutzen der Psychotherapie durch soziale Informationsverarbeitungsprozesse und damit verbundenes persönliches Engagement des Patienten entsteht und dass Interaktions- und Kommunikationsprozesse die Grundlage der Wirksamkeit der Psychotherapie darstellen. (Wampold et al., 2018, S. 84)

Das Kontextuelle Metamodell ist damit ein »beziehungsbasiertes Modell der Psychotherapie« (ebd., S. 87). Buchholz und Kächele (2019) beziehen diese wissenschaftstheoretische Debatte auf die Diskussionen um die Novellierung des Psychotherapeutengesetzes. Sie sehen hier die Gefahr der »Medizinalisierung der Psychotherapie« (S. 161), also dass sich eine »technokratische« Auffassung von Psychotherapie durchsetzen könnte. Paradoxerweise hat also die »Eroberung der Psychotherapie durch die Psychologie« gerade zum Gegenteil dessen geführt, was mit der »Psychologisierung der Psychotherapie« eigentlich gedacht und gemeint war. Anstatt dass die Psychologie als Grundlagenwissenschaft einen dem medizinischen Denken alternativen Entwurf geliefert hätte, scheint sie sich vielmehr weitgehend blind dem Medizinischen Modell als Wissenschaftsparadigma unterworfen zu haben. Dies fügt sich nahtlos in einen Trend, der in der gesamten Wissenschaft der Psychologie zu beobachten ist: eine Bewegung hin zu einem mechanistisch-naturwissenschaftlichen Kausalitätsverständnis und weg von einem sozial-, geistesund kulturwissenschaftlichen Erkenntnismodell. Auf der anderen Seite sind es gerade die »Psy-Fächer« in der Medizin, in denen die geistes- und sozialwissenschaftliche Haltung bewahrt oder auch wiederentdeckt wird. So schreiben Bormuth, Heinz und Jäger (2016) im Vorwort zur Buchreihe »Karl-Jaspers-Bibliothek«: »Psychiatrie und Psychotherapie nehmen im Kanon der medizinischen Fächer eine besondere Stellung ein, sind sie doch gleichermaßen auf natur- wie kulturwissenschaftliche Methoden und Konzepte angewiesen« (S. 5). Zugespitzt könnte man formulieren: Die Psychotherapiewissenschaft der Zukunft könnte die »schlimmere Medizin« werden, wenn sie sich an einem Medizinischen Modell orientiert, von dem sich die »sprechende Medizin« gerade verabschiedet. Das Bundesgesundheitsministerium (2019, S. 57) ist der Auffassung, dass die Universitäten der geeignete Ort für eine schnelle Installation der »akademischen Psychotherapie« wäre. Tatsächlich ist eher zu befürchten, dass bei der Transformation der gegenwärtigen akademischen Psychologie in eine neu zu schaf-

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fende Disziplin »Psychotherapie« das Medizinische Modell unhinterfragt übernommen wird und zusätzlich – aufgrund eines massiven »Praxisdrucks« schon während des ersten (universitären) Ausbildungsabschnitts – die Orte der kritischen Reflexion, der gesellschaftswissenschaftlichen, historischen und politischen Einordnung der Studieninhalte immer kleiner werden. Die Weiterbildung nach der Approbation wird dann zwar möglicherweise von den bisherigen Ausbildungsinstituten angeboten werden können. Bislang war es aber so, dass wir an dieser Stelle während der Ausbildung hinreichend Zeit hatten, auf der einen Seite die notwendige selbsterfahrungsorientierte Praxis zu ermöglichen, auf der anderen Seite aber in den Theorieseminaren zumindest in der Tendenz noch Raum schaffen konnten für eine kritische Reflexion des eigenen Tuns. Wenn nun aber die Weiterbildung weitgehend von Theorie »befreit« ist, dafür aber der Caseload pro Kandidat erheblich erhöht wird, könnte sie zu einer reinen »Supervisionsmaschine« werden. In Gefahr ist dabei ein Welt- und Menschenbild, das dem Gegenstand der Psychotherapie angemessen ist. Erneut stammt die schönste mir bekannte Zuspitzung dieser Kritik nicht aus einer psychologischen, sondern einer medizinethischen Feder: Je mehr die Therapie einem technologisch-rationalen Planbarkeitsimperativ unterworfen wird, desto mehr entsteht ein Kult der Effizienz, der sich am Ende sogar gegen die Beziehung selbst wendet. Sie wendet sich gegen die Beziehung, weil sie sich dem Diktat der formalistischen Unpersönlichkeit beugt. Die neue Ausrichtung kennt kein ergebnisoffenes Sich-Einlassen als Wert, sondern verlangt Vorhersagbarkeit, Berechenbarkeit, Steuerbarkeit. Die Ökonomisierung etabliert Formalisierung, Prozeduralisierung, Standardisierung und damit nicht zuletzt Entpersonalisierung. Es geht eben nicht um Einfühlenkönnen, nicht um eine empathische Sorgebeziehung, nicht um persönliches Engagement, es geht um das Einhalten unpersönlicher und damit bürokratischer Vorgaben. Unverkennbar ist hier eine Affinität zum mechanistischen Verständnis des Menschen, eine Affinität zum technischen Paradigma. (Maio, 2016, S. 97)

Aus derselben kritischen Perspektive formuliert Maio (2017) eine deutliche Kritik am Medizinischen Modell innerhalb der Medizin: Die moderne Medizin setzt auf Naturwissenschaft, auf Technik, auf Reparatur, als wäre die Krankheit lediglich ein Defekt, den es zu beheben gelte. Innerhalb einer solchen Konzeption von Medizin wird alle Kraft auf das Machen, auf die Anwendung von Verfahren gerichtet und deswegen verkannt, dass dem kranken Menschen oft eher durch das Verstehen und durch die Beziehung geholfen werden kann. (S. 12)

Dabei verlangt die Praxis selbst in ihrer »arrivierten« Form der Richtlinienpsychotherapie ein zugleich ganzheitliches und individualisiertes Krankheitsverständnis in Form des »bio-psycho-sozialen« Modells. Auch eine ganz nüchtern als Kassenleistung verstandene psychotherapeutische Dienstleistung kommt ohne

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geistes- und sozialwissenschaftliches Denken nicht aus: »An der individuellen Genese der seelischen Erkrankung sind Einwirkungen gesellschaftlicher Faktoren beteiligt« (Dieckmann et al., 2017, S. 12).4 Eine akademische Psychotherapie, die diesen Namen auch verdient, müsste anknüpfen an die geistes-, sozial- und naturwissenschaftlichen Wissenschaftstraditionen der Psychologie. Da eine so verstandene, ganzheitliche akademische Psychologie gerade am Aussterben ist, wird sich eine akademische Psychotherapie in diesem Sinne auch nicht »von alleine« ergeben. Sie wird sich auch nicht quasi-spontan aus der akademischen Psychologie »herausevolutionieren« lassen, nur weil das Bundesgesundheitsministerium das anordnet. Sondern diese akademische Psychotherapie wird erstritten werden müssen. Die »Kampflinie« liegt dabei nicht mehr (wie zu Schubenz’ Zeiten) zwischen Medizin und Psychologie. Sie verläuft auch nicht zwischen den verschiedenen Verfahren. Das Medizinische Modell (oder eben das Medizinische Metamodell) ist es, dem wir etwas entgegenzusetzen haben. Das Medizinische Modell ist jedoch in der gegenwärtigen akademischen Psychologie mindestens ebenso stark vertreten wie in der Medizin. Damit hat die akademische Psychologie der Gegenwart ihr aufklärerisches und kritisches Potenzial schon längst verspielt. Konkret auf die Psychotherapie als Behandlungsform heruntergebrochen, lassen sich Felder von Forschung und Theorieentwicklung ausmachen, an denen eine gegenstandsadäquate akademische Psychotherapie zu entwickeln wäre: Psychotherapie als Beziehungsgeschehen versus Psychotherapie als TechnikAnwendung. Psychotherapie als langfristiger Prozess versus Psychotherapie als sparsame Verordnung von Interventionseinheiten. Langzeittherapie versus Kurzzeittherapie. Mit der Einführung der Direktausbildung können wir uns als Institut nicht mehr darauf ausruhen, wichtige theoretische und gesellschaftspolitische Rahmenthemen quasi nebenbei zu vermitteln. Es könnte sein, dass wir dann von der Entwicklung überrollt werden, dass es uns schlicht an Zeit und Raum fehlen wird, solche Themen im Alltagsgeschäft eines Weiterbildungsinstituts unterzubringen. Als Ausbildungsinstitut sind wir hier in einer besonderen Verantwortung, unsere Komfortzone zu verlassen und Einfluss zu nehmen auf die weitere akademische Entwicklung.

4 Der »Faber/Haarstrick-Kommentar« verlangt auch in seiner aktuellen Auflage (2018) vor allem eine Individualisierung der Behandlungskonzepte unter Berücksichtigung sozioökonomischer Faktoren (vgl. Jungclaussen & Hauten, 2019).

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Von Projekten, Methoden, Medien und Mediatoren in den Anfängen der Pädagogisch-Psychologischen Therapie

Was wollten die Studenten damals? Nach dem Mauerbau 1961 kam es in Berlin an der Freien Universität zu einer Verschiebung der Hochschullandschaft nach rechts, war doch etwa ein Drittel der Studenten aus der ehemaligen DDR oder aus Ost-Berlin und nun vom weiteren Studium in West-Berlin abgeschnitten. Mit Eberhard Diepgen (CDU, ab 1984 Berliner Bürgermeister) wurde 1963 erstmals ein Angehöriger einer schlagenden Studentenverbindung zum ASTA-Vorsitzenden gewählt, was allerdings dann doch mit überwältigender Mehrheit der Studenten gleich wieder zu seiner schnellen Abwahl führte. Die spezielle Situation der Stadt (Frontstadt, Wehrdienstverbot und damit Zufluchtsort vieler Wehrdienstverweigerer aus der BRD, Gründung des OttoSuhr-Instituts 1959 als bundesweit einziges universitäres Politikinstitut) hatte ohnehin zu Polarisierungen an der FU geführt und Minderheiten, die die antikommunistische Grundhaltung aufzubrechen versuchten, einerseits gestärkt und andererseits in Randpositionen gedrängt. Die folgende Zeit gesellschaftlicher Umbrüche – mit Notstandsgesetz 1968, Vorschaltgesetz 1969, »Notgemeinschaft für eine freie Universität«, neuem Universitätsgesetz 1970 – brachte u. a. Forderungen besonders linker Gruppierungen der Studentenschaft nach einem mehr praktisch ausgerichteten Studium mit sich (Abb. 1). Speziell die von linken Studenten 1967 geplante »Kritische Universität« mit ihren Kursen gegen die bürgerliche Wissenschaft führte zu Aufregungen. So forderte z. B. die »ad-hoc-Gruppe Bio« – im Gebäude gegenüber dem damals noch in der Dahlemer Grunewaldstraße gelegenen Psychologischen Institut (PI) – erstmals den Sexualkundeunterricht an Schulen ein, was dann tatsächlich zu entsprechenden vorbereitenden Lehrveranstaltungen am Fachbereich Biologie führte – samt Schulpraktika an öffentlichen Schulen. Im Zuge dieser gesellschaftlichen Veränderungen entwickelte Klaus Holzkamp etwa ab 1968 seine Kritische Psychologie, mit der er die herkömmliche Psychologie hinterfragte und – was psychotherapeutisch relevant sein dürfte –

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Abb. 1: Demonstration linker Studentengruppen der 1960er Jahre in Berlin

subjektive Probleme aus der Sicht der Betroffenen nicht nur durch Analyse der psychischen und sozialen, sondern auch der politischen Faktoren erhellen wollte (vgl. Holzkamp, 1985, S. 522–532).

Praxisprojekte Am Psychologischen Institut kam es im Laufe der Jahre zu einer Welle von Projektgründungen. Dazu zählten das Schülerladenprojekt, das Heimprojekt, das Legasthenieprojekt, das Schulbuchprojekt, das Kindertagesstättenprojekt, das Kindertherapieprojekt, das CUU-Projekt, das Pferdeprojekt, das Hundeprojekt, das Umzugsprojekt und das Cafeprojekt. Mitunter wurden diese Projekte als »Praxisintegrierende Studieneinheiten« Bestandteil des Studiengangs Psychologie. Wird der Begriff »Projekt« allgemein als vorübergehendes Vorhaben mit definiertem Anfang und Ende begriffen, so führten erstaunlich viele dieser Projekte zu erfolgreichen Ausgründungen und zu neuen Berufsfeldern für Psychologen und Psychotherapeuten. Der im Rahmen des Schülerladenprojekts 1969 – zusammen mit etlichen Assistenten und Studenten – unter formaler Leitung von Holzkamp gegründete »Schülerladen Rote Freiheit« wurde dagegen schon 1970 wieder geschlossen,

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weil er an seinen inneren Schwierigkeiten gescheitert war, und geriet anschließend noch in eine öffentlich geführte politische Hetzkampagne rechter Kritiker : Der antiautoritären Ideologie zufolge durften die Kinder machen, was sie wollten, was die Probleme der Kinder eben gerade nicht löst, sondern nur auf neuer Ebene verlängert. Fraglos verbündete man sich mit dem Widerstand der Kinder gegen Leistungsund Verzichtansprüche aller Art. (Haug, 1973, S. 131)

Dies war eine Schlussfolgerung der Projektbefürworter, während sich die Projektkritiker überwiegend an vermeintlich sittlichen Verfehlungen der dort arbeitenden Studenten erhitzten. Unter den weiteren Lehrenden am Psychologischen Institut der FU war auch Siegfried Schubenz jemand, der sich den Forderungen der Studenten nicht verschloss, sondern vielmehr ihre Ideen bereitwillig aufgriff und sich ihnen sogar aktiv an die Spitze stellte. Schubenz hatte sich in seiner Doktorarbeit (1965) noch mit einem lautsprachlichen Problem beschäftigt; dann aber rückte ein schriftsprachliches Problem von Schülern – herangetragen von der Psychologiestudentin und Lehrerin Rosemarie Buchwald – in den Mittelpunkt seines Interesses: die sogenannte Legasthenie und deren möglichst rationelle Behandlung mit einer zunächst statistisch begründeten Methode (vgl. Schubenz & Buchwald, 1964). Bereits von F. W. Kaeding (1898) und H. Meier (1964) wurden Wortauszählungen in den Dienst der Stenographenausbildung gestellt, nun sollte eine auf Morphemauszählungen basierende Morphemmethode damit eine weitere praktische Anwendung finden (vgl. Schubenz, 1979; Pilz, 1979).1 Bevor es 1970 zu einer Ausgründung kam (dem späteren Legasthenie-Zentrum e. V.), wurden die an diesem Projekt Interessierten in entsprechenden Lehrveranstaltungen und weiteren Projekten, also Praxisintegrierenden Studieneinheiten, auf die Anforderungen der Praxis gründlicher vorbereitet, als es offenbar vordem geschehen war (etwa im Schülerladenprojekt). Die Herausforderungen der Praxis brachten aber schon nach wenigen Jahren die Frage nach einem gänzlich neuen Ansatz mit sich: weg von einer Art angewandter pädagogischer Psychologie und hin zu einer sich herauskristallisierenden »Pädagogisch-Psychologischen Therapie« (PPT). Denn der Ansatz, das Lesen und Schreiben nur mit engagierteren Studenten, anderem Material oder neuen Ansätzen zu vermitteln, hatte leider nicht bei allen »Schulversagern« Erfolg: Zu verhärtet war bei manchen Drittklässlern die Vorstellung »Ich kann das nicht.« oder gar »Ich bin ja sowieso dumm.«

1 Eine Morphemauszählung anhand des ZEIT-Korpus erfolgte später durch MühlmeyerMentzel (2003).

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Methoden und Medien Ein damaliger methodischer Ansatz innerhalb der ansonsten anfangs noch sehr heterogenen Vorgehensweisen der fortgeschrittenen Studenten, die mit der Wahl dieses Projekts bereits nach dem Vordiplom diesen Ausbildungsgang der PPT in der Praxis – weitgehend unberührt vom weiten Feld der psychotherapeutischen Wirkfaktoren (vgl. Grawe, 2005) – beginnen durften, war das sprachliche Aufgreifen von eigenen Erlebnissen der Therapiekinder in »Sachbegegnungsprogrammen« (vgl. Siemens, 1979, S. 18). Diese ergaben dann z. B. den für die Praxis morphematisch aufbereiteten Lese- und Schreibstoff der nächsten Therapiestunden: Feuer Au wei! Was hat sich all/es veränd/er/t und woll/en wir im Neu/en Jahr nich/t noch ein/ mal er/leb/en? Das soll/te jed/er auf ein/en Zett/el schreib/en. Ge/rad/e, als Lukas schreib/ en woll/te, drück/te David ihm ein/en Kau/gummi in sein/e Haar/e. Lutz ver/such/te, das Übel zu be/seit/ig/en. Das tat ganz schön weh, so dass Lukas nicht/s schreib/en konn/te. Viel/leicht kam ihm auch das ganz ge/leg/en. Die And/er/en ver/brann/t/en dann ihr/e auf ein/en Zett/el ge/ schrieb/en/en schlecht/en Eig/en/schaft/en in ein/er Schale – be/geit/et von feier/lich/en Wor/ten seit/en/s Lutz. (Arbeitsmaterial LZ Schöneberg, 1975)

Diese neue Lehrmethode auf Basis des in der Psycholinguistik bekannten Morphems sollte nun auch den rechtschreibschwachen Schülern zum Durchbruch verhelfen, stieß aber gelegentlich auch an ihre Grenzen (Abb. 2).

Abb. 2: Textarbeit im LZ Schöneberg mit Axel G. (1975)

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Als Werkzeug zur besseren Vermittlung boten sich die damals noch relativ neuen Personalcomputer an und eine neue, schülergerechte Software. Letzteres Erfordernis führte auch gleich zur Gründung eines neuen Projekts, nämlich des CUU-Projekts (»Computerunterstützter Unterricht«, später umbenannt in »Der Computer als Medium in der Psychotherapie«2 ; vgl. Koch & Schubenz, 1991). Es entstanden sehr brauchbare und kindgemäße Programmpakete (COKOS I/II) als Kommunikationsspiele auf Morphembasis, die die Lust am Lesen und Schreiben anregen sollten und auch prompt im Legasthenie-Zentrum (Abb. 3) und weiteren »Start-up-Unternehmen« (wie Letterland e. V. und Petz e. V.) für die Arbeit mit Legasthenikern Verwendung fanden (vgl. Gardner, 1991). Der dafür nötige Grundwortschatz wurde in Abstimmung mit damaligen Lehrplänen morphematisch neu zusammengestellt (vgl. Eicke & Kostka, 1983).

Abb. 3: PC-Einsatz in der Gruppentherapie im LZ Schöneberg (1976)

Auch musikalische Ansätze mithilfe eines Musik-PCs (vgl. Grothe, 1987), Gruppenreisen mit Zelten und Gesang (Abb. 4) oder einfach nur Essen (vgl. Tilliet-Nunes, 1989) waren vertreten bzw. Gegenstand von Untersuchungen.

2 Die erstmalige Anwendung des Begriffs »Medium« für ein pädagogisch-therapeutisches Werkzeug dürfte auf die Befruchtung durch das parallellaufende Pferdeprojekt zurückzuführen sein (siehe unten).

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Abb. 4: Gruppenlied als therapeutisches Medium im LZ (1978)

Zuweilen gab es noch Aufregung um eine vermeintlich linke Beeinflussung des LZ, etwa, als in einer anderen Gruppe Das kleine rote Schülerbuch als Lesetext verteilt wurde und argwöhnische Rückfragen der Berliner Senatsverwaltung an das LZ bewirkte. Dagegen war der damalige Bewerber um den Posten des Regierenden Bürgermeisters und spätere Bundespräsident Richard v. Weizsäcker (CDU) bei seinem Wahlkampfmarsch zu Fuß durch die Schöneberger Rheinstraße 1980 noch recht unvoreingenommen gegenüber dem LZ, als er – umgeben von einem Tross Berliner Polit-Szenekenner – just gegenüber dieser als »links« wahrgenommenen Einrichtung mir (damals noch Therapeut im LZ) vertrauensvoll die Hand zur Begrüßung entgegenstreckte, sich nach meinem Hier und Jetzt erkundigte und auch gleich das LZ besichtigen wollte. Als aber aus seinem Tross jemand abriet, erhielt ich lediglich seine Visitenkarte mit der Bitte, um einen gelegentlichen Anruf. Stattdessen brachte ich über die damals noch sehr kritische FDP eine »Kleine Anfrage« in die CDU-dominierte Steglitzer Bezirksverordneten-Versammlung ein bzgl. der extrem langen Bearbeitungszeiten (ca. neun Monate) von Anträgen zur Kostenübernahme von Therapien für Legastheniker. Diese Anfrage wurde in der BVV von einem Sprecher der CDU-Fraktion mit dem Hinweis, man wisse ja,

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um was für eine Einrichtung es sich dabei handele, gleich in ein schlechtes Licht gerückt – bevor der zuständige Stadtrat in seiner Stellungnahme die Anfrage mit leichter Hand als unbegründet darstellen konnte. Mit den Jahren mauserte sich diese Einrichtung aber mit mehreren Filialen in verschiedenen Stadtteilen zu Berlins größtem Arbeitgeber für Psychotherapeuten.

Abb. 5: Meeting im LZ Schöneberg 1980; von links: S. Schubenz, M. Rahn, H. Drummer, M. Otto

Medien und Mediatoren Siegfried Schubenz pflegte schon seit den 1960er Jahren ein Hobby – nämlich Pferde. Er wohnte anfangs in einer Holzhütte auf einem ansonsten leerstehenden Grundstück der Dahlemer Pacelliallee, die nur aus zwei Räumen bestand. Wer ihn besuchen wollte, musste erst an seinem Hengst Nirwan vorbei, um zu seinem einzigen Wohnraum zu gelangen. Später wurde der tierische Mitbewohner auf ein neues Gelände an der Stadtgrenze, dem Krummen Fenn in Düppel, umquartiert. Hier sammelte Schubenz ab 1968 einige andere Pferdebegeisterte – darunter auch schon Henning Siemens – um sich, die teilweise eigene Pferde mitbrachten. Diente dies anfangs dem privaten Vergnügen, wurde 1983 – auch unter einem gewissen Legitimationsdruck – der Verein »Düppeler Feld e. V.« gegründet, der sich mit der Verhaltensbeobachtung von Pferden beschäftigte. Inzwischen hatte ich 1985 eine Stelle als wissenschaftlicher Mitarbeiter bei Schubenz im Psychologischen Institut angenommen und nach gelegentlichen Besuchen auf dem Düppeler Feld vorgeschlagen, aus dem Hobby ein universitäres Kindertherapieprojekt zu machen, und zwar auf dem damaligen, nur noch teilweise von der Veterinärmedizin der FU genutzten Gelände der Domäne Dahlem – zumal für die Nutzung des Geländes in Düppel die Genehmigung auslief. Aus einer früheren Beschäftigung an der FU hatte ich noch gute Ar-

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beitsbeziehungen zur Bauabteilung der FU, was sich für das Vorhaben sehr förderlich auswirkte. So wurde noch im selben Jahr mit nicht unerheblichen Mitteln – ohne Belastung des Instituts-Etats und zum Leidwesen des sich ebenfalls dort gerade etablierenden Vereins »Freunde der Domäne Dahlem e. V.« – ein ca. ein Hektar großes FU-Gelände für den Betrieb des Pferdeprojekts abgetrennt und mit einer Grundausstattung versehen. Ebenso wurden die Kindertherapieräume im PI wiederhergerichtet und für die Begleitforschung, Ausbildung und Supervision in Betrieb genommen – wenn sie nicht gerade anlässlich von Streiks und Besetzungen für andere Zwecke herhalten mussten (Abb. 6).

Abb. 6: Kleine Seitenhiebe von Studentenmüttern an der Wand neben meinem Dienstzimmer anlässlich der Nutzung der Kindertherapieeinrichtung als Streikkindergarten 1988/89 (im Bild: Gordon M.)

Schubenz griff das Projekt sofort begeistert auf und integrierte es in Praxis, Forschung und Lehre (vgl. Brockmann & Gawe, 1990). Und nachdem ich mir Pferde zugelegt hatte, konnte ich unmittelbar mein Augenmerk auf diesen Me-

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diator3 im Rahmen der PPTrichten sowie später erste Lehrveranstaltungen am PI zum diesem Thema abhalten.4

Abb. 7: Vollblutaraberstute Daffa von Nirwan aus Diamara (*1985, Zucht S. Schubenz); daneben Hannoveranerin Kira samt Besitzer

Connie Vits aus dem Pferdeprojekt und Absolventin von Weiterbildungen bei Linda Tellington-Jones aus Santa Fe (USA) lud diese ein, die von ihr entwickelte Körperarbeit am Tier inklusive dem nun schon legendären »Tellington TTouch« und TT.E.A.M. (»T. J. Equine Awareness Method«) im Pferdeprojekt sowie 1992 in einem Gastvortrag im PI am Hund zu demonstrieren (Abb. 8 & 9). Spätestens jetzt waren auch andere Haustiere ins Blickfeld der PPT geraten und fanden Eingang in die Lehre am PI. So diente auch meine Katze Heide, die meist auf meiner Schulter mitwanderte, in einer meiner Lehrveranstaltungen als Studienobjekt und geriet später sogar in die mehrfach im Fernsehen ausgestrahlte Dokumentation »Tierliebe« von Christina Pohl (Spiegel-TV) über enge Beziehungen von Menschen und Haustieren (Abb. 10). 3 Bei der Rezeption amerikanischer Veröffentlichungen auf diesem Gebiet fiel mir auf, dass – im Gegensatz zu dem von uns verwendeten Begriff »Medium« – dort der Begriff »Mediator« benutzt wurde und dieser im Laufe der Zeit auch bedeutend erweitert wurde – inzwischen zu einer intervenierenden Variablen, die ursächlich mit einem Veränderungsmechanismus verbunden ist (vgl. Doss & Atkins 2006, S. 321–336). Nicht zuletzt wegen der inzwischen inflationären Verwendung des Begriffs »Medium« bevorzugte ich fortan den Begriff »Mediator«. 4 »Über die Verwendung von Medien in der Kinderpsychotherapie und deren mögliche therapeutische Einflüsse« im SS 1987; »Einführung in den praktischen Umgang mit Pferden für die Kinderpsychotherapie« mit A. Loba im SS 1989; »Medien in der Psychotherapie« als Beitrag zur Ringvorlesung »Grundlagen der Kinderpsychotherapie III« im SS 1990.

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Abb. 8: Tellington-Jones demonstriert ihren Touch an Kira im Pferdeprojekt.

Abb. 9: Tellington-Jones demonstriert ihre Touches am Dackel von R. Brockmann (halb verdeckt); daneben (von links): H. Renfordt, A. Papke, S. Schubenz.

Auch dem auf der Domäne Dahlem benachbarten Veterinärmedizinischen Institut muss unsere Arbeit wohl nicht verborgen geblieben sein, denn deren Mitarbeiter begannen, das Haustier in neuem Licht zu sehen, und gründeten 1988 einen Verein (»Mensch und Tier e. V.«), der zunächst Hundebesuchspro-

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Abb. 10: Von meiner Schulter aus lockt Katze »Heide« wenige Tage vor dem Fall der Berliner Mauer die Grenzwächter der DDR am Brandenburger Tor durch ein von Westberlinern geschlagenes Loch aus der Reserve.

gramme in Kliniken, Alten- und Kinderheimen initiierte, dann die Arbeit auch auf diverse andere Anwendungen mit verschiedenen Tieren ausdehnte und schnell bundesweite Nachahmung fand. Der Begriff der »tiergestützten Therapie« begann sich zu etablieren – ebenso wie erste Versuche, die Mediatoren näher zu untersuchen. Die Ausweitung des Legasthenietrainings seinerzeit auf eine Legasthenietherapie zog auch Forderungen nach einer Erweiterung der Fähigkeiten des Therapeuten nach sich (vgl. Pilz, 1982; Schnell, 1979): von der bloßen Elternberatung auf ein Elterntraining (vgl. Gorden, 1979); bei dem Einen oder Anderen um eine Familientherapieausbildung; ebenfalls die Forderung nach einer Erweiterung der damals hauptsächlich auf Gruppentherapie (»Zwei-TherapeutenPrinzip«) ausgerichteten PPT um eine Einzeltherapieausbildung. In diesem Bestreben entstand auch einer der ersten Berliner DGVT-Arbeitskreise unter meiner Leitung in den Räumen des LZ Schöneberg. Parallel dazu trieb die Arbeitsgruppe um M. Otto die Institutionalisierung der PPT als eigenständige Therapieausbildung außerhalb des Legasthenie-Zentrums und des PI voran. Ebenso fand eine Erweiterung des Nutzungspektrums der Pferde

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im Pferdeprojekt statt, indem neben TT.E.A.M. weitere Elemente der Körperarbeit von Vits (Alexandertechnik, Feldenkrais) Eingang fanden – auch Atemtechnik und Jonglage. Die Anregung zum Einbezug des Jonglierens kam für mich 1999 durch einen Vortrag von E. J. Kiphard auf einem Kongress zur Hyperaktivität samt abschließender Darbietung durch Kinder des JUXIRKUS aus Berlin-Schöneberg zustande (vgl. Kiphard, 2000). Eine weitere Rolle spielten dabei vielleicht auch meine Erinnerungen an die Zeit, in der ich als Kind in der Grunewald-Villa der für ihre Pferdedressuren bekannten Zirkusdirektorin Paula Busch wohnte, und an ihre Weihnachtsgeschenke: ihr erstes Buch Hereinspaziert. Zirkus-Geschichten (1951) sowie eine bunt bemalte Zirkusklarinette. Jedenfalls engagierte ich zunächst den Jongleur Martin Dion aus Kanada, der etwa ein Jahr lang das Jonglieren in meine Gruppentherapien einbrachte und bei dem ich einiges abgucken konnte. Wir jonglierten in der Kinder-Therapieeinheit des PI (Abb. 11 & 12) und im Pferdeprojekt (Abb. 13). Der größte Einzelerfolg aus dieser Zeit war ein Jugendlicher, der durch Begeisterung, Ausdauer und harte Arbeit seine Konzentrationsproblematik und Hypermotorik restlos überwinden konnte, es inzwischen bis zum Diabolo-Duo-Weltmeister gebracht hat und im In- und Ausland, in Theatern, bei Zirkustfestivals sowie im Fernsehen für seine Auftritte bekannt ist (vgl. Franckenstein, 2011).

Abb. 11: Diabolohochwürfe in einer Gruppentherapie am PI

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Abb. 12: Jongleur Martin Dion mit Psychologiestudentin Viola L. in einer Gruppentherapie am PI (2001)

Abb. 13: Lutz macht mal wieder was auf Kira vor (Pferdeprojekt 2001)

Abb. 14: Circo de los Muchachos in Berlin (1983)

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Wenn ich Schubenz damals auch noch ein Zirkusprojekt vorgeschlagen hätte, wäre er bestimmt auch davon begeistert gewesen. Dieses wäre dann bestimmt nicht an seinen inneren Schwierigkeiten zugrunde gegangen – wie der Schülerladen oder der »Circo de los Muchachos« aus Bemposta (Spanien), der zweimal in Berlin zu Gast war und den ich noch beizeiten mit einer meiner Jugendgruppen bei seinen Aufführungen filmen konnte (Abb. 14). Wie könnte es auch anders sein, als dass Schubenz nicht auch den Begriff des Mediums bald näher psychologisch untersucht hätte. Gegenstand seiner Betrachtung war allerdings ausschließlich das Medium Pferd, das er – in Erweiterung des Konzepts der Übergangsobjekte von Winnicott (Winnicott, 1973; 1976; 1978) – als Möglichkeit ansah, Übergangsobjekte in diesem Sinn zu schaffen (vgl. Schubenz, 1992). Darüber hinaus zog H. Siemens (1992) auch andere Medien in Betracht: »Alle Personen, Gegenstände und Verkehrsformen, die der Therapeut zwischen sich und seinen Klienten schaltet, um dem Therapieziel näher zu kommen, sind therapeutische Medien« (S. 104). Was das Pferdeprojekt betrifft, war ein auffälliger Rückzug der männlichen Psychologen zu beobachten und eine Tendenz der restlichen Mitglieder, dieses oder jenes Pferd für sich in Beschlag zu nehmen. Konnte noch der Wunsch zweier Praktikantinnen abgewehrt werden, ein gemeinsames eigenes Pferd – ausschließlich für sich allein – in das Projekt einzubringen, war der Auszug einer Tiermedizin-Studentin aus dem Projekt, die offenbar den Einsatz ihrer Pferde in der Kindertherapie nicht ertragen konnte, nicht zu verhindern. So ergab es sich, dass ich für ein Jahr lang mit meinen drei Pferden fast allein das Projekt für die kooperierenden Therapieeinrichtungen mitsamt der praktischen Pferdearbeit aufrechterhalten musste. Schließlich gab ich auch dem Wunsch des Fördervereins nach, meine drei Pferde (Daffa, Kira und Kalila) durch Verkauf an den Förderverein zu vergesellschaften. Als ich wegen Überlastung für ein Jahr aussetzen musste, spalteten sich zwei weitere Mitglieder zusammen mit einigen Pferden vom Verein ab. Nach dem Abschied von Schubenz war das Pferdeprojekt mit seinem Nutzungskonzept für Therapie, Lehre und Forschung nur noch einige Jahre unter dem Schirm der FU auf der Domäne Dahlem zu halten, musste schließlich 2008 das Gelände verlassen und ist jetzt auf dem »Kinderbauernhof llse Reichel« in Großziethen untergekommen.

Literatur Brockmann, R. & Gawe, L. (1990). Der Einsatz von Pferden in der Pädagogisch-Psychologischen Therapie mit Kindern und Jugendlichen. Arbeitskonzept. Berlin: Freie Universität Berlin.

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Siegfried Schubenz und das Legasthenie-Zentrum Berlin

Das 1970 gegründete Legasthenie-Zentrum (LZ) war das erste der von Siegfried Schubenz initiierten Therapie-Projekte. Später waren weitere dazu gekommen. Und fast alle sind bis heute erfolgreich. Andere schrieben Bücher, so auch Siegfried. Aber vor allem implementierte er Projekte und hinterließ damit ein nachhaltiges Lebenswerk: Mit seinen anwendungsbezogenen Wissenschaftsprojekten prägt er die psychosoziale Versorgung Berlins bis heute. Nachdem sich Schubenz in den 1980er Jahren aus dem Projekt verabschiedet hatte, kehrte er kurz nach der Jahrtausendwende ins LZ zurück: Das Team in der Barbarossastraße brauchte einen Supervisor. Siegfried hatte Lust und Zeit. Wir alle fanden es damals aufregend, mit einem der Gründer des Legasthenie-Zentrums zusammenzuarbeiten. Selbstverständlich war es aber auch ein Risiko. Denn die Zeiten hatten sich geändert und das LZ mit ihnen. Würde Schubenz seine Ideen und Werte im Legasthenie-Zentrum noch wiedererkennen? Wie würde er die Entwicklung und unsere Arbeit bewerten? Die Mitte der 1970er Jahre einsetzende fundamentale Kritik am LegasthenieKonstrukt hatte inzwischen zu einer intensiven Erforschung der Lernprozesse geführt, und die enorm gewachsenen Möglichkeiten der Neurowissenschaften hatten die Sichtweisen auf Schulleistungsstörungen erweitert. Zwar ließen sich im Gehirn keine biologischen Strukturen finden, die speziell dem Lesen, Schreiben oder Rechnen dienen, doch die Lernprozesse, die uns diese Kulturtechniken ermöglichen, ließen sich immer besser verstehen. Um lesen, schreiben oder rechnen zu können, muss jedes Gehirn lernen, Regionen zu verknüpfen, die ursprünglich für andere Aufgaben – wie das Erkennen von Objekten oder das Abrufen ihrer Bezeichnungen – angelegt worden waren. Die jetzt neurobiologisch nachweisbaren Ursachen von Lernstörungen und die Sichtbarmachung von Gehirnstrukturen und Lernprozessen hatten zu einer größeren wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Akzeptanz dieser Störungen geführt. Die Existenz von Lernstörungen wurde nicht mehr in Frage gestellt. Zur LeseRechtschreibstörung waren die Rechen- und die Aufmerksamkeitsstörung hinzugekommen.

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Während man in den Gründungsjahren des Legasthenie-Zentrums davon ausging, dass Lernstörungen vor allem durch soziale und psychische Fehlentwicklungen verursacht würden, gewannen ab den 1990er Jahren kognitive Erklärungen an Bedeutung. Bei einer Lese-Rechtschreib- oder Rechenstörung ist häufig die kognitive Informationsverarbeitung durch genetisch bedingte oder frühkindlich erworbene Defizite beeinträchtigt. Auditive Teilleistungsstörungen (begleitet von Entwicklungsstörungen der Sprache) galten lange als häufigste Ursache einer Legasthenie. Inzwischen werden aber auch Gedächtnis- und Aufmerksamkeitsstörungen als ebenso relevant angesehen. Andere von einer Lese-Rechtschreibstörung betroffene Kinder wiederum leiden unter Beeinträchtigungen der visuellen Wahrnehmung oder der Motorik – und viele Legasthenikerinnen unter einer Kombination dieser Störungen. Auf der Grundlage dieser Erkenntnisse entstand eine neue Hilfeform, die »Integrative Lerntherapie«. Sie integriert Kenntnisse der Pädagogik, der Psychologie, der Linguistik und der Deutschdidaktik. Ende der 1990er Jahre wurden vom Berliner Senat (unter Beteiligung des Legasthenie-Zentrums) Rahmenleistungsvereinbarungen für die Lerntherapie erarbeitet, die unter bestimmten Voraussetzungen auch die Übernahme der Kosten für eine Integrative Lerntherapie im Rahmen des Kinder- und Jugendhilfegesetzes ermöglichen. Mit den Lerntherapeutinnen kam um die Jahrtausendwende eine neue Berufsgruppe ins Legasthenie-Zentrum. Waren hier bisher ausschließlich psychologische Psychotherapeutinnen tätig gewesen, kamen nun Pädagoginnen in die Teams. Das war zwar nicht unumstritten, aber ein pädagogisch-therapeutischer Ansatz war im Legasthenie-Zentrum ja keineswegs neu. Die von Schubenz bereits Mitte der 1960er Jahre entwickelte und psycholinguistisch begründete Morphemmethode war schließlich das erste therapeutische Werkzeug im Legasthenie-Zentrum gewesen. Legasthenie wurde damals vor allem als anlagebedingte Speicherschwäche verstanden. Man ging davon aus, dass Legasthenikerinnen nicht dazu in der Lage seien, das Symbolsystem der Schriftsprache mit seinen Gesetzmäßigkeiten adäquat abzuspeichern. Schubenz suchte daher nach einem ökonomischen Weg des Schriftspracherwerbs. Mit den kleinsten Sinnbausteinen der Sprache, den Morphemen, glaubte er, ein zentrales Speicher- und Vermittlungselement des Schriftspracherwerbs gefunden zu haben. Schließlich reicht die Kenntnis von 1 000 Morphemen aus, um 40 000 Wörter zu bilden. Von diesem Wissen ausgehend stellte die Morphemmethode einen pädagogisch-therapeutischen Ansatz mit dem Ziel dar, die Lernleistungen der betroffenen Schüler durch ein Training der häufigsten Wortbausteine zu verbessern. Bis heute wird die von Schubenz früh erkannte Bedeutung der Morpheme für das Erlernen des Lesens und Schreibens bestätigt. In der Pyramide des Schriftspracherwerbs ist sie aber nach hinten gerutscht. Das ursprünglich von

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Uta Frith (1985, S. 301–30) vorgestellte Stufenmodell beschreibt drei Phasen. Bevor Kinder morphematische Strategien sinnvoll anwenden können, müssen sie vor allem die »alphabetische Strategie« beherrschen. Diese umfasst die Fähigkeit, die bewusste Aufmerksamkeit auf die Lautstruktur der Sprache zu richten und sprachliche Einheiten (wie Laute, Silben oder Reime) zu erkennen und in Grapheme umzusetzen. Für eine entwickelte Rechtschreibfähigkeit bedarf es dann neben dieser alphabetischen Rechtschreibstrategie aber auch der orthografischen Rechtschreibstrategie für die regelgerechte Schreibweise und der morphematischen Rechtschreibstrategie zur Erschließung des Wortstammes und der Zerlegung komplexer Wörter in Wortteile. In der therapeutischen Praxis zeigte sich jedoch bald, dass die Kinder nicht besonders motiviert waren, ein nach linguistischen Prinzipien entwickeltes Schriftsprachtraining durchzuführen. Sitzungen endeten häufig in Lustlosigkeit, Chaos und zerstörerischen Wutausbrüchen. Aufgrund dieser Erfahrungen entstand im LZ zunächst die Vision einer therapeutischen Pädagogik. Ihr Ziel sollte die Aufhebung der individuellen Lernblockierung auf der Grundlage zufriedenstellender personaler Beziehungen des Kindes sein. Dazu sollte von den Therapeutinnen ein pädagogisches Milieu geschaffen werden, in dem sich die Kinder aufgehoben und geborgen fühlen (vgl. Pilz, 1982, S. 152). Die therapeutische Arbeit im LZ beschränkte sich damit nicht mehr auf die reine Vermittlung von Schriftsprachkompetenz. Die Therapeutinnen lernten zu verstehen, dass auffälliges Verhalten ein Hinweis auf weit umfangreichere und gravierendere Entwicklungsprobleme als Rückstände beim Schriftspracherwerb sein konnte. Heute belegen zahlreiche Studien den engen Zusammenhang von Lernstörungen und psychischen Störungen (vgl. etwa Schulte-Körne, 2016). Ende der 1970er Jahre war dies aber erst einmal eine Erfahrung. Eine Erfahrung, die nach neuen Wegen suchen ließ. In dem 1979 von Dieter Pilz und Siegfried Schubenz herausgegebenen Buch Schulversagen und Kindertherapie – Die Überwindung von sozialer Ausgrenzung wird betont, dass das Lernen selber gelernt werden müsse. Bei schweren Fällen von Legasthenie kommt der sinnvolle, dem Lerninhalt angemessene Lernprozess oft teilweise oder sogar ganz zum Stillstand. Stattdessen bilden viele Kinder Vermeidungsverhaltensweisen aus. Die Modifizierung von Lernverhalten wird dann zur psychotherapeutischen Aufgabe. Die psychotherapeutische Behandlungsstrategie muss dabei sowohl dem Lerngegenstand als auch den Lernmöglichkeiten des Kindes gerecht werden. Für das LZ heißt das bis heute: Unsere Methode orientiert sich einerseits an den dem Lesen, dem Schreiben und dem Rechnen innewohnenden, wissenschaftlich erforschten Gesetzmäßigkeiten und andererseits an den Erkenntnissen der Psychologie und Psychotherapie über die Persönlichkeitsentwicklung.

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Auch wenn für die Behandlung von Kindern mit Lernstörungen in dem Buch bereits formuliert wird, was aktuell gerade wieder als neue Erkenntnis referiert wird – nämlich ein integrativer therapeutischer Ansatz (vgl. Schulte-Körne, 2016; Zeug, 2018) –, galt Siegfrieds Interesse nicht mehr so sehr der Pädagogik. Die im Legasthenie-Zentrum tätigen Therapeutinnen hatten früh die Erfahrung gemacht, dass sich Lernvorgänge nicht allein auf kognitive Prozesse reduzieren lassen. Vielmehr hatte die praktische Erfahrung gelehrt, dass eine pädagogischpsychologische Therapeutin Bezug nehmen muss auf das ganze psychische und soziale Problemfeld ihrer Klientin. Lernen setzt voraus, dass ein Kind in verlässlichen Beziehungen und sicheren Bindungen aufwächst. Nur dann kann es sich offen seiner Umwelt zuwenden, Erfahrungen darin machen und im Austausch mit seinen engen Bezugspersonen Bestätigung, Sicherheit und Vertrauen erleben. Urvertrauen, Selbstkontrolle und die Motivation zum Lernen schaffen die Voraussetzung für die intellektuelle Entwicklung eines Kindes und werden in den ersten Jahren gelernt. Wird diese Entwicklung gestört, etwa durch unzureichende Bindungserfahrungen oder Störungen der kognitiven Informationsverarbeitung, scheitern die Kinder an altersspezifischen Entwicklungsaufgaben. Je früher diese Störungen beginnen, desto gravierender sind die Folgen für die weitere kognitive und emotionale Entwicklung. In der Schule machen Kinder mit Lernbeeinträchtigungen täglich die Erfahrung des Scheiterns. Ihr Selbstbewusstsein leidet. Sie können nicht verstehen, warum ihnen nicht gelingen will, was anderen Kindern der Klasse scheinbar mühelos gelingt. Zudem machen sie die Erfahrung, ihre Misserfolge auch durch Willen und Anstrengung nicht in Erfolge verwandeln zu können – und sie können dieser Situation nicht entfliehen. Eine Situation, der nicht zu entkommen und die nicht zu verändern ist, führt zu psychischen Störungen.1 Angesichts dieser Komplexität des Störungsbildes sah Siegfried vor allem in der Kinderpsychotherapie die Möglichkeit, Kindern mit Entwicklungsstörungen zu helfen. Bezogen auf die Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit wurde psychologische Therapie für ihn jedoch zu einem pädagogischen Vorgang, was in dem von ihm geprägten Begriff der »pädagogisch-psychologischen Therapie« seinen Ausdruck fand. Dreh- und Angelpunkt seines therapeutischen Handelns und Denkens war die zwischenmenschliche Beziehung: Psychothe1 So ist das Risiko für Aufmerksamkeitsstörungen bei Kindern mit Lese-Rechtschreibstörungen um ein Vierfaches erhöht (vgl. AWMF, 2017). Bei zwei Drittel der Kinder mit LRS treten Verhaltens- und emotionale Störungen auf. Hierzu gehören insbesondere internalisierende Störungen wie Angststörungen, depressive Störungen oder psychosomatische Symptome, aber auch externalisierende Störungen wie Störungen des Sozialverhaltens (vgl. Bäcker & Neuhäuser, 2003, S. 329–337). Ein Drittel dieser Kinder leidet auch im Erwachsenenalter noch unter psychischen Störungen und einer deutlich erhöhten Suizidgefährdung (vgl. Esser et al., 2002, S. 235–242.).

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rapie war für Schubenz in erster Linie ein Bindungsangebot, das von Therapeutinnen verlangte, sich ihren Klientinnen gegenüber so zu verhalten wie eine primäre Mutter, die ihrem eigenen Kind die Nähe nicht verweigert, die in der menschlichen Gesellschaft in der primären Bindungssituation erreicht werden kann. Siegfrieds Ansatz, den er 1993 in seinem Buch Psychologische Therapie bei Entwicklungsbehinderung ausführlich entwickelte, lässt sich wohl am ehesten der tiefenpsychologischen Bindungstheorie zuordnen. Sein psychotherapeutisches Denken war aber vor allem methodenoffen. Diese Offenheit machte auch die Supervision mit ihm so anregend. Sein therapeutisches Denken ging immer von den Schwierigkeiten des jeweiligen Kindes aus. Lernstörungen führen oft zu einer Beeinträchtigung mehrerer Lebensbereiche. Zumeist leiden die Kinder im LZ nicht allein unter Lese-, Rechtschreib- oder Rechenstörungen, sondern auch unter psychischen Störungen. Häufig haben bereits frühe Beziehungserfahrungen unbewusste Ängste erzeugt, die dann zu tiefgreifenden Störungen der aktuellen Beziehungen in Familie, Schule oder Peergroup führen. Die Ziele einer Psychotherapie umfassen daher in der Regel die Reduktion psychischer Auffälligkeiten – was die Bearbeitung emotionaler, oft unbewusster Konflikte ebenso einschließt wie den Abbau von Verhaltensstörungen –, ein Kompetenztraining, das dem Kind das Erlernen des Lesens, Schreibens und Rechnens ermöglichen soll, und das Bemühen um eine Anpassung des Kontextes (v. a. Familie und Schule) an die spezifischen Bedürfnisse des lerngestörten Kindes. Gerade bei emotional verunsicherten Kindern gelingt Lernen nur in vertrauten Bindungsbeziehungen. In der Psychotherapie wird dem Kind daher Gelegenheit gegeben, seine Gefühle und Bedürfnisse zum Ausdruck zu bringen, um so ein besseres Verständnis der seelischen Konflikte zu gewinnen und Entwicklungsmöglichkeiten aufzuzeigen.2

2 Ungünstige sozioökonomische Verhältnisse führen zwar nicht unmittelbar zu Lese-Rechtschreib- oder Rechenstörungen, doch Kinder aus schwächeren sozialen Schichten weisen nach wie vor ein erhöhtes Risiko für Lernstörungen auf. Gründe hierfür sind das oft geringere Ausmaß der emotionalen Betreuung und der kognitiven Anregung, die zu einer geringeren Lernmotivation führen können, die Art und Weise der sprachlichen Kommunikation der Eltern untereinander und mit den Kindern sowie das Ausmaß des Umgangs mit Schriftmedien in der Familie (vgl. Niklas, 2014, S. 34–91). Gleichzeitig sind die Abschlusserwartungen an Heranwachsende gestiegen. So wünschen sich heute fast 70 % der Eltern das Abitur für ihre Kinder, und fast 40 % eines Jahrgangs erwerben das Abitur. Vor 30 Jahren waren es halb so viele. Die Zugehörigkeit zur Gruppe der leistungsschwächeren Schülerinnen ist somit heute ungleich belastender als noch vor einer Generation. All dies sowie höhere berufliche Qualifikations- und gesellschaftliche Kompetenzanforderungen tragen dazu bei, dass Schülerinnen mit Lernbeeinträchtigungen unter einen hohen psychischen und sozialen Druck geraten (so Prof. Klaus Hurrelman in dem Vortrag »Bildungsperspektiven für Kinder mit Lernschwierigkeiten« auf der 17. Fachtagung des LZ Berlin am 23. 11. 2012).

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Der Versuch der Therapeutin, einer Klientin bei der Überwindung ihres Leistungsdefizits behilflich zu sein, führt bei dieser häufig erst einmal zur dramatischen Bestätigung der Existenz dieses Defizits – und diese Bestätigung verbraucht fast alle aus der therapeutischen Arbeit gewonnenen Hoffnungen und Verbesserungen der Selbsteinschätzung. Wenn die Einsicht in das Bestehen des Problems sich durchgesetzt hat, bricht zunächst einmal eine große Frustration über das Kind herein. Als Ausweg daraus bietet sich für viele Kinder an, auf die mangelnde Kompetenz durch eine Weigerung zur Auseinandersetzung mit Schriftzeichen oder Zahlen zu reagieren: »Ich habe jetzt keine Lust zu lesen« (vgl. Schubenz & Koch, 1993, S. 136). In dieser Situation werden die Interaktion und die Beziehung zur Therapeutin zum Vehikel des Lernens. Es braucht die starke Bindung und das Gefühl des Angenommenseins trotz dieses Makels, um das Kind im Lernprozess zu halten und ihm zu ermöglichen, die Energien freizusetzen, derer es bedarf, den Entwicklungs- und Kompetenzrückstand aufzuholen. Eine gute therapeutische Beziehung ist in der Lage, negative Lernhaltungen abzumildern. Die Wertschätzung persönlicher Lernleistungen in der Psychotherapie motiviert durch bindungsähnliche Neuorientierung. Psychische Sicherheit in Lernbeziehungen kann Beziehungsrisiken entgegenwirken und ist gerade bei Risikogruppen notwendig, damit Informationen in belasteten Situationen angemessen verarbeitet werden können. Die fachliche Herausforderung der psychotherapeutischen Behandlung von Kindern mit psychischen Störungen und Lernstörungen besteht darin, dass das Störungsbild sowohl die Behandlung von emotionalen Problemen und Verhaltensdefiziten als auch die Bearbeitung von Funktionsdefiziten erfordert. Auf der Grundlage einer vertrauensvollen und stabilen therapeutischen Beziehung ist es nun von großer Bedeutung, Lesen, Schreiben und Rechnen in die Therapie einzubringen, um dann im Umgang damit die sich zeigenden Gefühle, Übertragungen, Abwehrtendenzen und Schwierigkeiten mit dem Kind zu bearbeiten. Wichtig ist es hier, dass die Therapeutin nicht als Lehrerin auftritt. Sie lehrt nicht Lesen, Schreiben und Rechnen. Idealerweise lernt sie gemeinsam mit dem Kind, wobei sie sich konkret auf die jeweiligen Schwierigkeiten des Kindes einlassen kann, sodass die gemeinsame Lernerfahrung zur Grundlage für einen neuen Lernprozesses werden kann. Unterstützend hat sich dabei der Einsatz von Computern erwiesen. Während es inzwischen ein unüberschaubares Angebot an Lernsoftware gibt, gehörte das Legasthenie-Zentrum zu den ersten Einrichtungen, die Computer in der Schriftsprachvermittlung einsetzten. Die in dem ebenfalls von Schubenz an der FU Berlin initiierten Projekt »Computerunterstützter Unterricht« (CUU) entwickelten und dann im LZ eingesetzten Programmpakete COKOS I+II dürften zu den ersten Lernprogrammen zur Schriftsprachförderung gehören. Dabei

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wurde der Einsatz der Computer von Beginn an in die therapeutische Konzeption des LZ eingebunden. Was moderne Medien in der Kinderpsychotherapie leisten können, haben Siegfried und Günter Koch 1993 in dem Aufsatz Computer als schriftsprachliches Medium in der pädagogisch-psychologischen Therapie beschrieben. Kinder und Jugendliche, die in eine therapeutische Einrichtung kommen, können in der Regel gerade das nicht eingehen, was sie am dringendsten brauchen: eine vertrauensvolle und enge Beziehung. In den Therapien hatte sich herausgestellt, dass der Computer eine deutliche Entlastung der unmittelbaren sozialen Situation herbeiführen kann. Computer ziehen Aufmerksamkeit auf sich, die sonst die sozialen Partnerinnen in der Situation bekommen. Durch die Bezugnahme auf einen technischen Gegenstand wird der zunächst häufig bestehende Druck der sozialen Situation gemildert, während sich die therapeutische Beziehung allmählich aufbaut. Darüber hinaus wird im Umgang mit dem Computer interaktiv gehandelt und dabei zwangsläufig auch gelernt. Aber das Interaktionsangebot »Computer« reagiert neutral und zwar so neutral, wie es wirkliche Menschen als Spiel- und Handlungspartnerinnen niemals sein können. Gerade diese Neutralität der technischen Beschränkung des Mediums ist es, die auch für den Leistungsbereich emotional entlastend wirken kann. Die Bedeutung der emotionalen Prozesse für das Lernen früh erkannt und diese Erkenntnis – gegen den damaligen Mainstream der Lernforschung – zum Gegenstand einer Therapiekonzeption gemacht zu haben, gehört zu den bleibenden Errungenschaften von Siegfried Schubenz und dem Legasthenie-Zentrum. Auch die früh im LZ gemachte Erfahrung, dass weniger das Scheitern am Schriftsprach- oder Rechenerwerb, sondern die durch das Scheitern drohende Ausgrenzung das größte Problem der hiervon betroffenen Kinder ist, findet gerade wieder allgemeine Anerkennung. Denn nicht nur führen die Lern- und Leistungsstörungen eines Kindes oft zu familiendynamischen Konflikten. Im Bereich der Lern- und Leistungsstörungen spielt in zunehmendem Maße auch die Schule eine Rolle. Hier unterschätzen Lehrerinnen oft das komplexe Wirkgefüge in der Klasse. Äußerungen gegenüber dem Kind werden nicht nur von ihm, sondern von der gesamten Klasse wahrgenommen. Und dies kann dazu führen, dass das Kind allgemein als Versagerin wahrgenommen wird und den anderen Kindern nicht nur als Projektionsfläche ihrer eigenen Versagensängste dient, sondern auch als Ziel entsprechender Aggressionen. Um solchen Ausgrenzungserfahrungen entgegenzuwirken, ist das Legasthenie-Zentrum in den letzten Jahren mit ca. 50 Berliner Schulen Kooperationsvereinbarungen eingegangen, die vor allem präventive Ziele verfolgen. Erkannte Lernstörungen sollen so frühzeitig behandelt werden, dass psychische Störungen möglichst verhindert werden. Auch in der Zusammenarbeit mit Schulen bleibt das LZ sich treu. So

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stellte die Verbesserung der schulischen Lernbedingungen bereits in seiner Gründungsphase ein wichtiges Ziel dar. Lernstörungen sind die vielschichtigsten Störungen des Kindes- und Jugendalters. Komplexe Störungen lassen sich aber nicht mit beschränkten therapeutischen Verfahren erfolgreich behandeln. Hierfür wird das gesamte verfügbare therapeutische Wissen benötigt. Bis heute arbeiten deshalb in den Teams der Berliner Legasthenie-Zentren Therapeutinnen vieler Therapieschulen – meist sehr konstruktiv – zusammen. Mag das Projekt einer allgemeinen Psychotherapie auch erst einmal gescheitert sein: Das LZ beweist seit fast 50 Jahren, dass Zusammenarbeit über Therapieschulen hinaus gelingen kann. Alle dürfen sich ausprobieren – diese von Siegfried ausgehende Haltung prägt unsere Arbeit bis heute. Wenn niemand gewinnen will, wird Abgrenzung überflüssig; Schulkriege finden dann kaum statt. Wir bemühen uns, voneinander zu lernen und den eigenen, irgendwie immer begrenzten Horizont stetig zu erweitern. Wo am Anfang die Morphemmethode stand, steht bis heute die Therapeutin. Die Therapeutinnen des LZ sind (im Rahmen der rechtlichen Vorgaben, versteht sich) frei in ihrer therapeutischen Arbeit. Dieser hohe Grad an Selbstbestimmung ist für viele Therapeutinnen der entscheidende Grund, im LZ zu arbeiten – und darüber hinaus eine Bedingung für erfolgreiche Therapien. In einer Atmosphäre von wertschätzender Offenheit wird unseren Therapeutinnen zugetraut, im Interesse der Kinder, Jugendlichen und Familien therapeutisch wirksam zu werden. Supervision, Intervision, Teamsitzungen oder Tür-und-AngelGespräche bilden eine unterstützende Arbeitsstruktur, die niemandem ein bestimmtes Konzept aufzwingt. Das notwendige lern- und psychotherapeutische Wissen kann sich im LZ-Fortbildungsinstitut oder der jährlich stattfindenden Fachtagung angeeignet und vertieft werden. Methodenvielfalt im Legasthenie-Zentrum ist aber auch nur deshalb möglich, weil die Therapien im Rahmen der Jugend- bzw. Eingliederungshilfe stattfinden. Primäres Ziel einer Psychotherapie ist hier die Sicherstellung der Entwicklung des jungen Menschen zu einer altersgemäß entwickelten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. Das LZ hat den Anspruch von Klientinnen auf Finanzierung ihrer psychologischen Therapie zunächst nach dem Bundessozialhilfegesetz, später dann nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz durchgesetzt und dadurch erst das Fundament für den Aufbau eines schichtenunspezifischen, allgemeinen und aktiven Netzwerks geschaffen. Siegfried war der festen Überzeugung, dass höhergradig wirksame psychosoziale Versorgung nicht in der privaten Niederlassung einzelner Kolleginnen möglich sei, sondern nur in großen Einrichtungen wie dem Legasthenie-Zentrum. Durch eine praxisnahe Verwaltung, die interdisziplinäre Zusammenarbeit

Siegfried Schubenz und das Legasthenie-Zentrum Berlin

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von Vertreterinnen verschiedener Berufsgruppen, die Ansammlung aller relevanten Therapierichtungen, die hier im Sinne einer Integration von gegenwärtiger Interventionskompetenz wirken, und nicht zuletzt durch das weit gefächerte Angebot an Medien in der Psychotherapie, das nur ein großer Träger bereithalten kann, werden die Mittel erst ausgeschöpft, die für die psychotherapeutische Hilfeleistung notwendig sind. Nicht nur, um weiteres Wachstum zu ermöglichen, sondern auch, um die Autonomie der Beteiligten zu wahren, wurde im LZ Ende der 1990er Jahre die Organisationsform der Regionalvereine gewählt, die sich inzwischen wiederum fast alle in eine gGmbH umgewandelt haben. Diese auch rechtlich selbstständigen Gesellschaften gliedern sich wiederum in überschaubare, weitgehend selbstorganisierte Standortteams auf. Dadurch werden Hierarchien weiterhin flach und die Selbstbestimmung hochgehalten. Siegfried war ein politisch denkender Mensch. Im Grußwort zum 25. Jubiläum des Legasthenie-Zentrums brachte er seine Zufriedenheit darüber zum Ausdruck, dass mit dem LZ in Berlin ein psychosoziales Versorgungssystem entstanden war, für das es bis heute nichts Vergleichbares in anderen Bundesländern gibt. Sein Wunsch war es, dass sich das Zentrum vor dem Hintergrund seiner Geschichte weiterhin entschieden und nachdrücklich für die Interessen der von Entwicklungsbehinderungen bedrohten Kinder und Jugendlichen sowie ihrer Familien einsetzen würde. Denn die gesundheitspolitischen und materiellen Bedingungen um die Jahrtausendwende sah er als schwierig an, und die in Berlin entstandenen Notlagen schienen ihm seit der Gründung des LZ nicht weniger, sondern erschreckend mehr geworden zu sein. Er sollte Recht behalten. So nimmt die Öffentlichkeit mit schockierender Gelassenheit hin, dass in der vierten Jahrgangsstufe in Berlin 20 % der Kinder die Mindeststandards im Lesen und 33,6 % die Mindeststandards in der Rechtschreibung nicht erreichen (vgl. Stanat et al., 2017, S. 131; S. 133). Die Supervision mit Siegfried Schubenz im LZ endete auf seinen Wunsch hin kurz vor seinem 70. Geburtstag. Er fand, es sei Zeit, sich etwas zurückzuziehen. Das war zu respektieren. Wir hatten den Eindruck, er war ganz zufrieden mit uns.

Literatur Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften AWMF (2015). Leitlinie Diagnostik und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Leseund/oder Rechtschreibstörung, Evidenz- und konsensbasierte Leitlinie (S3). https:// www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/028-044.html (zuletzt aufgerufen am 26. 01. 2020).

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Bäcker, A. & Neuhäuser, G. (2003). Internalisierende und externalisierende Syndrome bei Lese- und Rechtschreibstörungen. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 52 (5), S. 329–337. Esser, G., Wyschkon, A. & Schmidt, M. H. (2002). Was wird aus Achtjährigen mit einer Lese- und Rechtschreibstörung? Zeitschrift für Klinische Psychologie und Psychotherapie, 31, S. 235–242. Frith, U. (1985). Beneath the Surface of Developmental Dyslexia. In K. E. Patterson & M. Colthart (Hrsg.). Surface Dyslexia: Neuropsychological an Cognitive Studies of Phonological Reading (S. 301–330). London: Erlbaum. Hurrelman, K. (2012). Bildungsperspektiven für Kinder mit Lernschwierigkeiten. Vortrag auf der 17. Fachtagung des LZ Berlin am 23. 11. 2012. Unveröffentlichtes Manuskript. Niklas, F. (2014). Mit Würfelspiel und Vorlesebuch. Welchen Einfluss hat die familiäre Lernumwelt auf die kindliche Entwicklung? Berlin/Heidelberg: Springer Spektrum. Pilz, D. & Schubenz, S. (Hrsg.) (1979). Schulversagen und Kindertherapie. Die Überwindung von sozialer Ausgrenzung. Köln: Pahl-Rugenstein. Pilz, D. (1982). Für eine therapeutische Pädagogik. Theorie und Praxis im Projekt »Kindertherapie und Schulversagen«. Berlin: LZ-Verlag und Buchvertrieb. Schubenz, S. (1993). Psychologische Therapie bei Entwicklungsbehinderung. Gefährdende Lebensbedingungen und Grundlagen für die Bewältigung ihrer Folgen im Klient-Therapeut-Verhältnis. Frankfurt a. M.: Peter Lang. Schubenz, S. & Koch, G. (1993). Computer als schriftsprachliches Medium in der pädagogisch-psychologischen Therapie. In W. Hofmann, J. Müsseler & H. Adolphs (Hrsg.). Computer und Schriftspracherwerb (S. 131–146). Wiesbaden: Springer VS. Schulte-Körne, G. (2016). Mental Health Problems in a School Setting in Children and Adolescents. Deutsches Ärzteblatt International, 113, S. 183–190. Stanat, P., Schipolowski, S., Rjosk, C., Weirich, S. & Haag, N. (2017). IQB Bildungstrend 2016. Kompetenzen in den Fächern Deutsch und Mathematik am Ende der 4. Jahrgangsstufe im zweiten Ländervergleich. Münster : Waxmann. Zeug, K. (2018). Himmel noch mal diese Buchstaben! ZEIT Wissen, 6/2018, S. 64–69. http://bit.ly/2TXzr2c (gekürzte URL, zuletzt aufgerufen am 26. 01. 2020).

Angelika Papke / Sabine Hanneder

Das Pferdeprojekt der FU Berlin – Der Einsatz von Pferden als Medium in der Psychotherapie

Das »Pferdeprojekt« war nicht nur für uns ein prägender Abschnitt in unserer Entwicklung als wissenschaftliche Mitarbeiterinnen und Psychotherapeutinnen, es lag auch Siegfried Schubenz sehr am Herzen. Bei unseren Diskussionen im Pferdeprojekt rund um die Systematisierung der Praxis, deren wissenschaftliche Begründung und empirische Sichtbarmachung haben wir auch immer wieder grundlegende Aspekte der Psychotherapie(-forschung) diskutiert und gefunden, dass sich an diesem Medium grundlegende Aspekte der Psychotherapie exemplarisch abbilden und beforschen lassen. Daher finden wir die Rezeption dieses Teilbereichs von Siegfried Schubenz’ Arbeit auch für Kolleginnen und Kollegen lohnenswert, die nicht vorhaben, Pferde in ihrer Praxis einzusetzen.1

1.

Die Anfänge

Der Einsatz von Pferden in der pädagogisch-psychologischen Therapie (PPT), wie er im Pferdeprojekt der Freien Universität Berlin (FUB) praktiziert wurde, hat seinen Ursprung in einem sehr persönlichen Anliegen von Siegfried Schubenz in den 1960er Jahren, das seinem Interesse an der Verhaltensbiologie geschuldet war. Um herauszufinden, »wie intelligent ein Pferd im Sinne menschlicher Intelligenz werden kann« (Schubenz, 1990, S. 22), bezog er mit dem jungen Araberhengst Nirwan im Jahr 1968 eine Hütte auf einem Grundstück in der Nähe der FUB. Er wollte sein Pferd »mit einem hohen persönlichen Aufwand an Er1 Wir haben einen geschlechtersensiblen Sprachgebrauch immer aktiv vertreten und konsequent durch die doppelte Schreibweise praktiziert; für den Beitrag in diesem Band waren wir jedoch gehalten, uns für eine der generischen Formen zu entscheiden. Wir legen Wert auf die Feststellung, dass Geschlechtermodelle und -rollen im hier beschriebenen Ansatz der familienangenäherten Kinderpsychotherapie nach Schubenz konzeptionell einen wichtigen Stellenwert haben und das Geschlecht der beteiligten Menschen und Pferde psychotherapeutisch eine erhebliche Rolle spielt. Zu unserem Bedauern kann ein einheitlicher Sprachgebrauch dies nicht immer befriedigend abbilden.

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Angelika Papke / Sabine Hanneder

ziehungsleistung« betreuen, »um zu sehen, was sich bei einem Pferd an Verhaltensdifferenzierung ergibt und wie man das psychologisch nutzen kann« (ebd.). Wohnraum und Stall waren nur durch einen Balken bzw. eine Schiebetür voneinander getrennt, Gäste mussten durch den Wohnbereich des Pferdes hindurch, um zu Siegfried Schubenz zu gelangen, und das Pferd hatte gelernt, zum Äppeln nach draußen zu gehen. Im Laufe der 1970er Jahre wurde das »Pferdegrundstück« Treff- und Ausgangspunkt für allmählich immer zielgerichtetere Aktivitäten von Kollegen aus dem Kindertherapieprojekt der FUB, die die lebendige soziale Szene der wachsenden Pferdefamilie und Menschengruppe auf dem Grundstück als therapeutisches Setting nutzten.2 Im Herbst 1985 wurde das Pferdeprojekt als Lehr-, Forschungs- und Praxisprojekt unter Leitung von Prof. Dr. Schubenz an der Freien Universität Berlin eingerichtet und bekam ein Gelände auf der Domäne Dahlem zur Verfügung gestellt.3 In Kooperation mit Kollegen aus verschiedenen Praxiseinrichtungen4 wurden dort systematisch Pferde als Medium in der psychologischen Therapie für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene eingesetzt und in Lehre und Forschung begleitet. Die systematische wissenschaftliche Arbeit begann mit Interviews zur Entstehungsgeschichte des Pferdeprojekts und den konzeptionellen Ideen zum Einsatz von Pferden in der Kinderpsychotherapie. In einer Lehrveranstaltung von Lutz Gawe im WS 1986/87 erarbeiteten wir Interviewleitfäden und führten mehrstündige Interviews mit den Gründungsmitgliedern des Pferdeprojekts. Diese Interviews wurden in ersten Diplomarbeiten ausgewertet (vgl. Lecke, 1990; Aland & Lorenzen, 1990). Unser erster Interviewpartner war Siegfried Schubenz, der uns bei sich zu Hause in Lintzel – wie bei zahlreichen späteren Gelegenheiten – mit sehr herzlicher Gastfreundschaft inmitten seines Privat- und Familienlebens empfing. Er erörterte unterhaltsam, leidenschaftlich und eindringlich seine Gedanken zur 2 Rainer Brockmann war der Erste, der das Pferdegrundstück für seine Kindertherapiegruppen mit Jungen im Alter von acht bis zwölf Jahren nutzte, inspiriert durch die von Slavson angeregte Öffnung des Therapieraums (vgl. Aland & Lorenzen, 1990, S. 220–232). 3 Für die Realisierung dieses Schrittes hatte sich Lutz Gawe maßgeblich eingesetzt, der als Pferdebesitzer, Psychotherapeut und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kindertherapieprojekt großes Interesse am Fortbestand und Ausbau dieses besonderen Therapieangebotes hatte (vgl. Aland & Lorenzen, 1990). 4 Dazu zählten insbesondere das Legastheniezentrum e. V., das »Kindertherapiehaus Reinickendorf«, das »Kindertherapie-Zentrum e. V.«, »Petz e. V.«, das »Kreuzberger Institut« und die »Praxis für Psychologische Psychotherapie ppp«, die sukzessive als Ausgründungen aus dem Kindertherapieprojekt entstanden waren und Kinderpsychotherapie auf der Basis der PPT anboten. Später kamen Kooperationen mit weiteren Kollegen und Einrichtungen (pinel, Neuhland) hinzu.

Das Pferdeprojekt der FU Berlin

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Bedeutung der Araberpferde in der menschlichen Kulturgeschichte, genauer der gesellschaftlich-sozialen und psychologischen Bedeutung der Beziehung des Menschen zu Pferd und Hund als Sozialpartner, und zu dem enormen Potential der Einbeziehung eines solchen Lebewesens als Medium in die psychologische Therapie mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen.

2.

Grundgedanken zum Einsatz von Pferden in der (Kindergruppen-)Psychotherapie

In diesem Interview hat Schubenz (1990) seine konzeptionellen Grundgedanken zum Einsatz von Pferden als Medium in der Kinderpsychotherapie bereits ausführlich umrissen. Seine Thesen, wieso sich Pferde dafür eignen, heilsame Entwicklungsprozesse in der psychologischen Therapie zu unterstützen, lauteten kurzgefasst etwa so: – Besonders wirksam ist Kinderpsychotherapie bei sogenannten frühen psychischen Störungen als familienangenäherte Gruppentherapie mit einem Therapeutenpaar.5 Die Einbeziehung einer gewachsenen Pferdefamilie unterstützt die psychotherapeutische Vermittlung einer sicheren Bindungserfahrung und bietet eine lebendige soziale Szene, die zum Übungsfeld und Modell sozialer Integration wird. – Dem Pferd kommt dabei die Funktion eines »therapeutischen Mediums« zu. Dieser Begriff markiert einen spezifischen Beitrag des Pferdes für die Beziehung zwischen Therapeut und Klient, die dadurch besonders wirksam gestaltet werden kann. – Das Pferd eignet sich dafür, weil es ein ganz besonderes Haustier ist. Das Pferd ist ein vom Menschen über Jahrtausende geformtes »Werkzeugsystem« zur Verrichtung spezifisch menschlicher Arbeit und hatte einen überlebensrelevanten Wert als Kooperations- und Sozialpartner des Menschen. Die gesellschaftliche Wertschätzung des Pferdes ist bis heute für das Individuum intuitiv erlebbar. – Dies wird am deutlichsten vom Araberpferd verkörpert, weil diese historisch sehr alte Rasse einer besonders strengen Zuchtauswahl in Richtung auf individuelle Beziehungs- und Kooperationsfähigkeit mit dem Menschen un-

5 Egal, welche Schreibweise man wählt: Die familienangenäherte Kinderpsychotherapie nach Schubenz sieht hier idealerweise die Zusammenarbeit von einem Mann und einer Frau als Modelle beider Geschlechter vor.

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Angelika Papke / Sabine Hanneder

terworfen war. Daher sind Araberpferde für den Einsatz als Medium in der Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen besonders geeignet.6 – Das Pferd erhält aufgrund seiner besonderen kommunikativen Fähigkeiten in Verbindung mit dem Angebot von Körperkontakt und Getragen-Werden in der Kinderpsychotherapie die Funktion eines Übergangsobjekts im Sinne Winnicotts (1969). So verhilft das Pferd zur Erfahrung »bedingungsfreier Mütterlichkeit« als psychisch absichernde Grundlage zur stufenweisen Aneignung der äußeren Welt, die es kulturhistorisch zudem selbst verkörpert. Diese grundlegenden Thesen zum Einsatz von Pferden in der Psychotherapie werden wir im Folgenden etwas näher erläutern.

2.1

Familienangenäherte Gruppentherapie – erweitert durch eine »Pferdefamilie«

Psychologische Therapie ist nach Schubenz »die wahnsinnig schwierige Angelegenheit der Anbahnung einer Beziehung, die lebensnützlich ist« (Schubenz, 1990, S. 16), indem sie es schafft, Entwicklungszuversicht, Vertrauen und Lernbereitschaft bei zutiefst gekränkten, ungeborgenen und von sozialer Ausgrenzung bedrohten Individuen neu anzustoßen. Psychologische Therapie bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen zielt somit ab auf die Überwindung psychischer Entwicklungsbehinderung und drohender sozialer Ausgrenzung.7 Diese entstehen aufgrund der Entbehrung einer hinreichend sicheren ersten Bindung, d. h. einer durch den Mangel an »primärer Mütterlichkeit« existenziellen psychischen Verunsicherung vom Lebensanfang an. Damit hatte Schubenz jene Klienten im Blick, die in gravierender Weise, d. h. nicht nur neurotisch, sondern infolge einer sogenannten »frühen psychischen Störung« an

6 Bei unserem Einstieg ins Pferdeprojekt waren wir beide aufgrund unserer Vorerfahrungen mit Pferden gleichermaßen irritiert, dass ausgerechnet Araberpferde als Therapiepferde geeignet sein sollten. Die Rezeption von Schubenz’ Thesen zur jahrhundertealten Tradition der Beziehung zwischen Beduinen und ihren Pferden und die Erfahrung mit diesen sensiblen und – durch die Offenstallhaltung in einem festen Herdenverband im Gegensatz zu den uns aus Boxenhaltung bekannten, nervösen arabischen Pferden – erstaunlich gelassenen Tieren überzeugte uns jedoch alsbald von deren besonderer Eignung für den Einsatz in psychotherapeutischen Prozessen. 7 Dies entspricht im heutigen Verständnis der ICF (International Classification of Functioning, Disability and Health) der Nicht-Verfügung über normale gesellschaftliche und soziale Entwicklungsmöglichkeiten, d. h. der Behinderung bei der Aneignung gesellschaftlich durchschnittlicher Verfügungsmöglichkeiten. Entsprechend fasste Schubenz die Legasthenie als mangelnde Verfügung über eine zentrale Teilhabevoraussetzung, nämlich die (Schrift-)Sprache.

Das Pferdeprojekt der FU Berlin

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der Aneignung durchschnittlicher gesellschaftlicher Entwicklungs- und Teilhabemöglichkeiten gehindert sind. Eine psychologische Therapie, die die Überwindung einer so gravierenden Teilhabebeeinträchtigung erreichen soll, muss im Verständnis von Schubenz die Bedingungen für eine neue, sichere Bindungs- und Integrationserfahrung im familienangenäherten Einzel- und Gruppensetting nachbilden: Mit der neuen Erfahrung einer sicheren Bindung an eine Bezugsperson, die über alle destruktiven Auswirkungen der frühen Störungen hinweg unbedingte Wertschätzung und Unterstützung gewährt (»bedingungsfreie Mütterlichkeit«), kann sich der Klient allmählich sicher in die Gruppe integrieren und von dort aus neue Lebens- und Lernenergien entwickeln.8 Das entwicklungspsychologische Modell ist die Erfahrung einer »hinreichend guten Mutter« (vgl. Winnicott, 1969), deren punktuelle Abwesenheit vom Kind mithilfe seiner wachsenden Symbolbildungsfähigkeit kompensiert wird, sodass es zu einem zunehmend sicheren Ausgriff auf die Aneignung der sachlichen und sozialen Lebenswelt in der Lage ist. Die Pferdeherde stellt nach Schubenz »ein brauchbares Modell für Grundformen auch menschlichen Zusammenlebens dar« (Gawe, 1993, S. 53), insbesondere wenn durch in der Herde geborene und aufwachsende Pferde Entwicklungsverläufe und differenzierte Beziehungen zu beobachten sind (vgl. ebd.). Siemens (1993b) beschreibt, dass den Pferden im Verlauf längerfristiger Prozesse der Persönlichkeitsentwicklung seiner Klienten unterschiedliche Rollen zugeschrieben wurden. Aus einer mütterlichen Figur, die das Kind trägt, »werden ältere, gleichaltrige, schließlich jüngere Geschwister« (ebd., S. 72), bis die Klienten am Ende vom Pferd eine »Dienstleistung« gegenüber seinem »Herrn« einfordern, d. h. sie sind selbst »Große« geworden auf dem Weg zum Erwachsenwerden.

2.2

Die Bedeutung von Medien in der pädagogisch-psychologischen Therapie bei psychischer Entwicklungsbehinderung

Mit dem Konzept »therapeutischer Medien« lässt sich der Beitrag von Pferden innerhalb psychologischer Therapien genauer fassen: Therapeutische Medien (z. B. Kreativmaterialien, Hausaufgaben, Spiel) können das psychotherapeuti8 Damit Therapeuten ihren Klienten ein solches Bindungsangebot machen können, müssen sie eingebunden sein in das Team einer »Betreuungseinrichtung, die als ganze das entwicklungsförderliche Äquivalent zur Herkunftsfamilie darstellt« (Schubenz, 1995b, S. 6) oder in ein »äquivalentes Familienannäherungsangebot […] – die Supervisionsfamilie« (Schubenz, 1993a, S. 47). Durch die »tiefe Staffelung der sozialen Struktur« (Schubenz 1995b, S. 6) in einer Therapiegruppe existieren dort vielfältige Bindungsangebote und Modelle wie in einer entwicklungsunterstützenden Familie mit jüngeren und älteren Geschwistern.

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sche Geschehen tragen, indem sie als »gemeinsames Drittes« sowohl soziale Beziehungserfahrung ermöglichen als auch konkrete Sachbezüge herstellen und damit Lernvorgänge anstoßen (vgl. Papke, 2001, S. 294). In diesem Sinne ist psychologische Therapie bei Kindern, ursprünglich pädagogisch-psychologische Therapie, gewissermaßen ein mediengestützter Orientierungsvorgang. Dabei verbindet sich nach Schubenz (1993a) die Erfahrung von »bedingungsfreier Mütterlichkeit« (S. 167) mit Tätigkeiten, die auf gesellschaftliche Entfaltungsmöglichkeiten des Menschen, v. a. auf die Arbeit verweisen. »Kindertherapien brauchen den Einsatz von Medien, über die das Beziehungsspiel abläuft, die dem Wachsen einen Sinn geben und die das Lernen unterstützen und lenken« (Siemens, 1993a, S. 90). Lebloses Spielmaterial ist nach Schubenz (1990) jedoch – anders als bei Klienten mit Neurosen, die zu abstrakter Identifikation fähig sind – kein angemessener Anlass für entwicklungsrelevantes Sozialtraining bei Kindern, die »in gefährlicher Weise daran gehindert worden [sind], den sozialen Integrationsoder Verständnisstand für die sie umgebenden Personen zu besitzen« (S. 52). Er schreibt: Natürlich kann ein kluges, aber neurotisches Kind von sieben Jahren, wenn es vor dem Szenokasten sitzt, wunderbare Dinge aufarbeiten. Das kann unser durchschnittliches Klientel, bei dem viel höhere Grade an persönlicher Entwicklungsstörung vorliegen, nicht. Bei unserem Klientel ist sogar die Intelligenz noch nicht auf ihren altersgemäßen Stand gekommen; die ganze Persönlichkeit hat ihren altersgemäßen Entfaltungsstand noch nicht erreicht. Hier braucht man konkrete soziale und emotionale Auseinandersetzungsanlässe. Das können allenfalls Tiere, aber keine Puppen sein. (Ebd.)

Ein Medium, das als »Bindeglied« der therapeutischen Beziehung und als pädagogischer Entfaltungsspielraum bei psychischer Entwicklungsbehinderung wirksam sein soll, benötigt demnach gesellschaftlich-soziale Relevanz, persönliche Wertschätzung durch die Therapeuten und kommunikatives Potential: Wir bekommen, indem wir auf den Psychotherapeuten und seine Beziehung schauen, gleichzeitig den Aspekt des Mediums in der Psychotherapie aufgezwungen, denn der Psychotherapeut muss immer etwas machen, auch das Kind muss immer etwas machen dürfen, sich etwas aneignen können, und das muss gesellschaftlich in irgendeiner Art relevant und repräsentativ sein. Das Aneignungsfeld, das dem Kind während der Psychotherapie zur Verfügung gestellt ist, und diese Relevanz des Handlungsmediums, das merken wir jetzt, ist in den meisten Psychotherapien überhaupt nicht gewährleistet. (Ebd., S. 49)

Das Pferdeprojekt der FU Berlin

2.3

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»Du-Evidenz« und Koevolution prädestinieren das Araberpferd als therapeutisches Medium

Ein Tier ist »Du-evident« (vgl. Brockmann, 2002), d. h. es trifft auf die – bei Kindern besonders ausgeprägte – Bereitschaft des Menschen, im Tier etwas ihm grundsätzlich Gleiches zu sehen, bzw. die subjektive Gewissheit um die Möglichkeit einer partnerschaftlichen Beziehung zum Tier, die derjenigen zu anderen Menschen im Prinzip entspricht. Beim Pferd, und speziell beim Araberpferd, verbindet sich nun eine besondere Fähigkeit, auf die Beziehungsbedürfnisse des Menschen zu antworten, mit Handlungen von hohem gesellschaftlichem Wert, weil es als über Jahrhunderte vom Menschen geformtes Haustier zentrale Aspekte des Mensch-Seins in sich trägt bzw. verkörpert. Haustiere, speziell Pferde, sind vom Menschen umgestaltete Natur, in der die Menschwerdung »steckt«. Besonders die jahrtausendealte Zucht der arabischen Pferderasse zielte darauf ab, ihr intellektuelles Potential zu erhöhen, sodass sie im Familienleben der Beduinen als enge Beziehungs- und Kooperationspartner integrierbar waren. Das Ergebnis war eine besonders große Masse an Gehirnsubstanz, die das Pferd selber nicht brauchte, die aber der Mensch in ihnen unterbringen wollte, damit die Pferde den ihnen zugerechneten Werkzeugwert optimal erfüllten. Und das hat das Pferd wegen dieser vorzugsweise intellektuellen Beanspruchung, also über den Arbeitsprozess an Formveränderung mitgemacht. (Schubenz, 1990, S. 6)

Die gesellschaftliche Relevanz und Wertschätzung des Pferdes gewährleisten ein lebhaftes Interesse aufseiten aller Beteiligten. Das Pferd wird bis heute auch von pferdeunerfahrenen Erwachsenen als ernstzunehmender Teil unserer Welt wahrgenommen, mit dem Dinge von gesellschaftlicher und sozialer Relevanz möglich waren und sind. Ohne das Pferd ist »kein Aspekt der letzten größeren Kulturentwicklungsperioden vor Aufkommen der ersten Industrie mit Beginn des 19. Jahrhunderts […] zu denken« (Schubenz, 1987, S. 14). So repräsentiert es grundlegende Formen sozialer Verständigung und Kooperation, die von Klienten unmittelbar erlebt und nachvollzogen werden können, und die auf die Aneignung der gegenständlichen und sozialen Welt verweisen. Zusammen mit der individualbiografischen, ganz persönlichen Wertschätzung des Mediums durch den Therapeuten wird die beiderseitige Beziehungsfähigkeit gewissermaßen optimiert. Das Pferd ist dann nicht nur allgemein, sondern in der einzigartigen Begegnung der therapeutischen Beziehung wertvoll und relevant. Das Pferd wird so als Zwischeninstanz der psychologischen Therapie fassbar, die ein soziales Geschehen zwischen Menschen ist und durch das Tier ange-

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stoßen, befördert und bereichert, jedoch nicht ersetzt wird. Es bleibt ein Medium innerhalb eines gezielten psychotherapeutischen Prozesses.

2.4

Das Pferd als »lebendiges Übergangsobjekt« bietet großflächigen Körperkontakt und die Erfahrung des Getragen-Werdens

Mit seinen kommunikativen und körperlichen Eigenschaften als großes, starkes und dabei sanftes »Schmuse-« und Arbeitstier bietet das Pferd »Anlässe zu vielfältig sozial eingebundenem Körperkontakt […], der durch die Möglichkeit des Getragen-Werdens den Wert der Kontakte zu Hund und Katze übersteigt« (Schubenz, 2002, S. 181). Damit eignet sich das »Medium Pferd« in der Psychotherapie als »Übergangsobjekt« (Winnicott, 1969). In der ruhigen, vorurteilslosen und emotional zugewandten Haltung des Pferdes sind bedürfnisbefriedigende Qualitäten »bedingungsfreier Mütterlichkeit« (Schubenz, 2002, S. 7) erlebbar : Besonders die Erfahrung von Körper- und Hautkontakt – nach Schubenz ein entscheidender Faktor zur Kompensation früher Störungen – kann an das Pferd delegiert werden, weil der Therapeut dies aufgrund gesellschaftlicher Tabus selbst nicht anzubieten vermag: Die prinzipiell in Bezug auf Körper- und Hautkontakt unsicheren und unzureichenden Anfangsbedingungen des Menschen haben sowohl zu den reduzierten Körperkontaktbedingungen in allen Kulturentwicklungen geführt als auch zu den Ergebnissen dieser Kulturentwicklungen selbst. Körper- und Hautkontakt gilt als zentrale Mangelwahrnehmung unter uns Menschen bis hin zur extremen Psychopathologie und zur körperlichen Erkrankung. In psychologischen Therapien ist es deswegen eine zentrale Aufgabe, mit diesen Defiziten ausgleichend umzugehen (vgl. ebd., S. 184). Entsprechend wird das Pferd als Medium in der Psychotherapie benötigt, »um die reale physische und emotionale Nähe, die zur wirksamen Darstellung des Prinzips Mütterlichkeit unerlässlich ist, überhaupt erst herstellen zu können« (ebd., S. 8). Wirksam dargestellt werden dabei auch modellhafte »Zwischenstufen« zum Wiederhineinfinden in basale sozial-emotionale Strukturen der menschlichen Gemeinschaft, denn Tiere sind nach Schubenz (1990) viel einfacher in der Äußerung von Gefühlen, Motiven und Absichten als Menschen und daher unvergleichliche und fast nicht zu ersetzende Übergangsobjekte, um sich selber psychisch zu finden oder in der Therapie wieder in Gang zu setzen, wenn es einmal schiefgegangen ist. Das geht, weil Tiere noch einfacher sind als Kinder. Erwachsene Menschen sind das Komplizierteste, was es gibt. […] Richtig und sicher lernen kann […, das Kind], wenn es zwischen sich und dem Vater oder der Mutter, als Zielform gesellschaftlicher Möglichkeiten, alle Übergänge und alle relevanten Entfaltungsfor-

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men praktisch erlebbar hätte und daran lernen könnte. Das Tier ist das einfachste Übergangsobjekt hin zu sozial-emotionalen Lernformen. (S. 3)

Für die Entfaltung der vollen Wirksamkeit des Übergangsobjekts bedarf es immer der Rückbindung des Erlebten in die zwischenmenschliche Beziehung und dessen sprachlicher Verarbeitung: »Die Handlung muss sprachlich verarbeitet sein, sonst war sie nicht erfolgreich, sonst war sie nicht entwicklungserfolgreich« (ebd., S. 50). Indem das Pferd in der Psychotherapie zu konkreten körperlichen und sozialemotionalen Erfahrungen einlädt, fördert es auch den Austausch in der therapeutischen Beziehung und die Sprachentwicklung der Klienten – wie das Übergangsobjekt in der Mutter-Kind-Beziehung: »Das dynamische soziale Moment bei der Sprachentwicklung ist dabei zu denken in der emotionalen Verpflichtung des Kindes, aber auch der Mutter, die Erfahrungen des Getrenntseins bei der Wiedervereinigung auszutauschen« (Schubenz et al., 1993, S. 39, FN 8). So verstanden erfolgt in der psychologischen Therapie mit dem Medium Pferd die Anbahnung eines befriedigenden, angstfreien und vertrauensvollen Sozialkontaktes zunächst über ein Tier, das als Vertreter des Prinzips sozialer Beziehungsmöglichkeiten fungiert. Der Aufbau einer Beziehung zum Pferd wird damit zur vertrauensbildenden und persönlichkeitsstabilisierenden Grundlage bzw. Vorstufe für zwischenmenschliche Beziehungen. Ziel ist aber keinesfalls eine lebensgeschichtlich überdauernde Beziehung zum Pferd: Das Pferd ist hier wirklich ein Medium in der Psychotherapie, das nur diesen Übergangsobjektcharakter haben soll, dieses wieder funktionierende Modell eines sozialemotionalen Geschehens. Dafür soll es ein Beweis gewesen sein. Wenn wir diesen Beweis geliefert haben sollten, dann war es genug. (Schubenz, 1990, S. 12)

3.

Die »Metamorphose« – Weiterentwicklung des Pferdeprojekts

Schubenz hatte mit diesen grundlegenden Thesen einen wissenschaftlichen Begründungszusammenhang hergestellt für einen vielversprechenden Therapieansatz, der die Erforschung des psychotherapeutischen Potentials von Pferden als Medium der Psychotherapie in einem Universitätsprojekt rechtfertigte und nahelegte.

3.1

Etablierung des Pferdeprojekts

Mit der Einrichtung des Pferdeprojekts als Teil der »Praxisintegrierenden Studieneinheit (PSE) Kinderpsychotherapie« im Diplomstudiengang Psychologie

172

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hatte Schubenz’ persönliches Forschungsinteresse an der Beziehung zwischen Menschen und Pferden und ihrem psychotherapeutischen Nutzen seine Heimat in der Universität als zentralem Ort für Lehre und Forschung gefunden. Psychologie-Studierende konnten im Hauptstudium an einem einjährigen Curriculum im Pferdeprojekt teilnehmen, die praktische Arbeit wurde in Lehrveranstaltungen diskutiert und im Rahmen von Diplomarbeiten und Dissertationsvorhaben beforscht. Zur wissenschaftlichen Begleitung wurde zudem das forschungsbezogene Wahlpflichtfach »Psychologie der Mensch-Tier-Beziehung« in den allgemeinen Studienplan aufgenommen. Die wissenschaftliche Begleitung der Praxis im Pferdeprojekt setzte auf Seiten aller Beteiligten grundsätzliche Offenheit für eine teilnehmende Beobachtung »im Feld« voraus, auch in Form von Videoaufnahmen während der laufenden Gruppentherapien oder mündlichen und schriftlichen Befragungen der Therapeuten und Klienten. Siegfried Schubenz hat dabei immer die Auffassung vertreten, dass die psychotherapeutische Praxis im Pferdeprojekt ganz selbstverständlich der Forschung zugänglich gemacht werden müsse – und dass sie dies auch unbeschadet könne, ohne die klinische Praxis zu verfremden oder zu behindern. Diese Haltung wurde über die Jahre mitgetragen von allen dort tätigen Psychotherapeuten. Damit bestand mit dem Pferdeprojekt ein einzigartiges Feld zur systematischen Erprobung des Einsatzes von Pferden in der Gruppenpsychotherapie mit Kindern und Jugendlichen und deren wissenschaftlicher Begleitung. Der notwendige Praxiszugang für Lehre und Forschung wurde – wie insgesamt in der PSE Kinderpsychotherapie – durch die Kooperation mit Berliner psychosozialen Einrichtungen gewährleistet. Die Finanzierung der Psychotherapien erfolgte größtenteils als Maßnahme der Jugendhilfe im Rahmen des SGB VIII (KJHG § 27 Hilfe zur Erziehung und § 35a Eingliederungshilfe). Der Einsatz von Pferden als Medium und der damit verbundene zeitliche und sachliche Mehraufwand wurden auch von Kollegen in den Fachdiensten der Bezirksämter als sinnvoll und notwendig für Kinder und Jugendliche erachtet, die von seelischer Behinderung betroffen oder bedroht sind. Die Anerkennung des für den Einsatz des Pferdes und diese Klientel erforderlichen Mehraufwands spiegelte sich auch in den mit der Senatsverwaltung für Jugend und Familie ausgehandelten Fachleistungsstundenverträgen wider, die wöchentlich drei Gruppentherapieeinheiten und eine Einzeltherapieeinheit oder drei Einzeltherapieeinheiten (davon zwei Einheiten im Pferdeprojekt) sowie vierzehntägig eine Einheit Elternberatung über den Zeitraum von ein bis zwei Jahren vorsahen. Unsere Bemühungen um eine Vernetzung des Pferdeprojekts mit den psychotherapeutisch tätigen Kollegen, die dem Kuratorium für Therapeutisches Reiten (DKThR) nahestanden (u. a. im Rahmen von zwei mehrtägigen studentischen Exkursionen 1993/95) mündeten in die Beteiligung an einschlägigen Fachgruppen (FAPP), Arbeitskreisen (Berliner AK-HPRV) und Tagungen sowie

Das Pferdeprojekt der FU Berlin

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der Ausrichtung der 2. interdisziplinären Arbeitstagung »Die Arbeit mit dem Pferd in Psychiatrie und Psychotherapie« an der Freien Universität. Mit wachsender Bekanntheit erreichten uns zunehmend Anfragen nach Literaturhinweisen, Lehr-, Forschungs- und Praxis-Kooperationen – und Anfragen nach Therapieplätzen, die nach Tagen der Offenen Tür oder Berichterstattung über das Pferdeprojekt oder allgemein den Einsatz von Pferden in der Psychotherapie in lokalen und überregionalen Medien regelmäßig zunahmen und das Angebot an Therapieplätzen überstiegen. Unsere praktischen Erfahrungen und wissenschaftlichen Erkenntnisse stellten wir auf einschlägigen Kongressen vor und gaben sie in Lehrveranstaltungen an der FUB, der Hochschule MagdeburgStendal sowie in Weiterbildungsseminaren im Rahmen der PPT-Weiterbildung weiter. Siegfried Schubenz (1995a) drückte es bei der Veranstaltung zum zehnjährigen Jubiläum des Pferdeprojekts so aus: »Das Pferdeprojekt ist in dem interdisziplinären und überregionalen Klärungsprozeß ein profilierter stabiler und nicht mehr wegzudenkender Teil geworden« (S. 6).

3.2

Das Pferdeprojekt als Entwicklungsraum unter Leitung von Siegfried Schubenz

Siegfried Schubenz’ oben skizzierte Grundgedanken zum Einsatz von Pferden in der Psychotherapie boten einen Rahmen, der für die konkrete Ausgestaltung in der Praxis viel Interpretations-Spielraum ließ – und er hatte nicht den Anspruch, diesen selbst im Detail zu definieren oder gar zu standardisieren. Wie in den Anfängen seiner Studien zur Mensch-Pferd-Beziehung setzte er weiter auf die Kreativität der kooperierenden Kollegen, die mit ihren Kinderpsychotherapiegruppen das Pferdeprojekt nutzten. Aber auch Studierende waren eingeladen, sich während ihres Praktikums und darüber hinaus in den theoretischen Diskurs und die Auslotung der praktischen Möglichkeiten einzubringen. Damit setzte auch ein Prozess der Veränderung ein, eine »Metamorphose […] von meinem ganz persönlichen Forschungsprojekt hin zu einer Institution mit markantem eigenem Profil«, wie Siegfried Schubenz es beschrieb (1995a, S. 5). Ein wesentliches Charakteristikum des Pferdeprojekts war, dass sich rund um die Pferde sehr unterschiedlich sozialisierte Menschen zusammenfanden, die alle versuchten, sich und ihre eigenen Ideen mit den Pferden zu verwirklichen. Zusammengehalten wurde diese heterogene Gruppe durch die Anziehungskraft der Pferde und Siegfrieds unermüdlichen und aller Sprengkraft9 trotzenden 9 Bis 1994 befanden sich die Pferde im Besitz einzelner Projektmitglieder; für die Zeit von 1985 bis 1990 wurden die sich verändernde Konstellation und die damit einhergehende unterschiedliche Verteilung von Verantwortung, Kompetenzen, Erwartungen und Arbeitsleistung

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Willen zur Integration. Er hat nicht nur auf die Deutungshoheit, das »Besserwissen«, wie Rainer Brockmann es in diesem Band bezeichnet, verzichtet. Er zeigte sich immer offen für neue Ideen und Impulse, war bereit, diese ernsthaft zu diskutieren und jeden dabei zu unterstützen, sich auszuprobieren und sich das Praxis- und Forschungsfeld anzueignen. Siegfried lehnte gesellschaftlich definierte Hierarchien ab, die nicht (nur) auf einem Erfahrungsvorsprung basieren, sondern Mitmenschen zum »Material« machen und nicht mehr Sicherheit hervorbringen, sondern Entfremdung und Ausbeutung bis in ihre schlimmsten Formen (vgl. Schubenz, 1993, S. 233 f.). Diese Haltung prägte auch Siegfrieds Umgang mit Kollegen und Studierenden im Pferdeprojekt. Im Grunde hat Siegfried als Leiter des Pferdeprojekts so gehandelt, wie es seiner Vorstellung eines guten Leiters einer therapeutischen Gruppe entsprach, der allen Beteiligten einen Entwicklungsraum zur Verfügung stellt und »selbst aber eher eine zurückgenommene Rolle einnimmt, gewissermaßen als ein Moderator der um den Klienten als den eigentlich Handelnden gruppierten sozialen Vorgänge« (Schubenz, 1995a, S. 4). Dabei vertraute er auf die bindende Kraft dieses besonderen, einmaligen Projekts und seiner »Zug-Pferde« und bestand darauf, dass keiner ausgeschlossen wurde. In diesem Punkt konnte er allerdings sehr bestimmt sein. Er weigerte sich nicht nur, ein Machtwort zu sprechen oder Partei zu ergreifen, sondern erwartete von uns als (angehende) Psychotherapeuten die Bereitschaft und Kraft zur Integration auch und gerade tendenziell unliebsamer, ausgegrenzter Personen. Seine Forderung, »freundlich in der Beziehungsgestaltung und hart in der Sache zu verhandeln« , hat sich uns eingeprägt. In der »professionellen« sozialen Integration potentiell Ausgegrenzter und der Überwindung von vermeintlichen Gegensätzen sah er das fördernde und professionelle Potential eines psychologischen Teams, das seinen bildungs- und sozialpolitischen Vorstellungen entsprach. Dabei war er immer ansprechbar, sofort bereit zur Unterstützung – und mit seiner Rückversicherung der eigenen Integration am Institut, v. a. der Unterstützung durch Rainer Brockmann und Helga Renfordt, hat Siegfried Schubenz sich selbst gestärkt, um unzählige neue Verhandlungen, Fachtagungen, Plenumssitzungen, Vorstands- und Vereinsversammlungen des Pferdeprojekts mit uns zufriedenstellend zu bewältigen. Er hat tiefgreifende Veränderungen des Pferdeprojekts nach eingehender Diskussion mitgetragen und das Projekt auch nach seiner Emeritierung unterstützt, u. a. durch Mitwirkung im Vorstand des Fördervereins Mensch und Tier e. V., in dessen Hände wir bis 2005 die Geschäfte des Pferdeprojekts überführt haben. Dabei war er durchaus bestrebt, sich überflüssig zu machen – wie ein guter Therapeut oder Lehrer –, übernahm

sowie die daraus resultierenden Konflikte in der Diplomarbeit von Aland und Lorenzen (1990) beschrieben.

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aber auf unsere Bitte hin Vermittlungsaufträge gegenüber Außenstehenden wie auch bei der Zuspitzung interner Konflikte.

4.

Theoretische und empirische Annäherung an einen komplexen Forschungsgegenstand

Auch wir haben im Verlauf unserer jahrelangen Mitarbeit in Praxis, Forschung und Lehre zum Einsatz von Pferden in der Psychotherapie an der von Siegfried Schubenz erwähnten Metamorphose mitgewirkt, haben das Pferdeprojekt entscheidend mitgeprägt und verändert. Unser zentrales Anliegen war es, das Besondere und Wertvolle der Therapie mit Pferden zu verstehen und so zu beschreiben, dass es auch für Wissenschaftler und Praktiker nachvollziehbar ist, die mit Pferden und der Materie der Psychotherapie mit dem Medium Pferd nicht vertraut sind. Siegfried Schubenz hat all unsere Bemühungen mit wohlwollendem Interesse begleitet und unterstützt – und zur Förderung unserer Forschungsvorhaben auch aktiv mit Professorenkollegen vom konservativ ausgerichteten Institut für Psychotherapie kooperiert, die am wissenschaftlichen Mainstream orientierte Ansätze vertraten.

4.1

Literaturrecherche zu den Wirkfaktoren in der Psychotherapie mit dem Medium Pferd

Die erste systematische Literaturrecherche zum Therapeutischen Reiten erfolgte in einer Diplomarbeit (vgl. Henkel, 1990) mit dem Ergebnis, dass sich zwar eine Vielzahl von Beschreibungen pädagogischer Situationen mit dem Pferd finden ließen, die als wirksam erlebt wurden,10 es aber weitgehend »an einer Vermittlung zwischen den praktischen Erfahrungen über den effektiven Einsatz von Pferden für pädagogische und psychotherapeutische Situationen und den Theoriebildungen bzw. Abbildungen des Geschehens [fehlte]« (Henkel, 1990, II). Dies traf auch auf die Veröffentlichungen zum Einsatz von Pferden in Psychiatrie und Psychotherapie zu, die ab den 1990er Jahren auch im Deutschen Kuratorium für Therapeutisches Reiten DKThR e. V., dem größten deutschen Dachverband 10 Die Literaturliste des DKThR e. V. umfasste 1996 über 500 Titel, davon viele Diplom-, Magister- und Hausarbeiten zum »Therapeutischen Reiten«. Eine von Frau Dr. Martina Bley im Rahmen des ABM-Projekts »Psychotherapie und Prävention mit dem Medium Pferd« (das 2000 bis 2002 unter der Leitung von Sabine Hanneder das Pferdeprojekt organisatorisch und wissenschaftlich begleitete) durchgeführte Literaturrecherche förderte mehr als 1 000 Titel zu Tage (Stand 2002: 1 043 Artikel, Monographien und unveröffentlichte Arbeiten; davon 237 Forschungsarbeiten, 134 Diplomarbeiten, eine Habilitation und 41 Dissertationen).

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in diesem Bereich, breiteren Raum einnahmen:11 eine Vielzahl von – aus der Erfahrung von Praktikern formulierten – Annahmen zu vom Pferd ausgehenden oder durch die Hinzunahme des Pferdes ermöglichten Veränderungsprozessen stand unverbunden nebeneinander und war nicht mit psychologischen Theorien oder empirischen Untersuchungen untermauert.12

4.2

Systematisierung der Wirkfaktoren

So galt es, die Wirkfaktoren in der Psychotherapie mit dem Medium Pferd zu systematisieren und theoretisch und empirisch besser fassbar zu machen. Als theoretische Bezugssysteme für eine Systematisierung der aus Literatur und Praxis bekannten Wirkfaktoren von Pferden in der Psychotherapie diskutierten wir insbesondere Überlegungen zum Einsatz von Pferden als Medium in der Psychotherapie (vgl. Schubenz, 1987; 1993b; Siemens, 1993a; Petzold, 1977; 1983) und Konzepte der in den USA entwickelten »Pet-facilitated Psychotherapy« (vgl. Levinson, 1970; Corson & Corson, 1980, Katcher & Beck, 1983; Brockmann, 1991; 1993; 2002). In ersten empirischen Untersuchungen zur detaillierten Analyse der Interaktionsprozesse zwischen Klienten und Pferden gelang es, theoretisch formulierte und aus der Praxis bekannte Anstöße zur Entwicklungsunterstützung sichtbar zu machen. 4.2.1 Empirische Befunde zu Entwicklungsanstößen durch das Medium Pferd in der Psychotherapie Die systematische Beobachtung von Therapiekindern am Pferd anhand von Videoaufnahmen und mit einem eigens konstruierten Kategoriensystem13 zeigte eindrücklich, wie häufig die Kinder nicht nur das Pferd berührten, sondern auch ihren eigenen Körper oder den anderer Gruppenmitglieder (vgl. Papke, 1997). 11 Vgl. etwa das Sonderheft des DKThR zur Arbeit mit dem Pferd in Psychiatrie und Psychotherapie (1994) und den Tagungsband der 3. interdisziplinären Arbeitstagung des DKThR: Freiheit erfahren – Grenzen erkennen. Über die Integration von Polaritäten mit Hilfe des Pferdes (1996). 12 Für den heilpädagogischen Bereich ordnete B. Klüwer (1994) – orientiert am motologischen Entwicklungskonzept von Kiphard (1979) – die »Wirkfaktoren« der neuro-, senso-, psycho-, soziomotorischen Ebene zu. Für den Bereich der Psychotherapie haben wir eine erste Systematisierung der intendierten Veränderungsprozesse anhand verschiedener Ebenen menschlichen Verhaltens und Erlebens aus psychologischer Sicht (Verhaltensebene, kognitive Ebene und emotionale Ebene) vorgeschlagen (vgl. Hanneder, 1996). 13 »Kipfling« – ein System zur Beobachtung in der Kindergruppenpsychotherapie mit dem Medium Pferd unter besonderer Berücksichtigung von Leistungsanforderungssituationen. Erfasst wurden einzelne Handlungen, Unterbrechungen, Blickwechsel, Gesten und Bewegungen im Raum sowie die verbalen Äußerungen der Klienten.

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Im gemeinsamen Umgang mit den Pferden entstand gewissermaßen eine »Körperkontaktatmosphäre« (Papke, 2001, S. 322): [D]ie Selbstverständlichkeit fortwährender Berührungen im Umgang mit Pferden erleichtert auch den Körperkontakt unter den beteiligten Menschen und bewirkt eine bewusstere Wahrnehmung eigener und fremder Körperlichkeit. Die gemeinsame oder abwechselnde Berührung derselben Stelle am Pferd und beiläufige oder gezielte gegenseitige Berührungen beim gemeinsamen Pflegen eines Pferdes, bei demonstrierender Anleitung, beim Reiten u. ä. können als angenehm erlebt werden und die Verbindlichkeit der Beziehung zueinander verstärken. (Ebd.)

Beispielsweise konnten wiederholt folgende Verhaltensmuster beobachtet werden (vgl. ebd., S. 322):14 – Analogiebildungen zwischen vergleichbaren Körperteilen bei Pferd und Mensch, z. B. zur Illustration von Demonstrationen und Mitteilungen über das Pferd (Zeigen bestimmter Körperteile, Nachahmung bestimmter Bewegungen und Geräusche); – paralleles Putzen gleicher Körperstellen durch zwei Klienten jeweils an ihren nebeneinanderstehenden Pferden in Verbindung mit einem vergleichenden verbalen Austausch darüber ; – paralleles Berühren, Streicheln oder Putzen eines Pferdes, das die beteiligten Klienten dadurch gewissermaßen körperlich verbindet; – wechselseitiges oder gemeinsames Betasten oder Tätscheln einer bestimmten Körperstelle an einem Pferd, ggf. in Verbindung mit der … – Überleitung des Tastens und Streichelns am Pferd auf den eigenen Körper oder den anderer Gruppenmitglieder, denen z. B. Schmutz abgewischt oder über die Haare gestrichen wird, die gestreichelt, geklopft, gedrückt werden o. ä.; – Rollenspiele mit Körperkontakt: »Pferdespiele« oder »Reiterspiele« von Therapeut und Klient oder Klienten untereinander ; – gegenseitige körperliche Hilfe beim Aufsteigen und Reiten, gemeinsames Reiten in engem Körperkontakt mit gegenseitiger Unterstützung, Festhalten und Kooperation im Bewegungsfluss des Pferdes u. ä. Neben dem Angebot zum Körperkontakt entstehen beim Umgang mit dem Pferd in der Psychotherapie auch förderliche »Entwicklungswidersprüche« (Holzkamp, 1985, S. 432) insofern, als sich die Klienten vor Aufgaben gestellt sehen, für die sie noch nicht die entsprechenden Handlungskompetenzen zur Verfügung haben, aber – anders als in der Schule – relativ hoch motiviert sind, und die oft nur in kooperativer Zusammenarbeit (mit dem Pferd oder anderen anwe14 Quelle und Grundlage dieser Beobachtungen ist das für die Verhaltensbeobachtung im Pferdeprojekt der FU Berlin aufgezeichnete Videomaterial sowie die eigene Durchführung der klinisch-psychologischen Arbeit mit dem Medium Pferd.

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senden Personen) zu bewältigen sind. Bei der systematischen Beobachtung von Klienten beim Aufhalftern »ihrer« Pferde vor dem Putzen und Reiten als Beispiel für solch eine komplexe sozial-interaktive Problemlösesituation ließen sich interindividuell unterschiedliche Bewältigungsmuster von sozial und schulisch auffälligen Klienten abbilden (vgl. Hanneder, 1994).15 Ein Vergleich mit den Angaben der Eltern zum Problemlöseverhalten der Klienten bei den Hausaufgaben zeigte, dass sich das (von Eltern und Lehrkräften) als problematisch angesehene Verhalten (passiv-hilfloses Verhalten, leichte Ablenkbarkeit, unterkontrolliertes Verhalten) auch in der therapeutischen Situation abbildete, daneben aber auch Ansätze für eine Auflösung eingespielter Interaktionsmuster und die Erprobung alternativer Bewältigungsstrategien zu erkennen waren. 4.2.2 Entwicklungsorientiertes psychologisches Rahmenkonzept Ausgehend von einer Sichtweise von Psychotherapie als einer besonders günstigen Lernsituation (vgl. Schubenz, 1993), die ihre Entsprechung in wesentlichen Aspekten (früh-)kindlicher Entwicklung und deren sozialer Unterstützung findet, gelang es, die aus Theorie und Praxis bekannten und durch erste empirische Studien gestützten Hypothesen zur Wirksamkeit von Pferden hinsichtlich ihres Beitrags zu wesentlichen Entwicklungsprozessen in der Psychotherapie zu ordnen. Diese Systematisierung der Wirkfaktoren in der Psychotherapie mit dem Medium Pferd in einem entwicklungsorientierten psychologischen Rahmenkonzept mündete in die Beschreibung einer »idealtypischen Entwicklungsfigur« innerhalb psychotherapeutischer Prozesse, die sich in vier Teilschritte gliedert, zu denen das Pferd jeweils Wesentliches beitragen kann (vgl. Papke, 2001, S. 306): – Aufbau und Festigung einer entwicklungsförderlichen Bindung an den Therapeuten durch die stellvertretende Befriedigung fundamentaler Bedürfnisse nach Körperkontakt, Wärme und sozialer Nähe im Sinne eines Übergangsobjekts; – zunehmende Differenzierung von Selbst- und Fremdwahrnehmung der Klienten und Unterstützung des diagnostischen und psychotherapeutischen Zugangs zu den aktuell relevanten Konfliktthemen der Klienten über spezielle Angebote zur Identifikation, Projektion und Identitätsentwicklung; 15 Eine Basisdokumentation (Fordjour, 2004) anhand der Therapieanträge für 62 Klienten des Legastheniezentrums im Alter von 8 bis 19 Jahren, die in den Jahren 1988 bis 2000 im Pferdeprojekt an Kindergruppenpsychotherapie teilnahmen, fand bei 41 % der Klienten allgemein unterdurchschnittliche schulische Leistungen, bei weiteren 20,5 % auf das Lesen und die Rechtschreibung begrenzt unterdurchschnittliche Leistungen. 36,5 % der Klienten waren mit der Eingangsdiagnose einer Verhaltens- und emotionalen Störung (F9) von Fachdiensten in die Einrichtung überwiesen worden.

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– Förderung der Aneignung sozialer und sachlicher Basiskompetenzen über die – therapeutisch unterstützte – Bewältigung verallgemeinerbarer Lern- und Leistungsanforderungen als neue Problemlösesituation mit Erfolgsaussicht; – Entwicklung befriedigender sozialer Beziehungen zu Gleichaltrigen in seiner Funktion als sozial verbindendes, gemeinsames Drittes, über das der soziale Kontakt, die Kommunikation und Kooperation in der Therapiegruppe als Übergangsfeld abläuft. Mit dieser Systematisierung der Wirkfaktoren von Pferden als Medium in der Psychotherapie lag ein methodenübergreifendes und therapieschulenintegrierendes Konzept vor, das dem Verständnis von psychologischer Psychotherapie entsprach, wie sie von Schubenz zur Überwindung psychischer Entwicklungsbehinderung und sozialer Ausgrenzung als notwendig und richtig angesehen wurde und seinerzeit noch am Institut für ppt gelehrt wurde. Der Blick auf die Rolle des Pferdes in Psychotherapien erschien uns geeignet, die Differenzen zwischen den Therapieschulen zu überwinden und stattdessen den Blick auf das Verbindende zu richten. Die Vielfältigkeit der potenziellen Entwicklungsprozesse am Pferd macht dieses für Verhaltenstherapeuten ebenso interessant wie für psychodynamisch, gestalttherapeutisch oder systemisch orientierte Therapeuten und natürlich auch für Körpertherapeuten. Sie alle nutzen Pferde gewinnbringend in ihren Psychotherapien, weil sie Lernprozesse oder Klärungsprozesse unterstützen, weil sie helfen bei der Problemaktualisierung wie bei der Problembewältigung, der Ressourcenaktivierung und natürlich der Beziehungsanbahnung. Somit unterstützen Pferde alle in der Psychotherapieforschung gefundenen und von Grawe (1995) in seinem Modell der Allgemeinen Wirkfaktoren psychologischer Therapien beschriebenen Prozesse (vgl. Hanneder, 2002). Schubenz (1995a) drückte es so aus: [V]on großer Bedeutung ist unserer Meinung nach die integrierende Kraft, die vom Medium Pferd oder Haustier auf die theoretischen und methodischen Diskussionen in den verschiedenen Therapieschulen ausgeht. Unter der Wirkung des Mediums Pferd lassen sie leichter als in der Standardsituation ihre Verwandtschaft untereinander erkennen. (S. 5)

Diese integrierende Kraft fanden wir regelmäßig wieder bei den entsprechenden Fachtagungen und im kollegialen Austausch, bei dem das gemeinsame Interesse am Medium Pferd die Differenzen zwischen Vertretern verschiedener Therapieschulen überwog. Auch die 2001 gegründete internationale Fachgruppe »Die Arbeit mit dem Pferd in der Psychotherapie« (FAPP; 2018) setzte sich explizit zum Ziel, »die Vielfalt der praktischen Arbeit mit dem Pferd in der Psychotherapie zu sammeln, zu beschreiben, zu reflektieren und weiterzuentwickeln und

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Austausch, Begegnung und Zusammenarbeit von Vertreter/innen verschiedener Therapierichtungen zu ermöglichen und zu fördern« (S. 1).

4.3

Die Funktion des Pferdes im therapeutischen Beziehungsgefüge

Übereinstimmend wird von Vertretern verschiedener Therapierichtungen das Kontakt- und Beziehungsangebot des Pferdes als wesentlicher Wirkfaktor und als therapieförderliche Erweiterung des vom Therapeuten ausgehenden Beziehungsangebots benannt. Die Vorstellungen über die Gestaltung des Beziehungsdreiecks (oder -vielecks) zwischen Therapeut, Klient und Pferd sowie die Rolle des Pferdes darin variieren jedoch beträchtlich. Der Versuch, die Bandbreite der Gestaltungsformen des – durch das Medium Pferd erweiterten – therapeutischen Beziehungsangebots aufzuzeigen und zu systematisieren, führte uns zur Beschreibung von sechs verschiedenen Formen der Beteiligung des Pferdes am Interaktionsgeschehen in der Psychotherapie (vgl. Hanneder, 1997). Diese ließen sich ausgehend von der Frage nach dem Schwerpunkt der vordergründigen Interaktion der Beteiligten ordnen, wobei sich zwei Pole mit je vordergründig dyadischen Beziehungen (Therapeut-Klient bzw. Klient-Pferd) ergaben (Abb. 1). 4.3.1 Das Pferd als »thematische Ressource« / Projektionsfläche Am einen Ende des Spektrums verorteten wir die Situation, in der das Pferd oder die Pferdeherde nur mittelbar (als »thematische Ressource«, Projektionsfläche etc.) beteiligt ist, indem es bzw. sie vom Klienten und dem Therapeuten (aus räumlicher Distanz) beobachtet wird und diese sich über ihre Wahrnehmungen und Interpretationen austauschen, was häufig den Zugang zu aktuell relevanten (Konflikt-)Themen der Klienten erleichtert. Die an den Pferden beobachteten Verhaltensweisen in Zusammenhang mit Nahrungsaufnahme und -ausscheidung, Schlaf-/Wach-Rhythmus, Bewegung und Sexualität sowie Mutmaßungen über die Rollenverteilung in der Herde, über Zuneigung, Rivalität oder verwandtschaftliche Beziehungen der Pferde können aufgegriffen und in Bezug gesetzt werden zur aktuellen Lebenssituation und Biografie der Klienten. Parallelen und Unterschiede zum eigenem Erleben, zu Gefühlen, Bedürfnissen und eigenen (Beziehungs-)Erfahrungen werden so einer bewussten Reflexion leichter zugänglich oder können zumindest stellvertretend am Pferd besprochen werden.

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Abb. 1

4.3.2 Die Klient-Pferd-Dyade als Lern- und Übergangsfeld Dieser Interaktionsform entgegengesetzt, verorteten wir eine konkrete unmittelbare Interaktion zwischen Klient und Pferd, die als modellhaftes Lern- und Übergangsfeld für zwischenmenschliche Beziehungen verstanden werden kann und vom Therapeuten mit (etwas) Abstand beobachtet, quasi supervidiert und abgesichert, aber auch gefördert wird. Auch wenn der Therapeut hier nicht aktiv in Erscheinung tritt, behält er doch eine tragende Rolle, indem er die Situation

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verantwortet, die unter seinem Schutzmantel zustande kommt. Diese Form einer relativ eigenständigen Beziehung in der Klient-Pferd-Dyade lässt sich im Verlauf der meisten Therapien immer wieder phasenweise, oft auch nur in kurzen Sequenzen beobachten. Beispielhaft zeigt Abb. 2 das Kontaktaufnahmeverhalten von drei Klientinnen zum Pferd im Therapieverlauf – aus Sicht ihrer Therapeuten –, wie in einer detaillierten Therapieprozessstudie mittels schriftlicher Befragung nach jeder Gruppensitzung16 erhoben (vgl. Hanneder, 2000):

Abb. 2: Bedeutung eigenständiger bzw. vermittelter Kontaktaufnahme zum Pferd im Therapieverlauf an drei Einzelfällen

Während die Klientin Antonia (Namen geändert) mit Ausnahme einer Sitzung von sich aus keinen Kontakt zum Pferd suchte und die Therapeutin ihr vor allem zu Beginn der Therapie viele diesbezügliche Angebote machte, nahm die Klientin Ramona über den gesamten beobachteten Therapiezeitraum selbstständig Kontakt zum Pferd auf, und die Therapeutin machte entsprechend wenig dies16 Erhoben wurden Einschätzungen der Therapeuten zu allgemeinen und im Hinblick auf die jeweiligen Therapieziele relevanten Prozess- und Ergebnisvariablen (eigene Verfassung, Verfassung der Pferde, therapeutische Interventionen, Erleben und Verhalten des Klienten mit Bezug zu vorher formulierten Zielsetzungen, Gruppendynamik, Aktivitäten und Inanspruchnahme der Pferde) sowie Angaben der Klienten zu ihrem Erleben der Therapiestunde mit dem Ziel, änderungsrelevante Entwicklungsanstöße im Verlauf der Psychotherapie mit dem Pferd und deren Verschränkung abzubilden. Das Projekt wurde über zwei Jahre gefördert durch Mittel der Berlinforschung. Eine umfassende Darstellung von Forschungsdesign und Ergebnissen würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen.

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bezügliche Angebote. Die Unterschiede in der Kontaktaufnahme zum Pferd lassen sich in Zusammenhang bringen mit anderen Prozessvariablen und der jeweiligen Ausgangsproblematik der Klientinnen.17 Allgemein lässt sich feststellen, dass bei Klienten mit besonders schwerwiegenden Entwicklungsbehinderungen, die (bspw. aufgrund traumatisierender Erlebnisse) dem Kontakt mit Menschen misstrauisch gegenüberstehen, die Klient-Pferd-Dyade am Anfang einer Therapie als neue, wertvolle und befriedigende Erfahrung einer Beziehung zu einem nicht wertenden Lebewesen, das ihnen bedingungslos freundlich entgegenkommt, der erste Schritt in Richtung einer Öffnung für zwischenmenschlichen Kontakt sein kann, der dann vom Therapeuten behutsam aufgefangen wird (Schubenz und Brockmann bezeichneten dies 1993 in einer Diskussion als »zwei Stufen der Wirksamkeit von Pferden oder allgemein von Tieren«). Bei ängstlich-abhängigen Klienten wiederum gewinnt die eigenständige Interaktion mit dem Pferd oft erst zu einem späteren Zeitpunkt an Bedeutung – am Ende einer allmählichen Entwicklung aus der sichernden Bindung an den Therapeuten heraus und auf andere Lebewesen oder Personen des therapeutischen Umfelds zu. 4.3.3 Die Therapeut-Pferd-Dyade als Modell einer gelingenden Beziehung Die Beziehung des Therapeuten zum Pferd wird von den Klienten mehr oder weniger bewusst wahrgenommen. Damit werden wir als Therapeuten nicht nur wesentlich greifbarer für unsere Klienten als in anderen Settings; die TherapeutPferd-Dyade kann auch als Modell einer emotional positiven, gelingenden Interaktion mit dem Pferd fungieren – egal ob der Therapeut gezielt im Sinne einer eher pädagogischen Zielsetzung oder gezielten Nutzung des Lernens am Modell bestimmte Aspekte des Umgangs mit dem Pferd vorführt (vgl. Bandura, 1979) oder ob er eher beiläufig mit dem Pferd interagiert und dabei vom Klienten beobachtet wird. Wird das Pferd dabei als verlässlicher Partner des Therapeuten wahrgenommen, der in gewünschter Weise und deutlich erkennbar auf seine (klaren und eindeutigen) Signale reagiert, so kann dies ein Modell einer gelingenden Verständigung sein und von den Klienten selbst erlernt werden. Zugleich vermittelt diese Form der Verständigung zwischen Therapeut und Pferd den Klienten auch Sicherheit und bietet ihnen Anhaltspunkte für das Spektrum möglicher Beziehungsformen (von einer innigen, auch körperlich nahen bis zu einer distanzierten, stark Grenzen setzenden Beziehung zum Pferd). In der 17 In einem weiteren Schritt nach der Abbildung der Einzelfälle war geplant, generelle Hypothesen zur Verwandtschaft dieser Therapieform mit anderen – mehr oder weniger allgemeingültigen – Konzepten zu formulieren, die dann anhand größerer Stichproben überprüft werden können. Dies konnte leider aufgrund mangelnder Finanzierung und persönlicher Bedingungen im Rahmen des Pferdeprojekts nicht mehr realisiert werden.

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Gruppentherapie dienen die »erfahreneren« Klienten den »Neulingen« ebenfalls häufig als Modell, insbesondere weil deren Nähe zum eigenen Stand der Kompetenzen die Übernahme des Beobachteten ins eigene Verhaltensrepertoire befördert (siehe 2.1). 4.3.4 Das Pferd als »Eisbrecher« / Brücke zur Kontaktaufnahme Explizit triadisch sind zwei Funktionen des Pferdes, die wir in der Mitte der Abbildung sehen. Erstens dient das Pferd als »Eisbrecher« (vgl. Levinson, 1970) bzw. als Brücke zur Kontaktaufnahme. Wie oben beschrieben, erleichtert und intensiviert die Beschäftigung mit dem Pferd die Entwicklung einer Bindungsbeziehung zwischen Therapeut und Klient oder in der Therapiegruppe. Gleichzeitig können sich die Klienten auch immer wieder unauffällig zu »ihrem« Pferd bzw. ihrer Betätigung zurückziehen, wenn sie sich im Kontakt mit anderen Gruppenmitgliedern unsicher fühlen, und auf diese Weise das erträgliche Ausmaß von Nähe und Distanz im Kontakt regulieren. Oder sie artikulieren ihre Wünsche nach Nähe oder Distanz, indem sie diese ihrem Pferd zuschreiben (z. B. »Daffa möchte heute von Dir geführt werden.« oder »Sie wird nervös, wenn zu viele um sie herumstehen.«). Bei der Integration der Klienten in die Gruppe spielt die Identifikation mit dem »eigenen« Pferd eine wesentliche Rolle: »Mit ›seinem‹ Pferd hat es auch seinen Platz in der Gruppe« (Papke, 1994, S. 22). 4.3.5 Das Pferd als »Übergangsobjekt« Die zweite Funktion des Pferdes, als »Übergangsobjekt«, sehen wir ebenfalls als in der Mitte zwischen den beiden Polen maximaler Distanz oder Nähe in der konkreten Interaktion mit dem Pferd angesiedelt an. Wie oben ausgeführt, ist hiermit die Fähigkeit von Pferden gemeint, insbesondere über den großflächigen Körper- und Haut- oder Fellkontakt als Quelle von Sicherheit und angenehmen Empfindungen eine Brücke zwischen Subjekt und Welt zu schlagen (vgl. Schubenz et al., 1993). Wenn für die Klienten spürbar ist, dass die Therapeuten ihr Pferd wertschätzen, kann es von den Klienten sozusagen als »›Teil der Therapeutin‹ (im Sinne ihrer emotionalen Verlängerung) ernstgenommen werden« (Hanneder et al., 1995, S. 77). Die emotional getönte Beziehung zwischen Klient und Pferd befindet sich hier an der Schwelle zwischen Realität und Phantasie. Diese Funktion des Pferdes als »Liebesersatzobjekt« bedeutet auch, dass die Gefühle von Liebe und Zuneigung, aber auch von Wut und Hass, die die Klienten den Pferden entgegenbringen, eigentlich den Therapeuten meinen (vgl. Lühe, 1994).

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4.3.6 Stellvertretende Funktion des Pferdes Stärker in der Realität konkreter Beziehungserfahrung verhaftet sind andere stellvertretende Funktionen des Pferdes. Damit ist gemeint, dass der Therapeut dem Pferd bewusst bestimmte Rollen überträgt oder überlässt, die er nicht erfüllen kann oder will (bspw. die körperlich tragende Funktion, aber auch Verhaltenskorrekturen), indem er die entsprechenden Pferde auswählt, gezielt Tätigkeiten bzw. Aufgaben vorschlägt und seine eigene Einflussnahme auf das Pferd so steuert, dass bestimmte Situationen entstehen für die Interaktion zwischen Klient und Pferd. Die spontane Reaktion des Pferdes auf das Verhalten des Klienten kann von diesem als »natürliche Konsequenz« oft leichter angenommen werden als Rückmeldungen durch menschliche Interaktionspartner. Der Therapeut trägt dabei immer die Verantwortung für die Dosierung dieser Rückmeldungen und hilft den Klienten, diese zu verstehen und zu einer besseren Verständigung zu gelangen. Hierbei muss der Therapeut immer auch die Grenzen der Belastbarkeit der Pferde im Blick haben. Der Einfluss der Gruppentherapie auf die Pferde stand im Fokus einer im Fachbereich Biologie, Chemie, Pharmazie der FUB vorgelegten Diplomarbeit (vgl. Küster, 2004). Bei der Beobachtung von drei adulten Stuten aus der Herde im Pferdeprojekt außerhalb und während der Therapiezeiten ließ sich abbilden, dass Therapiepferde verschiedenen Stressoren ausgesetzt sind: »Deren Einfluß läßt sich jedoch reduzieren, wenn die Tiere in artgerechter Haltung leben und ihnen genügend Ausgleich geboten wird« (Küster, 2004, S. 79). Dieses Ergebnis bestärkte uns in der im Pferdeprojekt realisierten Offenstallhaltung im Herdenverband, die wir für die Pferde und die Therapie gleichermaßen für besonders geeignet halten.18 Das dargestellte Modell ist nicht als Stufenmodell zu begreifen, sondern dient lediglich dazu, einen Überblick zu geben über die Bandbreite der verschiedenen Rollen von Pferden im Therapieprozess. Zugleich macht es deutlich, wie stark die Rolle, die dem Pferd im Therapieprozess zugeschrieben wird, eingebettet ist in die Entwicklung der therapeutischen Beziehung bzw. die interaktiven Prozesse in der Gruppenpsychotherapie. Eine Annäherung an die Frage, wie diese Unterschiede zustande kommen, welchen Beitrag die Pferde liefern, welche Rolle ihnen im je individuellen The-

18 Weitere Fragen rund um Pferdehaltung, -ausbildung und -training waren Gegenstand von Workshops zur Fortbildung der Projektmitglieder sowie auch einer für ein breiteres Publikum angelegten Fortbildungsveranstaltung, die ab dem Sommersemester 2002 an der Freien Universität angeboten und von professionellen und privaten Pferdehaltern, Kollegen aus den Bereichen Heilpädagogisches Reiten/Voltigieren und Hippotherapie, Psychotherapeuten und Ärzten besucht wurde. Die Beiträge wurden in zwei Sammelbänden (Hanneder 2002; 2003) veröffentlicht.

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rapieprozess zukommt und wie die Psychotherapeuten mit ihren Interventionen diesen Prozess moderieren, ist bis heute bei der Komplexität dieses Forschungsgegenstandes nur mittels detaillierter Einzelfall-Prozess-Studien möglich, wie sie auch schon in den 1990er Jahren als bedeutsamste Strategie in der Psychotherapieforschung angesehen wurden (vgl. etwa Grawe, 1988; Bastine et al., 1989; Petermann, 1996). Wir erachten sie nach wie vor als lohnenswert – nicht nur für diese spezifische Form der Psychotherapie, sondern allgemein zum Verständnis psychotherapeutischer Prozesse, die dadurch beobachtbar werden, dass sie sich an diesem konturierten, vielfältigen Medium abbilden.

5.

Das Pferdeprojekt der FU Berlin: ein Wegbereiter der heutigen pferdegestützten Psychotherapie

Das Pferdeprojekt der Freien Universität wurde nach über 20 Jahren Forschungs-, Lehr- und Praxistätigkeit im Jahr 2006 offiziell beendet. Die wissenschaftliche und praktische Arbeit und der systematische Austausch dieses langlebigen Universitätsprojektes mit relevanten Institutionen und Personen, die an der Entwicklung der Einsatzmöglichkeiten des Mediums Pferd in psychologisch-therapeutischen Feldern arbeiteten, hat u. E. zur Entwicklung dieses Forschungs- und Praxisfeldes nachhaltig beigetragen. Viele der oben ausgeführten Grundgedanken, Ansätze und Ergebnisse der Arbeit im Pferdeprojekt finden sich in heutigen Aktivitäten und Veröffentlichungen zur Einbeziehung von Pferden in psychotherapeutischen Behandlungen wieder. Die heute sogenannte »Pferdegestützte Psychotherapie« verbreitet sich zunehmend in der Fachöffentlichkeit und ist aktuell im Begriff, sich gesellschaftlich zu etablieren: Artikel zum Thema erscheinen auch in den offiziellen Organen der Psychotherapeutenschaft (z. B. Psychotherapeutenjournal, Ärzteblatt PP),19 Sammelbände und Lehrbücher werden in renommierten Verlagen veröffentlicht,20 der Ansatz findet Beachtung in etablierten Psychothera-

19 Veröffentlichungen zur Psychotherapie unter Einsatz von Pferden im Deutschen Ärzteblatt PP z. B. von Heintz und Weiger (2005), Schaper (2010), Gomolla (2014), im Psychotherapeutenjournal (2019) von Romanczuk-Seiferth und Schwitzer. 20 Kürzlich erschienen bei Schattauer: Opgen-Rhein, C., Kläschen, M. & Dettling, M. (Hrsg.) (2018). Pferdegestützte Therapie bei psychischen Erkrankungen. Bei Hogrefe: Julius, H., Beetz, A. & Kotrschal, K. (2014). Bindung zu Tieren: Psychologische und neurobiologische Grundlagen tiergestützter Interventionen. Im Ernst Reinhardt Verlag: seit 2012 die Zeitschrift mensch & pferd international – Zeitschrift für Förderung und Therapie mit dem Pferd; Hediger, K. & Zink, R. (2017). Pferdegestützte Traumatherapie; Ladner, D. & Brandenberger, G. (2018). Tiergestützte Psychotherapie mit Kindern und Jugendlichen. Hund und Pferd therapeutisch einbeziehen.

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piegesellschaften (DGVT-Kongress 2018)21 und ist Gegenstand von Lehre und Forschung an Universitäten22 und privaten Forschungsinitiativen.23 Kürzlich verhalf der Kinofilm Stiller Kamerad (Regie: L. Hollmann, 2019) einem pferdegestützten Hilfsangebot für kriegstraumatisierte Soldaten zu großer Popularität. Sogar die Bundeswehr als hinsichtlich der Unterdrückung von Gefühlen »härteste« Institution unserer Gesellschaft entdeckt aktuell das therapeutische Potential der Beziehungsgestaltung mit dem Pferd und finanziert im Auftrag des Bundesverteidigungsministeriums eine große Evaluationsstudie.24 Fachverbände formieren sich: Ein Berufsverband für Fachkräfte pferdegestützter Interventionen wurde 2013 gegründet. Das Deutsche Kuratorium für Therapeutisches Reiten, das 2020 sein 50-jähriges Bestehen feiert, repräsentiert zunehmend auch den Bereich Psychotherapie mit dem Pferd. Die seit 2001 bestehende internationale »Fachgruppe Arbeit mit dem Pferd in der Psychotherapie« (FAPP) hat in Kooperation mit dem DKThR zwei Sammelbände (2005; 2018) herausgegeben, in denen sie die Vielfalt der praktischen Arbeit mit dem Pferd in der Psychotherapie aufzeigt und reflektiert. Aktuell entstehen Weiterbildungsgänge zum Einsatz des Pferdes in der Psychotherapie, die fachliche Standards, Qualitätsmerkmale und offizielle Qualifikationen etablieren.25 Die FAPP bietet im Jahr 2020 erstmals in Kooperation mit dem Deutschen Kuratorium für Therapeutisches Reiten einen Weiterbildungsgang für approbierte Psychotherapeuten an.

21 Die DGVT ist »Endlich auf den Hund gekommen« – so lautete der Titel eines Symposiums zur Tiergestützten Therapie im Rahmen des Themenschwerpunkts Kinder und Jugend auf dem DGVT-Kongress 2018, der unter dem Titel »Free Your Mind – Psychotherapie im Wandel – 50 Jahre DGVT« vom 28.2.–4. 3. 2018 stattfand. 22 Forschungsgruppen zur Tiergestützten Psychotherapie gibt es etwa an der Alice Salomon Hochschule Berlin, der Charit8 Berlin, der TU Dresden, der Justus-Liebig-Universität Gießen, Universität Kassel und Universität Freiburg. 23 GREAT (German Research Center for Equine Assisted Therapy gUG); aktuell auch Birgit Heintz und Marika Weiger, Mitglieder der FAPP: Qualitative Pilotstudie zu spezifischen Wirkfaktoren in der Psychotherapie mit dem Pferd, bisher unveröffentlicht. 24 Forschungsvorhaben zur »Wirksamkeit von adjuvanter pferdeunterstützter Intervention und Therapie bei Einsatzfolgestörungen von Soldaten«, siehe den Rundbrief des DHThR 2019. Der Bundestagsabgeordnete Reinhold Sendker (Westkirchen) und die Geschäftsführerin des Deutschen Kuratoriums für Therapeutisches Reiten (DKThR), Ina El Kobbia, verbinden mit der Studie sogar die Hoffnung, Pferdegestützte Therapie zu einer Leistung der gesetzlichen Krankenkassen zu machen: https://www.cdu-sendker.de/lokal_1_1_1952_Send ker-informiert-Bundesverteidigungsministerin-erteilt-Freigabe-fuer-Studie.html (Stand: 29. 12. 2019). 25 Deutsches Kuratorium für Therapeutisches Reiten (DKThR), Schweizer Gruppe therapeutisches Reiten (SG ThR), Institut für Pferdegestürzte Therapie (IPThR), Niederländische Stiftung Helfen mit Pferden – Equitherapie SHP-E (NL), Fachgruppe Arbeit mit dem Pferd in der Psychotherapie (FAPP).

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Auch wir selbst haben den psychotherapeutischen Einsatz des Mediums Pferd in Fachverbänden, in der Weiterbildung und in unserer klinischen Praxis fortgeführt. Die therapietheoretischen Grundsätze von Siegfried Schubenz zur Psychotherapie als elementarer, heilsamer Beziehungserfahrung, bei der das Medium Pferd hilft, über direkte, konkrete (Körper-)Kontaktangebote Entwicklungszuversicht und Lernfähigkeit bei zutiefst verstörten Menschen anzustoßen, prägen uns bis heute und lassen sich u. E. gut verbinden mit modernen, z. B. schematherapeutischen, strukturbezogenen oder mentalisierungsbasierten Psychotherapieansätzen. Diese sind für Klienten konzipiert, die aufgrund sogenannter »struktureller Defizite« kaum von herkömmlichen Therapieangeboten profitieren, da die dort vorausgesetzte Fähigkeit zur Abstraktion und symbolischen Bearbeitung noch nicht hinreichend gegeben ist. Diese Zielgruppe benötigt konkrete Beziehungserfahrungen, direkte Antworten, praktisches Erleben in der Psychotherapie und rechtfertigt aus unserer Sicht besonders den zusätzlichen Aufwand, speziell ausgebildete Therapiepferde einzubeziehen. In der Gruppenpsychotherapie mit Drogenabhängigen unter Einsatz des Mediums Pferd ist der beschriebene Ansatz des Pferdeprojekts weitgehend auf die Psychotherapie mit Erwachsenen übertragen, die meist an sogenannten frühen psychischen Störungen und schwersten Formen sozialer Ausgrenzung leiden (vgl. Papke, 2008). Dieser Ansatz wird seit nunmehr rund 20 Jahren in verschiedenen Settings fortgesetzt und weiterentwickelt. In der Rückschau und mit Blick auf die aktuellen Entwicklungen in der Pferdegestützten Psychotherapie lässt sich festhalten: Das Pferdeprojekt der FU Berlin hat uns und viele Fachkollegen persönlich geprägt und ermutigt, sich in dieser Arbeit zu entfalten und sie weiterzuentwickeln. Im Pferdeprojekt wurden Maximen der PPTsichtbar und konkret, gemeinsam diskutiert und lebendig umgesetzt. Therapeutische Medien bewusst einzusetzen hat uns zu verstehen gelehrt, was psychologische Psychotherapie ist oder sein soll. Beim Einsatz des Mediums Pferd haben wir gelernt, wesentliche Prozessmerkmale von Psychotherapie wahrzunehmen, zu untersuchen, zu versprachlichen und schulenübergreifend zu konzeptualisieren. Den Zuwachs an gesellschaftlicher Beachtung, den pferdegestützte Therapieansätze aktuell erfahren, begrüßen wir prinzipiell, da er die Chance bietet, dass mehr Menschen von dieser speziellen Erweiterung des therapeutischen Angebotes profitieren können – insbesondere auch solche Klienten, die mit herkömmlichen Therapieformen nicht erreichbar sind. Zugleich sehen wir die Gefahr, dass die Bestrebungen, diesen Ansatz in der gesellschaftlichen »Mitte« der Psychotherapie zu etablieren und lehrbar zu machen, zu einer Reduzierung auf eine reine Technik führen. Der Versuch, störungsspezifische Handlungsan-

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leitungen aufzustellen (z. B. Opgen-Rhein et al., 2018), kommt dem aktuellen Trend zur Standardisierung und Manualisierung ebenso entgegen wie dem Wunsch junger Kollegen nach Hinweisen zur Behandlungsplanung, zu Umfang, Aufbau und Zielsetzung von Therapieeinheiten. Aus unseren Erfahrungen im Pferdeprojekt und unserer eigenen Entwicklung als Psychotherapeutinnen wissen wir aber, dass sie eine Verkürzung darstellen und auch im Rahmen der Entwicklung einer eigenen psychotherapeutischen Identität allenfalls eine Anregung sein können zur persönlichen Aneignung dieses Mediums – denn: Der Einsatz von Pferden als Medium in der Psychotherapie, wie Siegfried Schubenz ihn begründet und mit uns im Pferdeprojekt untersucht hat, war Ausdruck seines innovativen Engagements für eine gesellschaftlich engagierte, wissenschaftlich begründete klinische Praxis und eine praxisintegrierende Lehre. In diesem Sinne ist es uns wichtig, die Verständnisgrundlage der PPT zu bewahren. So beeindruckend das Medium »Pferd« auch sein mag, es ist nicht selbst die Therapie: Auch bei der Psychotherapie unter Einsatz von Pferden geht es immer um die Gestaltung einer psychotherapeutischen Beziehung, die in ihren heilsamen Aspekten so prägnant und auf die einzelnen Klienten abgestimmt wie irgend möglich gestaltet werden muss, um Entwicklungsoptimismus, Hoffnung, Integration und Teilhabe für zutiefst in ihrem Vertrauen verstörte Menschen anzustoßen. Die Pferde unterstützen uns dabei, ein wertschätzendes, echtes therapeutisches Beziehungsangebot zu machen und dieses auch über schwere Abwehrformen hinweg aufrechtzuerhalten, und erleichtern es unseren Klienten, darauf einzugehen. Sie sind diesen besonderen Aufwand wert.

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»Ohne Sympathie keine Heilung.« Oder: Die Fragmentierung der Beziehungsarbeit in der pädagogischen, medizinischen und psychologischen Versorgung1

Ferenczis Vermächtnis Am 13. August 1932, acht Monate vor seinem Tod, der ihn früh, mit 59 Jahren, ereilt, notiert Sandor Ferenczi in seinem Tagebuch den Satz, der uns in unserer professionellen Haltung als Helfer unmittelbar trifft, ja verunsichert, und uns – wenn wir bereit sind, uns auf diese These einzulassen – zu einer überraschend großen Auseinandersetzung verpflichtet. Der Satz lautet: »Ohne Sympathie keine Heilung«. In Klammern steht der Zusatz: »(Höchstens Einsichten in die Genese des Leidens)« (Ferenczi, 1988, S. 265). Und wenn wir es uns leisten können, dabei genauer auf uns zu hören, werden wir von der Vielfältigkeit unserer eigenen Reaktion überrascht sein. Haltungen und Denkgewohnheiten, die wir für ganz solide Grundlagen unserer – wie auch immer gearteten – pädagogischen, medizinischen oder psychologischen Berufstätigkeit als Helfer hielten, werden plötzlich wieder fragwürdig. Kann es wirklich sein, dass eine Leistung, die auf einer ursprünglichen, subjektiven Kraft beruht, die zwischenmenschliche Beziehungen stiftet, auch geeignet ist, bei etwas mitzuwirken, das wir gelernt haben, zu den schwierigsten Dienstleistungen zu rechnen, die, verantwortlich ausgeführt, wie das neue Psychotherapeutengesetz es zu Recht verlangt, nicht ohne die wissenschaftliche Kontrolle der eingesetzten Mittel gedacht werden kann? Vor allen jetzt hier notwendigen Überlegungen darf ich Sie zunächst aber beruhigen. Ich habe keineswegs vor, Sie am Ort der Wissenschaft mit Spekulationen zu behelligen, die dem Auftrag der Universität fremd sind. Spekulationen lagen auch dem Autor dieser These fern. Er war wissenschaftlich orientiert und ein sorgfältiger Forscher. Und Ferenczi war nicht irgendjemand, sondern über mehr als 20 Jahre ein Weggefährte Sigmund Freuds, am Ende mit allen Attri1 Ringvorlesung des Instituts für Klinische Psychologie und Diagnostik der Freien Universität Berlin und des Instituts für ppt am 29. 04. 1998. Das Vorlesungsmanuskript wurde von den Herausgebern der neuen Rechtschreibung angepasst.

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buten ausgestattet, die ihn zu einem gleichrangigen Forscher in der Sache der Psychoanalyse machten. Einschließlich seines mit 50-jähriger Verspätung veröffentlichten Tagebuchs aus seinem letzten Lebensjahr, das die genannte These als Titel trägt, ist sein theoretisches Werk für diejenigen, die aus den Schriften zur Psychoanalyse Anregungen für die Gestaltung ihrer psychotherapeutischen Praxis beziehen möchten, sogar von größerem Gewicht als das von Freud selbst. Wenn also Ferenczi am Ende seines produktiven Berufslebens als Psychotherapeut und Forscher diesen Satz formuliert hat, dann kann das für uns nur heißen, ihn sehr sorgfältig zur Kenntnis zu nehmen und zu versuchen, ihn zu verstehen – ganz so, wie es die Verpflichtung der Wissenschaft ist, signifikantes Wissbares zur Kenntnis zu nehmen, um es für die Verbesserung der Lebensverhältnisse von Menschen zu nutzen. Wie wir aus dem Briefwechsel zwischen Ferenczi und Freud aus den letzten Lebensjahren wissen, entwickelte sich zwischen ihnen ein immer größer werdender Dissens, der mit wachsender praktischer und wissenschaftlicher Erfahrung von Ferenczi und seiner Bereitschaft, seine eigene Position deutlich zu vertreten, wuchs. Wir können den zitierten Satz auch als eine Kritik Ferenczis an Freud lesen, eine Kritik, die dem zunehmendem Desinteresse von Freud an der klinischen Praxis und den Begleiterscheinungen der Institutionalisierung und Formalisierung der Sache der Psychoanalyse galt. Vor allem ist in dem Satz aber die gesamte Berufserfahrung Ferenczis als sehr engagierter Therapeut inkarniert, die ihn dann sagen lässt: Ohne die tragende Qualität der Sympathie des Therapeuten für die Person des Klienten kommt der Heilungsprozess des Klienten nicht entschieden genug, vielleicht überhaupt nicht voran. Der Prozess bleibt ein vorrangig diagnostischer, dem das aktive Heilungsunterstützungsangebot nicht zur Seite steht. Ferenczi ist also am Ende seines Lebens davon überzeugt, dass der Psychotherapeut selbst durch seine grundlegende und ganzheitliche persönliche Orientierung auf seinen Klienten Heilung unterstützend einwirkt. Auf der ständigen Suche nach weiterer Erhöhung der Wirksamkeit seines therapeutischen Tuns überschritt Ferenczi die Grenzen bisher mit Freud gemeinsam getragener Prinzipien. Er wurde zunehmend zum radikalen, aktiven Therapeuten und sein Briefwechselpartner Freud lässt sich gemäß der Gesetzmäßigkeit seiner eigenen Entwicklung ihm gegenüber dazu hinreißen, sogar sein Desinteresse an dem therapeutischen Aspekt der Psychoanalyse zu bekunden. Diese beiden Tendenzen der Entwicklung psychologisch-therapeutischer Konzepte sind über diese beiden Personen hinaus vielleicht die Haupttrends in der jetzt 100-jährigen Geschichte von psychologischer Therapie: die strenge Wahrung der gefundenen Form bis hin zur Gründung einer weltumspannenden Schule auf der einen Seite und auf der anderen die ebenso strenge Verpflichtung gegenüber dem je einen Heilungsprozess, der danach verlangte, die Form zu

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sprengen, wenn sie sich hier und jetzt als noch nicht geeignet zeigte, dem Erkrankten bei der Findung des Weges zur Heilung effektiv genug zu helfen. Und es ist schließlich Ferenczi, der Forscher und engagierte Therapeut, und nicht Freud, der Schulengründer, der aus seiner Offenheit heraus, aus seiner Bereitschaft, Grenzen zu überwinden, gerade damit die entscheidenden Impulse für die Weiterentwicklung der Psychoanalyse gegeben hat – und zwar in der Richtung der Behandlung von sogenannten Grundstörungen oder frühen Störungen bis hin zur Psychotherapie von Psychosen. Der Einsatz der ganzen Person, die gewagte Nähe zu seinen Klienten war es, die die Wirksamkeit des therapeutischen Tuns so sehr steigerte, dass schwere psychische Erkrankungen auf diesem Wege geheilt werden konnten. Michael Balint (1988), der sich als Schüler und Freund um die Klärung des historischen Bildes Ferenczis am meisten verdient gemacht hat, führte die Linie der Forschung prägnant fort, indem er z. B. zu der Erkenntnis vordrang, dass im Bereich dieser Grundstörung […] die Worte kein ganz sicheres Mittel bilden – so dass der Analytiker trachten muß, selbst wie ein primärer Stoff (primäre Liebe) zu werden, der sich einzig der Sorge widmet, den Patienten zu tragen, ohne dabei deutliche Grenzen zwischen dem Patienten und sich selbst aufrechtzuerhalten. (Beitrag in Ferenczi, S. 287)

Unter den vielen Anderen, die sich offen oder auch verdeckt auf Ferenczi beziehen, nenne ich hier nur Kohut, Mahler, Spitz und Winnicott. Sie alle haben die radikale Zuspitzung Ferenczis (1988) aufgegriffen, die in ihrer Erweiterung heißt: »Nur Sympathie heilt. […] Verständnis ist notwendig, um die Sympathie an der richtigen Stelle in der richtigen Art anzuwenden« (S. 265). Und dann folgen die bereits genannten beiden Sätze: »Ohne Sympathie keine Heilung. (Höchstens Einsichten in die Genese des Leidens)« (ebd.). An dieser Stelle und durch die eben vorgenommene Erweiterung des ersten Zitats können wir erkennen, dass die Aussage Ferenczis kein problematischer Befreiungsversuch von komplizierten und intellektuell anspruchsvollen psychoanalytischen oder allgemein psychologisch-wissenschaftlichen Einsichten war, keine Flucht in die private Beziehung zu seinen Klienten, kein Versuch also, dem Klienten in ausweglos erscheinenden Lebenslagen doch noch irgendwie zu helfen, am Ende dann nur noch als der gute Freund. Im Gegenteil: Ferenczi wusste in dem Augenblick, in dem er diese Erkenntnis formulierte, um die schiere Unmöglichkeit gerade der Realisierung dieser Haltung. Er wusste aus langer Praxis um die negativen Kräfte der Gegenübertragung, besonders in den Fällen der schwereren psychischen Erkrankung seiner Klienten. Die Sympathie Ferenczis, die primäre Liebe Balints, das sichere Halten und Tragen Winnicotts oder die therapeutische Beziehung Rogers’ sind Haltungen gegenüber Menschen, die so nur in therapeutischen Settings, in gründlicher und besonnener

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Rückbindung an möglichst repräsentative wissenschaftliche Theoriesysteme und unter beständiger Selbstkontrolle durch kollegiale Supervision einzunehmen sind, weil sie im Alltag durch die großen Kräfte, die in der psychischen Erkrankung gebunden sind, nahezu unmöglich gemacht werden. Schwer kranken Menschen gegenüber kann man zwar Mitleid empfinden, aber in der Regel keine Sympathie. Man müsse selber krank gewesen und in einer eigenen Therapie wieder gesund geworden sein, um diese Fähigkeit erwerben zu können. Man müsse in der Theorie der Psychoanalyse gründlich ausgebildet sein. Ich füge hinzu, man muss ein vollständiges und weiter wachsendes psychologisches Wissen besitzen von den Bedingungen menschlichen Seins, menschlicher Entwicklung, den Gefährdungen dieser Entwicklung in den realen sozialen Verhältnissen und den Bedingungen der dann eintretenden Blockierungen dieser Entwicklungen, die schließlich gefährlichen Krankheitswert annehmen. Und man muss sich die Möglichkeiten geschaffen haben, unter den dann äußerst erschwerten Bedingungen eine Gegenbewegung einzuleiten, und zwar mit den Mitteln der eigenen so geschulten Person, die keine ihr äußerliche Methode anwendet, sondern, wie Ferenczi es fordert, an der richtigen Stelle und in der richtigen Art Sympathie zeigt. Wer denkt hier nicht an Rogers und an das Dilemma, sich in einer Ausbildung zum klientenzentrierten Psychotherapeuten auf die Anforderung einzulassen, in therapeutisch wirksamer Weise den Anderen so, wie er ist, zu akzeptieren und dabei in hilfreicher Weise empathisch und mit sich selbst kongruent zu sein. Ferenczi fasst diese Haltung in den Begriff der Sympathie.

Der Geltungsbereich von Ferenczis These Es gibt sehr wenige Laien, die zu dieser Haltung angesichts von psychischer Krankheit fähig sind. Man wird sie bei näherem Hinsehen als erfolgreiche Autodidakten in der gleichen Sache verstehen lernen. Je schwerer die psychische Erkrankung ist, desto deutlicher wird es aber werden, wie weiträumig und wissenschaftlich begründet die Vorkehrungen sein müssen, die zu treffen sind, um sich in den Stand eines wirksamen Helfers zu bringen. Dann wird es sich zeigen, dass wissenschaftlich begründete pädagogische Befähigungen, einschließlich von sonder- und heilpädagogischer Zusatzqualifikation, von der Sache her nicht mehr ausreichen, dass auch psychotherapiespezifische Weiterund Zusatzausbildungen, welchen Umfanges auch immer, für sich genommen nicht genügen, sondern dass nur das umfassende Studium der Psychologie mit einem Schwerpunkt in Klinischer Psychologie die Voraussetzungen bereitzustellen vermag, sich wirkungsvoll wie eine hinreichend gute Mutter ihrem eigenen Kind gegenüber in die Nähe des Klienten zu stellen, um mit der ge-

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meinsamen Kraft die Bewegung zu ermöglichen, die die Voraussetzung für die Überwindung der Krankheit ist. Genau das ist in den Begriff der Sympathie bei Ferenczi gefasst. Beschränkt sich die Geltung der Ferenczischen Einsicht auf psychische Erkrankungen? Offensichtlich nicht. Die Menschen wussten es im Grunde auch früher schon, dass z. B. der Medizinmann, der traditionelle Heiler eines Clans, durch seine Person und nicht durch seine eingesetzten Hilfsmittel Heilungen beförderte. Dieses Wissen reicht bis an die Schwelle der Gegenwart und ist erst mit der besonderen naturwissenschaftlichen Orientierung in der Medizin weitgehend verloren gegangen. Und es ist nicht so, dass die Wirkung jener früheren Helfer sehr viel geringer war als die der heutigen Ärzte. Nennen wir die von ihnen eingesetzten Mittel kulturspezifische Hilfsmittel oder Medien, um eine sozial tragfähige, unter den Umständen der Krankheit immer noch sichere Beziehung zu stiften, in der sich dann der Heilungsvorgang ausbreiten konnte. Unter aller verwirrenden Kompliziertheit moderner Medizin findet sich aber das Gleiche, die ganzheitliche, gesundheitsfördernde Wirkung der Arzt-PatientBeziehung, allerdings in einer unangemessen geringen Wertschätzung durch das Medizinsystem und in einer medizinisch-wissenschaftlich nicht mehr ausreichend gepflegten Verfassung. Die Verselbstständigung der Heilmittelforschung in der Pharmazie kann in dem Zusammenhang als eine Verleitung zu der Schlussfolgerung gesehen werden, dass die dort entwickelten Mittel selbst schon heilen könnten und der Arzt, der sie verordnet, darin seine therapeutische Leistung weitgehend erschöpft. Der Arzt hat aber ein umfangreiches Medizinstudium hinter sich und weiß aus diesem Grunde sicherer als Vertreter anderer Berufe, was seinem Patienten fehlt. Er übernimmt aus diesem Grunde und nur aus diesem Grunde die Verantwortung für die Therapie. Er wählt aufgrund seiner wissenschaftlich begründeten Erfahrung die Hilfsmittel, von denen er in dem jeweiligen Moment annimmt, dass sie den Heilungsprozess unterstützen. Seine Unterstützungshandlungen reichen vom Wadenwickel über Stärkungsmittel bis hin zu Penicillin und Psychopharmaka und dem ultimativen Mittel der operativen Entfernung des ganzen Symptomkomplexes. Wenn gegenwärtige Ärzte es nicht wissen wollen, ihre Patienten wissen durchaus, dass ihre medizinisch-wissenschaftliche Gesamtkompetenz die Qualität ist, die als die Heilung unterstützende Kraft erscheint, die das Vertrauen in die Fähigkeiten des Arztes stiftet, einen Weg aus der Krankheit zu kennen, und die reale Beziehung, die er ihnen anbietet, macht ihnen den Mut – das ist die entscheidende Qualität ihres eigenen Heilungswillens – mit ihm zusammen den Weg in die Gesundheit zurückzugehen. Vielleicht kann man sogar sagen, dass Ärzte, wenn sie sich selbst so nicht mehr sehen, ihren Patienten die Rolle als Therapeut verweigern. Das Verhältnis von Fachärzten für Allgemeinmedizin und den unterschiedlichen anderen Fachärzten hebt das

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Problem in der Regel nicht auf. Erst das Prinzip von psychologischer Therapie hat einen neuen Rahmen geschaffen, in dem die wissenschaftliche Arbeit an dem genannten Dilemma wieder vorangeht.

Ferenczis These hellt das Missverständnis von psychologischer Therapie als Technik auf Aber es besteht ein Dissens zwischen ärztlichen und psychologischen Therapeuten, der die Aufklärung dieses Zusammenhanges erschwert. Er beruht unter anderem darauf, dass die Ärzte das Prinzip Psychotherapie gegenwärtig nicht in der Analogie zu ihrer komplexen Grundbeziehung zu ihren Patienten sehen können, sondern als ein Äquivalent zu ihren bisherigen Heilhilfsmitteln, die sie in der Regel aus einem über Kooperationsverträge mit ihnen verbundenen anderen Wissenschaftssystem beziehen, aus der Pharmazie und im neuen Falle der psychologischen Therapie von der Psychologie. An dem anderen Ort, der nicht der der Medizin und der Ärzte ist, also bisher vor allem in der Pharmazie, werden sogenannte Heilmittel entwickelt, die in der klinischen ärztlichen Praxis überprüft und bei erfolgreichem Abschluss der Prüfung in den ärztlichen Routinedienst übernommen werden. Ärzte haben auf diesem Wege der Arbeitsteilung in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr an klinischem Wissen an die Pharmakologen abgetreten. Das aber hat sie schließlich darauf vorbereitet, auch die historisch relativ neuen Methoden der Psychotherapie mit gleicher Haltung und gleichem impliziten Vertrauen auf die funktionierende Arbeitsteilung zu einer zuliefernden anderen Wissenschaft, nämlich jetzt zur Psychologie, anzunehmen. Hier wird die Arbeitsteilung jedoch besonders problematisch, weil sie, anders als im Falle der Kooperation mit der Pharmazie, eine Kooperation ohne eigene Kontrollmöglichkeiten des übernommenen Anteils ist. Das Entscheidende jedoch ist, dass Psychotherapie historisch kein solches Heilhilfsmittel ist, das an anderer Stelle für die Hand des Arztes konstruiert wurde. Psychotherapie oder, besser bezeichnet, psychologische Therapie (denn sie ist in der Tat das Gegenstück zur ärztlichen Therapie) ist die klinisch-psychologische Praxis von Diplompsychologen im Falle der Betreuung von Klienten mit psychischen Belastungen, denen ein wesentlicher Krankheitswert zugerechnet werden muss oder die zusammen mit körperlich bedingten Erkrankungen auftreten. Psychologische Therapie ist die klinische Grundtätigkeit von Diplompsychologen, wie die medizinische Therapie die Grundtätigkeit der Ärzte ist. Psychologische Therapie ist ein eigenes Paradigma der Unterstützung von Heilungsprozessen, das der medizinischen Therapie seit den Tagen von

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Breuer und Freud gegenübersteht und sich anbietet, mit ihr auf gleicher Ebene zu kooperieren. Ich will hier nicht verschweigen, dass es in unserer eigenen Wissenschaft, der Psychologie, gewichtige Stimmen gibt, die dafür plädieren, dass Psychologie in all ihren Teilen Dienstleistungen für andere Wissenschaften und andere Institutionen, also auch für die Medizin, anbieten könnte, sich selbst aber von allen Berührungen mit der gesellschaftlichen Praxis frei als Grundlagenwissenschaft verstehen sollte. Ich hoffe aber sehr, dass diese Auffassung unter der Wirkung des neuen Psychotherapeutengesetztes nicht mehr mehrheitsfähig ist und eine Diskussion, wie sie am Ende der 1950er Jahre in Bezug auf die Weitergabe von psychologischen Testverfahren geführt wurde, jetzt in Bezug auf Therapiemethoden stattfindet, in der aufgezeigt werden kann, dass psychologische Therapie ein untrennbarer Bestandteil von klinisch-psychologischer Forschung, Studium und Praxis ist und als wissenschaftlich begründet nur im Zusammenhang mit diesem Studium der Psychologie bezeichnet werden kann. Im anderen Falle, im Falle also der Trennung von psychologischen Therapiemethoden und der Wissenschaft Psychologie, gibt es aber keine wissenschaftlich begründeten und wissenschaftlich abgesicherten Therapiemethoden, weil das in der Sache liegt, dass Methoden selbst keine wissenschaftliche Begründung an sich binden können, sondern nur Theorien und genau genommen nur lebendige Menschen, die sich im Kollektiv einer produktiv voranschreitenden Wissenschaft auf nach bestem Wissen und Gewissen verantwortetes Handeln geeinigt haben und sich darauf immer wieder aufs Neue einigen. »Wissenschaftlich begründet« heißt also zuallererst, das eigene professionelle Tun unter öffentlicher Kontrolle als die hier und jetzt wirksamste und zugleich schonendste Intervention zu realisieren. Das aber kann nur der umfassend in der entsprechenden Wissenschaft ausgebildete und beständig weitergebildete Besitzer des einschlägigen gesellschaftlichen Wissens. In Bezug auf Psychotherapie sind das heute nur die mit klinisch-psychologischem Schwerpunkt ausgebildeten Diplompsychologen. Wissenschaftlich begründetes psychotherapeutisches Tun ist gegenwärtig das therapeutische Handeln von Diplompsychologen, die ihr gesamtes psychologisches Fachwissen zum Einsatz bringen, während sie sich um eine wirksame therapeutische Haltung bemühen, die Ferenczi die sichere Bereitschaft zur Sympathie genannt hat. Alles davon Abweichende sind Spielarten von Laientherapie. Dass gebildete Laien an gesellschaftlich zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Erkenntnissen Anteil nehmen, ist die Grundlage rationalen modernen bürgerlichen Lebens. Dass dieses rezipierte Fachwissen aufklärerische Effekte in den Menschen auslöst, ihnen Einsichten, z. B. im Falle der Wissenschaft Psychologie, in die Bedingungen ihrer individuellen Gewordenheit und in die prinzipielle Änderbarkeit von Entwicklungen gibt, macht sie zu angemessen

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gebildeten Mitgliedern einer Zivilgesellschaft, die vor dem Hintergrund dieser Grundbildung ihren jeweiligen Aufgaben, auch denen als Beziehungspartner und Erzieher von eigenen Kindern, angemessen nachkommen. Nur lässt sich auf dieses Wissen, wenn es nicht durch das vollständige Studium der Sache ergänzt worden ist, nicht die Legitimierung der selbstverantworteten Berufsausübung, z. B. als psychologischer Therapeut, aufbauen. Gerade in Bezug auf den Arzt wissen wir das sehr genau. Die meisten unter uns möchten sich im Falle ihrer ernsten körperlichen Erkrankung durchaus sicher fühlen dürfen, von einem mit hinreichender Berufserfahrung ausgestatteten, medizinisch-wissenschaftlich auf dem neuesten Stand umfassend an einer Universität ausgebildeten Arzt betreut zu werden. So gilt es in unserer Gesellschaft in Bezug auf jede Profession: auch die des Juristen, des Pädagogen, des Wirtschaftswissenschaftlers, aber auch in Bezug auf die nicht-wissenschaftlichen Professionen, z. B. die des Elektrikers usw. Das sogenannte Psychotherapieverfahren oder die je spezifische Methode des psychologischen Therapierens für sich selbst genommen ist eine um das Eigentliche, d. h. um die wissenschaftlich begründete Kompetenz ihres Anwenders, reduzierte, sehr grobe Skizze dessen, was in diesem Rahmen durch die historische Weiterentwicklung der Psychologie als klinische Wissenschaft bisher zum Nutzen für notleidende Menschen möglich geworden ist. Sie ist im besten Falle eine Art Rechenschaftsbericht der Wissenschaft an die Gesellschaft in der neuen Sache wie etwa die intellektuell anspruchsvolle und differenzierte Beschreibung der technischen Erfordernisse und der Probleme und Risiken bei einer Organtransplantation. Sie ist für niemand anderen eine Tätigkeitsbeschreibung als für den zum Herzchirurgen weitergebildeten Arzt. Es wäre völlig abwegig, dieses so beschriebene Verfahren für sich selbst mit einer wissenschaftlichen Anerkennung auszustatten, um es mit diesem Gütesiegel weiterzugeben, z. B. an Diplompsychologen mit klinischem Schwerpunkt. Wissenschaftlich ist dieses Verfahren nur solange zu nennen, wie es als die komplexe Praxis in die Kompetenz eines akademisch breit ausgebildeten Arztes eingebettet ist, der seinen Schwerpunkt zusätzlich in der Herzchirurgie eingerichtet hat. So ist es aber auch bei jeder Beschreibung von psychologischer Therapie, die dazu geeignet sein soll, schwerwiegende psychische Beeinträchtigungen zu überwinden zu helfen, denen ein erheblicher Krankheitswert zugerechnet werden muss. Diesen Tätigkeitsbeschreibungen ist nur insoweit das Gütesiegel »wissenschaftlich anerkannt« oder »fundiert« zuzurechnen, wie sie die skizzenhafte Abbildung der Tätigkeit eines wissenschaftlich vollständig ausgebildeten Diplompsychologen sind, der seinen Schwerpunkt in klinischer Psychologie und Psychologischer Psychotherapie hat und über eine entsprechend ausreichende angeleitete Vorbereitung auf die klinische Praxis verfügt. So ist z. B. Verhaltenstherapie eben nicht das, was ein Kollege in der Praxis tut, sondern

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das, was sein zusammen mit seinen Klienten unternommenes Tun produktiv und auch kreativ leitet, also ihr psychologisch-wissenschaftliches Gesamtverständnis. Abgelöst von der wissenschaftlich begründeten Basis ganzheitlichen Handelns wird die beschriebene Psychotherapiemethode zur blinden Technik – durchaus intensiv wirksam, aber der wesentlichen inhaltlichen Bestimmung beraubt und starr, immer problematisch in ihrer Erscheinung und oft in ihrem Gegensinne wirkend als unbedachte oder sogar böswillige Manipulation des anderen. Darin ist sie allen anderen Ergebnissen wissenschaftlicher Produktivität gleich, die zur freien Verfügung weggegeben worden sind, und in dieser Verselbständigung auch frei sind vom ethisch-moralischen Anspruch der Wissenschaft, zu der sie immer noch gehören. Vom Arzt wissen wir, dass er sein Studium abschließt mit der moralischen Entscheidung, sein wissenschaftlich begründetes Wissen in den Dienst aller Menschen zu stellen. Seit alters her ist das bekannt als hippokratischer Eid, den er zu leisten hat. Der Neue Brockhaus sagt über ihn, dass er das Vorbild des modernen, der Berufsordnung für Ärzte vorangestellten und vom Weltärzteverband empfohlenen Arztgelöbnisses ist. Es lautet: Bei meiner Aufnahme in den ärztlichen Berufsstand gelobe ich feierlich, mein Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen. Ich werde meinen Beruf mit Gewissenhaftigkeit und Würde ausüben. Die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit meiner Patienten soll oberstes Gebot meines Handelns sein. Ich werde alle mir anvertrauten Geheimnisse wahren. Ich werde mit allen meinen Kräften die Ehre und die edle Überlieferung des ärztlichen Berufes aufrechterhalten und bei der Ausübung meiner ärztlichen Pflichten keine Unterschiede machen, weder nach Religion, Nationalität, Rasse noch nach Parteizugehörigkeit oder sozialer Stellung. Ich werde jedem Menschenleben von der Empfängnis an Ehrfurcht entgegenbringen und selbst unter Bedrohung meine ärztliche Kunst nicht im Widerspruch zu den Geboten der Menschlichkeit anwenden. Ich werde meinen Lehrern und Schülern die schuldige Achtung erweisen. Dies alles verspreche ich feierlich auf meine Ehre. (Weltärztebund, 1948, modifiziert vom Deutschen Ärztetag)

Wir Psychologen mit dem Schwerpunkt in Klinischer Psychologie unterliegen der gleichen Verpflichtung. Aber auch Pädagogen und Soziologen unterliegen ihr im Grunde. Wir alle stehen mit unseren spezifischen wissenschaftlichen Ausbildungen im Dienste aller einzelnen Menschen. Dabei haben die relativ alte Wissenschaft Medizin und die relativ junge Wissenschaft Psychologie etwas gemeinsam, das diesen Anspruch sichtbarer macht: nämlich die klinische Verpflichtung als die eigentliche Klammer über ihre an sich immer wieder auseinanderstrebenden, zur Verselbstständigung neigenden Teildisziplinen. Sie sind Wissenschaften im Dienste der konkreten Existenzerhaltung aller realen Menschen, dazu geschaffen, ihre individuellen Notlagen mit Krankheitswert zu überwinden zu helfen. In beiden Wissenschaften ist die Verantwortung für

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Menschen in spezifischen Notlagen an ein umfassendes Wissen über Menschen geknüpft, im einen Fall an den Menschen in seiner spezifischen Körperlichkeit und im anderen Fall an ihn in seiner seelisch-geistigen Verfasstheit. Die Erfahrungen ihrer spezifischen Hilfeleistungen bleiben dementsprechend an diese wissenschaftliche Basis geknüpft. Sie können nicht ohne Schaden als bloße Techniken an irgendwelche Personen, Gruppen oder Organisationen weitergegeben werden. Auch die historisch etablierten Psychotherapieschulen sind aus dieser Verantwortung nicht auszunehmen. Indem sie das Selbstverständnis ihrer Gründerpersönlichkeiten nicht weitergeben, die sich in aller Regel selbst in Bezug auf die neue Methode als Wissenschaftler und Psychologen verstanden, und ihre Weiterbildungsaufgaben nicht mit Universitäten teilen, verletzten sie diesen Grundsatz. Kommt es also zu dieser Weitergabe solcher Techniken an Menschen, die der Wissenschaft nicht oder nicht mehr unmittelbar verpflichtet sind, verlieren sie jegliche wissenschaftliche Kontrolle und damit ihre wissenschaftliche Anerkennung und ihren Rang als große Hilfeleistungsangebote unserer Gesellschaft.

Psychologische Therapie ist ganzheitlich und wissenschaftlich im Sinne von Ferenczi Ich will zum Schluss noch etwas genauer den Zusammenhang von psychologischer Therapie als ganzheitlicher Orientierung im Sinne Ferenczis und ihrer wissenschaftlichen Begründung durch die Psychologie beschreiben. Alle großen Entwürfe für klinisch-psychotherapeutisches Handeln sind nach dem bisher Gesagten in erster Linie Übertragungen wissenschaftlicher psychologischer Erkenntnisse in die Praxis. Breuer und Freud, Ferenczi und die anderen Begründer der Psychoanalyse und der tiefenpsychologischen Ansätze waren in ihren eigenen wissenschaftlichen Bemühungen hier klinische Psychologen. Ihre psychologischen Forschungen sind im historischen Prozess nicht in das Medizinsystem eingegangen, sondern in die akademische Psychologie, und zwar auf allen ihren Ebenen. Das Fach Psychologie ist das Sammelbecken aller relevanten Einsichten in die Gestaltung von Änderungsprozessen geworden. Es unterhält heute eine systematische Beziehung zu den meisten wissenschaftlich ausgearbeiteten psychologisch-therapeutischen Konzepten, integriert sie in ihrem Bereich der Klinischen Psychologie und lässt sie hier wechselseitig aufeinander einwirken. Diplompsychologen sind deshalb aus ihrer entsprechenden Studienerfahrung dazu in der Lage, methodenübergreifend integrativ Behandlungspläne zu entwerfen und das weit überlappend Gemeinsame an historisch unterschiedlich geformten therapeutischen Settings zu erkennen.

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Das, was in der öffentlichen Diskussion Verhaltenstherapie genannt wird, hat in ihrer noch lebendigen Beziehung zur Wissenschaft Psychologie viel mit dieser integrativen wissenschaftlichen Orientierung zu tun. Psychologisch-therapeutisches Handeln ist so herangewachsen zu einem eigenen Paradigma der Heilungsunterstützung, das, wie Freud es schon formuliert hatte, die Stärkung der psychischen Ressourcen der Menschen im Blick hat. Es will sich seit mehr als zwei Jahrzehnten schon und nach der Verabschiedung eines Psychotherapeutengesetzes ganz entschieden in der nächsten Zukunft mit dem medizinischen Heilungsunterstützungsparadigma messen. Das Ziel ist die historisch gebotene gleichberechtigte Teilnahme an der Hilfeleistung im Krankheitsfalle im objektiven Interesse aller Hilfesuchenden. Als im wissenschaftlichen Bereich durchgesetzt gilt für dieses neue gesellschaftliche Angebot die Psychotherapiedefinition von Strotzka (1978): Psychotherapie ist ein bewußter und geplanter interaktioneller Prozeß zur Beeinflussung von Verhaltensstörungen und Leidenszuständen, die in einem Konsensus (möglichst zwischen Patient, Therapeut und Bezugsgruppe) für behandlungsbedürftig gehalten werden, mit psychologischen Mitteln (durch Kommunikation) meist verbal aber auch averbal, in Richtung auf ein definiertes, nach Möglichkeit gemeinsam erarbeitetes Ziel (Symptomminimalisierung und/oder Strukturänderung der Persönlichkeit) mittels lehrbarer Techniken und auf der Basis einer Theorie des normalen und pathologischen Verhaltens. In der Regel ist dazu eine tragfähige emotionale Bindung notwendig. (S. 3)

Alle großen historischen psychologisch-therapeutischen Hilfeleistungsansätze lassen sich unter dieser Definition vereinen. Als lehrbare Techniken können selbstverständlich nur solche verstanden werden, die auf der Grundlage eines vollständigen Psychologiestudiums in einer den Schwerpunkt Klinische Psychologie in die Praxis der psychologischen Therapie verlängernden Weiterbildung von allen so Ausgebildeten auch erreicht werden können. Die Definition grenzt sich hier von den nicht mit modernen Mitteln lehrbaren intuitiven Künsten des Therapierens ab. Entscheidend ist der letzte Satz: »In der Regel ist dazu [nämlich zu einer produktiven psychologischen Therapie] eine tragfähige emotionale Bindung notwendig.« Alle modernen Versuche, Wirkfaktoren des psychologischen Therapierens zu isolieren, stoßen auf den Faktor der Beziehung zwischen Klient und Therapeut. Grawe (1994) sagt dazu, als er diesen Faktor in seinem Buch erwähnt: Wenn man alle je untersuchten Zusammenhänge zwischen bestimmten Aspekten des Therapiegeschehens und dem Therapieergebnis zusammennimmt, dann sind Aspekte des Beziehungsgeschehens in Psychotherapien diejenigen Merkmale des Therapieprozesses, deren Einfluß auf das Therapieergebnis am besten gesichert ist. (S. 775)

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Psychologische Therapie, von der hier die Rede ist, ist ein gesellschaftlich organisiertes Hilfeleistungsangebot – seit Kurzem durch ein Gesetz geregelt, wie entsprechende andere, z. B. medizinische Hilfeleistungen –, das seine größte Wirkung im Krankheitsfalle entfalten soll und jedem Bürger offensteht. Und gerade diese Anforderung an das Verfahren erzwingt seine Anbindung an eine große Wissenschaft, die sich kontinuierlich und umfassend mit den theoretischen Grundlagen des Anwendungsbereiches auseinandersetzt. Unsere Hoffnungen und Befürchtungen, die wir im Falle einer akuten schwereren körperlichen Erkrankung hegen, dass sich schnell ein Arzt finden lässt, der nicht zu jung, aber auch nicht zu alt ist, der sein ärztliches Handeln aus einer auf den neuesten Stand gebrachten, breiten wissenschaftlichen Orientierung bestimmt und möglichst erfolgreich auch schon mit dem eben aufgetretenen Krankheitsfall Erfahrungen machen konnte, sind keineswegs autoritär oder irgendwie irrational. Sie gründen sich auf der jedermann zugänglichen Lebenserfahrung, dass die größeren Lebenskrisen nur unter Mobilisierung des gesellschaftlich umfassenderen Erfahrungswissens ohne schweren Schaden überwunden werden können. Besonders schwere oder besonders ungewöhnliche Erkrankungen führen deshalb mit gutem Grund zu Behandlungsversuchen, die am Ort I der Wissenschaften selbst, nämlich in Universitäten, d. h. in Universitätskliniken durchgeführt werden. Es ist die Qualität der Lebensbedrohung, die bei jeder erheblichen Erkrankung, auch der psychischen Erkrankung, angelegt ist, die uns zwangsläufig nach der größten Kompetenz des Hilfeleistenden suchen lässt. Heute wissen wir, auch in Bezug auf die ärztliche Betreuungsleistung, dass das nicht die irgendwie charismatisch herausragende Person des Einzelnen ist und nicht die Summe der von ihr eingesetzten Hilfsmittel, sondern dass es sich bei der höchsten Ausprägung einer praktischen Qualifikation nur um eine persönlich angeeignete kollektive und in der Regel auch nur im Team zu höchstem Effekt kumulierbare Leistung handeln kann. Wir wissen auch, dass es die Aufgabe der Wissenschaften ist, diese Erfahrungskumulation in einer besonderen Sache, in unserem Falle der psychologischen Therapie, zu organisieren. Und zu Recht erwarten wir Bürger eines modernen Staates, dass wir im Falle einer schwereren Erkrankung wirksame Hilfe erfahren, eine Hilfe, die nicht nur das Leiden verringert, sondern Gesundung bewirkt. Wir erheben den Anspruch auf Heilung von Krankheiten, auch von denen ohne erkennbare körperliche Begleiterscheinungen. Unser eigener Beitrag zur Erreichung dieses Ziels besteht nicht nur in unserer regelmäßigen Einzahlung in das öffentliche Krankenkassensystem, sondern über unsere Steuern auch in der Finanzierung von Wissenschaft, Forschung und auf ihnen aufgebauten Ausbildungen von Fachleuten für das allgemeine Gesundheitssystem.

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Im Falle der Psychologie ist es ganz ähnlich wie im Falle der Medizin. Nur das umfassende Studium der Entwicklungsbedingungen und der Gründe für die Behinderungen dieser Entwicklungen bei uns Menschen erzeugt das sichere Wissen, das dem schwer erkrankten Menschen den Beistand garantiert, der die Voraussetzung für eine emotionale Bindung schafft. Diese emotionale Bindung kann aber nur wachsen, wenn der Therapeut eine aus wissenschaftlicher Einsicht gewachsene entsprechende Rückbindung an seinen Klienten herbeiführen kann, die Ferenczi Sympathie nannte. Die emotionale Bindung des Klienten und die entsprechende Rückbindung des Therapeuten setzen dann einen Heilungsprozess in Gang, bei dem die Lebenskräfte des Klienten wieder so stark werden, dass er sich zutraut, sich mit den eigenen, in der Familie tradierten, problematischen Mustern der Lebensgestaltung zu befassen, die mit der aktuellen Erkrankung im Zusammenhang stehen. Die Eigenart dieser Muster zu begreifen und neu sehen zu lernen, wie durch ihre Wirkung Probleme entstanden sind, und jetzt, zusammen mit dem Therapeuten, nach Lösungen für diese Probleme zu suchen und sie zunächst auch gemeinsam zu erproben, schafft die Bedingungen, unter denen die kreisförmige Wiederkehr von Krisen unterbrochen wird. Die wissenschaftliche Orientierung der Therapeuten ist in dem Zusammenhang als ein Engagement auf der Grundlage umfassender Einsichten in die Bedingungen für die spezifische Erkrankung zu verstehen. Diese Orientierung erzeugt real die Dynamik, die Verantwortung auch im schwereren Falle der Erkrankung zu übernehmen und in der aktuellen Zusammenstellung der therapeutischen Mittel methodenübergreifend integrativ oder eben wissenschaftlich verantwortlich und kreativ zu handeln. So verstehe ich Ferenczi, wenn er sagt: »Nur Sympathie heilt. Ohne Sympathie keine Heilung. (Höchstens Einsicht in die Genese des Leidens.)«

Literatur Ferenczi, S. (1988). Ohne Sympathie keine Heilung, Das klinische Tagebuch von 1932 (mit einem Beitrag u. a. von M. Balint). Frankfurt a. M.: Fischer. Grawe, K., Donati, R. & Bernauer, F. (1994). Psychotherapie im Wandel. Von der Konfession zur Profession. Göttingen: Hogrefe. Strotzka, H. (1978). Psychotherapie und Tiefenpsychologie. Wien: Springer.

Die Autorinnen und Autoren

Dr. Rainer Brockmann, Dipl.-Psych. und Psychologischer Psychotherapeut für VT. Ab 1967 Kinderpsychotherapeut an der Erziehungsberatungsstelle Steglitz und wissenschaftlicher Tutor am Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin. Von 1972 bis 2004 dort wissenschaftlicher Angestellter mit Lehrauftrag für die Fächer Klinische Psychologie/Psychotherapie sowie Psychodiagnostik. Ständiger Mitarbeiter in der »Praxisintegrierenden Studieneinheit Kinderpsychotherapie«. Mitbegründer des Instituts für ppt. Initiator des forschungsbezogenen Wahlpflichtfachs »Psychologie der Mensch-Tier-Beziehung«. Nach der Emeritierung von Siegfried Schubenz wissenschaftlicher Leiter des Pferdeprojekts. Dipl.-Psych. Lutz Gawe, seit über dreißig Jahren Kassenpsychotherapeut für Verhaltenstherapie bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in BerlinDahlem. Dr. phil. Dipl.-Psych. Roland Geckle, niedergelassener Psychologischer Psychotherapeut und Mitarbeiter am Institut für ppt mit Schwerpunkt »Analyse und Gestaltung der therapeutischen Beziehung«. Dipl.-Psych. Sabine Hanneder, Psychologische Psychotherapeutin (TP), Pferdewirtin (FN), war wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Kindertherapie an der FU Berlin und engagierte sich jahrelang in Forschung und Praxis im Pferdeprojekt der Freien Universität Berlin; seit 2005 niedergelassen in eigener Praxis in Leipzig. Dipl.-Psych. Lars Hauten, niedergelassener Psychologischer Psychotherapeut in Berlin, arbeitet seit vielen Jahren aktiv in Konzeption und Lehre einer beziehungsorientierten, sozialwissenschaftlichen Psychotherapie am Institut für ppt.

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Die Autorinnen und Autoren

Dipl.-Psych. Eva Menschik arbeitet seit vielen Jahren als Psychologische Psychotherapeutin im Legasthenie-Zentrum Schöneberg. Dipl.-Psych. Ariane Mossakowski, seit fast zwei Jahrzehnten klinisch tätige Psychologische Psychotherapeutin, u. a. mit Erfahrung im Bereich Essstörungsbehandlung und Behandlung komplex traumatisierter Menschen. Seit fast zehn Jahren als Dozentin und Supervisorin sowie in Konzeption und Lehre einer Psychotherapie mit methodendialogischer Ausrichtung am Institut für ppt tätig. Dipl.-Psych. Thomas Nölle arbeitet als Psychologischer Psychotherapeut in eigener Praxis in Berlin. Seit vielen Jahren konzipiert und lehrt er beziehungsorientierte, sozialwissenschaftliche Psychotherapie am Institut für ppt. Dipl.-Psych. Wolfgang Nutt, Psychologischer Psychotherapeut, Integrativer Lerntherapeut (FIL), Fachliche Leitung im LZ Schöneberg gGmbH, Vorstand im Legasthenie-Zentrum Berlin e.V., Lehrbeauftragter an der TU Chemnitz (TUCed, An-Institut für Transfer und Weiterbildung) Dozententätigkeit an verschieden Instituten zur Ausbildung von Kinder- und Jugendlichentherapeuten und Lerntherapeuten. Dipl.-Psych. Dr. Angelika Papke, Psychologische Psychotherapeutin, war wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Kindertherapie an der Freien Universität Berlin und engagierte sich viele Jahre in Forschung und Praxis des Pferdeprojekts; arbeitet seit 2000 als leitende Psychotherapeutin in der stationären Rehabilitation des Drogentherapie-Zentrums Berlin e.V. und setzt dabei Pferde als Medium in der Gruppenpsychotherapie mit Erwachsenen ein. Dipl.-Psych. Monika Schlösser arbeitet seit vielen Jahren als Psychologische Psychotherapeutin in eigener Praxis in Berlin. Seit Gründung des Instituts für ppt (1986) ist sie dort in Konzeption und Lehre Tiefenpsychologisch fundierter Psychotherapie tätig. Dipl.-Psych. Henning Siemens, niedergelassener Psychologischer Psychotherapeut in Uelzen (Niedersachsen), früher in Berlin. Mitbegründer und ehemaliger Mitarbeiter am Institut für ppt.