Seraphische Hexameterdichtung: Friedrich Gottlieb Klopstocks Messias und die Ependiskussion im 18. Jahrhundert [1 ed.] 9783737009638, 9783847109631


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Seraphische Hexameterdichtung: Friedrich Gottlieb Klopstocks Messias und die Ependiskussion im 18. Jahrhundert [1 ed.]
 9783737009638, 9783847109631

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Isabel Gunzenhauser

Seraphische Hexameterdichtung Friedrich Gottlieb Klopstocks Messias und die Ependiskussion im 18. Jahrhundert

Mit einer Abbildung

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber https://dnb.de abrufbar. D 93  2020, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Anton Hickel: Bildnis Friedrich Gottlieb Klopstock. Hamburg, 1798. ÖlgemÐlde; 113 x 89 cm. Staats- und UniversitÐtsbibliothek Hamburg, Signatur: GemÐldesammlung : 8 (Inv.-Nr. 09–12), (CC BY-SA 4.0). Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-7370-0963-8

Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

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23

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25

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30

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2. Epische Musterautoren und deren Bedeutung im 18. Jahrhundert . . . 2.1 Antike Vorläufer (Homer, Vergil, Lucan, Statius) . . . . . . . . . 2.2 Neuzeitliche Vorläufer (Dante, Tasso, Milton, Glover) . . . . . . .

89 91 108

3. Klopstocks ›Programmschrift‹ über die Gattung Epos: Die Declamatio, qua poetas epopoeiae auctores (»Schulpfortaer Abschiedsrede«) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Klopstocks Wettstreit mit der epischen Tradition . . . . . . . . 4.1 Der Begriff der ›aemulatio‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Stoffwahl, Handlung und Gesamtkomposition des Messias 4.3 Das Proömium des Messias . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Christliche Mythologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Episoden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Charakterdarstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.7 Epische Subjektivität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.8 Reden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.9 Gleichnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

191 194 213 242 267 323 370 401 417 426

1. Der sogenannte ›Literaturstreit‹ ab den 1740er Jahren . . . . . . . . 1.1 Der Streit um die deutsche Sprache: Obersächsisch-Meißnische »Hochsprache« vs. schweizerdeutsche Mundart . . . . . . . . . 1.2 Die Kontroverse über Miltons Paradise Lost: ›Einbildungskraft‹ vs. Vernunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Der sogenannte ›Religionskrieg‹: neue ›Erdichtungen‹ vs. theologische Orthodoxie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Die unparteiische Kritikergeneration in Berlin . . . . . . . . . 1.5 Die zeitgenössische Rezeption des ›Literaturstreits‹ . . . . . . .

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6

Inhalt

4.10 Der Hexametervers und das Lyrische im Messias . . . . . . . . .

452

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509 536

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569 614

Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

655

Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

677

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

725

5. Die Nachahmer Klopstocks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Die gelehrte Patriarchade: Der Noah von Johann Jacob Bodmer 5.2 Das märchenhafte Bibelepos: Der gepryfte Abraham von Christoph Martin Wieland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Das idyllische Prosaepos: Der Tod Abels von Salomon Gessner .

Einleitung

Ernst Robert Curtius fällte in seiner grundlegenden Studie Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (EA 1948) folgendes vernichtendes Urteil über die Gattung Epos mit biblischem Stoff: Das Bibelepos ist während seiner ganzen Lebenszeit – von Juvencus bis Klopstock – eine hybride und innerlich unwahre Gattung gewesen, ein genre faux. Die christliche Heilsgeschichte, wie die Bibel sie darbietet, verträgt keinen Umguß in pseudoantike Form. Nicht nur verliert sie dadurch ihre kraftvolle, einmalige, autoritative Prägung, sondern sie wird durch die der antiken Klassik entlehnte Gattung und durch die dadurch bedingten sprachlich-metrischen Konventionen verfälscht. Daß das Bibelepos sich dennoch so großer Beliebtheit erfreuen konnte, erklärt sich nur aus dem Bedürfnis nach einer kirchlichen Literatur, die sich der antiken gegenüber- und entgegenstellen ließ. Man kam so zu einer Kompromißlösung.1

Dem Kompositum »Bibelepos« scheint offenbar eine unangemessene und letztlich misslungene Verbindung bzw. innerliche Trennung von Inhalt bzw. Stoff und Form inhärent zu sein. Curtius spricht abwertend von einem ›Umgießen‹ des biblischen Stoffes in eine »pseudoantike Form«, wodurch der Bibeltext seine Würde als religiöse Autorität verliere. In der neueren Forschung wurde inzwischen dezidiert darauf hingewiesen, dass gerade die Bibel, die die schriftlich fixierte christliche Heilsgeschichte enthält, einer besonderen, ihr angemessenen Form bedarf.2 Max Wehrli reagierte in seinem Aufsatz Sacra Poesis: Bibelepik als

1 Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Sonderausgabe der 11. Aufl. Tübingen / Basel 1993. S. 457. 2 Daniel Weidner beispielsweise betont in seinem Aufsatz ›Bibeldichtung‹ und dichterische Darstellung in Bezug auf die »Nachahmungsästhetik« um 1800 und das »Konzept der ›Darstellung‹«: »Gerade weil man die Bibel nicht einfach ›nachahmen‹ kann und darf, muss ihre ›Darstellung‹ eine besondere Form und Funktion haben.« (Daniel Weidner : ›Bibeldichtung‹ und dichterische Darstellung. Kain in der Literatur um 1800: Klopstock, Gessner, Coleridge, Byron. In: arcadia. Internationale Zeitschrift für Literaturwissenschaft 43 (2008). Heft 2. S. 299–331, hier S. 304.) – Martin Fritz betont ebenfalls in seiner Monographie über das Erhabene: »Das Religiöse bedarf der ihm entsprechenden ästhetischen Form«. (Martin Fritz:

8

Einleitung

europäische Tradition (EA 1963) auf Curtius’ Kritik und macht darin deutlich, dass dieser letztlich den Sinn seiner eigenen Forschungsarbeit infrage stelle, »denn was [sei] das lateinische Mittelalter anderes als christlicher Gehalt in ›pseudo-antiker‹ Form?«3 Wehrli bemerkt, dass sich »durch die europäische Dichtung vom 4. bis zum 18. Jahrhundert wie ein roter Faden das seltsame, immer neu versuchte Unternehmen [ziehe], die Bibel zum großen, umfassenden Gedicht zu verwandeln, in Poesie zu übertragen«.4 Die Bibelepik wird demnach von ihm zur europäischen Tradition erklärt: Es geht um den Gedanken einer christlichen Epik, einer höchsten Begegnung von Dichtung und Offenbarung, einer sacra poesis nicht nur dem Thema nach, sondern auch vielleicht nach ihrem Anspruch auf besonderen Rang und besondere Wahrheit. Wir meinen, es sei damit nicht nur eine literarische Kuriosität, sondern eine echte Tradition gefaßt, ein dichterisches Bemühen, das auch grundsätzlich, poetisch, ernstgenommen zu werden verdient […].5

Der prägnante Terminus »Bibelepos« ist eine noch relativ junge Wortschöpfung in der deutschen Literaturwissenschaft. Wehrli betont, dass die »Bibelepik nur ein Sonderfall der Bibeldichtung überhaupt« sei.6 Im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft wird die Gattungsbezeichnung »Bibelepik« folgendermaßen definiert: »Paraphrase oder freiere Nacherzählung einzelner oder mehrerer biblischer Bücher bzw. ausgewählter biblischer Episoden oder Stoffe in Versen.«7 Der ›Terminus technicus‹ sei gattungstheoretisch problematisch und stehe für eine »christliche[.] Literaturübung, nach vorgegebenen poetischen Konventionen (Hexameterepos, Hymnen und Rhythmen, Stab- und Endreimdichtung) den biblischen Wortlaut in unterschiedlicher Auswahl sachlich treu zu versifizieren«.8 Als hingegen allgemeiner und gattungstheoretisch neutraler Begriff gilt »Bibeldichtung«, der sich als Lemma etwa im Neuen Pauly findet.9 In der Enzyklopädie der Antike wird betont, dass sich der Begriff »Bibeldichtung« »einer präzisen Definition« entziehe.10 Jedoch gebe es in dem »weiten Spektrum

3 4 5 6 7

8 9 10

Vom Erhabenen. Der Traktat ›Peri Hypsous‹ und seine ästhetisch-religiöse Renaissance im 18. Jahrhundert. Tübingen 2011. (Beiträge zur historischen Theologie; 160.) S. 452.) Max Wehrli: Sacra Poesis: Bibelepik als europäische Tradition. In: [Ders.:] Formen mittelalterlicher Erzählung. Aufsätze. Zürich / Freiburg i. Br. 1969. S. 51–71, hier S. 51. Ebd. Ebd., S. 51f. Ebd., S. 52. Dieter Kartschoke: [Art.] Bibelepik. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte gemeinsam mit Harald Fricke, Klaus Grubmüller und Jan-Dirk Müller hrsg. v. Klaus Weimar. Bd. I. Berlin / New York 1997. S. 219–220, hier S. 219. Ebd. [Art.] Bibeldichtung. In: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Hrsg. v. Hubert Cancik und Helmuth Schneider. Abt. Altertum. Band 2. Stuttgart / Weimar 1997. Sp. 623–627. Ebd., Sp. 624.

Einleitung

9

biblisch beeinflußter Gedichte eine kleinere Gruppe von Bibelgedichten im engeren Sinne, die Bibelepen: ausschließlich in Hexametern und formal narrativ folgen sie der Anordnung der biblischen Ereignisse«.11 Diese gattungsdefinitorischen Versuche im Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft und im Neuen Pauly machen deutlich, dass der in der deutschen Literaturwissenschaft seit dem 20. Jahrhundert gebrauchte Begriff der »Bibelepik« bzw. »Bibeldichtung« »ein Spektrum heterogener Textsorten ab[deckt], das von der metrischen Paraphrase des Bibeltextes über die Evangelienharmonie bis hin zum Bibelepos im eigentlichen Sinne mit seiner artifiziellen und eigenständigen Organisation des Quellenstoffes reicht«.12 Der Erforschung der »Bibelepik« bzw. »Bibeldichtung« als einer europäischen Tradition haben sich Reinhart Herzog, Dieter Kartschoke und neuerdings Ralf Georg Czapla gewidmet. Herzog beschäftigte sich in seiner Studie Die Bibelepik der lateinischen Spätantike. Formgeschichte einer erbaulichen Gattung (1975) mit der lateinischen Bibelepik des 4. Jahrhunderts. Kartschoke zeigte in seiner Monographie Bibeldichtung. Studien zur Geschichte der epischen Bibelparaphrase von Juvencus bis Otfrid von Weißenburg (1975) den Traditionszusammenhang zwischen lateinischer, altenglischer, altsächsischer und althochdeutscher Bibeldichtung auf. Seine Forschungsarbeit umfasst die bibelepischen Werke vom 4. bis zum 9. Jahrhundert. Czapla versuchte in seiner Studie Das Bibelepos in der Frühen Neuzeit. Zur deutschen Geschichte einer europäischen Gattung (2013) »orientiert an der Frage nach Funktion und Intention, die Bibelepik vom Beginn des Buchdrucks bis zum Dreißigjährigen Krieg als gesamteuropäisches, kulturraum-, sprach- und epochenübergreifendes Genre zu beschreiben«.13 Er befasste sich mit der Editionsgeschichte der lateinischen Bibelepik der Spätantike und der volkssprachlichen Bibeldichtungen des Frühmittelalters, »die gegen Ende des 15. Jahrhunderts im deutschen Sprachraum die Wiederentdeckung biblischer Stoffe für das Epos einleitete und sich als Teil eines christlich-humanistischen Bildungsprogrammes verstand«.14 Laut Czapla setzte etwa zeitgleich zur »editorischen Instauration des spätantiken Erbes« im deutschsprachigen Raum die Rezeption der epischen Bibeldichtung der italienischen Renaissance ein15, die zur »Revitalisierung des Bibelepos«16 11 Ebd. 12 Ralf Georg Czapla: Epen oder Dramen? Gattungstheoretische Überlegungen zu Andreas Gryphius’ lateinischer Bibeldichtung. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 32 (2000). Heft 2. S. 82–104, hier S. 93. 13 Ralf Georg Czapla: Das Bibelepos in der Frühen Neuzeit. Zur deutschen Geschichte einer europäischen Gattung. Berlin / Boston 2013. (Frühe Neuzeit; 165.) S. 7. 14 Ebd., S. 9. 15 Ebd., S. 11. 16 Ebd., S. 12.

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Einleitung

beitrug. Die neulateinische Bibelepik des 16. und 17. Jahrhunderts versteht er insofern als »eines der wohl reichsten Literaturgenres der Frühen Neuzeit«.17 Herzog datiert den »Anfangs- und Endpunkt der Bibelepik als traditionell gewordener und bewußt gepflegter Übung« auf ca. 570 und 1737.18 Darauf bezugnehmend betont allerdings Czapla ausdrücklich, dass das Bibelepos als literarisches Genre »selbst in lateinischer Sprache bis ins späte 18. Jahrhundert fortgewirkt [habe], in deutscher mit unterschiedlichem Erfolg sogar darüber hinaus«.19 Im Folgenden werden die wichtigsten bibelepischen Werke und deren Verfasser vom 4. bis zum 17. Jahrhundert genannt, um einen Überblick über die europäische Tradition dieser Gattung zu geben. Als »der eigentliche Begründer der vergilianisierenden christlichen Epik und damit einer christlichen Poesie klassisch-römischer Tradition überhaupt« gilt C. Vettius Aquilinus Juvencus mit seinem Werk Evangeliorum libri IV (ca. 325– 330).20 Seine Paraphrase der Evangelien in lateinischen Hexametern wurde bis zum 11. Jahrhundert im Schulunterricht gelesen, und sie wurde auch im Renaissance-Humanismus eifrig rezipiert.21 Um 360 verfasste eine römische Aristokratin namens Proba »einen heilsgeschichtlichen Cento aus Vergilversen«.22 Der Cento Vergilianus wurde von den Kirchenvätern aus dem Kanon der lateinischen Bibeldichter, der sich aus den Werken von Juvencus, Sedulius, Arator und Avitus zusammensetzte, ausgeschieden.23 Die enge Anlehnung der christlichen Dichterin an den römischen Epiker Vergil wurde etwa von Hieronymus (epist. 53,7) scharf kritisiert. Die Kirche lehnte offenbar im 4. Jahrhundert Bibeldichtung als Epos dezidiert ab.24 Eine größere Anzahl von bibelepischen Werken entstand im 5. Jahrhundert: Eine titellose »Heptateuchdichtung«, die einem Cyprianus zugeschrieben wird, stellt eine metrische Paraphrase des Alten Testaments (Genesis bis Richter) dar.25 Das Carmen paschale (ca. 450) des Sedulius erzählt in fünf Büchern von den Heils- und Wundertaten Jesu Christi. Claudius Marius Victorius machte in den drei Büchern seiner Alethia (ca. 450) aus der Genesis (1–19) »ein kulturhistorisches Lehrgedicht«.26 Um 500 erschien 17 Ebd., S. 9. 18 Reinhart Herzog: Die Bibelepik der lateinischen Spätantike. Formgeschichte einer erbaulichen Gattung. Band 1. München 1975. (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste; 37.) S. XVI. 19 Czapla: Das Bibelepos in der Frühen Neuzeit, S. 6. 20 Dieter Kartschoke: Bibeldichtung. Studien zur Geschichte der epischen Bibelparaphrase von Juvencus bis Otfrid von Weißenburg. München 1975. S. 32. 21 Vgl. Herzog: Die Bibelepik der lateinischen Spätantike, S. 52. 22 Kartschoke: Bibeldichtung, S. 35. 23 Vgl. hierzu: Herzog: Die Bibelepik der lateinischen Spätantike, S. XIX–XXV. 24 Vgl. ebd., S. XLIIf. 25 Vgl. ebd., S. XXV und Kartschoke: Bibeldichtung, S. 34f. 26 Kartschoke: Bibeldichtung, S. 47.

Einleitung

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das Bibelepos De spiritalis historiae gestis von Alcimus Ecdicius Avitus. Die fünf Bücher handeln von der Schöpfung, vom Sündenfall, von der Vertreibung aus dem Paradies, von der Sintflut und vom Auszug aus Ägypten (Exodus). Blossius Aemilius Dracontius’ bibelepisches Gedicht De laudibus Dei libri tres (ca. 490) hat »das Wirken der Gnade Gottes in der Welt« zum Thema.27 Es handelt sich bei den drei Büchern um eine »elegisch-hymnische[.] Paraphrase der biblischen Vorlage«.28 Der Bibelepiker Arator verarbeitete in seinem Werk De actibus apostolorum oder Historia apostolica (ca. 540) in zwei Büchern die neutestamentliche Apostelgeschichte. Zudem sind noch kürzere anonyme oder pseudonyme lateinische Bibelgedichte aus dem 4. oder 5. Jahrhundert überliefert, wie z. B. die alttestamentlichen Paraphrasen De Sodoma und De Iona sowie das Carmen de martyrio Maccabaeorum. Auf die Tradition der lateinischen epischen Bibelgedichte folgte im 9. Jahrhundert eine Blütezeit volkssprachlicher Werke: dazu gehören das althochdeutsche Muspilli, der altsächsische Heliand und der althochdeutsche Liber evangeliorum Otfrids von Weißenburg. Der Heliand aus der 1. Hälfte des 9. Jahrhunderts stellt ein Beispiel neutestamentlicher Bibelparaphrase bzw. Evangelienharmonie aus annähernd 6.000 stabreimenden Langzeilen dar. »Er ist zugleich auch das umfangreichste volkssprachige Epos in germanischer Tradition überhaupt.«29 Das Evangelienbuch Otfrids von Weißenburg (zwischen 863 und 871), das aus über 7.000 binnengereimten Langzeilen besteht, markiert den Beginn »der volkssprachigen Endreimdichtung«.30 Dieses frühmittelalterliche Bibelepos erzählt in fünf Büchern vom Leben und Sterben Jesu Christi bis zu seiner Auferstehung und Himmelfahrt sowie vom Jüngsten Gericht. Erst in der 2. Hälfte des 11. Jahrhunderts entstanden wieder alttestamentliche Paraphrasen wie die Altdeutsche Genesis. Im 12. Jahrhundert verfasste eine Frau Ava einen neutestamentlichen fünfteiligen bibelepischen Zyklus (Johannes (der Täufer), Leben Jesu, Die sieben Gaben des Heiligen Geistes, Antichrist, Das Jüngste Gericht). Legendarische und apokryphe Stoffe wurden im 13. Jahrhundert bevorzugt – Beispiele hierfür sind Von unser vrouwen hinvart und Diu urstende von Konrad von Heimesfurt sowie Die Kindheit Jesu von Konrad von Fußesbrunnen. Als vorbildhafte Mustertexte galten den deutschen Humanisten bis zum Ende des 17. Jahrhunderts die Epyllien von Girolamo della Valle (Jesuida, 1473) und Macario Muzio (Carmen de Triumpho Christi, 1499) sowie die Bibelepen von Baptista Mantuanus (Parthenice Mariana, 1488), Jacopo Sannazaro (De partu Virginis, 1526), Marco Girolamo Vida (Christias, 1535), Tommaso 27 28 29 30

Ebd., S. 48. Ebd. Ebd., S. 167. Ebd., S. 184.

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Einleitung

Ceva (Jesus Puer, 1690) und Giambattista Marino (La strage degli innocenti, 1632).31 Andreas Gryphius’ Herodes-Epen, Herodis Furiae & Rahelis lachrymae (Die Wut des Herodes und die Tränen der Rachel, 1634) und Dei Vindicis Impetus et Herodis Interitus (Gottes Rachesturm und des Herodes Untergang, 1635), lassen sich als »allegorische Zeitdichtungen« verstehen, in denen der Barockdichter »das Gemetzel unter den Neugeborenen Bethlehems mit den Greueln des Dreißigjährigen Krieges« gleichsetzte.32 Das Olivetum (1646/1648) von Gryphius hingegen, das den »Gebetskampf«33 Jesu Christi im Garten Gethsemane schildert, ist als »Friedensdichtung« ausgewiesen.34 Gryphius orientierte sich bei der Arbeit an seinen Herodes-Epen am klassisch-lateinischen Vorbild, d. h. an der Aeneis Vergils.35 Ein weiteres Bibelepos, das dezidiert in der Nachfolge Vergils steht, ist z. B. die Hebraeis (1599) von Nikodemus Frischlin.36 Kartschoke bemerkt in seiner umfassenden Studie zur Gattungsfrage, dass die »›Bibelepik‹ […] keine im Sinne klassizistischer Poetik festumrissene einheitliche Gattung [sei], deren definierende Konstanten über das stoffliche Substrat und die formale Konvention (Hexameter) hinausgingen«.37 Sie sei es »auch nicht im Hinblick auf gattungsmäßig strukturierende Grundhaltungen«, denn so müsste man etwa das Carmen de martyrio Maccabaeorum als dramatisch sowie des Dracontius’ De laudibus Dei libri tres als lyrisch charakterisieren und dürfte »nur die Gedichte des Juvencus und Avitus überwiegend ›episch‹ nennen«.38 Er weist auch auf den Einfluss der biblischen Exegese auf Arators Historia apostolica hin, wodurch das Gedicht den Charakter eines »›Verskommentars‹« erhalte.39 Als prominentes frühmittelalterliches Beispiel für die exegetische Tradition hätte Kartschoke hier auch das Evangelienbuch Otfrids von Weißenburg nennen können. Er verweist auf die gattungsinterne Vielfalt der Texte, die offenbar zu keiner Kanonisierung geführt hat:

31 Vgl. hierzu: Czapla: Das Bibelepos in der Frühen Neuzeit, S. 121–201 (Kap. C: Die Bibelepik der italienischen Renaissance und ihre Rezeption im deutschsprachigen Raum). 32 Ebd., S. 16 und S. 471. 33 Ebd., S. 470. 34 Ebd., S. 16 und S. 471. Vgl. zu den Bibelepen von Andreas Gryphius: Ebd., S. 390–472 (Kap. E 4: Bibelepik als Zeitdichtung: Andreas Gryphius’ Herodes und Olivetum). – Czapla: Epen oder Dramen? Gattungstheoretische Überlegungen zu Andreas Gryphius’ lateinischer Bibeldichtung. 35 Vgl. Czapla: Das Bibelepos in der Frühen Neuzeit, S. 396. 36 Vgl. zur Hebraeis Frischlins: Ebd., S. 257–341. 37 Kartschoke: Bibeldichtung, S. 121. 38 Ebd. 39 Ebd. »Arator räumt dem eigentlichen epischen Bericht nur geringen Raum ein, es überwiegt die mystisch-allegorische Deutung, die sich aller Mittel theologischer Gelehrsamkeit von den vielfältigen Namenetymologien bis zur ebenso häufig angewandten Zahlensymbolik bedient.« (Ebd., S. 53.)

Einleitung

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Die jahrhundertelange Entwicklung des Typus Bibelepik scheint trotz aller sichtbaren oder zumindest als möglich anzunehmenden Abhängigkeiten der Texte untereinander zunächst nicht zu verbindlichen Mustern, in sich vergleichbaren Werkreihen geführt zu haben, deren jeweilige Gemeinsamkeiten poetologisch, und das heißt: im Sinn einer eindeutigen und einheitlichen Gattungsvorstellung, fixierbar wären. Einheitlich ist vielmehr nur die Kunstübung selbst, die versmäßige Paraphrase heiliger Texte in unterschiedlichen Traditionen und zu unterschiedlicher Funktion.40

Kartschoke bemüht sich letztlich um eine Definition der Gattung »Bibelepik«, wobei die Betonung im Nominalkompositum ausdrücklich auf dem Erstglied liegt, d. h., das Gemeinsame ist letztlich nur der biblische Stoff: ›Bibelepik‹ ist […] epische Paraphrase biblischer Stoffe in gleichmäßig gebundener Rede […]. Die Großform – als nicht notwendiges Konstituens oder Gattungskriterium dieser Kunstübung – verbürgt also nicht eindeutig und ausschließlich die klassizistische Ambition einer bis in die Volkssprachen hinein bewußt vergilianisierenden ›Epik‹, sondern sie ist die notwendige Konsequenz eines stofflichen Anspruchs: poetische Bewältigung der biblischen Heilsgeschichte von der Schöpfung dieser Welt bis zu ihrem Untergang und den Jüngsten Tag oder – als biographisches Schema – des Heilslebens Christi von der Geburt bis zum Erlösertod und zur Auferstehung. […] Fortlaufende stoffliche Kohärenz in diesem Sinne ist das allgemeinste definierende Kriterium der Bibelepik, welcher überkommenen oder neu geschaffenen Literaturformen immer sie sich bedient. Im Detail kann die so entstehende erzählende Bibeldichtung, die wir ›Bibelepik‹ nennen, lyrisch, episch, dramatisch oder didaktisch verfahren.41

Die »historische Berechtigung des Terminus ›Bibelepik‹« ergebe sich »aus der Geschichte der poetischen Bibelparaphrase selbst, die in ihren Anfängen sich der Form des vergilianischen Epos bedient und sich ausdrücklich als Fortsetzung der antiken Dichtungstradition verstanden [habe]«.42 Die Gattungsfrage sei folglich »durchaus dynamisch zu verstehen«: Was als vergilianisierende lateinische Epik beginnt, mündet in sehr verschiedene und von den Anfängen sich weit entfernende Formen – wie anderseits der Rückgriff auf die klassizistischen Anfänge immer wieder möglich wird. Die Identität der ›Gattung‹ Bibelepos ist also keine Identität wiederkehrender konstitutiver Elemente, formaler Mittel, poetischer Verfahrensweisen, sondern eine Identität der poetischen Ambition als Antwort auf ein Literaturbedürfnis, das zu verschiedenen Zeiten verschiedenen Einflüssen gehorcht und seinerseits verschiedene Weisen der Dichtungserwartung produziert.43 40 41 42 43

Ebd., S. 121. Ebd., S. 225. Ebd., S. 227. Ebd., S. 227f. Vgl. zur Gattungsbestimmung auch: Czapla: Das Bibelepos in der Frühen Neuzeit, S. 203– 253 (Kap. D: Das frühneuzeitliche Epos im Gattungssystem).

14

Einleitung

Kartschoke deutet demnach auf die historische Determiniertheit bzw. Relativität einer Gattung hin, die sowohl rezeptions- als auch produktionsästhetische Fragestellungen betrifft. Jede literarische Gattung unterliegt einem historischen Wandel. Sie entwickelt sich quasi weiter, macht eine ›Evolution‹ durch. Die für eine Gattung geltenden Normen, die in den Regel- bzw. Anweisungspoetiken formuliert werden, machen kleinste Abweichungen bzw. Modifizierungen in der poetischen Praxis möglich. In den präskriptiven Gattungstheorien werden die Normen und poetischen Abweichungen schriftlich festgelegt. In der deutschen Barockforschung widmet man sich beispielsweise verstärkt den ›Leerstellen‹ im poetologischen Regelsystem, die diverse poetische ›Spielräume‹ eröffnen.44 Jörg Wesche verwendet den Begriff »gattungsinterne Diversität« für die literarische Vielfalt innerhalb einer Gattung.45 Er macht deutlich, dass »[o]rdnungskonformes Agieren in Spielräumen einerseits und Abweichung als Verletzung von Ordnung andererseits […] zwei grundlegende Handlungsmuster [markieren], aus denen Vielfalt entsteht«.46 Die Verletzung bzw. Übertretung einer Norm gilt als Fehler (›vitium‹), aber »ein bis an die Grenzen gehendes Ausloten von Spielräumen« ist erlaubt.47 Ein literarisches Werk wird von den Rezipienten stets mit den jeweiligen Prototypen derjenigen Gattung verglichen, zu der es zählt.48 Der Messias (1748–1773) von Friedrich Gottlieb Klopstock wird als »das letzte Echo einer langen Tradition« sowohl des Bibelepos als auch der Gattung Epos überhaupt bezeichnet.49 Curtius’ Abwertung des Bibelepos als einer hybriden und problematischen Gattung, die sich aus einem christlichen Inhalt und einer »pseudoantike[n]« epischen Form zusammensetzt, bestimmte auch die literaturwissenschaftliche Klopstock-Forschung. Gerhard Kaiser, dessen Monographie Klopstock. Religion und Dichtung (1963) noch immer grundlegend ist, schreibt in seiner literarhistorischen Studie über die Epoche Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm und Drang (EA 1976) Folgendes über die schriftstellerische Ambition Klopstocks:

44 Vgl. Wilfried Barner : Spielräume. Was Poetik und Rhetorik nicht lehren. In: Künste und Natur in Diskursen der Frühen Neuzeit. Unter Mitwirkung von Barbara Becker-Cantarino, Martin Bircher, Ferdinand van Ingen, Sabine Solf und Carsten-Peter Warncke hrsg. v. Hartmut Laufhütte. Teil I. Wiesbaden 2000. (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung; 35.) S. 33–67. 45 Jörg Wesche: Literarische Diversität. Abweichungen, Lizenzen und Spielräume in der deutschen Poesie und Poetik der Barockzeit. Tübingen 2004. (Studien zur deutschen Literatur; 173.) S. 19. 46 Ebd., S. 36f. 47 Ebd., S. 36. Vgl. hierzu: Rüdiger Zymner (Hrsg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart / Weimar 2010. S. 60. 48 Vgl. Zymner (Hrsg.): Handbuch Gattungstheorie, S. 54. 49 [Art.] Bibeldichtung. In: Der Neue Pauly. Abt. Altertum. Band 2, Sp. 623–627, hier Sp. 627.

Einleitung

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Klopstock will den höchsten Gegenstand der Menschheit, ihre Erlösung durch Jesus Christus, in der höchsten dichterischen Gattung besingen, doch er will es mit dem Anspruch theologischer Angemessenheit der dichterischen Form. Indem er aber ein bis in die Darstellungsweise hinein christliches Epos anstrebt, treibt er mit letzter Konsequenz nichts anderes als die Unangemessenheit der antiken Gattung zum christlichen Weltbild heraus.50

Kaiser greift die ›Transformations-Metaphorik‹ von Curtius auf und erklärt, dass Klopstock dem Vorbild John Miltons folge, wenn er »seinen christlichen Inhalt in die Form des antiken Epos zu gießen versuch[e]«.51 Die Zugehörigkeit des Messias zur antiken Gattung Epos wird auch von ihm problematisiert: Das antike Epos kann Götter und Menschen miteinander vereinen, denn die antiken Götter sind innerhalb der Welt und innerhalb von Zeit und Raum. Der christliche Gott aber ist ewig und allgegenwärtig; er bricht von außen in die Welt ein und kann deshalb nicht, wie die antiken Götter, mit dem Menschen auf die gleiche Handlungsebene gebracht werden. Milton hat in seinem Paradise Lost (1667) dies Dilemma zwischen antiker Eposform und Christentum eher verdeutlicht als gelöst, wenn er mit imponierender Unbekümmertheit den christlichen Gott, Engel und Teufel nach Art der antiken Götter auffaßt und nach dem Bilde des Menschen formt. Klopstock geht den entgegengesetzten Weg. Indem er versucht, jede Vermenschlichung Gottes und der Geister zu vermeiden, Gott als raum-zeitlich unendlich, den Menschen als Empfänger, nicht Mitwirkenden der Erlösung darzustellen, endet er in der Zersetzung der traditionellen Epos-Struktur. Aus dem epischen Nacheinander der Ereignisse wird ein polyphones Nebeneinander, ein ewiges Jetzt, aus der Wechselwirkung von Geister- und Menschenwelt eine Überschichtung, in welcher der Strom des Erzählens zum Stehen kommt. Statt eines Erzählers, der den Personen gegenübersteht, spricht ein hymnisch Feiernder, der, mitten in der Situation der Erlösung befindlich, von seinen Erregungen fortgerissen wird. Der gleichmäßig hinströmende epische Hexameter der Antike verfällt bei Klopstock in Unruhe und Atemlosigkeit, rhetorische Gewaltanstrengungen versuchen das Unsagbare zu sagen, vielgliedrige Satzgebilde umkreisen das Geheimnis, Aussagesätze treten zurück gegenüber Anruf, Bekenntnis und Verkündigung. Bei aller Schönheit im Detail, besonders der lyrischen Partien, ist das Werk im ganzen mißlungen, allerdings in großartiger Weise, denn die individuelle Unfähigkeit zur Epik wird bei Klopstock zum Ausdruck der geschichtlichen Stunde: Das Epos als konkretes und plastisches Totalbild der Welt im Sinne Homers wird unmöglich für eine Zeit, in der das Göttliche gleichermaßen in eine unendliche Tiefe des Weltraumes und der menschlichen Seele einsinkt. Was bleibt, ist eine Ausdrucksfähigkeit der Sprache, wie sie so in Deutschland noch nicht dagewesen war.52

50 Gerhard Kaiser: Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm und Drang. 6., erweiterte Aufl. Tübingen / Basel 2007. S. 108. 51 Ebd., S. 110. 52 Ebd., S. 110f.

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Kaiser ordnet den Messias in seiner antiken Eposform als »im ganzen mißlungen« ein. Schon Franz Muncker bezeichnete das poetische Lebenswerk Klopstocks als ein »Pseudoepos […] von eminent lyrischem Charakter«.53 Walter Sparn nannte den Messias im Titel seines Aufsatzes eine »protestantische Ilias«, arbeitete aber dennoch lediglich die religiöse Substanz des Bibelepos heraus.54 Letztlich spricht auch er Klopstocks Hexameterdichtung die epische Form ab: »Im ›Messias‹ handelt es sich, trotz der apokalyptischen Requisiten und Inszenierungen, nicht eigentlich um ein Erlösungsdrama, sondern um eine quasiliturgische, der poetischen Form nach lyrische Feier der Erlösung.«55 Die meisten Forschungsarbeiten befassen sich mit dem Verhältnis Klopstocks zur christlichen Offenbarungsreligion, d. h. mit dem biblischen Stoff seiner Werke, seiner dezidiert »heiligen Poesie«.56 Volker Riedels positive Bewertung des Messias als »das letzte große Epos der Weltliteratur« kann als absoluter Sonderfall gelten.57 In seiner einführenden Monographie über die Antikerezeption in der deutschen Literatur vom Renaissance-Humanismus bis zur Gegenwart (2000) betont er, dass Klopstock mit dem Messias, »dem ersten bedeutenden deutschen Epos«, »den Hexameter und den griechischen Sprachgestus in Deutschland heimisch [gemacht habe]«.58 Klaus Weimar behauptet hingegen sogar, dass der Messias nur als Epos bezeichnet werde, weil er in Hexameterversen verfasst sei: »Und auch die Bezeichnung ›religiöses Epos‹ ist ein charakteristischer Notbehelf in diesem Dilemma; denn der ›Messias‹ ist in Hexametern geschrieben, nicht weil er ein Epos ist, sondern er wird Epos genannt, weil er in Hexametern geschrieben 53 Franz Muncker: Friedrich Gottlieb Klopstock. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. Stuttgart 1888. S. 95. 54 Walter Sparn: »Der Messias«. Klopstocks protestantische Ilias. In: Protestantismus und deutsche Literatur. Hrsg. v. Jan Rohls und Gunther Wenz. Göttingen 2004. (Münchener Theologische Forschungen; 2.) S. 55–80. 55 Ebd., S. 76. 56 Vgl. hierzu vor allem folgende Forschungsarbeiten: Max Freivogel: Klopstock der heilige Dichter. Bern 1954. (Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur ; 15.) – August E. Hohler : Das Heilige in der Dichtung. Klopstock. Der junge Goethe. Zürich 1954. (Zürcher Beiträge zur deutschen Literatur- und Geistesgeschichte; 10.) – Reinhold Grimm: Christliches Epos – ? In: [Ders.:] Strukturen. Essays zur deutschen Literatur. Göttingen 1963. S. 95– 122. – Gerhard Kaiser : Klopstock. Religion und Dichtung. Gütersloh 1963. (Studien zu Religion, Geschichte und Geisteswissenschaft; 1.) – Jörn Dräger : Typologie und Emblematik in Klopstocks »Messias«. Diss. Göttingen 1971. – Dieter Gutzen: Poesie der Bibel. Beobachtungen zu ihrer Entdeckung und ihrer Interpretation im 18. Jahrhundert. Diss. Bonn 1972. – Hans-Ulrich Rülke: Gottesbild und Poetik bei Klopstock. Diss. Konstanz 1991. – Joachim Jacob: Heilige Poesie. Zu einem literarischen Modell bei Pyra, Klopstock und Wieland. Tübingen 1997. (Studien zur deutschen Literatur ; 144.) – Bernd Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion. Göttingen 2006. (Palaestra. Untersuchungen aus der deutschen und skandinavischen Philologie; 323.) 57 Volker Riedel: Antikerezeption in der deutschen Literatur vom Renaissance-Humanismus bis zur Gegenwart. Eine Einführung. Stuttgart / Weimar 2000. S. 113. 58 Ebd., S. 132.

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ist.«59 Es müsse »als eher zufällig betrachtet werden«, dass der Messias »wie ein traditionelles Epos [aussehe]«.60 »Wichtiger und angemessener«, so Weimar, sei »die Frage nach dem problematischen Beieinander von Religion und Dichtung«.61 Die germanistische Forschung schloss sich in ihren Arbeiten demnach bislang dem Diktum Johann Gottfried Herders an, der in seinem fiktiven Gespräch zwischen einem Rabbi und einem Christen über Klopstocks Meßias (1767) den Christen ausrufen ließ: »[A]lles, alles ist bei K. in Theilen schön, sehr schön, nur im Ganzen nicht der rechte Epische Geist«.62 Dieter Martin ordnet den Messias in seiner Studie Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert (1993)63 zwar richtigerweise der Gattung Epos zu, allerdings beurteilt er Klopstocks Werk streng nach klassizistischen Maßstäben und bezeichnet so den »Episodenreichtum« und die »Handlungsarmut« als »Probleme des ›Messias‹«64. In der vorliegenden Untersuchung wird Der Messias Klopstocks als »seraphische Hexameterdichtung« bezeichnet und damit als ein poetisches Werk angesehen, in dem die antike Eposform mit dem biblischen Inhalt verschmilzt und so eine unauflösliche Einheit bildet. Der Messias-Dichter verstand sein literarisches Lebenswerk definitiv als der Gattung Heldengedicht zugehörig. Auch wenn Autor und Werk laut dem Diktum Munckers »uns längst fremd, zum Teil sogar ungenießbar und unverständlich geworden [sind]«65 und sich der heutige Germanist vor die Aufgabe gestellt sieht, sich auch in die christliche Theologie einzuarbeiten, so sollte es dennoch keinesfalls so sein, dass Der Messias Klopstocks – wenn überhaupt – nur in Fragmenten wahrgenommen wird. Völlig verfehlt scheint mir hier die Aussage von Frauke Berndt zu sein, »dass man das Epos nicht lesen [könne], sondern es durchblättern [müsse]«.66 Katrin Kohl hat in ihrer Metzler-Monographie über Friedrich Gottlieb Klopstock (2000) resümiert, dass die bisher erschienenen Studien zwar »das Verständnis für Klopstocks Werk und Wirkung« vertieft hätten, offensichtlich sei es ihnen aber nicht gelungen, sein »Bild in der Literaturgeschichte zu ver-

59 Klaus Weimar : Theologische Metrik. Überlegungen zu Klopstocks Arbeit am ›Messias‹. In: Hölderlin-Jahrbuch 16 (1969/70). S. 142–157, hier S. 143. 60 Ebd., S. 144. 61 Ebd. 62 Johann Gottfried Herder : Gespräch zwischen einem Rabbi und einem Christen über Klopstocks Meßias. In: [Ders.:] Sämtliche Werke. Band I. Hrsg. v. Bernhard Suphan. Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Berlin 1877. Hildesheim 1967. S. 277–284, hier S. 284. 63 Dieter Martin: Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert. Studien und kommentierte Gattungsbibliographie. Berlin / New York 1993. (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker ; N. F. 103.) S. 85–139. 64 Ebd., S. 114 (Kap. III 2). 65 Muncker : Friedrich Gottlieb Klopstock, S. III (Vorrede). 66 Frauke Berndt: Poema / Gedicht. Die epistemische Konfiguration der Literatur um 1750. Berlin / Boston 2011. (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung; 43.) S. 280.

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ändern« und »weiterführende Neuansätze« zu bringen.67 Im Tagungsband Wort und Schrift – Das Werk Friedrich Gottlieb Klopstocks (2008) betonen Kevin Hilliard und Katrin Kohl die Sonderstellung des Autors innerhalb der zeitgenössischen theologischen, philosophischen, kulturpolitischen und literarischen Debatten: »Klopstock fügt sich in keinen Mainstream und bildet insofern eine bleibende Herausforderung für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts.«68 Hilliard hat in seiner Dissertation Philosophy, Letters, and the Fine Arts in Klopstock’s Thought (1987) den Einfluss der klassischen Rhetoriktheorie und der humanistischen Tradition auf Klopstocks poetisches und poetologisches Werk herausgearbeitet: »[T]he distinguishing feature of Klopstock’s poetics is its strong rhetorical orientation […]. […] Klopstock’s thought represented an extreme possibility, a non plus ultra in the assimilation of poetics to rhetoric, and of poetry to oratory.«69 Er beurteilt den Messias als »a work which, as the product of Christian piety and classically inspired eloquence […], was the very epitome of the ideals of Christian humanism«.70 Kohl schließt sich in ihren KlopstockStudien71 der Untersuchung Hilliards an und beteuert daher : »Von der Rhetorik her lässt sich Klopstocks gesamtes Denken begreifen.«72 Hierzu muss allerdings mit Bezug auf die neueste Rhetorik-Forschung betont werden73, dass der Messias-Dichter in seinen wirkungspoetologischen und poetischen Schriften gewisse rhetorische Elemente aufgreift, die normative Schul- und klassische Systemrhetorik jedoch stets rigoros ablehnt. Kohl hat in ihrer Monographie über Klopstock bereits darauf aufmerksam gemacht, dass die »Fortsetzung der agonalen Dynamik« im 18. Jahrhundert »durch die Literaturgeschichtsschreibung ausgeblendet [werde]«.74 Bernd Auerochs erklärt in seiner Studie Die Entstehung der Kunstreligion: In der Wirkungs- und Interpretationsgeschichte des Messias ist der Wettstreit mit der epischen Tradition freilich bislang eher unterbelichtet geblieben. Das Doppelverhält67 Katrin Kohl: Friedrich Gottlieb Klopstock. Stuttgart / Weimar 2000. (Sammlung Metzler; 325.) S. 5. Zur bisherigen Klopstock-Forschung und dem Dilemma, den Autor innerhalb der deutschen Literaturgeschichte richtig einzuordnen: Vgl. ebd., S. 1–11. 68 Kevin Hilliard / Katrin Kohl: Einleitung. In: Wort und Schrift – Das Werk Friedrich Gottlieb Klopstocks. Hrsg. v. Kevin Hilliard und Katrin Kohl. Tübingen 2008. (Hallesche Forschungen; 27.) S. 1–5, hier S. 5. 69 Kevin Hilliard: Philosophy, Letters, and the Fine Arts in Klopstock’s Thought. London 1987. (Bithell Series of Dissertations; 12.) S. 187. 70 Ebd., S. 20. 71 Vgl. Katrin M. Kohl: Rhetoric, the Bible, and the Origins of Free Verse. The Early »Hymns« of Friedrich Gottlieb Klopstock. Berlin / New York 1990. (Quellen und Forschungen zur Sprachund Kulturgeschichte der germanischen Völker ; N. F. 92.) 72 Kohl: Friedrich Gottlieb Klopstock, S. 15. 73 Vgl. Dietmar Till: Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2004. (Frühe Neuzeit; 91.) 74 Kohl: Friedrich Gottlieb Klopstock, S. 3.

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nis, das für die aemulatio charakteristisch ist – eine klare strukturelle oder inhaltliche Bezugnahme auf die epische Tradition, die mit einer ebenso klaren kritischen Absetzung von ihr einhergeht – wurde vor allem deshalb nicht gesehen, weil schon früh einseitig die Differenz des Messias zum klassischen Epos betont wurde.75

Der literarische Wettkampf mit der Antike sei ziemlich unauffällig in den Messias integriert.76 Die vorliegende germanistische Studie möchte diesen Neuansatz in der Betrachtung von Klopstocks Bibelepos weiterverfolgen. Es zeigt sich allerdings bereits hier, dass der Gedanke der ›aemulatio‹, des Wettstreits mit den antiken Vorbildern, für die Gattung Epos mit biblischem Stoff konstitutiv ist. Kartschoke schreibt nämlich in seiner Studie über den eigentlichen Begründer der Gattung Bibelepik bzw. Bibeldichtung: Juvencus tritt mit dem expliziten Anspruch auf, die antike Dichtung übertreffen zu können mit ihren eigenen Mitteln, das Epos Homers und Vergils und damit den heidnischen Mythos abzulösen durch die christliche Mythologie in der konkurrierenden Gestalt des Bibelepos. Er tritt auf im Besitz der Wahrheit, in der Sicherheit des Glaubens und mit der Überzeugung einer so garantierten Überlegenheit über Vorgänger und Vorbilder, als Fortsetzer einer poetischen Tradition, die bruchlos in neue Bahnen gelenkt werden soll.77

Klopstocks Messias reiht sich demnach in eine lange Tradition ein, die von der Spätantike über den Renaissance-Humanismus bis ins 18. Jahrhundert reicht. In der kontroversen Ependiskussion des 18. Jahrhunderts ging es um die Erneuerung der antiken Gattung. Nannte man das Heldengedicht im 17. Jahrhundert noch »carmen heroicum«78, so bezeichnete man es bereits Mitte des 18. Jahrhunderts als »Epopee«79, d. h., man orientierte sich am altgriechischen Begriff 5por (8pos; lat. epos; frz. 8pop8e; ital. poema Hpico).80 75 76 77 78

Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion, S. 209. Vgl. ebd., S. 213. Kartschoke: Bibeldichtung, S. 32f. Vgl. Ernst Rohmer : Das epische Projekt. Poetik und Funktion des ›carmen heroicum‹ in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts. Heidelberg 1998. (Beihefte zum Euphorion; 30.) 79 Vgl. [Anonym:] [Art.] Helden-Gedichte oder Epopee. In: Johann Heinrich Zedler : Grosses vollständiges Universal-Lexikon. Band 12. [Photomechanischer Nachdruck der Ausgabe Halle und Leipzig 1735.] Graz 1982. Sp. 1217–1223. 80 Vgl. zur Definition, Theorie und Geschichte der literarischen Gattung Epos: Rainer Schönhaar : [Art.] Epos. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. v. Gert Ueding. Bd. 2. Tübingen 1994. Sp. 1327–1347. – Julius Wiegand: [Art.] Epos. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Begründet von Paul Merker und Wolfgang Stammler. Hrsg. v. Werner Kohlschmidt und Wolfgang Mohr. 1. Bd. 2. Aufl. Berlin 1958. S. 381–393. – Gesa von Essen: [Art.] Epos. In: Handbuch der literarischen Gattungen. Hrsg. v. Dieter Lamping in Zusammenarbeit mit Sandra Poppe, Sascha Seiler und Frank Zipfel. Stuttgart 2009. S. 204– 220. – Anselm Maler : Versepos. In: Hansers Sozialgeschichte der deutschen Literatur vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Bd. 3: Deutsche Aufklärung bis zur Französischen Revolution 1680–1789. Hrsg. v. Rolf Grimminger. München / Wien 1980. S. 365–422, 879–883.

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Die vorliegende Untersuchung versteht sich einerseits als Beitrag zur historisierenden Klopstock-Forschung, d. h., es wird versucht, den Messias in die öffentlichen Debatten und Diskursfelder des 18. Jahrhunderts einzubetten. Im ersten Kapitel wird daher der sogenannte ›Literaturstreit‹ ab den 1740er Jahren behandelt. Das zweite Kapitel befasst sich mit den antiken und neuzeitlichen epischen Musterautoren und deren Bedeutung im 18. Jahrhundert. Andererseits wird diese Monographie aber auch als streng quellenphilologische und werkimmanente Arbeit aufgefasst, die im dritten Kapitel Klopstocks ›Programmschrift‹ über die Gattung Epos, die Declamatio, qua poetas epopoeiae auctores (1745), und im umfassenden vierten Großkapitel Klopstocks Wettstreit mit der epischen Tradition in seinem Messias detailliert analysiert.81 In der deutschen Literaturwissenschaft soll ein neues Verständnis für die Bibelepen des 18. Jahrhunderts geweckt werden, da diese bislang entweder gar nicht beachtet oder nur ästhetisch abgewertet wurden. Schon Herzog hatte in seiner Studie über die spätantike lateinische Bibelepik betont, dass er sich »einer verschmähten Gattung« widme82, denn die Bibeldichtung sei in der bisherigen Forschung »oft kaum zur Kenntnis genommen und durchgehend abgelehnt« worden83. Das fünfte Kapitel beschäftigt sich daher mit den Nachahmern Klopstocks, die sich in produktiver Rezeption mit dem Messias auseinandersetzten: Johann Jacob Bodmer mit seiner gelehrten Patriarchade Der Noah (1752), Christoph Martin Wieland mit seinem märchenhaften Bibelepos Der gepryfte Abraham (1753) und Salomon Gessner mit seinem idyllischen Prosaepos Der Tod Abels (1758). Muncker qualifiziert die Nachahmer von Klopstocks Messias in seinen germanistischen Forschungsarbeiten stets entschieden ab. Er behauptet, dass der literarische Wert dieser Bibelepen der Aufklärung oft sehr gering und ihre Menge unübersehbar sei: Bodmer, zuerst von der poetischen Seuche ergriffen, schrieb eine Reihe patriarchalischer Epen, meist über Begebenheiten aus dem Leben Noahs und der jüdischen Erzväter. Er war ohne Zweifel einer der bessern Schweizer Dichter ; gleichwohl zeigt gerade der Vergleich seiner Werke mit Klopstocks Messias, wie unendlich hoch dieser in jeder Hinsicht über allen Versuchen seiner Nachahmer stand. Der Beifall jedoch, den Bodmer bei den Schweizer Kunstrichtern fand, spornte in allen Orten Deutschlands 81 Die Edition des Bibelepos in der historisch-kritischen Hamburger Klopstock-Ausgabe (HKA) macht alle überlieferten Fassungen des Messias leicht zugänglich. Zitiert wird in der vorliegenden Untersuchung – wenn nicht anders angegeben – nach der Ausgabe »des letzten Fingers« von 1799/1800, wie sie in der Abteilung Werke, Textband IV 1 und 2 vorliegt. Der Gesang wird durch eine römische Zahl (I–XX), der Vers durch eine arabische Zahl (1ff.) zitiert. 82 Herzog: Die Bibelepik der lateinischen Spätantike, S. LXXVIII. 83 Ebd., S. LX.

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ruhmsüchtige Köpfe zu Heldengedichten von endloser Ausdehnung über die unfruchtbarsten Stoffe an. Bisweilen griff der Poet nur einen einzigen Vers der Bibel heraus, um auf dieser Grundlage die abenteuerlichsten Erdichtungen einer ausschweifenden, aber durchaus unkünstlerischen Phantasie aufzubauen. Die Form war den Verfassern wo möglich noch gleichgültiger als der Inhalt. Bilderreicher Schwulst und Dunkelheit des Ausdrucks genügte ihnen, um die Sprache poetisch zu gestalten. Ein in seinem eigenthümlichen Wesen keineswegs erfaßter, schwerfälliger, alles Rhythmus baarer Hexameter, der oft selbst die einfachsten Regeln der Metrik unablässig verletzte, dünkte ihnen um so vorzüglicher, weil er die Freiheit ihrer Rede absolut nicht beschränkte, weil er sich eben nur scheinbar von der Prosa unterschied.84

Eine derartige Abwertung der Heldengedichte mit biblischem Stoff, die Muncker rigoros als »gehalt- und formlose[.] Producte«85 bezeichnete, hat vermutlich auch dazu geführt, dass bis heute Einzeluntersuchungen von Werken wie Christian Nicolaus Naumanns Nimrod (1752), Johann Friedrich Camerers Hexe zu Endor (1753)86 oder Georg Geßners Ruth oder Die gekrönte häusliche Tugend (1795) nicht existieren. Die vorliegende Studie kann dieses Desiderat der Forschung zwar nicht völlig beseitigen, aber sie versucht, das Interesse sowohl der Literaturwissenschaft als auch anderer Disziplinen wie der Theologie oder der Allgemeinen Rhetorik für die Bibelepen des 18. Jahrhunderts zu wecken.

84 Franz Muncker : Lessings persönliches und literarisches Verhältnis zu Klopstock. Frankfurt a. M. 1880. S. 34. 85 Ebd., S. 35. 86 Burkhard Moennighoff führt in seiner Studie über die scherzhaften Epen des 18. Jahrhunderts zwar Camerers »Hexe von Endor« namentlich als Beispiel an, aber er analysiert es nicht. (Vgl. Burkhard Moennighoff: Intertextualität im scherzhaften Epos des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1991. (Palaestra. Untersuchungen aus der deutschen, englischen und skandinavischen Philologie; 293.) S. 57 und S. 161.)

1.

Der sogenannte ›Literaturstreit‹ ab den 1740er Jahren

In den älteren germanistischen Forschungsarbeiten wurde der sogenannte ›Literaturstreit‹ zwischen Johann Christoph Gottsched (1700–1766) und den Schweizern Johann Jacob Bodmer (1698–1783) und Johann Jacob Breitinger (1701–1776) stets als ein rein ästhetisches Phänomen gedeutet und folglich wurden nur die Diskrepanzen und Gemeinsamkeiten der poetologischen Theorien der einzelnen Kontrahenten herausgearbeitet.1 In Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst (1729 erstmals erschienen, datiert auf 1730; 4. Aufl. 1751) liegt eine rationalistische Regel- und systematische Gattungspoetik vor, die sich am französischen Klassizismus orientierte. Die Züricher Bodmer und Breitinger hingegen schufen in ihren vielen kritischen Werken – darunter Breitingers Critische Dichtkunst (1740) – eine pathetisch-erhabene Affektpoetik. Sie integrierten in ihre poetologische Theorie der ›Herzrührung‹ gezielt ausgewählte rhetorische Elemente, so dass man hier von einer »Affektrhetorik mit […] psychologische[m] Ausdruckskonzept« sprechen kann.2 Die poetologi1 Vgl. den Forschungsüberblick von Hans Otto Horch und Georg-Michael Schulz in: Das Wunderbare und die Poetik der Frühaufklärung. Gottsched und die Schweizer. Darmstadt 1988. (Erträge der Forschung; CCLXII.) – Vgl. dazu: Angelika Wetterer : Publikumsbezug und Wahrheitsanspruch. Der Widerspruch zwischen rhetorischem Ansatz und philosophischem Anspruch bei Gottsched und den Schweizern. Tübingen 1981. (Studien zur deutschen Literatur ; 68.) – Hans Peter Herrmann: Naturnachahmung und Einbildungskraft. Zur Entwicklung der deutschen Poetik von 1670 bis 1740. Bad Homburg v. d. H. / Berlin / Zürich 1970. (Ars poetica: Studien; 8.) – Karl-Heinz Stahl: Das Wunderbare als Problem und Gegenstand der deutschen Poetik des 17. und 18. Jahrhunderts. Frankfurt a. M. 1975. Jochen Schmidt bezeichnet den ›Literaturstreit‹ als »die größte ästhetische Diskussion des 18. Jahrhunderts, die zu einer teilweisen grotesken Literaturfehde zwischen den Anhängern Gottscheds und denjenigen Bodmers und Breitingers gedieh«. (Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750– 1945. Band 1: Von der Aufklärung bis zum Idealismus. Dritte, verbesserte Aufl. Heidelberg 2004. (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte; 210.) S. 49.) 2 Carsten Zelle: ›Vernünftige Gedanken von der Beredsamkeit‹ – Bodmers und Breitingers ästhetische Schriften und Literaturkritik. In: Anett Lütteken / Barbara Mahlmann-Bauer (Hrsg.): Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. Göttingen 2009. (Das achtzehnte Jahrhundert: Supplementa; 16.) S. 25–41, hier S. 29. Vgl. hierzu: Dietmar

24

Der sogenannte ›Literaturstreit‹ ab den 1740er Jahren

schen Reformprogramme Gottscheds und Bodmer/Breitingers stellen allerdings keine in sich geschlossenen Systeme dar, sondern sie weisen auch durchaus Widersprüche in der jeweiligen Argumentation auf. Neuere Untersuchungen der Literaturwissenschaft haben deutlich gemacht, dass der ›Literaturstreit‹, der im Allgemeinen auf die Jahre 1740 bis ca. 1760 datiert wird3, als ein literarhistorisches Phänomen mit theologischen, philosophischen, sprachwissenschaftlichen und geographisch-kulturellen Implikationen anzusehen ist.4 In diesem Kapitel soll daher zunächst auf den sprachgeographischen Aspekt der deutsch-schweizerischen Auseinandersetzungen eingegangen werden, der laut Gottsched einer der Auslöser der literarischen Fehde war (1). Anschließend wird in chronologischer Reihenfolge Bodmers intensive Rezeption von John Miltons Paradise Lost thematisiert (2). Das englische Bibelepos und dessen deutsche Übersetzung waren der zentrale Gegenstand der zahlreichen Streitschriften Mitte des 18. Jahrhunderts. Mit dem Auftreten Friedrich Gottlieb Klopstocks und dessen biblischem Heldengedicht Der Messias verstärkten sich vor allem die theologischen Diskussionen rund um die Gattung Epos. In einem weiteren Schritt sollen demnach die religiösen Implikationen der Streitigkeiten der gegnerischen Lager untersucht werden (3). In der letzten Phase des ›Literaturstreits‹ trat quasi eine dritte Partei auf, die sich sowohl den Gottschedianern als auch dem Bodmer/Breitinger-Kreis entgegenTill: Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2004. (Frühe Neuzeit; 91.) S. 394–432 (Kap.: Psychologische Begründung statt rhetorischer Tradition: ›Rhetorische‹ ›Anti-Rhetorik‹ bei Bodmer/ Breitinger). 3 Vgl. Gustav Waniek: Gottsched und die deutsche Litteratur seiner Zeit. Leipzig 1897. Gustav Waniek nimmt in seiner Monographie über Gottsched und die deutsche Litteratur seiner Zeit mehrere Phasen des ›Literaturstreits‹ an: 1.) Beginn 1738–1740 (Kap. XII, ebd., S. 357–381); 2.) Zweite Periode des Litteraturstreites 1741 bis 1745 (Kap. XIV, ebd., S. 432–480); 3.) Dritte Periode des Litteraturstreites 1745 bis 1750 (Kap. XVI, ebd., S. 511–540); 4.) Der neologische Krieg. Schönaich und Lessing 1750–1756 (Kap. XVIII, ebd., S. 567–611). 4 Vgl. Jürgen Wilke: Der deutsch-schweizerische Literaturstreit. In: Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanisten-Kongresses Göttingen 1985. Hrsg. v. Albrecht Schöne. Band 2: Formen und Formgeschichte des Streitens. Der Literaturstreit. Hrsg. v. Franz Josef Worstbrock und Helmut Koopmann. Tübingen 1986. S. 140–151. Jürgen Wilke betrachtet den »deutsch-schweizerischen Literaturstreit« »erstens als literarisches, zweitens als soziales und drittens als publizistisches Phänomen« (ebd., S. 141). – Vgl. Detlef Döring: Der Literaturstreit zwischen Leipzig und Zürich in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Neue Untersuchungen zu einem alten Thema. In: Anett Lütteken / Barbara Mahlmann-Bauer (Hrsg.): Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. Göttingen 2009. (Das achtzehnte Jahrhundert: Supplementa; 16.) S. 60–104. Detlef Döring beurteilt den »Literaturstreit« folgendermaßen: »Er ist nicht nur eine Kontroverse um literarische oder poetologische Fragen gewesen, sondern wurde angetrieben durch die Praktiken damaliger Streitkultur, durch die Auseinandersetzungen der unterschiedlich orientierten Richtungen der Aufklärungsphilosophie und durch kulturell-sprachliche Gegensätze zwischen den verschiedenen deutschsprachigen Landschaften.« (Ebd., S. 104.)

Der Streit um die deutsche Sprache

25

stellte. Auf diese neue literaturkritische Generation, die sich aus Gotthold Ephraim Lessing, Friedrich Nicolai und Moses Mendelssohn zusammensetzte, soll ebenfalls eingegangen werden (4). Zum Schluss kommen zeitgenössische Stimmen zu Wort, die den literarischen ›Federkrieg‹ und seine Folgen kommentierten (5).

1.1

Der Streit um die deutsche Sprache: Obersächsisch-Meißnische »Hochsprache« vs. schweizerdeutsche Mundart

Gottsched berichtet rückblickend, dass bereits im Jahre 1738 im fünften Band der Leipziger Beyträge zur critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit »ein kleiner Grund zu dem Unwillen geleget worden [sei]«, der sich schließlich zum sogenannten ›Literaturstreit‹ ausgeweitet habe.5 Der sächsische ›Kunstrichter‹ hatte im ersten Band der Critischen Beyträge (1732) eine Abhandlung Von der Schönheit der Deutschen Sprache in Absicht auf ihre Bedeutung veröffentlicht.6 Er lehnt darin ausdrücklich ins Deutsche übernommene Fremdwörter, dialektale Ausdrücke, Archaismen und Neologismen ab. Für ihn liegt die »Schönheit« und damit »Vollkommenheit« der deutschen Sprache in der »Klarheit«, »Deutlichkeit« und Allgemeinverständlichkeit.7 Gottsched stellt folgende Regeln für den deutschen Sprachgebrauch auf: Ein jedes einfaches Wort soll klar und verständlich seyn. Man soll im reden und schreiben allgemeine Wörter gebrauchen, die in ganz Deutschland bey denen, welche die Sprache verstehen, bekannt und gewöhnlich sind. Man soll in den Redensarten und Sätzen solche Wörter mit einander verbinden, die sich der Bedeutung nach zusammen schicken. Man soll daher alle Worte, deren Verstand ein verständiger Leser und Zuhörer nicht wissen kan; alle Redensarten, die nur in gewissen Provinzen gebräuchlich

5 Johann Christoph Gottsched: Fortgesetzte Nachricht von des Verfassers eignen Schriften, bis zum 1745sten Jahre (Leipzig, den 10. Hornung [Februar] 1762). In: Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. Hrsg. v. P. M. Mitchell. Fünfter Band, zweiter Teil: Erste Gründe der gesammten Weltweisheit (Praktischer Teil). Berlin / New York 1983. (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts; 108.) S. 3–66, hier S. 51f. 6 [Johann Christoph Gottsched:] II. Von der Schönheit der Deutschen Sprache in Absicht auf ihre Bedeutung. In: Beyträge zur Critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. Hrsg. v. einigen Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. [Erster Band.] Erstes Stück. Leipzig 1732. S. 55–69. 7 Ebd., insbes. S. 56 und S. 64. Gottsched missbilligt in seiner Abhandlung insbesondere Wörter, denen man »eine dunkle Bedeutung« beigelegt habe und solche, »welche bloß in einer gewissen Provinz Deutschlandes gebräuchlich [seien]«. (Ebd., S. 58f.)

26

Der sogenannte ›Literaturstreit‹ ab den 1740er Jahren

sind; alle Verknüpfungen der Wörter, die sich ihrer Bedeutung nach nicht zusammen schicken, auf das sorgfältigste vermeiden.8

Dem frühaufklärerischen Kritiker missfällt demnach nicht nur ein spätbarocker, ›schwülstiger‹ Sprachstil, sondern vor allem auch eine Verwendung von diversen Mundarten in der deutschen Sprache. Gottsched hatte Bodmer in einem Brief vom 9. Mai 1738 darum gebeten, ihm »einige kleine prosaische Aufsätze« zu schicken, die im neuen, fünften Band der Critischen Beyträge publiziert werden sollten.9 Der Schweizer Gelehrte, der damals noch scheinbar hochachtungsvoll mit seinem späteren Kontrahenten korrespondierte, verfasste ebenfalls eine sprachwissenschaftliche Schrift, die unter dem Titel Anmerkung eines Ungenannten über die Unvollkommenheit der deutschen Sprache im 19. Stück der Leipziger Zeitschrift abgedruckt wurde.10 Er kritisiert darin scharf Gottscheds Beitrag von 1732. Der Leipziger Professor habe nicht die Besonderheiten der deutschen Sprache aufgezeigt und dadurch müsse diese ausländischen Zeitgenossen auswechselbar erscheinen: Alles, was der Verfasser der Beyträge von der Schönheit der deutschen Sprache vorbringet, beweiset nicht, was es beweisen soll, und kann dahero keinen Ausländer überzeugen. Denn auf diese Art, hat die deutsche Sprache nichts mehr als was andere Sprachen ebenfalls; und noch darzu in einem höhern Grade haben, denen also die deutsche noch immer nachstehen muß.11

Bodmer formuliert systematisch sechs Punkte, die seiner Meinung nach die deutsche Sprache auszeichnen: Man hätte zeigen sollen, daß 1. Die deutsche Sprache an Worten, welche die Grade der Leidenschaften, der unterschiedlichen Gattungen derer Gemüther, und Gemüthsarten, die Absätze der Kräfte des Verstandes, die Mannichfaltigkeit in den Sitten, und Lebensarten, die Ritualia & c. bestimmen, und bezeichnen, keinen Mangel leide. 2. Daß sie gelenkig und geschmeidig sey, so daß sie gegen die zierlichen Redensarten der am meisten ausgearbeiteten Sprachen keine Antipathie habe, sondern dieselbe gerne annehme, und sich eigen mache; jedoch ohne daß sie dadurch an ihrem ursprünglichen Wesen und an ihrer allbereit eingerichteten Verfassung und Oeconomie etwas verliere, oder in ihrer Natur gestöret werde. 8 Ebd., S. 68f. 9 Brief von Gottsched an Bodmer vom 9. Mai 1738. In: Briefwechsel Gottscheds mit Bodmer und Breitinger. Nach den Originalen der Züricher Stadtbibliothek und der Leipziger Universitätsbibliothek hrsg. v. Eugen Wolff. In: Zeitschrift für den deutschen Unterricht 11 (1897). S. 353–381, hier S. 369f. (Zitat: S. 370). 10 [Johann Jacob Bodmer :] VII. Anmerkung eines Ungenannten über die Unvollkommenheit der deutschen Sprache. In: Beyträge zur Critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. Hrsg. v. einigen Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. [5. Band.] 19. Stück. Leipzig 1738. S. 428–434. 11 Ebd., S. 432.

Der Streit um die deutsche Sprache

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3. Daß der Mangel, den sie an Participiis leidet, ihrer Schönheit nichts benehme, sie nicht blöde, seicht und waschhaft mache. 4. Daß sie einen nachdrücklichen, viel auf sich habenden Gedanken, eben so kurz vorstellen könne, als die englische, französische, oder italienische. 5. Daß sie Vortheile habe, welche in allen andern Sprachen fehlen, oder doch in wenigen gefunden werden. 6. Daß sie sich für den alexandrinischen Vers schicke, und zu dem Abschnitte, der darinnen erfordert wird, ungeachtet der vielsylbigen Wörter, Beywörter und Nennwörter fähig, und bequem sey.12

Der Züricher Gelehrte geht demnach davon aus, dass die deutsche Sprache mit den anderen europäischen Sprachen konkurriert. Er wertet dezidiert die französische Sprache als Ausdruck der höfischen Kultur ab. Die englische Sprache wird hingegen als die derzeit beste gelobt, d. h., die deutsche Sprache nimmt in der von Bodmer aufgestellten Rangordnung den zweiten Platz ein. Er charakterisiert die Engländer in seinem Beitrag als eine Nation, die für alles Neue – auch in der Sprache – offen sei: Eine neue verwegene, jedoch mit Verstand angebrachte Redensart erwecket bey ihnen kein Aergerniß; sondern vielmehr Beyfall und Hochachtung. Gleichwie sie ferner sich viel darauf einbilden, das [!] sie tiefsinnig sind, und eine sonst schwere Sache gleich einsehen: Also verzeihen sie eine Dunkelheit leicht, die sich wegen Kürze des Ausdrucks, oder der Kraft des Gedankens einschleicht. Darum ist ihre Sprache an Worten die kürzeste, an Verstand die völleste und reicheste, und in Ansehung anderer die dunkelste.13

Die von Bodmer hervorgehobene »Dunkelheit« (lat. ›obscuritas‹) der englischen Sprache wird dem von Gottsched geforderten rhetorischen Stilprinzip der »Klarheit« (lat. ›perspicuitas‹) der deutschen Sprache entgegengestellt. Schon Horaz empfiehlt dem Dichter in seiner Ars Poetica: »esto brevis, ut cito dicta j percipiant animi dociles teneantque fideles« (»sei kurz, damit deine Worte schnell der gelehrige Sinn erfaßt und treulich bewahrt«) (V. 335f.).14 Er verweist aber auch auf die Gefahr, dass das Stilprinzip der Kürze zur »Dunkelheit« des sprachlichen Ausdrucks führen könne: »brevis esse laboro, j obscurus fio« (»[i]ch strebe nach Knappheit – und werde dunkel«) (V. 25f.).15 Die Sprachkürze wird im 18. Jahrhundert für die Anhänger des Bodmer/Breitinger-

12 Ebd., S. 432f. 13 Ebd., S. 429f. 14 Quintus Horatius Flaccus: Ars Poetica / Die Dichtkunst. Lateinisch / Deutsch. Übersetzt und mit einem Nachwort hrsg. v. Eckart Schäfer. Bibliographisch ergänzte Ausgabe 1997. [Nachdr.] Stuttgart 2005. S. 24/25 (V. 335f.). 15 Ebd., S. 4/5 (V. 25f.).

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Der sogenannte ›Literaturstreit‹ ab den 1740er Jahren

Kreises und insbesondere für Klopstock ein unbedingt anzustrebendes Stilideal werden.16 Bodmer kritisiert in seinem Aufsatz in den Critischen Beyträgen, dass die deutschen Dichter viel zu sehr auf die äußere Form als auf den eigentlichen Inhalt achten würden: Die Reimarten, das Sylbenmaaß, die Rechtschreibung, der Klang, die Lage der Wörter, der Abschnitt, die Flüßigkeit oder Härte einer Redensart, so den Ohren ungewöhnlicher ist, als dem Verstande, eine Dunkelheit nach der Grammatik u. s. f. sind Sachen, auf welche sie mehr Fleiß und Mühe wenden, als auf alle das übrige: Gewisse Proben, daß sie sich nicht so wohl um den Kern, als um die Schale bekümmern!17

Die deutschen Dichter werden mit den vorbildlichen englischen hinsichtlich ihrer sprachlichen Ausdrucksstärke verglichen: Die Schönheit der Gedanken, und der Erfindung gilt bey ihnen [den Engländern; I. G.] unendlich mehr, als der Putz der Rede und der Klang der Sylben. Daher kömmt es, daß sie so wohl in dem Maaße ihrer Verse, als in ihrer Grammatik nichts von der Zärtlichkeit wissen, die bey den Deutschen, auch in den geringsten Kleinigkeiten, hervor blicket; und darüber sie die Materie selbst, und die Betrachtung des Gedankens verabsäumen. Ein Engelländer läßt die Zierlichkeit um den Gedanken fahren, und fragt nicht darnach, ob er hart rede, wenn er nur nachdrücklich redet.18

Bodmer fordert demnach von den deutschen Dichtern eine gewisse »Nachdrücklichkeit«, die er bislang nur in den englischen Werken zu finden glaubt. Gottsched reagierte auf diese Abhandlung Bodmers, indem er im fünften Band der Critischen Beyträge gleich im Anschluss eine Beantwortung des vorhergehenden Artikels, die Unvollkommenheit der deutschen Sprache betreffend abdruckte.19 Der Leipziger Kritiker, der sich als Repräsentant der deutschen Literatur verstand, fühlte sich offenbar von Bodmer und dessen Vorliebe für die englische Literatur stark angegriffen. Er schreibt demzufolge, dass es »unsrer deutschen Sprache gewiß ein leichtes seyn [werde]«, mit der englischen »um den Vorzug zu streiten«.20 Die englische Sprache wird bissig folgendermaßen beurteilt: 16 Vgl. Karl Ludwig Schneider : Klopstock und die Erneuerung der deutschen Dichtersprache im 18. Jahrhundert. Heidelberg 1960. S. 57–86 (Kap. IV: Das Stilprinzip der Kürze). 17 [Bodmer :] VII. Anmerkung eines Ungenannten über die Unvollkommenheit der deutschen Sprache. In: Beyträge zur Critischen Historie. [5. Band.] 19. Stück. Leipzig 1738. S. 428–434, hier S. 431f. 18 Ebd., S. 430. 19 [Johann Christoph Gottsched:] VIII. Beantwortung des vorhergehenden Artikels, die Unvollkommenheit der deutschen Sprache betreffend. In: Beyträge zur Critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. Hrsg. v. einigen Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. [5. Band.] 19. Stück. Leipzig 1738. S. 434–451. 20 Ebd., S. 439f.

Der Streit um die deutsche Sprache

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Ihre Verwegenheit und Frechheit in Ausdrückungen, ihre Dunkelheit und erzwungene Kürze, geben ihr gewiß keine Schönheit und Vollkommenheit, in so weit sie eine Sprache ist. Die guten Gedanken würden auch von ihrer Schönheit gewiß nichts verlohren haben, wenn sie richtiger und ohne grammatische Schnitzer wären ausgedrücket worden.21

Zudem habe der »Herr Prof. Bodmer« durch seine Übersetzung von Miltons Paradise Lost ins Deutsche bewiesen, »daß man nachdrückliche viel auf sich habende Gedanken eben so kurtz vorstellen könne, als es im Englischen immermehr möglich [sei]«.22 Gottsched behauptet von Johann Miltons Verlust des Paradieses, das 1732 von Bodmer publiziert worden war : Gewiß alle Kenner Miltons sind erstaunet, als sie diese Dollmetschung desselben gelesen haben. Denn wer hätte sichs eingebildet, daß dieses mit Gedanken so beschwerte Gedichte, dessen Ausdruck so körnigt, sinnreich, und tief ist, sich so nachdrücklich und vollständig Deutsch würde geben lassen!23

Der sächsische ›Kunstrichter‹ wehrt sich in seinem Aufsatz ausschweifend gegen eine Abwertung der zeitgenössischen deutschen Sprache und Literatur. Sein Urteil lautet: »In Wahrheit, wer nunmehr unsre Sprache noch matt, seicht, und plauderhaft nennen will, der verdient, daß man ihn damit auslachet.«24 Die öffentliche Diskussion um den Vorrang der deutschen Sprache und deren notwendiger Reform, um mit den anderen europäischen Sprachkulturen mithalten zu können, wurde von beiden Kontrahenten zunächst anonym ausgetragen. Auch nach diesen Streitartikeln in den Critischen Beyträgen korrespondierten Bodmer und Gottsched weiterhin miteinander. Damit war aber bereits im Jahre 1738 ein Auslöser für den späteren ›Literaturstreit‹ gegeben. Der sprachgeographische Aspekt spielte demnach eine wesentliche Rolle im ›Federkrieg‹, der in voller Stärke in den 1740er Jahren ausbrach. Die Standardisierung der deutschen Sprache und die Schaffung einer einheitlichen, hochdeutschen Schriftsprache vollzogen sich erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts.25 Die literarische Fehde zwischen Sachsen und der Schweiz war auch ein Streit um die Präzedenz der Mundarten:26 Gottsched hatte infolge seiner sprachreformatorischen Bemühungen das Obersächsisch-Meißnische zur Norm einer verfeinerten deutschen Sprache erhoben. Jeder andere Dialekt galt in den Augen 21 22 23 24 25

Ebd., S. 440. Ebd., S. 448. Ebd. Ebd. Vgl. hierzu: Katja Faulstich: Konzepte des Hochdeutschen. Der Sprachnormierungsdiskurs im 18. Jahrhundert. Berlin / New York 2008. (Studia Linguistica; 91.) 26 Vgl. Döring: Der Literaturstreit zwischen Leipzig und Zürich in der Mitte des 18. Jahrhunderts, S. 64–81.

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Der sogenannte ›Literaturstreit‹ ab den 1740er Jahren

der Leipziger als defizitär. Somit wurde auch das Schweizerdeutsche als »barbarisch« angesehen. Bodmer berichtet rückblickend in den Litterarischen Pamphleten von 1781: Die Schweiz hatte durch ihre Entfernung von dem deutschen Reiche noch so starke Ueberbleibsel von dem altschwäbischen Deutsch beybehalten, daß man ihre Mundart in Deutschland für ein barbarisches Geklaffe hielt.27

Gottsched wiederum schreibt in der Vorrede zur dritten Auflage seines Versuchs einer Critischen Dichtkunst von 1742, dass die Leipziger erst die »zürcherische Bergsprache« lernen müssten, um die kritischen Schriften der Schweizer überhaupt verstehen zu können.28 Die Obersachsen fühlten sich den ›primitiven‹ Schweizern an Verstand, Geist, Sprache, Kultur und Sitten weit überlegen.

1.2

Die Kontroverse über Miltons Paradise Lost: ›Einbildungskraft‹ vs. Vernunft

In den frühen 1730er Jahren herrschte zwischen dem Leipziger Gottsched und den Zürichern Bodmer und Breitinger noch ein Verhältnis, das auf Anerkennung und Höflichkeit basierte. Gemeinsam war den ›poetischen Kunstrichtern‹ der Kampf gegen den barocken Schwulst, das Bemühen um eine Ausbreitung des ›guten Geschmacks‹, die Einführung eines poetologischen und aufklärerischen Reformprogramms, die Verehrung für Martin Opitz und das Interesse für die mittelhochdeutschen Dichter. Einig waren sich die späteren Kontrahenten auch darin, dass das Epos in der Hierarchie der Gattungen an erster Stelle stand. Gottsched etwa bezeichnet die »Epopee« oder das »Heldengedicht« als »das rechte Hauptwerk und Meisterstück der ganzen Poesie«.29 Bodmer apostrophiert das Epos in seinem Lehrgedicht Character der Teutschen Gedichte 1734 ebenfalls enthusiastisch als »Meister-Stück der Poesie«30 und ruft die deutschen Dichter dazu auf, ›epische Originalgedichte‹ von internationalem Rang zu schaffen. Bereits Martin Opitz äußerte 1624 in seinem Buch von der Deutschen Poeterey den Wunsch nach einem deutschsprachigen Nationalepos. Er schreibt: »Ob aber bey vns Deutschen so bald jemand kommen möchte / der sich eines volkommenen Heroischen werckes vnterstehen werde / stehe ich sehr im zweifel / vnnd 27 [Johann Jacob Bodmer :] Litterarische Pamphlete. Aus der Schweiz. Nebst Briefen an Bodmern. Zürich 1781. S. 1. 28 Gottsched: CD 1751, S. XXI. 29 Gottsched: AW VI 2, S. 279. 30 Johann Jacob Bodmer : Character der Teutschen Gedichte. In: J.[ohann] J.[acob] Bodmer: Vier kritische Gedichte. [Hrsg. v. Jakob Baechtold.] Heilbronn 1883. (Deutsche Litteraturdenkmale des 18. Jahrhunderts; 12.) S. 3–38, hier S. 33, V. 858.

Die Kontroverse über Miltons Paradise Lost

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bin nur der gedancken / es sey leichtlicher zue wündschen als zue hoffen.«31 Gottsched konstatiert 1745 in einer Rezension in seiner Zeitschrift Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste: Man kann […] nicht leugnen, daß die Versuche und Anfänge zu Originalheldengedichten, die wir seit hundert Jahren zu sehen bekommen, sehr unglücklich ausgefallen, und also billig ins Vergessen gerathen: allein man kann sich die sichere Hoffnung machen, daß wir noch vor Ablauf dieses Jahrhunderts mehr als einen viel glücklichern epischen Dichter bekommen werden, als unsre Nachbarn selbst aufzuweisen haben.32

Die frühaufklärerischen ›Kunstrichter‹ waren sich demnach darin einig, dass es an der Zeit war, mustergültige deutsche Nationalepen zu schaffen, die in einen Wettstreit mit den europäischen Literaturen – also Frankreich, England und Italien – treten konnten. Im Zentrum des sogenannten ›Literaturstreits‹ stand von Anfang an das biblische Heldengedicht Paradise Lost (1667) von John Milton, das von dem englischen Kritiker Joseph Addison im Spectator 1712 in mehreren Essays lobpreisend rezensiert worden war. Die englische Moralische Wochenschrift The Spectator (1711–1712, 1714) von Joseph Addison und Richard Steele beeinflusste maßgeblich die von Bodmer und Breitinger herausgegebenen Discourse der Mahlern (1721–1723). Allerdings hatte Bodmer in Genf nur eine unvollständige französische Übersetzung des Spectator erworben (Le Spectateur, ou le Socrate moderne, 4. Aufl. Amsterdam 1714ff.), in der die Artikel mit den Milton-Rezensionen Addisons fehlten und mit der der Züricher Professor zunächst bis 1724 arbeitete. Bodmer beschäftigte sich seit den 1720er Jahren autodidaktisch mit der englischen Sprache und Literatur. Er hatte von seinem Freund, dem Trogener Arzt Laurenz Zellweger (1692–1764), ein damals schwer erhältliches englisches Exemplar von John Miltons Epos Paradise Lost geschenkt bekommen.33 Bodmer arbeitete mithilfe eines lateinisch-englischen Wörterbuches vom Herbst 1723 31 Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Studienausgabe. Mit dem Aristarch (1617) und den Opitzschen Vorreden zu seinen Teutschen Poemata (1624 und 1625) sowie der Vorrede zu seiner Übersetzung der Trojanerinnen (1625). Hrsg. v. Herbert Jaumann. [Nachdr.] Stuttgart 2006. S. 29f. 32 Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste. [Hrsg. v. Johann Christoph Gottsched.] Erster Band. 2. Stück. Leipzig 1745. S. 100. 33 Bodmer berichtet rückblickend: »Ich las Miltons verlohrenes Paradies vor englischen Prosaisten mittelst der einen Hülfe eines lateinisch-englischen Wörterbuches. Dr. Zellweger hatte mir die Herausgabe von Tomson in 128 geschenkt, das einzige Exemplar zwischen dem obern Rhein und der Reuße.« ([Johann Jacob Bodmer :] Persönliche Anekdoten [1777] / Mein poetisches Leben [1778]. Hrsg. v. Theodor Vetter. In: Zürcher Taschenbuch N. F. 15 (1892). S. 91–131, hier S. 126.) Die von Jacob Tonson herausgegebene Ausgabe des Paradise Lost erschien 1711 in London.

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Der sogenannte ›Literaturstreit‹ ab den 1740er Jahren

bis zum Frühjahr 1724 an einer Übersetzung dieses biblischen Heldengedichts.34 Er erzählt rückblickend 1777: »Die Neugier ein Werk von so wunderbarem Inhalt zu kennen, hatte sich meines gantzen Geistes bemächtiget.«35 Es gab zwar bereits eine deutsche Übersetzung von Miltons Paradise Lost, die von Ernst Gottlieb von Berge stammte und die 1682 unter dem Titel Das verlustigte Paradeiß erschienen war, doch der Schweizer Professor hielt diese für nicht gelungen: Das »Original« sei »darinnen ganz verfinstert; es war ein Gerippe alles Lebens, des Lichtes und der Farben, beraubet«.36 Er behauptet Folgendes von der ersten deutschen Übersetzung von Miltons Bibelepos: »Nur ein tiefsinniger Kopf hätte die Vorzüge der Grundschrift durch diese leere Gestalt hindurch entdeket.«37 Auch Gottsched hatte in einer Rezension des Verlustigten Paradieses von Ernst Gottlieb von Berge in den Beyträgen zur Critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit 1732 angemerkt, dass dem Leser »diese so angepriesene reimlose Poesie« sicherlich »auch ungereimt« vorkommen werde: »Der ehrliche Ubersetzer hat wohl eine gute Meynung gehabt, aber nicht Kräfte genug besessen seine Erfindung im Deutschen angenehm zu machen.«38 Der Leipziger Literaturpapst fällt folgendes Urteil: Die Wörter sind oft gewaltig verstümmelt, das Sylbenmaaß ist sehr rauh und unrein; die Wortfügung verworfen; die Zusammensetzung der einfachen Wörter sehr ungeschickt, verwegen und unmäßig. Mit einem Worte seine Sprache überhaupt ist so gezwungen und altväterisch, daß man ihn unmöglich mit Vergnügen lesen kan.39

34 Vgl. zu Bodmers Übersetzung von Miltons Epos: Wolfgang Bender : Johann Jacob Bodmer und Johann Miltons »Verlohrnes Paradies«. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 11 (1967). S. 225–267. – Daniela Kohler : Der Weg von Bodmers Milton-Übersetzung zu Klopstock und seiner neuen Ästhetik. In: Die Zürcher Aufklärung. Johann Jakob Bodmer (1698–1783) und sein Kreis. Hrsg. v. Anett Lütteken und Barbara Mahlmann-Bauer. In: Zürcher Taschenbuch auf das Jahr 2008 (N. F. 128). Zürich 2007. S. 441–461. – Wolfgang Bender: Nachwort. In: [Johann Jacob Bodmer:] Johann Miltons Episches Gedichte von dem Verlohrnen Paradiese. Faksimiledruck der Bodmerschen Übersetzung von 1742. Mit einem Nachwort von Wolfgang Bender. Stuttgart 1965. (Deutsche Neudrucke, Reihe Texte des 18. Jahrhunderts.) S. 3*–24*. 35 [Bodmer :] Persönliche Anekdoten [1777] / Mein poetisches Leben [1778], S. 103. 36 [Johann Jacob Bodmer :] Johann Miltons verlohrnes Paradies. Ein Episches Gedicht in zwölf Gesängen. Neu überarbeitet, und durchgehends mit Anmerkungen von dem Uebersezer und verschiednen andern Verfassern. 2 Bde. Zürich 1754. Erster Band, und vor diesem die critische Geschichte des Gedichtes. S. 33f. 37 Ebd., S. 34. 38 Johann Christoph Gottsched: [Rez.:] IV. Das verlustigte Paradeis, aus Johann Miltons, Zeit seiner Blindheit in Englischer Sprache abgefaßtem unvergleichlichen Gedichte, in unser gemein Deutsch übergetragen und verleget durch E. G. V. B. Zerbst 1682. In: Beyträge zur Critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. Hrsg. v. einigen Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. [Erster Band.] Erstes Stück. Leipzig 1732. S. 85–104, hier S. 99. 39 Ebd., S. 104.

Die Kontroverse über Miltons Paradise Lost

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Sowohl Bodmer als auch Gottsched lehnen demzufolge die Übersetzung Berges aufgrund des spätbarocken Stils ab. Bodmer hatte seine Prosaübersetzung von Miltons Epos bereits 1724 fertiggestellt, aber die strenge Zensur in Zürich verweigerte zunächst die Drucklegung. Er berichtet hierüber : »Als ich einige Fragmente davon den bestalten Censoren übergab, war die Schreibart ihnen böhmisch, der Inhalt Legende und Roman.«40 Erst 1732 konnte das Werk unter dem Titel Johann Miltons Verlust des Paradieses. Ein Helden-Gedicht. In ungebundener Rede übersetzet bei Marcus Rordorf in Zürich erscheinen. Bodmer übersandte bereits im Februar 1732 ein Exemplar seines »verlohrnen paradieses« an Gottsched.41 Der Leipziger Professor hob daraufhin in den Critischen Beyträgen die Übersetzungsleistung Bodmers hervor: So viel ist indessen wahr, daß wenn nach dem Geständniß der Engelländer, ihre Sprache selbst unter dem Milton eingesunken, und zu schwach gewesen, die erhabenen Gedanken seiner Seele in ihrer völligen Kraft vorzustellen; so hat in der That Herr Prof. Bodmer eine solche Stärke unsrer Sprache gewiesen, daß man sagen könnte, daß Milton durch diese Verdollmetschung noch mehr Kraft und Nachdruck gewonnen habe; als er in seiner Muttersprache besitzt.42

Gottsched beurteilte zwar Bodmers Werk in dieser scheinbar freundschaftlichen Rezension durchweg positiv, jedoch kritisierte er Miltons Bibelepos von Anfang an nach ästhetischen Gesichtspunkten. In einem Brief vom Oktober 1732 spricht Gottsched dann auch den Wunsch aus, Bodmers »versprochene[s] Werk zu [!] Vertheidigung des Miltons zu sehen«.43 Er gesteht, dass er »begierig« sei, »die Regeln zu wissen, nach welchen eine so regellose Einbildungskraft, als des Miltons seine war, entschuldiget werden kan«.44 Um seine Milton-Übersetzung von 1732 sprachlich an das ObersächsischMeißnische anzupassen, nutzte Bodmer die Hilfe des Leipzigers Johann Christoph Clauder, der die ›editio princeps‹ korrigierte bzw. redigierte.45 1742 erschien eine neue Ausgabe mit dem Titel Johann Miltons Episches Gedichte von dem Verlohrnen Paradiese. Bodmer versah diese Fassung mit einem kommen40 [Bodmer :] Persönliche Anekdoten [1777] / Mein poetisches Leben [1778], S. 103. 41 Vgl. den Brief von Bodmer an Gottsched vom 5. Februar 1732. In: Briefwechsel Gottscheds mit Bodmer und Breitinger, S. 353. 42 Johann Christoph Gottsched: [Rez.:] IX. Johann Miltons Verlust des Paradieses, ein HeldenGedicht in ungebundener Rede übersetzet. Zürich, gedruckt bey Marcus Rordorf, 1732. In: Beyträge zur Critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. Hrsg. v. einigen Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. [Erster Band.] Zweytes Stück. Leipzig 1732. S. 290–303, hier S. 291f. 43 Brief von Gottsched an Bodmer, 7. Oktober 1732. In: Briefwechsel Gottscheds mit Bodmer und Breitinger, S. 354. 44 Ebd. 45 Die Discourse der Mahlern wurden ebenfalls von den Schweizern sprachlich überarbeitet und erschienen 1746 neu unter dem Titel Die Mahler der Sitten.

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tierenden Fußnotenapparat, in dem er Miltons biblisches Heldengedicht gegen die Angriffe der französischen Klassizisten Voltaire (Essay sur la po8sie 8pique, 1728) und Constantin Magny (Dissertation critique sur le Paradis perdu, 1729) verteidigte. 1754 gab er erneut eine poetisch verbesserte Ausgabe seiner MiltonÜbersetzung heraus (Johann Miltons verlohrnes Paradies. Ein Episches Gedicht in zwölf Gesängen. Neu überarbeitet, und durchgehends mit Anmerkungen von dem Uebersezer und verschiednen andern Verfassern). Für diese Überarbeitung nutzte Bodmer die zweibändige Edition des Paradise Lost von Thomas Newton (1750). Den Anmerkungsapparat hatte Bodmer hierin erweitert und seiner Ausgabe eine Critische Geschichte des Verlohrnen Paradieses vorangestellt. Es erschienen in den Jahren 1759, 1769 und 1780 zudem noch drei weitere Ausgaben von Bodmers Übersetzung des englischen Bibelepos. Der Schweizer Literaturpapst Bodmer verstand sich bis an sein Lebensende als Propagator des Paradise Lost im deutschsprachigen Raum. In den 1740er Jahren veröffentlichten die Schweizer Bodmer und Breitinger eine kritische Schrift nach der anderen: 1740 erschien Bodmers Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie, die er zur »Rettung«46 von Miltons biblischem Heldengedicht ausgearbeitet hatte. Im selben Jahr kamen Breitingers zweibändige Critische Dichtkunst – das gemeinsame poetologische Hauptwerk der Schweizer – und seine detailreiche Critische Abhandlung von der Natur, den Absichten und dem Gebrauche der Gleichnisse heraus. Ein Jahr später, 1741, erschienen Bodmers Critische Betrachtungen über die poetischen Gemählde der Dichter. Gottsched hatte im Mai 1739 bereits die »Anfangsbogen sowohl von der Vertheidigung Miltons, als des Tractats von den Gleichnissen« erhalten und teilte den Schweizern mit, dass er »aus beyden viel Gutes zu [!] Beförderung des guten Geschmackes hoffe«.47 In den Critischen Beyträgen zog Gottsched dann allerdings 1740 erstmals gegen Bodmers Milton-Begeisterung öffentlich zu Felde:48 Der Leipziger Literaturpapst war der Meinung, dass ein wirklich mustergültiges Heldengedicht – wie die Ilias oder Aeneis – keinerlei Lobredner brauche. Das deutsche Lesepublikum sei trotz der Bemühungen der »Secte Addisons« – wie er 46 Bodmer bittet Gottsched in einem Brief Ende 1732: »Ich bitte diesen großen Poeten [Milton; I. G.] so lange nicht zu verurtheilen, biß ich die Rettung desselben werde ausgearbeitet haben.« (In: Briefwechsel Gottscheds mit Bodmer und Breitinger, S. 355.) 47 Brief von Gottsched an Bodmer, 2. Mai 1739. In: Briefwechsel Gottscheds mit Bodmer und Breitinger, S. 373f. 48 Johann Christoph Gottsched: [Rez.:] IV. Joh. Jacob Bodmers Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie, und dessen Verbindung mit dem Wahrscheinlichen; in einer Vertheidigung des Gedichtes Johann Miltons von dem verlohrnen Paradiese; der beygefüget ist: Joseph Addisons Abhandlung von den Schönheiten in demselben Gedichte. Zürich, verlegts Orell und Comp. 1740. In: Beyträge zur Critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. Hrsg. v. einigen Liebhabern der deutschen Litteratur. [6. Band.] 24. Stück. Leipzig 1740. S. 652–668.

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von nun an die Anhänger von Miltons Bibelepos nannte – gegenüber dem Verlohrnen Paradies »kaltsinnig« geblieben.49 Gottsched schlägt Bodmer vor, »ein Heldengedicht, von dem Kriege der alpinischen Riesen, wider den österreichischen Jupiter« zu singen: Da hätte er ja das Ungeheure und Gräßliche, das ihm im Milton so gefällt, anbringen, Berge auf Berge tragen, und den Himmel bestürmen können. Da hätte er die Fabeln in die Bibel, Cyclopen und Titanen unter die Schweizer, und die Teufel unter die Furien mengen können; um die Einbildungskraft seiner Leser recht in Erstaunen zu setzen.50

Der Leipziger Kritiker lehnte stets ausdrücklich die ›Ausgeburten der Einbildungskraft‹ Miltons ab. Das christliche Wunderbare war für ihn nicht mit der poetischen Kategorie einer rationalen Wahrscheinlichkeit zu vereinbaren. So behauptet Gottsched dann auch in seiner Rezension, dass im philosophierenden Deutschland inzwischen die »Vernunft […] sehr geläutert, der wilde Witz gebändiget, und die ausschweifende Phantasie in ihre gebührende Grenzen eingeschränket worden« sei und dass die »schwülstigen Dichter« verachtet werden würden.51 Demnach sehe man »in diesem Engländer den lohensteinischen und zieglerischen Schwulst, die ungeheure Einbildung, die hochtrabenden Ausdrückungen, und die unrichtige Urtheilskraft herrschen«.52 Gottsched wertete auch die pathetisch-erhabene Sprache im Paradise Lost ab, die für ihn nur einen Rückfall in den barocken Schwulst bedeutete. Er bemerkt daher, dass sich die Schreibart des Engländers Milton durch »Fehler[.] wider ihre [die englische; I. G.] Grammatik« und »Verkehrungen aller gewöhnlichen Wortfügungen, und in tausend andern sonst unerlaubten, und von keinem andern Poeten begangenen Schnitzer« auszeichne.53 Auch wenn Bodmers Übersetzung von Miltons englischem Bibelepos im Gegensatz zu den Discoursen der Mahlern »recht vortrefflich deutsch geschrieben« sei, »so folget es doch nicht, daß ein jeder deutscher Leser nicht was fremdes, rauhes und hartes in dem verlohrnen Paradiese finden, und sich daran stoßen sollte«.54 Der Leipziger Literaturpapst geht demnach wieder auf den sprachgeographischen Aspekt des ›Literaturstreits‹ ein. Er kritisiert den sprachlichen Stil in Bodmers deutscher Milton-Übersetzung und behauptet von der ›vernünftigen‹ Leserschaft des Verlohrnen Paradieses: »Ueber diesen Uebelklang sind hundert und hundert Leser so gar nicht weg, daß sie die Geduld haben könnten, ein ganz Buch hindurch ihren Ohren die Gewalt anzuthun; und daß sie, aus Begierde nach den 49 50 51 52 53 54

Ebd., S. 653f. Ebd., S. 660. Ebd., S. 661. Ebd., S. 662. Ebd., S. 663. Ebd., S. 664.

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Der sogenannte ›Literaturstreit‹ ab den 1740er Jahren

Sachen, eine neue Art deutsch zu reden, lernen sollten.«55 Gottsched berichtet zudem von den Erfahrungen, die er angeblich mit Lesungen aus Miltons Epos gemacht habe, und fühlt sich in seinem vernichtenden Urteil bestätigt: Ich habe die Probe gemacht, und ganze Stücke aus dem deutschen Milton, die mir von den besten zu seyn schienen, mit aller möglichen Lebhaftigkeit der Aussprache, Leuten vorgelesen, die sonst im Lesen der Poeten unverdrossen sind. Allein man hat theils an der seltsamen und widerlichen Art des deutschen Ausdruckes, der sonst in allen unsern Büchern unerhört ist, theils an den schrecklichen und wilden Gedanken des Poeten, gar bald einen Ekel bekommen, und mich aufhören geheißen.56

Der Leipziger Professor beschäftigt sich in seiner Rezension lediglich mit der Vorrede von Bodmers Milton-Apologie, auf den eigentlichen Inhalt der Critischen Abhandlung vom Wunderbaren geht er absichtlich gar nicht ein, da er »weder Zeit noch Lust« habe, ein ganzes Buch zu schreiben.57 Breitingers Critische Dichtkunst wurde in den Critischen Beyträgen der Gottschedianer ebenfalls inhaltlich nur kurz angezeigt: In diesem Buche sind einige Materien, die zur Dichtkunst überhaupt gehören, sehr weitläuftig, andre aber gar nicht berühret: dagegen sind einige Capitel eingeschaltet, die man hier gar nicht suchen würde; darinn ein paar unsrer berühmtesten Poeten angegriffen werden.58

Auch Bodmers Critische Betrachtungen über die poetischen Gemählde der Dichter werden in der literaturkritischen Zeitschrift Gottscheds 1741 ausschließlich kurz und ironisch folgendermaßen kommentiert: Wer des Herrn Professor Bodmers andere critische Schriften liebt, und sonst Zeit und Lust hat, von einem Capitel in der Poesie ein dickes Buch von 640 Seiten durchzulesen, der wird hier sein Vergnügen finden. […] Wenn man in Zürch fortfährt uns alle Capitel aus der Poetik mit so weitläuftigen Werken zu erläutern, so wird man künftig die ganze schweizerische Dichtkunst in etlichen Folianten auf Vorschuß drucken lassen müssen.59

Offensichtlich machte man sich in Leipzig über die umfangreichen und detailverliebten Abhandlungen Bodmers und Breitingers lustig. Zu diesem Zeitpunkt brach die literarische Fehde zwischen Gottsched (und seinen Schülern) und den 55 56 57 58

Ebd. Ebd., S. 664f. Ebd., S. 667. Beyträge zur Critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. Hrsg. v. einigen Liebhabern der deutschen Litteratur. [6. Band.] 24. Stück. Leipzig 1740. S. 680. (VI. Beitrag: Neue Sachen.) 59 Beyträge zur Critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. Hrsg. v. einigen Liebhabern der deutschen Litteratur. [7. Band.] 25. Stück. Leipzig 1741. S. 169. (IX. Beitrag: Nachricht von einigen neuen Schriften, die zu unsern Absichten gehören.)

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Schweizern Bodmer/Breitinger (und ihren Anhängern) erst richtig aus. Bodmer berichtet rückblickend 1754 über den anfänglich für ihn unbefriedigenden Verlauf des ›Literaturstreits‹ in den 1740er Jahren: Man habe »Hrn. Gottsched die Ehre bewiesen, ihn für Miltons grossen Widersacher zu halten«.60 Die strikte Ablehnung des Paradise Lost gelte allerdings nur für den »gemeinern Haufen«, denn es sei »nicht zu leugnen, daß nicht hier und da Männer seyn, welche [Miltons] Werk mit den Empfindungen und dem Geschmake lesen, wie die Engelländer thun«.61 Bodmer beklagt sich darüber, dass es bislang nur eine »sehr geringe[.] Anzahl« an deutschen Milton-Anhängern gebe, die allerdings »die besten Köpfe der Nation« seien und »durch alle Provinzen Deutschlandes« zerstreut wären.62 Der Schweizer Professor beschwert sich zudem, dass die ›Liebhaber‹ des Verlohrnen Paradieses entweder »von einer blöden Furchtsamkeit, oder einer gewissen Gemächlichkeit, und einem kleinen Mangel an Munterkeit« daran gehindert würden, sich öffentlich für das Bibelepos Miltons einzusetzen.63 Stattdessen würden sie ihre Bewunderung für das epische Werk »in aller Stille bey sich behalten, und seine bösen Feinde ungestraft rasen lassen«.64 Bodmer verweist letztlich auf eine Ausnahme innerhalb des Bodmer/ Breitinger-Kreises: Der sel. Conrector Pyra war zu seiner Zeit der einzige, der das Gedicht vollkommen zu schäzen gewußt, und seine Hochachtung desselben mit einem gewissen Feuer unerschroken und öfentlich an den Tag gelegt hat, wofür er viel elende Schmähungen hat einnehmen müssen, welche mehr Aergerniß hätten verursachen sollen, als würklich geschehen ist. Das Werk ward zwar von mehr andern hochgelobet, aber auf eine Art die verrathen hat, daß die Lobredner nur als Schulgelehrte lobeten; und sie wusten für ihr Lob schlecht genug Bescheid zu geben.65

Der im pietistischen Halle sitzende Immanuel Jacob Pyra (1715–1744) entpuppt sich für die Schweizer als der ideale Parteigänger. Zwischen den Jahren 1735 und 1737 entstand sein allegorisches Lehrgedicht Der Tempel der wahren Dichtkunst, das fünf Gesänge umfasst und aus über 1.000 reimlosen Alexandrinern besteht.66

60 [Bodmer :] Johann Miltons verlohrnes Paradies [1754]. Erster Band, und vor diesem die critische Geschichte des Gedichtes, S. 36. 61 Ebd. 62 Ebd. 63 Ebd. 64 Ebd. 65 Ebd. 66 Vgl. zu Pyra: Joachim Jacob: Heilige Poesie. Zu einem literarischen Modell bei Pyra, Klopstock und Wieland. Tübingen 1997. (Studien zur deutschen Literatur ; 144.) – Siehe die kurze Inhaltsangabe des Tempels der wahren Dichtkunst in: Immanuel Jakob Pyra / Samuel Gotthold Lange: Freundschaftliche Lieder. Heilbronn 1885. (Deutsche Litteraturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts; 22.) S. XXV–XXX.

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Der sogenannte ›Literaturstreit‹ ab den 1740er Jahren

Die »wahre[.] Poesie« ist für Pyra nur »die heilge Poesie«, die den »Tand verworfner Götzenfabeln« rigoros ablehnt.67 Im 5. Gesang heißt es panegyrisch von Milton: »Er hat die Poesie j Vom heydnischen Parnaß ins Paradies geführet.«68 Man kann den Tempel der wahren Dichtkunst definitiv als »eine ars poetica des Erhabenen« charakterisieren.69 Von Pyra sind eine fragmentarische Abhandlung Über das Erhabene und eine Übersetzung der ersten zehn Abschnitte von [Pseudo-]Longinus’ Traktat Vom Hohen überliefert, deren Entstehung auf den Zeitraum zwischen 1736 und 1738 datiert wird.70 Es wird angenommen, dass Pyra seine Übersetzung von [Pseudo-]Longinus’ antikem Traktat Per& hy´psus abbrach, nachdem Carl Heinrich Heineken 1737 die erste deutsche Übersetzung vorgelegt hatte. Pyra veröffentlichte 1743 seinen Erweis, daß die G*ttsch*dianische Sekte den Geschmack verderbe. Darin versteht er den ›Literaturstreit‹ als eine Fortsetzung des »letzten FederKriege[s]«71, der französischen Querelle des Anciens et des Modernes (1687–1694), also des »Streit[es] um die Vorrangstellung der Antike«72. Bekanntlich brach die Querelle am 27. Januar 1687 mit der Lesung von Charles Perraults Gedicht Le SiHcle de Louis le Grand in einer Sitzung der Acad8mie franÅaise aus, in dem Perrault die Überlegenheit der Modernisten

67 68 69 70 71 72

Vgl. hierzu: Jutta Heinz: Architektur des Erhabenen. Eine Besichtigung von Immanuel Pyras Tempel der wahren Dichtkunst. In: Dichtungstheorien der deutschen Frühaufklärung. Hrsg. v. Theodor Verweyen in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Kertscher. Tübingen 1995. (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung; 1.) S. 73–85. – Carsten Zelle: »Logik der Phantasie« – Der Beitrag von Immanuel Jacob Pyra zur Dichtungstheorie der Frühaufklärung. In: Dichtungstheorien der deutschen Frühaufklärung. Hrsg. v. Theodor Verweyen in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Kertscher. Tübingen 1995. (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung; 1.) S. 55–72. Immanuel Jakob Pyra: Der Tempel der Wahren Dichtkunst. In: Pyra / Lange: Freundschaftliche Lieder, S. 83–119, hier S. 83 (1. Gesang, V. 2), S. 86 (1. Gesang, V. 81) und S. 87 (1. Gesang, V. 106). Ebd., S. 115 (5. Gesang, V. 29f.). Heinz: Architektur des Erhabenen, S. 76. Vgl. zur Datierung: Immanuel Jacob Pyra: Über das Erhabene. Mit einer Einleitung und einem Anhang mit Briefen Bodmers, Langes und Pyras. Hrsg. v. Carsten Zelle. Frankfurt a. M. [u. a.] 1991. (Trouvaillen; 10.) S. 75–77. Ebd., S. 68. Peter K. Kapitza: Ein bürgerlicher Krieg in der gelehrten Welt. Zur Geschichte der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland. München 1981. S. 9. Vgl. zur Querelle des Anciens et des Modernes: Hans Robert Jauß: Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion in der ›Querelle des Anciens et des Modernes‹. In: Charles Perrault: ParallHle des Anciens et des Modernes en ce qui regarde les Arts et les Sciences. Mit einer einleitenden Abhandlung von H. R. Jauß und kunstgeschichtlichen Exkursen von M. Imdahl. München 1964. (Theorie und Geschichte der Literatur und der schönen Künste; 2.) S. 8–64. – Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche. Stuttgart / Weimar 1995. S. 74–103. – Antike und Moderne in der Literaturdiskussion des 18. Jahrhunderts. Hrsg. und eingeleitet von Werner Krauss und Hans Kortum. Berlin 1966.

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bzw. Progressisten gegenüber den Traditionalisten postulierte. Unmittelbarer Gegner von Charles Perrault (1628–1703) war der humanistische Antikenverehrer Nicolas Boileau-Despr8aux (1636–1711). Boileau hatte 1674 in seinen Œuvres diverses sowohl die Art po8tique, das Standardwerk der ›doctrine classique‹, als auch den Trait8 du Sublime, die französische Übersetzung des antiken Traktats von [Pseudo-]Longinus, veröffentlicht. Perrault versuchte in seinem vierbändigen Werk ParallHle des Anciens et des Modernes (1688–1697) die größere Vollkommenheit der Moderne in allen Künsten und Wissenschaften nachzuweisen. Unmittelbar darauf kam es in Frankreich zur Querelle d’HomHre (1714–1716): Anne Dacier (1654–1720) hatte 1699 bzw. 1711 eine französische Übersetzung der Ilias in Prosa veröffentlicht. Auf deren Grundlage verfertigte Antoine Houdar(t) de La Motte (1672–1731), der kein Griechisch verstand, eine auf zwölf Bücher stark gekürzte und frei übersetzte Versfassung der Ilias in Alexandrinern (1714) und proklamierte in einem beigegebenen Diskurs die Überlegenheit der modernen Zeiten hinsichtlich Vernunft, christlicher Religion und Sitten bzw. Moral gegenüber dem homerischen Zeitalter. Die Analogie zwischen der französischen Querelle und dem ›deutsch-schweizerischen Literaturstreit‹ besteht darin, dass dort über die angeblichen Fehler des antiken Epikers Homer und hier über die Fehler des neuzeitlichen biblischen Heldendichters Milton gestritten wurde.73 Wichtig ist in diesem Zusammenhang auch der Rekurs auf die Querelle du Merveilleux (1653–1674), in der es um die Legitimität und Superiorität der christlichen Mythologie ging.74 Die antiken Dichter galten hier den neuzeitlichen bzw. modernen Vertretern aufgrund ihrer ›heidnischen Mythologie‹ als unterlegen. Sowohl Gottsched als auch Bodmer und Breitinger nutzten in ihren Schriften die Argumente der Querelle des Anciens et des Modernes.75 Pyra bezeichnet die Anhänger Gottscheds als »Ertzg*ttsch*dianer« und apostrophiert sie als »eine Sekte«, als »Ketzer in der Poesie«, da sie »die Ver-

73 Hans Gerd Rötzer hat herausgearbeitet, dass es sich bei der Querelle des Anciens et des Modernes, in der es um den Vorzug der Alten oder Neueren geht, um ein wiederkehrendes Phänomen der Geistesgeschichte handelt. (Vgl. Hans Gerd Rötzer : Traditionalität und Modernität in der europäischen Literatur. Ein Überblick vom Attizismus-Asianismus-Streit bis zur »Querelle des Anciens et des Modernes«. Darmstadt 1979.) 74 Vgl. Dietmar Till: Das doppelte Erhabene. Eine Argumentationsfigur von der Antike bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Tübingen 2006. (Studien zur deutschen Literatur ; 175.) S. 224– 233. 75 Vgl. hierzu: Thomas Pago: Johann Christoph Gottsched und die Rezeption der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland. München 2003. – Lucas Marco Gisi: Querelen um die Wahrscheinlichkeit. Historischer Relativismus und »allgemeiner Wahn« als Argumente im Literaturstreit zwischen Zürchern und Leipzigern. In: Die Zürcher Aufklärung. Johann Jakob Bodmer (1698–1783) und sein Kreis. Hrsg. v. Anett Lütteken und Barbara MahlmannBauer. In: Zürcher Taschenbuch auf das Jahr 2008 (N. F. 128). Zürich 2007. S. 410–422.

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teidiger Miltons die Addissonische Sekte schelten« würden.76 Die »Sekte« des Leipziger Literaturpapstes würde »alle die vornemsten Gründe der Dichtkunst, welche die Vernunft und die Alten, so wohl in Ansehung der Erfindung, als der Schreibart, geleget, untergraben und verkehren«.77 Gottsched wird ironisch als »hochgeschätzter Perrault« bezeichnet.78 Pyra wirft der Leipziger Partei Folgendes vor: »Eure ganze Sache läuft dahin aus; G*ttsch*den zu erheben und Bodmern zu verkleinern, der nichtswürdigen prosaischen Reimerey das Wort zu reden; und die wahre Poesie im Milton zu unterdrücken.«79 Die weltliche, »prosaische« Dichtkunst Gottscheds unterliegt folglich laut Pyra der »wahren«, d. h. »heiligen Dichtkunst« in der Nachfolge Miltons. Pyra vergleicht den ›Literaturstreit‹ zwischen den Gottschedianern und Schweizern mit »Schwifts Bücherkrieg«80, also mit Jonathan Swifts Satire The Battle of the Books (1697). Die Schweizer seien »Freunde und Verteidiger der Alten, Hr. G** aber ein starker Perraultianer, und Wiedersacher derselben«.81 Bodmer und Breitinger gelten hier also als ›anciens‹, Gottsched als »Perraultianer« zählt zu den ›moderni‹. Pyra sieht in dem »Kriege«82 zwischen Leipzig und Zürich einen literarischen Machtkampf der ›Kunstrichter‹: Gottscheds »Herrschaft in dem poetischen Deutschlande« sei mit dem Auftreten der Schweizer und ihrer kritischen Werke »biß auf den Grund erschüttert« worden.83 Pyra erkennt richtig das ›Platzhirschverhalten‹ der Konkurrenten: »Dieser gross Dichter-König [Gottsched; I. G.] sahe diese Wahrheiten, die sich diese rebellische Schweitzer unterstanden, ihm in das Gesichte zu sagen, als Beleidigungen Seiner Majestät an.«84 Pyra setzt in seiner Streitschrift von 1743 zur Verteidigung von Miltons Paradise Lost an: Der englische Poet habe mit seinem Bibelepos »die grösten Religionswahrheiten durch sinnliche Vorstellungen in ein recht würdig hohes Licht« gesetzt.85 Der hallesche Dichter nutzt das ›Offenbarungsargument‹ der Querelle, das besagt, dass die neueren Dichter aufgrund ihrer christlichen Offenbarungsreligion die heidnisch-antiken Dichter überträfen: »In diesem Stücke 76 Immanuel Jakob Pyra: Erweis, daß die Gottschedianische Sekte den Geschmack verderbe. Beigebunden ist: Fortsetzung des Erweises, daß die Gottschedianische Sekte den Geschmack verderbe. Reprographischer Nachdruck der Ausgaben Hamburg / Leipzig 1743 und Berlin 1744. Hildesheim / New York 1974. S. 2f. 77 Ebd., S. 3. 78 Ebd., S. 5. 79 Ebd. 80 Ebd., S. 6. 81 Ebd. 82 Ebd., S. 11. 83 Ebd., S. 13. 84 Ebd. 85 Ebd., S. 30.

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hat er [Milton; I. G.] den Homer und Virgil sehr weit überstiegen; weil er bey einem unendlichen hellern Lichte wandelte.«86 Pyra stellt folgende Forderung: Die Theologie müsse »ins besondre von einem epischen Dichter […] unterstützet werden«.87 Bodmer hatte bereits 1734 in seinem Lehrgedicht Character der Teutschen Gedichte an den – seiner Meinung nach – idealen Poeten die Forderung gestellt, »den gesamten Kosmos seiner dichterischen Möglichkeiten auszuschreiten«88, um mittels seiner ›Einbildungskraft‹ neue Welten zu erschaffen, das Wunderbare und Erhabene, Übermenschliches (Engel und Geister) sowie Historisches und Zukünftiges in sein Werk zu bringen (V. 859–866): Erscheine, grosser Geist, und singe Ding’ und Thaten So theils die Zeit begrub, theils ihr noch nicht gerathen. Ergäntz was sie verbarg, bring vor der Zeit herbey, Was einmahl kommen soll, zwar nicht nach dieser Reyh. Was jemahls die Natur vom Wunderbarn und Grossen In Engeln, Geistern, Mensch, und Cörpern eingeschlossen, Was in den Neigungen und Thaten hohes steckt, Liegt offenbar vor dir, entwickelt, unbedeckt.89

Der in einer Art nächtlicher Vision göttlich begeisterte und berufene Dichter soll demnach die zur ›christlichen Mythologie‹ gehörige »›Himmels- und Höllenmaschinerie‹«90 der gesamten göttlichen Schöpfung dynamisieren und in der Konzeption seines poetischen Werkes nutzen (V. 907–928): Damit auch dein Gedicht nicht menschlich und gemeine, Damit es dir bey Nacht geoffenbahret, scheine, So führe Geister ein, verschieden an Gestalt, An Farbe, Wissenschafft, an Tugend und Gewalt, Die Cörper angelegt, die Wercke ihrer Sinnen, Die Liebe oder Haß erzeugt hat, zu beginnen. […] Bericht denn, wie und was in einer höhern Sphäre Gedacht wird und gethan; […] […] Denn auf dem Leiter-Werck, worauf die Wesen stehen, Fängt, wo du dich befindst, der Geist und Engel an, 86 Ebd. 87 Ebd., S. 54. 88 Helmut Pape: Klopstock. Die »Sprache des Herzens« neu entdeckt. Die Befreiung des Lesers aus seiner emotionalen Unmündigkeit. Idee und Wirklichkeit dichterischer Existenz um 1750. Frankfurt a. M. [u. a.] 1998. S. 37. 89 Bodmer : Character der Teutschen Gedichte. In: Bodmer: Vier kritische Gedichte. [Hrsg. v. Jakob Baechtold.] S. 3–38, hier S. 33, V. 859–866. 90 Pape: Klopstock. Die »Sprache des Herzens« neu entdeckt, S. 39.

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Hört Mensch und Cörper auf. Du findst in dir den Plan, Was sie ins Himmels Saal, im tieffen Thal der Höllen, Und in der Sternen-Welt bemüht sind zu bestellen.91

Bodmers Lehrgedicht Character der Teutschen Gedichte erschien zuerst 1734 als Einzeldruck ohne Angabe des Verfassers, des Druckorts oder der Jahreszahl.92 Nach einer Überarbeitung und Anpassung an die obersächsisch-meißnische Sprachnorm wurde es 1738 im 20. Stück der Critischen Beyträge nochmals veröffentlicht und dadurch einem breiteren Publikum bekannt gemacht. Gottsched setzte unter diesen Beitrag folgende positive Anmerkung: Man weis, daß dieses critische Gedichte den gelehrten Herrn Prof. Bodmer zum Urheber hat. Er hat uns selbiges hin und her verbessert, und mit Zusätzen vermehrt zugesandt, und die Erlaubniß gegeben, selbiges der Welt vor Augen zu legen. Wir zweifeln nicht, daß es zur Beförderung einer gesunden Critik und des guten Geschmackes eben so viel, ja noch mehr beytragen werde, als die übrigen Schriften dieses scharfsinnigen Kunstrichters bereits gethan haben.93

Zwischen den beiden späteren Kontrahenten herrschte 1738 ja noch vordergründig Eintracht. Bodmer hatte extra in die Fassung seines Lehrgedichts in den Critischen Beyträgen sechs neue Verse eingerückt (V. 581ff.), die die poetische Leistung Gottscheds würdigen sollten: Mit ihnen im Begleit seh ich auch Gottsched gehen, Der mir nicht kleiner deucht, und nicht darf schamroth sehen, Wenn er bey ihnen sitzt, wiewohl er sie verehrt; Sein wahrer Held August ist Opitzs Schreibart werth, Ist alles dessen werth, was Gottsched sonst besungen: So weit ist’s ihm durch Fleiß und Biegsamkeit gelungen.94

Der Leipziger Kritiker wird hier zu einer Gruppe von fünf deutschen Dichtern gezählt, die allesamt heroische »Lob-Gedichte« (V. 534) verfasst haben:95 Johann von Besser (1654–1729) »preist und singt, was ein entschloßner Held j Aus rechter Rache thut« (V. 535f.) und »schreibt wie einer soll, der Welt-Geschichten schreibet, j Und Zeugen stellen muß, bevor ihm jemand gläubet« (V. 545f.).96 91 Bodmer: Character der Teutschen Gedichte, S. 37f., V. 907–928. 92 Vgl. die Editionsgeschichte des Characters der Teutschen Gedichte: Ebd., S. IV–XXXVIII (Vorrede von Jakob Baechtold). 93 [Johann Jacob Bodmer:] VII. Character der deutschen Gedichte. In: Beyträge zur Critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. Hrsg. v. einigen Mitgliedern der Deutschen Gesellschaft in Leipzig. [5. Band.] 20. Stück. Leipzig 1738. S. 624–659, hier S. 624. 94 Bodmer : Character der Teutschen Gedichte, S. 23 (Anmerkung der Varianten). Gottsched hatte eine Trauerode nach dem Tod von Friedrich August I./II. (1670–1733), Kurfürst von Sachsen und König von Polen (August der Starke genannt), verfasst. 95 Ebd., S. 21, V. 534. 96 Ebd., S. 21, V. 535f. und V. 545f.

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Johann Ulrich König (1688–1744) besingt den Helden in Friedenszeiten. Sein Vers ist »männlich zwar, jedoch geziert und zart, j Ist sittsam doch behertzt, voll, doch nicht schwer und hart« (V. 567f.).97 Kritisiert wird an ihm allerdings von Bodmer Folgendes: »Nur könnt’ er hier und dar mehr von der Prosa weichen, j Und öffters seine Hand der ächten Dichtung reichen.« (V. 569f.)98 Karl Gustav Heräus (1671–1730) »weiß ein grosses Lob durch seines Geists Vermögen j In einem höhern Licht im Ausdruck auszulegen« (V. 573f.).99 Johann Valentin Pietsch (1690–1733) wird wegen seiner »schädliche[n] Begier des Witzes Kunst zu zeigen« (V. 578) getadelt.100 Bodmer zählt auch Benjamin Neukirch (1665– 1729) trotz seiner schlechten Übersetzung von F8nelons Les aventures de T8l8maque (3 Bde., 1699) zu dieser Dichtergruppe (Telemach, 1727–1739), da er sich vom lohensteinischen Schwulst losgesagt habe.101 Zwei Jahre nach der Veröffentlichung von Bodmers Character der Teutschen Gedichte in der von Gottsched herausgegebenen Zeitschrift standen sich die Züricher und Leipziger Partei in offener Feindschaft gegenüber. Gottsched verfasste mit seinem komischen Heldengedicht Der Deutsche Dichterkrieg (1741/ 42) eine satirische Kritik an Bodmers poetologischem Gedicht. Dieses scherzhafte Epos in Prosa blieb mit seinen drei Büchern allerdings unvollendet. Es bildete den Auftakt zu einer Vielzahl an Streitschriften, die in den nächsten Jahren von beiden gegnerischen Lagern publiziert wurden. Bodmers Character der Teutschen Gedichte wurde zum dritten Mal in der Ausgabe von dessen Critischen Lobgedichten und Elegien veröffentlicht, die im Jahre 1747 von Johann Georg Schultheß herausgegeben worden war. Diese Sammlung erschien nochmals 1754 in einer zweiten Auflage unter dem Titel J. J. Bodmers Gedichte in gereimten Versen. Bodmer veränderte in diesen zwei Ausgaben die Gottsched gewidmeten Verse. Wurde der sächsische ›Kunstrichter‹ in der Version von 1738 noch ausdrücklich gelobt, äußerte sich Bodmer in der Fassung von 1747 sehr verächtlich über dessen dichterische Leistung: Mit ihnen [den fünf oben genannten Dichtern; I. G.] seh ich auch den stolzen Gottsched gehen, Der doch weit kleiner ist, und schamroth scheint zu stehen, Da er bey denen ist, die er doch nur entehrt. Sein wahrer Held August ist seines Kiels nicht werth, Ist mehr, als alles, werth, was Gottsched sonst gesungen. Nicht weiter ist es ihm durch Fleiß und Angst gelungen.102 97 98 99 100 101 102

Ebd., S. 22, V. 567f. Ebd., S. 22, V. 569f. Ebd., S. 22, V. 573f. Ebd., S. 22, V. 578. Ebd., S. 23. Ebd.

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In der Ausgabe von 1754 lautete der zweite Vers noch konkreter : »Der doch weit kleiner ist, und schamroth sollte stehen«.103 Gottsched wird demnach nicht nur Überheblichkeit attestiert, sondern ihm wird auch jegliche poetische Begabung abgesprochen. Die literarische Fehde zwischen den Schweizern und den Sachsen war auch ein »publizistisches Phänomen«.104 Beide Parteien nutzten alle medialen Möglichkeiten, die ihnen der expandierende Zeitungs-, Zeitschriften- und Buchmarkt im 18. Jahrhundert zu bieten hatte. Gottsched gab beispielsweise allein drei literaturkritische Zeitschriften heraus: die Beyträge zur critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit (1732–1744), der Neue Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste (1745–1750) und Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit (1751–1762). Bodmer und Breitinger veröffentlichten ihre kritischen Beiträge in zwei Züricher Zeitschriften: in der Sammlung Critischer, Poetischer, und and(e)rer geistvollen Schriften, Zur Verbesserung des Urtheil(e)s und des Wi(t)zes in den Wercken der Wolredenheit und der Poesie (1741–1744) und in den Freymüthigen Nachrichten von Neuen Büchern, und andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen (1744–1763). Das komische Heldengedicht Der Deutsche Dichterkrieg erschien anonym in der Leipziger Zeitschrift Belustigungen des Verstandes und des Witzes, die vom Gottsched-Schüler Johann Joachim Schwabe herausgegeben worden war.105 Das erste Buch beginnt mit dem Auftritt einer allegorischen Figur : der »Göttinn der Zwietracht«.106 Eris steht mit einem Fuß auf dem Riesengebirge (= Sachsen) und mit dem anderen Fuß auf den Alpen (= Schweiz). Sie sieht, dass die »Dichter Germaniens« emsig wie die Ameisen damit beschäftigt sind, »Sylben zu messen und Reime zu paaren, und ganze Bücher mit Versen anzufüllen, die doch nachmals oft, von einem stolzen Kunstrichter, unbarmherziger Weise zernichtet werden«.107 Es ärgert sie, das »Reich der Dichtkunst« in »einer gefährlichen Schlafsucht« begraben zu sehen.108 Die Göttin sucht daraufhin nach einem »schwermüthigen verdrüßlichen Schriftsteller, den Herrschbegier und Schmähsucht geschickt machten, ihren Eingebungen zu folgen«.109 Am Fuße der Alpen stößt sie schließlich auf »Merbod« (= Bodmer), einen »tigurinische[n] Barde[n]«, 103 Ebd. 104 Wilke: Der deutsch-schweizerische Literaturstreit, S. 151. 105 Vgl. zum Deutschen Dichterkrieg Gottscheds im Folgenden die Inhaltsbeschreibung von Gustav Waniek in: Waniek: Gottsched und die deutsche Litteratur seiner Zeit, S. 436–438. 106 [Johann Christoph Gottsched:] Der Deutsche Dichterkrieg. Erstes Buch. In: Belustigungen des Verstandes und des Witzes. Auf das Jahr 1741. Heumonat. Hrsg. v. Johann Joachim Schwabe. Leipzig 1741. S. 49–66, hier S. 50. 107 Ebd., S. 51. 108 Ebd., S. 52. 109 Ebd., S. 53.

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dessen helvetische Feder schon mehr als eine Probe abgeleget hatte, daß sie mit den Liedern ihrer deutschen Brüder gar nicht zufrieden wäre: indem sie lieber dem hochtrabenden Albion nachlallen, und den gräßlichen Sieg Satans über die Unschuld unsers Stammvaters besingen helfen, als einem sittsamen Opitz nacheifern wolle.110

Eris nähert sich dem »grüblenden Zürcher[.]«, der gerade in Sebastian Brants Narrenschiff vertieft ist, in der »Gestalt der Beurtheilungskunst«, der »wahre[n] Critik«, und stachelt ihn zu neuen Taten mit »critische[m] Eifer« auf.111 Sie wirft ihm unbemerkt »eine kleine Natter ins Dintenfaß, welche sie der Alekto aus dem Kopfe gerissen, als sie das unterirrdische Reich vor Kurzem verlassen hatte«.112 »Greibertin« (= Breitinger), »der weise Druide, und Merbods bester Freund«113, tritt zu ihm ins Zimmer und ruft ihn zum Kampf gegen die Feinde auf: Tadle, richte, verdamme, verurtheile alles, was dir vorkömmt. Was andre loben, das verwirf; und was andre verspotten, das hebe du bis an den Himmel: und solltest du selbst die Regeln der Alten über den Haufen werfen, und die critischen Lehrbücher der Griechen und Römer zerdrümmern. Dergestalt wirst du dir ein neues Reich stiften, und ein furchtbarer Aristarch deiner Zeiten werden, ja ein größerer Kunstrichter, als Aristoteles, Flaccus, Longin, Castelvetro, Scaliger, Scioppius und Salmasius gewesen.114

Merbod leistet daraufhin folgenden Schwur : Ich will alle meine Galle ausgießen, und meinem Kiele keine Grenzen setzen. Freund und Feind sollen mir gleich gelten, Lebendige und Todte sollen nicht geschonet werden. Mein Griffel soll auch die Poeten nicht schonen, die doch von andern für Könige des Helikons ausgeschrieen werden; es wäre denn, daß sie mit demüthigen Briefen und schmeichlerischer Niederträchtigkeit um Barmherzigkeit bäthen, und sich auf Gnade und Ungnade ergäben. Wollte nur die mächtige Göttinn die mir erschienen ist, mir beystehen, und zu meinem Vorhaben ihren Beystand verleihen.115

Der Gott Apollo sorgt sich inzwischen um sein Reich der Dichtkunst. Auf seinen Befehl hin beseitigt eine Muse die Natter aus Merbods Tintenfass, aber einige Tropfen des Giftes verbleiben dort und so fließen aus der Feder des Kritikers »viel bittere, beißende Worte«, »die auch dem, den er zu loben schien, bis in das Innerste der Seelen drangen« und verletzten.116 Greibertin kündigt indessen dem Verlagsbuchhändler »Relo« (= Orell) »mit dunkeln prophetischen Redensarten, die Schrift an, die in den nächsten Tagen erbohren werden sollte«.117 110 111 112 113 114 115 116 117

Ebd., S. 54. Ebd., S. 54–56. Ebd., S. 57. Ebd., S. 60. Ebd., S. 63. Ebd., S. 63f. Ebd., S. 65f. Ebd., S. 66. Bodmer hatte 1731 mit seinem Neffen Konrad Orell und dem Landschreiber Konrad von Wyss eine Verlagsbuchhandlung in Zürich gegründet, die seit 1734 unter dem

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Das zweite Buch des Deutschen Dichterkrieges erzählt davon, dass Merbod nach neun Tagen sein satirisches Werk, dessen Verse »weit bitterer, als Galle, waren«, beendet hatte.118 Inzwischen hatte auch die »wahre Critik« von den »hinterlistigen Ränken der Eris« erfahren.119 Als Merbod gerade Streusand auf seinem Schreibpapier verteilen will, zieht die gute Göttin »einen Nebel vor seine Augen«, und so ergreift der Dichter – kurzzeitig erblindet – das Tintenfass statt der »Streubüchse« und gießt folglich schwarze Tinte über den letzten Teil seiner kritischen Schrift.120 Greibertin hilft daraufhin seinem vor Zorn rasenden Freund, die ausgelöschten Verse wiederherzustellen. Erst jetzt wird der Titel des Werkes zitiert: Er lautet »Character der Teutschen Gedichte«.121 Greibertin ist begeistert darüber, dass sich Merbod bei seiner schriftstellerischen Arbeit an folgende Devise der Züricher gehalten habe: »keine Höflichkeit! durchaus keine Höflichkeit in der Critik!«122 Er bietet sich an, der »Lobredner« dieses »Meisterstücks« zu werden.123 Der »gewinnbegierige Relo«124 bemächtigt sich dieses Gedichts, da er damit den finanziellen Schaden ausgleichen möchte, den ihm die anderen kritischen Werke Merbods eingebracht haben, und befördert es zum Druck. Eris eilt daraufhin mit dem gedruckten Werk in der Gestalt »Vaumillons« (= Mauvillon), des »Hohnsprecher[s] aller Deutschen«, in das Reich der Toten.125 Sie verkündet den dortigen Dichtern, dass ein ›Kunstrichter‹ sie in seiner kritischen Waagschale gewogen und für zu leicht befunden habe. Im dritten Buch des Deutschen Dichterkrieges liest der alte Milton-Übersetzer Ernst Gottlieb von Berge den toten Dichtern in den »elysischen Felder[n]«126, dem Jenseits, Merbods Character der Teutschen Gedichte vor. Die verstorbenen Dichter kommentieren und kritisieren einzelne Verse aus dem Lehrgedicht. Vor allem die mittelhochdeutschen Dichter und die Meistersänger regen sich darüber auf, in Merbods Gedicht übergangen worden zu sein.

118 119 120 121 122 123 124 125 126

Namen »Conrad Orell und Comp.« die kritischen Schriften der Schweizer druckte. Bodmer zog sich 1741 aus dem Unternehmen zurück. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde die Verlagsbuchhandlung um weitere Miteigentümer erweitert und hieß ab 1770 dementsprechend »Orell, Gessner, Füssli & Co.«. [Johann Christoph Gottsched:] Des deutschen Dichterkrieges Zweytes Buch. In: Belustigungen des Verstandes und des Witzes. Auf das Jahr 1742. Brachmonat. Hrsg. v. Johann Joachim Schwabe. Zweyte Auflage. Leipzig 1742. S. 518–541, hier S. 518. Ebd., S. 519. Ebd. Ebd., S. 522. Ebd. Ebd., S. 523. Ebd. Ebd., S. 525. [Johann Christoph Gottsched:] Des deutschen Dichterkrieges III. Buch. In: Belustigungen des Verstandes und des Witzes. Auf das Jahr 1742. Wintermonat. Hrsg. v. Johann Joachim Schwabe. Zweyte Auflage. Leipzig 1744. S. 434–463, hier S. 434.

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Während das erste und das zweite Buch des Deutschen Dichterkrieges durchaus komische Stellen zu bieten hat, in denen vor allem Bodmer als witzige Karikatur eines geifernden Kritikers dargestellt wird, verliert sich Gottsched im dritten Buch zu sehr in Detailkritik. In der satirischen Streitschrift finden sich typische epische Elemente wie Musenanrufe, Gleichnisse und der obligatorische mythologisch-allegorische Götterapparat. Aus dem Proömium geht bereits hervor, wie Gottsched den sogenannten ›Literaturstreit‹ definierte, nämlich als Kampf der »Vernunft« gegen die »regellose[.] Phantasie«.127 In den drei Büchern des komischen Epos finden sich auch immer wieder intertextuelle Verweise auf Milton und dessen biblisches Heldengedicht Paradise Lost. Im ersten Buch wird beispielsweise in einem Gleichnis auf das englische Bibelepos angespielt: Wie dort Miltons hufenlange Teufel sich in Zwerge verwandelten, als das neuerbaute Pandämonium ihre ungeheure Anzahl nicht fassen konnte: nicht anders verkürzte die Göttinn Eris ihre Riesenlänge, als sie die Gestalt der Beurtheilungskunst, oder der göttlichen Critik annehmen wollte, um unter dieser Hülle, dem in dieselbe verliebten Schweizer, desto angenehmer zu erscheinen.128

Bodmer reagierte natürlich sogleich auf diese satirische Streitschrift Gottscheds. Er veröffentlichte 1742 im dritten Stück der Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften unter dem Pseudonym Henrich Effinger eine polemische Erzählung in Prosa: Das Complot der herrschenden Poeten u. Kunstrichter.129 Zunächst soll der Inhalt dieser ›kritischen Geschichte‹ Bodmers kurz skizziert werden:130 »Schottged« (= Gottsched) wälzt sich schlaflos und sorgenvoll auf seinem Bett hin und her und überlegt »bey sich die Gefahr, welche dem herrschenden Geschmak über dem Haupt schwebete, und die Mittel, wie dieselbe noch mögte abzuwenden seyn«.131 Die neben ihm liegende »weise Muskul« (= Luise Adelgunde Victorie Gottsched geb. Kulmus) erwacht »von seinem Winseln«.132 127 [Gottsched:] Der Deutsche Dichterkrieg. Erstes Buch, S. 50. 128 Ebd., S. 54. Weitere intertextuelle Verweise auf Miltons Bibelepos finden sich auch im zweiten (ebd., S. 518) und dritten Buch des Deutschen Dichterkrieges (ebd., S. 434). 129 [Johann Jacob Bodmer :] Das Complot der herrschenden Poeten u. Kunstrichter. In: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften, Zur Verbesserung des Urtheiles und des Witzes in den Wercken der Wolredenheit und der Poesie. Drittes Stück. Zürich 1742. S. 161–219. 130 Vgl. zum Complot der herrschenden Poeten u. Kunstrichter im Folgenden die Inhaltsbeschreibung von Gustav Waniek in: Waniek: Gottsched und die deutsche Litteratur seiner Zeit, S. 438f. 131 [Bodmer :] Das Complot der herrschenden Poeten u. Kunstrichter. In: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften, Zur Verbesserung des Urtheiles und des Witzes in den Wercken der Wolredenheit und der Poesie. Drittes Stück. S. 161–219, hier S. 167. 132 Ebd., S. 167f.

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Schottged sieht die drohende Gefahr verkörpert in den »erboßte[n] Zuchtmeister[n]«, die »von den beschneyten Alpen heruntergestiegen kommen«.133 Seine »geschikte Freundin« Muskul erteilt ihm den Rat, »die herrschenden Poeten Deutschlandes in einen Synodus« zusammenzurufen, »damit sie gemeinschaftlich berathschlageten, mit was vor Mitteln sie die neue Dichtkunst unterdrüken, und den herrschenden Geschmak beym Ansehen erhalten wollten«.134 Über hundert »Söhne des herrschenden Geschmaks« erscheinen daraufhin zur Versammlung auf »Tiberkopfs Parnasse« (= Breitkopf).135 »Gönike[.]« (= König) war nicht eingeladen, weil man ihn verdächtigte, zur Schweizer Partei zu gehören, und »Korbs« (= Brockes) »blieb daheim, weil er den Ruhm, so er für den kleinern Theil seines Irdischen Vergnügens empfangen hatte, vor einen reichen Ersatz des Tadels hielt, so auf den grössern Theil gefallen war«.136 Der »Anblik so vieler grossen Männer, des Ausbundes der Geister Deutschlandes«, die Schottged »theils bewunderten, theils fürchteten«, erfüllten diesen »mit Stolz und Muth«.137 Schottged hält auf seinem Podium eine Rede und schildert den versammelten Dichtern die gefährliche Lage: »Denn man will uns eine neue Dichtkunst, neue Regeln dessen, was schön, angenehm, geistreich, neu und wunderbar heissen soll, auferlegen. Nach diesen Gesezen will man uns richten, in die wir doch niemals gewilligt haben.«138 Vor allem er sei den »spitzigen Pfeile[n] der Critik« ausgesetzt, die »in reinem Deutsch Schmähsucht und Zanklust« heißen würden.139 Man wolle sie »des willkürlichen Urtheiles von dem, was Geschmak sey, berauben«.140 Schottged schätzt seine Gegner folgendermaßen ein: »Das Glück, das ihnen ein wenig günstig gewesen, hat sie unversöhnlich gemacht, Freund und Feind gelten ihnen gleich, sie schonen weder Lebendige noch Todte.«141 Da einige »kleine[.] Fehden« die Gemeinschaft innerlich geschwächt hätten, ruft er die Versammelten zu »Frieden und Einigkeit« innerhalb der eigenen Partei auf, um sich so »den verderblichen Anschlägen [der] gemeinen Feinde mit gemeinschaftlichem Rath und vereinigter Macht« zu widersetzen: »Wir wollen Lob und Tadel, Ehre und Schande, Schönheiten und Fehler, mit einander gemein haben. Eines Ruhm soll Aller Ruhm, eines Schmach Aller Schmach seyn. Wenn

133 Ebd., S. 169. 134 Ebd., S. 171f. 135 Ebd., S. 173. Bernhard Christoph Breitkopf (1695–1777) war der Drucker und Verleger von Gottscheds Schriften in Leipzig. 136 Ebd., S. 173f. 137 Ebd., S. 174. 138 Ebd., S. 175. 139 Ebd., S. 174. 140 Ebd., S. 176. 141 Ebd., S. 177.

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einer getroffen wird, sollen Alle schreyen, Alle sollen den Streich empfinden, und rächen.«142 Auf diese polemische Rede Schottgeds, die zum gemeinschaftlichen Kampf gegen die Gegner anspornen soll, schwören die anwesenden Dichter »bey den furchtbaren Nahmen Moraths [= Amthor ; I. G.], Stelpos [= Postel; I. G.], und Kirchneus [= Neukirch; I. G.], daß sie ihren Geschmack, der allein unbetrüglich urtheilete, um keinen Erweis, um keine Vernunftsschlüsse, auch um keine Spötterey der satyrischen Critick ändern [wollen]«.143 Die einzelnen Dichter, die »zur Bezeugung ihrer Vereinigung« einander »gantz liebreich« um den Hals gefallen sind, schmieden nun Pläne, wie man gegen die schweizerischen ›Kunstrichter‹ vorgehen könnte:144 »Hekenei« (= Heineken) will die Schriften der Gegner zur Vergessenheit verurteilen.145 »Tirller« (= Triller) bestätigt aus eigener Erfahrung, wie gefährlich es sei, sich auf korrelierende Streitschriften mit den Schweizern einzulassen und rät davon ab.146 »Waschbe«147 (= Schwabe), »ein muthiger Jüngling«, tritt auf und erklärt, dass es zu spät zum Schweigen sei: »Wir haben schon geschrien, und den Mund nur zu weit aufgethan.«148 Er schlägt vor, »Erweise« mit »Gelächter«, »Wahrheiten« mit »Possen« zu erwidern:149 »In dieser Absicht würden Fabeln, Erdichtungen, Allegorien, Gleichnisse, und Sinnenbilder treffliche Dienste thun; wofern nur die parteilige Natur, oder unser nordliches Clima nicht den dummen Deutschen den erfindsamen Kopf eines Schöpfers verweigert hätte.«150 Schottged pflichtet Waschbe bei, die Gegner künftig »mit Schamröthe und Schande zu überdeken«.151 Er prahlt mit seinem neuesten Werk, dem »deutschen Dichterkrieg«.152 Dieses »Spottgedichte« soll die »Antwort« auf alle kritischen Abhandlungen Merbods und Greibertins sein.153 Der Inhalt des ersten Buches des Deutschen Dichterkrieges wird daraufhin nacherzählt.154 Schottged beschließt seine Zusammenfassung mit folgenden Worten: Dieses ist nur das magere Gerippe meiner poetischen Schöpfung, welches ich mit miltonischem Riesenwitz, einem prasselnden Feuer, einer bunt durch einander ge142 143 144 145 146 147 148 149 150 151 152 153 154

Ebd. Ebd., S. 178. Ebd. Ebd., S. 179. Vgl. ebd., S. 179–182. Ebd., S. 182. Vgl. ebd., S. 182–184. Ebd., S. 184. Vgl. ebd., S. 184–188. Ebd., S. 186. Ebd., S. 187. Ebd., S. 188. Ebd., S. 189. Ebd., S. 191. Ebd., S. 193. Vgl. ebd., S. 191–193.

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würkten Belesenheit, einer alpinischen Mundart, unerschöpflichen Gleichnissen angekleidet u. überzogen habe. Ich schmeichle mir, daß ich die heroische Sprache Miltons vollkommen nachgemacht habe, und darinnen besteht die scharfsinnigste Verspottung in meinem Dichterkriege.155

Schließlich meldet sich noch »Werzasch« (= Schwarz) zu Wort.156 Er will das »critischpoetische Lehrgebäude« der Schweizer »verdächtig machen, untergraben, und auf den Kopf stellen«.157 Plötzlich erscheint der »herrschende[.] Geschmak«, der »Abgott und Vater« der Dichter und der ›Kunstrichter‹, höchstpersönlich.158 Er bestimmt über das weitere Vorgehen seiner Anhänger.159 Zunächst warnt er vor verführerischem Stolz und rät davon ab, »eine Untersuchung der schweizerischen Grundlehren [zu] wagen«.160 Sie sollen sich hingegen das Vorurteil, dass »die Schweizer ein grobes, ungeschliffenes, und unhöfliches Volk« seien, zunutze machen und es stets überall verbreiten.161 Der »herrschende Geschmack« richtet folgenden Appell an seine Gefolgschaft: »Ruhet nicht, bis ihr es so weit gebracht habet, daß der blosse Nahme eines Schweizers zu einem Scheltwort wird.«162 Die Dichter fühlen sich siegessicher, aber plötzlich hängt die »göttliche Critick« mitten im Versammlungsaal an der Decke eine Waage auf, »in welcher sie den innerlichen Werth der Bücher abzuwegen pflegt«.163 Sie legt »in die eine Schale Greibertins critische Dichtkunst, in die andere Schottgedens Versuch, zu dieser warff sie noch zwanzig oder dreissig von den besten Werken der herrschenden Dichter und Kunstlehrer«, die aber trotzdem »wie leichte Spreu aufwärts« flogen.164 Die Schriften Schottgeds und seiner Anhänger wurden folglich gewogen und für zu leicht befunden. Die versammelten Dichter und Kritiker sehen zwar dies »himmlische Zeichen«, werden aber nicht klüger, da ihr Verstand »umnebelt« ist.165 »Merbod« (= Bodmer) und »Greibertin« (= Breitinger) werden im Complot der herrschenden Poeten u. Kunstrichter als »Beamtete« der »Göttin der Beurtheilungskunst« bezeichnet, die einen neuen ›poetischen Geschmack‹ geltend machen wollen.166 Der Repräsentant des gegenwärtig noch »herrschende[n]

155 156 157 158 159 160 161 162 163 164 165 166

Ebd., S. 193. Ebd., S. 194. Vgl. ebd., S. 194–199. Ebd., S. 196. Ebd., S. 201. Vgl. ebd., S. 203–217. Ebd., S. 203. Ebd., S. 205. Ebd., S. 206. Ebd., S. 218f. Ebd., S. 219. Ebd. Ebd., S. 165 und S. 163.

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Geschmak[s]« ist »Schottged« (= Gottsched).167 Er wird in der Erzählung als unerbittlicher Poetiker und korrupter Literaturkritiker porträtiert. So wird ihm beispielsweise folgende Selbstcharakterisierung in den Mund gelegt: »[I]ch verfertigte Lehrbücher und Kunstschriften, in welchen ich den deutschen Poeten die Seyten stimmete, ich lobete die, so mich verehreten, ich schmähete auf die, so mich tadelten, ich machte mich denen zum Schreken, die mich nicht liebeten.«168 Die theoretischen und literaturkritischen Schriften der Gegner werden von Schottged als reale Gefahr erkannt: Ich bekenne die Schweizer ligen mir hart auf dem Naken, und ich weiß mir nicht zu rathen. Soll ich meine eigenen Regeln widerruffen, die ich aus meinen Fingern herausgesogen habe; die so mechanisch sind, daß man weder Kopf noch Geist zum schreiben nöthig hat; soll ich sie um andere vertauschen, die ganz theoretisch und speculatif sind, wozu Naturell, Talent und Schöpfungskraft, erfodert werden?169

Demnach wurde die Norm- und Regelpoetik Gottscheds, die sich am französischen Klassizismus orientierte, von den Schweizern völlig abgelehnt. Sowohl Bodmer als auch Gottsched reflektieren in ihren Streitschriften die gegenwärtige agonale Situation.170 Im Deutschen Dichterkrieg wird Bodmers Character der Teutschen Gedichte scharf kritisiert. Das komische Epos Gottscheds taucht wiederum im Complot der herrschenden Poeten u. Kunstrichter dezidiert als satirische Streitschrift auf. Die beiden Konkurrenten gaben sich keine große Mühe, die Namen der jeweiligen Protagonisten ihrer Schriften zu verschlüsseln. Sie bildeten einfach aus den einzelnen Buchstaben oder Silben des richtigen Nachnamens ein Anagramm. So wurde beispielsweise aus Bodmer »Merbod«, aus Gottsched »Schottged« oder aus Breitinger »Greibertin«. Bodmer rückte zudem in den Fließtext des Complots (teils leicht veränderte) Zitate aus den Schriften der Gottsched’schen Partei ein. In den beigegebenen Fußnoten finden sich die entsprechenden Quellenangaben und weitere Anmerkungen. Der Schweizer Kritiker verwendet hier ganz bewusst das Verfahren der markierten Intertextualität. Dem Lesepublikum sollte ein möglichst wahres, zumindest wahrscheinliches Bild der gegnerischen Partei präsentiert werden. Nach der Veröffentlichung dieser beiden parodistisch-satirischen Streitschriften scharte Gottsched verstärkt seine Schüler um sich, und Bodmer und Breitinger rekrutierten neue Anhänger. Der Ästhetiker und Philosoph Georg Friedrich Meier (1718–1777) in Halle legte in sechs Stücken eine umfassende 167 168 169 170

Ebd., S. 166. Ebd., S. 169. Ebd., S. 171. Vgl. hierzu: Alexander Nebrig: Der deutsche Dichterkrieg und die agonale Selbstreflexion der Literaturkritik im Jahr 1741. In: Gelehrte Polemik. Intellektuelle Konfliktverschärfungen um 1700. Hrsg. v. Kai Bremer und Carlos Spoerhase. Frankfurt a. M. 2011. (Zeitsprünge. Forschungen zur Frühen Neuzeit.) S. 388–403.

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Beurtheilung der Gottschedischen Dichtkunst (1747–1749) vor. Die Regelpoetik Gottscheds wird darin als ein Buch »voller Mängel und Fehler« bezeichnet, das »den Geschmack der Deutschen in der Dichtkunst« verderbe.171 Meier beteuert in seiner Einleitung, dass er »den Herrn Professor« in keinen Disput hineinziehen wolle, obgleich es ihm eine Ehre sein würde, »mit diesem berühmten Manne in eine vernünftige und bescheidene critische Streitigkeit verwickelt zu werden«.172 Akribisch und sachlich kritisiert der Hallenser Professor in seiner mehrbändigen Beurtheilung jedes einzelne Kapitel von Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst. Eine Folge dieser polemischen Schrift war, dass die Gottschedianer »ästhetisch« daraufhin als Schimpfwort ansahen.173 Dieser Gegner aus dem pietistischen Halle schien dem Leipziger Literaturpapst offenbar zu gefährlich zu sein, daher ging er auch nicht öffentlich auf Meiers systematische Streitschrift ein.174 In der Vorrede zur vierten Auflage seines Versuchs einer Critischen Dichtkunst (1751) ruft Gottsched allerdings triumphierend aus: Und meine Dichtkunst lebet noch! Sie lebet, sage ich, und hat alle die Anfälle überstanden, die man die Zeit her auf sie gethan; und denen ich sie bloß gestellet gelassen, ohne ihr im geringsten zu Hülfe zu kommen. Es ist allen bekannt, was seit etlichen Jahren, für oft wiederholte Feindseligkeiten wider sie ausgeübet worden.175

Gottsched berichtet, dass er »zu großer Verwunderung vieler [seiner] Freunde, ganz still und unbeweglich« dagesessen sei und der »kritischen Feder« seiner Gegner »freyen Lauf« gelassen habe.176 Er habe ganz bewusst so gehandelt. Seine Poetik gründe auf den »Regeln und Lehrsätze[n] des griechischen und römischen Alterthums« und daher werde diese auch alle Angriffe vonseiten seiner Gegner überstehen.177 Zudem sei das deutsche Lesepublikum »schon so aufgeklärt, daß man ihm so leicht keinen blauen Dunst vor die Augen machen [könne]«.178 Er schließt seine Vorrede mit den selbstsicheren und bissigen Worten: »Wie nämlich meine Dichtkunst itzo ist, so soll sie bleiben: meine Widerbeller mögen sagen, was sie wollen.«179 Der Klassizist Gottsched beruft sich demnach auf die Legitimation seiner normativen Poetik durch die klas171 Georg Friedrich Meier : Beurteilung der Gottschedischen Dichtkunst. Nachdruck der Ausgabe Halle 1747–49. Hildesheim / New York 1975. S. 4. 172 Ebd., S. 6f. 173 Vgl. Ernst Bergmann: Die Begründung der deutschen Ästhetik durch Alex. Gottlieb Baumgarten und Georg Friedrich Meier. Mit einem Anhang: G. F. Meiers ungedruckte Briefe. Leipzig 1911. S. 207–213. 174 Ernst Bergmann urteilt gleichermaßen: »Gottsched hatte zu Meiers Kritik geschwiegen. Er mochte den Gegner mehr fürchten als verachten.« (Ebd., S. 203.) 175 Gottsched: CD 1751, S. V (Vorrede zu dieser vierten Ausgabe). 176 Ebd., S. Vf. 177 Ebd., S. VIII. 178 Ebd., S. IX. 179 Ebd., S. XIV.

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sisch-antiken Autoritäten. Seine Machtposition als Literaturpapst begann jedoch allmählich zu wanken. Ausgerechnet in Leipzig gründete eine Gruppe von Studenten eine neue Zeitschrift, die Neuen Beyträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes (4 Bde., 1744–1748).180 Herausgeber der Zeitschrift, die nach ihrem Druckort Bremer Beyträge genannt wurde, war zunächst Carl Christian Gärtner (1711–1791). In dieser Zeitschrift sollten ausdrücklich keine Streitschriften der Gottsched’schen Partei veröffentlicht werden, sondern nur poetische Beiträge der Mitglieder. Zu den »Bremer Beyträgern« gehörten u. a. Johann Andreas Cramer (1723–1788), Nicolaus Dietrich Giseke (1724–1765), Johann Arnold Ebert (1723–1795), Gottlieb Wilhelm Rabener (1714–1771) und Johann Adolf Schlegel (1721–1793). Klopstock immatrikulierte sich im Sommer 1746 an der Universität Leipzig. Im Herbst dieses Jahres lernte er Johann Andreas Cramer kennen, der ihn mit den anderen »Bremer Beyträgern« bekannt machte.181 Klopstock arbeitete derzeit an den ersten drei Gesängen seines Messias. Da die »Bremer Beyträger« offensichtlich noch Bedenken hatten, dieses hexametrische Bibelepos in ihrer Zeitschrift zu veröffentlichen, holten sie sich erst einmal kritische Urteile von Bodmer und Friedrich von Hagedorn (1708–1754) ein. Hagedorn erhielt vermutlich im März 1747 einen Auszug aus dem I. Gesang des Messias, den dieser wiederum am 10. April 1747 an Bodmer weitersandte. Die Reaktion des Hamburger Dichters fiel noch sehr verhalten aus. Sorgen bereitete ihm anscheinend der neutestamentliche Stoff des Heldengedichts. Er schreibt daher auch in dem Brief an Bodmer : Ist Ihnen schon bekannt, daß ein junger Dichter in Leipzig, Klopstock, an einem gantz grossen und homerischen Gedichte vom Messias arbeitet. Es bestehet aus Hexametris. Über den schweren Innhalt mag ich mich nicht erklären. Incedit per ignes suppositos cineri doloso. Mich deucht, er stehet in weit grösserer Gefahr angefochten zu werden, als Milton selbst.182

Gärtner wiederum schickte Bodmer am 8. April 1747 fast den ganzen II. Gesang des Messias zu und bat um eine aufrichtige Beurteilung von Klopstocks 180 Vgl. Christel Matthias Schröder : Die »Bremer Beiträge«. Vorgeschichte und Geschichte einer deutschen Zeitschrift des achtzehnten Jahrhunderts. Bremen 1956. (Schriften der Wittheit zu Bremen. Reihe D: Abhandlungen und Vorträge; 21, H. 2.) 181 Vgl. Carl Friedrich Cramer : Klopstock. Er ; und über ihn. Erster Theil. 1724–1747. Hamburg 1780. S. 145–150. Cramer erzählt von der ersten Begegnung Klopstocks mit den »Bremer Beyträgern«. 182 Brief von Hagedorn an Bodmer, 10. April 1747. In: Friedrich von Hagedorn: Briefe. Hrsg. v. Horst Gronemeyer. Band 1: Text. Berlin / New York 1997. Nr. 108, S. 202–205, hier S. 204, Z. 77–82. Hagedorn zitiert folgende Verse aus den Oden von Horaz: »[…] incedis per ignis j suppositos cineri doloso« (Carmina II, 1, V. 7f.). (»[Du] schreitest hin durch Gluten, j die verborgen noch unter Asche voll Trug.«) (Quintus Horatius Flaccus: Sämtliche Werke. Lateinisch / Deutsch. Mit einem Nachwort hrsg. v. Bernhard Kytzler. Stuttgart 2006. S. 80/81 (Carmina II, 1, V. 7f.).)

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»Schreibart« und »Fähigkeit«.183 Der Schweizer Kritiker war sogleich begeistert und sah in dem bibelepischen Dichter einen unmittelbaren Nachfolger Miltons. Er schreibt am 2. September 1747 in einem Brief an Johann Elias Schlegel über den Messias: Milton’s Geist ruht auf dem Verfasser. Es ist ein Karakter darin, der Satans zu übersteigen drohet; und ein anderer, der uns mitten unter den verdammten Engeln zum Mitleiden beweget. Der Vers ist eine Art von Hexametern, trefflich wohl gerathen, und ohne Reimen. […] Ich bin versichert, daß das Gedicht von dem Messias mit einer gewissen Geschwindigkeit zuwegen bringen wird, was die Kritik mit vieler Mühe und in langer Zeit nur halbig gethan, nämlich, den Deutschen einen Geschmack an Milton’s Erfindungen und der Hoheit seiner Gedanken beyzubringen.184

Der Messias Klopstocks sollte demnach dazu beitragen, die Rezeption von Miltons Paradise Lost im deutschsprachigen Raum anzukurbeln. Bodmer zeigte in seiner Reaktion auf das neue biblische Heldengedicht auch eine gewisse Schadenfreude darüber, dass der junge Verfasser ausgerechnet ein sächsischer Student war. In einem Brief vom 12. September 1747 an Johann Wilhelm Ludwig Gleim (1719–1803) lässt er sich daher zu folgendem Ausruf hinreißen: »Welches Prodigium, daß in dem Lande der Gottscheds ein Gedicht von Teufels-Gespenstern und Miltonischen Hexenmährchen geschrieben wird!«185 Klopstock schrieb am 10. August 1748 einen ersten Brief an Bodmer. Er wählte hierfür noch die lateinische Sprache, um dem gelehrten Poetiker und Literaturkritiker seinen Respekt zu erweisen. Relevant ist hierin folgendes Bekenntnis des jungen Dichters: Nempe adolescenti puero Homerumque et Virgilium legenti, et subirascenti iam criticis Saxonum scriptis, Tua mihi Breitingerique scripta critica in manus venere. Lecta semel, seu hausta potius, cum ad dextram Homerus essent Virgiliusque, ad sinistram deinde, semper evolvenda, iacuere. Quam saepe tunc desideravi promissam Tuam de Sublimi tractationem, et adhuc desidero. Miltonus vero (quem fortassis nimis sero vidissem, nisi transtulisses Tu ipsum,) quum improvisus in manus mihi incidisset, ignes ex Homero haustos excitavit penitus, animumque, ad caelum et religionis poesin, extulit.186 183 Brief von Gärtner an Bodmer, 8. April 1747. In: [Bodmer :] Litterarische Pamphlete. Aus der Schweiz. Nebst Briefen an Bodmern, S. 111–113, hier S. 112. Vgl. den Kommentar in: HKA, Briefe I, S. 181. 184 Brief von Bodmer an Johann Elias Schlegel, 2. September 1747. In: Morgenblatt für gebildete Stände (3. August 1810). Nr. 185, S. 738. Zitiert nach: Klopstock: DM 1748, Nr. 5, S. 172f. 185 Brief von Bodmer an Gleim, 12. September 1747. In: Briefe der Schweizer Bodmer, Sulzer, Geßner. Aus Gleims litterarischem Nachlasse. Hrsg. v. Wilhelm Körte. Zürich 1804. S. 62– 67, hier S. 66. 186 Brief von Klopstock an Bodmer, 10. August 1748. In: HKA, Briefe I, Nr. 13, S. 13–15, hier S. 14, Z. 14–22.

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Denn als ich in jungen Jahren Homer und Vergil las und mich schon über die kritischen Schriften der Sachsen zu ärgern anfing, da kamen mir Ihre und Breitingers kritische Abhandlungen in die Hand. Als ich sie gelesen oder vielmehr verschlungen hatte, lagen sie, wenn ich zur Rechten Homer und Vergil hatte, zum Nachschlagen immer zur Linken bereit. Wie oft habe ich dann Ihre versprochene Abhandlung über das Erhabene herbeigesehnt und tue es noch! Milton aber (den ich vielleicht allzu spät kennengelernt hätte, wenn Sie ihn nicht übersetzt hätten), der mir unversehens in die Hände fiel, hat die von Homer entzündeten Flammen hoch aufschlagen lassen und mich dazu geführt, den Himmel und die Religion zu besingen.187

Klopstock erklärt sich in diesem Brief zum enthusiastischen ›Parteigänger‹ Bodmers und Breitingers. Ihre diversen kritischen Abhandlungen aus den 1740er Jahren hatte er demnach alle eifrig studiert wie auch die Schriften Gottscheds, die er abwertete. Als Autoritäten nennt der Messias-Dichter nicht nur Homer und Vergil, sondern vor allem auch Milton. Er hatte wohl Bodmers deutsche Übersetzung des Paradise Lost von 1742 gelesen. Bodmer und Breitinger hatten in der Vorrede ihrer frühen Schrift Von dem Einfluß und Gebrauche Der Einbildungs-Krafft; Zur Ausbesserung des Geschmackes: Oder Genaue Untersuchung Aller Arten Beschreibungen / Worinne Die außerlesenste Stellen Der berühmtesten Poeten dieser Zeit mit gründtlicher Freyheit beurtheilt werden (1727) einen kritischen Kommentar zum antiken Traktat Per& hy´psus (Vom Erhabenen) von [Pseudo-]Longinus angekündigt, diesen Plan aber nicht ausgeführt.188 Der Inhalt dieser Abhandlung wäre laut den Schweizer Dichtungstheoretikern »von dem höchsten Grade der Vollkommenheit [gewesen] / zu welchem die Seele in dem Punct der Wolredenheit hinauf steigen [könne] / nemlich dem Erhabenen in den Schrifften«.189 Bodmer behauptete noch im April 1753 in einem Brief an Klopstock: »Wir haben Hoffnung daß Br eine Abhandl. vom Erhabn. machen werde. In dieselbe würde viel für die bibl. Epopee kommen.«190 Auch diese geplante Abhandlung ist leider nicht erschienen.191 187 Übersetzung des lateinischen Briefes in: HKA, Briefe I, S. 200–202, hier S. 201. 188 »Hier untersuche ich von Capitel zu Capitel den Tractat des Longinus / so der eintzige ist / der über diese Materie geschrieben hat. Ich getraue mir die Schwäche seines Buches mit erforderlicher Grundlichkeit und Deutlichkeit entdecket zu haben. Dagegen ich dann gantz neue Begrieffe von dem Erhabnen durch gültige Schlüsse herhole und festsetze.« ([Johann Jacob Bodmer / Johann Jacob Breitinger :] Von dem Einfluß und Gebrauche Der Einbildungs-Krafft; Zur Ausbesserung des Geschmackes: Oder Genaue Untersuchung Aller Arten Beschreibungen / Worinne Die außerlesenste Stellen Der berühmtesten Poeten dieser Zeit mit gründtlicher Freyheit beurtheilt werden. Franckfurt / Leipzig 1727. Vorrede (Schreiben an Se. Excellentz / Herrn Christian Wolffen), unpag.) 189 Ebd. 190 Brief von Bodmer an Klopstock, 22. oder 23. April 1753. In: HKA, Briefe III, Nr. 4, S. 7f., hier S. 8, Z. 44–46. 191 Man kann durchaus wie Martin Fritz von einer »ästhetisch-religiösen Renaissance« des antiken Traktats Vom Erhabenen im 18. Jahrhundert sprechen. Vgl. hierzu: Martin Fritz:

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Die ersten drei Gesänge von Klopstocks Messias wurden schließlich im Jahre 1748 im 4. und 5. Stück des vierten Bandes der Neuen Beyträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes veröffentlicht. Bodmer setzte von Zürich aus eine beispiellose ›Marketing- und PR-Kampagne‹ in Gang, um den Messias als ›das‹ deutsche Nationalepos anzupreisen.192 In den Freymüthigen Nachrichten erschien im September 1748 eine erste Rezension der Hexameterdichtung Klopstocks unter dem nichtssagenden Titel »Aufgefangener Brief«.193 Bodmer nennt hierin noch nicht den Namen des Verfassers des Messias, sondern versucht offenbar gezielt, die Neugier und das Interesse des deutschen Lesepublikums zu entfachen: Wissen Sie auch schon, was vor einen hohen Ruhm der Himmel der Deutschen Muse zugedacht hat? Sie soll ein episches Gedicht in dem Geschmacke des verlohrnen Paradieses hervorbringen, und einen Poeten formieren, der einen gleichen Schwung mit dem Milton nehmen wird; dieser soll keine geringere Handlung zu besingen erwählen als das Werk der Erlösung […].194

Der Schweizer Literaturtheoretiker, der sich selbst zum Mentor Klopstocks und Propagator des Messias erklärte, berichtet am 2. März 1749 in einem Brief an Laurenz Zellweger : Ich fahre fort, den neuen Messias den Heiden zu verkündigen; die ihn ohne das Wort der Predigt, allzu späte erkennen würden, wie wohl er sich mitten unter ihnen, durch seine poetischen Wunder offenbaret. Ich habe auch schon Neben-Evangelisten. Der Professor Meier von Halle, dieser demonstrative, abstracte Kopf, hat eine Beurtheilung des Messias herausgegeben, die nichts anderes, als ein Elogium ist. Er hat es zuerst, mir Vom Erhabenen. Der Traktat ›Peri Hypsous‹ und seine ästhetisch-religiöse Renaissance im 18. Jahrhundert. Tübingen 2011. (Beiträge zur historischen Theologie; 160.) – Till: Das doppelte Erhabene. Eine Argumentationsfigur von der Antike bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. 192 Vgl. Urs Meyer: Der Messias in Zürich. Die Klopstock-Rezeption bei Bodmer, Breitinger, Waser, Hess und Lavater im Lichte des zeitgenössischen Literaturmarktes. In: Anett Lütteken / Barbara Mahlmann-Bauer (Hrsg.): Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. Göttingen 2009. (Das achtzehnte Jahrhundert: Supplementa; 16.) S. 474–496. Urs Meyer beurteilt die Klopstock-Rezeption in der Schweiz ab 1748 folgendermaßen: »Was sich in der nachfolgenden Zeit in Zürich abspielte, war eine sogar aus heutiger Sicht großangelegt wirkende Literaturkampagne zugunsten Klopstocks, die nicht nur auf dem literarischen, sondern auch auf dem theologischen, ökonomischen und literaturpolitischen Feld ihre Wirkung entfaltete.« (Ebd., S. 475.) »Und diese frühe Rezeption lässt sich meines Erachtens als eine der frühesten und wohl zugleich bis heute effektvollsten literaturpolitischen Marketing- und Pressekampagnen der Moderne entdecken.« (Ebd., S. 496.) 193 [Johann Jacob Bodmer :] Aufgefangener Brief. In: Freymüthige Nachrichten von Neuen Büchern, und andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen. 5. Jahrgang. 39. Stück (25. Herbstmonat 1748). Zürich 1748. S. 310f. 194 Ebd., S. 310.

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zu Gefallen unternommen; hernach hat er die Arbeit aus eigner Empfindung fortgesetzet.195

Meier hatte tatsächlich eine lobpreisende Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias (1749) verfasst, von der sogar 1752 eine zweite Auflage erschien. Er wollte damit zur Ausbildung eines guten literarischen ›Geschmacks‹ beitragen und das deutsche Lesepublikum mit den »Schönheiten« des Messias bekannt machen.196 Meier berichtet einleitend, er habe »aus Zürch Nachricht erhalten, daß die Herrn Geistlichen in der Schweitz dieses Gedicht auf der Cantzel so gar anpreisen«, während die übrigen ›Kunstrichter‹ im deutschsprachigen Raum das Bibelepos Klopstocks einfach nicht beachten und damit quasi totschweigen würden.197 Er erklärt, dass ihn »das Vortrefliche« im Messias dazu bewegt habe, eine Beurtheilung zu schreiben, und dass er hoffe, dadurch »diesem Gedichte mehrere Liebhaber und Bewunderer zu verschaffen«.198 Der Philosoph aus Halle fasste in dem ersten Stück seiner Abhandlung, das erstmals 1749 erschien, den Inhalt der ersten drei Gesänge zusammen und zitierte daraus die seiner Meinung nach »schönsten Stellen«199, die er stets positiv kommentierte. Im zweiten Stück seiner Beurtheilung, das 1752 herausgegeben wurde, widmete sich Meier dem vierten und fünften Gesang des Messias. Der Hallenser Ästhetiker machte folglich Werbung für das Bibelepos Klopstocks, von einer eigentlichen literaturkritischen Schrift kann man hier nicht sprechen. Meier rühmte sich anschließend selbst, durch seine Beurtheilung dem »Göttlichen Gedichte« Klopstocks »viele Verehrer« verschafft zu haben.200 Johann Caspar Heß (1709–1768), damals Pfarrer in Altstetten, der eng mit Bodmer befreundet war, wurde durch Meiers Beurtheilung dazu veranlasst, ebenfalls eine Abhandlung zu veröffentlichen, die Zufälligen Gedanken über das Heldengedicht, der Meßias (1749). Darin wurde das neue Bibelepos derart mit Lob überhäuft, dass selbst die Freunde und Anhänger Klopstocks daran Anstoß nahmen. So bekennt beispielsweise der »Bremer Beyträger« Rabener in einem Brief an Bodmer : In der That wollte ich aus Liebe zu meinem Freunde Klopstock, daß der Hr. Pastor Hesse gewisse Ausdrücke seines sonst so billigen Beyfalls ein wenig gemäßigt hätte. Sie sind alle gerecht, sie geben aber dem Gegentheil Gelegenheit zu bittern Spöttereyen, 195 Brief von Bodmer an Zellweger, 2. März 1749. In: Josephine Zehnder : Pestalozzi. Idee und Macht der menschlichen Entwickelung. Bd. 1. Gotha 1875. Nr. 10, S. 337–340, hier S. 339. 196 Vgl. Georg Friedrich Meier : Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias. Erstes Stück. 2. Aufl. Halle 1752. S. 4–6, bes. S. 6. 197 Ebd., S. 6. 198 Ebd. 199 Ebd., S. 8. 200 Brief von Meier an Bodmer, 25. April 1749. In: Bergmann: Die Begründung der deutschen Ästhetik, Nr. 21, S. 263f., hier S. 263. Vgl. auch den Brief von Meier an Breitinger, 25. April 1749. In: Ebd., Nr. 22, S. 264f.

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und Klopstock müßte weniger bescheiden seyn, als er ist, wenn er bey einem so ungewöhnlichen Lobe, welches ihm vor den Augen ganz Deutschlands gegeben wird, nicht erröthen sollte.201

Auch Johann Adolf Schlegel meldete in einem Brief an Giseke vom 23./24. Oktober 1749 hinsichtlich »der schweizerischen Abgötterey gegen Klopstocken«, die sich in Heß’ Zufälligen Gedanken über das Heldengedicht, der Meßias ausdrückte, berechtigte Bedenken an: Höher kann die Abgötterey nicht getrieben werden und es fehlt weiter nichts, als daß der Hr. Pastor noch ein tägliches Gebet an Hr. Kloppstocken drucken läßt. Niemand dauert mich dabei mehr, als Herr Kloppstock, denn ausser den Feinden, die ihm ein so unmäßiges Lob erwecken wird, kann es ihm selbst zu einem Gifte werden, das sein Genie stolz und nachläßig macht, und Deutschland um seinen Heldendichter bringt.202

Klopstock war die überzogene ›Lobhudelei‹ tatsächlich peinlich, und er glaubte nur noch inkognito das Haus verlassen und unter Leute gehen zu können.203 Bodmer betrieb seine Literaturpolitik so weit, dass er Klopstock sogar zu sich in die Schweiz einlud, damit dieser dort ungestört an seinem Messias weiterarbeiten konnte. Eine von ihm ausgesandte Delegation, die sich aus Johann Georg Sulzer, Johann Georg Schultheß und Georg Steiner zusammensetzte, geleitete Klopstock von Quedlinburg aus in die Schweiz. Bodmer hatte einen engelsgleichen, asketischen Jüngling erwartet, stattdessen kam am 21. Juli 1750 ein lebenslustiger, dem weltlichen Vergnügen – dem Wein und den Mädchen – nicht abgeneigter Klopstock an, der eine heitere und abwechslungsreiche Zeit in Zürich verbrachte. Der Messias-Dichter stand lieber im Mittelpunkt der aufgeweckten jüngeren Generation der ansonsten stark hierarchisch organisierten und sittenstrengen Gesellschaft in Zürich, als dass er sich auf gelehrte Diskussionen mit dem wesentlich älteren Professor und Literaturtheoretiker Bodmer einließ. Am 30. Juli 1750 fand die berühmte Bootsfahrt auf dem Zürchersee im Kreise der jungen Bewunderer des Messias-Dichters statt, aus der die gleichnamige Ode Klopstocks hervorging. Der Schweizer Literaturpapst beklagt sich am 5. September 1750 in einem Brief an seinen Freund Zellweger über Klopstocks – seiner Meinung nach – unangemessenes Verhalten: 50 oder 60 Verse sind Alles, was er bisdahin am Messias gearbeitet hat. Aber dieses Wenige ist vortrefflich, heilig und himmlisch. Er ist gleichsam zwei Personen in einem Leib: der Messiasdichter und Klopstock. Ich bemerke sonst ein gutes Gemüthe bei ihm; 201 Brief von Rabener an Bodmer, 9. September 1749. In: [Bodmer :] Litterarische Pamphlete, S. 134–138, hier S. 137. 202 Brief von Schlegel an Giseke, 23./24. Oktober 1749. In: Hs.: Karl-Marx-Universität, Universitätsbibliothek Leipzig. Zitiert nach: Klopstock: DM 1748, Nr. 31, S. 196f., hier S. 197. 203 Vgl. den Brief von Klopstock an Bodmer, 13. September 1749. In: HKA, Briefe I, Nr. 35, S. 57–59, hier S. 58, Z. 52–62.

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wenn er nur strenger und nicht so leichtsinnig wäre. Was ich hier leichtsinnig nenne, mag nur Zerstreuung der Gedanken sein und eine gewisse Frivolität, die er selbst »Menschlichkeit« nennt, die ihm nicht erlaubt, eine Einladung, ein Mittag- oder Nachtessen auszuschlagen. Er unterscheidet nicht zwischen zwar unschuldigen, aber kleinen Freuden, viel weniger zwischen den würdigen und den würdigern Freuden. Er denket nicht nach, was für ein gutes, großes Exempel der Messiasdichter der Welt schuldig ist; daher steht sein Wandel mit der Messiade ziemlich im Widerspiel. Er ist nicht heilig; als ich ihm erzählt, daß wir an dem Dichter des Messias einen heiligen, strengen Jüngling erwartet hätten, fragte er : ob wir geglaubt hätten, er äße Heuschrecken und wilden Honig?204

Bodmer unterschied demnach zwischen dem Dichter des Bibelepos in der Nachfolge Miltons, den er weiterhin verehrte und bewunderte, und dem ›gemeinen‹ Menschen Klopstock, den er als nicht gesellschaftsfähig ansah. Er fürchtete offenbar auch, dass das Ansehen des Messias unter dem unpassenden Lebenswandel Klopstocks leiden könnte: »Gott gebe,« schreibt Bodmer, »daß die Leute nicht glauben, alle die himmlischen Gedanken, die in der Messiade sind, seien nur in seiner Phantasie entstanden, und der Verstand od. das Herz habe wenig Antheil daran.«205 Der Schweizer Literaturtheoretiker wollte wohl auch den Gottschedianern keine Angriffsfläche bieten. Schließlich kam es zum unvermeidlichen Bruch mit Bodmer, bei dem verletzter Stolz und Geldstreitigkeiten eine Rolle spielten.206 Klopstock verließ im September 1750 dessen Haus und zog zu Hartmann Rahn.207 Die Schweizer Partei war fortan intern gespalten: Heß und Sulzer beispielsweise hielten zu Bodmer, die ehemaligen »Bremer Beyträger« standen unerschütterlich auf 204 Brief von Bodmer an Zellweger, 5. September 1750. In: Zehnder: Pestalozzi, Nr. 14, S. 345– 351, hier S. 347f. 205 Ebd., S. 348. 206 Vgl. Brigitte Schnegg: Die Fahrt auf dem Zürichsee. Eine geschlechtergeschichtliche Deutung des Zerwürfnisses zwischen Bodmer und Klopstock im Jahre 1750. In: Ordnung, Politik und Geselligkeit der Geschlechter im 18. Jahrhundert. Hrsg. v. Ulrike Weckel, Claudia Opitz, Olivia Hochstrasser und Brigitte Tolkemitt. Göttingen 1998. (Das achtzehnte Jahrhundert: Supplementa; 6.) S. 119–142. Siehe auch den Brief, den Klopstock im Dezember 1750 an Bodmer geschrieben hatte, in dem er ausführlich seine Sicht der Ursachen des Zerwürfnisses mit seinem Mentor schildert. In: HKA, Briefe I, Nr. 98, S. 153–162. Klopstock schickte diesen Brief an Bodmer nicht ab, zeigte ihn aber Breitinger und mehreren Freunden. Vgl. auch die Briefe Bodmers an Zellweger. In: Zehnder : Pestalozzi, Nr. 13– 17, S. 344–360. 207 Bodmer kommentierte Klopstocks Rolle im Kreise der jungen Züricher folgendermaßen: »Es ist schon eine starke Jalousie unter seinen Jugendfreunden, denen allen er Rahn so distinguiert vorziehet. Es hat diesem Herrn überaus gefallen, daß ein so großer Dichter, unser Homer, äße, trinke, lachte, scherzte, küßte, Mäulchen raubete, Handschuh eroberte, Schuhe schlüpfete, springe, liefe, wie sie dieses alles thun. Sie setzen sich in allen diesen Stucken mit dem Poeten in Vergleichung.« (Brief von Bodmer an Zellweger, 5. September 1750. In: Zehnder : Pestalozzi, Nr. 14, S. 345–351, hier S. 350.)

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Klopstocks Seite. Der Messias-Dichter verließ am 12. Februar 1751 Zürich, nachdem er sich doch noch mit Bodmer ausgesöhnt hatte. Der Briefwechsel zwischen beiden war in den folgenden Jahren sehr spärlich, wenn auch oberflächlich höflich. Bodmer tröstete sich über seine Enttäuschung hinweg, indem er einen neuen jungen Dichter förderte, nämlich Christoph Martin Wieland, der sich wiederum von 1752 bis 1754 in Zürich aufhielt. Nach außen hin ließ sich die Schweizer Partei die internen Streitereien jedoch nicht anmerken, zumal Bodmer in den 1750er Jahren zur produktiven Rezeption des Messias anregte (vgl. Kap. 5). Gottsched griff das neue Bibelepos Klopstocks zunächst nicht öffentlich an. Vermutlich stellte das unvollendete Werk, von dem 1748 gerade einmal drei Gesänge vorlagen, anfangs für den Leipziger Literaturtheoretiker keine konkrete Gefahr dar. Diese Einschätzung änderte sich allerdings in den 1750er Jahren. Im Neuen Büchersaal findet sich versteckt in einer Rezension folgende Beurteilung des gegenwärtigen literarischen Marktes, die mit hoher Wahrscheinlichkeit von Gottsched selbst verfasst wurde: Der Witz und Aberwitz einiger alpinischen Zöglinge drohet uns eine alpinische Pest. Man will itzt weder für den Verstand, noch für das Herz mehr schreiben; sondern bloß die Einbildungskraft blenden. Alles, was an dem schwülstigen Lohenstein ehemals mit so vielem Grunde verworfen worden, das wird itzo in viel höherm Grade, bis zum Unsinne getrieben. Man verachtet in Versen das Ohr, wie in den Redensarten die Sprache, und in den Gedanken die Vernunft. Je seltsamer jemand Thorheit und Worte durcheinander werfen kann, desto höher wird er von den einäugigten Führern der Blinden erhoben, ja fast gar vergöttert.208

Die Verehrung für Milton erweist sich folglich für den ›guten Geschmack‹ als eine tödliche Krankheit. Sie wird als »alpinische Pest« bezeichnet. Gottsched verachtete demnach die angeblich ausschweifende Phantasie der Dichter aus dem Bodmer/Breitinger-Kreis. Er glaubte in ihren poetischen Werken einen spätbarocken schwülstigen Stil zu erkennen und lehnte dezidiert die reimlosen Verse, die Wortneuschöpfungen und die ›unvernünftigen‹ Inhalte ab. Neueste literarische Erscheinungen wie der Messias Klopstocks wurden von Gottsched allein schon deshalb abgewertet, weil sie nicht mit den Regeln des französischen Klassizismus konform gingen: Man hat die Regeln der Alten, wie eines Boileau, Canitz, und Neukirchs, als ein beschwerliches Joch vom Halse geschüttelt; und so folget man einer wilden Phantasie, als 208 [Rez.:] V. Geschichte der königlichen Akademie der schönen Wissenschaften zu Paris […]; aus dem Französischen übersetzt, von Luisen Adelg. Victorien Gottschedinn. III. Th. Leipzig 1750. In: Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste. [Hrsg. v. Johann Christoph Gottsched.] 10. Band. 4. Stück, im Weinmonat 1750. Leipzig 1750. S. 348–354, hier S. 353.

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einem zaumlosen kollernden Gaule: der seine unvorsichtigen Reiter dahin trägt, wohin Pegasus noch keinen vernünftigen Dichter geführet hat. Alle Gespenster ihrer Einbildung sehen sie für so viel neue Geschöpfe ihrer Dichtungskraft an; und dünken sich mehr, als Prometheus, wenn sie aus dem Kothe ihrer Einfälle etwas gebacken haben, das einem halbigten Dinge ähnlich sieht.209

Im Jahre 1751 erschien das historische Epos Hermann, oder das befreyte Deutschland von Christoph Otto Freiherr von Schönaich (1725–1807). Gottsched hatte eigens eine Vorrede zu diesem Heldengedicht verfasst und berichtet darin, wie er seinen Schüler Schönaich dazu bewegt habe, aus anfangs zehn Büchern zwölf zu machen und diverse andere Veränderungen bzw. Verbesserungen des Hermann auf seinen Rat hin vorzunehmen.210 Am Ende seiner Vorrede gratuliert der Leipziger Literaturpapst dem deutschen Lesepublikum zu einem ›regelgerechten‹ Epos in paargereimten trochäischen Tetrametern, das einen nationalen Helden behandelt: »Ich statte unserm Vaterlande zu diesem trefflichen Stücke aufrichtig den Glückwunsch ab: weil es allem Ansehen nach, im Deutschen das erste ist, welches nach den Regeln und Mustern der Alten den Namen einer Epopee verdienet.«211 In einer Rezension in Gottscheds Zeitschrift Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit wird behauptet, Deutschland sei bisher »von so vielen seltsamen Heldengedichten überschwemmet« worden, dass es »gleichsam ein Wunder, ja ein rechtes Glück zu nennen« sei, dass Schönaich ein derartiges »ordentliches und kunstrichtiges« Gedicht veröffentlicht habe.212 Die »epische Dichtkunst« sei bisher nur »in so fürchterlichen Gestalten erschienen«.213 Schönaich wurde von Gottsched systematisch zu einem kämpferischen Konkurrenten Klopstocks aufgebaut. So heißt es auch über den Hermann und dessen Verfasser : Ueberall herrschet ein patriotischer Geist, der auf Deutschlands Ehre und Freyheit geht, den Aberglauben hasset, die wahre natürliche Religion hoch schätzet, die Keuschheit und Gerechtigkeit, Großmuth und Menschenliebe einschärfet: und kurz die Herzen seiner Leser mit den richtigsten Empfindungen der Wahrheit und Tugend erfüllet. Dichter von solcher Art, sind einem Staate nützlicher, als viele denken; indem sie durch ihre Fabeln, die nützlichsten Lehrsätze ausbreiten; und die Dichtkunst wieder 209 Ebd., S. 353f. 210 Christoph Otto Freiherr von Schönaich: Hermann, oder das befreyte Deutschland, ein Heldengedicht. Mit einer Vorrede ans Licht gestellet von Joh. Chr. Gottscheden. Leipzig 1751. S. I–XVIII (Vorrede), hier S. Xf. 211 Ebd., S. XVIII. 212 [Rez.:] I. Herrn Christoph Ottens, Freyherrn von Schönaich, der königl. deutsch. Ges. zu Königsb. Ehrengliedes, Hermann, oder das befreyte Deutschland, ein Heldengedicht, mit einer Vorrede ans Licht gestellet von Joh. Chr. Gottscheden. […] Leipzig 1751. In: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit. [Hrsg. v. Johann Christoph Gottsched.] [1. Band.] Wintermonat [November] 1751. Leipzig 1751. S. 779–794, hier S. 779. 213 Ebd., S. 780.

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zu dem alten Grade ihrer Würde erheben, darum sie durch soviel üppige, schlüpfrige und niederträchtige Federn größtentheils, doch nur in den Augen derer gebracht worden, die den Misbrauch vom rechten Gebrauche der Poesie nicht zu unterscheiden wissen.214

Gottsched sah folglich im Hermann das lang ersehnte deutsche Nationalepos. Schönaich wurde am 18. Juli 1752 feierlich von der philosophischen Fakultät der Universität Leipzig – Gottsched war derzeit Dekan – zum ›poeta laureatus‹ gekrönt.215 In einer Rezension in den Freymüthigen Nachrichten von Neuen Büchern, und andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen verkündeten die Züricher im Dezember 1751 ironisch, was sie von diesem neuen historischen Epos der ›Gottsched-Schule‹ hielten: »Dieses Gedicht zeiget zur Erstaunung, wie weit man es mittelst der mechanischen Regeln bey einem kleinen Naturell und einer mäßigen Wissenschaft bringen kan.«216 Im Jahre 1755 erschien in Berlin unter dem nichtssagenden Titel Edward Grandisons Geschichte in Görlitz eine polemische Schrift, die die wichtigsten Argumente im deutsch-schweizerischen ›Literaturstreit‹ auf originelle Weise zusammenfasste.217 Der hauptsächliche Verfasser dieser Streitschrift, die aus insgesamt sieben Briefen besteht, war Bodmer, wobei sich wohl sein damaliger Schüler Wieland ebenfalls daran beteiligte. Kurz zum Inhalt der Geschichte: Ein Schweizer namens Martin Kreuzner trifft in einem Gasthof in Görlitz den englischen Baron Edward Grandison und den Freiherrn von Schönaich. Es kommt zu intensiven Diskussionen über die neuen deutschen Originalepen. Schönaich schildert den ›Literaturstreit‹ aus der Sicht der Gottschedianer (1. Brief). Kreuzner hingegen berichtet über den deutsch-schweizerischen ›Federkrieg‹ aus der Perspektive des Bodmer/Breitinger-Kreises (2. Brief). Schließlich kommt auch noch Gottsched persönlich im Gasthof an (3. und 4. Brief). Schönaich ruft begeistert bei dessen Ankunft aus, dass er hoffe, der Leipziger Professor werde »unsere ausschweifenden, schöpferischen und ätherischen Witzlinge noch manchmal in die Pfanne hauen«218 – gemeint waren damit natürlich die Bewohner des »Schweitzerlande[s], dem verachtesten Winkel Deutschlandes«219. 214 Ebd., S. 793f. 215 Vgl. Franz Muncker : Friedrich Gottlieb Klopstock. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. Stuttgart 1888. S. 163. 216 Aufgehobner Brief. In: Freymüthige Nachrichten von Neuen Büchern, und andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen. 8. Jahrgang. L. Stück (15. Christmonat [Dezember] 1751). Zürich 1751. S. 396–399, hier S. 396. 217 Vgl. dazu: Ludwig Hirzel: Wieland und Martin und Regula Künzli. Ungedruckte Briefe und wiederaufgefundene Actenstücke. Leipzig 1891. S. 72–92. Hirzel fasst den Inhalt von Edward Grandisons Geschichte in Görlitz zusammen. 218 [Johann Jacob Bodmer / Christoph Martin Wieland:] Edward Grandisons Geschichte in Görlitz. Berlin 1755. S. 50. 219 Ebd., S. 8.

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Der englische Baron prüft sowohl die neuen biblischen Epen, die in der Nachfolge Miltons entstanden waren, als auch den Hermann Schönaichs und kommt schnell zu dem Schluss, dass ihm die Werke der Schweizer Partei und insbesondere der Messias Klopstocks viel besser gefallen (6. Brief). In der Berlinischen Privilegirten Zeitung erschien im Mai 1755 eine lobende Rezension von Edward Grandisons Geschichte in Görlitz, die Gotthold Ephraim Lessing verfasst hatte.220 Der Literaturkritiker macht darin deutlich, dass der Titel der Schrift irreführend sei. Man denke hierbei an den berühmten empfindsamen Briefroman The History of Sir Charles Grandison (1753/54) von Samuel Richardson, dabei handle es sich um »eine kleine Geschichte des Geschmacks unter den Deutschen«.221 Lessing ist davon überzeugt, dass »die jetzt herrschenden Streitigkeiten in dem Reiche des deutschen Witzes nirgends so kurz, so deutlich, so bescheiden, als in diesen wenigen Bogen, vorgetragen worden [seien]«222. Ein einigermaßen realistisches, wenn auch teilweise etwas überzogenes Bild des Leipzig-Züricher ›Literaturstreits‹ bietet diese Streitschrift der Bodmerianer vor allem deshalb, weil in den Text unmarkierte (teils leicht veränderte) Zitate sowohl aus den Schriften der Gottschedianer als auch der Schweizer Partei eingefügt sind.223 Den (Anti-)Figuren Schönaich und Gottsched werden folglich die eigenen Worte in den Mund gelegt. Lessing erklärt in seiner Rezension, dass er die Darstellung der gegnerischen Partei für zu nachsichtig hält: Die Verfasser sind dabei in ihrer Unparteilichkeit so weit gegangen, daß sie einem Gottsched und einem Schönaich weit mehr Einsicht beilegen, weit mehr Gründe in den Mund geben, als sie jemals gezeigt haben, und sie ihre schlechte Sache weit besser verteidigen lassen, als es von ihnen selbst zu erwarten steht. Ein wie viel leichters Spiel würden sie ihren Widerlegungen und ihrer Satyre haben machen können, wenn sie die Einfalt des einen in allem ihren dictatorischen Stolze, und die Possenreisserei des andern in aller ihrer wendischen Grobheit aufgeführet hätten.224

220 Gotthold Ephraim Lessing: [Rez.:] Edward Grandisons Geschichte in Görlitz. Berlin 1755. In: [Ders.:] Werke und Briefe in zwölf Bänden. Band 3: Werke 1754–1757. Hrsg. v. Conrad Wiedemann unter Mitwirkung von Wilfried Barner und Jürgen Stenzel. Frankfurt a. M. 2003. (Bibliothek deutscher Klassiker ; 184.) S. 394f. Diese Rezension erschien am 29. Mai 1755 im 64. Sück der Berlinischen Privilegirten Zeitung. 221 Ebd., S. 394. Der Engländer Edward Grandison wird in der Erzählung bezeichnenderweise als der erstgeborene Sohn von Carl Grandison und Henriette Byron eingeführt. 222 Ebd. 223 Vgl. die akribische Zusammenstellung der Zitate und die entsprechenden Quellennachweise von Arthur Hordorff in: Arthur Hordorff: Untersuchungen zu »Edward Grandisons Geschichte in Görlitz«. In: Euphorion 18 (1911). S. 68–89, 381–406, 634–657. Euphorion 19 (1912). S. 66–91. 224 Lessing: [Rez.:] Edward Grandisons Geschichte in Görlitz. Berlin 1755. In: [Ders.:] Werke und Briefe. Bd. 3, S. 394f.

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Der sogenannte ›Literaturstreit‹ ab den 1740er Jahren

Im Gegensatz zum Complot der herrschenden Poeten u. Kunstrichter werden in dieser satirischen Schrift Bodmers die Zitate als solche durch hervorhebenden Fettdruck oder Anführungszeichen nicht kenntlich gemacht. Es fehlen auch die Fußnoten mit den jeweiligen Quellenangaben. Dem zeitgenössischen Lesepublikum waren allerdings die in den diversen kritischen und polemischen Schriften sich immer wieder wiederholenden Argumente der konkurrierenden Parteien nur zu gut bekannt, so dass sie das intertextuelle ›Spiel‹ der Geschichte gewiss sofort durchschauten. Bodmer und Wieland erhofften sich sicherlich, durch die Bezüge und Anspielungen auf Prätexte, neue Anhänger zu gewinnen. Derart interpretiert auch der Berliner Rezensent Edward Grandisons Geschichte in Görlitz: Doch sie [die Autoren; I. G.] wollten ihre Leser mehr überzeugen, als betäuben; und der Beitritt eines einzigen, den sie durch Gründe erzwingen, wird ihnen angenehmer sein, als das jauchzende Geschrei ganzer Klassen, wo es gutherzige Knaben aus Furcht der Rute bekennen müssen, daß Gottsched ein großer Mann und Schönaich ein deutscher Virgil sei.225

Die wichtigsten Parteigänger Gottscheds in den 1750er Jahren waren Daniel Wilhelm Triller (1695–1782), der 1751 anonym eine Parodie namens Der Wurmsaamen. Ein Helden-Gedicht veröffentlichte, und Christoph Otto Freiherr von Schönaich, der 1754 ebenfalls anonym eine Streitschrift mit dem Titel Die ganze Aesthetik in einer Nuß, oder Neologisches Wörterbuch erscheinen ließ. In beiden Werken wurden Klopstocks Messias und alle anderen nachahmenden Bibelepen scharf angegriffen (vgl. Kap. 5). Man vermutete zunächst, dass Gottsched selbst der Autor des kontroversen Neologischen Wörterbuches wäre, in welchem Schönaich vor allem die Wortneuschöpfungen Klopstocks, Bodmers, Wielands, Gellerts und Hallers verspottete. Der Leipziger Literaturpapst wies allerdings diesen Verdacht öffentlich in mehreren Zeitungen bzw. Zeitschriften ausdrücklich zurück. Im Neuesten aus der anmuthigen Gelehrsamkeit findet sich im Dezember 1754 ein Artikel, in dem nochmals erklärt wird, dass Gottsched eben nicht der Verfasser dieses satirischen Wörterbuches sei:226 Erstens beteuere er aufrichtig, dass er die darin »excerpirten Gedichte[.]« »gar niemals« gelesen habe, selbst den Messias habe er »niemals ganz, ja kaum ein ganzes Buch davon hintereinander lesen können«.227 Zweitens habe der Herr Professor Gottsched »zu dergleichen mühsamer Arbeit auch gar keine Zeit zu verschwenden gehabt«, da er an mehreren anderen Buchprojekten gearbeitet 225 Ebd., S. 395. 226 [Rez.:] VI. Die ganze Aesthetik in einer Nuß, oder neologisches Wörterbuch […] 1754. In: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit. [Hrsg. v. Johann Christoph Gottsched.] [4. Band.] Christmond [Dezember] 1754. Leipzig 1754. S. 911–916. 227 Ebd., S. 913.

Der sogenannte ›Religionskrieg‹

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und zudem eine mehrmonatige Reise unternommen habe.228 Und drittens sei die »ganze Art zu denken und zu schreiben«, die in diesem Wörterbuch vorherrsche, für Gottsched nicht typisch, da er »zu bittern Kritiken gar nicht geneigt« sei und überhaupt »Schmähschriften« stets nur durch »Stillschweigen und Verachtung« räche.229 Vermutlich war selbst Gottsched dieser heftige Angriff Schönaichs auf die ›seraphischen Dichter‹ unangenehm. Noch Friedrich Nicolai verkündete 1755 im zehnten der Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland, dass es gewiss sei, dass Gottsched, »wann er bei dem neologischen Wörterbuch, auch nicht die Feder angesezzet, er doch nicht allein um dasselbe gewust, sondern es auch befördert, und vollkommen gebilliget habe«.230 Das Neologische Wörterbuch sei eine »elende Charteke«.231 Die »Grobheiten wider berühmte Leute, und die ganze Schreibart« würden beweisen, dass »die Verfasser, sie mögen auch sein, wer sie wollen, sehr ungesittet [seien]«.232

1.3

Der sogenannte ›Religionskrieg‹: neue ›Erdichtungen‹ vs. theologische Orthodoxie

Klopstock fand sich nach der Veröffentlichung der ersten drei Gesänge seines Messias plötzlich im Mittelpunkt des deutsch-schweizerischen ›Literaturstreits‹ wieder. Bislang betraf die Diskussion der streitenden Parteien vor allem poetologische Theoreme und ästhetische Fragestellungen. Mit dem Erscheinen eines neuen deutschen Heldengedichts mit biblischem Stoff verlagerte sich der Disput insbesondere auf theologische Problemstellungen. Samuel Gotthold Lange bezeichnete den ›Literaturstreit‹ rückblickend im Jahre 1778 als »dreyßigjährige[n] poetische[n] Krieg«.233 Der direkte Vergleich mit einem Religionskrieg ist passend, da es in der literaturkritischen Fehde auch »um die Legitimierung religiöser Poesie und damit letztlich um die für die Aufklärung be-

228 Ebd., S. 914. 229 Ebd., S. 914f. 230 [Friedrich Nicolai:] Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland. Berlin 1755. In: Friedrich Nicolai: Sämtliche Werke, Briefe, Dokumente. Kritische Ausgabe mit Kommentar. Hrsg. v. P.M. Mitchell, Hans-Gert Roloff und Erhard Weidl. Band 3: Literaturkritische Schriften I. Bearbeitet von P.M. Mitchell. Berlin [u. a.] 1991. (Berliner Ausgaben.) S. 53–160, hier S. 114. 231 Ebd., S. 116. 232 Ebd. 233 Samuel Gotthold Lange: Leben Georg Friedrich Meiers. Halle 1778. S. 42.

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Der sogenannte ›Literaturstreit‹ ab den 1740er Jahren

deutsame Frage nach dem Verhältnis von Dichtung und Religion selbst« ging.234 Die Poetik der Schweizer hat ihre Fundierung in der christlichen Offenbarungsreligion.235 Bodmer charakterisiert Miltons Paradise Lost in seiner deutschen Übersetzung von 1742 dezidiert als »poetische[.] Theologie«.236 Gottsched hingegen verwirft in seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst die von Andr8 Dacier (1651–1722) in dessen französischer Übersetzung von Aristoteles’ Poetik (1692) aufgestellte Hypothese, »die Religion sey die Hebamme der Poesie gewesen; und man habe die ersten Lieder bloß zum Lobe Gottes gemacht und abgesungen«.237 Der Leipziger Literaturtheoretiker kritisiert Dacier und dessen französische »Landesleute[.]« dafür, »daß sie abergläubischer Weise, den Wissenschaften gern einen heiligen Ursprung geben wollen«.238 Gottsched ist davon überzeugt, dass die Poesie »ihren Ursprung aus der Natur selbst« habe: Meines Erachtens würde man nimmermehr auf die Gedanken gekommen seyn, Gott zu Ehren Lieder zu singen; wenn man nicht vorher schon gewohnt gewesen wäre, zu singen. Und ich glaube vielmehr, daß man durch die geistlichen Lobgesänge, eine an sich selbst gleichgültige Sache geheiliget; als durch die weltlichen Lieder, eine an sich heilige Sache entweihet habe.239

Der sächsische ›Kunstrichter‹ lehnte einen religiösen bzw. christlichen Stoff für ein Werk der Dichtkunst nicht grundsätzlich ab. Er vertrat allerdings den Standpunkt der aufgeklärten Orthodoxie, die der Unvernunft und dem Aberglauben den Kampf angesagt hatte. Im Neuen Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste findet sich im Juli 1748 eine versteckte Kritik Gottscheds an Klopstock, den er als »mittelmäßige[n] Kopf« stark abwertet: Es ist eine Anmerkung, die schon von den größten Kunstrichtern gemacht worden, daß die Religion der schönste Stoff zur Dichtkunst sey ; und daß sich an die geistliche Poesie nur die größten Geister und auserlesensten Federn wagen sollen. Wir halten es, und zwar mit gutem Grunde, für eine Verwägenheit, wenn ein mittelmäßiger Kopf, seinen 234 Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Band 6/I: Empfindsamkeit. Tübingen 1997. S. 239. Vgl. zu den theologischen Implikationen des ›Literaturstreits‹ Kempers Kapitel »Der ›dreyßigjährige Krieg‹ um die religiöse Poesie« (ebd., S. 239–251). 235 Vgl. Reinhart Meyer: Restaurative Innovation. Theologische Tradition und poetische Freiheit in der Poetik Bodmers und Breitingers. In: Aufklärung und literarische Öffentlichkeit. Hrsg. v. Christa Bürger, Peter Bürger und Jochen Schulte-Sasse. Frankfurt a. M. 1980. S. 39–82. 236 [Johann Jacob Bodmer :] Johann Miltons Episches Gedichte von dem Verlohrnen Paradiese. Faksimiledruck der Bodmerschen Übersetzung von 1742. Mit einem Nachwort von Wolfgang Bender. Stuttgart 1965. (Deutsche Neudrucke, Reihe Texte des 18. Jahrhunderts.) S. 241, Anm. 237 Gottsched: AW VI 1, S. 130. Andr8 Daciers La poetique d’Aristote erschien mit einer Vorrede und Anmerkungen 1692 in Paris. 238 Ebd. 239 Ebd., S. 130f.

Der sogenannte ›Religionskrieg‹

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noch mittelmäßigern Kiel mit dem Lobe eines Helden beschäfftiget, dessen große Thaten auch den Griffeln der größten Dichter und Redner gnugsam zu schaffen machen würden.240

Gottsched veröffentlichte 1751 in einem Sammelband seiner Gedichte ein »poetisches Sendschreiben« an Franz Christoph von Scheyb (1704–1777).241 Der Wiener Autor Scheyb hatte die Theresiade (2 Bde., 1746) geschrieben, ein panegyrisches »Ehren-Gedicht« im Versmaß des Alexandriners, das Maria Theresia von Österreich verherrlichte. Das »poetische Sendschreiben« von Gottsched an ihn ist auf Oktober 1750 datiert. Der Leipziger Literaturkritiker behauptet darin, dass es ihn sehr bekümmere, dass sich sein Freund Scheyb »voll Eigensinn« (V. 64) weiterhin die Musterautoren des antiken Griechenlands und Roms zum Vorbild nehme, denn er selbst habe »jüngst gelernt j Daß man durchs Alterthum sich von dem Ruhm entfernt, j Ein Muster selbst zu seyn; daß man die Geister hindert, j Wenn die Vernunft den Flug der Phantasey vermindert, j Und klüglich schreiben lehrt« (V. 75–79).242 Gottsched berichtet von der Gefahr, in welcher sich das an »Geist, Vernunft und Witz« (V. 118) reiche Sachsen befand: […] Ein ungleich heller Licht, Das aus den Alpen quillt, und durch die Nebel bricht, Die unsre Geister noch mit Wahn und Irrthum deckten, Bestralt der Dichter Heer, die noch im Dunkeln steckten. Man sucht den M i l t o n auf, bey dem H o m e r ein Kind, V i r g i l und T a s s o nur verlachte Schüler sind. Man lehrt ihn Schweizerdeutsch, man sucht ihn anzupreisen, Und seine Schönheit recht der blinden Welt zu weisen. (V. 119–126)243

Man habe die Leipziger »ästhetisch denken« gelehret (V. 145), verwerfe nun »Vernunft und Licht« und verehre »die Dunkelheit« (V. 146).244 Zudem sei plötzlich ein neuer Archetyp erschienen: 240 [Rez.:] I. Sentimens d’ une Ame penitente, sur le Pseaume Miserere. Par Madame D *** traduits en Vers. D. i. Betrachtungen einer bußfertigen Seele, über den 51 Psalm: Gott sey mir gnädig nach deiner Güte etc. Durch die Frau D *** in Versen. In: Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste. [Hrsg. v. Johann Christoph Gottsched.] 7. Band. 1. Stück, im Monat Juli 1748. Leipzig 1748. S. 3–17, hier S. 3f. 241 Johann Christoph Gottsched: XII. Schreiben. An Seine Hochwohlgebohrne, Herrn Franz Christoph von Scheyb, auf Gaubickolheim, E. Löbl. Niederösterr. Landschaft Secretär. 1750 im October. In: Johann Christoph Gottscheds Gedichte, Darinn sowohl seine neuesten, als viele bisher ungedruckte Stücke enthalten sind. Zweyter Theil. Leipzig 1751. S. 551–557. Wiederabgedruckt in: Johann Christoph Gottsched: Ausgewählte Werke. Hrsg. v. Joachim Birke†. Erster Band: Gedichte und Gedichtübertragungen. Berlin 1968. (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts; 6.) S. 362–368. Zitiert wird im Folgenden nach dieser Neuedition. 242 Ebd., S. 364f., V. 63–79. 243 Ebd., S. 366. 244 Ebd., S. 367.

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Jedoch ein größrer Geist, als Milton zeiget sich. O F r e u n d ! es ist kein Scherz; nunmehr ermuntre Dich Ein deutsches Meisterstück, die Frucht von B o d m e r s Lehren, Die Zürch der Welt geschenkt, zu sehen und zu ehren. M e ß i a s wird erzeugt! Nicht, den der Juden Schaar Schon seit so langer Zeit zu sehn begierig war ; Nein, den ein ander Chor von unbeschnittnen Ohren, Sich in Gedanken längst zum Trost und Heil erkohren. M e ß i a s wird erzeugt, ein episches Gedicht, Das aller Britten Stolz durch deutsche Kräfte bricht; V o l t a i r e n schamroth macht, den F e n e l o n verdunkelt, Weit mehr als S t. A m a n t , und A r i o s t o funkelt; Den T a s s o übertrifft; vor dem auch du, M a r i n , Wie M a r o und H o m e r , noch mußt den Kürzern ziehn. (V. 147–160)245

Satirisch bezeichnet Gottsched demnach den Messias als ein Epos, das den dichtungstheoretischen Lehren Bodmers entspreche. Deshalb könne sein Verfasser auch die Musterautoren sowohl der europäischen als auch der antiken Literaturen ›entthronen‹. Klopstocks Name wird seltsamerweise nicht genannt. Gottsched nennt ihn lediglich den »zu großen Schüler« (V. 161) seines Lehrers Bodmer und kritisiert satirisch die lügenhaften ›Erdichtungen‹ in seinem epischen Werk mit biblischer Materie: Der Lehrer selbst erstaunt vor dem zu großen Schüler, Und bethet ihn fast an. Der heiße Wunsch so vieler, Ein deutsches Heldenwerk von solchem Schrot zu sehn, Dem Himmel sey gedankt! ist nicht umsonst geschehn. Hier stralt ein dunkler Glanz. Hier stützet man den Glauben Mit Fabeln neuer Art: wer will ihn uns nun rauben? Was kein Prophet gesehn und kein Evangelist, Was kein Apostel wußt, das lernst du hier, mein Christ! Der Schriftgelehrten Witz wird uns, mit tiefen Schlüssen, Dieß neue Bibelbuch hinfort erklären müssen. (V. 161–170)246

Die Klassifizierung als »Bibelbuch« (V. 170) verweist auf die tatsächliche zeitgenössische Rezeption des Messias als Erbauungsbuch. Gottsched ruft in seinem »poetischen Sendschreiben« schließlich seinen Freund Scheyb dazu auf, jetzt sein »Heldenrohr« (V. 171) zu ergreifen und sich Klopstocks Bibelepos »zum Musterbilde« zu nehmen (V. 172), denn wer ihm nicht ähnlich schreibe, könne künftig dem deutschen Lesepublikum nicht gefallen. Homer sei »abgesetzt« (V. 174), Vergil missfalle allen, lediglich Miltons »hoher Geist« und der Messias seien gegenwärtig »der Vergöttrung werth, 245 Ebd. 246 Ebd., S. 367f.

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und müssen Tempel haben« (V. 181f.).247 Der Leipziger Poetiker konstatiert jedoch am Ende seines Schreibens, dass der Epiker Scheyb in seinem dichterischen Schaffen wohl eigensinnig weiterhin Homer folge (V. 183f.). Er schließt sein satirisches Gedicht mit folgenden Versen, die vermutlich den von ihm verachteten sprachlichen Stil der ›Miltonischen Sekte‹ parodieren sollten: »Gut! folge Deinem Kopf. Du liebst ein deutlich Wesen? j Vernimm das Donnerwort: K e i n Z ü r c h e r w i r d D i c h l e s e n.« (V. 189f.)248 In dem Sammelband mit Gottscheds Gedichten findet sich eine Antwort auf dieses »poetische Schreiben« Gottscheds, das angeblich von Scheyb selbst stammen soll.249 Darin wird der Messias Klopstocks ebenfalls stark abgewertet: Den las ich. Dieser wies mir so verborgne Schätze, Daß ich mich über ihn vor Ehrfurcht noch entsetze; Ja vor Verwunderung desselben Werth und Preis, So man ihm zugedacht, erstaunensvoll nicht weis: Weil Lügner und Prophet, weil Wahrheit und Gedichte, Ja Teufel, Gott und Mensch, Erdichtung und Geschichte Ein episches Gebäu, kurz, den Meßias macht. So weit hat es Homer und Maro nicht gebracht! Er dichtet Himmel, Höll und alle Welt zusammen: Die Verse mögen ja von einem = = stammen, So folg ich meinem Trotz. Mein Spiegel ist Homer : Ist dieser auch nicht recht, so weis ich keinen mehr.250

Die theologischen Implikationen der literarischen Fehde zwischen Zürich und Leipzig werden evident in den Streitschriften der 1750er Jahre, die sich mit dem Messias Klopstocks kritisch auseinandersetzen. In einer Rezension im Neuesten aus der anmuthigen Gelehrsamkeit wird im Monat Juli 1752 Gottscheds literaturkritische Meinung über die Gattung Bibelepos zusammengefasst:251 Der Leipziger Professor glaube, dass sich »die willkührlichen Erdichtungen von Gott, Seraphen, Cheruben, und Teufeln, deren sich die neuern Dichter in ihren Werken bis zum Ekel bedienen« würden, sich nicht »mit dem heiligen Ernste der 247 Ebd., S. 368, V. 171–182. 248 Ebd. 249 XIII. Schreiben. Des Herrn von Scheyb Antwort auf vorstehendes Schreiben. In: Johann Christoph Gottscheds Gedichte, Darinn sowohl seine neuesten, als viele bisher ungedruckte Stücke enthalten sind. Zweyter Theil. Leipzig 1751. S. 558–562. 250 Ebd., S. 558f. 251 [Rez.:] V. Commentatio de Epopoeia Christiana etc. […] 1752. In: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit. [Hrsg. v. Johann Christoph Gottsched.] [2. Band.] Heumond [Juli] 1752. Leipzig 1752. S. 519–534. Rezensiert wird in diesem Beitrag die Commentatio de Epopoeia christiana von Johann Heinrich Stuß (Gotha 1752). Stuß veröffentlichte auch noch zwei Fortsetzungen seiner Abhandlung, die Commentatio continuata de Epopoeia christiana (Gotha 1752) und die Commentatio secundum continuata de Epopoeia christiana (Gotha 1752).

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christlichen Geheimnisse« vereinbaren ließen.252 Er habe »in seiner Jugend […] zehn Jahre lang die Theologie studiret; und dadurch einen so hohen Begriff von den verehrungswürdigen Lehren der Offenbarung gefasset«, dass er davon überzeugt sei, dass »alles, was ein menschlicher Witz zu diesen erhabenen Wahrheiten hinzudichte«, diese »nothwendig mit Lügen besudeln« müsse.253 Gottsched vertrete den theologischen Standpunkt, dass dort, »wo der Geist der ewigen Weisheit« rede, sich »kein sterblicher Mensch erkühnen [dürfe], Fabeln anzuflicken; oder vermeyntliche Lücken des göttlichen Vortrages, mit seinen Hirngespinsten auszufüllen«.254 Er glaube demnach, daß es nicht rathsam und erlaubt sey, biblische Epopöen zu machen: weil nämlich diese ohne Erdichtungen nicht bestehen können; die göttlichen Wahrheiten aber, zumal in Geheimnissen, weder Fabeln bedörfen, noch ohne Verletzung ihrer hohen Würde dergleichen neben sich leiden können.255

Die Schweizer Partei versuchte natürlich, jegliche Kritikpunkte, die die Vertreter der theologischen Orthodoxie und der orthodoxen Aufklärung gegenüber dem Bibelepos Klopstocks äußern könnten, schon vorab zu entkräften. Meier behauptet in seiner Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias (1749) über Klopstock: »Unser Dichter thut mehr zur Befestigung der christlichen Religion als mancher Gottesgelehrter, welcher auf die allerorthodoxeste Art seinen Glauben vertheidiget.«256 Heß kommt in seinen Zufälligen Gedanken über das Heldengedicht, der Meßias (1749) auf die »hohen Göttlichen Geheimnisse« zu sprechen, die mit dem Erlösungswerk des Messias verknüpft seien, und versichert seinen Lesern: »Unserm Gottesgelehrten Dichter war wenigstens genugsam bekannt, daß er in seinem ganzen Gedichte allenthalben mit den allerhöchsten und der Vernunft unbegreiflichsten Geheimnissen werde zu thun bekommen.«257 Klopstock habe sich stets bemüht, diese »Göttlichen Geheimnisse« »mit der zärtlichsten Sorgfalt ganz schriftmäsig zu behandlen [!]«.258 In der Schweiz kursierte im Jahre 1749 ein anonymes Manuskript mit dem Titel Sendschreiben eines Landpastors an einen andern über die Messiade, in dem zusammengefasst wurde, welche Fehler die orthodoxen Theologen in der dichterischen Behandlung des biblischen Stoffes im Messias zu erkennen glaubten. Der Verfasser dieser satirisch-kritischen Schrift war der Winterthurer 252 253 254 255 256 257

Ebd., S. 521f. Ebd., S. 522. Ebd. Ebd. Meier : Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias. Erstes Stück (1752), S. 7. [Johann Caspar Heß:] Zufällige Gedanken über das Heldengedicht, der Meßias. Veranlasset durch Herrn Georg Friedrich Meiers, öffentlichen Lehrers der Weltweisheit zu Halle, Beurtheilung dieses Heldengedichtes. Zürich 1749. S. 18. 258 Ebd.

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Diakon Johann Heinrich Waser (1713–1777). Bodmer schreibt Anfang Dezember dieses Jahres in einem Brief an Johann Georg Schultheß: Ein paar Landprediger haben Hrn. Pastor Heß und mir ein paar Briefe wider die Messiade durch unbekannte Wege zugefertiget. Der erste ist sehr ländlich, wie er seyn könnte, wenn ihn ein Dechant geschrieben hätte; der andere ist spitzfündig genug, und gleichsam ein Commentarius des ersten. Wir können die Verfasser nicht errathen. Wir werden uns hüten, die Briefe zu publiciren, damit sie den Pöbel nicht irre machen.259

Es wird aus den zwei »›antimessianischen Briefe[n]‹«260 nicht ganz klar, ob die Aussagen nur satirisch oder teilweise auch ernst gemeint waren.261 Vermutlich hatte Waser tatsächlich ein paar Einwände gegen den Messias, die er in die Satire gleich mit einbaute. Heß erkannte richtig, dass in den Briefen »Schimpf und Ernst zusammen gelte[n]«.262 Bodmer wollte daher die Schrift auch nicht drucken lassen, um das Lesepublikum nicht zu verwirren. Die Gottschedianer hätten dann schadenfroh verkünden können, dass auch in der Schweiz heftige Kritiker Klopstocks säßen. Dem Messias-Dichter wurden die satirischen Briefe ebenfalls verheimlicht. Veröffentlicht wurde das zweiteilige Manuskript erst nach Wasers Tod unter dem Titel Briefe zweyer Landpfarrer, die Meßiade betreffend in den Jahrgängen 1793 und 1794 des Neuen Schweitzerschen Museums.263 Gottsched fand in den 1750er Jahren viele Anhänger, die den Messias im Namen der Religion angriffen. Ludwig Friedrich Hudemann (1703–1770) beispielsweise veröffentlichte im Jahre 1754 zunächst anonym eine Abhandlung mit dem Titel Gedanken über den Messias in Absicht auf die Religion. Die gleiche polemische Schrift erschien mit leichten Veränderungen nochmals, diesmal mit Angabe des Verfassers, unter dem genaueren, sprechenden Titel Gedanken von denen der Ehre Gottes und dem Heil der Menschen nachtheiligen Würkungen, die aus einem Gedicht entspringen, das, wieder die Grundsätze des göttlichen Wortes, christl. Religions-Geheimnisse behandelt (1754) in Hamburg. Hudemann kritisiert darin ebenfalls die ›lügenhaften‹ poetischen ›Erdichtungen‹ im Messias, die der christlichen Religion schädlich seien. Klopstock solle »sich unterstehen, das 259 Brief von Bodmer an Schultheß, Anfang Dezember 1749. In: Hs.: Zentralbibliothek Zürich. Zitiert nach: Klopstock: DM 1748, Nr. 32, S. 197f., hier S. 198. 260 Ebd., S. 198, Anm. 1. 261 Vgl. HKA, Briefe I, S. 287. 262 Siehe den undatierten Brief von Heß an Bodmer. In: Briefe berühmter und edler Deutschen an Bodmer. Hrsg. v. Gotthold Friedrich Stäudlin. Stuttgart 1794. S. 141–162, hier S. 144. 263 [Johann Heinrich] Waser : Briefe zweyer Landpfarrer, die Meßiade betreffend. (Bald nach der ersten Erscheinung derselben). In: Neues Schweitzersches Museum. [Hrsg. v. Hans Heinrich Füssli.] 1. Jahrgang. Heft 12. Zürich 1793. S. 906–917. [Johann Heinrich] Waser : Briefe zweyer Landpfarrer, die Meßiade betreffend. (Bald nach der ersten Erscheinung derselben). In: Neues Schweitzersches Museum. [Hrsg. v. Hans Heinrich Füssli.] 2. Jahrgang. Heft 1. Zürich 1794. S. 1–28.

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allerteuerste Geheimniß der durch den Sohn Gottes gestifteten Erlösung mit einer poetischen Tünche zu überziehen, und sie zu einem geringschätzigen Spiel der ausschweifenden Phantasey zu machen«.264 Dieser »neumodische Wahn«, welcher der »ausschweifenden« Einbildungskraft des Dichters geschuldet sei, stürze »seine taumelnde[n] Verehrer« in »eine gefährliche und das Christenthum äusserst verunehrende Schwärmerey«.265 Hudemann führt drei »Hauptgründe[.]« an, weshalb dieses neue biblische Heldengedicht der »heilige[n] Glaubenslehre« schaden würde: 1) »weil es das verdienstliche Leiden unsers hochgelobten Erlösers, und das über die Sünden der Menschen, die er gebüsset, ergangene göttliche Gericht, zu einem leichten Spiel der ausschweifenden Phantasey macht, und dadurch der Ehre des Höchsten und seines Sohnes in dem Herzen derer, die es lesen, Abbruch thut.« 2) »weil es der menschlichen Natur, obgleich sie wegen der Sünde durch und durch verderbet und verunstaltet ist, allenthalben schmeichelt, sie übermäßig erhebet, ja ihr hin und wieder abgöttisch Ehre erweiset.« 3) »weil es dem Menschen eine sehr falsche, und dem Worte Gottes entgegen stehende Sittenlehre einschärfet.«266

Der Kritiker ist zudem der festen Auffassung, dass ein derartiges literarisches Werk mit neutestamentlichem Stoff sich nicht mit einem religiösen Gewissen vereinbaren lasse: Wenn Herr Klopstock auch nur den geringsten natürlichen Schauer vor der göttlichen Allgegenwart bey sich empfunden hätte, […] würde er sich dann wol unterstanden haben, ein Geheimniß, darinn selbst die grössesten unter den seligen Geistern unerforschliche Tiefen der göttlichen Macht, Weisheit, und Güte antreffen, durch seinen abgeschmackten Fabelntand zu verunstalten? Hat er von dem Gerichte Gottes in seiner eigenen Sele nichts erfahren, als ihm der Gedanke aufgestiegen, von dem Gerichte Gottes über unsern hochgelobten Erlöser ein Heldengedicht zu schreiben? Ich zweifele nicht, es werden die Bestrafungen seines Gewissens erfolget seyn, die aber durch scheinbare Ausflüchte und unlautere Begierden und Absichten unterdrücket sind, ehe sie ihre überzeugende Kraft haben beweisen können.267

Auch im dänischen Holstein diskutierte man über das biblische Heldengedicht Klopstocks. Der Pastor Georg Volquarts stellte Die Vermischung der christlichen Religions-Wahrheiten mit neuersonnenen Erdichtungen in den neumodischen 264 [Ludwig Friedrich Hudemann:] Gedanken über den Messias in Absicht auf die Religion. Rostock / Wismar 1754. S. 5. 265 Ludwig Friedrich Hudemann: Gedanken von denen der Ehre Gottes und dem Heil der Menschen nachtheiligen Würkungen, die aus einem Gedicht entspringen, das, wieder die Grundsätze des göttlichen Wortes, christl. Religions-Geheimnisse behandelt. [Hamburg] 1754. S. 25. 266 Ebd., S. 14. 267 Ebd., S. 8.

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biblischen Epopeen als eine ganz bedenkliche Sache dar. Erstmals abgedruckt wurde diese polemische Abhandlung, die auf den 30. Dezember 1751 datiert ist, im Jahre 1752 im 15. Stück der Schleswig Holsteinischen Anzeigen (10. April 1752).268 Volquarts kritisiert darin ähnlich wie Hudemann »die Verbrämung der Wahrheit [der christlichen Religion] mit neuen Erdichtungen, die ungeheuren Phantasien, aus den höhern Sphären geistiger Substanzen und Einwohner aus ätherischen Welten, und die neugeschmiedete christliche Mythologie«.269 Der orthodoxe holsteinische Pastor greift die Verfasser von biblischen Heldengedichten in seiner Argumentation äußerst heftig an und auch seine Ausdrucksweise ist sehr drastisch: Warum soll denn der unreine Menschenwitz ungehindert Koth in unser Heiligthum eintragen, Fabelwerk in die Geheimnisse der wahren Religion mengen, und die edelsten Wahrheiten so mit Erdichtungen umnebeln, daß das Licht der Wahrheit nach und nach dadurch verdunkelt wird? Stürzen unsere neumodische biblische Epopeendichter den Pöbel bei seiner Einfalt und Leichtgläubigkeit nicht in schädliche Irrthümer : so können sie doch den Freygeistern leicht Anlaß geben, an die wichtigsten Wahrheiten zu zweifeln und selbige boshafter Weise mit dieser Art von Erdichtungen zu vermengen, wenn sie fortfahren werden, sich um die Wette zu bemühen, der Wahrheit das Ansehen eines Gedichtes zu geben.270

Als Reaktion auf diese Schrift Volquarts’ erschien eine Vertheidigung der epischen Dichter wieder die Anklagen des Herrn G. V. […], deren Verfasser anonym blieb und der die Dichtungstheorie der Schweizer offensichtlich eifrig studiert hatte. Abgedruckt wurde diese Verteidigungsschrift erst im Jahre 1754 im 25. und 26. Stück der Schleswig Holsteinischen Anzeigen (24. Juni und 1. Juli 1754).271 Der Pastor veröffentlichte sogleich im 35. Stück der Schleswig Holsteinischen Anzeigen (2. September 1754) eine Abgenöthigte Antwort. Diese drei Streitschriften wurden erneut im Jahre 1755 gesammelt in Hamburg herausgegeben und zwar unter dem Titel Holsteinische Streitschriften wegen der epischen Dichter, die von heiligen Dingen gesungen haben.272 In dieser Ausgabe war auch eine anonyme Abhandlung enthalten, welche als »Friedenstractat« fungieren sollte.273 Aus dieser Sammlung polemischer Schriften über den Messias wird 268 Vgl. HKA, Addenda II, S. 270. 269 [Georg Volquarts:] Die Vermischung der christlichen Religions-Wahrheiten mit neuersonnenen Erdichtungen in den neumodischen biblischen Epopeen als eine ganz bedenkliche Sache. In: Holsteinische Streitschriften wegen der epischen Dichter, die von heiligen Dingen gesungen haben. Hamburg 1755. S. 7–22, hier S. 19. 270 Ebd., S. 22. 271 Vgl. HKA, Addenda II, S. 270. 272 Vgl. hierzu: Albert Malte Wagner : Klopstock und Holstein. In: Zeitschrift der Gesellschaft für Schleswig-Holsteinische Geschichte 56 (1926/7). S. 253–270. 273 Holsteinische Streitschriften wegen der epischen Dichter, die von heiligen Dingen gesungen haben. Hamburg 1755. S. 59–96, hier S. 59.

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ersichtlich, dass auch die Verteidiger Klopstocks und der anderen Bibelepiker befürchten mussten, »mit den Verurtheilten«, deren »Fürsprecher« sie waren, »in gleiche Verdammnis zu fallen«.274 Einer der Verehrer des Messias schreibt: »Man schreckt und droht uns. Man redet von Religionsstörern und Verfälschern.«275 Charlotte Cathrine Hauber (1735–1805), Tochter des Pastors Eberhard David Hauber der deutschen St. Petri-Gemeinde in Kopenhagen276, rezensierte in den Nachrichten von dem Zustande der Wissenschaften und Künste in den Königlich Dänischen Reichen und Ländern sowohl die Abhandlung Hudemanns – in der Hamburger Fassung – als auch die herausgegebenen Holsteinischen Streitschriften. Sie betont, dass »man denen, die den Meßias von der theologischen Seite betrachten«, sagen solle, dass er »kein Kirchengesang, sondern ein Heldengedicht« sei.277 Treffend verlangt sie demnach, das Bibelepos Klopstocks als literarisches ›Kunstwerk‹ zu beurteilen und eben nicht etwa als theologisches Lehrgedicht, das christliche Glaubensinhalte vermitteln wolle: Wer so gar unwissend seyn solte, ihn [den Messias; I. G.] für einen Unterricht in der christlichen Lehre anzusehen, lieset ihn entweder gar nicht, oder versteht ihn nicht, wenn er ihn schon läse. Herr Hudemann würde, wenn er dieses hätte bedenken wollen, leicht gesehen haben, daß der Meßias für solche die die Erlösung Jesu Christi noch nicht aus den Evangelisten haben kennen lernen, nicht geschrieben sey, und die harten und heftigen Ausdrücke, die in seiner Schrift vorkommen, vermuthlich gemäßiget haben.278

Hauber, die selbst eine Pastorentochter und folglich theologisch gebildet war, vertritt ihren Standpunkt konsequent auch gegenüber Pastor Georg Volquarts. Sie schreibt daher in ihrer kritischen Besprechung der Holsteinischen Streitschriften: Wir können nicht leugnen, daß so löblich die Bemühung ist, unsere heilige Lehren für allen menschlichen Zusätzen zu bewahren, uns doch die Sorgfalt des Herrn G. V. in diesem Fall zu weit zu gehen scheinet. Wir glauben gewiß, daß diese Dichter mehr die Erhöhung ihrer Kunst, als den Vortrag der christlichen Heilslehren zur Absicht haben, und in so ferne muß man ihnen die Gerechtigkeit wiederfahren lassen, daß freilich die 274 Ebd., S. 30. 275 Ebd. 276 Vgl. zu Charlotte Cathrine Hauber, die ihre Rezensionen in der Kopenhagener Zeitschrift anonym verfasste: HKA, Addenda II, S. 270f. 277 [Charlotte Cathrine Hauber :] [Rez.:] Herrn D. Ludewig Friderich Hudemanns Gedanken von den der Ehre Gottes und dem Heil der Menschen nachtheiligen Wirkungen, die aus einem Gedicht entspringen, das wider die Grundsätze des göttlichen Wortes christliche Religionsgeheimnisse behandelt. In: Nachrichten von dem Zustande der Wissenschaften und Künste in den Königlich Dänischen Reichen und Ländern. 9. Stück (1754). 2. Band. Kopenhagen / Leipzig 1756. S. 65–73, hier S. 72f. 278 Ebd., S. 73.

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Bibel wichtigere Vorwürfe zu erhabenen Gedanken enthalte, als irgend eine andere Materie. Das wahrscheinliche, das mögliche und würkliche muß dem Dichter mit gleichem Rechte dienen, und ohne diese Freiheit wäre er kein Dichter. Es wäre zu wünschen, daß man nicht angefangen hätte die Epopeen aus diesem Gesichtspunkt zu betrachten; denn uns deucht immer, man gibt ihnen die Schuld eines Verbrechens, woran der Dichter nicht gedacht hat, und worüber er sich also selbst wundern muß.279

Die Kopenhagener Rezensentin hält es demnach für legitim, den erhabensten dichterischen Stoff zu wählen, der sich nun einmal in der Heiligen Schrift fände, um dadurch die Poesie gewissermaßen zu ›sakralisieren‹. Die Rezensionen Haubers kann man durchaus als Sonderfall innerhalb der öffentlichen Debatte des sogenannten ›Literaturstreits‹ bezeichnen, da sie zum einen den Messias ausdrücklich als Epos ansieht und zum anderen weder als kritiklose Lobrednerin noch als unerbittliche Gegnerin Klopstocks auftritt.

1.4

Die unparteiische Kritikergeneration in Berlin

Während sich die ›Gottsched-Schule‹ und die ›Schweizer Fraktion‹ kämpferisch und feindselig gegenüberstanden, formierte sich in den 1750er Jahren in Berlin eine junge Kritikergeneration, die sich quasi als ›dritte Partei‹ sowohl dem Leipziger Regelpoetiker Gottsched als auch den Züricher Reformern Bodmer und Breitinger entgegenstellte. Gotthold Ephraim Lessing (1729–1781)280 thematisierte den ›Literaturstreit‹ im Jahre 1747 in der Fabel Die Sonne, die erstmals in den hamburgischen Ermunterungen zum Vergnügen des Gemüts (7. Stück) veröffentlicht wurde. Er spielt in diesem poetologischen Gedicht ironisch auf »den göttlich blinde[n] Mann«, also Milton an, »[d]en Gottsched nicht vertragen kann, j Und den der Schweizer [Bodmer ; I. G.], – nein – – die Dichtkunst selber, ehret«.281 Der Sprecher in diesem lyrischen Text versucht zwischen dem klassizistischen Rationalismus Gottscheds und der von den Schweizern vertretenen schöpferischen Inspirationstheorie zu vermitteln. Aus einem Fragment, das den Titel Aus einem Gedichte über den jetzigen Geschmack in der Poesie trägt, geht hervor, dass Lessing sowohl die Regel279 [Charlotte Cathrine Hauber :] [Rez.:] Holsteinische Streitschriften wegen der epischen Dichter, die von heiligen Dingen gesungen haben. In: Nachrichten von dem Zustande der Wissenschaften und Künste in den Königlich Dänischen Reichen und Ländern. 15. Stück (1755). 2. Band. Kopenhagen / Leipzig 1756. S. 615–620, hier S. 617f. 280 Vgl. hierzu das Kapitel »Der junge Lessing als Kritiker Gottscheds und Bodmers« von Karl S. Guthke in: Literarisches Leben im achtzehnten Jahrhundert in Deutschland und in der Schweiz. Bern / München 1975. S. 24–71. 281 Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Band 1: Werke 1743–1750. Hrsg. v. Jürgen Stenzel. Frankfurt a. M. 1989. (Bibliothek deutscher Klassiker ; 47.) S. 94f., hier S. 94, Z. 14–16.

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poetik Gottscheds als auch die von Klopstock verkörperte Literaturtheorie der Schweizer ablehnte.282 Die im Gedichtfragment auftretende Dichterfigur erklärt, dass man »die Fesseln nur vertausch[e]«, wenn man wie Klopstock im Messias dichte.283 Ein »großer Geist, von K** Feur erhitzt« will darin den Dichter »die kühnen Wege lehren, j Wo uns die Welt nicht hört, doch künftge Welten hören«.284 Als dieser sagt, dass ihn »jener Wahn […] noch nicht berauscht« habe, und lieber Opitz als Autorität nennt, »donnert« ihm der Geist zornig von »hinten nach: kein Schweizer lobe dich!«285 Dieses Fragment beweist, dass der Berliner Kritiker die Streitschriften beider Parteien eifrig studiert hatte, denn der letzte zitierte Gedichtvers erinnert doch stark an Vers 190 in Gottscheds »poetischem Sendschreiben« an Scheyb, in dem es ja heißt: »Vernimm das Donnerwort: K e i n Z ü r c h e r w i r d D i c h l e s e n.«286 Lessing veröffentlichte im ersten Teil seiner Schrifften (1753) das berühmte erste »Sinngedicht«, in dem er respektlos jene Bewunderer Klopstocks kritisiert, die dessen Hexameterdichtung zwar maßlos loben, aber kaum lesen würden: Wer wird nicht einen Klopstock loben? Doch lesen sollt ihn jeder? Nein. Wir wollen weniger erhoben, Und fleißiger gelesen sein.287

In der neuen Ausgabe der Sinngedichte, die im Jahre 1771 in den Vermischten Schriften Lessings abgedruckt wurden, lautet der zweite Vers des Epigramms leicht verändert: »Doch wird ihn jeder lesen? – Nein.«288 Dieses »Sinngedicht« darf keinesfalls als direkter Angriff auf Klopstocks Person gewertet werden, denn Lessing kritisierte damit in erster Linie die ›Kunstrichter‹ innerhalb der Schweizer Partei, die sich mit lobenden Anpreisungen des Messias zu übertreffen suchten und zu einer konstruktiven Kritik gar nicht fähig waren. Auch in seinem ersten lateinischen Epigramm verspottete Lessing implizit die Verehrer Klopstocks und warnte den Dichter vor einer drohenden Überheblichkeit. Dieses »Sinngedicht« lautet in der Fassung von 1753 folgendermaßen: 282 Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Band 2: Werke 1751–1753. Hrsg. v. Jürgen Stenzel. Frankfurt a. M. 1998. (Bibliothek deutscher Klassiker ; 149.) S. 651f. 283 Ebd., S. 652, Z. 7. 284 Ebd., Z. 1–4. 285 Ebd., Z. 5–11. 286 Gottsched: XII. Schreiben. An Seine Hochwohlgebohrne, Herrn Franz Christoph von Scheyb, auf Gaubickolheim, E. Löbl. Niederösterr. Landschaft Secretär. 1750 im October. Wiederabgedruckt in: Gottsched: Ausgewählte Werke. Erster Band: Gedichte und Gedichtübertragungen, S. 362–368, hier S. 368. 287 Lessing: Werke und Briefe. Bd. 2, S. 635. 288 Gotthold Ephraim Lessing: Sämtliche Schriften. Hrsg. v. Karl Lachmann. Dritte, auf ’s neue durchgesehene und vermehrte Auflage, besorgt durch Franz Muncker. 1. Bd. Stuttgart 1886. S. 3.

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Ad K – – – Viventi decus atque sentienti K – – tibi quod dedere amici, Rarus post cineres habet poeta, Nec tu post cineres habebis ipse.289 »An K – – –. Die Ehre, die dir Freunde schenkten, Solang du schaust das Licht, Hat selten nach dem Tod ein Dichter, Auch du, mein Lieber, nicht.«290

Lessing erteilt dem Dichter in diesem Epigramm in pointierter Kürze den Rat, nicht auf die ›Lobhudelei‹ der kritiklosen Freunde und Zeitgenossen zu hören. Einzig die ästhetische Wertung der Nachwelt sei maßgeblich für die selten erwiesene Ehre des ewigen Dichterruhms. In diesem lateinischen »Sinngedicht« schrieb Lessing den Namen des Messias-Dichters bezeichnenderweise nicht aus, da er diesen als poetisches Genie anerkannte. In der Fassung von 1771 änderte er zudem die Widmung, überschrieb das »Sinngedicht« mit »Ad Turanium« und ersetzte den angedeuteten Namen im zweiten Vers (»K – –«) durch »Turani«.291 Der junge Kritiker rezensierte im März 1749 in der Berlinischen Privilegirten Zeitung (34. Stück) Meiers Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias. In dieser Besprechung hält er die »Lobeserhebungen« des Hallenser Ästhetikers für verfrüht, da Klopstock sein Heldengedicht noch nicht vollendet habe: Doch scheinet es uns noch zu zeitig zu sein, die Lobsprüche eines Gedichts so überaus hoch zu treiben und allgemein auszudrücken, wovon nur für itzo noch ein kleiner Anfang vorhanden ist. Wem der große Umfang eines epischen Gedichts, und die unzählichen darinne vorkommenden scheinbaren Labyrinthe, nebst ihren Zugängen und Verbindungen zu einem ordentlichen Ganzen bekannt sind, und wer da weiß, daß ein unerschöpflicher Witz dazu gehöret, ein so großes Werk mit gleichem Feuer auszuführen als anzufangen, der wird die Behutsamkeit brauchen, und den Ausgang eines solchen Unternehmens erwarten, eh er es über alles andere erhebt, und im Ganzen so wohl, als in seinen erst vorhandenen Teilen, für vollkommen erkläret. Er wird, den Dichter aufzumuntern, wenigstens nur die schöne poetische und erhabene Schreibart und die lebhaften Bilder rühmen, welche ihm vor Augen liegen, von dem künftigen aber das beste hoffen. Wenn das Gedicht zu Ende und so ausgeführet sein wird, wie es dem

289 Lessing: Werke und Briefe. Bd. 2, S. 641. 290 Ebd., S. 1246. 291 Lessing: Sämtliche Schriften. 1. Bd., S. 55.

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Herrn Prof. schon itzo zu sein scheinet, so wird man nicht ermangeln, dasselbe bis in den Himmel zu erheben […].292

In Lessings Gedicht über die Regeln in den Wissenschaften zum Vergnügen und besonders der Dicht- und Tonkunst (1749) wird Meier zudem als »Affe« Bodmers bezeichnet, dessen rein lobende und daher unkritische Abhandlung über den Messias völlig unnötig gewesen sei: Ach arme Poesie! anstatt Begeisterung, Und Göttern in der Brust, sind Regeln jetzt genung. Noch einen Bodmer nur, so werden schöne Grillen Der jungen Dichter Hirn, statt Geist und Feuer, füllen. Sein Affe schneidert schon ein ontologisch Kleid, Dem zärtlichem Geschmack zur Mascaradenzeit. Sein critisch Lämpchen hat die Sonne jüngst erhellet, Und Klopffstock ward durch ihn, wo er schon stand, gestellet.293

Laut Lessing benötigt ein enthusiastisches ›Dichtergenie‹ wie Klopstock zudem keine Regeln, auch nicht die von den Schweizer Literaturtheoretikern aufgestellten. Lessing schrieb in den Jahren 1748 bis 1755 Rezensionen für die Berlinische Privilegirte Zeitung, die ab März 1751 Berlinische privilegirte Staats- und gelehrte Zeitung hieß. Als dazu gehörige Monatsbeilage brachte er von April bis Dezember 1751 das Neueste aus dem Reiche des Witzes heraus. Dies war als Konkurrenzprojekt zur Leipziger Zeitschrift Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit (12 Bde., 1751–1762) gedacht, die Gottsched herausgab. Lessing setzte sich im Neuesten aus dem Reiche des Witzes erstmals umfänglich mit der neuartigen ästhetischen Qualität von Klopstocks Messias auseinander. Er erklärt hierin im September 1751, dass er »von der Schönheit des Messias« vollkommen überzeugt sei, dennoch kritisiere er Klopstocks Bibelepos, denn es gebe »eine Art des Tadels, welche dem Getadelten Ehre mach[e]«.294 Einen »elenden Dichter« tadele man überhaupt nicht, mit einem mittelmäßigen verfahre man »gelinde«, nur gegenüber einem großen Dichter sei man unerbittlich.295 Ein »Aber« sei »schmeichelhafter, als alle Ausrufungen des Pöbels, der sich von dem Erstaunen hinreißen ließ[e]«.296 Die Bewunderer Klopstocks bezeichnete Lessing als »Klopstockianer«.297 Diese Benennung hielt er durchaus für legitim: 292 Gotthold Ephraim Lessing: [Rez.:] Georg Friedrich Meiers, öffentlichen Lehrers der Weltweisheit zu Halle, Beurteilung des Heldengedichts, der Messias. In: [Ders.:] Werke und Briefe. Bd. 1, S. 681–683, hier S. 682f. 293 Lessing: Werke und Briefe. Bd. 1, S. 29–35, hier S. 33. 294 Lessing: Werke und Briefe. Bd. 2, S. 209. 295 Ebd., S. 209f. 296 Ebd., S. 210. 297 Ebd., S. 208.

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»Man gönne einem Dichter vom ersten Range die Ehre, die nur zu oft ein sehr mittelmäßiger Weltweise erhält.«298 Der Berliner Kritiker spielt hierin auf die zeitgenössische Bezeichnung der Anhänger des Leipziger Literaturpapstes als »Gottschedianer« an. Lessings Wertschätzung für Klopstocks Bibelepos zeigte sich auch darin, dass er im Februar 1752 zusammen mit seinem Bruder Johann Theophilus in Wittenberg die ersten 100 Verse des Messias in lateinische Hexameter übersetzte. Diesen Übersetzungsversuch veröffentlichte er im 19. Brief des zweiten Teils seiner Schrifften (1753).299 Über seine und seines Bruders Theophilus Motivation hierfür berichtet Lessing im 18. Brief: Wir mußten es oft genug hören, der Messias sei nicht zu verstehen, und ich mußte mich ofte genug auslachen lassen, wenn ich sagte, ich wollte, daß er noch ein wenig dunkler wäre. Man zeigte mir Stellen, gegen welche Orakelsprüche verständlicher sein sollten. Ich gab mir Mühe sie zu erklären, und hier und da die lateinische Sprache mit zu Hülfe nehmen; da es sich denn dann und wann fand, daß man keine Mühe hatte das in einem römischen Ausdrucke zu verstehen, was man in einem deutschen nicht verstehen wollte.300

Lessing wollte demnach den Vorwurf der »Dunkelheit« (lat. ›obscuritas‹) des Messias entschieden zurückweisen und zeigen, dass die zeitgenössischen Tadler keine Mühe hatten, die Hexameterverse im Lateinischen zu verstehen, wohingegen man sie im Deutschen einfach nicht verstehen wollte. Friedrich Nicolai (1733–1811) verfasste im Jahre 1754 die Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland, die ein Jahr später veröffentlicht wurden.301 Er postuliert darin das Fehlen wahrer literarischer Urteilskraft bei Dichtern, Kritikern und Lesern, da das gegenwärtig bestehende Rezensionswesen extrem parteiisch sei. Die Methodik seiner Argumentation beruhte auf der Einführung zweier fiktiver Briefschreiber, die ihre gegensätzlichen Ansichten zum Ausdruck brachten. In den Briefen fünf bis sieben, vierzehn und fünfzehn setzte er sich vor allem mit Bodmers Patriarchade Der Noah kritisch auseinander (vgl. Kap. 5.1). In der Vorrede heißt es ausdrücklich, dass sich die Briefe Nicolais durch den »Geist der Unpartheilichkeit und Wahrheitsliebe«

298 Ebd. 299 Gotthold Ephraim Lessing: Neunzehnter Brief. In: [Ders.:] Werke und Briefe. Bd. 2, S. 693– 697. Vgl. hierzu die Beurteilung des Übersetzungsversuchs in: Franz Muncker : Lessings persönliches und literarisches Verhältnis zu Klopstock. Frankfurt a. M. 1880. S. 94–98. 300 Gotthold Ephraim Lessing: Achtzehnter Brief. In: [Ders.:] Werke und Briefe. Bd. 2, S. 690– 693, hier S. 692f. 301 Vgl. [Nicolai:] Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland. Berlin 1755. In: Nicolai: Sämtliche Werke, Briefe, Dokumente. Band 3: Literaturkritische Schriften I, S. 53–160.

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auszeichnen würden.302 Sie seien »nicht sclavisch zur Vertheidigung einer der itzt bekanten Secten geschrieben«.303 Im fünften Brief stellt Nicolai fest, dass »die kritische[n] Streitigkeiten« zwischen Leipzig und Zürich, in denen die Gegner »sich einander grimmig in die Haare fallen« würden, zwar ihren Nutzen hätten, »aber die Partheilichkeit mit der sie geführet werden, [sei] desto schädlicher«, denn indem man Fehler nur immer bei den anderen suche, vergesse man darüber die eigenen.304 Der Berliner Kritiker erklärt im achtzehnten Brief, dass es allgemein bekannt sei, »daß die Deutschen seit ohngefähr vierzehen Jahren angefangen haben, richtigere Begriffe von dem wahren Schönen in der Dichtkunst zu bekommen«.305 Dies hätten sie unstreitig den Bemühungen Bodmers und Breitingers zu verdanken. Die »Bremer Beyträger« hätten zwar als ehemalige Schüler Gottscheds die »Sprachrichtigkeit« mit der »Gründlichkeit der Schweizer« verbunden und somit dazu beigetragen, »den guten Geschmakk algemeiner zu machen«, aber trotzdem seien die deutschen Dichter »in so vielen Stükken mittelmäßig geblieben«.306 Man habe »in den meisten Theilen der schönen Wissenschaften« noch immer nicht den gleichen Rang wie die anderen Nationalliteraturen.307 Den meisten deutschen Poeten fehle es an »G e n i e«.308 Das »Genie, die vivida vis animi« sei jedoch »die einzige Thür zu dem Vortreflichen in den schönen Wissenschaften«, das man niemals durch »Gelehrsamkeit« und »Arbeitsamkeit« ersetzen könne.309 Zudem seien die jungen Dichter meist zu weltfern:310 Wann unsere Dichter in vernüftigen Geselschaften, ein munteres und ungezwungenes Wesen annehmen lernten, so würde die Steife und die Pedanterei nicht alle ihre Zeilen verstellen, und sie würden sich vor tausend Unanständigkeiten in acht nehmen lernen, die sie nicht bemerken, die aber der Welt sogleich in die Augen fallen.311

Es fehle sowohl den Dichtern als auch insbesondere den »seinwollenden Kunstrichtern« an »Erkenntniß des wahren Wesens der Dichtkunst«, an »wahre[r] Critik[fähigkeit]«, an »Kenntniß der Schönheiten der Alten und Neuern« und an »richtige[r] Bestimmung dieser Schönheiten«, denn sonst würde man in Deutschland nicht eine solche »Menge unglükklicher Nachahmer grosser 302 303 304 305 306 307 308 309 310

Ebd., S. 62. Ebd. Ebd., S. 89. Ebd., S. 153. Ebd., S. 153f. Ebd., S. 154. Ebd., S. 155. Ebd., S. 156. Nicolai schreibt, dass es vielen »angehenden Schriftstellern« an »K e n n t n i ß« und an »U m g a n g m i t d e r g r o s s e n W e l t« fehle (ebd.). 311 Ebd., S. 156f.

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Dichter« und derart »unsinnige, und sogar unbegreiflich schlechte Geburten« finden.312 Es mangele an unparteiischen ›Kunstrichtern‹, die eben nicht »unverdiente Lobeserhebungen« aussprechen oder in eine »ausschweifende Tadelsucht« verfallen würden.313 Nicolai plädiert demnach für eine neue Art der unparteiischen Literaturkritik: Warum solten wir nicht kleine Fehler bemerken, da auch kleine Schönheiten zu der Annehmlichkeit des Ganzen das ihrige beitragen, und da mehrere kleine Fehler das schönste Ganze verstellen können: Und gleichwohl hält man es für Tadelsucht, wenn man bemerket, daß B o d m e r s Hexameter nicht so richtig und wohlklingend sind, als K l o p p s t o k s […].314

Der Berliner Kritiker greift hier sowohl die Gottschedianer als auch die Bodmerianer und Anhänger Klopstocks an: Ohnerachtet unsere Kunstrichter am empfindlichsten werden, wann man ihnen zumuthet, daß sie die kleinern Schönheiten auch einiger Aufmerksamkeit würdigen sollen, so ist es doch weit gefehlet, daß sie die höhern und würdigsten Schönheiten in ein rechtes Licht sezzen, und genau bestimmen solten; Man sagt uns überhaupt: »Der vortrefliche Hr. Verfasser habe ein unsterbliches Werk gemacht,« und man würde uns für sehr unbescheiden halten, wann wir fragen wolten: Warum es vortreflich sey? und ob alles daran vortreflich sei? Man würde auch die Kunstrichter zuweilen in eine grosse Verlegenheit setzen, wann man den Grund ihres Urtheils fordern wolte; Sie selbst haben öfters nicht mehr dabei gedacht, als daß der Verfasser, ihr Freund, berühmt, oder von einer gewissen Parthei sei. Dis ist der grosse Entscheidungsgrund, der unsere Kunstrichter regieret, da sonst ein Gedicht von der Gegenparthei eben die innere Güte haben kann, als eines von der Parthei des Kunstrichters.315

Die gegenwärtige »seltsame Art zu urtheilen« werde »ein wichtiges Hinderniß des Fortgangs der schönen Wissenschaften sein«.316 Für Dichter hingegen sei es derzeit einfach, für Genies erklärt zu werden, wenn sie sich nur an der Polemik beteiligen würden: »Jedermann kann mit leichter Mühe, sich bei einer Parthei den Titel eines grossen Geistes erwerben: Er darf nur mit einem von den Häuptern der Partheien, in einiger Verbindung stehen, und auf die Gegenparthei rechtschaffen schimpfen.«317 Die Fehler beider Parteien des ›Literaturstreits‹ seien für alle sichtbar : Die Herren G o t t s c h e d i a n e r sind schon zum Sprichwort worden, und machen es täglich ärger ; Die Herren S c h w e i z e r haben bei ihren übrigen Verdiensten, von je her, ihren Kopf für sich gehabt; Viel Eigensinn und Heftigkeit; Alzuviel Liebe zum 312 313 314 315 316 317

Ebd., S. 157. Ebd., S. 158. Ebd. Ebd., S. 159. Ebd. Ebd.

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Besondern, und alzuwenig Aufmerksamkeit auf die Schönheiten der Sprache, der sie wirklich durch eine zwanzigiährige Uebung noch nicht mächtig geworden sind, Seit einiger Zeit fangen sie an, sich fast ganz auf die Seite des Besondern, und vielleicht des Abentheuerlichen zu ziehen: Hätten sie vor funfzehn Jahren so gelehret, wie sie izt dichten, so würden H a g e d o r n und G e l l e r t nicht auf ihre Seite getreten sein.318

Nicolai kritisiert in seinen Briefen letztlich nicht nur die ›Gottsched-Schule‹, sondern auch die Schweizer Partei, da beide gegnerischen Lager den Anspruch erheben würden, nur die eigenen Lehrwerke und poetischen Schriften würden zu einer Ausbildung eines guten literarischen ›Geschmacks‹ beitragen. Das Urteil des Berliner Unparteiischen hierzu lautet: »Die Klagen über das Verderben des Geschmakks, die die eine Parthei anstimmt, so bald die andere sich empor zu heben anfängt, bedeuten nicht mehr, als wann eine Coquette von der andern übels redet.«319 Der deutsch-schweizerische ›Literaturstreit‹ trug folglich entschieden dazu bei, dass sich eine neue Kritikergeneration erhob, die eine unvoreingenommene Bewertung der ästhetischen Qualität eines poetischen Werkes forderte. Während der Drucklegung der Briefe lernten sich Nicolai und Lessing kennen. Moses Mendelssohn (1729–1768), der seinerseits 1754 mit Lessing bekannt geworden war, kam durch dessen Vermittlung 1755 als Dritter zur ›Partei der Berliner Aufklärung‹. Mendelssohn und Nicolai gaben von 1757 bis 1759 die Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste heraus, die der Förderung der literarischen ›Geschmacksbildung‹ in der deutschsprachigen Literaturlandschaft dienen sollte. Nicolai rezensierte darin im Juli 1757 (1. Bd., 2. St.) nach ästhetischen Kriterien den zweiten Band des Messias, der 1756 in Halle erschienen war.320 Er rechnet es darin Klopstock hoch an, dass dieser in der seinem Bibelepos vorangestellten Abhandlung Von der Nachahmung des griechischen Sylbenmaaßes im Deutschen kein Wort über die kritischen Urteile verloren habe, »welche sein Gedicht hat erfahren müssen, und von der Art, womit dasselbe sehr oft schlecht genug ist angegriffen und vielleicht schlecht genug vertheidiget worden«.321 Laut Nicolai stehe es »einem großen Geiste sehr wohl an, unnütze Streitigkeiten gar nicht wissen zu wollen«.322 Man könne es »kleinen Geistern überlassen, welche ihrer Bestimmung zum Trotz große Geister vorstellen wollen, sich wider jeden Angriff aufs ungestümste zu vertheidigen, und sich mit Siegen über verachtungswürdige Feinde zu brüsten«.323 Klopstock 318 Ebd. 319 Ebd., S. 160. 320 [Friedrich Nicolai:] [Rez.:] Der Messias, zweyter Band. Halle […] 1756. In: Nicolai: Sämtliche Werke, Briefe, Dokumente. Band 3: Literaturkritische Schriften I, S. 217–234. 321 Ebd., S. 217f. 322 Ebd., S. 218. 323 Ebd.

Die unparteiische Kritikergeneration in Berlin

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wird demnach explizit dafür gelobt, keine polemischen Schriften verfasst zu haben. Im Jahre 1759 kamen als Freundschaftsprojekt von Lessing, Nicolai und Mendelssohn die Briefe, die neueste Literatur betreffend heraus (bis 1765). Lessing beschäftigte sich in den Briefen achtzehn und neunzehn mit dem Bibelepos Klopstocks. Er empfiehlt im 19. Literaturbrief (22. Februar 1759), die Versvarianten des Messias eifrig zu studieren, denn ein Dichtergenie wie Klopstock stelle seine eigenen Regeln auf: Veränderungen und Verbesserungen aber, die ein Dichter, wie Klopstock, in seinen Werken macht, verdienen nicht allein angemerkt, sondern mit allem Fleiße studieret zu werden. Man studieret in ihnen die feinsten Regeln der Kunst; denn was die Meister der Kunst zu beobachten für gut befinden, das sind Regeln.324

Demnach ist das poetische Werk eines »Meister[s]« der Dichtkunst selbst die Quelle für poetologische Regeln. Lehrbücher wie Gottscheds Anweisungs- und Regelpoetik werden damit überflüssig. Lessing und Klopstock hatten sich persönlich im Juni und Juli 1756 in Hamburg kennengelernt. Erst im Sommer 1767 trafen sie dort wieder aufeinander.325 Das Verhältnis zwischen beiden war von da an freundschaftlich, auch wenn Klopstock gelegentlich Zweifel kamen. So schreibt er am 21. April 1773 in einem Brief an Ebert: Lessing wäre wirkl. mein Freund, sagen Sie. Ich zweifle gleichwohl noch immer ein wenig daran. Warum ist denn das erste lateinische Epigramm, das ehmals ad Kl. überschrieben war, nicht ganz weggeblieben? u warum denn nicht auch das erste deutsche? […] Kurz, Ebert, das Ding ist nicht so ganz in der Ordnung –.326

Klopstock fühlte sich durch das erste der »Sinngedichte an den Leser« und das erste lateinische Epigramm, die Lessing erneut in seinen Vermischten Schriften 1771 abdrucken ließ, offensichtlich persönlich angegriffen. Vielleicht hatte er aber auch inzwischen selbst erkannt, dass die Rezeption des Messias nicht so verlief, wie er es sich gewünscht hatte. Insofern stellte sich Lessings satirischpointierte Frage und Antwort (»Doch wird ihn jeder lesen? – Nein.«327) wohl doch leider als zutreffend heraus. 324 Gotthold Ephraim Lessing: Neunzehnter Brief. In: [Ders.:] Werke und Briefe in zwölf Bänden. Band 4: Werke 1758–1759. Hrsg. v. Gunter E. Grimm. Frankfurt a. M. 1997. (Bibliothek deutscher Klassiker ; 148.) S. 506–513, hier S. 508, Z. 18–23. 325 Vgl.: HKA, Briefe V 2, S. 517. – Muncker : Lessings persönliches und literarisches Verhältnis zu Klopstock, S. 177–202 (Kap. IV: Lessings Freundschaftsbund mit Klopstock. 1767– 1781). 326 Brief von Klopstock an Ebert, 21. April 1773. In: HKA, Briefe VI 1, Nr. 34, S. 38–40, hier S. 38f., Z. 22–29. 327 Lessing: Sämtliche Schriften. 1. Bd., S. 3.

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Der sogenannte ›Literaturstreit‹ ab den 1740er Jahren

1.5

Die zeitgenössische Rezeption des ›Literaturstreits‹

Die Reaktionen auf den sogenannten ›Literaturstreit‹ fielen bei den Zeitgenossen unterschiedlich aus: In den von Christlob Mylius (1722–1754) und Johann Andreas Cramer herausgegebenen Bemühungen zur Beförderung der Critik und des guten Geschmacks heißt es im Jahre 1743: Wir bedauren nichts mehr, als daß diese gelehrten Männer [Bodmer und Breitinger ; I. G.] mit dem Herrn Pr. Gottsched in eine, der Critik nachtheilige, Uneinigkeit gerathen sind. Uns deucht, daß die schweizerischen Schriften von der Poesie mit der Gottschedischen Dichtkunst in einem Schranke hätten beysammen stehen können, ohne daß eine Schlacht unter ihnen würde vorgefallen seyn […]. Wir sind nicht im Stande, denen gründlich zu antworten, die uns um die eigentlichen Ursachen dieses critischen Zwiespalts befragen. […] Die Hochachtung, welche wir für ihre Gelehrsamkeit hegen, legt uns die Wünsche in den Mund, daß sie sich in ihrer Hitze mäßigen möchten. Die Liebe für die Ehre treibt uns zu dem Geständnisse, daß sie nicht wenig durch die Streitgenossen erniedriget werde, welche sich ihnen zugesellet haben, um neben ihnen groß zu werden, welche sich wegen ihrer Thorheit und Niederträchtigkeit nach Verdienst aus dem Staube niemals erheben könnten.328

Auch wenn man die vorgeschobene Unparteilichkeit der sogenannten Hällischen Bemühungen mit Vorsicht genießen muss, da sowohl Mylius als auch Cramer damals noch Schüler Gottscheds waren, scheint es so, als hätte man sich lieber Frieden zwischen den Schweizern und Gottschedianern gewünscht, da sich ihre poetologischen Theorien objektiv ergänzten. Häufig wurde die literarische Fehde mit verständnislosem Kopfschütteln beurteilt. Literaten wie z. B. Friedrich von Hagedorn und Karl Wilhelm Ramler (1725–1798) hielten sich ganz aus den Streitigkeiten heraus. Laut Georg Friedrich Meier gehörte Hagedorn zu den Leuten, die »sagen, die schweitzerische Parthey übertreffe zwar die Gottschedianer in der Theorie, aber besser hätte sie selbst noch nichts gemacht«.329 Die Anakreontiker Johann Wilhelm Ludwig Gleim und Johann Peter Uz (1720– 1796), die wegen ihrer weltlichen, lebens- und sinnenfreudigen Gedichte auch von der Schweizer Partei angegriffen wurden, trugen sich mit dem Gedanken, gewissermaßen eine eigene ›Partei der Mitte‹ zu bilden. So schreibt Gleim im August 1757 an Uz: »Wenn ja Partheyen seyn sollen, warum solten wir Bedencken haben, die vernünftigste auszumachen, da zwischen Gottschedianer und

328 [Christlob Mylius / Johann Andreas Cramer (Hrsg.):] Bemühungen zur Beförderung der Critik und des guten Geschmacks. Erstes Stück. Halle 1743. S. 12f. 329 Brief von Meier an Gleim, 30. Oktober 1745. In: Bergmann: Die Begründung der deutschen Ästhetik, Nr. 4, S. 234f., hier S. 235.

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Schweizer diese in der Mitte stehn kan.«330 Bereits im September 1743 äußerte Gleim das Urteil, dass sich sowohl Gottsched als auch die Schweizer »bey den Vernünftigen« lächerlich machen würden.331 Er sei »es schon überdrüßig alle die Poßen zu lesen, zu welchen dieser Federkrieg Anlaß gegeben« und zudem seien die »Partheylichkeiten« »handgreiflich«.332 Uz hingegen kritisierte noch im Jahre 1768, dass Bodmer die Schrift Archiv der schweitzerischen Kritick. Von der Mitte des Jahrhunderts bis auf gegenwärtige Zeiten herausgegeben hatte, in der der ›Kunstrichter‹ kritische Artikel nochmals versammelt hatte, die in der Züricher Zeitschrift Freymüthige Nachrichten von Neuen Büchern, und andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen (1744–1763) erschienen waren. Uz schildert die Situation auf dem literarischen Markt der 1760er Jahre folgendermaßen: Alles kritisirt, und fast alles ist partheyisch. Jedes Journal, jede Zeitung hat ihre Parthey. Sogar die Schweitzer treten mit einem Archiv ihrer Kritik hervor. Vermuthlich enthält es alles Gift, daß sie in ihren freymüthigen Nachrichten ausgespien haben. Bodmer kann noch in seinem Alter nicht ruhen, ein alter Mann, der seine Jugendstreiche mit triumphirender Mine erzehlt.333

Für den alternden Bodmer waren seine in den Streitschriften vertretenen poetologisch-kritischen Ansichten folglich auch noch in den späten 1760er Jahren aktuell und vor allem waren sie es wert, weiterhin verbreitet zu werden. Der Klopstock-Intimus Carl Friedrich Cramer charakterisiert den »literarischen Krieg« rückblickend 1780 als sehr enthusiastisch ausgefochten, da die Argumente der jeweils eigenen Partei vehement vertreten wurden und letztlich beim Lesepublikum zur ›Erleuchtung‹ führten: Die Leidenschaften, diese immer wirksamen Triebfedern wurden auch hier erregt, und in dem Streite, der dadurch zwischen den Gottschedianern und Schweizern entstand, stieß Kopf an Kopf zum nachherigen allgemeinen Funkengeben. Man könte zwischen manchen politischen Kriege und diesem litterarischen sehr sinreiche und treffende Vergleichungen anstellen. Das Resultat von diesem war immer Horazens: ex fumo lux! –334

330 Brief von Gleim an Uz, 16. August 1757. In: Briefwechsel zwischen Gleim und Uz. Hrsg. und erläutert von Carl Schüddekopf. Tübingen 1899. (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart; 218.) Nr. 76, S. 281–285, hier S. 283. 331 Brief von Gleim an Uz, [September 1743]. In: Briefwechsel zwischen Gleim und Uz, Nr. 14, S. 51–56, hier S. 53. 332 Ebd. 333 Brief von Uz an Gleim, 17. Mai 1768. In: Briefwechsel zwischen Gleim und Uz, Nr. 132, S. 380f., hier S. 381. 334 Cramer: Klopstock. Er ; und über ihn. Erster Theil. 1724–1747, S. 141. Carl Friedrich Cramer zitiert in seiner Beurteilung des ›Literaturstreits‹ folgenden Vers aus Horaz’ Ars Poetica: »non fumum ex fulgore, sed ex fumo dare lucem j cogitat« (»[n]icht Qualm nach dem Glanz, sondern Licht nach dem Qualm will er [Homer ; I. G.] geben«) (V. 143f.).

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Der sogenannte ›Literaturstreit‹ ab den 1740er Jahren

Der über Jahrzehnte andauernde Leipzig-Züricher ›Literaturstreit‹ hat sicherlich auch Klopstocks dichterisches Schaffen beeinflusst. Carl August Böttiger (1760– 1835), der Klopstock im Jahre 1795 in Hamburg besucht hatte, berichtet darüber, wie der Messias-Dichter die Streitschriften seiner Gegner aufnahm: In den ersten Jahren seines Aufenthalts in Copenhagen habe er sich durch nichts so schnell seine Kopfschmerzen verbannen können, als wenn er die Messiade in der Nuß, oder andere Wasserblasen der Art, welche die Gottschedische Schule gegen ihn aufschäumen ließ, zu seiner Erbauung wieder vorgenommen hätte. Einst habe ihn T y g e R o t h e , den man wegen seiner dänischen Uebersetzung des B a t t e u x in einem dänischen Journal heftig angegriffen und dadurch sehr zum Zorn gereizt hatte, bei einer solchen Lectüre laut auflachend angetroffen, und sich von Stund an vorgenommen, die Kritiken auch als gute Magen- und Digestivpillen zu betrachten. Er habe sich zwei Mal die sämmtlichen Schriften, die gegen ihn erschienen wären, mit schwerem Gelde erkauft, sey aber immer durch Wegborgen und Fortziehn wieder drum gekommen.335

Klopstock lebte von 1751 bis 1770 in Kopenhagen. Laut dem Tagebuch-Eintrag Böttigers hat er alle polemischen Schriften der ›Gottsched-Schule‹, wie etwa Schönaichs Ganze Aesthetik in einer Nuß, oder Neologisches Wörterbuch (1754), gelesen und sich vorgenommen, die darin geäußerte Kritik nicht so ernst zu nehmen – auch wenn ihm das sicherlich schwerfiel. In einem Brief an Ebert vom 21. April 1773 berichtet Klopstock rückblickend: Ich habe seit Johann Christoph Gottsched bis auf diesen lezten Ehrenmann, seit 1748 bis 1773, gegen diese Leute geschwiegen; u hätte es doch so zieml. in meiner Gewalt gehabt, sie nicht allein bis zu Ihrem völligen Unrecht, sondern auch zu ihrer völligen Lächerlichkeit, auch nicht allein bis hierher, sondern auch bis zu ihrer gar besonderen Abgeschmaktheit herunter zu bringen.336

Ein Gegenstand beißenden Spottes und scharfer Kritik zu sein, hatte den selbstbewussten Messias-Dichter offenbar empfindlich getroffen. So schreibt er etwa an seinen Freund Ebert: Wenn Sie irgend Jemand gefürchtet haben; so muß ich Ihnen sagen, daß Sie vielmehr, als alles sonst, hätten fürchten sollen, daß ich endl. einmal gereizt werden könnte, gegen die Leute hervorzutreten. Kennen Sie etwa meine Empfindlichkeit nicht? Wenn ich Lust hätte, mir ein Compliment zu machen, so würde ich mir es hier machen, daß ich mich der Waffen ungeachtet, die in meiner Hand sind, doch zurükgehalten habe. Aber (Horatius Flaccus: Ars Poetica / Die Dichtkunst. Lateinisch / Deutsch. Übersetzt und mit einem Nachwort hrsg. v. Eckart Schäfer, S. 12/13 (V. 143f.).) 335 Carl August Böttiger : Klopstock, im Sommer 1795. Ein Bruchstück aus meinem Tagebuche. In: Minerva 6 (1814). S. 313–352, hier S. 336f. Tyge Rothe (1731–1795) war ein dänischer Schriftsteller und Übersetzer. 336 Brief von Klopstock an Ebert, 21. April 1773. In: HKA, Briefe VI 1, Nr. 34, S. 38–40, hier S. 39, Z. 54–60.

Die zeitgenössische Rezeption des ›Literaturstreits‹

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warum sezten Sie denn voraus, daß ich mir dieses Compliment immer u immer, u immer würde machen können?337

Dennoch lehnte es Klopstock stets entschieden ab, öffentlich auf die Herabsetzungen seines Bibelepos zu antworten und sich selbst zu verteidigen.338 Die Zeitgenossen bezeichneten den sogenannten ›Literaturstreit‹ ab den 1740er Jahren, der zur Entstehung der neueren deutschen Literatur führte, als »deutschen Dichterkrieg«, »critischen Krieg« und »dreißigjährigen poetischen Krieg«. In diesem ersten Kapitel wurde die Komplexität dieses literarhistorischen Phänomens Mitte des 18. Jahrhunderts bewiesen. Im Zentrum der langjährigen kontroversen Diskussion stand die höchste poetische Gattung, das Heldengedicht. Gottsched beklagte dezidiert im Jahre 1729, dass bislang in Deutschland nur Übersetzungen von Epen vorlägen und dass man im Gegensatz zu den anderen europäischen Literaturen noch kein episches Meisterwerk vorweisen könne: Hingegen was die grossen Gedichte der Alten, nemlich Heldengedichte […] anlangt, so haben wir noch nichts rechtes in unsrer Sprache aufzuweisen, so nach gehörigen Regeln ausgearbeitet, und aus keiner fremden Sprache übersetzt wäre. Die Italiener übertreffen uns durch ihren Tasso, wie die Engelländer durch ihren Milton, denen wir noch nichts entgegen setzen können, was Stich hielte. Denn Postels Wittekind taugt nichts, und alle übrige Heldengedichte so wir haben, sind nur elende Uebersetzungen.339 337 Ebd., S. 39f., Z. 65–72. 338 Im dritten Band des Nordischen Aufsehers (129. Stück [31. 01. 1760], 1761) erschien ein Dialog zwischen den fiktiven Gesprächspartnern Lycias (i. e. Johann Andreas Cramer) und Cliton (i. e. Klopstock). Lycias schließt sich darin letztlich der Meinung Clitons an, dass ein guter Autor, der für viele und nicht für die meisten schreibe, sich nicht selbst verteidigen müsse. (Ein Gespräch, ob ein Scribent ungegründeten obgleich scheinbaren Critiken antworten müsse. In: Der nordische Aufseher. Hrsg. v. Johann Andreas Cramer. Dritter und letzter Band. Leipzig 1770. S. 55–70.) Im ersten Band des Nordischen Aufsehers (49. Stück, 20. 10. 1758) veröffentlichte Klopstock die kritische Schrift Von dem Publico. Darin grenzt er das eigentliche Lesepublikum vom »großen Haufen« ab. Er unterscheidet zwischen »Richtern« und »Kennern«, die nur dazu berechtigt seien, ein literarisches Werk überhaupt zu beurteilen. Außerdem betont er, dass ein angegriffener Dichter gegenüber seinen Gegnern Stillschweigen bewahren sollte: »Hat aber ein Skribent das Glück zu einer Zeit zu schreiben, da der Geschmack seiner Nation schon völlig ausgebildet ist; so hat er bloß zu einigen niederträchtigen Angriffen stillzuschweigen, die nur deswegen auf ihn geschehn, weil er noch nicht tot ist. Denn wenn er auch menschlich genung wäre, sogar diejenigen nicht zu verachten, die so stolz sind, daß sie ihre Aussprüche über Sachen, die sie gar nicht beurteilen können, für nötig halten; welchen Nutzen würde es haben, wenn er sein Stillschweigen bräche?« (Friedrich Gottlieb Klopstock: Von dem Publico. In: Klopstock: AW, S. 930–934, hier S. 934.) 339 Gottsched: AW VI 3, S. 22. Christian Henrich Postels (1658–1705) historisches Epos Der grosse Wittekind blieb unvollendet. Es wurde postum 1724 von Christian Friedrich Weichmann herausgegeben.

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Der sogenannte ›Literaturstreit‹ ab den 1740er Jahren

Der holsteinische Pastor Georg Volquarts prophezeite dann zuversichtlich im Jahre 1751: »Wir Teutschen haben zwar bishero nur übersetzte Heldengedichte unter uns gehabt; allein man kann sich nun die sichere Hofnung machen, daß wir noch vor Ablauf dieses Jahrhunderts alle unsere Nachbaren, zum wenigsten an der Anzahl der Epopeen, übertreffen werden.«340 Aufgrund der Streitigkeiten der ›Gottsched-Schule‹ mit dem Bodmer/Breitinger-Kreis entstanden im Laufe der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts viele neue deutsche historische und biblische ›Originalepen‹ (vgl. Kap. 5). Die von den Gottschedianern rigoros abgelehnte »neumodische Art epischer Gedichte«, die »geistliche[n], christliche[n], oder biblische[n] Epopeen«, trat erst nach dem Erscheinen der ersten drei Gesänge von Klopstocks Messias (1748) auf.341 Diese literarische Gattung, das Epos mit biblischem Stoff, soll im Folgenden untersucht werden. Im Zentrum der vorliegenden Studie steht Klopstocks biblisches Heldengedicht Der Messias, der demzufolge zum ›Leitstern‹ der deutschsprachigen Literatur Mitte des 18. Jahrhunderts wurde. Es soll insbesondere der Frage nachgegangen werden, welchen Einfluss die Ependiskussion des sogenannten ›Literaturstreits‹ auf die Konzeption und die poetische Ausführung des Messias hatte.

340 Holsteinische Streitschriften, S. 12. 341 Ebd., S. 9.

2.

Epische Musterautoren und deren Bedeutung im 18. Jahrhundert

Jeder epische Dichter reiht sich ein in eine jahrhundertelange und -alte literarische Traditionskette, an deren Anfang die kanonischen Musterautoren Homer und Vergil stehen. Nicht nur die antiken griechischen und römischen Nachfolger Apollonios von Rhodos, Publius Papinius Statius und Marcus Annaeus Lucanus, sondern auch die neuzeitlichen italienischen und englischen Dichter Dante Alighieri, Torquato Tasso, John Milton und Richard Glover wurden an diesen Prototypen der epischen Tradierung gemessen. Auch Klopstock wurde sogleich nach seinem ersten Auftreten als Messias-Dichter mit seinen epischen Vorläufern verglichen. So ließ sich Bodmer bereits 1747 zu folgendem Ausruf hinreißen: »Milton’s Geist ruht auf dem Verfasser [des Messias].«1 Georg Friedrich Meier hingegen war 1749 der Meinung, dass »der Meßias unmittelbar nach der Ilias und Aeneis zu stehen kommen« werde, und man müsse nur »noch untersuchen, ob das verlohrne Paradieß vor ihm den Vorzug verdiene«.2 Samuel Gotthold Lange rezensierte die ersten drei Gesänge des Messias in der Moralischen Wochenschrift Der Gesellige (3. Teil, 124. Stück, 1749). Er kommt hierin auf die wenigen Werke der Gattung Epos zu sprechen, die innerhalb der letzten Jahrtausende entstanden seien: Daß ein Heldengedicht ein rechtes Meisterstück des Witzes sey, ist daraus klar, daß bey so viel vortreflichen Köpfen dennoch viele Jahrhunderte hingehen, ehe eins zu Stande komt. Die Griechen, welche alle Völker in den schönen Wissenschaften übertroffen, und die wir noch bis jetzt als unsere Lehrmeister verehren, hatten nur Einen Homer ; und eine ganze Menge von Jahrhunderten verlief, ehe Rom einen Virgil zur Welt brachte: seit dem hat Italien keinen rechten Heldendichter wieder gesehen, wenn wir den Lucan und Tasso ausnehmen wollen. Dem Homer und Virgil folgt nach einer erstaunenden Reihe von Jahren der englische Milton. Frankreich, welches seit langer Zeit seine Nachbarn in den Werken des Witzes übertroffen, ist nur in unsern Tagen so 1 Brief von Bodmer an Johann Elias Schlegel, 2. September 1747. In: Morgenblatt für gebildete Stände (3. August 1810). Nr. 185. S. 738. Zitiert nach: Klopstock: DM 1748, Nr. 5, S. 172f., hier S. 172. 2 Georg Friedrich Meier : Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias. Halle 1749. S. 4.

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Epische Musterautoren und deren Bedeutung im 18. Jahrhundert

glücklich geworden, an dem Herrn Voltaire einen Heldendichter zu erhalten. Die Iliade, die Odysse, die Aeneis, das verlorne Paradis und die Henriade sind fünf Bücher, und die Welt hat bey nahe sechstausend Jahr gestanden.3

Lange ist demnach überzeugt, dass »ein Heldengedicht kein Werk für jedes Jahrhundert sey«.4 Der Messias Klopstocks aber sei definitiv »würdig«, das »sechste Heldengedicht« der Welt genannt zu werden.5 Der Wiener Jesuit Johann Nepomuk Cosmas Michael Denis (1729–1800), der seit seiner Jugend ein enthusiastischer Bewunderer Klopstocks war, kommt 1797 in seinen Lesefrüchten zu folgender Einschätzung: Das verlohrene Paradies dieses secularischen Genius [Milton; I. G.] halte ich für eines der herrlichsten Producte des menschlichen Geistes. Oft betrachte ich ihn und Klopstock, als zwey Herkulessäulen, an die ich schreiben möchte: Non plus ultra. Oft nenne ich sie die Dichter der beyden Testamente, oft den Homer und Virgil der Nachzeit. Dort ist der Fall Trojas und des Menschengeschlechtes, hier Aeneas der Wiederhersteller Trojas, und Messias der Wiederbringer des Menschen. Virgil hatte den Vortheil, zu wissen, was man an Homer, und Klopstock, was man an Milton tadelte […].6

Ende des 18. Jahrhunderts erschien die Preisschrift von Carl Friedrich Benkowitz Der Messias von Klopstok, aesthetisch beurtheilt und verglichen mit der Iliade, der Aeneide und dem verlohrnen Paradiese (1797), in der Klopstocks Bibelepos an den kanonischen Musterautoren gemessen wurde. Benkowitz will in seiner ästhetischen Abhandlung untersuchen, welchen »Rang« der Messias unter den anderen Heldengedichten einnehme.7 Er kommt nach ausführlicher, vergleichender Prüfung zu dem Schluss, »dass der Messias unter allen Heldengedichten, die in irgend einer Sprache abgefasst sind, das vollkommenste sey«.8 Der dänische Dichter Jens Baggesen (1764–1826), der auf seiner Reise durch Deutschland, die Schweiz und Frankreich im Jahre 1789 Klopstock in Hamburg besuchte, bezeichnete den Messias-Dichter als »Homer Germaniens« bzw. »Deutschlands Homer«.9 Er erzählt in seiner dänischen Reisebeschreibung La-

3 [Samuel Gotthold Lange:] [Gedanken über das Heldengedicht, der Meßias (15. Februar 1749).] In: Der Gesellige, eine moralische Wochenschrift. [Hrsg. v. Samuel Gotthold Lange und Georg Friedrich Meier.] Dritter Theil. 124. Stück. Halle 1749. S. 238–240, hier S. 238. 4 Ebd. 5 Ebd., S. 239. 6 [Michael Denis:] Lesefrüchte. Zweyter Theil. Wien 1797. S. 35f. 7 Carl Friedrich Benkowitz: Der Messias von Klopstok, aesthetisch beurtheilt und verglichen mit der Iliade, der Aeneide und dem verlohrnen Paradiese. Eine Preisschrift, die von der Amsterdammer Gesellschaft zur Beförderung der schönen Künste und Wissenschaften eine doppelte Medaille erhalten hat. Breslau 1797. S. 3. 8 Ebd., S. 201. 9 [Jens Baggesen:] Baggesen oder Das Labyrinth. Eine Reise durch Deutschland, die Schweiz und Frankreich. [Übers. von Carl Friedrich Cramer.] Drittes Stück: Hamburg. Altona. Al-

Antike Vorläufer (Homer, Vergil, Lucan, Statius)

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byrinten (1792–1793), die von Carl Friedrich Cramer ins Deutsche übersetzt wurde (Baggesen oder Das Labyrinth, 1793–1795), von einem humorvollen Gespräch mit Klopstock über die Legende des blinden epischen Sängers: Er [Klopstock; I. G.] hat noch, ungeachtet seines hohen Alters, ein ziemlich scharfes Gesicht. Er sagte mir : in seinen jüngern Tagen habe er fast immer unter Blinden gelebt. Er lächelte, als ich Hofnung äusserte: er würde doch wohl noch einmal sein Gesicht verliehren, ehe er stürbe: »es ist unerlaubt,« sagte ich, »von gewissen Regeln Ausnahmen zu machen; – Klopstock muß nun einmal blind seyn, ebensowohl als Homer und Milton« – »Ich kann Sie damit trösten,« lispelte er mir zu, »daß ich wirklich in den letzten Jahren eine Art von Abnahme gemerkt, und oft Mühe gehabt habe, eine Krähe in einer gewissen Entfernung von einer Elster zu unterscheiden.«10

Die Legende von der Blindheit Homers fand bereits in der Antike weite Verbreitung und wurde auch im 18. Jahrhundert rezipiert. Der englische Poet Milton hingegen erblindete tatsächlich in den 1650er Jahren völlig, d. h., er musste die Blankverse seines Bibelepos Paradise Lost (1667) frei aus dem Gedächtnis diktieren. Baggesen forderte demnach vom Messias-Dichter Klopstock eine vollkommene, auch persönliche Identifikation mit seinen unmittelbaren epischen Vorgängern. In der folgenden Untersuchung soll sowohl auf die antiken als auch auf die neuzeitlichen bzw. modernen Vorläufer Klopstocks und deren Rezeption im 18. Jahrhundert eingegangen werden. Der Schwerpunkt soll hierbei auf der Früh- und Hochaufklärung im deutschsprachigen Raum liegen. Ein Anspruch auf Vollständigkeit kann angesichts der unzähligen Quellentexte allein zur Homer-Rezeption jedoch nicht erhoben werden. Es wird allerdings versucht, stets einen Bezug zu Klopstock und zu den beiden Parteien des ›Literaturstreits‹ herzustellen.

2.1

Antike Vorläufer (Homer, Vergil, Lucan, Statius)

Die Homer zugeschriebenen Epen Ilias und Odyssee aus dem 8. Jahrhundert v. Chr. stehen am Anfang der abendländischen Literatur- und Kulturgeschichte.11 Sie gelten als Prototypen der Gattung Epos bzw. Heldengedicht. Nach ihrem Muster wurde in unzähligen theoretischen Abhandlungen seit der Antike das Wesen dieser literarischen Gattung bestimmt. Die umfangreiche Forschungsliteratur setzt sich seit Jahrhunderten sowohl mit der historischen Dichterpertona / Leipzig 1794. (C. F. Cramer: Menschliches Leben. Gerechtigkeit und Gleichheit! 14. Stück.) S. 49 und S. 69. 10 Ebd., S. 52f. 11 Vgl. zu Homer : Antonios Rengakos / Bernhard Zimmermann (Hrsg.): Homer-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart / Weimar 2011.

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Epische Musterautoren und deren Bedeutung im 18. Jahrhundert

sönlichkeit namens Homer als auch mit den zwei überlieferten griechischen Epen auseinander. Das archaische ›Kriegsepos‹, die Ilias, erzählt in 24 Gesängen und insgesamt 15.693 Versen im Metrum des griechischen Hexameters vom Zorn des Achilleus und dem Kampf um Troja. Die Odyssee, die ebenfalls aus 24 Gesängen besteht, umfasst 12.110 Hexameter und handelt von den abenteuerlichen Irrfahrten und der glücklichen Heimkehr des Heroen Odysseus. Quintus Ennius (239–169 v. Chr.) führte den griechischen Hexameter Homers in die lateinische Dichtkunst ein. Von seinem monumentalen Epos über die Geschichte Roms, Annales genannt, sind leider nur einzelne Fragmente erhalten.12 Der ebenfalls römische Dichter Vergil (eigtl. Publius Vergilius Maro, 70–19 v. Chr.) nahm sich die zwei Epen seines griechischen Vorgängers zum unmittelbaren Vorbild und verfasste ab 29 v. Chr. die Aeneis, die sich aus zwölf Büchern zusammensetzt.13 Dieses unvollendete heroische Gedicht, das aus 9.896 lateinischen Hexametern besteht, erzählt die Gründungssage Roms und verbindet darin mythologische und historische Elemente mit einer tragischen Liebesgeschichte zwischen Aeneas und Dido. Im Renaissance-Humanismus begann in der deutschen Literatur die Antikerezeption.14 Die erste deutsche Übersetzung eines Epos von Homer lag 1537 mit Simon Schaidenreissers Odyssea vor. Bei diesem humanistischen Werk, das 1570 nochmals nachgedruckt wurde, handelt es sich allerdings eher um eine Nachdichtung bzw. sinngemäße Übertragung in Prosa als um eine philologisch genaue, wörtliche deutsche Übersetzung der Odyssee. Die Griechen werden darin in die volkssprachliche, bürgerliche Welt des deutschen 16. Jahrhunderts versetzt. Johannes Baptista Rexius übersetzte 1584 erstmals die Ilias in deutsche Prosa (Ilias Homeri teutsch). Im Jahre 1610 erschien die Ilias Homeri von Johann(es) Spreng in deutschen Knittelversen, von der drei weitere Auflagen (1617, 1625, 1630) veröffentlicht wurden. Spreng hatte zeitgleich auch die Aeneis Vergils in paargereimte deutsche Knittelverse übersetzt (Aeneis Virgiliana, 1610, zuletzt 1629). Der römische Dichter Vergil wurde im Mittelalter sehr verehrt, 12 Siehe hierzu: Quintus Ennius: Fragmente (Auswahl). Lateinisch / Deutsch. Ausgewählt, übersetzt und hrsg. v. Otto Schönberger. Stuttgart 2009. 13 Vgl. zu Vergil: Michael von Albrecht: Vergil. Bucolica – Georgica – Aeneis. Eine Einführung. Heidelberg 2006. – Werner Suerbaum: Vergils Aeneis. Epos zwischen Geschichte und Gegenwart. [Nachdr.] Stuttgart 2007. – Richard Heinze: Virgils epische Technik. 2. Aufl. Leipzig / Berlin 1908. 14 Vgl. hierzu: Volker Riedel: Antikerezeption in der deutschen Literatur vom RenaissanceHumanismus bis zur Gegenwart. Eine Einführung. Stuttgart / Weimar 2000. – Thomas Bleicher : Homer in der deutschen Literatur (1450–1740). Zur Rezeption der Antike und zur Poetologie der Neuzeit. Stuttgart 1972. (Germanistische Abhandlungen; 39.) – Georg Finsler : Homer in der Neuzeit. Von Dante bis Goethe. Italien – Frankreich – England – Deutschland. Leipzig / Berlin 1912. – Homer und die deutsche Literatur. In Zusammenarbeit mit Hermann Korte hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. München 2010. (Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. Sonderband.)

Antike Vorläufer (Homer, Vergil, Lucan, Statius)

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Dante setzte ihm etwa in seiner Divina Commedia ein literarisches Denkmal.15 Auch im deutschen Barock wurde der lateinisch-römische Kanon bevorzugt und folglich schenkte man Homer kaum Beachtung. Erst im 18. Jahrhundert setzte eine ›Wiederentdeckung‹ und ›Neubewertung‹ des griechischen Epikers ein. Als ›der‹ deutsche Homer-Übersetzer gilt Johann Heinrich Voß, der 1781 zunächst die Odyssee und zwölf Jahre später die Ilias (1793) in deutsche Hexameter übertragen herausbrachte.16 Eine derartige Übersetzungsleistung Ende des 18. Jahrhunderts wäre ohne Klopstocks Messias und dessen Einführung des griechischen Hexameterverses in die deutsche Literatur wohl nicht möglich gewesen. Gottsched zeigt sich in seiner frühaufklärerischen Poetik noch stark vom französischen Klassizismus beeinflusst. Im IX. Kapitel Von der Epopee oder dem Heldengedichte in seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst (3. Aufl. 1742) fasst er lediglich eklektisch bisherige Aussagen über Homer zusammen. Der griechische Epiker wird vom Leipziger Literaturpapst traditionell als Begründer der Gattung gewürdigt: Homer sei »der allererste, der dergleichen Werk unternommen, und mit solchem Glücke, oder vielmehr mit solcher Geschicklichkeit ausgeführet« habe, dass er »bis auf den heutigen Tag den Beyfall aller Verständigen« verdient habe und allen seinen epischen Nachfolgern »zum Muster« vorgelegt werde.17 Er sei »der Vater und der erste Erfinder« des Heldengedichtes und »folglich ein recht großer Geist, ein Mann, von besonderer Fähigkeit gewesen«.18 Homer wird vom Philosophen und Literaturkritiker Gottsched vor allem deshalb geschätzt, weil dieser antike Dichter »die Hochachtung und Bewunderung des tiefsinnigsten unter allen Weltweisen, Aristotels, erworben« habe.19 Der griechische Epiker wurde in der Poetik des Aristoteles ausdrücklich als »göttlich« bezeichnet20 und damit die Ilias und Odyssee allen epischen Nachfolgern zur Nachahmung empfohlen. Gottsched folgt in seinem kritischen Lehrbuch demnach der Beurteilung seines poetologischen und philosophischen Vorbildes. Gottsched weist in seinem Epos-Kapitel zunächst auf die kritische Rezeption Homers vor allem in der französischen Querelle hin: 15 Vgl. Andreas Heil: Alma Aeneis. Studien zur Vergil- und Statiusrezeption Dante Alighieris. Frankfurt a. M. [u. a.] 2002. (Studien zur klassischen Philologie; 135.) 16 Vgl. Günter Häntzschel: Johann Heinrich Voß. Seine Homer-Übersetzung als sprachschöpferische Leistung. München 1977. (Zetemata. Monographien zur klassischen Altertumswissenschaft; H. 68.) 17 Gottsched: AW VI 2, S. 279. 18 Ebd. 19 Ebd. 20 Aristoteles: Poetik. Griechisch / Deutsch. Übersetzt und hrsg. v. Manfred Fuhrmann. Bibliographisch ergänzte Ausgabe 1994. [Nachdr.] Stuttgart 2002. S. 76/77 (Kap. 23, 1459a 30f.).

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Epische Musterautoren und deren Bedeutung im 18. Jahrhundert

Viele haben ihn [Homer ; I. G.] ohne Einsicht gepriesen, damit sie nur dafür angesehen würden, als ob sie ihn verstanden hätten: viele haben ihn auch ohne Grund getadelt, damit sie nur das Ansehen hätten, als verstünden sie besser, was zur Poesie gehört, als andre, die den Homer vertheidigten und lobten.21

Danach geht er ausführlich auf den Inhalt und die Gesamtstruktur der Ilias und der Odyssee ein. Er ist der Meinung, dass Homer der Ilias folgende »moralische Wahrheit« zugrunde gelegt habe: »d i e M i s h ä l l i g k e i t i s t v e r d e r bl i c h ; d i e E i n t r a c h t a b e r ü b e r a u s z u t r ä g l i c h«.22 Mit der Odyssee habe der antike Dichter die Griechen Folgendes lehren wollen: »d a ß d i e Abwesenheit e i n e s H a u s v a t e r s o d e r Re g e nt e n üble Folgen n a c h s i c h z i e h e : s e i n e G e g e nw a r t aber sehr e r p r i e ß l i c h s e y«.23 Natürlich wird anschließend der epische Nachfolger Vergil gewürdigt, der laut Gottsched »die Geschicklichkeit besessen [habe], dem Homer so vernünftig nachzuahmen, daß er ihn in vielen Stücken übertroffen [habe]«.24 Der Aeneis wird demnach ein leichter Vorzug eingeräumt. Das römische Nationalepos scheint eher die Forderung des Leipziger Kritikers nach moralischer Besserung des Lesepublikums zu erfüllen. In der Aeneis Vergils finde sich diese »moralische Wahrheit«: »E i n S t i f t e r n e u e r R e i c h e m ü s s e gottesfürchtig,tugendhaft,sanftmüthig,standh a f t u n d t a p f e r s e y n«.25 Die Aeneis zeige in ihrem Titelhelden, der eben kein historisch belegter Charakter sei, das Idealbild eines Regenten und damit genügt die »Fabel« Vergils besonders den Ansprüchen des aufgeklärten ›Kunstrichters‹ Gottsched: Will man also die Aeneis ein Lobgedicht des Aeneas nennen, so war es doch nur ein erdichteter Aeneas, der mehr zeigte, wie ein Regent seyn soll; als wie einer wirklich gewesen war : und dadurch wird seine Fabel moralisch und lehrreich; weil Augustus und alle übrige Großen der Welt ihre Pflichten daraus abnehmen konnten.26

Gottsched hatte in dem allgemeinen Teil seiner Poetik die »Fabel« folgendermaßen definiert: »sie sey die Erzählung einer unter gewissen Umständen möglichen, aber nicht wirklich vorgefallenen Begebenheit, darunter eine nützliche moralische Wahrheit verborgen liegt«.27 Eine jede »epische Fabel« enthält laut dem Leipziger Kritiker eine vollständige »Sittenlehre«28, die er sowohl in den Werken Homers als auch in der Aeneis Vergils entsprechend zu erkennen glaubt. 21 22 23 24 25 26 27 28

Gottsched: AW VI 2, S. 280. Ebd., S. 281f. Ebd., S. 282. Ebd., S. 284. Ebd. Ebd. Gottsched: AW VI 1, S. 204. Ebd., S. 210.

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Gottsched entwirft in seiner systematisch-normativen Poetik keine eigenständige Bewertung Homers. Er hält sich durchweg an die Aussagen in Aristoteles’ Poetik, Horaz’ Ars Poetica und Ren8 Le Bossus Trait8 du po[me 8pique (1675). Ein »neue[s] Homerbild« wird erst von Bodmer und Breitinger entworfen.29 Im poetologischen Hauptwerk der Schweizer, der Critischen Dichtkunst (1740), wird »Homerus« als »ein vortrefflicher und unvergleichlicher Meister« in der »poetischen Mahler-Kunst« eingeführt.30 Die Ilias und die Odyssee – so Breitinger – könne man »als zween reichlich versehene Bilder-Sääle betrachten, in welchen eine unzehlige Menge der vortrefflichsten Originalien und Meisterstücke dieses berühmten Kunst-Mahlers aufgestellet, und zur Schaue vorgeleget werden«.31 In der Ilias seien »lauter Gemählde von furchtbaren, erschrecklichen Dingen, von Streit, Getümmel, Geschrey, Niederlagen, und dergleichen anzutreffen«, in der Odyssee sehe man »hingegen Schildereyen von einem sanftmüthigern und sittsamern Inhalt«.32 Auf diese eher traditionelle Beurteilung Homers, die die Schweizer Philologen als Vertreter der »ut-pictura-poesis«-Doktrin (Horaz: Ars Poetica, V. 361) ausweist, folgt ein Vergleich des griechischen Epikers mit dem römischen Nationaldichter Vergil: Homer ist viel ausführlicher und genauer in Aussetzung derjenigen Umstände, welche dienen, die Sachen sichtbar vor Augen zu stellen, und seinen Gemählden viel Bewegung, Handlung und Leben mitzutheilen: Hingegen ist Virgil viel kürtzer, und sucht seinen besten Vortheil in Beywörtern, so die Gestalten und Beschaffenheiten der Dinge erklären; die Begriffe liegen bey ihm viel enger zusammengepresset; und seine Gemählde haben ein kunstreicheres Aussehen, da in den Homerischen Schildereyen die Kunst mehr in der Wahl der Gedancken und vortheilhaftigsten Umstände, als in der Höhe und dem Glantz der Farben bestehet, und unter einem einfältigen und natürlichen Ansehen verstecket lieget.33

In diesem kurzen philologischen Urteil Breitingers fallen bereits drei Stichwörter, die für die Rezeption Homers in der deutschen Literatur der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts grundlegend sein werden: »Einfalt« und »Natur« im Gegensatz zur »Kunst«. Der Renaissance-Poetiker Marco Girolamo Vida hatte bereits in seiner Abhandlung De arte poetica (1527) darauf hingewiesen, dass sich ein epischer Dichter hinsichtlich des ›decorum‹ am Römer Vergil orientieren solle, wohin29 Bleicher : Homer in der deutschen Literatur, S. 206. Thomas Bleicher ist der Meinung, dass die »bewußt traditionelle und unselbständige Homerbewertung Gottscheds […] wie eine definitive Zusammenfassung aller bisher gültigen Aussagen« wirke. Jedoch entstehe zur gleichen Zeit »der vorläufige Entwurf zu einem neuen Homerbild«. (Ebd.) 30 Breitinger : CD I, S. 34. 31 Ebd., S. 35f. 32 Ebd., S. 36. 33 Ebd., S. 41.

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gegen die Griechen als unmittelbares Vorbild bei der Wahl des Stoffes und der Gedanken, der ›inventio‹, dienen würden: Immerhin hätten die nachahmenden Römer die von den alten Griechen erfundenen Stoffe auch einfach nur übernommen und diese dann künstlerisch perfektioniert (II, V. 541ff.).34 Homer und Vergil wurden einander schon in der antiken Rhetoriklehre gegenübergestellt und damit die Frage nach dem jeweiligen Rang der beiden Epiker aufgeworfen.35 Homer gilt Quintilian als Ursprung und musterhaftes Vorbild in allen Bereichen der Rhetorik und Dichtkunst (Institutio oratoria X 1, 46): hunc nemo in magnis rebus sublimitate, in parvis proprietate superaverit. idem laetus ac pressus, iucundus et gravis, tum copia tum brevitate mirabilis, nec poetica modo, sed oratoria virtute eminentissismus. Niemand könnte ihn bei großen Geschehnissen an Erhabenheit, bei kleinen an treffender Genauigkeit überbieten. Üppig zugleich und schlicht, lieblich und ernst, bald in seiner Fülle, dann wieder in seiner Kürze staunenswert ist er nicht nur an dichterischer, sondern auch an rednerischer Meisterschaft der hervorragendste.36

Von Homer – so Quintilian – könne man alle Redearten lernen (X 1, 47). Er habe alle Affekte und deren Wirkungen in seiner Gewalt gehabt, und zudem habe er die Grundregeln für das Proömium eines Epos aufgestellt (X 1, 48). Mittels seiner rhetorischen Fähigkeiten sei es dem griechischen Epiker möglich gewesen, alle seine Nachfolger weit hinter sich zu lassen (X 1, 51).37 Vergil wird in der Institutio oratoria unter allen Dichtern nach Homer der zweite Platz in der Rangfolge zugesprochen (X 1, 85f.): Er sei hierbei »dem Ersten näher als dem Dritten« (»propior tamen primo quam tertio«; X 1, 86).38 Die folgende Bewertung Vergils durch den römischen Rhetoriklehrer Quintilian wird entscheidenden Einfluss auf die Literaturkritik der späteren Jahrhunderte haben (X 1, 86):

34 Marco Girolamo Vida: The De Arte Poetica. Translated with commentary, & with the text of c. 1517 edited, by Ralph G. Williams. New York 1976. S. 78: »Quid deceat, quid non, tibi nostri ostendere possunt. / Inventa ex aliis disce: & te plurima Achivos / Consulere hortamur veteres […].« (II, V. 541ff.) Vgl. Brigitte Kappl: Die Poetik des Aristoteles in der Dichtungstheorie des Cinquecento. Berlin / New York 2006. (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte; 83.) S. 39. 35 Vgl. Gregor Vogt-Spira: Ars oder Ingenium? Homer und Vergil als literarische Paradigmata. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 35 (1994). S. 9–31, hier bes. S. 24f. 36 Marcus Fabius Quintilianus: Institutionis oratoriae libri XII / Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Hrsg. u. übers. v. Helmut Rahn. Zweiter Teil. Buch VII–XII. 3., gegenüber der 2. unveränd. Aufl. Darmstadt 1995. (Texte zur Forschung; 3.) S. 448f. (X 1, 46). 37 Ebd., S. 448–451 (X 1, 47–51). 38 Ebd., S. 464f. (X 1, 86).

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et hercule ut illi naturae caelesti atque inmortali cesserimus, ita curae et diligentiae vel ideo in hoc plus est, quod ei fuit magis laborandum, et quantum eminentibus vincimur, fortasse aequalitate pensamus. Und ja, beim Herkules, mögen wir auch hinter der himmlischen und unsterblichen Naturkraft ihres Dichters [Homer ; I. G.] zurückstehen, so zeigt der unsere [Vergil; I. G.] doch mehr Liebe und Sorgfalt – schon deshalb, weil er sich mehr hat mühen müssen, und das, was wir an hervorragenden Stellen an Abstand verlieren, gleichen wir vielleicht durch die Gleichmäßigkeit des Ganzen wieder aus.39

Homer wird durch das Stichwort »natura« charakterisiert, was für Quintilian gleichbedeutend mit ›ingenium‹ war. Vergil hingegen werden »cura et diligentia« attestiert, zwei bezeichnende Begriffe, welche für künstlerische Arbeit (»labor«), also ›ars‹ stehen. Beim griechischen Epiker überwiegt demnach das angeborene Naturtalent, während sich der römische Nachfolger insbesondere durch künstlerische, fleißige Gelehrsamkeit auszeichnet. Beide Epiker erhalten von Quintilian ihre kanonische Geltung als Musterautoren. Die Institutionis oratoriae libri XII waren auch im 18. Jahrhundert das wichtigste Unterrichtswerk der Rhetorik, auf dessen Autorität sich die ›aufgeklärten‹ Literaturkritiker gerne beriefen. Die Schlagwörter ›natura‹ (Natur) und ›ars‹ (Kunst) für Homer und Vergil werden in der Rezeption immer wieder gegeneinander ausgespielt. Julius Caesar Scaliger (1484–1558) bezieht sich beispielsweise im fünften Buch seiner Poetices libri septem (1561) auf Quintilians Vergleich der beiden Epiker (B. 5, Kap. 2): Homeri ingenium maximum, ars eiusmodi, ut eam potius invenisse quam excoluisse videatur. Quare neque mirandum est, si in eo naturae idea quaedam, non ars exstare dicatur. Neque censura haec pro calumnia accipienda. Vergilius vero artem ab eo rudem acceptam lectioris naturae studiis atque iudicio ad summum extulit fastigium perfectionis. Homers Begabung ist sehr groß; seine Kunst ist von der Art, daß er sie eher erfunden als sorgfältig ausgearbeitet zu haben scheint. Deshalb ist es nicht verwunderlich, wenn es heißt, bei ihm finde sich eine Art Urbild der Natur, jedoch keine künstlerische Formung; und diese Beurteilung ist auch nicht als böswilliges Kritikastern aufzufassen. Vergil aber führte die Kunst, die von jenem in rohem Zustand auf ihn kam, durch sein Streben nach stärker ausgewählter Natur und durch sein künstlerisches Urteil auf den höchsten Gipfel der Vollendung.40

Der Renaissance-Poetiker überspitzt hierin die Aussage des römischen Rhetoriklehrers, der jeweils nur von einem Mehr oder Weniger an ›natura‹ bzw. ›ars‹ 39 Ebd. 40 Iulius Ceasar Scaliger : Poetices libri septem / Sieben Bücher über die Dichtkunst. Band IV: Buch 5. Hrsg., übersetzt, eingeleitet und erläutert von Gregor Vogt-Spira. Stuttgart-Bad Cannstatt 1998. S. 46f., Z. 12–18 (5. Buch, Kap. 2).

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ausgegangen war. Quintilian hatte dem – seiner Meinung nach – ›vollkommenen Redner‹ Homer eine »künstlerische Formung« der Ilias und Odyssee nicht gänzlich abgesprochen. Scaliger weist im 16. Jahrhundert hingegen dezidiert Vergil den höchsten Rang unter allen anderen griechischen und lateinischen Dichtern zu. Im dritten Kapitel des fünften Buches der Poetices libri septem werden scheinbar endlos unzählige Textstellen aus den Epen Homers und Vergils miteinander verglichen. Der rationalistische Poetiker wirft Homer immer wieder Geschwätzigkeit und Ungereimtheiten vor41, wohingegen Vergil Erhabenheit und Würde in der epischen Darstellung zugeschrieben werden42. Der römische Nationaldichter wird abschließend zum absoluten Maßstab für alle epischen Nachfolger erklärt (B. 5, Kap. 3): »Cuius exemplum regula principium finis esse debet nobis Maro.« (»Beispiel, Richtschnur, Anfang und Ende […] [allen Nachahmens; I. G.] muß uns Vergil sein.«)43 Scaliger lehnte sich an die platonische Inspirationslehre an und erklärte den Dichter zum »alter deus«, zum »zweite[n] Gott«,44 der analog zum christlichen Schöpfergott, aber eben literarisch, mittels seiner Phantasie und gelehrtem Wissen, eigene ›geistige‹ Welten bilde. Der italienische Renaissance-Poetiker antizipierte damit den Genie-Kult des 18. Jahrhunderts. Die absolute ›Gottähnlichkeit‹ verkörperte für Scaliger aber Vergil und nicht Homer.45

41 Die homerischen Beiwörter werden z. B. stark abgewertet (B. 5, Kap. 3): »Homeri epitheta saepe frigida aut puerilia aut locis inepta.« (»Homers Epitheta sind häufig frostig, kindisch oder fehl am Platze.«) (Ebd., S. 64f., Z. 2 [5. Buch, Kap. 3].) Auch die Reden in der Ilias scheinen Scaliger zu missfallen (B. 5, Kap. 3): »Nestor vero in primo Iliados loquax, in septimo non minus, in quarto odiosus, in undecimo obtundit, in paenultimo etiam nugatur.« (»Nestor indessen ist im ersten Buch der ›Ilias‹ geschwätzig, im siebten nicht minder, im vierten widerwärtig, im elften betäubt er durch seinen Redeschwall, im vorletzten faselt er sogar.«) (Ebd., S. 172f., Z. 10–12 [5. Buch, Kap. 3].) Zuletzt appelliert der Poetiker an seine Schüler (B. 5, Kap. 3): »Homericam fuge licentiam et laxum dicendi genus.« (»Meide die homerische Willkür und seine lockere Art zu reden.«) (Ebd., S. 302f., Z. 5f. [5. Buch, Kap. 3].) 42 Ein Urteil Scaligers lautet (B. 5, Kap. 3): »Non enim dici potest, quam Vergilio sit peculiare semper augustum esse.« (»Denn man kann nicht ausdrücken, wie es Vergil eigen ist, immer erhaben zu sein.«) (Ebd., S. 86f., Z. 1f. [5. Buch, Kap. 3].) 43 Ebd., S. 300f., Z. 25f. (5. Buch, Kap. 3). 44 Iulius Ceasar Scaliger : Poetices libri septem / Sieben Bücher über die Dichtkunst. Band I: Buch 1 und 2. Hrsg., übersetzt, eingeleitet und erläutert von Luc Deitz. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994. S. 72f., Z. 2 (1. Buch, Kap. 1). 45 Scaliger urteilt im fünften Buch seiner Poetik: »Denique Homerus moles quidem, sed ut ait Ovidius rudis indigestaque, Vergilius autem eiusdem poetae deus et melior natura.« (»Kurz, Homer ist zwar ein gewaltiges Massiv, doch, wie Ovid sagt, ›kunstlos und ungeordnet‹, Vergil hingegen mit dem Wort desselben Dichters ›ein Gott, sogar besser als die Natur‹.«) Angespielt wird hierin laut dem Kommentar von Gregor Vogt-Spira auf Ovids Metamorphosen 1, 7 und 1, 21. (Scaliger : Poetices libri septem / Sieben Bücher über die Dichtkunst. Band IV: Buch 5, S. 142f., Z. 17–19 [5. Buch, Kap. 3].)

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Der Begründer des »Paradigmenwechsel[s]« vom griechischen Epiker zum lateinisch-römischen war allerdings nicht Scaliger, sondern Vida (1486–1566).46 Dessen dichtungstheoretisches Traktat De arte poetica (1527), das einzig zur Ausbildung eines perfekten Epikers dienen sollte, war in lateinischen Hexametern abgefasst und sollte alle dichterischen Talente dazu anregen, selbst ein italienisches Nationalepos in der Nachfolge Vergils zu verfassen. Vida bezeichnet Homer respektvoll als »insignis« (I, V. 135) und »divin[us]« (I, V. 139).47 Er gilt dem italienischen Humanisten als Inspirationsquelle für alle nachfolgenden griechischen Dichter (I, V. 135–137).48 Vergil hingegen wird als gottgleicher Dichter gefeiert und als »pater« (III, V. 566 und V. 592)49 und ›goldener‹ Höhepunkt römisch-lateinischer Dichtkunst enthusiastisch verehrt (I, V. 161–173)50. Vida lässt seine Abhandlung bezeichnenderweise mit einem gebetsartigen Hymnus auf Vergil enden (III, V. 554–592).51 Diese Rangordnung der antiken Epiker, die im 16. Jahrhundert aufgestellt wurde, kehrte sich erst im Zeitalter der europäischen Aufklärung um. Breitinger greift 1740 in seiner Critischen Dichtkunst den klassizistischen Homer-Vergil-Vergleich wieder auf. Er parallelisiert anhand einzelner Beispiele aus den antiken Epen, Homers und Vergils »Art[.] zu mahlen« und spricht beiden »ihren besondern Werth« zu: Die Homerische hat einen Original-Character, und machet sich dem mehreren Haufen angenehm; die Virgilische hat viel mehr Kunst, und ist gelehrter. Homer war der gröste Genius, Virgil der beste Künstler. In dem einen bewundern wir den Werckmeister, in dem andern das Werck.52

Homer wird in der Poetik der Schweizer demnach neu bewertet. Er steht gleichwertig neben dem epischen »Künstler« Vergil, wird sogar indirekt bevorzugt. Dem griechischen Epiker wird absolute Originalität zugeschrieben: Er 46 Vgl. hierzu: Susanne Rolfes: Die lateinische Poetik des Marco Girolamo Vida und ihre Rezeption bei Julius Caesar Scaliger. München / Leipzig 2001. (Beiträge zur Altertumskunde; 149.) S. 169–186 (Kap. 6.3: Der Paradigmenwechsel von Homer zu Vergil). 47 Vida: The De Arte Poetica, S. 10 (I, V. 135) und S. 12 (I, V. 139). 48 Ebd., S. 10–12 (I, V. 135–137). 49 Ebd., S. 122 (III, V. 566) und S. 124 (III, V. 592). 50 Ebd., S. 12 und S. 14 (I, V. 161–173). 51 Ebd., S. 120, S. 122 und S. 124 (III, V. 554–592). Susanne Rolfes fasst den lateinischen Hymnus Vidas auf Vergil folgendermaßen in deutscher Übersetzung zusammen: »Vergil ist die Kraftquelle, von der sich alle zeitgenössischen Dichter inspirieren lassen sollen. Auf ihn gründet der Ruhm Italiens, seine Sprache gleicht einem Gott und er ist der Führer der Dichter, die in seiner Nachfolge Ruhm ernten. Insbesondere italienische Dichter folgen Vergils Fußspuren und weihen ihm die Beute der Griechen. Alle hören Vergil fasziniert zu und niemals soll irgend jemand es wagen, Vergils Vorrang zu bestreiten oder in Zweifel zu ziehen (III 554– 592).« (Rolfes: Die lateinische Poetik des Marco Girolamo Vida, S. 184.) 52 Breitinger : CD I, S. 43.

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ist das ›größte Genie‹. Breitinger nimmt demnach die Geniediskussion des Sturm und Drang vorweg. Der Schweizer Kritiker beurteilt den jeweils eigentümlichen epischen Stil der beiden antiken Autoren und verwendet dabei eine sehr bildhafte Sprache, die seine Verehrung für Homer und Vergil ausdrückt: Homer ziehet uns fort, und versetzet uns mit einer ungestümen Gewalt, die nicht auf unsern Beyfall wartet; Virgil ziehet uns durch eine Majestät voller Lieblichkeit an sich. Homerus schüttet seine Güter mit einem großmüthigen Ueberfluß aus; Virgil giebt mit Pracht, aber ohne Verschwendung. Homer ergießt seine Schätze gleich dem Nil durch plötzliche Ueberschwemmungen; Virgil ist wie die Flüsse, die niemahls aus ihrem Bette austreten, und die sich in ihrem Laufe allezeit gleich sind.53

Bodmer würdigt Homer ebenfalls in seiner Critischen Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie (1740), denn dieser Epiker habe sich idealerweise bei der Charakterisierung seiner Helden »nach dem menschlichen Affecte gerichtet«.54 Breitinger geht auf diesen Aspekt auch in seiner Critischen Abhandlung von der Natur, den Absichten und dem Gebrauche der Gleichnisse (1740) ein: Homer habe in seinen Epen »die Sprache der Affecte und des Geistes sehr geschickt zu vermengen gewußt«.55 Wann er, als einer der sich bey der Handlung seiner Helden nicht anderst als ein Kundschafter und Mahler befindet, die Kleidung, die Gebehrden, die Bewegung, die Stellung, den Affect, die Verrichtungen derselben, in seiner eigenen Person beschreibet, so ist er an Bildern, Gleichnissen, und andern figürlichen Zierrathen der Phantasie überaus reich: Hingegen wird man in den Reden seiner Personen, welche er nicht sparsam, und doch auf so verschiedene als Hertz-rührende Weise eingeführt hat, dergleichen Bilder oder Gleichnisse nicht antreffen; da redet die Natur ohne Kunst, so wie es ihr die Hitze eines gewissen Affectes befiehlt; der Witz des Poeten darf sich hier nicht einmengen.56

Der ›Naturdichter‹ Homer hatte folglich die Forderung Bodmers und Breitingers nach einer »pathetische[n], bewegliche[n] oder hertzrührende[n] Schreibart« vollkommen umgesetzt.57 Breitinger bezeichnet den griechischen Musterautor in seiner umfangreichen Studie über die epischen Gleichnisse als »Original-Geist« und ordnet ihn als »ersten Urheber« dieses sprachlich-stilistischen Formmerkmals ein.58 Homer wird auch traditionell als ›poeta doctus‹ gewürdigt: Wenn ein Leser die »Menge der Gleichniß-Bilder« in der Ilias und Odyssee betrachte, so erkenne er »die weitläuftige Erkänntniß in allen Künsten und Wissenschaften«, welche »dieser 53 54 55 56 57 58

Ebd. Bodmer: CAWP, S. 25f., hier S. 26. Breitinger : CAG, S. 179. Ebd., S. 179f. Breitinger : CD II, S. 352f. Breitinger : CAG, S. 277.

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vortrefliche Mann« besessen habe.59 Er finde in den beiden Epen »häuffige Spuhren und Kennzeichen einer feinen und gründlichen Erkenntniß in den Geheimnissen aller Künste, Handwercke, Lebens-Arten, und Wissenschaften«.60 Die »alten Kunstrichter[.]« hätten demnach Homer nicht nur als »Vater der Poeten, sondern aller menschlichen Wissenschaft« gepriesen.61 Die homerischen Gleichnisse, die der Züricher Philologe als Beispiele anführt, werden allesamt aus dem Altgriechischen in deutsche Prosa übersetzt. Im angehängten Register der Abhandlung werden alle aus der Ilias und Odyssee verwendeten Gleichnisse akribisch aufgelistet. Breitinger leistete bereits in den 1740er Jahren mit seiner kritischen Untersuchung einen sehr wichtigen Beitrag zu einem Neuverständnis Homers.62 In der Charakterisierung des antiken Dichters in den poetologischen Schriften Bodmers und Breitingers zeigt sich evident der Einfluss der englischen Literatur. Im Laufe der europäischen Aufklärung nahm die Bedeutung des griechischen Epikers immer mehr zu: Alexander Pope hatte die Ilias (1715– 1720) und die Odyssee (1725–1726) sehr erfolgreich in gereimte englische Pentameter übersetzt. Die Kritiker Thomas Blackwell (Enquiry into the Life and Writings of Homer ; 1735)63, Edward Young (Conjectures on Original Composi59 60 61 62

Ebd., S. 282. Ebd. Ebd. Georg Finsler betont, dass Breitingers Abhandlung »für die Erläuterung Homers das wichtigste deutsche Buch vor Herder« gewesen sei. (Finsler : Homer in der Neuzeit, S. 398.) 63 Johann Heinrich Voß übersetzte Thomas Blackwells Schrift von 1735 erst später ins Deutsche: Untersuchung über Homers Leben und Schriften (1776). Die für die Homer-Rezeption im 18. Jahrhundert sehr wichtige englische Abhandlung wurde dem deutschsprachigen Publikum bereits 1746 auszugsweise im Neuen Büchersaal in zwei Rezensionen bekannt gemacht: [Rez.:] II. An Enquiry into the Life and Writings of Homer, The second Edition, London […] 1736. In: Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste. [Hrsg. v. Johann Christoph Gottsched.] 2. Band. 2. Stück, im Hornung [Februar] 1746. Leipzig 1746. S. 114–132. [Rez.:] II. Fortsetzung des Auszugs, aus dem Enquiry into the Life and Writings of Homer. In: Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste. [Hrsg. v. Johann Christoph Gottsched.] 2. Band. 3. Stück, im März 1746. Leipzig 1746. S. 208–225. Gabriele Ball vermutet, dass der Essay Blackwells von der »Gottschedin«, also der Frau Gottscheds, Luise Adelgunde Victorie Gottsched geb. Kulmus, rezensiert wurde. (Vgl. Gabriele Ball: Moralische Küsse. Gottsched als Zeitschriftenherausgeber und literarischer Vermittler. Göttingen 2000. (Das achtzehnte Jahrhundert: Supplementa; 7.) S. 216–224.) Auch Bodmer nutzte Blackwells Werk über Homer in einer seiner poetologischen Abhandlungen: Von dem wichtigen Antheil, den das Glück beytragen muß, einen Epischen Poeten zu formiren. Nach den Grundsätzen der Inquiry into the live and the Writings of Homer. In: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften, Zur Verbesserung des Urtheiles und des Witzes in den Wercken der Wohlredenheit und der Poesie. Siebendes Stück. Zürich 1743. S. 3–24. Dieser Aufsatz des Schweizers »besteht aus aneinandergereihten Kernpassagen der Abschnitte 1–5 und 8 bei Blackwell, die Bodmer mit wenigen Abweichungen wörtlich aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt hat«. (Annegret Pfalzgraf: Eine Deutsche Ilias? Homer und das ›Nibelungenlied‹ bei Johann Jakob Bodmer.

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tion; 1759)64 und Robert Wood (Essay on the Original Genius of Homer ; 1769)65 würdigten in ihren Essays begeistert Homer als »Naturdichter« und »Originalgenie«.66 Blackwell geht in seiner wegweisenden Abhandlung über Homer folgender Frage nach: Welches Schicksal, oder welches Zusammenstimmen der Dinge verursacht hat, daß ihm, seit den zweytausend siebenhundert Jahren, da er schrieb, keiner in der Epischen Dichtkunst gleich gekommen ist; und daß ihn, unsers Wissens, vorher niemand übertroffen hat.67

Der englische Autor versuchte, Homer als historische Person darzustellen, die es unter idealen Zeitumständen, günstigen klimatischen Bedingungen sowie optimalen sittlichen, staatlichen, politischen und religiösen Gegebenheiten bzw. Einrichtungen zur genialen Größe gebracht hatte. Blackwell urteilt folgendermaßen über den »Naturdichter« Homer und dessen Epen: Homers Gedichte sind Menschenwerk, von keiner andern Kraft eingehaucht, als seinen Naturgaben, und den Umständen seiner Erziehung; kurz, ein Zusammenfluß von natürlichen Ursachen vereinigte sich, dieß große Genie hervorzubringen und zu bilden, und eröffnete ihm das würdigste Feld, das je einem Dichter zu Theil ward.68

Der griechische Dichter wurde folglich nicht nur mit den »Naturgaben« eines Genies geboren, sondern er erhielt auch eine entsprechende Ausbildung. Blackwell bezeichnet die Ilias und die Odyssee ausdrücklich als »Naturgemälde« und behauptet, Homer habe »seinen Plan aus der Natur« genommen.69 Der englische Autor geht zudem von einer mündlichen Produktion und Tradierung der homerischen Epen aus. Er charakterisiert den griechischen Epiker als wandernden »Rhapsodisten«, der vor einem adligen Publikum an Kriegern aus

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Zu den Anfängen der nationalen Nibelungenrezeption im 18. Jahrhundert. Marburg 2003. S. 69. Vgl. zu diesem Aufsatz Bodmers ebd., S. 69–76 (Kap. 2.1.4.1.).) Vgl. zu Blackwell: Lucas Marco Gisi: Einbildungskraft und Mythologie. Die Verschränkung von Anthropologie und Geschichte im 18. Jahrhundert. Berlin / New York 2007. (spectrum Literaturwissenschaft. Komparatistische Studien; 11.) S. 59–67. Edward Youngs Schrift wurde aus dem Englischen von Hans Ernst von Teubern ins Deutsche übersetzt: Gedanken über die Original-Werke (1760). Robert Woods Essay von 1769 wurde von Christian Friedrich Michaelis aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt: Versuch über das Originalgenie des Homers (1773). Vgl. Volker Riedel: »Ilias« oder »Odyssee«? Unterschiede in der Rezeption der zwei homerischen Epen. In: Homer und die deutsche Literatur. In Zusammenarbeit mit Hermann Korte hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. München 2010. (Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. Sonderband.) S. 44–58, hier S. 47. [Thomas Blackwell:] Untersuchung über Homers Leben und Schriften. Aus dem Englischen des Blackwells übersetzt von Johann Heinrich Voß. Nachdruck der Ausgabe von 1776. Hrsg. v. Heike Menges. Eschborn 1994. (Schriften zum Symbolikstreit, Abt. II, Bd. 1.) S. 4. Ebd., S. 6. Ebd., S. 329 und S. 355.

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dem Stegreif seine epischen Gedichte über die Heldentaten der Vorfahren sang.70 Die Frage nach der Mündlichkeit oder Schriftlichkeit der Epen beschäftigt seither die Homer-Forschung. Der englische Kritiker bewertet Homer als »Vater der Dichtkunst« am Ende seines Essays ausschließlich in Superlativen: »Das größte Genie, durch das glücklichste Klima, die natürlichsten Sitten, die kühnste Sprache und ausdrucksvollste Religion gebildet, fand den reichsten Stoff von der Welt, und schuf die Iliade und Odyßee.«71 Im Jahre 1795 erschienen Friedrich August Wolfs Prolegomena ad Homerum. In dieser kontroversen Abhandlung wurde die These aufgestellt, dass die Epen Ilias und Odyssee nicht das Werk eines einzelnen genialen Dichters namens Homer seien, sondern eine Sammlung mehrerer Einzellieder von verschiedenen Verfassern, die erst später von Redaktoren bzw. Rhapsoden zusammengefügt worden seien.72 Die zwei antiken Epen habe man »der Kunstfertigkeit eines gebildeteren Zeitalters und den vereinten Bemühungen vieler [zu] verdanken«.73 Wolf negierte in seiner insgesamt 51 Kapitel umfassenden (alt-)philologischen Untersuchung, die den Beginn einer historisch-kritischen Altertumswissenschaft markiert, folglich Homer als individuelle, historische Person. Deutschsprachige Autoren wie Goethe oder Schiller gingen letztlich dennoch von einer ästhetischen Einheit der homerischen Epen aus und sahen die Ilias und Odyssee als Werke ›eines‹ Dichtergenies an. Die Griechenland-Begeisterung, die den lateinischen Kanon zunehmend verdrängte, setzte in Deutschland mit Johann Joachim Winckelmanns kurzer, kunstgeschichtlicher Abhandlung Gedancken über die Nachahmung der Griechischen Wercke in der Mahlerey und Bildhauer-Kunst (1755; erw. Aufl. 1756) ein. Winckelmann erkannte in der griechischen Kunst eine ideale Schönheit, 70 Ebd., S. 145. In der Untersuchung über Homers Leben und Schriften heißt es: »Denn er machte seine Gedichte zum Hersagen oder Absingen vor einer Gesellschaft, und nicht zum Privatlesen oder Durchsehn, welches damals wenige thun konnten.« (Ebd.) Vgl. ebd., S. 145–148. 71 Ebd., S. 375f. 72 Vgl. hierzu: Richard Volkmann: Geschichte und Kritik der Wolfschen Prolegomena zu Homer. Ein Beitrag zur Geschichte der Homerischen Frage. Leipzig 1874. – Manfred Fuhrmann: Friedrich August Wolf. Zur 200. Wiederkehr seines Geburtstages am 15. Februar 1959. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 33 (1959). S. 187–236. – Joachim Wohlleben: Friedrich August Wolfs Prolegomena ad Homerum in der literarischen Szene der Zeit. In: Poetica. Zeitschrift für Sprach- und Literaturwissenschaft 28 (1996). Heft 1–2. S. 154–170. – Jan Stenger : Homer und die Reflexion über poetische Ästhetik. In: Das diskursive Erbe Europas. Antike und Antikerezeption. Hrsg. v. Dorothea Klein und Lutz Käppel. Frankfurt a. M. [u. a.] 2008. (Kulturgeschichtliche Beiträge zum Mittelalter und der frühen Neuzeit; 2.) S. 194–220, hier S. 215–217. 73 Friedrich August Wolf: Prolegomena zu Homer. Ins Deutsche übertragen von Hermann Muchau. Mit einem Vorwort über die Homerische Frage und die wissenschaftlichen Ergebnisse der Ausgrabungen in Troja und Leukas-Ithaka. Leipzig [o. J.]. S. 92. Das Vorwort dieser Übersetzung aus dem Lateinischen von Muchau ist datiert auf das Jahr 1908.

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deren Kennzeichen eine »edle Einfalt« und eine »stille Größe« seien.74 Gotthold Ephraim Lessing, der Homer »das Muster aller Muster« nannte, setzte sich in seiner kunst- und dichtungstheoretischen Schrift Laokoon: oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie (1766) mit Winckelmann auseinander.75 Friedrich Schiller zählte Homer in seiner Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung (1795) zu den »naiven«, natürlichen Dichtern.76 Die »Einfalt« bzw. Naivität des antiken Epikers war noch Ende des 18. Jahrhunderts das wichtigste Schlagwort der Homer-Rezeption. In der lebhaften Ependiskussion des 18. Jahrhunderts beschäftigten sich die zeitgenössischen Kritiker auch mit den lateinisch-römischen Nachfolgern Homers und Vergils. Die Epen von Lucan und Statius wurden allerdings stark abgewertet und dienten in den poetologischen Abhandlungen eher als Negativfolie. Marcus Annaeus Lucanus’ (39–65 n. Chr.) Heldengedicht trägt in der handschriftlichen Überlieferung den Titel De bello civili (Der Bürgerkrieg) – möglich wäre auch Bellum civile.77 Nach Vers 985 im neunten Buch wurde es aber meist Pharsalia genannt. Das insgesamt zehn Bücher umfassende Hexametergedicht, das unvollendet geblieben ist, handelt von der entscheidenden Phase des römischen Bürgerkrieges zwischen Pompeius und Caesar. Die Schilderung der blutigen Schlacht bei Pharsalos (48 v. Chr.) im siebten Buch bildet einen Höhepunkt des Epos. Der römische Dichter Lucan verarbeitete demnach einen historischen Stoff, verzichtete dabei aber auf den traditionellen mythologischen Götterapparat eines antiken Epos. Er setzte als Anhänger des Stoizismus anstelle der Götter das bestimmende Schicksal, das ›fatum‹. Berühmt ist das Heldengedicht für seine pathetischen Reden und die zahlreichen Sentenzen. Gottsched bemerkt in seinem Kapitel Von der Epopee oder dem Heldengedichte im Versuch einer Critischen Dichtkunst zu Lucan: 74 Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. Sendschreiben. Erläuterung. Hrsg. v. Ludwig Uhling. Bibliographisch ergänzte Ausgabe 1995. [Nachdr.] Stuttgart 2007. S. 20. 75 Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder Über die Grenzen der Malerei und Poesie. Mit beiläufigen Erläuterungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte. Mit einem Nachwort von Ingrid Kreuzer. Bibliographisch ergänzte Ausgabe 1987. [Nachdr.] Stuttgart 2003. S. 145. 76 Friedrich Schiller : Über naive und sentimentalische Dichtung. In: [Ders.:] Werke und Briefe in zwölf Bänden. Band 8: Theoretische Schriften. Hrsg. v. Rolf-Peter Janz unter Mitarbeit von Hans Richard Brittnacher, Gerd Kleiner und Fabian Störmer. Frankfurt a. M. 1992. S. 706– 810, hier S. 728–732. 77 Vgl. Marcus Annaeus Lucanus: Der Bürgerkrieg. Lateinisch / Deutsch. Hrsg. v. Georg Luck. 2. unveränd. Aufl. Berlin 1989. (Schriften und Quellen der alten Welt; 34.) S. 670 (Nachwort). Verwendet wurde auch folgende Ausgabe: M. Annaeus Lucanus: De bello civili / Der Bürgerkrieg. Lateinisch / Deutsch. Übersetzt und hrsg. v. Georg Luck. Stuttgart 2009.

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Sein pharsalischer Krieg ist eine wahrhafte Historie, von einer unlängst vorgefallenen Schlacht, zwischen dem Cäsar und Pompejus. Er erzählt dieselbe in der gehörigen Zeitordnung, und vertritt also die Stelle eines Geschichtschreibers, nicht aber eines Poeten. Hier ist gar keine allgemeine moralische Fabel zum Grunde gelegt: folglich ist auch seine Pharsale kein Gedichte, sondern eine in hochtrabenden Versen beschriebene Historie; die zwar in der That viel schöne Gedanken in sich hält, auch zuweilen in einigen Stellen die Natur gut genug nachahmet, z. E. wenn er den Cato in den lybischen Wüsteneyen vom Orakel Hammons reden läßt; allein überhaupt den Namen einer Epopee niemals wird behaupten können.78

Die Pharsalia dient dem Leipziger Professor folglich als Negativbeispiel eines Heldengedichts. Lucan ist für ihn nichts weiter als ein Historiker, der in chronologischer Reihenfolge und in Versform von einer Phase der römischen Geschichte erzählt. Gottsched verweist in seiner Kritik auf eine Episode im neunten Buch, die vom Ammons-Orakel in der Wüste handelt (V. 511–586). Beachtung in der Rezeption des Epos fand auch eine Episode im sechsten Buch, in der Sextus Pompeius die berühmte thessalische Hexe Erictho befragt (V. 413–830). Breitinger kritisiert Lucan ebenfalls in seiner Critischen Dichtkunst, weil dieser »allegorische[.] Personen« »ohne Maaß und Ende« angebracht habe, wohingegen Vergil und Homer hierin sehr sparsam gewesen seien.79 Als Beispiele für Allegorien der antiken Musterautoren führt der Schweizer Kritiker die personifizierte »Zwietracht«, die ›Eris‹, im vierten Gesang der Ilias (V. 440ff.) und das »Gerücht«, die ›Fama‹, im ebenfalls vierten Buch der Aeneis (V. 173ff.) an.80 Lucan lässt in seiner Pharsalia hingegen beispielsweise immer wieder ›Fortuna‹ (1. Buch, V. 84 u. ö.) und ›Libertas‹ (2. Buch, V. 303; 3. Buch, V. 114; 7. Buch, V. 433 und V. 696; 9. Buch, V. 30; 10. Buch, V. 25) an prominenter Stelle auftreten. Wieland schreibt in seiner Lehrschrift Theorie und Geschichte der Red-Kunst und Dicht-Kunst von 1757, dass er Lucan einen Platz unter den anderen antiken Ependichtern nicht versagen könne, »und wenn es auch nur um des Contrasts willen geschehe«.81 Der römische Epiker habe sich in seinem »Plan« weder Homer noch Vergil »zum Muster genommen«.82 Das »Sujet« seines Heldengedichts stamme »aus der neuesten römischen Geschichte, zu einer Zeit, da noch alte Leute lebten, die seine [Lucans; I. G.] Helden gekannt hatten«.83 Wieland 78 79 80 81

Gottsched: AW VI 2, S. 285f. Breitinger : CD I, S. 152. Vgl. ebd., S. 148–152. Christoph Martin Wieland: Theorie und Geschichte der Red-Kunst und Dicht-Kunst (1757). In: [Ders.:] Gesammelte Schriften. Hrsg. v. der Deutschen Kommission der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Erste Abteilung: Werke. 4. Bd.: Prosaische Jugendwerke. Hrsg. v. Fritz Homeyer und Hugo Bieber. Berlin 1916. S. 303–420, hier S. 371. 82 Ebd. 83 Ebd.

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kritisiert dezidiert die Stoffwahl Lucans, denn diese habe ihm »viele Vortheile, viele Quellen von Erfindungen [genommen], deren sich seine Vorgänger wohl zu bedienen gewußt« hätten: Er war genöthigt, seine Personen nach dem Leben zu schildern, er durfte wenig zu der Historie hinzudichten, geschweige etwas in derselben verändern, und die Dazwischenkunft der Götter und Göttinnen, die den Homerischen Gedichten soviel Schönheiten gibt, würde sich in einem sujet, das nicht aus sehr entfernten und fabulosen Zeiten hergenommen, sondern noch in aller Gedächtniß war, gar nicht geschickt haben.84

Die Wahl eines historischen Stoffes, der den Zeitgenossen noch im Gedächtnis geblieben war, brachte laut Wieland Lucan aber auch Vorteile, »durch die er seine Vorgänger bey weitem hätte übertreffen können, wenn er den Genie des Homer gehabt hätte«: Seine Helden sind weit importantere Personen als ein Achilles oder Aeneas, und seine Action ist eine der wichtigsten, die wir in der Geschichte finden: man stritt um die Herrschaft des ganzen Erdbodens, um die Erhaltung oder den Umsturz der größten Republik, und die Haupt-Agenten waren die größten Feldherren, die jemals gewesen sind.85

Wieland beurteilt Lucans Pharsalia somit weitaus positiver als Gottsched oder Breitinger. Er bemerkt auch kurz und richtig zum Rezeptionsschicksal des römischen Heldengedichtes: Es scheint, Lucan habe zu seiner Zeit einen großen Beyfall durch dieses Werk erhalten. Allein die Nachwelt hat unpartheyischer von ihm geurtheilt als seine Zeitgenossen: man hat ihn ganz unwürdig gefunden, neben den großen Dichtern zu stehen, und wenn er noch gelesen wird, so geschieht es kaum aus einer andern Absicht, als aus ihm zu lernen, vor was für Fehlern sich ein Scribent und besonders ein epischer Poet hüten müsse.86

Während die Musterautoren Homer und Vergil in ihren Epen jederzeit den Spannungsbogen zu erhalten gewusst hätten, habe Lucan »das Geheimniß gefunden, seine Leser zu ennuyieren und einzuschläfern«.87 Wieland nennt daraufhin all die »Fehler[.]«, die sich in Lucans Pharsalia finden lassen, wobei er sich stark an den poetologischen Kategorien der Schweizer Partei orientiert: [E]s ist weder Natur, noch Kunst in seinem Gedicht; er versteht den homerischen Kunstgriff, niemals mehr zu sagen als nöthig ist, so wenig, daß er fast immer zuviel oder zuwenig sagt; er outriert insgemein seine Gemählde von Personen und Sachen und 84 85 86 87

Ebd. Ebd., S. 372. Ebd. Ebd.

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verwechselt das Schwülstige mit dem Erhabnen und einen gekünstelten Witz mit dem natürlichen Ausdruck der Affecten. Weil er alle Begebenheiten in der Ordnung und mit allen den Umständen erzählt, wie sie würklich sich zugetragen haben, so wird er dadurch trocken und langweilig. Endlich versteht er sich sehr schlecht auf die poetische Mahlerey, seine Farben sind entweder zu stark oder zu matt; seine Schreibart ist fast durchgängig gezwungen, dunkel, schwülstig und nachlässig, und er hat nichts weder von der Eleganz und Correction noch von der Harmonie des Virgils.88

Wieland kommt zu dem Schluss, dass es angesichts so vieler »wichtige[r] Fehler[.]« »kein Wunder« gewesen sei, dass Lucans Epos »ein so ungünstiges Schicksal« in der Rezeptionsgeschichte getroffen habe.89 Das lateinische Heldengedicht habe aber »auch seine Vorzüge und zuweilen sublimere Schönheiten […], als irgend einer von seinen Vorgängern«.90 Wieland lobt die starke Charakterzeichnung Lucans und hebt die pathetischen Redepartien hervor, in denen »man häufig genug große und starke Gedanken« finde.91 Der junge Kritiker bemüht sich demnach um eine gerechte, angemessene Beurteilung des epischen Nachfolgers. Der Literaturhistoriker Johann Joachim Eschenburg (1743–1820), der am Collegium Carolinum in Braunschweig lehrte, zählt in seiner systematischen Gattungstheorie, dem Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften (1. Aufl. 1783; neue Ausgabe von 1789), die Werke von Lucan und Statius zu den römischen Heldengedichten »vom zweiten Range«: Die Pharsalia sei »mehr beredt und historisch, als dichtrisch, und episch«, und die Thebais sei »nicht ohne einzelne Schönheiten, aber fehlerhaft im Ganzen«.92 Die Thebais von Publius Papinius Statius (um 40–96 n. Chr.) erzählt vom sagenhaften Zug der Sieben gegen Theben und dem Bruderkampf der Ödipussöhne Eteocles und Polynices.93 Das Hexameterepos besteht aus zwölf Büchern und lehnt sich eng an das unmittelbare lateinisch-römische Vorbild, die Aeneis Vergils, an. So schildern die ersten sechs Bücher die Vorbereitungen für den Krieg, die Bücher sieben bis zwölf letztlich den eigentlichen Kampf um 88 89 90 91 92

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Johann Joachim Eschenburg: Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften. Zur Grundlage bei Vorlesungen. Neue, umgearbeitete Ausgabe. Berlin / Stettin 1789. S. 176f. 93 Verwendet wurden folgende Ausgaben der Thebais: [Publius Papinius Statius:] P. Papini Stati Thebaidos Libri XII. Recensuit et cum apparatu critico et exergetico instruxit D. E. Hill. Lugduni Batavorum 1983. (Mnemosyne. Supplementum; 79.) – Publius Papinius Statius: Der Kampf um Theben. Einleitung, Übersetzung und Anmerkungen von Otto Schönberger. Würzburg 1998. – Publius Papinius Statius: Thebais. Die Sieben gegen Theben. Lateinischer Text mit Einleitung, Übersetzung im Versmaß des Originals, kurzen Erläuterungen, Eigennamenverzeichnis und Nachwort von Hermann Rupprecht. Mitterfels 2000.

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Epische Musterautoren und deren Bedeutung im 18. Jahrhundert

Theben und den Tod aller Beteiligten. Statius verwendet noch die traditionelle Göttermaschinerie, lässt allegorische Gestalten auftreten und schildert Wettkämpfe, blutige Schlachten und Heldentode. Für Wieland ist Statius aber nur ein »unglückliche[r] Nachahmer der epischen Dichter«, den er im Gegensatz zu Lucan keines weiteren Kommentars würdigt.94 Alle griechischen und römischen Heldendichter und deren Werke wurden demnach auch im 18. Jahrhundert an den antiken Musterautoren bzw. epischen Prototypen Homer und Vergil gemessen. Anders erging es auch nicht den neuzeitlichen bzw. modernen Nachfolgern, von denen das folgende Unterkapitel handeln wird. Diese Vorläufer Klopstocks mussten sich allerdings darüber hinaus noch stets einem Vergleich mit Miltons Bibelepos stellen.

2.2

Neuzeitliche Vorläufer (Dante, Tasso, Milton, Glover)

Dantes Divina Commedia war Ende des 17. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum noch relativ unbekannt.95 Eine wichtige Rolle bei der »Wiederentdeckung« des italienischen Autors Dante Alighieri (1265–1321) im 18. Jahrhundert spielte Bodmer.96 Der Schweizer Literaturkritiker hatte sich von dem italienischen Grafen Pietro Calepio (1693–1762) eine »gute Dante-Ausgabe« erbeten, die er im Laufe des Jahres 1730 erhalten und wohl eifrig studiert hatte.97 In seinem poetologischen Lehrgedicht Character der Teutschen Gedichte von 1734 wird Dante erstmals von Bodmer erwähnt: Während Deutschland literarhistorisch »in die barbarsche Nacht« des Mittelalters zurückgefallen sei, erschien in Italien »Dantes« [!], Der den versengten Grund an Stygis schwartzen Strande Mit frechem Fuß betrat, sich durch das Chaos drang, Und wiederum heraus mit mächtgen Flügeln schwang; Durch abentheurliche fantastisch-wilde Welten, Bis sich die müden Füß im Sternen-Estrich stellten, 94 Wieland: Theorie und Geschichte der Red-Kunst und Dicht-Kunst (1757). In: [Ders.:] Gesammelte Schriften. Erste Abteilung: Werke. 4. Bd.: Prosaische Jugendwerke, S. 303–420, hier S. 373. 95 Vgl. Eva Hölter : »Der Dichter der Hölle und des Exils«. Historische und systematische Profile der deutschsprachigen Dante-Rezeption. Würzburg 2002. (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft; 382.) S. 27. 96 Max Wehrli: J. J. Bodmer entdeckt Dante. In: Deutsches Dante-Jahrbuch 48 (1973). S. 24–41, hier S. 24. Vgl. hierzu: Leone Donati: J. J. Bodmer und die italienische Litteratur. In: Johann Jakob Bodmer. Denkschrift zum CC. Geburtstag (19. Juli 1898). Veranlasst vom Lesezirkel Hottingen und hrsg. v. der Stiftung von Schnyder von Wartensee. Zürich 1900. S. 241–312, hier S. 276–290. 97 Wehrli: J. J. Bodmer entdeckt Dante, S. 26.

Neuzeitliche Vorläufer (Dante, Tasso, Milton, Glover)

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Da er den heisern Thon, der erst so hart erklang, Verkehrt in lieblichen süß-schallenden Gesang.98

In diesen sieben Versen paraphrasiert Bodmer in sehr groben Zügen den Inhalt der Divina Commedia, der Göttlichen Komödie, in der eine visionäre Reise durch die drei christlichen Jenseitsreiche Hölle (Inferno), Läuterungsberg bzw. Fegefeuer (Purgatorio) und Himmel bzw. Paradies (Paradiso) erzählt wird.99 Der fiktive Wanderer ›Dante‹, der vom antiken Autor Vergil und der ehemals geliebten himmlischen Beatrice als jeweilige Führer geleitet wird, trifft im Jenseits auf unzählige historische und mythologische Figuren, mit denen er Gespräche führt – im Inferno handelt es sich dabei um die bis in alle Ewigkeit Verdammten, im Purgatorio um die Büßenden und im Paradiso um die erlösten Seelen. Die Commedia stellt ein Kompendium mittelalterlichen Wissens dar. Das Dante’sche Werk setzt sich aus drei Teilen bzw. Büchern zusammen, die wiederum aus jeweils 33 Gesängen bestehen. Zusammen mit dem einleitenden Gesang ergibt sich ein epischer Umfang von 100 Gesängen. Die Göttliche Komödie wurde nicht in der lateinischen Gelehrtensprache, sondern in der italienischen Volkssprache verfasst. Das poetische Werk zeichnet sich durch eine Stilmischung von niedrigem und pathetisch-hohem Stil aus. Als Versmaß wurde der traditionelle Elfsilber (Endecasillabo) verwendet. Das unmittelbare literarische Vorbild für Dante war Vergils Aeneis, in der der Titelheld Aeneas im sechsten Buch ebenfalls eine Reise in die Unterwelt antritt. In der Göttlichen Komödie zeigt sich, dass der Autor das Verfahren einer markierten Intertextualität anwendet.100 Die fiktive Hauptfigur Dante beispielsweise bezeichnet den römischen Nationalepiker Vergil, der ebenfalls als handelnde Figur namentlich auftritt, gleich im ersten Gesang des Inferno als »Quelle« (»fonte«) (V. 79), als »mein Meister« (»mio maestro«) (V. 85) sowie als »ruhmreiche[n] Weise[n]« (»famoso saggio«) (V. 89).101 Im vierten Gesang des Inferno reiht sich Dante in den Kreis der größten heidnischen Poeten ein, zu dem neben dem »hohen Dichter« (»altissimo poeta«) (V. 80) Vergil Homer, Horaz, Ovid und Lucan zählen.102 Die Zugehörigkeit der Commedia zur Gattung Epos ist bis heute umstritten, da sich das christliche Gedicht Dantes einfach nicht mit 98 Johann Jacob Bodmer : Character der Teutschen Gedichte. In: J.[ohann] J.[acob] Bodmer : Vier kritische Gedichte. [Hrsg. v. Jakob Baechtold.] Heilbronn 1883. (Deutsche Litteraturdenkmale des 18. Jahrhunderts; 12.) S. 3–38, hier S. 6f., V. 105–114. 99 Vgl. dazu: Heinz Willi Wittschier : Dantes Divina Commedia. Einführung und Handbuch. Erzählte Transzendenz. Frankfurt a. M. 2004. (Grundlagen der Italianistik; 4.) – Ulrich Prill: Dante. Stuttgart / Weimar 1999. (Sammlung Metzler ; 318.) S. 124ff. 100 Vgl. Heil: Alma Aeneis. 101 Dante Alighieri: Die göttliche Komödie. Italienisch und deutsch. Übersetzt von Hermann Gmelin. 1. Teil: Die Hölle. 3., unveränderte Aufl. Stuttgart 1988. S. 16f. (Inferno, Canto I, V. 79, V. 85, V. 89). 102 Ebd., S. 50–55 (Inferno, Canto IV, V. 70–102).

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den klassischen Mustern vergleichen lässt. Bodmer jedoch erkannte die Originalität der Göttlichen Komödie und ordnete Dante als Vorläufer seines ›Lieblingsepikers‹ Milton ein. In seinen Critischen Betrachtungen über die poetischen Gemählde der Dichter (1741) setzte sich Bodmer wiederum lobpreisend mit der Divina Commedia Dantes auseinander. Er weist in dieser poetologischen Schrift auf die ›schlechten‹ italienischen Kunstrichter hin, die »von dem Zustande der Gelehrsamkeit und den Sitten Italiens zu Dantes Zeiten« zu wenig gewusst und den Dichter der Commedia folglich ganz falsch beurteilt hätten.103 Man habe diesen Kritikern »mit Recht vorgehalten, daß Dantes ohne diese Dinge nicht mehr Dantes wäre«.104 Bodmer vertritt hierin den sich im 18. Jahrhundert entwickelnden historischen Relativismus. Er greift zur Erläuterung seiner ›poetischen Malerkunst‹ auf zwei sehr affektvolle Episoden der Commedia zurück, die in der darauffolgenden Dante-Rezeption erst berühmt wurden: Die UgolinoEpisode aus dem 33. Gesang des Inferno (V. 1–90), die einen grausamen Hungertod schildert, führt er als Beispiel dafür an, dass ein Dichter »auch dem Erschrecklichen, dem Traurigen, dem Häßlichen, ja der Boßheit selber, mittelst der Vorstellung etwas angenehmes mitzutheilen« vermöge.105 Bodmer stellt dem Leser folgende rhetorische Frage: Was vor Abscheu würde die Ansichtigung der Verhungerung des Grafen Ugolino und seiner Söhne in dem Gefängniß zu Pisa bey uns verursachen, statt daß die natürliche Beschreibung derselben in Dantes Gedichte von der Höllen, so wohl als das davon verfertigte Bas-Relief des Michael Angelo etwas angenehmes für uns haben?106

Es folgt eine deutsche Prosaübersetzung der Verse 49 bis 75 aus dem Inferno Dantes.107 Als ein »Exempel von der sinnlichen Kraft der poetischen Vorstellung«108 führt Bodmer die Episode der beiden Liebenden Francesca und Paolo an, deren unglückliche und mitleiderregende Geschichte Dante im fünften Gesang des Inferno (V. 73–142) erzählte. Die historische Francesca da Rimini betrog im 13. Jahrhundert ihren Gatten Gianciotto Malatesta mit dessen jüngerem Bruder Paolo.109 Die beiden Liebessünder wurden in flagranti vom Ehemann ertappt und daraufhin von diesem ermordet. Im zweiten Kreis der Hölle, in dem die Wollüstigen bestraft werden, trifft nun ›Dante‹ auf Francesca, die ihm Folgendes von ihrer Liebestragödie berichtet: Paolo und Francesca lasen eines Tages zum 103 104 105 106 107 108 109

Bodmer : CBGD, S. 81. Ebd. Ebd., S. 29. Ebd., S. 30. Ebd., S. 30f. Ebd., S. 44. Vgl. hierzu und im Folgenden zur Francesca-Paolo-Episode: Prill: Dante, S. 143f.

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Vergnügen gemeinsam einen mittelalterlichen Lancelot-Roman. Als die beiden auf eine Textstelle stoßen, in der Ginevra von Galeotto dazu verführt wird, Lancelot zu küssen, werden sie von ihren tiefen Gefühlen füreinander überwältigt und Paolo küsst Francesca leidenschaftlich auf den Mund. Francesca endet ihren Bericht mit den mehrdeutigen Worten: »Verführer war das Buch und der’s geschrieben. j An jenem Tage lasen wir nicht weiter.« (»Galeotto fu il libro e chi lo scrisse: j Quel giorno piF non vi leggemmo avante.«) (Inferno, 5. Gesang, V. 137f.)110 Bodmer leitet diese berühmte Episode mit folgenden Worten ein: »Der Florentinische alte Poet Dantes führet in seinem Gedichte von der Höllen eine Frauensperson ein, welche ihm erzehlet, wie sie durch die blosse Beschreibung einer feurigen Liebe in gleichmässige Flamme gesetzet worden«.111 Er übersetzt daraufhin in seinen Critischen Betrachtungen die Verse 127 bis 132 aus dem fünften Gesang des Inferno ins Deutsche. Die Verse 133 bis 138 zitiert er anschließend aus dem italienischen Originaltext. Beeindruckt ist Bodmer dezidiert vom letzten Vers der Francesca-Paolo-Episode (V. 138), denn dieser zeige »wie geschickt dieser Poet [Dante; I. G.] schweigend zu gedencken giebt, was ein grober Ausdruck nicht mit solchem Nachdruck gesagt hätte«.112 Dante erweist sich hierin folglich als ein ›Meister‹ in der poetischen Wortwahl. Das Lesepublikum von Bodmers Critischen Betrachtungen bekam durch die paraphrasierten und teilweise übersetzten zwei Episoden, die beide dem pathetisch-erhabenen Stil zugerechnet werden können, einen kleinen Eindruck von Dantes Inferno. Die erste vollständige deutsche Übersetzung der Göttlichen Komödie in drei Teilen (Von der Hölle. Von dem Fegefeuer. Von dem Paradiese) von Leberecht Bachenschwanz erschien erst in den Jahren 1767 bis 1769.113 Bodmer veröffentlichte 1749 in dem Sammelband Neue Critische Briefe über gantz verschiedene Sachen einen Brief mit dem Titel Von dem Werthe des dantischen dreyfachen Gedichtes (29. Brief), der offensichtlich an den seraphischen Dichter des Messias gerichtet war. Er spricht darin in seiner Rolle als Mentor den jungen Autor Klopstock direkt an und erteilt ihm einleitend folgenden Rat: Wiewol ich erkenne, daß sie das grosse Werck zu besingen, welches ein himmlischer Seraph ihnen in den Sinn geleget hat, mit einem ungemeinen Reichthum von Gedanken, Empfindungen und Bildern versehen sind, so kan ich mich doch nicht enthalten zu gedenken, daß sie zu ihrem Vornehmen noch einige vortreffliche Quellen in dem dreyfachen Gedichte des Dante antreffen könnten. Ich verstehe dadurch keine vollendeten Stüke, die sie herausnehmen, und in ihr Gedicht wieder eintragen könnten, 110 Dante Alighieri: Die göttliche Komödie. Italienisch und deutsch. Übersetzt von Hermann Gmelin. 1. Teil: Die Hölle, S. 68f. (Inferno, Canto V, V. 137f.). 111 Bodmer : CBGD, S. 43. 112 Ebd., S. 44. 113 Vgl. Hölter: »Der Dichter der Hölle und des Exils«, S. 28 und S. 35.

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sondern allein Züge und Spuren, die vielleicht allen andern verborgen blieben, und nur ihnen sichtbar würden, damit sie dieselben nach ihrer Art in die herrlichsten Vorstellungen ausbreiteten.114

Dantes Commedia soll demnach Klopstock als schöpferische Inspirationsquelle dienen. Bodmer weist den Messias-Dichter, der bislang nur die ersten drei Gesänge seines Bibelepos publiziert hatte, quasi mit erhobenem Zeigefinger darauf hin, dass auch der »fruchtbarste Geist […] wegen seiner endlichen Natur erschöpfet werden [könne]«115. Bodmer befürchtete offenbar ein Nachlassen der poetischen Produktivität Klopstocks. Er empfiehlt ihm daher »ein aufmerksames Umschauen in den traurigen, den stillern, und den festlichen Gegenden der Hölle, des Fegfeuers, und des Paradieses«, denn Klopstocks »Erfindungskraft würde von diesen Oertern und den Personen, die in denselben vorkommen, in eine starke Bewegung gesezet werden«.116 Bodmer betont am Ende seines 29. ›Critischen Briefes‹ nochmals mit äußerstem Nachdruck gegenüber Klopstock: »[Ich] bin versichert, daß sie in dieser reichen und lautern Quelle ganz fremde und wunderbare Gedanken für ihr göttliches Gedicht schöpfen könnten.«117 Der Messias-Dichter konnte allerdings dem Rat seines Förderers aus Zürich aufgrund mangelnder Fremdsprachenkenntnisse gar nicht nachkommen. Bodmer beschwert sich ausdrücklich am 5. September 1750 in einem Brief an seinen Freund Laurenz Zellweger, dass Klopstock »weder englisch noch italienisch« verstehe.118 Der Schweizer Kritiker berichtet am Ende seiner Abhandlung Von dem Werthe des dantischen dreyfachen Gedichtes, dass er einen Bekannten namens »G…«, der »in der scholastischen Philosophie und Theologie« sehr belesen sei, zu überreden versucht habe, eine deutsche Übersetzung der Commedia anzufertigen.119 Klopstock hatte im Sommer 1749 eine Ausgabe der Neuen Critischen Briefe Bodmers erhalten und wohl auch eifrig studiert. In einem Brief vom 7. Juni 1749 bekennt er gegenüber seinem Mentor : Fahren Sie fort, mich zu unterrichten. Es ist mir ein ungemeines Vergnügen, mich von Ihnen auf die Spur neuer Gedanken bringen zu lassen. […] Wie sehr wünschte ich, daß

114 Johann Jacob Bodmer : Der neun und zwanzigste Brief: Von dem Werthe des dantischen dreyfachen Gedichtes. In: [Ders.:] Neue Critische Briefe über gantz verschiedene Sachen, von verschiedenen Verfassern. Zürich 1749. S. 242–254, hier S. 242f. 115 Ebd., S. 243. 116 Ebd. 117 Ebd., S. 254. 118 Brief von Bodmer an Zellweger, 5. September 1750. In: Josephine Zehnder : Pestalozzi. Idee und Macht der menschlichen Entwickelung. Bd. 1. Gotha 1875. Nr. 14, S. 345–351, hier S. 346f. 119 Bodmer : Der neun und zwanzigste Brief: Von dem Werthe des dantischen dreyfachen Gedichtes. In: [Ders.:] Neue Critische Briefe, S. 242–254, hier S. 253.

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Ihr Freund den Dantes übersezte. Ich habe schon lange ein grosses Verlangen gehabt, diesen Poeten zu lesen.«120

Es wird in der Forschung vermutet, dass mit »G…« der Bibelexeget Simon Grynaeus (1725–1799), Pfarrer zu St. Peter in Basel, gemeint war, der zu den Korrespondenten Bodmers zählte.121 Dieser kam aber offensichtlich dem dringlichen Wunsch nach einer deutschen Übersetzung von Dantes Divina Commedia nicht nach. Bodmer zählt Dantes Göttliche Komödie in seiner kurzen Abhandlung in Briefform zu den »dogmatischen« Gedichten, relativiert diese Gattungszugehörigkeit allerdings sogleich wieder, indem er dem italienischen Autor attestiert, er habe dem »dreyfache[n]« (Lehr-)Gedicht »doch eine ganz poetische Gestalt anzuziehen gewust«.122 Als literarisches Vorbild hierfür nennt Bodmer sogleich das sechste Buch der Aeneis Vergils, in dem ebenfalls eine »Höllenfahrt« beschrieben werde.123 Dante habe die Hölle allerdings gemäß seiner originellen und individuellen Schöpferkraft »mit Kreisen, Sphären, Abgründen, Feuerbergen und Seen, und andern Oertern der Qual versehen, wie er es für die verschiedenen Arten der Einwohner, die er dahin sezen wollte, nöthig fand«.124 Der italienische Dichter gilt folglich nicht als ›sklavischer Nachahmer‹ Vergils. Dante muss auch einem Vergleich mit Milton standhalten. So beurteilt Bodmer die beiden religiösen epischen Gedichte in seiner Abhandlung folgendermaßen: Ich will nicht verhalten, daß Dantes seiner Hölle die unselige Grösse nicht gegeben hat, welche sie im verl. Par. hat, gleichwie er auch seine Teufel abscheulicher mahlet, als Engeln zukömmt, die Engel bleiben, wiewol sie gefallen sind. Wir haben auch ungleich erhabnere Beschreibungen des Himmels, in welchem die Herrlichkeit des Ewigen thronet, als des Dantes sind, wiewol auch diese ihre prächtigen Schönheiten haben.125

Bodmer lobt die »Schönheiten« in Dantes Commedia, kritisiert aber auch einzelne »groteske[.] Vorstellungen«.126 Der »gröste Verdienst des Poeten« bestehe darin, dass er in Szenen der Hölle, des Fegefeuers und des Paradieses »die verschiedensten Personen aus allen Ständen, aus allen Weltaltern, und allen 120 Brief von Klopstock an Bodmer, 12. April, 17. Mai, 7. Juni 1749. In: HKA, Briefe I, Nr. 30, S. 49–52, hier S. 51, Z. 64–66 und Z. 70–72. 121 Vgl. hierzu: Donati: J. J. Bodmer und die italienische Litteratur, S. 282. – HKA, Briefe I, S. 265. 122 Bodmer : Der neun und zwanzigste Brief: Von dem Werthe des dantischen dreyfachen Gedichtes. In: [Ders.:] Neue Critische Briefe, S. 242–254, hier S. 244. 123 Ebd. 124 Ebd., S. 245. 125 Ebd., S. 245f. 126 Ebd., S. 246.

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Epische Musterautoren und deren Bedeutung im 18. Jahrhundert

Königreichen« auftreten lasse.127 In unzähligen Reden würden diese historischen (teils zeitgenössischen), nicht fiktiven Figuren »bald ihre eigenen bald anderer Sitten« beschreiben.128 Da die Figurenrede überwiege und ein allwissender epischer Erzähler nur selten zu Wort komme, charakterisiert Bodmer Dantes Commedia mehr als »dramatisches« denn als »beschreibendes« Gedicht.129 Der Schweizer Philologe bewundert vor allem die Sitten- und Charakterdarstellung, die »überaus lehrreich« sei.130 Dantes Werk stelle »die innersten Winkel der Seele an das Licht« und zeige »die Neigungen mit der äussersten Genauigkeit«.131 In dieser Formulierung Bodmers zeigt sich das Zeitalter der Empfindsamkeit und der sich entwickelnden neuen wissenschaftlichen Disziplin der Anthropologie. Die Commedia muss gemäß der zeitgenössischen poetologischen Doktrin einen moralischen Nutzen bringen. Bodmer schreibt daher in seiner Abhandlung: Wir lernen darinnen unsere Hochachtung und Bewunderung, unsern Widerwillen und Abscheu auf die Menschen und Sitten werffen, welche die eine oder die andere verdienen; wir gewöhnen uns die Bewegungen zu empfinden, welche jede Sache von uns erfodert, und lernen also unvermerkt billige und unparteische Urtheile von den Handlungen und Leidenschaften fassen.132

Auch die vorherrschende Stilmischung in der Divina Commedia wird von Bodmer hervorgehoben: Dante habe »alle[.] Schreibarten, von der erhabenen, der tragischen, der comischen, der satirischen, der lirischen« nachgeahmt.133 Da er »mehr für die gelehrten als für die gemeinen Leser« geschrieben habe, »bekam sein Ausdruk etwas scharfsinniges, kunstreiches und spizfündiges«, wodurch er »sehr viele Leser und Bewunderer« verloren habe.134 Bodmer fällt hinsichtlich der metaphorischen Schreibart Dantes folgendes Urteil: »Man kan auch denjenigen der Dunkelheit nicht beschuldigen, der nur denen dunkel ist, mit welchen er nicht hat reden wollen.«135 Johann Georg Sulzer nutzte Bodmers Abhandlung Von dem Werthe des dantischen dreyfachen Gedichtes (1749) später für seinen Lexikon-Eintrag über den Autor Dante in seiner Allgemeinen Theorie der schönen Künste (Bd. I, 1792).136 Erst über ein Jahrzehnt nach Bodmers brieflicher Aufforderung an die 127 128 129 130 131 132 133 134 135 136

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 248. Ebd. Ebd., S. 248f. Ebd., S. 249. Ebd., S. 252. Ebd., S. 252f. [Art.] Dante. In: Johann Georg Sulzer : Allgemeine Theorie der schönen Künste in einzelnen, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter aufeinanderfolgenden Artikeln abge-

Neuzeitliche Vorläufer (Dante, Tasso, Milton, Glover)

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Dichter und Kunstkritiker, unbedingt die Commedia zu studieren, setzte sich Johann Nicolaus Meinhard (1727–1767) in seiner italienischen Literaturgeschichte ausführlich mit Dante auseinander. Der erste Band von Meinhards Versuchen über den Charakter und die Werke der besten Italiänischen Dichter erschien im Jahre 1763. Darin werden »die beyden Stifter der italiänischen Poesie« Petrarca und Dante behandelt.137 Meinhard würdigt die beiden italienischen Autoren in seinem Vorbericht als »Originalgenies« und »Erfinder einer neuen Gattung von Poesie«.138 Dante Alighieri wird als »Vater aller neuern Litteratur« und als »Wiederhersteller der wahren Dichtkunst« bezeichnet.139 Meinhard geht zunächst kurz auf die Biographie Dantes140 ein, paraphrasiert anschließend den Inhalt der drei Teile der Göttlichen Komödie141, gibt Übersetzungsproben einzelner Textstellen bzw. Episoden in Prosa und kommentiert das Werk insgesamt sehr kritisch. Dantes Commedia sei in der »Anlage«, also im Gesamtplan, »ganz gothisch und voll Widerspruch«, sie enthalte »eine Menge niedriger Einfälle, eigensinniger und unangenehmer Bilder«, der sprachliche Ausdruck und das Metrum seien »hart, steif, und oft auf eine lächerliche Art affectirt«, aber man finde dennoch »viele einzle Züge und verschiedne ganze Stellen darinnen, die allen dem stärksten und dem erhabensten an die Seite gesetzt werden können, das die Poesie hervorgebracht hat«.142 Die Stärke des italienischen Dichters liegt laut Meinhard in den verlebendigenden und vergegenwärtigenden Beschreibungen von Gegenständen: »Er [Dante; I. G.] mahlt seine Gegenstände mit so wahren, mit so starken Farben, daß man nicht mehr zu lesen, sondern selbst zu sehen glaubt.«143 Dem »poetische[n] Genie« Dante wird eine »starke[.] Einbildungskraft« zugesprochen, aber gleichzeitig werden seine vielen Verstöße gegen das klassizistische Regelsystem bemängelt:144 Er habe »einen kühnen, weitaussehenden Geist« gehabt, der aber gegen »das Zierliche, das Feine, das Regelmäßige wenig empfindlich« gewesen sei.145 Meinhard bemerkt beim kritischen Durchgang durch das Inferno Dantes:

137 138 139 140 141 142 143 144 145

handelt. Bd. I. Mit einer Einleitung von Giorgio Tonelli. 2., unveränd. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1792. Hildesheim / Zürich / New York 1994. S. 592–594. M. Johann Nic.[olaus] Meinhard: Versuche über den Charakter und die Werke der besten Italiänischen Dichter. Erster Theil. Neue Auflage. Braunschweig 1774. [S. III* (Vorbericht des Herrn Meinhardts im Jahr 1763, unpag.)]. [Seitenzählung von I. G.] Ebd., [S. IV*]. Ebd., S. 21. Ebd., S. 24–34 (Kap.: Leben des Dante). Ebd., S. 34–91 (Hölle), S. 91–131 (Ueber das Fegfeuer des Dante), S. 131–174 (Das Paradies des Dante). Ebd., S. 22. Ebd. Ebd., S. 23. Ebd., S. 23f.

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Unser Dichter bezeugt hier dem Virgil eine Dankbarkeit, die er ihm nicht schuldig war ; denn er hat, in der That, nur gar zu wenig von ihm gelernet. Es scheint seltsam, daß derjenige, der den Virgil den regelmäßigen, den correctesten Dichter so stark gelesen, ein so wildes, unregelmäßiges und ungleiches Gedicht habe hervorbringen können.146

Der Kritiker zeigt sich demnach einerseits vom rationalistischen Klassizismus der Gottsched-Schule beeinflusst, andererseits weist er Dante all die poetologischen Kategorien zu, die die Schweizer Bodmer und Breitinger für grundlegend hielten. So urteilt Meinhard in seinen Versuchen über Dante: »Der Hang seines Genies führte ihn zum Großen, zum Wunderbaren, zum Schrecklichen, und vornehmlich zum Neuen oder Sonderbaren.«147 Meinhard verweist auf das verarbeitete enzyklopädische Wissen und die Mischung der poetischen Stilgattungen in der Commedia.148 Ausführlich beschäftigt er sich mit den berühmtesten Episoden des Inferno, die er sowohl vollständig ins Deutsche übersetzt als auch bewundernd kommentiert: Die Francesca-Paolo-Episode wird als »rührende[.]«149 Geschichte charakterisiert, die Mitleid errege und in der »überall die Sprache der Leidenschaft« herrsche.150 Beim Lesen der ›erhabenen‹ Ugolino-Episode würden sowohl Mitleid als auch Schrecken erregt werden:151 Wenn man sie mit den rührenden Scenen im Homer, in den tragischen Dichtern der Griechen, im Shakespear vergleichet, so findet man eine große Aehnlichkeit in der Manier dieser Genies, die Affecten arbeiten zu lassen. Man sieht immer mehr, daß dieses die Vollkommenheit der Kunst ist.152

Das Purgatorio und das Paradiso finden bei Meinhard insgesamt nur wenig Anklang, da sich beide Teile der Commedia lediglich durch eine ›dunkle‹ »scholastische[.] Gelehrsamkeit« auszeichnen würden.153 Vor allem das »Paradies« sei an grossen Schönheiten am unfruchtbarsten […]; ob es gleich der schönste [Teil des Gedichts] hätte werden müssen, wenn der Dichter die großen Begriffe von der Religion gehabt hätte, mit denen Milton unter den Engländern, und sein erhabner Nachfolger unter uns [Klopstock; I. G.] den Himmel geschildert haben.154

146 147 148 149 150 151 152 153 154

Ebd., S. 44f. Ebd., S. 24. Vgl. ebd., S. 36f. Ebd., S. 60. Ebd., S. 63. Vgl. ebd., S. 85. Ebd., S. 87. Ebd., S. 92. Ebd., S. 137.

Neuzeitliche Vorläufer (Dante, Tasso, Milton, Glover)

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Dante habe aus seinem himmlischen Paradies »eigentlich ein Kloster gemacht, wo man beständig entweder über theologische Streitfragen disputirt, oder lateinische Psalmen anstimmt«.155 Der katholische italienische Dichter wird im Vergleich mit den protestantischen Bibelepikern Milton und Klopstock folglich hierin stark von Meinhard abgewertet. Der Kritiker kommt in seinen Versuchen zu folgendem abschließenden Urteil über Dantes Commedia: Wenn wir einen Blick in das Gedicht zurück werfen, so finden wir unzweifelhafte Spuren eines Genies, dem nichts als die Einsichten und der Geschmack eines aufgeklärtern Zeitalters fehlten, oder auch nur das bloße, und von falschen Begriffen unbefleckte Licht der gesunden Vernunft, um sein Werk zu der Vollkommenheit der großen Meisterstücke des Alterthums zu erheben. So wie es ist, glaubt man einen der alten gothischen Palläste zu sehen, die ungeachtet des übeln Geschmacks ihres Grundrisses, und der meisten Verzierungen, zuweilen ein Ansehen von Größe und Kühnheit haben, das in Erstaunen setzt.156

Meinhard erweist sich in seiner Argumentation ganz deutlich als Anhänger der in den 1760er Jahren aufkommenden Geniediskussion in Deutschland. Denn obwohl er Dante vorwirft, er habe »alle Regeln beleidigt, die man zum mechanischen Bau eines Gedichtes gegeben«, ruft er zuletzt in seiner kritischen Abhandlung aus: »Die große, die wesentliche Regel ist, Genie zu haben.«157 Bodmer verfasste als unmittelbare Reaktion auf Meinhards Versuche über den Charakter und die Werke der besten Italiänischen Dichter eine apologetische Schrift mit dem Titel Über das dreyfache Gedicht des Dante, die er in den Freymüthigen Nachrichten von Neuen Büchern, und andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen am 24. und 31. August 1763 veröffentlichte.158 Der Schweizer Kritiker vergleicht hierin anfangs die Rezeption von Dantes Commedia mit der von Homers Ilias: Das ausserordentliche Gedicht des Dante hat mit der Ilias einerley Schicksal gehabt. Man hat beyden vorgerücket, daß sie nicht in unsere Denkensart, in den gegenwärtigen Geschmack gedichtet seyn. Dante und Homer sollten in ihre Poesie und in die Charakter ihrer Personen gewisse Vorspiegelungen der Sitten, einen tugendbedeutenden Wolstand, eine Artigkeit, die von der Einfalt der Natur sehr entfernt ist, subtile Gedanken eines Geistes dem es an Stof fehlet, gebracht haben, Sachen von welchen sie 155 156 157 158

Ebd. Ebd., S. 168f. Ebd., S. 169f. Johann Jacob Bodmer : Über das dreyfache Gedicht des Dante (1763). In: Johann Jakob Bodmer / Johann Jakob Breitinger : Schriften zur Literatur. Hrsg. v. Volker Meid. Stuttgart 1980. S. 283–293. Im Folgenden wird nach dieser Edition zitiert. (Erstdruck in: Freymüthige Nachrichten von Neuen Büchern, und andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen. 20. Jahrgang. Zürich 1763. S. 268–270, S. 276–278.)

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keine Offenbarung hatten, daß sie in einem folgenden Weltalter von einem besondern Geschlecht der Menschen würden gesucht und hoch gehalten werden.159

Bodmer verteidigt Dante gegenüber den zeitgenössischen ›Kunstrichtern‹, die davon ausgingen, dass »ihre Zeiten die aufgeklärtesten und gründlichsten« seien und die »ihre Begriffe zum Maßstabe aller Denkensarten und aller Charakter der Völker und Zeiten« nähmen.160 Er vertritt dezidiert den Standpunkt eines historischen Relativismus, d. h., er fordert von allen kritischen Lesern, das Zeitalter Dantes mit seinen jeweiligen Bedingungen bzw. Gegebenheiten zu betrachten. Bodmer bemerkt in seiner polemischen Schrift: »Mit ein wenig Gerechtigkeit hätte man das, was man […] eigensinnig, gothisch, widersprechend und affectirt nennt, neu, fremd, und original benennen können«.161 Die zeitgenössischen Kritiker »sollten sich eine geschickte Hand erwerben, den Schleyer, den die Verschiedenheit des dantischen und [ihres] Weltalters über seine Poesie gezogen hat, wegzuziehen«.162 Auf die Kritik Meinhards am Purgatorio und am Paradiso antwortet Bodmer : Aber wer da nicht nur die blizenden, blendenden Schönheiten vermißt, nach welchen unsere schwindlichten Köpfe so begierig sind, wer auch das sanfte Licht, den stillen, sittsamen, doch sinnlichen und starken Ausdruck nicht entdecket, der mitten in der scholastischen Gelehrsamkeit aus einer poetischen Ader fließt, der mag zusehen, wenn er gleich an dem Innhalt und der Sache keinen Geschmack findet, ob er mehr Recht habe, von dem Poeten wilde, und stürmische Schönheiten zu fodern, als der Poet hatte ihm sanfte, das Gemüth beruhigende, den Verstand erhellende, das Leben leitende Vorstellungen zu geben. Wer in dogmatischem Ernst Unsinn findet, und unwillig wird, daß Dante sein Genie nicht gebraucht hat ihn in die tragische Unruh ungestümer Leidenschaften zu stürzen, der muß wissen, daß der Poet sich niemals vorgenommen hat sich mit dieser Art Leser auszusöhnen.163

Der Schweizer Kritiker beendet seine apologetische Schrift mit einigen übersetzten Versen aus Dantes Commedia. Bei seinen Übersetzungsproben handelt es sich im Anschluss an Klopstocks Messias um deutsche Hexameter, die er als Kontrast zur ›unpoetischen‹ Prosaübersetzung Meinhards anführt. Bodmer bezeichnet Dantes Werk immer nur als »dreyfache[s] Gedicht« und niemals explizit als Heldengedicht bzw. ›Epopöe‹. Wie selbstverständlich reiht er aber die Commedia in den Kreis der christlichen Epen ein. Johann Joachim Eschenburg hingegen wird in seinem Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften (1789) deutlich die Gattungszugehörigkeit der Com159 160 161 162 163

Ebd., S. 283. Ebd. Ebd., S. 285f. Ebd., S. 287. Ebd., S. 289f.

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media anzeigen: Dante Alighieri habe »ein großes Heldengedicht unter dem Namen einer Komödie« geschrieben, »welches aus hundert Gesängen, und drei Hauptabtheilungen: der Hölle, dem Fegefeuer, und dem Paradiese« bestehe.164 Das Epos sei trotz »seiner regellosen, und oft widersinnigen Zusammensetzung […] dennoch reich an großen poetischen Schönheiten«.165 Bodmer hat mit seiner polemischen Schrift Über das dreyfache Gedicht des Dante (1763) einen »der wichtigsten deutschsprachigen Dante-Aufsätze« geliefert.166 Um die Jahrhundertwende gehört Dantes Göttliche Komödie schließlich zum Kanon der deutschen Literatur.167 Ein weiterer italienischer Dichter, dessen Werk Gegenstand der wechselseitigen Ependiskussion im 18. Jahrhundert war, ist Torquato Tasso (1544–1595). Sein Renaissance-Epos, die Gerusalemme liberata, entstand in den Jahren zwischen 1564 und 1575. Es ist der erste Versuch eines christlichen Heldengedichts der Neuzeit und handelt von der Befreiung Jerusalems durch die Kreuzritter unter der Führung von Gottfried von Bouillon. Erstmals wurde eine Ausgabe des Epos unter dem Titel La Gerusalemme liberata 1581 ohne Zustimmung des Autors veröffentlicht. Tasso überarbeitete sein Heldengedicht nochmals und publizierte es 1593 unter dem Titel Gerusalemme Conquistata. Nicolo Ciangulo brachte im Selbstverlag 1740 in Leipzig die erste italienische Ausgabe von Tassos Gerusalemme liberata in Deutschland heraus.168 Diederich von dem Werder veröffentlichte 1626 im Zeitalter des Barock unter dem Titel Gottfried von Bulljon, Oder Das Erlösete Jerusalem die erste deutsche Übersetzung von Tassos Werk.169 Im Jahre 1651 erschien eine verbesserte Auflage der Werder’schen Übersetzung. Tassos Gerusalemme liberata wurde im ›deutsch-schweizerischen Literaturstreit‹ von beiden gegnerischen Parteien vereinnahmt.170 Bodmer hatte bereits Eschenburg: Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften, S. 177. Ebd. Hölter: »Der Dichter der Hölle und des Exils«, S. 27f. Vgl. Mat&as Mart&nez: Gelungene und mißlungene Kanonisierung: Dantes Commedia und Klopstocks Messias. In: Kanon, Macht, Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen. DFG-Symposion 1996. Hrsg. v. Renate von Heydebrand. Stuttgart / Weimar 1998. S. 215–229. 168 Vgl. Torquato Tasso in Deutschland: Gedenkausstellung zum 400. Todestag (25. April 1995) im Goethe-Museum Düsseldorf in Zusammenarbeit mit der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. 22. Februar bis 30. April 1995. Katalog von Achim Aurnhammer, Christina Florack-Kröll und Dieter Martin. Heidelberg 1995. S. 55. 169 Siehe hierzu: Achim Aurnhammer : Torquato Tasso im deutschen Barock. Tübingen 1994. (Frühe Neuzeit; 13.) 170 Vgl. dazu: Dieter Martin: Tasso und die deutsche Versepik der Goethezeit. In: Torquato Tasso in Deutschland. Seine Wirkung in Literatur, Kunst und Musik seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. Hrsg. v. Achim Aurnhammer. Berlin / New York 1995. (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte; 3 (237).) S. 423–442, hier S. 423–429. –

164 165 166 167

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Epische Musterautoren und deren Bedeutung im 18. Jahrhundert

im Jahre 1718 aus der Lombardei wohl eine italienische Ausgabe von Tassos Epos mit nach Hause in die Schweiz gebracht.171 Die Gerusalemme liberata wurde im Bodmer/Breitinger-Kreis als gelungenes Beispiel eines christlichen Heldengedichts angesehen. Die Vereinigung von wahrscheinlichem, historischem Stoff und christlichem Wunderbaren galt hierin als besonders gelungen. Tasso nahm folglich die Rolle eines Vorläufers von Milton ein. Der italienische Autor hatte zudem die theoretischen Grundsätze, auf denen seine poetische Arbeit beruhte, in den Discorsi dell’arte poetica e del poema-eroico niedergeschrieben. Diese poetologische Abhandlung Tassos diente den Schweizern als unmittelbare Quelle für ihre eigenen kritischen Schriften.172 Gottsched hingegen bewundert Tasso in seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst dafür, dass er den »gothischen Geschmack der Ritterbücher«, der seinerzeit Mode war, »mit den griechischen Regeln eines Heldengedichtes« zu verbinden versucht habe.173 Der Leipziger Literaturkritiker beurteilt Tassos Stoffwahl durchweg positiv, da der italienische Dichter die klassizistischen Normen beachtet habe, die Aristoteles in seiner Poetik festgelegt hatte: Sein befreytes Jerusalem ist in der That eine Vermischung zweyer so widriger Dinge; und es ist leicht zu begreifen, wie er darauf gefallen ist. Er beschreibt den siegreichen und glücklichen Kreuzzug der christlichen Armee im Oriente; die gleichsam ganz und gar aus lauter solchen irrenden Rittern bestanden. Da war es nun kein Wunder, daß auch alle die gewöhnlichen Zierrathe der Heldenbücher, kriegerische verkleidete Prinzeßinnen, Zauberschlösser, Hexenmeister, Liebesgeschichte und Abentheuer die Menge darinnen vorkamen. Indessen hat er die Fabel selbst, so ziemlich nach den Regeln Aristotels eingerichtet, weil er nichts als die Eroberung Jerusalems zur Haupthandlung hat, und alles, was dazu gehörte, ausführlich erzählet; den klugen und tapfern Gottfried aber zu gleicher Zeit sehr erhebt.174

171

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173 174

Maria Moog-Grünewald: Torquato Tasso in den poetologischen Kontroversen des 18. Jahrhunderts. In: Torquato Tasso in Deutschland. Seine Wirkung in Literatur, Kunst und Musik seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. Hrsg. v. Achim Aurnhammer. Berlin / New York 1995. (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte; 3 (237).) S. 382– 397. Bodmer berichtet rückblickend in Mein poetisches Leben (1778), er habe »aus der Lombardei Tassos Gierusalemme nach Haus« gebracht. ([Johann Jacob Bodmer :] Persönliche Anekdoten [1777] / Mein poetisches Leben [1778]. Hrsg. v. Theodor Vetter. In: Zürcher Taschenbuch N. F. 15 (1892). S. 91–131, hier S. 125.) Vgl. hierzu: Lucas Marco Gisi: »Ein geraubtes Siegel«? Die Bedeutung von Bodmers und Breitingers Rezeption italienischer Poetiken und Poesie für den Literaturstreit mit den ›Gottschedianern‹. In: Anett Lütteken / Barbara Mahlmann-Bauer (Hrsg.): Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. Göttingen 2009. (Das achtzehnte Jahrhundert: Supplementa; 16.) S. 105–126, hier S. 119–121. Gottsched: AW VI 2, S. 288. Ebd.

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Tasso wurde von den Gottschedianern einerseits polemisch als Nachfolger Vergils eingeführt, andererseits wertete man aber auch gezielt seine Verstöße gegen das Theorem der Wahrscheinlichkeit ab. Gottsched kritisiert vor allem die ›unwahrscheinlichen‹ Episoden in der Gerusalemme liberata rund um den Magier Ismeno und die Zauberin bzw. Hexe Armida:175 Es sei »dem guten Tasso nichts schweres, […] den Himmel mit der Hölle, das Christenthum mit dem Heidenthume und dem mahometanischen Aberglauben, durch einander zu mischen«.176 Nach Meinung des sächsischen ›Kunstrichters‹ hat ein Poet in einem christlichen Epos das Wunderbare nicht in unglaubhaften »Hexereyen« zu suchen.177 Hinsichtlich seiner angeblichen Schwächen im Bereich des Wunderbaren reihte Gottsched Tasso dann auch direkt neben Milton ein. So schreibt er etwa in den Critischen Beyträgen 1740: »Denn ich glaube, daß selbiger [Tasso; I. G.] in Deutschland, zumal heute zu Tage, mit seinen Hexen und Teufeln eben so wenig Beyfall finden würde, als Milton mit seinem Chaos, Tode, der Sünde und Hölle, und übrigen ungeheuren Einbildungen gefunden hat.«178 In Gottscheds Poetik heißt es: Wer kann sich itzo des Lachens enthalten, wenn Tasso in seinem IV. Buche den Teufel mit solchen Hörnern, dagegen alle Berge und Felsen nur wie kleine Hügel zu rechnen sind; ja gar mit einem langen Schwanze abmalet, und ohne Maaß und Ziel allerley tolle Zaubereyen von seinem Anhange geschehen läßt. Wer merkt die Ausschweifung nicht, wenn des Raimunds Schutzengel im VII. Buche, aus der himmlischen Rüstkammer, einen diamantnen Schild von solcher Breite holet, daß er vom Caucasus, bis an den Atlas, alle Länder und Meere damit bedecken könnte.179

Miltons poetische »Erfindungen« seien allerdings »nicht viel besser ausgesonnen«: Satan, der ganze Feldweges [!] lang ist, erfindet in dem Streite mit dem Michael und seinen Engeln die ersten Carthaunen, und braucht sie mit solchem Erfolge, daß ganze Geschwader von himmlischen Geistern dadurch zu Boden geworfen und zurücke getrieben werden. Endlich, da diese betäubten Streiter wieder zu sich selbst kommen, 175 Gottsched: AW VI 1, S. 264–266 (Kap.: Von der Wahrscheinlichkeit in der Poesie 13. §– 16. §). 176 Ebd., S. 265f. 177 Ebd., S. 266. 178 Johann Christoph Gottsched: [Rez.:] IV. Joh. Jacob Bodmers Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie, und dessen Verbindung mit dem Wahrscheinlichen; in einer Vertheidigung des Gedichtes Johann Miltons von dem verlohrnen Paradiese; der beygefüget ist: Joseph Addisons Abhandlung von den Schönheiten in demselben Gedichte. Zürich, verlegts Orell und Comp. 1740. In: Beyträge zur Critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. Hrsg. v. einigen Liebhabern der deutschen Litteratur. [6. Band.] 24. Stück. Leipzig 1740. S. 652–668, hier S. 666. 179 Gottsched: AW VI 1, S. 237f.

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reißen sie ganze Gebirge, (denn auch Berge giebt es in dem miltonischen Himmel vor Erschaffung der Welt,) aus ihren Wurzeln, und werfen sie den Teufeln mit solcher Wuth an die Köpfe, daß sie taumelnd zu Boden stürzen, und also der Sieg sich wieder auf die gute Partey zu lenken beginnet.180

Gottsched fällt folgendes Urteil über Tassos und Miltons Epen: »Dieses Wunderbare ist viel zu abgeschmackt für unsre Zeiten, und würde kaum Kindern ohne Lachen erzählet werden können.«181 Ein Heldendichter habe sich »solcher Arten des Wunderbaren zu bedienen, die allen Zeiten und Orten gemein sind und bleiben«.182 Die ›Ausgeburten der Einbildungskraft‹ der christlichen Epiker waren natürlich nicht mit dem Rationalismus Gottscheds zu vereinbaren. Dennoch nutzte der Leipziger Literaturpapst Tassos Gerusalemme liberata immer wieder in seiner Argumentationsstrategie innerhalb der literarischen Fehde mit der Schweizer Partei. Selbst Bodmer übte in seinen Critischen Betrachtungen über die poetischen Gemählde der Dichter leise Kritik am italienischen Heldengedicht, um dadurch gezielt die ›poetische Meisterleistung‹ Miltons hervorzuheben: Am Anfang des vierten Gesanges des Befreiten Jerusalems werden die grotesken Teufelsgestalten mit tierischen Hufen, langen Schwänzen und Schlangenhaaren inmitten von Pluto, dem riesenhaften ›König der Hölle‹, eingeführt. Der Schweizer Kritiker nutzt diese epische Szene Tassos als Beispiel dafür, dass das »Eckelhafte und Abscheuliche […] den Begriff von dem Grossen und Erschrecklichen« eher hindern würden »anstatt denselben zu befödern, oder zu erhöhen«.183 Bodmer übersetzt die Stanzen vier und sechs bis acht des vierten Gesanges in deutsche Prosa und bemerkt anschließend in seiner Untersuchung: Man darf den Eindruck, den diese Beschreibung macht, nur mit demjenigen vergleichen, welchen Miltons in dem andern B. erwecket, wo er den Satan ebenfalls in einem höllischen Divan auf seinem Throne vorstellet, so wird man bald erkennen, wie sehr einige eckelhafte Umstände in des Tasso Beschreibung andern, die in der That erschreklich sind, an ihrer Majestät Abbruch thun.184

Der »verständige und erhabene Tasso«185 wird allerdings nicht vollkommen abgewertet, da er eine wichtige Rolle als unmittelbares Vorbild Miltons in der Argumentation Bodmers einzunehmen hat: Ich muß aber auch zum Ruhme dieses grossen Poeten nicht verschweigen, daß er in der Rede Satans, die nächst auf diese Beschreibung folget, den Character des bösen Feindes 180 181 182 183 184 185

Ebd., S. 238. Ebd. Ebd., S. 237. Bodmer : CBGD, S. 588. Ebd., S. 589f. Ebd., S. 588.

Neuzeitliche Vorläufer (Dante, Tasso, Milton, Glover)

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in den vermessenen und mitten in der Hölle ruhmräthigen Gedancken und Sprüchen vollkommen erreichet hat; wer seinen Milton auswendig kan, wird darinnen mit Vergnügen solche Züge anmercken können, welche Anzeige geben, daß er auf diese Rede gesehen, und seine Einbildungs-Kraft mit derselben angefeuret hat.186

Tassos christlich-historisches Heldengedicht wurde demnach von beiden Parteien des literarischen Federkriegs in Anspruch genommen. Wechselseitig nutzte man die Gerusalemme liberata für die eigene positive oder negative Argumentation innerhalb der kontroversen Ependiskussion. Unterstützt bzw. angeregt von Gottsched selbst veröffentlichte der Dresdner Johann Friedrich Kopp(e) (ca. 1710–1755) im Jahre 1744 eine neue deutsche Übersetzung der Gerusalemme liberata in gereimten Alexandrinern unter dem Titel Gottfried, oder das Befreyte Jerusalem.187 Der Leipziger Literaturpapst hatte die Übersetzung von Kopp bereits 1743 begeistert in seinen Critischen Beyträgen angekündigt.188 Gottsched leitet seine Nachricht mit einem Loblied auf den italienischen Autor Tasso ein: Daß Torquato Tasso einer der besten, ja schlechtweg der größte Poet der Welschen sey, das wird niemand, der die freyen Künste der Ausländer, auch nur historisch kennet, in Abrede seyn. Unter allen neuern, die sich unterstanden haben ein Heldengedichte zu verfertigen, ist er unstreitig der glücklichste und stärkste […].189

Tassos Befreytes Jerusalem zeichne sich durch »die vornehmsten Eigenschaften« aus, denn es habe »die Regeln der Alten zum Grunde, und die besten Meisterstücke der Griechen und Römer zu Vorbildern gehabt«.190 Das Renaissance-Epos genügt folglich den von Gottsched geforderten klassizistischen Maßstäben. Der Leipziger Professor relativiert seine bisher durchweg positive Einschätzung Tassos nur leicht: Er wolle die Gerusalemme liberata »zwar nicht von allen Fehlern lossprechen«, allerdings könne man von einem »so großen Werke«, was ein Heldengedicht eben sei, nicht verlangen, »daß ganz und gar nichts tadelhaftes mit unterlaufen sollte«.191 Gottsched wertet die deutsche Übersetzung von Diederich von dem Werder aus dem Jahre 1626 dezidiert ab. Freudig wird hin186 Ebd., S. 590. 187 Vgl. zu Johann Friedrich Kopp, seinem Verhältnis zu Gottsched und seiner deutschen Übersetzung von Tassos Gerusalemme liberata: Ball: Moralische Küsse. Gottsched als Zeitschriftenherausgeber und literarischer Vermittler, S. 312–318. – Aurnhammer : Torquato Tasso im deutschen Barock, S. 239–248. 188 Johann Christoph Gottsched: [Rez.:] X. Nachricht von einer neuen Uebersetzung des befreyten Jerusalems, aus dem Welschen, des Torquato Tasso. In: Beyträge zur Critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit. Hrsg. v. einigen Liebhabern der deutschen Litteratur. Achter Band. 30. Stück. Leipzig 1743. S. 345–354. 189 Ebd., S. 345. 190 Ebd. 191 Ebd., S. 345f.

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gegen – mit einem obligatorischen Seitenhieb in Richtung der Milton-Liebhaber – der neue Übersetzungsversuch von Kopp angekündigt: Um so viel mehr hat man Ursache vergnügt zu seyn, daß sich ein geschickter heutiger Poet, der in seiner Schreibart von dem marinischen und miltonischen Schwulste, so weit als Tasso selbst in seiner Sprache entfernet ist, sich die Mühe genommen, eine der heutigen reinen Poesie gemäße Dollmetschung zu verfertigen.192

Der Gottschedianer Kopp leitet seinen Versuch einer poetischen Uebersetzung des Tassoischen Heldengedichts genannt: Gottfried, oder das Befreyte Jerusalem, der 1744 in Leipzig erschienen war, mit einer langen Vorrede ein. Zunächst geht er auf die Biographie Tassos ein, wobei er als Quellen hierfür die Lebensbeschreibung von Johann Baptista (Giambattista) Manso (Vita di Torquato Tasso, Venedig 1621) und die dem Abb8 Jean-Antoine de Charnes zugeschriebene La vie du Tasse, Prince des Po[tes (Paris 1690 und 1695) angibt.193 Kopp konzentriert sich hierbei auf Tassos angeblichen melancholischen Charakter. Anschließend befasst er sich mit dem regelgemäßen und dadurch ›vollkommenen‹ italienischen Epos: Die »Schreibart« der Gerusalemme liberata sei »ernsthaft und prächtig«.194 Tasso habe sich an die Poetik des Aristoteles gehalten und sich »der strengen Regel der Einheit einer Handlung unterworfen«.195 Der RenaissanceDichter sei der zeitgenössischen »Mode« gefolgt und habe sich dazu entschlossen, »eine große und berühmte Handlung […] mit Ritterschaften, Abentheuern, Liebeshändeln, Zaubereyen, und dergleichen, zu episodiren, und also ein regelmäßiges, und doch zugleich auch beliebtes Heldengedicht daraus zu machen«.196 Tassos Wahl der »Materie«, »nämlich die Eroberung der Stadt Jerusalem und des heiligen Grabes durch den berühmten Gottfried von Bouillon«, wird von Kopp besonders gelobt, weil die gesamte christliche Leserschaft weltweit daran Anteil nehmen könne: Nicht nur Italien, sondern fast alle Nationen der Christenheit mußten an einer so weltbekannten Geschichte Theil nehmen, welche sie an dem rühmlichen Eifer ihrer 192 Ebd., S. 347. 193 [Torquato Tasso:] Versuch einer poetischen Uebersetzung des Tassoischen Heldengedichts genannt: Gottfried, oder das Befreyte Jerusalem, ausgearbeitet von Johann Friedrich Koppen. Leipzig 1744. Vorrede, unpag. [S. 1–11*]. [Seitenzählung von I. G.] Vgl. hierzu: Albert Meier : »Und so ward sein Leben selbst Roman und Poesie«. TassoBiographien in Deutschland. In: Torquato Tasso in Deutschland. Seine Wirkung in Literatur, Kunst und Musik seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. Hrsg. v. Achim Aurnhammer. Berlin / New York 1995. (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte; 3 (237).) S. 11–32, hier bes. S. 11 und S. 14. 194 [Tasso:] Versuch einer poetischen Uebersetzung des Tassoischen Heldengedichts genannt: Gottfried, oder das Befreyte Jerusalem, ausgearbeitet von Johann Friedrich Koppen, unpag. [S. 13*]. 195 Ebd. 196 Ebd., unpag. [S. 14*].

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Vorältern für die Religion in den Kreuzzügen erinnerte, und sich erfreuen, die Thaten ihrer alten andächtigen Helden durch den Gesang eines glücklichen Dichters verewiget zu sehen.197

Tasso übertreffe in der epischen Stoffwahl sogar den ›heidnischen Poeten‹ Homer, der nach der Meinung des Gottschedianers lediglich ein griechisches Nationalepos geschaffen habe: Kurz zu sagen: Gleichwie Homer seine Ilias dadurch bey allen Völkern Griechenlands beliebt zu machen gewußt hat, daß er ein Theil des ihnen so rühmlichen trojanischen Kriegs darinnen besungen, so hat auch Tasso sich eben dieses Kunstgriffs, und zwar noch mit größerm Vortheile, als sein Vorgänger, bedienet, indem er sein Absehen noch auf weit mehr Völker als jener, dabey gerichtet hat.198

Zudem habe der italienische Dichter in seinen christlichen Heroen »die schönsten Charactere der Homerischen und Virgilianischen Helden mit einander zu verbinden« gewusst: Gottfried von Bouillon beispielsweise gebe »das Bild eines vollkommenen Feldherrn« ab und vereine in sich »die Hoheit und Tapferkeit des Agamemnons mit der Gottesfurcht, Klugheit und Großmuth des Aeneas«.199 Für Kopp ist Tasso ausdrücklich ein Nachfolger Vergils: Uberhaupt [!] aber scheint Tasso in der Nachahmung seines Heldengedichts sein Absehen noch mehr auf die Aeneis als auf die Ilias gerichtet zu haben, und kommen die beyden Haupthelden des lateinischen und italienischen Gedichts, nämlich Aeneas und Gottfried theils in Ansehen ihrer Eigenschaften, theils in Ansehen der wichtigen Unternehmung, so sie, ungeachtet vieler Hindernisse, glücklich zu Stande bringen, dermaßen überein, daß sich mit leichter Mühe der moralische Satz auf die Aeneis so wohl als das befreyte Jerusalem anwenden läßt: Ein Feldherr, der Gottesfurcht, Klugheit und Tapferkeit in sich vereinigt, kann auch das wichtigste Unternehmen, der größten Verhinderungen ungeachtet, durch augenscheinlichen Beystand des Himmels, glücklich zu Ende bringen.200

Da der italienische Poet das Wunderbare für sein »christliche[s] Heldengedicht[.]« aus »der wahren Religion« genommen habe, übertreffe er auch hierin die »heidnischen Dichter[.]« Homer und Vergil bei Weitem.201 Kopp entdeckt in der Gerusalemme liberata insgesamt mehr poetische Schönheiten als Fehler, und er verteidigt Tasso gegenüber der Kritik der Vertreter des französischen Klassizismus Boileau und Bouhours. Im letzten Teil seiner Vorrede beurteilt der Gottschedianer Kopp die alte deutsche Übersetzung Diederichs von dem Werder 197 198 199 200 201

Ebd. Ebd. Ebd., unpag. [S. 15*]. Ebd. Ebd., unpag. [S. 16*].

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als »rauh, dunkel und widerwärtig«.202 Er hingegen habe sich bemüht, mit seiner »poetischen Uebersetzung des befreyten Jerusalems« seinen »deutschen Landsleuten ein regelmäßiges Heldengedicht in einer regelmäßigen Schreibart [ihrer] Muttersprache zu lesen zu geben«.203 Gottsched besprach die neue deutsche Übersetzung von Tassos Gerusalemme liberata im August 1745 in seiner neuen Zeitschrift, dem Neuen Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste, natürlich nur positiv.204 Ausführlich paraphrasiert und kommentiert er darin vor allem die Vorrede Kopps und gibt Textproben aus dem 1. und 16. Gesang. Der Leipziger Kritiker lobt zudem den Übersetzungsversuch seines Schülers in den höchsten Tönen: Seine Poesie ist fließend, ohne matt zu werden; angenehm, aber doch männlich; sinnreich und doch nicht voll gepfropft. Er sucht keine neue Gedanken in Sprachschnitzern, sondern zeigt, daß die allerrichtigste Wortfügung unsrer heutigen Mundart, sich mit den erhabensten, zärtlichsten und nachdrücklichsten Einfällen sehr wohl vertragen könne. Und dieses verdient desto mehr angepriesen zu werden, da itzo die Rotte gewisser Sprachschnitzler, alle Schönheiten ihrer Schreibart in halsbrechenden Wortfügungen, und unleidlichen Verstümmelungen der Redensarten zu suchen beginnet; gerade, wie man es in Rom um die Zeiten der abfallenden römischen Mundart, als Lucan, Statius, Silius, u. a. m. schrieben, gemacht hat.205

Gottsched kommt folglich in dieser Rezension wieder auf den Sprachverfall zu sprechen, dem sich seine Partei seit dem verstärkten Auftreten der MiltonAnhänger ausgesetzt sah. Die Schweizer hingegen zogen die barocke Übersetzung Diederichs von dem Werder der von Kopp bei Weitem vor. In einer Rezension in den Freymüthigen Nachrichten von Neuen Büchern, und andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen (Dezember 1744) verglich Bodmer die Proömien der beiden deutschen Übersetzer.206 Er kritisiert, dass er in der Ausgabe von Kopp(e) »kaum einige zerstreuten Funken« von Tassos Charakter, wie ihn die »Italiänischen Kunstrichter« bestimmt hätten, gefunden habe.207 Bodmer liefert eine eigene reimfreie Übersetzung des Proömiums der Gerusalemme liberata (1. Gesang, Stanze 1): 202 Ebd., unpag. [S. 18*]. 203 Ebd., unpag. [S. 18f.*]. 204 [Johann Christoph Gottsched:] [Rez.:] Versuch einer poetischen Uebersetzung des tassoischen Heldengedichts, genannt Gottfried, oder das befreyte Jerusalem, ausgearbeitet von Johann Friedrich Koppen […]. Leipz. 1744. In: Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste. Erster Band. 2. Stück, im Monat August 1745. Leipzig 1745. S. 99–116. 205 Ebd., S. 111f. 206 Freymüthige Nachrichten von Neuen Büchern, und andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen. 1. Jahrgang. 51. Stück (16. Christmonat [Dezember] 1744). Zürich 1744. S. 405–408. 207 Ebd., S. 407.

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Die frommen Waffen sing ich und den Fürsten, Der unsers Heylands Grab befreyet hat; Der bey dem grossen Sieg mit Klugheit und dem Degen Sehr viel gethan, der auch sehr viel gelitten. Ihm setzt’ umsonst die Hölle sich entgegen, Umsonst stuhnd wider ihn ein sehr gemischtes Volk Aus Africa und Asien in Waffen. Der Himmel gab ihm Glück, daß er die Freundes-Schaaren, Die hier und dar im Feld zerstreuet lagen, Letzt unter das Panier des Kreutzes sammelte.208

Der Schweizer ›Kunstrichter‹ bemüht sich sichtlich, eine dem Inhalt des italienischen Originals gemäße deutsche Übersetzung zu schaffen.209 Er unterwirft sich dabei nicht dem Reimzwang und der Stanzenform. Die Kopp’sche Version des Proömiums in paargereimten Alexandrinern lautet hingegen – zum Vergleich – folgendermaßen (1. Gesang, Stanze 1): Der Feldherr ist mein Lied, und sein gerechter Streit, Durch den er Christi Grab, das große Grab, befreyt: Was that er nicht, der Held, durch Klugheit, Muth und Stärke! Wie viel erlitt er nicht bey dem berühmten Werke! Vergebens widerstund ihm selbst der Höllen Schaar, Umsonst stritt Asiens und Lybiens Barbar ; Die Gunst des Himmels ließ, bey heiligen Panieren, Sein irrend Christenvolk durch ihn zusammen führen.210

In den Züricher Freymüthigen Nachrichten wurde im Mai und Juni 1745 in vier Teilen »eine kurze critische Schrift« unter dem Titel Des deutschen Tasso Reise auf den Parnaß im Begleite des Momus211 veröffentlicht, die die Herausgeber der

208 Ebd., S. 407f. 209 Das Proömium der Gerusalemme liberata lautet (1. Gesang, Stanze 1): »Canto l’armi pietose e’l capitano Che’l gran Sepolcro liberk di Cristo: Molto egli oprk col senno e con la mano; Molto soffr' nel glorioso acquisto. E invan l’inferno a lui s’oppose; e invano S’armk d’Asia e di Libia il popol misto; Che il ciel gli die’ favore, e sotto ai santi Segni ridusse i suoi compagni erranti.« (Torquato Tasso: Befreites Jerusalem. Übersetzt v. Karl Streckfuß. Mit gegenüber gedrucktem Original-Text. 1. Bd. Leipzig 1822. S. 3 [1. Gesang, Stanze 1].) 210 [Tasso:] Versuch einer poetischen Uebersetzung des Tassoischen Heldengedichts genannt: Gottfried, oder das Befreyte Jerusalem, ausgearbeitet von Johann Friedrich Koppen, S. 7. 211 Des deutschen Tasso Reise auf den Parnaß im Begleite des Momus. In: Freymüthige Nachrichten von Neuen Büchern, und andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen. 2. Jahrgang. Zürich 1745. 21. Stück (26. Mai 1745). S. 166–168, hier S. 166; 22. Stück (2. Brach-

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Zeitschrift angeblich aus Basel empfangen hatten.212 Es handelt sich dabei um eine Satire der Schweizer Partei, die gezielt den Gottschedianer Kopp lächerlich macht: Der deutsche Übersetzer des Befreyten Jerusalems erhofft sich auf dem Parnassus, dem Musenberg und Sitz des Dichtergottes Apollo, einen Platz an der Seite des italienischen Autors zu erhalten. Mit einem kostbar eingebundenen Exemplar seines Übersetzungswerks macht er sich daher auf den Weg zum »Castalischen Berg«, landet aber lediglich auf dem Blocksberg, wo der eselsohrige Gott der Dummheit Midas herrscht.213 Dieser teilt Kopp(e) mit, dass für ihn längst ein Platz auf dem Blocksberg zwischen den beiden Gottsched-Schülern Triller und Schwarz reserviert sei. Der deutsche Tasso-Übersetzer bittet Midas darum, dass ihm dieser Sitz auf dem Blocksberg freigehalten werde, und versucht weiterhin erfolglos zum Parnass zu gelangen. Im Traum erscheint ihm Momus, die griechische Personifikation des Tadels (Hesiod: Theogonie, V. 214), der als »ein gefürchteter Geist des Parnassus« eingeführt wird und der Kopp(e) auf den Gipfel des Musenbergs zum Gott Apollo bringt.214 Kopp(e) bittet nun also Apollo um einen Platz neben dem italienischen Epiker als Belohnung »für die Mühe, die er gehabt hätte, den Glanz des Tasso ungemeiner zu machen«.215 Der Verfasser der Gerusalemme liberata bekommt die deutsche Übersetzung seines Epos von Apollo in die Hand gedrückt und prüft kritisch einzelne Verspassagen. Tasso kommt zu dem Urteil, dass Kopp(e) lediglich »die äussersten Linien« seiner poetischen »Vorstellungen« nachgezeichnet habe.216 Er sei »bey der obersten Fläche und an dem Rande [s]einer [Tassos; I. G.] Gedanken« geblieben.217 »Um das innerliche, um die Verbindung Lichtes und Schattens, um die Bestimmungen und Grade der besondern Ideen [habe] er sich nicht sonderlich bekümmert.«218 Zudem halte er »die Nuances, d. i. die Erhöhungen und Vertieffungen für Kleinigkeiten«, und glaube nicht daran, »daß sie dienen das Original getreu, lebhaft, und angenehm vor Augen zu stellen«.219 Tasso wirft in der satirischen Erzählung folglich Kopp(e) vor, dass er eine völlig oberflächliche und dem italienischen Original überhaupt nicht getreue, d. h. schlechte deutsche Übersetzung seines Heldengedichts verfasst habe. Der italienische Autor verkündet, dass er erst vor Kurzem selbst Unterricht in der deutschen Sprache genommen habe, und beginnt sogleich aus dem Stegreif eine freiere Überset-

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monat [Juni] 1745). S. 173–176; 23. Stück (9. Brachmonat [Juni] 1745). S. 179–183; 24. Stück (16. Brachmonat [Juni] 1745). S. 188–190. Ebd., S. 166. Ebd. Ebd. Ebd., S. 167. Ebd., S. 174. Ebd. Ebd. Ebd.

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zung einzelner Verse bzw. Stanzen seiner Gerusalemme liberata. Natürlich verwendet er hierfür – in Übereinstimmung mit der Schweizer Partei – als Metrum weder den Alexandriner noch die Reimform. Tasso gibt letztlich Kopp(e) dessen seiner Meinung nach mangelhaftes Übersetzungswerk zurück und verabschiedet sich mit folgenden Worten: »Ich will der erste seyn, der euch für keinen Uebersetzer meines Gedichtes halten will. Gehabt euch hiermit wohl und folget mir nicht nach; unsere Schritte passen nicht zusammen.«220 Momus ist hingegen der festen Überzeugung, Kopp(e) habe durch sein »mißlungenes Vorhaben zu heilsamen Criticken Anlaß gegeben«.221 Er sei durch seine »Fehler« ein warnendes Beispiel für andere, und er lehre dadurch »Wahrheiten«, die er selbst nicht verstanden habe.222 Ironisch formuliert Momus – seine Spottrede abschließend – nach Art Gottscheds einen moralischen Lehrsatz, der sich natürlich auch noch reimt: »Und der ist wenigstens auch keines Tadels werth, j Der uns, so oft er irrt, auch eine Wahrheit lehrt.«223 Der ›Geist des Parnass‹ führt Kopp(e) daraufhin in eine dürre, dornige Heidelandschaft am Fuße des Bergs und teilt diesem mit, dass ihm Apollo hier einen Platz in der Gesellschaft von Lohenstein, Hofmannswaldau, Pietsch, Amthor, Neukirch, Postel u. a. zugewiesen habe. Dem deutschen Übersetzer wird freudig verkündet, er könne »hier ein Tasso, und noch etwas mehr seyn«.224 Die satirische Geschichte endet mit dem plötzlichen Erwachen Kopp(e)s aus seinem Traum, der sich für den Gottsched-Schüler als wahrer Albtraum entpuppt. Im Bodmer/Breitinger-Kreis lehnte man folglich die neue deutsche paargereimte Alexandriner-Übersetzung der Gerusalemme liberata von Kopp stets ausdrücklich ab. Für junge Dichter und Talente wie Klopstock, die kein Italienisch verstanden, war eine literarische Hinführung zum originalen Bibelepos mittels Übersetzung oder wenigstens sinngemäßer Übertragung allerdings unerlässlich. Meinhard, der von Bodmer eine scharfe Kritik seiner Ansichten über Dante erfahren hatte, wollte offenbar in einem geplanten dritten Band seiner Versuche über den Charakter und die Werke der besten Italiänischen Dichter »das befreyte Jerusalem von Tasso ganz übersetzt liefern, weil er die Koppische Uebersetzung für so gut als nicht gemacht ansah«.225 Durch den plötzlichen Tod Meinhards im Jahre 1767 kam es leider nicht mehr zur Aus220 221 222 223 224 225

Ebd., S. 180. Ebd., S. 181. Ebd. Ebd. Ebd., S. 182. Von diesem Plan Meinhards berichtet Friedrich Wilhelm Zachariä in seinem Vorbericht zur zweiten Auflage des ersten Bandes der Versuche: Vorbericht zu gegenwärtiger zweyten Auflage der italiänischen Versuche des Herrn Meinhard. In: Meinhard: Versuche über den Charakter und die Werke der besten Italiänischen Dichter. Erster Theil, unpag. [S. XXI*]. [Seitenzählung von I. G.]

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führung seines Plans. Erst 1781 erschien in vier Bänden eine vollständige deutsche Prosaübersetzung der Gerusalemme liberata von Wilhelm Heinse. Bodmer verteidigte Tassos christliches Epos gegen jegliche Angriffe vonseiten anderer Kritiker, die zum Teil auch aus den eigenen Reihen kamen. In den Freymüthigen Nachrichten von 1753 finden sich etwa zwei kurze Texte in Briefform, die später nochmals in der Sammlung Archiv der schweitzerischen Kritick (1768) abgedruckt wurden. In dem Brief An Orontes über Tassos Jerusalem226 rechtfertigt Bodmer »die zauberischen Erdichtungen des Tasso«.227 Alle epischen Poeten hätten die Freiheit, »daß sie unter andern die Sachen so vorstellen dürfen, wie sie geglaubt werden, wie die Sage gehet, und wie es scheint«.228 Tasso schreibe für die »grosse Welt«, nicht nur für Schriftgelehrte, und die ›gemeinen Leute‹ würden nun einmal an Teufel und Zauberei glauben.229 Bodmer entschuldigt auch die religiösen Ansichten des italienischen Autors gegenüber den ›aufgeklärten‹ Protestanten: Zu Tassos Zeiten habe noch der römisch-katholische Aberglaube geherrscht, »das heilige Grab müsse mit dem Schwert erobert werden«.230 Der italienische Dichter schrieb demzufolge »nach dem System einer Religion, die er für die wahre hielt«.231 Wieland hatte in einem Brief vom 20. Dezember 1751 bemängelt, dass Tasso Homer und Vergil »Sclavisch [!] nachgeahmt, ja ausgeschrieben« habe.232 Bodmer reagierte offensichtlich auf diese Aussage Wielands mit dem kurzen Text Tassos Jerusalem vertheidigt.233 Der Schweizer Professor wertet darin den

226 [Johann Jacob Bodmer :] An Orontes über Tassos Jerusalem. In: [Johann Jacob Bodmer:] Archiv der schweitzerischen Kritick. Von der Mitte des Jahrhunderts bis auf gegenwärtige Zeiten. Erstes Bändchen. Zürich 1768. S. 115–119. Erstmals veröffentlicht wurde der Brief, dessen Adressat unbekannt ist, in den Freymüthigen Nachrichten von Neuen Büchern, und andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen (10. Jahrgang. 43. Stück (24. Weinmonat 1753). Zürich 1753. S. 341f.) unter dem Titel Erdichteter Brief an Orontes. Vgl. Fritz Budde: Wieland und Bodmer. [Nachdruck der Ausgabe] Berlin 1910. London / New York 1967. (Palaestra; LXXXIX.) S. 88–90. 227 [Bodmer :] An Orontes über Tassos Jerusalem. In: [Ders.:] Archiv der schweitzerischen Kritick, S. 115–119, hier S. 116. 228 Ebd. 229 Ebd., S. 117. 230 Ebd., S. 118. 231 Ebd. 232 Brief von Wieland an Bodmer, 20. Dezember 1751. In: Wieland: BW I, Nr. 27, S. 29–32, hier S. 31, Z. 58f. 233 [Johann Jacob Bodmer :] Tassos Jerusalem vertheidigt. In: [Ders.:] Archiv der schweitzerischen Kritick, S. 124–128. Erstmals veröffentlicht wurde der Brief in den Freymüthigen Nachrichten von Neuen Büchern, und andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen (10. Jahrgang. 46. Stück (14. Wintermonat 1753). Zürich 1753. S. 362–364) unter dem Titel Tassos befreytes Jerusalem gegen einige Einwendungen vertheidiget. An Plilypsus [!]. Vgl. Budde: Wieland und Bodmer, S. 86f. Fritz Budde erkannte, dass es sich bei dem Text Bodmers wohl um ein Antwortschreiben auf Wielands Brief vom Dezember 1751 handelt.

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Vorwurf, dass Tasso ein »sclavischer Nachahmer« sei, in einen Vorzug des Renaissance-Poeten um, da er seine Nachahmung nicht bey kleinen Pinselzügen, bey kurzen Gedanken und Worten stille stehen läßt, sondern sie an den Hauptstücken seiner Vorgänger, an dem Plane, den Charaktern, der Anordnung, den Episodien, ausübet und prüfet, und so ein Gedicht herausbringt, welches nicht die Ilias, noch die Aeneis ist, und mit beyden doch so viel Aehnlichkeit hat […].234

In der Leipziger Zeitschrift Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit erschien im August 1754 eine Rezension der Sammlung Der Königlichen deutschen Gesellschaft in Königsberg Eigene Schriften in ungebundener und gebundener Schreibart (1754).235 Der anonyme Rezensent stellt darin insbesondere das erste Buch des Heldengedichts Ottokar, oder das ersiegte Preußen vor.236 Das historische Epos handelt von König Ottokar II. von Böhmen (1253–1278), der im Winter 1254 mit einem Heer von 60.000 Mann dem Deutschen Ritterorden militärisch zu Hilfe kam, das Samland zu bezwingen und damit Ostpreußen dem Deutschen Orden zu unterwerfen.237 Nach einer kurzen Nacherzählung des Inhalts von Ottokar, oder das ersiegte Preußen mit eingeschobenen Textauszügen heißt es in der Rezension der Leipziger Zeitschrift abschließend: Ueberhaupt sieht man, daß die heutige Verderbniß der epischen Gedichte dieses Stück noch nicht angestecket hat; welches auf der Bahn der virgilischen Schreibart einhergeht: ob es gleich einen halbandächtigen oder christlichen Feldzug besingt, wie Tasso in seinem befreyten Jerusalem.238

Der anonyme Autor dieses epischen Gedichts ist Gottsched selbst, der auch Herausgeber der Zeitschrift Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit war.239 Mit hoher Wahrscheinlichkeit hat er also auch diese Rezension verfasst, die auf »die heutige Verderbniß der epischen Gedichte« verweist und damit 234 [Bodmer :] Tassos Jerusalem vertheidigt. In: [Ders.:] Archiv der schweitzerischen Kritick, S. 124–128, hier S. 127. 235 [Rez.:] III. Der Königl. deutschen Gesellschaft in Königsberg Eigene Schriften, in ungebundener und gebundner Schreibart. Erste Sammlung. Königsberg 1754. In: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit. [Hrsg. v. Johann Christoph Gottsched.] [4. Band.] Aerntemond [August] 1754. Leipzig 1754. S. 582–594. 236 Vgl. ebd., S. 586–591. 237 Vgl. Dieter Martin: Gottscheds Epenversuch in Rivalität zu den Schweizern. Zugleich ein Nachtrag zur Bibliographie von Gottscheds Werken. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift. N. F. 41 (1991). S. 457–460, hier S. 457f. 238 [Rez.:] III. Der Königl. deutschen Gesellschaft in Königsberg Eigene Schriften […]. In: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit. [4. Band.] Aerntemond [August] 1754. S. 582– 594, hier S. 591. 239 Vgl. hierzu und im Folgenden: Martin: Gottscheds Epenversuch in Rivalität zu den Schweizern. Zugleich ein Nachtrag zur Bibliographie von Gottscheds Werken.

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natürlich die Bibelepen in der Nachfolge von Miltons Paradise Lost meint, die alle Mitte des 18. Jahrhunderts im Bodmer/Breitinger-Kreis entstanden und veröffentlicht worden waren. Das von Gottsched verfasste einleitende erste Buch von Ottokar, oder das ersiegte Preußen sollte folglich auch mit dem Messias Klopstocks konkurrieren. Das Vorbild für dieses unvollendete Epos Gottscheds, dessen Titelheld eine historische Person des 13. Jahrhunderts war, ist Tassos Gerusalemme liberata. Wie der italienische Autor, der von den Gottschedianern als Nachfolger Vergils gepriesen wurde, besingt der Leipziger Literaturpapst einen »christlichen Feldzug«, d. h. einen Kreuzzug des christlichen Deutschen Ritterordens gegen die heidnischen Preußen. In Ottokar, oder das ersiegte Preußen finden sich immer wieder Reminiszenzen, die direkt auf Tassos Epos verweisen: So habe »des Ordens tapfre Schaar« »in Palestinens Gränzen j Christi Grab« mit ihren Schwertern beschützt (V. 21f.).240 »[K]ühne Christenschaaren« hätten »[j]üngst noch bey Jerusalem« gegen »Saracenen und Barbaren« gekämpft (V. 93f.).241 »Bouillon« habe »Jerusalem durch Europens Macht bezwungen« (V. 162).242 Das erste Buch von Gottscheds historischem Epos besteht aus insgesamt 458 paargereimten trochäischen Tetrametern. Das Proömium (V. 1–10) lautet folgendermaßen: Ottokars geweihter Krieg, und des halben Deutschlands Waffen, Sollen diesem Liede Stoff, und dem Helden Ruhm verschaffen, Der nach zwey und funfzig Jahren, seit des Ordens Schwert gekämpft, Preußens letzte Kraft bezwungen, und der Götzen Dienst gedämpft. Geist der Wahrheit! dessen Trieb solch ein großes Werk vollstrecket, Als du selbst des Glaubens Licht unter Heiden aufgestecket, Du mußt meinen Geist erleuchten; dir will ich die Feder weihn; Gib mir Inhalt und Gedanken, gib mir Wort und Zierrath ein! Du allein kennst jede That jener tapfern Christenschaaren; Was der Zeiten Nacht schon deckt, mußt du selbst uns offenbaren.243

In der Rezension im Neuesten heißt es, dass Gottsched einen »halbandächtigen« Gegenstand besinge.244 Die ›invocatio‹ richtet sich demnach auch nicht an den Heiligen Geist, sondern an den profanen »Geist der Wahrheit« (V. 5), der gleich 240 [Johann Christoph Gottsched:] Ottokar, oder das ersiegte Preußen. Ein Heldengedicht. In: Der Königlichen deutschen Gesellschaft in Königsberg Eigene Schriften in ungebundener und gebundener Schreibart. Erste Sammlung. Königsberg 1754. S. 32–48, hier S. 33. [Verszählung von I. G.] 241 Ebd., S. 35. 242 Ebd., S. 37. 243 Ebd., S. 32. 244 [Rez.:] III. Der Königl. deutschen Gesellschaft in Königsberg Eigene Schriften […]. In: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit. [4. Band.] Aerntemond [August] 1754. S. 582– 594, hier S. 591.

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einem ›vernünftigen‹ Geist der Aufklärung den Sänger »erleuchten« (V. 7) soll. Das Thema des Heldengedichts ist die Missionierung Preußens. Gottsched lässt in seinem Ottokar zwei Charaktere aus der ›christlichen Mythologie‹ auftreten: Der »höchste Gott, der im Sternenhimmel thronet, j Wo er tausend Welten lenkt, von Geschöpfen reich bewohnet« (V. 65f.), hat den bislang erfolglosen Kampf des Deutschen Ordens gegen die Preußen in Polen beobachtet und fasst nun den Entschluss, dem christlichen Glauben dort endlich zum Sieg zu verhelfen (V. 65–98).245 Der Seraph Uriel wird als Bote Gottes ausgeschickt und erscheint – in Gestalt des preußischen Hochmeisters des Deutschen Ritterordens Poppo – dem schlafenden Ottokar im Traum, erklärt diesen zum Auserwählten Gottes und ruft den Helden zum Kampf im Samland auf (V. 125–172).246 Der Leipziger Verfasser verbindet demnach seinen historischen Stoff mit Elementen des von der Schweizer Partei propagierten christlichen Wunderbaren. Mit seinem Eposfragment nähert sich Gottsched allerdings nur in diesem Punkt seinen Gegnern an. Denn in der Rezension im Neuesten wird dezidiert darauf hingewiesen, dass das Epos Ottokar, oder das ersiegte Preußen »auf der Bahn der virgilischen Schreibart einhergeh[e]«, sich folglich an die Normen des rationalistischen Klassizismus halte.247 Typische epische Elemente sind beispielsweise die einleitende Analepse (V. 11–64), die göttliche Traumerscheinung, die langen Reden und die bildhaften Gleichnisse am Ende des Buches (V. 409–414, 429–438). Gottsched führte seinen Versuch eines christlich-historischen Heldengedichts in der Nachfolge Vergils und Tassos nicht weiter aus, d. h., es blieb bei dem anonym veröffentlichten ersten Buch des Ottokar in der Sammlung der Schriften der Deutschen Gesellschaft in Königsberg. Tassos Gerusalemme liberata wurde auch noch nach Ende des eigentlichen ›Literaturstreits‹ in den späten 1760er Jahren von gelehrten Zeitgenossen eifrig rezipiert. Johann Georg Jacobi (1740–1814) etwa nahm den italienischen Autor in seiner Göttinger Magisterdisputation (Vindiciae Torquati Tassi), die er 1763 unter dem Vorsitz seines Lehrers Christian Adolph Klotz durchführte, gegenüber den Vorwürfen des französischen Kritikers Boileau in Schutz, der in seiner IX. Satire vom »clinquant du Tasse« (»Flittergold« Tassos) im Gegensatz zum Gold Vergils gesprochen hatte.248 Laut Jacobi zeigt sich Tasso als »dichterische[s] 245 [Gottsched:] Ottokar, oder das ersiegte Preußen, S. 34f. 246 Vgl. ebd., S. 36–38. 247 [Rez.:] III. Der Königl. deutschen Gesellschaft in Königsberg Eigene Schriften […]. In: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit. [4. Band.] Aerntemond [August] 1754. S. 582– 594, hier S. 591. 248 Vgl. hierzu: Achim Aurnhammer : Johann Georg Jacobis Hallenser Tasso-Vorlesung. In: Torquato Tasso in Deutschland. Seine Wirkung in Literatur, Kunst und Musik seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. Hrsg. v. Achim Aurnhammer. Berlin / New York 1995. (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte; 3 (237).) S. 398–422, hier S. 403f.

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Originalgenie« gerade erst »in Regelverstößen, die aus dem Widerspruch von innovativer Orientierung und tradiertem Muster notwendig folgen«.249 Der junge Gelehrte und Dichter rühmt vor allem die vorherrschende Erhabenheit in den Reden der Gerusalemme liberata sowie die »malerische Anschaulichkeit der Affektschilderungen« in den Beschreibungen und Vergleichen.250 Jacobi hielt im Jahre 1767 an der Universität Halle Vorlesungen über den Taßo.251 Das ungedruckte, erhaltene Manuskript enthält eine Prosaübersetzung der ersten sechs Gesänge des christlichen Epos mit ausführlichem Kommentar.252 Es beweist, dass Jacobi die rationalistische Regelpoetik Gottscheds dezidiert ablehnte und gewissermaßen eine angemessene Würdigung der poetischen Innovationen des epischen ›Genies‹ Tasso forderte. Im ersten Kapitel wurde bereits von der kontroversen Milton-Rezeption im 18. Jahrhundert berichtet.253 Das Paradise Lost stand stets im Mittelpunkt des ›Literaturstreits‹. Es wurde einerseits vom Bodmer/Breitinger-Kreis bedingungslos bewundert und hochgelobt, andererseits aber auch von den Gottschedianern radikal als Inbegriff des Geschmacksverfalls abgelehnt. Der englische Dichter John Milton (1608–1674) vollendete sein biblisches Heldengedicht Paradise Lost im Jahre 1665. Es umfasste damals noch zehn Bücher und wurde zwei Jahre später veröffentlicht. Eine zweite Auflage erschien 1674. Für diese endgültige Fassung hatte Milton die Bücher sieben und acht jeweils geteilt, um sein Epos auf insgesamt zwölf Bücher bzw. Gesänge zu erweitern. Das Epos handelt vom biblischen Sündenfall des ersten Menschenpaares Adam und Eva. In der ersten Hälfte des Paradise Lost wird die Rebellion Satans und seiner höllischen Anhänger gegen Gott und die himmlischen Heerscharen geschildert. Das Heldengedicht besteht aus fünffüßigen Jamben ohne Reim, d. h., Milton verwendete den Blankvers als ›heroisches‹ Metrum. In dem allgemeinen Teil seiner rationalistischen Regelpoetik hatte Gottsched Milton als Beispiel eines Poeten angeführt, der sehr stark zu »Ausschweifungen der Phantasie« geneigt habe.254 Der Leipziger ›Kunstrichter‹ verurteilte in dem 249 250 251 252

Ebd., S. 406. Ebd., S. 406f. Vgl. ebd., S. 410–417. Vgl. ebd., S. 417–422 (Abdruck des Anfangs der Handschrift Vorlesungen über den Taßo von Jacobi im Anhang des Aufsatzes von Achim Aurnhammer). 253 Vgl. zur deutschen Milton-Rezeption im 17. und 18. Jahrhundert: Hans-Dieter Kreuder : Milton in Deutschland. Seine Rezeption im latein- und deutschsprachigen Schrifttum zwischen 1651 und 1732. Berlin / New York 1971. (Quellen und Forschungen zur Sprachund Kulturgeschichte der germanischen Völker ; N. F. 43.) – Enrico Pizzo: Miltons Verlornes Paradies im deutschen Urteile des 18. Jahrhunderts. [Nachdruck der Ausgabe] Berlin 1914. Nendeln / Liechtenstein 1977. (Literarhistorische Forschungen; 54.) 254 Gottsched: AW VI 1, S. 159.

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Kapitel Von dem Charactere eines Poeten eine allzu »hitzige Einbildungskraft«, denn diese mache »unsinnige Dichter«: Das »Feuer der Phantasie« müsse stets durch »eine gesunde Vernunft« gemäßigt werden.255 Gottsched verwendet in seiner Argumentation den griechischen Mythos von Pha[thon, der die Pferde, die den Sonnenwagen seines Vaters Helios zogen, nicht zügeln konnte und schließlich abstürzte: Nicht alle Einfälle sind gleich schön, gleich wohlgegründet, gleich natürlich und wahrscheinlich. Das Urtheil des Verstandes muß Richter darüber seyn. Es wird nirgends leichter ausgeschweifet, als in der Poesie. Wer seinen regellosen Trieben den Zügel schießen läßt, dem geht es wie dem jungen Phaeton. Er hat wilde Pferde zu regieren; aber sehr wenig Verstand und Kräfte sie zu bändigen, und auf der rechten Bahn zu halten: sie reißen ihn fort, und er muß folgen wohin sie wollen, bis er sich in den Abgrund stürzet. So ist es mit einem gar zu feurigen poetischen Geiste auch bewandt. Er reißt sich leicht aus den Schranken der Vernunft; und es entstehen lauter Fehler aus seiner Hitze, wenn sie nicht durch ein reifes Urtheil gezähmet wird.256

Miltons Paradise Lost stellt für den Leipziger Kritiker das Negativbild einer regellosen, ausschweifenden und vor allem unvernünftigen Poesie dar. Gottsched weist in dem literarhistorisch-kritischen Teil seines Kapitels Von der Epopee oder dem Heldengedichte in der dritten Auflage seines Versuches einer Critischen Dichtkunst (1742) nur kurz auf Miltons »verlornes Paradieß« hin, das die »Hochachtung« der englischen Nation erlangt habe.257 In der Schweiz habe man vor Kurzem »eine neue deutsche Uebersetzung in ungebundner Rede davon geliefert«.258 Bodmer wird namentlich als Urheber dieser neuen Übersetzung von Miltons Paradise Lost (1732, 1742) seltsamerweise nicht genannt. Das Werk des Züricher Gegners wird aber scharf kritisiert: Die neue deutsche Prosaübersetzung sei »von großer Härte«, täte »ihrem Grundtexte keine völlige Gnüge […], außer daß sie das ungeheure, rauhe und widrige des Originals in seiner völligen Größe ausdrück[e]«.259 In der folgenden, erweiterten Ausgabe von Gottscheds Poetik von 1751 wird Miltons Verlohrnes Paradies wesentlich härter angegriffen und als Rückfall in den Marinismus bzw. barocken Schwulst angesehen: Hierinnen ist nun der Teufel sein Held, der den unschuldig erschaffenen Menschen, aller dagegen gemachten Anstalten ungeachtet, verführet, und seinem Schöpfer entreißt. Die ganze Erfindung ist also höchst fehlerhaft, zugeschweigen, daß es entsetzlich ist, den Sieg einer boshaften Creatur über ihren Schöpfer zu besingen. Dabey machet er nun die abscheulichsten Beschreibungen von Sünde, Teufel, Tod und Hölle; darinn er 255 256 257 258 259

Ebd., S. 158. Ebd. Gottsched: AW VI 2, S. 290f. (17. §.) Ebd., S. 291. Ebd.

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gewiß den Marino wie an garstigen Bildern, also auch in Widersprüchen noch übertrifft; und brauchet durchgehends eine Schreibart, die den wildesten Witz, und die unordentlichste Einbildungskraft verräth.260

Miltons Werk habe den Engländern anfangs nichts bedeutet, erst nachdem Gelehrte wie Addison angefangen hätten, das Paradise Lost »ihren Landsleuten anzupreisen« und diese dazu brachten, es zu lesen und »nach und nach gewohnt zu werden«, wurde diese Nation letztlich »so verblendet […], daß man auch Schönheiten darinn zu sehen glaubte«.261 Die Gottschedianer verwendeten in ihren Streitschriften immer wieder das Argument, dass auch die Engländer angeblich erst dazu überredet werden mussten, Miltons Epos zu verehren. Das deutsche Lesepublikum sollte durch diese polemische Argumentation indirekt davor gewarnt werden, sich von den Überredungskünsten des Bodmer/Breitinger-Kreises ›verblenden‹ zu lassen. Gottsched und seine Anhänger versuchten mit allen argumentativen bzw. rhetorischen Mitteln, die deutschen Leser und vor allem jungen Dichtertalente davon abzuhalten, sich letztlich auch zum »Miltonianismus« zu bekehren.262 Für Bodmer war Milton »ein Mann von wunderbarem Genie« und »ungemeiner Gelehrsamkeit«, der »zu viel von einem Original-Geiste« hatte, »als daß er ein blosser Nachschreiber hätte seyn können«.263 Das Paradise Lost, das stets als »himmlische[s] Gedicht[.]«264 apostrophiert wurde, gilt den deutschen Kritikern des 18. Jahrhunderts als ›das‹ englische Nationalepos. Laut Bodmer hätte das biblische Heldengedicht, das in Form einer neuen deutschen Prosaübersetzung nun für alle leicht zugänglich war, als ultimatives »Wunderwerk« den literarischen Geschmack des deutschen Lesepublikums augenblicklich verbessern sollen.265 Er räumt aber rückblickend im Jahre 1754 ein, dass eine gewisse ›Übergangsphase‹ vonnöten gewesen sei, um sich an all die poetischen Neuerungen gewöhnen zu können: »Die Leser wurden in demselben [dem Verlohrnen Paradies; I. G.] von einem solchen Ueberflusse von Schönheiten einer hohen, ihnen fremden und ungeläuftigen Art überfallen, daß sie davon geblendet etliche

260 Gottsched: CD 1751, S. 483. 261 Ebd., S. 483f. 262 Bodmer beklagt 1746 in einem seiner Critischen Briefe, dass man ihm vorgeworfen habe, dass er »die ehrlichen Deutschen zu dem Miltonianismo verführen wolle«. (Johann Jakob Bodmer / Johann Jakob Breitinger : Critische Briefe. Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Zürich 1746. Hildesheim 1969. S. 126.) 263 [Johann Jacob Bodmer:] Johann Miltons verlohrnes Paradies. Ein Episches Gedicht in zwölf Gesängen. Neu überarbeitet, und durchgehends mit Anmerkungen von dem Uebersezer und verschiednen andern Verfassern. Erster Band, und vor diesem die critische Geschichte des Gedichtes. Zürich 1754. S. 16f. (Critische Geschichte des Verlohrnen Paradieses). 264 Ebd., S. 34. 265 Ebd.

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Jahre nöthig hatten, sich an dieses Licht zu gewöhnen.«266 Bodmer verwendet hier gezielt die Licht-Metaphorik der Epoche der Aufklärung. Er bewertete Miltons Epos stets nach ästhetischen und theologischen Kriterien und entwickelte auf der Grundlage seiner Bewunderung für das englische heroische Gedicht in den 1740er Jahren seine eigenen poetologischen Grundsätze. Als scheinbar größtes Verdienst Miltons sah Bodmer den Einfluss von dessen »heiliger Poesie« auf Klopstocks Messias an. Der Schweizer ›Kunstrichter‹ schreibt in der Critischen Geschichte des Gedichtes, die er der neuen Fassung seiner deutschen Übersetzung von Miltons Verlohrnem Paradies von 1754 vorangestellt hatte: Das gröste Lob, welches das verlohrne Paradies seither bekommen, und das dem Poeten, wenn er es wüste, süsser als der Beyfall einer ganzen Nation seyn wurde, ist daß der Poet der Messiade davon entflammet, seinen Geist zu der heiligen und himlischen Poesie erhoben hat, in welcher er so ungemein dichtet. Wir hätten Zweifelsfrey auch ohne das verlohrne Paradies ein homerisches Gedicht von Hrn. Klopstok empfangen, aber wir sind es Milton schuldig, daß wir ein olympisches empfangen haben.267

Bodmer beschwert sich gleichzeitig aber auch darüber, dass begeisterte Anhänger Klopstocks das Bibelepos Miltons abwerten würden: Gewisse Leute, welche die Messiade zu loben das verlohrne Paradies an sie anstossen lassen, verrathen dadurch die Schwäche ihres Verstandes, die sie hindert die Verdienste der beyden einzusehen und zu unterscheiden. Was kann verworreners gesagt werden, als dieses: »Wenn die Nachahmung allemal in Vergleichung mit dem Original verdirbt: so sollte man fast den Milton für einen Nachahmer des Klopstoks halten. Milton behält nichts von eigentümlichen Schönheiten, wenn man den Messias liest. Und man kann sagen, daß Klopstok alle Schönheiten des Miltons erobert, und alle seine Fehler vermieden habe.« Dieses ist in seiner Art so arg gelobt, als der Erzwidersacher [Gottsched; I. G.] des verlohrnen Paradieses jemals getadelt hat.268

Für Bodmer bleibt das Verlohrne Paradies zeitlebens ein mustergültiges poetisches Werk, an dem sich alle nachfolgenden epischen Versuche deutscher Dichter messen lassen müssen. Jedes Epos begibt sich gewissermaßen in einen literarischen Wettstreit mit Miltons »heiligem bzw. himmlischem Gedicht«. Auch Eschenburg führt das Paradise Lost Miltons in seinem Lehrbuch Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften (1789) als kanonisches »Muster« für alle Werke der Gattung Epos mit biblischem Stoff an: Das schönste epische Gedicht der Engländer, und zugleich das erste und erhabenste Muster der neuern Religionsepopöe ist Milton’s verlornes Paradies, vorzüglich reich an Dichtung, kühner und fruchtbarer Phantasie, mannichfaltiger Beschreibung, und 266 Ebd., S. 34f. 267 Ebd., S. 36f. 268 Ebd., S. 37.

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poetischer Sprache, über die man einige Widersinnigkeit in der Anlage des Ganzen und in den Maschinen leicht vergisst.269

Der Philosoph Georg Friedrich Meier aus Halle untersuchte 1744 in der Greifswalder Zeitschrift Critischer Versuch zur Aufnahme der Deutschen Sprache die Frage Ob Milton in der Wahl der Haupthandlung in dem verlohrnen Paradiese glücklich gewesen? sei.270 Meier betont anfangs in seiner Abhandlung, dass er »das verlohrne Paradies, nach der Ilias und Aeneis, über alle andere Gedichte« schätze, aber dennoch »einige Fehler« entdeckt habe, mit denen er sich auseinandersetzen wolle.271 Er versichert, seine »Beurtheilung« werde gewiss allen »ganz unpartheyisch« erscheinen.272 Mit dieser Aussage will der Ästhetiker verhindern, von einer der gegnerischen Parteien im ›Literaturstreit‹ vereinnahmt zu werden. Als »Haupthandlung« des Paradise Lost nimmt Meier den »Fall Adams« oder »die Verführung zum Falle« an.273 Er stellt die allgemeine Regel auf, dass die »Haupthandlung« eines Epos »in einem hohen Grade tugendhaft« sein müsse.274 Die »Verführung der ersten Menschen zum Falle« sei zwar einerseits »eine heroische That«, andererseits aber auch »eine niederträchtige Handlung«.275 Er urteilt folgendermaßen: »Er gehörte gewiß nicht wenig Kraft, List, Verschlagenheit, Verstand, Einsicht, Muth, Tapferkeit dazu, Gott zum Trotze, den ersten Menschen zu verführen. In so fern aber diese Handlung durchaus lasterhaft ist, in so fern rührt sie von einem kleinen Geiste her.«276 Die »Haupthandlung« in Miltons Bibelepos – der »Fall Adams« – sei also »in keinerley Absicht einem grossen Geiste anständig«.277 Meier relativiert diesen »Fehler« allerdings sogleich wieder, indem er auf den antiken epischen Vorläufer verweist: Der »Zorn des Achilles« in der Ilias sei »gewiß nicht moralisch gut«, diesen Fehler habe der englische Epiker folglich »mit dem Homer gemein«.278 Daher gebe er auch der Aeneis Vergils den Vorzug, denn in diesem römischen Nationalepos sei die 269 Eschenburg: Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften, S. 181. 270 Vgl. hierzu und im Folgenden die Zusammenfassung der Kontroverse zwischen Meier und Bodmer über die Haupthandlung in Miltons Paradise Lost in: Ernst Bergmann: Die Begründung der deutschen Ästhetik durch Alex. Gottlieb Baumgarten und Georg Friedrich Meier. Mit einem Anhang: G. F. Meiers ungedruckte Briefe. Leipzig 1911. S. 188–190. 271 [Georg Friedrich Meier :] Untersuchung der Frage: Ob Milton in der Wahl der Haupthandlung in dem verlohrnen Paradiese glücklich gewesen? In: Critischer Versuch zur Aufnahme der deutschen Sprache. Dreyzehntes Stück. Greifswald 1744. S. 29–49, hier S. 30. 272 Ebd., S. 31. 273 Ebd. 274 Ebd., S. 35. 275 Ebd. 276 Ebd. 277 Ebd. 278 Ebd.

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»Haupthandlung« tugendhaft – wäre Meier ein »Papist«, also ein Katholik, würde er dasselbe von Tassos Gerusalemme liberata sagen.279 Der Kritiker räumt später ein, auch wenn die »Haupthandlung« des Paradise Lost »nicht edel genug sey«, da sie als »lasterhaft« gelten müsse, schade das dem »grossen Geiste des Dichters« nicht.280 Meier fällt folgendes Urteil: Ja es beweist sich eben jemand dadurch als einen grossen Geist, wenn er ein Laster in seiner Abscheulichkeit dergestallt vorstellt, daß dagegen ein proportionirter Abscheu, durch seine Vorstellung, hervorgebracht wird. Und das hat Milton als ein Meister gethan.281

Der Hallenser Philosoph betont, dass er vom »Erhabene[n]« in »unendlich vielen Stellen« des Paradise Lost entzückt worden sei, er aber »dieses Erhabene« nicht in der »Haupthandlung« gefunden habe, ansonsten müsste man »den Messias für den Held Miltons annehmen wollen«.282 Meier kritisiert auch die epische Darstellung des »Fall[s] des Satans«: Dieser könne nicht »in einem hohen Grade lebhaft […] vorgestellt werden«, trage nichts »zur poetischen Klarheit« bei, und man hätte von diesem himmlischen Geschehen außerhalb des menschlichen Erdbodens »nur durch einen allgemeinen Begriff« Kenntnis.283 Zudem würden die »Gottesgelehrten« noch heute darüber streiten, »worinn der Fall des Satans bestanden« habe.284 Meier verweist hierin auf die fehlende theologische Legitimation dieser epischen Teilhandlung durch die Heilige Schrift, die Bibel. Er bewundert aber gleichzeitig die schöpferische Phantasie des englischen Autors: »Es ist wahr«, schreibt er, »man muß sich über den fruchtbaren Geist Miltons, den er bey dieser trockenen Sache bewiesen, verwundern.«285 Milton habe den Fall Satans zwar »durch eine Schlacht vorgestellt, die mit einer bewundernswürdigen Kunst ausgeführet [sei], allein diese Schlacht [sei] ein blosses Räthsel«, d. h., die Gründe hierfür blieben im Dunkeln verborgen.286 Ein Epiker müsse sich »eine Haupthandlung erwählen, die sich ganz ihren wesentlichen und vornehmsten Theilen nach unter den Menschen zugetragen [habe], und von Menschen verrichtet worden [sei]«.287 Damit lehnt der kritische Philosoph und Ästhetiker Meier gerade die Elemente des christlichen Wunderbaren ab, die für die Argumentation der poetologischen Abhandlungen Bodmers essentiell waren. Zudem kommt er auch noch auf das Theorem der 279 280 281 282 283 284 285 286 287

Ebd., S. 35f. Ebd., S. 39. Ebd. Ebd., S. 36. Ebd., S. 37. Ebd. Ebd. Ebd., S. 38. Ebd.

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Wahrscheinlichkeit in einem epischen Gedicht zu sprechen und zeigt sich hierin von der rationalistischen Poetik Gottscheds beeinflusst: Laut Meier entbehre jener Teil der »Haupthandlung« des Paradise Lost, der von Begebenheiten erzähle, die sich unter Engeln und Teufeln zugetragen hätten, jeglicher »poetische[r] Wahrscheinlichkeit«, sei den Lesern nicht »plausibel« genug, d. h., jeder Christ werde sogleich die »Erdichtungen« Miltons erkennen.288 Das abschließende Urteil des Hallenser Philosophen in diesem Kritikpunkt lautet: Meiner Einsicht nach, schickt sich also, zu der Haupthandlung eines Heldengedichts, was die Wahrscheinlichkeit betrifft, keine Begebenheit aus der Bibel, und keine Begebenheit aus einer andern Historie, die erst vor kurzen [!] geschehen, und deren eigentliche Umstände noch im frischen Andenken sind. […] Man muß, wenn man glücklich wählen will, eine Handlung zu einem Heldengedichte wählen, die eine menschliche Handlung ist, sich unter den Menschen zugetragen, aus der Profan historie [!] genommen, und vor undenklichen Zeiten geschehen, wie Homer und Virgil gethan. Alsdenn kann man erdichten so viel man will, weil niemand im Stande seyn wird, die wahren Umstände von den erdichteten mit leichter Mühe zu unterscheiden.289

Jener Teil des Lesepublikums, der nicht dem christlichen Glauben anhänge, könne allerdings von den überirdischen Geschehnissen in Miltons Heldengedicht »in einem eben so grossen Grade poetisch überredet werden, als von allen himmlischen Begebenheiten in dem Homer und Virgil«.290 Demnach problematisiert Meier den biblischen Stoff von Miltons Paradise Lost und den gemäß dem mittelalterlichen Weltbild dreigeteilten epischen Schauplatz, der sich auf den göttlichen Himmel und die satanische Hölle mit ihren jeweiligen Bewohnern ausdehnt. Er empfiehlt, die epische Handlung aus der »Profan historie«291 zu nehmen, also einen rein historischen Stoff aus der entfernten Vergangenheit zu wählen, in dem nur menschliche Begebenheiten eine Rolle spielen. Allein diese Stoffwahl ermögliche einem epischen Dichter größere poetische Freiheiten, ansonsten sei er zu stark an religiöse bzw. theologische Kontexte gebunden. Am Ende seiner Untersuchung verweist der aufgeklärte ›Kunstrichter‹ auf die Wirkungsästhetik eines poetischen Werkes und den geforderten moralischen Endzweck eines Heldengedichts: Meier behauptet, die »Haupthandlung« eines Epos müsse »so beschaffen seyn, daß, durch ihre Ausführung in dem Heldengedichte, die Leser angereitzt werden, dieselbe in ähnlichen Fällen nachzuthun, oder zu unterlassen, wenn sie dazu sollen verführt werden«.292 Dies könne ein

288 289 290 291 292

Ebd., S. 40f. Ebd., S. 41f. Ebd., S. 42. Ebd., S. 41. Ebd., S. 42f.

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Leser des Paradise Lost natürlich nicht leisten, da der heilsgeschichtliche Sündenfall als solcher unwiederholbar sei.293 Meier forderte den absoluten Milton-Kenner Bodmer in einem Brief vom 19. März 1746 dazu auf, seine Abhandlung zu beurteilen.294 Der Schweizer Kritiker ließ sich sogleich in einen freundschaftlichen Disput mit dem Hallenser Philosophen ein und bemühte sich, alle vorgebrachten Argumente seines gegnerischen Kritikers zu entkräften. Bodmer veröffentlichte seinen Antwortbrief in dem Sammelband Critische Briefe (1746).295 Der siebte Brief ist explizit an Herrn »G. F. M.« adressiert. Bodmer macht zunächst deutlich, dass für ihn nicht die Handlung das Wichtigste in einem epischen Gedicht sei, sondern die dargestellten Charaktere. Er formuliert daher folgende Regel: »Die Handlung, welche von den Alten die Fabel genannt worden, ist zum Dienste der Charakter erfunden; sie steht unter denselben.«296 Die Charaktere vor allem der Hauptpersonen eines Epos müssten zwar »heroisch, ausnehmend, wichtig« sein, sie müssten »würdig seyn, daß man sie in allen ihren Theilen, und verschiedenen Gesichtespunkten vorstelle«, und sie müssten »unter einander verschieden« sein, aber sie müssten nicht alle »in einem hohen Grade tugendhaft« sein.297 Ein Heldengedicht sei »eine ausführliche Schilderey des menschlichen Lebens« und die Menschheit bestehe nun einmal nicht nur aus »lauter Tugendhaften«.298 Ein »im Grunde verderbter Mensch« könne sicherlich niemals die Hauptfigur bzw. der Held eines Epos sein, da es diesem keinesfalls möglich sei, »die Zuneigung und die Hochschätzung der Leser zu erwerben«, aber die »Hauptperson« dürfe »neben einer Menge Tugenden auch Schwachheiten an sich haben«.299 Bodmer plädiert demnach für eine annähernd realistische Charakterzeichnung, mit der sich das ›aufgeklärte‹ Lesepublikum in gewisser Weise auch identifizieren konnte. Milton habe seine epischen Charaktere mit all ihren Facetten, quasi psychologisch genau, dargestellt: Adams Charakter wird in seiner Unschuld, seinem Falle, seiner Busse [!], seinem Glauben, durch die bequemsten Handlungen aus einander gestellet. Der Eva Charakter wird in eben diesen Stücken ihrem weiblichen Stande nach verschiedentlich gezeiget. Satan wird in seiner äussersten Wuth, und äussersten Hochmuth bey seinem tiefsten 293 Vgl. ebd., S. 43. 294 Vgl. den Brief von Meier an Bodmer, 19. März 1746. In: Bergmann: Die Begründung der deutschen Ästhetik durch Alex. Gottlieb Baumgarten und Georg Friedrich Meier. Mit einem Anhang: G. F. Meiers ungedruckte Briefe, Nr. 6, S. 241f. 295 [Johann Jacob Bodmer :] Der siebende Brief. [Vertheidigung der Haupthandlung des verlohrnen Paradieses.] In: Johann Jakob Bodmer / Johann Jakob Breitinger : Critische Briefe. Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Zürich 1746. Hildesheim 1969. S. 125–138. 296 Ebd., S. 126. 297 Ebd., S. 127. 298 Ebd. 299 Ebd., S. 127f.

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Elende vorgestellt. Man wird diesen Personen auch ihre Tüchtigkeit in einem epischen Gedichte mit der gehörigen Würde zu erscheinen, nicht absprechen können.300

Bodmer setzt sich ausführlich mit dem in der Milton-Rezeption immer wieder vorgebrachten Vorwurf auseinander, dass Satan der eigentliche Held des Paradise Lost sei: »Satans Grösse« sei »keine wahre Grösse«, weil er jeglicher Tugendhaftigkeit beraubt sei.301 Der »wahre Held Miltons« sei allein Adam, wer den Höllenfürsten dazu machen wolle, habe den englischen Autor definitiv nicht verstanden:302 Milton redet durch das ganze Gedicht mit Haß, Fluche, Zorn, Abscheue, von Satan, und er pflanzet diese Regungen in seinen Lesern; hingegen wendet er alle unsre Liebe, Hochachtung, unser Mitleiden, alle unsre sanftern Neigungen dem Adam zu.303

Meier hatte kritisiert, dass der Sündenfall dem Geist bzw. Charakter des Stammvaters der Menschheit eigentlich nicht würdig sei. Bodmer entgegnet diesem Argument, dass man »den grossen Geist« Adams zwar nicht »in dem Falle«, aber davor und danach finden könne.304 Zudem sei die Unheilsgeschichte von der begangenen Ursünde des ersten Menschen lediglich ein Handlungsstrang des Epos. Adam werde »auch in Handlungen der Unschuld, der Weisheit, der Großmuth, der Bußfertigkeit, der Standhaftigkeit vorgestellet«.305 Die »Haupthandlung« des Verlohrnen Paradieses sei zudem zwar nicht wiederholbar, und so könne man die Leser auch nicht davor warnen,306 aber es gebe noch genug »Verführungen« zum »Ungehorsam[.]« gegenüber Gott, denen sich ein jeder Christ im Alltag ausgesetzt sähe.307 Bodmer rechtfertigt auch die phantasievollen ›Erdichtungen‹ Miltons: Wenn Meier all die Elemente des christlichen Wunderbaren in der »Haupthandlung« des Paradise Lost ablehne, die poetische Darstellung der Schlacht im Himmel zwischen der göttlichen Heerschar und den Anhängern Satans als unwahrscheinlich ansehe, so setze er »dem Gebiete der Poesie allzu enge Gränzen«.308 Gerade nach diesen »Dinge[n]«, die sich im außerirdischen, also metaphysischen Bereich abspielten, würde »die hungrige und unersättliche Wissensbegierde der Menschen« gieren.309 300 301 302 303 304 305 306 307 308 309

Ebd., S. 128. Ebd. Ebd., S. 128f. Ebd., S. 129. Ebd. Ebd. Ebd., S. 129f. Ebd., S. 130f. Ebd., S. 132. Ebd.

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Der Schweizer ›Kunstrichter‹ lehnt es ebenfalls in Übereinstimmung mit Meier ab, als »Haupthandlung« eines Heldengedichts, eine »Begebenheit[.] aus der Historie« zu wählen, die erst vor Kurzem geschehen, also noch aktuell sei.310 Ein Nachteil dieser Stoffwahl sei es, »den Lesern Ehrfurcht und Bewunderung für Männer beyzubringen, von welchen sie hundert Kleinigkeiten selbst gesehen oder erzehlen gehöret haben«: Die Verwunderung verschwindet, wenn wir den grossen Mann, von dem das Heldengedicht singt, so nahe sehen, daß wir seine kleinen Affekte, kleinen Leidenschaften, die Ungleichheit in seinem Betragen, seine verdrüßlichen Stunden gewahr werden; wenn wir die kleinen Schwachheiten, denen die Natur der Helden so wohl unterworfen ist, als der gemeinen Menschen, an ihnen mit unsern Augen entdecken, oder von Augenzeugen vernehmen.311

Ein Poet könne zwar »diese kleinen Sachen verschweigen, die seinen Held gemein machen«, doch das helfe wenig, wenn sich die Leser daran erinnern würden.312 Erst wenn eine gewisse Zeit vergangen sei, werde der Held idealisiert und seine jeweiligen Schwächen bzw. Fehler letztlich ausgeblendet. Bodmer lehnt für ein Epos einen historischen Stoff aus der jüngsten Vergangenheit dezidiert ab: Ein grösserer Nachtheil ist, daß unsere letztern Zeiten dem Poeten durch ihre Art den Krieg zu führen, und den Frieden wieder herzustellen, durch ihre Weise mit einander zu handeln, und überhaupt durch ihre Manieren im gemeinen Umgang und Leben, sehr schlechten Stof zu dem Seltenen und Wunderbaren geben, welches in dem Heldengedicht erfodert wird. Unsre feyerlichsten Feste, unsre Hochzeiten, unsre Begräbnisse, unsre Religionshandlungen, unsre Cerimonien, unsre Höflichkeiten, sind für die heroische Einfalt zu vermischt.313

Der Schweizer Kritiker geht in seinem Antwortbrief auf Meiers Ablehnung eines biblischen Stoffes für ein Epos seltsamerweise nicht mehr ein. Allerdings hatte er das Paradise Lost ja schon in unzähligen Streitschriften gegenüber den Gottschedianern in Schutz genommen und hierbei immer wieder auf die von Milton eingeführte ›christliche Mythologie‹ verwiesen, die die Voraussetzungen für die poetologische Kategorie des Wunderbaren, die im Zentrum der epischen Gattungstheorie der Schweizer stand, erst vollkommen erfüllen konnte. Bodmer hatte im Sommer 1746 einen Auszug seines apologetischen siebten Critischen Briefes an Meier gesandt. Der Hallenser Ästhetiker bedankte sich

310 311 312 313

Ebd., S. 136. Ebd., S. 136f. Ebd., S. 137. Ebd., S. 137f.

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wiederum in einem Brief vom 27. Juni 1746314 herzlich für dessen Antwortschreiben und gab gegenüber dem Schweizer Kritiker zu, dass er sich in seiner Abhandlung geirrt habe. Er sei inzwischen von Bodmer »bekehrt« worden und spreche infolgedessen Miltons »Wahl der Haupthandlung« von allen Fehlern frei.315 Der ›gelehrte‹ Disput zwischen ihm und dem Milton-Propagator ist damit aber noch nicht beendet, da sich beide wiederum an winzigen Details ihrer jeweiligen Argumentation festbeißen. Meier führt in seinem privaten Brief an Bodmer noch drei kleinere Kritikpunkte an, die er am Paradise Lost zu bemängeln habe. Er verkündet allerdings zunächst beschwichtigend, dass er diese »Sünden« Miltons als »keine Begehungs Sünden [!] mehr, sondern blosse Unterlassungssünden« ansehe, die der englische Poet »mit der Iliade des Homers gemein« habe.316 Der Philosoph glaubt noch immer, dass es besser sei, wenn der Held eines Epos im Zentrum der »Haupthandlung« »ein grosser Geist wäre« und dessen Schwächen, die notwendigerweise zu einem menschlichen Heroen gehörten, nur in den Nebenhandlungen angeführt würden.317 Die »Haupthandlung« im Paradise Lost könne von den Lesern »nicht mehr nachgeahmt werden«, da Adam vom Stand der Unschuld in den der Sünde gefallen sei und alle Nachkommen künftig von Geburt an »eine verderbte Natur« hätten, deren Übertretung von einem von Gottes Geboten nur eine weitere Sünde zusätzlich zur Ursünde wäre.318 Zwischen einem christlichen Leser und der Hauptfigur des Epos, dem Helden Adam, bestünde folglich »ein gewaltiger Unterschied«.319 Zuletzt beanstandet Meier, dass aus Miltons »recht poetischer Beschreibung« der Schlacht im Himmel nicht hervorgehe, worin genau »die erste Sünde des Teufels« bestanden habe.320 Bodmer ging auf Meiers Kritik wiederum öffentlich im achten seiner Critischen Briefe ein.321 Der Schweizer ›Kunstrichter‹ wurde offenbar nicht müde, seinen ›Lieblingsepiker‹ Milton zu verteidigen. Er rechtfertigt wiederum die literarische Heldenfigur Adam und behauptet, dass sich alle Seiten von dessen epischem Charakter gerade in dem schweren Vergehen des Sündenfalles zeigen würden:

314 Vgl. den Brief von Meier an Bodmer, 27. Juni 1746. In: Bergmann: Die Begründung der deutschen Ästhetik, Nr. 9, S. 246–249. 315 Ebd., S. 247. 316 Ebd. 317 Ebd. 318 Ebd. 319 Ebd. 320 Ebd., S. 247f. 321 [Johann Jacob Bodmer:] Der achte Brief. [Fortsetzung dieser Vertheidigung.] In: Bodmer / Breitinger : Critische Briefe, S. 138–146.

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Ein Held, der aus Uebereilung, aus Schwachheit einen starken Fehltritt begangen hat, hört darum nicht auf, ein Held zu seyn. Ja, je wichtiger der Umstand ist, darinnen er in ein Versehen fällt, um so viel mehr hat er Gelegenheit sich zu zeigen, wenn nämlich der Held sich mitten in dem Falle zeigt, wenn er das Uebel geschickt zu bessern weiß, wenn er grosses und gutes daraus zu ziehen weiß. Dadurch wird er uns in einem höhern Lichte gezeiget, als wir ihn ohne die Uebelthat gesehen hätten.322

Die »Haupthandlung« eines Epos werde nun einmal dazu verfasst, »den Charakter des Helden in seinem vollen Lichte zu zeigen«, was Milton folglich vollkommen gelungen sei.323 Bodmer ruft anschließend die künftigen Dichter dazu auf, »jede Leidenschaft, jede Tugend zum Grund der Anlage eines epischen Gedichts« zu nehmen.324 Auf die übrigen zwei »Einwendungen« seines Gegners geht Bodmer in seinem achten Critischen Brief nur noch kurz ein, da Meiers Argumentation erkennen ließe, dass er sich selbst nicht viel daraus mache.325 Als Verteidiger Miltons hält er an der Musterhaftigkeit von dessen moralisch-gutem Helden Adam fest und begründet sein kritisches Urteil folgendermaßen: Ich sehe nicht, was dem Exempel an seiner Kraft dadurch abgehet, daß die Nachkommen Adams nicht zum erstenmal sündigen, mich dünkt vielmehr, da sie wissen, daß Adam ohne daß er vorhergesündigt, noch eine so verderbte Natur hatte, wie sie haben, mit so leichter Mühe verführet worden, sollten sie daher nur einen stärkern Beweggrund nehmen sich an seiner Uebertretung zu stossen, nachdem sie nicht mit der Unschuld und der Aufrichtigkeit, wie er, dagegen bewafnet sind.326

Bodmer sieht es zudem als eine Stärke des englischen Epikers an, dass er es nicht genauer literarisch ausgeführt habe, »worinn die erste Sünde Satans bestanden«, sondern dieses heilsgeschichtliche Detail, das selbst die »Gottesgelehrten« nicht genau bestimmen könnten, quasi im Dunkeln ließe: Satans Neid gegen den gesalbeten König, sein Eifer denselben sich vorgezogen zu sehn, seine Verweigerung ihn zu erkennen, bestimmen die Differenz der ersten Sünde Satans so stark, als mans ohne fanatische Ausschweifungen fodern kan. In solchen Dingen, die in der menschlichen Sphäre bleiben, mögen sie wohl fodern, daß der Poet mehr Licht, eine grössre Klarheit ausbreiten solle, als die ungewisse und entfernte Historie; aber in den Sachen, die in der Geisterwelt vorkommen, ist es Vorsichtigkeit und Verstand, wenn er seine Einbildungskraft in den gehörigen Schranken behält.327

322 323 324 325 326 327

Ebd., S. 139. Ebd., S. 139f. Ebd., S. 144. Ebd. Ebd., S. 144f. Ebd., S. 145f.

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Der Schweizer ›Kunstrichter‹ attestiert Milton demnach ein feines Gespür in der epischen Darstellung einer religiösen Materie, das dem Puritaner dabei nützlich sein sollte, später eventuell aufkommenden theologischen Streitfragen leichter auszuweichen. Bodmer rief in der Vorrede zu seiner Critischen Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie und dessen Verbindung mit dem Wahrscheinlichen in einer Vertheidigung des Gedichtes Joh. Miltons von dem verlohrnen Paradiese (1740) aus, dass er in dem englischen Nationalepos »viele Schönheiten« erkenne, »die von dem Plan, den Erfindungen, den Charactern, den Gemüthes-Meinungen herrühren, und schon vor sich alleine, von den poetischen Farben abgesondert, ein wohlbeschaffenes Gemüthe auf das empfindlichste rühren müssen«.328 In der apologetischen Schrift geht er auch auf Miltons Entscheidung ein, den Stoff bzw. die Materie für sein Epos aus der Heiligen Schrift zu nehmen, und auf die Schwierigkeiten, die sich dadurch für die poetische Darstellung ergäben: Miltons Materie ist heilig zu nennen, weil sie von heiligen Personen handelt, göttlichen und englischen, und der erste Stof dazu zuerst von heiligen Scribenten erzehlet worden. In der Abhandlung dergleichen Geschichte schreibet uns die Vernunft das Ziel vor, daß wir kein Stück und keinen Umstand in den Zusammenhang der Ausführung hineinbringen, der sich mit dem Zeugniß der H. Scribenten stosse, und daß wir den Personen keinen Gedancken zuschreiben, der wieder ihren Character laufe, und ihrer Würde zu nahe trete. Damit ist uns nicht verwehret, daß wir nicht in den abgebrochenen und kurtzbegriffenen Erzehlungen der H. Scribenten das leere und mangelnde mit solchen Umständen in den Begegnissen ersetzen und ausfüllen, welche mit dem geoffenbahreten ein Gewebe in einem ordentlichen Zusammenhang ausmachen.329

Trotz der Beschränkungen, deren sich der englische Epiker aufgrund seines alttestamentlichen Stoffes ausgesetzt sah, blieben ihm demnach noch genügend poetische Freiheiten, die ›Leerstellen‹ bzw. Lücken in der biblischen Heilsgeschichte auf ›vernünftige‹ Weise zu füllen. Von den Gottschedianern wurden insbesondere diese unwahrscheinlichen ›Erdichtungen‹, die für die Schweizer Partei Ausdruck der schöpferischen ›Einbildungskraft‹ bzw. Phantasie Miltons waren, in einem »heiligen Gedicht« ausdrücklich abgelehnt. Vom Standpunkt der orthodoxen Theologie aus wurde ein Bibelepiker in der Mitte des 18. Jahrhunderts so radikal zum Ketzer bzw. Häretiker erklärt. Das Paradise Lost avancierte in der deutschen Rezeption im Laufe des 18. Jahrhunderts zum Prototyp eines christlichen bzw. biblischen Heldengedichts. Ein anderer durchaus erfolgreicher englischer Schriftsteller, der in der Nachfolge Miltons ebenfalls in Blankversen ein allerdings antikisierendes Epos 328 Bodmer : CAWP, Vorrede des Verfassers an die deutsche Welt, unpag. 329 Ebd., S. 49f.

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mit einem griechischen Heroen veröffentlichte, war Richard Glover (1712– 1785). Sein Leonidas erschien 1737 in London. Zwei Jahre später wurde bereits die vierte Auflage dieses englischen Heldengedichts publiziert, auf deren Grundlage Johann Arnold Ebert (1723–1795) eine deutsche Übersetzung verfasste, die erstmals 1748 im ersten und zweiten Stück der Sammlung vermischter Schriften von den Verfassern der Bremischen neuen Beyträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes abgedruckt wurde. In den 1760er Jahren erschienen zwei weitere Buchausgaben von Eberts deutscher Prosaübersetzung.330 Glover erweiterte 1770 sein Epos gemäß der klassizistischen Doktrin von neun auf zwölf Bücher. Diese fünfte Ausgabe des Leonidas wurde wiederum von Ebert übersetzt und 1778 in Hamburg publiziert. Das englische Epos erzählt vom ruhmreichen Kampf und Tod des spartanischen Königs Leonidas, der im Jahr 480 v. Chr. zusammen mit 300 spartanischen Kriegern und anfangs etwa 7.000 griechischen Bundesgenossen die Thermopylen gegen die Übermacht des persischen Heeres unter deren König Xerxes verteidigte. Der historische Spartanerkönig Leonidas steht ganz im Zentrum der epischen Handlung. Er verkörpert das Ideal eines Helden der Aufklärung: Leonidas ist tugendhaft und vernünftig, er offenbart seine Gefühle, vergießt ›empfindsame‹ Tränen, setzt sich für seine Freunde ein und opfert sich letztlich selbstlos für die Freiheit seines Vaterlandes. Eschenburg charakterisiert und kommentiert Glovers Epos in seinem Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften (1789) folgendermaßen: »Aus der alten griechischen Geschichte entlehnte Glover den Stof seines trefflichen Gedichts, Leonidas, den er auf die edelste und interessanteste Art bearbeitete, und wobei er sich, ohne Nachtheil, aller Hülfe des Wunderbaren begab.«331 Glover hatte antike Quellen (Herodot, Diodor) für seinen historischen Stoff verwendet und völlig auf den mythologischen Götterapparat verzichtet. Dadurch bekam er auch den Zuspruch Gottscheds. In der Leipziger Zeitschrift Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste findet sich bereits im Januar 1746 eine ausführliche Rezension der zweiten Auflage von Glovers Epos, die 1737 in Dublin erschienen war. Gottsched lobt darin zunächst den »sehr edle[n] Gegenstand«, der im Leonidas besungen werde, kritisiert allerdings, dass sich Glover keinen englischen, sondern einen griechischen Helden ausgesucht habe:

330 Leonidas[,] ein Heldengedicht in neun Büchern. Wegen seiner Vortrefflichkeit aus dem Englischen des Glovers ins Deutsche übersetzt von J. A. Ebert. Wien 1764. – R. Glovers Leonidas, Ein Heldengedicht. Aus dem Englischen übersetzt von J. A. Ebert. Der Eydsgenößischen Jugend zugeeignet von Hs. Heinrich Füeßli. Zürich 1766. 331 Eschenburg: Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften, S. 181.

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Homer und Virgil hatten sich inländische Helden auserlesen, die ihre Landsleute und Leser näher angiengen; und es ist kein Zweifel, daß auch Herr Glover mehr Beyfall und Ruhm erlanget haben würde, wenn er sich unter den brittischen Helden einen erwählt hätte, dessen Ehre seinem Volke und Vaterlande mehr zu Herzen gegangen wäre.332

Die »Kunst des Dichters« sei allerdings »so beschaffen«, wie sie bei einem Epiker in den »erleuchteten Zeiten« des eigenen Jahrhunderts der Aufklärung sein müsse.333 Glover singe von einer epischen »That«, die sich mit »keinen Abentheuern und seltsamen Wundergeschichten« ausschmücken lasse, denn da die Historienschreiber detailgenau darüber berichtet hätten, stehe es keinem Dichter frei, »viel dazu zu dichten; oder die Misgeburten seiner Einbildungskraft mit den Thorheiten des Wahns und Aberglaubens zu vermischen«.334 Diese Argumentation Gottscheds erinnert stark an diejenige, die der Leipziger Kritiker im ›Literaturstreit‹ mit den Schweizern stets in Bezug auf Milton anwendete. Glover ist für Gottsched offensichtlich das positive Beispiel eines englischen Dichters. In der Rezension im Neuen Büchersaal werden die neun Bücher des Leonidas inhaltlich zusammengefasst, so dass der Leser einen umfassenden Eindruck von der epischen Handlung gewinnen kann.335 Anschließend beurteilt Gottsched das englische Epos nach klassizistischen Maßstäben – als Quellen hierfür nennt er Aristoteles’ Poetik und Le Bossus Trait8 du po[me 8pique (1675). Der Leonidas Glovers wird mit Homers Odyssee und Vergils Aeneis verglichen, denn alle drei Dichter hätten als Titel ihrer Epen den Namen der jeweiligen heroischen Hauptfigur verwendet.336 Auch der Aufbau des Proömiums, der sich mit ›propositio‹ (Ankündigung des Themas) und ›invocatio‹ (Musenanrufung) am homerischen Muster orientiert, wird von Gottsched entsprechend gelobt: »Das Vorhaben des Poeten nebst der Anruffung sind im Eingange gleichfalls, nach dem Muster Homers in der Ilias und der Odyssee, ohne vieles Geprale, und ohne alle verstrickte Dunkelheit, entdecket.«337 Das Proömium des Leonidas wird im englischen Original nach der Ausgabe von 1737 zitiert, das folgendermaßen lautet: REHEARSE, O Muse, the deeds and glorious death Of that fam’d Spartan, who withstood the pow’r

332 [Rez.:] I. Leonidas, a Poem. The second Edition. Dublin 1737. […] Das ist Leonidas, ein Heldengedicht etc. In: Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste. [Hrsg. v. Johann Christoph Gottsched.] 2. Band. 1. Stück, im Januar 1746. Leipzig 1746. S. 3– 19, hier S. 4. 333 Ebd., S. 5. 334 Ebd. 335 Vgl. ebd., S. 5–15. 336 Vgl. ebd., S. 15f. 337 Ebd., S. 16.

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Of Xerxes, near Thermopylæ, and fell To save his country. […]338

Gottsched liefert sogleich eine deutsche Übersetzung in Prosa: »Erzähle, o Muse! Die Thaten und den rühmlichen Tod, des berufnen Spartaners, der der Macht des Xerxes, nahe bey Thermopyle, widerstanden hat, und sein Vaterland zu retten, gefallen ist.«339 Die epische Handlung des Leonidas findet beim Leipziger Kritiker ebenfalls Anklang, da sie sich an die normativen Regeln des Aristoteles hält: Die Handlung des Helden, die der Poet besingt, ist von gehöriger Größe, indem sie weder zu viel, noch zu wenig Zeit, sondern ungefähr zwey bis drey Monate in sich begreift, und also zwischen den Homerischen und Virgilischen das Mittel hält. Sie ist auch ganz: denn sie enthält den Anfang des ganzen griechischen Feldzuges, und alles was darauf gefolgt ist, bis die That des Leonidas, sein Leben für das Heil seines Vaterlandes zu lassen, vollendet ist. Hätte der Dichter bey den persischen Anstalten zum Kriege wider Europa angefangen, oder noch das ganze Ende des Krieges bis zur letzten Flucht des Xerxes erzählet: so wäre die Fabel zu lang geworden, und hätte keine einzige, sondern eine vielfache Handlung beschrieben.340

Die »That« des epischen Titelhelden sei ebenfalls »edel, und groß: weil sie zur Erhaltung Griechenlandes abzielte, freywillig unternommen, und völlig ausgeführt ward«.341 Leonidas’ Tod sei ihm »nicht schimpflich, sondern rühmlich«.342 Gottsched lobt auch die stimmige Charakterzeichnung im Epos: Die Charactere, sowohl des Leonidas, als der andern Helden, sind wohl gebildet, und glücklich beybehalten. Gleich aus den ersten Worten und Thaten des Leonidas sieht man, wie er sich künftig bezeigen wird. Die Ehrliebe, Großmuth und Liebe des Vaterlandes, leuchten überall bey ihm hervor. Xerxes wird auch so geschildert, wie ihn die Geschichte beschreibt: ja selbst Demaratus, und die Prinzeßinn Ariana haben solche Charactere, die einen jeden rühren, der ihre Geschichte liest.343

Zudem sei der englische Dichter in »Beschreibungen […] stark, in Gleichnissen reich und glücklich, in der Erzählung natürlich und ungekünstelt«.344 In der ›poetischen Schreibart‹ übertreffe Glover seinen epischen Vorgänger Milton. 338 Richard Glover: Leonidas: A poem. The second edition. Dublin 1737. S. 14. 339 [Rez.:] I. Leonidas, a Poem. The second Edition. Dublin 1737. […] Das ist Leonidas, ein Heldengedicht etc. In: Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste. 2. Band. 1. Stück, im Januar 1746. S. 3–19, hier S. 16. 340 Ebd. 341 Ebd., S. 16f. 342 Ebd., S. 17. Gottsched verweist auf den Spruch des Orakels von Delphi, der den Untergang Spartas prophezeite, sofern nicht ein König, der von Herkules abstammte, für sein Vaterland sterbe. (Vgl. 1. Buch des Leonidas.) 343 Ebd. 344 Ebd.

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Gottsched bemerkt hierzu: »Seine Ausdrückungen sind witzig, aber nicht so ausschweifend und regellos, als Miltons seine.«345 Auch hinsichtlich des rationalistischen Postulats der Wahrscheinlichkeit der epischen Darstellung kann sich Glover mit Milton messen. Gottscheds kritisches Urteil lautet: »Er [Glover ; I. G.] menget nicht seine neuere Belesenheit in alte Geschichte, oder das Christenthum ins Heidenthum, wie die Welschen insgemein thun: sondern erhält sich bey der Wahrscheinlichkeit der Zeiten, die er beschreibt, aufs genaueste.«346 Als unbedingtes Vorbild eines modernen epischen Dichters gilt Glover in Gottscheds Augen vor allem deshalb, weil er die poetische Kategorie des Wunderbaren richtig anzuwenden gewusst habe: Endlich hat er in dem Wunderbaren ein Maaß gehalten, welches billig allen neuern Dichtern, die Heldengedichte machen wollen, anzupreisen ist. Er hat die Fehler Homers und Virgils in diesem Stücke völlig vermieden, die zu viel Götter in die menschlichen Thaten gemenget, und zu viel andre unglaubliche Geschichte und Verwandlungen erzählet haben.347

Die »Begebenheit des Leonidas« stamme »nicht mehr aus dem mythologischen, sondern aus dem historischen Weltalter«, sei »also viel zu neu [gewesen], als daß man wider die Nachrichten des Herodotus und so vieler andern Scribenten, mit einiger Wahrscheinlichkeit solche Sachen hätte brauchen können«: »Nur der Orakelspruch, nur der Traum des Leonidas, nur der Tod der Ariana waren solche Stücke, die hier die Stelle des Wunderbaren, so wie es sich mit dem Wahrscheinlichen vereinigen läßt, vertreten konnten.«348 Gottsched verweist in seiner Rezension hier auf verschiedene Szenen im Leonidas, die gewissermaßen an die Stelle des mythologischen Götterapparats treten: Im ersten Buch verkündet der spartanische Krieger Agis der griechischen Ratsversammlung den Spruch des Orakels von Delphi, der letztlich den Tod des Herakliden Leonidas fordert. Der Spartanerkönig Leonidas berichtet am Anfang des achten Buches von einem Traum, der ihm den Sieg Griechenlands prophezeite. Der tragische Selbstmord der persischen Prinzessin Ariana wird im sechsten Buch erzählt.

345 Ebd. 346 Ebd. Gottsched erwähnte Glovers Leonidas neben Richard Blackmores King Arthur auch in seinem Versuch einer critischen Dichtkunst (3. Aufl. 1742) als Exempel englischer Heldengedichte und bemerkte hierzu kurz lobend: »Allein, je neuer die Zeiten werden, und jemehr die Vernunft aufgeklärt wird, desto reiner werden solche Werke von allen Fehlern wider die Wahrscheinlichkeit«. (Gottsched: AW VI 1, S. 272.) 347 [Rez.:] I. Leonidas, a Poem. The second Edition. Dublin 1737. […] Das ist Leonidas, ein Heldengedicht etc. In: Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste. 2. Band. 1. Stück, im Januar 1746. S. 3–19, hier S. 17f. 348 Ebd., S. 18.

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Gottsched erkennt im Leonidas folgenden für seine Poetik obligatorischen moralischen Lehrsatz, der der epischen »Fabel« zugrunde liegen soll: »pro Patria mori pulcrum; Es ist was edles, für sein Vaterland zu sterben.«349 Diese »Lehre« herrsche »vom Anfange bis zum Ende« im Epos und werde »nicht nur durch das Beyspiel des Leonidas, sondern aller dreyhundert Spartaner erwiesen«.350 Der Leipziger Kritiker ist sich sicher, dass sich Glover mit dem Leonidas bei den Engländern »die Unsterblichkeit erwerben [werde]; wenn diese nur erst von der miltonischen Bezauberung erwachen [würden]«.351 Wieland kritisierte Gottsched für dessen positive Einstellung gegenüber Glovers Epos und gleichzeitig für dessen Ablehnung von Miltons Paradise Lost. Der junge Dichter schreibt am 29. Februar 1752 in einem Brief an Johann Heinrich Schinz: Wie kommt es daß Gottsched den Leonidas lobt und den Milton So sehr tadelt? Ich finde in der That zwischen ihrer Denkungs u: Schreibart kaum einen andern Unterschied als den der von der Verschiedenheit u: Erhabenheit der Materie beym Milton entstehet und nothwendig ist. Denn es ist rasend zu verlangen Milton oder Klopstock sollen nicht erhabner und neuer schreiben als Virgil oder Glover.352

Wieland begeisterte sich als angehender Schüler Bodmers allerdings nicht nur für die Bibelepen Miltons und Klopstocks, die einen pathetisch-erhabenen Stoff verarbeiteten, sondern auch für das antikisierende Heldengedicht Glovers. In seiner pädagogischen Schrift Theorie und Geschichte der Red-Kunst und DichtKunst von 1757 wird Glover als »Erfinder einer neuen Art von Heldengedicht« gewürdigt, die »vielleicht keine Nachahmer finden [werde], obgleich sein Leonidas soviel Bewundrer als Leser [habe]«.353 Der Leonidas habe gezeigt, dass »ein Heldengedicht vortrefflich seyn und gefallen kann, wenn gleich alles darin nach dem gewöhnlichen Lauf der Sachen fortgeht, ohne daß der Poet göttliche Acteurs, gute oder böse Engel dazwischen kommen läßt«.354 Gerade durch das Fehlen eines mythologischen Götterapparates beweise dieses Epos, dass »der Character des Helden und die Handlung des Gedichts desto außerordentlicher und wunderbarer seyn müsse«.355 Ausführlich vergleicht Wieland den englischen Autor mit den antiken Vorläufern: 349 350 351 352

Ebd. Ebd. Ebd., S. 19. Brief von Wieland an Schinz, 29. Februar 1752. In: Wieland: BW I, Nr. 34, S. 42–45, hier S. 45, Z. 114–120. 353 Wieland: Theorie und Geschichte der Red-Kunst und Dicht-Kunst (1757). In: [Ders.:] Gesammelte Schriften. Erste Abteilung: Werke. 4. Bd.: Prosaische Jugendwerke, S. 303–420, hier S. 383. 354 Ebd. 355 Ebd., S. 383f.

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Glover hat keinen von den Fehlern Homers oder Virgils und vereiniget die vornehmsten Schönheiten von beyden. Er hat wie Homer vermittelst seiner fruchtbaren Erfindungskraft die Begebenheit von wenig Tagen in eine Reyhe großer und merkwürdiger Scenen auszuwickeln gewußt, ohne wie Virgil, größre und kleinere Episoden zur Erweiterung des Gedichts hineinzuziehen. Er verbindet mit einer ungemeinen simplicit8 des Plans die angenehmste Mannigfaltigkeit; er ist immer interessant und hat Mittel gefunden, sein Gedicht anmuthig zu machen, ob es gleich lauter Gemählde von Schlachten und Blutvergießen vorstellt, denen er aber mit besondrer Kunst das Rauhe und Abscheuliche, das sie an sich selbst haben, zu benehmen weiß. Er schildert wie Homer eine Menge großer Helden, die er sehr geschickt zu diversifiieren weiß, und meliert beständig die epische und dramatische Vorstellungs-Art. In der poetischen Mahlerey und in der Schreibart ist er ein Virgil.356

Glovers »größter Vorzug« aber sei es, dass er »die Alten nachahmte, ohne sie im mindesten zu copieren«: »Alles in seinem Gedicht, von den Characteren der Helden bis zu dem kleinsten Gleichniß, [sei] neu und von seiner eignen Erfindung.«357 Wieland misst den Leonidas einerseits an klassizistischen Regeln, rühmt aber andererseits auch dessen Innovationsfähigkeit. So finden sich in Glovers Heldengedicht klassische epische Elemente wie Musenanrufe, Gleichnisse, lange Reden, Kataloge – im ersten Buch (Auflistung der Krieger, die an Leonidas’ Seite kämpfen) und dritten Buch (Aufzählung der unterschiedlichen Völker, die zum persischen Heer des Xerxes gehören) –, detaillierte Beschreibungen – im dritten Buch (Streitwagen des Xerxes), im vierten Buch (Schild des Diomedon) und achten Buch (Leonidas’ Schild) – sowie die Nebenfigur eines Dichters und Sängers von Heldenliedern namens Dithyrambus. Originell ist die im fünften und sechsten Buch geschilderte tragische Liebesgeschichte des persischen Kriegers Teribazus und der persischen Prinzessin Ariana, der Schwester des Xerxes. Wieland weist darauf hin, dass Glover die griechische Nation in ihrer höchsten Blütezeit geschildert habe. Diese Darstellung der »schönste[n] Natur« sei von ihm »aufs glücklichste« ausgeführt worden und daher bekomme der Leonidas »einen ungemeinen Vorzug selbst vor der Ilias und Aeneis«.358 Als größten und wichtigsten Vorzug des englischen Epos sieht Wieland die Charakterdarstellung der ›edlen‹, tugendhaften spartanischen Helden an: Achilles ist gegen seinen Leonidas, was ein Barbar gegen einen Griechen ist, an welchem der Leib und die Seele zu der höchsten Vollkommenheit ausgebildet sind, welche die Natur erreichen kann. Alle seine Helden sind ihrer großen Seele, ihrer Tugend und Menschlichkeit wegen liebenswürdig. Sie werden von den edelsten und rechtschaffensten Gesinnungen beseelt. Das ganze Gedicht von Anfang bis zu End athmet 356 Ebd., S. 384. 357 Ebd. 358 Ebd.

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gleichsam Liebe zur Freyheit und zur Tugend, welche nicht ohne einander bestehen können, und ohne welche das menschliche Geschlecht nicht glücklich seyn kann.359

Im Kapitel Von den epischen Poeten (§ 16) in der Theorie und Geschichte der RedKunst und Dicht-Kunst wird Glovers Leonidas als letztes Beispiel eines modernen Heldengedichts angeführt, das aus dem eigenen 18. Jahrhundert stamme. Zugleich scheint es in Wielands Augen das seinerzeit beste Epos zu sein, da es einen moralischen Endzweck erfülle. So lautet auch das abschließende Urteil des jungen Kritikers folgendermaßen: Solchergestalt ist Leonidas das erste Heldengedicht, welches ohne Einmischung kindischer Fabeln, falscher Grundsätze und verführischer Beyspiele durch und durch die erhabenste und reinste Tugend anpreist und liebenswürdig macht und dadurch dem wahren Endzweck eines solchen Gedichts ein vollkommnes Genügen thut, nämlich den Menschen überhaupt in Exempeln und Handlungen die practische Tugend in ihrer wahren Gestalt und Schönheit vorzumahlen, die Sittenlehre mit allen Reizungen, welche die Poesie von der ganzen Natur entlehnt, auszuschmücken und die Gemüther mit guten Maximen und Empfindungen anzufüllen.360

Einzig Glover habe die Poesie so anzuwenden gewusst, dass sie »den Namen einer göttlichen Kunst« verdiene.361 Dies sei für den englischen Epiker »ein unsterblicher Ruhm«, den er bisher noch mit niemandem teile, »in dem gleichen Werk einer der größten Poeten und der besten Sittenlehrer zu seyn«.362 Johann Arnold Ebert bemerkt 1748 in dem Vorbericht zu seiner deutschen Übersetzung des englischen Epos, dass der Leonidas »durch seinen innerlichen Werth unsre größte Hochachtung« fordere und »unter den Heldengedichten, die nach dem Homer und Virgil geschrieben sind, vielleicht den ersten Platz verdien[e]«.363 Begeistert stellt Ebert folgende den englischen Autor Glover betreffende rhetorische Fragen: Wie groß findet oder schafft er nicht seinen Helden? Und wie groß zeigt er dadurch sich selbst nicht? Leonidas thut bey ihm alles, was in den meisten Heldengedichten die unentbehrlichen Götter thun müssen. Braucht er wohl eine Gottheit zum Beystande herzurufen, da er aus einem Menschen fast einen Gott zu bilden weiß? Welchen Reichthum heroischer Thaten und edler Empfindungen entdeckt er nicht in dieser kleinen Geschichte?364 359 360 361 362 363

Ebd. Ebd., S. 384f. Ebd., S. 385. Ebd. [Richard Glover:] Leonidas. Ein Heldengedicht. Aus dem Englischen übersetzt [von Johann Arnold Ebert]. In: Sammlung vermischter Schriften von den Verfassern der Bremischen neuen Beyträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes. [1. Bd.] Erstes und zweytes Stück. Leipzig 1748. S. 1–184, hier Vorbericht des Uebersetzers, unpag. 364 Ebd., Vorbericht des Uebersetzers, unpag.

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Epische Musterautoren und deren Bedeutung im 18. Jahrhundert

In Eberts Argumentation wird folglich dem Titelhelden Leonidas eine quasi göttliche Natur zugesprochen. Auch die Person des Dichters erfährt eine enorme Aufwertung: Man sehe überall im epischen Gedicht, dass Glovers »eigne erhabne Seele seine Muse« gewesen sein müsse.365 Im Kreis der Freunde und Bewunderer Klopstocks wurde demzufolge das englische Epos ebenfalls sehr geschätzt. Georg Friedrich Meier beispielsweise sieht in Glovers Leonidas ein Exempel der idealen Rezeption eines Autors und seines literarischen Werkes im eigenen Land. Er schreibt in seiner Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias (1749; 2. Aufl. 1752), dass eine »Anpreisung« von Klopstocks Bibelepos »eine ungemein überflüßige Sache« sein würde, wenn »die Deutschen überhaupt so beschaffen wären, wie die Engelländer«: Als HErr Glower seinen Leonidas im Jahr 1737 heraus gab, so ward er so häufig gekauft und gelesen, daß schon 1739 die vierte Auflage muste besorgt werden. Alle Journalisten priesen denselben ihren Landesleuten an, und der Leonidas ward überall bekannt. Ich zweifle mit Grunde, ob man eben gar zu balde die vierte Auflage des Meßias wird besorgen müssen, und es ist in der That für die Deutschen eine Schande, daß dieses Gedicht noch nicht bekannter ist.366

Während also die mediale Aufmerksamkeit für Glovers Leonidas in England optimal war, fanden die ersten drei Gesänge des Messias (1748 erschienen) in Deutschland kaum Beachtung. Meier bemerkt, dass es ihn sehr befremde, dass er »noch in keiner deutschen Zeitung und in keinem deutschen Journale, die [ihm] zu Gesichte gekommen [seien], eine Anpreisung dieses Gedichts gefunden habe«.367 Er wirft den »Herrn Verfasser[n] der gelehrten Zeitungen und der Monatschriften« vor, dass sie sich nicht genug anstrengen würden, »den Meßias in Deutschland bekannter zu machen«.368 Das Heldengedicht des englischen Kaufmanns und Dichters Richard Glover wurde jedoch im 18. Jahrhundert immer wieder aufs Neue aufgelegt und war offensichtlich sehr erfolgreich. Ein jeder Dichter, der es im 18. Jahrhundert wagen wollte, ein deutsches Nationalepos zu verfassen, hoffte natürlich auch, sich unter die unsterblichen Epiker Homer, Vergil, Dante, Tasso, Milton und Glover einzureihen. Es stellt sich nun folgende Frage für die weitere Untersuchung: Welchen Einfluss hatte die dichtungstheoretische und literaturkritische Diskussion, die sich intensiv mit den antiken, italienischen und englischen Epen befasste, auf Klopstock?

365 Ebd. 366 Georg Friedrich Meier : Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias. Erstes Stück. 2. Aufl. Halle 1752. S. 4. 367 Ebd., S. 5. 368 Ebd.

3.

Klopstocks ›Programmschrift‹ über die Gattung Epos: Die Declamatio, qua poetas epopoeiae auctores (»Schulpfortaer Abschiedsrede«)

Klopstock hatte nach bestandener Aufnahmeprüfung als 15-Jähriger im November 1739 eine Freistelle an der fürstlichen Landesschule Pforta im sächsischen Naumburg an der Saale erhalten. Schulpforta, eine 1543 in einem ehemaligen Zisterzienserkloster gegründete protestantische Bildungseinrichtung, galt »als eine der angesehensten Schulen in Norddeutschland«.1 Die fürstliche Landesschule war »den Idealen des Renaissancehumanismus verpflichtet« und reihte sich damit »in das Bildungsstreben ein, bei dem die Quellen der griechisch-römischen Antike mit dem Protestantismus verschmolzen«.2 Die Unterrichts- und Umgangssprache im Internat war Latein. Das Leben und Lernen der Alumnen vollzog sich »in klösterlicher Abgeschiedenheit«.3 Der Tagesablauf, der um fünf Uhr morgens begann und um sieben Uhr abends endete, war einerseits mit schulischer Pflichtlektüre streng geregelt und andererseits mit interessengebundenem, selbstständig privatem Lesen gefüllt. Die Schüler erhielten Unterricht in lateinischer und griechischer Grammatik, Dialektik und Rhetorik sowie in Bibelexegese. Sie lasen die Werke der klassisch-antiken Autoren wie Homer, Horaz, Vergil oder Ovid im Original und studierten die Bibel sowohl im griechischen und lateinischen Original als auch in der deutschen Übersetzung Luthers. Die Schüler waren zudem durchgehend beschäftigt mit Repetitionen, Gebeten und Gottesdiensten. Werke deutscher Dichter wurden im Unterricht nicht behandelt oder gelesen und außer etwas Französisch wurden 1 Katrin Kohl: Friedrich Gottlieb Klopstock. Stuttgart / Weimar 2000. (Sammlung Metzler ; 325.) S. 26. Vgl. zu Klopstocks Schulzeit: Ebd., S. 26–28. – Klaus Hurlebusch: Friedrich Gottlieb Klopstock. Mit einem Vorwort von Helmut Schmidt. Hamburg 2003. (Hamburger Köpfe. Hrsg. v. der ZEIT-Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius.) S. 23–26 (Kap.: Schüler in »SchulPforte« (1739–1745)). 2 Gerhard Arnhardt / Gerd-Bodo Reinert: Die Fürsten- und Landesschulen Meißen, Schulpforte und Grimma. Lebensweise und Unterricht über Jahrhunderte. Weinheim / Basel 2002. (Schriftenreihe des Weltbundes für Erneuerung der Erziehung. Internationale Pädagogik – Reformpädagogik; 5.) S. 45. Vgl. hierzu: Ebd., S. 70–72 (Kap.: Friedrich Gottlieb Klopstock in Schulpforte). 3 Kohl: Friedrich Gottlieb Klopstock, S. 26.

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Klopstocks ›Programmschrift‹ über die Gattung Epos

keine Fremdsprachen gelehrt, wie etwa Englisch oder Italienisch. Klopstock lernte unzählige Verse der klassischen Musterautoren auswendig und verfasste eigene Gedichte, die die unmittelbaren Vorbilder nachahmen sollten. Die Textproduktion im Unterrichtsverfahren erfolgte auch noch im frühen 18. Jahrhundert in drei Schritten: 1. ›praecepta‹, 2. ›exempla‹ und 3. ›imitatio‹. Durch Befolgung der in den Lehrbüchern enthaltenen poetologischen Regeln (›praecepta‹) und der normativen Gattungstheorie überhaupt (›doctrina‹) sowie durch intensive Lektüre der als vorbildlich eingestuften Musterbeispiele bzw. -texte der kanonischen Autoren (›exempla‹) ist es das Ziel des frühneuzeitlichen Unterrichts, in der Nachahmung (›imitatio‹) dieser klassischen Vorbilder eigene Texte zu verfassen.4 Der 21-jährige Klopstock bekennt am 6. September 1745 in einem lateinischen Danksagungsbrief an den Rat der Stadt Naumburg, der ihm auf Gesuch seines Vaters Gottlieb Heinrich Klopstock vom 9. September 1739 die Freistelle bewilligt hatte, dass er in Schulpforta »fast sechs Jahre lang humanistische Studien erfolgreich betrieben habe« (»per sex fere annos, studia humanitatis feliciter tractavi«).5 Anlässlich seines Austritts aus der fürstlichen Landesschule hielt er am 21. September 1745 eine lateinische Abschiedsrede, die Declamatio, qua poetas epopoeiae auctores recenset Frideric.[us] Gottlieb. Klopstockius scholae valedicturus.6 Diese »Rede über die epischen Dichter«, die erstmals im 4 Vgl. hierzu: Joachim Dyck: Ticht-Kunst. Deutsche Barockpoetik und rhetorische Tradition. Mit einer Bibliographie zur Forschung 1966–1986. 3., ergänzte Aufl. Tübingen 1991. (Rhetorik-Forschungen; 2.) S. 9. – Rüdiger Zymner (Hrsg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart / Weimar 2010. S. 59. 5 Brief von Klopstock an den Rat der Stadt Naumburg, 6. September 1745. In: HKA, Briefe XI, Nr. I 1 a, S. 7 (Latein), S. 99f. (deutsche Übersetzung), hier S. 99 und S. 7, Z. 7f. Vgl. zum ›geistigen Horizont‹ Klopstocks: Kevin Hilliard: Philosophy, Letters, and the Fine Arts in Klopstock’s Thought. London 1987. (Bithell Series of Dissertations; 12.) S. 19–38. 6 Vgl. zur Declamatio Klopstocks insbesondere folgende Forschungsliteratur : Franz Muncker : Friedrich Gottlieb Klopstock. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. Stuttgart 1888. S. 38–42. – Franz Muncker : Über einige Vorbilder für Klopstocks Dichtungen. München 1908. (Sitzungsberichte der Königlich Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophischphilologische und historische Klasse. Jahrgang 1908; 6. Abhandlung.) S. 3–33. – Max Freivogel: Klopstock der heilige Dichter. Bern 1954. (Basler Studien zur deutschen Sprache und Literatur; 15.) S. 7–21.– Wilhelm Große: Studien zu Klopstocks Poetik. München 1977. S. 80– 92 (Kap. 5.1: Konzeption: Abschiedsrede zu Schulpforta – Der Dichter als Prophet). – Dieter Martin: Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert. Studien und kommentierte Gattungsbibliographie. Berlin / New York 1993. (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker ; N. F. 103.) S. 85–94. – Joachim Jacob: Heilige Poesie. Zu einem literarischen Modell bei Pyra, Klopstock und Wieland. Tübingen 1997. (Studien zur deutschen Literatur; 144.) S. 112–125. – Bernd Auerochs: Die Unsterblichkeit der Dichtung. Ein Problem der »heiligen Poesie« des 18. Jahrhunderts. In: Begründungen und Funktionen des Kanons. Beiträge aus der Literatur- und Kunstwissenschaft, Philosophie und Theologie. Hrsg. v. Gerhard R. Kaiser und Stefan Matuschek. Heidelberg 2001. (Jenaer germanistische Forschungen; N. F. 9.) S. 69–87. – Bernd Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion. Göt-

Klopstocks ›Programmschrift‹ über die Gattung Epos

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Jahre 1780 von Carl Friedrich Cramer sowohl in deutscher Übersetzung als auch im lateinischen Originalwortlaut veröffentlicht wurde, kann definitiv als ›Programmschrift‹ Klopstocks über die Gattung Epos angesehen werden. Es zeigt sich darin dezidiert der Einfluss der zeitgenössischen Dichtungstheorie – vor allem der Schweizer Bodmer und Breitinger. Zudem hatte der Portenser Schüler offensichtlich das antike Traktat Vom Erhabenen des [Pseudo-]Longinus eifrig studiert.7 Höchstwahrscheinlich kannte Klopstock die zweisprachige Ausgabe von Carl Heinrich Heineken (1706–1791), die 1738 und 1742 erschienen war.8 Klopstock bezeichnet in seiner Declamatio zunächst die Dichtkunst als »die vornemste und erste Nachahmerin der Natur [praecipua ac princeps naturae imitatrix]«.9 Er verbleibt allerdings nicht bei dem auch in der ›doctrine classique‹ tradierten aristotelischen Prinzip der Naturnachahmung, sondern er stellt tingen 2006. (Palaestra. Untersuchungen aus der deutschen und skandinavischen Philologie; 323.) S. 126–131. 7 Karl Vi[tor bemerkt, dass diese »Abiturientenrede« Klopstocks »im Grunde nur einen einzigen Begriff [habe], mit dem die bisherige hohe Dichtung bewertet, und durch den das Bild der kommenden, noch größeren Poesie bestimmt wird: den des Erhabenen«. (Karl Vi[tor : Die Idee des Erhabenen in der deutschen Literatur. In: [Ders.:] Geist und Form. Aufsätze zur deutschen Literaturgeschichte. Bern 1952. S. 234–266, S. 346–357, hier S. 248.) Vgl. hierzu: Martin Fritz: Vom Erhabenen. Der Traktat ›Peri Hypsous‹ und seine ästhetisch-religiöse Renaissance im 18. Jahrhundert. Tübingen 2011. (Beiträge zur historischen Theologie; 160.) S. 465–481 (Kap. 5.1: Die Rede über die epische Poesie). Martin Fritz setzt sich mit dem Erhabenheitsbegriff Klopstocks auseinander und betont insbesondere dessen religiöse Dimension. 8 Es handelt sich um folgende zweisprachige Ausgabe: Dionysius Longin: Vom Erhabenen. Griechisch und Teutsch [von Carl Heinrich Heineken]. Nebst dessen Leben, einer Nachricht von seinen Schrifften, einer Untersuchung was Longin durch das Erhabene verstehe, und einer neuen Vorrede von einem Ungenannten [d. i. Christian Ludwig Liscow]. Dresden 1742. (Vgl. HKA, Briefe I, S. 232.) Die erste Ausgabe von Heineken erschien ohne Liscows Vorrede im Jahre 1738 in Leipzig und Hamburg. (Vgl. HKA, Briefe I, S. 283.) In Klopstocks nachgelassener Bibliothek befand sich zudem ein Exemplar des antiken Traktats Vom Erhabenen. (Vgl. Gerhard Kaiser : Klopstock. Religion und Dichtung. Gütersloh 1963. (Studien zu Religion, Geschichte und Geisteswissenschaft; 1.) S. 135f., Anm. 14.) Dass Klopstocks Kenntnis des antiken Traktats aus intensivem Selbststudium resultierte, also die entsprechenden einflussreichen Inhalte Vom Erhabenen ihm nicht nur über die kritischen Schriften der Schweizer Bodmer und Breitinger vermittelt worden waren, beweist auch ein Brief Klopstocks an seinen Hallenser Verleger Carl Hermann Hemmerde vom September 1749. Der Messias-Dichter erteilt diesem darin folgende Anweisung für den Druck seines Epos: »Machen Sie den Oct so groß, als die deutsche Übersezung des Longins vom Erhabnen ist […]«. (Brief von Klopstock an Hemmerde, 30. September 1749. In: HKA, Briefe I, Nr. 37, S. 61f., hier S. 61, Z. 15f.) 9 Friedrich Gottlieb Klopstock: Declamatio, qua poetas epopoeiae auctores recenset Frideric.[us] Gottlieb. Klopstockius scholae valedicturus. [Schulpfortaer Abschiedsrede 1745]. In: Carl Friedrich Cramer: Klopstock. Er ; und über ihn. Erster Theil. 1724–1747. Hamburg 1780. S. 54–98 [dt.], S. 99–132 [lat.], hier S. 55/99f. Die erste Seitenzahl bezieht sich im Folgenden auf Cramers deutsche Übersetzung, die zweite auf den lateinischen Originalwortlaut Klopstocks.

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Klopstocks ›Programmschrift‹ über die Gattung Epos

sogleich die Poesie mit ihrer entsprechenden schöpferischen Kraft über alle anderen Künste: aber die Dichtkunst, die als Königin aller der übrigen Künste einhertrit, und in neuer Ordnung so die Sachen zusammen sezt, daß sie, überal nach der natürlichen Schönheit und höchsten Volkommenheit strebend, den Namen der Schaffenden zu verdienen scheint. sed illa poesis, quae tanquam ceterarum omnium artium regina incedit, novoque res ordine ita componit, ut, pulcritudinis ubique naturalis ac perfectionis summae studiosa, creatricis nomine, insignienda esse videatur.10

Hierin zeigt sich deutlich der Einfluss der Dichtungstheorie der Schweizer. Breitinger betont in ihrem poetologischen Hauptwerk, der Critischen Dichtkunst (1740), dass die Poesie »in einer geschickten Nachahmung der Natur« bestehe, d. h., die Natur sei »die weise Lehrmeisterin«, die den Poeten »eine unzählbare Menge der vortrefflichsten Urbilder zur Bewunderung und Nachahmung« vorlege.11 Der »poetischen Mahler-Kunst« sei es möglich, »alles, was mit Worten und Figuren der Rede auf eine sinnliche, fühlbare und nachdrückliche Weise kan nachgeahmet und der Phantasie, als dem Auge der Seele, eingepräget werden, nach dem Leben und der Natur abzuschildern«.12 Die Dichtkunst übertreffe alle anderen Künste, »da ihr die gantze Natur in ihrem weiten Umkreise zum Muster der Nachahmung dienen« müsse.13 In Anspielung auf Gottfried Wilhelm Leibniz’ Theodizee (1710) wird auf den Schöpfergott und sein Werk verwiesen: Die Natur, oder vielmehr der Schöpfer, der in derselben und durch dieselbe würcket, hat unter allen möglichen Welt-Gebäuden das gegenwärtige erwehlet, daß er es in den Stand der Würcklichkeit überbrächte; weil er es nach seiner unbetrüglichen Einsicht vor das beste unter allen, und vor dasjenige befand, das vor seine Absichten am bequemsten war.14

In dieser Argumentation Breitingers wird der philosophischen Wirkungspoetik der Schweizer das religiöse Moment eingeschrieben. Leibniz hatte betont, »daß, wenn es keine beste (optimum) unter allen möglichen Welten gäbe, Gott gar keine geschaffen haben würde« (»que s’il n’y avait pas le meilleur (optimum) parmi tous les mondes possibles, Dieu n’en aurait produit aucun«).15 In der 10 11 12 13 14 15

Ebd., S. 55/100. Breitinger : CD I, S. 53. Ebd. Ebd. Ebd., S. 54. Gottfried Wilhelm Leibniz: Philosophische Schriften. Band II. Erste Hälfte: Essais de Th8odic8e sur la bont8 de Dieu, la libert8 de l’homme et l’origine du mal. Pr8face, discours, premiHre et seconde partie. / Die Theodizee von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels. Vorwort, Abhandlung, erster und zweiter Teil. Hrsg. und übersetzt von Herbert Herring. Darmstadt 1985. S. 218f.

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Critischen Dichtkunst teilen die Züricher Dichtungstheoretiker die Welt in eine »sichtbare« und eine »unsichtbare« ein.16 Zur »sichtbare[n] und materialische[n] Welt« zählt Breitinger alle Cörper, die Elemente, die Sternen, den Menschen in Ansehung seiner äusserlichen Würckungen, die Thiere, die Pflanzen, die Edelsteine, und so fort, ferner alles, was die Kunst auf so verschiedene Weise nachahmet, und zum Schutz, zur Zierde und Bequemlichkeit des menschlichen Lebens erfindet; mit einem Worte alles, was der Prüffung der Sinnen unterworffen ist.17

Die »unsichtbare Welt« hingegen fasse »in ihrem Inbegriffe Gott, die Engel, die Seelen der Menschen; ihre Gedancken, Meinungen, Zuneigungen, Handlungen, Tugenden, Kräfte«.18 Die Legitimationsinstanz für diese unsichtbaren Wesen ist nicht die sinnliche Erfahrung, sondern das religiöse Gewissen und die »göttliche[.] Offenbarung«.19 Breitinger betont, dass »das eigene und Haupt-Werck der Poesie« die »Nachahmung der Natur in dem Möglichen« sei.20 Dies erst unterscheide den Poeten von dem Historiker. Durch diese Ausdehnung des Prinzips der Naturnachahmung wird auch der ›Spielraum‹ der dichterischen Phantasie erweitert. Breitinger geht von anderen ›möglichen Welten‹ mit ihren jeweiligen Bewohnern aus, deren wahrscheinliche Existenz »in der allesvermögenden Kraft des Schöpfers der Natur gegründet [sei]«:21 Alleine da dieser Zusammenhang der würcklichen Dinge, den wir die gegenwärtige Welt nennen, nicht lediglich nothwendig ist, und unendlich vielemahl könnte verändert werden, so müssen ausser derselben noch unzehlbar viele Welten möglich seyn, in welchen ein anderer Zusammenhang und Verknüpfung der Dinge, andere Gesetze der Natur und Bewegung, mehr oder weniger Vollkommenheit in absonderlichen Stücken, ja gar Geschöpfe und Wesen von einer gantz neuen und besondern Art Platz haben.22

Dichten sei nichts anderes, »als sich in der Phantasie neue Begriffe und Vorstellungen formieren, deren Originale nicht in der gegenwärtigen Welt der würcklichen Dinge, sondern in irgend einem andern möglichen Welt-Gebäude zu suchen sind«.23 Ein »jedes wohlerfundenes Gedicht« sei demnach »als eine Historie aus einer andern möglichen Welt« anzusehen.24 Dem Verfasser derartiger literarischer Werke wird letztlich eine dem christlichen Gott analoge Schöpferkraft zugeschrieben: 16 17 18 19 20 21 22 23 24

Breitinger : CD I, S. 54. Ebd., S. 54f. Ebd., S. 55. Ebd. Ebd., S. 57. Ebd., S. 56f. Ebd., S. 56. Ebd., S. 60. Ebd.

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Und in dieser Absicht kömmt auch dem Dichter alleine der Nahme Poigtou˜ , eines Schöpfers, zu, weil er nicht alleine durch seine Kunst unsichtbaren Dingen sichtbare Leiber mittheilet, sondern auch die Dinge, die nicht für die Sinnen sind, gleichsam erschaffet, das ist, aus dem Stande der Möglichkeit in den Stand der Würcklichkeit hinüberbringet, und ihnen also den Schein und den Nahmen des Würcklichen mittheilet.25

Klopstock greift folglich die Argumentation der Schweizer auf, wenn er die Dichtkunst als »Nachahmerin der Natur« über alle anderen Künste erhebt und sie gleichsam als ›natura naturans‹, also als schaffende Natur ansieht. Die Poesie gilt Klopstock als das bedeutendste Zeugnis der »Größe und Erhabenheit des menschlichen Geistes [amplitudinem […] et sublimitatem, humano ingenio]«.26 Klopstock macht im ›exordium‹ seiner Rede deutlich, dass er nicht von der »gewöhnliche[n] und niedrige[n] [vulgarem […] atque humilem]« Dichtkunst sprechen wolle27, sondern von jener, deren Umfang sich dann nur wird festsetzen lassen, wenn der Mensch auf dem weiten Schauplaze der Wesen Gränzen findet, und die, (was ihren größten und ewigen Ruhm ausmacht,) von Gott selbst den ungeweihten Augen des Pöbels entzogen, und für so hohen Ort ist ausgesondert worden, daß er sie werth gehalten hat, sich und seine den Menschen vorher unerkante, Majestät, durch sie zu offenbaren. quae terminis circumscribi tunc poterit, si in vastissimo rerum creatarum theatro finem ullum mortalis homo invenerit; quae tandem, qui maximus ejus est atque aeternus honor, ab ipso Deo ita profanis vulgi oculis est subducta, et tam sublimi consecrata loco, ut dignam eam, qua se suamque majestatem, hominibus antea incognitam, magna ex parte revelaret, arbitratus fuerit.28

Die Poesie sei »höher als die übrigen Künste [ceteris artibus sublimior]«.29 Man könne ihr »die Ehre einer gewissen Göttlichkeit [divinitatis […] cujusdam honorem]« zuschreiben: Denn sie besteigt nicht aus eigner Kühnheit oder Verwegenheit diesen bewundernswürdigen Gipfel des Ruhms, man sieht sie nicht blos durch die Verehrung der Menschen auf diese Höhe gestelt, sondern Gott selbst hat sie so geehrt, daß er sie mit diesem herlichen und göttlichen Lichte hat umgeben wollen. Non enim sua ipsius audacia aut temeritate admirandum hoc gloriae culmen conscendit; nec veneratione tantum hominum hoc in fastigio collocata cernitur : sed Deus ipse ita poesin honoravit, ut ponere illam hac in divina luce atque illustri voluerit.30 25 26 27 28 29 30

Ebd. Klopstock: Declamatio, S. 54/99. Ebd., S. 56/100. Ebd. Ebd. Ebd.

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Gott selbst wird demnach zur Legitimationsinstanz der Poesie erklärt, denn dieser habe sie oftmals […] jenen göttlichen Propheten eingegeben [divinis illis vatibus inspiravit], denen er das schwere und hohe Geschäft [arduum ac sublime negotium] anvertraut hatte, den Schleyer wegzuziehn, und ihn und die anbetungswürdigen Geheimnisse der Religion [adoranda religionis mysteria] den Menschen zu zeigen.31

Die Repräsentanten der ›göttlichen Dichtkunst‹ sind folglich die gottbegeisterten bzw. inspirierten Dichter und damit die Verfasser der Heiligen Schrift: Darum haben die meisten und vornemsten unter den Männern, die vol vom heiligen Geiste, Gott und seine einzige Religion dem menschlichen Geschlechte zu sehen und zu erkennen gaben, es unter der Anführung und Begleitung der Dichtkunst gethan, und die himlischen Wahrheiten mit so großer Schönheit unter ihren Hüllen und Erfindungen dargestellt, daß sie, so bekleidet und geschmückt, für die Menschen ganz liebenswürdig, und völlig wünschenswerth wurden. Plures igitur et praecipui inter illos viri, qui Deum et unam ejus religionem divinitus humano generi videndam cognoscendamque, pleni spiritus sancti numine, dederunt, poesi id duce et comite fecerunt, ac caeleste verum, tam ingenti cum pulcritudine, ejus sub involucris atque inventionibus proposuerunt, ut, convestitum ita ornatumque, amabile prorsus hominibus atque exoptandum magnopere redderetur.32

Diese Argumentation Klopstocks verweist auf den Topos von Poesie als »verborgener Theologie«.33 Die Wahrheiten der christlichen Offenbarungsreligion wurden mittels rhetorischer und poetischer Mittel ›eingekleidet‹ und konnten erst dadurch bei den Rezipienten die intendierten Wirkungen hervorbringen. Der junge Dichter betrachtet das »himlische Buch der Gottheit [caelestem divini numinis librum], nicht allein als die ewige Quelle unsers Heils«, sondern er bewundert es auch »als das volkommenste Muster des erhabnen und wahrhaftig göttlichen Ausdrucks [perfectissimum etiam stili sublimis vereque divini exemplar]«.34 Dies bemerkt er »vor allem, in den dichterischen Theilen desselben« und in der »hohe[n] Sprache und […] Pracht, die sich mit heiliger Kühnheit bis zu Gott selbst emporschwingt«.35 Als poetische Bücher der Bibel 31 Ebd., S. 56f./101. 32 Ebd., S. 57/101. 33 Im Buch von der Deutschen Poeterey (1624) von Opitz heißt es beispielsweise: »DIe Poeterey ist anfanges nichts anders gewesen als eine verborgene Theologie / vnd vnterricht von Göttlichen sachen.« (Martin Opitz: Buch von der Deutschen Poeterey (1624). Studienausgabe. Mit dem Aristarch (1617) und den Opitzschen Vorreden zu seinen Teutschen Poemata (1624 und 1625) sowie der Vorrede zu seiner Übersetzung der Trojanerinnen (1625). Hrsg. v. Herbert Jaumann. [Nachdr.] Stuttgart 2006. S. 14.) Vgl. Große: Studien zu Klopstocks Poetik, S. 83. 34 Klopstock: Declamatio, S. 57/101. 35 Ebd.

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galten beispielsweise schon bei den Kirchenvätern das Hohelied, das Buch Hiob und die Psalmen. Als Beispiele der »göttlichen Propheten [divinis […] vatibus]«36 zählt Klopstock Moses37, Hiob38, David39, Salomo40 und Jesus Christus41 auf: Moses bezeichnet er als »himmelvollen Man [virum caelestissimum]«42, der »die Wohlthaten seines Gottes, in jenem heiligen und feuervolsten Gesange [Deique sui benefacta sacro hymno ignisque divini plenissimo]« erzählt habe43. Hiob stelle seinen Lesern »tausend Wunder und die ehrwürdige Reihe großer Dinge [mille miracula, augustamque rerum stupendarum seriem]« vor Augen.44 David singe »[g]leich einem jungen Genius des Himmels […] mit göttlicher Kühnheit [ut juvenis caeli genius, Deique plenus audacia]«.45 Er erblicke »den unzugänglichen Schauplatz der künftigen Jahrhunderte verklärt in hellem Lichte [inaccessumque aliis futurorum saeculorum theatrum multo illustre die contuetur]«.46 Salomo habe »die Liebe Gottes [Dei amorem]« »in seiner heiligen Ekloge [in sacra sua ecloga]« gefeiert.47 Neben diesen vier Dichtern des Alten Testaments nennt Klopstock noch den Protagonisten des Neuen Testaments, Jesus Christus: Denn der Erneurer der ewigen Seligkeit, der Sohn Gottes selbst, hat sie [die Dichtkunst; I. G.] für so fähig geschätzt, das Volk in der himlischen Lehre zu unterrichten, daß er fast alle Vorschriften zum ewigen Leben, die von seinem göttlichen Munde flossen, in weise Gleichnisse einhülte. Aeternae scilicet restaurator salutis, ipse Dei filius, tam pulcram, ad erudiendum in caelesti doctrina populum, poesin esse existimavit, ut omnes fere, quae sacro illius ab ore profluxerunt futurae vitae praeceptiones, sapientibus fabulis involutae ab ipso fuerint.48

Nach dieser Aufzählung der fünf ›göttlichen Dichter‹ bzw. Verfasser der biblischen Bücher wird in einer Apostrophe die von Klopstock propagierte »geheiligte Dichtkunst [sancta poesis]« angesprochen:

36 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48

Ebd., S. 56/101. Vgl. ebd., S. 57f./102. Vgl. ebd., S. 58/102f. Vgl. ebd., S. 58f./103. Vgl. ebd., S. 59/103. Vgl. ebd., S. 60/104. Ebd., S. 57/102. Ebd., S. 58/102. Ebd. Ebd., S. 58f./103. Ebd., S. 59/103. Ebd. Ebd., S. 60/104.

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Hier hast du denn, geheiligte Dichtkunst, einen Grund, auf dem du fussend, mit ewigem Glanze der Grösse und Herlichkeit stralen, und über die Verachtung nidriger und thörichter Menschen triumphiren kanst. Habes igitur, o sancta poesis, cujus ope, magnitudinis gloriaeque perenni splendore, radiare, et, de contemtu humilium insipientiumque hominum, triumphare queas.49

Klopstock kannte sicherlich Pyras Tempel der wahren Dichtkunst (1737), in dem die Allegorie der »heilge[n] Poesie« (1. Gesang, V. 81)50 auftritt, die den Dichter auf »die hohe Bahn j Der wahren Dichtkunst« (1. Gesang, V. 95f.)51 führt. So versichert der Portenser Schüler auch in seiner Declamatio, dass er diejenigen »Dichter [poetae]« verehre, »die eine so hohe Kunst würdig ausübten [qui artem tam sublimem excoluerunt digne]«:52 Ich habe sie stets, wegen der Vortreflichkeit und beynahe Göttlichkeit ihrer Kunst von ganzem Herzen unter den Menschen schätzen zu müssen geglaubt. Hos scilicet, ob artis suae excellentiam et paene divinitatem, dignos semper sum arbitratus, quos magno inter homines studio colerem et venerarer.53

Allerdings gebe es nur sehr wenige, die er zu den »wahren Dichtern [veri nominis poetis]« zähle.54 Klopstock wendet sich daraufhin direkt an die Zuhörer seiner Declamatio und verkündet das eigentliche Thema seiner Valediktionsrede: Denn ich will heute, immer von einem edlen Verlangen nach Volkommenheit entflamt, zum Lobe der ersten unter den Dichtern reden, die mit ihres Namens Unsterblichkeit nach sich alle Folgezeiten erfülten. Und das sind die, welche Heldengedichte gesungen haben. Animus nempe meus, nobili perfectionis desiderio incensus inflammatusque semper, principes poetas, qui nominis sui immortalitate omne post sese aevum compleverunt, oratione celebrandos sibi sumsit. Ii vero ipsi sunt poetae epopoeiae scriptores.55

Aus der bisherigen Argumentation Klopstocks ergibt sich, dass die biblischen Dichter eine himmlische Unsterblichkeit in der Lobpreisung der Majestät Gottes erlangt haben, die epischen Dichter jedoch haben mit ihren vollkommenen

49 Ebd. 50 Immanuel Jakob Pyra: Der Tempel der Wahren Dichtkunst. In: Immanuel Jakob Pyra / Samuel Gotthold Lange: Freundschaftliche Lieder. Heilbronn 1885. (Deutsche Litteraturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts; 22.) S. 83–119, hier S. 86. 51 Ebd. 52 Klopstock: Declamatio, S. 60/104. 53 Ebd. 54 Ebd. 55 Ebd., S. 61/105.

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Werken und ihrem dichterischen Ehrgeiz ebenfalls eine – wenn auch nur irdische bzw. weltliche – Unsterblichkeit erreicht, den ewigen Dichterruhm.56 Das Epos zeichnet sich laut Klopstock nicht nur durch seine poetische »Schönheit und Vorteflichkeit [pulcritudo et excellentia]« aus, sondern es nimmt auch in der Hierarchie der Gattungen den ersten Platz ein, so dass es stets »die Ehre derer sey, die es verfertigten«.57 Die »Größe [virtus]« und der »Vorzug [eminentia]« des epischen Gedichts komme daher, daß es sich eine berühmte Handlung, die, wo nicht den ganzen Erdkreis, doch wenigstens, viele und die größten seiner Einwohner angeht, zu besingen, und mit schicklichen und bewundernswürdigen Erfindungen auszubilden erwählt. Daher ist es nicht zu verwundern, daß, wo eine so große und herliche Materie sich findet, auch die ganze Schönheit der Poesie, gleichsam wie auf einem einzigen und dem größten Schauplatze erscheinen müsse; quod illustrem sibi actionem, quae, nisi ad universum terrarum orbem, ad multos tamen maximosque ejus incolas pertinet, canendam, aptisque et admirandis exornandam inventionisbus, sibi eligit. Qua de re mirum non est, quod, ubi tam ingens et magnifica materies adfuerit, poeseos pulcritudo omnis, in uno quasi et amplissimo theatro, comparere debeat.58

Die Definition der höchsten Gattung, die in der Declamatio gegeben wird, folgt den Regeln, die in den präskriptiven Gattungstheorien angeführt werden. Die »berühmte Handlung [illustrem […] actionem]«, das hohe ›Personal‹, die poetologische Kategorie des »Wunderbaren« (›admirandum‹), des Angemessenen (›aptum‹) und des »Wahrscheinlichen« sowie die erhabene »Materie« sind die entsprechenden Stichworte. Gottsched definiert das Epos in seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst (3. Aufl. 1742) ganz ähnlich: »Es sey die poetische Nachahmung einer berühmten Handlung, die so wichtig ist, daß sie ein ganzes Volk, ja wo möglich, mehr als eins angeht.«59 Das Personal setze sich aus den »Großen der Welt«, d. h. »Könige[n] und Fürsten, Helden und Kriegsobersten«60 zusammen, und die »poetische Erzählung« müsse »wahrscheinlich« und »wunderbar« sein61. Breitinger schreibt in seiner Critischen Dichtkunst (1740), dass »das Epische Gedichte« dazu diene, »vornehmlich eine allgemeine mora56 Kevin Hilliard hat sich in einem Aufsatz mit Klopstocks ›Ruhmbegierde‹ beschäftigt und kommt darin zu folgendem Schluss: »Klopstock hat sich sein Leben lang dem humanistischen Kult des Ruhms verschrieben.« (Kevin Hilliard: Klopstocks Tempel des Ruhms. In: Kevin Hilliard / Katrin Kohl (Hrsg.): Klopstock an der Grenze der Epochen. Mit KlopstockBibliographie 1972–1992 von Helmut Riege. Berlin / New York 1995. S. 221–239, hier S. 237f.) 57 Klopstock: Declamatio, S. 61/105. 58 Ebd. 59 Gottsched: AW VI 2, S. 292. 60 Ebd., S. 296. 61 Ebd., S. 302.

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lische Wahrheit durch die geschickte Nachahmung einer grossen Handlung, die ihrer Wichtigkeit halber gantzen Nationen angelegen ist, nach ihren ausführlichen Umständen mit Ergetzen begreifflich zu machen«.62 Das Epos wird zudem von ihm als eine Art ›Mischgattung‹ gekennzeichnet, die, wie auch Klopstock in seiner Definition schreibt, »die ganze Schönheit der Poesie [poeseos pulcritudo omnis]«63 in sich vereinigt: Endlich fliessen in dem Epischen Gedichte alle andere Gattungen und Formen der besondern Gedichte gleichsam zusammen, das Epische wechselt da mit dem Dramatischen, das Tragische mit dem Comischen beständig ab; gleichwie man nun angemercket hat, daß selten ein Mensch in allen Stücken und Gattungen der Mahlerey vortrefflich seyn könne, so ist es sich desto weniger zu verwundern, daß die wenigsten in diesem allervollkommensten Haupt-Wercke der Poesie etwas rechtschaffenes geschrieben haben.64

Klopstock betont in der Declamatio insbesondere den enzyklopädischen Charakter des Epos, d. h., er fasst es in »theologische[r] Deutung« als »zweiten Kosmos« auf.65 So wird das »epische[.] Gedicht mit der Erde, die übrigen [Gedichte] aber alle mit den einzelnen Theilen derselben« verglichen: Denn die Erde, erscheint, wegen der freundschaftlichen Uebereinstimmung aller ihrer Theile, alsdenn nur am meisten bewundernswürdig und vollkommen schön, wenn man sie mit Einem Blicke ganz überschaut; da ihre Theile, einzeln betrachtet, ob sie gleich auch, doch in großem Abstande, ihre Vortreflichkeit haben, von der Herlichkeit des Ganzen übertroffen werden. Terra enim, ubi quam late patet considerata, unoque velut adspecta intuitu fuerit, tum demum est, ob amicam partium omnium congruentiam, maxime admirabilis perfecteque pulcra; cum partes ejus in sese spectatae, quamvis et sua gaudeant praestantia, ingenti tamen intervallo, a toto terrarum orbe excellentia superantur.66

Bereits Julius Caesar Scaliger hatte in seinen Poetices libri septem (1561) das epische Gedicht allen anderen Gedichten vorgezogen, da es »alle Stoffe [materias universas]« enthalte.67 Die Gattung Epos wird in seiner Renaissancepoetik zum Maßstab für alle anderen literarischen Gattungen erklärt (B. 3, Kap. 95): Tota igitur in poesi epica ratio illa, qua heroum genus, vita, gesta describuntur, princeps esse videtur, ad cuius rationem reliquae poeseos partes dirigantur. 62 63 64 65 66 67

Breitinger : CD I, S. 87. Klopstock: Declamatio, S. 61/105. Breitinger : CD I, S. 90f. Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion, S. 122. Klopstock: Declamatio, S. 61f./105f. Iulius Ceasar Scaliger : Poetices libri septem / Sieben Bücher über die Dichtkunst. Band I: Buch 1 und 2. Hrsg., übersetzt, eingeleitet und erläutert von Luc Deitz. Stuttgart-Bad Cannstatt 1994. S. 94f., Z. 2 (1. Buch, Kap. 3).

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In der gesamten Dichtkunst scheint jene Form der Epik, in der wir Geschlecht, Leben und Taten von Helden beschreiben, die hervorragendste zu sein; nach ihrem Vorbild sollen die übrigen Teile der Dichtkunst ausgerichtet werden.68

Klopstock folgt in seiner Declamatio der dichtungstheoretischen Auffassung seit dem Renaissance-Humanismus, nach welcher der Verfasser eines Epos in seinem Werk alle poetischen Schönheiten und Inhalte miteinander vereint. Dementsprechend erhebt er den Ependichter über die Dichter anderer literarischer Gattungen: Darum dünkt mir, wenn auch einige es zu kühn halten möchten, die Vergleichung dennoch wahr zu sein, daß ich den, der ein Heldengedicht hervorbringt, wie einen himlischen Genius, andre Poeten aber, die kleinere Gedichte singen, für bloße Menschen achte. Qua de re quamvis nimis audax a quibusdam putetur, mihi justa tamen videtur esse comparatio, si poetam epici carminis effectorem, caelesti genio, ceteros vero vates, qui minora meditantur poemata, hominibus pares esse existimem.69

Die Bezeichnung des Epikers als »himlische[r] Genius« betont wiederum die Synthese von Religion und Dichtkunst, die grundlegend für Klopstocks Konzept der »heiligen Poesie« ist. Der Dichter eines Epos wird unverkennbar für göttlich erklärt. So lobpreist Klopstock auch in pathetisch-erhabenem Sprachduktus den epischen Dichter und sein Werk: Denn dieser sieht, vom hohen Himmelsitze, mit einem Blicke auf die ganze Erde herab, und überschaut mit inniger Wollust, den stolz schwellenden Ocean, die Gebirge deren Gipfel seiner Wohnung sich nahn, und die glückliche Gefilde, mit mannigfalter anmuthiger Bekleidung geschmückt; da hingegen die Menschen einen Theil der Erde nach dem andern und ihre Schönheiten, immer von neuen Gränzen umschränkt, zu betrachten gezwungen sind. Sehet da, meine Zuhörer, die Größe, die Majestät, und Volkommenheit des epischen Gedichtes, in ihrem ganzen Umfange! Sehet da, ein Feld, auf dem jede, auch die höchste und vortreflichste Seele, umherschweifen, und die beynahe göttliche Kraft des menschlichen Geistes zeigen kan. Is nempe de excelsa caeli sede, uno intuitu omnem terram, oceanum superbius assurgentem, montes sedis suae verticibus appropinquantes, felicia rura, vario concinnoque ornata decore, simul despicit, et cum voluptate maxima contemplatur : cum homines e contrario, aliam post aliam terrae partem, ejusque ornamenta, novis semper circumscripti terminis, considerare cogantur. Ecce igitur vobis, Auditores, epici carminis, quam late patet, amplitudinem, majestatem, perfectionemque! Ecce campum, in

68 Iulius Caesar Scaliger : Poetices libri septem / Sieben Bücher über die Dichtkunst. Band III: Buch 3, Kapitel 95–126. Buch 4. Hrsg., übersetzt, eingeleitet und erläutert von Luc Deitz. Stuttgart-Bad Cannstatt 1995. S. 20f., Z. 5–7 (3. Buch, Kap. 95). 69 Klopstock: Declamatio, S. 62/106.

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quo maxima quaeque et excellentissima mens exspatiari, ingeniique humani divinam paene vim ostendere potest.70

Der literarischen Gattung Epos wird an dieser gebetsartigen Stelle der Declamatio dezidiert eine religiöse Dimension zugewiesen, so dass man hier durchaus von einer Sakralisierung der Poesie sprechen könnte. Auf die Aufzählung der biblischen Dichter und Propheten folgt nun eine durchaus kritische Würdigung der Epiker. Klopstock kündigt an, dass er nun »jene großen Seelen [grandes illos animos]« nennen wolle, die kleine Gesänge verachtend, Heldengedichte zu schaffen gewagt haben; mit Verehrung, aber ohne Lob; denn der Beyfal so vieler Jahrhunderte ist ihnen schon Lobes genug! Ihr also, in deren Brust nicht jede Flamme der wahren Ehre verloschen und eingeschläfert ist, die ihr, angespornt von edler Kühnheit und Weteifer, solche große Fußtapfen [!] einmal von ferne betrachten wolt, hört mich mit heißer Begierde, nicht um meinetwillen, sondern wegen dieser großen Männer […]. qui humilium carminum contemtores, poema creare epicum ausi fuerunt; cum veneratione illos sed sine laude, tam multorum enim saeculorum applausus jam ampla satis ipsis laus est, nominabo. Quibus igitur non omnis veri honoris extincta prorsus sopitaque in pectoribus flamma est, qui, nobili incitati audacia et aemulatione, procul intueri tanta vestigia aliquando volunt, avide me et ardenter, non mei sed tantorum virorum causa, audiant […].71

Mit großem Selbstbewusstsein spricht Klopstock hier zum ersten Mal explizit den Gedanken einer ›aemulatio‹, eines Wettstreits mit den epischen Vorbildern, den »großen Männer[n] [tantorum virorum]«, aus. Die Reihe der epischen Dichter führt in der Declamatio von den antiken Musterautoren zu den neuzeitlichen Vorläufern der Nationalliteraturen.72 Den Anfang machen natürlich die antiken Vorbilder : Homer nehme »auf diesem Gipfel so hohes Ruhms den ersten Sitz ein [primas, in tam excelso honoris fastigio, sedes]«.73 Er sei »durch sein Alter und seine Würde der Führer dieses himlischen Chors [et antiquitate et eminentia, choro tam caelesti]«.74 Prägnant ist folgender Ausspruch in der Declamatio: »Die Natur war Homer, und Homer war die Natur! [Natura erat Homerus, et Homerus natura!]«75 Klopstock assoziiert den antiken Epiker mit der Natur, d. h., Homer wird einerseits mit dem aristotelischen Nachahmungskon70 Ebd., S. 62f./106. 71 Ebd., S. 63/106f. 72 Kevin Hilliard bezeichnet die Liste der namentlich angeführten Ependichter als »a curious mixture of the famous and the obscure«. (Hilliard: Philosophy, Letters, and the Fine Arts in Klopstock’s Thought, S. 24.) 73 Klopstock: Declamatio, S. 63/107. 74 Ebd. 75 Ebd., S. 64/107.

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zept verbunden, andererseits unterstellt der junge Dichter dem Epiker aber noch keine dezidierte Natürlichkeit, Naivität bzw. ›Einfalt‹, wie es ab dem späten 18. Jahrhundert üblich war. Dieses Diktum Klopstocks erinnert sogleich an die einflussreichen Verse in Alexander Popes Essay on Criticism (1711/13) über Homer und seinen Nachahmer Vergil (Part I, V. 130–140): When first young Maro in his boundless mind A work to’ outlast immortal Rome design’d, Perhaps he seem’d above the critic’s law, And but from nature’s fountains scorn’d to draw : But when to’ examine every part he came, Nature and Homer were, he found, the same. Convinced, amazed, he checks the bold design, And rules as strict his labour’d work confine As if the Stagyrite o’erlook’d each line. Learn hence for ancient rules a just esteem; To copy nature is to copy them.76

Popes Essay on Criticism wurde von Karl Friedrich Drollinger (1688–1742) ins Deutsche übersetzt und im ersten Band der Züricher Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften (1741) veröffentlicht.77 Da Klopstock kein Englisch verstand, kannte er vermutlich diese Verse aus Drollingers deutscher Prosaübertragung Versuch von den Eigenschaften eines Kunstrichters: Da der junge Maro erstmals von Königen und Schlachten sang, eh ihm noch der warnende Phoebus sein zitternd Ohr gerühret hatte, so glaubte er sich vielleicht auch über die Gesetze der Critick erhaben, und hielt sichs schimpflich, aus einem andern als der Natur Brunnen zu schöpfen. Aber da er alles Stuckweise untersucht hatte, da fand er, daß die Natur und Homer einerley waren. Ueber diese Wahrheit erstaunet, bezäumte er sein verwegenes Vorhaben, und ließ uns ein Werck, das nach den strengsten Regeln so genau ausgearbeitet ist, als ob der Stagyrite über jede Zeile die Aufsicht geführet hätte. Lernet hieraus eine behörige Hochachtung für die Regeln der Alten. Ihnen folgen ist der Natur nachfolgen.78

Klopstock schließt sich dem kritischen Urteil Popes an und charakterisiert Homer in seiner Declamatio folgendermaßen: 76 Alexander Pope: An Essay on Criticism. In: [Ders.:] Poetical Works. Vol. 1: The Rape of the Lock, and other poems. London 1829. S. 80–105, hier S. 84f., V. 130–140. 77 Alexander Pope: Versuch von den Eigenschaften eines Kunstrichters. Durch Hrn. Hofrath Drollinger übersetzet. In: Sammlung Critischer, Poetischer, und andrer geistvollen Schriften, Zur Verbesserung des Urtheils und des Wizes in den Wercken der Wolredenheit und der Poesie. Erstes Stück. Zürich 1741. S. 49–84. 78 Ebd., S. 57f. Möglicherweise kannte Klopstock aber auch eine zweisprachige Ausgabe von Alexander Popes Essay on Criticism, wie beispielsweise Folgende: Essais sur la critique et sur l’homme par M. Pope. Ouvrage traduit de l’Anglois en FranÅois [par Ptienne de Silhouette]. Nouvelle edition. A Londres 1741.

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Homer also ist jenes große und reiche Genie das mit Hülfe der Natur, mit dem höchsten Urbilde dichterischer Vollkommenheit in seiner Sele, das Heldengedicht nicht allein erfunden, sondern es auch nach diesem schönsten Urbilde so glücklich vollendet hat. […] Er war es also allein werth, nachdem er die Natur nachgeahmt hatte, daß ihn Virgil nachahmte. Homerus igitur illud est ingens et dives ingenium, quod, natura adjutrice, summam poeseos perfectionem complectens animo, epopoeiam non invenit solum, sed ipsam etiam, secundum hoc pulcerrimum exemplar, felicissime confecit. […] Ille igitur solus, postquam imitatus naturam erat, quem Virgilius imitaretur, dignus fuit.79

Vergil wird von dem jungen Klopstock noch nicht als Nachahmer abgewertet, sondern als römischer Nationaldichter gewürdigt: Denn Maro, der Homeren durch nichts als die Nachahmung nachsteht, hat ein solches Gedicht verfertigt, daß wenn Augustus Zeitalter, und das vornemlich damals große Rom, dieses nicht aufzeigen könte, es einer seiner grösten Ehren beraubt seyn würde. Nulla enim alia in re Homero impar Maro, quam imitatione, tale composuit poema, ut, si eo careat Augusteum aevum, et magnifica, eo praesertim tempore, Roma, praecipuo quodam splendore orbata conspiciatur.80

Am Musterbeispiel des lateinischen Epikers sollen sich die zeitgenössischen Nachfolger orientieren, deren Werke bislang keines ewigen Dichterruhms wert seien: Jene Unsterblichkeit, die man jetzt unter uns, durch gegenseitigen Preis, so freygebig und ungerecht mißbraucht, hat Virgilen nun mit ewigem Lorbeer bekrönt. Auch uns, uns späte Nachkommen, unterrichtet, ergötzt noch Maro, da unsre meisten Dichter, die sich unter einander mit so vielem Lobe von Unsterblichkeit zu beladen pflegen, in ihren Liedern schon todt sind oder bald sterben werden. Illa ipsa perennitas, qua nostri nunc homines, in sese celebrandis, tam large injusteque abutuntur, immortali lauro Virgilium decoravit. Nos adhuc Maro, nos tam seros posteros, monet, oblectat; cum nostri plerique omnes poetae, qui se tam multa onerare invicem immortalitatis laude solent, aut mortui jam in carminibus sunt, aut mox intermorientur.81

Die antiken Epen Homers und Vergils gelten in der Argumentation Klopstocks als unsterbliche Musterwerke. Dennoch erklärt er sich selbst zum Nacheiferer der klassischen Dichter : Aber diesen [Vergil; I. G.] schließt ewig, mit Homeren in ihre Arme die Poesie, umfast den Griechen mit der Rechten, und den Römer mit der Linken. Diese werden sicher des Untergangs bleiben; auf diese werden die Dichter, die etwas Großes wagen, blicken; 79 Klopstock: Declamatio, S. 64/107f. 80 Ebd., S. 64f./108. 81 Ebd., S. 66/109.

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diesen sollen, weil sie nicht überwunden und übertroffen werden können, die Thränen meiner Weteiferung beständig fliessen. At hunc, cum Homero suo, aeternis in ulnis fovebit poesis, dextra Graecum manu, sinistra Romanum amplexa. Hi manebunt interitus securi; hi a poetis, qui magni aliquid audebunt, suspicientur ; hi, consecratis sibi his aemulationis meae lacrimis, quoniam vinci superarique non possunt, assidue decorabuntur.82

Aus dieser Stelle der Argumentation lässt sich möglicherweise ein gewisser Vorzug Homers vor Vergil herauslesen. Immerhin wird der griechische Epiker der rechten Seite, der römische Dichter hingegen der linken Seite zugeordnet. Beide Autoren gelten als vollkommene Vorbilder für diejenigen Nachfolger, die in der Poesie »etwas Großes« wagen wollen. Übertroffen werden können die ›heidnischen‹ Dichter im poetischen Wettkampf nur durch die Wahl eines christlichen Stoffes: Aber, o liebenswürdige und beweinte Schatten! nur Eins wars, daß eurer Volkommenheit noch fehlte, um dessentwillen ich euer Loos bedaure, – Eins! Religion der Heiden verblendete euch; da ihr unserer, dieser anbetungswerthen Geheimnisse wäret würdig gewesen. Diese hättet ihr besingen, diese mit eurem hohen Genius, in solchen Liedern sollen feyern, die nicht mit ihr nur auf der Erde fortgedauert hätten, sondern auch von den Bewohnern des Himmels mit Beyfal wären empfangen worden. At, umbrae amabiles defletaeque, una tantum res est, quae perfectioni vestrae deerat, propter quam sortem destram doleo, una. Gentili religione eratis obcoecati; cum sacris nostris, adorandis illis mysteriis, essetis longe dignissimi. Haec canere, haec celebrare, ingenti vestro ingenio, talibusque carminibus debebatis, quae non hanc solum terrae nostrae aetatem ferrent, sed, cum aeterno etiam caelestium incolarum applausu, acciperentur.83

In Pyras Tempel der wahren Dichtkunst erteilt die »heilge Poesie« (1. Gesang, V. 81) ihren Dichtern einerseits den Rat »den Tand verworfner Götzenfabeln« (1. Gesang, V. 106) zu meiden, andererseits aber auch »mit kluger Hand j Den Dichtern Griechenlands und Latiens ihr Gutes« zu entreißen, diesen »Raub« jedoch, ehe sie ihn »dem HErrn auf seinem [!] Altar legt[en]«, zu heiligen, »damit kein Götzenopfer j Sein Heiligthum entweih[e]« (5. Gesang, V. 126– 130).84 Die hierarchische Unterordnung des heidnisch-antiken Stoffes unter die christliche Offenbarung ist demnach Topos. Die Dichter des alten Griechenlands und Roms werden jedoch nicht abgewertet, sondern ins typologische Schema von Verheißung und Erfüllung integriert. Folglich bezeichnet sie Klopstock auch in seiner Declamatio als »Schatten [umbrae]«, d. h. als Präfigurationen der 82 Ebd. 83 Ebd., S. 66f./109f. 84 Pyra: Der Tempel der Wahren Dichtkunst, S. 86, S. 87 und S. 118.

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christlichen Dichter.85 Pyra erhöht die Bedeutung der antiken Dichter sogar, indem er in seinem Lehrgedicht betont, dass Homer, Vergil, Horaz und Theokrit »zwar ihr Lied durch Götzentand entweiht« hätten, »[d]och diesen Fehler deckt die grosse Tugend-Liebe, j So sich sonst überall in ihren Liedern zeigt, j Die manches Christenlied an Reinigkeit beschämen« (2. Gesang, V. 267–270).86 Aus der Argumentation Pyras und Klopstocks wird ersichtlich, dass beide Autoren der Frühaufklärung die klassisch-antiken Dichter trotz der ›heidnischen‹ Mythologie in ihren Texten bewundern. Eine ganz andere Haltung nimmt Ende des 17. Jahrhunderts beispielsweise noch Sigmund von Birken (1626– 1681) in seiner Teutschen Rede-bind- und Dicht-Kunst (1679) ein. Dieser Poetiker zeigt »eine entschieden aggressive Tendenz gegenüber der heidnischen Antike«, die darin zum Ausdruck kommt, dass er die antike griechische Literatur »als teuflisches Plagiat mosaischer Ideen« ansieht und ihr damit jegliche Qualität »einer originellen Leistung« abspricht.87 Für Birken ist die Poesie eine genuin christliche Kunst, d. h., sie hat ihren Ursprung in der Heiligen Schrift. Die Bibel wird demnach auch zum unmittelbaren Vorbild für die antike ›Götterlehre‹ erklärt: Die H. Schrift hat viel warhafte schöne Geschichten / die man / an stat dieser Lügen / einführen kan. Es ist auch ohnedas / der Heidnische Götzen-Krempel / lauter Affenwerk des Satans / aus [der] H. Schrift genommen. Was sind Jupiter und Juno anders / als Adam und Eva / das erste paar Menschen? Jubal / Tubalkain und Naema / sind Orfeus / Vulcanus und Venus. Noah / ist Janus / Bacchus und Deucaleon. Was sind die Himmelstürmende Riesen anders / als die Babylonische Thurn-bauer? [!] Was ist gleicher / als Jacob oder Mose und Apollo / beiderseits Exulanten und Hirten? Miriam und Diana? Joseph / und Phryxus mit der Phädra?88

Der Barockdichter behauptet, dass sich der griechische Mythos vom Ursprung der Dichtkunst in der heidnischen Antike aus der Heiligen Schrift herleite und damit jede poetische Erfindung der klassischen Dichter nur ein Plagiat des Teufels sei. Er schreibt daher in der »Vor-Rede« seiner Poetik (§ 6): Einhundert Jahre nach Moses soll zu Delphi das erste Weib / durch welche der Geist geredet / namens Phemonoe / die Verse-art / so bei den Griechen und Latinern Hexametri heißen / erfunden haben. Es ist 85 Klopstock: Declamatio, S. 66/109. 86 Pyra: Der Tempel der Wahren Dichtkunst, S. 98. 87 Joachim Dyck: Athen und Jerusalem. Die Tradition der argumentativen Verknüpfung von Bibel und Poesie im 17. und 18. Jahrhundert. München 1977. S. 22. Vgl. zu Sigmund von Birken: Ebd., S. 13–23. 88 Sigmund von Birken: Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst / oder Kurze Anweisung zur Teutschen Poesy / mit Geistlichen Exempeln: verfasset durch Ein Mitglied der höchstlöblichen Fruchtbringenden Gesellschaft Den Erwachsenen. Samt dem Schauspiel Psyche und Einem Hirten-Gedichte. Nürnberg 1679. S. 67f. (§ 55).

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aber ohnezweifel Fabelwerk / wie alle der Griechen erste Geschichten / und hat der Höllen Fürst / als jederzeit Gottes Affe / solches von dem Profeten Mose und der Miriam abgesehen / und nachgedichtet.89

Birken entwirft in der Vorrede seiner Teutschen Rede-bind- und Dicht-Kunst eine kurze Historie der Dichtkunst (§ 3–§ 10): Er beginnt bei Adam und Eva im Paradies, geht dann über in die Zeit nach der Sintflut zu den Propheten und Dichtern Noah, Jakob von Haran, Moses und Debora, nennt die mythischen Poeten Linus, Orpheus und Musaios, die alttestamentlichen Dichter und Propheten Hanna, David und Salomo, dann die griechischen Autoren Homer, Hesiod und Sappho, auch die biblischen Propheten Jesaias und Jeremias sowie die Sängerin Judith, vergisst zudem nicht die römischen Dichter Livius, Ennius, Plautus, Terenz, Vergil, Ovid und Horaz, würdigt die Gottesmutter Maria und ihren Vetter Zacharias, führt die spätantiken christlichen Dichter Juvencus, Hilarius, Avitus, Ambrosius, Augustinus, Gregorius und Prudentius an und schließt letztlich mit den (früh-)neuzeitlichen Dichtern Petrarca, Dante, Ariost und Tasso.90 Er zieht in seiner Lobrede auf die Poesie folgendes Fazit: »Aus bisher-erzehltem erhellet nun / daß keineswegs die Griechen / wie zwar von ihnen gerühmet wird / sondern die Ebreer und Israeliten / die erste Poeten gewesen / und zwar nur GOtt zu Ehren Lieder gesungen.«91 Der Barockpoetiker verfolgt mit seinem aufgestellten Dichterkatalog, der nichts anderes als »ein systematisierter Altersbeweis«92 ist, demnach nur ein Ziel, »nämlich die Priorität der alttestamentarischen Patriarchen vor den griechischen Dichtern aufzuzeigen und die Antike als eine imitatio der jüdisch-christlichen Kultur zu erweisen«.93 Birken sieht die Intention der Poesie einzig in der Lobpreisung Gottes (§ 11), denn bereits Orpheus, der älteste griechische Poet und »der erste Theologus« unter den Heiden, habe die Götter mit Hymnen und Liedern verehrt.94 Die heidnisch-antike Mythologie hat auch im Zeitalter des aufgeklärten Protestantismus längst keine religiöse Bedeutung mehr, aber die vollkommenen poetischen Werke des griechischen Epikers Homer haben verdientermaßen ihre 89 Ebd., Vor-Rede, § 6, unpag. Scaliger hatte beispielsweise in seinen Poetices libri septem auf diesen griechischen Mythos von der Erfindung des Hexameterverses hingewiesen (B. 2, Kap. 37): »Dictus Heroicus etiam Pythius, quia inventum Apollinis praedicarent. Tradunt enim Phemonoen primam exstitisse, quae eo carminis genere Delphis fuerit vaticinata.« (»Man nannte den heroischen Vers auch den ›pythischen‹, da man in ihm eine Erfindung Apollons sah. Als erste nämlich, sagt man, habe Phemono[ in Delphi Orakel in diesem Versmaß erteilt.«) (Scaliger : Poetices libri septem / Sieben Bücher über die Dichtkunst. Band I: Buch 1 und 2, S. 622f., Z. 22–24 [2. Buch, Kap. 37].) 90 Vgl. Birken: Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst, Vor-Rede, § 3–§ 10, unpag. 91 Ebd., Vor-Rede, § 9, unpag. 92 Dyck: Athen und Jerusalem, S. 136. 93 Ebd., S. 21. 94 Birken: Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst, Vor-Rede, § 11, unpag.

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Unsterblichkeit erlangt und werden daher im Gegensatz zu der Argumentation des Barockdichters Birken in der Declamatio auch nicht abqualifiziert. Klopstock kommt in seiner Valediktionsrede nach den antiken Dichtern Homer und Vergil auch auf die besten neuzeitlichen Epiker der europäischen Literaturen zu sprechen. Torquato Tasso wird als Repräsentant Italiens besonders hervorgehoben, da er als erster »christlicher Heldendichter [christianum epopoeiae vatem]« gilt.95 England wird als »Königin der übrigen Nationen in Europa [reginam illam ceterarum in Europa nationum]« gewürdigt, das viele »göttliche[.] Dichter [divinis vatibus]« hervorgebracht habe.96 Am ausführlichsten beschäftigt sich Klopstock in seiner »Schulpfortaer Abschiedsrede« mit John Milton und seinem Paradise Lost.97 Die Zuhörer seiner Rede werden zunächst langatmig und in panegyrischem Ton auf die Darstellung dieses offensichtlich herausragenden religiösen Dichters vorbereitet: Doch, ich muß euch zuvor auf das wundervolle Feld der Religion führen, ehe ich diesen Dichter in seinem ganzen Lichte stralend euch darstellen kan. Denn je himlischgesinter die Sele eines Mannes ist, mit desto heiligerer Freude und Staunen betrachtet er die Religion, und darum muß einem jeden, den ihre Empfindungen durchdringen, der Name eines Dichters ehrwürdig seyn, welcher eine von ihren Hauptlehren durch Lieder den Menschen verherlicht und liebenswürdig macht. Ein solcher Dichter besteigt den Gipfel der Größe, der als der höchste in seiner Kunst erfunden wird. Denn so weit die Offenbarung Gottes die Vernunft übertrift, eben so weit übertrift der, der über das gewöhnliche Loos der Menschen erhaben, die himlische Weisheit und Frömmigkeit besingt, den, der nur von menschlicher Weisheit und Tugend erzählt. In admirandum vos religionis campum prius, Auditores, inducam necesse est, quam vatem hunc omni sua radiantem luce coram vobis sistere possum. Religionem enim, quo quis caelestiorem habet animum, eo sanctiore cum gaudio ac horrore comtemplatur. Quare omnibus, qui ita divinae religionis sacra colunt suspiciuntque, venerabile poetae nomen esse debet, qui principem quandam ejus doctrinam illustrem hominibus amabilem carminibus reddit. Talis vates illud attigit culmen magnitudinis, quo celsius nullum uspiam in poesi reperitur. Quam enim mirifice rationem Dei vincit revelatio: tam insigniter, poeta, qui, supra communem hominum sortem, grandis, caelestem sapientiam pietatemque canit, de humana sapientia virtuteque exponentem, superat.98

Den Portenser Schülern war es offenbar nicht erlaubt, Dichtungen zu lesen, die einerseits Gegenstand der gegenwärtigen literarkritischen Streitigkeiten waren und andererseits einen christlichen Stoff poetisch behandelten. Carl Friedrich Cramer berichtet in seinem biographischen Werk Klopstock. Er; und über ihn (1780) Folgendes über dessen Schulzeit: 95 96 97 98

Klopstock: Declamatio, S. 67/110. Ebd., S. 70/112. Vgl. ebd., S. 70–75/112–117. Ebd., S. 71/112f.

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Milton sah er zum erstenmal an einem Nachmittage auf dem Zimmer eines andern Schülers liegen; da er ihn aufschlug, stieß er eben auf die Allegorie von der Sünde und dem Tode; dieß reizte ihn wenig weiter zu lesen […], und machte das Buch sogleich wieder zu. Da er ihn aber später in einer bessern Uebersezung wiederbekam, gewan er ihn desto lieber ; so sehr, daß, als der Rector, der wegen des alzuhäufigen Lesens des Milton und und [!] ungehöriger Nachahmungen davon in der Schule, Nachtheil besorgte, und ihn verbieten ließ: er ihn nicht allein insgeheim las, sondern gar die Kühnheit hatte, öffentlich bey einer Schulrede aufzutreten, und ihn zu vertheidigen.99

Laut diesem zeitgenössischen Bericht, dem man bedingt Glauben schenken kann, hat Klopstock zunächst Ernst Gottlieb von Berges Verlustigtes Paradies kennengelernt. Höchstwahrscheinlich hat er daraufhin Bodmers deutsche Übersetzung von 1742, Johann Miltons Episches Gedichte von dem Verlohrnen Paradiese, in die Hände bekommen und heimlich eifrig studiert. Der Rektor der fürstlichen Landesschule fand die Begeisterung der jungen Leute für das englische Bibelepos offenbar sehr bedenklich und sprach daher ein Verbot aus. Wenn Klopstock in seiner »Abschiedsrede« das Paradise Lost als ein Werk dichterischer »Volkommenheit [excellentiam bzw. perfectionis]«100 bezeichnet und dem englischen Autor ewigen Dichterruhm zuspricht101, so zeigt sich darin das enorme Selbstbewusstsein des Absolventen. Miltons Wahl eines alttestamentlichen Stoffes für sein Epos wird als besonders geglückt hervorgehoben: Einen solchen Schauplatz von Dingen hatte vor ihm noch niemand gewagt, mit dem Liede zu betreten. Denn, sehet! – Gott, der Himmel, die Hölle, das Chaos, die Reihe so vieler Welten, die daraus hervorgegangen, die Bewohner aller dieser Gestirne, die ruhigen Versamlungen der Engel, die Menschen glücklich und unglücklich, aber nach ihrem Unglücke einer noch größern Seligkeit fähig; dies alles, das heißt, was nur wichtig und erhaben ist, bot sich dem Milton zu singen dar. Tantum enim rerum canendarum theatrum ingredi, ante eum, nemo ausus fuerat. Ecce vobis Deus, coelum, infernus, chaos, progressa ex illo tot mundorum series; incolae tantae molis, quieta angelorum concilia; homines, felices et infelices, sed, post calamitatem, majoris capaces beatitudinis; haec omnia, id est, ingentia quaevis et excelsa Miltono sese canenda coram sistebant.102

Dem Paradise Lost wird zudem ein moralischer Nutzen zugesprochen, da Milton »so viel zur Ehre Gottes und der Menschen [Dei hominisque honorem tam multa]« beigetragen habe.103 Die Erhabenheit des poetischen Werkes zeigt sich laut Klopstock nicht nur im mutigen Wettstreit Miltons mit seinem heidnisch99 Carl Friedrich Cramer : Klopstock. Er ; und über ihn. Erster Theil. 1724–1747. Hamburg 1780. S. 37. 100 Klopstock: Declamatio, S. 70f./112f. 101 Vgl. ebd., S. 72/113f. 102 Ebd., S. 72/114. 103 Ebd., S. 73/114f.

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antiken Vorbild Homer, sondern vor allem auch in dem demütigen Versuch des englischen Dichters, in der Darstellung seiner religiösen Handlung möglichst angemessen den heiligen, göttlich inspirierten Dichtern der Bibel nachzufolgen: Mit dem Homer streitet er um den Vorzug der Vortreflichkeit, nicht ohne weteifernden Mut, und edlen Stolz, und den hohen Spuren der heiligen Schriftsteller folgt er zitternd von ferne nach. So oft er sich diesen einigermassen nähert, so oft hält er die übrigen Dichter von sich an Erhabenheit übertroffen. Denn hier findet man nicht blos jene natürliche Schönheit, die in den besten weltlichen Werken die höchste Volkommenheit ist; sondern diese Schriftsteller schwingen sich höher empor, und zeigen, im eigentlichsten Verstande Gottes voll, in heiliger Einfalt eine Majestät, die niemand ganz nachahmen kan. Und was für eine Größe konte denn nun, da Miltons Sele so vorbereitet war, dem Nachahmer der Natur, dem Anbeter der göttlichen Schönheit, unzugänglich oder unwegsam seyn? Cum Homero de excellentiae principatu, non sine aemulo animi ardore, generosaque superbia, Miltonus contendit; sanctorum vero scriptorum eminentia summo in loco vestigia procul et venerabundus sequitur. Quotiescunque his aliquantummodo appropinquat, toties ceteros sese poetas vicisse, sublimitate, existimat. Heic enim non modo naturalis illa pulcritudo, quae in praestantissimis profanis operibus summa est perfectio, reperitur ; sed altius hi scriptores adsurgunt, veroque nomine enthei, divina simplicitate, majestatem nulli penitus imitandam ostendunt. Tali igitur ratione praeparato Mitoni [!] animo, naturae scilicet imitatori, divinae adoratori pulcritudinis, quae inaccessa magnitudo aut invia esse poterat?104

Milton vereinigt in sich demnach das Ideal eines Nachahmers der Natur und eines Verehrers der christlichen Offenbarungsreligion. In der Formulierung, dass sich in den poetischen Büchern der Bibel »in heiliger Einfalt eine Majestät« zeige, drückt sich die topische Assoziation zwischen der erhabenen ›Materie‹ der Heiligen Schrift und dem einfachen sprachlichen Stil (›sermo humilis‹) aus, die in der Dogmatik des Protestantismus seit der Frühen Neuzeit unabdingbare Voraussetzung für die weitverbreitete Aufnahme der christlichen Heilsgeschichte war. Als antike Autorität zog man in der Argumentation des 18. Jahrhunderts stets [Pseudo-]Longinus heran. Das mosaische »fiat lux-Zitat«105 aus der Genesis im Traktat Vom Erhabenen (9, 9) bewies, dass sich auch in den religiösen Gedanken der Bibel die höchste ästhetische Qualität des vxor (›hy´psos‹), des Großen bzw. Erhabenen, zeige.106 Zugleich verweist das »fiat lux104 Ebd., S. 73f./115. 105 Vgl. hierzu: Dietmar Till: Das doppelte Erhabene. Eine Argumentationsfigur von der Antike bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Tübingen 2006. (Studien zur deutschen Literatur; 175.) S. 42–233 (Kap. III: Simplizität und Sublimität – Aspekte eines ästhetischen Diskurses), hier insb. S. 42f. 106 Das entsprechende »fiat lux-Zitat« von Longinus lautet: »Ebenso hat auch der Gesetzgeber der Juden, gewiß nicht der erste beste, weil er die Macht des Göttlichen würdig auffaßte, diese auch sprachlich geoffenbart, indem er gleich am Beginn seiner Gesetze schrieb ›Gott

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Zitat« auf die orthodoxe Lehre von der Verbalinspiration der Heiligen Schrift, d. h., die göttliche Schöpfungsmacht offenbart sich in der menschlichen Sprache. In der Rezeption von [Pseudo-]Longinus’ Schrift verbinden sich insofern eine ästhetische und eine religiöse Dimension. Milton wird in der Declamatio als ein herausragender Heldendichter des Erhabenen charakterisiert. Im produktiv-schöpferischen Vorgang der ›inventio‹, des Auffindens des Stoffes, habe er nur schöne, erhabene und wunderbare Gedanken ausgewählt: Er erfand glücklich; und indem er eine neue Reihe erfundner Dinge vor sich vorbeygehen läßt, faßt er sie so, daß er nichts als das Schöne, Erhabne und Bewundernswürdige erwählt, und was ihm gefallen hatte, so beschreibt, daß er alles, ob er gleich blind war, mit seinen Augen gesehen zu haben scheint. Ueberal ist er ein getreuer und genauer Mahler der Natur. Invenit feliciter, novamque rerum excogitatarum seriem dum coram transire jubet, ita lustrat, ut nihil nisi pulcrum, sublime, et admirandum eligat; quae vero placuerint, ita describit, ut oculis adspexisse, quamvis caecus fuerit, omnia illa videatur. Fidelis ubique accuratusque naturae pictor est.107

Klopstock reflektiert in seiner »Schulpfortaer Abschiedsrede« bereits über die angemessene poetische Darstellung des Göttlichen. Angesichts der unsagbaren und unbegreiflichen Größe Gottes kann der endliche Mensch nur demütig schweigen und anbeten. Dies habe Milton in seinem Paradise Lost erkannt und rhetorisch umgesetzt: Folgt ihm, wenn er empor in die heiligen Versamlungen der Engel wandelt, und auch da, welche unnachahmliche Würde, welch ein Glanz des Gesanges! In diesem ist er so groß und himlisch, daß er aus ihrem heiligen Rathe einen Freund bekommen und von ihm viele Geschichten des Himmels gehört zu haben scheint. Begleitet noch weiter den Dichter, doch von fern und zitternd, bis zum Throne der Gottheit. Aber hier wirft er sich nieder, liegt von der hohen Majestät betroffen, betet an; hier ist ihm Stilschweigen die höchste Beredsamkeit; er führt selten Gott redend ein, fast immer ein wenig furchtsam; und von jener heiligen Kühnheit verlassen. Das, das ist der letzte und zugleich höchste Zug von Miltons Bilde. Denn wenn Unterwerfung und Demüthigung vor Gott die vornehmste Größe eines Christen ist, so giebt es auch nichts, was einen christlichen Dichter mehr als dieses erhöhe. Sublimem in caeleste angelorum concilium euntem sequimini, tunc certe eam ubique dignitatem divinumque carminis fulgorem non sine admiratione invenietis, quem imitabilem nulli fere existimo. Adeo enim hic grandis et caelestis est, ut quendam, e sancto hoc concilio, amicum nactus fuisse, atque ex eo multas de coelo narrationes sprach‹ – was? ›Es werde Licht, und es ward Licht; es werde Land, und es ward.‹« (Gen. 1,3 und 9) (Longinus: Vom Erhabenen. Griechisch / Deutsch. Übersetzt und hrsg. v. Otto Schönberger. [Nachdr.] Stuttgart 2002. S. 25 und 27 (9, 9).) 107 Klopstock: Declamatio, S. 74/115.

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audivisse videatur. Amplius, at procul tremebundique, ad solium usque numinis vatem comitamini. Sed hic prostratus, ingentique perculsus majestate jacet, adorat, summa illi hic eloquentia silentium est. Raro loquentem Deum inducit; si inducit, subtimidus semper, sanctaque illa destitutus audacia est. Et haec est ultima simulque summa miltonianae imaginis pars. Demissa enim et humilis coram Deo mens, si praecipua christiani hominis magnitudo est; majus profecto hac ipsa re, quod vatem vere christianum perficeret, inveniri haud potuit.108

An dieser entscheidenden Stelle der Declamatio verkündet Klopstock, dass er dem »geheiligte[n] Schatten des Miltons [Miltoni umbra lustrata]« nicht nur wetteifernd nachfolgen möchte, sondern »sich auch an einen noch größern und herlichern Stoff zu wagen gedenkt [majorem etiam materia tua excellentioremque adgredi molitur]«.109 Bevor er diese Selbstprophezeiung allerdings näher ausführt, zählt er in der ›argumentatio‹ seiner Rede einige Heldendichter Frankreichs und deren Werke aus dem 17. Jahrhundert als Negativbeispiele auf: La pucelle ou la France d8livr8e (1656) von Jean Chapelain, den Alaric ou Rome vaincue (1654) von Georges de Scud8ry, den Scanderbegus (1658) von Jean de BussiHre sowie den Moyse sauv8 (1653) von Gerard de Saint-Amant.110 Klopstock wertet diese französischen Epen allesamt ab, da sie sich nicht an die Regeln des Aristoteles halten würden, die dieser antike Gewährsmann für die »Epopee, […] der Natur und dem Homer [natura Homeroque]« folgend, in seiner Poetik aufgestellt habe.111 Als einziges gelungenes französisches Heldengedicht nennt er F8nelons Les aventures de T8l8maque (3 Bde., 1699).112 Voltaires historisches Epos La Henriade (1728) wird hingegen durchweg negativ beurteilt113, da sich der französische Dichter darin nicht zum »Großen [magnificentia]« erhebe114. Der Portenser Schüler behauptet, dass die Henriade, der das Wunderbare fehle, die aber sehr wahrscheinlich sei, keinem deutschen Leser gefallen könne:

108 109 110 111 112

Ebd., S. 74f./116. Ebd., S. 75/116f. Vgl. ebd., S. 77/117f. Ebd., S. 78/118. Vgl. ebd., S. 78–80/118–120. Bodmer hatte in seinem Character der Teutschen Gedichte (1734) Benjamin Neukirchs deutsche Übersetzung von F8nelons Prosaepos (Telemach, 1727–1739) dezidiert kritisiert, auszugsweise daraus zitiert und in seinem Lehrgedicht zum unmittelbaren Vergleich eine eigene, seiner Meinung nach dem Werk und Autor angemessenere deutsche Übersetzung der zitierten etwa 60 Verse veröffentlicht. Vgl. Johann Jacob Bodmer : Character der Teutschen Gedichte. In: J.[ohann] J.[acob] Bodmer : Vier kritische Gedichte. [Hrsg. v. Jakob Baechtold.] Heilbronn 1883. (Deutsche Litteraturdenkmale des 18. Jahrhunderts; 12.) S. 3– 38, hier S. 23–28, V. 597–660 (Neukirch) und V. 669–731 (Bodmer). 113 Vgl. Klopstock: Declamatio, S. 80–82/120f. 114 Ebd., S. 81/120.

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[A]ber ein Leser, dem eine deutsche, das ist, eine feurige und erhabne Sele in seinem Busen glüht, wird, wenn er das Werk durchblättert hat, alles wohl für artig und angenehm erklären; allein er wird es schläfrig und mit Kälte thun. At sane lector, qui germanum, id est igneum excelsumque intus animum alit, pervoluto toto opere, pulcra omnia et dulcia esse, sed languidus et dormitans dixerit.115

Richard Blackmores King Arthur (1697), Richard Glovers Leonidas (1737) und Willem van Ha(a)rens Friso (1741) werden nur kurz als bessere Heldengedichte von Klopstock angeführt.116 Der Portenser Schüler kommt nach dieser Aufreihung der neuzeitlichen Epen aus Italien, England, Frankreich und Holland darauf zu sprechen, dass in Deutschland ein gewisser Nachholbedarf auf dem Feld dieser höchsten literarischen Gattung bestünde: Ein jedes Volk von Europa wird mit dem Verfasser eines Heldengedichts prangen, und wir werden, träge, und gleichsam, was dieses Gefühl der Ehre betrift, schamlos, seiner auch alsdenn noch entbehren. Unaquaeque Europae gens, poeta epici carminis auctore, gloriabitur, nos tardi et expudorati quasi, quod ad sensum hujus honoris attinet, eo vel tunc carebimus.117

Mit diesem Defizienzbewusstsein kritisiert Klopstock selbstbewusst die deutschen Dichter, die sich in keinen Wettstreit mit den anderen Nationalliteraturen wagen würden: Unwillen ergreift meine Sele, wenn ich, von dem gerechtesten Zorne entbrant, die Schlafsucht unsers Volkes hierinnen erblicke! Mit niedrigen Tändeleyen beschäftigt, suchen wir, – ach! ganz unwerth des deutschen Namens! – den Ruhm des Genius; und wagens, durch Gedichte, die zu keinem andern Endzweck zu entstehen scheinen, als daß sie untergehen und nicht mehr da seyn, jene heilige Unsterblichkeit erringen zu wollen. Nicht so träge donnerten einst unsre Vorfahren mit ihren Waffen, und auch jetzt bearbeiten wir die Philosophie und jede Art von Wissenschaften nicht so laß und ruhmlos! Wir schwingen uns empor; wir werden geschäzt; selbst die stolzen Ausländer verehren uns: warum ist es denn nur das unglückliche Schicksal der Poesie, dieser göttlichen Kunst, von ungeweihten Händen betastet zu werden, und an der Erde zu kriechen? Subit indignatio animum, cum tantum gentis nostrae, hac in re torporem, justissima exardescens ira, intueri cogor. Humilibus occupati nugis ingenii gloriam quaerimus; carminibus, quae nullam aliam ob causam nasci videntur, quam ut moriantur et absint, sanctam illam immortalitatem, heu! indigni prorsus Germanorum nomine, adipisci audemus. Non ita tardi proavi nostri armis olim fulgurabant; nec hoc ipso tempore, philosophiam et omnem doctrinam tam lassi et in glorii nostrates tractant. Adsurgimus, colimur, vel a superbis exteris suspicimur. Cur vero hoc infelix poeseos, divinae 115 Ebd., S. 81f./121. 116 Vgl. ebd., S. 83–85/121–123. 117 Ebd., S. 85/123.

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hujus artis fatum est, ut illa fere sola a profanis contrectetur manibus, humique detineatur?118

Während in der Philosophie und in den diversen gelehrten Wissenschaften bislang erhebliche Fortschritte gemacht worden seien, würden sich die deutschen Dichter mit einfachen, profanen Gelegenheitsdichtungen und barockem Schwulst abgeben, anstatt sich der höheren, d. h. »göttlichen Poesie« zu widmen und so ewigen Dichterruhm zu erlangen. Der Portenser Schüler schließt sich mit diesem rigorosen Urteil den Klagen der zeitgenössischen Literaturkritiker an. Sowohl Gottsched als auch die Schweizer Bodmer und Breitinger hatten in ihren poetologischen Schriften den ›Geschmacksverfall‹ in der deutschen Literatur getadelt und geschlossen zu einer Erneuerung der deutschen Dichtkunst aufgerufen, die sich mit den anderen Nationalliteraturen messen lassen konnte. Klopstock macht in seiner Declamatio deutlich, dass es endlich Zeit sei, ein deutsches Nationalepos zu schaffen: Wendet mir nicht ein, wir hätten doch Dichter, die über das Mittelmäßige erhaben, ihres Bleibens gewiß wären; wendet mir das nicht ein! Denn ich rede vom Heldengedichte, diesem höchsten Werke der Dichtkunst. Das hat von unsern Poeten noch keiner geschaffen! Wir habens versucht. Aber was war die Frucht davon? was der Erfolg? Nolite mihi objicere, esse tamen apud nos poetas, qui super mediocritatem elevati, suo se credant caelo; nolite, inquam, haec obiicere; de epopoeia, summo illo poeseos opere, loquor. Hanc nemo apud nos poeta hactenus confecit. Tentavimus. Sed quod hujus operae pretium? quis exitus fuit?119

Die bisherigen epischen Versuche deutscher Poeten wertet Klopstock dezidiert ab: Der Theuerdank (1517) sei »ungebildet und durch rauhe Einfalt, aber nicht durch Majestät, merkwürdig [inconditum plenumque, sed simplici ruditate, non majestate, conspicuum]«, und Der grosse Wittekind (1724) von Christian Henrich Postel sei nur ein regelloses, schwülstiges »holprichte[s] Gedichte [hiulco carmine]«.120 Der Portenser Schüler zitiert daraufhin das »vielleicht wahre und gerechte [vera forsan et justa]«, wenn auch schmähende Diktum eines »Galliers«, der an die Deutschen folgende Forderung gestellt habe: »Nent mir auf eurem Parnasse einen Schöpfer, das heist, einen deutschen Dichter, der aus sich ein ehrenvolles und unsterbliches Werk hervorgebracht hat! [Nominate mihi in Parnasso vestro creatorem! id est, poetam germanum, qui, ex sese, honoratum et immortale opus protulerit].«121 Klopstock übersetzt hier aus den Lettres franÅoises et germani118 119 120 121

Ebd., S. 85f./123f. Ebd., S. 86f./124. Ebd., S. 87/124. Ebd., S. 87f./125.

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ques (1740). Der Franzose El8azar Mauvillon (1712–1779), der am Braunschweiger Carolinum tätig war, hatte im X. Lettre. Sur les Po[tes Allemans folgende einflussreiche Frage gestellt: »Nommez-moi un Esprit cr8ateur sur votre Parnasse; c’est-/-dire, nommez-moi un Po[te Allemand qui ait tir8 de son propre fond un Ouvrage de quelque r8putation; je vous en d8fie.«122 Dieser Ausspruch Mauvillons wurde in der deutschen Literaturlandschaft übereinstimmend als Beleidigung aufgefasst. Laut Klopstock soll diese Diskreditierung durch einen Franzosen die deutschen Dichter endlich dazu anspornen, einen Beweis zu erbringen, dass es ihnen »weder an Genius, noch an erhabenem Geiste [nec ingenio, nec sublimi spiritu] mangle«:123 Durch die Sache selbst, durch ein großes unvergängliches Werk müssen wir zeigen, was wir können! O wie wünscht’ ich, es würde mir so gut, dieses in einer Versamlung der ersten Dichter Deutschlands zu sagen! Die gröste Freude würde mich dan durchdringen und ganz überströmen, wenn ich die Würdigsten zu diesem Werke, dahin brächte, daß sie, wegen der so lange vernachläßigten Ehre des Vaterlands, von edler und heiliger Schamröthe glühten. Re ipsa, magno quodam, nec intermorituro opere, quid valeamus, ostendendum est! O quam vellem, ut haec, in confessu coronaque poetarum Germanorum principum, dicere mihi contingeret. Gaudio certe tunc ego maximo adficerer penitusque perfunderer, si dignissimos hoc opere, ob neglectam tam diu a sese patriae gloriam, rubore quodam laudabili ac pio, suffundere valerem.124

Klopstock prophezeit nun enthusiastisch die Geburt eines Sängers der ›heiligen Dichtkunst‹, der von der »himlischen Muse [caelesti Musa]« inspiriert ein Epos mit biblischem Stoff hervorbringen werde: Wofern aber unter den jezt lebenden Dichtern vieleicht keiner noch gefunden wird, welcher bestimt ist, sein Deutschland mit diesem Ruhme zu schmücken; so werde gebohren, großer Tag! der den Sänger hervorbringen, und nahe dich schneller, Sonne! die ihn zuerst erblicken, und mit sanftem Antlitze beleuchten sol! Mögen ihn doch, mit der himlischen Muse, Tugend und Weisheit auf zärtlichen Armen wiegen! Möge das ganze Feld der Natur ihm sich eröfnen, und die ganze, Andren unzugängliche Größe 122 [El8azar Mauvillon:] Lettres franÅoises et germaniques. Ou R8flexions militaires, litt8raires, et critiques sur les FranÅois et les Allemans. […] A Londres 1740. S. 362. In der Züricher Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften findet sich eine deutsche Übersetzung dieses Briefes von Mauvillon. Die entsprechende Passage lautet dort: »Zeiget mir einen Schöpfer auf eurem Parnasse; ich will sagen, zeiget mir einen deutschen Poeten, der ein vortreffliches Werck, das ein Aufsehen in der Welt gemacht, aus seinem Eigenthum hervorgebracht habe. Ich fodere euch darauf heraus.« (Des Herrn von Mauvillon Brief von den deutschen Poeten. In: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften, Zur Verbesserung des Urtheiles und des Witzes in den Wercken der Wolredenheit und der Poesie. Fünftes Stück. Zürich 1742. S. 30–76, hier S. 58–61.) 123 Klopstock: Declamatio, S. 88/125. 124 Ebd., S. 88/125f.

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der anbetungswürdigen Religion! Selbst die Reihe der künftigen Jahrhunderte bleibe ihm nicht gänzlich in Dunkel verhült; und von diesen Lehrern werd’ er gebildet, des menschlichen Geschlechtes, der Unsterblichkeit, und Gottes selbst, den er vornemlich preisen wird, werth! Quod si vero inter virentes nunc poetas is adhuc forsitan non reperiatur, qui Germaniam suam hac gloria ornare destinatus est; nascere, dies magne, qui hunc tantum procreabis vatem; et, o sol, appropera celerius, cui illum adspicere primo, placidoque lustrare vultu continget. Hunc virtus, hunc, cum caelesti Musa, sapientia, teneris in ulnis, nutriant. Ante oculos ejus sese aperiat totus naturae campus, et inaccessa aliis adorandae religionis amplitudo, nec futurorum saeculorum ordo reclusus penitus obscurusque illis maneat. Fingatur, his ab doctricibus suis, humano genere, immortalitate, Deoque ipso, quem in primis celebrabit, dignus.125

In der lateinischen Declamatio, qua poetas epopoeiae auctores recenset Frideric.[us] Gottlieb. Klopstockius scholae valedicturus (»Lobrede, in welcher F. G. Klopstock die epischen Dichter durchmustert«), entwickelt der 21-Jährige sein poetisches Programm: Er stellt die Poesie über alle anderen ›schönen Wissenschaften und Künste‹, das Heldengedicht über alle anderen literarischen Gattungen, das Epos mit biblischem Stoff über das heidnisch-antike und historische Epos, den Epiker über alle anderen Poeten und das Bibelepos mit neutestamentlichem Stoff über die poetische Darstellung eines alttestamentlichen Stoffes. Daraus folgt, dass sich Klopstock letztlich selbst an die höchste Stelle setzt und durch ein deutsches Nationalepos, das ein Bibelepos mit neutestamentlichem Stoff sein soll, auch die englische Literatur von ihrem Gipfel stürzen will. Die ›conclusio‹ seiner Rede stellt eine Danksagung [Gratiarum Actio] dar, die an Gott, an den Landesvater und an die Lehrer von Schulpforta sowie an die Mitschüler gerichtet ist.126 Klopstock apostrophiert am Schluss seiner Declamatio seine Schule als »Pforte [Porta]« und verkündet: Ewig werde ich mich deiner mit Dankbarkeit erinnern, und dich als die Mutter jenes Werkes, das ich in deiner Umarmung durch Nachdenken zu beginnen gewagt habe, betrachten, verehren! Tui saepe nominis recordabor pius, teque, tanquam illius operis matrem, quod tuo in amplexu meditando incipere ausus sum, recolam, venerabor.127

Der junge Dichter hatte demnach bereits in Schulpforta mit der Konzeption seines Messias begonnen. Die »Abschiedsrede« lässt sich so im Nachhinein als »verdeckte Prophetie«128 des eigenen epischen Projektes lesen. 125 126 127 128

Ebd., S. 88f./126. Vgl. ebd., S. 90–98/126–132. Ebd., S. 98/132. Jacob: Heilige Poesie, S. 111.

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Klopstock datierte später den »Plan« seines Bibelepos auf seine Schulzeit zurück, die vom 6. November 1739 bis zum 21. September 1745 dauerte. So betont er rückblickend in einem Brief vom 13. November 1799 an Johann Gottfried Herder : »Es sind beynah 60 Jahre, daß ich diesen Entwurf zu machen anfing.«129 Am 20. März 1800 beginnt der inzwischen berühmte Messias-Dichter eine Korrespondenz mit Carl Wilhelm Ernst Heimbach (1765–1801), dem damaligen Rektor der fürstlichen Landesschule Pforta (seit 1795). Klopstock versetzt sich zurück in seine Zeit als Alumnus und bemerkt: »Die Erinnerung in der Pforte gewesen zu seyn, macht mir auch deswegen nicht selten Vergnügen, weil ich dort den Plan zu dem Mess. beynah ganz vollendet habe.«130 Diverse Zeugnisse und verstreute Äußerungen des Dichters lassen darauf schließen, dass er sich wohl in den letzten drei Schuljahren intensiv mit dem Entwurf des Messias beschäftigt hat.131 Wie sehr sich der Portenser Schüler damals in sein episches Projekt vertieft hatte, geht auch aus dem Brief an Heimbach hervor, in dem Klopstock von einer Szene des Jüngsten Gerichts aus dem XIX. Gesang des Messias berichtet, die ihm angeblich in einer Art Traumvision erschienen war : Wie sehr ich mich in diesen Plan vertiefte, können Sie daraus sehn, daß die Stelle, welche Sie im Anfange des XIX Ges. bis zu dem Verse, der mit »um Gnade!« endiget, finden, ein Traum war, der wahrscheinlich durch mein anhaltendes Nachdenken entstand. Wäre ich Mahler gewesen; so hätte ich mein halbes Leben damit zugebracht, Eva, die äusserst schön u. erhaben war, so zu bilden, wie ich sie sah. Das Ende des Traums fehlet indeß in der angeführten Stelle. Es ist: Ich sah zulezt mit Eva nach dem Richter in die Höhe, mit Ehrfurcht, u. langsam erhobnem Gesicht, erblickte sehr glänzende Füsse, u. erwachte schnell.132

In der entsprechenden Szene des Epos, auf die der Messias-Dichter hier verweist, fleht Eva, die Urmutter des Menschengeschlechts, beim Weltenrichter um Gnade: Einen Anblick des ernsten Gerichts verhüllte der Menschen Vater durch Schweigen. Er sah, in der Mitte des großen, gedrängten, Unabsehlichen Heers der auferstandenen Todten, Eva auf einem Hügel stehn, und mit fliegenden Haaren, Ausgebreiteten Armen, mit glühender Wange, mit vollen Innigen Tönen der Mutterstimme, wie nie noch ein Mensch sie, 129 Brief von Klopstock an Herder, 13. November 1799. In: HKA, Briefe X 1, Nr. 78, S. 102f., hier S. 102, Z. 19f. 130 Brief von Klopstock an Heimbach, 20. März 1800. In: HKA, Briefe X 1, Nr. 107, S. 143f., hier S. 143f., Z. 2–4. 131 Vgl. zu Klopstocks »Konzeption und Arbeitsweise« in den Anfängen des Messias: HKA, Werke IV 3, S. 187–189. 132 Brief von Klopstock an Heimbach, 20. März 1800. In: HKA, Briefe X 1, Nr. 107, S. 143f., hier S. 144, Z. 4–12.

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Oder ein Engel vernahm, um Gnade! sie lächelte weinend, Flehn für die Kinder, um Gnad’! empor zu dem Richter, um Gnade! (XIX, 1–8)

Klopstock bezeichnet den Dichter in seiner Declamatio durchgängig als »vates«.133 Er greift hier auf »zwei Traditionslinien« zurück: das aus der griechisch-römischen Antike stammende Urbild des poeta vates, der, von den musischen Göttinnen inspiriert, zur Weissagung verborgener, zukunftsweisender Geheimnisse befähigt ist und diese innerhalb einer Gemeinschaft singend kommuniziert, und die durch die jüdisch-christliche Antike überlieferte Vorstellung vom prophete¯s, der sich von Gott berufen und beauftragt weiß, den göttlichen Willen dem auserwählten Volk Israel zu verkünden.134

In einer Art ›Offenbarungsakt‹ wird der göttlich inspirierte Dichter in einen Zustand des Enthusiasmus bzw. der Begeisterung erhoben und erhält so Zugang zu verborgenen Geheimnissen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.135 Der ›poeta vates‹ ist folglich in der wörtlichen Bedeutung ein priesterlicher »Seher-Dichter«, der im Gesang das geheime Wissen an seine Zuhörer weitergibt.136 Klopstock schließt sich demnach antiker und humanistischer Tradition an, in deren Vorstellung »die Gabe der Poesie untrennbar mit göttlicher Inspiration verbunden [war]«.137

133 Klopstock: Declamatio, S. 101, S. 106, S. 110, S. 112 u. ö. 134 Bernadette Malinowski: »Das Heilige sei mein Wort«. Paradigmen prophetischer Dichtung von Klopstock bis Whitman. Würzburg 2002. S. 13. Die hebräische Bezeichnung für den Propheten lautet »nabi«, »im Sinne eines von Gott ›berufenen Rufers‹«; die lateinische Bezeichnung »vates« steht zudem für einen von göttlichem Wahnsinn (Mania) ergriffenen Seher. (Ebd., S. 21.) 135 Vgl. ebd., S. 15 und S. 26. 136 Vgl. Freivogel: Klopstock der heilige Dichter, S. 10–16. Pyra bezeichnet die Dichter der »heiligen Poesie« in seinem Lehrgedicht Der Tempel der wahren Dichtkunst bemerkenswerterweise als »Priester« »in deren Geist [ein] himmlisch Feuer herscht« (5. Gesang, V. 58, V. 56). (Pyra: Der Tempel der Wahren Dichtkunst, S. 116.) 137 Malinowski: »Das Heilige sei mein Wort«, S. 26. Laut Bernd Auerochs flossen in dem Bild, das man sich in der jahrtausendelangen Rezeption von dem Ependichter Homer gemacht hatte, Charakterzüge der von ihm erfundenen Sängerfiguren Phemios und Demodokos mit denen der erdichteten Seherfiguren Teiresias und Kalchas zusammen. (Vgl. Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion, S. 13.) So hieße es in der Ilias über Kalchas: »Der wußte, was ist und was sein wird und was zuvor gewesen«. (Homer : Ilias. Neue Übertragung von Wolfgang Schadewaldt. Frankfurt a. M. 1975. S. 9 [1. Gesang, V. 70].) Und seither hätte »das religiöse Moment in keiner emphatischen Vorstellung vom Dichter mehr gefehlt«. (Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion, S. 13.) In Homers Odyssee finden sich folgende Aoiden: Der von Zeus begeisterte Sänger Phemios singt auf Ithaka von den Irrfahrten der Trojaheimkehrer (1. Gesang, V. 326–424). Demodokos, ein blinder Sänger und Vertrauter der Muse, tritt beim Gastmahl des Alkinoos auf. Er singt Lieder über Helden und Götter und begleitet sich dabei durch das Spiel auf der Phorminx (Kithara) (8. Gesang, V. 62–108, V. 254–369, V. 471–543). Berühmt ist der blinde Seher Teiresias im 11. Gesang der Odyssee, auf den Odysseus in der Unterwelt trifft. Der Seher Kalchas in der Ilias hat seine Gabe vom

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Klopstocks ›Programmschrift‹ über die Gattung Epos

Klopstock hat seine lebenslange Arbeit am Messias stets als göttliche Berufung angesehen. In der Ode An Freund und Feind (1781)138, die sowohl an die Verehrer als auch an die Gegner des Messias adressiert ist, schildert er die ›Geburtsstunde‹ seines Bibelepos folgendermaßen (V. 45–56): Bis zu der Schwermut wurd’ ich ernst, vertiefte mich In den Zweck, in des Helden Würd’, in den Grundton, Den Verhalt, den Gang, strebte, geführt von der Seelenkunde, Zu ergründen: Was des Gedichts Schönheit sey? Flog, und schwebt’ umher unter des Vaterlands Denkmalen, Suchte den Helden, fand ihn nicht; bis ich zuletzt Müd’ hinsank; dann wie aus Schlummer geweckt, auf Einmal Rings um mich her wie mit Donnerflammen es strahlen sah! Welch Anschaun war es! Denn Ihn, den als Christ, ich liebte, Sah ich mit Einem schnellen begeisterten Blick, Als Dichter, und empfand: Es liebe mit Innigkeit Auch der Dichter den Göttlichen!139

Durch die Erscheinung von Jesus Christus in einer nächtlichen Traumvision wird der christliche Dichter gewissermaßen zum Sänger des Messias geweiht.140 Klopstock stilisierte sich so selbst zum ›poeta vates‹, zum göttlich begeisterten ›Seher-Dichter‹, der den würdevollsten Helden besingt. Aus der zitierten 13. Strophe der Ode An Freund und Feind geht hervor, dass Klopstock zunächst den Helden seines Epos »unter des Vaterlands Denkmalen« (V. 49) gesucht hatte, d. h., anfangs schwebte ihm noch ein Held aus der deutschen Historie vor. Offenbar dachte er an Heinrich den Vogler (Heinrich I.), was sich aus der Ode Mein Vaterland (1768)141 erschließen lässt (V. 29–36): Früh hab ich dir mich geweiht! Schon da mein Herz Den ersten Schlag der Ehrbegierde schlug,

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Gott Apollon erhalten und wird als Vogelbeschauer eingeführt (1. Gesang, V. 69–73; 2. Gesang, V. 322–329 und 13. Gesang, V. 43–75). HKA, Werke I 1, S. 383–385. Ebd., S. 384f., V. 45–56. Gerhard Kaiser hat auf die »pietistische Färbung dieses Klopstockschen Berufungserlebnisses« hingewiesen und erkennt Analogien zum pietistischen Erweckungserlebnis. (Vgl. Kaiser : Klopstock. Religion und Dichtung, S. 133–160, hier S. 136.) In der Hallischen Allgemeinen Literaturzeitung (1827) findet sich zudem der Bericht eines Rezensenten, der eine mündliche Äußerung Klopstocks aus dem Jahre 1791 tradiert, wonach sich ihm in einer schlaflosen Nacht in einer Art göttlicher Eingebung der Messias als der »würdigste Held« seines Epos dargestellt habe. (Vgl. hierzu: Ebd., S. 137f. – Helmut Pape: Klopstock. Die »Sprache des Herzens« neu entdeckt. Die Befreiung des Lesers aus seiner emotionalen Unmündigkeit. Idee und Wirklichkeit dichterischer Existenz um 1750. Frankfurt a. M. [u. a.] 1998. S. 45f.) HKA, Werke I 1, S. 320–322.

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Erkohr ich, unter den Lanzen und Harnischen Heinrich, deinen Befreyer, zu singen. Allein ich sah die höhere Bahn, Und, entflamt von mehr, denn nur Ehrbegier, Zog ich weit sie vor. Sie führet hinauf Zu dem Vaterlande des Menschengeschlechts!142

Es erscheint nur auf den ersten Blick paradox, dass Klopstock ein deutsches Nationalepos schreiben wollte, aber dazu keinen genuin deutschen, etwa germanischen Helden wählte. Die antiken und neuzeitlichen Epen ließen sich im literarischen Wettkampf nur übertreffen, indem er einen neutestamentlichen Stoff wählte, denn dieser betraf die gesamte Christenheit. Er strebte am Anfang seiner Dichterkarriere nach der höchsten Ehre, die seiner Auffassung nach zu erreichen war : ein deutscher Homer ›und‹ ein deutscher Milton zu werden, d. h., sowohl den antiken heidnischen Dichter mit seinen historischen Epen als auch den englischen Bibelepiker mit seinem alttestamentlichen Stoff zu überbieten. Über die profane Ehrbegierde des jungen Schülers, der auf ewigen Dichterruhm hoffte, heißt es in der Ode An Freund und Feind (V. 33–44): Voll Durstes war die heisse Seele des Jünglings Nach der Unsterblichkeit! Ich wacht’, und ich träumte Von der kühnen Fahrt auf der Zukunft Ozean! Dank dir noch Einmal, mein früher Geleiter, daß du mir, Wie furchtbar es dort sey, mein Genius, zeigtest. Wie wies dein goldener Stab! Hochmastige, vollbesegelte Dichterwerke, Und dennoch gesunkene schreckten mich! Weit hinab an dem brausenden Gestade Lag’s von der Scheiter umher. Sie hatten sich hinaus auf die Woge gewagt, in den Sturm gewagt; Und waren untergegangen!143

Der junge Epiker erkennt, dass viele Dichter mit ihren literarischen Werken gescheitert und damit der Vergessenheit anheimgefallen sind. Nachdem ihm der Messias als Held seines Epos erschienen ist, berichtet das lyrische Ich, das hier mit Klopstock gleichzusetzen ist, dass es »selbst der gedürsteten Unsterblichkeit« (V. 58) vergaß und »mit Ruh das betrümmerte Gestade, j Die Wog’, und den Sturm« (V. 59f.) betrachtete.144 Er glaubte anfangs offenbar, diesem ›heiligen Stoff‹ in seinem jungen Alter noch nicht gewachsen zu sein (V. 61–64): 142 Ebd., S. 321, V. 29–36. 143 HKA, Werke I 1, S. 383–385, hier S. 384, V. 33–44. 144 Ebd., S. 385, V. 58–60.

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Strenges Gesetz grub ich mir ein in Erzt: Erst müsse das Herz Herscher der Bilder seyn; beginnen dürf ’ ich erst, Wäre das dritte Zehend des Lebens entflohn: Aber ich hielt es nicht aus, übertrat, und begann!145

Doch Klopstock begann bekanntlich schon vor seinem 30. Lebensjahr die zwanzig Gesänge seines Messias zu verfassen und verband die jugendliche Ruhmbegierde mit der religiösen Hoffnung auf himmlische Unsterblichkeit. In der Ode An den Erlöser (1799)146 bekennt der Dichter gegenüber seinem besungenen Helden (V. 25–28): »Umsonst verbürg’ ich vor dir j Mein Herz der Ehrbegierde voll. j Dem Jünglinge schlug es laut empor ; dem Manne j Hat es stets, gehaltner nur, geschlagen.«147 Sein Lohn sind nun »Engel-« und »Menschenfreuden« (V. 10, V. 25, V. 33, V. 39):148 Ist etwa ein Lob, ist etwa eine Tugend, Dem trachtet nach! Die Flamm’ erkohr ich zur Leiterin mir! Hoch weht die heilige Flamme voran, und weiset Dem Ehrbegierigen besseren Pfad!149

Das letztendliche Ziel des ›seraphischen Sängers‹ ist die »Ankunft im Himmel« (V. 44).150 Trotz des säkularen Wettkampfgedankens darf man demnach dem Messias-Dichter seine religiöse Grundhaltung nicht absprechen. Er sah seine ›heilige Poesie‹ nicht als »Usurpation« an, und es ist verfehlt, den ›poeta vates‹ nur als »eine literarische Rolle« zu betrachten,151 denn eine ästhetische und eine religiöse Dimension durchdringen sich in Klopstocks Dichtungsauffassung. Klopstock bezeichnete sich selbst stets als »langsamer Arbeiter«152, der erst in der entsprechenden ›poetischen Stimmung‹ sein musste, um schreiben zu können. Bodmer referiert in einem Brief vom 5. September 1750 folgende Aussagen des Messias-Dichters über dessen Arbeitsweise: »Er [Klopstock; I. G.] arbeite nur in den poetischen Stunden, diesen könne er nicht rufen, doch kommen sie am liebsten nach dem Nachtessen, wenn er den Abend in einer starken Gesellschaft gewesen. In den Morgenstunden könne er nicht wohl ar-

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Ebd., S. 385, V. 61–64. HKA, Werke I 1, S. 345–347. Ebd., S. 345, V. 25–28. Ebd., S. 345, V. 10 und V. 25 sowie S. 347, V. 33 und V. 39. Ebd., S. 347, V. 29–32. Ebd., S. 347, V. 44. Max Wehrli: Sacra Poesis: Bibelepik als europäische Tradition. In: [Ders.:] Formen mittelalterlicher Erzählung. Aufsätze. Zürich / Freiburg i. Br. 1969. S. 51–71, hier S. 70. 152 Brief von Klopstock an Georg Friedrich Meier, 29. April 1760. In: HKA, Briefe IV 1, Nr. 66, S. 84–86, hier S. 86, Z. 55.

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beiten.«153 Carl Friedrich Cramer berichtet zudem, »daß er viele Scenen im Messias, Oden, u. s. w. zu Pferde, zu Wagen, in Gesellschaft, auf Schrittschuen gearbeitet« habe.154 Klopstock verfasste sein Epos in Fragmenten155, d. h., viele Szenen und Episoden sind unabhängig von der endgültigen Textfolge des poetischen Werkes entstanden und die einzelnen hexametrischen Bruchstücke wurden erst später in das Gesamtkonzept des Messias integriert.156 Dem Verständnis von Dichtkunst als göttlicher Eingebung entspricht demnach das produktionsästhetische Verfahren Klopstocks. In einem Brief an seinen Schweizer Mentor Bodmer vom 26. Januar 1749 schreibt der Messias-Dichter : »Ich will Ihnen bald den Mess. so viel ich davon fertig habe, zur Critik schicken. Wenn ich meinen Unruhen entwischen kann; so arbeite ich bisweilen einige kleine Fragmentchen aus […].«157 Ganz ähnlich berichtet Klopstock seinem Freund Ebert am 29. Mai 1758 von den Bruchstücken, die er in einer »poetischen Stunde« verfasst habe: Wenn nur das Abschreiben nicht wäre; so schikte ich Ihnen meine Fragmente vom Mess. Aber kein Mensch selbst meine Frau nicht selbst ich bisweilen nicht kann meine Hand lesen. Denn ich mache bisweilen wenn ich recht in der Arbeit bin ganz u gar nur Züge statt der Buchstaben. Doch denk ich will ich noch Rath schaffen, daß Sie meine Fragmente bekommen. Ich bin heute ausserordentlich glüklich gewesen. Ich habe diesen Morgen über 50 Verse im XIIIten Gesange gemacht. Sie müssen aber deßwegen nicht denken, daß ich mit dem XI u XII fertig sey. Bey weiten nicht. Und doch ergreife ich jede Minute der poetischen Stunde bey beyden Händen.158

Der Messias-Dichter konnte offenbar nach einer derart kurzen, wenn auch intensiven kreativen Schaffensphase seine eigene Schrift fast nicht mehr entzif153 Brief von Bodmer an Zellweger, 5. September 1750. In: Josephine Zehnder : Pestalozzi. Idee und Macht der menschlichen Entwickelung. Bd. 1. Gotha 1875. Nr. 14, S. 345–351, hier S. 347. 154 [Carl Friedrich Cramer:] Klopstock. (In Fragmenten aus Briefen von Tellow an Elisa.) 1. Bd. Nachdruck der Ausgabe Hamburg 1777. Bern 1969. S. 97. 155 Klopstock arbeitete im Jahre 1767 an seinem germanisch-vaterländischen Drama Hermann und die Fürsten (1784). Er berichtet seinem Freund Gleim in einem Brief vom 19. Dezember 1767: »[I]ch arbeite nach meiner, wie ich glaube, löblichen Gewohnheit, sehr stükweise; […].« (Brief von Klopstock an Gleim, 19. Dezember 1767. In: HKA, Briefe V 1, Nr. 31, S. 44– 47, hier S. 46, Z. 49f.) 156 Vgl. zur fragmentarischen Arbeitsweise Klopstocks: HKA, Werke IV 3, S. 181–183. – Klaus Hurlebusch: Klopstock, Hamann und Herder als Wegbereiter autorzentrischen Schreibens. Ein philologischer Beitrag zur Charakterisierung der literarischen Moderne. Tübingen 2001. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur; 86.) S. 20–25. Für Klaus Hurlebusch ist das fragmentarische Schreiben Ausdruck der autorzentrischen schöpferischen Schaffensweise Klopstocks. 157 Brief von Klopstock an Bodmer, 26. Januar 1749. In: HKA, Briefe I, Nr. 20, S. 32–34, hier S. 34, Z. 83–86. 158 Brief von Klopstock an Ebert, 19. Oktober 1757, 29. Mai, 7. Juni 1758. In: HKA, Briefe III, Nr. 55, S. 81–83, hier S. 82, Z. 58–67.

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fern. Klopstock glaubte dem ›heiligen Stoff‹ seines Epos die langsame Arbeitsweise schuldig zu sein. Dies betont er auch gegenüber Bodmer in einem Brief vom 24. März 1753: »Ich werde fortfahren, wie ich bisher gethan habe, aus Religion gegen den Inhalt, u aus Hochachtung für die Welt, langsam zu arbeiten.«159 Der alternde Schweizer Professor glaubte oft, die Fertigstellung des Messias nicht mehr miterleben zu können. Der beinahe 75-Jährige schrieb daher begeistert in einem Brief vom 10. März 1773: »Freilich, mein theuerster, dank’ ich mit Ihnen zugleich Gott, daß der Messias vollendet ist. Ich halte es für keine der geringsten gutthaten daß Gott mich bis zu diesem Ziele hat leben lassen. Dieses Werck vollendet zu sehen, ist des Wunsches zu leben wehrt [!] […].«160 Klopstock arbeitete drei Jahrzehnte lang an den etwa 20.000 Versen seines Bibelepos (1742–1772) und auch nach der eigentlichen ›Vollendung‹ der insgesamt zwanzig Gesänge nahm er ständig neue Veränderungen und Verbesserungen seines Messias vor, bis letztendlich 1799/1800 die »Göschen-Ausgabe« als Textfassung »des l e t z t e n F i n g e r s«161 erschien.162 Der Dichter vermachte im Jahre 1800 der Bibliothek der fürstlichen Landesschule Pforta ein zweibändiges, gebundenes Exemplar der »Göschen-Ausgabe« seines Messias im Folioformat.163 Rektor Heimbach bezeichnete das Geschenk des ehemaligen Schülers, das begeistert in Schulpforta aufgenommen wurde, als ein »Prachtwerk[.]« und ließ es in einer feierlichen Zeremonie am Ostersonntag von den Alumnen in die Schulbibliothek tragen.164 Begleitet von Musik und Gesang wurde Der Messias, den Heimbach bezeichnenderweise ein »Geschenk der Weihe« nannte, auf ein weißes Seidenkissen gebettet und mit einem grünen Lorbeerzweig geschmückt, zu einem »kleinen darzu errichteten Altar« gebracht, der »mit weißer Seide umhangen und mit Immergrün umwunden und am Fuße mit Blumen bestreut« war.165 Die Reaktion der Schüler beschreibt Heimbach folgendermaßen: »Mit heiliger Stille stand und sah und horchte die Jugend; und der göttliche Funke schien in aller Herzen sich zu entzünden. Dann gieng jeder langsam und voll

159 Brief von Klopstock an Bodmer, 12. Dezember 1752, 24. März 1753. In: HKA, Briefe III, Nr. 3, S. 2–6, hier S. 6, Z. 131–133. 160 Brief von Bodmer an Klopstock, 10. März 1773. In: HKA, Briefe VI 1, Nr. 19, S. 23f., hier S. 23, Z. 1–4. 161 Klopstock selbst bezeichnete die »Altonaer Ausgabe« des Messias von 1780 als »Ausgabe d e r l e t z t e n H a n d« und die neue im Göschen-Verlag von 1799/1800 als Ausgabe »des l e t z t e n F i n g e r s«. (Brief von Klopstock an Clodius, 2. Februar 1796. In: HKA, Briefe IX 1, Nr. 32, S. 38–40, hier S. 39, Z. 40f.) 162 Vgl. zur Werk- und Druckgeschichte des Messias: HKA, Werke IV 3, S. 187–254. 163 Vgl. den Brief von Klopstock an Heimbach, 20. März 1800. In: HKA, Briefe X 1, Nr. 107, S. 143f., hier S. 144, Z. 13–16. 164 Brief von Heimbach an Klopstock, 13. April 1800. In: HKA, Briefe X 1, Nr. 117, S. 155f., hier S. 155, Z. 14. 165 Ebd., S. 155, Z. 25, Z. 28f.

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Gedanken zurück.«166 Der pathetische Festakt ist von gottesdienstlichen und liturgischen Elementen geprägt, wie etwa der hymnische Chorgesang oder der lobpreisende Anbetungsgestus. Die ›Prachtausgabe‹ des Bibelepos wird hier als eine Art Reliquie verehrt, die in einer Prozession zu einem eigens errichteten Altar getragen wird. Die christliche Symbolik spielt ebenso eine große Rolle, wie dem ewigen Dichterruhm Klopstocks gewissermaßen ein Denkmal zu setzen. Durch sein Geschenk an Schulpforta ist der eigentlich abwesende MessiasDichter selbst als ›Musenpriester‹ beim sakralen Akt gegenwärtig. Der Rektor von Schulpforta erzählte Klopstock ausführlich von dieser emphatischen Feier in einem Brief vom 13. April 1800 und veröffentlichte anschließend im Juni 1800 sogar einen Bericht darüber (Klopstocks Feyer in Schulpforte. Den 13. April 1800), in dem er seinen Brief an den Messias-Dichter erneut abdrucken ließ.167 Klopstock schreibt in einem Antwortbrief vom 30. April 1800 an Heimbach: »Sie haben mir […] in der Bibliothek, worin die Alten stehn, die meine Lehrer waren, und sind, so viel Ehre erzeigt, u. erzeigen lassen, daß ich einen Theil davon nicht annehmen kann, ob ich gleich für den nicht angenomnen eben so dankbar, als für den anderen bin.«168 Demnach wurde dem Dichter letztlich doch noch gewissermaßen die Ehre zuteil, die er sich als junger Schüler erhofft hatte: Sein Messias reihte sich unter die vorbildhaften poetischen Werke der »Alten« ein und sein Name schien unsterblich zu sein. Eine Beschreibung der Feierlichkeiten anlässlich des Empfangs einer Gesamtausgabe des biblischen Heldengedichts in der fürstlichen Landesschule wurde offenbar auch in mehreren literarischen Zeitungen veröffentlicht.169 Karl Christian Traugott (Teuthold) Heinze (1765–1813), der Klopstock als »Dichtervater« innigst verehrte170, schreibt in einem Brief vom 25. Juli 1801 an den Bibelepiker, dass er seiner »Hausfamilie« »die Aktenstücke« von Klopstocks »Schenkung an Schulpforte« vorgelesen habe.171 Heinze beteuert: »Sie hätten sehen sollen, wie man sich darüber freute, daß unser Lieblingssänger, auf eine, unsern Herzen so angemessene Art, war verehrt worden!«172

166 Ebd., S. 155, Z. 32–34. 167 Vgl. HKA, Briefe X 2, S. 591. 168 Brief von Klopstock an Heimbach, 30. April 1800. In: HKA, Briefe X 1, Nr. 124, S. 159f., hier S. 159f., Z. 2–6. 169 Vgl. HKA, Briefe X 2, S. 738. 170 Brief von Heinze an Klopstock, 25. Juli 1801. In: HKA, Briefe X 1, Nr. 185, S. 228–230, hier S. 228, Z. 5. 171 Ebd., S. 228, Z. 14–16. 172 Ebd., S. 228, Z. 16–18.

4.

Klopstocks Wettstreit mit der epischen Tradition

Klopstocks Antikerezeption ist durch eine »ständige Spannung zwischen einer Verehrung und einer Kritik der ›Alten‹ charakterisiert«.1 Einerseits strebt er stets nach Originalität, andererseits bleibt er aber auch fest der klassisch-humanistischen Bildungstradition verbunden. Der poetische Wettstreit sowohl mit den antiken als auch mit den europäischen Literaturen, der schon im RenaissanceHumanismus eine wichtige Rolle spielte, wird in Klopstocks Werk zum dynamischen Programm erklärt: Im Messias wetteifert er mit der epischen Tradition und in seinen Oden mit Horaz und Pindar. In seiner Prosaschrift Die deutsche Gelehrtenrepublik (1774) wird vor allem der Wettstreit mit den anderen Nationalkulturen und -literaturen thematisiert2, und in seinem Spätwerk, den Grammatischen Gesprächen (1794), inszeniert Klopstock regelrecht einen Wettkampf der deutschen mit der griechischen und der lateinischen Sprache. Durch Übersetzungen vor allem aus den Epen Homers und Vergils und aus Horaz’ Gesamtwerk will er beweisen, dass die deutsche Sprache mit ihrer Kürze und konzentrierten Ausdrucksstärke die antiken Sprachen übertrifft.3 Der agonale Gedanke wird nicht nur in den poetologischen Schriften Klopstocks immer wieder explizit ausgesprochen, er ist auch allen poetischen Werken des Dichters inhärent. Zur Verdeutlichung von Klopstocks Antike-›aemu-

1 Volker Riedel: Antikerezeption in der deutschen Literatur vom Renaissance-Humanismus bis zur Gegenwart. Eine Einführung. Stuttgart / Weimar 2000. S. 135. 2 Vgl. Katrin Kohl: Kulturstiftung durch Sprache. Rede und Schrift in der Deutschen Gelehrtenrepublik. In: Kevin Hilliard / Katrin Kohl (Hrsg.): Wort und Schrift – Das Werk Friedrich Gottlieb Klopstocks. Tübingen 2008. (Hallesche Forschungen; 27.) S. 145–171. 3 Vgl. hierzu: Stefan Elit: Die beste aller möglichen Sprachen der Poesie: Klopstocks wettstreitende Übersetzungen lateinischer und griechischer Literatur. St. Augustin 2002. (Die Antike und ihr Weiterleben; 3.) Klopstock orientierte sich auch bei der Entwicklung einer eigenen deutschen Orthographie an der antiken Rechtschreibung bzw. an antiken Schreibkonventionen. Vgl. Stefan Tilg: Die produktive Rezeption der antiken Orthographie bei Friedrich Gottlieb Klopstock. In: Antike und Abendland. Beiträge zum Verständnis der Griechen und Römer und ihres Nachlebens 50 (2004). S. 149–160, hier bes. S. 150 und S. 159.

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Klopstocks Wettstreit mit der epischen Tradition

latio‹ werden nun drei Beispiele aus seinen Epigrammen, Oden und poetologischen Schriften herausgegriffen. Erst durch eine lebendige und produktive Auseinandersetzung mit der Tradition glaubte Klopstock, dass es ein Autor und dessen Dichtung überhaupt verdient hätten, sowohl von den Zeitgenossen rezipiert zu werden als auch ewigen Nachruhm zu erlangen. Dies geht etwa aus einem Epigramm Klopstocks hervor, das höchstwahrscheinlich um 1800 entstanden ist: Keinen Dichter ahmet’ er nach. Auch hielt er mit keinem Wettstreit. Wer so wenig ihn kent, daß er dieses nicht siehet, Mach’ ihn glüklich, und dankbar, und laß ungelesen ihn ruhen.4

In der Ode Die beiden Musen (1752) tritt »Deutschlands Muse« (V. 3) zusammen »mit der britannischen« (V. 2) bei einem »Streitlauf« (V. 3) an, um »zu den krönenden Zielen [zu] fliegen« (V. 4).5 An dem Ende der »Laufbahn« (V. 6) werden zwei »Ziele« (V. 5) erkennbar : »Eichen beschatteten j Des Hains das eine; nah dem andren j Weheten Palmen im Abendschimmer.« (V. 6–8)6 Die Vertreterin Britanniens wird als stolze, im Wettstreit bestens geübte Muse charakterisiert: »Gewohnt des Streitlaufs, trat die von Albion j Stolz in die Schranken, so wie sie kam, da sie j Einst mit der Mäonid’, und jener j Am Kapitol in den heissen Sand trat.« (V. 9–12)7 Die britannische Muse hat sich demnach bereits sowohl mit der griechischen als auch mit der römischen Muse in einem Wettlauf gemessen. Die deutsche Muse, die den Namen »Thuiskone« (V. 23) trägt, wird hingegen als noch »junge bebende Streiterin« (V. 13) beschrieben, die sich kühn und voller Enthusiasmus in den Agon begibt.8 Sie versichert der »Brittin« (V. 40) noch schnell vor dem Start: »Ich liebe dich! j […] j […] ich liebe dich mit Bewundrung! j Doch dich nicht heißer, als die Unsterblichkeit, j Und jene Palmen!« (V. 38–42)9 Beide fliegen »mit Adlereil« (V. 49) dahin.10 Über den Ausgang des Wettlaufs wird in der Ode nichts berichtet. Das lyrische Ich erzählt lediglich: »Die weite Laufbahn stäubte, wie Wolken, auf. j Ich sah: Vorbey der Eiche wehte j Dunkler der Staub, und mein Blick verlor sie!« (V. 50–52)11 Wer als Siegerin des Wettstreits hervorgegangen ist, bleibt im Dunkeln, allerdings hatte die deutsche

4 HKA, Werke II, Nr. 153, S. 49. Dieses titellose Epigramm entstand vermutlich um 1800 und wurde erstmals in der Hamburger Klopstock-Ausgabe veröffentlicht. (Vgl. ebd., S. 307 [Apparat].) 5 HKA, Werke I 1, S. 127f., hier S. 127. 6 Ebd., S. 127. 7 Ebd. 8 Ebd. 9 Ebd., S. 128. 10 Ebd. 11 Ebd.

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Muse vor dem Start noch zuversichtlich verkündet: »Vielleicht erreich’ ich früher das hohe Ziel!« (V. 46)12 In dieser allegorischen Ode Die beiden Musen wird die agonale Haltung der deutschen Literatur gegenüber der englischen thematisiert. Es äußert sich ein Defizienzbewusstsein, ein gewisser Nachholbedarf im Bereich der höchsten Gattung, des Epos. Die deutsche Muse wetteifert mit dem englischen Vorbild in der Absicht, dieses zu übertreffen. Sie strebt sowohl nach dem krönenden Eichenlaub als Symbol des ewigen Dichterruhms, das den antiken Lorbeerkranz ersetzt, als auch nach der biblischen Palme, dem Emblem der himmlischen Unsterblichkeit. Man kann die britannische Muse ohne Schwierigkeit mit Miltons Paradise Lost und die deutsche Muse mit Klopstocks Messias identifizieren. Klopstocks Bibelepos war zum Zeitpunkt der Entstehung der Ode noch nicht vollendet, aber der Messias-Dichter erhoffte sich natürlich, den Agon mit den epischen Vorläufern zu gewinnen. Der Wettstreit-Gedanke äußert sich auch explizit in der ästhetischen Schrift Von dem Range der schönen Künste und der schönen Wissenschaften.13 In dieser poetologischen Abhandlung14 Klopstocks streiten die »schönen Wissenschaften« (Philosophie, Poesie, Beredsamkeit und Geschichte) mit den »schönen Künsten« (Malerei, Baukunst, Kupferstecherkunst, Bildhauerkunst und Musik) »um den Vorzug«.15 Die ›schönen Künste‹ behaupten, die Natur besser nachzuahmen, weil sie durch ihre Nachahmung »unmittelbar auf die Sinne und durch ihre Hülfe zugleich auf die Einbildungskraft und aufs Herz wirken« würden.16 Die ›schönen Wissenschaften‹ machen hingegen deutlich, dass sie »unmittelbar« auf die Einbildungskraft und das Herz einwirken würden, ohne »durch die Hülfe der Sinne«.17 Die Philosophie als Sprecherin der ›schönen Wissenschaften‹ wirft den ›schönen Künsten‹ Folgendes vor:

12 Ebd. 13 Friedrich Gottlieb Klopstock: Von dem Range der schönen Künste und der schönen Wissenschaften. In. Klopstock: AW, S. 981–991. Der Erstdruck dieser ästhetischen Schrift Klopstocks erfolgte im Nordischen Aufseher, 1. Band, 43. Stück (7. 09. 1758). 14 Vgl. zu dieser Schrift Klopstocks folgende Aufsätze: Wilhelm Große: »Von dem Range der schönen Künste und der schönen Wissenschaften« – Klopstocks poetologische Programmschrift. In: Friedrich Gottlieb Klopstock. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. München 1981. (Text + Kritik. Sonderband.) S. 29–44. – Natalie Binczek: Aufschub des Geschmacksurteils. Klopstocks Von dem Range der schönen Künste und der schönen Wissenschaften. In: Kontingenz und Steuerung. Literatur als Gesellschaftsexperiment 1750–1830. Hrsg. v. Torsten Hahn, Erich Kleinschmidt und Nicolas Pethes. Würzburg 2004. (Studien zur Kulturpoetik; 2.) S. 33–48. 15 Klopstock: Von dem Range der schönen Künste und der schönen Wissenschaften. In. Klopstock: AW, S. 981–991, hier S. 981. 16 Ebd., S. 983. 17 Ebd., S. 985.

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Klopstocks Wettstreit mit der epischen Tradition

Dieser Umstand, der euch so vorteilhaft schien ist euch, in einer gewissen Betrachtung, nachteilig. Die Seele bleibt hier zu sehr an den sinnlichen Vorstellungen hangen, als daß sie sich den Beschäftigungen der Phantasie und der Leidenschaft mit dem Feuer sollte überlassen können, mit dem sie es bei uns kann, da wir unmittelbar auf sie wirken.18

Folgende rhetorische Fragen werden von der Philosophie daraufhin an die ›schönen Künste‹ gestellt: »Könnt ihr uns durch irgendeine Art von Abbildung oder von Harmonie, auf allen den Stufen nachsteigen, auf denen wir uns erheben? Und, in Absicht aufs Herz, wer hat jemals, bei einer Statüe oder bei einem Gemälde, geweint?«19 Einzig die Musik würde sich hierin den ›schönen Wissenschaften‹ annähern, da sie ebenfalls Empfindungen ausdrücken könne und damit unmittelbar das Herz der Zuhörer zu bewegen vermöge. Die ›schönen Wissenschaften‹ würden sich durch größere »Verdienste um die Ausbreitung der Tugend« auszeichnen.20 Ihr letzter Endzweck sei es, die »Menschen moralischer zu machen«, und dadurch seien sie »viel nützlicher«.21 Als sogenannte »Wissenschaften der Menschlichkeit« würden sie eine »moralische Schönheit« aufweisen.22 Bücher könnten »die Seele mit mehr und schönern Bildern anfüllen, und das Herz zu lebhaftern und feinern Empfindungen fortreißen«, als die ›schönen Künste‹ »jemals hervorzubringen fähig« seien, und zudem würden sie die Zeiten länger überdauern als deren Werke.23 Der ›Geschmack‹, der als Richter in diesem Wettstreit »um den Vorzug«24 fungiert, fällt letztlich kein »Endurteil«25, da plötzlich die Tanzkunst erscheint, die auch von den ›schönen Wissenschaften‹ freudig begrüßt wird. Der offene Schluss dieser ästhetischen Abhandlung Klopstocks soll offensichtlich den Leser zum Nachdenken anregen.

4.1

Der Begriff der ›aemulatio‹

Der rhetorische und dichtungstheoretische Terminus der ›imitatio auctorum‹ ist eng verbunden mit dem der ›aemulatio‹. Die ›imitatio auctorum‹ (lat. imitatio; griech. l¸lgsir, m&me¯sis; dt. Nachahmung) »läßt sich definieren als sprachlichstilistische bzw. gattungs- und stoffbezogene Nachahmung normativer rheto18 19 20 21 22 23 24 25

Ebd. Ebd. Ebd., S. 986. Ebd. Ebd. Ebd., S. 989f. Ebd., S. 981. Ebd., S. 991.

Der Begriff der ›aemulatio‹

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rischer oder literarischer exempla«.26 Sie »bewegt sich […] zwischen den Polen negativ als unoriginell, sklavisch, epigonal beurteilter Kopie und positiv verstandener schöpferischer Nachahmung, bis hin zum agonalen Prinzip der aemulatio«.27 Ein »historisch je unterschiedlicher«, von Dichtungstheoretikern, ›Kunstrichtern‹ oder Literarhistorikern jeweils neu festgelegter Kanon von Stilund Gattungsmustern wird für die ›m&me¯sis‹ bzw. ›imitatio‹ vorausgesetzt.28 Die Autoren dieser kanonischen, musterhaften Werke werden als ›classici scriptores‹ bezeichnet und demnach zu nachahmenswerten, ›klassischen‹ Vorbildern erklärt. Der lateinische Begriff der ›aemulatio‹ (griech. fg˜ kor, ze´¯los, f^kysir, ze´¯lo¯sis; dt. Überbietung) bezeichnet »das Wetteifern mit einem stilistischen oder poetischen Vorbild, in der Absicht, es zu erreichen oder zu übertreffen«.29 »Das Verhältnis der jüngeren ›aemuli‹ (Nacheiferer) zu den neuen Vorbildern, die einstmals selber aemuli noch älterer Muster waren, ist das von Klassizisten zu Klassikern.«30 Das praktische Phänomen des literarischen Wettstreits ist älter als die eigentliche theoretische Bezeichnung: Noch bevor der Begriff der ›aemulatio‹ in der Antike »zum theoretischen Terminus der Rhetorik avancierte, wurde er mit ›imitatio‹ bzw. ›m&me¯sis‹ koextensiv gebraucht«.31 Der »führende Theoretiker des beginnenden griechischen Klassizismus« Dionysios von Halikarnassos verwendete den Begriff der ›imitatio‹ bzw. ›m&me¯sis‹ meist synonym mit dem der ›aemulatio‹ bzw. des ›ze´¯los‹.32 In seiner fragmentarischen Schrift Über Nachahmung (Per' mime´¯seo¯s) heißt es: Wir müssen die Werke der Alten studieren, um uns von dort nicht nur Stoff für unser Thema, sondern auch die Fähigkeit zur Nachbildung (Zelos) ihrer Stileigentümlichkeiten zu verschaffen. Denn die Seele des Lesenden wird durch die andauernde Beobachtung in den Stand gesetzt, sich in einer ähnlichen Schreibart auszudrücken … Aus der Nachahmung (Mimesis) geformter Rede geht Ähnlichkeit hervor: Man eifert dem nach (Zelos), was man bei einem jeden der alten Schriftsteller für besonders gelungen hält, und leitet so gleichsam ein aus zahlreichen Quellen gespeistes Wasser in seine Seele.33

26 Nicola Kaminski: [Art.] Imitatio auctorum. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. v. Gert Ueding. Bd. 4. Tübingen 1998. Sp. 235–285, hier Sp. 236. 27 Ebd. 28 Ebd. 29 Barbara Bauer : [Art.] Aemulatio. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. v. Gert Ueding. Bd. 1. Tübingen 1992. Sp. 141–187, hier Sp. 141. 30 Ebd. 31 Ebd., Sp. 144. 32 Manfred Fuhrmann: Die Dichtungstheorie der Antike. Aristoteles – Horaz – ›Longin‹. Eine Einführung. 2., überarb. u. veränd. Aufl. Darmstadt 1992. S. 191. Vgl. zur klassizistischen Nachahmungstheorie des Dionysios von Halikarnassos: Ebd., S. 191–196 (Kap. VI 2). 33 Dionysios von Halikarnassos: Per' mime´¯seo¯s. Übersetzt von Manfred Fuhrmann. Zitiert nach: Fuhrmann: Die Dichtungstheorie der Antike, S. 193.

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Klopstocks Wettstreit mit der epischen Tradition

Dionysios versteht demnach ›m&me¯sis‹ bzw. ›ze´¯los‹ »als ein eklektisches Verfahren, aus einem Spektrum von Musterautoren jeweils die besten Eigenschaften in bezug auf den Stoff, Stil und das Ethos auszuwählen und nachzuahmen«.34 An anderer Stelle seines Nachahmungstraktats versucht er, die beiden Termini voneinander zu unterscheiden: »Die Nachahmung (Mimesis) ist eine Tätigkeit, die das Muster mit Hilfe genauer Betrachtung abbildet; die Nacheiferung (Zelos) aber ist ein Streben der Seele, die durch das, was ihr schön erscheint, zu Bewunderung hingerissen wird.«35 Die ›m&me¯sis‹ zielt folglich einzig auf rationale Beschäftigung mit den kanonischen Mustern ab. Die ›aemulatio‹ hingegen erfordert »einen psychischen Prozeß des Eindringens in Geist und Haltung der vorbildlichen Autoren«.36 Eine wortwörtliche Nachahmung gilt damit lediglich als unselbstständige Kopie und wird von einer freien, schöpferischen Nachahmung unterschieden, die ›aemulatio‹ dezidiert voraussetzt und den Geist eines vorbildhaften Autors und seines bewundernswerten Werkes erfasst. Das in der klassizistischen Nachahmungstheorie von Dionysios von Halikarnassos aufgeworfene Prinzip von einer »›Einfühlung‹ in den Geist des Autors« wird in [Pseudo-]Longinus’ antikem Traktat Vom Erhabenen (Per& hy´psus) »gesteigert zu einer regelrechten Inspirationstheorie«.37 Longinus bezeichnet »die Nachahmung [l_lgs_r] der großen Schriftsteller und Dichter von einst und de[n] Wetteifer [f¶kysir] mit ihnen« als einen »Weg«, der zum »Erhabenen« führe (13, 2).38 An diesem »Ziel« solle man »mit Nägeln und Zähnen festhalten« (13, 2): Viele nämlich werden durch fremden Anhauch mit Gott erfüllt, ganz so, wie man von der Pythia berichtet. Nähert sich diese nämlich dem Dreifuß bei einem Erdspalt, hauche dieser, wie man sagt, göttliche Dämpfe aus, und sie empfängt davon göttliche Kraft und weissagt sogleich durch des Gottes Anhauch. So strömen vom Genius der Alten wie aus heiligem Quell geheimnisvolle Einflüsse in die Seele ihrer Bewunderer; durch sie werden auch nicht gerade enthusiastische Naturen angehaucht und sind begeisterte Genossen fremder Größe.39

Longinus greift hier auf die »platonische 1m¢ousiaslºr-(enthousiasmjs-)Vorstellung« zurück, so dass die ›imitatio auctorum‹ bzw. ›aemulatio‹ als eine vom klassischen Dichter auf den Nachahmenden bzw. Nacheifernden übertragene 34 Bauer : [Art.] Aemulatio, Sp. 145. 35 Dionysios von Halikarnassos: Per' mime´¯seo¯s. Übersetzt von Manfred Fuhrmann. Zitiert nach: Fuhrmann: Die Dichtungstheorie der Antike, S. 193. 36 Fuhrmann: Die Dichtungstheorie der Antike, S. 193. 37 Hellmut Flashar : Die klassizistische Theorie der Mimesis. In: [Ders.:] Eidola. Ausgewählte Kleine Schriften. Hrsg., mit einem Vorwort und einer Bibliographie versehen von Manfred Kraus. Amsterdam 1989. S. 201–219, hier S. 212. 38 Longinus: Vom Erhabenen. Griechisch / Deutsch. Übersetzt und hrsg. v. Otto Schönberger. [Nachdr.] Stuttgart 2002. S. 40/41 (13, 2). 39 Ebd.

Der Begriff der ›aemulatio‹

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göttliche Begeisterung verstanden wird.40 Dies führt zu »einer ganzen Kette von Trägern der Begeisterung«41, in der jeder inspirierte bzw. von göttlicher Begeisterung erfüllte klassizistische Nachahmer oder Nacheiferer seinerseits später die Stelle des begeisternden klassischen Dichters einnehmen kann.42 Die inspirierende Kraft eines Autors wie Homer wird mit dem Anhauch bzw. Atem (Pneuma) eines Gottes und dessen überirdischer Macht verglichen, der die Orakelsprüche der pythischen Priesterin im Apollonheiligtum in Delphi möglich machte.43 Longinus betont in seinem Traktat Vom Erhabenen, dass Platon nur eine entsprechend hohe poetische Ausdrucksfähigkeit habe entwickeln können, weil er Homer nachgeahmt habe (13, 3):44 Solches Entleihen ist kein Diebstahl, sondern gleicht der Abbildung schöner Gestalten in plastischen oder anderen Kunstwerken. Und ich glaube nicht, daß solcher Schmuck auf einer philosophischen Lehre erblüht und Platon vielfach in dichterische Stoffe und Ausdrücke vorgedrungen wäre, hätte er nicht, bei Zeus! aus ganzer Seele mit Homer wie ein junger Kämpfer mit einem bereits bewunderten um den ersten Preis gerungen, allzu ehrgeizig vielleicht und gleichsam eine Lanze brechend, doch keineswegs ohne Gewinn.45

Platon habe »von jenem homerischen Quell zahllose Kanäle auf sein eigenes Feld«, die Philosophie, geleitet (13, 3).46 Demnach hat der gelehrte Philosoph also versucht, Homers poetische Gestaltungskraft nachzubilden, indem er einzelne sprachliche Wendungen und poetische Gedanken entlehnte. Den Gedanken eines literarischen Wettkampfes mit den klassischen Vorbildern formuliert Longinus innerhalb seiner Ausführungen zur »[z]weite[n] Quelle« des Erhabenen, dem »Pathos [p²¢or]«, d. h. der »starke[n], begeisterte[n] Leidenschaft« (8, 1).47 Er behauptet, »daß nichts so sehr wie echtes Pathos am rechten Ort einen erhabenen Eindruck macht, daß es wie aus Entzückung und Eingebung einen Hauch von Begeisterung verströmt und die Rede gleichsam mit prophetischer Macht erfüllt« (8, 4).48

40 41 42 43 44 45 46 47 48

Kaminski: [Art.] Imitatio auctorum, Sp. 244. Flashar : Die klassizistische Theorie der Mimesis, S. 212. Vgl. hierzu: Ebd., S. 213. – Kaminski: [Art.] Imitatio auctorum, Sp. 244. Vgl. Bauer : [Art.] Aemulatio, Sp. 145. Longinus: Vom Erhabenen. Griechisch / Deutsch. Übersetzt und hrsg. v. Otto Schönberger, S. 40/41 (13, 3). Ebd., S. 40/41 (13, 4). Ebd., S. 40/41 (13, 3). Ebd., S. 18/19 (8, 1). Ebd., S. 20/21 (8, 4).

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Klopstocks Wettstreit mit der epischen Tradition

Longinus verwendet zur Bezeichnung der ›aemulatio‹ die »Metapher des großen Wettstreits (l]ca t¹ !c~misla)« (14, 2).49 Der Agon eines Dichters mit den kanonischen, nachahmenswerten Vorbildern der Vergangenheit spornt dazu an, letztlich selbst den ewigen Nachruhm zu erlangen. Und auch dann, wenn man im »großen Wettstreit« unterliegt, kann man sich noch Dichterruhm erarbeiten: »Und wirklich ist dieses Ringen um Ruhm und Kranz schön und des Streites um den Sieg wert, und hier ist es auch nicht unrühmlich, den Vorgängern zu unterliegen.« (13, 4)50 Die vorbildhaften Autoren bezeichnet Longinus als »göttergleiche[.] Männer«, »die nach den Höhen schriftstellerischer Kunst strebten« (35, 2).51 Die »größten Dichter und Schriftsteller« hätten sich durch ihre Erhabenheit unsterblichen Ruhm verschafft (1, 3).52 Diese »große[n] Männer« (36, 1)53, deren Werke sich durch wahre »Größe [vxor]« (›hy´psos‹, Erhabenheit) auszeichnen und die selbst »innere[.] Größe« (33, 4)54 bzw. »Seelengröße [lecakoxuw_a]« (9, 2)55 besitzen, ragen laut Longinus »über sterbliches Maß« hinaus (36, 1)56. Ihre Erhabenheit erhebt sie »fast bis zur Majestät Gottes« (36, 1).57 Im antiken Traktat werden die vorbildhaften Autoren nicht als völlig fehlerfrei charakterisiert (33, 1–5). Die »große[n] Naturen« werden allerdings für ihre stilistischen Mängel und inhaltlichen Unachtsamkeiten sogleich entschuldigt (33, 2): Im Großen aber muß, wie bei Reichtum im Übermaß, auch etwas sein, was vernachlässigt wird; und vielleicht muß es sogar so sein, daß kleine und mittelmäßige Geister, die nie etwas wagen und nicht nach den Sternen greifen, in der Regel fehlerfrei und sicher bleiben, während das Große eben durch seine Größe strauchelt.58

Gegen Ende seines Exkurses über die »Größe« der antiken griechischen Klassiker schreibt Longinus zudem in dithyrambischem Ton (36, 2): Man muß dazu kaum noch erwähnen, daß jeder dieser Männer seine sämtlichen Fehler oft durch eine einzige erhabene und vollendete Stelle aufwiegt. Und das Wichtigste: wenn man alle Schwächen des Homer, Demosthenes, Platon und der anderen Großen aussuchte und zusammenhäufte, ergäbe dies wohl nur einen geringen, ja winzigen 49 Bauer : [Art.] Aemulatio, Sp. 146. Vgl. Flashar : Die klassizistische Theorie der Mimesis, S. 214. 50 Longinus: Vom Erhabenen. Griechisch / Deutsch. Übersetzt und hrsg. v. Otto Schönberger, S. 42/43 (13, 4). 51 Ebd., S. 86/87 (35, 2). 52 Ebd., S. 4/5 (1, 3). 53 Ebd., S. 88/89 (36, 1). 54 Ebd., S. 82/83 (33, 4). 55 Ebd., S. 20/21 (9, 2). 56 Ebd., S. 88/89 (36, 1). 57 Ebd. 58 Ebd., S. 80/81, S. 82/83 (33, 2).

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Bruchteil von dem, was diese Halbgötter gänzlich Vollkommenes schufen. Daher hat ihnen zu jeder Zeit die Gesamtmenschheit, der keine Mißgunst Unverstand nachweisen kann, die Palme überreicht, wahrt sie ihnen als unantastbares Gut bis heute und wird sie wohl bewahren, So lang Wasser noch fließt, hochragende Bäume noch grünen.59

Insofern ist die den klassischen, nachahmenswerten Vorbildern »einzig angemessene zeitliche Dimension […] der Aion, die ›Ewigkeit‹«.60 Longinus übernimmt Dionysios’ von Halikarnassos literarisches MimesisKonzept und fordert die ›aemuli‹ dazu auf, sich in den ›Geist‹ der großen Klassiker einzufühlen (14, 1–2): Wenn wir also etwas bearbeiten, was hohen Ausdruck und großen Sinn fordert, ist es auch für uns gut, sich auszumalen wie Homer an solcher Stelle eben dies gesagt, wie es Platon oder Demosthenes erhaben ausgedrückt hätten oder in der Geschichtsschreibung Thukydides. Wenn uns nämlich beim Nacheifern [fg˜ kom] jene Vorbilder vor Augen treten und gleichsam voranleuchten, werden sie wohl unsere Seele emportragen zu den im Geist geschauten Mustern; und mehr noch, wenn wir uns dies noch in Gedanken vorstellen: Wie hätten Homer und Demosthenes diesen Ausdruck von mir, wären sie zugegen, aufgenommen oder welche Empfindungen hätten sie bei jenem gehabt?, dann führt es wahrhaftig zu gewaltiger Anspannung, ein solches Kampfgericht und Auditorium für die eigene Produktion anzunehmen und vor solchen Heroen als Richtern und Ohrenzeugen Rechenschaft für seine Schriften abzulegen.61

Ein nacheifernder Epiker wird demnach vor die Aufgabe gestellt, sich vorzustellen, wie Homer etwas ausgedrückt hätte oder wie der Urheber der literarischen Gattung das vom schöpferischen Nachfolger Geschaffene beurteilen würde. Darüberhinaus sollte sich der Wettstreitende folgende Frage stellen (14, 3): »Wie wird die ganze Nachwelt aufnehmen, was ich hier schreibe?«62 Klopstock geht es in seinem ›aemulatio‹-Konzept weniger um eine agonale Auseinandersetzung mit den Texten der kanonischen Musterautoren als vielmehr um eine Überbietung der besten Dichter der epischen Tradition.63 Der Messias-Dichter adaptiert aus Longinus’ Theorie den Aspekt eines autorzentrierten bzw. personalisierten Wettstreits.64 Er bezeichnet die Verfasser von Heldengedichten in seiner Declamatio bemerkenswerterweise als »große[.] 59 Ebd., S. 88/89 (36, 2). 60 Fuhrmann: Die Dichtungstheorie der Antike, S. 198. 61 Longinus: Vom Erhabenen. Griechisch / Deutsch. Übersetzt und hrsg. v. Otto Schönberger, S. 42/43 (14, 1–2). 62 Ebd., S. 42/43 (14, 3). 63 Vgl. hierzu: Dietmar Till: Das doppelte Erhabene. Eine Argumentationsfigur von der Antike bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Tübingen 2006. (Studien zur deutschen Literatur; 175.) S. 309–316 (Kap. IV 4: Autor statt Text: Longins imitatio-Konzeption und ihre Rezeption bei Klopstock). 64 Vgl. ebd., S. 312.

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Klopstocks Wettstreit mit der epischen Tradition

Seelen« und als »große[.] Männer«.65 Der wettstreitende bzw. nacheifernde »Sänger«66 werde »von diesen Lehrern«, den vorbildlichen antiken und neuzeitlichen Ependichtern, »gebildet«67. Künftig soll der göttlich begeisterte, d. h. enthusiastische Nachahmer bzw. Nacheiferer »des menschlichen Geschlechtes, der Unsterblichkeit, und Gottes selbst, den er vornemlich preisen wird, werth« sein.68 Das individuelle Streben eines Dichters nach ewigem Ruhm in der Nachwelt, das für einen persönlichen, weltlichen Ehrgeiz steht, verbindet Klopstock mit dem religiösen Gefühl einer göttlichen Berufung. Die irdische Ehrbegierde wird gewissermaßen noch überboten »durch das Streben nach himmlischer Unsterblichkeit«.69 Thematisiert wird ein derartiger Wettkampf um die »unvergängliche Krone« der christlichen Offenbarungsreligion, die alle irdischen Preise übertrifft und die metaphorisch für die unsterbliche Seele steht, etwa in den Briefen des Apostels Paulus (1. Kor. 9,24f.), in denen bemerkenswerterweise eine »›Laufbahn‹-Metapher«70 verwendet wird (vgl. auch Phil. 3,12– 14; Hebr. 12,1): WJsset jr nicht / das die / so in den Schrancken lauffen / die lauffen alle / Aber einer erlanget das Kleinod. Lauffet nu also / das jr es ergreiffet. Ein jglicher aber der da kempffet / enthelt sich alles dinges / Jene also / das sie eine vergengliche Krone empfahen / Wir aber eine vnuergengliche [!].71

Klopstock spielt auf diese Bibelstelle bezeichnenderweise auch in seinem Messias an: »Am Ziel der erhabenen Laufbahn j Ist das Kleinod erst!« (XIX, 633f.) Der Dichter verknüpft in seiner ›aemulatio‹-Konzeption das heidnisch-antike ›Athen‹ mit dem himmlischen ›Jerusalem‹. Seine Rezeption von [Pseudo-]Longinus’ Traktat Vom Erhabenen zeigt sich auch evident in der Einleitung zu seinen Geistlichen Liedern (1758): Derjenige, der Religion und Geschmack genung hätte, zu entscheiden: Wie Gedichte, die beym öffentlichen Gottesdienste gesungen zu werden, verdienen sollten, gemacht 65 66 67 68 69

Klopstock: Declamatio, S. 63. Ebd., S. 88. Ebd., S. 89. Ebd. Katrin Kohl: Friedrich Gottlieb Klopstock. Stuttgart / Weimar 2000. (Sammlung Metzler; 325.) S. 18. 70 Ebd. 71 1. Kor. 9,24f. In dieser Forschungsarbeit wird durchgängig folgende Bibelausgabe verwendet: D. Martin Luther : Die gantze Heilige Schrifft Deudsch. Wittenberg 1545. Letzte zu Luthers Lebzeiten erschienene Ausgabe. 2 Bde. Hrsg. v. Hans Volz unter Mitarbeit von Heinz Blanke. Textredaktion Friedrich Kur. Darmstadt 1973. [Biblia: Das ist: Die gantze Heilige Schrifft: Deudsch. Auffs new zugericht. D. Mart. Luth. Wittemberg 1545.] Die Abkürzungen der Bibelstellen richten sich stets nach der Hamburger Klopstock-Ausgabe: Vgl. HKA, Werke IV 6, S. 465. Vgl. hierzu und im Folgenden auch das biblische Belegmaterial zum Messias Klopstocks: Ebd., S. 312–377 (Biblische Belege zum Text. Gesang I–XX).

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seyn müßten; der würde gleich im Anfange seiner Untersuchung finden: Daß die Nachahmung der Psalmen das höchste sey, was sich der Dichter zu erreichen vorsetzen, und was der Leser von ihm fodern könnte. Es verstünde sich von selbst, daß von einer Nachahmung die Rede wäre, die Original bliebe, und bey der sich der Poet, der sie unternähme, viel öfter die Frage zu beantworten hätte: Würde David, wenn er ein Christ des neuen Testaments gewesen wäre, so geschrieben haben? als die andere Frage: Hat David so geschrieben?72

Die Nachahmung zielt hier auf Originalität und verlangt die Einfühlung in den ›Geist‹ des vorbildlichen Dichters der biblischen Psalmen, David. Im Laufe des 18. Jahrhunderts tritt so »an die Stelle rhetorischer Nachahmung der ›Alten‹ eine philosophisch fundierte Nachahmung im Geiste der ›Alten‹«.73 Den Konzepten der ›imitatio auctorum‹ und der ›aemulatio‹ ist auch eine »ästhetische Dimension« eingeschrieben: Es »öffnet sich ein dichtungstheoretisches Problemfeld, das durch die Pole t´wmg (t8chne¯) bzw. ars (›Technik‹, Kunst im handwerklichen Sinn) und ingenium (Naturbegabung, ›Genie‹, Originalität) markiert ist«.74 Im 18. Jahrhundert gehen die Bedeutungen des Begriffs des ›ingenium‹, worunter das angeborene Naturtalent eines Dichters verstanden wurde, im modernen Geniebegriff auf. Das Genie, das man nun ›ist‹ und nicht mehr als ingeniöse Eigenschaft ›hat‹, wird den Regeln und normativen Mustertexten entgegengesetzt. Man unterschied gleichermaßen verschiedene Stufen der literarischen Nachahmung. Horaz, dessen poetisches und poetologisches Werk auch in der Epoche der Aufklärung eifrig rezipiert wurde, hatte die »imitatores« als »servom pecus« (»Sklavenherde«, Ep. I 19, 19) dezidiert abgewertet.75 In den Epistulae (I, 19) macht der römische Dichtungstheoretiker deutlich, dass ein guter Nachahmer nicht ›sklavisch‹ und damit unoriginell fremde Äußerlichkeiten wie ›res‹ und ›verba‹ nachäffen, sondern das Ethos des vorbildhaften Autors, seine »Tugenden und Sittenstrenge« (»virtu[s] […] moresque«, Ep. I 19, 14), nachahmen sollte.76 In seiner Ars Poetica erteilte Horaz den zeitgenössischen römischen Dichtern den Rat, die griechischen Vorbilder intensiv zu studieren (V. 268f.): »vos exemplaria Graeca j nocturna versate manu, versate diurna.« (»Rollt nur die griechischen Muster auf mit fleißiger Hand bei Nacht und bei Tage!«)77 Ein schöpferischer ›imitator‹ habe sich aber auf Folgendes zu konzentrieren (V. 317f.): »respicere exemplar vitae morumque 72 73 74 75

HKA, Werke III 1, S. 3. Kaminski: [Art.] Imitatio auctorum, Sp. 276. Ebd., Sp. 237. Quintus Horatius Flaccus: Sämtliche Werke. Lateinisch / Deutsch. Mit einem Nachwort hrsg. v. Bernhard Kytzler. Stuttgart 2006. S. 586/587 und S. 589 (Ep. I 19, 19). 76 Ebd., S. 586/587 (Ep. I 19, 12–14). Vgl. Kaminski: [Art.] Imitatio auctorum, Sp. 242. 77 Quintus Horatius Flaccus: Ars Poetica / Die Dichtkunst. Lateinisch / Deutsch. Übersetzt und mit einem Nachwort hrsg. v. Eckart Schäfer. Bibliographisch ergänzte Ausgabe 1997. [Nachdr.] Stuttgart 2005. S. 20/21 (V. 268f.).

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Klopstocks Wettstreit mit der epischen Tradition

iubebo j doctum imitatorem et vivas hinc ducere voces.« (»Auf ein vorbildliches Leben und einen vorbildlichen Charakter heiße ich den kundigen Nachahmer blicken, von dorther lebendige Worte gewinnen.«)78 Wesentlich beeinflusst wurde die Diskussion um das Nachahmungspostulat und den Geniebegriff im 18. Jahrhundert durch die begeisterte Aufnahme von Edward Youngs Conjectures on Original Composition (1759). Der englische Essay wurde bereits im Jahre 1760 in einer deutschen Übersetzung von Hans Ernst von Teubern unter dem Titel Gedanken über die Original-Werke verbreitet. Young unterscheidet darin die »Genies« als »Originale« ausdrücklich von den Nachahmern: »Die Nachahmungen sind von doppelter Art. In einigen wird die Natur, in andern werden die Autoren nachgeahmet. Wir nennen die erstern Originale und behalten den Namen der Nachahmung nur für die letztern.«79 Den Nachahmern fehle »Gelehrsamkeit und Genie«, sie würden »uns nur eine Art von Dupletten, von dem, was wir schon vorher und vielleicht weit besser besaßen«, geben.80 Den zeitgenössischen Dichtern sei eine Wahlmöglichkeit gegeben, wohingegen die antiken Griechen gar keine Nachahmer sein konnten, da damals jegliche Vorbilder fehlten: Endlich ist es für die Ersten unter den Alten kein Verdienst, daß sie Originale sind; sie konnten nicht Nachahmer seyn. Die neuern Scribenten können wählen; und deßwegen steht es in ihrer Gewalt, sich ein Verdienst zu erwerben. Sie können sich zu den Sphären der Freyheit aufschwingen, oder in den sanften Fesseln einer leichten Nachahmung bleiben […].81

Auch Young hielt paradoxerweise am Nachahmungspostulat fest. Er lehnte lediglich eine ›imitatio‹ der Mustertexte rigoros ab. Seine Zeitgenossen forderte er entschieden dazu auf, wie Homer die Natur nachzuahmen und sich in den »Geist« des bewundernswerten Ependichters zu versetzen: Nicht der ahmet den Homer nach, der die göttliche Iliade nachahmet; nur der ahmet den Homer nach, der eben die Methode erwählt, die Homer erwählte, um die Fähigkeit zu erlangen, ein so vollkommenes Werk hervorzubringen. Folget seinen Fußstapfen bis zu der einzigen Quelle der Unsterblichkeit nach; trinket da, wo er trank, auf dem wahren Helicon, nämlich, an der Brust der Natur. Ahmet nach; aber nicht die Schriften, sondern den Geist. Denn könnte man nicht dieses Paradoxon als einen Grundsatz

78 Ebd., S. 24/25 (V. 317f.). 79 [Edward Young:] Gedanken über die Original-Werke. Aus dem Englischen [von H. E. von Teubern]. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1760. Nachwort und Dokumentation zur Wirkungsgeschichte in Deutschland von Gerhard Sauder. Heidelberg 1977. (Deutsche Neudrucke, Reihe: Goethezeit.) S. 15. 80 Ebd., S. 16. 81 Ebd., S. 22.

Der Begriff der ›aemulatio‹

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annehmen? »Daß wir, je weniger wir die berühmten Alten copiren, um so viel mehr, ihnen ähnlich seyn werden.«82

Demnach sollen die nachfolgenden Dichter die inspirierende Originalität Homers nachahmen. Young appelliert an das Selbstbewusstsein der zeitgenössischen Literaten und formuliert wiederum das Paradoxon, dass man den »Alten« nur ähnlich werden würde, indem man etwas Neues und quasi Ursprüngliches schaffe: Kann man euch wohl vorwerfen, daß ihr den Homer nachahmet, wenn ihr so schreibet, wie ihr würdet geschrieben haben, wenn Homer nie gewesen wäre? Entfernet euch stoltz von euern großen Vorgängern, so lange als die Rücksicht auf die Natur, oder auf den gesunden Verstand, euch diese Entfernung von ihnen erlaubet; ie weiter ihr von ihnen an Aehnlichkeit entfernet seyd, desto näher kommt ihr ihnen an Vortreflichkeit; dadurch erhebt ihr euch zum Originale; dadurch werdet ihr ein edler Seiten-Verwandter, nicht ein niedriger Abkömmling von ihnen. Laßt uns unsere Werke mit dem Geiste und in dem Geschmack der Alten, aber nicht mit ihren Materialien aufführen. […] Welche Ehre ist es, unsern Vorgängern nahe zu kommen, welche Ehre sie zu erreichen, welche Ehre (stolzer Gedanke!) ihnen zuvorzukommen!83

Damit verkehrt sich auch scheinbar das Konzept der ›aemulatio‹: Young spricht zwar davon, dass die Nachahmer danach streben sollten, die antiken griechischen Vorgänger zu erreichen, aber auch ihnen »zuvorzukommen«84 anstatt sie zu überbieten. Folglich soll die Voraussetzungslosigkeit, die Ursprünglichkeit und die Natürlichkeit eines Musterautors wie Homer nachgeahmt werden. Der englische Autor, dessen düster-melancholische und religiös-erhabene Blankversdichtung The Complaint; or, Night-Thoughts on Life, Death and Immortality (1742–1745) auch in Deutschland sehr populär war, warnt vor einer übermäßigen Verehrung der ›Alten‹: »Eine allzugroße Ehrfurcht für sie, fesselt das Genie, und versagt ihm diejenige Freyheit, den völligen Raum, den es haben muß, wenn es seine glücklichsten Meisterzüge wagen soll.«85 Ein Genie soll sich über Regeln und normative Muster hinwegsetzen: Denn Schönheiten, die man noch nie in Regeln vorgeschrieben, und etwas Vortrefliches, von dem man noch kein Exempel hatte, (und dieß ist die Characteristik des Genies) diese liegen weit außer den Gränzzeichen der Herrschaft der Gelehrsamkeit und ihrer Gesetze. […] Denn Regeln sind wie Krücken, eine nothwendige Hülfe für den Lahmen, aber ein Hinderniß für den Gesunden.86 82 83 84 85 86

Ebd., S. 23f. Ebd., S. 24f. Ebd., S. 25. Ebd., S. 27. Ebd., S. 29.

204

Klopstocks Wettstreit mit der epischen Tradition

Das »Buch der Natur« und das »Buch des Menschen« seien »die Brunnquellen, woher die Castalischen Ströme der Original-Compositionen fließen«.87 Anweisungs- und Regelpoetiken wie Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst wurde ein Nutzen völlig abgesprochen. Der Leipziger Literaturpapst hingegen hatte in seiner frühaufklärerischen poetologischen Schrift behauptet, dass die »natürliche[n] Gaben« eines Poeten »noch roh und unvollkommen« seien88, daher bräuchte er einen entsprechenden Unterricht89, der auf dem Kanon nachahmenswerter Musterwerke aus der Antike und dem klassizistischen Frankreich basieren sollte. Young kommt in seinen Gedanken über die Original-Werke schließlich auch auf die agonale Grundhaltung zu sprechen, die dem Konzept der ›aemulatio‹ inhärent ist: Die Nachahmung ist knechtisch, die Nacheiferung ist edel; jene fesselt, diese begeistert; jene kann einigermaßen berühmt, diese kann unsterblich machen. Sie machte Athen zu der Regel des Geschmacks für die folgenden Zeitalter, und zum Maaßstabe der Vollkommenheit. Jene großen Geister faßten einer von dem andern Feuer, und wurden in der Hitze des Streits zu so einem Ruhm entflammt, daß ihn keine Zeit auslöschen wird.90

Unterschieden wird zwischen einer sklavischen Nachahmung und einer edlen »Nacheiferung«, die allein zum ewigen Dichterruhm führt. Young betont, dass der Agon, der Wettstreit unter Dichtern, fester Bestandteil des literarischen Lebens im antiken Griechenland war. Laut dem englischen Autor wird nur ein ›edler Nacheiferer‹, der die Originalität der Vorläufer nachahmt, es letztlich zu dichterischem Nachruhm bringen und selbst nachgeahmt werden: Ein Original-Scribent, ist […] aus sich selbst gebohren; er ist sein eigener Stamm-Vater, und wird gewiß ein zahlreiches Geschlecht von Nachahmern hinterlassen, die seinen Ruhm verewigen werden; indessen daß die Nachahmer wie die Maulesel ohne Nachkommenschaft sterben.91

Die deutsche Übersetzung von Edward Youngs Conjectures on Original Composition (Gedanken über die Original-Werke) wurde bezeichnenderweise in der Moralischen Wochenschrift Der Nordische Aufseher, die von Klopstocks Freund Johann Andreas Cramer herausgegeben wurde, ausführlich rezensiert (3. Band, 159. Stück, 1761; 2. Aufl. 1770). Die dortigen Auszüge aus dem Essay »geben 87 88 89 90 91

Ebd., S. 69. Gottsched: AW VI 1, S. 152. Vgl. ebd., S. 152f. [Young:] Gedanken über die Original-Werke, S. 57f. Ebd., S. 59.

Der Begriff der ›aemulatio‹

205

konzentriert Youngs Thesen über Original und Nachahmung wieder«.92 Die literaturkritische Schrift des englischen Autors, die die Dichter des Sturm und Drang maßgeblich beeinflusste, war sicherlich auch Klopstock bekannt. Klopstock hat sich vor allem in seiner Prosaschrift Die deutsche Gelehrtenrepublik (1774) mit dem neuzeitlichen Nachahmungskonzept auseinandergesetzt. Darin unterscheidet er beispielsweise – wie Horaz und Young – dezidiert zwischen einem sklavischen, knechtischen und einem schöpferischen, freien Nachahmer : Wer nur Andrer Meinung oder Geschmak hat, oder wer nur nachahmt, ist ein K n e c h t. Wer selbst denkt, und selten nachahmt, ist ein F r e y e r. Wer als Entdecker oder Erfinder eine gewisse Höhe erreicht hat, ist ein E d l e r.93

Eine derartige, ähnliche Klassifizierung unternahm auch Johann Georg Sulzer in seiner Allgemeinen Theorie der Schönen Künste (3. Theil, 1793). In dem Lexikonartikel Nachahmung unterscheidet er »dreyerley Arten der Nachahmung«:94 Die erste Art der Nachahmung sei die »Nachäffung, die ein bloßes Kinderspiel ist, und aus unbestimmter, keinen Zwek kennender Lust sich zu beschäfftigen entstehet, wodurch man verleitet wird, zum Spiel das zu thun, was andre in andrer Absicht gethan haben«.95 Die zweite Art der Nachahmung sei »die knechtische und ängstliche«: sie wählt zwar aus Ueberlegung das Original, das sie sich zum Muster nimmt; aber indem sie ohne Ueberlegung auch das Zufällige darin nachahmet, was sich zu dem besondern Zwek der Nachahmung nicht schiket, bringet sie ein Werk hervor, in welchem viel unschikliches, oder gar ungereimtes ist.96

Die dritte Art der Nachahmung sei »die freye und verständige, die schon vorhandene Werke zu einem in einzelen Umständen näher oder anders bestimmten Zwek einrichtet«.97 Ein derartiges Werk der ›imitatio‹ sei »zwar nicht in seiner

92 Ebd., S. [25] (Nachwort von Gerhard Sauder). Siehe: Johann Andreas Cramer : Auszug aus v. Teuberns Übersetzung, 1. Auflage, in: Der Nordische Aufseher. Hrsg. v. Johann Andreas Cramer. Dritter und letzter Band. Leipzig 21770 (11761). 159. Stück. S. 328–339. In: [Young:] Gedanken über die Original-Werke, S. [101]–[106]. Gerhard Sauder hat die Wirkungsgeschichte von Youngs Essay in Deutschland dokumentiert und die ausgewählten Übersetzungen, Auszüge und Rezensionen im Anschluss an den Faksimiledruck abgedruckt. 93 HKA, Werke VII 1, S. 13. 94 [Art.] Nachahmung. In: Johann Georg Sulzer : Allgemeine Theorie der schönen Künste in einzelnen, nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter aufeinanderfolgenden Artikeln abgehandelt. Bd. III. 2., unveränd. Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1793. Hildesheim / Zürich / New York 1994. S. 486–492, hier S. 487. 95 Ebd. 96 Ebd. 97 Ebd.

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Klopstocks Wettstreit mit der epischen Tradition

Anlage, aber in der Ausführung, und in vielen Theilen ein wahres Originalwerk« und leiste »in allen Stüken der Absicht Genüge«.98 Sulzer macht deutlich, dass ein literarisches »Genie« niemals ein »knechtischer, ängstlicher Nachahmer« sein könne, da er durch das vorbildliche Original inspiriert werde und so aus eigener Kraft etwas Neues wage: Der freye, edle Nachahmer erwärmet sein eigenes Genie an einem fremden so lange, bis es selbst angeflammet, durch eigene Wärme fortbrennet, da der ängstliche Nachahmer, ohne eigene Kraft sich ins Feuer zu setzen, oder darin zu unterhalten, nur so lange warm bleibet, als das fremde Feuer auf ihn würket. Darum können Künstler von Genie, wenn sie auch wollten, nicht lange bey der knechtischen Nachahmung bleiben; sie werden durch ihre eigenen Kräfte in der ihnen eigenen Bahn fortgerissen; aber ohne Genie kann man nicht anders als knechtisch nachahmen, weil der Mangel eigener Kraft alles Fortgehen unmöglich macht, so bald man sein Original aus dem Gesichte verlieret.99

Klopstock geht bereits in seiner Gelehrtenrepublik (1774) einen Schritt weiter als Sulzer, indem er den Nachahmer völlig abwertet und ihm den »Entdecker oder Erfinder« gegenüberstellt, der auf der höchsten Stufe steht.100 In der späten Ode Der Nachahmer, und der Erfinder (1796) thematisierte Klopstock evident die zwei unterschiedlichen Konzepte dichterischen Schaffens.101 Der Erfinder wird darin als stolzer (V. 5), kühner (V. 14) und »steigende[r] Wandrer« (V. 16) bezeichnet.102 Er ruft »in dem Haine« sich »selber Quellen« hervor (V. 5f.).103 Der Nachahmer hingegen wandelt auf der »Bahn der unsterblichen Alten« (V. 2).104 Er geht »nachahmend, den sichern j Pfad« (V. 11f.), denn, was er sich »auskohr, hat schon gefallen« (V. 12).105 Er bildet »das gezauberte Urbild« (V. 17) der Griechen nach; hat er es erreicht, so lächelt er sich zu, hat er es gar übertroffen, so weint er vor Freude (V. 19f.).106 Diese Ode Klopstocks ist in Dialogform gestaltet. Der Nachahmer stellt dem Erfinder am Schluss folgende entscheidende Frage: »Gleichst du mir etwa nicht? Denn ahmest du nicht die Natur nach?« (V. 25) Darauf antwortet der Erfinder : »Gleichen? Ein rötherer Morgen gebahr j Deinen Freund. Nur selten ward die Natur von dem Griechen j Nachgeahmet; er stellte sie dar.« (V. 26–28)107 Klopstock versuchte demnach in seinem Spätwerk 98 99 100 101 102 103 104 105 106 107

Ebd. Ebd., S. 489f. HKA, Werke VII 1, S. 13. HKA, Werke I 1, S. 534. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.

Der Begriff der ›aemulatio‹

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das Nachahmungsparadigma zu verabschieden und durch das Konzept der ›Darstellung‹ zu ersetzen.108 Der Messias-Dichter lehnte insbesondere die antikisierende Dichtung Christoph Martin Wielands ab. Dieser erfreute sich in den 1770er Jahren wachsender Popularität und seine Romane fanden viele Bewunderer. Für Klopstock und die ihn verehrenden Göttinger Hainbündler war Wieland nichts anderes als ein unorigineller Nachahmer.109 Dies drückt auch das Epigramm Die Chronologen aus, das sich in der Gelehrtenrepublik findet: »Er lahmt am Griechenstab’, und schleicht am Römerstocke; j Und dennoch schreyen sie, er mach epoque!«110 Als nachahmenswerte Vorbilder sah Klopstock einzig die klassischen Autoren des antiken Griechenlands an. Seinen Zeitgenossen warf er daher vor, dass sich diese noch immer an dem lateinisch-römischen Kanon orientieren würden, wie etwa in dem Epigramm Sitt und Weise der Neuern: »Die Römer sind es euch; die Griechen laßt ihr liegen: j Ihr nehmt das Ey ; und laßt die Henne fliegen.«111 Die griechischen Autoren wurden von Klopstock als Erfinder der Dichtkunst und der literarischen Gattungen schlechthin angesehen. Sie hätten in ihren poetischen Werken die Natur nachgeahmt, wohingegen die römischen Autoren lediglich die griechischen Muster imitiert bzw. kopiert hätten. Die lateinischrömischen Dichtungen bezeichnete Klopstock daher in seinem Epigramm Genealogische Tabelle (1771) als Kopien der Abbilder bzw. Nachbilder des Urbilds der Natur : 108 Vgl. hierzu: Winfried Menninghaus: »Darstellung«. Friedrich Gottlieb Klopstocks Eröffnung eines neuen Paradigmas. In: Was heißt »Darstellen«? Hrsg. v. Christiaan L. Hart Nibbrig. Frankfurt a. M. 1994. S. 205–226. – Inka Mülder-Bach: Im Zeichen Pygmalions. Das Modell der Statue und die Entdeckung der »Darstellung« im 18. Jahrhundert. München 1998. – Jörn Steigerwald: Schwindelgefühle. Das literarische Paradigma der ›Darstellung‹ als Anthropologikum (Klopstock, Sulzer, Herz, Hoffmann). In: Kunst und Wissenschaft um 1800. Hrsg. v. Thomas Lange und Harald Neumeyer. Würzburg 2000. S. 109–131. – Laura Benzi: Nachahmung und Darstellung. Zur Batteux-Rezeption bei Friedrich Gottlieb Klopstock. In: Euphorion 104 (2010). Heft 1. S. 67–82. 109 Vgl. zum Göttinger Hainbund und dessen Feindschaft gegenüber Wieland: Annette Lüchow : ›Die heilige Cohorte‹. Klopstock und der Göttinger Hainbund. In: Kevin Hilliard / Katrin Kohl (Hrsg.): Klopstock an der Grenze der Epochen. Mit Klopstock-Bibliographie 1972–1992 von Helmut Riege. Berlin / New York 1995. S. 152–220. 110 HKA, Werke VII 1, S. 107. Ebenso abgedruckt in: HKA, Werke II, Nr. 28, S. 13. Erstmals veröffentlicht wurde das Epigramm Die Chronologen in der Kaiserlich-privilegirten Hamburgischen Neuen Zeitung (HNZ), 5. Jahrgang (1771), 179. Stück (8. 11. 1771). Vgl. hierzu auch die Anmerkungen zur Entstehung des Epigramms von Klaus Hurlebusch in: HKA, Werke II, S. 169f. [Apparat]. 111 HKA, Werke II, Nr. 37, S. 15. Erstveröffentlichung dieses Epigramms Sitt und Weise der Neuern in der Kaiserlich-privilegirten Hamburgischen Neuen Zeitung (HNZ), 5. Jahrgang (1771), 186. Stück (20. 11. 1771). (Vgl. ebd., S. 177 [Apparat].) Erneut abgedruckt wurde dieses Epigramm auch in der Deutschen Gelehrtenrepublik: Vgl. HKA, Werke VII 1, S. 108.

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Klopstocks Wettstreit mit der epischen Tradition

Des Griechen Urbild war Natur; Des Römers war der Grieche; Des Neueren der Römer. Ach! o! o! ach! daß jetzt so gar noch oft Kopierung der Kopey des Nachbilds Dem Deutschen Urbild ist!112

Klopstock verachtete demnach die deutschen Dichter, die diese Kopien wiederum nur kopierten, anstatt selbst als schöpferische Nachahmer etwas Neues zu schaffen.113 Dies geht etwa auch aus dem ironischen Epigramm Ein Wort zur Unzeit (1771) hervor : »Nachahmer kümmerlich, schwazen sie immer vom Originale! j Ich weis es, der Apfel war eisern, und bleyern die Schale.«114 Um selbst als Erfinder in der Dichtkunst zu gelten, musste ein deutscher Dichter laut Klopstock nichts anderes tun, als die Originalität, das ›ingenium‹ der Griechen, nachzuahmen. Dieses Paradoxon, »›Originalität durch Nachahmung‹«115, drückte er in folgendem Epigramm aus : Aufgelöster Zweifel »Nachahmen soll ich nicht; und dennoch nennet Dein lautes Lob mir immer Griechenland.« Wenn Genius in deiner Seele brennet; So ahm dem Griechen nach. Der Griech’ erfand!116

Klopstock erteilt in diesem Epigramm einem zeitgenössischen deutschen Dichter den Rat, nicht die normativen Mustertexte der antiken Griechen nachzuahmen, sondern sich enthusiastisch von dem nachahmenswerten Vorbild begeistern bzw. inspirieren zu lassen. Normative Poetiken, die Regeln aufstellten und Musterbeispiele vorlegten, lehnte der Messias-Dichter stets ab. Er studierte lieber die »Original-Werke« der nachahmenswerten Vorbilder : Von wenigen bemerkter Unterschied In zwanzig Versen des Homer Liegt wahrer tiefgedachter Regeln mehr, 112 HKA, Werke II, Nr. 64, S. 24. Erstveröffentlichung dieses Epigramms Genealogische Tabelle in der Kaiserlich-privilegirten Hamburgischen Neuen Zeitung (HNZ), 5. Jahrgang (1771), 200. Stück (14. 12. 1771). (Vgl. ebd., S. 196f. [Apparat].) 113 In der Deutschen Gelehrtenrepublik schreibt Klopstock: »Das Urbild ist der Baum, die Nachahmung sein Schatten […]«. (HKA, Werke VII 1, S. 67.) 114 HKA, Werke II, Nr. 66, S. 24. Erstveröffentlichung dieses Epigramms Ein Wort zur Unzeit in der Kaiserlich-privilegirten Hamburgischen Neuen Zeitung (HNZ), 5. Jahrgang (1771), 203. Stück (20. 12. 1771). (Vgl. ebd., S. 198 [Apparat].) 115 Elit: Die beste aller möglichen Sprachen der Poesie, S. 83. 116 HKA, Werke II, Nr. 26, S. 12. Erstveröffentlichung dieses Epigramms Aufgelöster Zweifel in der Kaiserlich-privilegirten Hamburgischen Neuen Zeitung (HNZ), 5. Jahrgang (1771), 179. Stück (8. 11. 1771). (Vgl. ebd., S. 167f. [Apparat].)

Der Begriff der ›aemulatio‹

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Als in des Lehrbuchs ausgedehnten, bis zum Schlafen Fortplaudernden zehn hundert Paragraphen.117

Was in diesem Epigramm für Homer gilt, erstreckt sich auch auf Vergil. So betont Klopstock in seiner Abhandlung Von der heiligen Poesie, »daß in einem kleinen Stücke des Virgils, und derer, die mit ihm genannt zu werden verdienen, mehr eigentliche, und wahre Regel, als in vielen Lehrbüchern sei«.118 Der MessiasDichter macht in einer seiner kritischen Abhandlungen im Jahre 1758 deutlich, dass »die Regel seit jeher auf das Meisterstück gefolgt [sei]«.119 So wurde etwa die deskriptive Gattungspoetik des Aristoteles erst in der Rezeption als normative, präskriptive Gattungstheorie interpretiert. Demnach waren erst Homer und dessen ›Meisterwerke‹ da, aus denen man dann später die Regeln für die Gattung Epos abgeleitet hatte. Mit jedem neuen »Meisterstück« der Poesie ergäben sich so »neue[.] Regeln«.120 Klopstocks spannungsvolles Verhältnis zur Antike zeichnet sich sowohl durch Verehrung als auch durch Distanzierung aus.121 In seiner frühesten Ode bezeichnet er sich selbst im Titel als »Lehrling der Griechen«.122 Er befindet sich aber stets in einem Wettstreit mit den antiken Vorläufern. Johann Joachim Winckelmann hatte in seiner kunsthistorischen Schrift Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (1755; erw. Aufl. 1756) verkündet: »Der einzige Weg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich zu werden, ist die Nachahmung der Alten […].«123 Klopstock reagierte auf diese Aussage in seiner kurzen Beurteilung von Winckelmanns Schrift folgendermaßen: Ich würde diese Einschränkung hinzusetzen: In denen Arten der Schönheiten, die sie erschöpft haben. Denn welches Genie würde nicht erschrecken müssen, wenn es sich nicht erlauben dürfte, an der Allgemeinheit jenes Satzes zu zweifeln. Haben zum Exempel die Griechen die Vorstellungen ausdrücken können, die wir uns von Engeln machen müssen? Aber wie vortrefflich haben sie nicht oft die Götter vorgestellt. Sollten

117 HKA, Werke II, Nr. 96, S. 34. Erstveröffentlichung dieses Epigramms Von wenigen bemerkter Unterschied in Klopstocks Deutscher Gelehrtenrepublik (1774) (vgl. ebd., S. 220 [Apparat] und HKA, Werke VII 1, S. 111). 118 Friedrich Gottlieb Klopstock: Von der heiligen Poesie. In: Klopstock: AW, S. 997–1009, hier S. 1000. 119 Friedrich Gottlieb Klopstock: Von dem Publico. In: Klopstock: AW, S. 930–934, hier S. 931. 120 Ebd. 121 Vgl. Riedel: Antikerezeption in der deutschen Literatur vom Renaissance-Humanismus bis zur Gegenwart, S. 135. 122 HKA, Werke I 1, S. 1f., hier S. 1. 123 Johann Joachim Winckelmann: Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst. Sendschreiben. Erläuterung. Hrsg. v. Ludwig Uhling. Bibliographisch ergänzte Ausgabe 1995. [Nachdr.] Stuttgart 2007. S. 4.

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Klopstocks Wettstreit mit der epischen Tradition

wir nicht die Engel so machen? Gewiß nicht völlig so. Wir sollten jene Vorstellungen der Götter übertreffen.124

Auch in dieser poetologischen Abhandlung kommt der Messias-Dichter auf sein Konzept der ›aemulatio‹ zu sprechen. Die alten Griechen haben seiner Meinung nach nicht alle Arten der poetischen Schönheiten erschöpft. Vor allem die höhere oder »heilige Poesie« bietet stets die Möglichkeit, die antiken Dichter Griechenlands zu übertreffen. Die »christliche Mythologie« überbietet so den heidnisch-antiken Götterapparat (vgl. Kap. 4.4). Klopstock glaubte stets, eine Verwandtschaft zwischen der griechischen und der deutschen Literatur zu erkennen. Er erhoffte sich, das Selbstbewusstsein der zeitgenössischen deutschen Dichter zu stärken. So schreibt er in der Gelehrtenrepublik: »Es ist keine Kleinigkeit, daß es die Deutschen sind, die, nach den Griechen, am meisten erfunden haben. Und ist es etwa eine, dazu beyzutragen, daß man einst, daß man nun bald sagen könne: Die Deutschen haben mehr, als die Griechen erfunden?«125 Klopstock erkannte aber auch, dass die deutschen Literaten ihrer intendierten Rolle als Nacheiferer und Überbieter der antiken griechischen Vorbilder noch nicht ernsthaft nachkamen bzw. lediglich glaubten, bereits den Wettstreit gewonnen zu haben. Kritik an diesem Missstand äußerte er etwa in folgenden Epigrammen aus den 1770er Jahren: Fälschliche Einbildung Wir Neuern hätten schon die Griechen übertroffen? Man kann an diesem unerstiegnen Felsen landen; Ist etwa mehr geschehn? auch stranden; Bey dieser oder jener blinden Klippe Wohl gar ersoffen Vorher schon seyn. Mich dünkt, es sind genung vorhanden Der Scheitern und Gerippe.126 Der unglükliche Waghals Den Griechen seine Nation vergleichen . . Es ist ein kühner Schritt; Man thut ihn wol, doch thun ihn andre mit? Der Griech’ erfand! 124 Friedrich Gottlieb Klopstock: Eine Beurteilung der Winckelmannischen Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in den schönen Künsten. In: Klopstock: AW, S. 1049– 1054, hier S. 1050. Diese ästhetische Schrift Klopstocks wurde erstmals im Jahre 1760 im Nordischen Aufseher (3. Bd., 150. Stück) abgedruckt. 125 HKA, Werke VII 1, S. 81. 126 HKA, Werke II, Nr. 83, S. 30. Erstveröffentlichung dieses Epigramms Fälschliche Einbildung in der Kaiserlich-privilegirten Hamburgischen Neuen Zeitung (HNZ), 6. Jahrgang (1772), 26. Stück (14. 02. 1772). (Vgl. ebd., S. 211 [Apparat].)

Der Begriff der ›aemulatio‹

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Welch ist die Wahrheit, die sein tieferer Verstand Nicht forschte? Welcher Schönheit Bild Hat nicht sein Genius enthült? Und ihr, was habt ihr? Nachgeahmet! Daß also hier, wie sonst, die Gleichheit lahmet. Geh’s, wie es kann; allein wo ist der neue Zug, Der lächerlich genug Den Thoren zeichnet, der in Wolken schift, Und schwäzet, daß sein Volk die Griechen übertrift?127

Das Verhältnis der Gegenwart zur Vergangenheit, der Neueren zu den Alten, wurde im Laufe der Jahrhunderte in dem aus dem 12. Jahrhundert stammenden Bild der Zwerge auf den Schultern von Riesen erfasst.128 Johannes von Salisbury erwähnte dieses Gleichnis um 1159 (Metalogicon III, 4) und schrieb es als Diktum Bernhard von Chartres zu.129 Dieses Bild besagt, dass die zeitgenössischen Autoren im Vergleich zu den antiken zwar nur wie Zwerge seien, aber dennoch weiter und mehr sehen könnten, da sie auf den Schultern der Riesen sitzen würden. In der französischen Querelle des Anciens et des Modernes wurde dieses Bild sowohl von den ›anciens‹ als auch von den ›moderni‹ herangezogen. Es lässt sich einerseits als Ausdruck der Superiorität der Modernen über ihre klassischen Vorgänger auslegen. Hierin drückt sich das lineare Fortschrittsbewusstsein der ›moderni‹ aus. Andererseits bilden laut den Antikeverehrern die Leistungen der griechischen und römischen Autoren die konstitutive Ausgangsbasis für eigene Forschungen und ermöglichen so erst eine Erweiterung des Wissens. Der »individuelle Rang der Alten« bleibt in dieser Interpretation erhalten.130

127 HKA, Werke II, Nr. 93, S. 33. Erstveröffentlichung dieses Epigramms Der unglükliche Waghals in Klopstocks Deutscher Gelehrtenrepublik (1774) (vgl. ebd., S. 219 [Apparat] und HKA, Werke VII 1, S. 109). 128 Vgl. Peter Kapitza: Der Zwerg auf den Schultern des Riesen. In: Rhetorik 2 (1981). S. 49–58. 129 Vgl. hierzu: Ebd., S. 52. – Thomas Pago: Johann Christoph Gottsched und die Rezeption der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland. München 2003. S. 96. – Hans Gerd Rötzer : Traditionalität und Modernität in der europäischen Literatur. Ein Überblick vom Attizismus-Asianismus-Streit bis zur »Querelle des Anciens et des Modernes«. Darmstadt 1979. S. 53. 130 Pago: Johann Christoph Gottsched und die Rezeption der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland, S. 96. Thomas Pago interpretiert das Zwerge-Riesen-Gleichnis folgendermaßen: »Das Bild vereint die zwei gegensätzlichen Wertungen, indem es sie auf zwei unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sieht: Die Leistungen und der individuelle Rang der Alten bleiben unangefochten, dennoch erscheinen die Modernen als überlegen, da über ihre Grundlage notwendig hinausreichend. Eine spezifische Form moderner Überlegenheit in der Dichtkunst kann allerdings in diesem räumlichen Modell noch nicht bestimmt werden; es stammt vielmehr aus dem additiven Fortschrittsbegriff der empirischen Wissenschaften, so dass Überlegenheit neuerer Dichtung, auch wenn die Metapher prinzipiell

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Klopstocks Wettstreit mit der epischen Tradition

Breitinger führt in seiner Critischen Dichtkunst (1740) dieses Gleichnis an und vertritt offensichtlich den Standpunkt der Modernen: Es ist auch so ferne, daß der Vortheil, welchen diejenigen genossen haben, die vor uns gewesen sind, uns den Muth zu neuen Unternehmungen beschneiden sollte, daß uns vielmehr ihr Exempel aufmuntern und uns die gute Zuversicht beybringen kan, wenn wir diesen Riesen auf die Schultern stehen, werden wir noch viel weiter sehen können, als sie gesehen haben. Wenn diese faule und Arbeit-scheue Zaghaftigkeit jene Römischen Dichter, welche in allen Theilen der Wohlredenheit die vollkommensten Muster der Griechen vor ihnen gehabt hatten, eingenommen hätte, oder wenn noch in den jüngst vergangenen Zeiten Moliere, Corneille, Racine, Boileau, Milton, Pope, Opitz, Haller, sich durch dergleichen Wahn hätten niederschlagen lassen, wo wären ihre berühmten und unsterblichen Wercke, die kein Rost der Zeiten jemahls verzehren wird?131

Seit »Opitzens Zeiten« hätte es in den schönen Künsten und Wissenschaften »durch den scharfsinnigen Fleiß grosser Geister« wesentliche Fortschritte gegeben.132 Angesichts der vergrößerten und erweiterten »Materie«, die nun für die Nachahmung bereitstünde, würde sich für die Zeitgenossen gegenüber den »Alten« ein »unbeschreibliche[r] Vortheil« ergeben.133 Allerdings seien die gegenwärtigen Dichter noch »zu langsam und ungeschmeidig« und würden sich dessen nicht bedienen.134 Der Schweizer Dichtungstheoretiker appelliert an den Ehrgeiz der Zeitgenossen und fordert sie dazu auf, in der Dichtkunst etwas Neues, Eigenes zu schaffen: Da also die Geheimnisse der Natur, und hiemit die Minen des verwundersamen Neuen in den Schriften unsrer heutigen Weltweisen aufgeschlossen vor Augen liegen, so bleibet mir nichts mehr übrig, als diejenigen, die sich über den Pöbel unsrer heutigen Meister-Sänger und Reim-Bezwinger erheben wollen, aufzumuntern, daß sie sich aus diesen Castalischen Brunnen berauschen.135

Breitinger zitiert anschließend folgende Verse aus Horaz’ Ars Poetica (V. 40f.): »cui lecta potenter erit res, j nec facundia deseret hunc nec lucidus ordo.« (»Wer seinem Können gemäß sich das Thema gewählt hat, dem wird es nicht an sprachlicher Kraft und lichtvoller Anordnung fehlen.«)136 Vom Mittelalter bis zum Renaissance-Humanismus drückte das Gleichnis der Zwerge auf den Schultern von Riesen die »hierarchische Unterordnung der

131 132 133 134 135 136

eine unbegrenzte Steigerungsfähigkeit impliziert, nur in einer erweiterten Kenntnis oder Anwendung schon für die Alten gültiger Regeln bestehen kann.« (Ebd., S. 96f.) Breitinger : CD I, S. 115. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 115f. Horatius Flaccus: Ars Poetica / Die Dichtkunst. Lateinisch / Deutsch. Übersetzt und mit einem Nachwort hrsg. v. Eckart Schäfer, S. 6/7 (V. 40f.).

Stoffwahl, Handlung und Gesamtkomposition des Messias

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heidnischen Antike« unter die christliche Offenbarungsreligion aus.137 Das Überlegenheitsgefühl und der Anspruch auf Neuheit gründeten allerdings einzig auf dem biblischen Stoff, d. h., an den antiken Formen und Gattungen hielt man unerschütterlich fest.138 Die Konzepte der ›imitatio auctorum‹ und der ›aemulatio‹ bleiben nur anwendbar, wenn man von einem »zyklischen Geschichtsbild« ausgeht, in dem die eigene Gegenwart als durch eine Verfallszeit vom Goldenen Zeitalter der Antike getrennt wahrgenommen wird.139 In einer »historistischen Sichtweise« hingegen wird ein Vergleich der modernen poetischen Kunstwerke mit den schöpferischen Leistungen des klassischen Altertums problematisch, da prinzipiell alle literarischen Epochen als gleichwertig angesehen werden.140 Bodmer ging Mitte des 18. Jahrhunderts noch von einem zyklischen Geschichtsbild aus. Im 55. Brief der Neuen Critischen Briefe (1749) verkündet er freudig, dass mit dem Erscheinen von Klopstocks Messias nach dem silbernen nun endlich das goldene Zeitalter der deutschen Poesie angebrochen sei.141

4.2

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Klopstock besingt in seinem Bibelepos Der Messias »der sündigen Menschen Erlösung« (I, 1) durch den neutestamentlichen Titelhelden. Für »die Freyheit in diesem so wichtigen Theile der ReligionsGeschichte zu dichten«142 wurde er stets von seinen Gegnern angegriffen (vgl. Kap. 1.3). Er rechtfertigt die Wahl seines biblischen Stoffes gegenüber den Vertretern der orthodoxen Theologie und Aufklärung durch den Verweis auf das Johannesevangelium: »Der Hauptgrund dieser Freyheit ist ein Ausspruch Johannis [Joh. 21,25], wo er sagt, daß die Welt die Bücher nicht faßen würde, wenn alle Thaten des Meßias aufgeschrieben werden sollten.«143 Zudem komme es zweitens darauf an, ob er »des erhabenen Systems der Christlichen Religion würdig gedichtet habe«.144 Klopstock erklärt seine Intention am 21. September 1748 in einem Brief an Bodmer : »Wie 137 138 139 140 141

Kaminski: [Art.] Imitatio auctorum, Sp. 247. Vgl. ebd. Bauer: [Art.] Aemulatio, Sp. 165. Ebd. Vgl. Johann Jacob Bodmer : Der fünf und fünfzigste Brief. [Von der Annäherung des goldnen Alters der deutschen Poesie.] In: [Ders.:] Neue Critische Briefe über gantz verschiedene Sachen, von verschiedenen Verfassern. Zürich 1749. S. 387–390. 142 Brief von Klopstock an Johann Heinrich Meister, 26. Januar 1749. In: HKA, Briefe I, Nr. 21, S. 34–36, hier S. 35, Z. 25f. 143 Ebd., S. 35, Z. 27–29. »ES sind auch viel ander ding / die Jhesus gethan hat / Welche / so sie solten eins nach dem andern geschrieben werden / achte ich / die Welt würde die Bücher nicht begreiffen / die zu beschreiben weren.« (Joh. 21,25) 144 Brief von Klopstock an Johann Heinrich Meister, 26. Januar 1749. In: HKA, Briefe I, Nr. 21, S. 34–36, hier S. 35, Z. 29–31.

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glücklich werde ich seyn, wenn ich bey Vollendung des Messias, etwas zur Verherrlichung unsrer grossen u ganz göttlichen Religion werde beygetragen haben.«145 Georg Friedrich Meier erkannte in dieser Absicht des Dichters den eigentlichen Vorzug des Messias: Und da das aufmercksame Lesen desselben das Hertz mit den gottseligsten Empfindungen anfült, wenn man anders kein Ruchloser ist, so kan dieses Gedicht beydes den guten Geschmack und die Frömmigkeit befördern. Das letzte komt in unsern Tagen recht zu gelegener Zeit. Man fängt an, es häufig für ein Zeichen der Dumheit oder des Betrugs zu halten, wenn man ein Christ ist. Solche Gedichte aber, als der Meßias, sind geschickt das Erhabene und Heroische in unserer Religion zur Beschämung der Spötter fühlbar zu machen. Es ist zu bedauren, und es ist auch ungemein schädlich, daß viele Vertheidiger unserer Religion weder das Erhabene, noch das Reitzende in ihrem Vortrage der Religionswahrheiten erreichen können, welches man doch in den Schriften der Religionsspötter vielmals antrift. Unser Dichter thut mehr zur Befestigung der christlichen Religion als mancher Gottesgelehrter, welcher auf die allerorthodoxeste Art seinen Glauben vertheidiget. Die heydnischen Poeten flochten ihre Religion in ihre Gedichte, warum haben bisher unsere Dichter nicht fleißiger diesem Muster nachgeahmt?146

Gottsched setzte sich im Januar 1752 im Neuesten aus der anmuthigen Gelehrsamkeit in einer Abhandlung mit der Frage auseinander Was von den christlichen Epopeen zu halten sey?.147 Er definiert die »neumodische[.] Art epischer Gedichte« zunächst folgendermaßen: Es sind Gedichte, dazu der Stoff aus der Schrift hergenommen worden, die von allen Christen als eine göttliche Offenbarung, folglich, als eine untrügliche Wahrheit angenommen und verehret wird; dem aber die Dichter, aus ihrem eigenen Witze, viel seltsame Erdichtungen beyfügen, ihre Erzählungen desto wunderbarer und beliebter zu machen.148

Anstatt sich nun ein eigenes Urteil über die »christlichen« oder »geistlichen Epopeen« zu bilden, beruft sich der Leipziger Literaturpapst auf den dritten Gesang von Nicolas Boileau-Despr8aux’ L’Art po8tique (1674), d. h. auf die Autorität des französischen Klassizismus. In diesem Standardwerk der ›doctrine 145 Brief von Klopstock an Bodmer, 21. September 1748. In: HKA, Briefe I, Nr. 15, S. 16–21, hier S. 20, Z. 172–174. 146 Georg Friedrich Meier : Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias. Erstes Stück. 2. Aufl. Halle 1752. S. 6f. 147 Vgl. hierzu: Bernd Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion. Göttingen 2006. (Palaestra. Untersuchungen aus der deutschen und skandinavischen Philologie; 323.) S. 135–141. 148 Johann Christoph Gottsched: Bescheidenes Gutachten, was von den bisherigen christlichen Epopeen der Deutschen zu halten sey? In: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit. Leipzig: Wintermonat [Januar] 1752. S. 62–74. Zitiert nach: Die deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse. Bd. 4: Das 18. Jahrhundert. In Verbindung mit Christoph Perels hrsg. v. Walther Killy. Zweiter Teilband. München 1983. S. 613–620, hier S. 613.

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classique‹ wird Vergils Aeneis und der darin auftretende heidnisch-antike Götterapparat zum musterhaften Vorbild für die nachfolgenden Epiker erklärt. Es sei ein ziemlich vergebliches Vorhaben zu glauben, »Gott mit seinen Heiligen und seinen Propheten ebenso in Handlung umsetzen zu können wie diese dem Geist der Dichter entsprungenen Götter [Pensent faire agir Dieu, ses Saints, & ses Prophetes, j Comme ces Dieux 8clos du cerveau des Po[tes]«.149 Die zeitgenössischen Dichter schickten »den Leser auf Schritt und Tritt in die Hölle und präsentieren ihm immer nur Astaroth, Beelzebub und Luzifer [Mettent / chaque pas le Lecteur en Enfer : j N’offrent rien qu’ Astaroth, Belzebuth, Lucifer]«.150 Boileau wertet die Epen der Dichter des 16. und 17. Jahrhunderts dezidiert ab, in denen die christliche Himmels- und Höllenmaschinerie die heidnisch-antike Mythologie ersetze: De la foi d’un Chrestien les mysteres terribles D’ornemens 8gay8s ne sont point susceptibles. L’Evangile / l’esprit n’offre de tous cost8s Que penitence / faire, & tourmens merit8s: Et de vos fictions le meslange coupable, Mesme / ses veritez donne l’air de la Fable. Die schrecklichen Mysterien des christlichen Glaubens vertragen solch unterhaltsame Ingredienzien nicht; das Evangelium fordert vom Geist allüberall nur Reue, Buße und gerechte Qual: der sträfliche Mischmasch eurer so gearteten Erfindungen gibt selbst den Wahrheiten des Evangeliums den Anschein des Fabulösen.151

Er ist demnach der Meinung, dass der Ernst der göttlichen Geheimnisse des christlichen Glaubens sich nicht mit den poetischen Fiktionen vertragen würde. Die historischen Wahrheiten der Religion erhielten so selbst den Schein von ›Phantasiegebilden‹. Der französische Klassizist wirft den christlichen Ependichtern sowohl Vermessenheit als auch Monotonie in der poetischen Darstellung der handelnden Figuren vor: Et quel objet enfin / presenter aux yeux, Que le Diable to0jours heurlant contre les Cieux, Qui de vostre Heros veut rabaißer la gloire, Et souvent avec Dieu balance la victoire? Was für ein Bild überhaupt, das sich den Augen bietet: der Teufel, der dauernd den Himmel anbrüllt! Und wer von euren Helden soll den niedrigen Ruhm davontragen, daß er sich unentwegt mit Gott mißt?152 149 Nicolas Boileau-Despr8aux: L’Art po8tique. Die Dichtkunst. Französisch und deutsch. Übersetzt und hrsg. v. Ute und Heinz Ludwig Arnold. Stuttgart 1967. S. 48/49. 150 Ebd. 151 Ebd., S. 48–51. 152 Ebd., S. 50/51.

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Er beteuert, dass er es auch nicht gern sähe, »wenn ein christlicher Stoff von einem heidnischen und dem Götzendienst verfallenen Autor behandelt würde [en un sujet Chrestien, j Un Auteur follement idol.tre & Payen]«.153 Man dürfe aber »aus dem Gott der Wahrheit […] keinen Gott der Lüge [machen] [Du Dieu de verit8, faire un Dieu de mensonges]«.154 Aus Boileaus Argumentation im dritten Gesang seiner Art po8tique geht demnach hervor, dass er Heldengedichte mit christlichem Stoff als unvernünftig und gegen den guten literarischen ›Geschmack‹ verstoßend ansah. Gottsched schließt sich in seiner Abhandlung der Kritik seines (neo-)klassizistischen Gewährsmanns an und zieht zudem in seiner Argumentation das religiöse Schrifttum außerhalb der kanonischen Bücher der Heiligen Schrift heran. Die zeitgenössischen »Schriftgelehrten« hätten bereits ein »vernünftige[s] Urtheil« über die »Fabeln und Mährchen der Rabbinen« gefällt, mit welchen diese die Bücher des Alten Testaments »auszuputzen pfleg[t]en«: Ihr Thalmud hält eine Menge kindischer Erzählungen in sich, die ihre witzigen Köpfe vom Adam im Paradiese, vom Noah im Kasten, von den Patriarchen, vom Moses auf dem Berge Sinai u. d. m. erdichtet haben. Sie suchen dadurch gleichsam die Lücken auszufüllen, die von den heiligen Scribenten in ihren Geschichten gelassen worden; und meynen damit die Neugier der Einfältigen zu vergnügen: wenn sie ihnen ihre Hirngeburten, anstatt der Wahrheit erzählen. Was thun aber unsre geistlichen Epopeendichter anders, als, daß sie diesen an den Rabbinen verlachten, und billig verdammten Kunstgriff, wiewohl auf eine neue Art brauchen; die Bibel mit ihren Träumen ausfüllen, und die Wahrheit mit Lügen verbrämen? Gewiß, wenn es der ewigen Weisheit gefallen hätte, uns mehr Nachrichten von diesen alten Zeiten zukommen zu lassen, sie würde uns nicht bis auf diese poetischen Rabbinen haben warten lassen.155

Gottsched verweist in seiner kritischen Abhandlung allerdings nicht nur auf das jüdische, sondern auch auf das pseudepigraphische Schrifttum und auf die innerhalb der katholischen Kirche kursierenden »Lügenden«: Es fanden sich in der alten Kirche fromme Betrüger, die auf die Rechnung der Patriarchen, Apostel und andrer ersten Christen allerley falsche Schriften aufsetzten. Daher kamen die Bücher Adams und Seths, die Prophezeihungen eines Henochs, und des Noah; das Evangelium Nikodemi, Josephs, und Mariä, das Evangelium von der Kindheit Christi u. d. m. Was diese heiligen Dichter nun, nach ihrer Einfalt und Thorheit für Mährchen ausheckten, das bürdeten sie dem gemeinen Manne ihrer Zeiten, als heilige Wahrheiten auf; die auch eine lange Zeit für wahr gehalten wurden. Ja sie machten sogar sybillinische Bücher, und Orakel der delphischen Pythia, die Wahrheiten des Christenthums, ihrer Meynung nach, zu bestärken. Ihre Absicht mochte nun so gut 153 Ebd. 154 Ebd., 52/53. 155 Gottsched: Bescheidenes Gutachten, was von den bisherigen christlichen Epopeen der Deutschen zu halten sey?, S. 616.

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seyn, als sie wollte: so entstunden doch der christlichen Religion große Vorwürfe, viel Irrthümer, und allerley Verwirrungen daraus: die in neuern Zeiten mit vieler Mühe der Gelehrten kaum haben zurecht gebracht werden können. […] Die finstern Jahrhunderte der Kirche waren noch fruchtbarer an solchen fabelhaften Legenden, als die vorigen. Man schmiedete Gedichte von einem großen Christoph, vom Ritter St. George, vom heiligen Antonius, Makarius, und andern solchen Altvätern mehr […].156

Jede unschuldige Fiktion, die gewisse ›Leerstellen‹ der Bibel ausfüllt, wird demgemäß sofort zur »Lüge« erklärt. Er beklagt zudem, man wolle nun alles, was bereits in dunklen, d. h. unaufgeklärten Zeiten als Ausdruck der Unvernunft und des Aberglaubens verworfen worden sei, wieder als ›poetische Schönheiten‹ aufdrängen: Was nun theils an allen diesen Stücken den Zeiten der Finsterniß und Unwissenheit, der Einfalt und dem Aberglauben zu gute gehalten und übersehen; theils an dem Tasso und Milton in neuern Zeiten von den gescheidtesten Kunstrichtern getadelt worden: das will man uns itzo, als besondre Schönheiten aufdringen; das erkühnt sich ein zürcherischer Kunstrichter als Vorbothen des goldenen Alters der deutschen Poesie anzupreisen; das soll alle Homere und Virgile übertreffen. In Wahrheit, man muß sich gegentheils wundern, wie unsre Gottesgelehrten so still sitzen, und es nicht wahrnehmen, wie viel solche neue geistliche Lügenden, in diesen zur Freygeisterey und Religionsspötterey so geneigten Zeiten, dem wahren Christenthume schaden werden. Sie verfolgen mit einem löblichen Eifer die zinzendorfischen Schwärmereyen, zumal in dem schwindlichten Gesangbuche desselben; und sehen nicht, daß in diesen neuen Epopeen eben der Geist der Schwärmerey, nur auf eine schlauere und nicht so plumpe Art herrschet; aber eben deswegen noch desto schädlicher und ansteckender ist. Zudem kann den Pöbel und gemeinen Schlag der Leser nichts mehr blenden, als was man unter dem Scheine der Andacht und Gottseligkeit, hinter seltsamen Worten und versteckten dunkeln Redensarten verbirgt: wie wir an des schwärmerischen Schusters, Jacob Böhmens Schriften, Pordätschens göttlicher Metaphysica, u. d. m. sehen können: Omnia enim stolidi magis admirantur amantque, Inversis quae sub verbis latitantia cernunt.157 Lucret.158

Mit dem »zürcherische[n] Kunstrichter« ist natürlich Bodmer gemeint, der den Messias Klopstocks als Ausdruck des nun angebrochenen Goldenen Zeitalters 156 Ebd., S. 616f. 157 Gottsched zitiert hier folgende Verse aus Lukrez’ De rerum natura (1. Buch, V. 641f.): »omnia enim stolidi magis admirantur amantque, j inversis quae sub verbis latitantia cernunt« (»lieben doch alles die Dummköpfe mehr und bewundern es stärker, j was zu erblicken sie glauben versteckt in verschrobenen Worten«). (Titus Lucretius Carus: De rerum natura / Welt aus Atomen. Lateinisch / Deutsch. Übersetzt und mit einem Nachwort hrsg. v. Karl Büchner. [Nachdr.] Stuttgart 2005. S. 50/51 [1. Buch, V. 641f.].) 158 Gottsched: Bescheidenes Gutachten, was von den bisherigen christlichen Epopeen der Deutschen zu halten sey?, S. 617f.

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der deutschen Poesie anpries. Gottsched greift hier dezidiert die Vertreter der theologischen Orthodoxie an, die zwar gegen die pietistische ›Sekte‹ vorgingen, dabei aber offenbar die »neuen Epopeen« nicht bemerkten, die ebenso den »Geist der Schwärmerey« in sich trügen. Der aufgeklärte ›Kunstrichter‹ wertet demnach die zeitgenössischen Bibelepiker nicht nur als »poetische[.] Rabbinen«159 ab, er bezeichnet deren Werke auch pejorativ als »neue geistliche Lügenden«160 und brandmarkt sie als gegenwärtig vorhandene Gefahr für die christliche Religion. Er vergleicht die Bibelepen des 18. Jahrhunderts mit den ›schwülstigen‹ Schriften der Mystiker Jakob Böhme (1575–1624) und John Pordage (1607–1681). Böhme galt als Feind der lutherischen, altprotestantischen Orthodoxie und als Wegbereiter des Pietismus. Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700–1760) war der Gründer der Herrnhuter Brüdergemeine und damit der Inbegriff des Pietismus in der Epoche der Frühaufklärung. Die Gottschedianer erhoben in den 1750er Jahren wiederholt gegenüber Klopstock den Vorwurf »der häretischen, vom Pietismus inspirierten religiösen ›Schwärmerey‹«161, dabei zeigte sich der Dichter in seinem Messias als Vertreter der lutherisch-orthodoxen Versöhnungslehre, der auch Einflüsse der Neologie aufnahm, aber eben keinesfalls als Anhänger des Pietismus.162 159 Ebd., S. 616. 160 Ebd., S. 617. 161 Hans-Georg Kemper: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Band 6/I: Empfindsamkeit. Tübingen 1997. S. 418. 162 Eine gute Einführung in das Thema »Pietismus« bieten die gesammelten Aufsätze von Johannes Wallmann, in denen er insbesondere erklärt, was Pietismus überhaupt ist, einen Überblick über die Pietismusforschung gibt, die Anfänge des Pietismus erläutert und sich vor allem Johann Arndt (1555–1621) und Philipp Jakob Spener (1635–1705) widmet. (Vgl. Johannes Wallmann: Pietismus-Studien. Gesammelte Aufsätze II. Tübingen 2008.) Martin Gierl untersucht in seiner lesenswerten Monographie über Pietismus und Aufklärung den Zeitraum zwischen etwa 1670 bis 1730. (Vgl. Martin Gierl: Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1997. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte; 129.)) Die Parallelisierung des Messias mit den literarischen Werken des Pietismus bereits durch zeitgenössische Kritiker sollte für die spätere Klopstock-Forschung folgenreich sein: Gerhard Kaiser hat sich in seiner grundlegenden Forschungsarbeit über Klopstocks Religion und Dichtung ausführlich mit dessen Stellung »in der Metaphysik und in den religiösen Strömungen der Zeit – Leibniz/Wolffianismus, Neologie, Pietismus« beschäftigt. (Gerhard Kaiser : Klopstock. Religion und Dichtung. Gütersloh 1963. (Studien zu Religion, Geschichte und Geisteswissenschaft; 1.) S. 25.) (Vgl. ebd., S. 123–203 (Kap. III: Klopstock und der Pietismus).) Er behauptet mit Verweis auf die sprachwissenschaftliche Studie von August Langen, dass »die pietistische Färbung von Klopstocks Wortschatz und Sprache […] ganz unbestritten [sei]« (ebd., S. 132). (Vgl. hierzu: August Langen: Der Wortschatz des deutschen Pietismus. 2. erg. Aufl. Tübingen 1968. S. 438–451.) Eine große Rolle spielt in der Argumentation Kaisers der sogenannte »Blut- und Wundenkult« im Messias. (Vgl. Gerhard Kaiser: Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland. Ein Beitrag zum Problem der Säkularisation. Wiesbaden 1961. S. 125.) Er versteht darunter »die aus dem Nacherlebnis der Passion entspringende, sinnenhaft-gefühlvolle Konzentra-

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Es stellt sich hier die problematische Frage, welche schon die zeitgenössischen Kritiker und die geisteswissenschaftliche Forschung aufgeworfen haben, ob Gottsched als Aufklärer die Argumente der theologischen Orthodoxie in seinem Bescheidenen Gutachten, was von den bisherigen christlichen Epopeen der Deutschen zu halten sey womöglich nur zum Schein anführt, wenn er die ›neuen Erdichtungen‹ in den Epen mit biblischem Stoff abqualifiziert.163 Imtion auf Blut und Wunden des Heilands, die als ›Zahlung und Lösegeld‹ für die Sünden der Welt zum besonderen Gegenstand der Verherrlichung werden« und vergleicht Klopstock im Folgenden mit Zinzendorf. (Kaiser : Klopstock. Religion und Dichtung, S. 166f.) Johann Anselm Steiger hat in einem Aufsatz aus dem Jahre 1994 mittlerweile überzeugend deutlich gemacht, dass man »Klopstocks angewandte Theologie« nicht sofort dem Pietismus zuordnen dürfe, »nur weil man fälschlicherweise mein[e], jeder, der vom Blut und den Wunden Jesu rede[.], sei deswegen schon Pietist«. (Johann Anselm Steiger : Aufklärungskritische Versöhnungslehre. Zorn Gottes, Opfer Christi und Versöhnung in der Theologie Justus Christoph Kraffts, Friedrich Gottlieb Klopstocks und Christian Friedrich Daniel Schubarts. In: Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus 20 (1994). S. 125–172, hier S. 163, Anm. 109.) Bereits die lutherische Orthodoxie habe auf »die mittelalterliche und mystische Passionsfrömmigkeit zurückgegriffen und eine Blut- und Wundenfrömmigkeit gestiftet, die jedoch […] reformatorisch interpretiert […] und mit den reformatorisch-theologischen Errungenschaften vereinbart« worden sei. (Ebd., S. 139, Anm. 47.) Steiger behauptet glaubhaft, dass die reformatorisch-orthodoxe Versöhnungslehre das theologische Fundament von Klopstocks Messias sei. (Vgl. ebd., S. 163–166, S. 171f.) In der germanistischen Literatur blieb man bislang dennoch den inzwischen überholten Forschungsansätzen verhaftet, was sich etwa auch in der Studie Poema / Gedicht von Frauke Berndt aus dem Jahre 2011 zeigt. Sie bezeichnet den Messias Klopstocks ausdrücklich als »Gründungstext bürgerlich-pietistischer Gotteserfahrung« und als »bürgerlich-pietistisches Epos«. (Frauke Berndt: Poema / Gedicht. Die epistemische Konfiguration der Literatur um 1750. Berlin / Boston 2011. (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung; 43.) S. 7 und S. 233.) 163 Hans-Georg Kemper macht in seiner Studie über die deutsche Lyrik der Empfindsamkeit deutlich, dass Gottsched »Milton und dessen Verehrer nicht nur als Fortschrittsfeinde, sondern auch als religionsfeindliche Enthusiasten« verketzert habe, »da er es nicht wagen konnte, die Existenzberechtigung religiöser Poesie schlechthin infragezustellen«. (Kemper : Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit. Band 6/I: Empfindsamkeit, S. 244.) Er kommentiert die Aussagen Gottscheds über die Bibelepen und deren Verfasser folgendermaßen: »[S]o suchte die aufklärerische Orthodoxie der theologischen schein-heilig in die Hände zu spielen«. (Ebd.) Andres Straßberger bemerkt in seiner theologiegeschichtlichen Monographie zur Stellung Gottscheds innerhalb der religiösen Strömungen seiner Zeit: »Einerseits war Gottsched ohne Zweifel ein entschiedener Kritiker der Vorherrschaft orthodoxer Theologie, die für sich das Wahrheitsmonopol beanspruchte und dieses restriktiv auf den gesamten Wissenschaftsbetrieb ausdehnte. Andererseits war seine Stellung erklärtermaßen religionsapologetisch eingestellt gegenüber materialistischen, atheistischen und deistischen Tendenzen der französischen und englischen Aufklärung […]. In dieser Bipolarität realisierte sich nun aber gerade in spezifischer Weise die von vielen protestantischen Theologen mitgetragene deutsche Aufklärung, so daß man legitimerweise nach wie vor von einer ›christlichen Aufklärung‹ sprechen kann, die für die deutsche Situation charakteristisch war. Gottsched erscheint darin als ihr ganz typischer Vertreter.« (Andres Straßberger : Johann Christoph Gottsched und die »philosophische« Predigt. Studien zur aufklärerischen Transformation der protestantischen Homiletik im Spannungsfeld von

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merhin sind neue Erfindungen und poetischer ›Schmuck‹ (›ornatus‹) in der Dichtkunst wesentlich. Die wunderbaren und wahrscheinlichen ›Erdichtungen‹ sind als Vorstellungen der ›Einbildungskraft‹ fester Bestandteil der Poesie, vertragen sich laut dem Leipziger Kritiker aber angeblich nicht mit den heiligen Wahrheiten der christlichen Offenbarungsreligion. Laut dem orthodoxen Diktum von der Verbalinspiration der Bibel darf der Wortlaut des heiligen Textes weder verändert noch darf irgendetwas hinzugefügt werden. Klopstock verarbeitete in seinem Messias neutestamentlichen Stoff, der jedem christlichen Leser bekannt war, d. h., man achtete insbesondere darauf, wie er den heilsgeschichtlichen Inhalt poetisch umsetzte und was er eventuell hinzudichtete. Gottlieb Wilhelm Rabener behauptet demgemäß in einem Brief an Bodmer vom 7. Mai 1749: »Hätte er [Klopstock; I. G.] die Paßionshistorie, ohne ein Wort im Texte zu verändern, in Reime gebracht, so würden ihn alle Schulmeister und Pfarrer ihren Kindern und Bauern lassen auswendig lernen […].«164 Aufgrund der künstlerischen Komposition des neutestamentlichen Stoffes galt der Messias-Dichter offensichtlich in den Augen einiger radikal-orthodoxer Kritiker als Ketzer bzw. Häretiker. Wieland greift Gottsched in seiner anonymen Streitschrift Ankündigung einer Dunciade für die Deutschen (1755) auch dafür an, dass dieser »die Wächter der Orthodoxie und die Ketzermacher« dazu aufgerufen habe, »sich der gekränkten Religion gegen diese Verwegenen [Klopstock, Bodmer und Wieland; Theologie, Philosophie, Rhetorik und Politik. Tübingen 2010. (Beiträge zur historischen Theologie; 151.) S. 98.) Straßberger räumt ein, dass man in Gottscheds literarischem Schaffen als Aufklärer »eine gewisse Doppeldeutigkeit« entdecken könne, die im ersten Moment irritierend wirke. (Ebd., S. 102.) Diese habe man als »Ausdruck der Zerrissenheit« aufgefasst: »Der öffentliche Gottsched: ein in kluger Berechnung die Konflikte mit der herrschenden Orthodoxie vermeidender und aus taktischem Kalkül seine Rechtgläubigkeit betonender deutscher Hochschulprofessor, der aktive Teilnahme am kirchlichen Leben vortäuschte. Anders dagegen der private Gottsched: ein radikaler Aufklärer, Deist, geheimer Vorläufer der Neologie.« (Ebd., S. 102f.) Straßberger bewertet die Positionierung des Leipziger Professors folgendermaßen: »Angemessener als eine solche Diastase scheint es mir dagegen zu sein, die Unausgewogenheiten, Spannungen und Widersprüchlichkeiten im Œuvre Gottscheds als genuinen Ausdruck einer Zeit aufzufassen, in der noch neugierigtastend, aber auch emphatisch-optimistisch zugleich ein grenzenloses Vertrauen in die Fähigkeiten der menschlichen Vernunft gesetzt wurde, ohne vollständig die Konsequenzen der Gedankenexperimente vorauszuberechnen. Eine deistische Auflösung des Christentums entsprach deshalb zu keinem Zeitpunkt den Absichten Gottscheds, obwohl nicht ausgeschlossen werden kann, daß seine Ansichten unbeabsichtigt in diese Richtung wirkten. Dafür war bei ihm – wie bei den meisten deutschen Aufklärern seiner Generation – die Prägung durch die Religionsphilosophie Leibniz’ zu nachhaltig. Im Prinzip vertrat Gottsched in seinen bis Anfang der 1730er Jahren [!] publizierten und unpublizierten Texten den Standpunkt eines weithin ›orthodoxen‹ Wolffianismus […].« (Ebd., S. 103f.) 164 Brief von Rabener an Bodmer, 7. Mai 1749. In: [Johann Jacob Bodmer :] Litterarische Pamphlete. Aus der Schweiz. Nebst Briefen an Bodmern. Zürich 1781. S. 130–134, hier S. 131.

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I. G.] anzunehmen«, die angeblich »die Wahrheit mit den unsinnigsten Lügen schänden [würden]«.165 Der junge Kritiker und Anhänger des Bodmer/Breitinger-Kreises zweifelt in seiner polemischen Schrift gleichermaßen an Gottscheds vorgeblich rechtgläubiger Haltung: Dieser Eifer, welchen der angemaßte Lehrer Germaniens für die Religion zeigt, würde, wenn er auch von Herzen gienge, hier sehr übel angebracht, sehr unverständig, und sehr pöbelhaft ausgedrückt seyn. Aber wer ist denn dieser Eiferer, der eine so grosse Sorgfalt für die Reinigkeit unsrer Religion und eine so grosse Ehrerbietung für die göttlichen Schriften vorgiebt? […] Man sieht wie heftig ihn sein niederträchtiger Zorn dahinreißt, da er aus lauter Orthodoxie, (die er, ohne den mindesten Glauben zu verdienen, vorgiebt) den Gebrauch der Dichtung in Religionswahrheiten verdammet, den doch die Evangelisch-Lutherische Kirche in ihren öffentlich eingeführten K i r c h e n g e s ä n g e n rechtfertiget.166

Johann Andreas Cramer reagierte auf die Polemik Gottscheds in der Sammlung vermischter Schriften von den Verfassern der Bremischen neuen Beyträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes (3. Bd., 1. Stück, 1752) mit einer Klopstock verteidigenden Abhandlung, den Gedanken über die Frage: Wie weit Erdichtungen in Epopeen, welche Begebenheiten in der Religion zum Gegenstande haben, zugelassen seyn können?.167 Er behauptet, dass die Philosophen und Historiker auch nichts anderes tun würden als zu »erdichten«, und führt plausible Gründe an, um das poetische Vorgehen der Bibelepiker zu rechtfertigen: Und was sind alle die philosophischen Lehrgebäude der neuern Zeiten, welche die Ursachen der göttlichen Zulassung des Bösen erklären wollen, anders, als Erdichtungen? Wenn es nur erlaubt ist, den Mangel der Begreiflichkeit, der Deutlichkeit und Ausführlichkeit bey vernünftigen Wahrheiten durch wahrscheinliche Möglichkeiten, Hypothesen und Muthmaßungen zu ersetzen, und die Lehrbegierde des menschlichen Gemüthes dadurch zu befriedigen, so lange man sie nicht für mehr ausgiebt, als sie sind: so muß es nicht weniger erlaubt seyn, gewisse wirkliche Begebenheiten auf eben diese Art begreiflicher und unvergeßlicher zu machen.168 165 Christoph Martin Wieland: Ankündigung einer Dunciade für die Deutschen. In: [Ders.:] Gesammelte Schriften. Hrsg. v. der Deutschen Kommission der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Erste Abteilung: Werke. 4. Bd.: Prosaische Jugendwerke. Hrsg. v. Fritz Homeyer und Hugo Bieber. Berlin 1916. S. 71–131, hier S. 100. 166 Ebd., S. 101. 167 Vgl. hierzu: Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion, S. 141–150. 168 [Johann Andreas Cramer:] Gedanken über die Frage: Wie weit Erdichtungen in Epopeen, welche Begebenheiten in der Religion zum Gegenstande haben, zugelassen seyn können? In: Sammlung vermischter Schriften von den Verfassern der Bremischen neuen Beyträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes. Dritter Band, erstes Stück. Leipzig 1752. S. 23– 55. Zitiert nach: Die deutsche Literatur. Texte und Zeugnisse. Bd. 4: Das 18. Jahrhundert. In Verbindung mit Christoph Perels hrsg. v. Walther Killy. Zweiter Teilband. München 1983. S. 620–627, hier S. 621.

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Sein erstes Gegenargument lautet dementsprechend: Wenn das Aufstellen von »Hypothesen und Muthmaßungen«, die aus dem Nachdenken über unumstößliche Wahrheiten entstanden seien, nicht erlaubt gewesen wäre, so würden wir »wenig philosophische Wahrheiten« oder Geschichtsbücher haben.169 Ähnlich formuliert Cramer auch sein zweites Gegenargument: Wenn man »allen Gebrauch der Erdichtungen in geistlichen Epopeen« verwerfen wolle, müsse man auch »alle theologischen Lehrbücher aus dem Gebiete der Wissenschaften« verweisen.170 »Besonders würde die Kunst, die Schriften der Offenbarung auszulegen, für eine ganz unnütze Wissenschaft gehalten werden müssen.«171 Denn was würden die Theologen anderes tun, als »Erörterungen schwerer Schriftstellen« der Bibel und »Erläuterungen, Erklärungen und Entwickelungen« der Wahrheiten Gottes vorzulegen:172 Wofern der Gebrauch weiser Erdichtungen in christlichen Epopeen deswegen untersagt seyn sollte, weil uns Gott von den in der Offenbarung erzählten Begebenheiten und Lehren nicht alle Nachrichten hat zukommen lassen, die uns seine Weisheit hätte geben können: so sollte der Beweis leicht zu führen seyn, daß nicht nur alle Untersuchung dunkler und schwerer Stellen, sondern auch eine weitere Erklärung und ausführlichere Entwickelung dessen, was uns offenbart ist, unerlaubt sey. Denn was sind tausend gelehrte Erörterungen der Schriftstellen, von welchen wir keine hinlänglichen Einsichten haben? Sind es nicht bloße Muthmaßungen? Wer aber hat iemals den Gelehrten ein Verbrechen daraus gemacht, daß sie ihre Muthmaßungen darüber vorgetragen haben, wo sie nur nicht für untrügliche Wahrheiten ausgegeben worden sind? […] Auf die Art nun, wie man dem Dichter untersagt, mögliche Begebenheiten zu wirklichen biblischen Begebenheiten hinzuzudenken, wird man allen Auslegern und Lehrern der geoffenbarten Lehre zurufen müssen, daß sie eine sowohl unerlaubte als unnütze Arbeit unternähmen, weil uns Gott, wenn es seiner ewigen Weisheit gefallen hätte, den Menschen Erklärungen schwerer Schriftörter oder umständlichere Erläuterungen seiner Wahrheiten zu gönnen, nicht auf die Kirchenväter, Ausleger und Gottesgelehrten würde haben warten lassen.173

Er vergleicht die Interpretatoren der Schriften der christlichen Offenbarungsreligion mit den Bibeldichtern und kommt zu folgendem Schluss: So bald ein Ausleger nicht für seine Auslegung die gewisse Bürgschaft leisten kann, daß sie die unstreitige wahre Erklärung ist: so bald dichtet er. Ein Poet, der zur Erläuterung oder Verschönerung wirklicher Begebenheiten oder Umstände etwas wharscheinliches [!] hinzu dichtet, ist nichts anders, als ein Ausleger dieser wirklichen Begebenheiten. Diese Anmerkung erweist unwidersprechlich, daß man Erdichtungen in geistlichen 169 170 171 172 173

Ebd., S. 620f. Ebd., S. 622. Ebd., S. 622f. Ebd., S. 622. Ebd.

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Epopeen darum nicht für unerlaubt erklären darf, weil uns Gott nicht alles offenbart hat, was er uns offenbaren konnte.174

Der Endzweck von »Erdichtungen, welche wirklichen Wahrheiten und Begebenheiten nicht widersprächen, sondern sie vielmehr voraus setzten und zum Grunde legten,« läge eben darin, »daß sie die allgemeinen Wahrheiten, welche in wirklichen Begebenheiten liegen, wiederholten, und dem Geiste noch einmal vorstellten«, wodurch »der menschlichen Einbildungskraft nicht allein auf eine unschuldige Weise ein Vergnügen, sondern auch durch die Hülfe dieses Vergnügens ein[.] wirkliche[r] moralische[r] Nutzen« verschafft werde.175 Cramer verweist dezidiert auf die moralische und religiöse Intention der epischen Gedichte mit biblischem Stoff und grenzt demzufolge die bisherige profane Poesie von der neuen »heiligen Dichtkunst« ab: Die meisten poetischen Erdichtungen sind seit langen Zeiten nichts anders als Künste gewesen, durch das Vergnügen, das sie der Einbildungskraft erwecken, das Herz von der Ehrfurcht gegen die Religion und Tugend abzuziehen. Warum soll es nicht erlaubt seyn, dasselbe durch eben diese Einbildungskraft zu ihr zurück zu bringen?176

Eine »gesunde und unter der Vernunft stehende Einbildungskraft« könne niemals »widersinnische Erdichtungen«, also »weder Chimären noch Träume, noch Lügen« hervorbringen.177 Alle »vernünftigen Erdichtungen«, die sich auf Wahrheiten beziehen würden, welche in der realen Welt existierten, seien »Wahrheiten entweder aus andern, oder doch aus möglichen Welten«.178 In diesem Argument zeigt sich sowohl der Einfluss der Leibniz’schen Theodizee als auch der Dichtungstheorie der Schweizer. Cramer versucht, die psychologische Fähigkeit der ›imaginatio‹ mit dem Verstandesdenken, der ›ratio‹, zu vereinbaren: Könne man »die Bemühung, durch gründliche Beweise sich von der Wahrheit der Religion zu überzeugen, die Andacht der Vernunft nennen«, so könne »auch theils die Erfindung frommer und dabey vernünftiger Erdichtungen, theils das Vergnügen darüber die Andacht der Einbildungskraft heißen«.179 Auf Gottscheds Behauptung, die neuen Bibelepen würden der christlichen Religion großen Schaden zufügen, reagiert Cramer, indem er abschließend auf den Nutzen der religiösen Gedichte verweist: Wenn nun Feinde der Religion aufstehn, und ihren kleinen Antheil von Verstande anwenden, diesen Mangel einer nähern Offenbarung dessen, was an sich groß und herrlich ist, für uns aber entbehrlich war, zu feindseligen Angriffen wider die Religion 174 175 176 177 178 179

Ebd., S. 623. Ebd. Ebd., S. 624. Ebd., S. 625. Ebd. Ebd., S. 625f.

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zu misbrauchen; wenn sie eben daher Anlaß zu Erdichtungen nehmen, welche die Wahrheit, die Hoheit und Würde dessen, was offenbart ist, verdächtig machen, unterdrücken, oder zum wenigsten verdunkeln sollen: soll es da einem Verehrer der Religion unerlaubt seyn, unanständige und unvernünftige Erdichtungen, so die Absicht haben, die Offenbarung und ihre Lehren zu schänden, durch vernünftige Erdichtungen, die seine Ehrfurcht gegen die Gottheit beweisen, zu widerlegen, und zu entkräften? Wenn wir uns aus dem Besitze dieses Rechts begeben, und ihre Erdichtungen großmüthig verachten wollten, weil die Wahrheit Wahrheit bleibt, ob sie gleich nicht in ihrem ganzen Umfange aufgeklärt worden ist: was für Triumphlieder würden die Ungläubigen, welche so oft die ungereimtesten Spöttereyen über die Religion für unumstößliche Einwürfe gegen sie rühmen, über dieses Stillschweigen anstimmen?180

Cramer leistete selbst einen Beitrag zur Poetisierung biblischer Texte und widmete sich den Psalmen, die er »sowohl wegen ihrer göttlichen Eingebung, als wegen der Schönheit ihrer Poesie« als »die vollkommensten Gesänge« bezeichnete.181 Er veröffentlichte eine insgesamt vierbändige Poetische Uebersetzung der Psalmen mit Abhandlungen über dieselben (1755–1764). Das »Wesen der biblischen Poesie« sah er »in der Begeisterung, oder in dem getreuen Ausdrucke der heiligsten und edelsten Gemüthsbewegungen«.182 Klopstock hatte sich aus der öffentlichen Auseinandersetzung zwischen der Leipziger und der Schweizer Partei stets herausgehalten. In einem Brief an seinen Freund Cramer vom 19. Dezember 1752 berichtet er allerdings, dass er momentan mit dem Gedanken spiele, einige, wenige Anmerkungen zum M e ß. zu machen, welche das Gedicht auf Seiten der Religion u der Poesie etwas erklärten; u, so zerstreut sie auch hier u da wären, doch ein gewisses Ganzes enthielten, dessen beständige Absicht wäre, das Gedicht in seinem wahren Gesichtspunkte zu zeigen.183

180 Ebd., S. 626f. 181 Johann Andreas Cramer: Poetische Uebersetzung der Psalmen mit Abhandlungen über dieselben. Erster Theil. Zweyte verbesserte Auflage. Leipzig 1763. Vorrede, unpag. 182 Ebd., S. 289. Cramer als Exponent des »Kopenhagener Kreises« veröffentlichte in dem von ihm herausgegebenen Nordischen Aufseher mehrere Aufsätze, die in den Briefen, die neueste Literatur betreffend im Sommer 1759 rezensiert wurden (Nr. 48–51). Ursula Goldenbaum hat den Streit zwischen Cramer und Lessing in ihrer Studie Appell an das Publikum. Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1687–1796 untersucht und arbeitet heraus, dass die Berliner Kritiker an der Autonomie der ›ratio‹ festhalten und daher das »Kopenhagener ›Gefühlschristentum‹« dezidiert ablehnen würden. (Ursula Goldenbaum: Lessing contra Cramer zum Verhältnis von Glauben und Vernunft. Die Grundsatzdebatte zwischen den Literaturbriefen und dem Nordischen Aufseher. In: [Dies.:] Appell an das Publikum. Die öffentliche Debatte in der deutschen Aufklärung 1687–1796. Mit Beiträgen von Frank Grunert, Peter Weber, Gerda Heinrich, Brigitte Erker und Winfried Siebers. Teil 2. Berlin 2004. S. 653–728, hier S. 667.) 183 Brief von Klopstock an Johann Andreas Cramer, 19. Dezember 1752. In: HKA, Briefe II, Nr. 183, S. 230–233, hier S. 231, Z. 25–29.

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Er selbst habe diesen »Einfall« gehabt, den zudem »viele gute Leser von der zweyten Classe« veranlasst hätten.184 Allerdings habe er sich »immer den Einwurf gemacht, daß Homer sein Scholiast nicht geworden wäre«.185 Letztendlich sei er jedoch entschlossen gewesen, »diese Anmerkung des Geschmaks einer wesentlichen Achtsamkeit für das Publicum, aufzuopfern«.186 Er setzte diesen Plan allerdings zunächst noch nicht um, da sein Freund und Gönner am Kopenhagener Hof, Johann Hartwig Ernst Graf von Bernstorff (1712–1772), den Klopstock als »Oberrichter« über seine eigenen Kritiken bezeichnete187, »zu sehr [seiner] ersten Meinung« gewesen sei.188 Mit dem Lesepublikum »der zweyten Classe« meinte der Messias-Dichter vermutlich die ihm wohlgesonnenen Rezipienten.189 Sein bedingungsloser Verehrer Heß hatte ihm beispielsweise in einem Brief vom 30. September 1749 bereits folgenden Vorschlag unterbreitet: Werden Sie den ersten Band Ihrer »Messiade«, welchen Sie herausgeben wollen, nicht auch mit einer Vorrede begleiten? Sie sollten darinn fürnemlich das Recht eines christlichen Poeten behaupten, von den wichtigsten Wahrheiten unserer allerheiligsten Religion so zu dichten, wie Sie dichten. Es giebt auch bei uns unter den besten Kennern und redlichsten Liebhabern Ihres Gedichtes solche zarte Gewissen, die sich über diesen Punkt unnöthige Schwierigkeiten machen. Und diese wären es werth, daß ihnen ihre Scrupel von dem Herrn Dichter selbst auf die Weise benommen würden, wie Sie es in einer solchen Vorrede gar wohl thun könnten. Ich selbst muß bekennen, daß der gute Schein, mit welchem diese verführischen Irrgeister ihre Sache zu bemänteln wissen, mich viel eh’ im Glauben schwach machen könnte, als der weltliche Arm der Kunstrichter.190

Erst als ihn folglich die Bewunderer des Messias darum baten, seine biblische ›Materie‹ zu rechtfertigen, machte Klopstock eine Ausnahme und veröffentlichte die Abhandlung Von der heiligen Poesie, die er im Jahre 1755 dem ersten Band der »Kopenhagener Ausgabe« seines Bibelepos, der die Gesänge I bis V enthielt, voranstellte.191 Es handelt sich bei dieser »Vorrede« also weniger um eine apo184 185 186 187 188 189 190

Ebd., S. 231, Z. 24f. Ebd., S. 231, Z. 29f. Ebd., S. 231, Z. 31f. Ebd., S. 231, Z. 22. Ebd., S. 231, Z. 33. Vgl. Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion, S. 183. Brief von Heß an Klopstock, 30. September 1749. In: HKA, Briefe I, Nr. 38, S. 62–65, hier S. 64f., Z. 75–87. 191 Friedrich Gottlieb Klopstock: Von der heiligen Poesie. In: Klopstock: AW, S. 997–1009. Vgl. zu Klopstocks Abhandlung Von der heiligen Poesie insbesondere folgende Forschungsliteratur : Wilhelm Große: Studien zu Klopstocks Poetik. München 1977. S. 103–114. – Joachim Jacob: Heilige Poesie. Zu einem literarischen Modell bei Pyra, Klopstock und Wieland. Tübingen 1997. (Studien zur deutschen Literatur; 144.) S. 135–150. – Hildegard Benning: Rhetorische Ästhetik. Die poetologische Konzeption Klopstocks im Kontext der Dichtungstheorie des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1997. S. 75–84. – Auerochs: Die Entste-

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logetische Schrift, die sich an die Gegner des Messias richtet, als vielmehr um eine Programmschrift über seine »heilige Poesie«, die dem Interesse eines gläubigen und damit für religiöses Schrifttum ohnehin aufgeschlossenen Lesepublikums entgegenkommen sollte. Dementsprechend leitet der Dichter seine Abhandlung auch folgendermaßen ein: Das Publicum ist sehr berechtigt, von dem, der etwas den Aussprüchen desselben unterwirft, zu fordern, daß er, wenn er das Gemälde aufgestellt hat, weggehe, und schweige. Ich darf sagen, daß ich diesem Gesetze beinahe mit einer Art Gewissenhaftigkeit nachgelebt habe. Ich habe mich gleich von Anfange unter die Zuschauer gemischt, geschwiegen, und von einigen gelernt. Ich werde auch itzt nichts anders tun. Ich werde nur einige von den Zuschauern, die mich hören wollen, auf die Seite nehmen, und sie auf eine Stelle führen, von welcher, wie ich glaube, Gedichte von dieser Art, in ihrem wahren Gesichtspunkte, angesehn werden. Meine Absicht ist also nicht, vom Messias; sondern von derjenigen Poesie, die ich die heilige nenne, überhaupt zu reden.192

Hiermit würde er sich »doppelter Gefahr« aussetzen: Zum einen könnte man ihm vorwerfen, dass er »von einer Sache nur etwas sage, von der man ein Buch schreiben müßte, sie ganz zu sagen«, d. h., dass er das durchaus schwierige Thema nicht erschöpfend behandeln würde.193 Zum anderen könnte er dadurch die ›Kunstrichter‹ an »die strengen Forderungen« erinnern, die sie berechtigterweise an denjenigen stellen würden, der es unternähme, sie »auf den erhabenen Schauplatz der Religion zu führen«.194 Einzig der Gedanke, dass er »dadurch vielleicht etwas täte, das einigen nützen, und andern angenehm sein könnte«, habe ihn dazu gebracht, die zwei genannten Einwände zurückzuweisen und seine »Abneigung [zu überwinden], etwas, das zur Kritik gehört, zu schreiben«.195 Diese apologetische Einleitung Klopstocks macht den Einfluss des sogenannten ›Literaturstreits‹ deutlich. Ohne die öffentlichen Debatten in den publizierten Streitschriften und Buchrezensionen wäre es folglich nicht notwendig gewesen, derart Stellung zu beziehen und das poetische Vorhaben zu rechtfertigen. Der Messias-Dichter hat keine Poetik hinterlassen, da er ausführliche Lehrbücher zeitlebens entschieden ablehnte. Die poetische Praxis ging den kurzen poetologischen Schriften stets voraus. Demnach muss man zuerst den Messias studieren, um die dahintersteckende Poetologie von Klopstocks »heiliger Poesie« zu verstehen. Verstreute und teils rhapsodische Aussagen über seine poetischen Ab-

192 193 194 195

hung der Kunstreligion, S. 182–205. – Martin Fritz: Vom Erhabenen. Der Traktat ›Peri Hypsous‹ und seine ästhetisch-religiöse Renaissance im 18. Jahrhundert. Tübingen 2011. (Beiträge zur historischen Theologie; 160.) S. 481–495. Klopstock: Von der heiligen Poesie. In: Klopstock: AW, S. 997–1009, hier S. 997f. Ebd., S. 998. Ebd. Ebd.

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sichten finden sich in seinem Briefwechsel mit Freunden und Bekannten, in seinen Oden und Epigrammen, in seiner Deutschen Gelehrtenrepublik und in seinen komprimierten ästhetischen, verstheoretischen und sprachwissenschaftlichen Schriften, die er vor allem im Nordischen Aufseher (3 Bde., 1758–1761), der von Johann Andreas Cramer herausgegeben wurde, publizierte. Klopstock geht in seiner dichtungstheoretischen Schrift Von der heiligen Poesie (1755) zunächst der Frage nach, »[o]b es erlaubt sei, den Inhalt zu Gedichten aus der Religion zu nehmen?«.196 In seiner Argumentation schließt er sich Cramer an, der es ebenfalls für legitim gehalten hatte, gleich einem Theologen über die Wahrheiten der christlichen Offenbarungsreligion nachzudenken und die ›Leerstellen‹ der Bibel auszufüllen: Der Teil der Offenbarung, der uns Begebenheiten meldet, besteht meistenteils nur aus Grundrissen, da doch diese Begebenheiten, wie sie wirklich geschahn, ein großes ausgebildetes Gemälde waren. Ein Dichter studiert diesen reichen Grundriß, und malt ihn nach den Hauptzügen aus, die er in demselben gefunden zu haben glaubt. Zugleich weiß man von ihm, daß er dies für nicht mehr, als Erdichtungen ausgibt. Er tut, in seiner Art, nichts weiter, als was ein anderer tut, der, aus den nicht historischen Wahrheiten der Religion, Folgen herleitet. Sie dachten, auf verschiedene Weise, über die Religion nach.197

Der Messias-Dichter macht deutlich, dass er es »für erlaubt halte, auch nach poetischer Denkungsart, dasjenige, was uns die Offenbarung lehrt, weiter zu entwickeln«.198 Falls jemand »aus noch zärterer Sorgfalt, nichts Fremdes in die Religion einmischen zu lassen«, einwende, dass er beim Lesen vergessen würde, dass es sich nur um ein Gedicht handele, und folglich die erfundenen Erdichtungen für wahre »Geschichte der Religion« hielte, würde er ihm Folgendes entgegnen:199 Die Folgen, die er aus den Geschichten zieht, welche er, in diesem Feuer des Herzens oder der Einbildungskraft, für wahr hält, sind seinem moralischen Charakter nicht schädlich. Sobald die Geschichte [!] von einer Art wären, daß sie dieses sein könnten, so wird er gewiß, eh er darnach handelt, sich erinnern, daß es Erdichtungen sind.200

Anschließend geht Klopstock zu der »viel wesentlicheren Frage fort: Unter welchen Bedingungen man von Materien der Religion dichten dürfe?«.201 Er erläutert, dass diese »Bedingungen« dezidiert »von dem innern Plane der Religion« bestimmt würden: 196 197 198 199 200 201

Ebd. Ebd. Ebd., S. 999. Ebd., S. 998f. Ebd., S. 999. Ebd.

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Ein Teil des Entwurfs und der Ausbildung eines heiligen Gedichts hängt zwar von dem Genie und dem Geschmacke des Poeten ab; ein anderer Teil aber, und vielleicht der größte, gehört vor den Richterstuhl der Religion. Es ist hier sogar nicht genung, daß der Verfasser des heiligen Gedichts den Riß der Religion tiefsinnig studiert habe, ihren großen Umfang, nebst allen ihren Verhältnissen genau kenne; sie muß auch sein Herz, mit derjenigen starken Hand gebildet haben, die an dem rechtschaffnen Manne, der sie versteht, so kennbar ist.202

Der Verfasser eines »heiligen Gedichts« muss demnach nicht nur theologisch gebildet sein, sondern auch einen entsprechenden moralischen Charakter, d. h. ein gutes Herz, aufweisen. Klopstock zählt das Epos zur »höhere[n] Poesie«, die »ein Werk des Genie« sei.203 Die »höhere Poesie« ist nichts anderes als eine pathetisch-erhabene Poesie, denn er führt in seiner Abhandlung aus, dass diese »nur selten einige Züge des Witzes, zum Ausmalen, anwenden [solle]«.204 Es gebe zwar »Werke des Witzes«, die »Meisterstücke« seien, »ohne daß das Herz etwas dazu beigetragen [habe]«: »Allein, das Genie ohne Herz, wäre nur halbes Genie.«205 Ein mit ›Einbildungskraft‹ und Vernunft ausgestatteter Dichter ist somit für ihn noch kein literarisches Genie. Was fehlt, ist hier die begeisternde ›Empfindungskraft‹ des Poeten. Klopstock verweist zum einen auf die rhetorische Wirkungsfunktion des ›movere‹ und zum anderen auf den Einfluss des antiken Traktats Vom Erhabenen, wenn er schreibt: »Die letzten und höchsten Wirkungen der Werke des Genie sind, daß sie die ganze Seele bewegen. Wir können hier einige Stufen der starken und der stärkern Empfindung hinaufsteigen. Dies ist der Schauplatz des Erhabnen.«206 Die affizierte Seele sowohl des Dichters als auch des Rezipienten steht im Zentrum von Klopstocks Wirkungsästhetik. Dementsprechend lauten auch die folgenden rhapsodischen Gedanken des Messias-Dichters: Wer es für einen geringen Unterschied hält, die Seele leicht [zu] rühren; oder sie ganz in allen ihren mächtigen Kräften, [zu] bewegen: der denkt nicht würdig genung von ihr. Man fordert von demjenigen, der unsre Seele so zu bewegen unternimmt, daß er jede Saite derselben, auf ihre Art, ganz treffe. Sie bemerkt hier jeden Mißton, auch den feinsten. Wer dieses recht überdacht hat, wird sich oft entschlossen haben, lieber gar nicht zu schreiben. Wem es dennoch glückt, der hat Empfindungen in uns hervorgebracht, die, weder die höchste philosophische Überzeugung, noch die andern Arten der Poesie, verursachen können. Diese Eindrücke haben, in Betrachtung der Stärke und der Dauer, einige Ähnlichkeit mit dem Exempel, das ein großer Mann gibt.207 202 203 204 205 206 207

Ebd. Ebd., S. 1000. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 1000f.

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Die »heilige«, innerseelisch bewegende Poesie übertrifft laut Klopstock in ihrer Intensität ebenso die wissenschaftliche Disziplin der Philosophie wie auch alle »andern Arten der Poesie« – worunter er wohl Gedichte versteht, die profane Themen behandeln. Sie zeichnet sich zudem durch eine enge Verbindung von Schönheit und Moralität aus. Entscheidend ist hier folgende Schlüsselstelle in der apologetischen Schrift Von der heiligen Poesie: Der letzte Endzweck der höhern Poesie, und zugleich das wahre Kennzeichen ihres Werts, ist die moralische Schönheit. Und auch diese allein verdient es, daß sie unsre ganze Seele in Bewegung setze. Der Poet, den wir meinen, muß uns über unsre kurzsichtige Art zu denken erheben, und uns dem Strome entreißen, mit dem wir fortgezogen werden. Es [!] muß uns mächtig daran erinnern, daß wir unsterblich sind, und auch schon in diesem Leben, viel glückseliger sein könnten.208

Demnach sei die »höhere Poesie« auch »ganz unfähig, uns durch blendende Vorstellungen zum Bösen zu verführen«.209 Eine poetische Darstellung muss für den Messias-Dichter »edel und erhaben« sein, denn erst dann werden die Empfindungen der Leser bzw. Zuhörer auf die geforderte »Höhe geführt«.210 Die moralische Wirkungsabsicht wird in den poetologischen Überlegungen der Bibelepiker stets hervorgehoben (vgl. Kap. 5). Nur ein christlicher Stoff garantiert laut Klopstock die intendierte Überbietung der ästhetisch vollkommenen heidnisch-antiken Dichtung: »Man kann hier, auch ohne Offenbarung, schon weit gehn. Homer ist, außer seiner Göttergeschichte, die er nicht erfunden hatte, schon sehr moralisch. Wenn aber die Offenbarung unsre Führerin wird; so steigen wir von einem Hügel auf ein Gebirge.«211 Klopstock schreibt der menschlichen Seele drei »Hauptkräfte« zu: »Verstand, Einbildungskraft, und Willen«, die ein Verfasser von »Werke[n] der höhern Poesie« vorteilhaft nutzen solle, um entsprechende Wirkungen bei den Rezipienten zu erzielen: Die Einbildungskraft ist ihm öfter eine Malerin des großen und furchtbaren Schönen in der Natur, als ihrer sanftrührenden Gegenstände. Indem er jenes malt, gelingen ihm alsdann die stärksten Züge, wenn er sich, durch das Feuer seiner Abbildung, der Leidenschaft nähert. Dem Verstande legt er am liebsten diejenigen Wahrheiten vor, die gewußt zu werden verdienen, und die nur der rechtschaffne Mann ganz versteht. 208 Ebd., S. 1001. Kevin Hilliard identifiziert Klopstocks »moralische Schönheit« mit dem Ethos-Begriff der Rhetorik von Aristoteles: »›Moralische Schönheit‹ is ethos as Aristotle understood it, namely moral character as manifested in the speech.« (Kevin Hilliard: Philosophy, Letters, and the Fine Arts in Klopstock’s Thought. London 1987. (Bithell Series of Dissertations; 12.) S. 94.) 209 Klopstock: Von der heiligen Poesie. In: Klopstock: AW, S. 997–1009, hier S. 1001. 210 Ebd. 211 Ebd.

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Und in dem Willen, oder dem Herzen, dieser vielseitigen und gewaltigsten Kraft der Seele, sucht er vorzüglich diejenigen Empfindungen zu treffen, die es erweitern, die es groß und edel sein lehren.212

Auch wenn er den »Willen« oder das »Herz« als das höchste Seelenvermögen ansieht, so macht er dennoch deutlich, dass ein Dichter nur durch das Zusammenwirken aller drei Kräfte als »eine Kraft der Seele« »Meisterstücke« hervorbringen könne.213 Die produktionsästhetische Ebene entspricht demnach der rezeptionsästhetischen, da Klopstock in seiner Abhandlung wiederholt fordert, dass die »ganze Seele« der Rezipienten bewegt werden solle. Halte sich ein Dichter jedoch an diese wirkungspoetologischen Grundsätze, so bringe er uns »mit schneller Gewalt dahin, daß wir ausrufen, uns laut freuen; tiefsinnig stehnbleiben, denken, schweigen; oder blaß werden, zittern, weinen«.214 Die »Ursachen dieser so schnellen und so mächtigen Wirkungen« seien »von so verschiedenen Feinheiten« und hätten »ein so mannigfaltiges Verhältnis untereinander«, dass es für Kritiker »unendlich schwer [sei], sie alle mit Richtigkeit zu entwickeln«.215 Offenbar versucht Klopstock, die vernünftigen ›Kunstrichter‹ davon abzuhalten, die Ursachen der affektiven Wirkungen der »heiligen Poesie« zu analysieren. Außerdem soll sich das Lesepublikum dieser Art von erhabener Poesie mit religiösem Stoff nicht aus gelehrten Philosophen oder rationalistischen Intellektuellen zusammensetzen, sondern aus »Gefühlsdenkern«, denn »denken« und »empfinden« bilden für den Messias-Dichter eine harmonische Einheit.216 Die Grundzüge einer empfindsamen Wirkungsästhetik, die der Dichter hier in seiner ›Programmschrift‹ Von der heiligen Poesie formuliert, gelten für alle literarischen Gattungen. Dass sich Klopstock aber auch mit der Epostheorie insbesondere befasst, zeigt der folgende Abschnitt, in dem er auf die Gesamtkonzeption eines »größern Gedichts« zu sprechen kommt: Das Schwerste für den Verfasser und den Beurteiler jedes größern Gedichts ist der Grundriß des Ganzen. Das Wesentlichste dieses Grundrisses ist, Einfalt und Mannigfaltigkeit auf eine Art verbinden, die großen Endzwecken angemessen ist; eine gewisse Hoheit in die Hauptidee des Gedichts bringen; die kühne Erfindung eben an ihre Grenzen, und keinen Schritt darüber, führen; neue Charaktere, aber diese so groß und so liebenswürdig zeigen, daß es uns sonderbar vorkömmt, daß sie dennoch neu sind; 212 213 214 215 216

Ebd., S. 1002. Ebd. Ebd. Ebd. Vgl. zum Thema »Gefühlsdenken«: Kaiser : Klopstock. Religion und Dichtung, S. 86–105. – Gerhard Kaiser : Denken und Empfinden: Ein Beitrag zur Sprache und Poetik Klopstocks. In: Friedrich Gottlieb Klopstock. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. München 1981. (Text + Kritik. Sonderband.) S. 10–28.

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die Hauptbegebenheiten Hand an Hand so auf einem Schauplatz fortleiten, daß die Episode immer um sie und neben ihnen ist, und sich so wenig jenseits der Berge verirrt, daß sie sich vielmehr oft in die Reihe der Hauptbegebenheiten einflicht.217

Das poetische Prinzip der Einheit in der Mannigfaltigkeit stammt bereits aus der Antike, fordert doch Horaz in seiner Ars Poetica, dass ein Kunstwerk einfach und einheitlich (»simplex […] et unum«, V. 23) sei und ein geschlossenes Ganzes (»totum«, V. 34) ausmache.218 Tasso versucht in seinen Discorsi dell’arte poetica e in particolare sopra il poema eroico (1587/1594)219 ebenfalls die divergierenden Tendenzen der ›unit/‹ (Einheit der Handlung) und der ›variet/‹ (Mannigfaltigkeit) miteinander zu vereinbaren. Die Vielfalt in der Einheit (›variet/ nell’unit/‹), die dem Leser bzw. Zuhörer eines Epos unterhaltsame Abwechslung bietet, zeigt sich für ihn in der kunstvollen Verbindung der epischen Haupthandlung mit den zahlreichen Episoden, was die Gerusalemme liberata (1581) auch auszeichnet.220 Klopstock, dem überdies die Charakterdarstellung sehr wichtig ist, vertritt demnach ebenfalls den poetologischen Grundsatz, die epische Haupthandlung und die Episoden zu einer Einheit zusammenzufügen. Um Spannung zu erzeugen, das Lesepublikum zu unterhalten und eben nicht zu langweilen, müsse ein Dichter die kunstvolle Konzeption der einzelnen Gesänge eines Epos und des ganzen Werkes überhaupt genau überdenken:

217 Klopstock: Von der heiligen Poesie. In: Klopstock: AW, S. 997–1009, hier S. 1003. 218 Horatius Flaccus: Ars Poetica / Die Dichtkunst. Lateinisch / Deutsch. Übersetzt und mit einem Nachwort hrsg. v. Eckart Schäfer, S. 4 (V. 23) und S. 6 (V. 34). 219 Tasso verfasste diese dichtungstheoretische Abhandlung bereits in den 1560er Jahren, als er auch sein christliches Epos, die Gerusalemme liberata (1581), konzipierte. Vgl. zum aristotelischen Prinzip der Einheit der Handlung, mit dem sich Tasso in seinen Discorsi dell’arte poetica / Discorsi del poema eroico (1587/1594 erschienen) theoretisch auseinandersetzte: Brigitte Kappl: Die Poetik des Aristoteles in der Dichtungstheorie des Cinquecento. Berlin / New York 2006. (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte; 83.) S. 188–194. 220 Tasso definiert das Epos in der zweiten Abhandlung seiner Reden über die Dichtkunst, insbesondere das Heldenepos (1587) als »ein Dichtwerk, das aber, bei aller Mannigfaltigkeit der Gegenstände, eine Einheit bildet, einheitlich ist in Gestalt und Handlung, und wo alle diese Dinge so zusammengefügt sind, daß eins sich auf das andere bezieht, eins dem andern entspricht, eines vom andern notwendig oder doch auf wahrscheinliche Weise abhängt, so, daß das Ganze zerstört wäre, wenn man auch nur einen einzigen Teil wegnehmen oder verschieben würde«. (Torquato Tasso: Über die Dichtkunst, insbesondere das Heldenepos. In: [Ders.:] Werke und Briefe. Übersetzt und eingeleitet von Emil Staiger. München 1978. S. 737–774, hier S. 771.) Im italienischen Originalwortlaut lautet diese Stelle aus dem Discorso secondo der Discorsi dell’arte poetica (1587) folgendermaßen: »ma che nondimeno uno sia il poema che tanta variet/ di materie contegna, una la forma e la favola sua, e che tutte queste cose siano di maniera composte che l’una l’altra riguardi, l’una all’altra corrisponda, l’una dall’altra o necessariamente o verisimilmente dependa, s' che una sola parte o tolta via o mutata di sito, il tutto ruini.« (Torquato Tasso: Discorsi dell’arte poetica e del poema eroico. A cura di Luigi Poma. Bari 1964. S. 36.) (Vgl. hierzu auch die entsprechende, etwas veränderte und erweiterte Stelle in den Discorsi del poema eroico (1594): Ebd., S. 140.)

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Es ist noch eine gewisse Ordnung des Plans, wo die Kunst in ihrem geheimsten Hinterhalte verdeckt ist, und desto mächtiger wirkt, je verborgner sie ist. Ich meine die Verbindung und die abgemeßne Abwechslung derjenigen Szenen, wo in dieser Einbildungskraft; in jener die weniger eingekleidete Wahrheit; und in einer andern die Leidenschaft, vorzüglich herrschen: wo sie diese Szenen einander vorbereiten, unterstützen, oder erhöhn; wie sie dem Ganzen eine größre, unangemerkte, aber gewiß gefühlte Harmonie geben. Wir wollen annehmen, daß sich der Poet vorgesetzt habe, in einer gewissen wichtigen Stelle unser Herz in einem sehr hohen Grade zu bewegen. Vielleicht würde er unvermerkt auf folgende Art verfahren. Vielleicht würde er sich auch den Entwurf gemacht haben, es zu tun. Hier das Herz mit dieser Stärke zu bewegen, saget er zu sich, muß ich immer, und so steigen, daß jeder meiner vorhergehenden Schritte Vorbereitung sei. Diesen stummen, erstaunungsvollen Schmerz will ich hervorbringen! Ich muß meine Hörer nach und nach mit wehmütigen Bildern umgeben. Ich muß sie vorher an gewisse Wahrheiten erinnern, die ihre Seele für diesen letzten großen Eindruck aufschließen. Wenn sie eine Weile bei Gräbern, die noch mit Blumen bedeckt waren, vorübergegangen sind, dann sollen sie, noch schnell genung, an die tiefe, totenvolle Gruft kommen. Führte ich sie auf einmal dahin, so würden sie mehr betäubt werden, als fühlen. Es gehören diese Vorbereitungen ohnedies zu meinem übrigen Plane; und itzt will ich sie, aus dieser Ursache, so anordnen.221

Die ›dispositio‹, die Anordnung des Stoffes, wird folglich neben der ›inventio‹ als sehr wichtig angesehen, um die intendierte ›herzrührende‹ Wirkung zu erzeugen. Betrachten wir nun also im Folgenden die von Klopstock als »Grundriß« oder »Plan« bezeichnete Gesamtkonzeption und den erzählten Handlungsverlauf des biblischen Heldengedichts. Die Handlung des Messias »setzt zwischen Palmsonntag und Karfreitag ein und endet mit Christi Himmelfahrt«, d. h., der zeitliche Umfang beträgt etwa 40 Tage.222 Laut der neuesten Homer-Forschung erstreckt sich die Handlung der Ilias über 51 Tage, die der Odyssee über 40 Tage.223 Gottsched folgte in seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst der ›doctrine classique‹ und ging daher davon aus, dass die erzählte Handlung in der Ilias 47 Tage, in der Odyssee 58 Tage dauere.224 Damit läge Klopstock mit seinem Messias in der Zeitgestaltung noch unter seinem antiken Vorbild Homer. Gemäß den Regeln für die Gattung Epos in der Poetik des Aristoteles ist die Handlung, d. h. der ›my´ thos‹ bzw. die »Fabel«, des Bibelepos einheitlich, in sich geschlossen und hat »Anfang, Mitte und Ende«

221 Klopstock: Von der heiligen Poesie. In: Klopstock: AW, S. 997–1009, hier S. 1003f. 222 Dieter Martin: Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert. Studien und kommentierte Gattungsbibliographie. Berlin / New York 1993. (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker; N. F. 103.) S. 114. 223 Antonios Rengakos / Bernhard Zimmermann (Hrsg.): Homer-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart / Weimar 2011. S. 113 und S. 129. 224 Gottsched: AW VI 2, S. 303.

Stoffwahl, Handlung und Gesamtkomposition des Messias

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(Kap. 23).225 Die Gesamtkomposition des Messias teilt sich in zwei Hälften: Die ersten zehn Gesänge (I–X) handeln von der Passion Jesu, von seinen Leiden und seinem Tod, die folgenden zehn Gesänge (XI–XX) hingegen von der Verherrlichung Christi, seiner Auferstehung und Himmelfahrt. Als Vorbild für diese Zweiteilung in der Gesamtkomposition ließe sich Vergils Aeneis nennen, die sich aus einer »odysseeischen« (Buch 1–6) und einer »iliadischen« Hälfte (Buch 7– 12) zusammensetzt.226 Klopstock folgte nicht der klassizistischen Doktrin, nach der sein Heldengedicht gemäß den antiken Musterbeispielen entweder 12 oder 24 Gesänge umfassen sollte. In einem Brief vom 2. Februar 1796 behauptet der Messias-Dichter, dass die »Abtheilung in Gesänge […] in Ansehung des Gedichts, nichts wesentliches« sei.227 Am Wichtigsten war ihm offenbar der »Plan«, d. h. die Gesamtkomposition des Epos, die im biblischen Stoff gründet. Klopstock betont demnach in einem Brief vom 1. Januar 1779: Ich weiß sehr wohl, daß bey einem so reichen und vielseitigen Inhalte als der ist, den mein Gedicht hat, mehr als Ein Weg der Ausführung möglich sey […]. Mein Plan (ich will nur dies Eine darüber anmercken) ist tief in der Religion gegründet. Wer meinem Gedichte an den Plan rührt, der rührt ihm an sein Innerstes; […].228

Möglicherweise hat sich Klopstock bei der Zahl seiner Gesänge an Tassos Gerusalemme liberata orientiert, dem ersten christlichen Heldengedicht, das ebenfalls aus zwanzig Gesängen besteht.229 Bemerkenswerter hingegen scheint mir die zweifache Zahl 10 zu sein, die im Christentum eine symbolische Bedeutung hatte und als heilig galt, man denke hierbei z. B. an die Zehn Gebote. Der Handlungsverlauf in Klopstocks Messias führt stufenweise von der Erniedrigung zur Erhöhung des Helden. Die inhaltliche Struktur lässt sich in einer Übersicht folgendermaßen darstellen: I–III Exposition (Himmel; Hölle; Erde); IV Verrat, Abendmahl; V Gethsemane; VI Gefangennahme; VII Verhör durch Pilatus; VIII Kreuzweg und Kreuzigung; IX Leiden am Kreuz; X Tod; XI Auferweckung der Heiligen; XII Begräbnis; XIII Auferstehung; XIV–XV Jesus und Auferstandene erscheinen auf der Erde; XVI–XVII erstes Gericht, 225 Aristoteles: Poetik. Griechisch / Deutsch. Übersetzt und hrsg. v. Manfred Fuhrmann. Bibliographisch ergänzte Ausgabe 1994. [Nachdr.] Stuttgart 2002. S. 76/77 (Kap. 23, 1459a). 226 Vgl. Martin: Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert, S. 115. Vgl. zur problematischen Zweiteilung der Aeneis Vergils: Werner Suerbaum: Vergils Aeneis. Epos zwischen Geschichte und Gegenwart. [Nachdr.] Stuttgart 2007. S. 143–149. 227 Brief von Klopstock an Clodius, 2. Februar 1796. In: HKA, Briefe IX 1, Nr. 32, S. 38–40, hier S. 39, Z. 19f. 228 Brief von Klopstock an Carl, Prinz von Hessen-Kassel, 1. Januar 1779. In: HKA, Briefe VII 1, Nr. 95, S. 112–116, hier S. 112f., Z. 10–17. 229 Vgl. Dieter Martin: Tasso und die deutsche Versepik der Goethezeit. In: Torquato Tasso in Deutschland. Seine Wirkung in Literatur, Kunst und Musik seit der Mitte des 18. Jahrhunderts. Hrsg. v. Achim Aurnhammer. Berlin / New York 1995. (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte; 3 (237).) S. 423–442, hier S. 427.

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Klopstocks Wettstreit mit der epischen Tradition

Erscheinungen; XVIII–XIX Adams Visionen vom Weltgericht; XIX Himmelfahrt; XX Triumphzug zum Thron Gottes.230

Das Bibelepos hat drei Höhepunkte: der Tod, die Auferstehung und die Himmelfahrt Jesu Christi. Der Abschluss der ersten Hälfte des Messias fällt mit dem Ende des X. Gesanges zusammen: Jesus Christus erhub die gebrochnen Augen gen Himmel, Rufte mit lauter Stimme, nicht eines Sterbenden Stimme, Mit des Allmächtigen, der sich, das Staunen der Endlichkeiten, Freygehorsam, dem Mittlertod’ hingab! er rufte: Mein Gott! mein Gott! warum hast du mich verlassen? Und die Himmel bedeckten ihr Angesicht vor dem Geheimniß! Schnell ergriff ihn, allein zum letztenmale, der Menschheit Ganzes Gefühl. Er rufte mit lechzender Zunge: Mich dürstet! Ruft’s, trank, dürstete! bebte! ward bleicher! blutete! rufte: Vater, in deine Hände befehl’ ich meine Seele! Dann: (Gott Mittler! erbarme dich unser!) Es ist vollendet! Und er neigte sein Haupt, und starb. (X, 1041–1052)

Der unvollkommene Hexametervers (X, 1052) lässt sich hier in der poetischen Darstellung des Todes des Messias »als abbildende Wortstellung« verstehen: »Im Augenblick des Todes bricht der Vers [formal] ab.«231 Der Todeskampf des christlichen Helden wird zudem sehr dramatisch geschildert:232 Das innerliche Beben des Sterbenden drückt Klopstock durch die asyndetische Aneinanderreihung von sechs Verben aus (rufen, trinken, dürsten, beben, bleicher werden bzw. erbleichen und bluten), die als Exklamationen gekennzeichnet in einen Vers gepresst werden und so einen atemlosen Rhythmus erzeugen (X, 1049). Im Zentrum dieses Hexameterverses steht die Verbform »bebte!«, »dessen Semantik die Versgestalt zum Ausdruck bringt«.233 Eingerahmt wird der Vers (X, 1049) durch das Verb »rufen« (»Ruft’s« / »rufte«). Der anschließende (X, 1050) und der letzte Hexametervers (X, 1052) dieser epischen Szene stellen ein fast wörtliches Bibelzitat dar, d. h., Klopstock verschmilzt hier folgende Bibelverse aus dem Lukas- und dem Johannesevangelium miteinander : Lk. 23,46 und Joh. 19,28; 19,30. Im vorletzten Vers (X, 1051) bittet der innerlich bewegte epische Erzähler stellvertretend für die gesamte erlösungsbedürftige, sündige 230 Kohl: Friedrich Gottlieb Klopstock, S. 74. 231 Klaus Manger: Klopstocks poetische Kathedrale. Zu einem Bauprinzip im »Messias« und seiner Bedeutung. In: Was aber bleibet stiften die Dichter? Zur Dichter-Theologie der Goethezeit. Hrsg. v. Gerhard vom Hofe, Peter Pfaff, Hermann Timm. München 1986. S. 37– 64, hier S. 42. 232 Ich folge in der Interpretation dieser epischen Schlüsselszene der präzisen Analyse von Klaus Manger : Ebd., S. 42f. 233 Ebd., S. 43.

Stoffwahl, Handlung und Gesamtkomposition des Messias

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Menschheit um die Barmherzigkeit Gottes. Bei der formal durch Klammern gekennzeichneten Apostrophe handelt es sich um das »liturgische[.] Kyrie und Christe eleison«.234 In nur zwei Versen finden sich im Messias unvollständige (›katalektische‹) Hexameter, die Klopstock in Anlehnung an die fragmentarischen Verse in Vergils Aeneis bildete: beim Tod (X, 1052) und bei der Auferstehung (XIII, 695) des Gottessohnes.235 An den emotionalsten Höhepunkten der Erlösungsgeschichte bricht demnach der Vers formal ab. Mittels der Anapher »da« erzeugt der Dichter auch bei der poetischen Darstellung der Auferstehung des Messias einen scheinbar atemlosen Rhythmus: […] so war es der kleineren Schaar jetzt, Die an dem Grabe des Herrn, vor Hoffen, und vor Erwarten Dessen, das kommen sollte, verschmachtet war ; da die Wolken Rissen! da Gabriel dort, eine Flamme Gottes, herabfuhr! Da er von Bethlehem über die Schädelstäte zum Grabe Flog! da von Ephrata’s Hütte bis hin zu dem Kreuze, vom Kreuze Bis hinunter ins Grab die Erde bebte! da Satan, Wie ein Gebirge, dahin, des Leichnames Hüter, wie Hügel, Stürzten! da weg von dem Grabe den Fels der Unsterbliche wälzte! Da sich, mit Freuden Gottes, Jehovah freute! da Jesus Auferstand! (XIII, 685–695)

Der abgebrochene Hexametervers (XIII, 695) symbolisiert gewissermaßen das feierliche Schweigen, das nach dieser Schlüsselszene des Epos herrscht – heißt es doch anschließend: »Stille war erst am verlassenen Grabe.« (XIII, 704)236 Danach brechen die versammelten Himmelsbewohner in Jubel angesichts des »[g]öttlich, unaussprechlich umstrahlt mit Siege, […] j […] mit Siege, des ewigen Todes Triumphe,« (XIII, 710f.) »über dem Felsen des offenen Grabes« (XIII, 709) schwebenden Messias aus. Der Endpunkt der epischen Handlung im Messias ist erreicht mit dem einfachen Satz, der die letzten zwei Verse des XX. Gesanges einnimmt: »Indem betrat die Höhe des Thrones j Jesus Christus, und setzete sich zu der Rechte des Vaters.« (XX, 1186f.) Der Dichter schreibt in der Einleitung zu seinen Geistlichen Liedern (1758): »Die Christen des ersten Testaments, selbst diejenigen, die Gott seiner Eingebung würdigte, wusten nicht so viel von dem Innersten der Religion, der Erlösung, als die Christen des neuen Testaments davon wissen. Sie sahn sie nur von fern und wie im Schatten.«237 Mittels des bibelhermeneutischen Verfahrens der »Typo234 235 236 237

Ebd. Vgl. Kohl: Friedrich Gottlieb Klopstock, S. 82. Vgl. Martin: Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert, S. 109. HKA, Werke III 1, S. 6f.

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logie«, das hier thematisiert wird, erreicht Klopstock eine gewisse Zeitlosigkeit im Messias:238 Ein »typisches«, d. h. vorbildliches Vergangenes wird dabei zur Gegenwart als seinem »Antitypus« (Gegenbild) in eine schöpferische Steigerungsbeziehung gesetzt, und zwar in der Weise, daß letztere sich nicht auf die bloße Nachahmung (imitatio) des Gewesenen beschränkt, sondern ihm vielmehr in lebendiger Wiederholung Ergänzung und Erfüllung gewährt.239

Die typologische Parallelisierung stellt einen inneren Zusammenhang zwischen den beiden Testamenten der Bibel her, d. h., es stehen sich hier das alttestamentliche Vorbild, der »Typos«, der auch als »figura«, »Präfiguration« oder »Schatten« bezeichnet wird240, und das entsprechende neutestamentliche Gegenbild, der »Antitypos«, gegenüber : »[G]eschichtliche Fakta, d. h. Personen, Handlungen, Ereignisse« werden »als von Gott gesetzte, vorbildliche Darstellungen d. h. ›Typen‹ kommender, und zwar vollkommenerer und größerer Fakta aufgefaßt«.241 Der alttestamentliche »Typos« ist demnach Ausdruck der prophetischen Verheißung, der neutestamentliche »Antitypos« hingegen der Erfüllung und Vollendung.242 »Typos« und »Antitypos« sind zum einen durch ein »Analogieverhältnis« miteinander verbunden und zum anderen liegt ihr »charakteristischer Unterschied […] in jener höheren Vollkommenheit oder ›Steigerung‹, die den letzteren gegenüber dem ersteren auszeichnet«.243 Das »typologische Denken ist christozentrisch«244 und entspricht damit der von Klopstock vertretenen »Christusreligion«245. Im Neuen Testament zeichnen sich »zwei verschiedene Bedeutungen der Typologie ab: eine evangelische und eine apokalyptische, auf das Zukunftsbild des verheißenen Eschaton bezogene«:246 238 Vgl. hierzu: Jörn Dräger: Typologie und Emblematik in Klopstocks »Messias«. Diss. Göttingen 1971. – F. Hesse / H. Nakagawa / E. Fascher: [Art.] Typologie. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. 6. Bd. In Gemeinschaft mit Hans Frhr. v. Campenhausen, Erich Dinkler, Gerhard Gloege und Knud E. Løgstrup hrsg. v. Kurt Galling. 3., völlig neu bearb. Aufl. Tübingen 1962. Sp. 1094– 1098. 239 Volker Bohn (Hrsg.): Typologie. Internationale Beiträge zur Poetik. Frankfurt a. M. 1988. (Poetik; 2.) S. 7. 240 Vgl. Dräger: Typologie und Emblematik in Klopstocks »Messias«, S. 7. 241 Leonhard Goppelt: Typos. Die typologische Deutung des Alten Testaments im Neuen. Anhang: Apokalyptik und Typologie bei Paulus. Unveränderter reprografischer Nachdruck der Ausgabe Gütersloh 1939. Darmstadt 1966. S. 18f. 242 Vgl. ebd., S. 248 und S. 279f. 243 Dräger: Typologie und Emblematik in Klopstocks »Messias«, S. 8. 244 Friedrich Ohly : Typologie als Denkform der Geschichtsbetrachtung. In: Volker Bohn (Hrsg.): Typologie. Internationale Beiträge zur Poetik. Frankfurt a. M. 1988. (Poetik; 2.) S. 22–63, hier S. 27. 245 Kaiser : Klopstock. Religion und Dichtung, S. 113. 246 Bohn (Hrsg.): Typologie. Internationale Beiträge zur Poetik, S. 8.

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»Nach der ersten Bedeutung hat die Typologie eine mehr abschließende Funktion, indem sie die gegenwärtige Vollendung des in der Vergangenheit nur Angelegten verkündet, nach der zweiten öffnet sie den Ausblick zu einer erst noch kommenden Offenbarung.«247 »Die Typologie sieht die Geschichte als nach Gottes Heilsplan ablaufende Heilsgeschichte«248, die vom Sündenfall bis zum Jüngsten Gericht führt. Im IX. Gesang des Messias treten beispielsweise Isaak und sein Vater Abraham als epische Nebenfiguren auf:249 […] Der Jüngling kam zu dem Vater. Denn ihm war die Jünglingsgestalt nach dem Tode gegeben, Daß er dem Himmel auf ewig den Gottgeopferten bilde! Isak sprach: Ich sah in deinem Antlitz, o Vater, Deine Gedanken von fern. Ach, unsere Kinder tödten Den, der für sie sich heiliget, tödten sie! Ewiger Richter, Du erbarmst dich noch ihrer, und trägst sie auf Adlersflügeln, Wie du aus Ägyptus sie trugst, zu ihrem Erretter! Seligkeit gießet diese Betrachtung, Entzückungen gießt sie Mir in die Seele! Noch Eine durchströmt mich mit heiligem Schauer. Ach, du weißt es noch wohl, als du auf jenem Gebirge, Heilig, auf immer heilig ist mir die Stäte des Opfers! Als du dort zum Altare mich führtest . . Dein freudiger Sohn ging Neben dir her, und wollte mit dir dem Ewigen opfern! Aber da ich nunmehr auf dem Opferholze gebunden Lag, und der heilige Brand bey mir aufflammte, mein Auge Thränend gen Himmel blickte, du mich das letztemal küßtest, Dann dich wandtest, und nun den blinkenden Dolch, den Verderber, Über deinem Geliebten emporhieltst; da . . Doch von dieser Stunde Trauren schweig’ ich! Jahrhunderte Freuden bekrönen Sie mit Seligkeit! Ach, dein Isak wurde gewürdigt, Gottes Opfer, das Opfer, das nun auf Golgatha blutet, Vorzubilden! Entzückung, und sanfte Traurigkeit rinnen Durch mein unsterbliches Leben! […] (IX, 274–297)

Isaak vergegenwärtigt angesichts des Kreuzestodes des Messias seine eigene Opferung (vgl. Gen. 22,1–19). Sein emphatischer Ausruf »Ach, dein Isak wurde gewürdigt, j Gottes Opfer, das Opfer, das nun auf Golgatha blutet, j Vorzubilden!« (IX, 294–296) drückt prägnant das typologische Verhältnis zwischen dem »Typos« Isaak und dem »Antitypos« Jesus aus. Wie Isaak »auf dem Opferholze 247 Ebd. 248 Ohly : Typologie als Denkform der Geschichtsbetrachtung, S. 28. Friedrich Ohly weist darauf hin, dass der Begriff »Typologie« aus dem 18. Jahrhundert stammt und »auf den biblischen Wörtern ty´pos und ant&typos im Sinne von Vorprägung und Ausprägung« beruht. (Ebd., S. 23.) 249 Vgl. zu diesem Beispiel für typologisches Denken in Klopstocks Bibelepos – Jesus Christus als Antitypus Isaaks: Dräger: Typologie und Emblematik im »Messias«, S. 54–57.

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gebunden« (IX, 288) dalag und seinen Tod erwartete, stirbt der Messias nun an das Kreuz genagelt einen qualvollen Tod. Ein Isaak ähnlicher »Typos« ist Abel, der von seinem Bruder Kain erschlagen wurde (vgl. Gen. 4,1–16).250 Auch die Seele Abels beobachtet das Geschehen auf Golgatha. Kurz vor dem Tod des Messias […] neigte sich Abel an einen Felsen, und hielt sich. Zwar von Adam gezeugt; doch so unschuldig, als einer, Welcher noch nicht vollendet ist, seyn kann, hatt’ er sein Leben Gott geheiligt, und war durch Mörderhände gestorben! Ach! zu dem sein letztes Röcheln im Tode gerufen, Dem er hatte gefleht, da er in rauchendem Blute Lag, vor allen Gerechten der Unschuldsvollste, der sollte Sterben, wie er! nicht sterben, wie er! so sanft nicht entschlummern! Ach mit jedem Verbrechen der Kinder Adams belastet, Sollte der, und zerschmettert vom Zorn des Allmächtigen, sterben! (X, 669–678)

Das Übereinstimmende zwischen dem »Typos« Abel und dem »Antitypos« Jesus Christus besteht darin, dass beide unschuldig »durch Mörderhände gestorben« (X, 672) sind. Die Bezeichnung »vor allen Gerechten der Unschuldsvollste« (X, 675) verweist auf die Herausgehobenheit des jeweiligen menschlichen Charakters. Die Steigerung des neutestamentlichen Geschehens gegenüber dem alttestamentlichen Ereignis besteht darin, dass der Messias einen noch furchtbareren Tod stirbt (vgl. X, 676–678). In seiner Rede im Synedrium will Nikodemus die bevorstehende Verurteilung Jesu zum Tode abwenden und spielt dabei mit Verweis auf das kommende Jüngste Gericht in dem folgenden Ausruf auf den Brudermord Kains (vgl. Gen. 4,9) an: »Juda, Juda! wo ist dein Messias?« (IV, 263) In dieser komprimierten Frage erscheint die vom Hohen Rat so gut wie beschlossene Hinrichtung des Messias als »gesteigerte Wiederholung« der Ermordung eines unschuldigen Bruders.251 Demgemäß stimmt Moses nach dem Kreuzestod Jesu über »dem blutigen Leichnam« (XII, 173) schwebend einen prophetischen Gesang an und klagt die »Mörder des Mittlers« (XII, 182) folgendermaßen an: »Lange wird Er mit euch, die diesen Abel erwürgten, j Siehe der Eine, der ewig ist, rechten: Ihr Kain, ich kenn’ euch! j Weiß, wo ihr seyd! Schrie gegen euch nicht zu mir in den Himmel j Eures Bruders Blut?« (XII, 175–178) Ein weiteres Beispiel, das auf Abel als Präfiguration Jesu verweist, findet sich im V. Gesang des Messias: Aber noch daurte das ernste Gericht, die bängsten der Leiden Über ihn auszugießen, und kein Erbarmen zu kennen. 250 Vgl. zum Beispiel ›Abel als Typus des Messias‹: Ebd., S. 57–65. 251 Ebd., S. 64.

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Und er neigte sich tief, rang seine Hände gen Himmel, Und verstummte. So windet ein Lamm, geschlachtet am Altar, Sich in seinem Blut. So lag, umströmt von des Himmels Ihm nun nächtlichen Wolken, umströmt von Blute, so neigte Abel sich, als er entschlief, und seinen Vater nicht sahe. (V, 809–815)

In diesem Gleichnis wird der leidende Messias im Garten Gethsemane, über dem der allmächtige Gott auf Tabor Gericht hält, mit dem ermordeten Abel verglichen, der seinerseits gleich einem geschlachteten Opferlamm im eigenen Blut dalag. Der letzte Vers dieser Szene (V, 815) spielt auf »die Gottverlassenheit des Versöhners« an, der hier die Todesqualen vorausempfindet, die ihm von seinen Brüdern bald zugefügt werden.252 Mittels des typologischen Verfahrens, das die ewige Heilsgeschichte repräsentiert, übertrifft Klopstock in seinem Messias die einfachen Vorausdeutungen und Rückblicke der antiken Epen. Die erzählte Heldentat, die Erlösung der sündigen Menschheit, »aktualisiert das längst Vergangene als Voraussetzung und Vorausbildung des Gegenwärtigen, sie vorentscheidet die Zukunft«.253 Der Dichter integriert in sein Bibelepos gewissermaßen die Ewigkeit:254 »Aus dem epischen Nacheinander der Ereignisse wird ein polyphones Nebeneinander, ein ewiges Jetzt. Die Erlösung in der Messiade ist wie allgegenwärtiges so auch ewiges Ereignis.«255 Dementsprechend gestaltete der Dichter auch die Charaktere seines Bibelepos: Die Seelen Adams und Evas, der Märtyrer und der Heiligen, also aller großen Gestalten des Alten Testaments bringen die religiöse Vergangenheit, die Seelen der noch Ungeborenen die Zukunft der christlichen Menschheit unter bzw. über und um das Kreuz (Gesänge IX und X), und die Engel und Höllenbewohner sind als Urgeschöpfe Gottes sowohl beim Tod als auch bei der Auferstehung und Himmelfahrt des Messias zugegen. Die Engel der Erde bilden beispielsweise zusammen mit Eloa einen »Kreis« über Golgatha (VIII, 23). Im VIII. Gesang werden die versammelten Seraphim und Cherubim als »ein weitumkreisendes Heer« (VIII, 79) bezeichnet. Der Engel Gabriel führt »die schimmernden Schaaren« (VIII, 98) der Seelen der »Väter der Menschen« (VIII, 87), d. h. die Patriarchen des Alten Testaments, von der Sonne zur Erde, damit sie die Kreuzigung des Gottessohnes miterleben können. Die »Seelen der künftigen Menschengeschlechte« (VIII, 379) werden vom Engel Uriel zum Kreuz geleitet. »Tausendmal tausend Schaaren Unsterblicher!« (VIII, 455) befinden sich letztlich auf Golgatha. Der blutende Messias am Kreuz schaut »[a]uf die Schaaren, die ihn, von allen Seiten, umringten, j Standen, knieeten, dachten, 252 Ebd., S. 60. Vgl. zum »Brudermordmotiv«: Ebd., S. 60f. 253 Kaiser : Klopstock. Religion und Dichtung, S. 232. 254 Vgl. Martin: Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert, S. 117–125 (Unterkapitel: Integration der Ewigkeit). 255 Kaiser : Klopstock. Religion und Dichtung, S. 234.

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verstummten, beteten, weinten!« (X, 155f.) Eine derartige Ausrichtung aller epischen Figuren einzig auf das personale Zentrum des Bibelepos, den Messias als Titelhelden, ist sicherlich in der Epentradition singulär. Der Stammvater der Menschheit, Adam, repräsentiert im Messias die Vergangenheit der christlichen Heilsgeschichte, den Sündenfall. Dementsprechend ist er als betender, singender und kommentierender Beobachter – meist zusammen mit seiner Frau Eva – bei allen Stationen der Passion, der Auferstehung und Himmelfahrt des Messias zugegen (II, 3–62; VIII, 100–114, 184–233; X, 735– 989 u. ö.). Der auferstandene Jesus Christus gewährt Adam zudem einen Blick in die Zukunft der Christenheit, indem er ihm eine Vision vom Weltgericht schenkt (XVIII; XIX, 1–259). Bereits im VI. Gesang findet sich ein Vorausblick auf die christliche Endzeit: Auf die Frage des Hohepriesters Kaiphas »Bist du Christus? j Christus, des Angebeteten Sohn?« (VI, 430f.) antwortet der Messias: »Ich bin es, j Was du sagtest! Und wisse, daß ich jetzt Thaten vollende, j Welche der Anfang sind des Gerichts! Den Menschen von Erde, j Den auch eine Mutter gebar, ihr werdet ihn sehen j Sitzen zur Rechte Gottes, und kommen in Wolken des Himmels!« (VI, 460–464) Der epische Erzähler kommentiert anschließend diese Prolepse im Messias: »Also öffnet’ er Einem geflügelten Blicke die Zukunft; j Schloß dann schnell dem erstaunenden Blick den furchtbaren Schauplatz.« (VI, 468f.) Das Lesepublikum des Bibelepos wird im XVIII. und XIX. Gesang auf diesen prophezeiten »Schauplatz« geführt und erlebt dort einige Szenen des Jüngsten Gerichts mit, in denen der Messias als thronender, schrecklicher Weltenrichter auftritt. Klopstock orientiert sich in seinem Epos an den vier Evangelienberichten256 und erzählt einen zeitlichen Ausschnitt aus dem Leben und Sterben des Messias von etwa 40 Tagen. Dennoch stehen der Tod und die Auferstehung des Gottessohnes als ›Fixpunkte‹ der christlichen Heilsgeschichte gewissermaßen außerhalb der zeitlichen Ordnung.257 Der Dichter drückt dies etwa in folgendem Chiasmus aus: »Du Beginner, und o du Vollender, getödtet vom Anfang, j Und für ewig! für ewig erwacht, und vom Anbeginne!« (XIII, 731f.)

256 Karl Kindt bemerkt, dass Klopstock »aus 200 Bibelversen (dem engeren Stoffkreis) 20000 gedichtete Verse« gemacht habe. (Karl Kindt: Klopstock. 2. Aufl. Berlin-Spandau 1948. S. 353.) Er bezeichnet den Messias in seiner Studie als »die herrlichste Bibelharmonie, die wir besitzen«: »In ihm sind alle Linien der Heiligen Schrift von der Schöpfung bis zum Jüngsten Tage durchgezogen zur Mitte, zu Jesus Christus. Das ganze Alte Testament in seinem präfigurativen Charakter, die ganze Geschichte der Kirche bis hin zum Ende der Zeiten als die Folge der Himmelfahrt – das alles ist mit den Mitteln der epischen Technik hineinbezogen in das klopstockische Werk, das allein schon aus diesem Grunde zu ansehnlichem Umfang anschwellen mußte. Klopstocks ›Messias‹ – das ist ›die Bibel in der Bibel‹, episch gestaltet.« (Ebd., S. 355.) 257 Vgl. Martin: Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert, S. 124.

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Klopstock apostrophiert in seinem Bibelepos das eigene literarische Werk, heißt es doch im XV. Gesang: »Gesang von dem Mittler, j […] j Sieger der Zeiten, […] unsterblich durch deinen Inhalt« (XV, 470–472). Die Stoffwahl des MessiasDichters garantiert somit die Überbietung der antiken und neuzeitlichen Epen. Der Hallenser Kritiker Meier stellt demgemäß in seiner Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias (1749; 2. Aufl. 1752) fest: Aristoteles und nach ihm alle gründliche Kunstrichter haben bemerckt, daß ein Dichter zu der Haupthandlung eines Heldengedichts, eine sehr grosse und interessante That erwehlen müsse, und der Held müsse eine Person seyn, für welche sich die Leser, für die das Gedicht geschrieben ist, intereßiren. Die Haupthandlung in der Iliade und die Helden gehen die Griechen ungemein nahe an, und so verhält sichs auch mit der Aeneis in Absicht auf die Römer. Unser Dichter übertrift, in diesem Stücke, den Homer und Virgil. Die Erlösung des gantzen menschlichen Geschlechts ist wohl unstreitig eine unendlichemal grössere That, als Schlachten gewinnen und Städte erobern, und das gantze menschliche Geschlecht ist dabey intereßirt. Der Held, der Meßias, ist aus unserer Mitte, er ist unser Bruder, und wir nehmen an allen seinen Umständen Theil. Ja der gantze Himmel und die gantze Hölle sind bey dieser That intereßirt. Die Engel bewundern die Erlösung des menschlichen Geschlechts, und freuen sich darüber, und die Teufel zittern davor. Alle Kunstrichter bewundern die Stelle in der Iliade, da Achilles wieder auf den Schauplatz kommt. Alle Götter nehmen an der Handlung Theil, und Pluto nebst seinem gantzen Reiche kommt darüber in Bewegung. Unser Dichter treibt dieses noch höher. Das Erhabene in seinem Helden und der Haupthandlung erforderte, daß gleichsam der gantze Schauplatz derselben über die Erde, den Himmel und die Hölle ausgebreitet wurde. Es würde einen sehr elenden Geist verrathen, wenn man glauben wolte, daß das Wesen eines Heldengedichts kriegerische Printzen, Bezwinger des Erdbodens und Eroberer erfodert. Solche Thaten sind auch Heldenthaten, aber es sind nicht die eintzigen und vornehmsten.258

Die erzählte Erlösungstat des neutestamentlichen Helden in Klopstocks Epos betrifft folglich die gesamte christliche Menschheit und den ganzen Kosmos (Himmel, Erde und Hölle) und nicht nur eine einzelne Nation. Die poetische Darstellung der »Gründung der ewigen christlichen Religion« im Messias soll diejenige der »Gründung des vergänglichen römischen Reichs« in Vergils Aeneis überbieten.259 In der Argumentation Meiers erscheinen die Taten eines tugendhaften, würdevollen und vor allem christlichen Helden, der die gesamte Menschheit rettet, indem er den Sündenfall und dessen Folgen, den ewigen Tod, aufhebt und allen Menschen eine unsterbliche Seele durch die Gnade Gottes garantiert, wesentlich erhabener als die Heldentaten eines zornerfüllten, archaischen Kriegers wie Achilleus, der aufseiten der Griechen die Stadt Troja erobern will. 258 Meier : Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias. Erstes Stück (1752), S. 8f. 259 Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion, S. 211.

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Klopstocks Wettstreit mit der epischen Tradition

Klopstock war fest davon überzeugt, dass sein episches Werk mit religiösem Stoff die Zeiten überdauern und seinen ewigen Dichterruhm begründen würde – dementsprechend heißt es auch in seiner Ode An Freund und Feind (1781)260 (V. 65–76): Die Erhebung der Sprache, Ihr gewählterer Schall, Bewegterer, edlerer Gang, Darstellung, die innerste Kraft der Dichtkunst; Und sie, und sie, die Religion, Heilig sie, und erhaben, Furchtbar, und lieblich, und groß, und hehr, Von Gott gesandt, Haben mein Maal errichtet. Nun stehet es da, Und spottet der Zeit, und spottet Ewig gewähnter Maale, Welche schon jetzt dem Auge, das sieht, Trümmern sind.261

4.3

Das Proömium des Messias

Das Proömium des Epos ist ein traditionelles Element dieser narrativen Großform. Es kündigt das Thema des epischen Gedichts an und erregt somit die Erwartungen des Lesers bzw. Hörers. Das einleitende Proömium zeichnet sich durch einen konzentrierten Aufbau aus. Es wird darin kurz auf die Handlung des Heldengedichts eingegangen und das Subjekt der erzählten Handlung, d. h. die Hauptperson des Epos, der Held, wird genannt. Das Proömium von Klopstocks Epos Der Messias setzt sich aus insgesamt drei Teilen bzw. Abschnitten zusammen. Es besteht aus insgesamt 23 Versen in der Endfassung von 1799/1800 und aus einem Vers weniger in der ersten Fassung von 1748. Das Proömium von Klopstocks Messias (I, 1–23) lautet in der Endfassung von 1799/1800 folgendermaßen: Sing, unsterbliche Seele, der sündigen Menschen Erlösung, Die der Messias auf Erden in seiner Menschheit vollendet, Und durch die er Adams Geschlecht zu der Liebe der Gottheit, Leidend, getödtet, und verherrlichet, wieder erhöht hat. Also geschah des Ewigen Wille. Vergebens erhub sich Satan gegen den göttlichen Sohn; umsonst stand Juda Gegen ihn auf: er thats, und vollbrachte die große Versöhnung. 260 HKA, Werke I 1, S. 383–385. 261 Ebd., S. 385.

Das Proömium des Messias

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Aber, o That, die allein der Allbarmherzige kennet, Darf aus dunkler Ferne sich auch dir nahen die Dichtkunst? Weihe sie, Geist Schöpfer, vor dem ich hier still anbete, Führe sie mir, als deine Nachahmerin, voller Entzückung, Voll unsterblicher Kraft, in verklärter Schönheit, entgegen. Rüste mit deinem Feuer sie, du, der die Tiefen der Gottheit Schaut, und den Menschen aus Staube gemacht zum Tempel sich heiligt! Rein sey das Herz! So darf ich, obwohl mit der bebenden Stimme Eines Sterblichen, doch den Gottversöhner besingen, Und die furchtbare Bahn, mit verziehnem Straucheln, durchlaufen. Menschen, wenn ihr die Hoheit kennt, die ihr damals empfinget, Da der Schöpfer der Welt Versöhner wurde; so höret Meinen Gesang, und ihr vor allen, ihr wenigen Edlen, Theure, herzliche Freunde des liebenswürdigen Mittlers, Ihr mit dem kommenden Weltgerichte vertrauliche Seelen, Hört mich, und singt den ewigen Sohn durch ein göttliches Leben. (I, 1–23)

Der erste Teil des Proömiums besteht aus insgesamt sieben Versen. Klopstock folgt hierin dem agonalen Prinzip der ›aemulatio‹, d. h., er versucht, mit seinem biblischen Heldengedicht den antiken Musterautor Homer und dessen klassisches Werk zu überbieten. In der Forschung hat man die einführenden Verse des Messias »geradezu eine christliche Kontrafaktur« zu den ersten Versen der Ilias genannt.262 Die ersten sieben Verse der Ilias Homers lauten in der deutschen Übersetzung von Johann Heinrich Voß aus dem Jahre 1793 folgendermaßen: Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus, Ihn, der entbrannt den Achaiern unnennbaren Jammer erregte Und viel tapfere Seelen der Heldensöhne zum Ais Sendete, aber sie selbst zum Raub darstellte den Hunden Und dem Gevögel umher. So ward Zeus’ Wille vollendet: Seit dem Tag, als erst durch bitteren Zank sich entzweiten Atreus’ Sohn, der Herrscher des Volks, und der edle Achilleus.263

Zum unmittelbaren Vergleich wird der erste Abschnitt des Messias-Proömiums (I, 1–7) in der Erstfassung von 1748 zitiert: 262 Katrin Kohl: Klopstocks Homer. In: Homer und die deutsche Literatur. In Zusammenarbeit mit Hermann Korte hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. München 2010. (Text + Kritik. Zeitschrift für Literatur. Sonderband.) S. 107–122, hier S. 111. Vgl. im Folgenden die Interpretation der ersten sieben Verse der Ilias Homers und des Messias Klopstocks von Katrin Kohl: Ebd., S. 112. Vgl. auch zum ersten Abschnitt des Proömiums des Messias: Jacob: Heilige Poesie, S. 128–130. 263 Homer : Ilias – Odyssee. In der Übertragung von Johann Heinrich Voß. Vollständige Ausgabe. Nach dem Text der Erstausgaben (Ilias Hamburg 1793, Odyssee Hamburg 1781), mit einem Nachwort von Wolf Hartmut Friedrich. Stuttgart / Hamburg / München [1986]. (Edition Weltliteratur.) S. 9 (Ilias, 1. Gesang, V. 1–7).

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Klopstocks Wettstreit mit der epischen Tradition

Sing, unsterbliche Seele, der sündigen Menschen Erlösung, Die der Messias auf Erden in seiner Menschheit vollendet, Und durch die er Adams Geschlechte die Liebe der Gottheit Mit dem Blute des heiligen Bundes von neuem geschenkt hat. Also geschah des Ewigen Wille. Vergebens erhub sich Satan wider den göttlichen Sohn; umsonst stand Judäa Wider ihn auf; er thats, und vollbrachte die grosse Versöhnung.264

Gleich mit dem ersten Wort und im ersten Vers der Ilias wird das Thema des Epos genannt: »Mg˜ mim %eide, ¢e² […]« / »Den Zorn singe, Göttin […]«.265 Im Messias wird ebenfalls im ersten Vers sogleich die Thematik des biblischen Heldengedichts ausgesprochen: »Sing, unsterbliche Seele, der sündigen Menschen Erlösung« (I, 1). Klopstock ersetzt in seinem Proömium die ›heidnische‹ Muse Homers, die »Göttin«, durch die »unsterbliche Seele« (I, 1). Die menschliche Seele erlangt ihre Unsterblichkeit erst aufgrund »der sündigen Menschen Erlösung« (I, 1) durch den Messias. Die in Klopstocks Epos besungene Heldentat durch den Erlöser der Menschheit, Jesus Christus, ermöglicht folglich erst die Anrufung dieser gottähnlichen bzw. himmlischen Inspirationsquelle. Der vollkommene Held in Klopstocks Bibelepos ist der leidende Messias. Sein am Kreuz für die sündige Menschheit vergossenes Opferblut überbietet die kriegerischen Taten des griechischen Heroen Achilleus. Der beste Kämpfer der Griechen bleibt aufgrund seines entbrannten Zorns und verletzten Ehrgefühls der Schlacht um Troja zunächst fern und nimmt dadurch den Tod vieler tapferer Krieger hin. Erst nach dem Tod seines Freundes Patroklos beteiligt er sich wieder am Trojanischen Krieg und tötet aus Rache unerbittlich seinen Gegner Hektor. Der archaische Heros Achilleus bringt folglich den Achaiern Leid, vergießt das Blut anderer und treibt das griechische Heer letztlich absichtlich fast an den Rand der Niederlage. Der Messias als Versöhner auf Erden hingegen bewahrt die gesamte Menschheit vor dem Zorn Gottes, dem Richter der Welt. Vorausgegangen war der Erlösungshandlung die Verführung des Stammelternpaares der Menschheit, Adam und Eva, zum Sündenfall durch Satan. Der Messias als Mittler schließt einen neuen Bund mit Gott und sichert so der Menschheit »die Liebe der Gottheit« (I, 3). Dem homerischen Thema des Streits zwischen dem griechischen Heroen Achilleus und dem obersten Feldherrn bzw. Oberbefehlshaber der Griechen Agamemnon während des Kampfes um Troja entspricht das Klopstock’sche 264 Klopstock: DM 1748, S. 7 (I, 1–7). 265 Der griechische Originalwortlaut wird nach folgender Ausgabe zitiert: Homer : Ilias. Griechisch – deutsch. Übertragen von Hans Rup8. Mit Urtext, Anhang und Registern. 16. Aufl. Berlin 2013. (Sammlung Tusculum.) S. 6. Die deutsche Übersetzung, die sich eng an den griechischen Urtext anlehnt, stammt von Wolfgang Schadewaldt: Homer: Ilias. Neue Übertragung von Wolfgang Schadewaldt. Frankfurt a. M. 1975. S. 7 (1. Gesang, V. 1).

Das Proömium des Messias

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Thema der Auflehnung Satans gegen Gott und den Messias. Dem Tag, an dem sich Achilleus und Agamemnon entzweiten, steht der Tag gegenüber, an dem der gefallene Engel bzw. Höllenfürst Satan den Tod des Messias beschließt. Sowohl Klopstock als auch Homer verweisen im jeweils fünften Vers ihres Proömiums darauf, dass sich der »Wille« der jeweiligen Gottheit erfüllt habe: Im Trojanischen Krieg und seinen Folgen wurde »Zeus’ Wille vollendet«, der in der Dezimierung der Menschheit bestand. Die Passion Jesu Christi geschah ganz nach »des Ewigen Wille«, d. h., der irdische Tod des Messias war seit Ewigkeiten im göttlichen Heilsplan festgelegt. Klopstock übernimmt demnach in den ersten sieben Versen seines Proömiums sehr präzise die Struktur der Ilias Homers. Zudem erinnert die Komposition der Verse fünf bis sieben an die deutsche Übersetzung des Proömiums von Tassos Gerusalemme liberata durch den Gottschedianer Johann Friedrich Kopp.266 Der Held des italienischen Bibelepos ist der »Feldherr« und Kreuzritter Gottfried von Bouillon, der »Christi Grab« in Jerusalem von den ›Heiden‹ befreit.267 Über die Widersacher des christlichen Helden wird Folgendes berichtet: »Vergebens widerstund ihm selbst der Höllen Schaar, j Umsonst stritt Asiens und Lybiens Barbar ; j Die Gunst des Himmels ließ, bey heiligen Panieren, j Sein irrend Christenvolk durch ihn zusammen führen.«268 Klopstock zitiert wortwörtlich die Vers- bzw. Satzanfänge in seinem Proömium in der Erstfassung von 1748 (I, 5–7), wenn es dort von dem Messias und seinen Widersachern heißt: »Vergebens erhub sich j Satan wider den göttlichen Sohn; umsonst stand Judäa j Wider ihn auf; er thats, und vollbrachte die grosse Versöhnung.« Der MessiasDichter wetteifert folglich nicht nur mit dem antiken Musterautor Homer, sondern auch mit dem italienischen Bibelepiker Tasso. Wie in der deutschen Übersetzung des Proömiums von Tassos Gerusalemme liberata nennt Klopstock im fünften und sechsten Vers die dämonische Hölle und deren Bewohner als Widersacher des Gottessohnes. In den Versen sechs bis sieben werden hingegen die menschlichen Gegner des Messias, das Volk von Judäa, angeführt, die den orientalischen ›Barbaren‹ bzw. ›Heiden‹ im Befreiten Jerusalem entsprechen. Der zweite Teil des Proömiums des Messias (I, 8–16) umfasst in der Fassung von 1748 insgesamt neun Verse: Aber, o Werk, das nur Gott allgegenwärtig erkennet, Darf sich die Dichtkunst auch wohl aus dunkler Ferne dir nähern? 266 Vgl. Martin: Tasso und die deutsche Versepik der Goethezeit, S. 426. 267 [Torquato Tasso:] Versuch einer poetischen Uebersetzung des Tassoischen Heldengedichts genannt: Gottfried, oder das Befreyte Jerusalem, ausgearbeitet von Johann Friedrich Koppen. Leipzig 1744. S. 7. 268 Ebd.

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Klopstocks Wettstreit mit der epischen Tradition

Weihe sie, Geist Schöpfer, vor dem ich im stillen hier bete; Führe sie mir, als deine Nachahmerinn, voller Entzückung, Voll unsterblicher Kraft, in verklärter Schönheit, entgegen. Rüste sie mit jener tiefsinnigen einsamen Weisheit, Mit der du, forschender Geist, die Tiefen Gottes durchschauest; Also werd ich durch sie Licht und Offenbarungen sehen, Und die Erlösung des grossen Messias würdig besingen.269

In diesem Abschnitt reflektiert der ›poeta vates‹ über die angemessene poetische Darstellung des biblischen Stoffes.270 Die göttlichen Geheimnisse des Erlösungswerks sind allein dem allwissenden und allgegenwärtigen Gott bekannt. In einer Apostrophe wendet sich der epische Erzähler daher an das »Werk« (I, 8), dem sich die »Dichtkunst« nur »aus dunkler Ferne« (I, 9) nähern kann. Der Ausdruck »Werk« ist einerseits irreführend und andererseits auch doppeldeutig. Er kann sowohl inhaltlich die Erlösung der Menschheit durch den Messias bezeichnen als auch auf das Epos selbst als das literarische Werk Klopstocks verweisen, das eben dieses Thema besingt. In der Endfassung von 1799/1800 lautet diese Frage folgendermaßen (I, 8f.): »Aber, o That, die allein der Allbarmherzige kennet, j Darf aus dunkler Ferne sich auch dir nahen die Dichtkunst?« Klopstock hat hier die zweideutige Bezeichnung »Werk« durch »That« ersetzt. Gemeint ist demnach die ›Heldentat‹ des Messias, die im Bibelepos besungen wird. Dieser zweite Teil des Proömiums ist als stilles Gebet ausgewiesen (vgl. I, 10). Angerufen wird der »Geist Schöpfer« (I, 10), der die »Weihe« der Dichtung vollziehen soll. Denn erst durch die schöpferische Kraft und Macht des Heiligen Geistes wird die Dichtkunst sakralisiert und kann infolgedessen als »heilige Poesie« bezeichnet werden. Der Heilige Geist dient hier als inspirierende Vermittlungsinstanz und legitimiert eine ›würdige‹, d. h. angemessene poetische Darstellung des neutestamentlichen Stoffes. Die Poesie wird als »Nachahmerinn« (I, 11) des »Geist Schöpfer[s]« bezeichnet. Damit wird der Dichter – wie in der Declamatio Klopstocks – ebenfalls als Schöpfer (›creator‹) betrachtet, dem sich die christliche Offenbarungsreligion vollkommen erschließt. Der »Geist Schöpfer« wird als »forschender Geist« (I, 14) gekennzeichnet, der »die Tiefen Gottes« durchschaut. Demnach sind ihm alle himmlischen Geheimnisse, die den göttlichen Heilsplan betreffen, bekannt. Mit ihm als Inspirationsquelle wird der ›poeta vates‹ »Licht und Offenbarungen sehen, j Und die Erlösung des grossen Messias würdig besingen« (I, 15f.). Die ungewöhnliche Bezeichnung »Geist Schöpfer« im Proömium des Messias wurde in der Forschung sowohl auf den lateinischen Pfingsthymnus Veni creator spiritus des Hrabanus Maurus aus der 269 Klopstock: DM 1748, S. 7 (I, 8–16). 270 Vgl. hierzu die Interpretation des zweiten Abschnitts des Proömiums von Joachim Jacob: Jacob: Heilige Poesie, S. 130–134.

Das Proömium des Messias

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1. Hälfte des 9. Jahrhunderts, den Luther ins Deutsche übertragen hatte, zurückgeführt als auch auf El8azar Mauvillons ausgesprochene Forderung in seinen Lettres franÅoises et germaniques (1740), ihm auf dem deutschen Parnass nur einen »Esprit cr8ateur« zu zeigen.271 Bezeichnenderweise ahmt Klopstock im zweiten Teil seines Messias-Proömiums den ›Vor-Gesang‹ von Miltons Paradise Lost nach. Die englischen Blankverse 17 bis 26 des ersten Buchs bzw. Gesangs lauten in der deutschen Prosaübersetzung von Bodmer aus dem Jahre 1742, die Klopstock studiert hatte, folgendermaßen: Und du vornehmlich, o Geist, der mehr von einem aufrichtigen und reinen Hertzen hält, als von allen Tempeln, unterrichte du mich, denn du weissest von diesen Dingen, du warest zuerst dabey gegenwärtig, und fassest einer brütenden Taube gleich mit ausgebreiteten Flügeln auf dem ungemessenen Abgrund; und machtest ihn fruchtbar. Erleuchte, was in mir dunckel ist; erhöhe und unterstütze, was niedrig ist, daß ich der Hoheit meines edeln Vorhabens gemäß die ewige Vorsehung vertheidigen, und die Wege Gottes unter den Menschen retten möge.272

Der »Geist« (»Spirit«, Book 1, V. 17) dient im Proömium von Miltons Verlohrnem Paradies ebenfalls als zweite Inspirationsquelle nach der Anrufung der »himmlische[n] Muse«273 (»Heav’nly Muse«, Book 1, V. 6).274 Seit der »Kopenhagener Ausgabe« des Messias von 1755 sind die Verse des zweiten Teils des Proömiums stark verändert. In der Endfassung von 1799/1800 lauten die Verse 13 bis 17 des I. Gesanges daher folgendermaßen: Rüste mit deinem Feuer sie, du, der die Tiefen der Gottheit Schaut, und den Menschen aus Staube gemacht zum Tempel sich heiligt! Rein sey das Herz! So darf ich, obwohl mit der bebenden Stimme Eines Sterblichen, doch den Gottversöhner besingen, Und die furchtbare Bahn, mit verziehnem Straucheln, durchlaufen. (I, 13–17)

Klopstock hat sein Proömium demnach nicht nur durch Hinzufügung eines zusätzlichen Verses erweitert, er hat sich auch stärker an das Verlohrne Paradies von Milton angelehnt. So verwendet er ebenfalls die Tempel-Metapher (I, 14) 271 Vgl. hierzu: Eberhard Haufe: Zu Klopstocks Begriff »Geist Schöpfer« (Messias I 10). In: Friedrich Gottlieb Klopstock. Werk und Wirkung. Wissenschaftliche Konferenz der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg im Juli 1974. Hrsg. v. Hans-Georg Werner. Berlin 1978. S. 43–47. 272 [Johann Jacob Bodmer :] Johann Miltons Episches Gedichte von dem Verlohrnen Paradiese. Faksimiledruck der Bodmerschen Übersetzung von 1742. Mit einem Nachwort von Wolfgang Bender. Stuttgart 1965. (Deutsche Neudrucke, Reihe Texte des 18. Jahrhunderts.) S. 2f. 273 Ebd., S. 1. 274 Der englische Originalwortlaut des Paradise Lost wird nach folgender Ausgabe zitiert: John Milton: Paradise Lost. Edited by Barbara K. Lewalski. 2. Aufl. Malden / Oxford / Carlton 2008. (Text based on the second edition of Paradise lost (1674) in twelve books using Harvard copy 14486.3 B as copy text.) S. 11f.

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Klopstocks Wettstreit mit der epischen Tradition

und stellt an den Dichter eines religiösen Stoffes im Modus des Imperativs folgende Forderung: »Rein sey das Herz!« (I, 15) Das Problem einer würdigen poetischen Darstellung der erhabenen Materie wird in den Versen 15 bis 17 näher behandelt. Klopstock thematisiert die eigentliche Unfähigkeit eines »Sterblichen« (I, 16), die himmlischen Ereignisse und göttlichen Taten des Messias zu »besingen«. Die »bebende[.] Stimme« (I, 15) deutet auf die Ehrfurcht des epischen Sängers vor den göttlichen Ereignissen der christlichen Heilsgeschichte hin. Die Handlung des Epos wird als »furchtbare Bahn« (I, 17) bezeichnet, die von den Leiden Jesu Christi bis zu dessen Auferstehung und Himmelfahrt führt. Der ›poeta vates‹ durchläuft diese »furchtbare Bahn, mit verziehnem Straucheln« (I, 17). Unfähigkeitsbeteuerungen, »Unsagbarkeitstopoi« und Demutsformeln275, die ausdrücken, dass einem »Sterblichen« (I, 16) die Worte fehlen, um Gott angemessen zu preisen, verwendet Klopstock wiederholt in seinem Bibelepos. In der »Feuertaufe« durch den Heiligen Geist »werden Gedanken und Worte über das menschliche Maß hinaus gesteigert (vgl. Apg. 2,1–4)«276, so dass der epische Sänger erst nach der »Weihe« (I, 10) durch das »Feuer« (I, 13) des »Geist Schöpfer[s]« (I, 10) überhaupt dazu fähig ist, »der sündigen Menschen Erlösung« (I, 1) zu erzählen.277 Klopstock verknüpft den zweiten Teil des Proömiums des Messias mit den Exordia des X. und XI. Gesanges. Auch im Exordium des X. Gesanges reflektiert der epische Sänger über die angemessene poetische Darstellung der Passion Jesu Christi: Immer weiter komm’ ich auf meinem furchtbaren Wege, Immer näher zum Tode des Sohns. Ach, wär’s nicht der Liebe Tod, den sie starb von dem Anbeginne der Welt; so erläg’ ich Unter der Last der Betrachtung! Auf beyden Seiten ist Abgrund! 275 Vgl. zur langen Tradition der »Unsagbarkeitstopoi« und »Devotionsformeln«: Ernst Robert Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter. Sonderausgabe der 11. Aufl. Tübingen / Basel 1993. S. 168–171 und S. 410–415. 276 Kevin Hilliard: »Stammelnd Gered’« und »der Engel Sprach’«: Probleme der Rede bei Klopstock. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 61 (1987). S. 266–297, hier S. 282. Im Matthäusevangelium verkündet Johannes der Täufer, dass nach ihm einer kommen werde, der nicht mit Wasser, sondern mit dem Heiligen Geist und Feuer taufen werde (Mt. 3,11). Gemeint ist hiermit natürlich Jesus Christus, der Erlöser. Laut Hilliard ist »im Begriff der Taufe auch die Vorstellung einer Befreiung von der erblichen Sündenlast enthalten«: »Durch Christi Vermittlung schließlich wird Jehovah versöhnt, d. h. es wird dem menschlichen Dasein überhaupt und damit auch der menschlichen Rede eine relative Berechtigung zuerkannt.« (Ebd., S. 282.) 277 Im XIX. Gesang des biblischen Heldengedichts macht der Messias seinen Jüngern folgende Prophezeiung: »Johannes j Hat mit Wasser getauft; ihr aber sollet getaufet j Werden mit dem heiligen Geiste.« (XIX, 1038–1040) Die Jünger Jesu und späteren Apostel erwarten daraufhin in Jerusalem gemäß der Verheißung des Erlösers (vgl. XIX, 1048–1050), »daß über sie würde j Ausgegossen die Feuertaufe des heiligen Geistes!« (XIX, 1078f.)

Das Proömium des Messias

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Da zu der Linken: Ich soll nicht zu kühn den Göttlichen singen! Hier zu der Rechten: Ich soll ihn mit feyrlicher Würdigkeit singen! Und ich bin Staub! O du, deß Blut auf Golgatha strömte, Dessen Allgegenwart mich von allen Seiten umringt hat, Du erforschest meine Gedanken! du siehest es alles, Was ich denke, vorher, du Naher! ja selber kein Wort ist Mir auf der Zunge, das du nicht wissest. Mein Gott! mein Versöhner! Leite mich, mein Versöhner, und wenn ich strauchle, vergieb mirs! Deines Lichts Ein Schimmer, ach deiner Gnad’ Ein Tropfen Ist dem erkenntnißbegierigen, ist dem durstenden Fülle! (X, 1–14)

In dem Bewusstsein, sich auf einem »furchtbaren Wege« (X, 1) zu befinden (vgl. I, 17), drückt Klopstock die Schwierigkeit, die erhabene Stilhöhe für den heiligen Gegenstand zu finden, um nicht »[u]nter der Last der Betrachtung« (X, 4) zu erliegen, in dem Bild einer Gratwanderung aus (X, 4–6).278 Die Selbsterniedrigung des epischen Sängers im Gegensatz zu der Allwissenheit des Messias äußert sich in der Bezeichnung als menschlicher »Staub« (X, 7) (vgl. I, 14) und in der Bitte um Nachsicht – »wenn ich strauchle, vergieb mirs!« (X, 12) – (vgl. I, 17). Im Exordium des XI. Gesanges, das die zweite Hälfte des Messias einleitet, bringt der ›poeta vates‹ die Hoffnung zum Ausdruck, in den ersten zehn Gesängen des Epos »nicht zu sinkend den Flug der Religion« (XI, 1) geflogen zu sein. In »bebende[m] Gang« (XI, 13) habe er »[d]es Sohnes Erniedrigung« gesungen (XI, 13), nun wolle er beginnen, »auch seine Wonne zu singen« (XI, 14). Wie ungewöhnlich und einzigartig Klopstocks Orientierung am homerischen Muster noch Mitte des 18. Jahrhunderts war279, zeigt sich sehr dezidiert in Lessings Abhandlung Über das Heldengedichte der Messias in der Monatsbeilage der Berlinischen Privilegirten Zeitung im Jahre 1751. Lessing hatte ähnlich wie Klopstock eine humanistische Ausbildung an der Fürstenschule St. Afra in Meißen erhalten. Er vergleicht den Messias in seiner Rezension allerdings nicht mit der Ilias Homers, sondern mit der Aeneis Vergils, d. h., er misst Klopstocks Hexameterdichtung am lateinisch-römischen Vorbild. Lessing setzte sich im September 1751 im Neuesten aus dem Reiche des Witzes mit den einführenden Versen von Klopstocks Bibelepos auseinander.280 Der Berliner Kritiker beurteilt sehr detailliert den ersten und zweiten Teil des Messias-Proömiums in der Erstfassung von 1748. Als Grund hierfür gibt er an, dass 278 Vgl. Martin: Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert, S. 111. 279 Vgl. Kohl: Klopstocks Homer, S. 112. 280 Gotthold Ephraim Lessing: Über das Heldengedichte der Messias. [In: Das Neueste aus dem Reiche des Witzes. Monat September 1751.] In: [Ders.:] Werke und Briefe in zwölf Bänden. Band 2: Werke 1751–1753. Hrsg. v. Jürgen Stenzel. Frankfurt a. M. 1998. (Bibliothek deutscher Klassiker ; 149.) S. 208–219. Vgl. hierzu: Franz Muncker : Lessings persönliches und literarisches Verhältnis zu Klopstock. Frankfurt a. M. 1880. S. 80–93.

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Klopstocks Wettstreit mit der epischen Tradition

er »aus den Beispielen des Homers und Virgils bemerkt zu haben glaubte, ein Heldendichter pflege in dem Eingange seines Gedichts die ganze Einrichtung desselben nicht undeutlich zu verraten«.281 Er glaubt demnach, aus dem Proömium des Messias die Komposition bzw. die gesamte Handlungsstruktur des bislang noch unvollendeten epischen Gedichts erschließen zu können. Als Musterbeispiel zitiert Lessing zunächst den Anfang des Proömiums der Aeneis Vergils (1. Buch, V. 1–7): Arma virumque cano, Troiae qui primus ab oris Italiam fato profugus Laviniaque venit litora, multum ille et terris iactatus et alto vi superum saevae memorem Iunonis ob iram, multa quoque et bello passus, dum conderet urbem inferretque deos Latio, genus unde Latinum Albanique patres atque altae moenia Romae. Waffentaten und den Helden besinge ich, der von Trojas Gestaden als erster landflüchtig durch göttliche Fügung nach Italien und an Laviniums Küste kam. Schwer wurde er heimgesucht zu Land und Meer durch die Macht der Himmlischen und den unversöhnlichen Zorn der wütenden Juno; viel auch erlitt er in Kriegen, bis er seine Stadt gründen und seine Götter nach Latium bringen konnte – daher das Latinervolk und die albanischen Ahnen und die hochragenden Mauern von Rom!282

Lessing zergliedert diese ersten sieben Verse der Aeneis, die die ›propositio‹, d. h. die Ankündigung des Themas des römischen Nationalepos darstellen. Er erschließt sich daraus den Helden Aeneas und dessen Charaktereigenschaft, die ›pietas‹, den mythologischen Götterapparat, repräsentiert durch die Göttin Juno, und das bestimmende Schicksal, das ›fatum‹, sowie die Zweiteilung des epischen Gedichts: So glaubte ich nicht allein den Held, virum, Trojæ qui primus ab oris Italiam venit; seinen Charakter inferretque Deos Latio, als den frommen Aeneas; die vornehmsten Maschinen, Fatum, vis superum, Junonis ira; sondern auch die beiden Teile der ganzen Aeneide darinne gefunden zu haben, den ersten multum ille & terris jactatus & alto, den zweiten multa quoque & bello passus.283

Die Aeneis Vergils lässt sich grob in den odysseeischen Teil der Irrfahrten (Buch 1–6) und in den iliadischen Teil der Kämpfe (Buch 7–12) einteilen. Das Nachahmungskonzept zeigt sich im römischen Epos allerdings nicht nur in der 281 Lessing: Über das Heldengedichte der Messias. In: [Ders.:] Werke und Briefe. Bd. 2, S. 208– 219, hier S. 211. 282 Publius Vergilius Maro: Aeneis. Lateinisch / Deutsch. Hrsg. u. übers. v. Gerhard Fink. Düsseldorf / Zürich 2005. (Sammlung Tusculum.) S. 8/9 (1. Buch, V. 1–7). 283 Lessing: Über das Heldengedichte der Messias. In: [Ders.:] Werke und Briefe. Bd. 2, S. 208– 219, hier S. 211.

Das Proömium des Messias

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zweigeteilten Gesamtkomposition, sondern auch prägnant im ersten Vers der Aeneis: Erzählt die Ilias Homers als kriegerisches Epos vom Zorn des Achilleus und dem Kampf um Troja, so berichtet die Odyssee Homers hingegen von den »Taten des vielgewanderten Mannes« (1. Gesang, V. 1), des Irrfahrers und Heimkehrers Odysseus284. Vergil erklärt nun, dass er von den »Waffen« bzw. »Waffentaten« und dem »Mann« (»arma virumque«, 1. Buch, V. 1) singe. Folglich ist das agonale Prinzip der ›imitatio auctorum‹ und der ›aemulatio‹ in der Aeneis perfekt umgesetzt.285 Lessing nimmt das Proömium Vergils zum Maßstab für Klopstocks Messias. Er betont, dass man wisse, dass »der Eingang eines Heldengedichts aus dem Inhalte und aus der Anrufung besteh[e]«.286 Im lateinisch-römischen Musterbeispiel, der Aeneis, folgt auf die ›propositio‹ (1. Buch, V. 1–7), die Ankündigung des Inhalts, die ›invocatio‹, die Anrufung der Muse (1. Buch, V. 8–11): Musa, mihi causas memora, quo numine laeso quidve dolens regina deum tot volvere casus insignem pietate virum, tot adire labores inpulerit. tantaene animis caelestibus irae? Muse, nenne mir die Gründe, wegen welches Frevels oder welcher Kränkung die Königin der Götter einen Mann, ausgezeichnet durch fromme Gesinnung, so viele Schicksalsschläge ertragen und so viel Mühsal bestehen ließ. Ist denn so groß der Groll in Götterherzen?287

284 Das Proömium der Odyssee Homers (1. Gesang, V. 1–10) lautet in der deutschen Übersetzung von Johann Heinrich Voß aus dem Jahre 1781 folgendermaßen: »Sage mir, Muse, die Taten des vielgewanderten Mannes, Welcher so weit geirrt nach der heiligen Troja Zerstörung, Vieler Menschen Städte gesehn und Sitte gelernt hat Und auf dem Meere so viel unnennbare Leiden erduldet, Seine Seele zu retten und seiner Freunde Zurückkunft. Aber die Freunde rettet’ er nicht, wie eifrig er strebte; Denn sie bereiteten selbst durch Missetat ihr Verderben: Toren! welche die Rinder des hohen Sonnenbeherrschers Schlachteten; siehe, der Gott nahm ihnen den Tag der Zurückkunft. Sage hievon auch uns ein weniges, Tochter Kronions.« (Homer : Ilias – Odyssee. In der Übertragung von Johann Heinrich Voß, S. 433 (Odyssee, 1. Gesang, V. 1–10).) 285 Vgl. hierzu: Tilman Schmit-Neuerburg: Vergils Aeneis und die antike Homerexegese. Untersuchungen zum Einfluß ethischer und kritischer Homerrezeption auf imitatio und aemulatio Vergils. Berlin / New York 1999. (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte; 56.) 286 Lessing: Über das Heldengedichte der Messias. In: [Ders.:] Werke und Briefe. Bd. 2, S. 208– 219, hier S. 212. 287 Vergilius Maro: Aeneis. Lateinisch / Deutsch. Hrsg. u. übers. v. Gerhard Fink, S. 8/9 (1. Buch, V. 8–11).

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Klopstocks Wettstreit mit der epischen Tradition

Lessing interpretiert die ersten sieben Verse des Proömiums des Messias als Zusammenfassung des Inhalts und die anschließenden neun Verse als Musenanrufung: Der Inhalt geht bis auf, und vollbrachte die große Versöhnung; das übrige ist die Anrufung an den Geist Gottes. Virgil sagt: ich singe ; Klopstock sagt: singe unsterbliche Seele. Nichts tut man lieber und gewisser, als das was man sich selbst befohlen hat.288

Georg Friedrich Meier hatte in seiner Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias (EA 1749; 2. Aufl. 1752) den Anfang von Klopstocks Bibelepos folgendermaßen analysiert: Den Eingang macht der Dichter nach den Regeln des Horatz, indem er kurtz den gantzen Inhalt seines Gedichts vorträgt, nach dem Muster des Homers und Virgils. Er ruft nicht etwa eine heydnische Muse an, sondern er befiehlt, auf eine gantz neue Art, seiner unsterblichen Seele zu singen […]. Hierauf wendet sich der Dichter betend an den Geist GOttes. Die Hoheit seines Gegenstandes, und die gottseligen Rührungen, die er erwecken will, machen dieses Gebet nothwendig.289

Lessing kritisiert nun in seiner Abhandlung Meier für dessen angeblich falsche Interpretation des Messias-Proömiums: Ich weiß also nicht, wie der Herr Professor Meier hat sagen können: Er ruft nicht etwa eine heidnische Muse an, sondern er befiehlt, auf eine ganz neue Art, seiner unsterblichen Seele zu singen. Nicht zu gedenken, daß der Herr Professor den Inhalt und die Anrufung offenbar hier verwechselt, und daß es eine greuliche Torheit würde gewesen sein, wenn Klopstock eine heidnische Muse hätte anrufen wollen; will ich nur sagen, daß alles neue, was in dieser Stelle zu finden ist, in einer grammatikalischen Figur bestehet, nach welcher der Dichter das, was andre im Indicativo sagen, in dem an sich selbst gerichteten Imperativo sagt. Der Sänger des Messias hat überflüssige Schönheiten, als daß man ihm welche andichten müsse, die keine sind. Die erste Zeile heißt also, wenn man sie in den gewöhnlichen Ausdruck übersetzt: »Ich unsterblicher Klopstock, singe der sündigen Menschen Erlösung.«290

Homer verbindet in seinem Proömium die ›propositio‹ und die ›invocatio‹ miteinander in einem einzigen langen Satz, wohingegen Vergil die beiden Teile voneinander trennt. Vergil beginnt seine Aeneis mit einem Indikativ : »cano« (1. Buch, V. 1), »ich singe«. Homer hingegen lässt seine Ilias mit einem Imperativ anfangen: »%eide, ¢e²« (1. Gesang, V. 1), »singe, Göttin«. Der Berliner Literaturkritiker erkennt demnach nicht, dass Klopstock Homer nachahmt und nicht 288 Lessing: Über das Heldengedichte der Messias. In: [Ders.:] Werke und Briefe. Bd. 2, S. 208– 219, hier S. 212. 289 Meier : Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias. Erstes Stück (1752), S. 11. 290 Lessing: Über das Heldengedichte der Messias. In: [Ders.:] Werke und Briefe. Bd. 2, S. 208– 219, hier S. 212f.

Das Proömium des Messias

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Vergil. Wie Homer seiner göttlichen Muse befiehlt Klopstock der »unsterbliche[n] Seele« (I, 1) zu singen. Der Autor des Messias ist folglich nur indirekt im Imperativ »Sing« (I, 1) greifbar. Er spricht direkt zur »unsterbliche[n] Seele« (I, 1) und fordert diese dazu auf, zu singen. In der Aeneis hingegen ist das Ich des Ependichters bzw. Sängers im ersten Vers sogleich präsent. Man könnte aber den ersten Hexameter des Messias durchaus so interpretieren, dass sich Klopstock in einem Dialog mit der »unsterbliche[n] Seele« befindet. Da einem jeden Christen seit der Erlösungstat des Messias eine unsterbliche Seele gegeben ist, ließe sich der Anfang des Messias-Proömiums tatsächlich auch so auslegen, dass Klopstock entweder seine eigene Seele anredet oder irgendeine andere christliche Seele als Inspirationsquelle hinzuzieht. Der biblische Stoff des Heldengedichts sorgt insofern dafür, dass der Anfangsvers Klopstocks mehrdeutig wird. Obwohl Lessing aufgrund seiner klassisch-humanistischen Ausbildung äußerst gelehrt war, erkannte er offensichtlich nicht wie der Hallenser Ästhetiker Meier Klopstocks ›aemulatio‹-Konzept, also dessen Wetteiferung mit dem griechischen Vorbild als Erfinder der Gattung Epos. Die Interpretation des Berliner Kritikers beweist allerdings, wie ungewöhnlich Klopstocks ›invocatio‹ war. Lessing ließ seine Kritik an den Anfangsversen des Messias mit einigen Zusätzen nochmals im Jahre 1753 in den Briefen 15 bis 19 im zweiten Teil seiner Schrifften abdrucken. Im Neuesten hatte er noch den ersten Vers des Messias folgendermaßen interpretiert: »›Ich unsterblicher Klopstock, singe der sündigen Menschen Erlösung.‹«291 In dieser Lesart bezieht sich das Epitheton »unsterblich« auf den Verfasser des Epos selbst. Lessing unterstellt folglich Klopstock – mit ironischem Unterton – ein Streben nach ewigem Dichterruhm. Erst im dritten Druck seiner Schrifften (1753c) änderte der Berliner Kritiker im 15. Brief seine drastische Auslegung und schrieb: »I c h u n s t e r b l i c h e S e e l e , s i n g e […]«.292 Im 16. Brief fügte er seiner Abhandlung über das MessiasProömium und seiner Kritik an der Interpretation Meiers folgende Anmerkung hinzu: »Gesetzt dieser Criticus [Meier ; I. G.] hätte den Inhalt und die Anrufung nicht verwechselt; gesetzt Herr Klopstock rufe wirklich seine unsterbliche Seele an, wie ein andrer die Musen anruft: so würde auch alsdann in dieser Wendung nichts neues sein.«293 Lessing verweist als Beispiel auf Dantes Inferno (2. Gesang, 291 Vgl. ebd., S. 213. 292 Vgl. Muncker : Lessings persönliches und literarisches Verhältnis zu Klopstock, S. 82. Siehe auch diese Fassung des 15. Briefes der Schrifften und die entsprechende Textstelle in: Gotthold Ephraim Lessing: Sämtliche Schriften. Hrsg. v. Karl Lachmann. Dritte, auf ’s neue durchgesehene und vermehrte Auflage, besorgt durch Franz Muncker. 5. Bd. Stuttgart 1890. S. 74–80, hier S. 79. 293 Gotthold Ephraim Lessing: Sechzehnter Brief. In: [Ders.:] Werke und Briefe. Bd. 2, S. 688f., hier S. 688. In dieser neuen Werkausgabe sind nur die Zusätze Lessings zum Neuesten abgedruckt. Eine vollständige Edition der Briefe 15 bis 19 des 2. Teils der Schrifften (1753)

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Klopstocks Wettstreit mit der epischen Tradition

V. 7–9), in welchem der italienische Dichter sein eigenes »Genie« angerufen habe und hierfür getadelt worden sei.294 In seiner Abhandlung Über das Heldengedichte der Messias im Neuesten behauptet Lessing zudem, dass Klopstocks Proömium den Regeln, die Horaz aufgestellt habe, nicht gemäß sei. Er zitiert daher zunächst folgende Verse aus der Ars Poetica (V. 136–144): nec sic incipies, ut scriptor cyclicus olim: ›fortunam Priami cantabo et nobile bellum.‹ quid dignum tanto feret hic promissor hiatu? parturient montes, nascetur ridiculus mus. quanto rectius hic, qui nil molitur inepte: ›dic mihi, Musa, virum, captae post tempora Troiae qui mores hominum multorum vidit et urbes.‹ non fumum ex fulgore, sed ex fumo dare lucem cogitat, ut speciosa dehinc miracula promat, [Dass du] nicht so anhebst, wie einst der Autor des Kyklos: »Priams Geschick will ich singen, den Krieg auch der Edlen.« Wer solches verspricht, was wird er verkünden, das wert ist, so weit den Mund aufzumachen? Gebirge gebären, heraus kommt ein komisches Mäuschen. Wieviel richtiger er, Homer, der nichts ungeschickt anfaßt: »Nenne mir, Muse, den Mann, der nach der Erobrung von Troja zahlreicher Menschen Bräuche gesehn hat und ihre Städte.« Nicht Qualm nach dem Glanz, sondern Licht nach dem Qualm will er geben, um dann leuchtende Wunderdinge zu zeigen, […].295

Horaz habe dem Ependichter hierin den Rat erteilt, nicht wie der kyklische Poet »als ein Großsprecher anzufangen«, sondern so »bescheiden« wie der Dichter der Odyssee.296 Lessing behauptet, dass diese Stelle in der Ars Poetica von den Kommentatoren bislang »noch nie recht erkläret worden« sei.297 Wenn man die Proömien der Griechen mit denjenigen der Römer vergleiche, dann erkenne man Folgendes: »Die griechischen Heldendichter verbinden den Inhalt und die Anrufung; die römischen trennen sie.«298 Homer nenne sowohl in der Ilias als auch in der Odyssee als Erstes die »Gottheit«: Er erkennet seine Schwäche. Er sagt nicht, ich will den und jenen Helden besingen; er untersteht sich nichts, als der Muse nachzusingen. Durch diesen einzigen Zug schildert er sich als einen bescheidenen Mann, als ein Mann, der sich der Gnade der Götter

294 295 296 297 298

findet sich in der Ausgabe der Sämtlichen Schriften Lessings von Karl Lachmann und Franz Muncker. (Vgl. Lessing: Sämtliche Schriften. 5. Bd., S. 74–95.) Lessing: Sechzehnter Brief. In: [Ders.:] Werke und Briefe. Bd. 2, S. 688f., hier S. 688. Horatius Flaccus: Ars Poetica / Die Dichtkunst. Lateinisch / Deutsch. Übersetzt und mit einem Nachwort hrsg. v. Eckart Schäfer, S. 12/13 (V. 136–144). Lessing: Über das Heldengedichte der Messias. In: [Ders.:] Werke und Briefe. Bd. 2, S. 208– 219, hier S. 213. Ebd. Ebd., S. 214.

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überlässet; zwei Stücke, welche ihm das Vertrauen der Leser erwecken, und den zu erzehlenden Wundern einen Grad der Wahrscheinlichkeit geben, den sie nicht haben würden, wenn sie sich bloß auf ein menschliches Ansehen gründeten.299

Der Fehler des kyklischen Epikers liege demnach darin, dass er anfangs keine göttliche Muse als Inspirationsquelle angerufen habe, sondern unbescheiden sein eigenes Ich sprechen lasse: Der Stoff seines Liedes war allzuwichtig, als daß man glauben konnte, er würde ihn ohne eine göttliche Begeisterung ausführen können. Anstatt das Glück des Priamus und den edlen Krieg will ich singen; hätte er also nach dem Beispiele des weisen Homers sagen sollen: Singe, Muse, das Glück des Priamus und den edlen Krieg; und alsdenn würde er dem Tadel des Römers [Horaz; I. G.] entgangen sein. Es ist auch in der Tat besonders, mit einem stolzen Ich anzufangen, und alsdann die Musen anzurufen, nachdem man schon alles auf die eignen Hörner genommen hat. Das heißt anklopfen, wenn man die Türe schon aufgemacht hat.300

Lessing hatte diese Stelle in der Ars Poetica allerdings falsch gedeutet. Horaz tadelt an dem kyklischen Epiker nicht die fehlende Musenanrufung, sondern er kritisiert den zu umfangreichen Stoff dieses Heldengedichts.301 Indem dieser Dichter ankündigt, »ab ovo« (»mit dem Zwillingsei«, V. 147) beginnen zu wollen, also neben dem ganzen Trojanischen Krieg auch noch zuerst das Lebensschicksal des Priamos erzählen zu wollen, verstößt er gegen die poetologische Norm.302 Der ideale Musterautor Homer nämlich führe seine Leser bzw. Hörer sofort »in medias res« (»mitten hinein ins Geschehen«, V. 148).303 Klopstock hat in seinem Messias gegen diese Regel des Horaz nicht verstoßen, insofern ist die Heranziehung jener Verse aus der Ars Poetica durch Lessing eigentlich verfehlt. Seine Argumentation ist zudem nicht stichhaltig, denn aufgrund der angeführten Beweise würde auch Vergils Aeneis der Kritik nicht standhalten können. Seltsamerweise zieht Lessing erst jetzt in seiner Rezension Homer als musterhaftes Vorbild für Klopstocks Messias heran. Der Berliner Kritiker bemerkt, dass er sich wünsche, dass Klopstock »dem Exempel des Homers gefolget wäre«: Es würde ihm als einem christlichen Dichter um so viel anständiger gewesen sein, wenn der Anfang ein Gebet gewesen wäre; als daß er seiner Seele befiehlt ein Werk zu besingen, dem sie, so unsterblich sie ist, zu schwach ist, wenigstens ihm gewachsen zu sein, sich nicht rühmen muß. Es ist wahr, das demütigste und zugleich erhabenste 299 Ebd., S. 214f. 300 Ebd., S. 215. 301 Vgl. Horatius Flaccus: Ars Poetica / Die Dichtkunst. Lateinisch / Deutsch. Übersetzt und mit einem Nachwort hrsg. v. Eckart Schäfer, S. 42, Anm. 21 (Anmerkung von Eckart Schäfer). 302 Ebd., S. 12/13 (V. 147). 303 Ebd., S. 12/13 (V. 148).

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Klopstocks Wettstreit mit der epischen Tradition

Gebet folgt drauf; allein der kyklische Dichter wird die Anrufung der Musen gewiß auch nicht vergessen haben; und gleich wohl tadelt ihn Horaz.304

Die Schwächen in Lessings Argumentation zeigen sich an dieser Stelle deutlich, denn plötzlich lässt er offensichtlich den ersten Messias-Vers doch als ›invocatio‹ gelten, indem er Klopstock unterstellt, dass der Ependichter seiner eigenen unsterblichen Seele den Befehl zum Singen erteile. Diese Inspirationsquelle charakterisiert Lessing als »zu schwach« und dem erhabenen Stoff nicht »gewachsen«. Klopstock hätte demnach gleich im ersten Vers seines Proömiums den Heiligen Geist, Jesus Christus oder Gott selbst mit der Bitte um Inspiration anrufen sollen. Lessing tadelt den Messias-Dichter dafür, dass ihm in den einführenden Versen seines Epos die »religiöse Bescheidenheit« Homers fehle.305 Im Anschluss an diese umfassende Kritik an Klopstocks Proömium im Allgemeinen wendet sich Lessing nochmals pedantisch jedem einzelnen Vers im Detail zu. Zum ersten Hexameter des Messias merkt er nochmals an: »Über die Anrede habe ich mich schon erklärt. Man betrachte sie als eine bloße Anzeige dessen, was der Dichter tun will, oder als eine Aufmunterung an sich selbst […].«306 Das Epitheton »unsterblich« könne man allein dadurch rechtfertigen, dass die Erlösung nichtig sei, wenn die menschlichen Seelen nicht unsterblich seien, und der gewählte neutestamentliche Stoff sei ein Stoff, der ihr in die Ewigkeit nachfolge.307 Allerdings wäre es »noch schöner gewesen […], wenn er seine Seele, als diejenige angeredet hätte, welche selbst an der Erlösung der sündigen Menschen Teil hat«.308 Den Literaturkritiker stört offenbar die angebliche Erhebung der »unsterblichen Seele«, die er mit Klopstock selbst gleichsetzt, über den Rest der sündigen Menschheit. Er äußert daher folgende Bedenken: »Sich selbst, oder seine Seele schildert der Dichter auf ihrer prächtigsten Seite, auf der Seite der Unsterblichkeit; alle andere Menschen auf der allerelendesten, auf der Seite sündiger und verlorner Geschöpfe. Scheint sich der Dichter also nicht von ihnen auszuschließen?«309 Klopstock hatte sicherlich nicht vermutet, dass sein Epitheton im ersten Vers des Messias derartige Spitzfindigkeiten auslösen würde. Auch am zweiten Vers des I. Gesanges hat Lessing etwas auszusetzen: Im Wort »Messias« wären die Begriffe »auf Erden« und »in seiner Menschheit« bereits implizit enthalten. Wenn Klopstock anstatt »Messias« die Bezeichnung »ewiger Sohn« verwendet hätte, wären diese spezifizierenden Ausdrücke hingegen 304 Lessing: Über das Heldengedichte der Messias. In: [Ders.:] Werke und Briefe. Bd. 2, S. 208– 219, hier S. 216. 305 Ebd. 306 Ebd. 307 Ebd. 308 Ebd. 309 Ebd., S. 217.

Das Proömium des Messias

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möglich gewesen.310 Das Verb »vollendet« (I, 2), das den Vers abschließt, wird ebenfalls attackiert, denn es impliziere gewissermaßen das geplante Ende der Handlung des Messias: Man hat mich gelehrt, zu der Erlösung der Menschen gehörten auch das Hinabsteigen zur Hölle und die Himmelfahrt Christi. Ist es aber auf Erden geschehen, daß er sich den Teufeln triumphierend gezeigt hat? Ist er in seiner Menschheit gen Himmel gefahren, oder in seiner verklärten Menschheit? Ich weiß also nicht, wie man sagen kann Christus habe die Erlösung auf Erden in seiner Menschheit vollendet? Dieses ist die Stelle, aus welcher man am zuverlässigsten schließen könnte, wo die Handlung des Gedichts aufhören werde.311

Klopstock erkannte wohl selbst, dass in der ›propositio‹ der Inhalt der zweiten Hälfte seines Epos nicht angekündigt wurde. Immerhin handelt der Messias ja von der Erlösung des Menschengeschlechts durch Passion, Auferstehung und Himmelfahrt Jesu Christi. In der Endfassung des Messias von 1799/1800 lauten die ersten vier Verse des I. Gesanges, die in einem einzigen langen Satz das Thema des Bibelepos zusammenfassen, dann folgendermaßen: Sing, unsterbliche Seele, der sündigen Menschen Erlösung, Die der Messias auf Erden in seiner Menschheit vollendet, Und durch die er Adams Geschlecht zu der Liebe der Gottheit, Leidend, getödtet, und verherrlichet, wieder erhöht hat. (I, 1–4)

Die ersten zwei Partizipien »leidend« und »getödtet« im vierten Vers umschreiben die erste Hälfte des Messias (Gesänge I–X), die von der Erniedrigung, vom Leiden und Tod Jesu erzählt. Die additive Konjunktion »und« markiert die Zweiteilung des Bibelepos. Die anschließenden zwei Partizipien »verherrlichet« und »erhöht« umreißen den Inhalt der zweiten Hälfte des Messias (XI–XX), die von der Verherrlichung des Gottessohnes, seiner Erhöhung durch Auferstehung und Himmelfahrt handelt. Lessing beurteilte in seiner Rezension auch den dritten und vierten Vers des Proömiums in der Erstfassung von 1748: »Und durch die er Adams Geschlechte die Liebe der Gottheit j Mit dem Blute des heiligen Bundes von neuem geschenkt hat.«312 Der Ausdruck »das Blut des heiligen Bundes« sei »zweideutig«: »Das Blut der Beschneidung war auch Blut eines heiligen Bundes.«313 Die Formulierung »von neuem« impliziere, dass die Menschen die Liebe der Gottheit einst verloren hätten, dabei habe die Erlösung der Sünder im göttlichen Heilsplan von Anfang an festgestanden. Der Messias-Dichter hätte laut Lessing also »einen behutsa310 311 312 313

Ebd. Ebd., S. 218. Klopstock: DM 1748, S. 7 (I, 3f.). Lessing: Über das Heldengedichte der Messias. In: [Ders.:] Werke und Briefe. Bd. 2, S. 208– 219, hier S. 218.

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mern Ausdruck wählen sollen«.314 Eben diesen stark kritisierten vierten Vers ersetzte Klopstock vollständig in der oben zitierten Endfassung. Auch am fünften bis siebten Vers des Proömiums, in denen Klopstock die Widersacher des Messias, Satan und das judäische Volk, anführt, hat der Berliner Kritiker etwas auszusetzen: Der Dichter sagt an einem andern Orte von Jerusalem, daß sie die Krone der hohen Erwählung unwissend [I, 25; I. G.] hinweggeworfen. Hat das jüdische Volk also JEsum nicht für den, der er war erkannt, wie es ihn denn würklich nicht erkannt hat, wie kann es wider ihn aufgestanden sein? Wie kann es ihn das große Werk auszuführen gehindert haben, von dem es nichts wußte? Alle Verfolgungen der Juden sind der Absicht Christi eher behülflich, als entgegen gewesen. Satan ist im gleichen Falle. Er kannte den Messias nicht; er hielt ihn für nichts als einen sterblichen Seher. Er wandte alles an, ihn zu töten, und Christus sollte uns zu erlösen getötet werden. Was für einen mächtigen Feind hat also der Messias an ihm zu überwinden gehabt? Wenn sich Satan der Kreuzigung Christi widersetzt hätte, so hätte der Dichter sagen können: Umsonst: er tats und vollbrachte die große Versöhnung.315

Die theologische Kritik Lessings betrifft an dieser Stelle neben der religiösen Problematik auch die scheinbar mangelhafte Motivation der Handlung im Messias. Die Vertreter des Bösen im biblischen Heldengedicht können eigentlich gar nicht als potentiell gefährliche Gegner gelten, da die Ermordung des Messias von ihm selbst und von Gott bereits seit Ewigkeiten geplant war. Satan und das jüdische Volk können demnach als Werkzeuge Gottes angesehen werden. Lessing setzte seine Detailkritik am zweiten Abschnitt des Messias-Proömiums von 1748 im 18. Brief des zweiten Teils seiner Schrifften (1753) fort.316 Er beteuert darin zunächst, dass er in diesen neun Versen (I, 8–16), die seiner Meinung nach die »Anrufung« darstellen, »sehr außerordentliche Schönheiten« gefunden habe.317 Etwas auszusetzen hat er aber vor allem an folgendem imperativischen Satz: »Rüste sie mit jener tiefsinnigen einsamen Weisheit, j Mit der du, forschender Geist, die Tiefen Gottes durchschauest;« (I, 13f.).318 Das Epitheton »forschend«, das den Heiligen Geist näher bezeichnet (I, 14), betrachtet er als »sehr unwürdig, und mit dem Prädicate die Tiefen Gottes durchschauen in vollkommnem Widerspruche«, denn »wo ein Durchschauen Statt finde, höre das Forschen auf, und das Forschen selbst könne wohl von einem endlichen Wesen, nicht aber von dem Geiste Gottes gesagt werden«.319 Mit den Adjektiven »tief314 Ebd. 315 Ebd., S. 219. 316 Gotthold Ephraim Lessing: Achtzehnter Brief. In: [Ders.:] Werke und Briefe. Bd. 2, S. 690– 693. 317 Ebd., S. 690. 318 Klopstock: DM 1748, S. 7 (I, 13f.). 319 Lessing: Achtzehnter Brief. In: [Ders.:] Werke und Briefe. Bd. 2, S. 690–693, hier S. 690f.

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sinnig« und »einsam« (I, 13) sei er zwar nicht zufrieden, aber offenbar seien sie »gleichwohl das höchste […], was man von der menschlichen Weisheit sagen könne«, und als Mensch könne man »von der göttlichen [Weisheit] nicht anders als nach Beziehungen auf jene reden«.320 Lessing weist auf die Problematik einer poetischen Versinnlichung des eigentlich unfassbaren Überirdischen hin: Einem philosophischen Kopfe ist schon das anstößig, daß die Sprache für die Eigenschaften des selbständigen Wesens keine besondre und ihnen eigentümliche Benennungen hat; wie viel anstößiger muß es ihm sein, wann der Dichter, diese Armut zu einer Schönheit macht, und überall seine sinnliche Vorstellungen anzubringen sucht? Den Ausdruck die Weisheit Gottes, ist man schon gewohnt, und man kann ihn, so uneigentlich, so schwächend er auch ist, nicht entbehren; durch die Beiwörter tiefsinnig und einsam aber, wird er noch weit uneigentlicher noch weit schwächender.321

Er kommt zu dem Schluss, dass die »wahre[.] Dichtkunst bei gewissen geistigen Gegenständen, von welchen man sich nicht anders als die allerlautersten Begriffe machen sollte«, gänzlich unbrauchbar sei.322 Die von dem Berliner Literaturkritiker attackierten Verse änderte Klopstock ab 1755, so dass sie in der Endfassung von 1799/1800 folgendermaßen lauten: »Rüste mit deinem Feuer sie, du, der die Tiefen der Gottheit j Schaut, und den Menschen aus Staube gemacht zum Tempel sich heiligt!« (I, 13f.) Lessing behauptet nach seiner Beurteilung des zweiten Abschnitts des Messias-Proömiums, dass man Klopstock als wahren »Verteidiger unsrer Religion« ansehen müsse.323 Er versuche, die Religion »in alle dem Glanze vorzustellen, in welchem sie unsre Ehrfurcht verdienet«:324 Das erhabenste Geheimnis weiß er auf einer Seite zu schildern, wo man gern seine Unbegreiflichkeit vergißt, und sich in der Bewundrung verlieret. Er weiß in seinen Lesern den Wunsch zu erwecken, daß das Christentum wahr sein möchte, gesetzt auch, wir wären so unglücklich, daß es nicht wahr sei. Unser Urteil schlägt sich allzeit auf die Seite unsers Wunsches. Wann dieser die Einbildungskraft beschäftiget, so läßt er ihr keine Zeit auf spitzge Zweifel zu fallen; und alsdann wird den meisten ein unbestrittner Beweis eben das sein, was einem Weltweisen ein unzubestreitender ist. Ein Fechter faßt die Schwäche der feindlichen Klinge. Wann die Arznei heilsam ist, so ist es gleich viel, wie man sie dem Kinde beibringt – –325

An dieser Stelle der Rezension des Berliner Kritikers drückt sich deutlich dessen Wertschätzung des Messias aus. Klopstock musste sich in seiner religiösen Grundhaltung bestätigt fühlen. 320 321 322 323 324 325

Ebd., S. 691. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 692. Ebd.

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Klopstocks Wettstreit mit der epischen Tradition

Lessing greift schließlich noch die Feinde des Bibelepos an, wenn er betont, dass diese wenigstens das Werk Klopstocks als wichtigen Beitrag zur Verteidigung der christlichen Offenbarungsreligion anerkennen müssten, wenn sie schon nicht die ästhetische Qualität dieser Dichtung wahrnehmen könnten: Diese einzige Betrachtung sollte den Messias schätzbar machen, und diejenigen behutsamer, welche von der Natur verwahrloset sind, oder sich selbst verwahrloset haben, daß sie die poetische Schönheiten desselben nicht empfinden. Besonders wenn es zum Unglücke Männer sind, die bei einer Art Leute, welche noch immer den größten Teil machen, ein gewisses Ansehen haben.326

Mit den »Männern von gewissem Ansehen« sind natürlich die Gottschedianer gemeint, die mit Argumenten der theologischen Orthodoxie versuchten, den Messias zu diskreditieren. Lessing war sowieso der Meinung, dass Klopstocks Epos nur von wenigen in seiner Komplexität geistig erfasst wurde. Im 10. Literaturbrief (datiert auf den 25. Januar 1759) schreibt er daher : »Homer ward eben so wenig von allen Griechen verstanden, als Klopstock von allen Deutschen.«327 Lessing hatte im 15. Brief ausdrücklich betont, dass er ein »Bewunderer« von Klopstocks Messias sei.328 Damit wollte er natürlich verhindern, vom Bodmer/ Breitinger-Kreis zu den Gottschedianern gezählt zu werden. Der KlopstockIntimus Carl Friedrich Cramer beurteilte die Rezension Lessings seinerseits im zweiten Teil seiner Monographie Klopstock. Er; und über ihn (EA 1781; 2. Aufl. 1790): Die Briefe beschäftigen sich ganz mit den ersten zwanzig Zeilen des Messias, und so viel Worte dieser Verse fast, so viel Critiken. Eigentlich sind sie ein Spiel des Witzes; aber wenn man ihnen auch nicht beitreten kan, so sieht man doch in allen den scharfsinnigen Kopf, und in mancher Anmerkung den feinen sceptischen Denker hervorschimmern, der auf Licht mehr giebt als auf Wärme, und den Thron des Denkens höher sezt, als den Thron der Empfindung. (Aber kan nicht beides vereinigt sein? Und giebt es unter Menschen irgend eine Kentnis, die nicht mehr oder weniger symbolisch ist?)329

Genau genommen hatte sich Lessing in den Briefen mit den ersten 16 Versen des I. Gesanges des Messias auseinandergesetzt. Cramer charakterisiert den Berliner Kritiker als scharfsinnigen Denker, der geistreich das Proömium Klopstocks zergliedert habe. Lessing habe seinen rationalen Verstand eingesetzt und sich 326 Ebd. 327 Gotthold Ephraim Lessing: Zehnter Brief. [In: Briefe, die neueste Litteratur betreffend. Erster Theil. 1759.] In: [Ders.:] Werke und Briefe in zwölf Bänden. Band 4: Werke 1758– 1759. Hrsg. v. Gunter E. Grimm. Frankfurt a. M. 1997. (Bibliothek deutscher Klassiker ; 148.) S. 475–478, hier S. 475. 328 Gotthold Ephraim Lessing: Funfzehnter Brief. In: [Ders.:] Werke und Briefe. Bd. 2, S. 687f., hier S. 687. 329 Carl Friedrich Cramer : Klopstock. Er ; und über ihn. Zweiter Theil. 1748–1750. Leipzig und Altona 1790. S. 350f., Anm. 6.

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bei seiner kritischen Rezension nicht von der reinen Empfindung leiten lassen. Sobald die Stärke der eigenen, individuellen Empfindung zu einem ästhetischen Wert avanciert, verlieren die poetologischen Regeln ihre normative Bedeutung. Lessing tadelte eine derartige einseitige Haltung dezidiert am Anfang seiner Abhandlung Über das Heldengedichte der Messias im Neuesten (1751): »Der Hr. Prof. Meier hat das Wort geführt; der Verfasser der Ästhetik; der geschickteste von Schönheiten, die man nicht empfindet, zu beweisen, daß man sie empfinden solle.«330 Der dritte Abschnitt des Proömiums (I, 17–22) von Klopstocks Messias lautet in der Erstfassung von 1748 folgendermaßen: Sterbliche, kennt ihr die Ehre, die euer Geschlechte verherrlicht, Da der Schöpfer der Welt, als Erlöser, auf Erden gekommen: So hört meinen Gesang, ihr besonders, ihr wenigen Edlen, Theure gesellige Freunde des liebenswürdigen Mittlers, Ihr mit der Zukunft des grossen Gerichts vertrauliche Seelen, Hört mich, und singt den ewigen Sohn durch ein göttliches Leben.331

In diesen sechs Versen erschafft Klopstock die »Fiktion« einer auserwählten ›Lesergemeinde‹, die sich zusammen mit dem epischen Sänger bzw. Erzähler »zu einer Art Gottesdienst versammel[t]«, um die Geschichte des Messias nachzuempfinden und dadurch die Erlösungstat mit jedem neuen ›Leseakt‹ zu vergegenwärtigen.332 In der Apostrophe »ihr wenigen Edlen« (I, 19) drückt sich die Vorstellung einer elitären Gemeinschaft empfindsamer Seelen aus, die als »[t]heure gesellige Freunde des liebenswürdigen Mittlers« (I, 20) dem epischen Sänger bei der schwierigen Dichteraufgabe beistehen und im Kollektiv »den ewigen Sohn durch ein göttliches Leben« (I, 22) singen.333 Der Messias Klopstocks erweist sich hiermit nicht als ein Bibelepos über die Erlösung der Menschheit, sondern der ›poeta vates‹ singt in zwanzig Gesängen ›die‹ Erlösung334, an welcher der »edle« Leser bzw. Zuhörer stets aktiv teilnehmen kann und soll. Alle irdischen und himmlischen Figuren im Epos vollziehen die christliche Heilsgeschichte innerlich nach. Der Rezipient soll sich demnach mit 330 Lessing: Über das Heldengedichte der Messias. In: [Ders.:] Werke und Briefe. Bd. 2, S. 208– 219, hier S. 208. 331 Klopstock: DM 1748, S. 7 (I, 17–22). Vgl. hierzu die Interpretation des dritten Abschnitts des Proömiums von Joachim Jacob: Jacob: Heilige Poesie, S. 134f. 332 Mat&as Mart&nez / Michael Scheffel: Einführung in die Erzähltheorie. 9., erweiterte und aktualisierte Aufl. München 2012. S. 89. 333 Vgl. ebd. 334 Klaus Manger ist der gleichen Auffassung: Das Proömium des Messias lasse erkennen, »daß nicht über das Erlösungsgeschehen gehandelt wird, sondern daß in diesem ›heiligen Lied‹ die Erlösung gesungen wird«. (Manger : Klopstocks poetische Kathedrale. Zu einem Bauprinzip im »Messias« und seiner Bedeutung, S. 39.)

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Klopstocks Wettstreit mit der epischen Tradition

den Engeln und Auferstandenen identifizieren, die ihrerseits als »teilnehmende[.] Zeugen«335 bzw. Beobachter das Erlösungsgeschehen mitempfinden und kommentieren. Der Messias kam so dem religiösen Andachtsbedürfnis der Zeitgenossen entgegen, die Klopstocks Epos als Erbauungsbuch gebrauchten. Johann Wolfgang von Goethe berichtet in Dichtung und Wahrheit davon, dass die ersten zehn Gesänge des Messias von einem Geschäftsmann, der sonst wenig las, als »das herrlichste Erbauungsbuch« betrachtet worden seien.336 Dieser habe die erste Hälfte des Bibelepos während der Karwoche »für sich im Stillen durch[gelesen]« und sich daran erbaut.337 Christian Friedrich Daniel Schubart (1739–1791), der als Rhapsode durch Süddeutschland zog338, berichtet Klopstock in einem Brief vom 4. Juni 1776: »In Ludwigsburg sind Handwerksleute, die den M e s s i a s statt eines Erbauungsbuchs brauchen und nach der Bibel (wies dann auch wahr ist) kein göttlichers Buch kennen, als diß.«339 Das Lesepublikum des Messias setzte sich aus Unbelesenen, d. h. Ungelehrten, der enthusiastischen Jugend und insbesondere aus Frauen zusammen.340 Johann Martin Miller erzählt Klopstock in einem Brief vom 14. Oktober 1780 von Johanna Wiser (1745–1815), einer Nonne im Stift der Englischen Fräulein in Günzburg, die immer den Messias »auf ihrem kleinen Bethaltar« liegen habe.341 Bei seinen Besuchen habe Miller »da nie keine andre Bücher, als die [Klopstocks], ein Gebethbuch, und die Bibel« gesehen.342 Schubart hatte bereits Klopstock berichtet, dass sich das Publikum seiner erfolgreichen Vorlesungen aus dem Messias in Augsburg im Jahre 1774 aus allen Ständen, Berufen und Konfessionen zusammengesetzt habe: Hohe und Niedre, Geistlich und Weltliche, Katholisch und Lutherische kamen mit Messiaden unterm Arm in die Vorlesung. O das war ein festlicher Anblik, wie alles so in feirlicher Stille dasaß, wie die Empfindung auffuhr und in Verwundrung und Thränen 335 Reinhold Grimm bemerkt treffend: »Ein Geschehnis, welches sich vor teilnehmenden Zeugen vollzieht: das ist das Grundmuster […] der Messiade.« (Reinhold Grimm: Marginalien zu Klopstocks Messias. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift. N. F. 11 (1961). S. 274–295, hier S. 276.) 336 Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Jubiläumsausgabe. 5. Band: Dichtung und Wahrheit. Hrsg. v. Klaus-Detlef Müller. Frankfurt a. M. / Leipzig 1998. S. 74 (Erster Teil, zweites Buch). 337 Ebd. 338 Vgl. hierzu: Isabel Gunzenhauser : Christian Friedrich Daniel Schubart als Rhapsode Friedrich Gottlieb Klopstocks. In: Christian Friedrich Daniel Schubart – Das Werk. Hrsg. v. Barbara Potthast. Heidelberg 2016. S. 345–380. 339 Brief von Schubart an Klopstock, 4. Juni 1776. In: HKA, Briefe XI, Nr. VII 35 a, S. 69–71, hier S. 70, Z. 30–33. 340 Vgl. hierzu: Richard Alewyn: Klopstocks Leser. In: Festschrift für Rainer Gruenter. Hrsg. v. Bernhard Fabian. Heidelberg 1978. S. 100–121, hier bes. S. 110. 341 Brief von Miller an Klopstock, 14. Oktober, 1. November 1780. In: HKA, Briefe VII 1, Nr. 165, S. 180–183, hier S. 182, Z. 76f. 342 Ebd., S. 182, Z. 77f.

Das Proömium des Messias

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ausbrach. – Klopstok – Klopstok – scholls von allen Lippen, wann eine Vorlesung geendigt war.343 Die erstgedachte grose und weite Erfahrung in Absicht auf Ihre Messiade hat mich gelehrt, »daß ie frömmer, ie unverdorbner, ie einfältiger das Herz des Menschen ist, ie mächtiger würkte meine Deklamation auf ihn.« Ich habe Fürsten, Ministern, Kriegsleuten, Hofdamen, Priestern, Rechtsgelehrten, Aerzten, Virtuosen, Handwerkern, Bauren, Weibern, Mädgen, an der Kunkel und am Nähpulte Ihre Messiade g a n z , oder s t e l l e n w e i s e vorgelesen, und allemal fand ich, daß der der beste Mensch war, auf den sie den tiefsten Eindruk machte.344

Miller bestätigt sowohl die Aussage Schubarts, dass auch Nichtprotestanten begeisterte Rezipienten von Klopstocks Bibelepos waren, als auch die Schilderung Goethes, wonach der Messias insbesondere in der Karwoche gelesen wurde: Überhaupt siehts in unsern Gegenden, selbst unter den Katholiken, viel heller aus, als man in Sachsen gewöhnlich glaubt. Ich kenne zwo katholische Comtessen nahe bey Ulm, die ich oft besuche, die, besonders in der Charwoche, immer die Messiade, schwarz eingebunden, in die Messe mitnehmen, und da drinn lesen.345

Klopstock selbst machte die Erfahrung, welche offenbar überwältigende Wirkung der Messias auf gläubige Christinnen hatte. Auf Einladung von Anton Sebastian Imfeld (1694–1773), dem Abt der Klöster Einsiedeln und Fahr, besuchte der Dichter das Kloster Fahr am 23. August 1750.346 Er berichtet rückblickend im Jahre 1767, dass der »Probst Fährli« ihn gebeten habe, »Fragmente aus dem Messias mitzubringen«.347 Er habe allerdings nicht gewusst, dass auch die Nonnen seine »Zuhörerinnen« sein sollten.348 Die Lesung aus dem Messias vor den sechzehn Nonnen des Klosters bereitete dem Dichter allerdings großes Vergnügen: »Sie standen dicht um mich herum. Ich las, und ich sahe nicht wenig Thränen. Ich las fast den ganzen fünften Gesang. Sie verstünden alles, alles, sagten sie; vorher hätten sie nicht alles verstanden.«349 Währenddessen war es so spät geworden, dass man sogar die »Abendbetstunde« vergessen hatte, was laut dem Probst noch niemals zuvor im Kloster vorgekommen sei.350 Mit dem 343 Brief von Schubart an Klopstock, 4. Juni 1776. In: HKA, Briefe XI, Nr. VII 35 a, S. 69–71, hier S. 70, Z. 21–26. 344 Ebd., S. 70f., Z. 42–49. 345 Brief von Miller an Klopstock, 14. Oktober, 1. November 1780. In: HKA, Briefe VII 1, Nr. 165, S. 180–182, hier S. 182, Z. 78–82. 346 Vgl. HKA, Briefe V 2, S. 340. 347 Brief von Klopstock an Denis, 6., 9. Januar 1767. In: HKA, Briefe V 1, Nr. 1, S. 1–4, hier S. 1, Z. 23 und Z. 27f. 348 Ebd., S. 1, Z. 28f. 349 Ebd., S. 1, Z. 31–34. 350 Ebd., S. 1f., Z. 34–37.

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Klopstocks Wettstreit mit der epischen Tradition

»Verstehen« des V. Gesanges ist das Nachempfinden der Leiden des Messias gemeint. Dass insbesondere Frauen dazu fähig waren, eine derartige ›einfühlende‹ Rezeptionshaltung einzunehmen, zeigt sich auch in dem Brief von Auguste Luise Stolberg vom 27. März 1777 an Klopstock: Eben lege ich den Meßias aus der Hand, u habe die lezte Hälfte des 5t: Gesanges gelesen, u fühle mich gedrungen Ihnen ein paar Worte zu sagen – aber bester Mann! waß kan man Ihnen sagen wenn man Sie eben gelesen hat, u da wo Sie sich selbst übertreffen! Gott wie Sie einem das Herz in der Hand nehmen und zu sich, zu Ihren Empfindungen hinauf heben! Kan man wohl diesen Tag beßer feyern als den Gesang zu lesen! so wie den morgenden wenn man den 10t: ließt – daß will ich thun u Ihnen so folgen – o ich kan mir nichts denken waß mich mehr rührte als heute daß waß ich nun eben las, von Klopstok lesen zu hören – ich lese ihn nun ganz meiner Oberg [Anna Meta Baronesse von Oberg (1737–1794); I. G.] vor – Gottlob es ist mir nichts unbekanntes darin, aber alles ist doch jedesmal so neu, so als noch nie empfundenes wenn man’s wieder ließt. immer denke ich, daß ich ihn ganz fühle, u jedesmal ist’s doch als endekte ich neue Schönheiten darin – man hat jedesmahl die Freude des ersten mahles zu lesen, ohne den Chagrin ihn noch nicht vorher gelesen zu haben. So oft mögte ich Ihnen danken können, für das Glük daß Ihr Meßias mir macht, aber wie kan man’s Ihnen verdanken!351

Auguste Luise Stolberg liest demnach an einem Gründonnerstag das Ende des V. Gesanges, der von Gottes erstem Gericht über den Messias in Gethsemane handelt. Am folgenden Tag, dem Karfreitag, plant sie, den X. Gesang zu lesen, der vom Tod Jesu Christi am Kreuz erzählt. Das empfindsame Nachvollziehen des erzählten Geschehens im Bibelepos ermöglichte es dem Leser scheinbar, im Messias immer wieder neue poetische »Schönheiten« zu entdecken. Die Voraussetzung hierfür ist eine intensive Wiederholungslektüre, wie sie für die Erbauungsliteratur üblich war. Eine weitere Bewunderin des Messias-Dichters war Christina von Schulzen, die Klopstock in einem Brief vom 4. Juni 1756 als »edle[n] geist, der so Schön so erhaben so rührend denckt«, bezeichnet.352 Sie glaubt, dem Dichter großen Dank zu schulden, da ihr erst beim Lesen des Messias gewisse religiöse Gedanken bewusst geworden seien: gewis ich habe ihrem messias vieles zu dancken um desto mehr, da ich so glücklich war, gedanken darin anzutreffen, die ob ich sie gleich nie gelesen noch gehört, als von ihnen, dennoch schienen meine eigene zu sein, die nur darauf gewartet mir selbst, durch ihnen, bewust zu werden[.]353 351 Brief von Auguste Luise Stolberg an Klopstock, 27. März 1777. In: HKA, Briefe VII 1, Nr. 60, S. 70, Z. 3–20. 352 Brief von Christina von Schulzen an Klopstock, 4. Juni 1756. In: HKA, Briefe III, Nr. 33, S. 36–38, hier S. 36, Z. 2f. 353 Ebd., S. 36, Z. 7–11.

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Christina von Schulzen betont, dass der »umgang mit würcklich klugen, erhabenen Seelen, die der unsterblichkeit würdig, sich beweisen«, die »vergnügungen [ihrer] Seele« seien.354 Dort, wo sie lebe, gebe es leider wenige solcher Geister. Daher bittet sie Klopstock, in den Kreis seiner Freunde und Bewunderer aufgenommen zu werden, denn ihre »stete beschäftigung [sei] den herrlichen bilde [!], unsers göttlichen messias, immer ähnlicher zu werden«.355 In der Jesu Christi nachfolgenden Lebensweise, der ›imitatio Christi‹, glaubt sie, dass schon auf Erden »eine Freundschaft zwischen den Seelen« bestehen könne, die sich später zwischen den unsterblichen Seelen im Himmel fortsetzen würde.356 Diese Briefzeugnisse zeigen deutlich, dass die Rezipienten Klopstocks Aufruf zu einer Gemeinschaft empfindsamer Seelen im dritten Abschnitt seines Proömiums durchaus ernst nahmen. Der Dichter änderte dennoch in der Endfassung des Messias aus dem Jahre 1799/1800 einige Verse: Menschen, wenn ihr die Hoheit kennt, die ihr damals empfinget, Da der Schöpfer der Welt Versöhner wurde; so höret Meinen Gesang, und ihr vor allen, ihr wenigen Edlen, Theure, herzliche Freunde des liebenswürdigen Mittlers, Ihr mit dem kommenden Weltgerichte vertrauliche Seelen, Hört mich, und singt den ewigen Sohn durch ein göttliches Leben. (I, 18–23)

In der Erstfassung von 1748 lauteten die ersten beiden Verse dieses Teils noch wie eine Frage: »Sterbliche, kennt ihr die Ehre, die euer Geschlechte verherrlicht, j Da der Schöpfer der Welt, als Erlöser, auf Erden gekommen« (I, 17f.).357 Die Bezeichnung der Rezipienten als »Sterbliche« rekurrierte kontrastierend auf den ersten Vers des I. Gesanges, auf die »unsterbliche Seele« (I, 1). In der Endfassung ersetzt Klopstock die Anrede seiner ›Lesergemeinschaft‹ als »Sterbliche« durch »Menschen« (I, 18). Das Menschengeschlecht wird nun nicht mehr durch die ehrbare Erlösungstat verherrlicht, sondern es empfängt vom »Versöhner« (I, 19) die »Hoheit« (I, 18) der Befreiung von der Erbsünde. Klopstock charakterisiert den idealen Rezipienten seines Messias implizit in seiner apologetischen Schrift Von der heiligen Poesie (1755): Der Freigeist, und der Christ, der seine Religion nur halb versteht, sehn da nur einen großen Schauplatz von Trümmern, wo der tiefsinnige Christ einen majestätischen Tempel sieht. Und wie konnten jene etwas anders sehn? Denn nicht selten verwandeln sogar kleine Züge, die sie verkannten, den Tempel für sie in Trümmern. Und gleichwohl

354 355 356 357

Ebd., S. 37, Z. 37–39. Ebd., S. 37, Z. 48–50. Ebd., S. 37, Z. 52f. Klopstock: DM 1748, S. 7 (I, 17f.).

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Klopstocks Wettstreit mit der epischen Tradition

haben sie, wenn mir diese kühnste unter allen Vergleichungen erlaubt ist, die Mythologie studiert, den Homer zu verstehn.358

Der optimale Leser bzw. Hörer des Bibelepos muss demnach ein »tiefsinnige[r] Christ« sein, der sich intensiv mit dem »Innre[n] der Religion«359 beschäftigen will. Wie wichtig hier ein umfassendes und detailliertes Bibelwissen ist, bekannte bemerkenswerterweise Klopstocks Frau Meta in einem Brief vom 26. März 1757 an ihre Schwestern: Wenn ihr überhaupt die Bibel so wenig kennt, wie gehts euch da beym Messias? Es sind so viel kleine Sachen, die man nicht ganz versteht, wenn man nicht ihre Allusion auf die Bibel weis. Es geht mir selbst oft manchmal so, daß eine Stelle mir viel schöner wird, wenn Kl. mir ihre Beziehung erklärt.360

Der Messias-Dichter bemerkt in seiner Abhandlung Von der heiligen Poesie, dass der »Verfasser eines heiligen Gedichts« insbesondere für Leser schreiben solle, die »eine unverdorbne natürliche Empfindung, und ein gutes Herz haben«.361 Er nimmt auch selbst an, dass diese empfindsamen, d. h. die epische Handlung nachfühlenden, innerseelisch bewegten Rezipienten den größten Teil seines Lesepublikums ausmachen.362 Es erscheint paradox, dass sich Klopstock nicht ausdrücklich ›gelehrte‹ Rezipienten wünscht, die seinen Agon mit den heidnischantiken und neuzeitlichen Ependichtern sofort durchschauen.363 Dabei spielt er in dem oben genannten Zitat mit der Tempel-Metapher wiederum implizit auf sein ›aemulatio‹-Konzept an, wenn er einen (gleichsam überbietenden) Vergleich anstellt und fordert, dass ein gläubiger, aufgeklärter Christ ebenso die ›christliche Mythologie‹, die inneren Glaubenswahrheiten der christlichen Religion und damit die Werke der »heiligen Poesie«, also den Messias, studieren solle wie er sich mit dem heidnisch-antiken Götterapparat auseinandergesetzt habe, um die homerischen Epen besser verstehen zu können.364 358 Klopstock: Von der heiligen Poesie. In: Klopstock: AW, S. 997–1009, hier S. 1009. Die apologetische Abhandlung Von der heiligen Poesie stellte Klopstock quasi als Vorrede dem ersten Band des Messias (Gesänge I bis V) in der »Kopenhagener Ausgabe« von 1755 voran. 359 Ebd., S. 1006. 360 Brief von Meta an ihre Schwestern, 26. März 1757. In: Meta Klopstock geborene Moller. Briefwechsel mit Klopstock, ihren Verwandten und Freunden. Hrsg. und mit Erläuterungen versehen von Hermann Tiemann. Zweiter Band: 1754 bis 1758. Hamburg 1956. Nr. 288, S. 601–603, hier S. 603. 361 Klopstock: Von der heiligen Poesie. In: Klopstock: AW, S. 997–1009, hier S. 1000. 362 Vgl. ebd. 363 Bernd Auerochs macht deutlich, dass »die aemulatio mit der Antike« im Messias Klopstocks »nur noch auf einer Ebene vorkommt, die übersehen werden kann und in der erbaulichen Lektüre sogar übersehen werden soll«. (Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion, S. 194.) 364 Vgl. zur »Freygeister«-Problematik und Tempel-Metapher in diesem Abschnitt von Klopstocks Abhandlung Von der heiligen Poesie die Interpretation von Bernd Auerochs in Die

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4.4

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Christliche Mythologie

Georg Friedrich Meier hatte bereits im Jahre 1746 folgende Frage in einer Abhandlung untersucht: Ob in einem Heldengedichte, welches von einem Christen verfertiget wird, die Engel und Teufel die Stelle der heydnischen Götter vertreten können und müssen?365 Der Hallenser Ästhetiker behauptet in seiner Einleitung, dass nur sechs unter allen »grossen Gedichten« einen »gegründeten Anspruch« auf die Bezeichnung als »Heldengedichte« erheben könnten: Homers Ilias und Odyssee, Vergils Aeneis, Tassos Befreites Jerusalem, Miltons Verlornes Paradies und Voltaires Henriade.366 Die Verfasser der ersten drei Epen seien »Heyden« gewesen, die der drei letzten Christen.367 Während die einen »die heydnischen Gottheiten in ihre Fabel eingeflochten« hätten, bedienten sich die anderen der Engel und Teufel.368 Der Kritiker verweist dezidiert auf den Nutzen seiner Abhandlung: »Meine Untersuchung ist eine Quelle vieler wichtigen Folgen, welche unsern heutigen Dichtern dazu dienen können, daß sie in ihren Erdichtungen auf eine männlichere Art den Alten nachfolgen lernen, als die meisten zu thun gewohnt sind.«369 Er gliedert seine Untersuchung in fünf Punkte: Ich will 1) festsetzen, was für Schönheiten die heydnischen Dichter durch ihre erdichtete Gottheiten in ein Heldengedicht gebracht haben. 2) Werde ich zeigen, daß ein Christlicher Dichter durch eben dieselben Gottheiten diese Schönheiten nicht hervorbringen könne; daß er sie aber 3) durch die Engel und Teufel zu erreichen vermögend sey. 4) Will ich überhaupt einige Regeln festsetzen, nach welchen ein Christlicher Dichter die Charaktere der Engel bilden und erschaffen müsse; und 5) will ich aus dem vorhergehenden einige Folgen herleiten.370

Zum ersten Punkt führt Meier an, dass durch die heidnisch-antike Mythologie das »Wunderbare«, die »poetische Wahrscheinlichkeit«, das Erhabene sowie das »Ehrwürdige« und »Heilige« in das Heldengedicht gebracht worden seien:371 Ein Epos, »dessen ganzes Gewebe nicht mit merklich vielen wunderbaren Begebenheiten durchflochten wäre, würde kaum diesen Namen verdienen«.372 Die

365

366 367 368 369 370 371 372

Entstehung der Kunstreligion: Ebd., S. 201–205. Er bemerkt: »Es ist dieser Vorwurf der ungerechtfertigten Bevorzugung der Antike, der in Klopstocks Rätselgleichnis mitschwingt und für sein Verständnis unentbehrlich ist.« (Ebd., S. 203.) [Georg Friedrich Meier :] Untersuchung der Frage: Ob in einem Heldengedichte, welches von einem Christen verfertiget wird, die Engel und Teufel die Stelle der heydnischen Götter vertreten können und müssen? In: Critischer Versuch zur Aufnahme der deutschen Sprache. Funfzehntes Stück. Greifswald 1746. S. 179–200. Ebd., S. 179. (§. 1.) Ebd. Ebd., S. 180. (§. 1.) Ebd. Ebd., S. 180f. (§. 2.) Vgl. ebd., S. 181–186. (§. 3.–§. 6.) Ebd., S. 181f. (§. 3.)

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Verwunderung und das Erstaunen über alles, was außerordentlich, selten, unerwartet und demnach neu sei, erhalte die Aufmerksamkeit des Rezipienten.373 Die »Heyden« hätten folgenden Grundsatz zu ihrem Vorteil genutzt: »Alles was die Götter thun, ist wahr.«374 Nur so sei es ihnen möglich gewesen, »das wunderbare bis zur Unmöglichkeit und Ungereimtheit [zu] treiben« und dennoch die »poetische Wahrscheinlichkeit« im Gedicht zu erhalten.375 Ein christlicher Dichter hätte es hier schwerer, »weil die Christen wissen, daß Gott nichts unmögliches thun [könne]«.376 Die heidnisch-antike Mythologie mache die Epen »erhaben«: »Wer einen Gott glaubt, und das sind die meisten Menschen, der erhöhet Gott über alles, was sonst noch so groß ist.«377 Ein jeder religiöse Mensch würde bei der Betrachtung einer Gottheit die »alleredelsten Empfindungen« haben, d. h., in seinem »Gemüthe« entstehe eine »heilige und ehrerbiethige Regung«.378 Zum zweiten Punkt bemerkt Meier, dass alle Christen wissen würden, dass die heidnisch-antiken Gottheiten nur »Chimären«, also »Hirngespinste« seien.379 Ein christlicher Poet könne daher in seinem Epos nicht wie Homer oder Vergil die heidnischen Götter einführen. Der Hallenser Philosoph kommt schnell auf den dritten Punkt zu sprechen und erklärt, dass »ein Christlicher Dichter, durch die Engel und Teufel, eben die wichtigen Schönheiten in einem Heldengedichte erreichen könne, welche die heydnischen Dichter durch ihre Gottheiten erhalten haben«.380 Die gesamte Christenheit glaube an diese himmlischen und höllischen Wesen und schreibe ihnen übermenschliche Kräfte zu, mit welchen sie erhabene Taten auf Erden vollbringen würden. In der Bibel werde von Wundern erzählt, deren Urheber diese Wesen seien. Aufgrund des allgemeinen christlichen Glaubens und der Legitimation durch die Heilige Schrift könne ein christlicher Dichter das »Wunderbare« mit dem »Wahrscheinlichen« verbinden, indem er Engel und Teufel in seinem Epos auftreten lasse.381 Ein christlicher Autor solle demnach immer dann, wenn er einen Götterapparat brauche, Engel und Teufel als literarische Figuren einführen. Meier erkennt Ähnlichkeiten zwischen den Engeln und den heidnischen Gottheiten: Die Götter wurden von den vernünftigen Heyden nur als Gottheiten angesehen, die dem höchsten Gotte zugeordnet, mit denen er sich berathschlagte, und deren jedem er 373 374 375 376 377 378 379 380 381

Vgl. ebd., S. 181–183. (§. 3.) Ebd., S. 183f. (§. 4.) Ebd., S. 184. (§. 4.) Ebd. Ebd., S. 184. (§. 5.) Ebd., S. 185. (§. 6.) Ebd., S. 186f. (§. 7.) Ebd., S. 187. (§. 8.) Vgl. ebd., S. 187–190. (§. 8. und §. 9.)

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einen gewissen Theil der erschaffenen Welt zur Regierung anvertrauet hatte. So war Neptun der Gott des Meers, Pluto der Gott der unterirrdischen Gegenden, u. s. w. Kurz, sie waren Rathgeber und Bedienten des höchsten Gottes. Eben das gilt auch von den Engeln.382

Zum vierten Punkt seiner Untersuchung stellt Meier vier Regeln auf, an die sich ein christlicher Dichter halten müsse, um nicht gegen die Wahrscheinlichkeit zu verstoßen:383 Erstens müsse sich der Epiker genaustens an die Aussagen halten, die sich in der Bibel über die einzelnen Engel- und Teufelcharaktere finden ließen. Beispielsweise solle er alles sammeln, was in der Heiligen Schrift über den Erzengel Gabriel erzählt werde.384 Zweitens müsse der Dichter seine poetische »Schöpferskraft« aktivieren und so Neues hinzuerfinden, um einen vollständigen Charakter zu erschaffen, da in der Bibel kein Engel oder Teufel ausführlich beschrieben werde.385 Hierbei dürfe er aber »der allgemeinen Lehre von den Engeln und Teufeln« und der lückenhaften Figurenzeichnung in der Bibel nicht widersprechen.386 Da nur wenige der himmlischen und höllischen Wesen in der Bibel namentlich genannt werden, könne ein Ependichter neue Namen erfinden. Drittens solle er »seine Engel und Teufel so bilden, daß sie den heydnischen Gottheiten ähnlich sind«.387 Viertens könne sich der Dichter hierin an »dem gemeinen Wahne«, also am Aberglauben des Lesepublikums orientieren.388 Es sei erlaubt, für die eigenen ›Erdichtungen‹ aus den Apokryphen oder aus den »allgemeine[n] Sage[n]« über Gespenster und Hexen zu schöpfen.389 Mit den Gedanken zum fünften Punkt beschließt Meier seine Abhandlung: Er bemerkt zunächst, dass ein christlicher Dichter, der sich an die von ihm aufgestellten Regeln halte, »auf eine männliche Art den alten Dichtern nachahme[.]«.390 Unter einer »männlichen Nachahmung« versteht Meier Folgendes: Eine männliche Nachahmung in der Dichtkunst besteht darin, wenn man in einem Gedichte den alten Dichtern ähnlich zu werden sucht, dergestalt, daß man vernünftig einsieht, man erlange durch seine ähnliche Art zu denken eben die Schönheiten, die wir bey den Alten bewundern. Es ist eine kindische Nachäffung, wenn man eben so denkt, wie die Alten, ohne eben die Vortheile dadurch zu erreichen. Diejenigen Gedanken und Erdichtungen, wodurch Homer und Virgil zu ihren Zeiten den größten Grad der poetischen Schönheit erreichten, reichen heut zu Tage nicht insgesamt zu diesem Zwecke hin, und hieher rechne ich den größten Theil ihrer Mythologie. Es ist demnach 382 383 384 385 386 387 388 389 390

Ebd., S. 193. (§. 11.) Vgl. ebd., S. 193–197. (§. 12. und §. 13.) Vgl. ebd., S. 194. (§. 12.) Ebd. Ebd., S. 195. (§. 12.) Ebd., S. 195. (§. 13.) Ebd., S. 196. (§. 13.) Ebd. Ebd., S. 197. (§. 14.)

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klar, daß man auf eine vernünftige und männliche Art den Alten nachfolgt, nicht, wenn man den Mars, die Venus, den Apollo u. s. w. in einem epischen Gedichte aufführet, sondern wenn man so […] die Engel und Teufel auftreten läßt.391

Tasso, Milton und Voltaire hätten mit ihren christlichen Heldengedichten den Anfang gemacht. Nun komme es darauf an, dass ein neuer Ependichter auftrete, der eine »Christliche Mythologie, eine Christliche Götterlehre, einführe«, die ausgearbeitet genug sei und den aufgestellten Regeln entspreche.392 Meier gibt noch an, »in welchen Gedichten ein Christlicher Dichter die Engel und Teufel aufführen« könne: im Epos und in der »Heldenode[.]«, aber nicht in der Tragödie oder Komödie.393 Es würde sehr unwahrscheinlich sein, »wenn man in einem theatralischen Stücke würklich einen Engel, Teufel oder Gespenst erscheinen lassen wollte«.394 Er zitiert die berühmte Stelle aus Horaz’ Ars Poetica (V. 182–188)395 und folgert daraus, dass etwas wahrscheinlich sein könne, wenn es nur erzählt werde, aber nicht, wenn man es mit den eigenen Augen auf der Bühne sehe.396 Der Hallenser Ästhetiker beteuert, dass er die »heydnischen Gottheiten« nicht aus den zeitgenössischen Gedichten verbannen wolle.397 Man könne sie als Allegorien, Metaphern und Gleichnisse gebrauchen, nur müsse »man sie nicht in ernsthaften Gedichten als Personen aufführen, die eine Rolle spielen«.398 Eine Verwendung in scherzhaften und satirischen Gedichten sei jedoch erlaubt.399 Meier betont am Schluss seiner »Untersuchung« Ob in einem Heldengedichte, welches von einem Christen verfertiget wird, die Engel und Teufel die Stelle der 391 392 393 394 395

396 397 398 399

Ebd. Ebd., S. 198. (§. 14.) Ebd., S. 198. (§. 15.) Ebd. Die entsprechenden Verse in der Ars Poetica des Horaz lauten (V. 182–188): »[…] non tamen intus j digna geri promes in scaenam multaque tolles j ex oculis, quae mox narret facundia praesens: j ne pueros coram populo Medea trucidet j aut humana palam coquat exta nefarius Atreus j aut in avem Procne vertatur, Cadmus in anguem. j quodcumque ostendis mihi sic, incredulus odi.« (»doch wirst du nicht, was besser im Innern sich abspielen sollte, auf die Bühne bringen, wirst vieles den Augen entziehen, was dann die Beredsamkeit allen verkündet: damit ihre Kinder vor allem Volke Medea nicht schlachte noch öffentlich menschliche Eingeweide der ruchlose Atreus koche, nicht in einen Vogel sich Prokne verwandle noch Kadmos sich in eine Schlange; was du mir so zeigst, dem kann ich nicht glauben, ich muß es verabscheun.«) (Horatius Flaccus: Ars Poetica / Die Dichtkunst. Lateinisch / Deutsch. Übersetzt und mit einem Nachwort hrsg. v. Eckart Schäfer, S. 14/15 und S. 16/17 (V. 182–188).) [Meier :] Untersuchung der Frage: Ob in einem Heldengedichte, welches von einem Christen verfertiget wird, die Engel und Teufel die Stelle der heydnischen Götter vertreten können und müssen?, S. 198f. (§. 15.) Ebd., S. 199. (§. 16.) Ebd. Vgl. ebd., S. 199f. (§. 16.)

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heydnischen Götter vertreten können und müssen?: »So viel glaube ich wenigstens, daß ein Deutscher sich ohnfehlbar als einen rechten esprit createur beweisen würde, wenn er ein Heldengedicht verfertigte, und unter andern viele Engel und Teufel aufführte, die so gebildet wären, wie ich in diesem Aufsatze gezeigt habe.«400 Bezeichnenderweise schreibt Meier in seiner Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias (1749; 2. Aufl. 1752): Zum andern will ich anmercken, daß Herr Klopstock sich als einen rechten esprit createur characterisirt hat, daß er die gantze heydnische Mythologie vermieden, und an deren stat die Engel und Teufel eingeführt. Die Heyden hielten ihre Gottheiten für würckliche Gottheiten. Ihre Dichter konnten also, durch die Einführung dieser chimärischen Wesen, die poetische Wahrscheinlichkeit, das Erhabene, das Rührende, das Wunderbare erreichen. Allein wir Christen wissen, daß diese Gottheiten erträumet sind. Unsere Dichter verrathen also einen armseligen und kindischen Witz, wenn sie aus diesen Gottheiten mehr als allegorische Personen machen, es müste denn in schertzhaften Gedichten seyn. Die heilige Schrift, und die Traditionen der Juden und Christen geben uns den Stof zu einer christlichen Mythologie, wenn mir dieses Wort erlaubt ist. Milton hat hier schon die Bahn gebrochen, und er hat den Tasso zu seinem Vorgänger gehabt. Herr Klopstock hat, durch seinen schöpferischen Geist, diese Sache noch verbessert. Ich wünschte, daß unsere grossen Dichter diese eröfnete Laufbahn betreten möchten, so würden wir eine gantz neue poetische Welt bekommen, welche unter uns mehr gute Dienste thun würde, als die alte poetische Welt, welche wir in unsern aufgeklärtern Zeiten nicht anders als ein Chaos betrachten können.401

Der Hallenser Kritiker wiederholt hierin die Kerngedanken seiner Abhandlung aus dem Jahre 1746. Im Anschluss an Mauvillons verspottendes Diktum (vgl. Kap. 3) würdigt er Klopstock als »un Esprit cr8ateur«, als einen »schöpferischen Geist«, der in seinem Messias nicht nur die ›christliche Mythologie‹ eingeführt habe, sondern diese im Vergleich mit seinen neuzeitlichen Vorläufern Tasso und Milton wesentlich »verbessert« habe. Bezeichnenderweise greift Meier auch die »Laufbahn-Metapher« in seiner Argumentation auf, die auf 1. Korinther 9,24f. anspielt (vgl. Kap. 4.1). Der Messias-Dichter übertrifft demnach mit dem spezifischen »System seiner Mythologie«402, das Meier sehr bewunderte, sowohl die antiken als auch die neuzeitlichen Ependichter. Samuel Gotthold Lange schreibt in seiner Rezension der ersten drei Gesänge des Messias in der Moralischen Wochenschrift Der Gesellige (3. Teil, 124. Stück, 1749): Herr Klopstock hat die christliche Mythologie auf eine solche Höhe gebracht, die unserer heiligen Religion würdig und wohlanständig ist. Hier sind keine fabelhaften Götter der Heyden, sondern wirkliche Geister, aus dem Reiche der Engel und Satane. 400 Ebd., S. 200. (§. 17.) 401 Meier : Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias. Erstes Stück (1752), S. 10f. 402 Ebd., S. 28.

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Jeden beschreibet er in einem unterschiedenen Lichte, und überal ist die Wahrscheinlichkeit beobachtet.403

Der Begriff einer »christlichen Mythologie«, welche die biblischen Engel und Teufel umfasste und als deren Urheber man in der deutschsprachigen Literaturlandschaft neben Milton fortan Klopstock ansah, hatte sich demnach im Laufe des 18. Jahrhunderts schnell etabliert. Johann Caspar Heß bezeichnete den Messias-Dichter dementsprechend als »Englischen Dichter, oder eingefleischten Seraph«.404 Er beteuert in seinen Zufälligen Gedanken über das Heldengedicht, der Meßias (1749), dass er das »Engelsystem unsers Seraphischen Klopstocks« vollkommen verstehe.405 Klopstock knüpfte mit seiner Darstellung der Höllenfürsten im II. Gesang des Messias (II, 237–742) an Miltons Paradise Lost an. In einer autoreigenen Niederschrift von 1747, in der noch eine Textlücke von II, 352–617 bestand, merkte er zur inhaltlichen Konzeption der folgenden Verse paraphrasierend an: »Hier folgen noch einige Charaktere der gefallenen Engel, die, wie etwa Homer die Sagen von Göttern angenommen, aus Milton genommen werden. Dies geschieht hauptsächlich deswegen, damit nach u nach, so zu reden, eine christliche Mythologie eingefürt werde.«406 Klopstock übernahm demnach einzelne, teils leicht abgewandelte Namen und Charaktere von Milton, um »der Hölle Fürsten« (II, 401) als Widersacher Gottes und des Messias einführend vorzustellen.407 Betrachtet man nun die poetische Darstellung der Hölle und deren Bewohner in der Bodmer’schen Übersetzung (1742) von Miltons Paradise Lost, die Klopstock vorlag, so werden die entsprechenden Figuren vor allem im ersten, zweiten und sechsten Gesang bzw. Buch charakterisiert. Milton beschreibt die Hölle als feurigen Flammenofen, in dem ewige Dunkelheit herrscht und der von Schwefeldämpfen verpestet wird. Im ersten und zweiten Gesang werden eine ganze Reihe gefallener Engel genannt: Satan, Beelzebub, Moloch, Chemos, Baalim, Astaroth, Astoreth (Astarte), Thammuz, Dagon, Rimmon, Osiris, Isis, (H)Orus, Belial und Mammon.

403 [Samuel Gotthold Lange:] [Gedanken über das Heldengedicht, der Meßias (15. Februar 1749).] In: Der Gesellige, eine moralische Wochenschrift. [Hrsg. v. Samuel Gotthold Lange und Georg Friedrich Meier.] Dritter Theil. 124. Stück. Halle 1749. S. 238–240, hier S. 239. 404 [Johann Caspar Heß:] Zufällige Gedanken über das Heldengedicht, der Meßias. Veranlasset durch Herrn Georg Friedrich Meiers, öffentlichen Lehrers der Weltweisheit zu Halle, Beurtheilung dieses Heldengedichtes. Zürich 1749. S. 24. 405 Ebd., S. 13. 406 HKA, Werke IV 4, S. 203. Vgl. HKA, Werke IV 3, S. 271. 407 Vgl. HKA, Werke IV 3, S. 267. Vgl. hierzu auch: Ernst Osterkamp: Lucifer. Stationen eines Motivs. Berlin / New York 1979. (Komparatistische Studien. Beihefte zu »arcadia«; 9.) S. 131–178 (Kap.: Friedrich Gottlieb Klopstock: Der Messias. Der Teufel in der Aufklärung: Vernunftgebot und Entdämonisierung).

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Moloch wird beschrieben als ein greulicher König, mit Blut von geopferten Menschen, und mit Thränen der Aeltern beschmüzt, welche doch das Geschrey ihrer Kinder, die seinem grimmigen Bilde auf die glühenden Armen geleget wurden, vor dem lauten Gethöne der Trummeln und Paucken nicht hören konnten.408

Milton übernimmt folglich in seiner Figurenzeichnung ein biblisches Motiv, denn Moloch ist im Alten Testament ein heidnischer Gott, dem die Israeliten Kinderopfer darbrachten (Lev. 20,1–2; 2. Kön. 23,10; Jer. 32,35). Belial wird im ersten Gesang des Paradise Lost als »der unzüchtigste und gröbeste Geist, der von dem Himmel gefallen, der das Laster um des Lasters willen liebete« bezeichnet.409 Satan wird als ehemaliger »Ertzengel« eingeführt, der jetzt »zwar verfinstert, jedoch an Glantz vortrefflicher als die andern alle« sei.410 Dem Anführer der gefallenen Engel haftet demnach noch ein Rest seiner alten himmlischen »Herrlichkeit« an, denn sein Glanz sei »zuvor übermässig gewesen«.411 Vom »Donner«, dem machtvollen Werkzeug des christlichen Gottes, wurde sein Gesicht jedoch mit »tiefe[n] Narben« gezeichnet.412 Im zweiten Gesang versammelt Satan alle Höllenbewohner in einem eigens errichteten Palast, dem »Pandämonium«, und beratschlagt sich mit seinen Anhängern über das weitere Vorgehen nach ihrer Niederlage. Moloch, »ein König mit dem Scepter in der Hand, der stärckeste und frecheste Geist, der in dem Himmel gefochten, den die Verzweifelung jezo noch frecher machete«413, ruft in einer Rede zum Krieg auf.414 Er wird beschrieben als ein furchtloser Gotteshasser, der »Gott an Stärcke gleich geachtet« sein wollte.415 Belial äußert nach Moloch seine Meinung und wird dargestellt als eine dämonische Figur »mit angenehmern und sittsamern Gebehrden«:416 Eine schönere Person verlohr der Himmel nicht; er schien zu hohen und wichtigen Sachen gestaltet, aber alles war falsch und lähr ; wiewohl seine Zunge von Manna treufelte, und dem schlimmern Grund den Schein des bessern geben konnte, dadurch er die reifesten Rathschläge zurückestellte, und verwirrete: denn seine Gedancken waren niederträchtig, fertig zu bösen Thaten, aber zu edlern furchtsam und faul […].417

408 409 410 411 412 413 414 415 416 417

[Bodmer :] Johann Miltons Episches Gedichte von dem Verlohrnen Paradiese (1742), S. 25. Ebd., S. 29. Ebd., S. 36. Ebd. Ebd. Ebd., S. 52. Vgl. ebd., S. 52–55. Ebd., S. 52. Ebd., S. 55. Ebd.

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Er ruft in seiner Rede dazu auf418, bessere Zeiten abzuwarten, denn der Zorn Gottes werde irgendwann sicherlich nachlassen, alsdann wird sich dieses wüthende Feuer legen, wenn sein Athem seine Flammen nicht aufbläst. Unser reineres Wesen wird dann ihren schädlichen Dampf überwinden, oder ihn, wenn es daran gewöhnt ist, nicht mehr fühlen, oder es wird, wann es nach langem verändert, und dem Platz an Art und Natur gleich worden, diese grimmige Hitze gern und ohne Schmertzen annehmen; dieser greuliche Anblick wird uns angenehm, und dieses Finsterniß helle werden.419

Belial betont, dass das »gegenwärtige[.] Loos« noch glücklich scheine, denn es hätte noch viel schlimmer kommen können.420 Mammon rät hingegen in seiner Rede zum Frieden.421 Er will in der Hölle ein eigenes Reich aus weltlichen Besitztümern wie Gold und Edelsteine aufbauen. Die versammelten bösen Geister pflichten ihm bei, da sie sich zum einen vor einer neuen Schlacht fürchten und zum anderen hoffen, dass sich die Hölle einst »vielleicht zu einem zweyten Himmel erheben könnte«.422 Als Letzter spricht Beelzebub, »der den höchsten Platz nach Satan bekleidete«.423 Er erteilt den »teuflichen Rath«424, die Menschen auf der Erde zu verderben und damit Gott einen empfindlichen Schlag zu versetzen.425 Diesem höllischen Racheplan, der zuerst von Satan ersonnen worden war, wird einhellig zugestimmt. Vergleicht man nun die kriegerischen gefallenen Engel in Miltons Bibelepos mit den Höllenfürsten in Klopstocks Messias, so zeigen sich nicht viele Übereinstimmungen. Zophiel wird im Paradise Lost (Book 6, V. 535) als »der geschwindeste Flieger unter den Cherubim«426 bezeichnet, der als Herold die himmlischen Streiter zu den Waffen ruft. Im Messias ist Zophiel (II, 278–290) hingegen »ein Herold der Höll’« (II, 278), d. h., er steht auf der feindlichen Seite. Moloch (II, 352–369) wird ähnlich wie bei Milton (Book 1, V. 392) als »kriegrischer Geist« (II, 352) apostrophiert, der eine dunkle, »tönende[.] Rüstung« (II, 366) trägt und »wie der Donner von schwarzen Wolken« (II, 367) zur einberufenen Versammlung Satans eilt. Um die Hölle vor dem »donnernde[n] Krieger« (II, 353), wie er Jehovah nennt, zu schützen, baut er einen Verteidigungswall aus aufgetürmten Gebirgen:

418 419 420 421 422 423 424 425 426

Vgl. ebd., S. 55–60. Ebd., S. 60. Ebd. Vgl. ebd., S. 61–63. Ebd., S. 64. Ebd. Ebd., S. 68. Vgl. ebd., S. 64–68. Ebd., S. 281.

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Oft wenn der traurige Tag an des flammenden Oceans Ufern Dampfend hervorsteigt, sehen ihn schon die Bewohner der Hölle, Wie er unter der Last, von Getös’ umstürmt, und von Krachen, Mühsam geht, und sich dem hohen Gipfel des Berges Endlich naht. Und wenn er alsdann die neuen Gebirge Auf die Höh, der Hölle Gewölben entgegengethürmt hat, Steht er in Wolken, und wähnt, indem ein zertrümmerter Berg noch Hallet, er donnr’ aus den Wolken! […] (II, 356–363)

Ihm begegnen die anderen Höllenbewohner mit Ehrfurcht (vgl. II, 365). Klopstock hat demnach in der epischen Darstellung Molochs von Milton nur dessen Stärke und Kämpfernatur übernommen. In der Charakterisierung Belielels (II, 370–390) entlehnt der Messias-Dichter einige Züge von Miltons Belial (Book 2, V. 108–118). Belielel versucht in Klopstocks Bibelepos vergebens die Hölle in ein zweites Paradies zu verwandeln: […] Er kam verstummend Aus den Wäldern und Aun, aus denen Bäche des Todes Dunkel von nebelndem Quell nach Satans Throne sich wälzen. Dort bewohnt’s Belielel. Umsonst ist alle sein Mühsal, Ewig umsonst, des Fluches Gefild wie die Welten des Schöpfers Umzuschaffen. Ihn siehst du mit hohem erhabenen Lächeln, Ewiger, wenn er jetzt den furchtbarbrausenden Sturmwind Sehnsuchtsvoll, hinsinkendes Arms, gleich kühlenden Westen, Vor sich über zu führen am traurigen Bach’ arbeitet. Denn der braust unaufhaltsam dahin, und Schrecknisse Gottes Rauschen ihm auf den verderbenden Flügeln; und öde Verwüstung Bleibt ungestalt im erschütterten Abgrund hinter ihm liegen. Grimmig denkt Belielel an jenen unsterblichen Frühling, Der die himmlische Flur, wie ein junger Seraph, umlächelt. Ach ihn bildet’ er gern in der Hölle zu nächtlichem Thal nach! Doch er ergrimmt, und seufzet vor Wuth; denn die traurigen Auen Liegen vor ihm in entsetzlicher Nacht unbildsam, und öde, Ewig unbildsam, unendliche, lange Gefilde voll Jammer. (II, 370–387)

Er trauert seiner Vergangenheit nach und brennt »vor Rachsucht j Wider den, der von himmlischen Aun zu der Höll’ ihn hinabstieß, j Und, so dacht’ er, mit jedem Jahrhundert sie schrecklicher machte« (II, 388–390). Magog (II, 391–400) und Gog (II, 417–421), die im Katalog der Höllenbewohner im II. Gesang des Messias auf Moloch und Belielel folgen, kommen in Miltons Paradise Lost gar nicht vor. Es sind biblische Gestalten:427 In der Offenbarung des Johannes (20,8) 427 Im Calwer Bibellexikon heißt es: »Vollends mythisiert sind die Namen G. [Gog; I. G.] und M. [Magog; I. G.] in Off 20,8, wo in der Vision des Johannes nach dem tausendjährigen Friedensreich der Satan losgelassen wird und die ›Völker an den vier Enden der Erde‹, darunter G. [Gog; I. G.] und M. [Magog; I. G.], zum Kampf gegen die ›Heiligen und die

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ist Gog ein von Satan »verführter Feind der Christenheit in der Endzeit«428 und Magog der »Anführer der gottesfeindlichen Streitmacht«429. Klopstock übernahm diese zwei Namen demnach aus der Heiligen Schrift. Magog wird im Messias als »des todten Meers Bewohner« (II, 392) eingeführt: […] Aus brausenden Strudeln Kam er hervor. Das Meer zerfloß in lange Gebirge, Da sein kommender Fuß die schwarzen Fluten zertheilte. Magog fluchet dem Herrn; der wilden Lästerung Hall brüllt Unaufhörlich aus ihm. Seit seiner Verwerfung vom Himmel Flucht er dem Ewigen. Voll der Rachsucht will er die Hölle, Daur’ es auch lastende Ewigkeiten, doch endlich vernichten. Jetzo, da er das Trockne betrat, da warf er verwüstend Noch mit seinen Gebirgen ein ganzes Gestad’ in den Abgrund. (II, 392–400)

Gog ist der »schreckliche[.] Führer« der spottenden »Gottesleugner« (II, 417), aber »erhabner als all’ an Gestalt, und an Unsinn« (II, 418): Daß das alles ein Traum, ein Spiel sey irrer Gedanken, Was es im Himmel gesehen, Gott, erst Vater, dann Richter, Das zu wähnen, reizt’ es sich, krümmt’ es sich, wand es sich wüthend. (II, 419–421)

Milton lässt seinen von der Muse inspirierten epischen Erzähler im ersten Gesang seines Paradise Lost eine ganze Reihe von Höllenbewohnern aufzählen, denen er die Namen heidnischer Götter gab, die von den Menschen kultisch verehrt worden waren.430 Der Katalog der Höllenfürsten im II. Gesang des Messias umfasst nur fünf epische Figuren: Adramelech (II, 300–351), Moloch (II, 352–369), Belielel (II, 370–390), Magog (II, 391–400) und Gog (II, 417–421). Die in der höllischen Hierarchie niederen Dämonen führt Klopstock in seinem Epos als Kollektiv ein. Der epische Erzähler berichtet, dass der »Pöbel der Geister« (II, 403) »unzählbar« (II, 404) »zum Thron des Empörers« (II, 405) gekommen sei: Tausendmal tausend Geister erschienen. Sie gingen, und sangen Eigene Thaten, zur Schmach und unsterblichen Schande verurtheilt. geliebte Stadt‹ (Jerusalem) verführt. G. [Gog; I. G.] und M. [Magog; I. G.] stehen hier […] als Inbegriff der gegen das Gottesvolk kämpfenden Mächte. Wie in [Ez.] 38–39 führt dieser Kampf zu einem Sieg Gottes, dem das letzte Gericht (Off 20,11–15) sowie ein neuer Himmel und eine neue Erde mit einem neuen Jerusalem folgen (Off 21).« (Calwer Bibellexikon. Hrsg. v. Otto Betz, Beate Ego und Werner Grimm in Verbindung mit Wolfgang Zwickel. Band 1. 2., verbesserte Aufl. Stuttgart 2006. S. 458.) 428 HKA, Werke IV 6, S. 402 (Kommentierendes Namenregister zum Messias Klopstocks). Gog ist im Alten Testament ein »[e]ndzeitlicher Fürst im Lande Magog, dem ein Gericht Gottes prophezeit wird« (Ez. 38,2). (Ebd.) 429 Ebd., S. 421. Magog ist im Alten Testament ein »[g]ottesfeindlicher Herrscher in der Endzeit« (Ez. 38,2). (Ebd.) 430 Vgl. [Bodmer :] Johann Miltons Episches Gedichte von dem Verlohrnen Paradiese (1742), S. 24–32.

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Unterm Getös gespaltner, sie hatten Donner gespalten! Dumpfer, entheiligter Harfen, verstimmt zu den Tönen des Todes, Sangen sie’s her. […] (II, 406–410)

Poetisches Vorbild für die Darstellung eines ›Höllenkonzils‹ in den christlichen Epen Tassos (Gerusalemme liberata, 4. Gesang, Stanze 1–19), Miltons (Paradise Lost, Book 2) und Klopstocks (Messias, II. Gesang) waren die Götterversammlungen auf dem Olymp (Homer : Ilias, 15. Gesang; Odyssee, 1. Gesang; Vergil: Aeneis, 10. Buch), wo über das Schicksal der Heroen entschieden wurde und in deren Folge die heidnisch-antiken Götter in das irdische Geschehen eingriffen.431 Der Messias-Dichter erfand zwei neue Höllenfiguren, die er seinem Satan an die Seite stellte, und zwar die ebenfalls gefallenen Engel Adramelech und Abdiel Abbadona. Die Namen dieser zwei Charaktere hat er sowohl aus Miltons Epos als auch aus der Bibel entnommen. Im Paradise Lost erzählt der Erzengel Raphael Adam und Eva im Paradies (Book 5–8) von Satan, seinem Abfall von Gott, da er nicht mehr dienen, sondern selbst herrschen wollte, dem Kampf zwischen den satanischen Anhängern und den himmlischen Heerscharen, dem Auftreten des Gottessohnes, wodurch der Sieg entschieden wurde, und dem Sturz der Abtrünnigen in die Hölle. Adramelech (Book 6, V. 365) wird im sechsten Gesang nur kurz namentlich als einer der gefallenen Engel genannt, der in der Schlacht verwundet wird.432 Abdiel wird im fünften und sechsten Gesang des Paradise Lost als ein heldenhafter Engel charakterisiert, der sich von Satan nicht zum Abfall von Gott verführen lässt, sondern unerschütterlich dem Vater und dem Sohn im Himmel dient. Abbadona ist in der Heiligen Schrift der »Engel aus dem Abgrund« (Offb. 9,11) und Adramelech »Moloch eines Stadtstaates und als Menschenname Mörder seines Vaters Sanherib« (2. Kön. 17,31; 19,37).433 In Klopstocks Bibelepos bezeichnet sich Satan selbst als »König der Welt« und als »oberste Gottheit unsklavischer Geister« (II, 173). Wie im Paradise Lost heißt es auch im Messias, dass Satans »Stirne voll Donnernarben« (XIII, 528) sei. An Bösartigkeit wird der Klopstock’sche oberste Höllenfürst allerdings von Adramelech bei Weitem übertroffen (vgl. II, 300–351, 704–742, 831–896; V, 428–445). Dies zeigt sich bereits beim ersten Auftritt dieses Dämons im II. Gesang: Adramelech kam erst, ein Geist verruchter als Satan, Und verdeckter. Noch brannte sein Herz von grimmigem Zorne 431 Vgl. Osterkamp: Lucifer. Stationen eines Motivs, S. 61. 432 Vgl. [Bodmer :] Johann Miltons Episches Gedichte von dem Verlohrnen Paradiese (1742), S. 272. 433 Christian Senkel: Klopstock und Milton – epischer Agon in konfessionaler Perspektive. In: Kevin Hilliard / Katrin Kohl (Hrsg.): Wort und Schrift – Das Werk Friedrich Gottlieb Klopstocks. Tübingen 2008. (Hallesche Forschungen; 27.) S. 7–20, hier S. 16, Anm. 28. Vgl. HKA, Werke IV 6, S. 382 (Abbadona) und S. 385 (Adramelech).

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Wider Satan, daß dieser zuerst zur Empörung sich aufschwang! Denn er hatte schon lange bey sich Empörung beschlossen. Wenn er was that; er thats nicht, Satans Reiche zu schützen: Seinentwegen verübt’ er es. Seit undenkbaren Jahren Hatt’ er darauf schon gedacht, wie er sich zu der Herrschaft erhübe, Wie er Satan entflammte, mit Gott von neuem zu kriegen; Oder ihn in den unendlichen Raum auf ewig entfernte; Oder zuletzt, wär’ alles umsonst, durch Waffen bezwänge. (II, 300–309)

Adramelech ist »Gottes, der Menschen, und Satans Feind« (II, 704). Er will als »der Götter Obermonarch« (II, 877) herrschen und letztlich alle potentiellen Gegner aus dem Weg räumen. Zudem will er »als Schöpfer des Bösen« (II, 840) die Erde allein beherrschen und »die Erschaffenen Gottes« nicht wie Satan einzeln, sondern »zu ganzen Geschlechten« erwürgen (II, 845f.). In seiner Brutalität stellt er sich das Sterben der unschuldigen Menschen so vor : »Die legen vor mir in den Staub sich j Nieder, krümmen vor mir sich entstaltet, winden sich, sterben!« (II, 846f.) Und auch Satans Dasein soll ein Ende finden: »Daß du auch erfändest der Geister Sterben, daß Satan j Ha! verginge durch dich, durch dich zerflöss’ in ein Unding! j […] j Mächtiger Geist, der du Adramelech beseelest, erschaffe! j Tödte die Geister, ich fluche dir, tödte sie! oder vergehe!« (II, 857–861) Er schmiedet einen teuflischen Plan, der nicht nur die körperliche, sondern auch die geistige Existenz des Gottessohnes betrifft: »Satan, wie schwer wird es dir, den Leib des Messias j Nur zu erwürgen! Erwürg’ ihn denn! Ja, die kleinen Geschäfte j Lass’ ich dir, eh du vergehst; ich aber tödte die Seele! j Die vernicht’ ich; des Sterblichen Staub zerstreue du mühsam!« (II, 878–881) Durch die gänzliche Vernichtung Jesu glaubt Adramelech, den Höllenthron würdig besteigen zu können. Klopstock stellt diesen Charakter demnach als noch boshafter und hasserfüllter als Satan dar, dessen Feind er insgeheim ist. Dennoch treten diese beiden stärksten Höllengeister meist gemeinsam im Messias auf (vgl. VIII, 115–156; X, 85–149; XIII, 450–545, 879–897; XVI, 584–699). Der ›Zweiteilung‹ eines höllischen Charakters aus Miltons Paradise Lost im Messias entspricht die Verdoppelung einer Engelfigur.434 Klopstock spaltet gewissermaßen den Satan Miltons in Satan und Adramelech und verdoppelt den Engel Abdiel des englischen Epikers in die zwei Seraphim Abdiel und »Abdiel Abbadona« (II, 628; XIII, 499).435 Der epische Erzähler berichtet im Messias: »Der Ewige schuf sie auf Einmal.« (II, 649) Demgemäß könnte man sie als »Zwillingsengel[.]« bezeichnen.436 Abdiel und Abbadona verband bis zum »Tag der Empörung« (II, 633) eine innige Freundschaft, aber als sich Satan gegen Gott 434 Vgl. Senkel: Klopstock und Milton – epischer Agon in konfessionaler Perspektive, S. 16. 435 Vgl. ebd. 436 Ebd., S. 16f.

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auflehnte, ließ sich Abbadona wie im Rausch mitreißen und wurde daher gemeinsam mit den anderen gefallenen Engeln aus dem Himmel vertrieben und schließlich in die Hölle gestürzt (vgl. II, 627–658). Prägnant heißt es in der Erstfassung des Messias (1748), dass Abdiel »am Tage des Aufruhrs, j Nach dem Messias, im Himmel die größten Thaten vollführte; j Denn er kehrte zu Gott allein und unüberwindlich j Wieder zurück«.437 In der Endfassung von 1799/ 1800 schreibt Klopstock, dass Abdiel an diesem entscheidenden Tag »[e]ine strahlende That, vor Gottes Auge, vollführte. j Denn er verließ die Empörer allein, und unüberwindlich; j Kam zu Gott« (II, 634–636). Im fünften Gesang des Paradise Lost berichtet der epische Erzähler, dass der Seraph Abdiel »unter der ungetreuen Schaar alleine getreu geblieben war, unzählbare fielen treuloser Weise ab, er blieb alleine unbeweglich, unverführt, unerschrocken, bey seiner Pflicht, und verharrete in seiner Liebe und seinem Eifer«.438 Der Messias-Dichter knüpft hier also an die Geschichte Abdiels in Miltons Epos an, d. h., er setzt diese bei seinen Lesern bzw. Zuhörern als bekannt voraus.439 Es finden sich zudem weitere Analogien in der Charakterzeichnung Abdiels im Paradise Lost und Abbadonas im Messias: Wie sich Abdiel im Himmel als Einziger in einer leidenschaftlichen Rede den aufrührerischen Plänen Satans widersetzt, so verkündet Abbadona inmitten der Versammlung der Höllenfürsten, dass er nicht an der »finstern Entschließung, j Gott den Messias zu tödten« (II, 676f.) teilhabe (vgl. II, 665–695).440 »Der Satane ganze Versammlung j Williget ein, den Messias zu tödten!« (II, 736f.) Nur Abbadona zeigt in der Hölle eine unerschütterliche Standhaftigkeit wie sie Abdiel einst im Himmel demonstrierte. Der gefallene Engel bereut als Einziger den Abfall von Gott, hasst Satan zutiefst, »leidet an seiner Verbannung aus dem Himmel und trauert schmerzlich dem verlorenen Paradies sowie seiner einstigen Freundschaft mit dem Seraph Abdiel nach«.441 Die Abbadona-Episode zieht sich durch den gesamten Messias: II, 627–703, 743– 830; III, 306–308, 486f.; V, 486–702; IX, 430–648; XIII, 483–530; XVI, 630–636; XIX, 91–235.442 Abdiel Abbadona ist ein Zeuge der Heilsgeschichte und nimmt 437 Klopstock: DM 1748, S. 62 (II, 638–641). 438 [Bodmer :] Johann Miltons Episches Gedichte von dem Verlohrnen Paradiese (1742), S. 252f. 439 Vgl. HKA, Werke IV 3, S. 283. 440 Vgl. ebd. 441 Hubert Gersch / Stefan Schmalhaus: Die Bedeutung des Details: J. M. R. Lenz, Abbadona und der »Abschied«. Literarisches Zitat und biographische Selbstinterpretation. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift N. F. 41 (1991). S. 385–412, hier S. 386. 442 Vgl. zur Textgenese der Abbadona-Episode: HKA, Werke IV 3, S. 281–290. Siehe auch die Zusammenstellung der Verspassagen der Abbadona-Episode und eine problemgeschichtliche Skizze in: Klopstock: DM 1748, S. 137–167. – Richard Hamel: Klopstock-Studien. Drittes Heft: 1) Zur Entstehungsgeschichte des Messias. – Geschichte und Kritik der Ausgaben. – Commentare. 2) Zur Textgeschichte des Messias: Veränderungen aus reli-

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an allen wichtigen Stationen des Erlösungswerks teil, d. h., er ist bei den Leiden des Messias in Gethsemane (V), bei seiner Kreuzigung (IX) und Auferstehung (XIII) zugegen. Letztlich erlangt der Verdammte durch einen göttlichen Gnadenspruch im allgemeinen Weltgericht seine Erlösung: »Zuletzt, wie die Stimme des Vaters j Zu dem Sohn, wie der Jubel Nachhall, scholl von dem Throne j Diese Stimme: Komm, Abadona [!], zu deinem Erbarmer!« (XIX, 191–193) Klopstock erschuf mit Abbadona einen äußerst umstrittenen Charakter. Die »widersprüchliche Gestalt eines nicht bösen Teufels«443 löste eine heftige Kontroverse aus: Er war eine theologische Skandalfigur. Im Kampf zwischen Neologie und Orthodoxie um die Apokatastasis- oder Wiederbringungslehre, in jenem brisanten Glaubenskampf um Endlichkeit oder Ewigkeit der Höllenstrafen aller sündigen Geschöpfe war der reuige Teufel [ein] exemplarischer Streitfall.444

Der Messias-Dichter war ein Anhänger der heterodoxen »Lehre von der Apokatastasis Panton: dem endlichen Eingehen aller Kreaturen, auch der zunächst in die Hölle Verdammten, in die ewige Seligkeit«.445 Nach der Erstveröffentlichung der ersten drei Gesänge seines Bibelepos im Jahre 1748 ließ Klopstock zunächst sein Lesepublikum über das Schicksal des gefallenen Seraphs Abbadona noch im Dunkeln. Gemäß dem Dogma von der Ewigkeit der Höllenstrafen wäre eine Begnadigung auch eines bußfertigen Teufels ausgeschlossen gewesen. In den 1750er Jahren wäre der Epiker von den orthodoxen Theologen als Ketzer gebrandmarkt worden, hätte er den gefallenen Seraph selig werden lassen. Derartige Bedenken äußerte etwa Johann Heinrich Waser in einem Brief an Bodmer vom 22. Dezember 1747: Der Teufel Abaddonaah ist eine recht glükliche und reizende fiction: mich wundert nur was zulezt orthodoxe mit ihm werde werden können? Muß er in der Helle bleiben so deucht mich er werde auch wieder zu einem wahren Teufel müßen gemacht werden: denn jezt redet er wie ein bußfertiger Sünder […] Kommt er aber heraus so können wirs Theologi nicht gelten laßen. Wir werden ihn wieder herunter predigen noch tieffer herunter als er zuerst gewesen: und wenn der Abadonaah sich an dem Autor halten will so mag dieser zusehen daß er ihn nicht mit sich herunterziehe, wir sind in solchem Falle nicht verpflichtet ihm nachzulauffen und ihn zu erretten.446

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giösen und religiös-ästhetischen Rücksichten. – Geschichte des Abbadona. Rostock 1880. S. 141–203. HKA, Werke IV 3, S. 283. Gersch / Schmalhaus: Die Bedeutung des Details: J. M. R. Lenz, Abbadona und der »Abschied«, S. 386. Kaiser : Klopstock. Religion und Dichtung, S. 175. Vgl. zur Wiederbringungslehre: Ebd., S. 174–184 (Kap. III. 4: Endzeit und Wiederbringung). Brief von Heinrich Waser an Bodmer, 22. Dezember 1747. In: Hs.: Zentralbibliothek Zürich: MS Bodmer 6. 3. Zitiert nach: Klopstock: DM 1748, Nr. 9, S. 175f., hier S. 176.

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Carl Friedrich Cramer berichtet in seiner Monographie Klopstock. Er; und über ihn (2. Theil, 1790) von der Begegnung eines Predigers mit dem von ihm verehrten Messias-Dichter, die sich angeblich im Jahre 1750 abgespielt haben soll: Einmal ist ein ehrlicher Prediger zu ihm gekommen, der ihn sehr geliebt und bewundert hat, und hat ihn mit vieler Bescheidenheit und Vorsicht, aber so recht innig und aus Herzensgrunde gebeten: er wäre doch ein Mann, der so viel gölte! und der so viel Nutzen stiftete; er möchte doch um Gottes und der Religion, um Alles willen, den Abbadona nicht selig werden lassen. Fast mit Thränen hat er ihn darum gebeten; (ne quid detrimenti capiat respublica!) Klopstock hat ihn denn mit der Achtung, die er gegen jedes gute Herz fühlt, beruhigt: Er solte sich nur zufrieden geben; er wolte das schon so machen, daß die Religion nicht drunter litte.447

Es traten allerdings nicht nur leidenschaftliche Vertreter der Orthodoxie an Klopstock heran, die die ewige Verdammnis Abbadonas forderten, sondern auch empfindsame Laien, die eine Begnadigung des epischen Charakters wünschten. Aus dem Bericht Johann Caspar Hirzels über die berühmte Fahrt auf dem Zürchersee am 30. Juli 1750, den dieser in Briefform am 4. August 1750 an Christian Ewald von Kleist übersandte, geht hervor, dass der Dichter bei dieser Gelegenheit gebeten wurde, aus dem V. Gesang des Messias vorzulesen. Die Reaktion der weiblichen Zuhörerinnen fiel laut Hirzel folgendermaßen aus: »Er gab uns ein Fragment: Abadonna, den redlichsten Teufel, den je die Hölle sah. Voll zärtlichsten Mitleidens baten unsre Freundinnen einmüthig den Dichter, jenen Elenden, Reuevollen doch in seinen Schutz zu nehmen und ihm die Seligkeit zu schenken.«448 Klopstock hatte Bodmer in einem Brief vom 17. Mai 1749 gebeten, Heß auszurichten, dass er »von Ihm besonders zu wissen verlangte, ob er den Abbadonaa selig haben wollte«.449 Heß musste als Theologe ebenfalls den orthodoxen Standpunkt vertreten, hoffte aber dennoch, dass der Dichter alle seine poetischen Möglichkeiten ausschöpfen würde. So schreibt der Pastor seinem Freund Bodmer am 18. Juni 1749 Folgendes: Wenn Sie gern dem Herrn Klopstock meine eigentliche Herzensmeinung von dem Abbadona noch sagen wollen, so bitten Sie ihn, daß er künftig dieses armen Teufels schone, so viel immer möglich. Und wenn ihm desselben Seligmachung ebenso wie mich, der Religion nicht gemäß dünkt; daß er doch dem Leser den Zweifel, und folglich auch die Hoffnung übrig lasse, er könnte noch ebenso wohl selig werden, als verdammt geblieben sein; denn sonst bliebe es allezeit schwer, den Dichter vor dem Vorwurf völlig 447 Cramer: Klopstock. Er ; und über ihn. Zweiter Theil. 1748–1750, S. 385. 448 Brief von Johann Caspar Hirzel an Christian Ewald von Kleist, 4. August 1750. Zitiert nach: Klopstock: DM 1748, Nr. 38, S. 201. 449 Brief von Klopstock an Bodmer, 12. April, 17. Mai, 7. Juni 1749. In: HKA, Briefe I, Nr. 30, S. 49–52, hier S. 50, Z. 47–49.

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zu retten, daß er dem Abbadona, als einem verdammten Teufel, zu viel Gutes beigelegt habe.450

Meier hatte in seiner Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias (EA 1749; 2. Aufl. 1752) auf das Dilemma einer reuevollen Teufelsfigur hingewiesen, die zum einen theologisch nicht haltbar war und zum anderen beim empfindsamen Lesepublikum Rührung und Mitleid erregte und somit einer Errettung gewissermaßen bedurfte. Seine wichtigsten Argumente lauten: Ein Teufel aber Abbadonaa fängt eine Rolle an zu spielen, die einen mitleidigen Leser aufs höchste rühren muß. […] Man kan also diesem Teufel nicht gantz abgeneigt seyn, man empfindet ein Mitleiden, welches man bey dem Magog, dem Moloch nicht fühlt. Abbadonaa antwortet dem Satan. Er entsagt ihm und überhäuft ihn, mit den verhaßtesten Vorwürffen, er ist anders gesinnt als die gantze Hölle. Er ist ein Verfechter Gottes und des Meßias. Er ehrt und fürchtet GOtt, und seinen Meßias noch. Er ist also gleichsam nur ein halber Teufel. Ich will mir also die Freyheit nehmen zu sagen, daß dieser Character entweder unwahrscheinlich ist, oder der Dichter muß das System der Wiederbringung annehmen. Als ein Dichter kan er es ohne Bedencklichkeit thun, da dieses System alle poetische Wahrscheinlichkeit hat. […] Läßt der Dichter diesen Teufel ewig verdamt bleiben, so gestehe ich frey, daß meiner Einsicht nach diese Sache ein grosser Fleck dieses Gedichts seyn wird. […] Wenn an statt eines Teufels ein ruchloser Mensch, der noch Gnade zu hoffen hat, des Abbadonaa Rolle spielte, so wäre diese gantze Stelle ein Meisterstück.451

Für den Hallenser Lobredner hat demnach die Lehre von der Apokatastasis Panton, d. h. »die Lehre von der endzeitlichen Rückkehr aller Geschöpfe in den Urzustand ihrer Seligkeit«452, »alle poetische Wahrscheinlichkeit«. Als die Weltgerichtsszene (XIX, 91–235) im Jahre 1768 in einem nicht autorisierten Vorabdruck in der Deutschen Bibliothek der schönen Wissenschaften (Bd. 2, 1768, 6. Stück) den zeitgenössischen Rezipienten bekannt wurde, »waren die orthodoxen Standpunkte längst überwunden; aus Abbadonas Schicksal ergab sich kein Streitpunkt mehr«.453 Der reumütige gefallene Seraph war eine Lieblingsfigur der empfindsamen ›Lesergemeinde‹ im 18. Jahrhundert. »Abbadona, der selbst den Charakter des Empfindsamen und sympathetisch Leidenden verkörpert, wurde Bezugsfigur gefühlvoll-wehmütiger Betrachtungen.«454 Cramer erzählt rückblickend: »Christenthränen flossen; die Weiber konten sich nicht sat [!] über den Abbadona 450 Brief von Heß an Bodmer, 18. Juni 1749. In: Josephine Zehnder : Pestalozzi. Idee und Macht der menschlichen Entwickelung. Bd. 1. Gotha 1875. Nr. 1, S. 481–486, hier S. 485. 451 Meier : Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias. Erstes Stück (1752), S. 46–51. 452 HKA, Werke IV 3, S. 284. 453 Klopstock: DM 1748, S. 247 (Nachwort von Elisabeth Höpker-Herberg). 454 Gersch / Schmalhaus: Die Bedeutung des Details: J. M. R. Lenz, Abbadona und der »Abschied«, S. 387.

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weinen«.455 Einige epische Charaktere im Messias, darunter auch die Seraphim Abdiel und Abbadona, dienten zudem als Identifikationsfiguren des zeitgenössischen Freundschaftskultes, heißt es doch im III. Gesang: »Wie die Freundschaft des hohen Eloa und Gabriels Freundschaft; j Oder wie Abdiels Liebe war zu Abbadona, j Als er mit ihm noch lebte in anerschaffener Unschuld: j Also ist Johannes und Jesus göttliche Freundschaft.« (III, 485–488) Nach der schmerzvollen Trennung der ›Zwillingsengel‹ (vgl. II, 763–774; IX, 629–648) kommt es schließlich nach der Begnadigung Abbadonas durch den Weltenrichter zu einer ›rührenden‹ Wiedervereinigung des Freundespaares: Abdiel konnte nicht mehr aushalten des kommenden Anblick, Schwung sich durch die Gerechten hervor; mit verbreiteten Armen Jauchzet’ er laut durch den Himmel. Die Wange glüht’ ihm; die Krone Klang um sein Haupt; er zittert’ auf Abbadona herunter, Und umarmt’ ihn! Der liebende riß sich aus der Umarmung, Sank dann zu den Füßen des Richters aufs Angesicht nieder. (XIX, 204–209)

»Über die Gefühlskultur der Empfindsamkeitsbewegung noch hinaus verweist die Abbadona-Gestalt auf das mal de siHcle: das Melancholie-Syndrom.«456 Klopstock entwirft mit der Charakterzeichnung Abbadonas das poetische Bild eines Melancholikers. Demgemäß wird der gefallene Engel auch im II. Gesang des Bibelepos eingeführt: Unten am Throne saß einsiedlerisch finster und traurig Seraph Abdiel Abbadona. Er dachte die Zukunft, Und den Vergang voll Seelenangst. Vor seinem Gesichte, Das in traurendes Dunkel, in schreckliches Schwermuth hüllte, Sah er Qualen gehäuft auf Qualen zur Ewigkeit eingehn. (II, 627–631)

Ausführlich wird in der Abbadona-Episode im Messias der Gemütszustand eines Schwermütigen beschrieben: Gedanken an eine vergangene glückliche Zeit im Himmel martern Abbadona und »[s]ein Auge j Floß von der jammernden Thräne« (II, 658f.). »Seufzer aus allen Tiefen des Herzens, langsame Schauer, j Sterbenden selbst unempfindbar, erschütterten Abbadona« (II, 755f.). Er vergießt »ewige[.] Thränen« (V, 514), ist »betäubt vom ewigen Kummer« (II, 828) und »in [s]einem Herzen voll Jammers« (IX, 462). »Er sahe die Welten, j Weil er sich stets, in sein Elend vertieft, in Einsamkeit einschloß, j Seit Jahrhunderten nicht.« (II, 777–779) Der »traurige Seraph« (III, 306) weinte, »als er aus Eden zurückkam, j Und der heiligen Unschuld der Mütter erste beraubt sah« (III, 307f.). »Tausendjährige[r] Gram, unüberwindliches Trauren« (IX, 544) zeichnen 455 Cramer: Klopstock. Er ; und über ihn. Zweiter Theil. 1748–1750, S. 348. 456 Gersch / Schmalhaus: Die Bedeutung des Details: J. M. R. Lenz, Abbadona und der »Abschied«, S. 387.

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Abbadona aus. Der »nächtlichen Qualen j Flamme« (IX, 612f.) brennt in ihm. Die anderen himmlischen, ungefallenen Seraphim empfinden »stille[s] Mitleid[.]« (IX, 545), wenn sie ihn sehen. Abbadona charakterisiert sich selbst folgendermaßen: »Einer, der blutende Thränen, und Jammer, der nicht gesehn wird, j Ach zu lange vergebens, zu lange! Gott, vor dir ausgießt, j Satt, geschaffen zu seyn, und der bangen Unsterblichkeit müde!« (V, 699–701) Aus seinen Selbstgesprächen geht hervor, dass er seiner Vergangenheit nachtrauert und seinen Abfall von Gott zutiefst bereut: Seliger Eingang, dürft’ ich durch dich in die Welten des Schöpfers Wiederkehren! und nie das Reich der dunkeln Verdammniß Wieder betreten! Ihr Sonnen, unzählbare Kinder der Schöpfung, War ich nicht schon, da der Ewige rief, da ihr glänzend hervorgingt; Heller als ihr, da ihr jetzt aus der Hand des Schöpfers herabkamt? Und nun steh’ ich da verfinstert, verworfen, ein Abscheu Dieser herrlichen Welt! Und du, o Himmel! Ha jetzo Beb’ ich erst, da ich dich erblicke! Dort ward ich ein Sünder! Stand dort wider den Ewigen auf. Du unsterbliche Ruhe, Meine Gespielin im Thal des Friedens, wo bist du geblieben? Ach, kaum läßt, für dich, mein Richter trauriges Staunen Über seine Welten mir zu! O dürft’ ich es wagen, Schöpfer ihn niedersinkend zu nennen, wie gerne wollt’ ich Dann entbehren den liebenden Vaternamen, mit dem ihn Seine Getreuen, die hohen Engel, kindlicher nennen. O du Richter der Welt! dir darf ich Verlorner nicht flehen, Daß du mit Einem Blicke mich nur hier im Abgrund ansehst. Finstrer Gedanke, Gedanke voll Qual! und du wilde Verzweiflung! Wüthe, Tyrannin, ha wüthe nur fort! Wie bin ich so elend! (II, 780–798)

Abbadona hat seine innere Ruhe und damit seinen Seelenfrieden verloren. Um von seinen ihn peinigenden Gewissensqualen und aus seinem Elend befreit zu werden, wünscht er sich verzweifelt den Tod. Seine völlige Vernichtung sieht er als Erlösung an. Bereits im II. Gesang wünscht er sich: »Sonnen, fallt auf mich her! bedeckt mich, ihr Sterne, j Vor dem grimmigen Zorn deß, der vom Throne der Rache j Ewig als Feind und Richter mich schreckt!« (II, 808–810) Er schaut »betäubt in des Leeren Abgrund« (II, 818) und ruft: Schaffe da Feuer, tödtende Glut, die Geister verzehre, Gott! Verderber! zu furchtbarer Gott in deinen Gerichten! Doch er flehte vergebens. Es ward kein tödtendes Feuer. Darum wendet’ er sich, und floh zurück in die Welten. Endlich stand er ermüdet auf einer erhabenen Sonne, Schaute von da in die Tiefen hinab. Dort drängten Gestirne Andre Gestirne, wie glühende Seen. Ein irrender Erdkreis Näherte sich, schon dampft’ er, und schon war ihm sein Gericht nah.

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Auf den stürzete sich Abadona, mit ihm zu vergehen: Doch er verging nicht, und senkte, betäubt vom ewigen Kummer, Wie ein Gebirge weiß von Gebein, wo Menschen sich würgten, Im Erdbeben versinkt, zu der Erde sich langsam nieder. (II, 819–830)

Die Selbstmordgedanken und der Todeswunsch Abbadonas werden auch im weiteren Verlauf der Episode thematisiert. Im IX. Gesang bietet sich »der Verworfene« (V, 590) als ein dem Heiland geweihtes Opfer an und hofft sehnlichst, dass seine Existenz nach dem Kreuzestod des Messias ausgelöscht werde: […] Was ist es in mir, das wie Ruh mich besänftigt? Ist es der Angst Betäubung? ist es wirkliche Hoffnung? Ach der Hoffnungen beste, vernichtet zu werden? O täusche, Einzige Hoffnung, täusche mich nicht! Mich deucht ja, ich dürfe Um die Vernichtung dem Richter itzt flehn! Es deucht mich, er werde Jetzt mich erhören! O wenn der göttliche Dulder sein Haupt nun, Richter der Welt! an dem Kreuze geneigt hat, und du ein Vergelter, Daß wir die Sünd’ erschufen! ach zu der Sünde verführten! Einige dieser Verbrecher, als Todesopfer, dem Schatten Deines Getödteten weihst, und an seinem Grabe vernichtest; Ach, dann sondre mich auch, den verworfensten unter den Sündern, Abbadona mit aus, daß du dem Todten mich opferst! Ach, dann bin ich nicht mehr! dann fühl’ ich der nächtlichen Qualen Flamme nicht mehr! Ich war einmal! Dann bin ich vergangen! Aus der Wesen Reihe verlöscht! bin auf immer vergangen! Von den Engeln, von allen Erschaffnen, von Gott, vergessen! Sieh, ich neig’ entgegen mein Haupt, Gott, deiner Allmacht! Würdige, Richter der Welt, mich, daß sie mit geheimer Berührung, Oder mit fallendem Strahl, aus deiner Schöpfung mich tilge! (IX, 600–618)

Auch am Tage des Jüngsten Gerichts teilt Abbadona dem Weltenrichter seine Todessehnsucht mit: […] Ich bitte nicht Gnade; Aber laß um den Tod, Gottmensch Erbarmer, dich bitten. Siehe, diesen Felsen umfass’ ich! hier will ich mich halten, Wenn die Todesengel von Gott die Gerichteten führen. Tausend Donner sind um dich her, nimm einen der tausend, Waffn’ ihn mit Allmacht, tödte mich, Sohn, um deiner Liebe, Deiner Erbarmungen willen, mit denen du heute begnadigst! Ach ich ward ja von dir auch mit den Gerechten erschaffen; Laß mich sterben! Vertilg’ aus deiner Schöpfung den Anblick Meines Jammers, und Abbadona sey ewig vergessen! Meine Schöpfung sey aus, und leer die Stäte des bängsten, Und des verlassensten aller Erschaffnen! […] (XIX, 110–121) […] Wenn dein göttliches Auge die Ewigkeiten durchschaut hat,

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Die ich leide: so würdige mich, daß dein Donner mich fasse, Und dein Arm sich meiner erbarme, vor dir mich zu tödten! Mittler! ich sinke betäubt in des Abgrunds furchtbarste Tiefe; Und mein bebender Geist entflieht der Ewigkeit Schauplatz, Stürzt sich hinab, und ruft dem Tode, so oft ich es denke, Daß du mich schufst! [….] (XIX, 142–148) […] Sey mir, Gedanke, gegrüßt, vor dem nahen Abschied von allen, Die Gott schuf, und dem Unerschaffnen der letzte Gedanke! (XIX, 153f.)

Durch Motivwiederholungen verknüpft Klopstock hier den Anfang (II. Gesang) und das Ende (XIX. Gesang) der Abbadona-Episode miteinander. Bereits zu Beginn der Nebenhandlung will sich der unglückliche (Halb-)Teufel in die Tiefe stürzen, um zu vergehen (II, 818–830, vgl. XIX, 145–147). Der Sturz in die Tiefen eines Abgrundes ist Sinnbild des Himmelssturzes bzw. des Falls der verdammten Engel in die Hölle, welcher wiederum den Sündenfall Adams und Evas präfiguriert.457 Der innerseelisch leidende Abdiel Abbadona verkörpert gewissermaßen den Melancholie-Kult der Empfindsamkeit. Die ›märchenhafte‹ Geschichte eines entdämonisierten, bußfertigen Teufels, der im Weltgericht Vergebung erlangt, repräsentiert das »Wunderbare« im Epos. Der von Klopstock erfundene epische Charakter erfüllt im Messias zudem eine weitere wichtige Funktion, auf die der Dichter in einem Brief an Bodmer, datiert auf den 21. September 1748, verweist: Denen werthen Herren, die so viel Mitleiden mit Abbadonaa haben, sagen Sie, daß ich selbst so wehmüthig über sein Schicksal bin, daß ich kaum so viel Gewalt über mein Herz habe, mich dem strengen Ernste der Religion, die über unser Herz ist, zu unterwerfen. Doch soll seine Geschichte, wie ich glaube, Ihre Zärtlichkeit niemals zu gewaltig angreifen. Er ist zur Verherrlichung des Messias da. Bald wird er weinen; daß der Messias nicht auch sein Messias ist. Und beym Weltgerichte wird er so gewaltig um Gnade flehen, daß vor dem lauten Weinen des Menschengeschlechts u der Seraphim die Stimme der Donner nicht mehr wird gehört werden.458

Der Messias-Dichter erklärt zudem Carl Friedrich Cramer rückblickend am 4. Februar 1791: Zum Pl. [Plan; I. G.] gehört den Leidenden Abadona zu zeigen (u was hat je so sehr zu einem Pl. gehört als Abadona?) Ich konte ihn auf vielerley Art zeigen; aber wenn er den Mess. am Ölberge leiden sieht: so kan ich, durch ihn, die Leiden des Mess. in einer Erhabenheit zeigen, wie es mir sonst kaum mögl. war.459 457 Vgl. ebd., S. 394. 458 Brief von Klopstock an Bodmer, 21. September 1748. In: HKA, Briefe I, Nr. 15, S. 16–21, hier S. 20, Z. 162–171. 459 Brief von Klopstock an Carl Friedrich Cramer, 4. Februar 1791. In: HKA, Briefe VIII 1, Nr. 166, S. 231–233, hier S. 232, Z. 47–51.

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Die christlich-mythologische Figur spielt demnach eine wichtige Rolle in der Gesamtkomposition des Epos. Der epische Charakter wurde von Klopstock offenbar erfunden, um die Erhabenheit des Helden seiner Hexameterdichtung zu erhöhen. Abbadona ist ein »Exemplum göttlichen Gnadenhandelns«460. Die unermessliche Güte des christlichen Gottes lässt sich überzeugender und pathetisch-erhabener darstellen, wenn einem gefallenen Engel alle Sünden vergeben werden und nicht nur einem einfachen Menschen.461 Die Leidensgeschichte Abdiel Abbadonas ist ein parallel angelegter Handlungsstrang zur Leidensgeschichte des Messias in den ersten zehn Gesängen des Bibelepos. Im V. Gesang bricht Abbadona in laute Klagen aus, weil der Erlöser nur die sündige Menschheit erretten wird: »Du erlösest nur Menschen! j Mich erlösest du nicht! du hörst die jammernde Stimme j Meiner Ewigkeit nicht! ach du erlösest nur Menschen!« (V, 505–507) Der melancholische Seraph beobachtet das Geschehen im Garten Gethsemane und beschreibt die für alle anderen Wesen unfassbaren Leiden des Messias, die dieser in Todesangst ertragen muss, als Gott auf Tabor über ihn Gericht hält (vgl. V, 486–702): Ohne Maß ist die Angst, die seine göttliche Seele Rings erschüttert! er jammert in Staube! die steigenden Adern Bluten Todesangst! Ich, dem kein Jammer verdeckt ist, Der ich alle Stufen der Qual und Verzweiflung hinabstieg, Weiß mit keinem Namen die Angst der Seele zu nennen, Die er fühlt! ihm mit keiner Empfindung nachzuempfinden Diesen daurenden Tod! […] (V, 635–641)

Abbadona ist als Einziger dafür prädestiniert, das übermenschliche Maß der Qualen Jesu zu erkennen. Der einst strahlende Engel befindet sich selbst als derzeitiger Höllenbewohner in einem Zustand tiefster Erniedrigung. Die körperlichen und seelischen Leiden des Messias sind so extrem, dass der gefallene Seraph zunächst glaubt, in der nächtlichen Stille des Ölbergs die »trauervolle[.], und fürchterliche[.]« (V, 531) Stimme eines Sterbenden zu hören, der von einem »Mörder im Dunkeln« (V, 538) erschlagen wurde (vgl. V, 526–562). Jesus hat eine symbolische Gebetshaltung eingenommen: sein Antlitz liegt im »blutigen Staube« und im »Todesschweiße« (V, 591f.), als ihn Abbadona erblickt. Der Teufel erkennt dennoch das Göttliche in diesem Menschen, der einst Heldentaten im Himmel vollbracht hat: Ach er gleicht dem ewigen Sohn, der ehmals vom Thron her, Hoch von dem Thron, auf Flügeln getragen des flammenden Wagens, Donnernd über uns kam, und dicht an unsere Fersen Heftete seine Verderben, und kein Erbarmen nicht kannte: 460 Senkel: Klopstock und Milton – epischer Agon in konfessionaler Perspektive, S. 18. 461 Vgl. ebd., S. 17.

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Da die Unsterblichkeit Fluch, das Leben ewiger Tod ward; Da die Unschuld der Schöpfung, mit allen Freuden des Himmels, Uns auf ewig entfloh, verloren ins Heer der Gerechten; Da Jehovah nicht Vater mehr war! Ich wandte mein Antlitz Einmal bebend herum, und sah ihn hinter mir kommen, Sah den furchtbaren Sohn, des Donnerers schauendes Auge! Hoch stand Er auf dem flammenden Wagen, die Mitternacht stand Unten, unten der Tod! Ihn hatte gewaffnet mit Allmacht Gott! mit Verderben gerüstet den Allbarmherzigen! Weh mir, Wehe! den Schwung der strafenden Rechte, des donnernden Wurf rief, Bebte die bange Natur in allen Tiefen der Schöpfung Schauernd nach! Ich sah ihn nicht mehr, mein Auge verlor sich Tief in die Nacht. So schlummert’ ich hin, durch Sturm und durch Donner Hin, und das Weinen der bangen Natur, im Gefühl der Verzweiflung, Und unsterblich! Noch seh’ ich ihn, noch! Ihm gleichet das Antlitz Dieses Mannes im Staube gebückt, der mehr als ein Mensch ist. Ist er, ach ist er des Ewigen Sohn? der gegebne Messias? Jener Richter? Aber er leidet! er ringt mit dem Tode! Er, der stand auf dem Flammenwagen, ringt mit dem Tode! (V, 612–634)

Klopstock knüpft in dieser Reminiszenz an die Handlung von Miltons Paradise Lost an: Am dritten Tage des Kampfes zwischen dem himmlischen und dem satanischen Heer beendet der Gottessohn auf Befehl Jehovas den Krieg und stürzt die abtrünnigen Engel in die Hölle (Book 6).462 Bezeichnenderweise steht der mit einer Rüstung bekleidete und mit Donnerpfeilen bewaffnete Sohn Gottes wie ein mächtiger Triumphator auf einem Flammenwagen, um »den Himmel von diesen Rebellen [zu] säubern«.463 Abbadona erinnert sich in dieser Szene im Messias an die Entscheidungsschlacht im Himmel, an das Auftreten des letztlich siegenden Gottessohnes auf dem »flammenden Wagen[.]« (V, 613) und an den traumatischen Höllensturz. Erzähltechnisch liegt hier eine Analepse vor, d. h., die in Miltons Epos erzählte Handlung ist als Vorgeschichte des Messias anzusehen. Der intertextuelle Bezug dient offensichtlich der »Verherrlichung des Messias«, indem auf eine seiner vergangenen Heldentaten angespielt wird. Die Allmacht des Gottessohnes zeigt sich evident in einer anderen Szene in Klopstocks Heldengedicht: Im XVI. und XVII. Gesang wird die Höllenfahrt Jesu Christi dargestellt (XVI, 572–699; XVII, 85–201).464 Der ›Descensus ad inferos‹ ist ein apokrypher Stoff, der aus dem Evangelium Nicodemi stammt. Klopstock lässt den auferstandenen Gottessohn in die Hölle hinabsteigen und dort Gericht über die satanischen Geister halten (XVI, 572–699). Wie im sechsten Gesang des 462 Vgl. [Bodmer :] Johann Miltons Episches Gedichte von dem Verlohrnen Paradiese (1742), S. 290–299 (Ende des sechsten Gesangs). 463 Ebd., S. 292. 464 Vgl. HKA, Werke IV 3, S. 336–338.

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Verlohrnen Paradieses tritt der Messias hier als triumphaler Sieger auf, der Satan, Adramelech, Belielel, Moloch, Magog und Gog zu Felsen erstarren lässt (vgl. XVI, 588) und die Hölle in ein »Glutmeer« (XVI, 640) verwandelt. Die Höllenbewohner werden mit Schmerzensqualen und lähmendem Entsetzen geschlagen und erliegen der Täuschung, in »Todtengerippe« (XVI, 631) transformiert worden zu sein. Der Dichter rekurriert zudem in dieser epischen Szene auf die einführende Darstellung der Höllenfürsten im II. Gesang des Messias. Als Beispiele sollen hier Belielel, der die Hölle in ein zweites Paradies verwandeln wollte, und der Gottesleugner Gog dienen: Der epische Sänger beschreibt den Auftritt des Gottessohnes in der christlichen Unterwelt folgendermaßen: »Unter des Wandelnden Fuß ward Eden; hinter ihm wurde j Eden wieder zur Hölle.« (XVI, 598f.) Relevanz besitzt dieses Detail für Belielel, der »in der Jammeröde« (XVI, 664) so klagt: Habt ihr die Blumen gesehn, die vor ihm, ach, Eden des Himmels, Dich erblickt’ ich! vor ihm aufsproßten, hinter ihm schleunig Welkten, dorrten, vergingen? Wir dorren ewig, vergehn nicht! Ach vergehn nicht! Er riefs, und wünschte, daß unter ihm neue Tiefen sich öffneten, ihn in ihren Gräbern zu bergen. (XVI, 665–669)

Gog reagiert auf die Anwesenheit des Messias in der Hölle seinem Charakter entsprechend folgendermaßen: Sieh, er krümmte sich, wand vergebens sich, nun noch zu leugnen, Daß Gott sey! er brüllet’ es, heulet’ es; rang nach Vernichtung, Winselte, raste nach ihr, griff aus mit der Sterbenden bangem Furchtbaren Greifen nach ihr, und war! So fühlte, wer der sey, Der auf Golgatha starb, die unterste Hölle. (XVI, 693–697)

Abdiel Abbadona bildet einen Kontrast zu den anderen Höllenfiguren im Messias, insbesondere zu Satan und Adramelech. Demgemäß bemerkt Heß in seinen Zufälligen Gedanken über das Heldengedicht, der Meßias (1749), der grosse Geisterkenner Klopstock, der unter den höllischen Geistern eine sehr grosse Verschiedenheit in Absicht auf die Staffeln beydes der Schuld und der Strafe schriftmäßig voraus setzen konnte, habe da den verhaßten Charactern der allerschlimmsten Teufel auch noch ein erträglichers Gemählde von dem besten, das ist, wenigstschuldigen aus ihnen entgegen setzen wollen.465

Abbadona ist der einzige gefallene Engel, der Jesus als Heilsbringer und Erlöser der Menschheit anerkennt. Daher kann er es auch nicht fassen, dass die versammelten Höllenfürsten im II. Gesang einstimmig den Tod des Messias beschließen: 465 [Heß:] Zufällige Gedanken über das Heldengedicht, der Meßias, S. 37.

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Wir, die zum Tode die Menschen verführeten; wehe mir, wehe! Ich that’s auch! wir wollen uns wider ihren Erlöser Wüthend erheben? den Sohn, den Donnerer wollen wir tödten? Ja den Pfad zu einer vielleicht zukünftigen Rettung, Oder doch zu der Lindrung der Qual, den wollen wir ewig Uns, so vielen vordem vollkommnen Geistern, verwüsten? (II, 686–691)

Diese Fragen Abbadonas lassen eine schwache Hoffnung auf Rettung aus dem Elend erkennen. Seine »ewigen Thränen« und »bangen unsterblichen Seufzer[.]« (V, 514f.) gelten dem erlösenden ›Gottmenschen‹. Er darf deshalb auch ein Zeuge des Kreuzestodes Jesu Christi sein: Eloa gebietet den Engeln und Seelen, dass sich der weinende Abbadona dem Kreuz nähern dürfe, um »den sterbenden Mittler« (IX, 533) zu sehen. Ihm wird »die quälende Lindrung« (IX, 534) nicht versagt, denn laut dem obersten Seraph »umgeben das Kreuz schuldvollere Sünder, als er ist!« (IX, 535). Wie keine andere Gestalt der christlichen Mythologie regte Abdiel Abbadona die theologisch und philosophisch gebildeten Zeitgenossen zu Interpretationen an. Meier glaubt, eine Analogie zwischen der Abbadona-Episode im Messias Klopstocks und dem biblischen Gleichnis vom verlorenen Sohn (Lk. 15,11–32) zu erkennen. Der Kritiker kommentiert demgemäß eine Szene aus dem II. Gesang des Bibelepos, in der Abbadona und Abdiel aufeinandertreffen: Als er an die Pforte der Hölle komt, erblickt er einen der Wächter, Abdiel, mit dem er vor seinem Fall besonders vertraut umgegangen. Er nahet sich ihm mit klopfendem Hertzen, oder wie ein Bußfertiger verlohrner Sohn sich seinem Vater nähert. Abdiel würdiget ihn keines Anblicks. Der arme Abbadonaa seufzet bey sich verlassen und einsam[.]466

Der Rezensent bezieht sich hier auf folgende Rede Abbadonas: Abdiel, mein Bruder, du willst dich mir ewig entreißen! Ewig willst du mich ferne von dir in der Einsamkeit lassen! Weinet um mich, ihr Kinder des Lichts! Er liebt mich nicht wieder, Ewig nicht wieder, ach weinet um mich! Verblühet, ihr Lauben, Wo wir mit Innigkeit sprachen von Gott, und unserer Freundschaft! Himmlische Bäche, versiegt, wo wir in süßer Umarmung Gottes des Ewigen Lob mit reiner Stimme besangen! Abdiel mein Bruder ist mir auf ewig gestorben! Hölle! mein finsterer Aufenthalt, und du Mutter der Qualen, Ewige Nacht, beklag’ ihn mit mir! Ein nächtliches Jammern Steige, wenn Gott mich schreckt, von deinen Bergen herunter. Abdiel mein Bruder ist mir auf ewig gestorben! (II, 763–774)

466 Meier : Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias. Erstes Stück (1752), S. 49.

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Meier merkt hierzu an: Ich finde in dieser Klage so viel freundschaftliches und tugendhaftes, daß ich unmöglich, die Härte des Abdiels gegen seinen Bruder, ohne Verdruß betrachten kan. Hierauf steht er an dem Rande des Weltgebäudes zwischen zwey Orionen still, und sieht in dasselbe hinein. Er hält eine Rede, die voller Reue ist, wie die Reue des Sohns, der zu seinem Vater sagte: ich habe gesündiget im Himmel und vor dir, und bin nicht werth, daß ich dein Sohn heisse, mache mich nur zu einem deiner Tagelöhner. Er fällt in eine Verzweifelung, erholt sich aber wieder, und bestraft sich selbst.467

Pastor Heß hält Meiers Vergleich des Abbadona »mit dem verlohrnen Sohn im Evangelio« für unpassend.468 Er stellt in seinen Zufälligen Gedanken über das Heldengedicht, der Meßias (1749) die rhetorische Frage, »ob der reuende Abbadonaa nicht eine ganz andere Aehnlichkeit mit dem verzweifelnden Judas habe, als mit dem bußfertigen verlohrnen Sohn?«.469 Seiner Meinung nach lasse sich »der jammernde Teufel« ganz und gar nicht mit dem verlorenen Sohn vergleichen, da zwischen beiden ein wesentlicher Unterschied bestünde: Die Reue des verlohrnen Sohns war begleitet mit Liebe, die ihn zum Vater trieb: die Reue aber des Abbadonaa mit banger knechtischer Furcht, die ihn vom himmlischen Vater wegjagt; So gar daß selbst die süssen Namen, Vater, Erbarmer, so bald er sie nur genennet, ihn von neuem in Verzweiflung stürzen […].470

In der Erstfassung des Messias (1748) ruft Abbadona aus: »Schaffe da Feuer, ein tödtendes Feuer, das Geister verzehre, j Gott, Verderber der Wesen, die du ohn ihr Wollen erschufest!«471 Heß sieht diese Worte des gefallenen Engels als eine »Lästerung« Gottes an.472 Abbadonas schmähende Äußerung liefert ihm ein stichhaltiges Argument, mit dem er die Interpretation Meiers angreifen kann: »Oder dürfte man auch mit diesem Sohn einen in Gewissens-Angst liegenden Menschen vergleichen, dessen Reue, so gut es sich anfänglich damit anließe, sich zuletzt in Verzweifelung und Lästerung endigte, wie diese Reue des Abbadonaa?«473 Heß analysiert die Charakterzeichnung der Teufelsfigur im Messias abschließend folgendermaßen: »Es ist von Anfang bis zum Ende der Character eines Teufels, der glaubt, daß ein einiger GOtt ist, und zittert, eines furchtsamen und verzagten, eines kleinmüthigen Jammerers, der bloß aus Mangel der Liebe und des Vertrauens zu GOtt sich selbst in Verzweiflung stürzt.«474 Zum noch ungewissen Schicksal Abbadonas merkt er zudem an: »Wenn ichs behaupten 467 468 469 470 471 472 473 474

Ebd., S. 50. [Heß:] Zufällige Gedanken über das Heldengedicht, der Meßias, S. 31. Ebd., S. 35. Ebd. Klopstock: DM 1748, S. 69 (II, 820f.). [Heß:] Zufällige Gedanken über das Heldengedicht, der Meßias, S. 35. Ebd., S. 36. Ebd., S. 40.

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mag, so muß der Character des Abbadonaa immerzu dasselbe Meisterstück bleiben, dieser Teufel mag noch zuletzt errettet werden oder verdammt bleiben.«475 Abbadona nimmt unter allen von Klopstock erfundenen epischen Charakteren der christlichen Mythologie gewissermaßen die Rolle eines Mittlers ein, d. h., er vermittelt zwischen Himmel und Hölle. Er ist ein bußfertiger gefallener Engel, ein verdammter, nicht böser Höllenbewohner, dem letztlich vergeben wird und der wieder zu den »Kinder[n] des Lichts« (XIX, 219) zurückkehrt. Er verspürt nach seiner Begnadigung nicht mehr die »Schauer des ewigen Todes« (V, 611), sondern die »Wonne des ewigen Lebens« (XIX, 216). Den Transformationsprozess vom Teufel zum Engel kommentiert Abbadona am Ende der Episode im XIX. Gesang folgendermaßen: Gott hat am Abend des Weltgerichts noch Einmal erschaffen; Denn ich war Einer der Ewigtodten. Den letzten der Tage Schuf er mich um, und rief mich, aus meines Todes Umschattung, Wieder zum ewigen Heil, das unaussprechlich wie Gott ist! Halleluja! ein feyrendes Halleluja, o Erster! Sey dir von mir auf ewig gesungen! Du sprachst zu dem Elend: Sey nicht mehr! zu den Thränen: Ich hab’ euch alle gezählet! Freudenthränen, und Dank, und Anbetung sey dem auf dem Throne! (XIX, 228–235)

Die Engel werden im Messias in drei Ordnungen eingeteilt. Mit diesem triadischen Gliederungsprinzip orientierte sich Klopstock wohl am christlichen Neuplatoniker Pseudo-Dionysius Areopagita (um 500), der die Sphäre der Engel streng hierarchisch aufgebaut hatte und von insgesamt neun Engelschören ausgegangen war.476 In seiner Schrift Über die himmlische Hierarchie (De caelesti hierarchia) ordnet Pseudo-Dionysius je drei Chöre einer Gruppe zu und stellt so drei Triaden auf:477 Die erste Triade umfasst die obersten Throne, die Cherubim und die Seraphim. Sie sei »die Gott ähnlichste und den ursprünglichen Lichtstrahlen des Gottesprinzips am nächsten«.478 Die zweite Triade besteht aus den heiligen Mächten, den heiligen Kräften und den heiligen Herrschaften. Und die dritte Triade bilden die Engel, die Erzengel und die himmlischen Prinzipien.479

475 Ebd., S. 33. 476 Vgl. zur Hierarchie der Engel von Pseudo-Dionysius Areopagita: Johann Ev. Hafner : Angelologie. Paderborn / München / Wien / Zürich 2010. (Gegenwärtig Glauben Denken – Systematische Theologie; 9.) S. 157–165. 477 Vgl. Pseudo-Dionysius Areopagita: Über die himmlische Hierarchie. Über die kirchliche Hierarchie. Eingeleitet, übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Günter Heil. Stuttgart 1986. (Bibliothek der griechischen Literatur. Abt. Patristik; 22.) S. 42f. (Kap. VI, 2). 478 Ebd., S. 43 (Kap. VI, 2). 479 Vgl. ebd.

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In Klopstocks Messias nehmen die Seraphim aus der Ordnung der Engel am Thron Gottes den höchsten Rang ein. Die sogenannten »Thronen« (I, 289, 368, 369, 472) erfüllen im Epos göttliche Aufträge, fungieren als Boten und dienen so als Vermittler zwischen dem Messias auf Erden und Gottvater im Himmel. Zu ihnen zählen Uriel, »der Sonne Beherrscher« (I, 720), Gabriel, »der Seraph, der Jesus zum Dienst’ auf der Erde gesandt war« (I, 55), Raphael, der erste Schutzengel des Jüngers Johannes, und Eloa, »der Thronen j Erstgeborner« (I, 289f.) und Höchste der Seraphim. Den niedrigsten Rang bekleiden die Cherubim. Zu dieser Ordnung gehört der Cherub Urim (I, 368–394), der als »des ewigen Geistes vertrauterer Engel« (I, 372) charakterisiert wird. Von den Engeln des mittleren Ranges heißt es im I. Gesang: Um den Seraph [Gabriel; I. G.] versammelten sich die Beschützer der Völker, Engel des Kriegs und des Todes, die im Labyrinthe des Schicksals Bis zu der göttlichen Hand den führenden Faden begleiten; Die in Verborgnem über die Thaten der Könige herrschen, Wenn sie damit triumphirend, als ihrer Schöpfung, sich aufblähn. Dann die Hüter der Tugendhaften, der wenigen Edlen, Die in seiner Entfernung den denkenden Weisen begleiten, Wenn er das Menschengewebe der Erdeseligkeit fliehet, Und die Bücher der ewigen Zukunft betend eröffnet. Auch sind sie oft insgeheim bey einer Versammlung zugegen, Wo der feurige Christ die Herabkunft Gottes empfindet, Wenn ein brüderlich Volk, durch das Blut des Bundes geheiligt, Vor dem Versöhner der Menschen in Jubellieder sich ausgießt. Wenn die Seelen entschlafner Christen ihr todtes Antlitz, Und den Schweiß, und die traurigen Züge des siegenden Todes, Und die bezwungne Natur auf ihrem Leichnam erblicken; So empfangen sie diese Gefährten mit tröstendem Anblick: Lieber, wir wollen dereinst die Trümmern alle versammeln! Eben diese Wohnung der Sterblichkeit, diese Gebeine, Welche die Hand des gewaltigen Todes so traurig entstellt hat, Soll mit dem Morgen des Richters zur neuen Schöpfung erwachen. Kommt, zukünftige Bürger des Himmels, helleres Anschaun, Siehe, der erste der Überwinder erwartet euch, Seelen! (I, 647–669)

Die Aufgabe der Engel der Erde besteht demnach darin, »die Beschützer der Völker« (I, 647), die »Engel des Kriegs und des Todes« (I, 648) und »die Hüter der Tugendhaften« (I, 652) zu sein sowie die Seelen der Verstorbenen in den Himmel zu führen. Diese Vorstellungen entsprechen ganz dem Volksglauben. Die christliche Unterwelt wird bewacht von »[z]ween der heldenmüthigsten Engel« (II, 262). Die Seraphim aus der Ordnung der »Engel der Erde, die unter der Aufsicht j Gabriels stehn« (III, 68f.), erfüllen ihre Aufgabe als Schutzengel, daher werden

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sie auch als »Beschützer« (III, 68) der Menschen und als »Wächter« (I, 563; vgl. II, 77f.) bezeichnet. Der Messias hat den Engeln der Erde befohlen, die »Beschützer und Freunde« der zwölf Jünger zu sein (III, 113f.). Eingeführt werden diese zwölf Schutzengel im III. Gesang des Messias: Der Seraph Selia, »[e]iner der Viere, die gleich nach dem hohen Uriel herrschen« (III, 74), wird von den Seelen der Väter auf die Erde geschickt, die von der Sonne aus den Messias nicht mehr sehen können, da es Nacht geworden ist (III, 76–92). Selia bittet die anwesenden zwölf seraphischen Hüter darum, ihm zu erklären, wer die zwölf Männer dort am Ölberg seien: »Sagt mir, himmlische Freunde, wer sind die Männer am Hügel, j Die da wandeln, und wie verlassen, und traurig herumgehn?« (III, 105f.) Er erhält diese Antwort: »Das sind die heiligen Zwölfe, j Selia, die zu Vertrauten der Mittler Gottes sich auskohr.« (III, 111f.) Selia bringt folgende Bitte vor: »Seraphim, nennet sie mir. Ich will die Namen auch hören, j Die schon lang’ in dem Buche des Lebens leuchtender glänzen.« (III, 149f.) Nacheinander treten die einzelnen Schutzengel auf: Orion (III, 156–183), Sipha (III, 189–201), Libaniel (III, 202–211), Adona (III, 221–243), Megiddon (III, 244– 256), Adoram (III, 257–262), Umbiel (III, 263–272), Bildai (III, 273–287), Siona (III, 288–298), Elim (III, 299–339), Ithuriel (III, 388–465) und Salem (III, 466– 524). Diese charakterisieren ihre menschlichen Schützlinge, denen sie zugeteilt sind. Es sind folgende Jünger Jesu: Simon Petrus, Andreas, Philippus, Jakobus, der Zebedäide, Simon, der Kananit, Jakobus, der Alphäide, Thomas, Matthäus, Bartholomäus, Lebbäus, Judas Ischariot und Johannes. Bei dieser epischen Szene handelt es sich zum einen um eine Art katalogartiger Aufzählung, wobei die Musenanrufung fehlt, da die Jünger und nicht die Seraphim beschrieben werden. Zum anderen erinnert diese Darstellung im III. Gesang von Klopstocks Bibelepos an die berühmte Teichoskopie bzw. Mauerschau im 3. Gesang der Ilias Homers. Helena steht hier auf der trojanischen Stadtmauer und nennt Priamos und den anderen Troerführern die Namen der griechischen Anführer, d. h., sie beschreibt Agamemnon, Odysseus, Aias und Idomeneus (3. Gesang, V. 146– 244). Klopstock übernahm die Namen einiger Engelfiguren aus dem Paradise Lost: Uriel ist in Miltons Epos ebenfalls der Engel der Sonne (Book 3, V. 622f., V. 648, V. 690), Raphael ist ein Erzengel (Book 5, V. 221–223, V. 247) und Gabriel der Hüter des Paradieses (Book 4, V. 549f.). Der Leser des Messias erfährt insbesondere von den Aufgaben, welche die »Thronen« erfüllen: Uriel, »der Engel der Sonne« (VIII, 369), gebietet auf Befehl Gottes dem Stern Adamida, sich vor die Sonne zu begeben, um die Finsternis auf Golgatha herbeizuführen (VIII, 369– 391). Er führt die »Seelen der künftigen Menschengeschlechte« (VIII, 379), der noch Ungeborenen, zur Erde, damit sie auf Golgatha den Versöhner sehen können (VIII, 428–450). Raphael bewacht die »unschuldige Seele« (II, 75) des Jüngers Johannes (II, 66–95). »Jesus gab dem geliebten Johannes zween heilige

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Wächter, j Raphael, einer vom Thron, der hohen Seraphim einer, j Und aus Gabriels Ordnung, der ward sein erster Beschützer.« (III, 468–470) Der zweite Schutzengel des Lieblingsjüngers Jesu ist Salem (III, 466–524). Wie die olympischen Götter in den Epen Homers nehmen auch die Engel in Klopstocks Bibelepos leidenschaftlichen Anteil am Schicksal ihrer Schutzbefohlenen, allerdings greifen sie nicht in das Handeln der Protagonisten ein, sondern beobachten das Geschehen auf der Erde lediglich. Die Götter der griechischen Mythologie sind einzelnen Menschen zugeordnet, wie etwa Athena dem Heros Odysseus. Diese Funktion übernehmen im christlichen Heldengedicht die Seraphim. Wichtige biblische Gestalten, wie Johannes, der Lieblingsjünger Jesu, der ihm seine Mutter Maria anvertraute (Joh. 19,26f.) und der von Klopstock mit dem Evangelisten Johannes gleichgesetzt wurde480, und Simon Petrus, der erste Vorsteher der christlichen Urgemeinde in Jerusalem, der in Rom gekreuzigt wurde, erhalten je zwei himmlische Wächter. Die Engel sind sympathetische Wesen, die über ihre eigenen und die Empfindungen anderer reflektieren. Demgemäß bekennt Raphael gegenüber dem Messias: »Das Leiden der Geister, j Die du zur Ewigkeit schufst, ist mir stets durch die Seele gedrungen.« (II, 93f.) Salem bespricht sich mit Selith, dem Schutzengel Marias, über die weinende Mutter Jesu und den Jünger Johannes unter dem Kreuz (IX, 381–407). Er empfindet sowohl Mitleid als auch Bewunderung für die leidenden Menschen. Das Gespräch über ihre zwei trauernden menschlichen Schützlinge setzen die beiden Engel später fort (XII, 816–846). Salem und Selith können die seelischen Schmerzen von Johannes und Maria nachempfinden und leiden mit, auch wenn die Seraphim wissen, dass das Erlösungswerk »herrlich endigen wird« (XII, 822). Selith gesteht: […] Himmlischer Freund, der Schmerz, so der Mutter Seele zerreißet, Hat zu sehr mich umwölkt. Verzeih es, Salem, es war ja Christus Mutter, und an dem Kreuze sah ich sie leiden! Breitete doch wohlthätiger Schlummer sich über ihr Haupt aus; O so wollt’ ich die Seel’ ihr mit heiteren Träumen umschweben, Und wenn des wiederkehrenden Grams Anfall sie erschreckte, Diesen Jammer der schnellerwachenden durch die Erinnrung Ihrer Träume besänftigen. Doch die Ruhe vom Elend Kommt auf sie nicht! Ach der Erquickung, dem himmlischen Labsal Gottes wird, sie denket dem Tod’, entgegen sie wachen! (XII, 837–846)

Den Engeln ist es demnach möglich, ihren Schützlingen Trost zu spenden, indem sie ihnen im Schlaf schöne und lehrreiche Träume eingeben. Als Johannes einschlummert, schwebt Salem schnell herbei »und schon entflammte des Jüngers j Lautes Herz ein Traum mit neuem Lebensgefühle« (XII, 849f.) (XII, 847–874). 480 Vgl. HKA, Werke IV 6, S. 413 (Kommentierendes Namenregister).

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Johannes spürt nach der Auferstehung des Messias, dass »ein Leiter vom Himmel ihm fehlte« (XIX, 901), um einen Einblick in »des ewigen Heils Fortgang« (XIX, 892) erhalten zu können. »Voll des süßesten Mitleids stand bey dem betenden Salem; j Und der Unsterbliche sah, daß ein Schlummer von Gott auf den Jünger j Fiel. Bald hellte des eingeschlafenen Antlitz der Engel j Lächeln.« (XIX, 902–905) Begeistert ruft der erwachte Jünger Maria Folgendes entgegen: »O Mutter Christus, ich lernte j Weisheit, und künftiges Heil in diesem Schlummer voll Wonne.« (XIX, 908f.) Die göttliche Gabe, den Menschen Traumvisionen zu schicken, bleibt den Engeln offenbar auch nach ihrem Höllensturz erhalten. So berichtet der epische Erzähler : »Denn der Seraphim hohes Geheimniß, den Seelen der Menschen j Edle Gedanken, der Ewigkeit würdige große Gedanken j Einzugeben, war Satan, zu seiner größern Verdammniß, j Noch bekannt.« (III, 563–566) Der oberste Höllenfürst verführt die Menschen allerdings durch trügerische Träume zum Bösen. Satan gibt beispielsweise Judas Ischariot »einen verführenden Traum in sein offnes Gehirne« (III, 557), so dass der Jünger im »klopfende[n] Herz […] Begierden der Bosheit« (III, 558) empfindet und zum Verräter des Messias wird (vgl. Kap. 4.6). Daraufhin sucht Satan den Hohepriester Kaiphas auf, um über dessen »Herz voll Bosheit noch viel boshaftre Gedanken j Auszugießen, und ihn mit dunkeln Gesichten zu täuschen« (III, 682f.). Nach diesem Albtraum lässt Kaiphas das Synedrium einberufen, um den Tod Jesu zu beschließen (IV. Gesang). Ithuriel ist der Schutzengel des Jüngers Judas Ischariot (III, 388–465). Als dieser im Schlaf von Satan heimgesucht wird, versucht der Engel vergeblich, Judas aufzuwecken (III, 566–575). Nach Judas’ Verrat verkündet Ithuriel Jesus: »Ich verlasse den Sünder! j Bin sein Engel nicht mehr!« (IV, 1001f.) Der Schutzengel wendet sich von dem verdorbenen Sünder ab, von dem er einst hoffte, dass auch er ein christlicher Märtyrer sein würde (IV, 992–1044): »Kurz noch eines Heiligen Schutzgeist, wandl’ ich itzt einsam j Unter den Engeln, die traurend um mich verstummen.« (IV, 1041f.) Der Messias erklärt Ithuriel daraufhin zum zweiten Schutzengel des Jüngers Simon Petrus (IV, 1045–1049). Im VII. Gesang übergibt Ithuriel Judas dem Todesengel Obaddon (VII, 180–191). Er verkündet diesem: »Sieh, er geht zu dem Tode! Noch Einmal j Wollt’ ich ihn sehn, denn ich war sein Engel. Itzt lass’ ich den Sünder j Dir, und der Rache! Ich bin sein Hüter gewesen; doch nimm ihn, j Feyerlich übergeb’ ich dir, Todesengel, das Opfer!« (VII, 184–187) Die Engel fühlen sich ihren irdischen Schützlingen demzufolge eng verbunden und sagen sich von ihnen nur los, wenn sie sich von Satan verführen lassen. Bezeichnenderweise wird der Jünger Lebbäus nach seinem Tod »Elim« genannt, »[n]ach dem Namen des Engels, der auf der Erd’ ihn beschützte« (XVIII, 152) (vgl. XVIII, 147–152). Die Seraphim aus der Ordnung der Engel am Thron Gottes unterstehen unmittelbar dem Befehl des göttlichen Vaters und Sohns. Der Messias erwählt sich

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Gabriel zum Diener auf Erden (I, 178). Er prophezeit seinem Engel: »Du dienst mir am Thron einst j Meiner Herrlichkeit, und stehst auf der glänzenden Stufe, j Wo Eloa stand, an dem Allerheiligsten Gottes!« (IV, 1182–1184) Diese Weissagung erfüllt sich nach der Himmelfahrt Jesu Christi: »Gabriel hatte, j Keiner der Endlichen sonst, des Thrones unterste Stufe j Mit dem Messias betreten. Dort kniet’ er, beynah unsichtbar j Durch den herunterströmenden Glanz, und schaute zu Gott auf.« (XX, 1170–1173) Gabriel ist mit Eloa, dem Höchsten der Seraphim, befreundet (III, 485) und bespricht sich mit ihm über das Erlösungswerk und die Schöpfung der Welt (VI, 14–34, 489–516). »Eloa« ist im Alten Testament einer der hebräischen Namen Gottes.481 »Gott nennt ihn den Erwählten, der Himmel Eloa. Vor allen, j Die Gott schuf, ist er groß, ist der nächste dem Unerschaffnen.« (I, 291f.) Eloa ist der »Führer der Engel« (V, 138) und gewissermaßen das göttliche ›Sprachrohr‹, d. h., er spricht im Namen Jehovahs vor den versammelten Himmelsbewohnern (I, 408–466; V, 335–341). Er steht neben dem Thron Gottes (V, 1–56) und »versteht die Red’ in dem Antlitz Jehovah’s« (V, 327; vgl. I, 405f.), noch bevor dieser ein Wort gesagt hat. Im Auftrag Gottes beobachtet er den Messias auf Erden: »Auch kam Seraph Eloa, von himmlischen Wolken umflossen, j Zu der Erd’ herunter, und sah von Antlitz zu Antlitz j Gottes Erlöser, und zählte die menschenfreundlichen Thränen, j Alle Thränen, die Jesus weinte. Dann stieg er gen Himmel.« (III, 44–47) Eloa erklärt dem Erlöser : »Ich bin gewürdiget worden dir nachzuempfinden, j Was du empfindest; von ferne zu schaun des Versöhners Gedanken, j Die in der Stunde der bängsten Erniedrung der Göttliche denket.« (V, 768–770) Nach dem Tod und der Auferstehung Jesu Christi erhält er wie Gabriel eine Belohnung für seine Dienste: »Leuchtender strahlet’ Eloa, als sonst. Er war zu der Erde j Erstem Hüter erkohren, der fluchentlasteten Erde j Erstem Hüter. Sie hatte vernommen Worte des Segens!« (XIX, 1004–1006) Eloa wird zudem als ein kriegerischer Engel dargestellt. So fährt er mit dem göttlichen Flammenwagen durch den Himmel: Auf der anderen Seite des Sonnenweges erhub sich Auf den glänzenden Wagen Eloa, worauf er Elias Einst in den Himmel brachte, worauf er, Führer der Engel, Dothan, auf deinen Bergen entwölkt von Elisa gesehn ward. Seraph Eloa stand hoch auf dem Wagen. Ihm kam in das Antlitz Durch die Himmel entgegen ein tausendstimmiger Sturmwind. Da erklang’s um die goldenen Achsen, da flog ihm das Haupthaar Und das Gewand, wie Wolken, zurück. Mit der Ruhe der Stärke, Stand der Unsterbliche da! In der hochgehobenen Rechte Hielt er ein Wetter empor. Bey jedem erhabnen Gedanken Donnert’ er aus dem Wetter hervor. So folgt’ er Jehovah. (V, 136–146) 481 Vgl. ebd., S. 398.

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Als Satan und Adramelech triumphierend über dem Kreuz schweben, schlägt Eloa die Höllenfürsten in die Flucht (VIII, 115–156): Und in seiner Herrlichkeit hub sich Eloa vom Tempel Gegen die ewigen Sünder empor. Er ging in dem Glanze Dieses gefeyrtesten Tags vor allen Tagen der Feyer. Gottes Schrecken schwebten um ihn. Die leiseren Lüfte Wurden vor ihm zu Sturm, und rauschten! Des kommenden Gang war Eines Heers Gang, welchem die tragenden Felsen erzittern. Und der Unsterbliche tönt’, und glänzte daher! […] (VIII, 122–128)

Jehovah rüstete seinen auserwählten Seraph mit »siegende[r] Stärke« (VIII, 147) und mit Donner und Sturm als Waffen aus. Daher ist es auch Eloa, der den Messias zur Hölle begleitet, wo dieser die gefallenen Engel richtet (XVI, 572– 629). Im allgemeinen Weltgericht verkündet der Engel das Urteil über die bösen Könige: »Es hatte sich lang mit tödtendem Schrecken j Seraph Eloa gerüstet. Die Rache glüht’ in dem Aug’ ihm! j Sein gefürchtetes Buch hing durch die Himmel herunter, j Und er rollt’s aus einander ; da rauschet’ es Rauschen des Sturmes!« (XVIII, 792–795) Gabriel ist »des Mittlers heiliger Bothe« (I, 281), ein »Bothe des Friedens« (I, 418), der vom Gottessohn zu seinem Vater im Himmel ausgesandt wird, um das »Söhnungsgebet« (I, 348) des Erlösers am himmlischen Altar zu singen (I, 178– 187, 280–290, 312–348). Demzufolge entspricht er gewissermaßen den griechisch-antiken Götterboten Hermes und Iris. Verfolgt der Leser die eilenden Flüge Gabriels durch die Himmelsphären, das »Sonnenmeer« (I, 285), die anderen Welten und das Erdinnere, so erhält er einen Überblick über die Raumgestaltung im Epos, d. h., ihm eröffnet sich der Raum des unermesslichen kopernikanischen Kosmos, da Klopstock in seinem Messias das christliche mit dem ›modernen‹ naturwissenschaftlichen Weltbild des 18. Jahrhunderts verschmilzt.482 Die Engel zeichnen sich durch eine einzigartige Schnelligkeit aus, mit der sie die drei Weltreiche (Himmel, Erde, Hölle) durchqueren. Von Gabriel heißt es: »Rauschend, wie Pfeile vom silbernen Bogen, zum Siege beflügelt, j Flieget er neben Gestirnen vorbey, und eilt zu der Sonne.« (I, 712f.) Er kommt »mit eilendem Fluge zur Erde« (I, 526) und lässt sich »mit silbertönendem Flug’« (VIII, 85) auf der Sonne nieder. »Blitzeil hatte der letzte Schwung Eloa’s« (VIII, 132). »Zween Winke, so schwebt er j Über Golgatha.« (VIII, 21f.) Gleichermaßen besitzt Gabriel einen außergewöhnlichen Gehörsinn:

482 Vgl. hierzu: Hans Wöhlert: Das Weltbild in Klopstocks Messias. Halle a. d. Saale 1915. (Bausteine zur Geschichte der neueren deutschen Literatur ; XIV.) – Karl Richter : Die kopernikanische Wende in der Lyrik von Brockes bis Klopstock. In: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 12 (1968). S. 132–169.

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[…] Der himmlische Seraph Trat herzu, und neigte sein Ohr zu dem Mittler herunter, Hielt in dem ernsthinschauenden Auge, voll tiefer Ehrfurcht, Eine menschliche Thräne zurück, stand denkend, und hörte Nach dem Messias herab; und mit dem Ohre, mit dem er, Tausendmal tausend Meilen entfernt, den Ewigen wandeln Hört, und am Himmel herunter die Orionen in Jubel, Hört’ er das langsamwallende Blut des betenden Mittlers Bang von Ader fließen zu Ader. Lauter vernahm er, In den Tiefen des göttlichen Herzens, betende Seufzer, Unaussprechliche, himmlische, sie dem Ohre des Vaters Mehr, als aller Geschöpfe Gesang, die ewig ihn singen, Herrlicher, als die Stimme, die schuf; so erhaben ihm selber Gott Jehovah erklingt, wenn er Jehovah sich nennet! Also vernahm des Messias geheimes Leiden der Seraph. (V, 569–583)

Wie alle empfindsamen Figuren im Messias vergießen auch die »Thronen« Tränen: Raphael »drang eine Thräne der Wehmuth j Zitternd ins Auge« (II, 92f.) und »Gabriel weinet’, und fühlte sie gern die himmlische Thräne« (XX, 959). Die Engelfiguren stehen auf der Stufenleiter der Geschöpfe über den menschlichen Wesen und unter dem Gottessohn. Demgemäß erklärt der epische Sänger : »Den Engeln ist Schöne gegeben, j Die auf der Geister Stufen, der Menschen Seelen die nächsten, j Stehen; und denen Herrlichkeit, deren erhabnere Stufen j Throne sind. Doch gegen die Herrlichkeit deß, der zur Rechte j Seines Vaters stieg, ist ihre Herrlichkeit Schatten.« (XII, 495–499) Die Seraphim und Cherubim im Bibelepos Klopstocks sind Lichtgestalten. Sie bestehen aus Glanz, Stimme, Bewegung und Ton. Eloa wird folgendermaßen beschrieben: Schön ist Ein Gedanke des gottgewählten Eloa, Wie die ganze Seele des Menschen, geschaffen der Gottheit, Wenn sie, ihrer Unsterblichkeit werth, gedankenvoll nachsinnt. Sein umschauender Blick ist schöner, als Frühlingsmorgen, Lieblicher, als die Gestirne, da sie vor dem Antlitz des Schöpfers Jugendlichschön, und voll Licht, mit ihren Tagen, vorbeyflohn. Gott erschuf ihn zuerst. Aus einer Morgenröthe, Schuf er ihm einen ätherischen Leib. Ein Himmel voll Wolken Floß um ihn, da er ward. Gott hub ihn mit offenen Armen Aus den Wolken, und sagt’ ihm segnend: Da bin ich, Erschaffner! Und auf Einmal sahe vor sich Eloa den Schöpfer, Schaut’ in Entzückungen an, und stand, und schaute begeistert Wieder an, und sank, verloren in Gottes Anblick. Endlich redet’ er, sagte dem Ewigen alle Gedanken, Die er hatte, die neuen, erhabnen Empfindungen alle, Die das große Herz ihm durchwallten. Es werden die Welten Alle vergehn, und neu aus ihrem Staube sich schwingen,

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Ganze Jahrhunderte werden dann erst in die Ewigkeit eingehn, Eh der erhabenste Christ die großen Empfindungen fühlet. (I, 293–311)

Eine derartige poetische Darstellung übersteigt gewissermaßen die menschliche Vorstellungskraft. Salem, der Seraph aus der Ordnung der Engel der Erde, wird gleichermaßen beschrieben: »Und ein jugendlich Lächeln umfloß des Unsterblichen Stirne; j Da, wie die Pforten des lieblichen Morgens im Frühling sich öffnen, j Sich sein heiliger Mund voll süßer Beredsamkeit aufthat, j Und ihm von der Lippe der Hauch sanfttönend herabfloß.« (III, 475–478) Die Intention des Dichters war es, zum einen die ›Einbildungskraft‹ seiner Leser zu aktivieren und zum anderen die Erhabenheit der himmlischen »Geistergeschöpfe« (I, 274) zum Ausdruck zu bringen. Die Engel sind gefühlsbetonte Geister, die sich durch eine strahlende »Schönheit« (I, 313) auszeichnen und die als »erhabene[.] Wesen, seraphische Schaaren« (I, 457) apostrophiert werden. »Eloa’s j Lichtausgießende Morgenröthen« (XVI, 23f.) und »des himmlischen Raphael Glänzen« (IV, 1174) kennzeichnen die Engel als »Kinder des Lichts« (II, 765). Je nach Gemütszustand nimmt das Strahlen der Engel ab oder zu. Das freudige Ereignis der Auferstehung des Messias bringt Eloa gewissermaßen zum Glühen: »Mit glühender Stirne, j Schimmerndem Aug’, entzückt von jeder Wonne des Himmels, j Eine Flamme des Herrn, den Sonnen gleich, da sie Gottes j Schaffender Hand entzitterten, über Erden zu herrschen, j Strahlt’ Eloa hinab in der Auferstandnen Versammlung« (XIII, 558–562). In Phasen der Trauer erlischt hingegen das Leuchten der Engel: Im XII. Gesang des Messias liegt Maria von Bethanien, die Schwester des Lazarus, im Sterben. Ihr Schutzengel Chebar (XII, 492–518, 632– 661) steht »[n]eben den Füßen der sterbenden, mit verlöschender Schöne« (XII, 494). Folglich lässt ihr baldiger Tod den sonst strahlenden »himmlische[n] Jüngling« (XII, 495) erblassen: Chebar stand zu den Füßen der Bethanaitin, und fühlte Seiner Schönheit glühendes Licht in Dämmrung erlöschen. Seinem Antlitz entfloh der röthliche Morgen, die Strahlen Seinen Augen. Ihm sanken herab, wie Schatten, die Flügel, Ohne zu tönen, und ohne zu duften des ewigen Frühlings Süße Gerüche, nicht mehr mit des Himmels Bläue beströmet, Triefend nicht mehr von goldenen Tropfen. Er nahm von dem Haupte Seinen vordem weitglänzenden Kranz, und hielt ihn vor Wehmuth Kaum in der sinkenden Hand. Er wußt’ es, er durft’ ihr nicht helfen, Eher nicht, bis bey ihr, wenn ihr Herz in dem Tode nun bräche, Lazarus beten, und weinen der Jünger Elims, und Martha, Und Nathanael weinen würden. […] (XII, 507–518)

Diese Hexameterverse veranschaulichen, wie Klopstock in der Beschreibung der Engel im Messias versucht, die unterschiedlichsten Sinnesbereiche seiner Leser bzw. Zuhörer anzusprechen. Neben der Lichtmetaphorik (»Licht« XII, 508;

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»Dämmrung« XII, 508; »Strahlen« XII, 509; »Schatten« XII, 510) wird mit den roten Farbtönen (»glühendes Licht« XII, 508; »der röthliche Morgen« XII, 509) ein Gefühl von Wärme assoziiert. Ebenso wird durch die Naturmetaphorik (»ewige[r] Frühling[.]« XII, 511; »des Himmels Bläue« XII, 512; »goldene[.] Tropfen« XII, 513) eine idyllisch-heitere Atmosphäre geschaffen. Die Verben »tönen«, »duften« (XII, 511) und die Bezeichnung »[s]üße Gerüche« (XII, 512) zielen auf die akustische und olfaktorische Sinneswahrnehmung der Rezipienten. Zur Darstellung gehören aber auch optische Sinneseindrücke, wie der »Kranz« auf »dem Haupte« (XII, 513f.) des geflügelten Schutzengels und seine »sinkende[.] Hand« (XII, 515). An einigen Stellen im biblischen Heldengedicht entspricht das Erscheinungsbild der Engel dem Volksglauben, d. h., es sind Wesen mit Flügeln und Engelslocken. Ersichtlich wird dies etwa, als Abbadona »die Gestalt der Engel des Lichts« annimmt (IX, 486): Seine Jünglingsgestalt, worin er im Thale des Friedens Schimmerte! Aber sie ward ein fernnachahmendes Bild nur! Zwar floß glänzendes Haar auf seine Schultern hernieder, Unter den glänzenden Locken erklangen ihm goldene Flügel, Und die Klarheit des werdenden Tages deckte des Seraphs Leuchtendes Antlitz […]. (IX, 487–492)

Und vom Engel Jesu heißt es: »Gabriel strahlte schwebend voran; die fliegenden Locken j Säuselten ihm, und er sang in die Lispel der goldenen Harfe« (XX, 3f.). Bei der Darstellung der Boten Gottes hält sich Klopstock aber auch an den Wortlaut des Neuen Testaments: Gabriel erscheint den Frauen, die das Grab des Auferstandenen aufsuchen, »als Jüngling« (XIV, 28), um sie nicht mit seiner »Herrlichkeit« (XIV, 30) zu erschrecken (XIV, 25–57) (vgl. Mt. 28,1–8). »Seine Gestalt war dem Blitze j Gleich, dem Schnee das Gewand.« (XIV, 40f.) (vgl. Mt. 28,3) Eloa und Abdiel hingegen treten am offenen Grab im »Strahlengewande« (XIV, 50) auf. Ebenso erscheinen Eloa und Salem den Jüngern auf dem Ölberg als »[z]ween Männer in weißem Gewande« (XIX, 1064) (vgl. Apg. 1,10). Die himmlischen Heerscharen singen und musizieren zum Lobpreis und Vergnügen Gottes. Die »Lieder der göttlichen Harfenspieler« (I, 237), die »Gesänge des Himmels« (I, 241) und die »Harmonieen der hohen Lieder Eloa’s« (III, 137) ertönen in den Himmelssphären. Eloa singt »vor Gott« und spielt auf seiner »tönenden Harfe« (IV, 560f.). Er erhält von Jehovah den Befehl, dem leidenden Messias ein »Triumphlied« (V, 726) zu singen (V, 720–808). Gabriel spielt auf seiner »goldnen Posaune« (XX, 1166) und »Eloa’s Donnerposaune« (XII, 171; vgl. V, 333) erschallt im Reich Gottes. Manchmal wird die Himmelsmusik auch auf Erden wahrgenommen: Als Chebar »den siegenden Tod in der sterbenden [Maria von Bethanien] wüthen« sieht (XII, 632), erbebt er »vor Wonne so laut,

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daß lispelndes Säuseln, j Wie aus tiefer Fern, von seinen Flügeln ihm wehte« (XII, 633f.). Er entlockt seiner »sanfterschütternden Harfe j Unaussprechliche Töne« (XII, 642f.). »Von Gottes höherem Frieden j Sang ein Laut dem anderen Laute, der leiser es nachsang.« (XII, 643f.) Die sterbende Maria von Bethanien glaubt, himmlische Laute zu hören. Nach ihrem Tod bringt der Schutzengel Chebar »die schöne Seele« der Verstorbenen in die »erhabne Versammlung der Auferstandnen« (XIII, 367f.). Einen Gegenpol zu den hellen und empfindsamen Engeln bilden im Messias die Todesengel, die schreckenerregende Nachtgestalten sind und vom Richtergott ausgesandt werden. Über Judas »rauscht’ ein Todesengel mit nächtlichem Flügel« (VI, 77), als er Jesus mit einem Kuss verrät. Uriel charakterisiert »den ersten der Todesengel« (X, 625) inmitten der anderen Engel dergestalt: Ach, noch nie hat mit diesem Entsetzen Gott ihn gerüstet! Seit der Erschaffung ist er noch nie so furchtbar gewesen! Gott! Weltrichter! du ewiger Richter! wer bist du, wer bist du, Wenn du Gericht hältst! Flammen des Herrn gehn weit vor dem Bothen Seines Gerichts her. Schwingt er die schlagenden Flügel; so rauschen Sie, wie Wetter. Vor ihm entflieht die Stille der Himmel. Träfe sein flammendes Schwert auf der Welten eine; so würde Schnell der entzündeten Staub in dem Unermeßlichen schwimmen. Fürchterlich ist sein Blick, viel fürchterlicher, als damals, Da er über die Erde die Flut des ersten Gerichts goß, Und in den Oceanen der himmlischen Wasser einherging, Tödtend, ein schneller Verderber! Ihr werdet ihn sehn; und wenn ihr Ihn nun seht, wird ein Graun vom Unendlichen über euch kommen, Wie es über mich kam! Was mich am mächtigsten schreckte, War das trübe, das ernste, sein unaussprechliches Trauren, Das ihm zugleich sein Angesicht deckt! […] (X, 626–641)

Zwei anonyme Todesengel umschweben das Kreuz (VIII, 530–561) auf Golgatha: »Ihr Blick war Flamme! Verderben ihr Antlitz! j Nacht ihr Gewand!« (VIII, 532f.) »Sie hatte vom Thron der Richter gesendet.« (VIII, 534) Die furchterregenden Gestalten werden folgendermaßen beschrieben: […] Da die Todesengel am Hügel Standen, und nun von Antlitz zu Antlitz den Sterbenden sahen, Wandten sie, der zu der Rechten, und der zu der Linken erhoben, Jeder den tönenden Flug, und ernst, und todweissagend Flogen sie siebenmal so um das Kreuz. Zween Flügel bedeckten Ihren Fuß, zween bebende Flügel das Antlitz, mit zweenen Flogen sie. Von diesen, indem sie sich breiteten, rauschte Todeston. So ertönts dem Menschenfreunde vom Schlachtfeld, Wenn, zu Tausenden schon, in ihrem Blut die Erschlagnen Liegen! Er flieht gewendet, indem verröchelt noch einer,

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Dann noch einer, und nun der einsame Letzte sein Leben. Schrecken Gottes lagen auf ihren Flügeln verbreitet, Schrecken Gottes rauschten herab, da die furchtbaren flogen. Und sie flogen das siebentemal. Der Sterbende richtet Müde sein Haupt auf, blickt den Todesengeln ins Antlitz, Blickt gen Himmel, dann ruft mit unhörbarer Stimm’ aus der Tiefe Seine Seele: Laß ab den Wundenvollen zu schrecken! Ihrer Flügel Schlag, und diesen Ton des Entsetzens Kenn’ ich! laß ab, Weltrichter! Er rufts, und blutet. […] (VIII, 540–558)

Klopstock orientiert sich bei dieser Darstellung der Todesengel (VIII, 544–546) am Bibeltext: In einer Vision des Propheten Jesaja umschweben sechsflügelige Seraphim den Thron Gottes: mit zwei Flügeln verhüllen sie ihr Angesicht, mit zwei Flügeln bedecken sie ihre Füße und mit zwei Flügeln fliegen sie (Jes. 6,2). Entscheidend sind hier zudem das akustische Moment (der »tönende[.] Flug« VIII, 543; das Rauschen der Flügel VIII, 546, 552) und die Verknüpfung mit Vorstellungen des tödlichen Krieges im Gleichnis (VIII, 547–550). Eine Schreckgestalt, die Angst und Entsetzen – auch unter den Seraphim und Cherubim – hervorruft, ist der Todesengel Ephod Obaddon, »der fünfte Verderber am Thron des Richters« (XIII, 965). Er ist ein »Bothe der Rache« (XIII, 487) und schwingt ein »[b]litzewerfende[s]« (IX, 692) Flammenschwert (vgl. XIII, 450–545). Der »Todesengel Obaddon« (VI, 433) ist »Philo’s Engel« (VI, 434; XIII, 965) (vgl. VI, 294–322, 433–453; XIII, 964–1003) und Judas’ Engel (vgl. VII, 180–245; IX, 649–768). Als Philo einen gotteslästerlichen Fluch ausstößt, droht Obaddon dem Sünder zornig mit seinem »flammende[n] Schwert« (VI, 303) und schwört ihm »den furchtbarsten Tod« (VI, 307): […] Vom hohen treffenden Auge Strömet’ er Rache. Sein Haupthaar sank in Locken der Nacht gleich Auf die Schultern, es stand sein Fuß, wie ein ruhender Fels da! Aber noch schlug der Verderber ihn nicht. Er ließ nur die Stimme Seiner Schrecken, ließ den Todeston um sich rauschen. (VI, 316–320)

Beim erneuten Auftreten des Todesengels wiederholen sich die ›formelhaften‹ Motive, mit denen er vom epischen Erzähler beschrieben wird: »Von dem hohen treffenden Auge j Strömet’ er Rache, das Haar fiel ihm in Locken der Nacht gleich j Auf die Schulter ; sein Fuß stand, wie ein ruhender Fels, da. j Und der blickt’ auf Philo herab; doch ließ er nicht rauschen j Seiner Schrecken Stimme, nicht ihre Todestöne.« (XIII, 966–970) Obaddon strömt »siebenfältige Schrecken« (XIII, 974) aus, die sich auf Philo stürzen, worauf dieser Selbstmord begeht. Der »richtende[.] Engel[.]« (XIII, 997) stellt sich der Seele des Selbstmörders und Widersachers Jesu folgendermaßen vor, bevor er sie in die Hölle bringt: »Ephod Obaddon, so heißt der siebenfältigen Rache j Namen, und mein Namen! Ich bin der Verderber Einer!« (XIII, 999f.)

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Der in der Hierarchie der Engel am höchsten stehende Seraph Eloa bezeichnet die Seraphim und Cherubim als »unüberzählbare[.] Myriaden« (V, 11) und bekennt: »Sollt’ ich euch überzählen, ich müßte Jahrhunderte zählen« (V, 13). In der Hexameterdichtung wird allerdings eine ganze Reihe von Engeln namentlich genannt, um eine ›christliche Götterlehre‹ einzuführen. Klopstock versucht in der poetischen Darstellung der »seraphische[n] Schaaren« (I, 457) konsequent Anthropomorphismen zu vermeiden. Dies trifft auch auf die Beschreibung des christlichen Gottes zu: Die »Stimme des Herrn« (I, 360) spricht zu den Menschen und Himmelsbewohnern, sein »schauendes Antlitz« (I, 141) und sein »freudiger Blick« (I, 240) richten sich auf seine Geschöpfe. Sein »Ohr« (I, 241) wird durch die seraphischen Gesänge unterhalten, sein »Haupt« breitet sich »durch die Himmel« und sein »Arm« »durch die Unendlichkeit« aus (I, 142f.). Sein Angesicht zeigt »Züge des unaussprechlichen Lächelns« (III, 36), er vergießt eine »Thräne« (III, 38) und sein »tödtendes Auge« sendet »[l]auter Zorn und Gericht! Zorn ohn’ Erbarmen« (V, 35f.). Hier gilt im Messias das ›pars pro toto-Prinzip‹, d. h., Gott tritt nie als menschlich-vorstellbare Gesamterscheinung auf.483 Das Schweigen scheint die einzig angemessene Form zu sein, über Gott zu sprechen.484 Demgemäß erklärt auch der epische Erzähler : »Und der Unaussprechliche wird Jehovah geheißen!« (I, 251) In der bisherigen Forschungsliteratur wurde Klopstocks Messias inadäquat als »Epos ohne Mythologie« bezeichnet485 und dem Verfasser des Bibelepos eine »Entmythologisierungstendenz«486 nachgewiesen. Sind die griechisch-antiken Götter in den Epen Homers »weltimmanente, anthropomorphe mythische Wesen mit jeweils ausgeprägter Persönlichkeit und distinktivem Charakter«487, so vermeidet der Messias-Dichter jegliche Vermenschlichung seiner Gestalten der christlichen Mythologie: »Er will eine Bildsprache schaffen, die nicht aus der Ähnlichkeit der Geisterwelt mit der Menschenwelt, sondern aus der Unähnlichkeit beider Welten lebt.«488 Die poetische Darstellung der himmlischen und höllischen Geister wird als unsinnlich, d. h. »mit positiven menschlichen Vorstellungen nicht greifbar«489, und als unanschaulich angesehen. Das negierende Präfix »un-« ist tatsächlich im Messias das sprachliche Kennzeichen der fiktiven Figuren der Geisterwelt: Ein Seraph erlebt beispielsweise »unaussprechliche 483 Vgl. Kaiser : Klopstock. Religion und Dichtung, S. 208. 484 Vgl. hierzu folgende Abhandlung des Messias-Dichters: [Friedrich Gottlieb Klopstock:] [Von der besten Art über Gott zu denken.] In: Der nordische Aufseher. Hrsg. v. Johann Andreas Cramer. Erster Band. 25. Stück (13. Mai 1758). Kopenhagen / Leipzig 1758. S. 213220. 485 Kaiser : Klopstock. Religion und Dichtung, S. 204–215 (Kap. IV 1: Epos ohne Mythologie). 486 Ebd., S. 215. 487 Rengakos / Zimmermann (Hrsg.): Homer-Handbuch, S. 278. 488 Kaiser : Klopstock. Religion und Dichtung, S. 207. 489 Ebd., S. 209.

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Freuden« (I, 173), die Himmelsbewohner vollbringen gemeinsam »unnachahmbarere Thaten« (I, 318), singen »unaufhörlich« ein »feyrendes Halleluja« (I, 277f.) und vergießen klagend »Thränen, j Menschen unweinbar« (III, 315f.). Im göttlichen Himmel herrscht »unsterbliche[r] Frühling« (II, 382), während die satanische Hölle »unbildsam, und öde« (II, 386) erscheint und der dortige »Pöbel der Geister« »unzählbar« (II, 403f.) und zur »unsterblichen Schande verurtheilt« (II, 407) ist. »Der häufigste Sammelbegriff Klopstocks für die Engel und außermenschlichen Geister ist die ›Unsterblichen‹.«490 Die Intention des Messias-Dichters war es definitiv, die »Andersartigkeit und Unbegreiflichkeit Gottes« und seiner Geschöpfe, der Seraphim, Cherubim und Höllenbewohner, zum Ausdruck zu bringen.491 Zum traditionellen Götterapparat eines Epos gehört auch eine inspirierende Gottheit: die weibliche Musenfigur. Klopstocks Inspirationsquelle der »heiligen Poesie« heißt in den Ausgaben des Messias von 1748 bis 1751 »Muse von Tabor« (I, 244)492, »heilige[.] Muse« (I, 578)493, »Göttin« (II, 298)494, »unsterbliche Muse« (III, 12)495 oder einfach nur »Muse« (V, 347)496. Ab dem Jahre 1755 bezeichnet er seine Muse als »Sionitinn« (I, 244; II, 298; V, 347)497 oder als »Sängerinn Sions« (I, 578; III, 12)498. Die heidnisch-antike Muse wurde demnach in Klopstocks Bibelepos christianisiert. Im Neuen Testament ist »Tochter Zion« die Bezeichnung für die Stadt Jerusalem und der »Berg Zion [Sion]« steht in der biblischen Exegese für das »himmlische Jerusalem« (Mt. 21,5; Offb. 14,1).499 Klopstock folgte in der Anrufung einer christianisierten überirdischen Vermittlungsinstanz Milton. Das Paradise Lost beginnt mit einer ›invocatio‹ an die »himmlische Muse«: 490 491 492 493 494 495 496 497 498

Ebd. Ebd., S. 213. HKA, Werke IV 4, S. 49. Ebd., S. 103. Ebd., S. 191. Ebd., S. 307. Ebd., S. 690. Ebd., S. 49, S. 191, S. 690. Ebd., S. 103, S. 307. Mat&as Mart&nez bemerkt, dass es sich bei der »Sionitin« »nicht um eine biblisch vorgegebene Beglaubigungsinstanz« handele. Die »einzig mögliche alttestamentarische Referenzstelle (Spr. Sal. 8)« sei »zu undeutlich, als daß sie die christianisierte Musenfigur des Messias-Sängers biblisch rechtfertigen könnte«. Die »Einsetzung einer fiktiven Figur als Legitimationsinstanz religiös inspirierter Rede« sei jedoch »erstaunlich«. (Mat&as Mart&nez: Gelungene und mißlungene Kanonisierung: Dantes Commedia und Klopstocks Messias. In: Kanon, Macht, Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen. DFG-Symposion 1996. Hrsg. v. Renate von Heydebrand. Stuttgart / Weimar 1998. S. 215–229, hier S. 223f.) 499 HKA, Werke IV 6, S. 439.

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Klopstocks Wettstreit mit der epischen Tradition

Du, welche auf dem geheimen Gipfel Horebs oder Sinai den Schäfer unterwiesen, der den erwehlten Saamen zuerst gelehrt hat, wie der Himmel und die Erde im Anfange aus dem Chaos entsprungen seyn, steige auf mein Bitten von da, oder, wenn dir der Berg Sion und die Bache Siloah, die so nahe an dem göttlichen Orackel floß, angenehmer sind, von denselben herunter, meinen kühnen Gesang anzuleiten, der mit einem mehr als mittelmässigen Fluge über den Aonischen Berg hinaus fliegen will, indem er Sachen auf die Spur gehet, die niemand bisdahin weder in Prosa noch in Reimen unternommen hat zu entdecken.500

Miltons Muse, die den epischen Sänger begeistern soll, ist zum einen die Muse der hebräischen Dichter und Propheten wie etwa Moses, der auf dem Berg Horeb oder Sinai Schafe weidete und von Gott die Zehn Gebote erhielt, und zum anderen die Inspirationsquelle des Dichters der biblischen Psalmen, David, der auf dem Berg Sion sang.501 Lessing kritisierte im 19. Literaturbrief einige Veränderungen Klopstocks in der neuen Ausgabe des Messias von 1755. Der Dichter des Bibelepos habe aus »frommen Bedenklichkeiten« manche Verse »verstümmelt« und sich so dem »Geist der Orthodoxie« gebeugt:502 Auch sogar alle die Wörter, die einen heidnischen Verstand haben können, die aber der Dichter, meinem Bedünken nach, sattsam geheiliget hatte, sind verwiesen worden; was vorher Schicksal hieß, heißt nun Vorsicht, und die Muse hat sich überall in eine Sängerin Sions verwandelt.503

Tatsächlich vermied es Klopstock, die Quelle der dichterischen Inspiration mit dem heidnisch-antiken Begriff der olympischen »Muse« zu bezeichnen, der in Hesiods Theogonie (V. 1–115) seinen Ursprung hatte.504 Auch Wörter wie »Olymp«505, das auf den griechischen Götterhimmel anspielte, oder »Schick500 [Bodmer :] Johann Miltons Episches Gedichte von dem Verlohrnen Paradiese (1742), S. 1f. 501 Vgl. zur Musenfigur in Miltons Paradise Lost: Philip Edward Phillips: John Milton’s Epic Invocations. Converting the Muse. New York 2000. (Renaissance and Baroque. Studies and Texts; 26.) Vgl. auch: Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 250. 502 Gotthold Ephraim Lessing: Neunzehnter Brief. [In: Briefe, die neueste Literatur betreffend. Erster Theil. 1759.] In: [Ders.:] Werke und Briefe. Bd. 4, S. 506–513, hier S. 511. 503 Ebd., S. 512. 504 Vgl. hierzu: Eike Barmeyer : Die Musen. Ein Beitrag zur Inspirationstheorie. München 1968. – Raoul Schrott: Die Musen. Fragmente einer Sprache der Dichtung. München 1997. – Jürgen Jacobs: Das Verstummen der Muse. Zur Geschichte der epischen Dichtungsgattungen im XVIII. Jahrhundert. In: arcadia. Zeitschrift für vergleichende Literaturwissenschaft 10 (1975). S. 129–146. – Curtius: Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 235–252 (Kap. 13: Die Musen). 505 In der Erstausgabe des Messias von 1748 lautete I, 709 noch derart: »Auf die Gipfel von ihren Olympen herunterwallen«. In den Fassungen von 1751 und 1755 wurde der Plural von »Olymp« ersetzt durch »Gebirge«. In der Endfassung von 1799/1800 heißt es demnach: »Auf die Gipfel ihrer Gebirge herunterwallen« (I, 709). (HKA, Werke IV 4, S. 128.) Ebenso lautet III, 674 in den Fassungen von 1748 bis 1755 noch folgendermaßen: »Also sieht ein

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sal«506, das an das lateinisch-römische ›fatum‹ erinnerte und auf die göttliche Vorherbestimmung verwies, ersetzte Klopstock in den Ausgaben von 1755, 1780 und 1799/1800. Beispielsweise wurde die Formulierung in III, 552 »hoch vom trüben Olympus« (1748, 1751) geändert in »hoch aus der Donnerwolke« (1780, 1799).507 Ebenso substituierte der Dichter in III, 653 das adjektivische Beiwort in »ein olympischer Berg« (1748, 1751) durch ein Präsenspartizip: »ein schwellender Berg« (1755), »ein werdender Berg« (1780, 1799).508 Heißt es in der Fassung des Messias von 1751 noch in IV, 231, dass »der Olympus donnert«, so lautet die Formulierung später, dass »der Donner des Herrn ruft« (1780, 1799).509 Oder Klopstock ersetzte die mit dem Sitz der heidnisch-antiken Götter assoziierte Bezeichnung »Olympus« (IV, 281) einfach durch den neutralen Begriff »Himmel«.510 Aus den »Tafeln des Schicksals« in III, 241 in den Fassungen des Messias von 1748 und 1751 wurden in der neuen Ausgabe von 1755 »Tafeln der Vorsicht«.511 In der Erstausgabe des Messias von 1748 wendet sich der epische Sänger emphatisch im I. Gesang an den Seraph Eloa: O du dieser verherrlichten Erden erwählter Beschützer, Seraph Eloa, verzeih dieß deinem zukünftigen Freunde, Wenn er deinen seit Edens Erschaffung verborgenen Wohnplatz, Von der heiligen Muse gelehrt, den Sterblichen zeiget. Hat er sich jemals, voll einsamer Wollust, in tiefe Gedanken Und in den hellen Bezirk der stillen Entzückung verlohren; Hat mit Gedanken der Geister sich sein Gedanke vereinet, Und die enthüllete Seele die Rede der Götter vernommen; O so hör ihn, Eloa, wenn er, wie die himmlische Jugend, Kühn und erhaben, nicht modernde Trümmern der Vorwelt besinget, Sondern den Bürgern der göttlichen Erde dein Heiligthum aufthut.512

Die Apostrophe wirkt durch die Begriffe »heilige[.] Muse«, »Rede der Götter« und »modernde Trümmern der Vorwelt« noch sehr antikisierend. Zudem verweist Klopstock in den letzten drei Versen auf sein ›aemulatio‹-Konzept: Der Messias-Dichter will »nicht modernde Trümmern der Vorwelt« besingen, d. h. heidnisch-antike Stoffe in erzählender Form darstellen, da diese letztlich der

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gefürchteter Fels vom hohen Olympus«. In den Gesamtausgaben des Messias von 1780 und 1799/1800 wurde der Vers geändert in: »Also sieht ein gefürchteter Fels aus der Wolke«. (Ebd., S. 403.) Aus dem Wort »Schicksal« (1748, 1751) in I, 376 wurde zunächst »Vorsicht« (1755) und später »Vorsehung« (1799). (Ebd., S. 70.) Ebd., S. 385. Ebd., S. 400. Ebd., S. 458. Ebd., S. 466. Ebd., S. 340. In den Gesamtausgaben des Messias von 1780 und 1799 lautet die entsprechende Formulierung »der Vorsicht Tafeln« (III, 241). (Ebd.) Klopstock: DM 1748, S. 30 (I, 566–576).

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Vergessenheit anheimfallen werden, sondern sein überbietendes Vorhaben ist es, »[k]ühn und erhaben« den neutestamentlichen Stoff in der Form des Epos umzusetzen. Die veränderte Apostrophe an Eloa lautet in der Endfassung des Bibelepos von 1799/1800 folgendermaßen: O du dieser einst verherrlichten Erde Beschützer, Seraph Eloa, verzeih es deinem künftigen Freunde, Wenn er deine Wohnung seit Edens Schöpfung verborgen, Von der Sängerin Sions gelehrt, den Sterblichen zeiget. Hat er in tiefe Gedanken sich je, voll einsamer Wollust, Und in die hellen Kreise der stillen Entzückung verloren; Hat mit Gedanken der Geister sich sein Gedanke vereinigt, Und die enthülltere Seele der Himmlischen Rede vernommen: O so hör’ ihn, Eloa, wenn er, wie die Jugend des Himmels, Kühn und erhaben, nicht singt verschwundene Größe des Menschen, Sondern des Todes Geweihte, der Auferstehung Geweihte Zu der Versammlung der Himmlischen führt, zu dem Rathe der Wächter. (I, 575–586)

Die entsprechenden antikisierenden Bezeichnungen wurden gewissermaßen christianisiert: Aus der »heiligen Muse« wurde die »Sängerin Sions«, aus der »Rede der Götter« »der Himmlischen Rede« und aus den »modernde[n] Trümmern der Vorwelt«, die an verfallene antike Ruinen erinnern, das profane Thema der »verschwundene[n] Größe des Menschen«, das überboten wird durch die ›heilige Materie‹ über den Tod und die Auferstehung des Gottessohnes. Der Messias-Dichter vermeidet demnach konsequent jegliche Reminiszenz an die heidnisch-antike Mythologie, um eine dezidiert »christliche Mythologie« einzuführen. Auch im zeitgenössischen Diskurs ging es Mitte des 18. Jahrhunderts um die Frage, ob es vernünftig sei, in der Epoche der Aufklärung noch die Musen oder andere heidnisch-antike Götter anzurufen. Gottsched hatte in dem Kapitel Von dem Wunderbaren in der Poesie (4. §.–13. §.) im allgemeinen Teil seines Versuchs einer Critischen Dichtkunst (3. Aufl. 1742) die Anrufung der heidnisch-antiken Musen und Götter wie Jupiter, Apollon, Bacchus, Mars oder Venus als Dichterkonvention mit langer Tradition weiterhin gelten lassen. Das »erste Wunderbare, was die Götter verursachen,« sei »wohl zweifelsohne der Beystand, den sie dem Poeten selbst leisten sollen«: Die Poeten [der Alten] achteten sichs für eine Ehre, von den Musen getrieben und begeistert zu seyn, oder es wenigstens zu heißen: ja sie begaben sich fast alles Antheils, den sie an ihren Sachen hatten, um nur für göttlich erleuchtete Männer gehalten zu werden, die gleich den Propheten, nicht von sich selbst, sondern aus höherer Eingebung geredet und geschrieben hätten.513 513 Gottsched: AW VI 1, S. 227.

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Der Leipziger Professor kritisierte in seiner Regelpoetik lediglich einige Verstöße, denn ein Dichter dürfe nur »in großen, epischen und erhabenen«, »aber nicht in kleinen, dramatischen und niedrigen Gedichten« die Musen anrufen.514 Im Jahre 1746 erschien eine anonyme Abhandlung mit dem Titel Vernünftige Gedancken über die Anruffung der Musen, und anderer Heidnischen Götter in der heutigen Dichtkunst, die der Deutschen Gesellschaft in Leipzig gewidmet war. Der Autor war der Gottschedianer Johann Daniel Müller, der mit seiner Streitschrift beweisen wollte, dass »nichts schädlicher und thörichter« sei als die Anrufung der Musen und der ›heidnischen Götter‹ in den literarischen Werken der zeitgenössischen Dichter.515 Im »ersten Hauptstück« seiner Schrift versuchte er darzulegen, dass »die Anruffung der Musen und anderer Heidnischen Götter, der Vernunft, dem Endzweck eines Dichters, und selbst der Religion und Offenbahrung zuwieder sey«.516 Müller baute seine Argumentation auf fünf Punkten auf, mit denen er sogleich vorab alle Gegenargumente entkräften wollte.517 Er behauptet in der Fortsetzung dieser polemischen Abhandlung mit dem Titel Die bestättigte Thorheit Der Anruffung der Musen und anderer Heidnischen Götter, in der heutigen Dichtkunst, dass man die ›invocatio‹ »vornemlich auf fünferley Art« betrachten könne: Entweder erstlich: als eine Sache, die als eine würkliche Anruffung, im Ernst vorgebracht würde; oder zweitens, als eine Sache, die ohne Ernst, zum blosen Zierrath der Gedichte als eine poetische Redensart; oder drittens, als eine Sache, die im blosen Scherz; oder viertens, als eine Sache, die im Spott; oder endlich fünftens, als eine Sache, die ohne allen Endzwek, aus bloser Gewohnheit vorgebracht würde.518

514 Ebd., S. 228. 515 J.[ohann] D.[aniel] M.[üller]: Vernünftige Gedancken über die Anruffung der Musen, und anderer Heidnischen Götter in der heutigen Dichtkunst. Franckfurt / Leipzig 1746. Vorrede, unpag. 516 Ebd., S. 21. 517 Die polemische Abhandlung Vernünftige Gedancken über die Anruffung der Musen, und anderer Heidnischen Götter in der heutigen Dichtkunst (1746) umfasst im Original 92 Druckseiten (zzgl. Widmung und Vorrede). Die systematische Gliederung in fünf Punkte wurde erst in der Fortsetzung dieser Schrift, die zwei Jahre später erschien, umgesetzt. Müllers Abhandlung von 1746 wirkt hingegen noch etwas unstrukturiert, und er wirft gerne in den Kapitelüberschriften mit abwertenden Adjektiven um sich. So schreibt Müller etwa, dass die »Anruffung der Musen und Heidnischen Götter« »abgeschmackt, wiedersprechend, und lächerlich« sowie »gantz verbotten und unerlaubt« sei. (Ebd., S. 45 und S. 49.) 518 M. Johann Daniel Müller : Die bestättigte Thorheit Der Anruffung der Musen und anderer Heidnischen Götter, in der heutigen Dichtkunst. Oder gründliche Wiederlegung der Beweise, Wormit der Herr Verfasser, der Beurtheilung der vernünftigen Gedancken über die Anruffung der Musen etc. in dem zweiten Stück, des vierten Bandes, des neuen Büchersaals der schönen Wissenschaften und freyen Künste, diese Thorheit hat entschuldigen wollen. Nebst einem doppelten Anhang, Worinnen die Gegengründe, zweier andern ungenandten Verfasser, untersucht werden. Franckfurt am Mayn 1748. S. 81f.

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Er habe erstens gezeigt, dass die Anrufung der Musen »der Vernunft, der natürlichen und geoffenbahrten Religion, und dem Ansehen eines christlichen Dichters zuwider sei«: Der Vernunft: weil diese nur ein höchstes Wesen lehret, das diese Welt regieret und erhält, und das man folglich auch um seinen Beistand anruffen müsse, und ganz und gar keine heidnische Götzen […] Der natürlichen Religion: weil diese alles verbietet, was Aergernis und Aberglauben zuwegen bringt; was die Hochachtung verringert, die man GOtt schuldig ist, und alles dieses durch die Anruffung der Musen verursachet wird. […] Der geoffenbahrten Religion: weil diese auf das schärfste untersaget, die Ehre GOttes einem Götzen beizulegen; die Schwachen zu ärgern, Licht und Finsternis, Christum und Belial mit einander zu vermengen, und überhaupt etwas zu thun, das dem Dienst und der Ehre GOttes zuwieder ist […] Dem Ansehen eines Christlichen Dichters: weil solches nothwendig ganz und gar verlohren gehen muß, wenn er Hülfe bei einem heidnischen Traum und nicht bei dem wahren GOtt sucht; wenn er seine vernünftige Gedanken und Werke lieber einem Nichts, als seinem Schöpfer zuschreibet; wenn er nicht das geringste Bedenken trägt Aergernis und Aberglauben zu befördern u. s. f.519

Wenn man die ›invocatio‹ lediglich als »eine poetische Redensart« ansehe, die »zum Zierrath der Gedichte« dienen solle – gemeint ist hier der rhetorische Schmuck (›ornatus‹) –, so habe er zweitens bewiesen, dass »die Einmischung alter Fabeln und undeutlicher Redensarten, ein Gedicht weder bei gelehrten noch ungelehrten Lesern ansehnlicher machen könne«: Nicht bei den Gelehrten: weil die eine Sache nur eines blosen Traums und Schattens willen, dergleichen die Musen und heidnische Götter sind, und wegen funkelnder Nahmen, die man aus einem jeden Reimen-Buch stehlen kan; im geringsten nicht höher halten, sondern vielmehr verachten, wenn sie da heidnische Götzen anträffen, wo sie Verstand und Weisheit suchten, und da einen elenden Wörterlerm, wo sie muntere Ausdrükke und lebhafte Einfälle vermutheten. […] nicht bei den Ungelehrten: weil ein unwissender Leser, wenn er sonst vernünftig sei, darum ein Gedichte nicht höher halten werde, weil viele unverständliche Redensarten, und fremde Namen darinnen vorkommen, von denen er noch nie was gehöret hat; und einem unwissenden und zugleich unvernünftigen Menschen zu gefallen zu schreiben, ganz und gar wider den Character eines vernünftigen Dichters sei […]520

Müller macht deutlich, dass es »lächerlich« sei, »zur Vermehrung des Ansehens eines Gedichtes, auch nur zum blosen Schein, ein Nichts, einen Traum, eine Fabel um Beystand anzuruffen; […] lustige Einfälle eines alten Poeten anzubäten; die Thorheit der heidnischen Lehrer um Weisheit, und ihre Schwachheit um Stärke anzuruffen«.521 Er erklärt: 519 Ebd., S. 82f. 520 Ebd., S. 83f. 521 Ebd., S. 84.

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Man überlege dabei, was die Heidnischen Dichter von ihren Göttern vor Tugenden angegeben, wie sie solche bald der Hurerey, bald des Ehebruchs, bald der Blutschande, bald des Diebstals, bald des Betrugs beschuldiget haben; man seze ihre Thaten an die Stelle ihrer Nahmen, und urtheile alsdan ob man ohne Lachen bleiben könne, wan man zu Anfang eines Lob, eines Helden Gedichts, das man auf einen grosen König, auf einen Fürsten, auf vornehme Standes-Personen verfertiget hat, bäten höret: O ihr Hurer und Ehebrecher, ihr Diebe und Betrüger des Alterthums komt mir zu Hülfe, und helft mir einen Tugendhaften, einen Keuschen, einen Gerechten, einen Mäßigen loben.522

Schon die früheste Homerkritik nahm an dem angeblich unmoralischen Verhalten der heidnisch-antiken Götter Anstoß, wie etwa Platon in seiner Politeia. Der Vorsokratiker Xenophanes (um 570–um 475 v. Chr.) lehnte die anthropomorphe Gottesvorstellung der alten Griechen dezidiert ab. Zudem urteilte er in einem seiner Fragmente: »Homer und Hesiod haben den Göttern alles zugeschrieben, was bei den Menschen schändlich ist und getadelt wird: zu stehlen, die Ehe zu brechen und sich gegenseitig zu betrügen.«523 Scaliger, der ohnehin Vergil verehrte, übernahm die tadelnden Bewertungen von Xenophanes und Platon auch in seine Renaissance-Poetik (1561) (B. 5, Kap. 2): »Nam quae ille de suis diis infamia infandaque prodidit? Adulteria, incestus, odia inter se.« (»Denn welche Schmach und welch abscheuliche Dinge hat Homer von seinen Göttern berichtet! Ehebruch, Unzucht, gegenseitiger Haß!«)524 Müller greift als christlicher Autor der Frühaufklärung die antike Homerkritik wieder auf, die über die Jahrhunderte fortwährend rezipiert wurde, um sie in seiner Abhandlung gegen die untugendhafte Götterlehre der heidnischen Antike auszuspielen. Er fährt demgemäß fort und erklärt, dass es drittens und viertens nicht den Regeln des Anstands entspreche, ein ernsthaftes Gedicht – wie ein Epos oder eine Trauerode – mit einem »magere[n] Scherz« oder mit »niederträchtigen Spöttereyen« anzufangen.525 Rufe ein Dichter die Musen »aus bloser Gewohnheit, ohne allen Endzwek« an, so habe er fünftens bewiesen, dass »solches ein klares Zeichen der Thorheit sei, indem ein vernünftiger Mensch in so ferne er vernünftig ist, onmöglich etwas ohne einen vernünftigen Endzwek thun werde«.526

522 M.[üller]: Vernünftige Gedancken über die Anruffung der Musen, S. 46f. 523 Xenophanes von Kolophon: Frgm. 11, Sextus adv. math. IX, 193. In: Die vorsokratischen Philosophen. Einführung, Texte und Kommentare von Geoffrey S. Kirk, John E. Raven und Malcolm Schofield. Ins Deutsche übersetzt von Karlheinz Hülser. Stuttgart / Weimar 2001. S. 184, Nr. 166 (deutsche Übersetzung), S. 183 (altgriechischer Originalwortlaut des Fragments, DK 21 B 11). 524 Iulius Ceasar Scaliger : Poetices libri septem / Sieben Bücher über die Dichtkunst. Band IV: Buch 5. Hrsg., übersetzt, eingeleitet und erläutert von Gregor Vogt-Spira. Stuttgart-Bad Cannstatt 1998. S. 56, Z. 25f. und S. 58, Z. 1 (lat.), S. 57 und S. 59 (dtsch.) (5. Buch, Kap. 2). 525 Müller : Die bestättigte Thorheit Der Anruffung der Musen, S. 85. 526 Ebd.

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Müller offenbart sich demnach als Rationalist und Vertreter der orthodoxen Aufklärung, der in seinen Schriften gegen jeglichen Verdacht der Unvernunft und des Aberglaubens polemisch vorging. Erstaunlicherweise griff er aber in seinen Vernünftigen Gedancken seinen offensichtlichen Lehrer Gottsched an, weil dieser in seiner Poetik die entsprechenden Regeln für die ›invocatio‹ nach dem Vorbild der ›Alten‹ aufgestellt hatte und nicht gegen diese »Unart«527 der zeitgenössischen Dichter vorgegangen sei, noch immer die antiken Musen und Götter anzurufen.528 Der Leipziger Professor wehrte sich in einer Rezension im Neuen Büchersaal (Februar 1747) gegen den Vorwurf, die Anrufung der ›heidnischen‹ Musen empfohlen oder gar befohlen zu haben.529 Er spricht in der kritischen Beurteilung von Müllers Abhandlung von sich in der dritten Person, um die Anonymität zu wahren, und rechtfertigt ausführlich die Intentionen seines Lehrbuchs: Beyläufig hier unsere Meynung zu sagen: so finden wir eben nicht, daß der Herr Verfasser der critischen Dichtkunst die Anrufung der Musen befohlen oder angepriesen hätte. Vielmehr hat er nur ihren Ursprung und Gebrauch bey den Alten gewiesen; bey denen er noch ein ernsthaftes Ansehn haben konnte: weil ihre eingeführte Religion solche Gottheiten lehrte. Und in dieser Absicht konnte er auch freylich die Misbräuche anmerken, die solche heidnische Dichter, wider ihr eignes Fabelsystem begiengen; wenn sie z. E. eine Gottheit um etwas bathen, das ihres Amts nicht war, oder ihr Vermögen überstieg. Hierinn scheint er uns nun noch nicht gefehlt zu haben. Was aber die neuern Poeten betrifft, so führt er von denselben auch schöne Exempel ernsthafter Anrufungen an, die an den wahren Gott, an seinen Geist, oder wie beym Tasso, an eine himmlische Muse […] gerichtet worden. Diese lobt, und billigt er, räth auch in wichtigen Gedichten ihrem Exempel zu folgen. Weil aber dergleichen ernsthafte Gebethe, bey jeder Kleinigkeit, und bey weltlichen Dingen, zu thun, ein Misbrauch des Namens Gottes seyn würde; und gleichwohl bey unzähligen christlichen Poeten auch Anrufungen der Musen vorkommen: so hat der Herr Verfasser der critischen Dichtkunst, aus Bescheidenheit, das Herz nicht gehabt, alle diese große Männer deswegen zu bestrafen. Er hat also geglaubt, daß es auch Anfängern nicht verdacht werden könnte, wenn sie den großen Mustern ihrer Vorgänger hierinn folgten; dafern sie dabey nur gewisse Regeln der Behutsamkeit, des Wohlstandes und der Vernunft beobachteten. Ein anders aber ist, eine Sache erlauben; ein anders ist sie anbefehlen, oder für was nothwendiges, und unentbehrliches ausgeben. Das erste ist in der critischen Dichtkunst geschehen, das letzte aber nicht. Ja auch das erste ist, durch die Einschränkung der Regeln, in den meisten Fällen so 527 M.[üller]: Vernünftige Gedancken über die Anruffung der Musen, Vorrede, unpag. 528 Vgl. ebd., Vorrede (unpag.), S. 28f., S. 85–87. 529 [Rez.:] IV. Vernünftige Gedanken über die Anruffung der Musen, und anderer heidnischen Götter, in der heutigen Dichtkunst. Den Liebhabern derselben mitgetheilet, von J. D. M. Frf. und Leipzig 1746. In: Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste. [Hrsg. v. Johann Christoph Gottsched.] 4. Band. 2. Stück, im Monat Februar 1747. Leipzig 1747. S. 137–149.

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beschnitten, daß eine große Anzahl verwerflicher Anrufungen wegfallen müssen; die wenigen aber, die noch übrig bleiben, nur für ein Spielwerk angegeben werden.530

Es zeigt sich deutlich, dass der Rezensent Gottsched die Argumentation Müllers als völlig übertrieben abwertete. Er hingegen ließ die Invokation der Musen zum einen als poetisches Standardelement und zum anderen als rhetorische Gedankenfigur, d. h. als Apostrophe, gelten: Wer aber mit der Anrufung der Musen einen Begriff einer ernsthaften Anbethung verknüpfet, der thut allen christlichen Dichtern, die solche gebraucht haben, das offenbarste Unrecht von der Welt. Man hat nicht den geringsten Argwohn, daß irgend einer unter ihnen die neun Schwestern Apollons jemals als wirlich [!] vorhandene, geschweige denn, als göttliche Wesen geglaubet, oder um Hülfe angeflehet hätte. Es ist nichts, als eine bloße Apostrophe, der man sich auch wohl an abwesende und todte, ja gar an leblose Dinge bedienet. Will man es noch näher haben, so sind die Musen eben das, was der Geist, der Sinn, oder Witz des Poeten selber ist.531

Müller lehnte die Anrufung der Musen und anderer antiker Götter auch als rhetorisches Mittel zur Auszierung bzw. Ausschmückung eines poetischen Werkes ausdrücklich ab. Gottsched hingegen entgegnet, dass »unbekannte Namen aus dem Alterthume, den Geschichten und der Mythologie, allerdings einer Schrift, […] in den Augen der Ungelehrten, einen Zierrath gebe«.532 Ein Gedicht würde so gelehrt aussehen und dessen Autor hochgeachtet werden.533 Der Leipziger Literaturpapst rügte in seiner Rezension außerdem das vorgeblich religiöse Gewissen534 des ihm unbekannten Verfassers der Streitschrift und bemerkte abschließend, dass alle Leser schnell sehen würden, dass dieser die Thematik viel »zu hoch treib[e]«.535 Müller reagierte auf diesen öffentlichen Tadel mit einer weiteren umfassenden Schrift, die im Jahre 1748 mit der vollständigen Angabe des Verfassernamens erschien und die den sprechenden Titel Die bestättigte Thorheit Der Anruffung der Musen und anderer Heidnischen Götter, in der heutigen Dichtkunst. Oder gründliche Wiederlegung der Beweise, Wormit der Herr Verfasser, der Beurtheilung der vernünftigen Gedancken über die Anruffung der Musen etc. in dem zweiten Stück, des vierten Bandes, des neuen Büchersaals der schönen Wissenschaften und freyen Künste, diese Thorheit hat entschuldigen wollen trug. In diesem Werk referierte er langatmig nochmals seine eigenen Argumente und die seines Gegners.536 Für die Thematik erbrachte diese Abhandlung nichts Neues. Allerdings nähert sich der rationalistische 530 531 532 533 534 535 536

Ebd., S. 142f. Ebd., S. 145f. Ebd., S. 147. Vgl. ebd. Gottsched bezeichnet es ironisch als »zärtliches Gewissen« (ebd., S. 148). Ebd., S. 149. Die polemische Abhandlung umfasst im Original ohne die Vorrede 154 Druckseiten.

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Kritiker bemerkenswerterweise in einem argumentativen Gedanken dem Hallenser Ästhetiker an. Meier hatte in seiner Abhandlung über die Einführung einer »christlichen Mythologie« – wie bereits zitiert – eine »kindische Nachäffung« abgelehnt und eine »männliche Nachahmung« gefordert, die darin bestehe, »in einem Gedichte den alten Dichtern ähnlich zu werden«.537 Müller schreibt nun übereinstimmend in der Bestättigten Thorheit Der Anruffung der Musen und anderer Heidnischen Götter, in der heutigen Dichtkunst: Wann die neuern Dichter, die Alten ja in allen Stüken nachahmen wolten, so solten sie doch alles, auf eine ähnliche Art, so einrichten, wie es sich um ihre Zeiten und Umstände schikten. An statt der Musen und übrigen Götter, solten sie bei wichtigen und ernsthaften Sachen, den wahren GOtt anruffen; an statt die Werke und wiedersprechende Handlungen jener Götzen zu erzählen; solten sie die Werkke und Eigenschaften ihres Schöpfers erheben; und eben so solten sie es mit allen übrigen Dingen machen. Sie könten stets was ähnliches behalten, aber etwas ähnliches, das sich auf ihre Zeiten und Umstände schikte.538

Es lässt sich leider nicht mehr nachvollziehen, ob Klopstock von diesem Streit zwischen Müller und Gottsched Kenntnis hatte, der sich um die Invokation der Musen und des Götterapparats der heidnisch-antiken Mythologie mit der Bitte um Inspiration des Dichters drehte. Der antike Mythos von den Musen war allerdings nicht nur im Zeitalter des aufgeklärten Protestantismus ein brisantes Thema, sondern in der christlichen Literaturtheorie überhaupt. Sigmund von Birken beispielsweise versucht in der »Vor-Rede« seiner Barockpoetik, der Teutschen Rede-bind- und Dicht-Kunst (1679) (vgl. Kap. 3), wiederholt mit dem »Argument vom geistigen Diebstahl, den das diabolische Altertum an der christlichen Überlieferung begangen haben soll«539, zu überzeugen: Da die heidnischen Griechen gewusst hätten, dass die Dichtkunst ihren Ursprung in der Verehrung der weisen und allmächtigen Götter habe, hätten sie den Mythos vom Dichtergott Apollon erfunden (§ 12), der als »Vorsteher der neun Musen« auf dem Helikon und dem Parnass wohnte, von wo die berühmte Kastalische Quelle herabfloss, von der man annahm, dass der Trinkende inspiriert wurde und so die Dichterweihe erlangte.540 Diese Geschichte sei ein teuflisches Plagiat, denn »der 537 [Meier :] Untersuchung der Frage: Ob in einem Heldengedichte, welches von einem Christen verfertiget wird, die Engel und Teufel die Stelle der heydnischen Götter vertreten können und müssen?, S. 197. (§. 14.) 538 Müller : Die bestättigte Thorheit Der Anruffung der Musen, S. 59. 539 Joachim Dyck: Athen und Jerusalem. Die Tradition der argumentativen Verknüpfung von Bibel und Poesie im 17. und 18. Jahrhundert. München 1977. S. 20. 540 Sigmund von Birken: Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst / oder Kurze Anweisung zur Teutschen Poesy / mit Geistlichen Exempeln: verfasset durch Ein Mitglied der höchstlöblichen Fruchtbringenden Gesellschaft Den Erwachsenen. Samt dem Schauspiel Psyche und Einem Hirten-Gedichte. Nürnberg 1679. Vor-Rede, § 12, unpag. Vgl. Dyck: Athen und Jerusalem, S. 20.

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Feind und Affe Gottes« habe sich den alttestamentlichen Dichter und König David zum Vorbild genommen, »welcher viel Sänger und Poeten / als Musen / um und unter sich gehabt / auf dem Berg Sion gewohnt / daraus der Brunn Siloha gefloßen / auf der Harffen gespielet / und in deren Thon viel Psalmen gesungen«.541 Zudem komme die »Dicht-fähigkeit« nicht vom Wasser einer bestimmten Quelle, sondern von der »Feuer-Flut des himlischen Geistes«.542 Der Himmel als Ort »der Herrlichkeit Gottes / wo nicht nur Neune / sondern viel 1000000 Musen wohnen und ein LobLied nach dem andern anstimmen« sei der echte Parnass, woraus »diese Geistes-Flut erqwillet [!] und herabschießet«.543 So wie die Dichtkunst demnach »vom Himmel einfließe[.]«, solle sie »wieder gen Himmel steigen und GOtt zu Ehren verwendet werden«.544 Die Dichter seien »himlische Spring Brunnen« oder sollten solche sein.545 Birken stellt an diese die dezidierte Forderung, »das Himmels-Flut Feuer nicht Irdisch [zu] verwenden«.546 Der Barockdichter tradierte demnach die Vorstellung, dass Poesie auf göttlicher Inspiration beruhe, allerdings wollte er seine Zeitgenossen davon abbringen, sich auf die griechische Antike zu berufen. Das ›heidnische Athen‹ sollte ersetzt werden durch das ›christliche Jerusalem‹. Tasso verfolgte beispielsweise in seiner Gerusalemme liberata das gleiche Ziel. Daher richtet er in seinem Renaissance-Epos die Musenanrufung an die Himmelskönigin, d. h. an die Jungfrau und Gottesmutter Maria, die eine Sternenkrone trägt (Offb. 12,1).547 Diese christlich-mythische Figur soll die heidnisch-antike Musenfigur übertreffen, die lediglich mit einem Lorbeerkranz geschmückt ist. Die zweite Stanze des ersten Gesanges des Befreyten Jerusalems lautet in der Übersetzung von Kopp (1744):

541 542 543 544 545 546 547

Birken: Teutsche Rede-bind- und Dicht-Kunst, Vor-Rede, § 12, unpag. Ebd., Vor-Rede, § 14, unpag. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Die ›invocatio‹ in Tassos Gerusalemme liberata lautet im italienischen Original (1. Gesang, Stanze 2): »O Musa, tu, che di caduchi allori Non circondi la fronte in Elicona; Ma su nel cielo infra i beati cori Hai di stelle immortali aurea corona; Tu spira al petto mio celesti ardori, Tu rischiara il mio canto, e tu perdona, S’intesso fregi al ver, s’adorno in parte D’altri diletti, che de’ tuoi, le carte.« (Torquato Tasso: Befreites Jerusalem. Übersetzt v. Karl Streckfuß. Mit gegenüber gedrucktem Original-Text. 1. Bd. Leipzig 1822. S. 3 [1. Gesang, Stanze 2].)

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O Muse, deren Haupt kein welker Lorber schmückt, Dergleichen man vielleicht auf dem Parnaß erblickt; Nein, sondern deren Kranz mit güldnen Sternen pranget, Den die Unsterblichkeit der Seligen erlanget! Entzünde meine Brust mit deiner Himmelsglut! Gieb meinem Liede Kraft, und halte mirs zu gut, Dafern ich Fabelwerk zu deiner Wahrheit setze, Und oft mit andrer Zier, als deiner Lust, ergetze.548

Von den Klassizisten wird die ›invocatio‹, die vom Dichter an eine überirdische Macht gestellte imperativische Bitte um göttlichen Beistand bei der Bewältigung des literarischen Themas, Mitte des 18. Jahrhunderts zum elementaren Bestandteil der »Epopee« erklärt. Gottsched, der ebenso wie die Schweizer eine Erneuerung der antiken Gattung forderte, betont in dem Epos-Kapitel in seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst (3. Aufl. 1742), dass ein Epiker »die Anrufung der Musen, oder sonst einer Gottheit« in seinem literarischen Werk nicht vergessen dürfe, da »in einem solchen Gedichte Dinge vorkommen, die der Dichter wahrscheinlicher Weise, ohne die Eingebung einer Gottheit, nicht wissen könnte«.549 Die ›invocatio‹ biete dem Heldendichter viele Vorteile: »Er setzt sich auch dergestalt durch seine Gottesfurcht bey seinem Leser in ein gutes Ansehen; ja er bringt ihn in eine Verwunderung, und macht ihn begierig, dergleichen hohe Sachen zu vernehmen.«550 In der vierten Auflage seiner Regelpoetik (1751) erweitert der Leipziger Professor seine Argumentation bezeichnenderweise um einen Satz, der wohl als Folge des öffentlichen Diskurses angesehen werden kann: »Am besten ist es, wenn christliche Dichter keine heidnische Götter anrufen, als die heute zu Tage niemand glaubet oder ehret.«551 548 [Tasso:] Versuch einer poetischen Uebersetzung des Tassoischen Heldengedichts genannt: Gottfried, oder das Befreyte Jerusalem, ausgearbeitet von Johann Friedrich Koppen, S. 8. In der Übersetzung Diederichs von dem Werder aus dem 17. Jahrhundert lautet der zweite Abschnitt des Proömiums von Tassos religiösem Epos (1. Gesang, Stanze 2) folgendermaßen: »O Musa, die du nicht ein welcken Lorberkrantz Vmb deine Stirne führst am Berge Helicone, Im Himmel aber trägst von Sternen vnd von Glantz Auff ewigwehrend Art ein helle güldne Krone/ Mit deiner Himmelbrunst mein Hertz entzünd mir gantz/ Gib Klarheit meim Gesang mit Vngnad mein verschone/ Wann Warheit ich mit schertz vermeng/vnd schmück zur Zier Mit dein vnd andrer mehr ergetzung mein Pappier.« (Diederich von dem Werder: Gottfried von Bulljon, Oder Das Erlösete Jerusalem (1626). Hrsg. v. Gerhard Dünnhaupt. Tübingen 1974. (Deutsche Neudrucke, Reihe Barock; 24.) S. 1.) 549 Gottsched: AW VI 2, S. 301. 550 Ebd. 551 Gottsched: CD 1751, S. 496.

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Den zeitgenössischen Kritikern des 18. Jahrhunderts war bewusst, dass der Götterapparat der heidnischen Antike im Zeitalter des aufgeklärten Protestantismus nicht mehr nachgebildet werden konnte.552 Im Bodmer/Breitinger-Kreis schien das Bibelepos die Lösung zu sein, da hier das »Wunderbare« durch die Heilige Schrift belegt war und somit als historisch-wahr galt. Klopstock versuchte mit seiner christianisierten Musenfigur, den dogmatischen Ansichten der Orthodoxie zu entsprechen. Klopstocks gattungstypische Musenanrufe im Messias dienen der Beglaubigung des heiligen Inhalts der epischen Erzählung. Der Dichter bezeugt durch seine Invokationen den göttlichen Ursprung seines Stoffes.553 In der Rolle als ›poeta vates‹ bekräftigt er seinen Anspruch, ein Auserwählter Gottes und ein Verkündiger der Ereignisse des christlichen Heilsgeschehens zu sein, der seine Weihe unmittelbar vom Heiligen Geist empfangen hat (vgl. I, 8–17).554 Die »Sionitin« oder »Sängerin Sions« wird als allwissende Lehrerin des epischen Sängers charakterisiert, die sowohl den kopernikanischen Kosmos des 18. Jahrhunderts mit seiner Vielzahl an Sonnensystemen und bewohnten Welten als auch das mittelalterliche Schema der drei Weltbezirke (Himmel, Erde und Hölle) im Messias vollständig überblickt. Eine Anrufung der fiktiven Musenfigur erfolgt insbesondere vor der poetischen Darstellung überirdischer Ereignisse. So wird die »Sängerin Sions« etwa im I. Gesang apostrophiert: »Die du himmlische Lieder mich lehrst, Gespielin der Engel, j Seherin Gottes, du Hörerin hoher unsterblicher Stimmen, j Melde mir, Sionitin, das Lied, das die Engel itzt sangen.« (I, 242–244) »Von der Sängerin Sions gelehrt«, berichtet der epische Erzähler wiederum die himmlischen Ereignisse »den Sterblichen« (I, 578), d. h. den Rezipienten seines Epos. Der epische Sänger bedankt sich im zweiten Teil des Exordiums des III. Gesanges, von der »Sionitin« durch den höllischen Schauplatz des II. Gesanges geleitet worden zu sein, und bittet seine göttliche Muse, in den folgenden Versen die irdischen Ereignisse rund um den noch sterblichen Helden seines Epos würdig besingen zu können: O du, die zu der Hölle mich führte, Sängerin Sions, Und nun meinen noch bebenden Geist zurück gebracht hast; Du, die vom göttlichen Blick die ernste Gerechtigkeit lernte, Aber auch ihren Vertrauten mit süßer Freundlichkeit lächelt, Heitre die Seele, die noch umringt von dem Graun der Gesichte,

552 Vgl. Horst Thom8: Platen und das Epos. In: August Graf von Platen. Leben, Werk, Wirkung. Hrsg. v. Hartmut Bobzin und Gunnar Och. Paderborn / München / Wien / Zürich 1998. S. 63–83, hier S. 64f. 553 Vgl. Martin: Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert, S. 107. 554 Vgl. ebd.

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Innerlich bebt, mit himmlischem Licht, und lehre sie ferner Ihren erhabenen Mittler, den besten der Menschen, besingen. (III, 12–18)

Ähnlich heißt es auch im X. Gesang: »Aber enthüll, Sionitin, der qualbelasteten Hölle j Tiefen nicht weiter. Ein anderer Schauplatz heiliger Wehmuth, j Voll Anbetung, und jenes Todes, der unsern versüßt hat, j Voll von göttlicher Huld, der Schauplatz öffnet vor dir sich!« (X, 150–153) Wenn der epische Erzähler demnach vom satanischen zum himmlischen Ort der Handlung wechselt, erfolgt eine ›invocatio‹. Gemäß der zweigeteilten Gesamtkomposition des Messias bittet der Sänger seine Muse im Proömium des XI. Gesanges: »Leite mich ferner, du unsichtbare, du Führerin, leite j Meinen bebenden Gang! Des Sohnes Erniedrigung sang ich; j Bring mich höher hinauf, auch seine Wonne zu singen!« (XI, 12–14) Um die Verherrlichung seines epischen Helden besingen zu können, benötigt der epische Erzähler göttlichen Beistand, was sich etwa aus der Musenanrufung in XIII, 850–854 erschließt: Lehre mich, Sionitin, nur einige Laute von jener Großen Erhöhung, die bey den Hütten sterblicher Sünder, Doch nun auch versöhnter begann, und immer sich weiter, Auf stets höheren Stufen, erhub, o lehre von fern mich Nachschaun ihm, der hinauf zu dem Throne den Lichtweg wandelt.

Aber auch der ›heiligen Muse‹ und dem epischen Erzähler sind scheinbar göttliche Grenzen gesetzt. Im V. Gesang bemerkt der Sänger : »In das Heilige hast du mich zwar, Sionitin, geführet, j Aber nicht in das Allerheiligste.« (V, 347f.) Und im XI. Gesang wird berichtet: »Nur wovon der Vater und Sohn, nicht wie sie es sprachen, j Kannst du, Sionitin, erzählen. Denn, dieses zu denken, j Hat die Seele kein Bild; es zu sagen, nicht Worte die Sprache.« (XI, 58–60) Die himmlische Inspirationsquelle steht dem Erzähler in den bewegendsten Momenten der epischen Handlung in der ersten Hälfte des Messias bei: Als das judäische Volk, angestachelt durch die lästernden Reden von Kaiphas und Philo, einstimmig das Sterben des Messias fordert, ruft der Sänger aus: »O gieb mir die Hülle, j Sionitin, mit der, wenn du vor dem Ewigen schwebest, j Still du dich deckest, daß ich mit den Engeln mein Auge bedecke.« (VI, 486–488) Die Geißelung und Verspottung Jesu Christi wird ebenfalls durch eine Apostrophe eingeleitet: »Aber o du, die vom Gottversöhner ihr Antlitz gewandt hat, j Sing, Sionitin, die Geißlung, das Rohr, den Purpurmantel, j Und die Krone! doch nur mit Einem weinenden Laute.« (VII, 804–806) Wenig später verkündet der epische Erzähler : »Doch mir sinket die Hand die Harf ’ herab, ich vermag nicht j Alle Leiden des ewigen Sohns, sie alle zu singen!« (VII, 818f.) Traditionell wird die Muse im Epos vor katalogartigen Schilderungen angerufen, so auch im Messias. Die ›invocatio‹ (II, 295–299) vor der Charakterisierung der Höllenfürsten (II, 300–401) lautet:

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Die du mit Ruh voll Feuer und Ernst zu der Höll’ hinabsiehst, Weil du zugleich im Angesicht Gottes Klarheit erblickest, Und Zufriedenheit über sich selbst, wenn er Sünder bestrafet, Zeige sie mir, Sionitin, und laß die mächtige Stimme Rauschend, gleich Sturmwinden, wie Wetter Gottes, ertönen. (II, 295–299)

Im X. Gesang heißt es vor dem Katalog künftiger Märtyrer (X, 232–417): »Sionitin, erzähle, j Wie sie lebten, und wie sie dem großen Sündeversöhner, j Jede nach ihren Gaben, im Pilgerleben sich weihten.« (X, 225–227) Der XI. Gesang des Messias besteht größtenteils aus einer langen Aufzählung der auferstehenden Gestalten des Alten Testaments wie z. B. Adam, Eva, Abel, Enos, Seth, Noa, Japhet, Sem, Abraham, Isak, Joseph, Rahel, Moses, David, Salomo, Jonathan u. v. m. (XI, 229–715, 869–1566). Der Messias-Dichter beschließt diesen ungewöhnlichen Gesang, der die leibliche Auferweckung von den Toten anhand vieler Einzelschicksale exemplifiziert, mit einem Hinweis auf seinen göttlich begeisterten Zustand: »Dieser Erstandenen Namen erschollen mir laut, bey der Palmen j Wipfel verwehten die andern; allein in den Stunden der Weihe j Kommt die Sionitin, und nennt mir die himmlischen Namen.« (XI, 1567–1569) Klopstock stellt seine christliche Muse vor allem an zwei Stellen seines Bibelepos »als vermittelndes Glied in einer Kette zwischen göttlicher und menschlicher Sphäre« dar.555 Im Exordium des VIII. Gesanges556 wird ausgeführt, dass die »Sionitin« ihr Wissen von David, dem »heiligsten unter den Sängern Jehovah« (VIII, 1) erlangt habe. Dessen Lehrer war wiederum der »ewige[.] Geist[.]« (VIII, 2). Der epische Sänger ist somit nicht nur unmittelbarer Schüler seiner lehrenden Muse, sondern zugleich auch indirekter Schüler des biblischen Psalmendichters David und des Heiligen Geistes, den er im Proömium des Messias um die »Weihe« der Dichtkunst gebeten hat (I, 10). Zudem wird in diesen elf Versen (VIII, 1–11) der Inhalt der folgenden Gesänge zusammengefasst: Die du am Sion den heiligsten unter den Sängern Jehovah Sahst, von ihm lerntest, als er von dem ewigen Geiste gelehrt sang, Den der Richter im Tode verließ, den größten der Todten, Lehr, Sionitin, mich wieder ; du lerntest himmlische Dinge! Komm, und leite den Schritt des wankenden, deines Geweihten, Führe mich in des Gekreuzigten Nacht. Des Heiligthums Schauer Faßt mich! ich will den Sterbenden sehn, ich will die gebrochnen Starren Augen, den Tod auf der Wange, den Tod in den schönsten Unter den Wunden! dich sehn, du Blut der Versöhnung! Er bebte, 555 Ebd., S. 106. 556 Vgl. hierzu die Interpretation von Dieter Martin in seiner Studie Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert, der ich folge: Ebd., S. 106.

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Rang mit dem Tode, da sank ihm sein Haupt, er blutete, neigte In die Nacht sein heiliges Haupt; da verstummte der Gottmensch. (VIII, 1–11)

In den letzten sieben Versen dieses Exordiums werden die Kreuzigung und der Tod Jesu Christi vorweggenommen. Der ergriffene epische Erzähler, der von dem himmlischen Medium begeistert bzw. inspiriert wurde, vergegenwärtigt das in der Zukunft der epischen Handlung liegende Ereignis, den Moment des Todes des Messias, der in X, 1041–1052 poetisch dargestellt wird. Die »Sängerin Sions« offenbart sich demnach unmissverständlich als inspirierende göttliche Macht und als Prophetin, die ihren Schüler in die künftigen Geheimnisse der christlichen Heilsgeschichte einweiht. Auch im langen Exordium des XVIII. Gesanges des Messias steht der epische Erzähler in einer Kette mehrerer vermittelnder Figuren.557 Der Messias gewährt Adam auf sein flehentliches Bitten ein »Gesicht« vom »Weltgericht« (XVIII, 1– 10), um die zukünftigen Folgen der Erlösung zu sehen. Der Stammvater der Menschheit erhält demnach eine Vision von ausgewählten Szenen des Jüngsten Gerichts, die im XVIII. und in der ersten Hälfte des XIX. Gesanges erzählt werden (vgl. XIX, 1–259). Die »heilige Sionitin« (XVIII, 17), die dezidiert als »Prophetin« (XVIII, 18) bezeichnet wird, offenbart diesen Blick in die ferne Zukunft in einem Zustand höchster Erregtheit ihrem Schüler, dem epischen Sänger, der nun trotz seiner menschlichen Unzulänglichkeiten versucht, die Geschichte an seine Hörer weiterzugeben: Einst am Tage des Herrn, als auf der kommenden Dämmrung Flügel vor mir die einsamen freudigen Stunden vorbeyflohn, Und ich forschete; kam die heilige Sionitin Gegen mich her. So war mir noch nie die Prophetin erschienen, So viel Ewigkeit hatte noch nie ihr Antlitz getragen! Und sie sang mir Adams Gesicht. Sie selber verstummte Oft, da sie sang. Die Wange glüht’ ihr, es stieg zusehends In die glühende Wang’ ihr schnelle Blässe. Die Lippe Rufte stammelnde Donner, und ernst her schaute das Auge. Fast entsank die Harfe der starrenden Hand, und die Krone Bebt’ um ihr fliegendes Haar. Dann erhob sie sich wieder, dann kam ihr Jedes Lächeln der ewigen Ruh’ in ihr Antlitz herunter. Dann, mit hundert Flügeln geflügelt, mit Schwingen des Sturmes, Stiegen die erstgebornen der Seele, die wahrsten Gedanken Auf zu Gott. So sahe mein Auge sie, starrt’ in die Nacht hin. Mit der Linken berührt’ ich die Erde, mein Grab; und die Rechte Hub ich gegen den Himmel empor. Der Erde Bewohner, Oder des Grabes, was ich vermag, das will ich euch singen.

557 Vgl. hierzu die Interpretation von Dieter Martin: Ebd., S. 106f.

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Tausend Gedanken erflog mein Geist nicht; zu tausenden fehlt mir Stimm’ und Gesang; und tausendmal tausend verbarg sie dem Hörer. (XVIII, 15–34)

Der apokalyptische Stoff gelangt hier vom Messias über Adam und die »Sionitin« zum ›poeta vates‹, der diesen wiederum den Lesern bzw. Zuhörern seines Heldengedichtes poetisch vermittelt.558 Indem der Messias-Dichter zwischen der musischen Inspirationsquelle und sich selbst »mehrere gleichsam ›filternde‹ Glieder« einschaltet, behauptet er, nicht unmittelbar in die göttlichen Geheimnisse eingeweiht worden zu sein, und versucht so dem Vorwurf der Vermessenheit zuvorzukommen, den die Vertreter der orthodoxen Theologie erheben konnten.559 In den Fassungen des Messias ab 1755 bezeichnete Klopstock – wie bereits erwähnt – seine himmlische Inspirationsquelle nicht mehr explizit als »Muse«, sondern er redete sie im Epos ausschließlich als »Sionitin« bzw. »Sängerin Sions« an. Das Titelkupfer zum ersten Band der aufwendigen, 2-bändigen »Kopenhagener Ausgabe« des Messias (1755)560 ist bemerkenswerterweise eine Darstellung der »heiligen Muse« (siehe Abbildung 1), was sich aus der ›subscriptio‹ ergibt: Im Vordergrund einer pflanzenreichen Gebirgslandschaft kniet inmitten von Grabplatten – was an das Gräberfeld am Ölberg im Messias erinnert (I–III) – eine Frauengestalt mit blond gelocktem Haar und wallendem Gewand, die auf einer vor ihr aufgestellten Harfe spielt. Das prächtige Musikinstrument wird von einem Palmzweig umwunden, der das christliche Symbol der Märtyrer ist und für himmlische Unsterblichkeit steht. Der Blick der christlichen Musenfigur richtet sich gen Himmel, wo Sonnenstrahlen einen Wolkenkranz durchbrechen. Die Lichtquelle links oben im Bild, die ihre Strahlen aussendet, symbolisiert die göttliche Macht. Entworfen und gestochen wurde das Titelbild von Johann Martin Preisler (1715–1794), den Klopstock als den größten Kupferstecher seiner Zeit ansah.561 558 Vgl. ebd., S. 106. 559 Ebd., S. 107. 560 Die erheblichen Herstellungskosten der »Kopenhagener Ausgabe« des Messias wurden vom dänischen König übernommen. Diese Ausgabe war quasi königlich ausgestattet: »großes Quartformat (›Royal-Format‹), lichter Satzspiegel, breite Ränder und gutes Papier«. (HKA, Addenda II, S. 268.) 561 Klopstock berichtet seinen Eltern in einem Brief vom Dezember 1755, dass »das Titul Kupffer« von Preisler gestochen werde, »der einer von [den] grösten heutigen Meistern« sei. (Brief von Klopstock an Anna Maria und Gottlieb Heinrich Klopstock, vor dem 26. und am 26. oder 28. Dezember 1755. In: HKA, Briefe III, Nr. 29, S. 29f., hier S. 29, Z. 9 und Z. 10f.) Das Titelkupfer wurde wahrscheinlich erst Ende Januar 1756 fertiggestellt. (Vgl. HKA, Briefe III, S. 187.) Von der Kupferplatte dieses Stiches wurde später ein neuer Abdruck hergestellt und in den 1770er Jahren zum Verkauf angeboten. Klopstock bedankte sich bei den Beförderern seiner nach dem Verfahren der Subskription vertriebenen Deutschen Gelehrtenrepublik, indem er ihnen in den Jahren 1773 und 1774 Abzüge dieses Kupferstiches als Geschenk sandte. (Vgl. HKA, Addenda II, S. 297.)

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Abb. 1: Titelkupfer von Johann Martin Preisler für die »Kopenhagener Ausgabe« des Messias von Friedrich Gottlieb Klopstock, Band 1, 1755: Die heilige Muse, o. O., [1755]. Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg, Signatur: KN : 1a, (CC BY-SA 4.0)

Episoden

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Johann Caspar Heß interpretierte die fiktive Musenfigur des Messias in den Züricher Freymüthigen Nachrichten im September 1749 als Allegorie, d. h. als Personifikation von Klopstocks »heiliger Poesie«: Die heilige Muse, oder wie sie der Poet auch nennet, die Muse von Tabor, ist nichts anders, als die Christliche Dicht-Kunst, das ist, die geheiligte Kunst von den Evangelischen Wahrheiten so zu dichten, wie es mit dem Grund der Evangelischen Historie überein kömmt, und der Hoheit und Heiligkeit der Christlichen Religion geziemend ist.562

4.5

Episoden

Die mehrteiligen Episoden in einem Epos zeichnen sich durch ihre gattungstypische Selbstständigkeit aus. Somit können sie zahlenmäßig prinzipiell vermehrt oder vermindert werden. Episoden haben eine retardierende Funktion, d. h., sie sind Elemente der Digression in der Gesamtkomposition eines Heldengedichts. Gottsched bezeichnet sie in seiner Regelpoetik als »Zwischenfabeln«, die »zwar mit der Hauptsache auch zusammen hängen [müssten], aber nicht so nothwendiger Weise«.563 Der Verfasser eines Epos »hätte sie auch auslassen und andre an die Stelle setzen können«.564 Als Beispiel hierfür nennt er etwa die Dido-Episode in Vergils Aeneis.565 Klopstock äußerte sich mehrmals rückblickend in den Jahren 1797 und 1799 über die Konzeption der Episoden im Messias: Gute Episoden eines Gedichts sind die, ohne welche zwar das Ganze ein Ganzes bleibt, die aber doch in dieß mit so vielen u so festen Faden verwebt sind, daß der Zuhörer, wenn er sich nicht gerade mit der kritischen Untersuchung beschäftigt an das nicht denket, was man episodisch nent.566

Die Intention des Dichters war es demnach, die Episoden eng mit dem Hauptgeschehen des Bibelepos zu verknüpfen. Im Folgenden werden drei Episoden 562 Fortsetzung des Schreibens von H. P. A. (= Heß, Pfarrer von Altstetten) In: Freymüthige Nachrichten von Neuen Büchern, und andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen. 6. Jahrgang. XLV. Stück (5. Wintermonat [November] 1749). Zürich 1749. S. 354–357, hier S. 357. Das Schreiben ist datiert auf den 24. September 1749. 563 Gottsched: AW VI 2, S. 297f. 564 Ebd., S. 298. 565 Vgl. ebd. Gottsched interpretiert auch Odysseus’ Aufenthalte bei Kalypso (Homer : Odyssee, 5. Gesang) und Kirke (10. Gesang) als Episoden: »Z. E. die Fabel von der Circe oder Calypso in der Odyssee, hängt sehr wohl mit dem ganzen Gedichte zusammen; aber sie waren beyde nicht unentbehrlich. Ueberhaupt mußte zwar Ulysses, in seiner Abwesenheit von Hause irgendwo seyn: aber deswegen nicht gerade bey der Circe.« (Ebd.) 566 Friedrich Gottlieb Klopstock: Über den »Messias« (1797–1801). In: HKA, Werke IV 3, S. 171–174, hier S. 173.

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des Messias herausgegriffen – die Samma-Joel-Benoni-Episode, die PortiaEpisode und die Semida-Cidli-Episode –, die einerseits die enge Verbindung dieser Nebenhandlungen mit der epischen Haupthandlung zeigen, da sie sich alle auf den Helden, den Messias, beziehen, und andererseits Klopstocks Agon mit der antiken und neuzeitlichen Epentradition beweisen. Die Samma-Joel-Benoni-Episode beginnt im II. Gesang des Messias. Der epische Sänger erzählt hier von der Heilung des von Satan besessenen Samma durch den Messias (II, 100–236). Demnach findet sich in dieser Szene des Bibelepos eine freie poetische Ausgestaltung der im Neuen Testament bezeugten Exorzismen durch Jesus (vgl. Mt. 8,28–34; Mk. 5,1–20; Lk. 8,26–39).567 Der mit Wahnsinn geschlagene Samma verweilt zusammen mit seinem ältesten Sohn Joel am Grab seines von ihm ermordeten »jüngsten geliebteren Sohns« (II, 107) Benoni und wird weiterhin von Satan gequält, bis Jesus eine Teufelsaustreibung vornimmt und damit seine Macht als Gottessohn demonstriert. Die in der Vergangenheit liegende Mordszene wird in indirekter Rede vom epischen Erzähler geschildert: Jenen todten, den der Vater beweint’, und der Bruder, Brachte die zärtliche Mutter einst, erweicht durch sein Flehen, Mit in die Gräber zum Vater hinab, zu dem Vater im Elend, Den jetzt Satan in grimmiger Wuth bey den Todten herumtrieb. Ach mein Vater! so rief der kleine geliebte Benoni, Und entflohe der Mutter Arm, die ängstlich ihm nachlief; Ach mein Vater, umarme mich doch! und krümmt’ um die Hand sich, Drückte sie an sein Herz. Der Vater umfasset ihn, bebet! Da mit kindlicher Inbrunst nun der Knab’ ihn umarmte, Da er mit sanft liebkosendem Lächeln ihn jugendlich ansah, Warf ihn der Vater an einen entgegenstehenden Felsen, Daß sein zartes Gehirn an blutigen Steinen herabrann, Und mit leisem Röcheln entfloh die Seele voll Unschuld. (II, 111–123)

Diese tragische Geschichte erinnert an den antiken Mythos von Athamas und Ino im vierten Buch der Metamorphosen Ovids (4. Buch, V. 416–542).568 Der römische Dichter erzählt hier in seinem hexametrischen Lehr- und Heldengedicht von Athamas und Ino, die zwei Söhne haben, Learchus und Melicertes. Athamas wird von der erzürnten Göttin Juno mithilfe der Furie Tisiphone mit Wahnsinn geschlagen und glaubt daraufhin, sich auf der Jagd nach einer Löwin und ihrer zwei Jungen zu befinden. Er entreißt seiner Frau seinen Sohn Learchus und schleudert diesen im Wahn gegen eine Felswand. Nach diesem Mord stürzt sich die ebenfalls wahnsinnige Ino zusammen mit ihrem anderen Sohn Meli567 Vgl. HKA, Werke IV 3, S. 276. 568 Vgl. ebd., S. 277.

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certes von einem Felsen und beide werden in Meeresgottheiten verwandelt. Die entsprechende Vergleichsszene in den Metamorphosen Ovids zur Mordszene im Messias lautet: utque ferae sequitur vestigia coniugis amens, deque sinu matris ridentem et parva Learchum bracchia tendentem rapit et bis terque per auras more rotat fundae rigidoque infantia saxo discutit ora ferox; […] (Liber IV, V. 515–519) Und er verfolgt die Spur seines Weibes wie die eines Wildes, reißt von der Mutter Brust den Learchus, der lächelnd die kleinen Arme entgegen ihm streckt; durch die Luft nach der Schleuderer Weise wirbelt er zweimal und dreimal ihn wild und zerschmettert des Kindes Stirn an der steinernen Wand. […]569

Auch im ›Lehrepos‹ Ovids schleudert der besessene Vater den Kopf seines Kindes an einen Felsen, wobei der epische Erzähler hier weitere grauenvolle Details ausspart, wie etwa das Herabrinnen des »zarte[n] Gehirn[s] an blutigen Steinen« (II, 122) und das »leise[.] Röcheln« (II, 123) des sterbenden Benoni im Messias. Die gewaltsame Tat, d. h. die Ermordung des unschuldigen Sohnes durch den wahnsinnigen Vater, zeigt demnach deutliche Parallelen, so dass man hier von der ›Christianisierung‹ eines antiken Stoffes sprechen kann. Zugleich ist diese schaurige Szene im Messias Ausdruck der »Ästhetik des Schrecklichen« im 18. Jahrhundert.570 Evident schrecklich-erhabene Szenen gibt es nur sehr wenige in Klopstocks Bibelepos. Vergleichbar mit der Ermordung des kleinen Benoni im II. Gesang sind etwa die Selbstmorde des Verräters Judas Ischariot im VII. Gesang, der sich erwürgt (VII, 142–245), und des Pharisäers Philo im XIII. Gesang, der sich in einem Anfall von Wahnsinn ein Schwert in die Eingeweide stößt, sich im eigenen Blut wälzt, sich die selbst zugefügte Wunde noch weiter aufreißt und sein Blut gen Himmel spritzt, bis er schließlich stirbt (XIII, 940– 1003). Dieser Anfang der Samma-Joel-Benoni-Episode im II. Gesang des Messias wurde von den Zeitgenossen kontrovers diskutiert. Die Mordszene erregte zum einen Anstoß und wurde offensichtlich als zu ekelerregend und grauenvoll abgelehnt. Johann Georg Sulzer beispielsweise schreibt in einem Brief an Bodmer vom 26. Januar 1750: »Ich wollte was darum geben, daß ich die Stelle im Messias, 569 Publius Ovidius Naso: Metamorphosen. In deutsche Hexameter übertragen und hrsg. v. Erich Rösch. Mit einer Einführung von Niklas Holzberg. 11., überarb. Aufl. München / Zürich 1988. (Sammlung Tusculum.) S. 148–151 (4. Buch, V. 515–519). 570 Vgl. hierzu: Carsten Zelle: »Angenehmes Grauen«. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert. Hamburg 1987. (Studien zum achtzehnten Jahrhundert; 10.)

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wo der Besessene seinen Sohn zerschmettert, niemals gelesen hätte […]«.571 Einige Monate später berichtet Sulzer seinem Züricher Freund, dass ihm Albrecht von Haller während seines Besuches in Göttingen gesagt habe, dass im Messias »Sachen« seien, »die man nicht könne stehen lassen«.572 Unter diese zähle er die Episode, in der »Satan den Samma zwing[e], seinen Sohn in Gegenwart des Erlösers zu zerschmettern«.573 Es zeigt sich in diesen Aussagen, dass Sulzer und/oder Haller offenbar den richtigen Handlungsverlauf der epischen Szene nicht mehr ganz genau im Kopf hatten, denn Benoni ist längst tot und begraben, als der Messias im Gräberfeld erscheint und den wahnsinnigen Samma von Satan befreit. Das genannte Motiv wird innerhalb der Episode allerdings von Klopstock wiederholt aufgegriffen, denn Satan will Samma ebenso am Felsen zerschmettern wie dieser zuvor seinen eigenen Sohn ermordet hatte: […] Itzt erhub er [Satan; I. G.] sich wieder, Rüstete sich mit des Todes Schrecken, und stürzt’ auf Samma. Samma sprang auf, dann fiel ohnmächtig von neuem er nieder. Sein erschütterter Geist, (er rang noch kaum mit dem Tode!) Riß ihn, von dem mördrischen Feind’ empöret zum Unsinn, Felsenan. Hier wollt’ ihn, vor deinen göttlichen Augen, Richter der Welt, am hangenden Felsen Satan zerschmettern. (II, 139–145)

Offensichtlich hat Haller diese Szene mit der vorigen (II, 111–123) in der Episode verwechselt, die er lieber getilgt gesehen hätte. Ganz anders wurde dieser Episodenbeginn (II, 100–236) etwa vom Hallenser Ästhetiker Meier bewertet. Er bezeichnet diese Stelle im Messias in seiner Beurtheilung des Heldengedichts (1749; 2. Aufl. 1752) als »ein rechtes Meisterstück«574 und sieht sie vor allem als ›herzrührend‹ an. Die »poetische[.] Beschreibung der Gräber der Todten«, die in den einleitenden Versen zu diesem Episodenteil erfolgt (II, 100–105), verursache beim Leser »ein schauerndes Grauen« und in der Darstellung des Besessenen, die abwechselnd »Entsetzen und Mitleiden« erwecke, zeige der Dichter »durch die fürchterlichsten Bilder« trefflich »den Zustand dieses Elenden«.575 Niemand könne bei der Erzählung der Ermordung Benonis »ungerührt bleiben«.576 Die Schilderung der Errettung

571 Brief von Sulzer an Bodmer, 26. Januar 1750. In: Briefe der Schweizer Bodmer, Sulzer, Geßner. Aus Gleims litterarischem Nachlasse. Hrsg. v. Wilhelm Körte. Zürich 1804. S. 122– 127, hier S. 126. 572 Brief von Sulzer an Bodmer, 15. September 1750. In: Briefe der Schweizer Bodmer, Sulzer, Geßner, S. 149–152, hier S. 150. 573 Ebd. 574 Meier : Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias. Erstes Stück (1752), S. 38. 575 Ebd. 576 Ebd., S. 39.

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Sammas durch den Messias sei ebenfalls »zärtlich und rührend«.577 Meier kommentiert diesen Episodenteil abschließend folgendermaßen: »Der Dichter hat aus der gantzen Natur alles schreckliche Grosse und Wilde aufgesucht, um die Einbildungskraft der Leser mit finstern und dabey grossen Bildern anzufüllen. Der Dichter erweckt allerwegen Leidenschaften, aber lauter solche, die sich für die Materie schicken.«578 Die »Übertragung des antiken Mythos« aus Ovids Metamorphosen »in ein christliches Milieu« im Messias Klopstocks wurde von den zeitgenössischen Kritikern »nicht vermerkt«, so dass sich leider nicht mehr nachvollziehen lässt, »ob sie ignoriert oder übersehen wurde«.579 Ein weiteres ähnliches Beispiel für eine ›imitatio auctorum‹ und ›aemulatio‹ im Bibelepos, das sich leicht als solches erkennen lässt, findet sich im XVI. Gesang: Der epische Sänger erzählt hier in einer Szene von dem frommen Bettler Elisama, der beim ersten Gericht des Messias auf Tabor belohnt wird (XVI, 261–275). Er wird als gottesfürchtiger Dulder mit einem empfindsamen Herzen charakterisiert: Endlich hatt’ Elisama sein graues Haupt in die Grube Niedergelegt, ein dürftiger Greis, der wankend am Stabe Vor der Thür der Reichen sein Brodt erflehte, sein Wasser Schöpft’ aus den Quellen. Er war empfindliches Herzens gewesen, Aber geduldig. Ein Held, wie wenige, hatt’ er des Lebens Größte Trübsal nicht nur ertragen, hatte den Schöpfer Aller Dinge, den Geber der Freud’ und des Schmerzes, gepriesen. Könige konnt’ er ehren; und wurde so gar von den letzten Unter dem Volk verachtet. […] (XVI, 261–269)

Entscheidend sind folgende Hexameterverse über den verstorbenen Elisama: »Er lag schon lang’ auf dem Lager j Todt, und noch kam keiner, der ihn begrübe; da leckt’ ihm j Einmal sein Hund noch die kalte Hand, und starb.« (XVI, 269– 271) Hier erkennt man sofort die entsprechende Vergleichsszene im 17. Gesang der Odyssee Homers, in der der alte Hund Argos als Einziger sogleich seinen als Bettler verkleideten Herrn Odysseus erkennt, schwach mit seinem Schwanz wedelt und daraufhin stirbt (17. Gesang, V. 291–327).580 Die Bezeichnung Elisamas als »[e]in Held, wie wenige« (XVI, 265) im Messias markiert diese Szene bereits als Wettstreit Klopstocks mit der Epentradition. Es ist ganz typisch für Klopstock, das Schicksal seiner erfundenen epischen Charaktere nicht offen zu lassen. So erfährt der Leser, dass die unsterbliche Seele Elisamas vor dem göttlichen Richter steht (XVI, 271f.). Ein »freudestrahlender 577 578 579 580

Ebd., S. 41. Ebd., S. 42. HKA, Werke IV 3, S. 277. Vgl. Franz Muncker : Friedrich Gottlieb Klopstock. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. Stuttgart 1888. S. 135, Anm. 2.

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Cherub« (XVI, 272) bringt ihm eine Krone (XVI, 272f.), die auch die christlichen Märtyrer als Auszeichnung erhalten, worauf die anderen himmlischen Bewohner folgendermaßen reagieren: »Im weiten Kreise der Engel j Und der Erstandnen walleten leisere Lispel, der Freude j Stimmen umher, da der Cherub die Krone dem duldenden brachte.« (XVI, 273–275) Auch die »Seele des treuen Hundes« (XVI, 337) von Elisama findet auf der Stufenleiter der Geschöpfe Gottes ihren Platz und wird »zum Seelengeleiter in den unteren jenseitigen Bezirken«:581 Irgendwo in Gefilde der Ruh wird eines Säuglings Seele geführt. Auf einem der Blumenfelder begegnet Ihr die Seele des einzigen Freundes, den Elisama Übrig behielt, und der dem entschlafnen Greise die Hand noch Leckt’, und starb. Die Seele des treuen Hundes gesellet Sich zu der Seele des Säuglinges, folgt ihr, und will sich nicht trennen. Dieser verstößt sie nicht; bald aber wird sie sich dennoch Trennen müssen, wenn er nun hinauf in höhere Sterne Steigt; doch gesellt sie sich gern zu neuankommenden Seelen. (XVI, 333–341)

Die Samma-Joel-Benoni-Episode setzt sich aus insgesamt sechs Teilen zusammen (II, 100–236; IX, 65–94; XI, 1343–1436; XIII, 369–394; XV, 1087–1239; XIX, 506). Das eigentlich Schrecklich-Erhabene und die heftigen Affekte nehmen schon im ersten Episodenteil verhältnismäßig wenige Hexameterverse ein. Es überwiegt folglich in den Klagen Sammas und Joels deutlich die empfindsame Stimmung. Der Vater drückt seine Trauer und seinen tiefsten Seelenschmerz beispielsweise in wiederholten Klagen und durch das Vergießen von Tränen aus: »Mein Sohn, Benoni! j Ach Benoni, mein Sohn! so sagt er, und jammernde Thränen j Stürzen vom Auge, das bricht, und langsamstarrend dahinstirbt.« (II, 125–127) Sein Sohn Joel greift diese verzweifelten Ausrufe seines Vaters am Ende der Episode im II. Gesang nochmals auf: »Mein lieber Benoni! j Ach Benoni, mein Bruder! dich lass’ ich zurück in dem Grabe!« (II, 228f.) Die Funktion der Episode im II. Gesang des Messias besteht darin, sowohl auf die Vorstellung der Hölle und ihrer Bewohner einzustimmen, die anschließend erfolgt, als auch die Überlegenheit und Allmacht des Gottessohnes zu offenbaren, der hier vom Erzähler ausdrücklich als »Erlöser« (II, 210) bezeichnet wird: Stirb indeß noch, Verlaßner, vor mir! Er [Satan; I. G.] sprachs, und er stürzte Stürmend auf Samma. Allein des ruhigschweigenden Mittlers Stille verborgne Gewalt kam, gleich des Vaters Allmacht, Wenn er Untergang unerforscht auf Welten herabwinkt, Satan in Zorne zuvor! Er floh, und vergaß im Entfliehen, Unter allmächtigem Fuß zu verwüsten das Meer und die Erde. (II, 191–196) 581 HKA, Werke IV 6, S. 397 (Kommentierendes Namenregister).

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Der Menschenfreund rettet Samma und schenkt ihm damit »von neuem« sein Leben (II, 207f.). Die Heilung des von Satan Besessenen präfiguriert somit die Erlösung der Menschheit durch den Kreuzestod Jesu und die letztendliche Ohnmacht des Teufels. Jesus gebietet Samma trotz dessen Bitte, ihm nicht zu folgen. Er erteilt ihm stattdessen folgenden Befehl: »doch verweile dich künftig j Oft an der Höh der Schädelstäte«, um dort »die Hoffnung j Abrahams und der Propheten« mit eigenen Augen zu sehen (II, 211–213). Diese Aufforderung des Messias, nach Golgatha zu gehen, und die anhaltende Trauer um den toten Sohn und Bruder motivieren den weiteren Verlauf der Samma-Joel-Benoni-Episode.582 Die Fortsetzung erfolgt zunächst im IX. Gesang (IX, 65–94). Auf dem Weg nach Golgatha begegnet Samma dem Schatzkämmerer der Königin von Äthiopien, Candace, der auf der Reise von Jerusalem nach Gaza von Philippus zum Christentum bekehrt worden war (vgl. Apg. 8,27)583 (IX, 91–93). Vor der Kreuzigung des Gottessohnes bekennt sich Samma öffentlich zu diesem und klärt den fremden Mann über die vollbrachten Wunder des Messias auf: Was er verbrach? Sie tödten ihn, weil er den Kranken Genesung, Gehende Füße den Lahmen, den Tauben Ohren, den Blinden Augen gab, die Beseßnen, ich war der Elenden Einer! Ihren Qualen entriß! ach weil er die Todten erweckte; Weil er in mächtigen Reden die Pforten des ewigen Lebens Unseren Seelen eröffnete; weil er ein göttlicher Mann war! (IX, 70–75)

Samma verweist letztlich den »Fremdling« (IX, 69) auf den Jünger Petrus, der ihn darüber unterrichten solle, »warum sie den Göttlichen tödten« (IX, 81). In diesem Episodenteil tritt Samma demnach als unmittelbarer Zeuge der bewirkten Wunder Jesu auf, die sonst vor der erzählten Handlung liegen, d. h., hier werden erzähltechnisch vergangene Taten aus dem Leben und Wirken des Messias nachgeholt. Im XI. Gesang wird die leibliche Auferweckung Benonis von den Toten erzählt (XI, 1343–1436). Joel hat Golgatha nach dem Tod von Jesus am Kreuz verlassen. Er eilt an das Grab seines unschuldig ermordeten Bruders und klagt dort: »Er ist mir noch Einmal gestorben!« (XI, 1354) Demnach hat der Kreuzestod des Messias den Tod seines Bruders Benoni nochmals vergegenwärtigt. Joel beweint seinen toten Bruder hemmungslos und untröstlich. Er ahnt nicht, dass die Seele Benonis und sein Engel inzwischen beim Grab angelangt sind und sich über ihn unterhalten. Für Joel unhörbar reagiert Benoni auf dessen Klagen über seine Einsamkeit:

582 Vgl. Martin: Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert, S. 128. 583 Vgl. HKA, Werke IV 6, S. 392 (Kommentierendes Namenregister).

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J. Hingegangen bist du, und hast allein mich gelassen, Mein Benoni! du Blume von schnellem Sturme gebrochen, Duftende Morgenblume, des Thales Saron die schönste! B. Hingegangen, mein Joel, mein Bruder Joel, zu wachsen Hoch im Himmel ein Schatten empor an dem Strome des Lebens. J. Unser Vater ist alt! Dein Tod, dein Tod, o Benoni, Wird auch ihn mir nehmen, und ach hinab in die Grube Bringen mit Herzeleid sein graues Haar! Ich der Waise, Und der bruderlose wie werd’ ich schmachten, und dürsten Nach des Todes Kelch, der anderen bitter, mir süß ist! (XI, 1370–1379)

Benoni bittet seinen Engel, den scheinbar unauslöschlichen Schmerz von seinem Bruder zu nehmen und seine Tränen zu trocknen (XI, 1380f.). Doch der Seraph verweist auf die von Gott festgesetzte Stunde, in der Joel erst sein Leid genommen werde (XI, 1382f.). Joel wünscht sich indes verzweifelt »ein kurzes Leben« (XI, 1400), da er ohne seinen jüngeren Bruder und wohl bald auch ohne seinen Vater weiterleben muss. Benoni erhält plötzlich einen unsterblichen Leib (XI, 1408–1419), während Joel dessen verherrlichende Auferstehung nur erahnen kann (XI, 1420–1427), da die Erde kurz bebte und sich der moosbewachsene Grabstein bewegte. Unversehens erscheint auch Samma, da er seinen Sohn Joel sucht, und entflieht gemeinsam mit ihm dem grauenvollen Ort der Gräber (XI, 1427–1436). Der unsterbliche Benoni, für die beiden Menschen unsichtbar und unhörbar, kommentiert freudig das Eintreffen seines Vaters: »Ach weine, du redlicher Alter, j Nicht bey meinem Grabe! Ich bin ja so selig, und leer ist j Meines Staubes der Staub, den dieser ruhende Stein deckt.« (XI, 1428–1430) Die Funktion dieses dritten Teils der Samma-Joel-Benoni-Episode besteht in der ›herzrührenden Wirkung‹, die auf ein empfindsames Lesepublikum abzielt. Der Rezipient soll den Jammer Joels nachempfinden und dabei selbst Tränen vergießen. Rührend ist auch die Schlussszene dieses Episodenteils: Samma spricht seinen väterlichen Segen aus: »Gott, Gott segne dich, Joel.« (XI, 1434) Benoni greift diesen wortwörtlich auf: »Gott, Gott segne dich bald, […] j Mit dem ewigen Leben, du duldender redlicher Vater!« (XI, 1435f.) Derart formelhafte Wiederholungen, d. h. Parallelismen, und das Wiederaufgreifen von Motiven in den Figurenreden sind typisch für die pathetisch-erhabene Sprache in Klopstocks Bibelepos. Im XIII. Gesang des Messias tritt einzig Benoni auf (XIII, 369–394). Der Auferstandene empfängt in dieser epischen Szene die Seele der verstorbenen Maria von Bethanien und fordert diese dazu auf, auch »eine Sängerin Gottes« zu werden (XIII, 375). Die ersten Verse ihres Dialogs zeichnen sich ebenfalls durch einen gleichen semantisch-syntaktischen Satzbau aus: […] B. Du hast ihn nicht sterben gesehen; Dort, dort starb er! allein du siehst ihn erwachen, Maria!

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Ihm antwortet Maria: Ich hab’ ihn nicht sterben gesehen; Ach dort starb er! allein ich seh’ ihn, Benoni, erwachen! (XIII, 370–373)

Diese Szene bereitet den Leser auf die bevorstehende Auferstehung des Messias vor, bei der alle epischen Nebenfiguren anwesend sind. Im nächsten Teil im XV. Gesang des Bibelepos treffen endlich die drei Figuren der Samma-Joel-Benoni-Episode wieder aufeinander (XV, 1087–1239): Samma und Joel befinden sich inmitten einer klagenden Versammlung von Anhängern Jesu Christi, die die inzwischen erfolgte Auferstehung des Gottessohnes noch nicht glauben können. Benoni erscheint nun seinem Vater und Bruder in der Gestalt eines Engels (XV, 1122). Samma glaubt, dass nun sein Lebensschicksal »[m]it dem süßesten Wiedersehn, das jemals erlebt ward!« (XV, 1206), enden werde, und erinnert sich nochmals an seine erlittenen Qualen vor und nach der Ermordung seines Sohnes im Zustand der Besessenheit: S. Gott! wie endetest du mein Schicksal! Wie konnt’ ich es wagen Das zu hoffen, als meine verfinsternde Schwermuth, dieß Elend Über alles Elend, begann, ich mir mein noch bewußt war, Und nur Nächt’ erblickt’ um mich her, Labyrinth und Abgrund! Nichts im Künftigen sah, als schwarze Schrecken! Nun wich mir Meine Vernunft! Ich zermalmte dich, Sohn, an dem blutigen Felsen, Ach, zu durchweinen, so dacht’ ich bis heut, mein übriges Leben! Und dieß alles endiget sich, mit der Wonne der Himmel! (XV, 1198–1205)

Er erkennt in dem kurzen Wiedersehen mit seinem toten Sohn den Willen eines sich erbarmenden Gottes und wendet sich demgemäß mit folgenden Worten an Benoni: Wie hat der dich begnadet, der mein durch dich sich erbarmt hat! Sieh, ich weiß es, du gehest von mir ; doch es soll mir kein Abschied Seyn, wenn du gehest! Ich werde vor mir dich immer erblicken, Wie du, ein Erbe des Himmels, in deiner Herrlichkeit dastandst! Kaum, daß es Wiedersehen genannt darf werden, wenn drüben Über den Gräbern ich dich in deiner Herrlichkeit sehe. (XV, 1208–1213)

In der letzten Szene dieses Episodenteils erbittet Samma den Segen Benonis, den ihm dieser erteilt (XV, 1214–1222), und auch Joel erhält den himmlischen Segen seines Bruders (XV, 1223–1232), bis dieser plötzlich vor »der betenden Auge« (XV, 1232) verschwindet. Die enge Verbindung dieser epischen Szene der Episode mit den vorigen zeigt sich auch in zwei Motiven, auf die in den Reden der Figuren rekurriert wird: Hatte Joel im XI. Gesang bereits den baldigen Tod seines Vaters befürchtet, so reflektiert Samma in seiner Rede über das jenseitige Dasein. Der alte Vater sieht das ewige Leben als »wirkliches Leben« (XV, 1217) an, denn das irdische Leben sei nur Schlaf und aus dem letzten werde man irgendwann aufgeweckt (XV,

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1218). Benoni erhebt daraufhin »die festgefalteten Hände« (XV, 1219) und spricht folgendes segnendes Gebet: »Bald denn komme dein letzter [Schlaf], und sanft, wie Simeons Tod kam, j Theurer Vater!« (XV, 1221f.) Joel hatte sich in seinem Kummer »ein kurzes Leben« (XI, 1400) gewünscht und auch im Moment der Erscheinung seines engelsgleichen Bruders bemerkt er : »Ach! ich bäte dich auch um deinen Segen; allein ich j Fürchte, Benoni, daß du mit langem Leben mich segnest.« (XV, 1223f.) Benoni erteilt Joel deswegen folgende gleichnishafte Lehre: B. Jüngling, du fürchtest größeren Lohn! Je tiefer des Guten Leben hier wurzelt, je höher wächst sein Wipfel im Himmel, Und je ausgebreiteter schatten die volleren Zweige. […] […] Nimm hin den Segen der Segen, Und das ewige Leben: Der Gott, der Jesus erweckt hat, Führe zu Jesus dich! […] (XV, 1225–1232)

Wiederholte und vergegenwärtigte die Kreuzigung des Messias den Tod Benonis, so beseitigt die Erscheinung des auferstandenen Bruders in einer »leuchtende[n] Jünglingsgestalt« (XV, 1122) die Zweifel Joels an der Auferstehung Jesu Christi.584 Zudem werden die tiefe Trauer und der tränenreiche Trennungsschmerz von Samma und Joel genommen. Mit dieser ›herzrührenden‹ Wiedersehensszene endet eigentlich diese Episode im Messias. Joel und Samma werden allerdings im XIX. Gesang nochmals kurz namentlich erwähnt. Beide befinden sich hier unter den 500 Anhängern Jesu, denen der auferstandene Messias auf Tabor erscheint (XIX, 506). Somit hat sich auch der Segen Benonis bereits auf Erden erfüllt (vgl. XV, 1231f.) und Joel begegnet noch dem Versöhner kurz bevor dieser in den Himmel auffährt. Bemerkenswert ist auch die Einfügung der mehrteiligen Samma-Joel-Benoni-Episode in die Gesamtkomposition des Messias, beginnt sie doch im zweiten und endet im vorletzten Gesang. Die Portia-Episode besteht ebenfalls aus mehreren Teilen, die eng mit dem Hauptgeschehen des Epos verknüpft sind. Im Neuen Testament ist die Frau des römischen Statthalters Pontius Pilatus anonym (Mt. 27,19). Sie warnt ihn lediglich davor, den Gerechten zu verurteilen, da sie einen prophezeienden Traum gehabt habe.585 Aus nur einem Bibelvers ›erdichtet‹ Klopstock demnach eine ganze Episode und demonstriert in ihr die Bekehrung einer ›Heidin‹ zum 584 Vgl. Martin: Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert, S. 130. 585 »VND da er [Pilatus; I. G.] auff dem Richtstuel sass / schickte sein Weib zu jm / vnd lies jm sagen / Habe du nichts zuschaffen mit diesem Gerechten / Jch habe heute viel erlitten im trawm / von seinet wegen.« (Mt. 27,19) Vgl. HKA, Werke IV 6, S. 431 (Kommentierendes Namenregister).

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Christentum. Eingeführt wird dieser von Klopstock erfundene Charakter in mehreren, verstreuten Einzelszenen im VI. Gesang des Messias (VI, 238–257, 334–368, 517–538): Portia eilt in Begleitung von einigen Sklaven zum Gerichtssaal, begierig »den großen Propheten j Endlich zu sehn« (VI, 246f.). Der epische Erzähler bemerkt hierzu, dass sie »des Ewigen Vorsicht« (VI, 250) geleitet habe, d. h., ihr Schicksal ist bereits vorherbestimmt. Die Römerin wird hier als Beobachterin des Messias charakterisiert: »Sie sah den erhabnen Mann, mit Bewundrung, j Heiß von Erwartung, und froh, daß mit dieser Ruh’ er vor seinen j Hassern, und vor dem gezückten Schwerte des Todesurtheils j Dastand.« (VI, 254–257) Portia bewundert demnach die Standhaftigkeit Jesu vor seinen ihn anklagenden Todfeinden (vgl. VI, 334f.) und »forscht […] mit feurigem Auge j Um sich herum, ob sie unter der Menge nicht edlere fände, j Welche mit ihr den Propheten bewunderten«. (VI, 338–340) Der auktoriale Erzählerkommentar macht deutlich, dass sie vergeblich »[g]ute Seelen« gesucht habe, »in einem Volke, das reif war j Bald gerichtet zu werden« (VI, 340–342). Von einem erhöhten Standpunkt aus sieht sie von fern einen Mann, der sich an einem Feuer wärmt (VI, 344f.). Sie beobachtet die Verleugnung des Simon Petrus (Mk. 14,66– 72; Mt. 26,69–75; Lk. 22,54–62; Joh. 18,15–27), die hier im Epos mit der Erzähltechnik der ›abbreviatio‹ sehr komprimiert geschildert wird: Einen bemerkte sie nur, der fern in dem untern Pallaste Mit dem Haufen am Feuer sich wärmte. Sie schauten ihn wild an, Und sie stritten mit ihm: er widerlegte sie feurig. Endlich schien ihm der Muth zu entsinken, und bleich und verwildert Schaut’ er um sich herum, dann wieder auf den Propheten. (VI, 344–348)

Portia missversteht die Verleugnung Jesu durch seinen Jünger und interpretiert das unten ablaufende Geschehen als einen Rettungsversuch des Simon Petrus: Ach, der Mann ist sein Freund, so dachte die Heidin, er strebet Ihn zu retten, und will, daß dieser Pöbel die Wege, Welche der Weise wandelt, begreife: Wie edel er lebte, Und wie menschlich er war, und Gutes ohne Geräusch that. Aber sie fassen ihn nicht, und drohn, ihn auch vor den Pöbel, Der dort richtet, zu führen. Davor erschrak er, und bebte Vor dem Tode zurück, den ihm die Wüthenden drohten. (VI, 349–355)

Doch Petrus verteidigt den Messias nicht und verbreitet auch nicht dessen Lehre, sondern er behauptet drei Mal ihn nicht zu kennen, bis der Hahn kräht. Die Römerin charakterisiert in ihrem vom epischen Erzähler geschilderten Gedankengang Jesus: Er ist für sie »der Weise« (VI, 351; vgl. VI, 361), ein edler Mensch (vgl. VI, 351f.), der sich durch gute Taten auszeichnet (vgl. VI, 352). Portia stellt Vermutungen über die Motivation von Simon Petrus an: »Und ihn sandte vielleicht des Bedrängten Mutter, und fleht’ ihm, j Hingesunken in

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Thränen vor ihm, daß er ging’, und vom Tode, j Ach vom Tode befreyte der Söhne besten und liebsten!« (VI, 356–358) Typisch für den weiteren Verlauf dieser Episode ist die Reflexion der epischen Nebenfigur Portia über ihre eigenen Empfindungen, die sich stets um die Hauptfigur Jesus Christus drehen, und der Bezug zu Maria, der Mutter des Gottessohnes. Die Römerin bezeichnet Maria als »liebenswürdige Mutter, j (Liebenswürdig ist sie, sonst hätte sie ihn nicht geboren, j Diesen Weisen!)« (VI, 359–361), und glaubt, dass sie gewiss »vor Schmerz und Jammer« versinke (VI, 361), wenn sie höre, wie ihr Sohn im Synedrium angeklagt werde. Portia sinniert über ihre leidenschaftlichen Gefühle und versucht, deren ›herzbewegende‹ Ursache zu ergründen: Aber was ist es in mir, daß zu so zärtlichen Sorgen Für die Unbekannte mein Herz mit Empfindungen aufwallt, Die ich niemals empfand? Sind es Wünsche, den edlen geboren, Ihn der Erde gegeben zu haben? Dein Leben verfließe, Mutter, zu glückliche Mutter! voll Stolzes auf ihn! und dein Auge Seh’ ihn nicht sterben; obgleich sein Tod die Erde wird lehren! (VI, 363–368)

Nachdem der Hohepriester Kaiphas und der Pharisäer Philo ihre Reden gehalten haben, falsche Zeugen aufgetreten sind und Jesus einstimmig auch vom judäischen Volk zum Tode verdammt wurde, kommt der Erzähler wieder auf die Frau des Pontius Pilatus zu sprechen, die das Vorgehen im Gerichtssaal währenddessen beobachtet hat (VI, 517–540): »Portia sah den Göttlichen leiden; j Konnte den bangen Anblick nicht mehr ertragen; erhub sich j Auf den Söller.« (VI, 517– 519) Die römische Heidin schickt verzweifelt ein Gebet zum Himmel (VI, 521– 538), gerichtet an den »erste[n] der Götter! j Der die Welt aus Nächten erschuf, und dem Menschen ein Herz gab!« (VI, 521f.): »Wie dein Namen auch heißt, Gott! Jupiter! oder Jehovah! j Romulus, oder Abrahams Gott! nicht einzelner Menschen, j Nein! du Aller Vater und Richter!« (VI, 523–525) Portia zerreißt es die Seele aus Mitleid. Sie bittet weinend darum, dass der »Gott der Götter« (VI, 538) auf dem »Olympus« (VI, 529) den leidenden Messias belohne und ihn auch bewundere, wenn ihm das als Gott überhaupt möglich sei (vgl. VI, 538). Klopstock greift am Ende dieses ersten Episodenteils im VI. Gesang nochmals ein Motiv auf, mit dem er die Episode begonnen hat: Portia als Beobachterin des Jüngers Simon Petrus. Auf diese Weise verknüpft der Dichter die Portia-Episode kompositorisch mit dem epischen Hauptgeschehen. In der letzten epischen Szene dieses Gesanges tritt daher ein weinender, reuevoller Simon Petrus auf, der gegenüber Johannes seine Verleugnung des Messias gesteht (VI, 541–606). Von der Römerin, die hier als stille Augenzeugin eingeführt wird, heißt es: »Als sie jetzt sich gebückt, und geneigt hat über den Söller, j Hört sie am untern Pallast wie eines Verzweifelnden Stimme.« (VI, 539f.) Bislang diente die mitfühlende Frauenfigur, die auch der Mutter des Gottessohnes gedenkt, als Identifikati-

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onsfigur für ein empfindsames Lesepublikum. Fortgesetzt wird die Episode im VII. Gesang des Bibelepos. Hier lässt Klopstock, wie bereits im Handlungsverlauf der Episode angelegt, die Frauen Portia und Maria aufeinandertreffen (VII, 305–497): Nachdem Maria nach Jerusalem gekommen ist, findet sie ihren Sohn nicht im Tempel, sondern im Gerichtssaal. Sie sieht erschrocken »die mächtigen Kläger um ihn, und den richtenden Römer!« (VII, 283) und hört »die Stimme des Volks, die rings mit Wuth von dem Tode j Wiederhallte« (VII, 284f.). Maria weiß in ihrer Verzweiflung nicht, was sie tun soll, entflieht aber dem Gerichtssaal und geht in den »Seitenpallast[.] des Römers« (VII, 306). Dort hofft sie auf eine Frau zu treffen, »der es, Mutterliebe zu fühlen, j Nicht zu klein ist« (VII, 308f.). Von anderen israelitischen Müttern hat sie gehört, dass Portia »ein menschliches Herz« (VII, 310) habe. Maria trifft auf eine »junge, j Bleiche Römerin« (VII, 316f.), die sie voll Bewunderung anspricht: »Sag’, o sage, wer bist du? j Wer du auch seyst; noch nie hab’ ich diese Hoheit gesehen, j Diesen göttlichen Schmerz!« (VII, 325–327) Der epische Erzähler charakterisiert Maria gewissermaßen als menschliche Person mit himmlischen Zügen: […] Denn die Mutter des Unerschaffnen Zeigte, wiewohl der Schmerz sie verhüllte, in ihren Geberden Eine Hoheit, von Engeln, weil die auch dann sie verstanden! Noch bewundert: verhüllt vom Schmerze, stieg sie am tiefsten Zu den Menschen hinab, von ihnen bewundert zu werden; Denn die kannten nicht, was an der heitren die Himmlischen sahen. (VII, 319–324)

Die Mutter des Erlösers bemerkt sogleich, dass diese Römerin Mitleid empfindet, und bittet sie deshalb, sie zu Portia zu führen, worauf sich diese natürlich als die Gesuchte zu erkennen gibt. Maria ruft sogleich aus: »Der Mann, den Pilatus j Richtet! er hat kein Übel gethan! den Tyrannen verklagen! j Ich bin seine Mutter!« (VII, 337–339) Darauf antwortet die bewundernde Portia: […] Er ist dein Sohn? Glückselige, du bist Dieses Göttlichen Mutter? du bist Maria? Dann wendet Sie sich von ihr, und richtet gen Himmel ihr staunendes Auge. Sie ist seine Mutter, ihr Götter! Euch mein’ ich, ihr höhern Besseren Götter, die mir, in dem Traume voll Ernst, sich entdeckten. Jupiter heißt ihr nicht, ihr heißet nicht Phöbus Apollo! Aber wie euer Namen auch heißt, ihr seyd es, ihr sandtet Mir die Mutter des größten der Menschen, wenn er ein Mensch ist! Und mich bittet sie? mich? Nein, bitte mich nicht! o führe Mich vielmehr zu ihm hin, zu deinem erhabenen Sohne, Daß er der Dunkelheit mich, den Zweifeln entreiße! von fern nur Auf mich blicke, und mir die Lehre der Gottheit entfalte. (VII, 343–354)

Maria erkennt, dass die Römerin innerlich bewegt ist, Mitleid in ihrem Herzen empfindet und sie liebt (vgl. VII, 357–360). Sie bittet Portia allerdings, nicht ihre

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Götter anzurufen, sondern selbst zu helfen, obwohl sie – mit explizitem Verweis auf den göttlichen Heilsplan – auch bekennt: »Und auch du vermagst nicht zu helfen, wenn Gottes Rathschluß, j Daß er sterbe, beschloß! Allein es würde Pilatus, j Wenn des Unschuldigen Blut nicht seine Seele befleckte, j Freudiger stehen vor dem Gericht des Gottes der Götter.« (VII, 362–365) Portia sagt, dass sie ihr helfen möchte, und erklärt, dass sie nicht die ›heidnischen‹ Götter angefleht habe, sondern sie habe zu »bessere[n] Götter[n]« (VII, 371) gebetet, wie ein »heiliger Traum« (VII, 370), »ein himmlischer schreckender Traum« (VII, 373), der »mit mächtiger Stimme« gesprochen habe (VII, 375), es sie gelehrt habe. Bevor sie Maria allerdings diesen Traum erzählt, befiehlt sie einer Sklavin: »Geh zu Pilatus, und sag’ ihm: Er ist ein großer, gerechter, j Göttlicher Mann, den du richtest! verdamme du nicht den Gerechten! j Um des Göttlichen willen, Pilatus, hat ein Gesicht mich j Heut im Schlafe geschreckt!« (VII, 384–387) Hier greift Klopstock also im Text die entsprechende Bibelstelle auf (Mt. 27,19), auf deren Grundlage er die ganze Portia-Episode ›erdichtet‹ bzw. erfunden hatte. Als Pilatus später verkündet, dass er Jesus auch nach dem Verhör nicht für schuldig befinde (vgl. VII, 675), lässt der Dichter eben diese Sklavin auftauchen, die den Rat seiner Frau wortwörtlich wiedergibt, d. h., hier findet sich eine für die literarische Gattung Epos typische formelhafte Wiederholung: »Portia sendete jetzo zu ihm: Er ist ein gerechter, j Göttlicher Mann, den du richtest, verdamme du nicht den Gerechten! j Um des Göttlichen willen, Pilatus, hat ein Gesicht mich j Heut im Schlafe geschreckt! Das sagt’ ihm die Sklavin.« (VII, 681–684) Der auktoriale epische Erzähler berichtet, dass ein Engel in Portias Seele einen prophezeienden Traum »gegossen« habe (VII, 394). Dieser himmlische Beschützer habe »immer j Aus den Lieblingsgedanken, die sie am feurigsten dachte, j Neue Gedanken entwickelt, [um] in ihrem Herzen die feinsten j Zartesten Saiten gewisser zu treffen, und ganz sie zu rühren« (VII, 394–397). Damit wird dem Engel ein gewisses psychologisches Einfühlungsvermögen unterstellt. Portia erzählt nun Maria im weiteren Verlauf dieses Episodenteils den Traum, in welchem ihr Sokrates erschienen sei. Die Römerin bekennt zunächst, dass sie »vor Freuden« schauere (VII, 399), wenn sie den Namen des griechischen Philosophen nenne. Sokrates wird im Messias folgendermaßen charakterisiert: Er habe »das edelste Leben, das jemals gelebt ward, j […] mit einem Tode [gekrönt], der selbst dieß Leben erhöhte« (VII, 400f.). Er wird apostrophiert als der »Weise[.]« (VII, 402), dessen Name unsterblich sei (VII, 404). Portia berichtet etwa, dass sie sein »Bildniß« unaufhörlich betrachtet habe (VII, 402f.). Der antike griechische Denker hält in der Traumvision Portias folgende Rede: […] Ich Sokrates, den du bewunderst, Komm’ aus den Gegenden über den Gräbern herüber. Verlerne Mich zu bewundern! Die Gottheit ist nicht, wofür wir sie hielten,

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Ich in der strengeren Weisheit Schatten; ihr an Altären. Ganz die Gottheit dir zu enthüllen, ist mir nicht geboten. Sieh, ich führe dich nur den ersten Schritt in den Vorhof Ihres Tempels. Vielleicht, daß in diesen Tagen der Wunder, Da die erhabenste That der Erde geschieht, daß ein beßrer, Höherer Geist kommt, und dich in das Heiligthum tiefer hineinführt. So viel darf ich dir sagen, und dieß verdiente dein Herz dir : Sokrates leidet nicht mehr von den Bösen! Elysium ist nicht, Noch die Richter am nächtlichen Strom. Das waren nur Bilder Schwacher irrender Züge. Dort richtet ein anderer Richter, Leuchten andere Sonnen, als die in Elysiums Thale! Sieh, es zählet die Zahl, und die Wagschal wägt, und das Maß mißt Alle Thaten! Wie krümmen alsdann der Tugenden höchste Sich in das Kleine! wie fliegt ihr Wesen verstäubt in die Luft aus! Einige werden belohnt; die meisten werden vergeben! Mein aufrichtiges Herz erlangte Vergebung. O drüben, Portia, drüben über den Urnen, wie sehr ist es anders, Als wir dachten! Dein schreckendes Rom ist ein höherer Aufwurf Voll Ameisen; und Eine der redlichen Thränen des Mitleids Einer Welt gleich! Verdiene du, sie zu weinen! Was diese Heilige Welt der Geister sehr ernst jetzt feyert, und was mir Selbst nicht enthüllet ward, und ich von fern nur bewundre, Ist: Der größte der Menschen, wofern er ein Mensch ist, er leidet, Leidet mehr, wie ein Sterblicher litt, wird am tiefsten gehorsam Gegen die Gottheit! vollendet dadurch der Tugenden größte! Und dieß alles geschieht, um der Menschen willen! und jetzo! Sieh, ihn sah dein Auge! Pilatus richtet den Thäter Dieser Thaten! Und fließt sein Blut; so hatte noch niemals Lauter der Unschuld Blut gerufen! […] (VII, 404–435)

Sokrates erscheint im Bibelepos Klopstocks demnach als weiser Lehrer der Römerin Portia. Der antike Philosoph wird hier in das typologische Schema integriert, d. h., er ist eine Präfiguration, ein ›schattenhafter‹ Vorläufer Jesu Christi.586 Demgemäß verkündet der ›Heide‹ Sokrates im Traum, dass es ihm nicht geboten sei, der heidnischen Römerin die christliche Gottheit ganz zu enthüllen (VII, 408). Er führe sie »nur den ersten Schritt in den Vorhof j Ihres Tempels« (VII, 409f.). Mit der Tempel-Metapher spielt Klopstock hier auf die Briefe des Apostels Paulus im Neuen Testament an, in denen wiederholt sowohl die ganze urchristliche Gemeinde als auch der einzelne Christ als Tempel Gottes 586 Laut Benno Böhm, dessen Studie über die Rezeption des griechischen Philosophen im 18. Jahrhundert grundlegend ist, wird Sokrates im Messias Klopstocks als »demütige[r] Vorläufer des Christentums« dargestellt. (Benno Böhm: Sokrates im achtzehnten Jahrhundert. Studien zum Werdegange des modernen Persönlichkeitsbewußtseins. 2. Aufl. Neumünster 1966. (Kieler Studien zur deutschen Literaturgeschichte; 4.) S. 70.)

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bezeichnet wird, in welchem der Heilige Geist wohne (vgl. 1. Kor. 6,19; 1. Kor. 3,16; 2. Kor. 6,16).587 Der Messias-Dichter lässt den antiken Philosophen die heidnische Mythologie für nicht existent erklären und die tugendhaften Taten des Messias preisen. Bezeichnenderweise wurde Sokrates (um 470–399 v. Chr.), der in Athen seine Schüler unterrichtete und sich stets auf der Suche nach Erkenntnis oder wahrem Wissen befand, wegen Gotteslästerung und Verderbung der Jugend zum Tode durch den Schierlingsbecher verurteilt. Er wurde beschuldigt, neue Götter anzubeten und sich nicht zu den Göttern Athens zu bekennen. In der Rezeption des Philosophen Sokrates wurde bereits im Renaissance-Humanismus dieser Anklagepunkt aufgegriffen und der antike Grieche gewissermaßen christianisiert.588 Auch im 18. Jahrhundert galt er als Ausnahmeerscheinung unter den ›Heiden‹. Er wurde als ›Vor-Christ‹ mit göttlichem, ›erleuchtetem‹ Geist angesehen, der sich auf dem Weg zur wahren Erkenntnis der Vernunft befand. Dementsprechend kommentierte Klopstocks Freund Carl Friedrich Cramer auch diese epische Szene im VII. Gesang des Messias folgendermaßen: Wer kent den Wiederhersteller der gesunden Vernunft, die durch Sophisten unter den Griechen verdrängt war, den ersten Sittenlehrer der alten Welt, den Märtyrer endlich für Wahrheit und Tugend, aus den Beschreibungen der Enthusiasten, seiner Schüler, Plato und Xenophon nicht?589

Sokrates wird von ihm als »der Gottgesandte von Athen« bezeichnet und somit der antike Philosoph als »Typos« zum »Antitypos« Jesus Christus interpretiert, weshalb Cramer auch dezidiert auf die »Aehnlichkeit seiner Lehre, seines Lebens, seines Schiksals mit dem erhabnern Gottgesandten von Jerusalem« verweist.590 Dem weisen, moralischen Lehrer wird demzufolge ein Märtyrertod »für Wahrheit und Tugend« attestiert.591 Ihm fehlte einzig die richtige Gotteserkenntnis. Klopstock lässt seine epische Nebenfigur im Text selbst auf dieses Defizit hindeuten: »Was diese j Heilige Welt der Geister sehr ernst jetzt feyert, und was mir j Selbst nicht enthüllet ward, und ich von fern nur bewundre, j Ist: Der größte der Menschen […] leidet […].« (VII, 426–429) In seiner Rolle als 587 »Oder wisset jr nicht das ewer leib ein Tempel des heiligen Geistes ist / der in euch ist / welchen jr jj habt von Gott / vnd seid nicht ewer selbs?« (1. Kor. 6,19) »WJsset jr nicht / das jr Gottes tempel seid / vnd der geist Gottes in euch wonet?« (1. Kor. 3,16) »Jr aber seid der Tempel des lebendigen Gottes / wie denn Gott spricht / JCH WIL IN JNEN WONEN / VND IN JNEN WANDELN / VND WIL JR GOTT SEIN / VND SIE SOLLEN MEIN VOLCK SEIN.« (2. Kor. 6,16) 588 Vgl. Böhm: Sokrates im achtzehnten Jahrhundert, S. 136f. 589 Carl Friedrich Cramer : Klopstock. Er ; und über ihn. Vierter Theil. 1755. Leipzig und Altona 1790. S. 273. 590 Ebd., S. 274. 591 Ebd., S. 273.

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Prophet verkündet Sokrates im Traum Portia, dass vielleicht demnächst »ein beßrer, j Höherer Geist« kommen werde, der sie »in das Heiligthum tiefer hineinführ[e]« (VII, 411f.). Hier findet sich ein textimmanenter Hinweis auf den Fortgang dieser Episode im Messias. Laut der Römerin Portia verschwindet die Erscheinung des Sokrates wieder nach jener lehrreichen Rede. Der griechische Philosoph fordert sie allerdings im Traum noch dazu auf, das folgende Bild zu betrachten, das plötzlich vor ihrem inneren Auge auftaucht: […] Da waren um mich aufbebende Gräber; Hingen dicht an die Gräber von allen Himmeln herunter Schwere Wolken; die rissen sich auf bis zur obersten Höhe. Und ein Mann, dem Blut entströmete, ging in die Wolken, Wo sie sich öffneten. Schaaren unzählbarer Menschen zerstreuten Sich auf den Gräbern, und schauten mit offnen verlangenden Armen Jenem blutenden nach, der in die Wolken hineinging. Viele von ihnen bluteten auch. Die weiten Gefilde Tranken ihr Blut, und bebten. Ich sah die Leidenden leiden! Aber sie litten mit Hoheit, und waren bessere Menschen, Als die Menschen um uns. Ein Sturm kam jetzo herüber, Schreckend schwebt’ er einher, und hüllte die Felder in Nacht ein. (VII, 437–448)

Die Frau des römischen Statthalters Pilatus vermag diesen Traum, der »fürchterlich« geendet sei, nicht zu deuten (VII, 376). Und auch Maria gibt zu, dass sie selber nicht ganz verstanden habe, was dieses Traumbild Portia gelehrt habe (vgl. VII, 453). Erzähltechnisch liegt hier eine epische Vorausdeutung vor, da der Tod des Gottessohnes erst im X. und die Auferstehung der Heiligen im XI. Gesang geschildert wird. Ein bibelkundiger Leser kann diese Allegorie hingegen leicht deuten (VII, 437–448): Der blutende Mann, der in die Wolken geht, ist der gekreuzigte Messias. Nach seinem Tod kehren die Seelen der Verstorbenen zu ihren Gräbern zurück und erleben ihre leibliche Auferweckung. Die blutenden und leidenden Menschen lassen sich als christliche Märtyrer identifizieren, die Jesus Christus nachfolgen. Maria wiederholt gegenüber Portia die Prophezeiung von Sokrates: »Höhere Geister j Werden kommen, und dich in das Heiligthum führen!« (VII, 454f., vgl. VII, 411f.) Dies werden im weiteren Verlauf der Portia-Episode zwei Erstandene (XV. Gesang) und schließlich der Messias selbst (XIX. Gesang) sein. Die Mutter des Gottessohnes hingegen lehrt Portia vorab die wichtigsten Glaubensgrundsätze der christlichen Religion. Sie macht zunächst deutlich, dass es nur einen Gott gebe: Er, der diese wandelnden Himmel so leicht, wie den Sprößling, Der dort keimet, erschuf, der hier dem Menschen ein Leben Voller Müh, voll fliehender Freud’, und fliehendes Schmerzes

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Gab, daß sie nicht vergäßen den Werth der höheren Seele, Und es fühlten, daß über dem Grab’ Unsterblichkeit wohne! Er, Er ist nur Einer! Er heißt Jehovah, der Schöpfer Und der Richter der Welt! des ersten unter den Menschen, Adams Gott; dann vieler von Adams Söhnen; dann Abrams, Unseres Vaters. […] (VII, 457–465)

Jesus wird von ihr als »der große Prophet, der Wunderthäter, der Redner j Gottes« (VII, 469f.) bezeichnet. Sie würde ihn »mit namlosen Freuden, mit Schauer, mit Staunen, und Ehrfurcht« »Sohn« nennen (VII, 470f.), dessen Geburt ihr vorausgesagt worden sei. Ein Unsterblicher habe ihr verkündet, dass er die Menschen erlösen werde (VII, 472f.). Maria klärt Portia nunmehr über die himmlischen Geschöpfe auf: »Wir nennen sie Engel; j Aber sie sind Erschaffne, wie wir. Doch die Götter der Griechen, j Und des furchtbaren Roms, wofern sie wären, sie wären, j Gegen die Engel, Sterbliche nur.« (VII, 473–476) Die Mutter des Mittlers erinnert sich in ihrer Rede aber nicht nur an die Verheißung der Geburt des Messias durch den Engel Gabriel (Lk. 1,26–38), sondern auch an die Niederkunft in Bethlehem: »Als ich in der Hütte j Jesus, den Knaben der Wunder gebar, da sangen ihm Heere j Dieser Unsterblichen!« (VII, 476–478) Klopstock baut in die Rede Marias folglich einige epische Rückblicke in die Vorgeschichte der erzählten Handlung ein. Portia reagiert auf diesen didaktischen Vortrag der Mutter des Versöhners, indem sie wehmütig ausruft: »Er soll nicht sterben!« (VII, 483) Maria macht deutlich, dass er aber längst selbst beschlossen habe, zu sterben, was von »allem Geheimnißvollen« für seine frommen Anhänger »am schwersten« begreiflich und damit am »unerforschlichsten« sei (VII, 485–487). Sie spricht abschließend einen Segen aus: »Dich segne j Gott, ja Abrahams Gott, er segne dich!« (VII, 490f.) Als ihr vor Schmerz die Stimme wegbleibt, sagt Portia: »O du! du theurste der Mütter! j Mutter! ich geh’, und weine mit dir, bey dem Grabe des Todten!« (VII, 496f.) Mit diesem Versprechen endet dieser Episodenteil im VII. Gesang des Messias. Die Römerin ist hier noch eine ›Heidin‹, heißt es doch im Text, dass sie »die geöffneten Hände gen Himmel empor[hielt]«, »anbeten« und »mit leiser Stimme, Jehovah j Nennen [wollte]: allein sie fühlt es, sie darf den größten der Namen j Noch nicht nennen!« (VII, 479–482) In den folgenden epischen Szenen dieser Episode wird die Bekehrung Portias zum Christentum erzählt. Im XII. Gesang bemerkt der Erzähler, Joseph von Arimathäa habe im Pallast des Pontius Pilatus »Portia bleich, und trüb’ ihr Auge von Jammer« gesehen (XII, 35). Als dieser den römischen Statthalter darum bittet, den Leichnam Jesu begraben zu dürfen, und das Gespräch zwischen den beiden in ein Verhör vonseiten des ›Heiden‹ ausartet, unterbricht sie im Affekt den Redestrom: »Jetzt hielt es Portia’s Wehmuth j Länger nicht aus. Gieb diesem redlichen Manne den Todten, j Oder begrabe mich selbst! Sie sprachs, und es stürzt’ ihr die Thräne.«

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(XII, 50–52) Pilatus kommt der Aufforderung seiner Frau nach. Die Römerin sorgt sich auch weiterhin um den Leichnam des Gottessohnes (XIII, 288–297). Der epische Sänger erzählt im XIII. Gesang, dass Portia einen Boten zum Hauptmann Cneus gesandt habe, um ihn »zu fragen: Ob Ruh’ an dem Grabe gewesen? und ob sich j Keiner dem Todten nahe?« (XIII, 290f.). Sie sei erst selber entschlossen gewesen, zum Grab zu eilen, aber dann habe sie es sich anders überlegt (vgl. XIII, 291f.). Der Bote soll Portia folgende Nachricht überbringen: »Hier herrschet, j […] der Gräber Stille, und keiner j Naht sich dem Todten.« (XIII, 292–294) Der römische Hauptmann und die Frau des römischen Statthalters sind zwei vergleichbare, sehr ähnliche Charaktere im Bibelepos, daher führt sie Klopstock wohl auch indirekt in dieser epischen Szene zusammen. Der Dichter gibt dem in der Bibel anonymen Zeugen vom Kreuzestod Jesu Christi (vgl. Mt. 27,54; Mk. 15,39; Lk. 23,47) den Namen »Cneus«.592 Nachdem der römische Hauptmann den Messias auf Golgatha sterben gesehen hat, zweifelt er an seiner Religion und an des »Jupiters Größe« (XIII, 279) (vgl. XIII, 268–365). Aufgrund der sich in ihm regenden Zweifel am ›heidnischen‹ Glauben und an den Taten der von den Römern angebeteten Götter, hält Cneus den eilenden Boten Portias auf: »Wart’, und sag’ ihr auch dieses, j Sag’ ihr : Er [der Messias; I. G.] komme wieder ins Leben; er komme nicht wieder : j Beydes verwirre mich! Geh! Sie quälet, wie mich, die Entwicklung j Dieser verborgnen Geschichte des unterliegenden Frommen.« (XIII, 294–297) Der Hauptmann beginnt in dem folgenden Soliloquium sich zum Messias zu bekennen und sich damit auch ansatzweise bereits zum Christentum zu bekehren (XIII, 298–362): […] Ein frommer Sterblicher war er ; War er kein Sohn des Gottes der Götter! Gottes der Götter? Also verleugn’ ich Jupiter? denk’ ihn unter Jehovah, Den ich nicht kenne? den ich viel mehr, als Jupiter kenne! Denn viel mehr ist Wahrheit in dem, das Jehovah gethan hat, Als in dem, so der Donnerer that! Nur mehr? Ist nicht alles Wahrheit? O hätten des liegenden Israels Überwinder Jupiter angebetet; so wäre das Bild des Gottes, Wie das Bild des Dagon, in stumme Trümmern, zerfallen, Ja, aus der Hand des schwachen, in stumme Trümmern, die Donner! Ha! was hab’ ich gedacht? was dringet mich, Zeus zu verleugnen? Ihn dem Unbekannten, dem schrecklichen Unbekannten Aufzuopfern? und weß ist die Stimm’ in der innersten Seele, Der ich zu widerstehn nicht vermag? Wenn du, Jupiter, mehr bist, Als der Götter Gott; so donnr’ in den Abgrund mich nieder! Ach, wo bin ich? O Wuth der furchtbaren Ungewißheit! Nein, nicht Ungewißheit! So hätt’ ich Jehovah beleidigt! 592 Vgl. HKA, Werke IV 6, S. 393 (Kommentierendes Namenregister).

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Bey dem Strome Cocytus, bey dem nur, Jupiter, du schwörst, Fleh’ ich: Donnre mich nieder! O du, nach dessen Erkenntniß Ich mit dieser entflammten Begier verlange, Jehovah, Offenbare dich mir! Bin ichs werth? Kanns ein Sterblicher werth seyn? Offenbare dich mir! […] (XIII, 298–319)

Er bereut es, nicht die Lehren Jesu gehört zu haben und stellt sich die Frage, ob eine Auferstehung der Toten möglich sei, wie es der Messias verheißen habe. Ein Kommentar des epischen Erzählers beendet diese Szene mit dem römischen Hauptmann: »So verlor sich Cneus auf seinem finsteren Wege j Nach der Gottheit, indem noch nicht die Rechte des Helfers j Seine Führerin ward, ihn, zu der Höhe der Weisheit, j Auf den schmalen Weg, durch die enge Pforte, zu leiten.« (XIII, 362–365) Die römische Wache und mit ihnen der Hauptmann Cneus erleben die Auferstehung Jesu Christi mit, als plötzlich die Erde bebt, der Fels weggewälzt und das Grab leer ist (XIII, 907–920). Die römischen Wachmänner unterrichten daraufhin den Hohen Rat über das leere Grab mit dem fehlenden Leichnam des Messias (XIII, 921–962) und Cneus verkündet: »Ihr kennt mich. Ich sah ihn j Auch an dem Kreuz, und glaubte schon damals, ein Sohn der Götter j Stürbe! Ihr wisset nun auch, was am Grabe geschah!« (XIII, 962–964) Inmitten der Versammlung der Hohepriester, Schriftgelehrten und Ältesten Judäas bekennt er sich nun zum christlichen Glauben, denn auf die Fragen Philos »Offen das Grab? und ohne den Todten?« (XIII, 977), »Römer! bezeugst du bey Jupiter dieß?« (XIII, 978) antwortet Cneus: »Bey Jupiter zeugt’ ichs j Nicht! bey Jehovah, den ich anbete, beschwür’ ich es, wenn ich j Mich’s zu beschwören entschlöss’ […]« (XIII, 978–980). Nachdem Philo in einem Anfall von Wahnsinn dem römischen Hauptmann sein Schwert entrissen und sich damit selbst ermordet hat, verlässt Cneus schnell die Versammlung (vgl. XIII, 975–992). Eingeführt wird der Charakter des ›heidnischen‹ Römers demnach im XIII. Gesang des Messias. Dem Leser begegnet er wieder im XVII. Gesang. Klopstock lässt ihn hier nochmals sein Bekenntnis zum Christentum bekräftigen: Thorheit wär’ es noch jetzt zu zweifeln, täuschende, blinde Thorheit! Allein was soll ich thun? Dem Eroberer ferner Dienen? dem Gott des Olympus, dem Donnerer opfern? bey Adlern Schwören, das Blut unschuldiger Unterjochter, gerechtrer Menschen Blut zu vergießen? und ist es vergossen, des Feldherrn Stolzen Triumph begleiten? und mit den Siegern in Rom dann Schwelgen? Das? da mir ganz andre Gedanken des Menschen Schicksal in dieser und jener Welt ganz anders erklären! O gehabt euch allzumal wohl, ihr Triumph’, und Erobrer! Und ihr Götter! Ich weihe mich dem, deß Wahrheit mich lehret, Hohe, himmlische Wahrheit, die Menschenschicksal dem Menschen

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Aufschleußt, Künftiges uns, und Entwicklung im Künftigen zeiget. Gott der Götter, sey du mit mir, und leite mich ferner. (XVII, 622–634)

Die Bitte des frommen Cneus wird erhört und durch die Erscheinung des heiligen Elihu wird er gewissermaßen offiziell zum künftigen Christen berufen (XVII, 635–642). Ganz ähnlich verläuft auch das weitere Schicksal der Frau des römischen Statthalters, um auf die Portia-Episode zurückzukommen. Ihre Fortsetzung findet die Episode zunächst im XV. Gesang (XV, 681–862): Portia glaubt, am fünften Tag nach der Auferstehung Jesu Christi noch immer »im Dunkeln« (XV, 688) zu leben und noch nicht von Gott erleuchtet zu sein. Sie bricht daher zum leeren Grab auf und begegnet dort den Seligen Rahel und Jemina, die ihr in Gestalt zweier griechischer Pilgerinnen erscheinen. Die Intention der beiden von den Toten Auferweckten, welche vom Messias dazu erwählt wurden, zukünftigen Christen zu erscheinen, ist es, Portia zu leiten, »[d]ie zu dem Himmel hinauf aus ihrer Nacht [sich] arbeitet!« (XV, 713). Sie berichten ihr, dass der Auferstandene Maria Magdalena erschienen sei. Portia bebt vor Freude, dies zu hören, und preist den Messias als »große[n] Sieger des Todes« (XV, 767). Sie ruft enthusiastisch aus, dass zuvor »nie ein Triumph, wie der seine«, gesehen worden sei (XV, 776). Die Heldentaten des auferstandenen »Wunderthäter[s]« (XV, 775) überträfen diejenigen eines Römers, »der stolz die siegenden Hügel umzog, und den Lorber j Niederlegt’ in dem Kapitole, bey Jupiters Donner!« (XV, 777f.). Der epische Erzähler kommentiert diese ›aemulatio‹-Gedanken Portias folgendermaßen: »Entsunken dem schwellenden Wunsche j Nach Triumphen, wie jene, die Blutvergießer belohnten, j Schwung sie sich auf in erhabnere Höhn, und schwieg, voll Betrachtung j Eines Reichs der künftigen Welt.« (XV, 780–783) Die unsterbliche Jemina segnet daraufhin die ›heidnische‹ Römerin und verkündet: »Weichet, Zweifel, von ihr! Der Ewigkeiten Beherrscher, j Der von dem Anbeginne das Reich der Himmel beseligt, j Sey dein Gott! er, der dich geschaffen hat, sey dein Erbarmer!« (XV, 804–806) Portia wird der Rat erteilt, nach Galiläa zu eilen, um dort noch andere auferweckte Tote zu sehen, die auserwählten Christen und künftigen Märtyrern erscheinen. Die Unsterblichen Rahel und Jemina, die als solche inzwischen von der Römerin erkannt wurden, beten das Vaterunser, um es der »Heidin« (XV, 855) beizubringen (XV, 845–850), und entschweben dann dem Grabmal. Portia eilt abschließend »hinab zu Jerusalems Thoren« (XV, 862). Sowohl Cneus als auch Portia werden demnach gewürdigt, Erscheinungen von auferstandenen Heiligen zu sehen, und dadurch werden die beiden ›Heiden‹ auch zu zukünftigen Christen berufen. Die Portia-Episode findet ihren Abschluss im XIX. Gesang des Messias (XIX, 509–526, 641–646): Auf Tabor sind alle Anhänger Jesu vor dessen Himmelfahrt zusammengekommen. Die Römerin

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wird hier vom Knaben Nephthoa zum Messias geleitet, der auf dem »Berg der Verklärung« (XIX, 568) den Versammelten erscheint und eine Rede hält (vgl. XIX, 684–730). Klopstock schafft gleich zu Beginn dieses Episodenteils eine paradiesische Szenerie für seine epische Nebenfigur Portia, heißt es doch im Bibelepos: »Neben ihr spielte, j Streute Blumen ihr in den Weg der Knabe Nephthoa, j Junge Blumen, und Sprosse mit halbgebildetem Laube.« (XIX, 509– 511) Nephthoa sagt zu ihr : »Portia, so ist der Weg zu dem Himmel, und ich bin der Engel, j Der dich führet!« (XIX, 513f.) Sie weint Tränen der Freude und antwortet: »Knabe, der Weg zu dem Himmel ist schön, und ich liebe den Engel, j Der mich führet.« (XIX, 517f.) Darauf entgegnet Nephthoa: »Ich liebe dich auch; doch lieb’ ich noch mehr einst j Da dich, wo an dem Ende des Blumenweges uns andre j Cedern schatten, und Palmen, der Frühling ewig uns schimmert.« (XIX, 518–520) Neben der Anspielung auf das ewige Leben verweist der epische Erzähler auch auf die latenten Muttergefühle Portias, die sie bereits zu Beginn der Episode hatte (vgl. VI, 363–366): »Sie war nicht Mutter ; aber ein Knabe, j Nah den ewigen Hütten, geleitete sie zum Versöhner.« (XIX, 515f.) Portia und Nephthoa begegnen Joseph, Nikodemus, Maria Magdalena und Maria, »der Mutter des Mittlers« (XIX, 524). Somit findet hier ein Wiedersehen zwischen den beiden Frauen statt: »Mirjam593 sah die Heidin, und Freude befiel, und Verwundrung j Sie, daß Christus schon itzt in den Himmel Portia rufe.« (XIX, 525f.) Lazarus hält auf Tabor mit der »Gemeine Christus [!]« (XIX, 616) einen Gottesdienst ab (vgl. XIX, 554–630). Nach der liturgischen Feier der Eucharistie und dem abschließenden Mahl, bei dem Brot und Wein geteilt werden, unterhalten sich die Anhänger des Messias. Der epische Erzähler gibt hier im XIX. Gesang einige Gesprächsfetzen der Charaktere wieder, ohne die Sprecher namentlich zu nennen. Ein Zuruf lässt sich aber eindeutig inhaltlich als Äußerung Portias identifizieren, den diese an Maria, die Mutter des Versöhners, richtet: […] Wie dich der Engel, o Mutter, Grüßte, so grüße du mich, die gesegnete Gottes! Zu seinem Erbe bin ich, ich bin zu dem Sohn, dem Versöhner, gekommen! Was ist alle Größe der Erde mir nun? Und es wartet Höhere Wonne noch mein! Den göttlichen Unbekannten Soll ich sehen, den Unerforschten, den Wunderbaren!. (XIX, 641–646)

Mit dem Erscheinen des auferstandenen Erlösers auf dem Berg Tabor erfüllt sich demnach ein inniger Wunsch Portias, die wie alle anderen Anhänger Jesu Christi, obwohl sie eine römische Heidin war, »[z]u dem nahenden Kampf [als 593 Die Mutter Jesu wird im Epos öfters auch »Mirjam« genannt, wie auch Maria von Bethanien und Maria Magdalena, so dass bei den ›Marien‹ des Messias für den Leser stets eine Verwechslungsgefahr besteht. (Vgl. ebd., S. 421–423 [Kommentierendes Namenregister].)

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christliche Märtyrerin], und zu dem ewigen Leben« im Himmel geweiht wird (XIX, 729). Auch das irdische Ende des Knaben Nephthoa wird noch erzählt, das bereits einige Verse zuvor angekündigt wurde, heißt es doch in XIX, 516, dass er »[n]ah den ewigen Hütten« sei. Nachdem der Messias verschwunden ist, sehen die anderen Anwesenden »nicht ferne von da, wo der Mittler sich wandte, j Und verschwand, den Knaben Nephthoa, als schlummert’ er, liegen. j Und sie wollten ihn wecken, allein der glückliche Knabe j War gestorben.« (XIX, 732–735) Lazarus und die anderen sammeln Blumen und heben ein Grab aus: »Sie nahmen den lächelnden Knaben, j Senkten ihn nieder ins Grab, und deckten ihn leise mit Erde, j Und mit Blumen, die sie aus voller Hand auf die Stäte j Seiner Aussaat streuten.« (XIX, 739–742) Diese Motivwiederholung ist wiederum typisch für die subtile Komposition des Messias, war doch Nephthoa zuvor als Blumen streuendes Kind von Klopstock eingeführt worden. Das programmatische ›aemulatio‹-Prinzip Klopstocks, das sonst ziemlich versteckt in den Messias integriert ist,594 lässt sich aus der Portia-Episode klar erschließen. Im Bibelepos wird stufenweise die Bekehrung der Römer Portia und Cneus zum Christentum erzählt. Beide epische Nebenfiguren können vom theologischen Standpunkt aus zum einen als Identifikationsfiguren für zweifelnde Nichtchristen gelten und zum anderen kann der Dichter in der psychischen Entwicklung dieser zwei epischen Charaktere die unermessliche Liebe und Gnade eines christlichen Gottes hervorheben, der selbst ursprüngliche ›Heiden‹ erlöst. Demgemäß berichtet auch der weise Prophet und ›aufgeklärte‹ Lehrer Sokrates, der im Messias Teil des göttlichen Heilsplans ist, dass er aufgrund seiner demütigen Haltung und seinem »aufrichtige[n] Herz[en]« Vergebung erlangt habe (VII, 422). In den Reden, in denen diese drei epischen Nebenfiguren ihrem Glauben an die heidnische Götterwelt abschwören, drückt sich inhärent die Überbietung der heidnischen Mythologie durch die christliche Offenbarungsreligion aus. Und auch im Text tritt der ›aemulatio‹-Gedanke explizit in Erscheinung, wenn Maria, die Mutter des Gottessohnes, die als epische Nebenfigur im Messias die Funktion hat, als Lehrerin Portias im VII. Gesang aufzutreten, »die Götter der Griechen, j Und des furchtbaren Roms« mit den Engeln vergleicht und behauptet, dass jene nur »Sterbliche« wären (VII, 474– 476), den olympischen Göttern demzufolge jegliche ›Göttlichkeit‹ abspricht. Die Semida-Cidli-Episode im Messias setzt sich aus drei Teilen zusammen (IV, 674–699, 740–889; XV, 1376–1549; XVII, 692–730). Es handelt sich um eine autobiographisch fundierte Episode, in der Klopstock seine eigene unglückliche Liebesgeschichte poetisch verarbeitete. Der Messias-Dichter war seiner Cousine Maria Sophia Schmidt (1731–1799) erstmals im Frühjahr 1747 begegnet, als 594 Vgl. Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion, S. 213 und S. 215f.

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diese ihren Bruder Johann Christoph Schmidt (1727–1807) zur Ostermesse in Leipzig besuchte.595 Klopstock brach sein Theologie-Studium ab und zog im Frühjahr 1748 nach Langensalza, um dort bei entfernten Verwandten als Hauslehrer zu arbeiten. Er verliebte sich hoffnungslos in seine Cousine, der er in seinen Oden den Namen »Fanny« gab.596 Das literarisch interessierte Publikum erlangte rasch Kenntnis von dieser leidenschaftlichen Liebe des Messias-Dichters, die jedoch unerwidert blieb. Klopstock teilt Bodmer in einem Brief vom 21. September 1748 mit, dass die »Schmerzen der Liebe« momentan seine »Hauptunruh« seien.597 Er bekennt, dass diejenige, die er »so edel u heilig liebe«598, »am härtesten gegen [ihn]« sei599 und ihn nicht wissen lasse, ob sie seine tiefen Empfindungen auch erkannt habe600. Er glaubte an verschwiegene Liebesgefühle, die seine »Fanny« einfach nicht offenbaren konnte oder wollte. Maria Sophia Schmidt entstammte einer wohlhabenden Familie, die sicherlich gegen eine Heirat mit einem materiell ungesicherten Poeten war.601 Erst Jahre später gestand sich Klopstock selbst ein, dass er sich getäuscht hatte. So schreibt er in einem Brief an Bodmer vom 12. Dezember 1752: ich sah nun endlich ein, daß mich Fanny nicht liebte; oder mich mindstens, auch bey den besten äusserlichen Glücke, nicht so lieben würde, als ich sie liebte; u daß es also vergebens seyn würde, diese hohe Glükseligkeit der Liebe, darinn ich vielleicht ein bischen, aber ein sehr glüklicher Enthusiast bin, bey Fanny zu suchen.602

Maria Sophia Schmidt heiratete schließlich im Jahre 1754 den reichen Kaufmann Johann Justinus Streiber in Eisenach.603 Als Klopstock dreißig Jahre später – Ende des Jahres 1785 – eine Neuausgabe seiner Oden plante, wandte er sich nochmals brieflich an seine Cousine, um endlich zu erfahren, was sie damals wirklich für ihn empfunden hatte: Ich kenne Fanny nicht genug, wenigstens nicht mit Gewisheit. Ich getraue mich daher nicht mit genauer Richtigkeit von ihr zu urteilen. Aber kein Zweifel wird mir, glaube ich, mehr übrig seyn, wen [!] Sie mir offen sagen wollen, wie Sie damals, da ich Sie so 595 Vgl. HKA, Briefe I, S. 254 und S. 183. 596 Klopstock bekennt in einem Brief an Maria Sophia Schmidt vom 11. Mai 1751, dass »der einzige Gedanke [seines] Lebens« »Fanny« sei. (Brief von Klopstock an Maria Sophia Schmidt, 11. Mai 1751. In: HKA, Briefe II, Nr. 38, S. 34–36, hier S. 35, Z. 56.) 597 Brief von Klopstock an Bodmer, 21. September 1748. In: HKA, Briefe I, Nr. 15, S. 16–21, hier S. 16, Z. 13f. 598 Ebd., S. 16, Z. 17. 599 Ebd., S. 16, Z. 16. 600 Ebd., S. 16, Z. 19f. 601 Vgl. HKA, Briefe I, S. 207. 602 Brief von Klopstock an Bodmer, 12. Dezember 1752, 24. März 1753. In: HKA, Briefe III, Nr. 3, S. 2–6, hier S. 3, Z. 27–32. 603 Vgl. HKA, Briefe I, S. 184.

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sehr liebte, gegen mich gesint waren. […] Ich möchte nur bestimmen können, in welchem Grade die Liebenswürdig war, die ich so sehr u so lange liebte.604

Doch auch jetzt fiel die ausweichende Antwort von Maria Sophia Streiber wenig befriedigend aus: Sie haben mich wieder recht lebhafft an denn ZeitPunckt unßer ersten Bekandtschafft und jugendlichen Umgang errinnert, einen ZeitPunckt deßen Andencken meinen Hertzen immer theüer bleiben wird. […] Die Zuneigung eines Mannes, deßen Verdienste so allgemein, anerkant waren, hat mir immer in meinen Augen einen Werth gegeben, und ob ich Ihnen gleich anitzo von meinen ehemahlige Empfindungen nicht gantz genau Rechenschafft mehr ablegen kann, so können Sie doch sicher annehmen, daß ich bey der so edlen Liebe eines der besten Menschen nicht gleichgültig geblieben, und wenn es in meiner Gewalt gestanden Ihn glücklich zu machen ich es gewiß gethan haben würde – – – Wenn mir diese Auffrichtige Erklärung Ihre Achtung verschafft, so werde ich mich vor meine Offenhertzigkeit hinlänglich belohnt halten.605

Die Semida-Cidli-Episode im Messias war in der Erstfassung noch eine LazarusCidli-Episode.606 Während Klopstocks Aufenthalt in Langensalza von April 1748 bis Mai 1750 erfolgte die Niederschrift der »Scene von Lazarus u Cidlis«607 im IV. Gesang.608 Der erste Teil dieser Episode, »deren autobiographische Bezüge nicht zu übersehen sind, ist auf Ende 1748/Anfang 1749 zu datieren«.609 Es finden sich »motivliche[.] Überschneidungen der Episode mit mehreren Oden, die im letzten Drittel des Jahres 1748 entstanden sind«.610 Eine analoge Liebesauffassung kommt etwa in folgenden Oden Klopstocks zum Ausdruck: An Gott611, Der Abschied612 und Salem613. Der Messias-Dichter verweist selbst auf diesen Zusammenhang in einem Brief an Margareta Moller vom 19. Mai 1751: »Mein Herz

604 Brief von Klopstock an Maria Sophia Streiber, zwischen Oktober und dem 5. Dezember 1785. In: HKA, Briefe VIII 1, Nr. 67, S. 81, Z. 13–17 und Z. 23f. 605 Brief von Maria Sophia Streiber an Klopstock, 3. Januar 1786. In: HKA, Briefe VIII 1, Nr. 69, S. 85, Z. 3–6 und Z. 9–17. 606 Vgl. zur Textgenese der Semida-Cidli-Episode: HKA, Werke IV 3, S. 296–302. Eine ausführliche Interpretation des ersten Teils dieser Episode im IV. Gesang des Messias findet sich in: Helmut Pape: Klopstock. Die »Sprache des Herzens« neu entdeckt. Die Befreiung des Lesers aus seiner emotionalen Unmündigkeit. Idee und Wirklichkeit dichterischer Existenz um 1750. Frankfurt a. M. [u. a.] 1998. S. 175–190 (Kap. 3.5.1.4: Lazarus – Semida – Cidli (Messias IV. 740–889)). 607 Brief von Klopstock an Maria Sophia Schmidt, 20. November 1750. In: HKA, Briefe I, Nr. 93, S. 146–148, hier S. 147, Z. 46. 608 Vgl. HKA, Werke IV 3, S. 293. 609 Ebd. 610 Ebd., S. 297. 611 Vgl. HKA, Werke I 1, S. 82–86. 612 Vgl. HKA, Werke I 1, S. 76–81. 613 Vgl. HKA, Werke I 1, S. 68–70.

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[…] eigentlich steht es in diesen Oden: u, nur mit einer neuen Einkleidung, im vierten Gesange des M e s s. in Lazarus Geschichte.«614 In den Textfassungen des Messias bis 1751 wurde der epischen Nebenfigur Lazarus die Rolle des unglücklich Verliebten zuteil. Ab 1755 ersetzte Klopstock Lazarus durch Semida, da die spätere Charakterzeichnung des Lazarus in den folgenden Gesängen des Bibelepos, die sich zudem enger an den Evangelienbericht anlehnte (vgl. Joh. 11,1–44), sich offensichtlich nicht mehr mit dem poetischen Bild eines Liebeskranken vereinbaren ließ.615 Bei allen Protagonisten dieser Episode – Lazarus, Semida und Cidli – handelt es sich um biblische Figuren: Der Evangelist Johannes erzählt die Wundergeschichte von Lazarus, den Jesus Christus von den Toten auferweckte (Joh. 11,1–57). Alle anderen Evangelisten berichten von der Erweckung eines 12-jährigen Mädchens, der Tochter des Ja"rus, vom Tode (Mt. 9,18f. und 9,23–26; Mk. 5,35–43; Lk. 8,40–42 und 8,49–56). Das Lukasevangelium schildert zudem die Auferweckung eines toten Jünglings vor den Toren der Stadt Nain (Lk. 7,11–17). Klopstock gab den beiden anonymen Auferweckten im Messias Namen: »die Tochter [des] Jairus« (IV, 674) nannte er »Cidli« und den Jüngling, »den von dem Tode bey Nain der Göttliche weckte« (IV, 699), »Semida«. Die Semida-Cidli-Episode beginnt im IV. Gesang des Bibelepos (IV, 674–699, 740–889). Der epische Sänger erzählt hier die »tragische[.] Geschichte einer verschwiegenen, auch zwischen den Liebenden nicht eingestandenen Liebe«.616 Die »sittsame Cidli« (IV, 674, 698) wird als empfindsamer Charakter eingeführt: Still in Unschuld waren ihr kaum zwölf Jahre verflossen, Als sie, dem jungen Leben entblühend, heiter und freudig In die Gefilde des Friedens hinüberschlummerte. Todt lag Cidli vor dem Auge der Mutter. Da kam der Messias, Rief sie aus dem Schlummer zurück, und gab sie der Mutter. Heilig trägt sie die Spuren der Auferstehung; doch kennt sie Jene Herrlichkeit nicht, mit der ihr Leben gekrönt ist, Nicht die zartaufblühende Schönheit der werdenden Jugend, Noch ihr himmlisches Herz, dir, edlere Liebe, gebildet. (IV, 675–683)

Klopstock hält sich bei dieser Beschreibung der Auferweckung Cidlis von den Toten durch den Messias demnach an biblische Details, wie etwa an das Alter des Mädchens. Der Hinweis, dass »ihr himmlisches Herz« zur »edlere[n] Liebe« gebildet sei (IV, 683), leitet die Geschichte einer auf Erden unerfüllten Liebe ein. Bezeichnenderweise findet zwischen den beiden unglücklich Verliebten kei614 Brief von Klopstock an Margareta Moller, 19., 21. Mai 1751. In: HKA, Briefe II, Nr. 42, S. 41– 43, hier S. 42, Z. 46–48. 615 Vgl. HKA, Werke IV 3, S. 297. 616 Ebd.

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nerlei Dialog statt.617 Ihre Gefühle füreinander offenbaren sich lediglich in ihrer Mimik, in Tränenausbrüchen und in inneren Monologen. Dementsprechend berichtet der epische Erzähler : […] zu Cidli Trat itzt Semida näher ; doch schwieg er, und sah zu der Erde. Diese kannte den Schmerz, der lange schon Semida’s Herz traf, Und sie blickte seitwärts ihn an, und sah die Empfindung Seiner Seel’ in dem Auge voll Wehmuth, sahe die Hoheit, Welche mit Zügen der Himmlischen schmückt die leidende Tugend. Da zerfloß ihr das Herz […] (IV, 741–747) […] Es bricht ihr das Herz, sie kann sich nicht halten, Stille Thränen zu weinen. Es sah sie Semida weinen, Ob sie gleich mit dem fließenden Schleyer ihr Auge bedeckte. Semida geht still aus der Versammlung, und da er hinauskommt, Sieht er mit traurigem Angesicht nieder […] (IV, 769–773)

Breitinger bemerkt in einer seiner Abhandlungen, dass »doch die Thränen schier das deutlichste Kennzeichen von der empfindlichen Bewegung des Hertzens [seien]«.618 Das rührselige Verhalten der empfindsamen Charaktere in den Texten der Aufklärung, die stets eine Flut von Tränen vergießen, »entspricht der poetischen Reflexion, daß die ganze Empfindung nicht ausgesprochen werden kann«.619 »Die Träne ist das poetische Zeichen für den empfindsamen Unsagbarkeitstopos.«620 Im Messias spezifiziert meist das Genitivattribut das Motiv des Weinens, d. h., es verweist auf die körperlich ausgedrückten Affekte: So spricht der epische Sänger etwa von der »Thräne des Mitleids« (XVIII, 685), von »der Wehmuth Thränen« oder den »Thränen der Wonne« (X, 450). In der Semida-Cidli-Episode verharren die Figuren in Schweigen, weichen dem Blick des anderen stets aus und geben sich ganz ihrem verzweifelten Herzschmerz hin. Aus dem Gedankenmonolog Cidlis lassen sich jedoch ihre Empfindungen erschließen, über die sie selbst reflektiert: Edler Jüngling! Um mich bringt er sein Leben mit Wehmuth, Seine Tage mit Traurigkeit zu! Ach, war ichs auch würdig, 617 Helmut Pape interpretiert diese Szene im IV. Gesang des Messias gleichermaßen: »So ist das auffälligste Charakteristikum in der Begegnung der Liebenden ihre Sprachlosigkeit. Sowohl Lazarus als auch Cidlis reden kein einziges Wort miteinander. Ihre ›Kommunikation‹ erschöpft sich in Blicken, Gesten und inneren Monologen.« (Pape: Klopstock. Die »Sprache des Herzens« neu entdeckt, S. 176.) 618 Breitinger : CAG, S. 177. 619 Gerhard Sauder: Der zärtliche Klopstock. In: Friedrich Gottlieb Klopstock. Hrsg. v. Heinz Ludwig Arnold. München 1981. (Text + Kritik. Sonderband.) S. 59–69, hier S. 64. 620 Ebd. Gerhard Sauder betont zudem, dass Klopstock »geradezu ein System des Weinens und der Tränen geschaffen [habe]«. (Ebd.)

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Daß du so himmlisch mich liebst, wars deine Cidli auch würdig? Lange schon wünsch’ ich, die Deine zu seyn, und von dir zu lernen, Wie sie so schön ist, die selige Tugend! dich innig zu lieben, Wie zu der Väter Zeit die Töchter Jerusalems liebten; Wie ein jugendlich Lamm um deine Winke zu spielen; Gleich den Rosen im Thal, die der frühe Tag sich erziehet, So in deiner reinen Umarmung gebildet zu werden, Dein zu seyn, und dich ewig zu lieben! Du frohste der Mütter, Warum gebotest du doch das himmlische strenge Gebot mir? Aber ich schweig’, und gehorche der Weisheit der liebenden Mutter, Und der Stimme Gottes in ihr! Dem bin ich gewidmet! Ich bin auferstanden! gehöre zu wenig der Erde, Sterbliche Söhn’ ihr zu geben! Nur du mußt deine Betrübniß, Deine zärtlichen Klagen, du edler Jüngling, auch mindern! Würde doch meinem Leben der Trost noch Einmal gegeben, Daß ich in deinem Gesicht das süße Lächeln erblickte, Da du keine Thränen noch kanntest, als Thränen der Freude, Da du ein Knabe noch warst, und ich dem schmeichelnden Arme Deiner Mutter entfloh, hinüber in deinen zu eilen. (IV, 748–768)

Demnach zweifelt Cidli daran, der ›himmlischen Liebe‹ Semidas würdig zu sein. Nach ihrer Auferweckung wurde ihr das Gebot auferlegt, ihr zweites Leben ganz Gott zu widmen und auf irdische und damit auch geschlechtliche Liebe und auf ein normales Familienleben mit Kindern zu verzichten. Aus Liebesleid bricht sie am Ende ihres Monologs in Tränen aus, weshalb Semida in seinen innerlichen Liebesklagen die Hoffnung ausspricht, dass das Weinen ein Beweis ihrer tiefen Zuneigung sei: Warum weint sie? Ich konnte sie länger weinen nicht sehen; Denn es brach mir mein Herz! Zu theure zärtliche Thränen, Schöne Thränen, so still, so zitternd im Auge gebildet! Wäre nur Eine von euch um meinentwillen geweinet; Eine wäre mir Ruhe gewesen! Ich klage noch immer, Immer um sie! Mein Leben voll Qual, mein trauriges Leben, Ist noch immer von ihr ein einziger langer Gedanke! (IV, 774–780)

Während der innere Monolog Cidlis aus 21 Hexametern besteht (IV, 748–768), offenbart Semida sein Innenleben in insgesamt 114 Versen (IV, 774–887). Der Leser bzw. Zuhörer des Messias kann die Gedankengänge und Empfindungen Semidas genaustens nachverfolgen, da dieser offenbar selbst versucht, sich psychologisch zu analysieren: O du! welches in mir unsterblich ist, dieser Hütte Hohe Bewohnerin, Seele, von Gottes Hauche geboren! Du des Erschaffenden Bild, der nahen Ewigkeit Erbin! Oder wie sonst dich bey deiner Geburt die Unsterblichen nannten,

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Red’, ich frage dich, lehre du mich! enthülle das Dunkle Meines Schicksals! öffne die Nacht, die über mich herhängt! Red’, antworte mir! ich frage dich! Müde zu weinen, Müde bin ich zu trauren in dieser Wehmuth mein Leben! Warum, wenn ich sie seh, die vielleicht zur Unsterblichkeit aufstand, Oder, ferne von ihr, und nicht um Cidli! sie denke, Warum fühl’ ich alsdann im überwallenden Herzen Neue Gedanken, von denen mir vormals keiner gedacht war? Bebende, ganz in Liebe zerfließende, große Gedanken! Warum weckt von der Lippe Cidli’s die silberne Stimme, Warum vom Aug’ ihr Blick voll Seele mein schlagendes Herz mir Zu Empfindungen auf, die mit dieser Stärke mich rühren? Die sich rund um mich her, wie in hellen Versammlungen, drängen, Jede rein, wie die Unschuld, und edel, wie Thaten des Weisen? Warum decket der Schmerz mit mitternächtlichem Flügel Dann mein Haupt, und begräbt mich hinab in die Schlummer des Todes, Wenn ich, sie liebe mich nicht! den trüben Gedanken! entfalte? Ach, dann wall’ ich am Grabe, dem ich so nah war, und weine Meinen Jammer. Mir horcht die schauernde Todesstille. Oft will ich dann mit gewaltigem Arm den Kummer bestreiten; Meine Seele versammelt in sich die Empfindungen alle, Welch’ ihr, von ihrer hohen Geburt, und Unsterblichkeit zeugen. (IV, 781–806)

Die Klagen Semidas über die Schmerzen einer unerfüllten Liebe zeigen eine Tendenz zur Hypertrophie. Seine Liebesqualen kommen in derart verzweifelten Fragen zum Ausdruck: »Warum bin ichs allein, der, ungeliebet, auf ewig j Liebt? Was erhebt sich mein Herz, auch über die edelsten Herzen, j Groß und elend zu seyn?« (IV, 811–813) Für Klopstock ist die Liebe nicht nur ein individuelles Gefühl, sondern er verbindet diesen emotionalen Zustand mit echter, tiefer Frömmigkeit. Der christliche Gott selbst verkörpert die universelle Liebe und damit wäre die menschliche Liebe stets als ein Geschenk Gottes aufzufassen. Der Messias-Dichter lässt seine epische Nebenfigur Semida genau diesem Gedankengang folgen: Welche Stimme Gottes ist das, die mit heiligem Lispeln, Und mit Harmonieen, den zärteren Seelen nur hörbar, Meinem Herzen leise gebeut, sie ewig zu lieben? Und so will ich denn ewig dich lieben; wie schweigend du mir auch, Wie verstummend du bist! Ach, da ich es, Cidli, noch wagte, Zitternd zu denken, du seyst mir geschaffen; wie still war mein Herz da! Welche Wonnen erschuf sich mein Geist, wenn Cidli mich liebte! (IV, 815–821)

Semida glaubt, dass Cidli für ihn »geschaffen« sei (IV, 820). Er sieht sie als »Gabe« (IV, 835) des himmlischen Schöpfers an: »Welche Gabe warst du mir von Gott! Wie dankt’ ich dem Geber, j Daß ich, wie auf Flügeln, von deiner Unschuld

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getragen, j Näher dem Liebenswürdigen kam, der so schön dich gebildet, j Der so fühlend mein Herz, und deins so himmlisch gemacht hat.« (IV, 835–838) Die innige Liebe für dieses unschuldige, tugendhafte Wesen bringt ihn Gott näher und vertieft somit seinen christlichen Glauben. Demgemäß lautet auch ein anderer Gedanke Semidas: »Jeder Tugend erhabneren Wink, der unsichtbar mir sonst war, j Lernt’ ich durch deine Liebe verstehn!« (IV, 826f.) Der Gedanke an ein künftig endlos trauriges und einsames Leben ohne Cidli lässt ihn allerdings »Schauer namloser Angst« (IV, 852) empfinden (vgl. IV, 851–856). Da beide von den Toten auferweckt wurden, fühlt sich Semida mit Cidli geistig verbunden. Trotz seiner Verzweiflung hat er die schwache Hoffnung, wenigstens ein gemeinsames Leben mit ihr im Jenseits als Unsterbliche zu führen. Dies wird in Semidas Gedankenmonolog im IV. Gesang allerdings zunächst nur vage angedeutet: Und bey jeder Unsterblichkeit, die du, mit Lichte bekleidet, Unter des Himmels Bewohnern einst lebest! o um der Kronen, Um der Tugend Belohnungen willen, beschwör’ ich dich, Cidli: Sage, was denkt da dein Herz? was fühlt’s? wie ist es ihm möglich, Dieses mein Herz, das so liebt, mein blutendes Herz zu verkennen? Ach, der große Gedanke, der schauernde, süße Gedanke, Daß sie vom Tod’ erweckt ist, daß ich erweckt bin vom Tode! Daß wir von neuem vielleicht nicht sterben! und beyde zum höhern, Besserem Leben.. Doch schweigt, zu kühne, zu feurige Wünsche! Dieser Gedanke führte vielleicht mich zu weit, und ich liebte Sie zu heftig! Wie kann ich zu sehr die lieben, mit der ich Jenes erhabnere Leben vielmehr, als dieß an dem Staube Wünsche zu leben? Mit der, es sey dort, oder auf Erden, Angefeuert durch sie, ich den ewigen Schöpfer der Himmel, Unseren Schöpfer, noch mehr zu lieben, so innig verlange? (IV, 861–875)

Der in sich gekehrte Jüngling entsinnt sich der drohenden Gefahr, in die sich der Messias in Jerusalem begibt, und wird so aus seinem Herzschmerz gerissen: Aber der göttliche Sohn des Angebeteten, Jesus, Mein Erretter ist in der Gefahr, getödtet zu werden! Ist es jetzo! Aber ich kann nicht, wie kann ich es glauben, Daß der sterben werde, der mich von den Todten erweckt hat? Und wie oft entging er nicht schon der Verfolgenden Unsinn! Fehlet’ ich dennoch, durft’ ich, da diese Gefahren ihm drohen, Meinem Schmerze mich nicht, nicht so hingeben der Wehmuth; So verzeih du es mir, du theurer, göttlicher Retter! Reiß denn von einem Kummer dich los, der dich nur angeht, Traurender, Eines Ruhe nur nahm, und vielleicht nicht auf immer! Ganz sey deine Seele gerichtet auf jenen Ausgang, Den der Ewige deinem erhabnen Retter bestimmt hat. (IV, 876–887)

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Episoden, die sich um Liebespaare drehen, gehören gewissermaßen zu den epischen Standardelementen. Man denke etwa an Odysseus und Penelope in Homers Odyssee oder an Aeneas und Dido in Vergils Aeneis. In Tassos Gerusalemme liberata finden sich mehrere beim Lesepublikum äußerst beliebte Episoden, die meist von unglücklich Verliebten handeln, wie z. B. die SophroniaOlind-Episode (2. Gesang, Stanze 14–54), die Clorinda-Tankred-Episode (2. bis 12. Gesang), die Erminia-Episode (vor allem 6. und 7. Gesang) oder die ArmidaRinaldo-Episode. Klopstocks literarisches Vorbild für die Semida-Cidli-Episode im IV. Gesang des Messias war allerdings nicht das römisch-lateinische Musterbeispiel. Demgemäß betont der Dichter in einem Brief an Carl Friedrich Cramer vom 29. Juni 1799: »Än. und Dido’s Libe sind mit Semida˛’s u Cidli˛’s nicht fergleichba˛r.«621 »Das zu Fergleichende [müsse] sich merkl.[ich] änlich [!] sein.«622 Auch wenn Klopstock rückblickend behauptet, dass keine Analogie zwischen den beiden Liebesepisoden bestünde, so fällt es doch auf, dass die ›herzrührende‹ Semida-Cidli-Episode im IV. Gesang des Messias beginnt und dass sich die tragische Dido-Episode gleichfalls im 4. Buch der Aeneis Vergils abspielt. Klopstock erklärt Hagedorn am 19. April 1749: »Meine Geschichte hat einige Ähnlichkeit mit der Geschichte der Ariana u des Teribazus im Leonidas.«623 Der Messias-Dichter verweist hiermit selbst auf das stofflich nachahmenswerte Musterbeispiel, dem er nacheifert: die Teribazus-Ariana-Episode im 5. und 6. Buch von Glovers Leonidas. Klopstock identifizierte sich mit dem unglücklich verliebten, leidenschaftlichen Teribazus. Er hoffte, dass seine Cousine Maria Sophia Schmidt in ihrem Charakter der Perserprinzessin Ariana glich, und sah in Hyperanthes seinen Vetter und Freund Johann Christoph Schmidt.624 Der Bibelepiker hatte das englische Blankversepos in der deutschen Prosaübersetzung seines Freundes Ebert kennengelernt. Klopstock berichtet Bodmer am 5. November 1748 von seinem intensiven Lektüre-Erlebnis: »Ebert hat den Leonidas übersezt. Die Geschichte von dem Teribazus u der Ariana hat mich so angegriffen, daß ich mir, wie das marmorne Bild vorkomme, das über dem 621 Brief von Klopstock an Carl Friedrich Cramer, 29., 30. Juni 1799. In: HKA, Briefe X 1, Nr. 53, S. 60–64, hier S. 62, Z. 88f. 622 Ebd., S. 62, Z. 87f. 623 Brief von Klopstock an Hagedorn, 19. April 1749. In: HKA, Briefe I, Nr. 25, S. 40–43, hier S. 41, Z. 56f. 624 Elisabeth Höpker-Herberg interpretiert die poetische Vorgehensweise Klopstocks folgendermaßen: »Um seine Situation im Verhältnis zu Maria Sophia Schmidt bzw. seine von Zweifeln durchsetzte Hoffnung auf deren verschwiegene Zuneigung zu schildern, benutzte Klopstock die Geschichte in Form von Anspielung oder Zitat; er deutete das undurchschaubare Verhalten seiner Kusine mit Hilfe der Ariana, deren tragisches Ende er für sich fürchtete, und verglich seine aussichtslose Leidenschaft mit derjenigen des Teribazus.« (HKA, Werke IV 3, S. 298.)

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Grabmale eines todten Helden steht.«625 Der Messias-Dichter spielt hier auf eine Stelle im 6. Buch des Leonidas an: Teribazus ist im Kampf gefallen und Ariana wirft sich sprachlos vor Schmerz und Verzweiflung auf den Leichnam ihres Geliebten. In der Übersetzung Eberts heißt es: Sie konnte nicht weiter. Eine gewaltige Verzweiflung unterdrückte ihre Stimme. Gleichwie ein marmornes Bild über dem traurigen Grabmale eines todten Helden, den sein Vaterland liebte, unbeweglich mit nachgeahmter Betrübniß das Haupt niedersenkt: also hieng die Prinzeßinn über dem entseelten Körper, in einer Ohnmacht von Traurigkeit.626

Klopstock zitiert in dem Brief an seinen Züricher Mentor demnach dieses Gleichnis aus dem 6. Buch von Glovers Epos, welches das tragische Ende der Teribazus-Ariana-Episode gewissermaßen einleitet. Die dramatische Entwicklung der Liebesgeschichte im Leonidas zeigt einige Übereinstimmungen mit dem ersten Teil der Semida-Cidli-Episode im IV. Gesang des Messias. Die epische Nebenfigur Teribazus wird im 5. Buch von Glovers Heldengedicht eingeführt. Es handelt sich um einen persischen »Jüngling«, der als äußerst gebildet, klug, tugendhaft und tapfer charakterisiert wird.627 Der epische Erzähler berichtet: »Sein Verstand war an allen göttlichen Künsten reich, und er hatte, als ein Anbeter der Weisheit, die Pfade der Wissenschaft durchgewandert.«628 Teribazus verliebte sich in Ariana, die Schwester des Perserkönigs Xerxes: Voller Bewunderung erforschte er ihre Reizungen, ihren Verstand, ihre Tugend. Bald verwandelte sich die Bewunderung in Liebe, und mit der Liebe kam die Verzweiflung. Aber sein Schmerz war geheim und verschwiegen; und doch irrte er nicht in einsamen Schatten herum, um sich vom Getümmel zu entfernen: sondern er breitete über seinen Gram eine schwache Demmerung von Munterkeit aus, und bedeckte seine Quaal mit lächelnden Geberden. Unterdessen wütete die verborgne Flamme in seinem Busen, und verzehrte seine Ruhe, indem sein Herz immerfort diesen betrübten Gedanken nachhieng.629

Erzählt wird folglich auch hier eine verschwiegene, unerfüllte Liebe. Wie im Messias Klopstocks liegt der Fokus in der Liebesepisode auf der männlichen Figur, d. h., in den Soliloquien, die ebenfalls einen breiten Raum im englischen Epos einnehmen, offenbaren sich der Herzschmerz und die Liebesqualen des 625 Brief von Klopstock an Bodmer, 19. Oktober, 5. November, 2. Dezember 1748. In: HKA, Briefe I, Nr. 19, S. 26–31, hier S. 28, Z. 74–77. 626 [Richard Glover:] Leonidas. Ein Heldengedicht. Aus dem Englischen übersetzt [von Johann Arnold Ebert]. In: Sammlung vermischter Schriften von den Verfassern der Bremischen neuen Beyträge zum Vergnügen des Verstandes und Witzes. [1. Bd.] Erstes und zweytes Stück. Leipzig 1748. S. 1–184, hier S. 118. 627 Ebd., S. 85 (5. Buch). 628 Ebd. 629 Ebd., S. 86f. (5. Buch).

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Teribazus. Die Ariana betreffenden Gedanken im ersten inneren Monolog des – wie Semida – ruhelosen Teribazus lauten: Kann ich bey dir, o Weisheit, Linderung suchen, die du meine Liebe billigst? Vor der Macht der Schönheit allein würdest du mein Herz bewahren. Aber hier wirst du selbst bezaubert, hier, wo Zärtlichkeit, Annehmlichkeit und alle Tugenden das Verlangen rühmlich und anständig machen. Doch eine so verzweiflungsvolle Liebe ist der heftigste Schmerz, womit das unerweichliche Schicksal aus seinem Vorrathe von Quaalen das Leben martern kann. Aber räthst du mir nicht in diesem Augenblicke, die gefährliche Zauberinn zu fliehen?630 […] ich will ihre anmuthige Tugend wiederum anbeten. Ihre angenehme Zunge, ihre anständige Holdseligkeit soll mein hingerißnes Herz wiederum mit unüberwindlicher Bezauberung erfüllen; und wenn dann die Liebe, von verdoppelter Hitze entflammt, in meiner gemarterten Brust bis zur Raserey steigt, alsdann – – Aber vergebens forsche ich durch die Finsterniß meinem Schicksale nach: Verzweiflung und Glück sollen meine Führer seyn.631

Er ist stets in »tiefe Traurigkeit versenkt« und »klagt[.] in seinem zärtlichen Herzen«, das er als »unglückliches Herz« und als »Sitz beständiger Betrübniß« apostrophiert.632 Aufgrund ihrer Standesunterschiede scheint Ariana für Teribazus unerreichbar zu sein. Demgemäß lauten auch die Reflexionen des jungen persischen Kriegers: Strebst du nach jener erhabnen Prinzessinn, der Schwester des großen Xerxes, und willst du ein Nebenbuhler der hoffenden Potentaten und Könige Asiens werden? Wo ich nicht in ihrer Brust eine eben so heiße, ja noch heißere Liebe, als die meinige, entzünde, eine solche, die jede jungfräuliche Furcht vertreiben, und das zärtliche Verlangen ihres Herzens frey offenbaren kann, so ist mein Hoffen umsonst.633

Wie Semida in Klopstocks Bibelepos durch die Gedanken an die dem Messias drohenden Gefahren von seinem Liebeskummer abgelenkt wird, so wird auch Teribazus durch einen plötzlichen Hilferuf eines verwundeten Freundes vom Schlachtfeld aus seinem Gedankengang gerissen:634 Also dachte er bey sich selbst, in schwarze Verzweiflung vertieft, als plötzlich das Geschrey des Aribäus in sein Ohr drang. Durch gemeinschaftliche Gefahr, und durch Freundschaft vereinigt, hatten sie lange die Beschwerlichkeiten des Krieges mit einander getheilt. Siegreich verfolgten sie mit einander die Söhne des Nils, als Aegyptens Stolz vor den Waffen des Hyperanthes fiel. Teribazus sieht seinen tapfern Freund, mit Wunden bedeckt, und von allen verlassen, auf dem Felde ausgestreckt liegen. Seine

630 631 632 633 634

Ebd., S. 87 (5. Buch). Ebd., S. 88 (5. Buch). Ebd., S. 90 (5. Buch). Ebd., S. 90f. (5. Buch). Vgl. HKA, Werke IV 3, S. 298.

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matte Seele erwacht; er geht aus der Persischen Linie heraus, und trägt den blutenden Krieger in seiner starken Umarmung geschwinde fort.635

Teribazus verlässt daraufhin »seinen erretteten Freund« und stellt sich »unerschrocken« dem »herannahenden Feind«.636 Beim Anblick eines von ihm erschlagenen Griechen fasst er einen folgenreichen Entschluss: Nach deinen prächtigen Waffen bist du ein Grieche von keinem unedlen Range, und durch deinen Fall bin ich vielleicht mit einem herrlichern Glanze geziert. Wie, wenn der Himmel meine unwürdige Hand mit neuen Opfern, die dir gleich sind, schmücken sollte, wer weiß, ob sie nicht meine Trophäen anlächeln würde? Ach! eitler Gedanke! Verschwindet, nichtige Hoffnungen! Ach! zu lange hast du schon, mein Herz, mit deinen Quaalen vergebens gerungen! In diesem Augenblicke stehe ich am Rande des Lebens, durch die Ehre gelockt, durch die Verzweiflung angetrieben, auf ewig über diese Grenze zu treten. Teribazus soll nicht mehr zurückkehren, sondern hier sein Schicksal bestimmen. Klopfe demnach nicht mehr, du unruhiges Herz, und jede Klage schweige, da sich nunmehr die immerwährende Ruhe nähert.637

Teribazus schiebt folglich die schwache Hoffnung, auf dem Schlachtfeld Ruhm und Ehre erlangen zu können und dafür von Ariana bewundert zu werden, rasch beiseite und beschließt, den Tod im Kampf zu suchen. Vor dem Zweikampf des persischen Kriegers mit dem griechischen Heros Dithyrambus führen beide einen kurzen Dialog, der im Leonidas die poetische Funktion einer zusätzlichen Charakterisierung des Teribazus erfüllt. Teribazus erklärt seinem Feind: »Ich bin den Griechen ein Fremdling, ein Elender, den du nicht kennst, und der in dieser Stunde den Tod sucht; doch will ich nicht unedel sterben, sondern im Tode zugleich meinen Namen der Dunkelheit entreißen, und mein Elend beschließen.«638 Dithyrambus erwidert: Ich sehe dich an, und bedaure dich. Eine Hoheit, die dem Antlitze der Tugend allein eigen ist, thront mit der Kühnheit auf deiner Stirne, obgleich der Gram dein mattes Auge trübe gemacht hat; und beyde fordern meine Ehrfurcht. Ob mir gleich die Bosheit deines Geschicks unbekannt ist, ob ich gleich nicht weiß, was für Sorgen dein Herz so sehr beunruhigen, so erwecken sie doch in meiner Brust das Mitleiden eines Freundes. […]639

Zunächst scheint es, als ob Teribazus im Zweikampf mit dem griechischen Helden siegen würde, aber plötzlich wendet sich das Blatt und Dithyrambus

635 [Glover:] Leonidas. Ein Heldengedicht. Aus dem Englischen übersetzt [von Johann Arnold Ebert], S. 91 (5. Buch). 636 Ebd. 637 Ebd., S. 91f. (5. Buch). 638 Ebd., S. 93 (5. Buch). 639 Ebd., S. 93f. (5. Buch).

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»gräbt sein Schwerdt in die entblößte Seite« seines Gegners.640 Teribazus’ Freund Hyperanthes eilt sofort herbei: Aber mit nassen Wangen und vor Schmerzen stumm, umarmt dieser seinen sterbenden Freund, aus dessen kalten Lippen diese unterbrochnen Worte hervorbrachen. O theuerster, rechtschaffenster Mann! mein Herz ist mit tausend Gedanken der Erkenntlichkeit und Liebe gegen dich erfüllt; aber das Schicksal versagt meiner Stimme den Ausbruch. O mein Freund! O Hyperanthes! höre meinen Mund entdecken, was du vor dieser Stunde niemals erfahren haben würdest, in welcher ich, indem ich dir meine ganze innerste Seele eröffne, zugleich entfliehen, und meine Augen in unendlicher Nacht verbergen darf; und du das keine stolze Verwegenheit nennen wirst, was ich dir itzt mit meinem sterbenden Odem offenbare. Ich liebe deine Schwester. Voll Verzweiflung liebte ich sie, und daher ist mein Ende vielleicht zu frühzeitig; doch der Himmel sey mein Zeuge, daß ich nicht ungern sterbe, da ich mit solcher Ehre vor Persiens und deinen Augen blute.641

Nachdem er seine tiefen, bislang verschwiegenen Gefühle für Ariana endlich ihrem Bruder und seinem Freund Hyperanthes offenbart hat, stirbt Teribazus. Der weinende Hyperanthes ruft aus: »Ach! Teribazus! Ach! mein Freund, dessen Verlust ich ewig beweinen will. Ach! welcher Gott war mir und dir so feind, daß er deine Brust mit so unbilligem Mistrauen vor dem Hyperanthes verschloß. Sie würde, sie müßte dich geliebt haben.«642 Die Teribazus-Ariana-Episode findet ihre Fortsetzung im 6. Buch des Leonidas. Im Zentrum der epischen Handlung steht nun die weibliche Nebenfigur. In der Nacht nach der Schlacht, in der viele Perser von den Griechen niedergemetzelt wurden, verlangt Ariana Einlass in das Lager von Leonidas. Sie bittet Agis, der zusammen mit hundert Kriegern Wache hält: »O großmüthiger Grieche, höre auf das Flehen einer Elenden, eines unglücklichen Weibes, die der Schmerz allein in dieser finstern Stunde zu diesen siegreichen Gezelten gebracht hat.«643 Ariana wird vom epischen Erzähler folgendermaßen beschrieben: Ihr Angesicht stritt nicht mit der Macht der verderblichen Helenen, noch mit den wollüstigen Annehmlichkeiten der weichlichen Königinn der Liebe; aber es übertraf weit alle die verwelklichen Reizungen, welche die Lilie, mit der Rose vermischt, auf die Wange der Schönheit malet; es drückte eine Seele aus, die von der Weisheit regiert, und von der Holdseligkeit zärtlich gebildet ward. Und dennoch konnte dieses göttliche Antlitz, das vom reinsten Lichte der Tugend glänzte, das unbarmherzige Schicksal nicht besänftigen, noch das boshafte Glück die Unschuld zu verehren zwingen, welches oft

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Ebd., S. 95 (5. Buch). Ebd., S. 95f. (5. Buch). Ebd., S. 96 (5. Buch). Ebd., S. 114 (6. Buch).

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das unbefleckte Herz mit Quaalen zerreißt, und oft die Verzweiflung zur Weisheit gesellt.644

Ariana übertrifft demnach mit ihrem tugendhaften, ›zärtlichen‹ Charakter sowohl die »verderbliche Helen[a]« als auch die Göttin Aphrodite. Wie ihr männliches Pendant, Teribazus, zeichnet auch sie sich durch Schönheit, Weisheit und Tugend aus und verspürt gleichfalls die ›verzweifelten Qualen der Liebe‹. Agis erkennt ihre »Würde und Hoheit« und führt sie zum Zelt des spartanischen Königs Leonidas.645 Dieser ruft beim Anblick der jungen Frau aus: Deine Gestalt allein, die so reizend und erhaben ist, zeichnet deine Seele ab, und fordert von allen die größte Hochachtung. Erzehle, o edle Dame, was für ein hartes Schicksal deinen zarten Fuß diese finstere Wege zu betreten zwingt. Erzehle das Unglück, worüber deine Tugend trauert.646

Ariana klagt Leonidas ihr Leid: Wenn man das Mitleiden der Rechtschaffenen dadurch verdienen kann, daß man sich höchst unglücklich und von der Hoffnung auf ewig verlassen sieht; daß man groß und elend ist; so siehe, o ruhmwürdiger Führer unbesiegter Schaaren, siehe die betrübte Ariana, die Tochter des Darius, nimm mein Flehen mit Erbarmen an, und verachte meine Thränen nicht! Mein unschuldiges Herz gesteht dir, daß ich den Besten unter den Menschen geliebt habe, den die Hand der Natur mit jeder Tugend gebildet hatte, der tapfer, weise und mit jeder Kunst geziert war. Heute focht er, mit griechischen Waffen prächtig gerüstet, und heute fiel er. Und ach! indem er in meines Bruders Armen seinen Geist aufgab, so entdeckte er eine lange verheelte Liebe gegen mich. – – – – O! ich will meine Schmerzen hemmen! ich will meinen Augen verbieten, vor dir zu strömen, und mein Herz, das so voller Quaal ist, soll seine Seufzer unterdrücken! Denn warum sollte deine Menschlichkeit über mein Unglück betrübt werden, und von mir das Loos der Natur, die zu Kummer und Mühseligkeit verdammt ist, betrauren lernen! Erhöre also, o König, mein einziges Verlangen, daß ich seinen Leichnam unter den Haufen der Erschlagnen suchen darf.647

Leonidas gewährt der weinenden persischen Prinzessin ihren Wunsch und Agis hilft ihr beim Suchen des Leichnams. Als sie den Toten finden, wirft »die vor Betrübniß rasende Prinzeßinn […] ihre schönen Glieder auf die kalte Brust des Teribazus«: Das geronnene Blut entstellte ihren weißen Busen. Ueber seine Wunden floß ihr zerstreutes Haar, und aus ihren Augen quoll ein ungestümer Schmerz, der die blutige Leiche benetzte, bis ihr schluchzendes Winseln also ausbrach.

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Ebd. Ebd., S. 115 (6. Buch). Ebd. Ebd., S. 115f. (6. Buch).

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O du, der du von meinen weinenden Augen auf ewig weggerissen bist, der du verzweifeltest, ein Herz zu gewinnen, das dich damals am heftigsten liebte, und dein Leben durch den unvermeidlichen Pfeil des Verhängnisses für diejenige zu früh verlohrest, die nun in einer Todesangst ihr empfindliches Herz entdeckt, und die Betheurungen ihrer Liebe deinem tauben Ohre wiederholt; die nun deine kalte und fühllose Brust zärtlich an die ihrige drückt! Ach! bemerken wohl diese unbewegten, gräßlichen Augen meine hervorströmende Wehmuth! Kann wohl dieses Herz, das die entseelende Hand des Todes starr gemacht, an meinen Leiden Theil nehmen, und meine Seufzer mit Seufzern beantworten! – – – O! herbe unüberwindliche Quaal! Siehe! Ariana beugt sich über deine Brust, hängt über deinem Angesichte, vereinigt ihre Wange mit der deinigen, nicht mehr, um mit bezauberten Ohren deinem überredenden Munde zuzuhören, nicht mehr von der Weisheit deines reichen Verstandes entzückt!648

Nachdem Ariana aus einer kurzen Ohnmacht erwacht ist, begeht sie Selbstmord: Eine Zeitlang schaute sie die schreckliche Wunde, wo des Dithyrambus Schwerdt am tiefsten eingedrungen war, stumm und unbeweglich an. Drauf zieht sie mit unveränderten Geberden und mit einer nicht zitternden Hand, einen Dolch hervor, den ihr Gewand verbarg. Sie stößt den fürchterlichen Stal in ihr Herz, und sinkt auf ihren getödteten Geliebten still nieder.649

Der Spartaner Agis sieht »[m]it Thränen […] die zärtlichen Liebhaber vor sich liegen«.650 Dithyrambus vergießt Tränen des Mitleids. Selbst der Perserkönig Xerxes weint beim Anblick des toten Liebespaares, als diese in sein Lager gebracht werden. Der epische Erzähler berichtet, Xerxes habe »damals zuerst das Mitleiden kennen[gelernt]«.651 Die Liebesepisode im Leonidas Glovers endet demnach mit dem Tod beider Figuren und erinnert in ihrer Dramatik bzw. Tragik etwa an Shakespeares Romeo und Julia. Teribazus und Ariana sind ebenso wie Semida und Cidli ahistorische Gestalten, d. h., sie sind typische Charaktere des Zeitalters der Aufklärung. Als Idealfiguren reflektieren sie über ihre eigenen und die Empfindungen anderer, vergießen eine Flut von Tränen, sind tugendhaft und erhaben, schön und fromm, tapfer und weise. Es handelt sich bei diesen epischen Nebenfiguren um Idealbilder der Epoche der Empfindsamkeit und somit dienten sie als Identifikationsfiguren für das zeitgenössische Lesepublikum. Entscheidend für den Rezipienten ist folglich zum einen der historische und zum anderen der autobiographische Kontext, da die Semida-Cidli-Episode Klopstock zur poetischen »Einkleidung«652 seiner eigenen unglücklichen Liebesgeschichte diente, die 648 649 650 651 652

Ebd., S. 117f. (6. Buch). Ebd., S. 118 (6. Buch). Ebd. Ebd., S. 130 (7. Buch). Brief von Klopstock an Margareta Moller, 19., 21. Mai 1751. In: HKA, Briefe II, Nr. 42, S. 41– 43, hier S. 42, Z. 48.

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zudem stofflich und kompositorisch der Teribazus-Ariana-Episode im Leonidas Glovers ähnelt. Ariana wurde offenbar ebenso wie Teribazus durch ihren Stand daran gehindert, ihm ihre Liebe zu bekennen.653 Cidli hingegen gehorcht im Messias Klopstocks dem Keuschheitsgebot der Mutter (vgl. IV, 757–762). Als eine von den Toten Auferweckte macht es für sie Sinn, ihr irdisches Leben ganz Gott zu widmen. Aufgrund »der Transponierung in das neutestamentlichchristliche Milieu« ist eine »tragische Entwicklung der Liebesgeschichte« von Semida und Cidli im Bibelepos Klopstocks »bereits im Ansatz aufgehoben«.654 Aus dem weiteren Verlauf der Liebesepisode im Messias wird ersichtlich, dass Klopstock seinen beiden epischen Charakteren zudem ein Happy End gönnt. Im XV. Gesang denken sowohl Cidli als auch Semida über ihr Schicksal nach, d. h., sie zweifeln an ihrem Dasein als zwei von den Toten Auferweckte. Ein normales irdisches Leben und eine erfüllte Liebesbeziehung sind ihnen versagt, dennoch führen sie kein gottgeweihtes Leben als himmlische Unsterbliche, sondern sie fühlen seelische Schmerzen und leiden wie alle sterblichen Menschen. Demgemäß lautet auch der Monolog Cidlis: […] O Liebe voll Unschuld! ich darf dich, Meine Liebe, so nennen, wenn wirst du mich endlich verlassen? Wenn wegrufen den Schmerz, der alles in trübe Bilder, Alles in Thränen um mich verwandelt? Gehör’ ich der Erde Viel zu wenig, ihr sterbliche Söhne zu geben; erstand ich, Gott mich auf diese Weise zu widmen: was weilest du, Liebe, Zwar mir bitterer Schmerz, doch Liebe voll Unschuld, was weilst du Unnachlassend in mir? Doch wenn dein Weilen mir zeigte, Daß ich, also dem Herrn mich zu widmen, vom Tode nicht aufstand? Ach wer führt mich heraus aus dieser Tiefe des Schmerzes? Dieser Irre des Grübelns heraus? Zwar bin ich erstanden; Aber sterblich bin ich! Ich leb’, und ich leide, wie andre! Leide viel mehr, wie andre, die so voll Unschuld nicht lieben! Wär’ ich nur sterblicher auch! Du Klage, warest zu heftig! Sterblicher will ich nicht seyn! […] (XV, 1379–1393)

Semida hatte sich auch nur kurzzeitig durch die Gedanken an den auferstandenen Messias von seinem Liebeskummer abgelenkt: Nun erwachten von neuem mit tiefverwundender Wehmuth Seiner Liebe Schmerzen in ihm. Noch war für ihn immer Cidli geschaffen. Das fühlt’ er zu mächtig! unüberwindlich War der Sieger, dieß starke Gefühl, in dem innersten Herzen! Nacht vor mir, wer führt mich durch dich? wer hindurch zur Gewißheit, Ob, die ich mir erkohr für die Ewigkeit, wieder mich liebe? 653 Vgl. HKA, Werke IV 3, S. 298. 654 Ebd.

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Oder auch nicht? Wer bringt mich hinauf zu den Höhen der Freude? Oder hinab in das sinkende Thal der bittersten Schmerzen? Auferstanden bin ich, doch nicht unsterblich geworden! Wären wir dieß; so wären wir lang’ hinübergegangen In der Ruh Gefilde, wo nichts die Liebenden trennet! Und dort liebte mich Cidli gewiß! O Cidli, Gewählte, Die ich liebe, wie wenige nur zu lieben vermögen! Doch verstumme du, Schmerz! noch sterblicher machst du mich, trüber Bitterer Schmerz. […] (XV, 1429–1443)

Durch wörtliche Übereinstimmungen verknüpft der Messias-Dichter hier die Monologe der epischen Nebenfiguren im XV. Gesang mit denen des IV. Gesangs (IV, 760–762 / XV, 1382–1384; IV, 819f. / XV, 1430f.; IV, 824f. / XV, 1434). Cidli und Semida machen sich getrennt voneinander auf den Weg nach Tabor (XV, 1376–1549). Cidli und ihre Mutter werden von einer Pilgerin begleitet und hoffen, auf dem Berg Erscheinungen der auferstandenen Heiligen zu sehen (XV, 1376–1425). Semida bricht ebenfalls zusammen mit einem Fremden auf und kommt auf dem Weg einem Verwundeten, einem Blinden und einem Alten zu Hilfe. Der Fremde gibt sich schließlich als der auferstandene Jonathan zu erkennen (XV, 1509–1513) und die Pilgerin entpuppt sich als die himmlische Megiddo (XV, 1522). Die auferstandene Heilige gebietet der Mutter Cidlis, den beiden nicht weiter zu folgen, denn nur die »auferweckte des Mittlers« (XV, 1516) werde »die höhren Erscheinungen« sehen (XV, 1517). Die Trennung fällt sowohl Cidli als auch ihrer Mutter sehr schwer : M. Abschied von meiner Cidli, von der ich niemals mich trennte? Komm bald wieder, o himmlische Tochter, und sage mir armen, Was du sahst. Gott segne zu dieser Erscheinungen Heil dich! Geh nach Salem hinab, so sprach zu der Mutter Megiddo, Denn du siehest so bald die glückliche Cidli nicht wieder! C. Meine Mutter! der Herr geleite dich, meine Mutter! Himmlische Freundin, laß bald mich wieder die Mutter umarmen! Und sie verließen die arme, die weinend den scheidenden nachsah. (XV, 1519–1526)

»Die parallel angelegte Szene kulminiert in der Begegnung [der beiden Liebenden] auf dem Tabor.«655 Semida und Cidli werden gemeinsam verklärt und so im Jenseits für alle Ewigkeit vereint. Der epische Sänger kommentiert die Apotheose der beiden Vereinten folgendermaßen: »Wiedersehen, o du der Liebenden Wiedersehen, j Wenn bey dem Staube des Einen nun auch des Anderen Staub ruht, j Selbst der Gedank’ an dich ist nur ein Traum von den Freuden j Cidli’s, (nun weinten sie andere Thränen) und Semida’s Freuden!« (XV, 1546– 1549) 655 Martin: Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert, S. 127.

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Klopstock ergänzt die Semida-Cidli-Episode quasi noch um einen »Epilog«656 im XVII. Gesang des Messias (XVII, 692–730): Semida und Cidli kehren hier vom Hesperus zurück und singen auf Wunsch der versammelten Auferstandenen »[n]euen Gesang von der Wonne des Liebenden, und der Geliebten« (XVII, 697). Der harmonische Wechselgesang wird plötzlich beendet, als Cidli ihre Mutter wiedersieht: »Denn an einer entblätterten Palme j Sahe sie ihre Mutter, die überlastet von Kummer, j Niedergesunken war. Die Tochter hielt sich nicht, strahlte j Schnellerscheinend zu ihr hinunter in ihrer ganzen j Herrlichkeit! Eben so schleunig starb vor Freude die Mutter.« (XVII, 726–730) Da die Mutter in der Beziehung Cidlis und Semidas von Anfang an eine wichtige Nebenrolle spielt, bleibt ihr Schicksal im Messias demnach nicht offen. Nach ihrer Verherrlichung hat sich das vorherbestimmte Lebensschicksal der beiden von Jesus Christus vom Tode Auferweckten erfüllt: ihre unsterblichen Seelen sind füreinander geschaffen worden, um gemeinsam ihr Dasein ganz Gott zu widmen. Die Semida-Cidli-Episode im Bibelepos entspricht folgendem wirkungspoetischen Grundsatz Klopstocks: Das Herz ganz zu rühren, ist überhaupt, in jeder Art der Beredsamkeit, das Höchste, was sich der Meister vorsetzen, und was der Hörer von ihm fordern kann. Es durch die Religion zu tun, ist eine neue Höhe, die für uns, ohne Offenbarung, mit Wolken bedeckt war. Hier lernen der Dichter und der Leser einander am gewissesten kennen, ob sie Christen sind. Nichts geringers darf derjenige sein, der hier unser ganzes Herz bewegen; und der, welcher hier den Dichter ganz empfinden will. Denn wird der Dichter, auch mit dem glücklichsten Genie, ohne wirkliche Empfindung der Schönheit der Religion, und ohne eine Rechtschaffenheit des Herzens, die nicht schimmern, noch viel weniger glänzen will, diese Bewegungen in uns hervorbringen können?657

Auch wenn Klopstock mit der Lazarus- bzw. Semida-Cidli-Episode eine Art ›Seelenprotokoll‹ niederschrieb, folgte er auch hier dem Prinzip der ›aemulatio‹: Die Erhabenheit der christlichen Offenbarungsreligion und der herzbewegenden Handlung garantierten für den Bibelepiker die Überbietung der TeribazusAriana-Episode im Leonidas Glovers. Die verschwiegene bzw. unausgesprochene Liebe zwischen den beiden epischen Charakteren im Messias bleibt nur auf Erden unerfüllt. In der Ewigkeit des göttlichen Himmelreiches sind die Liebenden nicht mehr voneinander getrennt. Klopstock schreibt in seiner Abhandlung Von der Sprache der Poesie (1758): »Denn die Abschilderung der Leidenschaften ist dasjenige, was in einem guten Gedichte herrschen soll.«658 In der poetischen Darstellung leidenschaftlicher 656 Ebd., S. 128. 657 Klopstock: Von der heiligen Poesie. In: Klopstock: AW, S. 997–1009, hier S. 1009. 658 Friedrich Gottlieb Klopstock: Von der Sprache der Poesie. In: Klopstock: AW, S. 1016–1026, hier S. 1021. Diese ästhetische Schrift Klopstocks wurde erstmals im Mai 1758 im ersten

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Liebesgefühle in der Semida-Cidli-Episode im Messias verbirgt sich ein weiterer agonaler Gedanke des Dichters. Klopstock konstatiert in einem Brief an Carl August Böttiger vom 21. August 1795: »Die griechische Sprache hatte für gewisse Empfindungen, wenigstens für ihre Schattirungen, keine Worte.«659 Durch das wirkungsvolle Beherrschen aller Ausdrucksmöglichkeiten der deutschen Sprache glaubte der Bibelepiker demnach, mit seinen affektreichen, ›herzrührenden‹ Szenen die antiken griechischen Klassiker übertreffen zu können. Die retardierende Nebenhandlung über das unglückliche Liebespaar im IV. Gesang des Messias erregte bei den zeitgenössischen Rezipienten Aufsehen. Klopstock hatte die epische Szene von Lazarus und Cidli bereits vorab einem kleinen Kreis von literarisch Interessierten bei seinem Besuch in Magdeburg im Juli 1750 vorgelesen. Er erzählte seiner »Fanny« von einer Lesung in Bachmanns Garteninsel auf dem Großen Werder : »Ich habe von Lazarus u Cidli oft vorlesen müßen mitten in einem Ringe von Mädchens, die entfernter wieder von Mannspersonen eingeschloßen wurden. Man hat mich mit Thränen belohnt.«660 Der Dichter wurde offenbar durch die Deklamation aus dem IV. Gesang des Bibelepos und einiger »Fanny«-Oden derart emotional mitgenommen, dass er danach nicht zur Ruhe kam. Er berichtet in dem Brief an seine Cousine: Den Abend […] bin ich nach zwölf Uhr wieder auf gestanden, bin allein in dem Garten herumgegangen habe gebetet, und an Fanny gedacht. Eine warhaftig himlische Stunde! Dieser unüberwindliche, dieser ewige Hang, Fanny ohne Maaß zu lieben, kan nicht vergebens in mir seyn. Ich habe dis ganz empfunden. Die Hofnungen der Unsterblichkeit sind ganz mein gewesen – […].661

Der erste Teil dieser Liebesepisode im Messias wurde nach der Erstveröffentlichung im Jahre 1751 sehr kontrovers aufgenommen. Die Bewunderer des Bibelepos – zu denen hauptsächlich die junge Generation und insbesondere Frauen zählten – waren begeistert von dieser herzbewegenden Liebesgeschichte, die sie zu Tränen rührte. Meier bemerkte im zweiten Teil seiner Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias (1752): »Unser Dichter hat hier etwas gewagt, welches man mit Recht einen kühnen Schrit [!] nennen kan. Er hat nemlich eine Liebesbegebenheit mit, in das Gewebe dieses göttlichen Gedichts, bringen wollen. Und er ist darinn vollkommen glücklich gewesen.«662 Der Hallenser

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Band des Nordischen Aufsehers veröffentlicht (26. Stück, 18. 05. 1758). (Vgl. Klopstock: AW, S. 1303.) Brief von Klopstock an Böttiger, 21. August 1795. In: HKA, Briefe XI, Nr. IX 12 a, S. 85f., hier S. 86, Z. 16f. Brief von Klopstock an Maria Sophia Schmidt, 10./11. Juli 1750. In: HKA, Briefe I, Nr. 71, S. 102–106, hier S. 104, Z. 63–65. Ebd., S. 104f., Z. 78–84. Georg Friedrich Meier : Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias. Zweytes Stück. Halle 1752. S. 93.

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Ästhetiker rechtfertigt diese poetische Erfindung Klopstocks, indem er darauf hinweist, dass der christliche Glaube und leidenschaftliche Liebesgefühle eine Einheit bilden würden: »Alle rechtmässige Leidenschaften können mit der Frömmigkeit eines Christen bestehen, und das Christenthum kan und muß auch in einem zärtlichen Hertzen angetroffen werden.«663 Zudem hält er die Liebesepisode dem heiligen Stoff des Epos angemessen: Die Materie von der Liebe ist schon durch hundert Dichter bearbeitet, und sie scheint erschöpft zu seyn. Allein unser Dichter weiß auch diese schlüpferige Leidenschaft auf einer solchen Seite vorzustellen, daß sie weder der Majestät des Heldengedichts, noch der Heiligkeit seines Helden zuwider ist.664

Durch den noch ungewissen Ausgang der Lazarus- bzw. Semida-Cidli-Episode werde Spannung erzeugt: Der Dichter hat zugleich einen Knoten in diese Liebesbegebenheit gebracht, indem er erdichtet, daß die Mutter der Cidli ihr diese Liebe untersagt habe. Da es nun vor der Hand unmöglich zu seyn scheint, daß diese Personen in ihrer Liebe glücklich seyn werden, und alle zärtliche Leser doch wünschen daß es geschehe; so wird dadurch die hoffende Neugierigkeit der Leser gereitzt, zu verlangen, was der Dichter dieser Liebe für einen Ausgang geben werde.665

Diese Episode im Messias ist demgemäß auf »zärtliche«, d. h. empfindsame Leser zugeschnitten, die sich in die epischen Figuren einfühlen und mitleiden können. Lazarus’ inneren Monolog im IV. Gesang bezeichnet Meier als »ein Meisterstück, man mag nun die Hoheit der Gedancken, oder das Pathetische oder das Fromme in [dem]selben betrachten«.666 Man könne »die Macht der Liebe« nicht »nachdrücklicher beschreiben«.667 Unvergleichlich verbinde der Dichter »den Affect der Liebe mit der Frömmigkeit«.668 Das Fazit des Kritikers lautet daher : »Lazarus liebt als ein Heiliger«.669 Der Pädagoge und Theologe Johann Christoph Stockhausen (1725–1784) lobte insbesondere den Gefühlsausdruck in dieser Episode des Messias: Was für eine rührende Scene machen die beyden Auferweckten, Lazarus und Cidli! Alles was die Liebe göttliches hat, was so wenigen Sterblichen empfindbar ist, das ganze System einer Liebe, zu deren Ausdruck eine gewöhnliche Sprache zu arm ist, liegt hier ausgedrückt.670 663 664 665 666 667 668 669 670

Ebd. Ebd., S. 99. Ebd., S. 100. Ebd. Ebd., S. 101. Ebd., S. 102. Ebd. Johann Christoph Stockhausen: Sammlung vermischter Briefe. Erster Theil. Wien 1766. S. 19.

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In Johann Martin Millers empfindsamem Roman Siegwart. Eine Klostergeschichte (1776) findet sich eine intertextuelle Referenz, die hier die Funktion hat, eine verschwiegene, d. h. unausgesprochene Liebe zum Ausdruck zu bringen: Sie setzten sich, und lasen im Messias. Er legte seine Hand in die ihrige. Lesen Sie doch wieder die Stelle von Semida und Cidli! sagte sie; sie ist gar zu rührend, und ich liebe das Wehmüthige so sehr. Er las sie. Therese lehnte ihren Kopf an den Stuhl zurück, und sah zum Himmel. Als er ausgelesen hatte, nahm er eben diese Stellung an, und betrachtete sie seitwärts. Sie weinte, und kehrte zuweilen ihr Gesicht langsam zu ihm hinüber. Das muß ein göttlicher Mann seyn, sagte sie, der die Liebe so wahr und so heilig schildert! Ja wohl, sagte Kronhelm.671

Diese Textstelle erinnert an die berühmte Klopstock-Szene in Goethes Briefroman Die Leiden des jungen Werthers (1774) und zeigt, dass die Klagen Semidas und Cidlis über die Qualen einer unerfüllten Liebe in der Spätaufklärung zum Topos geworden sind. Der stärkste Kritiker aufseiten der Gottschedianer war Hudemann. In seiner polemischen Schrift Gedanken von denen der Ehre Gottes und dem Heil der Menschen nachtheiligen Würkungen, die aus einem Gedicht entspringen, das, wieder die Grundsätze des göttlichen Wortes, christl. Religions-Geheimnisse behandelt (1754) bezeichnet er die epische Nebenfigur Lazarus abwertend als einen »aus dem Gehirn des Herrn Klopstocks hervorgegangenen neuen Adonis«.672 Die Lazarus-Cidli-Episode sieht Hudemann als Ausdruck einer gefährlichen Abgötterei und Schwärmerei an, und so warnt er auch vor dem Lesen der entsprechenden Szenen im IV. Gesang des Messias: [D]as Exempel des auferstandenen Lazarus [giebt] ein höchst unbilliges Schätzen der menschlichen Natur zu erkennen, als der in die Cidli, des Jairus auferstandene Tochter, so kindisch-verliebt vorgestellt wird, daß man gedenken sollte, es werde sein vom Heiland neu beselter Körper bey seiner abgöttischen Liebe vor Ohmacht und Weichlichkeit zerfallen. Gewiß ein sehr schlechter, schändlicher, und scheuslicher Charakter 671 Johann Martin Miller : Siegwart. Eine Klostergeschichte. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1776. Mit einem Nachwort von Alain Faure. Erster Band. Stuttgart 1971. (Deutsche Neudrucke, Reihe Texte des 18. Jahrhunderts.) S. 358. Der Messias Klopstocks spielt in der Liebesbeziehung von Therese und Kronhelm im Siegwart offensichtlich eine große Rolle: »Sie setzten sich wieder an den Tisch; Therese stützte ihr Gesicht auf ihre Hand, und neigte sich über den Messias her. Ihre Seele ward nun auf Einmal heftiger bestürmt; der Gedanke an die immer näher rückende Trennung faste sie ganz; ihr Busen schlug heftiger ; ein Seufzer folgte dem andern, und Kronhelm hörte die Thränentropfen auf das Buch fallen. Er ergrif ihre Hand; sie führte die seinige auf das Buch, und er fühlte, daß es naß war. Da that er in seinem Herzen einen Schwur, ihr ewig treu zu seyn! Und der Schwur war ihm so heilig als ob er ihn über dem Evangelio geschworen hätte.« (Ebd., S. 422.) 672 Ludwig Friedrich Hudemann: Gedanken von denen der Ehre Gottes und dem Heil der Menschen nachtheiligen Würkungen, die aus einem Gedicht entspringen, das, wieder die Grundsätze des göttlichen Wortes, christl. Religions-Geheimnisse behandelt. [Hamburg] 1754. S. 21.

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für einen durch ein Wunder auferweckten Heiligen. Ich weiß nicht, ob ichs einem einigen Leser, wenn er gleich über das jugendliche Alter weit hinaus ist, und durch eine wahre Bekehrung in einer Gott gefälligen Gesinnug [!] stehet, anrahten kann, die abgöttische Verehrung, die Lazarus der Cidli in seinen geheimen Betrachtungen erweiset, im 4ten Gesange mit Bedacht zu lesen; weil ein rechtschaffener Christ vor seinem von der Erbsünde befleckten Herzen sich niemals sicher achten darf.673

Zu Lazarus’ Soliloquium merkt er an: »Elendes Gauckelspiel einer mehr als rasenden Zärtlichkeit, wie truncken und scheuslich vor Gott machst du deine abgöttische Verehrer!«674 Wie könne »der fromme Lazarus« nur glauben, dass er »seine Seligkeit« »nicht in dem höchsten Gute […] sondern in der geliebten Cidli [finde]«?675 Die Hypertrophie des Gefühlsausdrucks und die Tränenseligkeit der epischen Charaktere wertet Hudemann ebenfalls dezidiert ab: So bebet, zittert, schauert, und weinet alles, selbst die Gedanken und Thränen nicht ausgenommen, durch die neumodische Muse; als die, statt eines feinen und aufgeklärten Witzes, allenthalben vom sanguinischen Temperament regieret wird, oder vielmehr ohne alle Maaßregeln durch dasselbe schwülstig und ungebunden herumirret! Welchem ernsthaften und gesunden Verstande muß nicht bey einem solchen Zeugniß der menschlichen Thorheit ein Eckel ankommen?676

Er zitiert einen Vers aus Lazarus’ bzw. Semidas innerem Monolog – »Mir horcht die schauernde Todesstille.« (IV, 803) –, um folgenden bissigen Kommentar abzugeben: »Es wäre zu wünschen, daß alle Exemplare des Meßias könnten zu ihr [der Todesstille; I. G.] verwiesen werden, damit sie hinfort keinem Lebenden schaden.«677 Eine detaillierte Untersuchung der »Liebesklagen« lehnt der Gottschedianer allerdings entschieden ab, »weil Wehmuht und Eckel [s]ein Herz fast in einer jeden Zeile fassen [würden]«.678 Hudemann schreibt die Lazarus-CidliEpisode der ›ausschweifenden Einbildungskraft‹ Klopstocks zu und schließt seine Kritik folgendermaßen ab: »In welch eine gefährliche und das Christenthum äusserst verunehrende Schwärmerey stürzet doch dieser neumodische Wahn seine taumelnde Verehrer!«679 Die Kopenhagener Pastorentochter Charlotte Cathrine Hauber schreibt in ihrer kritischen Besprechung von Hudemanns Streitschrift in den Nachrichten von dem Zustande der Wissenschaften und Künste in den Königlich Dänischen Reichen und Ländern (9. Stück, 1754): 673 674 675 676 677 678 679

Ebd., S. 19f. Ebd., S. 20f. Ebd., S. 20. Ebd., S. 22f. Ebd., S. 24. Ebd. Ebd., S. 25.

Episoden

367

Es wäre zwar fast zu wünschen, daß diese Episode, aus einem Gedicht das die höheste That des grössesten unter allen Helden beschreibt, und in diesem Fall mit seinen Vorgängern gar nicht zu vergleichen ist, lieber weggeblieben wäre, allein H. H. Klagen, scheinen uns merklich zu hoch gespannet.680

Die von Hauber implizit geäußerten Bedenken, ob denn eine derartige Episode über ein unglückliches und lamentierendes Liebespaar in ein Epos über die Erlösung der Menschheit durch den Kreuzestod Jesu Christi überhaupt passe, wurden offenbar auch von Bodmer geteilt. Der Züricher Dichtungstheoretiker veranlasste infolgedessen seinen Schüler Wieland zu einer »hochmoralischen Umdichtung«681 des ersten Teils der Semida- bzw. Lazarus-Cidli-Episode. Wielands Cidli erschien im Frühjahr 1755 in den Fragmenten in der erzæhlenden Dichtart.682 In dieser Umdichtung ist der hypertrophe Gefühlsausdruck Klopstocks enorm gemässigt und die ganze Szene wirkt eher idyllisch. Cidli blickt Lazarus nach ihrem inneren Monolog nicht mit Tränen in den Augen an, sondern sie lächelt, weil sie ihr Schicksal bereitwillig angenommen hat. Lazarus ist zwar traurig, aber nicht völlig verzweifelt. Seine Klagen gelten folgenden rein irdischen, unerfüllten Wünschen: Aber vvas ich mit CIDLI mir vvynschte, vvar hœheren Adels; Wynsche die vor dem Geist, der die Auferstehung gedenket, Sich nicht verbergen dœrfen; der menschlichen hofnungen schœnste Sah ich vor mir. Sie sollten dereinst ihr æhnliche Tœchter Mutter nennen, sie sollten aus ihren Brysten die unschuld Und der frœmmigkeit heilige trieb’ und zærtlichkeit saugen; Ein geschlecht von verehrern der Gottheit, von freunden des MITTLERS Sollte von uns entspringen und unsre tugenden erben. CIDLI, du solltest mir auch mit deiner gœttlichen unschuld Liebreich helfen, des Himmels, den vvir schon beide geschmeket, Immer vverther zu seyn; in deinem vertraulichen umgang Wollt’ ich mich immer mehr in den sitten der Himmlischen yben. Diese hofnungen sind izt dahin. […]683

680 [Charlotte Cathrine Hauber :] [Rez.:] Herrn D. Ludewig Friderich Hudemanns Gedanken von den der Ehre Gottes und dem Heil der Menschen nachtheiligen Wirkungen, die aus einem Gedicht entspringen, das wider die Grundsätze des göttlichen Wortes christliche Religionsgeheimnisse behandelt. In: Nachrichten von dem Zustande der Wissenschaften und Künste in den Königlich Dänischen Reichen und Ländern. 9. Stück (1754). 2. Band. Kopenhagen / Leipzig 1756. S. 65–73, hier S. 70. 681 HKA, Werke IV 3, S. 294. 682 [Christoph Martin Wieland:] Cidli. In: [Johann Jacob Bodmer / Christoph Martin Wieland:] Fragmente in der erzæhlenden Dichtart; Von verschiedenem Innhalte. Mit einigen andern Gedichten. Zyrich 1755. S. 100–104. 683 Ebd., S. 103.

368

Klopstocks Wettstreit mit der epischen Tradition

Trost schenkt Lazarus sein Gottvertrauen und demütig beugt auch er sich seiner Vorherbestimmung: Ach! vergieb mir, o HERR, vergieb dem Menschen von staube Daß er seine Geschœpfe, die schœnen hoffnungen, traurig Sterben sieht! Aber der Geist erhebt sich yber die trauer, Siehet die Hand des HERRN in seinem schiksal und betet Demuthsvoll an! Du bist in deinen fyhrungen immer Weis’ und gytig. Schon hab ich aus einem hellern gesichtspunct Deine vvege beschaut. Mir vvurden vom Himmel herunter Selige blik in die Vorsicht gegœnnt, die die vvelten beherrschet; O vvie vvaren sie schœn! vvie vvyrdig der evvigen Schœnheit! Kann ich nach solchen bliken noch klagen! – Entvveiche du kummer Und ihr klagen verstummet; mißgœnnt mir nicht længer das gute Das mir noch ybrig geblieben und CIDLIS himmlische freundschaft. – Aber izt blikt sie mich an! vvas stralt ihr seliges Auge? O vor diesem anblik verschvvinden die leisesten schmerzen. Hoch erhebt mich dein anblik, du schœne unschuld, erhebt mich Yber den schmerz und gebeut den streitenden regungen friede. CIDLI, vvir lieben uns noch, mit frommen harmonischen thaten Und mit himmlischem Wandel soll meine liebe dir reden! Was ich fyr dich empfinde kan keine umarmung nicht sagen, Tugenden kœnnen es nur. – Wie kurz sind diese minuten, Die uns noch trennen! Wie bald erlaubt uns ein besseres leben Uns vvie die Engel zu lieben! – Izt sei mein leben der GOTTHEIT Wie das deine gevveiht. Mich fodern heilige Sorgen.684

Wielands kritische Umdichtung zeigt, dass es ihm offenbar darum ging, eine rein vergeistigte, höchst tugendhafte Liebe darzustellen, d. h., Aspekte wie sexuelles Verlangen oder erotische Begierde sollten keinerlei Rolle spielen. Er folgte hierin sicherlich den Wünschen seines Mentors Bodmer, der auch die anakreontische Dichtung seiner Zeit entschieden ablehnte. Die Leiden des Messias und damit der göttliche Heilsplan sollten einzig im Mittelpunkt der epischen Handlung stehen. Um Klopstocks Liebesauffassung, die in der SemidaCidli-Episode zum Ausdruck kommt, zu rechtfertigen, behauptete Carl Friedrich Cramer in seiner Schrift Klopstock. Er; und über ihn (3. Theil, 1782), dass der Messias-Dichter eine »christlichplatonische Liebe« beschrieben habe.685 Völlig übersehen wurden in der zeitgenössischen Rezeption offenbar die religiösen Implikationen in der Liebesbeziehung zwischen Semida und Cidli im biblischen Heldengedicht. Entscheidend ist hier folgendes Gleichnis im IV. 684 Ebd., S. 103f. 685 Carl Friedrich Cramer: Klopstock. Er ; und über ihn. Dritter Theil. 1751–1754. Dessau 1782. S. 107, Anm.

Episoden

369

Gesang des Messias, welches diese Episode einleitet und sich durch ein komplexes typologisches Verweisungssystem auszeichnet:686 So ging, da sie erwuchs, der Israelitinnen schönste, Sulamith, als die Mutter am Apfelbaume sie weckte, Wo sie die Tochter gebar, in der Kühle des werdenden Tages. Sanft rief sie der schlummernden Tochter, mit lispelnder Stimme Rief sie: Sulamith! Sulamith folgte der führenden Mutter, Unter die Myrrhen, und unter die Nacht einladender Schatten, Wo, in den Wolken süßer Gerüche, die himmlische Liebe Stand, und in ihr Herz die ersten Empfindungen hauchte, Und das verlangende Zittern sie lehrte, den Jüngling zu finden, Der, erschaffen für sie, dieß heilige Zittern auch fühlte. So geht Cidli. Sie hängt an der Hand der Hörerin Jesus. Und mit lockichtem fliegenden Haar, in der Blume des Lebens, Schön, wie der Jüngling David, wenn er an Bethlehems Quelle Saß, und entzückt in der Quelle den großen Allmächtigen hörte; Aber nicht lächelnd, wie David, begleitet die sittsame Cidli Semida, den von dem Tode bey Nain der Göttliche weckte. (IV, 684–699)

Cidli wird »mit Sulamith, der Braut des Hohenliedes, verglichen«, die wiederum »die Kirche insgesamt wie die einzelne gläubige Seele, beide in ihrer bräutlichen Beziehung zu Christus«, präfiguriert.687 Aus dem Rückbezug des epischen Sängers auf die Vorgeschichte der erzählten Handlung geht hervor, dass die Verstorbene vom Heiland auferweckt und der Mutter zurückgegeben wurde (IV, 677–679). Im Vergleichsbild weckt die Mutter die Schlummernde auf und führt sie zum himmlischen Bräutigam (IV, 684–693). »Semida ähnelt dem jungen David im Lauschen auf die allgegenwärtigen Offenbarungen Gottes.«688 David, der zum König erwählte Hirte, ist ein »Typos«, d. h. ein Abbild Jesu Christi. Mittels typologischer Andeutungen wird so im Epos ein Analogieverhältnis zwischen Semida und Jesus geschaffen. Aufgrund seiner tugendhaft-religiösen Haltung ist Semida innerseelisch dem Messias ähnlich.689 Man denke nur daran, dass er wie im biblischen Gleichnis vom barmherzigen Samariter (Lk. 10,25–37) auf dem Weg nach Tabor sofort einem Verwundeten zu Hilfe eilt (XV, 1456– 1494). Semida folgt demnach dem christlichen Gebot der Nächstenliebe, wie er auch auf die Stimme Gottes hört, die in seinem Innersten zu ihm spricht und ihm gebietet, Cidli zu lieben (vgl. IV, 815–817). Die gemeinsame Verklärung Semidas und Cidlis lässt sich somit als mystische Vereinigung der gläubigen Seele mit 686 Vgl. hierzu die typologische Deutung der Semida-Cidli-Episode im IV. Gesang des Messias von Jörn Dräger, der ich folge: Dräger: Typologie und Emblematik in Klopstocks »Messias«, S. 95–115. 687 Ebd., S. 97. 688 Ebd., S. 106. 689 Vgl. ebd., S. 107.

370

Klopstocks Wettstreit mit der epischen Tradition

Jesus Christus bzw. Gott deuten. Der Lazarus- bzw. Semida-Cidli-Episode im Messias Klopstocks liegt demgemäß eine durch den christlichen Glauben gerechtfertigte Liebesauffassung zugrunde.

4.6

Charakterdarstellung

Johann Gottfried Herder lässt den Rabbi in seinem fiktiven Gespräch zwischen einem Rabbi und einem Christen über Klopstocks Meßias in den Fragmenten über die neuere deutsche Literatur (1767) folgende Kritik äußern: Aber überhaupt! ist in seiner Epopee zu viel Gerüst und zu wenig Gebäude; zu viel Rede und zu wenig Handlung. Wie vieles davon kann man wegnehmen, ohne Schaden, ja vielleicht zur Schönheit des Ganzen. Euer Jesus wird entweder ü b e r der Menschheit geschildert, oder mit dem vollen weichen Herzen, das da spricht, und duldet, aber zu wenig handelt. Wer ihn nicht zum Voraus aus den Evangelisten kennet: wird ihn aus diesem Gedicht nicht in seiner ganzen Größe kennen lernen.690

Dieser Vorwurf der angeblichen Handlungsarmut wurde zum Topos in der Rezeption des Messias. Die literarische Gattung Epos bedarf der Heldentaten der meist titelgebenden Hauptfigur. Herder lagen zum Zeitpunkt seiner dialogisierten Rezension nur die ersten zehn Gesänge von Klopstocks Bibelepos vor. Er sieht in dem leidenden Dulder keinen eigentlich handelnden Helden. Vergleicht man nun den auferstandenen Jesus Christus der Gesänge XI bis XX mit den Heroen der antiken und neuzeitlichen Epen, so kann man ihn ebenso schwerlich als aktiven Träger der Handlung bezeichnen. Die literaturwissenschaftliche Forschung hat inzwischen deutlich herausgearbeitet, dass Klopstock von einem verinnerlichten Handlungs- und Tatbegriff ausging.691 Indem der MessiasDichter die seelische Handlung der rein körperlichen und die passive Tat der aktiven vorzog, »nimmt er auch im zentralen Begriff der epischen Tat den Agon mit der Antike auf«.692 Programmatisch heißt es daher auch im IV. Gesang des Bibelepos über den Messias: 690 Johann Gottfried Herder: Gespräch zwischen einem Rabbi und einem Christen über Klopstocks Meßias. In: [Ders.:] Sämtliche Werke. Band I. Hrsg. v. Bernhard Suphan. Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Berlin 1877. Hildesheim 1967. S. 277–284, hier S. 280f. 691 Vgl. Martin: Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert, S. 133–139 (Unterkapitel: Leiden als »That«). Vgl. hierzu auch seinen Aufsatz: Dieter Martin: Klopstocks Messias und die Verinnerlichung der deutschen Epik im 18. Jahrhundert. In: Kevin Hilliard / Katrin Kohl (Hrsg.): Klopstock an der Grenze der Epochen. Mit Klopstock-Bibliographie 1972–1992 von Helmut Riege. Berlin / New York 1995. S. 97–116. 692 Martin: Klopstocks Messias und die Verinnerlichung der deutschen Epik im 18. Jahrhundert, S. 107.

Charakterdarstellung

371

Also sagt’ er, und nahete sich erhabneren Thaten, Als, seit der Engel Geburt, dem Anbeginne der Erden Und der Sonnen, geschahn, auf jeder Unendlichkeit Schauplatz, Jemals geschahn! Er nahte sich still den göttlichen Thaten. Äußerliches Geräusch, und Lerm, süßtönend dem Eiteln, Klein genung, zu folgen des Helden Thaten, der Staub ist, War um den hohen Messias nicht; und nicht um den Vater, Als er dem Unding’ einst die kommenden Welten entwinkte. (IV, 1338–1345)

Aus den Leiden in Gethsemane, die im darauffolgenden V. Gesang erzählt werden, geht der bibelepische Held ausdrücklich »als Sieger« (V, 824) hervor. Der leidende Messias als der für Klopstock erhabenste und damit würdigste christliche Held überbietet mit seinen kommenden »Thaten« (IV, 1338, 1341) demnach nicht nur die Taten, die seit der Erschaffung der Welt und ihrer Geschöpfe vollbracht wurden und welche in den Büchern des Alten Testaments erzählt werden, sondern vor allem auch die rein äußerlichen, körperlichen Taten der sterblichen Heroen, welche die historischen oder fiktiven Hauptfiguren in der bisherigen Epentradition waren. Die »erhabneren« und »göttlichen Thaten« (IV, 1338, 1341) Jesu Christi zeichnen sich insbesondere dadurch aus, dass sie »still« (IV, 1341) realisiert werden, wohingegen die vergänglichen Taten der weltlichen, prahlerischen Heroen mit »[ä]ußerliche[m] Geräusch, und Lerm« (IV, 1342) verbunden sind. Bereits im Proömium des Messias wird das im Epos erzählte Erlösungswerk dezidiert als »That« (I, 8) ausgewiesen. Der epische Sänger kündigt die erzählte Handlung des Titelhelden zudem folgendermaßen paraphrasierend an: »er thats, und vollbrachte die große Versöhnung« (I, 7). In den Summarien, die Klopstock ab 1751 den einzelnen Gesängen seines Epos voranstellte, heißt es jeweils in der kurzen Zusammenfassung des I. und III. Gesanges über den Messias, dass »die Leiden der Erlösung in seiner Seele« beginnen bzw. zunehmen.693 Während seines Triumphzuges zum Thron Gottes im Himmel wird der göttliche Held mit dem Parallelismus »Der es ganz litt! der es ganz that!« (XX, 1087) emphatisch gepriesen. Die Heldentaten des leidenden Messias sind folglich als innerseelische Aktionen gekennzeichnet, als »Thaten der Seele« (VI, 7), wie es auch im Bibelepos heißt. Sie verweigern sich also »physischen Machtbeweisen«694, wie sie für die kriegerischen Heroen der antiken Epen typisch sind. Aussagen Klopstocks über den von ihm in seiner »heiligen Poesie« vertretenen verinnerlichten Handlungs- und Tatbegriff, der zudem seiner ›herzrührenden‹ Wirkungsästhetik entspricht, finden sich in einem seiner poetologischen Fragmente in Der deutschen Gelehrtenrepublik (1774): 693 HKA, Werke IV 3, S. 146 und S. 147. 694 Martin: Klopstocks Messias und die Verinnerlichung der deutschen Epik im 18. Jahrhundert, S. 106.

372

Klopstocks Wettstreit mit der epischen Tradition

Ein Gedicht ohne Handlung und Leidenschaft ist ein Körper ohne Seele. Handlung besteht in der Anwendung der Willenskraft zu Erreichung eines Zweks. Es ist ein falscher Begrif, den man sich von ihr macht, wenn man sie vornämlich in der äusserlichen That sezt. Die Handlung fängt mit dem gefasten Entschlusse an, und geht (wenn sie nicht gehindert wird) in verschiednen Graden und Wendungen bis zu dem erreichten Zwecke fort. Mit der Leidenschaft ist wenigstens beginnende Handlung verbunden. Einige Handlungen geschehen ohne Leidenschaft; aber die, welche der Wahl des Dichters würdig seyn sollen, müssen mit Leidenschaft geschehen. Man sieht, wie beyde Hand in Hand mit einander fortgehn. In diesem Gedicht ist viel Handlung! rufen die Theoristen bisweilen aus; und doch enthält es nur Begebenheiten.695

Klopstock hatte diese poetologischen Grundsätze in seinem Messias konsequent poetisch umgesetzt. Im I. Gesang erinnert der Messias seinen göttlichen Vater daran, dass sich ihm nun »die Tage des Heils, und des ewigen Bundes« (I, 84), »die Tage zu größeren Werken erkohren« (I, 85), nahen würden. Schon vor Ewigkeiten hätten sie gemeinsam die Erlösung der Menschheit beschlossen: […] Voll unsrer göttlichen Liebe, Sahen wir auf die Menschen, die noch nicht waren, herunter. Edens selige Kinder, ach unsre Geschöpfe, wie elend Waren sie, sonst unsterblich, nun Staub, und entstellt von der Sünde! Vater, ich sah ihr Elend, du meine Thränen. Da sprachst du: Lasset der Gottheit Bild in dem Menschen von neuem uns schaffen! Also beschlossen wir unser Geheimniß, das Blut der Versöhnung, Und die Schöpfung der Menschen verneut zu dem ewigen Bilde! Hier erkohr ich mich selbst, die göttliche That zu vollenden. Ewiger Vater, das weißt du, das wissen die Himmel, wie innig Mich seit diesem Entschluß nach meiner Erniedrung verlangte! (I, 93–103)

Mit diesem gefassten Entschluss des Titelhelden beginnt folglich die epische Handlung. Durch das vergossene Blut und den Opfertod Jesu soll der Zorn Gottes über die Sünden der Menschheit besänftigt werden. Klopstock bezeichnet den Messias in seinem Epos ausdrücklich als »Mittler« (I, 21; I, 44; II, 78; III, 454f.; IV, 1330; IX, 324 u. ö.). Demnach ist er die entscheidende Vermittlungsinstanz, d. h., er erneuert durch seine Opfertat den Bund zwischen den sterblichen Menschen und dem allmächtigen Schöpfergott.696 Im Bibelepos verwendet der Dichter auch das Synonym »Gottmensch« (II, 56, 60; V, 55; VI, 176, 223; VIII, 183; XI, 55f. u. ö.), das eben diese Vermittlerrolle des Messias prägnant ausdrückt. Der epische Held ist folglich der Repräsentant der Herrlichkeit Gottes auf 695 HKA, Werke VII 1, S. 171. 696 Vgl. K. Goldammer / K. H. Rengstorf: [Art.] Mittler. In: Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. 4. Bd. In Gemeinschaft mit Hans Frhr. v. Campenhausen, Erich Dinkler, Gerhard Gloege und Knud E. Løgstrup hrsg. v. Kurt Galling. 3., völlig neubearb. Aufl. Tübingen 1960. Sp. 1063–1065.

Charakterdarstellung

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Erden: »Er, der Gott ist, und Mensch!« (I, 447) (vgl. XI, 126f.), »die erniederte Herrlichkeit Gottes« (I, 514), der »Gottversöhner« (I, 532). Gemäß der reformatorisch-orthodoxen Versöhnungslehre hat Jesus »im Garten Gethsemane und am Kreuz die gesamte Sündenstrafe und den ganzen Zorn Gottes« erleiden und damit »den ewigen Tod« erfahren müssen.697 Dieses christliche Dogma spricht der bibelepische Held selbst in einer Rede im I. Gesang aus: […] Hier lieg’ ich, göttlicher Vater, Noch nach deinem Bilde geschmückt mit den Zügen der Menschheit, Betend vor dir : bald aber, ach bald wird dein tödtend Gericht mich Blutig entstellen, und unter den Staub der Todten begraben. Schon, o Richter der Welt, schon hör’ ich fern dich, und einsam Kommen, und unerbittlich in deinen Himmeln dahergehn. Schon durchdringt mich ein Schauer dem ganzen Geistergeschlechte Unempfindbar, und wenn du sie auch mit dem Zorne der Gottheit Tödtetest, unempfindbar! Ich seh den nächtlichen Garten Schon vor mir liegen, sinke vor dir in niedrigen Staub hin, Lieg’, und bet’, und winde mich, Vater, in Todesschweiße. Siehe, da bin ich, mein Vater. Ich will des Allmächtigen Zürnen, Deine Gerichte will ich mit tiefem Gehorsam ertragen. Du bist ewig! Kein endlicher Geist hat das Zürnen der Gottheit, Keiner je, den Unendlichen tödtend mit ewigem Tode, Ganz gedacht, und keiner empfunden. Gott nur vermochte Gott zu versöhnen. Erhebe dich, Richter der Welt! Hier bin ich! Tödte mich, nimm mein ewiges Opfer zu deiner Versöhnung. (I, 111–128)

Erzähltechnisch liegt hier eine Prolepse vor. Klopstock lässt seine epische Hauptfigur den leidenschaftlich gefassten Entschluss nochmals bekräftigen: »Ich hebe gen Himmel mein Haupt auf, j Meine Hand in die Wolken, und schwöre dir bey mir selber, j Der ich Gott bin, wie du: Ich will die Menschen erlösen.« (I, 135–137) Der »ewige Vater« (I, 141) antwortet darauf: »Ich breite mein Haupt durch die Himmel, j Meinen Arm aus durch die Unendlichkeit, sage: Ich bin j Ewig! und schwöre dir, Sohn: Ich will die Sünde vergeben.« (I, 142–144) Mit diesem geschlossenen Pakt beginnen die Taten des Messias als leidender (Gesänge I–X) und verherrlichter (Gesänge XI–XX) Gottessohn. In einem Brief an Böttiger vom 6. Dezember 1797 führt Klopstock einige »neueste[.] Bemerkungen« zum Messias an, welche ihn »in alte Zeiten« zurückgeführt hätten, als er noch »an dem Plane« gearbeitet habe.698 Er hat »einige 697 Steiger : Aufklärungskritische Versöhnungslehre. Zorn Gottes, Opfer Christi und Versöhnung in der Theologie Justus Christoph Kraffts, Friedrich Gottlieb Klopstocks und Christian Friedrich Daniel Schubarts, S. 125. 698 Brief von Klopstock an Böttiger, 6. Dezember 1797. In: HKA, Briefe IX 1, Nr. 155, S. 194– 198, hier S. 196, Z. 51f.

374

Klopstocks Wettstreit mit der epischen Tradition

dieser Erinnerungen« niedergeschrieben699, die auch die poetische Darstellung seines Helden betreffen: »Der Messias handelt leidend, das heißt, er hält Leiden, die alle, welche wir kennen, an Grösse übertreffen, mit einer Standhaftigkeit aus, zu der Menschen unfähig sind. Nicht alles, was er während der Zeit thut, da er leidet, thut er als Leidender. Z. E. wenn er Satan von Samma entfernt [II, 137–196]; wenn er jenem mit Einem Blicke Entsetzen zusendet, das an ihm sehr sichtbar wird [II, 618–626]. Ob er gleich dieß, u anderes z. B. daß er die Jünger tröstet [III, 688–711; IV, 1246–1329], als nicht Leidender thut, oder vielmehr so zu thun scheint, weil wir nicht wissen, ob, u. in welchem Grade er dabey gelitten habe; so wird es dadurch doch nicht episodisch. Denn er handelt als der, welcher jetzo versöhnt. Der Messias handelt auch, als der Verherlichte. Wir dürfen den Leidenden u den Verherlichten schlechterdings nicht trennen. Denn wir wären, wie die Schrift sagt, die elendesten unter den Menschen, wenn wir nur an einen todten Messias glaubten [vgl. 1. Kor. 15,19]. Er war nicht Erlöser, wenn er bloß als Leidender, u. nicht auch als Verherlichter handelte. Nichts von dem, was er als der Verherlichte thut, ist episodisch. So ist z. B. die Auferweckung der Heiligen [XI, 229–715, 869–1566] keine Episode. Sie ist es nicht allein an sich selbst, sondern auch deswegen nicht, weil die Erscheinungen bey der Grundlegung der Religion mitwirkend sind [XV, 5f., 37–56, 57–1362]. Oder soll vielleicht diese Grundlegung selbst episodisch seyn?«700

Der Dichter verweist in diesem Abschnitt ausdrücklich auf epische Szenen, in denen der Held seines Bibelepos eher als aktiv Handelnder erscheint, die den weiteren Verlauf der epischen Handlung vorantreiben und damit eben nicht »episodisch« sind. Die Intensität der Leiden bezeugt für Klopstock bereits die Erhabenheit und Göttlichkeit des innerseelische Heldentaten vollbringenden Versöhners. Der Dichter behauptet in einem Brief an Carl Friedrich Cramer vom 29. Juni 1799, dass die poetische Darstellung der Auferweckung der Toten im XI. Gesang des Messias vielleicht einigermaßen vergleichbar sei mit den »Tötungen« in der Ilias Homers.701 Die Aristien der Heroen sind fester Bestandteil der antiken Epen. Im 16. Gesang der Ilias wird beispielsweise der Zweikampf zwischen Patroklos und Hektor, im 21. Gesang der blutige Kampf am Fluss und im 22. Gesang der Zweikampf zwischen Achilleus und Hektor geschildert. In der Inhaltsangabe zum XI. Gesang des Messias heißt es: 699 Ebd., S. 196, Z. 53. 700 Ebd., S. 196, Z. 53–73. Zu den Stellenangaben in eckigen Klammern siehe: HKA, Briefe IX 2, S. 627f. Klopstock wiederholt diese »Erinrungen aus alten Zeiten«, die aber deswegen »zimlich genaue« seien, weil er »oft darüber gedacht habe«, in einer »Beilage« zum Brief an Carl Friedrich Cramer vom 29. und 30. Juni 1799. (Brief von Klopstock an C. F. Cramer, 29., 30. Juni 1799. In: HKA, Briefe X 1, Nr. 53, S. 60–64, hier S. 63, Z. 107f. [Abschnitt über den ›handelnden Messias‹: S. 64, Z. 128–149.]) 701 Brief von Klopstock an C. F. Cramer, 29., 30. Juni 1799. In: HKA, Briefe X 1, Nr. 53, S. 60–64, hier S. 62, Z. 89f.

Charakterdarstellung

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Der Messias verläßt den Tempel, und weckt die Heiligen vom Tod auf. Die Auferstehenden sind Adam, Eva, Abel, Seth, Enos, Mahlaleel, Jared, Kenan, Lamech, Methusala; Noa, Japhet, Sem, Abraham, Isak, Sara, Rebecca, Jacob, Rahel, Lea, einige ihrer Söhne, Benjamin, Joseph, Melchisedek, Asarja, Misael, Hananja, Habacuc, Jesaias, Daniel, Jeremias, Amos, Hiob. […] Noch stehn vom Tode auf: Moses, David, Assa, Josaphat, Usia, Jotham, Josia, Hiskia, Jonathan, Gideon, Elisa, Debora, Mirjam, Hesekiel, Asnath, Josua, Jephta’s Tochter, die Mutter und ihre sieben Söhne, Heman, Chalkol, Darda, Ethan, Hanna, Benoni, Simeon, und Johannes der Täufer.702

Johann Jacob Engel (1741–1802) rezensierte diesen problematischen Gesang im Bibelepos Klopstocks ausführlich in der Allgemeinen deutschen Bibliothek (18. Bd., 2. Stück, 1773).703 Die durchaus monotone Aneinanderreihung der geschilderten Auferstehungen der Heiligen bzw. alttestamentlichen Gestalten fasst er als eine einzige lange Episode auf, welche die epische Haupthandlung aufhalte.704 Er gesteht sogleich, dass ihn der XI. Gesang »ermüdet« habe.705 Der Messias-Dichter habe zwar »die größten und wichtigsten Personen der heiligen Geschichte« ausgewählt und »in die Schilderungen selbst alle die Mannichfaltigkeit gebracht, die ihm die Natur der Sache nur zulassen wollte«, er habe »die schönsten, die interessantesten Umstände hinzugethan« und in den Lobgesängen der Erstandenen zeige sich sein »lyrisches Genie«, trotzdem hätten ihn »diese Gemälde nur sehr kalt gelassen« und er habe »bey den feurigsten Lobgesängen mehr den Geist des Dichters bewundert, als selbst mit den singenden Personen eingestimmt und ihre Freude getheilt«.706 Engel betont, dass er »bey andern Stellen dieses vortreflichen Gedichts« stets »innig gerührt worden [sei]«707, und versucht daher in seiner Rezension zu ergründen, weshalb beim Lesen des XI. Gesanges des Messias die ›herzbewegende‹ Wirkung ausbleibe. Er hält die neuen ›Erdichtungen‹ Klopstocks zwar für legitim, weist aber dezidiert darauf hin, dass die ›Einbildungskraft‹ der Rezipienten enorm strapaziert werde: Zuerst haben die Seligen vor der Auferstehung einen bloß ätherischen Körper, in welchem sie sterblichen Augen nicht sichtbar sind; zweytens erhalten sie durch die Auferstehung einen verklärten, aber auch noch unsichtbaren Körper ; drittens können sie, wenn sie wollen, diesen verklärten Körper, als einen solchen sichtbar machen; und endlich können sie viertens die Gestalt jedes irrdischen Körpers bey ihren Erschei702 HKA, Werke IV 3, S. 156f. 703 [Johann Jacob Engel:] [Rez.:] XV. Der Meßias. Dritter Band. Halle 1769. In: Allgemeine deutsche Bibliothek. Des achtzehnten Bandes zweytes Stück. Berlin / Stettin 1773. S. 311– 329. 704 Vgl. ebd., S. 322. 705 Ebd. 706 Ebd., S. 312. 707 Ebd.

376

Klopstocks Wettstreit mit der epischen Tradition

nungen annehmen. Dieses heißt in der That ein wenig viel von unsrer Imagination gefordert.708

Der Messias-Dichter wollte sicherlich durch die Vielzahl der epischen Szenen, in denen er variierend die leibliche Auferweckung etwa der biblischen Patriarchen und Propheten erzählt, die Erhabenheit seiner Heldenfigur hervorheben. Die kritische Beurteilung Engels fällt allerdings vernichtend aus: Was aber das Schlimmste ist, so sind die Auferstehungen im Wesentlichen alle einander ähnlich, und wenn man eine gelesen hat, so hat man sie alle gelesen. Zwar sind hie und da die Eingänge anders, die Nebenpersonen anders, die Verzierungen anders; aber die Hauptsache bleibt doch immer die nämliche. Es ist, so zu reden, eine einzige Melodie, nur mit einer Menge von Variationen begleitet. Die Geister der Seligen verfügen sich, jeder zu seinem Grabe; keiner weiß noch, daß seine Wiedervereinigung mit dem Leibe ihm so nahe bevorsteht; der Staub seines Leibes fängt an sich zu bewegen und zu schimmern; jeder sinkt darauf in einen angenehmen Schlummer, der bey dem einen länger, bey dem andern kürzer währt; dann stehet er plötzlich mit seinem verklärten Körper da, und dann folgen bey allen die natürlichen Empfindungen der Verwunderung, der Freude, der Dankbarkeit, nur das eine mal so, das andre mal anders gesagt. Es ist wahrscheinlich, daß die menschliche Einbildungskraft zu begränzt war, um hier eine größre Mannichfaltigkeit zu erfinden; und gewiß ist es, daß der Dichter wohl gethan hat, durchaus bey einerley Idee zu bleiben und auch hier dem Schöpfer eben die Simplicität in seinen Wirkungen zu lassen, die wir durchaus in der Natur finden. Gleichwohl kann dieses nicht hindern, daß der Leser nicht endlich über dem unaufhörlichen Einerley ermüden sollte.709

Die Erscheinungen im XV. Gesang des Messias bewertet der Rezensent hingegen äußerst positiv : Hier seien »nicht allein die Charaktere und Situationen derer, denen sie widerfahren, verschieden, sondern auch die Arten, wie sie geschehen, [seien] mancherley, und der endliche Ausgang derselben [werde] mit keiner so bestimmten Gewißheit vorhergesehen, wie bey den Auferstehungen«.710 Aufgrund der Zweiteilung des Messias erscheint der neutestamentliche Charakter sowohl als Leidender als auch als Verherrlichter. Im XI. Gesang berichtet der epische Sänger, dass nach der »vollbrachte[n] Versöhnung« (XI, 52) »Jesus Christus mit seinem Vater, mit Gott Gott, j Von der ganzen Erlösung Vollendung, bis er zu des Vaters j Rechte sich hübe«, gesprochen habe (XI, 53–55). Auf der Textebene macht der Dichter an dieser Stelle seine Leser auf die ›Doppelrolle‹ seines Helden aufmerksam: »Denn nicht allein der getödtete Gottmensch, j Auch der auferstandne, und himmelerhobene Gottmensch j Ist der Sünder Heil, und ihres Glaubens Entzückung.« (XI, 55–57) In der Charakterdarstellung des 708 Ebd., S. 318. 709 Ebd., S. 325. 710 Ebd., S. 326.

Charakterdarstellung

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Messias zeigt sich, dass Klopstock ihn bereits in den ersten zehn Gesängen weniger als weisen, menschlichen Lehrer, sondern vielmehr als göttlichen Hohepriester zeichnet. Der Dichter setzt den Akzent in dem Nominalkompositum »Gottmensch« daher unmissverständlich auf das Erstglied. Demgemäß wird der Messias auch apostrophiert als »[d]er Sohn, der Herrliche Gottes, j Er von Ewigkeit Gott, der Hochgelobte der Himmel« (XI, 23f.), als »der Miterhalter der Schöpfungen« (XI, 40) und als »der ewige Hohepriester« (XI, 82). Er trägt als »Mittler« nur »das Bild des sterblichen Menschen« (II, 55). Klopstock glaubte offenbar, erst durch die Charakterzeichnung eines derart erhabenen Helden, den Agon mit der Epentradition aufnehmen zu können. Die »Sokratisierung Christi« führt in der sich entwickelnden Theologie der Aufklärung aber dazu, dass »Jesus Christus in erster Linie als moralischer Lehrer gesehen wird statt als der zur Versöhnung geopferte Sohn Gottes«.711 Dementsprechend äußert etwa auch der Christ in Herders Gespräch zwischen einem Rabbi und einem Christen über Klopstocks Meßias folgende Kritik: Der Meßias erscheint nach den Weißagungen [!] des A.[lten] und den Erzälungen des N.[euen] Testaments viel Menschlicher, als ihn K. malet. Die Epopee fodert nicht ein Ideal, was übermenschlich wäre, sondern was die höchste Rührung verursacht: nun entgeht aber dem Gedichte des K. viel von diesem Leben, weil wir den Heiland zu wenig Menschlich sehen; und es bleibt doch immer wahr ; nichts bewegt eine Menschliche Seele, als was selbst in ihr vorgehen kann. Sähen wir öfter unsern Bruder, den grösten Menschenfreund: so würde dies eher das Ziel erreichen, »die ganze Seele zu bewegen und jede Saite der Empfindung zu treffen.«712

Der Rezipient Herder lehnt demnach die Bewunderung eines übermenschlichen, d. h. göttlichen »Ideals« ab und verlangt stattdessen einen menschlichen Helden, mit dem er mitleiden kann – ähnlich wie die beliebten ›gemischten Charaktere‹ der bürgerlichen Trauerspiele des 18. Jahrhunderts. Jesus Christus als geforderte Identifikationsfigur des Lesepublikums ist natürlich theologisch durchaus problematisch. Die poetische Darstellung eines historischen Jesus von Nazareth wäre mit dem Erhabenheitsideal Klopstocks unvereinbar gewesen. Im Messias agieren auch die Nebenfiguren nicht, sie reagieren. Die unzähligen eingeführten menschlichen, himmlischen und höllischen Charaktere des Bibelepos sind nichts anderes als »der großen Erlösung Zeugen« (I, 420). Die Bezeichnung als »Zeugen«, die Klopstock häufig verwendet (XIII, 876; XV, 1100; XIX, 713 u. ö.), charakterisiert sie demnach als Beobachter des epischen Hauptgeschehens. »Sie sehen, und feyren.« (I, 335) heißt es prägnant in einem 711 Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion, S. 251. 712 Herder : Gespräch zwischen einem Rabbi und einem Christen über Klopstocks Meßias. In: [Ders.:] Sämtliche Werke. Band I, S. 277–284, hier S. 278.

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Vers. Die »Heere der Schauenden« (VIII, 286) umgeben etwa den Gekreuzigten auf Golgatha (vgl. Kap. 4.2). Klopstock verteidigte die poetische Darstellung der Nebenfiguren des Messias in den Jahren 1797 und 1799 folgendermaßen: Engel, gute lebende Menschen, Seelen der Väter, auch andrer Gestorbner, Seelen noch ungebohrner Menschen nehmen im Messias an der Handlung, welche sie so nah angehet, grösseren u innigeren Antheil, als die Zuschauer in irgend einem anderen Gedicht an dem, was geschieht, nehmen können. (Wer entweder wegen seiner Meinungen oder wegen Mangels an Gefühl, oder gar aus beyden Ursachen, sich nicht an die Stelle jener Theilnehmer denkt, ist nicht im Stande hiervon mitzuurtheilen) Man kan so gar sagen, daß in den bekanten epischen Gedichten nicht selten mithandelnde Personen erscheinen, welche der Aufmerksamkeit weniger würdig sind, als jene bloß theilnehmenden. Man sieht die Ursache, warum die Zuschauer im Messias ihren Antheil oft zeigen dürfen, oder vielmehr müssen. Dazu komt noch, daß durch diese heisse Theilnahme, die Handlung in ein helleres Licht konte gestellt werden, als dieß durch andere Mittel möglich war. Der Verfasser hat diesen Theil seines Plans früh u oft durchdacht.713

Die »theilnehmenden« Personen oder »Zuschauer« sollen demnach die »mithandelnde[n] Personen« der antiken und neuzeitlichen Epen überbieten. Auch sie vollbringen ›Taten der Seele‹, indem sich ihre Gedanken und Empfindungen stets um den epischen Helden, den Begründer der christlichen Religion, drehen. Im Bibelepos heißt es daher bezeichnenderweise über die Seelen der Heiligen in ihrer Liebe zum Versöhner : »Eine Seele sie alle, sie all’ Ein Tempel des Mittlers!« (XI, 133) Die Nebenfiguren im Messias werden durch »ihre ausgeprägte Fähigkeit zum seelischen Nachvollzug des Geschehens« zu »Identifikationsfiguren des Lesers«.714 Klopstock verfolgte mit seinem epischen Personal eine ›herzrührende‹ Wirkungsabsicht, worauf er selbst in einem poetologischen Fragment aus dem Jahre 1801 hinwies: Die Himmlischen, welche das Kreuz, und hernachmals das Grab umgaben, sind gewöhnlich zwar nur theilnehmende Zuschauer ; sie tragen zu der Handlung nichts bey : aber sie können gleichwohl auf Christen mehr wirken, als die meisten handelnden Personen in der Ilias auf die Griechen konnten. Denn sie sind erhabner und nehmen an etwas viel Größerem Antheil, als das war, was jene Mithandelnden thaten. Wirkung hervorzubringen, ist Zweck; vorgestellte Handlungen, oder Theilnahme sind nur Mittel. Bey der letzten kommt auch das in Betrachtung, daß der Theilnehmende zuweilen mehr Lebendigkeit (und was ist diese nicht in Absicht auf die Darstellung) zeigen kann, als der, welcher bloß mit ausführt. Auf die Neueren wirkt Handeln und

713 Klopstock: Über den »Messias« (1797–1801). In: HKA, Werke IV 3, S. 171–174, hier S. 173. 714 Martin: Klopstocks Messias und die Verinnerlichung der deutschen Epik im 18. Jahrhundert, S. 103. Prägnant ist hierzu Dieter Martins folgende Aussage: »Sie fühlen vor, was der Leser nachempfindet.« (Ebd.)

Charakterdarstellung

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Theilnehmen in der Ilias nicht, wie auf die Griechen, sondern nur wie eben dieses im Messias auf die Nichtchristen wirkt.715

Im Vergleich der archaischen Heroen der Ilias Homers mit den affektvollen Charakteren des Messias wird das ›aemulatio‹-Konzept Klopstocks wiederum deutlich, d. h., der Dichter weist auch hier auf seine agonale Haltung hin. Johann Caspar Heß bezeichnete Klopstock treffend als »Seelenmaler«.716 In der Moralischen Wochenschrift Der Gesellige, die von Samuel Gotthold Lange und Georg Friedrich Meier herausgegeben wurde (6 Teile, 1748–1750), findet sich im 255. Stück des 6. Teils aus dem Jahre 1750 eine kurze Abhandlung über das Heldengedicht.717 Der anonyme Verfasser geht hier auch auf die Darstellung der Charaktere in einem Epos ein: Der Heldendichter muß jede Person von der andern unterscheiden; und dieses geschiehet sehr schlecht, wenn er es nur durch Namen oder Verrichtungen thut. Er muß sie characterisiren, und recht nach dem Leben entwerfen: er muß uns ihren Geist, ihre Art zu denken, ihre besondern Leidenschaften und Handelsweisen zeichnen, so daß jeder von den andern sich merklich unterscheidet. Daraus entstehet denn die Verschiedenheit in den Handlungen, die noch so sehr einerley zu seyn scheinen. Homer, Milton und Kloppstock sollen uns zum Muster dienen.718

Das Verhältnis zwischen der meist titelgebenden Hauptfigur, dem Helden, und den Nebenfiguren beschreibt er folgendermaßen: »Die andern Personen des Heldengedichtes sind gleichsam die Umstehenden auf einem Gemählde, die das Hauptbild erheben; und in der Wahl und Zeichnung derselben bestehet die grosse Kunst des Dichters.«719 Die epischen Charaktere seien »das Hauptstück eines Heldengedichtes«: Wenn ein Dichter nur diese recht entworfen hat, so darf er nur einen jeden seinem Character gemäs handeln lassen, so wird ihm sein Gedicht unter den Händen wachsen. Solche Characteren kan niemand schildern, der nicht eine genaue Kentnis der Menschen hat, und der nicht bis auf die ersten Springfedern und Ursachen der Gemütsbewegungen und Leidenschaften durchdringet. Diese Characteren müssen des Dichters Leitfaden seyn; er muß sie beständig vor Augen haben, und nach denselben jede Person reden und handeln lassen, und zwar so, daß sie bis ans Ende ihren Character behalte.720 715 Klopstock: Über den »Messias« (1797–1801). In: HKA, Werke IV 3, S. 171–174, hier S. 174. 716 [Heß:] Zufällige Gedanken über das Heldengedicht, der Meßias, S. 29. 717 [Anonym:] [Abhandlung vom Heldengedicht.] In: Der Gesellige. Eine Moralische Wochenschrift hrsg. v. Samuel Gotthold Lange und Georg Friedrich Meier. Teil 5 und 6 (1750). [Nachdruck der Ausgabe Halle 1750.] Neu hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Wolfgang Martens. Hildesheim / Zürich / New York 1987. 6. Theil. 255. Stück. S. 241–250. 718 Ebd., S. 245. 719 Ebd. 720 Ebd., S. 246.

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Hervorgehoben werden an dieser Stelle im Geselligen die ›mannigfaltigen‹ »Charactern der Jünger des Meßias« im biblischen Heldengedicht Klopstocks721, deren Darstellung von den zeitgenössischen Rezipienten offenbar als nachahmenswert angesehen wurde. Die Nebenfiguren im Messias sind keine ausgeprägten Persönlichkeiten mit distinktivem Charakter. Betrachtet man etwa die Beschreibung der zwölf Jünger durch deren Schutzengel im III. Gesang, so sticht lediglich der Verräter Judas heraus: Simon Petrus (vgl. III, 156–183) wird ein »fühlendes Herz« (III, 163) attestiert und die Verleugnung Jesu durch ihn prophezeit. Sein Bruder Andreas (vgl. III, 184–201) glänzt durch sein innerliches »göttliches Feuer« (III, 200), daher zeichnen sich auf seiner »männliche[n] Stirne j Feuer zur Tugend, und zürnende[r] Haß der Laster« (III, 184f.) ab. Er sei »[u]nerbittlich [gegenüber] dem sklavischen Sünder, der Gott verkennet« (III, 186). »Die menschenfreundliche Heitre j Bildet die Züge des stillen Gesichts« (III, 204f.) von Philippus (vgl. III, 202–211). Ein »treues Bestreben j Alle, die Gott zum Bilde sich schuf, wie Brüder, zu lieben« sei »der geliebtere Trieb in seinem göttlichen Herzen« (III, 205–207). Zudem wird er als guter Redner charakterisiert (vgl. III, 208–211). Im Gesicht des Zebedäiden Jakobus (vgl. III, 221–243) glühe »die edle Begierde nach Ruhm« (III, 214), allerdings sei die »Ehrbegierde des Weisen j […] nur auf göttliche Dinge gerichtet« (III, 222f.), d. h., er will sich in den Tagen des Jüngsten Gerichts der Ehre würdig erweisen, vom Messias auf Erden auserwählt worden zu sein (vgl. III, 223–230). Ihm wird prophezeit, »der Märtyrer Erstling« (III, 240) zu sein. Simon, der Kananit, (vgl. III, 244–256) habe als Schäfer sein »stilles Leben« »voll Unschuld« und »Demuth« (III, 246f.) zugebracht, weshalb sich »das Herz des Erlösers« (III, 248) ihm zugewandt habe. Das »ernste Gesichte« (III, 258) des Alphäiden Jakobus (vgl. III, 257–262) deute auf »verschweigende Tugend« hin, »die weniger saget, als ausübt« (III, 259). Er wird als »edel und gut« (III, 262) dargestellt. Thomas (vgl. III, 263–272) hingegen wird als »ein feuriger Jüngling« (III, 264) und unermüdlicher Grübler eingeführt: »Stets entwickelt sein Geist aus Gedanken Gedanken! Ihr Ende j Findet er oft nicht, wenn sie vor ihm sich, wie Meere, verbreiten!« (III, 265f.) Aus dem Labyrinth seiner wirren Gedanken sei er vom Messias gerettet worden (vgl. III, 267–270). Zu seiner »denkenden Seele« (III, 271) habe ihm »die Natur ein redliches Herz und Tugend gegeben« (III, 272). Matthäus wird als heldenhafter Kämpfer für Gott beschrieben, der sich für die Unschuldigen einsetze (vgl. III, 273–287). Bartholomäus (vgl. III, 288–298) ist ein »freundliche[r] Greis« (III, 289) mit einem »fromme[n] heitere[n] Antlitz« (III, 290), wo die »heilige Tugend« (III, 290) gern wohne. Er werde viele zum Christentum bekehren und den Märtyrertod sterben (vgl. III, 293–298). Der Jünger Lebbäus (vgl. III, 299–339) wird als 721 Ebd.

Charakterdarstellung

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ausgesprochen empfindsamer Charakter eingeführt. Er tritt als »blasse[r] verstummende[r] Jüngling« (III, 299) auf. Sein Engel sagt: »So zärtlich und fühlend, j Als die Seele des stillen Lebbäus sind wenig erschaffen.« (III, 300f.) Schon als Kind habe er mehr geweint, »als Sterbliche weinen, j Wenn sie mit dunkler Empfindung den Tod von ferne schon fühlen« (III, 328f.). »Also bracht’ er bey jeder Thräne, die Freunde vergossen, j Innig gerührt, bey jedem Schmerz der Menschen empfindlich, j Seine Jugend voll Traurigkeit hin.« (III, 330–332) Er wird bezeichnet als »der Seelen zärtlichste« (III, 339), als »heiliger Jüngling« (III, 334), der wohl nach dem Tod des Erlösers »[u]nter des Elends Last« (III, 335) vergehen werde. Johannes wird als »der liebenswürdigste Jünger« (III, 480) beschrieben (vgl. III, 466–524). Er ist der enge Vertraute des Messias, »der ihm sein Herz vor Allen eröffnet« (III, 483). Zwischen Jesus und Johannes besteht demnach eine »göttliche Freundschaft« (III, 488). Er sei derer aber auch »würdig«: »Noch ward in heiligen Stunden j Keine so himmlische Seele vom großen Schöpfer gebildet, j Als die unschuldige Seele Johannes.« (III, 489–491) Diese elf Jünger werden somit allesamt als fromm und tugendhaft charakterisiert. Folglich unterscheiden sich diese empfindsamen Nebenfiguren im Bibelepos kaum voneinander, einzig der Denker Thomas und der Melancholiker Lebbäus heben sich von den anderen etwas ab. Sehr interessant ist hingegen die poetische Darstellung des Judas Ischariot im Messias, da Klopstock den historischen Charakter des biblischen Verräters im Gegensatz zu den anderen auswechselbar erscheinenden elf ›Mustertypen‹ eine psychologische Entwicklung durchmachen lässt (vgl. III, 59–67, 370–465, 533–745; IV, 586–600, 983–1040, 1143–1155, 1185–1232; VI, 27–84; VII, 142–245; IX, 649–765). Carl Friedrich Cramer bemerkt hierzu: Der Charakter des Judas ist, nach den Umständen, die uns von den Evangelisten selbst erzählet werden, zwar schon dort ein Meisterstük von Zeichnung: Klopstok aber hat ihn mit grosser Menschenkentnis noch mehr ausgebildet, und den Gang, den eine Seele bei einer so schwarzen That, von der ersten keimenden Idee dazu, bis zum reifgewordnen Entschlusse und zur Ausführung zu gehen pflegt, dargestelt.722

Judas wird gleich zu Beginn des III. Gesanges als der zwölfte Jünger eingeführt, der als Einziger Jesus »nicht liebend mehr ehrte« (III, 55). Er sei »der himmlischen Jüngerschaft unwerth« (III, 59). Bereits vor seiner Geburt ist seine Rolle als Verräter offenbar im göttlichen Heilsplan festgelegt: Ihnen [den zwölf Jüngern; I. G.] wurden, eh sie der Leib der Sterblichkeit einschloß, Neben den Stühlen der vierundzwanzig Ältsten im Himmel Goldene Stühle gesetzt; doch einen der goldenen Stühle Deckten einst Wolken von Gott, bald aber flohen die Wolken, 722 Cramer: Klopstock. Er ; und über ihn. Zweiter Theil. 1748–1750, S. 251, Anm.

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Und lichtheller ewiger Glanz ging wieder vom Stuhl’ aus. Damals rief Eloa und sprach: Er ist ihm genommen, Und ist einem andern gegeben, der besser, als er ist! (III, 61–67)

Klopstock spielt mit diesem orakelhaften Ereignis im Himmel auf eine Bibelstelle an, heißt es doch in der Apostelgeschichte, dass Matthias als zwölfter Apostel den Platz von Judas einnehmen wird (vgl. Apg. 1,15–26). Erzähltechnisch findet sich hier eine epische Vorausdeutung, wobei das historische Geschehnis außerhalb der erzählten Handlung des biblischen Heldengedichts liegt. Der erste Auftritt von Judas Ischariot im Messias wird ganz bewusst eingeleitet, indem Klopstock den Engel Selia das Aussehen des Jüngers detailliert beschreiben lässt: Sein »schwarzes lockichtes Haupthaar« (III, 373) falle »[ü]ber die breiten Schultern herab« (III, 374). »Sein ernstes Gesicht [sei] j Voll von männlicher Schöne.« (III, 374f.) Zudem überrage er die anderen elf Jünger an Größe, d. h., auch seine körperliche Konstitution unterstreicht offensichtlich seine Sonderstellung innerhalb der Jüngerschaft: »Dieß Haupt, das über die Häupter j Aller Jünger ragt, vollendet sein männliches Ansehn.« (III, 375f.) Der Seraph glaubt aber, »in diesem Zug des Gesichts Unruh« und »in jenem nicht Edles genung« zu entdecken (III, 378f.). Sein Schutzengel Ithuriel berichtet daraufhin, dass Gott Judas »ein Herz, das auch dem Guten erweicht ward« (III, 396), geschenkt habe. In seiner »unentheiligten Jugend« (III, 397) sei er unschuldig gewesen. Der Messias habe ihn »der Jüngerschaft würdig geachtet« (III, 398), die er »auch frommes Herzens« und »mit heiligem Wandel« (III, 399) begonnen habe. An dieser Stelle wird das Motiv der »goldenen Stühle« im Himmel nochmals aufgegriffen, indem Ithuriel in seiner Rede das orakelhafte Ereignis explizit deutet und dezidiert auf seinen Schützling bezieht: Ja, nun weiß ich, warum, da wir von den Seelen der Jünger Uns vor des Leibes Geburt, vor dem Antlitz Gottes, besprachen, Warum damals, so winkte der Richter ihm! Seraph Eloa Traurig herunterstieg, und einen der goldenen Stühle, Die den Zwölfen der Ewige gab, mit Wolken bedeckte. Auch ist Gabriel traurig und mit verhülltem Gesichte Mir vorübergegangen, als ihn in der schrecklichen Stunde Seine verlassene Mutter gebar. […] (III, 401–408)

Nach anfänglich empfundener Liebe für Jesus hätten sich Hass, Neid und Habgier entwickelt, und nun würde Judas »der Jünger erhabnen Beruf unedel entheilig[en]« (III, 411): Seraph, heimlicher Haß hat den unglückseligen Jünger Wider den göttlichen Mittler empört. Er hasset Johannes, Weil den Jesus vor Allen mit inniger Zärtlichkeit liebet; Und, zwar dieß verbürg’ er sich gern, er haßt den Erlöser!

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Auch sind in einer erschrecklichen Stunde Begierden nach Reichthum Tief in seiner Seele, die war sonst edler, gewurzelt. (III, 422–427)

Er glaube, Johannes werde »dereinst, vor den anderen Jüngern, j Aber besonders vor ihm, in dem neuen Reiche des Mittlers, j Ringsum herrliche Schätze, des Reichthums Erstlinge, sammeln!« (III, 429–431). Der Rangstreit unter den zwölf Jüngern, die im künftigen Reich des Messias wie Könige herrschen sollen, wird bereits in der Bibel thematisiert (vgl. Lk. 22,24–30) und hier von Klopstock in seiner Charakterisierung des Verräters verarbeitet. Ein weiteres biblisches Motiv, auf das der Messias-Dichter wiederholt zurückgreift, ist die Heimsuchung Judas’ durch Satan (vgl. Lk. 22,3; Joh. 13,2). So berichtet Ithuriel, dass er den Höllenfürsten gesehen habe, wie er »mit bitterem Spott, und triumphirendem Lächeln« (III, 440) von Ischariot gekommen sei und dessen Schutzengel »stolzmitleidig« (III, 441) angeblickt habe. Nachdem alle Jünger am Ölberg eingeschlafen sind, nutzt Satan seine Chance und gießt »einen verführenden Traum« in Judas’ »offnes Gehirne« (III, 557). »Schnell empört’ er das klopfende Herz zu Begierden der Bosheit« (III, 558), indem er »zuerst empfundne Gedanken, voll Feuer, stürmend« (III, 559) in die Seele Ischariots senkt. Sein Schutzengel Ithuriel versucht vergeblich, ihn aufzuwecken (vgl. III, 568–573). Judas bleibt »mit kalter erblassender Wange, j Wie in tödtlichem Schlummer« (III, 574f.) versunken liegen. Im Traum erscheint ihm sein verstorbener Vater, der ihn über sein »trauriges Schicksal« (III, 586) aufklären und ihm Ratschläge erteilen möchte (vgl. III, 576–651): Er werde von Jesus gehasst, der ihm alle anderen Jünger vorziehe. Im Reich des Messias, das dieser errichten werde, würden die elf »Schätze, wie Ströme« (III, 592) anhäufen und prächtige »Königreiche« (III, 612) errichten, in denen es Städte und Gärten wie im Paradies gebe. Judas hingegen werde ein karges, unfruchtbares Land als Erbe erhalten: Aber erblickst du, Ischariot, auch in jener Entfernung Dort das kleine gebirgichte Land? Da liegt es verödet, Wild, unbewohnt, und steinicht, mit dürrem Gehölz durchwachsen. Über ihm ruhet die Nacht in der kalten weinenden Wolke, Unter ihr Eis und nordischer Schnee in unfruchtbaren Tiefen, Wo verdammt zu der Klage, zur Öd’, und deiner Gesellschaft, Nächtliche Vögel die donnergesplitterten Wälder durchirren. (III, 613–619)

Aus der Rede des besorgten Vaters geht deutlich hervor, wie der Teufel Judas’ Gedanken zu manipulieren versucht. So spricht er offenkundig die bereits latent vorhandenen Laster des Jüngers an: seine Eifersucht und seinen Hass auf die anderen Auserwählten des Messias sowie seine Geldgier. Die suggestive Wirkung des abschreckenden Traumbildes wird durch den unmittelbaren Vergleich mit den Erbteilen der anderen Jünger noch verstärkt:

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Siehest du dort vor uns das unendliche breite Gebirge, Welches ins fruchtbare Thal verlängte Schatten hinabstreckt? Hier wird unaufhörlich, wie aus dem schimmernden Ophir, Gold gegraben; hier trieft das Thal, durch selige Jahre, Reich und unerschöpflich, vom Überflusse des Segens. Dieß ist seines erwählten Johannes gesegnetes Erbe. Jene Hügel, belastet von dichten schattenden Reben, Diese von wallendem Korn weit überfließenden Auen Sind dem geliebteren Petrus von seinem Messias gegeben. Siehst du die ganze Fülle des Landes? Wie hier sich die Städte, Gleich der Königestochter, Jerusalem, unter der Sonne Glänzend und hoch, voll unzählbarer Menschen, im Thale verbreiten! Wie sich neue Jordane dort, die Städte zu wässern, Unter jener Umwölbung der hohen Mauren dahinziehn! Gärten, gleich dem befruchteten Eden, beschatten den Goldsand Ihrer Gestade. Dieß sind die Königreiche der Jünger. (III, 597–612)

Stringent folgt auf diese Suggestion die Aufforderung des bekümmerten Vaters zum Handeln: »Judas, du weinest vor Gram, und edelmüthigem Zorne! j Sohn, du weinest umsonst, umsonst fließt jede der Thränen, j Die in deiner Verzweiflung dir fließt, wenn du selbst dir nicht beystehst!« (III, 623–625) Er solle den Messias durch dessen Auslieferung an die Mitglieder des jüdischen Hohen Rats dazu bringen, sein »so lang’ erwartetes Reich auf Einmal« zu errichten (III, 636), damit Judas an sein vergleichsweise kleines Erbteil früher gelangen könne, um es »mit unermüdendem Fleiß, mit Wachen und Arbeit, j Durch Anbauung und Handel« zu bereichern (III, 640f.) und es den Königreichen der übrigen Jünger anzugleichen. Zudem würden die »dankbaren Priester« (III, 644) ihn für diese Tat sicherlich mit Geld belohnen. Durch den Auftritt des sorgenvollen Vaters, der aus dem Jenseits zu seinem Sohn spricht, um ihm seine »Rettung im Traume« (III, 648) zu zeigen, wird die emotionale und psychische Beeinflussung des schlafenden Judas natürlich noch intensiviert, wobei die letzten Worte des satanischen Einflüsterers folgendermaßen lauten: »Verachte nicht, Sohn, die ermahnende Stimme j Deines Vaters, und laß mich nicht traurend zu meinen Genossen, j Zu den Seelen der Todten mit Herzeleid nicht hinabgehn!« (III, 649–651) Der aus der Traumvision erwachte Jünger sieht sich in seinen Befürchtungen sogleich bestätigt und schiebt jegliche aufkommende Zweifel schnell beiseite: Also ist es gewiß: Er [der Messias; I. G.] hasset mich! selbst bey den Todten Ist es bekannt! Was du immer mit zitternder Ahndung vermuthet, Du Verlaßner, das melden dir jetzt die Seelen der Todten! Nun wohlan! so will ich denn hingehn, alles vollenden, Was mein Gesicht mir gebot! Allein so handl’ ich ja untreu An dem Messias! Und wenn mir zürnende Schwermuth den Traum gab,

Charakterdarstellung

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Oder Satan? Entfleuch, zu furchtsamer kleiner Gedanke! Aber ich fühle bey mir nach Reichthum heiße Begierden! Heiße Begierden nach Rache! Was bist du, Seele, so zärtlich, Ach so empfindlich, und bang, dich mit schwachen Gedanken zu quälen? Träume zeigen sich dir! Die Träume befehlen dir Rache! Wenn ein Gesicht sie gebeut, so ist die Rache geheiligt! (III, 658–669)

Klopstock zeichnet demnach keinen vollkommen bösen Charakter, sondern er versucht, eine psychologische Begründung dafür zu finden, weshalb sich der Jünger Judas Ischariot dazu entschlossen hatte, seinen einst geliebten »Meister« (III, 637) zu verraten. Der Antagonist erscheint hier als ein von seinen Affekten getriebener Charakter, der durch verderbende Träume letztlich völlig verwirrt wurde. Dementsprechend lautet auch der Monolog des verstörten Jüngers: Aber wenn das Gesicht mich nun täuschte? der Traum mich betröge? Täuschet mein Traum mich; und kam er, noch mehr den gehaßten zu quälen: O so sey sie verflucht die Stund’, in welcher ich einschlief! Und zu mir mein Vater, wie Todtengestalt, heraufkam! Kehrt sie zurück, dann müsse man sterbend Geheul auf den Bergen Hören! sterbend Geheul in tiefen fallenden Gräbern Müsse man hören! Verflucht sey der Ort, wo ich lag und einschlief! Dort, dort müss’ ein entsetzlicher Sohn den Vater erwürgen! Ha! dort fließe das Blut von meinem geliebteren Freunde, Wenn er mit eigner Hand in seiner Wuth sich erwürgt hat! Judas, wohin verirrest du dich! Verirrest? Was zürnst du Über dich selbst? Du verirrest dich nicht, wenn du also getäuscht wirst! Lehret mich ein gesandtes Gesicht den Messias verrathen, Und ich sündige dran: seyst du auch, unter den Tagen Schrecklichster Tag, verflucht, da mich der Messias erwählte, Da er voll Liebe, mit Blicken der Huld, dem gehorchenden sagte: Folge mir nach! Du müssest umwölkt, und dunkel, und Nacht seyn! Nahest du; müsse die Pest in Finsternissen umhergehn! Tödten, senkt die Sonne den Strahl, verderbende Seuche! Dich, Tag, nenne kein Mensch! und unter den Tagen vergeß dich Gott! Wie ergreift mich die Angst! wie zittern mir alle Gebeine! Judas, wo bist du? Erwache, sey stark! Was quälst du dich, Ärmster? Deine Gesichte täuschen dich nicht! Und wenn sie dich täuschten; Kannst du es anders, als so, wonach du dürstest, erlangen? (III, 720–743)

In der Erstfassung des III. Gesanges aus dem Jahre 1748 hatte Klopstock die Rede von Judas’ Vater in der satanischen Traumvision noch folgendermaßen eingeleitet: Indem erschien dem Jünger im Traume sein Vater, und sah ihn Mit der Mine, mit der er den Geist voll Seelenangst ausblies,

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Klopstocks Wettstreit mit der epischen Tradition

Und noch mit sterbendem Ton von des Reichthums Seligkeit seufzte, Trostlos und sorgenvoll an, und sprach mit bebender Stimme:723

Demzufolge wäre die Habgier des Jüngers als genetische Veranlagung bzw. als anerzogener Charakterzug anzusehen. Heß nahm an dieser seiner Meinung nach »greuliche[n] Beschreibung« des Charakters des »unglückseligern Vater[s]« aus moralischen Gründen Anstoß724 und äußerte folgende Kritik in seiner Abhandlung Zufällige Gedanken über das Heldengedicht, der Meßias (1749): Ich bin gutherzig, und urtheile von jedermann gern nach der Liebe. Bey mir wäre also der Vater des Judas, wenn ich jemals an ihn gedacht hätte, mein Lebtag der ehrlichste und unverleumdetste Mann von der Welt gewesen. Hier aber erblicke ich ihn ganz unversehens, ohne daß jemand etwas unrechtes auf ihn dargethan habe, in dem erschrecklichen Zustande, da er als ein verruchter Geitzhals ein klägliches Ende nimmt, und in der Verzweiflung gerades Wegs zur Hölle fährt. Ein gewaltiger Schauer fasset mich hier, wenn ich bedenke, was das für ein entsetzliches Urtheil ist, welches da ganz unverhörter und unverschuldeter Weise über den ehrlichen Mann gefällt wird! Bey uns ist die löbliche Gewohnheit, daß man gern dem schönen alten Sprüchgen folget: De mortuis non nisi bene! Daher straft man die hart, welche von einem Verstorbenen sagen, er laufe da oder dort herum, ob sie es gleich nur aus Aberglauben sagen. Daher macht man sich eine Freude, einen Menschen, der bis an sein letztes Ende der Allerruchloseste gewesen, nach seinem Tode von Herzen selig zu preisen, wenn er sich nur vorsieht, daß er nicht verzweifelt, noch sich selbst erhängt. Das ist Liebe. Aber des Judas ehrlichen Vater sel. so lange nach seinem Tode, da bisher niemand nichts Böses über ihn zu sagen gewußt, jetzo plötzlich in Verzweiflung und in die Hölle hinab dichten, das ist nicht nur lieblos: das ist die größte Ungerechtigkeit, die an einem Menschen nur immer begangen werden könnte.725

Er sieht diese Verse demnach als »nicht geringe[n] Fleck« in einem Gedicht an, in dem »sonst die großmüthigste Liebe zur reinesten Tugend allenthalben herrsche[.]«.726 Da Heß stets als bedingungsloser Lobredner aufgetreten ist, führt er mehrere Möglichkeiten an, wie diese ›Erdichtung‹ Klopstocks dennoch eventuell entschuldigt werden könnte: Der Messias-Dichter müsste in einer Fußnote die entsprechende Textstelle in den »Schriften der alten Kirchenscribenten« angeben, aus der hervorgehe, dass der Vater Ischariots lebenslang »ein häßlicher Geitzhals« gewesen sei.727 Vielleicht erkenne man aber auch in der weiteren psychologisierenden Ausarbeitung des Charakters »des unglücklichen Verräthers« in den folgenden Gesängen des Bibelepos, weshalb es poetisch notwendig

723 724 725 726 727

Klopstock: DM 1748, S. 98 (III, 584–587). [Heß:] Zufällige Gedanken über das Heldengedicht, der Meßias, S. 47. Ebd., S. 48f. Ebd., S. 49f. Ebd., S. 50.

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gewesen sei, den »armselige[n] Vater des Judas« derart zu beschreiben.728 Womöglich habe dieser »unglücklich werden müssen, um in dem Character seines Sohns diesen schweren Punct wahrscheinlich zu machen, daß er aus einem Apostel ein Verräther geworden ist«.729 Der Theologe Heß verweist hier auf die Leerstellen und Ambiguitäten in der biblischen Judasgeschichte. Bereits im Neuen Testament ist Judas Ischariot ein ambivalenter Charakter.730 Das Handeln des auserwählten Jüngers erscheint zum einen als notwendige Voraussetzung für die Erfüllung der göttlichen Heilsgeschichte und zum anderen als verwerfliche, böse Tat eines Verdammten, der von Satan verdorben wird.731 Die Tat des Jüngers und Apostels wird in den griechischen Quellen als »paq\dosir (par#dosis)« bezeichnet, ein Begriff, der – wie in der Bibelübersetzung Luthers – im Deutschen pejorativ als »›Verrat‹« oder neutraler als »›Überlieferung‹, ›Auslieferung‹ oder ›Übergabe‹« interpretiert werden kann.732 Eine negative Wertung erhält Judas’ Tat nur im Matthäus-, Lukas- und Johannesevangelium.733 Im ältesten Evangelium, dem Markusevangelium, nimmt Judas lediglich Kontakt zu den jüdischen Hohepriestern auf und verkündet diesen, dass er ihnen Jesus ausliefern werde (vgl. Mk. 14,10f.). Im späteren Matthäusevangelium taucht erstmals das Motiv der Geldgier auf, das den Jünger zu den feindlichen Hohepriestern führt (vgl. Mt. 26,14–16). Judas soll für die Auslieferung des Messias dreißig Silberlinge erhalten. Auch im Lukasevangelium wird dem abtrünnigen Jünger, der mit den Hohepriestern den Preis für die Übergabe Jesu aushandelt, Geld versprochen, allerdings heißt es in diesem Evangelium auch, dass zuvor Satan in ihn gefahren sei (vgl. Lk. 22,1–6). Im Johannesevangelium erscheint Judas dann endgültig als Inkarnation des Bösen bzw. als Werkzeug des Teufels (vgl. Joh. 6,66–71; 13,2). Die Tat des zwölften Jüngers Jesu wird demnach bereits in der Heiligen Schrift unterschiedlich gedeutet und meist negativ beurteilt. Klopstock entwirft in seinem biblischen Heldengedicht eine ganz eigene Transformation des christlichen Judas-Mythos. Der Messias-Dichter erweist sich hier als psychologisch einfühlsamer Autor, der das Bild eines Sünders, aber nicht eines abgrundtiefen Bösewichts zeichnet. In der Charakterdarstellung des Judas Ischariot im III. Gesang des Bibelepos wird die »inhärente Ambiguität«

728 Ebd., S. 51. 729 Ebd. 730 Vgl. Almut-Barbara Renger: Die Ambiguität des Judas. Zur Mythizität einer neutestamentlichen Figur. In: Das Buch in den Büchern. Wechselwirkungen von Bibel und Literatur. Hrsg. v. Andrea Polaschegg und Daniel Weidner. München / Paderborn 2012. (Trajekte.) S. 85–100. 731 Vgl. ebd., S. 85f. 732 Ebd., S. 87. 733 Vgl. ebd. Vgl. zu den Evangelienberichten über Judas: Ebd., S. 90f.

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der biblischen Figur deutlich herausgearbeitet.734 Hierauf verweist auch Heß in seiner kritischen Abhandlung: Man siehet wohl, daß in diesem kützlichten und verworrenen Character der anscheinende Widerspruch in der einzelnen Person eines erwählten Apostels und verfluchten Verräthers JEsu der größte Knote gewesen, der den H. Dichter genöthiget, auf alle nur ersinnliche Mittel zu denken, durch die er diesen Widerspruch heben, und den ganzen Character nach den Regeln der Dichtkunst wahrscheinlich herausbringen könnte. Daher kömmt alles Anstößige und dem Schein nach Widersprechende, das wir in diesem Character zu lesen vermeinen. Daher finden wir hier so viel Unvermuthetes, das unserer Meinung nach nur dem Judas zur Entschuldigung dienen, in der That aber die poetische Wahrscheinlichkeit befördern muß. Daher kömmt uns der zweydeutige Ischarioth bis dahin noch mehr als ein übel verführter Jünger, als wie ein vorsetzlich boßhafter Verräther vor. Daher empfinden wir seinethalben noch immer mehr Mitleiden, als Abscheu und Widerwillen.735

Der Pfarrer glaubt allerdings, dass sich das empfundene Mitleid der Rezipienten mit der weiteren Ausführung des Charakters in den folgenden Gesängen des Messias bald notwendigerweise verflüchtigen werde. Den Monolog von Judas (III, 720–743) kommentiert er daher folgendermaßen: Es ist wahr, Geitz und Rachgierigkeit erblickt der Leser schon in seinem Herzen; und ihm selbst verweißt eben dieses sein eigenes Gewissen und beunruhiget ihn darüber nicht wenig: Aber doch zu selten, aber zu schwach, aber es schweigt noch zu bald wieder. Daher kan der armselige Mensch sich selbst noch nicht bereden, daß er aus so schlimmen Gründen zu handeln sich vornehme. Sein eigen Herz betriegt ihn noch. Der vermeinte göttliche Befehl, den er im Traum empfangen, die eingebildete Verherrlichung JEsu, das sind seiner armen Meinung nach die erhabenen Triebräder seines unseligen Entschlusses. […] Ist das nicht ein armer Betrogener, der noch jetzt mehr des Mitleidens, als des Hasses werth ist? So muste es seyn. So viel gutscheinendes muste dem seinem Verderben nahenden Apostel bis jetzt noch übrig bleiben. Nemo repente fit turpissimus. Aus einem Apostel, den JEsus erwählet, der dem Meßias lange gedienet, konnte der Dichter nicht im Augenblick den ungeheuersten Teufel machen. Aber warte man nur; es wird schon noch herauskommen. Je weiter der H. Dichter diesen knotenvollen Character hinausführt, je besser wird er ihn entwickeln können, je mehr wird die innere Boßheit des verrätherischen Herzens sich bloß geben, und zuletzt wie der verruchte Judas sich selbst und dem Leser so abscheulich vorkommen, daß niemand das geringste Mitleiden mehr mit ihm wird haben können.736

In der Erstfassung des III. Gesanges von 1748 setzt sich Klopstock noch entschiedener mit dem biblischen Motiv des angeblichen Verrats aus Geldgier auseinander und relativiert so die Negativbewertung der Judasfigur erheblich. 734 Ebd., S. 98. 735 [Heß:] Zufällige Gedanken über das Heldengedicht, der Meßias, S. 52f. 736 Ebd., S. 53f.

Charakterdarstellung

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Aus dieser Fassung geht deutlich hervor, dass der Dichter die inneren Triebkräfte zu ergründen sucht, die letztlich dazu führten, dass aus dem auserwählten Nachfolger Jesu ein untreuer ›Verräter‹ wurde. Indem er Judas’ Vater unterstellt, dass er seinen »Geist voll Seelenangst« ausgeblasen und »noch mit sterbendem Ton von des Reichtums Seligkeit« (III, 576.1/2)737 geseufzt habe, entschuldigt er diesen verderblichen Charakterzug des Jüngers gewissermaßen. Nachdem der Messias-Dichter allerdings Kenntnis von der moralischen Kritik des Schweizer Pastors erhalten hatte, strich er diese zwei Verse, die Judas’ Vater als Geizhals darstellten (III, 576.1/2), komplett. Diese drastische Entscheidung traf er offenbar innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums. So bestätigt Klopstock in einem Brief an Bodmer vom 13. September 1749, dass er ein Exemplar der Zufälligen Gedanken erhalten habe.738 Heß reagiert bereits am 30. September 1749 auf die Tilgung der betreffenden Hexameterverse, von der er inzwischen erfahren haben muss, und erklärt dem Bibelepiker : Warum haben Sie die getadelte Stelle von »Judas Vater« so geschwinde ausgestrichen? Ich war eben im Begriff, da ich Ihren Brief bekam, dieselbe Stelle aus dem Grund der poetischen Nothwendigkeit noch weiter zu vertheidigen, nachdem mir jemand in den »freimüthigen Nachrichten« dazu Anlaß gegeben. Aber nun thue ich es nicht mehr, wenn Sie mirs nicht selbst befehlen. Es küzelt mich jezo allzusehr, daß ein solcher Poet in seinem Gedicht mir zu Gefallen etwas geändert hat. Doch damit ist mein kleiner Ehrgeiz schon völlig gesättiget; und ich könnte es nicht leiden, wenn Sie fürohin um meintwillen in Ihrem »Messias« das geringste mehr ändern sollten.739

Tatsächlich hatte Vincenz Bernhard von Tscharner (1728–1778) im Juli 1749 in den Freymüthigen Nachrichten zu beweisen versucht, dass die Charakterzeichnung »des unglücklichen Vaters des Apostels und Verräthers Judas« im Messias »nicht nur nothwendig, sondern auch wahrscheinlich« sei.740 Zunächst wirft er seinem tadelnden »Gegner« vor, dass dieser nicht bedacht habe, dass »Klopstock ein Dichter, und nicht die Bibel [sei]«.741 Insofern sei es ihm also erlaubt, eine ›erdichtete‹ Charakterdarstellung zu entwerfen.742 Zum Motiv der Habgier bemerkt Tscharner :

737 HKA, Werke IV 4, S. 388 (III, 576.1/2). 738 Vgl. den Brief von Klopstock an Bodmer, 13. September 1749. In: HKA, Briefe I, Nr. 35, S. 57–59, hier S. 58, Z. 52f. 739 Brief von Heß an Klopstock, 30. September 1749. In: HKA, Briefe I, Nr. 38, S. 62–65, hier S. 63, Z. 25–34. 740 [Vincenz Bernhard von Tscharner : Eingesandter Brief über Heß’ Zufällige Gedanken. In:] Freymüthige Nachrichten von Neuen Büchern, und andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen. 6. Jahrgang. 27. Stück (2. Heumonat [Juli] 1749). Zürich 1749. S. 213–215, hier S. 214. 741 Ebd. 742 Vgl. ebd.

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Wie oft erben wir unsere Fehler von unsern Eltern; wie oft leben die Eltern in den Kindern, und wie oft sind diese lebende Bilder derselben? sind unsere Leidenschaften nicht zum öftern und meistens traurige Folgen und elende Früchte einer schlechten Auferziehung und eines bösen Exempels? Der Geitz war dem Judas angebohren, ein Laster, das er niemahls verläugnen konnte, und eine Seuche, die unter den damahligen Juden herrschte; dieses altes macht diesen unglückseligen Character mehr als wahrscheinlich.743

Dieser Rezensent rechtfertigt demnach den psychologisierenden Versuch Klopstocks, die lasterhafte Charaktereigenschaft, die Judas Ischariot insbesondere im Matthäus- und im Lukasevangelium zugeschrieben wurde, als vererbt und anerzogen darzustellen. Heß setzte die Diskussion um eine mögliche Interpretation dieser Textstelle im III. Gesang des Messias im Oktober 1749 in den Freymüthigen Nachrichten fort.744 Der Schweizer Pastor ist der Meinung, dass Tscharner mit seinen Behauptungen unvermerkt dem Dichter selbst widerspreche, denn dieser spreche »den Judas in seiner Jugend, wie von allen Lastern, also besonders von dem Geitz ausdrücklich und völlig loß«.745 Zur Bestätigung dieser Aussage führt er die entsprechenden Hexameterverse aus der Erstfassung des Messias von 1748 an, in denen der Schutzengel Ithuriel berichtet, dass Gott Judas »ein edles Gemüth, und ein tugendhaft Herze, j Und in der unentheiligten Jugend viel Unschuld gegeben« habe.746 Zudem zitiert Heß noch folgende Feststellung des Seraphs: »Auch sind in einer erschrecklichen Stunde Begierden nach Reichthum j Noch dazu in seiner sonst edleren Seele gewurzelt. j Denn die kannt ich im Jünglinge nicht.«747 Diese durchaus stichhaltige Argumentation des Kritikers verweist demnach auf Unstimmigkeiten in der Charakterzeichnung der bibelepischen Nebenfigur. Heß bemerkt hierzu: »Heißt das nicht klar gesagt, der Geitz und alle die damit verknüpfte Boßheit sey dem Judas nicht von seinen Eltern her angebohren, sondern wie die Schrift redet, vom Satan ins Herze gegeben worden?«748 Da dies alles Judas Ischariots Vater »im geringsten nichts angeh[e]«, könne es »auch seinen Geitz und sein unseeliges Ende weder viel noch weniger wahrscheinlich machen«.749 Der Rezensent sieht die zwei ›unmoralischen‹ Verse (III, 576.1/2) über den Vater des Jüngers folglich weiterhin als unnötig an. Auf die Behauptung 743 Ebd. 744 [Johann Caspar Heß:] Schreiben von H. P. A. In: Freymüthige Nachrichten von Neuen Büchern, und andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen. 6. Jahrgang. 44. Stück (29. Weinmonat [Oktober] 1749). Zürich 1749. S. 346–348. 745 Ebd., S. 347. 746 Klopstock: DM 1748, S. 90 (III, 398f.). 747 Ebd., S. 91 (III, 429–431). 748 [Heß:] Schreiben von H. P. A. In: Freymüthige Nachrichten von Neuen Büchern. 6. Jahrgang. 44. Stück (29. Weinmonat [Oktober] 1749). S. 346–348, hier S. 347. 749 Ebd., S. 347f.

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Tscharners, dass der Geiz unter den damaligen Juden wie eine Seuche grassiert habe, reagiert Heß folgendermaßen: Doch war auch diese Seuche weder so einzeln, noch vielleicht so allgemein, daß sie dem beharrlichen Geitz, der dem Vater des Judas vor andern Lastern aus angedichtet wird, Wahrscheinlichkeit genug geben könnte, wofern nicht der Poet ihm solchen anzudichten, noch aus andern Ursachen wäre genöthiget worden.750

Seinem kritischen Gegner schlägt er daher abschließend vor, es dem Epiker selbst zu überlassen, diese »poetische[.] Nothwendigkeit« »entweder durch die Fortsetzung des Characters Ischarioths, oder auf andere Weise dem Leser begreiflich zu machen«.751 Angesichts dieser detailversessenen Debatte zwischen Heß und Tscharner erscheint es äußerst verständlich, dass Klopstock die problematischen Verse einfach kurzerhand tilgte. Vergleicht man den Erstdruck des Messias von 1748 mit den späteren Ausgaben, so erkennt man weitere inhaltliche Veränderungen, die der Dichter in den ersten Szenen der Judasfigur im III. Gesang vorgenommen hat. In den Ausgaben von 1748 und 1751 lässt Satan den Vater von Judas folgende perverse Behauptung aussprechen: »Ein Engel des Lichts, der war wohl dein Schutzgeist, j Leitete mich zu dir, da zeigt ich dir dieses im Traume.« (III, 647.1, 648)752 Als der aus seinem satanischen Albtraum erwachte Judas über das Gesehene und Gehörte reflektiert, kommt er auf derartige Gedanken: »Meinem Vater befahl es ein Geist; unfehlbar befahl es j Gott dem Geiste; so thu ich, was Gott will; so handl ich nicht untreu! j Was ich thue, geschieht selbst zur Verherrlichung Jesu!« (III, 664.1–3)753 Der zwölfte Jünger glaubt, dass Gott selbst der Urheber der Traumvision sei: »Gott schickt Gesichte; die hohen Gesichte befehlen dir Rache; j Wenn sie der Ewige will, so ist die Rache geheiligt!« (III, 668f.)754 »Ach wie sind vor dem sterblichen Auge des Ewigen Wege j Wunderbar! Wie unerforschlich ist Gott in seinen Gerichten! j Meinen Messias, den soll ich, zu seiner Erhöhung, verrathen?« (III, 719.1–3)755 Judas stellt sich die Frage, ob ihn sein Traum nur täuschen wolle und ob »der Ewge« bzw. »Gott« »Gesichte [schicke], die Menschen zu quälen« (III, 721).756 Ein »göttlich Gesicht« lehre ihn, »den hohen Messias [zu] verrathen« (III, 732).757 Er redet sich Folgendes ein: »Gottes Gesichte betriegen dich nicht!« (III, 742)758 Demnach werden aus Judas’ 750 751 752 753 754 755 756 757 758

Ebd., S. 348. Ebd. HKA, Werke IV 4, S. 398f. (III, 647.1, 648). Ebd., S. 401 (III, 664.1–3). Ebd., S. 402 (III, 668f.). Ebd., S. 409 (III, 719.1–3). Ebd., S. 410 (III, 721). Ebd., S. 412 (III, 732). Ebd., S. 413 (III, 742).

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Reflexionen zwei Motive erkennbar, die ihn schließlich zum Handeln zwingen: Er glaubt zum einen, dass allein Gott Traumvisionen schicke, und zum anderen, dass er durch den Verrat zur »Verherrlichung« bzw. zur »Erhöhung« Jesu beitrage. Die bibelepische Figur erweist sich demzufolge als noch zwiespältiger, da Klopstock die eigentlich böse Tat des Jüngers implizit als Heil bringend darstellt. Judas erscheint hier eher als ein betrogener Mensch und als ein Werkzeug der göttlichen Allmacht, d. h., seine Tat ist im göttlichen Heilsplan bereits vorab festgelegt und damit spielt der Charakter auch eine wichtige Rolle im christlichen Erlösungsgeschehen. Die »paq\dosir (par#dosis)« versteht der MessiasDichter explizit als »Überlieferung Jesu[.]« (III, 643) »in die Hand der wartenden Priester« (III, 631). Judas Ischariot will den Messias durch sein Vorhaben dazu bewegen, »seine wahre Herrlichkeit zu offenbaren und den Auftrag zu erfüllen, König der Juden zu sein«.759 Es lässt sich also leicht nachvollziehen, weshalb empfindsame Zeitgenossen Mitleid für den getäuschten Jünger empfanden. Klopstock ließ die oben zitierten Verse aus den Textfassungen von 1748 und 1751 in allen folgenden Ausgaben des Bibelepos entweder weg (III, 647.1, 664.1– 3, 719.1–3) oder er überarbeitete sie inhaltlich vollständig (III, 668f., 721, 732, 742). Judas’ Vermutung, dass Gott selbst der Urheber der teuflischen Traumvision sei, wird komplett gelöscht. Aus den »göttlichen Gesichten« werden in den Messias-Ausgaben von 1755, 1780 und 1799/1800 einfache »Träume«. So ruft Judas beispielsweise aus: »Träume zeigen sich dir! Die Träume befehlen dir Rache! j Wenn ein Gesicht sie gebeut, so ist die Rache geheiligt!« (III, 668f.) »Deine Gesichte täuschen dich nicht!« (III, 742) Ein »gesandtes Gesicht« lehre ihn, den Messias zu verraten (III, 732). In allen Fassungen von Klopstocks Bibelepos zieht der abtrünnige Jünger allerdings kurz die Möglichkeit in Betracht, dass Satan ihm den Traum geschickt haben könnte (vgl. III, 663f.). Prophetische Träume gehören zu den epischen Standardelementen. Auch in Homers Ilias (2. Gesang, V. 1–40) und Odyssee (19. Gesang, V. 560–569) und in Vergils Aeneis (4. Buch, V. 452–473; 7. Buch, V. 415–466) finden sich falsche, trügerische Träume, die den verblendeten Menschen von den olympischen Göttern geschickt werden. Bezeichnenderweise vergleicht Tscharner Klopstocks Judasfigur mit der Charakterzeichnung Evas in Miltons Paradise Lost. Er schreibt in seiner Rezension in den Züricher Freymüthigen Nachrichten (2. Juli 1749): Diese Nachricht von Ischarioths Vatter hat Klopstock in keinem Kirchenvatter gefunden; Es war ihm eben so schwer, die plötzliche Veränderung, die in Judas vorgegangen, da er aus einem erwählten Freunde und Apostel unsers Erlösers sein Verräther worden ist, wahrscheinlich zu machen, als es Milton war, da er den Fall unserer ersten Mutter, die so vollkommen war, wahrscheinlich machen mußte. Milton fande diesen Ausweg, er erwecket der schlafenden Eva einen Traum, in welchem ihr der Satan mit der 759 Renger : Die Ambiguität des Judas, S. 98.

Charakterdarstellung

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Stimme des Adams erscheinet, und sie beredet von der Frucht des verbottenen Baums zu essen; Milton der seine Leser mit ungemeiner Kunst auf alle Begebenheiten zubereitet, hat auf diese Weise diesen Umstand seines Gedichts wahrscheinlich gemacht, und dieser Traum, den er so glücklich hieher gedichtet, ist seines grossen Meisters würdig. Diesen hat Klopstock mit nicht geringerer Kunst, auf gleiche Weise angewendet; Wer will tadlen, was Milton erfunden, und Klopstock nachgeahmet.760

In Miltons Bibelepos sitzt Satan nachts in Gestalt einer Kröte am Ohr der schlafenden Eva, um sie im Traum in Versuchung zu führen, von den Früchten des verbotenen Baumes zu essen (Book 4). Am darauffolgenden Morgen erzählt Eva Adam von ihrem verführerischen Traum (Book 5). Der Erzengel Raphael versucht vergeblich, das erste Menschenpaar vor Satan zu warnen. Diesem gelingt es erneut – diesmal in Gestalt einer Schlange – ins Paradies einzudringen und so kommt es schließlich zum Sündenfall (Book 9). Die Bibelepiker Milton und Klopstock knüpfen mit ihren satanischen Traumvisionen demnach an eine alte Tradition an. Die Judasgeschichte im Messias findet ihre Fortsetzung im IV. Gesang (IV, 586–600, 983–1040, 1143–1155, 1185–1232): Judas tritt hier vor die Versammlung des Hohen Rats und wird vom Hohepriester Kaiphas folgendermaßen vorgestellt: »Noch sind in Israel übrig, j Die ihr Knie vor dem Götzen nicht beugen. Der Mann ist sein Jünger, j Und doch muthig genung, das Gesetz der Väter zu halten! j Er verdienet Belohnung!« (IV, 593–596) Das biblische Motiv der Habgier wird im weiteren Handlungsverlauf des Epos vertieft. So berichtet der epische Erzähler : »Ischariot nahm die Belohnung. j Und, erfüllt vom Stolze, daß ihn die Väter so ehrten, j Ging er aus der Versammlung. Nur war ihm der Lohn zu geringe. j Doch ermuntert’ er sich mit der Hoffnung, mehr zu besitzen, j Hätt’ er mit Weisheit und Eifer die That erst ausgeführet.« (IV, 596–600) Es heißt wenig später, dass Judas »in goldene Träume vertieft, ging, Jesus zu suchen«. (IV, 618) In der darauffolgenden Szene (IV, 983–1040) sagt sich sein Schutzengel von ihm los. Ithuriel klagt Jesus sein Leid: »Ischariots Elend j Ist, Allwissender, deinem Auge vorübergegangen, j Und du kennst des Unwürdigen That. Er hat dich verrathen!« (IV, 992–994) Der Seraph verkündet, dass er dem einst Auserwählten am »Tag der Vergeltung« (IV, 1002) mit Donnerstimme Folgendes sagen werde: […] Bey dem, der geblutet, Von der Höhe des Kreuzes herab, sein Leben geblutet, Durch die Hand des Geliebten! Ischariot hat sich gebrandmarkt Auf den furchtbaren Tag! Er selber hat das Verderben 760 [Tscharner : Eingesandter Brief über Heß’ Zufällige Gedanken. In:] Freymüthige Nachrichten von Neuen Büchern. 6. Jahrgang. 27. Stück (2. Heumonat [Juli] 1749). S. 213–215, hier S. 214.

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Über sein Haupt gerufen! durch laute Thaten das Schicksal Jener Verworfnen gerufen! Er ist es würdig, gerichtet, Und von dem Antlitz des Menschensohns verworfen zu werden! Würdig, die Wege zu wandeln des ewigen Todes! Sein Blut sey Über ihm selbst! Ich bin unschuldig am Blute des Sünders! (IV, 1007–1015)

Während des letzten Abendmahls mit seinen zwölf Jüngern enttarnt der Messias Judas Ischariot als Verräter (IV, 1143–1205). Klopstock orientiert sich in dieser epischen Szene am biblischen Text (vgl. Mt. 26,20–25; Mk. 14,17–21; Lk. 22,14– 23; Joh. 13,21–30). Am engsten lehnt er sich zunächst an den Wortlaut und inhaltlichen Ablauf des Matthäusevangeliums an: […] Mit menschenfreundlicher Wehmuth Schaut’ er in der Versammlung umher, und sagte zu ihnen: Ja, ich muß es euch sagen! Hier, bey meinen Geliebten, Ist ein Jünger, der mich verrathen wird, einer der Zwölfe! Banges Erstaunen ergriff die Versammlung. Sie fragten ihn alle: Herr, bin ichs? Der Messias erwiedert [!]: Ja, einer der Zwölfe! Einer von euch, die mit mir das Mahl des Bundes itzt halten. Zwar (hier deckte sein Antlitz die ernste Miene des Richters!) Zwar der Sohn des Menschen geht, wie die Seher verkünden, Seinen erhabenen göttlichen Weg: doch wehe dem Menschen, Der ihn verräth! Es wär dir besser, du wärst nicht geboren! Jesus schaute voll Ernst. Ihn fragte Judas noch Einmal. Jesus erwiedert [!] mit leiserer Stimme: Du sagtest es selber. (IV, 1143–1155)

Im weiteren Verlauf der Abendmahl-Szene im IV. Gesang des Messias zeigen sich Übereinstimmungen mit dem Johannesevangelium: Der angstvolle, besorgte Lieblingsjünger Johannes fragt den Messias, wer der von ihm zum wiederholten Male prophezeite Verräter sei. Die Antwort Jesu lautet: »Dem ich dieß Brodt eintauche, dem ichs mit vertraulicher Liebe, j Und mit Bruderfreundlichkeit gebe, der ist es, Johannes!« (IV, 1201f.) Daraufhin »reicht [er] den Bissen voll Freundschaft j Judas Ischariot hin«. (IV, 1203f.) »Johannes sah dieß, und bebte. j Aber aus Menschenliebe schwieg er vom nahen Verräther.« (IV, 1204f.) Judas geht »mit Ungestüm fort« (IV, 1206). Im darauffolgenden Selbstgespräch (IV, 1209–1231) in nächtlicher Finsternis werden wiederum die Affekte offenbar, die den Verräter antreiben, wie etwa seine Eifersucht auf Johannes und sein angeblich verletzter Stolz, der Rachegefühle in ihm weckt: Also weiß er’s gewiß! Nun wird’s der sanfte Johannes, Der stets lächelt, wenn man um ihn zugegen ist, sagen; Alles sagen, was ihm an dem Herzen Jesus vertraut ist. Alle werden es wissen! Es sey! Die neuen Beherrscher Müssen erst fliehn, eh sie Könige werden! Vielleicht, daß Johannes Bald sein Lächeln verlernt, und in Banden Petrus nicht kühn ist!

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Und (hier glüht’ er von selbst, hier wirkte der zündende Traum nicht) Und selbst Jesus, wie streng, wie hochgebietend befahl er : Judas, steh auf! So gebietet er nicht dem Liebling Johannes! Zwar den Königen wird nicht befohlen! Ich will sie noch sehen, Eh sie Könige sind; in der Fessel will ich sie sehen! (IV, 1209–1219)

Der durch Klammern gekennzeichnete Kommentar des epischen Erzählers macht deutlich, dass Judas auch seinem freien Willen folgt und nicht nur unter dem Einfluss Satans steht. Der Dichter ergänzt die knappen, sakrosankten Evangelienberichte durch Soliloquien, die zum einen den Umfang der Erzählung ausdehnen und zum anderen die starken Leidenschaften dieser innerlich bewegten epischen Nebenfigur zum Ausdruck bringen. Der Leser des Messias kann so leichter nachvollziehen, weshalb Judas zu dieser Tat imstande war. Die Gefangennahme Jesu im Garten Gethsemane wird im VI. Gesang des biblischen Heldengedichts erzählt (VI, 27–150) (vgl. Mt. 26,47–56; Mk. 14,43– 52; Lk. 22,47–53; Joh. 18,1–11). Judas, der den wütenden »Haufen« (VI, 34) anführt, reflektiert auch hier über sein verräterisches Handeln: […] Wo ist er [Jesus; I. G.]? Die Lieblinge sahn ihn, Wie sie sagen, auf Tabor in Himmelswolken gekleidet, Aber in Banden noch nicht! So sollen sie jetzo ihn sehen, Und sich Hütten der Freude zu baun vergessen! Doch bebst du, Schauerndes Herz! Kann Kühle der Nacht auch Männer erschüttern? Schweig, Empörer! bald ist es gethan! Dann will ich mir Hütten, Nicht in Traume nur, baun! Er dacht’s, und er eilte von neuem. (VI, 40–46)

Der epische Sänger liefert eine kurze Zusammenfassung der Vorgehensweise der Feinde Jesu: Judas Ischariot führte den Haufen. Der Priester Befehl war : Männer zu waffnen, und Jesus bey seinen Gräbern zu suchen, Ihn zu binden, und vor die Versammlung zu führen. Es kannte Judas den Ort des stillen Gebets, und der nächtlichen Sorge Für die Menschen. Er hatte der Schaar ein Zeichen gegeben: Welchen ich küsse, der ist es! […] (VI, 53–58)

Durch den berüchtigten Judaskuss besiegelt der abtrünnige Jünger sein weiteres Schicksal. Im Epos heißt es, dass nun »die schrecklichste Stunde j [seit] Seiner Erschaffung« angebrochen und »er ganz nah dem Gerichte gekommen« sei (VI, 75f.): Voll verborgenes Grimms, mit aufgeheiterter Miene, Trat er zu dem Messias, und küßt’ ihn! Er hatt’ es vollendet! Und der Thaten schwärzeste schlich, wie ein Schatten, zur Hölle. Aber der Gottmensch sah dem Verräther mitleidig ins Antlitz: Judas! und du verräthst, durch einen Kuß, den Messias?

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Klopstocks Wettstreit mit der epischen Tradition

Ach, mein Freund, wärst du nicht gekommen! So sagte der beste Unter den Menschen, und gab sich der Schaar, sich binden zu lassen. (VI, 78–84)

Das unvermeidliche Ende des Judas Ischariot malt der Bibelepiker auf der Grundlage des Matthäusevangeliums im VII. Gesang poetisch aus (VII, 142– 245) (vgl. Mt. 27,3–5): Der »schwarze Verräther j Seines göttlichen Freundes« (VII, 142f.) bereut seine Tat, »als er den kommenden Tod sah, j Dem den Gerechten die Priester entgegen führten« (VII, 143f.). Er wirft die dreißig Silberlinge den Priestern im Tempel vor die Füße und verkündet schuldbewusst: »Der Fromme, j Den ich verrieth, sein Blut ist Blut der Unschuld! Das kommt nun j Über mein Haupt!« (VII, 153–155) Judas beschließt, zu sterben. Im darauffolgenden Monolog werden die Verzweiflung und die Seelenqualen des ›Verworfenen‹ offenbar : […] Sie kann nicht, Nein, sie kann, nach dem Tode, nicht fürchterlicher mich fassen Diese namlose Qual! Zu entsetzliche Qualen, o wüthet, Wüthet, so lang’ ihr noch könnt! Wenn dieß Auge sich schließt, und wenn alles Diesem Ohre verstummet; seh’ ich sein Blut nicht, so hör’ ich Seine brechende Stimme nicht mehr! Doch der auf Horeb Sprach ja: Du sollst nicht tödten! Er ist mein Gott nicht! Ich habe Keinen Gott mehr! Elend! du bist mein Gott! Du gebietest, Laut gebietest du mir den Tod! ich gehorche! So stirb denn, Stirb, Verlorner! Du bebst? hier stürmts! Noch Einmal empöret Sich das Leben in dir, und ringt zu leben! Verräther! Du willst leben? vor allen, die je verriethen, gebrandmarkt, Du? Er breitet vor mir, wie ein weiteröffnetes Grab, sich Fürchterlich aus! er ist der bängste der bangen Gedanken, Die ein Sterbender jemals empfand: Ich hab’ ihn verrathen! Stirb! Die Seele, die dir nach dem Tode noch elend zurückbleibt, Tödt’ auch sie! O die du in mir, als wärest du ewig, Dich erhebest, vernimm dein Schicksal, Seele des Todten: Sieh, ich verwünsche dich auch der Vernichtung! […] (VII, 160–178)

Der das Geschehen beobachtende Schutzengel Ithuriel bezeichnet Judas sowohl als »Sünder« (VII, 185) als auch als »Opfer« (VII, 187), d. h., die inhärente Ambiguität des Charakters wird hier wiederum auf der Textebene thematisiert. Klopstock stellt den im Evangelienbericht bezeugten Selbstmord Ischariots durch Erhängen äußerst dramatisch dar : Der Todesengel Obaddon spricht folgende »feyrliche[.] Worte, die Engel des Todes sprechen; j Füllet ein Mensch der Empörungen Maß, und tödtet sich selber« (VII, 195f.): Tod, bey dem furchtbaren Namen des großen Unendlichen! Tod, komm Über den Mann von Erde! Sein Blut sey über ihm selber! Siehe, du löschest die Sonne dir aus. Der Tod, und das Leben

Charakterdarstellung

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Lagen vor dir, daß du wähltest. Du Sterblicher! wähltest den Tod dir! Sonne, verlisch! komm, Todesangst! und thue dich weit auf, Grab! und nimm ihn, Verwesung! Sein Blut ist über ihm selber! (VII, 197–202)

Judas vernimmt »des Unsterblichen Stimme« (VII, 203) und ruft »in der Wuth der Verzweiflung« (VII, 206) aus: »Ich kenne das Rauschen j Deiner Stimme zu wohl! du bist der todte Messias! j Du verfolgst mich, und forderst dein Blut. Hier bin ich! hier bin ich! j Judas riefs mit starrendem Blick, und erwürgte sich!« (VII, 206–209) Aufgrund des Bibelzitats »Hier bin ich!« (VII, 208) scheint es, als ob er einen göttlichen Auftrag erfüllen wollte (vgl. Gen. 22,1; 31,11; 46,2; Ex. 3,4; 1. Sam. 3,4; Apg. 9,10). Führt sich Judas also selbst seiner gerechten Strafe zu? Oder ist er tatsächlich nur ein »Opfer« im göttlichen Heilsplan? Bemerkenswerterweise findet die Judasgeschichte im Messias an dieser Stelle noch nicht ihr Ende. Der epische Sänger begleitet die Seele des ehemaligen Nachfolgers Jesu bis zur Hölle: […] Die ergriffne, Schwankende Seele schütterte dreymal noch, als ihm das Herz brach; Aber das viertemal trieb sie der Tod von des sterbenden Stirne Siegend empor. Sie schwebte dahin. Leichtfließendes Leben, Unseres Seyns Urkraft, sie unauflösbar dem Tode, Folgt’ ihr aus dem Leichname nach, und bewegte sich schneller Als Gedanken um sie, und ward zum schwebenden Leibe, Daß sie mit hellerem Auge den Abgrund sähe, mit feinern Und geschreckterem Ohr des Richtenden Donner vernähme. Aber es war ein Leib unausgeschaffen, voll Schwäche, Nur empfindlich der Qual, und menschenfeindlich von Bildung. Jetzo hatte sich von der Betäubung des Todes die Seele Schnell besonnen, indem begann sie zu denken. Ich fühle Wieder? Wer bin ich geworden? Wie leichthinschwebend erheb’ ich Mich in die Höh! Doch sind das Gebeine? Sind nicht Gebeine! Aber es ist doch ein Leib! Wie dunkel seh’ ich! Wer bin ich? Aber, entsetzlich ist mein Gefühl! ich fühl’, ich bin elend! Bin ich Judas, der starb? Wo bin ich? Wer ist auf dem Hügel Jene lichte Gestalt, die immer furchtbarer herglänzt? Wärst du, mein Auge, dunkel geblieben! Aber sie wird stets Heller! noch heller! ach fürchterlichheller! Judas, entfliehe! Weh mir! es ist der Richter der Welt! Ich kann nicht entfliehen! Das ist mein abscheulicher Leichnam! Er schwebte verzweifelnd Dicht an dem Boden. […] (VII, 210–233)

Gebrandmarkt durch eine deformierte Gestalt wird Judas’ Seele folgender Urteilsspruch verkündet: Ewiger Tod dir! Du hast den Gottversöhner verrathen, Hast dich wider Jehovah empört, und dich selbst getödtet!

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Klopstocks Wettstreit mit der epischen Tradition

Also saget, der in der furchtbaren Rechte die Wagschal Hält, in der Linken den Tod: Es ist kein Maß, sie zu messen, Keine Zahl, so sie zählt, die Qualen, die auf des Verräthers Haupt sich sammeln! Erst zeig’ ihm am Kreuz den blutenden Mittler ; Drauf die Hütten der Wonne von fern; dann führ’ in den Abgrund. (VII, 237–243)

Nachdem er diese Worte des Todesengels vernommen hat, wird »[d]er bebende Todte j […] dunkler vor Schrecken« (VII, 244f.), aber er gehorcht dem Seraph. Die Vollstreckung der Strafe erfolgt im IX. Gesang des Messias (IX, 649–765): Judas wird von Obaddon nach Golgatha gebracht. Von den dort anwesenden Himmelsbewohnern wird »der Geist des Verräthers« (IX, 658) sofort erkannt: »Wie die Hand des Gerichts ihm seine Stirne gebrandmarkt, j Wie der ewige Tod den gottverlaßnen entstellt hat!« (IX, 654f.) Diese äußerliche Veränderung des nun verunstalteten Verräters bildet einen intendierten Kontrast zur anfänglichen Schönheit des noch jungen, unschuldigen Jüngers. Das Verhalten des »gerichtete[n] Sünder[s]« (IX, 670) wird zudem folgendermaßen beschrieben: Dunkel, ein Flecken der Nacht, die über die Erd’ herabhing, Angstvoll, als wenn, wohin er auch schwebete, über ihm Blitze Sich zu entzünden, unter ihm sich die Erde zu öffnen, Jene des Rächenden Feuer auf ihn herunter zu schleudern, Diese mit gleichem Ergrimmen ihn zu verschlingen bereit sey : Also näherte sich dem Kreuze der Geist des Verräthers. (IX, 661–666)

Judas’ Seele fühlt demnach bereits die Schrecken des ewigen Todes, zu dem er verdammt wurde. Er muss sich auf Befehl des Todesengels den Gekreuzigten ansehen. Obaddon kommentiert das auf Erden ablaufende heilvolle Erlösungsgeschehen: An dem Kreuz, das umnachteter über die andern heraufragt, Der ist Jesus Christus! Er stirbt, sich wegen der Menschen Gott zu opfern; ihr Leben, und ihren Tod zu versüßen: Diesem Tode, den du jetzt leidest, dem ewigen Tode Sie zu entreißen, und sie zu erhöhn zu der Gottheit Anschaun! Diese Wunden, aus denen das gottversöhnende Blut quillt, Glänzen, wenn er mit ihnen dereinst, ein Richter der Welt, kommt! (IX, 677–683)

Daraufhin führt der Engel Ischariot zum »Himmel der Gottheit« (IX, 697), um dem »Gottverworfenen« (IX, 705) von fern »[i]hrer sichtbarsten Herrlichkeit Stäte, die Stäte des Anschauns« (IX, 698) zu zeigen, »[o]b der Richter itzt gleich in heiliger Dunkelheit thronte, j Und die Halleluja des ewigen Lebens, die Feyer j Seiner Gerechten um ihn, und ihre Wonne verstummten« (IX, 699–701). Judas empfindet große Angst und bittet daher den Todesengel, ihn zu töten, nur um nicht »dem allgegenwärtigen Richter« (IX, 689) begegnen zu müssen: »Fürchterlichster der Engel, vernichte mit dem entflammten, j Blitzewerfenden

Charakterdarstellung

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Schwerte mich! Ach, zu dem ewigen Richter, j Führe zu seinem Throne mich nicht!« (IX, 691–693) Doch »Gott hat vor den Endlichen jetzt sein Antlitz verborgen« (IX, 708). Klopstock greift in der Rede des Todesengels ein Motiv auf, mit dem er die Judasgeschichte im III. Gesang des Messias begonnen hat: die Allegorie der zwölf goldenen Stühle. So fügt Obaddon folgende Erklärung an: Zwölfe jener goldenen Stühle, die du auf dem Sion Gleich den Sonnen erblickest, sind des Erlösenden Jüngern Von dem großen Belohner bestimmt. Auf diesen, Verräther, Richten die Jünger dereinst die Welt. Du warest ein Jünger! Jammere nicht, daß vernichtet du werdest; du jammerst vergebens! Schau! So viele dein Auge der Herrlichkeiten des Himmels Jetzt zu entdecken vermag: so viele Qualen hat Gott dir Hier, Gerichteter, zugemessen! Vergebens bestrebst du Dich, Ohnmächtiger, nicht zu dem Himmel hinüber zu blicken! Lerne die Allmacht kennen des Richtenden. Felsen im Meer gleich, Die kein Sturm nicht bewegt, sollst du hier stehen, und schauen! Daß er in diesen Himmel, zu dieser ewigen Ruhe, Die ihn lieben, erhöh, stirbt Jesus Christus am Kreuze! (IX, 715–727)

Judas wird anschließend zur Hölle, seiner »ewigen Wohnung« (IX, 733), gebracht. Vor dem Höllentor sieht der Wächterengel »den Verbrecher« (IX, 747), der sich neben Obaddon »krümmt, und noch zu entfliehen, sich martert« (IX, 748). »Aber, unter dem flammenden Schwerte gebückt, muß er eilen!« (IX, 749) Mit der für den Messias ungewöhnlich einprägsamen Schilderung des Höllensturzes findet die Geschichte der epischen Nebenfigur ihren Abschluss: Und der herrschende Seraph, des Abgrunds Hüter, eröffnet Mit weitschmetterndem Krachen die diamantene Pforte. Lägen Gebirge darin, sie würden den furchtbaren Eingang Nicht ausfüllen; sie würden nur rauher ihn machen! Obaddon Bleibt hier stehn mit dem Todten. Es führet kein Weg zu der Hölle Schreckenden Tiefen. Es wälzen sich nah bey der Pforte die Felsen Unabsehlich hinab, durch treufelndes Feuer gespaltet. Sprachlos, schwindelnd, bleich, mit weitvorquellendem Auge, Blickt das Entsetzen hinunter. Der göttlichen Rache Vollender Stand an diesem Grab’, hier schläft der Tod nicht! mit dir still, Judas Ischariot, du Verräther! Da sagte der Seraph Weggewendet, allein das niedersinkende Schwert wies In die Tiefe: Dieß ist der Gerichteten Wohnung, und deine! Daß sie nicht die Erdegebornen, die Sünder, den Tod hier Leiden, den ewigen Tod, stirbt Jesus Christus am Kreuze! Also sagt er, und stürzt den Verworfnen hinab in den Abgrund! (IX, 750–765)

In der Charakterzeichnung des Judas Ischariot im Messias verbinden sich theologisches, psychologisches und anthropologisches Interesse sowohl des

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Klopstocks Wettstreit mit der epischen Tradition

Autors als auch der Rezipienten. Dementsprechend fasst auch Cramer die poetische Darstellung der Judasfigur im III. und IV. Gesang von Klopstocks Bibelepos folgendermaßen zusammen: Der Neid gegen Johannes, die Art, mit der der D.[ichter] die sinlichen Vorstellungen der Jünger vom Reiche des Messias als Springfeder im Traume Satans wirken läst, (dies gehört bei diesem Charakter ihm eigenthümlich zu, ob es gleich überhaupt in der Geschichte gegründet ist. Luc. 22, 24. – Bei den Evangelisten, solte man meinen, verräth Judas blos wegen der dreissig Silberlinge); die ganze künstliche Erfindung im Traume selbst (bei dem blos die Eingebung Satans das Wunderbare ist; denn der Natur nach sind solche Träume sehr wahr); hierauf das Selbstgespräch des Judas, die Blendwerke, die seine Leidenschaft sich drin vormacht, um die That zu rechtfertigen: göttliche Eingebung! Nuzen, der doch aus dieser bösen Handlung entspringen könte! (Daß Judas den Gedanken, der ihm so natürlich hätte einfallen müssen: Verräthst du Jesum, und er siegt; so wird er dich Treulosen hernach auch an den Vortheilen seines Reichs keinen Antheil nehmen lassen, überhüpft, ist auch natürlich; denn welche Leidenschaft denkt consequent?) und die Verzweiflung, mit der er diesen gordischen Knoten zerhaut: video meliora proboque, deteriora sequor! die Wirkung, die die Entdeckung Christi, so menschenfreundlich sie auch nüancirt ist, auf ihn macht, um Zorn und Erbitterung zu seinem Geize hinzuzuthun; endlich der Einflus, welchen der Beifal des Synedriums auf seinen Stolz hierbei hat; […] – brauche ich zu sagen, wie sehr alle diese Züge den Kenner des menschlichen Herzens verrathen? –761

Der Dichter erweckte beim zeitgenössischen Lesepublikum offensichtlich eine gewisse Sympathie für diese ambivalente epische Figur. So beurteilt Heß die Charakterdarstellung des Judas Ischariot im III. Gesang des Messias in seinen Zufälligen Gedanken abschließend als äußerst komplex und daher zum Teil auch als schwer verständlich.762 Der Schweizer Theologe bekennt zudem: [J]e mehr ich Klopstocks Judas Ischarioth mit mühsamem Nachdenken auszustudiren suche, je mehr Hochachtung erweckt mir dieser Character für den Göttlichen Dichter. Je mehr bewundere ich hier seine tiefen Einsichten, seine allerzärtlichsten Empfindungen, und voraus […] die ganz ungemeine Deutlichkeit seiner genau bestimmten Begriffe, dadurch er wie in alles, was er bisher gedichtet, also auch in diesen mit der allergrößten poetischen Kunst bisher entworfenen so überaus schweren und verwickelten Character, doch die netteste Ordnung und die höchste Wahrscheinlichkeit zu bringen gewußt.763

Er sei sich sicher, dass »dieses feine kunstreiche Gemählde des abtrünnigen Apostels und seiner unseligen Verwandlung [zum Verräter ; I. G.]« nach Vollendung des Messias »unter allen Haupttheilen des Ganzen eines der allergrößten 761 Cramer: Klopstock. Er ; und über ihn. Zweiter Theil. 1748–1750, S. 251–253, Anm. 762 Vgl. [Heß:] Zufällige Gedanken über das Heldengedicht, der Meßias, S. 55f. 763 Ebd., S. 56.

Epische Subjektivität

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Meisterstücke seyn und bleiben [werde]«.764 Klopstocks psychologisierende Interpretation der biblischen Judasgeschichte wird tatsächlich in der produktiven Rezeption Nachahmer finden.765

4.7

Epische Subjektivität

In »olympischer Ruhe« steht der klassische epische Sänger über dem erzählten Geschehen seines antiken Epos.766 Kennzeichnend für den auktorialen Erzähler der homerischen Epen ist seine kühle Objektivität, d. h., er geht weitgehend auf Distanz zu seiner Handlung.767 Der epische Erzähler bzw. Sänger im Messias hingegen zeichnet sich durch seine »Distanzlosigkeit« und »Subjektivität« aus.768 Das epische Geschehen wird von einem leidenschaftlich erregten Erzähler kommentiert. Die erzählte Erlösungshandlung, die durch die Passion Jesu Christi den Sündenfall aufhebt und der menschlichen Seele ihre himmlische Unsterblichkeit durch die Gnade Gottes schenkt, betrifft auch unmittelbar den christlichen Erzähler Klopstock selbst. Damit reiht sich der affizierte MessiasDichter unter die ›gefühlsbewegten‹ Charaktere seines Bibelepos ein. Tritt der Erzähler demnach in der epischen Handlung explizit in Erscheinung, so äußert er seine Empfindungen und Kommentare stellvertretend für die gesamte emotional beteiligte Christenheit.

764 Ebd., S. 57. 765 Die Religionswissenschaftlerin Almut-Barbara Renger bewertet die Darstellung der Judasfigur im Messias folgendermaßen: »Klopstocks neue Judas-Interpretation brachte eine Wende mit sich. In den nachfolgenden Darstellungen im 19. Jahrhundert wird Judas als Person, in der widersprüchliche Möglichkeiten des Denkens und Handelns koexistieren, weiter psychologisiert und säkularisiert.« (Renger : Die Ambiguität des Judas, S. 98.) 766 Vgl. Kaiser : Klopstock. Religion und Dichtung, S. 248. Vgl. zum Terminus »olympische Ruhe« folgende Hexameterverse in der Odyssee Homers: 6. Gesang, V. 42–46. 767 Harald Patzer erklärt in seiner Studie über die Formgesetze des antiken Epos von Homer : »Das Erzählen ist im homerischen Epos als Wiedergabe des reinen Geschehens verstanden, an dem der Erzähler unbeteiligt bleibt.« (Harald Patzer : Die Formgesetze des homerischen Epos. Stuttgart 1996. S. 88.) Der homerische Erzähler »gibt sich als bloßer Augen- und Ohren-Zeuge der von ihm berichteten äußeren Vorgänge, der sich jeden eigenen Kommentars des Geschehens enthält. Das Berichtete soll für sich selbst sprechen. Er beschränkt sich damit auf (fiktiv) Gesehenes und Gehörtes, setzt damit also die optische und akustische Phantasie des Hörers in Bewegung. Was er hinzugeben darf und oft tut, ist nur eine Explikation dessen, was sich im Geschehen schon selbst kundtut oder was zu seinem Verständnis der Angabe anderer vom Erzähler bezeugter Sachverhalte bedarf.« (Ebd., S. 89.) 768 Kaiser : Klopstock. Religion und Dichtung, S. 248. Vgl. ebd., S. 248–255. Gerhard Kaiser hat deutlich gemacht, dass die »Subjektivität« des epischen Erzählers im Messias eine »religiöse und dichterische« Subjektivität ist, »die sich objektiv nimmt und glaubt«. Sie sei »eine repräsentative, nicht eine individuelle Subjektivität«. (Ebd., S. 255.)

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Klopstocks Wettstreit mit der epischen Tradition

Bezeichnenderweise setzt sich Klopstock in den Digressionen, in denen der ›subjektive Erzähler‹ spricht, mit den Themen Sterben und Tod auseinander. Im Exordium des XVIII. Gesanges des Messias heißt es beispielsweise: »Mit der Linken berührt’ ich die Erde, mein Grab; und die Rechte j Hub ich gegen den Himmel empor. Der Erde Bewohner, j Oder des Grabes, was ich vermag, das will ich euch singen.« (XVIII, 30–32). Klopstock imaginiert im Exordium des III. Gesanges das eigene Begräbnis: Sey mir gegrüßt! ich sehe dich wieder, die du mich gebarest, Erde, mein mütterlich Land, die du mich in kühlendem Schooße Einst bey den Schlafenden Gottes begräbst, und mir die Gebeine Sanft bedeckest; doch erst, dieß hoff ’ ich zu meinem Erlöser! Wenn des neuen Bundes Gesang zu Ende gebracht ist. O dann sollen die Lippen sich erst, die den Liebenden sangen, Dann die Augen erst, die seinentwegen vor Freude Oftmals weinten, sich schließen; dann sollen, mit leiserer Klage, Meine Freunde mein Grab mit Lorbern und Palmen umpflanzen, Daß, wenn in himmlischer Bildung dereinst von dem Tod’ ich erwache, Meine verklärte Gestalt aus stillen Hainen hervorgeh. (III, 1–11)769

Während einer Krankheitsphase überarbeitet er die ersten elf Verse des III. Gesanges und teilt diese neue Fassung, nachdem es ihm gesundheitlich wieder besser geht, seinem Mentor Bodmer in einem Brief vom 13. September 1749 mit: Sey mir gegrüßt! ich sehe dich schon, dem Gottmensch erlöste Himmel, mein ewiges Land, der du mich im hoosse des Friedens Unter den Schlafenden Gottes empfängst: in deß deckt die Erde Meine Gebeine, schon izt (so wollt es mein hoher Erlöser!) Da noch nicht mein heiliges Lied zu Ende gebracht ist. 769 Klopstock war in den Jahren bis 1755 immer wieder sehr krank – meist plagte ihn das Wechselfieber. Ein persönlicher Umstand wie Krankheit veranlasste ihn folglich schon sehr früh, dieses Exordium des III. Gesanges des Messias zu verfassen. Eine Erstfassung dieser elf Verse findet sich in einem Brief von Klopstock an seinen Schulfreund Christian Wilhelm Becker (1727–1754) aus dem Jahre 1747: »Sey mir gegrüst, ich sehe dich wieder, die du mich gebarest, Erde, mein mütterlich Land, die du mich im külenden Schosse Einst bey die Schlaffenden Gottes begräbst, u meine Gebeine Sanfte bedekst, doch dann erst, dies hoff ich zu meinem Erlöser, Wenn von ihm mein heiliges Lied zu Ende gebracht ist Alsdann sollen die Lippen sich erst, die ihn zärtlich besangen, Dann erst sollen die Augen, die seinentwegen vor Freuden Oftmals weinten, sich schliessen, dann sollen erst meine Freunde Und die Engel mein Grab mit Lorbern u Palmen umpflanzen, Daß, wenn ich einst nach himmlischer Bildung von todten erwache, Meine verklärte Gestalt aus stillen Haynen hervorgeh.« (Brief von Klopstock an Becker, 22. Juni 1747. In: HKA, Briefe I, Nr. 4, S. 3f., hier S. 3f., Z. 18–28.)

Epische Subjektivität

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Izo sollten die Lippen sich schon, die ihn zärtlich besangen, Izt schon sollten die Augen, die seinentwegen vor Freuden Oftmals weinten, sich schliessen, izt sollten schon meine Freunde Und die Engel mein Grab stilllächelnd umgeben, u denken: Es sind Gottes Gedanken nicht unsre Gedanken, sein Weg ist Unser Weg nicht! So beweint will ich schlummern, bis ich erwache, Ein Gott würdigers Lied der neuen Erde zu singen.770

Geht Klopstock in der Erst- und Endfassung des Exordiums des III. Gesanges davon aus (III, 1–11), dass er den Messias noch vor seinem Tod vollenden kann, so entwirft er hier eine Version, die wohl abgedruckt werden sollte, falls es ihm doch nicht möglich gewesen wäre, »des neuen Bundes Gesang« (III, 5) zu beenden. In diesen Versen stellt er sich vor, dass nicht nur die weinenden Freunde, sondern auch die Engel an seinem Grab stehen, während er auf seine Auferstehung wartet und daran glaubt, im Himmel Gott ein »würdigers Lied« singen zu können. Im XVI. Gesang greift er die Thematik der schauervollen Todesahnung wieder auf und verweist auf das selige Gefühl, das ihn nach Vollendung des Epos durchströmen wird: Fließe mir jetzt ein rieselnder Bach in den Strom des Gesanges, Den vollendend, ich der Erlebungen seligste fühlte. Hundert Monde sind vorübergewandelt, seitdem ich Sang von des Mittlers erstem Gericht. Mich umleuchtet’ auch damals Hoffnung zu meinem Erlöser : Vollenden würd’ ich! Doch zog einst Trübes sich um den himmlischen Strahl. Da wars der Gedanken, Er mir allein: Mich in Allem zu unterwerfen! Sie kamen, Schonten mein nicht, und redeten laut von dem Tod’, und vom Leben; Etliche schwiegen, und redeten so noch lauter vom Tode! Doch ich verbot den Schauer mir, sträubte mich gegen sie, litt’s nicht, Lebte, vollendete! Preis auch heute dem Herrn, dem Erhalter, Inniger, heißer Dank! Sie stärket uns, zögert des Todes Gang, die mächtige Freude. Zuletzt vermag sie’s nicht länger, Und wir wallen zur Heimath. O tiefer Genuß, wenn auch ich nun, Einer der kältesten Forscher des menschlichen Denkens und Schicksals, Drüben steh’, und schaue: Wie sie herüber, mit jedem Winke der Zeit, in Schaaren zu uns, der Gestorbenen Seelen Kommen, Zweifler, und Leugner, und Christen; der Freund, dem vor Kurzem Um den Freund die heilige Thräne noch rann, die Geliebte, Lange schon Witwe, vor Wehmuth lang verstummt, in der nahen Fliegenden Wolke der kommenden Todten! und aller Schicksal Aufgekläret, umstrahlt, nichts unenträthselt gelassen! 770 Brief von Klopstock an Bodmer, 13. September 1749. In: HKA, Briefe I, Nr. 35, S. 57–59, hier S. 57, Z. 10–21.

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Klopstocks Wettstreit mit der epischen Tradition

Jeder Staub gewogen! verweht Gebirge der Täuschung! Wer, dem jemals die Wollust ward des Grübelns und Wissens, Dürstet nicht hier, auch drüben zu seyn? Nur menschliches Schicksal So zu lernen, und, stets in neuer Irre, des Ausgangs Faden zu finden, schon das ist Fülle der Seligkeit! Eil’ itzt, Bach, und riesl’ in den Strom, des neuen Bundes Gesang, hin. (XVI, 211–238)

Auch im privaten Leben beschäftigte sich Klopstock mit dem menschlichen Ende auf Erden und der christlichen Eschatologie. Nachdem sein Vater gestorben war, bat er seine Mutter um einen ausführlichen Bericht über dessen Krankheit, Sterben und Tod, denn es sei »nichts heilsamer, als öftere TodesBetrachtung«.771 Seinem Bruder Carl Christoph Klopstock erteilte er brieflich den Rat, auf eine gottgefällige Art zu weinen und zu trauern.772 Darunter verstand er »Gelassenheit und Unterwerfung«.773 Gott wolle, dass sich die Hinterbliebenen über »seine unaussprechliche Gnade und ihre unzählbaren Folgen freuen«.774 In einem Antwortbrief des Messias-Dichters an seine Mutter, bedankt er sich für ihre ausführliche Beschreibung der Todesumstände, die ihn »sehr gerührt« habe.775 Er empfinde »noch immer einen stillen Schmerz« wegen des plötzlichen Todes seines geliebten Vaters, aber er sei dankbar für die Gnade Gottes, der ihm einen »ruhigen Tod« geschenkt habe.776 Klopstock bekennt, dass er im Nachhinein nicht wisse, ob er es ausgehalten hätte, das Sterben seines Vaters unmittelbar mitzuerleben, aber er würde »dadurch viel gelernt haben«.777 Sein Vater habe nun himmlische Glückseligkeit und seinen Frieden gefunden, »der viel höher als alle Vernunft u viel höher, als dieses Leben [sei]«.778 Betrachtet man demnach den lebensgeschichtlichen Hintergrund und den historischen Kontext des 18. Jahrhunderts, so sind biographische Bezüge in einem literarischen Werk, das von dem Leiden, dem Tod und der Auferstehung des christlichen Helden handelt, einleuchtend. Im XV. Gesang des Messias wird die autobiographisch fundierte Gedor-CidliEpisode erzählt (XV, 419–467). Klopstock verarbeitete in dieser rührenden epischen Episode den Tod seiner Frau Meta – eigentlich Margareta geb. Moller –,

771 Brief von Klopstock an seine Mutter Anna Maria Klopstock, 16. November 1756. In: HKA, Briefe III, Nr. 43, S. 53–55, hier S. 54, Z. 16. 772 Vgl. den Brief von Klopstock an seinen Bruder Carl Christoph Klopstock, 16. November 1756. In: HKA, Briefe III, Nr. 44, S. 55. 773 Ebd., Z. 7. 774 Ebd., Z. 10f. 775 Brief von Klopstock an seine Mutter Anna Maria Klopstock, 25. Dezember 1756. In: HKA, Briefe III, Nr. 45, S. 56f., hier S. 56, Z. 13. 776 Ebd., S. 56, Z. 2 und Z. 4. 777 Ebd., S. 56, Z. 13–15. 778 Ebd., S. 56, Z. 16–18.

Epische Subjektivität

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der er in seinen Oden den Namen »Cidli« gab779 und die am 28. November 1758 bei der Geburt ihres toten Kindes verstarb.780 Er erlebte das Sterben seiner geliebten Frau ganz bewusst mit, die mit unerschütterlichem Gottvertrauen in den bereits befürchteten bzw. vorausgesehenen Tod ging. In den ersten elf Versen dieser Episode im Messias erzählt der epische Sänger von dem gottesfürchtigen Leben des liebenden Ehepaares Gedor und Cidli (XV, 419–429). Gedor wird als empfindsamer Mann charakterisiert, der »glücklich mit der Gefährtin j Dieses Lebens nicht nur, auch jenes ewigen Lebens« (XV, 422f.) zusammenlebte. Beide befassten sich mit der christlichen Eschatologie, also mit der ›Lehre von den Letzten Dingen‹ (Tod, Auferstehung, Jüngstes Gericht etc.): »Weggewandt von dem Leben am Staube, besprachen sie oft sich j Von der künftigen Welt, und von der näheren Trennung, j Oder noch fernen, auf der Reise zur Heimath im Himmel.« (XV, 425–427). Gedor und Cidli hofften, zusammen zu sterben: »Liebend wünschten sie sich, doch wagten sie das nicht zu hoffen, j Was so wenigen ward, mit einander hinüber zu wallen.« (XV, 428f.) In einer Apostrophe wendet sich der epische Erzähler an Gott selbst: »Herr! ihn hattst du ersehn, zu des dunkelen Thales Eingang j Sie zu geleiten.« (XV, 430f.) Ihr gemeinsames Schicksal ist damit göttlich vorherbestimmt: »Itzt kam, der eilende Tod kam j Näher, und wurde gewiß.« (XV, 433f.) Cidli akzeptiert ihr irdisches Ende, was sich einzig aus ihren Blicken erschließt:

779 Vgl. Dagmar Hebeisen: Die Cidli-Oden. Zu Klopstocks Lyrik um 1750. Frankfurt a. M. [u. a.] 1998. (Gießener Arbeiten zur neueren deutschen Literatur und Literaturwissenschaft; 18.) 780 Klopstock hatte Meta Moller (1728–1758) 1751 in Hamburg kennengelernt. Sie heirateten drei Jahre später. Der Messias-Dichter und alle Freunde und Bekannte sahen in ihr die Seelenverwandte Klopstocks. In einem Brief an Bodmer vom 12. Dezember 1752 erzählt er beispielsweise begeistert über Meta: »Cramer nennt sie, den weiblichen Klopstock. Wenn ich ein Mädchen wäre, würde ich Sie seyn; u sie würde ich seyn.« (Brief von Klopstock an Bodmer, 12. Dezember 1752, 24. März 1753. In: HKA, Briefe III, Nr. 3, S. 2–6, hier S. 3, Z. 45–47.) Seine »Cidli« war von Anfang an seine engste Vertraute und Freundin. Meta war eine außergewöhnliche Frau im 18. Jahrhundert. Sie war sehr gebildet, sprach französisch, italienisch und englisch (vgl. ebd., S. 4, Z. 81–85). Ihr qualvolles Sterben während der Totgeburt des ersten Sohnes hat Klopstock schwer getroffen. Eine nachträgliche Obduktion ergab, dass Metas Körper so gebaut war, dass sie niemals ein Kind hätte gebären können. (Vgl. HKA, Briefe III, S. 339.) Vgl. hierzu folgende Aufsätze: Joachim Jacob: »Wäre ich Ihr Klopstock für seine Meta«. Meta Moller und Friedrich Gottlieb Klopstock, Hamburg, 4. April 1751. In: Bespiegelungskunst. Begegnungen auf den Seitenwegen der Literaturgeschichte. Hrsg. v. Georg Braungart, Friedmann Harzer, Hans Peter Neureuter und Gertrud M. Rösch. Tübingen 2004. S. 29–41. – Petra Dollinger : Meta Moller und der Klopstock-Kult im 18. Jahrhundert. In: Literatur in Wissenschaft und Unterricht 37 (2004). S. 3–25. – Elisabeth Höpker-Herberg: Der Tod der Meta Klopstock. Ein Versuch über des Dichters Auffassungen vom Tode. In: Der Tod in Dichtung, Philosophie und Kunst. Hrsg. v. Hans Helmut Jansen. 2., neu bearb. u. erw. Aufl. Darmstadt 1989. S. 249–265.

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[…] Sie richtet von Gedor gen Himmel Ernst ihr Auge, dann wieder auf ihn von dem Himmel herunter, Wieder gen Himmel von ihm. So erhub sie zweymal ihr Auge. Niemals sah er Blicke, wie die, es wurden ihm Blicke, Gleich den ihrigen, nie beschrieben, voll feyrliches Ernstes, Und der innigsten Wehmuth, und mächtiger Überzeugung Jenes ewigen Lebens. […] (XV, 434–440)

In den Ausrufen im epischen Text offenbart sich der bewegte Erzähler, der den Redewechsel des trauernden Ehemannes mit seiner sterbenden Frau wiedergibt: »Ich sterbe! verlasse dich! gehe j Zu der namlosen Ruh! wars, was sie redeten! wars nicht! j Stärker wars, unaussprechlich!« (XV, 440–442) Im epischen Präteritum berichtet der Erzähler von dem göttlichen Beistand, ohne den Gedor wohl zusammengebrochen wäre: […] Hier mußt’ er der Menschheit erliegen; Oder ihn mußte mit mächtigem Arm der Helfer erheben! Und der Erbarmende thats. Der schwache Sterbliche fühlte Sich der Erde gewaltig entrissen, und nahe dem Eingang Zu der Herrlichkeit, welche sich seiner Cidli schon aufthat. Und er trat zu ihr hin mit mehr als Ruhe, mit Freude; Legt’ auf ihre Stirne die Hand, und begann sie zu segnen: (XV, 442–448)

Die fromme Cidli stirbt in den Armen ihres Mannes Gedor und verspricht ihm, künftig sein Schutzengel zu sein. In dem letzten Gespräch zwischen den beiden Liebenden kommt die Frömmigkeit nochmals konzentriert zum Ausdruck: Wandl’ hinüber im Namen des Herrn, der Abrahams Gott war, Isaks, und Jacobs, im Namen des angebeteten Helfers! Ja sein Wille gescheh’, es gescheh sein gnädiger Wille! Und sie sprach mit der Stimme der Zuversicht, und der Freude: Ja, Er mach’ es, wie Er es beschloß! Gut wird Er es machen! Gedor hielt ihr die Hand: Wie ein Engel, hast du geduldet! Gott ist mit dir gewesen! Mit dir wird Gott seyn! Gewesen Ist mit dir der Allbarmherzige! Dank sey, und Preis sey Seinem herrlichen Namen! Er wird dir helfen! Ach wär’ ich Elend genung, ihm nicht zu dienen; so dient’ ich ihm heute. Sey mein Engel; läßt Gott es dir zu! Du warest der meine! Sagte Cidli. Sey nun, du Himmelserbin, mein Engel; Läßt der Herr dir es zu. Und liebend erwiederte Cidli: Gedor, wer wollt’ es nicht seyn? […] (XV, 449–462)

Bezeichnenderweise wird die Seele der Verstorbenen von der unsterblichen Rahel empfangen: […] Voll Mitleid, mit freudigem Tiefsinn, Schwebete Rahel um sie, die Geliebte des Pilgers aus Kanan,

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Und die Mutter des Sohns der Schmerzen. Sie war dir, Cidli, Noch unsichtbar : allein da dein Haupt zu dem Tode dahinsank, Sah dein lächelndbrechender Blick die Unsterbliche stehen; Und du machtest dich auf, zu deiner Gespielin zu kommen. (XV, 462–467)

Die alttestamentliche Rahel war die Lieblingsfrau Jakobs und starb bei der Geburt ihres Sohnes Benjamin, dem sie den Namen »Benoni« (›Schmerzenssohn‹) gab (Gen. 29,6ff.; 35,16–20).781 An dieser Stelle wird demnach im Bibelepos ein immanenter Hinweis auf das biographische Erlebnis gegeben, das die poetische Darstellung der Gedor-Cidli-Episode veranlasste. Im Anschluss an diese bewegende Episode im Messias folgt ein Kommentar des epischen Erzählers, der auf seine vielen geweinten Tränen verweist und auf die Unsterblichkeit seines Bibelepos hofft: Doch mir sinket die Hand, die Geschichte der Wehmuth zu enden! Späte Thräne, die heute noch floß, zerrinn mit den andern Tausenden, welch’ ich weinte. Du aber, Gesang von dem Mittler, Bleib, und ströme die Klüfte vorbey, wo sich viele verlieren, Sieger der Zeiten, Gesang, unsterblich durch deinen Inhalt, Eile vorbey, und zeuch in deinem fliegenden Strome Diesen Kranz, den ich dort an dem Grabmahl von der Cypresse Thränend wand, in die hellen Gefilde der künftigen Zeit fort. (XV, 468–475)

Das schmerzvolle und traurige Ereignis in der privaten Vergangenheit – der Tod der geliebten Frau bei der Geburt des ersten Kindes – wird durch die Unsterblichkeit des epischen Werkes in jedem ›Leseakt‹ stets aufs Neue aktualisiert und damit vergegenwärtigt. Der Erzähler mit seinen eschatologischen Vorstellungen hingegen bleibt selbst dem Diesseits verhaftet. Klopstock schilderte das langsame Sterben seiner Frau Meta nach tagelangen, kräftezehrenden Wehen und einer abschließenden Operation, die sie nicht überlebte, seinen Freunden Johann Andreas Cramer und Nicolaus Dietrich Giseke ausführlich in zwei Briefen vom 5. und 20. Dezember 1758. Aus dem bewegenden Bericht erschließt sich evident die poetische Konzeption der Gedor-Cidli-Episode im Messias. Heißt es im Epos von Gedor : »Sie lag zu sterben. Das glaubt’ er zu sehen« (XV, 431). So erzählte Klopstock in dem Brief an Cramer vom 5. Dezember 1758, dass er schon früh den Tod Metas vorausgesehen habe, auch wenn er es sich nicht habe anmerken lassen.782 Nachdem er »an ihrem Leben zu zweifeln« angefangen hatte, brachte ihm »die Farbe des Todes« in Metas Gesicht die schlimme Gewissheit.783 Er selbst fühlte sich dennoch »durch 781 Vgl. HKA, Werke IV 6, S. 431f. und S. 390 (Kommentierendes Namenregister). 782 Brief von Klopstock an Johann Andreas Cramer, 5. Dezember 1758. In: HKA, Briefe III, Nr. 91, S. 106–108, hier S. 106. 783 Ebd., S. 106, Z. 24 und S. 107, Z. 44.

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die Gnade einer so ausserordentlichen Standhaftigkeit, die ihr wiederführe, gestärkt« und erinnerte sie stets daran, sich der Allbarmherzigkeit Gottes zu unterwerfen.784 Vor der unvermeidlichen Operation konnte sich Klopstock noch kurz von seiner Frau verabschieden. Er betont gegenüber Cramer : »Ich werde nicht aufhören, unserm Gott für die Gnade zu danken, die Er mir bey diesem Abschiede gab.«785 Gedor legt in der epischen Szene seine Hand auf Cidlis Stirn und spricht einen Segen (XV, 448–451). Klopstock berichtet, dass er über Meta das christliche Kreuzzeichen gemacht habe: »Ich nannte den Namen ›des Vaters, und des Sohnes, und des Heiligen Geistes‹ über ihr.«786 Den kurzen Dialog, den beide anschließend führten, gab der Messias-Dichter so wortwörtlich wieder, wie er ihn angeblich noch in Erinnerung hatte: Nun, der Wille desjenigen, der Dir unaussprechlich hilft, geschehe! Ja, wie E r will! wie E r will! – »Er mache, wie Er es will; sagte Sie, und E r w i r d e s g u t m a c h e n !« Dieß letzte sprach sie mit einem besonders starken Tone der Freude und der Zuversicht aus. – Du hast wie ein Engel ausgehalten! Gott ist mit dir gewesen! Gott wird mit dir seyn! der A l l e r b a r m h e r z i g s t e ist mit dir gewesen! Sein grosser Name sey gepriesen! Er wird dir helfen. Wenn ich das Unglück hätte, kein Christ zu seyn; so würde ich es izt werden! – Dieß von ungefähr und noch mehr sagte ich ihr in einer starken Bewegung der Freude. […] – Sey mein Schutzengel, wenn es unser Gott zulässt! – »Du bist der meinige gewesen!« sagte sie. – Sey mein Schutzengel, wiederholte ich, wenn es unser Gott zulässt; wenn es unser Gott zulässt! – »Wer wollte das nicht seyn?« sagte sie.787

Vergleicht man nun dieses intime Gespräch zwischen Klopstock und seiner Frau Meta kurz vor deren Tod am 28. November 1758, wie es der Dichter in dem Brief an Cramer mitgeteilt hatte, mit dem oben zitierten Dialog der poetischen Figuren Gedor und Cidli im Messias (XV, 451–462), so ist die Ähnlichkeit bzw. fast wortwörtliche Übernahme frappierend. Leichte Veränderungen in dem epischen Dialog sind vermutlich nur dem Metrum des Hexameters geschuldet. In dem Brief an seinen Freund Giseke vom 20. Dezember 1758 ergänzte Klopstock seinen Bericht um ein wichtiges Motiv, das er im Messias ebenfalls poetisch umsetzte: Zweymal, vielleicht dreymal, gewiß zweymal, sahe mich meine Meta, ohne ein Wort zu sprechen, auf eine solche Art an, und auf eine solche Art von mir gen Himmel, daß es mir schlechterdings unmöglich ist, es Ihnen völlig zu beschreiben. Ich verstand sie g a n z. Ich kann es Ihnen gar nicht sagen, mit was für einer Wehmuth, und Zuversicht zu Gott, und Gewißheit, daß sie sterben würde! Sie von mir gen Himmel sahe. Niemals, niemals (wie oft habe ich in Traurigkeit und Freude mit ihr gen Himmel gesehen!) habe 784 785 786 787

Ebd., S. 106, Z. 28–32. Ebd., S. 107, Z. 51f. Ebd., S. 107, Z. 61f. Ebd., S. 107f., Z. 63–76.

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ich Sie s o gesehen! Der Zustand eines Sterbenden ist ein so besondrer Zustand, daß er weder zu dieser, noch zu jener Welt zu gehören scheint.788

Gemeint ist der konzentrierte Blick Cidlis, der sich von Gedor gen Himmel richtete und mit welchem sie folglich stillschweigend ihr irdisches Ende annahm und wehmütig auf ihre himmlische Unsterblichkeit hoffte (XV, 434–440). Im Bibelepos heißt es ausdrücklich, dass Cidli »zweymal ihr Auge« gen Himmel erhoben habe (XV, 436). Klopstock erzählt zudem in dem Brief an Cramer : »Nach einigen schmerzhaften Empfindungen in ihrem Gesichte, ist ihr Gesicht wieder ganz heiter geworden, und so ist Sie gestorben.«789 Im Messias berichtet der epische Sänger, dass Cidli mit »lächelndbrechende[m] Blick« (XV, 466) starb. Dem modernen Leser und Germanisten stellt sich hierbei natürlich die Frage, ob Klopstock nicht schon in den Briefen an seine Freunde eine poetische Darstellung der Todesumstände seiner »Cidli« entworfen hat. Die übereinstimmenden Motive und die pathetisch-erhabene Sprache lassen zumindest eine Stilisierung vermuten.790 Verweist der Kommentar des ›subjektiven Erzählers‹ im Messias auf die vielen vergossenen Tränen beim Verfassen dieser »Geschichte der Wehmuth« (XV, 468–475), so hat diese Episode sicherlich auch bei den Zeitgenossen ihre gefühlsbewegende bzw. affekterregende Wirkung nicht verfehlt – vor allem nicht im engsten Freundes- und Bekanntenkreis Klopstocks. Der Messias-Dichter verfolgt in seiner Wirkungsästhetik dezidiert das Ziel des rhetorischen ›movere‹. Klopstock definiert in seiner Abhandlung Gedanken über die Natur der Poesie (1759) das Charakteristikum der Poesie folgendermaßen:

788 Brief von Klopstock an Giseke, 20. Dezember 1758. In: HKA, Briefe III, Nr. 106, S. 125f., hier S. 125, Z. 12–21. 789 Brief von Klopstock an Johann Andreas Cramer, 5. Dezember 1758. In: HKA, Briefe III, Nr. 91, S. 106–108, hier S. 108, Z. 100–102. 790 Tanja Reinlein hat in ihrer Forschungsarbeit über den Brief als Medium der Empfindsamkeit auch den Briefwechsel zwischen Meta Moller und Friedrich Gottlieb Klopstock vor und nach ihrer Eheschließung analysiert. (Tanja Reinlein: Der Brief als Medium der Empfindsamkeit. Erschriebene Identitäten und Inszenierungspotentiale. Würzburg 2003. (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft; 455.) S. 202–231.) Sie kommt ebenfalls zu dem Ergebnis, dass Klopstocks »Ausführungen über den Tod seiner Frau« in den von ihm herausgegebenen Hinterlaßnen Schriften sich »vor allem als literarische Darbietungen« erweisen würden. (Ebd., S. 231.) Klopstock gab die Hinterlaßnen Schriften von Margareta Klopstock (1759) ein Jahr nach dem Tod seiner Frau heraus. Diese enthalten zum einen die Briefe von beiden, die während der Ehe geschrieben wurden, sowie Kondolenzbriefe an Klopstock nach dem Tod Metas, und zum anderen folgende poetische Werke Metas: Briefe von Verstorbnen an Lebendige, das Trauerspiel Der Tod Abels und zwei geistliche Gesänge (Das vergangne Jahr, Die Liebe Gottes). Abgeschlossen werden die Hinterlaßnen Schriften durch das Fragment eines Gesprächs. (Vgl. Margareta Klopstock: Hinterlaßne Schriften. Hamburg 1759.)

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Das Wesen der Poesie besteht darin, daß sie, durch die Hülfe der Sprache, eine gewisse Anzahl von Gegenständen, die wir kennen, oder deren Dasein wir vermuten, von einer Seite zeigt, welche die vornehmsten Kräfte unsrer Seele in einem so hohen Grade beschäftigt, daß eine auf die andre wirkt, und dadurch die ganze Seele in Bewegung setzt.791

Die »tiefsten Geheimnisse der Poesie« lägen »in der Aktion, in welche sie unsre Seele setzt«.792 Der poetische »Gegenstand« sei nur »gut gewählt, wenn er gewisse durch die Erfahrung bestätigte starke Wirkungen auf unsre Seele« habe.793 Klopstock kritisiert in dieser ästhetischen Abhandlung Charles Batteux’ Konzept der Nachahmung der Natur, das dieser auf alle ›schönen Künste‹ ausgeweitet hatte:794 Batteux hat nach Aristoteles das Wesen der Poesie mit den scheinbarsten Gründen in der Nachahmung gesetzt. Aber wer tut, was Horaz sagt: »Wenn du willst, daß ich weinen soll; so mußt du selbst betrübt gewesen sein!« ahmt der bloß nach? Nur alsdann hat er bloß nachgeahmt, wenn ich nicht weinen werde. Er ist an der Stelle desjenigen gewesen, der gelitten hat. Er hat selbst gelitten. Wenn mein Freund beinahe eben das empfindet, was ich empfinde, weil ich meine Geliebte verloren habe; und diesen Anteil an meiner Traurigkeit andern erzählt: ahmt er nach? Von dem Poeten hier weiter nichts als Nachahmung fodern, heißt ihn in einen Akteur verwandeln, der sich vergebens als einen Akteur anstellt. Und vollends der, der seinen eignen Schmerz beschreibt! der ahmt also sich selbst nach?795

Der Messias-Dichter zitiert hier den »Affekt-Topos« des Horaz aus der Ars Poetica (V. 102f.), der die Selbstaffektation des Poeten fordert:796 »si vis me flere, dolendum est j primum ipsi tibi« (»Willst du, daß ich weine, so traure erst einmal 791 Friedrich Gottlieb Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie. In: Klopstock: AW, S. 992–997, hier S. 992. Der Erstdruck dieser ästhetischen Schrift Klopstocks erfolgte im zweiten Band des Nordischen Aufsehers (1759). 792 Ebd., S. 993. 793 Ebd. 794 Charles Batteux führte in seiner gattungstheoretischen Schrift Les Beaux Arts r8duits / un mÞme principe (1746) alle ›schönen Künste‹ und damit auch die Poesie auf das aristotelische Prinzip der Nachahmung der Natur zurück. Klopstock zählte die Dichtkunst in seiner poetologischen Schrift Von dem Range der schönen Künste und der schönen Wissenschaften zu den »schönen Wissenschaften« und nicht zu den »schönen Künsten« (vgl. Kap. 4). Vgl. zur kritischen Batteux-Rezeption Klopstocks: Benzi: Nachahmung und Darstellung. Zur Batteux-Rezeption bei Friedrich Gottlieb Klopstock. 795 Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie. In: Klopstock: AW, S. 992–997, hier S. 993. 796 Vgl. hierzu: Jürgen Stenzel: »Si vis me flere …« – »Musa iocosa mea«. Zwei poetologische Argumente in der deutschen Diskussion des 17. und 18. Jahrhunderts. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 48 (1974). S. 650–671. – Rüdiger Campe: Affizieren und Selbstaffizieren. Rhetorisch-anthropologische Näherung ausgehend von Quintilian ›Institutio oratoria‹ VI 1–2. In: Rhetorische Anthropologie. Studien zum Homo rhetoricus. Hrsg. v. Josef Kopperschmidt. München 2000. S. 135–152.

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selbst«).797 Klopstock stellt hiermit das Postulat auf, dass ein Poet denjenigen Affekt, den er in seinen Lesern bzw. Zuhörern erregen will, erst einmal selbst beim Verfassen des literarischen Textes intensiv gefühlt haben muss. Im 18. Jahrhundert entwickelte sich eine »anthropologisch begründete[.] AffektRhetorik«, die die ›ars rhetorica‹, die handwerklich erlernbare, streng den Regeln folgende antike Schul- bzw. Systemrhetorik mit ihrer »ars-Konzeption«, dezidiert ablehnte.798 Im Zentrum der Wirkungspoetik der Schweizer stand der sprachliche Ausdruck des »›natürlichen‹ Affekts«799, der aus dem emotional bewegten Herzen des Dichters fließen und von dort auch das Herz der Rezipienten treffen und bewegen sollte.800 Bodmer und Breitinger schreiben in ihrer frühen Abhandlung Von dem Einfluß und Gebrauche der Einbildungs-Krafft (1727): Der eine Leidenschafft selbst in der Brust fühlt / der darff sich nicht lange besinnen / was für einen Schwung er dem Ausdruck geben wolle: Die Regung wird ihm die Worte und Figurn auf die Zunge legen / welche ihr angemessen / und so wie eigen sind. Wir können alle Tage hören / wie ungestudierte Leuthe / wenn ihr Gemüthe in eine Bewegung und Hitze gebracht wird / die Metonymie / die Ploce / das Polyptoton / u. a. so kunstreich durch einander mischen / oder auch abwechselnd gebrauchen / ob sie gleich so wenig wissen / was Metonymie / Ploce / Polyptoton für Dinge sind; […] Solche Redner / die von einer Leidenschafft entzündet werden / lassen das Hertze reden / und man hat recht zu sagen / daß Amor ihnen ihre Verse in die Feder geflösset / wenn sie von der Liebe / und Mars / wenn sie von dem Krieg singen: Sie zwingen uns alsdann eben dieselben Affecten anzunehmen / von denen sie gerührt werden.801

Von einem Dichter, »der seine Leser bewegen will«, wird gefordert, »daß er niemahls schreibe / als wenn er selbst von denen Regungen gerührt ist / die er in ihnen erregen will«.802 Nicht das Auswendiglernen der Tropen und Figuren aus den Rhetorik-Lehrbüchern, sondern das Selbstaffizieren wird demnach für jeden Poeten zur unbedingten Schreibvoraussetzung erklärt.803 797 Horatius Flaccus: Ars Poetica / Die Dichtkunst. Lateinisch / Deutsch. Übersetzt und mit einem Nachwort hrsg. v. Eckart Schäfer, S. 10/11 (V. 102f.). 798 Dietmar Till: Affekt contra ars: Wege der Rhetorikgeschichte um 1700. In: Rhetorica. A Journal of the History of Rhetoric 24 (2006). Heft 4. S. 337–369, hier S. 367. 799 Ebd., S. 361. 800 Vgl. hierzu und im Folgenden: Dietmar Till: Transformationen der Rhetorik. Untersuchungen zum Wandel der Rhetoriktheorie im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 2004. (Frühe Neuzeit; 91.) S. 376–432 (Kap. IV: ›Ars‹ – Affekt – Ausdruck: Zur Problematik einer ›antirhetorischen‹ Natur-›Rhetorik‹). 801 [Johann Jacob Bodmer / Johann Jacob Breitinger :] Von dem Einfluß und Gebrauche Der Einbildungs-Krafft; Zur Ausbesserung des Geschmackes: Oder Genaue Untersuchung Aller Arten Beschreibungen / Worinne Die außerlesenste Stellen Der berühmtesten Poeten dieser Zeit mit gründtlicher Freyheit beurtheilt werden. Franckfurt / Leipzig 1727. S. 117f. 802 Ebd., S. 118. 803 Vgl. Till: Transformationen der Rhetorik, S. 405.

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Bodmer und Breitinger entwickelten die Theorie einer »hertzrührenden Schreibart«, deren Grundlagen sie im zweiten Band der Critischen Dichtkunst (1740) formulierten.804 Die »pathetische, bewegliche oder hertzrührende Schreibart« zielt auf die »Bewegung des Hertzens« sowohl des produzierenden Autors als auch des Rezipienten.805 Sie sei »nichts anders, als eine ungezwungene Nachahmung derjenigen Sprache oder Art zu reden, welche die Natur einem jeden, der von einer Leidenschaft aufgebracht ist, selbst in den Mund leget«:806 Die Eigenschaft dieser Sprache bestehet […] darinnen, daß sie in der Anordnung ihres Vortrags, in der Verbindung und Zusammensetzung der Wörter und Redensarten, und in der Einrichtung der Rede-Sätze sich an kein grammatisches Gesetze, oder logicalische Ordnung, die ein gesezteres Gemüthe erfodern, bindet; sondern der Rede eine solche Art der Verbindung, der Zusammenordnung, und einen solchen Schwung giebt, wie es die raschen Vorstellungen einer durch die Wuth der Leidenschaften auf einem gewissen Grad erhizten Phantasie erheischen; also daß man aus der Form der Rede den Schwung, den eine Gemüthes-Leidenschaft überkommen hat, erkennen kan.807

Der sprachliche Ausdruck der Affekte sei »eine allgemeine Gabe der Natur«: wer den Trieb und die Hitze einer Leidenschaft in seiner Brust fühlet, der darf sich nicht lange besinnen, was für einen Schwung er dem Ausdruck geben wolle, die Natur wird ihm auf der Stelle mit den Gedancken auch die Wörter einflössen, und seine Rede in dem Munde also formieren, wie sie seiner Regung gemäß und gleichsam eigen ist.808

Breitinger wiederholt in diesem Kapitel über die »hertzrührende Schreibart« in seiner Critischen Dichtkunst demnach die Argumente, die er zusammen mit seinem Freund Bodmer bereits in der frühen Schrift Von dem Einfluß und Gebrauche der Einbildungs-Krafft entwickelt hatte. Die »hertzrührende Schreibart« wird ausdrücklich als eine »natürliche Sprache« der Affekte bezeichnet, die ein Dichter nur erlernen könne, indem er die Leidenschaften, über die er reden wolle, in seinem eigenen Herzen aktiviere.809 Die Schweizer gehen zum einen von einer anthropologischen Konstante aus und zum anderen spielen Moralvorstellungen eine wichtige Rolle in der Konzeption der ›natürlichen‹ AffektSprache: Wer die Natur des Menschen kennet, dem ist unverborgen, daß die Affecten, die nichts anders sind, als eine undeutliche Vorstellung des Guten und des Bösen, und die den

804 805 806 807 808 809

Breitinger : CD II, S. 352–398 (Kap. 8: Von der hertzrührenden Schreibart). Ebd., S. 352f. Ebd., S. 353f. Ebd., S. 354f. Ebd., S. 355. Ebd., S. 356.

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Schein für die Wahrheit nehmen, alleine von der Einbildungs-Kraft aus ihrem Schlafe aufgeweckt und ins Spiel gebracht werden.810

Dem Fehler der ›affectatio‹, der Künstlichkeit im sprachlichen Ausdruck und der übertriebenen Verwendung von rhetorischen Stilmitteln, der durch das schulmäßige Befolgen der Regeln der klassischen Rhetorik entstehe, entgehe ein Dichter, indem er sich selbst affiziere: Wer […] sich niemahls vorsetzet, mit frostigem Sinn andere zu bewegen, sondern durch eine lebhafte und entzückende Vorstellung der Sachen zuerst seine eigene Einbildung, und durch dieselbe das Gemüthe in die erfoderliche Hitze treibet, eh er andere entzünden will, der wird auch den natürlichen Ausdruck der Leidenschaften allemahl glücklich treffen; er wird weder das rechte Maaß verfehlen, noch zur Unzeit in eine Raserey gerathen, wenn er das Hertz reden läßt, und es wird nicht der wenigste Verdacht einer künstlichen Verstellung, der des Redners Ansehen und Glaubwürdigkeit so nachtheilig ist, auf ihn fallen, weil seine Rede nicht aus dem blossen Gehirne künstlich herausgesponnen wird, sondern aus dem tiefen Grund seines Hertzens selbst hervorquillt.811

Die »gefirnießte Kaltsinnigkeit eines Redners« werde »so wenig entzünden als ein gemahltes Feuer«, und das »Unmaaß« und die »Verschwendung« rhetorischer Figuren, womit ein Redner die fehlende »innerliche[.] Hitze« ersetzen und verbergen wolle, werde nichts anderes als »einen spielenden Witz und ein frostiges Hertz zu erkennen geben«.812 Mit der »wahren Leidenschaft« lasse sich eine »Künsteley« nicht vereinbaren und jede »unnatürliche Vorstellung« werde einem »mehr ärgerlich als beweglich vorkommen«.813 Die Sprache der »Gemüthes-Leidenschaften«814 könne »keine Kunst lehren«, denn wenn keine Leidenschaft in dem Herzen brenne, dann sei es ganz unmöglich, »das rechte Maaß zu treffen; man wird immer mit kaltsinnigen Hertzen von dem wahren Maasse der Natur abweichen, die unnatürliche und gekünstelte Verstellung wird sich selbst verrathen, und an statt zu bewegen, lächerlich werden«.815 Angehende Dichter sollen »die Natur, Beschaffenheit, und Symptomata der Gemüthes-Leidenschaften« und nicht die Handbücher der antiken rhetorischen ›Kunstlehre‹ oder zeitgenössische Regelpoetiken studieren.816 Die rhetorische Figurenlehre soll durch einen »psychologische[n] Affekt-Katalog« ersetzt werden.817

810 811 812 813 814 815 816 817

Ebd., S. 362. Ebd., S. 364f. Ebd., S. 365. Ebd. Ebd., S. 366. Ebd., S. 368. Ebd., S. 371. Till: Transformationen der Rhetorik, S. 401.

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Das Prinzip der Selbstaffektation wird von Bodmer und Breitinger autoritativ legitimiert durch den Bezug auf antike Theoretiker der klassischen Systemrhetorik wie Cicero und Quintilian. Im VI. Buch der Institutio oratoria, das von der rhetorischen Affektenlehre handelt, heißt es: »Das Geheimnis der Kunst, Gefühlswirkungen zu erregen, liegt nämlich, wenigstens nach meinem Empfinden, darin, sich selbst der Erregung hinzugeben.« (»summa enim, quantum ego quidem sentio, circa movendos adfectus in hoc posita est, ut moveamur ipsi.«) (VI 2, 26)818 Und im X. Buch betont der römische Rhetoriklehrer Quintilian: »Unser Inneres ist es nämlich, was beredt macht, und die geistige Kraft in uns.« (»pectus est enim, quod disertos facit, et vis mentis.«) (X 7, 15)819 Die Schweizer beziehen sich zudem auf Quintilians Konzept der »vamtas¸ai«, der »›visiones‹ (Phantasiebilder)« (VI 2, 29)820, woraus sich die »1m\qceia (Verdeutlichung)« oder »›evidentia‹ (Anschaulichkeit)« ergibt (VI 2, 32).821 So heißt es in der Schrift Von dem Einfluß und Gebrauche der Einbildungs-Krafft, dass ein Dichter mittels der ›Einbildungskraft‹ abwesende Gegenstände derart lebendig vergegenwärtigen könne, dass auch die damit gekoppelten Affekte erregt werden.822 Auch in der neuzeitlichen Theorie der psychologisch und anthropologisch begründeten ›natürlichen‹ Affekt-Rhetorik wurde die rhetorische Technik des ›Vor-AugenStellens‹ abwesender, darzustellender Dinge, die zu deren Vergegenwärtigung und Dynamisierung führt und die damit verbundenen Affekte erregt, ein konstitutives Element. Meier macht ebenfalls in seiner Theoretischen Lehre von den Gemüthsbewegungen überhaupt (1744) auf den Topos der Selbstaffektation des Dichters aufmerksam: Ein Redner und Dichter will nicht nur auf eine belustigende Art überreden, sondern auch die Gemüther seiner Leser und Zuhörer in Bewegung setzen. Es haben daher alle Lehrer der Rede- und Dichtkunst, mit Grunde, angenommen, daß die Erregung der 818 Marcus Fabius Quintilianus: Institutionis oratoriae libri XII / Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Hrsg. u. übers. v. Helmut Rahn. Erster Teil. Buch I–VI. 3., gegenüber der 2. unveränd. Aufl. Darmstadt 1995. (Texte zur Forschung; 2.) S. 708f. (VI 2, 26). 819 Marcus Fabius Quintilianus: Institutionis oratoriae libri XII / Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Hrsg. u. übers. v. Helmut Rahn. Zweiter Teil. Buch VII–XII. 3., gegenüber der 2. unveränd. Aufl. Darmstadt 1995. (Texte zur Forschung; 3.) S. 534f. (X 7, 15). 820 Quintilianus: Institutionis oratoriae libri XII / Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Hrsg. u. übers. v. Helmut Rahn. Erster Teil. Buch I–VI, S. 708–711 (VI 2, 29). Vgl. Quintilianus: Institutionis oratoriae libri XII / Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Hrsg. u. übers. v. Helmut Rahn. Zweiter Teil. Buch VII–XII, S. 534f. (X 7, 15). 821 Quintilianus: Institutionis oratoriae libri XII / Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher. Hrsg. u. übers. v. Helmut Rahn. Erster Teil. Buch I–VI, S. 710f. (VI 2, 32). 822 Vgl. [Bodmer / Breitinger :] Von dem Einfluß und Gebrauche Der Einbildungs-Krafft, S. 118f. Breitinger zitiert im zweiten Band seiner Critischen Dichtkunst ausführlich die Stelle aus Quintilians Rhetoriklehrbuch. (Vgl. Breitinger : CD II, S. 362f.) Vgl. hierzu auch: Till: Transformationen der Rhetorik, S. 411f.

Epische Subjektivität

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Leidenschaften und die Dämpfung derselben, das letzte aber auch das wichtigste Geschäfte, eines gewaltigen Redners und feurigen Dichters, sey. Ein Redner und Dichter, muß nicht nur wissen, die Gemüther seiner Leser und Zuhörer zu entzünden, und nach seinem Gefallen, bald diese, bald jene, Leidenschaft zu erregen, zu vermehren, zu lindern, zu unterdrucken, nachdem es seine Absicht erfodert; sondern er muß, vor allen Dingen, entweder die Maske einer Leidenschaft auf eine geschickte Art annehmen, oder, welches besser ist, sich selbst erregen und entflammen können. – – Si vis me flere, dolendum est Primum ipsi tibi. – – – Hor. Art. poet. Das ist die oratorische Begeisterung oder Enthusiasmus bey einem Redner, und die poetische Wuth eines Dichters, negat enim sine furore Democritus quemquam poetam magnum esse posse. Cic.823 Ein dergestalt begeisterter Redner, ein wüthender Dichter, kan die Sprache der Leidenschaften reden. Das Feuer, so in ihm brennt, wird durch alle Glieder ausbrechen, und es ist kein Zweiffel, daß es nicht solte die benachbarten Hertzen seiner Zuhörer gleichfals in Feuer und Flammen setzen. Ein Redner und Dichter, der keine Leidenschaft erregt, verdient diesen Namen gar nicht. Seine Rede wird viel zu matt und zu frostig seyn, als daß sie des Namens einer Rede und eines Gedichts werth seyn solte.824

Der Hallenser Philosoph verweist zudem auf den platonischen Topos des ›furor poeticus‹, der ekstatischen Begeisterung bzw. göttlichen Inspiration eines Dichters, die zur unbedingten Voraussetzung des poetischen Schaffens erklärt wurde. Für Meier ist der ›furor poeticus‹ ein psychologisch bestimmter Seelenzustand, der von einem Dichter jederzeit heraufbeschworen werden kann. Demnach fehlt in seiner Argumentation die religiöse Dimension. Klopstock hingegen verstand sich selbst als ›poeta vates‹, als ein vom göttlichen Enthusiasmus ergriffener ›Seher-Dichter‹, der die ›natürliche‹ Sprache der Affekte in seinem Messias perfekt umsetzte. Im Zentrum von Klopstocks »hertzrührender« 823 Meier zitiert hier die berühmte Stelle aus Ciceros De divinatione (1. Buch, § 80): »negat enim sine furore Democritus quemquam poetam magnum esse posse, quod idem dicit Plato.« (»Niemand könne nämlich, sagt Demokrit, ohne Wahnsinn ein großer Dichter sein, und Platon behauptet das ebenfalls.«) (Marcus Tullius Cicero: Über die Wahrsagung / De divinatione. Lateinisch – deutsch. Hrsg., übersetzt und erläutert von Christoph Schäublin. München / Zürich 1991. (Sammlung Tusculum.) S. 82/83 [I, § 80].) Ähnlich heißt es auch in Ciceros De oratore (II, 194): »Saepe enim audivi poetam bonum neminem – id quod a Democrito et Platone in scriptis relictum esse dicunt – sine inflammatione animorum exsistere posse et sine quodam adflatu quasi furoris.« (»Ich habe nämlich oft gehört – was auch bei Demokrit und Platon [Ion 533e, Phaidros 245a] stehen soll –, daß ohne das Feuer der Begeisterung und ohne eine gleichsam schwärmerisch-ekstatische Inspiration kein guter Dichter existieren kann.«) (Marcus Tullius Cicero: De oratore / Über den Redner. Lateinisch / Deutsch. Übersetzt und hrsg. v. Harald Merklin. Bibliographisch ergänzte Ausgabe. Stuttgart 2006. S. 328/329 [II, 194].) 824 Georg Friedrich Meier : Theoretische Lehre von den Gemütsbewegungen überhaupt. [Faksimiledruck nach der Ausgabe Halle 1744.] Frankfurt a. M. 1971. (Athenäum Reprints.) S. 14f. (§. 13.)

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Wirkungsästhetik stand die Bewegung der menschlichen Seele, die durch ein komplexes Zusammenspiel von erhabenem christlichen Inhalt, angemessenem sprachlichen Ausdruck, perfektem hexametrischen Metrum und rhythmischem Wohlklang erreicht werden sollte. Als ein von dem im Epos besungenen Erlösungsgeschehen unmittelbar Betroffener, versetzt er sich nicht nur in die Charaktere seines Heldengedichts hinein, deren aufwallende Affekte bzw. sanfte Empfindungen er wiedergibt, sondern er reflektiert auch jederzeit über seine eigenen »Gemüths-Leidenschaften«, die er exkursartig etwa in den folgenden drei Beispielen aus dem Messias zum Ausdruck bringt: Der epische Erzähler schiebt im IV. Gesang vor der Schilderung des letzten Abendmahls, das Jesus zusammen mit seinen Jüngern feierte, einen Exkurs ein: Singe, mein Lied, den Abschied des Liebenden von den Geliebten, Und die Reden der traurenden Freundschaft. Wie damals der Jünger, Der mit dem hohen Jakobus ein Sohn des Donners genannt ward, Und in der einsamen Patmos die Offenbarung auch sahe, An der Brust des Messias der vollen Seele Gefühl sprach, Dann zu dem Himmel vom Auge des Liebenswürdigen aufsah; Also fließe mein Lied voll Empfindung und seliger Einfalt. (IV, 1065–1071)

Mitten in der poetischen Darstellung des Sterbens der Maria von Bethanien im XII. Gesang findet sich der Kommentar eines betenden Erzählers: O du, der in Triumph empor, in Triumph, in Triumphe Stieg in die Himmel der Himmel empor, und herrschet, wo Gott herrscht, Mein Fürbitter, laß mich, laß zahllose Schaaren Erlöster, Meine Brüder, den Tod der Gerechten sterben! so mögen Leiden uns noch, die letzten der Prüfungen, oder des Himmels Vorempfindungen uns umgeben, laß, o Versöhner, Laß, Geopferter, nur den Tod der Gerechten uns sterben! (XII, 500–506)

Und nach der Erzählung von der Auferstehung des Messias, dem zweiten Höhepunkt des Bibelepos im XIII. Gesang, verkündet ein innerlich bewegter epischer Sänger : Auszusprechen, was jetzo geschah! mit dem Liede von fern nur Dieser Höhe zu nahn! davon, wie der leisere Nachhall, Nur zu stammeln, von jener Wonne, Erstandner, von deiner! Und von deren Freude, die jetzt dich sahen! zu kühn ist Dieser feurige Wunsch, und, indem ich vergebens gen Himmel Strebe mit ihm, vergebens! ein mächtiger Überzeuger, Daß ich am Grabe noch walle, noch nicht der Erndte gesät bin, Welche die große Folge der Auferstehung des Herrn ist. (XIII, 696–703)

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Reden

4.8

Reden

Aristoteles erteilt den Ependichtern in seiner Poetik den Rat, sich Homer zum Vorbild zu nehmen, dessen Charaktere sich selbst im Reden und Handeln charakterisieren würden (Kap. 24).825 Die wörtliche Figurenrede nimmt demnach neben den Partien, in denen der auktoriale epische Erzähler spricht, einen großen Raum im Epos ein. Der antike Poetiker vergleicht Epos und Tragödie miteinander und grenzt beide folgendermaßen voneinander ab: »Die Epik stimmt mit der Tragödie insoweit überein, als sie Nachahmung guter Menschen in Versform ist; sie unterscheidet sich darin von ihr, daß sie nur ein einziges Versmaß verwendet und aus Bericht besteht.« (Kap. 5)826 Aristoteles hat in seiner Dichtungstheorie das Epos mit der seiner Meinung nach höchsten Gattung, der Tragödie, eng verbunden. Allerdings ist seine Argumentation, zumindest was die Form der Rede angeht, nicht ganz einheitlich.827 In den für das Epos wichtigen Kapiteln 23 und 24 seiner Poetik schreibt er, dass diese literarische Gattung eine »erzählende und nur in Versen nachahmende Dichtung« (Kap. 23)828 bzw. »Erzählung« (Kap. 24)829 sei. Am Anfang seiner Poetik erklärt er hingegen, dass man wie Homer sowohl den epischen Sänger eine Handlung erzählen als auch die handelnden Figuren selbst direkt sprechen lassen könne (Kap. 3).830 Homer wird als der »für das Edle […] vorzüglichste Dichter« gewürdigt, da er auch »dramatische Nachahmungen« hervorgebracht habe (Kap. 4).831 Aristoteles versucht somit zwischen Tragödie und Epos zu vermitteln. Durch die direkten Reden der Figuren bzw. Charaktere im Epos wird der ›m&me¯sis‹, der Nachahmung menschlicher Handlung, ein dramatischer Charakter verliehen.832 Die Einteilung der Gattungen nach dem sogenannten ›Redekriterium‹ unternahm in der lateinischen Antike Diomedes in seiner Ars Grammatica (2. Hälfte des 4. Jahrhunderts).833 Er unterscheidet drei »genera« der Poesie:834 Im 825 Aristoteles: Poetik. Griechisch / Deutsch. Übersetzt und hrsg. v. Manfred Fuhrmann, S. 82/ 83 (Kap. 24, 1460a 5ff.). 826 Ebd., S. 16/17 (Kap. 5, 1449b 9ff.). 827 Vgl. hierzu: Fuhrmann: Die Dichtungstheorie der Antike, S. 207, Anm. 88. 828 Aristoteles: Poetik. Griechisch / Deutsch. Übersetzt und hrsg. v. Manfred Fuhrmann, S. 76/ 77 (Kap. 23, 1459a 17). 829 Ebd., S. 80/81 (Kap. 24, 1459b 26f./36f.). 830 Ebd., S. 8/9 (Kap. 3, 1448a 20–24). 831 Ebd., S. 12/13 (Kap. 4, 1448b 34ff.). 832 Vgl. Fuhrmann: Die Dichtungstheorie der Antike, S. 50. 833 Der entsprechende Abschnitt in der Ars Grammatica des Diomedes lautet: »Poematos genera sunt tria. aut enim activum est vel imitativum, quod Graeci dramaticon vel mimeticon, aut enarrativum vel enuntiativum, quod Graeci exegeticon vel apangelticon dicunt, aut commune vel mixtum, quod Graeci Koimjm vel liKtjm appellant. dramaticon est vel activum in quo personae agunt solae sine ullius poetae interlocutione, ut se habent tragicae et comicae fabulae; quo genere scripta est prima bucolicon et ea cuius initium est ›q u o

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»genus activum vel imitativum« reden und handeln allein die Personen der Dichtung. Beispiele hierfür sind Tragödie und Komödie. Im »genus enarrativum vel enuntiativum«, etwa im Lehrgedicht, spricht hingegen nur der erzählende Dichter. Beide Redearten verbinden sich im »genus commune vel mixtum«, d. h., hier reden sowohl die handelnden Charaktere als auch der erzählende Dichter. Diomedes sah diese Mischgattung am besten in den Epen Homers und Vergils verwirklicht. Bis in die Neuzeit zählte das Epos in den Poetiken zum »genus commune/mixtum oder heroicum«.835 Der Begriff »genus mixtum« stammt aus Platons Politeia. Im III. Buch der Politeia klassifiziert der antike Philosoph »unterschiedliche Arten literarischer Texte nach dem Kriterium der dihe´¯ge¯sis [digc¶sir], d. h. der in ihnen jeweils realisierten spezifischen Form der Rede des Dichters«.836 Den homerischen Epen weist er eine gemischte Redeform zu, die sich aus der »›einfache[n] dihe´¯ge¯sis‹«, »in welcher der Dichter, etwa [wie] im Dithyrambos, als er selbst spricht«, und »der m&me¯sis [l¸lgsir], in welcher der Dichter, etwa [wie] im Drama, in direkter Rede die Äußerungen anderer wiedergibt bzw. nachahmt«, zusammensetzt.837 Gottsched definiert die »Epopee« in seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst als »poetische Nachahmung einer berühmten Handlung«, »darinn der Verfasser theils selbst erzählet, was vorgegangen; theils aber seine Helden, so oft es sich thun läßt, selbst redend einführet«.838 Der Leipziger Professor kompiliert in seiner Regelpoetik die Aussagen der antiken Autoritäten: Man kann vergangene Sachen auf zweyerley Art zu verstehen geben. Einmal erzählt man schlechterdings mit eigenen Worten, was dieser und jener gethan oder gesagt, und begnügt sich, alles der Wahrheit gemäß, ordentlich, deutlich und zierlich vorzutragen. Und so machen es die Historienschreiber. Die Poesie aber ist mit dieser einfältigen Erzählung nicht zufrieden. Man weis, daß eine gar zu einträchtige Rede endlich die

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t e , M o e r i , p e d e s ?‹ exegeticon est vel enarrativum in quo poeta ipse loquitur sine ullius personae interlocutione, ut se habent tres georgici et prima pars quarti, item Lucreti carmina et cetera his similia. Koimjm est vel commune in quo poeta ipse loquitur et personae loquentes introducuntur, ut est scripta Ilias et Odyssia tota Homeri et Aeneis Vergilii et cetera his similia.« (Diomedes: Artis Grammaticae libri III. In: Grammatici Latini. Hrsg. v. Heinrich Keil. Bd. 1. Leipzig 1857. S. 297–529, hier S. 482.) Vgl. zur Einteilung der Gattungen nach dem ›Redekriterium‹ von Diomedes: Ralf Georg Czapla: Epen oder Dramen? Gattungstheoretische Überlegungen zu Andreas Gryphius’ lateinischer Bibeldichtung. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 32 (2000). Heft 2. S. 82–104, hier S. 90f. – Rüdiger Zymner (Hrsg.): Handbuch Gattungstheorie. Stuttgart / Weimar 2010. S. 312. Vgl. Zymner (Hrsg.): Handbuch Gattungstheorie, S. 312. Ebd. Siehe hierzu: Platon: Sämtliche Werke in zehn Bänden. Griechisch und deutsch. Nach der Übersetzung Friedrich Schleiermachers, ergänzt durch Übersetzungen von Franz Susemihl [u. a.]. Hrsg. v. Karlheinz Hülser. Band V: Politeia / Der Staat. Frankfurt a. M. / Leipzig 1991. S. 196–203 (Politeia, Buch III, 392c 6 bis 394c 9). Zymner (Hrsg.): Handbuch Gattungstheorie, S. 312. Gottsched: AW VI 2, S. 292.

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Leute einschläfert: daher sucht sie ihren Vortrag lebhafter zu machen, und die Einbildung ihrer Leser zu erhitzen. Sie weckt derowegen die Verstorbenen gleichsam auf, malt sie so deutlich ab, als wenn sie uns noch vor Augen stünden, ja läßt sie reden und handeln, wie sie bey ihrem Leben würden gethan haben. Dieses ist nun die poetische Art zu erzählen, die sonderlich in epischen Gedichten statt findet. Man sehe, was Plato im dritten Buche von der Republik, den Sokrates davon hat sagen lassen: denn dieser hat die Kunst Homers in seinem Erzählen vollkommen eingesehen. Sie heißen aber gleichwohl epische Gedichte, ob sie der Poet gleich so dramatisch, das ist, so wirksam machet, als es ihm möglich ist: weil doch allezeit der Poet darzwischen erzählet, und nur zuweilen an die Stelle seiner Personen tritt, und in ihrem Namen alles sagt. Und dadurch wird das epische Gedichte vom dramatischen unterschieden, als wo der Poet in seinem eigenen Namen gar nichts sagt; sondern alles von den aufgeführten Personen sagen und handeln läßt.839

Die Abwechslung in der Form der Rede im Heldengedicht wirkt demnach der Ermüdung und Langeweile des Lesers entgegen. Klopstock nutzte in seinem Messias ausgiebig das dramatische Element der direkten Rede seiner Charaktere, das eine unmittelbare und lebendige Darstellung des epischen Geschehens ermöglichte. In den Dialogen und Monologen charakterisieren sich die empfindsamen, d. h. affektvollen Figuren seines Bibelepos selbst und offenbaren ihr seelisches Innenleben. In den Gesamtausgaben seines Messias von 1780 und 1799/1800 führte Klopstock sogar die Markierung der Sprecher im Nebentext wie im dramatischen Dialog ein. So werden die sprechenden Personen nicht in einem Vers, der die eigene Rede einleitet oder abschließt, namentlich genannt, sondern wie im dramatischen Dialog durch Anführung des Anfangsbuchstabens des Namens lediglich kurz angedeutet. In den ersten zehn Gesängen des Messias sind diese »halbdramatische[n] Duette«840, wie sie in der germanistischen Forschung bezeichnet wurden, noch eher selten, aber in den folgenden zehn Gesängen sind nur der XVIII. und der XX. Gesang davon ausgenommen.841

839 Ebd., S. 298f. 840 Muncker : Friedrich Gottlieb Klopstock, S. 106. 841 Vgl. hierzu: Ebd., S. 106f. Beispiele für die dramatischen Dialoge im Messias sind: VI, 489–517 Eloa und Gabriel (E., G.); X, 456–477 Simeon und Johannes (S., J.); XI, 434–515 Joseph, Samed, Engel (J., S., E.); XI, 927–943 Gabriel und Salomo (G., S.); XI, 964–991 Nisroch und Sanherib (N., S.); XI, 993–1029 Hiskias und Engel (H., E.); XI, 1030–1064 David und Jonathan (D., J.), XI, 1368– 1436 Benoni, Joel, Engel und Samma (B., J., E., S.); XI, 1457–1480 ein Greis und Boa (G., B.); XI, 1480–1487 Simeon und Engel (S., E.); XII, 36–50 Joseph von Arimathäa und Pilatus (J., P.); XII, 410–474 Maria (Lazarus’ Schwester) und Martha (M., MTH.); XII, 546–608 Lazarus und Maria (L., M.); XII, 816–846 Salem und Selith (S., STH.); XIII, 370–417 Benoni und Maria (B., M.); XIII, 855–870 Seele und Cherub (S., E.); XIV, 340–358 Petrus und Maria (P., M.); XVI, 390–404 Toa und Engel (T., E.).

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Die typische Verbindung von Erzählerbericht und dramatischem Dialog lässt sich anhand einer Szene aus dem XI. Gesang des Messias exemplifizieren, in der sich die bald auferstehende Rahel und ihr Engel unterhalten: […] Sie [Rahel; I. G.] stand, an dem Hange des offenen Felsen; Auf der Höhe, der Engel. Mit Blicken der innigsten Freundschaft, Sah sie zu ihm hinauf; mit Blicken der innigsten Freundschaft, Sah er auf sie herunter. R. Mein Grab ist einsam, o Seraph! E. Rahel, das Grab, in welchem nun bald der Göttliche ruhn wird, Ist auch einsam! R. Unsterblicher, ach wie hat er gelitten, Dessen Leichnam nun bald das Grab an Golgatha einschließt. Ach was hat des Versöhnenden Tod uns erworben! Ich werde Einst erwachen! wo mir das Gebein in dem Staube verweste, Hier! Auch Auferstehung hat mir der Versöhner erworben! Als sie noch redete, hub sich um ihren Fuß von dem Grabe Sanftaufwallender Duft, ein Wölkchen, wie etwa die Rose, Oder ein Frühlingslaub einhüllt, das Silber herabträuft. Rahels Schimmer umzog den schwimmenden Duft mit Golde, Wie die Sonne den Saum der Abendwolke vergoldet. Und ihr Auge begleitet des Duftes Wallen. Sie sieht ihn, Anders um sich, und wieder anders gebildet, herumziehn, Steigen, sinken, zuletzt stets mehr sich nahen, und schimmern. Und sie bewundert den Tiefsinn der immerändernden Schöpfung, Unergründlich in Großem, und unergründlich in Kleinem, Ohne zu wissen, wie nah der schwebende Duft ihr verwandt sey, Und wozu ihn nun bald des Allmächtigen Stimme, Versöhner, Deine Stimme nun bald erschaffen werde! Sie neigt sich Über ihn, und betrachtet ihn stets mit froherem Blicke. Mit verbreiteten Armen, voll süßer namloser Freuden, Stand ihr Engel, und sah’s. Nun scholl des Allmächtigen Stimme! Rahel sank. Ihr daucht’ es, als ob sie in Thränen zerflösse, Sanft in Freudenthränen; hinab in schattende Thale Quölle; sich über ein wehendes blumenvolles Gestade Leicht erhübe; dann neugeschaffen unter den Blumen Dieses Gestades, und seines Dufts Gerüchen sich fände. Jetzt erwachte sie ganz! Sie fühlte sich, sahe sich, wußt’ es, Daß ein neuer unsterblicher Leib sie umgab. Mit Entzückung Sieht sie gen Himmel, und danket dem, der vom Tode sie aufrief. Nun verstummt sie nicht länger : Du mein Versöhner, mein Bruder! Jesus Christus! mein Herr, und mein Gott! […] (XI, 359–394)

Der Erzählerbericht in den ersten dreieinhalb Versen schildert im epischen Präteritum die innige Verbindung zwischen Rahel und ihrem Engel, die sich inhaltlich in dem festen Blickkontakt und sprachlich im Parallelismus äußert (XI, 360–362). In dem kurzen dramatischen Dialog (XI, 362–368) verweist Rahel auf die Erlösungstat des Messias: Durch »des Versöhnenden Tod« (XI, 366)

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wurde den sterblichen Menschen eine unsterbliche Seele geschenkt, d. h., der irdische Tod wird durch die Auferstehung, die für das ewige Leben steht, aufgehoben. Während dieser Figurenrede im Präsens findet laut dem epischen Erzähler simultan das szenische Ereignis der leiblichen Auferweckung der verstorbenen Rahel statt. Der epische Erzählerbericht wird eingeleitet durch den Halbsatz »Als sie noch redete […]« (XI, 369), der die Gleichzeitigkeit der Rede und des nun ablaufenden Vorgangs anzeigt. In den folgenden Versen (XI, 369– 391) schildert der epische Sänger den dem sterblichen Menschen eigentlich unbegreiflichen Vorgang der Auferweckung einer Heiligen, der zeitlich zwischen dem Tod (X. Gesang) und der Auferstehung (XIII. Gesang) Jesu Christi stattfindet. Klopstock versucht, das überirdische Geschehen bedingt zu versinnlichen und damit irgendwie fassbar zu machen. Er verwendet hierfür die rhetorische Stilfigur der poetischen Synästhesie, die verschiedene Sinnesbereiche miteinander vermischt. In den einundzwanzig Versen dieser Szene werden vor allem Gesichtssinn, Geruchssinn und Gehörsinn gekoppelt. Der »[s]anftaufwallende[.] Duft« (XI, 370), der »schwimmende[.] Duft« (XI, 372), »des Duftes Wallen« (XI, 374), der »schwebende Duft« (XI, 379) und »ein wehendes blumenvolles Gestade« mit »seines Dufts Gerüchen« (XI, 387, 389) sprechen die taktile und olfaktorische Wahrnehmung an. Die Farben Gold und Silber (vgl. XI, 371, 372f.) und die Licht- und Naturmetaphorik (»Schimmer« XI, 372; »[w]ie die Sonne« XI, 373; »schimmern« XI, 376; »ein Wölkchen, wie etwa die Rose, j Oder ein Frühlingslaub einhüllt« XI, 370f.) verweisen auf den visuellen Eindruck. Die auditive Wahrnehmung ergibt sich aus der Stimme, in welcher sich die göttliche Schaffenskraft offenbart (»des Allmächtigen Stimme« XI, 380; »Stimme« des Versöhners XI, 381; »scholl des Allmächtigen Stimme« XI, 384). Bewegungsverben und Präsenspartizipien verstärken sprachlich die Semantik der »immerändernden Schöpfung« (XI, 377). Die epische Szene lässt sich inhaltlich kurz so zusammenfassen: Eine wallende oder schwebende, leuchtende Duftwolke mit dem Geruch von Blumen umgibt Rahel, bis »des Allmächtigen Stimme« (XI, 380, 384) sie neu erschafft und ihr einen »neue[n] unsterbliche[n] Leib« (XI, 391) schenkt. Im jeweils dritten Band der »Kopenhagener Ausgabe« (1768) und der »Halleschen Ausgabe« (1769) des Messias, der die Gesänge XI–XV enthält, fehlt der Anfangsbuchstabe des Namens des Sprechers, der den Anfang der Rede des Dialogpartners markiert und der gewissermaßen als Nebentext außerhalb des epischen Hexameters steht. Der kurze Dialog zwischen dem Engel und Rahel wird dort noch folgendermaßen strukturiert (XI, 362–364):

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Sah er auf sie herunter. Mein Grab ist einsam, o Seraph! … Rahel, das Grab, in welchem nun bald der Göttliche ruhn wird, Ist auch einsam! … Unsterblicher, ach wie hat er gelitten,842

Der Sprecherwechsel wird hier demnach durch Auslassungspunkte markiert. Carl Friedrich Cramer weist im Jahre 1777 auf die Schwierigkeit hin, die Redenden in einem Dialog des Messias gleich zu erkennen: Die Stellen, wo im Messias dialogirt wird, sind überhaupt die schwersten, und der geübteste Leser muß da oft alle Gedanken beysammen behalten, um durchzufinden. So oft Punkte da stehen, redt ein Anderer. Von einigen wird es bestimmt, durch Umstände, wer der Redende sey, von andern nicht. Wo es bestimmt ist, pflegt ich im Vorlesen gleich den Nahmen des Redenden zu nennen.843

Durch die ›Namenskürzel‹ versuchte Klopstock somit eine Verbesserung des Leseverständnisses zu erreichen. In dem kurzen Dialog zwischen Rahel und dem Engel ist es noch einfach, die einzelnen Redner auseinanderzuhalten, aber in einer dynamischen Redepartie mit mehreren Sprechern erleichtern die Anfangsbuchstaben der Namen das sofortige Erkennen der epischen Gesprächspartner sehr. Im XII. Gesang bittet beispielsweise Joseph von Arimathäa Pontius Pilatus darum, den Leichnam Jesu Christi begraben zu dürfen. Der römische Hauptmann, der die Gekreuzigten überwacht hatte, wird gerufen. Das kurze Gespräch zwischen den dreien im Messias lautet: Sende zum Hauptmann am Kreuz, Pilatus sagt’ es zu Joseph, Und wenn er kommt, so führ’ ihn zu mir. Er sandte. Der Hauptmann Kam. Sie traten herein. P. Ist, den sie vor Barrabas wählten, Jetzt schon todt? H. Todt war er. Ihm wollte keiner die Beine Brechen, bis einer zuletzt die Lanze tief ihm ins Herz stieß. Und Pilatus erwiederte: Gieb dem Manne den Leichnam, Daß er ihn, wo er will, begrabe. Wo hast du beschlossen Ihn zu begraben? J. In meinem Grab’ an Golgatha’s Hügel. Also sagt’ er, und ging, und kam zu dem Hügel des Todes. (XII, 53–61)

Innerhalb dieser Szene verwendet Klopstock neben der dramatischen Dialogform auch einleitende und abschließende Redeformeln im epischen Präteritum, wie z. B. »Pilatus sagt’ es« (XII, 53) und »Also sagt’ er« (XII, 61). Im XVII. Gesang trifft Bersebon, ein ehemals Kranker, den Jesus vom Aussatz geheilt hatte, auf eine Gruppe Erstandner, die auf der Erde auserwählten Menschen erscheinen. Er redet nach einem kurzen Schrecken eine der »Todtenerscheinung[en]« (XVII, 777), d. h. einen der Unsterblichen an. Auch dieser kurze Dialog wirkt sehr dynamisch und sprengt in seiner dramatischen Gestaltung 842 HKA, Werke IV 5.1, S. 380. 843 [Carl Friedrich Cramer:] Klopstock. (In Fragmenten aus Briefen von Tellow an Elisa.) 1. Bd. Nachdruck der Ausgabe Hamburg 1777. Bern 1969. S. 117.

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gewissermaßen die Ruhe des epischen Hexameters. Zudem erinnert das kurze Gespräch an ein Interview : […] Da verließ das Schrecken der Freude Bersebon, und er redet’: Ihr seyd von dem Himmel gekommen? U. Sind aus Gräbern gekommen! Wir sind erstandene Todte. B. Hat euch der aus dem Grabe geweckt, der mich von dem nahen Tode zurückrief ? U. Christus hat uns, da er starb, aus der Erde Zu dem unsterblichen Leben gerufen! B. Weilt ihr noch lange Auf der Erde? U. Nicht länger, als der, so vom Tod’ uns erweckte! B. Geht ihr mit Christus gen Himmel? U. Wir gehn mit Christus gen Himmel. B. Wird der Versöhner Gottes nun bald die Erde verlassen? Bald sich gen Himmel erheben? U. Wir wissen es nicht. B. O verzeiht mir, Himmlische, daß ich noch immer mich unterwinde zu fragen! Sterb’ ich bald? U. Wir wissen es nicht. B. Wie war, da vom Tode Ihr erwachtet, wie war es euch da? U. Wie es Adam die Stunde Seiner Schöpfung war. Einst rufet auch dir die Posaune! Mit den Worten verschwand die Todtenerscheinung […] (XVII, 763–777)

Der Messias-Dichter ist in der formalen Gliederung seiner Dialoge allerdings nicht immer konsequent. Im XIV. Gesang klagt der Jünger Thomas in einem langen Monolog einsam bei den Gräbern über seine Ängste nach dem Tod Jesu (XIV, 874–1001). Ein Unbekannter hört den Jammernden und bietet ihm seine Hilfe an. Der Dialog der beiden wird in den folgenden Versen durch die Namenskürzel »U.« und »TH.« gekennzeichnet (XIV, 1008–1028). Allerdings finden sich auch Hexameter, in denen der Anfangsbuchstabe des Namens den Sprechenden ankündigt, aber gleichzeitig wird auch der Dialogpartner nochmals im Vers selbst explizit genannt, so z. B. in XIV, 1015: »TH. Ich freue mich, sagte Thomas, […]« oder in XIV, 1021: »U. Wunden der Seele, mein Bruder? antwortet die nähere Stimme, […]«. Hier findet sich folglich eine unnötige Doppelung in der Sprecherangabe. Nachdem sich der fremde Wanderer namentlich als Joseph, der Sohn Jakobs, zu erkennen gegeben hat, gilt als Sprecherangabe konsequenterweise nun »J.« und »TH.« (XIV, 1029–1074). Nach dem Gespräch zweifelt der ›ungläubige‹ Thomas weiterhin an der Prophezeiung der Auferstehung Jesu und äußert seine Empfindungen in einem Monolog (XIV, 1075–1116). Klopstock konnte in den Dialogen in seinem Messias das »Stilprinzip der Kürze« und den lebendigen sprachlichen Ausdruck im Hexametervers bestens umsetzen, während in den langen Monologen die affizierten Charaktere des Bibelepos ausführlich ihre ›Gemütsregungen‹ offenbaren bzw. manchmal etwas langatmig ihre Empfindungen ausbreiten. Innerhalb eines Gesanges wechseln der leidenschaftlich erregte Sprachgestus der Dialoge und der ruhigere, empfindsamere Ton der Selbstgespräche einander ab. Eine derartige Abwechslung in der Redestruktur erleichtert auch das Lesen des längsten Gesanges des Messias, des XI.

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Klopstocks Wettstreit mit der epischen Tradition

Gesanges, in dessen 1.569 Hexameterversen sich die Auferweckungen der Väter und Heiligen des Alten Testaments aneinanderreihen. In den hymnischen Wechselgesängen (vgl. Kap. 4.10) des Bibelepos wird zudem oft nur durch die ›Namenskürzel‹ ersichtlich, wer von den Sängern bzw. Sängerinnen welchen Part singt.844 Neben den meist kurzen dramatischen Dialogen verfasste Klopstock aber auch ausführliche, längere Reden, die von einzelnen Charakteren vor einem versammelten Publikum, d. h. vor anderen epischen Figuren gehalten werden. Eine fulminante Rede findet sich beispielsweise im II. Gesang des Messias. Satan spricht hier vor den versammelten Höllenfürsten und beschließt den leiblichen Tod des Messias (II, 428–617): »Er soll sterben, ja sterben!« (II, 595) Innerhalb dieser Rede wird die bisherige Lebensgeschichte Jesu erzählt. Satan spricht die wichtigsten Stationen der ›Vita Christi‹ an, um die gefallenen Engel von der Notwendigkeit der Vernichtung »des Stolzen« (II, 456) zu überzeugen: die Verkündigung der Geburt Jesu an Maria durch den Engel Gabriel, die Geburt des Christuskindes in Bethlehem, die Flucht nach Ägypten vor der Ermordung der Säuglinge durch Herodes, die Jugend Jesu und seine Begegnung mit Johannes dem Täufer am Jordan, das Wunder der Auferweckung von Toten durch den Messias sowie seinen Plan der Sündenerlösung. Innerhalb dieser Rede Satans finden sich demnach nicht nur eine Analepse, sondern auch eine Prolepse, d. h., es wird nicht nur die Vergangenheit der epischen Hauptfigur nachgeholt, sondern es werden auch Hinweise auf den Fortgang des epischen Geschehens gegeben. Damit dient diese Rede nicht nur der Charakterisierung Satans, sondern vor allem der poetischen Darstellung des Helden des Epos, des Messias. Im IV. Gesang des Messias kommt das Synedrium, d. h. der Hohe Rat der Juden zusammen, der vom Hohepriester Kaiphas einberufen wurde, um den Tod Jesu endgültig zu beschließen. In den gehaltenen Reden offenbaren sich die Charaktere entweder als Feinde oder als Freunde des Messias:845 Der korrupte 844 Beispiele für Wechselgesänge mit der jeweiligen Angabe der Sänger und Sängerinnen im Messias sind: X, 480–523 Debora und Mirjam (D., M.); XIII, 227–263 Jesaja und Daniel (J., D.); XV, 1249–1360 Maria und Eva (M., E.); XVII, 704–726 Cidli und Semida (C., S.); XIX, 408–490 Maria Magdalena und Maria (MG., M.). 845 Gerhard Kaiser charakterisiert die epischen Figuren des IV. Gesanges des Messias folgendermaßen: »Neben Kaiphas, dem schlauen Heuchler, Gamaliel, dem vorsichtigen Zauderer, Nikodemus, dem klugen und tapferen Bekenner, Joseph von Arimathia, dem ängstlichen Christusfreund, steht Philo als der wilde, bedingungslose Hasser.« (Kaiser : Klopstock. Religion und Dichtung, S. 237.) In dieser Analyse sind ihm allerdings zwei Fehler unterlaufen, da Philo im Messias ausdrücklich als »Heuchler« (IV, 174) bezeichnet wird und nicht Kaiphas. Zudem erscheint wohl eher Joseph von Arimathäa als »ängstlicher Zauderer« und nicht Gamaliel. Kaiser betont in seiner grundlegenden Studie über Klopstocks »heilige Poesie«, dass die Personen des Bibelepos »weniger miteinander [ringen], als daß sie sich monologisch mit der Gestalt Christi auseinandersetzen [würden]«. (Ebd.) Die Beratung im Synedrium werde damit »zu einem Ausströmen von Gefühlen mit verteilten Rollen, die

Reden

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Sadduzäer Kaiphas (IV, 24–100) »steht für einen ritualistischen Klerikalismus, der nur auf den politischen Machterhalt bedacht ist und in der reformatorischen Bewegung des Nazareners eine Bedrohung sehen muss«.846 In Philo, dem heuchlerischen Pharisäer und brutalen Dogmatiker, (IV, 109–175, 266–377) »karikiert Klopstock dagegen die engstirnige Orthodoxie und den religiösen Fanatismus«.847 Die Verteidiger Jesu, Gamaliel (IV, 186–224) und Nikodemus (IV, 229–266, 377–551), sind ahistorische Gestalten, d. h., sie »nehmen die modernistischen Weltanschauungen der Zeit Klopstocks vorweg«848. Gamaliel wird als rational denkender Weiser charakterisiert, der dem »Sturme des grimmigen Zorns« explizit »die Vernunft« (IV, 188) entgegensetzen will. Er fordert, dass Gott selbst über den Messias Gericht halten solle, nicht die Menschen. Nikodemus wird als hochgebildeter, menschenfreundlicher und empfindsamer Mann beschrieben, der durch »die Stimme des Weinens« (IV, 254) und durch »für die Unschuld j Menschlich vergossene Thränen« (IV, 255f.) versucht, die Herzen seiner Zuhörer zu bewegen. Joseph von Arimathäa wird zwar als »ein Weiser« (IV, 18) eingeführt, aber als ängstlicher und unentschlossener Freund Jesu traut er sich offenbar nicht für den Messias zu sprechen (vgl. IV, 574–579). Der Hallenser Ästhetiker Meier beurteilt das Synedrium als Kopie »des Original-Conciliums in der Hölle«.849 Damit wiederholt sich auf menschlich-irdischer Ebene (IV. Gesang), was sich zuvor auf der höllischen Ebene (II. Gesang) abgespielt hat: Der Tod des Messias wird von seinen Gegnern einstimmig beschlossen. Zudem glaubt der zeitgenössische Kritiker, Analogien zwischen den fiktiven Charakteren Kaiphas und Satan sowie zwischen Philo und Adramelech zu erkennen.850 Die Rede des Priesters Kaiphas sei »voller Hochmuth, Herrschsucht, Bitterkeit, und Enthusiasterey«.851 Philo übertreffe als abergläubischer Fanatiker diesen jedoch in seinem unerschrockenen, grimmigen Zorn

846

847 848 849 850 851

verschiedene Möglichkeiten der Reaktion auf den Messias verdeutlichen«. (Ebd.) Die Charaktere würden sich »in Bewunderung oder Haß« für den Messias abreagieren. Ihre »Gefühlsergüsse« seien »zwar rhetorisch gefärbt, aber in ihrer oft wilden Explosivität und ausschweifenden Sentimentalität« würden sie doch »die Grenzen der eigentlichen rhetorischen, auf Zweck und Ziel gerichteten Haltung« sprengen. (Ebd.) Kaiser erkennt demnach die Sprache des ›natürlichen‹ Affekt-Ausdrucks in den Figurenreden des Messias, ohne sie selbstredend als solche zu bezeichnen. Wolf-Daniel Hartwich: Das Judentum im christlich-politischen Gesamtkunstwerk des 18. Jahrhunderts: Friedrich Gottlieb Klopstock und Carl Philipp Emanuel Bach. In: Klopstock und die Musik. Hrsg. v. Peter Wollny. Beeskow 2005. (Ständige Konferenz Mitteldeutsche Barockmusik in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen e.V.; Jahrbuch 2003.) S. 201–216, hier S. 202. Ebd. Ebd., S. 203. Meier : Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias. Zweytes Stück, S. 72. Vgl. ebd. Ebd., S. 75.

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und offenbare eine »entsetzliche Feindschaft wider den Meßias«.852 Gamaliels Rede sei »voller Weisheit, Mäßiggung und wahren [!] Gottesfurcht«, und aus der Rede des Nikodemus »leuchte[.] ein edler Muth hervor, und eine gemäßigte Unerschrockenheit«.853 Philo ist für Meier die Personifikation des Lasters, Nikodemus hingegen der Tugend.854 Der rhetorische Schlagabtausch zwischen Nikodemus und Philo wird von ihm erstaunlicherweise allegorisch als »Triumph der Tugend über das Laster« ausgelegt.855 Die in den Figurenreden »angelegte Multiperspektivität der Erzählung« ist typisch für die Gattung Epos856, doch die Besonderheit der Hexameterdichtung Klopstocks besteht darin, dass das Fokalisierungsobjekt stets der epische Held ist. In den affektvollen Figurenreden spiegelt sich folglich »die Zentralgestalt des Erlösers« von allen Seiten, d. h., die Charaktere des Messias »sind die Medien, in denen die Lichtgestalt Christi unzählige Brechungen erfährt«.857

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Gleichnisse gehören zu den Standardelementen der literarischen Gattung Epos. Sie finden sich an zahlreichen Stellen im Heldengedicht und dienen meist der Retardation.858 »Besonders wichtige Ereignisse [in der epischen Handlung] werden durch besonders ausführliche Gleichnisse hervorgehoben«.859 Auch Gleichnisketten kommen in den homerischen Epen und in Vergils Aeneis vor, so wird beispielsweise in der Ilias der erste Auszug des griechischen Heeres in die Schlacht um Troja mit fünf aneinandergereihten Gleichnissen illustriert (2. Gesang, V. 455–483).860 In den homerischen Gleichnissen wird der Stoff aus dem einfachen »Leben der Hirten und Jäger« genommen, d. h., der antike Epiker beschreibt »charakteristische Vorgänge aus der Tierwelt, Naturerscheinungen und allgemein menschliche Situationen«.861 Unter einem Gleichnis »versteht man begrifflich einen ausgeführten Vergleich eines Phänomens der epischen Handlung mit einem Phänomen aus einem an852 853 854 855 856 857 858 859 860 861

Ebd., S. 76. Ebd., S. 79. Vgl. ebd., S. 83f. Ebd., S. 87. Rengakos / Zimmermann (Hrsg.): Homer-Handbuch, S. 72. Kaiser : Klopstock. Religion und Dichtung, S. 238. Vgl. Rengakos / Zimmermann (Hrsg.): Homer-Handbuch, S. 71. Ebd. Vgl. ebd. Bernd Heininger : [Art.] Gleichnis, Gleichnisrede. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. v. Gert Ueding. Bd. 3. Tübingen 1996. Sp. 1000–1009, hier Sp. 1001.

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deren Gegenstandsbereich«.862 Der klassische Aufbau eines epischen Gleichnisses lässt sich schematisch folgendermaßen beschreiben: (A) die Erzählung, die in einen Stichsatz mündet (res, Vergleichs-›Subjekt‹, Gegenstand, Apodosis); es folgt (B) das Wie-Stück (das eigentliche Gleichnis; similitudo, Vergleichs-›Objekt‹, Protasis, Vergleichsbildinhalt); dann führt (C) das So-Stück (Vergleichung, Antapodosis, ›Prädikat‹) in die Handlung zurück; oft wird diese noch weiter ausgeführt als (D) weiterführender Kontext (Apodosis 2).863

Das »Wie-« (B) und das »So-Stück« (C) sind gekoppelt durch das den beiden Teilen Gemeinsame, das in der älteren Eposforschung als ›tertium comparationis‹ bezeichnet wird.864 Der Umfang eines Gleichnisses lässt sich nicht immer exakt bestimmen, da der C-Teil, das »So-Stück«, weit in den Kontext der epischen Handlung hineinreichen kann.865 In diesem Fall verselbstständigt sich das Gleichnis gewissermaßen und lässt sich folglich auch nicht auf einen einzigen gemeinsamen Punkt reduzieren, in dem sich »So-Teil (Handlungskontext C) und Wie-Teil (Welt im Gleichnis B) berühren«.866 Längere Gleichnisse stellen meist eigene, in sich abgeschlossene kleine Erzählungen dar, die dem Rezipienten sowohl Analogien als auch Kontraste zum epischen Geschehen bieten können.867 Die »Phänomene der Natur (Naturgewalten, Tiere und Pflanzen) und der menschlichen Alltagstätigkeiten (Landwirtschaft, Jagd, Arbeiten)« erweisen sich inhaltlich als bewusste »Abwechslung und Ablenkung« zum kämpferischen Kriegerleben der adligen Heroen.868 Breitinger hat sich in seiner Critischen Abhandlung von der Natur, den Absichten und dem Gebrauche der Gleichnisse. Mit Beyspielen aus den Schriften der berühmtesten alten und neuen Scribenten erläutert (1740) umfassend mit diesem Element poetischer Bildlichkeit auseinandergesetzt. Laut dem Schweizer Kritiker benötigt ein Dichter, um Ähnlichkeiten zwischen Dingen erkennen zu können, neben einer lebhaften ›Einbildungskraft‹ auch »Witz oder Geist, Lateinisch Ingenium, und Französisch Esprit genannt«, d. h. eine rationale Fähigkeit.869 In den ersten vier Kapiteln seiner Abhandlung unterscheidet er diverse Arten von Gleichnissen jeweils nach ihrer poetischen Funktion: die »er862 Suerbaum: Vergils Aeneis, S. 274. 863 Ebd. In dieser Forschungsarbeit werden alle epischen Gleichnisse nach diesem »Bauschema« interpretiert, das Werner Suerbaum in seiner Studie über Vergils Aeneis formuliert hat. 864 Vgl. ebd. 865 Vgl. zur kritischen Frage der Umfangsbestimmung eines Gleichnisses: Ebd., S. 276f. 866 Ebd., S. 277. 867 Vgl. Rengakos / Zimmermann (Hrsg.): Homer-Handbuch, S. 71f. 868 Ebd., S. 71f. 869 Breitinger : CAG, S. 9.

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leuchtenden« (Kap. 1), »auszierenden« (Kap. 2), »nachdrücklichen« (Kap. 3) und »lehrreichen« (Kap. 4) Gleichnisse.870 Die Intention der »erleuchtenden Gleichnisse« (Kap. 1)871 bestehe darin, dass »sie einen Gedancken in ein volles Licht setzen, damit der Leser von demjenigen was man vorstellig machet, einen deutlichern und lebhaftern Eindruck bekomme«.872 Sie dienen demnach der Erläuterung und Verdeutlichung von unklaren Gegenständen, wie z. B. »alle Begriffe, welche mittelst der äusserlichen Sinne erlanget werden, als: die Begriffe von den Farben, von der Bewegung, von den verschiedenen Arten des Thons, des Geruches, des Geschmackes, des Gefühles«.873 Breitinger bemerkt zu den ›Gleichnis-Bildern‹, die eine Aktion veranschaulichen sollen: Wenn ich z. E. nicht die Art, sondern die Schnelligkeit der Bewegung beschreiben will, so kan solches nicht anderst, als durch eine Vergleichung mit andern Dingen, denen eine Bewegung zukömmt, geschehen; wenn diese andere Bewegung das Maß zu derjenigen, die ich beschreiben soll, abgiebt.874

Er zitiert für die Art der »erleuchtenden Gleichnisse« Beispiele aus Homers Odyssee (5. Gesang, V. 278–281, V. 49–54, V. 432–435; 9. Gesang, V. 382–388, V. 391–394; 21. Gesang, V. 47–50, V. 404–409, V. 410f.; 22. Gesang, V. 383–389) und Ilias (15. Gesang, V. 80–83) sowie aus Vergils Aeneis (2. Buch, V. 222–224; 4. Buch, V. 252–258).875 Die »auszierenden Gleichnisse« (Kap. 2)876 würden »einen undeutlichen und nicht genug bestimmten Begriff durch ein bekanntes, deutliches und wohl abgemessenes Bild in sein volles Licht setzen«.877 Trockene poetische Gedanken und Begriffe, die »nichts seltenes oder verwundersames an sich haben«, bekämen durch ein passendes Gleichnis »einen Schein der Neuigkeit und Selten870 Breitinger zitiert die Gleichnis-Beispiele aus Vergils Aeneis im lateinischen Originalwortlaut. Die Beispiele aus Homers Ilias und Odyssee übersetzt er aus dem Altgriechischen in deutsche Prosa. Im Anhang seiner Abhandlung findet sich ein Register mit den jeweiligen Quellenangaben. Der Schweizer Philologe nennt zu jedem ›Gleichnis-Exemplum‹ das Buch des Epos und den jeweiligen Anfangsvers, mit dem seiner Meinung nach das eigentliche Gleichnis beginnt. Da sich die Abgrenzung eines Gleichnisses zum Kontext einer epischen Handlung nicht immer zweifelsfrei bestimmen lässt und das Festsetzen des Umfanges Auslegungssache ist, werden die folgenden Quellennachweise von mir möglicherweise nicht den Maßstäben der heutigen Homer- bzw. Vergil-Forschung entsprechen. Ich orientiere mich an Breitinger und zitiere in den Versangaben zumeist den B-Teil (»WieStück«) und den Anfang des C-Teils (»So-Stück«). 871 Vgl. ebd., S. 3–38 (1. Abschnitt: Von den erleuchtenden Gleichnissen). 872 Ebd., S. 13. 873 Ebd., S. 14. 874 Ebd., S. 32. 875 Vgl. ebd., S. 18–38. 876 Vgl. ebd., S. 39–63 (2. Abschnitt: Von den auszierenden Gleichnissen). 877 Ebd., S. 41.

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heit«.878 Diese Art der zur belebenden Ausschmückung dienenden Gleichnisse erläutert Breitinger insbesondere durch Beispiele aus Homers Ilias (8. Gesang, V. 555–561; 11. Gesang, V. 61–66; 13. Gesang, V. 701–708; 23. Gesang, V. 453– 455).879 Ein Dichter müsse allerdings bei der Anwendung »dieses Zierrathes« sowohl »Kargheit« als auch »Verschwendung« vermeiden.880 Die »nachdrücklichen Gleichnisse« (Kap. 3)881 könnten »einem Gedancken Nachdruck und Gewicht, und einen mercklichen Zusatz an Kraft und Leben [mit]theilen, dergestalt daß derselbe sich in das Gemüth tief genung eindrücket«.882 Diese Art der Gleichnisse dient demnach der emphatischen Intensivierung an den für den Dichter besonders wichtigen, affektvollen Stellen der poetischen Darstellung: Wenn auch ein Verfasser, zumahl in einer Bewegungs-vollen Schrift, sich einmahl von dem Gemüthe des Lesers Meister gemachet, so lieget ihm dann weiter ob, die angenehme Unruhe des Affects, in welchen er ihn gesetzet, zu unterhalten, denselben auf einen gewissen Grad zu erhöhen und auf ändernde Weisen anzugreiffen. Nun kan dieses nicht besser geschehen, als mittelst herrlicher und schöner Bilder, welche uns solche Umstände lebhaft vorstellen, wodurch das Gemüth kan gerühret, und der Affect angeflammet werden.883

Der poetische Nutzen der »nachdrücklichen Gleichnisse« liege darin, die verschiedenen Gemüths-Bewegungen gleichsam sichtbar zu schildern, und die besondern Grade der Höhe, auf welche eine Leidenschaft gestiegen ist, deutlich zu bestimmen, damit das Gemüthe dadurch in der angenehmen Unruhe und Aufwallung nach denen jedes mahl herrschenden Umständen unterhalten werde.884

Homer verdeutliche in seinen Gleichnissen »auch selbst die verborgensten Regungen des Hertzens«:885 Gleichwie die Odyssea uns Exempel von Gleichniß-Bildern leyhet, welche die zärtlichern und sanftern Leidenschaften zu erhöhen dienen, so wird man in der Ilias hingegen dergleichen Vorbilder von wildern und ungestümern Aufwallungen in grosser Menge wahrnehmen können. Dieses vermochte der ungleiche Character dieser beyder Gedichte. In der Ilias herrschet der Zorn und der Grimm, man sieht da aller Orten Todte und Sterbende, die Helden darinnen folgen insgemein ihren Affecten und Begierden, welche verderbliche Würckungen nach sich ziehen, und Beyspiele abgeben, wie gefährlich es sey, sich ihrer Herrschaft zu überlassen. Die Odyssea ist ruhiger und stiller, 878 879 880 881 882 883 884 885

Ebd., S. 42. Vgl. ebd., S. 49–55. Ebd., S. 62. Vgl. ebd., S. 64–109 (3. Abschnitt: Von den nachdrücklichen Gleichnissen). Ebd., S. 66f. Ebd., S. 68. Ebd., S. 77. Ebd., S. 82.

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sie sollte ein Beyspiel von Klugheit, Gelassenheit und Beständigkeit vorweisen, und der Held darinnen ist ein Bild der Tugend.886

Breitinger zitiert in diesem Kapitel Gleichnisse aus Homers Odyssee (5. Gesang, V. 394–398; 8. Gesang, V. 521–531; 13. Gesang, V. 31–35; 17. Gesang, V. 518–521; 22. Gesang, V. 302–309; 23. Gesang, V. 233–239), Ilias (3. Gesang, V. 33–37; 14. Gesang, V. 16–22; 15. Gesang, V. 618–622, V. 623–629) und Vergils Aeneis (2. Buch, V. 301–308, V. 355–360, V. 377–382, V. 494–499, V. 624–631; 4. Buch, V. 441– 446).887 Die Verdeutlichung der innerseelischen Vorgänge in den Gleichnissen der antiken Epen wird von Breitinger offenbar sehr bewundert. Er bemerkt zu seinen ausgewählten Beispielen: Auch kan man bey alle denen angeführten Stellen dieser rechtschaffenen Poeten des Homers und Virgils überhaupt anmercken, daß sie die Natur der Leidenschaften des menschlichen Gemüthes nicht alleine nach ihrem innerlichen Grund und ihren Würckungen, sondern auch in ihrer Zeugung und Ursprung völlig eingesehen, und daher allemahle, so oft sie eine Gemüths-Bewegung nach ihrer Beweg-Ursache beschreiben wollen, gewußt haben, eine Leidenschaft, je nachdem es der absonderliche Zweck an einem Orte so oder anderst erfoderte, nach ihrem Belieben biß auf einen gewissen Grad zu führen und zu erheben, wie auch in einem erdichteten ähnlichen Falle diejenigen Umstände aufzumützen, welche eine Person nach ihrem Stand und Umständen am schnellesten und häftigsten zu rühren vermochten.888

Die bildhafte Veranschaulichung eines heftigen Affekts im Epos beschäftigt den Züricher Kritiker insbesondere: Noch giebts gewisse Leidenschaften, so sich schwerlich in der Brust verschliessen lassen, und sich nicht bloß durch geringe und ungewisse Merckmahle in den Gliedmassen erzeigen, wie die Freude, die Bestürtzung, das Schrecken und andere thun, sondern so bald sie im Hertzen erzeuget sind, mit Ungestüm hervor- und loßbrechen, und sich durch schädliche Würckungen offenbaren. Von dieser schlimmen Art sind alle hitzige, feindselige und wilde Neigungen; Z. E. die Verwegenheit, die Ungedult, die Rache, die Wuth und so fort. Diese Gemüths-Bewegungen haben gleichermassen ihre verschiedenen Grade und Stafeln, welche sich eben durch die besagten Gewalt-übenden Würckungen am deutlichsten entdecken […].889

In der poetischen Beschreibung dieser Affekte, »wann man einen gewissen Grad ihrer Höhe genau bestimmen, oder nachdrücklich erhöhen [wolle]«, komme es hauptsächlich darauf an, dass »man in einem richtigen Bild die gewaltthätige und meistentheils verderbliche Würckungen solcher Gemüths-Bewegungen 886 887 888 889

Ebd., S. 89. Vgl. ebd., S. 70–108. Ebd., S. 96. Ebd., S. 97f.

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nach denen dabey vorkommenden, vergrössernden Umständen in dem rechten Masse lebhaft abbilde«.890 Es bestünden hier zwei Möglichkeiten: Entweder entlehnet man diese Bilder von solchen Wesen so einer gleichen Neigung unterwürffig sind, und welchen diese wilden und schädlichen Leidenschaften von Natur angestammet sind, und gleichsam für eigen zugehören, ich meine die Thiere: Oder von gewissen Dingen, so zwar für sich selbst keiner Leidenschaft fähig sind, jedoch nichtsdestoweniger eben dergleichen verderbliche Würckungen zeugen können; welche öfters Werckzeuge der Rache sind, womit die Hand des Allmächtigen auf die verruchten Menschen schlägt. Z. Ex. der Wind, der Donner, der Hagel, das Feuer, das Wasser, und s. f.891

Eine intensive Emotion, die mit Aggression verbunden ist, soll demnach durch ein Gleichnis illustriert werden, dessen Stoff aus der Tierwelt oder aus dem Bereich der Naturgewalten genommen wird. Die »lehrreichen Gleichnisse« (Kap. 4)892 dienen, wie der Name schon sagt, »zu unterrichten«.893 In dieser Art der Gleichnisse sei es die erste und vornehmste Absicht eines Verfassers bey Veranlassung eines Gedanckens, den die Materie an die Hand giebt, einen andern eben so lehrreichen Satz und Gedancken, welcher mit dem erstern eine gewisse Aehnlichkeit hat, in die Rede einfliessen zu lassen, und dadurch noch eine Wahrheit zu lehren, welche doch eigentlich zu dem Haupt-Zweck der Schrift nicht gehörte.894

Das »Gleichniß-Bild« sei hier »ein angenommener philosophischer, moralischer, oder politischer Satz«, der bekannter sei als derjenige, mit dem er verglichen werde, so dass derartige Gleichnisse jedes Mal »zwey ähnliche Sätze, Urtheile, Absichten, oder auch moralische Handlungen vorstellen« würden.895 Breitinger nennt hierfür u. a. zwei Beispiele aus Horaz’ Ars Poetica (V. 419f., V. 431–433).896 Das fünfte Kapitel handelt von »der Vereinigung der Absichten in einem Gleichniß«897, d. h. von der Verbindung mehrerer der genannten poetischen Funktionen in einem ›Gleichnis-Bild‹. Breitinger hatte ja in den vorigen Kapiteln ausgeführt, dass »die Gleichniß-Bilder dienen können einen Gedancken zu erklären, oder auszuzieren, oder nachdrücklich zu erhöhen, oder endlich uns von 890 891 892 893 894 895 896 897

Ebd., S. 98. Ebd., S. 98f. Vgl. ebd., S. 110–131 (4. Abschnitt: Von den lehrreichen Gleichnissen). Ebd., S. 113. Ebd., S. 114f. Ebd., S. 115. Vgl. ebd., S. 131. Vgl. ebd., S. 132–159 (5. Abschnitt: Von der Vereinigung der Absichten in einem Gleichniß).

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einer Wahrheit zu unterrichten«.898 Würden mehrere Absichten in einem Gleichnis vereint werden, werde das Bild erst vollkommen.899 Gleichnisse, die diese Qualität hätten, fänden sich zum einen in der Ilias (2. Gesang, V. 144–149; 4. Gesang, V. 141–147, V. 482–489; 11. Gesang, V. 267–272; 16. Gesang, V. 384– 393, V. 482–485; 17. Gesang, V. 50–60; 20. Gesang, V. 403–406; 21. Gesang, V. 257–264) und zum anderen in der Aeneis (1. Buch, V. 148–156; 2. Buch, V. 222– 224).900 Das sechste Kapitel erläutert den »rechten Ort und Sitz der Gleichnisse«.901 Ein Gleichnis könne dazu dienen, »den Schwung, die Grade und Würckungen einer Gemüths-Leidenschaft deutlich und nachdrücklich abzubilden«, aber es sei in einer affektvollen Rede nicht richtig angebracht.902 In die Sprache des ›natürlichen‹ Affekt-Ausdrucks, die sich nicht an syntaktische Regeln halte, sondern sich abgebrochener Sätze bediene und beispielsweise Exklamationen und Apostrophen verwende, würden keine ›künstlichen‹ Gleichnis-Bilder gehören: Die Gleichnisse werden formiert, indem die Einbildung dem Verstande mancherley Bilder gerade zu vorleget, welche er dann gegen einander hält, und aus ihrer Vergleichung dasjenige, worinne sie einander ähnlich sind, sorgfältig hervorsuchet: Nun ist dieses wohl unleugbar die Arbeit eines ruhigen Geistes. […] Wann das Gemüth erhitzet ist, so hört alle Kunst und Verstellung auf, die Vernunft ist gefesselt, die ungestümen Triebe der Natur brechen mit Gewalt hervor, aller Zierrath und weitgesuchter Schmuck wird als etwas Nichtswürdiges weggeschmissen und mit Füssen getreten […].903

Homer und Vergil hätten dies erkannt und sich in ihren Epen an diese Regel gehalten: In ihren Erzehlungen oder Beschreibungen, wo der Poet oder eine andere Person bey gesetztem und stillem Gemüthe redet, lebet alles bey der Menge Bilder und Gleichnisse; aber so bald die Leidenschaft, womit ein Held eingenommen ist, selbst als redend eingeführet wird, können wir nicht ohne Verwunderung wahrnehmen, was vor ein grosser Unterscheid zwischen der Sprache des Geistes und der Ausdruckung des Hertzens befindlich ist, wann dort die Kunst und hier die Natur redet. Wahrhaftig, man wird da keine gekünstelten Zierrathen von ausführlichen Gleichnissen antreffen.904

Die Beispiele zur Erläuterung seiner Regel über die angemessene Verwendung von Gleichnissen in den Figurenreden und in dem Erzählerbericht im Epos entnimmt Breitinger wiederum der Ilias Homers (3. Gesang, V. 192–198, V. 216– 898 899 900 901 902 903 904

Ebd., S. 136. Vgl. ebd., S. 134f. Vgl. ebd., S. 137–159. Vgl. ebd., S. 160–189 (6. Abschnitt: Von dem rechten Ort und Sitz der Gleichnisse). Ebd., S. 165. Ebd., S. 166f. Ebd., S. 168f.

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224; 9. Gesang, V. 321–327; 12. Gesang, V. 162–172; 16. Gesang, V. 7–19) und der Aeneis Vergils (4. Buch, V. 300–303).905 Der altgriechische Ependichter wird als absoluter ›Meister‹ auch in der Setzung der Gleichnisse an den richtigen Stellen der epischen Handlung angesehen: Homerus hat in seinen Gedichten die Sprache der Affecte und des Geistes sehr geschickt zu vermengen gewußt. Wann er, als einer der sich bey der Handlung seiner Helden nicht anderst als ein Kundschafter und Mahler befindet, die Kleidung, die Gebehrden, die Bewegung, die Stellung, den Affect, die Verrichtungen derselben, in seiner eigenen Person beschreibet, so ist er an Bildern, Gleichnissen, und andern figürlichen Zierrathen der Phantasie überaus reich: Hingegen wird man in den Reden seiner Personen, welche er nicht sparsam, und doch auf so verschiedene als Hertzrührende Weise eingeführt hat, dergleichen Bilder oder Gleichnisse nicht antreffen; da redet die Natur ohne Kunst, so wie es ihr die Hitze eines gewissen Affectes befiehlt; der Witz des Poeten darf sich hier nicht einmengen.906

Im achten Kapitel seiner Abhandlung setzt sich der Schweizer mit der angemessenen Anzahl von Gleichnissen in einem Gedicht auseinander907 und bekennt sogleich, dass es ihm unmöglich sei, dies näher zu bestimmen, da »die Zahl und das Maß« vom jeweiligen Text abhänge.908 Er wiederholt nochmals, dass sich insbesondere ausführliche »Gleichniß-Bilder« am wenigsten für die pathetisch-erhabene Schreibart, »wo die erhitzte Leidenschaft selbst als redend eingeführt [werde], und wo großmüthige Meinungen und Entschlüsse vorgetragen werden«, eignen würden.909 Gleichnisse passten daher auch besser in das Epos als in die Tragödie. Breitinger warnt entschieden vor einem Übermaß an Gleichnissen, was für den »verdorbene[n] Hoffmannswaldauische[n] und Lohensteinische[n] Geschmack« typisch gewesen sei.910 Die deutschsprachigen Dichter hätten den spätbarocken Schwulst inzwischen glücklicherweise größtenteils aus ihren poetischen Schriften verbannt, allerdings hätte dies dazu geführt, dass einige »so seicht, dürr und trocken geworden, und in eine so niedrige Plattheit verfallen [seien]«, dass sie regelrecht »kriechen« würden.911 Der »Mangel und die Kargheit« seien ebenso ›ekelerregend‹ wie »die Verschwendung«, da eine zu geringe Anzahl an Gleichnissen »einen frostigen und witzlosen Kopf« verrate.912 Der Barockdramatiker Daniel Casper von Lohenstein (1635–1683), der für die Kri905 906 907 908 909 910 911 912

Vgl. ebd., S. 169–189. Ebd., S. 179f. Vgl. ebd., S. 237–276 (8. Abschnitt: Von dem Masse [!] und der Zahl der Gleichnisse). Ebd., S. 244. Ebd., S. 244f. Ebd., S. 245. Ebd., S. 246. Ebd., S. 246f.

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tiker der Aufklärung der Inbegriff des Schwulsts, d. h. des überladenen und undeutlichen sprachlichen Stils war, habe »weniger durch die Menge und den Uberfluß« an Gleichnissen »als wegen ihrer ungeschickten Art und Ausführung Verdruß und Eckel verursachet«.913 Wiederum zieht Breitinger Beispiele aus der Ilias Homers heran (2. Gesang, V. 144–149, V. 455–477; 14. Gesang, V. 392–401; 20. Gesang, V. 490–503; 21. Gesang, V. 12–26)914, da er »den Reichthum des Poeten, und das geschickte Ebenmaß seiner Bilder« bewundert.915 Der Züricher Philologe behandelt hier das Thema der Gleichnisketten im Epos und betont, dass »an gewissen Orten ohne Abbruch der Harmonie und der Vollkommenheit zwey und mehr Gleichnisse nach einander gesetzt« werden könnten.916 Ebenso könne und solle man zwei oder mehr ›Gleichnis-Bilder‹ aufeinanderfolgen lassen, wenn sie dazu dienen würden, »zwey oder mehrere verschiedene Stücke in einer Sache zu erklären«.917 Homer wird im neunten Kapitel, das von »der Neuheit der Gleichniß-Bilder« handelt, als Erfinder des Gleichnisses gewürdigt.918 Trotz der ungünstigen Zeitumstände, in denen der archaische Dichter lebte, habe er sich ein immenses Wissen angeeignet: Bey aller der Einfalt, Unwissenheit und Armuth dieser rohen Zeiten finden wir dennoch im Homer eine mehr als gemeine Gelahrtheit, Reichthum und Pracht. Wenn ihr die Menge der Gleichniß-Bilder, mit welchen er die Erzehlungen und Beschreibungen in seiner Ilias und Odyssea so häuffig ausgezieret hat, mit Aufmercksamkeit betrachtet, so könnet ihr euch über die weitläuftige Erkänntniß in allen Künsten und Wissenschaften, welche dieser vortrefliche Mann nur in diesem einzigen Theile der Wohlredenheit an den Tag leget, und damit die Armuth und Unwissenheit seiner Zeiten zu verbergen und zu überwinden gewußt hat, nicht genung verwundern; […].919

Breitinger beklagt jedoch dezidiert »die Armuth an Erfindung« bei den zeitgenössischen Dichtern.920 Als optimistischer Aufklärer, der von einem linearen Fortschritt in den ›schönen Künsten und Wissenschaften‹ ausgeht, listet er die poetischen Möglichkeiten auf, die sich den Poeten und Rednern des 18. Jahrhunderts in Bezug auf den Stoff eröffnen würden: Die Menschheits- und Weltgeschichte weise einen Zuwachs von fast 3.000 Jahren seit Homer auf; Amerika mit seiner vielfältigen Tierwelt und den fremden Völkern, die ganz andere Sitten und Gebräuche hätten, sei neu entdeckt worden; das Wissen um einen koper913 914 915 916 917 918 919 920

Ebd., S. 247. Vgl. ebd., S. 247–258. Ebd., S. 251. Ebd., S. 258. Ebd. Vgl. ebd., S. 276–309 (9. Abschnitt: Von der Neuheit der Gleichniß-Bilder). Ebd., S. 282. Ebd., S. 286.

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nikanischen Kosmos mit seiner unendlichen Zahl neuer Planeten, die sich um die Sonne bewegen, habe sich inzwischen durchgesetzt; Kompass, Fernrohr, Mikroskop, Schießpulver, Kanonen und Buchdruck seien erfunden worden.921 Ein mit ›Einbildungskraft‹ begabter, schöpferischer Poet könne demnach eine Vielzahl neuer ›Gleichnis-Bilder‹ erdichten, wenn er den Erkenntnisfortschritt literarisch nutzen würde. Der Züricher Kritiker prangert entschieden diejenigen zeitgenössischen Dichter an, die »den Ruhm alleine in der knechtischen Nachahmung des grossen Poeten des Alterthums« suchen und »gar darüber der [!] Religion, der Sitten, der Gebräuche und der Lebens-Art ihrer eigenen Zeiten« vergessen würden.922 Da deren »Gehirn an eigener Wissenschaft und OriginalBildern leer [sei]«, müssten sie, »wenn sie nicht stumm seyn wollen, ihre Schriften mit geborgten und entwendeten Bildern aus[zieren]«.923 Im Vergleich mit dem vorbildhaften »Original-Geist«924 Homer schneiden die bisherigen Autoren der Frühaufklärung denkbar schlecht ab: Da Homer bey dem schwachen Licht der Erkenntniß seiner Zeiten die Geschicklichkeit gehabt hat, so vortreffliche Wercke hervorzubringen, so müssen wir billig schliessen, daß er nach seinem ungemeinen Geist seine Gemählde ungleich mehr würde abgeändert, und sich selber weit übertroffen haben, wenn er alle die Vortheile hätte haben können, welche unsere Zeit-Umstände den heutigen Scribenten umsonst zugetheilet haben. Hingegen klagen die neuern Dichter ohne Ursache, daß Homer alle Quellen der Wohlredenheit erschöpfet, und ihnen nichts als das Lob der Nachahmung überlassen habe; denn da sie bey der grossen durch das Aufnehmen der Wissenschaften erfolgeten Veränderung der Religion, der Natur, der Sitten und Gewohnheiten an Erfindung gantz unfruchtbar, und mitten in diesem neuen Licht fast blind sind, wie geringe würde fürwahr ihre Erkenntniß, und wie kahl ihre Schriften bey dem düstern Schimmer der Homerischen Zeiten geblieben seyn!925

Breitinger bekennt, dass er in den Vorarbeiten für diese Abhandlung die Ausdauer gehabt habe, »alle Gleichniß-Bilder, welche sich in […] der Ilias und der Odyssea befinden, unter gewissen Titeln zusammenzutragen«, wodurch er imstande gewesen sei, »nicht allein von ihrer Art, Menge und Verschiedenheit gründlich zu urtheilen, sondern auch die Stellen anzuzeigen, von welchen die neuern Scribenten ihre Bilder, mit welchen sie doch als mit ihrem Eigenthum prangen, gewaltthätiger Weise heruntergerissen« hätten.926 Er habe schnell erkannt, dass die ausführlichen Gleichnisse in den Schriften der heutigen Poeten 921 Vgl. ebd., S. 286–289. Vgl. Annegret Pfalzgraf: Eine Deutsche Ilias? Homer und das ›Nibelungenlied‹ bei Johann Jakob Bodmer. Zu den Anfängen der nationalen Nibelungenrezeption im 18. Jahrhundert. Marburg 2003. S. 30. 922 Breitinger : CAG, S. 290. 923 Ebd. 924 Ebd., S. 277. 925 Ebd., S. 292f. 926 Ebd., S. 293.

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»meistentheils nur Copien derer Originalien in dem grossen Homer [seien]«.927 Eine nahezu wörtliche Übernahme fremder Gleichnisse in das eigene Gedicht, ohne diese als Zitate zu kennzeichnen, verdammt Breitinger als Plagiat.928 Er kritisiert den Diebstahl geistigen Eigentums für seine Zeit ungewöhnlich scharf: »Der Gedancken-Diebstahl ist mit eben so viel Ungerechtigkeit begleitet, als der Raub von Geld und Gut.«929 Breitinger äußert die Hoffnung, dass die Dichter der deutschen Nation »sich künftighin ein Bedencken machen werden, dem Homer so offenbar seinen Schmuck zu entwenden, und mit demselben, als mit ihrem eigenen zu prangen«.930 Sicherlich werde das Musterbeispiel des Epikers aus dem antiken Griechenland bei den heutigen Dichtern »einen fruchtbarn Ruhm-Eifer« erwachsen lassen, und sie würden ihre Schriften künftig »mit neuen Bildern auszieren, von welchen Homer zu seiner Zeit nichts gewußt [habe], die nicht alleine wegen ihrer Richtigkeit, sondern vornehmlich auch wegen ihrer Neuigkeit belustigen können«.931 Eine Gefahr sieht der Schweizer Kritiker lediglich darin, dass sich die Poeten der Aufklärung weiterhin Vergils Aeneis zum Vorbild nehmen könnten, hatte doch der römische Nationalepiker Homers Gleichnisse stets imitiert: Allein da ich förchten muß, daß das Ansehn und Exempel des Virgilius meiner gefaßten Hoffnung hinderlich seyn, und unsere heutigen Dichter […] in dem schädlichen Wahn unterhalten mögte, daß sie so wohl als dieser Römische Poet das Recht haben, sich mit Homerischen Stellen als einer rechtmässigen Beute zu bereichern und zu schmücken, so muß ich ihnen nochmahls zu Gemüthe führen, daß gleichwie eine Copie niemahls ihrem Original zukommt, also auch das Lob eines Ubersetzers weit geringer ist, als das Lob eines Verfassers; daß die Gedancken mit besserm Recht ein Eigenthum genannt werden, als die äusserliche Habe, und folglich die Entwendung derselbigen niemahls erlaubet sey, sondern allemahl eine Vorrükung der eigenen Dürftigkeit mit sich führe; daß ein solcher Raub eben so wenig kan verborgen gehalten werden, als des Raben in der Fabel, der sich zu seinem grösten Schimpf in dem geborgten Feder-Schmuck zu den prächtigen Pfauen gesellet hatte.932

Breitinger verweist an dieser Stelle auf das antike Traktat Vom Erhabenen und auf das Konzept der ›aemulatio‹ von [Pseudo-]Longinus (13, 2 und 14, 1–2) (vgl. Kap. 4.1). Er betont, dass die »Nachahmung oder Nacheiferung […] von dem Diebstahl weit unterschieden [sei]«:933

927 928 929 930 931 932 933

Ebd. Vgl. Pfalzgraf: Eine Deutsche Ilias?, S. 30. Breitinger : CAG, S. 303. Vgl. Pfalzgraf: Eine Deutsche Ilias?, S. 30. Breitinger : CAG, S. 303f. Ebd., S. 304. Ebd., S. 304f. Ebd., S. 306.

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Ich setze hinzu, daß man sich bey Unternehmung eines grossen Gedichtes fragen sollte: Wie würde wohl Homer eben dieses ausdrücken, wenn er jetzo leben sollte? Woher würde er wohl ein bequemes und geschicktes Bild entlehnen, wenn so viele reiche Quellen der Erfindung, welche der menschliche Verstand in diesen letztern Zeiten entdecket hat, vor ihm offen stühnden?934

Es wird also auch hier von einem zeitgenössischen Ependichter gefordert, dass er sich bei der Erfindung von Gleichnissen in den ›Geist‹ Homers einfühle und etwas Eigenes und vor allem Neues schaffe. Vergil, der für den Züricher Kritiker der Prototyp eines Nachahmers ist, wird daher folgendermaßen beurteilt: Ich will zwar meines Theils Virgil auch davor dancken, daß er uns manche Stelle der Alten, die sonst in Gefahr gestanden wäre, verlohren zu gehen, in seinem vortrefflichen Gedicht aufbehalten, und von der Vergessenheit gerettet hat; alleine ich glaube nicht, daß derselbe deßwegen von den Nachkommen Danck erwartet habe, da es eine Gutthat ist, an die er schwerlich wird gedacht haben; welche ihm auch, so sie ihm fälschlich angedichtet wird, mehr Schimpf als Ehre bringet. […] Im übrigen gestehe ich gerne, daß Virgil einige wenige Gleichnisse Homers mit solcher Kunst und Verstand in sein Gedicht einzuweben, und sich eigen zu machen gewußt hat, daß wir diese glückliche Nachschilderungen mehr bewundern, als ihre Originale.935

Er habe zudem die Gewissheit, dass »es leichter sey, etwas neues zu erfinden, als etwas altes auf diese Weise nachzuahmen«, und er werde »dergleichen glückliche Nachschilderungen, welche sich ein Verfasser mit eben so vieler Kunst eigen zu machen und nach seinem Vorhaben einzurichten gewußt«, wo auch immer er sie antreffe, »nicht nur dulden, sondern bewundern«.936 Breitinger zitiert in diesem Abschnitt seiner Abhandlung insgesamt fünf Gleichnisse aus der Ilias Homers (6. Gesang, V. 506–514; 13. Gesang, V. 471–477; 21. Gesang, V. 570–579) und aus der Aeneis Vergils (11. Buch, V. 492–497; 12. Buch, V. 4–9).937 Das nächste Kapitel handelt »[v]on der Abänderung der Gleichniß-Bilder« (Kap. 10)938, d. h. von der Variation des Vergleichsbildinhalts. Der Züricher Kritiker verteidigt darin Homers ›Löwen-Gleichnisse‹ in der Odyssee (4. Gesang, V. 333–340; 6. Gesang, V. 130–136; 22. Gesang, V. 401–406) und in der Ilias (3. Gesang, V. 23–28; 5. Gesang, V. 554–560; 11. Gesang, V. 113–121, V. 172–178, V. 474–488).939 Er betont anfangs, dass er den Dichter als »einen Schöpfer« ansehe, der den Reichthum seines grossen Verstandes und Wizes nicht nur in der Vielheit der künstlichen Bilder [zeige], mit welchen er seine Schriften freygebig ausschmücket, 934 935 936 937 938 939

Ebd., S. 307. Ebd., S. 307f. Ebd., S. 308f. Vgl. ebd., S. 296 und S. 303. Vgl. ebd., S. 309–325 (10. Abschnitt: Von der Abänderung der Gleichniß-Bilder). Vgl. ebd., S. 317–324.

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sondern noch mehr in der ändernden Verschiedenheit derselben, durch welche die verdrüßliche Gleichheit vermieden, und das Gemüthe des Lesers mit einem neuen Ergetzen nach dem andern angefüllet wird.940

Breitinger erläutert zudem ausführlich den schematischen Aufbau eines Gleichnisses: Wir müssen in einem jeden Gleichniß-Bilde zwey Dinge wohl von einander unterscheiden, nehmlich die Person oder Sache, von welcher das ähnliche Bild entlehnet wird, und die Eigenschaft, Bewegung, oder Handlung, nach welcher eben diese Person oder Sache mit einer andern in Vergleichung kömmt: Jetzt fraget sich, ob das Ergetzen […] von der unterschiedenen Abänderung der symbolischen Wesen, bey welchen die Gleichheit gefunden wird, oder von der abgeänderten Verschiedenheit der ähnlichen Eigenschaften und figürlichen Handlungen, die den besagten symbolischen Wesen beygelegt, und mittelst einer guten Beschreibung ausgeführet werden, herzuleiten sey. […] Der Grundstein, die Seele und das Wesen der Gleichnisse beruhet unfehlbar auf dem Tertio Comparationis, auf der Eigenschaft oder Handlung, nach welcher zwey Dinge einander ähnlich sind, zumahl sie ofte nicht das geringste mit einander gemein haben, als diesen Punct der Vergleichung. Daher rühret nun aller wesentliche Unterscheid der Gleichnisse. So bald die Umstände und Handlungen der symbolischen Wesen abgeändert werden, so bald ist das Gleichniß nicht mehr das vorige; es stellet euch zwar noch immer das vorige Bildniß, zum Exempel eines Löwen, vor; aber die neuen Umstände und Handlungen, die ihm nach der Absicht des Poeten zugeschrieben werden, vermögen die Einbildung stärcker zu rühren, als das Thier selbst.941

Mit dieser fundierten Argumentation gelingt es ihm, die stets abgewandelten Gleichnisse des griechischen Epikers, in denen der Löwe wiederholt als Vergleichsbild dient, gegenüber den klassizistischen Homer-Kritikern zu rechtfertigen. Er behauptet, dass ein Dichter »einen überaus biegsamen und gelenckigen Geist, grössere Kunst und Scharfsinnigkeit« zeige, »wenn er in einer Sache mehrere verborgene Aehnlichkeiten zu entdecken, und einerley Bild zu so verschiedenen Absichten gerecht zu machen [wisse]«.942 Es sei durchaus nichts Besonderes, einen Helden mit einem Löwen zu vergleichen, aber niemand würde vermuten, dass diese eine Metapher aus der Tierwelt dazu verwendet werden könne, »alle diejenigen Umstände, in welche ein tapferer Held gerathen kan, deutlich abzubilden«.943 Ein moderner Epiker, der hierin dem antiken Dichter nachfolgen wolle, müsse »eben so fruchtbar und reich an Einbildungs- und Erfindungs-Kraft seyn, als Homerus«.944

940 941 942 943 944

Ebd., S. 310. Ebd., S. 313–315. Ebd., S. 317. Ebd. Ebd.

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Die aufrichtige Bewunderung für die heidnisch-antiken Dichter drückt der Schweizer Philologe auch im darauffolgenden Kapitel aus, das die »Vergleichung« großer Dinge mit kleinen und umgekehrt zum Thema hat (Kap. 11).945 Er zitiert entsprechende Beispiele aus der Aeneis (1. Buch, V. 430–436; 7. Buch, V. 373–384; 11. Buch, V. 492–497; 12. Buch, V. 587–592), der Ilias (4. Gesang, V. 127–133; 12. Gesang, V. 419–424, V. 432–436; 13. Gesang, V. 586–592; 15. Gesang, V. 263–270, V. 360–366) und der Odyssee (19. Gesang, V. 204–209), in denen etwa Bienen oder Ameisen als Vergleichsobjekte dienen.946 Da »in Epischen Gedichten die Materie an sich selbst groß und erhaben [sei]«, könne man leicht die Gründe erraten, weshalb »Homer und andere grosse Dichter sich in ihren Vergleichungen so oft von ihrer erhabenen Erzehlung in die Tiefe hernieder lassen« würden.947 Sie würden mittels ihrer Gleichnisse das bestürtzte und erschrockene Gemüthe der Leser auf eine angenehme Weise besänftigen, ihre angestrengte Gedult um etwas ausruhen lassen, eh sie gantz erschöpfet ist, und durch diese geschickte Abänderung der Materie dem Eckel vorkommen, welcher von der steten Gleichheit entstehen würde.948

Breitinger verweist hier auf die literarische Funktion der Gleichnisse, inhaltlich eine Abwechslung zu bieten. Da der Stoff der homerischen Gleichnisse, wie bereits erwähnt, dem Bereich der Naturphänomene und dem Leben der einfachen Menschen entnommen ist, bilden diese beispielsweise einen intendierten Kontrast zur Schilderung der blutigen Kämpfe in der Ilias. Damit haben die ›Gleichnis-Bilder‹ aber auch den Charakter einer Digression. Der Schweizer Kritiker bemerkt demgemäß: »Homerus, der Vater der Poeten, hat in seinen erhabenen Gedichten, der Ilias und der Odyssea, seine Materie durch die Vergleichung grosser Dinge mit kleinen […] unendlich abgeändert«.949 Er betont zudem: Das zwölfte Buch der Ilias ist bekanntermassen mit grossen und erschrecklichen Beschreibungen durchgehends angefüllet, daher hat der Poet in demselben auch seinen kunstreichen Fleiß verdoppelt, das erstaunte und erschrockene Gemüth der Lesenden mittelst angenehmer Vergleichungen aus der heftigen Unruhe in eine angenehme zu versetzen.950

945 Vgl. ebd., S. 325–357 (11. Abschnitt: Von der Vergleichung grosser Dinge mit kleinen, und kleiner mit grossen). 946 Vgl. ebd., S. 338–351. 947 Ebd., S. 332f. 948 Ebd., S. 333. 949 Ebd., S. 342. 950 Ebd., S. 344.

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Anschließend setzt er sich in seiner kritischen Abhandlung mit »dem Wohlstand der Gleichniß-Bilder« (Kap. 12) auseinander.951 Er führt hier aus, dass die Gleichnisse »eine Verhältniß-Schönheit und Anständigkeit in Absicht auf den Ort, wo sie zu stehen kommen, und auf die Wahl der symbolischen Bilder haben müssen«.952 Man müsse in der Beurteilung der Gleichnisse untersuchen, »ob der Gegenstand, von welchem das symbolische Bild entlehnet wird, diese Verhältniß-Anständigkeit habe, oder vielleicht vor [!] die Würde der ähnlichen Sache, die dadurch vorgebildet wird, allzu unedel und verächtlich sey«.953 Er versteht den »Wohlstand« im Sinne von ›Wohlanständigkeit‹ als historisch relative Kategorie, denn er ändere sich »mit dem Verlauf der Zeit und den Sitten der Menschen« und sei »nicht in der Natur der Sachen, sondern in der Einbildung der Menschen und der Gewohnheit gegründet«.954 Dementsprechend versucht Breitinger in diesem Kapitel, einige von »unwissende[n] Tadler[n]« als unanständig bezeichnete homerische Gleichnisse zu verteidigen und damit positiv neu zu bewerten.955 Ausführlich bespricht er z. B. das Doppel-Gleichnis im 11. Gesang der Ilias, in dem Homer den in die Flucht geschlagenen Aias mit einem störrischen Esel vergleicht (V. 544–565)956, oder das Gleichnis im 24. Gesang der Odyssee, in dem die Seelen der Freier, die von Odysseus ermordet wurden, dem Götterboten Hermes wie Fledermäuse in den Hades folgen (V. 1– 10)957. Im dreizehnten Kapitel rechtfertigt Breitinger einige von Longinus in seinem Traktat Vom Erhabenen (vgl. 4, 2 und 9, 5) kritisierte Gleichnisse.958 In den übrigen Abschnitten seiner umfassenden Abhandlung, die für die vorliegende Untersuchung weniger relevant sind, beschäftigt sich der Züricher Dichtungstheoretiker mit der Verwendung von Gleichnissen im Trauerspiel (Kap. 7)959, mit den Naturgleichnissen in Barthold Heinrich Brockes’ Irdischem Vergnügen in

951 952 953 954 955 956 957 958

959

Vgl. ebd., S. 358–395 (12. Abschnitt: Von dem Wohlstand der Gleichniß-Bilder). Ebd., S. 359f. Ebd., S. 360. Ebd., S. 361. Ebd., S. 363. Breitinger zitiert in diesem Kapitel wiederum Gleichnisse aus Vergils Aeneis (9. Buch, V. 730), Homers Ilias (11. Gesang, V. 67–73; 24. Gesang, V. 477–483) und Odyssee (5. Gesang, V. 488–491; 20. Gesang, V. 25–30). (Vgl. ebd., S. 369–392.) Vgl. ebd., S. 363–370. Vgl. ebd., S. 392–395. Vgl. ebd., S. 396–426 (13. Abschnitt: Rettung einiger von Longin getadelten Gleichnisse). Breitinger beschäftigt sich in diesem Kapitel zudem mit folgenden Gleichnissen: Homer : Ilias, 5. Gesang, V. 770–772; 17. Gesang, V. 569–573; Vergil: Aeneis, 4. Buch, V. 401–407. [Pseudo-]Longinus kritisierte eben dieses Gleichnis Homers im 5. Gesang der Ilias (vgl. ebd., S. 422–426). Vgl. ebd., S. 190–237 (7. Abschnitt: Von dem Gebrauche der Gleichnisse in Trauer-Spielen).

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Gott (9 Bde., 1721–1748) (Kap. 14)960, mit den abgewerteten »Lohensteinischen Gleichnissen« (Kap. 15)961 und den »ausführlichen historischen Gleichnissen« (Kap. 16),962 die »in einer verknüpften Ordnung unterschiedliche Aehnlichkeiten entdecken, die zwischen zweyen Dingen, als dem Bilde und dem Gegenbilde, vorhanden sind«963. Betrachtet man nun die diversen Gleichnisse im Messias Klopstocks, so zeigt sich, dass der Dichter offenbar dieses etwa 500-seitige Lehrbuch Breitingers über die poetische Bildhaftigkeit im Epos eifrig studiert hat. Samuel Gotthold Lange betont in seiner Rezension der ersten drei Gesänge des Bibelepos in der Moralischen Wochenschrift Der Gesellige (3. Teil, 124. Stück, 1749): »Seine [Klopstocks; I. G.] Gleichnisse sind neu, und fliegen ihm doch, als ungesucht, von selbst zu.«964 Gleichermaßen lautete im Jahre 1766 auch das Urteil von Johann Christoph Stockhausen: »Wie neu, wie unvergleichlich sind nicht alle seine Gleichnisse und Bilder! Sie werden kein einziges verbrauchtes bey ihm antreffen.«965 Die zeitgenössischen Verehrer erkannten demnach schnell, dass Klopstock auch in seinen Gleichnissen Homer nacheiferte, indem er insbesondere die innerseelischen Vorgänge und heftigen Affekte seiner epischen Charaktere bildhaft ausdrückte. Gemäß der Klassifizierung des Schweizer Philologen finden sich im Messias also vor allem »nachdrückliche Gleichnisse«, deren Stoff meist aus dem dynamischen Bereich der Naturgewalten und Wettererscheinungen stammt. Auch in den Kurzvergleichen dominieren Naturphänomene als Vergleichsbildinhalte. So heißt es etwa im XVI. Gesang: »Wie wechselnde Regenschauer, j Kamen die Seelen, itzt dicht aus der Wolke stürzend, itzt träufelnd; j Trockneten weg in dürren Gefilden, oder entflossen, j Silberquellen, blumigen Hügeln.« (XVI, 205–208) Tiere als Vergleichsobjekte haben im Gegensatz zu den bereits genannten Beispielen aus den antiken Epen im Messias Seltenheitswert. Ein entsprechendes, kürzeres Gleichnis findet sich aber ebenfalls im XVI. Gesang: 960 Vgl. ebd., S. 427–458 (14. Abschnitt: Von den Gleichnissen in Brockes irdischem Vergnügen in GOtt). Der Schweizer Kritiker behauptet, dass Brockes’ Beschreibungen »mehr historisch und physicalisch als poetisch« seien (ebd., S. 427) und ihnen zudem »noch öfters Fehler von dem unreinen Geschmack des Marino ankleben« würden (ebd., S. 430). Zum unmittelbaren Vergleich verweist Breitinger in diesem Kapitel u. a. auf folgende perfekte Gleichnisse in Homers Ilias: 4. Gesang, V. 75–79; 11. Gesang, V. 492–497; 15. Gesang, V. 170– 172, V. 585–589, V. 618–622. (Vgl. ebd., S. 457.) 961 Vgl. ebd., S. 459–490 (15. Abschnitt: Von den Lohensteinischen Gleichnissen). Der Barockdichter Lohenstein wird von Breitinger als Verderber des literarischen ›Geschmacks‹ abqualifiziert. 962 Vgl. ebd., S. 490–506 (16. Abschnitt: Von den ausführlichen historischen Gleichnissen). 963 Ebd., S. 491. 964 [Lange:] [Gedanken über das Heldengedicht, der Meßias (15. Februar 1749).] In: Der Gesellige. Dritter Theil, 124. Stück, S. 238–240, hier S. 239. 965 Stockhausen: Sammlung vermischter Briefe. Erster Theil, S. 18.

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[…] Denn erdlos Kamen vom Ganges, vom Rhein, dem Niagara, und Nilus, An den Cedern einher auf Tabor, Seelen der Kinder. Wie gesondert von vielen und großen Herden, an Einem Langen Hügel hinab, genährt vom Frühlinge, Lämmer Weiden, so kamen einher an des Tabor Haine die Seelen. (XVI, 321–326)

Die Vergleichsbildebene und die Ebene der epischen Handlung sind hier nicht nur durch die Konjunktionen »wie« und »so« grammatikalisch miteinander verbunden, sondern sie werden auch durch Wortwiederholungen eingerahmt: »Kamen … einher« (XVI, 322f., 326). Das Lamm ist das christliche Symbol für Jesus Christus und daher insbesondere dafür geeignet, die Unschuld der Kinderseelen zu verdeutlichen. Klopstock hält sich in seinen Gleichnissen im Messias an das klassische dreiteilige Schema:966 Zuerst wird der »Stichsatz« formuliert, d. h. der Teil der epischen Handlung, der das entsprechende Stichwort für das Gleichnis nennt. Darauf folgt das »Wie-Stück«, das das Gleichnis im engeren Sinne enthält. Abgeschlossen wird das ›Gleichnis-Bild‹ durch das »So-Stück«, das in die epische Handlung zurückführt. Die für das epische Gleichnis typischen Vergleichspartikel »wie … so« ersetzt er allerdings meist durch ein doppeltes »so/also … so/ also«. Der Dichter entnimmt den Stoff für seine Gleichnisse, die Vorgänge der epischen Handlung illustrieren, die mit den Höllenbewohnern zusammenhängen, bevorzugt dem Naturbereich: Der strömende, stürmische Wind, das wogende, rauschende Meer, der krachende Donner oder das zerstörerische Gewitter lieferten ihm die geeigneten Bilder. Das dynamische und das akustische Moment, die den Naturgewalten anhaften, dienen dazu, das poetische Geschehen rund um die verdammten, gefallenen Engel für den Leser des Bibelepos irgendwie fassbar zu machen. Da Klopstock eine vermenschlichte Darstellung der bösen Geister dezidiert ablehnte, strebte er danach, die unsterblichen, unterirdischen Wesen dennoch irgendwie sinnlich wahrnehmbar zu machen, indem er eben den auditiven und nicht den optischen Sinneseindruck seiner Rezipienten anzusprechen versuchte. Von einer Verdeutlichung oder Veranschaulichung des Unbegreiflichen und eigentlich Undarstellbaren kann man hier folglich nicht sprechen, aber von einer intendierten Aktivierung der ›Einbildungskraft‹ des Lesers bzw. Zuhörers. In den folgenden Beispielen aus dem Messias zeigt sich, dass Klopstock das Böse stets traditionell mit dem Tod und blutigen Kriegen assoziiert. So wird etwa im II. Gesang das Strömen der unzähligen Höllengeister zur von Satan einberufenen Versammlung mit dem stürmischen Kommen von aggressiven, kampfeslustigen Kriegern verglichen:

966 Vgl. hierzu: Heininger : [Art.] Gleichnis, Gleichnisrede, Sp. 1001.

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[…] So rauschen in mitternächtlicher Stunde Grimmige Schlachten von tödtenden, und von sterbenden Streitern Furchtbar umher, wenn brausend auf ehernen Wagen der Nordwind Gegen sie fährt, und gebrüllt von dem Wiederhall’ ihr Gebrüll wird. Satan sah, und hörte sie kommen. […] (II, 410–414)

Das Gemeinsame dieses Gleichnisses mit der rahmenden epischen Handlung ist das akustische Moment: das Rauschen (II, 403, 410) und das »Gebrüll« (II, 413), das für den infernalischen Gesang steht (II, 406–410). Das Zusammentreffen der kriegerischen Höllenfürsten und des »Pöbel[s] der Geister« (II, 403) wird zuvor durch mehrere Kurzvergleiche verbildlicht (II, 402, 404f.), die allesamt aus dem Naturbereich genommen sind: Also versammelten sich der Hölle Fürsten zu Satan. Wie Eilande des Meers aus ihren Sitzen gerissen, Rauschten sie hoch, unaufhaltsam einher. Der Pöbel der Geister Floß mit ihnen unzählbar, wie Wogen des kommenden Weltmeers Gegen den Fuß gebirgter Gestade, zum Thron des Empörers. Tausendmal tausend Geister erschienen. Sie gingen, und sangen Eigene Thaten, zur Schmach und unsterblichen Schande verurtheilt. Unterm Getös gespaltner, sie hatten Donner gespalten! Dumpfer, entheiligter Harfen, verstimmt zu den Tönen des Todes, Sangen sie’s her. […] (II, 401–410)

Untersucht man nun die Struktur dieses Gleichnisses genauer, so zeigt sich, dass auf den Erzählerbericht im epischen Präteritum, der in einen Stichsatz mündet (II, 406–410) (A-Teil), das eigentliche Gleichnis folgt (B-Teil), das durch die Konjunktion »so« anstelle von »wie« eingeleitet wird (II, 410–413). Der C-Teil, der in die epische Handlung zurückführt (II, 414), wird nicht mit der vergleichenden Konjunktion »so« begonnen, so dass das Gleichnis gewissermaßen abrupt endet. Dieses Gleichnis im II. Gesang des Bibelepos hat nicht nur eine retardierende Funktion, sondern es erzeugt auch eine düstere Stimmung. Im weiteren Handlungsverlauf wartet der auf seinem Thron sitzende Satan darauf, endlich vor allen versammelten Höllenbewohnern sprechen zu können. Auch dieses epische Geschehen wird durch einen Kurzvergleich illustriert: »Wie auf hohen unwirthlichen Bergen drohende Wetter j Langsam und verweilend sich lagern, saß er, und dachte.« (II, 425f.) Ganz ähnlich wird auch das Stürmen Adramelechs und Satans zum Ölberg vom epischen Sänger beschrieben: […] So stürzen sich rollende tödtende Wagen Nieder ins Thal, dem ruhigen Führer des Feindes entgegen. Jetzo sendeten sie, von himmelnahen Gebirgen, Eherne Krieger, sie rauschen mit eisernem dumpfen Getöse

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Über den Fels, und es kracht, und es donnert, und tödtet von ferne. Also kam Adramelech herab, und Satan zum Ölberg. (II, 891–896)

In diesem Vergleichsbildinhalt (II, 891–895) findet sich ebenfalls sowohl das dynamische Moment in den »rollende[n] tödtende[n] Wagen« (II, 891), die sich gleichermaßen ins Tal hinabstürzen wie auch die »Krieger« (II, 894) »von himmelnahen Gebirgen« (II, 893) ›herunterrauschen‹, als auch das akustische Moment in dem »eiserne[n] dumpfen Getöse« (II, 894), dem Krachen und Donnern (vgl. II, 895). Mit einer Naturgewalt wird auch das manipulative Vorgehen des Widersachers Gottes verglichen. Der epische Erzähler berichtet im III. Gesang des Messias, dass Jesus am Ölberg tief in Gedanken versunken ist und plötzlich eine Vision von den sündigenden Menschen und ihrem Verführer Satan hat: […] Vor seinem Gesichte Sah er der Menschen Sünden, die alle, die seit der Erschaffung Adams Kinder vollbrachten, auch die, so die schlimmere Nachwelt Sündigen wird, ein unzählbares Heer, Gott fliehend vorbeygehn. Satan war mitten darin, und herrschte. Vom Angesicht Gottes Trieb er, den Sünder, das Menschengeschlecht, und versammelt’ es zu sich. Wie die Ebnen des Meers ein mitternächtlicher Strudel Ringsum in sich verschlingt, und stets zu dem Untergange Offen, unsichtbar unter den Wolken des sinkenden Himmels, Alle zu sichre Bewohner des Meers in die Tiefen hinabzieht. Jesus sah die Sünden, und Satan; sah dann zu Gott auf. (III, 22–32)

Dieses Gleichnis beginnt mit einem langen A-Teil, der mit einem Stichsatz endet (III, 26f.). Der B-Teil wird klassisch durch die Konjunktion »wie« eingeleitet (III, 28–31), allerdings fehlt die Vergleichspartikel »so«, die in den Handlungskontext des Epos zurückführt (C-Teil) (III, 32). Eine rahmende Verknüpfung des A-Teils mit dem C-Teil wird wiederum durch Wiederholungen erreicht: »Sah er der Menschen Sünden« (III, 23) / »Jesus sah die Sünden« (III, 32), »Satan« (III, 26, 32). Inhaltlich lässt sich das Gleichnis folgendermaßen kurz zusammenfassen: Wie der gefährliche Meeresstrudel alles verschlingt und in seine Tiefen hinabzieht, so verführt auch Satan die Menschen zum Bösen und lässt sie zur Hölle fahren. Im III. Gesang stößt der Leser auf das längste und ausführlichste Gleichnis im Messias, das eine in sich abgeschlossene kleine Erzählung darstellt. An dieser Stelle des Bibelepos berichtet der epische Sänger, dass sich Satan »voll Gedanken j Zu dem Verderben entflammt« (III, 537f.) auf Judas Ischariot niederlässt, um ihm »einen verführenden Traum in sein offnes Gehirne« (III, 557) zu gießen. Dieser Vorgang wird verglichen mit einer gefährlichen Seuche, der Pest, die vielen unschuldigen Menschen den Tod bringt:

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Also nahet die Pest in mitternächtlicher Stunde Schlummernden Städten. Es liegt auf ihren verbreiteten Flügeln An den Mauren der Tod, und haucht verderbende Dünste. Jetzo liegen die Städte noch ruhig; bey nächtlicher Lampe Wacht noch der Weise; noch unterreden sich edlere Freunde, Bey unentheiligtem Wein, in dem Schatten duftender Lauben, Von der Seele, der Freundschaft, und ihrer unsterblichen Dauer! Aber bald wird der furchtbare Tod sich am Tage des Jammers Über sie breiten, am Tage der Qual und des sterbenden Winselns, Wenn mit gerungenen Händen die Braut um den Bräutigam wehklagt; Wenn, nun aller Kinder beraubt, die verzweifelnde Mutter Wüthend dem Tag’, an dem sie gebar, und geboren ward, fluchet; Wenn mit tiefem verfallneren Auge die Todtengräber Durch die Leichname wandeln, bis hoch aus der Donnerwolke Mit tiefsinniger Stirn der Todesengel herabsteigt, Weit umherschaut, alles still, und einsam, und öde Sieht, und auf den Gräbern in ernsten Betrachtungen stehn bleibt. So kam über Ischariot Satan zum nahen Verderben, Goß dann einen verführenden Traum in sein offnes Gehirne. (III, 539–557)

Das eigentliche Gleichnis (B-Teil) wird hier durch die Konjunktion »also« eingeleitet und umfasst insgesamt 17 Hexameterverse (III, 539–555). Es kennzeichnet eine wichtige Stelle im Handlungsverlauf, denn der Verräter Judas, der hier von Satan heimgesucht wird, wird für den Kreuzestod Jesu verantwortlich sein, der die Erlösung der Menschheit erst möglich macht. Die epidemische Krankheit, die auch der Schwarze Tod genannt wird und die sich bezeichnenderweise auf »Flügeln« (III, 540) verbreitet, ist eine wirklich passende Metapher für den bösen, gefallenen Engel Satan. In diesem Vergleichsbild werden nicht nur die Ursache, sondern auch die Folgen des Verderbens geschildert: So wie die Pest viele dahinrafft, wird auch Judas den Tod finden, indem er durch seinen begangenen Verrat am Messias zum Selbstmord getrieben wird. In diesem ausführlichen Gleichnis des Messias findet sich zudem eine Reminiszenz an den Beginn der Ilias, wo der olympische Gott Apollon als Auslöser des Streits zwischen Agamemnon und Achilleus erscheint (1. Gesang, V. 8ff.), der den Achaiern die Pest schickte, weil der Apollonpriester Chryses von Agamemnon beleidigt worden war. Das Einströmen der satanischen, visionären Gedanken in Judas’ Gehirn wird anschließend ebenfalls durch ein Gleichnis aus dem Naturbereich verdeutlicht: Schnell empört’ er das klopfende Herz zu Begierden der Bosheit; Senkte zuerst empfundne Gedanken, voll Feuer, stürmend, Ihm in die Seele. So wie sich der Donner in schweflichte Berge Himmelab stürzt, sie entzündet, dann neue Donner versammelt, Dann durch die Tiefen, nunmehr ein ganzes Wetter, sich fortwälzt. (III, 558–562)

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Satan schickt auch dem jüdischen Hohepriester Kaiphas eine Traumvision, worauf dieser das Synedrium einberuft, um die Verurteilung Jesu zum Tode voranzutreiben, da er den Nazarener als Bedrohung ansieht. Der IV. Gesang des Messias beginnt mit einem inhaltlich dementsprechenden Gleichnis: Kaiphas aber lag, nach Satans dunklem Gesichte, Noch voll Angst auf dem Lager, von dem die Ruhe geflohn war ; Schlief bald Augenblicke, dann wacht’ er wieder, und warf sich Ungestüm, voll Gedanken herum. Wie tief in der Feldschlacht Sterbend ein Gottesleugner sich wälzt; der kommende Sieger, Und das bäumende Roß, der rauschenden Panzer Getöse, Und das Geschrey, und der Tödtenden Wuth, und der donnernde Himmel Stürmen auf ihn, er liegt, und sinkt mit gespaltetem Haupte Dumm und gedankenlos unter die Todten, und glaubt zu vergehen. Dann erhebt er sich wieder, und ist noch, denket noch, fluchet, Daß er noch ist, und spritzt mit bleichen zuckenden Händen Himmelan Blut; Gott fluchet er, wollt’ ihn gerne noch leugnen. Also betäubt sprang Kaiphas auf, und ließ die Versammlung Aller Priester und Ältsten im Volk schnell zu sich berufen. (IV, 1–14)

Gemäß dem dreiteiligen Bauschema folgt auch hier auf den epischen Erzählerbericht mit Stichsatz (IV, 1–4) zunächst das »Wie-Stück« (IV, 4–12) und anschließend das »So-Stück« (IV, 13f.). Das Gleichnis beschreibt den Affekt des Kaiphas, dessen Zorn und Hass, im Bild des im Sterben liegenden, tobenden Gottesleugners. In Anlehnung an die Klassifizierung Breitingers handelt es sich demnach um ein »nachdrückliches Gleichnis-Bild«, das eine in sich abgeschlossene kurze Erzählung darstellt. Die Gemütsbewegung des epischen Charakters, der sich nach dem Albtraum angstvoll und unruhig auf seinem Schlafplatz hin- und herwälzt, wird gewissermaßen nachgezeichnet und intensiviert durch die Präsenspartizipien, die Bewegungsverben und den polysyndetischen Satzbau. Das erzählte Geschehen im Gleichnis (IV, 4–12) wirkt auch hier durch die pathetisch-erhabene Sprache im Messias sehr lebendig und dynamisch. In der Versammlung des Hohen Rats hält der Sadduzäer Kaiphas im weiteren Handlungsverlauf des Bibelepos eine Rede (IV, 24–100), in der er von seiner Traumvision berichtet, die vom auktorialen epischen Sänger als »Satans dunkle[s] Gesichte« (IV, 1) bezeichnet wird. Nachdem Kaiphas vom Pharisäer Philo heftig angegriffen und beleidigt worden ist (vgl. IV, 109–175), erheben sich die wütenden Sadduzäer, d. h. die übrigen Parteimitglieder, in geballter Stärke und wollen offensichtlich die Versammlung des Hohen Rats verlassen. Dieser Vorgang wird ebenfalls bildhaft ausgestaltet: Der A-Teil des Gleichnisses mit dem Stichsatz (IV, 178f.) lautet:

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[…] Von Grimm und von übermannender Wuth voll, Lehnt’ an seinen goldenen Stuhl sich Kaiphas nieder, Und erbebte. Ihm glühte das Antlitz. Er schaut auf die Erde Sprachlos, starr. Ihn sahn die Sadducäer, und standen Gegen Philo mit Ungestüm auf. […] (IV, 175–179)

Der epische Erzähler schildert hier sehr deutlich den Affekt des Hohepriesters, der sich auch in seiner Gestik und Mimik, also körperlich, ausdrückt: Kaiphas wird von heftiger innerer Bewegung gepackt, fängt vor Zorn plötzlich an zu zittern und sein Gesicht glüht vor Wut. Das eigentliche Gleichnis (B-Teil) veranschaulicht diese epische Szene und verdeutlicht die aufgeladene, wütende Stimmung der Sadduzäer : […] Wie tief in der Feldschlacht Kriegrische Rosse vor eisernen Wagen sich zügellos heben, Wenn die klingende Lanze daherbebt, fliegend dem Feldherrn, Den sie zogen, den Tod trägt, dann blutathmend zur Erd’ ihn Stürzt. Sie wiehern empor, und drohn mit funkelndem Auge, Stampfen die Erde, die bebt, und hauchen dem Sturm entgegen. (IV, 179–184)

Auch in diesem ›Gleichnis-Bild‹ wird eine heftige, aufflammende Leidenschaft in ihren jeweiligen Graden poetisch beschrieben. Die Gemütsbewegung wird durch aufbäumende Pferde verdeutlicht und veranschaulicht. Der Feldherr (IV, 181) steht hier für Kaiphas, der von Philo quasi tödlich beleidigt wurde, d. h., die »klingende Lanze« (IV, 181), die »den Tod trägt« (IV, 182), symbolisiert den Pharisäer und dessen fulminante Rede und die »[k]riegrische[n] Rosse« (IV, 180), die den »eisernen Wagen« (IV, 180) ziehen, stehen für die Sadduzäer, die ihren Anführer verteidigen. Ebenso wird das Rededuell im Synedrium mit einer »Feldschlacht« (IV, 179) verglichen. Das Interesse an der menschlichen Emotionalität, die sich auch im Mienenspiel abzeichnet, veranlasste Klopstock offensichtlich zu einem weiteren ähnlichen Gleichnis im IV. Gesang: Nachdem Gamaliel und Nikodemus im Synedrium als Fürsprecher Jesu aufgetreten sind, tobt Philo innerlich »vor Wuth und grimmigem Zorne« (IV, 267), d. h., er macht einen psychologischen Prozess durch, der sich unmissverständlich in seiner Mimik ausdrückt: […] Sein Blick ward dunkel, und Nacht lag Dicht um ihn her, und Finsterniß deckte vor ihm die Versammlung. Jetzo mußt’ er entweder ohnmächtig niedersinken: Oder sein starrendes Blut auf Einmal feuriger werden, Und ihn wieder mächtig beleben. Es hub sich, und wurde Feuriger, und von dem hochaufschwellenden Herzen ergoß sichs In die Mienen empor. Die Mienen verkündigten Philo. Sieh, er sprang auf, und riß sich aus seiner Reih’, und ergrimmte. So, wenn auf unerstiegnem Gebirg’ ein nahes Gewitter

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Furchtbar sich lagert, so reißet sich eine der nächtlichsten Wolken, Mit den meisten Donnern bewaffnet, entflammt zum Verderben, Einsam hervor. Wenn andre der Ceder Wipfel nur fassen, Wird sie von einem Himmel zum anderen waldichte Berge, Wird hochthürmende, nicht absehbare Königsstädte Tausendmal donnernd entzünden, und sie in die Trümmer begraben. Philo riß sich hervor. […] (IV, 269–284)

Auf den Stichsatz (IV, 275f.) folgt das eigentliche Gleichnis (IV, 277–283), in dem der Affekt der epischen Figur mit einer bedrohlichen, zerstörerischen Wettererscheinung verglichen wird. Der auf dieses ›Gleichnis-Bild‹ folgende Hexametervers (IV, 284) führt ohne die vergleichende Konjunktion »so« in den Handlungsverlauf des Epos zurück. Die Vergleichsbildebene (B-Teil) und der Kontext der epischen Handlung (A- und C-Teil) sind in diesem Beispiel durch Wortwiederholungen insbesondere miteinander verbunden: »riß sich aus seiner Reih’« (IV, 276) / »so reißet sich eine der nächtlichsten Wolken« (IV, 278) / »Philo riß sich hervor« (IV, 284). Klopstock stellt in seinen Gleichnissen auch menschliche Situationen dar, in denen die sanfteren, ›herzrührenden‹ Empfindungen und moralische Grundsätze von erstrangiger Bedeutung sind, d. h., der Stoff in den poetischen Vergleichsbildern des Messias stammt nicht nur aus dem Bereich der gefährlichen Naturgewalten oder dem tödlichen Kriegsgeschehen. So erzählt beispielsweise der VI. Gesang des Bibelepos von dem Verhör Jesu durch den Hohen Rat und von dem Auftritt falscher Zeugen (vgl. VI, 384–417). Die darauffolgende epische Szene beschreibt die erwartungsvolle Stimmung mit einem Gleichnis: Also zeugten die Zeugen; und ringsum strömt der Erwartung Blick auf Jesus, wie sich der Empörer vertheidigen werde. Also stehn um den sterbenden Christen, mit bleichen Gedanken, Und mit halber Freude, die gern sich freute, die Haufen Niedriger Spötter, und athmen leis’, und stammeln Erwartung: Auch ihm wird der muthige Traum vom unsterblichen Leben, Wie er selber, vergehn. Er bekennts noch! Aber der Weise Betet für sie, und für sich, und lächelt die Gräber vorüber. Also starrt ihn das wartende Volk an. Aber der Gottmensch Schweiget. […] (VI, 418–427)

Gemäß dem dreiteiligen Schema folgt auf den Erzählerbericht mit dem Stichsatz (VI, 418f.) zunächst das eigentliche Gleichnis (VI, 420–425), welches das Stichwort »Erwartung« (VI, 418, 422) wieder aufgreift, und anschließend das »So-Stück« (VI, 426f.), welches ebenfalls auf das »wartende Volk« (VI, 426) verweist. Als poetisches Vergleichsbild dient hier eine epische Szene, in der spottende Nichtchristen erwartungsvoll um einen sterbenden Gläubigen herumstehen und davon überzeugt sind, dass er nun Gott verleugnen werde, da er

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dem Tode nah sicherlich von einem »unsterblichen Leben« (VI, 423) nicht mehr überzeugt sei. Der weise Mann betet jedoch für sie und für sich selbst und reagiert nur mit einem Lächeln. Gleichermaßen verharrt der Messias, der hier in seiner Mittlerfunktion als »Gottmensch« (VI, 426) bezeichnet wird, in Schweigen. Eine implizite Gemeinsamkeit zwischen dem sterbenden, weisen Christen und dem angeklagten Jesus Christus besteht auch in der fehlenden Todesangst. Das im Vergleichsbild beschriebene Geschehen bietet hier inhaltlich keinen wirklichen Kontrast zum Kontext der epischen Handlung. Die folgenden zwei Gleichnis-Beispiele aus dem Messias Klopstocks dienen der eindringlichen poetischen Darstellung von Affekten: Im I. Gesang erzählt der epische Sänger, dass Eloa Gabriel entgegenkommt, der vom Messias in den Himmel gesandt wurde, um auf dem »Altar des Versöhners« (I, 314) Gott ein Opfer zu bringen. Von den Empfindungen Eloas und seinen vergangenen Taten, die er zusammen mit seinem Freund Gabriel vollbracht hat, heißt es im Bibelepos: […] Der Seraph zerfloß in Entzückung, Von den Unsterblichen einen zu sehn, mit dem er vor diesem Jeden Kreis der Schöpfungen Gottes, und seine Bewohner Sah, und mit dem er unnachahmbarere Thaten vollführte, Als durch die besten aus ihm das vereinte Menschengeschlecht that. (I, 315–319)

Darauf folgt ein Gleichnis, das die innige Freundschaft und Seelenverwandtschaft zwischen den beiden Engeln thematisiert: Jetzo verklärten sie sich schon liebend gegen einander. Schnell, mit brünstig eröffneten Armen, mit herzlichen Blicken, Eilten sie gegen einander. Sie zitterten beyde vor Freuden, Als sie sich umarmten. So zittern Brüder, die beyde Tugendhaft sind, und beyde den Tod für das Vaterland suchten, Wenn sie, von Heldenblute noch voll, sich nach ewigen Thaten Sehen, und sich vor ihrem noch größeren Vater umarmen. Gott sah sie, und segnete sie. So gingen sie beyde, Herrlicher durch die Freundschaft, dem Thron des Himmels entgegen. (I, 320–328)

Das freudige Zusammentreffen im Himmel wird verglichen mit der Begegnung zweier tugendhafter Brüder, die beide menschliche Heldentaten vollführt haben. Das ›tertium comparationis‹ besteht zum einen in dem körperlichen Gefühlsausdruck, dem Zittern vor Freude (vgl. I, 322, 323), und zum anderen in der Umarmung vor dem göttlichen Vater (vgl. I, 326f.). Die Formulierung »ewige[.] Thaten« (I, 325) im Gleichnis im engeren Sinne (I, 323–326) verbindet diesen BTeil mit dem Kontext der epischen Handlung (A-Teil), wo bereits auf »unnachahmbarere Thaten« (I, 318) der Seraphim verwiesen wurde.

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Im III. Gesang des Bibelepos findet sich ein Gleichnis, das vom KlopstockIntimus Carl Friedrich Cramer als »eines der treflichsten Gleichnisse in der ganzen Messiade« bewertet wurde.967 Im Erzählerbericht heißt es, dass der Seraph Salem und die Engel der Erde, die den zwölf Jüngern zugeordnet sind, Johannes, den Lieblingsjünger Jesu, schützend umgeben: Salem sagt’ es, und schwieg. Er und die Seraphim blieben Um Johannes herum voll süßer Zärtlichkeit stehen. Also stehn drey Brüder um eine geliebtere Schwester Zärtlich herum, wenn sie auf weichverbreiteten Blumen Sorglos schläft, und in blühender Jugend Unsterblichen gleichet. Ach sie weiß es noch nicht, daß ihrem redlichen Vater Seiner Tugenden Ende sich naht. Ihr dieses zu sagen, Kamen die Brüder ; allein sie sehen sie schlummern, und schweigen. (III, 517–524)

Eine grammatikalische Verknüpfung des A-Teils (III, 517f.) mit dem B-Teil (III, 519–524) wird auch hier durch Wortwiederholungen erreicht: »um … herum« (III, 518, 519f.), »voll süßer Zärtlichkeit« (III, 518) / »Zärtlich« (III, 520), »schwieg« (III, 517) / »schweigen« (III, 524). Auch hierbei handelt es sich gemäß Breitingers Abhandlung um ein »nachdrückliches Gleichnis«, das die zärtliche Empfindung poetisch darstellen soll. Der Vergleichsbildinhalt lässt sich folgendermaßen kurz zusammenfassen: Drei Brüder wollen die Nachricht vom baldigen Tod des Vaters ihrer Schwester mitteilen, da sie aber so friedlich und sorglos schläft, umgeben sie diese schweigend. In dem Satz »Ach sie weiß es noch nicht, daß ihrem redlichen Vater j Seiner Tugenden Ende sich naht.« (III, 522f.) wird auf den bevorstehenden Kreuzestod Jesu angespielt, von dem Johannes natürlich noch nichts weiß. Cramer kommentiert dieses für ihn vollkommene Gleichnis folgendermaßen: Ein ausgemahltes Gleichnis braucht zwar nicht in allen Stücken Aehnlichkeit zu haben, es ist aber ein Grad der Volkommenheit mehr, wenn es sie hat. Z. E. in diesem liegt sie auch in dem Zuge: ach sie weis es noch nicht etc. Johannes wuste es auch noch nicht, daß Christus seinem Tode jezt so nahe war.968

Die Wortwiederholungen, die ein Gleichnis gewissermaßen einrahmen, sind für den Messias Klopstocks typisch. So etwa auch in dem folgenden Beispiel im XII. Gesang des Bibelepos: Joseph von Arimathäa fasst nach dem Tod des Gottessohnes am Kreuz den Plan, sich zu Pontius Pilatus zu begeben, um den römischen Statthalter darum zu bitten, den Leichnam Jesu Christi in das eigentlich für ihn selbst bestimmte Felsengrab legen zu dürfen. Dieses mutige Vorhaben des vormals ängstlichen Mitglieds des Hohen Rates, der es nicht wagte, für den 967 Cramer: Klopstock. Er ; und über ihn. Zweiter Theil. 1748–1750, S. 260, Anm. 968 Ebd., S. 259f., Anm. 24.

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Messias Partei zu ergreifen, wird durch ein verhältnismäßig kurzes Gleichnis verdeutlicht und veranschaulicht: Und er eilte. So eilt der Entschluß, das Leben zu ändern, Wenn er wahr ist, und jeder Entschluß der Sünde vergebens Gegen ihn den blinkenden Dolchstoß wüthend emporhebt, Oder umsonst Einschläfrungen ihm, und Seligkeit zusingt, Also eilt er zur That! […] (XII, 29–33)

Das Verb »eilen« findet sich hier nicht nur im Stichsatz (XII, 29), sondern es leitet nach der Konjunktion »so« auch das eigentliche Gleichnis (XII, 29–32) sowie das abschließende »So-Stück« (XII, 33) ein, das in die epische Handlung zurückführt. Ein letztes Beispiel soll nun zeigen, dass ein Gleichnis im Messias die poetische Funktion der Retardation erfüllt: Klopstock schildert im XII. Gesang das Sterben und den leiblichen Tod der Maria von Bethanien (XII, 401–736), der Schwester von Lazarus und Martha. Alle drei Geschwister sind fromme Anhänger Jesu. Chebar, der Schutzengel Marias, findet Martha, die über ihre schlafende, sterbenskranke Schwester wacht: […] Sie schlummern zu sehen, erhub sich Martha, und stand bey dem Lager, und athmete kaum, nicht zu wecken, Die sie herzlicher liebt’, als sich selber! die nun zu den Vätern Hinging, fern von ihr weg, die Wege des finsteren Thales, Und sie allein ließ! Da die Wehmuth das Herz ihr durchströmte, Stürzet’ ihr eine Thräne die Wang’ herab; doch des Weinens Stimme hielt sie, und bald auch wieder den schnelleren Athem. Also stand sie verstummt im dämmernden Saale. Denn dichte Dunkle Hüllen bedeckten der Nacht Gefährtin, die Flamme, Welche nun oft schon erst mit dem Morgen erlosch. So findet Jener glückliche Wanderer, dem die Erinnrung des Todes Freud’ ist, wenn er in der schweigenden durstenden Wüste die Kühlung Eines Felsen ereilt, er findet ein Grab in dem Felsen, Über dem Grabe das Bild des liegenden Todten. Ein andrer Starrender Marmor, der Freund, steht neben der Leiche. Die Höhle Nimmt nur wenig trüberen Tag in ihre Gewölb’ auf. Voll von dessen Trauren, der starb, und dessen, der nachblieb, Sieht sie der Wanderer an. So fand dein Engel, Maria, Martha bey dir, als er zu deinem Lager herantrat. (XII, 475–493)

Die Erzählung des epischen Sängers führt in eine ›herzrührende‹ Szene des Epos ein (XII, 475–484), in der die wehmütige Martha um ihre dem Tode nahe Schwester weint. Das ausführliche Gleichnis (XII, 484–492) stellt abermals eine kleine, in sich abgeschlossene Erzählung dar : Marias Schutzengel wird hier mit einem Wanderer verglichen, der ein Felsengrab entdeckt. Bemerkenswerter-

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weise handelt es sich bei der Beschreibung des Grabes um ein Bild im Bild (XII, 488f.), da das Grabrelief zum einen »das Bild des liegenden Todten« (XII, 488) zeigt und zum anderen die daneben stehende Grabstele aus Marmor den Freund des Toten plastisch darstellt (XII, 489). Die geschilderten Gedanken des Wanderers – »Voll von dessen Trauren, der starb, und dessen, der nachblieb« (XII, 491) – nehmen den weiteren Handlungsverlauf des Bibelepos vorweg, da anschließend im XII. Gesang der Tod der Maria von Bethanien erzählt wird. Außerdem verweist dieser Vers (XII, 491) zurück auf den Gedankengang Marthas, den der epische Sänger erzählt: »Die sie [Maria; I. G.] herzlicher liebt’, als sich selber! die nun zu den Vätern j Hinging, fern von ihr weg, die Wege des finsteren Thales, j Und sie allein ließ!« (XII, 477–479) Durch wörtliche Wiederholungen und ähnlich gebaute, inhaltlich analoge Sätze erreicht Klopstock auch hier eine Verbindung zwischen allen drei Teilen des Gleichnisses: »Martha […] stand bey dem Lager« (XII, 476) / »stand sie verstummt« (XII, 482) / »Starrender Marmor, der Freund, steht neben der Leiche« (XII, 489), »[s]o findet« (XII, 484) / »er findet« (XII, 487) / »[s]o fand« (XII, 492). Bei dem »So-Stück« handelt es sich um eine Apostrophe (XII, 492f.), d. h., der auktoriale Erzähler wendet sich hier direkt an die epische Figur Maria und zeigt dadurch seine Anteilnahme am Schicksal seines Charakters und am epischen Geschehen überhaupt. Die angeführten Gleichnisse aus dem Messias haben gezeigt, dass sich Klopstock an die Forderungen und Regeln Breitingers gehalten hat. Er hat die Gleichnisse der antiken Epen Homers und Vergils nicht nachgeahmt, sondern diese inhaltlich seiner Zeit, der Epoche der Empfindsamkeit, angepasst, indem er den Schwerpunkt auf die bildhafte Darstellung der Gemütsbewegungen der Charaktere seines Bibelepos legte.

4.10 Der Hexametervers und das Lyrische im Messias Carl Friedrich Cramer berichtet anekdotenhaft in seiner Monographie Klopstock. Er; und über ihn (1. Theil, 1780), dass der Messias-Dichter während seiner Studienzeit an der Universität Jena – Immatrikulation am 28. September 1745 – die ersten drei Gesänge seines Bibelepos zunächst in Prosa ausgearbeitet habe.969 Im Sommer des Jahres 1746 habe er dann die Prosafassung in Versform gebracht, da er »die ganze Macht und das Ausdruksvolle des Hexameters beym Homer und Virgil« gefühlt habe.970 Aristoteles bezeichnet das »heroische Versmaß« in seiner Poetik als »das erhabenste und feierlichste unter allen 969 Vgl. Carl Friedrich Cramer: Klopstock; Er, und über ihn. Erster Theil. 1724–1747. Hamburg 1780. S. 136f. 970 Ebd., S. 138.

Der Hexametervers und das Lyrische im Messias

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Maßen« und daher sei es dem Epos »angemessen« (Kap. 24).971 Die Wiederentdeckung des griechisch-antiken Versmaßes für die Gattung Heldengedicht durch die metrischen Versuche Klopstocks fand jedoch keine allgemeine Anerkennung, sondern war Gegenstand der zeitgenössischen Kritik Mitte des 18. Jahrhunderts. Gottsched etwa führt in seiner anonymen Abhandlung Bemerkung einiger Ursachen, warum das Heldengedicht, Meßias, nicht allgemeinen Beyfall erhalten hat, die er im Jahre 1755 in der Sammlung einiger Ausgesuchten Stücke, der Gesellschaft der freyen Künste zu Leipzig (2. Theil) veröffentlichte, als Grund für die Abwertung des Bibelepos Klopstocks die »unrichtigen Hexameter« an, welche »einen sehr merklichen Uebelklang« erzeugen würden.972 Die »Verehrer« des Messias hätten »so Unrecht nicht, wenn sie wünschen [würden], daß er lieber in Prose geschrieben wäre«.973 Erstmals äußerte sich Klopstock über das Metrum seines biblischen Heldengedichts in einem Brief an Bodmer vom 21. September 1748: »Das Sylbenmaaß des Messias wird noch vielen anstössig seyn. Ich sehe, es wird eine ziemliche Zeit dazu gehören, eh man ausgemacht haben wird, daß deutsche Hexameter vor sich, u besonders zu einem langen Gedichte, harmonischer u klingender sind, als deutsche Jamben.«974 Der Epiker lehnte übereinstimmend mit den Schweizer Kritikern das alternierende Versmaß des paargereimten Alexandriners ab. Klopstock ahmte den klassischen, d. h. griechisch-antiken daktylischen Hexameter nach und entwickelte so einen dezidiert »deutschen Hexameter«. Seine Intention war es, ein ›harmonisches‹ und abwechslungsreiches Versmaß für sein deutsches Nationalepos mit biblischem Stoff zu kreieren. Er wich von der antiken Quantitätsprosodie ab und legte seinem Versmaß die deutsche Akzentprosodie zugrunde, d. h., er setzte betonte Silben für die klassischen ›Längen‹ und unbetonte Silben für die klassischen ›Kürzen‹.975 Zudem führte er die metrische Lizenz ein, die in der deutschen Sprache problematischen Spondeen durch Trochäen zu ersetzen.976 Den »Fremdlinge[n] im Homer«, die mit dem Metrum des Messias einfach nicht vertraut wurden, erteilt er den Rat, »eben den Ton auf die Worte eines Hexameters [zu] sezen, den sie auf die

971 Aristoteles: Poetik. Griechisch / Deutsch. Übersetzt und hrsg. v. Manfred Fuhrmann, S. 80/ 81 (Kap. 24, 1459b 31–1460a 5). 972 [Johann Christoph Gottsched:] Bemerkung einiger Ursachen, warum das Heldengedicht, Meßias, nicht allgemeinen Beyfall erhalten hat? In: Sammlung einiger Ausgesuchten Stücke, der Gesellschaft der freyen Künste zu Leipzig. Zweyter Theil. Leipzig 1755. S. 434–451, hier S. 440. 973 Ebd. 974 Brief von Klopstock an Bodmer, 21. September 1748. In: HKA, Briefe I, Nr. 15, S. 16–21, hier S. 18, Z. 80–83. 975 Vgl. Kohl: Friedrich Gottlieb Klopstock, S. 81. 976 Vgl. ebd.

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Worte eines klingenden Perioden977 einer Rede sezen [würden]«.978 Den »Leser[n] des Homers«, die es »der deutschen Sprache übel [nähmen], daß sie nicht die griechische Sprache [sei]«, und die »dem deutschen Hexameter eben die Regel vorschreiben [würden], die der homerische [habe]«, wirft er vor, die »allgemeine[n] Regeln von der Länge u Kürze der Sylben, u zwar nach der griechischen Sprache [vorzugeben]«.979 Sie sollten stattdessen den deutschen Hexameter auf der Basis des akzentuierenden Prinzips betrachten und »hauptsächlich auf das Verhältniß der längern u kürzern Sylben untereinander sehn«.980 Klopstock verteidigt demnach die Eigengesetzlichkeit des von ihm entwickelten deutschen Hexameters gegenüber dem antiken Versmaß.981 Auch auf der Versebene befindet sich der Dichter in einem Wettstreit mit der epischen Tradition, betont er doch bereits in diesem Brief an Bodmer aus dem Jahre 1748: Man weiß es, u giebt es gern zu, daß der Vers der Alten vollkommener ist. Ob man gleich auch sagen könnte, daß die neue Mannigfaltigkeit, die durch die verschiednen Dactylen u Spondeen entsteht, eine Vollkommenheit mehr sey, die der Vers der Alten nicht habe. Der Gebrauch der Trocheen Statt [!] der Spondeen gehört auch hierher, u das Verhältniß ist beynah eben das, welches zwischen den verschiednen Dactylen ist.982

Klopstock verkündet, dass er aus »Liebe zu einem harmonischen Verse« »noch verschiedne von [seinen] Versen ändern, u künftig noch mehr auf den Wohlklang sehen werde«.983 Aufgrund der größeren Variabilität, die durch den Wechsel von Daktylen, Spondeen und Trochäen und durch die relativ freie Setzung von Zäsuren entsteht, glaubt der Messias-Dichter, dass der deutsche Hexameter dem antiken Vers Homers weitaus überlegen sei. Um die Wahl des epischen Hexameters als passendes Metrum für seinen Messias auch öffentlich zu verteidigen, stellte Klopstock dem zweiten Band der »Kopenhagener Ausgabe« [1756] und der »Halleschen Ausgabe« (1756) seines Bibelepos (Gesänge VI–X) die Abhandlung Von der Nachahmung des griechischen Sylbenmasses im Deutschen voran.984 Der Epiker will darin insbesondere beweisen, dass die deutschen Dichter die Silbenmaße der antiken Griechen und Römer »so nahe« nachahmen könnten, dass »diese Nachahmung, besonders größern Werken, 977 »Der grammatisch-rhetorische Terminus ›Periode‹ (Satz, Gliedersatz, Redesatz) wird im 18. Jahrhundert oft in maskuliner Form verwendet.« (HKA, Briefe I, S. 213.) 978 Brief von Klopstock an Bodmer, 21. September 1748. In: HKA, Briefe I, Nr. 15, S. 16–21, hier S. 18, Z. 83–87. 979 Ebd., S. 18, Z. 87–96. 980 Ebd., S. 18, Z. 97f. 981 Vgl. HKA, Briefe I, S. 213. 982 Brief von Klopstock an Bodmer, 21. September 1748. In: HKA, Briefe I, Nr. 15, S. 16–21, hier S. 18, Z. 98–104. 983 Ebd., S. 18f., Z. 104–107. 984 Friedrich Gottlieb Klopstock: Von der Nachahmung des griechischen Silbenmaßes im Deutschen. In: Klopstock: AW, S. 1038–1048.

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einen Vorzug gebe«, den sie durch ihre »gewöhnliche[n] Versarten« bislang noch nicht hätten erreichen können.985 Der Vers Homers sei »vielleicht der vollkommenste, der erfunden werden [könne]«: Ich verstehe unter Homers Verse nicht einen Hexameter allein, wiewohl jeder seine eigene Harmonie hat, die das Ohr unterhält, und füllt; ich meine damit das ganze Geheimnis des poetischen Perioden, wie er sich vor das stolze Urteil eines griechischen Ohrs wagen durfte, den Strom, den Schwung, das Feuer dieses Perioden, dem noch dazu eine Sprache zu Hülfe kam, die mehr Musik, als Sprache, war. Homer blieb, auch in Betrachtung des Klangs, ein solcher Meister seiner Sprache, daß er die Griechen verführt zu haben scheint, ihre Verse mehr abzusingen, als herzusagen.986

Der klassische Hexameter Homers habe »die angemessenste Länge, das Ohr ganz zu füllen« und »den großen, und der Harmonie wesentlichen Vorzug der Mannigfaltigkeit«: Da er aus sechs verschiednen Stücken, oder Füßen, besteht; so kann er sich immer durch vier, bisweilen auch durch fünf Verändrungen, von dem vorhergehenden oder nachfolgenden Verse unterscheiden. Und da diese Füße bald zwo bald drei Silben haben; so entsteht daher eine neue Abwechslung.987

Aufgrund der Variabilität dieses antiken Metrums erreiche »der homerische Vers eine Harmonie, die itzt fließ[e], dann ström[e], hier sanft kling[e], dort majestätisch tön[e]«.988 Klopstock macht deutlich, dass der deutsche Hexameter im Gegensatz zum griechischen eine »ganz neue[.] Mannigfaltigkeit« aufweise: Wir haben Daktylen, wie die Griechen, und ob wir gleich wenige Spondäen haben; so verliert doch unser Hexameter dadurch, daß wir statt der Spondäen meistenteils Trochäen brauchen, so wenig, daß er vielmehr fließender, durch die Trochäen, wird; weil in unsern Silben überhaupt mehr Buchstaben sind, als bei den Griechen.989

Wichtig sei es, »unsern Hexameter, nach der Prosodie unsrer Sprache«, also auf der Basis der Akzentprosodie, und »nach seinen übrigen Regeln, mit Richtigkeit aus[zu]arbeiten«, um letztlich »einen hohen Grad der poetischen Harmonie« zu erreichen.990 Eine große Rolle spielt hierbei auch die Wahl »harmonischer Wörter«, d. h., »die Gedanken des Gedichts« und »der Wohlklang« hätten »kein anders Verhältnis untereinander, als daß die Seele zu eben der Zeit durch die Empfindungen des Ohrs unterhalten [werde], da sie der Gedanke des Dichters 985 986 987 988 989 990

Ebd., S. 1038. Ebd., S. 1039. Ebd. Ebd. Ebd., S. 1041. Ebd., S. 1042.

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beschäftig[e]«.991 Es sei zudem »noch ein gewisser Wohlklang übrig, der mit den Gedanken verbunden [sei], und der sie aus[zu]drücken [helfe]«, allerdings sei »nichts schwerer zu bestimmen, als diese höchste Feinheit der Harmonie«.992 Die »Grammatici« hätten diesen anzustrebenden Idealzustand »›den lebendigen Ausdruck‹« genannt:993 Verschiedne Grade der Langsamkeit oder Geschwindigkeit; etwas von sanften oder heftigen Leidenschaften; einige feinen Mienen von demjenigen, was in einem Gedichte vorzüglich Handlung genannt zu werden verdient, können, durch den lebendigen Ausdruck, von ferne nachgeahmt werden.994

Diese spezifische Art der poetischen »Schönheit« gelinge nur, wenn sie »im Feuer der Ausarbeitung fast unvermerkt entstehe[.]«, d. h., sie misslinge leicht, sobald ein Dichter »zu sehr mit Vorsatz handel[e], oder seine Einbildungskraft das enge Gebiet dieser Nebenzüge zu hitzig erweiter[e], und sich aus der Harmonie eines Gedichts in die Musik versteig[e]«.995 Eine innerlich bewegende Handlung bedarf demnach eines ausdrucksstarken, rhythmischen und dynamischen Versmaßes, da nur so gemäß der Wirkungspoetik Klopstocks die Herzen der Rezipienten unmittelbar beim Leseakt affiziert werden konnten. Typisch für den Messias ist eine Kongruenz von Form und Inhalt. Der Dichter will den unmittelbaren, natürlichen Gefühlsausdruck zum einen durch die sprachliche Gestaltung und zum anderen durch die metrische Form erreichen. Demgemäß heißt es auch in einem Epigramm Klopstocks: Gegenseitige Wirkung Ist dein Gedank’ erhaben, dann macht er edler dein edles Wort, und zugleich erhöht dieses den rithmischen Ton. Aber ist dein Wort ein gemeines, so sinkt der erhabne Sinn, und solcherley Wort schwächt auch die metrische Kraft.996

Die ›erhabenen Gedanken‹ sollen durch ›edle Wörter‹ ausgedrückt werden. Es wirken jedoch nicht nur ›res‹ und ›verba‹ zusammen, sondern auch das Versmaß und der Klang der Wörter. Diese Synthese drückt der Messias-Dichter etwa in folgendem Epigramm aus: 991 992 993 994 995 996

Ebd. Ebd. Ebd., S. 1042f. Ebd., S. 1043. Ebd. HKA, Werke II, Nr. 155, S. 53. Dieses Epigramm Gegenseitige Wirkung (ca. 1795–1803) befand sich im Nachlass Klopstocks. Erstmals gedruckt wurde es im Jahre 1804 in der Gesamtausgabe seiner Werke (7. Band der »Göschen-Ausgabe«). (Vgl. ebd., S. 310 [Apparat].)

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Der doppelte Mitausdruck Silbenmaß, ich weiche dir nicht, behaupte mich, ziehe Dir mich vor! »Wohlklang, ich liebe das Streiten nicht. Besser Horchen wir jeder mit wachem Ohr dem Gesetz’, und vereinen Fest uns. Wir sind alsdann die zweyte Seele der Sprache.«997

Die Vereinigung von »Silbenmaß« (Metrum) und »Wohlklang« (Klang der Wörter) bezeichnet Klopstock demzufolge als »zweyte Seele der Sprache«, welche ihrerseits die Funktion eines »Mitausdrucks« der Gedanken hat. Das Postulat des Epikers lautet: »Leiserer, lauterer Mitausdruck der Gedanken des Liedes j Sey die Bewegung des Verses.«998 Die metrische Form hat sich stets dem ›heiligen Inhalt‹ unterzuordnen: Du Gedanke! bist der Gebieter. Die folgsame Sprache Ist dir getreu und hold. Sie ist der edelsten Worte Geberin, ist der engsten bedeutendsten Wortvereinung Geberin in dem Gedicht. Ihr dient mitsingend der Wohlklang, Ihr mitsingend das Silbenmaß. Doch wenn einer der lezten Herscher wird; so verwundet die Sprache dieser Empörer; Bleich durch den Dolchstoß sinkt sie; mit ihr der entnervte Gedanke.999

Im Messias kongruiert die »Bewegung des Verses« mit der ›herzbewegenden‹ Handlung. Klopstock geht in seiner Abhandlung Von der Nachahmung des griechischen Sylbenmasses im Deutschen auch der Frage nach, welches Vers- bzw. Silbenmaß »der Verfasser einer Epopee« wählen solle:1000 Einen Hexameter mit Auftakt, wie ihn Ewald Christian von Kleist (1715–1759) in seiner Dichtung Der Frühling (1749) gebraucht hatte, lehnt er ebenso ab wie den jambischen Alexandriner.1001 Der Blankvers als »zehnsilbichte[r] Vers« hingegen habe »viel Vorzüge vor dem zwölfsilbichten«: Er sei »an sich selbst klingender«, man könne die Zäsuren freier setzen und er sei »der Vers der Engländer, der Italiener, und auch einiger 997 HKA, Werke II, Nr. 158, S. 53. Dieses Epigramm Der doppelte Mitausdruck (ca. 1795– 1803) befand sich im Nachlass Klopstocks. Erstmals gedruckt wurde es im Jahre 1804 in der Gesamtausgabe seiner Werke (7. Band der »Göschen-Ausgabe«). (Vgl. ebd., S. 316 [Apparat].) 998 HKA, Werke II, Nr. 161, S. 54. Dieses »Gesez« stammt aus einem titellosen Epigramm, das sich ebenfalls im Nachlass Klopstocks befand und erstmals im Jahre 1804 in der Gesamtausgabe seiner Werke publiziert wurde. (Vgl. ebd., S. 318 [Apparat].) 999 HKA, Werke II, Nr. 171, S. 56. Dieses titellose Epigramm ›Du Gedanke! bist der Gebieter …‹ befand sich auch im Nachlass Klopstocks. Erstmals gedruckt wurde es im Jahre 1804 in der Gesamtausgabe seiner Werke (7. Band der »Göschen-Ausgabe«). (Vgl. ebd., S. 329 [Apparat].) 1000 Klopstock: Von der Nachahmung des griechischen Silbenmaßes im Deutschen. In: Klopstock: AW, S. 1038–1048, hier S. 1045. 1001 Vgl. ebd., S. 1043–1045.

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Franzosen«.1002 Selbst Milton und Glover hätten ihn als episches Metrum verwendet.1003 Trotz dieser Vorteile lehnt der Messias-Dichter den Blankvers aus folgenden Gründen ab: Er scheint aber gleichwohl für die Epopee zu kurz, und dies doch nicht so sehr in der englischen, als in der deutschen Sprache. Wem dieser Umstand zu unwichtig vorkömmt, eine Regel daraus zu machen, dem gestehe ich zu, daß der zehnsilbichte Jambe die Wahl eines epischen Dichters verdiente, wenn der Hexameter unnachahmbar wäre.1004

Der Trochäus sei »zu lang, zu schleppend, und in größern Werken noch schwerer auszuhalten, als der zwölfsilbichte Jambe«.1005 Klopstock wertet demnach implizit die trochäischen Tetrameter in Schönaichs Hermann entschieden ab. Angesichts dieser defizitären metrischen Möglichkeiten für die Gattung Heldengedicht stehe ein deutschsprachiger Dichter vor der Wahl »entweder nicht in Versen [zu] schreiben«, d. h. wie F8nelon ein Prosaepos zu verfassen, oder er müsse sich »zu dem Verse der Alten entschließen«, also zu dem klassischen Hexameter.1006 Mitte der 1760er Jahre begann Klopstock metrische Experimente durchzuführen. Er erfand neue lyrische und stichische Silbenmaße sowie neue Strophenformen. Diese bildeten die Grundlage seiner zur selben Zeit entwickelten umfassenden und detailversessenen Verstheorie, die mit der Komposition des letzten Gesanges seines Bibelepos zusammenhing.1007 Der Messias endet stofflich mit der Himmelfahrt Jesu Christi.1008 Im XIX. Gesang folgt der Dichter den biblischen Evangelienberichten und der Apostelgeschichte (Mk. 16,19; Lk. 24,50f.; Apg. 1,9) und stellt dieses Ereignis poetisch auf dem irdischen 1002 1003 1004 1005 1006 1007

Ebd., S. 1045. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Die grundlegende Forschungsarbeit zur Verstheorie Klopstocks ist immer noch folgende Monographie: Hans-Heinrich Hellmuth: Metrische Erfindung und metrische Theorie bei Klopstock. München 1973. (Studien und Quellen zur Versgeschichte; 4.) Detaillierte Untersuchungen der komplexen Struktur des letzten Gesanges des Messias liegen bislang nicht vor. Lediglich Clemens Johannes Rößler setzte sich 1998 in seiner leider unveröffentlichten Magisterarbeit mit dem XX. Gesang von Klopstocks Bibelepos auseinander. (Vgl. Clemens Johannes Rößler: Form als Theologie. Zur poetologischen, theologischen und musiktheoretischen Struktur des 20. Gesanges von Klopstocks Messias. Masch. Magisterarbeit. Berlin 1998.) Franz Muncker bewertet das Ende des Messias folgendermaßen: »[Es] vermochten im zwanzigsten Gesang alle äußeren poetischen und rhetorischen Kunstmittel über den innern Mangel an dichterischer Phantasie und Empfindung nicht immer hinwegzutäuschen.« (Muncker : Friedrich Gottlieb Klopstock, S. 106.) 1008 Vgl. zur Textgenese des XX. Gesanges des Messias: HKA, Werke IV 3, S. 340–355, hier S. 340.

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Schauplatz dar (XIX, 1034–1059).1009 Im XX. Gesang erhält dieses Geschehen quasi eine ›olympische‹ Dimension: Erst durch die triumphale Rückkehr des Gottessohnes an die Seite seines allmächtigen Vaters im Himmel (vgl. XX, 1187) wird »die große Versöhnung« (I, 7) bzw. »der sündigen Menschen Erlösung« (I, 1) letztlich vollendet.1010 Der abschließende Gesang des Messias sollte »alles Voranstehende zusammenfassend, die Erlösung unter den Aspekten der Ewigkeit und der Unendlichkeit vergegenwärtigen«.1011 Klopstock konzipierte hierfür einen »›Triumphgesang bey der Himmelfahrt‹ aus 55 lyrischen Triumphchören« – mehrere Stimmen singen gemeinsam vereint – und »[Triumph]liedern« – einzelne Stimmen ertönen –, »denen 36 verschiedene Strophenformen zu Grunde liegen«.1012 Die ungeheure »Fülle der Stimmen von Seelen- und Engelsscharen«, die die triumphale Himmelfahrt des Messias als unmittelbare Zeugen des transzendentalen Geschehens begleiten, setzte der Epiker in eine ›Mannigfaltigkeit‹ der metrischen Form und des lyrischen Ausdrucks um.1013 Der Messias Klopstocks besteht in der Endfassung von 1799/1800 aus insgesamt 19.458 Versen.1014 Der XX. Gesang umfasst 1.187 Verse, wovon nur 341 Hexameter sind, d. h., 846 sind ›lyrische‹ Verse. Demgemäß ist das biblische Heldengedicht aus 18.612 Hexametern und 846 lyrischen Versen zusammengesetzt. Aufgrund der Auflösung des epischen Hexameters ins Lyrische im XX. Gesang könnte man Klopstocks Dichtung als ›genus mixtum‹ bezeichnen. Im Messias finden sich demzufolge neben epischen und dramatischen auch lyrische Elemente. Die »Genese der lyrischen Texte« ist »auf den relativ kleinen Zeitraum von zunächst wenigen Wochen im Februar und März 1764, dann von einigen Jahren, 1764 bis etwa 1767, einzugrenzen«.1015 Im März 1764 und im Mai 1766 erschienen zwei Privatdrucke Klopstocks, die Fragmente aus dem XXten Ges. des Mess. als M. S. für Freunde. […] zum Triumphgesange bey der Himmelfahrt.1016 Die ersten 1009 1010 1011 1012 1013 1014

Vgl. ebd., S. 340. Vgl. ebd. Ebd. Ebd. Ebd. I. Gesang: 721 Verse; II. Gesang: 896 Verse; III. Gesang: 745 Verse; IV. Gesang: 1345 Verse; V. Gesang: 828 Verse; VI. Gesang: 606 Verse; VII. Gesang: 861 Verse; VIII. Gesang: 627 Verse; IX. Gesang: 768 Verse; X. Gesang: 1052 Verse; XI. Gesang: 1569 Verse; XII. Gesang: 874 Verse; XIII. Gesang: 1003 Verse; XIV. Gesang: 1419 Verse; XV. Gesang: 1549 Verse; XVI. Gesang: 699 Verse; XVII. Gesang: 785 Verse; XVIII. Gesang: 845 Verse; XIX. Gesang: 1079 Verse; XX. Gesang: 1187 Verse. 1015 HKA, Werke IV 3, S. 341. 1016 Friedrich Gottlieb Klopstock: Fragmente aus dem XXten Ges. des Mess. als M. S. für Freunde. im März 1764. zum Triumphgesange bey der Himmelfahrt. In: Brief von Klopstock an Ebert, zwischen dem 24. und dem 28. April 1764. In: HKA, Briefe IV 1, Nr. 182, S. 219–230. Der Messias-Dichter hatte für seinen Freund Ebert ein Exemplar der 20

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20 Triumphchöre, denen 17 lyrische Strophenschemata zugrunde liegen, »entstanden etwa ab Februar 1764 innerhalb weniger Wochen«.1017 Aus 15 Triumphchören nahm der Messias-Dichter je eine Strophe als Textbeispiel in seine Sammlung Lyrische Sylbenmaasse auf, die insgesamt 30 Strophenbeispiele enthielt und die ebenfalls im März 1764 »als [Manuskript] für Freunde« publiziert wurde.1018 Diese drei Privatdrucke ließ er in nur wenigen Exemplaren herstellen und schenkte sie seinen Freunden und Bekannten, etwa Johann Wilhelm Ludwig Gleim, Johann Arnold Ebert oder Johann Caspar Lavater.1019 Jene sollten sich »durch Lesung dieser Fragmente, mit den Schwierigkeiten des Schwersten im ganzen Mess. bekannter machen«.1020 Im erweiterten Triumphgesange bey der Himmelfahrt vom Mai 1766, der zwölf Fragmente aus dem XX. Gesang des Messias enthält, »sind die Chöre wie die Texte differenziert und außer Chören treten auch einzelne Stimmen mit Triumphliedern hervor«.1021 Einzelne Hexameterverse sind gewissermaßen als epischer Kontext zu den lyrischen Strophen hinzugekommen und durch alttestamentarische Inhalte wird ein typologisches Verweisungssystem geschaffen. Der XX. Gesang des Messias thematisiert so in konzentrierter Form die gesamte christliche Heilsgeschichte von der Erschaffung der Welt bis zum Jüngsten Gericht. Inhaltlich bot der letzte Gesang einem bibelkundigen Leser, der sich zudem mit der pathetisch-erhabenen Sprache Klopstocks vertraut gemacht hatte, folglich nichts Neues. Dementsprechend schreibt der Bibelepiker in einem Brief an Anna Cäcilie Ambrosius vom 30. Januar 1768: »Es ist mir lieb, daß in dem Triumphgesange nicht viel neues für sie ist. Das zeigt mir, daß Sie mit dem Mess. sehr bekannt sind. Zwar ich wuste das ohne dieß schon. Für Leser, wie Sie, soll auch nicht viel neues darinn seyn.«1022 Klopstock begann zudem im Jahre 1764 eine ausführliche Abhandlung vom Sylbenmaasse zu schreiben. An dieser verstheoretischen Schrift, die in Dialog-

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Fragmente von 1764 handschriftlich metrisch ausgezeichnet, »indem er zur Verdeutlichung der Versmaße in der ersten Strophe jedes Triumphchors – mit Ausnahme des 20. – sowie in verschiedenen einzelnen Versen die Längen der Silben und die Versfußeinteilungen eintrug«. (HKA, Briefe IV 2, S. 696.) Friedrich Gottlieb Klopstock: Fragmente aus dem XXten Ges. des Mess. als M. S. für Freunde im May 1766. zum Triumphgesange bey der Himmelfahrt. In: HKA, Werke IV 3, S. 69–87. HKA, Werke IV 3, S. 343. Vgl. ebd., S. 343f. Vgl. HKA, Briefe IV 2, S. 679. Brief von Klopstock an Lavater, 26. Juli 1766. In: HKA, Briefe IV 1, Nr. 204, S. 260–262, hier S. 261, Z. 8f. HKA, Werke IV 3, S. 345. Dieser Privatdruck »enthält zwölf Fragmente aus dem XX. Gesang des ›Messias‹ mit 41 durch epischen Kontext verbundenen Triumphchören und -liedern, die teilweise bereits in den ›Fragmenten‹ von 1764 gedruckt waren«. (HKA, Briefe IV 2, S. 760.) Brief von Klopstock an Anna Cäcilie Ambrosius, 30. Januar 1768. In: HKA, Briefe V 1, Nr. 35, S. 51–53, hier S. 52, Z. 33–37.

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form konzipiert war, arbeitete er mehrere Jahre lang, ohne sie allerdings zu vollenden.1023 Später veröffentlichte er daraus die Fragmente Vom deutschen Hexameter (1768) und Vom gleichen Verse (1773), die er dem dritten und vierten Band der »Kopenhagener bzw. Halleschen Ausgabe« des Messias voranstellte. Klopstock erklärt Denis am 22. November 1766: Ich habe mich bisher in einigen Nebenstunden damit beschäftigt, eine Abhandlung vom Sylbenmaaße zu schreiben. In dieser Abhandlung kömmt, wenn ich es so nennen darf, eine Episode von der metrischen Composition vor. Sie sehen gleich, daß ich durch metrische Compositionen nichts anders, als den genauen Ausdruck des Sylbenmaaßes in der Musik verstehn kann. Wenn mir nun Hasse einige von den Sylbenmaaßen der Fragmente componirt; so lerne ich von Ihm, (und ich möchte nicht gern von einem kleinen Meister lernen) ob ich in meiner Theorie recht, oder unrecht habe. Denn ich bin, wie verliebt ich auch in die eigentliche, wahre, simple Musik bin, doch ein Laye in allem, was musikalische Theorie heissen kann, und ich habe nur erst seit ehegestern die Lehre vom Takte ein wenig studirt.1024

Der Dichter nahm in den Jahren, in denen er intensiv an dem XX. Gesang seines Bibelepos und an seiner metrischen Theorie arbeitete, verstärkt Kontakt zu zeitgenössischen Musikern und Komponisten auf, um eine Vertonung einiger Triumphchöre oder -lieder zu erhalten.1025 Bereits in einem Brief an Gleim vom 27. März 1764 gab Klopstock zu, auf dem Fachgebiet der Musiktheorie keinerlei Kenntnisse zu haben: »Sie wissen So gut als ich, daß ich nicht das Abc. der Noten verstehe, u von Takte noch weniger. Das Sylbenmaß ist mein Takt gewesen.«1026 Den Epiker beschäftigte die Frage, bis zu welchem Grad das hexametrische Versmaß und die lyrischen Strophenformen musikalisch ausgedrückt werden konnten. Der »Gang des Verses« sollte hörbar werden.1027 Der Komponist Johann Adolph Hasse (1699–1783) hatte die Fragmente aus dem XXten Ges. des Mess. von 1766 erhalten, allerdings erteilte er dem Messias-Dichter eine Absage auf dessen Bitte, einige Strophen aus dem »Triumphgesang« zu vertonen.1028 Klop1023 Klopstock erklärt Denis am 6. Januar 1767: »Meine Abhandlung vom Sylbenmasse (der nur noch wenig fehlt!) ist mir mehr ein Spiel, als eine Arbeit gewesen; doch die neuen Sylbenmaße darinn und die Exempel nehm ich aus. Ich habe auch mehr dabey geblättert, als gelesen.« (Brief von Klopstock an Denis, 6., 9. Januar 1767. In: HKA, Briefe V 1, Nr. 1, S. 1–4, hier S. 4, Z. 111–114.) 1024 Brief von Klopstock an Denis, 22. November 1766. In: HKA, Briefe IV 1, Nr. 211, S. 270– 273, hier S. 271, Z. 27–39. 1025 Vgl. hierzu die diversen Aufsätze in folgendem Tagungsband: Klopstock und die Musik. Hrsg. v. Peter Wollny. Beeskow 2005. (Ständige Konferenz Mitteldeutsche Barockmusik in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen e.V.; Jahrbuch 2003.) 1026 Brief von Klopstock an Gleim, 27. März 1764. In: HKA, Briefe IV 1, Nr. 176, S. 214, Z. 20– 22. 1027 Brief von Klopstock an Ebert, 18. April 1764. In: HKA, Briefe IV 1, Nr. 179, S. 216f., hier S. 217, Z. 26f. 1028 Vgl. HKA, Briefe IV 2, S. 782.

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stocks biblisches Heldengedicht galt im Kreise der zeitgenössischen Berufsmusiker und Komponisten als »musikalische Poesie«, das aufgrund seiner kreativen sprachlichen und komplexen metrischen Durchformung nur schwer zu vertonen war. Johann Friedrich Reichardt (1752–1814), der den Epiker im Sommer 1774 in Hamburg kennengelernt hatte, veröffentlichte im Jahre 1782 in seinem Musikalischen Kunstmagazin (1782–1791) einen kurzen Aufsatz über den Messias (1. Bd., I. Stück). Er schreibt darin: Ich erblickte in diesem allumfassenden Meer einen lyrischen Strohm durchs Ganze hindurch, der mir all die Wege bahnte, die ich lange dunkel geahndet, und auf denen ich so gerne dem folgenden Volke glücklich voranschritte. Jeder große Moment der großen Geschichte wird in den Himmeln von feyernden Seraphen und Seelen der Seligen in himmlischen Gesängen, besungen. Und all diese hohen Gesänge hängen so herrlich aneinander, oder lassen sich so leicht zu einander stellen, machen dann ein so großes lyrisches Ganze [!], daß dem Tonkünstler für seine Kunst und seinen großen Zweck nichts zu wünschen übrig bleibt. Hier, und nur hier, ist nun der Tonkünstler aller unlyrischen Exposizionen überhoben. Die Geschichte ist, wo nicht in aller Herzen, doch in aller Gedächtniß, jeder ist hier im Stande zu folgen; jeder Totalausdruck findet seine Stäte bereitet und kann Totaleindruck machen. Auch ist Klopstock gerad in diesen lyrischen Gesängen am volkmäßigsten; die edelste höchste Symplizität, der ausdruckvollste mahlerischte Versbau – in dem Klopstock so unübertrefbar, so einzig ist – alles macht diese Gesänge zum Ideal musikalischer Poesie für wahre Musik. Seit einigen Jahren hab’ ich der musikalischen Bearbeitung dieses großen Werks, die schönsten glücklichsten Stunden meines verflossenen und künftigen Lebens geweiht; bin fest entschlossen es nur mit mir selber und bis zu seiner gänzlichen Vollendung nur für mich selber zu bearbeiten, damit keine Konvenienz, keine Kunstmode, keine äußere Einwirkung, welcher Art sie auch sey, das Werk zu etwas anderm mache, als es durch mich selbst werden kann, und ichs auch am Ende noch ganz in meiner Gewalt habe.1029

Reichardt publizierte seine Messias-Kompositionen leider nicht und sie gelten heute als verschollen.1030 Er beabsichtigte auch, ein Oratorium auf der poetischen Grundlage einiger Szenen bzw. Versabschnitte aus dem Bibelepos Klopstocks zu komponieren.1031 Die »edelste höchste Symplizität« und der »aus1029 Johann Friedrich Reichardt: Der Meßias. In: Musikalisches Kunstmagazin. Hrsg. v. Johann Friedrich Reichardt. Erster Band. I–III. Stück. Berlin 1782. S. 8–12, hier S. 8. Reichardt zitiert in seinem Musikalischen Kunstmagazin zudem einige Textstellen aus dem I. und II. Gesang (1. Bd., I. Stück) sowie aus dem V. Gesang (1. Bd., II. Stück) des Messias. (Vgl. Musikalisches Kunstmagazin, 1. Bd., S. 9–12 und S. 53–55.) 1030 Vgl. HKA, Briefe VII 2, S. 683. 1031 »Reichardts Vorstellung eines christlich-aufklärerischen Volksoratoriums, das durchdrungen sein muss von der zentralen Klopstockschen Kategorie der ›heiligen Poesie‹, die dem ›ganzen Volke verständlich‹ und ihm schon vorab ›im Herzen heilig‹ sei, mündet in den Plan eines eigenen Messiasoratoriums nach ausgewählten Abschnitten aus Klopstocks Messiade.« (Jürgen Heidrich: Klopstock und der zeitgenössische Oratorienbegriff. In:

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druckvollste mahlerischte Versbau« zeichnen laut Reichardt die »lyrischen Gesänge« des Messias aus und machen diese »zum Ideal musikalischer Poesie für wahre Musik«.1032 In der Forschung wurde der XX. Gesang oft als »eine Art Oratorium« verstanden, da sich Klopstock hier »nicht nur vom epischen Versmaß des Hexameters, sondern vom Epos überhaupt« gelöst und »chorischlyrische[.] Vers- und Strophenformen« verwendet habe.1033 Mit dem »lyrischen Strohm«, der sich laut dem Komponisten Reichardt durch das ganze Epos zieht1034, sind die vielen Lieder und Wechselgesänge gemeint, die von diversen epischen Charakteren im Messias gesungen werden. Der Begriff des literarischen »Wechselgesangs« lässt sich folgendermaßen definieren: Wechselgesang als Sonderform der Kunstdichtung meint die ein- oder mehrmalige Aufeinanderfolge oder auch den Zusammenklang von zwei oder mehreren Einzelstimmen oder Gruppen von Stimmen (Chören), meist, aber nicht ausschließlich und notwendig, in versifizierter Form […], häufig durch Voranstellung der Personennamen den Anteil der Partner scheidend. Das kennzeichnende innere Merkmal ist das Prinzip der Polarität, die Existenz mehrerer gleichberechtigter Partner, deren Äußerungen sich gegenseitig bedingen und ergänzen und in Ruf und Antwort aufeinander bezogen sind.1035 Wechselgesang in seiner ursprünglichen Bedeutung der (ein- oder mehrmaligen) Folge zweier oder mehrerer als Anruf und Entgegnung aufeinander bezogener Einzelstimmen oder Stimmgruppen (Chöre) ist zunächst eine Sondergattung der Lyrik im weitesten Sinne.1036

Urformen des Wechselgesangs finden sich im Alten Testament (Wechsel zwischen Vorsänger und Chor oder zwischen Chören), in den Epen Homers (z. B. Ilias, 24. Gesang, V. 719–776) und in der Chorlyrik des griechisch-antiken Dramas. Folgende Beispiele stammen aus dem biblischen Vorbild:1037 Nach der Flucht der Israeliten aus Ägypten stimmt Moses einen Lobgesang an (Ex. 15,1– 18). Er singt kurz vor seinem Tode ein prophetisches Lied (Dtn. 32,1–43). Debora und Barak singen zusammen ein Triumphlied (Ri. 5,1–31). Hanna, die Mutter Samuels, stimmt ein Danklied an (1. Sam. 2,1–10), und auch Maria

1032 1033 1034 1035 1036 1037

Klopstock und die Musik. Hrsg. v. Peter Wollny. Beeskow 2005. (Ständige Konferenz Mitteldeutsche Barockmusik in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen e.V.; Jahrbuch 2003.) S. 99–108, hier S. 103f.) Reichardt: Der Meßias. In: Musikalisches Kunstmagazin. 1. Bd., I. Stück, S. 8–12, hier S. 8. Dieter Borchmeyer : Klopstock – Poeta musicus. In: Klopstock und die Musik. Hrsg. v. Peter Wollny. Beeskow 2005. (Ständige Konferenz Mitteldeutsche Barockmusik in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen e.V.; Jahrbuch 2003.) S. 11–30, hier S. 20. Reichardt: Der Meßias. In: Musikalisches Kunstmagazin. 1. Bd., I. Stück, S. 8–12, hier S. 8. August Langen: Dialogisches Spiel. Formen und Wandlungen des Wechselgesangs in der deutschen Dichtung (1600–1900). Heidelberg 1966. (Annales Universitatis Saraviensis. Reihe: Philosophische Fakultät; 5.) S. 28. Ebd., S. 272. Vgl. ebd., S. 38.

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(Lk. 1,46–55; sogenanntes »Magnificat«) und Zacharias (Lk. 1,68–79) singen dem Herrn psalmenartige Danklieder bzw. Lobgesänge. Als David nach seinem Sieg über die Philister zurückkehrt, stimmen die Frauen einen Wechselgesang an, d. h., sie singen »gegen einander« (1. Sam. 18,7). Der Apostel Paulus predigt der christlichen Urgemeinde, dass diese in Psalmen, Hymnen und geistlichen Liedern zueinander sprechen sollten (Eph. 5,19). In den Psalmen heißt es: »SJnget vmb einander dem HERRN mit dancke / Vnd lobet vnsern Gott mit Harffen.« (Ps. 147,7; vgl. Ps. 53,1) Als biblische Großform eines »Liebeswechselgesangs« gilt das Hohelied Salomonis.1038 Im Messias Klopstocks singen die Himmelsbewohner und die Heiligen Arien, Duette und Chorgesänge zum Lobpreis Gottes und des Erlösers.1039 Die (chor-)lyrischen Formen sind Ausdruck einer gemeinschaftlich-religiösen Feier zur Verehrung des christlichen Gottes: Jeder Gottesdienst schafft sich seinen Ausdruck in Gesängen einer Gemeinschaft, und eine naturgegebene Form dieses Gemeindegesangs ist neben dem Gesamtchor von Anfang an auch das Nacheinander der Stimmen, sei es der Wechsel zwischen mehreren Einzelstimmen, sei es zwischen Vorsänger und Chor, sei es zwischen mehreren Chören.1040

Im II. Gesang singen »zwo Seelen gegen einander, j Adams Seele, mit ihr die Seele der göttlichen Eva« (II, 3f.) (vgl. II, 5–60). Mirjam und Debora singen im X. Gesang »gegen einander« (X, 485, 523) (vgl. X, 486–523): »Mirjams, und deine Wehmuth, Debora, wurden nach langem j Traurenden Schweigen zum sanften zum weinenden Liede voll Klage. j Denn der Unsterblichen Stimme zerfließt von sich selbst in Gesänge, j Wenn sie Empfindungen sagt, wie Debora und Mirjam sie fühlten.« (X, 480–483) Im XIII. Gesang singen Daniel und Jesaja »gegen einander« (XIII, 226) (vgl. XIII, 227–263). Eva und Mirjam, Jesu Mutter, singen im XV. Gesang »dem Mittler!« (XV, 1260) (vgl. XV, 1262–1360). Im XVII. Gesang singt das Liebespaar Semida und Cidli »[n]euen Gesang von der Wonne des Liebenden, und der Geliebten« (XVII, 697) (vgl. XVII, 704–726). Maria und Maria Magdalena singen im XIX. Gesang miteinander (vgl. XIX, 417–490). Sprachlich-stilistisch zeichnen sich die epischen Szenen im Messias, in denen zwei Figuren einen Wechselgesang anstimmen, folgendermaßen aus: »Stimme 1038 Ebd. 1039 August Langen betont, dass der Messias durch »diese eingefügten Arien, Duette und Wechselchöre […] der großen Oratorienkunst der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts angenähert [werde]«. (Ebd., S. 128.) Klopstocks Bibelepos enthalte »epische, lyrische und chorisch-oratorische Bestandteile«. (Ebd., S. 30.) Der Messias, »dem Stoff wie der musikalisch-oratorischen Struktur nach zur Aufnahme des Wechsels prädestiniert, [sei] durchsetzt von Duetten und Wechselchören bis zum Finale der Himmelfahrt des Erlösers«. (Ebd., S. 276.) 1040 Ebd., S. 37.

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und Gegenstimme sind durch Anaphora und Epiphora, Parallelismus, Wortund Satzwiederholung eng miteinander verbunden.«1041 Dies zeigt sich etwa im XV. Gesang, in dem Eva und Maria zum Lobpreis des gekreuzigten und auferstandenen Gottessohnes singen: E. Zweymal ward ich geschaffen! er rufte mich zweymal ins Leben, Den du, Mirjam, gebarst! O Mutter, er wurde geboren, Der dich schuf, und mich, der alle Himmel gemacht hat! M. Der die Sonne, den Mond, der alle Sterne gemacht hat! Der dich schuf, und mich, er wurd’, o Eva, geboren! Hast du den hohen Gesang der Engel Gottes vernommen, Die ihm sangen, als er geboren ward in der Hütte? E. Da nach Sion zurück des Preisgesanges Triumph kam, Bebten vor seinem Donner die Wipfel der Lebensbäume! Sanken, wo er tönte, die Himmlischen vor dem Gebornen! M. Und er weint’ in Bethlehems Krippe. Doch hatten schon Engel, Eh’ er weinte, den Namen des Wiederbringers genennet! Jesus! hatte die Ceder, die Palme Jesus! gehöret, Jesus! Tabor, Jesus! gehört ach Golgatha Jesus! E. Nennen hörte den Gottesgesalbten der Thron, von dem er Niederstieg, der Unsterblichen Heer den Gottesgesalbten! M. Hast du ihn sterben gesehn? E. Ich hab’ ihn sterben gesehen! M. Hast du die blutige Krone der Schmach um die Schläfe des Mittlers Triefen, o Mutter Abels, gesehn? E. Ich sahe die Krone Um sein Haupt! und sah wie in Dämmrung erlöschen der Engel Antlitz, in trübere derer Antlitz, die er versöhnte! M. Hast du die Todesstimme des Gottversöhners vernommen? Jene, da Christus rief: Es ist vollendet! und jene: Vater, in deine Hände befehl’ ich meine Seele! E. Ach, ich habe vernommen die Worte des ewigen Lebens, Habe wie Psalme gehört der Harfenspieler, wie Chöre, Als ob sie an dem Throne dem Hocherhabenen sängen, Da er sein Haupt emporhub, rief: Es ist vollendet! Da sein Auge schaute mit Gottesblicken gen Himmel: Vater, in deine Hände befehl’ ich meine Seele! (XV, 1262–1291)

Hier vereinen sich die dramatische Dialogform, der epische Hexameter und der lyrisch-musikalische Charakter des Wechselgesangs. In der kultisch-religiösen Form des lyrischen Wechselgesangs, des sogenannten »Gegen-einander-Singens« in der zweiten Hälfte des Messias, insbesondere im XX. Gesang, offenbart sich abermals der agonale Charakter des Epos auf der Textebene. Vorformen einer Verbindung epischer, dramatischer und lyrischer Elemente finden sich im antiken Chorlied, dem Dithyrambos, das zu 1041 Ebd., S. 129.

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Ehren eines Gottes gesungen wurde und das laut Aristoteles als Ursprung der antiken Tragödie gilt.1042 Carl Friedrich Cramer ruft bezeichnenderweise in seinen Anmerkungen zum XX. Gesang des Messias aus: »Welch Leben, welche Bewegung hat er dadurch hineingebracht: daß er, bald einzelne Sänger, bald Chöre aus eigner Bewegung singen, bald sie wie in den dramatischen Chören der Griechen mit einander wettstreiten, sich einander auffodern und antworten läßt!«1043 Der Klopstock-Intimus vergleicht demzufolge die dynamische Darstellung der Triumphchöre im letzten Gesang des biblischen Heldengedichts mit der Chorlyrik des antiken Dramas. Der Messias-Dichter notiert zum ersten Strophenbeispiel in der Sammlung Lyrische Sylbenmaasse (1764): »Ich schlug Sophocles Chöre, u. den Haephestion nach, da ich mit meinen Strophen fertig war, u traf in denselben einige von denen Versen an, die mir lyrisch vorgekommen waren. In Pindarus hab ich nicht nachgesucht, weil mir sein Rhythmus nicht genung gefällt.«1044 Hephaistion war ein aus Alexandria stammender griechischer Grammatiker des 2. Jahrhunderts n. Chr. Sein bedeutendes Hauptwerk war eine Abhandlung über griechische Metrik (Peri metron), die ursprünglich 48 Bücher umfasste. Erhalten hat sich nur ein von ihm selbst verfasster Auszug, das sogenannte Encheir&dion (»Handbüchlein«).1045 Klopstock hatte Johann Heinrich Schlegel offenbar darum gebeten, ihm ein Exemplar des »Hephaestion« zu beschaffen, das neben metrischer Theorie auch viele Textbeispiele von griechisch-antiken Dichtern enthielt. Schlegel teilte dem Bibelepiker am 6. September 1766 mit, dass er leider das gewünschte Buch des griechischen Metrikers nicht habe auftreiben können.1046 Im Jahre 1764 muss Klopstock allerdings ein Exemplar von Hephaistions Encheir&dion zur Verfügung gestanden haben, da er im Privatdruck der Lyrischen Sylbenmaasse vermerkt, im »Haephestion« nachgeschlagen zu haben, um metrisch vergleichbare Textstellen zu entdecken.1047 In den Anmerkungen zu neun Versen gibt er in seiner lyrischen Strophensammlung, die insgesamt 19 Strophen aus dem »Triumphgesang« des Messias enthält, entsprechende Stellen aus Sophokles’ Tra1042 Vgl. Aristoteles: Poetik. Griechisch / Deutsch. Übersetzt und hrsg. v. Manfred Fuhrmann, S. 14/15 (Kap. 4, 1449a 10–13). 1043 [Carl Friedrich Cramer :] Klopstock. (In Fragmenten aus Briefen von Tellow an Elisa.) [2. Bd.] Fortsetzung. Nachdruck der Ausgabe Hamburg 1778. Bern 1971. S. 234 [recte: 324]. 1044 HKA, Werke IV 6, S. 153. 1045 Vgl. hierzu: HKA, Briefe IV 2, S. 772. – [Art.] Hephaistion. In: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Hrsg. v. Hubert Cancik und Helmuth Schneider. Abt. Altertum. Band 5. Stuttgart / Weimar 1998. Sp. 349–352. – J. M. van Ophuijsen: Hephaestion On metre. A translation and commentary. Leiden / New York / Kopenhagen / Köln 1987. (Mnemosyne. Bibliotheca classica Batava. Supplementum; 100.) 1046 Vgl. Brief von Johann Heinrich Schlegel an Klopstock, 6. September 1766. In: HKA, Briefe IV 1, Nr. 208, S. 267. 1047 Vgl. HKA, Briefe IV 2, S. 682.

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gödien und aus anderen griechisch-antiken Dichtungen an, in denen ähnliche ›Silbenmaße‹ zu finden waren.1048 In einem Brief an Gleim vom 27. März 1764 schreibt der Epiker : »Weil es M.S. [Manuskript; I. G.] ist, so durft ich, glaube ich, die Stellen aus dem Soph.[okles] hinzusezen.«1049 Gleichermaßen berichtet er Lavater am 15. April 1764, dass er bald »zwey gedrukte Manuscripte [erhalte], das eine, lyrische Fragmente zum XXten Ges. des Mess. u das andere XXX lyrische Sylbenmasse«: Sie wissen, daß ich bisher viel gearbeitet habe. Ich pflege mir kleine Zerstreuungen zu machen, wenn ich vom Arbeiten ermüdet bin. Eine davon in den lezten Zeiten ist gewesen, daß ich in den Griechen nachgesucht habe, ob ich etwa gleiche oder ähnliche Verse bey ihnen finden würde. Ich habe einige kleine Entdeckungen von dieser Art gemacht.1050

Klopstock hatte metrisch vergleichbare, chorlyrische Stellen aus der griechischantiken Dichtung – etwa aus Sophokles’ Dramen oder aus den Fragmenten Alkmans1051 – auch in ein Exemplar der Fragmente aus dem XXten Ges. des Mess. handschriftlich eingetragen, das er am 18. April 1764 an Ebert sandte.1052 Er erklärt in dem beiliegenden Brief: 1048 Vgl. ebd. Die insgesamt 30 Strophenbeispiele der Lyrischen Sylbenmaasse sind abgedruckt in: Hellmuth: Metrische Erfindung und metrische Theorie bei Klopstock, S. 269–276. – HKA, Werke IV 6, S. 1–49 (Die Strophenbeispiele aus dem zwanzigsten Gesang. Paralleldruck). Vgl. die entsprechenden Stellenangaben zu den Strophenbeispielen aus dem XX. Gesang des Messias: HKA, Werke IV 6, S. 153–155 (H73: XX, 116–119, H75: XX, 929–932, H78: XX, 445–448, H84: XX, 187–190). Klopstock gibt zu fünf Versen aus vier Triumphchören und -liedern des Messias metrisch vergleichbare Stellen aus Sophokles’ Tragödien und aus den Fragmenten des Chorlyrikers Alkman an. Die Vergleichsstellen aus den griechisch-antiken Dichtungen betreffen folgende Triumphchöre und Verse aus dem XX. Gesang des Messias: 1.) Strophe Nr. 15, V. 4: »Und schnell gewandt trat’s in den Kreislauf« (XX, 119). Vgl. »Vqemar paqaspôr 1pi kybô [Amtic.]«; »Ekalxe caq tou mivoemtor [Oid. Tuq.]«. (Ebd., S. 153.) 2.) Strophe Nr. 17, V. 1 und V. 2: »Donnr’ es, o Gesang, in der Nacht j Schrecken hinab, zu Gehenna’s Empörer hin« (XX, 929, 930). Vgl. »Oudepote kgsolemom. [Gk.]«; »Alvicuoi jatebam pqo calym t_mer. [Tqaw.]«; »Lys’ !ce Jakkiopa, hucateq Dior. [Akjlam]« (Ebd., S. 154.) 3.) Strophe Nr. 20, V. 4: »Sey Trümmer, Stadt Gottes« (XX, 448). Vgl. »Cmyla taw’ am dyseim. [OQd. 1pi Jok.]« (Ebd.) 4.) Strophe Nr. 26, V. 2: »Inniges, jauchzendes, heiliges Lied« (XX, 188). Vgl. »Tauta lem ¢r !m b dglor "par. [Akjlam]« (Ebd., S. 155.) 1049 Brief von Klopstock an Gleim, 27. März 1764. In: HKA, Briefe IV 1, Nr. 176, S. 214, Z. 16f. 1050 Brief von Klopstock an Lavater, 15. April 1764. In: HKA, Briefe IV 1, Nr. 177, S. 215, Z. 12– 19. 1051 »Der griechische Dichter Alkman (2. Hälfte des 7. Jahrhunderts v. Chr.) war einer der Schöpfer der griechischen Chorlyrik.« (HKA, Briefe IV 2, S. 697.) 1052 Vgl. ebd., S. 692.

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Ich stelle mir vor, daß Sie glauben werden, daß ich meine Verse nach den angeführten griechischen gemacht habe, u das ist eben der wichtige Irrthum aus dem ich Sie herausreissen muß. Sie müssen also wissen, daß alles mein Eigenthum ist, u daß ich diese kleinen mir nicht gleichgültigen Entdeckungen gemacht habe, da ich einmal recht müde vom Arbeiten war, u in dem Soph.[okles] in der Absicht sie machen, blätterte. Im Pindarus hab ich nicht nachgesehen, weil ich mit seinen Stroph.[en] in Absicht auf den lyrischen Klang nicht zufrieden bin. Es ist fast seine beständige Zuflucht Stücke von Hexametern zu nehmen. Wenn er dieß nicht thut, so ist er entweder jambisch oder zu dithyrambisch. Seine Seele hat die böotische Luft1053 genug überwunden; aber sein Ohr hat etwas von ihren Wirkungen behalten.1054

Dem Messias-Dichter ging es folglich in erster Linie darum, alle lyrischen Strophenformen und das stichische, sogenannte ›ionische‹ Versmaß als eigene metrische Erfindungen und nicht als Nachahmungen griechischer Versmaße auszuweisen. Dabei hatte er natürlich die Regeln der antiken Metrik eifrig studiert. Klopstocks »Abhandlung über das deutsche Sylbenmaaß« wurde von seinen Freunden sehnlichst erwartet.1055 So schreibt Gleim in einem Brief an Uz vom 11. Dezember 1764: Von dieser [Abhandlung] versprech ich mir sehr viel gutes; das Stück, so ich schon davon gelesen enthielt viele gründliche Anmerckungen. Er hat die Griechen sehr studirt, und weil diese in Sachen des Wohlklangs die Meister auf dem Parnaß sind, so wird er vieles zu sagen haben, das er ihnen abgelernet hat.1056

Als im Jahre 1773 der vierte und letzte Band des Messias mit den Gesängen XVI bis XX erschien, stellte Klopstock diesem das Fragment Vom gleichen Verse voran, in dem alle 37 verwendeten lyrischen Versmaße mit Strophenbeispielen aus dem XX. Gesang vorgestellt und erklärt wurden.1057 Seine metrischen Erfindungen für den Messias wurden darin folglich systematisch zusammengefasst. Die Schrift Vom gleichen Verse war offensichtlich als Lektüreanweisung gedacht. Eine derartige Zusammenstellung der metrischen Schemata und der Textbeispiele zu allen im XX. Gesang vorkommenden lyrischen Strophenformen sollte den Rezipienten wohl den Zugang zu einem schwierigen Text erleich1053 »Pindar stammte aus Theben in Böotien. In der Antike galten die Böoter als schwerfällig und derb.« (Ebd.) 1054 Brief von Klopstock an Ebert, 18. April 1764. In: HKA, Briefe IV 1, Nr. 179, S. 216f., hier S. 217, Z. 33–44. 1055 Brief von Gleim an Uz, 11. Dezember 1764. In: Briefwechsel zwischen Gleim und Uz. Hrsg. und erläutert von Carl Schüddekopf. Tübingen 1899. (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart; 218.) Nr. 119, S. 358–360, hier S. 360. 1056 Ebd., S. 360. 1057 Friedrich Gottlieb Klopstock: Vom gleichen Verse. In: Friedrich Gottlieb Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie. Dichtungstheoretische Schriften. Hrsg. v. Winfried Menninghaus. Frankfurt a. M. 1989. S. 35–53.

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tern.1058 Die Reaktionen der zeitgenössischen Leser zeigen nämlich, dass es erhebliche Verständnisschwierigkeiten gab: Nachdem Elisabeth Schmidt, Metas Schwester, einen Druck der Fragmente aus dem XXten Ges. des Mess. als M. S. für Freunde. im März 1764. zum Triumphgesange bey der Himmelfahrt erhalten hatte, gestand sie ihrem Schwager Klopstock am 2. Mai 1764: Mit den [!] Triumpfgesang geht mirs besonders ich kann gar dies neue Teutsch, u die so besondre Construction nicht verstehn, ich studire mich bald dumm. Dosse hat mirs endlich etwas aufgeklärt, u da es ihm, Dosse, so erstaunlich gefällt, so ist es fast böse daß ichs noch nicht mit der Entzückung lese wie Ihre andern Werke Alberti u Basedow geben mir Beyfall daß es sehr dunckel, oder besser sehr hoch. Ich sagte in der ersten Durchlesung, Klopst: hat vergessen daß er u wir noch nicht unter die Engel wären; doch bin ich gewiß es wird mir wohl schmecken wen Sie es mir aufklären Dosse u Bode heißen mich schon gar eine Gottschedianerin ich will aber genung mit Leib u Seel wieder Klopstockianerin werden, das kann ich gewiß prophezeyn.1059

Probleme bereiteten dieser Leserin demnach nicht nur die ungewöhnliche metrische Form, sondern auch die pathetisch-erhabene Sprache. Ein Exemplar der Fragmente kursierte wohl auch im Züricher Freundeskreis.1060 Bodmer berichtete Sulzer am 7. Juli 1764: »Er [Klopstock; I. G.] hat uns Fragmente von liedern der auferstandenen geschikt, welche Geßnern kopfschmerzen verursachen.«1061 Sulzer selbst fällte in einem Brief an den Schweizer Literaturpapst vom 25. November 1764 ein äußerst kritisches Urteil über die Fragmente aus dem XX. Gesang des Messias: Kl. hat für seine Freünde das Ende der Meßiade, welches in Lyrischen Versarten geschrieben ist und meistens aus Antiphonien zweyer Chöre besteht, druken laßen, um ihre Gedanken über die Versarten zu vernehmen. Man hat mir keine Abschrift davon erlauben wollen. Es hat mir geschienen, daß er darin die Versezung der Wörter, die Auslaßung der uns gewöhnlichen Artikel und Vorwörter und fast die ganze deütsche Syntaxis bis zur Barbarey verkehrt habe. Ich kann mir nimmer mehr vorstellen, daß ein Mensch solche monstrueüse Veränderungen der Sprach, da sie aufeinmal vorgenommen worden, gut heißen sollte. Und so, wie er das mechanische der Sprach darin übertrieben hat, scheint er mir auch den Ausdruk und die Empfindung selbst ins Abentheüerliche getrieben zu haben.1062

1058 Vgl. HKA, Werke IV 3, S. 354f. 1059 Brief von Elisabeth Schmidt an Klopstock, 2. Mai 1764. In: HKA, Briefe IV 1, Nr. 184, S. 231f., hier S. 232, Z. 25–36. 1060 Vgl. HKA, Briefe IV 2, S. 686. 1061 Brief von Bodmer an Sulzer, 7. Juli 1764. In: Hs.: Zentralbibliothek Zürich: Ms. Bodmer 12b. Zitiert nach: HKA, Briefe IV 2, S. 686. 1062 Brief von Sulzer an Bodmer, 25. November 1764. In: Hs.: Zentralbibliothek Zürich: Ms. Bodmer 5a.3, Nr. 159. Zitiert nach: HKA, Briefe IV 2, S. 680.

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Am 26. Januar 1765 behauptete er zudem: »Klopstok wird, meines Erachtens, mit seinen neüen Metris kein Glük haben. Ich liebe die Metra, welche der Enthusiasmus gebiehrt und die seinigen sind zuverläßig eines anderen Ursprungs.«1063 Sulzer lehnte den sprachlichen und lyrischen Ausdruck von Klopstocks »Triumphgesang« demzufolge als zu gekünstelt ab. Die von ihm kritisierten »monstrueüse[n] Veränderungen der Sprach«1064 und das sogenannte »neue Teutsch«1065, das Elisabeth Schmidt Probleme bereitete, machen auf die spezifische Sprachgestaltung im Messias aufmerksam, die sich durch einen »zuweilen geradezu abenteuerlichen Satzbau und kreativ abgewandelten Wortschatz«1066 auszeichnet. Klopstock entwickelte eine »poetische Sprache«, die »merklich von der prosaischen unterschieden« sein sollte.1067 Er formte unzählige prosaische Wörter um und eröffnete so der deutschen Sprache »eine Fülle neuer Ausdrucksmöglichkeiten«.1068 Der Messias-Dichter folgte auch hierin dem griechisch-antiken Vorbild, das er gleichzeitig zu übertreffen suchte. Demgemäß schreibt er in seiner Abhandlung Von der Sprache der Poesie (1758): Die Griechen, und wer wird ihnen den vollkommensten poetischen Ausdruck absprechen? unterschieden diesen von dem prosaischen nicht allein auf alle Arten, auf welche es Nationen von Geschmack immer getan haben; sie gingen noch weiter, und taten es selbst durch den veränderten Klang der Wörter. Eben das Wort, das auch in Prosa gebräuchlich war, wurde, durch eine Silbe mehr oder weniger, durch Hinzusetzung, Wegnehmung, oder Verändrung eines Buchstabens, zum poetischen Worte gemacht.1069

Klopstock bildete neue poetische aus vorhandenen prosaischen Wörtern, indem er Substantive zusammensetzte, Präfixe und Suffixe hinzufügte oder tilgte, Wortarten umwandelte (z. B. Infinitive als Substantive) und grammatische Bezüge änderte (z. B. transitive als intransitive Verben).1070 Im Messias finden sich Neologismen, Archaismen und Latinismen. Der Epiker präferierte dynamische 1063 Brief von Sulzer an Bodmer, 26. Januar 1765. In: Hs.: Zentralbibliothek Zürich: Ms. Bodmer 5a.3, Nr. 160. Zitiert nach: HKA, Briefe IV 2, S. 680. 1064 Brief von Sulzer an Bodmer, 25. November 1764. In: Hs.: Zentralbibliothek Zürich: Ms. Bodmer 5a.3, Nr. 159. Zitiert nach: HKA, Briefe IV 2, S. 680. 1065 Brief von Elisabeth Schmidt an Klopstock, 2. Mai 1764. In: HKA, Briefe IV 1, Nr. 184, S. 231f., hier S. 232, Z. 26. 1066 Kohl: Friedrich Gottlieb Klopstock, S. 78f. 1067 Klopstock: Von der Sprache der Poesie. In: Klopstock: AW, S. 1016–1026, hier S. 1016. 1068 Karl Ludwig Schneider: Klopstock und die Erneuerung der deutschen Dichtersprache im 18. Jahrhundert. Heidelberg 1960. S. 48. Vgl. im Folgenden zur Sprachgestaltung Klopstocks diese grundlegende Studie von Karl Ludwig Schneider, der mit Textbeispielen alle »Mittel« Klopstocks »zur Schaffung eines eigenständigen und reichhaltigen Wortschatzes der dichterischen Sprache« aufzeigt (ebd., S. 53) und den Messias-Dichter »als Erneuerer der Dichtersprache« würdigt (ebd., S. 29). 1069 Klopstock: Von der Sprache der Poesie. In: Klopstock: AW, S. 1016–1026, hier S. 1017. 1070 Vgl. Kohl: Friedrich Gottlieb Klopstock, S. 61.

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Verbkomposita, die sogenannten »Bewegungsverben«, Präsenspartizipien und absolute Komparative. Er eliminierte Artikel, Pronomen und Präpositionen. Neben Komposita gebrauchte er auch ungewöhnliche Simplexformen, denn durch »Hülfe der Kürze denkt oder fühlt man schneller«1071 und durch diese dynamische Schnelligkeit wird die Wirkung der poetischen Darstellung intensiviert. Den oftmals komplizierten Satzbau kennzeichnen Inversionen, Ellipsen und formelhafte Wiederholungsfiguren.1072 Die Wortfolge in einem Satz sollte laut Klopstock derart gestaltet werden, dass »die Gegenstände, die in einer Vorstellung am meisten rühren, zuerst« gezeigt würden.1073 Um einen bestimmten »Wohlklang« im Vers zu erreichen, dürften Wörter zudem versetzt werden.1074 Das »Abweichen« von der gewöhnlichen Wortfolge sei »Pflicht«, um sich »poetischrichtig« auszudrücken.1075 Klopstock zählt in seiner Abhandlung Von der Wortfolge (1779) vier Gründe auf, weshalb ein Dichter die Wortfolge ändere: Er wolle erstens »den Ausdruck der Leidenschaft verstärken«, zweitens »etwas erwarten lassen«, drittens »Unvermutetes sagen« und viertens »dem Perioden gewisse kleine Nebenschönheiten geben, wodurch er etwa mehr Wohlklang, oder leichtere und freiere Wendungen« bekomme.1076 Der MessiasDichter nennt »dies die Grundsätze der Leidenschaft, der Erwartung, des Unvermuteten, und der Nebenausbildung«.1077 Er erklärt in seiner Abhandlung Von der Darstellung (1779): »Unvermutetes, scheinbare Unordnung, schnelles Abbrechen des Gedankens, erregte Erwartung, alles dies setzt die Seele in eine Bewegung, die sie für die Eindrücke empfänglicher macht.«1078 Klopstocks »Poetik der Wortbewegung« ist eine Poetik des ›natürlichen Ausdrucks‹ der Affekte, d. h. eine Poetik der Seelenbewegung und des Gefühlsausdrucks.1079 Und im Gesang kann laut dem Bibelepiker die »Göttin Sprache« die intensivste ›Herzrührung‹ hervorrufen, wenn »[m]it der Menschenstimme Gewalt, mit ihrem j Höheren Reiz, höchsten, wenn sie Gesang j Hinströmet, und inniger so j 1071 Friedrich Gottlieb Klopstock: Von der Darstellung. In: Klopstock: AW, S. 1031–1038, hier S. 1035. Diese Abhandlung publizierte Klopstock in seiner Fragmentensammlung Ueber Spra˛che und Dichtkunst (1. Bd., 1779, 3. Fragment). 1072 Vgl. Kohl: Friedrich Gottlieb Klopstock, S. 80. 1073 Klopstock: Von der Sprache der Poesie. In: Klopstock: AW, S. 1016–1026, hier S. 1021. 1074 Ebd., S. 1022. 1075 Friedrich Gottlieb Klopstock: Von der Wortfolge. In: Klopstock: AW, S. 1026–1031, hier S. 1028. Diese Schrift publizierte Klopstock in seiner Fragmentensammlung Ueber Spra˛che und Dichtkunst (1. Bd., 1779, 4. Fragment). 1076 Ebd., S. 1030. 1077 Ebd. 1078 Klopstock: Von der Darstellung. In: Klopstock: AW, S. 1031–1038, hier S. 1034. 1079 Mark Emanuel Amtstätter : Beseelte Töne. Die Sprache des Körpers und der Dichtung in Klopstocks Eislaufoden. Tübingen 2005. (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur ; 107.) S. 46. Vgl. hierzu: Winfried Menninghaus: Dichtung als Tanz – Zu Klopstocks Poetik der Wortbewegung. In: Comparatio 2/3 (1991). S. 129–150.

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In die Seele sich ergießet« (Ode Die Sprache, Fassung von 1798, V. 17–20).1080 Als die »Gespielen« (V. 25) der »Göttin Sprache« (V. 10) werden der »Wohlklang« und der »Verstanz« (V. 28) genannt.1081 Klopstock bezeichnet in einer seiner poetologischen Schriften aus dem Jahre 1779 den »Wohlklang, und noch mehr das bedeutende Silbenmaß« als »xuwai vymgti Kai (beseelte Töne […])«, die »viel Ausdruck [hätten]; wenn sie zu dem Inhalte passen [würden]«.1082 Er schreibt: Der Dichter kann diejenigen Empfindungen, für welche die Sprache keine Worte hat, oder vielmehr nur (ich sage dies in Beziehung auf den Reichtum unsrer Sprache) die Nebenausbildungen solcher Empfindungen, er kann sie, durch die Stärke und die Stellung der völlig ausgedrückten ähnlichen, mit ausdrücken.1083

Auch das »Silbenmaß« könne »hier und da etwas mitausdrücken«.1084 Der Klang der Wörter und die rhythmische Bewegung des Verses können demzufolge auch über die Grenzen der Sprache hinaus – im Bereich des »Wortlosen« – Empfindungen evozieren, »für welche die Sprache keine Worte hat«.1085 Die harmonischen Töne erfüllen somit eine semantische Funktion.1086 Metaphorisch bemerkt Klopstock: »Überhaupt wandelt das Wortlose in einem guten Gedicht umher, wie in Homers Schlachten die nur von wenigen gesehnen Götter.«1087 In seiner Abhandlung Von der Nachahmung des griechischen Sylbenmasses im Deutschen (1756) behauptet er, dass »man von der lyrischen Dichtkunst überhaupt sagen [könne], daß sie am nächsten an die Musik grenze«.1088 Der Messias-Dichter schrieb nicht für das Auge, sondern für das Ohr der Rezipienten.1089 Die 1080 1081 1082 1083 1084 1085 1086

HKA, Werke I 1, S. 407 und S. 409, hier S. 407, V. 10 und V. 17–20. Ebd., S. 407 (V. 10) und S. 409 (V. 25 und V. 28). Klopstock: Von der Darstellung. In: Klopstock: AW, S. 1031–1038, hier S. 1036. Ebd. Ebd. Vgl. Amtstätter : Beseelte Töne, S. 49. Mark Emanuel Amtstätter bemerkt in seiner Studie Beseelte Töne, dass es Klopstock »in erster Linie um die rhythmische Bewegung der Worte als etwas Klanglichem [gehe], das ›wortlos‹ eine semantische Funktion erfüll[e].« (Ebd., S. 27.) 1087 Klopstock: Von der Darstellung. In: Klopstock: AW, S. 1031–1038, hier S. 1036f. 1088 Klopstock: Von der Nachahmung des griechischen Silbenmaßes im Deutschen. In: Klopstock: AW, S. 1038–1048, hier S. 1048. 1089 Vgl. Kohl: Friedrich Gottlieb Klopstock, S. 14. Vgl. hierzu: Ebd., S. 66–68 (Kap. IV 5: Dichtung für das Ohr). – Joh. Nikolaus Schneider: Ins Ohr geschrieben. Lyrik als akustische Kunst zwischen 1750 und 1800. Göttingen 2004. (Das achtzehnte Jahrhundert: Supplementa; 9.) – Klaus Manger : »Farb’ ist nicht Menschenstimme«. Zu Klopstocks Akustik. In: Klopstock und die Musik. Hrsg. v. Peter Wollny. Beeskow 2005. (Ständige Konferenz Mitteldeutsche Barockmusik in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen e.V.; Jahrbuch 2003.) S. 189–200. – Frauke Berndt: ›Mit der Stimme lesen‹ – F. G. Klopstocks Tonkunst. In: Stimme und Schrift. Zur Geschichte und Systematik sekundärer Oralität. Hrsg. v. Waltraud Wiethölter, Hans-Georg Pott und Alfred Messerli. München 2008. S. 149–171. – Hermann Korte: »Gehört mit dem Ohr der Seele«. Herders Klopstock-

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stimmliche Ausdruckskraft dient der Verlebendigung und Versinnlichung der poetischen Darstellung. Die »Deklamation« war daher »gewissermaßen untrennbar von der Sprache«: Diese ist ohne jene nur eine Bildsäule; keine wirkliche Gestalt. Die Bildsäule kann zu leben scheinen; so auch die Sprache, wenn sie nämlich mit tiefer Kenntnis gebraucht wird: aber sie leben denn doch nicht. Liest man bloß mit dem Auge, und nicht zugleich mit der Stimme; so wird die Sprache dem Lesenden nur dann gewissermaßen lebendig, wenn er sich die Deklamation hinzudenkt.1090

Der Vorleser könne »mit dem Aussprechen der Wörter, sehr viele, und sehr fein abgestufte Töne« verbinden, »die einen erklärenden oder empfindenden oder leidenschaftlichen Ausdruck haben«.1091 Die Sprachgestaltung und Verstheorie bilden demnach in Klopstocks Wirkungspoetik eine Einheit. Aus dem Proömium des Messias geht hervor, dass das biblische Heldengedicht nur für die »wenigen Edlen« (I, 20) verfasst wurde, d. h., der ideale Leser bzw. Zuhörer sollte eine gewisse tugendhaft-empfindsame Disposition aufweisen und Bibelkenntnisse haben. Eine derartige innerseelische und intellektuelle Disposition wurde auch von den Lesern des XX. Gesanges gefordert, die zudem Vorkenntnisse in metrischer Theorie haben mussten, um Klopstocks metrische Erfindungen – die lyrischen Strophenformen und das stichiche, ›ionische‹ Versmaß – überhaupt in ihrer Komplexität erfassen zu können. Dementsprechend schreibt Ebert am 19. September 1766 an Gleim: Haben Sie schon seine Fragmente zum XX Ges. des Mess.? – Sie sind gewiß, wie Shakespear einmal von einer guten Tragödie sagt, die wenig gefallen hatte, sie sind für die Meisten Caviar. Doch laß es seyn, wie es nicht anders seyn kann; uns und unsers Gleichen wird es desto besser schmecken.1092

Carl Friedrich Cramer attestierte dem XX. Gesang des Messias »schwer, sehr schwer« zu sein.1093 Klopstock selbst schätze ihn so ein und »verzeihts jedermann, der ihn aufs erste mal nicht faßt«.1094 Der Bewunderer des Dichters schreibt:

1090

1091 1092 1093 1094

Lektüren und das auditive Lesen im späten 18. Jahrhundert. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift. N. F. 59 (2009). S. 355–371. Friedrich Gottlieb Klopstock: Von der Deklamation. In: Klopstock: AW, S. 1048f., hier S. 1049. Diese kurze Schrift wurde erstmals publiziert im Jahre 1821 in der Auswahl aus Klopstocks nachgelassenem Briefwechsel und übrigen Papieren. Ein Denkmal für seine Verehrer (2. Theil). Ebd., S. 1048f. Brief von Ebert an Gleim, 19. September 1766. In: Hs.: Das Gleimhaus, Halberstadt: Hs. A Ebert 8. Zitiert nach: HKA, Briefe IV 2, S. 761. [Cramer :] Klopstock. (In Fragmenten aus Briefen von Tellow an Elisa.) [2. Bd.] Fortsetzung, S. 312. Ebd., S. 312f.

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Es ist ohnstreitig der schwerste, durchgearbeiteste, und gedachteste Theil des ganzen Messias, dieser Gesang. Er ist, ja ich will es zu sagen wagen, so wohl in Absicht seines ganzen Planes, als in der Art, wie der Detail davon behandelt ist, beynah ein eignes Heldengedicht, für sich selbst. Was Klopstock von der Offenbarung überhaupt sagt, wende ich auf diesen Gesang an. Der Freygeist, und der Christ der seine Religion nur halb versteht, sehn da nur einen Schauplaz von Trümmern, wo der tiefsinnige Christ einen majestätischen Tempel sieht. So ist es mir lange mit diesem Gesange gegangen, so wird es wohl seinen meisten Lesern gehen. Ich liebte längst vorzüglich diesen Gesang; mit einer Art von Prädilection las ich ihn immer. Ich ahndete den Schaz von Weisheit und von Dichterökonomie, der darinn liegt. Ich darf auch sagen, daß ich ihn im Detail verstand. Einzelne Oden wußte ich auswendig! Ach, wie viele Thränen hatte ich bey mancher geweint! Welche Gefühle der seligsten Wehmut und Andacht hatten sich über mich ergossen, welche Schauer der Erhabenheit mich ergriffen, wenn Windeme manchmal an seiner Seite einzelne Stellen daraus sang. Und doch? Konnt ich sagen, daß ich den Gesang begriff ? Das konnt ich nicht. Ich stand davor wie ein Kurzsichtiger vor einem gigantischen Gebäude. Majestät leuchtete aus jeder Trümmer mir hervor, aber Trümmern schienens mir doch zu seyn. Wie so ein Kurzsichtiger nicht sagen kann, ich habe das Gebäude gesehen, wenn er eine Elle weit davon tritt, einzelne Zierathen beschaut, einzelne Säulen, Pfosten, Gesimse betrachtet, so auch ich. Um dieses zu thun hätte ich einen entfernten Standpunkt erwählen, und nachdem ich die einzelnen Theile untersucht, einen Blick auf das Ganze werfen, die Verhältnisse, die nur in gehöriger Entfernung sichtbar werden, beurtheilen, diese große Einheit auf mich wirken lassen, auf einen Berg steigen müssen, das weite unsterbliche Gefild zu übersehen.1095

Die Metapher von der Dichtung als Gebäude verweist hier auf die komplexe Konstruktion und Komposition des XX. Gesanges. Cramer gibt zu, dass er selbst nur einzelne Teile des Grundrisses verstanden habe, aber das Ganze nicht überblicken könne. Die 55 lyrischen Triumphchöre und -lieder bezeichnet er als »Oden« und macht damit auf den musikalischen Charakter des XX. Gesanges aufmerksam. Sein Urteil lautet: Zu dem Ende erfand er [Klopstock; I. G.] eine ganz neue Gattung von Gedicht; eine Vermischung epischer und lyrischer Poesie. Um uns noch tiefer hinzureissen, noch mächtiger in die Scenen selbst hinein zu versetzen; so ließ er, anstatt, daß er sie vorher nach dem Beyspiel seiner Vorgänger erzählt hatte, selbst vor unsern Augen geschehen. Dieß ist der wahre Entzweck und die Absicht der Gesänge.1096

Cramer fordert die Leser des Messias dazu auf: »Lesen Sie den Gesang ganz, und öfter, Sie werden Plan entdecken – Plan! Plan! Plan! ich kanns Ihnen nicht genug

1095 Ebd., S. 314–316. 1096 Ebd., S. 318.

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wiederholen: Plan – von niemand bemerkten, aber sehr fest entworfenen Plan.«1097 Die poetische Innovation als solche wurde in der zeitgenössischen Rezeption des »Triumphgesanges« nicht erkannt. Die Rezensionen im Jahr des Erscheinens des letzten Bandes des Messias fielen nur bedingt positiv aus. Der letzte Gesang des Bibelepos wurde eher negativ bewertet. So bemerkt ein anonymer Rezensent im Magazin der deutschen Critik (2. Bd., 2. Teil, XIII. Stück, 1773): Der zwanzigste Gesang enthält durchaus blos Lieder des Gefolges Jesu in Rythmischen Odenmaase [!]. Die grossen Gedanken, der prachtvolle Ausdruck, und die Harmonie in diesen Liedern verdient unsre ganze Bewunderung. Und doch hab ich sie nicht hinter einander mit immer von neuen entflamter Begierde durchlesen können.1098

Ein anderer Rezensent schreibt in der Auserlesenen Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur (4. Bd., CXVII. Stück, 1773): Der zwanzigste enthält den Zeitraum zwischen dem Augenblick, da Christus die Erde verlassen hat, und dem, wo er von dem Throne zur Rechten Gottes Besitz nimt. Handlung läßt sich wol hier nicht erwarten, und in der That enthält dieser Gesang nichts als Hymnen, welche von Engeln, Auferstandnen, abgeschiedenen Seelen, Bewohnern anderer Welten, zu Ehren Christi und seines Sieges gesungen werden. Verschiedene darunter sind ganz vortreflich, daran kan wol kein Vernünftiger einen Augenblick zweifeln. Indes hat der Gesang doch nahe an funfzig Seiten. Funfzig Seiten Hymnen in einem Heldengedichte, ohne die mindeste Handlung, da man schon in demselben so gar viele, so lange Hymnen und Gebeter überal, und besonders in diesen letzten fünf Gesängen findet, das ist würklich nicht wenig. Man hat Mühe, nicht zu sagen, daß dieses langweilig und eine unnöthige Dehnung des Gedichts sey, welches nur aus neunzehn Gesängen hätte bestehen können.1099

Die verstheoretischen Abhandlungen Vom deutschen Hexameter, aus einer Abhandlung vom Sylbenmaasse (1768) und Vom gleichen Verse (1773), die Klopstock als Vorreden dem dritten und vierten Band der »Halleschen Ausgabe« des Messias vorangestellt hatte, wurden ebenfalls getadelt und offenbar als Ausdruck unnützer Pedanterie angesehen: Ein Wort von dem Gespräche über die Sylbenmaaße, das als Vorrede zum dritten und vierten Theil dieses Gedichts steht. Einiges haben wir verstanden, und von dem, was 1097 Ebd., S. 235 [recte: 325]. Cramer fasst den Inhalt der Triumphchöre und -lieder des XX. Gesanges des Messias zusammen und zitiert die einzelnen Strophen in Prosaform: Ebd., S. 318–443. 1098 [Anonym:] [Rez.:] XIII. Der Meßias. Vierter Band. Halle […] 1773. In: Magazin der deutschen Critik. Hrsg. v. Herrn Schirach. Zweyten Bandes zweyter Theil. Halle 1773. S. 179–229, hier S. 226. 1099 [Anonym:] [Rez.:] CXVII. Der Messias. Vierter Band. Halle […] 1773. In: Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur. Vierter Band. Lemgo 1773. S. 495–502, hier S. 501.

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wir verstanden haben, vieles sehr richtig und sehr fein bemerkt gefunden. Aber es mag seyn, daß wir verstopfte Gehirne und böotische Ohren haben, vieles, wir müssen es sagen, verstehen wir nicht, und können es nicht mit empfinden. Wie wir denn überhaupt die gar zu großen Finessen in den Sylbenmaaßen, die gewisse Schriftsteller in Deutschland finden wollen, nicht bemerken können, und oft für sehr grundlose Grübeleien halten müssen. Dichterische Gegenstände in wohlklingenden Versen dichterisch ausgeführt, das ist die Hauptsache; und wir sind wahrhaftig noch so weit nicht gekommen, daß wir uns in so entsetzliche Grübeleien vertiefen solten, über welche nur gar zu leicht das Hauptsächlichste vernachlässigt wird.1100

Klopstock, der mit Ebert über Probleme der Metrik diskutierte, erklärt diesem bereits am 13. Oktober 1764: »Wenn erst Homer wieder singt; so werde ich mit schwerern Fragen erscheinen.«1101 Der Messias-Dichter setzte sich demgemäß in den folgenden Jahrzehnten auch intensiv mit dem homerischen Vers, dem Hexameter, auseinander. In der Fragmentensammlung Ueber Spra˛che und Dichtkunst (3 Bde., 1779–1780) veröffentlichte er im Jahre 1779 die verstheoretische Abhandlung Vom deutschen Hexameter (im Erstdruck: Fom deütschen Hexameter).1102 Dieses umfangreiche Fragment leitet er folgendermaßen ein: Es sind etwa dreißig Jahre, daß einige deutsche Dichter den Hexameter der Griechen, dessen Regel die Verbindung des Daktyls und des Spondeen, als künstlicher Füße, ist, durch die Annahme des Trochäen zum neuen künstlichen Fuße, verändert, und in diesem Silbenmaße geschrieben haben. Die Veränderung ist wesentlich. Denn sie setzt einen Hauptzug zur Bildung des Verses hinzu: und nicht nur das, sie will auch, daß dieser Hauptzug, der Trochäe nämlich, merklich öfter als der Spondee vorkomme. Unser Hexameter ist also nicht sowohl eine griechisch-deutsche Versart, sondern vielmehr eine deutsche.1103

Gleichermaßen betont Klopstock, dass ein »völlig griechischer Hexameter im Deutschen […] ein Unding« sei.1104 Im »deutschen Hexameter« sei der Daktylus »der herrschende künstliche Fuß«.1105 »Nach ihm [würden] der Trochäe am oftesten, und der Spondee am seltensten als künstliche Füße gebraucht«.1106 Demzufolge sei der »deutsche[.] Hexameter« »aus deutschen und griechischen Stücken zusammen gesetzt«.1107 Die »Not« habe »anfangs die Deutschen (denn 1100 Ebd., S. 501f. 1101 Brief von Klopstock an Ebert, 13. Oktober 1764. In: HKA, Briefe IV 1, Nr. 189, S. 238–240, hier S. 240, Z. 55f. 1102 Friedrich Gottlieb Klopstock: Vom deutschen Hexameter. In: Friedrich Gottlieb Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie. Dichtungstheoretische Schriften. Hrsg. v. Winfried Menninghaus. Frankfurt a. M. 1989. S. 60–156. 1103 Ebd., S. 60. 1104 Ebd., S. 62. 1105 Ebd., S. 63. 1106 Ebd. 1107 Ebd.

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sie sahen die Sache nicht gleich durch) zur Wahl des Trochäen [gebracht]«.1108 Jedoch hätten sie »aus dieser Not eine wirkliche Tugend gemacht«.1109 Denn die Griechen, »diese großen Virtuosen in der Verskunst«, hätten einen Hexameter, »der manchmal unter der Spondeenlast keucht, und kaum fort kann«.1110 Mit Nachdruck weist der Messias-Dichter folglich wiederholt darauf hin, dass inzwischen in der deutschen Literatur das spezifisch deutsche hexametrische Versmaß eingeführt worden sei. Er folgt auch hierin seinem ›aemulatio‹-Konzept, d. h., laut Klopstock übertrifft der deutsche Hexameter den griechischen hinsichtlich seiner »Mannichfaltigkeit« und rhythmischen Bewegung bei Weitem. Zudem verwendet er nun in seiner komplexen Verstheorie die divergierenden Termini »künstliche Füße« und »Wortfüße«: Durch den Gebrauch der künstlichen oder der Füße der Regel entstehen Wortfüße, welche die eigentlichen Teile des Verses sind, und auf die auch der Zuhörer, den die künstlichen gar nichts angehn, allein achtet. Von jenen bekommen die Griechen nach ihrer Regel siebzehn: und wir nach unsrer zwei und zwanzig, (die fünf- und mehrsilbigen, welche diese Mannichfaltigkeit noch sehr vermehren, werden hier nicht mitgerechnet) und also fast den vierten Teil mehr Abwechslung, oder so viel mehr Anlaß, gewisse Beschaffenheiten der Empfindung und Leidenschaft und der sinnlichen Gegenstände auszudrücken.1111

Die sogenannten »Wortfüße« sind »rhythmisch-semantische[.] Einheiten […], die aus betonten und unbetonten Silben zusammengesetzt sind«.1112 Sie sind die einzigen für den Rezipienten hörbaren Bestandteile eines Verses.1113 Demgemäß unterscheidet Klopstock die »künstlichen Füße« und die »Wortfüße« folgendermaßen: Man zeigt die Füße an, welche nach gewissen Abwechslungen und Folgen in den Wörtern versteckt liegen sollen. Diese Füße heißen künstliche. Die der Vorschrift gemäß gebrauchten Wörter werden, in Ansehung ihrer Bewegung, […] Wortfüße genannt. (Zuweilen können Wortfuß und künstlicher dieselben sein.) Diese bestehen nicht immer aus einzelnen Wörtern, sondern oft aus so vielen, als, nach dem Inhalte, zusammen gehören, und daher beinah wie ein Wort müssen ausgesprochen werden; doch dies unter der Einschränkung, daß, wenn ein Wort viele Silben hat, es nicht mit zu 1108 1109 1110 1111 1112 1113

Ebd., S. 78. Ebd. Ebd., S. 79. Ebd., S. 60. Amtstätter : Beseelte Töne, S. 36. Klopstock betont in seiner Abhandlung: »Die in den Wortfüßen versteckten künstlichen gehn den Zuhörer gar nichts an. Er hört sie nicht; er hört nur die Wortfüße: und fällt, nach diesen allein, sein Urteil über den Vers.« (Klopstock: Vom deutschen Hexameter. In: Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie. Dichtungstheoretische Schriften, S. 60– 156, hier S. 131.)

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dem, welchem es dem Sinne nach zugehört, genommen wird. Denn es füllt in diesem Falle das Ohr zu sehr, um nicht für sich einen Fuß auszumachen.1114

Der Dichter erläutert seine ›Wortfuß-Theorie‹ an folgendem Hexameter : »Schrecklich erscholl der geflügelte Donnergesang in der Heerschaar.«1115 Dieser Vers bestehe aus sechs »künstlichen Füßen« (fünf Daktylen und einem Spondeus) und vier »Wortfüßen«: Die künstlichen: –11 –11 –11 –11 –11 ––

Schrecklich er scholl der ge flügelte Donnerge sang in der Heerschaar.

Die Wortfüße: –11– 11–11 –11– 11––

Schrecklich erscholl der geflügelte Donnergesang in der Heerschaar.1116

Bei dem ersten und dritten »Wortfuß« handelt es sich jeweils um einen Choriambus, bei dem vierten um einen Ionicus a minore. Der zweite »Wortfuß« setzt sich aus einem Pyrrhichius (1 1) und einem Daktylus zusammen. Die Wahl der richtigen, ›expressiven‹ »Wortfüße« erhöht laut Klopstock den metrischen Ausdruck und nähert die Verskunst der Musik an: Durch ein gutes Silbenmaß wird so viel Mannigfaltigkeit der Bewegung bestimmt, als nötig ist, genung ausdrücken zu können. Dies kann man aber nicht, wenn nicht so bestimmt worden ist, daß die Bewegung vornehmlich auf bedeutenden Füßen bestehet. (Ich muß doch wohl hinzusetzen, daß hier nur von Wortfüßen die Rede sein könne.) In den bedeutenden Füßen liegt einesteils die metrische Kraft. Andernteils liegt sie in der durch die Bestimmung notwendig gewordnen Wiederholung der Füße überhaupt, wobei sich von selbst versteht, daß die Rückkehr der bedeutendsten die größere Kraft habe. Das Bestimmte eines guten Silbenmaßes ist also bedeutende und wiederholte Bewegung, und dadurch hervorgebrachte doppelte metrische Kraft. Die Verskunst geht in Ansehung der Wiederholung eben den Weg, den die Musik geht.1117

Klopstock verweist explizit auf die Leistungen der zeitgenössischen deutschen Dichter und damit implizit auf seine eigenen metrischen Erfindungen: 1114 1115 1116 1117

Ebd., S. 130. Ebd., S. 131. Ebd. Ebd., S. 112f.

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Die jetzt lebenden Deutschen haben Silbenmaße eingeführt, die teils nach der Alten ihren mit einigen, mich deucht guten Verändrungen gemacht, und teils (dies ist die größere Anzahl) neu, aber im Geschmacke der Alten sind, das heißt, die die erwähnte doppelte metrische Kraft haben; eine Unternehmung, durch die zweierlei geschehn ist: Die Dichter haben für’s erste die Sprache, von der ihnen durch die eintönigen Versarten so vieles verloren gegangen war, ganz wieder bekommen; und zweitens ist dadurch der Umfang des Ausdrucks, (die Bewegung der Wörter gehört mit dazu,) erweitert worden.1118

Er betont in seiner Abhandlung wiederum, dass das Versmaß und die »Wortbewegung« ›Mitausdruck‹ der Empfindungen seien: »Dasjenige, worauf zuletzt alles bei jedem Silbenmaße ankömmt, ist, daß es von dem, was durch die Bewegung der Wörter ausdrückbar ist, genung ausdrücken könne.«1119 Dezidiert erklärt Klopstock, dass es das Ziel der deutschen Dichter sein müsse, »die Griechen in der epischen Versart zu übertreffen«.1120 Er verweist hierbei ausdrücklich auf das akustische Moment: »Vielleicht lernt man bei uns erst alsdann recht, was dies Übertreffen sei, wenn die Ausländer einst einsehn, daß sie durch ihre Verse fürs Auge (den Reim abgerechnet, der aber ein sehr unmetrisches Ding ist,) weit hinter uns sind, und sich dann auch an Verse fürs Ohr wagen.«1121 Klopstock erklärt, dass in der deutschen Sprache »kein einsilbiges Wort kurz [sei], dessen Sinn die Länge erfoder[e]«.1122 Die mehrsilbigen Wörter, die im Deutschen »niemals aus lauter Kürzen, und sehr selten aus lauter Längen« bestünden, hätten »die Länge, oder die Längen, und die Kürze oder die Kürzen an der Stelle, wo sie, dem Sinne gemäß, hingehör[ten]«.1123 Die sogenannte »begriffmäßige Silbenzeit«1124 im Deutschen biete somit einige Vorteile gegenüber der ›mechanischen‹ im Griechischen: Der deutsche Hexameter übertrifft den griechischen dadurch, daß er die Silbenzeit genauer beobachtet; daß er die Längen nicht überhäuft, und dennoch durch seine Trochäen, und wenige Spondeen die zur Sache gehörige Langsamkeit erreicht; und daß er beinah den vierten Teil mehr metrischen Ausdruck hat.1125

Den Kritikern des deutschen Hexameters wirft Klopstock fehlende Sprachkenntnisse im Altgriechischen vor: Aber es gibt ein Häufchen Gelehrte, von denen die wenigsten Homeren in seiner Sprache lesen, und die meisten bloß Nachsprecher sind, welches, so oft es auf den 1118 1119 1120 1121 1122 1123 1124 1125

Ebd., S. 113f. Ebd., S. 121. Ebd., S. 123. Ebd. Ebd., S. 125. Ebd. Ebd., S. 124. Ebd., S. 122.

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deutschen Hexameter kömmt, so davon redet, als ob es glaubte, daß auch die deutschen, denen nie ein homerischer Laut zu Ohren gekommen ist, oder die Nation, ihren Hexameter nur immer gegen den griechischen hielte, und ihn, sobald er diesem ungleich wäre, verwürfe.1126

Der Messias-Dichter beschreibt im zweiten Teil seiner Abhandlung Vom deutschen Hexameter die Grundsätze seiner »Verskunst«.1127 Die »Wortbewegung« zerlegt er in die zwei wirkenden Kräfte »Zeitausdruck« und »Tonverhalt«.1128 Den Terminus »Zeitausdruck« definiert er folgendermaßen: »Die Bewegung der Worte ist entweder langsam, oder schnell. Sie hat, von dieser Seite angesehn, Zeitausdruck. Dieser bezeichnet vornehmlich Sinnliches, und dann auch gewisse Beschaffenheiten der Empfindung und der Leidenschaft.«1129 Der »Zeitausdruck« basiert auf den – von der klassischen Metrik geprägten – Vorstellungen Klopstocks von der »Länge« oder »Kürze« der Silben, die je nach Kombination eine langsame oder schnelle »Wortbewegung«1130 hervorrufen können.1131 Die rhythmische Geschwindigkeit wird derart bestimmt: »Wenn ein Fuß mehr Längen als Kürzen hat, so ist der Zeitausdruck langsam, und wenn mehr Kürzen, schnell.«1132 Zudem hätten die »Längen« und »Kürzen« hörbar »übereinstimmende, oder abstechende Verhältnisse untereinander«:1133 Beispielsweise höre man im Ionicus a minore »1 1 – – in dem Reihntanz« schnell den Übergang von den beiden Kürzen zu den Längen und bemerke dabei »eine Art des Steigens von jenen zu diesen« und vernehme »darin Übereinstimmung«.1134 Wenn jedoch der Antispast »1 – – 1 Gerichtsdonner« ausgesprochen werde, so bemerke »man das Steigen in Gerichts und das gleich darauf folgende Sinken in donner« und höre damit »Abstechendes«, d. h. einen Kontrast.1135 Die »umgekehrte Stellung«, etwa der Choriambus »– 1 1 – Wonnegesang«, bringe »eine der schönsten Übereinstimmungen« hervor und so sehe man, »[w]ie stark

1126 Ebd., S. 86f. 1127 Ebd., S. 126. 1128 Hans-Heinrich Hellmuth erklärt, dass der »Zeitausdruck« »zur Voraussetzung die Silbendauer« habe, der »Tonverhalt« hingegen »die Silbenstärke«. (Hellmuth: Metrische Erfindung und metrische Theorie bei Klopstock, S. 224.) Katrin Kohl unterscheidet zwischen »dem ›horizontal‹ wirkenden ›Zeitausdruck‹ […] und dem ›vertikal‹ wirkenden ›Tonverhalt‹«. (Kohl: Friedrich Gottlieb Klopstock, S. 64f.) 1129 Klopstock: Vom deutschen Hexameter. In: Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie. Dichtungstheoretische Schriften, S. 60–156, hier S. 126. 1130 Ebd., S. 128. 1131 Vgl. Kohl: Friedrich Gottlieb Klopstock, S. 64f. 1132 Klopstock: Vom deutschen Hexameter. In: Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie. Dichtungstheoretische Schriften, S. 60–156, hier S. 131. 1133 Ebd., S. 126. 1134 Ebd. 1135 Ebd., S. 126f.

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die Wirkung des so verbundnen Steigens und Sinkens sei«.1136 Diese Bewegung, die auf dem Steigen und dem Sinken der Stimme beruht, bezeichnet Klopstock mit dem Terminus »Tonverhalt«.1137 »Die Gegenstände des Tonverhalts [seien] gewisse Beschaffenheiten der Empfindung und der Leidenschaft, und was etwa durch ihn vom Sinnlichen [könne] ausgedrückt werden.«1138 Bei der Wirkung der »Wortbewegung« und ihrer zwei Kräfte, des »Zeitausdrucks« und des »Tonverhalts«, komme es hauptsächlich darauf an, dass sie »dem Inhalte angemessen« sei.1139 »Der Zeitausdruck erreich[e] den höchsten Grad der Langsamkeit, wenn viele lange, und der Schnelligkeit, wenn viele kurze Silben auf einander folgen.«1140 Allerdings solle man »nicht leicht mehr als sechs von jenen, und viere von diesen folgen lassen«.1141 Die antiken Griechen hätten hierin oft übertrieben und damit »die Grenzen des metrischen Schönen« überschritten.1142 »Wenn die Zahl der Längen und Kürzen gleich [sei]«, dann entstehe nicht etwa »eine Mittelbewegung zwischen langsam und schnell, sondern die Füße werden, und zwar durch den Tonverhalt, entweder das eine oder das andere«.1143 Klopstock kombiniert in seinen sechs Beispielen jeweils in anderer Reihenfolge zunächst zwei Längen und eine Kürze und dann zwei Kürzen und eine Länge miteinander : Langsam sei »der Ausruf« (1 – –), langsamer »Ausrufe« (– – 1) und noch langsamer »Wetterstrahl« (– 1 –).1144 Schnell sei hingegen »Gesänge« (1 – 1), schneller »Flüchtige« (– 1 1) und noch schneller »[d]ie Gewalt« (1 1 –).1145 Von den zusammenwirkenden metrischen Kräften zieht Klopstock offensichtlich den »Tonverhalt« dem »Zeitausdruck« vor. Für den »Zeitausdruck« gilt gemäß der Verstheorie des Epikers: Verschiedne Langsamkeit oder Schnelligkeit ist das Wesentliche des Zeitausdrucks. Sein Gebiet ist vornehmlich das Sinnliche; und er drückt nur so fern etwas von der

1136 Ebd., S. 127. 1137 »Damit kann nur das Steigen und Sinken der Stimme gemeint sein, und auch der Terminus Tonverhalt besagt ja nichts anderes, nämlich ›das Verhalten des Worttons‹.« (Hellmuth: Metrische Erfindung und metrische Theorie bei Klopstock, S. 232.) 1138 Klopstock: Vom deutschen Hexameter. In: Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie. Dichtungstheoretische Schriften, S. 60–156, hier S. 127. 1139 Ebd. 1140 Ebd., S. 130. 1141 Ebd. 1142 Ebd. 1143 Ebd., S. 132. 1144 Ebd. 1145 Ebd. Nehme man »vier Silben, zwei lange und zwei kurze«, dann würden durch »ihre verschiedne Stellung« sechs »Wortfüße« entstehen: Die drei langsamen: »Silberstimme« (– 1 – 1), »herströmende« (– – 1 1), »die Sturmwinde« (1 – – 1). Und die drei schnellen: »mit Ungestüm« (1 – 1 –), »in dem Lautmaß« (1 1 – –), »Wonnegefühl« (– 1 1 –). (Ebd.)

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Empfindung oder Leidenschaft aus, als Langsamkeit oder Schnelligkeit auch Beschaffenheiten derselben sind.1146

Wesentlich detaillierter wird die ausdrucksstarke Wirkkraft des »Tonverhalts« beschrieben: Das Sanfte, das Starke, Muntre, Heftige, Ernstvolle, Feierliche, und Unruhige sind, oder können Beschaffenheiten der Empfindung und der Leidenschaft sein. Dies kömmt mir, wenn ich vom Sinnlichen die gehinderte Bewegung noch mitnehme, als der Inbegriff von dem vor, was der Tonverhalt ausdrücken kann.1147

»Zeitausdruck[.]« und »Tonverhalt[.]« könnten nur gewisse »Beschaffenheiten« der Affekte zum Ausdruck bringen, denn »die Empfindung und Leidenschaft selbst, oder auch den sinnlichen Gegenstand drück[e] das Wort, seiner Bedeutung nach, aus«.1148 Klopstock zitiert im Folgenden eine Liste von insgesamt 44 »Wortfüßen«, »welche die erwähnten Beschaffenheiten, mehr oder weniger, ausdrücken«1149 würden. Er teilt die mehrsilbigen »Wortfüße« in sieben Gruppen ein, die er folgendermaßen betitelt: »Sanftes«, »Starkes«, »Muntres«, »Heftiges«, »Ernstvolles«, »Feierliches« und »Unruhiges«.1150 Als Beispiel für die Klassifizierung des Verstheoretikers werden hier zunächst die ›sanften Wortfüße‹ angeführt: Sanftes. – 1 Laute. – 1 – 1 Klagestimme. – 1 – 1 1 lieblichtönende. 1 – 1 Gesänge. 1 – 1 – 1 die Wiederhalle. 1 – 1 1 – 1 des Baches Gelispel. 1 – 1 1 gewendete.1151

Charakteristisch für diese »Wortfüße« ist: »keine beschwerte Hebung, die Mehrzahl alternierend, nur einige zweisilbige Senkungen, stets mit einer einsilbigen Senkung endend«1152. Für die sogenannten ›starken Wortfüße‹, wie z. B. »1 – 1 – – des Kriegers Ausruf«, »– 1 1 – 1 1 innigerschüttertes«, »– 1 1 – Donnergeräusch« oder »1 1 – – – mit des Weltmeers Schall«1153, gilt das Gegenteil: »meist beschwerte Hebungen und zweisilbige Senkungen, mit einer 1146 1147 1148 1149 1150 1151 1152 1153

Ebd., S. 135f. Ebd., S. 136. Ebd., S. 136f. Ebd., S. 137. Ebd., S. 138f. Ebd., S. 138. Hellmuth: Metrische Erfindung und metrische Theorie bei Klopstock, S. 259. Klopstock: Vom deutschen Hexameter. In: Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie. Dichtungstheoretische Schriften, S. 60–156, hier S. 138.

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Ausnahme stets mit Hebung endend«1154. Typisch für die fünf ›ernstvollen Wortfüße‹, wie etwa »– – – 1 mitausrufend«, »1 – – – des Anfalls Wut« oder »1 – – – 1 des Aufruhrs Brausen«, ist eine Folge von jeweils drei »Längen« und – mit einer Ausnahme – einer einsilbigen Senkung.1155 In den sogenannten ›muntren Wortfüßen‹, wie z. B. »1 1 – 1 1 der geflügelte« oder »– 1 1 – 1 Silbergewölke«, finden sich meist zweisilbige Senkungen.1156 Auch in den ›heftigen Wortfüßen‹ überwiegen die »Kürzen«, etwa in »1 1 – im Gefecht« oder »1 1 – 1 1 – mit der Schwerter Geklirr«.1157 Die ›unruhigen Wortfüße‹ charakterisiert Klopstock selbst als »abstechend«: – – 1 Sturmwinde. – 1 1 1 Flüchtigere. 1 – – 1 – des Heerzugs Getös. – 1 1 1 – tödliches Geschoß. 1 1 – – 1 1 vom Gebirg hallende. 1 – – 1 1 der abtrünnige. 1 1 – – 1 in der Nacht Schrecken. 1 – – 1 im Abgrunde.1158

In diesen Beispielen findet sich häufig der Antispast (1 – – 1). Zur Erläuterung der ›feierlichen Wortfüße‹ führt Klopstock nur zwei Exempla an, die stets mit einer zweisilbigen Senkung enden: »– – 1 1 aufschauende« und »– – – 1 1 Unglückselige«.1159 Wiederholt verweist Klopstock in seiner Abhandlung Vom deutschen Hexameter auf das komplexe Zusammenspiel von Metrum und Inhalt und auf die intendierte ›herzrührende‹ bzw. ›seelenbewegende‹ Wirkung. So dringe die »Harmonie der Worte« im Vers einem Rezipienten nicht nur »ins Ohr«, sondern »auch in die Seele«, eine Harmonie, die mannigfaltige Bilder der Benennungen, der Gedanken, der Sachen, der Schönheit, des Ebenmaßes, kurz alles dessen in uns erweckt, was von unsrer Geburt an auf uns wirkte; die zugleich mit der Mischung und Abwechslung ihrer Töne die Leidenschaft des Redenden in die Herzen derer, die um ihn sind, ergießt, und sie zur Teilnehmung bringt; die durch die Verbindung der Worte Großes mit Großem wie in ein Gebäude vereint, daß diese Zusammensetzung uns einnehme, uns mit Kraft und Würde und Hoheit, mit allen dem, was sie in sich begreift, erfülle, und unsre ganze Seele beherrsche!1160 1154 Hellmuth: Metrische Erfindung und metrische Theorie bei Klopstock, S. 259. 1155 Klopstock: Vom deutschen Hexameter. In: Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie. Dichtungstheoretische Schriften, S. 60–156, hier S. 139. 1156 Ebd., S. 138. 1157 Ebd., S. 139. 1158 Ebd. 1159 Ebd. 1160 Ebd., S. 146.

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Zur poetischen Funktion der »Wortbewegung« bemerkt der Bibelepiker : Wir bekommen die Vorstellungen, welche die Worte, ihrem Sinne nach, in uns hervorbringen, nicht völlig so schnell, als die, welche durch die Worte, ihrer Bewegung nach, entstehn. Dort verwandeln wir das Zeichen erst in das Bezeichnete; hier dünkt uns die Bewegung geradezu das durch sie Ausgedrückte zu sein. Diese Täuschung muß dem Dichter eben so wichtig sein, als sie ihm vorteilhaft ist.1161

Auch wenn ein Dichter alle Regeln befolgt, welche die Komponenten des metrischen Ausdrucks betreffen, sind ihm laut Klopstock gewisse Grenzen gesetzt. Hinsichtlich der entscheidenden Wortwahl stellt er fest: Es gibt nämlich einige poetische Gedanken, für welche das Silbenmaß keinen Ausdruck hat; und dann muß er die dem Sinne nach ausdrückendsten Wörter und Wortstellungen, denen aber oft die passende Bewegung fehlt, notwendig wählen. Denn er darf das Wichtigere dem weniger Wichtigen nicht aufopfern. Doch hat dies folgende Einschränkung: Wenn ein Wort dem ausdrückendsten beinah gleichkömmt, und viel metrische Bedeutung hat; so verdient es die Wahl. Denn hier gewinnt der Dichter auf der einen Seite mehr, als er auf der andern verliert.1162

»So bald entweder nur der Zeitausdruck, oder nur der Tonverhalt zu dem Gedanken [passe]; so schall[e] das Passende dadurch so hervor, daß darüber das andre nicht bemerkt [werde].«1163 Dies müsse so sein, damit »der Ausdruck des Silbenmaßes« nicht an Stärke bzw. Intensität verliere.1164 Der Dichter erläutert diesen Grundsatz seiner Verstheorie durch mehrere Beispielverse. In folgendem Vers werde »über der Schnelligkeit des Zeitausdrucks«, die zur Aussage passe, »das nicht passende Sanfte des Tonverhalts nicht bemerkt«: »Aber da rollte der Donner von dunklen Gewölken herunter.«1165 Der ›sanfte Wortfuß‹ »1 – 1 da rollte« werde in diesem Beispiel ständig wiederholt und dennoch überwiege »der schnelle Zeitausdruck« aufgrund der Mehrzahl an ›Kürzen‹.1166 Als Gegenbeispiel zitiert er einen Vers, in welchem »man nur auf das Sanfte des Tonverhalts [höre]« und die Schnelligkeit des »Zeitausdrucks« völlig ignorieren könne: »Da die Lüfte des Lenzes mit Blüte das Mädchen bewehten.«1167 Seien »Zeitausdruck und Tonverhalt vereint«, würden sie »desto stärker [wirken]«, etwa in diesem Versbeispiel: »Und der Donner schlug ein, und durchscholl das Geklüft.«1168 Hier drücke der »Tonverhalt der drei letzten Füße (des Jamben auch, weil er mit 1161 1162 1163 1164 1165 1166 1167 1168

Ebd., S. 148. Ebd., S. 149. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 150.

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Anapästen verbunden ist) […] Heftigkeit aus«.1169 Nur »die hervorschallenden Füße (hier sind’s die drei letzten)« würden »dem Tonverhalte eines Verses seine Bestimmung [geben]«, d. h., der »Tonverhalt« der ersten ›Wortfüße‹ wird hier überhaupt nicht bemerkt.1170 Klopstock zieht ein weiteres Beispiel heran: »Da Waldströme durch Felsklüfte sich herwälzten.«1171 Laut dem Verstheoretiker hört man hier »dem Tonverhalte nach, das Gehinderte der Bewegung, und dem Zeitausdrucke, ihre Langsamkeit«.1172 Als letztes Beispiel zitiert er diesen kurzen Vers: »O Wehklagen, die aufsteigend vom Abgrunde.«1173 Man vernehme hierin die »Unruh der müden Qual« und »das Langsame dieser Ermüdung«.1174 Ein Metrum, das mit dem Inhalt eines Gedichts nicht übereinstimme, bezeichnet Klopstock als »getrennte[s] Silbenmaß«, das missfalle.1175 Trotz der hohen Bedeutung, die er dem Versmaß beimisst, bleiben die erhabenen Gedanken stets das Entscheidende einer Dichtung. Gemäß dem Hauptgrundsatz der metrischen Theorie des Bibelepikers muss der »lebendige Ausdruck« der ›Wortbewegung‹ »vornehmlich auch dem Inhalte angemessen sein«.1176 Am Ende seiner programmatischen Abhandlung Vom deutschen Hexameter umreißt Klopstock sein Ideal eines metrischen Ausdrucks: Es ist überhaupt nicht leicht, die Bewegung des ungetrennten Silbenmaßes ihren Tanz so halten zu lassen, daß man sie in Wendungen leitet, die weder Anstrengung noch Schwäche zeigen, und den Zeitausdruck und Tonverhalt mit gleichem Schritte fortführt; oder da, wo nur der eine von beiden zum Inhalte paßt, dafür sorgt, daß der passende recht weit vortrete, und der andere darüber desto weniger bemerkt werde. Ich nenne dies vollendete metrische Schönheit.1177

Der Messias-Dichter verfolgt in seiner poetischen Praxis und in seiner detailversessenen und hochkomplexen Verstheorie nur ein Ziel: Er will den »großen Virtuosen in der Verskunst«1178, den antiken Griechen, nacheifern und diese letztlich übertreffen. Dementsprechend bemerkt Klopstock: Ungeblendete und sorgfältige Untersucher werden finden, daß sogar die Dichter der Alten nur zuweilen, und selbst Homer nur viel öfter, als die andern dieser Vorstellung von der metrischen Schönheit genung getan haben. Denn auch Homers Verse gehen nicht selten ihren Weg für sich; und lassen den Inhalt den seinigen gehn: oder sie gehen 1169 1170 1171 1172 1173 1174 1175 1176 1177 1178

Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., S. 151. Ebd., S. 151f. Ebd., S. 152. Ebd., S. 79.

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gar geradezu gegen den Inhalt an. Und gleichwohl durfte Homer den Wörtern Silben geben oder nehmen, und konnte also die dem Sinne nach ausdrückendsten für den mitgehenden Vers bilden. Überhaupt gelten hier das öfter oder seltner, und das mehr oder weniger so sehr, und das Ziel, die durchgängige vollendete Schönheit des Silbenmaßes, ist so unerreichbar, daß man so gar weit davon der nächste sein kann.1179

Unverkennbar glaubte er, insbesondere im lyrischen »Triumphgesang« des Messias der vollendeten metrischen Schönheit nahegekommen zu sein.1180 In den 55 Triumphchören und Triumphliedern des XX. Gesanges stimmen die »künstlichen Füße« und die »Wortfüße« bezeichnenderweise überein. Die Verskunst Klopstocks im XX. Gesang des biblischen Heldengedichts lässt sich anhand eines einstrophigen Liedes demonstrieren, das einer der Todesengel singt: Wehklagen, und bang Seufzen vom Graunthale des Abgrunds her, Sturmheulen, und Strombrüllen, und Felskrachen, das laut niederstürzt’, 1179 Ebd., S. 152. 1180 Die 55 Triumphchöre und -lieder des XX. Gesanges des Messias sind: 1.) Eingangslied Gabriels XX, 5–8; 2.) »ein Chor Erstandner« (XX, 9) XX, 16–27; 3.) »ein anderes Chor« (XX, 29) XX, 30–45; 4.) ein Chor von Cherubim XX, 49–68; 5.) Lied von »Jeddo’s Sprößling« (XX, 69) XX, 74–93; 6.) Chor von Seraphim XX, 96–107; 7.) »ein schimmerndes Chor Erstandner« (XX, 109) XX, 112–123; 8.) »ein anderes Chor Erstandener« (XX, 124) XX, 128–143; 9.) ein »Chor Erstandner« (XX, 155) XX, 157–168; 10.) ein Chor der Seelen XX, 171–182; 11.) ein Chor der Seraphim XX, 187–194; 12.) ein Chor der Todesengel XX, 210–213; 13.) Lied Mirjams XX, 215–222; 14.) ein Chor der Engel XX, 225–228; 15.) ein Chor der Engel XX, 231–234; 16.) ein Chor der Engel XX, 236–247; 17.) ein Chor der Engel XX, 249–252; 18.) Chor von sieben Cherubim XX, 255–266; 19.) Lied eines Sehers XX, 269– 304; 20.) Chor von sieben Cherubim XX, 306–313; 21.) ein Chor von »zwölf Jünglingen, Engeln und Menschen« (XX, 315) XX, 320–379; 22.) ein Chor von »zwölf Jünglingen, Engeln und Menschen« (XX, 315) XX, 383–438; 23.) ein Chor der Todesengel XX, 445–460; 24.) Chöre der Seraphim XX, 471–494; 25.) ein Chor »Auferstandne[r] Gerechte[r]« (XX, 508) XX, 509–576; 26.) »Zweener Sterblichen Lied« (XX, 598) (Sie) XX, 604–607; 27.) »Zweener Sterblichen Lied« (XX, 598) (Er) XX, 611–626; 28.) Lied eines Sterblichen (Er) XX, 633–686; 29.) »der Erstandenen Chor« (XX, 688) XX, 689–700; 30.) »der Cherubim Chor« (XX, 702) XX, 703–710; 31.) Chor der Märtyrer XX, 713–724; 32.) ein Chor XX, 748– 755; 33.) »ein höheres Chor« (XX, 756) XX, 758–761; 34.) »Chöre der Menschen« (XX, 762) XX, 763–770; 35.) »Chöre der Engel« (XX, 771) XX, 772–779; 36.) ein Chor XX, 783–794; 37.) »ein höheres Chor« (XX, 795) XX, 797–808; 38.) Lied eines Menschen XX, 811–818; 39.) ein Chor der Seher XX, 825–832; 40.) ein Chor der Seher XX, 835–842; 41.) ein Chor der Erzengel XX, 845–860; 42.) Lied von Debora und Mirjam XX, 879–894; 43.) ein Chor der Propheten XX, 897–912; 44.) Lied eines Erzengels XX, 914–917; 45.) Lied eines andern Erzengels XX, 919–922; 46.) Lied von Benoni und Maria von Bethanien XX, 929–952; 47.) Lied eines Todesengels XX, 955–958; 48.) Lied Gabriels XX, 961–968; 49.) Chorgesang aller »Himmlischen« (XX, 973) XX, 974–977; 50.) ein Chor der Erzengel XX, 980–1011; 51.) ein Chor der Engel XX, 1018–1033; 52.) ein »Chor Erstandener« (XX, 1071) XX, 1074–1089; 53.) »ein anderes Chor Erstandne« (XX, 1091) XX, 1093–1108; 54.) Chor von sieben Erstandenen XX, 1112–1131; 55.) Chor von »hundert Cherubim« (XX, 1132) XX, 1134– 1141.

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Und Wuthschreyn, und Rachausrufen, erscholl dumpf auf! Wie der Strahl eilt, schwebten wir schnell, und in Wehmuth fort. (XX, 955–958)

Der Messias-Dichter zitiert dieses Strophenbeispiel in seiner Abhandlung Vom gleichen Verse (1773) und stellt ihm folgendes metrisches Schema voran: ––1,1––1,1––1,1––– ––1,1––1,1––1,1–,–1–, 1––,1–––1,1–––, 1 1 – / , – 1 1 – , 1 1 – – – .1181

Die ersten beiden Verse dieser Strophe sind bis auf das Versende gleich gestaltet (XX, 955f.). Eingeleitet werden sie jeweils durch einen Palimbacchius (– – 1), auf den zwei Antispaste (1 – – 1) folgen. Diese drei »Wortfüße« werden in Klopstocks Verstheorie als »unruhig« und »abstechend« bezeichnet. Sie vergegenwärtigen und verlebendigen die klagenden, seufzenden Stimmen und die schreckenerregenden, lauten Geräusche, die aus der Hölle aufsteigen und vom Todesengel gehört werden. Der Dichter verwendet zudem onomatopoetische Komposita wie »Wehklagen« (XX, 955), »Sturmheulen«, »Strombrüllen«, »Felskrachen« (XX, 956), »Wuthschreyn« und »Rachausrufen« (XX, 957), die einen expressiven Klang erzeugen. Der zweite Vers (XX, 956) endet nicht wie der erste mit einer Dipodie, sondern mit einem Jambus (1 –) und einem Kretikus (– 1 –). Klopstock fordert in seinem Fragment Vom gleichen Verse dezidiert, dass die von ihm in den metrischen Schemata gesetzten Kommata bei der Deklamation genaustens beachtet werden, da sie die Wortfußgrenzen markieren: Damit Sie die übergeschriebenen Silbenmaße recht beurteilen, muß ich Ihnen sagen, daß die Komma [!] die Verse in ihre Rhythmen abteilen. Teilt man anders ab; so macht man, ob gleich eben die Reihe Längen und Kürzen bleibt, eine ganz andre Strophe. Die Bildung derjenigen, welche der Erfinder im Sinn hatte, wird zerstört. Doch dürfen, der Mannichfaltigkeit wegen, bisweilen einige Verändrungen des Rhythmus gemacht werden. Es ist genug, wenn die Strophe, bei der Wiederholung, ihren Hauptcharakter nur nicht verliert. Die untergesetzten veränderten Längen oder Kürzen zeigen an, daß der Dichter sie manchmal brauchen dürfe; doch unter der Bedingung, daß der Fuß beinah derselbe bleibe; und dies geschieht, wenn er Wortfuß ist.1182 1181 Klopstock: Vom gleichen Verse. In: Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie. Dichtungstheoretische Schriften, S. 35–53, hier S. 48. Vgl. zu diesem Strophenbeispiel die metrische Analyse von Hans-Heinrich Hellmuth in: Hellmuth: Metrische Erfindung und metrische Theorie bei Klopstock, S. 151–153. 1182 Klopstock: Vom gleichen Verse. In: Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie. Dichtungstheoretische Schriften, S. 35–53, hier S. 38. Vgl. Hellmuth: Metrische Erfindung und metrische Theorie bei Klopstock, S. 82. HansHeinrich Hellmuth betont: »Die Kommas sind als Vortragszeichen gedacht, sie bezeichnen mehr oder minder starke Einschnitte, die je nach den syntaktischen Gegebenheiten und den Erfordernissen des Inhalts vom kaum merklichen Innehalten bis zur tiefen, durch Satzzeichen markierten Zäsur reichen können.« (Ebd.)

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Das Komma zwischen dem Jambus »das laut« und dem Kretikus »niederstürzt’« (XX, 956) verlangt demnach ein Stocken der Stimme, d. h., man soll hier beim Lesen kurz innehalten. Dieser effektvolle Verseinschnitt führt einerseits dazu, dass das Adjektiv »laut« hervorgehoben wird und somit der unruhige, lärmende Klang benannt wird, der aus der Hölle ertönt, und andererseits wird so das Verb ›niederstürzen‹ betont, das für eine plötzliche fallende Bewegung steht. Der Kretikus »niederstürzt’« (XX, 956) drückt »Ernstvolles« aus, wie auch die Dipodien »des Abgrunds her« (XX, 955) und »erscholl dumpf auf« (XX, 957) (1 – – –) sowie »und Rachausrufen« (XX, 957) (1 – – – 1). Ein Bacchius (1 – –) leitet den dritten Vers (XX, 957) ein, der als »starker Wortfuß« gilt. Er dient als ›Mitausdruck‹ des starken, leidenschaftlichen Gefühls, d. h. der Wut der Höllenfürsten, die diese schreiend äußern. Im dritten Vers der Strophe (XX, 957) überwiegen die ›Längen‹. Das langsame Aufsteigen der lauten Töne aus dem Abgrund der grauenvollen Hölle wird so ›mitausgedrückt‹. Der »Zeitausdruck« ist in den ersten drei Versen langsam und im letzten schnell. Das Metrum stimmt auch im Schlussvers dieser Strophe mit dem Inhalt überein: So beschreibt Klopstock ein schnelles Forteilen der wehmütigen Todesengel. Der vierte Vers (XX, 958) beginnt je nach Interpretation entweder mit einem Ionicus a minore (1 1 – –) oder mit einem dritten Päon (1 1 – 1). Der »Wortfuß« »Wie der Strahl eilt« (XX, 958) drückt in beiden Fällen »Muntres« aus. Im vierten Vers dieser Strophe wird der Antispast an zweiter Stelle durch einen Choriambus (– 1 1 –) ausgetauscht. Der Choriambus »schwebten wir schnell« (XX, 958) gilt als »übereinstimmender«, »starker« und schneller »Wortfuß«. Die Strophe endet mit einem Pyrrhichmolossus (1 1 – – –). Der »Wortfuß« »und in Wehmuth fort« (XX, 958) drückt ebenfalls »Starkes« aus. Dieses lyrische Strophenbeispiel aus dem XX. Gesang zählt der Messias-Dichter in seiner Abhandlung Vom gleichen Verse zu den sogenannten »übergehenden Strophen«.1183 Der deklamierende Leser hört demgemäß einen Übergang von den langsamen zu den schnellen Rhythmen, von den »unruhigen«, »ernstvollen«, »abstechenden« Wortfüßen zu den »übereinstimmenden«, »muntren« Wortfüßen. Das Versmaß kongruiert mit dem inhaltlichen Übergang: So wechselt der seraphische Sänger hier vom Schauplatz der Hölle in den ersten drei Versen (XX, 955–957) zurück zu den himmlischen Engeln im letzten Vers (XX, 958). Die »muntren Wortfüße« passen folglich zu den strahlenden, dynamischen Seraphim. In diesem Strophenbeispiel stimmt die »Wortbewegung« demzufolge perfekt mit den erhabenen Gedanken überein. In den lyrischen Strophen und im hexametrisch-epischen Kontext des XX. Gesanges des Messias ist immer wieder die Rede vom ›Psalmengesang‹ der Chöre 1183 Vgl. Klopstock: Vom gleichen Verse. In: Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie. Dichtungstheoretische Schriften, S. 35–53, hier S. 46.

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der Engel und der Auferstandenen.1184 So singen die Seraphim einen »Psalm der Wonne« (XX, 108). Die »Chöre des frohen Triumphheers« (XX, 204) stimmen begeistert einen feurigen »Psalm« (XX, 205) an. »Sieben Erstandne, die ersten unter den Menschen« (XX, 1110), singen dem Gottessohn einen »feyrende[n] Psalm« (XX, 1122). Es erklingen »Psalter« (XX, 248) und Harfen und »zu den Harfen Stimmen der Engel« (XX, 235), die folgende Strophe singen: Und es sahe David den Sohn, den Mittler Ferne; da flog Psalmflug! Jubel erscholl Im höheren Chore, das Lob Des Erschaffers und Erbarmers! (XX, 244–247)

Es erschallt »vom Altare Psalmmelodie« (XX, 563) und »Chorpsalm« (XX, 480, 652, 684, 1075, 1135) ertönt im Himmel. In einem Triumphlied heißt es: Durch feyrende, lautpreisende Psalmchöre des Sternheers bebt Mein Gebet auf zu dem Thron deß, der im Lichtreich herrscht! Vom Beginn selig macht! Labyrinthweg’ uns empor Zu dem Thron führt, wo unerforscht Er herrscht! (XX, 615–618)

Klopstocks Kopenhagener Freund Johann Andreas Cramer verfasste eine Poetische Uebersetzung der Psalmen mit Abhandlungen über dieselben (4 Bde., 1755–1764). Er preist darin die biblischen Psalmen »sowohl wegen ihrer göttlichen Eingebung, als wegen der Schönheit ihrer Poesie« als »die vollkommensten Gesänge« überhaupt.1185 Cramer attestiert dem Psalmendichter David zudem ein »lyrisches Genie«.1186 Die Psalmen galten im Zeitalter der Aufklärung als Ausdruck der Leidenschaften1187 und der göttlichen Begeisterung bzw. des religiösen Enthusiasmus1188. Cramer ging von einer »Vielheit der Verfasser« aus, d. h., als Dichter der biblischen Psalmen werden neben David auch Heman, Assaph und Ethan genannt.1189 Das »eigentliche Wesen der biblischen Poesie« bestehe in der affektvollen »Begeisterung«1190, in der »alle Kräfte der Seele geschäfftig [seien]«1191. Zum »Wesen der Begeisterung« wiederum gehöre die »Mannichfaltigkeit und Abwechslung der Gemüthsbewegungen«.1192 »Man 1184 Das Stichwort »Psalm« wird häufig im letzten Gesang des Messias genannt: XX, 261, 634, 824, 968, 1122. 1185 Cramer: Poetische Uebersetzung der Psalmen mit Abhandlungen über dieselben. Erster Theil (1763), Vorrede, unpag. 1186 Ebd., Vorrede, unpag. 1187 Vgl. ebd., S. 255–290 (Abhandlung V: Von dem Wesen der biblischen Poesie). 1188 Vgl. ebd., S. 231–254 (Abhandlung IV: Von der göttlichen Eingebung der Psalmen). 1189 Ebd., S. 191. Vgl. ebd., S. 189–230 (Abhandlung III: Von den Verfassern und Sammlern der Psalmen). 1190 Ebd., S. 262. 1191 Ebd., S. 276. 1192 Ebd., S. 279.

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finde[.] oft in einem Psalme die lebhaftesten Empfindungen der Traurigkeit, des Zornes, der Liebe, der Freude, der Verwunderung und des Erstaunens mit einander vereinigt.«1193 »Einbildungskraft und Witz« seien beim Verfassen der göttlichen Loblieder »nicht geschäfftiger gewesen, als es ihnen das Herz erlaub[e], wenn es voll Empfindungen [sei]«.1194 In der Argumentation Cramers übertreffen die Lobgesänge der Heiligen Schrift die heidnisch-antiken Dichtungen sowohl wegen ihres erhabenen Stoffes als auch wegen ihrer poetischen Gestaltung: Wie unendlich weit unterscheiden sie [die Psalmen; I. G.] sich nicht von allen Gedichten des Alterthums! Die Dichter der Griechen und Römer besangen, selbst nach dem Geständnisse ihrer großen Männer, entweder eine fabelhafte Götterlehre, und eine sowohl lächerliche, als ungegründete Religion, oder sie verewigten mit erdichteten Kriegen einen unmenschlichen Heldenmuth; oder sie entflammten eine unreine Liebe; oder sie erhuben Wettspiele, welche die Eitelkeit der Griechen erfand und in Ruf brachte. Sie priesen Götter, welche noch verderbter waren, als die Menschen, von denen sie angebetet wurden. Sie machten das Laster liebenswürdig; sie schmückten den Aberglauben, und schmeichelten den unedelsten Leidenschaften des menschlichen Herzens, dem Stolze, der Schwelgerey, und der Wollust. Flochten sie gleich zuweilen einige Sittensprüche in ihre Gedichte ein: so hatten sie gleichwohl größre Verdienste um das Laster, als um die Tugend. Die heiligen Psalmdichter thun von allem diesen gerade das Gegentheil. Sie erneuern unserm Gedächtnisse die wahre Geschichte der ältesten Zeiten, und die großen Begebenheiten der ersten Weltalter ; sie preisen die Beyspiele der untadelhaftesten Heiligen; sie erinnern mit Nachdruck und Stärke an die Gesetze Gottes, an die Verheissungen, welche zu großen Handlungen ermuntern, und an die furchtbaren Dräuungen, welche vom Laster zurückhalten. Das Gesetz befiehlt; die Geschichte unterweist; der Geist der Weißagung [!] verkündigt, was entfernt und zukünftig ist; die Sittenlehre vermahnt und überredet; Bestrafungen erschrecken; die Psalmen allein vereinigen in ihrem Eindrucke auf ihre Leser alle diese verschiednen Wirkungen. Sie verkündigen und preisen das Daseyn, die Größe, die Majestät, die unendliche Macht Gottes; […]. […] Ihre Beschreibungen von der Glückseligkeit der Tugendhaften sind so einnehmend und wahr, daß man wünschen muß, entweder tugendhaft zu werden, oder tugendhaft zu bleiben. Mit einem so würdigen Inhalte vereinigen sich die größten Schönheiten der Beredtsamkeit und Dichtkunst; ein Plan und eine Anordnung der Gedanken, die allezeit eben so viel Natur als Kunst beweist; überall Hoheit und zugleich die edelste Einfalt; Ausdrücke, welche den Gedanken und Empfindungen des Gedichts allezeit angemessen sind; eine so mannichfaltige Abwechslung und Neuheit in ihren Wendungen; kühne und glückliche Vergleichungen; unerwartete Bilder, starke und allezeit richtige Metaphoren. Sie begeistern eben so sehr, als sie bessern, und diejenigen, die wahre Schönheiten zu empfinden fähig sind, werden so oft, als sie die Psalmen lesen, eben so viele neue Reizungen für den guten Geschmack, als neue Ermunterungen zur Gottseligkeit und Tugend darinnen finden. 1193 Ebd. 1194 Ebd., S. 289.

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Allein man darf über die vorzügliche Würde dieser heiligen Gedichte nicht erstaunen, wenn man erwägt, daß ihre Verfasser die göttliche Begeisterung wirklich hatten, welche die Pindare und Alcäen der Heiden nur vorgaben.1195

David, der gottbegeisterte Schöpfer der meisten der biblischen Psalmen, gilt im 18. Jahrhundert als mustergültiger Dichter des Christlich-Erhabenen. Er wird sowohl von Cramer als auch von Klopstock weitaus über den griechischen Chorlyriker Pindar gestellt. Das Bild, das man sich im 18. Jahrhundert von Pindar gemacht hatte, wurde von Horaz geprägt, der in einer seiner Oden den Dithyrambendichter folgendermaßen beschrieben hatte (Carmen IV, 2, V. 5–12): monte decurrens velut amnis, imbres quem super notas aluere ripas, fervet inmensusque ruit profundo Pindarus ore, laurea donandus Apollinari, seu per audacis nova dithyrambos verba devolvit numerisque fertur lege solutis, Wie vom Berge herabströmt der Fluß, die Regengüsse haben ihn anschwellen lassen über die vertrauten Ufer, so braust und unermeßlich stürzt hervor aus tiefgründigem Quellmunde Pindar, Lorbeer zu empfangen würdig von Apoll, ob er hin durch kühne Dithyramben neue Wörter wälzt und auf Rhythmen dahinzieht regelfrei,1196

Pindar wurde in der Rezeption als göttlich inspirierter Lyriker gepriesen, der neue ›dunkle‹ Wörter erfunden und ohne die Gesetze der Metrik zu beachten, ›regellose‹ Singverse verfasst, d. h. in freien Rhythmen gedichtet habe.1197 Cramer bemerkt in einer seiner Abhandlungen über die Psalmen, dass die Quelle dieser Lobgesänge ein »wirklich gerührtes Herz« sei, aber das Herz eines Davids, eines Assaphs, eines Hemans und Ethans, das mit einem weisen und erleuchteten Verstande, mit einer von Natur feurigen Einbildungskraft, mit einem schnellen Witze und einem reichen Gedächtnisse in genauer Verbindung stand. Aus solchen Quellen mußten freylich unzählbare poetische Schönheiten strömen; […] 1195 Ebd., S. 233–236. 1196 Horatius Flaccus: Sämtliche Werke. Lateinisch / Deutsch. Mit einem Nachwort hrsg. v. Bernhard Kytzler, S. 206–209 (Carmina IV, 2, V. 5–12). 1197 Vgl. zur Pindar-Rezeption Klopstocks: Francesca Fantoni: Deutsche Dithyramben. Geschichte einer Gattung im 18. und 19. Jahrhundert. Würzburg 2009. (Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft; 649.) S. 98f.

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Schönheiten, welche beweisen, daß ein Dichter wie David, wenn man auch nicht auf den Inhalt seiner Gedichte sehen will, mehr Bewundrung als Pindar verdiene: Dir wagt sich keiner nachzuschwingen, Der du von Gott begeistert bist! So können keine Christen singen, Kein Pindar, wär er auch ein Christ. Schallt, schallet seine Psalmen wieder! Stimmt seine Harmonien an! Hoch wie die Himmel sind die Lieder, Und tiefer, als der Ocean!1198

Auch in Klopstocks Ode Kaiser Heinrich1199 (1764, Fassung von 1771) heißt es, dass der christliche David den heidnischen Pindar übertreffe (V. 33–36): Und wer ist Pindar gegen dich, Bethlems Sohn, Du Hirt, und o du Sieger des Dagonit, O Isäide, Sänger Gottes, Der den Unendlichen singen konnte!1200

Der Messias-Dichter erklärt in der Einleitung zu seinen Geistlichen Liedern (1. Theil, 1758), dass die Psalmen »sehr von einander verschieden« seien.1201 Man könne sie »in erhabene und in sanftere« einteilen.1202 Die ersten nennt er »Gesänge«, die zweiten »Lieder«.1203 In den Gesängen würde ein »christliche[r] Dichter« »Viele zu sich erheben« und in den Liedern »sich zu den Meisten herunterlassen«.1204 Der Gesang sei »fast immer kurz, feurig, stark, voll himmlischer Leidenschaften; oft kühn, heftig, bilderreich in Gedanken und im Ausdrucke; und nicht selten von denjenigen Gedanken beseelt, die allein, von dem Erstaunen über Gott, entstehen können«.1205 Er sage nicht, dass »das Lied nicht auch vieles von diesen allem haben könne: aber es milder[e] es fast durchgehends, und bilde[.] es in Vorstellungen aus, die leichter zu übersehen [seien]«.1206 Der Gesang und das Lied werden folgendermaßen voneinander abgegrenzt: Jener ist die Sprache der äussersten Entzückung, oder der tiefsten Unterwerfung: dieses der Ausdruck einer sanften Andacht, und einer nicht so erschütterten Demut. Bey dem Gesange kommen wir ausser aus. Sterben wollen wir, und nicht leben! Bey dem Liede zerfliessen wir in froher Wehmut, und erwarten unsern Tod mit Heiterkeit. 1198 Cramer: Poetische Uebersetzung der Psalmen mit Abhandlungen über dieselben. Erster Theil (1763), S. 289f. 1199 HKA, Werke I 1, S. 230–235 (Fassungen der Ode Kaiser Heinrich von 1771 und 1798). 1200 Ebd., S. 232, V. 33–36 (Fassung von 1771). 1201 HKA, Werke III 1, S. 3. 1202 Ebd. 1203 Ebd. 1204 Ebd. 1205 Ebd., S. 4. 1206 Ebd.

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Der erste erlaubt sichs nicht nur, sondern es ist eine von seinen Hauptpflichten, daß er schnell von einem grossen Gedanken zum andern forteile. Er fliegt von Gebirge zu Gebirge, und läßt die Thäler, wie schön und blumenvoll sie auch seyn möchten, unberührt liegen. Denn wenn unsre Seele entweder durch die Hoheit der Gedanken, oder durch das Feuer der Empfindungen stark bewegt ist; so ist es ihrer Natur gemäß, so zu denken. Gewisse nähere Erklärungen, gewisse Ausbildungen will sie alsdann nicht. Sie eilt fort.1207

Die »erhabne Schreibart« hätte »feinere Bestimmungen als die gemilderte«, und daher sei der Gesang zu »einer hellern Deutlichkeit fähig als das Lied«.1208 »Er bekömmt von der Kürze, dem Feuer, und der Stärke der Gedanken noch mehr Licht.«1209 Zum Versmaß bemerkt Klopstock: Den Gesang erhebt der Dichter durch andre Sylbenmasse. Bald braucht er das Sylbenmaß der Alten. Bald setzt er dieß auf neue Art zusammen. Bald wählt er diejenigen unter den eingeführten Sylbenmassen der Lieder, in welchen der Trochäus bisweilen den Jamben, oder dieser jenen unterbricht. Allein den Reim läßt er weg. Vielleicht würde es auch dem Inhalte gewisser Gesänge sehr angemessen seyn, wenn sie Strophen von ungleicher Länge hätten, und die Verse der Alten mit den unsrigen so verbänden, daß die Art der Harmonie mit der Art der Gedanken beständig übereinstimmte.1210

Der Gesang der Gemeinde ist für den Messias-Dichter der wichtigste Teil eines Gottesdienstes und nicht die Predigt, was den orthodoxen Ansichten gänzlich widerspricht. So schreibt er : Das Singen ist wieder der wichtigste Theil der Anbetung, weil es das laute Gebet der Gemeine ist, welches sie mit mehr Lebhaftigkeit bewegt, und zu längern Anhalten erhebt, als das still nachgesprochne oder nur gedachte Gebet. Die unterrichtende Ermahnung des Predigers, ist, ihres grossen Nutzens ungeachtet, kein so wesentlicher Theil des Gottesdienstes.1211

Demzufolge formulierte Klopstock in der Einleitung zu seinen Geistlichen Liedern (1758) gewissermaßen die Grundzüge seiner Poetik des »Triumphgesangs«. Hierzu gehören der sprachliche und lyrische Ausdruck der Affekte, das ›Stilprinzip der Kürze‹ und der Dynamisierung, die harmonische Versbewegung sowie der erhabene Inhalt. Klopstock bekennt in einem Brief an Anna Cäcilie Ambrosius vom 30. oder 31. Oktober 1767: »Ich will Ihnen eine Hauptschwierigkeit sagen die der Mess. vom XIten Gesange an bis zu Ende vor den ersten X Gesängen hat. Sie ist diese: 1207 1208 1209 1210 1211

Ebd., S. 4f. Ebd., S. 5. Ebd. Ebd., S. 5f. Ebd., S. 8.

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Es ist viel schwerer die Freude als den Schmerz auszudrücken.«1212 Der Dichter macht mit dieser Aussage deutlich, dass quasi zwei ›Hauptaffekte‹ im Messias vorherrschen. Dies sind in den ersten zehn Gesängen der Schmerz oder das Leid und in den weiteren zehn Gesängen die Freude oder die Wonne. So fällt das entsprechende Stichwort, das die dargestellte Empfindung bezeichnet, auch immer wieder im XX. Gesang des Bibelepos: »Wonne« (XX, 9, 108, 146, 174, 176, 187, 508, 676, 686, 756, 795, 869, 1038, 1042, 1114), »Wonnegesang(e)« (XX, 143, 844), »Wonnegefühl« (XX, 161), »Wonnegedanken« (XX, 833), »Wonnausruf« (XX, 1146). Bezeichnenderweise tritt auch im letzten Gesang des Messias der ›subjektive Erzähler‹ in Erscheinung. Inmitten der 55 lyrischen Triumphchöre und -lieder erklingen an 26., 27. und 28. Stelle drei Lieder (XX, 604–607, 611–626, 633–686), die von zwei Sterblichen angestimmt werden. Carl Friedrich Cramer bemerkt in seinem Kommentar zum XX. Gesang des Messias, dass Klopstock »sich selbst in einen Winkel seines Gemähldes hin[stelle]«: Meinen Sie wohl daß der Dichter des Messias hier sich selbst ganz vergessen konnte? Sollt er nicht auch mit singen, da er die Engel hat singen lassen? Er thuts und flicht, ohne sich zu nennen, auf eine feine Art, sich und seine Meta hinein; eben so wie er Metas Geschichte im funfzehnten Gesange verewigt hat. Die Charactere, die er ihr und sich giebt, der Liebe! der Gute! lassen sich nicht verkennen!1213

Aus diesem Hinweis auf die autobiographisch fundierte Gedor-Cidli-Episode (XV, 419–467) (vgl. Kap. 4.7) geht hervor, dass die beiden Protagonisten in dieser epischen Szene im XX. Gesang des biblischen Heldengedichts von den zeitgenössischen Rezipienten ebenfalls mit dem Dichter und seiner Frau Meta gleichgesetzt wurden. Eingeführt werden die zwei namenlosen epischen Figuren in folgenden Hexameterversen: Jetzt da in seinem Triumphe der Sohn des Ewigen Psalme Seiner Erhöhung vernahm, und mit Wonne der preisenden Freude Überschwenglich belohnt’, entstieg der Gräber Gefilden Zweener Sterblichen Lied. Sie hatten Erstandne gesehen, Hatten gelernt. Es wurd’ ihr Lied von dem Ausgesöhnten, Und dem Versöhner gehört. […] (XX, 595–600)

Die innige Verbundenheit dieser zwei frommen Sterblichen wird sprachlichsyntaktisch durch einen Parallelismus gekennzeichnet. Beide erheben »die Stimme der Andacht« (XX, 602, 609): »Sie, die liebte den Herrn, und ihres Lebens Gefährten« (XX, 603) und »Er, der liebte den Herrn, und seines Lebens Ge1212 Brief von Klopstock an Anna Cäcilie Ambrosius, 30. oder 31. Oktober 1767. In: HKA, Briefe V 1, Nr. 26, S. 35–37, hier S. 35, Z. 15–18. 1213 [Cramer :] Klopstock. (In Fragmenten aus Briefen von Tellow an Elisa.) [2. Bd.] Fortsetzung, S. 396.

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fährtin« (XX, 610). Klopstock tauscht demnach nur die Personalpronomina aus – ein poetisches Verfahren, das an die Ode Das Rosenband (1753)1214 erinnert, die er für seine »Cidli« geschrieben hatte. Das Triumphlied der »Gefährtin« besteht nur aus einer Strophe (vgl. XX, 604–607), während dasjenige ihres »Gefährten« vier Strophen umfasst (vgl. XX, 611–626). Genau im Zentrum des XX. Gesanges ertönt nun »des künftigen Christen Gesang« (XX, 629) (vgl. XX, 633–686), der mit dem ›poeta vates‹ selbst identifiziert wurde. Cramer merkt hierzu an: »Und das was er [Klopstock; I. G.] allein hernach singt! Ich nenns immer meine Theodicee! Wer das ohne Thränen lesen kann, meine Freunde!«1215 Der Anfang dieses Triumphliedes eines Sterblichen lautet: Erwach, Harfengetön, und erhebe dich Dem Psalm nach zum Throne! Dein Flug sey des Unendlichen Lob, Des Herrn Preis dein Festlied! O ihm, dem mit Entzückung Harmonie des Gestirnheers emporsteigt, Und Erzengel entflammendes Lob In dem Anschaun ertönen, O lispl’ auch, mein Gesang, sein Lob dem! Von dem Grab’ auch vernehme Sein Lob Gott! Wie beginn’ ichs? wie vollend’ ichs? O Vorschmack des Himmels, Des Herrn Preis, wer singt dich, und erliegt nicht? (XX, 633–645)

Klopstock erfand nur für dieses Lied das stichische, sogenannte ›ionische‹ Versmaß1216, in dem der Ionicus a minore (1 1 – –) der vorherrschende Fuß neben dem Anapäst (1 1 –) und dem Bacchius (1 – –) ist. Der ›ionische‹ Vers, der ein Maximum von 18 Silben erreichen kann, wurde in der Endfassung von 1799/ 1800 in zwei Kurzverse geteilt. Hinsichtlich seiner ungewöhnlichen metrischen Form hebt sich dieses Triumphlied von den anderen lyrischen Strophengesängen ab. Für die Verehrer des Dichters hatte sich Klopstock mit diesem Lied selbst ein poetisches Denkmal im Messias gesetzt. Von Cramer befragt, »ob er sich nicht damit gemeint hätte«, habe der Bibelepiker dies nicht geleugnet und hinzugefügt: »es braucht es wenigstens niemand auf mich zu beziehen; ob es gleich meine Empfindungen sind […], Es ist allgemein!«1217 Der ›poeta vates‹ 1214 Vgl. HKA, Werke I 1, S. 141. Vgl. hierzu: Rößler : Form als Theologie, S. 46. 1215 [Cramer :] Klopstock. (In Fragmenten aus Briefen von Tellow an Elisa.) [2. Bd.] Fortsetzung, S. 396. 1216 Vgl. zur ›ionischen Versart‹: Hellmuth: Metrische Erfindung und metrische Theorie bei Klopstock, S. 203–210. 1217 [Cramer :] Klopstock. (In Fragmenten aus Briefen von Tellow an Elisa.) [2. Bd.] Fortsetzung, S. 396.

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singt demzufolge stellvertretend für die gesamte Christenheit. Er ist eine der erlösten menschlichen Seelen, die nach ihrem Tod auf ihre Auferstehung warten und Gott für ihre Unsterblichkeit preisen. Von dem singenden Sterblichen erfährt der Leser bzw. Zuhörer des Messias nur, dass sich seine Seele von Neuem erhoben (vgl. XX, 627f.) und dass er »vor inniger Andacht« gebrannt habe (XX, 628). Der epische Erzähler berichtet: »Siehe, des künftigen Christen Gesang entschwebte der Erde j Kaum, allein ihn vernahm der Hörer der ewigen Chöre. j Also rauschet ein Blatt, wenn die Wiederhalle der Felskluft j Donner rufen, Donner der Waldstrom nieder ins Thal stürzt.« (XX, 629–632) Der Psalmgesang einer menschlichen Stimme mischt sich »ins Loblied der Himmel« (XX, 680), wie es im Triumphlied heißt (vgl. XX, 680f.). Diese Stimme erhebt sich von den irdischen »Gräbern« empor »ins Getön, wo Entzückung j Der Chorpsalm zum Thron ruft, j Und sanft Lispeln den Harfen entlockt, j Wenn in Dank weint die Wonne!« (XX, 682–686). Damit steht die »unsterbliche Seele« (I, 1), die im ersten Vers des Messias apostrophiert wird, auch im Zentrum des XX. Gesanges, d. h. kompositorisch an 28. Stelle der insgesamt 55 Triumphchöre und -lieder. Klopstock feilte jahrzehntelang am sprachlichen und metrischen »Mitausdruck« des erhabenen Inhalts seines Bibelepos. Demgemäß berichtet er seinem Freund Ebert am 5. Mai 1769: »In meinem Exempl. wimmelts von Glättungen, u Wegglättungen, vornäml. in Absicht auf das Sylbenmaaß, u dann auch des Ausdruks. Am Inhalte, dünkt mich, hab ich eben nichts zu verändern.«1218 Es stellt sich hier die berechtigte Frage, wie sich das Lyrische in einem epischen Gedicht rechtfertigen lässt. Eine Möglichkeit der Legitimation besteht in dem Verweis auf die Tradition der biblischen Psalmen, die im Stoff des Messias gründet, oder auf die antike Chorlyrik, die in der metrischen Form wurzelt. Eine wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang aber auch die Ossian-Rezeption im 18. Jahrhundert.1219 Der schottische Dichter James Macpherson (1736–1796) 1218 Brief von Klopstock an Ebert, 5. Mai 1769. In: HKA, Briefe V 1, Nr. 99, S. 146–149, hier S. 146f., Z. 12–15. 1219 Grundlegend für dieses Thema ist die vierbändige Monographie ›Homer des Nordens‹ und ›Mutter der Romantik‹. James Macphersons »Ossian« und seine Rezeption in der deutschsprachigen Literatur : Wolf Gerhard Schmidt: ›Homer des Nordens‹ und ›Mutter der Romantik‹. James Macphersons Ossian und seine Rezeption in der deutschsprachigen Literatur. Band 1: James Macphersons Ossian, zeitgenössische Diskurse und die Frühphase der deutschen Rezeption. Berlin / New York 2003. – Wolf Gerhard Schmidt: ›Homer des Nordens‹ und ›Mutter der Romantik‹. James Macphersons Ossian und seine Rezeption in der deutschsprachigen Literatur. Band 2: Die Haupt- und Spätphase der deutschen Rezeption. Bibliographie internationaler Quellentexte und Forschungsliteratur. Berlin / New York 2003. – Wolf Gerhard Schmidt (Hrsg.): ›Homer des Nordens‹ und ›Mutter der Romantik‹. James Macphersons Ossian und seine Rezeption in der deutschsprachigen Literatur. Band 3: Kommentierte Neuausgabe deutscher Übersetzungen der Fragments of Ancient Poetry (1766), der Poems of Ossian (1782) sowie der Vorreden und Abhandlungen von Hugh Blair und James Macpherson. Berlin / New York 2003. – Wolf Gerhard Schmidt /

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veröffentlichte in den 1760er Jahren die Gedichte Fragments of Ancient Poetry, collected in the Highlands of Scotland, and translated from the Galic or Erse Language (1760) sowie die Epen Fingal, an ancient epic Poem, in six Books (1762) und Temora, an ancient epic Poem, in eight Books (1763) – 1765 als gesammelte Dichtungen Ossians herausgegeben, 1773 in endgültiger Fassung erschienen –, die er als englische Übersetzungen originaler, mündlich überlieferter, spätantiker Gesänge eines gälischen Barden namens »Ossian« ausgab. Der Ossian, in dem »Reminiszenzen an die Bibel, Homer, Vergil, Milton und Shakespeare«1220 zu finden sind, wurde in der europäischen Literaturlandschaft als »eine Art Nationalepos«1221 rezipiert. Es handelt sich hierbei um ein kunstvolles »Textmosaik«1222, das sich aus teilweiser Übersetzung gälischer Texte, teilweiser Adaption mündlicher Überlieferung und teilweiser freier Nachdichtung im beliebten empfindsam-erhabenen Stil des 18. Jahrhunderts zusammensetzt.1223 Das Epos Fingal beruht auf echtem gälischen Quellenmaterial, während Temora »(bis auf das erste der acht Bücher) eine Neudichtung« Macphersons ist.1224 In den Gedichtfragmenten erinnert sich der greise und blinde Barde Ossian im tränenreichen Klagegestus an die glorreiche Vorzeit, an das verlorene Goldene Zeitalter seines Vaters Fingal, der als Idealbild eines empfindsamen Heroen dargestellt wird. Im Zentrum der Handlung steht folglich die Verherrlichung des Vergangenen und die Vergänglichkeit alles Irdischen. Es fehlt in den Poems of Ossian eine transzendente Macht bzw. religiöse Instanz, d. h., es gibt keinen Schöpfer- und Erlösergott, sondern lediglich ein Geisterreich.1225 Man könnte hier von einer Art »›Heldenmythologie‹« sprechen.1226 Das »Wunderbare« in den epischen Fragmenten Ossians sind die Nebelgeister der verstorbenen Krieger.

1220 1221 1222 1223 1224 1225 1226

Howard Gaskill (Hrsg.): ›Homer des Nordens‹ und ›Mutter der Romantik‹. James Macphersons Ossian und seine Rezeption in der deutschsprachigen Literatur. Band 4: Kommentierte Neuausgabe wichtiger Texte zur deutschen Rezeption. Berlin / New York 2004. Schmidt: ›Homer des Nordens‹ und ›Mutter der Romantik‹. James Macphersons Ossian und seine Rezeption in der deutschsprachigen Literatur. Band 1, S. 80. Ebd., S. 81. Ebd., S. 80. Wolf Gerhard Schmidt definiert die Dichtung Ossians als »intertextuelle Collage aus gälischen Balladen, literarischen Klassikern und modernen philosophischen Theoremen«. (Ebd., S. 381.) Vgl. ebd., S. 89. Wolf Gerhard Schmidt revidiert den Begriff der »literarischen Fälschung«, der in Bezug auf Ossian in der älteren germanistischen Forschungsliteratur stets gebraucht wurde. Ebd., S. 89. Wolf Gerhard Schmidt betont: »An die Stelle der Verehrung des höchsten Wesens tritt […] eine Kultur der Erinnerung. Heilig ist nicht mehr Gott, sondern der Mensch, seine Taten und das Medium ihres Transfers: die Kunst.« (Ebd., S. 345.) Ebd., S. 94. Wolf Gerhard Schmidt erläutert diesbezüglich: »Fingal und seine Helden erweisen sich als mustergültige Exponenten christlicher Verhaltensweisen wie Nächstenund Feindesliebe. Sie sind edel, großzügig und bescheiden und verzeihen begangenes Unrecht.« (Ebd., S. 383.)

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Typisch für die erhabene Naturmetaphorik in den Poems of Ossian, zu der Mondlicht, Wolken und Regen gehören, ist die düster-melancholische Stimmung der schottischen Highlands. Es werden wilde, raue und düstere Landschaftsbilder mit kahlen Bergen, nebligen Heiden, tosendem Meer und brausenden Stürmen beschrieben.1227 Die keltischen Bardengesänge sind im 18. Jahrhundert »sowohl Paradigma des Schrecklich-Erhabenen als auch des Romantisch-Schönen, was sich vor allem in der Verwendung der Naturevokationen manifestiert«.1228 Entscheidend in Bezug auf den Messias Klopstocks ist, dass der Ossian eine »Tendenz zur Gattungsmischung« aufweist, die in einem »Nebeneinander von epischen, lyrischen und dramatischen Elementen« zum Ausdruck kommt.1229 Die erste vollständige deutsche Ossianübersetzung (3 Bde., 1768–1769) stammt von dem Wiener Jesuiten Johann Nepomuk Cosmas Michael Denis1230, der ein bekennender Verehrer des Messias-Dichters war.1231 Nach dem Vorbild 1227 Vgl. ebd., S. 144–147. 1228 Ebd., S. 348. »Der terrible beauty, d. h. dem ›schönen Erhabenen‹, entspricht der empfindsame Heroismus.« (Ebd., S. 360.) 1229 Ebd., S. 92. 1230 Vgl. [Michael Denis:] Die Gedichte Ossians eines alten celtischen Dichters, aus dem Englischen übersetzt von M. Denis, aus der G. J. 3 Bde. Wien 1768–1769. Denis übersetzte die Gesänge Ossians anhand folgender englischer Ausgabe: The Works of Ossian, the Son of Fingal. In two volumes. Translated from the Galic Language by James Macpherson. The third Edition. London 1765. Er hatte Anfang der 1760er Jahre begonnen, die englische Sprache zu lernen, um Miltons Paradise Lost im Original lesen zu können. Demgemäß schreibt Denis in seinen Lesefrüchten: »Ich gestehe, daß einer meiner Hauptantriebe die englische Sprache zu lernen war, das verlohrene Paradies an der Quelle zu studiren.« ([Michael Denis:] Lesefrüchte. Zweyter Theil. Wien 1797. S. 36.) Vgl. hierzu: Ruprecht Wimmer : Michael Denis und seine Ossian-Übersetzung. In: Germanistische Tangenten. Deutsch-britische Berührungen in Sprache, Literatur, Theatererziehung und Kunst. Hrsg. v. Herta-Elisabeth Renk und Margaret Stone. Regensburg 1989. (Eichstätter Beiträge; 25. Abteilung Sprache und Literatur; 9.) S. 35–47. 1231 Denis verteidigt das biblische Heldengedicht Klopstocks etwa in folgendem poetischen Schreiben: [Michael Denis:] Schreiben an einen Freund über Herrn Klopstocks Messiade. [Hamburg 1766.] (Wiederabdruck in: [Michael Denis:] Nachlese zu Sineds Liedern. Aufgesammelt und hrsg. v. Joseph von Retzer. Wien 1784. S. 100–116.) In einem seiner späteren Gedichte schreibt Denis verehrungsvoll über Klopstock: »›Ein Deutscher, voll des heiligen Alterthums, ›Berauscht an Sions Quellen, erhub ein Lied ›In fremden Maaßen. Unerreichbar ›Ward er Homer und Virgil den Seinen.« (Michael Denis: Literarischer Nachlaß. Hrsg. v. Joseph Friedrich Freyherrn von Retzer. Zweyte Abtheilung. Wien 1802. S. 102.) Gleichermaßen heißt es in einem seiner Epigramme: »Suchst du Klopstock? Hier auf Gottes Boden j Ist er im Messias nur, und in den Oden.« (Ebd., S. 92.) Denis bekennt zudem in einem seiner Briefe an den Bibelepiker : »Ruhms genug für mich, wenn ich mich unter Ihre Bewundrer und Diener zählen darf […].« (Brief von Denis an Klopstock, 17. Mai 1767. In: HKA, Briefe V 1, Nr. 10, S. 13–16, hier S. 15f., Z. 112f.)

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Klopstocks übertrug er Macphersons rhythmische Prosa (»measured prose«) in Hexameter und die lyrischen Verspassagen in freie Rhythmen. Seine Wahl des epischen Hexameters als passendes Metrum für die deutsche Übersetzung des Ossian begründete Denis im Vorbericht des ersten Bandes, der auf den 22. Oktober 1767 datiert ist: Man ist wider Uebersetzungen in gebundener Rede eingenommen. Ich weis es. Man kann mir Macphersons Beyspiel vorhalten; besonders, wenn man nicht bemerket, daß er sehr viele Verse in seine Prose gemenget hat. Aber ich will jedes härtere Urtheil nur so lange verbitten, bis man untersuchet hat, ob Ossianen durch meine Versification Zwang geschehen sey. Ich habe den Hexameter der Griechen gewählt. Kein Sylbenmaaß schien mir meinem Gegenstande angemessener. Möchten sich doch deutsche Dichter zur höhern Erzählung niemal einer andern Versart, als dieser, oder höchstens noch der fünffüßigen männlichen Jamben, bedienen! aber möchten sie auch ihre Sylbenlängen so richtig bestimmen, ihre Wörter so harmonisch anreihen, ihre Abschnitte so manigfaltig verlegen, ihre Perioden so abwechselnd ausströmen lassen, als unser grosses Muster, der Sänger des Messias, mein verehrtester Freund! Kenner werden entscheiden, wie weit ich meinen eigenen Wunsch erfüllet habe. Sollte durch meine Arbeit mancher Landsmann mit dem Hexameter ausgesöhnet werden, welche schmeichelhafte Belohnung für mich!1232

Der humanistisch gebildete Aufklärer reiht Ossian unter die antiken Klassiker – Homer und Vergil – ein.1233 Ein anonymer Rezensent schreibt in den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen (152. Stück, 19. Dezember 1768): [E]s kan diese Uebersetzung nach unserm deutschen epischen Originaldichter [Klopstock; I. G.] billig gesetzet werden, billig einen nahen Platz erhalten; selbst in so fern der alte Barde mit unserm Gefühl, und mit unsern National-Begriffen von den ersten Zeiten weit mehr übereinstimmt, als ein Homer und Virgil.1234

Mit den zwei Hexameterdichtungen, dem Messias und dem Ossian, glaubte man, ein ›teutonisches‹ Äquivalent der klassisch-antiken Epentradition gegenüberstellen zu können. Der in den Gedichten Ossians verwendete Terminus »joy of

1232 [Michael Denis:] Die Gedichte Ossians eines alten celtischen Dichters, aus dem Englischen übersetzt von M. Denis, aus der G. J. Erster Band. Wien 1768. Vorbericht, unpag. 1233 Denis schreibt in dem Vorbericht zu seiner Ossianübersetzung: »Kaum hatte ich ein paar Gedichte meines Barden durchgelesen, als ich ihn in meinen Gedanken Homern und Virgiln an die Seite setzte.« (Ebd.) 1234 [Anonym:] [Rez.:] Die Gedichte Ossians eines alten celtischen Dichters. Aus dem Englischen übersetzt von M Dennis, aus der G. J. Erster Band. [Bey von Trattnern. Wien 1768.] In: Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen unter der Aufsicht der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften. Der zweite Band auf das Jahr 1768. 152. Stück (19. Dezember 1768). Göttingen 1768. S. 1281–1285, hier S. 1282.

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grief«, den Denis ins Deutsche als »Wonne der Wehmuth« übersetzte1235, wurde »zu einem wesentlichen Schlagwort der Empfindsamkeit«.1236 In der Rezeption der ossianischen Gesänge wurde der keltische Barde stets mit dem griechischen Epiker Homer verglichen, wie beispielsweise in den weitverbreiteten Abhandlungen von Hugh Blair (1718–1800), einem schottischen Gelehrten, und von Abb8 Melchior Cesarotti (1730–1808), dem italienischen Übersetzer von Macphersons Ossian.1237 Klopstock schreibt in einem Brief an Denis vom 4. April 1767: »Ich liebe Ossian so sehr, daß ich seine Werke über einige Griechische der besten Zeit setze.«1238 In anderen Briefen an den Übersetzer aus dem Jahre 1767 betont er, dass Ossian »ein vortreflicher Barde«1239 und seine Werke »wahre Meisterstücke«1240 seien. Klopstocks hohe Wertschätzung des nordischen Barden drückt sich etwa auch in folgendem Epigramm aus: Der Untersuchung würdig Du gingst der Schönheit Bahn, Sohn Fingals, Ossian! Sie ging Mäonides Homer! Wer that der Schritte mehr?1241

Gleichermaßen heißt es in der Ode Unsre Sprache (1767)1242 (V. 53–60): 1235 Carricthura. Ein Gedicht. In: [Michael Denis:] Die Gedichte Ossians eines alten celtischen Dichters, aus dem Englischen übersetzt von M. Denis, aus der G. J. Dritter Band. Wien 1769. S. 75–100, hier S. 79. 1236 Schmidt: ›Homer des Nordens‹ und ›Mutter der Romantik‹. James Macphersons Ossian und seine Rezeption in der deutschsprachigen Literatur. Band 1, S. 122. 1237 Wolf Gerhard Schmidt weist auf Folgendes hin: »Der keltische Barde wird […] schon früh zum ›Homer der Schotten‹, bevor Madame de Sta[l ihn schließlich zum ›HomHre du nord‹ stilisiert.« (Ebd., S. 338.) Eine deutsche Übersetzung der einflussreichen Abhandlung Blairs veröffentlichte Denis im dritten Band seiner Ossianübersetzung: Hugo Blairs, Lehrers der schönen Wissenschaften an der Universität zu Edinburg, Kritische Abhandlung über die Gedichte Ossians. In: [Denis:] Die Gedichte Ossians eines alten celtischen Dichters […]. Dritter Band, S. I–CXLIV. Bezeichnenderweise heißt es in dieser kritischen Schrift über den keltischen Barden: »Seine Poesie verdient vielleicht vor jeder andern die Poesie des Herzens genannt zu werden. Sein Herz ist ein von edlen Empfindungen, von erhabenen und zärtlichen Leidenschaften durchdrungenes Herz, ein Herz, das glüht und die Phantasey befeuert, ein Herz, das voll ist, und überfließt.« (Ebd., S. XXXIII.) Der Ossian Macphersons wurde demnach wie der Messias Klopstocks als empfindsam-erhabene Dichtung rezipiert. 1238 Brief von Klopstock an Denis, 4. April 1767. In: HKA, Briefe V 1, Nr. 5, S. 9, Z. 6–8. 1239 Brief von Klopstock an Denis, 6., 9. Januar 1767. In: HKA, Briefe V 1, Nr. 1, S. 1–4, hier S. 3, Z. 99f. 1240 Brief von Klopstock an Denis, 8. September 1767. In: HKA, Briefe V 1, Nr. 18, S. 22–24, hier S. 24, Z. 51f. 1241 HKA, Werke II, Nr. 94, S. 34. Die Erstveröffentlichung dieses Epigramms Der Untersuchung würdig erfolgte in Klopstocks Deutscher Gelehrtenrepublik (1774). (Vgl. ebd., S. 219 [Apparat].) 1242 HKA, Werke I 1, S. 297–299.

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Die Vergessenheit umhüllt’, o Ossian, auch dich! Dich huben sie hervor, und du stehest nun da! Gleichest dich dem Griechen! trotzest ihm! Und fragst, ob wie du er entflamme den Gesang? Voll Gedanken auf der Stirne höret’ ihn Apoll, Und sprach nicht! und gelehnt auf die Harfe Walhalls Stellt sich vor Apollo Bragor hin, Und lächelt, und schweiget, und zürnet nicht auf ihn.1243

Es lässt sich leider nicht rekonstruieren, welche Ausgabe(n) der ossianischen Gedichte Klopstock besaß.1244 Fest steht allerdings, dass er in den 1750er Jahren begonnen hatte, die englische Sprache zu lernen, und dass er aufgrund der einfachen Diktion der Bardengesänge sicherlich in der Lage war, diese im Original zu lesen und zu verstehen.1245 Der Beginn von Klopstocks Ossian-Rezeption 1243 Ebd., S. 299, V. 53–60. 1244 Man nimmt in der Forschung an, dass Klopstock zumindest die Ausgabe der gesammelten Dichtungen Ossians aus dem Jahre 1765 besaß, auf deren Grundlage Denis seine deutsche Übersetzung verfasste. (Vgl. HKA, Briefe V 2, S. 348.) Der Bibelepiker informierte sich zudem laufend über den aktuellen Stand von Denis’ Übersetzungsarbeit. So schreibt er in einem Brief an den Wiener Jesuiten vom 6. Januar 1767: »Ich bitte Sie, mich nicht lange auf ihre Übersetzung des Ossian warten zu lassen.« (Brief von Klopstock an Denis, 6., 9. Januar 1767. In: HKA, Briefe V 1, Nr. 1, S. 1–4, hier S. 3, Z. 98f.) Der Ossianübersetzer kann dem Messias-Dichter freudig am 24. April 1768 berichten: »Ossians erster Band ist aus der Presse, und eilet zu Jenem, dem er in mehr als einer Absicht sein Daseyn zu danken hat. Der zweyte ist unter der Presse, der dritte unter der Feder.« (Brief von Denis an Klopstock, 24. April 1768. In: HKA, Briefe V 1, Nr. 43, S. 62f., hier S. 62, Z. 2–4.) 1245 Vgl. Schmidt: ›Homer des Nordens‹ und ›Mutter der Romantik‹. James Macphersons Ossian und seine Rezeption in der deutschsprachigen Literatur. Band 1, S. 505. Klopstock bekennt gegenüber Meta in einem Brief vom 5. Oktober 1751, dass er »das Englische nicht verstehe«. (Brief von Klopstock an Margareta Moller, 5. Oktober 1751. In: HKA, Briefe II, Nr. 79, S. 91f., hier S. 92, Z. 46.) In einem Brief vom 14. März 1752 berichtet er hingegen freudig, dass er aus den Werken Youngs »izt Englisch zu lernen angefangen habe«. (Brief von Klopstock an Margareta Moller, 14. März 1752. In: HKA, Briefe II, Nr. 119, S. 143f., hier S. 143, Z. 5f.) Dies erzählt Klopstock auch seinem Freund Gleim: Bernstorff habe in seiner Bibliothek »sehr schöne Ausgaben von den Englischen Poeten«. Er selbst habe »vor einigen Wochen aus dem Young englisch zu lernen angefangen«. (Brief von Klopstock an Gleim, 9., 11. April 1752. In: HKA, Briefe II, Nr. 123, S. 149–152, hier S. 151, Z. 67f. und Z. 68f.) Mit Engländern korrespondierte der Messias-Dichter allerdings weiterhin in französischer oder lateinischer Sprache. (Vgl. HKA, Briefe III, S. 265.) Gemeint ist hier übrigens Edward Youngs Blankversgedicht The Complaint; or, NightThoughts on Life, Death and Immortality (1742–1745). Johann Arnold Ebert hatte im ersten Band seiner Übersetzungen einiger Poetischen und Prosaischen Werke der besten Englischen Schriftsteller unter dem Titel D. Eduard Youngs Klagen, oder Nachtgedanken über Leben, Tod und Unsterblichkeit eine deutsche Übersetzung dieser Dichtung publiziert (Stück 1 und 2, 1751; Stück 3, 1752). Er überarbeitete diese mehrfach und gab später eine zweisprachige Ausgabe der Nachtgedanken (Englisch / Deutsch) mit umfangreichem Kommentar heraus (5 Bde., 1760–1771). (Vgl. HKA, Addenda II, S. 272.)

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wird auf das Jahr 1764 datiert.1246 Intertextuelle Verweise bzw. Anspielungen auf die Bardengesänge Ossians finden sich in den Oden1247 und in den germanischvaterländischen Dramen1248 Klopstocks. Dem Messias-Dichter ging es hauptsächlich um eine intensivere Erforschung des deutschen Altertums.1249 Im Rekurs auf den römischen Historiker Tacitus (Agricola, 11) erfolgte in seinen Schriften eine Gleichsetzung von keltischer, altenglischer, skandinavischer und germanischer Kultur, was zu der Annahme führte, dass der keltische Barde Ossian eigentlich ein Deutscher gewesen sei.1250 Demgemäß heißt es in einem Epigramm Klopstocks aus dem Jahre 1771: 1246 Vgl. Schmidt: ›Homer des Nordens‹ und ›Mutter der Romantik‹. James Macphersons Ossian und seine Rezeption in der deutschsprachigen Literatur. Band 1, S. 504. Vgl. hierzu: Ebd., S. 502–526 (Kap.: Rhetorische Integration und philologische Akribie: Klopstock, Ossian und die alten Germanen). 1247 Die Poems of Ossian wurden im Laufe der deutschen Rezeption als Motivreservoir genutzt. Klopstock erklärt Denis am 8. September 1767: »Ich hatte in einigen meiner ältern Oden griechische Mythologie, ich habe sie herausgeworfen, und sowohl in diese als in einige neuere die Mythologie unsrer Vorfahren gebracht.« (Brief von Klopstock an Denis, 8. September 1767. In: HKA, Briefe V 1, Nr. 18, S. 22–24, hier S. 24, Z. 53–55.) Der Dichter ersetzt demnach die griechische Mythologie durch die nordische bzw. pseudo-germanische, etwa in der zweiten Strophe dieser alkäischen Ode (V. 5–8): »Wilst du zu Strophen werden, o Lied oder Ununterwürfig, Pindars Gesängen gleich, Gleich Zeus erhabnem truncknem Sohne, Frey aus der schaffenden Sel enttaumeln?« [Auf meine Freunde, Fassung von 1747] »Willst du zu Strophen werden, o Haingesang? Willst du gesetzlos, Ossians Schwunge gleich, Gleich Ullers Tanz auf Meerkrystalle, Frey aus der Seele des Dichters schweben?« [Wingolf, Fassung von 1798] (HKA, Werke I 1, S. 6–31, hier S. 6 (Auf meine Freunde) und S. 7 (Wingolf), V. 5–8.) Aus der Elegie Daphnis, und Daphne (1748) wird in einer späteren Fassung das Gedicht Selmar und Selma (1798). (HKA, Werke I 1, S. 64–67.) Vgl. hierzu: Paul Kahl: »Selmar und Selma« (1766). Friedrich Gottlieb Klopstocks Ossianrezeption und die Geschichte eines Namens. In: Lichtenberg-Jahrbuch 2002. S. 106–119. 1248 Klopstock bezeichnete seine germanisch-vaterländischen Dramen – Hermanns Schlacht (1769), Hermann und die Fürsten (1784) und Hermanns Tod (1787) – als »Bardiete«. In ihnen werden die Prosadialoge unterbrochen durch lyrische, d. h. freirhythmische Bardengesänge. Vgl. Kohl: Friedrich Gottlieb Klopstock, S. 105–107 (Kap. VII 2: Vaterländische Bardiete). 1249 Klopstock drückt etwa in einem Brief aus dem Jahre 1767 seine Hoffnung aus, dass man bald handschriftliche Zeugen genuin germanischer Bardengesänge entdecken würde: »Wenn wir doch auch von unsern Barden irgend in einem Kloster etwas fänden! Sollte alles verloren gegangen seyn, was Carl der Große hat sammeln lassen?« (Brief von Klopstock an Denis, 6., 9. Januar 1767. In: HKA, Briefe V 1, Nr. 1, S. 1–4, hier S. 3, Z. 100–102.) 1250 Der Dichter betont am 31. Januar 1769 in einem Brief an Gleim: »Ossian war deutscher Abkunft, weil er ein Kaledonier war«. (Brief von Klopstock an Gleim, 31. Januar 1769. In: HKA, Briefe V 1, Nr. 86, S. 120–122, hier S. 120, Z. 18f.) »Nach Tacitus (Agricola, 11) waren

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Gerechter Anspruch Sie, deren Enkel jetzt auf Schottlands Bergen wohnen, Die von den Römern nicht provinzten Kaledonen Sind deutschen Stamms. Daher gehört auch uns mit an Der Bard’ und Krieger Ossian, Und mehr noch, als den Engelländern an, Weil ihn, da er Aus seiner Hall’ ins Freye kam, Deutschland mit mehr Verehrung, und mit wärmerem Gefühl aufnahm.1251

Der Bibelepiker hatte offensichtlich anfangs keinerlei Bedenken hinsichtlich der Echtheit und dem angeblich antiken Ursprung der ossianischen Gesänge, wie sie etwa Heinrich Wilhelm von Gerstenberg in der ersten Sammlung seiner Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur (1766)1252 und Bodmer in seiner kurzen Abhandlung Zweifel gegen die Aechtheit der Kaledonischen Gedichte erhoben (nach 1775)1253 äußerten. Klopstock glaubte allerdings, dass der schottische Übersetzer Macpherson »entweder Ossians Quantität, oder das Sylbenmaß überhaupt nicht genug [verstehe]«.1254 Die rhythmische Prosa der ossianischen Gedichte hielt er offensichtlich für nicht authentisch, sondern für eine verfäl-

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die Kaledonier deutscher Abkunft.« (HKA, Briefe V 2, S. 581.) Wolf Gerhard Schmidt erläutert diesen Sachverhalt in seiner Ossian-Studie folgendermaßen: »Für die Teutonenbegeisterung des 18. Jahrhunderts bleibt Tacitus eine der wesentlichen Bezugsinstanzen. Denn der römische Geschichtsschreiber bezeichnet die germanischen Kampfgesänge in einigen Handschriften als ›barditum‹, was dazu führt, daß man – in der Annahme einer Völkervermischung – die Existenz von Barden auch bei den alten Germanen postuliert.« (Schmidt: ›Homer des Nordens‹ und ›Mutter der Romantik‹. James Macphersons Ossian und seine Rezeption in der deutschsprachigen Literatur. Band 1, S. 436.) HKA, Werke II, Nr. 34, S. 14f. Die Erstveröffentlichung dieses Epigramms Gerechter Anspruch erfolgte in der Kaiserlich-privilegirten Hamburgischen Neuen Zeitung (HNZ), 5. Jahrgang (1771), 183. Stück (15. 11. 1771). (Vgl. ebd., S. 175 [Apparat].) Gerstenberg schreibt im 8. Brief seiner Ersten Sammlung über Merkwürdigkeiten der Litteratur : »Daß entweder Hr. Macpherson seinen Text ausserordentlich verfälscht, oder auch das untergeschobne Werk einer neuern Hand allzu leichtgläubig für ein genuines angenommen hätte, glaubten wir gleich aus den mancherley Spuren des Modernen sowol, als aus den verschiednen kleinen hints, die der Dichter sich aus dem Homer etc. gemerkt zu haben schien, wahrzunehmen.« (Heinrich Wilhelm von Gerstenberg (Hrsg.): Briefe über Merkwürdigkeiten der Litteratur. Drei Sammlungen und Fortsetzung in einem Band. Reprografischer Nachdruck der Ausgaben Schleswig und Leipzig 1766–1767 und Hamburg und Bremen 1770. Hildesheim / New York 1971. S. 104.) Bodmer ›entlarvt‹ »die ganze Poesie Ossians« als »Arbeit eines wizigen Künstlers unsers rosenwangigten Zeitalters«. (Johann Jacob Bodmer : Zweifel gegen die Aechtheit der Kaledonischen Gedichte erhoben [ca. 1775–1783]. In: Schmidt / Gaskill (Hrsg.): ›Homer des Nordens‹ und ›Mutter der Romantik‹. James Macphersons Ossian und seine Rezeption in der deutschsprachigen Literatur. Band 4, S. 628–631, hier S. 629.) Brief von Klopstock an Denis, 22. Juli 1768. In: HKA, Briefe V 1, Nr. 56, S. 78–80, hier S. 79, Z. 54.

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schende Interpretation des englischen Herausgebers.1255 Klopstock interessierte sich demzufolge insbesondere für den metrischen Ausdruck der Bardengesänge im gälischen Original. Er begann eine Korrespondenz mit Macpherson1256 und bat diesen, ihm Vertonungen einiger lyrischer Stellen aus dem Ossian zu schicken. So berichtet er Gleim am 31. Januar 1769: »Macpherson, der Retter des Barden Ossians […] wird mir, u wie ich hoffe, nun bald, die eisgrauen Melodien zu einigen lyrischen Stellen des grossen Dichters schicken. Mit Hülfe dieser Melod. denke ich das Sylbenmaaß der Barden herauszubringen.«1257 Etwa zwei Monate später, am 21. März 1769, bemerkt er in einem Brief an Johann Carl Tiedemann (1736–1771): »Ich weis nicht, ob ich Ihnen schon gesagt habe, daß mir Macpherson einige von den Melodien, in denen man Oss.[ian] singt, u die er für sehr alt hält, schicken wird. Das soll mir, denk ich, Licht über den Rhythmus der Barden geben –«.1258 Und im Mai 1769 schreibt Klopstock an Ebert: »Wenn mir Macpherson Wort hält; so bekomme ich einige alte Melodien nach Ossian, in unsre Noten gesezt; u so kann ich auch vielleicht etwas nicht unwahrscheinliches von dem Rhythmus der Barden sagen.«1259 Anhand der musikalischen Komposition einiger lyrischer Textstellen aus den Poems of Ossian erhoffte sich Klopstock, profunde Kenntnisse über das Silbenmaß und den Versrhythmus der pseudo-germanischen Bardengesänge zu erhalten.1260 Da Macpherson dem Messias-Dichter offenbar keine Notenblätter zukommen ließ, wandte er sich im März 1770 an die in London lebende Malerin Angelica Kauffmann (1741–1807) und ersuchte sie um Melodien aus den ossianischen Gedichten: Könnten Sie nicht in Edinburg oder auch weiter hinauf gegen Norden, durch Hülfe Ihrer Freunde, einen Musikus auftreiben, der mir die Melodien solcher Stellen im Ossian, die vorzüglich lyrisch sind, in unsre Noten sezte, oder vielmehr, ohne auf die Wahl der Stellen zu sehen, es mit einigen derer Melodien thäte, die für die ältesten, u zugleich für solche gehalten werden, die am meisten Charakter haben. Doch müste zugleich der Originaltext, richtig geschrieben, u genau unter die Noten, die dazu ge1255 Vgl. Schmidt: ›Homer des Nordens‹ und ›Mutter der Romantik‹. James Macphersons Ossian und seine Rezeption in der deutschsprachigen Literatur. Band 1, S. 514. 1256 Von dem Briefwechsel zwischen Klopstock und Macpherson ist leider nichts erhalten, d. h., es sind nur Äußerungen des Messias-Dichters darüber vorhanden. So berichtet er beispielsweise in einem Brief an Denis vom 22. Juli 1768, dass er mit Macpherson, dem schottischen Herausgeber der Poems of Ossian, »correspondire«. (Brief von Klopstock an Denis, 22. Juli 1768. In: HKA, Briefe V 1, Nr. 56, S. 78–80, hier S. 79, Z. 53.) Vgl. HKA, Briefe V 2, S. 505. 1257 Brief von Klopstock an Gleim, 31. Januar 1769. In: HKA, Briefe V 1, Nr. 86, S. 120–122, hier S. 120f., Z. 17–22. 1258 Brief von Klopstock an Tiedemann, 21. März 1769. In: HKA, Briefe V 1, Nr. 93, S. 129–132, hier S. 131, Z. 56–59. 1259 Brief von Klopstock an Ebert, 5. Mai 1769. In: HKA, Briefe V 1, Nr. 99, S. 146–149, hier S. 147, Z. 27–29. 1260 Vgl. hierzu: HKA, Briefe V 2, S. 505f. und S. 761.

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hörten, gesezt werden. Sollte hierzu vielleicht mehr Zeit erfodert werden, als ich mir vorstelte; so wäre ich fürs erste mit 1 oder 2 solcher Melodien zufrieden.1261

Angelica Kauffmann bemühte sich leider vergeblich, den Wunsch Klopstocks zu erfüllen.1262 Im März 1769 verkündet der Messias-Dichter, dass er »etwa 10 oder 12 Zeilen« aus dem Ossian besitze.1263 Hierbei handelt es sich wohl um die wenigen Verszeilen, die Klopstock später in seiner verstheoretischen Abhandlung Vom deutschen Hexameter (1779) zitiert: Und vollends Ossian. Der sang also nicht in den völlig freien Versarten unsrer alten Norden, die sogar die leichteste unter allen Vorschriften der Verskunst, die Silbenzahl, nicht kannten; vermischte nicht mit erzählenden Versen seiner Erfindung andre lyrische mit dem Inhalte einstimmige, auf die uns Macpherson so oft aufmerksam macht? Mir hat er folgende, die pindarisch sind, geschickt. Aus Komala: –11–, 1–11––, 1–1–1––, 1––1––, ––––––1, ––––, – 1 – 1 – – – – –. Aus Fingal: ––1––1–, 1–1–1–1–,

1261 Brief von Klopstock an Angelica Kauffmann, 3. März 1770. In: HKA, Briefe V 1, Nr. 147, S. 222f., hier S. 222f., Z. 22–31. 1262 Die Londoner Malerin schreibt noch am 2. Oktober 1770 in einem Brief an Klopstock: »Ich habe wegen Ossians Melodieen dieser Tage wieder an meinen Freund in Schottland geschrieben, um ihn daran zu erinnern. Ich hoffe, er wird das gegebne Wort halten und mir dieselben verschaffen. Ich erwarte die Antwort täglich.« (Brief von Angelica Kauffmann an Klopstock, 2. Oktober 1770. In: HKA, Briefe V 1, Nr. 170, S. 251f., hier S. 252, Z. 24–28.) Da in den folgenden Briefen keine Rede mehr von den »alten Melodien« aus dem Ossian ist, wartete Klopstock wohl vergeblich auf diese. (Vgl. hierzu: Schmidt: ›Homer des Nordens‹ und ›Mutter der Romantik‹. James Macphersons Ossian und seine Rezeption in der deutschsprachigen Literatur. Band 1, S. 515.) Noch am 6. Januar 1798 äußert der frustrierte Dichter, in dem sich schließlich Zweifel hinsichtlich der Echtheit und dem Alter der ossianischen Gesänge regten, gegenüber Böttiger : »Ich werde eher keinen bestimten Begriff v. Ossian bekommen, als bis man mir […] merklich verschiedene Stellen aus ihm völlig wörtlich übersezt. Sie sehen, daß ich nur Stellen meinen kan, die Oss. gewiß zugehören.« (Brief von Klopstock an Böttiger, 6. Januar 1798. In: HKA, Briefe IX 1, Nr. 161, S. 206–208, hier S. 206, Z. 2–5.) 1263 Brief von Klopstock an Tiedemann, 21. März 1769. In: HKA, Briefe V 1, Nr. 93, S. 129–132, hier S. 131, Z. 52f.

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Klopstocks Wettstreit mit der epischen Tradition

–1––1––1, – – – 1 – 1 –. Sondern Ossian sang in englischen Jamben, oder weil dies, wo nicht völlig, doch beinah einerlei ist, in deutschen. Wer dies in Ernste behauptet, der setzt voraus, man glaube von ihm, daß er Ossians Sprache, allein durch Hülfe des sechsten Gesangs von Temora, denn nur den kennen wir in Deutschland, bis auf ihre Quantität, und zwar noch besser, als sie Macpherson versteht, habe lernen können.1264

Entscheidend ist hier weniger die dezidierte Ablehnung des Jambus als herrschendem Versfuß in einem Epos, sondern vielmehr der Verweis auf die freien Rhythmen und damit auf das Lyrische in den epischen Fragmenten Ossians. Klopstock geht von einem Alternieren zwischen »erzählenden«, d. h. epischen bzw. hexametrischen, und »lyrischen« Versen aus. Er macht darauf aufmerksam, dass dies alles die verskünstlerische »Erfindung« Ossians sei und dass die metrische Form mit dem Inhalt übereinstimme. Demzufolge erfüllen die keltischen bzw. pseudo-germanischen Bardengesänge die wichtigsten Grundsätze von Klopstocks eigener Verstheorie. Der Bibelepiker ist so in der Lage, auf eine angeblich genuin deutsche Epentradition zu verweisen und damit den »deutschen Hexameter« und die lyrischen Strophen im XX. Gesang des Messias gegenüber Kritikern zu rechtfertigen. Dementsprechend erklärt er, dass man auch im altsächsischen Heliand »Polymetrie, auch hexametrische; und nicht Eintönigkeit« entdecken könne.1265 In einem Brief an Lessing vom 27. August 1768 berichtet er Folgendes über sein Studium der alten Sprachdenkmäler : »In dem Sachsen [Heliand; I. G.] meine ich das Sylbenmaß der Barden wiedergefunden zu haben … Er hat aber auch Hexameter, deutsche näml. Trochäe u Daktyl…«.1266 In den Jahren 1768 und 1769 plante der Dichter, dieses germanische Bibelepos aus der 1. Hälfte des 9. Jahrhunderts, in welchem man »viel schönes lyrisches Sylbenmaaß« finden könne, »mit einer fast ganz wörtl. Übersezung, u mit kurzen, aber bedeutenden Anmerk herauszugeben«.1267 Da er keine Abschrift der Handschrift C des Heliand-Textes (Codex Cottonianus Caligula A7) erhalten konnte, musste er sein Vorhaben letztlich aufgeben.1268 Folgt man der Argumentation Klopstocks, so kann der XX. Gesang des Messias nicht mehr als gattungsuntypisch verworfen werden, da auch in anderen 1264 Klopstock: Vom deutschen Hexameter. In: Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie. Dichtungstheoretische Schriften, S. 60–156, hier S. 116f. 1265 Ebd., S. 72. 1266 Brief von Klopstock an Lessing, 27. August 1768. In: HKA, Briefe V 1, Nr. 60, S. 85–88, hier S. 87, Z. 74–76. 1267 Brief von Klopstock an Gleim, 31. Januar 1769. In: HKA, Briefe V 1, Nr. 86, S. 120–122, hier S. 121, Z. 50–52. 1268 Vgl. HKA, Briefe V 2, S. 501 und S. 520.

Der Hexametervers und das Lyrische im Messias

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›Epen‹, wie dem nordischen Ossian oder dem germanischen Heliand, ein Nebeneinander von epischen und lyrischen Elementen zu finden ist.

5.

Die Nachahmer Klopstocks

Unmittelbar nach der Veröffentlichung der ersten drei Gesänge des Messias (1748) in den Bremer Beyträgen setzte die produktive Rezeption des Bibelepos ein.1 Bodmer, der sich bisher lediglich als Literaturtheoretiker und Übersetzer einen Namen gemacht hatte, schrieb und veröffentlichte in den 1750er Jahren ein Bibelepos nach dem anderen. Den Stoff hierzu lieferte ihm die Zeit der alttestamentarischen Erzväter, weshalb diese Heldengedichte als »Patriarchaden« bezeichnet werden.2 Den Anfang machte Bodmer mit seinem Hexameterepos Der Noah. In zwölf Gesängen (1752) (Kap. 5.1). Diesem epischen Hauptwerk, das er mehrfach überarbeitete, folgten mehrere kürzere Patriarchaden: Jacob und Joseph (1751)3, Jacob und Rachel (1752)4, Joseph und Zulika (1753)5, Dina und Sichem (1753)6, Die Syndflut (1753)7, Jacobs Wiederkunft von 1 Siehe hierzu die ausführliche Bibliographie von Dieter Martin in: Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert. Studien und kommentierte Gattungsbibliographie. Berlin / New York 1993. (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker ; N. F. 103.) S. 315ff. 2 Vgl. Julius Wiegand / Werner Kohlschmidt: [Art.] Patriarchade. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte. Begründet von Paul Merker und Wolfgang Stammler. Hrsg. v. Werner Kohlschmidt und Wolfgang Mohr. 3. Bd. 2. Aufl. Berlin / New York 1977. S. 72–74. 3 Johann Jacob Bodmer : Jacob und Joseph: Ein Gedicht in drei Gesængen. Zyrch 1751. Eine neue Ausgabe dieser Patriarchade mit erweiterten und neu eingeteilten vier Gesängen erschien 1754 in Zürich. Unter dem Titel Jacob publizierte Bodmer dieses Epos nochmals in der von ihm herausgegebenen Sammelschrift namens Calliope. (Johann Jacob Bodmer : Calliope. Erster Band. Zürich 1767. S. 113–209 [Text der Ausgabe von 1754].) Vgl. hierzu die neueste Interpretation dieser Patriarchade in: Jesko Reiling: Die Genese der idealen Gesellschaft. Studien zum literarischen Werk von Johann Jakob Bodmer (1698–1783). Berlin / New York 2010. (Frühe Neuzeit; 145.) S. 193–215. 4 Johann Jacob Bodmer : Jacob und Rachel: Ein Gedicht in zween Gesængen. Zyrch 1752. Eine weitere Ausgabe erschien in Zürich 1759. Erneuter Abdruck unter dem Titel Rahel in Calliope. (Bodmer : Calliope. Erster Band, S. 211–263.) 5 Johann Jacob Bodmer : Joseph und Zulika in zween Gesængen. Zyrich 1753. Erneuter Abdruck unter dem Titel Joseph in Calliope. (Bodmer : Calliope. Erster Band, S. 265–319.) 6 Johann Jacob Bodmer: Dina und Sichem. In zween Gesængen. Trosberg 1753. Erneuter Abdruck unter dem Titel Dina in Calliope. (Bodmer : Calliope. Erster Band, S. 351–403.)

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Die Nachahmer Klopstocks

Haran (1753)8 sowie Die gefallene Zilla (1755)9. Diese kleineren biblischen Heldengedichte gab Bodmer im Jahre 1767 in zwei Bänden – zusammen mit weiteren Epen wie Die Colombona (EA 1753)10 – nochmals heraus, und zwar bezeichnenderweise unter dem Titel »Calliope«.11 Hesiod apostrophiert Kalliope in seiner Theogonie als »die vorzüglichste« unter den neun Musen (V. 79).12 Die »Schönstimmige« galt im späten griechischen und römischen Altertum als Muse der epischen Dichtkunst.13 Dementsprechend wird sie auch von Gottsched in seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst (3. Aufl. 1742) als »Heldenmuse« bezeichnet.14 Johann Christoph Schmidt (1727–1807), ein Vetter Klopstocks und dessen Leipziger Studienfreund, schreibt am 30. Oktober 1751 ironisch in einem Brief an Johann Wilhelm Ludwig Gleim: 7 Johann Jacob Bodmer: Die Syndflut. Ein Gedicht. In fynf Gesængen. Zyrich 1753. Die ersten zwei Gesänge dieser Patriarchade veröffentlichte Bodmer bereits 1751 in einem Sonderdruck: Die Synd-Flut. Ein Gedicht. Erster und zweyter Gesang. Zyrich 1751. Weiterer Abdruck unter dem Titel Die Sündflut in Calliope. (Bodmer : Calliope. Erster Band, S. 1–111.) 8 Johann Jacob Bodmer : Jacobs Wiederkunft von Haran; ein Gedicht. Trosberg 1753. Erneuter Abdruck in Calliope. (Bodmer : Calliope. Erster Band, S. 321–350.) 9 Johann Jacob Bodmer : Die gefallene Zilla. In drei Gesängen. Amsterdam 1755. Erneuter Abdruck unter dem Titel Zilla in Calliope. (Johann Jacob Bodmer : Calliope. Zweyter Band. Zürich 1767. S. 87–156.) 10 Vgl. zur Colombona: Reiling: Die Genese der idealen Gesellschaft, S. 215–236. 11 In der älteren germanistischen Forschungsliteratur fiel die Kritik an den Bibelepen Bodmers vernichtend aus. Johannes Crüger äußerte z. B. folgendes Urteil: »Der Schlafzimmerdunst einer tödlichen Langeweile weht einem aus den Bodmerischen Epopöen in Hexametern entgegen; erschrecklich dem, der aus der frischen Morgenluft Klopstockischer Dichtung zu ihnen kommt. Aber was der Wert nicht thut, muß die Menge bringen: auf das erste der biblischen Heldengedichte N o a h 1752 läßt der gute Bodmer, unbekümmert um Beifall, noch eine tüchtige Masse anderer folgen: Jacob und Joseph, Jacob und Rahel, Joseph und Zulika, Jacobs Wiederkunft, die Sündflut, und wie die armseligen Dinger alle heißen mögen.« (Johannes Crüger (Hrsg.): Joh. Christoph Gottsched und die Schweizer Joh. J. Bodmer und Joh. J. Breitinger. Unveränderter reprografischer Nachdruck der Ausgabe Berlin und Stuttgart 1884. Darmstadt 1965. S. LXXXIX.) Siehe auch die Besprechung und Beurteilung der kürzeren Patriarchaden Bodmers in: Franz Muncker : Friedrich Gottlieb Klopstock. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. Stuttgart 1888. S. 169f. – Jakob Baechtold: Geschichte der deutschen Literatur in der Schweiz. Frauenfeld 1892. S. 610–613. Kurze Inhaltsangaben der einzelnen Gesänge der epischen Werke Bodmers finden sich in folgender Dissertation: Margarete Usselmann: Bodmer als Nachahmer Klopstocks. Diss. München 1929. S. 82–95. 12 Hesiod: Theogonie. Griechisch / Deutsch. Übersetzt und hrsg. v. Otto Schönberger. [Nachdr.] Stuttgart 2005. S. 8/9 (V. 79). 13 Ebd., S. 9. Vgl. hierzu: Karl Wilhelm Ramler : Kurzgefaßte Mythologie oder Lehre von den fabelhaften Göttern, Halbgöttern und Helden des Alterthums. In zwey Theilen, nebst einem Anhange, welcher die Allegorie und ein vollständiges Register enthält. Berlin 1792. S. 112. – Benjamin Hederich: Gründliches Mythologisches Lexikon. Reprographischer Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1770. Darmstadt 1986. Sp. 605f. 14 Gottsched: AW VI 1, S. 235.

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Sie haben unfehlbar den ganzen Schwarm von neuen Heldengedichten kennen gelernt, der in der letzten Messe die Welt, wie Heuschrecken, überzogen hat. Klopstocks Epopee hat auf diese Art in sehr kurzer Zeit eine sehr zahlreiche Nachkommenschaft erhalten, die Alle (wie Bodmer sagen würde) aus ihrer Gebärmutter hervorgegangen ist.15

Daraufhin zitiert er folgende Aussage Karl Wilhelm Ramlers: »Es wird noch dahin kommen, dass es eine Schande seyn wird, ein Heldengedicht gemacht zu haben, und keins gemacht zu haben.«16 Der bisherige Anakreontiker Schmidt fühlte sich offenbar vom literarischen Diskurs Mitte des 18. Jahrhunderts unter Druck gesetzt und hatte daher bereits im Jahre 1748 den Plan zu einem »poema von dem Weltgerichte« gefasst, diesen schlussendlich aber nicht ausgeführt.17 Johann Georg Schultheß (1724–1804) berichtet nämlich Bodmer am 27. September 1749 Folgendes: Ich fragte Hrn. Schmied nach seinen Gesängen vom allgemeinen Weltgerichte. Seine Schultern seyen dieser Last nicht gewachsen, war seine Antwort, bei der ich ungewiß blieb, ob es Bescheidenheit des Autor, oder wahres Bekentniß sey.18

Der Berliner Literaturkritiker Lessing bezeichnete die Bibelepiker in der Nachfolge Klopstocks als »steife[.] Witzlinge«, »welche sich durch ihre unglücklichen Nachahmungen dieser erhabnen Dichtungsart lächerlich machen« würden.19 In der Monatsbeilage der Berlinischen Privilegirten Zeitung, Das Neueste aus dem Reiche des Witzes, prangert er im April 1751 zudem noch Folgendes an: Es giebt nur allzuviele, welche glauben, ein hinkendes heroisches Sylbenmaß, einige lateinische Wortfügungen, die Vermeidung des Reims wären zulänglich, sie aus dem Pöbel der Dichter zu ziehen. Unbekannt mit demjenigen Geiste, welcher die erhitzte Einbildungskraft über diese Kleinigkeiten zu den großen Schönheiten der Vorstellung und Empfindung reißt, bemühen sie sich, an statt erhaben dunkel, an statt neu verwegen, an statt rührend romanenhaft zu schreiben.20

Leider ahme »so mancher Stümper« den Messias nach, »[i]hm nicht zum Ruhm und sich zur Schmach«.21 Lessing fällt nach diesen gereimten Versen über die 15 Klamer Schmidt (Hrsg.): Klopstock und seine Freunde. Briefwechsel der Familie Klopstock unter sich, und zwischen dieser Familie, Gleim, Schmidt, Fanny, Meta und andern Freunden. Aus Gleims brieflichem Nachlasse. 1. Bd. Halberstadt 1810. S. 333f. 16 Ebd., S. 334. 17 Vgl.: HKA, Briefe I, S. 259 – Martin: Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert, S. 396. 18 Hs.: Zentralbibliothek Zürich: MS Bodmer 4c. 19. Zitiert nach: HKA, Briefe I, S. 259. 19 Gotthold Ephraim Lessing: Das Neueste aus dem Reiche des Witzes. Monat April 1751. [Vorrede.] In: [Ders.:] Werke und Briefe in zwölf Bänden. Band 2: Werke 1751–1753. Hrsg. v. Jürgen Stenzel. Frankfurt a. M. 1998. (Bibliothek deutscher Klassiker ; 149.) S. 64–79, hier S. 77. 20 Ebd. 21 Ebd., S. 78.

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vielen Kritiker, die die höhere ästhetische Qualität des Klopstock’schen Bibelepos gegenüber den »erbärmlichen Versuche[n]« der Imitatoren scheinbar nicht erkennen konnten, folgendes Urteil: »Die wenigsten von ihnen verstehen das Erhabne, und halten also alles, was sie nicht verstehen, für erhaben. Was ihnen einmal außer dem Gesicht ist, ist für sie gleich hoch.«22 Mittels einer Fabel will Lessing diesen Missstand in der Literaturlandschaft des 18. Jahrhunderts verdeutlichen: Zur Feldmaus sprach ein Spatz: Sieh dort den Adler sitzen! Sieh, weil du ihn noch siehst. Er wiegt den Körper schon; Bereit zum kühnen Flug, bekannt mit Sonn und Blitzen, Zielt er nach Jovis Thron. Doch wette – – seh ich schon nicht adlermäßig aus – – Ich flieh so hoch als er – – So Prahler? rief die Maus. Indes floh jener auf, stolz auf geprüfte Schwingen, Und dieser wagts ihm nachzudringen. Doch kaum, daß ihr ungleicher Flug Sie beide bis zur Höh gemeiner Häuser trug, Als beide sich dem Blick der blöden Maus entzogen, Und beide, wie sie schloß, gleich unermeßlich flogen.23

Die Feldmaus steht folglich symbolisch für den kurzsichtigen Literaturkritiker, Klopstock als dichterisches Genie ist der siegreiche und weitaus überlegene Adler und einer seiner unfähigen Nachahmer ist der Spatz. Bezeichnenderweise ist der Adler als ›König der Lüfte‹ in der christlichen Ikonographie ein Symbol der Himmelfahrt Christi und ein Attribut des Evangelisten Johannes. In der antiken Mythologie wurde der Adler als ein Symbol des Himmels dem griechischen Göttervater Zeus bzw. dem römischen Jupiter zugeordnet (vgl. Ovid: Metamorphosen, 4. Buch, V. 714; 6. Buch, V. 108 und V. 516; 15. Buch, V. 386). Der Blitzeschleuderer und Donnerer Zeus bzw. Jupiter nahm auch gelegentlich die Gestalt eines Adlers an, wie etwa zur Entführung des Ganymedes in den Olymp (vgl. Ovid: Metamorphosen, 10. Buch, V. 155–161 und Homer : Ilias, 20. Gesang, V. 231–235). Lessing nennt die bibelepischen Nacheiferer Klopstocks auch »Affen«, d. h., in seinen Augen handelt es sich um bloße ›Nachäffer‹ ohne Genie und Talent.24 Im Monat Mai 1751 kommt er zu dem Schluss: Wann ein kühner Geist, voller Vertrauen auf eigene Stärke, in den Tempel des Geschmacks durch einen neuen Eingang dringet, so sind hundert nachahmende Geister 22 Ebd. 23 Ebd. 24 Gotthold Ephraim Lessing: [Rez.:] Jacob und Joseph: ein Gedicht in drei Gesængen. Zyrich 1751. [In: Critische Nachrichten aus dem Reiche der Gelehrsamkeit, 27. Stück, Freitag, den 2. Juli 1751.] In: [Ders.:] Werke und Briefe. Bd. 2, S. 141–143, hier S. 141.

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hinter ihm her, die sich durch diese Öffnung mit einzustehlen hoffen. Doch umsonst; mit eben der Stärke, mit welcher er das Tor gesprengt, schlägt er es hinter sich zu. Sein erstaunt Gefolge sieht sich ausgeschlossen, und plötzlich verwandelt sich die Ewigkeit, die es sich träumte, in ein spöttisches Gelächter.25

Lessing hatte bereits im Jahre 1749 in einem Gedicht über die Regeln in den Wissenschaften zum Vergnügen und besonders der Dicht- und Tonkunst seine kritischen literaturtheoretischen Ansichten geäußert.26 Hierin finden sich auch bereits die symbolisch-allegorischen Tierfiguren aus der oben zitierten Fabel. Er stellt in diesem ›Lehrgedicht‹ folgende rhetorische Frage: »Hebt sich ein Adler nicht von selbst der Sonne zu?«27 Und er fährt folgendermaßen fort: »Sein ungelernter Flug erhält sich ohne Ruh. j Der Sperling steigt ihm nach, so weit die Dächer gehen, j Ihm auf der Feueress, wenns hoch kommt, nachzusehen.«28 Ein bloßer Nachahmer kann demnach dem zu ewigem Ruhm aufsteigenden Dichter niemals nachfolgen. Ein literarisches Genie, das lediglich der Natur folgt, benötigt laut Lessing keine Regelpoetiken wie Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst (1730) oder Breitingers Critische Dichtkunst (1740). »Feur und Geist« eines Poeten würden durch festgesetzte Normen und unbedingte Autoritäten nur erstickt.29 Lessing charakterisiert sein Dichterideal, das er in Klopstock verwirklicht sieht, folgendermaßen: Ein Geist, den die Natur zum Mustergeist beschloß, Ist, was er ist, durch sich, wird ohne Regeln groß. Er geht, so kühn er geht, auch ohne Weiser, sicher. Er schöpfet aus sich selbst. Er ist sich Schul und Bücher. Was ihn bewegt, bewegt, was ihm gefällt, gefällt. Sein glücklicher Geschmack ist der Geschmack der Welt. Wer fasset seinen Wert? Er selbst nur kann ihn fassen. Sein Ruhm und Tadel bleibt ihm selber überlassen.30

25 Gotthold Ephraim Lessing: Das Neueste aus dem Reiche des Witzes. Monat Mai 1751. [Vorrede.] In: [Ders.:] Werke und Briefe. Bd. 2, S. 93–109, hier S. 93. Lessing spielt hier auf Voltaires Satire Le Temple du go0t (1733) an, in der dieser die zeitgenössischen französischen Dichter kritisiert hatte. 26 Gotthold Ephraim Lessing: Gedicht über die Regeln in den Wissenschaften zum Vergnügen und besonders der Dicht- und Tonkunst (Berlin, den 28. Juni 1749). [Erstdruck in: Der Critische Musicus an der Spree. 1. Band. 18. Stück (01. 07. 1749). Berlin 1750.] In: Gotthold Ephraim Lessing: Werke und Briefe in zwölf Bänden. Band 1: Werke 1743–1750. Hrsg. v. Jürgen Stenzel. Frankfurt a. M. 1989. (Bibliothek deutscher Klassiker ; 47.) S. 29–35. 27 Ebd., S. 34, Z. 3. 28 Ebd., S. 34, Z. 4–6. 29 Ebd., S. 34, Z. 23. 30 Ebd., S. 34, Z. 7–14.

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Ein derartiges poetisches Genie werde nie ein Nachahmer, »weil eines Riesen Schritt, j Sich selbstgelassen, nie in Kindertappen tritt«.31 Klopstocks Messias wurde von der Leipziger Partei als Keimzelle der in den 1750er Jahren vor allem in der Schweiz massenhaft neu entstehenden Bibelepen angesehen. Im Jahre 1751 veröffentlichte Daniel Wilhelm Triller anonym eine Parodie mit dem sprechenden Titel: Der Wurmsaamen. Ein Helden-Gedicht. Erster Gesang. Welchem bald noch XXIX. folgen sollen. Nach der allerneuesten Mahlerischen, Schöpferischen, Heroischen und männlichen Dichtkunst, ohne Regeln Regelmäßig eingerichtet. Das Proömium dieses kurzen komischen Heldengedichtes hebt mit der ›propositio‹, der Ankündigung des Themas, an: »Von dem Wurmsaamen, der itzo so reichliche Früchte schon träget, j Daß nun die Dichtkunst der Deutschen ein anderes Wesen beginnet, j Sing ich Miltonisch, ja über Miltonisch, begeistert.«32 Hierauf folgt die ›invocatio‹: Helft mir ihr Musen, ihr neuen, gehirneten, bessern, Dieses Vorhaben rühmlich vollbringen, und jaget Alles natürliche, kriechende ferne von dannen, Sylbenmaaß, Reime, Abschnitt und andere Zierden entweichen, Daß ich nichts menschliches, oder gewöhnliches singe; Sondern die Leser erstaunend, den Schwindel darüber bekommen, Daß sie vor Freuden, die Köpfe an Wänden zerstossen.33

Seien die »Lieder« der deutschen Dichter bislang »[w]itzig, verständlich und deutlich verfasset gewesen«, so müsse jetzt ein jeder Leser den Inhalt der Verse »mit Angstschweiße errathen«.34 Die »Zeichen von einer erhabenen Dichtkunst« seien »Welten, Begriffe, Ideen und Abracadabra«.35 Der (Anti-)Held des Wurmsaamens ist »ein Seraff, aller Seraffen j Oberhaupt«.36 Geboren sei er »in den einsiedlerisch einsamen Wüsten der Scythen« und bei »Zihim und Ohim« habe man ihn »dunkel erzogen, j Wo die Feldgeister und Kobolde hüpfen und springen, j Und die Rohrdommeln und Igel nisten und legen«.37 Ernährt habe man ihn »[m]it Wind und Rauche, Nebel und Eiße«, da er ein Geist sei, der »nichts natürlichs« genieße.38

31 Ebd., S. 34, Z. 19f. 32 [Daniel Wilhelm Triller :] Der Wurmsaamen. Ein Helden-Gedicht. Erster Gesang. Welchem bald noch XXIX. folgen sollen. Nach der allerneuesten Mahlerischen, Schöpferischen, Heroischen und männlichen Dichtkunst, ohne Regeln Regelmäßig eingerichtet. O. O. 1751. S. 3. 33 Ebd. 34 Ebd., S. 4. 35 Ebd. 36 Ebd. 37 Ebd. 38 Ebd.

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Der »Seraff« zeichnet sich offenbar durch eine groteske Gestalt aus: Wo sonst die Füsse sind, da ist sein Haupt angewachsen, Und wo das Haupt stund, dort sind hingegen die Füsse: Ihm ist die Zunge unbiegsam, erstarret und ohne Gelenke, Daß sie nicht schmecket, schwer redet und schwer zu verstehen; Ferner auch fehlen ihm gänzlich die hörsamen Ohren, Daß er den Uebel- und Wohlklang der Verse nicht höret.39

In der einen Hand hält er »eine entsetzliche Sense, j Alles, was zierlich, natürlich und reitzend, ganz auszurotten, j Allen scharfsinnigen Witz und Geschmack ganz zu verheeren«.40 Mit der anderen Hand streut er den »edlen Wurmsaamen« aus, der die Pflanzen der »neue[n] Dichtkunst der Deutschen«, allen voran die Patriarchaden, wachsen und gedeihen lässt.41 Das Lesepublikum reagierte angeblich mit Bestürzung auf die neuen literarischen Werke, die aus dem »Wurmsaamen« hervorgegangen seien: Jeder sei »stark über die neue Art also unmenschlich zu dichten« erschrocken.42 Niemals habe man »solche Gedichte gelesen«, »solche Centauren gesehen« und »solche Gedanken gehöret«.43 Alles sei »fremde, tollhäusisch, neu und ungewöhnlich« sowie »wundersam, schwärmend und übernatürlich« und so suche man »zitternd nun Deutschland mitten in Deutschland«.44 Klopstock wird von Triller demnach im Wurmsaamen bissig attackiert und als »Seraff aller Seraffen« bezeichnet.45 Die spöttische Wortneuschöpfung »Seraff« setzt sich aus »Seraph« und »Affe« zusammen und verweist damit einerseits auf die christliche Mythologie in den Bibelepen und andererseits auf deren ›unvernünftige‹ Nachahmer. Das Vorbild für diese satirisch-parodistische Streitschrift war sicherlich Gottscheds Deutscher Dichterkrieg (vgl. Kap. 1.2). Beide Schriften der Gottschedianer sind komische Epen. Allerdings versuchte Triller auch das Versmaß der Bibelepen, den Hexameter, zu parodieren. Im Neuesten aus der anmuthigen Gelehrsamkeit findet sich in der Ausgabe vom Oktober 1751 eine Rezension des Wurmsaamens, in welcher der Inhalt der Streitschrift kurz zusammengefasst wird und am Ende folgende ironische Anmerkung steht: Wir bedauren, daß der Herr Verfasser seine großen Meister weder im Schwunge ihrer unbildsamen Gedanken, noch in den Mäandern ihrer Ausdrücke, noch in dem he39 40 41 42 43 44 45

Ebd. Ebd., S. 5. Ebd. Ebd., S. 7. Ebd. Ebd. Ebd., S. 5.

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roischen sechsfüßigen Sylbenmaße, erreichen können. Denn er hat leider! (vieleicht im Zorne) fast lauter fünffüßige Hexameter gemacht.46

Triller nutzte zudem nach dem Vorbild der Streitschriften der Bodmerianer das Verfahren einer markierten Intertextualität. Er rückt in seinen Text mehrere Zitatfelder ein, d. h., er zitiert einzelne (leicht veränderte) Verse aus dem Messias Klopstocks und aus dem Noah Bodmers. So beispielsweise in folgendem Textauszug: Wo er [der »Seraff«; I. G.] nur hintritt, verwelken die Blumen und Kräuter, Honig wird Wermuth, Licht wird finster, und Gold zu Eisen: »Da herrscht die Mitternacht ewig einsiedlerisch, dunkel und Wolken [Mess. I, 578] »Fliessen von ihm, wie ein sinkendes Meer, unaufhörlich herunter ; [Mess. I, 579] »Und keine wehenden Flammen bleiben an menschenlosen Gestade. [Mess. I, 609f. bzw. 602] »Denn er ergrimmt und seufzet vor Wut, die traurigen Auen »Liegen vor ihm in entsetzlichem Dunkel, unbildsam und öde, [Mess. II, 400] »Ewig unbildsam, unendliche lange Gefilde voll Jammer, [Mess. II, 401] »Dieß ist sein Wille, damit er des Chaos Tiefen bewohnet. [Mess. II, 340] Die Nachtigall, Lerche und alle schön-singende Vögel Verstummen und zittern, so bald sie den Seraff nur merken: Doch Raben, Eulen und Käutzlein sind seine treuen Gefährten, Folgen ihm immer und singen harmonische Thöne, Lieblicher, als selbst die pythagorischen Sphären.47

Triller vermerkte in seinen Fußnoten mit jeweiliger Quellen- und Seitenangabe, aus welchen Gesängen des Messias er im Wurmsaamen zitiert hatte. Verwendet hat er die erste Fassung von Klopstocks Bibelepos aus dem Jahre 1748. Der allwissende, epische Erzähler verkündet am Ende des ersten Gesanges, dass er auch künftig von der »Würkung des kräftigen neuen Wurmsaamens« singen wolle.48 Er habe »auch schon ausgeholt, auf der Bahn eifrig zu laufen, j Die zu dem Tempel der Ehren die mahlrischen Dichter hinführet«.49 Es folgt nochmals eine Musenanrufung, die sowohl Klopstock als auch die gesamte Schweizer Partei und deren pathetisch-erhabenen Sprachstil verspottet:

46 [Rez.:] VIII. Der Wurmsamen, ein Heldengedicht. I Gesang, welchem bald noch XXIX andre folgen sollen. Nach der allerneuesten malerischen, schöpferischen, heroischen und männlichen Dichtkunst, ohne Regeln, regelmäßig eingerichtet. […] Ohne Benennung des Verfassers, Verlegers und Ortes 1751. In: Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit. [Hrsg. v. Johann Christoph Gottsched.] [1. Band]. Weinmonat [Oktober] 1751. Leipzig 1751. S. 767–769, hier S. 769. 47 [Triller :] Der Wurmsaamen, S. 5. In den eckigen Klammern steht, welche Verse Triller aus dem Erstdruck des Messias von 1748 genau zitiert hat. 48 Ebd., S. 8. 49 Ebd.

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Gönnt mir indessen, ihr Musen, nun wiederum Athem zu hohlen, Kühlt mir die Hitze, welche mich heftig getrieben, Also nach neuster Art übernatürlich zu dichten. Schaft einen Herold, der mich posaunend, würdig erhebet, Und in Journalen und Zeitungen meinen Wurmsaamen lobpreiset, Als ob ich Deutschlands Homerus und Milton zu nennen: Daß ist [!] von neuem begeistert, in die Entzückung gerahte, Und meine dreysig Gesänge endlich noch rühmlichst vollende, Damit die Nachwelt mit Seufzen unsre Zeiten bewundert, Weil wir die Dichtkunst weit höher noch prächtig getrieben, Als die Vernunft je die sterblichen Menschen geführet; Denn was ist grössers und herrlichers irgendswo zu finden, Als ganz vernunftlos, dennoch vernünftig zu schreiben?50

Mit dem »Herold« ist natürlich Bodmer als Förderer Klopstocks und Propagator des Messias gemeint, der seine literaturpolitische Machtposition geltend gemacht und zahlreiche lobende Rezensionen über die in der Mitte des 18. Jahrhunderts erschienenen Bibelepen in Zeitschriften und Zeitungen bzw. Moralischen Wochenschriften angeregt hatte, die von befreundeten Dichtern und gelehrten Bekannten verfasst wurden. Triller bezeichnet die neuen Werke der Dichtkunst als »übernatürlich« und unvernünftig. Der letzte Vers des Wurmsaamens verweist dezidiert auf Trillers parodistisch-satirischen Stil: Er hat versucht, »ganz vernunftlos, dennoch vernünftig zu schreiben«. Die angekündigten weiteren 29 Gesänge dieses komischen Heldengedichts sind nicht erschienen. Klopstock veröffentlichte sein Epos ja stückweise: Der Erstdruck bestand aus drei Gesängen, die späteren Ausgaben setzten sich aus jeweils fünf Gesängen zusammen, d. h. , es war der Leserschaft anfangs nicht klar, wie viele Gesänge der Messias insgesamt letztlich umfassen würde. Die Anhänger Gottscheds spielten in ihren parodistisch-satirischen Streitschriften gerne auf diese gegenwärtige ›Mode‹ der Bibelepiker an, einzelne Gesänge und nicht ein komplett abgeschlossenes Heldengedicht zu publizieren. In der Züricher Zeitschrift Freymüthige Nachrichten von Neuen Büchern, und andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen wird im Mai 1752 ironisch auf die gesteigerte Produktion von ›deutschen‹ Originalgedichten der Gattung Epos hingewiesen: Niemals ist Deutschland so gesegnet an epischen Dichtern gewesen, als es gegenwärtig ist; denn aus der Schweitz biß in Niedersachsen findet man poetische Köpfe welche Helden-Gedichte schreiben. Wer hieran zweifelt, mag nur den lezten Leipziger MeßCatalogum durchlesen, und sich aus demselben überzeugen. Es scheinet, als wen[n] sie

50 Ebd.

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seit einem Jahre alle wunderbare Gegenstände erschöpfen, und den noch ungebohrnen Dichtern die Helden-Trompete ganz verstimmen wollen.51

Der anonyme Verfasser dieses Artikels kündigt die baldige Veröffentlichung eines Heldengedichts mit dem Titel »Die Hexe von Endor« an: Alle Miltonischen, Ariostischen, und andere Teufeleyen sollen darinn nach der poetischen Mahlerey nach der Verwandelung des Würklichen ins Mögliche, nach der Kunst, gemeinen Dingen das Ansehen der Neuheit zu geben, nach den Gleichnissen grosser Sachen mit kleinen, und kleiner mit grossen, und kurz, nach dem grösten Grade des Wunderbahren und fast Unglaublichen, in reinen und richtigen Hexametern ausgearbeitet werden.52

Dieser inhaltliche und formale Hinweis und die anschließende Behauptung, dass die Schweiz »dieses Hexen-Gedicht ohne Furcht und Schreken« erwarte53, machen deutlich, dass es sich bei dem neuen epischen Gedicht mit biblischem Stoff wiederum um eine Parodie der Gottsched-Schule handeln muss. Im Jahre 1753 erschien tatsächlich anonym mit der fiktiven Angabe »Calicut« als Druckort folgendes Werk: Das Allerneueste Heldengedicht benahmset DIE HEXE zu Endor. in Hundert Büchern. Von den im Titel angekündigten hundert Büchern ist lediglich das erste erschienen. Der Verfasser war Johann Friedrich Camerer (1720–1792), ein Ehrenmitglied der Göttingischen Deutschen Gesellschaft.54 Er hatte in Göttingen studiert und war »öffentlicher Hofmeister« am Collegium Carolinum. Da dort auch die ehemaligen »Bremer Beyträger« Gärtner und Ebert tätig waren, hatte Klopstock wohl von Camerer Kenntnis. Der biblische Stoff dieses Heldengedichts stammt aus dem 1. Buch Samuel (Kap. 28): Als die Philister ihre Heere versammelten, um gegen Israel in den Kampf zu ziehen, fürchtete sich der jüdische König Saul vor dem Ausgang der Schlacht. Er suchte daraufhin eine Totenbeschwörerin in Endor auf, die den Geist des verstorbenen Sehers Samuel erscheinen ließ, der schließlich den Tod Sauls und den Sieg der Philister prophezeite. Das erste Buch der Hexe zu Endor handelt lediglich von der Ankunft des Königs der Philister Maoch bei seinem versammelten, stark bewaffneten Heer. Die ›invocatio‹ des Proömiums lautet folgendermaßen: Ihr die versparter Kummer und noch lang tödtende Qualen In dem feurigen Pful mit verheelenden Dunkel bedecket; Die ihr Würmern gleich kriecht und mit den gräulichsten Zungen Wie Eydexen zischet. Wie Schlangen-Haufen sich betten, 51 Freymüthige Nachrichten von Neuen Büchern, und andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen. 9. Jahrgang. XIX. Stück (10. Mai 1752). Zürich 1752. S. 151. 52 Ebd. 53 Ebd. 54 Vgl. zur Biographie Camerers: HKA, Briefe I, S. 419.

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Wenn ein warmes Mistbeet vor sie ein Paradieß schaffet. Ja, ihr tollen Geburten von aberwitzigen Dichtern, Die erforschend und kühn, des erfindrischen Gabalis, Affen, Euch, umschaffend mit den buntesten Kleidern behangen, Und wenn sie von euch geschrieben, sich Miltone glauben. Ihr erschreckliche Divs, und ihr Ginnen, und Daggials Kinder, Die ihr in ewigen Nächten, wie summende Fliegen herschwärmt. Und Beelzebubs Thron mit gräßlichen Liedern beschreyet, Und ihr irdischen Sänger, der Chronicken große Schrifftsteller, Ben Nathan und Levi, Ben Samuel Saddi, Rebbis! Und ihr lateinischen Sänger mit ganz verworrenem Deutschen, O! verbergt euch nicht mehr den sehnlich suchenden Augen. Helft ihr Meister der Sprache, beflügelt die weilende Hülfe, Denn mein kühner Gesang wird über alle wegfliegen.55

In der Hexe zu Endor werden demnach erstens die »tollen Geburten von aberwitzigen Dichtern«, zweitens die »irdischen Sänger« und drittens die »lateinischen Sänger mit ganz verworrenem Deutschen« angerufen. In der anschließenden ›propositio‹ verkündet der epische Erzähler, dass er »von einer mächtigen Heldin« singe.56 Er wolle dadurch »den Blitz-freyen Kranz des ewigen Lorbeers erwerben«.57 Sein »Lied« solle »von unterirdischen gräßlichen Dingen« handeln, worüber »die Reiche der wütend barbarischen Götter« erstaunen würden, »[s]elbst Adramelech erzittre wild hinter dem Schilde«.58 Camerer beendet sein Proömium mit einer Apostrophe an die römischen Rachegöttinnen: »Furien singt in mein Lied, es ist von unermeßlicher Grösse, j O wie schwer ists doch ein Heldengedichte zu schreiben!«59 Der Göttinger Autor reflektiert hier offenbar ironisch über sein eigenes dichterisches Schaffen. Das Epenfragment Die Hexe zu Endor verspottet dezidiert den pathetischerhabenen Stil, das christliche Wunderbare und das Metrum der Bibelepen in der Nachfolge des Messias. Dies zeigt sich beispielsweise auch gleich zu Beginn der erzählten Handlung: Tönende Trompeten rufen mich izt Sauls Lager zu singen, Und der Philister Heermacht. Die Grösse der Dichtung zu zeigen; Neu mit östlichen Strahlen, und mit empyreischen Golde, Trat der siegende Tag vom obersten Himmel herunter,

55 [Johann Friedrich Camerer :] Das Allerneueste Heldengedicht benahmset DIE HEXE zu Endor. In Hundert Büchern. Gedruckt in Calicut. Im Jahr 1753. S. 5f. 56 Ebd., S. 6. 57 Ebd., S. 7. 58 Ebd. 59 Ebd.

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Fliehend versank die Nacht in mächtigen Tiefen der Schwärze, Ihre Traurigkeit war siegreich des Tages Triumph.60

Die Gottschedianer ahmten demnach den Messias Klopstocks und die Patriarchaden Bodmers nach, um in ihren so entstandenen satirisch-parodistischen Streitschriften, die Gattung Epos mit biblischem Stoff lächerlich zu machen. Dies stellt eine besondere Form der Literaturkritik in der Mitte des 18. Jahrhunderts dar. Bodmer hingegen regte als eifriger Propagator der Bibelepik auch die unter seinem Einfluss stehende junge Dichtergeneration zu ernsthafter literarischer Produktion an: So entstanden Der gepryfte Abraham. Ein Gedicht in vier Gesængen (1753) von Christoph Martin Wieland (Kap. 5.2) und Der Tod Abels (1758) von Salomon Gessner (Kap. 5.3). Der Schweizer Literaturpapst scheint im Jahre 1759 sogar einen Wettbewerb für das beste Bibelepos mit alttestamentlichem Stoff ausgeschrieben zu haben. Davon zeugt jedenfalls folgende Notiz in seinem Tagebuch: »Ich setzte für einige junge Leute einen Preis auf, welcher die Geschichte der Ruth am geschicktesten in Hexametern schreiben würde.«61 Über den weiteren Verlauf und das Endergebnis dieses Vorhabens wird leider nichts berichtet.62 Möglicherweise hat Bodmer diesen Wettbewerb gar nicht öffentlich in einer Zeitung oder Zeitschrift angekündigt, sondern ihn lediglich mündlich im Züricher Kreis etwa der »Dienstags-« bzw. »Crito-Gesellschaft« verlauten lassen. Immerhin kam die jüngere Generation der Schweizer Partei wöchentlich in der sogenannten »Dienstags-Compagnie« (1750–1772) zusammen,63 um sich über die gegenwärtige literarische Produktion auszutauschen. Gemeinsam mit Bodmer gaben sie im Jahre 1751 die »Monats-Schrift« Crito heraus, von der allerdings lediglich ein Band erschienen ist. In den Freymüthigen Nachrichten von Neuen Büchern, und andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen erschien im September 1753 folgende Anzeige, die aus der Perspektive der Gottsched’schen Partei die immense bibelepische Produktion anprangert: Leipzig. Hier wird ein Cartel von neuen Heldengedichten herumgeboten, welches noch viel ärger ist, als das, so uns in voriger Messe aus der Schweitz gesandt worden. Dasselbe enthält nicht weniger als zwanzig Stücke, und darunter ist eines von sechszehn Gesängen. Aber ich will ihre Neugier mit dem ganzen Verzeichnisse stillen: 60 Ebd. 61 [Johann Jacob Bodmer :] Auszüge aus meinem Tagebuch [1752 bis 1782]. Hrsg. v. Jakob Baechtold. In: Turicensia. Beiträge zur zürcherischen Geschichte […]. Zürich 1891. S. 190– 216, hier S. 196. 62 Vgl. Reiling: Die Genese der idealen Gesellschaft, S. 134, Anm. 45. Jesko Reiling merkt an, bisher keine »gedruckte Ankündigung dieses Wettbewerbs« gefunden zu haben. (Ebd.) 63 Siehe zur Zusammensetzung der »Crito-Gesellschaft« und deren Treffen in Zürich: Wieland: BW II, S. 166–175.

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Die neue Basiliade; in zehn Gesængen. Die Kindheit Jesu; in fynf Gesængen. Das verlohrne Paradies, nach einem neuen Plan; in neun Gesængen. Der Ausgang Israels aus Ægypten; in acht Gesængen. Der enthauptete Conradin; in vier Gesængen. David und Jonathan; in drei Gesængen. Ruth und Boas. Arminius; in sechszehn Gesængen. Die Freuden der Tugend, ein Lehrgedicht. Das umgeworfene Jericho; in sechs Gesængen. Cidli und Lazarus. Die gefallene Chava einer besondern Erde. Moses im Wasser, ein Trauerspiel. Duncias fyr die Deutschen. Hymnus auf die Sonne. Hymnus auf Gott. Hymnus auf die Kindheit Jesu. Ulysses Abschied von Kalypso. Ulysses Wiederkunft bei seinem Vater. Cydnus und Hercules. Alle diese Gedichte sollen in Hexametern geschrieben seyn, und alle mit lateinischen Littern gedruckt werden. Ich bin viel zu patriotisch, als daß ich unserm Vaterlande nicht viel Homere gönnen sollte; aber die Griechen haben nur einen Homer gehabt, die Römer nur einen Virgil, und ich sorge, die Deutschen werden nur einen K.[lopstock] behalten. Und das wird das glücklichste für die ehrlichen Deutschen seyn. Welche Last würde eine so starke Anzahl guter Gedichte für sie seyn? Wie schwer würde sie auf ihren schwachen Hirnschalen und kranken Herzen liegen?64

Diese Anzeige kann mit hoher Wahrscheinlichkeit dem Bodmer-Schüler Wieland zugeschrieben werden.65 Der Verfasser weist nach der langen Auflistung dieser Heldengedichte, die mythisch-antike, biblische und historische Stoffe poetisch umsetzen, auf die Neuheit der ›Schweizer-Schule‹ hin, ihre Werke in der 64 Freymüthige Nachrichten von Neuen Büchern, und andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen. 10. Jahrgang. XXXVII. Stück (12. Herbstmonat [September] 1753). Zürich 1753. S. 292. 65 In den Gesammelten Schriften Wielands, die von der Deutschen Kommission der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften herausgegeben wurden, wird das Cartel von Heldengedichten unter die »[v]ermutungsweise zugeteilte[n] Schriften« eingereiht. (Christoph Martin Wieland: Gesammelte Schriften. Hrsg. v. der Deutschen Kommission der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Erste Abteilung: Werke. 4. Bd.: Prosaische Jugendwerke. Hrsg. v. Fritz Homeyer und Hugo Bieber. Berlin 1916. S. 686f.) Florian Gelzer schreibt die Anzeige »mit aller Wahrscheinlichkeit« ebenfalls Wieland zu. (Florian Gelzer : Religiöse Hymnik oder satirische Polemik? Seraphische Hexameterdichtung im Kontext des Literaturstreits zwischen Gottsched und den Schweizern. In: Text & Kontext. Zeitschrift für germanistische Literaturforschung in Skandinavien 27 (2005). Heft 1–2. S. 183–208, hier S. 187f.) Möglicherweise haben auch Wieland und Bodmer die Anzeige gemeinsam verfasst.

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lateinischen Antiqua-Schrift drucken zu lassen. Bislang wurde die eher eckige Fraktur als Sonderform der gotischen Schrift für den Druck deutscher Texte verwendet, während in der sonstigen europäischen Literaturlandschaft die runde Antiqua verwendet wurde. Die in der neuen »Zürcher Antiqua« gesetzten Patriarchaden Bodmers und Wielands weisen spezifische Eigenarten im Textbzw. Druckbild auf: Die Umlaute »ä« und »ö« wurden als Ligaturen »æ« und »œ« wiedergegeben, und der im Lateinischen nicht vorkommende Konsonant »w« wurde mittels zwei aufeinanderfolgender »v«-Lettern als »vv« gedruckt. Zum typischen Markenzeichen der Schweizer Partei entwickelte sich die willkürliche Groß- und Kleinschreibung der Substantive und vor allem die Ersetzung des Umlautes »ü« durch »y«. Die meisten dieser von Wieland verzeichneten Heldengedichte waren als Projekte tatsächlich geplant, einige blieben Fragmente und andere wurden erst viel später publiziert: In den Fragmenten in der erzæhlenden Dichtart; Von verschiedenem Innhalte veröffentlichte Bodmer etwa im Jahre 1755 einige Übersetzungsproben aus Homers Odyssee: Des Ulysses Wiederkunft zu seinem Vater (24. Gesang, V. 204–411), Telemachs Besuch beim Nestor (3. Gesang, V. 1– 134), Telemach beim Menelaus (4. Gesang, V. 1–350) und Des Ulysses Abschied von der Kalypso (5. Gesang, V. 1–281).66 In dieser Sammlung von kurzen Hexameterdichtungen erschien auch die mythische Verserzählung Cygnus und Hercules.67 Bodmer übersetzte das vermutlich aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. stammende kleine Epos Aspis (Der Schild) aus dem Griechischen ins Deutsche, das früher dem antiken Dichter Hesiod zugeschrieben wurde.68 Berühmt ist diese Verserzählung vor allem für die Beschreibung des Schildes des Herakles (V. 140–320), die die Ekphrasis im 18. Gesang der Ilias Homers nachahmt. In66 [Johann Jacob Bodmer :] Des Ulysses Wiederkunft zu seinem Vater ; Telemachs Besuch beim Nestor ; Telemach beim Menelaus; Des Ulysses Abschied von der Kalypso. In: [Johann Jacob Bodmer / Christoph Martin Wieland:] Fragmente in der erzæhlenden Dichtart; Von verschiedenem Innhalte. Mit einigen andern Gedichten. Zyrich 1755. S. 1–8; S. 9–14; S. 15–27; S. 28–38. 67 [Johann Jacob Bodmer :] Cygnus und Hercules. In: [Bodmer / Wieland:] Fragmente, S. 39– 49. In der Anzeige in den Freymüthigen Nachrichten ist ein kleiner (Druck-)Fehler unterlaufen: Anstatt dem richtigen lateinischen Namen »Cygnus« (für griech. Kyknos) steht dort »Cydnus«. 68 Siehe hierzu: [Art.] Hesiodos. In: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Hrsg. v. Hubert Cancik und Helmuth Schneider. Abt. Altertum. Band 5. Stuttgart / Weimar 1998. Sp. 506– 510, hier Sp. 509. Die insgesamt 480 Hexameter des griechischen Fragments erzählen erst von der zweifachen Vereinigung Alkmenes mit dem menschlichen Amphitryon und dem Göttervater Zeus und der darauf folgenden Geburt der Zwillingssöhne Herakles und Iphikles. Der nächste Abschnitt ab Vers 57 berichtet von dem Kampf des Heroen Herakles mit Kyknos, dem Sohn des Kriegsgottes Ares. Kyknos hatte Reisende auf dem Weg zum delphischen Apollontempel ausgeraubt und ermordet, um aus ihren Schädeln einen Tempel zu bauen. Der Halbgott Herakles, unterstützt durch seinen Wagenlenker Iolaos und beschützt von Athene, tötet Kyknos und verwundet den seinem Sohn zur Hilfe geeilten Gott Ares.

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teressanterweise wurde diese Schildbeschreibung in der deutschen Übersetzung von Bodmer ausgelassen.69 Der Schweizer Professor setzte sich ab den 1750er Jahren intensiv mit den homerischen Epen auseinander und verfasste erste Übersetzungen einzelner Gesänge. Im zweiten Band der Calliope publizierte Bodmer im Jahre 1767 seine deutsche Übersetzung der ersten sechs Gesänge der Ilias.70 In einem Sonderdruck hatte er bereits 1760 den in deutsche Hexameter übersetzten vierten und sechsten Gesang der Ilias veröffentlicht.71 Im Frühjahr 1778 erschien schließlich Bodmers vollständige Hexameter-Übersetzung der homerischen Werke Ilias und Odyssee in zwei Bänden.72 Der Göttinger Orientalist und Theologe Johann David Michaelis (1717–1791) veröffentlichte in den Hamburgischen Beyträgen zu den Werken des Witzes und der Sittenlehre (2. Stück, 1753) die »Probe eines Helden-Gedichts über die Ausführung der Israeliten aus Aegypten«.73 Samuel Gotthold Lange (1711–1781) hatte ein Heldengedicht über Moses zu schreiben begonnen, das allerdings Fragment blieb.74 Der Züricher Theologe Johann Jakob Hess (1741–1828) brachte hingegen im Jahre 1767 ein bibelepisches Gedicht mit dem Titel Der Tod Moses heraus.75 Von Bodmer stammt das kurze historische Gedicht Conradin von Schwaben (1771), das von der Enthauptung Conradins (1252–1268), des letzten legitimen Erben aus der Dynastie der Staufer, in Neapel handelt.76 Der Schweizer Literaturkritiker hatte bereits Mitte der 1720er Jahre geplant, ein Heldengedicht über den Cherusker Arminius zu schreiben. Zwei Bücher dieses 69 Bodmer unterbricht seine Übersetzung Cygnus und Hercules einfach mit der Anmerkung: »Hier folget eine sehr lange Beschreibung des Schildes«. ([Bodmer :] Cygnus und Hercules. In: [Bodmer / Wieland:] Fragmente, S. 39–49, hier S. 45.) 70 Johann Jacob Bodmer : Die sechs ersten Gesänge der Ilias. In: Bodmer : Calliope. Zweyter Band, S. 157–306. 71 [Johann Jacob Bodmer :] Vierter Gesang; und Sechster Gesang der Ilias. In Hexametern übersezt. Zürich 1760. 72 [Johann Jacob Bodmer :] Homers Werke. Aus dem Griechischen übersetzt von dem Dichter der Noachide. 2 Bde. Zürich 1778. Vgl. hierzu: Barbara Mahlmann-Bauer : Bodmers Homerübersetzung und die Homerbegeisterung der Jüngeren. In: Die Zürcher Aufklärung. Johann Jakob Bodmer (1698–1783) und sein Kreis. Hrsg. v. Anett Lütteken und Barbara Mahlmann-Bauer. In: Zürcher Taschenbuch auf das Jahr 2008 (N. F. 128). Zürich 2007. S. 478–511. 73 Martin: Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert, S. 359. Vgl. ebd., S. 359f. – Reiling: Die Genese der idealen Gesellschaft, S. 125f. 74 Vgl. Martin: Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert, S. 392f. und S. 400. 75 Genaueres zur produktiven Klopstock-Rezeption durch Johann Jacob Hess findet sich in folgendem Aufsatz: Urs Meyer: Der Messias in Zürich. Die Klopstock-Rezeption bei Bodmer, Breitinger, Waser, Hess und Lavater im Lichte des zeitgenössischen Literaturmarktes. In: Anett Lütteken / Barbara Mahlmann-Bauer (Hrsg.): Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. Göttingen 2009. (Das achtzehnte Jahrhundert: Supplementa; 16.) S. 474–496, hier S. 489–491. 76 [Johann Jacob Bodmer :] Conradin von Schwaben. Ein Gedicht mit einem historischen Vorberichte. Carlsruhe 1771.

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historischen Epos, die heute verschollen sind, hatte Bodmer offenbar bereits in Prosa ausgeführt.77 Der junge Wieland wiederum hatte quasi als ›Bewerbungsschrift‹ seinem späteren Mentor Bodmer im Sommer 1751 anonym vier Gesänge seines unvollendeten Epos Hermann zukommen lassen (vgl. Kap. 5.2). Zu den poetischen Jugendwerken Wielands zählen auch die Hymnen, die er 1754 in Zürich veröffentlichte und die sich aus einer Hymne auf Gott, einer Hymne auf die Sonne und einer zweiten Hymne auf Gott zusammensetzen.78 Ebenfalls von Wieland stammt die Hexameterdichtung Cidli und Lazarus (vgl. Kap. 4.5). Bodmer hatte bereits im Jahre 1747 eine Übersetzung von Alexander Popes (1688–1744) satirischem Versepos The Dunciad (EA 1728) veröffentlicht.79 Wieland verfasste als unermüdlicher Parteigänger der ›Schweizer Fraktion‹ im fortdauernden ›Literaturstreit‹ die Ankündigung einer Dunciade für die Deutschen (1755), in der er gegen den »Duns«, d. h. den Dummkopf und ›Geschmacksverderber‹ Gottsched, zu Felde zog – allerdings in Prosa und nicht in Versform (vgl. Kap. 4.2).80 Bei dem angezeigten Werk mit dem Titel Die gefallene Chava einer besondern Erde handelt es sich sicherlich um einen bibelepischen Entwurf Bodmers. Die Patriarchade Zilla (EA 1755) des Schweizer Dichters erzählt nämlich vom Sündenfall der ersten Menschen auf einem anderen Erdplaneten: Die dortige Eva namens »Zilla« (früher Lilith) wird von Satan mit Geschenken verführt und schließlich entführt, so dass der allein zurückgebliebene andere Adam namens »Zadik« von Gott eine neue, reine und unschuldige Gefährtin erhält, die Chava heißt. Georg Geßner (1764–1843), damals Diakon an der Waisenkirche in Zürich81, veröffentlichte im Jahre 1795 das Bibelepos Ruth oder Die gekrönte häusliche Tugend. Dreieinhalb Jahrzehnte nach Bodmers Wettbewerbsaufruf von 1759 wurde nun also doch der biblische Stoff um das alttestamentarische Paar Ruth 77 Vgl. Martin: Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert, S. 387f. und S. 146. 78 [Christoph Martin Wieland:] Hymnen. Von dem Verfasser des gepryften Abrahams. Zyrich 1754. Neudruck in: [Ders.:] Gesammelte Schriften. Hrsg. v. der Deutschen Kommission der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Erste Abteilung: Werke. 2. Bd.: Poetische Jugendwerke. 2. Teil. Hrsg. v. Fritz Homeyer. Berlin 1909. S. 166–187. Vgl. Gelzer : Religiöse Hymnik oder satirische Polemik?, S. 183–208. 79 [Johann Jacob Bodmer :] Alexander Popens Duncias mit Historischen Noten und einem Schreiben des Uebersezers an die Obotriten. Zürich 1747. 80 Christoph Martin Wieland: Ankündigung einer Dunciade für die Deutschen. In: [Ders.:] Gesammelte Schriften. Hrsg. v. der Deutschen Kommission der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Erste Abteilung: Werke. 4. Bd.: Prosaische Jugendwerke. Hrsg. v. Fritz Homeyer und Hugo Bieber. Berlin 1916. S. 71–131. 81 Vgl. zum unbekannten Autor Georg Geßner folgende Biographie: Georg Finsler: Georg Geßner weiland Pfarrer am Großmünster und Antistes in Zürich. Ein Lebensbild aus der zürcherischen Kirche. Basel 1862.

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und Boas literarisch bearbeitet.82 Es lässt sich nur spekulieren, ob der erst fünf Jahre später geborene Geßner von Bodmers damals gewünschtem ›Ruth-Epos‹ Kenntnis erhalten hatte. Immerhin wurde Geßner während seiner theologischen Ausbildung in Zürich von Johann Jakob Steinbrüchel (1729–1796) und Johann Jakob Hottinger (1750–1819) gefördert, die beide wiederum Schüler Breitingers waren. Steinbrüchel war jedenfalls ein späteres Mitglied der »Dienstags-Compagnie«. Geßner widmete sein sechs Gesänge umfassendes christliches Epos dem Schweizer Theologen und Schriftsteller Johann Caspar Lavater (1741–1801). Lavater selbst hatte unter dem unmittelbaren Eindruck von Klopstocks Messias eine vierbändige Bibelparaphrase mit dem Titel Jesus Messias. Oder die Evangelien und die Apostelgeschichte in Gesängen (1782–1786) verfasst.83 Geßner legte wie Lavater höchsten Wert auf bibelhistorische Genauigkeit. »Historische Erläuterungen«, die dem Text beigefügt waren, sollten dem Lesepublikum die damals vorherrschenden israelitischen Sitten und Gebräuche näherbringen.84 Als Metrum verwendete Geßner nicht den deutschen Hexameter, sondern frei gereimte Jamben mit vier bis sechs Hebungen. In der Vorrede weist er zudem darauf hin, zuweilen auch einen Trochäus oder Anapäst zu gebrauchen, wenn es der inhaltliche Gedanke erfordere. Sein Gedicht solle »den Sinn für häusliche Frömmigkeit und Tugend erwekken«.85 Geßners Ruth zeigt sehr stark den Charakter einer christlichen Erbauungsschrift und könnte vergleichbar mit Bodmers Patriarchade Die Syndflut als »Tugendlehre für Töchter« bezeichnet werden.86 Die tugendhafte Heldin Ruth dient dem Geistlichen Geßner als ›ex82 Das alttestamentarische Buch Ruth erzählt folgende Geschichte: Aufgrund einer Hungersnot muss Noomi (Naemi) mit ihrer Familie von Bethlehem in Juda in das benachbarte Moab auswandern. Nach dem Tod ihres Mannes Elimelech und ihrer inzwischen verheirateten beiden Söhne Kiljon (Chilion) und Machlon (Malon) kehrt sie in ihre alte Heimat zurück. Während Orpa (Orpha), die eine Schwiegertochter, in Moab bleibt, folgt die andere Schwiegertochter Ruth Noomi (Naemi) ins israelitische Land. Die Witwe Ruth sorgt für sich und ihre Schwiegermutter, indem sie auf dem Feld Ähren liest. Dabei lernt sie den gütigen Boas kennen, einen reichen Verwandten Elimelechs. Auf den Rat Noomis (Naemis) bittet Ruth Boas, sie zur Frau zu nehmen. Der aus dieser Ehe hervorgehende Sohn Obed ist der Vorfahre des Königs David und steht damit laut biblischem Stammbaum in einer Reihe mit dem Gottessohn und Erlöser Jesus Christus. (Vgl. Calwer Bibellexikon. Hrsg. v. Otto Betz, Beate Ego und Werner Grimm in Verbindung mit Wolfgang Zwickel. Band 2. 2., verbesserte Aufl. Stuttgart 2006. S. 1149f.) 83 Vgl. zu Lavaters Klopstock-Rezeption: Meyer: Der Messias in Zürich, S. 491–494. – Daniela Kohler : Eschatologie und Soteriologie in der Dichtung: Johann Caspar Lavater im Wettstreit mit Klopstock und Herder. Berlin / München / Boston 2015. (Frühe Neuzeit; 192.) 84 Vgl. Georg Geßner : Ruth oder Die gekrönte häusliche Tugend. In sechs Gesängen. Zürich 1795. S. 234–246. 85 Ebd., Vorrede, unpag. 86 Jesko Reiling: Geschichtsschreibung in patriotischer Absicht. Zu Bodmers Erziehungsprogramm. In: Die Zürcher Aufklärung. Johann Jakob Bodmer (1698–1783) und sein Kreis.

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emplum‹: Ihre Geschichte sei der »Beweis der Führung Gottes, durch häusliche Leiden zum häuslichen Glükke«.87 Die alttestamentarische Gestalt Ruth wird als ideale Schwiegertochter aus dem Zeitalter der Empfindsamkeit präsentiert. Ausgezeichnet ist sie durch weibliche Charaktereigenschaften wie Treue, Frömmigkeit, Unschuld, Keuschheit, Demut und Bescheidenheit. Zudem wird Ruth ahistorisch als schöne Frau mit blonder Lockenmähne und blauen Augen beschrieben.88 Der epische Erzähler berichtet an anderer Stelle von der zukünftigen Braut Ruth, dass sie ein »liebliche[s] Gewande j Voll Anmuth, ohne Glanz und Pracht« trage.89 Die darauf folgenden Verse sind gewissermaßen ein Aufruf an die bürgerliche Frau des 18. Jahrhunderts zu mehr Bescheidenheit und zum Augenmerk auf innere Werte statt äußerlichem Pomp: Nicht Gold und Seide sind’s, auch sind es nicht Juwelen, Womit das Weib sich wahrhaft schmükt, Wird ihr der innre Schmuk des edeln Herzen fehlen, So wird der Weise nie durch ihren Schmuk berükt. Ein sanfter, stiller Geist und unbeflekte Treu’, Oh, dieser Frauenschmuk ist immer schön und neu! Und wird in Gottes und des Weisen Augen Allein, und ganz, und ewig taugen! Bescheiden, wie das Veilchen blüht Und lieblich duftet in der Stille, Wo nur das Kinder Aug’ es fröhlich sieht, So geht in der bescheidnen Hülle Jezt R u t h einher […].90

Im Epos lassen sich immer wieder didaktische Sentenzen eines offensichtlich predigenden Autors finden, wie z. B. folgende segnende Prophezeiung Elkanas an Ruth: »Du, meine Tochter, wirst der Treuen Lohn bekommen, j Nie bleibt der unbelohnt von Gott, der Gutes thut.«91 Im 1. Gesang wird erzählt, dass sowohl Naemi als auch Ruth Witwen sind. Sie fühlen sich durch den Schmerz über den Verlust der geliebten Ehemänner miteinander verbunden. Der Kommentar des epischen Erzählers lautet folgendermaßen:

87 88 89 90 91

Hrsg. v. Anett Lütteken und Barbara Mahlmann-Bauer. In: Zürcher Taschenbuch auf das Jahr 2008 (N. F. 128). Zürich 2007. S. 526–541, hier S. 541. Geßner : Ruth oder Die gekrönte häusliche Tugend, S. 247. Ebd., S. 29f. Ebd., S. 169. Ebd. Ebd., S. 95. Weitere predigende bzw. moralisierende Sentenzen sind z. B.: »Auch drohende Gefahr wird Gott zum Besten wenden – j Gott ist die Liebe stets, die, was Sie will, auch kann.« (Ebd., S. 180.) »Die Weisheit nur vermag mit Kraft an sich zu ziehen j Die Lernbegierde.« (Ebd., S. 96.)

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So muß das Leiden fester binden, Und Freundschaft stärkt in jeder Noth. Sie harren bis sie Tröstung finden, Und wissen: Tröstung kömmt von Gott. O lern’ es hier gedrüktes Menschenherz, Sey standhaft, treu und still, und Gott vergilt den Schmerz.92

Orpha bittet Naemi flehentlich, in Moab zu bleiben, doch diese steht fest zu ihrem Entschluss, in ihre alte Heimat zurückzukehren. Der epische Erzähler bemerkt hierzu: »Spur von kleinen Seelen j Ist wankender Entschluß, wenn sie erst Gutes wählen. j Doch hoher Adel! wenn ein Weib mit Männermuth, j Und reifer Weisheit sich das Beste wählt und thut.«93 Ein didaktisch-moralisierender Erzählerkommentar an anderer Stelle des christlichen Epos lautet: Warum ist jedes Glük auf Mond umkraister Erde In dichte Nebel stets verhüllt? – Damit es desto süßer werde, Wenn es wie klarer Quell aus dürrem Felsen quillt. Des Schiksals Räthsel soll die Sterblichen nur spornen Zu suchen den, der jedes Schiksal lenkt. Die schönste Rose blüht doch mitten unter Dornen, Und nur der heiße Durst wird wonnevoll getränkt!94

Das Proömium von Ruth stellt ein Zwiegespräch zwischen dem epischen Erzähler und seiner Muse Urania dar.95 Urania (»die Himmlische«, vgl. Hesiod: Theogonie, V. 78) war ursprünglich die heidnisch-antike Muse der Astronomie.96 Seitdem sie aber von Milton im Proömium des siebten Gesanges seines Paradise Lost christianisiert wurde, galt sie als himmlische Beschützerin und Inspirationsquelle der heiligen Poeten.97 Der epische Erzähler in Geßners Ruth stellt Urania folgende Eingangsfrage:

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Ebd., S. 11. Ebd., S. 18. Ebd., S. 177. Vgl. ebd., S. 3–9. Vgl. Hesiod: Theogonie, S. 8/9 (V. 78). In Ramlers Kurzgefaßter Mythologie heißt es, dass Urania als antike »Muse der Sternseherkunst« als Attribute »eine Sternenkrone und eine Leyer« trage. Sie richte »ihre Augen zum Himmel, als eine Muse, die sich mit Betrachtung und Besingung himmlischer Dinge beschäftigt«. (Ramler : Kurzgefaßte Mythologie, S. 112.) Vgl. hierzu auch Bodmers Übersetzung des Proömiums des siebten Gesanges von Miltons Paradise Lost und seine dortige Anmerkung zur Muse Urania: [Johann Jacob Bodmer :] Johann Miltons Episches Gedichte von dem Verlohrnen Paradiese. Faksimiledruck der Bodmerschen Übersetzung von 1742. Mit einem Nachwort von Wolfgang Bender. Stuttgart 1965. (Deutsche Neudrucke, Reihe Texte des 18. Jahrhunderts.) S. 301–303.

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Wer hält des Schiksals nie geseh’ne Waage, Die Sterblichen das Maaß der Freude wägt, Und auch die Last bestimmt, die an dem schwühlen Tage Des müden Pilgers Schulter trägt?98

Die Muse macht deutlich, dass allein Gottvater über das Schicksal des einzelnen Menschen entscheide und sowohl Freud’ als auch Leid schenke. Sie gibt folgende Anweisung: »Besaite, sprach U r a n i a , Und stimme sanft zur lieblich frohen Feier, O Sterblicher, die goldne Leyer, Und singe, was dein Auge sah. Die fromme Tugend krönt der Herr mit seiner Gnade, Er ehret, wer Ihn ehrt, und leitet seinen Gang Auf blumenreiche Flur auch über Dornenpfade, Die Frömmigkeit verdient, wie Heldenruhm Gesang.«99

Der epische Erzähler äußert an seine himmlische Inspirationsquelle abschließend diese Bitte: So gieb mir denn ein Lied, das würdig sey Den Werth des frommen Sinn’s, und seinen Lohn zu singen; Und häusliches Verdienst, und edle Kindertreu Zu wekken müsse mir gelingen!100

Aufgrund dieser offensichtlich vertretenen moralisch-didaktischen Tugendlehre unterscheidet sich dieses Werk Geßners deutlich vom Messias Klopstocks. Als typisch bibelepische Elemente werden immer wieder Musenanrufe101, Traumvisionen102, tränenreiche Reden103, innige Gebete und lobpreisende Gesänge der Hauptfiguren Ruth, Naemi und Boas eingeschaltet. Es finden sich zudem immer wieder typologische Verweise auf die Erzväter des Alten Testaments.104 Die obligatorischen himmlischen Nebenfiguren, die die epischen Protagonisten be-

Geßner : Ruth oder Die gekrönte häusliche Tugend, S. 3. Ebd., S. 9. Ebd. Ebd., S. 3, S. 9, S. 108f. und S. 194. Im 4. Gesang hat Boas einen Traum, in dem ihm seine verstorbene Frau Milka erscheint. (Vgl. ebd., S. 111.) Er erzählt daraufhin von einer zweiten Traumvision, für deren Deutung er sich einen Seher Jehovahs wünscht. (Vgl. ebd., S. 112–114.) 103 Geßner verwendet ebenso wie Klopstock den Archaismus »Zähren« für Tränen (ebd., S. 26, 79, 179). Die Rede ist auch von »Thränen ohne Zahl« (ebd., S. 78), »Vater-Thränen« (ebd., S. 111), »chrystallne[n] Zähren« (ebd., S. 154) und »Freudenzähren« (ebd., S. 198). 104 Typologische Verweise z. B. auf Joseph (vgl. ebd., S. 110f.), auf Moses (vgl. ebd., S. 96–101) oder auf Abraham (vgl. ebd., S. 166f.).

98 99 100 101 102

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obachten und beschützen, treten meist nur im Kollektiv auf.105 Sie werden von Geßner lediglich als »Engel« und nicht als Seraphim oder Cherubim bezeichnet. Individualisierte einzelne seraphische Charaktere, wie sie im Messias Klopstocks vorkommen, gibt es in Geßners Ruth nicht. Auch höllische Gegenspieler, die das Böse verkörpern, fehlen in diesem Bibelepos. Lediglich eine drastische Szenerie im 2. Gesang soll wohl an das obligatorische ›Schrecklich-Erhabene‹ eines Heldengedichts erinnern: Naemi berichtet hier rückblickend, weshalb sie damals zusammen mit ihrem Mann Elimelech und ihren zwei Söhnen Bethlehem verlassen musste.106 Das israelitische Volk sei grauenvoll von Gott abgefallen. Sünde und Laster hätten Einzug gehalten. Der »Götzendienst«107 habe ein göttliches Strafgericht ausgelöst: Eine Dürre habe eine schreckliche Hungersnot hervorgerufen und daraufhin sei eine Seuche ausgebrochen, die Pest. In wenigen Versen wird durchaus eindrucksvoll das tragische Sterben bzw. der Hungertod eines Babys und seiner Mutter beschrieben: Hier stehet, wie vom Ost versenget Die Aehr’ im Feld, die Säugende, Und ohne süße Nahrung hänget An ihr der Säugling, zehenfaches Weh Durchbohrt der Mutter leere Brust, Sie sieht verwelken ihrer Seele Lust; Ihm schwinden, ach, die lezten Kräfte, Er sinkt an ihren Busen hin – Umsonst, verdorrt sind alle Säfte, Die Mutter sinket neben ihn; An beyden nagt der Tod, und zeeret Mit langer grauser Quaal sie ab. Sie röcheln aus, weil nichts sie nähret, Und werden nun der Würmer Raub im Grab.108

105 Engel stehen um Naemi herum, als diese ein Gebet spricht und Gottes Gnade erhält (vgl. ebd., S. 49f.). Als sich die drei Frauen (Naemi, Ruth und Orpha) auf den Weg von Moab nach Bethlehem machen, berichtet der allwissende epische Erzähler : »Sie wandeln still, und Engel schweben j Auf Morgenlüften um sie her, j Und flüstern leise sich in’s Ohr: Ja Heil und Leben j Schenkt Gott der Tugend, die so hehr j Den Kampf bestand, und sich, mit Frömmigkeit j Gepaart, nur ihrem Gotte weyht.« (Ebd., S. 52f.) Von Naemi heißt es: »Doch sieh, ein Engel Gottes schwebt j Um sie, und stärkt mit neuem Muthe j Zum Abschied noch das zarte Mutterherz, j Daß nicht zu sehr die tiefe Wunde blute, j Sie nicht erläge ganz dem bangen Schmerz.« (Ebd., S. 78.) Ein Engel »raunet j Das Wort des Glaubens« in Ruths Ohr (ebd., S. 102). Die Engel Gottes umschweben die Menschen (vgl. ebd., S. 103). Boas lobpreist Gott mit seinem Gesang und selbst die Engel hören zu (vgl. ebd., S. 164). Auf die freudige Vermählung von Ruth und Boas singen die Engel Jubellieder (vgl. ebd., S. 196). 106 Vgl. ebd., S. 54–62. 107 Ebd., S. 61. 108 Ebd., S. 59.

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Die Affekte der epischen Hauptfiguren werden durch Gleichnisse aus dem Naturbereich veranschaulicht. So heißt es beispielsweise über die Gefühlsausbrüche der Frauen: N a e m i weint, die Thränen fliessen Vom Aug der O r p h a , heißer weinet R u t h , Sie stehen stumm – So schweigt bey Regengüssen Die harrende Natur, es steigt des Landmanns Muth. Er horcht dem Regen, der die dürren Fluren tränkt Und neue Lebenskraft den welken Saaten schenkt.109 Wie nach dem Sturm, er braust nicht immer Mit gleicher Wuth, in schweren Tropfen sinkt Der dichte Regen, und ein blasser Schimmer Gebrochner Sonnenstrahlen dringt Durch das Gewölk; so läßt sich wieder Auf diese Weinenden die Ruhe nieder.110

An anderer Stelle wird eine Umarmung Naemis durch Ruth mit der rankenden immergrünen Pflanze Efeu verglichen: Wie schlanker Epheu sich um Eichen windet, Er kleidet Stamm und Aeste grün, Und schließt sich fest an sie, und findet Für schwache Ranken Hilf ’, um sich empor zu zieh’n Vom niedern Moos zur herrlichen Höhe, Allein vermögt’ es nicht zu heben sich; Durch sein Umfassen steigt es hoch empor zur Nähe Der Wolken; also schlang um dich, N a e m i , deine R u t h , von Treu und Liebe warm, Den zarten, töchterlichen Arm.111

Der Efeu gilt als christliches Symbol des ewigen Lebens, der Treue und der Freundschaft. Die einen Baum umschlingende widerstandsfähige Pflanze war auch ein beliebtes Motiv der Emblematik, wobei sie hier allerdings meist negativ besetzt war, da sie ihren Träger quasi erwürgen konnte.112 Das Efeu-Bild als Emblemzitat findet sich auch in Miltons Paradise Lost (Book 9, V. 215–217) und in Klopstocks Messias (XVII, 589f.). Dort steht das emblematische Bild für die »Selbsthingabe für andere« und verweist auf den Opfertod Jesu Christi.113 In 109 110 111 112

Ebd., S. 13. Ebd., S. 83. Ebd., S. 86. Vgl. Jörn Dräger : Typologie und Emblematik in Klopstocks »Messias«. Diss. Göttingen 1971. S. 126–133. Zum Emblemgebrauch in Miltons Paradise Lost siehe ebd., S. 243–278, zum Efeu-Bild insbesondere ebd., S. 264–271. 113 Ebd., S. 267.

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Geßners Epos deutet das eindeutig positiv konnotierte emblematische Efeu-Bild im Gleichnis auf die Erhöhung der tugendhaften, treuen und gottvertrauenden Heldin Ruth hin. Der Gedanke der ›aemulatio‹, des Wettstreits mit der ›heidnischen‹ Antike, klingt im christlichen Epos Geßners ebenfalls an. So heißt es etwa im Proömium: »Die Frömmigkeit verdient, wie Heldenruhm Gesang«.114 Im 3. Gesang besteht Ruth darauf, bei Naemi zu bleiben. Der epische Erzähler kommentiert diese Treue folgendermaßen: Sie kämpft der Tugend Kampf und siegt. Nur Tochterliebe kann mit Mutterliebe ringen; Auch die ist selber groß, die diesem Kampf erliegt, Doch größer die, die sich das Opfer selbst zu bringen Mit Müh die Ehr’ erringt! … Jehovah krönt Mit mehr als Loorbeern solche Streiter, Sein hoher Beyfall wird dem Edeln ganz vergönnt, Und dessen Stirn ist immer heiter, Der so die Nacht durchkämpft – Beym Morgenlicht Wird ihm Jehovah selbst begegnen Mit hellem Glanz, der jede Nacht durchbricht; Den frohen Sieger wird der Gott der Sieger segnen.115

Die christlichen »Streiter« werden demnach aufgrund ihrer Tugendhaftigkeit mit »mehr als Loorbeern« gekrönt. Sie werden als ›Belohnung‹ Gott selbst begegnen und seinen Segen erhalten. Dass Klopstocks Messias als unmittelbares Vorbild Geßners gelten kann, zeigt sich beispielsweise auch in der Zweiteilung der Ruth. So lautet das Proömium des 4. Gesanges folgendermaßen: Wenn mir’s, Urania! gelang Die Treu der Armuth zu besingen, So leite nun auch den Gesang Da, wo auf leichten Adlerschwingen Die fromme Niedrigkeit vom Staube sich erhebt, Wo Gottes Vaterhand die Krone Auf ’s Haupt ihr setzt, daß Er die Tugend lohne, Die Ihn verehrt und Ihm nur lebt. Er hob die Aehrenleserin, Belebt von treuem Israelen Sinn, Empor – Sie lag gebükt im Staube; Die Tugend steigt empor, es steigt empor der Glaube. Erzähle mir, Urania, 114 Geßner : Ruth oder Die gekrönte häusliche Tugend, S. 9. 115 Ebd., S. 89f.

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Wie Gott zur Wonne noch die R u t h geleitet. Da, wo nur Dunkelheit das trübe Auge sah, Hat Gott im stillen schon ein helles Licht bereitet.116

Während die ersten drei Gesänge also von der ärmlichen Erniedrigung der tugendhaften Heldin erzählen, handeln die folgenden drei Gesänge von der stufenweisen Erhöhung Ruths.117 Die Preis- und Jubelgesänge im 6. Gesang der Ruth erinnern zudem an die Hymnen im XX. Gesang des Messias.118 Geßner führt lediglich eine fiktive Figur ein: Elkana, »ein Seher Gottes«.119 Ruth und Naemi finden in seiner Hütte Schutz, als sie auf dem Weg nach Bethlehem von einem Gewitter überrascht werden. Während sich die Frauen ausruhen und schlafen, hat Elkana eine Traumvision: Ihm wird prophezeit, dass Ruth von Gott auserwählt wurde, den Stamm Davids zu zeugen.120 Diese ›frohe Botschaft‹ verkündet der greise, weise Seher Elkana allerdings erst am Schluss des Epos dem gerade verheirateten Paar Ruth und Boas.121 Ruths Lohn ist es folglich, ihren Sohn Obed zu gebären, dessen Enkel wiederum der weise König David sein wird, aus dessen Stamm Jesus Christus, »der Fürst der Fürsten«, hervorgehen wird.122 Geßner lässt Gottvater als Figur in seinem Epos nur ein einziges Mal auftreten und legt ihm anlässlich der Vermählung von Ruth und Boas folgende Worte in den Mund, die diesen Sachverhalt aussprechen: »Amen! j Du frommes Ahnenpaar! gesegnet sey j In deiner Enkel Kron’ einst deine fromme Treu!«123 Verweise auf den kommenden Messias finden sich immer wieder im Werk Geßners.124 So berichtet der epische Erzähler etwa zu Anfang des 4. Gesanges, wie aus dem Wasser einer kleinen Quelle letztlich der endlose Ozean wird.125 Dies dient als Vergleichsbild für das sich vermehrende Menschengeschlecht, aus dem schließlich der Triumphator Jesus Christus hervorgehen wird: So wuchs dem großen Menschensohne Der Ahnen Zahl mit jeglichem Geschlechte mehr, Bis E r die Bahn betrat, der zu dem Throne 116 Ebd., S. 108f. 117 Die ersten zehn Gesänge von Klopstocks Bibelepos handeln von der Erniedrigung des leidenden Gottessohnes und seinem Tod, die darauf folgenden zehn Gesänge von der Wonne der Auferstehung, der Himmelfahrt und der Erhöhung des Messias zum Weltenrichter. 118 Vgl. etwa ebd., S. 216f. und S. 222–225. 119 Ebd., S. 95. 120 Vgl. ebd., S. 103f. 121 Vgl. ebd., S. 229ff. 122 Ebd., S. 233. 123 Ebd., S. 196f. 124 Siehe ebd., S. 103f., S. 107f. und S. 232–234. 125 Vgl. ebd., S. 106f.

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Der Himmel, sich durch heiße Kämpfe schwang, Zum Herrn der Herren, zu der Welten Richter, Weil über Sünd und Tod Er vollen Sieg errang, Und helle strahlt’ als Urlicht aller Lichter. Er, der die Menschen führt, bleibt stets sich selber gleich! Durch’s Kleine leitet Er zum Großen. Die fromme Armuth wird aus seiner Fülle reich; Wer zu Ihm kömmt, den wird nie seine Huld verstoßen.126

Das Bibelepos Ruth oder Die gekrönte häusliche Tugend stellt demnach ein interessantes spätes Werk in der Nachfolge des Messias dar. Es richtet sich dezidiert an das empfindsame junge weibliche Lesepublikum. Durch den erbaulichen Predigtton und das jambische gereimte Versmaß unterscheidet es sich deutlich von den Patriarchaden der 1750er Jahre. Ebenfalls im September 1753, zwei Tage später nach dem Erscheinen der bereits zitierten Anzeige in den Freymüthigen Nachrichten, schrieb Wieland – wohl mit der Erlaubnis Bodmers – anonym einen Brief an den Leipziger Literaturpapst Gottsched persönlich.127 Er schlüpft hier in die Rolle eines jungen Dichters, der der Partei der Gottschedianer beitreten will. Mit viel Ironie beklagt er die ›Heimsuchung‹ durch die vielen »christlichen Heldengedichte[.] – […] von Seraphen, u: Teuffeln, Myriaden und Aeonen, von denen zweiffelhaft ist, ob man über sie lachen oder weinen soll«.128 Polemisch-satirisch empfiehlt Wieland »jungen Knaben, welche es juckt Homere zu werden«, ein »Recept« mit folgenden Zutaten, um ein Bibelepos im Stile Klopstocks und Bodmers verfassen zu können: Nimm drey blätter aus Jac. Böhms Aurora, zehn Seraffen, vier Patriarchen, Himmel, Hölle, Hydern, Amphisbänen, Phantomen, und von allen vier Elementen quantum satis, mische es wohl durcheinander und laß es stehen biß sich ein brauner Satz gesezt hat und die Seraphen u: Sphären oben schwimmen; so hast du eine christl. Epopöe nach dem neuesten Geschmack.129 126 Ebd., S. 107f. 127 Vgl. den Brief von Wieland an Gottsched, 14. September 1753. In: Wieland: BW I, Nr. 118, S. 174–177. 128 Ebd., S. 175, Z. 57–60. 129 Ebd., S. 175, Z. 60–66. Ein Vorbild für derartige ›Rezepte‹ zum Verfassen von Heldengedichten war sicherlich dasjenige von Alexander Pope im Aufseher (A receit to make an epick poem. In: The Guardian. Nr. 78; 10. Juni 1713.). (Vgl. Gelzer : Religiöse Hymnik oder satirische Polemik?, S. 200, Anm. 4.) Gottsched hatte dieses satirische Rezept für Epen in der Nachfolge Homers vom »Kunstrichter P o p e« in deutscher Übersetzung in seiner Zeitschrift Neuer Büchersaal im Jahre 1745 abgedruckt. (Ein Recept zu einem Heldengedichte. In: Neuer Büchersaal der schönen Wissenschaften und freyen Künste. [Hrsg. v. Johann Christoph Gottsched.] 1. Band. 6. Stück, im Dezember 1745. Leipzig 1745. S. 548–552.)

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Als wichtige Ingredienzen gelten folglich die Einführung von alttestamentarischen Helden, entsprechenden himmlischen und teuflischen epischen Nebenfiguren, neben auftretenden allegorischen und mythischen Gestalten – Wieland spielt mit den »Hydern, Amphisbänen, Phantomen« auf Vers 485 im 8. Gesang von Bodmers Noah an –, die allesamt in einen unendlichen Kosmos versetzt werden, und der Gebrauch einer spätbarock-schwülstigen, d. h. ›dunklen‹ Schreibart. Der in den Bibelepen quasi ›kultivierte‹ pathetisch-erhabene Stil schien in den Augen der Anhänger der Leipziger Partei offenbar leicht erlernbar. So veröffentlichte Christoph Otto Freiherr von Schönaich im Jahre 1754 anonym eine Streitschrift mit dem sprechenden Titel: Die ganze Aesthetik in einer Nuß, oder Neologisches Wörterbuch; als ein sicherer Kunstgriff, in 24 Stunden ein geistvoller Dichter und Redner zu werden, und sich über alle schale und hirnlose Reimer zu schwingen. Alles aus den Accenten der heil. Männer und Barden des itzigen überreichlich begeisterten Jahrhunderts zusammen getragen, und den größten Wort-Schöpfern unter denselben aus dunkler Ferne geheiliget von einigen demüthigen Verehrern der sehraffischen Dichtkunst.130 Er widmet sein satirisch-polemisches Werk [d]em Geist-Schöpfer, dem Seher, dem neuen Evangelisten, dem Träumer, dem göttlichen St. Klopstocken, dem Theologen; wie auch dem Syndfluthenbarden, dem Patriarchendichter, dem Rabbinischen Mährchen-Erzähler, dem Vater der mizraimischen und heiligen Dichtkunst, dem zweyhundertmännischen Rathe Bodmer […].131

Der Verfasser behauptet, »die m e h r a l s h o m e r i s c h e n T e u f e l- u n d B i b e l d i c h t e r fast alle gelesen« zu haben, und deshalb sei er nun soweit, »ein Mitglied der vortrefflichen S p r a c h s c h n i t z e r g e s e l l s c h a f t , oder h i m m l i s c h e n J ü n g e r s c h a f t zu werden«.132 Der spottende Gottsched-Schüler gelobt feierlich: »Ich aber versichere, daß, wer mein Buch auswendig weis, der kann allezeit, auch blind, wie M i l t o n , Verse machen«.133 Überhaupt ließen sich mittels einer poetischen »Drechselbank« ganz einfach 130 Der Titel spielt zum einen auf das Dictionnaire n8ologique (1726) des Abb8 Desfontaines an und zum anderen hatten die Schweizer im Jahre 1743 behauptet, Gottscheds Versuch einer Critischen Dichtkunst ließe sich »ohne Abbruch der Sachen auf 3. Bogen […] bringen«. Dieses Werk solle dann »Gottscheds Dichtk. in Nuce« heißen. (Sammlung Critischer, Poetischer, und and(e)rer geistvollen Schriften, Zur Verbesserung des Urtheil(e)s und des Wi(t)zes in den Wercken der Wolredenheit und der Poesie. Siebtes Stück. Zürich 1743. S. 95.) 131 Christoph Otto Freiherr von Schönaich: Die ganze Aesthetik in einer Nuss oder Neologisches Wörterbuch (1754). Mit Einleitung und Anmerkungen. Hrsg. v. Albert Köster. Berlin 1900. (Deutsche Litteraturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts; 70/81.) Widmung, S. 3. 132 Ebd., Vorrede, S. 6. 133 Ebd., Vorrede, S. 11.

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Hexameter produzieren.134 In seinem Neologischen Wörterbuch befänden sich zudem »viele Heldengedichte; M e ß i a d e n en mignature«.135 Es seien allesamt »Saamenkörner, oder Geschlechter von noch nicht entwickelten Helden«.136 Schönaich empfiehlt ferner folgendes »Recept zu dem l a u t e r n und u nv e r f ä l s c h t e n Klopstockianismus«: Nimm eine gute Hand voll Redensarten aus dem Hiob oder Psalmisten. Hierzu thue etwas von der Offenbarung St. Johannis eine Messerspitze. Vermische dieses mit drey Finger voll Propheten; sonderlich vom Ezechiel. Schüttele dieses wohl zusammen, und g e u ß e i n e n G l a n z v o n R e l i g i o n d a r ü b e r h e r : so hast du eine vortreffliche Suppe; auf deren Grunde der Kern des Klopstockianismus sich setzen wird. Milton kann den I n g w e r dazu geben; und die Rabbinen den Z i m m e t.137

Die Gottschedianer warfen folglich den Messias Klopstocks und die Patriarchaden Bodmers in einen Topf. Der Messias wird von Schönaich als »klopstockische[s] Evangelio« oder als »Offenbarung Sanct Klopstocks« betitelt.138 Die in diesem Werk vorherrschende Redensart gehöre zu einer »n e u e n A e s t h e t i k , die nur von Engeln verstanden [werde]«.139 Bodmer sei definitiv »von Religion ein Messianer, und von Handwerk ein Hexameterschmied« bzw. »Hexametrist[.]«.140 Der Züricher Literaturkritiker und Bibelepiker wird höhnisch als »O b e r w u r m s a a m i a n e r«, »i s r a e l i t i s c h e [r] S c h ä f e r d i c h t e r« und »l o h e n s t e i n i s c h e [r] W ü r z k r ä m e r« bezeichnet.141 Er sei »der Vater unserer neuer Homere«.142 Die Verdienste des »olympische[n] Dichter[s]« Bodmer könnten allerdings nur diejenigen erkennen, die ebenso wie er das Talent zum Dichten von den Musen empfangen hätten.143 Alle Verfasser von Patriarchaden seien »i s r a e l i t i s c h e[.] D i c h t e r l i n g e«.144 Klopstock entgeht dem beißenden Spott Schönaichs zwar auch nicht, aber er kommt wesentlich besser weg als Bodmer, denn er wird lediglich als »g ö t t l i c h e [r] S e h e r«, »E v a n g e l i s t[.]« oder »T h e o l o g e[.]« apostrophiert145, d. h., diese Charakterisierung entsprach sogar dem Selbstverständnis des Messias-Dichters. Im Jahre 1755 erschien die Bodmerias, ein parodistisch-satirisches Gedicht in fünf Gesängen, das Christoph Carl Reichel zugeschrieben wird. Der anonyme 134 135 136 137 138 139 140 141 142 143 144 145

Ebd., Vorrede, S. 10. Ebd. Ebd., Vorrede, S. 11. Ebd., S. 308f. Ebd., S. 28. Ebd. Ebd., S. 82 und S. 85 bzw. S. 123. Ebd., S. 51, S. 54 und S. 55. Ebd., S. 133. Ebd., S. 308. Ebd., S. 279. Ebd., S. 47.

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Verfasser rechnet darin ebenfalls mit der »neue[n] wurmsaamischepischolympische[n] Dichtart« ab.146 In der Vorrede wird der Leser über die Intention dieses polemischen Werkes aufgeklärt: Wann Sie mein Herr! die ganze Aesthetik in einer Nußschale lesen werden; alsdenn werden Sie meine Bodmerias für ein Muster halten, nach welchem man mit Hülfe des neologischen Wörterbuches mehrere Schulübungen für die Wurmsamianer wird aufsetzen können.147

Sogleich wird im ersten Gesang von dem Gottschedianer folgende rhetorische Frage aufgeworfen: »Wer ist so kühn und wagts, noch Helden zu besingen j Und Vater Klopstocks Lied um seinen Preiß zu bringen?«148 Die folgenden drei Nachahmer – Bodmer, Wieland und Gessner – versuchten, mit ihren Bibelepen in die Fußstapfen ihres großen Vorbildes zu treten.

5.1

Die gelehrte Patriarchade: Der Noah von Johann Jacob Bodmer

Bodmer hatte bereits in den 1740er Jahren den Plan zu einem biblischen Heldengedicht über die Errettung Noahs aus der Sintflut gefasst, diesen aber erst nach dem Erscheinen der ersten drei Gesänge des Messias Klopstocks ausgeführt.149 So notiert er rückblickend im April 1777 in seinen Persönlichen Anekdoten: Klopstock erfüllte mich durch die ersten Gesänge seiner Messiade mit dem zuversichtlichsten Vertrauen, daß ein göldenes Alter angebrochen sey. Ich gerieth von der Neuigkeit und der Anmuth seines Hexameters, und noch mehr seiner Poesie in Ecstase, und so ward ich begeistert die Noachide auszuarbeiten. Schon hatt ich wiewohl rudi penicillo ein großes Stück daran vollendet, als er zu mir nach Zürch kam.150

146 [Christoph Carl Reichel:] Bodmerias, in fünf Gesängen. O. O. [1755]. Zueignungsschrift, unpag. 147 Ebd., Vorrede, unpag. 148 Ebd., S. 9. 149 Vgl. hierzu: [Johann Jacob Bodmer :] Grundriß eines epischen Gedichtes von dem geretteten Noah. In: Sammlung Critischer, Poetischer, und anderer geistvollen Schriften, Zur Verbesserung des Urtheiles und des Witzes in den Wercken der Wolredenheit und der Poesie. Viertes Stück. Zürich 1742. S. 1–17. – [Johann Jacob Bodmer :] Der fünfte Brief. [Anmerkungen zu dem Grundrisse eines epischen Gedichtes von dem geretteten Noah.] In: Johann Jakob Bodmer / Johann Jakob Breitinger : Critische Briefe. Reprografischer Nachdruck der Ausgabe Zürich 1746. Hildesheim 1969. S. 109–119. 150 [Johann Jacob Bodmer :] Persönliche Anekdoten [1777] / Mein poetisches Leben [1778]. Hrsg. v. Theodor Vetter. In: Zürcher Taschenbuch N. F. 15 (1892). S. 91–131, hier S. 110f.

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Die ersten beiden Gesänge von Bodmers Bibelepos erschienen 1750 anonym unter dem Titel Noah ein Helden-Gedicht.151 Den dritten Gesang ließ der Patriarchadendichter als Sonderdruck in 50 Exemplaren herstellen. Den dritten und vierten Gesang veröffentlichte er wiederum im gleichen Jahr anonym unter dem Titel Die unschuldige Liebe. Bodmer berichtet am 11. Juli 1750 in einem Brief an Heß, dass sein Noah inzwischen »ansehnliche Verbesserungen bekommen [habe], nicht im Wohlklang, sondern in Sachen selbst«.152 Er wolle ihn aber nicht drucken lassen, ehe ihn nicht Sulzer und vor allem Klopstock gesehen hätten.153 Während des Aufenthalts des Messias-Dichters in der Schweiz könne er diesem seinen Noah vorlesen.154 Einen Tag später, am 12. Juli 1750, schreibt Bodmer an Zellweger : »Ich hoffe, daß der Noah in der Unterredung mit ihm [Klopstock; I. G.] viel Schönheiten gewinnen werde.«155 Klopstock bekundete vor seiner Ankunft in Zürich stets sein Interesse an dem Noah Bodmers. So erklärt er am 21. März 1750 in einem Brief an seinen Mentor : »Ich wollte Ihnen sagen, wie sehr mir der Noah gefallen hätte; ich wollte die Anmerkung ausführen, daß man dem Verfasser in Betrachtung einiger Nachahmungen den Vorwurf machen könnte, den man hierinn dem Virgil gemacht hat: allein ich muß hiervon abbrechen.«156 Am 12. April 1750 beteuert der Messias-Dichter gegenüber Schultheß: »Der Noah ist sehr nach meinem Geschmacke: davon werden wir viel zu reden haben.«157 Zudem berichtet er Bodmer am 25. April 1750: Niemand hat bey mir weniger einen Vertheidiger nöthig, als der Verfasser des Noah. Ich schmeichle mir, ihn verstanden zu haben. Und weiter braucht man nichts, ihn liebzugewinnen, u ihn gern, öfters, u, welches von mir nur meinen Lieblingen wiederfährt, laut zu lesen. Darf ich einige Anmerkungen wieder den Verf. machen, so wird sie mein Ohr, u nur sehr selten mein Verstand oder Herz machen. Ich freue mich ungemein, daß ich das schon vollendete Gedicht bald werde sehen können.158

Während Klopstocks Besuch in Zürich kam es jedoch nicht zu einem regen Gedankenaustausch unter Epikern über den Noah. Daher versucht Zellweger in einem Brief vom 24. September 1750, seinen Freund Bodmer über diese große 151 Vgl. zur Entstehungsgeschichte des Noah: August Semlitsch: J. J. Bodmers Noachide. [Handschriftl. Diss.] Graz 1917. S. 1–16. 152 Brief von Bodmer an Heß, 11. Juli 1750. In: Josephine Zehnder : Pestalozzi. Idee und Macht der menschlichen Entwickelung. Bd. 1. Gotha 1875. Nr. 2, S. 486–488, hier S. 486. 153 Vgl. ebd., S. 487. 154 Ebd. 155 Brief von Bodmer an Zellweger, 12. Juli 1750. In: Zehnder: Pestalozzi, Nr. 12, S. 342. 156 Brief von Klopstock an Bodmer, 28. Februar, 21. März 1750. In: HKA, Briefe I, Nr. 42, S. 69f., hier S. 70, Z. 32–36. 157 Brief von Klopstock an Schultheß, 12. April 1750. In: HKA, Briefe I, Nr. 44, S. 71f., hier S. 72, Z. 10f. 158 Brief von Klopstock an Bodmer, 25. April 1750. In: HKA, Briefe I, Nr. 45, S. 72f., hier S. 73, Z. 25–32.

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Enttäuschung hinwegzutrösten.159 Der Noah-Dichter verkündet am gleichen Tag: »Noah hat jetzt meine meisten Stunden wieder. Er wird täglich beßer und größer.«160 Selbst Klopstock zeigte sich beeindruckt von der »sorgsame[n] Eilfertigkeit […], mit der der Verfasser des Noah gearbeitet [habe]«.161 Der Schweizer Poetiker war im Gegensatz zum Messias-Dichter kein langsamer Arbeiter. So berichtet Bodmer Ende März 1749, dass er schon 80 bis 90 Verse seines Bibelepos verfasst habe.162 Im August 1749 sind die ersten zwei Gesänge fertig. Schultheß und Sulzer sind in Berlin für deren Drucklegung zuständig. Nach einigen Veränderungen und Verbesserungen erscheinen die ersten zwei Gesänge des Noah zur Neujahrsmesse 1750. Im Januar 1750 wird der dritte Gesang in Zürich gedruckt. Ein Nachdruck dieses Gesangs wird zudem in Leipzig veröffentlicht.163 Ende April 1750 erscheint Die unschuldige Liebe. Zwei Jahre später hat Bodmer sein Großepos vollendet. Der Noah. In zwölf Gesängen (1752) wird anonym publiziert. Nach weiteren inhaltlichen Veränderungen und sprachlich-stilistischen sowie metrischen Verbesserungen erscheinen in den Jahren 1765, 1772 und 1781 unter dem Titel Die Noachide in zwölf Gesängen jeweils neue Fassungen von Bodmers Patriarchade. Im Jahre 1772 apostrophiert Bodmer Klopstocks biblisches Heldengedicht als »ätherische Meßiade«.164 Zur empfindsamen ›Lesergemeinde‹ Klopstocks, die sich bei der erbauenden Lektüre des Messias affizieren ließ, bemerkt der Schweizer Dichter : »Hier lassen die Seelen von weichem Gefühle sich mit Wollust über die Sphäre alles Irdischen wegreissen; die überlegenden und starken Geister erhalten sich nicht ohne Mühe in ihrer Fassung.«165 Dem himmlischen, vergeistigten Bibelepos Klopstocks stellt Bodmer nun seine eigene Patriarchade gegenüber : Die Noachide bleibt auf der Erde. Die Menschen und die Nationen darinnen haben die Laster und die Neigungen der Menschen und der Nationen die wir kennen; und es sind unsre Sünden, womit sie die Sündfluth verschuldet haben. Noah und sein Haus allein hat die anerschaffene Güte des menschlichen Herzens behalten.166 159 Vgl. den Brief von Zellweger an Bodmer, 24. September 1750. In: Zehnder: Pestalozzi, Nr. 16, S. 355–358. 160 Brief von Bodmer an Zellweger, 24. September 1750. In: Zehnder: Pestalozzi, Nr. 15, S. 351– 355, hier S. 355. 161 Brief von Klopstock an Bodmer, 25. April 1750. In: HKA, Briefe I, Nr. 45, S. 72f., hier S. 73, Z. 22f. 162 Vgl. Baechtold: Geschichte der deutschen Literatur in der Schweiz, S. 599. 163 Vgl. Semlitsch: J. J. Bodmers Noachide, S. 5. 164 Johann Jacob Bodmer : Die sechs Zeitpunkte der Geschichte deutscher Poesie. [Aus dem Jahre 1772.] In: Schweitzersches Museum. Dritter Jahrgang. Erstes Quartal. Zürich 1786. S. 233–243, hier S. 241. 165 Ebd. 166 Ebd.

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Demzufolge tritt Bodmer mit seinem dezidiert menschlichen und irdischen Heldengedicht in einen Wettstreit mit dem Bibelepos Klopstocks, das in der ätherischen, also himmlischen Sphäre zu verorten ist. Johann Georg Sulzer hebt bereits am 10. März 1750 in einem Brief an Bodmer diesen vermeintlichen Vorzug hervor, dass die epische Handlung des Noah in der irdischen Sphäre spiele: Noah findet überhaupt einen Beifall, womit Sie zufrieden seyn können; selbst die Erzfeinde des reimlosen Hexameters loben ihn. Ich habe mich in meiner Vermuthung nicht betrogen, daß er mehr wird gelesen werden, als der Messias. Wir sind immer Menschen, und eine wohlgemachte menschliche Fabel geht uns näher an, als eine göttliche.167

Diesen ›aemulatio‹-Gedanken greift Bodmer in seiner Vorrede zur Noachide von 1781 nochmals auf: Die Noachide ist nicht olympisch, nicht ätherisch, sie ist irdisch und hat kaum die Kühnheit, sich aus dem körperlichen, sinnlichen Weltall in die Gegenden zu schwingen, wo über den Orion und Sirius hinaus die reinen, leiblosen Intelligenzen schweben, die Personen sind nicht über die Würde, oder die Empfänglichkeit der Erschaffenen, und wenn es Geister von höherer Natur sind als der menschlichen, so erscheinen sie in körperlicher Gestalt und lassen sich zu den freundschaftlichsten Diensten der Menschen herunter.168

Die epischen Charaktere sollen den zeitgenössischen Lesern als Identifikationsfiguren dienen: Ob sie gleich Patricharchen [!] sind, Lieblinge Gottes, von Gott ausserordentlich begünstiget, und sie verdienen diese Ausnahme durch ihr göttliches Leben, so ist ihre Gemüths- und Denkungsart doch den irdischen natürlichen Menschen nicht unerreichbar; die mehrern sind an Kopf und Herz Character, welche wir in den Jahrbüchern aller Jahrhunderte und aller Nationen nach der grossen Flut erblicken. Was sie von den Menschen der folgenden Jahrhunderte unterscheidet, ist etwas von der ursprünglichen Einfalt des Lebens; es ist, wenige Bedürfnisse, einige Künste und viel Mangel an Kenntnissen. Wer aus den Geschichten, die Moses geschrieben hat, oder aus Homers Gedichten mit der Einfalt der uralten Völker bekannt ist; noch mehr, wer selbst Einfalt der Sitten, des Gemüthes hat, wird in der Noachide sich mit sanftem Gefühl in die Gesellschaft von Menschen gebracht sehen, die wie die Familien der beyden Erzväter so sanft mit seinem Geist übereinstimmen.169

167 Brief von Sulzer an Bodmer, 10. März 1750. In: Briefe der Schweizer Bodmer, Sulzer, Geßner. Aus Gleims litterarischem Nachlasse. Hrsg. v. Wilhelm Körte. Zürich 1804. S. 127– 129, hier S. 127. 168 Johann Jacob Bodmer : Die Noachide in Zwölf Gesängen. Aufs neue ganz umgearbeitet und verbessert vom Verfasser. Basel 1781. Vorrede, unpag. 169 Ebd.

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Die Natürlichkeit und »Einfalt der Sitten«, typische Schlagwörter der HomerRezeption im 18. Jahrhundert, glaubt Bodmer auch bei den Patriarchen des Alten Testaments zu finden. Zudem projiziert der Noah-Dichter postdiluvianische Sitten und Ereignisse in die Zeit vor der Sintflut, wie etwa die Ermordung der Hugenotten in der Bartholomäusnacht oder die Grausamkeiten der Spanier gegen die amerikanischen Ureinwohner. Der Schweizer Professor geht hier zum einen von einer anthropologischen Konstante und zum anderen von einer Art zyklischem Geschichtsbild aus, denn die Tugenden und insbesondere die Laster der menschlichen Natur wiederholen sich offenbar im Laufe der Jahrhunderte. Bodmer malt den biblischen Prätext (Gen. 6–9) durch zahlreiche poetische Erfindungen, d. h. durch wunderbare und wahrscheinliche Erdichtungen aus.170 Hierin konnte sich der Noah-Dichter größere Freiheiten herausnehmen als etwa Klopstock in seinem neutestamentlichen Heldengedicht. Demgemäß schreibt der Messias-Dichter in seiner Abhandlung Von der heiligen Poesie (1755): »Ein Gedicht, dessen Inhalt aus gewissen Geschichten des Ersten Bundes genommen würde, müßte nach einer andern Hauptidee gearbeitet werden, als eins, so das Innre der Religion näher anginge. Jenem wäre, wenn ich so sagen darf, noch in einer Art Weltlichkeit erlaubt.«171 Das Proömium des Noah von 1752 umfasst insgesamt 26 Hexameterverse: Muse von Sion besing die Rettung des Menschengeschlechtes, Die der Richter der Welt im Golfo der Sündflut vollbracht hat, Als in seinem Gericht Myriaden Menschen verdarben: Aber der Zorn erschöpft vor einem Gerechten sich legte, Den er mit seiner Hand an die neuen Gestade geleitet; Daß er da göttlicher lebt’, und Nationen erzeugte, Die durch ein heiliges Leben der Schöpfung würdiger wären. Kann ein sterblicher Mann das Gericht des Ewigen hemmen, Der, von den Sünden der Welt gereitzt, Verwüstung geredet? Noah hemmt’ es; Der Herr zog den Arm zurück vom Verderben, Und er setzt’ ihn zum Haupt der neuen Menschengeschlechte. Von der grossen Geschicht hat in den Tafeln der Zeiten Wenige Spuren der Schwamm, der sie durchwäschet, gelassen; Schier unmerkbare Spuren; allein die himmlische Muse Weiß sie, und sagt sie gern dem Dichter, der an dem Geburtstag Von der Mutter Natur ihr an die Brüste gelegt ward. Sie ists, die vor den Wassern der Flut die Geister Elihus Angewehet, und ihm die göttlichsten Psalmen gelehret; Die mit dem Vater Noah dem Herrn im Kasten gesungen; 170 Vgl. die kurze Zusammenfassung des Inhalts der einzelnen Gesänge des Noah Bodmers in: Baechtold: Geschichte der deutschen Literatur in der Schweiz, S. 603–606. 171 Friedrich Gottlieb Klopstock: Von der heiligen Poesie. In: Klopstock: AW, S. 997–1009, hier S. 1005.

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Die mit ihm und seinem Geschlecht auf Sion gestiegen, Den zu loben, der mit dem Bogen umgürtet den Himmel Zu ihm neigt’, und kam, ihm seine Verzeihung zu melden. O mit welchem Gebet von unbeflecketen Lippen, Welcher edeln Gesinnung der Brust kann ich sie bewegen, Daß von den dunkeln Dingen ein heimliches Wort zu mir komme, Meinen Ohren nur hörbar, das ich dann wieder erzähle! (1. Gesang, V. 1–26)172

Bodmers Wahl eines erhabenen Stoffes173 für sein biblisches Heldengedicht fiel auf »die Rettung des Menschengeschlechtes« (1. Gesang, V. 1). Vergleichbar mit »der sündigen Menschen Erlösung« (I, 1), die im Messias Klopstocks besungen wird, betrifft die epische Handlung im Noah ebenfalls die gesamte Menschheit und nicht nur eine einzelne Nation. Bodmers epischer Held ist ein weiser, gerechter und gottesfürchtiger Mann. Der Bibelepiker bemerkt in seinen Critischen Briefen von 1746: »Noah ist der einzige Gerechte in einer Welt voller Ungerechten, den GOtt zum Leben ausersehen hat, da er eine ganze Welt vertilget; […].«174 Durch den Bau der Arche, gemäß der Lutherbibel (vgl. Gen. 6,14; 6,18f.; 7,1 u. ö.) im Epos meist als »Kasten« bezeichnet (z. B. 1. Gesang, V. 19), werden Noah und seine Frau Milca, ihre drei Söhne (Sem, Cham und Japhet) sowie deren drei Frauen (Debora, Thamar und Kerenhapuch) vor einer Vernichtung in der Sintflut gerettet und dadurch der Fortbestand der Menschen und Tiere auf Erden gesichert. Zur »Fabel« in seinem Noah äußert sich Bodmer folgendermaßen: Nun ist seit dem Fall des ersten Menschen schwerlich ein Begegniß zu finden, welches bequemer gewesen wäre, auf die Personen zu würken, als die Sündflut, welche das ganze menschliche Geschlecht bis auf acht Personen, in den Untergang gestürzet hat. In der Errettung dieser wenigen, und den Ursachen, welche dieselbe gewürket haben, besteht die Fabel oder die Haupthandlung des Gedichtes.175

Der Noah-Dichter verbindet in seinem Proömium ›invocatio‹ und ›propositio‹ miteinander. Angerufen wird zum einen Klopstocks »Muse von Sion« (1. Gesang, V. 1) und zum anderen Miltons »himmlische Muse« (1. Gesang, V. 14). Bodmer erfindet zudem die epische Figur eines Dichters und Sängers, d. h. eines 172 [Johann Jacob Bodmer :] Der Noah. In zwölf Gesängen. Zürich 1752. S. 3f. Die folgenden Stellenangaben (Gesang, Vers) im Text beziehen sich auf diese Ausgabe des Noah. 173 Vgl. zur Rezeption von [Pseudo-]Longinus’ Schrift Vom Erhabenen durch Bodmer : Marilyn K. Torbruegge: Bodmer and Longinus. In: Monatshefte. A Journal Devoted to the Study of German Language and Literature 63 (1971). Heft 4. S. 341–357. – Marilyn K. Torbruegge: Johann Heinrich Füßli und »Bodmer-Longinus«. Das Wunderbare und das Erhabene. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 46 (1972). Heft 1. S. 161–185. 174 [Bodmer :] Der fünfte Brief. [Anmerkungen zu dem Grundrisse eines epischen Gedichtes von dem geretteten Noah.] In: Bodmer / Breitinger : Critische Briefe, S. 109–119, hier S. 111. 175 Ebd., S. 115.

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Aoiden oder Rhapsoden, namens »Elihu« (1. Gesang, V. 17), der als göttlich inspirierter Psalmendichter offensichtlich den biblischen Psalmendichter David ersetzen soll, der in Klopstocks poetischen und poetologischen Schriften stets genannt wird. Im 8. Gesang des Noah heißt es, dass Debora die auf Papyrusrollen aufgeschriebenen »Psalmen Elihus«, des »ältesten Dichters, j Der bey den frommen Erzvätern den Ruhm des Göttlichen hatte«, in die Arche trug und so vor der Sintflut rettete (8. Gesang, V. 179–183). Laut dem epischen Erzähler ist Elihus Inspirationsquelle offenbar der Heilige Geist: »Er sang unnachahmlich die tiefe, die einsame Weisheit j Die der Geist, der Durchschauer der Tiefen Gottes, ihn lehrte.« (8. Gesang, V. 184f.) Interessant am Noah Bodmers ist der »kompilatorische[.] und enzyklopädische[.] Charakter« des Epos.176 Der Dichter beweist in seiner Versdichtung, dass er über umfassende Kenntnisse in den verschiedensten Gebieten der Wissenschaften verfügte177, wie etwa in Geschichte, Philosophie, Theologie, Astronomie, Physik, Geologie und Biologie.178 Übereinstimmend mit William Whistons New Theory of the Earth (1696) nimmt Bodmer als Ursache der Sintflutkatastrophe »den Durchgang der Erde durch den wasserhaltigen Dunstschweif eines in mehr als 600-jährigen Perioden wiederkehrenden Kometen« an.179 Im 2. und 3. Gesang des Noah findet sich eine Ich-Erzählung des Titelhelden: Der Patriarch Noah berichtet hier von einer 50-tägigen Rundreise, die er zusammen mit dem 176 Martin: Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert, S. 173. 177 Vgl. hierzu folgende neuere Forschungsliteratur zum Noah Bodmers: Jan Loop: Der Noah. Bodmers Bibelepos im wissenschafts- und wirkungsgeschichtlichen Kontext. In: Die Zürcher Aufklärung. Johann Jakob Bodmer (1698–1783) und sein Kreis. Hrsg. v. Anett Lütteken und Barbara Mahlmann-Bauer. In: Zürcher Taschenbuch auf das Jahr 2008 (N. F. 128). Zürich 2007. S. 462–477. – Barbara Mahlmann-Bauer : Bodmers Noachide, ein unbiblisches Epos? In: Anett Lütteken / Barbara Mahlmann-Bauer (Hrsg.): Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. Göttingen 2009. (Das achtzehnte Jahrhundert: Supplementa; 16.) S. 231–294. – Reiling: Die Genese der idealen Gesellschaft, S. 125–193 (Kap. 3.1: Der Noah). 178 Im Noah Bodmers werden beispielsweise die Land-Meer-Verteilung auf der Erdoberfläche (3. Gesang, V. 167ff.) oder die Entstehung von Ebbe und Flut (3. Gesang, V. 173–179) thematisiert. Die antediluvianischen Menschen kennen die Lupe (3. Gesang, V. 270–273) und die Linse (6. Gesang, V. 770) als technische Hilfsmittel, um zu forschen. So heißt es etwa im 3. Gesang des Noah: »Durch optische Parallaxen j Wußt er [Dagon; I. G.] aus Luftcrystall telescopische Gläser zu schleifen, j Welche die kleinsten Thiere der Schöpfung in Riesen verwandeln.« (3. Gesang, V. 270–272) Entdeckt werden mikroskopische Tierchen (6. Gesang, V. 776), Fossilien (10. Gesang, V. 32f.), neue Planeten (teilweise mit Planetenringen) (6. Gesang, V. 778), »Thäler und Berg in dem Monde« (6. Gesang, V. 779), »Flecken im feurigen Meere der Sonn« (6. Gesang, V. 780), die »Kugel des Mars« und der »Zirkel des Phosphors« (10. Gesang, V. 378), der Planet Saturn (10. Gesang, V. 818) und die »Kugel des Milchwegs am Sternenhimmel« (12. Gesang, V. 121). 179 Loop: Der Noah. Bodmers Bibelepos im wissenschafts- und wirkungsgeschichtlichen Kontext, S. 471. Vgl. hierzu: Mahlmann-Bauer : Bodmers Noachide, ein unbiblisches Epos?, S. 281–294.

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Seraph Raphael unternommen hat, um ein Zeuge der sündhaften Handlungen und Gräueltaten der antediluvianischen Menschen zu werden (vgl. 2. Gesang, V. 148–767; 3. Gesang, V. 1–369). In Chus herrscht der Tyrann Magog, der das Land der Noditen erobert. Die Ausrottung und Versklavung des »Geschlecht[s] in Federkleidern« (2. Gesang, V. 404) ist nichts anderes als ein Abbild der Eroberung Amerikas durch die Spanier. In Masis bekämpfen sich die »Secte der Blauen« und die »der Grünen« (2. Gesang, V. 481), bis es schließlich zu einem blutigen Massaker kommt. Hier wird auf die Bartholomäusnacht in Paris angespielt, in der am 24. August 1572 die Hugenotten von den Katholiken niedergemetzelt wurden. Lud ist das Land der »Söhne der Wollust« (2. Gesang, V. 584), d. h. der antediluvianischen Anakreontiker. In Havila wird »im Nahmen des Einen, der Gott ist«, gebetet, aber »sie ehrten dabey den Nahmen eines Betriegers, j Putniels, den sie den Abgesandten des Einzigen Gottes, j Seinen Propheten und Zeugen, und Mund und Prediger nennen« (3. Gesang, V. 41–44). Hinter Putniel verbirgt sich der Prophet Mohammed, der Religionsstifter des Islam. Die mächtigen Reiche Elam, Aram und Assur zeichnen sich durch den Bau von Tempeln, Palästen und Pyramiden aus. Thamista ist die Stadt der Riesen, der »Nephilim« (3. Gesang, V. 235). Der Herrscher der Riesen, Dagon, ist ein Anhänger Adramelechs, »des Zweyten nach Satan, des Priesters im Orchus« (3. Gesang, V. 253).180 Im 1. Gesang des Noah ahmt Bodmer den antiken Mythos der Danaiden nach (vgl. V. 409–753). Demzufolge präsentiert sich der Bibelepiker als Universalgelehrter. Die Gelehrsamkeit Bodmers zeigt sich darüber hinaus in der plagiatorischen Übernahme fremder Inhalte und Textpassagen in die Patriarchade Der Noah.181 Ramler bemerkt am 23. Februar 1751 in einem Brief an Gleim: »Alles was der Dichter seit drey Jahren gelesen hat, ist gantz roh und unverdaut darinn anzutreffen.«182 Wieland gibt rückblickend zu, dass »der gute Alte als Dichter wie ein Nachtrabe« gestohlen habe.183 Bodmer selbst rechtfertigte sein Verfahren im 66. Brief der Neuen Critischen Briefe (1749), der den Titel Liebreiches Urtheil von dem Ausschreiben trägt.184 Die Entlehnung eines fremden Gedankens, ohne

180 Demzufolge übernimmt Bodmer im Noah mit dem Höllenfürsten Adramelech eine der dämonischen bzw. christlich-mythologischen Figuren aus Klopstocks Messias. 181 Vgl. hierzu: Semlitsch: J. J. Bodmers Noachide, S. 17–90 (Kap. 2: Fremdes Gut). 182 Brief von Ramler an Gleim, 23. Februar 1751. In: Briefwechsel zwischen Gleim und Ramler. Hrsg. und erläutert von Carl Schüddekopf. Erster Band: 1745–1752. Tübingen 1906. (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart; 242.) Nr. 132, S. 285–287, hier S. 286. 183 Johann Gottfried Gruber : Christoph Martin Wieland. Erster Theil. Leipzig / Altenburg 1815. S. 67. 184 Johann Jacob Bodmer : Der sechs und sechszigste Brief. [Liebreiches Urtheil von dem Ausschreiben.] In: [Ders.:] Neue Critische Briefe über gantz verschiedene Sachen, von verschiedenen Verfassern. Zürich 1749. S. 455–458.

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diesen als solchen zu kennzeichnen, sieht der Dichter als selbst erbrachte, zu würdigende Leistung an: Sie sind zu strenge, wenn sie auch denjenigen des Plagiats beschuldigen, welcher irgend ein paar Verse oder einen zufälligen Gedanken aus einem ausländischen Verfasser in sein Werk eingetragen hat, ohne denselben anzuzeigen. Was für ein pedantisches Aussehen würde ein Gedicht von allen dergleichen Anzeigen bekommen? Es ist nicht ohne Verdienst, einen Vers aus dem Orte, wo er gleichsam gewachsen war, herauszunehmen, und in einen andern Boden zu verpflanzen, wo er so gut als in seiner Geburtsstatt aufkömmt. Oder ist es so leicht, etwas fremdes unter sein eigenthümliches einzutragen, so daß es mit demselben eine gleiche Art und Beschaffenheit überkömmt, die sich nicht selber verleugnet? Je vortrefflicher die Zeile ist, die so in einen andern Ring eingefasset wird, desto vortrefflicher muß das Ganze seyn, in welches sie als ein Theilgen eingetragen wird, wofern sie nicht lächerlich abstechen muß. Ein fremder Gedanke, der ungeschikt gebraucht wird, führt die Strafe mit sich, indem er eben so ungereimt steht, als ein seidener Lappe auf einem leinenen Kittel.185

Er zählt überdies die Gründe und Vorteile einer plagiatorischen Aneignung auf: Oft ist der Verfasser, aus welchem man etwas entwendet, so berühmt, daß es unnöthig scheint, dem Leser eine Anzeige zu thun, die ihm nicht verborgen seyn darf. Dieses ist so mit den Werken Homers, Horazens, Virgils, und ihres gleichen. Wenn auch ein Vers aus einem guten deutschen Verfasser unter andere deutsche Verse eingetragen wird, so ist gar nicht wahrscheinlich, daß man ihm denselben habe stehlen wollen, welcher ihm so bekanntlich für eigen zugehört. Oft ist die Verschweigung des Verfassers, den man genuzet hat, nur eine List, mit welcher man seine Leser vor Vorurtheilen verwahren, oder ihre Fähigkeit für sich selbst und ohne Vorgänger zu urtheilen, prüfen will. Man will den Geschmak seiner Nation gegen den Geschmak der andern vergleichen, welche über die Sache oder die Stelle, die man für eigen liefert, schon ein Urtheil gefällt hat. Man will die Neugierigkeit beybehalten, welche gegen Uebersezungen nicht so stark ist, als gegen Sachen, die man für Landesfrüchte hält. Es ist sonst wol geschehen, daß man eigene Arbeiten für Uebersezungen gegeben hat, des Vorurtheiles zu geniessen, welches einige Leser für das ausländische haben: Sollte es sträflicher seyn, etwas fremdes für innländisches auszugeben, damit man das Vorurtheil anderer nuze, welchen alles ausländische übel schmeket?186

Bodmer verweist hier zum einen auf die Leseerfahrungen der Rezipienten und zum anderen auf die literarische Geschmacksbildung, die jedes unmarkierte Zitat rechtfertigen würden. Einen rigiden Schutz geistigen Eigentums lehnt er dezidiert ab: Ich wollte nicht gerne, daß in den Sachen des Wizes und Verstandes das Recht des Eigenthums mit dem Ernst eingeführet würde, wie es in den Glüksgütern geschehen ist. 185 Ebd., S. 455f. 186 Ebd., S. 456f.

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Sollte niemand kein Recht auf einen Gedanken oder Einfall haben, als der ihn zuerst in Besiz genommen hat, was für ein kleiner Antheil bliebe denen übrig, die etwas späte in die Welt gekommen sind? Ganze Provinzen von Wiz wären schon ihrer Herren. Sind denn die Gedanken nicht unser, die wir bey einem andern schon finden, die wir aber mit dem Wahren und Schönen und unsern Begriffen von demselben übereinstimmend sehen, und die wir für unser erkennen, so bald wir sie nur gelesen haben; die wir in ihrem Grundsaze schon bey uns geheget haben, und entwikelt hätten, wenn wir die Mühe hätten nehmen wollen, oder die Arbeit nicht schon gethan gefunden hätten? Gedanken sind von der Natur, daß viele Leute zugleich einen besizen können.187

Das Auffinden eines Gedankens in der Natur sei nicht wesentlich unterschieden von dem Entdecken eines Gedankens in einem anderen poetischen Text: Worinnen ist einer, der sich der Gedanken eines andern bemächtiget, schlimmer, als dieser andere, der sie eben so wenig erfunden, sondern nur gefunden, und genommen hat? Alle Wahrheiten mit allen ihren Bestimmungen, folglich alle grossen und kleinen Gedanken sind in der Natur der Dinge und ihrem Verhältnisse enthalten, daselbst holet sie der Verfasser, der sich für das erste Original ausgiebt. Er findet sie da, weil das Glük sie ihm gezeiget hat, indem es ihm so scharfe Augen an die Stirne und in den Verstand gesezet hat, daß er sie hat erbliken können. Einem andern hat es kein so gutes Gesicht gegeben, aber zum Ersaze dessen hat es die Wahrheiten näher zu ihm herbey gebracht; es hat ihm dieselben in den Schriften des erstern in starken und deutlichen Zügen vor die Augen geleget. Aller Unterscheid ist, daß dieser sie in dem Nachbilde und jener in der Natur gefunden hat; beyde haben sie nur gefunden. Jener sagt sie nach, wie dieser ; beyde thun nichts anders, als daß sie ihr das Zeugniß geben, daß sie selbige erkannt haben.188

In der klassisch-antiken Rhetorik ist die ›inventio‹ nicht mit Originalität gekoppelt, sondern das Finden des Stoffes verlangt nach einem ›poeta doctus‹, der auf ein fundiertes Wissen zurückgreifen kann. Entscheidend ist die ›dispositio‹, die Anordnung des gefundenen Stoffes. Der Noah-Dichter versteht darunter das Einfügen fremder Verse in den Zusammenhang des eigenen Textes. Da dieses Verfahren ganz typisch für die ›imitatio auctorum‹ ist, schließt sich Bodmer hierin wohl seiner Meinung nach nur der epischen Tradition an. Nach modernen Maßstäben müsste man vermutlich auch Vergils Aeneis als Plagiat bezeichnen. Johann (Hans) Caspar Hirzel (1725–1803) berichtet im Jahre 1779: »Bodmer hat mir es selbst gesagt, daß die Begierde, sein Gedicht zu vollenden, ihn angetrieben, alles was sich zu seinem Plane schickte, von andern Dichtern aufzunehmen.«189 Es ist offensichtlich, dass der Begriff »Plagiat« für den Schweizer Professor nicht negativ konnotiert war. 187 Ebd., S. 457. 188 Ebd., S. 458. 189 [Hans Caspar Hirzel:] Hirzel an Gleim über Sulzer den Weltweisen. Erste Abtheilung. Zürich / Winterthur 1779. S. 133.

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Die Nachahmer Klopstocks

Es finden sich in der gelehrten Patriarchade Bodmers mehrere Verspassagen, in denen der Dichter nicht nur den Messias Klopstocks nachahmt, sondern nahezu wortwörtlich einzelne Hexameter daraus übernimmt. Bodmer wandelt beispielsweise ein Gleichnis aus Klopstocks Bibelepos (III, 517–524) in eine epische Szene im Noah um (8. Gesang, V. 40–47). So wird zu Beginn des 8. Gesanges der Tod Siphas geschildert. Seine zwei ältesten Töchter, Debora und Thamar, wollen ihrer jüngsten Schwester die traurige Nachricht überbringen: Kerenhapuch lag noch vom Morgenschlafe gebunden In der teppichbehangnen Kammer, in blühender Unschuld, Gleich den Töchtern eines nicht sterblichen Menschengeschlechtes, Dessen erster Stammvater nicht abgefallen, die Kinder Aus der Art nicht geschlagen: Um Hapuch standen die Schwestern Zärtlich herum. Sie weiß es nicht, daß ihr liebender Vater Ihrem Antlitz nicht länger soll lächeln. Ihr dieses zu sagen, Kamen die Schwestern, allein sie sahn sie schlummern und schwiegen. (8. Gesang, V. 40–47)

Die wörtlichen Übereinstimmungen in dieser epischen Szene (8. Gesang, V. 44– 47) mit dem Vergleichsbildinhalt im Messias (vgl. Kap. 4.9) sind deutlich erkennbar : »Also stehn drey Brüder um eine geliebtere Schwester j Zärtlich herum […] j […]. j Ach sie weiß es noch nicht, daß ihrem redlichen Vater j Seiner Tugenden Ende sich naht. Ihr dieses zu sagen, j Kamen die Brüder ; allein sie sehen sie schlummern, und schweigen.« (III, 519–524) Wieland, der Apologet Bodmers, kommentiert diese Verse im Noah folgendermaßen: Ich glaube, die Leser werden sich hiebey der Stelle des göttlichen Gedichtes erinnern, welche zu diesem Anlas gegeben. Was im Messias ein Gleichniß ist, ist hier als eine würkliche Begebenheit erzählet. Wenn ich der Erfinder dieser Vorstellung wäre, so würde ich dem Dichter des Noah gar sehr danken, daß er sie so verschönert, und in einen so vortreflichen Zusammenhang gebracht.190

Demzufolge hat Wieland die poetologischen Grundsätze Bodmers völlig verinnerlicht. Er setzt die poetische Erfindung Klopstocks gegenüber der ›verschönernden‹ Einbettung in einen »vortreflichen Zusammenhang« durch den Noah-Dichter herab. Aus einem exkursartigen Einschub des epischen Sängers im 8. Gesang des Noah geht deutlich hervor, dass das größte Vorbild des Züricher Poetikers nicht Milton war, sondern Klopstock, dessen Messias er in den 1750er Jahren als deutsches Nationalepos anpries: 190 Christoph Martin Wieland: Abhandlung von den Schönheiten des Epischen Gedichts Der Noah. In: [Ders.:] Gesammelte Schriften. Hrsg. v. der Deutschen Kommission der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Erste Abteilung: Werke. 3. Bd.: Poetische Jugendwerke. 3. Teil. Hrsg. v. Fritz Homeyer. Berlin 1910. S. 299–518, hier S. 439.

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Leider! ein Tag wird kommen, der Miltons erhabne Gedichte Auch mit Vergessen bedeckt, die ewig zu leben verdienen. Dieser Tag wird kommen, eh an des Weltgerichts Abend Himmel und Erde vergehn; Sie werden die Priester des Unsinns Ihrem unsinngen Anarche nach langer Arbeit aufopfern: Aber der Nachwelt Lastern, noch ihrem anarchischen Götzen, Wird es gelingen, die hohen Gesänge vom Blute des Bundes Vor der Auflösung der Erd’ in den Staub des Vergessens zu werfen; Denn Gott wird dem Beschützer der Erd’, Eloa, befehlen, Daß er sie vorm Verderben auf seinen Flügeln bewahre. (8. Gesang, V. 205–214)

In diesen hymnischen Versen schildert der epische Erzähler, dass das Paradise Lost Miltons letztlich der Vergessenheit anheimfallen wird, jedoch das ›heilige Gedicht‹ Klopstocks die Zeiten überdauern wird. In Bodmers Patriarchade finden sich immer wieder intertextuelle Referenzen auf das Bibelepos Klopstocks. So spielt der Dichter etwa im folgenden Vergleichsbild auf die Judasgeschichte im Messias an: »Denn der Komet zog die Meer’, indem er über dem Erdball j Seinen Körper ausdähnte; wie Satan zum nahen Verderben j Ueber Ischariots Haupt verbreitet stand, das Verbrechen j In sein Gehirn zu legen, daß er den Messias verriethe.« (8. Gesang, V. 498–501) Auch hierin lehnt sich Bodmer eng an die Verse Klopstocks an: »So kam über Ischariot Satan zum nahen Verderben, j Goß dann einen verführenden Traum in sein offnes Gehirne.« (III, 556f.) Der Noah-Dichter übernimmt zudem die berühmteste Engelfigur aus dem Messias Klopstocks: Abdiel Abbadona. Somit zieht sich die Abbadona-Episode durch mehrere Gesänge des Bibelepos Bodmers (5. Gesang, V. 655, V. 667–682; 8. Gesang, V. 634–762; 10. Gesang, V. 780– 975; 11. Gesang, V. 90–106). Die wesentlichen Charakterzüge des gefallenen Engels im Noah stimmen mit seiner Darstellung im Messias überein. Eingeführt wird Abdiel Abbadona als einer »der Alter durch im gefalteten Blatte gelegen, j In sein Elend vertieft, ihm nagt’ ein Wurm an der Seele;« (5. Gesang, V. 668f.). Er ist »Satans Hasser, weil der ihn in seinen Aufstand verführt hat« (5. Gesang, V. 670; vgl. II, 669). Von Satan und »allen Geistern des Abgrunds« werde er »übel gehasset, j Weil er den Unsinn wider die ewige Weisheit und Allmacht j Ihnen mit unannehmlicher Freyheit zum öftern verwiesen« (5. Gesang, V. 671–673). Überdies heißt es im 5. Gesang des Noah über den reuevollen Teufel: Dieser war nicht auf Erde gekommen, um Unglück zu brüten, Glücklich, verbürg’ ihn das Blatt den Engeln, Gott, und ihm selber ; Sein unermeßliches Elend zu denken war alles sein Denken. Aber wiewol sein eigener Jammer so drückend auf ihm lag, Weint’ er doch ehmals, so sagt das Gerücht, auch über die Menschen, Als aus Eden zurück der Erzrebelle die Post bracht, Wie er durch einen Apfel das erste paar Menschen gefället. (5. Gesang, V. 674–680)

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Als die Giganten mit einem von den Höllenbewohnern gebauten fliegenden Schiff das Paradies stürmen wollen, das auf einem Berg liegt, fängt der Seraph Raphael auf Befehl Gottes alle Dämonen mit einem »himmlischgestrikete[n] Netze« (5. Gesang, V. 667) ein, »versiegelt das Garn […] j Mit dem Petschaft der Allmacht« (5. Gesang, V. 683f.) und versenkt es in die Südsee. Einzig Abbadona wird die Freiheit geschenkt und er fliegt »in die Anden des Mondes« (5. Gesang, V. 682). Im 8. Gesang schwimmt unter den Menschen und Tieren, die in der großen Flut ertrinken, »auch einer vom Rang und höhern Ansehn der Engel; j Aber der Engel, die wegen des Falls der Himmel entbehret« (8. Gesang, V. 636f.). »Abbadona der traurige Geist war dieser Elende«, der »daselbst mit unselger Begier zu sterben verlangte« (8. Gesang, V. 638f.). Er leidet an Seelenqualen und beginnt eine »ungeheure verzweifelte Klage« (8. Gesang, V. 644): Unter des Ewigen Zorn gedrückt seyn, ihn fühlen und leben, Das ist ein Tod, nebst welchem der Tod der Menschen ein Stich ist, Der, so bald nicht gefühlt, vorübergeht. Söhne der Menschen, Was für glückliche Sünder seyd ihr! Nicht darum alleine, Daß euch vom Fall zu erstehn durch einen Versöhner gegönnt ist, Sondern daß euch der Tod gegönnt ist, der mindstens die Helfte Von euch vertilgt, und in Jahrhunderte Schlafes euch senket. Auf mir lieget die längste Nacht, und schleusset kein Auge, Nicket mit keinem Lid, von gleich langen Tagen gefolget! (8. Gesang, V. 645–653)

Er jammert, dass er »[k]einen Versöhner« erwarten könne, der von ihm »den Zorn des Ewigen« wälzen würde (8. Gesang, V. 657). Jedoch hofft er auf »einen Fürsprecher«, obwohl er weiß, dass niemand für ihn »um diese vertilgende Gnade« vor Gott bitten würde, auch »Abdiel« nicht (8. Gesang, V. 658, V. 660f.). Abbadona berichtet, dass Abdiel einst sein »Bruder« und »Freund« gewesen sei (8. Gesang, V. 662). In »einer wahnwitzigen Stunde« (8. Gesang, V. 663) sei er damals von Gott abgefallen und Satan gefolgt. Er wünscht sich nur, dass Gott jetzt dem »Wurm, der unsterblich [ihm] an dem Leben des Geists nag[e], j Schweigen hieß[e], und den feurigen Pfeil darinnen [auslösche]« (8. Gesang, V. 672f.). Seltsamerweise wünscht sich der bußfertige Teufel, von Gott in ein Tier oder in eine Pflanze verwandelt zu werden: O wie wollt’ ich die Gnade mit Strömen Dankes bekennen, Wenn er in seiner Schöpfung mich zu den schlechtesten setzte, Unter den Rang der Körper hinab, die Geister bewohnen, Zum Elephanten, in dem der letzte Funken Vernunft stralt, Oder zum Schwein, das schwach an Instinkt im Schlamme herumwühlt, Oder noch tiefer zur Raupe, die in die Puppe gehüllt ist, Oder, da diese Geburten der Schöpfung zu edel für mich sind, Wenn er mich tiefer als mit Instinkt begabete setzte, Nur zur brennenden Nessel, dem Fluch der Gärten und Felder ;

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Denn mich zur Blume zu schaffen, die mit dem riechenden Dufte Engel und Menschen erquickt, das wäre zu viel für mich fodern; Wenn er mich nur ins Fühlkraut verwandelte! Willig und freudig Wollt’ ich in jede Gestalt der leblosen Schöpfung mich bücken, Uneingedenk des vorigen Stands, und unbewußt meiner, Würde mit meiner Gestalt die Last des göttlichen Grimmes Von mir gewälzt, die mich in die unterste Hölle hinabdrückt, Oder zu mir die unterste Höll’ in die Auen des Lichts bringt. (8. Gesang, V. 674–690)

Wie im Messias bringt Abbadona auch im Noah wiederholt seine Todessehnsucht und seine Selbstmordgedanken zum Ausdruck. So bekennt er rückblickend: […] Der Hoffnungen schlimmste Hat mich auch verlassen, die Wolthat von ihm [Gott; I. G.] zu erhalten, Daß ich zerstört vergeh und in ein Unding zerfliesse. Fruchtlos hab’ ich versucht ins Leere des Abgrunds zu fallen; Aber ich fiel nicht, er stieß von seinem Rand mich zurücke; Als ein widriges Ding, wovor dem Chaos selbst grauet. (8. Gesang, V. 697–702)

Er wirft sich zwischen den Kometen und die Erde, um vernichtet zu werden, »allein sein reines ätherisches Wesen j Blieb unverletzt« (8. Gesang, V. 724f.). Trostlos verweist Abbadona auf »die Reue« und den »Schmerz«, die ihm »den Geist […] zermartern« (8. Gesang, V. 738, V. 740). Im 10. Gesang schwimmt der gefallene Engel wiederum unaufhörlich klagend in »der unreinen Flut«, unter »Aessern des Viehs, der Fische, der Vögel und Menschen, j Die unverfault noch schwammen« (10. Gesang, V. 780, V. 782f.). Plötzlich kommt »ein Seraph mit Allmacht umgürtet, j Wirbelwind gleich, faßt ihn an, und trägt ihn in den Saturnus« (10. Gesang, V. 811f.). »Abbadona j Fällt danieder betäubt in ungewöhnlicher Ohnmacht. j Zwanzig und sechsmal reiste Saturn um die Gränzen der Sonne, j Daß er da sonder Wissen und sonder Fühlen im Eis lag.« (10. Gesang, V. 816–819) Der epische Sänger berichtet, dass der gefallene Seraph »Aeonen« geschlafen und nach seinem Erwachen »aus dem Todesschwindel« (10. Gesang, V. 824, V. 822) die sündhaften Menschen auf der Erde und die gefangenen Dämonen in der Südsee beobachtet habe. Dann »schmiegt er die Gestalt in einen Punkten zusammen; j Setzt sich dann wieder geraum in einem gefalteten Blatte, j Wo er Jahrhunderte durch in heimlichem Grame vertrauert« (10. Gesang, V. 973–975). Für zeitgenössische Rezipienten, die die ersten Gesänge des Messias gelesen hatten, bot die Abbadona-Episode im Noah nicht viel Neues, da sich Bodmer eng an die Grundzüge der Darstellung des gefallenen Engels anlehnte. Außerdem gelang es dem Schweizer Epiker nicht, den pathetisch-erhabenen Sprachgestus Klopstocks in den ›herzrührenden‹ Reden Abdiel Abbadonas nachzuahmen. Irritierend sind auch Seltsamkeiten, wie der ständige Verweis auf den nagenden

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Gewissenswurm oder dass der Seraph in einem »Orangenblatt« (8. Gesange, V. 734) liegt und dass er in einen Elefanten, in ein Schwein oder in eine Nessel transformiert werden will. Japhet, Noahs Sohn, erhält im 2. Gesang des Noah von seinem Onkel Sipha als Geschenk einen […] Schoham mit blauen zirkelnden Adern, Wie ein fassendes Trinkgeschirr gegraben. Auswendig Um die bauchichte Wölbung von sanfterhabener Arbeit Kriecht nachahmend ein Wurm, er windet die lasurne Länge In triumphirenden Wellen nach einem nahen Gebüsche, Wo er die Frucht von seiner Verführung bemerket, und siehet, Wie das Weib sie auf ihren unzeitig Zärtlichen fortpflanzt. (2. Gesang, V. 34–40)

Es handelt sich hierbei um eine Ekphrasis (lat. ›descriptio‹)191, die die Verführung Adams und Evas durch Satan in Gestalt einer Schlange bildhaft veranschaulicht. Zugleich stellen diese Verse eine intertextuelle Referenz auf Miltons Paradise Lost dar. Bodmer zeigt als einziger Bibelepiker des 18. Jahrhunderts eine besondere Vorliebe für diese »poetische[.] Technik der Kunstbeschreibung«192. In den geschilderten Kunstwerken im Epos werden Poesie und Malerei miteinander verknüpft. In der klassisch-antiken Rhetorik gilt die ›enargeia [1m\qceia]‹ (lat. ›perspicuitas‹ oder ›evidentia‹) als spezifische Eigenschaft der Ekphrasis, d. h., die detaillierte Beschreibung eines Kunstwerkes sollte klar, deutlich und anschaulich sein.193 Die Visualisierung ist zudem gekoppelt mit der Hervorbringung von Affekten.194 Das »dargestellte Objekt« soll gewissermaßen »vor dem inneren Auge« des Rezipienten lebendig werden.195 Die berühmteste Ekphrasis ist die Schildbeschreibung in der Ilias Homers (18. Gesang, V. 478– 608).196 In Vergils Aeneis zeigt der Schild des Aeneas chronologische Einzelszenen aus der zukünftigen Geschichte Roms (8. Buch, V. 626–728). Im Argonautenepos des Apollonios von Rhodos wird der purpurne Mantel des Iason beschrieben (1. Gesang, V. 721–768), den Athena mit Stickereien verziert hat und 191 Vgl. [Art.] Ekphrasis. In: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Hrsg. v. Hubert Cancik und Helmuth Schneider. Abt. Altertum. Band 3. Stuttgart / Weimar 1997. Sp. 942–950. 192 Haiko Wandhoff: Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters. Berlin / New York 2003. (Trends in Medieval Philology ; 3.) S. 3. 193 Vgl. Fritz Graf: Ekphrasis: Die Entstehung der Gattung in der Antike. In: Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung: Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart. Hrsg. v. Gottfried Boehm und Helmut Pfotenhauer. München 1995. (Bild und Text.) S. 143–155, hier S. 145. 194 Vgl. ebd., S. 149. 195 Murray Krieger : Das Problem der Ekphrasis: Wort und Bild, Raum und Zeit – und das literarische Werk. In: Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung: Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, S. 41–57, hier S. 46. 196 Vgl. hierzu: Erika Simon: Der Schild des Achilleus. In: Beschreibungskunst – Kunstbeschreibung: Ekphrasis von der Antike bis zur Gegenwart, S. 123–141.

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auf dem Motive aus der griechischen Mythologie aufgereiht sind.197 In Statius’ Thebais werden zum einen eine Trinkschale (1. Buch, V. 539–551) und zum anderen der Kelch des Hercules (6. Buch, V. 531–539) visualisiert. Bodmer reiht sich mit seinen Ekphrasen im Noah somit bewusst in die epische Traditionskette ein. Im 7. Gesang der Patriarchade berichtet der epische Erzähler, dass Sem »ins mittlere Stockwerk« der Arche gegangen ist, um die Wände des dortigen Versammlungssaals »mit gewürkten Teppichen« zu schmücken, in die »die heiligen Oerter des Berges gesticket« waren und die »[m]it der mahlenden Nadel von Siphas Kindern entworfen« wurden (7. Gesang, V. 4–8). Als Sem allerdings den Saal betritt, sind dessen Wände und die Decke bereits mit Gemälden versehen, die von einem seraphischen Künstler stammen (vgl. 7. Gesang, V. 9–13, V. 32– 38). Der Sohn Noahs erkennt sofort, dass dort »die göttliche Kunst mit himmlischen Zügen« redete (7. Gesang, V. 12). Das Motiv der gewebten bzw. gewirkten Teppiche, mit denen die Wände der Arche verkleidet werden sollten, verweist auf eine alte Tradition: Bereits die »hellenistische Homerphilologie« verstand »das Weben als Metapher für Dichten«.198 Die textliche Grundlage hierfür bildete eine epische Szene in der Ilias, in welcher Helena auf einem Gewebe die Kämpfe der Troer und Achaier darstellt (3. Gesang, V. 125–128), d. h., in diesen Hexameterversen wird zugleich kurz die epische Handlung der Ilias Homers thematisiert.199 Nicht von ungefähr definiert Vergil in der Aeneis den Schild des Aeneas als »non enarrabile textum« (8. Buch, V. 625)200, wobei »textum« sowohl »Geflecht«, textiles »Gewebe« als auch »Text« bedeuten kann.201 Das zeitgenössische Vorbild für das Teppich-Motiv im 7. Gesang des Noah war Der grosse Wittekind in einem Helden-Gedichte (1724) von Christian Henrich Postel. Bodmer schreibt in seinen Critischen Betrachtungen über die poetischen Gemählde der Dichter (1741): »In Postels Wittekind wird uns ein Zimmer der Fatima beschrieben, das mit Teppichen von gewürckten historischen Bildern 197 Vgl. Antonios Rengakos: »Du würdest Dich in Deinem Sinn täuschen lassen«. Zur Ekphrasis in der hellenistischen Poesie. In: Die poetische Ekphrasis von Kunstwerken. Eine literarische Tradition der Großdichtung in Antike, Mittelalter und früher Neuzeit. Hrsg. v. Christine Ratkowitsch. Wien 2006. (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Sitzungsberichte; 735.) S. 7–16, hier S. 8f. und S. 11–16. 198 Christine Ratkowitsch: Das Gewebe in Claudians Epos De raptu Proserpinae – ein Bindeglied zwischen Antike und Mittelalter. In: Die poetische Ekphrasis von Kunstwerken. Eine literarische Tradition der Großdichtung in Antike, Mittelalter und früher Neuzeit, S. 17–42, hier S. 22. 199 Vgl. ebd., S. 22. 200 Publius Vergilius Maro: Aeneis. Lateinisch / Deutsch. Hrsg. u. übers. v. Gerhard Fink. Düsseldorf / Zürich 2005. (Sammlung Tusculum.) S. 386 (8. Buch, V. 625). 201 Ratkowitsch: Das Gewebe in Claudians Epos De raptu Proserpinae – ein Bindeglied zwischen Antike und Mittelalter, S. 22.

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umhangen war, derer Inhalt der Poet weitläuftig erzehlet.«202 Im fünften Buch des Grossen Wittekind von Postel heißt es über das Zimmer der Prinzessin Fatima im Schloss: »An den bedeckten Wänden j Sah man ein Kunst-Geweb’, in klugen Künstler-Händen j Aus Seid’ und Gold gewirkt […]« (5. Buch, V. 141– 143).203 Diese Ekphrasis Postels dient Bodmer in seiner kritischen Schrift als »Exempel« eines Vergleichs der »sinnliche[n] Kraft der Mahlerey mit der eben so lebhaften Stärcke der schildernden Poesie«.204 Der Schweizer Dichter erklärt in seiner Poetik, dass man »den poetischen Beschreibungen« den »Nahme[n] poetischer Gemählde« beilege, »weil sie nemlich der Phantasie die Sachen gantz sinnlich und sichtbar vorstellen, so ferne solches durch Worte möglich ist«.205 Die »Kunst Beschreibungen zu verfertigen« wird als »poetische Mahler-Kunst« bezeichnet.206 Den Stoff für die ›poetischen Wandgemälde‹ im 7. Gesang des Noah entnimmt Bodmer bemerkenswerterweise dem Messias Klopstocks. Der epische Sänger berichtet: »Zwanzig Geschichten erhellten den Saal in zwanzig Gemählden« (7. Gesang, V. 131). Neben dem Deckengemälde, das eine Darstellung des Jüngsten Gerichts ist (7. Gesang, V. 49–63), werden allerdings nur drei Wandgemälde beschrieben (vgl. 7. Gesang, V. 65–130). Zu Beginn der Niederschrift des Noah waren Bodmer ja nur die ersten drei Gesänge von insgesamt zwanzig Gesängen des Messias bekannt. In der ersten Ekphrasis wird der leidende Messias am Ölberg beschrieben (7. Gesang, V. 65–75), in der zweiten die Versammlung der Höllenfürsten (7. Gesang, V. 76–96) und in der dritten die zwölf Jünger Jesu (7. Gesang, V. 97–130). Es handelt sich hierbei um proleptische Ekphrasen, da darin zukünftige Ereignisse der christlichen Heilsgeschichte vorweggenommen werden. Den Noachiden fehlt das Verständnis für die in den Wandgemälden der Arche dargestellten Szenen, daher wird das Bildprogramm im 11. Gesang des Noah gedeutet (V. 61–166). Dort gibt der Erzengel Raphael dem Patriarchen Noah »den Schlüssel der lichten Rahmen«, d. h., er nennt ihm »Männer und Berg’ und Flüsse bey Nahmen« (11. Gesang, V. 40f.). Raphael offenbart sich zudem als »Mahler« im Auftrag Gottes: »[D]er Ewige hatte j Vor 202 Bodmer : CBGD, S. 50. 203 Christian Henrich Postel: Der grosse Wittekind in einem Helden-Gedichte. Mit einer Vorrede von [Postels] Leben und Schriften, auch zwey Registern der in diesem Werke enthaltenen Beschreibungen und Gleichnisse von C. F. Weichmann. Hamburg 1724. S. 107 (5. Buch, V. 141–143). Vgl. die Beschreibung der Teppichbilder, die die Wände und die Decke schmücken: Ebd., S. 107–111 (5. Buch, V. 147–200, V. 201–220, V. 221–288). Bodmer zitiert in seinen Critischen Betrachtungen über die poetischen Gemählde der Dichter nur folgenden Auszug aus der Ekphrasis Postels: 5. Buch, V. 147–180 (vgl. Bodmer : CBGD, S. 50f.). 204 Bodmer : CBGD, S. 50. 205 Ebd., S. 38. 206 Ebd., S. 40.

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des Seraphs Gesicht die Tage des Heilands gestellet, j Daß er sie in den Saal zum Labsal der Sterblichen mahlte.« (11. Gesang, V. 43–45) Noah erzählt seiner Familie in der Arche nunmehr die Geschichten, die auf den Wandgemälden abgebildet sind. Dadurch werden alle in »die selige Zeit der Ankunft des Heilands versetzet, j Die sie in den Gemählden schon gegenwärtig erblikten« (11. Gesang, V. 52f.). Das Innovative an der Ekphrasis in der Aeneis Vergils ist der dynamische Akt der Bildbetrachtung, d. h., der Leser folgt gewissermaßen Aeneas’ erstaunten Blicken.207 Bodmer ahmt das römische Vorbild nach und setzt somit die Noachiden als unwissende und textinterne Bildbetrachter ein: Ueber dem Anblick mit sanft durchfahrendem Wunder betreten Flatern sie über den Glanz der Tafeln mit schweigenden Augen; Lenken dann allgemach die behutsam stehenden Blicke Auf ein absonderlich Stück, und spähens in stillen Gedanken. Ihnen fiel leicht im redenden Licht der Minen und Züge Jeden geheimen Trieb, und jeden Gedanken zu lesen: Aber in welches Alter der Welt die Leute gehörten, Welchem Stamme der Menschen sie angehörten, blieb ihnen Dunkel, wie mühsam sie in ihrem Gedächtnisse forschten. (7. Gesang, V. 39–47)

Der Noah-Dichter stellt in den drei Ekphrasen im 7. Gesang (V. 65–130) einfach Hexameterverse aus Klopstocks Messias zusammen, so dass man hier regelrecht von einem ›Zitatenmosaik‹ sprechen könnte. Dies zeigt sich beispielsweise in folgender Ekphrasis: Hier stieg mit Oelbäumen ein Berg in die Höh, an dem Gipfel Oben am ebnen Rand der neigenden Erde stand betend Ein Mann Gottes; nicht fernher von einem andern Gebirge Floß auf den Seher ein Glanz von Opfern, die dorten verbrannten; Um ihn verbreitet’ ein Oelbaum sein Kühl, sanftwebende Lüfte Wehten Erquickung auf sein ermüdetes Antlitz. Am säuseln Einer krystallenen Quell erwies sich ein Seraph geschäftig, Ihm vom zartesten Moos ein landhaftes Lager zu sammeln; Um und um mahlte die Hügel ein sanft aufdämmernder Abend. Indem der Seher vor Gott anbetete, theilten sich Hoheit, Ernst und Erbarmen und Still’ in seine geheiterten Minen. (7. Gesang, V. 65–75)

In dieser poetischen Kunstbeschreibung wird der Inhalt einer epischen Szene aus dem I. Gesang des Messias zusammengefasst. In der Erstfassung von 1748 heißt es im Bibelepos Klopstocks: »Von da [Jerusalem; I. G.] erhub sich der Mittler zur obersten Spitze des Berges. j Indem umgab ihn vom hohen Moria ein 207 Vgl. Wandhoff: Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters, S. 54.

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Schimmer der Opfer, j Die den ewigen Vater noch itzt vorbildend versöhnten.« (I, 49–51208 ; vgl. Noah, 7. Gesang, V. 65–68) Anschließend berichtet der epische Sänger : »Um und um nahm ihn [den Messias; I. G.] der Ölbaum ins Kühle. Gelindere Lüfte, j Gleich dem Säuseln der Gegenwart Gottes, umflossen sein Antlitz.« (I, 52f.209 ; vgl. Noah, 7. Gesang, V. 69f.) Der Seraph Gabriel fragt den betenden Erlöser : »Oder verlangt dein ermüdeter Leib nach seiner Erquickung? j Soll ich zu deinem unsterblichen Haupt ein Lager bereiten?« (I, 62f.210 ; vgl. Noah, 7. Gesang, V. 70) Zudem sagt der dienende Engel: »[…] Beym Grabmal der Seher j Wächst dort unten das ruhige Moos im kühlenden Erdreich. j Soll ich hieraus, o Göttlicher, dir ein Lager bereiten?« (I, 65–67211; vgl. Noah, 7. Gesang, V. 70–72) Der epische Erzähler bemerkt einige Verse später : »Um und um lagen die Hügel in lieblicher Abenddämmrung« (I, 79212 ; vgl. Noah, 7. Gesang, V. 73). Und vom Messias heißt es, dass er »voll Ernst auf der Höhe des Bergs am benachbarten Himmel« stand (I, 71).213 »Gott war daselbst. Hier betet er. […]« (I, 72)214 Außerdem berichtet der epische Sänger : »[…] und in seinem Antlitz war Hoheit, j Und erbarmender Ernst, und Seelenruh, als er vor Gott stand.« (I, 136f.)215 (Vgl. Noah, 7. Gesang, V. 74f.) Bodmer hat folglich in dieser Ekphrasis den Messias Klopstocks ›geplündert‹, sich allerdings auch bemüht, die entlehnten Hexameterverse kunstvoll miteinander zu kombinieren, um eine idyllische Szenerie zu schildern. In der Deutung dieses Wandgemäldes im 11. Gesang des Noah heißt es: O wie entbrandte die Andacht im Herzen der Männer und Frauen, Als sie hörten, der göttliche Mann im ersten Getäfel, Auf dem Rande des Bergs und an des Horizonts Hange, Der da betend stand, wäre das Heil, der Mittler der Menschen. Allda flössen die Segnungen Gottes in Worten des Lebens Aus dem Munde des Herrn; sie hörte lobpreisend der Himmel, Und die Erde, der sie unsterbliche Schöne versprächen. Jener Berg, von welchem ein Schimmer den Seher umfaßte, Wäre der hohe Moria, auf dem die Opfer verbrannten, Die schon im dunkeln Vorbild den ewigen Vater versöhnten. Gabriel wäre der glänzende Seraph, der neben dem Säuseln Eines krystallenen Quells sich sorgsam erwies, dem Messias Von dem zartesten Moos ein landhafts Lager zu sammeln, 208 209 210 211 212 213 214 215

Klopstock: DM 1748, S. 8f. (I, 49–51). Ebd., S. 9 (I, 52f.). Ebd., S. 9 (I, 62f.). Ebd., S. 9 (I, 65–67). Ebd., S. 10 (I, 79). Ebd., S. 9 (I, 71). Ebd., S. 9 (I, 72). Ebd., S. 12 (I, 136f.).

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Der zu ihm sagt’: O was für ein Werk ermüdender Arbeit Hast du zum Heil der Menschen auf dich, Erlöser, genommen? (11. Gesang, V. 61–75)

Auch in den letzten beiden Versen dieser epischen Szene ahmt Bodmer zwei Hexameter aus dem Messias nach. So bemerkt der Seraph Gabriel im I. Gesang Klopstocks: »Wie ist dein Leib, o Erlöser, ermüdet! Wie vieles erträgst du j Hier auf Erden aus brünstiger Liebe zum Menschengeschlechte!« (I, 68f.)216 Dasselbe ›kompilierende‹ Verfahren findet sich auch in den beiden anderen Ekphrasen im 7. Gesang und in deren Deutung im 11. Gesang des Noah. Beispielsweise erkennen die Noachiden im dritten Wandgemälde einen, »der an dem Berge heraufkam« (7. Gesang, V. 124): Ihm fiel lockigt und schwarz das Haupthaar über die Schultern, Ueber die Häupter der andern erhob ansehnlich sein Haupt sich: Aber in einem Zuge des Angesichts krümmte sich Unruh, Und in dem andern schlich unedles unter dem edeln. Auf ihn lauerte seitwerts in einer Höle verborgen Einer, seraphischen Ansehns, doch mit versengetem Glanze. (7. Gesang, V. 125–130)

Bodmer griff hierfür auf folgende Verse aus der Erstfassung des Messias von 1748 zurück, die er entlehnte und teils etwas umformte: III, 374–381, 543–546.217 Noah deutet im 11. Gesang diese Einzelszene der Ekphrasis folgendermaßen: Alle [die Jünger Jesu; I. G.] sind Söhne der Unschuld, zum Adel der Tugend gebohren; Nur ein einziger nicht, der den Mittler zu lieben verlernt hat. Jener mit breiten Schultern, mit schwarzem, lockichtem Haupthaar, Der am Berge heraufkömmt, der unglückselige Judas. Der dort seitwärts in jener verwachsnen Höl’ auf ihn lauert, Ist der König der Hölle, bemüht zu Judas Verderben. Bald, wenn er sorglos schläft, wird Satan verführende Bilder In das Gehirn ihm schildern, Begierden in ihm zu entzünden, Daß er den Mann, durch den wir versöhnt sind, den Gottmensch, verrathe. Und er wird ihn verrathen, – ach einer von meinen Nachkommen Wird den Messias verrathen! […] (11. Gesang, V. 132–142)

Der Patriarch erweist sich überdies in dieser epischen Szene als Bildbetrachter, der sich von der lebendigen Darstellung affizieren ließ. Zugleich wird hier auf den weiteren Verlauf der Judasgeschichte im Messias angespielt (vgl. Kap. 4.6). Den zeitgenössischen Rezipienten, die die ersten drei Gesänge von Klopstocks Messias wiederholt gelesen und zahlreiche Verse daraus auswendig gelernt hatten, boten die poetischen Kunstbeschreibungen im Noah inhaltlich nichts Neues. Die Funktion dieser ›poetischen Gemälde‹ in der gelehrten Patriarchade Bodmers war sicherlich der ausdrückliche Verweis auf den bibel216 Ebd., S. 9 (I, 68f.). 217 Ebd., S. 89 (III, 374–381) und S. 96 (III, 543–546).

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epischen Mustertext: den Messias Klopstocks. Vermutlich handelte Bodmer auch aus »literaturpolitischen Motiven«, insofern wäre der Noah als eine Art »Werbeschrift« für das biblische Heldengedicht Klopstocks anzusehen, das im ›Literaturstreit‹ Mitte des 18. Jahrhunderts stark kritisiert wurde.218 Bodmers Begeisterung für Dantes Divina Commedia, die im Paradiso als »heiliges Gedicht« – »lo sacrato poema« bzw. »il poema sacro« (Canto XXIII, V. 62; Canto XXV, V. 1)219 – bezeichnet wird, kommt nicht nur in seinen poetologischen Schriften (vgl. Kap. 2.2), sondern auch in seinem biblischen Heldengedicht von 1752 zum Ausdruck. Der Patriarchadendichter ahmt im 12. Gesang des Noah die Ugolino-Episode220 aus Dantes Inferno (Canto XXXII, V. 124–139; Canto XXXIII, V. 1–90)221 nach. Der epische Sänger erzählt in diesen Versen folgende Geschichte: Nach dem Rückgang der Sintflut und dem Verlassen der Arche betritt Sem in Thamista, der ehemaligen Stadt der Riesen, eine von außen verschlossene Pyramide. In einem der Zimmer findet er »[d]reyssig gigantische Leichen« und »ein langes gerolletes Fell auf einem Dreyfusse«, auf dem mit einem »Schreibepinsel« folgende Worte »gemahlet« sind (12. Gesang, V. 501– 503): Fährt die Hand des entrüsteten Gottes vor einigen Menschen Schonend vorbey, und heißt die Fluten nicht alle verschlingen; O so wollte sie Hadad mit seinem Beyspiel verwarnen. Hadad, der Hadadim Vater, ein weitgefürchteter Nahmen, Weil er dem Tod die Marter erfand, die Menschen zu zwingen, Daß sie Schüsseln mit Speisen nach Schüsseln mit Speisen verschlüngen, Bis ihr Eingeweid berstend zersprang, sein Scherz und Gelächter! (12. Gesang, V. 504– 510)

Sem findet demnach den schriftlichen Bericht Hadads, dessen Inhalt der epische Erzähler enthüllt (vgl. 12. Gesang, V. 504–584). Die »verhungerten Körper« (12. Gesang, V. 585) Hadads und der Hadadim zeigen, dass es sich offenbar um eine spiegelnde Strafe handelt. Das Unrecht, andere Menschen zum Essen zu zwingen, bis diese schließlich buchstäblich platzten, wird somit vergolten.

218 Bernd Auerochs: Die Entstehung der Kunstreligion. Göttingen 2006. (Palaestra. Untersuchungen aus der deutschen und skandinavischen Philologie; 323.) S. 166. 219 Dante Alighieri: Die göttliche Komödie. Italienisch und deutsch. Übersetzt von Hermann Gmelin. 3. Teil: Das Paradies. 3., unveränderte Aufl. Stuttgart 1991. S. 274 (Paradiso, Canto XXIII, V. 62), S. 294 (Paradiso, Canto XXV, V. 1). 220 Vgl. hierzu: Semlitsch: J. J. Bodmers Noachide, S. 69–73. 221 Dante Alighieri: Die göttliche Komödie. Italienisch und deutsch. Übersetzt von Hermann Gmelin. 1. Teil: Die Hölle. 3., unveränderte Aufl. Stuttgart 1988. S. 384–395 (Inferno, Canto XXXII, V. 124–139; Canto XXXIII, V. 1–90).

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Hadad berichtet, dass er und seine dreißig Söhne beim Hereinbrechen der Sintflut in die Pyramide geflüchtet seien, die den Wassermassen standhielt. Nach endlos langen Tagen habe er einen prophetischen Traum gehabt: […] Ich sah die zerborstenen Menschen In den Gestalten des Tods, die ich oft mit scherzen beschauet, Aus den Gräbern hervorgehn, ich floh vor den magern Gespenstern, Meine Söhne flohn mir an der Seite; sie jagten uns hetzend Mit Gerippen von Hunden und magern beissenden Wölfen. Aber wir flohen zu schwach; sie erreichten uns bald und sie rissen Uns die Bäuch’ auf. […] (12. Gesang, V. 521–527)

Als Hadad aus diesem Albtraum erwacht, hört er seine Söhne im Schlaf weinen und um Brot betteln (12. Gesang, V. 528f.). In einer Apostrophe wendet sich Hadad an den Leser Sem und damit auch an die Rezipienten des Noah: »Zwar ich bin grausam gewesen, jedoch du wärest auch grausam, j Wenn der schwarze Gedanke dich nicht mit Mitleid erfüllte, j Was mir damals vom künftigen Tag für Ungefäll ahnte. j Wenn dich nicht das zum Mitleid bewegt, was bewegt dich zum Mitleid?« (12. Gesang, V. 530–533) Anschließend schildert Hadad den qualvollen Hungertod seiner dreißig Söhne und wie er selbst zum Kannibalen wurde: Itzund waren sie auch erwacht, und sahn sich nach Speis’ um. Aber auf unserm Tisch war der Mangel niedergelegen, In der Hyäne Gestalt, ein schwarzer häßlicher Hüter. Indem hört’ ich die Stimme des Donners in wälzenden Fluten, Sah dann meinen Söhnen ins Antlitz, doch sagt ich kein Wort nicht; Weint’ auch nicht; wie konnt ich? Mein Herz war steinern. Sie weinten; Lothan, mein Jüngster, keucht’ und sagte: Mein Vater, was hast du, Daß du so scharf siehst? Doch weint’ ich nicht, und sagte kein Wort nicht. Itzo wandt ich von ihnen das Aug’ und griff nach dem Pinsel, Meinen tiefeingesessenen Jammer zu schreiben. Die Stunden Traten vor mich mit schwerem Tritt erscheinender Todten, Eh ich mich wieder erkühnte den Blick nach ihnen zu werfen. Als ich sie wieder anschaut’, und in dem Antlitz der dreyssig Meine Hungergestalt erblickte, so biß ich vor Wehmuth Mich in den Arm. Sie dachten, ich thäts aus Begierde zu essen, Standen schnell auf, und sagten: Uns wirds ein kleinerer Schmerz seyn, Vater, wenn du uns issest. Mit diesem unseligen Fleische Kleidetest du uns, du hast ein Recht es uns wieder zu nehmen. Ich verschlang die Schmerzen, damit ich ihr Leiden nicht mehrte; Immerhin stumm, der Kummer verschloß die Lippen. Die Stunden Kamen und wichen, die wir nicht kommen noch weichen bemerkten, Für uns wars eine lange Nacht, die niemals der Morgen, Niemals der Abend verjagte; denn beyde, Morgen und Abend, Brachten nichts bessers mit sich; sie hatte, die Schenkel verbreitet, Auf die Brust sich gelegt, und drückt’ uns unter ihr nieder.

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Mühsam schleppt’ ich mich nach der Thüre, die Flut einzulassen, Warum sollten wir warten, bis uns der Hunger verzehrte, Da die draussen die Flut ertränkt, und nicht lange gemartert, Und ohn ein Ufer das Meer die hohe Thamista bedecket! Aber die Riegel hielt fest die strafende Hand des Gerichtes, Und von aussen lag auf der Thüre die Last des Gewässers. Damals fiel Basan nieder zu meinen Füssen, und sagte: Vater, du kannst mir nicht helfen; du hättest mir sonst schon geholfen. Basan starb. Ihm folgete Jedlaph, und diesem Hasupha. Nachgehnds sah ich den vierten, und folgends die übrigen alle, Einen nach dem andern bis aus den letzten der drehssig [!] Todt niederfallen; ich rief den Todten, als ob sie noch lebten; Warf vom Jammer besiegt mich schleppend von einem zum andern. Sinnenbetäubt, mit schwindlichtem Haupt, und rasend vor Hunger, Aß ich von ihrem Fleisch; doch als ich wieder zu mir kam, Flucht’ ich mir selbst und dem Tag, an welchem Hadad ein Mensch ward: Ueber ihm möge sein Feuergezelt der Orchus aufschlagen, Nach ihm frage nicht Gott, und zähl’ ihn nicht unter den Tagen, Mit ihm vergehn die Tag’ und Jahre der Wollust und Bosheit, Die ich Satan gedient, und Satans Knechte, dem Dagon, Mit dem Gemüth von Gott entfernt und auf Sünden gewendet! Aber der Fluch ist umsonst, er würde vielmehr mir zur Rettung; Gleich umsonst die Reue; sie blieb verhärtet zurücke, Als die Langmut sie rief, und büßt nicht meine Verbrechen, Bessert nicht Jahrhunderte Laster mit Jahren der Tugend, Denn mein Leben ist aus, zum Guten und Bösen verlohren. (12. Gesang, V. 534–584)

In der Hadad-Episode im Noah (12. Gesang, V. 490–584) imitiert Bodmer detailgenau den gesamten Aufbau von Dantes Ugolino-Episode in der Divina Commedia, d. h., es finden sich durchgehend wörtliche und inhaltliche Parallelen. So hat auch Ugolino, eingesperrt im Hungerturm von Pisa, den prophetischen Albtraum einer Hetzjagd (Inferno, Canto XXXIII, V. 28–36; vgl. Noah, 12. Gesang, V. 521–527). Als er gleichfalls aus dem Angsttraum erwacht, hört er seine Kinder im Schlaf weinen und nach Brot verlangen (Inferno, Canto XXXIII, V. 37–39; vgl. Noah, 12. Gesang, V. 528f.). Ugolino appelliert an Dantes Mitleid (Inferno, Canto XXXIII, V. 40–42; vgl. Noah, 12. Gesang, V. 530–533). Hadad hört »die Stimme des Donners in wälzenden Fluten«, blickt seinen Söhnen »ins Antlitz«, sagt selbst kein Wort, weint auch nicht und sein Herz wird zu Stein (12. Gesang, V. 537–539). Ugolino hört, wie unten das Tor des Hungerturms vernagelt wird, richtet seinen Blick auf die Gesichter seiner Söhne; der Vater schweigt, weint nicht und versteinert innerlich (Inferno, Canto XXXIII, V. 46–49). Die Hadadim weinen und Lothan, der jüngste Sohn Hadads, fragt: »Mein Vater, was hast du, j Daß du so scharf siehst?« (12. Gesang, V. 540f.) Die Kinder Ugolinos vergießen ebenfalls Tränen und der kleine Anselmuccio fragt: »Du schaust so,

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Vater, fehlt dir etwas?« (»Tu guardi s', padre! che hai?«)222 (Inferno, Canto XXXIII, V. 51) Hadad gibt keine Antwort und weint nicht, ebenso Ugolino (Noah, 12. Gesang, V. 541; Inferno, Canto XXXIII, V. 52). Hadad beißt sich »vor Wehmuth« in den Arm, weshalb seine Söhne denken, er »thäts aus Begierde zu essen« (12. Gesang, V. 547f.). Ugolino beißt sich »vor Schmerz« (»per dolor«) in beide Hände, weswegen seine Söhne glauben, dass er dies aus Hunger tue (Inferno, Canto XXXIII, V. 58–60). Hadads Söhne sagen: »Uns wirds ein kleinerer Schmerz seyn, j Vater, wenn du uns issest. Mit diesem unseligen Fleische j Kleidetest du uns, du hast ein Recht es uns wieder zu nehmen.« (12. Gesang, V. 549–551) Ugolinos Nachkommen verkünden: »Vater, unser Schmerz wär kleiner, j Wenn du von uns würdst essen, denn du schenktest j Dies arme Fleisch uns, du sollst es auch nehmen.« (»Padre, assai ci fia men doglia j Se tu mangi di noi: tu ne vestisti j Queste misere carni, e tu le spoglia!«)223 (Inferno, Canto XXXIII, V. 61–63) Um den Kindern nicht noch mehr Kummer zu bereiten, schweigen die Väter (vgl. Noah, 12. Gesang, V. 552f.; Inferno, Canto XXXIII, V. 64f.). Hadad sieht, wie seine dreißig Söhne nacheinander sterben: »Damals fiel Basan nieder zu meinen Füssen, und sagte: j Vater, du kannst mir nicht helfen; du hättest mir sonst schon geholfen. j Basan starb. Ihm folgete Jedlaph, und diesem Hasupha. j Nachgehnds sah ich den vierten, und folgends die übrigen alle, j […] j Todt niederfallen […].« (12. Gesang, V. 565–570) Ugolino erzählt Dante, dass Gaddo sich ihm zu Füßen geworfen und gesagt habe: »Mein Vater, kannst du mir nicht helfen?« (»Padre mio, chH non m’aiuti?«)224 (Inferno, Canto XXXIII, V. 69) Und der Graf berichtet Folgendes: »So starb er [Gaddo; I. G.], und so wahr du mich hier siehest, j Sah ich die dreie nacheinander fallen j Am fünften und am sechsten Tag; ich selber, j Schon blind, begann um sie herumzukriechen. j Zwei Tage rief ich sie, als sie gestorben; j Dann war der Hunger stärker als die Trauer.« (»Quivi mor'; e come tu mi vedi, j Vid’io cascar li tre ad uno ad uno, j Tra il quinto d' e il sesto; ond’io mi diedi, j Gi/ cieco, a brancolar sopra ciascuno, j E due d' li chiamai, poi che fur morti: j Poscia, piF che il dolor, potH il digiuno.«)225 (Inferno, Canto XXXIII, V. 70–75) Der doppeldeutige, letzte Satz in der Ugolino-Episode Dantes lässt zumindest vermuten, dass Ugolino das Verbrechen der Anthropophagie begangen hat. Hadad bekennt im Bibelepos Bodmers: »[R]asend vor Hunger, j Aß ich von ihrem Fleisch […]« (12. Gesang, V. 572f.). Demnach hat der Noah-Dichter auch in der Hadad-Episode im 12. Gesang einen weiteren epischen Mustertext eines vorbildhaften Autors ›geplündert‹. Wieland kommentiert diese schrecklich-erhabene Episode im Noah folgender222 223 224 225

Ebd., S. 392f. (Inferno, Canto XXXIII, V. 51). Ebd., S. 392f. (Inferno, Canto XXXIII, V. 61–63). Ebd., S. 392f. (Inferno, Canto XXXIII, V. 69). Ebd., S. 392–395 (Inferno, Canto XXXIII, V. 70–75).

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maßen: »Der Dichter macht hier das entsetzlichste Gemählde, dessen die Einbildungskraft fähig ist. Es ist ohnmöglich ohne Schauer diese Erzehlung zu lesen.«226 Die Hadad-Episode sei das »Meisterstück einer abscheulichen Scene«.227 Zu den treuesten Lobrednern und Verteidigern des Noah-Dichters Bodmer im sogenannten ›Literaturstreit‹ Mitte des 18. Jahrhunderts zählten Wieland und Sulzer, die beide Streitschriften verfassten.228 Wieland verkündet am 19. Januar 1752 in einem Brief an Bodmer: »Wenn ich ›N o a h‹ , den ich mit Ungedult erwarte, haben werde, will ich meine Empfindung bey ihm, wie Herr M e i e r bey der ›M e s s i a d e‹ , aufschreiben […].«229 Am 11. April 1752 erklärt er dem Schweizer Professor: Es müste Ihnen ohne zweifel angenehm gewesen seyn, wenn Sie unbemerkt hätten gegenwärtig seyn können da ich den Noah das erste mal las, wozu ich einen Abend und einen Tag verwandte, und wenn Sie die Aufwallungen, die Veränderung der Minen, die Ausruffungen, und andere solche Zeichen eines gerührten und in die Sache selbst verwikelten Lesers an mir bemerkt hätten.230

Wieland beteuert, dass er künftig mit dem Noah seinen »Geist« und sein »Hertz erbauen und vergnügen werde«.231 Er schreibt zudem am 18. April 1752 in einem Brief an Johann Heinrich Schinz: »Ich lese zum zweytenmahl den Noah durch, und ich fühle den Einfluß recht stark den dieses Göttliche Gedicht in alle wohlbeschaffene Gemüther machen mus.«232 Und er fügt später Folgendes hinzu: »Die Charaktere dieses Gedichts und die vortrefliche aus Empfindungen abgezogene Moral die gleichsam die Seele davon ist, machen es mir unendlich schätzbar. Es wird beständig unter meinen wenigen Leibbüchern seyn.«233 Am 6. September 1752 behauptet er gegenüber Bodmer : »Der Noah gehört unter die seltenen Schriften welche desto beßer gefallen je öfter mann sie liest. Beym ersten Durchlesen fande ich hier und da Zweiffel ja gar Fehler, die bey dem 226 Wieland: Abhandlung von den Schönheiten des Epischen Gedichts Der Noah. In: [Ders.:] Gesammelte Schriften. Erste Abteilung: Werke. 3. Bd.: Poetische Jugendwerke. 3. Teil, S. 299–518, hier S. 509. 227 Ebd., S. 511. 228 Vgl. hierzu: Martin: Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert, S. 160–184 (Kap. IV 2: Wieland und die biblische Epik Bodmers). 229 Brief von Wieland an Bodmer, 19. Januar 1752. In: Wieland: BW I, Nr. 28, S. 32–37, hier S. 35, Z. 88–90. 230 Brief von Wieland an Bodmer, 11. April 1752. In: Wieland: BW I, Nr. 39, S. 60–65, hier S. 61, Z. 26–31. 231 Ebd., S. 61, Z. 25f. 232 Brief von Wieland an Schinz, 18. April 1752. In: Wieland: BW I, Nr. 42, S. 65–72, hier S. 65, Z. 3–5. 233 Ebd., S. 71, Z. 226–229.

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zweyten ganz verschwanden.«234 Im Jahre 1753 erscheint Wielands Abhandlung von den Schönheiten des Epischen Gedichts Der Noah, an der er von Mai 1752 bis April 1753 arbeitete.235 Er erklärt darin seinen Lesern: Die oft wiederhohlte Lesung des Noah hat mich mit so vielen vortreflichen und heilsamen Empfindungen seiner ungemeinen Schönheiten angefüllet, daß ich glaubte, ich würde ein nützliches Geschäfte thun, wenn ich diese aufschreiben und mit beyfälligen Anmerkungen und Betrachtungen erweitern würde.236

Wieland setzt sich im allgemeinen Teil seiner umfassenden Abhandlung mit der Handlung und den epischen Charakteren des Noah sowie mit dem Wunderbaren, der Schreibart und den Versen in dieser Patriarchade Bodmers auseinander. Im zweiten Teil fasst er den Inhalt der einzelnen Gesänge zusammen und zitiert daraus längere Textpassagen. Johann Georg Peter Möller (1729–1807) rezensierte Wielands Abhandlung von den Schönheiten des Epischen Gedichts Der Noah im November 1754 in den Freymüthigen Nachrichten von Neuen Büchern, und andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen.237 Der Schweizer Patriarchadendichter Bodmer wird von diesem Rezensenten offenkundig als bislang erfolgloser Nachahmer Klopstocks verstanden. Einleitend empfiehlt Möller den Lesern ausdrücklich die parallele Lektüre von Bodmers Noah und Wielands Abhandlung: Die Klopstockische Muse hatte schon einige Jahre ehe sie sich die Verehrung aller Leute von Geschmack und Zierlichkeit zuzog, die jetzt weder ein Professor durch Schimpfen noch ein Priester durch Beten vermindern wird. Doch diese Hochachtung sollte uns nun auch nicht, gleich einem Enthusiasmus, dahinreissen, und uns für das Schöne und Zärtliche in andern Gedichten unempfindlich machen. Das vortrefliche Gedicht des Herrn Bodmers, der Noah, wird noch von den meisten bisher mit einer Art von Geringschätzung angesehen, die es nicht verdienet, und die vielen kaum erlaubt hat, die ersten Gesänge desselben flüchtig durchzulesen. Ich bitte diese Herren, diese Epopee ganz zu lesen, und den Herrn Wieland dabey zu rathe zu ziehen, und ich überrede mich, daß sie die Stärke des Dichters erkennen, und da Ordnung und Schönheit be234 Brief von Wieland an Bodmer, 6. September 1752. In: Wieland: BW I, Nr. 83, S. 117–120, hier S. 117, Z. 15–17. 235 Am 14. Mai 1752 verkündet Wieland, dass er nunmehr »eine Abhandlung von den Schönheiten des Noah« schreibe. (Brief von Wieland an Bodmer, 14. Mai 1752. In: Wieland: BW I, Nr. 44, S. 72f., hier S. 73, Z. 12.) Der »Vorbericht« zu dieser Abhandlung von den Schönheiten des Epischen Gedichts Der Noah ist datiert auf den 8. April 1753. 236 Wieland: Abhandlung von den Schönheiten des Epischen Gedichts Der Noah. In: [Ders.:] Gesammelte Schriften. Erste Abteilung: Werke. 3. Bd.: Poetische Jugendwerke. 3. Teil, S. 299–518, hier S. 301. 237 [Johann Georg Peter Möller :] [Rez.:] Abhandlung von den Schönheiten des epischen Gedichts dem Noah, von dem Verfasser des Lehrgedichts über der Natur der Dinge. 1754. In: Freymüthige Nachrichten von Neuen Büchern, und andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen. 11. Jahrgang. XLV. Stück (6. Wintermonat [November] 1754). Zürich 1754. S. 353– 357.

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merken werden, wo auch manchmal die vernünftigsten Leser beym ersten Anblick Fehler zu sehen geglaubt haben, wenn sie auch gleich nicht in dem Maasse, wie Herr Wieland für seinen göttlichen Dichter sollten eingenommen werden.238

Der Kritiker macht zudem folgende richtige Feststellung: »Herr Wieland wird Bodmern hier der, der Addison dem Milton, und Meyer Klopstocken war.«239 Die Vorbilder für Wielands Noah-Abhandlung waren zum einen Addisons mehrteilige Rezension des Paradise Lost im Spectator (1712) und zum anderen Georg Friedrich Meiers Beurtheilung des Heldengedichts, der Meßias (EA 1749, 1752). Möller räumt außerdem in seiner Rezension in der Züricher Zeitschrift ein: »Es ist unstreitig, daß Herr Bodmer in diesem Gedicht eine grosse Kenntniß der Welt und des menschlichen Herzens zeiget, und daß er in Schildereyen und Bildern dem Homer mehr als der Poet des Meßias gleicht.«240 Von den zeitgenössischen Rezipienten wird der Verfasser des Noah in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stets mit dem Begründer der abendländischen Literatur, Homer, verglichen. So schreibt Wieland in seiner Abhandlung von den Schönheiten des Epischen Gedichts Der Noah: Wie wenn dieses Werk [Der Noah; I. G.] das einzige wäre das von unsrer Zeit in dieser eingebildeten Zukunft übrig bliebe, so wie Homers Schriften die einzigen Urkunden sind die uns das Alterthum seiner Zeit gelassen hat? In diesem Fall würde man aus diesem einzigen Werke einen sehr deutlichen Begriff von dem Zustande der Wissenschaften und Völker unsrer Zeit ziehen können, da dieses Gedicht mit der schönsten Blüthe der gesunden Philosophie angefüllt ist, und überall die Merkmale und den Charakter unserer erleuchteten und in Absicht der Künste und Wissenschaften vollkomnern Tage trägt.241

Bodmers Bibelepos wird folglich als ein Kompendium zeitgenössischen Wissens verstanden. Der Berliner Literaturkritiker Nicolai fällt in seinen Briefen über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland (1755) folgendes einprägsames Urteil über den Patriarchadendichter Bodmer und seinen sich angeblich anbiedernden Schüler Wieland, der nach Abschluss seiner Abhandlung über den Noah selbst ein Bibelepos mit alttestamentlichem Stoff verfasste (vgl. Kap. 5.2): – – – die Muse des Hrn. B o d m e r s ist eine betagte Matrone, die die Welt vergißt, weil die Welt sie vergessen hat, die beständig von der Kasteiung des Fleisches redet, und auf die böse verderbte Welt und die verschlimmerten Zeiten schilt. Die Muse des Hrn. 238 239 240 241

Ebd., S. 353. Ebd., S. 353f. Ebd., S. 355. Wieland: Abhandlung von den Schönheiten des Epischen Gedichts Der Noah. In: [Ders.:] Gesammelte Schriften. Erste Abteilung: Werke. 3. Bd.: Poetische Jugendwerke. 3. Teil, S. 299–518, hier S. 303.

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W i e l a n d s ist ein iunges Mädgen, das auch die Betschwester spielen will, und sich der alten Wittwe zu Gefallen, in ein altväterisches Käppgen einhüllet, welches ihr doch gar nicht kleiden will; sie bemühet sich eine verständige, erfahrne Mine anzunehmen, unter der ihre iugendliche Unbedachtsamkeit, nur gar zu leicht hervorleuchtet, und es wäre ein ewiges Spektakel, wann diese iunge Frömmigkeitslehrerin, noch wieder zu einer muntern Modeschönheit würde.242

Seinem fiktiven Briefpartner erklärt Nicolai: Ich bin mit Ihnen vollkommen überzeugt, daß der Plan und die Ausführung des N o a h einen ieden aufmerksamen und der Kunst des Tichters nicht ganz unkundigen Leser in Erstaunen sezzen muß, aber folgt hieraus nothwendig, daß er g e f a l l e n muß? Ich will gerne zugeben, daß das erhabene Genie des Hrn. B o d m e r s die treflichsten Bilder, die lebhaftesten Vorstellungen, die malerischsten Beschreibungen darin angebracht hat, und Sie thun mir Unrecht, wann Sie glauben, daß ich meine, daß Er auf einmahl ganz und gar gefallen sei; aber wie vielen Lesern wird es nicht unerträglich sein, sich in dem Vergnügen über edle Gedanken und andere poetische Schönheiten, durch beständige Unterbrechungen, von Tändeleien, von langweiligem Gewäsche, unerhörter Versification u. d. g. stören zu lassen; […].243

Von der neuen Kritikergeneration in Berlin wurde der Noah Bodmers offensichtlich als misslungene Nachahmung von Miltons Paradise Lost und Klopstocks Messias betrachtet. Nicolai beanstandet die »viel[en] niedrige[n], des Heldengedichts unwürdige[n], Tändeleien und nichtswürdige[n] Dinge«, die in die Patriarchaden eingeflochten worden seien, um »ein Gemählde lebhaft [zu] machen«.244 Er verweist zudem auf die zu schnelle Arbeitsweise der bibelepischen Nachahmer, die zu Fehlern führe: Es ist gewiß, daß die grosse Eilfertigkeit und die unerhörte Fruchtbarkeit dieser Herren, ein schlimmes Vorurtheil wider ihre Werke darbietet. H o r a z verlangte neun Jahre zu Ausarbeitung eines einzigen vollkommenen Gedichtes, und unsere Dichter liefern bei nahe in einem Jahre neun epische Gedichte, und behalten noch Zeit übrig; Solte eine so kurze Zeit zu Unternehmungen von so grosser Wichtigkeit wohl hinlänglich sein? Mich dünkt man siehet ihren Gedichten die Eilfertigkeit nur gar zu sehr an, mit der sie niedergeschrieben sind: […].245

242 [Friedrich Nicolai:] Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland. Berlin 1755. In: Friedrich Nicolai: Sämtliche Werke, Briefe, Dokumente. Kritische Ausgabe mit Kommentar. Hrsg. v. P.M. Mitchell, Hans-Gert Roloff und Erhard Weidl. Band 3: Literaturkritische Schriften I. Bearbeitet von P.M. Mitchell. Berlin [u. a.] 1991. (Berliner Ausgaben.) S. 53–160, hier S. 96 (7. Brief). 243 Ebd., S. 97. 244 Ebd., S. 101. 245 Ebd., S. 102.

564

Die Nachahmer Klopstocks

Die holprigen Hexameterverse und der sprachliche Stil im Noah und in den anderen kleineren Patriarchaden Bodmers, der kaum mit der ›herzrührenden Sprache‹ Klopstocks zu vergleichen ist, rechtfertigen eine derartige Kritik. Sulzer erweist sich in der Schrift Gedanken von dem vorzüglichen Werth der Epischen Gedichte des Herrn Bodmers (1754) als der entschiedenste Apologet des Noah-Dichters. Er beurteilt die Patriarchaden Bodmers nicht unter ästhetischen Gesichtspunkten, sondern er hebt vor allem den moraldidaktischen Nutzen hervor. In dieser apologetischen Schrift Sulzers von 1754 wird der Noah-Dichter stets mit dem klassisch-antiken Musterautor Homer verglichen. Angeblich ging dem Literaturkritiker nach der Lektüre der ersten Gesänge des Noah folgender Gedanke durch den Kopf: »Mir kam gleich zu Sinn, wie Homer von den Griechen und Römern als ein tägliches Handbuch gebraucht worden, woraus sie ihren Witz, ihre Exempel, ihre Klugheit und Sittenlehr schöpften.«246 Er spricht den Wunsch aus, dass »Bodmer der Homer der Deutschen werden möchte«, da er gleich gesehen habe, dass »sein Gedicht vor der Ilias oder Odissee [!] sehr merkliche Vorzüge« habe.247 Zur Darstellung der epischen Charaktere in den Patriarchaden Bodmers bemerkt Sulzer : Ich sehe den Noah, den Jacob und andre Helden meines Dichters nicht als theatralische Personen an, die in abgemeßnen Füssen und wollautenden Worten sprechen, um mein Ohr zu ergetzen, oder mich zur Bewundrung ihrer Kunst zu zwingen. Sie sind mir Prediger der Gottesfurcht und Rechtschaffenheit, erhabene Muster aller Tugenden, Exempel der Menschen.248

Die Argumentation Sulzers zeigt, dass die Handlung eines Epos offensichtlich in der Idealvorstellung eine Tugendlehre enthalten soll, um beim Lesepublikum die beabsichtigten Wirkungen zu erzielen: Ein episches oder Heldengedicht, erzält eine wichtige Begebenheit, in welcher die Würkungen der Vorsehung und die erhabensten Tugenden der Menschen sich im größten Licht zeigen. Wenn eine solche Begebenheit den Menschen mit den Reizungen der Dichtkunst vor Augen gemahlt werden, so wird das Gemüth des Lesers zu hohen Tugenden, deren Beyspiel es siehet, entflammt.249

Ein »gutes episches Gedicht« gehöre »unter die größten und wichtigsten Werke des menschlichen Verstandes und Fleisses«.250 Der »erste epische Dichter Homer« sei »durch seine Gedichte ein Lehrer der Vorwelt geworden«.251 Man 246 J.[ohann] G.[eorg] S.[ulzer]: Gedanken von dem vorzüglichen Werth der Epischen Gedichte des Herrn Bodmers. Berlin 1754. S. 3. 247 Ebd. 248 Ebd., S. 6. 249 Ebd., S. 9f. 250 Ebd., S. 11. 251 Ebd., S. 10.

Die gelehrte Patriarchade: Der Noah von Bodmer

565

habe seine Epen gebraucht, um den Jugendlichen und Männern »Religion, Tugenden und Sitten einzuflösen«.252 Sulzer ist davon überzeugt, dass Bodmer »die Pflichten eines weisen epischen Dichters vollkommen erfüllt habe«.253 Der Prototyp eines Epikers wird folgendermaßen definiert: Ein weiser epischer Dichter ist ein Hofmeister seiner Leser. Er führt sie auf die merkwürdigsten Schauplätze göttlicher und menschlicher Thaten. Er macht sie auf die besten Exempel aller Tugenden aufmerksam. Er ist ein angenehmer Begleiter auf der merkwürdigsten Reise, der alles, was er seinen Gefährten sehen läßt, mit den süssesten und einnehmendsten Erinnerungen begleitet.254

Die »Hauptabsicht« eines »epischen Dichters« müsse es sein, »erhabene und wichtige Exempel von Tugenden und Lastern seinen Lesern so vorzustellen«, dass diese »zur Nachahmung oder Vermeidung derselben« ermuntert würden.255 »Sein Verstand, sein Witz, seine Einbildungskraft, müss[t]en zum Dienst jener höhern Absicht angewendet werden.«256 Bodmer habe seine epischen Vorläufer hierin »weit übertroffen«.257 Er wolle nicht sagen, dass der Patriarchadendichter »seinen Plan besser ausgeführet habe als Homer oder Virgil« oder dass »sein poetisches Gemälde feiner gezeichnet und besser ausgearbeitet sey, als jener Meister ihre«, denn davon sei in seiner Schrift »gar nicht die Rede«.258 Es seien die »Anlage, der Inhalt und die Absicht der Bodmerischen Gedichte«, die diesen seiner Meinung nach »einen Vorzug über die unsterblichen Gesänge des Homers und Virgils« geben würden.259 Homer und Vergil hätten »offenbar keine höhere Absicht gehabt, als die bürgerlichen Sitten zu bessern, die politischen Tugenden auszubreiten, Künste und Wissenschaften beliebt zu machen«:260 Die Exempel, die sie ihren Lesern mit so unvergleichlicher Kunst vor Augen malen, sind Beyspiele der Tapferkeit, der Staatsklugheit, des Muths, der Standhaftigkeit und Geduld in Wiederwärtigkeiten und Gefahren, der Liebe zum Vaterland, der Freundschaft und Treu. Mit einem Worte alles zu sagen, ihre Moral ist eine bürgerliche Moral, die auf die äusserliche Ruhe und Wohlfahrt eines Staats abzielt. Von einer höhern Moral und Religion, deren Würkung sich auf die innere Besserung des Menschen und auf sein Schicksal jenseits des Lebens erstreckt, findet man kaum wenige Spuhren bey diesen Dichtern.261 252 253 254 255 256 257 258 259 260 261

Ebd. Ebd., S. 12. Ebd., S. 11. Ebd., S. 12. Ebd. Ebd., S. 13. Ebd. Ebd. Ebd., S. 13f. Ebd., S. 14.

566

Die Nachahmer Klopstocks

Die Ilias und die Odyssee könne man »für eine vollkommene Schule für den Heerführer, für den Regenten, den Gesetzgeber, und den Bürger halten«.262 Homer habe somit »ohne Zweifel der Welt mehr genüzt, als einige ganze Sekten der Weltweisen«, aber »wenn man etwas tiefer in die Angelegenheiten des Menschen« dringe, so werde »man bald sehen, daß die Bürger eines Staats Homerische und Virgilische Helden und Bürger, und dabey unglückliche Menschen seyn können«.263 Sulzer spielt hier offensichtlich auf das aufklärerische Ziel der irdischen Glückseligkeit des Menschen an, das seiner Meinung nach nur durch ein tugendhaftes, frommes Leben erreicht werden kann. Dieses christliche Tugend-Ideal wird laut dem ›Kunstrichter‹ in den Epen Bodmers thematisiert: Der Inhalt seiner Gesänge ist Religion, Ehrfurcht und Vertrauen auf das unendliche Wesen, Rechtschaffenheit des Herzens in allen möglichen Umständen des menschlichen Lebens, und kurz, alles, woran der menschlichen Natur nothwendig gelegen ist. Unsers Dichters Werke können also für eine Schule aller erhabenen Tugenden gehalten werden.264

Die »eigentlichen Helden« Bodmers, die »Erzväter«, seien »Männer, deren Hauptcharakter in der Gottesfurcht besteh[e]«.265 Der Noah wird demzufolge von Sulzer zum Erbauungsbuch deklariert:266 Aus eigener Ueberzeugung von dem unendlichen Werth der Religion und Gottesfurcht, wollte er [Bodmer ; I. G.] das seinige beytragen, die Menschen nach diesem einzigen Grund der Glückseeligkeit begieriger zu machen, und wo ich nicht sehr irre, so hat er von seiner edlen Absicht so viel erreicht, daß unsterbliche Lorbern auf ihn warten.267

Homer ist laut dem Kritiker ein ›poeta doctus‹, der in seinen Epen enzyklopädisches Wissen verarbeitet hat: »Die ganze Wissenschaft seines Weltalters liegt in seinen Gedichten verborgen. Der Künstler, der Philosoph, der Naturforscher, der Seefahrer, der Erdbeschreiber, alle finden darinn ihre Wissenschaft zu erweitern.«268 Bodmer habe allerdings auch hierin Homer übertroffen, wie er auch »an Hoheit seiner Moral überlegen [sei]«.269 Dies solle aber »nicht zum Nachtheil des unsterblichen Griechen gesagt seyn«, denn der antike Epiker sei »zu seiner

262 263 264 265 266

Ebd., S. 15. Ebd. Ebd., S. 16. Ebd., S. 22. Demgemäß bemerkt Sulzer : »Er [Bodmer ; I. G.] wollte mehr erbauen, als gefallen.« (Ebd., S. 23.) 267 Ebd., S. 24. 268 Ebd., S. 28. 269 Ebd.

Die gelehrte Patriarchade: Der Noah von Bodmer

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Zeit ein Wunder der Gelehrsamkeit« gewesen.270 Bodmer wird folglich dezidiert zum gelehrten Dichter erklärt: Es scheinet ihm von dem, was der ganze Umfang der Wissenschaften merkwürdiges in sich faßt, nichts entgangen zu seyn. Bald zeiget er sich als einen scharfsinnigen Naturforscher, dem die neusten Entdeckungen nicht nur bekannt, sondern gleichsam eigen sind; bald als einen erfahrnen Sternkündiger ; bald als einen tiefsinnigen Messer, oder einen verständigen Baumeister ; bald aber als einen erhabenen Weltweisen. Wer seine Gedichte mit Nachdenken ließt, dem wird der Kern der heutigen Wissenschaft, als im Vorbeygang bekannt.271

Beispielsweise habe der Noah-Dichter, indem er den Kometen als »eine würckende Ursache der Ueberschwemmung« angebe, »auf eine ausnehmende Weise gezeiget, wie bekannt ihm die Entdeckungen der Astronomie und Physik [seien]«.272 Die Patriarchaden Bodmers könne man daher auch »als Schätze von Erkenntniß« ansehen.273 Sulzer empfiehlt den Noah Bodmers stets sowohl als Erbauungsbuch als auch als enzyklopädisches Lehrbuch für die junge Generation. Dementsprechend erklärt er am 21. April 1750: »Ich sehe dieses Werk als ein Geschenk der Vorsehung an, jetzt und in künftigen Zeiten die Herzen junger Leute zur Tugend zu bilden, und ihnen Erkenntniß und edle Gesinnungen einzupflanzen. Meine künftigen Söhne und Töchter sollen es zu ihrer Encyclopädie machen.«274 Etwa zwei Jahre später, am 29. April 1752, schreibt er Folgendes in einem Brief an Bodmer : Die gegenwärtigen Zeiten werden Ihnen, wie ich schon merke, nicht überall Gerechtigkeit widerfahren lassen. Sie werden sich aber nicht fürchten, das Schicksal Homers und so vieler grossen Maler zu haben, die den hohen Tempel des allgemeinen Ruhms nur nach ihrem Tode bestiegen. Aber unsre Nachkommen werden Ihr Gedächtniß verehren; zärtliche Väter und Mütter werden es Ihnen danken, wenn sie einmal unter der Menge verderblicher Bücher ihren Söhnen und Töchtern ein Buch geben werden, daraus sie Wissenschaft, Geist, Geschmack und reizende Schönheiten, mit der ächtesten Tugend verbunden, werden lernen können!275

Bodmer hingegen äußerte sich am 16. Januar 1752 dergestalt über die negative Rezeption seines Noah: 270 271 272 273 274

Ebd. Ebd., S. 29. Ebd., S. 30. Ebd. Brief von Sulzer an Bodmer, 21. April 1750. In: Briefe der Schweizer Bodmer, Sulzer, Geßner, S. 131–134, hier S. 131. 275 Brief von Sulzer an Bodmer, 29. April 1752. In: Briefe der Schweizer Bodmer, Sulzer, Geßner, S. 174–176, hier S. 175f.

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Die Nachahmer Klopstocks

Meiner patriarchalischen Person wäre es gewiß unanständig; und doch wird man wol den Noah eines Mangels an Funken, wie die unbefestigten Kunstrichter reden, anklagen, weil er nicht so fanatisch entzückt wird. Die Jünglinge und die Alten mit Jünglingsgemüthern, wollen nur immer im Schwindel sein, und wenn sie nicht erschüttert werden, so klagen sie über Frost – […]. Für diese Leute hat das wirthschaftliche, patriarchalische Leben mit aller Tugend und Unschuld keinen Reiz. Ich bin aber über dieses Urtheil weg und will es gerne auf mir ersitzen lassen. Genug wenn Noah patriarchalisch und poetisch ist. Als ich den Noah zu schreiben anfing, wußte ich noch nicht mit der lebendigen Erkenntniß, daß alle Situationen der Gemüther und der Körper ihre recht poetischen Gesichtspunkte haben, ja nicht nur einen. Aber denselben zu entdecken, muß man selber in einer gewissen Gemüthsfassung stehen. Und zu dieser Fassung gehört ebenso viel Muße, Geduld und Phlegma als Hitze und Gährung.276

Von den enthusiasmierten Klopstock-Verehrern und glühenden Bewunderern des Messias wurde der ›trockene‹ Noah immerzu abgewertet. So macht Johann Christoph Stockhausen in seiner Sammlung vermischter Briefe (1766) deutlich, dass er zwar den Literaturkritiker und Poetiker Bodmer sehr schätze, aber den Schweizer Patriarchadendichter entschieden ablehne: In dem Noha [!] bemerke ich viele schöne Stellen, aber auch viele schlechte, und im Ganzen gefällt er mir nicht. Ich habe darum für den Verfasser nicht weniger Hochachtung, der gewiß die Regeln des Heldengedichts so gut verstehet, als jemand. Aber ein gutes Heldengedicht zu schreiben ist nicht jedermanns Ding, und die Vorsehung hat dieses Glück nur wenigen Sterblichen zugedacht, die öfters nicht so viele Regeln verstehen. Der Verfasser des Noha [!] ist ein grosser Kenner und Kunstrichter des Geschmacks: Lehrbücher und Kritiken sollte er schreiben; nur keinen Noha [!] mehr.277

Friedrich Gabriel Resewitz (1729–1806) berichtet Klopstock am 8. Oktober 1776 von seinen ersten Eindrücken beim Lesen des Noah, nachdem er zusammen mit einem unbekannten Freund den Messias intensiv studiert hatte: Von Wirkungen ihres Gedichts schwebt mir zwar noch manches dunkel vor, aber ich kann die Data nicht zusammen finden. Wollen Sie das mitrechnen, daß ich nebst einem Freunde Ihre ersten drey Gesänge […], ohne weiter was vom Inhalt vorherzuwißen, gleichsam verzehrt habe. Die neue Versart, der Ton, die Materie war uns schwer und fremd, wir konnten nur langsam und oft wiederholend lesen, aber wir lasen vom Abend bis zum Morgen unermüdet fort, und legten sie nicht eher aus der Hand, bis wir sie geendiget hatten. An den Noah gingen wir mit gleichen Erwartungen, lasen ihn auch

276 Brief von Bodmer an Heß, 16. Januar 1752. In: Zehnder: Pestalozzi, Nr. 6, S. 495–498, hier S. 496f. 277 Johann Christoph Stockhausen: Sammlung vermischter Briefe. Erster Theil. Wien 1766. S. 42.

Das märchenhafte Bibelepos: Der gepryfte Abraham von Wieland

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eine Nacht hindurch, aber durch einen seltsamen Contrast, weil wir gleich Anfangs in unsren Erwartungen betrogen wurden, unter beständigem Lachen.278

Der mit dem Messias Klopstocks konkurrierende Noah Bodmers, der aus insgesamt 9.962 Hexameterversen besteht, wurde folglich von den Zeitgenossen eher als enttäuschendes bibelepisches Projekt betrachtet.279

5.2

Das märchenhafte Bibelepos: Der gepryfte Abraham von Christoph Martin Wieland

Christoph Martin Wieland (1733–1813)280 erklärt im Frühjahr 1751 seiner damaligen Verlobten Sophie Gutermann in einem Brief: Die Dichtkunst ist unter den schönen Wissenschaften die schönste und edelste; Sie giebt allen übrigen Wißenschaften neue Annehmlichkeiten, und ist insonderheit das anständigste Kleid der Weltweisheit und Gottes-Gelahrtheit. Ja insofern ein Dichter (im eigentlichsten Verstande) eine Kentnis aller übrigen Wissenschaften besizzen soll; so 278 Brief von Resewitz an Klopstock, 4., 8. Oktober 1776. In: HKA, Briefe VII 1, Nr. 49, S. 56–58, hier S. 57, Z. 23–34. 279 Auch in der älteren germanistischen Forschungsliteratur wurde Der Noah Bodmers stets negativ bewertet: Franz Muncker ist der Meinung, dass dem Verfasser des Noah »die dichterische Begabung« gefehlt habe. (Muncker : Friedrich Gottlieb Klopstock, S. 164.) Bodmer habe sich vergebens bemüht, »den einfachen epischen Geist der Homerischen Dichtungen über sein Werk auszugießen«. (Ebd.) Dem Noah fehle es »noch weit mehr an Handlung« als dem Messias Klopstocks. (Ebd.) Die Patriarchade bestehe »vielmehr aus einer Reihe von Episoden, die bloß durch die Person Noahs zu einem Ganzen zusammengehalten« würden. (Ebd.) Jakob Baechtold beurteilt das Bibelepos Bodmers folgendermaßen: »Die Noachide ist hübsch in manchen Einzelheiten, als Ganzes mittelmäßig und unserm heutigen Geschmacke völlig entlegen. Episoden, vornehmlich die idyllischen, Beschreibungen, durch welche der äußern Armut des Stoffes begegnet werden soll, sind oft von einer Anmut, die man bei Bodmer nicht sucht. […] Handlung und Bewegung sind ungenügend, die Charakteristik flach oder gleich null: entweder ein Uebermaß des Guten oder des Scheußlichen, kaum ein Ansatz zu seelischen Konflikten; die Beschreibungen zu breit, die gehäuften Bilder und Gleichnisse, von denen das Gedächtnis des Dichters infolge ausgedehnter Lektüre geradezu strotzte, oft ebenso unglaublich kühn als geschmacklos. Noahs endlose Reiseberichte werden langweilig. Das Wunderbare schlägt gewöhnlich in das Abenteuerliche um. Die erstrebte homerische Einfalt artet zur Albernheit aus.« (Baechtold: Geschichte der deutschen Literatur in der Schweiz, S. 607.) 280 Vgl. zum Autor Christoph Martin Wieland allgemein: Friedrich Sengle: Wieland. Mit 23 Bildern und Beilagen. Stuttgart 1949. – Cornelius Sommer : Christoph Martin Wieland. Stuttgart 1971. (Sammlung Metzler ; 95.) – Sven-Aage Jørgensen / Herbert Jaumann / John A. McCarthy / Horst Thom8: Christoph Martin Wieland. Epoche – Werk – Wirkung. München 1994. – Klaus Schaefer : Christoph Martin Wieland. Stuttgart / Weimar 1996. (Sammlung Metzler ; 295.) – Michael Zaremba: Christoph Martin Wieland. Aufklärer und Poet. Eine Biografie. Köln / Weimar / Wien 2007. – Jutta Heinz (Hrsg.): Wieland-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart / Weimar 2008.

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Die Nachahmer Klopstocks

kan mann […] sagen, die Dichtkunst sey die schönste unter den Wissenschaften und verdiene den Beynahmen g ö t t l i c h mehr als alle andere. Die Dichtkunst ist es welche das Lob der Gottheit besinget, welche die Helden verewigt, und die Tugend auf späte Geschlechter fortpflanzet. Sie ahmet der Natur nach; Sie besizt die Schönheiten der Mahlerkunst und Musik vereinet […].281

Der junge Dichter stellt folglich die Poesie in den Dienst der Theologie.282 Bereits im Alter von 13 Jahren hatte der lutherische Pfarrerssohn aus Biberach ein Heldengedicht über die Zerstörung Jerusalems zu schreiben begonnen, das er allerdings nicht vollendete.283 Während seines Aufenthalts im pietistischen Schulinternat Kloster Berge bei Magdeburg (1747–1749) las er die ersten drei Gesänge von Klopstocks Messias.284 Im Winter 1749/1750 befand sich der inzwischen 16-Jährige in Erfurt und beschäftigte sich dort »mit einem epischen Gedichte«, von dem er »ein gutes Stük in deutsch. Hexametern anfieng«, es allerdings wieder verwarf, weil »das Sujet […] eine Götterfabel war«.285 In Tübingen erwarb Wieland später die »Hallesche Ausgabe« des Messias (1751), welche die ersten fünf Gesänge enthielt.286 Johann Gottfried Gruber, der als junger Kritiker den alten Dichter noch gekannt und sehr verehrt hatte, zitiert in seiner 1815/16 veröffentlichten Biographie folgende Worte Wielands: Mit solcher Gewalt […] hat kein anderer Dichter auf mich gewirkt, keiner so mein ganzes Gefühl in Anspruch genommen, mein ganzes Wesen gestimmt, und selbst […] auf meine Sprachdarstellung Einfluß gehabt, als K l o p s t o c k. Als ich den Messias las, – ich meine die fünf ersten Gesänge, – glaubte ich erst mich selbst zu verstehen, und mir 281 Brief von Wieland an Sophie Gutermann, zwischen Januar und März 1751. In: Wieland: BW I, Nr. 12, S. 13–16, hier S. 13, Z. 6–16. 282 Uwe Blasig betont ebenfalls, dass der junge Wieland die »Dichtkunst […] in den Dienst der Religion« gestellt habe. (Uwe Blasig: Die religiöse Entwicklung des frühen Christoph Martin Wieland. Frankfurt a. M. / Bern / New York / Paris 1990. (Helicon. Beiträge zur deutschen Literatur ; 10.) S. 153.) Vgl. hierzu auch: Sven-Aage Jørgensen: Der fromme Wieland. In: Zwischen den Wissenschaften. Beiträge zur deutschen Literaturgeschichte. Bernhard Gajek zum 65. Geburtstag. Hrsg. v. Gerhard Hahn und Ernst Weber. Regensburg 1994. S. 265–272. – Frank Baudach: Die Dichtungsauffassung des jungen Wieland. In: Dichtungstheorien der deutschen Frühaufklärung. Hrsg. v. Theodor Verweyen in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Kertscher. Tübingen 1995. (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung; 1.) S. 187–199. 283 Vgl. hierzu: Johann Gottfried Gruber : Christoph Martin Wieland. Erster Theil. Leipzig / Altenburg 1815. S. 4. – Thomas C. Starnes: Christoph Martin Wieland. Leben und Werk. Aus zeitgenössischen Quellen chronologisch dargestellt. Band 1: »Vom Seraph zum Sittenverderber« 1733–1783. Sigmaringen 1987. S. 4. – Schaefer : Christoph Martin Wieland, S. 6. 284 Vgl. den Brief von Wieland an Bodmer, 6. März 1752. In: Wieland: BW I, Nr. 35, S. 45–52, hier S. 50, Z. 169f. – Vgl. Schaefer : Christoph Martin Wieland, S. 7. 285 Brief von Wieland an Bodmer, 6. März 1752. In: Wieland: BW I, Nr. 35, S. 45–52, hier S. 51, Z. 179–181. 286 Vgl. Blasig: Die religiöse Entwicklung des frühen Christoph Martin Wieland, S. 141.

Das märchenhafte Bibelepos: Der gepryfte Abraham von Wieland

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war immer als fände ich hier erst ausgesprochen, was ich selbst hätte aussprechen wollen.287

Im frühen Briefwechsel Wielands mit Freunden und Bekannten wird Klopstocks Messias häufig erwähnt.288 Der Dichter schickt Bodmer am 4. August 1751 anonym sein unvollendetes Hexameterepos Hermann zu289, »um von der Beurtheilung eines so erleuchteten Richters Vortheil zu ziehen«.290 Offensichtlich ging es Wieland vornehmlich um eine Kontaktaufnahme mit dem Züricher Literaturpapst, »den alle wahre Kenner des guten Geschmacks als den vollkommensten Richter der Wercke des Geistes verehren«.291 Er weist sich zudem als Parteigänger der Schweizer aus, indem er gegenüber Bodmer am 29. Oktober 1751 bekennt: Der Geist der die Alten beseelte, lebet in vielen unserer Landsleute wieder auff, und wir sind bereits fähig alle Abendländische Völker herauszufordern uns in Ihrer Schoos solche Nachahmer und Ubertreffer der Alten zu zeigen als wir besizzen. Ich kan mich nicht genug wundern, daß der Herr Gottsched bey aller seiner vorgegebenen weitlaufigen Kenntnis im Reich der Wissenschaften, so still zu denen Wercken ist, die Teutschland unsterbliche Ehre bringen. Woran mag es doch liegen? […] Warum ist was im Virgil schön ist, im Messias häslich oder ausschweiffend? […] Dieses sind mir Räzel.292

Wieland bittet den Schweizer Professor »um einige nähere Nachrichten von Herrn Klopstok«, da er zu »seinen grösten Bewunderern« gehöre.293 Er ist der Meinung, dass der Messias-Dichter »mehr als Milton [sei]«:294 Wenn ich über die vier grösten der Heldendichter insoweit sie mir bekannt sind, dencke, So finde ich eine grosse Ähnlichkeit im Verhältnis des Homers zum Virgil und des Miltons zum Klopstok. Alle vier sind bewundernswerth, allein ich kan mich nicht 287 Gruber : Christoph Martin Wieland. Erster Theil, S. 49. 288 Beispielsweise zitiert Wieland in einem Brief an Sophie Gutermann Ende Juli 1751 begeistert Hexameterverse »aus dem 4ten Gesang des göttlichen Klopstock«, die er »recht in ihrer ganzen Größe empfinde«. Es handelt sich hierbei um eine Stelle aus der Lazarus-CidliEpisode des Messias. Der verliebte Wieland identifiziert sich hier mit der epischen Figur Lazarus und mit dem ›heiligen Poeten‹ Klopstock. Er entwickelt zudem gewissermaßen eine Cidli-Fanny-Sophie-Typologie. (Brief von Wieland an Sophie Gutermann, Ende Juli 1751. In: Wieland: BW I, Nr. 21, S. 19–21, hier S. 21, Z. 69–75 und S. 20, Z. 30–40.) Vgl. hierzu: Blasig: Die religiöse Entwicklung des frühen Christoph Martin Wieland, S. 141–145 (Kap. 1.2: Wieland und Friedrich Gottlieb Klopstocks ›Messias‹). 289 Vgl. zum Hermann Wielands: Martin: Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert, S. 143– 159 (Kap. IV 1: ›Hermann‹). 290 Brief von Wieland an Bodmer, 4. August 1751. In: Wieland: BW I, Nr. 22, S. 22, Z. 11f. 291 Brief von Wieland an Bodmer, 29. Oktober 1751. In: Wieland: BW I, Nr. 24, S. 22–25, hier S. 23, Z. 11f. 292 Ebd., S. 23f., Z. 34–44. 293 Ebd., S. 24, Z. 45–47. 294 Ebd., S. 24, Z. 47f.

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Die Nachahmer Klopstocks

enthalten den Römischen u: Deutschen Virgil jenen beyden Homeren vorzuziehen. Scaligers Vergleichung Homers u: Virgils dünkt mich mehrentheils richtig, und ich glaube daß Milton, (ob durch die grosse Ähnlichkeit des Genie, oder durch eine wilkührliche Nachahmung?) fast in alle Fehler des Griechen gefallen ist. Homer ist wie der Rhodische Coloss, Virgil wie die Venus des Praxiteles. Homer ist ein ungemeiner Mahler, aber villeicht drükt er die Natur nur gar zu sehr aus. Ich finde in ihm nicht allemal diese Wahl des schönsten unter mehrern schönen, die ich im Virgil bewundere. Kurz jener ist erstaunenswürdiger, dieser schöner und reizzender.295

Milton werde »ungemein von unserm Klopstock übertroffen«: Bey ihm ist das Ganze grösser und majestätischer, das wunderbare natürlicher glaubwürdiger anständiger, die Charactere besser ausgebildet, abwechslender und rührender, die Erfindung wahrscheinlicher, scharfsinniger, neuer, interessanter. Doch mann müste ein Buch schreiben wenn mann den Messias preisen wollte.296

Der Schweizer Dichtungstheoretiker war sicherlich weder mit Wielands kritischer Beurteilung des ›Naturdichters‹ Homer einverstanden noch war er über die überschwängliche Lobpreisung Klopstocks erfreut. Wieland konnte ja nicht ahnen, dass es während Klopstocks Besuch in Zürich zu einem Zerwürfnis zwischen Bodmer und dem Messias-Dichter gekommen war. Der Schweizer Mentor bemühte sich offenbar, Wieland hinsichtlich der Neubewertung des griechisch-antiken Dichtergenies zu belehren. So schreibt dieser in einem Brief vom 20. Dezember 1751: Mein Urtheil von Homer hat sich durch Ihr. Hochedelgebohren gütige u: gründliche Anmerckungen richtiger gemacht. Ubrigens ist es nicht Scaligers Ansehen, das mich seiner Meynung machte. Ohne vieles von ihm gelesen zu haben, weis ich doch seinen Kunstrichterlichen Werth zu gut als ihm auf sein Wort zu glauben. Indessen scheinet mir sein diesfalliges Urtheil zum Theil gegründet, und mich dünckt die Summe der Wesentl. Schönheiten sey im Virgil grösser als im Homer, und die Summe der wesentlichen Fehler in diesem grösser als in jenem. Homer bleibt indessen ein Muster der Dichter, u: ich gestehe daß ich noch zu klein bin von ihm zu urtheilen. Ich werde mich bemühen mich im Griechischen so fest zu setzen ihn im Original lesen zu können, und ob mich gleich auch alsdenn Seine Fehler immer beleidigen werden, So wird doch die Anmuth der Verse u: die Schönheit des Ausdrucks, welche so bezaubernd seyn sollen, mich unempfindlicher gegen die Mängel machen.297

In der Schweiz diskutierte man im Bodmer/Breitinger-Kreis, etwa in der »CritoGesellschaft«, lebhaft darüber, das neu entdeckte Dichtertalent nach Zürich einzuladen. Bodmer bekennt am 20. Januar 1752 gegenüber Zellweger : 295 Ebd., S. 24, Z. 48–60. 296 Ebd., S. 24, Z. 60–65. 297 Brief von Wieland an Bodmer, 20. Dezember 1751. In: Wieland: BW I, Nr. 26, S. 25–29, hier S. 26, Z. 35–48.

Das märchenhafte Bibelepos: Der gepryfte Abraham von Wieland

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Es steht nur an mir, einen neuen Klopstok zu haben. Hr. Wieland … [steht] in der Poesie wenige Grade unter Klopstok, er hat weit mehr Lectür, einen logicalischen Kopf, mehr Sitten, mehr Bescheidenheit, und doch mehr Jugend. … Wenn ich nicht durch Klopstoks Aufführung schüchtern gemacht wäre, so ließ ich diesen jungen Menschen nach Zürich kommen.298

Johann Caspar Heß äußert ebenfalls seine Bedenken, »was ein Zweyter Kl[opstock] in Zürich für Unheil und Aergerniß anrichten könnte«.299 Er schreibt am 31. Januar 1752 in einem Brief an Johann Heinrich Schinz: »Nach meinen Gedanken müßen wir vollständig zuerst noch mehrere und ganz sichere Proben von Wielands moralischem Character haben, eh wir ihn ohne Gefahr können zu uns gen Zürich kommen laßen.«300 Es wurde beschlossen, dass Pastor Schinz mit Wieland einen Briefwechsel beginnen sollte, um »die ganze Gemüthsart dieses poetischen Jünglings aus dem Grund kennen zu lernen«.301 Verständlich werden in diesem Zusammenhang die Beteuerungen Wielands in seinen Briefen aus dem Jahre 1752, dass er »ein grosser Wassertrinker, und ein geborner Feind des Bacchus«302 sei, dass er »gleichfals den Tabac nicht leiden [könne], so wenig als grosse Gesellschaften oder Gastmahle«303. Auch gegenüber Schinz gelobt er : »Ich werde gantz Bodmers und der Ihrige seyn. Ihre Anakreontische Freunde haben Sich von mir nichts zu versprechen. Ich bin ein Wassertrinker und ein gebohrner Feind grössrer und muntrer Gesellschaften.«304 Zudem versichert er : »Sie werden mich eben so finden wie ich mich in meinen Gedichten schildre, einen zärtlichen Jüngling, einen Menschenfreund, einen redlichen Schüler der Weisheit und göttlichen Tugend.«305 Die Enttäuschung Bodmers über die Streitigkeiten mit Klopstock während dessen Aufenthalts in Zürich saß offensichtlich noch tief. So gesteht er seinem Freund Zellweger am 23. März 1752: Ich will seine [Wielands; I. G.] Liebe für mich und seine große Fähigkeit brauchen, Klopstoken eifersüchtig zu machen. Wieland hat zwar izt noch eine große Idee von 298 Brief von Bodmer an Zellweger, 20. Januar 1752. Zitiert nach: Starnes: Christoph Martin Wieland. Leben und Werk. Bd. 1, S. 19. 299 Brief von Heß an Schinz, 31. Januar 1752. Zitiert nach: Starnes: Christoph Martin Wieland. Leben und Werk. Bd. 1, S. 19f., hier S. 19. 300 Ebd. 301 Brief von Heß an Bodmer, 16. Februar 1752. Zitiert nach: Starnes: Christoph Martin Wieland. Leben und Werk. Bd. 1, S. 21. 302 Brief von Wieland an Bodmer, 4. Februar 1752. In: Wieland: BW I, Nr. 30, S. 37–42, hier S. 39, Z. 51. 303 Brief von Wieland an Bodmer, 8. Juni 1752. In: Wieland: BW I, Nr. 57, S. 85–87, hier S. 87, Z. 70f. 304 Brief von Wieland an Schinz, 25. Mai 1752. In: Wieland: BW I, Nr. 48, S. 73–81, hier S. 74, Z. 11–14. 305 Brief von Wieland an Schinz, 30. Juni 1752. In: Wieland: BW I, Nr. 63, S. 90–94, hier S. 91, Z. 38–40.

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Die Nachahmer Klopstocks

Klopstok, und kann keinen Fehler in ihm sehen: das mag noch in Absicht auf die Messiade angehen, aber im übrigen bone Deus!306

Nachdem man sich über die tugendhaft-empfindsame Disposition und Gelehrsamkeit Wielands Gewissheit verschafft hatte, wurde der junge Dichter in die Schweiz eingeladen. Am 25. Oktober 1752 traf Wieland in Zürich ein.307 Als »neuer« bzw. »zweiter Klopstock« sollte er den Messias-Dichter ersetzen. So bekennt Bodmer gegenüber Zellweger : »Ich hoffe er [Wieland; I. G.] werde mich für alle die verdrüßlichen Stunden, die Kl[opstock] mir verursacht hat, trösten.«308 Salomon Gessner berichtet Johann Georg Schultheß am 28. Oktober 1752: [Wieland] sitzt bei Bodmer bei einem Schreibe Pult, sitzt da mit stolzer Zufriedenheit und überdenkt seine Hoheit und Tugend, sitzt da und wartet auf Anbetter und Bewunderer, sie mit gnedig segnendem Blick anzulecheln, aber es kommt kein Anbätter, dann glaubt er gerecht und fromm, der Geschmack fliehe unser Land! und zörnt daß Gott noch zögert auf einer Tau treufelnden Wolke, ihn, Bodmern und den großgeköpfeten Schinzen in den Olymp abzuholen. Ergrimmt strekt er die Rechte aus, greift nach der Feder, probiret sie auf dem breiten Nagel, und schreibt. Mit einem Wort, Wieland ist ein Mensch, der in seinem ganzen Leben nichts als sein Dintenfaß und eine Wand voll Bücher gesehen. Er ist stolz, und Bodmer wollt es hoch anrächnen, wenn jemand Wielanden sehen dürfte und Schinz glaubte uns seines Anbliks ganz unwürdig. Nun geht von uns nicht einer zu ihm […].309

Bodmer war es demzufolge erfolgreich gelungen, seinen neuen Musterschüler von den jungen Mitgliedern der »Crito-Gesellschaft« fernzuhalten. Triumphierend schreibt er am 29. Oktober 1752 an Johann Georg Sulzer :

306 Brief von Bodmer an Zellweger, 23. März 1752. Zitiert nach: Starnes: Christoph Martin Wieland. Leben und Werk. Bd. 1, S. 22. 307 Vgl. zu Wielands Aufenthalt in der Schweiz: Emil Ermatinger : Wieland und die Schweiz. Frauenfeld / Leipzig 1924. (Die Schweiz im deutschen Geistesleben; 31.) – Erwin Jaeckle: Der Zürcher Wieland. Mit einem Anhang: Zwei Briefe von Wielands Vater an Johann Jakob Bodmer. Biberach 1987. (Biberacher Hefte; 3.) – Egon Freitag: »Welch ein himmlischer Affekt ist die Freundschaft? Wie schön kann sie edle Seelen bilden?« Christoph Martin Wieland und Johann Jakob Bodmer. In: Ars et amicitia. Beiträge zum Thema Freundschaft in Geschichte, Kunst und Literatur. Festschrift für Martin Bircher zum 60. Geburtstag am 3. Juni 1998. Hrsg. v. Ferdinand van Ingen und Christian Juranek. Amsterdam / Atlanta 1998. (Chloe. Beihefte zum Daphnis; 28.) S. 535–549. – Dieter Martin: Bodmers streitbare Koalition mit Christoph Martin Wieland. In: Anett Lütteken / Barbara Mahlmann-Bauer (Hrsg.): Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. Göttingen 2009. (Das achtzehnte Jahrhundert: Supplementa; 16.) S. 459–473. 308 Brief von Bodmer an Zellweger, 12. November 1752. Zitiert nach: Starnes: Christoph Martin Wieland. Leben und Werk. Bd. 1, S. 34. 309 Brief von Gessner an Schultheß, 28. Oktober 1752. Zitiert nach: Starnes: Christoph Martin Wieland. Leben und Werk. Bd. 1, S. 33.

Das märchenhafte Bibelepos: Der gepryfte Abraham von Wieland

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Ich bleibe mit Wielanden in meiner dunkeln Einsiedelei. Bisher scheint es noch nicht, daß die jungen Herren mir seinen Besiz rauben wollen. Es wäre ein Unternehmen über ihre Kräfte. Er ist ein Anacreontomastix. Er trinkt so wenig Wein als ich, raucht nicht Tabak und brauset und tanzt nicht …310

Wieland passte sich demnach dem Leben des Züricher ›Patriarchen‹ völlig an. Er nutzte die Isolation in Bodmers Haus, indem er sich durch dessen umfangreiche Privatbibliothek durcharbeitete311 und seine Sprachkenntnisse erweiterte – so lernte er etwa Englisch, Italienisch und verbesserte sein Altgriechisch. Seine ›Bewerbungsschrift‹, den Hermann, bezeichnet Wieland im Oktober 1751 als »die Frucht einer gewissen Jugendhizze, ein übereiltes Werck«312, dem es »an einem richtigen Grundrisse fehle[.]«313. Es würde das Beste sein, »es der Vergessenheit zu übergeben«.314 Im Dezember 1751 erklärt Wieland, dass er sich an Bodmer wenden werde, wenn er jemals wieder »Zeit und Lust bekommen sollte etwas Heroisches zu versuchen«.315 Er würde sich »in diesem Fall« vom Noah-Dichter »die Fabel ausbitten«, da ihm die vom Hermann nicht gefalle und er »lieber über eine Materie arbeiten würde die reicher, grösser u: mit keiner heidnischen Mythologie beschmutzt wäre«.316 Wie nicht anders zu erwarten, wurde Wieland von Bodmer dazu beeinflusst, ein biblisches Heldengedicht zu schreiben. Der Schweizer Literaturpapst berichtet Zellweger am 15. April 1753: »Den … 5ten dieses Monats fieng Wieland den geprüften Abraham an, nemlich die Geschichte wegen der Aufopferung seines Sohnes. Es wird 4 Gesänge stark, und er hat würklich zweene verfertiget.«317 Etwa einen Monat später, am 13. Mai 1753, verkündet Bodmer : »Er [Wieland; I. G.] hat den geprüften Abraham in 4 Gesängen zum Ende gebracht.«318 Zudem findet sich in seinem Tagebuch folgende Notiz: »Wieland schrieb im April und May [1753] den geprüften

310 Brief von Bodmer an Sulzer, 29. Oktober 1752. Zitiert nach: Starnes: Christoph Martin Wieland. Leben und Werk. Bd. 1, S. 33. 311 Vgl. Urs B. Leu: Johann Jakob Bodmers Privatbibliothek. In: Anett Lütteken / Barbara Mahlmann-Bauer (Hrsg.): Bodmer und Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. Göttingen 2009. (Das achtzehnte Jahrhundert: Supplementa; 16.) S. 831–844. 312 Brief von Wieland an Bodmer, 29. Oktober 1751. In: Wieland: BW I, Nr. 24, S. 22–25, hier S. 23, Z. 16f. 313 Ebd., S. 23, Z. 18f. 314 Ebd., S. 23, Z. 27f. 315 Brief von Wieland an Bodmer, 20. Dezember 1751. In: Wieland: BW I, Nr. 26, S. 25–29, hier S. 28, Z. 110f. 316 Ebd., S. 28, Z. 111–114. 317 Brief von Bodmer an Zellweger, 15. April 1753. Zitiert nach: Starnes: Christoph Martin Wieland. Leben und Werk. Bd. 1, S. 44. 318 Brief von Bodmer an Zellweger, 13. Mai 1753. Zitiert nach: Starnes: Christoph Martin Wieland. Leben und Werk. Bd. 1, S. 44.

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Die Nachahmer Klopstocks

Abraham […].«319 Demzufolge verfasste der junge Dichter innerhalb weniger Wochen ein Hexameterepos mit alttestamentlichem Stoff, den Gepryften Abraham. Ein Gedicht in vier Gesængen (1753). Wieland erklärt rückblickend in dem Vorbericht zu seinem Bibelepos, das er im dritten Supplementband seiner Sämmtlichen Werke (1798) veröffentlichte: Das folgende ist das einzige biblische Gedicht, welches der Verfasser zu verantworten hat, wiewohl ihm damahls noch verschiedene, die von dem seligen Bodmer in der Folge selbst reklamiert worden sind, vor die Thür gelegt wurden. Es wurde in dessen Hause, in eben dem Zimmer und an eben dem Tische verfertiget, woran Bodmer wechselsweise bald an seiner Übersetzung Homers, bald an einer von den kleinen Epopöen, wozu ihm die Familie Abrahams den Stoff gab, arbeitete; und sehr wahrscheinlich würde es ohne diesen Umstand und aus selbsteigner Bewegung, nie von unserm Dichter unternommen worden seyn.320

Wielands Patriarchade Der gepryfte Abraham besteht in der Erstfassung von 1753 aus vier Gesängen und 2.247 Hexameterversen. Der Dichter veröffentlichte sein Bibelepos im Jahre 1762 erneut im dritten Band seiner Poetischen Schriften.321 In dieser Ausgabe hatte er einige Verse getilgt, verbessert bzw. verändert und zudem den gesamten 4. Gesang gestrichen, so dass er sein Werk nunmehr Die Prüfung Abrahams. In drey Gesängen nannte. Auch in der dritten verbesserten Auflage seiner Poetischen Schriften aus dem Jahre 1770 erschien im dritten Band Wielands biblisches Heldengedicht.322 Zuletzt publizierte der Dichter Die Prüfung Abrahams in drey Gesängen im dritten Supplementband seiner Sämmtlichen Werke (1798) in der »Göschen-Ausgabe«.323 Er veränderte hier einen Dialog im 1. Gesang. Sein Bibelepos umfasst in der Endfassung von 1798 insgesamt 1.458 Hexameter. Was den Versumfang betrifft, so ist Wielands biblisches Heldengedicht in den verschiedenen Überarbeitungsphasen erheblich zusammengeschrumpft.

319 [Bodmer :] Auszüge aus meinem Tagebuch [1752 bis 1782]. Hrsg. v. Jakob Baechtold. In: Turicensia. Beiträge zur zürcherischen Geschichte […], S. 190–216, hier S. 192. 320 Christoph Martin Wieland: Der gepryfte Abraham. Ein Gedicht in vier Gesængen. In: [Ders.:] Gesammelte Schriften. Hrsg. v. der Deutschen Kommission der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Erste Abteilung: Werke. 2. Bd.: Poetische Jugendwerke. 2. Teil. Hrsg. v. Fritz Homeyer. Berlin 1909. S. 103–166, hier S. 165f. (Vorbericht [1798]). Die folgenden Stellenangaben im Text beziehen sich auf diese Ausgabe von Wielands Gepryftem Abraham (1753). 321 Christoph Martin Wieland: Die Prüfung Abrahams. In drey Gesängen. In: [Ders.:] Poetische Schriften. Dritter Band. Zürich 1762. S. 3–72. 322 Christoph Martin Wieland: Die Prüfung Abrahams. In drey Gesängen. In: [Ders.:] Poetische Schriften. Dritter Band. 3. verb. Aufl. Zürich 1770. S. 3–71. 323 Christoph Martin Wieland: Die Prüfung Abrahams in drey Gesängen. 1753. In: [Ders.:] Sämmtliche Werke. Supplemente. Dritter Band. Leipzig 1798. S. 1–126.

Das märchenhafte Bibelepos: Der gepryfte Abraham von Wieland

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Wieland stellte seinem Gepryften Abraham von 1753 einen Vorbericht324 voran, der auf den 8. September 1753 datiert ist und in welchem er insbesondere den moralischen Nutzen der biblischen Poesie hervorhebt: Die Poesie soll nach ihrer natur und nach ihrem wahren verhæltniß zu dem menschlichen herzen, das lob Gottes, unsers Schœpfers und Erlœsers, und den Menschen in seinen vornehmsten gesichtspuncten und bestimmungen, folglich, religion, tugend und sitten zum gegenstand haben. Die ganze Natur, soweit sie in der Sphære unsrer empfindung und erkenntniß liegt, liegt nur um dieser moralischen absichten willen mit allen ihren schœnheiten vor uns: daß wir unsern unendlich liebenswyrdigen Urheber aus ihr kennen lernen, und durch richtigen gebrauch der geschœpfe; welcher hauptsæchlich in erwerbung eines feinen geschmackes am schœnen guten und vortreflichen bestehet; in uns selbst diese der Natur nachahmende harmonie der neigungen und kræfte hervorbringen sollen, welche die ewigdaurende schœnheit und glyckseligkeit des moralischen Menschen ausmacht. Wenn man demnach die Poesie eine nachahmerin der Natur nennt, so will das in seinem vollstændigsten verstande nichts anders sagen, als daß aus den sinnlichen schœnheiten und angenehm ryhrenden bildern des poetischen vortrags allezeit hœhere, geistliche und moralische schœnheiten hervorscheinen myssen; so wie in der natur das schœne allezeit mit dem guten gepaart ist, und der Schœpfer in die anmuthigen gestalten, die unsre sinnen umgeben, tausend geistige vollkommenheiten, verhæltnisse, absichten, und fyr die Menschen insonderheit, zyge der Gottheit und beweggrynde zur tugend, eingekleidet hat.325

All jene, die »von der wyrde, nothwendigkeit und nyzlichkeit der Poesie keine so grosse vorstellungen [hätten]«, würden »die natur des Menschen, und die rechte bestimmung seiner fæhigkeiten, gar nicht kennen«.326 Zu den Charaktereigenschaften »eines wahren Poeten« gehören laut Wieland »eine grosse activitæt der seele, die sich zu allem was schœn und vortreflich ist emporschwingt, eine starke einbildungskraft die allezeit von liebe zur wahrheit und gutem geschmack geleitet wird, nebst dem innwendigen harmonischen zustand der Seele«.327 Diese vom Schöpfergott erlangten Fähigkeiten sollten nur »auf eine der hohen bestimmung des Menschen angemessene art angewendet werde[n], nehmlich zum preis Gottes, seiner werke und offenbarungen«.328 Ein »wahre[r] Poet[.]« müsse »die herzen zur gottseligkeit und tugend […] entzynden und mit mæchtig yberredender kraft […] lehren, wie sie dieses leben gebrauchen und sich zu einem bessern vorbereiten sollen«.329 Demzufolge erklärt Wieland den ›heiligen 324 Wieland: Der gepryfte Abraham. Ein Gedicht in vier Gesængen. In: [Ders.:] Gesammelte Schriften. Erste Abteilung: Werke. 2. Bd.: Poetische Jugendwerke. 2. Teil, S. 103–166, hier S. 103–105 (Vorbericht). 325 Ebd., S. 103. 326 Ebd., S. 104. 327 Ebd. 328 Ebd. 329 Ebd.

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Die Nachahmer Klopstocks

Poeten‹ zum christlichen Tugendlehrer. Er legitimiert diese Funktion durch einen Verweis auf die vorbildhafte Antike: Wer so glycklich ist, den Homerus, Pindarus, Sophocles, Euripides, aus ihren schriften zu erkennen, wird wol wissen, daß sie eben diesen begriff von der Poesie, als einer lehrerin der religion, tugend und sitten gehabt, und denselben auch, nach dem maaß ihrer einsichten und so viel es die umstænde ihrer zeiten und nation erlaubten, vortreflich ausgefyhrt haben. Selbst Homer, dessen Gœtterlehre, in soweit er sie nach der religion der Griechen einrichten mußte, abgeschmackt genug ist, ist voll vortreflichen lehren in absicht der religion yberhaupt; und es ist mir billig unbegreiflich daß sich jemand finden soll, welchem Homer deßwegen mißfællt, weil er keine oder allzuwenig moralische schœnheiten habe.330

Dies erinnert an folgende Aussage Klopstocks in seiner programmatischen Schrift Von der heiligen Poesie: »Homer ist, außer seiner Göttergeschichte, die er nicht erfunden hatte, schon sehr moralisch. Wenn aber die Offenbarung unsre Führerin wird; so steigen wir von einem Hügel auf ein Gebirge.«331 Auch der Messias-Dichter macht stets auf die »moralische Wahrheit der Bibel«332 aufmerksam, die einem ›heiligen Poeten‹ zur Vorlage dienen soll: »Dasjenige, was uns die Offenbarung lehrt, besteht, aus moralischen Wahrheiten; aus Begebenheiten; aus Prophezeiungen; aus Geheimnissen; und aus solchen Stellen, wo das Geheimnisvolle mit jenen, besonders mit moralischen Wahrheiten, vermischt ist.«333 In dem Vorbericht zum Gepryften Abraham klärt Wieland seine Leser abschließend über die Intentionen auf, die er und sein Freund und Mentor Bodmer mit ihren bibelepischen Werken verfolgen:334 Ich habe diese wenigen anmerkungen diesem gedicht vorzusetzen vor gut befunden, damit sie zugleich den ybrigen, welche izt von meinem theuresten Freunde und mir auf einmal herauskommen, zu einem Vorbericht dienen und unsern Lesern, Richtern und Tadlern unsre gesinnungen und absichten bekannt machen. Wir wollen Sittenlehrer seyn, wir wollen empfindungen der religion und liebe zur tugend in unsern Lesern erwecken, wir wollen ihnen beispiele vorlegen, wie sich Menschen von allerlei stande, in den verschiednen verhæltnissen des lebens, auch in ungewœhnlichern fyhrungen der Vorsehung zu verhalten haben. Und man hat es vornehmlich unsrer gœttlichen 330 331 332 333 334

Ebd. Klopstock: Von der heiligen Poesie. In: Klopstock: AW, S. 997–1009, hier S. 1001. Ebd., S. 1007. Ebd., S. 1006. Hermann Müller-Solger bemerkt zur Vorrede Wielands zum Gepryften Abraham (1753): »Mit einem solchen Programm […] stellt sich diese Dichtung bewußt in die breite Tradition der Erbauungsliteratur des 18. Jahrhunderts.« (Hermann Müller-Solger : Der Dichtertraum. Studien zur Entwicklung der dichterischen Phantasie im Werk Christoph Martin Wielands. Diss. Mannheim 1969. S. 66.) Wieland habe sich »mit dem biblischen Epos ›Der gepryfte Abraham‹ offen der religiösen Erbauungsliteratur« zugewandt. (Ebd., S. 308.)

Das märchenhafte Bibelepos: Der gepryfte Abraham von Wieland

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religion zuzuschreiben, wenn wir in der moralischen gyte unsrer Gedichte etwas mehr als Homere sind. Wir finden nur die wahrheit, nur die thætige liebe zur wahrheit, die Tugend, des schmucks und der reizungen wyrdig und fæhig, welche die Natur der Poesie darbeut. Wir verachten von ganzem herzen den Bel-Esprit, welcher der innern, dem Schœpfer allein gefælligen schœnheit beraubt ist, und wir kœnnen ihn so wenig lieben als eine rosenwangichte Messalina.335

Das Proömium von Wielands Gepryftem Abraham umfasst in der Erstfassung von 1753 insgesamt 43 Hexameterverse: Tochter des Himmels, die einst, auf Edens hygeln erzogen, In der jugend der Welt, in mehr als goldenen zeiten Ihren Elihu geliebt, und die im garten der unschuld Unter lieblichen schatten mit Siphas tœchtern gewohnet, Ihre gespielin, du sængerin Gottes, du mutter der tugend, Lehre mich Abrahams pryfung, den sieg des frommen gehorsams Und des glaubens besingen, der als der Herr es befohlen Vater zu seyn vergaß und auf Moria die blyhte Seines geliebtesten einzigen Sohnes zum opfer ihm brachte. Lehre mich gœttliche tugend mit gœttlichen tœnen besingen. Oeffne vor mir die nacht die um die vergangenheit herhængt, Laß die gesegneten fluren mir læcheln, wo Sarah den knaben Heilig zum kynftigen umgang mit Gott und Engeln erzogen; Denn du kennest sie wol und weissest alles und warest Bei der geburt der alten geschichten, man sah dich in Mamre Unter den eichen oft wandeln; doch schwebtest du œfters in Haran Um den fryhling der blyhenden Ribka, mit ihrer umarmung Isaks tugend dereinst zu belohnen. O heilige Muse Laß dich erbitten, auch mich zu deinem Priester zu weihen, Wie du dir Bodmern geweiht hast, daß er die heilige laute Von Elihu geerbt zum preis der weisheit beherrschte; Daß er die wege der Vorsicht, den reiz der natyrlichen unschuld Und die tugend der alten in ihrer freiheit uns sænge. Fromme Muse, du bists die unsre freundschaft geknypft hat, Ja, dir soll noch mein alter es danken, dir dankt es Serena, Daß ein goldenes jahr von meiner glycklichen jugend Mit den tagen des weisen verwebt, mein leben gekrœnt hat. Bilde mein herz wie seines, zu jener erhabenen einfalt, Zu der weisheit der Vorwelt die unsere tage verkennen, Daß ich die sitten der heiligen Væter, die herzliche tugend Und die freie natur in ihrer schœnheit besinge. Fliehet den hayn wo ich singe, flieht sænger des schæumenden Bacchus, 335 Wieland: Der gepryfte Abraham. Ein Gedicht in vier Gesængen. In: [Ders.:] Gesammelte Schriften. Erste Abteilung: Werke. 2. Bd.: Poetische Jugendwerke. 2. Teil, S. 103–166, hier S. 104 (Vorbericht).

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Die Nachahmer Klopstocks

Pœbel welcher die wahrheit mit liedern und thaten verlæstert, Flieh und singe mit ***. Nur euch sind meine gesænge, Edle Schœnen geweiht, die **** nicht lieben gelehrt hat; Euch der tugend vertrauten die ein gespenst der erziehung Eitelkeit oder wohlstand fyr tugend zu halten errœthen; Dir auch, weisheit begieriger Jyngling, euch freunden des schœnen Welches gut ist und niemals verblyht; doch, meine Serena, Dir vor allen, geliebte Serena, du unerkannte Zierde der menschheit, den Engeln bekannter als niedrigen menschen, Sei mein singen geweiht, der lohn der frommen gesænge Sei einst deine umarmung! So mag der ruhm mich vergessen! (1. Gesang, V. 1–43)

Wieland folgt hier dem Vorbild Homers und verknüpft die ›invocatio‹ und die ›propositio‹ miteinander. Seine epische Musenfigur bezeichnet er als »Tochter des Himmels« (1. Gesang, V. 1), »sængerin Gottes« (1. Gesang, V. 5), »mutter der tugend« (1. Gesang, V. 5), »heilige Muse« (1. Gesang, V. 18) und »[f]romme Muse« (1. Gesang, V. 24). Sie ist die allwissende, göttliche Inspirationsquelle des zum Priester geweihten epischen Sängers. Der Dichter stilisiert sich somit wie Klopstock und Bodmer zum ›poeta vates‹ (vgl. 1. Gesang, V. 18–21). Es finden sich in diesem ungewöhnlichen Proömium des Gepryften Abraham neben der Musenanrufung und der kurzen Zusammenfassung des Inhalts dieses biblischen Heldengedichts (1. Gesang, V. 6–9, V. 11–18) zudem autobiographische Details (1. Gesang, V. 24–43) und intertextuelle Referenzen auf die Patriarchaden Bodmers (1. Gesang, V. 1–5, V. 20–23). So ist beispielsweise »Elihu« (1. Gesang, V. 3, V. 21) eine von Bodmer erfundene Sänger- und Dichterfigur, die sowohl im Noah (1752)336 (vgl. Kap. 5.1) als auch in seiner kleineren Patriarchade Jacob und Rachel (1752)337 vorkommt. »Elihu« ist laut dem epischen Charakter Jacob »der älteste, göttlichste dichter, j Der vor den tagen der flut gelebt, und die hymnen gedichtet, j Jareds opfergesäng’, und Enochs, den Gott zu sich aufnahm«.338 Elihus Hymnen habe »Sems Vermählt’ in die Arche gerettet«, und diese singe noch heute »stets der stamm von dem [Jacob] entsprungen«.339 Jacob, der Sohn von Isa(a)k und Ribka (Rebecca), verkündet zudem in Bodmers Rahel: […] Ich bin bekannt mit den werken Elihus, Der vor dem weltgericht sang, der dichter der göttlichen psalmen, Welche Jared und Enoch bey ihren opfern gesungen; Von ihm hab ich mir etliche süsse töne bemerket. Abraham bracht die göttlichen werk’ in Kanaans gränzen, 336 [Bodmer :] Der Noah, S. 4 (1. Gesang, V. 17) und S. 238 (8. Gesang, V. 182–185). 337 Johann Jacob Bodmer : Jacob und Rachel: Ein Gedicht in zween Gesængen. Zyrch 1752. Erneuter Abdruck unter dem Titel Rahel in Bodmers Calliope. 338 Johann Jacob Bodmer : Rahel. In: [Ders.:] Calliope. Erster Band, S. 211–263, hier S. 220. 339 Ebd.

Das märchenhafte Bibelepos: Der gepryfte Abraham von Wieland

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Isak bekam sie von ihm, der erbe von Abrahams tugend. Ich bin in Isaks haus erzogen, und hörte mit andacht Von den lippen des frommen, Elihus hymnen erschallen. Mit dem morgengeruch, der von Mamres sprößlingen aufstieg, Fuhren auf Ribkas harfe die hymnen vermischet gen himmel.340

Wieland schreibt gewissermaßen mit seinem Gepryften Abraham die Geschichte der alttestamentlichen Erzväter fort. Daher übernimmt er auch aus Bodmers Patriarchaden einige epische Figuren. Elihu ersetzt offenbar den biblischen Psalmendichter David, der im Messias Klopstocks häufig genannt wird.341 Interessant ist in diesem Zusammenhang, wie Wieland in seinem Proömium auch Autobiographisches verarbeitet. So wird sein Schweizer Mentor Bodmer explizit genannt (1. Gesang, V. 20), mit dem er in Freundschaft verbunden ist (vgl. 1. Gesang, V. 24). Der Dichter hält sich seit etwa einem Jahr in Zürich auf, als er sein Bibelepos veröffentlicht. Diesen produktiven Zeitraum (Oktober 1752 – September 1753), in dem er zusammen mit Bodmer an einem Schreibtisch arbeitet, bezeichnet Wieland als »ein goldenes jahr« seiner »glycklichen jugend« (1. Gesang, V. 26). Bodmer ist der gelehrte Patriarchadendichter, den er sich zum Vorbild auserkoren hat (vgl. 1. Gesang, V. 28–31). Der junge Dichter, der zudem einige Streitschriften verfasste, ist in den 1750er Jahren der aggressivste Parteigänger der Schweizer. Daher verwundert es nicht, dass er auch im Proömium des Gepryften Abraham die »sænger des schæumenden Bacchus« (1. Gesang, V. 32), d. h. die anakreontischen Dichter seiner Zeit, angreift. Sein gewünschtes Lesepublikum apostrophiert Wieland als »[e]dle Schœne[.]« (1. Gesang, V. 35) und als »der tugend vertraute[.]« (1. Gesang, V. 36). Seine Dichtung widmet er seiner Jugendliebe und damaligen Verlobten Sophie Gutermann, der er den Spitznamen bzw. ›poetischen‹ Namen »Serena« gegeben hatte (vgl. 1. Gesang, V. 39–43). Wieland und seine Muse Sophie hatten sich allerdings längst entfremdet. Sie heiratete am 27. Dezember 1753 Georg Michael La Roche und wurde bekanntlich eine berühmte Schriftstellerin. Wieland hatte Sophie in der im Mai 1752 entstandenen »moralischen Erzählung« Serena ein literarisches Denkmal 340 Ebd., S. 223. 341 Nicolai kritisiert in seinen Briefen über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland (1755) die von Bodmer erfundene epische Figur eines Sängers namens Elihu: »Wann Hr. B o d m e r unter andern schönen Geschichten, die er uns von der antidiluvianischen Welt vorsinget, auch einen epischen Dichter, seines Namens E l i h u , hervorbringet, so werden schwerlich alle Leser, diese an sich selbst höchst unnöthige Erdichtung billigen. Wann aber Hr. W i e l a n d in einem andern Gedichte den Beistand der Muse, die diesen E l i h u begeistert hat, anrufet, so heist dieses eine Erdichtung bis zu einem sehr hohen Grad des Abgeschmackten treiben.« ([Nicolai:] Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland. Berlin 1755. In: Nicolai: Sämtliche Werke, Briefe, Dokumente. Band 3: Literaturkritische Schriften I, S. 53–160, hier S. 103 (7. Brief).)

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Die Nachahmer Klopstocks

gesetzt.342 Die als »göttliche Serena«343 apostrophierte Protagonistin ist hier die personifizierte Tugend, »ein Ebenbild der Unschuld«344 und Schönheit. Die intertextuellen Verweise und autobiographischen Anspielungen konnten gewissermaßen nur ›eingeweihte‹ Leser verstehen, die zum Bodmer/BreitingerKreis gehörten und die die Patriarchaden Bodmers gelesen hatten. Daher kürzte Wieland in den späteren Ausgaben seines Bibelepos das Proömium auf lediglich zehn Hexameterverse. So lautet es in der Prüfung Abrahams von 1762 folgendermaßen: Tochter des Himmels, die einst, auf Edens Hügeln erzogen, In der Jugend der Welt, in mehr als goldenen Zeiten, Ihren Elihu geliebt, und die im Garten der Unschuld Unter lieblichen Schatten mit Siphas Töchtern gewohnet, Himmlische Muse, du Sängerin Gottes, du Mutter der Tugend, Lehre mich Abrahams Prüfung, den Sieg des frommen Gehorsams Und des Glaubens besingen; der, als der Herr es befohlen, Vater zu seyn vergaß, und auf Moria den Liebling Seines Herzens, den einzigen Sohn zum Opfer ihm brachte; Lehre mich göttliche Tugend mit göttlichen Tönen besingen!345

Als biblische Vorlage für den Gepryften Abraham (1753) diente die AbrahamPerikope (Gen. 22,1–19).346 Allerdings erweiterte Wieland seinen Prätext, indem er die Geschichte Ismaels (Gen. 21,9–21), des ersten Sohnes Abrahams von der Magd Hagar, und Rebeccas, der späteren Ehefrau Isaaks (Gen. 24), mit einbezog. Der Handlungsverlauf des Bibelepos lässt sich dergestalt zusammenfassen: Im 1. Gesang erwartet Abraham die Rückkehr seines Sohnes Isaak, der sich ein Jahr lang bei Verwandten in Haran aufgehalten hat. Der Patriarch bringt Gott ein Opfer und betet. Er verspürt plötzlich die Gegenwart Gottes und erhält den Befehl zur Opferung seines einzigen und geliebten Sohnes Isaak. Abraham beugt sich gehorsam dem Willen Gottes und weiht nur seinen Knecht Elieser in sein Vorhaben auf Moria ein. Im 2. Gesang trifft Isaak in Mamre ein. Er erzählt von seinem Aufenthalt bei Nahor und Milca in Haran und von seiner Zuneigung zu 342 Christoph Martin Wieland: Serena. In: [Ders.:] Poetische Schriften. Erster Band. Zürich 1762. S. 232–247. 343 Ebd., S. 237 und S. 241. 344 Ebd., S. 232. 345 Wieland: Die Prüfung Abrahams. In drey Gesängen. In: [Ders.:] Poetische Schriften. Dritter Band (1762), S. 3–72, hier S. 7. 346 Vgl. folgende Forschungsliteratur zum Gepryften Abraham Wielands: Fritz Budde: Wieland und Bodmer. [Nachdruck der Ausgabe] Berlin 1910. London / New York 1967. (Palaestra; LXXXIX.) S. 144–157. – Müller-Solger : Der Dichtertraum, S. 63–68 (Kap. 3 b: Die Patriarchade »Der gepryfte Abraham« und das Motiv des süßen Traums im Erbauungsschrifttum). – Blasig: Die religiöse Entwicklung des frühen Christoph Martin Wieland, S. 180–189 (Kap. 2.1.1.2: ›Der gepryfte Abraham‹).

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Ribka. Völlig unerwartet besucht Ismael, Abrahams verbannter Sohn von der Magd Hagar, seinen Vater und bittet ihn um einen Segen für seinen Erstgeborenen namens Nebajoth. Abraham teilt seiner versammelten Familie mit, dass ihm von Gott befohlen worden sei, mit Isaak nach Moria zu gehen, um dort »ein gottgefælliges opfer« (2. Gesang, V. 443) darzubringen. Im 3. Gesang brechen Abraham und Isaak zur Opferstätte auf. Als Isaak erfährt, dass er selbst auf dem Berg geopfert werden soll, beweist er ebenfalls seine Gottergebenheit und ist sofort bereit, sein eigenes Leben hinzugeben. Abraham hat schon das Messer gezückt, als ihm ein Engel des Herrn Einhalt gebietet. Isaak wird folglich gerettet und an seiner Stelle wird ein Widder geopfert. Der 4. Gesang berichtet von den Empfindungen und Gedanken der anderen Familienmitglieder in Mamre während der Abwesenheit Abrahams und Isaaks. Elieser offenbart Ismael »den endzweck von Abrahams reise, das opfer des Isak« (4. Gesang, V. 68). Ismael, der einst selbst in der Wüste eine wie ein göttliches Wunder erscheinende Errettung aus größter Not erlebt hatte, äußert seine Hoffnung auf ein gutes Ende und spendet dadurch Elieser Trost. Gott sendet Sarah, der Mutter Isaaks, am Tag der Opferung einen symbolischen Traum. Abraham und Isaak kehren einige Tage später wieder nach Mamre zurück. Auf Wunsch Sarahs beginnt der »heilige Abram« die »erzæhlung von seinem gepryften und siegenden glauben« (4. Gesang, V. 383f.). Der epische Sänger umreißt die »erhabne geschichte« bzw. die »wundergeschichte« (4. Gesang, V. 412, V. 417) in wenigen Versen: Wie ihm [Abraham; I. G.] der Gott Schaddai den Isak zu opfern befohlen, Wie er den strengen befehl aus liebe vor Sarah verborgen, Und ihn nur Elieser entdeckt; wie heftig die leiden Seiner seele gewesen, die er mit ergebung besieget; Wie er zulezt auf Moria, den Isak, das willige opfer, Abzuschlachten bereit, von einem Engel des Herren Plœzlich verhindert worden, der ihm die zufriedenheit Gottes Yber seinen gehorsam und neuen segen verkyndigt. (4. Gesang, V. 385–392)

Am Ende des Epos bringt Abraham Gott ein festliches Dankopfer dar. Wieland ist der talentierteste Nachahmer Klopstocks. In seinem Gepryften Abraham versucht er, sich sowohl sprachlich-stilistisch als auch in der metrischen Form dem Messias anzunähern. So finden sich auch in Wielands Patriarchade Neologismen347, Archaismen348, formelhafte Wiederholungsfiguren349, 347 Einige Beispiele für Neologismen im Gepryften Abraham Wielands: »die hochgehalste gestalt des Cameles« (1. Gesang, V. 51), »vaterherz« (1. Gesang, V. 52), »die friedsamen hytten« (1. Gesang, V. 119), »Ausrichtsam« (4. Gesang, V. 457). 348 Es finden sich folgende Archaismen (insbesondere Verbformen) im Bibelepos Wielands: »beut« (2. Gesang, V. 330), »erkießt« (2. Gesang, V. 541), »gebeut« (2. Gesang, V. 578), »entfleuch« (2. Gesang, V. 578), »gepflogen« (3. Gesang, V. 3), »geußt« (3. Gesang, V. 496).

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dynamische Verbkomposita350 und Präsenspartizipien351. Eine besondere Vorliebe zeigt der Dichter zudem für klangmalende Alliterationen.352 Auch in der Gesamtkomposition des Gepryften Abraham zeigt sich, dass Wieland die epischen Musterautoren und deren Werke eifrig studiert hat. So stößt man in diesem relativ kurzen Bibelepos, das lediglich vier Gesänge in der Erstausgabe von 1753 umfasst, auf epische Standardelemente wie Szenen mit christlichmythologischen Figuren und Aoiden bzw. Rhapsoden, eine Ich-Erzählung von Abenteuern, Reiseschilderungen, Begrüßungs- und Abschiedsszenen, die Darstellung von Gastmählern und Festen, Prophezeiungen, Traumvisionen, Gleichnisse, Kurzvergleiche, Reden, Apostrophen und Musenanrufungen. Der erhabene, tugendhaft-empfindsame und fromme Held von Wielands Patriarchade ist der »geprüfte Abraham«, der von Gott auf die Probe gestellt wird, als er von ihm verlangt, seinen Sohn Isaak zu opfern. Abraham ist der »Prototyp eines auf Gott vertrauenden Menschen«.353 Das Epos beginnt mit dem

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Der Epiker verwendet auch den Latinismus »erstling« (2. Gesang, V. 387), den Klopstock im Messias ebenfalls gebraucht (vgl. III, 240, 431 u. ö.). So beendet Wieland beispielsweise die Rede einer epischen Figur stets mit der Formel: »Also sagt’/sagte er […]«; »Also rief er […]«; »Also erzæhl(e)t(e) er […]«; »Also sprach er/ sie […]« (vgl. 1. Gesang, V. 172, V. 265, V. 293; 2. Gesang, V. 37, V. 351, V. 423, V. 451, V. 464; 3. Gesang, V. 58, V. 113, V. 262, V. 391; 4. Gesang, V. 220). Gleichermaßen heißt es auch im Epos: »Also dachte der vater.« (3. Gesang, V. 195); »Also bat er« (4. Gesang, V. 198). Einige Beispiele für ›Bewegungsverben‹ im Gepryften Abraham: »entkyssen« (1. Gesang, V. 258), »umhalst« (3. Gesang, V. 290), »vorbeistralt« (3. Gesang, V. 628), »in neue entzyckung ergossen« (3. Gesang, V. 459), »von hellen freuden umflossen« (3. Gesang, V. 464), »Segne die Sonne dir nach!« (3. Gesang, V. 520), »er dankte nur schweigend zu Gott auf« (3. Gesang, V. 442). Es findet sich in Wielands Patriarchade eine Vielzahl an dynamischen Präsenspartizipien – hier einige Beispiele: »thrænend«, »siegend«, »strœmend« (1. Gesang, V. 179, V. 181, V. 369), »mit mæchtigbewegender kraft« (1. Gesang, V. 380), »die segnenden worte« (2. Gesang, V. 40), »mit bethrænten schimmernden augen« (2. Gesang, V. 56), »ein kyhlendes bad aus lebendem wasser« (2. Gesang, V. 65), »die scherzenden fluren« (2. Gesang, V. 76), »die denkenden zyge« (2. Gesang, V. 83), »meine verwelkende krone« (3. Gesang, V. 138), »sein sanftschwellendes antlitz« (3. Gesang, V. 257), »Mit herzryhrendem ton« (3. Gesang, V. 365), »die umschattende eiche« (3. Gesang, V. 360), »deine ringenden hænde« (3. Gesang, V. 329), »nur æchzende seufzer« (3. Gesang, V. 361), »widder mit sprossenden hœrnern« (3. Gesang, V. 534), »in jauchzenden schaaren« (3. Gesang, V. 609), »die blyhenden scenen« (4. Gesang, V. 38), »dem quælenden zweifel« (4. Gesang, V. 56). Hier einige Beispiele für Alliterationen im Gepryften Abraham: »ein goldner gedank« (1. Gesang, V. 272), »der traurige tiefsinn« (1. Gesang, V. 332), »ein gœttlicher geist« (2. Gesang, V. 126), »[e]in verwundersam volk« (2. Gesang, V. 159), »ein leises lispeln« (2. Gesang, V. 197), »wie silberne saiten« (2. Gesang, V. 233), »glænzende spuren der gœttlichen gyte gesehen« (2. Gesang, V. 455), »die frœmmere freude« (3. Gesang, V. 24), »blyhendes blut« (3. Gesang, V. 54), »blumichten bæchen« (3. Gesang, V. 142), »der himmlischen hoffnung« (3. Gesang, V. 285), »mit gestærktem gesicht« (3. Gesang, V. 460), »ein festlicher friede« (3. Gesang, V. 526), »mit der zackigten zung’« (4. Gesang, V. 39), »noch lang im lande der lebenden loben« (4. Gesang, V. 91). Blasig: Die religiöse Entwicklung des frühen Christoph Martin Wieland, S. 184.

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an ihn gerichteten göttlichen Befehl, in dem sich der Dichter eng an den Wortlaut des Alten Testaments anlehnt (vgl. Gen. 22,1f.):354 Abraham, rief die gœttliche stimme; Er sagte, hie bin ich. Nimm, so sprach Jehovah, den Isak deinen geliebten, Deinen einzigen sohn, und geh in die gegend Moria, Und auf einem der berge, den dir ein zeichen bestimmet, Opfre mir Isak. So sprach die mæchtige stimme Jehovah. (1. Gesang, V. 95–99)

Wortlos unterwirft sich Abraham seiner Glaubensprüfung. Demgemäß berichtet der epische Erzähler : »sein ganzer entschlossener geist war tiefer gehorsam« (1. Gesang, V. 107). Dieser Charakterzug des biblischen Helden wird wiederholt im Gepryften Abraham angeführt: Gottes allwissendes auge, der seher kynftiger dinge, Dem die geheimsten gedanken umsonst sich im busen verbergen, Sah in Abrahams herz und sah den tiefen gehorsam, Den mit harmonischer stille die ganze seele gelobte; Sah auch die that und den sieg des Gott ergebenen glaubens, Segnet ihn bei sich selbst und kehrte wieder gen himmel. (1. Gesang, V. 108–113)

Die Gottergebenheit Abrahams kommt auch in seinem anschließenden Monolog zum Ausdruck: »Wenn der unendliche spricht, wenn der befiehlt, der den weltkreis j Sich zum schemel der fysse gelegt, wenn Gott mit den Engeln j Oder mit menschen redet, gebyhret Engeln und menschen j Nur verhyllen des schweigenden mundes und schneller gehorsam.« (1. Gesang, V. 141–144) Der allmächtige Gott wird von Abraham als »Vater der weisheit, erfinder des heiligen schicksals« bezeichnet (1. Gesang, V. 145). Der Patriarch beteuert stets, dass er schweige, gehorche und »mit williger demuth« Gottes »erhabnen weisen befehl« ehre (1. Gesang, V. 168f.). Der einzige Vertraute Abrahams ist sein Knecht Elieser, der als »ein sohn der heiligen tugend« (1. Gesang, V. 298) charakterisiert wird. Die epische Szene im 1. Gesang des Gepryften Abraham (V. 296–501), in welcher Abraham mit Elieser einen Dialog führt355, dient der Darstellung der 354 »NACH DIESEN GESCHICHTEN / VERSUCHTE GOTT Abraham / vnd sprach zu jm / Abraham / Vnd er antwortet / Hie bin ich. Vnd er sprach / Nim Jsaac deinen einigen Son / den du lieb hast / vnd gehe hin in das land Morija / vnd opffere jn da selbs zum Brandopffer auff einem Berge / den ich dir sagen werde.« (Gen. 22,1f.) 355 In der letzten Ausgabe des Bibelepos von 1798 verändert Wieland diesen Dialog zwischen Abraham und Elieser. (Vgl. Wieland: Die Prüfung Abrahams in drey Gesängen. 1753. In: [Ders.:] Sämmtliche Werke. Supplemente. Dritter Band, S. 1–126, hier S. 32–38 (1. Gesang, V. 330–405).) In dieser Textfassung offenbart der Knecht Elieser dem Patriarchen seine Glaubenszweifel. Abraham ist empört über Eliesers »frevelnde Zunge« (ebd., S. 37, V. 393) und erweist sich in dem Wortwechsel als unerschütterlicher Verteidiger des christlichen Glaubens. Elieser bekennt in dieser Rede: »Vergieb mir den Zweifel, j Herr! allein, mir ist’s unmöglich, die furchtbare Stimme, j Die du zu hören glaubtest, für Gottes Stimme zu halten. j Nimmermehr kann ich ihn, den ewig Weisen und Guten, j Mit sich selbst in Widerspruch

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erhabenen Tugend und »gœttliche[n] weisheit des Patriarchen« (1. Gesang, V. 489). Als Elieser in eine schmerzvolle, tränenreiche Klagerede ausbricht und an Gottes Befehl zweifelt (vgl. 1. Gesang, V. 382–430), da er Isaak wie seinen eigenen Sohn liebt, weist ihn Abraham in die Schranken: Elieser, ich hœrte dein zærtliches klagen mit freundschaft. Konnt ich ohne gefyhl dein antlitz mit thrænen bedeckt sehn, Und mit thrænen um Isak? Doch klagen welche der unmuth Gegen den Himmel hinaufschallt, zum widerruf ihn zu bringen, Zweifel und mißtraun, o Freund, von deinen lippen zu hœren, Krænket mein herz und krænket es mehr als die eigenen leiden. Aber Gott siehet dein redliches wesen und wird dir vergeben. Sei nicht zu sehr, o werther, um meine seele bekymmert! Leidet sie schon, so weiß doch der Herr warum sie so leidet, Und wieviel sie zu tragen vermag. Ein leiden vom Herren Sollte dem menschen willkommener seyn als goldene freuden Die er selbst sich erfunden. Mein wille gehorchet dem gerne, Dem die Himmel gehorchen! So leid ich folgsam und schweige! – (1. Gesang, V. 433– 445)

Abraham bekennt: »Zwar blutet mein væterlich herze! j Aber es folget, und klagt nicht, und fyhlet die obermacht Gottes j Willig!« (1. Gesang, V. 456–458) Er appelliert an Eliesers Gottvertrauen: »Fasse dein herz und wiege den kummer in frommes vertrauen.« (1. Gesang, V. 482) Elieser reagiert mit »schweigender ehrfurcht« auf diese Rede des »glaubige[n] vater[s]« (1. Gesang, V. 487). Bezeichnenderweise folgt darauf eine Apostrophe an die Tugend: Denn wer fyhlet dich nicht, von Gott entzyndete tugend, Funke des heiligen lichts, von welchem die Seraphim stralen, Wenn du in deiner schœnheit erscheinst, wer muß dich nicht lieben? Auch wenn du zychtigest lieben wir dich! die stræfliche trauer, Und die klage, die heimliche feindin der herrschenden Vorsicht Schweigen vor dir und fliehen den tag womit du die seelen Deiner geliebten umgiebst. Von dir gestærket trug Abram Glaubig das grœste der leiden mit unyberwindlicher großmuth. So stand Michaels hoheit, mit gœttlicher stærke gegyrtet, Und mit Blute der Engel bespritzt, auf dem himmlischen schlachtfeld, Unter den Gott verlæugnenden schaaren, und trozte geruhig Wie ein marmorner berg, den donnernden schlægen der feinde. (1. Gesang, V. 490– 501)

Der Vergleich des Patriarchen mit dem kriegerischen Erzengel Michael aus Miltons Paradise Lost hat die Funktion, jenen als erhabenen Heroen darzudenken!« (Ebd., S. 33, V. 344–348.) Er glaubt, dass »ein böser Geist« Abraham »mit falschen Gesichten getäuschet« habe (ebd., S. 33, V. 351).

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stellen, der Seelenstärke beweist und seine Leiden innerlich und schweigsam erduldet. Wieland predigt in seinem Gepryften Abraham gewissermaßen einen »emphatischen Tugendkult«.356 So heißt es auch anschließend über den Titelhelden Abraham: »Tausend gedanken umgaben sein herz, doch herrschte die tugend j Yber sie alle, die tugend die Gott vom goldnen Olympus, j Wo der Seraph ihr dient, zu wenigen menschen herabließ, j Kœnigin yber sich selbst und willige sclavin der Gottheit.« (1. Gesang, V. 503–506) Eine wichtige Rolle bei der Charakterisierung der tugendhaften epischen Figuren im Gepryften Abraham spielen die christlich-mythologischen Gestalten. So sind die im 1. Gesang eingeführten Engel Elhanan und Elisa wie die Seraphim und Cherubim im Messias Klopstocks emotional bzw. innerseelisch teilnehmende Zeugen und kommentierende Beobachter des irdischen Geschehens. Elhanan, der Schutzengel Isaaks, beobachtet voller Mitleid den gottergebenen Patriarchen Abraham von »einer silbernen wolke« (1. Gesang, V. 173) aus. Er erkennt »die fromme geduld in seinem ruhigen antlitz j Und im himmelwærts schauenden aug anbetende demuth, j Keine mine verstellt, obgleich ein sittsamer schmerzen j Seinen augen und lippen ihr mildes læcheln genommen« (1. Gesang, V. 175–178). Der Seraph wendet sich mit folgenden Worten an seinen Begleiter Elisa: Hast du, o himmlischer Freund, seitdem du die menschen besuchest; Und du besuchtest schon Eden; die tugend so siegend gesehen, Ein so erhabenes herz, so unterwyrfig der Gottheit, Solche geduld? – Wie ehr ich dich Vater der glaubigen menschen, Held, und zierde des menschengeschlechts und liebling der Gottheit! (1. Gesang, V. 180–184)

Der gläubige Abraham wird in dieser Rede Elhanans ausdrücklich als »Held« (1. Gesang, V. 184) bezeichnet. Gleichermaßen macht er später mitfühlend deutlich: Aber wie wallt mir mein herz, wenn ich die leiden erwege Die das blutende herz des gepryften vaters izt schweigend In sich verschließt, die nur selten ins bleiche angesicht dringen? Doch er ist ja ein held! Sein herz ist mit stærke umwunden, Wie ein von Gott bewafneter Seraph erwartet er muthig Jede schickung; so træget ein fels den feurigen donner. (1. Gesang, V. 225–230)

Abraham wird von den Engeln mit Henoch verglichen (1. Gesang, V. 186–221). Diese alttestamentliche Figur (vgl. Gen. 5,21–24; Sir. 44,16; Hebr. 11,5) ist einer der antediluvianischen Patriarchen, der im hohen Alter von 365 Jahren noch lebend von Gott in den Himmel entrückt wurde. Der Seraph Elhanan führt 356 Zaremba: Christoph Martin Wieland. Aufklärer und Poet, S. 61.

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Henoch als weiteres Exempel eines gottergebenen Glaubens an. Wie Abraham sei er noch spät, d. h. im Greisenalter, Vater geworden. Jedoch habe ihm ein »heilige[s] feuer« (1. Gesang, V. 202) den Knaben genommen und seine leibliche Hülle zu Asche versengt. Henoch lobpreist Gott für die »wolthat« (1. Gesang, V. 221), seinen einzigen, geliebten Sohn vor dem Tod seiner Eltern in die herrliche Ewigkeit des Himmels aufgenommen zu haben. Das »næchtlich[e] gewitter«, das plötzlich »am wartenden Himmel« rauschend heraufzog, die wie Feuer glühenden Wolken, aus denen ein Feuerstrahl, also ein Blitz, Henochs Sohn traf (1. Gesang, V. 199–202), werden als Ausdruck der göttlichen Macht verstanden. So sagt der fromme Henoch freudig: »Wahrhaftig der Herr hat vom Himmel j Seine stimme erhoben, und aus dem wetter geredet; j Er hat seine rechte im feuer herunter gestrecket, j Und den knaben dahin in seine ruhe genommen.« (1. Gesang, V. 213–216) Henoch ist in dieser kurzen Erzählung Elhanans ein Spiegelbild Abrahams, denn auch er betrauert nicht schmerzvoll den Tod seines Sohnes, sondern beugt sich klaglos dem göttlichen Willen. Bezeichnenderweise verkündet der Patriarch Abraham später im Gebet: […] Der knab’ ist dein, o mein Schœpfer. Dieser gottselige geist, dies herz voll unschuld sind gaben Deiner gnade. Dir steht es auch zu, ihn, deinen erwæhlten, Auf der Erde zu lassen, ein beispiel gottseligen enkeln, Oder zu dir in die chœre der himmlischen Geister zu nehmen, Wie du Enoch vordem von der Erden hinweggenommen, Daß kein entheiligtes aug ihn mehr sehe. – So nimm denn auch Isak! (2. Gesang, V. 483– 489)

Isaak reflektiert über seine Empfindungen und Gedanken, die ihm während seiner Rettung durch einen Engel durch den Kopf gingen, und erwähnt dabei ebenfalls Henoch: Als ich yber den altar gebyckt, die ersten stralen Welche den kommenden Seraph verkyndigten, wundernd erblickte; Hofft’ ich, o vater, die himmlischen kæmen mich mit sich zu fyhren. Als er næher herbei kam, so hœrt’ ich in meiner entzyckung Schon den goldnen cherubischen wagen des Engels ertœnen Der einst Henoch zum Himmel gefyhrt! Wie hypfte mein herze! Aber mein herz betrog mich; Gott hat es anders beschlossen. (3. Gesang, V. 478–483)

In einer Rede Gottes im 2. Gesang des Gepryften Abraham wird der Vergleich Abrahams mit Henoch erneut aufgegriffen: Seraphim, die ihr der Erde vor andern Welten geneigt seid, Wenn ihr verlangt die menschliche tugend, in hœherer wyrde Als sie bisher sich zeigte, zu sehn, so blicket nach Canan. Abraham wandelt daselbst. Ihr kennt ihn. Die heilige einfalt

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Seines wandels, die tugend, die euere tugend nachahmet, Hat euch oftmals vergnygt. Mein gœttliches auge hat selber Unter allen von Adam gebohrnen nur Einen gesehen Der so getreu der bestimmung zu der ich die Menschen erschaffen Vor mir gewandelt, nur Henoch, dein heiliger liebling, Eloa. Aber die probe mit der ich seine tugend izt pryfe Wird die Menschheit und den der Menschen erschaffen hat, ehren! (2. Gesang, V. 496– 506)

Gottvater lobt nicht nur die außergewöhnliche Tugendhaftigkeit Abrahams, sondern auch seinen unbedingten Gehorsam: »Nicht eine klage beflecket j Seine lippen; er leidet und lobet mich unter dem leiden.« (2. Gesang, V. 515f.) Isaak ist der verheißene Sohn Abrahams und Sarahs (vgl. Gen. 17,15–22). Gemäß dem typologischen Verweisungssystem ist er eine Präfiguration Jesu Christi. Im Bibelepos Wielands wird daher wiederholt auf den neutestamentlichen »Antitypos«, den Messias, aufmerksam gemacht. So sieht Sarah in prophetischen Träumen »den gœttlichen Mittler, j Isaaks kynftigen enkel, mit seinem fleische gekleidet; j Sah ihn und betet’ ihn an und nannt ihn mit innbrunst Erlœser, j Nannt ihn Erlœser und Sohn, und umfieng ihm kyssend die fysse« (1. Gesang, V. 254–257). Auch der Knecht Elieser verweist in seiner Klagerede auf die Rolle Isaaks als »Typos«, nachdem er von Abraham hinsichtlich des göttlichen Befehls eingeweiht wurde: Soll die Erde, die ich in meiner zu fryhen entzyckung Schon von den tritten des gœttlichen manns, des Versœhners, geweiht sah, Schon mit seinem blute bedeckt, mit zeugen der wahrheit Und mit kindern des glaubens erfyllt, – die verlassene Erde Soll sie mit ewigem dunkel bedeckt ein kerker der synder Bleiben, was wird aus uns und unsern enkeln dann werden? Ist der verneuerte fryhling der Erd’ ein nichtiges traumbild, Den mir an einem prophetischen morgen ein Engel selbst zeigte? Nein! die worte des Herrn sind fester als eherne berge, Ewiger als unsterbliche Welten! Schon sind sie geredet! Aber warum gebeut er dir denn den erben zu tœdten, Den, auf welchem sie ruhn? Den vater des grossen Messias? (1. Gesang, V. 416–427)

Gott hat dem auf die Glaubensprobe gestellten Abraham schon »den lohn« und »Kronen« bestimmt (2. Gesang, V. 494, V. 517). So verkündet er im Kreise seiner Engel im Himmel: »Aus Abrahams samen j Wird der segen der Erde, wird mein Messias entsprossen; j Und viel sœhne der tugend, viel unbefleckte gerechte j Sollen ihn vater nennen und meine segnungen erben.« (2. Gesang, V. 517–520) Über die Stätte, wo Isaak geopfert werden soll, heißt es in der Patriarchade: »Bald erstiegen sie [Abraham und Isaak; I. G.] auch den heiligen hygel; man nannt’ ihn j Golgatha in den spætern zeiten; hier hast du, Messias, j Von der

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hœhe des kreuzes dein gœttliches leben geblutet!« (3. Gesang, V. 266–268) In einer Apostrophe wendet sich der epische Sänger hier an den Heilsbringer und Erlöser, den Messias. Die Opferung Isaaks präfiguriert somit die Kreuzigung Jesu Christi. Dieses Analogieverhältnis greift Abraham in seiner anschließenden Rede auf, als er seinem Sohn offenbart, dass dieser das Opferlamm sein soll: Izo vernimm, mein sohn, was Gott fyr ein lamm sich erwæhlt hat; Zittre nicht, kind, – Jehovah befiehlt, vernimm ihn mit ehrfurcht. Er befahl mir, dich soll ich ihm opfern, dich meinen geliebten, Sarah’s einzigen sohn, – ich folge dem hohen befehle. Zwar es bricht mir mein herz! – Doch Gott ists der dich mir schenkte, Ihm gehœrst du, er fodert dich wieder! – Erfreue dich jyngling, (Aber du weinst!) o weine nicht mehr! du solltest dich freuen Daß der Richter dein blut vor dem blute der læmmer im thale Sich zum zeichen erwæhlt, das ihn an den Mittler erinnre. (3. Gesang, V. 272–280)

Isaak ist ein Abbild seines Vaters Abraham. Er ist sogleich »gehorsam« (3. Gesang, V. 308), beugt sich dem göttlichen und väterlichen Willen und bricht nur in Tränen aus, weil er an die Reaktion seiner armen Mutter Sarah denken muss, wenn sie von seinem Opfertod erfährt: Aber das bild der zærtlichen mutter, dies zwingt mich zu thrænen, Ach dies schmelzt mir das herz! wie wird sie die nachricht ertragen! Stærke sie, Gott Messias, durch den mein blut izt der Gottheit Wolgefællig wird fliessen, o stærke sie, daß sie dem elend Nicht erliege, das bald ihr mytterlich herze bestyrmet. Doch ich vertrau, er werde sie trœsten, – auch dich, o mein vater! – Und nun weiche, betrybniß, von mir! verstummet, ihr thrænen Und kein seufzer errege dies herz, das dem Herren geweiht ist. Siehe, hie bin ich, mein vater, das opfer ist willig zu bluten! Thue mir, wie dein Gott dir befahl! […] (3. Gesang, V. 315–324)

Der prägnante Ausspruch Isaaks »hie bin ich« (3. Gesang, V. 323) zeigt, dass Wieland dem tugendhaften Sohn dieselben Bibelworte in den Mund legt (Gen. 22,1; 22,7), die bereits sein Vater Abraham ausgesprochen hatte, als er die Gegenwart Gottes fühlte (1. Gesang, V. 95). Vater und Sohn werden folglich als Seelenverwandte dargestellt: »Aber in beiden wallte das herz von empfindungen yber, j Welche nur wenige fyhlten, und niemand der sie gefyhlt hat j Reden kann.« (3. Gesang, V. 341–343) Isaak legt sich mit klopfendem Herzen auf das Holz des Altares und freut sich auf sein himmlisches Leben nach dem Opfertod. Er fühlt »die heilige ruh« in seinem Herzen (3. Gesang, V. 330). Abraham versichert im Gebet, dass sein Herz nun »eiserne stærke« habe und nicht mehr brechen wolle (3. Gesang, V. 347f.). Er gebe Gott sein »bestes geschenke« zurück (3. Gesang, V. 350). Der Sohn wird somit als göttliche Gabe angesehen:

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Aber wie Isak ist, so hast du selten, o Schœpfer, Seelen gebildet, so schœn wie du seine seele gehaucht hast, So voll zarten gefyhls der frommen tugend, so himmlisch, Und mit solcher weisheit gekrœnt, sind wenig erschaffen, Und der war mein, ich hatt’ ihn gezeugt, er nennte mich vater. […] Sei gelobet, o gytiger vater, fyr jeden der tage Die ich durch ihn lebendiger lebte, fyr jede entzyckung Die er mir gab, wenn ich hoffend in ihm den Erlœser schon sahe, Der von ihm einst entspringen sollte; wenn oft mich die Engel Selig gepriesen, und mich den vater des Mittlers begryßten – Nimm den zærtlichen dank fyr diese gnaden, o Schœpfer, Nimm auch gnædig das opfer von meinen folgsamen hænden. (3. Gesang, V. 374–378, V. 384–390)

Isaak ist wie Abraham ein Idealtypus. Er wird im Bibelepos wiederholt als tugendhafter, frommer, weiser und anmutiger Jüngling charakterisiert (vgl. z. B. 1. Gesang, V. 371–376, 2. Gesang, V. 65–86). Es ist offensichtlich, dass derartige christlich-erhabene Tugendhelden die heidnischen-antiken Heroen überbieten sollten. Die erneute Erwähnung des Mittlers in dieser Rede Abrahams verweist zudem auf das nachahmenswerte literarische Vorbild Wielands, den Messias Klopstocks. Auf diese epische Pathosszene im 3. Gesang des Gepryften Abraham, die darin gipfelt, dass Abraham »mit der nervichten hand das blinkende messer« ergreift (3. Gesang, V. 392), folgt eine olympische Szene. Der »ewige Vater« im Himmel beobachtet das irdische Geschehen und verkündet den versammelten Engeln, »die um das heiligthum wachten«: »Abraham hat die probe gehalten! Er hat mir zu dienen j Seines einzigen sohns nicht verschont.« (3. Gesang, V. 393, V. 395–397) Gott sendet sogleich einen Engel aus, der die Opferung Isaaks verhindert und Abraham im Namen des Herrn segnet. Das unmittelbare Vorbild für die Darstellung der christlich-mythologischen Charaktere im Gepryften Abraham Wielands ist der Messias Klopstocks. So wird beispielsweise Uriel, der Beherrscher der Sonne, kurz angeführt (vgl. 1. Gesang, V. 288f.). Auch den »hohen Eloa« (2. Gesang, V. 494), der Gottes Befehle ausführt, übernimmt Wieland als Engelfigur aus Klopstocks seraphischer Hexameterdichtung (vgl. 2. Gesang, V. 504; 3. Gesang, V. 400–462, V. 550–563, V. 565–628). Die Seraphim Elisa (vgl. 1. Gesang, V. 265–292) und Elhanan (vgl. 1. Gesang, V. 180–264; 2. Gesang, V. 54–58; 3. Gesang, V. 1–59) hingegen sind Erfindungen Wielands. Der Dichter bezeichnet die Engel in seinem Gepryften Abraham dezidiert als »Olympier« (3. Gesang, V. 38) und den christlichen Himmel als »Olympus« (1. Gesang, V. 284; 2. Gesang, V. 540; 3. Gesang, V. 27). Durch diese antikisierenden Begriffe setzt Wieland die christlich-mythologischen Figuren mit den heidnisch-antiken Göttern gleich.

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Die Nachahmer Klopstocks

Wieland verwendet die Bezeichnung »Zeugen«, die Klopstock im Messias stets für seine höllischen, himmlischen und menschlichen Nebenfiguren gebrauchte (I, 420; XIII, 876; XV, 1100; XIX, 713 u. ö.), in seinem Heldengedicht für die olympischen Beobachter der christlichen Heilsgeschichte. Im 1. Gesang des Gepryften Abraham stellt der Seraph Elisa an den Schutzengel Elhanan folgende Forderung: »Sei ein zeuge der grossen geschichte, damit ich im Himmel j Sie von dir kynftig an einem vertraulichen abend vernehme.« (1. Gesang, V. 291f.) Demgemäß wird Elhanan charakterisiert als ein Seraph, der Isaaks und Sarahs Leben »voll unschuld j Mit beschirmenden flygeln von Gott befehligt, umschwebet, j Unsichtbar immer sie sieht, und jede der thaten bemerket j Welche sie thun, und jeden der triebe, die [den Engeln] gleichen« (1. Gesang, V. 267– 270). Gott selbst erteilt Elhanan in einer olympischen Szene den Befehl, der himmlische Beobachter des »geprüften Abraham« zu sein: »Sei ein zeuge der frommen that, laß keine bewegung j Seiner brust dir entfliehn, kein wort und keinen gesichtszug j Der die seele verræth; begleite sie bis zur entwicklung j Daß die Engel von dir die tugend des helden vernehmen.« (2. Gesang, V. 522–525) Und auch Elhanan bezeichnet sich als »zeug und beschytzer« von Isaaks »irdische[m] leben« (3. Gesang, V. 35f.). Er merkt zudem an: »Der anblick der menschlichen tugend j Ist fyr Olympier reizend, auch hat sie oft Engel zu zeugen.« (3. Gesang, V. 37f.) Elhanan hat auch die Funktion, der Seelengeleiter Isaaks zu sein: […] Dem anschaun der Gottheit Stirbst du entgegen, o jyngling, den liedern Eloa’s, dem umgang Himmlischer freunde, dem ewigen leben, der fryhern vollendung! Komm, ich weine nicht, freund, wenn bald dein blyhendes blut fließt, Wenn du der sterbenden lilie gleich dein læchelndes haupt neigst. Nein! ich weine dann nicht! mit hellerentfalteten flygeln Nehm ich dich, seele, dann auf und stral’ in die chœre der Engel. (3. Gesang, V. 51–57)

Der Schutzengel erfüllt den Auftrag Gottes und begleitet Abraham und Isaak zur Opferstätte. Demgemäß berichtet der epische Sänger : »Neben den reisenden schwebt Elhanan der himmlische zeuge j Dieser geschicht’.« (3. Gesang, V. 118f.) Die Engel machen im Gepryften Abraham Prophezeiungen und geben ihren Schützlingen Traumvisionen ein. So weissagt Elisa bereits im 1. Gesang den guten Ausgang der Glaubensprüfung: Aber ein goldner gedank, ein frœlicher schimmer von hoffnung Zeigt mir, o himmlischer freund, den ausgang der traurigen scene Sich in freude verliehren. Zwar sind sie schlysse Jehovah Dunkel vor uns; nur Er weiß was der Gottheit gebyhret, Seraphim nicht; kaum daß er seinem vertrautesten Cherub Einen blick ins heiligthum gœnnt, die goldene zukunft Auf den tafeln des schicksals zu lesen. – Doch seh ich noch hoffnung

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Selbst in der tiefe der ewigen schlysse. O Seraph, die gyte Unsers Kœnigs ist unbegrænzet. Die wonne der geister War von anfang sein liebstes geschæft. Er nennet sich liebe. So verklært’ er sich uns, den Engeln, da wir ihn alle Neuerschaffen umflossen; so will er den irdischen menschen, So in jeder ætherischen Welt, in jedem Olympus, Sich verklæren. […] (1. Gesang, V. 272–285)

Der Seraph glaubt an einen gnädigen Schöpfergott und versichert: »Die heimliche absicht j Seiner schickung wird bald sich enthyllen. Ein schmerz den er sendet j Muß doch im ausgang læcheln!« (1. Gesang, V. 286–288) Laut Erzählerbericht erschien Abraham im Traum ein Engel, der ihm sagte, dass ihn eine Taube zur Opferstätte führen werde (3. Gesang, V. 241–246). Elhanan, Isaaks »zærtlicher Engel« (3. Gesang, V. 26), beabsichtigt, »[h]olde træum’ um das haupt des heiligen knaben zu giessen« (3. Gesang, V. 59). Glücklich erwacht Isaak daher am Morgen vor der Reise nach Moria aus »einem heiligen traume«: »Noch sah er der Seraphim schaaren, j Die am erœffneten Himmel herab um die wolke der Gottheit j Schwebeten, noch umfloß ihn von ihren lazurnen flygeln j Ein ambrosischer wind.« (3. Gesang, V. 62–66) Dem Helden Abraham ist es allerdings kurz vergönnt, den Himmel und seine göttlichen Bewohner nicht nur im Traum zu sehen: Da er [Abraham; I. G.] noch lag, verbreitete sich ein plœzlicher schimmer Um und um yber die hygel, stets ward er heller und zog sich Wie ein ætherisches stralengewœlk um den lazurnen Himmel. Abraham hub die augen empor und fyhlte die Gottheit Gegenwærtig; ein Engel vom winke des Herren befehligt Stieg unsichtbar herab und stærkte das auge des Alten. Und er sahe mit einem blicke (die menschliche seele War nur einen zu tragen geschickt) in die herrlichkeit Gottes, Mitten durch unabsehbare reihen anbetender Engel, Zwischen ihnen Jehovah der auf den Cherubim thronet, Eine olympische scene, die menschliche worte verdunkeln! Unter dem gœttlichen anblick ersank der kœrper von erde. (1. Gesang, V. 77–88)

Die innerlich bewegten Engel dienen auch im Gepryften Abraham Wielands als Identifikationsfiguren, d. h., die hoffentlich gerührten Leser bzw. Zuhörer sollten wiederum alle Affekte der epischen Figuren nachempfinden. Im 3. Gesang beobachtet der empfindsame Elhanan aufmerksam das Geschehen auf dem Opferberg. Als er sieht, wie Isaak »mit kindlicher innbrunst« seinen Vater umarmt und dabei »die bleichen wangen« Abrahams »mit wenigen thrænen« benetzt (3. Gesang, V. 288–290), da erlischt der Glanz des Engels: »Da bebt ihm sein herze j In der himmlischen brust; er sah mit erblassendem antlitz j Aengstlich herab, sein jugendglanz schwand auf der seligen stirne.« (3. Gesang,

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Die Nachahmer Klopstocks

V. 291–293) Der epische Erzähler berichtet, dass »den Seraph die blyhte der himmlischen schœnheit« verlassen habe (3. Gesang, V. 303). Dies erinnert an die Darstellung des Schutzengels Chebar im Bibelepos Klopstocks (vgl. XII, 492– 495, 507–515), denn dessen glühende, himmlische Schönheit erlöscht ebenfalls, als Maria von Bethanien im Sterben liegt. Im dreistufigen Engelsystem Klopstocks nimmt Eloa den höchsten Rang ein. Wieland übernimmt diesen seraphischen Charakter im Gepryften Abraham und teilt ihm die Rolle desjenigen Engels zu, der im Alten Testament die Opferung Isaaks verhindert und den göttlichen Segen überbringt (Gen. 22,11–18). Eloa bietet sich bemerkenswerterweise im Epos selbst an, Abraham Einhalt zu gebieten: Sende mich, o Jehovah, mein herz zerfließt mir in freude, Daß du den sohn dem vater noch schenkst und den frommen gehorsam Und die ergebung so gnædig belohnst! Mit welcher entzyckung Wird er mich hœren, wenn ich die sysseste botschaft ihm bringe? Schœpfer, seitdem du Menschen erschufst, seitdem ich die Ersten In der schœnheit des gœttlichen bildes in Eden gesehen, Hat mein zærtliches herz nicht eine menschliche freude So empfindlich durchdrungen als dieser sich wiedergeschenkten Freudentrunkne umarmung. O laß mich eilend zur Erde Niederstralen, und ihnen die worte des lebens verkynden, Die ich in deinem unsterblichen aug’, o Vater, izt lese. Also sprach er, ihm winkt der Gott des Himmels die antwort. (3. Gesang, V. 401–412)

Im Messias heißt es, dass Gottvater Eloa zu sich winkte und der Seraph »die Red’ in dem Antlitz Jehovah« verstand, ohne dass dieser die Worte überhaupt ausgesprochen habe (I, 405f.; vgl. V, 327). Eben jener Charakterzug Eloas findet sich auch im Gepryften Abraham (vgl. 3. Gesang, V. 410–412). Dieser Seraph ist auch hier das göttliche Sprachrohr. Während die anderen Engel lediglich Beobachter sind, greift er in das Handeln der epischen Heroen ein. Er tritt auf als »ein gesandter der Gottheit« und ruft Folgendes »[a]us den wolken, mit mæchtiger stimme zu Abram herunter« (3. Gesang, V. 422, V. 425): Abraham, Abraham! – Plœzlich erhebt der vater sein antlitz, Sieht Eloa, und schauert zurycke, das opfermesser Zittert ihm aus der hand. Der empyreische schimmer Und das ansehn Eloa’s, der wie ein Gott, wie der Erste Aller Erschaffnen, stand und mit gytigem aug’ auf ihn hinsah, Yberschwemmte sein herz mit unaussprechlicher freude. Abraham fiel auf sein angesicht hin und lag vor Eloa, Hebe dich auf, gesegneter Gottes, so rief izt Eloa, Nie ist dir eine willkommnere botschaft vom Himmel gekommen. Gott hat deinen gehorsam gepryft und lauter befunden; Izo sei Isak der lohn des Gottergebenen willens.

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Ihm zu gehorchen verschontest du nicht des geliebtesten sohnes. Nimm und umarm ihn, den zweimal von Gott geschenkten, und preise Gottes gyte mit deiner entzyckung! […] (3. Gesang, V. 426–439)

Die entsprechende Parallelstelle im Alten Testament, deren Wortlaut Wieland teilweise übernimmt, die er aber auch erweitert, lautet: DA rieff jm der Engel des HERRN vom Himel / vnd sprach / Abraham / Abraham / Er antwortet / Hie bin ich. Er sprach / Lege deine hand nicht an den Knaben / vnd thu jm nichts / Denn nu weis ich / das du Gott fürchtest vnd hast deines einigen Sons nicht verschonet / vmb meinen willen. (Gen. 22,11f.)

Abraham reagiert enthusiastisch auf die Erscheinung Eloas: Gœttlicher bot’, erhabenster unter den dienern Jehovah! Sysser kann sterbenden nicht die harfe der Engel ertœnen Als die botschaft mir ist, womit der Herr dich gesandt hat. O sie geußt ein erneuertes leben durch meine gebeine. Niemals hab ich das leben der seele so mæchtig gefyhlet, Niemals ist mir mein inners in solcher entzyckung zerschmolzen! (3. Gesang, V. 493– 498)

Während der Patriarch anstelle seines Sohnes einen Widder opfert, besprechen sich Elhanan und Eloa über Isaak (3. Gesang, V. 536–564). Laut dem Schutzengel ist nur Eloa in der Lage, das weitere Schicksal von Abrahams Sohn zu enthüllen: »Seraph, du weiß’st es, du liesest in wenigen augenblicken j Was von der seele des jynglings sich mir in jahren enthyllet.« (3. Gesang, V. 544f.) Eloa verkündet daraufhin Elhanan Folgendes über die glückliche Zukunft Isaaks: Isaak wird, so schrieb es der Herr in die bycher des schicksals, Seinen enkeln ein bild der irdischen seligkeit werden. Hast du nicht in den ebnen von Haran ein mædchen gesehen Die vor ihren gespielen wie unter den dornen die rose Reizend hervorblyht, die zærtlichste tochter der tœchter von Eva? Diese mit allen freuden der edeln menschlichen liebe Ist dem jyngling bestimmt; du wirst der syssen umarmung Ihrer liebe, dem holden vertraulichen umgang der freundschaft Und der harmonischen ybung der tugend, o Seraph, dann zusehn. Doch nicht allein! Jehovah wird selbst die hytten des frommen Gnædig besuchen, die jugend des Himmels besuchet die hytten, Wo die ehre des Herrn aus reinen lippen hervortœnt. (3. Gesang, V. 552–563)

Der Engel greift hier einen Handlungsstrang des Epos auf, indem er implizit auf Ribka, die Enkelin Milcas und Tochter Bethuels verweist, die Isaak laut dem Alten Testament später zur Frau nehmen wird (vgl. Gen. 24,1–67). Im 2. Gesang erzählt Isaak von seinen Abenteuern während seines Aufenthalts in Haran (V. 135–350) und wie unbewusst seine leidenschaftliche Liebe zu Ribka er-

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wachte, die ihn noch stärker für »die selige tugend« (2. Gesang, V. 190) entflammen ließ. Er preist ihre engelsgleiche Sangeskunst, jugendliche Schönheit, Anmut und Unschuld (2. Gesang, V. 168–204). Die für Epen fast schon obligatorische Liebesgeschichte wird im Gepryften Abraham Wielands zumindest angedeutet, wenn auch nicht ausführlich erzählt. Der Epiker erweitert hiermit den biblischen Stoff, wie auch mit der Ismael-Episode (2. Gesang, V. 363–426; 4. Gesang, V. 4–204). Ismael, der »sohn der egyptischen Hagar« (2. Gesang, V. 373), erbittet im 2. Gesang den väterlichen Segen für seinen erstgeborenen Sohn Nebajoth. Auch dieser epische Charakter ist der Inbegriff eines Tugendhelden. Nachdem ihm von Elieser der »endzweck von Abrahams reise, das opfer des Isak« (4. Gesang, V. 68), offenbart worden ist, wendet sich Ismael im einsamen Gebet mit folgender Bitte an Gott: »Nimm meinen unschuldigen theuren Nebajoth, j Meinen Ersten, das kleinod der mutter, nimm diesen fyr Isak. j Tœdte mein liebstes und gieb dafyr Isak den armen des vaters!« (4. Gesang, V. 195–197) Auch dieser Vater ist demnach bereit, seinen Sohn zu opfern. In den Fassungen des Gepryften Abraham von 1762, 1770 und 1798 endet die epische Handlung mit den Weissagungen Eloas über die Zukunft des Geschlechtes aus dem Hause Abraham (3. Gesang, V. 566–620). Die biblische Grundlage hierfür lautet: VND der Engel des HERRN rieff Abraham abermal vom Himel / vnd sprach / Jch habe bey mir selbs geschworen / spricht der HERR / Die weil du solchs gethan hast / vnd hast deines einigen Sons nicht verschonet / Das ich deinen Samen segenen vnd mehren wil / wie die Stern am Himel / vnd wie den Sand am vfer des Meers / Vnd dein Same sol besitzen die Thor seiner Feinde / VND DURCH DEINEN SAMEN SOLLEN ALLE VÖLCKER AUFF ERDEN GESEGENET WERDEN / Darumb / das du meiner stimme gehorcht hast. (Gen. 22,15–18)

Wieland lehnt sich in der Rede Eloas zunächst eng an den biblischen Wortlaut an: Abraham, hœre das wort des Herrn, so saget Jehovah, Der mit der rechten den Himmel umfasst, mit der linken die Welten Die sein athem bewegt; ich schwœre dir bei mir selber ; Weil ich deine tugend so fromm und meinem befehle Willig gefunden, befahl ich dir gleich, dein liebstes zu tœdten, Siehe so sei dein geschlecht vor allen geschlechtern der Erden Groß und herrlich vor mir! unzæhlbar wie sterne des Himmels Oder der sand am meere; dein same besitze die thore Seiner feinde, man nenn’ ihn die auserwæhlten des Herren! Ja aus deinem samen soll allen vœlkern der Erde Heil entsprossen, sie sollen mit seinem segen dich segnen. Also redet der Gott des schicksals, der dessen verheissung Fester als berge Gottes, als seine Seraphim stehet! – (3. Gesang, V. 566–578)

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Eloa spricht in dieser epischen Szene allerdings nicht nur im Namen Gottes, d. h., er überbringt nicht nur eine Botschaft und den göttlichen Segen, sondern er enthüllt Abraham auch diejenigen Bilder der Zukunft, die er selbst gesehen habe, als ihm »ins heiligthum Gottes j Sieben blicke gegœnnt« worden seien, wo »die goldenen tafeln [hingen], j Gottes schicksal, an diamantnen unsterblichen pfeilern« (3. Gesang, V. 582–584). Auf diesen goldenen Tafeln des Schickals habe er Folgendes gelesen: […] Aus deinem [Abrahams; I. G.] gesegneten samen Wird ein Kœnig entstehn, dem unter den Morgenlændern Keiner an weisheit und herrlichkeit gleicht. Der wird dem Jehovah Einen erhabnen tempel auf diesem Moria erbauen. Hier wird die herrlichkeit Gottes bei Menschen zu wohnen belieben, Zwischen dem opfergeruch und den hymnen der betenden priester Wird sie yber den Cherubim wohnen, bis daß der Messias, Der Versœhner erscheint. Der wird die bilder hinwegthun. Hier auf diesem geheiligten hygel, wo Gott dir befohlen Isak zu opfern, hier wird sich der Mittler fyr Adams geschlechte Opfern, hier wird sein gœttliches blut die Erde bedecken. Alsdann reisset der vorhang, der Gott von den Menschen geschieden; Dann ist die ganze Erde so heilig wie dieses gebyrge. Gott ist dann allen versœhnt; gleich gegenwærtig bei allen, Hœret er dann wer ihn im Geist und der wahrheit verehret. Siehe dies ist dein same, mit dem die vœlker sich segnen. Ja in ihm werden dereinst die enden der Erde sich segnen. Durch ihn, welchen Jehovah zum zweiten Schœpfer der Erde Vor der grundlegung des Weltbaus bestimmte, durch ihn den Messias Wird der Erdkreis dereinst zur ersten schœnheit erneuert. Dann wird wahrheit und fried’ ihn wie den Himmel regieren. Alsdann blyhet die wyste wie rosen, der sandichten einœd’ Wird des Libanons schmuck und die herrlichkeit Carmels gegeben, Bæche von honig entsprudeln den felsen, die dyrre giebt quellen. Gottes Erlœseten werden alsdann in jauchzenden schaaren Zion besuchen, unsterbliche freud’ und gœttliche wonne Wird um ihr haupt seyn und schmerzen und seufzer auf ewig entfliehen. Dann frolocken die Himmel, dann hypfet mit ihren gebyrgen Frœlich die Erde; dann stralet sie herrlich vor andern gestirnen Gegen den thron hin; denn Gott Jehovah ist selbst ihr Erbarmer. Abraham siehe, dies sah ich im ewigen buche der zukunft. Freuet euch, Gottes geliebte, und lobet mit eurer entzyckung Den, der euerm geschlecht die wunder der gyte bestimmet. Seid mir gegrysst, ihr heiligen Væter des grossen Messias, Yber euch ruhn die verheissungen Gottes, euch kœnnen die Engel Nichts mehr wynschen. Ihr seid mit allen segen gesegnet! (3. Gesang, V. 585–620)

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In dieser Rede Eloas im Gepryften Abraham finden sich weitere intertextuelle Bezüge auf Klopstocks Bibelepos. So wirft Eloa im Messias ebenfalls einen Blick in das »Heiligthum« Gottes (I, 369). Der Seraph erzählt dem Cherub Urim, was er da gesehen habe: »Dort an den goldenen Pfeilern, da sind labyrinthische Tafeln j Voll Vorsehung; dann Bücher des Lebens, welche dem Hauche j Mächtiger Winde sich öffnen, und Namen künftiger Christen, j Neue belohnende Namen, des Himmels Unsterblichkeit, aufthun.« (I, 375–378) Wieland erwähnt ebenfalls die Tafeln des Schicksals, die an Pfeilern hängen (vgl. 3. Gesang, V. 583f.). Die ausführliche Auseinandersetzung mit der Erlösungstat Jesu Christi in dieser Rede Eloas verweist zugleich auf den vom Nachahmer Wieland bewunderten Prätext, den Messias Klopstocks. Der epische Erzähler zählt in der Patriarchade Wielands diverse typische Charaktereigenschaften der Engel auf. So schwebt beispielsweise Eloa »[m]ajestætisch in ewigem glanz« daher (3. Gesang, V. 422). Der Seraph zeichnet sich zudem durch eine für die menschlichen Sinne unfassbare Schnelligkeit aus: »Alsobald schimmert der Seraph mit tausendmal schnellerem flygel, j Als um den Himmel der Himmel die obersten Sphæren sich schwingen, j Schnell wie gedanken der Cherubim gehn, zur Erden herunter.« (3. Gesang, V. 413–415) Die Erläuterung hierzu lautet: »Denn der Seraphim zeit ist nicht wie der Menschen; sie kœnnen j Jene unmerkliche zeit, die den Menschen zwischen empfindung j Und empfindung verfliesst mit grossen thaten erfyllen.« (3. Gesang, V. 418–420) Wieland ahmt auch darin Klopstock nach, die optische, akustische und olfaktorische Sinneswahrnehmung der Rezipienten durch die Beschreibung der Engel im Bibelepos anzusprechen. So bleibt beispielsweise »ein sanftes ambrosisches sæuseln j Noch von der hohen erscheinung [Eloas] zuryck[.]« (3. Gesang, V. 630f.). Der Seraph verbreitet zudem einen »sysse[n] geruch« (3. Gesang, V. 634). Die Licht- und Naturmetaphorik, die für die Darstellung der Seraphim im Messias typisch ist, imitiert Wieland etwa in den folgenden Hexameterversen: […] Als er [Eloa; I. G.] sein goldnes gefieder emporschwang Floß ein fryhling von syssen gerychen zur Erden herunter. Izt ist Eloa schon yber der Sonnen, ihm folget von ferne Seraph Elhanan und yberal schallt von den sternen heryber Wo er vorbeistralt, dem Seraph zu ehren, ein loblied der Engel. (3. Gesang, V. 624–628)

Da im klassisch-antiken Epos stets auch Aoiden auftreten, wie etwa Phemios und Demodokos in der Odyssee Homers, dürfen auch in den Patriarchaden des 18. Jahrhunderts keine bukolischen Sängerfiguren fehlen. Ein Gastmahl wird traditionell durch Musik und Tanz begleitet. Im 2. Gesang des Gepryften Abraham Wielands heißt es, dass »der holde gesang, die schœnste der menschlichen kynste«, in Haran blühe (V. 165): »Die schæferinnen beleben die haine j Mit

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syßschallenden hymnen, von jungen hirten gedichtet.« (2. Gesang, V. 166f.) Isaak hebt insbesondere die Sangeskunst Ribkas hervor: »Aber die enkelin Milca’s besieget jede gespielin; j Wie sie singet so hab’ ich in meiner zærtlichen kindheit j Oefters im luftigen schlaf die Engel singen gehœret.« (2. Gesang, V. 168–170) Abrahams Sohn singt zum Abschluss eines Festmahls ein Lied von der göttlichen Tugend (vgl. 2. Gesang, V. 531–550). Gleichermaßen stimmt er später, von der Schönheit der Natur inspiriert und in Begeisterung versetzt, eine Hymne an (vgl. 3. Gesang, V. 204–232). Isaak erzählt seinen Eltern, dass Ribka »die frommen gesænge« vom »dichtrische[n] jyngling« Abiasaph gelernt habe (2. Gesang, V. 203f.). Der gottbegeisterte Sänger Abiasaph wird folgendermaßen im Gepryften Abraham eingeführt: Isca die schwester der Milca mit Kenas von Haran vermæhlet, Hat ihm Abiasaph, den einzigen knaben gebohren. Als er gebohren ward, kam die Muse, die freundin Elihus, Legte den knaben an ihre brust und weiht’ ihn zum sænger. Achtzehn fryhlinge blyhten ihm erst, doch singt er schon lieder Welche den weisen gefallen. Er ist der Kœnig der jugend. Jede schæferin eifert des dichters lob zu verdienen, Und er lobt nur die tugend, er nennt die unschuld nur anmuth. (2. Gesang, V. 205–212)

Wieland hat Bodmers Sänger- und Dichterfigur Elihu bereits im Proömium erwähnt (vgl. 1. Gesang, V. 3, V. 21). Nun entlehnt er einen weiteren Aoidos aus Bodmers Patriarchade Rahel (Jacob und Rachel, EA 1752): Abiasaph wird hier als »vater der hirtengesänge« bezeichnet.357 Die »himmlische muse« habe ihn »die göttlichsten hymnen, j Harans opfergesäng’ und bräutliche lieder« gelehrt.358 Auf der Hochzeit Jacobs und Rahels singt Abiasaph »lieder der liebe geweiht in die cithar« und »Harans blühende jugend« führt »den tanz nach seinen leitenden saiten«.359 Da Jacob bekanntlich der Sohn von Isaak und Ribka ist, wird so die Geschichte der Abrahamiden einheitlich gestaltet. Folglich passt sich Wieland auch in gewissen inhaltlichen Details seinem Mentor Bodmer an. Im 1. Gesang des Gepryften Abraham sind 14 Hexameterverse mit Anführungszeichen versehen (V. 208–221). Der Leser erfährt allerdings erst in der Ausgabe des Bibelepos von 1762, was diese Kennzeichnung als Zitat bedeutet. Dort heißt es in einer Anmerkung: »Diese Verse sind von einem andern Verfasser, und bleiben als ein Denkmal der Freundschaft stehen.«360 Mit diesem

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Bodmer : Rahel. In: [Ders.:] Calliope. Erster Band, S. 211–263, hier S. 219. Ebd., S. 214. Ebd., S. 250. Wieland: Die Prüfung Abrahams. In drey Gesängen. In: [Ders.:] Poetische Schriften. Dritter Band (1762), S. 3–72, hier S. 14.

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»andern Verfasser« und Freund ist natürlich Bodmer gemeint.361 Wieland baut zudem in sein Heldengedicht einige intertextuelle Bezüge auf Bodmers Noah ein, d. h., es finden sich einzelne Anspielungen auf inhaltliche Details. Beispielsweise sieht Isaak eine »schimmernde daube«, die Abraham und ihn zur Opferstätte führt, und vermutet sogleich, »sie sei vom geschlechte j Jener seraphischen welche dem Sem auf Sion begegnet; j Wie ihn die alten gesænge gelehrt« (3. Gesang, V. 247–250). Abraham bemerkt an anderer Stelle: »Sion, oft hat dein cederner schatten den betenden Noah j Eingehyllet, oft haben in deinen wolkichten wipfeln j Hymnen der frommen Debora gerauscht; […]«. (3. Gesang, V. 152–154) Der epische Sänger berichtet im 2. Gesang: Timna, der Sarah geliebteste sclavin, ein spiegel der anmuth, Hatte vom wiedersehen der freunde, vom finden der herzen Die unwissend sich liebten gesungen; sie sang von den tœchtern Welche Sipha, das Paradies zu beleben, gezeuget, Und von Noahs einsamen sœhnen; wie endlich ein Engel Japhet den weg erœffnet und ihn in den garten geleitet, Wo er mit sysser erstaunung die heiligen schwestern gesehen Und die jyngste geliebt, die ihn zu hœren zuryckblieb; Wie der gœttliche Sipha von Noahs sœhnen geleitet Mit den kindern des Paradieses zu Noah gekommen, Wie sie sich zærtlich umarmt und goldene tage gelebet. (2. Gesang, V. 107–117)

Dieses Lied Timnas fasst den Inhalt der ersten Gesänge von Bodmers Noah grob zusammen. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch folgendes Gleichnis im 3. Gesang des Gepryften Abraham: Also schied die erhabne Serena von ihrem geliebten Da er zu fernen freunden, zu seinem Sipha sich wandte, Thrænenlos læchelt ihr auge mit unaussprechlicher liebe Zærtlich ihm zu und segnet Diocles und segnet dich, Sipha, Dem er zueilt, und dich, holdselige Daphne! Dann hebt sich Still ihr auge gen Himmel, dann glænzt es mit frœlicher wehmuth Auf Diocles zuryck, der izt zu erhaben sich fyhlet, Thrænen zu weinen; sie sieht die zærtlichste unter den myttern Freudenvoll an und heiligt der liebe nur eine thræne. Also schieden sie sich. […] (3. Gesang, V. 96–105)

In diesem Gleichnis, das den ›herzrührenden‹ Abschied der »gœttliche[n] Sarah« (3. Gesang, V. 90) von ihrem Sohn bildhaft veranschaulicht – bevor 361 In der Ausgabe des Bibelepos von 1798 findet sich folgende Anmerkung Wielands: »Diese Verse sind von einem ganz andern Verfasser (von B o d m e r n ,) und mögen als ein Denkmahl der Freundschaft ihren Platz behalten.« (Wieland: Die Prüfung Abrahams in drey Gesängen. 1753. In: [Ders.:] Sämmtliche Werke. Supplemente. Dritter Band, S. 1–126, hier S. 19.)

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Abraham und Isaak zu ihrer Reise nach Moria aufbrechen –, verarbeitet Wieland Autobiographisches. Der Dichter thematisiert in diesen Versen den Abschied von seiner damaligen Verlobten Sophie Gutermann, als er im Herbst 1752 in die Schweiz zu Bodmer aufbrach und sie in Biberach bei seiner Mutter zurückblieb. »Diocles« ist demzufolge niemand anders als Wieland selbst. »Serena« ist der Spitzname für Sophie. Wieland bezeichnete Bodmer stets als »Sipha«362 und mit »Daphne« ist Anna Barbara Meyer (1722–1807), die Braut von Pastor Schinz, gemeint, die sowohl mit Sophie als auch mit dem jungen Dichter empfindsame Briefe austauschte363. Dieses Gleichnis fehlt in den Ausgaben von 1762, 1770 und 1798. Wieland fügt relativ selten längere Gleichnisse ein.364 Als sich beispielsweise Abraham, nachdem er den göttlichen Befehl zur Opferung Isaaks erhalten hat, in einen Eichenhain zurückzieht, um nachzudenken, verdeutlicht der Dichter die ängstliche Beklommenheit des Helden durch folgendes Gleichnis: […] So voll von beklemmender banger empfindung War kaum Adam, da er, mit Evens bekymmerter schœnheit, Durch den flammenden Cherub vom Paradiese vertrieben, Hinter sich mit wehmythigem auge die glycklichen fluren Glænzen sah, thæler voll blumen und goldbefruchtete wælder, Mit der festlichen laube, der syssen umarmungen zeugin, Die er nun izt von ferne schon halbverschwunden noch ansah, Immer so lang er konnte, mit stummer traurigkeit ansah Und den thrænenden blick dann auf die gegenden wandte Die vor ihm her verœdet und dyster zur kynftigen wohnung Lagen, ein klægliches bild von seinem verwandelten leben: Also gieng Abraham einsam und von gedanken gedrycket, Unter den eichenen schatten daher. […] (1. Gesang, V. 125–137)

Der Vergleichsbildinhalt spielt hier auf Miltons Paradise Lost an. Die Vertreibung Adams und Evas aus dem Paradies wird gewissermaßen mit dem schmerzlichen Verlust eines Sohnes gleichgesetzt. Gemäß der Terminologie Breitingers handelt es sich um ein »nachdrückliches Gleichnis« (vgl. Kap. 4.9), da die Gemütsbewegung Abrahams bildhaft veranschaulicht wird. Ein ganz ähnliches Beispiel findet sich im 3. Gesang des Gepryften Abraham: 362 In einem Brief vom 11. April 1753 schreibt Wieland, dass »Sipha Bodmers Bild« sei. Laut dem Dichter ist der epische Charakter aus dem Noah folglich ein getreues Abbild Bodmers. (Brief von Wieland an Volz, 11. April 1753. In: Wieland: BW I, Nr. 102, S. 154–157, hier S. 154, Z. 20.) 363 Vgl. Zaremba: Christoph Martin Wieland. Aufklärer und Poet, S. 56. 364 Gleichnisse im Gepryften Abraham Wielands: 1. Gesang, V. 125–137, V. 496–501; 2. Gesang, V. 127–134, V. 397–403, V. 550–552; 3. Gesang, V. 96–105, V. 294–303, V. 444–455; 4. Gesang, V. 31–43, V. 363–369.

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Wie ein zeuge der wahrheit, der unter unmenschlichen martern Langsam sein heiliges blut, zur ehre Jesu, vertrœpfelt, Bis sich zulezt sein entkræftetes herz und sein thrænendes auge Mitten unter den quaalen in todesschlummer verliehret; Wenn dann die myde stillleidende seele sich plœzlich befreit sieht, Plœzlich vom glanz des Himmels umflossen, im arme der Engel, Die sie mit siegesliedern von allen seiten begryssen, Wie sie von gœttlichem trost und dem anfang der seligkeit trunken An den busen des Seraphs, der ihr auf Erden gedienet, Sprachlos dahinsinkt, und mehr als worte kœnnen verschweiget: Also empfand izt der zærtliche vater, da ohne sein hoffen Wie aus den schatten des todes, sein sohn ihm wieder geschenkt ward. (3. Gesang, V. 444–455)

Der epische Kontext zu diesem Gleichnis lässt sich dergestalt umschreiben: Abrahams Gesicht glänzt »von himmelæhnlichen freuden« (3. Gesang, V. 443), als der Seraph Eloa erscheint, der der blutigen Opferung Isaaks Einhalt gebietet und eine göttliche Botschaft überbringt. Auf der Vergleichsbildebene (3. Gesang, V. 444–453) (»Wie-Stück«) wird der qualvolle Tod eines christlichen Märtyrers beschrieben, dessen unsterbliche, glückselige Seele anschließend von seinem Schutzengel in den Himmel geleitet wird. In diesen Versen wird – poetisch gesprochen – durch eine kurze, aber eindringliche Erzählung der Übergang von »den schatten des todes« (3. Gesang, V. 455) in das strahlende Licht des jenseitigen Lebens dargestellt. Zugleich soll die unaussprechliche Freude und Dankbarkeit des »zærtliche[n] vater[s]« (3. Gesang, V. 454) verdeutlicht werden. Gleichermaßen wird an anderer Stelle im Bibelepos die Bruderliebe zwischen Isaak und Ismael geschildert: […] Als Isak den bruder [Ismael; I. G.] Sah, da wallt ihm sein herz von inniger frœlichkeit yber, Wartete nicht bis er Sarah gegrysst und eilte mit innbrunst Ihn zu umarmen. Wie bryder die eine mutter gebohren, Zwillinge, welche zugleich an ihren brysten gehangen, Sich nach langer beseufzter entfernung mit thrænen umarmen, So umarmten sie sich! […] (2. Gesang, V. 397–403)

Isaaks Erzählung von seinem Aufenthalt in Haran wird durch folgendes Gleichnis eingeleitet, das eine idyllisch-heitere Stimmung erzeugen soll: Wie an einem sanftblyhenden abend des fryhlings gespielin Philomela den dæmmernden hain mit liedern erreget, Um und um schweigen die wipfel, es schweigen die abendwinde, Und die sænger des hains auf benachbarte zweige versammlet Lauschen hervor mit verlængertem hals und pryfendem ohre: Also sprach izt der gœttliche jyngling und also umgab ihn

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Ein begieriger kreis die syssen reden zu hœren Die in kunstloser anmuth ihm von den lippen entflossen: (2. Gesang, V. 127–134)

Der Stoff für dieses Gleichnis ist aus dem Naturbereich und aus der heidnischantiken Mythologie entnommen (vgl. zu Philomela: Ovid: Metamorphosen, 6. Buch, V. 424–674). Der Erzähler Isaak wird hier mit einer singenden Nachtigall verglichen, der alle Bewohner des Waldes aufmerksam zuhören. Die bewusste Auseinandersetzung Wielands mit den großen, nachahmenswerten Vorbildern, Klopstock und Bodmer, wird in den 2.247 Hexametern des Gepryften Abraham von 1753 deutlich, jedoch zeigt sich auch die Kreativität und Innovationsfähigkeit des jungen Dichtertalents, insbesondere in der MärchenEpisode365 im 2. Gesang. Isaak erzählt hier seinen Eltern Abraham und Sarah von einem Abenteuer mit einem verzauberten Vogel und einem Riesen (2. Gesang, V. 223–350): Ein verzauberter Singvogel lockt Abiasaph und Isaak in einen tiefen Wald fern von Haran, in dem sie sich verirren. Der »blumichte[.] vogel« ist »[s]chœn mit der farbe des Himmels und purpurnen flygeln geschmycket« (2. Gesang, V. 230f.). Er bezaubert durch »sein liebliches singen«, das rein ist, »wie silberne saiten erklingen, und lockend und zærtlich j Wie von affecten beseelt« (2. Gesang, V. 232–234). Da sie den »kœnig der vœgel« (2. Gesang, V. 241) einfangen wollen, verfolgen Abiasaph und Isaak ihn bis in die Nacht und finden schließlich nicht mehr den Weg zurück, der aus dem Wald führt. Plötzlich erscheint »ein sohn der gewaltthat, j Vom geschlechte der Riesen, mit wildem trotzigem antlitz j […]. Ein tygerfell hieng von den fleischichten schultern.« (2. Gesang, V. 252–254) Der Riese, dem die beiden folgen müssen, heißt Tidal. Er ist »ein enkel des herrischen Nimrod, j […] ein zaubrer und freund des Adramelech im Orchus« (2. Gesang, V. 258f.). Diese Verweise auf Klopstocks Höllenfürsten Adramelech und das römisch-antike Totenreich signalisieren, dass dieser Riese Tidal sowohl mit dem Teufel im Bunde ist als auch den Tod bringt. Isaak berichtet Folgendes: In der wyste, worein die sydliche grænze von Haran Sich verliehret, da hat er sein schloß, ein felsengebyrge, Mit gigantischer kunst zum tiefen gefængniß gehauen. Seine teuflische lust ist eltern die kinder zu rauben Und sie dem Adramelech zu opfern. Der hat zur belohnung Ihn die magische kynste gelehrt, geringere geister Aus dem Orchus zu sclaven zu machen. Der blumichte vogel War ein solcher. Oft locken sie gleich syßsingenden mædchen 365 Wielands besondere Vorliebe für Märchenstoffe zeigt sich somit bereits in seinem Bibelepos von 1753. Märchenhafte Züge finden sich auch in der Odyssee Homers. Man denke hierbei beispielsweise an das Abenteuer mit dem einäugigen Riesen Polyphemos, der sich von Menschenfleisch ernährt (9. Gesang). Vgl. hierzu: Uvo Hölscher : Die Odyssee. Epos zwischen Märchen und Roman. 2., durchges. Aufl. München 1989.

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Ihre betrognen. Denn ausser der wyste worinn er uns raubte, Hat er nicht macht gewalt zu veryben. Er muß sie durch kynste Zaubrisch erst tæuschen den forst zu betreten, denn sind sie gefællet; Und er ist reich an betrug. Oft zeigt er dem fliehenden wandrer Einen anmuthigen garten mit lieblichen blumen bedecket, Bæume voll goldenen obst und musicalische lauben Laden ihn ein; die weichliche luft, die winkende wollust Lockt ihn in einer der lauben zu schlummern. Dort findet ihn Tidal, Und die laube, worinn er erst schlief, ist ein stachlichter dornbusch. (2. Gesang, V. 260– 276)

Tidal schleppt seine neuen Opfer, Abiasaph und Isaak, in die »felsenburg« (2. Gesang, V. 277) – »vor der eisernen pforte bedeckten den boden j Schedel und zarte gebein’« (2. Gesang, V. 278f.) – und präsentiert diese zwei seinem Bruder Gog in einem »saal von schwarzem granitstein« (2. Gesang, V. 283): […] Sieh hier die beute des heutigen tages, Hast du jemals, o Gog, zween schœnere knaben gesehen? Wahrlich sie sind noch schœner als jenes blauaugichte mædchen Das wir am Neumond erwyrgt, doch schien sie die tochter der liebe. Sieh wie ein lauteres blut aus diesen adern hervorspielt! Niemals hab ich die blyhte der jugend so reizend gesehen. Welch ein glycklicher fang! Sie sollen den folgenden morgen Meinem freund im Orchus verbluten! Wie wird er mich lieben Wenn er den syssen geruch der brennenden opfer empfindet! (2. Gesang, V. 285–293)

Abiasaph spielt auf seiner Laute, um durch »die ryhrendste[n] tœne, j Die sie jemals hervorgab, oft schienen die saiten zu weinen«, und durch »sysse[n] gesang«, die »menschheit in Tidal« zu erwecken (2. Gesang, V. 298–300). Der Riese wird tatsächlich »von der kraft der klagenden saiten geryhret« (2. Gesang, V. 304), und er schenkt Abiasaph das Leben. Er solle ihm künftig »die festliche tafel j Nach vollendeten opfern« mit »liedern bekrœnen« (2. Gesang, V. 306f.). Tidal verkündet jedoch, dass Isaak auf dem Altar des Adramelech geopfert werde. Abiasaph wirft sich dem Riesen zu Füßen und fleht ihn an: Hœre mich doch, o Tidal, und laß dich mein bitten erweichen. Wenn dich ein menschlicher vater gezeugt, wenn menschliche bryste Dich gesæuget, und bist du nicht ganz zum Satan entartet, O so hœre mich an; bei jener die dich gebohren, Laß dem jyngling das leben, mit dem mein leben verwebt ist. Oder bist du kein mensch, kein sohn von Adam, so bist du Dennoch Gottes geschœpf und Dem im Himmel verpflichtet. Fyrchte den Gott des donners, und scheue dich, an der unschuld Dich zu vergreifen. Doch wenn dich weder die furcht noch die menschheit Ryhren kœnnen, so laß dich mein leztes flehen doch ryhren. Tœdte du mich und gieb dem theuren jyngling die freiheit,

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Oder behalte mich dir zum sclaven so lang es dir gut dæucht, Aber ihn bringe zuryck. Mich soll die grimmigste marter Nicht zum saitenspiel zwingen, sobald du den jyngling getœdtet. (2. Gesang, V. 311– 324)

Voller Verzweiflung bittet Abiasaph folglich Tidal darum, Isaak am Leben zu lassen und an seiner Stelle einzig ihn zu töten. Isaak unterbricht jedoch Abiasaphs Rede und bietet wiederum sich selbst als Opfer an: Wenn dich noch ein gefyhl in der brust an die gegenwart Gottes Mahnet, so laß uns wieder zu unsern freunden zuryckziehn; Aber soll einer von uns durch deine hænde verbluten, O so laß dich die thrænen des edlen jynglings nicht ryhren Der izt sein leben fyr meines dir beut. Tœdte mich, gegen den anblick des sterbenden Abiasaph Ist der tod mir ein labsal. Ja, wenn dein steinernes herze Diese bitte noch fyhlt, so tœdte mich, denn um sein leben Kauf ich mich nicht vom tode; mein leben ist meinem Erschaffer! (2. Gesang, V. 326– 334)

Der wechselseitige Wetteifer der beiden Jünglinge, wer denn nun für den anderen sterben soll, macht Tidal wütend. Er ruft aus: »Ist es euch denn so syß, ihr thoren, den altar zu netzen, j Daß ihr den vorzug euch streitet! So sterbt dann beid’, ich verfluche j Diese niedrige schwachheit die fast mich fyr Einen erweichte. j Sterbt und eifert nicht mehr und blutet Satan zu ehren.« (2. Gesang, V. 335–338) Plötzlich umgibt »ein Sonnenglanz« das »schwarze[.] gefængniß« (2. Gesang, V. 339f.). Elhanan, Isaaks Schutzengel, erscheint »in himmlischer rystung« (2. Gesang, V. 341). Das Ende dieses Abenteuers mit dem Riesen lautet folgendermaßen in Isaaks Erzählung: Tidal bebte vor ihm zur Erde. Der zyrnende Seraph Flucht’ ihm vom Herrn, und schlug ihn mit seinem eisernen scepter Daß er an hænden und fyssen gelæhmt im staube sich wælzte. Plœzlich zerfiel die steinerne burg gleich morschen gebeinen. Jeder der sclavischen geister die ehmahls Tidal hier dienten Ward zur hœlle verbannt, wo neue qualen ihn quælten. Aber der Engel, nachdem er uns beide leutselig gekysset, Trug uns auf jedem flygel bis auf die cederne hœhe Wo uns der vogel gefunden. Dann kehrt er uns segnend gen Himmel. (2. Gesang, V. 342–350)

Die durch die satanischen Riesen geplante Opferung Isaaks auf einem Altar und die Rettung desselben durch einen von Gott gesandten Engel nimmt die darauffolgende Handlung des Bibelepos vorweg. Gemäß dem typologischen Schema präfiguriert die Märchen-Episode die gesamte epische Erzählung. Isaak ist

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bereits in dieser Episode ein auf Gott vertrauender, tugendhaft-empfindsamer und unschuldiger Jüngling, der sich seinem Schicksal ergibt. Wieland vermehrt die Stoffe des Wunderbaren im Bibelepos, indem er das Märchenhafte mit Elementen der christlichen Mythologie verbindet. Diese Ausdehnung des Stoffgebiets auf neue Erfindungen im Bereich des Märchens findet sich nur in dieser Patriarchade Wielands.366 Offensichtlich empfand der Epiker diese Neuerung später als Grenzüberschreitung. So bedankt er sich am 22. August 1757 bei Martin Künzli (1709–1765) für »die sehr gründlichen Anmerkungen« zu seinem Gepryften Abraham, die ihm »eine wahre Probe« gegeben hätten, dass ihm sein Bibelepos nicht missfallen habe, und er fügt hinzu: Hr. Bodmer würde Ihnen noch nicht gewonnen geben, ich aber habe, da mir schon von andern Kennern die gleichen Fehler getadelt worden, schon vor einiger Zeit beschlossen, selbige bey einer künftigen Auflage zu verbessern. Der zweyte Fehler ist sonderheitlich sehr choquant. Die Liebe zum Wunderbaren verleitete mich zu demselben, wie Sie leicht werden bemerkt haben. Es begegnet zuweilen, daß wir um eine gewiße Schönheit zu erhalten, einen grössern Übelstand nicht wahrnehmen, der dem Ganzen daraus zuwächst.367

Als einen Anstoß erregenden »Fehler«, den er aus »Liebe zum Wunderbaren« begangen habe, verstand Wieland unverkennbar seine Märchen-Episode im 2. Gesang des Gepryften Abraham. Die Verbindung der historischen Wahrheiten der Bibel mit den poetischen Erfindungen der ›Einbildungskraft‹, insbesondere mit den märchenhaften Phantasiegebilden, wurde von ihm bereits Ende der 1750er Jahre problematisiert. Als er 1762 sein Bibelepos erneut veröffentlichte, erklärt er in seinem Vorbericht, dass Die Prüfung Abrahams »unter allen Gedichten des Verfassers dasjenige [sei], welches er für das geschikteste [halte], einen moralischen Nuzen hervor zu bringen, und wovon ihm auch die schönsten Würkungen bekannt worden [seien]«.368 Dennoch erachtete Wieland erhebliche Veränderungen, die er als Verbesserungen ansah, für notwendig:

366 Vgl. zum Märchenstoff im Gepryften Abraham: Müller-Solger : Der Dichtertraum, S. 125– 127. Hermann Müller-Solger bemerkt, dass Wieland »auch Märchenstoffe in den Vorrat der wunderbaren, für die Zwecke des biblischen Epos geeigneten Erfindungen mit einbezogen« habe. (Ebd., S. 126.) Und er stellt fest: »Es ist verblüffend zu sehen, wie hier der Märchenstoff und die Berichte des Alten Testaments ineinanderfließen.« (Ebd.) Eine derartige »Ausweitung des Wunderbaren auf die Vorstellungswelt der Märchen« würde »sich offenbar nur bei Wieland« finden. (Ebd.) 367 Brief von Wieland an Künzli, 22. August 1757. In: Wieland: BW I, Nr. 266, S. 305f., hier S. 306, Z. 42–51. Martin Künzlis Anmerkungen zum Gepryften Abraham sind leider nicht bekannt. (Vgl. Wieland: BW II, S. 303.) 368 Wieland: Der gepryfte Abraham. Ein Gedicht in vier Gesængen. In: [Ders.:] Gesammelte Schriften. Erste Abteilung: Werke. 2. Bd.: Poetische Jugendwerke. 2. Teil, S. 103–166, hier S. 164 (Vorbericht [1762]).

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Dem ungeachtet machte ihn die Empfindung der Poetischen Unvollkommenheiten desselben, und der Zweifel, ob die heilige Geschichte, die der Inhalt dieses erzählenden Gedichts ist, nicht durch seine poetische Ausführung mehr verlohren als gewonnen habe, unschlüssig, ob er dasselbe nicht zu unterdrüken suchen sollte. Er überließ die Entscheidung hierüber dem Ausspruch einiger berühmten deutschen Gottesgelehrten; ihr Urtheil beschämte seine unzeitigen Bedenklichkeiten, und die Prüfung Abrahams wird also zum zweytenmal denenjenigen übergeben, für welche Gedichte von dieser Art eigentlich bestimmt sind. Nur hat der Verfasser dem Urtheil der vorerwähnten Richter das ihm selbst anstössige Mährchen vom Riesen und dem bezauberten Vogel, und seinem eignen den ganzen vierten Gesang aufgeopfert; von dem er glaubte, daß er des Dritten nicht würdig, und geschikter sey, die Würkungen desselben zu schwächen als zu erhöhen.369

Wieland tilgte demzufolge nicht nur radikal den gesamten 4. Gesang, sondern auch das »Mährchen vom Riesen und dem bezauberten Vogel« (2. Gesang, V. 223–350). Einer der »Gottesgelehrten«, den er um Rat fragte, war Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem (1709–1789), einer der wichtigsten protestantischen Aufklärungstheologen bzw. Neologen. So schreibt der Dichter am 8. Dezember 1761 in einem Brief an Justus Friedrich Wilhelm Zachariä (1726–1777): Ich bin schon lange mit meinen ältern hexametrischen Sachen übel zufrieden. Die P r ü f u n g A b r a h a m s gehört auch in diese Cathegorie. Ich kan nicht mit mir selbst einig werden, ob ich sie der Ausgabe meiner Poetischen Werke einverleiben oder zur Vernichtung verurtheilen soll. Seyn Sie doch so gütig dem Hrn. Abt Jerusalem nebst lebhaftester Versicherung meiner Ehrerbietung zu sagen, daß ich mir Seinen entscheidenden Ausspruch aus bitte, ob in diesem Gedicht soviel Moralische und poetische Güte sey, wenigstens in Verhältniß mit meinen andern Aufsätzen, daß es der Erhaltung würdig ist. Mein größester Scrupel betrift die Frage: ob es nicht unanständig und der Religion nachtheilig sey, aus den heiligen Geschichten eine Art von FeenMährchen im Morgenländischen Geschmack zu machen? Denn so, dünkt mich, sehen eigentl. einige Epische Gedichte unsers Vater Bodmers und der geprüfte Abraham aus. Ich erwarte hierüber den Ausspruch des Hrn. Abts u: Ihrer Freunde nebst dem Ihrigen.370

Eine kritische Beurteilung des Gepryften Abraham von Abt Jerusalem ist leider nicht überliefert.371 Die märchenhaften Erdichtungen im 2. Gesang wurden 369 Ebd., S. 164. 370 Brief von Wieland an Zachariä, 8. Dezember 1761. In: Christoph Martin Wieland: Briefwechsel. Hrsg. v. der Akademie der Wissenschaften der DDR, Zentralinstitut für Literaturgeschichte, durch Hans Werner Seiffert. Dritter Band: Briefe der Biberacher Amtsjahre (6. Juni 1760–20. Mai 1769). Bearbeitet von Renate Petermann und Hans Werner Seiffert. Berlin 1975. Nr. 49, S. 46–50, hier S. 49, Z. 99–112. 371 Vgl. Christoph Martin Wieland: Briefwechsel. Hrsg. v. der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften durch Siegfried Scheibe. 6. Band. 1. Teil: Nachträge zu Band 1 bis 5. Überlieferung, Varianten und Erläuterungen zu Band 3. Bearbeitet von Siegfried Scheibe. Berlin 1995. S. 223.

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letztlich wohl als unvereinbar mit dem ›heiligen‹ Stoff angesehen, und so eliminierte der selbstkritische Wieland die entsprechenden Hexameterverse. In seiner im Brief gestellten Frage, »ob es nicht unanständig und der Religion nachtheilig sey, aus den heiligen Geschichten eine Art von Feen-Mährchen im Morgenländischen Geschmack zu machen?«372, lehnt er sich bezeichnenderweise an die Argumentation der Gottschedianer und orthodoxen Theologen im sogenannten ›Literaturstreit‹ an. Der Gepryfte Abraham Wielands wurde im 18. Jahrhundert ins Englische (1764, 1777)373, Französische (1766)374, Russische (1780)375 und Schwedische (1772)376 übersetzt. Sulzer berichtet Bodmer in einem Brief aus dem Jahre 1754: »Den g e p r ü f t e n A b r a h a m habe ich mit ausnehmendem Vergnügen gelesen, und dieses höre ich von allen, denen ich dieses Werk zu lesen gegeben habe. Der Verfasser ist würdig, Ihr Schüler und Nachfolger zu seyn; […].«377 Der Berliner Hofprediger August Friedrich Wilhelm Sack (1703–1786) versichert Wieland im Herbst 1754, dass er »den geprüften Abraham mit angenehmen Empfindungen und Rührungen« gelesen habe.378 Albrecht von Haller veröffentlichte in den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen (18. Stück, 11. Februar 1754) folgende kurze Besprechung von Wielands Bibelepos: Der geprüfte Abraham ein Gedicht in 4 Gesängen. Der Verf. Hr. Wieland hat die bekannte Geschichte mit verschiedenen Episoden erweitert, als mit der Reise Isaacs zum Nahor, mit seiner vom Riesen Tidal ausgestandenen Gefahr, und den ersten Funken seiner Liebe zur Rebecca, mit der Geschichte Ismaels, und mit verschiedenen Verrichtungen und Gesprächen der Engel. Er hat überall die Würde der Tugend, und der Unschuld erhoben, und manche rührende Stelle giebt seinen Hexametern ein Leben.379 372 Brief von Wieland an Zachariä, 8. Dezember 1761. In: Wieland: Briefwechsel. Dritter Band: Briefe der Biberacher Amtsjahre (6. Juni 1760–20. Mai 1769), Nr. 49, S. 46–50, hier S. 49, Z. 107–109. 373 The trial of Abraham. In four cantos. Translated from the German. London 1764. – The trial of Abraham. In four cantos. Translated from the German. Boston 1764. – Trial of Abraham. In four cantos. Translated from the German. Norwich 1777. (Vgl. Gottfried Günther / Heidi Zeilinger: Wieland-Bibliographie. Berlin / Weimar 1983. S. 270 (Nr. 1529–1531).) 374 L’8preuve d’Abraham. PoHme en trois chants. In: [Michael] Huber : Choix de po8sies allemandes. Vol. 3. Paris 1766. S. 1–81. (Vgl. Günther / Zeilinger: Wieland-Bibliographie, S. 277f. (Nr. 1592).) 375 Vgl. ebd., S. 298 (Nr. 1774). 376 Vgl. ebd., S. 305 (Nr. 1838). 377 Brief von Sulzer an Bodmer, 1754. In: Briefe der Schweizer Bodmer, Sulzer, Geßner, S. 224– 228, hier S. 225. 378 Brief von Wieland an Sack, 23. September 1754. In: Wieland: BW I, Nr. 163, S. 211f., hier S. 211, Z. 9f. 379 [Albrecht von Haller :] [Rez.:] Der geprüfte Abraham ein Gedicht in 4 Gesängen. In: Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen unter der Aufsicht der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften. Der erste Band auf das Jahr 1754. 18. Stück (11. Februar 1754). S. 160.

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Die zeitgenössischen Rezipienten äußerten sich jedoch nicht nur positiv, sondern auch negativ über den Gepryften Abraham. So schreibt Johann Georg Hamann (1730–1788) am 22. Juni 1759 in einem Brief an Johann Gotthelf Lindner (1729–1776): Haben Sie die geraubte Europa von Moschus und eben dieselbe von Nonnus. Ein Gedicht von 2 Bogen mit einer Vorrede, das man Bodmern zuschreibt. Sie verdienen gelesen zu werden. Man könnte über diese 2 ungl. Stücke ein ganz Colleg. der Poesie lesen und den Unterscheid des wahren, natürl. und verdorbenen künstl. Geschmacks im ganzen und jeden Theil derselben zeigen. Wenn ein Moschus mit so viel Anstand ein mythologisch Mährchen zu erzählen weiß; woran liegt es doch, daß ein Wieland den geprüften Abraham nicht mit eben der Sittsamkeit sondern so viele Ariostische episoden, alcoranische und talmudische Zierrathen – die nichts als das Vorurtheil der Mode, und den einmal angegebenen Ton rechtfertigen kann. Hat man da Erdichtungen nöthig, wo die Geschichte reich genung ist; und soll man Dinge nachahmen, die schon dadurch um ihre ganze Anmuth gekommen, weil sie jedermann nachahmt, von denen sollte man sich e n t f e r n e n , und seinen Mustern entgegen arbeiten. Endlich, wenn man sich ohne Erdichtung nicht behelfen kann; so sollte man doch den besten Gebrauch davon machen. Wozu wird Ismael zu so wiedersinnigen und unnatürl. Auftritten von ihm gebraucht. Wozu wird der Charakter eines S p ö t t e r s ihm mit so viel Unverschämtheit geraubt und in ein Helden kindl. v brüderl. Liebe verdreht. Ich halte mich bey dem geprüften Abraham so weitläuftig auf, weil es der Mühe lohnt einen solchen Verfaßer und ein solch Gedicht zu tadeln und zu beurtheilen. Nichts als eine blinde Gefälligkeit gegen die herrschenden Sitten unserer jetzigen Dichtkunst, oder eine durch die Gewohnheit erlangte Fertigkeit, die unser Urtheil partheyisch macht, und unsere Sinnen bezaubert – und der Trieb zu gähnen, weil wir andere gähnen sehen – können dergl. Gaukeleyen so ansteckend machen, daß die besten Köpfe davon hingerißen werden. Geben die Beywörter, welche den Parasiten gleich sich bey jedem Hauptwort zu Gast bitten, nicht dem Ohr eine weit ärgere monotonie, als die man dem Geklapper der Reime zugeschrieben? Wird nicht die g e i s t i g e M a s c h i n e r i e gröber angebracht als das Spiel der Knechte bey den alten, und des Scapins bey den neueren Römern?380

Bodmer hatte das mythische Epyllion Europa von Moschos (2. Jahrhundert v. Chr.) und die entsprechenden nachahmenden Verse aus dem 48 Bücher umfassenden Epos Dionysiak# von Nonnos (5. Jahrhundert n. Chr.) ins Deutsche übersetzt und anonym unter dem Titel Die geraubte Europa, von Moschus. Dieselbe von Nonnus (1753) veröffentlicht. Moschos, der in seiner hexametrischen Dichtung den griechischen Mythos von der Entführung der phönizischen Königstochter Europa nach Kreta durch Zeus in Gestalt eines Stiers erzählt hatte, wird hier gewissermaßen als ›Naturdichter‹ dem Negativbeispiel, dem Bear380 Brief von Hamann an Johann Gotthelf Lindner, 22. Juni 1759. In: Johann Georg Hamann: Briefwechsel. Erster Band: 1751–1759. Hrsg v. Walther Ziesemer und Arthur Henkel. Wiesbaden 1955. Nr. 148, S. 348–353, hier S. 349f.

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beiter des Europa-Mythos Nonnos, gegenübergestellt. Demzufolge kritisiert Hamann Wieland insbesondere dafür, dass dieser nicht nur dem biblischen Mythos über die Glaubensprüfung Abrahams (vgl. Gen. 22,1–19) gefolgt sei, sondern seine epische Handlung durch ›Erdichtungen‹ erweitert habe. Mit der »Ariostische[n] episode[.]« meint er sicherlich die Märchen-Episode im Gepryften Abraham. Auch die Charakterzeichnung Ismaels im 2. und 4. Gesang des Bibelepos lehnt der Kritiker ab. Wieland hat sich laut Hamann zu sehr an den Patriarchaden Bodmers orientiert und daher »alcoranische und talmudische Zierrathen« angebracht. Gemäß dem unparteiischen Literaturkritiker hätte der durchaus talentierte Dichter Wieland nicht der zeitgenössischen »Mode« folgen sollen.381 Wieland setzt sich in der Vorrede zu seiner Prüfung Abrahams von 1770 ausführlich mit dem ›Literaturstreit‹ und der damals vorherrschenden parteiischen Literaturkritik auseinander, die er mittlerweile entschieden ablehnt: Wie übel die Folge von biblischen Gedichten, in deren Gesellschaft auch diese Prüfung Abrahams zuerst erschien, von dem grössesten Theil der deutschen Kunstrichter aufgenommen worden, ist bekannt genug. Ob ihnen zuviel oder zu wenig geschehen sey, wird vielleicht erst alsdann entschieden werden, wenn alle die kleinen PrivatLeidenschaften und Neben-Absichten, welche seit ungefehr dreißig Jahren so viel Einfluß in unsre Critik gehabt haben, mit den Schriftstellern dieser Zeit im Grabe liegen werden. Was dieses gegenwärtige Gedicht betrift, so ist im strengesten Verstande wahr, daß es zu gleicher Zeit mit unverdientem Beyfall und mit übertriebener Verachtung aufgenommen worden ist; dieses sowohl als jenes von Männern, deren Lob und Tadel Gewicht hat. Ein Verfasser ist zu parteyisch, bey der Revision des über sein Werk ergangenen Urtheils seine Stimme zu geben. Doch das mag mir erlaubt seyn zu sagen: So wie ich die Menschen aus anhaltender Beobachtung kennen gelernt habe, denke ich nicht zu irren, wenn ich sowol die Lobpreisungen als die Verachtung, welche diesem Gedichte zutheil worden sind, mehr aus subjectivischen Ursachen als aus der innern Beschaffenheit des Werkes selbst erkläre. Manche, die sich an den comischen Erzählungen nicht satt lesen können, würden vielleicht nur schlechte Leser der Prüfung Abrahams seyn, wenn sie sich überwinden könnten, sie zu lesen; und viele, welche die letztere mit Vergnügen und Rührung gelesen und wiedergelesen haben, sind nicht dazu zu bringen, jene, aus einem sittlichen Gesichtspunkt betrachtet, nur erträglich zu 381 Auch in der germanistischen Forschungsliteratur wurde Der gepryfte Abraham Wielands negativ bewertet: Fritz Budde kritisiert »die völlige Armut an Handlung, die Untätigkeit des Helden, die mangelhafte Charakterzeichnung, die historisch verfehlte Auffassung des Milieus, die mit Bodmer übereinstimmende Gedankenrichtung in lyrisch-didaktischen Betrachtungen und dgl.«. (Budde: Wieland und Bodmer, S. 149.) Wieland habe keine »Originale, sondern Kopien von Bodmers gottseligen, ›leidenden‹ Helden« geschaffen. (Ebd., S. 152.) Emil Ermatinger stellt zur Charakterdarstellung im Bibelepos Wielands fest: »Seine Personen haben jenes Selbstverständliche, das sie in der großartig-einfachen Erzählung des Alten Testamentes so reizvoll macht, an eine muckerische und asketische Gottergebenheit eingetauscht.« (Ermatinger : Wieland und die Schweiz, S. 34.)

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finden. Dem Verfasser sollten billig die Urtheile solcher Leser gleichgültig seyn; und dieses um so mehr, da er Männer von Einsicht und Verdiensten kennet, deren Geschmak uneingeschränkt und unpartheyisch genug ist, jedem in seiner Art sein Recht angedeyen zu lassen.382

Nachdem Wieland am 25. Juni 1754 Bodmers Haus verlassen hatte, um eine Stelle als Hauslehrer anzutreten, begann er sich allmählich Ende der 1750er Jahre von seinem Mentor zu distanzieren. Am 14. Februar 1758 schreibt er dem Schweizer Arzt und Gelehrten Johann Georg Zimmermann (1728–1795), dass er seit einigen Monaten »an einem Stolzen Werke, an nichts geringerm als an einem Heldengedicht, einem eigentlichen, m e n s c h l i c h e n Heldengedicht« arbeite.383 Wielands hexametrisches Epenfragment Cyrus, das letztlich aus fünf Gesängen besteht, entstand in den Jahren 1757 bis 1759.384 Der Dichter besingt in diesem Epos weder einen christlichen Tugendhelden noch einen deutschen Nationalhelden, sondern einen griechisch-antiken, philanthropischen Heroen, den Perserkönig Kyros aus Xenophons Kyrupädie. Diese Stoffwahl kann demzufolge als »eine frühe Wende Wielands zum Klassizismus« angesehen werden.385 Die dezidierte Bezeichnung »menschliche[s] Heldengedicht« beweist, dass er mit dem Cyrus die ›heiligen‹ und historischen Epen seiner Vorbilder übertreffen wollte. Dementsprechend erklärt Wieland in seinem Vorbericht zum Cyrus, der auf den 30. Mai 1759 datiert ist: Sein Vorhaben, wir wollen es nur gestehen, war, den Grösten seiner Vorgänger nachzueifern, und sie wenigstens in dem einzigen Stücke zu übertreffen, worinn er es möglich fand, in der Grösse des Helden und der Handlung. Es ist wahr, er konnte seinen Helden weder dapfrer machen als Achilles, noch klüger als Ulysses, weiser als Bouillon, oder großmüthiger als Leonidas – – Aber er konnte, ohne die Wahrscheinlichkeit zu verletzen, diese Tugenden in ihm vereinigen, und ihn alsdann in dem schönsten und manchfaltigsten Licht als einen Menschenfreund, als einen Helden, als einen Gesetzgeber, als den besten der Menschen und der Könige zeigen.386

382 Wieland: Der gepryfte Abraham. Ein Gedicht in vier Gesængen. In: [Ders.:] Gesammelte Schriften. Erste Abteilung: Werke. 2. Bd.: Poetische Jugendwerke. 2. Teil, S. 103–166, hier S. 164f. (Zusaz (1770)). 383 Brief von Wieland an Zimmermann, 14. Februar 1758. In: Wieland: BW I, Nr. 282, S. 320– 322, hier S. 322, Z. 70–72. 384 Vgl. zum Cyrus Wielands: Müller-Solger : Der Dichtertraum, S. 77–88 (Kap.: Das Epenfragment »Cyrus«). – Martin: Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert, S. 185–202 (Kap. IV 3: Das »menschliche« Heldengedicht ›Cyrus‹). – Dieter Martin: ›Der Held aus Persis‹. Wielands ›Cyrus‹ in Bodmers Sicht. In: Wieland Studien II (Aufsätze, Texte und Dokumente, Berichte, Bibliographie). Hrsg. v. Wieland-Archiv Biberach und Klaus Manger. Sigmaringen 1994. S. 11–32. 385 Martin: Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert, S. 193. 386 Christoph Martin Wieland: Cyrus. In: [Ders.:] Gesammelte Schriften. Hrsg. v. der Deutschen Kommission der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Erste Ab-

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Der Dichter tritt mit seinem fragmentarischen Charakterepos somit in einen Wettstreit mit der Epentradition. Betrachtet man das Proömium des Cyrus, das aus drei Teilen besteht (1. Gesang, V. 1–33), so wird deutlich erkennbar, dass der Messias Klopstocks das unmittelbare Vorbild des produktiven Nachahmers ist. Zunächst orientiert sich Wieland im ersten Teil (1. Gesang, V. 1–18) an den Epen Homers, indem er die Musenanrufung und die Zusammenfassung des Inhalts miteinander verbindet: Singe mir, Muse, den Mann, der aus den Bergen von Persis Muthig hervorgieng, dem dräuenden Stolz der Tyrannen entgegen, Die vom furchtbaren Thron, auf Asiens Nacken gethürmet, Rings um sich her die Bewohner der Erde der Knechtschaft bestimmten, Bis, vom ewigen König zur heiligen Rache gerüstet Und zum Hirten der Völker geweyht, der göttliche Cyrus Gegen sie zog, ein kühner Beschirmer der Rechte der Menschen, Seiner Brüder. […] (1. Gesang, V. 1–8)387

Im folgenden Satz ahmt der Epiker die Wortwahl Klopstocks nach (vgl. I, 5–7), um die erfolglosen Bemühungen der Feinde des Cyrus zu antizipieren: »Umsonst verband sich der Könige Stärke j Wider den Helden, vergeblich erhuben sich Babylons Mauern.« (1. Gesang, V. 8f.)388 Wieland ersetzt die »unsterbliche Seele« (I, 1) im Messias durch die heidnisch-antike »Muse« (1. Gesang, V. 1) im Cyrus. Im zweiten Teil seines Proömiums (1. Gesang, V. 19–29) werden die Dichterweihe und die angemessene poetische Darstellung einer moralischen Handlung im Epos thematisiert. Der ›poeta vates‹ ruft hier anstelle des »Geist Schöpfer[s]« (I, 10) die Göttin »Wahrheit« (1. Gesang, V. 19) an: Dich, o Wahrheit, dich ruf ich aus deiner glänzenden Sphäre, Mutter der schönen Natur, zu meinen Gesängen herunter! Wenn in der Morgenröthe des Lebens mein wankender Fuß schon Einsam die Pfade bestieg, die zu deinem Tempel sich winden, War mein Gesang dir immer geweyht, so höre mich, Göttin, Itzt, da mein Geist von mehr als Liebe zu flüchtigem Nachruhm, Da er von Liebe der Tugend entbrannt, in sichtbarer Schönheit Ihre Gestalt dem Menschen-Geschlecht zu entwerfen gelüstet. (1. Gesang, V. 19–26)389

Abschließend apostrophiert Wieland im dritten Teil seines Cyrus-Proömiums (1. Gesang, V. 30–33) das Lesepublikum:

teilung: Werke. 3. Bd.: Poetische Jugendwerke. 3. Teil. Hrsg. v. Fritz Homeyer. Berlin 1910. S. 88–147, hier S. 89f. (Vorbericht [1759]). 387 Ebd., S. 92. 388 Ebd. 389 Ebd., S. 92f.

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Und ihr, höret mich, Freunde der unentheiligten Musen, Und der Tugend, vor andern ihr künftigen Herrscher der Völker, Deren jugendlich Herz die Gewalt der Wahrheit noch fühlet, Hört mich und lernet von Cyrus die wahre Grösse der Helden! (1. Gesang, V. 30–33)390

Auch in diesen Hexametern finden sich wörtliche Parallelen. So erinnert der imperativische Satz in Vers 33 sogleich an folgende appellierende Worte Klopstocks im Proömium des Messias: »Hört mich, und singt den ewigen Sohn durch ein göttliches Leben.« (I, 23) Der tugendhaft-erhabene, »göttliche Cyrus«, der »vom ewigen König zur heiligen Rache gerüstet j Und zum Hirten der Völker geweyht« wurde (1. Gesang, V. 5f.), zeichnet sich offensichtlich durch messianische Charakterzüge aus.391 Wieland hatte in seinem Vorbericht verkündet, nach dem Vorbild des Leonidas Glovers im Cyrus weitgehend auf mythologische Figuren zu verzichten, die in die epische Handlung eingreifen würden.392 Dennoch lässt er zu Beginn des 3. Gesanges einen Engel auftreten, der dem schlafenden Cyrus einen prophetischen Traum eingibt (3. Gesang, V. 1–25). Der Einfluss der zeitgenössischen Bibelepen zeigt sich evident in der kurzen Beschreibung dieses »Schutzgeist[es]«, der »sein goldnes Gefieder« über den schlummernden Cyrus ausbreitet und einen »ätherischen Duft« aussendet (3. Gesang, V. 23, V. 20, V. 24)393 : »Ambrosische, süsse Gerüche, j Süß wie der Rosenathem des himmlischen Frühlings, entfliessen j Seinen Schwingen.« (3. Gesang, V. 21–23)394 Demzufolge ist es Bodmer nicht gelungen, den Klopstock-Verehrer Wieland zu einem Konkurrenten des Messias-Dichters umzuformen. So erklärt der Verfasser des Cyrus im Juni 1759 in einem Brief an Zimmermann: »Klopstok ist einer der grösten Poeten, die jemals gewesen sind. Seine Messiade bleibt allezeit ein bewundernswürdiges und ausserordentlich schönes Gedicht, wenn man gleich die Wahl der Materie nicht billiget. Sie enthält eine Menge unverbesserlich schöner Stellen.«395 Wieland hatte sich inzwischen zum unparteiischen Literaturkritiker entwickelt. Daher verkündet er auch: »Es ist viel an der Messiade zu tadeln aber es ist unendlichmal mehr an derselben zu loben. An der Poesie an der 390 Ebd., S. 93. 391 Vgl. Martin: Das deutsche Versepos im 18. Jahrhundert, S. 188. 392 Demgemäß heißt es in dem Vorbericht zum Cyrus: »Wir wollen nur bemerken, daß er nach dem Beyspiele des Hrn. Glovers, sich diejenige Art des Wunderbaren, die aus dem Gebrauch der Maschinen, d. i. der Einführung der Götter und Engel als handelnder Personen, entspringt, fast gänzlich versagt hat.« (Wieland: Cyrus. In: [Ders.:] Gesammelte Schriften. Erste Abteilung: Werke. 3. Bd.: Poetische Jugendwerke. 3. Teil, S. 88–147, hier S. 91 (Vorbericht).) 393 Ebd., S. 116. 394 Ebd. 395 Brief von Wieland an Zimmermann, 2. Juni, 4. Juni 1759. In: Wieland: BW I, Nr. 401, S. 455–463, hier S. 460, Z. 170–174.

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poetischen Mahlerey, am Ausdruk, an der Versification derselben ist wenig mit Grund zu tadeln.«396 In einer kurzen Frage-Antwort-Sequenz kommt nicht nur Wielands neuer unparteiischer Standpunkt, sondern auch die Distanzierung von seinem Mentor, dem Patriarchadendichter Bodmer, zum Ausdruck: Wird Hr. Klopstok nicht von blinden Verehrern zu viel bewundert? Ja. Wird Hr. Klopstok nicht von blinden Tadlern zu sehr verachtet? Ja. Ist der Noah in der Manier der Messiade geschrieben? Nein. Ist der Noah ein elendes Episches Gedicht? Nein! Ist der Noah mit der Ilias, Eneis, dem befr. Jerusalem, dem Paradies, dem Leonidas in Eine Classe zu stellen? Nein. Ist Noah lächerlich weil er Noah heist? Nein! Sind viele schöne Stellen im Noah. Ja! Sind viele, welche weit schöner seyn könnten? Ja. Sind Bodmers Figuren zu steiff und unbelebt, ist sein Coloris zu schekicht, Seine Versification rauh und unmusicalisch? Ja. Mangelt es ihm an Wahrscheinlichkeit, an Natur, an Affect? an Edler Einfalt? einfältiger Schönheit? schöner Erhabenheit? Ja. Hat jemand eine vernünftige und gerechte Critik vom Noah gemacht? N e i n. Kan derjenige vom Noah urtheilen, der ihn nicht gelesen hat. N e i n.397

Selbstbewusst verkündet Wieland auch gegenüber Zimmermann am 2. Juni 1759: »Cyrus wird seyn, wenn Noah nicht mehr ist.«398 Der unvollendete Cyrus wird allerdings die letzte heroische Hexameterdichtung Wielands in der Nachfolge Klopstocks und Bodmers sein.

5.3

Das idyllische Prosaepos: Der Tod Abels von Salomon Gessner

Der Dichter, Maler, Buchillustrator und Verleger Salomon Gessner (1730– 1788)399 berichtet seinem Freund Ewald von Kleist am 18. Juni 1757: 396 397 398 399

Ebd., S. 461, Z. 179–182. Ebd., S. 461, Z. 195–209. Ebd., S. 456, Z. 32. Vgl. zum Autor Salomon Gessner : Paul Leemann-van Elck: Salomon Gessner. Sein Lebensbild mit beschreibenden Verzeichnissen seiner literarischen und künstlerischen Werke. Zürich / Leipzig 1930. (Monographien zur Schweizer Kunst; 307.) – E. Theodor Voss: Salomon Geßner. In: Deutsche Dichter des 18. Jahrhunderts. Ihr Leben und Werk. Hrsg. v. Benno von Wiese. Berlin 1977. S. 249–275. – Maler und Dichter der Idylle. Salomon Gessner 1730–1788. Wolfenbüttel 1980. (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek; 30.) – Martin Bircher / Bruno Weber : Salomon Gessner. Zürich 1982. – Martin Bircher : Salomon Gessner. In: Deutsche Dichter. Leben und Werk deutschsprachiger Autoren. Hrsg. v. Gunter E. Grimm und Frank Rainer Max. Band 3: Aufklärung und Empfindsamkeit. [Nachdr.] Stuttgart 1990. S. 233–246. – Wiebke Röben de Alencar Xavier :

Das idyllische Prosaepos: Der Tod Abels von Gessner

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Ich habe schon wieder ein neues Gedicht auf die Hälfte fertig. Ich wollt’ es versuchen, ob mir die ernsthaftere Muse auch günstig ist, und wagte mich an eine Materie, wo die größesten Leidenschaften und die wunderbarsten und traurigsten Situationen vorkommen. Ich besinge den Tod Abels und bin schon über die schwersten Stücke weg. Es wird vier Gesänge stark.400

Nach der Veröffentlichung der Naturdichtung Die Nacht (1753), des Schäferromans Daphnis (1754) und der Idyllen (1756) galt Gessner gewissermaßen als »Schweizer Theokrit«401. Er schrieb zudem eine Prosafortsetzung von Bodmers Hexameterdichtung Inkel und Yariko (1756). Im Sommer 1757 wandte er sich offensichtlich nicht mehr einem profanen Thema, sondern einem ›heiligen‹ Stoff zu. Die Grundlage seiner ›ernsthaften Materie‹ war die biblische Erzählung von den zwei Söhnen Adams und Evas: des Schäfers Abel und des Ackerbauers Kain (Gen. 4,1–16). Im Alten Testament folgt die kurze Darstellung des Brudermords unmittelbar auf den Bericht über den Sündenfall Adams und Evas und deren Vertreibung aus dem Paradies. Gessners biblisches Heldengedicht Der Tod Abels, das aus insgesamt fünf Gesängen besteht und in rhythmischer Prosa verfasst wurde, erschien im Jahre 1758.402 Der Dichter erklärt von Kleist am 28. März 1758: Ich hätte nie eine biblische Geschichte gewählt, da wir schon so viele gute Stücke in der Art haben, wenn mir nicht eben diese wäre übrig gelassen worden, die mir wegen Kains Charakter und wegen der ganz besondern Situationen eine der merkwürdigsten geschienen hat. Sie hat so viel Interessantes, als ein episches Gedicht haben soll; es sind Salomon Gessner im Umkreis der Encyclop8die. Deutsch-französischer Kulturtransfer und europäische Aufklärung. GenHve 2006. (Travaux sur la Suisse des LumiHres; 5.) – Bernhard von Waldkirch (Hrsg.): Idyllen in gesperrter Landschaft. Zeichnungen und Gouachen von Salomon Gessner (1730–1788). [Katalog zur Ausstellung im Kunsthaus Zürich, 26. Februar bis 16. Mai 2010.] München 2010. 400 Brief von Gessner an Ewald von Kleist, 18. Juni 1757. Zitiert nach: Salomon Gessner : Sämtliche Schriften in drei Bänden. Hrsg. v. Martin Bircher. Bd. III. [Reprint des Fünften Teils von »Sal. Gessners Schriften, Zürich […] 1772« und der vermischten Schriften.] Zürich 1974. S. [146] (Salomon Gessner über seine Dichtungen. Eine Auswahl aus seinen Briefen). 401 Vgl. Maurizio Pirro (Hrsg.): Salomon Gessner als europäisches Phänomen. Spielarten des Idyllischen. Heidelberg 2012. (Beihefte zum Euphorion; 66.) 402 Vgl. folgende Forschungsliteratur zu Der Tod Abels: Auguste Brieger : Kain und Abel in der deutschen Dichtung. Berlin / Leipzig 1934. (Stoff- und Motivgeschichte der deutschen Literatur ; 14.) S. 55–58. – Renate Böschenstein-Schäfer : Gessner und die Wölfe. Zum Verhältnis von Idylle und Aggression. In: Maler und Dichter der Idylle. Salomon Gessner 1730–1788, S. 71–73. – Robert M. Maniquis: Salomon Gessner’s Der Tod Abels and the gentle death of sacrifice. In: Reconceptualizing Nature, Science, and Aesthetics. Contribution / une nouvelle approche des LumiHres helv8tiques. Ed. by Patrick Coleman, Anne Hofmann and Simone Zurbuchen. GenHve 1998. (Travaux sur la Suisse des LumiHres; 1.) S. 167–183. – Daniel Weidner : ›Bibeldichtung‹ und dichterische Darstellung. Kain in der Literatur um 1800: Klopstock, Gessner, Coleridge, Byron. In: arcadia. Internationale Zeitschrift für Literaturwissenschaft 43 (2008). Heft 2. S. 299–331, hier S. 312–318.

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die ersten Menschen und der Erste, der stirbt. Schade, daß nicht ein fähigerer Kopf die Ausarbeitung derselben übernommen hat! Ein solcher hätte mehr Mannichfaltigkeit hineingebracht, mehrere Situationen und Schönheiten darin entdeckt, über die ich weggestolpert bin. Indeß war eine meiner Absichten, sowol im Plan als in der Ausbildung simpel zu sein, um gehäuften Blumen und gekünstelten Metaphern auszuweichen. Wie schön haben die meisten Alten diesen bunten Schmuck zu vermeiden gewußt, und sie sind doch in der größesten Simplicität pathetisch und erhaben. Das ist das Vorrecht der Genien vom ersten Rang; das ist das wahre Große und Schöne. Was sie denken, ist groß und schön und bedarf nicht, mit gehäuften Zierrathen umhängt zu sein und solches zu scheinen. Die Grazien schmücken sich mit wenigen Rosen, wenn Andere sich künstlicher schmücken, um Fehler zuzudecken. Doch die Wahl, sie nachahmen zu wollen, macht schon Ehre, wenn man auch weit zurücke bleibt.403

Gessners Intention war es demnach, eine pathetisch-erhabene Dichtung nach dem Vorbild der alten Griechen zu schaffen, deren Handlung einem ›einfachen Plan‹ folgt. Die erzählte Zeit beträgt etwa drei Tage. Der epische Sänger erzählt die Geschichte vom ersten Todesfall seit der Erschaffung der Menschheit. Großes Interesse zeigt der Epiker für den Charakter des Brudermörders Kain, der die eigentliche Hauptfigur dieses Bibelepos ist, so dass man hier eher von einem ›Antihelden‹ bzw. von einer negativ besetzten Heldenfigur sprechen könnte. Der Tod Abels ist eine produktive Nachahmung von Klopstocks psychologisierender Interpretation der biblischen Judasgeschichte im Messias (vgl. Kap. 4.6). Gessner zeichnet folglich keinen vollkommen bösen Charakter, sondern er versucht, eine psychologische Begründung dafür zu finden, weshalb Kain seinen Bruder Abel erschlug. In der Vorrede zu seinem Bibelepos erklärt der Dichter : »Ich habe mich an einen hœhern Gegenstand gewaget, um zu wissen, ob meine Fæhigkeiten weiter hinaus reichten, als ich sie bisher versucht hatte.«404 Gessner sieht es demzufolge als Herausforderung an, sich an ein Werk der »hœhere[n] Po[sie« zu wagen und »ein Styk von weiterm Umfang« auszuarbeiten, denn: Es ist von tausend Vergnygungen begleitet, wenn man ein grosses Mannigfaltiges zu yberdenken hat, Triebfedern der Handlungen bis zu ihrem ersten Ursprung verfolget, und Charakteren ausmahlet, und durch verwikelte Begebenheiten immer kennbar fortgehen læßt. Die ganze Natur ist dann ein unerschœpfliches Magazin, mit allem was ist oder seyn kœnnte, woraus das Genie alles das herholet, was seinen geliebten Gegenstand schmyken kann; da ist die ganze Seele in Bewegung, und Fæhigkeiten myssen erwachen, die vielleicht sonst unbekannt geschlummert hætten.405 403 Brief von Gessner an Ewald von Kleist, 28. März 1758. Zitiert nach: Gessner : Sämtliche Schriften. Bd. III, S. [146]–[147], hier S. [147]. 404 Salomon Gessner : Der Tod Abels. In: [Ders.:] Sämtliche Schriften in drei Bänden. Hrsg. v. Martin Bircher. Bd. I. [Reprint des Ersten und Zweiten Teils von »S. Gessners Schriften, Zürich […] 1762«.] Zürich 1972. Vorrede, S. V–XVI, hier S. V. 405 Ebd., S. VIf.

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Den kritischen Gottschedianern und orthodoxen Theologen, die eine dichterische Behandlung eines biblischen Stoffes dezidiert ablehnten, entgegnet Gessner, dass die Poesie »die wyrdigste Art« sei, »Empfindungen der Tugend und der Andacht zu sagen«.406 Er hebt insbesondere den moralischen Nutzen der ›heiligen Poesie‹ hervor : »Sie soll den Verstand auf eine edle Art ergœzen, und das Herz verbessern; sie soll die Menschen fyr jedes Schœne empfindlich und gesittet machen; auch wann sie scherzet, soll sie den Wiz reinigen, und Verachtung fyr Zotten und Grobheiten einpflanzen.«407 Gessners Kritik am zeitgenössischen Lesepublikum, das eine Verbindung von Bibel und Dichtkunst verurteilte, betrifft auch diejenigen Rezipienten, die sich am Geschmack des französischen Hofes orientierten und die das Thema Liebe einem religiösen Sujet vorzogen: Noch giebts eine gewisse Gattung Leuthe, die zu gut zu leben wissen, als daß ihnen Helden gefallen sollten, die von nichts als Religion reden, so ernsthaft sind, und so wenig feinen Wiz haben. Wenn sie glyklich nach ihren Sitten und ihrer Denk-Art geschildert werden, wie sehr sind sie da von der Welt, die zu leben weiß, unterschieden! Was fyr eine einfæltige Sprache! Was fyr Sitten! Sie myssen ihnen eben so læcherlich seyn, als Homers Helden vielen Franzosen, weil sie nicht Franzosen sind. Diesen muß ich im Vertrauen sagen, daß mir, als einem jungen Herrn, der auch zu leben wissen will, an ihrem Beyfall zu viel gelegen ist, und daß ich, um sie gut zu behalten, das gleiche Sujet auch fyr sie zurichten will. Ich will dann trachten, eine Liebes-Intrigue, (und was ist ein Episches Gedicht ohne das? Alles, was feinen Geschmak hat, muß es verlachen!) das werd ich darin anbringen. Abel wird dann ein zærtlicher junger Herr seyn und Kain wie ein Russischer Hauptmann; und Adam soll nichts reden, das nicht ein betagter Franzose, der die Welt kennt, sagen kœnnte.408

In überspitzter Form verspottet der Bibelepiker hier derartige Leser »von […] Welt«, die sich im Gegensatz zum aufgeklärten, tugendhaft-empfindsamen Bürgertum nicht mit den »Sitten« und der »Denk-Art« christlicher Helden identifizierten. Bezeichnenderweise vergleicht Gessner diese französierten Rezipienten mit den ›Modernes‹ in der französischen Querelle des Anciens et des Modernes, da diese die griechisch-antiken Heroen in den Epen Homers abgelehnt hatten, weil sie keine Franzosen waren.409 Gessners idyllisches Prosaepos Der Tod Abels beginnt mit einem langen Proömium: Ein erhabnes Lied mœcht’ ich izt singen, die Haushaltung der Erstgeschaffenen nach dem traurigen Fall, und den ersten, der seinen Staub der Erde wieder gab, der durch die Wuth seines Bruders fiel. Ruhe du izt, sanfte lændliche Flöt’, auf der ich sonst die gefællige Einfalt und die Sitten des Landmanns sang. Stehe du mir bey, Muse, oder edle 406 407 408 409

Ebd., S. XI. Ebd. Ebd., S. XIV–XVI. Vgl. Röben de Alencar Xavier : Salomon Gessner im Umkreis der Encyclop8die, S. 77f.

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Begeistrung, die du des Dichters Seel’ erfyllest, wenn er in stiller Einsamkeit staunt, bey nächtlichen Stunden, wenn der Mond über ihm leuchtet, oder im Dunkel des Hains, oder bey der einsam beschatteten Quelle. Wenn dann die heilige Entzükung seiner Seele sich bemæchtigt, dann schwingt sich die Einbildungs-Kraft erhizt empor, und fliegt mit kyhnern Schwingen durch die geistige und die sichtbare Natur hin, bis ins fernere Reiche des Mœglichen, sie spyret das yberraschende Wunderbare auf, und das verborgenste Schœne. Mit reichen Schäzen kehret sie dann zuryk, und bauet und flicht ihr manigfaltiges Ganzes, indeß daß die haushältrische Vernunft sanft gebietrisch Aufsicht hælt, und wæhlt und verwirft und harmonische Verhæltnisse sucht. O wie entfliegen da der erhizten Arbeit die goldenen, die edel genossenen Stunden! Wie bist du der Bemühung und der Achtung der Edeln werth! Es ist es werth, bey dem næchtlichen Gesange der Grille zu wachen, bis der Morgen-Stern heraufgeht, der edelste Gewinn, Achtung und Liebe bey denen zu haben, deren gelæuterter Geschmak jedes Schöne zu schæzen weiß, und Empfindungen der Tugend im fyhlenden Herzen aufzuweken. Billich verehret die Nachwelt des Dichters Aschen-Krug, von altem Epheu umschlungen, den die Musen sich geweihet haben, die Welt Unschuld und Tugend zu lehren. Sein Ruhm lebt noch, gleich jugendlich, wenn die Trophee des Eroberers im Staube modert, und das præchtige Grabmahl des unryhmlichen Fyrsten izt in einer Wyste vielleicht, im wilden Dorn-Gebysche zerstreut ligt, mit grauem Mooß bedekt, auf dem nur selten der verirrte Wandrer ruht. Zwar diese Grœsse zu erreichen hat die Natur nur wenigen vergœnt, ihr nachzueifern ist ryhmliches Bestreben. Der einsame Spaziergang und jede meiner einsamen Stunden sey ihm geweiht!410

Der Epiker folgt dem lateinisch-römischen Vorbild und trennt wie in Vergils Aeneis die zwei Teile eines Proömiums voneinander. Die ›propositio‹, d. h. die Zusammenfassung des Inhalts, besteht aus einem einzigen langen Satz, wobei die Namen der epischen Protagonisten nicht genannt werden. Die Musenfigur in der anschließenden ›invocatio‹ ist die Personifikation des ›furor poeticus‹, d. h. der ekstatischen Begeisterung bzw. göttlichen Inspiration eines Dichters. Der epische Sänger reflektiert hier über den Seelenzustand eines enthusiasmierten Dichters, der in den ›poetischen Stunden‹ der nächtlichen Stille und Einsamkeit schöpferisch tätig wird. Die wichtigsten Grundsätze der Literaturtheorie Bodmers und Breitingers werden genannt: die erhitzte Einbildungskraft; das unerwartete Wunderbare; das Poetisch-Schöne und Erhabene; die aufklärerische Vernunft; das tugendhaft-empfindsame Herz, das bewegt wird. Ein Verweis auf den erstrebenswerten ewigen Dichterruhm schließt dieses Proömium ab. Den Gattungswechsel von den einfachen Hirtengedichten, die in der Rhetorik dem ›genus humile‹ zugeordnet sind, zum hohen Epos, dem ›genus grande‹, kündigt der Erzähler im imperativischen Satz zwischen ›propositio‹ und ›invocatio‹ an: »Ruhe du izt, sanfte lændliche Flöt’, auf der ich sonst die gefællige Einfalt und die Sitten des Landmanns sang.«411 410 Gessner : Der Tod Abels. In: [Ders.:] Sämtliche Schriften. Bd. I, S. 1–254, hier S. 1–4. 411 Ebd., S. 1.

Das idyllische Prosaepos: Der Tod Abels von Gessner

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Die Handlung des epischen Heldengedichts über den Tod Abels lässt sich folgendermaßen umreißen: Im 1. Gesang, der die Exposition darstellt, wird die menschliche Ur-Familie vorgestellt und sogleich werden die innerfamiliären Konflikte thematisiert. Adam und Eva haben vier Kinder gezeugt: Kain ist mit Mehala und Abel ist mit Thirza verheiratet. In einer idyllischen Laube stimmt Abel am Morgen einen Lobgesang zu Ehren Gottes an, dem alle Familienmitglieder – außer einem – begeistert zuhören. Kains Unzufriedenheit und seine Eifersucht auf seinen Bruder Abel, der scheinbar der Lieblingssohn der Eltern ist, werden hier offenbar. So kommentiert er zornig das Geschehen: Wie entzykt sie sind! wie sie ihn umarmen, weil er ein Lied gesungen hat! Er kann wol singen und Lieder dichten, sonst myßt er schlafen, wenn er myssig bey der Herde im Schatten sizt. Mich senget die Sonne bey der rohen Arbeit; mir bleibt weder Zeit noch Muth zum singen. Wenn ich des Tages Last ausgestanden habe, dann fodern meine myden Glieder Ruhe, und am Morgen wartet die Arbeit schon wieder auf meinem Felde. Den sanften myssigen Jyngling, (er styrbe, tryg er einmal meine Tages-Last,) sie verfolgen ihn immer mit Freuden-Thrænen und zærtlichen Umarmungen; ich hasse die weibische Zærtlichkeit, aber – – – mir sind sie nicht beschwerlich, arbeit’ ich gleich die unwillige Erde den ganzen heissen Tag durch. Wie sie fliessen, die Freuden-Thrænen!412

Kain wird als ein von seinen Affekten getriebener Charakter dargestellt. Dementsprechend klagt sein Vater Adam: Kain! Kain! ach wie erfyllest du mit dunkeln Besorgnissen mein Herz! Kœnnen die Leidenschaften in der Seele des Synders so zum schreklichen Tumult aufschwellen, so Tugend und Gyte zu Boden treten! […] O Synde! Synde! was fyr schrekliche Verwystungen in der Seele des Sterblichen!413

Sorgenvoll geht Adam zu seinem Erstgeborenen, der auf dem Feld arbeitet, um ihm ins Gewissen zu reden. Bewusst integriert der Dichter in die Rede des Stammvaters eine intertextuelle Referenz auf Miltons Paradise Lost. So weist Adam seinen Sohn auf den Höllensturz der abtrünnigen Engel hin: »Wynschest du das Glyk der Engel? wisse, auch Engel konnten unzufrieden seyn; sie wollten Gœtter seyn, und machten sich des Himmels verlustig.«414 Kain wiederum macht auf den Sündenfall und seine Folgen aufmerksam: »Ich bin vom Weibe zum Elend gebohren; die grœsseste Schale des Fluches hat der HErr auf die GeburtsStunde des Erstgebohrnen gegossen. Diese Quellen von Vergnygungen und Glyk, aus denen ihr schœpfet, fliessen nicht fyr mich.«415 Adam erteilt seinem Erstgeborenen den wohlgemeinten Rat, seine Affekte von der Vernunft steuern zu lassen, um so zu einem tugendhaften Leben zurückzufinden: 412 413 414 415

Ebd., S. 15f. Ebd., S. 18. Ebd., S. 24. Ebd., S. 25.

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Die Nachahmer Klopstocks

Wenn die Vernunft unter dem Tumulte tobender Leidenschaften, und unreiner, unbeschrænkter Begierden erligt, dann wird der Mensch elend, und jedes anscheinende Glyk ist triegendes Elend. Dem Sturme kannst du nicht befehlen, daß er nicht tobe, und dem hinreissenden Strom nicht, daß er still stehe; aber deine Vernunft kannst du aus dem Dunkel hervor rufen, daß sie deine Seele erhelle, sie kann mæchtig dem Tumulte befehlen, daß er schweige, sie kann jeden Wunsch, jede Begierde, jede aufschæumende Leidenschaft pryfen; dann schweigen die beschæmten Leidenschaften, und die eiteln Wynsche und Begierden verschwinden, wie Morgen-Nebel vor der Sonne verschwinden.416

Unangemessene Affekte, die als vernunft- und tugendwidrig angesehen werden, sollen folglich unterdrückt werden. Demgemäß predigt der Patriarch: »Durch Tugend steigen wir empor, zu der Seligkeit reiner Geister, zu paradiesischem Glyke, da hingegen jede unbesiegte, unreine Leidenschaft uns hinunterreißt, und in Labyrinthe schleppet, wo Unruh, Angst, Elend und Nachreu auf uns lauren.«417 Kain willigt letztlich ein, seinen Bruder Abel zu umarmen, allerdings macht er deutlich: Aber – – – zu dieser weibischen Weichlichkeit wird meine mænnlichere Seele sich nie gewœhnen, zu dieser Weichlichkeit, die ihn so beliebt macht, so viel Freuden-Thrænen euch entlokt; die den Fluch yber uns alle brachte, da du im Paradiese durch ein paar Thrænen zu leicht erweicht – – –418

Er lehnt es demnach dezidiert ab, ein gefühlsbetonter Charakter zu sein, der stets in Tränen ausbricht. Daher bemerkt er auch zuvor gegenüber Adam: »Soll der Adler girren wie die sanfte Taube?«419 Kain fühlt sich gewissermaßen als Fremdling im Kreise der anderen empfindsamen Figuren. Zudem macht er seinem Vater bewusst, dass seine Mutter Eva damals im Paradies nicht allein gefallen sei, sondern dass Adam ihr aus Mitleid, Liebe und »weibische[r] Weichlichkeit«420 gefolgt sei und so den Fluch über seine Nachkommen gebracht habe.421 Der 1. Gesang endet mit einer plötzlichen Versöhnung aller Familienmitglieder. Da der bibelkundige Leser weiß, wie der biblische ›my´ thos‹ endet, und da der sprechende Titel des Epos selbst das tragische Ende ankündigt, wird durch die Handlungsführung hier keinerlei Spannung aufgebaut. Der einführende Gesang dient jedoch der wichtigen Charakterisierung der epischen Fi416 417 418 419 420 421

Ebd., S. 26f. Ebd., S. 39f. Ebd., S. 28. Ebd., S. 22. Ebd., S. 28. Vgl. Weidner : ›Bibeldichtung‹ und dichterische Darstellung. Kain in der Literatur um 1800: Klopstock, Gessner, Coleridge, Byron, S. 316.

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guren. Eine retardierende Funktion hat der 2. Gesang, in welchem Adam rückblickend seine eigene Geschichte und die seiner Frau Eva nach ihrer beider Vertreibung aus dem Paradies erzählt. Erzähltechnisch liegen hier ein Apolog und zugleich eine Episode vor. Stofflich knüpft Gessner mit diesem Rückbezug auf die Vorgeschichte der epischen Handlung im Tod Abels an Miltons Paradise Lost an. Bezeichnenderweise schaffen sich Adam und Eva ein Paradies auf Erden. Gezielt wählen sie einen bestimmten Ort aus: »Siehst du jenen Fluß, durchs gryne Thal sich winden? dort scheinet ein Hygel einen Garten voll Bæum’ auf grasreichem Ryken zu tragen.«422 Die Natur als Inbegriff der göttlichen Schöpfung wird auch in ihrer kultivierten Form vom ersten Menschenpaar als eine Nachbildung des Paradieses angesehen, und Adam beschreibt in seiner Erzählung eine idyllische Landschaft, die zu ihrer Wohnstatt wurde: Izt wandelten wir wieder dem Hygel zu, wir giengen durch das fruchtbare Gestræuche, das seinen Fuß umkrænzte; auf seiner Stirne stand eine Ceder aus den kleinern FruchtBæumen empor, und streute hoch herunter weit verbreitete Kyhlung, und in ihrem Schatten floß eine Quelle durch Blumen. Da lag eine unabsehbare Gegend in offener Aussicht vor uns, und verlohr sich dem zu schwachen Auge in neblichter Luft. Dieß ist ein Schatten des Paradieses, eine bequeme Wohnung, ein Paradies werden wir hier nicht finden […].423 […] Da hub ich an, unter dem Schatten der Ceder eine Hytte zu bauen, und pflanzt’ einen Zirkel von Pfælen in die Erde, und flocht von einem zum andern Wænde von schlanken Gestræuchen, und Eva gieng hin, die Quelle durch Blumen zu leiten, oder verwilderte Gestræuche an Gelænder zu heften, oder hylflos hangende Blumen an Stæbe zu binden, und die reifen Frychte zu sammeln; und so assen wir zum ersten mal unsre Speise im Schweisse des Angesichtes. Als ich hingieng an den Fluß, Schilfrohr zum Dach yber die Hytte zu sammeln, da sah ich fynf Schaafe, weiß wie kleine Mittags-Wolken, und einen jungen Bok in ihrer Mitt’ am Ufer weiden. Leise trat ich da næher, zu sehen, ob sie mich auch flœhen, wie der Tieger und der Lœwe, die sonst vor meinen Fyssen gespielt hatten; aber sie flohen mich nicht, und ich trieb sie mit einem Rohrstab vor mir her auf den Hygel, dahin ins hohe Gras, wo Eva, beschæftigt aus yberhangendem Gestræuch eine Laube zu wœlben, die kleine Schaar nicht sah, bis ihr Geblœke sie rief. Da sah sie sich um, ließ freudig die Gestræuche aus ihren Hænden zurykflattern, sie stand erst schychtern still, dann rief sie: O sie sind sanft und freundlich wie im Paradiese! Seyd mir gegryßt! ihr sollt bey uns wohnen; angenehme Gesellschaft! ihr sollt bey uns wohnen; hier ist hohes Gras und wol riechende Kræuter, und eine klare Quelle. Wie wird es lieblich seyn, wenn ihr um uns her im Grase hypfet, indeß daß wir der Bæume und des Gestræuches warten! So sprach sie, und streichelt ihre wollichten Ryken.424 […] Schœn und mannigfaltig ist diese Gegend, und dieser Hygel ist mit vielerley Gewæchsen gezieret; auch kœnnen wir unter den Gewæchsen der ganzen Gegend 422 Gessner : Der Tod Abels. In: [Ders.:] Sämtliche Schriften. Bd. I, S. 1–254, hier S. 55. 423 Ebd., S. 57f. 424 Ebd., S. 59–61.

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wæhlen, und sie auf diesem Hygel verpflanzen, dann wird es dem Paradiese so æhnlich werden, als das Paradies, wie die uns besuchenden Engel sagten, dem Himmel æhnlich ist, ein nachahmender Schatten.425

Diese Naturbeschreibung ist eng verbunden mit der Topik des ›locus amoenus‹.426 So gehört zum Bild »einer anmutig schönen Landschaft« »der Platz an der Quelle […], der von Gras, Kräutern und Blumen bedeckt ist und von hohen Bäumen beschattet wird«.427 Zudem gleicht der pastorale ›locus amoenus‹ einem Garten, in dem die Hirten ihre Schafherden hüten. Die idyllische Idealwelt gehört sowohl zum antiken Mythos von Arkadien als auch zum christlichen Mythos vom Garten Eden sowie zur Vorstellung von einem Goldenen Zeitalter. Gottsched erläutert »das rechte Wesen eines guten Schäfergedichtes« in seinem Versuch einer Critischen Dichtkunst folgendermaßen: »Poetisch würde ich sagen, es sey eine Abschilderung des güldenen Weltalters; auf christliche Art zu reden aber : eine Vorstellung des Standes der Unschuld, oder doch wenigstens der patriarchalischen Zeit, vor und nach der Sündfluth.«428 Gessner verlegt das antike Arkadien gewissermaßen in die biblische Patriarchenzeit und verknüpft so die Idylle429 mit dem Epos. Als Musterbild eines Bewohners der Idylle kann man Abel bezeichnen, wird er doch im Bibelepos als singender und dichtender Schäfer dargestellt. Auf der Textebene wird er jedoch von seinem Bruder Kain, dem hart arbeitenden Ackerbauer, als verweichlichter Charakter abgelehnt. Am Ende des 2. Gesanges heißt es über die Zuhörer von Adams Erzählung: Sie hatten jede Scene seiner Geschichte nach empfunden; oft kamen Thrænen und Blæsse auf ihre Wangen, oft Heiterkeit und Læcheln; und izt huben sie alle an, dem Vater der Menschen ihren Dank zu sagen. Kain dankt’ auch; aber er hatte mænnlicher nicht geweint und nicht gelæchelt.430

Adam, Eva, Thirza und Mehala dienen hier als Identifikationsfiguren für das tugendhaft-empfindsame Lesepublikum, das die epische Handlung im Tod Abels 425 Ebd., S. 61f. 426 Vgl. Petra Maisak: Arkadien. Genese und Typologie einer idyllischen Wunschwelt. Frankfurt a. M. / Bern 1981. (Europäische Hochschulschriften: Reihe 28, Kunstgeschichte; 17.) S. 17–23 (Kap. I 1: Der pastorale locus amoenus als Grundlage der Arkadiendarstellung). 427 Ebd., S. 18f. Die wesentlichen Elemente bzw. Motive, aus denen das traditionelle Bild einer lieblichen Landschaft zusammengesetzt ist, stammen aus Homers Odyssee und zwar aus der Beschreibung des berühmten Gartens des Alkinoos (7. Gesang, V. 112–132). 428 Gottsched: AW VI 2, S. 76. 429 Vgl. hierzu: Renate Böschenstein-Schäfer: Idylle. 2., durchges. u. erg. Aufl. Stuttgart 1977. (Sammlung Metzler ; 63.) – Deutsche Idyllentheorien im 18. Jahrhundert. Mit einer Einführung und Erläuterungen hrsg. v. Helmut J. Schneider. Tübingen 1988. (Deutsche TextBibliothek; 1.) 430 Gessner : Der Tod Abels. In: [Ders.:] Sämtliche Schriften. Bd. I, S. 1–254, hier S. 92.

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ebenfalls nachempfinden soll. Kain hingegen übt stets Kritik an der übermäßigen Rühr- und Tränenseligkeit der anderen epischen Figuren und damit dezidiert am heiteren, idyllischen Verhaltensmuster. Verbirgt sich also hinter diesem epischen Charakter vielleicht eine poetische Darstellung eines zeitgenössischen Literaturkritikers, der die Gattung Idylle bzw. den Idyllenton im Epos angreift?431 Auffallend ist jedenfalls, dass Kain im Tod Abels als ernsthafter Außenseiter erscheint, der die Haltung der anderen Familienmitglieder negativ beurteilt. Denn als Mehala im 3. Gesang ihre überwallende Freude zum Ausdruck bringt, dass ihr Mann »mit bryderlicher Liebe« Abel umarmt habe, reagiert Kain verärgert: Eure yberstrœmende Freude beleidigt mich, ja sie beleidigt mich! Ists nicht, als ob sie laut zu mir sagte: Kain hat sich gebessert; vorher war er ein bœser lasterhafter Mann, ein Hæsser seines Bruders? Ich war so lasterhaft nicht, und – – – læcherlich! Hab ich den Bruder gehasset, weil ich nicht immer mit meinen Thrænen und meinen Umarmungen ihn verfolgte? Ich habe den Bruder nie gehasset, nein, ich hab ihn nie gehasset; aber sein zærtliches unmænnliches Wesen, mit dem er mir jede Zuneigung stahl, das – – – das beleidigte mich! Und – – – Mehala! der Ernst runzelt nicht umsonst meine Stirne. Unweise hat er immer gehandelt, unser Vater, wenn er die unryhmliche Geschichte vom Fall und alle seine unseligen Folgen erzehlte. Was brauchen wirs zu wissen, und oft wiederholt zu hœren, daß wir durch seine und der Eva Schuld ein Paradies verlohren haben, durch ihre Schuld izt elend sind? Wyßten wir das nicht, dann wyrden wir unser Elend ruhiger dulden, und einen Verlust nicht bedauern, den wir dann unwissend erlitten hætten.432

Kain weist wiederholt auf die Folgen des Sündenfalles hin und reißt die Handlung damit gewissermaßen aus der lieblichen Stimmung. Als Adam im 3. Gesang plötzlich erkrankt und Todesängste aussteht, werden auch die anderen Mitglieder der menschlichen Ur-Familie aus ihrem quasi-paradiesischen Zustand gerissen. So klagt Eva: »Ja mich, mich dryke mit gedoppelter Last, gieß jeden 431 Daniel Weidner behauptet, »dass die Gattungsmerkmale [der Idylle] im Stück selbst verhandelt werden, sogar an entscheidender Stelle, denn sie [würden] eigentlich den Konflikt [begründen]«. So entzünde sich Kains Eifersucht auf seinen Bruder, die ihn schließlich zum Mörder mache, an einem Loblied auf die göttliche Schöpfung, das der dichtende Schäfer Abel im 1. Gesang singe. Kain unterscheide sich »nicht nur von Abel, sondern von der bukolischen Dichtung insgesamt und damit paradoxerweise auch von dem Text, in dem er selbst vorkomm[e]«. »Kain [sei] also gewissermaßen ein Fremder in jener empfindsamen Welt und ein Mann unter Weibern.« (Weidner : ›Bibeldichtung‹ und dichterische Darstellung. Kain in der Literatur um 1800: Klopstock, Gessner, Coleridge, Byron, S. 315.) Außerdem werde das Idyllische zur eigentlichen Ursache des Sündenfalls erklärt. (Vgl. ebd., S. 316.) Weidner, der Gessners Bibelepos als »Idyll und Anti-Idyll« bezeichnet (ebd., S. 312), resümiert abschließend in seinem Aufsatz: »Gerade die Beziehung zwischen dem poetischen Text und dem biblischen Intertext erlaubt es also, jenen ersten Text und seine idyllischen Elemente zu reflektieren und kritisch in Frage zu stellen.« (Ebd., S. 317f.) 432 Gessner : Der Tod Abels. In: [Ders.:] Sämtliche Schriften. Bd. I, S. 1–254, hier S. 96f.

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Jammer gedoppelt yber mich aus, du Folge der Synde, du Fluch! Was fyr Schmerz, was fyr Elend ihr alle duldet, das kœmmt alles von mir her!«433 Kain sorgt sich nicht nur um seinen kranken Vater, sondern er macht sich auch Gedanken darüber, wie sein Verhalten möglicherweise von den anderen ausgelegt wird: O GOtt! laß den Geliebten nicht sterben! Ja weinen mußt ich; wie mein Bruder konnt’ ich nicht weinen, nein, so weibisch konnt’ ichs nicht. Wird man auch izt sagen, ich sey von rohem Gemythe? Auch izt, Abel liebe den Vater mehr, weil ich nicht wie er geschluchzt habe? Ich liebe den Vater, zærtlich wie er lieb ich ihn; aber meinen Thrænen kann ich nicht befehlen zu strœmen.434

Abel betet unterdessen demütig zu Gott. Es erscheint ihm ein Engel, der ihm Kräuter und Blumen überreicht, aus denen er ein Heilmittel für seinen Vater herstellen soll. Adam wird daraufhin wieder gesund und segnet seinen Sohn, dessen »reine Tugend dem HErrn [gefalle], und dessen Gebett [!] er so gnædig [erhört habe]«.435 Auch Kain fordert als Erstgeborener den väterlichen Segen, den Adam freudig über ihm spricht: »O Kain, Kain! sey mir gesegnet – – – du erster aus meinen Lenden! Ueber dir sey die Gnade des HErrn! Friede sey immer in deinem Herzen, und ungestœrte Ruhe in deiner Seele!«436 Allein im Dunkeln offenbart sich der melancholische Gemütszustand Kains: – – – Ruhe, ungestœrte Ruhe in der Seele – – – wie kann das – – – ich, ruhig seyn? – – – Mußt’ ich nicht den Segen erbitten, der ungebeten von den Lippen floß, da er den Bruder segnete? Zwar, ich bin der Erstgebohrne; schœner Vortheil! ich Elender! ich habe das erste Vorrecht auf Elend und Verachtung. Durch ihn hat der HErr geholfen, ihm soll kein Mittel entstehen, ihn vor mir aus geliebter zu machen. Sollen sie mich achten, mich, den der HErr nicht achtet, und den die Engel nicht achten? Mir erscheinen sie nicht, mit Verachtung gehen sie neben mir voryber, wenn ich auf dem Felde meine Glieder myd’ arbeite, und der Schweiß von meinem braunen Angesicht fließt, dann gehen sie mit Verachtung voryber, ihn zu suchen, der mit zarten Hænden in Blumen tændelt, oder bey den Schaafen myssig steht, oder aus dem Ueberfluß seiner Zærtlichkeit einige Thrænen weint, weil dort, wo die Sonne untergeht die Wolken izt roth sind, oder weil der Thau auf bunten Blumen flimmert. Weh mir, daß ich der Erstgeborne bin; denn wie es scheint, so sollte der Fluch allein, oder doch seine grœsseste Last nur den betreffen. Ihm læchelt die ganze Natur; ich nur esse mein Brod myd im Schweisse des Angesichts, ich nur bin elend.437

433 434 435 436 437

Ebd., S. 116. Ebd., S. 118. Ebd., S. 124. Ebd., S. 125f. Ebd., S. 126–128.

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Der Dichter wiederholt auch in diesem Monolog die Züge, die den epischen Charakter Kain ausmachen: Er fühlt sich missverstanden, er ist verbittert, d. h. unzufrieden mit seinem Leben, und neidisch auf seinen Bruder Abel. Erst am Ende des 3. Gesanges folgt die epische Handlung der biblischen Erzählung (vgl. Gen. 4,3–5): Abel und Kain wollen zum Dank für die Genesung ihres Vaters Gott ein Opfer darbringen. Bezeichnenderweise warnt Abel zuvor seinen Bruder : Es solle die »reine Andacht im Herzen dessen, der opfert«, flammen.438 Kain müsse den »unbillichen Gram« bekämpfen, denn Gott sehe in sein »Innerstes« und vernehme auch »leisestes Murren«.439 Er erteilt ihm zuletzt den brüderlichen Rat: »[G]eh und opfre; aber i laß nichts, […] keine unreine Leidenschaft deine Andacht befleken! dann wird der HErr gnædig dein Lob und deinen Dank annehmen, und von seinem Thron dich segnen.«440 Abel opfert daraufhin auf seinem Altar das schönste Lamm aus seiner Herde. Dem Herrn ist dieses Opfer »angenehm«, da Abel »reine[n] Herzen[s]« ist (vgl. Gen. 4,4).441 Die »Opfer-Flamme« lodert von Abels Altar »hoch in die Nacht empor, der HErr hatte den Winden befohlen zu ruhen, und der Gegend still zu feyern«.442 Erwartungsgemäß wird die Opfergabe Kains nicht angenommen (vgl. Gen. 4,5): Kain legte von den Frychten des Feldes auf seinen Altar, entzyndete sein Opfer, und kniete in die Nacht hin; schnell tœnte ein ængstliches Rauschen durch die Gebysche, und ein Wirbel-Wind heulte daher, verwehete das Opfer, und umhyllete den Elenden mit Flammen und Rauch. Er bebte vom Altar zuryk; und izt kam eine schrekliche Stimme aus dem schauervollen Dunkel der Nacht […].443

Die Rede Gottvaters lautet: Warum erbebest du, und warum ist Entsezen auf deinem Angesicht? Wirst du dich bessern, dann will ich deine Synde dir vergeben; besserst du dich nicht, dann werden die anklagende Synd’ und ihre Strafe vor deiner Hytte wohnen. Was hassest du deinen Bruder ; warum verfolgest du den Gerechten, der dich lieb hat, und als den Erstgebohrnen dich ehrt?444

Im Alten Testament lautet die Parallelstelle folgendermaßen: »Da sprach der HERR zu Kain / Warumb ergrimmestu? vnd warumb verstellet sich dein Geberde? Jsts nicht also? Wenn du from bist / so bistu angeneme / Bistu aber nicht from / So ruget die Sünde fur der thür / Aber las du jr nicht jren willen / sondern herrsche vber sie.« (Gen. 4,6f.) Demnach ergänzt Gessner diese Bibelstelle, 438 439 440 441 442 443 444

Ebd., S. 133. Ebd., S. 134. Ebd., S. 134f. Ebd., S. 135. Ebd. Ebd., S. 136. Ebd.

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indem er nicht nur dezidiert auf das lasterhafte Verhalten Kains, sondern auch auf die tugendhafte Bruderliebe verweist, die Abel ihm entgegenbringt. Die Reaktion Kains, die der epische Erzähler im Anschluss an diese Szene beschreibt, zeigt, dass die himmlische Anklage berechtigt war : Da sah er zur Seite, fern yber dem Feld hin, die Opfer-Flamme seines Bruders mit sanftem Wallen hoch in die Nacht aufsteigen; er wandte sein Gesicht voll Verzweiflung weg; und da sprachen seine bebenden Lippen: Dort – – – dort opfert der Liebling! ha, ich kann den Anblik nicht ausstehn! blikt ich noch einmal hin, die Hœlle sizt in mir, dann wyrd ich – – – ich wyrde von bebenden Lippen ihm fluchen. Verwesung! Tod! wo muß ich euch finden? kommt yber mich, yber mich Elenden! […] Ja! auf mir ruhet der Zorn des HErrn, Fluch, Verachtung! ich bin das elendeste Geschœpf, das diese Erde bewohnet; die Thiere des Feldes, der kriechende Wurm sind mir beneidens werth. O GOtt! Erbarmer! woferne du, gerechter GOtt, mein Erbarmer seyn kannst! giesse von deinem Zorn nicht mehr yber mich aus, oder, i laß mich vergehen! – – – Aber – – – du verruchter Elender! wenn du dich besserst, dann will er deine Synde vergeben! wehle Vergebung oder Elend, unaussprechliches ewiges Elend! Ja, ich habe gesyndigt; ja, sie steigen yber meinem Haupt empor, meine Missethaten, und fodern Rache von dir, du Gerechter! Wie gerecht ist deine Rache! je weiter von Vollkommenheit und vom Guten, je elender! drum bin ich so elend. O ich will aus meinen verkehrten Wegen zurykgehn! laß vor deinem Angesicht sie verschwinden, diese schwarzen Missethaten, die mich anklagen! Erbarme dich, GOtt! erbarme dich, lindre mein Elend, oder – – – vernichte mich!445

Kain ist zutiefst verzweifelt, aber bereit, sich zu ändern. Im 4. Gesang kommt es letztlich zur erwarteten Katastrophe. Gessner bedient sich zur Herbeiführung dieser tragischen Wendung in der epischen Handlung einer Gestalt der christlichen Mythologie: Wie Judas Ischariot im Messias Klopstocks von Satan heimgesucht wird, so wird auch Kain im Tod Abels von einem Höllenbewohner zum Bösen verführt. Es handelt sich um den dämonischen Geist Anamelech, der bereits im 3. Gesang als heimlicher Beobachter Kains eingeführt wird. Es heißt dort, dass er »von der niedrigen Classe der Geister, aber an Stolz und Ehrgeiz nicht geringer als Satan« sei:446 Oft hatt’ er in der Hœlle von seinen ihm veræchtlichen Gesellen ins Einsame sich hinbegeben, wo Schwefel-Bæche durch den versengeten Boden schlichen, zwischen ungeheuren dæmpfenden Felsen, die ihre schwarzen Hæupter in dem Gewœlbe træg ruhender Wetter-Wolken verbargen; der fyrchterliche Wiederschein, den jenseit der Gebyrge empor wallende Flammen in die Wolken hinstreuten, goß braune Dæmmrung auf das schwarze Dunkel seines Weges. Damals, als die Hœlle mit tobendem Getœse Triumph und Lob ihrem Kœnig zurief, als er aus der neuen Schœpfung zurykkam, und stolz von seinem Thron herunter erzehlte, wie er die Neugeschaffenen verfyhrt, und 445 Ebd., S. 137–139. 446 Ebd., S. 99.

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den HErrn des Himmels genœthiget habe, Tod und Fluch yber das neue Geschœpf seiner Hænde auszudonnern; da schwoll das schwarze Gift des Neides in seinem Busen. Soll er nur Ehre und Ruhm haben, und sie, die stolz um seinen Thron her sizen? Und ich soll unbemerkt unter den veræchtlichen Schaaren in dem Dunkel der Hœlle schleichen? Nein, ich will Thaten erfinden, yber die die Hœll’ erstaunen soll; und dann soll – – – dann soll Satan, wie der niedrigste der Hœlle mit Ehrfurcht meinen Namen nennen! So dacht’ er und brytete im Einsamen, Verwystung durch die Schœpfung und Jammer und Elend unter die Menschen.447

Demzufolge finden sich wesentliche Analogien in der Charakterzeichnung Anamelechs in Der Tod Abels und Adramelechs im Messias. Gessner hat diesem Höllengeist, der Satan an Bösartigkeit übertreffen will, einfach einen anderen Namen gegeben. Er wird zudem als Urheber des Bethlehemitischen Kindermords (vgl. Mt. 2,16f.) angeführt. So findet sich auch im idyllischen Prosaepos Gessners eine schrecklich-erhabene Szene, in der ein späteres Ereignis der christlichen Heilsgeschichte vorweggenommen wird: Es gelang ihm [Anamelech; I. G.] auch, daß die Hœlle selbst mit Entsezen seinen Namen nennte. Er wars, der nachher jenen verruchten Kœnig [Herodes; I. G.] vermochte, Bethlehems unschuldige Jugend zu morden; læchelnd sah ers, wie die menschlichen Satane unter den Kindern wyteten, an Blut-triefenden Mauern sie zerschmetterten, oder mit blutigem Schwerdt in den ringenden Hænden der heulenden Mutter tœdeten. Da schwebt’ er læchelnd yber den hohen Zinnen der Stadt, und hœrte das Schreyen der sterbenden Kinder, und das Schluchzen untrœstlicher Mytter, sah mit hœllischer Freude, wie die kleinen Todten zerstymmelt und mit weit offenen Wunden zerstreut lagen, und unter den blutigen Sohlen daherwandelnder Mœrder knirschten, und wie die Mytter und Væter und Bryder und Schwestern mit jammerndem Winseln im unschuldigen Blute sich wælzten.448

Anamelech verlässt die Hölle und begibt sich auf die Erde, um die Menschen zu verderben. Dabei stellt er empört fest, dass die aus dem Paradies Vertriebenen in einem idyllischen Zustand leben, obwohl Gott seinen Fluch ausgesprochen habe: Aber diese Erde ist doch keine Hœlle! Vielleicht haben sie durch niedertræchtig winselndes Flehen seinen Zorn gemildert; vielleicht ist ihr grœberer Cœrper Qualen und Schmerzen ausgesezt, die auf reinere Geister und ætherische Cœrper nicht wirken kœnnen; denn hier kœnnt ich glyklich seyn, folgte die Hœlle mir nicht aller Orten nach. […] Dort, am Hygel beschæftigt, seh ich sie, die Gefallenen, doch scheinen sie nicht elend zu seyn; vielleicht geht ihr Elend erst mit dem Tod an; – – – ich wills versuchen und tœden [!].449

447 Ebd., S. 99–101. 448 Ebd., S. 101f. 449 Ebd., S. 104f.

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Der Plan Anamelechs besteht darin, die leicht verführbaren Menschen zu bösen Taten zu verleiten, was dazu führen solle, dass »die Engel mit Entsezen von der Erde fliehen, und er, der sie schuf, mit seinem Donner sie zerschmetter[e], oder tief in die Hœlle sie styrze[.]«.450 Als Opfer wählt sich dieser Teufel Kain aus. Anamelech spricht im 3. Gesang des Bibelepos folgende Prophezeiung aus, die von Kain natürlich nicht gehört wird: [D]as Gute wird auf deinem unwilligen Boden nicht aufkeimen, ich will es immer verwysten. Und die zerstreuten Wolken des Unmuths – – – ha, dichter und schwærzer will ich yber deinem Haupte sie sammeln, dicht und schwarz, wie Wolken, die mit ewiger Finsterniß die Stirnen hœllischer Gebirge umhyllen; leichte Myhe! Du selbst sammelst sie zuryk, ich darf dir nur helfen. Sysses Geschæft! ich will dir helfen yber deiner Stirn sie sammeln; dann soll Jammer und Elend, neues, den Sterblichen noch unbekanntes Elend, aus ihnen unter die Menschen hervorgehn, und dann soll ein schwærzeres Dunkel eure Tage umhyllen, schwarz wie die Nacht, die nie dæmmernd vor der Hœlle ruhet!451

Als Kain im 4. Gesang in einen tiefen Schlaf fällt, legt sich Anamelech »an seine Seite«, um sein »Vorhaben befœdernde Træume in seiner Einbildungs-Kraft [zu] schildern«, zu verwirklichen.452 Da Kain gewissermaßen bereits von seinen eigenen inneren Dämonen gequält wird, glaubt der Teufel, ein leichtes Spiel zu haben. So bemerkt er : »Wiz und du, Einbildungs-Kraft, stehet izt in eurer ganzen Stærke mir bey ; sucht jedes Bild auf, das hilft, den nagenden Neid, wytenden Zorn, und jede quælende Leidenschaft zum schreklich tobenden Tumult in seiner Seele aufzudonnern!«453 Es zeigt sich bei dieser ›Traum-Szene‹ deutlich, dass Gessner den Messias intensiv studiert hat, denn auch im Detail ahmt der Dichter die Szene aus Klopstocks Bibelepos nach, in der Judas von Satan heimgesucht wird (vgl. Kap. 4.6). Im Messias versucht der Schutzengel Ithuriel vergeblich, den Jünger aufzuwecken (vgl. III, 566–575): Dreymal schwebt’ er auf Flügeln des Sturms durch brausende Cedern Über sein Angesicht hin, ging dreymal mit mächtigem Schritte Bey dem Jünger vorbey, daß des Bergs Haupt unter ihm bebte. Aber Ischariot blieb, mit kalter erblassender Wange, Wie in tödtlichem Schlummer. […] (III, 571–575)

Gessner lässt im Tod Abels zwar keinen Schutzengel auftreten, aber er übernimmt das Motiv des brausenden Sturmwindes, dem das Numinose inhärent ist: Als er [Anamelech; I. G.] sich hinlegte, da gieng ein wildes Geræusche durch die Wipfel, und ein bryllender Wind durchwyhlte die Gebysche, und schlug die Haarloken um 450 451 452 453

Ebd., S. 105. Ebd., S. 106f. Ebd., S. 143. Ebd.

Das idyllische Prosaepos: Der Tod Abels von Gessner

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Kains Stirn und Wangen. Aber umsonst heulten die Gebysche, umsonst schlugen seine Loken Stirn und Wangen, der Schlaf hatte zu schwer auf seine Augen sich geleget.454

Anamelech manipuliert Kain, indem er mit der satanischen Traumvision dessen bereits vorhandene Laster gezielt anspricht. Dem Schlafenden wird eine fiktive Zukunftsvision eingegeben, welche die Söhne und Töchter Abels und Kains betrifft. Am Anfang dieses Traums tauchen die schwer arbeitenden Nachkommen Kains auf, die arm sind und ein elendes Leben führen müssen: Der Træumende sah izt ein weit ausgebreitetes Feld mit einsamen Hytten bedekt, wo einfæltige Armuth wohnte; und seine Sœhne und ihre Kinder, auf dem Felde zerstreut, achteten die mittægliche Sonne nicht, die ihre brennenden Stralen auf ihre braunen Naken hinstreute; mit ermydender Arbeit sammelten sie theils ihre Armuth, oder umgruben die rauhe Erde zur neuen Saat, oder gebykt, mit wunden Hænden rissen sie das dornigte Unkraut aus, das um ihre Feld-Frychte sich schlang, und heißhungrig ihnen die næhrenden Sæfte stahl; indeß daß ihre Weiber in den Hytten die Armuth der Wirthschaft, und die ybel bestellte Tafel besorgten. Eliel, der erste von seinen Sœhnen, (der Træumende kannte sein Gesicht und seine Geberde) hub æchzend eine schwere Last von dem Feld auf die Schulter ; Schweiß floß vom braunen Gesicht, und Unmuth saß auf der Stirne. Wie elend ist dieß Leben! so klagt’ er unter der Last hervor, wie voll Myhe und Beschwerden! Wie schwer ligt der Fluch auf Kains Sœhnen! Hat der, der diese Erde schuf, nach dem Fluch sie ganz aus seinem Auge verbannt? Oder sollte vielleicht der Fluch nur des Erstgebornen Kinder treffen? Dort in jenen Gefilden, die Abels Sœhne bewohnen; (sie haben aus jenen Gegenden uns verdrængt, und uns in Wildnissen zu wohnen erlaubt;) dort, wo sie im wollystigen Schatten wohnen, scheint die ganze Natur jede ihrer Schœnheiten nur ihrer weichlichen Trægheit zu weihn; jeder Trost des elenden Lebens, jede sanfte Erquikung ist zu jenen Wollystigen hinybergegangen; nur Armuth und Arbeit ist bey uns Elenden geblieben. Izt wankt’ Eliel mit der Last auf der Schulter seiner Hytte zu.455

Die suggestive Wirkung des Traumbildes wird hier noch verstärkt, indem Kain seinen Sohn Eliel erkennt, der offensichtlich von den Nachkommen Abels in die karge Wildnis verbannt wurde. Die Nachfahren Kains sind mit ihrem harten Leben genauso unzufrieden wie er es selbst ist, während Abels Söhne und Töchter in einer idyllischen Landschaft leben: Der Træumende sah izt jenseit des Feldes eine blumigte Flur, klare Quellen schlængelten sich in muthwillig windendem Lauf durch dunkle Schatten gewœlbter Gebysche; oft rieselten sie bey grynen Lauben vorbey, oft zwischen langen Reihen von Bæumen; in ihren glatten Fluten spiegelten sich Blyten und Frychte in manigfaltigem Glanz; oft sammelten in blumigten Ufern sie sich zum stillen beschatteten Teich; dort im zitternden Citronen-Hain spielten kyhlende Winde, und dort spreitet’ ein Feigen-Hain den breiten Schatten auf Blumen aus. So schœn war Tempe nicht, auch Gnidus nicht, wo 454 Ebd., S. 144. 455 Ebd., S. 144–146.

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Die Nachahmer Klopstocks

auf glænzenden Sæulen der Venus-Tempel stand, denn da hat die gefabelte Gœttin mit ihrem ganzen Gefolge geherrscht. Schneeweisse Herden irrten im hohen Gras, und mæhten die duftenden Blumen weg, indeß daß der zarte Hirt mit Blumen bekrænzt dem liebæugelnden Mædchen, das halb im Schatten ligt, ein sanftes Lied singt. Dort sammelten sie sich in einer hochwœlbenden Laube, Jynglinge und Mædchen, wie Liebes Gœtter schœn, schœn wie die Gratien. Da styrzten die syssen Getrænke tief in die Trinkschale hinunter, und goldne Frychte glyheten auf Blumen-bestreuter Tafel; indeß tœnten liebliche Gesænge und sanftklingende Saiten und Flœten weit umher.456

Der Dichter schildert hier eine bukolische Idealwelt, in der Gesang, Musik, Erotik und eine anmutig schöne Natur wesentliche Elemente sind. Gessner hat an dieser Stelle im Epos ein Bild des mythischen Arkadiens und des Goldenen Zeitalters entworfen, in welchem ewiger Sommer, Frieden, Fruchtbarkeit, Schönheit, Müßiggang und Überfluss herrschen. Das Hirtenvolk hat dort keinerlei materielle Sorgen. Es finden sich zudem einige antikisierende Elemente, die den Idyllenton in dieser epischen Szene intensivieren: Dazu gehören die angeführte Liebesgöttin Venus/Aphrodite, die man in Gnidus (griech. Knidos) kultisch verehrte, die griechisch-antike Trinkschale (Kylix) für den Weingenuss oder der Vergleich der jungen Nachfahren Abels mit den antiken Liebesgöttern (Amor/Eros und Venus/Aphrodite) und den Grazien, den mythisch-antiken Personifikationen von Anmut, Heiterkeit und Schönheit. Im thessalischen Tempe-Tal, das in der Antike als wunderschöne Landschaft galt, wurde laut den Metamorphosen Ovids (1. Buch, V. 452–567) die Nymphe Daphne auf der Flucht vor Apollon in einen heiligen Lorbeerbaum verwandelt. Die »goldne[n] Frychte« erinnern zum einen an die goldenen Äpfel, die jenseits des Okeanos im Garten der Hesperiden gehütet wurden und die den griechisch-antiken Göttern ewige Jugend verliehen (Hesiod: Theogonie, V. 215f., V. 275). Zum anderen verweisen diese Früchte auf die biblischen Äpfel im Garten Eden. Seit der Frühen Neuzeit wurden die goldenen Äpfel der Hesperiden aus dem antiken Mythos und der Paradiesapfel aus der christlichen Symbolik mit Zitrusfrüchten gleichgesetzt.457 Es bleibt in der satanischen Traumvision Kains aber nicht nur bei dieser Darstellung zweier vollkommen gegensätzlicher Welten und ihrer Bewohner, sondern es wird die fiktive Geschichte der Versklavung der Nachkommen Kains unter der Herrschaft der Nachfahren Abels erzählt: Aus ihrer Mitte stund izt ein Jyngling auf. Seyd mir gesegnet, Geliebte! so sprach er, seyd mir gesegnet, und wendet euer Ohr izt mir zu. Zwar lachet uns die Natur, und hat jede ihrer Schœnheiten um unsre Wohnung gesammelt; doch fodert sie Pflege und Arbeit; zu ermydende Arbeit fyr uns, die sanftern Geschæften uns wiedmen. Der Hand 456 Ebd., S. 146–148. 457 Vgl. Die Frucht der Verheißung. Zitrusfrüchte in Kunst und Kultur. Bearb. v. Yasmin Doosry, Christiane Lauterbach und Johannes Pommeranz. Begleitband zur Ausstellung im Germanischen Nationalmuseum [19. Mai – 11. September 2011]. Nürnberg 2011.

Das idyllische Prosaepos: Der Tod Abels von Gessner

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ist es schmerzlich das Feld zu bauen, die gewœhnt ist, die sanften Saiten der Harfe zu ryhren; schwer dem zartlokigten Haupt, der Sonne Hize zu fyhlen, das sonst, mit Rosen bekrænzt, im kyhlen Schatten ruht. Geliebte! ich will euch Gedanken vertrauen; ich glaube, mir hat sie ein Schuz-Engel geflystert. Laßt uns, wenn das Dunkel der Nacht da ist, auf jenes Feld hinausgehn, wo die Aker-Leute wohnen, und wenn sie, von des Tages Arbeit myd, in hartem Schlaf ligen, in ihren Hytten sie yberfallen, und binden, und dann gefangen in unsre Wohnungen fyhren, daß die Mænner fyr uns dienstbar die Arbeit des Feldes verrichten, und ihre Weiber und ihre Tœchter euch, holde Mædchen, in euern Kammern dienen. Aber des Nachts! zwar sind wir an Anzahl ihnen yberlegen, aber besser doch, wenn wir gefæhrliche Gefechte vermeiden. So sprach der Jyngling, und die beyfallende Schaar klatscht’ ihm freudig zu. Izt sah der Træumende das Dunkel der Nacht, und hœrte das Geschrey des Schrekens und des Jammers und des Triumphs, gemischt von den Hytten her, die entzyndet hoch empor flammeten; weit umher glyhete da die Nacht, und ferne Wellen blizeten ums errœthende Ufer. Bey der Flamme sah er seine gebundenen Sœhne, und ihre Weiber und ihre Kinder, wie eine bryllende Herde, vor Abels Sœhnen dahergehn.458

Der schlafende Kain wird durch dieses aufrüttelnde Traumbild derart emotional bzw. psychisch beeinflusst, dass er nach dem Aufwachen rasend vor Wut ist. Er erkennt, dass nicht nur er elend ist, sondern dass es auch seine Kinder sein werden. Kain glaubt, dass dies der »allmæchtige Ræcher« so wolle, der ihn »mit allen Schreknissen« verfolge und ihn auch noch »in die Hœlle der Zukunft« blicken lasse.459 Er ist demnach der Auffassung, dass Gott selbst ihm diesen prophezeienden Traum geschickt habe. Das Paradoxe an dieser teuflischen Vision ist, dass sich einiges davon in der Zukunft bewahrheiten wird. So wird Kain etwa nach der Ermordung seines Bruders aus der idyllischen Welt verbannt und auch seine ›verfluchten‹ Nachkommen werden im Elend leben müssen. Hier zeigt sich zudem, dass das Paradies auf Erden nur eine Utopie ist. Der Einbruch der Gewalt in die Idylle wird bereits in diesem satanischen Traum thematisiert.460

458 Gessner : Der Tod Abels. In: [Ders.:] Sämtliche Schriften. Bd. I, S. 1–254, hier S. 148–150. 459 Ebd., S. 152. 460 Renate Böschenstein-Schäfer bemerkt in ihrem Aufsatz über Gessners Tod Abels, dass Kain im Traum »den Zusammenhang von Ästhetizismus und Barbarei« erblicke. »Niemand unter den Idyllenautoren als gerade der aggressionslose Gessner [habe] ein so grausam pervertiertes Arkadien zu entwerfen gewagt […].« Der Dichter sei jedoch vor »seiner großartigen Intuition der Barbarei am Grunde der Kultur« zurückgeschreckt. Sie werde »relativiert als trügerischer Traum, der zudem noch von einem Teufel eingegeben ist«. Der Erzähler stelle »sich angstvoll auf die Seite des Vater-Gottes« und übersetze »dessen Willkür in moderne Tugendrhetorik«. (Böschenstein-Schäfer : Gessner und die Wölfe. Zum Verhältnis von Idylle und Aggression, S. 73.) Daniel Weidner betont, dass durch »die vielverhandelte Frage nach dem Ursprung der Ungleichheit«, die in Kains satanischer Zukunftsvision thematisiert werde, »der so stark familiarisierende Text einen universalgeschichtlichen Horizont« bekomme. (Weidner : ›Bibeldichtung‹ und dichterische Darstellung. Kain in der Literatur um 1800: Klopstock, Gessner, Coleridge, Byron, S. 317.)

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Die Nachahmer Klopstocks

Die Aggression geht hier von den arkadischen Bewohnern selbst aus, und das Bild seiner versklavten Kinder treibt Kain zu einer Bluttat. Abel hat währenddessen seinen schlafenden Bruder beobachtet und vergleicht erschreckt den plötzlich erwachten, fluchenden Kain mit einem gefallenen Engel bzw. Teufel: »Geliebter! so stammelt’ er, aber nein – – – i! – – – ich bebe – – – einer der verworfnen Empœrer, die GOttes Donner vom Himmel styrzte, trægt triegend seine Gestalt und læstert! – – – wo ist mein Bruder? Ach! ich entfliehe! wo bist du, mein Bruder, daß ich dich segne?«461 Kain antwortet darauf Folgendes: Hier ist er! so donnerte Kain, hier! du læchelnder, Freuden-thrænender Liebling des Ræchers und der ganzen Natur, du, dessen Nater-Gezycht einst allein in der Welt glyklich seyn wird! allein – – – und warum nicht? Billich mußte die Mutter einen gebæhren, der der gesegneten Schaar dienstbare Aufwærter erzeugte; Last-Thiere, damit die gesegnete Schaar die der Wollust gewiedmeten Kræfte nicht durch harte Arbeit verzehrte! Ha! eine Hœlle lodert in meinem Busen, mit allen ihren Qualen!462

Vergeblich versucht Abel, seinen aufgebrachten Bruder davon zu überzeugen, dass ihn »ein hæßlicher Traum« getäuscht habe.463 Kain zerschmettert ihm jedoch im Affekt mit einer Keule den Schädel. Anamelech steht triumphierend und stolz über dem blutigen Leichnam Abels. Der »Verfyhrer«464 verkündet: »Ha! sysser Anblik, sey mir gegryßt! sey mir gegryßt, du erstes Blut des Synders, das die Erde verschlingt! So vergnygt hab ich, eh es dem Donnerer gelang, uns aus dem Himmel zu styrzen, die heiligen Quellen nie rieseln gesehn; so lieblich haben mir die Tœne der Harfen Lob-singender Erzengel nie getœnt, wie dieß Rœcheln, dieß lezte Seufzen des Sterbenden mir getœnt hat. Du erhabener Bewohner der neuen Schœpfung, du herrliches leztes Meister-Styk aus des Schaffenden Hand; wie læcherlich du da ligst! Steh auf, schœner Jyngling, Freund der Engel! steh auf, sey nicht so træg im sclavischen Dienste des Anbetens und des Hinkniens! Aber, er regt sich nicht, sein eigener Bruder hat so unsanft ihn hingelegt. So will ich durch Thaten aus der Dunkelheit mich empor schwingen, durch Thaten, die Satan selbst beneiden soll. – – – Ich geh izt hin, vor die Thronen der Hœlle; wie syß wird das zurufende Lob mir tœnen! wenn es in den Gewœlben der Hœlle wiederhallt, dann geh ich triumphierend unter den Schaaren der Elenden einher, die noch kein Unternehmen geadelt hat.«465

Der in Hohngelächter ausbrechende Anamelech wird im Tod Abels wie die Höllenfürsten im Messias Klopstocks (vgl. II, 618–626) letztlich von Gott bestraft: 461 462 463 464 465

Gessner : Der Tod Abels. In: [Ders.:] Sämtliche Schriften. Bd. I, S. 1–254, hier S. 153. Ebd., S. 154. Ebd. Ebd., S. 157. Ebd., S. 158f.

Das idyllische Prosaepos: Der Tod Abels von Gessner

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Noch einmal wollt’ er in stolzem Triumph auf den Erschlagenen niedersehn; aber der Verzweiflung hæßliche Zyge zerrissen schnell das werdende hœnische Læcheln, und den Stolz auf der Stirne. Der HErr befahl den Schreken der Hœlle, yber ihn zu kommen; und ein Meer von Qualen styrzte sich auf ihn. Da flucht er der Stunde, in der er ward, fluchte der qualvollen Ewigkeit, und floh.466

Aufgrund der psychologischen Motivierung der epischen Handlung, die Kain im 4. Gesang zum Brudermord führt, wäre die Einführung einer Teufelsfigur im idyllischen Prosaepos Gessners eigentlich nicht nötig gewesen. Der Höllengeist Anamelech repräsentiert aber das ›christliche Wunderbare‹ im Bibelepos. Er ist der satanische bzw. dämonische Verführer, der sich die Menschen zum Werkzeug macht, um sich gegen Gott aufzulehnen. Wie Adramelech im Messias wird Anamelech im Tod Abels von seinem Ehrgeiz angetrieben, Satan an bösen Taten zu übertreffen. Damit wird die Schuld an dem Brudermord aber auch auf den Höllengeist übertragen.467 Kain ist insofern nur schuldig, weil er dem Bösen nachgegeben hat und sich täuschen ließ. So versucht er auch, seine Tat zu rechtfertigen. Bezeichnenderweise jammert Kain im 4. Gesang verzweifelt: »[O]! was hab ich gethan? du marterst mich, That, mit Foltern der Hœlle! – – – Ich habe die Mœrder meiner Kinder vor ihrer Geburt zernichtet!«468 Später erklärt er im 5. Gesang seiner Frau Mehala: »[O] verflucht sey die Stunde, da ein Traum aus der Hœlle mich tæuschte! Ach! ich wollte diese winselnden Kinder vor einer Zukunft voll Elend retten, und […] erschlug den frommen Bruder.«469 In der Bibel handelt Kain hingegen aus eigenem Antrieb, heißt es doch im Alten Testament: »VND es begab sich / da sie auff dem Felde waren / erhub sich Kain wider seinen bruder Habel / vnd schlug jn tod.« (Gen. 4,8) Im Anschluss an diese Mordtat berichtet die Heilige Schrift von einem Dialog zwischen Gott und Kain, der das weitere Schicksal des Sünders bestimmt: Da sprach der HERR zu Kain / Wo ist dein bruder Habel? Er aber sprach / Jch weis nicht / Sol ich meines bruders Hüter sein? Er aber sprach / was hastu gethan? Die stim deines Bruders blut schreiet zu mir von der Erden / Vnd nu verflucht seistu auff der Erden / die jr maul hat auffgethan / vnd deines Bruders blut von deinen henden empfangen. Wenn du den Acker bawen wirst / sol er dir fort sein vermügen nicht geben / Vnstet vnd flüchtig soltu sein auff Erden. KAin aber sprach zu dem HERRN / Meine Sünde ist grösser / denn das sie mir vergeben werden müge. Sihe / Du treibest mich heute aus dem Lande / vnd mus mich fur deinem Angesicht verbergen / vnd mus vnstet vnd flüchtig sein auff Erden / So wird mirs gehen / das mich todschlage wer mich findet. 466 Ebd., S. 159. 467 Auguste Brieger stellt in diesem Zusammenhang fest, dass die »Komposition des Stoffes« im Tod Abels »eine Verlagerung des Schuldproblems« verlange. (Brieger : Kain und Abel in der deutschen Dichtung, S. 56.) Gessner versuche »durch eine Verbindung zwischen dem ethischen und einem mythischen Moment eine Einheit herzustellen«. (Ebd., S. 55.) 468 Gessner : Der Tod Abels. In: [Ders.:] Sämtliche Schriften. Bd. I, S. 1–254, hier S. 170. 469 Ebd., S. 249.

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Die Nachahmer Klopstocks

Aber der HERR sprach zu jm / Nein / Sondern wer Kain todschlegt / das sol siebenfeltig gerochen werden. Vnd der HERR macht ein Zeichen an Kain / das jn niemand erschlüge / wer jn fünde. Also gieng Kain von dem Angesicht des HERRN / vnd wonet im Lande Nod / jenseid Eden gegen dem morgen. (Gen. 4,9–16)

Im Tod Abels wird der Erzengel Michael auf die Erde geschickt, d. h., der Engel spricht im Auftrag Gottes den Fluch über Kain aus. Gessner lehnt sich in dieser epischen Szene eng an den Wortlaut des Bibeltextes an: Eine schwarze Wolke ließ fyrchterlich sich vor ihm nieder : »Kain! wo ist dein Bruder? rief eine schrekende Stimme aus der Wolke.« Ich weiß es nicht, ich Elender! – – – ich hyt’ ihn nicht, – – – so stammelt’ er in schreklicher Verwirrung, und schauerte todtblaß zuryk. Izt donnerte die Wolke, und Feuer versengte das Gras und die Gebysch’ umher, und der Engel trat aus der Wolke hervor; von seiner Stirne droheten die Gerichte des HErren, in seiner Rechten flammete ein Donner-Keil, und seine Linke hielt er hoch yber den gebykten Bebenden hin; er sprach und es donnerte: Steh, bebe, und hœre deinen Fluch! So spricht der HErr : Was hast du gethan? Das Blut deines Bruders schreyt zu mir herauf von der Erde, und nun seyst du verflucht vor der Erde, die ihren Mund aufgethan, und das Blut deines Bruders von deinen Hænden empfangen hat. Wirst du die Erde bauen, so sey sie dir unfruchtbar, und du wirst auf der Erde immer flychtig seyn.«470

Der dramatische Auftritt dieses Erzengels erinnert an die Darstellung der kriegerischen Todesengel im Messias, die ebenfalls mit Flammenschwert und Donner bewaffnet sind. Klopstock schreibt in seiner programmatischen Schrift Von der heiligen Poesie: »Der Anstand oder die Würdigkeit, sowohl der handelnden Personen als ihrer Handlung, ist vielleicht das Schwerste in dem heiligen Gedichte. Diese Schwierigkeit geht so weit, daß man mit vielen Gründen behaupten könnte, Gott gar nicht reden zu lassen.«471 Daher spricht im Messias auch Eloa stellvertretend für Gottvater (vgl. I, 408–466). Gessner folgt dem poetologischen Grundsatz Klopstocks, indem er Gott im Himmel nur kurz reden lässt.472 Nachdem der Richtergott seine Befehle erteilt hat, tritt ein Racheengel auf Erden aus einer schwarzen Wolke hervor und spricht im Namen des Herrn den göttlichen Fluch aus. Kain empfindet laut dem epischen Erzähler »Schauer und Hœllen-Angst«.473 Der »Bruder-Mœrder« bebt, ist »sprachlos und blaß wie ein Sterbender«.474 Dennoch stammelt er folgende Worte, ohne zum Furcht einflößenden Racheengel aufzublicken: Zu groß – – i! zu groß ist meine Missethat, als daß sie ewig mir kœnnte vergeben werden! Heut hast du vor dieser Erde mich verflucht, und ich – – – i wo kann ich vor 470 471 472 473 474

Ebd., S. 170–172. Klopstock: Von der heiligen Poesie. In: Klopstock: AW, S. 997–1009, hier S. 1005. Vgl. Gessner : Der Tod Abels. In: [Ders.:] Sämtliche Schriften. Bd. I, S. 1–254, hier S. 160f. Ebd., S. 172. Ebd.

Das idyllische Prosaepos: Der Tod Abels von Gessner

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deinem Antliz mich verbergen? Unstæt und flychtig muß ich seyn. O! wyrde der erste, der mich findt, mich Missethæter tœden!475

Gessner greift auch hier den Wortlaut der biblischen Vorlage auf (vgl. Gen. 4,13f.). Allerdings rekurriert der Dichter nicht nur auf die ›heiligen Worte‹, sondern er variiert die Aussage Kains. So wird aus der Befürchtung der Bibelfigur, dass man ihn erschlagen werde (vgl. Gen. 4,14), der Wunsch des epischen Charakters, dass man ihn töte und somit von seinen Gewissensqualen erlöse. Der Erzengel verkündet Kain: [»]Siebenfache Rache falle auf den, der dich tœdet, sprach des Donnernden Stimm’; immerwæhrende Angst und nagendes Gewissen werden dein Gesicht und deine Geberde bezeichnen, daß jeder, der vorybergeht, sagt: Das ist Kain, der BruderMœrder; und dann mit Entsezen den Fußsteig flieht, den dich deine irrenden Fysse leiten.« So sprach der Engel den Fluch, und verschwand. Schrekliche Donner giengen aus der schwindenden Wolke, und ein Wirbel-Wind zerriß die nahen Gebysche und heulte, wie ein Verbrecher heult, der in den hæßlichsten Martern verzweifelt.476

Das Kainszeichen, mit dem Kain in der Bibel zum Schutz vor einem gewaltsamen Tod von Gott versehen wurde (vgl. Gen. 4,15), ist im Bibelepos Gessners kein bestimmtes körperliches Zeichen oder Merkmal, sondern es drückt sich offensichtlich lediglich in der Mimik und Gestik des Brudermörders aus. Die Reue, Selbstverachtung und Todessehnsucht, die Kain in einem anschließenden Monolog zum Ausdruck bringt, erinnert an die Abbadona-Episode im Messias: »Hætt’ er mich vernichtet, ganz mich vernichtet, daß keine Spur mehr von mir in der Schœpfung wære? Oder – – – hætt’ einer der Donner mich gefasset – – tief in die Erde mich geschmettert! Aber er will mich endlosen Qualen aufbehalten. Ich – – – vor der ganzen Schœpfung verflucht, ein Abscheu der Natur, – – – mir selbst ein Abscheu! – – – – O! schon fyhl’ ich sie! schon fyhl’ ich sie ganz, die scheußlichen Gefehrten, die mich, von GOtt, von allem Verlaßnen, mit hœllischen Qualen mich ewig verfolgen werden, dich Hœllen-Angst, Verzweiflung, nagendes Gewissen! O was fyhl ich! – – Verflucht seyst du, hingestrekter Arm, der du zum Mord die Keule aufschwangest, du myssest am Leibe verdorren, wie ein Ast am Baum verdorret! Verflucht sey die Stunde, da der Traum aus der Hœlle mich tæuschte! Die Erde heule, so oft du zurykkœmmst! – – – Natur! warum giebst du nicht hæßliche Zeichen deines Abscheuens um mich her? Wo mein Fuß auf dir wandelt, da bist du verflucht! Wo bist du? daß ich dir fluche! bist du zur Hœlle zuryk, der du den Traum mir gabst? O daß du endlos fyhlest, was ich izt fyhle; mehr kann ich dir nicht fluchen, ich Elender! – – – Ha! dort seh ich ihn, – – – sie flammet hoch auf, die Hœlle! wie sie triumphierend zu mir auflæcheln, die Verdammten! Ha! læchelt, Verdammte, zu mir Elenden auf! Oder – – – kœnnt ihr noch Mitleid fyhlen, so fyhlt es; so hat noch kein Satan empfunden, wie ich!«477 475 Ebd., S. 172f. 476 Ebd., S. 173f. 477 Ebd., S. 174–176.

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Die Nachahmer Klopstocks

Es findet sich zudem eine weitere inhaltliche Parallele zum Bibelepos Klopstocks in der Darstellung des epischen Charakters Kain. So glaubt dieser, vom Geist seines ermordeten Bruders verfolgt zu werden und ruft daher im Tod Abels aus: »Wer rauscht bey mir vorbey? – – der Erschlagne! i ich hœrt’ ihn rœcheln, ich hœrte sein Blut triefeln! O Bruder! – – – Bruder! Um meiner unaussprechlichen Qualen willen, verfolge mich Elenden nicht!«478 Ganz ähnlich exklamiert Judas verzweifelt nach seinem Verrat im Messias: »Ich kenne das Rauschen j Deiner Stimme zu wohl! du bist der todte Messias! j Du verfolgst mich, und forderst dein Blut.« (VII, 206–208) Gessner entwirft ein harmonisches Ende seines biblischen Heldengedichts, das insgesamt eineinhalb Gesänge umfasst.479 So wird die Seele Abels im 4. Gesang von einem Erzengel in den Himmel geleitet. Adam und Eva, die ihren erschlagenen Sohn als Erste finden, werden in ihrem Schmerz und Jammer ebenfalls von einem Engel getröstet. Die Schwestern Thirza und Mehala erfahren im 5. Gesang von der Ermordung Abels durch ihren Bruder Kain. In ihrem Leid wird die menschliche Ur-Familie durch die Erinnerung an die prophezeienden Worte eines Engels aufgerichtet, die dieser gegenüber Adam und Eva damals nach dem Sündenfall ausgesprochen hatte.480 Es handelt sich um die »unaussprechliche Verheissung«481, dass der gefallene Sünder mit Gott versöhnt werde: »Des Weibes Saame wird der Schlange den Kopf zertreten!«482 Diese göttliche Verheißung (vgl. Gen. 3,15) besagt, dass durch das vergossene Blut Jesu Christi am Kreuz die Sünden der Menschheit vergeben und dass die Sterblichen vom Fluch des ewigen Todes erlöst werden. Die Hölle wird daher keinen Sieg erringen. Der typologische Verweis auf den Messias als Heilsbringer kann hier auch als intertextuelle Referenz auf das nachahmenswerte Vorbild, das Bibelepos Klopstocks, verstanden werden. So ist ja auch der epische Charakter Abel eine Präfiguration Jesu. Bezeichnenderweise rufen Kains Kinder Josia und Eliel beim Anblick des Ermordeten erschrocken aus: »[S]o ligt ein Lamm, das man zum Opfer geschlachtet hat.«483 Thirza, Abels Frau, bittet am Grab ihres erschlagenen Mannes um Gnade für den Sünder Kain. Der bußfertige Brudermörder geht nicht allein in die Verbannung, sondern er wird von seiner tugendhaften Frau Mehala und seinen drei kleinen Kindern begleitet. Gessner verfasste demnach kein dramatisches Ende seines Epos, in welchem der Gewalttäter etwa einsam in 478 Ebd., S. 176. 479 Auguste Brieger betont ebenfalls, dass Gessners »Ziel« im Tod Abels »die harmonische Lösung der menschlichen Konflikte« sei. (Brieger : Kain und Abel in der deutschen Dichtung, S. 55.) 480 Vgl. Gessner : Der Tod Abels. In: [Ders.:] Sämtliche Schriften. Bd. I, S. 1–254, hier S. 69–71. 481 Ebd., S. 225. 482 Ebd. 483 Ebd., S. 218.

Das idyllische Prosaepos: Der Tod Abels von Gessner

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die karge Wildnis flüchten muss, sondern er erfand einen friedlichen bzw. harmonischen Schluss, der zum Idyllenton seines Epos passte. Alle epischen Figuren im Tod Abels drücken ihre tugendhaften Empfindungen und lasterhaften Leidenschaften in inneren Monologen und Dialogen aus. Das Ausströmen der Affekte in den Reden ist somit auch für Gessners Bibelepos typisch. Die eigentliche Stärke des Dichters liegt jedoch vor allem in den idyllischen Naturschilderungen. Sprachlich-stilistisch erinnert das Prosaepos Gessners mit seinen Ausrufen, Wiederholungen, Parallelismen und Aposiopesen an die Bibeldramen Klopstocks. Zudem gibt es inhaltliche Übereinstimmungen mit dem ersten Bibeldrama des Messias-Dichters, denn Der Tod Adams (1757) handelt vom irdischen Ende des ersten Menschen und Patriarchen Adam. Dieses Bibeldrama Klopstocks wurde in der zeitgenössischen Rezeption als »Schäfertrauerspiel« bezeichnet.484 Zu Beginn des Dramas verkündet ein Todesengel dem Protagonisten Adam, dass er als Folge des Sündenfalles am heutigen Tag »d e s T o d e s s t e r b e n« werde (I. Handlung, 3. und 7. Auftritt).485 Bezeichnenderweise lässt Klopstock im zweiten Akt Kain auftreten, der sich an seinem Vater durch einen Fluch rächen will und ihm dadurch das Sterben noch schrecklicher macht (vgl. II. Handlung, 5. Auftritt): ADAM. Wofür willst du dich an mir rächen, Kain? KAIN. Daß du mir das Leben gabst! ADAM. Dafür, mein erstgebohrner Sohn? KAIN. Ja dafür, daß ich meinen Bruder Abel erwürget habe! Daß sein Blut laut zum Allmächtigen gerufen hat! Daß ich der Unglückseligste unter allen deinen Kindern bin, die dir gebohren sind, und noch gebohren werden sollen! Daß ich mit diesem Elende belastet, auf der Erde herumirre, und keine Ruhe finde! selbst im Himmel keine finden würde! Dafür will ich mich an dir rächen!486

Kain erleidet aufgrund der Ermordung seines Bruders Abel Seelenqualen. Daher wird ihm auch von Adam letztlich vergeben (vgl. II. Handlung, 6. Auftritt).487

484 Vgl. hierzu: Heinz Schlaffer : Das Schäfertrauerspiel. Klopstocks Drama »Der Tod Adams« und die Probleme einer Mischform im 18 Jahrhundert. In: Jahrbuch der Jean-Paul-Gesellschaft 1 (1966). S. 117–149. – Ingrid Strohschneider-Kohrs: Klopstocks Drama ›Der Tod Adams‹. Zum Problem der poetischen Form in empfindsamer Zeit. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 39 (1965). S. 165–206. – Ingrid Strohschneider-Kohrs: Stilwandel: Klopstocks Adam-Drama in der Gattungsgeschichte des 18. Jahrhunderts. In: Das Erhabene in der Dichtung: Klopstock und die Folgen. Vortragstexte des Kolloquiums vom 1. und 2. Juli 1995 in Quedlinburg. Halle 1997. (Schriftenreihe des Klopstock-Hauses Quedlinburg; 1.) S. 35–52. 485 Friedrich Gottlieb Klopstock: Der Tod Adams. Ein Trauerspiel. In: HKA, Werke V, S. 3–28, hier S. 11 und S. 14. 486 Ebd., S. 18. 487 Vgl. ebd., S. 20.

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Die Nachahmer Klopstocks

In Gessners Tod Abels treten nur wenige Gestalten der christlichen Mythologie auf. Die Engel oder Erzengel, die der menschlichen Ur-Familie hilfreich zur Seite stehen oder sie belehren, sind namenlos. Spezifizierende Begriffe wie Seraph oder Cherub werden nicht genannt. Nur der Höllengeist Anamelech gleicht den satanischen Figuren im Messias Klopstocks. Ein Engel erscheint im Tod Abels oft in einer Wolke, die je nach Stimmung im Epos unterschiedliche Farben haben kann. So bleiben die Engel der Erde, die lobpreisend und singend den Aufstieg der Seele Abels in den Himmel verfolgen, auf »einer rosenfarben [!] Wolke« zurück.488 Der Racheengel, der über Kain den göttlichen Fluch ausspricht, erscheint hingegen aus einer schwarzen Wolke.489 Jener Engel, der Adam und Eva nach ihrer Vertreibung aus dem Paradies sichtbar wird, tritt als helle Lichtgestalt auf: »Da wand ein hell glænzendes Gewœlk hoch sich herunter ; sein Fuß floß izt am Hygel hin, und eine himmlische Gestalt trat mit majestætischem Læcheln aus der lichthellen Wolke glænzender hervor.«490 Sowohl in der Licht- und Naturmetaphorik als auch in der Intention, die unterschiedlichsten Sinnesbereiche der Rezipienten anzusprechen, eiferte Gessner wohl seinem Vorbild, dem Messias Klopstocks, nach. Dies zeigt sich etwa im 3. Gesang: So betet’ Abel, in tiefester Demuth auf die Erde hingeworfen; da hœrt er rauschen, und liebliche Fryhlings-Gerych’ erfylleten die Gegend; er hube sein Haupt von der Erd empor, und einer der Schuz-Engel in himmlischer Schœnheit stand vor ihm; Rosen umkrænzten seine Stirne, sein Læcheln war lieblich, wie des Fryhlings Morgen-Roth; er sprach mit syß fliessender Stimme: […].491

Auch im 4. Gesang tritt ein Engel gleichermaßen auf: So weinten, so jammerten beyde [Adam und Eva; I. G.], eins an das andre hingelehnt, als eine glænzende Gestalt yber die Gegend daherwandelte. Ihren sanften Fußtritt bezeichneten schnell entstandne dyftende Blumen; Friede saß auf der glænzenden Stirne, und trœstende Freundlichkeit in dem Glanze der Augen, und der himmlischen Schœnheit des Mundes und der Wangen. Ein weisses Kleid, heller als silberne Wolken, die den Mond umhyllen, umfloß die schlanke Schœnheit, in glænzend fliegenden Falten. So trat die himmlische Gestalt einher, und erhellete rings um sich das frischere Gryn der Gegend.492

Im 2. Gesang erzählt Adam seinen Kindern, dass die Erde von »Schuz-Geister[n]«493 bevölkert werde, die für die Menschen nach dem Sündenfall allerdings unsichtbar seien. Eine Vision, deren Urheber ein Engel ist, ermöglicht Adam und 488 489 490 491 492 493

Gessner : Der Tod Abels. In: [Ders.:] Sämtliche Schriften. Bd. I, S. 1–254, hier S. 166. Vgl. ebd., S. 170f. Ebd., S. 65. Ebd., S. 121. Ebd., S. 190. Ebd., S. 75.

Das idyllische Prosaepos: Der Tod Abels von Gessner

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Eva einen Blick in ein transzendentes Geschehen, d. h., sie »sahen himmlische Jynglinge, unzæhlbar durch die Gegend zerstreut«.494 Adam beschreibt die liebliche Szenerie folgendermaßen: Einige hiessen die sanften Nebel aus der Erde hervorgehn, und trugen sie auf schwebenden Flygeln empor, daß sanfter Thau zur Erde falle und erquikender Regen; dort ruheten andre bey sprudelnden Bæchen, besorgt, daß ihre Quelle nicht versiege, damit den Gewæchsen ihre feuchte Nahrung nicht entstehe. Viele waren auf den Triften zerstreut, und warteten des Wachsthumes der Frychte, oder bemahlten aufkeimende Blumen mit der Farbe des Feurs oder des Abendroths, oder mit der Farbe des Himmels, und hauchten sie an, daß sie liebliche Geryche zerstreuten; viele schwebten verschieden beschæftigt im Schatten der Haine. Von ihren glænzenden Flygeln zerstreuten sich sanfte Winde, die durch die Schatten sæuselten, oder yber Blumen sanft dahin fuhren, und dann auf schlængelnden Bæchen oder kræuselnden Teichen sich kyhlten. Einige ruheten von ihrer Arbeit und sassen in Chœre vertheilet im Schatten, und sangen in die goldne Harfe zum Lobe des Hœchsten, dem Ohre der Sterblichen unhœrbare Lieder. Viele wandelten auf unserm Hygel, oder sassen im wirthschaftlichen Schatten unsrer Lauben, und sahn mit himmlischer Freundlichkeit oft zu uns hin; […].495

Die Engelwesen werden hier offenbar von Gessner als Naturgeister interpretiert. Der Dichter lässt zudem einen Engel auftreten, der das erste Menschenpaar und damit auch die Leser über die Aufgaben dieser »Schuz-Geister der Erde« aufklärt: Viele Schœnheiten und Wunder der Natur sind zu fein, um von den Sinnen der Sterblichen genossen zu werden; aber der Schœpfer will, daß jede Schœnheit seiner Schœpfung von denkenden Wesen genossen werde; und diese euch verborgenen Wunder sind das Entzyken und die Bewundrung unzæhlicher Geister-Geschlechter. Auch sind sie geordnet, der Natur in ihrer geheimen Werkstatt zu helfen, die mannigfaltigen Wirkungen nach den ewig vorgeschriebenen Gesezen hervorzubringen. Auch sind sie zum Schuze der Menschen und zu Bemerkern ihrer Thaten geordnet, unbemerkt vom Menschen oft drohendes Unglyk zu wenden; sie begleiten ihn durch die ihm Labyrinthe scheinenden Pfade seines Lebens, daß Gutes aus anscheinendem Bœsem entspringt; sie sind die stillen Zeugen deiner wirthschaftlichen Freuden, und begleiten deine verborgensten Handlungen mit beyfallendem Læcheln oder trauriger Verachtung. Durch sie wird der HErr die Lænder mit Ueberfluß segnen, durch sie oft Hunger und Elend zu Vœlkern bringen, die von ihm abgewichen sind, daß er durch die Stimme des Elends sie zurykrufe.496

Die Engel werden hier von Gessner zwar als »stille[.] Zeugen« des irdischen Geschehens bezeichnet, jedoch treten sie im Tod Abels nicht als kommentierende Beobachter auf. Sie erfüllen lediglich göttliche Aufträge. 494 Ebd., S. 73. 495 Ebd., S. 73f. 496 Ebd., S. 75f.

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Die Nachahmer Klopstocks

Versucht Gessner in seinem Epos die christliche Mythologie Klopstocks nachzuahmen, so gilt dies auch für die Gleichnisse. So schließt der epische Sänger die Erzählung Adams im 2. Gesang mit einem Gleichnis ab, das die lieblich-idyllische Stimmung der Szenerie intensiviert: Adam schwieg izt; wie wenn ein zærtlicher Jyngling an der Seite seiner Geliebten fryh am dæmmernden Morgen das Lied der Nachtigall horcht; alles schweigt umher ; das zærtliche Lied harmonisch mit ihren Empfindungen, lokt ihnen Thrænen auf die Wangen; aber izt schweigt der Gesang, lange noch horchen sie still zu dem Wipfel hin, wo die Sængerinn sang; umsonst, sie singt nicht mehr, und die andern Vœgel stimmen zwitschernd ihr mannigfaltiges Lied an. So horchten sie lang um den Mann und den Vater her. Sie hatten jede Scene seiner Geschichte nach empfunden; oft kamen Thrænen und Blæsse auf ihre Wangen, oft Heiterkeit und Læcheln; und izt huben sie alle an, dem Vater der Menschen ihren Dank zu sagen.497

Der Stichsatz (A-Teil) lautet hier : »Adam schwieg izt«. Die Vergleichsbildebene (»Wie-Stück«) und der epische Kontext (»So-Stück«) werden durch Wortwiederholungen miteinander verknüpft: die Verbformen von »schweigen« und »horchen«, »das zærtliche Lied harmonisch mit ihren Empfindungen, lokt ihnen Thrænen auf die Wangen« / »Sie hatten jede Scene seiner Geschichte nach empfunden; oft kamen Thrænen […] auf ihre Wangen«. Wie das verliebte Paar dem Gesang der Nachtigall lauscht, so hören Eva, Abel, Thirza, Mehala und Kain ihrem Vater Adam zu. Sie werden von der wahren Geschichte ihres Vaters ebenso zu Tränen gerührt wie das junge Paar vom Lied der Nachtigall. Der Auftritt des Höllenbewohners Anamelech auf der Erde wird durch ein Doppel-Gleichnis eingeleitet: Da gieng er durch die Pforte der Hœlle, den Pfad hinauf, den Satan durch die alte Nacht und durch das tobende Reich des Chaos bezeichnet hatte. Ein wolgerystetes Schif, das Ræuber yber das weite Meer fyhret, fæhrt so mit ausgespanneten Segeln in der Nacht daher ; bald wird es an den hesperischen Kysten landen, dann werden sie die ruhigen Bewohner irgend einer Dorfschaft yberfallen, und ihre muntre Jugend ihnen rauben; dann weinen die Eltern und Geschwister und die untrœstliche Braut, und jammern am Ufer dem sich entfernenden Raube nach. Schnell, doch lange wandelt er so im dunkeln Schœpfung-losen Reiche der Nacht. Izt leuchteten an der Grænze der Schœpfung die æussersten Sonnen ihm fernher entgegen. Wie einer, der um næchtlichen Mordens willen bey finstrer Nacht nach einer kœniglichen Stadt geht, die auf der Ebne von unzæhlichen Lichtern erhellet vor ihm ligt, furchtsam schleicht er sich hinein, und weicht jedes beleuchtende Licht aus; eben so furchtsam schlich der Verworfne durch die Schœpfung hin, zur Erde.498

497 Ebd., S. 91f. 498 Ebd., S. 102f.

Das idyllische Prosaepos: Der Tod Abels von Gessner

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Nach dem intertextuellen Verweis auf Miltons Paradise Lost (der Inhalt vom Ende des zweiten Gesanges) im ersten Satz (A-Teil) entwirft Gessner als Vergleichsbild eine kurze Erzählung (B-Teil). Die Vergleichspartikel »wie« fehlt hier. Der satanische Verführer zum Bösen wird mit See- bzw. Menschenräubern verglichen, die nachts ein Dorf überfallen. Auf die Rückführung in den epischen Kontext (C-Teil) – die Vergleichspartikel »so« steht mitten im Satz – folgt ein weiteres kurzes Gleichnis, in welchem der Verderber Anamelech wiederum mit einem Mörder verglichen wird, der durch eine hell erleuchtete Stadt schleicht und dabei als böse Nachtgestalt dem Licht ausweicht. Der Dichter versucht mit diesen zwei Gleichnissen offenbar eine düstere Stimmung zu erzeugen, allerdings gelingt ihm dies nicht in gleicher überzeugender Weise wie Klopstocks Vergleich Satans mit der Pest im Messias (vgl. III, 539–557). Im folgenden eher gelungenen ›Löwen-Gleichnis‹ aus dem 4. Gesang ahmt Gessner Homer nach: Wie ein zottigter Lœwe, der an einem Felsen im Schatten schlæft, (der bange Wandrer geht leise weit neben ihm voryber, denn Gefahr drohet aus der Mæhne hervor, die des Schlafenden Stirne dekt,) wie der, wenn er plœzlich die tiefe Wunde des schnell fliegenden Pfeiles in seiner Hyft empfindet, mit tobendem Gebryll schnell aufspringt, und wytend seinen Feind sucht, und ein unschuldiges Kind zerreißt, das nicht weit mit Blumen im Grase spielt; eben so sprang Kain plœzlich vom Schlaf auf; schæumend; vor seiner Stirne saß tobende Wuth, wie ein schwarzes Gewitter […].499

Gemäß der Terminologie Breitingers würde man dieses Beispiel zu den »nachdrücklichen Gleichnissen« zählen (vgl. Kap. 4.9). Der Löwe als beliebtes Vergleichsbild für die Heroen in den antiken Epen dient hier zur bildhaften Veranschaulichung eines intensiven Affekts, der mit Aggression verbunden ist. So verspürt der Antiheld des Bibelepos Kain, nachdem er aus seinem satanischen Traum erwacht ist, rasende Wut und erschlägt kurz darauf seinen unschuldigen Bruder Abel. Die Schwestern Thirza und Mehala fallen in Ohnmacht, als sie den erschlagenen Abel sehen. Beim Anblick ihres geliebten ermordeten Bruders stehen die beiden unter Schock. Diese epische Szene im 5. Gesang wird durch ein weiteres »nachdrückliches Gleichnis« verdeutlicht: In Todes-Blæsse lag Thirza in ihrer Schwester bebendem Arm; Mehala sank auch hin, unter der hingelehneten Last; bebend und ohnmæchtig vermochte sie nicht die Schwester zu halten. So wie, wenn drey liebenswyrdige Gespielen, (so zærtlich haben sich noch keine geliebt,) wenn sie Hand in Hand am schœnen Sommer-Abend aufs weisse Aehren-Feld gehen, und ein plœzlicher Donner vor ihre Fysse sich hinschleudert, betæubt styrzen sie aufs Feld hin; wenn dann zwoo von ihnen aus der Betæubung 499 Ebd., S. 151f.

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Die Nachahmer Klopstocks

bebend erwachen, und den Aschenhaufen ihrer Freundin vor sich sehn: so erschroken erwachten die Schwestern, und sahn den Erschlagenen.500

Der Zustand seelischer Erschütterung wird hier durch ein ähnliches Ereignis im Vergleichsbild veranschaulicht. Gessner entnimmt den Stoff für seine Gleichnisse im Tod Abels meist aus der Tierwelt oder aus dem Alltag der einfachen Leute. Hierin ahmt er zwar den antiken Erfinder der epischen Gleichnisse, Homer, nach, aber die Vergleichsbildinhalte bilden damit keinen Kontrast zur epischen Handlung. Demgemäß wird der Teufel Anamelech in einem weiteren Beispiel aus dem 4. Gesang des idyllischen Prosaepos mit einer Rauchsäule über einer brennenden Hütte, die Ackerbauern gehört, verglichen: Triumphierend stand der Verfyhrer izt yber dem Erschlagenen [Abel; I. G.], in frolokendem Stolz bæumt er sich hoch auf; hoch und fyrchterlich, so fyrchterlich hebt sich die schwarze Sæule von Rauch hoch yber den Aschen-Haufe der einsamen Hytte, deren Bewohner auf dem Felde ruhig arbeiteten; indeß daß die Flamme jede hæußliche Bequemlichkeit, ihren ganzen Reichthum verzehrte. So stand Anamelech, und sah mit hœllischem Læcheln dem Fliehenden [Kain; I. G.] nach und dann auf die Leiche hin […].501

In einem anderen Gleichnis aus dem 4. Gesang wird das nagende Gewissen des verzweifelten Brudermörders durch das poetische Bild einer Schlange veranschaulicht, die irrtümlicherweise sowohl als Gift- als auch als Würgeschlange dargestellt wird: Kain irrte im nahen Gebysche, Verzweiflung trieb ihn umher. Er wollte fliehen. Wie konnt er seinem Elend entfliehen? Wie wenn ein Wanderer vor einer zischenden Schlange flieht, er flieht umsonst, umsonst ringt er mit dem Gift-hauchenden Thier ; es hat in vesten Ringen um Lenden und Hals sich gewunden; wo soll er entfliehen der Elende? schon nagt sie auf der krampfigt gewundenen Brust, und flœßt das unheilbare Gift in sein Herz.502

Betrachtet man die Rezensionen aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, so wird deutlich, dass es sowohl Lobredner als auch Kritiker unter den Zeitgenossen Gessners gab, die sich mit dem idyllischen Prosaepos Der Tod Abels auseinandersetzten. In den Göttingischen Anzeigen von gelehrten Sachen findet sich im 150. Stück des Jahres 1758, datiert auf den 16. Dezember 1758, eine kurze

500 Ebd., S. 205f. 501 Ebd., S. 157f. 502 Ebd., S. 169f.

Das idyllische Prosaepos: Der Tod Abels von Gessner

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Beurteilung von Gessners neuestem literarischen Werk.503 Der anonyme Rezensent beginnt diese ›Anzeige‹ folgendermaßen: Der Tod Abels in fünf Gesängen ist ein neues biblisches Heldengedichte des Hrn. Gessners. Es ist neulich auf 226 Octavseiten mit lateinischen Buchstaben sehr sauber abgedrukt worden. In der Vorrede vertheidigt sich Hr. G. so wohl wider die Geistlichen, die alle Vermischung der Fabel mit der biblischen Geschichte für unanständig halten, als wider die gemeinern Richter, die ein Gedicht ohne Liebe, wo die Religion den meisten Trieb ausmacht, für schmakloß achten.504

Nach der Zusammenfassung der apologetischen Vorrede Gessners zum Tod Abels wird der Inhalt des Bibelepos paraphrasiert: Den Vorwurf seines Gedichts macht Abels liebenswürdige Gemüthsart, die aus derselben entstehende allgemeine Liebe der noch wenigen Menschen, Kains Eifersucht über diese Liebe, seine Abwechslungen von Reu, seine Verzweiflung über das verschmähete Opfer, seine rasende, durch einen von einem der boshaftigsten Satane erregten Traum, angeflammte Rachsucht, der Bruder-Mord, Adams, Evens, und der Frau des Abels tiefe Betrübniß, und von Gott herkommender Trost, Kains endliche Flucht, und seiner Frau tugendhafte Erwehlung des nehmlichen Elendes.505

Erst daran anschließend gibt der Rezensent ein durchweg positives Urteil über das biblische Heldengedicht Gessners ab: Als Episoden sind Adams und Evens Erzählung ihres ersten Schreckens, nach dem ausgesprochenen Fluche, und des Anfangs ihres mühsamen Lebens, Adams erste Krankheit, und einige andere kürzere Ausdähnungen des Gedichts anzusehn. Es ist durch und durch episch, die Dactylen und Spondeen sind gemein, öfters findet man auch gar leicht ganze, Kleistische, und mit einem Anapäst angefangene Hexametrische Verse. Die Beywörter sind stark und ausgewählt, und die Schreibart erhaben. Was man bey den Mahlern Maniere nennt, wird man hier auch finden, häufige ähnliche Schwünge, den in der Wiederholung des nehmlichen Wortes gesuchten Nachdruk, und gewisse im Deutschen minder gebräuchliche Wendungen. Auch sind öfters die Reden künstlich, und mit neuern Erfindungen und Begriffen vermischt, die in den ersten Zeiten der Welt noch nicht bekannt gewesen sind. Die grossen Regungen der Tugend und Gottesfurcht machen indessen dieses Gedicht unschuldig und nüzlich.506

Der anonyme Kritiker interpretiert demzufolge nicht nur den 2. Gesang als Episode, sondern auch die epischen Szenen im 3. Gesang, die von der Krankheit Adams handeln. Dieser zusätzliche Handlungsstrang im Tod Abels, in welchem die Erkrankung und Heilung des Patriarchen dargestellt wird und den Gessner 503 [Anonym:] [Rez.:] Der Tod Abels in fünf Gesängen. In: Göttingische Anzeigen von gelehrten Sachen unter der Aufsicht der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften. Der zweite Band auf das Jahr 1758. 150. Stück (16. Dezember 1758). Göttingen 1758. S. 1421f. 504 Ebd., S. 1421f. 505 Ebd., S. 1422. 506 Ebd.

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Die Nachahmer Klopstocks

zum biblischen Stoff hinzugedichtet hatte, wird hier offenbar als retardierendes Moment verstanden. Dabei leitet gerade die Genesung Adams zum Höhepunkt des Familienkonfliktes hin. Auffallend an diesem Abschnitt in den Göttingischen Anzeigen ist, dass der Rezensent die für ein Epos charakteristischen Elemente aufzählt, wie etwa den Hexameter als Versmaß, die schmückenden Epitheta, die formelhaften Wiederholungen und die pathetisch-erhabene Sprache. Zuletzt hebt er den moralischen Nutzen dieser epischen Dichtung Gessners hervor. In den Züricher Freymüthigen Nachrichten von Neuen Büchern, und andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen findet sich im Monat April des Jahres 1759 eine Rezension, die mit hoher Wahrscheinlichkeit von Bodmer selbst verfasst wurde.507 Gessner wird darin als einer der »vorzüglichsten Dichter der Deutschen« bezeichnet: Seine unterscheidende Schönheiten haben ihn zu einem Original gemacht, das würdig ist von den besten Kennern der Werke des Geschmacks bewundert zu werden. Sein Genie dringt in die verborgensten Vollkommenheiten der Schöpfungen, weil er getreu den Tritten der schönen Natur nachfolgt: Das Colorit in seinen Werken entdeckt uns den Liebling des feinen Geschmacks. Er ist einer von den besten Lehrern der Tugend und der gefälligen Unschuld. Sein Daphnis, seine Idyllen, welche den höchsten Grad der Vollkommenheit in ihrer Art erreicht, sind unsern Lesern bekannt: Der Tod Abels wird unserm Dichter einen noch ausgebreitetern Beyfall verschaffen.508

Tatsächlich begründete die französische Übersetzung des idyllischen Prosaepos (La Mort d’Abel, 1760), die von dem in Paris lebenden Deutschlehrer Michael Huber (1727–1804) angefertigt wurde, Gessners Ruhm als Dichtergenie – in Frankreich und damit auch bald in ganz Europa. Mary Collyer veröffentlichte in London eine englische Übersetzung dieses Bibelepos (The death of Abel, 1761), die wie die französische mehrfach neu aufgelegt wurde. Gessner war »einer der meistübersetzten deutschsprachigen Dichter« in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und seine Schriften waren im europäischen Ausland weit verbreitet.509 Zur ›herzrührenden‹ Handlung bemerkt der Schweizer Rezensent: Er besingt in diesem Gedichte [Der Tod Abels; I. G.] die Haushaltung der ersten Eltern nach dem traurigen Fall, und den Ersten, der seinen Staub der Erde wieder gab, der durch die Wuth seines Bruders fiel. Die Handlung ist eine der einfachsten, die man in einem Gedichte finden kan. Der erfindungsreiche Witz des Verfassers hat dieselbe zu einem vollkommenen Ganzen gebildet. Die Hauptpersonen dieses Gedichts sind in solche Situationen versetzt worden, die in der Seele des Lesers die stärksten Rührungen 507 [Rez.:] Der Tod Abels, in fünf Gesängen: Von Geßner. Zürich […] 1758. In: Freymüthige Nachrichten von Neuen Büchern, und andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen. 16. Jahrgang. XV. Stück (11. April 1759). Zürich 1759. S. 118f. 508 Ebd., S. 118f. 509 Röben de Alencar Xavier: Salomon Gessner im Umkreis der Encyclop8die, S. 20.

Das idyllische Prosaepos: Der Tod Abels von Gessner

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hervor zubringen fähig sind. Das Interessante der durch die Religion erhöheten Tugend wird hier von einer ausnehmend-glänzenden Seite gezeiget.510

Der lobende Kritiker greift einzelne ›poetische Schönheiten‹ aus der Gesamtkomposition des Epos heraus, die Gessner zum biblischen Stoff hinzugedichtet hatte: Der Lobgesang, den Abel in Gesellschaft seiner zärtlichen Thirza singt und die Rede Adams an Cain, sind die vorzüglichsten Schönheiten des ersten Gesangs. Im zweyten nimmt sich besonders die Beschreibung des ersten Gewitters, und die Erscheinung eines Engels aus: Eva und Adam erzählen ihre Lebensgeschichte nach dem Verlust des Paradieses. Diese Geschichte ist eines der schätzbarsten Stücken [!] des poetischen Genie. Nur Geßner war fähig da weiter fortzugehen, wo Milton aufgehört hatte. Im dritten Gesange bringt der Dichter den Anamelech einen gefallenen Geist auf den Schauplatz. Die Klagen der Eva über die Schmerzen, welche den Adam überfallen. Die Erscheinung des Engels, welcher dem Abel ein Mittel zeiget, wodurch der Vater der Menschen wiederum seine Gesundheit erlangt, und das Opfer des Abels und Cains sind Schönheiten, welche besonders in die Augen fallen. Der schreckliche Traum Cains im vierten Gesange, die mörderische That, und die Scene, wo Adam und Eva den erschlagenen Abel finden, sind Gemählde, die den Pinsel eines grossen Meisters verrathen. Der fünfte Gesang schildert die Klagen der Thirza und Mehala bey dem Anblick des ermordeten Abels, sein Begräbniß, und die Flucht Cains. Man trift hier concentrierte Schönheiten an. Geßner ist neu in seinen Gemählden, neu in seinen Empfindungen.511

Für Bodmer war Gessner ein Meister in der »poetischen Mahler-Kunst«:512 So wie er als Maler mit dem Pinsel und Farben Bilder herstelle, so bringe er mit Worten poetische Gemälde hervor, die in der Phantasie des Lesers lebendig würden und das Herz bewegten.513 Da Gessner im Gegensatz zu den anderen Dichtern seiner Zeit auch ein Landschaftsmaler war, hatte er somit seine Kenntnisse sowohl in den »schönen Wissenschaften« als auch in den »schönen Künsten« unter Beweis gestellt. In der Rezension wird er mit dem Autor des Paradise Lost verglichen und damit zum Nachfolger des englischen Bibelepikers erklärt, was Gessner selbst entschieden ablehnte. So bekennt er am 8. Januar 1763 in einem Brief an Vincenz Bernhard von Tscharner : »Indeß war meine Absicht nie mit dem Milton wettzueifern, so stolz war ich nie; ähnlichkeit im 510 [Rez.:] Der Tod Abels, in fünf Gesängen: Von Geßner. Zürich […] 1758. In: Freymüthige Nachrichten von Neuen Büchern. 16. Jahrgang. XV. Stück (11. April 1759). S. 118f., hier S. 119. 511 Ebd. 512 Breitinger : CD I, S. 31. Zum Terminus bemerkt der Poetiker : »Ich nenne dieselbe eine poetische Mahler-Kunst, weil dieses lebhafte und Hertz-bewegende Schildern das eigenthümliche Werck der Dicht-Kunst ist.« (Ebd.) 513 Vgl. hierzu: Ebd., S. 3–28 (Der erste Abschnitt: Vergleichung der Mahler-Kunst und der Dicht-Kunst) und S. 29–51 (Der zweyte Abschnitt: Erklärung der poetischen Mahlerey).

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Die Nachahmer Klopstocks

Sujet, und die gleichen Personen mußten ähnliche Scenen hervorbringen, aber ich wolte nicht Milton, ich wolte nur ich selbst seyn.«514 Der ›aemulatio‹-Gedanke war dem bescheidenen Dichter wohl eher fremd. Moses Mendelssohn rezensierte Gessners Bibelepos ausführlich in der Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste (4. Bd., 2. Stück, Mai 1759).515 Der Berliner Kritiker fasst zunächst den Inhalt der fünf Gesänge von Der Tod Abels zusammen und zitiert daraus lange Textpassagen. Den 5. Gesang von Gessners biblischem Heldengedicht kritisiert er wegen seiner angeblichen Handlungsarmut und erkennt nicht, dass dieser Epiker in der Nachfolge Klopstocks ebenfalls von einem verinnerlichten Handlungsbegriff ausging: Mehr als die Hälfte von diesem Gesange ist von aller Handlung leer, und enthält nichts als Reden, Klagen, Winseln und Jammern, die dem Leser, wenn ihn das vorgehende gerührt, ziemlich langweilig scheinen müssen. Vielleicht ist es nicht so schwer, eine Leidenschaft zu erregen, als sie zu unterhalten. Man muß das Herz durch neue Situationen von allen Seiten angreiffen, wenn es nicht erkalten soll. Lange Betrachtungen und Reden, Unterredungen, darinnen einer das Wort nimmt, wenn der andere zu sprechen aufgehört hat, und wenn sie noch so beweglich und rührend sind; so sind sie für den in Affect gesetzten Leser zu langsam.516

Mendelssohn bewertet zudem den »ganzen Plan« des Epos als »fehlerhaft«:517 Am Ende des ersten Gesanges sind alle Schwierigkeiten gehoben. Kain hat sich völlig mit seinem Bruder versöhnt, alles ist ruhig, also hat das Geschichtgen hier ein Ende. Der zweyte Gesang ist eine Erzählung, die in das Ganze nur einen entfernten Einfluß hat. Mit dem dritten Gesange fängt sich die Handlung, und also das Gedicht erst an, und am Ende des vierten stehen die wenigen Triebräder der Handlung, die den Dichter in Bewegung gesetzt, schon wieder stille. Ohne den ausdrücklichen Befehl des Engels würde die Beerdigung Abels nicht mehr zur Handlung gehört haben. Man vergiebt dem Homer kaum das Leichenbegängniß des Patroclus, da doch nach den Vorurtheilen der Griechen das Begräbniß mit zu dem Tode gehörte. – Durch welche Erdichtungen hat der Poet den Haß des Kains wider seinen Bruder wahrscheinlich zu machen gesucht? Die vorzügliche Liebe der Aeltern für den Abel, wegen seiner schönen Lobgesänge? Dieses ist etwas. Allein der kleine Unmuth, der daraus bey dem Kain entstehet, läuft ohne Schaden ab, und Kain scheint wieder besänftigt. Die Krankheit des Adams und seine Genesung durch den Abel also; dieses ist die wichtigste Begebenheit in dem 514 Brief von Gessner an V. B. von Tscharner, 8. Januar 1763. Zitiert nach: Gessner : Sämtliche Schriften. Bd. III, S. [158]. 515 Moses Mendelssohn: [Rez.:] III. Der Tod Abels in fünf Gesängen von Geßnern. Zürich […] 1758. In: Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste. Des vierten Bandes zweytes Stück. Leipzig 1759. S. 706–745. Zitiert nach: Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Band 4: Rezensionsartikel in Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste (1756–1759). Bearbeitet von Eva J. Engel. Stuttgart-Bad Cannstatt 1977. S. 348–374. 516 Ebd., S. 366. 517 Ebd., S. 369.

Das idyllische Prosaepos: Der Tod Abels von Gessner

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ganzen Gedichte, aus welcher die ganze Handlung entspringt, und wie arm, wie matt ist nicht diese Erdichtung!518

Demnach werden nicht nur die Gesamtkomposition, sondern auch der Verlauf der epischen Handlung kritisiert. Der Berliner Rezensent ist der Auffassung, dass jene Beweggründe, die den Täter Kain zum Brudermord geführt haben, nicht plausibel sind. Die neuen Erdichtungen, die die biblische Erzählung ergänzen, hält er zudem offensichtlich für langweilig und unglaubwürdig. Bezeichnenderweise greift Mendelssohn Gessners »Satyre« in der Vorrede zu Der Tod Abels auf und schlägt anstatt der französischen »Liebesintrigue« eine andere vor, die »orientalischen Ursprungs« sei:519 Statt dieser magern Fiction also hätten wir unserm Dichter eine Liebesintrigue vorgeschlagen. Die Rabinen [!] haben eine Tradition, Abel sey mit einer Schwester als Zwillinge zur Welt gekommen. Auf dieses Mägdgen habe Kain, als Erstgebohrner, ein Vorrecht zu haben behauptet; sie aber habe den Abel, als ihren Zwillingsbruder, mehr geliebt. Diese Tradition hätte dem Dichter vielleicht einen reichen Stoff zu Erdichtungen geben können. Es ist gar nicht unwahrscheinlich, daß die Liebe den ersten Haß zwischen Brüdern verursacht.520

Mendelssohn kannte die Argumente der Gottschedianer im deutsch-schweizerischen ›Literaturstreit‹, daher wusste er auch, dass der Leipziger Literaturpapst die zeitgenössischen Bibelepen mit den »Fabeln und Märchen« der jüdischen »Rabbinen« verglichen hatte, mit welchen diese das Alte Testament ›ausgemalt‹ hätten (vgl. Kap. 4.2). Wäre Gessner Mendelssohns literarischem Vorschlag gefolgt, hätte er gewissermaßen eine neue »Lügende« erschaffen. Der Berliner Kritiker lehnt zwar die Haupthandlung des Epos dezidiert ab, findet »die Nebenerdichtungen« im Tod Abels aber umso »schöner«, die »durchgehends von der Natur der Schäfergedichte [seien], außer der letztern Scene, da Kain seine Hütte besucht, welche wahrhaftig tragisch [sei]«:521 In allen übrigen Fictionen sieht man ein Genie, das sich mehr in der angenehmen und sanften, als in der großen und schrecklichen Natur gefällt. Er mahlt allezeit lieber ein lachendes Gefilde, als eine Wüste, lieber den Sommer, als den Winter, und Eden lieber, als die Hölle. Seine ernsthafteste Tugend ist etwas weichlich, und seine stärksten Leidenschaften sind Zärtlichkeit und Mitleiden. Kurz! Geßner hat den Namen, aber nicht die Art seiner Gedichte verändert; er ist in der Epopee immer noch der unnachahmliche Schäferdichter.522

518 519 520 521 522

Ebd., S. 369f. Ebd., S. 349. Ebd., S. 370. Ebd., S. 371. Ebd.

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Die Nachahmer Klopstocks

Zur Charakterdarstellung im Tod Abels bemerkt Mendelssohn, dass ihm Mehala am besten gefallen habe. Sie ist für ihn der Inbegriff der »leidende[n] Tugend, die standhaft genug ist, ihr Elend zu ertragen«.523 Adam und Abel seien ebenso wie Eva und Thirza »ähnliche Charaktere«, die sich nur »dem Alter nach« unterscheiden würden.524 Der Berliner Kritiker beschäftigt sich in seiner Rezension umfassend mit der Charakterzeichnung Kains: In unsern Tagen würde Kain ein ehrlicher braver Mensch seyn, den es verdrießt, daß er allein fürs Haus sorgen, und Brodt schaffen muß, da indessen sein Bruder frommen Beschäfftigungen obliegt, Freudenthränen weint und lächelt. Dieses ist aber dem Dichter nicht zur Last zu legen. Wir müssen uns in die Zeiten versetzen, von welchen er dichtet. Die Menschen hatten damals ihre Bedürffniße noch nicht vervielfältiget. Die Natur reichte ihnen wenig; aber sie brauchte noch weniger, und also konnte der fleißigste Mensch seine Zeit zwischen Arbeit und Muße theilen. Es war also Neid, Unzufriedenheit, und Rauhigkeit des Gemüths von Seiten Kains, wenn er seinem Bruder diese Muße nicht gönnte. Zudem kann der Mensch im Stande der Natur nicht die Laster selbst haben, die itzt den Erdboden verwüsten; denn ihm fehlten die Mittel, solche auszuüben. Ehre und Reichthum, die grossen Verführer, waren damals noch gar keine Begriffe. Der einzige Weg für den Dichter, einen lasterhaften Charakter zu schildern, war also, ihm den Saamen zu allen Lastern in das Gemüth zu legen: und dieses sind Neid und Unzufriedenheit. Wer in diesen sorglosen Zeiten unzufrieden war, der hatte die völlige Anlage, lasterhaft zu seyn. Wir würden also an dem Charakter des Kains nichts auszusetzen finden, und ihn vielmehr für sehr wohl gewählt halten, wenn der Dichter nur da, als die Leidenschaft in wirkliche Flammen geräth, der Boßheit des Kains den letzten Druck hätte geben, und ihn einen überlegten Brudermord hätte wollen begehen lassen. Die Reue hätte deswegen immer noch darauf folgen können: denn so bald die Rache vollzogen ist, so verschwindet gewöhnlicher maßen der Haß, und macht dem Mitleiden und der Reue Platz. Der Charakter des Kains aber wäre dadurch bestimmter geworden: denn itzt wissen wir beynahe nicht, ob dem Kain nicht zu viel geschieht; so ein schielendes, ich weiß nicht was, ist aus dem Charakter geworden.525

Demzufolge warnt Mendelssohn die Rezipienten vor einer ahistorischen Betrachtungsweise, die zu Fehlinterpretationen führen würde. Er wirft Gessner vor, keinen vollkommen lasterhaften Charakter entworfen zu haben, denn Kain hätte in letzter Konsequenz den Brudermord kaltblütig planen müssen. Die Anhänger der Schweizer Partei würden sich »falsche Begriffe von der Moralität der Charaktere in Epopeen [machen], und glauben, sie müßten alle moralisch gut seyn, daher wollten sie gern alle ihre Personen vollkommen tugendhaft schildern«:526

523 524 525 526

Ebd. Ebd. Ebd., S. 371f. Ebd., S. 372.

Das idyllische Prosaepos: Der Tod Abels von Gessner

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Kaum, daß sie es wagen, einen einzigen lasterhaften Charakter aufzuführen, und auch diesen geben sie sich alle Mühe zu mildern, bis endlich so ein Mittelding daraus wird, das nirgends recht hinpaßt. Wenn man von solchen Vorurtheilen eingenommen ist; so kann man unmöglich etwas anders hervorbringen, als ein schön moralisches Geschwätze, ohne Leben, ohne Handlung und ohne Interesse.527

Da die Handlung zeitgenössischer Heldengedichte »unmittelbar aus der Moralität fließ[e]«, müssten »die Hauptpersonen alle stark abstechende Charaktere haben, und da hüte man sich, mehr als einen vollkommen tugendhaften Charakter anzubringen«.528 »Die vollkommene Tugend hat nur eine einzige Weise, daher würden die Personen völlig einerley Sinnes seyn müssen. Welch eine ekelhafte Einförmigkeit, und welch eine Mattigkeit muß dieß nicht verursachen?«529 Da die epischen Figuren im Tod Abels vom epischen Sänger als äußerst tugendhaft charakterisiert werden und Kain eher als ›gemischter Charakter‹ bezeichnet werden kann, weil er gute und böse Charaktereigenschaften besitzt, bietet die Charakterdarstellung in Gessners Bibelepos gemäß Mendelssohns Diktum keinerlei Abwechslung. Auch die poetische Ausmalung der Höllenfigur beurteilt der Berliner Rezensent sehr negativ : Anamelech sei »in allen seinen Reden und Thaten mehr niedrig und klein, als entsetzlich; mehr schwülstig, als fürchterlich«.530 Der Dichter verstehe ohnehin »die Sprache der elisäischen Felder weit besser, als die Sprache der Hölle«.531 Mendelssohn ist der Meinung, dass Gessner der geborene »Schäferdichter« ist, und daher erteilt er ihm implizit den gut gemeinten Rat, weiterhin Idyllen zu schreiben und sich nicht an ein weiteres episches Gedicht zu wagen: Wenn ein Dichter bey sich mehr Neigung zu dem Sanften und Angenehmen, als zum Wilden und Schrecklichen verspürt; so ist dieses Anzeigung genug, für welche Sphäre sein Genie bestimmt sey, und er sollte es sich eine Warnung seyn lassen, seiner Natur keinen Zwang anzuthun.532

Der Berliner Rezensent resümiert abschließend: Herr Geßner hat uns ein Gedicht geliefert, welches sich das erstemal überaus angenehm lesen läßt: denn was kann ein Geßner schreiben, das sich nicht mit Vergnügen lesen ließe? Bey der zwoten Durchlesung aber fängt man an, mit kritischen Augen sich umzusehen, und diese Probe hält das Gedicht nicht aus. Es fehlen ihm die mächtigen Triebfedern der Handlung und das durch einander geflochtene Interesse, zu welchen

527 528 529 530 531 532

Ebd. Ebd., S. 372f. Ebd., S. 373. Ebd. Ebd. Ebd.

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Die Nachahmer Klopstocks

eine Erfindungskraft ins Große erfordert wird, und diese sind wir gewohnt in einem Gedichte von fünf Gesängen, das kein Lehrgedicht ist, zu erwarten.533

Der italienische Geistliche, Übersetzer und Schriftsteller Aurelio de’ Giorgi Bertola (1753–1798) besuchte Gessner im August 1787 in der Schweiz. Er hat in seiner Lobrede auf Geßner (Elogio di Gessner, 1789) ein Gespräch über das idyllische Prosaepos Der Tod Abels überliefert, das der Dichter offenbar im Sommer 1787 mit ihm geführt hatte. Aus den Aussagen Gessners geht hier hervor, dass sich der Idyllendichter in der Wahl dieses alttestamentlichen Stoffes von Bodmer beeinflussen ließ und letztlich mit seinem epischen Werk nicht zufrieden war : Sie sprechen von Bodmern. – Ja, von ihm. – Er nahm meinen Daphnis eben nicht günstig auf; er wars, der mir den Tod Abels zum Stoff eines neuen Gedichtes empfahl, und mir den Fingerzeig gab, wie ich in der Bearbeitung desselben meine leidenschaftliche Neigung für poetische Landschaftsgemälde befriedigen könnte. Allein ich weiß nicht, wie seine Rathschläge, seine Eingebungen mich gleichsam fesselten. Ich strebte nach Ordnung, und gerieth vielleicht in Einförmigkeit, ich vermied Schwerfälligkeit, und wurde nachläßig; ich suchte die Natur zu ängstlich, und zuweilen irrte ich ab. Unter andern Verirrungen ist besonders auch eine Stelle, die ich mir selbst nie verzeihen kann, da ich Adam und Eva bey ihrem tod gefundenen Sohne so viel sprechen lasse, wo sie doch so wenig sprechen sollten. Meine vertrauten Freunde […] können Ihnen mein Mißvergnügen darüber versichern, und umsonst suchten sie es bey mir zu vermindern. Ich bemühte mich, die mangelhaften Stellen zu verbessern, allein ich weiß nicht, wie es kam, daß ich sie eher verunstaltete, als verschönerte. Kurz, der Tod Abels ist in meinen Augen das schwächste meiner Werke, und um so viel mehr gesteh ichs, da man es den andern allen hatte vorziehen wollen. – – Nun, welches ziehn Sie denn vor? – – Den ersten Schiffer. […] In diesem kleinen Gedichte finde ich einen Liebreitz, von dem ich selbst nicht begreife, wie er aus meiner Seele herausfloß; immer noch macht mir dieses Werkgen Vergnügen, ich lese es öfters wieder ; mein Herz hüpft dabey, und mit süßer Wonne bezaubert es meine Einbildungskraft.534 533 Ebd., S. 374. 534 Aurelio de’ Giorgi Bertola: Lobrede auf Geßner. Zürich 1789. S. 35f. Dieses Gespräch zwischen Gessner und Bertola lautet im italienischen Original: »Voi volete parlare di Botmer. – S' di lui. Alla poca soddisfazione onde accolse il Dafni dee la sua origine La morte d’Abele: egli stesso mi consiglik questo soggetto, mi sugger' come avrei potuto, trattandolo, servire eccellentemente alla mia passione di ritrarre il bello campestre. Ma io non so come i suoi consigli, i suoi suggerimenti mi strinsero quasi in lacci; per voler essere ordinato, son forse divenuto uniforme; per volere esser facile, son divenuto negligente e, a forza di cercar troppo la natura, io me ne sono talvolta allontanato di piF. Tra le altre sviste non saprk mai perdonare a me stesso quel luogo ove Adamo ed Eva, trovato morto il lor figliuolo, parlano tanto; e dovrebbero parlar cos' poco. I miei piF intimi amici […] ben potranno confermarvi la mia scontentezza; e invano han tentato di togliermela dall’animo. Io mi sono studiato di riformare que’ passi piF difettosi, ma non so come peggiorano nelle mie mani anzi che acconciarsi: in somma La morte d’Abele H a’ miei occhi il piF disgraziato de’ miei lavori; e lo H tanto piF quanto l’ho udito preferirsi da alcuni alle altre mie opere. – Or quale H dunque

Das idyllische Prosaepos: Der Tod Abels von Gessner

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Als beste literarische Leistung sah Gessner demnach nicht sein berühmtes Epos535, sondern sein Prosagedicht Der erste Schiffer (1762) an. Klopstock schreibt am 2. Januar 1760 einen Brief an Gessner und bittet den Druckerverleger um Rat wegen seines Bruders Johann Christoph Ernst Klopstock (1739–1798), der nach Abschluss seiner Buchhändlerlehre als Gehilfe in der Weidmann’schen Buchhandlung in Leipzig tätig war (1754–1761) und sich offenbar selbstständig machen wollte.536 Gessner antwortet dem Messias-Dichter im Februar 1760 mit einem ausführlichen Brief, in welchem er seine Erfahrungen als Sortimenter weitergibt.537 Dieser kurze Briefwechsel gibt insbesondere Aufschluss über die Beziehung zwischen Gessner und Klopstock.538 So bekennt der Messias-Dichter : Ich erinnre mich der wenigenmale, die ich Sie gesehn habe, mit vielem Vergnügen. Sie wissen, daß es das erstemal bey Gleimen in Halberstadt, u hernach bey Ihnen in Zürch war. Sie haben mir seitdem Ihr Andenken durch Ihre Schriften öfters erneuert. Ihre Anzahl ist zwar nicht groß; aber ich habe sie oft gelesen.539

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quella che voi preferite? – Il primo navigatore. […] io trovo in questo poemetto, trovo attrattive che mal comprendo come sieno uscite dalla mia mente: s', quest’opera mi reca tuttora diletto; io la rileggo sovente; mi fa balzare il cuore, mi crea dolci magie alla immaginazione.« (Aurelio de’ Giorgi Bertola: Elogio di Gessner. A cura di MichHle e Antonio Stäuble. Firenze 1982. S. 63f.) Auch in der älteren germanistischen Forschungsliteratur wurde Der Tod Abels negativ bewertet: Jakob Baechtold bezeichnet Gessners Bibelepos als »tragisches biblisches Idyll«, dessen »spärliche Handlung […] von den endlos sich wiederholenden Ausbrüchen der Empfindung erdrückt [werde]; das elegische Element überwieg[e]; dazu das malerische«. (Baechtold: Geschichte der deutschen Literatur in der Schweiz, S. 629.) »Der Tod Abels [sei] psychologisch nicht genügend motiviert, die Charakterzeichnung verschwommen. Aber in ihrer Einfachheit und seelenvollen Empfindung [sei] es jedenfalls die anziehendste aller Patriarchaden und erfreu[e] durch die Zartheit der idyllischen Behandlung.« (Ebd.) Der »Vorzug des Werkes« bestehe »in der fließenden Prosa« und einige »lyrische Stellen« seien »von großer Schönheit«. (Ebd., S. 630.) Zur Charakterdarstellung Kains im Tod Abels bemerkt Baechtold: »Der Charakter Kains war es namentlich, der Geßner interessierte. In demselben liegt gleichsam eine Reaktion seines eigenen derbkräftigen Wesens gegen die ewige Rührung und Tränenseligkeit. Immerhin nimmt er ihm die großen leidenschaftlichen Züge der Bibel und drückt ihn zum bloß eifersüchtigen Bruder herab.« (Ebd.) Franz Muncker ist der Auffassung, dass Gessners Patriarchade »aus lauter kleinen Idyllen zusammengesetzt« sei. (Muncker : Friedrich Gottlieb Klopstock, S. 181.) Der Tod Abels sei »überhaupt ungemein arm an Handlung«, d. h., die Naturbeschreibungen und »die Überfülle der Empfindungen und Reden« würden vorherrschen. (Ebd., S. 181f.) Brief von Klopstock an Gessner, 2. Januar 1760. In: HKA, Briefe IV 1, Nr. 51, S. 56–58. Brief von Gessner an Klopstock, Februar 1760. In: HKA, Briefe IV 1, Nr. 59, S. 72–76. Vgl. E. Theodor Voss: Zur Beziehung von Klopstock und Geßner, anläßlich zweier unveröffentlichter Briefe aus dem Jahre 1760. In: Zeitschrift für deutsche Philologie 97 (1978). S. 534–561. Brief von Klopstock an Gessner, 2. Januar 1760. In: HKA, Briefe IV 1, Nr. 51, S. 56–58, hier S. 56, Z. 3–7.

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Die Nachahmer Klopstocks

Klopstock und Gessner begegneten sich erstmals Ende Mai 1750 bei Gleim in Halberstadt. Der Idyllendichter hatte sich zuvor etwa neun Monate in Berlin aufgehalten (ab August 1749), wo er eigentlich eine Ausbildung in der Spener’schen Buchhandlung beginnen sollte, sich dann aber lieber der Malerei und der Dichtkunst gewidmet hatte. Er besuchte anschließend noch Hagedorn in Hamburg und traf im Herbst 1750 in Zürich ein. Dort hielt sich seit dem 21. Juli 1750 auch Klopstock auf, so dass es bis zu dessen Abreise Mitte Februar 1751 wohl zu vereinzelten Zusammentreffen in der Schweiz kam.540 In einem Brief an Schultheß stellt der Messias-Dichter im Mai oder Juni 1762 Folgendes fest: Geßner, der seit meiner Abwesenheit ein vortrefflicher Scribent geworden, ist mir zwar übrigens […] nicht näher bekannt, (wir haben einander nur ein paar Mal gesehen) aber ich halte ihn für einen braven Mann, und glaube, daß wir Freunde sein würden, wenn wir uns mehr kennten.541

Demnach kannte Klopstock die poetischen Werke Gessners und hatte wohl auch dessen Prosaepos Der Tod Abels gelesen. Aus dem Brief Gessners vom Februar 1760 geht hervor, dass er Klopstock als tugendhaft-empfindsames Dichtergenie verehrte, das »Gott der Welt« geschenkt und den er »mit außerordentlichen Gaben« gesegnet habe.542 Mit einem derartigen Musterautor glaubte er wohl, sich nicht messen zu können, und daher bezeichnet Gessner seine Dichtungen auch als »Kleinigkeiten«: Das Andenken derer Stunden die ich mit ihnen zugebracht habe ist mir immer gleich lebhaft, sie sind von den schäzbarsten meines Lebens. Wie sehr haben sie mich erfreüt, daß sie mich ihres freündschaftlichen Andenkens versichert haben, und daß meine Kleinigkeiten solches auf keine unangenehme Arth bey ihnen erneüert haben, sie sagen sie haben sie mehr als einmahl gelesen, das ist mir schäzbarer, als das ausgebreiteteste Lob.543

Im unmittelbaren Vergleich mit der monumentalen, sprachgewaltigen und verstechnisch perfekten »seraphischen Hexameterdichtung« Klopstocks mag das idyllische Prosaepos Der Tod Abels zwar auf den ersten Blick unbedeutend erscheinen, aber Gessner hatte ein ›menschliches Sittengemälde‹ entworfen, das bei den zeitgenössischen Rezipienten großen Anklang fand.544 540 Vgl. hierzu: HKA, Briefe IV 2, S. 391f. 541 Brief von Klopstock an Johann Georg Schultheß, zwischen Mitte Mai und Mitte Juni 1761. In: HKA, Briefe IV 1, Nr. 116, S. 144, Z. 21–24. 542 Brief von Gessner an Klopstock, Februar 1760. In: HKA, Briefe IV 1, Nr. 59, S. 72–76, hier S. 74, Z. 71f. 543 Ebd., S. 74, Z. 62–68. 544 Der Tod Abels inspirierte den deutschen Choreografen und Tänzer Anton Peter Crux (1750/ 56–1823) zu einem großen pantomimischen Ballett, das im Jahre 1788 am Münchner Hoftheater uraufgeführt wurde. (Vgl. Bernhard von Waldkirch: »Les poHtes-peintres ne pensent point comme les autres.« Überlegungen zur französischen Gessner-Rezeption

Das idyllische Prosaepos: Der Tod Abels von Gessner

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1789–1830. In: von Waldkirch (Hrsg.): Idyllen in gesperrter Landschaft, S. 143–157, hier S. 146.) Gessners Bibelepos wurde auch vertont. Den Text verfasste der Librettist Samuel Patzke und die Musik komponierte der Magdeburger Musikdirektor Johann Heinrich Rolle. Das Musikalische Drama bzw. Oratorium Der Tod Abels wurde im November 1769 im Magdeburger Seidenkramer-Innungshaus uraufgeführt. Nach einer Veränderung des Textes und einer Ergänzung durch einen letzten Auftritt, den Michael Haydn hinzukomponiert hatte, wurde es im Jahre 1778 auch in Salzburg aufgeführt. (Vgl. Andreas Waczkat: Klopstock, Michael Haydn und die Salzburger Aufführung von Rolles Musikalischem Drama Der Tod Abels. In: Klopstock und die Musik. Hrsg. v. Peter Wollny. Beeskow 2005. (Ständige Konferenz Mitteldeutsche Barockmusik in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen e.V.; Jahrbuch 2003.) S. 275–292.)

Schluss

Klopstock folgte in der Konzeption und Ausführung des biblischen Heldengedichts Der Messias (1748–1773) bis ins kleinste Detail seinem ambitionierten Konzept der ›aemulatio‹. Mit den zwanzig Gesängen und etwa 20.000 Versen seiner »seraphischen Hexameterdichtung« glaubte er, die antiken und neuzeitlichen Vorläufer überbieten zu können und ewigen Dichterruhm zu erlangen. Die einzig angemessene Perspektive, aus der das Bibelepos Klopstocks betrachtet werden sollte, ist die der zeitgenössischen Rezeption und der Positionierung im sogenannten ›Literaturstreit‹ ab den 1740er Jahren, der eng mit der Ependiskussion im 18. Jahrhundert verbunden ist. August Wilhelm Schlegel reflektierte im Jahre 1797 über die Gattungszugehörigkeit des Messias: Wenn man unbefangen zu den Urkunden des Christenthums zurück geht, so bietet sich der Gedanke zu einem Gedicht vom Leben und den Leiden des Heilandes dar, das, nach Art des homerischen Epos organisirt, der volksmäßigen Einfalt des Evangeliums treu bliebe: aber zu der Zeit, da Klopstock zu dichten anfing, konnte der Entwurf zu so etwas weder gemacht noch ausgeführt werden; es hätte für gleich große Entweihung der Religion und der Poesie gegolten. – Eine sehr schwierige Frage würde es endlich seyn, zu welcher Dichtart Klopstocks Messias zu rechnen ist? Ist er eine Epopöe im ursprünglichen Sinne, oder in der gänzlich verschiednen Bedeutung des Worts bey den Neueren? Oder hat man ihn etwa als ein Lehrgedicht über die Versöhnung zu betrachten? Oder ist die Begeisterung, welche das Ganze beseelt, ihrer Art nach nicht plastisch, sondern lyrisch, das scheinbar pragmatische Werk also ein großer majestätischer Hymnus auf den Heiland? Wie auch alle diese Untersuchungen ausfallen […]: Klopstock könnte auf keine Art dabey verlieren.1

1 [August Wilhelm Schlegel:] [Sammelrezension zweier Preisschriften über Klopstocks Messias:] 1.) Leipzig […]: Aesthetische Beurtheilung des Klopstockischen Messias. Von Johann Christian August Grohmann, Lehrer der Philosophie zu Wittenberg. Eine von der Amsterdammer Akademie der Dichtkunst und schönen Wissenschaften gekrönte Preisschrift. 1796. 2.) Breslau […]: Der Messias von Klopstock, ästhetisch beurtheilt und verglichen mit der Iliade, der Aeneide und dem verlornen Paradiese. Von C. F. Benkowitz. Eine Preisschrift, die von der Amsterdammer Gesellschaft zur Beförderung der schönen Künste und Wissen-

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Schluss

Beeinflusst von [Pseudo-]Longinus’ antikem Traktat Vom Erhabenen und dem Gedanken eines Wettstreits mit der epischen Tradition fühlte sich Klopstock dazu berufen, ein pathetisch-erhabenes Epos mit neutestamentlichem Stoff zu verfassen. Da »die Epopee« laut dem Messias-Dichter »alle Schönheiten der [höheren] Poesie« in sich vereinige, und es daher »überflüssig [wäre], von ihr insbesondere zu reden, wenn man eine Poetik schriebe«2, erübrigt sich für ihn die in der Rezeption stets aufgeworfene Gattungsfrage. Das Epos gilt Mitte des 18. Jahrhunderts als Gipfel der Dichtkunst, als höchste literarische Gattung und kann demzufolge epische, lyrische, dramatische und didaktische Elemente miteinander verschmelzen. Die Gattung Bibelepos fand in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sowohl ihren Höhe- als auch ihren Schlusspunkt. Sie brachte nicht nur Meisterwerke wie den Messias Klopstocks hervor, sondern auch qualitativ schlechte Machwerke, die den Ruf der wiederbelebten literarischen Gattung eher schädigten. Dies gilt etwa für den Nimrod (1752) von Christian Nicolaus Naumann (1720–1797). Dieses biblische Heldengedicht wurde einstimmig von den Klopstockianern, Bodmerianern und Gottschedianern abgelehnt. Der Verfasser des Nimrod war ein Freund Lessings seit dessen Leipziger Studienzeit.3 Der Berliner Kritiker rückte in die Monatsbeilage Das Neueste aus dem Reiche des Witzes im Dezember 1751 ein fiktives Schreiben eines anonymen Lesers ein, der sich darüber beklagt, dass die Berlinische Privilegirte Zeitung das Erscheinen zweier neuer Epen zur Michaelismesse, nämlich des Hermann und des Nimrod, bisher nicht angezeigt habe.4 Die Abwertung dieser beiden Heldengedichte durch Lessing äußert sich deutlich in dem einleitenden Satz zu diesem eingefügten Schreiben: »Der Herrmann und der Nimrod würden in diesen Blättern keinen Platz gefunden haben, wenn sie nicht der unbekannte Verfasser folgendes Schreibens seiner Aufmerksamkeit und Geduld gewürdiget hätte.«5 Schönaichs Hermann (1751) und Naumanns Nimrod werden folglich hier auf eine Stufe gestellt. Lessing erklärt, dass »der Nimrod des Herrn Naumann […] schon über 10 Jahr auf die Presse gewartet [habe]«.6 Vermutlich fand sich erst dann ein Verleger für dieses

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schaften eine doppelte Medaille erhalten hat. 1797. In: Allgemeine Literatur-Zeitung vom Jahre 1797. Vierter Band. Numero 351 (4. November 1797). Sp. 305–312, hier Sp. 312. Friedrich Gottlieb Klopstock: Gedanken über die Natur der Poesie. In: Klopstock: AW, S. 992– 997, hier S. 994. Vgl. Hugh Barr Nisbet: Lessing. Eine Biographie. Aus dem Englischen übersetzt von Karl S. Guthke. München 2008. S. 49f. Gotthold Ephraim Lessing: . [In: Das Neueste aus dem Reiche des Witzes. Monat Dezember 1751.] In: [Ders.:] Werke und Briefe in zwölf Bänden. Band 2: Werke 1751–1753. Hrsg. v. Jürgen Stenzel. Frankfurt a. M. 1998. (Bibliothek deutscher Klassiker ; 149.) S. 296– 298. Ebd., S. 296. Ebd., S. 297.

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Werk, als nach dem Erscheinen des Messias Klopstocks die Nachfrage nach Epen mit biblischem Stoff stieg. Mit seinem typischen ironischen Unterton bemerkt Lessing in diesem Schreiben im Neuesten aus dem Reiche des Witzes: Welch ein Reichtum eines poetischen Witzes wird nicht dazu erfordert, von einem Helden, von welchem uns alle Geschichte weiter nichts erzählet, als daß er ein gewaltiger Jäger vor dem Herrn gewesen, ein Heldengedicht von ganzen 24 Büchern zu schreiben! Zu was für schönen Episoden hat nicht dieser Mangel in der Geschichte dem Dichter Gelegenheit gegeben, welcher die Aufmerksamkeit des Lesers bald mit einem toten und wieder auferweckten Pferde, bald mit dem noch vor der Sündflut im Gebrauch gewesenen groben Geschütz, bald von dem Taubenschlage eines glückseligen Schäfers, bald von der Capelle des Nimrod, bald von dessen Hofnarren, welcher seinen hölzernen Säbel auf der rechten Seite stecken hat, und mit tausend andern belustigenden Erdichtungen, unterhält! Der Dichter hat seinem Witze völlig den Lauf gelassen, und sich mit den Reimen nicht abgegeben, sondern Hexameters ohne Füße erwählet, an welche er sich aber auch nicht so genau gebunden, daß er nicht öfters Octameters und Pentameters hätte sollen mit unterlaufen lassen.7

Die stoffliche Grundlage für den Nimrod bilden lediglich drei Verse aus dem Alten Testament: Chus aber zeuget den Nimrod / Der fieng an ein gewaltiger Herr zu sein auff Erden. Vnd war ein gewaltiger Jeger fur dem HERRN / Da her spricht man / Das ist ein gewaltiger Jeger fur dem HERRN / wie Nimrod. Vnd der anfang seins Reichs war / Babel / Erech / Acad vnd Chalne im land Sinear. (Gen. 10,8–10)

Aus den wenigen Angaben über Nimrod in der Bibel (Gen. 10,8–10; vgl. 1. Chron. 1,10) lässt sich lediglich schließen, dass dieser ein mächtiger Gewaltherrscher gewesen sein muss. Naumann hatte sich demzufolge einen kriegerischen Antihelden ausgewählt. Um die geforderte ›epische Breite‹, d. h. die Ausdehnung der epischen Handlung auf eine gewisse Länge, zu erreichen, war der Dichter gezwungen, seine ›Einbildungskraft‹ zu aktivieren und eine komplexe ›Fabel‹ zu erdichten. In der Berlinischen privilegirten Staats- und gelehrten Zeitung findet sich im 28. Stück des Jahres 1752, datiert auf den 4. März 1752, eine gleichartige kritische Besprechung des Nimrod.8 Diese Rezension wird inzwischen Christlob Mylius (1722–1754), einem entfernten Verwandten Lessings, zugeschrieben.9 Die engen Mitarbeiter von Lessings Rezensententätigkeit in Berlin waren Mylius und 7 Ebd., S. 297f. 8 [Rez.:] Nimrod, ein Heldengedichte in vier und zwanzig Büchern, von einem Ehrenmitgliede der K. Großb. Deutschen Gesellschaft zu Göttingen. Frankfurth und Leipzig […] 1752. [In: Berlinische privilegirte Staats- und gelehrte Zeitung. 28. Stück (4. März 1752).] In: Gotthold Ephraim Lessing: Sämtliche Schriften. Hrsg. v. Karl Lachmann. Dritte, auf ’s neue durchgesehene und vermehrte Auflage, besorgt durch Franz Muncker. 5. Bd. Stuttgart 1890. S. 9f. 9 Vgl. Lessing: Werke und Briefe. Bd. 2, S. 919.

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Naumann. Alle drei schrieben Buchbesprechungen in ähnlichem sprachlichen Stil und Ton.10 Mylius bemerkt in einem Brief vom 29. November 1751: Wie wird es dem armen Nimrod vor dem Richterstuhl der Critik ergehen? Der Verfasser desselben hat mich oft zu meinem Verdruß in Leipzig mit Vorlesung desselben gemartert u. mir ihn lange Zeit zum Durchlesen gegeben, ich habe mich aber nicht überwinden können, mehr als die erste Seite zu lesen.11

Trotz seiner offensichtlich empfundenen Abneigung für den Nimrod verfasste er im Frühjahr 1752 eine Rezension, in der das Heldengedicht seines Freundes Naumann kurz besprochen, jedoch auch stark kritisiert wird. Zunächst behauptet Mylius darin, dass sich der Nimrod, ein Heldengedichte in vier und zwanzig Büchern »dem M e ß i a s beherzt entgegen[stelle]«.12 Danach beschäftigt er sich – wie Lessing – mit der Gesamtkomposition, der epischen Handlung und dem Metrum in diesem Epos: Man weis, daß von Nimrod nichts bekannt ist, als daß er ein gewaltiger Jäger vor dem Herrn gewesen, und die erste Monarchie gestiftet haben soll. Dieser Mangel an der Geschichte hat dem unerschöpflichen Witze des Herrn Verfassers ein unendliches Feld von Episoden eröfnet, welche er unter die Haupthandlung, daß Nimrod aus Herrschsucht große Kriege geführet und die unter sein Joch gebrachten Völker endlich davon wieder befreyet worden, künstlich mit eingestreuet hat. Man kann ihm den Ruhm eines sehr lebhaften Witzes und wirklich poetischen Geistes nicht absprechen, und es ist gewiß, was ein großer Kenner geurtheilet hat, daß im Nimrod mehr Schönheiten und im Hermann weniger Fehler sind: allein er hat sich auch gar nicht übel genommen, sich um die Hauptregeln der Epopee wenig zu bekümmern; auch wird er nicht läugnen können, daß er fast auf allen Seiten Delphinum sylvis adpingit, fluctibus aprum, und daß seine Hexameter überaus hart und meistens ganz falsch sind. Ohne Zweifel würde ihm ein poßierlich Heldengedicht besser gerathen: nur müßte er sich nicht vornehmen, poßierlich zu schreiben, sonst ist zu fürchten, es möchte zu ernsthaft werden.13

Der Verweis auf folgende Verse aus Horaz’ Ars Poetica, zeigt, dass Naumann im Nimrod gegen eine wesentliche Regel der Dichtkunst verstoßen hat: »qui variare cupit rem prodigialiter unam, j delphinum silvis adpingit, fluctibus aprum« (»wer ein einzelnes Thema verschwenderisch auszugestalten begehrt, malt einen Delphin in die Wälder, ins Meer einen Eber«) (V. 29f.).14 Mylius kritisiert 10 Vgl. Nisbet: Lessing. Eine Biographie, S. 135. 11 Auszug aus einem Brief von Mylius, 29. November 1751. Zitiert nach: Lessing: Werke und Briefe. Bd. 2, S. 919f. 12 [Rez.:] Nimrod, ein Heldengedichte in vier und zwanzig Büchern, von einem Ehrenmitgliede der K. Großb. Deutschen Gesellschaft zu Göttingen. Frankfurth und Leipzig […] 1752. In: Lessing: Sämtliche Schriften. 5. Bd., S. 9f., hier S. 9. 13 Ebd., S. 9f. 14 Quintus Horatius Flaccus: Ars Poetica / Die Dichtkunst. Lateinisch / Deutsch. Übersetzt und mit einem Nachwort hrsg. v. Eckart Schäfer. Bibliographisch ergänzte Ausgabe 1997. [Nachdr.] Stuttgart 2005. S. 6/5 und 7 (V. 29f.).

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demnach die übertriebene Ausgestaltung einer eigentlich einheitlichen Handlung. Der Nimrod Naumanns besteht aus einer Aneinanderreihung von überlangen Reden, ausführlichen Beschreibungen von unwichtigen Gegenständen, Auftritten von allegorischen Figuren, Schilderungen von grausamen Kriegszuständen und unpassenden Gleichnissen. Charakteristisch für dieses Heldengedicht sind zudem die oft schwülstige Sprache und die Pseudo-Hexameter. Das Proömium des Nimrod lautet: Singe, Muse, von Nimrods Gewalt und tyrannischer Herrschsucht! Der die natürliche Freyheit der Völker am ersten zerstöret, Und sie zur Knechtschaft geführt. Seit dem sein unruhiger Hochmuth Des Menschen glückselige Ruh auf einmal zu Grunde gerichtet, Und von der Erden verbannt. Sag, was für hitzige Worte Sprach dieser Fürst voll Stolz an der Stirn seiner furchtbaren Heere?15

Nach dem Vorbild Homers verbindet Naumann die ›invocatio‹ und die ›propositio‹ miteinander. Der Übergang vom Proömium ›in medias res‹, der als Frage formuliert ist, wirkt etwas holprig. Ein Beispiel für eine langatmige Beschreibung von Gegenständen im königlichen Speisesaal Nimrods findet sich zu Beginn des 4. Buches: […] Vorm Speisesaal stunden Tresore, Credenztische, Tafelgeräthe. Man sah auch zwo Uhren Vom treflichen Meister Jophia, die stunden gegen einander. Die eine stellte den Tod, die andre aber die Zeit vor. Bey jedem Schlage des Seigers klopfte das Todtengerippe, In dessen Schedel die Uhr war, mit dem Fuß an den Boden, Und schoß einen Pfeil ab. Gleich winkte die Zeit mit dem Kopfe; Ihre Sanduhr drehte sich um; Sie bewegte die Flügel, Und sprung in die Höh, und erhob zugleich ihre Sense; Anbey ließ sich eine Stimme recht deutlich vernehmen, Die schallte so stark, wie ein Sprachrohr, und rief: Bedenke den Ausgang! Singuhren mit Hämmern und Glocken, mit Gehäusen von Corinthischem Erzte, Zierten den inwendgen Saal; Uebern Portale desselben Stund eine Pyramide, in deren Mitten das Brustbild Nama, der Goldstickerin, der Schwester des Thubalkains, Die künstlich wuste zu weben. Die Wand hieng voll Schildereyen, Der allergeschiktesten Mahler. Darunter zeichnete Dothan Das wunderbare, das seltne; Meerwunder, Vesuve, Centauren, Und was die Einbildungskraft aus ihrem Schoosse hervorbringt. Ein größrer Meister war Helek, der die Wasser-Farben wohl mischte. 15 [Christian Nicolaus Naumann:] Nimrod, ein Heldengedichte in vier und zwanzig Büchern von einem Ehrenmitgliede der Königl. Großbrit. Deutschen Gesellschaft in Göttingen. Frankfurth und Leipzig 1752. S. 5f.

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Niemand entwarf so glüklich die schönen Seiten der Dinge, Die Gegenstände, die reizen. Er liebte Landschaften, Jagden, Und traf am besten die Blumen, die Bäume, die Luft und das Wasser. Seine Gemählde bestunden aus den feinsten subtilsten Figuren. Doch Kaleb übertraf alle; Zwar liessen nicht seine Stücke In der Nähe so sauber, als jene. Man sah die Haare des Pinsels, Die Züge roh und sehr kenntbar : Aber, wer glich ihm am Geiste, An Abändrung und an Erfindung? Wer mahlte so frisch, so natürlich? Seine Bilder lebten und sprachen. Er wählte, was schröklich und groß war. Die Stürme, Kriege, und Schlachten, die göttlichen Geschichte und Thaten; Die faltigten Gewande, die Stellung, die Handlung seiner Personen, Alles macht er vortreflich; Am besten ihre Gesichter ; Denn darinn drükt er sehr kräftig durch Geberden und Mienen, die Neigung Verschiedlicher Leidenschaft aus. In dieser Art Kunstwerken fand man Unmöglich etwas vollkommners. Sein Schwäher hieß Abinoham, Der hatte die Tafel erfunden; Die Stühle, die sich auf Rädern, Auf Walzen samt denen Gästen den Saal auf und nieder bewegten. Es geschah bequemlich und langsam, ohne die drauf sassen, zu stören. Die Seile zogen das Werk, und wurden unten von Pferden, Denen die Augen verbunden, wie eine Roßmühl getrieben. Sie giengen stets um die Säule im Ring herum vor- und rükwärts. Wer es zum erstenmal sah, der erstaunte, Und hielt es für einen Traum, oder gar für bezaubert.16

Ganz ähnlich ausschweifend wird im 7. Buch der »Kunstgarten Nimrods« dargestellt: […] Es waren lebendige Hecken Ueber Manns hoch gezogen, von gleich geschnittenen Buchen. Beym Eintritt konnte man alles aus einem Punct übersehen. Vorm Angesicht strekte sich gleich ein breiter Gang mit zwo Reihen Castaneenbäumen und Cedern, in gleicher Weite und Höhe. Bis ans Ende des Gartens lief er perspectivisch herunter. Alsdenn aber sah man noch weit in die Fläche des Feldes. Durch angenehmen Betrug vergrösserte dieses den Garten; Gleichsam, als gänge sein Ziel weit über grünende Anger. Man konnt auf dem röthlichen Sande im Garten mit Kommlichkeit fahren. Je weiter darinnen man kam: Je schöner und anmuthger ward er. Wie der Geist, der sich aus den Banden süsser Gefangenschaft wickelt, Mit freyem Flug in die Luft steigt, hinaus über unsere Sphäre. Er eilt am Wolkenzelt hin, und übern Himmel der Sterne. Tausend, und tausendmal tausend laufende Sonnen und Welten, Nie gesehene Welten sieht er unter sich leuchten, Nach eurithmetischen Regeln die Lüfte durchkreuzen. 16 Ebd., S. 103–107.

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Er staunt; Sein Pfeil-schneller Flug wird durch die Verwirrung gehemmet: Eben so wird unser Auge auch hier unschlüßig gelassen, An welches vortrefliche Stück es sich am ersten soll halten. Unsägliche Schönheiten fallen in der gemessensten Ordnung Und hier zugleich ins Gesicht. Zuerst ist der Obstgarten offen, In geordnete Schichten gestellt. Hier stehn Limonien-Bäume, Bäume mit Goldfarbnen Aepfeln. Citronen, Pomranzen, Granaten, Sträussen sich prächtig daher. Viele sind künstlich getrieben, Inwendig hohl, wie ein Korb: viel tragen auf ihren Wipfeln Lustige Lauben, zu den man auf Treppen hinan steigt. Andre müssen dagegen Spielbühnen, Lusthayne, Kränze, Und Forsttheater formiren. Einige stehen im Viereck, Im Triangel, im Labyrinthe. Ueberall sieht man Alleen, Graßbänke, steinerne Tische, auf Postamenten Statüen. Hier sieht man Bäche mit Schwänen, die mit den Beinen hier rudern; Hier fährt man gleichfalls auf Gondeln. Bäume umzirken das Wasser, So, daß dasselbe ein Wald scheint, wenn grüne Schatten der Bäume In diesem Chrystalle sich spiegeln. Der Lustgarten folget nach diesem, Den Cabinetter, Portäler und Musivarbeit zieren, Gartenhöfe, Sommerbögen, Grotten, mit Moos und Muscheln staffiret. Wasserschalen, Springbrunnen, Rabatten, Cascaden, Spaliere; Geländer, Pyramiden, Oranschen, Kugelrund geschnittene Bäume. Hier sind Tuberosen und Myrten, Lotosblumen, Asphodit, Anemonen, Nach ihren Farben geordnet, streiten um den Vorzug, und duften Ambrosingeruch von sich. Die Phasanhecken schliessen, Nebst Fruchthäusern, Thiergärten, Lauben. […]17

Diese lange Beschreibung im Nimrod wird nur durch ein Gleichnis unterbrochen. Gleichermaßen ausführlich, wenn auch oberflächlich, werden auch die epischen Figuren charakterisiert, wie etwa die Frau Nimrods, die Königin Thirza, im 7. Buch des Bibelepos: Sie war von mittler Statur, schlank, überaus wohl gewachsen; So, daß der König gar leicht ihren Leib mit den Fingern umspannte. Ihr Gesicht war bräunlich und frisch, ihr Auge kohlschwarz und blitzend; Ihre Zähne, wie Elfenbein weiß, ihre Stimme männlich und helle. Ihre Mienen edel und groß; Ihre Nase war, wie des Adlers; Ihr Haar so Pechschwarz, wie Raben; Ihre Augenbraunen [!] deßgleichen, Die im Bogen sich schlossen. Sie war so klug, als beherzt, Keusch, listig, freygebig, prächtig, beredt, von heroischer Großmuth.18

17 Ebd., S. 210–213. 18 Ebd., S. 214.

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Wenn man darüber hinaus beachtet, dass beispielsweise das ganze 13. Buch nach einer kurzen Einleitung nur aus der Predigt des Priesters Laban besteht19, wird deutlich, wie es Naumann geschafft hat, ein Epos von 24 Büchern zu schreiben, etwa 8.000 Verszeilen zu verfassen und letztlich 674 Druckseiten zu füllen. Die Vergleichsbilder in den Gleichnissen im Nimrod wirken zudem oft unpassend. So wird im 15. Buch Arphachsad, der Feldherr Nimrods, mit einem Hamster verglichen: So, wie ein Hamster zum Winter sich mit Vorrath versorget, An seiner Statt, seine Jungen aufs Feld schikt, sich zu bekröpfen; Er bleibt aber selbst in der Grube, seinen Spieker für Räubern zu schützen: So blieb Arphachsad zurück, seine Säcke mit Gold zu bewachen, Und ließ die halbe Armee an die Feinde marschiren.20

Ein gleichartiges Tier-Gleichnis findet sich im 18. Buch des Bibelepos: Wie ein Elephant, dessen Rücken im unsinnigwütenden Kriege Mit einem hölzernen Thurme voller Soldaten beladen, Mit seinen strampfenden [!] Füssen die Schaaren der Feinde durchrennet; Was ihm in den Weg kömmt, zertritt, so bald er mit Blute besprengt wird: Eben so wütete Nimrod untern geharnischten Schaaren.21

Um einen Eindruck von den schrecklich-erhabenen Schilderungen der Schlachten im Nimrod zu erhalten, wird hier das Ende des 23. Buches zitiert: Das Babylonische Fußvolk wollte hartnäckig fechten; Aber die Kinder von Eber hieben die meisten in Stücken. Es fielen ihrer fünf hundert bloß durch die Schärfe des Schwerdtes. Die Todten lagen bey Haufen, die Reuter unter den Rossen. Viel der Verwundeten mußten in der schweren Rüstung ersticken. Mehr als fünf tausend halb Todte schwommen im eigenen Blute, Mit einem wüsten Gekreische, mit kläglichem Winseln und Schreyen. Einer rang mit dem Tode, und lag gekrümmt und erbärmlich: Ein andrer gurgelte noch; der scharrte für Schmerzen im Sande; Und jenem hieng aus dem Leibe das Eingeweid und die Därme. Hier lag ein Arm eines Riesen von seinem Körper gespaltet, Bey den entseeleten Rümpfen, bey den zerfetzeten Leichen. Das rauchende Blut der Erwürgten floß ströhmend über die Felder, Ueber die schlüpfrigen Felder, welche die Leichen gesättigt. Die Sonn entsezte sich selbst bey so entsezlichem Anblick, Und kam sehr späte hervor mit des Morgens bräutlichen Lippen.22 19 20 21 22

Vgl. ebd., S. 363–398 (13. Buch), hier S. 368–397 (Predigt des Priesters Laban). Ebd., S. 427. Ebd., S. 505. Ebd., S. 649f.

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Naumann führt nicht nur christlich-mythologische, sondern auch allegorische Figuren ein. Hierin folgt er Milton, der im 2. Gesang des Paradise Lost Satan als Vater von Sünde und Tod auftreten lässt. Im 8. Buch des Nimrod ruft der »Höllenfürst«23 seine »älteste Tochter, j Die Herrschsucht, der er zu Liebe die Pforten des Himmels verlassen«24, zu sich und schickt sie zu Nimrod und Thirza. Diese kommt »nach Babel ins Schloß, in Gestalt einer kriegrischen Frauen«25 : Vorne hat die Herrschsucht ein »glänzende[s] Antlitz, j So, wie ein Engel des Lichts«26, »hinten war sie ganz hohl, und schwarz, wie Todtengerippe«27. Sie stachelt Nimrod zum Krieg an und gibt ihm einen »Harnisch von englischer Stählung«28, in dem er »unüberwindlich, wie GOtt, seyn [werde]«, und »eherne[.] Ketten«, um »die Feinde [zu] zwingen und [zu] binden«29. Im 23. Buch kämpfen die Eberiten und die Riesen Nimrods gegeneinander. Wie die heidnisch-antiken Götter greifen die Allegorien in die Schlacht ein, wobei Satans Tochter, die Herrschsucht, auf der Seite der Bösen und die Unschuld, der Glaube und die Gerechtigkeit auf der Seite der Guten stehen: […] Itzo erhuben die Riesen Mit ihren durchdringenden Waffen ein ganz entsezliches Blutbad. Die Herrschsucht spornte sie an zum grausam mördrischen Metzeln. Zwey hundert Kinder von Eber wurden zu Boden geworfen, Das Band ihres Lebens verkürzt: Sie waren dem Feind nicht gewachsen. Indessen stellte die Unschuld im Schneeweiß seidenen Kleide Sich an die Spitze des Heers der tapfern Kinder von Eber. Da schrie die Herrschsucht für Freuden, als sie die Unschuld erblikte. Und that den abscheulichsten Schwur, sie von einander zu spalten. Allein, gleich hinter der Unschuld stund ungesehen der Glaube, Von so subtiler Substanz, daß ihn kein Geist mochte wittern. Er griff den Augenblick zu: Die Hand der wütenden Herrschsucht Ward also von ihm gelähmt, daß sie in den Wolken ganz starre Das ungeheuerste Schwerdt hielt, so wie Statüen von Steine. Da löste die Unschuld den Bogen aus dem Rüsthause GOttes, Und schoß die Herrschsucht damit, daß der Pfeil die rechte Brust durchfuhr. Da brüllte die gräßliche Herrschsucht, daß Himmel und Erden erschallten: Und Satan ließ für Erschrecken den eisernen Scepter entfallen, Und sprung aus dem schweflichten Pfuhl in Gestalt eines feurigen Drachens, 23 24 25 26 27

Ebd., S. 231. Ebd., S. 232. Ebd., S. 233. Ebd., S. 234. Ebd., S. 235. Die »Herrschsucht« im Nimrod erinnert an die mittelalterliche Allegorie der »Frau Welt« in Der Welt Lohn Konrads von Würzburg (13. Jahrhundert). Diese dämonische Verführerin hat stets eine schöne Vorderansicht und einen abschreckenden Rücken. 28 Ebd., S. 234. 29 Ebd., S. 235.

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Der Tochter zu Hülfe zu eilen. Da donnerte der allmächtge Vater, Und warf aus den blitzenden Wolken einen Feuerregen herunter : Da fuhren brennende Kugeln durch die Luft, zersprungen mit Krachen. Da schlich der beängstigte Satan wieder an die Mündung der Hölle; Denn er erinnerte sich des Donnerkeils des Meßias, Der seinen Nacken zerschmettert, und ihn in den Abgrund geschlagen. Als nun die rasende Herrschsucht wider den HErren des Donners Viel schwarze Lästerung ausspie: trat die Gerechtigkeit zu ihr, Und schlizte den Kopf ihr entzwey mit einem schmeissenden Schlage. Sie sunk; und hätte im Fallen die Hälfte des Lagers bedecket: Doch Satan, ihr Vater, ergriff sie so gleich bey den Armen; Und zog sie zurück in die Hölle, hinter einem stinkenden Rauche. Hierauf fiel ein Schrecken vom HErrn unter die Riesen: Sie flohen, und wurden von Spiessen der Eberitten erwürget.30

Hierzu ist anzumerken, dass Klopstock das Auftreten von allegorischen Figuren neben historischen und christlich-mythologischen Charakteren im Epos stets scharf verurteilte.31 Bodmer veröffentlichte in den Freymüthigen Nachrichten von Neuen Büchern im Dezember 1751 eine kritische Buchbesprechung von Naumanns Nimrod.32 Er behauptet darin, dass er die Intentionen des unbekannten Verfassers durchschaut habe: Wem die geheimen Absichten bey Verfassung dieser Schrift unbekannt sind, der dürfte sie leicht für die Geburt eines phrenetischen Kopfes halten, und so gar unrecht nicht haben. Es ist darum dem Verfasser daran gelegen, daß seine Geheimnisse bekannt werden, und ich hoffe, daß er es mir verzeihen werde, wann ich sie entdecke, wiewohl sie ein wenig boßhaft scheinen mögen. Er wird doch allezeit lieber vor boshaft, als vor verrückt wollen gehalten werden. Er hat Homer, Pope, Milton, Voltär, und andern berühmten Poeten auf den Leib wollen.33

Der Dichter des Nimrod habe alle Fehler Homers und der anderen Epiker »durch eine geschickt überspannte Nachahmung und Zusammenhäufung verspottet«.34 Bodmer zieht folgende Verszeilen aus dem 10. Buch von Naumanns Bibelepos als Beispiel heran: »Indem Mahela so redte, trat Saleph hinein in die Stube. j Sie stund den Augenblick auf; Da fiel der Stuhl auf die Erde j Mit einem starken 30 Ebd., S. 646–648. 31 Vgl. Friedrich Gottlieb Klopstock: Eine Beurteilung der Winckelmannischen Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in den schönen Künsten. In: Klopstock: AW, S. 1049–1054, hier S. 1053f. 32 [Johann Jacob Bodmer :] [Rez.:] Nimrod in 24. Büchern. In: Freymüthige Nachrichten von Neuen Büchern, und andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen. 8. Jahrgang. LI. Stück (22. Christmonat [Dezember] 1751). Zürich 1751. S. 404–407. 33 Ebd., S. 404. 34 Ebd.

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Gepolter.«35 Da Homer in »der Beschreibung dergleichen kleinen Umstände […] groß [sei]«, würde sich der Verfasser des Nimrod hier über diesen lächerlich machen.36 Zudem lache man nicht über diesen neuen Ependichter, sondern über Homer, wenn man derartige »Homerische[.] Gleichnisse« lese37, wie z. B. jenes im 6. Buch: […] Habakuk, der einen Degen An die rechte Seite gehangen, erschien nun auch im Senate, Und trug ein schneidendes Schwert, von ungeheuerer Grösse; Man sah ihn dabey, wie ein Kind, bald bitterlich weinen, bald lachen; Oder wie ein einfältig Weib, wenn ihr Schwein, das sie selbsten Gemästet, vom Mezger geschlacht wird. Ihr geht der Tod dieses Thieres So nah, daß die heulet, als wäre ihr eigner Bruder gestorben. Alle, die um sie herum stehn, lachen und spotten nur ihrer. Eben ein solches Gelächter entstund im Senate Ueber Habakuks Aufzug. […]38

Der Schweizer Kritiker zitiert zudem in seiner Rezension in den Freymüthigen Nachrichten einige Stellen aus diesem Heldengedicht, die er angeblich »zweifelsfrey« als »Verspottungen des Aetherischen, Schöpferischen, Miltonischen« identifiziert hat.39 So heißt es im 7. Buch von Naumanns Epos, dass Thirza ihren Mann Nimrod »so zärtlich und brünstig [küsse], j Wie die Myriaden im Himmel einander zu küssen gewohnt sind«.40 In demselben Buch des Nimrod hat sich das Volk versammelt, um den triumphalen Einzug des Tyrannen Nimrod in die Stadt Babylon zu verfolgen: So, wie der Erlöser der Welt, da er unsre Gräber geheiligt, Auf dem Wagen voll Feuer aus dem Rüsthause GOttes Von güldnen Lämmern gezogen, in den Abgrund des Pfuhles hinab fuhr ; Der Tod, das Uebel, die Sünde, lagen ihm unter den Füssen. Der Sieg schwung über dem Haupte des Siegers die Fahne des Kreuzes. Die eisernen Pfosten der Höllen erkannten alsbald ihren Schöpfer, Und drehten in ihren Angeln sich selbst mit schröklichem Krachen. Gleich fiel der tödtliche Qualm zur Erden, und kroch wie ein Nebel. Die ewige Nacht, die hier herrscht, ward nun das erste Mal lichte. Die Köpfe feuriger Schlangen, die seine Ferse zutreten, Die aber dennoch nicht sterben, und ihre Pein erst erwarten, 35 [Naumann:] Nimrod, ein Heldengedichte in vier und zwanzig Büchern, S. 309f. 36 [Bodmer :] [Rez.:] Nimrod in 24. Büchern. In: Freymüthige Nachrichten von Neuen Büchern. 8. Jahrgang. LI. Stück (22. Christmonat [Dezember] 1751). S. 404–407, hier S. 404. 37 Ebd. 38 [Naumann:] Nimrod, ein Heldengedichte in vier und zwanzig Büchern, S. 197f. 39 [Bodmer :] [Rez.:] Nimrod in 24. Büchern. In: Freymüthige Nachrichten von Neuen Büchern. 8. Jahrgang. LI. Stück (22. Christmonat [Dezember] 1751). S. 404–407, hier S. 405. 40 [Naumann:] Nimrod, ein Heldengedichte in vier und zwanzig Büchern, S. 216.

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Fielen zusammen zu Boden, da sie den Bluträcher sahen. Da rissen die andern Verdammten sich aus den Gewölbern, Von der verschiedlichen Marter : Vorm gnädigsten Anblick des Heylands Verschwand ihr Zähnklappen und Winseln. Die Hölle wurde zu enge, Für dem Gedränge der Geister. Eben so groß war die Menge, Die hier von allen Enden war zusammen geflossen.41

Der Inhalt dieser beiden von Bodmer angeführten Beispiele aus dem Nimrod – der Kurzvergleich und das Gleichnis – wirft tatsächlich die Frage auf, ob Naumann nicht vielleicht doch eine parodistisch-satirische Schrift bzw. ein komisches Epos geschrieben hat. So finden sich in diesem Heldengedicht mehrere intertextuelle Referenzen auf Miltons Paradise Lost und Klopstocks Messias, die unpassend und dadurch belustigend wirken, etwa in jenem Gleichnis im 7. Buch des Nimrod: Wie des Engels der Sonnen Uriels feuriger Wagen Mit der lebendigen Deichsel, mit Flammen-wälzenden Rädern Von brennenden Hirschen gezogen, auf denen Wolken daher rollt: So rannten die Pfeil-schnellen Rosse mit Sprüngen über das Blachfeld. Der Wagen flohe davon. […]42

Im 21. Buch beendet Gott seine Rede mit folgendem Satz: »Ich strecke meinen Fuß aus, und sage: Ich bin allmächtig!«43 Dies ist eine parodistisch wirkende Nachahmung von einer Aussage Gottvaters im I. Gesang des Messias Klopstocks: »Ich breite mein Haupt durch die Himmel, j Meinen Arm aus durch die Unendlichkeit, sage: Ich bin j Ewig!« (I, 142–144) Bodmer verweist in den Freymüthigen Nachrichten zudem auf den anachronistischen Charakter der Darstellung im Nimrod Naumanns: Eben also hat unser Poet seinen Personen auch die politischen Sitten und die Intriguen unserer letzten Zeiten gegeben. Es sind unsere Könige, unsere Staats-Räthe, unsere Feldherrn, unsere Hof-Prediger, nicht nur im Wesen, sondern mit unserm Geschmacke, und mit unsern Manieren. […] Aber der neue Poet hat Nimrod und seinen Zeiten nicht bloß die Verstellung, die Hofränke, und die übrigen geschickten Laster unserer Tage geliehen; er hat ihnen auch das Gute, und den Schein des Guten, den wir noch behalten haben, mitgetheilt. Er hat ihnen das Beste, das wir besitzen, die Christliche Religion, zugeleget.44

Der Kritiker führt hier als Beispiel das 13. Buch des Bibelepos an, welches »vornehmlich eine Predigt [enthalte], die einer von unsern Predigern vor einer 41 42 43 44

Ebd., S. 222f. Ebd., S. 209. Ebd., S. 602. [Bodmer :] [Rez.:] Nimrod in 24. Büchern. In: Freymüthige Nachrichten von Neuen Büchern. 8. Jahrgang. LI. Stück (22. Christmonat [Dezember] 1751). S. 404–407, hier S. 406.

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Christlichen Versammlung vermuthlich mit eben so grosser Deutlichkeit halten könte, als Laban sie vor einem Hauffen von Söhnen Ebers gehalten [habe]«.45 Bodmer betont, dass jeder Leser, der »in den guten alten und den neuern Heldengedichten belesen [sei]«, »keine grosse Mühe haben [werde,] in [!] Nimrod Stellen zu erblicken, in welchen Worte, Reden, Gedanken, Bilder, Erfindungen derselben auf den Kopf gestellet [würden]«.46 Zuletzt kommt er auf die PseudoHexameter im Nimrod zu sprechen: Der Hexameter der Griechen und Römer stehet mit den Wörtern der deutschen Sprache dergestalt im Widerspiel, daß man noch nicht eine Seite in Hexametrischen Gedichten aufweisen kan, in welcher lauter richtige, den unveränderlichen Regeln gemässe, Hexameter angetroffen würden, die, als solche, sich nach dem natürlichen Ton der Wörter, und nach ihrem eigentlichen Masse, ohne Anstoß, aussprechen liessen. Wie man jezt diese Verse bildet, kan man manchen von denselben nach zweyerley Wege scandieren. Frauenzimmer und Ungelehrte können sie gar nicht scandieren, und müssen zufrieden seyn, sie für Prose zu lesen. Das einzige Merkmal, welches sie noch vom Verse an sich haben, ist die Abtheilung in Zeilen, welche alle mit einem Versalbuchstaben anfangen. Nun hat unser Dichter diesen leichtfertigen Vers zu verspotten, sein Werk in blosser ungebundener Prose niedergeschrieben: Und ihm hernach dieses Merkmahl und die Gestalt des Hexameters gegeben, indem er seine Schrift in ungefehr gleich lange Zeilen getheilt, und mit grossem Fleisse jedes erste Wort der Zeile mit dem Versalbuchstabe gezieret hat. Dadurch allein hat er sie allen Frauenspersonen, und den Mannspersonen, die nicht gelehrter sind, als die Frauen, für gute Hexameter aufgebunden. Niemand von diesen hat ihn noch verrathen; es hat sich auch zufälliger Weise begeben, daß durch diese einfältige Operation eine Menge dergleichen Hexameter in sein Werk gekommen sind, die sich so gut als die besten von den deutschen Hexametern scandieren lassen; massen sie Füsse, Quantität, Cäsur und Accente so richtig haben, als immer dieselbigen. In Wahrheit, man hätte den Hexametern und den Hexametrischen Gedichten kaum einen empfindlichern Streich versetzen können.47

Wenn der Züricher Professor dem Dichter unterstellt, dass er eigentlich einen Prosatext verfasst und diesen letztlich einfach in gleich lange Verszeilen eingeteilt habe, dann handelt es sich bei dem Nimrod folglich um ein rhythmisches Prosaepos und nicht um eine Hexameterdichtung. Bodmer kommt in seiner Rezension zu dem Schluss, dass sich das Bibelepos Naumanns unter die parodistischen Werke der Gottsched-Schule einreihe. Demgemäß schreibt er : »Der Nimrod und sein Urheber sollen billig von allen Freunden der guten, alten Kunst zu reimen mit Verehrung genannt werden.«48 Seltsamerweise wird im April 1752 in den Züricher Freymüthigen Nachrichten von Neuen Büchern eine weitere Rezension veröffentlicht, die sich mit dem 45 46 47 48

Ebd. Ebd., S. 407. Ebd. Ebd.

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Nimrod Naumanns befasst.49 Wer in diesem Fall der anonyme Rezensent war, lässt sich leider nicht rekonstruieren.50 Er schreibt jedoch voller Ironie Folgendes: Die so grosse Menge elender Gedichte benihmt denen wenigen guten, die noch von Zeit zu Zeit heraus kommen, nichts von ihrem Werthe. In die Classe der letztern ist auch billig der Nimrod zu setzen, welchen uns Daniel Christian Hechtel vorige Messe in der Form eines reimlosen Helden-Gedichtes von 24. Büchern geliefert hat. Alle diejenigen, welche den Miltonischen Geschmack lieben, den Hr. Klopstock durch seinen Meßias in Deutschland allgemein gemacht, werden dem Hr. Verfasser dieses neuen Helden-Gedichtes das Recht wiederfahren lassen, daß er alle den Regeln aufs genaueste nachgekommen, die zu einem solchen Gedichte erfodert werden. Sein Nimrod hat noch vielmehr vor seinen Vorgängern einen merklichen Vorzug, daß er nemlich nicht so auf Stelzen gehet, als sie, und daß er auch weit verständlicher und natürlicher redet. Gienge ihm nicht der entbehrliche Schall der Reime ab, so würde man es gar für keine Nachahmung des verlohrnen Paradieses, des Meßias, des Noah etc. halten können; Es schleppt darinnen nicht eine Zeile die andere fort[,] die Bilder sind mahlerisch und deutlich, so, daß man nicht den Verstand erst mit einem Vergrösserungsglase suchen darf; und ob sich schon der Hr. Verfasser aus Bescheidenheit nicht genennet, so kennet man ihn doch an seinen erhabenen und starken Gedanken und Ausdrücken. So wenig Stoff er zu seinem Gedichte in der Schrift gefunden, um so viel grösser ist sein Ruhm, daß seine reiche Einbildungs-Kraft ein so grosses Werk hat hervor bringen können.51

Der explizite Hinweis des Kritikers, dass man den Nimrod eigentlich gar nicht zu den anderen Bibelepen – dem Paradise Lost, dem Messias und dem Noah – zählen könne, sondern diese Zuordnung nur aus dem Grund vornehme, weil er ein weiteres reimloses Heldengedicht sei, macht deutlich, dass er den ihm unbekannten Verfasser als Gottschedianer identifiziert. Zum Proömium des Nimrod bemerkt der Rezensent: »Ist gleich sein Gegenstand lasterhaft, indem er einen Tyrannen besingen will; so wird man doch darinnen um so viel nützlichere Characters und Beschreibungen finden.«52 Als Beispiel führt er die »bekannte Fabel von den Fischen« an, die Naumann »sehr wohl und neu angebracht

49 [Rez.:] [Nimrod, ein Heldengedichte in vier und zwanzig Büchern.] In: Freymüthige Nachrichten von Neuen Büchern, und andern zur Gelehrtheit gehörigen Sachen. 9. Jahrgang. XV. Stück (12. April 1752). Zürich 1752. S. 114–116. 50 Es ist sicher, dass Bodmer selbst die vorige Rezension verfasst hat, die am 22. Dezember 1751 in den Freymüthigen Nachrichten publiziert wurde, da er dieselbe später nochmals in einer seiner Sammelschriften abdrucken ließ: Vgl. Johann Jacob Bodmer : Ueber die Nimrodias. In: [Johann Jacob Bodmer :] Archiv der schweitzerischen Kritick. Von der Mitte des Jahrhunderts bis auf gegenwärtige Zeiten. Erstes Bändchen. Zürich 1768. S. 69–80. 51 [Rez.:] [Nimrod, ein Heldengedichte in vier und zwanzig Büchern.] In: Freymüthige Nachrichten von Neuen Büchern. 9. Jahrgang. XV. Stück (12. April 1752). S. 114–116, hier S. 114f. 52 Ebd., S. 115.

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[habe]«.53 Im 1. Buch des Nimrod will ein weiser Greis Nimrod lehren, dass der Krieg »einen zum Reichen und hundert zu Bettlern« mache.54 Er erzählt ihm daher folgende »Fabel«: »Vor Zeiten zogen die Fische, wider die Vögel zu Felde; Der Roch, der Meerkrebs, der Hornfisch, und Schwertfisch wehrten sich tapfer. Der Wallfisch, ihr Oberhaupt, schlug mit seinem stürmenden Schwanze Viel Schaaren Vögel zu Boden. Aber die kleineren Fische Wurden vom Reiher verschlungen. Da ihre Brüder dieß sahen; Sprungen sie eilends zurück vom Gestad’ in die sumpfigten Häuser. Da schryen die andern zu ihnen: O kämpft doch! Wollt ihr denn fliehen? Der muthigste unter den kleinen stekte den Kopf aus dem Wasser, Und sprach: Was gilts? unser Fall macht euch berühmter und grösser. Euch kümmerts wenig um uns, um unsre blutigen Köpfe. Was gilts? wir büssen für euch; Und wenn nur ihr überwindet: So mag euer Feind, wie er will, mit unserm Blute sich sättgen!«55

Der Kritiker in den Freymüthigen Nachrichten zitiert allerdings nicht nur diese didaktischen Verszeilen, sondern auch die Beschreibung einer allegorischen Figur im 1. Buch des Nimrod: […] »Es träumte mir neulich, Ich sah ein hageres Weibsbild im goldgestükten Gewande; Ihr krauses Haar war mit Perlen durchflochten; träuflend vom Balsam: Und mit entblösseter Brust warf sie verhurete Blikke. Sie trug einen artigen Korb, mit Granatäpfeln, Datteln und Mandeln. Ihre Bahn war Spiegelglat Eiß; Sie lief mit gekrümmeten Schritschuhn, Und wankte darauf hin und her, wie ein Betrunkener taumelt. Bald war sie klein und bald groß. Sie zog einen kostbaren Beutel Hervor und warf ihn zum [!] Füssen mit einem tönenden Klange. Lieblich war ihre Stimme, wie wenn die Nachtigall kräuselt, Die Königinn schattigter Büsche. Sie spitzte den Mund, mich zu küssen; Aber, ich wandte mich von ihr. Sie drükte mir sanfte die Hände, Und rümpfete artig den Mund, und rükte den Hals in die Höhe. Sie hustete leis, und verliebt, und ließ sich endlich vernehmen: Das Hofleben nennet man mich. Ich mach meine Diener zu Fürsten. Begehrst du glüklich zu seyn: So nimm von mir diese Stelzen, Und diese gleissende Larve, die ich dir wohlmeinend reiche. Um dich vermittelst derselben nach Herzenswunsch zu verstellen; Du must die Warheit verdrehn; Doch allen tugendhaft scheinen. Das Herz sey verrätherisch, falsch, verläumdrisch, treuloß, verwegen; Geberden und Worte sind gut, voll Demuth, freundlich, und ehrlich. 53 Ebd. 54 [Naumann:] Nimrod, ein Heldengedichte in vier und zwanzig Büchern, S. 14. 55 Ebd., S. 14f.

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Schluss

Auch übe dich ja in der Kunst, den andern Fallstrik zu legen; Und als ein Meister im Heucheln, red’ jedem, wie ers gern höret. - - - - - Jedoch ich schwieg hierzu still voll bittrer Gallen und Eifers; Und stieß mit dem Fusse sie fort. Da gieng, wie vom stinkenden Aase, Von ihr ein giftiger Duft. Ich sah ihre doppelte Zunge; Wie hakigte Zungen der Nattern; Da rollten die leichtfertgen Thränen Vom hochmüthig-neidschen Gesichte, und wischten den Anstrich der Schminke Vom Antlitz; Siehe! da war es ganz wachsgelb, eytricht und narbigt.[«]56

»Da es in dergleichen Gedichten erlaubt und gleichsam eine Schönheit [sei], leblose Wesen zu würklichen Geschöpfen und Personen zu machen«, hätte der Verfasser des Nimrod hier eine »poetische Beschreibung« des ›Hoflebens‹ eingefügt.57 Zuletzt schreibt dieser Rezensent ironisch in den Freymüthigen Nachrichten: »Durch alle Gesänge hindurch hat sich der Hr. Verfasser in einem gleich-starken Feuer erhalten, so, daß man fast auf allen Seiten eine poetische Schönheit entdecket. Die Nimrods unserer Zeit könten sich sein Werk zu einem Hand-Buche dienen lassen.«58 Naumann berichtet rückblickend im Jahre 1754 in seiner Moralischen Wochenschrift Der Vernünftler (1. Theil, 5. Stück, 15. Februar 1754), dass er den Nimrod »um die Jahre [1]739 und [17]40 in dem reimfreyen Metro« ausgearbeitet habe.59 Zuvor habe er die dichtungstheoretischen Schriften der Schweizer studiert: Das Lesen der, in den Discoursen der Mahler, allen Reimen angekündigten Fehde, hatte meinen Geschmak in einen recht alpinischen Eigensinn verwandelt. […] Am meisten bestärketen mich, in dem Vorurtheile wider den Reim, die Kernbüchlein des baumstarken Bodmers in Zürch; […] Damals war ich von seiner papirnen Monarchie dermassen begaukelt, daß ich sieben Jahre lang, den Wohllaut der Reime auf den Bloksberg verbannete; […].60

Unter dem Einfluss seiner Freunde Mylius und Lessing – etwa in den Jahren 1746 bis 1748 – wandelte sich offensichtlich Naumanns literarischer Geschmack: Mitlerweile arbeiteten meine kritischen Freunde in Leipzig dermassen an meiner Bekehrung, daß ich mit dem Reime und zugleich mit der Vernunft, die er, nach dem Beyspiele unsrer grösten Dichter, sehr wohl leidet, mich auf ewig wieder aussöhnete. Seit dem gerieth ich über mich selbst und über die Verführer des Volks, in einen 56 Ebd., S. 26–28. 57 [Rez.:] [Nimrod, ein Heldengedichte in vier und zwanzig Büchern.] In: Freymüthige Nachrichten von Neuen Büchern. 9. Jahrgang. XV. Stück (12. April 1752). S. 114–116, hier S. 115. 58 Ebd., S. 116. 59 Christian Nicolaus Naumann: Das fünfte Stük (15. Hornung 1754). In: [Ders.:] Der Vernünftler. Eine sittliche Wochenschrift. Berlin 1754. S. 65–80, hier S. 67. 60 Ebd., S. 66f.

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solchen Amtseifer, daß ich diejenigen für unvergleichliche Dummköpfe erklärete, die sich öffentlich, Bodmerianer, oder Gottschedianer, nenneten; Denn sie hatten in der That keine andre Bewegungsgründe dazu, als entweder stolze und eigennützige Absichten, oder die blinde Sklaverey halsstarrigunwissender Schulknaben.61

Erst zur Michaelismesse 1751 veröffentlichte er anonym den Nimrod, der auf das Jahr 1752 datiert ist. Folgt man diesen Aussagen Naumanns im Vernünftler, so ist er allenfalls als schlechter Nachahmer Miltons und als unbegabter Vorläufer Klopstocks anzusehen, wenn er sein Bibelepos bereits in den Jahren 1739 und 1740 verfasst hat. Dies alles berechtigt nicht zu der Annahme, er habe ein parodistisch-satirisches bzw. komisches Heldengedicht schreiben wollen, um die klassisch-antiken, neuzeitlichen und zeitgenössischen Epiker zu verspotten. Allerdings ist es durchaus möglich, dass Naumann den Nimrod, ein Heldengedichte in vier und zwanzig Büchern, nach dem Erscheinen der ersten Gesänge des Messias nochmals überarbeitet hat. Aufgrund des eigenartigen Tons, der in den zwei Rezensionen in den Züricher Freymüthigen Nachrichten herrscht, kann es auch durchaus sein, dass sich Bodmer selbst über den Verfasser des Nimrod lächerlich machte und auf das dichterische Unvermögen Naumanns aufmerksam machen wollte. Die schlechte Quellenlage und die doppeldeutigen Aussagen der zeitgenössischen Rezipienten zum Nimrod tragen letztlich dazu bei, dass hier mehrere Interpretationen in Betracht kommen. Handelt es sich nun bei dem Werk Naumanns um ein ernst- oder scherzhaftes Heldengedicht, so ist es in beiden Fällen im Ganzen als misslungen anzusehen.62 Klopstock schreibt am 5. Februar 1752 in einem Brief an Bodmer : Wir sind, wie Sie wissen, seit der Messe, durch den H e r m a n n u N i m r o d sehr bereichert worden. […] was sagen Sie von dem Nimrod? Ich hätte ihn Anfangs beynah für eine Satyre gehalten. Wenn der Verfasser im Ernste schreibt, so gefällt er mir, wie Nimrods Hofnarr, Habacuc.63

Der Messias-Dichter setzt demzufolge wie Lessing Schönaichs Hermann, oder das befreyte Deutschland und Naumanns Nimrod gleich. Die epische Figur 61 Ebd., S. 67f. 62 Franz Muncker bemerkt hierzu: »Und dieses stümperhafte Machwerk [Der Nimrod; I. G.] konnten einzelne Recensenten loben (z. B. in den Züricher ›Freimütigen Nachrichten‹ vom 12. April 1752)! Verfolgte Naumann oder seine Beurteiler ironische Absichten? Wäre das erstere der Fall, auch dann wäre die Satire elend mißraten. Aber außer einem keineswegs beweiskräftigen, weil selbst ironischen Aufsatze der ›Freimütigen Nachrichten‹ (vom 22. December 1751) berechtigt uns nichts zu jenem Schluß, und Naumanns eigne kurze Angaben [im Vernünftler ; I. G.] über sein Heldengedicht verbieten geradezu eine solche Annahme.« (Franz Muncker : Friedrich Gottlieb Klopstock. Geschichte seines Lebens und seiner Schriften. Stuttgart 1888. S. 172f.) 63 Brief von Klopstock an Bodmer, 5. Februar 1752. In: HKA, Briefe II, Nr. 111, S. 130–133, hier S. 131, Z. 23–28.

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Habakuk tritt im 4. und 6. Buch von Naumanns Bibelepos auf.64 Er ist der Hofnarr Nimrods und wird als »Misanthrop[.]«, als »Schüler der rohen Natur« und als »Pickelhering der Weisen« bezeichnet.65 Habakuk verspottet »die Gesellschaft der Menschen und alle Moden«, und die Hofleute vertreiben sich mit seinem »Scherz«, d. h. mit seinem Possenspiel, die Zeit.66 Der Kämmerer Helek berichtet Folgendes über den Hofnarren: »Er hat keine eigene Wohnung; j Des Tages schweifft er herum, und schläft des Nachts auf der Strassen; j Auf Steinen, oder auf Rasen, und läst sich von keinem befehlen.«67 Der epische Erzähler beschreibt Habakuk im 4. Buch des Nimrod derart: »Sein Bart war zotigt und lang; Er ließ, wie das Haupthaar, ihn wachsen. j Sein Gesicht war runzlicht und schwarz. Er gieng ohne Strümpfen und Schuhen; j Den Leib bedekte sonst nichts, als eine Hülle von Leinwand.«68 Der Hofnarr schläft auf dem harten Boden, er begnügt sich mit kargen Mahlzeiten, trinkt nur Wasser und lässt sich beispielsweise auf der Erde nieder, obwohl ihm vom Kammerdiener ein Stuhl angeboten wird.69 Diese Charakterisierung Habakuks im Nimrod erinnert an den griechisch-antiken Philosophen bzw. Kyniker Diogenes von Sinope (412/403– 324/321 v. Chr.), der in physischer Askese lebte. Unter dem Deckmantel der Narrheit ist Habakuk am Hof als Einziger in der Lage, dem Gewaltherrscher die Wahrheit sagen zu können. Als der Narr bewaffnet mit Degen und Schwert im Senat erscheint, lachen die Anwesenden über seinen kriegerischen Aufzug. Es entwickelt sich folgendes Gespräch, in welchem Habakuk Nimrod den Spiegel vorhält: […] Man fragt ihn [Habakuk; I. G.]: Was er denn wollte? »In den Krieg ziehn!« gab er zur Antwort. Das Gelächter wurde noch grösser. Izt trat er zum König, und sprach: »Ich frage dich, Nimrod! Ob du gutwillig dein Land mir abtrittst, oder willst warten, Bis ich mit Gewalt es dir nehme.« Hier stuzte Nimrod, und fragte: »Was hast du für Recht auf mein Land?« Habakuk gab gleich zur Antwort: »Eben das Recht, das du hast an das Land der Kinder von Eber.«70

Der ›weise Narr‹ Habakuk wird mit seiner Doppeldeutigkeit in der zeitgenössischen Rezeption gewissermaßen zum Inbegriff von Naumanns Nimrod. So stellt sich auch Klopstock die ungelöste Frage, ob sich der Verfasser dieses neuen Heldengedichts über die epische Tradition lustig machen wollte oder ob der 64 Vgl. [Naumann:] Nimrod, ein Heldengedichte in vier und zwanzig Büchern, S. 126–130 (4. Buch) und S. 197–199 (6. Buch). 65 Ebd., S. 126. 66 Ebd. 67 Ebd., S. 126f. 68 Ebd., S. 127. 69 Vgl. ebd. 70 Ebd., S. 198f.

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Nimrod durch eine derartige Anhäufung von Fehlern unbeabsichtigt lächerlich wirkt. Zumindest wurde das Bibelepos Naumanns einhellig vom Bodmer/Breitinger-Kreis, von der jungen Kritikergeneration in Berlin und auch von den Gottschedianern abgewertet. Bezeichnenderweise ordneten die Bodmerianer und die Berliner Kritiker den Nimrod den Epen der ›Gottsched-Schule‹ zu, während die Gottschedianer wiederum Naumanns Werk auf eine Stufe mit dem Messias Klopstocks und den Patriarchaden Bodmers stellten. Dementsprechend schreibt Schönaich in seinem Neologischen Wörterbuch (1754) über den Nimrod Naumanns: Dieses Gedicht hätten wir, zum Ruhme unserer aufgeklärten Zeiten, noch vor der Meßiade zu bewundern bekommen, wenn nur die Hn. Verleger sich auch nicht durch die Tyrannin, die Mode, lenken liessen. Nimrod wäre sonst, auf unserm c h r i s tl i c h e n P a r n a s s e , der Vo r l ä u f e r des klopstockischen Meßias geworden. So aber war Meßias d e r V o r l ä u f e r vom Nimrod, und Habacuc sein Hofnarr.71

Der Gottschedianer zitiert folgenden Satz aus der Beschreibung des königlichen Speisesaals im 4. Buch von Naumanns Nimrod: »Vorm Speisesaal stunden Tresore, j Credenztische, Tafelgeräthe.«72 Der höhnische Kommentar Schönaichs hierzu lautet: C r e d e n z t i s c h e z u N i m r o d s Z e i t e n ! Ha! Ha! Ha! In der lächerlichen Schreibart sind der Herr Magister sehr stark. Der Herr H o f n a r r , Habacuc, purzelt auch hier. Und wir wundern uns, daß die N a r r e n aus Nimrods Zeiten mit unsern so viel Aehnlichkeit haben. Auch P o r c e l l a n ist hier, und Nimrod speiset, wie Ludwig der XIV. Unsere Hauptsorge muß demnach seyn, auch die Hofnarren unserer Helden zu beschreiben; kein Zotchen zu vergessen; ja durch dergleichen Malereyen eine löbliche Weitläuftigkeit zu erhalten. Wir müssen nicht allein das G e s i c h t einer Schönen; sondern auch ihren Steiß malen; d. i. alle mögliche Bilder von allen möglichen Seiten zu zeigen. Denn die Wahl, und eine ängstliche Unterscheidung ist pedantisch; sie martern nicht allein den Witz; sie schränken nicht allein die poetische Wuth ein, wodurch so manche schöne Beschreibung verlohren gehet; sondern machen auch noch die Bücher kleiner, welches für einen Dichter oft von gefährlicher Folge ist. Ja, wir trauten uns auf unsere Kapelle die 24 Bücher des Nimrods auf ein halbes, ja noch weniger zu bringen.73

Das Erscheinen von Naumanns Nimrod bot Klopstock Anlass, den Gedanken eines Wettstreits mit den anderen Nationalliteraturen aufzugreifen. So behauptet er am 5. Februar 1752 in dem Brief an Bodmer, dass ihm von einem

71 Christoph Otto Freiherr von Schönaich: Die ganze Aesthetik in einer Nuss oder Neologisches Wörterbuch (1754). Mit Einleitung und Anmerkungen. Hrsg. v. Albert Köster. Berlin 1900. (Deutsche Litteraturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts; 70/81.) S. 24. 72 [Naumann:] Nimrod, ein Heldengedichte in vier und zwanzig Büchern, S. 103. 73 Schönaich: Die ganze Aesthetik in einer Nuss oder Neologisches Wörterbuch (1754), S. 355.

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Schluss

anonymen Verfasser zwei Epigramme zugesandt wurden.74 Es handelt sich um diese beiden ›Spottgedichte‹: An die Franzosen Zu stolze Gallier, schweigt nun, und fleht um Gnade! Sonst brechen wir nun auch den Stab, Und sprechen euch den Geist gebietrisch ab. Was habt ihr? Eine Henriade. Allein, was haben wir! Wir haben die Nimrodiade; Die flinke Friederichiade; Die holde Schülerinn, Hermanniade; Und schließlich, die Theresiade! (Und, ewig Schade! Wir hätten auch die Hengst- und Horstiade, Wenn Schwabe . . doch, vielleicht!) Gnug, jene haben wir! Und können, das versprech ich mir! Durch unsern Fleiß und schnelle Gaben, Leicht übermorgen mehr noch haben! An die Engländer Weil ihr denn, Britten, uns den Geist nicht aberkennt, Und uns wohl gar Landsleute nennt; So wollen wirs euch auch, als guten Freunden, sagen, Was sich mit unserm Geist seit kurzem zugetragen! Ihr habt das Paradies und den Leonidas. Das ist nun ungefähr so auch etwas! Allein wir haben! Fürs erste: Nicht gemeine Gaben! Fürs andre: Hermann, Friedrich, Nimrod, und dann auch die Theresias! Drum fehlt uns gar nichts mehr, als eure Duncias.75

Der Epigrammatiker, der wahrscheinlich Klopstock selbst war, schreibt hier unverkennbar aus der Perspektive eines Gottschedianers (mit dem Wissen eines Bodmerianers) und macht sich daher über folgende zeitgenössische Heldengedichte lustig: Der Nimrod, ein Heldengedichte in vier und zwanzig Büchern (1752) von Christian Nicolaus Naumann, Der Großmüthige Friederich der dritte, König zu Dännemark, etc. in einem Heldengedichte (1750) von Ludwig Friedrich Hudemann, Hermann, oder das befreyte Deutschland, ein Heldengedicht (1751) 74 Vgl. Brief von Klopstock an Bodmer, 5. Februar 1752. In: HKA, Briefe II, Nr. 111, S. 130–133, hier S. 131, Z. 28–30. 75 HKA, Werke II, Nr. 218* und Nr. 219*, S. 71. Die Autorschaft Klopstocks für diese zwei Epigramme gilt »als prinzipiell ungesichert«, »da sie nicht unzweideutig bezeugt ist«. (Ebd., S. 374 [Apparat].)

Schluss

675

von Christoph Otto Freiherr von Schönaich und die Theresiade. Ein EhrenGedicht (1746) von Franz Christoph von Scheyb. Der Nimrod Naumanns wird somit von diesem zeitgenössischen Rezipienten zu den schlechtesten Werken der im 18. Jahrhundert wiederbelebten Gattung Epos gezählt.76 Trotz seines – zumindest ansatzweise – biblischen Stoffes passt dieses Heldengedicht offensichtlich zu den angeführten historischen Epen wesentlich besser, da es ebenfalls in einem höfischen Milieu spielt. In der germanistischen Forschung wurde der Nimrod kaum zur Kenntnis genommen. Bekannt ist allerdings Franz Munckers vernichtendes Urteil über dieses »stümperhafte Machwerk«: Und das berüchtigste Heldengedicht jener Jahre, mit dem verglichen Schönaichs ›Hermann‹ noch ein Meisterstück zu heißen verdiente, der ›Nimrod‹ von Christian Nicolaus Naumann (1752) zählte seine vollen vierundzwanzig Bücher mit nahezu achttausend Versen. Und was für Verse! Natürlich durchaus schwerfällig und holperig, durchaus unrhythmisch; sehr oft aber auch fünf- oder sieben-, ja achtfüßig, manchmal mit richtigem (trochäisch-daktylischem) Anfang, gewöhnlich aber mit einfachem oder doppeltem Auftact. Der Inhalt ein Mischmasch von Unsinn; plumpe Abgeschmacktheiten von Anfang bis zu Ende. Dem Mangel an thatsächlichen Ereignissen, der durch die unsägliche Armut unsers Wissens über Nimrod bedingt war, suchte Naumann mit dem alten Mittel der Schweizer Epiker aufzuhelfen: er ließ seine Helden Reden von dreihundert Versen und darüber ohne Unterbrechung halten. Aber Reden über nichts, abgefaßt in niedriger Prosa voll hinkender Gleichnisse und schielender Bilder. Dabei vergessen sich die Sprechenden mehr als einmal so weit, daß sie die Wohlthaten des Christentums erheben: An Versuchen, Klopstock im besondern nachzuahmen, ließ es Naumann auch nicht fehlen. Die Verse, welche auf diese Weise entstanden, sahen aber eher wie eine Travestie der Messiade aus.77

Alle in der vorliegenden Studie angeführten biblischen Heldengedichte, zu denen neben dem Meisterwerk Klopstocks, dem Messias, auch die anderen im Gegensatz zum Nimrod Naumanns weitaus gelungeneren Werke wie Bodmers Noah (1752), Wielands Der gepryfte Abraham (1753), Gessners Der Tod Abels (1758) und Geßners Ruth oder Die gekrönte häusliche Tugend (1795) gehören, 76 Diese Bewertung wurde auch vom Klopstock-Biographen Franz Muncker geteilt, schreibt dieser doch Folgendes über den Nimrod und dessen Verfasser Naumann: »Als absolut unfähiger Nachfolger Klopstock’s und Bodmer’s füllte er [Naumann; I. G.] hier nahezu 8000 über allen Begriff elende Hexameter, von denen nicht der zehnte Theil auch nur äußerlich richtig gebaut war, mit plumpen Absurditäten aller Art, die er meist in lächerlich-unsinniger Weise zu der Person Nimrod’s in Bezug brachte. Mit der Armuth und Abgeschmacktheit des Inhalts wetteiferte die prosaisch niedrige und dennoch überaus schwülstige Sprache.« (Franz Muncker : [Art.] Christian Nicolaus Naumann. In: Allgemeine Deutsche Biographie. 23. Band. Neudruck der 1. Aufl. von 1886. 2., unveränd. Aufl. Berlin 1970. S. 302–305, hier S. 304.) 77 Muncker : Friedrich Gottlieb Klopstock, S. 172.

676

Schluss

belegen, welch eine interessante Erscheinungsform das Bibelepos des 18. Jahrhunderts ist, um die Wechselwirkungen zwischen Bibel und Poesie aufzuzeigen.

Abkürzungsverzeichnis

Bodmer : CAWP

Bodmer : CBGD

Breitinger : CD I/II

Breitinger : CAG

Gottsched: CD 1751

Gottsched: AW VI 1

Gottsched: AW VI 2

Gottsched: AW VI 3

Bodmer, Johann Jacob: Critische Abhandlung von dem Wunderbaren in der Poesie. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1740. Mit einem Nachwort von Wolfgang Bender. Stuttgart 1966. (Deutsche Neudrucke, Reihe Texte des 18. Jahrhunderts.) Bodmer, Johann Jakob: Kritische Betrachtungen über die poetischen Gemälde der Dichter. [Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1741.] Frankfurt a. M. 1971. Breitinger, Johann Jacob: Critische Dichtkunst. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1740. 2 Bde. Mit einem Nachwort von Wolfgang Bender. Stuttgart 1966. (Deutsche Neudrucke, Reihe Texte des 18. Jahrhunderts.) Breitinger, Johann Jacob: Critische Abhandlung von der Natur, den Absichten und dem Gebrauche der Gleichnisse. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1740. Mit einem Nachwort von Manfred Windfuhr. Stuttgart 1967. (Deutsche Neudrucke, Reihe Texte des 18. Jahrhunderts.) Gottsched, Johann Christoph: Versuch einer Critischen Dichtkunst. Unveränderter photomechanischer Nachdruck der 4., vermehrten Aufl. Leipzig 1751. 5., unveränderte Aufl. Darmstadt 1962. Gottsched, Johann Christoph: Ausgewählte Werke. Hrsg. v. Joachim Birke† und Brigitte Birke. Sechster Band, erster Teil: Versuch einer Critischen Dichtkunst: Erster allgemeiner Theil. Berlin / New York 1973. (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts; 39.) Gottsched, Johann Christoph: Ausgewählte Werke. Hrsg. v. Joachim Birke† und Brigitte Birke. Sechster Band, zweiter Teil: Versuch einer Critischen Dichtkunst: Anderer besonderer Theil. Berlin / New York 1973. (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts; 40.) Gottsched, Johann Christoph: Ausgewählte Werke. Hrsg. v. Joachim Birke† und Brigitte Birke. Sechster Band, dritter Teil: Versuch einer Critischen Dichtkunst: Variantenverzeichnis. Berlin /

678

Abkürzungsverzeichnis

New York 1973. (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts; 45.) Gottsched: AW VI 4 Gottsched, Johann Christoph: Ausgewählte Werke. Hrsg. v. P. M. Mitchell. Sechster Band, vierter Teil: Versuch einer Critischen Dichtkunst: Kommentar. Berlin / New York 1978. (Ausgaben deutscher Literatur des XV. bis XVIII. Jahrhunderts; 78.) Klopstock: Declamatio Klopstock, Friedrich Gottlieb: Declamatio, qua poetas epopoeiae auctores recenset Frideric.[us] Gottlieb. Klopstockius scholae valedicturus. [Schulpfortaer Abschiedsrede 1745]. In: Carl Friedrich Cramer : Klopstock. Er ; und über ihn. Erster Theil. 1724–1747. Hamburg 1780. S. 54–132. Klopstock: DM 1748 Klopstock, Friedrich Gottlieb: Der Messias. Gesang I–III. Text des Erstdrucks von 1748. Studienausgabe. Hrsg. v. Elisabeth HöpkerHerberg. Bibliographisch ergänzte Ausgabe 2000. [Nachdr.] Stuttgart 2005. Klopstock: AW Klopstock, Friedrich Gottlieb: Ausgewählte Werke. Hrsg. v. Karl August Schleiden. Nachwort von Friedrich Georg Jünger. München 1962. HKA Klopstock, Friedrich Gottlieb: Werke und Briefe. Historischkritische Ausgabe. [Hamburger Klopstock-Ausgabe = HKA] Begründet von Adolf Beck, Karl Ludwig Schneider und Hermann Tiemann. Hrsg. v. Horst Gronemeyer, Elisabeth Höpker-Herberg, Klaus Hurlebusch und Rose-Maria Hurlebusch†. Berlin / New York 1974ff. Abteilung Werke: Werke I 1 Werke II Werke III 1 Werke IV 1 Werke IV 2 Werke IV 3 Werke IV 4 Werke IV 5.1 Werke IV 5.2

Klopstock, Friedrich Gottlieb: Oden. Band 1: Text. Hrsg. v. Horst Gronemeyer und Klaus Hurlebusch. Berlin / New York 2010. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Epigramme. Text und Apparat. Hrsg. v. Klaus Hurlebusch. Berlin / New York 1982. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Geistliche Lieder. Band 1: Text. Hrsg. v. Laura Bolognesi. Berlin / New York 2010. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Der Messias. Band 1: Text. Hrsg. v. Elisabeth Höpker-Herberg. Berlin / New York 1974. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Der Messias. Band 2: Text. Hrsg. v. Elisabeth Höpker-Herberg. Berlin / New York 1974. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Der Messias. Band 3: Text / Apparat. Hrsg. v. Elisabeth Höpker-Herberg. Berlin / New York 1996. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Der Messias. Band 4: Apparat. Hrsg. v. Elisabeth Höpker-Herberg. Berlin / New York 1984. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Der Messias. Band 5.1: Apparat. Hrsg. v. Elisabeth Höpker-Herberg. Berlin / New York 1986. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Der Messias. Band 5.2: Apparat. Hrsg. v. Elisabeth Höpker-Herberg. Berlin / New York 1986.

Abkürzungsverzeichnis

Werke IV 6 Werke V Werke VI 1 Werke VII 1

Werke VII 2

679 Klopstock, Friedrich Gottlieb: Der Messias. Band 6: Apparat. Hrsg. v. Elisabeth Höpker-Herberg. Berlin / New York 1999. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Biblische Dramen. Text / Apparat. Hrsg. v. Monika Lemmel. Berlin / New York 2005. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Hermann-Dramen. Band 1: Text. Hrsg. v. Mark Emanuel Amtstätter. Berlin / New York 2009. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Die deutsche Gelehrtenrepublik. Band 1: Text. Hrsg. v. Rose-Maria Hurlebusch. Berlin / New York 1975. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Die deutsche Gelehrtenrepublik. Band 2: Text / Apparat. Hrsg. v. Klaus Hurlebusch. Berlin / New York 2003.

Abteilung Briefe: Briefe I Briefe II Briefe III Briefe IV 1 Briefe IV 2

Briefe V 1 Briefe V 2

Briefe VI 1 Briefe VI 2

Briefe VII 1 Briefe VII 2

Briefe VII 3

Briefe VIII 1

Klopstock, Friedrich Gottlieb: Briefe 1738–1750. Hrsg. v. Horst Gronemeyer. Berlin / New York 1979. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Briefe 1751–1752. Hrsg. v. Rainer Schmidt. Berlin / New York 1985. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Briefe 1753–1758. Hrsg. v. Helmut Riege und Rainer Schmidt (Nr. 1–21). Berlin / New York 1988. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Briefe 1759–1766. Hrsg. v. Helmut Riege. Band 1: Text. Berlin / New York 2003. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Briefe 1759–1766. Hrsg. v. Helmut Riege. Band 2: Apparat / Kommentar. Anhang. Berlin / New York 2004. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Briefe 1767–1772. Hrsg. v. Klaus Hurlebusch. Band 1: Text. Berlin / New York 1989. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Briefe 1767–1772. Hrsg. v. Klaus Hurlebusch. Band 2: Apparat / Kommentar. Anhang. Berlin / New York 1992. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Briefe 1773–1775. Hrsg. v. Annette Lüchow. Band 1: Text. Berlin / New York 1998. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Briefe 1773–1775. Hrsg. v. Annette Lüchow unter Mitarbeit von Sabine Tauchert. Band 2: Apparat / Kommentar / Anhang. Berlin / New York 2001. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Briefe 1776–1782. Hrsg. v. Helmut Riege. Band 1: Text. Berlin / New York 1982. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Briefe 1776–1782. Hrsg. v. Helmut Riege. Band 2: Apparat / Kommentar Nr. 1–131. Berlin / New York 1982. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Briefe 1776–1782. Hrsg. v. Helmut Riege. Band 3: Apparat / Kommentar Nr. 132–244. Anhang. Berlin / New York 1982. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Briefe 1783–1794. Hrsg. v. Helmut Riege. Band 1: Text. Berlin / New York 1994.

680

Abkürzungsverzeichnis

Briefe VIII 2

Briefe IX 1 Briefe IX 2

Briefe X 1 Briefe X 2

Briefe XI

Klopstock, Friedrich Gottlieb: Briefe 1783–1794. Hrsg. v. Helmut Riege. Band 2: Apparat / Kommentar. Anhang. Berlin / New York 1999. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Briefe 1795–1798. Hrsg. v. Rainer Schmidt. Band 1: Text. Berlin / New York 1993. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Briefe 1795–1798. Hrsg. v. Rainer Schmidt. Band 2: Apparat / Kommentar. Anhang. Berlin / New York 1996. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Briefe 1799–1803. Hrsg. v. Rainer Schmidt. Band 1: Text. Berlin / New York 1999. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Briefe 1799–1803. Hrsg. v. Rainer Schmidt. Band 2: Apparat / Kommentar. Anhang. Berlin / New York 2003. Klopstock, Friedrich Gottlieb: Briefe, Nachträge, Stammbucheinträge, Einträge auf Albumblättern. Hrsg. v. Helmut Riege und Rainer Schmidt. Berlin / New York 2007.

Abteilung Addenda: Addenda I

Addenda II Addenda III 1

Addenda III 2

Wieland: BW I

Wieland: BW II

Klopstock-Bibliographie von Gerhard Burkhardt und Heinz Nicolai. Redaktion: Helmut Riege unter Mitarbeit von Hartmut Hitzer und Klaus Schröter. Berlin / New York 1975. Klopstocks Arbeitstagebuch. Hrsg. v. Klaus Hurlebusch. Berlin / New York 1977. Die zeitgenössischen Drucke von Klopstocks Werken. Eine deskriptive Bibliographie von Christiane Boghardt, Martin Boghardt und Rainer Schmidt. Band 1: Nr. 1–2004. Berlin / New York 1981. Die zeitgenössischen Drucke von Klopstocks Werken. Eine deskriptive Bibliographie von Christiane Boghardt, Martin Boghardt und Rainer Schmidt. Band 2: Nr. 2005–3343. Berlin / New York 1981. Wieland, Christoph Martin: Briefwechsel. Hrsg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Institut für deutsche Sprache und Literatur. Erster Band: Briefe der Bildungsjahre (1. Juni 1750–2. Juni 1760). Hrsg. v. Hans Werner Seiffert. Berlin 1963. Wieland, Christoph Martin: Briefwechsel. Hrsg. v. der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Institut für deutsche Sprache und Literatur, durch Hans Werner Seiffert. Zweiter Band: Anmerkungen zu Band 1 (Briefe vom 1. 6. 1750–2. 6. 1760) von Hans Werner Seiffert. Berlin 1968.

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Dank

Die vorliegende Studie ist die leicht überarbeitete Fassung meiner im März 2013 im Dekanat der Philosophisch-Historischen Fakultät der Universität Stuttgart eingereichten Dissertation. Mein besonderer Dank gilt an dieser Stelle meiner Doktormutter Barbara Potthast, die mich bereits während meines Studiums durch ein von ihr angebotenes Seminar über Friedrich Gottlieb Klopstock gewissermaßen mit dem Messias-Dichter bekannt gemacht hat und die mich immer unterstützt und darin bestärkt hat, mein Forschungsinteresse auf das biblische Heldengedicht Klopstocks auszurichten. Bedanken möchte ich mich auch postum bei Professor Dr. Horst Thom8, der meine Doktorarbeit anfangs mitbetreut hat und der die Fertigstellung leider nicht mehr miterleben konnte. Ebenso bedanke ich mich herzlich bei Professor Dr. Dietmar Till, der sich sofort bereit erklärt hat, das Zweitgutachten zu übernehmen, und bei Professor Dr. Georg Maag, der das Drittgutachten verfasst hat. Beiden schulde ich insbesondere Dank dafür, dass sie sich mit meiner doch sehr umfangreichen Forschungsarbeit konstruktiv auseinandergesetzt haben. Ohne die finanzielle Unterstützung durch ein Promotionsstipendium der Landesgraduiertenförderung Baden-Württemberg wären die mehrjährige intensive Auseinandersetzung mit den Bibelepen des 18. Jahrhunderts und die erfolgreiche Fertigstellung meiner Dissertation nicht möglich gewesen. Ich bedanke mich hiermit herzlich für diese Förderung. Des Weiteren möchte ich mich bei der Klopstock-Arbeitsstelle an der Staatsund Universitätsbibliothek Hamburg bedanken, deren Gast ich vor einigen Jahren während meiner Promotion sein durfte. Besonderer Dank gebührt hier Dr. Mark Emanuel Amtstätter, der mich nicht nur mit schwer zugänglicher Primär- und Sekundärliteratur versorgt hat, sondern mir auch zuletzt bei der Einholung der Bildrechte behilflich war, wodurch die Abbildung im Innenteil dieser Monographie und das Buchcover mit dem Klopstock-Gemälde möglich wurden. Von ganzem Herzen danken möchte ich meiner Mutter, die mich auf meinem Weg immer unterstützt hat.