Siegfried Katterle (1933–2019): Sein Werk im Lichte der politischen Theologie von Paul Tillich [1 ed.] 9783428558858, 9783428158850

Im Jahr 2019 verstarb Prof. Dr. Siegfried Katterle im Alter von 85 Jahren. Er war Teil der Kölner Gerhard-Weisser-Schule

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Siegfried Katterle (1933–2019): Sein Werk im Lichte der politischen Theologie von Paul Tillich [1 ed.]
 9783428558858, 9783428158850

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Schriften zum Genossenschaftswesen und zur Öffentlichen Wirtschaft Herausgegeben von Prof. Dr. D. Budäus, Prof. Dr. W. W. Engelhardt, Prof. Dr. Dr. h. c. F. Fürstenberg, Prof. Dr. Dr. R. Hettlage, Prof. Dr. F. Schulz-Nieswandt, Prof. Dr. Th. Thiemeyer (†)

Band 44

Siegfried Katterle (1933 – 2019) Sein Werk im Lichte der politischen Theologie von Paul Tillich

Von

Frank Schulz-Nieswandt

Duncker & Humblot · Berlin

FRANK SCHULZ-NIESWANDT

Siegfried Katterle (1933 – 2019)

Schriften zum Genossenschaftswesen und zur Öffentlichen Wirtschaft Herausgegeben von Prof. Dr. D. Budäus, Hamburg, Prof. Dr. W. W. Engelhardt, Köln, Prof. Dr. Dr. h. c. F. Fürstenberg, Bonn, Prof. Dr. Dr. R. Hettlage, Regensburg, Prof. Dr. F. Schulz-Nieswandt, Köln, Prof. Dr. Th. Thiemeyer (†)

Band 44

Siegfried Katterle (1933 – 2019) Sein Werk im Lichte der politischen Theologie von Paul Tillich

Von

Frank Schulz-Nieswandt

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten

© 2020 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: 3w+p GmbH, Rimpar Druck: CPI buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0720-6925 ISBN 978-3-428-15885-0 (Print) ISBN 978-3-428-55885-8 (E-Book)

Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Im März 2019 verstarb im Alter von 85 Jahren Siegfried Katterle. Das ist das Ereignis, das ich (wir) erfahren haben. Entscheidend ist die Frage: Was bedeutet diese Erfahrung des Ereignisses für mich (uns)? Ereignis-Erfahrung des Ereignisses – Bedeutung der Erfahrung des Ereignisses: Das ist die Herausforderung für die Reflexion. Welche Bedeutung? Trauer, ja, natürlich; aber der Tod gehört nicht nur zum Leben; er ist der Höhepunkt des Lebens. Höhepunkt des vollendeten Lebens. So sicherlich in einem so erfüllten Dasein wie im Fall von Siegfried Katterle. Wie viel Menschen gibt es, bei denen dies nicht der Fall ist? Eine rhetorische Frage. Die Mehrheit der Menschheit auf diesem Planeten hat a priori keine Chance. Umso mehr ist – am Beispiel von Siegfried Katterle – eine Erzählung sinnvoll. Denn die Narration erläutert, was als Prinzip der Hoffnung immer wieder zu erzählen ist: Wir brauchen Menschen des aufrechten Ganges (Bayertz, 2014), keine Genies, denen man huldigen muss. Alltagsmenschen, nicht – das (aber nur das [Schulz-Nieswandt, 2017a] vor dem Hintergrund eines alternativen Kontrastprogramms: Schulz-Nieswandt, 2018a) sei der konservativen Kulturkritik zugestanden – Ameisen in der Masse, sondern bedeutungsvolle Menschen, die gewirkt haben: in der Familie, in Freundschaft und Beruf, im Oikos der privaten Häuslichkeit wie im öffentlichen Raum der Agora der Polis. * Wie schnell die Zeit im Nachhinein vergeht. Manche Begegnung kommt mir so kürzlich vor. Dabei liegt sie schon Jahre zurück. Bekanntlich verändert sich – numinos: erschreckend und faszinierend zugleich – das subjektive Zeitgefühl im Alterungsprozess. Wie ich das spüre. Mit dem Tod von Siegfried Katterle hat die Kölner Gerhard-Weisser-„Schule“ (Katterle, 1998a), nach meinem früh verstorbenen Lehrer Theo Thiemeyer und sodann nach Ingeborg Nahnsen, aber auch, was nicht deckungsgleich ist, der religiöse Sozialismus1 einen herausragenden authentischen Kopf (habitushermeneutisch2, also haltungsethisch gesprochen: von feinem Sozialcharakter) verloren. Von bleibender theoretischer Bedeutung sind seine Dissertation und Habilitation, einerseits „Normative und explikative Betriebswirtschaftslehre“ (1964), andererseits „Sozialwissenschaft und Sozialethik“ (1972). Mit Blick auf die Verhaltenstheorie der Neoklassik war von besonderer Bedeutung die kritische Position im 1 2

https://de.wikipedia.org/wiki/Religiöser_Sozialismus; Tag des Zugriffs: 7. 11. 2019. Wacquant, 2016.

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Vorwort

Aufsatz „Methodologischer Individualismus und Beyond“ (1991). Katterles Lehrstuhlverpflichtung (Makroökonomie und Wirtschaftspolitik zu lehren) führte ihn vielfach auf weniger grundlagenwissenschaftliche Ebenen, wobei der Bezug zu seiner kritizistischen Sozialisation immer gewahrt blieb. Allein der damalige Bezug zu einer wertegebundenen, hier arbeitnehmerschaftorientierten Forschung, wohl Korrelat der sozial-liberalen Aufbruchszeit, zeugt noch davon. Mit meiner Diplomarbeit zur „Arbeitsgruppe ,Alternative Wirtschaftspolitik‘“ kreiste mein Denken damals um ähnliche Perspektiven; die Hinwendung zur Sozialpolitik (Schulz-Nieswandt, 2016a) erlaubte mir jedoch immer schon mehr Zugänge zu den ontologischen, anthropologischen und ethischen Grundlagenfragen der Sozialwissenschaften. Zuletzt bewirkten diese disziplinären Freiheiten meine „Kehre“ vom Kritizismus zur onto-anthropologischen Existenzphilosophie (Schulz-Nieswandt, 2019a). Der Kern des Kritizismus ist und bleibt die berechtigte Kritik an der Präferenztheorie des methodologischen Individualismus, dem es indirekt um den Fetisch des normativen Individualismus geht. Weil der Individualismus als Ideologie normativ dominieren soll, wird der methodologische Individualismus fetischisiert, obwohl er unhaltbar ist: a) explikativ und damit einerseits, weil es nur das vergesellschaftete Subjekt gibt, dessen Hermeneutik einen konstruktiven (also generativen) Strukturalismus benötigt und zugleich eine Theorie der intra-individuellen Arbeitsapparate inkludieren muss; b) normativ und damit andererseits, weil keinerlei Maßstab zur Skalierung der Wahrheit der Anliegen Eingang in die utilitaristische Rational-Choice-Handlungstheorie findet. Damit liegen problematische Krypto-Normativitäten, Ausdruck eines unverantwortlichen Werterelativismus, vor. In der Kategorie der negativen Externalitäten (Siegfried Katterle bezog sich in der Regel auf die Theorie sozialer Kosten von K. W. Kapp) wird dieses Problem der Wohlfahrtsökonomie (Katterle [1971], hier ähnlich wie Theo Thiemeyer, der Kritik von Gerhard Weisser am wohlfahrtsökonomischen Formalismus folgend) bewusst, ohne dass bemerkt würde, dass damit das Kant’sche Sittengesetz des Art. 2 GG den Tiefenkern dieser Theorieproblematik ausmacht. Dabei erweist sich hiermit die Unmöglichkeit einer „reinen“ Allokationstheorie, denn die Effizienz ist immer nur definierbar auf die Präferenzen als Bezugspunkt hin. In der Kategorie der Effektivität (bzw. der gesellschaftlichen Kosten-Effektivität) wird dies deutlich, wenn die Input-/Output-Relation auf die OutcomeDimensionen bezogen wird. In die Outcome-Definition gehen nun jedoch gesellschaftliche Konstruktionen als Ideenkämpfe ein, womit deutlich wird, dass die Volkswirtschaftslehre letztendlich eine politische Wissenschaft ist (u. a. in SchulzNieswandt, 2016b). Im Kritizismus wurde dagegen das Axiom der Prüfung mittels höchster Wohlbedachtheit und tiefster Selbstbesinnung, im inter-subjektiven konstruktiven Institutionalismus die diskursive Verständigung eingeführt. Diese Diskurstheorie der Präferenzformation prägt die neueren Theorien der Meritorik (wie auch in meiner Bochumer sozialwissenschaftlichen Habilitation, bei der Siegfried Katterle

Vorwort

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[gewichtiger] externer Drittgutachter war, zumal ein Finanzwissenschaftler aus der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät intervenierte). Er war der Meinung, mit der konstitutionellen Ökonomie von James Buchanan seien die Probleme gelöst, wohl gerade, weil hier dem marktgläubigen normativen Individualismus entsprochen werden kann. In den Jahrbüchern für Nationalökonomie und Statistik (223 [5] 2003: 623 – 630) habe ich an der Habilitation von Ingo Pies (in der Homann-Schule stehend) zeigen müssen, wie erschreckend blockiert dort der intellektuelle Zugang zum Kritizismus ausgeprägt ist, wenn sich das Weltbild reduziert auf eine Ortogonalverschiebung (in der Tradition der linearen Geometrie oder der Funktionsanalysis) des Pareto-Optimums. Siegfried Katterle – dem ich für meine akademische Entwicklung viel verdanke – soll noch lange in Erinnerung bleiben, wohl wissend, wie Max Scheler auf die Frage nach der Ewigkeit antwortete: Es gebe Ewigkeit, aber sie sei nur von kurzer Dauer. Zur Ausdehnung dieser Dauer fühle ich mich verpflichtet. Daher auch dieser Essay. Daher auch die Wahl eines im positiven Sinne konservativen und somit renommierten Verlages. Dies mit Dank an den Verlag. Zur Arbeit an einer Erinnerungskultur: Wahlverwandtes habe ich für Theo Thiemeyer geleistet; Ingeborg Nahnsen habe ich so manche Publikation gewidmet. Zu Werner Wilhelm Engelhardt habe ich schon zu dessen Lebzeiten öfters publiziert. An allen Vorbildern spüre ich meine eigene – jemeinige – Endlichkeit. Menschen sind nie endgültig tot, wenn man sich an sie erinnert. Ohne gelebte Erinnerungskultur erlischt die Flamme der Kerze (im Herzen der Menschen) endgültig, gerät der einzelne Mensch als kleines Moment im Weltgeschehen in Vergessenheit. * Zu rekonstruieren (zumindest ansatzweise, so, wie das Leben selbst oftmals – skizzenhaft – ist) ist die Wirtschaftspolitik3 als Teil der Gesellschaftspolitik aus dem Geist der Ethik4 des freiheitlichen Sozialismus heraus im Lichte der politi3

Eine Disziplin, die Siegfried Katterle durchaus engagiert und mit expliziten normativen Erkenntnisinteressen vertrat, so als arbeitnehmerschaft- bzw. gewerkschaftsorientierte Forschung (Katterle, 1981a; 1981b) oder mit seinem Schüler Wolfram Elsner in Bezug auf Themen regionaler Strukturpolitik (Elsner/Katterle, 1987; 1989) sowie in Bezug auf die Transformationsproblematik im Zuge der Deutschen Einigung (Henkel/Andretta/Katterle, 1995). Katterle publizierte auch zur Infrastrukturtheorie und -politik. Damals blühte die Infrastrukturtheorie u. a. mit den Beiträgen von Frey, Jochimsen und Simonis. Vgl. Schulze (1983). 4 Hier ist insbesondere der Bezug zur Wirtschaftsethik von Arthur Rich (1910 – 1992) bedeutsam (Rich, 1984, 1990). Zu Rich vgl. auch Wolf (2009). Rich wiederum war Schüler von Leonhard Ragaz (1868 – 1945), der für uns von großem Interesse ist, weil er einen Genossenschaftssozialismus vertrat: Er fasste das Reich Gottes als Genossenschaftlichkeit. Damit rückt Leonhard Ragaz in das Zentrum meiner Betrachtung, denn ich vertrete ja die Interpretation, dass auch Paul Tillich in seiner Kulturtheonomie das Reich Gottes als Ge-

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Vorwort

schen (Schwerdtfeger, 1969) Theologie von Paul Tillich. Das ist das Thema. An Siegfried Katterle adressiert, aber der „Sache“ dienend. Köln, im November 2019

Frank Schulz-Nieswandt

schichtsprojekt des gottähnlichen Menschen ansieht. Die Reich-Gottes-Vorstellung von Leonhard Ragaz (u. a. Ragaz, 1922; 1995) ist Gegenstand zahlreicher Abhandlungen geworden (u. a. Rostig, 1991; Jäger, 1971; Lindt, 1957; Mattmüller, 1957; 1968).

Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Exkurs: Die epistemische Differenz von Entfremdung und Sünde . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1. Die Heimat der Gerhard-Weisser-Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 2. Die Heimat im religiösen Sozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 3. Die Bedeutung von Siegfried Katterle für meine Formwerdung . . . . . . . . . . . . . . . . 32 4. Erträge einer Urlaubslektüre: Über die Differenz zwischen der Kulturtheologie Paul Tillichs und dem kosmischen Allzusammenhang des altgriechischen Glaubens 36 Exkurs: Eugen Rosenstock-Huessy und Franz Rosenzweig. Freundschaft, Wahlverwandtschaft, Wechselwirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 5. Grundfragen einer Hermeneutik der Bibel: Politische Theologie der Befreiung als Problem der Intertextualität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 6. Fazit: Was ist der hinreichende Grund der Werteorientierung der Ökonomik? Theologie, Ontologie, Anthropologie, Ethik? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61

Einleitung Nachfolgend geht es um Skizzen, Gedankenfragmente und Aspekte zum Werk von Siegfried Katterle, seiner Position innerhalb der Gerhard-Weisser-„Schule“ und zu seiner Bedeutung für meine eigene Entwicklung. Dabei verweise ich bereits einleitend insbesondere auf die Bedeutung von Paul Tillich (Schüßler/Sturm, 2015; Manning, 2009) für das Denken von Siegfried Katterle. Paul Tillich ist allerdings das berühmte „Fass ohne Boden“. Ich werde (was dann doch ansatzweise im Text geschehen ist) aufpassen müssen, nicht mehr über Paul Tillich als über Siegfried Katterle zu sprechen. Auch Eduard Heimann hat einen gewissen Stellenwert – quasi als Bindeglied zwischen Theologie und Sozialökonomik – erhalten. Der Vergleich zwischen Paul Tillich und Siegfried Katterle ist ohnehin abwegig. Aber wenn wir uns etwas in Tillich vertiefen, werten wir den Menschen und Hochschullehrer Siegfried Katterle auf. Denn die Quelle seines Schaffens adelt ihn. Wer beruft sich in seiner akademischen Aufgabe heute – in dieser mit Blick auf die Hoffnung auf konkrete Utopien so mutlosen Welt der exzellenten Wissenschaften – noch auf einen religiösen (ethischen) Sozialismus wie den von Paul Tillich? Speist sich dieses Denken des Utopischen als konkrete Gestaltvision nicht aus der kollektivmentalen deutschen Tradition der Romantik (Safranski, 2007)? War dieses romantische Kairos-Denken nicht in der dichten Krise nach dem Ersten Weltkrieg aus der absoluten Krise der Moderne gespeist worden, wo auch der Existenzialismus (Bakewell, 2016) in der „Zeit der Zauberer“ (Eilenberger, 2018) wurzelt, als die Dichter (traumatisiert vom Krieg, nachdem man zunächst selbst partizipationswilliges Hurra [auch ein Thema bei Paul Tillich] geschrien hat: Buelens, 2014) von der Machtübernahme träumten (Weidermann, 2017)? Doch die Frage nach der gerechten Ordnung der menschlichen, ja den Menschen überhaupt erst zum Menschen machenden Freiheit beschäftigte die Denkkreise des religiösen Sozialismus sodann wieder nach 1945. Hier gehören auch Schnittmengen des Gerhard-Weisser-Kreises mit dem Paul-Tillich-Kreis „geist-topografisch“ hin. Im 4. Internationalen Jahrbuch für die Tillich-Forschung haben die Herausgeber Danz, Schüßler und Sturm (2009) auf das Thema „Religion und Politik“ fokussiert. Hier wird der Stand der Forschung, wenngleich jetzt auch schon wieder einige Jahre her, verarbeitet. Hier wird eine sehr differenzierte, auch für Ambivalenzen und Widersprüche, ja auch für Gefahren im Denken von Paul Tillich offene Analyse vorgelegt, z. B. im Fall seiner Schrift „Die sozialistische Entscheidung“ (Tillich, 1933): selbst1 ein Stück einer „Dialektik der Aufklärung“? 1 Eine Sicht, die auch der Kritischen Theorie mitunter, hier in Bezug auf Gender-Codierungen, vorgeworfen wird: Dörr (2019).

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Einleitung

Für die vorliegende Erinnerungsarbeit für Siegfried Katterle kann ich nicht die vielen, bislang von mir nicht erschlossenen Quellen – anzuführen ist aber vor allem Band 2 der „Gesammelte(n) Werke“ („Christentum und soziale Gestaltung. Frühe Schriften zum religiösen Sozialismus“: Tillich, 1962) – und Forschungsarbeiten zu Paul Tillich nacharbeiten. Mit dem Beitrag von Erdmann Sturm im eben zitierten Jahrbuch (vgl. in Danz, Schüßler/Sturm, 2009) sehe ich meine Rezeptionsweise validiert. Erwähnenswert in der Einleitung von Wolf-Dieter Marsch zu Paul Tillichs „Für und wider den Sozialismus“ (Tillich, 1969: 8) ist, dass Ernst Bloch als Freund von Paul Tillich bezeichnet wird, die dennoch nicht einer Meinung waren, wobei sich Eduard Heimann deutlich schärfer von Ernst Bloch abgrenzte als Paul Tillich. Die Überlegungen lenken zugleich nochmals die notwendige Aufmerksamkeit auf die vielfach unbegriffene Problematik, wonach die empirischen Wissenschaften ihre Relevanz immer erst im Lichte der werteorientierten Resonanzräume erhalten (Harbusch, 2018): Erst dann, wenn die Befunde skaliert werden (Schulz-Nieswandt, 2018b) an der Theorie der Wirklichkeit, die – ein Wort von Theodor W. Adorno abwandelnd – die Lüge nicht mehr als Wahrheit zu verkaufen versucht, sprechen die Befunde zu uns. Ich verweise mit Blick auf meine Ausführungen zur notwendigen Metaphysik zur Beantwortung der Frage nach dem WARUM einer nachhaltigen Gesellschaftsgestaltungspolitik in der Epoche der globalen gesellschaftlichen Mutation auf ergänzende Ausführungen in einem parallelen Publikationsprojekt (Schulz-Nieswandt [2019e]: „Gestalt-Fiktionalitäten dionysischer Sozialpolitik. Eine Metaphysik der Unterstützungstechnologien im Kontext von Krankenhausentlassung und der Idee eines präventiven Hausbesuchs als Implementationssetting“). Es ist als Strukturähnlichkeit zur Theorie der Ethik der Gesellschaftsgestaltungspolitik von Siegfried Katterle zu fassen, wenn Paul Tillich argumentierte, die Menschen müssten aus der Kraftquelle der Liebe im Lichte sozialer Gerechtigkeit durch Nutzung der Formen demokratischer Macht (Schüßler, 1997, Schüßler/Sturm, 2005) die Wahrheit des menschlichen Wesens zur Formwerdung bringen. Mit der implizierten Entfremdungstheorie (die theo-forensische Sündenlehre überwindend) ist bei Paul Tillich einerseits eine Nähe zur Frankfurter Kritischen Theorie (Schreiber/Schulz, 2015; Schulz-Nieswandt, 2019c) – er las in Frankfurt auch zur Geschichtsphilosophie und Sozialpädagogik (Tillich, 2007) – erkennbar; andererseits basiert die Kraftquelle der Liebe (bei Ricarda Huch [1946: 156] benannt als „Kraft der Kräfte“) auf der Ur-liebe als Gabe Gottes, womit die echte Theologie der Kulturphilosophie von Paul Tillich zum Ausdruck kommt (Schüßler, 2016; Danz u. a., 2014).

Einleitung

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Exkurs: Die epistemische Differenz von Entfremdung und Sünde Entfremdung (die Literatur dazu ist Legende) muss als Kategorie einer dynamischen Prozessontologie des Noch-Nicht – aber das Geschehen im Fluss der geschichtlichen Zeit ansiedelnd – verstanden werden: Entfremdung bezeichnet eine Differenz in der Zerrissenheit des konkreten Menschen, die auf die Blockade der Akt-Werdung der Würde als Essenz der menschlichen Natur verweist und die Personalisierung zum Telos der Weltgeschichte erklärt. Die Botschaft folgt einem Progressionsdispositiv der Befähigung zur Freiheit als Chancengleichheit aller Menschen vor dem Hintergrund einer Solidarordnung der Ressourcenbewirtschaftung. Die vorherrschende Instrumentalfunktion der Sündenlehre folgt dagegen der Logik eines Regressionsdispositivs: Unterdrückt werden sollte die dionysische Transgressionsfähigkeit des Menschen, immer höhere Stufen apollinischer Ordnungen der Personalisierung zu besteigen. Der ewig sündige Mensch wartet so auf sein Heil als Erwartung der Apokalypse; der sich seiner Entfremdung bewusste Mensch strebt, wenngleich (dies eben selbst ein Teil der conditio humana darstellend) aber immer nur approximativ, dagegen in der jeweiligen Jetzt-Zeit (Agamben, 2006; 2012) das Reich Gottes auf Erden als Welt sozialer Gerechtigkeit an. Anders ausgedrückt: In der regressiven Theologie und Kirchenpolitik der Sünde wird durch den sündentheologischen Geist der Körper des Menschen verteufelt und die Gesundheit der Seele des Menschen zerstört (Carozzi, 1996). In der progressiven Theologie der politischen Befreiung wird der Mensch voller Hoffnung zur personalen Selbsttranszendenz befähigt. Die Explikation der Kategorie der Entfremdung verweist uns auf einen Diskurs, den ich in meinen jüngeren Monografien aufgegriffen und für meine theoretischen Anliegen in Absicht auf praktische Sozialpolitik und Gemeinwirtschaft verarbeitet habe: Gemeint ist die Betonung der Differenz zwischen epistemologischer und ontologischer Wahrheit, u. a. aufbauend auf den Studien von Gadamer (1986) und Bollnow (1975). Es geht dabei nicht um den Richtigkeitsbegriff der empirischen Wissenschaften im Lichte epistemologischer Wahrheit. Es geht vielmehr (im Sinne einer Idee ontologischer Wahrheit) um das zur Wahrheit der Personalität als der Essenz des Menschen kommende Subjekt als passungsfähige Form der Existenzführung im Dasein des Seins (definiert als liebende Weltoffenheit des Menschen). Dies ist die Genossenschaftlichkeit seiner Daseinsführung. Diese unentfremdete Form der Subjektivierung ist eine soziale Welt der erfüllten Zeit, keine Gesellschaft der unterdrückenden und ausgrenzenden Gouvernementalität der auf Kollektivmentalität abstellenden habitualisierenden Dispositive des kapitalistischen Geistes. Mit Blick auf das Ziel dieser dynamischen Prozessontologie des Noch-Nicht stehe ich in weitgehender Übereinstimmung mit der Kulturgeschichtsphilosophie von Paul Tillich. Seine Theonomie verweist aber auf eine theologisch fundierte Kraftquelle zu

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Einleitung

dieser transgressiven Dynamik; meine bleibt säkularisiert auf der Grundlage ontoanthropologischer Überlegungen.2 Die Entwicklungspsychologie und die Sozialisationsforschung3 bieten uns die Möglichkeit des Verstehens dieses Potenzials des Menschen. Die Gottesvorstellungen aus der kulturgeschichtlichen Kindheit der Menschheit sind damit entzaubert, entmythologisiert, dies aber nicht unbedingt im Verständnis von Rudolf Bultmann, sondern eher als neue Stufe der remythisierenden Arbeit an der Wahrheit des Mythos4, denn die Liminalität dieser Gottähnlichkeit des Menschen ist und bleibt die Endlichkeit und die Vulnerabilität als Ausdruck der Kreatürlichkeit des Menschen als homo patiens5. Der Aufstieg zur Personalität überwindet die monadologische Stufe des Individuums (Evers, 1979). In der Personalität kommt die Grundspannung von Individuum und Gesellschaft (Michel, 1959; Dürckheim, 1976; Marx, 2019; Kissel, 2019) zur Wahrheit als Ausgleich (Lippert, 1957: 156 ff.). Ich komme zurück aus dem Exkurs. Paul Tillichs oftmals sog. „Philosophische Theologie“ ist eine Lehre von der Theonomie (Pannenberg, 1997; Feil, 1991) und insofern eine Kulturtheologie (Moxter, 2000). Um keinesfalls falsch verstanden zu werden: Paul Tillich war nicht Philosoph, sondern Theologe. Aber gute Theologie ist immer zugleich Philosophie. Ansonsten dominieren in der Theologie oftmals grottige Blasen.

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Zu den theologischen Voraussetzungen (dazu auch Bellebaum/Schallenberg, 2005) des geschichtsphilosophischen Heilsgeschehens klassisch Löwith (1979). 3 Bedeutsam ist, dass diese Perspektiven auch durch die Einsichten der Neurowissenschaften ergänzt werden, dabei den Geist und die Seele mit der Biologie des Körpers verbindend, wobei der Kultur des Sozialen die Funktion der Aktualgenese mit Blick auf die transzendentalen Kategorien der Neurowissenschaften zukommt. 4 Die Reflexion der „Wahrheit des Mythos“ ist einer der Eckpfeiler der Argumentation meiner Bachelor-Einführungsvorlesung zur anthropologischen Grundlegung der Sozialpolitik. In Auseinandersetzung mit klassischen Theorien des Mythos (Hübner, Blumenberg, Cassirer) und mit Bezug auf Gadamer und Bollnow habe ich dort herausgearbeitet, dass der klassische Mythos bereits eine erste philosophische Anthropologie war. Er erzählte Geschichten darüber, was der Mensch sei, bot ihm also Orientierung, sinnhaft seine eigene Existenz quasi ontologisch zu begreifen. Dazu dient durchweg die Betonung der Differenz zu den Göttern. Wahrheit ist hier nicht im Sinne der Wissenschaftstheorie (die im Lichte der historischen Epistemologie von Veyne [1987] ohnehin zu problematisieren ist) zu verstehen, wo es um die Frage geht, ob eine falsifizierbare Theorie von der Empirie im Sinne der Richtigkeit bestätigt wird, sondern – umgekehrt und ganz anders – darum, ob das Leben wahr wird, dem Menschen sein Leben gelingt, er nicht an seinen Aufgaben der Selbstentwicklung als Umsetzung seiner Seinsverfasstheit und Seinsbestimmungen scheitert. Genau dies habe ich in der Vorlesung sodann mit Blick auf den dialogischen Personalismus als Philosophie der „Liebe“ im Sinne des ethischen Sozialismus entfaltet. In diesem Sinne ist der klassische Mythos nie tot; er wird in allen Epochen im Sinne einer „Arbeit am Mythos“ remythisiert und aktualisiert aus der Perspektive der Daseinsführung und Existenzbewältigung des historischen Menschen. 5 Anschaulich an einer „Fallgeschichte“ (Maria Chorevtu) erzählt bei Stier, 1980: 36. Seine „Ägäischen Impressionen“, deren Schlusskapitel auch nochmals abgedruckt wurde in Stier, 1970: 133 ff., überraschten mich mit einem Kapitel über Göran Schildt (1980: 68 ff.).

Einleitung

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Die Eigenart von Paul Tillich, und deshalb kann Siegfried Katterle hier seine meta-ökonomische Einbettung finden, ist die Beziehung von Gott auf die soziale Wirklichkeit als Ort (definiert als expressiver Durchdringungsraum: Jahr, 2019) des Göttlichen zu verstehen. Das ist seine Theonomie. Dies ist bei Paul Tillich originär politisch (Schäfer, 1988) gedacht. Damit ist sogar das Verständnis vom Pneuma6 bei Tillich (Wittschier, 1975) unkonventionell: Die Kraftquelle der Liebe, aus der heraus Paul Tillich die Chance sah, im Lichte sozialer Gerechtigkeit den Raum der demokratischen Macht dergestalt zu nutzen, dass die Personalisierung der Menschen als Telos der Menschheitsgeschichte Fortschritte macht, lässt Hannah Arendts Vita activa (Arendt, 2002) im Geist einer religiösen Sozialisation7 lesen8, die keine flache politische Theologie ist, sondern auf die notwendige Verankerung in einer (auf Charakter abstellende, heute psychodynamisch zu verstehende) Tugendlehre verweist. Man möge den Heiligen Geist nochmals neu verstehen im Lichte der Baltimore-Experimental-Studien zur Bindungsforschung (Grossmann/Grossmann, 2015). Es geht um die Erfahrung der Liebe im Aufwachsen der Kinder im familialen Kontext. Paul Tillich sprach vom „Mut zum Sein“. Auch in der Moderne ist die antike Problematik der Paideia die Schlüsselfrage der Polis. Im katholischen Raum haben nur wenige Köpfe, wie Peter Wust (Lohner, 19909) oder Romano Guardini (SchulzNieswandt, 2015b), den Menschen so tief humanistisch, nicht nur in der extremen Grenzsituationen, in seiner sozialdramatischen Existenzialität ernsthaft (im Sinne des systemischen Denkens) abholend und nicht nur als elenden Sünder, sondern im Modus der Nicht-Demütigung wertschätzend gedacht. Die Differenz zwischen limitierter katholischer Soziallehre einerseits und der Idee eines dionysischen, also transgressiven und ekstatischen10 freiheitlichen Sozialismus andererseits bleibt aber beträchtlich, letztendlich damit auch die Divergenzen im Verständnis von sozialer Marktwirtschaft. Die „Kraftquelle der Liebe“, von der Tillich (christologisch) sprach, hat auch mit Bezug auf ihn selbst kritische Nachfragen zur Säkularisierung theologischen Denkens (Hammer, 1974) aufgeworfen. Sollte Tillich – breit diskutiert – Theoretiker religiöser Philosophie als Variante einer atheistischen Theologie sein? Auf die Frage einer gottlosen Theologie existenzialphilosophischer Art komme ich erst am Schluss der Abhandlung zurück. In meinen genossenschaftswissenschaftlichen Forschungen habe ich meine These vom Ursprung der Sozialpolitik des solidarischen Teilens im Opferkult (als Gabemechanismus) als These der (zwischenmenschlichen) Horizontalisierung der Vertikalität der (Bundestheologie11 der) Beziehung von Gott (oben) und Mensch 6

Dazu auch in Reitzenstein (1956: 284 ff.). Dilger (2018); Mahling (2010); Hubig (2011); Scheiwiller/Weiß (2017). 8 Vgl. allerdings auch Christophersen/Schulze (2002). 9 Röbel (2009); Schüßler/Röbel (2013); Meiers (2015); Schüßler/Röbel/Meiers (2015). 10 Eliade (1999). 11 Koch (2008). 7

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Einleitung

(unten) ausgearbeitet (Schulz-Nieswandt, 2001a; ausführliches Material ist breit verarbeitet worden in Schulz-Nieswandt, 2010). Der Raum des Zwischenmenschlichen (auf Martin Buber [Stöhr, 2004; Schwendemann, 2015] anspielend) – und damit den Geist der Grammatik der Kultur des Sozialen (Hengstenberg, 1949) meinend – muss durchflutet sein von dieser Liebe, von der Paul Tillich in der Stufenlehre von Libido, Eros, Philia und Agape (Schüßler, 2004) in seiner PlatonRezeption sprach. Natürlich bewegen wir uns damit in der Tradition platonistischer Metaphysik. Wenn das moderne Völkerrecht in Bezug auf die Grundrechtstheorie des Kindswohl davon spricht, Familien (voller Ambivalenzen infolge eines tiefen Konservatismus sind dagegen die Ausführungen bei Ricarda Huch, 1946: 14 ff.) hätten eine Atmosphäre der Liebe, der Empathie, des Vertrauens und der Geborgenheit – „that the child, for the full and harmonious development of his or her personality, should grow up in a family environment, in an atmosphere of happiness, love and understanding” (dazu auch Schulz-Nieswandt, 2016d) – vorzuhalten und zu entfalten, so wird deutlich, dass es um ein modernes Naturrecht der Befreiung geht. Eine Theologie der Befreiung findet ihre Argumente in der Entwicklungspsychologie des gelingenden Daseins der Person infolge einer glücklichen Kindheit (Pühl, 2008). Insofern ist eine „Metaphysik der Kindheit“ durchaus möglich. Aber es geht – mir – nicht um die Erfahrung des kirchlich verfassten Gottes, sondern um das Wirken der Eltern in der Interaktion mit dem produktiv und kreativ aneignenden Kind und um die elterliche Liebesfähigkeit, die sie im Sozialisationsgeschehen (als Prozess sozio-kultureller Vererbung) weitergeben als Gabe. Hier mögen manche Eltern göttlich sein; aber mit Gott (also Gott zu „denken“ [Ringleben, 2003] oder von Gott „zu reden“ [Gnadt, 2012] als [in der epistemischen Gefangenschaft der Sprache: Danz, Schüßler/Erdmann, 2007] Unbegreifliches hinter dem Symbol Gott) hat dies, jedenfalls für mich, nichts zu tun. Ein solcher entwicklungspsychologischer Zugang zur Personalität muss eingebettet sein in eine soziologische Sozialisationstheorie. Die ökologische Theorie der Sozialisation (und auch Formen der ökogerontologischen Psychologie) ist (sind) eine Variante, die die Ontogenese in die Transaktionalität des Menschen mit seiner Um- und Mitwelt einbettet (Acapovi, 2011). Ich repliziere damit erneut Friedrich Nietzsches Ausruf, wir würden Gott ermordet haben. Die Urquelle der Liebesfähigkeit als Kraftquelle des gelingenden Daseins des sozialen Miteinanders ist entschlüsselt.12 Dazu gehört die neurowissenschaftliche Erforschung der Aktualisierung der komplexen Spiegelneuronen13, die aber zugleich ohne Theorie der „zweiten, sozio-kulturellen Geburt“ des Menschen als „biologisches Mängelwesen“ nicht auskommt. Und nochmals: Es mag sein, dass wir zum Zwecke der Skalierung der Kulturentwicklung des Menschen den absoluten Maßstab der unbedingten Gabe im Modus der Symbolterminologie der Gottesidee brauchen, aber nur als methodischen Trick. In diesem Sinne kann der Mensch 12 13

Vgl. auch Dreisbach (2008); Kleffmann (2008). Rizzolatti/Sinigaglia (2008); Zaboura (2008). Zur Empathie: Breithaupt (2009; 2017).

Einleitung

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göttlich sein. Gott selbst kann er und wird er nie sein. Er ist nur die Referenz seiner Evaluation. Befreiung meint Freiheit (Danz, 2015) der Entfaltung der menschlichen Person in ihrer Personalität. Im Sozialrecht (vgl. § 1 SGB I) ist dies längst – vor dem Hintergrund der strukturwertegeschichtlichen Sattelzeit von 1789 – übersetzt worden in die Werte der Selbstbestimmung, der Selbstständigkeit und der Teilhabe. Ausgangspunkt ist der Art. 1 GG als ewiger Anker der Idee der Rechtsstaatlichkeit, die das Sittengesetz des Art. 2 GG ermöglicht und den Rechtsstaat als sozialen Rechtsstaat im Art. 20 GG (vgl. auch Art. 3 [3] EUV) konstituiert. Kohärent kompatibel mit dem Grundrechtdenken des Völkerrechts ist diese Metaphysik der Personalität die sakrale Grundlage des profanen (säkularisierten) sozialen Rechtsstaates. Ich meine, man wird das Denken von Siegfried Katterle infolge seiner theologischen Verankerung nur angemessen verstehen, wenn der freiheitliche Sozialismus der Gerhard-Weisser-Schule hier in seiner Formfindung als religiöser Sozialismus14 (in der Tradition von Paul Tillich) erkannt wird. Freiheitlicher Sozialismus ist ethischer Sozialismus, auch in der Form des religiösen Sozialismus. Aber der ontologische Status der Ethik verändert sich in dieser religionsgebundenen Formfindung. Christliche Ethik kann nie den Modus des reinen Kritizismus annehmen, denn die christliche Theologie kennt keinen Relativismus, denn sonst müsste sie sich auf die Stufe der sog. Heiden stellen, was sie nie mochte. Das hat z. B. Walter F. Otto getan; und der war Kritiker des Christentums. Sie bleibt einer Metaphysik der Personwerdung des Menschen als Aktualisierung der Essenz der Liebe verpflichtet. Unabhängig davon, was Kirchenpolitik theo-forensisch daraus gemacht hat oder macht bzw. noch machen wird, geht es um die Überwindung der Entfremdung – um mit Paul Tillich zu sprechen – der sozialen Wirklichkeit des homo abyssus vom Wesen des homo donans als das inhärente Potenzial des Menschen in der ewigen Rolle des Mitmenschen. Im Urlaub 2019 im ostkretischen Agathia habe ich durch die Lektüre von zwei Kriminalromanen („Lacroix und die Toten von Pont Neuf“ von Alex Lépic und „Das Nest der Schlangen. Commissario Montalbano ringt um Fassung“ von Andrea Camilleri) nochmals erfahren, in welcher Form der abgründige Mensch auftreten kann. Abgründige Tiefen des Menschen und seiner sozialen Beziehungen; obwohl es fiktionale Texte sind, sind sie Abbildungen sozialer Wirklichkeiten. Gerhard Weisser (1978) ordnete in einem sozialwissenschaftlichen System auf der Basis seiner Wissenschaftslehre die Wirtschafts- und Sozialpolitik als Teile der Gesellschaftspolitik im Sinne einer Gestaltungspolitiklehre (vgl. auch Weippert, 1938) ein. In diesem Rahmen ist das Werk von Siegfried Katterle vom geistigen Boden des freiheitlichen Sozialismus (Flohr/Lompe/Neumann, 1983) her einzuschätzen. 14

Ewald (1984); Pfeiffer (1976).

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Es geht um eine Rekonstruktion der Möglichkeit einer Gesellschafts-, Wirtschafts- und Sozialpolitik aus dem Geist des freiheitlichen Sozialismus, angesiedelt zwischen evangelischer Ethik, Kritizismus und den Grenzen, die durch die Faktizität des Kapitalismus15 gesetzt sind.

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Vgl. exemplarisch Schulz-Nieswandt (2019e).

1. Die Heimat der Gerhard-Weisser-Schule Heimat16 ist ein ambivalenter, aber eben notwendiger, daher wirklich achtsam zu nutzender Begriff, letztendlich eine komplexe lebensweltliche Kategorie. In Grenzen soll hier nun davon die Rede sein. Diese kulturwissenschaftliche Literatur der Diskussion auf die Institutionalisierung in der akademischen Welt der Wissenschaften zu übertragen, geht nicht ohne eine Psychologie des Verstehens des Sozialisationsgeschehens – und eben auch der Geborgenheitsbedürftigkeit des Menschen – in diesem Feld, wo sich personale Identitäten herausbilden, wo sich Inspiration am Schreibtisch paart mit Konspiration in den Gremien, wo sich Unsicherheiten mit Transpirationen auf den Konferenzen paaren. Wenn der homo academicus (wie ihn Pierre Bourdieu [1992] rekonstruiert hat) hier nun unter dem epistemologischen Aspekt betrachtet wird, so geht es einerseits um die Frage, woher er seine motivationale Kraft holt, welche Weltbilder und Sinnhorizonte – Siegfried Katterle sprach von einem „ontologischen Schisma“ (Katterle 1998b: 17 f.)17 – seine Arbeit treiben. Andererseits geht es um die Frage, wie die empirischen Befundlandschaften zu uns „sprechen“, wie theoretisch Ordnung in die Landschaft der Befunde gebracht werden kann und welche Konsequenzen für den gestaltenden Wandel für die Geschichte verantwortungsethisch gezogen werden müssen. Was ist – jedenfalls an einer öffentlichen Universität – das Dienstprinzip des homo academicus? Was ist seine werteorientierte Auslegung der verfassungskonformen Gesinnung und ihrer habituellen Implementation? Angesprochen ist hiermit die Hexis, wenn ich allein das Hochschulgesetz von Nordrhein-Westfalen auslege und die breite Debatte um die „Idee der Universität“, von der Karl Jaspers (1946)18 sprach19, auch nur marginal berühre und als Frage nach der Haltung20 „gelehrter“, d. h. weltoffener, weil inter-disziplinärer und engagierter, da 16

Costadura/Ries (2016); Gebhard/Geisler/Schröter (2007). Die Formulierung ist natürlich einerseits aus der Kirchenrechtsgeschichte heraus zu verstehen; andererseits überträgt sich diese Glaubensspaltung auf die epistemologischen Grundlagen im Lichte der Differenzen in den Auffassungen zur sozialen Seinsverfassung des Menschen im Sinne der Anthropologie. In der Anthropologie und Psychologie von Gregory Bateson (1981) ist Schismogenese ein dynamisches Konzept zur Analyse eskalierender Konfliktkonfrontation von Teilen der Gesellschaft. 18 Ein Thema, das später z. B. von Schelsky (2017), sodann breiter (Eigen u. a., 1988) diskutiert wird, zuletzt „revisited“ (Ricken/Koller/Keiner, 2013) auch zum Gegenstand zahlreicher wissenschaftssoziologischer Studien empirischer Art wurde und auch mich betrifft, wenn die Universität zu Köln die Postadresse Albertus-Magnus-Platz (mit einem Denkmal von Albertus Magnus) hat: Honnefelder (2017). 19 Vgl. auch Hörisch (2006). 20 Vgl. auch Schröder (2019). 17

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als „Berufung“ ausgeübter Forschung und Lehre betrachte. Kann man auf dieser Grundlage einen Schritt weiter gehen und nach dem „objektiven Geist“ der heutigen Universität fragen? Oder ist, wie der Religionswissenschaftler Klaus Heinrich fragte,21 die Universität „geistlos“ geworden? Siegfried Katterle verkörperte (in seinem Habitus22) eine moderne, auch die anglo-amerikanische Literatur zum Neo-Alt-Institutionalismus rezipierende23 Form von Sozialökonomie (Oppolzer, 1990; Schulz-Nieswandt, 2016b), die Volkswirtschaftslehre – er war in Bielefeld 1974 bis 1995 Inhaber eines Lehrstuhls für Makroökonomik und Wirtschaftspolitik (Katterle, 1989) – mit Fragen der Ethik verband und dies auf einer erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch fundierten Reflexionsbasis (Katterle, 1964; 1972). Durch seine religiöse Sozialisation konnte er, so meine werkhermeneutische Einschätzung, den Kritizismus (dazu auch Schulz-Nieswandt, 2018b), den innerhalb der Gerhard-Weisser-Schule in besonderer Ausdrücklichkeit Werner Wilhelm Engelhardt (Schulz-Nieswandt, 2001b24) vertrat, nicht unbedingt ohne Transformationsneigung vertreten. Wie ich in meinem Beitrag zur Festschrift für Siegfried Katterle darzulegen versuchte (Schulz-Nieswandt, 1998; sodann meine Ausführungen zu Siegfried Katterle in Schulz-Nieswandt, 2018a; 2018c), neigte er eher zu einem diskursethischen Institutionalismus. Er konnte hier die Meritorik (als politische Theorie der Ökonomik meritorischer Güter) auf einer Grundlage reformulieren, die nicht von den epistemischen Restriktionen der Geschwisterschaft eines methodologischen und normativen Individualismus blockiert war. Die Weisser-„Schule“25 war in einigen Grundfragen keineswegs homogen. Ingeborg Nahnsen, nach der nach ihrem Tode ein Platz in Göttingen benannt wurde – die nicht viel publiziert hat, deren systematische Sozialpolitiktheorie aber aus ihrer langjährigen Lehre an der Universität Göttingen von Andretta (1991) überaus fruchtbar rekonstruiert werden konnte – war explizit non-paternalistisch und hat gesellschaftspädagogische Fragen, die Gerhard Weisser dringlich beschäftigten

21 https://taz.de/Religionsphilosoph-Klaus-Heinrich/!5445520/ (zuletzt geprüft am 31. 10. 2019). Vgl. auch Bauschulte (2012). 22 Wacquant (2016). 23 Vgl. die Dissertation, die von Schellschmidt (1997) bei Siegfried Katterle geschrieben worden ist. Dieser Institutionalismus ist zu verstehen vor dem historischen Hintergrund eines Wissenschaftskulturaustausches zwischen Amerika und Deutschland: Schmalz, 1998. 24 Darin auch der Beitrag von Siegfried Katterle (2001). Vgl. auch Katterle (2000). 25 „In der Wissenschaft spricht man von einer Schule oder wissenschaftlichen Schule, wenn Wissenschaftler der Denktradition oder der Arbeitsweise eines bedeutenden Vorgängers folgen oder wenn Forscher ähnlicher Orientierung zusammenarbeiten“ (https://de.wikipedia.org/wiki/ Schule_(Wissenschaft); zuletzt geprüft am 31. 10. 2019).

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und vor allem tiefere Spuren bei Werner Wilhelm Engelhardt hinterließen (SchulzNieswandt, 2011a; 2013a), eher zur Seite gestellt.26 Bei Siegfried Katterle spielten Fragen der Haltung und der Dienstgesinnung (z. B. in der Lehre der öffentlichen Wirtschaft27) jedoch eine konstitutive Rolle, so, wie Leonhard Ragaz (1904) meinte: „Du sollst.“ Dazu muss der Mensch aber eine Kraftquelle haben, die sich, religionsphänomenologisch mit Blick auf das Wesen religiöser Erfahrung erfassbar (Beckmann, 2003), als religiöser Habitus ablagern muss, wie es aus dem Dialog zwischen Peter Wust (der bei Leonard Nelson in Göttingen wegen einer Promotion angefragt hatte) und Edith Stein hervorgeht (Huning, 1969). Theo Thiemeyer (Neumann/Schulz-Nieswandt, 199528) vertrat den Kritizismus, wobei ich, bei ihm diplomiert, promoviert und habilitiert (Schulz-Nieswandt, 1992), infolge meiner gründlichen Kenntnisse seines Werkes im Laufe der Zeit immer mehr der Meinung zuneige, dass er seine Ablehnung des Neo-Platonismus objektiver Werte nicht ohne bedauerndes Zögern vertrat. Genau diesen Weg zur Metaphysik ontologischer Wahrheit – allerdings auf der Basis des modernen Grundrechtsdenkens (Schulz-Nieswandt, 2016d), wie es vom Völkerrecht und vom Unionsbürgerschaftsrecht ausgehend zunehmend unser System der Sozialgesetzbücher prägt – bin ich nun gegangen (Schulz-Nieswandt,

26 Sozialpolitik meinte bei Ingeborg Nahnsen eine Politik der Schaffung von Möglichkeitsräumen auf lebenslagentheoretischer Grundlage, dabei allerdings die Nutzungs- und somit Kompetenzseite des Transaktionalismus wenig betonend. Sie hatte, diese Formulierung sei mir gestattet, eine Mütterlichkeit liberaler Offenheit, die den strengen (deduktiv-„kopflastigen“) „Männern“ der Weisser-Schule eher abging. Ingeborg Nahnsen war eine eindrucksvolle Frau. Sie hätte (aber belastet durch familiale Pflegeaufgaben) mehr publizieren müssen. Dann hätten wir mehr Material, um ihre kurze Ewigkeit stärker auszudehnen. 27 Vgl. dazu den Aufsatz von Katterle (1988), von dem ich sichtlich geprägt bin: SchulzNieswandt (2015a). In Bezug auf meinen Aufsatz zur vergleichenden Morphologie von Sparkassen und Kreditgenossenschaften antwortete mir Siegfried Katterle in einem Brief vom 20. Februar 2014 ebenso wie mit Bezug auf meine Studien zu den Berufsgenossenschaften (anspielend auf Schulz-Nieswandt, 2011b) und zur EU-Kommission (Schulz-Nieswandt, 2013d) und zur Europäischen Integration (Schulz-Nieswandt, 2012a; 2011c) im Zusammenhang mit einer Kritik an Neoklassik und Neoliberalismus. Das klingt oberflächlicher, als es wirklich ist, denn Siegfried Katterle ging immer sogleich tief in die Kritik der epistemischen Grundlagen, hier in Bezug auf die Zustimmung zur „sozialontologische(n) Ohrfeige an die solipsistische Pleonexia der homo oeconomicus-Varianten“ (so eine Formulierung von mir, die er zitierte), die er von den „Evangelisten des Marktes“ vertreten sah. Wenngleich recht konservativ orientiert, so trifft Künkel (1968: 1 ff.) das Problem: „Ichhaftigkeit“ als „Form des Charakters“. Die Einbettung in ein Uns auf dem Weg zu einem Wir gelingt dann nicht. Es geht um Einbettung, nicht um den Verlust im Kollektiven. Daher sind unabdingbare Polaritäten in der menschlichen Formfindung – die Romano Guardini als personalistische Gegensatzlehre formulierte – zu betonen (dazu auch Blendinger, 1947). Bei Paul Tillich wird dies im (wahlverwandt zum Martin Buber’schen dialogischen Raum des Da-Zwischen) theoretischen Zwischenraum und somit jenseits von Individualismus und Kollektivismus andererseits lokalisiert gedacht. 28 Darin der Beitrag von Siegfried Katterle (1995).

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2019a), dem freiheitlichen Sozialismus treu bleibend, aber nicht mehr im Kontext eines Kritizismus, sondern im Kontext einer Metaphysik29 des Personalismus.30 Die Grenzen des Kritizismus habe ich nochmals erkannt, als ich Gunnar Myrdals Abhandlung über die „Objektivität in der Sozialforschung“ (Myrdal, 1971) erneut studierte. Myrdal kannten wir schon als Studierende aus Theo Thiemeyers Veranstaltungen in Bochum. Ich hatte bereits zur Diplomarbeit Gunnar Myrdals Studien „Das politische Element in der Entwicklung der ökonomischen Theorie“ sowie „Das Wertproblem in der Sozialwissenschaft“ gelesen. Gunnar Myrdal kommt aber über den Kritizismus nicht hinaus; und im Vergleich zur Gerhard-Weisser-Schule fehlt es bei ihm auch an erkenntnistheoretischen Überlegungen. Gunnar Myrdal bleibt also flacher, als zunächst vielleicht vermutet. Dabei will ich nicht falsch verstanden werden: Im Vergleich zur weitgehenden Ausblendung des Problems in der heutigen ökonomischen Zunft ist Myrdal, ähnlich wie Lepenies (2018) mit seiner Abhandlung über „Benimm und Erkenntnis“, auch aktuell noch geradezu revolutionär. Aber genau diese Revolution ist zugleich nochmals gründlicher möglich. Für das Verständnis des akademischen Habitus von Werner Wilhelm Engelhardt dagegen ist der tiefe Bezug zu Immanuel Kant stilbildend. Für Theo Thiemeyer ist in seiner Begeisterung für die Traditionen der großen Köpfe im „Verein für Socialpolitik“ im Kampf mit dem damaligen Manchesterliberalismus vor allem der Bezug auf Adolph Wagner (Backhaus/Chapupk/Frambach, 2018) gestaltbildend prägend gewesen. Zu Theo Thiemeyer hat Franz-Xaver Kaufmann (2003) einmal die These vertreten, er sei Staatssozialist gewesen. Vielleicht ist da auch etwas dran, ein angemessenes Verständnis von (ja wohl kaum stalinistischem, also linksfaschistischem) „Staatssozialismus“ vorausgesetzt. Vielleicht kann die Hypothese vertreten werden, Siegfried Katterle habe im Rahmen einer ordnungstheoretischen Morphologie (Schulz-Nieswandt, 2019b) im Vergleich zu den Vorstellungen vom Dritten Weg in den Ausarbeitungen bei Werner Wilhelm Engelhardt, der im Rahmen einer Lehre der Unternehmenstypenvielfalt (Schulz-Nieswandt, 2014a) deutlich auf die Genossenschaftslehre fokussierte, durch die Nähe zur Wirtschaftspolitiklehre31 – nicht nur , aber doch prägnant – die Rolle des Staates stärker thematisiert. Bei seinen Beiträgen zur angemessenen Rezeption von Alfred Müller-Armarck wird dies deutlich (Katterle, 2000). Theo Thiemeyer betonte auch forschungsthematisch die Vielfalt der Unternehmenstypen; hier standen aber, 29

In dem Brief vom 26. November 2014 schrieb er über seine „Schwierigkeiten“ mit der „heideggerischen Sicht“. Er schrieb dann einige gehaltvolle Sätze über „Anvertrauung“ und „Beauftragung“ angesichts der Ängste der Menschen in ihrer Daseinsführung. Hierbei wäre aber zu bedenken, dass Paul Tillich in seiner Systematischen Theologie durchaus deutlich von Heideggers Existenzphilosophie geprägt ist. 30 Schulz-Nieswandt (2017b; 2017c; 2018a; 2018d). 31 Und Siegfried Katterle ist hier eher dem Typus von Karl Georg Zinn (1992) nahe. Vgl. auch Meißner/Zinn (1984) zu qualitativem Wachstum und Vollbeschäftigung als verknüpfte Dimensionen eines neuen Verständnisses von Wohlstand. Zur Festschrift für Karl Georg Zinn zum 60. Geburtstag trug Siegfried Katterle bei (Katterle, 1999b).

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neben den Genossenschaften, die öffentlichen Unternehmen im Fokus (vgl. auch in Schulz-Nieswandt/Greiling, 2019). Unter Dritten Ordnungen verstand man im 20. Jahrhundert allerdings „links“32 wie „rechtskonservativ“33 verschiedene Ideenwelten. Das gilt für die Wirtschaftsordnungsvorstellungen (Lüdders, 2004), aber auch für die anthropologischen Fundierungen jenseits von Individualismus und Kollektivismus34 (wie es auch Paul Tillich betonte)35. Kapitalismuskritik (Clary, 1994; Dole, 2017) spielten im Christentum in der Weimarer Zeit und in der frühen Bundesrepublik Deutschland eine Rolle (Casper/Gabriel/Reuter, 2016). Siegfried Katterle hat diese Kritik durchgängig wachgehalten.36 Natürlich verkörperten diese Differenzierungen innerhalb der Weisser-„Schule“ nur unterschiedliche Fokussierungen, die aber dennoch reformideelle Neigungen zum Ausdruck bringen und gestaltgebend und stilbildend für die jeweiligen Persönlichkeiten waren. Der Dritte Sektor37 war bei allen ein durchgängiges Thema, wie mir Siegfried Katterle in einer E-Mail vom 23. April 2014 bestätigte. Bei Werner Wilhelm Engelhardt – wie später auch bei mir (u. a. Schulz-Nieswandt/Köstler, 2011)38 – wurde insbesondere auch das Thema der Formen bürgerschaftlichen Engagements aufgegriffen und integriert. Theo Thiemeyer und Werner Wilhelm Engelhardt – Letzterer in seiner JohannHeinrich-von-Thünen-Forschung bis, wie es mit Siegfried Katterle einmal schrieb, zur Obsessivität39 (E-Mail vom 23. April 2014) getrieben – waren immer sehr dogmengeschichtlich interessiert, auch, weil hier in der Erinnerungskulturarbeit nicht nur kollektive Gedächtnisfunktionen gewahrt wurden, sondern weil hier auch gelehrte Rechtfertigungsargumentationen in einem ideologisch oftmals ignoranten bzw. ablehnenden bis feindlichen Umfeld in der Wissenschaft vorherrschten: „Mißverstanden zu werden, unerkannt zu bleiben, während das Leben vorbeizieht, auch das macht einsam“ (Regau, 1962: 92). Siegfried Katterle schrieb nach seiner Emeritierung 1995 noch wichtige Abhandlungen, aber er war nicht so getrieben wie Werner Wilhelm Engelhardt. Sieg32

Schulz-Nieswandt (2018a). Schulz-Nieswandt (2017a). 34 Dazu auch Keller (2001). 35 Dazu auch Rösler (2013). 36 Strömungen und Positionen der sozialkatholischen Seite habe ich in Schulz-Nieswandt (2018a) aufgearbeitet. 37 Schulz-Nieswandt (2018d). 38 Schulz-Nieswandt (2011d); Schulz-Nieswandt/Langenhorst (2015). 39 Nicht im Sinne der Pathologie der ICD, wohl aber im Sinne einer mitunter verstiegenden Begeisterung oder im antiken (nicht christlichen) Sinne der Bessenheit, die aber auch auf einen guten Daimon verweisen kann (vgl. demnächst in Schulz-Nieswandt, 2019d). 33

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fried Katterle hatte wohl sein jemeiniges Gleichgewicht mit Blick auf die verschiedenen Entwicklungsaufgaben im Alter gefunden. Theo Thiemeyer konnte sein geplantes Alterswerk einer umfassenden Dogmengeschichte der Gemeinwirtschaft infolge seines frühen Todes im Alter von 62 Jahren nicht verwirklichen. Siegfried Katterle, sich, wie Theo Thiemeyer auch, mit dem krypto-normativen Formalismus der Welfare Economics auseinandersetzend, rezipierte, anders und deutlicher als in der Weisser-„Schule“ sonst üblich, moderne Entwicklungen der Institutional Economics (Katterle, 1990; 1991) wie z. B. von Hodgson (1989). Vielleicht kann hier – zumindest andeutungsweise – eine Art von Charakterlehre skizziert werden, also ein Psychogramm der „Weisser“-Schule. Werner Wilhelm Engelhardt war mit seinem unendlichen Namens-ZitationsKetten-Obsessionen ein Schriftgelehrter, dessen Habitus einer von Dritten stigmatisierend und daher schmerzhaft generierten Verhaltensform eines stark verbundbaren, kränkbaren Menschen geschuldet war. Sein sozialer Aufstieg vor dem Hintergrund seines sozialen Woher wird im Hintergrund eine explikative Rolle spielen können. Ich selbst, unter prägendem Einfluss von Theo Thiemeyer stehend, habe dies in gesteigerter Weise fortgeführt, allerdings, wie ich von mir selber meine, stärker substanzialisiert mit Blick auf produktive und systematische Synthesen (SchulzNieswandt, 2019a; 2016b). Beide – Werner Wilhelm Engelhardt und ich selbst – sind habituell zu verstehen als unterschiedlich akzentuierte Varianten der in der Fachgemeinde ausgegrenzten belesenen Fachgelehrten, Engelhardt dauerhaft, ich nur (und auch nur von dummen liberalen Neoklassikern oder borniert quantitativen Sozialforschern) als junger Schüler der als antiquiert klassifizierten Weisser„Schule“, dann später gar nicht mehr. Denn schließlich konnte ich mich multifunktional in vielen Rollensettings anerkannt etablieren. Siegfried Katterle produzierte signifikant weniger. Was er produzierte, war allerdings jeweils „wasserdicht“. Ingeborg Nahnsen produzierte kaum etwas, denn sie war mit ihrer Lehre und ihren Familienpflichten vollauf ausgelastet. Soweit ein Psychogramm der „Weisser-Kinder“ und des Enkelkindes.

2. Die Heimat im religiösen Sozialismus Im Internet40 findet sich ein Gedenknachruf41 des „Bundes Religiöser Sozialistinnen und Sozialisten Deutschlands“ (BRSD)42, der in Gänze (Absätze – bis auf den Schlussteil – auflösend) zitierwürdig ist, weil er im Kern alles (thematisch, nicht gründlich metareflexiv, was auch unangemessen überfordernd wäre) auf den Punkt bringt: „Siegfried Katterle, Prof. für Volkswirtschaft, war dem Bund der Religiösen Sozialist(innen), gegründet 1919/1926, verboten und verfolgt während der NSDiktatur, besonders verbunden. Am 17. Juni 1977 reorganisierte und belebte er den damals überalterten Bund zusammen mit Günter Ewald, Prof. für Mathematik in Bochum, (1929 – 2015), Jürgen Finnern, damals Studentenpfarrer in Bielefeld, und Dr. Reinhard Gaede, damals Wiss. Ass. und Studentenpfarrer in Bethel, im Gefolge von Student(inn)en aus Bethel und Bochum. In dem neu eingetragenen Verein war er dann Bundeskassenführer und 1977 – 1983 für die Redaktion der Zeitschrift Christ und Sozialist (heute mit dem Untertitel Kreuz und Rose) verantwortlich. Arbeitslosigkeit nannte er schon damals ein ,soziales Hauptproblem‘. Seine Forderungen an die Gesellschaft waren: Gerechte Verteilung der Einkommen und Vermögen, (Differenzierung hinsichtlich Leistung und Motivation, einsehbar, funktional und glaubwürdig); Humanisierung der Arbeit (Arbeitsbedingungen, die die Entfaltung der Persönlichkeit fördern); Versorgung mit meritorischen Gütern (z. B. Recht auf Bildung, berufliche Ausbildung, Zugang zu kulturellen Einrichtungen und Kulturgütern, Recht auf angemessene Wohnung); konjunkturelle Stabilisierung des Wirtschaftsprozesses, Erreichen eines hohen BeschäftigungsStandes (Recht auf Arbeit als Staatsziel, Vergesellschaftung des Beschäftigungsrisikos), Erreichen eines sozial- und umweltverträglichen wirtschaftlichen Entwicklungspfades, entsprechender Umbau der Produktionsstruktur, qualitatives Wachstum (Nachhaltigkeit), Vereinbarung international verträglicher Austauschbeziehungen zwischen den Ökonomien der Ersten Welt und den Ländern der Dritten Welt. Regierungen, Verbände und gesellschaftliche Initiativen (Bürgerbewegungen) sollten sich zum Handeln für das Gemeinwohl vereinen. Neben dem Typ privatwirtschaftlich geführter Erwerbsunternehmen befürwortete er Unter40 https://religioesesozialisten.de/2019/04/07/wir-gedenken-prof-dr-siegfried-katterle/; zuletzt geprüft am 31. 10. 2019. 41 Von Dr. Reinhard Gaede, Herford, Ehrenvorsitzender des „Bundes Religiöser Sozialistinnen und Sozialisten Deutschlands“ (BRSD). 42 https://de.wikipedia.org/wiki/Bund_der_Religiösen_Sozialistinnen_und_Sozialisten_ Deutschlands; zuletzt geprüft am 31. 10. 2019.

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nehmen der öffentlichen oder freien Gemeinwirtschaft, die dem Gemeinwohl (meritorischen Zielen) verpflichtet sind. Unterschiedliche öffentliche Träger hielt er für denkbar: Kommunen, Zweckverbände, Länder, Bundesstaat. Auch autonome öffentliche Körperschaften (z. B. Öffentliche Rundfunkanstalten), Freigemeinwirtschaftliche Unternehmungen, die öffentliche Versorgungsziele verfolgen, hielt er für förderungswürdig (z. B. Freigemeinwirtschaftliche Krankenhausbetriebe oder Wohnungsgenossenschaften, Freie Schulen). Unterschiedliche Talente und Wertorientierungen können in solch gemischtem Wirtschafts-System am besten integriert werden. Er forderte öffentliche Planung und Kontrolle der Wirtschaft: Zur besseren Sozial- und Umweltverträglichkeit, zur Erreichung eines hohen Beschäftigungsstandes, zur konjunkturellen Stabilisierung der Ökonomie. Der Parlamentarismus müsste ergänzt werden durch sinnvoll arbeitenden Korporatismus (in vielen westlichen Demokratien institutionalisiert): Zusammenarbeit von Regierungsstellen, Gewerkschaften, Wirtschaftsverbänden. In Wirtschaftsund Sozialräten für einzelne Branchen, auf regionaler, nationaler und supranationaler Ebene könnte solch öffentliche Planung organisiert werden. Ziel des demokratischen Sozialismus sollte eine Übertragung der demokratischen Ideen aus dem politischen System auch auf das wirtschaftliche sein. Erst so könnte die demokratische Gesellschaft eine Kontrolle über die Wirtschaft gewinnen, die derzeit im Kapitalismus soziale Lebensverhältnisse und die Umwelt der Menschen zerstört. Diese Veränderungen sind innerhalb des Rahmens möglich, den das Grundgesetz vorgibt. Mit seinem partizipatorischen Plan-Markt-Modell auf der Grundlage annähernder Gleichheit stand er in der Tradition religiös-sozialistischer Denker wie dem Nationalökonomen Eduard Heimann (1889 – 1967), Kurt Nemitz (1925 – 2015). Auch Gedanken von Ota Sik (1919 – 2004), Wirtschaftsminister im Prager Frühling, sowie von Arthur Rich (1910 – 1992), Schüler von Leonhard Ragaz, Sozialethiker in Zürich, gingen in diese Richtung. Seine Freundlichkeit, sein großes Wissen in Wirtschaftswissenschaften und Theologie werden seinen Freundinnen und Freunden immer in Erinnerung bleiben“ (kursiv auch im Original). Zur Erinnerung: „Von Platon stammt die Idee, daß alles in uns Erinnerung ist. Daß unser Leben nicht das ist, was wir sehen und treiben, sondern das, was in uns liegt und dem wir bestimmt sind, es in Bildern und Gedanken aufsteigen zu lassen“ (Stier, 1980: 43). „Ein Grab ist erst einsam, wenn es nicht mehr zu Lebenden spricht, wenn es keiner mehr schmückt, an ihm keiner mehr bittet“ (Regau, 1962: 192). In sozialethischer Hinsicht vertrat Siegfried Katterle die evangelische Seite,43 analog etwa zur Rolle von Heinz Lampert (Schulz-Nieswandt, 2005) auf der Seite 43 Er war am 31. Oktober 2008 (Reformationstag) neben Frank Crüsemann, Ulrich Duchrow, Heino Falcke, Christian Felber, Kuno Füssel, Detlef Hensche, Arne Manzeschke, Silke Niemeyer, Franz Segbers, Ton Veerkamp und Karl Georg Zinn Erstunterzeichner des Aufrufs

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des sozialen Katholizismus.44 Die (zugunsten der „Evangelen“ asymmetrische) Modernitätsdifferenz zwischen der protestantischen und der katholischen Theologie im 20. Jahrhundert (Schulz-Nieswandt, 2018a45) replizierend, war Siegfried Katterle der modernere Typ, seine inneren Bezüge zum religiösen Sozialismus in der Tradition von Paul Tillich explizierend (Katterle/Rich, 1980). Meinen tiefen Zugang zu Paul Tillich (früh schon angedeutet in Schulz-Nieswandt, 1991; Schulz-Nieswandt, 2009)46 verdanke ich Siegfried Katterle.47 Dieser Bezug zum religiösen Sozialismus auf der Grundlage eines solchen Kopfes eines riesigen Werkes einer fundamentalontologisch und existenzial fundierten systematischen Theologie48 (Danz, 2017)49 ist typisch für das intellektuelle Profil von Siegfried Katterle. Einige Erläuterungen zu Paul Tillich sind erforderlich, um die Problematik des religiösen Sozialismus besser zu verstehen. Es geht um einen komplexen Zusammenhang, u. a. um die Korrelationsmethode von Paul Tillich, um die Offenheit bei

„Frieden mit dem Kapital? Ein Aufruf wider die Anpassung der Evangelischen Kirche an die Macht der Wirtschaft“. 44 Vgl. Katterle (1999a) mit Bezug auf Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland; vgl. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (1997). 45 Vgl. auch Schulz-Nieswandt (2015b). 46 Vgl. auch Schulz-Nieswandt (2014b; 2017d). 47 Die von ihm in dem Brief vom 20. Februar 2014 angefragte Aufsatzpublikation zu Paul Tillich (Schulz-Nieswandt, 2009) sandte ich ihm zu und er antwortete in einem Brief vom 13. April 2014. Er ging dort nochmals erinnernd auf Adolph Lowe (Krohn, 1996; 2017) und Eduard Heimann (Heyder, 1977) aus dem Tillich-Kreis (nicht nur zu erwähnen, sondern herauszuheben wäre sodann auch der Gesellschaftspädagoge Carl Mennicke) ein. Zugleich bewies er sein gründliches Verständnis von Paul Tillichs Theologie, streifte dessen Symboltheorie (Luscher, 2008; Heinemann, 2017; Danz/Schüßler, 2014; Schwanz, 1980; Nörenberg, 1966; Mugerauer, 2003), den Kairos-Begriff (Christophersen, 2008; 2016; Schüßler, 2015; CeplKaufmann, 2018) und damit die „sozialistische Entscheidung“ (Langer, 2001) und das Dämonische (Tillich, 1926); Danz/Schüßler, 2018). Meine Abhandlung zur Gabe (Schulz-Nieswandt, 2014b) und zu Walter F. Otto (Schulz-Nieswandt, 2014c) nahm er in einem Brief vom 26. November 2014 sehr positiv auf, auch die Kritik an Karl Barths unerträglichem Vertikalismus einer Theologie von „von oben“ ohne existenziale Anthropologie „von unten“ (zur Anthropologie in Paul Tillichs Systematischer Theologie: Torggler, 2015). In diesem Brief deutete er aber auch an, dass meine Gleichsetzung von (christlicher) Kirche und Autoritarismus und Hierarchieordnungsdenken zu generalisiert sei. Ich zitiere immer die Formulierung eines französischen Strukturhistorikers, wonach wir dem Christentum zwei fundamentale Ideen verdanken: die Idee der Nächstenliebe und die Idee der Macht, leider die erste Idee immer nur verpackt im Modus der zweiten Idee. Meine Kritik ist später (Schulz-Nieswandt, 2017b; 2017c; 2018a) nicht ausgeglichener oder gar gelassener geworden. Meine „Metaphysik der Sozialpolitik“ sandte ich ihm noch (ich war über seine Lebenssituation nicht weiter informiert) wenige Monate vor seinem Tod zu, aber er antwortete nicht mehr. Sein letzter Brief stammt vom 2. Januar 2018. Telefonisch konnte ich ihn nicht erreichen. Ahnte ich etwas? 48 Tillich (2017a; 2017b). 49 Vgl. ferner Dienstbeck (2011).

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Romano Guardini, um die Unerträglichkeit des Karl Barth’schen Supranaturalismus und um den existenziellen Schrei des Menschen sowie um die Kunst. Karl Barths50 supranaturalistische Theologie Gottes denkt alles senkrecht „von oben“. Explizit geht Barth nicht vom Menschen und somit existenzial „von unten“ aus und thematisiert daher auch nicht die Fragen der Anthropologie des homo patiens als Herausforderung an Gott (Gallus, 2007). Hier würde die Hybris der Verdrehung von Himmel und Erde wurzeln; hier würde ein prometheischer Titanismus (Peers, 2016; Schöberl, 2019) heranwachsen. Tillich formuliert dagegen seine berühmte, wenngleich umstrittene Korrelationsmethode (Danz u. a., 2017). Er geht – m. E. (Eickhoff, 2002) im Lichte der Theodizee-Problematik zu sehen – von dem Schrei der bedrängten Kreatur (Bavaj, 2007) aus – und Gott antwortet. Die offenbarungstheologische51 Differenz ist signifikant. Gott (T’sas, 2001) ist bei Tillich fundamentalontologisch von der Seinsverfassung des Menschen in seiner Existenznot und in seiner sozialdramatischen Daseinsproblematik her gedacht. Die Anfrage an Gott erfolgt aus der Entfremdung als missglücktes Leben in Angst, Sinnlosigkeit und Verzweiflung und Einsamkeit, alles existenzielle Daseinsthemen auch im Werk z. B. von Ödon von Horváth (Hildebrandt, 1993; Hildebrandt/Krischke, 1972), der hier genannt werden soll, weil er auch sozialpolitische Bezüge aufwies. Und: aus Angst52 (Tillich, 2015) heraus (Bitter, 1973: 19). Durchaus bleibt Gott – wie auch bei Barth – letztendlich unbegreifbar. Daher argumentiert Paul Tillich, Gott sei nur im Symbol zu haben. Auch wenn Gott den Fragen der Menschen antwortet, bleibt er das absolut Unbedingte. Aber er wird nur im Resonanzraum der menschlichen Existenzherausforderung relevant erlebbar. Und diese Korrelation beider Pole führt zu einer Durchdringung des Zwischenraums der Kultur der sozialen Wirklichkeit. Die Sphären der Wirklichkeit werden zum göttlichen Raum, wenn sie durchdrungen werden vom schöpferischen Wirken der Menschen (Eros), in denen die Personalisierungsschübe des Menschen eine Ausdrucksform finden, so wie in der Kunst (wenn man an Guardini, Bollnow, Gadamer, Heidegger anknüpfen will) oder in anderen von Freundschaft (Philia) und Liebe (Agape) geprägten sozialen Praktiken im Alltagsleben der Menschen, dort also, wo aus der Kraftquelle der Liebe im Lichte sozialer Gerechtigkeit das Leben zur Gestaltwahrheit geführt wird, dort also, wo § 1 SGB I vor dem Hintergrund des an das uralte Prinzip der Goldenen Regel53 der neolithischen54 Achsenzeit55 erinnernden Kantianischen Sittengesetzes von Art. 2 GG zur sozialen Wirklichkeit wird. Ernst Cassirers Formprinzip (vgl. auch Korsch/ Rudolph, 2000; Vogl, 1999) spielt hier hinein. Dignity ist, so das moderne Naturrecht des Völkerrechts, der menschlichen Natur inhärent. Daher ist die Würde in Art. 1 GG 50 51 52 53 54 55

Jetzt auch Böger (2019). Danz/Schüßler/Sturm (2005). Womit wohl insbesondere Kierkegaard eine Referenz sein wird: Vetter (1963). Breitsameter (2019). Parzinger (2014); Brock (2006); Löffler (2019). Assmann (2018); Helm (2017).

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unantastbar, also tabu, demnach heilige Grundlage des säkularen Rechtsstaates, der im Art. 3 (3) EUV die Marktwirtschaft sozial bindet und im Art. 20 GG die Formbestimmtheit des Sozialstaates annimmt (Schulz-Nieswandt, 2017c). Ist es Zufall, dass sich Paul Tillich (Tillich, 2004) für die expressionistische Kunst (Surugiu, 2017) begeistern konnte? Eben nicht. Ob als Malerei, Roman oder Lyrik: Hier drückt sich der homo patiens – im Hilfeschrei – als bedrängte Kreatur in seiner tiefen Vulnerabilität aus. Hier wird der Mensch in seiner Bedürftigkeit nach Kohärenz, damit nach daseinserfüllendem Sinn, nach Bewältigung der Verzweiflung im Alltag und nach inklusiver Integration (statt Einsamkeit) sichtbar. Das Problem wird signifikant. Korrelation meint aber die Einheit (bei bleibender Getrenntheit) im Zwischenraum der korrelativen Pole, die ihre Autonomie behalten: einerseits der Mensch in seiner bedingten Souveränität, andererseits Gott in seiner absoluten Unbedingtheit. Gott als das Unbegreifliche ist in dieser Korrelationsordnung nicht instrumentalisierbar. Als das „ganz Andere“ bleibt Gott im Werk von Paul Tillich jenseits jeder Verfügbarkeit, ist aber – und das ist die Differenz zu Karl Barth – in seiner antwortenden Reaktion wirksam, begriffen in Paul Tillichs Politischer Theologie der Kultur-Theonomie. Demnach ist Gott also anwesend in der Kultur des Menschen, wenn der Mensch in seiner Rolle als Mitmensch um seine Entelechie der Personwerdung ringt, wenn er Zeiten der Lichtung lebt und erlebt, Zeiten, in denen seine Gestaltwahrheit – leidenschaftlich und tief ergriffen thematisiert durchaus in der pantheistisch anmutenden Onto-Theologie bei Walter F. Otto (Schulz-Nieswandt, 2014c) – gelingt, er nicht scheitert am Wagnis des Daseins, weil er mutig war und die Entwicklungsaufgaben erfolgreich angenommen hat. Denn bei Tillich verweist die Kraftquelle der Liebe auf die Annahme der unbedingten Gabe der Urliebe Gottes. Genau die Narration dieses genealogischen Rekurses unterscheidet Theologie von einer humanistischen Philosophie der Liebe. Das muss für den Humanismus56 aber kein Mangel sein; es kann auch die Stärke des gottlosen Humanismus sein. Wenn wir die Liebe im ontischen Zwischenraum der reziproken Mitmenschen ontologisch als Gestaltwahrheit gelingendes Daseins begreifen, so ist dies auch dann der Fall, wenn wir die Kraftquelle der Liebe nicht in der Gotteserfahrung suchen, sondern in der entsprechend normativ-rechtlich skalierten Entwicklungspsychologie der Bindungsforschung, in der psychodynamischen Diagnostik kultureller Grammatiken 56 Die Herausforderung für den christlichen Humanismus ist die Säkularisierung (Dux, 2018a; 2018b; Taylor, 2009; Schmidt/Pitschmann, 2014): Dazu jedoch Jaeger (1960). Humanismus ohne eine Einbettung in eine Metaphysik der göttlichen Ordnung – eine Entwicklung im altgriechischen Denken, das sich (eine bekannte These) in der transformativen Abfolge von Aischylos, Sophokles und Euripides erkennen lässt – ist für Jaeger ein geistiger Bankrott, ein Verfall der menschlichen Kultur. Seine Formulierung deutet hier die Nähe zur These der Hybris des menschlichen Titanismus an; positiv schwingt mit, dass er in Anlehnung an Platon den Staat der Paideia eher als Kirche als als Polis versteht. Eine Nähe zu Carl Schmitt (1925) könnte hier wirksam sein, denn Jaeger gehörte ja zu den Strömungen der „Konservativen Revolution“. Die Hybris-Neigung kritisierend, ist auch Simon (1934) anzuführen, nur betont er die Gottähnlichkeit des Menschen und wendet sich gegen die (damals) neueren Rassenmythen.

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des Sozialen oder in der Sozialisationsforschung Kritischer Theorie, was im antiken Kontext die Paideia genannt wurde. Dies könnte die Lücke füllen, die die bei Nietzsche auf den Begriff gebrachte, bei Hölderlin, Rilke und Celan erlebte Ermordung Gottes zur personalen Erlebnisgeschehensordnung der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ führte. Der „Heilige Geist“, das Pneuma, ist neu zu artikulieren als Charakterkunde der pädagogischen Psychologie und der Erziehungsphilosophie, die die neurotischen Verstiegenheiten des homo abyssus (und deren sozialen Kosten) skaliert an der Referenz der Gestaltwahrheit gelingenden Daseins liebender Weltoffenheit, wenn hierzu die philosophische Anthropologie von Helmuth Plessner durch das Prisma von Max Scheler gelesen wird. Die Internalisierung des „Heiligen Geistes“ ist die antike Idee der Formung der Person im (christlichen) Modus einer religiösen Sozialisation. Der im Wachstum und Werden begriffene Mensch soll zu einer Haltungsgestalt geformt werden, die den Normwert einer weltoffenen Liebesfähigkeit in der Charakterbildung zum Ausdruck bringen soll. Das ist eine Subjektivierungsform als Ergebnis einer Praxis der gouvernementalen Habitusbildung des Dispositivs der Nächstenliebe. Die Theologie des Heiliges Geistes enttheologisiert sich zur profanen, säkularen Lehre der Paideia des guten Lebens der Polis. Profanisierung meint hier keineswegs Oberflächlichkeit. Die Paideia wird dabei modelliert als Lehre von der Entelechie im Rahmen einer historischen Seinsimmanenz der dynamischen Prozessontologie der Metamorphosen des Menschen im Lichte des Telos der Personalisierung. Die perfekte Reinheit der Unbedingtheit der Gottesidee mag, wie gesagt, die Referenzfigur für die Skalierung der Offenheit zur liebenden Gabe sein. Aber Gott als evaluative Referenz wird damit zum Fluchtpunkt des Wachstums und Werdens der Personalität als Telos. Es kristallisiert sich eine „Gott-lose“ Theologie einer Fundamentalontologie der endlichen Sorgepraxis eines daseinsanthropologischen Humanismus einer Existenzphilosophie heraus. Geschichte – es mag sein, dass hier Tillich mittels einer falschen SchellingRezeption seinen eigenen Standpunkt produktiv fundieren konnte (Neugebauer, 2007) – wird zum Raum der transgenerationellen Dynamik der Möglichkeit eines sozialen Fortschritts in der Kultur des Miteinanders der Menschen in der Reziprozität der Rolle als Mitmensch. Die Kraftquelle zu diesem „Projekt“ ist m. E. aber nicht im Hinterraum einer exogenen Transzendenz (Schüßler, 2011; 2013) zu suchen. Sie ist endogenisiert in der Potenzialausstattung des Menschen selbst. Die Gotteserfahrung wird daher zum Thema privater Innerlichkeit von möglicher Spiritualität. Wirksam kann sie somit als Kraftquelle der Lebensführung werden. Das entspricht dem soziologischen Thomas-Theorem (Merton, 2012). Aber die Wissenschaft kann in der Idee Gottes keinen hinreichenden Grund für die Wahrheitsfindung erkennen. Der religiöse Sozialismus wird dadurch säkularisiert, wenngleich seine letzte Axiomatik in der naturrechtlichen „Sakralität der Person“ zu suchen ist. Und daher bleibt manches im theologischen Denken relevant, vor allem, wenn eine philosophisch akzeptable Theologie die Potenziale der Selbsttranszendenz des Menschen ausrollt. Aber am Ende des Tages ist auch diese Selbsttranszendenz begreifbar aus

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der pädagogischen Anthropologie und Entwicklungspsychologie der empathischen Weltoffenheit als „Stellung des Menschen im Kosmos“, der Plastizität als Funktion der Kreativität und der exzentrischen Positionalität als Funktion der mutigen Phantasie. Damit gelange ich an einen Punkt, wo ich das Werk von Romano Guardini (vgl. Schulz-Nieswandt, 2015b; 2018a) einbringen kann. Romano Guardini hat ein wunderbares Werk – blickt man u. a. auf dessen Abhandlungen über Hölderlin, Rilke, Dostojewskij oder Dante – hinterlassen, eine durchgängig bildsprachliche Theologie und Philosophie sowie soziale Pädagogik der Lebenskunst, ausgedrückt durch ein lebendiges Verhältnis zur Jugend und durch ein tiefes Verständnis des Alter(n)s, über das er ebenfalls eine schöne kleine Studie (Guardini, 2016) verfasst hat. Leidend an den dogmatischen, ungeschichtlichen und lebensweltfernen, ja lebensweltfeindlichen Machtpraktiken der römischen Kirche (Kurie [Maradigia, 2018; Marzano, 2019], also der Staatsapparat [Agamben, 2013; 2010; 2007] des Heiligen Stuhls, klingt ähnlich wie Furie57), ihr aber – seine Ausführungen zur Melancholie (Guardino, 1988) sind hermeneutische Glanzleistungen, aber eben auch autobiografischer Art – immer die Treue haltend, hat Romano Guardini ein Werk hinterlassen (Voigt, 2017), das kaum explizit politisch58 war, aber immer nah an einer katholischen Soziallehre, die die Reife einer Lehre des freiheitlichen religiösen Sozialismus nie erreichte, aber durch die tiefe, achtsame Empathie existenziell war. Ich werde sein Werk hier nicht paraphrasieren. Interessant und durchaus im vorliegenden Kontext bedeutsam, ist seine offenbarungstheologische Position, der zufolge Gott zwar „von oben“ den Menschen anspricht, der aber nicht „unten“ lokalisiert wird, sondern mit Blick auf seine Haltung der Offenheit: „Oben“ und „Offen“ sind die korrelativen Pole dieser Dynamik. Das ist eher nahe an Paul Tillich und distanziert zu Karl Barth. In der Tradition der Gestaltpsychologie und der Humanistischen Psychologie setzt eine – transaktional zu verstehende und mit dem Capability Approach der Sozialpolitik als Teil der Gesellschaftspolitik kompatible – Aktualgenese der Umwelt in Bezug auf den Menschen dessen Offenheit der Rezeption voraus. Das hat Guardini fruchtbar thematisiert (Knoll, 1998; Brüske, 1998; Voigt, 2017).

57 Bei den Römern bezeichneten Furien Rachegöttinnen als rasende Frauen der Gewissensbisse. Im Altgriechischen nannte man sie Erinnyen (Erinyen), später Eumeniden: Alekto, Magaira und Tisiphone. Zur Mythologie klären Artikel in klassischen Lexika (wie Roschers oder Paulys) auf. Vgl. insbesondere Zerhoch (2015) sowie Reinstadtler-Rettenbacher (2013). Die Literatur der Neuzeit und der Moderne nahm diesen Motivkomplex immer wieder auf. Als „Tanz der Furien“ beschrieb Neiberg (2011) die kollektive Stimmungslage in Europa im Kontext des Ersten Weltkrieges. Hier nutze ich das Sprachspiel von Kurie und Furie mit Blick auf die Verfolgung des lebendigen Menschen durch die regressive Theologie und die entsprechenden kirchlichen Praktiken. 58 Watzal (1987).

3. Die Bedeutung von Siegfried Katterle für meine Formwerdung Meine eigene Beziehung zu Siegfried Katterle habe ich in meiner Autobiografie (Schulz-Nieswandt, 2019a) angesprochen. Nach meiner Habilitation und der Teilnahme an der feierlichen Überreichung der Festschrift zu seinem 60. Geburtstag hielten wir Kontakt über Briefe, Telefonate und E-Mails. Das war Ausdruck meiner Wertschätzung und meines Dankes; eine freundschaftliche Vertiefung ergab sich nie, was Ausdruck einer Generationendifferenz sein mag, aber wohl hauptsächlich darin begründet war, dass ich mit meiner Berufung nach Köln vor allem mit mir selbst und meinen vielen Entwicklungsaufgaben beschäftigt war. Vor Ort in Köln hielt ich – aus analogen Gründen – etwas mehr Kontakt zu Werner Wilhelm Engelhardt, wobei Siegfried Katterle viel weniger kompliziert war. Siegfried Katterle spielte als externer Drittgutachter nicht nur in meiner Bochumer Habilitation eine wichtige Rolle. Aus einem Brief (Siegfried Katterle beherrschte und pflegte die Kunst des Briefes als Medium akademischer Verständigung), der noch gar nicht so lange her ist, weiß ich um seine Rolle bei meiner Berufung nach Köln, die damals den Kölner Fürstentümern des ORDO-Liberalismus nicht genehm war. Gerne hätte ich die Nachfolge von Siegfried Katterle angetreten, doch es reichte damals nur zum dritten Platz auf der Berufungsliste. Allerdings konnte ich meine Paideia (Schulz-Nieswandt, 2019a) im Kontext der Spielräume, die das Fach der Sozialpolitik (Schulz-Nieswandt, 2016a) und des Genossenschaftswesens (Schulz-Nieswandt, 2018c), später kam noch die Lehre der qualitativen Sozialforschung in Köln und das Gebiet der „Sozialökonomie der Pflege“ im Rahmen meiner Honorarprofessur an der Pflegewissenschaftlichen Fakultät der Philosophisch-Theologischen Hochschule in Vallendar hinzu, bieten konnten, sicherlich leichter entfalten,59 als es in Bielefeld möglich gewesen wäre. Denn bei allen Chancen auf eine anthropologische und ethische Fundierung der Sozialökonomik hätte die erwartbare Verpflichtung auf Makroökonomik und Wirtschaftspolitik eine signifikante Grenze der Freiheiten bedeutet. Eine Abhandlung wie die über die dionysische Sozialpolitik mit dem Titel „Sozialpolitik geht über den Fluss“ (Schulz-Nieswandt, 2015c) oder die über die strukturale Psychodynamik der Religionsphilosophie und Wahrheitsontologie bei Walter F. Otto (Schulz-Nieswandt, 2014c) wurde unter den Freiheitsgraden in der Kölner Fakultät möglich. Auch dort, wo noch der Gegenstandsbezug zur Sozialpolitik objekttheoretisch deutlich ist (Schulz-Nieswandt, 2016c), sind die Wege in 59

Vgl. etwa Schulz-Nieswandt (2017a oder 2019c).

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eine Sozialpolitiklehre zwischen Ontologie und Anthropologie einerseits und Tiefenpsychologie, Entwicklungspsychologie und Kulturwissenschaft andererseits radikal transgressiv im Verhältnis zur Wirtschaftswissenschaft, auch wenn es dort Pfade in eine hermeneutische Ökonomik und, unter dem Einfluss von Teilen der neueren Wirtschaftssoziologie, -ethnologie und -psychologie, Pfade in eine Lehre vom „cultural embeddedness“ des wirtschaftlichen Handelns gibt.60 Eine poststrukturale Ökonomik gibt es jedoch bis heute nicht, von einigen kleineren Bausteinen abgesehen. Siegfried Katterle vertrat eine sozialwissenschaftlich ausgerichtete Sozialökonomie (Oppolzer, 1990) auf ethischer Grundlage. Vom Approach-Typus ähnelte er sehr Eduard Heimann (1889 – 1967), der bei Alfred Weber promoviert wurde und Schüler von Franz Oppenheimer war, im Tillich-Kreis. Zu Heimann (vgl. auch Krise, 1994), informiert ein guter Wikipedia-Artikel.61 Und nun erinnere ich mich, dass Heimann auch im Hauptseminar bei Theo Thiemeyer ein Thema war. Wir lasen Heimanns „Soziale Theorie des Kapitalismus“ von 1929, und zwar in der späteren Suhrkamp-Ausgabe (Heimann, 1980), die von Bernhard Badura eingeleitet war. Die Einleitung von Badura war nicht zufällig. Badura arbeitete (u. a.) mit einem Fokus auf dem Feld betrieblicher Gesundheitsförderung. Und Heimann vertrat das Fach der Sozialpolitik – so in der „Soziale(n) Theorie“ – mit Blick auf eine radikale Sozialreform der Produktionssphäre in Unternehmen. Hier liegt auch der Grund, warum mich dieses Buch nie so ganz ansprach. Bis heute habe ich in der Sozialpolitiklehre einen Schwerpunkt auf die Felder der sozialen Dienstleistungen und der sozialen Schutzsysteme (Sozialversicherungen und Sozialhilfe). Die Arbeitspolitik, das in60 Das MPI für Gesellschaftsforschung folgt folgendem Approach: „Wirtschaft, Gesellschaft, Politik – diesen drei Themenfeldern widmen sich die wissenschaftlichen Arbeiten am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln. Im Sinne anwendungsoffener Grundlagenforschung soll eine empirisch fundierte Theorie der sozialen und politischen Grundlagen moderner Wirtschaftsordnungen entwickelt werden, wobei sich die Forscherinnen und Forscher insbesondere für die Zusammenhänge zwischen ökonomischem, sozialem und politischem Handeln interessieren. So erforschen sie zum Beispiel, wie Märkte und Wirtschaftsorganisationen in historisch-institutionelle, politische und kulturelle Zusammenhänge eingebettet sind, wie sie entstehen und wie sich ihre gesellschaftlichen Kontexte verändern“ (https://www.mpg.de/155266/gesellschaftsforschung; zuletzt geprüft am 31. 10. 2019). 61 Dort lautet es: „Eduard Magnus Mortier Heimann (* 11. Juli 1889 in Berlin; † 31. Mai 1967 in Hamburg) war ein deutscher Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler. Er zählte zu den führenden religiösen Sozialisten um den Theologen Paul Tillich. In den Anfangsjahren der Wei marer Republik konzentrierte sich Heimann auf Sozialisierungsfragen. Nachdem er sich 1922 in Köln habilitiert hatte, erhielt er 1925 einen Ruf an die Universität Hamburg. Dort befasste er sich bis 1933 mit Fragen der Sozialökonomie. Dabei interessierte ihn vor allem die Entwicklung einer Theorie der Sozialpolitik. 1933 zwangen ihn die Nationalsozialisten zur Aufgabe seiner akademischen Tätigkeiten. Im selben Jahr ging er ins Exil. Heimann verbrachte drei Jahrzehnte in den Vereinigten Staaten und lehrte dort an der New School for Social Research in New York Wirtschaftswissenschaft und Soziologie. Auch nach seiner Rückkehr nach Hamburg im Jahr 1963 widmete er sich weiterhin der Frage, wie zwischen Kapitalismus und Kommunismus ein ,dritter Weg‘ gefunden werden könne“. Vgl. unter „Eduard Heimann“ den Wikipedia-Artikel (Zugriff am 7. 11. 2019.

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dividuelle und kollektive Arbeitsrecht und die betriebliche Sozialpolitik waren Gebiete, zu denen ich – warum auch immer – wenig Neigung finden konnte. Allerdings erinnere ich mich, dass ich auch Kenntnis nahm von Eduard Heimanns Schriften „Wirtschaftssysteme und Gesellschaftssysteme“ (1954/55) und „Soziale Theorie der Wirtschaftssysteme“ (Exemplare finden sich in meiner Privatbibliothek). Heimann suchte eine Rechristianisierung als religiös fundierte Vergemeinschaftung im Geist und somit in den Haltungen. In diesem Kontext waren uns auch Beiträge von Heinz-Dietrich Ortlieb (1910 – 2001)62 geläufig. Das Buch von Werner Hofmann (1969) war eine unserer Einführungen in die Wirtschaftsgesellschaftslehre. Auch Ludwig Preller (1962), der sich auf Heimann vielfach bezog, gehörte zur Lektüre im Studium bei Theo Thiemeyer. In den USAwie in Deutschland lehrte der Sozialökonom Eduard Heimann auch Theologie. Sodann wird deutlich, wie Heimann (wie auch Adolph Lowe) ein typischer Vertreter des Erlebnisgeschehenszusammenhangs von Flucht, Exil und Netzwerkbildung (zu denen Tillich und viele andere wichtige Köpfe des vorliegenden Intellektuellenfeldes zu zählen waren) sowie der Rückkehr im Kontext des deutschen Faschismus war. Die besondere Bedeutung der „New School for Social Research“ in New York (Rutkoff/Scott, 1986) ist aus der Wissenschaftsgeschichte (Krohn, 1987; Srubar, 1987) bekannt. Auch Adolph Löwe, erst später Lowe (1893 – 1995), war mir im Studium geläufig (so Lowe, 1965). Lowe war noch stärker ein Ökonom als Heimann. Beide waren typische Grenzgänger zwischen den Disziplinen; und sie waren als Außenseiter auch nicht ohne Leid durch Ausgrenzungspraktiken der herrschenden disziplinären Lehren, darin den Angehörigen der Gerhard-Weisser-„Schule“ ähnlich. Wie Paul Tillich hatte Lowe eine enge Beziehung zur Frankfurter Schule. Ernst Bloch widmete ihm seine Arbeit „Atheismus im Christentum“ von 1977. Adolph Lowe las ich im Kontext meiner Diplomarbeit bei Theo Thiemeyer zum Thema „Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik“, für die ich 1983 den Universitätspreis in Bochum bekam; ich las ihn auch im Kontext meiner Dissertation, die sich mit der Dogmengeschichte der funktionalen Finanzwirtschaftslehre vom Merkantilismus bis zum Keynesianismus beschäftigte. Adolph Lowes Abhandlung „Has Freedom a Future?“ (1988) las ich später. Nur Carl Mennicke (1887 – 1958) rezipierte ich kaum im Original.63 Alles sehr lange her. Im vorliegenden Kontext studierte ich jedoch den „Lebensbericht“ von Mennicke (1995). 62 Ortlieb (1947); ferner Ortlieb (1959); Gollnich/Ortlieb (1968), jeweils mit Bezug zu Eduard Heimann. 63 Vgl. z. B. Mennicke (1995; 1926; 1999). Der Tillich-Kreis war komplexer, als es die Namen Mennicke, Lowe und Heimann andeuten. Der Kreis bildete sich 1919 um den Berliner Pfarrer Friedrich Rittelmeyer herum. Überschneidungen zum Kreisauer Kreis (Ullrich, 2008) lagen vor. Allein Rittelmeyer (1872 – 1938) hat ein umfassendes Werk vorgelegt; die Sekundärliteratur zeigt dies. Überhaupt kommt man bei näherer Recherche auf komplexe Vernetzungen und Verschachtelungen. Der religiöse Sozialismus war eine Schicht innerhalb des

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Auch meine personalistische Fundierung ist von Paul Tillich geprägt, da das Person-Werden bei ihm das Telos der Weltgeschichte (Glöckner, 2004) darstellt, bei Stier (1980: 43) als Geschichte einer „riesigen Folterkammer“ bezeichnet wird. Gleichwohl sind die Quellen des dialogischen Personalismus in der Philosophie und Soziologie des 20. Jahrhunderts vielfältig, in der theologischen Anthropologie des Judentums ebenso wie in der katholischen und evangelischen Theologie. Auch in den Variationen einer Strukturschichtungspsychologie finden sich Fundierungen. Ich habe dies in meinen Schriften aufgenommen und will dies daher nicht erneut vertiefen oder gar ausrollen. In meiner „Kehre“ (Schulz-Nieswandt, 2019a) vom Kritizismus zur dionysischen Metaphysik einer dynamischen Prozessontologie des Noch-Nicht64, also auf dem dionysischen65 Weg zu einer höheren apollinischen Ordnung der Personalität, zumindest im Möglichkeitsraum, den eine progressive Analogia-entis-Anthropologie (Ernst, 1988)66, die auf eine spezifische Auslegung des Römerbriefs beruht und die im Lichte eines religiösen Sozialismus das „Reich Gottes“ (Rolinck, 1976; Rosenau, 1999; Danz u. a., 2015) in der messianisch aufgeladenen historischen Jetzt-Zeit verortet (Schulz-Nieswandt, 2017d),67 ist dies nachzuvollziehen. Dann sortieren sich auch meine Überlegungen (Schulz-Nieswandt, 2018c; 2015d) zum genossenschaftlichen Formprinzip sowie meine Aufarbeitungen zum Genossenschaftscharakter des Ur- und Frühchristentums (im Rahmen einer Rechtsgeschichte von „Herrschaft und/versus/mit Genossenschaft“: SchulzNieswandt, 2003; 2013d) hier passungsfähig zu einem stimmigen Gesamtbild.68

Kreisauer Kreises. So spielte auch hier Eugen Rosenstock-Huessy eine Rolle. Ferner stoßen wir auf Alfred Delp, der in meiner Seewald-Studie eine Rolle spielte. So gab es im Kreisauer Kreis Überschneidungen mit dem Hofgeismarer Kreis (Osterroth, 1964). Dort wiederum haben vorgetragen u. a. Hermann Heller, Gustav Radbruch und eben auch Eduard Heimann. 64 Der Sachverhalt ist verstehbar als Metamorphose nach dem Drehbuch einer nicht automatischen Entelechie, die als Formwerdung der Essenz als Substanz des Geschehens zu begreifen ist. Mit Blick auf Paul Tillich vgl. auch Halm (2003). Dazu passt auch, dass Paul Tillich den Sündenbegriff durch den Begriff der Entfremdung ersetzt hat (Murmann, 2000). Hierbei ist auch die Nähe von Paul Tillich zur Frankfurter Kritischen Theorie zu beachten (vgl. Schreiber/Schulz, 2015). 65 Denn der Weg zu Apollon ist Dionysos. Beide Figuren sind in ihrer polaren Differenz identisch: dazu Klinger (1989: 86 ff.) sowie Butor (1962: 66 ff.). 66 Damit wohl wissend um den homo abyssus: Schulz-Nieswandt (2013c). 67 Gemeint ist eine Immanenzontologie als Ontologie der Immanenz von Raum und Zeit im Sinne der menschlichen Geschichte der Kultur des Sozialen. Insofern gibt es keine Transzendenz als ein Da-Draußen der Immanenz. Es gibt nur Selbsttranszendenz in der Immanenz, was einen „eigentlichen“ sozialen Fortschritt bezeichnend darstellt. 68 Dazu auch Schulz-Nieswandt (2012b; 2013c).

4. Erträge einer Urlaubslektüre: Über die Differenz zwischen der Kulturtheologie Paul Tillichs und dem kosmischen Allzusammenhang des altgriechischen Glaubens Ich griff in meinem Sommerurlaub in Ostkreta (seit 1998 mein Sehnsuchtsort) erneut zu Eckart Petrichs „Vom Glauben der Griechen“ (1953): „Echte Frömmigkeit durchwirkt bei den Hellenen das gesamte Leben des Einzelnen, der Familie, des Staates mit Gottgedanken“ (10) Mehr noch: Pantheistisch anmutend gilt: „Heilig war den Hellenen vor allem die Landschaft: Gewächs und Gewässer, Insel und Berg“ (11). Das hat vor allem Karl Kerényi (1952) in seinem „Entwurf von Grundlinien“ über „Die antike Religion“ systematisch darlegen können. In dichter Form hat dies Kerényi im Vorwort zu seiner Aufsatzsammlung „Auf den Spuren des Mythos“ (Kerényi, 1967) zum Ausdruck bringen können. Exemplarisch ist auch auf Henry Miller (Schmiele, 2000: 107 ff.) zu verweisen. Die auf Reisen erlebte Landschaft verweist uns auf das Theonomie-Verständnis der Religionsphilosophie und Theologie von Paul Tillich. Quasi sich auf jeder Seite mit dem Werk von Walter F. Otto (Schulz-Nieswandt, 2014c) austauschend, entfaltet Kerényi den Stil des altgriechischen Glaubens, den er als Weltbild,69 mit Bezug auf Karl Jaspers als einen Allzusammenhang des Kosmos70, in den der Mensch eingestellt ist, charakterisiert. Es ist überall im Konkreten, das Konkrete durchdringend, anwesend in der allumfassenden kosmischen Immanenz des Seins. Kerényi legt dieses altgriechische Weltbild differenziert mit Sicht auf die antiken Begriffe des Heiligen dar (83 ff.). Und so hat auch der Mythos (19 ff.) in seinen existenziellen Erzählungen immer zugleich einen religiösen Gehalt. Und am Ende kann er sich auch entfalten (207 ff.), wie die Auffassung vom Tod als Teil des allumfassenden Diesseits des Kosmos zu begreifen sein könnte. Die Wahrheit, die hier zur Wirklichkeit einer Gestalt wird, ist die Wahrheit des Seins, nicht die eines transzendenten Gottes als des radikal ganz Anderen, wie ihn Karl Barth in seiner dialektischen Theologie als das Unfassbare, Unbegreifbare, zu dem der Mensch – im Alten wie im Neuen Testament – „Du“ sagen könne im Gebet, umkreist hat. Hier ist es „die festliche Wirklichkeit der Welt“ (13). Das liegt ganz auf der Linie der ontologischen Wahrheitsauffassung der „Götterlehre“ von Walter F. Otto (2013), bei dem der Seinszusammenhang in der Beziehung von Gestalt und 69

Vgl. auch zum diesbezüglich relevanten Werk von Shmuel N. Eisenstadt: Preyer (2016). Kerényi (1952: 45, 49): Kosmos ist eine (51: „daseinende“) Welt, deren Ordnung von Geist erfüllt und daher „wahre Wirklichkeit der Welt“ (46; kursiv auch im Original) ist. 70

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Dasein zur Korrelation kommt. Walter F. Otto hat diese Sicht, exemplarisch in seinen gesammelten Abhandlungen aus dem Jahre 1955: „Die Gestalt und das Sein“ (Otto, 1955a), ausformulieren können. Im Sommer 2019 las ich in Agathia nochmals die kleine, schön bebilderte Abhandlung „Menschengestalt und Tanz“ von Walter F. Otto (1956) und konnte mir so nochmals mittels dessen Sprachgewaltigkeit das Problem vergegenwärtigen. Erst in der Begegnung mit dem Sein, wo die Grenze hin aufgehoben ist, wird der Mensch zum „Mitspieler“, „verschlungen ins Ewige, aufgenommen in Gott“ (18), eine Chiffre für den Allzusammenhang des Seins: „Die tiefste Bedeutung des Selbstseins ist nicht die Existenz, sondern die Aufhebung der Existenz in einem Höheren, Allumfassenden“ (18). Auf ein solches Gegenüber als Anruf (21) ist der Mensch angewiesen, will er frei sein: „Das Selbst des Menschen findet sich erst in der Begegnung!“ (22; kursiv auch im Original). Konstitutiv für dieses Werden im Staunen (eine theologische Kategorie) ist „das Erstaunen und der Jubel über die Eröffnung des Seins“ (24; kursiv auch im Original). Alles ist bei Otto71 ganz dionysisch gedacht, wie in der kurzen Erzählung eines griechisches Festes bei Göran Schildt (1971: 274 f.) oder auch bei Regau (1962: 122 ff.), wobei eben bedacht werden muss, dass diese Überstiege, diese ekstatischen Sprünge – passend zur Gestalt von Pan72 (38; 208) – ordnungsbildend im Apollinischen ausmünden (vgl. auch Schildt, 1969: 65). Denn so findet der Mensch „Antworten“ und erfährt einen „Hymnus auf das eröffnete Sein der Welt“ (Regau, 1962: 24). Aus der Entfernung des Anderen entsteht eine „unmittelbare Nähe“ mit „Entzücken“ (25) über das „zauberhafte Anleuchten des begegnenden Seins der Dinge“ (25; auch hier kursiv im Original). Dann werden auch Paradoxien möglich: „Wenn Pan die Flöte bläst, tönt das Schweigen der Natur“ (26). Musik – selbst eine Sprache eigener Art (Huch, 1946: 159 ff.) – wird hier zum „Tönen der (heiligen) Stille“ (26): „lautlose Musik des Seins“ (47). Bei Regau (1962) wird diese Musik der Stille der Landschaft und der Dinge (so auch Ricarda Huch, 1969: 89), jenseits von „allem Lärm der Stadt und des Hafens“ (208), ebenso als Erlebnisweise (bei Göran Schildt [1958: 13) lautet es: „Erfahrung ist die Reaktion des einzelnen auf das, was er begegnet; Kenntnisse sind dagegen etwas, was sich nur auf das Objekt bezieht.“) – am Beispiel von Sizilien: „[H]ier war alles Begegnung, Widerehen mit Zeichen“ (Regau, 1962: 13) – geschildert. So reicht das Erleben in die Tiefe, durchaus noch wissend, dass der Himmel73 oben ist (111); Bildergeworden(es), nie ohne Geheimnis (149) „wurde Gesang“ (44): „Nie war Frommsein so leicht“ (81). „Auch die Steine sprachen“ (184). „Wenn der Wind sie anstrich, tönten die Säulen wie Saiten“ (184, auch 206). So – in „der Vorschöpfungsstille der Insel“ (188) – leben auch die Götter noch fort (187). 71 Otto widmete dem Gott Dionysos (auch Kerényi behandelte Dionysos monografisch [Kerényi, 1998] als eine ewige Wahrheit) eine eigene Monografie (Otto, 1996). 72 Vgl. Herbig (1949); Walter (2001); Wassmann (2003). 73 Huch (1946: 75): „Daraus, daß der Himmel die Lichtquelle ist, lässt sich erklären, dass der Mensch von jeher seine Götter im Himmel suchte oder auf den Bergen, die den Himmel nahe scheinen.“

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„Da und dort ein uralter Ölbaum, der im Mittagswind flüsternd erzählte“ (203). Dann ist eine eintauchende Erfahrung möglich: „[H]ier warst du schon einmal, damals, vor Zeiten. Du bist nur wiedergekehrt“ (244). Und Göran Schildt (1969: 37 f.): „Das Wunder der griechischen Sommer […] ist es, daß der Raum des Ichs keine Grenzen mehr hat, daß die ganze Welt uns greifbar und ohne Trug erscheint.“ Wandern (Regau, 1962: 212) ist in diesem Kontext kein einfaches Gehen: „Ein Bild der Stille flocht sich im Wandern ans andere. Wer zu Fuß geht, läuft in den Segen hinein, er kann gar nicht aus“ (58). Man müsse, „[s]oll sich das Dasein runden“ (108), nur (aber nicht suchend [106 f.]) abseits der üblichen Wege (99) gehen (211), denn die Ziele erreiche man oftmals eher ungeplant über Umwege (182). Die Sprache und die aufgegriffenen Themen74 wie die der Gastfreundschaft (214)75 von Regau erinnern mich sehr an die von Erhart Kästner. Passend aber zu den Ergebnissen meiner dekonstruktiven Analyse des Gesamtwerkes von Erhart Kästner angesichts seiner Inter-Textualitäten mit Köpfen aus Strömungen der „Konservativen Revolution“ (Schulz-Nieswandt, 2017a) ist aber die Differenz in der politischen Haltung, eher an Göran Schildt erinnernd, zu erkennen. Thomas Regau publizierte ja auch kritisch z. B. über die Technisierung der Medizin (Regau, 1961, mit Bezügen zur konservativen Sozialkritik wie von J. Bodamer, E. und F. G. Jünger oder A. Gehlen76) und nahm auch andersartig öffentlich Stellung. Ein Beispiel: mit Blick auf den Wahnsinn eines Mädchens – an die De-Institutionalisierungsdebatte und die Inklusionsidee erinnernd – in einem Dorf: „An solchen Orten wird das klinische Wissen, das solche Menschen aus der Gemeinschaft nimmt und kaserniert, Lügen gestraft. Immer gilt es, den richtigen Platz in der Welt zu finden. Wie jedes Kind war auch dieses verwelkende Mädchen von den Seinen geliebt“ (114). So bleibt Regau aus seiner christlichen Haltung heraus, so wie der von mir rekonstruierte Richard Seewald (Schulz-Nieswandt, 2018a), in liebender Weltoffenheit der Armutsproblematik (Regau, 1962: 170 ff.) zugewandt. Man lese sein Kapitel über Danilo Dolci (155 ff.) und die dort entfaltete christliche Ethik der Verantwortung aus Liebe heraus, verbunden mit Herrschaftskritik („das profane Auge der Polizei regiert unser Jahrhundert“ [199]) und einem Aufruf zum zivilgesellschaftlichen Ungehorsam und (von dem dialogischen Personalismus des „Du“ [157; 163] getragen) zu neuen solidarischen Lebensformen („Tätige Bruderschaft“: 163). „Kommunismus? Gewiß, wenn man darunter die letzte Gemeinschaft versteht, in der 74

Gemeint sind Themen wie Tourismuskritik (auf 66 als „organisierte Völkerwanderung“; vgl. auch 143, 147), Bürokratiekritik (115), Zivilisationskritik (165, 193 ff.), „zweckhaftes Denken“ (233), „Roboterseelen“ (124) oder Wein (u. a. 112, 137, 152, 182, 243), Wasser (97), Licht (198), über dessen Metaphysik – man vergleiche die Eröffnungsseiten von Jean-Luc Bannalecs „Bretonisches Vermächtnis“, das ich im Sommer 2019 im ostkretischen Agathia las – ich öfters geschrieben habe, das erst, als „Strophen“ (247) einer Musik am Morgen, am Mittag und am Abend, angesichts der Dunkelheit seine existenzielle Bedeutung bekommt (247). 75 „Wem die Götter heilig sind, dem ist auch das Gastrecht heilig“ (Huch, 1946: 139); und Zeus Xenios schützt die Heiligkeit des Gastrechts (Peterich, 1958: 16). 76 Dazu kritisch Schulz-Nieswandt (2017a); vgl. ferner Regau (1965).

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freiwillig ein Mensch“ eine „Sprengung des Ichs um den Nächsten willen“ (157) betreibt; „das vollkommene Eingehen ins Du“ aus Liebe heraus (157); „[p]raktischer Sozialismus, ohne Seitenblick auf das Parteibuch“ (181). Und Regau thematisiert – „[a]nachoretische Einsamkeit, aber nicht zugewachsen vom Vergessen“ (182) – vielfach, was Erhart Kästner systematisch verdrängte. Verdrängt wurde von Kästner die grausame Sinnlosigkeit des Krieges und der Gewalt (alles „zum Schlachthaus“ [243] machend) insgesamt (103, 126, 147, 203, 204, 206, 213; mit Blick auf das Grab eines gefallenen Soldaten [100]: „Welches Bild mochte des Gefallenen Mutter“ – im „Leid um das verlorene Kind“ [245], um das auch Demeter als Göttin nicht umhinkam – „sich von dieser Stätte entworfen haben? Einen Augenblick hatte sie die fehlende Stirne gesehen und die Erde, die sie in des Buben offenen Mund warfen. […] Sei ruhig, Mutter. Hier schläft es sich gut, zwischen Berg und Meer, so nah bei Hephaistos, der die großen Pylone für die Gefallenen entzündet“). Nicht selten taucht Regau ab in tiefenpsychologische Reflexionen („Seltsam, daß wir dem Häßlichen so leicht auch Übles zudenken“: 107) über den Menschen (Regau, 1962: 34 f., 98) und damit die dämonischen Schichten des Menschen ansprechend (35, 150 f.). Fast wie bei Adorno klingt es bei Ricarda Huch kurz nach 1945, wenn sie mit Bezug auf hohle Rechtsordnungen schreibt: „Das leere Lächeln der Modebilder wird gar Fratze, der gegenüber das Hässliche etwas Kostbares wird; es muss wieder gewonnen werden, bevor es überwunden werden kann“ (Huch, 1946: 149). Seine (doch immer wieder [wie auch bei Göran Schildt, 1969: 12 ff.], mit Humor (Regau, 1962: 130, 132, 147) getragene Sensibilität für das Innere des Menschen (248) – „Es steht nicht gut um den Menschen“ (135) – ist ausgeprägt. Er verweist den Menschen auf die „Ferne, die Schwester des Traumes“ (64), „die Verlockung in das dunkel Gewußte, das wir niemals erreichen. Dort wohnen die Nixen, Najaden, Sirenen (Wedner, 1994; Heinemann, 2016; Isler-Kerényi, 2005; Buschor, 1944), schwimmen die Inseln der Seligen über die Flut“ (64). So beginnt man, „zu sehen, daß alles im Innern war, eine übermächtige Sehnsucht, vom Jetzt und hier schon gelöst. Denn in die Ferne ist ja stets das unbegreifliche Drüben enthalten.“ (64). So verweist das Träumen von der Ferne auf die Selbsttranszendenz, die transgressiv ist. Und so kann man auch „Heimwehgräber“ (58) verstehen. Zu seiner kritischen Sensibilität menschlichen Verhaltens gehört die Bemerkung über die Funktion von Masken (Regau, 1962: 147): „Ehe wir uns bespiegeln, legen wir uns Masken an, die wir zu sehen erwarten. Begegnen wir plötzlich unseren unverstellten Zügen, so befällt manchen, der vom Schein lebt, ein leiser Schwindel – Nothilfe der Seele –, um das Ebenbild zu korrigieren oder zu löschen.“ Das ist, wie auch Hausmann (1959: 168 ff.) darlegen konnte, die moderne Auslegung der Funktion der Maske (Kruse, 2014): die Verbergung der Wahrheit. Anthropologisch (darüber hatte ich [vgl. auch Weihe, 2004] öfters geschrieben) gesehen (Filitz, 2018), und hier liegt Hausmann richtig, ist die Funktion der Maske aber die Ermöglichung von Identität durch Übernahme von Rollen in der sozialen Wirklichkeit als Insze-

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nierung von Drehbüchern des Lebens, auch jenseits der Selbstlüge und des Schutzes von Individualität (worauf Plessner [2002] hinwies). Auch der Garten ist bei Regau ein Thema. Gärten waren „wie eine Offenbarung des Lichtes“ (Regau, 1962: 14). Orte ohne Geometrie, „ein gebändigter Raum, aber in seine Begrenzung trat das Unermeßliche ein.“ (14 f.) „Ach, unser Schauen ist ja immer ein verwundertes Fragen“ (15). „Zuflucht war da, Geborgenheit, Anruf: Verweile!“ (25). Das drückt religiöses Erlebnis aus, das an die Ansprache der heiligen Stille von (lockenden: 226) Landschaften gebunden ist. „Solche Tage leben nicht vom Namen des Ortes, sondern vom Licht, vom Duft, von Stille und Farben“ (30). Religiöses Erlebnis ist hier keine Theologie des Kopfes, sondern ist vom komplexen System aller Sinne getragen. Das Dasein des Seins ist heilig, ein Dasein, in dem heute, „im Frost der Moderne“ (42), „die Götter starben“ „und ließen es uns, das Nichts zu reglementieren, das nach ihrem Auszug verblieb“ (31). Göran Schildt (1969: 221) mag recht haben, wenn er in Bezug auf die Griechen der 1960er-Jahre schrieb, wir könnten unsere eigene Problematik der nordwesteuropäischen Modernisierung besser verstehen, wenn wir den Kontrast zwischen dieser einfacheren und ursprünglichen Lebensform der Griechen und ihrer großen („Neugierde auf das Dasein“: 211) betrachtet. Der reiche Nordwesten Europas möge über manche Einfachheit der Griechen lachen, müssen aber dann erkennen, dass hier ihr „Urbild“ vorliege (213): So führt uns Griechenland zu den „Grundbedingungen unseres Daseins zurück“ (214). Der Mensch würde hier „wiedergeboren“ (214); „er hat einen neuen Anfang, weil er aufs Neue Berührung mit dem Grund fühlt“ (214). Es ist die Abwesenheit der Hast, ja der Hetze und der Eile (so auch Regau, 1962: 32, 83) der technischen Moderne (Otto, 1956: 29 ff.), die hier bei Otto – wie bei Regau (1962: „Geschwindigkeit mauert sie“ – die Seele – „zu“) – atmosphärisch (einen Reigen [Tölle-Kastenbein, 1964; Weege, 1926; Manakidou 2017] tanzend und den Dithyrambos singend) gemeint ist. Alles hat seine Zeit, so auch der Herbst, wenn Persephone (Regau, 1962: 246) „wieder auf dem Weg zu den Schatten“ (208) ist. Es geht Otto (1956) um die (religiöse) Erfahrung („Ergriffenheit, wo das Ergreifende und das Ergriffene eins werden“: 40) der Seins(ein)gebundenheit des Menschen: „Das grösste Mißverständnis der menschlichen Freiheit überhaupt ist die Meinung, sie sei absolute Ungebundenheit und Eigenwilligkeit. Alle wahre Freiheit setzt Geborgenheit voraus“ (36; kursiv auch im Original). Es geht um die Erfahrung einer „Urmusik des Seins“, in der die Erfahrung der elterlichen Liebe (36) wurzelt. Hier wird der Mensch „geboren aus dem lautlos tönenden Wunder der offenen, gotterfüllten Natur und Welt, das sich in der Gestalt und Stimme des Menschen aussprechen will.“ (46 f.) Gott ist hier eine Chiffre für das Erlebnis der „unmittelbare(n) Gegenwart des göttlichen Wunders, das die Weltwirklichkeit eigentlich ist“ (49). „Es ist für das Erlebnis der Mänade die Gegenwart des Gottes Dionysos“ (49). Der Tanz, breiter entfaltet in der „Metaphysik des Tanzes“ bei Egon Vietta (1938; sodann auch Vietta, 1948), wird zum existenziellen Modus der „Selbstverwandlung

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und Aufgehen im Höheren“ (Otto, 1956: 50). Hier wird die „reine Gestalt des Menschenwesens“ offenbar „und zugleich wunderbar aufgehoben“ in „eine höhere Begegnung“ (50). Eckart Peterich hat diese Art, die Daseinsthemen der Menschen (Liebe, Recht, Rat, Schicksal etc.) in Göttergestalten zu „vergöttlichen“ („in Wesen wie Eros, Themis, Metis, Nemesis“) in seiner Arbeit „Götter und Helden der Griechen“ erkannt (Peterich, 1958: 8): „Dieser Glaube, in dem Göttliches und Menschliches miteinander verschmelzen, Diesseits und Jenseits ein einziges Reich werden“ (9), ist die Eigenart, wie die Griechen religiös waren: „[J]ede der griechischen Sagen bezeugt tiefe Kenntnis vom Seelenleben der Menschen“ (10).77 Der altgriechische, anthropomorphisierte Götterapparat steht hierbei nicht im Widerspruch. Den Zusammenhang wird man soziologisch deuten müssen, unter Einbezug des altgriechischen Status des vorsubjektiven Subjekts (ein klassisches Thema der Homer-Forschung: vgl. u. a. Schadewaldt, 1966: 16 ff., mit Bezug auf die Phänomene Furcht und Mitleid78) im altgriechischen Weltbild. Darauf wird in Differenz zur modernen Theologie von Paul Tillich gleich noch einzugehen sein. In diesem Projektionsraum des göttlichen Kräfte- und Wirkapparates spiegelt der Mensch seine vielfachen eigenen existenziellen Polaritäten und psychodynamischen Widersprüche und damit seine ganze Kreatürlichkeit. Damit wird sein Dasein in das ihm letztendlich nicht verfügbare Gewebe des Schicksalsprozesses eingestellt. Damit kann auch das Geschichtsverständnis des frühen griechischen Menschen nicht das einer modernen Geschichtsphilosophie sein. Es ist vielmehr der Struktur nach eine ewige zyklische Idee79 (Regau, 1962: 248). Linearer Fortschritt ist eine spätere, also viel jüngere Idee. Die Differenzen im Geschichtsverständnis mit Blick auf das Judentum und auf das Christentum sind auch für Kerényi (1952) deutlich erkennbar; seine tolerante Offenheit zu diesen anderen Religionsverständnissen kommt dort zum Ausdruck, wo er Martin Buber einerseits und Romano Guardini andererseits dankt. Sein Bezug auf den norwegischen Philologen, Papyrologen und Religionswissenschaftler Samson Eitrem zeigt diese Verständnisoffenheit, wenn er Eitrem als „völlig untheologischen, in seiner Humanität aber doch auf eine geheimnisvolle Weise religiösen Religionshistoriker“ (15) bezeichnet. Diese im Mythos zum Ausdruck kommenden archaischen Religionen sind morphologisch – erneut wird der Bezug zu Walter F. Otto und Leo Frobenius (Kerényi, 1952: 15) evident – anders geartet. Die dortige Got-

77 Vorausgesetzt, man versteht im Wandel der Epochen unter „Seele“ etwas Vergleichbares: Hoystad (2017); Jüttemann/Sonntag/Wolf (2000). 78 In Schadewaldt (1960) zu Lebenszeit und Greisenalter (41 ff.), über die Toten (60 ff.), über das Leid bei Sophokles (231 ff.) und zum „Weltmodell der Griechen“ (426 ff.). Vgl. auch in Reinhardt (1960) zur Personifikation (7 ff.). Vgl. auch Stebler (1971); Wahl (1989: 23 ff.); Waage (2015); zur Geschichte des (modernen) Gewissens: Kittsteiner (1995). 79 U. a. Dux (2017b); Eliade (2007).

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tesidee steht in einer ganz anderen Konfiguration von Zeit (Geschichte) und Mensch (Subjekt). Auch der Mensch des Alten und des Neuen Testaments ist, kulturanthropologisch betrachtet (vgl. auch Müller, 1999), noch ein korporatives Individuum, eingebettet in die vorgängige traditionelle Kultur und eingebunden in die sozialen Relationen dieser kulturellen Ordnungen. In den vergangenen Jahrzehnten ist zur Anthropologie im vorchristlichen und sodann frühchristlichen Zeitalter viel geforscht und geschrieben worden. Sozial- und Kulturgeschichte, ethnologisch fundierte Archäologie, Kulturanthropologie und Historische Psychologie haben die soziale Wirklichkeit im Sinne einer Historischen Anthropologie erhellt. Ich will das Schrifttum hier nicht ausbreiten. Für das Alte Testament ist immer noch Ludwig Köhlers „Der Hebräische Mensch“ aus dem Jahre 1953 (Köhler, 1980) spannend zu lesen. Es zeigt uns, wie nah in mancher Hinsicht, aber auch wie fern in vielfacher Hinsicht der Mensch dieses vorchristlichen Altertums ist. Aber infolge des theologischen Kerns der Liebe und Gerechtigkeit, um die der alte wie neue Bund der Menschen mit ihrem Gott zentral kreist (Heimann, 1966: 57 ff.), erwacht hier das ethisch sich zunehmend in seiner Geschichtsverantwortung bewusste Subjekt, ohne jedoch die Konturen der cartesianischen Renaissance aufweisen zu können. Hier liegt – m. E. wohl differenzierter: Schadewaldt (1982: 66 ff.) – dennoch eine Differenz zum Weltbild Homers und Hesiods vor. Bei Paul Tillich ist die ganze Geschichte als Kulturgeschichte des Menschen durchdrungen vom Werden der Person als Telos im Lichte der göttlichen Urgabe der Liebe als Kraftquelle im Menschen. Diese Paideia als Formwerdung der Person ist anders zu denken als im altgriechischen Kulturkontext. Dort ging es um die Tugendlehre des homo politicus der Polis und um die Philosophie des rechten Maßes. Hier geht es dagegen um eine „Theologie der Geschichte“, wie Eduard Heimann (1966), auch aufbauend auf das Werk des historischen Soziologen Eugen Rosenstock-Huessy, der, durchaus sozialpolitisch orientiert (Huppuch, 2004), wiederum mit Franz Rosenzweig befreundet war, in enger Anlehnung an Paul Tillichs Ausführungen zur Ontologie der Dynamik von Liebe, Macht und Gerechtigkeit (Tillich, 1991) geschrieben hat. Eduard Heimanns „Theologie der Geschichte“ weist erhebliche Strukturanalogien z. B. mit „Heiligkeit und Wahrheit“ (Rosenstock-Huessy, 1952) und „Des Christen Zukunft“ (Rosenstock-Huessy, 1965) auf, wobei sich Rosenstock-Huessy wiederum explizit auf Karl Tillich – aber auch auf sozial engagierte Katholiken wie Karl Muth oder Josef Wittig80 (Walter Jens leitete „Der unbezahlbare Mensch“ von Rosenstock-Huessy [1955] ein) – bezieht. So schließen sich die inter-textuellen Kreise. Für diese Denkkreise ist der Eröffnungssatz im Vorwort von Eduard Heimann in seiner Schrift „Freiheit und Ordnung. Lehren aus dem Kriege“ (Heimann, 1950: 9) typisch und würde dort kollektiv geteilt: „Durch Freiheit wird der Mensch zum Menschen. Persönliche Freiheit aber kann es ohne Ordnung im Leben der Gemeinschaft nicht geben.“ Solche Denkkreise werden auch 80

Vgl. auch Rosenstock(-Huessy) (1926).

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in dem instruktiven Geleitwort von Karl-Siegbert Rehberg zur Studie von Richter (2007) zu Eugen Rosenstuck-Huessy deutlich.

Exkurs: Eugen Rosenstock-Huessy und Franz Rosenzweig. Freundschaft, Wahlverwandtschaft, Wechselwirkung Die bekannte, tiefe Freundschaft zwischen Eugen Rosenstock-Huessy und Franz Rosenzweig ist durch ein breites Schrifttum belegt, interpretativ erschlossen und diskutiert (vgl. u. a. Wiedebach, 2010). Insbesondere das Schrifttum von Franz Rosenzweig – im Zentrum sein „Stern der Erlösung“ (Rosenzweig, 1988) – ist keineswegs einfach zu verstehen. Aber auch die Metapher der komplexen Soziologie von Rosenstock-Huessy – das „Kreuz der Wirklichkeit“ (Rosenstock-Huessy, 2009) – ist nicht trivial zu re-konstruieren. An beiden Metaphern zeigt sich, dass diese Metaphern komplexe Ontologien (DelPrete, 2009) erzählen. Auch zeigt sich die Differenz, aber auch die Nähe des (konvertierten) christlichen und des jüdischen Weltbildes im Rahmen der Freundschaft beider Denker, wenngleich es sehr unterschiedlich gesehen wird, wie viel Wahlverwandtschaft und wieviel effektive Wechselwirkung zu konstatieren ist. In Nähe, aber auch in Differenz zu Martin Buber einerseits und zu Emmanuel Levinas andererseits ist der „Stern der Erlösung“ im Dreieck von Gott, Mensch und Welt – also das ganze Sein – zu verstehen, dort, wo das Ich und der Nächste in der Reziprozität von Ansprache und Liebe, Antwort und Tat zu verstehen ist. Im „Kreuz der Wirklichkeit“ entwirft Eugen Rosenstock-Huessy eine Vektoren-Soziologie der Generierung des ganzen Kosmos zwischen Raum und Zeit, beide Vektoren nochmals aufgespannt zwischen Innen und Außen einerseits und Vergangenheit und Zukunft (Rückwärtsbetrachtung und Vorwärtsbetrachtung) andererseits. In dieser WeltGeometrie kommt es zum Wechselspiel von Vertrauen und Hoffnung. In vier Weisen des Sprechens erschließt sich der Mensch die Welt: durch Kunst, Wissenschaft, Religion und Recht. Auf diesem Weg ist der Mensch fähig, ein Echo zu geben auf die Anrufung durch die Offenbarung der Wahrheit durch Gott. Damit wird die Immanenz der empirischen Welt zu einem „offenen Feld der Wirklichkeit“ (Görtz, 2008) der Entfaltung der Wahrheit. Und an diesem Punkt wird einsichtig, wie die Wahlverwandtschaften zwischen Eugen Rosenstock-Huessy, Eduard Heimann und Paul Tillich verstehbar werden. Für Eugen Rosenstock-Huessy ist die Lichtung der Existenz des Menschen durch die Soziologie – was tiefer geht als Zygmunt Baumanns Abhandlung über den Nutzen der Soziologie (Baumann, 1999) – ohne eine solche auf Gott verweisende Metaphysik nicht möglich. Dabei dominiert kein zentrierter Gott das ganze Sein; er ist sinnstiftender Teil des großen Zusammenhangs von Mensch und Welt. Erst in diesem Lichte wird die Qualität der Richtung des sozialen Wandels skalierbar. Die Soziologie bewahrt das Geheimnis des Menschen, indem sie die anstehenden Rätsel der Wirklichkeit aufklärt. Die Soziologie bietet

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Erzählungen sozialer Wirklichkeit an, in denen diese Lichtung geschieht. Jede atheistische Soziologie hat deshalb ihren Gott,81 also einen Stern, der die Richtung des Fortschritts angibt. Rosenzweig ist – ähnlich wie Heimann und Tillich – damit im Kern politisch (Kohr, 2008; Herzfeld, 2013). Zurück aus dem Exkurs: Das rechte Maß verkörpern auch die Musen (Peterich, 1947). Mnemosyne, die Erinnnerung, ist die Mutter der neun Musen. Peterich – auch Walter F. Otto schrieb 1955 über „Die Musen und der göttliche Ursprung des Singens und Sagens“ (Otto, 1955b) – legt hier Überlegungen zu einer Poetik vor, doch wird man ihn dekonstruierend lesen können: Er entwirft dann eine Grammatik der Gesellschaft, die in der Tat eine Poetik ist, da die soziale Wirklichkeit Bausteine enthält, die den Elementen einer Poetik analog sind. Konstitutiv für die Logik des Sozialen ist bereits die Erinnerung. Denn Gesellschaft funktioniert im Generationenzusammenhang immer nur im Strom der Geschichte und somit der tradierten Erfahrungen und Wissensbestände, an die man sich erinnert. Terpsichore beschützt den Tanz und die chorische Lyrik. Mit dem Chor rückt die Vermittlung von Individuum und Gesellschaft in den Blick. Er hat die Funktionalität der sozialen Repräsentation, die sich im Individuum einschreibt. Polyhymnia sorgt für die Bildung. Diese basiert zwar auf Fleiß und bringt die Wissenschaft voran, aber es geht um etwas Höheres: die Dichtung. Dabei geht es nicht ohne Kalliope, denn der Mensch lebt in der Welt der Sprache, die sich aber nicht nur als zweckmäßig erweisen muss, sondern sich bis zum Schönen steigernd ausbilden kann. Bei allen Musen geht es um die Förderung der schönen Künste. Aber man sieht bereits: Es sind Bausteine der Kultur des Sozialen, die sich zu einer Grammatik fügen: Erinnerung, Chor, Bildung, Sprache. Wenn Klio für den Ruhm steht, so für die Geschichte, denn die beruht auf der Kette des ruhmreichen Tuns. Mit Euterpe führt Peterich in die Problematik der Einsamkeit und Einfachheit ein. Im Hain und in dessen Stille kommt es zur exemplarischen Topografie dieser Daseinsthemen, denn dort hört man die Stille des Flötenspiels. Doch Thalia verdanken wir die wichtige Kraftquelle der Heiterkeit. Durch sie kommt das menschliche Leben zum Erblühen. Melpomene trägt eine Maske. Sie ist somit auf die Tragödie bezogen, die das Leben kennzeichnet. So haben sich zu den elementaren Bausteinen des Lebens (Erinnerung, Chor, Bildung, Sprache) nunmehr hinzugesellt: die Geschichte, die Einsamkeit, die Heiterkeit, das Tragische und die Maske. Alles verbindet sich nunmehr zu einer Geschehensordnung. Manches ist Herausforderung für den Menschen, so die Einsamkeit; manches ist eine Kraftquelle, etwa die Heiterkeit. Manches ist beides zugleich: Entwicklungsaufgabe wie Ressource, so die Bildung und die Sprache. Alles läuft im Zeitstrom ab, in der Geschichte, und diese ist durch die Erinnerung konstituiert. Im Tragischen – wie das Ende des Orpheus (Jung, 2018; Zerling, 2016) nach seinem endgültigen Verlust von Eurydike (Macek, 2019) zeigt – erkennt man einen Grundzug des Lebens. Hier kommt der Kern der Polis zur Wirkung. Die Maske verweist uns auf die Identitätsbildung durch Rollenspiele: Der Mensch ist und wird immer nur durch die Formung zur Person (Paideia). So soll auf 81 So hatte Sigmund Freud seine Aphrodite (Seifert, 2012), von der er, wie Archivfotos von seinem Arbeitszimmer zeigen, eine Skulptur hatte.

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gutem Grunde zuletzt Erato benannt sein. Hier geht es um die Liebe, zunächst als Eros im Sinne von Amor, nicht im Sinne von Caritas. Aber diese erwächst daraus. Denn wo „die Liebe ist, sind alle Tugenden nahe“ (Peterich, 1947: 40): Klugheit, Mäßigkeit, Tapferkeit, Gerechtigkeit, Glaube, Hoffnung, Demut. Liebe ist die Kraftquelle für das gedeihliche Leben, das erblühen kann, ein Werden zur Gestaltqualität des Seins. Am Anfang der Kosmosbildung stand Eros, „die im All wirkende Liebe“ (Peterich, 1958: 13), als „die alles verbindende Weltliebe“ (39), die als Kraftquelle schöpferisch aus dem Chaos führte (Peterich, 1958: 13). Im Reich des Uranos war Gaia die Urmutter des Geschehens. Die Tugenden konstituieren den Stil der Daseinsführung, der es ermöglicht, dass das Leben seine passende Form findet (Peterich, 1947: 43). Alles fällt dann zusammen: Seinsvollzug im Dasein durch Stilbildung der Tugenden als Formung zur Form, in der sich das Wesen des Menschen in der Geschichte verwirklicht, individuell in der jemeinigen Endlichkeit, kollektiv aber in der Kette der Generationen im Zuge der Erinnerungsarbeit jeder Epoche. Im archaischen Leben bleibt die Soziologie des Schicksals aber noch unbegriffen. Dämonen verkörpern die unbegriffenen Schicksalskräfte (Berti, 2017). Es ist eine Welt der Naturgeister wie der Nymphen und der Satyrn (Brommer, 1944). Mit Pan starb dann auch die Naturreligion, wie sie kraftvoll Dionysos verkörperte. Demeter war die „milde und mächtige, segensbringende Göttin der Erdfruchtbarkeit“ (Peterich, 1958: 59). In den Händen der Moiren, Töchter der Nacht und Schwestern der Erynnen, Göttinnen der Rache (Peterich, 1958: 37 f.), liegt das Geschick. Tyche ist hierbei eine gütige Schicksalsgottheit. Eduard Heimanns Buch ist eine einzige Paraphrase von Paul Tillichs Kulturtheologie der Wirklichkeitswerdung Gottes in der Geschichte als Teleologie der Personalisierung. Die verpassten Kairos-Chancen, die hier mit behandelt werden, verhindern es, dass diese Entelechie einem geschichtsphilosophischen Determinismus als Automatismus unterliegt (85 ff.). Ob Eduard Heimanns Bemerkung zu einem solchen Denken bei Ernst Bloch (Heimann, 1966: 21) richtig ist, sei dahingestellt. Ich meine, die bei Eduard Heimann entfaltete Idee der sozialen Wirklichkeitswerdung vom „Reich Gottes“ (12, 74 f.) als Welt sozialer Gerechtigkeit aus der Kraftquelle der Liebe („Christentum ist der Glaube an die Liebe als oberste Macht“: 196) im Rahmen demokratischer Gesellschaftsgestaltung (23) innerhalb des geschichtlichen Zeitzusammenhangs (14, 19, 22, 51 f., 79 f.), eine Idee, die mit einer spezifischen Auslegung des Römerbriefes zusammenhängt, ist sehr ähnlich der dynamischen Prozessontologie des Noch-Nicht bei Ernst Bloch. Im „Anhang“ zu seiner Theologie der Geschichte („Sinn und Tragik der modernen Industriegesellschaft“: 223 ff.) entfaltet Eduard Heimann nochmals die Kulturwirklichkeit als wertgeschätzte, würdevolle Welt, die vom Geist durchdrungen ist (208 f.). Sie ist verantwortungsvoll zu gestalten (Cox, 1966) und es bedarf daher der Erziehung der Menschen zu diesem Tun hin. Daher ist auch die Industriegesellschaft, die Hunger und Krankheit besiegt habe, heilvoll, aber unvollkommen und voller Gefahren – wie ich es nennen möchte – der kollektiven Verstiegenheit. Insofern

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macht Eduard Heimann nochmals deutlich: „Aber Geschichte ist nicht und nie das Reich Gottes auf Erden“ (212). Die Analogia-entis-Hypothese trifft auch auf die Ordnung der Wirtschaftsgesellschaft („Gesellschaft ist der Name für das friedliche Zusammenleben der Menschen, Wirtschaft der Name ihrer Vorsorge für ihren Unterhalt“: 203) zu. In der Geschichte kann – durch Reformen („Reform vereinigt in sich ein bewahrendes konservatives Element und ein revolutionäres umgestaltendes Element. Reform ist ungewöhnlich […] Reform setzt voraus […] die Erreichung einer höheren moralischen Stufe“: 212) – eine Welt sozialer Gerechtigkeit erwirkt82 werden, die die Wirklichkeit göttlich erscheinen lässt. Aber für Heimann ist dies nur eine – ewig unvollkommene – Approximation an das Reich Gottes. Der wirtschaftliche Wohlstand als Quantität hat beim Menschen den Verlust des Sinnes für Qualität bewirkt (213). Damit wird das Leben aus dem Gleichgewicht gebracht; es entsteht ein Ungleichgewicht der Seele (216): „Das Schlimmste daran ist, daß die Menschen sich dessen nicht bewußt sind“ (216). „Aus der entfremdeten Arbeit fliehen die Menschen in den entfremdeten Konsum, wo sie von den Mächten der Reklame in den Gütertaumel gebannt und von den Mächten der Vergnügungsindustrie zwischen den Sensationen herumgehetzt werden – all das stumpft ab“ (216). Eduard Heimann ist hier der Diagnostik der Kritischen Theorie sehr nahe: Wie bei Walter Benjamin erkennt Heimann die Magie des Systems. Er ist hier sehr aktuell, bedenkt man die neuere alte Debatte um den religiösen Charakter „de[r] Dämonien des quantitativen Denkens“ des Kapitalismus. Nochmals betont Eduard Heimann das Recht des christlichen Materialismus (217); aber er hat die Form eines kapitalistischen Materialismus angenommen, womit das System eine Tragik des Menschen generiert hat als „Kehrseite ihrer heroisch-einseitigen Riesenleistung“ (217). Der tragische Mensch (Delp, 1935) ist in der Diagnostik der Moderne im Lichte antiker Philosophie (Schneider, 1947) im 20. Jahrhundert ein großes Thema geworden. Letztendlich betont Eduard Heimann, „daß die Geschichte offen ist“ (217). Der Pfad der Reform ist weiter zu gehen: „sicher ist sie nicht, weil sie nicht eine Frage der Logik, sondern der moralischen Kraft zur Selbstüberwindung ist“ (219). Dort wo sich Eduard Heimann für Kooperation statt Konkurrenz im Wirtschaftsleben ausspricht (43, 67), dort ist er sehr nahe am Denken von Siegfried Katterle bzw. umgekehrt. Aber der Weg zu einer gerechten Gesellschaft der Wohlfahrt für alle auf der Basis von Liebe und Solidarität ist nicht gesichert. Der Mensch kann sich vom Schöpfungsauftrag „entfremden“ (50; 62 f.). In meiner Sprache bedeutet dies: Er kippt (in die Tiefe) um zum homo abyssus. In der Möglichkeit des Nicht-Entfremdetsein von seinem Wesen als homo donans liegt die Dialogizität des Personseins verankert: Auf das Werk von Ferdinand Ebner, Franz Rosenzweig, Eugen Rosenstock-Huessy und 82 Zum Revolutionsbegriff vgl. auch Griewank (1955), der wiederum vielfach die Arbeiten von Eugen Rosenstock-Huessy heranzog. In der Bochumer Studienzeit lasen wir bei Theo Thiemeyer Hans Gehrigs „Begründung des Prinzips der Sozialreform“ von 1914. Auch Werner Wilhelm Engelhardt in Köln bezog sich mitunter auf Hans Gehrig.

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Martin Buber verweisend (108 f.), schreibt Heimann: „Einen Menschen anzusprechen, heißt ihn zu bejahen“, in „Verbindung mit ihm zu treten, die beide Personen überwölbt“ (108). Das soziale Miteinander der Menschen im Modus des homo donans gelingt, wenn der Mensch Kraft dazu findet, Kraft, die Eduard Heimann in der Chiffre des Heiligen Geistes erkennt als „die Kraft des allumfassenden Gottes und seines Logos, des universellen Sinnes, und sein Kriterium ist die Richtung auf Wahrheit, Gerechtigkeit und Liebe“ (115). Ich spreche hier von Chiffre, weil es ganz offensichtlich um die geistige (religiöse) Sozialisation des Menschen geht, die eine charakterliche Haltung generiert, die heute in der Soziologie als Habitus beschrieben wird. Eduard Heimann verweist hier selbst auf einen Sachverhalt bei Paul Tillich (115), indem er betont, Tillich hätte nie auf die trinitarische Glaubenslehre verzichten können. Tillich betonte aber, so Eduard Heimann, „die gleichzeitige Revisionsbedürftigkeit des sprachlichen Ausdrucks.“ Heimann: „Der Mensch ist dazu bestimmt, ein Gefäß des göttlichen Geistes zu sein“ (117). Um aus dieser Kraftquelle der Liebe eine Welt sozialer Gerechtigkeit zu schaffen, ist Macht nötig (121): „Die Gerechtigkeit braucht Macht, um die Macht der Ungerechtigkeit zu brechen“ (121). Macht ist „geistgerichtete Vitalität, durch Vernunft orientiert“ (123). Die Kirche83 braucht diese politische Orientierung (128). Es kommt nunmehr zu einem entscheidenden Punkt in dieser Paraphrase des Werkes von Paul Tillich. Tillich habe den Gegensatz von Profanität und Sakralität (religionsphänomenologisch heute als Universalie durchaus umstritten) aufgehoben und das Profane als Raum des Ausrollens des Sakralen verstanden. Mit Bezug auf Friedrich Gogarten lautet es: „Die Welt ist heute ,säkularisiert‘, und eben dies ist Christi Wille, daß der Mensch sich mit allen Kräften der Welt annimmt“ (130). Denn das Profane sei, so Tillich, von Gott. Das Profane könne zum Symbol des Heiligen werden. Mit Symbol kann hier sinnvoll nur gemeint sein, ein Raum des gelebten – vom Geist erfüllten – Lebens, das so gelingen mag. Diese politische Gestaltung der Welt ist eine vom Geist Gottes sinnhaft gerechtfertigte (135) Aufgabe des Menschen in seiner Geschichtsverantwortung, wonach „die Liebe den Anblick von Hunger und Krankheit nicht ertragen kann“ (137; dazu auch 138). So gesehen gibt es einen „christlichen Materialismus“ (139): Gemeint ist die Gestaltung der materiellen Welt im christlichen Geiste. Dies müsse auch zu einer politischen Neuorientierung der Kirche in ihrer dogmatischen und bürokratischen Institutionalisierung führen (144). Auch die methodisch gesicherte Wahrheitssuche der Wissenschaft kann sich nicht vollständig freimachen von dieser letzten Bindung an die Gerechtigkeit einer von Liebe getragenen Welt (145). Davon ist auch die Politik der Wohlfahrt für die Menschen betroffen (151). Heimann fasst alles zusammen (177): Der Gang der Geschichte als „Schauplatz der Menschengeschichte“ entfaltet die Möglichkeiten der schöpferischen Allmacht, der zur „Schöpferkraft gewordenen All-Liebe“, die, vom Geist des Heiligen ge83 Die Kirche dachte Ricarda Huch (1946: 104) als Mutter, zumal die Taube Symbol ist, die aus altorientalischem Göttinnenglauben stammte.

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lichtet, „auf das Reich Gottes hinlenkt“. Die Offenbarung des Heils findet aber in dieser Geschichte statt. Dies ist der entscheidende Punkt der Politischen Theologie. Die Wirklichkeitswerdung der Wahrheit des Ewigen in der Geschichte der Menschen bei Paul Tillich, wie sie hier bei Eduard Heimann in letztendlich sozialökonomischer Absicht paraphrasiert wird, erfordert nochmals eine Auseinandersetzung mit dem Verständnis (einer Metaphysik) der (Kategorie der) Form, die ich in verschiedenen Publikationen behandelt habe. Zwar auf die Kunstgeschichte bezogen, hat Henri Focillon (1954) in unvergleichbarer Tiefe „Das Leben der Formen“ behandelt. Dabei wird deutlich, dass der Zusammenhang von Inhalt und Form zu einfach gedacht wäre, wenn die Form nur die Form eines Inhalts wäre. Diese expressive Funktionalität ist Teil des ganzen Zusammenhangs, aber die Form ist eben nicht nur Zeichen als Verweisungsfunktion auf einen Inhalt. Die Form ist eigenständig und generativer Art; sie bringt überhaupt erst die Gestaltwerdung der Formung zur Wirklichkeit. Die Form empfängt von außen Sinn, aber sie schafft stilbildend selbst von innen heraus Sinn. Die Wirklichkeitswerdung der Wahrheit als Gestalt des Daseins des Seins ist Formbildung, aber es ist die Formung der Form, die dem Sinn Gestalt gibt. Wenn die Liebe die Kraftquelle der Gestaltbildung des Menschen ist, so ist sie die Form, in der der Mensch zu sich kommt, aber eben auch die Formung selbst, (sekundäre) Ausdrucksform des Gelingens wie auch und originär (also primär) als Form der Prozess des Gelingens als Formung. Zu einen ist die Liebe als Kraftquelle der zentrale (fundamentale, also in einem fundamentalontologischen Sinne: transzendentaler) Baustein in der Struktur des Seins; zum anderen ist Liebe das gelebte soziale Miteinander, in einem empirischen Sinne eine Form des Lebens.

5. Grundfragen einer Hermeneutik der Bibel: Politische Theologie der Befreiung als Problem der Intertextualität Beim Ausfertigen der vorliegenden Abhandlung kam mir am Ende des Sommersemesters 2019 im Kontext des Block-Repetitoriums zu meiner Einführung in die qualitative Sozialforschung als kultursemiotischer Hermeneutik zu Bewusstsein, wie sehr die Möglichkeit einer Politischen Theologie der Befreiung zur Voraussetzung hat, dass man dazu verstanden haben muss, dass die Hermeneutik des alttestamentlichen Basistextes der jüdisch-christlichen Religion (bekanntlich auch mit Blick auf den Islam) und des Neuen Testaments für die weitere europäische christliche Kulturgeschichte in den Grundfragen von der Klärung produktionsästhetischer Fragen, sodann aber auch von der Inter-textualität in rezeptionsästhetischer Perspektive abhängen (Jauß, 1991). Die moderne Hermeneutik des 19. Jahrhunderts (ich erinnere an den Beitrag von Schleiermacher) entzündete sich ja mitunter an der Frage nach einer kritischen Bibelexegese. Ich will mich hier aber nicht ausbreiten zum weiten Feld der Methodenlehre der Bibelexegese und ausholen. Solche Ausführungen müssten ja bis hinein in die neuesten Kontroversen zum Dekonstruktivismus reichen. Die Problematisierung soll hier nun, ohne, was angesichts der Themenstellung nicht wirklich notwendig ist, die Fachdiskussionen in Form eines größeren Literaturapparates abzubilden, etwas entfaltet werden. Schon die philologisch fundierte Übersetzung des Bibeltextes – das wird von der modernen Theorie des Übersetzens (Babel, 2015) validiert – ist eine interpretative Leistung hermeneutischer Kunst. Schon dazu benötigt man tiefere Kenntnisse des Textes, der Autorschaft und des Kontextes. Mit Blick auf die Produktion des Textes meint dies umfassende u. a. sozialgeschichtliche, ethnologische Wissensbestände zur Genese und zum plastischen Wachstumsprozess des Textes, der auf komplizierten redaktionspolitischen Regimen beruht und daher eine intratextliche (nicht widerspruchsfreie bzw. ambivalenzfreie) Vielschichtigkeit aufweist (Stegemann/DeMaris, 2015). Das Textwachstum und die Redaktionsgeschichte, auch die mündlichen Überlieferungsdimensionen sowie die gattungsgeschichtlichen Probleme mit Blick auf die mythologische und symbolische Substanz, die literaturgeschichtliche Komparatistik sowie die Frage nach dem „Sitz im Leben“ der Geschichten, die im Text erzählt werden, führen uns sodann zur Suche nach dem „objektiven Sinn“ im Sinne eines produktions-„ästhetischen“ Erkenntnisinteresses. Es scheint mir gegeben zu sein, dass Religionsgeschichte in dieser Hinsicht immer auch sozialpolitische Fragen der Rechtsgeschichte transportiert hat (Schulz-Nieswandt, 2003b). Migrationsgeschehen, das Problem der Schuldknechtschaft, Armut und Witwenschaft,

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5. Grundfragen einer Hermeneutik der Bibel

Gewalt und Krieg, Gender und Generationen, Eigentum etc. sind klassische Fragen, die hier daseinsthematisch relevante Problemkreise ansprechen (Otto, 2002). Ich kann hier thematisch keinen Aktualisierbarkeitsbruch erkennen (Moenikes, 2011). Und dennoch trifft es zu, dass diese „produktionsästhetischen“ Befunde die Frage aufwerfen, welche Bedeutung diese Daseinsthematisierungen für uns heute haben. Was bedeuten diese damaligen sozialen Konstruktionen für uns hier und heute. Dies verweist uns nun auf die Intertextualität unser rezeptions-„ästhetisch“ verstehbaren Frames als Textur der interpretativen Wahrnehmung einerseits mit den rekonstruierten Texten andererseits. Rudolf Bultmanns Entmythologisierungsprogramm (Bultmann 1962, 1975) ist in diesem Lichte nochmals neu und anders zu lesen. Versteht man seine existenziale Hermeneutik der kerygmatischen Substanz des Neuen Testaments richtig, so geht es (im Sinne der „Arbeit am [oder an der Wahrheit des] Mythos“ bei Blumenberg und Hübner) um eine aktualisierende Remythisierungsarbeit: Was ist die Bedeutung der Texte für uns heute? Und dies, nunmehr auf mein eigentliches Thema kommend, ist die Geburtsstunde einer Theologie der Befreiung. Rudolf Bultmann war nicht – wie Karl Barth behauptete – häretisch. Er aktualisierte kerygmatisch die Relevanz der Botschaft. Damit ist er im historischen Zeitstrom transgressiver Retter der christlichen Botschaft im Sinne der Erinnerungsarbeit im Prozessgeschehen des kollektiven Gedächtnisses und der kulturellen Vererbung. Er kümmerte sich um eine gelingende Rezeptionsästhetik des sozialen Marketings der Kirche (definiert als ansonsten – völlig zu Recht – Konkursunternehmen) und ihrer Theologie. Die wahre christliche Theologie lehrt die einzige Funktion der Kirche: kraft Amtes die Dienerin der Politik der Befreiung des Menschen im Sinne der Personalisierung in der Geschichte zu sein. Gottes Reich ist zu schaffen. Das ist die Aufgabe. In säkularisierter Weise (in Bezug auf meine Sicht der Dinge: Wegner, 2019: 10 f.) ist dies längst „verfasst“ im Völkerrecht, im Europäischen Unionsbürgerschaftsrecht, im Deutschen GG, im § 1 SGB I, in den WTGs (Wohn- und Teilhabegesetzen) der Länder und in der Politik von sog. „Leuchtturm“-Kommunen. Die Frage ist, nochmals anders reformuliert: Welche Konfiguration von Menschenbild und Welt- sowie Gesellschaftsbild generieren wir aus der intertextuellen Hermeneutik der Bibel für die existenzialen Fragen des heutigen Menschen? Es geht dabei gar nicht um einen Gottesbeweis, der als Voraussetzung dienen muss. Das Thomas-Theorem in der Soziologie (Merton, 2012) besagt, dass es egal ist, ob ein Etwas objektiv existiert; wenn Menschen daran glauben und sich in ihrem Verhalten daran ausrichten, so werden Folgen durch dieses Handeln generiert, die die Wirksamkeit des Etwas zur objektiven Wirklichkeit werden lassen. Wenn Menschen durch ihren Glauben (im Rahmen der Einschreibung des Heiligen Geistes in die habituelle und dispositive Endokosmogenität des intrapersonalen Arbeitsapparates im Zuge der religiösen Sozialisation) eine Kraftquelle zum Handeln finden, dann ist das Wirken des imaginierten Gottes Teil der sozialen Wirklichkeit. Nochmals anders

5. Grundfragen einer Hermeneutik der Bibel

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formuliert: Es ist egal, ob es einen transzendenten Gott, der abwesend und anwesend zugleich ist (Leidhold, 2008), gibt; Gott wird im Kant’schen Sinne transzendental wirksam: als Voraussetzung der Möglichkeit eines motivational auf die Religion abgestellten Handelns. Und genau eine solche Transzendentallogik dieser Sichtweise macht die Frage relevant, was denn die Lebenslehre ist, die hier religiös vermittelt wird: eskapistische, vom Ekel getriebene Abwendung vom realen Leben (SchulzNieswandt, 2017a) oder die offene Haltung einer liebenden Hinwendung (SchulzNieswandt, 2018a), Abwertung des diesseitigen Lebens und Erwartung des Jenseits nach dem Tode (Braun, 1996) im Himmel (Lang, 2009) oder aus der Kraftquelle des Glaubens heraus die Hinwendung zur messianisch erfüllten geschichtlichen Zeit des Hier und Jetzt? Nur die zweite Haltung ermöglicht eine Politische Theologie der Befreiung im Sinnhorizont der Ethik eines religiösen Sozialismus. In der historischen und kulturgeschichtlich vergleichenden Soziologie von Max Weber geht es um die Wahlverwandtschaft von Religion und dem Geist des Kapitalismus. In welcher Weise könnte es eine Wahlverwandtschaft von Religion und freiheitlichem Sozialismus geben? Antwort: im Modus der Theologie von Paul Tillich. Es muss dies jedoch wohl bei Paul Tillich noch etwas mehr/anderes sein als eine Wahlverwandtschaft. Seine Theologie generiert endogen (aus eigener zwingender Tiefe heraus) den politischen Charakter seines Denkens, weil entsprechend seiner theonomen Kulturtheorie das Heilsgeschehen im Strom der geschichtlichen Zeit zur Wirklichkeit kommen kann. Das ist keine Säkularisierung, sondern – „Sozialpolitik geht (dionysisch) über den Fluss“ (Schulz-Nieswandt, 2015c) – eine transgressive Idee der Überbrückung der Bipolarität von Profanität und Sakralität. In meiner säkularisierten Weltbildsicht: Die vom sozialen Rechtsstaat regulierte Wirtschaftsgesellschaft und die wo immer mögliche Durchdringung der Organisation des Lebens (des Arbeitens, Wohnens etc.) durch das personalistische Formprinzip des Genossenschaftlichen (Schulz-Nieswandt, 2018c) – und an diesem Punkt übersetzt sich die Politische Theologie in eine Form von Sozialökonomik, fundiert bei Adolph Lowe, Eduard Heimann (in seiner „Theologie der Geschichte“ von 1966) und Siegfried Katterle – generieren im Zuge der Gattungsgeschichte84 die notwendigen sozialen Lernprozesse des gottähnlichen Menschen als homo donans, der aber immer im Wagnis des Lebens dem Risiko des Scheiterns hin zum homo abyssus ausgesetzt ist und bleibt. Evident wird, wie diese dynamische Prozessontologie einer Entelechie des NochNicht vom „Prinzip Hoffnung“ (Schulz-Nieswandt, 2017d), dessen humanistischer Marxismus von jüdisch-christlicher Mystik signiert war, geprägt ist.

84 Und dies ist zu begreifen im Lichte der strukturgenetischen Stufenlehre kognitiver Entwicklung (Piaget) und der entwicklungspsychologischen Stufenlehre des moralischen Argumentierens (Kohlberg) im Sinne u. a. von Dux (2017a); Oesterdiekhoff (2015).

6. Fazit: Was ist der hinreichende Grund der Werteorientierung der Ökonomik? Theologie, Ontologie, Anthropologie, Ethik? Die Verwurzelungen eines nicht auf ein Parteiprogramm reduzierbaren sozialdemokratischen ethischen Sozialismus in kantianischen bzw. neu-kantianischen (Sieg, 2016) Ansätzen ist dogmengeschichtlich breit validiert worden und soll hier nicht eigens rekapituiert werden. Das gilt auch für die Rechtstheorie und für die Pädagogik. Siegfried Katterles Werk ist im Kontext seiner Sozialisation im Rahmen der Gerhard-Weisser-Schule im Begründungszusammenhang von evangelischer Sozialethik, Kritizismus und Wirtschaftswissenschaft im System sozialwissenschaftlicher Bezüge fundiert angesiedelt. Siegfried Katterle hat m. E. die egozentrierte Hermeneutik und Phänomenologie des individualistischen Kritizismus der höchsten Wohlbedachtheit und der tiefsten Selbstbesinnung85 in der Frage nach dem „Gewollten“ intersubjektivitätstheoretisch und somit sozialkonstruktivistisch sowie institutionalistisch86 gewendet in Richtung auf die sozialen Praktiken von Diskurs und Dialog, dabei wohl vom Pragmatismus (Joas, 1992; Hartmann/Liptow/Willascheck, 2013) geprägt. Das ist einer personalistischen Anthropologie und Sozialtheorie angemessen. Epistemologische Synopse, die auch psychodynamisch zu lesen ist: Ingeborg Nahnsen (Schwerpunkt: Sozialpolitik) war Denkerin subjektiver Wahrhaftigkeit, sehr beliebte Hochschullehrerin, parteipolitisch engagiert, weniger metatheoretisch interessiert als die Weisser-Männer; Werner Wilhelm Engelhardt (Schwerpunkt Genossenschaftswesen) war Denker eines intrapersonalen, achtsamen (kantianischen) Kritizismus der Meta-Meditation subjektiver Wohlbedachtheit, hat aus Treue zur Kölner Schule seine isolierte Stellung in Köln gehalten, statt den Ruf auf den Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre in Siegen anzunehmen; Theo Thiemeyer (Schwerpunkt Öffentliche Wirtschaft und ein Nestor der deutschen Gesundheitsökonomie) hatte es mit der Habilitation in Köln 85

Zu den Fries’schen Wurzeln: Petrak (1999). Zu Leonard Nelson: Meyer (1994). Eine institutionalistisch orientierte Sozialökonomik findet sich vertreten im MetropolisVerlag: https://www.metropolis-verlag.de/; zuletzt geprüft am 04. 11. 2019. 87 Der Gesellschaft diente ich dann als Vorsitzender viele Jahre, bevor die Idee der GÖW im Übergang zum BVÖD sodann im Niedergang des BVÖD verlorenging. Die „Zeitschrift für öffentliche und gemeinwirtschaftliche Unternehmen“ werde ich bei Nomos wohl weiterhin federführend in die Zukunft tragen können. 86

6. Fazit

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nur wenig schwerer als Siegfried Katterle, war später aber auch für Gegner eine zu respektierende Person, stand in seinem Denken zwischen objektiver Wahrheit und subjektiver Wohlbedachtheit, neigte mitunter zum politischen Realismus, weil er – so meine These – mit einem aufgeklärten Neo-Platonismus wohl allzu einsam dagestanden hätte und nicht im Interesse seiner Lehre vom öffentlichen Wirtschaften (wäre wohl noch heute Vorsitzender der Gesellschaft Öffentliche Wirtschaft87) hätte wirken können; Siegfried Katterle (Schwerpunkt Wirtschaftspolitik) neigte in seinem Denken zum institutionalisierten Pragmatismus interpersoneller Diskurse im Sinne des Dialogismus; Frank Schulz-Nieswandt (extreme Interdisziplinarität mit mehreren thematischen Schwerpunkten zwischen Grundlagenforschung und angewandter Forschung) überführt Siegfried Katterles Position, wiederum von Thiemeyer geprägt, zum expliziten modernen, d. h. aufgeklärten Neo-Platonismus eines modernen völkerrechtlich fundierten personalistischen Naturrechtsdenkens. Meine (die Differenz zum Markttausch88 herausstellende) interdisziplinäre Gabeforschung sowie meine Forschung zum genossenschaftlichen Formprinzip (und somit der universalen kulturellen Grammatik des Sozialen auf der Spur) und meine neuere rechtsphilosophische Beschäftigung mit der „Sakralität der Person“ (SchulzNieswandt, 2017c) haben mich zu einer „Kehre“ vom Kritizismus hin zu einer Metaphysik der Personalität geführt. Diese „Kehre“ benötigt und akzeptiert die Idee von Gott in seiner Unbedingtheit (auch hier an Paul Tillich89 anknüpfend) allerdings nur als notwendigen Referenzpunkt zur Skalierung der historischen Prozesse in der Dynamik des Noch-Nicht der Gestaltwahrheit90 des Menschen im gelingenden sozialen Miteinander (was die Philosophie „Liebe“ nennt), so wie es die (im Sinne des Theorems von Derrida) reine Gabe (ontisch) nicht gibt,91 wohl aber (ontologisch) die Unbedingtheit der Gabe als transzendentalen Referenzpunkt, um die empirische Welt der Reziprozitätsordnungen mit Blick auf die Personalisierung als Telos des Weltgeschehens skalieren zu können. Hier ist philosophische Anthropologie im Überlappungsbereich zur theologischen Anthropologie unterwegs auf einer Reise in eine „konkrete Utopie“. Sie mag als intellektuelle Imagination – wie Wolf Lepenies (1998) herausgearbeitet hat – in der Melancholie wurzeln, die, wie man argumentieren kann, im Leiden an der unwahren Welt, die die Lüge als Wahrheit ausgibt (Theodor W. Adorno), und die deshalb schon in der Romantik der spätaufklärerischen Krise der Moderne den „kommenden Gott“ imaginierte. Man spürt jedoch, in Differenz zum gläubigen Christen Siegfried Katterle, hier bei mir92 die gottlose Theologie einer Existenz88 89 90 91 92

Habermann (2018). Tillich (1987); Schüßler (1999). Vgl. auch Jahr (1989). Quadflieg (2019). Vgl. dazu Wegner (2019: 10 f.).

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6. Fazit

philosophie als Ontologie einer Gestaltwahrheitswerdung der Person. Das ist sicherlich eine Differenz, die doch auch eine Bruchstelle in der Vertiefung der Begegnung zwischen Siegfried Katterle und mir signiert. Wenn Max Scheler (1933: 58) über die Liebe Gottes (hier Kierkegaard ähnelnd93) nachdachte, so sei „diese Liebe, stets an die menschliche Seele anpochend, gleichsam das Wertbild eines idealen Seins vor dem Menschen“ und die „den Menschen erst im Verhältnis zu diesem Bilde die Niedrigkeit und Verstrickheit seines wirklichen Zustandes voll gewahren läßt.“ Und: „Zuerst erscheint uns diese Liebesregung als unsre Liebe. Dann sahn wir, daß sie auch schon Gegenliebe war.“

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Wegner (2019: 8 f.)

Ausblick In epistemischer Sicht ist die Frage falsch gestellt, ob ich mich in meiner Entwicklung zu meiner mehrköpfigen akademischen Elternschaft (Theo Thiemeyer, Werner Wilhelm Engelhardt, Ingeborg Nahnsen und eben Siegfried Katterle, weniger Lothar F. Neumann94) entfremdet habe, denn „die“ Weisser-„Schule“95 hat es als homogenes Gemeinschaftsgebilde (im wissenssoziologischen Sinne einer Gruppe mit kollektiv geteiltem Denkstil)96 nie gegeben. Ich war meinen „Eltern“ eng verbunden. Nicht in jeder Form mochte ich partizipieren. Im Gerhard-Weisser-Institut97 war ich z. B. nie Mitglied. Ich kann mich – aber das ist nur ein Aspekt – mit den epistemischen Verflachungen des Lebenslagenkonzepts (vgl. z. T. in Romahn/Rehfeld, 2015) nicht anfreunden.98 In seinem letzten Brief vom 2. Januar 2018 reagierte Siegfried Katterle auf meine „Selbstbilanz“ der 30 Jahre meiner Forschung (Schulz-Nieswandt, 2016a), die ich ihm wohl zu Weihnachten 2017 zukommen ließ. Man sieht, wie brüchig, wenngleich im Trend auch wiederum kontinuierlich ich ihm Lebenszeichen aus meiner Kölner Produktionsstätte sandte. Immer wieder – mit Abständen – dachte ich an ihn, ebenso wie Werner Wilhelm Engelhardt (seit einigen Jahren nunmehr im Pflegeheim) und Theo Thiemeyer oder Ingeborg Nahnsen immer wieder ein Thema in meinem Kopf und meiner Erinnerungsarbeit sind, sofern ich ab und zu aus meiner selbstreferenziellen Arbeit des Quälens der Tastatur aufblicke. Bezugnehmend auf meinen kleinen „biografischen Exkurs“ dort (in SchulzNieswandt, 2016a) – nun liegt ja meine umfassendere und dennoch lückenhafte „Paideia“ vor (Schulz-Nieswandt, 2019a) – erzählt Siegfried Katterle in seinem Brief von seiner dramatisch schwierigen Habilitation in Köln, in jener Fakultät, der ich seit 1998 angehöre und die ich seit 2004 als Erster Prodekan, Dekan, Erster Prodekan, Studiendekan und nunmehr wieder als Erster Prodekan (mit Arbeitsschwerpunkt „Gender, Diversity Management and Ethics“) begleite. Damals, bei ihm, ging es nur mit Kampfabstimmungen; die oeconomica pura dominierte ohne Verständnis für die Daseinsthemen des Gegenstandes, um die es ging und die eben auch ihre eigene Erkenntnistheorie, Wissenschaftstheorie und sodann Methodologie 94 95 96 97 98

Neumann (1979). Vgl. auch Jens/Romahn (2000). https://de.wikipedia.org/wiki/Gerhard_Weisser. Fleck (1980). Vgl. dazu meine Studie Schulz-Nieswandt (2013e). http://www.weisser-institut.de/; zuletzt geprüft am 04. 11. 2019. Vgl. etwa Schulz-Nieswandt (1996, 2003a, 2006, 2007, 2008).

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Ausblick

benötigen. In diesem Brief bestätigte Katterle meine Sicht, wonach empirische Befunde immer erst und überhaupt nur im Lichte anthropologisch fundierter Werte in Bezug auf die ontologischen Fragen der Daseinswahrheit zu verstehen sind (ausführlicher dann in Schulz-Nieswandt, 2018b). „Es gibt also interessante Parallelen in unserem Persönlichkeitswachstum wie in unserer wissenschaftlichen Behauptung als Außenseiter in einer Welt der oeconomica pura, lieber Herr Schulz-Nieswandt“, schrieb er. Meine „Paideia“ hätte ihn hier wohl nochmals in dieser Einschätzung bestärkt, obwohl ich nur wenige Kenntnisse über seinen persönlichen Lebenslauf habe, von seinem Handicap abgesehen. Und so manches ist nicht schwer zu imaginieren, wenn man nur in hermeneutischer Achtsamkeit zur Kenntnis nimmt, dass Siegfried Katterle 1933 geboren wurde. Er ist also, folge ich Erich Kästner (Ebbert, 1994), in der schönsten Zeit des Lebens, der Kindheit, in die Hölle hineingewachsen. Und seine Jugend fiel dann in die schwere Nachkriegszeit. In meinen Studien zu Erhart Kästner99 (Schulz-Nieswandt, 2017a) und zu Richard Seewald (Schulz-Nieswandt, 2018a) ist mir überaus deutlich worden, wie gerade der Zweite Weltkrieg vor dem Hintergrund der Krise der Moderne (als Epoche der Angst100 und der Nervösität), die schon in den Ersten Weltkrieg (Christophersen, 2016) mündete, gerade intellektuell offene und zugleich für die Existenztiefe des menschlichen Daseins wache Menschen mit christlichem Glauben jenseits der Kirchenzentriertheit101 generiert hat, seien diese eher sozialkonservativ, wie ich z. B. das Werk von Romano Guardini studieren konnte (vgl. in Schulz-Nieswandt, 2015b, 2018a), oder eben, wie im Fall von Paul Tillich (vgl. auch Schulz-Nieswandt, 2018a), freiheitlich-sozialistisch orientiert. Diese christliche Orientierung nach 1945 ist mir während meines Sommerurlaubes (auch erneut wie immer im abgelegenen Ostkreta) überaus deutlich geworden, als ich „Tröstliche Zeichen“ von Manfred Hausmann (1959) las. Mich eigentlich eher an Adorno erinnernd, entdeckte ich bei Hausmann (1959: 34) die Formulierung: „Wo Dichtung lebt, da lebt im Unheilen, im Unheil, die Heilheit.“ Hausmann, legt man ihn im Lichte christlicher Theologie aus, dreht diese Sicht auch ins Ethische. Sich auf Novalis beziehend: Wenn „der Mensch einen Schritt vorwärts tun wolle zur Beherrschung der äußeren Natur durch die Kunst der Organisation und der Technik, dann müsse er vorher drei Schritte der ethischen Vertiefung nach innen getan haben“ (35). Stattdessen hat die Welt den Menschen im Griff, macht ihn „zum Menschenmaterial“ (ebenda). Doch die Hoffnung bleibt erhalten. Oder, wie es Francois 99 Nochmals las ich im Sommer 2019 in Agathia die Reflexion „Zwanzig Jahre später“ in der siebten, ergänzten Auflage von „Im Kielwasser des Odysseus“ von Göran Schildt (1977: 315 ff.) und spürte überaus deutlich die Differenz in der Haltung dieses weltoffenen, sozial denkenden Menschen im Vergleich zum elitären Eskapismus von Erhart Kästner im Kontext der „konservativen Revolution“. 100 Willberg (2002). 101 Boomgaarden (2004).

Ausblick

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Mauriac (1960: 20) gesagt hat: „weil die Erwartung das einzige Land ohne Grenzen ist.“ Durchgängig bedeutsam in meiner Fundierung der Sozialpolitiktheorie auf der Grundlage philosophischer Anthropologie waren die Abhandlungen „Mut zum Sein“ (Tillich, 2015) und „Liebe – Macht – Gerechtigkeit“ (Tillich, 1991). Im Gebiet der Wissenschaft von der trägervielfältigen praktischen Sozialpolitik und der ebenso trägervielfältigen Gemeinwirtschaftslehre eine ethisch fundierte Haltung einzunehmen, fällt nicht so schwer wie die Bewältigung der Herausforderung, die Wirtschaftspolitik innerhalb der Volkswirtschaftslehre als Teil der Gesellschaftsgestaltungstradition zu entwickeln. Siegfried Katterle nutzte dazu die Idee der „irenischen Formel” von Alfred Müller-Armarck, nicht nur als Magie (Kippenberg/Luchsi, 1978), um Pfade aus den makroökonomischen Zielkonflikten zu finden, sondern er erinnert damit an quasi vergessene theologische Diskurse um eine Kultur des Dialoges, der Konsenssuche und des ökumenischen Geistes, die heute fast völlig verdrängt sind. Es ging ihm (Katterle, 1993), in der Gerhard-Weisser-Tradition stehend, um ein Verständnis von sozialer Marktwirtschaft, das den Namen eines freiheitlichen, ethischen Sozialismus, wie er einst im Godesberger Programm angelegt war, verdient. Mit kritischem Blick auf den Geist des Kapitalismus hatte er den – in vielerlei Varianten diskutierten – Vorwurf der Religion formuliert (Katterle, 1996)102, ein Deutungsangebot, das ja bereits auf den Fetischismus-Begriff von Karl Marx zurückreicht, für den der Kapitalismus voller theologischer Mucken war. * Paul Tillich hatte ja auch einen theologischen Zugang zur Kunst (Tillich, 2004; Palmer, 2017) als Sphäre der Seinswahrheitssuche der Menschen103; und so mag ein Wort von Theodor W. Adorno (Minima Moralia von 1952, dort Nr. 143) passen: „Kunst ist die Magie, befreit von der Lüge, Wahrheit zu sein.“

102

Mit Blick auf Paul Tillich vgl. Yip (2007). Tillich (2017c); Danz/Schüßler (2011). Zur Liebe als Ort Gottes in der Kultur vgl. Amelung (1972). 103

Schluss Die vorliegende Abhandlung ist ein hybrides Gebilde, zu lang für einen Aufsatz in einer Fachzeitschrift, zu kurz, um als echte Monografie zu gelten. Die Abhandlung ist eben dem Anlass geschuldet: Siegfried Katterle ist von uns gegangen. Und ich würde gerne relativ zeitnah auf dieses Ereignis reagieren. Zügig das Manuskript abzuschließen, hat auch andere Gründe. Schnell entgleitet mir der Anlass: Siegfried Katterle im Lichte von Paul Tillich; ein solches Vorgaben mutiert schnell in eine Abhandlung vor allem über Paul Tillich und den Tillich-Kreis. Das ist bereits am vorliegenden Text zu merken. Paul Tillich und sodann, als Brücke zur Sozialökonomik von Siegfried Katterle, Eduard Heimann wurden breit aufgerufen. Und ich schreibe über mich selbst. Das ist einerseits legitim, schreibe ich doch als ein Mensch, der Siegfried Katterle viel zu verdanken hat. Und da soll der offizielle Dank auch nicht allzu lange auf sich warten lassen. Denn Siegfried Katterle ist es wert, Gegenstand eines umfassenden werkbiografischen Projekts zu werden. Ich kenne gar nicht alle seiner Publikationen. Eine Archiv-Dokumenten-Analyse (seiner Briefe bzw. Stellungnahmen sowie seines Lehrprogramms) habe ich nicht betrieben. Ich habe keinen Kontakt mit der Familie aufgenommen, keine Interviews geführt. Leicht könnte ein solch größeres Projekt definiert werden. Aber ich wollte aus meiner Betroffenheit heraus reagieren. Es geht um Dank, Wertschätzung, aber ohne Stress. Ich bin nicht religiös. Als Schüler in der Tradition der Gerhard-Weisser-„Schule“ bin ich meine eigenen Weg gegangen. Mit Verrat hat das nichts zu tun. Mich treibt ein eigener Daimon. Und dennoch: Theo Thiemeyer (als akademischer Vater), Werner Wilhelm Engelhardt (als Weichensteller nach Regensburg) und Siegfried Katterle (als mehrfacher Förderer): Sie waren Schicksalsgötter für mich. Deshalb ist die vorliegende Abhandlung relativ „schnell am Markt“. Mein Dank – eben auch als Investition in die Erinnerungskultur – muss „raus“. Etwas Tieferes als das Vorliegende konnte ich nicht generieren. Ich glaube, das Wesentliche ist auch so gesagt. Vieles könnte vertieft, differenziert, ausgebreitet, angereichert werden. Geschmälert wird diese meine persönliche Explikation auch nicht durch die Ehrlichkeit, dass noch andere Projekte warten: Forschungsberichte, aber auch andere Abhandlungen. Habe ich Siegfried Katterle also im Strom meiner Publikationsorgien einfach mal so dazwischen eingeschoben? Ja und nein. Den Text habe ich innerhalb von zwei Monaten geschrieben (die Korrektur bedurfte dann noch einige Wochen Zeit). Francis fragte, ob ich nicht erzählt hätte, ich wolle mal etwas weniger powern.

Schluss

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Ich beende also die Abhandlung auch, weil andere Publikationen meines Kürwillens (und viele Pflichtaufgaben) anstehen. Und dennoch habe ich diese anderen Publikationen unterbrochen, um diesen Beitrag in Erinnerung an Siegfried Katterle zu schreiben. Es war mir wichtig. Sein Tod hat mich sehr betroffen gemacht, obwohl 85 Jahre ein biblisches Alter ist. Der Ton seines Sprechens drückte immer eine gewisse Sanftheit aus: sehr reflektiert, aber nicht theoretisch, sondern sensibel – so habe ich ihn immer empfunden. Validieren kann ich kaum etwas; dafür war ich zu weit weg. Eine verpasste Chance im Leben? Ja, sicherlich. Aber so ist das Leben. Jeder geht seinen Weg, am Ende der Endlichkeit eben auch seinen letzten Schritt. Man geht den Weg, den man geht und sodann gegangen ist; sonst wäre man einen anderen Weg gegangen. Das Verhältnis von Freiheit und Schicksal (Befti, 2017; Sarischoulis, 2008) ist kompliziert gewoben. Göran Schildt (1969: 9): „Nicht ich wählte das Abenteuer, sondern das Abenteuer wählte mich.“ Siegfried Katterle hatte Gestaltqualität: Format. Er ist nicht „weltberühmt“ geworden. Aber er hat gewirkt. Er hatte wohl seinen „Sitz im Leben“ gefunden, geforscht und viel gelehrt, war politisch engagiert und hatte Familie und lebt in diesem Strom weiter. Schmerzhaft ist die Erfahrung, dass die von ihm verkörperte Form der ethisch fundierten Sozialökonomik kaum fortgeführt wird. Die Zeiten sind (schon länger) nicht günstig. Oder ist die Idee objektiv überholt? Ist es anachronistisch, romantisch verklärt in der Form der Melancholie? Ist die Idee einer Sozialökonomik104 ein „Zukunftsprojekt“ (Heise/Deumelandt, 2015)? Reichen die vorliegenden – weitgehend nur (im Sinne der epistemologischen Wahrheit) explikativ ausgerichteten – Konzeptionen einer Sozialökonomie (Mikl-Horke, 2011a; Mikl-Horke, 2011b) aus? Benötigt eine Sozialökonomik nicht eine Metaphysik der ontologischen Wahrheit, um die Ontik der empirischen Befunde an der Idee des unentfremdeten Menschen zu skalieren? * Zu den Kölner Verhältnissen: Als im Rahmen der Strukturentwicklungsplanung meiner Fakultät im Juli 2019 über die Leitbildfindung kontrovers diskutiert wurde, führte die Fakultät zugleich digital eine Sammlung von Vorschlägen zur „Mission“ durch. Ein eingebrachter Vorschlag im digitalen Beteiligungsprozeß meinte, die Fakultät sei zu charakterisieren als „Betriebswirtschaftslehre als Fachhochschule, Volkswirtschaftslehre als seriöse Wissenschaft und Sozialwissenschaften als linkspopulistisches Gedöns“. Verschiedene Diskursströme kommen hier zusammen und werden stilbildend auf die drei Konveniate meiner Fakultät (obwohl es hier längst Grenzüberschreitungen und hybride Entwicklungen gibt) fokussiert. Diskutiert wird 104 Zur Transformation der Akademie für Gemeinwirtschaft zur Hochschule für Wirtschaft und Politik und ihrer Eingliederung in eine Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Fakultät der Universität Hamburg vgl. Borries-Pusback (2002); Hauer/Rogalla (2006); Hund (1998).

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Schluss

der Praxisbezug der exzellenten forschenden Wissenschaft (diese scheint dem Kommentator wohl in der Betriebswirtschaftslehre zu sehr ausgeprägt zu sein). Diskutiert wird im Kommentar sodann (wohl positiv konnotiert) die Mathematisierung und die Formalisierung der Theoriebildung in der Volkwirtschaftslehre (dies scheint dem Vorschlag in der Volkswirtschaftslehre mit Absicht auf Generalisierung für alle Disziplinen als nomologische Einheitswissenschaft – dabei wohl aber die ältere, keineswegs überholte Modellplatonismus-Debatte [Kapeller, 2011] vergessend oder gar nicht kennend und auch die neuere Erkenntnis [Vogd, 2014] von der Metaphysik in der Physik [aus Unkenntnis] ausblendend – angemessen zu sein). Linkspopulistisches Gedöns? Das spricht – zumindest – implizit die Frage an, ob hier billiger Normativismus gepredigt wird? Die Frage nach der, international betrachtet, sehr hohen Qualität der Sozialforschung als Methode der Datengenerierung und der Datenanalyse im Kölner Institut für Soziologie und Sozialpsychologie – auf die Politikwissenschaften hier nicht vertiefend eingehend – ausklammernd, wird die Frage angesprochen, was uns die generierten und analysierten empirischen Befunde (über soziale Ungleichheit und soziale Ausgrenzung) sagen. Was erzählen sie uns? Und hier geht es, erkenntnis- und wissenschaftstheoretisch gesehen, in der Tat nicht ohne die Metaphysik der personalen Würde und die Referenzwelt der inkludierenden Fundamentalstruktureckwerte der modernen „Sattelzeit“ von 1789: Freiheit, Gleichheit, Solidarität. Aber sind die Daseinsthemen der empirischen Befundlandschaft linkspopulistisches soziales Gedöns? Ist der Capability Approach, der zentrale Gedanken der Kölner Weisser-„Schule“ modernisiert zum Ausdruck gebracht hat, nicht ein Schlüssel zur nachhaltigen Entwicklung des sozialen und ökonomischen Fortschritts, so wie diese zwei-dimensionale Idee des Fortschritts auf völkerrechtlicher Grundlage im Recht der Europäischen Union verankert ist? Das Gerede vom sozialen Gedöns der Sozialwissenschaften ist in einem gewissen Sinne verfassungsfeindlich: Wissenschaft hat in Deutschland vor dem Hintergrund der Sozialstaatsbestimmung des Art. 20 GG vor dem Hintergrund der praktischen Philosophie von Kant, die wir in Art. 1 und 2 GG finden, der Gesellschaft zu dienen, zumal sie von ihr finanziert wird. Fluchtpunkt aller Forschungsbemühungen, deren Ergebnisse in die Lehre eingehen, ist die „Sakralität der Person“, die für Paul Tillich das Telos des geschichtlichen Geschehens ist. Siegfried Katterle hat aus seinem Beruf heraus dafür gewirkt, dass diese Metaphysik des gelingenden Lebens im liebenden, sozialen Miteinander die Idee der Sozialökonomik und die Forschung der Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik leitet: „Wer etwas Gesichertes, Verifiziertes erfährt und dann weiß, der hat schon ein Stück seines Suchens beendet. Gewißgewordenes versinkt so leicht in den Tiefen von wenig begangenen Räumen, und nur das noch unerfaßt Schwebende wird von der magischen Flamme des suchenden Geistes umspielt. Wer noch fürchtet auf dem Weg des Erkundens, sich müht und hofft und ahnt und im Bann des Entdeckens Beschwörungen wagt, dem tun sich Geheimkammern auf. Aber ihr Innerstes, Letztes bleibt dennoch verschleiert, verschlossen und unzugänglich für immer“ (Fitzbauer, 1977: 32).

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