Sentimentale Urbanität: Die gestalterische Produktion von Heimat 9783839432990

How can emotional images be operationalized for the purposes of design on the urban surface? A proposal for the integrat

172 25 1MB

German Pages 332 [330] Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
1. Einleitung
2. Begriffsbestimmung
3. Forschungsgrundlage
4 Methodik
5 Das Sentimentale im Ruhrgebiet
6 Das Sentimentale im musealen Kontext
7 Kulturgeschichte des Musée Sentimental
Exkurs in den Situationismus
8 Gedächtnisorte und künstlerische Interventionen
9 Potentiale des Musée Sentimental
Anhang
Literaturverzeichnis
Dank
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Sentimentale Urbanität: Die gestalterische Produktion von Heimat
 9783839432990

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Anne Caplan Sentimentale Urbanität

Kunst- und Designwissenschaft | Band 3

Editorial Die Reihe »Kunst- und Designwissenschaft« präsentiert exzellente transdisziplinäre Forschungen junger und arrivierter ForscherInnen an den Schnittstellen von bildender Kunst, Design, Medien und Alltagsästhetik. Die einzelnen Bände eint das wissenschaftliche Interesse an Gestaltung als ästhetischem Phänomen. Somit leistet die Reihe einen Beitrag zur Etablierung der jungen Disziplin Designwissenschaft, widmet sich aber ebenso kunstwissenschaftlichen Phänomenen. Die Reihe wird herausgegeben von Cordula Meier, Professorin und Leiterin des Instituts für Kunst- und Designwissenschaft an der Folkwang Universität der Künste, Essen.

Anne Caplan (Dr. phil., Dipl.-Des.), geb. 1984, ist wissenschaftliche Geschäftsführerin des BMBF-Forschungsverbundes »Der Lauf der Dinge oder Privatbesitz? Ein Haus und seine Objekte zwischen Familienleben, Ressourcenwirtschaft und Museum« am Seminar für Volkskunde/Europäische Ethnologie der Universität Münster. Von 2008-2014 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Gestaltung der Folkwang Universität der Künste und hier u.a. als Assistentin von Prof. Dr. h.c. Ruedi Baur tätig.

Anne Caplan

Sentimentale Urbanität Die gestalterische Produktion von Heimat

Herausgegeben von Cordula Meier mit Unterstützung der Folkwang Universität der Künste Essen.

Vorliegende Publikation wurde 2015 unter dem Titel »Sentimentale Urbanität? Die Bedeutung gefühlsbetonter Symbole für die Heimatwahrnehmung« dem Fachbereich Gestaltung der Folkwang Universität der Künste zu Essen als Dissertation vorgelegt. Der hier publizierte Text ist eine überarbeitete Fassung der Dissertationsschrift. Erstgutachterin: Prof. Dr. Cordula Meier Zweitgutachterin: Prof. Dr. Christine Heil

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Ralf de Jong Satz: Anne Caplan Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3299-6 PDF-ISBN 978-3-8394-3299-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Für meine Eltern

Inhalt Einleitung

9

1.1 Forschungsstand

23

1.2

Struktureller Aufbau der Arbeit

26

2 Begriffsbestimmung

31

2.1 Heimat

31

2.2 Gedächtnisort

41

2.3

Die Stadt als Palimpsest

49

2.4

Das Sentimentale

51

1.

3 Forschungsgrundlage

59

3.1 Das Musée Sentimental und seine künstlerischen Strategien

59

4 Methodik

81

4.1

Phänomenologie der Einbildungskraft (Bachelard: Paris 1957)

81

4.2

Operative Ästhetik

86

4.3

Designwissenschaft als Metadisziplin

89

5

Das Sentimentale im Ruhrgebiet

95

5.1

Beschreibung eines Interdisziplinären Projektlabors

95

5.2

Das Gedächtnis im Ruhrgebiet

100

5.3

Ortsberichte von Torben Körschkes, Maren Wagner, Lena Halbedel

114

5.3.1

Torben Körschkes berichtet über: Jutta und den Katernberger Markt

115

5.3.2

Maren Wagner berichtet über: Steffi und die Schurenbachhalde

117

5.3.3

Lena Halbedel berichtet über: Jörg und Rituale in Katernberg

120

5.4 Ergebnisse

122

5.5

131

Regionalisierte Strategien in NRW und dem Ruhrgebiet

6

Das Sentimentale im musealen Kontext

145

6.1

Das sentimentale Objekt

145 155

6.2

Anekdotieren (Brock, 2001) im Musée Sentimental

6.3

Fake und hypothetische Geschichtsschreibung als



künstlerische Strategie

167

7

Kulturgeschichte des Musée Sentimental

179 179

7.1

Museale Wunder. Historische Kontexte des Musée Sentimental

7.2

Das Musée Sentimental im zeitgenössischem Kontext



der 1960er und 1970er Jahre

194

Exkurs in den Situationismus Haltung, künstlerische Strategien und Einfluss der Avantgarde-Bewegung auf den Nouveaux Réalisme

207

8

Gedächtnisorte und künstlerische Interventionen

227

8.1

Die gestalterische Intervention im urbanen Kontext

227

8.2 Projekt Hotel-Neustad t: Raumlabor, 2003

237

8.3

Promenade Sentimentale de Cologne : Daniel Spoerri, 1981

245

8.4

Cuttings : Gordon Matta-Clark, 1974-1978

251

9

Potentiale des Musée Sentimental

261

9.1

Sentimentales Design

261

9.2

Die Anschlussfähigkeit des Musée Sentimental für eine



europäische Identitätskultur. Ausblick

272

Anhang Teilnehmerliste Lab „Sentimentale Urbanität“

291

Literaturverzeichnis

293

Dank

329

Die frühen Jahre Ausgesetzt in einer Barke von Nacht trieb ich und trieb an ein Ufer. An Wolken lehnte ich gegen den Regen. An Sandhügel gegen den wütenden Wind. Auf nichts war Verlaß. Nur auf Wunder. Ich aß die grünenden Früchte der Sehnsucht, trank von dem Wasser, das dürsten macht. Ein Fremdling, stumm vor unerschlossenen Zonen, fror ich mich durch die finsteren Jahre. Zur Heimat erkor ich mir die Liebe. [Mascha Kaléko]

1. Einleitung Meine Heimat ist das Ruhrgebiet. Hier bin ich geboren und aufgewachsen. Hier sind Freunde und Familie, hier steht mein Elternhaus. Hier bin ich sozial und ökonomisch sicher. In meiner gewohnten Umgebung. Hier kenne ich meine Nachbarn und die Verkäuferin beim Bäcker. Hier lebe ich meine täglichen Rituale. Hier engagiere ich mich nicht nur sozial, sondern interessiere mich für die Belange und Entwicklungen in meiner Stadt. Diese Stadt heißt Essen. Als meine Heimat jedoch bezeichne ich das Ruhrgebiet. Eine polyzentrische Städteregion mit diversen städtischen Charakteren und Stadtteileigenarten. Die räumliche Komplexität und die palimpsestartige 1 Struktur des Ruhrgebiets mit seinen verschiedenen Zeitstufen und einem durch den Strukturwandel immer noch im Umbruch begriffenen Wesen 2, bieten sich hier für eine interdisziplinäre Heimatforschung nahezu an. Das Ende der Montanindustrie und der Untergang wichtiger Wirtschaftszweige aus der Mobilfunk- und Automobilindustrie brachten den Verlust kultureller, infrastruktureller und mentaler Zugehörigkeit mit sich, was eine erneute Auseinandersetzung mit dem Heimatbegriff

1 | „Ein Palimpsest ist eine kostbare Pergament-Handschrift, deren Beschriftung von mittelalterlichen Mönchen sorgfältig abgekratzt wurde, um einer Neubeschriftung Platz zu machen. Durch Anwendung geeigneter Mittel kann jedoch der ausgelöschte Text später unter der Überschreibung wieder lesbar gemacht werden. Der Palimpsest ist eine philologische Metapher, die Parallelen zur geologischen Metapher der Schichtung aufweist. Die Stadt ist ein dreidimensionales Palimpsest: auf konzentriertem Raum ist Geschichte immer schon geschichtet als Resultat wiederholter Umformungen, Überschreibungen, Sedimentierungen.“ Aleida Assmann: Geschichte im Gedächtnis. München 2007, S. 111 f. 2 | „Noch gibt es eine spezielle „Reviermentalität“, eine eigene „Ruhrkultur“, gewachsen und geprägt durch Kohle und Stahl, ethnische Vielfalt, Fußball und Zechensiedlungen sowie eine eigene typische „Mundart“. Aber die Präge- und Bindekraft dieser Traditionen und Merkmale lässt nach, der „Mythos“ verblasst, der „Kult“ gerät vielfach zur Karikatur. Der multikulturelle „Schmelztiegel“ löst sich zunehmend auf, die von anderen „Bindestrich-Ländern“ neidvoll anerkannte Klammerfunktion des historisch gewachsenen „rheinisch-westfälischen“ Industriegebietes für das ganze Land erodiert in gleichem Maße.“ Guido Hitze: Von „Wir in NRW“ bis „Nordrhein-Westfalen kommt wieder“. In: Heimat Nordrhein-Westfalen. Identitäten und Regionalität im Wandel, hg. von Jürgen Brautmeier, Kurt Düwell, Ulrich Heinemann, Dietmar Petzina. Essen 2010, S. 89-119: S. 105.

10

Sentimentale Urbanität

im Ruhrgebiet angestoßen hat. So ist die städtische Identität und die Unverwechselbarkeit von Regionen längst ein eigener Produktionssektor geworden. 3 Gerade in einer anhaltenden Situation des Wandels durch den Wegfall ganzer Erwerbswelten, ist die Untersuchung der Heimatwahrnehmung interessant, da diese sich gleichsam über belastbare Netzwerke, soziale und ökonomische Sicherheit sowie tägliche Rituale – auch in der Arbeit – abbildet. Worin also rekonstituiert sich Heimat, wenn eben diese Parameter wegbrechen? Die urbane Oberfläche verstehe ich in diesem Zusammenhang als ein verräumlichtes Gedächtnis, in dessen gebauter Umwelt sich individuelle und kollektive Erinnerungen kanalisieren. Wenn man davon ausgeht, dass Heimat dort ist, wo private Erinnerungen gespeichert sind, dann hieße dies ebenso, dass Heimat ein sehr persönlicher Raum ist. Als Symbol vermittelt die Heimat Zugehörigkeit und vereint sentimentale Gefühle, das Herz und die Erinnerung mit natürlicher Welt und Erfahrung. 4 Schon die Lyrikerin Mascha Kaléko schrieb: „Zur Heimat erkor ich mir die Liebe“5. Herz, Gefühl, Liebe, dies alles sind Begriffe, die der Mensch im Kontext von Momenten verwendet, die ihm lieb geworden sind, d. h. die aus seiner subjektiven Sicht an Wert gewonnen haben. Diese Empfindungen können sich auf Menschen, Erlebnisse, Erinnerungen, Objekte, Orte oder Rituale (sog. Gedächtnisorte) stützen. Die Sentimentalität bestimmt dabei erst ihre Kostbarkeit. Auf diesen Umstand aufbauend

3 | Aleida Assmann führt das neue Interesse am Raum auf wirtschaftliche und touristische Impulse zurück. In diesem Zusammenhang benennt sie den Standortfaktor und die lieux de mémoire in Form von historischen Stätten und kulturellen Orten. Vgl. Assmann, Aleida: Einführung in die Kulturwissenschaft. Berlin, 2. Auflage 2008, S. 153. Simone Egger legt dar, dass regionale und lokale Bezugspunkte zum Teil einer (touristischen) Verkaufsmaschinerie werden konnten, da sie regionale Spezifika weltweit und für jeden erlebbar machen. Die regionalen Spezifika würden zudem für die Unverwechselbarkeit einer Region stehen und damit ein entscheidender Punkt im Wettbewerb um Touristen sein. Vgl. Simone Egger: Heimat. Wie wir unseren Sehnsuchtsort immer wieder neu erfinden. München 2014, S. 84. 4 | Vgl. Gerald Siegmund: Gedächtnis/Erinnerung. In: Ästhetische Grundbegriffe Studienausgabe, 7 Bde., Bd. 2 Dekadent bis Grotesk, hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhardt Steinwachs, Friedrich Wolfzettel. Stuttgart/Weimar 2001/2010, S. 609-629: S. 622. 5 | Mascha Kaléko: Die frühen Jahre.

Einleitung

diskutiert die vorliegende Arbeit einen sentimentalen Heimatbegriff, der sich in gefühlsbetonten zeichenhaften Gedächtnisorten der Alltagssphäre ausdrückt. Diesen Orten wird dabei ein bewusstseinbildendes allegorisches Potential für Individuen und Gesellschaften zugesprochen. Heimatwahrnehmungen sind gefühlsbezogen. Man fühlt sich daheim, man fühlt sich als …, man fühlt sich geborgen, man fühlt sich zugehörig. Die gefühlte Heimat ist höchst subjektiv, entwickelt sich mitunter zufällig und ist nicht unbedingt identisch mit realitärer Ortszugehörigkeit.6 Ob und wie kann das Gefühl als subjektiv sinnliche Wahrnehmungsform konkret zur Entstehung von Heimatbildern beitragen? Ziel der Arbeit war es, mittels Gestaltung ein individuell sentimentales Gedächtnis im Ruhrgebiet für eine sinnliche Wahrnehmbarkeit zu artikulieren. Gerade das „Revier“ ist durch eine sentimentale Bindung der sogenannten „Ruhris“ an ihre Heimat geprägt. Ich entwickelte daher ein interdisziplinäres Gestaltungsprojekt, bei dem Studierende der Fotografie, des Kommunikations- und Industrial Design der Folkwang Universität der Künste im Wintersemester 2013/14 mittels empirischer Methoden die sentimentalen Alltagsqualitäten des Ruhrgebiets untersuchten. Im Folkwang LAB „Sentimentale Urbanität“ wurden dafür künstlerische Strategien aus dem Musée Sentimental (1977) von Daniel Spoerri in den Designprozess übertragen. Der Künstler hatte mit seinem Ausstellungskonzept bereits in den siebziger Jahren gezeigt, dass Objekte des Alltags durch den Nutzer zum erinnerungswürdigen Exponat werden und einen städtischen Charakter transportieren können. Indem die im Musée präsentierten Objekte von den aus der Kunst gewohnten Stereotypen ins Abgenutzte und Alltägliche abweichen, wurde hier ein demokratischer Kunstbegriff proklamiert, der den Alltag selbst zum Ort der Kunst machte. Über das sog. Anekdotieren7 durch den Künstler

6 | Egger hebt hervor, dass eine Empfindung von vollkommener Heimat mitunter wichtiger sei als das reale Umfeld oder das Heim, in dem man lebt. Vgl. Simone Egger: Heimat. Wie wir unseren Sehnsuchtsort immer wieder neu erfinden. München 2014, S. 15. 7 | Bazon Brock: Interview. Nicht »wie der Keks in der Schachtel«. In: Musée Sentimental 1979. Ein Ausstellungskonzept, hg. von Anke te Heesen, Susanne Padberg. Ostfildern 2011, S. 89-102: S. 89.

11

12

Sentimentale Urbanität

erhielten die Objekte dabei neue Semantiken. Aleida Assmann weist nach: „Zur Anekdote werden Erinnerungen, die durch wiederholtes Erzählen regelrecht poliert worden sind. In diesem Prozeß verlagert sich die stabilisierende Kraft allmählich vom Affekt in die sprachliche Formel. […] Anekdoten und Symbol stehen hier für unterschiedliche Formen von Narrationen: Während sich dort eine Erinnerung im wiederholten Sprechakt festigt, festigt sie sich hier in einem Akt hermeneutischer Selbstdeutung. Die eine Narration steht im Zeichen des Merk-Würdigen und somit des Gedächtnisses, die andere im Zeichen von Deutung und Sinn.“ 8 [Herv. im Orig.]

Unter Rekurs auf Assmann kann davon ausgegangen werden, dass die in Spoerris Musée genutzten Anekdoten bereits als Destillat einer Kultur zu verstehen sind, da sie sich im wiederholenden Akt der Alltagsroutine manifestieren. Genauer wird dabei über wiederholtes Addieren und Subtrahieren von Anteilen schließlich nur noch das erinnert, was der jeweilige kulturelle Subtext des Rezipienten als relevant vorgibt. Spoerris Musées Sentimenteaux beziehen sich immer auf die Kulturgeschichte einer spezifischen Stadt. Die Kunsthistorikerin Marie-Louise von Plessen war dabei hauptverantwortlich für die wissenschaftliche Recherche von historischen Fixpunkten, regionalen Besonderheiten, ansässigen Persönlichkeiten und überlieferten Anekdoten. Erst im Anschluss an die gefundene Geschichte begann die Suche nach einem dazu passenden Exponat, das den jeweiligen Inhalt auch im Objekt repräsentieren konnte. War jedoch kein geeignetes Symbol zu finden, wurde das Exponat erdacht bzw. gefälscht. Von Plessen betont jedoch, dass dies nur dann geschah, wenn das fingierte Objekte explizit zur Rezeption der recherchierten Geschichte beitrug.

8 | Aleida Assmann: Erinnerungsräume. München 1999, 263 f.

Einleitung

These 1: Das Musée Sentimental ist eine Symbolmaschine. Es generiert sinnlich wahrnehmbare Gedächtnis-Artefakte aus Anekdoten.9 Die Anekdote bietet in diesem Zusammenhang die größtmögliche Anschlussfähigkeit, da der Rezipient den im Musée Sentimental dargestellten Geschichten persönliche Anteile hinzufügen kann. Die Wirklichkeit wird dabei um Erinnerungen des Rezipienten vermehrt. Indem sich hier die Grenzen von Vergangenheit und Gegenwart auflösen, kann man für die historische Darstellung im Musée Sentimental auch von einer hypothetischen Geschichtsschreibung sprechen.10 Georg Jappe dazu: „Die Dimension «es hätte sein können» geht über Nostalgie weit hinaus. Gerade weil es immer in Wahrscheinlichkeitsgrenzen bleibt, ist […] [das Musée Sentimental , A.C.] keine Utopie in die Vergangenheit, sondern ein theatrum mundi von Satire und tieferer Bedeutung. Ein Aufleuchten, welche Dinge uns «in Wahrheit» am Herzen liegen, und Kritik daran.“ 11

9 | In Anlehnung an Boris Groys und Michel de Certeau, die den maschinellen Charakter des Sammelns bezeichnen. Groys erklärt das Archiv zur Erinnerungsmaschine. Vgl. Boris Groys: Der submediale Raum des Archivs. In: Archivologie. Theorien des Archivs in Wissenschaft, Medien und Künsten, hg. von Knut Ebeling, Stephan Günzel. Berlin 2009, S. 139-153: S.140 f. Auch Michel de Certeau bezieht sich auf den maschinell produzierenden Charakter sammelnder Tätigkeiten. Er erkennt: „»Sammeln« bedeutet lange Zeit, Gegenstände herstellen: kopieren oder drucken, binden, klassifizieren… Und mit den Produkten, die er vervielfacht, wird der Sammler zu einem Akteur in der Kette einer gemäß neuer intellektueller und sozialer Relevanzen zu machenden (oder neuzumachenden) Geschichte. So teilt die Sammlung, indem sie die Arbeitsinstrumente völlig verändert, Dinge neu auf, definiert Wissenselemente neu und erschließt einen Ort des Neubeginns, indem sie eine »gigantische Maschine« (Pierre Chaunu) konstruiert, die eine andere Geschichte ermöglichen wird.“ Michel De Certeau: Der Raum des Archivs oder die Perversion der Zeit. In: ebd., S. 113-123: S.114. [Herv. im Orig.]. 10 | Erinnerungen haben keinen Anspruch auf historische Korrektheit. Das Gedächtnis neigt zu Idealisierungen des Vergangenen. In ihm wird alles gleich wichtig und bedeutsam. Vgl. Aleida Assmann: Erinnerungsräume. München 1999, S. 396. 11 | Georg Jappe: Geschichte als Flohmarktbewältigung: Musée Sentimental de Cologne. In: Kunstnachrichten (1979), H. 6, S. 149-156: S.155.

13

14

Sentimentale Urbanität

In Jappes Position offenbart sich eine Subjektzentriertheit, die sich auf die individuell affektive Rezeption der Exponate bezieht. Diese sind Ausdruck des Ideals der großen Gefühle und heben die Opposition von Körper und Geist, Sinnlichkeit und Vernunft, Gefühl und Intellekt auf. In den exponierten Objekten des Musée Sentimental drückt sich das alltäglich Emotive als innere Bewegtheit aus. Schon in der Antike wurde das Problem der Gefühle unter den Leitbegriffen affectus und passio verhandelt, was das unkalkulierbare/Leiden hervorrufende der Affektregung des Gefühls abbildet.12 Die affektive Sentimentalität als gefühlsbasierte Wahrnehmung steht dabei dem kalkulierenden Intellekt oppositional entgegen. Die „Herz- Kopf-Problematik“13 wurde zudem in der Aufklärung verhandelt. Friedrich Schiller entwickelte hier einen reflexiven Sentimentalitätsbegriff, der deutlich machte, dass eine Unterwerfung der Affektivität unter die Leitung der Vernunft, dem menschlichen Leben nicht gerecht wird.14 Das sentimentale Selbstverhältnis drückt sich dabei mit einer Durchdringung der Gefühle neben dem rationalen Wissenserwerb aus.15 Innerhalb der Hochaufklärung griff die Vernunft allmählich nach der Einbeziehung des Gefühls, was zunächst als Gegensatz zur Bildungsbewegung zu sehen war.16 Darauf auf bauend entwickelte sich ein Bildungsbegriff, der die Herzensbildung integrierte.17 Friedrich Schiller äußerte sich zur gefühlsbetonten Wahrnehmung des Dichters wie folgt:

12 | Vgl. Brigitte Scheer: Gefühl. In: Ästhetische Grundbegriffe Studienausgabe, 7 Bde., Bd. 2 Dekadent bis Grotesk, hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhardt Steinwachs, Friedrich Wolfzettel. Stuttgart/Weimar, 2001/2010, S. 629-661: 629. Siehe dazu auch Hartmut Grimm: Affekt. In: Ästhetische Grundbegriffe Studienausgabe, 7 Bde., Bd. 1 Absenz bis Darstellung, hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhardt Steinwachs, Friedrich Wolfzettel. Stuttgart/Weimar, 2000/2010, S. 16-49: S. 17. 13 | Lars-Thade Ulrichs: Sind wir noch immer Barbaren? Ästhetische Bildungskonzepte bei Schiller, Fichte und Nietzsche. In: Bildung als Kunst. Fichte, Schiller, Humboldt, Nietzsche, hg. von Jürgen Stolzenberg, Lars-Thade Ulrichs. Berlin 2010, S. 127-151: S. 127. 14 | Vgl. ebd. 15 | Vgl. ebd. 16 | Vgl. ebd. 17 | Vgl. ebd.

Einleitung

„Dieser ref lektirt über den Eindruck, den die Gegenstände auf ihn machen […]. Der Gegenstand wird hier auf eine Idee bezogen, und nur auf dieser Beziehung beruht seine dichterische Kraft.“18

Unter Bezug auf Schiller ist das Sentimentale im Spoerrischen Kunstwerk eine dem naiven entgegengesetzte ästhetische Ausdrucks- und Wahrnehmungsform.19 Der Künstler dazu: „Sentiment heißt Gefühl und wenn Sie es noch verkürzen, kommt es von Sinn, also un sens [Herv. im Orig.], von Sinnlichkeit, die dann in Gefühlsmäßigkeit [mündet, A. C.], das kann dann bis zur Gefühlsduselei gehen. Jedenfalls bedeutet es ein Kriterium, das es absolut gibt, das sehr oft und, weiß Gott, über Jahrhunderte hinweg das Hauptkriterium war, nachdem überhaupt Objekte bewertet wurden, sagen wir mal der ganze Animismus bewertet Objekte nur nach Gefühlskriterien, dann sind alle Reliquien nur über die Totalität aller Sinne [erfahrbar, A. C.] und diese Summe ergibt einen gewissen sentimentalen Wert und wenn ein Objekt fähig ist, diese Summe sämtlicher Gefühle zu konzentrieren, zu mobilisieren, dann schafft es eben so merkwürdige Dinge wie Wunderheilungen, was ja Reliquien beweisen.“20

Das Sentiment ist demnach im Musée Sentimental das innere dem Subjekt angehörende, Reflexionsgefühl welches über Objekte stimuliert wird, die in sich eine Summe von Gefühlen konzentrieren. Der Sentimentalitätsbegriff speist sich in diesem Zusammenhang einerseits aus der Tradition der Empfindsamkeit (Lessing übersetzte 1768 „sentimental“ mit „empfindsam“) in der das Natur- oder Kunsterlebnis als gefühlsauslösendes Moment betrachtet wurde und der Mensch mit all seinen Gefühlen, Wahrnehmungen und Werten im Mittelpunkt stand und andererseits aus der

18 | Friedrich Schiller: Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/1796). In: Ders.: Schillers Werke Nationalausgabe, 43 Bde., Bd. 20, hg. von Norbert Oellers. Weimar 1962, S. 436. 19 | Vgl. Alke Hollwedel: Das sentimentale Museum Daniel Spoerris, Magisterarbeit im Fach Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Berlin 1999, S. 2. 20 | Walter Grasskamp: Nichts altert schneller als ein Avantgardist, Interview mit Daniel Spoerri und Marie-Louise von Plessen. In: Kunstforum International (1979), Bd. 32, H. 2, S. 31-115: S. 83.

15

16

Sentimentale Urbanität

Tradition der Aufklärung, in der Curiosité, Naturerlebnis und Sentimentalität zu Sammlungsprämissen der Kunst- und Wunderkammern gerieten. Diese sind als musealer Archetyp von Spoerris Werk zu sehen. Sie präsentierten neben allerhand Magica und Kuriosa auch naturwissenschaftliche Exponate diverser Wissensbereiche. Ziel war es, die Welt auf einen kleineren Kosmos (das Museum) zu destillieren, also einem universalen Sammlungsgedanken zu folgen. Man spricht deshalb im Zusammenhang mit Kunst- und Wunderkammern auch von einer „terre en miniature“ oder vergleicht sie mit dem biblischen Vorbild der Arche Noah. Bezogen auf das bekannteste Musée Sentimental in Köln (1979), das von Daniel Spoerri und Marie-Louise von Plessen als „Musée Sentimental en nuce“ beschrieben wird, könnte man folglich auch von einem Cologne en miniature sprechen. Daniel Spoerri hält fest: „Im Projekt „Le Musée Sentimental de Cologne“ versuchten wir, eine Stadt in ihren wesentlichen Merkmalen zunächst mit Stichworten zu erfassen und wieder im Sinne einer alten Universalkunst dilettierend zwar, also mit viel Freude und Spaß an der Sache, aber vielleicht manchmal ohne die nötige Sachkenntnis (was unsere Ungehemmtheit förderte) sowohl historisch als auch phänomenologisch das Stichwort „Köln“ in seiner ganzen Vielfältigkeit und Breite auszuloten und vielleicht sogar mit oder anhand dieser Funde, die wir machen würden, die Identität dieser Stadt zu finden.“21

Spoerri betrachtet im Musée Sentimental die Phänomene einer Stadt, bzw. einer städtischen Identität in der Makroperspektive. Er wählte dazu Schlaglichter, bei denen soziologisch betrachtet das Kollektive im Vordergrund steht. Die dargestellten Geschichten entsprechen einer individuell erkennbaren Vorstellung der jeweiligen Stadt. Aus dem Stichwortkatalog des Musée Sentimental de Cologne kann man hierfür z.B. die Begriffe Eau de Cologne, Kamelle, Millowitsch und Nippes anführen.

These 2: Das Musée Sentimental funktioniert mit seiner Makroperspektive nur für Schnittkreise, über die kollektive Übereinkunft besteht.

21 | Entwurf zu einem Lexikon eines Musée Sentimental de Cologne: Reliquien und Relikte aus zwei Jahrtausenden „Köln Incognito“ nach einer Idee von Daniel Spoerri, hg. von Wulf Herzogenrath. Köln 1979, S. 8-11: S. 9.

Einleitung

Will man demnach eine städtische Identität auch für Personen außerhalb des kollektiven urbanen Gedächtnisses fruchtbar machen, so scheint es sinnvoller, eine Mikroperspektive einzunehmen, die die handelnde Person mit ihren alltäglichen Lebensbezügen ins Zentrum der Untersuchung setzt. In dem Folkwang LAB wurde daher eine empirisch phänomenologische Forschung betrieben, bei der die Studierenden sich als teilnehmende Beobachter in das Feld begaben und individuelle gestalterische Fallstudien zum sentimentalen Heimatbegriff ihrer Gastgeber anfertigten. Da die Mikrosoziologie als solche handlungsbezogen ist, war sie besonders geeignet, um zu untersuchen wie Heimat oder Gedächtnisorte durch die Interaktion des Menschen mit dem Lebensraum (in diesem Falle der Stadt Essen) entstehen. In Bezug auf die Genese des Emotiven22 ermöglichte die phänomenologische Betrachtungsform im LAB nicht nur den Blick auf das individuelle der Gefühls- und Alltagserfahrung, sondern ebenso die Inklusion der subjektiven Erfahrungen der gestaltenden Wissenschaftler selbst. Innerhalb des designwissenschaftlichen Forschungsgangs wurde neben dem theoretischen Denken (also der Phänomenologie), auch das praktische Denken in Form von Kreativitätstechniken im LAB angewandt. Diese Techniken waren u.a. die Ausgabe von Einmalkameras zum intuitiven Ablichten des Gedächtnisortes seitens der Gastgeber, das Anfertigen von Mental Maps, die Integration der erinnerungsbasierten olfaktorischen Wahrnehmung und des Hörens von Gedächtnisorten sowie das systematische Katalogisieren des Gedächtnisorts. Das anschließende physische Handeln in Form von gestalterischer Konzeptentwicklung diente der Interpretation der zuvor erhobenen Daten. Theorie und Praxis waren dabei reziprok aufeinander bezogen. Die Verbindung von Theorie und Praxis wird in der vorliegenden Arbeit als wesentlicher Vorteil des designwissenschaftlichen Arbeitens betrachtet. Da der Sentimentalitätsbegriff im Zusammenhang mit Identitätsbildungsprozessen sowohl im räumlichen wie auch gesellschaftlichen Sinn bisher kaum eruiert wurde, ist eine Untersuchung auch im Lichte eines wissenschaftlichen Zugewinns lohnenswert. Gaston Bachelard (Poetik des Raumes, 1957) und Gertrud Lehnert (Raum und Gefühl, 2011) zählen zu den wenigen, die bisher die explizite Rolle des Gefühls bei der Aneignung von Räumen erforscht haben.

22 | Siehe dazu Kapitel 2.4 der vorliegenden Arbeit.

17

18

Sentimentale Urbanität

Die gestalterische Herangehensweise des LABs lässt sich als Operative Ästhetik beschreiben. Diese steht als handlungsorientierter, partizipativer Ansatz in der Tradition postmoderner künstlerischer Avantgarden. In diesem Zusammenhang müssen vor allem die partizipativ-künstlerischen Strategien der Situationisten hervorgehoben werden, die eine Rückführung zur Teilhabe an Urbanität und die Überwindung funktionalistischer Anonymität erreichen sollten. Dabei ging es primär um die Integration des Poetischen und Phantasievollen, um einer Entfremdung und damit verbundener Heimatlosigkeit entgegen zu wirken. Da sich auch die Entstehung des Musée Sentimental23 in die Gemengelage postmoderner Denkanstätze einreiht, wird in der vorliegenden Arbeit ein kursorischer Blick auf den zeitgenössischen Kontext der sechziger und siebziger Jahre genommen. Simone Egger hält fest, dass die 1960er Jahre, mit den Studierendenprotesten den Auftakt bildeten, um nach alternativen Formen der persönlichen Lebensgestaltung zu suchen, womit auch ein Nachdenken über den eigenen Lebensraum und die Heimat einherging.24 Als Teil der Studierendenproteste forderten dabei vor allem die Situationisten, dass der Mensch sich durch aktives Handeln selbst in die Identität seiner Region einschreiben und als affektives und emotionales Wesen in den Vordergrund treten solle. Die Differenz von Kunst und Leben sollte aufgelöst und das Potential der künstlerischen Intervention genutzt werden, um die lebensweltlichen Umstände oder Sichtweisen der Rezipienten zu verändern. Die Situationisten orientierten sich dabei nicht mehr an der Oberfläche des Urbanen, sondern an den expressiven Handlungen seiner Bewohner sowie den Stimmungen und Gefühlswirklichkeiten des Raumes. Sie richteten den Blick auf das Nebensächliche, in der Hoffnung hier das Essentielle zu finden und künstlerisch Situationen konstruieren zu können, die aus der Entfremdung hinausführen sollten. Neben der Kritik an den urbanen Lebensräumen, beschäftigten sich die Situationisten auch mit den Auswirkungen der Medien- und Massenkultur. Guy Debord als Kopf der Situationistischen Internationale schrieb in diesem Zusammenhang über die „Gesellschaft des Spektakels“ (1967 als „ La société du Spectacle“ in Frankreich erschienen).

23 | Konstitution des Nouveaux Réalisme 1960 in Frankreich. 24 | Vgl. Simone Egger: Heimat. Wie wir unseren Sehnsuchtsort immer wieder neu erfinden. München 2014, S. 65.

Einleitung

Diese sei geprägt durch die Suggestion gesellschaftlicher Teilhabe. Der Mensch jedoch lasse sich durch illusionistische Bilder täuschen und spiele in dieser Pseudo-Realität nur die ihm zugewiesene Rolle. Spektakularität kommt aus dem Lateinischen von spectaculum (dt. Schauspiel) und verweist damit deutlich auf eine darin enthaltene Aufführungspraxis.25 : So „[…] spielen in der (inkarnierten) Medienkultur Kategorien wie Aufführung, Theatralität, Inszenierung, Performance eine entscheidende Rolle.“26

These 3: Die Massenkultur mit all ihren industriellen und materiellen Ausprägungen ruft einen Bedarf an Sentimentalität hervor.27 Heinrich Heine folgend erkennen der Mensch erst durch den Materialismus selbst das Bedürfnis nach Geist und Gefühl.28 Im Nouveaux Réalisme – der Kunstbewegung also der auch Spoerri angehörte – wurde der Konsummüll einer im Frankreich der 1960er Jahre allmählich durchbrechenden Konsumgesellschaft zum Faszinosum und wichtigem Gestaltungselement. Aleida Assmann folgend eignete sich in der zeitgenössischen Geschichtsforschung nichts für glanzvolle Erzählungen oder die Imagination innerer und äußerer Bilder.29

25 | Siehe dazu auch Entstehung des Performative Turn . In Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbeck bei Hamburg, 2. Auflage 2007 26 | Aleida Assmann: Einführung in die Kulturwissenschaft, Berlin, 2. Auflage 2008, S. 121. 27 | Dies lässt sich auch anhand von Heimatbildern im 19 Jh. darlegen. Im Zuge der Industrialisierung und Technisierung entwickelte sich ein Verständnis von Stadt als Ort der Entbehrung. Das Dorf mit seiner unberührten Natur und einer heilen Welt wurde zum idyllischen Gegenentwurf stilisiert, der nur noch das Reine und Gute transportieren sollte. Vgl. Andrea Bastian: Der Heimat-Begriff. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung in verschiedenen Funktionsbereichen der deutschen Sprache, hg. von Helmut Henne, Horst Sitta, Ernst Herbert Wiegand. Berlin 1995, S. 126. 28 | Vgl. Heinrich Heine: Über die französische Bühne (1837) Ludwig Börne, Lutetia. In: Ders.: Heine, Werke und Briefe, 10 Bde., Bd. 6, Berlin/Weimar 1972, S. 29 f. 29 | Vgl. Aleida Assmann: Geschichte im Gedächtnis. München 2007, S. 139 f.

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Diese Umstände bildeten den Humus für die Entstehung und den Erfolg des Musée Sentimental, das genau diesen imaginativen Stoff bot und eine sentimentale Qualität im Alltäglichen entdeckte, um Wege aus der Entfremdung aufzuzeigen. Im Musée Sentimental werden konkrete künstlerische Maßnahmen ergriffen, um das Ästhetische im Alltag zu entdecken und so auch die Wahrnehmung desselben zu verändern. Ebenso wie das Design kann man die Methodologie des Musée Sentimental als eine Lebenswissenschaft verstehen, die den Alltag und seine Artefakte phänomenologisch betrachtet.30 Eine Trennung zwischen persönlicher Erfahrung und Wissenschaft wird hier aufgehoben und das eigenleibliche Spüren sowohl des Gestalters als auch des Rezipienten gilt als philosophiefähig.31 Auch Helmut Seiffert weist darauf hin, dass man die Welt nur verstehen könne, wenn man das was Menschen täglich tun und erfahren in wissenschaftliche Bemühungen aufnehme.32 Diesem Beispiel folgend widmeten sich auch die Gestaltungsstudierenden im Folkwang LAB „Sentimentale Urbanität“ der Alltagskultur und dem damit verbundenen eigenleiblichen Spüren. Zentral für das LAB war folgende These

These 4: Die Stadt ist ein sentimentales Museum, in dessen Exponate/ Gedächtnisorte sich gelebte Erfahrungen einschreiben. Diese These setzt voraus, dass man Kultur als Praxis begreift, bei der sich durch das alltägliche Handeln Bedeutungen in die urbane Oberfläche einschreiben. Roland Barthes (1967):

30 | Schon Edmund Husserl stellt in seiner Phänomenologie die Forderung: „Zurück zu den Dingen“. Das Objekt wird hier zum Agens eines sinnlichen Strebevermögens. Vgl. Martin Pickavé: Thomas von Aquin: Emotionen als Leidenschaften der Seele. Emotion und Kognition. In: Klassische Emotionstheorien: Von Platon bis Wittgenstein, hg. von Hilge Landweer, Ursula Renz. Berlin 2008, S. 192-195: S. 190. 31 | Vgl. Kerstin Andermann, Undine Eberlein: Einleitung. Gefühle als Atmosphären? Die Provokation der Neuen Phänomenologie. In: Gefühle als Atmosphären. Neue Phänomenologie und philosophische Emotionstheorie, hg. von Kerstin Andermann, Undine Eberlein. Berlin 2011, S. 7-21: S. 8. 32 | Vgl. Helmut Seiffert: Einführung in die Wissenschaftstheorie, 4 Bde., Bd. 2 Geisteswissenschaftliche Methoden: Phänomenologie, Hermeneutik und historische Methode, Dialektik. München, 11. Auflage 2006, S. 30.

Einleitung

„[…] hier treffen wir […] auf die alte Vorstellung von Victor Hugo: die Stadt ist ein Text; wer sich in der Stadt bewegt, der Benutzer der Stadt (also wir alle), ist eine Art Leser. Er entziffert seinen Zwängen und Bewegungen entsprechend Bruchstücke des Textes und aktualisiert sie insgeheim für sich. Wenn wir uns in einer Stadt bewegen, befinden wir uns in der Situation des Lesers der 100 000 Millionen Gedichte von Queneau, wo man durch die Veränderung eines einzigen Verses auf ein neues Gedicht kommt; ohne uns dessen bewußt zu sein, sind wir ein wenig in der Rolle dieses avantgardistischen Lesers, wenn wir uns in der Stadt befinden.“33

In dem Folkwang LAB „Sentimentale Urbanität“ war die gestalterische Intervention der Katalysator, um diese Texte aus einer Privatmythologie zu befreien und in gestalteten Gedächtnisorten sichtbar zu machen. Der Gestaltungsprozess war dabei geprägt durch drei Schritte: 1. Freilegung, 2. Überschreibung und 3. Bedeutungszuweisung und ähnelte damit dem Anekdotieren34 in Spoerris Musée. Den Worten Richard Sennetts folgend, ging es hier um die Frage, wie man die „Stadt […] zum sprechen bringen kann.“35 Um die einzelnen Schichten des urbanen Palimpsests freizulegen, war es notwendig, an private Gedächtniseinträge zu gelangen, die mit den Orten untrennbar verbunden sind. Dies geschah im persönlichen Kontakt zwischen den Studierenden und Essener Gastgebern, die wir auf Stadtteilfesten, durch diverse Mailings und den Kontakt zu Bürgervereinen akquiriert hatten. Die Kombinationen zwischen Studierenden und Gastgebern wurden zum Auftakt des LABs ausgelost. Für die Studierenden stellte sich innerhalb des Projekts die gestalterische Herausforderung einer Sichtbarmachung sentimentaler Narrationsebenen und die Frage danach, ob eine subjektive sentimentale Qualität für einen Unbeteiligten erleb- und empfindbar zu machen ist. Aufgabe der Studierenden war es, die sentimentale Qualität des Gedächtnisortes mit Hilfe der gestalterischen Inszenierung lesbar zu machen und so auch einen städtischen Charakter auszuformulieren.

33 | Roland Barthes: Semiotik und Urbanismus. In: Konzept 3. Die Stadt als Text, hg. von Alessandro Carlini, Bernhard Schneider, Tübingen 1976, S. 33-43: S. 40. 34 | Bazon Brock: Interview. Nicht »wie der Keks in der Schachtel«. In: Musée Sentimental 1979. Ein Ausstellungskonzept, hg. von Anke te Heesen, Susanne Padberg. Ostfildern 2011, S. 89-102: S. 89. 35 | Richard Sennett: Civitas. Berlin 2009, S. 15 f.

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These 5: Die künstlerische Methodologie des Musée Sentimental, lässt sich in Designprozessen zur Sentimentalisierung permutieren. Innerhalb des LABs wandten die Studierenden diverse Strategien aus der Spoerrischen Methodologie zur Sentimentalisierung in ihrem Gestaltungsprozess an. Diese Methoden waren unter anderem die „Orientierung durch Desorientierung“36, Bedeutungszuschreibung/Überzeichnung durch Anekdotieren37 und offener Symbolbezug durch sentimentalen Fokus. Die Studierenden wurden so in die Lage versetzt, Symbole eines alltäglichen Gedächtnisses zu erschaffen, die stellvertretend für das Leben im sozialen System Ruhrgebiet/Essen stehen. Innerhalb der empirischen Überprüfung im LAB bestätigte sich, dass allgemeine örtliche Bezugnahme, bzw. die Zeichenhaftigkeit von Orten und damit verbundene Emotionalität über Alltagskultur entsteht. Die Gastgeber identifizierten als ihre Heimatsymbole keine architektonischen Monumente, urbanen Kunstwerke oder Relikte des Bergbaus, sondern vielmehr Alltagsplätze und imaginäre Qualitäten ihrer persönlichen sozialen Situation. Guido Hitze kritisierte in den Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte 2010, dass es dem Land NRW an repräsentativen architektonischen Symbolen fehle, die die Identität der Region versinnbildlichen könnten. In diesem Zusammenhang ist die gestalterische Kultivierung von Spoerris Methodologie zur sentimentalen Symbolerzeugung hilfreich, um die Identität des Urbanen eben nicht über seine Monumente, sondern über subjektive Alltagsgeschichten, also den „unsichtbaren Monumenten“ einer Kultur herzuleiten. Erkennt man das „Sentiment als Kern einer Erinnerungskultur“ (Rousseau/Starobinski) an, so kann man es sich als universales Verständigungsinstrument zu Nutze machen, um Identitätsbildungsprozesse in Gang zu setzen. Dies ist insbesondere im Lichte der viel beschworenen und oft (politisch) geforderten kollektiven Identität von Städten oder auch Ländern bzw. sozialen Systemen relevant, da diese Identitätsbildungspro-

36 | Christopher Dell: Improvisation als (Des)-Orientierung. In: Des-Orientierung 2, hg. von Ruedi Baur, Clemens Bellut, Stefanie-Vera Kockot, Andrea Gleininger. Baden 2010, S. 32-41: S. 39. 37 | Bazon Brock: Interview. Nicht »wie der Keks in der Schachtel«. In: Musée Sentimental 1979. Ein Ausstellungskonzept, hg. von Anke te Heesen, Susanne Padberg. Ostfildern 2011, S. 89-102: S. 89.

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zesse – anders als bei Spoerri –, nicht auf die Betonung des Einzelnen sondern vielmehr auf die Nivellierung von Unterschieden setzen. Mithilfe der Methodologie Daniel Spoerris kann nicht nur untersucht werden mit welchen sentimentalen Zeichen kulturelle Identität mobilisiert wird, sondern ebenso ein gestalterisches Handlungsfeld geschaffen werden, das die Potentiale des Sentimentalen operationalisiert.

1.1 Forschungsstand Der Sentimentalitätsbegriff ist in den Arbeiten zur alltäglichen kulturellen Identität bisher nicht entwickelt worden.38 Zentral ist er im philosophischen Werk „Poetik des Raumes“ (Paris, 1957) von Gaston Bachelard sowie in der Arbeit „Raum und Gefühl“ (Bielefeld, 2011) von Gertrud Lehnert, die dem Bereich der allgemeinen und vergleichenden Literaturwissenschaft zuzuordnen ist. Sowohl Bachelard als auch Lehnert erkennen in ihrem Werk das Gefühl als wesentlichen Parameter für die Aneignung von Räumen an. Während Bachelard sich dabei vor allem auf die Untersuchung der Phänomenologie der Einbildungskraft 39 konzentriert, zeigt Lehnert auf, dass Gefühl und Raum einander bedingen. Das eine kann ohne das andere nicht sein. Die von ihr aufgezeigte Verschränkung ist auch konstitutiv für die Entstehung sentimentaler Heimatbilder, da Lehnert ebenso wie Bachelard oder Halbwachs den Raum als Speicher von Erinnerungen begreift, die ihrerseits mit Gefühlen assoziiert sind: „Andere Räume werden bekanntlich schon im Prozess ihrer Planung und Herstellung strategisch mit Gefühlsqualitäten ausgestattet, damit

38 | Siehe dazu zum Beispiel Martin Fontius: Sensibilität/Empfindsamkeit/Sentimentalität. In: Ästhetische Grundbegriffe Studienausgabe, 7 Bde., Bd. 5 Postmoderne bis Synästhesie, hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhardt Steinwachs, Friedrich Wolfzettel. Stuttgart/Weimar 2003/2010, S. 487-509 oder Jean Baudrillard: Das System der Dinge sowie Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis. 39 | Gaston Bachelard fordert eine Phänomenologie der Einbildungskraft, um das dichterische Bild philosophisch zu analysieren. Das dichterische Bild wird in diesem Zusammenhang „als direktes Erzeugnis des Herzens, der Seele, des Menschen“ verstanden. Gaston Bachelard: Die Poetik des Raumes. Aus dem Französischen von Kurt Leonhard. Frankfurt am Main, 7. Auflage 2003, S. 8 f.

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sie – z.B.– ihre Funktion besser erfüllen: ein Museum, ein Designer Store, eine Shopping Mall oder Las Vegas sollen zum Verweilen, zum Konsumieren, zum Wiederkommen anregen, und das gelingt ihnen nicht nur wegen des Waren- oder Vergnügungsangebots, das sie bereithalten, sondern aufgrund der Atmosphäre, die sie anbieten und die auf Aktivierung durch die Wahrnehmenden wartet. Architektur, Innenarchitektur, Design und natürlich Werbung haben per definitionem die Aufgabe, Objekte und Räume mit atmosphärischem Potential, ja mit Gefühlen zu versehen. Auf diese Weise nehmen sie erheblichen Einf luss auf die Lebensstile und auf die Gefühlskulturen ihrer jeweiligen Zeit.“40

Lehnert zeigt hier auf, wie eng Gefühlsqualitäten auch in räumlicher Hinsicht mit Gestaltung und Design zusammenhängen und wie groß der Einfluss der Gestaltung auf zeitgenössische Gefühlskulturen ist. Umso verwunderlicher erscheint es, dass der noch junge Bereich der Designwissenschaften bisher keine Forschungsansätze zu dem Themenkomplex vorzuweisen hat. Dabei liegt es nahe, sich in der wissenschaftlichen Diskussion zu der emotiven Praxis der Gestaltung oder auch der Kunst 41 mit genau diesen Parametern auseinanderzusetzen. Stellen doch Empathie und Imaginationsfähigkeit essentielle Faktoren des gestalterischen Könnens dar, auch um das Nichtdarstellbare sinnlich wahrnehmbar zu machen.42

40 | Gertrud Lehnert (Hg.): Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung. Bielefeld 2011, S. 9-26: S. 9 f. 41 | Hans Ulrich Reck weist darauf hin, dass der Rezipient als einfühlendes Subjekt selbst zum Medium des Kunstprozesses wird und das Kunstwerk so erst zum Leben erweckt. Vgl. Hans Ulrich Reck: Spiel Form Künste. Zu einer Kunstgeschichte des Improvisierens, hg. von Jan-Frederik Bandel. Hamburg 2010, S. 89. 42 | „Seine [Federico Zuccaris, A. C.] Theorie des disegno [1593, A.C.] versteht sich als schöpfungsgleicher, Natur und Kunst kohärent verbindender und steuernder Schaffensprozess. […] Weitere bedeutsame Kategorien hinter dem vordergründig behaupteten Improvisatorischen sind: das Unfertige, das Offene, das Nichtdarstellbare (eben Zeit, Bewegung, Schreien, Entsetzen, Sterben, Prozessualitäten aller Art), das Unfassbare, Erhabene und nicht zuletzt auch das Misslingende, Zwiespältige, Problematische, Ungewisse, Unsichere, Unabschließbare.“ Ebd., S. 58 f.

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Das Themenfeld einer sentimentalen Identitätsforschung mit dem Fokus auf raum- oder objektbezogene personale und kollektive Identifikationsprozesse ist vor allem in Bezug auf eine Designwissenschaft die die theoretische Grundlage für gestalterische Praxisprozesse bildet konstitutiv, da identitätsbildende Maßnahmen im städtischen Kontext zunehmend auch im Bereich kultureller und gestalterischer Angebote liegen. Dass diese sich wiederum einer anhaltenden Konjunktur erfreuen, liegt auch daran, dass neue Kommunikationsformen und Repräsentationsräume, die von der Gestaltung mit erzeugt wurden, einerseits zu einer globalen Vereinheitlichung und Entdifferenzierung43 geführt haben und andererseits eine Ausdifferenzierung forcieren.44 Neben der mangelnden Integration des Sentimentalitätsbegriffs in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen, z. B. der Designwissenschaften, fehlt bisher ebenso eine phänomenologische Betrachtung des Musée Sentimental und seiner sentimentalen Methodologie. Da die Begriffe Einbildungskraft und Einfühlung neben dem Musée Sentimental auch entscheidende Prämissen des gestalterischen Handelns darstellen, wird diese phänomenologische Betrachtung in der vorliegenden Arbeit anhand des interdisziplinären Gestaltungsprojekts „Sentimentale Urbanität“ vorgenommen. Dafür wurde sowohl die sentimentale Narrativierungsmethodik als auch der normative gefühlsbasierte Zugang zum Städtischen in Spoerris Musée Sentimental in den Kontext eines Gestaltungsprojekts übertragen. Da das Sentimentale dem Imaginativen zuzuordnen ist, kann das LAB auch als Untersuchung der Imagination als sozialer Praxis der Beheimatung verstanden werden45:

43 | Doris Bachmann-Medick stellt heraus, dass Raum im Spatial Turn verschwindet. Sie führt dies auf eine Enträumlichung und Entortung durch Telekommunikation und Informationsströme des World Wide Web zurück, die die Wahrnehmung der Welt als Global Village forcieren. Die Gegenbewegung zu der damit zusammenhängenden Ortlosigkeit und Translokalität sei hingegen die Wiederentdeckung des Lokalen. Vgl. Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Reinbeck bei Hamburg, 2. Auflage 2007, S. 287 f. 44 | Vgl. Gertrud Lehnert (Hg.): Raum und Gefühl. Der Spatial Turn und die neue Emotionsforschung. Bielefeld 2011, S. 9-26: S. 10. 45 | Vgl. Beate Binder: Beheimatung statt Heimat. Translokale Perspektiven auf Räume der Zugehörigkeit. In: Manfred Seifert (Hg.): Zwischen Emotion und Kalkül. ´Heimat´ als Argument im Prozess der Moderne. Dresden, 2010, S. 189-204: S. 204.

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„Denn auch mit der kulturellen Vorstellung von Heimat im doppelten Sinn des konkreten wie des imaginären Orts werden Bilder von Zugehörigkeit, Gemeinschaft und Gesellschaft transportiert. Doch wie solche Bilder zusammengesetzt sind und wie sie in Alltagspraxen wirksam werden, ist eine – im Sinne ethnografischer Forschung – bislang noch weitgehend offene Frage.“46

Anhand eines gestalterischen Praxisprojekts, welches sich in Teilen auch Methoden der ethnografischen Forschung bedient, versuche ich Einblicke in die Heterogenität von Heimatkonzepten und deren Entstehung zu geben, da bislang wenig darüber bekannt ist, „[…] wie Menschen es bewerkstelligen, dass sie sich an und zwischen Orten „zu Hause“ fühlen, wie sie ein Gefühl der Zugehörigkeit und des Zuhause-Seins herstellen.“47

Die Forschung soll im Sinne Binders u.a. „ […] zu einem konplexen Verständnis von Vergesellschaftungs- wie Vergemeinschaftungsprozessen in gegenwärtigen Gesellschaften beitragen.“48

1.2 Struktureller Aufbau der Arbeit Die vorliegende Arbeit beginnt mit der Begriffsbestimmung der für die Analyse zentralen Termini. Da das Musée Sentimental bzw. die darin angewandte Methodologie zur Sentimentalisierung die zentrale Forschungsgrundlage stellt, wird im Anschluss an die Begriffsbestimmung eine konzentrierte Definition des Spoerrischen Ausstellungskonzepts und seiner

46 | Beate Binder: Beheimatung statt Heimat. Translokale Perspektiven auf Räume der Zugehörigkeit. In: Manfred Seifert (Hg.): Zwischen Emotion und Kalkül. ´Heimat´ als Argument im Prozess der Moderne. Dresden, 2010, S. 189-204: S. 204. 47 | Beate Binder: Heimat als Begriff der Gegenwartsanalyse? Gefühle der Zugehörigkeit und soziale Imaginationen in der Auseinandersetzung um Einwanderung. In: Zeitschrift für Volkskunde, 104. Jg., 2008/1, 1-17: S. 12. 48 | Beate Binder: Beheimatung statt Heimat. Translokale Perspektiven auf Räume der Zugehörigkeit. In: Manfred Seifert (Hg.): Zwischen Emotion und Kalkül. ´Heimat´ als Argument im Prozess der Moderne. Dresden, 2010, S. 189-204: S. 204.

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Methoden vorgenommen. Die Recherche in dem Grafischen Archiv Daniel Spoerri der Nationalbibliothek Bern sowie den Privatarchiven von Dr. Louis Peters und Stephan Andreae ermöglichte dabei auch die Auswertung von Primärquellen zum Musée Sentimental.49 Es folgt ein Kapitel zum forschungslogischen Ansatz und der Eruierung der angewandten Methoden. Die konzentrierte Definition des Musées ist grundlegend für die Einführung in das auf die Methodik folgende Kapitel welches das gestalterische Praxisprojekt „Sentimentale Urbanität“ vorstellt. Konstitutiv für dieses Gestaltungsprojekt ist die Übertragung der künstlerischen Strategien Daniel Spoerris auf eine gestalterische Praxis im urbanen Raum. Anhand des interdisziplinären Gestaltungsprojekts „Sentimentale Urbanität“ erfolgt an die Einführung anknüpfend eine Explikation des Projektablaufs und der Ergebnisse. Das praktische Arbeiten mit den Methoden Daniel Spoerris sollte hierbei mittels einer „praxisintegrierenden Designforschung“50 erproben, inwiefern die Sentimentalisierungsstrategien Spoerris geeignet sind, um subjektive Heimatempfindungen auszuformulieren oder ausformulierbar zu machen. Nachfolgend erhält der geneigte Leser vertiefende Informationen zu den im Musée Sentimental angewandten Strategien. Im Anschluss folgt die kulturhistorische Verortung des Spoerrischen Ausstellungskonzepts. Dabei wird zunächst Bezug genommen auf die Kunst- und

49 | Gespräche und Diskussionen mit den Zeitzeugen und Machern des Musée Sentimental

de Cologne eröffneten authentische Einblicke in den organisatorischen Ablauf der Planung des Kunstwerks und eröffneten anekdotisches Hintergrundwissen zur Ausstellung und den Reaktionen des Publikums. Ermöglicht wurde zudem die Betrachtung von Original-Exponaten und Dokumenten zum Musée Sentimental de Cologne . 50 | Dagmar Steffen: Praxisintegrierende Designforschung und Theoriebildung, Phil. Diss. Fachbereich Design und Kunst der Bergischen Universität Wuppertal. Wuppertal 2011. Steffen vermeidet in ihrer Dissertation die Bezeichnung „Forschung durch Design“ nach Christopher Frayling. Dieser habe zwar festgehalten, dass die „Forschung durch Design“ sich auf praxisbasierte Forschungsarbeiten stütze, die die Methoden der Gestaltungspraxis unmittelbar bereichern, jedoch fehle der Verweis, wie eine dazugehörige Forschungsdokumentation auszusehen habe. Steffen folgend müsse sich die „praxisintegrierende Designforschung“ jedoch durch eine auf die Praxis bezogene wissenschaftstheoretische Abhandlung auszeichnen. Theorie und Praxis müssten aufeinander bezogen sein. Vgl. Dagmar Steffen: Praxisintegrierende Designforschung und Theoriebildung, Phil. Diss. Fachbereich Design und Kunst der Bergischen Universität Wuppertal. Wuppertal 2011, S. 107, 109.

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Wunderkammern ab der zweiten Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts, die als konzeptionelle Inspiration für Spoerris Musée gelten. Danach findet sich eine Analyse der gesellschaftlichen und kulturellen Situation zur Entstehungszeit des Musée Sentimental in den 1960er und 1970er Jahren. Diesem Kapitel angeschlossen ist ein Exkurs in die Avantgarde der Situationisten, da diese, wie auch die Neuen Realisten, denen Daniel Spoerri angehörte, eine Hinwendung zur Alltagskultur und postmodernen Denkansätzen aufweisen. Im letzten Teil der vorliegenden Arbeit werden künstlerische urbane Interventionen vorgestellt, die durch die gestalterische Interaktion im Stadtraum Gedächtnisorte kultivieren und/oder Gedächtniseinträge sichtbar machen. Dabei ist die Frage zentral, ob und wenn ja, mit welchen Mitteln oder künstlerischen Methoden es gelang, Objekte oder Orte im urbanen Umfeld ihrer Sprachlosigkeit zu entheben und in einen Gedächtnisort zu transformieren. Die künstlerischen Interventionen folgen dabei alle der Vorstellung, dass Kunst gesellschaftliche und damit auch räumliche Diskurse beeinflussen oder verändern kann. Ein demokratischer Kunstbegriff ist in Konsequenz profund für alle in der vorliegenden Arbeit besprochenen künstlerischen Interventionen. Bei der Auswahl der Projekte wurde Wert gelegt auf die Gegenüberstellung eines Projekts aus dem zeitgenössischen Kontext des Musée Sentimental (Cuttings von Gordon Matta-Clark, 1974-1978) sowie eines Werks der näheren Gegenwart (Hotel-Neustadt vom Raumlabor, 2003). Zudem findet sich in der chronologisch absteigenden Reihenfolge der Projekte auch noch eine Arbeit von Daniel Spoerri, da der Künstler in der vorgestellten Promenade Sentimentale de Cologne bereits 1981 versuchte, seine Methodologie zur Sentimentalisierung in den urbanen Raum zu übertragen. Die vorliegende Arbeit konkludiert schließlich in einem Kapitel, das die Potentiale des Musée Sentimental im Blick auf eine Gedächtnisarbeit im urbanen Raum und ausblickend im Kontrast einer kollektiven europäischen Erinnerungskultur eruiert. Dabei werden die im Verlauf der Arbeit zu ziehenden Rückschlüsse zur sentimentalen Betrachtung von Gedächtnisorten und einer damit zusammenhängenden Bewusstseinsbildung genutzt, um mögliche Perspektiven für das gestalterische oder kulturelle Handeln zu erschließen. Zur Auswahl der zentralen Literatur sei noch angemerkt, dass sich die vorliegende Forschung im wesentlichen auf poststrukturalistsche Denkansätze stützt, was sich durch zitierte Autoren wie Jean Baudrillard, Guy Debord und Henri Lefebvre abbildet. Der poststrukturalistische Fokus er-

Einleitung

gibt sich nicht zuletzt durch den zeitgenössischen Rahmen des ersten Musée Sentimental (Paris, 1977) und seinen methodischen Zusammenhang mit postmodernen künstlerischen Avantgarden der sechziger und siebziger Jahre in Frankreich. Um das Problemfeld der sentimentalen Kognition auch in der Gegenwart auf erinnerungskulturelle sowie soziologische und urbane Zusammenhänge hin zu untersuchen, finden sich zudem Autoren wie Aleida Assmann, Richard Sennett und Hartmut Häußermann.

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2. Begriffsbestimmung 2.1 Die Heimat In der vorliegenden Arbeit wird der Prozesscharakter von Heimat als konstitutiv betrachtet. Prozessuale Heimatkonzepte sind auf den zeitgenössischen Kontext der Entstehung des Musée Sentimental zurückzuführen. Künstlerische Avantgarden stellten ab den 1960er Jahren den Heimatbegriff der Moderne1 in Frage und stilisierten ihn streckenweise zum politischen Kampfbegriff, „[…] der gegen die Kälte gesellschaftlicher Großkomplexe und die zunehmende Unmenschlichkeit institutioneller Strukturen gerichtet wurde.“2

Verstärkt wurde dabei auf zivilgesellschaftliche Verantwortungsgefühle gesetzt, die sich auch in den partizipativen Strukturen einer demokratisierten Kunst der 1960er und 70er Jahre widerspiegelten: „Denn Heimat war [in den 1970er Jahren, A. C.] für Friedensbewegte, bei Kernkraftgegnern und den frühen Grünen „nicht mehr Gegenstand passiven Gefühls, sondern Medium und Ziel praktischer Auseinandersetzungen und wurde damit grundsätzlich von einem rückwärtsgewandten, nostalgisch festschreibenden Heimatdenken abgesetzt.“3

In der Tradition einer Operativen Ästhetik entwickelte Spoerri in seinem Musée Sentimental eine ironisch praktische Auseinandersetzung mit dem Heimatbegriff, bzw. seinen kollektivierenden Tendenzen. Sich zu

1 | „Im Zuge der Herausbildung der bürgerlichen Gesellschaft wurde seit Ende des 18. Jahrhunderts Heimat gleichermaßen zur sehnsuchtsvollen Heterotopie stilisiert wie zum ideologisch aufgeladenen Ausgangspunkt für Vertreibung und Vernichtung gemacht.“ Beate Binder: Heimat als Begriff der Gegenwartsanalyse? Gefühle der Zugehörigkeit und soziale Imaginationen in der Auseinandersetzung um Einwanderung. In: Zeitschrift für Volkskunde, 104. Jg., 2008/1, 1-17: S. 5. 2 | Ebd., S. 6. 3 | Beate Binder: Beheimatung statt Heimat. Translokale Perspektiven auf Räume der Zugehörigkeit. In: Manfred Seifert (Hg.): Zwischen Emotion und Kalkül. ´Heimat´ als Argument im Prozess der Moderne. Dresden, 2010, S. 189-204: S. 190.

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statischen Heimatkonzepten kontrastierend verhaltend, propagierte der Künstler dabei eine subjektiv individuelle Perspektive auf Heimat, die sich in der Alltagskultur konstituiert. In diesem Zusammenhang ist der Begriff der Sentimentalität in Spoerris Musée jedoch nicht als romantisch verklärter Blick auf Heimat misszuverstehen, sondern betont vielmehr die individuelle Gefühlskultur, die mit der Heimatwahrnehmung und – aneignung einhergeht. Spoerri betrachtet in diesem Zusammenhang die „Emotionalität des Beheimatet-Seins“4. Beate Binder folgend, bietet der Begriff der Beheimatung für die Frage nach der Ortsbezogenheit einen guten Ausgangspunkt, da er Emotionen und soziale Praxen miteinander in Verbindung bringt und das Gefühl als grundlegenden Bestandteil dieses Prozesses integriert.5 Auch ich gehe daher in der vorliegenden Arbeit eher von dem Begriff der „Beheimatung“ (Beate Binder, 2010), als von dem Begriff der Heimat aus. Propagiert wird eine offene Forschungsperspektive auf Heimat, mit der innerhalb des gestalterischen Praxisprojekts „Sentimentale Urbanität“ Formen des Aushandelns von und Agierens in der Heimat, also die Praxen der Beheimatung untersucht wurden6 „Imagination als soziale Praxis ist [dabei, A. C.] Bestandteil der Praxis der Beheimatung.“7 Der imaginative Bestandteil im Prozess der Beheimatung rekurriert größtenteils auf die gefühlten Werte, die wir ihm angedeihen lassen. Simone Egger: „Heimat ist da, wo das Herz wehtut. Heimat, das sind Gefühle und Emotionen.“8

Die Liebe und das Herz als normativer Kanal spiegeln den Facettenreichtum des Heimatbegriffs wider.

4 | Beate Binder: Heimat als Begriff der Gegenwartsanalyse? Gefühle der Zugehörigkeit und soziale Imaginationen in der Auseinandersetzung um Einwanderung. In: Zeitschrift für Volkskunde, 104. Jg., 2008/1, 1-17: S. 12. 5 | Ebd. 6 | Vgl. Beate Binder: Beheimatung statt Heimat. Translokale Perspektiven auf Räume der Zugehörigkeit. In: Manfred Seifert (Hg.): Zwischen Emotion und Kalkül. ´Heimat´ als Argument im Prozess der Moderne. Dresden, 2010, S. 189-204: S. 203. 7 | Ebd. S. 204. 8 | Simone Egger: Heimat. Wie wir unseren Sehnsuchtsort immer wieder neu erfinden. München 2014, S. 11.

Begriffsbestimmung

Hilge Landweer schreibt über einen sogenannten „Gefühls-Universalismus“, der davon ausgeht, dass Gesellschaften sich über Gefühle sinnvoll verständigen können. 9 Sie bemerkt: „[…], daß jeder die Betroffenheit durch die jeweiligen Gefühle kennt, auch wenn er selbst in dieser Situation nicht betroffen ist.“10

Weiter führt Landweer aus, dass Gefühle leiblich auch dann gespürt werden können, wenn es nicht die eigenen sind und sie daher als sozial objektiv beschreibbar gelten.11 Spoerri macht in seinem Musée Sentimental Heimatgefühle leiblich spürbar und offenbart die Entstehungs-/Nutzungsgeschichte der ausgestellten Gedächtnisorte der jeweiligen Stadt. Städte bilden in Spoerris Konzept den lokalen Referenzrahmen, um Identität künstlerisch einzukreisen. Mit Rekurs auf Aleida Assmann ziehe ich in Bezug auf das Lokale im Folgenden die Begrifflichkeit des Ortes der des Raumes vor, da das Wort „Raum“ als Territorium eine Rolle in Diskursen der Eroberung und Beherrschung spielt, während das Wort „Ort“ sich auf gelebte Erfahrung, auf Zeit, Zeichen und Spuren bezieht.12 Das von Binder oben benannte Imaginative als Bestandteil der Praxis der Beheimatung, äußerst sich bei diversen Autoren in unterschiedlichen Kanälen. So sind die Bilder, die wir mit der Heimat oder der Ur-Heimat unserer Kindheit verbinden, häufig idealisiert und weichgezeichnet.13 Das

9 | Vgl. Hilge Landweer: Verständigung über Gefühle. In: Leib und Gefühl. Beiträge zur Anthropologie, hg. von Michael Großheim. Berlin 1995, S. 71-87: S. 71. 10 | Ebd., S. 76. 11 | Vgl. ebd., S. 86. 12 | Vgl. Assmann, Aleida: Einführung in die Kulturwissenschaft, 2. Auflage. Berlin 2008, S. 154. 13 | „Es ist eine Zeit, die je nach Alter der Betrachtenden eine Sehnsucht an die eigene Kindheit, Jugendzeit oder die Zeit als junge Erwachsene wach werden lässt. Selbstverständlich war auch diese Zeit von Krisen gezeichnet, aber in der Erinnerung sind die vergangenen Zeiten oft die besseren. Diese Zeit, und die damit verbundenen positiven Eindrücke sind mit einer Sehnsucht nach dem Vergangenen verbunden. Eine Sehnsucht per se wird erzeugt, eine Zeit der Unschuld, als Kontrast zu der heutigen als immer unübersichtlicher wahrgenommenen Welt […].“ Julia Wirxel: Idyllen in der zeitgenössischen Kunst, phil. Diss. In: Kunst und Kulturwissenschaft der Gegenwart, 9 Bde., Bd. 5, hg. von Doris Schuhmacher-Chilla. Oberhausen 2012, S. 140.

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Emotionale spielt eine entscheidende Rolle bei der Wahrnehmung und Aneignung von Heimat. Eduard Spranger bestätigt: „In unserer Seele gibt es einen Winkel, in dem wir alle Poeten sind. Was mit unserer Kindheit und unserer Heimat zusammenhängt, lebt in uns mit so zauberhaften Farben, daß der größte Maler es nicht wiedergeben könnte, und mit so zart und sehnsüchtig verschwebenden Gefühlen, daß wir in diesem Bezirk auch von der höchsten Kraft lyrischen Ausdrucks uns nicht befriedigt finden würden.“14

Spranger macht hier den sentimental poetischen Anteil in Heimatbildern sichtbar, den Gaston Bachelard wiederum mit den „Bildern des glücklichen Raumes“15 beschreibt. In einer Idealisierung von Heimat drückt sich mit Paul Ricoeur gesprochen, eine „Aporia von Einbildungskraft und Gedächtnis“16 aus. So integriert die Erinnerung immer auch das Moment der (Selbst-) Täuschung z. B. durch Verehrung des Vergangenen: „Das Problem, das uns die Verflechtung von Gedächtnis und Einbildungskraft aufgibt, ist so alt wie die abendländische Philosophie. Die Sokratische Philosophie hat uns diesbezüglich zwei rivalisierende und komplementäre Topoi hinterlassen, von denen der eine platonisch, der andere aristotelisch geprägt ist. Der erste dieser Topoi, der um das Thema eikôn [Herv. im Orig.] kreist, spricht von der gegenwärtig anwesenden Vorstellung einer abwesenden Sache; er plädiert implizit dafür, die Problematik des Gedächtnisses in die Einbildungskraft einzugliedern. Der zweite Topos, der um das Thema der Vorstellung einer zuvor wahrgenommenen,

14 | Michael Neumeyer zitiert Eduard Spranger. In: Heimat. Zu Geschichte und Begriff eines Phänomens. Kiel 1992, S. 109. 15 | Gaston Bachelard: Die Poetik des Raumes. Aus dem Französischen von Kurt Leonhard Fischer. 7. Auflage. Frankfurt am Main 2003, S. 25. 16 | Paul Ricœur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen. München 2004, S. 26. Auch Gerald Siegmund hält fest, dass das Gedächtnis bereits in der der Antike mit der Einbildungskraft gleichgesetzt wurde. Vgl. Gerald Siegmund: Gedächtnis/Erinnerung. In: Ästhetische Grundbegriffe Studienausgabe, 7 Bde., Bd. 2 Dekadent bis Grotesk, hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhardt Steinwachs, Friedrich Wolfzettel. Stuttgart/Weimar 2001/2010, S. 609-629: S. 609.

Begriffsbestimmung

erworbenen oder gelernten Sache kreist, plädiert dafür, die Problematik des Bildes in die der Erinnerung einzugliedern.“17

Bezugnehmend auf Ricœur ist die Entstehung von Heimatsymbolen, in den ersten Topos (eikôn) einzusortieren. Gedächtnis und Einbildungskraft sind hier reziprok aufeinander bezogen. Die Einbildung überhöht die Wirklichkeit. Die Idealisierung oder Sentimentalisierung von Heimat, ist verbunden mit Bildern des Idyllischen. So ist die ideale Heimat vor allem auch durch die ihr anhaftenden Sehnsüchte charakterisiert. Idyllen wohnt etwas Mythisches inne, sie sind verbunden mit Arkadien und Elysien.18 Heimat kann demnach sowohl irdisch als auch himmlisch begründet sein.19 Die Idylle entspricht dabei einer Flucht in die Utopie. Die mythischen Paradiese der griechischen Antike (Arkadien und Elysion) sind Ausdruck des Wunsches nach einer besseren und heileren Welt. Im Laufe des 19. Jh. wurde aus dem Heimatbegriff eine Wertzuschreibung indem das Bürgertum alle Entbehrungen der Realität in ihn hineinprojizierte. Die Kleinstadt oder das Dorf stellten dabei häufig die idyllische Alternative zur Großstadt (das Dorf als Sensuchtsort der Kindheit/Ur-Heimat): „Das Ziel dieser Sehnsüchte war denn auch eine geschönte, idyllische Welt der Vergangenheit, das ländliche Dorf mit einer heilen ständischen Gesellschaft in einer unberührten Natur. Dieses Bild wurde zunehmend allgemeiner, abstrakter und austauschbarer. Heimat verlor dadurch den Bezug zur realen Welt und geriet immer mehr zu einer imaginären Wunschvorstellung, die deutlich den Charakter einer Kompensation und Ersatzbefriedigung hatte.“20

17 | Paul Ricœur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen. München 2004, S. 26. 18 | Vgl. Julia Wirxel: Idyllen in der zeitgenössischen Kunst, phil. Diss. In: Kunst und Kulturwissenschaft der Gegenwart, 9 Bde., Bd. 5, Doris hg. von Schuhmacher-Chilla. Oberhausen 2012, S. 93. 19 | Auch Ina-Maria Greverus hebt hervor, dass der Heimatbegriff alles von himmlischer Heimat bis zum Geburtsort umfassen könne. Vgl. Ina-Maria Greverus: Auf der Suche nach Heimat. München 1979, S. 64. 20 | Michael Neumeyer: Heimat. Zu Geschichte und Begriff eines Phänomens. Kiel 1992, S. 122.

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Die industrialiserte Großstadt mit ihrem funktionalen Lebensraum erzeugte also eine Sehnsucht nach dem idyllischen Leben auf dem Lande. Simone Egger legt dies u. a. anhand der Gastarbeiterbewegung während der wirtschaftlichen Aufschwungsjahre dar. Viele Menschen verließen derzeit ihre Heimat, um in der Fremde Glück und Wohlstand zu finden. In den neuen Heimatländern erwartete sie zunächst eine beengte und gleichförmige Wohnsituation, was wiederum die Entwicklung von mentalen Heimatbildern nach sich zog, die auch in Gedichten und Romanen beträumt wurden. Es entwickelte sich ein klischeesierter Heimatbegriff, der über die Realität hinwegtrösten sollte.21 Andrea Bastian bestätigt: „Heimat wurde geradezu zum Symbol für das Gute, Reine, Richtige.“22

In der von Egger gemachten Beobachtung steckt jedoch eine politische Brisanz. Dies ergibt sich aus der Perspektive einer Konstitution von Zugehörigkeit, die sich gegen ein prozessuales und auf Veränderung gerichtetes Konzept von Heimat stellt und dafür ein Verständnis implementiert, dass auf Konservierung und Reinheit ausgelegt ist.23 Ein solches Verständnis forciert die Ausgrenzung im Sinn der Abgrenzung. Ein statischer Heimatbegriff steht hier der Flexibilität sozialer Systeme (auch durch Migration) gegenüber. Diese universale Definition des zu Hause seins ist „in terms oft the white middle-class patriarchal family“24 jedoch grundsätzlich in Frage zu stellen.25 Beate Binder hält fest: „Doch noch immer wird Heimat dabei als territorialisierte Essenz geund verhandelt, die an einem [Herv. im Orig.] Ort stattfindet. Damit trägt die Rede von Heimat zugleich zur Erfindung bzw. Festigung von

21 | Vgl. Simone Egger: Heimat. Wie wir unseren Sehnsuchtsort immer wieder neu erfinden. München 2014, S. 24. 22 | Andrea Bastian: Der Heimat-Begriff. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung in verschiedenen Funktionsbereichen der deutschen Sprache, hg. von Helmut Henne, Horst Sitta, Ernst Herbert Wiegand. Berlin 1995, S. 126. 23 | Vgl. Beate Binder: Beheimatung statt Heimat. Translokale Perspektiven auf Räume der Zugehörigkeit. In: Manfred Seifert (Hg.): Zwischen Emotion und Kalkül. ´Heimat´ als Argument im Prozess der Moderne. Dresden, 2010, S. 189-204: S. 192. 24 | Beate Binder zitiert Sara Ahmed. In: ebd., S. 197. 25 | Vgl. ebd., S. 197.

Begriffsbestimmung

Lokalität und Ortsbezogenheit bei und stützt im Sinn einer „Ideologie der Heimat“ die Vorstellung, dass „die große Mehrheit der Menschen zu früheren Zeiten an ‚sicheren‘ und homogenisierten Schauplätzen gelebt“ habe. 26

In Bezug auf Heimatdarstellungen zeigen sich daher bis heute regionalisierte Strategien erfolgreich, die auf das sentimental idyllische rekurrieren, wie sich am Beispiel der bayerischen Lebensart zeigt. Die Inszenierung idyllischer Landschaften, geprägt durch Tradition und Geschichte, hat das Bayerische zum Synonym für „deutsch“ werden lassen. Es bildet den größtmöglichen Kontrast zum technischen Fortschritt und der Industrialisierung/Modernisierung.27 Das Schöne weckt, bedingt durch den Sozialtrieb des Menschen, in diesem Zusammenhang unmittelbare Gefühle der Liebe und nähert sich dem Idyllisch-Trivialen: „Seit den achtziger Jahren haben […] suburbane[…] Milieus die Tradition des Ortes als Ressource zur Identitätsbildung entdeckt und orientieren sich an Bildern von einer überschaubaren Dörf lichkeit. Abgelehnt werden nicht nur urbane Lebensweisen, sondern auch die normierten, „gesichtslosen“ Einfamilienhaussiedlungen vergangener Jahrzehnte. Stand vorher die Nivellierung ländlicher Eigenheiten im Vordergrund, so hebt man nun die Besonderheit des Lokalen hervor. Die Politik der symbolischen Enturbanisierung authentischer Lokalität zielt darauf ab, das eigene Wohnumfeld als harmonischen Raum zu gestalten, der von der „Unwirtlichkeit der Städte“ verschont bleibt.“28

26 | Beate Binder zitiert Roland Robertson. In: Beheimatung statt Heimat. Translokale Perspektiven auf Räume der Zugehörigkeit. In: Manfred Seifert (Hg.): Zwischen Emotion und Kalkül. ´Heimat´ als Argument im Prozess der Moderne. Dresden, 2010, S. 189-204: S. 197. 27 | „Konzerne organisieren ihre Aktivitäten weltweit, Arbeitskräfte sind weniger denn je ortsgebunden, Familien werden von Ort zu Ort verschoben und die Medien mit ihrer ständigen Präsenz wirken daran mit, dass wir uns nirgends und nie beheimaten. Wir sind immer weniger im Hier vor Ort und Jetzt in der Gegenwart, sondern stattdessen immer mehr überall zugleich – mit dem Fernseher, dem Radio, dem Computer, dem Telefon und dem Handy. Sich mit dem Ort zu identifizieren, an dem man lebt, wird darum immer weniger selbstverständlich.“ Barbara Mettler-v. Meibom: Einleitung. In: „Ich gehör hier hin.“: Spielarten von Identifikation mit dem Ruhrgebiet, hg. von Barbara Mettler-v. Meibom. Münster 2004, S. 5-11: S. 6. 28 | Klaus Ronneberger, Stephan Lanz, Walther Jahn: Die Stadt als Beute. Bonn 1999, S. 52.

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Den Wunsch nach einer besseren Welt bzw. die Flucht in satisfaktionierende Heimatmotive führt Michael Neumeyer auf die als bedrohlich empfundenen Faktoren einer industriellen Massengesellschaft zurück. Hierzu zählen aus seiner Sicht u .a. Umweltzerstörungen, Funktionalität und Anonymität.29 Angesichts der städtischen und industriellen Expansion sowie einer damit verbundenen Entwurzelung oder Entfremdung bildete sich ein Antagonismus zur idyllischen Heimat aus. Eine Entfremdung des Alltags beförderte in diesem Zusammenhang die emotionale Suche nach der eigenen Identität.30 In den sechziger und siebziger Jahren entwickelte sich darauf auf bauend ein prozess- und zukunftsorientierter Heimatbegriff: „Es ist überhaupt ein wesentlicher Zug der neueren Heimatdiskussion, daß sie vom politisch linken Spektrum mitgetragen, ja eigentlich dort erst entfacht wurde. Die […] Aktivitäten und Initiativen sind in der Mehrzahl systemkritisch angelegt und fordern implizit Änderungen des sozioökonomischen Systems, und zwar nicht durch Wiederherstellung früherer Zustände, sondern durch Entwicklung einer neuen Gesellschaftsform. Dies unterscheidet sie wesentlich von den Zielen der alten Heimatbewegung, die einen konservativ-restaurativen und zudem deutlich passiven Charakter aufwies.“31

Neumeyer verweist hier indirekt auf linksorientierte künstlerische Bewegungen wie z.B. die Situationisten, die von der gegenseitigen Beeinflussung von gebautem Umfeld und Mensch ausgingen. Erst wenn das Subjekt selbst durch erneutes Vertrauen auf Phantasie, Gefühl und Teilhabe zu einer neuen Erfahrung des Urbanen gelange, verändere sich auch die

29 | Vgl. Michael Neumeyer: Heimat. Zu Geschichte und Begriff eines Phänomens. Kiel 1992, S. 1. 30 | Siehe dazu auch Michael Neumeyer. Er hält fest, dass mit einer zunehmenden persönlichen Betroffenheit auch das emotionale Verhältnis zum Raum reflektiert wurde. Vgl. ebd., S. 53. 31 | Ebd., S. 55.

Begriffsbestimmung

Oberfläche selbst.32 Die Entstehung des Raumes durch die Einbildungskraft ist Teil der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen zum Spatial Turn und dem daraus hervorgehenden Raumbegriff. In den phänomenologischen Beobachtungen, die an den Spatial Turn anknüpfen, wird eine Einfühlungsästhetik im Raum bzw. die räumliche Genese durch lebensweltliche Erfahrung herausgestellt.33 Im Spatial Turn kommt es zu einer Fokussierung auf das Lokale.34 Ortsbezüge und Heimat bilden dabei die Tendenz für die Herausbildung und Stabilisierung von Identitäten35, wodurch auch die soziale Konstituierung des Räumlichen36 betont wird. Festzuhalten ist, dass der Heimatbegriff sich über „das Wechselspiel zwischen Individuum und Umwelt“37 charakterisiert. Michael Neumeyer zur Heimat: „Diese kann dabei als “Übereinstimmung“ einer Person mit sich und ihrer Umwelt oder auch als “Stellung in einer Lebenswelt“ betrachtet werden. Identität wird dabei vielfach als Grundbedürfnis angesehen, kann aber durchaus auch als Zustand erfolgter Bedürfnisbefriedigung beurteilt werden. Der ideale Zustand des Lebens in Übereinstimmung mit sich und den Strukturen der Umwelt könnte dann als Heimat bezeichnet werden. Faßt [Fehler im Orig.] man die genannten Aspekte zusammen, so stellt sich Heimat dar als eine unmittelbare, alltäglich erfahrene und subjektive Lebenswelt , die durch längeres Einleben in ihre sozialen,

32 | Jochen Schulte-Sasse macht deutlich, dass die Einbildungskraft der Phantasie zuzuordnen ist und zeigt auf, dass eine Wiederbelebung des Begriffs u. a. in der Postmoderne und der französischen Studentenbewegung stattfand. Vgl. Jochen Schulte-Sasse: Phantasie. In: Ästhetische Grundbegriffe Studienausgabe, 7 Bde., Bd. 4 Dekadent bis Grotesk, hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhardt Steinwachs, Friedrich Wolfzettel. Stuttgart/Weimar 2002/2010, S. 778-798: S. 779. 33 | Vgl. Thomas Friedrich, Jörg H. Gleiter: Einleitung. In: Einfühlung und phenomenologische Reduktion. Grundlagentexte zu Architektur, Design und Kunst, hg. von Thomas Friedrich, Jörg H. Gleiter. Berlin 2007, S. 8 f. 34 | Vgl. Doris Bachmann-Medick: Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbeck bei Hamburg, 2. Auflage 2007, S. 288 35 | Vgl. ebd. 36 | Vgl. ebd., S. 291. 37 | Michael Neumeyer: Heimat. Zu Geschichte und Begriff eines Phänomens. Kiel 1992, S. 58.

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kulturellen und natürlichen Bestandteile Vertrautheit und Sicherheit, emotionale Geborgenheit und befriedigende soziale Beziehungen bietet und – auch dadurch –insbesondere verschiedene (Grund-) Bedürfnisse [Herv. im Orig.] befriedigt.“38

Neumeyer macht hier deutlich, dass Heimat in erster Linie die alltäglich erfahrene subjektive Lebenswelt eines Individuums darstellt. So entstehen die Bilder, die wir mit Heimat verbinden im alltäglichen Handeln mit Objekten, Räumen und Menschen. Auch Andrea Bastian verweist darauf, dass Heimat im Alltagsbereich wurzelt und sich sowohl aus subjektiven als auch kollektiven Elementen der Gesellschaft speist.39 Neumeyer hebt oben neben der Vertrautheit noch die Sicherheit als weiteren wichtigen Punkt für Heimatzugehörigkeit hervor. Auch Peter Weichhart folgend ist die Sicherheit ein Grundbedürfnis raumbezogener Identität. Diese Sicherheit bezieht sich dabei jedoch nicht nur auf die Abwesenheit von Gefahr, sondern ebenso auf die Kontinuität des physischen Umfelds. Je höher die Deutungssicherheit bzw. die Komplexitätsreduktion, desto einprägsamer die Umwelt.40 Oppositional dazu, wird in der vorliegenden Arbeit aber vor allem in gestalterischer Hinsicht (auch mit Rekurs auf Spoerri) das Implementieren von Varianzen in den urbanen Raum als Irritations- und Reflexionsanreiz favorisiert, da diese eher auf Auseinandersetzung und Aneignung angelegt sind, als gleichförmige Gestaltungen, die ohne Hinterfragen konsumiert werden können. Zudem kommt das Subjektive und eine dadurch ausgelöste Irritation, dem individuellen Prozess der Heimataneignung weitaus näher, als das kollektiv Gleichmachende, was versucht, Heimatbilder auf einzelne Aspekte zu reduzieren: „Was Heimat im Einzelnen heißt, muss jeder für sich selbst wissen. Eine allgemein gültige Definition gibt es nicht. Während manche an einem ganz konkreten Haus oder einer Region festhalten, ist es für andere die

38 | Michael Neumeyer: Heimat. Zu Geschichte und Begriff eines Phänomens. Kiel 1992, S.127. 39 | Siehe dazu Andrea Bastian: Der Heimat-Begriff. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung in verschiedenen Funktionsbereichen der deutschen Sprache, hg. von Helmut Henne, Horst Sitta, Ernst Herbert Wiegand. Berlin 1995, S. 95. 40 | Vgl. Peter Weichhart: Raumbezogene Identität. Bausteine zu einer Theorie räumlichsozialer Kognition und Identifikation, Stuttgart 1990, S. 35.

Begriffsbestimmung

Familie oder der Freundeskreis, worauf sie sich in erster Linie beziehen. Wieder andere erklären, dass sie Heimat in einem Gegenstand verkörpert sehen. Das eigene Sofa oder die von der Großmutter geerbten Ohrringe stehen für Geborgenheit und das Verbundensein mit einer Geschichte. Heimat hat viel mit der Gegenwart zu tun, lebt aber auch von Erinnerungen. Aus anderen Zeiten ist Heimat mit einer Fülle von Bildern und Stimmungen aufgeladen.“41

Heimat als Symbol erschließt sich also über diverse Gedächtnisorte, die den Heimatbegriff versinnbildlichen. Gedächtnisorte42 können Rituale, Menschen, Räume, Objekte oder jegliche sinnliche Reize sein, die ein sentimentales Heimatempfinden transportieren.43 Für einen Außenstehenden, der die in den Ort eingeschriebenen Erinnerungen nicht kennt, können diese Orte Banalität und Trivialität transportieren, für den Erinnernden selbst aber bestimmt die Sentimentalität den Wert.

2.2 Gedächtnisort Das Gedächtnis ist nach Aleida Assmann im letzten Jahrzehnt zu einem Leitbegriff kulturwissenschaftlicher Neuorientierungen geworden.44 Untersucht wird in diesem Zusammenhang ein kulturelles Gedächtnis, das

41 | Simone Egger: Heimat. Wie wir unseren Sehnsuchtsort immer wieder neu erfinden. München 2014, S. 12 f. 42 | Georg Simmel macht deutlich, dass Orte eine sinnliche Anschauungsqualität aufweisen, die eine stärkere assoziative Kraft und Gefühlsstärke besitzt als die Zeit, da Erinnerungen sich fest mit Orten verbinden. Vgl. Georg Simmel: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. In: Ders.: Gesamtausgabe in 24 Bänden, Bd. 11, hg. von Otthein Rammstedt. München/Leipzig, 2. Auflage 1992, S. 475 f. 43 | Als wirkkräftiges Beispiel für ein Heimatsymbol bzw. ein damit verbundenes Heimatgefühl zieht Ina-Maria Greverus die Kirchglocke heran. Dabei nimmt sie sowohl Bezug auf den Zusammenhang der Glocke mit der Lebenssituation des Menschen als auch auf ihre Bedeutung als akustisches Signal, das uns als vertrauter Klang erst in der Fremde fehlt und mitunter auch Heimwehauslösefaktor werden kann. Vgl. Ina-Maria Greverus: Auf der Suche nach Heimat. München 1979, S. 128 f. 44 | Vgl. Aleida Assmann: Einführung in die Kulturwissenschaft, Berlin, 2. Auflage 2008, S. 183.

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sich durch Vorstellungen und Praktiken einer Gesellschaft als kulturelles Erbe aufbaut.45 In der vorliegenden Arbeit wird das Gedächtnis in seinen Äußerungen durch Objekte und Orte in den Blick genommen. So wie die Geschichte mit einer Verzeitlichung einhergeht, braucht das Gedächtnis Orte.46 Jede Gruppe entwickelt und sichert daher Orte, die nicht nur sinnbildlich für ihre Identität stehen, sondern die auch Merkwelten ihrer Erinnerung sind.47 Paul Ricœur erkennt: „Der Übergang vom Körper- zum Ortsgedächtnis wird durch so wichtige Handlungen wie Sich-orientieren, Sich-fortbewegen und vor allem Wohnen gewährleistet. Es ist die bewohnbare Erdoberf läche, auf die sich unsere Erinnerungen an Reisen und den Besuch von denkwürdigen Stätten beziehen. So sind die erinnerten „Dinge“ wesentlich mit Orten verbunden. Und es ist gewiß kein Zufall, wenn wir sagen, daß etwas, das geschehen ist, stattgefunden hat (a eu lieu) [Herv. im Orig.].“48

Ricœurs Aussage offenbart hier die enge Verbindung von Ort und Gedächtnis. Die Stätte selbst ist dabei Ausdruck des Erinnerten. Dieser Zusammenhang soll im Folgenden über die Definition des Gedächtnisorts weiter ausdifferenziert werden. Die Kohärenz von Ort und Gedächtnis entsteht im Rahmen des alltäglichen Handelns. Geschichten und Erinnerungen schreiben sich dabei in die Topographie ein. Indem sich das Gedächtnis in Orten materialisiert, werden die Orte ein Ausdruck des Gedächtnisträgers selbst: „[…] der physische Raum [ist, A. C.] sowohl eine Bezugsebene sozialer Werte und Interaktionen als auch eine Projektionsf läche für das personale Ich . [Herv. im Orig.] Einzelne Raumstellen und Raumattribute sind nicht nur als Symbole sozialer Beziehungen und sozialer Werte, sondern

45 | Vgl. Aleida Assmann: Einführung in die Kulturwissenschaft, Berlin, 2. Auflage 2008, S. 183. 46 | Vgl. Ulrich Borsdorf, Heinrich Theodor Grütter: Einleitung. In: Orte der Erinnerung: Denkmal, Gedenkstätte, Museum, hg. von Ulrich Borsdorf, Heinrich Theodor Grütter. Frankfurt a. M/ New York 1999, S. 1-13: S. 4. 47 | Vgl. ebd. 48 | Paul Ricœur: Gedächtnis, Geschichte, Vergessen. München 2004, S. 74.

Begriffsbestimmung

auch als Symbole des Selbst wirksam, sie sind gleichermaßen Medium und Gegenstand der Ich-Darstellung.“49

Weichhart stellt hier den Gedächtnisort als Gegenstand der Ich-Darstellung und damit auch der Selbstversicherung dar. Der Gedächtnisort steht dabei nicht nur für die Darstellung des eigenen Ichs, sondern ebenso für die sozialen Netzwerke in denen wir leben. Aufgrund der engen Verbundenheit zur individuellen Vergangenheit des Erinnernden sind Heimaterinnerungen sowie die an sie gebundenen Gedächtnisorte sehr diffizil und subjektiv. Henri Lefebvre sieht Erinnerungsleistungen u.a. in Monumenten realisiert: „Die Monumente sind die Werke, die einer Stadt ihr Gesicht und ihren Lebensrhythmus geben. Sie sind die Erinnerung und die Darstellung ihrer Vergangenheit, sie sind die affektiven und aktiven Kerne ihres gegenwärtigen Alltagslebens, sie sind die Präfiguration ihrer Zukunft.“50

Monumente sind statische, im Boden verankerte Gedächtnisorte, die die Kulturgeschichte einer Region/eines Landes versinnbildlichen. Jedoch ist fraglich, ob die Unveränderlichkeit des Monuments sowie sein kollektivierender Ansatz nicht im Gegensatz zum individuell dynamischen Einzelgedächtnis zu sehen sind. Lutz Niethammer dazu: „Die Zukunftsorientierung des Gedächtnisses verknüpft sich mit der Veräußerlichung des künftig zu Erinnernden. Dieses soll durch zyklische Wiederkehr in Jahrestagen und Ritualen oder durch die Plazierung [Fehler im Orig.] im Raum als Denkmal oder unveränderliches Bild vor der Flüchtigkeit der Zeit bewahrt werden.“51

49 | Peter Weichhart: Raumbezogene Identität. Bausteine zu einer Theorie räumlich-sozialer Kognition und Identifikation, Stuttgart 1990, S. 41. 50 | Henri Lefebvre: Kritik des Alltagslebens. In: Ders.: Kritik des Alltagslebens, 3 Bde., Bd. 3 Grundrisse einer Soziologie der Alltäglichkeit. München, 1975, S. 143. 51 |  Lutz Niethammer: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. Reinbeck bei Hamburg, 2000, S. 235.

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So versuchte z.B. Pierre Nora mit seiner monumentalen Sammlung der lieu de mémoire, ein sinnstiftendes nationales französisches Kulturgedächtnis zu entwickeln.52 Nora definiert Gedächtnisorte wie folgt: „Die Gedächtnisorte, das sind zunächst einmal Überreste. Die äußerste Form, in der ein eingedenkendes Bewußtsein überdauert in einer Geschichte, welche nach ihnen ruft, weil sie nicht um sie weiß. Die Entritualisierung unserer Welt ist es, die diesen Begriff auftauchen läßt. Das, was eine Gemeinschaft, die bis in ihre Grundfeste in Wandel und Erneuerung hingerissen ist, künstlich und willentlich ausscheidet, aufrichtet, etabliert, konstruiert, dekretiert, unterhält. Eine Gesellschaft, die von Natur aus das Neue über das Alte, den Jungen über den Alten, die Zukunft über die Vergangenheit stellt. Museen, Archive, Friedhöfe und Sammlungen, Feste Jahrestage, Verträge, Protokolle, Denkmäler, Wallfahrtsstätten, Vereine sind die Zeugenberge eines anderen Zeitalters, Ewigkeitsillusionen.“53

Nora beschreibt hier den Gedächtnisort als Fragment, der ein darin enthaltenes Bewusstsein überdauert hat und damit eine Ewigkeitsillusion suggeriert. Hervorzuheben ist, dass Noras Beitrag im Kontext eines brüchig werdenden französischen Selbstverständnisses erschien54, was die These stützt, dass Identitätsdiskurse durch äußere Verunsicherung angestoßen werden: „Wenn Menschen sich wurzellos fühlen, versuchen sie dadurch wieder Sicherheit zu gewinnen, daß sie Feinde und Gefahren identifizieren und ihre Loyalität gegenüber kollektiven Organismen erklären. Häufig sind diese Identifikationen regressiver Natur und drücken das Bedürfnis nach Selbstschutz aus.“55

52 |  Vgl. Lutz Niethammer: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. Reinbeck bei Hamburg, 2000, S. 13. 53 | Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, aus dem Französischen von Wolfgang Kaiser. Frankfurt a. M. 1998, S. 19. 54 |  Siehe dazu Lutz Niethammer: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. Reinbeck bei Hamburg, 2000, S. 13. 55 | Lutz Niethammer zitiert Luisa Passerini. In: Ebd. S. 16.

Begriffsbestimmung

Niethammer zieht die Schlussfolgerung, dass Identität immer dann zur Norm erhoben wird, je weniger sie konkret feststellbar ist.56 Gedächtnisorte, die in Form einer lokalen Fixation den Anspruch erheben, dass Kulturgut einer Gemeinschaft zu transportieren, lassen „[…] Identität als konnotatives Stereotyp [erscheinen, A. C.] insofern, als geschichtliche und gesellschaftliche Phänomene sich bei genauerer Betrachtung durchweg in ihrer konkreten Fülle als nicht identisch erweisen.“57

Niethammer weist darauf hin, dass Identität einem Objekt durch die Art und Bewertung des Vergleichs seitens des Subjekts zugeschrieben wird und damit in der Grundausstattung essentialistische Bedeutung hat.58 Identität entsteht also durch die Nutzung/den Gebrauch in der Alltagskultur. Anhand der Nutzungsprozesse kanalisieren sich die damit zusammenhängenden Geschichten mit der Zeit in Gedächtnisorten. Diese Orte können durch Objekte, Räume, Menschen sowie olfaktorische Reize59 dargestellt werden und stehen sinnbildlich für die Verbundenheit zur eigenen Geschichte. Im Musée Sentimental exponiert Spoerri diese persönlichen Gedächtnisorte und legt so dar, wie sich der kulturelle Tenor einer Stadt in der Materialisierung ausdrückt. Zudem offenbart sich in seinem Konzept, dass die Identität einer Stadt sich nicht über lokal verankerte Monumente abbildet, sondern vielmehr dynamisch transformierbar ist. Dies zeigt sich darin, dass Identität bei Spoerri über individuelle Alltagsgeschichte dargelegt werden, deren Historie sich wiederum in Gedächtnisorten abbildet, die der Künstler teilweise erfunden hat. Der Rezipient identifiziert sich also hier mit Gedächtnisorten, die in der Realität mitunter gar nicht existieren. Die dahinterstehende Geschichte ist demnach wichtiger als ihre Materialisierung. In Spoerris Musée kommt

56 |  Vgl. Lutz Niethammer: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. Reinbeck bei Hamburg, 2000, S. 39. 57 |  Ebd. 58 |  Vgl. ebd., S 43. 59 | Merkzeichen oder Gedächtnisor te können sich wie Trond Maag festhält ebenso aus olfaktorischen, akustischen und emotionalen Faktoren konstituieren. Vgl. Trond Maag: Orientierungspunkt Bahnhof. In: Des-Orientierung 2, hg. von Ruedi Baur, Clemens Bellut, Stefanie-Vera Kockot, Andrea Gleininger. Baden 2010, S. 228-233: S. 231.

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damit alltäglichen Objekte eine Autorität zu, wie man sie sonst nur in Monumenten oder Denkmälern realisiert sieht. Die in Spoerris Musée dargestellten Gedächtnisorte widersetzen sich einer Ewigkeitsillusion und verweisen auf das Temporäre und Vergängliche im Alltag. Nicht vergessen werden sollte nämlich, dass auch lokal fixierte, Generationen überdauernde Gedächtnisorte, immer einem Wandel unterlegt sind: „Jeder politische Systemwechsel hat zu Umbenennungen geführt, bei denen die jeweils herrschende Gegenwart eine Revision der geschichteten Geschichte anstrebt. Die heterogenen historischen Spuren sollten mit einer möglichst einheitlichen Botschaft überschrieben werden.“60

Demnach können auch im Boden verankerte Gedächtnisorte als Form der historischen Spur nicht als unverbrüchliches städtisches Gedächtnis gesetzt werden. Vielmehr setzten sich mit dem Verlust eines Milieus oder Lebenszusammenhangs von Gedächtnisorten neue Geschichtsbildungen in Gang: „Ein Gedenkort ist das, was übrigbleibt von dem, was nicht mehr besteht und gilt. Um dennoch fortbestehen und weitergelten zu können, muß eine Geschichte erzählt werden, die das verlorene Milieu supplementär ersetzt. Erinnerungsorte sind zersprengte Fragmente eines verlorenen oder zerstörten Lebenszusammenhanges. Denn mit der Aufgabe und Zerstörung eines Ortes ist seine Geschichte noch nicht vorbei; er hält materielle Relikte fest, die zu Elementen von Erzählungen und damit wiederum zu Bezugspunkten eines neuen kulturellen Gedächtnisses werden. Diese Orte sind allerdings erklärungsbedürftig; ihre Bedeutung muß zusätzlich durch sprachliche Überlieferungen gesichert werden.“61

Ähnlich wie Spoerri, betont Assmann hier nicht die Orte selbst, sondern die dahinterstehenden Geschichten, die ersetzt und erzählt werden müssten, um Gedächtnisorte lesbar zu machen. Narration wird folglich zum konstitutiven Moment, um im urbanen Kontext eine Erinnerungsarbeit leisten zu können. Denis Rioux bemerkt zur narrativen Dimension des Urbanen:

60 | Aleida Assmann: Geschichte im Gedächtnis. München 2007, S. 114. 61 | Ebd., S. 309.

Begriffsbestimmung

„Städte müssen fähig sein, das Imaginäre wiederzugeben, das im Geist ihrer Bewohner wohnt [Herv. im Orig.]. Städtedesign dreht sich um Anordnung und Form, aber ebenfalls um Rhythmus, Riten und die Fabeln und Geschichten, die in ihnen zugegen sind. Städte müssen als Bühne für die Gesamtaufführung des Lebens konzipiert und gedacht werden, mit ihrer fiktiven und imaginären Dimension, gemäss [Fehler im Orig.] der archetypischen Organisationsform des Geschichtenerzählens.“62

Rioux hebt hier hervor, dass Stadtgestaltung sich um die in der Stadt geronnenen Geschichten oder Riten dreht bzw. drehen sollte. Daniel Spoerri hat diese Geschichten aufgespürt und sie zu Gedächtnisorten erhoben. Walter Grasskamp schreibt in diesem Zusammenhang vom „Heimat-Anker“ 63: „Es ging Spoerri, könnte man sagen, um solche Dinge, die wie emotionale Heimat-Anker wirken können, aber er befragte sie quer zu den üblichen musealen und ästhetischen Hierarchien. […] So kann Kunst die Stadtwahrnehmung verändern. 80 Prozent der Stadtbewohner laufen doch durch ihre Stadt, als wenn sie eine Kulisse wäre. Was sollen sie sich auch Gedanken darüber machen, wer hinter welchem Fenster wohnt? Die Großstadt hat eine materielle Benutzeroberf läche, darauf laufen wir wie die Ameisen herum und haben ein paar merkfähige Orte, die man nennen kann, wenn jemand fragt: »Wo kommst du her?« Spoerri hat die Leute auf den Gemeinplätzen eingefangen und dann sozusagen auch hinter die Fassaden geschickt.“64

Grasskamp macht deutlich, dass künstlerische Methoden die Stadtwahrnehmung verändern können. Besonders hervorgehoben wird dabei der Blick auf die urbanen Zwischenräume, also auf das, was den Charakter einer Stadt, abgesehen von ihren Monumenten und kulturellen Highlights, ausmacht. Gerade der Blick hinter die Fassade ermöglicht so auch die Nähe zum vermeintlich Fremden. Betrachtet wird nicht nur eine allgemei-

62 | Denis Rioux: Das Imaginäre der Stadt und die Erfahrung der Aneignung. In: „Meine, deine schönste Stadt der Welt“, hg. von Design2context. Baden 2010, S. 157-162: S. 161. 63 | Walter Grasskamp: Interview. »›Nichts altert schneller als ein Avantgardist‹, ich meine dieser Satz gehört doch gestickt!«. In: Musée Sentimental 1979. Ein Ausstellungskonzept, hg. von Anke te Heesen, Susanne Padberg. Ostfildern 2011, S. 118-136: S. 123 f. 64 | Ebd.

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ne Oberfläche, sondern die dahinter stehende subjektive Geschichte des Einzelnen. Man kann das Musée Sentimental damit als ein „autonomes Gedächtnis des Sozialen“65 betrachten, das durch die Exponate und die daran geknüpften Geschichten greif bar wird. Der Blick Spoerris hinter die Kulisse ermöglichte dabei die Herausbildung neuer Gedächtnisorte, die Grasskamp als „Heimat-Anker“ beschreibt. Im Bereich historischer Inszenierung und gefühlsbetonter Raumwahrnehmung wird von Aleida Assmann das gestalterisch sentimentale Projekt „The Detachment – Die Entfremdung“ von der französischen Künstlerin Sophie Calle benannt, das 1996 in Berlin realisiert wurde. Das Projekt steht als Beispiel für die Inszenierung einer sentimentalen Gedächtniskultur im Zusammenhang mit dem Musée Sentimental: „Sie [Sophie Calle, A. C.] suchte Orte auf, an denen im Berliner Stadtbild politische Slogans und Symbole der DDR entfernt worden waren, und untersuchte gleichzeitig die Anwesenheit oder Abwesenheit dieser Elemente in der Erinnerung der Anwohner: […] Durch die Befragung von Passanten leistete Calle einen empirischen und sehr konkreten Beitrag nicht nur zur Frage nach der Aufmerksamkeit von Passanten im urbanen Raum, sondern auch zur Frage nach Geschichte im Gedächtnis. Die oft sehr emotionalen Reaktionen der Befragten zeigten zum einen, wie unscharf die Wahrnehmung von Veränderungen und wie genau die Registratur des Gedächtnisses ist, zum anderen aber auch – und das widerspricht dem ersten Punkt keineswegs –, dass das Verschwundene im Bewusstsein der Passanten noch sehr gegenwärtig ist.“ 66

In dem Projekt von Sophie Calle wird zum einen die Rolle des Gedächtnisses mit der Emotionalität sowie auch die Musealität des Urbanen ersichtlich, das die Einträge des Gedächtnisses speichert und exponiert. Künstlerische Arbeiten wie „The Detachment – Die Entfremdung“ oder auch das

65 | Gerald Echterhoff, Martin Saar: Einleitung: Das Paradigma des kollektiven Gedächtnisses. Maurice Halbwachs und die Folgen. In: Kontexte und Kulturen des Erinnerns: Maurice Halbwachs und das Paradigma des kollektiven Gedächtnisses, hg. von Gerald Echterhoff, Martin Saar. Konstanz 2002, S. 13-37: S. 29. 66 | Aleida Assmann: Geschichte im Gedächtnis. München 2007, S. 168 f.

Begriffsbestimmung

Musée Sentimental revitalisieren den Raum als Funktionsgedächtnis67 indem sie emotionale Geschichten an ihn zu binden.

2.3 Die Stadt als Palimpsest Henri Lefebvre beschreibt die Stadt als ein Buch dessen Schrift niemals vollendet wird: „Die Stadt schreibt sich auf ihren Mauern, in ihren Straßen nieder. Niemals jedoch wird diese Schrift vollendet werden. Das Buch hat kein Ende und viele leere oder zerrissene Seiten.“68

Für eine Verbildlichung Lefebvres‘ Feststellung eignet sich der Palimpsest, das von Aleida Assmann folgendermaßen definiert wird: „Ein Palimpsest ist eine kostbare Pergament-Handschrift, deren Beschriftung von mittelalterlichen Mönchen sorgfältig abgekratzt wurde, um einer Neubeschriftung Platz zu machen. Durch Anwendung geeigneter Mittel kann jedoch der ausgelöschte Text später unter der Überschreibung wieder lesbar gemacht werden. Der Palimpsest ist eine philologische Metapher, die Parallelen zur geologischen Metapher der Schichtung aufweist. Die Stadt ist ein dreidimensionales Palimpsest: auf konzentriertem Raum ist Geschichte immer schon geschichtet als Resultat wiederholter Umformungen, Überschreibungen, Sedimentierungen.“69

Assmanns Beschreibung folgend, besteht die urbane Oberfläche also aus diversen Zeichenschichten, die sich immer wieder überlagern und transformieren. Die Stadt wird hier zur Sedimentablagerung verschiedener sozialer Systeme. Als konkretes Beispiel für die gewählte Metapher soll an dieser Stelle der Templo Mayor in Mexico City angeführt werden:

67 | Vgl. Margret Westerwinter: Museen erzählen. Sammeln, Ordnen und Repräsentieren in literarischen Texten des 20. Jahrhunderts. Bielefeld 2008, S. 86. 68 | Henri Lefebvre: Die Revolution der Städte. München 1972, S.131. 69 | Aleida Assmann: Geschichte im Gedächtnis. München 2007, S. 111 f.

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Sentimentale Urbanität

„Ein Musterfall einer solchen vielfach geschichteten Archäologie des Gegenwärtigen ist der Fund des Templo Mayor im historischen Stadtkern von Mexico City. Diese zentrale Tempelanlage der alten Aztekenhauptstadt Tenochtitlán, die seit dem 16. Jahrhundert von den spanischen Eroberern überbaut worden war, wurde 1978 bei U-Bahn Bauten wiederentdeckt und freigelegt. Seither existiert der Tempel, ganz im Freudschem Sinn, als »Einsprengung in das Gewirre einer Großstadt«. Darüber hinaus ist er aber auch selbst ein Beispiel für ›sich überlagernde Zustände‹, da jeder Herrscher über Tenochtitlán die Tempelpyramide seines Vorgängers als Sockel und Unterlage eines jeweils vergrößerten neuen Tempels benutzt hatte. 70

Anhand des freigelegten Templo Mayor, offenbart sich das Palimpsest nicht nur konkret in seiner Aufschichtung, sondern ebenso in den Überschreibungsprozessen, die sich in dem alltäglichen Umgang mit dem Gedächtnisort ergeben. So veränderte sich durch die Freilegung des Tempels nicht nur die urbane Oberfläche an sich, sondern auch die darauf ablaufenden täglichen Rituale, auch in Form von Aneignungsprozessen. Ausgehend von den Zeit- und Zeichenschichten einer palimpsestartigen Stadt, die ihrerseits mit Erinnerungen bzw. einem Gedächtnis verknüpft sind 71, werden Gestaltungsformen erforderlich, die das Narrative integrieren, um diese Schichten lesbar bzw. aneignungsbar zu machen. Denis Rioux dazu: „Beim Erfahren der Stadt kommen unterschiedliche Arten der Organisation und des L AYOUTS zum Tragen, womit der einzelne seine

70 | Stefan Willer: Kulturelles Erbe. Tradieren und Konservieren in der Moderne. In: Erbe. Übertragungskonzepte zwischen Natur und Kultur, hg. von Stefan Willer, Siegrid Weigel, Bernhard Jussen. Frankfurt a. M. 2013, S. 160-202: S. 180. 71 | „Das Begriffspaar Gedächtnis/Erinnerung stellt sich in Freuds Schriften wie folgt dar: Gedächtnis bezeichnet die Urschrift, die nicht wiederzugewinnen ist, die aber Spuren im Material hinterläßt. Erinnerung dagegen bezeichnet das Umschreiben und die Textproduktion als Akte nachträglicher Sinnkonstitution.“ Gerald Siegmund: Gedächtnis/Erinnerung. In: Ästhetische Grundbegriffe Studienausgabe, 7 Bde., Bd. 2 Dekadent bis Grotesk, hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhardt Steinwachs, Friedrich Wolfzettel. Stuttgart/ Weimar 2001/2010, S. 609-629: S. 628.

Begriffsbestimmung

Alltagserfahrungen neu ordnet, um ihnen Sinn zu verleihen. Eine dieser Arten ist das Geschichtenerzählen.“ 72

Bezogen auf die Stadt als Palimpsest ist das Narrative demnach als „archetypische Organisationsform“73 zu verstehen.

2.4 Das Sentimentale Der Begriff sentimental kommt aus dem Französischen von sentir (dt. fühlen/empfinden) und beschreibt einen subjektiven Sinneszustand, der den Menschen unmittelbar und persönlich betrifft und ausdrückt, was dieser empfindet.74 Den lebensweltlichen Ausgangspunkt der Entwicklung des Sentimentalitätsbegriffs bildet in der vorliegenden Arbeit die sentimentale oder auch empfindsame Reise des 18. Jahrhunderts.75 Sie ist der kulturelle

72 | Denis Rioux: Das Imaginäre der Stadt und die Erfahrung der Aneignung. In: „Meine, deine schönste Stadt der Welt“, hg. von Design2context. Baden 2010, S. 157-162: S. 160 f. 73 | Ebd., S. 160. 74 | „Das Sentimentale wird somit bestimmt als ein Phänomen, in dem sich Empfindung und Gefühl immer schon untrennbar verschränkt haben mit Phantasie und Reflexion. Die ›Dialektik von [Gefühls-, A. C.] Akzent und Reflexion‹ gehört zu den unverzichtbaren Parametern des Sentimentalen, dessen Objekte der Wahrnehmung allesamt das Medium eines inneren Bedürfnisses ausmachen […].“ Volker Steffen: Unfähigkeit zu vergessen: Über das sentimentale Prinzip der Erinnerung. Bielefeld 2012, S. 25. 75 | Die empfindsame Reise markiert den lebensweltlichen Zusammenhang, in dem die sentimentalische Empfindung des Naiven, befreit von der Last des Alltags genossen wird. Vgl. Matthias Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller Handbuch. Leben-Werk-Wirkung, Stuttgart 2005, S. 456. Das Naive ist hierbei im schillerschen Sinn ein Verhältnisbegriff. Die sentimentale Stimmung ruft das Naive hervor und zählt daher Schiller folgend zu den „gemischten Gefühlen“. Vgl. Matthias Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgar t 2005, S. 455 f. Siehe dazu auch Peter Szondi: Das Naive ist das Sentimentalische. Zur Begriffsdialektik in Schillers Abhandlungen. In: Euphorion (1972), H. 66, S. 174-206: S. 205.

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Sentimentale Urbanität

Auslöser einer erhabenen sentimentalen Rührung 76 ausgelöst durch das Welt-/Naturerlebnis. Der Begriff der Sentimentalität qualifizierte sich in der Empfindsamkeit als Tendenz der europäischen Aufklärung: „[Dem Begriff der Sentimentalität, A. C.] […] liegen Laurence Sternes Roman A Sentimental Journey through France and Italy (1768) und Johann Joachim Christoph Bodes Übertragung ins Deutsche ( Yoricks empfindsame Reise durch Frankreich und Italien, 1770) zugrunde; letztere entstand im übrigen auf Gotthold Ephraim Lessings Vorschlag. Auch ›Sentimentalität‹ wurde aus dem englischen ›sentimentality‹ am Ende des 18. Jh. in latinisierter Form übernommen. Das Wort bringt die Distanzierung gegenüber dem zur Mode gewordenen Phänomen der Empfindsamkeit im Sinne von Gefühlsüberschwang oder Rührseligkeit zum Ausdruck […].“[Herv. im Orig.] 77

Der naturwissenschaftlich geprägte Entdeckergeist der Aufklärung verband sich in der sentimentalen Reise mit der emotionalen Wahrnehmung des Natürlichen. Diese Wahrnehmung wandte sich gegen den Rationalismus und integrierte das Emotionale und Transzendente. Fontius dazu:

76 | „Dabei sollte das französische Wort ›sentiment‹, das in der vorangegangenen Periode noch für ›Meinung‹ oder ›Urteil‹ gestanden hatte und von dem das englische ›sentiment‹ entlehnt ist, schließlich auch die Bedeutung von ›Gefühl‹ annehmen, um den unendlichen Facettenreichtum der feineren Seelenregungen zu bezeichnen, wohingegen ›passion‹ jetzt den grobschlächtigeren Naturen vorbehalten und zurückgedrängt wurde.“ Martin Fontius: Sensibilität/Empfindsamkeit/Sentimentalität. In: Ästhetische Grundbegriffe Studienausgabe, 7 Bde., Bd. 5 Postmoderne bis Synästhesie, hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhardt Steinwachs, Friedrich Wolfzettel. Stuttgar t/Weimar 2003/2010, S. 487-509: S. 493. Im historischen Wörterbuch der Philosophie wird zum Sentiment ausgeführt: „Bei dem englischen ‹sentimental› wie bei dem deutschen ‹empfindsam› ist zu berücksichtigen, daß sie mit ihrer Ableitung auch inhaltlich ursprünglich eine Beziehung zu Begriffen der Sinneswahrnehmung (‹sense›, ‹Empfindung›) haben. Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, 13 Bde., Bd. 9: Se-Sp. Basel 1995, S. 675-682: S. S. 679. 77 | Martin Fontius: Sensibilität/Empfindsamkeit/Sentimentalität. In: Ästhetische Grundbegriffe Studienausgabe, 7 Bde., Bd. 5 Postmoderne bis Synästhesie, hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhardt Steinwachs, Friedrich Wolfzettel. Stuttgart/Weimar 2003/2010, S. 487-509: S. 487.

Begriffsbestimmung

„Sentimentalität ist hier etwas mehr als ein in der Unterhaltungskunst vernutztes Relikt aus den besseren Tagen der Empfindsamkeit. Zum ersten Male ist sie als eine grundlegende Gefühlsdisposition beschrieben, die sich als Reaktion auf die Rationalisierung und ›Entzauberung der Welt‹ (Max Weber) herausgebildet hat und die ihre ungebrochene Wirkungsmacht bis heute Jahr für Jahr am Heiligabend, […] stets von neuem unter Beweis stellt.“ 78

Eine Aufwertung des Gefühlsbegriffs erfolgte im 17. und 18. Jh. u. a. durch Blaise Pascal und Jean Jacques Rousseau. In England begann die Auseinandersetzung mit dem Begriff bei den Sensualisten 79, in Deutschland war sie in der Romantik und Klassik zu finden. 80 Die sinnliche Empfindung oder das Gefühl waren hier genuiner Ursprung jeglichen Denkens und Handelns. In der Antike wurde das Problem der Gefühle unter den Leitbegriffen affectus und passio verhandelt, was das unkalkulierbare/ Leiden hervorrufende der Affektregung des Gefühls abbildet. 81 Die affektive Sentimentalität als gefühlsbasierte Wahrnehmung steht dabei dem kalkulierenden Intellekt oppositionell entgegen. Ben-Ze´ev folgend bezeichnet die Emotion einen besonders effektiven

78 | Martin Fontius zitiert Siegfried Unseld, ebd. S. 507. 79 | „Im System der Sentimentalität passen Sensualismus und Mystizismus überzeugend zusammen: das Konkrete und Triviale auf der einen Seite und das Unerklärliche und unendlich Scheinende auf der anderen Seite.“ Volker Steffen: Unfähigkeit zu vergessen. Über das sentimentale Prinzip der Erinnerung. Bielefeld 2012, S. 157. 80 | Vgl. Heidemarie Bennent-Vahle: Mit Gefühl denken. Einblicke in die Philosophie der Emotionen. Freiburg/München 2013, S. 100. 81 | Vgl. Brigitte Scheer: Gefühl. In: Ästhetische Grundbegriffe Studienausgabe, 7 Bde., Bd. 2 Dekadent bis Grotesk, hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhardt Steinwachs, Friedrich Wolfzettel. Stuttgart/Weimar, 2001/2010, S. 629-661: 629. Siehe dazu auch Hartmut Grimm: Affekt. In: Ebd., S. 16-49: S. 17.

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Sentimentale Urbanität

Modus der Wirklichkeitserschließung.82 Emotionen wären intentional und hätten immer einen Weltbezug, ihnen sei eine spontan-subjektive evaluative Komponente inhärent und sie hätten eine hohe Motivationskraft, da sie das Subjekt unmittelbar zum Handeln veranlassen.83 Brigitte Scheer legt dar: „[…] es wurde hinsichtlich der Funktionen des Gehirns nachgewiesen, »daß Großhirnrinde und limbisches System eine unauf lösliche Einheit bilden, und daß Kognition nicht möglich ist ohne Emotion, den erlebnismäßigen Ausdruck des Prozesses der Selbstbewertung des Gehirns«. Hier wird kein reduktionistischer Physikalismus zur Erklärung von Vernunft und Gefühl angestrebt, wohl aber »eine sehr enge Parallelität zwischen Hirnprozessen und kognitiven Prozessen« behauptet, die Anlaß dazu geben kann, das Verhältnis von Vernunft und Gefühl neu zu bestimmen.“84

82 | Demfolgend wird das zu memorierende Material im Musée Sentimental mit mentalen Funktionen des Wahrnehmens und Fühlens verknüpft und so die Effektivität des Erinnerungsprozesses gesteigert. Vgl. Carl F. Graumann: Phänomenologische Gedanken zur psychologischen Gedächtnisforschung. In: Kontexte und Kulturen des Erinnerns: Maurice Halbwachs und das Paradigma des kollektiven Gedächtnisses, hg. von Gerald Echterhoff, Martin Saar. Konstanz 2002, S. 59-75: S. 60. Die Erinnerbarkeit bzw. die produktive Informationsvermittlung sind zentrale Topoi der empirischen Psychologie. Die Forschung konnte bisher darlegen, dass das Erinnerungsvermögen zunimmt, „[…] wenn zum Zeitpunkt des Erinnerns mit den Informationen verbundene Erinnerungs- bzw. Abrufhinweise vorliegen, wenn die zu behaltenden Informationen für die erinnernde Person Bedeutung, Kohärenz und Plausibilität aufweisen, wenn sie gut in bestehende kognitive Schemata passen, wenn sie häufig reaktiviert werden oder wenn sie einen Bezug zum Selbstkonzept bzw. zur Identität des Erinnernden haben.“ Gerald Echterhoff, Martin Saar: Einleitung: Das Paradigma des kollektiven Gedächtnisses. Maurice Halbwachs und die Folgen. In: Kontexte und Kulturen des Erinnerns: Maurice Halbwachs und das Paradigma des kollektiven Gedächtnisses, hg. von Gerald Echterhoff, Martin Saar. Konstanz 2002, S. 13-37: S. 25. 83 | Vgl. Heidemarie Bennent- Vahle: Mit Gefühl denken. Einblicke in die Philosophie der Emotionen. Freiburg/München 2013, S. 104 f. 84 | Brigitte Scheer: Gefühl. In: Ästhetische Grundbegriffe Studienausgabe, 7 Bde., Bd. 2 Dekadent bis Grotesk, hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhardt Steinwachs, Friedrich Wolfzettel. Stuttgart/Weimar, 2001/2010, S. 629-661: S. 631

Begriffsbestimmung

Scheer fordert hier eine Neubestimmung des Zusammenhangs von Vernunft und Gefühl. Die abendländische Tradition jedoch ist geprägt durch die fundamentale Opposition von Körper und Geist 85, Sinnlichkeit und Vernunft, Gefühl und Intellekt.86 Die Trennung von Körper und Geist bildet sich in der Gegenwart unter anderem durch eine kulturelle Entfremdung des technischen Fortschritts, der Simulation und des Kalküls ab, die den Idealen der großen Gefühle heute diametral entgegensteht.87 Dietmar Kamper hebt hervor: „[…] daß zur Überwindung der Kälte der äußerlichen Welt (des »kalten« Verstandes) die Herzwärme einer inneren Kraft taugt und auch gebraucht werden kann, daß ein vernünftig allgemeines Ordnungsprinzip die Lebenswünsche der Menschen zu ersticken droht und deshalb wie eine Fessel aufgesprengt werden muß, daß gegen das Gefängnis einer isolierenden Vergesellschaftung die Macht der Sinnlichkeit und der körpernahen Phantasie mobilisiert zu werden vermag.“88

Um die Mobilisierung der Phantasie und der Sinnlichkeit, bzw. des emotionalen Erlebens geht es in der hier vorliegenden Arbeit. Dazu werden diverse gestalterische Mittel vorgeschlagen und erprobt, die das Subjekt in einen sentimentalen Ref lexionsprozess einbeziehen. Das Sentimentalische ist durch das nicht Sichtbare bestimmt. So ist der sentimentalische Dichter, Lyotard folgend, ebenso wie der Gestalter mit dem Paradox konfrontiert, das Nicht-Darstellbare darzustellen. Das Emotionale wird gestalterisch über innere Bilder vermittelt,

85 | „Das Gefühlsleben bzw. die Affekte werden dem Animalisch-Körperlichen zugeordnet; die spezifisch menschliche Auszeichnung liegt dagegen in der Vernunft (im oberen Seelenteil). Ihr obliegt es, die unberechenbaren und womöglich maßlosen Affekte und Leidenschaften zu zügeln, zu beherrschen oder wenigstens im Sinne des Logos zu modifizieren (Chrysippos).“ Brigitte Scheer: Gefühl. In: Ästhetische Grundbegriffe Studienausgabe, 7 Bde., Bd. 2 Dekadent bis Grotesk, hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhardt Steinwachs, Friedrich Wolfzettel. Stuttgart/Weimar, 2001/2010, S. 629-661: S. 630. 86 | Vgl. ebd. 87 | Die Negation des Sinnlichen widerspricht an dieser Stelle dem Menschsein an sich, weil das Gefühlte eine existenzielle menschliche Ausdrucksform darstellt. 88 | Dietmar Kamper: Zur Geschichte der Einbildungskraft. München 1981, S. 29.

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Imagination und Einbildungskraft 89 des Rezipienten werden stimuliert. Die Sentimentalität ist in diesem Zusammenhang durch ihre Subjektivität bestimmt und beinhaltet die Fähigkeit, Dinge zu etwas anderem zu machen, als sie tatsächlich sind. Dies legt auch Matthias Luserke-Jaqui dar: „Sentimental bzw. sentimentalisch ist demnach eine Empfindungs- und Schreibweise, in der die Subjektivität des Autors gegenüber der bloßen Faktizität seiner Gegenstände hervortritt und Übergewicht erhält.“90

Die Bedeutung der Subjektivität gegenüber der Faktizität lässt hier bereits erahnen, dass das Sentimentale ebenso spekulative Anteile integriert. Volker Steffen folgend hängt das Sentimentale daher auch eng mit einer Verfälschung zusammen. Er weist nach: „Verklärende Erinnerung hat nach dem Prinzip des Sentimentalen ihre komplementierende Entsprechung im utopischen Design. Idealisierte Vergangenheit wird hoffnungsvoll als Vision in die Zukunft projiziert. Wir haben es bei dieser temporalen Strategie des Sentimentalen mit einem duplizitären Prinzip der Verfälschung zu tun. Zeitgleich gesehen bewegt sich das Sentimentale spielend in den beiden denkbaren Formen des Nicht-Seienden, womit sich auch schon ein weiterer bestimmender Zug des Sentimentalen andeutet: Das, was nicht ist, allemal wichtiger zu nehmen als das, was ist. Die Realität der Gegenwart wird auf diese Weise doppelt desavouiert.“91

89 | „Auf der Einbildungskraft gründet sich für [Johann Gottlieb, A. C.] Fichte nicht nur künstlerische Kreativität, sondern »die Möglichkeit unsers Bewußtseins, unsers Lebens, unsers Seins für uns, als Ich«.“ Jochen Schulte-Sasse: Einbildungskraft/Imagination. In: Ästhetische Grundbegriffe Studienausgabe, 7 Bde., Bd. 2 Dekadent bis Grotesk, hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhardt Steinwachs, Friedrich Wolfzettel. Stuttgart/ Weimar, 2001/2010, S. 88-121: S. 94. 90 | Matthias Luserke-Jaqui (Hg.): Schiller Handbuch. Leben-Werk-Wirkung. Stuttgart 2005, S. 467. 91 | Volker Steffen: Unfähigkeit zu vergessen. Über das sentimentale Prinzip der Erinnerung. Bielefeld 2012, S. 26.

Begriffsbestimmung

Demnach hängen Sentimentalität und Utopie unmittelbar zusammen. Die Strategie des Sentimentalen idealisiert Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Das Sentimentale strahlt damit für den Wahrnehmenden eine Vollkommenheit aus, die sich auch im sentimentalen Objekt vermittelt: „Epochen, Stile, Modelle und Serien, Wertvolles und Kram, Echtes und Plunder – nicht von all dem ändert seine erlebte Einzigartigkeit: Es ist weder echt noch unecht, es ist »vollkommen«; es ist weder Inneres noch Äußeres, es ist ein »Alibi«; es ist weder Synchronie noch Diachronie (es stellt sich weder in eine räumliche noch in eine zeitliche Struktur), es ist anachron.“92

Baudrillard hebt den Anachronismus als kennzeichnend für das sentimentale Objekt hervor. Dieses Faktum wird für die weitere Untersuchung des Musée Sentimental und seiner Objekte noch entscheidend sein, da sich in dem Spoerrischen Ausstellungsmodell eine hypothetische Geschichtsschreibung offenbart, die sich in erster Linie durch das sentimentale Objekt realisiert.

92 | Jean Baudrillard: Das System der Dinge. Über das Verhältnis zu alltäglichen Gegenständen. Frankfurt a. M., 3. Auflage 2007, S. 104.

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3. Forschungsgrundlage 3.1 Das Musée Sentimental und seine künstlerischen Strategien Im Jahr 1962 wurde in Paris das Buch „Topographie anecdoté du hasard“ von Daniel Spoerri veröffentlicht. Die Topographie befasst sich mit der Geschichte bzw. dem exakten Zustand eines blauen Tisches aus Spoerris damaligem Appartement, dem Zimmer Nummer 13 im vierten Stock des Hotel Carcasonne in der 24 Rue Mouffetard in Paris.1 Spoerri hält in der Topographie den am 17.10.1960 um 15:45 Uhr vorgefundenen Zustand seines blauen Tisches fest. Er befasst sich dabei mit den Gegenständen auf dem Tisch, ihrer genauen Position sowie einer akribischen Beschreibung und Analyse der einzelnen Objekte. Bezeichnend ist, das Spoerri in der Topographie Narrativierungsmethoden einsetzt, indem er die Identität der auf dem Tisch befindlichen Objekte durch Anekdotisierung2 einkreist.3 Gleichzeitig arbeitet der Künstler mit Assoziationsketten, die von den beschriebenen, auf dem Tisch befindlichen Trivialobjekten ausgehen. 4 Die Dinge werden dabei mit ihrem individuellen Eigenleben, Erinnerungen des Künstlers, ihrer spezifischen Vorgeschichte und ihrem Weg auf den blauen Tisch verknüpft. Das Werk, welches später durch Dieter Roth als „Topographie des Zufalls“ ins Deutsche übersetzt wurde 5, macht zudem das Moment des Zufalls in Spoerris künstlerischem Schaffen deutlich.

1 | Siehe dazu auch Martin Zeiller: Musée sentimental – Oberfläche, Organisation, Obszönität, Magisterarbeit am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen. Tübingen 1986, S. 7. 2 | Bazon Brock: Interview. Nicht »wie der Keks in der Schachtel«. In: Musée Sentimental 1979. Ein Ausstellungskonzept, hg. von Anke te Heesen, Susanne Padberg. Ostfildern 2011, S. 89-102: S. 89. 3 | Vgl. Martin Zeiller: Musée sentimental – Oberfläche, Organisation, Obszönität, Magisterarbeit am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen. Tübingen 1986, S. 8. 4 | Vgl. ebd. 5 | Siehe dazu auch Daniel Spoerri: Aber das ist typisch und dieselbe Geschichte – zu Diter Rot. In: Diter Rot oder Dieter Roth, hg. von Thomas Levy. Hamburg 2013, S. 53-54: S. 54.

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Sentimentale Urbanität

Ähnlich seinen Fallenbildern (Tableau-piège) fixiert die Topographie den zufälligen, d.  h. im Alltagshandeln entstandenen Zustand der Objekte auf Spoerris Tisch. Der Moment der Fixierung ist dabei beliebig bestimmt. Martin Zeiller fasst zusammen: „Die “Topographie“ ist Wissenschaft, Dichtung, Memoirenwerk und Kommentar in einem. Wesentliches, Beiläufiges, Kurioses und Grundsätzliches mischen sich miteinander. Sie fußt auf einer privaten, zu großen Teilen “individuellen Mythologie“ […].“6

Zeiller hebt hier einen weiteren für die künstlerische Strategie Spoerris wichtigen Punkt hervor, die Mystifizierung des Alltäglichen und ihre Darstellung über Kontraste des Profanen und Heiligen. Festzuhalten sind anhand der „Topographie des Zufalls“ folgende künstlerische Charakteristika der Strategie Spoerris: 1. Narrativierung durch Anekdotisierung 2. Bildung von Assoziationsketten 3. Integration des Zufalls 4. Mystifizierung des trivial Alltäglichen 5. Arbeit mit Gegensätzen Die Topographie wendete die oben genannten Strategien zunächst nur auf den privaten Raum des Künstlers an. Die genaue topographische Untersuchung des Privatraums wurde später von Daniel Spoerri und der Kunsthistorikerin Marie-Louise von Plessen mit dem Konzept des Musée Sentimental in den gesellschaftlichen Raum übersetzt.7 Die topographische Arbeit wendete sich dabei nicht mehr den Objekten einer bestimmten privaten Situation zu, sondern dehnte sich auf einen spezifischen

6 | Martin Zeiller: Musée sentimental – Oberfläche, Organisation, Obszönität, Magisterarbeit am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen. Tübingen 1986, S. 11. 7 | Vgl. ebd.

Forschungsgrundlage

urbanen Raum 8 und das gesellschaftliche Leben in ihm aus.9 Dieser Raum hieß für das erste Musée Sentimental „Paris“. Hier etablierte Spoerri gemeinsam mit von Plessen erstmals seine Idee eines Museums der Erinnerungsstücke 10 zur Eröffnung des Centre Pompidou Paris

8 |  „In den Musée Sentimenteaux […] wurde ja eigentlich das Tableau-piège -Prinzip, das ein privates Miniterritorium darstellt oder einen Quadratmeter Welt, auf das Territorium einer ganzen Stadt oder Region ausgeweitet, indem historische »Reliquien« zusammengetragen wurden. Und die Zeit, die in einem Fallenbild vielleicht nur eine Stunde dauert (ebensolange wie ein Essen), ist in einem Musée Sentimental die ganze Geschichte dieser Stadt von vielleicht mehreren Tausend Jahren. Und wie beim Tableau-piège, das eine Momentaufnahme dieser vergangenen Zeit darstellt, trifft auch im Musée Sentimental Unwichtiges auf Bedeutendes, ähnlich dem ausgedrückten Zigarettenstummel neben dem goldenen Feuerzeug. Alles liegt auch beliebig nebeneinander, nach dem Zufallsprinzip, im Musée Sentimental dadurch erreicht, dass die Ordnung nicht chronologisch ist, sondern der Willkürlichkeit des Alphabets folgt.“ Daniel Spoerri: Anekdotomania – Daniel Spoerri über Daniel Spoerri. Ostfildern – Ruit 2001, S. 222. [Herv. im Orig.] 9 |  In Bezug auf die Genese des Musée Sentimental wird häufig Bezug genommen auf seinen konzeptionellen Vorläufer, die Kunst- und Wunderkammer der Renaissance. Wie im Verlauf der vorliegenden Arbeit gezeigt wird, ist die Wunderkammer als Vorläufer legitim und darlegbar, jedoch erscheint die Genese von Spoerris Musée aus den Fallenbildern und der Topographie als natürliche Fortführung und logische Konsequenz seines künstlerischen Schaffens. 10 |  Spoerris Idee des Musée Sentimental entwickelte sich durch die Besichtigung eines früheren Feudalpalastes des spanischen Bildhauers Frederic Marès, in dessen oberster Etage er Bierdeckel, Votivgaben, Pfeifenköpfe und weiteren gesammelten Krimskrams ausstellte. (Vgl. Ute Kaltwasser: Aus dem Alltag der alten Stadt. In: Kölner-Stadtanzeiger (1979), Nr. 53, S. unbekannt.) Spoerri weist nach: „Im Bario Gothico von Barcelona nahe der Kathedrale ist ein Museum, „Museo Federico Marès“ [Fehler im Orig.], in einem ehemaligen Feudalpalast eingerichtet. Dieses Museum, in dessen unteren zwei Stockwerken eine sehr schöne Sammlung katalanischer Madonnenund Christus-am-Kreuz-Figuren untergebracht ist, ist gewissermaßen der Taufpate des Namens „Musée Sentimental“, denn in meinem Notizbuch stand seit 10 Jahren eine Notiz, ich müsste mir im obersten Stockwerk das „Museo Sentimental“ anschauen. Als ich dann an Ort und Stelle nachfragte, war es unter diesem Namen gar nicht bekannt. Ich sah, dass es aus einem Sammelsurium verschiedenartigster Gegenstände bestand […].“ Daniel Spoerri: Einleitung. In: Entwurf zu einem Lexikon eines Musée Sentimental de Cologne: Reliquien und Relikte aus zwei Jahrtausenden „Köln Incognito“ nach einer Idee von Daniel Spoerri, hg. von Wulf Herzogenrath. Köln 1979, S. 8-11: S. 8.

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am 1. Juni 1977.11 Diese Urfassung des Musée war im Verhältnis zu den darauf folgenden eher klein und integrierte sich in eine monströse (dreißig Meter lange, fünfzehn Meter breite, zehn Meter hohe) von Jean Tinguely, seinem Assistenten, Joseph Imhof, Niki de Saint Phalle und Bernhard Luginbühl12 als sogenanntes „Crocrodrome par Zig et Puce“13 konzipierte Maschinenskulptur, auch bekannt als „Tatzelwurm“. 14 Alke Hollwedel dazu: „Auf vier mächtigen Stahlträgern, die mit einer Gipsleinwand zu Pranken ausgestattet waren, erhob sich eine Plattform mit dem kastenförmigen Leib des Eisenreptils. ›Zig et Puce ‹ [Herv. im Orig.] stand in Leuchtschrift über der Öffnung an der rechten Flanke, die den Einstieg zu der im Inneren fahrenden Geisterbahn bot […]. Auf dem Rücken der Skulptur lag die motorbetriebene Maschinerie aus Zahnrädern, Bolzen und Eisenträgern offen, die sich nach vorne zu einer frei tragenden Konstruktion aus zwei beweglichen Kiefern verlängerte. Nach dem Entwurf von Niki de Saint Phalle waren die Stahlkiefer mit Gipsleinwand umhüllt und zu einem Reptilienkopf mit mächtigem Gebiß geformt, in dessen Zahnlücken sich Gipsschädel und Knochen häuften. Neben dem Maul hielt die Maschinerie zwei von Luigenbühl [Fehler im Orig.] gestaltete Stahlrohre am Hinterteil der Plastik in Betrieb, aus denen fortwährend Schrott ausgeschieden wurde.“ 15

Im „Bauch“ der reptilienartigen Maschinenskulptur fand sich das erste Musée Sentimental de Paris. Der Exponatkatalog zeigt viele private Objekte aus dem Alltagsleben berühmter Künstler und Persönlichkeiten der französischen Kulturgeschichte. Spoerri und von Plessen dazu:

11 |  Vgl. Alke Hollwedel: Das sentimentale Museum Daniel Spoerris, Magisterarbeit im Fach Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Berlin 1999, S. 10. 12 |  Zu dem Künstlerkollektiv gehörten außerdem die Assistenten Rudolf Tanner, Rico Weber und Paul Wiemer. Vgl. ebd., S. 4. 13 |  Zig ist der Spitzname Tinguely´s, Puce der Spitzname Imhofs. Vgl. ebd. 14 |  Siehe dazu u. a. Martin Zeiller: Musée sentimental – Oberfläche, Organisation, Obszönität, Magisterarbeit am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen. Tübingen 1986, S. 11. 15 | Alke Hollwedel: Das sentimentale Museum Daniel Spoerris, Magisterarbeit im Fach Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Berlin 1999, S. 4 f.

Forschungsgrundlage

„Da konnte man das Totenbett van Goghs, den Reisekoffer Rimbauds, die Nagelschere Brancusis und das Rasierzeug Dantons neben den Seidenstrümpfen der Kaiserin Eugéne und der Violine des Malers Ingres bewundern.“16

Die Exponate, welche von ihrem ursprünglichen Nutzwert hin zu einer Reliquie mit imaginativem Mehrwert verschoben wurden, werden gewissermaßen zu „[…] corpi delicti, [die, A. C.] den Schlüssel zur Lösung bekannter Fälle aus der Kunst und Kulturgeschichte bieten.“17 Die Objekte vertreten kulturhistorische Ereignisse oder bedeutungsvolle Persönlichkeiten, die ihren Besitzer charakterisieren oder von einer bisher noch unentdeckten Seite präsentieren.18 Die Ausstellungsarchitektur des Musée Sentimental de Paris wurde durch Tinguely, Imhof und Weber als Röhre konzipiert, mit in die Wände integrierten Vitrinen und hervorspringenden Schaukästen aus Panzerglas.19 Der Exponatkatalog setzte sich durch Leihgaben französischer Museen und Sammlungen zusammen, die im Konglomerat die französische Kulturgeschichte abbilden sollten.20 In der sogenannten Boutique Aberrante, die an das Musée angegliedert war, wurden einige Objekte zum Kauf

16 | Marie-Louise von Plessen, Daniel Spoerri: Einführung. In: Le Musée Sentimental de Prusse, hg. von Daniel Spoerri, Marie-Louise von Plessen, Berliner Festspiele GmbH/Intendant Ulrich Eckhardt. Berlin 1981, S. 7-10: S. 7. 17 | Alke Hollwedel: Das sentimentale Museum Daniel Spoerris, Magisterarbeit im Fach Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Berlin 1999, S. 12. 18 | „So deckt er [Spoerri, A. C.] anhand der Violine Ingres auf, daß dieser nicht nur malte, sondern auch musizierte.“ Alke Hollwedel: Das sentimentale Museum Daniel Spoerris, Magisterarbeit im Fach Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Berlin 1999, S. 13. „Ich möchte nur auf ein Beispiel hinweisen: die Geige von Ingres – le violon d´Ingres, ein sentimentales Erinnerungsstück, dessen Pointe für Deutsche sich nicht unmittelbar erschließt, denn man muß wissen, daß im Französischen „le violon d´Ingres“ Synonym für Hobby, also Lieblingsbeschäftigung ist, denn Ingres hielt sich selbst für einen ebenso guten Maler wie Musiker.“ Daniel Spoerri: Einleitung. In: Entwurf zu einem Lexikon eines Musée Sentimental de Cologne: Reliquien und Relikte aus zwei Jahrtausenden „Köln Incognito“ nach einer Idee von Daniel Spoerri, hg. von Wulf Herzogenrath. Köln 1979, S. 8-11: S. 9. 19 | Vgl. Alke Hollwedel: Das sentimentale Museum Daniel Spoerris, Magisterarbeit im Fach Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Berlin 1999, S. 10. 20 | Vgl. ebd., S. 10 f.

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angeboten. Hier fanden sich profane Alltagsgegenstände oder Müll aus dem Alltagsleben bekannter französischer Künstler, die allein durch ihren Vorbesitzer an Wert gewannen: „Und dann gab es noch Verkaufsstücke, die anderen Kunstwerken ähnlich waren oder die als Motiv gedient haben könnten, wie das an Mazonis Dose mit Künstlerscheiße [Herv. im Orig.] (1961) erinnernde Fläschchen mit Urin von Ben Vautier, eine Andy Warhols Campel Soup gleichende Dose und ein Foto, wie es sich in den Arbeiten Boltanskis finden könnte, aber was dieser dem Objekttitel nach nie zu Gesicht bekam. Die Verkaufsobjekte waren offensichtlich banal, von wertlosem Material und zudem billig anmutend in Serie produziert und ähnelten somit vor allem in ihrer Verpackung in Folie und mit Geschenkband Kitschartikeln.“21

Diese Ironisierung des Künstlerkults unterstrich Spoerri, indem der komplette Verkaufserlös der Boutique an Amnesty International gespendet wurde. Nicht zuletzt aufgrund des in der Boutique betriebenen Fetischisierens spricht Alke Hollwedel im Zusammenhang mit dem ersten Musée Sentimental auch von einem „Fetischmuseum“22. Alke Hollwedel hält fest: „Auf den ersten Blick war bei der Vielfalt der Objekte nicht klar, ob hier Kunstwerke zum Verkauf standen, Fälschungen, Besitztümer von Künstlern oder Abfallprodukte der Kunst. Und die Objekttitel brachten keine Klärung. Auch wenn die Titel die Objekte in Bezug zu Künstlern oder Kunstwerken setzten, gingen sie über sprachlogische Bezeichnungen der Verkaufsstücke hinaus. Vielmehr erweiterten die alogischen Objekttitel die Trivialobjekte um eine weitere Realitätsebene. Auf dieser Montage von Ding und Bezeichnung basierte die künstlerische Inszenierung der Objekte. Einige der Verkaufsobjekte waren als „Kunstmüll“ inszeniert. Den Objekttiteln nach wurden von Künstlern ungebrauchte und für sie unbrauchbare Materialien angeboten, wie die als Müll betitelte [Fehler im Orig.] Violinenteile Armans oder ein ausgebrannter Motor aus dem Besitz Jean Tinguely, unvollendete und verworfene Werke wie Skulpturenteile von Eva Appli oder von Takis Folon abgelehnte Lithographien von

21 | Alke Hollwedel: Das sentimentale Museum Daniel Spoerris, Magisterarbeit im Fach Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Berlin 1999, S. 8. 22 | Ebd., S. 10.

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schlechter Farbqualität, und der im Zusammenhang mit Kunstwerken entstandene Dreck und Müll wie der bei der Reinigung von Robert Filliou gesammelte Staub von Kunstwerken oder von Spoerri aufgehobene Klebestreifen vom beim Kunsttransport verwendeten Verpackungsmaterial. Andere alltägliche Gebrauchsgüter aus Künstlerbesitz sollten einem Starkult Vorschub leisten wie ein rosafarbenes Hemd von Marcel Duchamp oder Dessous von Niki de Sainte [Fehler im Orig.] Phalle. […] Der Name der Boutique war Programm, so läßt sich aberranté als ›von der gewohnten Form abweichend‹ übersetzen. Die zum Verkauf stehenden Künstlerobjekte wichen von den aus der Kunst gewohnten Stereotypen ins Alltägliche, Abgenutzte oder Kitschige ab.“23

Das Kitschige, das Hollwedel hier benennt, ist ebenso ein Ausdruck der ironischen Herangehensweise Spoerris. Die kitschigen Objekte ironisieren und karikieren24 in diesem Zusammenhang einen Künstlerkult, dessen kitschige Symbole zur „offensichtlichen Demonstration der Paradoxie“25 werden. Bazon Brock weist in diesem Zusammenhang auf das hohe ästhetische Aktivierungspotential von Kitschobjekten hin, da sie die NichtIdentität von Inhalt und Form offensichtlich werden lassen.26 Die Objekte des Musée Sentimental de Paris verwiesen auf ihren vormaligen prominenten Besitzer und bekamen anekdotische Züge durch die an sie gebundenen Begleittexte. So entstand schließlich eine reliquienhafte oder fetischisierte Auratik, die die Objekte der Boutique zu einem reizvollen Souvenir der Kunstwelt machten.27

23 | Alke Hollwedel: Das sentimentale Museum Daniel Spoerris, Magisterarbeit im Fach Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Berlin 1999, S. 9. 24 | Vgl. ebd. 25 | Bazon Brock: Heilsversprechen starker Männer der Wissenschaft und Künste im Narrenspiegel. In: Ders.: Der Barbar als Kulturheld. Gesammelte Schriften 1991–2002, hg. von Anna Zika. Köln 2002, S. 299-310: S. 306. 26 | Vgl. Bazon Brock: Kitsch als Objektmagie. In: Ders.: Der Barbar als Kulturheld. Gesammelte Schriften 1991–2002, hg. von Anna Zika. Köln 2002, S. 578-582: S. 581. 27 | Vgl. Alke Hollwedel: Das sentimentale Museum Daniel Spoerris, Magisterarbeit im Fach Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Berlin 1999, S. 9.

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Die Objekte im Pariser Musée waren wie in einem kulturhistorischen Museum nach spezifischen Sachgruppen sortiert.28 Diese teilten sich auf in eine „Collection tragique“, die Relikte des menschlichen Körpers und Tatwerkzeuge enthielt, das Zimmer von van Gogh aus Auvers-sur Oise, benannt als „Vincent d´une chambre l´autre“ sowie „La Miss à plumes et à poil“, das persönliche Alltagsutensilien wie Kleidung, Accesoires und Tabatieren zeigte, und zuletzt „Le peinture et sa palette“, in der Pinsel, Paletten und sonstige Arbeitsutensilien berühmter Künstler zu sehen waren.29 Martin Zeiller dazu: „In der historischen Abteilung waren unter anderem […] das Rasierzeug Dantons, die Seidenstrümpfe der Kaiserin Eugenie, die Nagelschere Brancusis, die Stricknadeln der Marie Antoinette, die sie vor ihrer Hinrichtung benutzte, und das schwarze Kleid der Edith Piaf zu sehen.“30

Hervorzuheben ist, dass das Musée Sentimental de Paris in erster Linie personenorientiert war. Die Objekte richteten sich dabei an berühmten Persönlichkeiten der französischen Kulturgeschichte aus. Für das Musée Sentimental de Paris ist also ein biographischer Fokus feststellbar, da die Relikte aus dem persönlichen Umfeld der Subjekte Aussagen über ihre Leistungen, Schicksale oder schlicht über ihren Alltag trafen. Der personenorientierte Zugang erweiterte sich im zweiten Musée Sentimental in Köln auf einen eher geographischen bzw. territorialen Blick.31 Die Symbole im Pariser Musée hingegen bildeten Phänomene der Personwerdung bzw. der Identitätspräsentation ab. Die Symbole des Kölner Musée erkennen demgegenüber die Stadt als Subjekt mit einer eigenen Identität, die sich aus diversen Anekdoten konstituiert. Das Musée Sentimental als Konzept zeigt demnach sowohl Phänomene der Person- als auch der Raumwerdung auf und stellt diese gewissermaßen in einen Vergleich. Das Musée Sentimental de Cologne wurde vom 18.03. bis 29.04.1979 im

28 |Vgl.  Alke Hollwedel: Das sentimentale Museum Daniel Spoerris, Magisterarbeit im Fach Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Berlin 1999, S. 11. 29 | Vgl. ebd. 30 | Martin Zeiller: Musée sentimental – Oberfläche, Organisation, Obszönität, Magisterarbeit am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen. Tübingen 1986, S. 11. 31 | Vgl. ebd., S. 12.

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Kölnischen Kunstverein gezeigt und von Daniel Spoerri, Marie-Louise von Plessen und einer Gruppe Studierender32, die der Multimedia-Klasse der Kölner Fachhochschule für Kunst und Design angehörten, geplant und realisiert.33 Die subjektbezogenen Geschichten, wie sie noch im Musée Sentimental de Paris gezeigt wurden, sind im Musée Sentimental de Cologne auf allgemein gesellschaftlich relevante Themen der Stadt Köln ausgedehnt worden. Auch das Ordnungssystem wurde verändert. Anders als beim ersten Mal wurden die Objekte hier nicht mehr nach Sachgruppen sortiert, sondern folgten einem 119-teiligen Stichwortkatalog 34 in alphabetischer Reihenfolge. Martin Zeiller dazu:

32 | „Michael Altmann, Stephan Andreae, Mona Beisegel, Dana Cebulla, Christoph Genske, Andrea Kaiser, Manfred Lohmar, Ingo Meller, Thomas Rehbein, Ingrid Reuter, Heribert Schulmeyer, Petra Siering, Juliane Staack und Udo Vieth.“ Anke te Heesen, Susanne Padberg (Hgg.): Musée Sentimental 1979. Ostfildern 2011, S. 13. 33 | Vgl. ebd. 34 | Diese Stichworte lauteten: „Adenauer, Konrad; Agrippina; Albertus Magnus; Arnsberg, Gottfried von; Bebel, August; Bläck Föös; Blum, Robert; Böll, Heinrich; Brücken, Bürokratie; Butzweilerhof; Casanova; Chauffeure; Circus Williams; Dada; Dom; Drittes Reich; Dumont, Louise; DuMont Schauberg, Verlagshaus; Eau de Cologe, Kölnisch Wasser; Engels, Peter; Ernst, Max; Ernst, Philipp; Eros; Farben; Fassbender, Sammlung; Feinhals, Joseph; Fernsprechbuch; Fetzer; Fixer; Flohfallen; Fränkischer Helm; Franzosenzeit; Frechen; Frings; Fringsen; 1. FC Köln; Galin, Nick; Glocken; Goch, Hermann von; Greven; Hackeney, Nicasius; Hafen; Hänneschentheater; Heilige Drei Könige; Henot, Catharina von; Heringshändler; Herstatt, Iwan D.; Heyne, Huber t; Hexenwesen; Hoerle, Heinrich; Juden; Kallendresser/ Kölner Spiegel; Kappes und Schavu; Kardinal; Karneval; Klaus der Geiger; Klerus; Klingelpütz; Klosterfrau Melissengeist; Kölner Bibel; Kölner Bretter; Kölner Elle; Kölner Klüngel; Kölner Plombe; Kölner Zucker; Kölsch; Kölnische Funken; Lasalle, Ferdinand von; Lempertz; Machtwächter; Mausefalle; Millowitsch, Willy; Mode; Müller, Peter; Museen; Nippes; Nuggelfläsch; Oberbürgermeister; Offenbach, Jacques; Ohm, Georg Simon; Ostermann, Willi; Otto, Nikolaus August; Pest; Pileolus; Platz-Jabbeck; Postkarten; Preußenzeit; Rabaue; Reliquien; Rhein; Rheinbraun; Rheinische Zeitung; Römisches Graffito; Sander, August; Schlachthof Ehrenfeld; Spee, Friedrich von; Terra Coloniensis; Thomas, Carmen; Tiere; Toberer, Margarete; Tonger, Musikhaus; Traven, B.; Tünnes & Schäl; Ubier; Ulner; Ultramarin; Universitäts- und Stadtbibliothek; Ursula; Vedda, Salvatore; Verbundbrief; Weinsberg, Hermann von; WDR; Werbegeschenke; Werth, Jan van; Zell, Ulrich; Zoo“. Wulf Herzogenrath (Hg.): Stichworte. In: Entwurf zu einem Lexikon eines Musée Sentimental de Cologne: Reliquien und Relikte aus zwei Jahrtausenden „Köln Incognito“ nach einer Idee von Daniel Spoerri. Köln 1979, S. 7.

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„Das [Ordnungs-, A. C.] Verfahren war nicht chronologisch und zeigte einen strukturellen Querschnitt der kulturellen und geschichtlichen Topographie der Stadt. Dieses alphabetische Ordnungskriterium bewirkt ein Auf heben der Wertigkeit der einzelnen Dinge, ein splitting der Zusammenhänge. Somit ist ein freies Miteinanderkommunizieren der Objekte und ein Oszillieren der Gedanken im Chaos, in einer Ordnung der Vieldeutigkeit möglich.“35

Zeiller macht hier den Pluralismus deutlich, der im Musée Sentimental de Cologne im Bereich der Objektwahrnehmung und -ausdeutung forciert wurde. An dieser Stelle wird auch klar, dass Spoerri die bereits in der Topographie und den Fallenbildern quantifizierte Methode des Chaos oder des Zufalls in dem musealen Konzept erneut zur Anwendung bringt. Zeiller dazu: „Das Seltsame und Bizarre des Aufeinandertreffens der Dinge ist wie die zufällige Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch […]. Die Dinge sind ihrem gewöhnlichen Ort- und Zeitkontext entrissen. In einem neuen Ort- und Raumzusammenhang ergeben sich neue, überraschende Sinnzusammenhänge in konvergierenden und konkurrierenden Linien und Netzen.“36

Wie bereits in der Topographie als künstlerische Strategie Spoerris implementiert, arbeitete auch das Musée Sentimental mit den offensichtlichen Kontrasten, die sich zwangsläufig aus dem alphabetischen Ordnungsrahmen ergaben.37 Zeiller dazu:

35 | Martin Zeiller: Musée sentimental – Oberfläche, Organisation, Obszönität, Magisterarbeit am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen. Tübingen 1986, S. 12. 36 | Ebd., S. 12 f. 37 | Das Musée Sentimental wird an dieser Stelle gerade durch die kuriosen Sinnlücken zwischen den Exponaten bzw. ihrer Zusammenstellung in Assoziationsketten zum produktiven Erinnerungsmoment. Vgl. Gerald Siegmund: Gedächtnis/Erinnerung. In: Ästhetische Grundbegriffe Studienausgabe, 7 Bde., Bd. 2 Dekadent bis Grotesk, hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhardt Steinwachs, Friedrich Wolfzettel. Stuttgart/ Weimar 2001/2010, S. 609-629: S. 623.

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„Das Alphabet, das an sich hier als Ordnungskriterium absurd scheint, gibt die Möglichkeit, Ungleiches gleichwertig aneinander zu reihen. Dieses Prinzip wurde „im 19. Jahrhundert beim “Orbis pictus“ angewandt: Kinderbüchern, in denen auf 24 Seiten jeweils die Dinge abgebildet sind, die mit dem gleichen Buchstaben anfangen. So ergab sich dann eine absurde Zusammenstellung und Mischung aus heimatlich Bekanntem und fremdem Exotischen in Wort und Bild. Zusammenhänge entstehen im Musée sentimental ständig neu und alte Zusammenhänge werden aufgebrochen […].“38

Die alphabetische Struktur des Musée Sentimental ermöglichte dem Rezipienten ein „sich treiben lassen“39 durch die Ausstellung. Indem der Weg durch die Ausstellung und die individuelle Ausdeutung der Exponate offengelassen wurde, strebte Spoerri eine emotionale Gesamterfahrbarkeit an, die der Erlebnisdichte im Alltag nahekommt.40 Ähnlich wie in den Kunst- und Wunderkammern der Renaissance, die als Vorläufer des Musée Sentimental betrachtet werden können41, liegt ein fragmentarischer Gesamtzusammenhang durch die Exponate vor.42 Die Objekte als auch die Ausstellung als Ganzes weisen über sich selbst hinaus, um den Kosmos der Kulturgeschichte Kölns auf einen kleineren musealen Kontext zu destillieren.

38 | Martin Zeiller: Musée sentimental – Oberfläche, Organisation, Obszönität, Magisterarbeit am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen. Tübingen 1986, S. 15. 39 | Zeiller vergleicht den Rezipienten dementsprechend auch mit einem Flaneur. Vgl. ebd., S. 17. 40 | Vgl. ebd., S. 16. 41 | „Gemeinsam mit den Schatz- und Wunderkammern ist diesen Museumsinszenierungen [der Spurensucher, A. C.] auch die grenzüberschreitende Methodik, sie überwinden die Idiosynkrasie der Einzelwissenschaften. Es geht hier um das kombinatorische Prinzip und nicht um die stoffliche Fülle. Beide benutzen analoge Verfahrensweisen und arbeiten mit einer Ästhetik des Allegorischen.“ Ebd., S. 28. 42 | Folglich kann man bei dem Ausstellungskonzept auch von einem musée imaginaire ausgehen, wie Martin Zeiller folgerichtig festhält. Dies führt er darauf zurück, dass die Ausstellung nur im Fragment vorläge und die einzelnen Teile dabei über sich selbst hinauswiesen. Im Unterschied zum Malvrauxschen Musée Imaginaire ginge es Spoerri dabei jedoch nicht um eine Intellektualisierung der Kunst. Vgl. ebd., S. 17.

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Exemplarisch ist dies anhand der unter dem Ordnungsbuchstaben „S“ im Musée Sentimental de Cologne angeführten Inhalte „Sander, August“; „Schlachthof Ehrenfeld“ und „Spee, Friedrich von“ darzulegen. Die drei inhaltlichen Punkte versammelten Profanes, Kurioses und Mystisches unter sich. So gehörten zu August Sander ein Vergrößerungsgerät und eine 18 x 24 cm Holzkamera, zum Schlachthof Ehrenfeld wurden eine Keramikplatte aus der Großviehantriebshalle, Bezoar- und Magensteine sowie ein Kotwagen exponiert.43 Zum Thema Friedrich von Spee zeigten Spoerri und von Plessen die Cautio Criminalis Ausgabe von 1631.44 Ebenso lässt sich anhand der Anekdoten zu den Exponaten anschaulich die Bildung einer Assoziationskette darlegen. Spoerri dazu: „Ich möchte wieder eine Anekdote erwähnen: Es ging um den Schlachthof in Ehrenfeld, wobei ich überhaupt nicht wusste, dass es ein ganzes Quartier dieses Namens gibt. Für mich war sofort der Schlachthof im Ehrenfeld identisch mit dem Schlachtfeld der Ehre, und automatisch gesellte sich dazu der jedem Gymnasiasten bekannte Satz »Dulce et decorum est pro patria mori« von Horaz, und plötzlich verselbständigte sich dieses lateinische Wort zu der Assoziationskette »dulce« (»süss«) – Kölner Zucker, »decorum« und »patria« – Vater Rhein (symbolisiert mit Tafelaufsatz aus dem Ratsilber), und »mori« war dann der Schlachthof mit der abgewetzten Messersammlung und einem Kotwagen. Vielleicht von dort noch einen Schritt weiter zu den Haarsteinen aus Tiermägen, die wir auch im Schlachthof fanden. Sie sahen wie Plastikkugeln aus, und wir wussten nicht, was sie darstellen sollten. Später gingen wir diesen Merkwürdigkeiten nach und stellten fest, dass sie im Mittelalter in eben diesen Kunst- und Wunderkammern als Bezoare hochverehrt und von den grössten Künstlern des Augsburger Kunsthandwerks der Spätrenaissance, zum Beispiel von Wenzel Jamnitzer, gefasst wurden. Sie galten als

43 | Vgl. Wulf Herzogenrath: Beginn des Lexikons: 119 Stichworte in alphabetischer Reihenfolge. In: Entwurf zu einem Lexikon eines Musée Sentimental de Cologne: Reliquien und Relikte aus zwei Jahrtausenden „Köln Incognito“ nach einer Idee von Daniel Spoerri, hg. von Wulf Herzogenrath. Köln 1979, S. 28-197: S. 166 f. 44 | Vgl. ebd. S. 171.

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Gegengifte und stellten in einer Zeit der magischen Naturauffassung reliquienähnliche Gegenstände dar.“45

Indem Spoerri durch den alphabetischen Ordnungsrahmen Varianzen implementiert, anstatt ein gesteuertes Erlebnis zu forcieren, reiht er sich auch in postmoderne Diskussionen der künstlerischen und architektonischen Avantgarden ein. So lag der Fokus im Musée Sentimental de Cologne auf einer spielerischen Objektrezeption.46 Zeiller dazu: „Die Wiedergewinnung des sinnlichen Erkenntnisvermögens bedarf bewußter Veranstaltung in einer von technisch-elektronischen Medien geprägten Informationsgesellschaft. Im Musée sentimental zeigt sich ohne unref lektierten Sensualismus die Vielschichtigkeit und Komplexität des Semiotischen Prozesses der Wahrnehmung: Gustatorisches, Olfaktorisches, Taktiles, Auditives wird durch Visuelles in Erinnerung gebracht.“47

Anhand von Zeiller lässt sich darlegen, wie weit die interpretatorischen Zugänge im Musée Sentimental gefasst sind. Der Rezipient sieht ein Objekt, das ihn auf assoziativer oder imaginativer Ebene zu diversen sinnlichen Erinnerungsebenen führt. Nicht zuletzt deshalb spricht Spoerri im Zusammenhang mit dem Musée Sentimental auch von einem „Fuhrwerk der Gefühle“48, in dem sich „[…] Gruseln, Rührung [und, A. C.] Schmunzeln […]“49 abwechseln. Dem folgend steht das Sentimentale in Spoerris

45 | Daniel Spoerri: Anekdotomania – Daniel Spoerri über Daniel Spoerri. Ostfildern – Ruit 2001, S. 225. 46 | Marie-Louise von Plessen stellt dementsprechend die „Seh-sucht“ und das „Findeglück“ als wesentliche Prämissen des Musée Sentimental heraus. Vgl. Marie-Louise von Plessen: Interview mit Lorenz Tomerius (http://www.zeit.de/1993/22/das-glueck-zu-finden-die-lustzu-zeigen, zuletzt abgerufen 04.02.2013). Die Wiedergewinnung von Sinnlichkeit und Spaß waren zudem zentrale Topoi der postmodernen Diskussion. Vgl. Martin Zeiller: Musée sentimental – Oberfläche, Organisation, Obszönität, Magisterarbeit am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen. Tübingen 1986, S. 55. 47 | Ebd., S. 56. 48 | Martin Zeiller zitiert Daniel Spoerri. In: Ebd. 49 | Ebd., S. 62.

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Ausstellungskonzept für eine spezifische Form der empfindsamen Wahrnehmung, die im Kontrast zur Rationalität gesehen werden muss: „Gefühl deckt sich im Musée sentimental mit Empfindung, die durch die ihm eigene Konstitution zur geistigen Empfindung wird.“50

Die Trennung von Denken und Fühlen51 bzw. der Kontrast zwischen Imagination und Vernunft wird im Musée Sentimental aufgehoben. Kopf und Herz bilden hier eine Einheit.52 Das Gefühl bzw. die Einbildungskraft vermehrt dabei die Werte der Wirklichkeit.53 Die Exponate sollen das Herz des Betrachters anrühren. Im Musée Sentimental de Cologne hat die „[…] Adenauer-Vitrine […] besonders das Herz der Kölner berührt. Schon daran sieht man, wie wesentlich das Herz ist; schon diese Vokabel »Herz« kommt in sonstigen Ausstellungen selten vor.“54

Das dritte Musée Sentimental führte Spoerri vom 16.08. bis 16.11.1981 parallel zur großen Preußenausstellung im Berlin Museum durch. Das Musée Sentimental de Prusse wendete die Charakteristika des Kölner Konzepts auf die preussische Kulturgeschichte an. In einer Pressenotiz zum Musée Sentimental de Prusse heißt es:

50 | Martin Zeiller: Musée sentimental – Oberfläche, Organisation, Obszönität, Magisterarbeit am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen. Tübingen 1986, S. 59. 51 |  Vgl. Brigitte Scheer: Gefühl. In: Ästhetische Grundbegriffe Studienausgabe, 7 Bde., Bd. 2 Dekadent bis Grotesk, hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhardt Steinwachs, Friedrich Wolfzettel. Stuttgart/Weimar, 2001/2010, S. 629-661: S. 630. 52 |  Vgl. Martin Zeiller: Musée sentimental – Oberfläche, Organisation, Obszönität, Magisterarbeit am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen. Tübingen 1986, S. 61. 53 |  Vgl. Gaston Bachelard: Die Poetik des Raumes. Aus dem Französischen von Kurt Leonhard. Frankfurt am Main, 7. Auflage 2003, S. 30. 54 | Marie-Louise von Plessen: Interview, »Man hatte das Gefühl, man geht jetzt fischen, jagen sammeln«. In: Musée Sentimental 1979. Ein Ausstellungskonzept, hg. von Anke te Heesen, Susanne Padberg. Ostfildern 2011, S. 16-32: S. 21 f.

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„Objekte sollen nach einem alphabetischen lexikon [Fehler im Orig.] von Accise bis Zoo als emotionale Bedeutungsträger der preußischen Geschichte Reliquien ähnlich präsentiert werden.“55

Ebenso wie in den vorangegangenen Musées findet also auch hier eine Mystifizierung des Alltags statt. Die objekthaften Äußerungen einer Kulturgeschichte werden als Reliquien präsentiert und in den Status des Exponats erhoben. Ihre sinnbildliche Qualität im Blick auf historische Ereignisse wird dabei weitaus höher bewertet, als ihr historisch dokumentarischer Wert.56 Zudem wird im Musée Sentimental de Prusse erneut der Anspruch deutlich, geschichtlich kulturelle Zusammenhänge über Anekdoten abzubilden und so die historische Ausstellung durch eine hypothetische Geschichtsschreibung zu ersetzen.57 Bazon Brock dazu: „Es sind aber auch andere Geschichten, Informationen und Annotationen, als sie in historischen und kunstgeschichtlichen Museen zu deren Objekten geboten werden, denn im Musée sentimental soll ja ein anderer Zugang zu und ein anderer Zugriff auf die Objekte geboten werden – ein Gebrauch der Objekte, der sie zum Beispiel zu Fetischen, Reliquien, Amuletten werden läßt oder als solche entdeckt. Dies scheinen dem wissenschaftlichen Denken ganz unzeitgemäße Objektcharaktere zu sein, primitive, atavistische. Aber die sentimentalen Museen des Daniel Spoerri – wie auch die Museen der Obsession des Harald Szeemann – demonstrieren mit guten Gründen, daß einerseits auch das moderne Denken, das wissenschaftlich-rationale, bei weitem nicht so frei von Fetischisierungen ist, wie es das gerne sein möchte – viele wissenschaftliche Begriffe werden von Wissenschaftlern selber wie Fetische benutzt -, und daß

55 | Pressenotiz aus dem Bestand der Grafischen Sammlung Daniel Spoerri, Nationalbibliothek Bern. 56 |  Vgl. Alke Hollwedel: Das sentimentale Museum Daniel Spoerris, Magisterarbeit im Fach Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Berlin 1999, S. 13. 57 |  Vgl. Daniel Spoerri, Marie-Louise von Plessen: Zum Konzept eines ’Musée Sentimental de Prusse’. Aus dem Bestand der Grafischen Sammlung Daniel Spoerri, Nationalbibliothek Bern, S. 3.

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andererseits der Gebrauch von Objekten als Fetische, Reliquien, Amulette genauso funktional sein kann wie der technische Zugriff auf sie.“58

Brock formuliert hier die Kritik, der sich das Musée Sentimental aus wissenschaftlicher Sicht ausgesetzt sieht. Jedoch birgt das Mystifizieren und Fetischisieren alltagskultureller Objekte auch die Chance neuer Einsichten, wie Spoerri und von Plessen darlegen: „So dienen die Zitate und Quellentexte, aus denen der Katalog im wesentlichen zusammengestellt ist, nicht nur der Authentifizierung der Exponate und sind ein ihnen zugehöriger Teil, sondern zugleich auch der Verifizierung historischer Zusammenhänge und Wahrheiten. Daß beispielsweise der Kleistsche Held der Schlacht von Fehrbellin kein jugendlicher Draufgänger, sondern ein mit einem komplizierten Holzbein versehener Krüppel in mittleren Jahren war, wird schlagartig deutlich, wenn man die Röntgenbilder betrachtet, die jüngst von einem Orthopäden vom sog. „Silbernen Bein“ angefertigt wurden (die Originalprothese ist im Schloßmuseum Bad Homburg v. d. Höhe ausgestellt). Wenn man dazu den Brief liest, den der Prinz seiner „Geliebten Engelsdicken“ Frau am Tag nach der Schlacht schrieb, dann stellt sich der von ihm geschilderte Verlauf der Schlacht angesichts der Tatsache, daß der Prinz eigentlich zu den Invaliden zu rechnen war, vollkommen anders dar.“59

Anhand der Geschichte des Prinzen von Homburg wird hier ersichtlich, wie der anekdotische Objektzugang neue und überraschende Einsichten zu Tage fördert60, die nicht nur unter dem Aspekt des Kuriosen zu sehen

58 |  Bazon Brock: Was ist ein ‚Musée sentimental‘? (http://www.bazonbrock.de/werke/ detail/?id=213, zuletzt abgerufen 31.05.2014). 59 | Marie-Louise von Plessen, Daniel Spoerri: Einführung. In: Le Musée Sentimental de Prusse, hg. von Daniel Spoerri, Marie-Louise von Plessen, Berliner Festspiele GmbH/Intendant Ulrich Eckhardt. Berlin 1981, S. 7-10: S. 8. 60 | „Durch den sentimentalen Gebrauch der Objekte, der vornehmlich als Erzählung über deren Wirkungskräfte sichtbar wird, wandelt sich die Wahrnehmung der Objekte, wodurch dem sentimentalen Museologen häufig Entdeckungen gelingen, die dem spezialisierten, also mit eingeschränktem Blick operierenden Fachwissenschaftler entgehen mußten.“ Bazon Brock: Was ist ein ‚Musée sentimental‘? (http://www.bazonbrock.de/werke/detail/?id=213, zuletzt abgerufen 31.05.2014).

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sind, sondern eine historische Erkenntnis eröffnen, die geschichtliche Zusammenhänge oder Personen in einem neuen Licht erscheinen lassen. Spoerri und von Plessen schreiben zum Konzept des Musée Sentimental de Prusse: „Da wir aber durch die große Ausstellung ’Preussen – Versuch einer Bilanz’ in die Rolle eines humorvollen Nebenläufers gedrängt wurden, verstehen wir uns als diejenigen, die ohnehin keine ’Bilanz’, große Linien ziehen, Interpretationen geben und uns antipreussisch kritisch geben wollen. Wir wollen diejenigen sein, die statt dessen punktuell Alltagsarchäologie und ’Archäologie des Wissens’ aus der preussischen Geschichte im gesellschaftlichen Querschnitt herausfiltern und anekdotisch-historisch genau und fundiert mit wissenschaftlichem Nachweis Einsichten und sinnhafte Erlebnisse vermitteln.“61

Daniel Spoerri und Marie-Louise von Plessen heben hier den Kontrast zwischen dem Vermittlungsansatz des Musée Sentimental de Prusse und der großen Preußenausstellung hervor, der auch weiter oben bereits bei Brock anklang. Deutlich wird, dass das Musée Sentimental de Prusse sich aus einer belächelten Position als trivial humorvolles Kondensat befreien möchte, indem die Autoren explizit auf die wissenschaftliche Fundierung der dargestellten Geschichten hinweisen. Spoerri trägt mit der Methodik des Musée Sentimental einer Phänomenologie der Lebenswissenschaft Rechnung, die „die Äußerungen der menschlichen Subjektivität als grundlegend für jede wissenschaftliche Bestätigung ansieht und dadurch das Leben selbst – in doppelter Weise: als Voraussetzung und als Gegenstand der Wissenschaft – unter die Kontrolle der wissenschaftlichen Vernunft stellt“62.

61 | Daniel Spoerri, Marie-Louise von Plessen: Zum Konzept eines ’Musée Sentimental de Prusse’. Aus dem Bestand der Grafischen Sammlung Daniel Spoerri, Nationalbibliothek Bern, S. 3. 62 | Helmut Seiffert: Einführung in die Wissenschaftstheorie, 4 Bde., Bd. 2 Geisteswissenschaftliche Methoden: Phänomenologie, Hermeneutik und historische Methode, Dialektik. München, 11. Auflage 2006, S. 31.

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Der Kampf um wissenschaftliche Anerkennung entsteht jedoch nicht nur aus der hypothetischen Geschichtsschreibung63, sondern auch aus dem kontroversen Umgang mit museumsgerechten Fälschungen. Anhand der Objekte in Spoerris sentimentalem Museum entfaltet sich die Frage nach dem historisch-authentischen und dem Fake. Bereits das erste Musée in Paris lebte durch den suggerierten physischen Kontakt zu berühmten Persönlichkeiten 64 , wobei laut von Plessen im ersten Musée nur ein einziges Objekt, der Schlüssel der Bastille, museumsgerecht gefälscht war.65 Die Fälschungen im Musée Sentimental de Cologne hingegen dienten in erster Linie den zuvor recherchierten Geschichten. Marie-Louise von Plessen, die die Recherchearbeit für das Musée Sentimental de Cologne übernommen hatte, ging es dabei immer um die Vermittlung von Inhalten, weshalb sie mit der Einbringung von Fake Objekten nur dann einverstanden war, wenn sie zur besseren Rezeption der jeweiligen Anekdote oder Geschichte beitragen konnten.66 Im Vordergrund stand die Fähigkeit des Objekts, eine sentimentale Atmosphäre zu erzeugen bzw. die Einbildungskraft des Rezipienten zu stimulieren. Gefühl wird im Musée Sentimental gewissermaßen verdinglicht. Martin Zeiller hält fest:

63 | Die hypothetische Geschichtsschreibung nach Spoerri wendet sich gegen den Behaviorismus und Empirismus, da sie von Beginn an nicht nur das Alltägliche, sondern auch das Unexakte als Fundament integriert. Siehe dazu auch Helmut Seiffert: Einführung in die Wissenschaftstheorie, 4 Bde., Bd. 2 Geisteswissenschaftliche Methoden: Phänomenologie, Hermeneutik und historische Methode, Dialektik. München, 11. Auflage 2006, S. 40. 64 | Vgl. Alke Hollwedel: Das sentimentale Museum Daniel Spoerris, Magisterarbeit im Fach Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Berlin 1999, S. 13. 65| Vgl. Marie-Louise von Plessen: Interview, »Man hatte das Gefühl, man geht jetzt fischen, jagen sammeln«. In: Musée Sentimental 1979. Ein Ausstellungskonzept, hg. von Anke te Heesen, Susanne Padberg. Ostfildern 2011, S: 16-32: S. 21. Der Schlüssel der Bastille war ausgestellt in der Collection tragique des Musée Sentimental de Paris , da er als Beweisstück einen historischen Wendepunkt in der Geschichte Frankreichs markierte. Vgl. Alke Hollwedel: Das sentimentale Museum Daniel Spoerris, Magisterarbeit im Fach Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Berlin 1999, S. 13. 66 | Vgl. Marie-Louise von Plessen: Interview, »Man hatte das Gefühl, man geht jetzt fischen, jagen sammeln«. In: Musée Sentimental 1979. Ein Ausstellungskonzept, hg. von Anke te Heesen, Susanne Padberg. Ostfildern 2011, S. 16-32: S. 24.

Forschungsgrundlage

„Beim Musée sentimental, das notwendig Fragment bleiben muß, da es sich hierbei nicht um positivistisches Archivieren handelt, waren ungefähr ein Fünftel der Dinge museumsgerecht gefälscht. Damit wurde zugleich die Museumspraxis der Zuschreibung parodiert. Ein fränkischer Helm, angeblich aus dem 15. Jahrhundert, erwies sich als elektrisch geschweister Fliegerhelm, eine Münze mit der Darstellung einer Fellatio von Agrippina ebenso. Fiktionalität und Fragmentcharakter erweisen sich als Movens zur Ausbildung historischer Einbildungskraft.“ 67

Spoerri erzeugt durch den Einsatz von Fakes eine affirmative Auseinandersetzung mit der Illusion auf parodierender Ebene. Die Simulation der Relikte und Reliquien ist dabei als ein ironischer Verweis auf die Wirklichkeit zu verstehen und befördert erst die Auseinandersetzung mit ihr: „In der Realitätsebene des Kunstwerks findet ein ständiges Oszillieren zwischen Dokument und Fiktion statt. Das Werk wird eher als Fragment, Fraktur, Brechung, in Arbeit befindlich rezipiert, denn als Einheit und Stabilität.“68

Mit der Oszillation der Objekte trägt Spoerri nicht nur der Veränderlichkeit von Gedächtnis und Erinnerung Rechnung, sondern bildet im Blick auf die Darstellung von städtischen Identitäten auch einen prozessorientierten Heimatbegriff ab. Die sentimentalen Heimatsymbole liegen fragmentarisch vor, erheben jedoch keinen Anspruch auf Vollständigkeit und stellen teilweise auch Momentaufnahmen aus den Privatleben bestimmter Persönlichkeiten dar, was wiederum bekennt, dass kulturelle Identitätsbildungsprozesse niemals abgeschlossen sind und sich in stetigem Wandel konstituieren.

67 | Martin Zeiller: Musée sentimental – Oberfläche, Organisation, Obszönität, Magisterarbeit am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen. Tübingen 1986, S. 54. 68 | Ebd., S. 51.

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Abschließend sei festgehalten, dass das Musée Sentimental de Cologne als das „Musée Sentimental en nuce“69 betrachtet werden kann. Die danach noch folgenden sentimentalen Museen zu Preussen (1981) und Basel (1989) werden in diesem Zusammenhang eher als Ausläufer des Konzepts betrachtet.70 Im Jahr 2009 konzipierte Spoerri ein sentimentales Museum für Krems und Stein in Österreich. Das bisher letzte Musée Sentimental wurde in Graz vom 16.-15.02.2012 gezeigt. Da die Baseler Ausführung als eine konzeptionell stringente Fortführung der Museen in Köln und Berlin zu betrachten ist, wird sie an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt. In Krems und Stein hingegen lag der Fokus stärker denn je auf der Bevölkerung. Dies bildet sich auch in dem bezeichnenden Slogan der Kunsthalle Krems „Eine Stadt biographiert sich selbst“ ab. So startete die Konzeption mit einem ersten Aufruf zur Mitgestaltung durch die Bevölkerung bei einer großen Zusammenkunft am 30.05.2009 in der Kunsthalle Krems. Die Bürgerinnen und Bürger hatten hier erstmals die Möglichkeit, ihre Exponatvorschläge und Geschichten zu diskutieren und miteinander zu teilen. Das Musée Sentimental Krems und Stein fand mit einer begleitenden Prozession von Bazon Brock unter dem Titel „Zeig dein liebstes Gut! – zeig dein Liebstes gut!“ statt. Brock hatte diese Prozession seit 1977 bereits unter anderem in Berlin und weiteren Städten durchgeführt.71 Kleinere Objekte sollten zunächst in der Prozession von Brock durch die Stadt getragen werden, um dann schließlich mit Begleittexten ihrer Besitzer in einem mit Regalwerken ausgestatteten Kunstraum ihren Platz zu finden. Das Musée Sentimental Krems und Stein fand parallel zu der Brockschen Ausstellung statt und sortierte die Exponate nach dem bekannten Schlagwortsystem. Zentral waren Begriffe wie zum Beispiel „Donau“, „Marillen“ oder „Mariandl“. Spoerris Ausstellung wandte sich dabei wie in Köln Begriffen zu, die gemeinhin mit der Stadt assoziiert werden, während Brock den Fokus auf die individuelle Bürgerschaft legte.

69 | Marie-Louise von Plessen: Interview, »Man hatte das Gefühl, man geht jetzt fischen, jagen sammeln«. In: Musée Sentimental 1979. Ein Ausstellungskonzept, hg. von Anke te Heesen, Susanne Padberg. Ostfildern 2011, S. 16-32: S. 29. 70 | Vgl. ebd. 71 | Vgl. Bazon Brock: Betriebsgeräusche – Bilderverbote. Eine Erinnerung, um zu vergessen. In: Ders.: Der Barbar als Kulturheld. Gesammelte Schriften 1991–2002, hg. von Anna Zika. Köln 2002, S. 482-485: S. 484.

Forschungsgrundlage

Im Sinne eines erweiterten Kunstbegriffs, forderte er die Bürger zur selbstbewussten Repräsentation ihrer Bürgerschaft auf. Die Bürgerinnen wurden zu Revolutionärinnen, indem sie als Künstlerinnen bzw. Ausstellungsmacherinnen agierten und Souveränität im Zeigen und Sichtbarmachen ihrer persönlichen Existenz erhielten. Die Objekte der Prozession Brocks sprechen ebenso eine emotionale Sprache wie die Gegenstände des Musée Sentimental . Die Prozessanten zeigen ihr liebgewonnenes, das heißt mit Gefühl aufgeladenes Gut. Von Plessen und Spoerri dazu: „Gerade emotional aufgeladene Objekte sind dazu angetan, Schlaglichter einer Epoche, bestimmter Ereignisse, biographischer Zusammenhänge und Schicksale zu verdeutlichen und erlebbar werden zu lassen.“ 72

Um emotional aufgeladene Trivialobjekte als Schlaglichter präsentieren zu können, müssen diese zunächst aus einer naiven Privatmythologie73 befreit werden. Spoerri erreicht dies durch die Musealisierung des Alltagslebens und offenbart die Bedeutung der damit zusammenhängenden Kultur für eine kollektive Geschichtsarbeit.

72 | Marie-Louise von Plessen, Daniel Spoerri: Einführung. In: Le Musée Sentimental de Prusse, hg. von Daniel Spoerri, Marie-Louise von Plessen, Berliner Festspiele GmbH/Intendant Ulrich Eckhardt. Berlin 1981, S. 7-10: S. 7. 73 | Vgl. Bazon Brock: Was ist ein ‚Musée sentimental‘? (http://www.bazonbrock.de/werke/ detail/?id=213, zuletzt abgerufen 31.05.2014).

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4  Methodik 4.1 Phänomenologie der Einbildungskraft (Bachelard: Paris, 1957) Zur Analyse des Sentimentalen in der Alltagskultur war eine Methodik erforderlich, die das Subjektive inkludiert. Gewählt wurde daher eine phänomenologische Untersuchungsform, da diese das Gefühl nicht als individuell inneren Zustand des Subjekts von der Außenwelt abgrenzt, sondern vielmehr das „eigenleibliche Spüren“ 1 und die „affektive Betroffenheit“ philosophiefähig macht.2 Da das Sentimentale prinzipiell für den Fühlenden immer eine Berechtigung hat, bzw. richtig ist, 3 setzt die phänomenologische Untersuchung des Sentimentalen auch nicht auf eine empirische Überprüfbarkeit, sondern betont die hermeneutische

1 | Das affektiv Eindrückliche ergibt sich in diesem Zusammenhang durch das leibliche Spüren einer Emotion. Der Leib ist dabei immer affektiv betroffen und seine Gebärden sind durch das Gefühl bestimmt. Vgl. Hermann Schmitz: Der Leib, der Raum und die Gefühle. Bielefeld/ Basel, 2. Auflage 2009, S. 84. 2 | Kerstin Andermann, Undine Eberlein: Einleitung. Gefühle als Atmosphären? Die Provokation der Neuen Phänomenologie. In: Gefühle als Atmosphären. Neue Phänomenologie und philosophische Emotionstheorie, hg. von Kerstin Andermann, Undine Eberlein. Berlin 2011, S. 7-21: S. 8. 3 | Dies lässt sich auch auf die affektive Betroffenheit zurückführen, die Emotionen beim Menschen auslösen. Jean-Pierre Wils führt die Nachdrücklichkeit von Emotionen mit Rekurs auf Jean-Paul Sartre auf die Zustandsveränderung im Körper des Rezipienten zurück. Er bemerkt: „Immer wieder betont Sartre, dass wir die Emotion glauben: Wir sind überzeugt. Die Emotion ist nämlich ein intensiver körperlicher Zustand. Die körperliche Erschütterung liefert gleichsam den Beweis, dass wir die Emotion ernst nehmen . Sie garantiert deren Echtheit.“ Jean-Pierre Wils: Sartre: Emotionen als Urteile. Die Stellung des Körpers und die Emotion als Ersatzhandlung. In: Klassische Emotionstheorien: Von Platon bis Wittgenstein, hg. von Hilge Landweer, Ursula Renz. Berlin 2008, S. 676-681: S. 676, [Herv. im Orig.].

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Deutung anhand der subjektiven Lebenserfahrung. 4 Helmut Seiffert verdeutlicht dies anhand eines alltäglichen Beispiels: „Das bedeutet: aus allen Äußerungen, wie eine Person sie im Zusammenhang einer Schmerzsituation tut, können wir direkt entnehmen, daß der Betreffende offenbar wirklich Zahnschmerzen haben muß. Ich verstehe das aus der Gesamtsituation heraus unter Würdigung aller Indizien und Ausdrucksweisen, die ich aufnehme, und bin überzeugt, daß ich mich nicht irre und der andere nicht simuliert. Ich „durchschaue“ einfach, wie sich die Sache verhält – selbst dann, wenn der andere vielleicht sogar abstreitet, daß er Zahnschmerzen habe, sein Gesamtverhalten dem aber widerspricht. 5 [Herv. im Orig.]

Der Mensch ist also in der Lage, Atmosphären regelrecht zu „riechen“, ohne dabei „förmliche Verhaltensbeobachtungen“ 6 machen zu müssen. Dass der Mensch nichtsprachliche Äußerungen, wie Atmosphären, durchschauen kann, liegt mitunter an seiner Fähigkeit, sie vor dem Hintergrund bestimmter Situationen der eigenen Lebenspraxis interpretieren zu können.7 Seiffert legt dies anhand der Schlüsselwörter „Wohnkultur“ und „kultivierte Wohnlichkeit“ dar:

4 | „Die Instanz für die intersubjektive Überprüfung phänomenologischer Aussagen ist daher nicht ein empiristisches Verfahren, das nach den Regeln der induktiven Methode Erhebungen anstellt und statistisch auswertet, sondern ganz einfach die Zustimmung des selber erfahrenen und sachkundigen Lesers in einem „Ja, so ist es auch“-Eindruck. Ein solcher sachkundiger Leser „überprüft“ die Schlüssigkeit des Gesagten also einfach „hermeneutisch“ an seiner eigenen Lebenserfahrung; er befragt den Text darauf hin, ob er diese Erfahrung angemessen wiedergibt und interpretiert. […] Es hat also keinen Sinn, sich der Phänomenologie gegenüber auf quantifizierende Methoden zu berufen. Erfahrungen haben für die Phänomenologen weniger die Funktion von „Stichproben“, die dann mit Hilfe einer exakten Methodik verallgemeinert werden, als vielmehr von „Beispielen“ im Sinne der „Logischen Propädeutik“. Helmut Seiffert: Einführung in die Wissenschaftstheorie, 4 Bde., Bd. 2 Geisteswissenschaftliche Methoden: Phänomenologie, Hermeneutik und historische Methode, Dialektik. München, 11. Auflage 2006, S. 48. 5 | Ebd,, S. 37. 6 | Ebd., S. 38. 7 | Vgl. ebd.

Methodik

Wir hatten die Schlüsselwörter „Wohnkultur“ und „kultivierte Wohnlichkeit“ einander gegenübergestellt und bemerkt, daß der empiristischbehavioristische Wissenschaftler beide Begriffe mit seiner Methode und nach seiner Wissenschaftsauffassung nicht unterscheiden kann. Denn Picasso und Teak können Merkmale sowohl der „Wohnkultur“ als auch der „kultivierten Wohnlichkeit“ sein – und andere als „physikalistisch“ feststellbare Merkmale kann der Empirist nicht gelten lassen. Der Phänomenologe setzt von vornherein anders an. Er nimmt seinen Ausgang von seiner eigenen Lebenswelt und sagt daher: „Ich habe, als immer schon in einer sozialen Umwelt lebende Person, zahlreiche Verwandte, Freunde und Bekannte, deren Wohnungen ich kenne. Viele von ihnen haben moderne Wohnungen. Aber merkwürdig: bei manchen meiner Bekannten wird die Wohnung trotz allen ästhetischen Aufwands irgendwie kalt, tot. Man hat das Gefühl, alles ist so arrangiert, damit jeder Besucher die Modernität und Aufgeschlossenheit der Bewohner bewundern soll. Alles hat irgendwie Hand und Fuß und ist da, weil es zu den Bewohnern paßt und weil sie es brauchen. Die Wohnung wird dem Besucher nicht aufgedrängt – aber gerade deshalb fühlt er sich in ihr heimisch. Also ‚gibt‘ es ‚Wohnkultur‘ und ‚kultivierte Wohnlichkeit‘ als ‚Phänomen‘ – denn ich als Alltagsmensch kann meine Lebenswelt in diesem Sinne interpretieren.“ 8

Dem folgend räumt die Phänomenologie den subjektiv wahrgenommenen oder gefühlten Ansichten des Individuums einen größeren Stellenwert ein, als den faktischen oder empirisch überprüf baren Umständen. Daher eignet sich die Phänomenologie insbesondere, da wir in der vorliegenden Arbeit gefühlte Qualitäten des Urbanen untersuchen. Sie war jedoch auch deshalb zielführend, da sie es ermöglicht, jeglichen Ausdruck einer sentimentalen Alltagskultur, ob im Objekt, im Raum, oder dem sinnlichen Reiz zu untersuchen. Helmut Seiffert legt dar: „Alles, was es auf der Welt „gibt“, muß potentiell Gegenstand der Wissenschaft sein können. Nun „gibt“ es in der Welt aber nicht nur „objektiv“ Erforschbares wie den Lauf der Sterne oder chemische Reaktionen,

8 | Helmut Seiffert: Einführung in die Wissenschaftstheorie, 4 Bde., Bd. 2 Geisteswissenschaftliche Methoden: Phänomenologie, Hermeneutik und historische Methode, Dialektik. München, 11. Auflage 2006, S. 41 f.

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sondern es „gibt“ auch das „Leben“ des Menschen mit seinen „subjektiven“ Erfahrungen, Erlebnissen, Gefühlen, Wünschen, Handlungen und so fort – wie wir vorläufig und ohne besondere terminologische Bedenken hier sagen wollen. Wir können offenbar die Welt nur angemessen verstehen, wenn wir das, was die Menschen täglich tun und erfahren, als Gegenstand in unsere wissenschaftlichen Bemühungen mit aufnehmen.“ 9

Als konzeptionelle Grundlage für die phänomenologische Betrachtung des Sentimentalen in der Alltagskultur dient in der vorliegenden Arbeit das Musée Sentimental. Spoerri implementierte hier einen Wissenschaftsbegriff, der vom historischen Arbeiten im Museum abweicht und Geschichte als kreativen/veränderlichen Prozess darstellt. Im Sinne Seifferts wird hier das Leben des Menschen und dessen Subjektivität zum Gegenstand der Untersuchung einer städtischen Kultur. Diesem Beispiel folgten wir auch in dem LAB, indem subjektive Vorstellungen von Heimat das wissenschaftliche Erkenntnisinteresse bestimmten. Sowohl im Musée als auch im LAB galt, was Heidemarie Bennent-Vahle hervorhebt: „Erst eine stark ausgeprägte subjektive Perspektive auf die Welt verleiht den Dingen Bedeutung und Wert. Überspitzt gesagt bedeutet dies: Die gleichsam unhintergehbar »gestimmte« Parteilichkeit unserer Weltsicht ist der Ursprung unserer Lebendigkeit.“ 10

Bennent-Vahle fordert davon ausgehend eine „Schule der sinnlichen Erfahrung“11, die das Staunen und Nachdenken sowie die Wahrnehmung für die „intensiven Einzelheiten der Wirklichkeit“12 fördern soll. Spoerri erreicht dies, indem er das Alltagserlebnis, welches sich in erster Linie

9 | Helmut Seiffert: Einführung in die Wissenschaftstheorie, 4 Bde., Bd. 2 Geisteswissenschaftliche Methoden:Phänomenologie, Hermeneutik und historische Methode, Dialektik. München, 11. Auflage 2006, S. 30. 10 | Heidemarie Bennent-Vahle: Mit Gefühl denken. Einblicke in die Philosophie der Emotionen. Freiburg/München 2013, S. 116. 11 | Ebd., S. 118. 12 | Ebd., S. 116.

Methodik

durch das Alltagsobjekt vermittelt13, mystifiziert. Die Sentimentalisierungsstrategie des Künstlers forciert dabei einen neuen Blick auf das triviale Objekt14, dessen sentimentaler Wert sich über die an es gebundene Geschichte offenbart.15 Da alle Äußerungen der menschlichen Subjektivität Teil der phänomenologischen Auseinandersetzung sind, kann man von einer impliziten Erfahrungsweite der Methodik ausgehen. Dies ist vor allem deshalb konstitutiv, da wir uns dem Themenkomplex aus dem designwissenschaftlichen Kontext heraus nähern. Designwissenschaft als theoretischer Unterbau einer Praxisdisziplin, dem Design, ist in diesem Zusammenhang selbst zutiefst phänomenologisch, da Gestaltung immer vor dem Hintergrund der Integration subjektiver Erfahrungsanteile des Gestalters oder auch des Rezipienten agiert. Nicht zuletzt deshalb war es ebenso essentiell, zur phänomenologischen Untersuchung des Gefühls, innerhalb des LABs den persönlichen Kontakt zum Fühlenden zu suchen. Sprachliche Aussagen konnten so um nichtsprachliches Verhalten ergänzt, bzw. in die Interpretation mit einbezogen werden. In Konsequenz wurde für das durchgeführte gestalterische Praxisprojekt eine handlungsorientierte operative Ästhetik zugrunde gelegt, die auf den persönlichen Austausch zwischen Studierendem und Gastgeber auf baute. Da die Phänomenologie eine Trennung von persönlicher Erfahrung und Wissenschaft aufhebt, war sie besonders geeignet für die in der Arbeit betriebene projektgeleitete Designforschung. Auf diese Weise konnten die Erfahrungen der gestaltenden Wissenschaftler in den Erkenntnisprozess integriert werden.

13 | Bereits Edmund Husserl hatte in seiner Phänomenologie den Satz geprägt „Zurück zu den Dingen“. 14 | „Die Phänomenologie erzielt also einen gewissen Verblüffungseffekt dadurch, daß sie Dinge, die für jedermann selbstverständliches Alltagserlebnis sind und die er gar nicht mit der Vorstellung von „Wissenschaft“ verbindet, unversehens zum Gegenstand wissenschaftlicher Darlegungen erhebt.“ Helmut Seiffert: Einführung in die Wissenschaftstheorie, 4 Bde., Bd. 2 Geisteswissenschaftliche Methoden: Phänomenologie, Hermeneutik und historische Methode, Dialektik. München, 11. Auflage 2006, S. 43 f. 15 | Die phänomenologische Betrachtung der sentimentalen städtischen Kultur ist innerhalb des Musée Sentimental eine unhistorische Methodik, was sich auch in der im Musée betriebenen hypothetischen Geschichtsschreibung ausdrückt.

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4.2 Operative Ästhetik Die Operative Ästhetik als gestalterische Herangehensweise ist postmodernen künstlerischen Avantgarden (wie z.B. den Situationisten) entlehnt. Entstanden in den 60er und 70er Jahren, wendet sie sich den Phänomenen der Alltagskultur zu und sucht das Außergewöhnliche im Trivialen. Gudrun Quenzel stellt heraus, dass sich im Laufe der 1960er Jahre eine Verschiebung von der Hochkultur zu individueller künstlerischer Aktivität vollzieht. Kultur umfasste fortan auch das Alltagsleben und wurde zum politischen Instrumentarium. Dabei sollten kulturelle Mechanismen auch aktiv Einfluss nehmen auf die individuellen Lebensweisen. Quenzel fasst zusammen, dass das Ziel die gesellschaftliche Demokratisierung durch Kultur war.16 Wichtig ist dabei vor allem der partizipative Ansatz der Operativen Ästhetik. Der Rezipient soll durch eigenverantwortliches Handeln und Auseinandersetzung von einer Entfremdung des Alltags befreit werden. Die hier benannte Selbstentfremdung findet sich u.a. in kritischen Auseinandersetzungen von Guy Debord, der die Entfremdung in der Massenkultur und einer damit verbundenen scheinhaften Bedürfniswelt begründet sah. Konrad Buchwald wiederum erkennt diese „Selbstentfremdung“ auch im Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt.17 Peter Jehle offeriert: „Kleidung, Musik, Fernsehen, Zeitschriften, Schlafzimmerdekoration, Liebesrituale – um den Alltag als Gegenstand ästhetischer Gestaltungen ernst nehmen zu können, bedurfte es des Bruchs mit dem Entfremdungsparadigma, das ›Kunst‹ und – deren subjektive Seite – ›Geschmack‹ spontan mit dem kulturellen Kode der Oberschichten identifiziert und den Alltags als Kulturwüste erscheinen läßt, der durch die große Kunst zuallererst missioniert werden muß.“ 18

16 | Vgl. Gudrun Quenzel: Konstruktionen von Europa. Die Europäische Identität und die Kulturpolitik der Europäischen Union. Bielefeld 2005, S. 78 f. 17 | Siehe dazu Konrad Buchwald: Heimat heute: Wege aus der Entfremdung. In: Heimat heute, hg. von Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg. Stuttgart 1984, S. 34-60: S. 50. 18 | Peter Jehle: Alltäglich/Alltag. In: Ästhetische Grundbegriffe Studienausgabe, 7 Bde., Bd. 1 Absenz bis Darstellung, hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhardt Steinwachs, Friedrich Wolfzettel. Stuttgart/Weimar 2000/2010, S.104-133: S. 126.

Methodik

Die durch das Entfremdungsparadigma ausgelöste Ästhetisierung des Alltagslebens, findet ihren Ausdruck sowohl in phänomenologischen Untersuchungsformen, als auch in der Demokratisierung des Kunstbegriffs.19 Die Differenz zwischen Kunst und Leben wurde u.a. mittels der Operativen Ästhetik immer weiter eingeebnet. Die Entwicklung eines erweiterten Kunstbegriffs ist auch auf Joseph Beuys zurückzuführen, der 1967 den Satz prägte „Jeder Mensch ist ein Künstler“.20 Im Beuyschen Kunstbegriff stand das Autoritäre gegen das Antiautoritäre. Der Künstler vertrat die Meinung, dass jeder Mensch durch sein kreatives Handeln eine gesellschaftliche Metamorphose herbeiführen könne. Auch hier zeigt sich durch die Bedingung des Partizipativen eine Form der Operativen Ästhetik. Um diesen Ansatz auch in die gestalterische Auseinandersetzung der hier vorliegenden Arbeit einbeziehen zu können, wurde eine praxisintegrierende Designforschung21 betrieben, die einen handlungsorientierten Ansatz integrierte.22 Die Essener Gastgeber und ihre Reflexionen zum Gefühlswert des eigenen urbanen Umfelds wurden in den Gestaltungs-/ Forschungsprozess aktiv einbezogen. Dies ermöglichte nicht nur die Integration der persönlichen Haltung von Gestalter und Gastgeber, sondern führte den Gastgeber ebenso zu einer selbstbestimmten Auseinandersetzung und Teilhabe am Gestaltungsprozess. Silke Feldhoff dazu:

19 | Das Musée Sentimental ist in diesem Zusammenhang Abbild dieser Strömungen. 20 | Bereits Albrecht Dürer war in humanistischer Tradition der Überzeugung, dass jeder Mensch ein Künstler sei. Dies ist u. a. den christianischen Selbstdarstellungen Dürers zu entnehmen, in denen ersichtlich wird, dass der Mensch als schöpferisches Wesen gottesebenbildlich ist. Jospeh Beuys forderte, dass der Mensch von diesen Kräften Gebrauch machen und sich selbstbestimmt verhalten solle. Vgl. Peter-Klaus Schuster: Dürer und Beuys. Die Revolution sind wir. In: Beuys. Die Revolution sind wir, hg. von Eugen Blume, Catherine Nichols. Berlin 2008, S. 325-326: S. 326. 21 | Dagmar Steffen: Praxisintegrierende Designforschung und Theoriebildung, Phil. Diss. Fachbereich Design und Kunst der Bergischen Universität Wuppertal. Wuppertal 2011. 22 | Entgegen einem logisch-rationalistischen Vorbild des Design Methods Movement der 1960er Jahre, wird hier eine Designmethodologie proklamiert, die sich durch eine praxisnahen Zugang erschließt und intuitive Aspekte des Entwerfens bewertet. Siehe dazu auch Claudia Mareis, Gesche Joost, Kora Kimpel (Hgg.): entwerfen wissen produzieren. Bielefeld 2010, S. 17.

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„Partizipatorische Kunst verfolgt den emanzipatorischen Anspruch, […] den Kunstbegriff zu revidieren, den Rezipienten zu eigener Tätigkeit und Erfahrung zu ermächtigen und den Kunstbetrieb zu demokratisieren. Oft, aber nicht notwendigerweise, konzentrieren sich partizipatorisch künstlerische Arbeiten auf gesellschaftlich-soziale Aspekte. Partizipation wird hier als kulturelle, soziale und politische Teilhabe und Kunst als ein integraler Teil des gesellschaftlich-sozialen Gefüges aufgefasst.“23

Innerhalb des LABs entwickelten sich die sentimentalen Gedächtnisorte durch die partizipative Auseinandersetzung zwischen Gastgeber und Gestalter. Es erfolgten gemeinsame Stadtteilbegehungen sowie die Anwendung von Kreativitätstechniken durch die Gastgeber. So verteilten einige Studierende Einmalkameras an die Gastgeber, mit der Bitte, im Alltagsgeschehen spontan Orte abzulichten, die für die jeweilige Person mit einem sentimentalen Bezug verbunden sind. Diese Bilder wurden dann im Anschluss von den Studierenden für die gestalterische Konzeptentwicklung ausgewertet. Zudem wurden die Gastgeber in fortlaufenden Zwischenpräsentationen über den Stand der Gestaltung informiert. Dabei wurde Wert darauf gelegt, dass der Gastgeber selbst seine sentimentale Qualität wiedererkennt und respektvoll repräsentiert sieht. Entscheidend war das Bottom-up Prinzip.

23 | Silke Feldhoff: Zwischen Spiel und Politik – Partizipation als Strategie und Praxis in der bildenden Kunst, Phil. Diss. Fakultät Bildende Kunst der Universität der Künste Berlin, Berlin 2011, S. 25.

Methodik

4.3 Designwissenschaft als Metadisziplin Die Metaphilosophie24 nach Henri Lefebvre bildet den Ausgangspunkt und die erkenntnistheoretische Basis für die Analyse von Alltagsphänomenen und Urbanisierungsprozessen: „Lefebvres Hauptwerk setzt am Alltagsleben an: In den unterdrückten Dramen, den unartikulierten Situationen, den Ereignissen und Geschichten außerhalb der Historie, am Unbedeutenden, Banalen, das voller Bedeutung ist.“25

Lefebvre legte mit der Metaphilosophie den Grundstein für die Herausbildung einer kritischen Stadtforschung, die auf soziale Fragen und politische Ökonomie rekurrierte und widmete sich den Geschichten des menschlichen Alltags. Es ging dabei auch um eine Neubewertung des Verhältnisses zwischen Mensch und Natur26: „Die Anthropologie, gefaßt als Forschung über den Menschen, verweist auf eine Klärung des menschlichen Verhältnisses zur »Natur« und zum »Sein« in der Praxis, in der Geschichte. Es geht also nicht darum, den

24 | „Was ist unter diesem scheinbar rätselhaften Wort (das auf anderer Ebene der Metaphy-

sik des Aristoteles entspricht) zu verstehen? Erstens einmal, daß das Denken die von der gesamten Philosophie (angefangen bei Plato bis zu Hegel) erarbeiteten Begriffe berücksichtigt, und nicht nur die Begriffe eines bestimmten Philosophen oder eines bestimmten Systems. Was für allgemeine Begriffe sind das nun? Sie lassen sich aufzählen: Theorie und Praxis, System und Totalität, Element und Ganzheit, Entfremdung und Aufhebung der Entfremdung usw.“ Henri Lefebvre: Die Revolution der Städte. München 1972, S. 73. [Herv. im Orig.] 25 | Henri Lefebvre: Kritik des Alltagslebens. In: Ders.: 3 Bde., Bd. 1 Kritik des Alltagslebens. München, 2. Auflage 1976, S. 1. 26 | Die Neubewertung der Ästhetik der Natur ist ein Topos des Poststrukturalismus par excellence. Während die Moderne eine äußerliche Beziehung des Menschen zur Natur forcierte, sollte in der Postmoderne der Mensch wieder als Teil der Natur verstanden werden, um die ökologische Katastrophe aufzuhalten und ein Mitdenken der Natur in uns ein Wandel der Natur um uns mit sich führen. Vgl. Heinz Paetzold: Urbanismus. In: Ästhetische Grundbegriffe Studienausgabe, 7 Bde., Bd. 6 Tanz bis Zeitalter/Epoche, hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhardt Steinwachs, Friedrich Wolfzettel. Stuttgart/Weimar 2005/2010, S. 281-312: S. 282.

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Menschen und das Menschliche zu definieren , sondern es kommt darauf an, die Repräsentationen beiseite zu schaffen, die ihn zu definieren beanspruchen, um ihn frei in der Praxis sich selbst definieren zu lassen.“27 [Herv. im Orig.]

Hierin wird ersichtlich, dass Lefebvre eine Selbstentfremdung des Menschen erkannte und ein Ende der Repräsentationen forderte, die diese Entfremdung und Fremdbestimmung forcierten. Der Mensch sollte sich im praktischen Alltagshandeln selbst definieren. Lefebvre führt auch die Aufhebung der Philosophie auf die Erkenntnis ihrer Entfremdung zurück: „Indem die Philosophen den Menschen der Praxis und die nichtphilosophische Welt als »entfremdet« ansahen, setzten sie sie per definitionem [Herv. im Orig.] ins Unrecht. Indem Marx dagegen zeigte, daß es auch eine philosophische Entfremdung gibt, vereinte er den philosophischen und den nichtphilosophischen Menschen unter ein und demselben Begriff; so öffnete er den Weg zur Auf hebung der Philosophie.“28

Lefebvres Metaphilosophie vereint unter sich also eine poietische Erforschung der Praxis, mit dem Ziel die Alltagskultur zu verwandeln29. Diesen Ansatz finden wir auch im Musée Sentimental, welches mit der Hinwendung zur Alltagskultur die Kunst selbst überwandt, sowie in dem hier durchgeführten gestalterischen Praxisprojekt „Sentimentale Urbanität“, bei dem die sentimentale Dimension der Alltagskultur zum Ausdruck einer städtischen Identität wird. Auch das Moment der Entfremdung, welches, wie bereits festgehalten, den Ausgangspunkt für eine Operative Ästhetik bildet, ist Teil der Metaphilosophie. Die Metaphilosophie wendet sich dem Banalen der menschlichen Praxis zu und bezeichnet in der Hinwendung zu einer poetischen Praxis das Ende der Philosophie an sich.30 Lefebvre legt dar:

27 | Henri Lefebvre: Metaphilosophie. Prolegomena. Frankfurt a. M. 1975, S. 326 f. 28 | Ebd., S. 328. 29 | Siehe dazu auch Hans-Jürgen Macher: Methodische Perspektiven auf Theorien des sozialen Raumes. Zu Henri Lefebvre, Pierre Bourdieu und David Harvey. München 2007, S. 67. 30 | Vgl. Christian Schmid: Stadt, Raum und Gesellschaft. Henri Lefebvre und die Theorie der Produktion des Raumes, München 2005, S. 113.

Methodik

„Die Auf hebung der Philosophie nimmt programmatischen Charakter an, aber gleichzeitig wird sie konkret. Sie verlängert die Philosophie, indem sie die Philosophie-Haltung radikal verändert. Sie umschließt die Analyse der Praxis und zugleich die Darlegung der Praxis in der Totalität (der wirklichen und der möglichen, mit Schließungen und Öffnungen, Ebenen und Entnivellierungen), und im gleichen Zuge forscht sie nach der praktischen Energie, d. h. nach den gesellschaftlichen Kräften, die zur Intervention imstande sind. Dieses Programm zielt darauf ab, die aus der Philosophie herausgelösten und übernommenen Elemente in die (revolutionäre) Praxis einzufügen.“31

Lefebvre erforschte die Praxis, bzw. das Alltagshandeln, weil er es als Voraussetzung für die Entstehung einer philosophischen Tradition betrachtete. Da das „Philosophisch-Werden“ der Welt gleichbedeutend mit dem „Weltlich-Werden“ der Philosophie ist, steht ihre Verwirklichung für ihren gleichzeitigen Verlust: „Die Philosophie muß sich auf heben; sie verwirklicht sich, indem sie sich auf hebt, und sie hebt sich auf, indem sie sich verwirklicht. Das Philosophisch-Werden der Welt gibt Raum für ein Weltlich-Werden der Philosophie, für die revolutionäre Verwirklichung und Auf hebung der Philosophie als solcher.“32

Übertragen wir diese Feststellung in unseren designwissenschaftlichen Kontext, so lässt sich adaptieren, dass ein Wissenschaftlich-Werden des Designs zugleich ein Design-Werden der Wissenschaft nach sich zieht und mit einer Aufhebung einer Wissenschaft im herkömmlichen Sinne einhergeht. Wenn also die Wissenschaft Design wird, ist der Forschungsprozess auch vergleichbar mit dem Designprozess. Dies lässt sich anhand eines einfachen Beispiels aus der graphischen Gestaltung darlegen. Für den Entwurf eines Patterns zum Beispiel, das wie die Wasseroberfläche spiegelt, kann sich der Gestalter bei Monets Seerosenbildern inspirieren lassen, während er dazu Smetanas Moldau hört und sich parallel das Plätschern der Wasserspiele von Tinguely und Saint Phalle in Paris vorstellt.

31 | Henri Lefebvre: Metaphilosophie. Prolegomena. Frankfurt a. M. 1975, S. 329. 32 | Ebd., S. 25.

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Diese kunsthistorischen und musiktheoretischen Quellen gleicht er im Gestaltungsprozess mit seiner eigenen Vorstellung von Wasser ab und entwickelt darauf hin das Design. Er fragt dann aber nicht, ob er Impressionisten und Neue Realisten miteinander mischen darf oder ob Musik und Kunst gleichwertig integriert werden dürfen. Vielmehr wählt er alle Quellen, die ihm zur Erreichung des Gestaltungsziels sinnvoll erscheinen. Damit ist der Gestaltungsprozess ein phänomenologisches Wechselspiel zwischen Theorie und Praxis. Ranulph Glanville und Christopher Frayling nehmen hierzu eine radikal konstruktivistische Position ein und stellen die These auf, das das wissenschaftliche Arbeiten ähnlich dem Arbeiten in Kunst und Design durch Intuition und Subjektivität geleitet sei.33 Alle Regeln nach denen Forschung durchgeführt werde, gingen letztlich auf selbst entworfene soziale Konstrukte zurück.34 Meta kommt aus dem griech. von „über, neben“ und beschreibt damit, bezogen auf den designwissenschaftlichen Zusammenhang der vorliegenden Arbeit, die Pluridisziplinarität, bzw. das fachübergreifende der Gestaltung.35 Diese formuliert für sich selbst eine Position zwischen diversen Fachdisziplinen. So stehen in der Gestaltung zur Erreichung des Designziels mehrere Fachgebiete nebeneinander. Claudia Mareis, Gesche Joost und Kora Kimpel legen dar: „Wenn sich Designer für die Wissensprozesse Dritter zuständig machen (extern), ist eine Vorbedingung die Bestimmung des Wissens im Design

33 | Vgl. Dagmar Steffen: Praxisintegrierende Designforschung und Theoriebildung, Phil. Diss. Fachbereich Design und Kunst der Bergischen Universität Wuppertal. Wuppertal 2011, S. 76. 34 | Vgl. ebd., S. 77. 35 | Cordula Meier stellt fest, dass eine Designtheorie immer als interdisziplinäre Vernetzung wissenschaftlicher Systeme gesehen werden müsse. Dies ergäbe sich aus dem Medium Design an sich, dessen Entwurfsprozesse per se interdisziplinär seien. Zu denen für das Design relevanten Wissenschaftssystemen gehöre die Philosophie, die Linguistik, die Hirnforschung, die Kulturtheorie, die Germanistik sowie die phänomenologische Alltagskultur [Herv. durch d. Verf.], die Soziologie, die Kommunikationstheorie, die Semiotik, die Designgeschichte, die Mediengeschichte, die Kunstgeschichte, die Kunsttheorie, die Medientheorie und gelegentlich auch die Politologie oder die Religionswissenschaft. Vgl. Cordula Meier (Hg.): Design Theorie. Beiträge zu einer Disziplin. Frankfurt a. M., 2. Auflage 2003, S. 24.

Methodik

(intern). Dies wurde in den letzten Jahren intensiv diskutiert und mit Bezügen zu System-, Evolutions- und Kognitionstheorien formuliert. Vorläufiger Konsens scheint die Bestimmung einer Position des »Dazwischen« zu sein […].“36

Innerhalb der Designwissenschaft wird also, ähnlich wie in der Metaphilosophie37, die Idiosynkrasie der Einzelwissenschaften überwunden und mit einer grenzüberschreitenden, kombinatorischen Grundhaltung gearbeitet.38 Cordula Meier hält fest: „Design tangiert sämtliche Bereiche kommunikativer und sozialer Praxis. Ähnlich wie die Sprache ist Design ein Grundmodus des Handelns in der Welt und zu der Welt. Es greift ontologisch in die Mikrosphäre alltäglicher Stände und Umstände ein, makrotheoretisch ist das Design bestimmend für methodologische Systemanforderungen und theoretische Rahmenbedingungen, d. h. Design ist Orientierung.“39

Meier positioniert hier ein universales Verständnis von Design, das alles Handeln in und zu der Welt beeinflusst. Das heißt auch, dass Design ein Modus der Alltäglichkeit und eine Tangente kommunikativer und sozialer Praxis ist. Eo ipso liegt es nahe, eine Designforschung zu befördern, die ihren Praxiskern nicht negiert.

36 | Claudia Mareis, Gesche Joost, Kora Kimpel (Hgg.): entwerfen wissen produzieren. Bielefeld 2010, S. 84. 37 | Die Metaphilosophie lehnt eine Zerstückelung in Teilwissenschaften ab und forciert das Aufbrechen kategorialen Denkens zugunsten der Vernetzung. Siehe dazu Fernand Mathias Guelf: Die urbane Revolution. Henri Lefèbvres Philosophie der globalen Verstädterung. Bielefeld 2010, S. 87., S. 222. 38 | Siehe dazu auch Martin Zeiller, der selbiges für die Forschungshaltung im Musée Senti-

mental feststellt. Martin Zeiller: Musée sentimental – Oberfläche, Organisation, Obszönität, Magisterarbeit am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen. Tübingen 1986, S. 28. 39 | Cordula Meier (Hg.): Design Theorie. Beiträge zu einer Disziplin. Frankfurt a. M., 2. Auflage 2003, S. 13.

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5   Das Sentimentale im Ruhrgebiet 5.1. Beschreibung eines Interdisziplinären Projektlabors Das Folkwang LAB1 als Ausdruck einer operativen Ästhetik setzte sich phänomenologisch mit der Identität Essens auseinander. Zentral war der partizipative Einbezug der Bevölkerung. Es galt die kulturelle Substanz der Stadt Essen mit Hilfe von Gestaltung sichtbar zu machen und über die dargestellte Einzigartigkeit individueller sentimentaler Orte eine Identifikation zu fördern die, mit Alexander Mitscherlich gesagt, die „Stadt zum Liebesobjekt ihrer Bürger“ machen sollte. Das Projekt mit dem Titel „Sentimentale Urbanität“ wurde unter meiner Leitung im Wintersemester 2013/14 am Fachbereich Gestaltung der Folkwang Universität der Künste durchgeführt. An dem Projekt nahmen Studierende der Studiengänge Industrial Design, Kommunikationsdesign und Fotografie der Folkwang Universität der Künste sowie Studierende der Fakultät Städtebauleitplanung der Technischen

1 | „Ein Folkwang-LAB ist eine Unterrichtsform in Form eines interdisziplinären Projektes mit dem Ziel, zu forschen, zu experimentieren und die künstlerische Entwicklung voranzutreiben. […] Ein Folkwang-LAB hat ein Thema von übergeordneter gesellschaftlicher Relevanz und wird als ein Kooperationsprojekt mit PartnerInnen aus mindestens zwei unterschiedlichen Fachgebieten (im Sinne von Disziplinen) durchgeführ t. Es ist wünschenswer t, weitere KooperationspartnerInnen, ggf. auch außerhalb der Folkwang Universität der Künste, einzubeziehen. Ein Folkwang-LAB unterscheidet sich von einem Einzelprojekt durch seine Struktur, Arbeitsweise und Ergebnisse. So arbeiten verschiedene Disziplinen unter einer übergeordneten – das heißt keiner der Disziplinen unmittelbar zuzurechnenden – gemeinsamen Fragestellung zusammen. Die spezifischen Paradigmen, Perspektiven und Arbeitsweisen der Disziplinen werden in den Prozess eingebracht, weiterentwickelt und zu etwas Neuem geformt. Die Ergebnisse eines LABs sind daher nicht die Summe seiner einzelnen Teile, sondern das Mehr im Sinne von Emergenz.“ Folkwang Universität der Künste: Über die Folkwang LABs (http://www.folkwang-uni.de/home/hochschule/projekte-labs/ueber-die-folkwang-labs/, zuletzt abgerufen 16.02.14).

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Universität Dortmund2 teil. Im ersten Teil des Projekts begaben sich die Studierenden auf die Suche nach den persönlichen sentimentalen Geschichten und Erinnerungen, die die Essener mit ihrer Stadt verbinden. Simone Egger hält fest: „[…] es spielt keine Rolle, ob die Heimat hübsch oder hässlich, dezent oder schrill auftritt, wesentlich ist vor allem die Beziehung, die man zu Orten, zum Freundeskreis, der Familie oder einer Sache hat. […] Nach Heimat forschen heißt also in erster Linie nach den Bedeutungen suchen, die Menschen als Gruppen oder einzelnen Personen wichtig sind.“3

Um an die von Egger hier benannten privaten Bedeutungen von Orten oder Objekten zu gelangen, war der persönliche Kontakt zu den Wohnenden essentiell. Im Rahmen einer phänomenologischen Feldforschung begaben sich die Studierenden daher für ein Wochenende zu Essener Gastgebern, die sie an Ihrem Alltag und den damit verbundenen Geschichten teilhaben ließen.4 Während dieser Zeit und mit wachsendem Vertrauen ineinander, wurden Stück für Stück die einzelnen Zeichenschichten der urbanen Oberfläche Essens freigelegt. Auch der darauf folgende Entwurfsprozess war durch eine stete Rückkopplungen mit den Gastgebern charakterisiert. Um die Gastgeber partizipativ einzubeziehen, stellten die Studierenden hierbei immer wieder praktische Aufgaben, wie z.B. das Ablichten vom im Alltag begegnenden sentimentalen Orten mit einer Einmalkamera oder das Beschreiben von erinnerten Gerüchen und Geräuschen an dem jeweiligen Ort.

2 | Das Projekt Sentimentale Urbanität war an der Technischen Universität Dortmund in das

BMBF Programm „Selbstgemachte Stadt“ eingegliedert und wurde dort von den Studierenden als Teilaspekt ihres regulären Projekts mit behandelt. 3 | Simone Egger: Heimat, wie wir unseren Sehnsuchtsort immer wieder neu erfinden. München 2014, S. 78. 4 | Wir lehnten uns mit diesem Prinzip an die Tradition der Pestalozzi Siedlungen in der Montankultur an. Hier war es nach dem Zweiten Weltkrieg üblich, jungen Auszubildenden ohne Familie Kost und Logis im eigenen Haus zu gewähren. Siehe dazu auch: http://www.routeindustriekultur.de/themenrouten/02-industrielle-kulturlandschaft-zollverein/pestalozzisiedlung.html.

Das Sentimentale im Ruhrgebiet

Die Struktur der von uns akquirierten Gastgeber war sehr heterogen.Unter den Gastgebern fanden sich sowohl Familien, als auch Alleinstehende sowie Gemeinschaften. Bei einer großen Auftaktveranstaltung am 22. Oktober 2013 im SANAA Gebäude auf Zollverein, lernten sich Gastgeber und Studierende des LABs persönlich kennen. Hier wurden auch die Paarungen für die Wohnphase ausgelost. Die Gastgeber hatten wir zum größten Teil mit einem Infostand auf dem Zechenfest Zollverein sowie durch diverse Mailings und den Kontakt zu Bürgervereinen akquiriert. Innerhalb des LABs wurden die Studierenden von den interdisziplinären Projektpartnern Claudia Wagner (Leitung Projekt Mittendrin, Stiftung Zollverein), Dr. Irene Wiese von Ofen (Beigeordnete Stadt Essen a.D. Stadtplanung, Bau und Boden), Benjamin Foerster-Baldenius (Darstellender Architekt, Raumlabor Berlin), Prof. Heinrich Theodor Grütter (Direktor Ruhr Museum) sowie Dr. David Gehne und Sebastian Kurtenbach (ZEFIR: Zentrum für interdisziplinäre Regionalforschung, Ruhr Universität Bochum) unterstützt. Die Studierenden der Technischen Universität Dortmund wurden betreut durch Prof. Christa Reicher und Päivi Kataikko. Mit dem Abschluss der Wohnphase begann die gestalterische Konzeptionsphase. Innerhalb dieses Projektteils war es Aufgabe der Studierenden, die in der Wohnphase herauskristallisierten Geschichten und Gedächtnisorte gestalterisch so zu inszenieren, das ihre Gefühlsqualität für einen Außenstehenden nachempfindbar oder sichtbar wird. Individuell gefühlte Qualitäten die sich auf die Heimat beziehen, sind Andrea Bastian folgend beispielsweise so vorstellbar: * „der Geruch auftauender Erde im Vorfrühling oder eines frisch gebohnerten Holzfußbodens; * der Anblick eines Gegenstandes oder Gebäudes; * das Hören einer bestimmten Melodie oder einer Stimme; rufen Erinnerungen wach z. B.: * an ein begrenztes Stück Natur; * an ein Zimmer im Elternhaus oder in der Schule;

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* an einen bestimmten Wohnort; * an nahestehende, vertraute Menschen; * an regelmäßig wiederkehrende Feste.“5

Da eine sentimentale Qualität sich demnach sowohl aus einem sinnlichen Reiz, als aus einer Erinnerung sowie aus einer räumlichen Gegebenheit speisen kann, waren die Studierenden frei in der Wahl ihrer Ausdrucksmedien, um die sinnliche Qualität zu transportieren. Dies zeigt sich auch in den Ergebnissen des Projekts. So entstanden klassische Produkte, Installationen, dokumentarische und inszenierte Fotostrecken sowie interaktive Anwendungen für Online-Medien. Monika Wagner bemerkt zur Intervention des Designers im urbanen Kontext: „Ziel dieser Designarbeiten ist es heute, Räume mit emotionalen Qualitäten herzustellen. Man will, das ist das Anliegen aller postindustriellen Imagepf lege, nicht die Zahl anonymer, umbauter Leere steigern, sondern unverwechselbare Atmosphären herstellen.“6

Durch das Sichtbarmachen der emotionalen Aura von Gedächtnisorten der Gastgeber offenbarte das Projekt nach und nach eine „Topographie des glücklichen Raumes“ 7. Die Stadt selbst wurde zum sentimentalen Museum das seine gefühlsbetonten Gedächtnisorte bzw. Exponate offenbarte bzw. exponierte. Als Beispiel für die spoerrische Mystifizierung des Alltags und die Arbeit mit Assoziationsketten soll hier das Projekt der Kommunikationsdesign Studierenden Ekaterina Donis hervorgehoben werden. Sie setzte sich mit dem sentimentalen Ort von Gaby Hensch auseinander. Diese gab eine besondere Ecke in der verspiegelten Glasfront einer Essener Hotellounge als Gedächtnisort an. Dieser Ort erschloss sich als sentimentale Heimatempfindung, weil Frau Hensch in ihm ein

5 | Andrea Bastian: Der Heimat-Begriff. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung in verschiedenen Funktionsbereichen der deutschen Sprache, hg. von Helmut Henne, Horst Sitta, Ernst Herbert Wiegand. Berlin 1995, S. 23. 6 | Monika Wagner: Sakrales Design für Fiktionen vom öffentlichen Raum. In: parks in space. Künstlerische und theoretische Beiträge zum Freizeit- und konsumgerechten Umbau der Städte, hg. von Kulturzentrum Schlachthof, Bremen. Bremen 1999, S. 66. 7 | Gaston Bachelard: Die Poetik des Raumes. Aus dem Französischen von Kurt Leonhard, Frankfurt am Main, 7. Auflage 2003.

Das Sentimentale im Ruhrgebiet

Raumerlebnis nachempfand, das sie aus vergangenen Urlauben auf Norderney mit sich trug. Dort genoss sie es in einem Café direkt am Strand zu sitzen durch dessen komplett verglaste Front sie das Meer betrachten konnte. Darauf Bezug nehmend hob Donis mit ihrer Gestaltung vor allem auf das Thema Spiegel und Glas ab und widmete sich in diesem Kontext auch dem Begriff der Heterotopie von Michel Foucault. Das Gefühl des draußen- und drinnen und gleichzeitig nirgendwo sein wurde in ihrer zum Abschluss entwickelten Installation nachempfindbar. Donis nutzte dabei eine Glasscheibe und stellte auf jede Seite der Scheibe jeweils ein rotes Sofa an exakt die gleiche Stelle, sodass der Rezipient zunächst den Eindruck gewann, in der Scheibe nur die Spiegelung des Sofas zu sehen. Indem die Rezipienten auf beiden Seiten der Scheibe auf den Sofas Platz nehmen konnten, entstand ein interessantes Spiel der Wahrnehmung von Drinnen und Draußen, Dasein und Nicht-Dasein.8 Die Fotografie Studierende Anna-Marie Knüppel widmete sich der spoerrischen Methode des offenen Symbolbezugs durch sentimentalen Fokus. Frau Knüppel war zu Gast im Beginenhof einer spirituellen Gemeinschaft von Frauen im Essener Süden. Die Frauen gaben den Hof als ihren sentimentalen Ort an, da sie dort Gemeinschaft und Zusammenhalt erfahren. Da die Gemeinschaft sich ausschließlich auf Frauen stützt und diese auch dort leben, erscheint der Beginenhof für Außenstehende jedoch nicht nur als Moment der Inklusion, sondern auch der Exklusion.

8 | Der sentimentale Ort von Frau Hensch ist jedoch auch in anderer Hinsicht interessant. Simone Egger hält fest: „Ein Sehnsuchtsort par excellence ist das Wasser. […] Fließend, kaum greifbar, vermag es unaufhörlich Gedanken und Blicke auf sich zu ziehen. In Gestalt von Meeren, Flüssen und Seen bestimmen Gewässer nicht nur die Struktur von Landschaften. […] Der ideale Sehnsuchtsort in diesem Zusammenhang aber ist das Meer. Ob Nordsee oder Ostsee, ob Atlantik- oder Pazifikküste, das Wasser in seiner unendlichen Weite weckt Hoffnungen.“ Simone Egger: Heimat. Wie wir unseren Sehnsuchtsort immer wieder neu erfinden. München 2014, S. 48 f. Aus dem Ort von Frau H. könnte man also auch schlussfolgern, dass das ungestörte Naturerlebnis und der weite Blick aufs Meer die zentralen Parameter bei der sentimentalen Ortsgeschichte bildeten. Ein weiterer wichtiger Punkt ist der der Einsamkeit. So zog auch Ekaterina Donis einen Vergleich zu Edward Hopper und seinem Werk „Nighthawks“. Wollte man den Gedanken der Einsamkeit, der Erfahrung von Weite und Natur weiterspinnen, so gelänge man im Kontext des sentimentalen Spots von Frau H. unweigerlich zu Caspar David Friedrichs „Kreidefelsen auf Rügen“.

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Ohne die Gemeinschaft wertend zu betrachten, schuf Knüppel eine sensible Inszenierung zwischen Performance und Installation. Der sogenannte „Gemeinschaftspullover“, war eine Aneinanderkettung mehrerer langärmliger Oberteile, die an den Handöffnungen zusammengenäht waren.9 Dieser Pullover bildete eine Gemeinschaft ab, die für ihre Träger sowohl Freude, Wärme und Nähe aber auch Klaustrophobie, Enge, Zwang bedeuten kann.

5.2 Das Gedächtnis im Ruhrgebiet Das wir für die Untersuchung der sentimentalen städtischen Identität gerade das Ruhrgebiet, bzw. genauer die Stadt Essen wählten, hat diverse Gründe. Diese sind zum einen in der (Landes)- Topographie und Geschichte, als auch in der eigentümlichen Mentalität der sogenannten „Ruhris“ zu suchen. Nordrhein-Westfalen ist nicht nur das bevölkerungsreichste und daher auch ein durch Heterogenität geprägtes Bundesland, sondern es verfügt als sogenanntes Bindestrich-Land nicht über eine jahrhundertealte historisch kultivierte räumliche Identität.10 Ursula Rombeck-Jaschinski dazu: „Das bevölkerungsreichste Bundesland war von den Briten aus zweckrationalen Gründen ohne Rücksicht auf regionale Identitäten aus zwei früheren preußischen Provinzen zusammengefügt worden. Während der Raum Westfalen ein jahrhundertealtes historisches Raumbewusstsein kultivierte, war Nordrhein lediglich ein Teil der seit 1815/22 bestehenden preußischen Rheinprovinz. Beide Gebiete umschlossen das Ruhrgebiet

9 | Siehe dazu auch die Arbeit „Werksatz“ von Franz Erhard Walther. 10 | Alexander Mitscherlich weist darauf hin, dass die agglomerierte gegenüber der gestalteten Stadt nicht Heimat werden könne, da Heimat nach identitätsbildenden Markierungen verlange. Vgl. Alexander Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte, Anstiftung zum Unfrieden. Frankfurt a. M. 1965, S. 15.

Das Sentimentale im Ruhrgebiet

– zu dessen Schutz Nordrhein-Westfalen gegründet wurde – und waren gleichzeitig ein Teil desselben.“ 11

Im Jahr 1946 wurde Nordrhein von den britischen Besatzern mit der preußischen Provinz Westfalen vereint und ein Jahr später um das Land Lippe erweitert.12 Bis heute bilden sich diese Einzelidentitäten durch die beiden großen Landesverbände Landschaftsverband Rheinland (LVR) und Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) ab.13 Die sich in den 50er Jahren entwickelnde wirtschaftliche Stärke des Landes und seine Eigenschaft als Verfassungsorgan mit dem damaligen Sitz der Bundeshauptstadt in Bonn, forcierten zunächst ein bequemes Einrichten in dieser Position und keine Auseinandersetzung oder gar politische Debatte über ein Selbstverständnis in Sachen Landesbewusstsein.14 Solange NRW und das Ruhrgebiet noch den industriellen und wirtschaftlichen Motor Deutschlands darstellten, spielten Identitätsfragen eher eine nachgelagerte Rolle. Erst mit den Kohle- und Stahlkrisen in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts änderte sich die

11 | Ursula Rombeck-Jaschinski: Landesbewusstsein durch Repräsentation. Das Haus der Geschichte Baden-Württemberg. In: Heimat Nordrhein-Westfalen. Identitäten und Regionalität im Wandel, hg. von Jürgen Brautmeier, Kurt Düwell, Ulrich Heinemann, Dietmar Petzina. Essen 2010, Essen 2010, S. 185-211: S. 188 f. 12 | Vgl. Kurt Düwell: Von der Landschaft ins Landesbewusstsein. In: Heimat NordrheinWestfalen. Identitäten und Regionalität im Wandel, hg. von Jürgen Brautmeier, Kurt Düwell, Ulrich Heinemann, Dietmar Petzina. Essen 2010, S. 27-57: S. 29. 13 | Siehe dazu auch Bernd Walter: Die Landschaftsverbände – Partizipation, Repräsentation, Identität. In: Mythen – Möglichkeiten – Wirklichkeiten. 60 Jahre Nordrhein-Westfalen, hg. von Jürgen Brautmeier, Ulrich Heinemann. Essen 2007, S. 61-179: S. 61. 14 | Vgl. Guido Hitze: Von „Wir in NRW“ bis „Nordrhein-Westfalen kommt wieder“. In: Heimat Nordrhein-Westfalen. Identitäten und Regionalität im Wandel, hg. von Jürgen Brautmeier, Kurt Düwell, Ulrich Heinemann, Dietmar Petzina. Essen 2010, S. 89-119: S. 95.

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Aufmerksamkeit für das Thema allmählich.15 Die tiefgreifenden strukturellen Veränderungen rückten Heimatmotive und eine damit verbundene regionale Identität nun auch in NRW immer stärker in den Fokus.16 Bis heute sind mit dem Ruhrgebiet viele Symbole verbunden, die in erster Linie auf den Bergbau rekurrieren. Es entsteht beinahe der Eindruck, als wurde sich erst in Zeiten des Strukturwandels bzw. im Rekurs auf die industrielle Zeit die Identität des Ruhrgebiets offenbaren.17 Dies mag auch mit der anhaltenden Identitätstransformation zusammenhängen, der das Ruhrgebiet unterworfen ist. So brachte nicht nur das Ende der Montankultur, sondern ebenso der Niedergang großer Industrieunternehmen wie Nokia oder Opel in Bochum einen Identitätsverlust mit sich. Besonders im Ruhrgebiet war die Prägung der regionalen Identität durch Unternehmer wie Krupp, Mercator, Thyssen, Stinnes und Grillo hoch. Nach patriarchalischem Vorbild kümmerten sich die Unternehmen um ihre Werksfamilie, z.B. durch die Bereitstellung von Gartenland und Obdach

15 | Strukturkrisen förderten Jürgen Mittag und Hans-Christoph Seidel zufolge die Auseinandersetzung der Bewohner mit dem Lebensraum und der Geschichte. Dies sei im Ruhrgebiet durch eine steigende regionale Historiographie u. a. über die Arbeitergeschichte und -bewegung belegt. Vgl. Jürgen Mittag, Hans-Christoph Seidel: Das Ruhrgebiet – Bürde oder Chance für Nordrhein-Westfalen?. In: Mythen – Möglichkeiten – Wirklichkeiten. 60 Jahre NordrheinWestfalen, hg. von Jürgen Brautmeier, Ulrich Heinemann. Essen 2007, S. 79-107: S. 97. 16 | „Wer zu Beginn des 21. Jahrhunderts das Gespräch auf das Ruhrgebiet lenkt, erntet oftmals skeptische, gelegentlich sogar mitleidige Blicke. Obwohl sich in den letzten Jahren aufgrund des Strukturwandels die Problemwahrnehmung allmählich verändert, erscheint das Ruhrgebiet nicht erst seit gestern als Problemregion Nordrhein-Westfalens. Lange Zeit prägten die Bilder eines unüberschaubaren Städtemeeres, das mit Defiziten in der Lebensqualität identifiziert und als kulturelle Armutszone abklassifiziert wurde, sowie Vorstellungen von einer montanindustriell zerstörten Umwelt die Wahrnehmung des Ruhrgebiets. Dabei wird vielfach übersehen, dass das Revier bis weit in die 1960er Jahre auch als Synonym für wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und als Magnet galt, der Menschen aus halb Europa an sich binden konnte.“ Ebd., S. 79. 17 | Jürgen Mittag und Hans-Christoph Seidel weisen auf die Tendenz hin, dass mit dem Ende der Montankultur die raumbezogene Identität der Bevölkerung im Ruhrgebiet angestiegen zu sein scheint. Vgl. ebd. S. 83.

Das Sentimentale im Ruhrgebiet

in Form von Zechensiedlungen/Kolonien18 sowie durch Werkvereine und das Engagement für soziale und kulturelle Einrichtungen der Region.19 Andrea Bastian dazu: „Neben Familie, Verwandtschaft, Freunde und Nachbarn treten im Laufe des Sozialisationsprozesses Institutionen wie Kindergarten, Schule, Arbeitsplatz, Vereine, Verbände, Gewerkschaften, Parteien. Aus all diesen Beziehungen, die dem Individuum potentiell zur Verfügung stehen, kann sich, bedingt durch das Bewußtsein von Zusammengehörigkeit, Heimatgefühl entwickeln.“20

Ähnliches zeigt sich in dem Dokumentarfilm „Arbeit Heimat Opel“ von Ulrike Franken und Michael Loeken aus dem Jahr 2012. Nach der Schließung der Zechen wurde Opel als einer der größten Arbeitgeber zu einem wichtigen Identifikationsmerkmal im Revier. „Oder, wie André im Film

18 | „Etwa ein Drittel der Bergarbeiter wohnte zu dieser Zeit [1913, A. C.] samt Familie in Werkswohnungen, im Norden des Ruhrgebiets, einem Schwerpunkt der Arbeiterkolonien, sogar fast zwei Drittel. Es dominierten zwei Häusertypen: der sogenannten „D-Zug“, eine Reihenhaussiedlung mit paarweise gekoppelten Eingangstüren, sowie Ketten von Einzelhäusern für jeweils vier Familien, inklusive Gartenstück und knapp bemessenem Stall fürs Kleinvieh. Verbreitet war die Haltung von Hühnern und Schweinen, doch vor allem Ziegen waren derart beliebt, dass sie bald auch als „Bergmannskühe“ bezeichnet wurden.“ Marie-Luise Marjan (Hg.): Das Ruhrgebiet – Geschichtsträchtiger Wandel. In: Ein Revier für die Kultur. Ruhr 2010. Kulturhauptstadt Europas, Köln 2008, S. 8-18: S. 15. Die Siedlungen von Krupp und weiteren Firmen der Montanindustrie bestimmen bis heute die räumliche und soziale Gliederung des Ruhrgebiets in einer dezentralen Siedlungsstruktur. Für Hartwig Suhrbier stellen diese Strukturen eine regionale Einzigartigkeit dar und sind als Ausdruck sozialpolitischer Planungsprozesse zu erhalten. Vgl. Hartwig Suhrbier: Endlich aufpoliert: Denkmal Siedlung, ein Essay über das gute alte Wohnen. In: …und dann kommst du nach Hause. Geschichte(n) vom Wohnen und Leben im Revier. 75 Jahre THS, eine Epoche von 1920 bis 1995, hg. von Hubert Maessen. Bochum 1995, S. 111-119: S. 112 ff. 19 | Vgl. Susanne Hilger: „Weltoffen und Heimatbewusst“. ‚Hidden Champions’ in NRW. In: Heimat Nordrhein-Westfalen. Identitäten und Regionalität im Wandel, hg. von Jürgen Brautmeier, Kurt Düwell, Ulrich Heinemann, Petzina Dietmar. Essen 2010, S. 297-315: S. 301. 20 | Andrea Bastian: Der Heimat-Begriff. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung in verschiedenen Funktionsbereichen der deutschen Sprache, hg. von Helmut Henne, Horst Sitta, Ernst Herbert Wiegand. Berlin 1995, S. 42.

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sagt: „Opel ist für mich Ruhrgebiet. Und Ruhrgebiet bin ich“.“21 Die starke Identifikation mit den großen Industrieunternehmen des Ruhrgebiets bildet sich bis heute darin ab, dass vor allem die Montankultur inneres und äußeres Bild des Ruhrgebiets geblieben ist. Auch die Profilierung als Bildungsstandort ab den 1960er Jahren hat daran nichts geändert. Vielmehr hielten sich mit dem Bergbau verbundene Rituale, die letztendlich zu Symbolen für die Region wurden. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang u.a. die Kleingartenkultur, der Brieftaubensport aber ebenso die Kneipen- und Kioskkultur, die sich aus dem täglich dort eingenommenen Feierabendbier der Bergleute entwickelte.22 Wie stark diese Bilder auch nach außen wirken, wurde in der Gestaltung des Deutschen Pavillons auf der Expo 2012 in Shanghai erkennbar. Dort bewegte sich der Besucher durch eine Landschaft aus digitalen Taubenschlägen, Gartenzwergen, Geranien und Karnickelställen. Die Brieftaube galt im Ruhrgebiet als „Rennpferd des kleinen Mannes“. Der damit zusammenhängende Sport wurde häufig im eigenen Schrebergarten betrieben: „In den vergangenen 20 Jahren gerieten Schrebergartenvereine dann etwas in den Ruch der Gartenzwerg- und Jägerzaun-Spießigkeit, doch mittlerweile entdecken immer mehr junge „Revierler“ den Reiz der eigenen Scholle neu. Nicht zuletzt, weil viele noch schöne Kindheitserinnerungen an „Oppa sein Garten“ besitzen. Größere Nachwuchssorgen plagen hingegen die Taubenzüchter. Das „Rennpferd des kleinen Mannes“, wie man die Brieftaube im Revier nennt, sorgte über Jahrzehnte zuverlässig für Freizeitvergnügen, für ein Gefühl von Freiheit und weiter Welt inmitten des zumeist grauen Alltags, für einen Schuss gut durchorganisierter Romantik. Noch heute konzentrieren sich im Ruhrgebiet etwa

21 | Annika Fischer: Neue Doku „Arbeit Heimat Opel“ zeigt die Angst der jungen Opelaner, Artikel der WAZ vom 04.12.2012, (http://www.derwesten.de/region/neue-doku-arbeitheimat-opel-zeigt-die-angst-der-jungen-opelaner-id7356653.html,

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18.03.2014). Siehe dazu auch Simone Egger: Heimat. Wie wir unseren Sehnsuchtsort immer wieder neu erfinden. München 2014, S. 154. 22 | Symbole des Ruhrgebiets wie die Brieftaube, die Borbecker Halblang und Schimanski waren Werbemotive auf den Postkarten, mit denen wir im LAB „Sentimentale Urbanität“ nach Gastgebern für die Studierenden suchten.

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25.000 Taubenzüchter (bundesweit gibt es um die 75.000), die sich liebevoll um drei Millionen Tiere kümmern.“23

In dem Zitat von Marjan offenbart sich eine Utopie der Gartenidylle, in die die Bergleute sich nach getaner schwerer und gefährlicher Arbeit flüchteten. Dass sich eigenes Land zur Bewirtschaftung und die Viehzucht unter Bergleuten so großer Beliebtheit erfreute, erklärt sich jedoch nicht nur aus der Sehnsucht nach Natur und Ruhe, sondern ebenso aus dem Umstand, dass viele Bergleute vorher in der Landwirtschaft tätig gewesen waren. Mit dem Strukturwandel setzte dem folgend dann auch eine Veränderung der Vereinskultur ein. Die Mitgliederzahlen sind in den letzten Jahren stagniert oder zurückgegangen. Trotzdem verteilen sich im Ruhrgebiet immer noch ca. acht Vereine auf 1000 Einwohner womit es – die Vereinsdichte betreffend –, bundesweit im Spitzenbereich liegt. Vereine sind und waren im Ruhrgebiet ein wichtiges Sozialisationsund Vereinigungsinstrument. Hier trafen sich Menschen diverser Herkunft und engagierten sich für die gemeinsame Sache. Bis heute ist die Gemeinsamkeit in der Vielfalt ein Charakterzug der Region geblieben: „Es ist ein tiefes und gewachsenes Bekenntnis zur Einheit in Vielfalt und ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das von einer einzigartigen Erfahrung genährt wird. Die hat uns Revierbürger gelehrt, dass die Menschen im Ruhrgebiet zwar immer größere Probleme hatten als in anderen Regionen, aber dass wir sie immer aus eigener Kraft lösen konnten.“24

Mit dem Bergbau verbunden ist ebenso ein spezifisches Vokabular, das einen eigenständigen Bereich des kulturellen Wissens im Ruhrgebiet darstellt25:

23 | Marie-Luise Marjan (Hg.): Ein Revier für die Kultur. Ruhr 2010. Kulturhauptstadt Europas. Köln 2008, S. 90. 24 | Bodo Hombach: Wir im Ruhrgebiet. In: Ein Revier für die Kultur. Ruhr 2010. Kulturhauptstadt Europas, hg. von Marie-Luise Marjan. Köln 2008, S. 52-59: S. 53. 25 | Vgl. Marie-Luise Marjan (Hg.): Von der Pinge zum Pütt: Bergbau für Anfänger. In: Ein Revier für die Kultur. Ruhr 2010. Kulturhauptstadt Europas. Köln 2008, S. 108.

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„[An der, A. C.] […] Kumpelsprache wird deutlich, dass der traditionsreiche Bergbau neben seiner ökonomisch segensreichen Wirkung auch eine fein verästelte, in vielen Jahrhunderten gewachsene Kultur geschaffen hat.“26

Im Ruhrgebiet wird Ruhrdeutsch gesprochen, das sich im 19. Jahrhundert als Form des Hochdeutschen herausbildete und zunächst als Sprache der Arbeiter in Bergbau und Industrie avancierte.27 Die im Ruhrdeutschen verankerte Knappheit durch das Weglassen von Silben wird auch als Regiolekt bezeichnet. Dieser Regiolekt ist dabei keine einheitliche Sprache, sondern variiert von Stadt zu Stadt.28 Gerburg Jahnke dazu: „Aus den damaligen Ursprüngen stammt heute noch ein Großteil des Wortschatzes. Geringfügig beeinf lussten daneben auch einige Fremdsprachen das Vokabular – unter anderem verursacht durch die Zuwanderung von Arbeiterfamilien aus dem Ausland – beispielsweise „Matka“ (alte Frau; aus dem Polnischen: Mutter), „pickobello“, „aus der „Lamäng“ oder „Trabbel“.“29

Jahnke hebt hier die Prägung durch Fremdsprachen hervor. Diese ist im Blick auf die Entwicklung des Regiolekts zwar zu vernachlässigen jedoch hat die mit der Industrie zusammenhängende Arbeitsmigration im Ruhrgebiet einen großen Einfluss auf die Entwicklung der urbanen Identität. Das Ruhrgebiet hat diverse Migrationswellen erlebt. So stieg die Zahl der aus Ostpreußen stammenden Bürger zwischen 1880 und 1910 von 40.000 auf 500.000 an.30 Eine weitere Welle folgte Mitte der 1950er-Jahre im Zuge des „Wirtschaftswunders“.31 Die rasant wachsenden Industrieunternehmen rekrutierten ihre Arbeiter dabei vornehmlich

26 | Marie-Luise Marjan (Hg.): Von der Pinge zum Pütt: Bergbau für Anfänger. In: Ein Revier für die Kultur. Ruhr 2010. Kulturhauptstadt Europas. Köln 2008, S. 110. 27 | Vgl. Gerburg Jahnke: Wir im Revier. In: Ein Revier für die Kultur. Ruhr 2010. Kulturhauptstadt Europas, hg. von Marie-Luise Marjan. Köln 2008, S. 102-107: S. 103. 28 | Vgl. ebd. 29 | Ebd. 30 | Vgl. Marie-Luise Marjan (Hg.): Ein Revier für die Kultur. Ruhr 2010. Kulturhauptstadt Europas. Köln 2008, S. 101. 31 | Vgl. ebd.

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im Süden Europas. Türken, Italiener, Griechen, Spanier und Portugiesen32 kamen ins Ruhrgebiet, um sich hier ein besseres Leben zu erwirtschaften.33 Innerhalb des durchgeführten gestalterischen Praxisprojekts „Sentimentale Urbanität“ wurden die Studierenden mit überraschend vielen sakralen Gedächtnisorten konfrontiert. Sechs von acht Gastgebern im Projekt, gaben unter anderem eine Kirche als Ort der Sentimentalität an. Dabei stand nicht bei jedem die eigene Spiritualität im Vordergrund, sondern vornehmlich die persönliche Einkehr und Ruhe. Andrea Bastian stellt unter Rückgriff auf Wilhelm Brepohl heraus, dass der Kirchturm eine ähnliche Identitätsfunktion übernähme wie die Zechen und Hütten, deren Türme der Industriemensch bei jeder Heimkehr erblickt. 34 Da das Identifikationsmoment der industriellen Architektur mit dem Strukturwandel zu großen Teilen aus dem Ruhrgebiet verschwunden ist, könnten die Kirchtürme in der Stadtsilhouette nun auch optisch eine Kompensation darstellen. Darüber hinaus weißt Simone Egger darauf hin, dass sich auch in Ideen und Geisteshaltungen Heimat finden lässt und daher auch die religiöse Orientierung Halt bietet. 35 Kurt Düwell hält fest: „Unter den kulturellen Rahmenbedingungen, die in den ersten Jahren nach dem Krieg die „mental map“ Nordrhein-Westfalens bestimmt haben, nahmen die Kirchen und Religionsgemeinschaften eine wichtige Position ein. Sie standen einerseits außer für Frömmigkeit, Seelsorge und Glaubenslehre auch für traditionelle Werte wie Allgemeinwohl und Hilfsbereitschaft, Redlichkeit und Heimatliebe, sahen sich aber in der

32 | Den vielen verschiedenen Nationalitäten im Ruhrgebiet Rechnung tragend, wurde der Remscheider Generalanzeiger bereits 1965 in den vier Sprachen Deutsch, Italienisch, Spanisch und Remscheider Platt herausgegeben. Vgl. Heinrich Wächter: Hömma, einige Dönekes auss´m Kohlenpott. In: Ein Revier für die Kultur. Ruhr 2010. Kulturhauptstadt Europas, hg. von Marjan, Marie-Luise. Köln 2008, S. 94-100: S. 100. 33 | Vgl. ebd. 34 | Vgl. Andrea Bastian: Der Heimat-Begriff. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung in verschiedenen Funktionsbereichen der deutschen Sprache, hg. von Helmut Henne, Horst Sitta, Ernst Herbert Wiegand. Berlin 1995, S. 35. 35 | Vgl. Simone Egger: Heimat, wie wir unseren Sehnsuchtsort immer wieder neu erfinden. München 2014, S. 77.

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Folge des nationalsozialistischen Unrechtsregimes auch gehalten, ihre Staatsloyalität sorgfältig neu zu überprüfen.“ 36

Besonders für die „heimatlos“ gewordenen Arbeitsmigranten aus Russland, Polen und Italien stellte die Kirche daher auch ein entscheidendes Integrations- bzw. Identitätsmoment dar. Der ehemalige Kardinal Franz Hengsbach, Gründerbischof des Bistums an Rhein und Ruhr und u.a. populär als „Ruhrbischof“, ist eine zentrale Figur für diesen Aspekt: „Auch heute, fast zwanzig Jahre nach seinem Tod, ist Kardinal Franz Hengsbach einer der populärsten Repräsentanten des Ruhrgebiets. „Einer von uns“ oder „Kumpel Franz“ – so wird er von den Menschen in der Region bezeichnet. Diese Begriffe zeigen, wie sehr die Person des „Ruhrbischofs“ mit der Region verbunden war und wie sehr er von der Bevölkerung auch heute noch geschätzt wird.“37

Hengsbach war als Bischof den Bergleuten sehr zugetan. Anstatt eines Edelsteins trug er im Bischofsring ein Stückchen Kohle aus der Region 38 und führte den Titel des „Ehrenbergmanns“39. Spiritualität war im gefährlichen Beruf des Bergmanns generell ein wichtiges Thema. So ist die Schutzheilige der Bergleute die Heilige Barbara. Sie zählt zu den Vierzehn Nothelfern und wird unter anderem gegen den plötzlichen und unvorhersehbaren Tod angerufen. Die

36 | Kurt Düwell: Von der Landschaft ins Landesbewusstsein. In: Heimat Nordrhein-Westfalen. Identitäten und Regionalität im Wandel, hg. von Jürgen Brautmeier, Kur t Düwell, Ulrich Heinemann, Petzina Dietmar: Essen 2010, S. 27-57: S. 36. 37 | Bischof Franz Grave: Was ich mag… Mein Ruhrgebiet. In: Ein Revier für die Kultur. Ruhr 2010. Kulturhauptstadt Europas, hg. von Marie-Luise Marjan. Köln 2008, S. 44-50: S. 47. 38 | Vgl. ebd. 39 | Vgl. ebd.

Das Sentimentale im Ruhrgebiet

enge Verbindung zwischen Bergbau und Kirche40 sowie das gemeinsame Erleben religiöser Feste41 zeigt sich z. B. in dem auf der Halde Haniel in Bottrop angelegten Kreuzweg: „Der Kreuzweg hinauf zum Plateau der Abraumhalde wurde 1995 durch Bischof Hubert Luthe eingeweiht. Er zeigt die klassischen Kreuzwegstationen Jesu in Beziehung zu Objekten aus der Arbeitswelt, insbesondere des Bergbaus. Jedes Jahr endet der Kreuzweg, an dem mehrere Hundert Menschen teilnehmen, mit einem Karfreitagsgottesdienst auf dem Plateau der Abraumhalde.“42

Die Religiosität im Ruhrgebiet bildet sich jedoch nicht nur durch die enge Verbindung zur industriellen Arbeitswelt ab, sondern sie zeigt sich auch in der städtischen Historie selbst.43

40 | Im Ruhrgebiet ist im Bereich bergmännischer Festtradition eine Zentrierung in der St. Barbara-Verehrung zu erkennen. Auch die Knappschaften gingen aus religiös orientierten Bruderschaften hervor. Im Gegensatz zu Schlesien oder Sachsen hält sich in der verhältnismäßig jungen Bergbautradition des Ruhrgebiets jedoch eher eine kirchliche Festtradition ohne bergmännische Spezifik. Vgl. Barbara Stambolis: Regionalität und konfessionelle Teilidentitäten in NRW. In: Mythen – Möglichkeiten – Wirklichkeiten. 60 Jahre Nordrhein-Westfalen, hg. von Jürgen Brautmeier, Ulrich Heinemann. Essen 2007, S. 35-61: S. 48. 41 | Siehe dazu auch ebd., S. 50. 42 | Bischof Franz Grave: Was ich mag… Mein Ruhrgebiet. In: Ein Revier für die Kultur. Ruhr 2010. Kulturhauptstadt Europas, hg. von Marie-Luise Marjan. Köln 2008, S. 44-50: S. 48. 43 | Siehe dazu auch Barbara Stambolis: Regionalität und konfessionelle Teilidentitäten in NRW. In: Mythen – Möglichkeiten – Wirklichkeiten. 60 Jahre Nordrhein-Westfalen, hg. von Jürgen Brautmeier, Ulrich Heinemann. Essen 2007, S. 35-61: S. 41.

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So wurde Essen im Jahr 852 als freiweltliches Damenstift für Töchter des sächsischen Adels gegründet.44 Als Reichsunmittelbares Stift gab es dabei immer wieder kriegerische Auseinandersetzungen mit der in Werden gelegenen Reichsabtei 45 (Gründung 796 als Benediktinerabtei durch Bischof Luitger). Mit dem Reichsdeputationshauptschluss von 1803 hörten sowohl das Stift als auch die Abtei auf zu existieren.46 Die Abtei in Werden, heute Sitz der Folkwang Universität der Künste, ist folglich auch ein wichtiger Gedenkort für die kulturelle Identität

44 | Vgl. Dr. Irene Wiese von Ofen aus dem Vortrag: Anmerkungen zu Geschichte und Struktur der Stadt Essen im LAB „Sentimentale Urbanität“ vom 22.10.2013, S. 2 f. Der Ursprung des Ruhrgebiets ist um 100 v. Chr. zu finden. In dieser Zeit erbauten die Römer eine Verbindung zwischen West- und Ost-Europa in Form einer Handelsstraße. Diese begann bei Frankreich und dehnte sich bis 1400 n. Chr. bis Russland aus. Innerhalb Deutschlands führte die Straße nach heutiger Topographie über Aachen, Jülich und Köln sowie über Düsseldorf, Duisburg, Essen, Dortmund, Paderborn, Magdeburg und schließlich Berlin. Der Teilabschnitt zwischen Duisburg, Essen und Dortmund erhielt damals den Namen „Hellweg“. Vgl. Nancy Levesque, André Nowak: Das Ruhrgebiet – Daten und Fakten. In: „Ich gehör hier hin.“: Spielarten von Identifikation mit dem Ruhrgebiet, hg. von Barbara Mettler-v. Meibom. Münster 2004, S. 1121: S. 11 f. Der Hellweg wurde zur „Lebensader des Aufschwunges“ im Ruhrgebiet und wechselte im Verlauf der Zeit seinen Namen von Hellweg in Provinzialstraße über Ruhrschnellweg, Reichsstraße 1, Bundesstraße 1 bis hin zu A40. Vgl. ebd., S. 14. 45 | Vgl. Dr. Irene Wiese von Ofen aus dem Vortrag: Anmerkungen zu Geschichte und Struktur der Stadt Essen im LAB „Sentimentale Urbanität“ vom 22.10.2013, S. 2 f. 46 | Vgl. ebd.

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Essens.47 Gleichzeitig ist sie auch ein Sinnbild für den Wandel im Revier.48 Bodo Hombach bemerkt: „Es wurden zwar architektonisch herausragende „Monumente der Industrie errichtet, „Kathedralen der Bildung“ waren leider nicht darunter. Preußen, die bürokratische „Schutzmacht“, war ohne Herz und Verständnis für die Potenziale der Stahl- und Kohleregion. Für die Junker zählten nur Arme, aber keine Köpfe. Erst in den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden Hochschulen im Ruhrgebiet. Und mit ihnen begann eine neue, visionäre Auf bruchstimmung.“49

Der Wandel im Ruhrgebiet bildet sich jedoch nicht nur im Ausbau des Bildungsangebots sondern ebenso im Anerkennungsprozess von Industriearchitektur als Denkmal ab. Dieses Verfahren begann in NRW gegen Ende der 1960er Jahre, womit auch die wissenschaftliche Anerkennung und Aufarbeitung der Zeugnisse der Industrialisierung einherging.50 Mittlerweile sind die alten Industrieanlagen Sinnbilder des Wandels geworden. International agierende Architekten trugen dazu bei, das Gesicht Essens

47 | Eine der Gastgeberinnen im LAB „Sentimentale Urbanität“, Ute E., nannte den Neubau der Bibliothek auf dem Gelände der alten Abtei in Werden als sentimentalen Ort, da sie sich dort an ihre Studienzeit und an die Emanzipation aus dem bäuerlichen Elternhaus erinnert fühlte. Die Fotografie-Studentin Eva Czaya nahm dies zum Anlass, um eine Portraitserie zur „Neuen Elite“ im Ruhrgebiet aufzunehmen. Die Serie zeigt Essener Bürger, die sich durch ihr Engagement oder eine persönliche Leistung in eine „Neue Elite“ integrieren, die nicht auf Tradition, intellektuelles Kapital, Macht oder Geld aufbaut. 48 | Bildung war zur Kaiserzeit kein Thema im Ruhrgebiet. Man brauche Kasernen, aber keine Universitäten. In dem Aufbau von Bildungseinrichtungen sah man zudem die Gefahr der Verbrüderung zwischen Intellektuellen und Arbeitnehmern. Vgl. Klaus Bussfeld: Strukturwandel im Revier, lange Erfahrung und gute Prognosen. In: …und dann kommst du nach Hause. Geschichte(n) vom Wohnen und Leben im Revier. 75 Jahre THS, eine Epoche von 1920 bis 1995, hg. von Hubert Maessen. Bochum 1995, S. 273-289: S. 279. 49 | Bodo Hombach: Wir im Ruhrgebiet. In: Ein Revier für die Kultur. Ruhr 2010. Kulturhauptstadt Europas, hg. von Marie-Luise Marjan. Köln 2008, S. 52-59: S. 54. 50 | Vgl. Hartwig Suhrbier: Endlich aufpoliert: Denkmal Siedlung, ein Essay über das gute alte Wohnen. In: …und dann kommst du nach Hause. Geschichte(n) vom Wohnen und Leben im Revier. 75 Jahre THS, eine Epoche von 1920 bis 1995, hg. von Hubert Maessen. Bochum 1995, S. 111-119: S. 111 f.

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zu prägen und auch den alten Zechengeländen zu Anerkennung zu verhelfen. Rem Koolhaas entwickelte den Masterplan für das Gelände der Zeche Zollverein in Katernberg, Sir Norman Foster gestaltete das Design Zentrum NRW. David Chipperfield entwarf den Neubau des Folkwang Museums im Essener Süden, der finnische Architekt Alvar Aalto das Essener Theater. Das japanischen Architektur-Duo Kazuyo Sejima und Ryue Nishizawa entwickelten den SANAA Würfel auf Zollverein. Dies sind nur einige Beispiele, die die kulturelle Identität Essens auch in urbaner Hinsicht prägen. Im Sinne des Denkmals51 muss im Blick auf die alten Industrieareale allerdings von einem „zweckvollen Erinnern“52 gesprochen werden. So sollen die architektonischen Denkmäler an die Montanindustrie53 und die damit zusammenhängenden Errungenschaften erinnern. Die Internationale Bauausstellung (IBA) Emscherpark trug ab 1989 zur Musealisierung der Emscherregion und ihrer architektonischen Denkmäler bei. Thorsten Scheer dazu: „Umnutzungen und verschiedene Formen der Musealisierung sorgen dafür, dass die montanbestimmte Vergangenheit nicht gänzlich in Vergessenheit gerät. Die veränderten Nutzungen, die seit der Internationalen Bauausstellung Emscherpark an fast allen Orten des Ruhrgebiets zu einem Erhalt der Zeugnisse der industriellen Vergangenheit führten, haben Orte mit besonderem Charakter hervorgebracht. Ihre Qualität stellen sie unter Beweis, weil es gelungen ist, sie nicht als eine ihrer Zwecke beraubte Industriekulisse erscheinen zu lassen, sondern ihre

51 | Denkmäler zählen zu den ideologischen Kunstwerken, da sie stets das Bestreben integrieren, auf ein bedeutendes Objekt oder Subjekt zu verweisen. So wird ein spezifisches Geschichtsbild fixiert und vorgegeben. Vgl. Cordula Meier: Kunst und Gedächtnis. Zugänge zur aktuellen Kunstrezeption im Licht digitaler Speicher, Habil. München 2002, S. 48. 52 | „Hans-Ernst Mittig weist noch 1987 darauf hin, daß das Denkmal von Anfang an mit der Funktion des zweckvollen Erinnerns [Herv. im Orig.] behaftet ist, dies steckt schon in der Intention des Produzierens.“ Ebd. 53 | Zeitzeugen der Ruhrgebietsgeschichte sind z. B. die Zeche Zollverein, die Jahrhunderthalle Bochum, der Gasometer in Oberhausen sowie generell die Route Industriekultur, die diese Stätten miteinander verbindet. Vgl. Rebecca Knieps, Sven Slotosch: Das Ruhrgebiet – Gliederung, Wirtschaft, Beschäftigung, Bevölkerung. In: „Ich gehör hier hin.“: Spielarten von Identifikation mit dem Ruhrgebiet, hg. von Barbara Mettler-v. Meibom. Münster 2004, S. 21-33: S. 30.

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Würde als qualitätsvolle Architektur in gewandelten Zwecken aufs Neue zu bestimmen. Die architektonische wie die kulturelle Identität sind dabei nicht ohne Brüche zu haben und treten dann am stärksten auf, wenn diese Brüche als Qualität einer durch Anschlussfähigkeit und Offenheit geprägten Haltung verstanden werden.“54

Im Kontext der Internationalen Bauausstellung Emscher Park (IBA) entstanden zwischen 1989 und 1999 viele wegweisende Projekte55 im Bereich Architektur, Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft. Ziel der insgesamt 120 Projekte zwischen Duisburg und Dortmund war das Setzen von lokalen und übergreifenden Landmarken.56 Diese Landmarken sollten die Identität des Ruhrgebiets in seiner postindustriellen Phase ausformulieren und stärken. Ein weiterer Meilenstein auf diesem Weg war das Kulturhauptstadtjahr 2010. Tim Rienietz erkennt jedoch: „Die IBA Emscher Park war überaus erfolgreich darin, ein neues Bewusstsein für die Vergangenheit des Ruhrgebiets zu schaffen, nicht aber für dessen Zukunft. Denn diese liegt gewiss nicht in der Musealisierung seiner fossilen Geschichte. […] Auch die Kulturhauptstadt RUHR.2010 konnte – bei allem Erfolg als städtegreifendes Kulturereignis – keine ausreichenden Impulse für die zukünftige Entwicklung der Region setzen. Der Appell Metropole Gestalten [Herv. im Orig.] ist nicht weit genug zur Bevölkerung durchgedrungen […].“57

Der Umstand, dass die Montankultur kein prägendes Identitätsbild mehr darstellen kann und dass große Kulturprojekte keinen unmittelbaren Wandel innerhalb gesellschaftlicher Teilhabe herbeiführen konnten, stellt

54 | Thorsten Scheer: Die Vielfalt der Nachbarschaft. Wegweisende Architektur im Ruhrgebiet seit 1945. In: Ein Revier für die Kultur. Ruhr 2010. Kulturhauptstadt Europas, hg. von Marie-Luise Marjan. Köln 2008, S. 124-135: S. 133 f. 55 | Hierzu zu zählen sind die Renaturierung des Emschersystems, der Landschaftspark Nord, das Welterbe Areal der Zeche Zollverein und die Modernisierung zahlreicher Gartenstädte. Bodo Hombach: Wir im Ruhrgebiet. In: Ein Revier für die Kultur. Ruhr 2010. Kulturhauptstadt Europas, hg. von Marie-Luise Marjan. Köln 2008, S. 52-59: S. 57. 56 | Vgl. ebd. 57 | Tim Rieniets: Pott ohne Kohle. Das Ruhrgebiet als urbanes Labor für die postfossile Stadt. In: Dérive (2015), H. 58, S. 13-17: S. 14.

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möglicherweise die Grundlage für die Zunahme an Arbeiten, die sich um den Mikrokosmos der Ruhrgebiets-Identität, nämlich um die sentimentalen Geschichten, die die Menschen mit dieser Identität verbinden, drehen. Hierbei geht es nicht um die glamouröse Inszenierung einer Metropole, sondern vielmehr um die besonderen Orte der Alltagskultur. Exemplarisch zu nennen sind in diesem Zusammenhang die dem Bottom-Up Prinzip folgenden Projekte „Mein Zollverein“ eine Erzählwerkstatt der Stiftung Zollverein und part3 sowie das Folkwang LAB „Sentimentale Urbanität“ und das Projekt Machbarschaft Borsig 11. Alle Projekte bezeichnen dabei nicht nur einen personenorientierten und alltagskulturellen Zugang, sondern forcieren genau dadurch ebenso die Motivation, urbane Quartiere selbst mitzugestalten und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Innerhalb einer Kooperation des Theaters Oberhausen mit dem freien Performance-Kollektiv geheimagentur entstanden ab 2013 mehrere Projekte, die versuchten die Realität im Ruhrgebiet durch ein Changieren zwischen Fiktion und Wirklichkeit herzustellen.58 In diesem Zusammenhang soll die von der geheimagentur eingerichtete Schwarzbank in der Oberhausener Fußgängerzone hervorgehoben werden. Diese bot einen Kleinkredit in der Alternativwährung „Kohle“ für Tätigkeiten an, für die man einmal gern bezahlt werden wollte. Diese Tätigkeiten konnte sich dabei auf öffentliche Tanzstunden, Kinderbetreuung oder Wahrsagen in der Innenstadt beziehen.59 Zentral war auch hier die Entstehung eines Möglichkeitsraums durch die künstlerische Intervention, welche die persönlichen Bedürfnisse der Rezipienten in den Mittelpunkt stellte.

5.3 Ortsberichte von Torben Körschkes, Maren Wagner, Lena Halbedel Im Folgenden berichten drei der an dem Projekt „Sentimentale Urbanität“ teilgenommenen Studierenden über die jeweiligen sentimentalen Erinnerungsorte ihrer Gastgeber in Essen sowie die damit zusammenhängenden

58 | Gesa Zimer und Vanessa Weber: Konstellationen, Konfrontationen und Kombinationen. Das Ruhrgebiet als urbanes Labor? In: Dérive (2015), H. 58, S. 4-9: S. 6. 59 | Vgl. ebd.

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persönlichen Geschichten.60 Diese drei Gastgeber wurden exemplarisch ausgewählt, da sich sowohl ihre jeweiligen sentimentalen Spots als auch die dazugehörigen gestalterischen Konzepte der Studierenden eignen, um sentimentale Gedächtnisorte anhand von Ritualen, räumlichen Verortungen und Erinnerungen darzustellen.

5.3.1 Torben Körschkes berichtet über: Jutta und den Katernberger Markt Jutta Potreck lebt seit 50 Jahren in Essen-Katernberg und kennt das Viertel im Norden der Stadt sehr gut. Sie hat über die Jahre einiges erlebt, so zum Beispiel wie florierende Eckkneipen im Laufe der Zeit geschlossen und Kirchen abgerissen wurden. Sie konnte zusehen, wie neue Wohnsiedlungen entstanden und historische Zechensiedlungen restauriert werden. Ebenso hat sie mitbekommen, wie der Katernberger Markt sich über die Jahre verändert hat. Mit diesem zentralen Ort im Viertel verbindet sie viele Erinnerungen. Es gibt unterschiedliche Gründe, warum der Markt auch in ihrem Leben sehr zentral und einer ihrer sentimentalen Orte ist. Schon als Kind hat sie ganz in Marktnähe auf der Viktoriastraße gewohnt. Zudem tätigt Jutta auf dem Markt auch heute noch ihren Wocheneinkauf. Jeden Dienstag und Freitag fährt sie eine Station mit der Straßenbahn, um auf dem Markt Gemüse und andere Lebensmittel einzukaufen. Dort trifft sie die Menschen, die es in den letzten Jahren noch nicht vertrieben hat. Denn der Markt wird zunehmend leerer. Jutta weiß, dass bei vielen Standbesitzern zwar auch das Alter ein Grund für ihr Fernbleiben vom Markt, ist jedoch zunehmend wirtschaftliche Ursachen den Platz durchlöchern. Wo früher noch eine große Auswahl und Gedränge das Bild bestimmten, ist es heute ruhig und unspektakulär. Und trotzdem fühlt sich Jutta dem Markt sehr verbunden. Es gibt immer noch Leute, die sie seit Jahren wiedersieht und mit welchen sie ein Pläuschken halten kann. Neben der Möglichkeit des Wocheneinkaufs auf dem Markt findet sich an den Platz angrenzend die evangelische Kirche, der sogenannte Bergmannsdom oder, wie Jutta und ihre Freunde und Kollegen oft scherzen,

60 | Die Studierenden berichten hier stellvertretend für die Gastgeber, da im Nachgang des Projekts aus terminlichen Gründen leider nur noch einer von drei Kontakten einen selbst verfassten Text hätte einreichen können.

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einfach nur der „Dom“. Hier arbeitet Jutta seit einigen Jahren ehrenamtlich im Presbyterium. Angefangen hatte es, als 1994 der Lebensgefährte ihrer Mutter verstarb und die Kirche Jutta und ihrer Mutter Beistand leistete. Später hatte der Pfarrer Jutta dann gefragt, ob sie nicht Lust hätte mitzumachen und seitdem ist eine enge Bindung entstanden. Jeden Freitag kann man Jutta nun im „Dom“ treffen, der zu den Marktzeiten seit einigen Wochen wieder außergottesdienstlich seine Türen öffnet, um den Anwohnern die Kirche näher zu bringen. Eine Art „Tag der offenen Tür“. Der Innenraum des Gebäudes ist riesig und schön. Alte Holzbalken stemmen das Gewicht der Jahrzehnte. Die Kirche am Katernberger Markt ist Essens größte evangelische Kirche und steht heute unter Denkmalschutz. Ihr Grundstein wurde am 13. Mai 1900 gelegt, da die evangelische Gemeinde damals einen starken Zuwachs erfuhr und eine große Kirche her musste. An diesem Freitag kommen jedoch nur wenige Besucher. Der Rückgang auf dem Markt und in der Kirche scheinen hier Hand in Hand zu gehen. Für Jutta gehören Markt und Dom jedenfalls zusammen. Bei einem unserer Treffen hat sie mir von einer Demonstration gegen Rechts berichtet. Gegenüber der Kirche, auf der Süd-Westseite des Marktes, hatten sich einige Neonazis angesammelt, um ihre Parolen zu verbreiten. Vor der Kirche haben sich daraufhin viele Gegendemonstranten eingefunden, darunter auch Mitglieder von „Essen stellt sich quer“, einem Bündnis gegen Rassismus und Rechtsradikalismus in Essen, in welchem auch Jutta aktiv ist. Immer wenn die Neonazis auf der anderen Seite des Marktplatzes also mit ihren Reden anfingen, wurden die Glocken der Kirche geschlagen. „Ein komischer Zufall...“, lachte Jutta. So war es den Rechten natürlich unmöglich, auch nur ein Wort verständlich durch ihr Mikrofon zu bringen. Neben dem historischen Gebäude befindet sich das Gemeindezentrum, welches sich die Räumlichkeiten mit dem Café Kon-Takt teilt. Auch hier kennt Jutta die Stammgäste und steht im Austausch mit vielen Mitarbeitern. Überhaupt scheint genau dieser Austausch, die Kommunikation zwischen Jutta und den Menschen, die sie umgibt, der Faden zu sein, der alles verbindet. Ein weiteres Beispiel hierfür ist Juttas Position in der Politik und wie sie diese nutzt. Sie arbeitet, ebenfalls ehrenamtlich, im Vorstand der Linken in Essen. Als es dann Ende 2013 um eine Unterschriftensammlung für ein Bürgerbegehren zur Essener Messe ging, brauchten Linke und Grüne Räumlichkeiten für Besprechungen. Das hat Jutta dann durch ihre Verbindung zur Kirche gelöst und auch, wenn es zunächst eher schwierig erscheinen mag, Kirche und Politik so unter einem Hut zu halten, war es in diesem Fall äußerst nützlich. In den Räumen des Gemeindezentrums am Markt

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konnte auf einmal politisch diskutiert werden. Also eigentlich genau so, wie es früher sowieso auf jedem Markt passiert ist. Als der Marktplatz noch das politische, merkantile und juristische Zentrum einer jeden Stadt darstellte. Als dort neben materiellen auch immaterielle Güter gehandelt wurden. Und vor allem, als der Markt noch ein Symbol für die Freiheit und Eigenständigkeit einer Stadt und deren Bürger war. Folglich könnte man an dieser Stelle sogar soweit gehen und den Markt als Austragungsstätte für Juttas soziales Handeln sehen. Der Ort, der seiner Geschichte nach ein Ort jeglichen Austauschs war, ist nun ein Symbol für Juttas Art, die Dinge anzugehen. Hier werden Herzensangelegenheiten ausgetragen. Der Katernberger Markt ist demnach nicht nur Zentrum des Stadtteils und örtlich in Juttas Leben verankert, sondern steht auch symbolisch für ihr Wesen als aufgeklärte Kämpferin. Und vielleicht löst er auch nicht zuletzt deshalb ein Gefühl von Heimat in ihr aus.

5.3.2 Maren Wagner berichtet über: Steffi und die Schurenbachhalde Die Schurenbachhalde befindet sich im Norden Essens, zwischen den Stadtteilen Altenessen und Karnap, und im größeren Rahmen betrachtet, bildet sie einen Mittelpunkt zwischen den Städten Essen, Bottrop und Gelsenkirchen. Die Halde, im Norden vom Rhein-Herne-Kanal begrenzt und im Süden von der A2, ist Teil einer zur Zeit des Bergbaus künstlich entstandener Hügellandschaft. Die Schurenbachhalde besteht aus Abraum der Zechen Zollverein und Fritz, der von Mitte der 1970er Jahre bis Mitte der 1980er Jahre aufgeschüttet wurde und ihren Namensgeber, den Schurenbach, sowie Teile einer Siedlung unter sich begrub. Doch längst ist die Halde nicht mehr bloß nutzloses Gestein; nach Schließung der Zechen bekam der künstlich entstandene Hügel eine neue Nutzung auferlegt. Zu Beginn der Renaturierung zog meine Gastmutter Stefanie Kölking mit ihren Eltern in ein Haus in der Heßlerstraße, jene Straße, welche parallel von Süden zur Halde verläuft. Steffis Zimmerfenster gab den Blick auf die Halde frei und immer wenn sie herausschaute, blickte sie auf die kleinen grünen Setzlinge, die mit den Jahren zu Bäumen heranwuchsen. Nach Abschluss ihres Studiums und dem Entschluss gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Ralph ein Haus zu kaufen wohnt Steffi wieder im Norden Essens, im Stadtteil Karnap, von wo aus sie die Halde fußläufig

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erreichen kann. Dass die Schurenbachhalde für Steffi einen besonderen Ort darstellt, liegt aber nicht nur daran, dass sie die Halde für mehrere Jahre immer „im Blick“ hatte. Immerhin ist auch ihre Familiengeschichte mit der Halde verbunden, arbeitete ihr Opa doch in der Zeche Fritz. Ebenfalls Spaziergänge mit ersten Freunden verbrachte Steffi in dem damaligen frisch entstandenen Naherholungsgebiet, denn romantische Spazierwege gibt es auf der Halde genug. Insbesondere 30 Jahre nach den Anfängen der Begrünung der Halde entsteht das Gefühl sich in einem abgelegenen Waldstück zu befinden anstatt auf einem Berg von totem Gestein inmitten von Stadtlandschaft. Die Halde ist rundherum von Laub- und Nadelbäumen bewachsen und von allen Seiten durch Wege zu erreichen, die sich mit einer Beschaffenheit von weichem Erdboden bis zu Schotter auf mehreren Etagen rundherum um die Halde ziehen, dabei gibt es immer wieder Trampelpfade und Schleichwege, die über viele Jahre durch die Haldenbesucher entstanden sind. Spuren, dass die Halde viel genutzt wird, findet man genug, nach Sylvester auch mal Überreste von Raketen und Sektgläsern. Die Halde wird also auch gerne immer mal wieder für nächtliche Ausf lüge in Anspruch genommen und manch einer wird seinen ersten Kuss zwischen Sanddornsträuchern und Birken bekommen haben, genau wie Steffi, als sie ihren Freund mit auf die Halde nahm, um spazieren zu gehen und die Aussicht zu genießen. Als Teil des Gestaltungskonzepts wurde die Kuppe der Halde kahl belassen, um ihren Ursprung weiterhin in sichtbarer Form zu erhalten. 1998 ließ der amerikanische Künstler und Bildhauer Richard Serra zudem eine 14 Meter hohe, 4 Meter breite und 13 Zentimeter schmale Stahlplatte auf dem Scheitelpunkt der Kuppe verankern, als Landmarke für das Ruhrgebiet und insbesondere als Denkmal und Erinnerungsobjekt für Essen als ehemalige Stahlstadt. Steffi ist selbst kunst- und kulturbegeistert und freut sich immer wieder über Kunst im öffentlichen Raum ihrer Heimat. Die Bramme selbst empfindet sie zwar in ihrer Gestaltung weniger ansprechend, aber im Rahmen seiner Umgebung und seinem Bezug auf die Geschichte Essens empfindet Steffi das Stück Stahl als passend. Die Halde ist ein begehbarer Ausstellungsort und wird immer wieder von Touristen als auch von Einheimischen besucht. Steffi ist „stolz“ auf ihre Halde, die ein Teil der grünen Umgebung ist, in der sie heute lebt. Ehemals nutzloser Abraum wandelte sich zu grüner und trotzdem urbaner Landschaft. Die Halde ist ab dem Essener Hauptbahnhof in einer Viertelstunde

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mit der U-Bahn zu erreichen. Die Haltestelle befindet sich an der Ecke Heßlerstraße, die Straße, aus der Steffi aus ihrem Fenster durch eine Baulücke die Veränderungen der Halde beobachten konnte. Andere Halden wurden komplett renaturiert und so verschwanden Ursprung und Geschichte in sichtbarer, direkt erlebbarer Form. Auf der Schurenbachhalde bleibt die Erinnerung anhand ihres Kontrastes zwischen Waldlandschaft und kahler Kuppe, auf der man immer noch glitzernde Steinkohle finden kann, erhalten. Nach dem Aufstieg findet man sich in einer Mondlandschaft wieder, von der man eine 360 Grad-Sicht auf das Ruhrgebiet der Gegenwart hat. Der Stahl der Bramme verwittert bereits und mehrere Halden-Besucher verewigten sich auf dem Stück Geschichte, das nicht mehr im Ruhrgebiet gefertigt werden konnte, sondern aufgrund seiner Größe aus Frankreich importiert werden musste, was von der Bevölkerung mit Unmut aufgenommen wurde. Wenn schon eine Bramme als Denkmal für das Ruhrgebiet, dann sollte die Verbundenheit zu diesem doch auf direktem Wege erfolge. Doch ist es eben eine „Bramme für das Ruhrgebiet“ und keine „Bramme aus dem Ruhrgebiet“, ein Kunstwerk, welches nur aufgrund seiner Umgebung wirkt, mahnend und an manchen trüben Tagen in seiner schiefen, verwitterten Form fast bedrohlich. Steffi jedenfalls nutzt ihre Halde nach wie vor für ausgedehnte Spaziergänge, alleine oder mit Mann und Familie, am liebsten bei schönem Wetter, denn dann ist die Sicht auf ihre Heimat am besten. Steffi selbst meint, dass sie sich über ihre sentimentalen Orte gar nicht so bewusst gewesen sei und dass sie erst, wenn sie lange Zeit weg gewesen sei, mit Sicherheit sagen könnte, was ihr besonders am Herzen liegt. Doch natürlich weiß Steffi trotzdem, warum die Schurenbachhalde ein wichtiger Ort für sie ist, hängen doch nicht nur viele Erinnerungen an gemeinsame Ausflüge mit der Familie daran, sondern steht die Halde für Steffi repräsentativ für ihre Heimat. Der Essener Norden entwickelte sich von einer Industrielandschaft mit rauchenden Schornsteinen zu einer grünen Umgebung voller Lebensqualität, die nicht nur für ihre Bewohner Erholung und Erfahrbarkeit von Ruhr-Kultur bietet, sondern auch für Besucher von außerhalb. Die Halde, die mit Kunst, aber auch mit wunderschönen versteckten Teichen aufwarten kann, ist ein Beispiel, wie sehr sich der Essener Norden zum Positiven gewandelt hat.

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5.3.3 Lena Halbedel berichtet über: Jörg und Rituale in Katernberg Ich war bei einer großen Gastfamilie zu Besuch, die aus verschiedenen Einzelpersonen und Paaren bestand. Insgesamt waren es neun Leute bestehend aus vier Frauen und fünf Männern. Unter ihnen gab es drei Ehepaare. Zusammen sind sie ein eng verbundener Freundeskreis, der sich teilweise schon über vierzig Jahre kennt. Jeder von ihnen ist in Essen Katernberg geboren und dort auch geblieben. Mit der Zeit kamen dann noch neue Leute als Ehepartner dazu. Heute teilen sie so viel miteinander, dass ich sie als eine Familie betrachte. Sie geben einander Halt und beeinf lussen die ganze Lebensplanung. Gemeinsame Rituale sind hierbei wichtig für ihren Zusammenhalt. Diese Rituale laufen nach vorgegebenen Regeln ab und haben einen hohen Symbolgehalt für die Gruppe. In meiner Gastfamilie waren vor allem die zyklischen Rituale prägnant. So geht es für die Freunde jeden letzten Donnerstag im Monat um 19 Uhr zum Stammitaliener Paolo in Essen Katernberg. Wichtig ist hierbei jedoch nicht nur der Ort als Lokalität, sondern vielmehr auch der Wirt. Obwohl das Restaurant mittlerweile seinen dritten Standort in Essen hat, ist die Gruppe ihrem Paolo immer treu geblieben und hat jeden Umzug mitgemacht. Die Gruppe sitzt immer an dem gleichen Tisch, der auch jeden letzten Donnerstag im Monat immer automatisch für sie reserviert ist. Neben dem Donnerstagsritual werden auch regelmäßige Kochabende miteinander veranstaltet. Auch Silvester gehört als Fest der Gruppe. Zudem gibt es Männer- und Frauenabende, bei denen sich die Gruppe dann aufsplittert. Neben den rituellen ist die Gruppe aber auch durch äußere Symbole verbunden. So tragen die Frauen alle den gleichen Silberschmuck. Eine von ihnen hatte bei einer Künstlerin aus Essen Nord Schmuck aus alten Silberlöffeln gefunden. Die anderen Frauen aus der Gruppe waren davon so begeistert, dass jetzt jede von ihnen mindestens ein Teil aus der Kollektion besitzt. Generell kann man festhalten, dass alle Gruppenmitglieder sehr kulturinteressiert sind und auch durch einen gewissen Stolz auf ihre Heimat und den Stadtteil Katernberg verbunden sind. Immer wieder begeben sie sich auf Entdeckungsreisen in dem eigenen Quartier und kennen mittlerweile so viele schöne Ecken, dass es für sie immer unverständlicher erscheint, warum der Stadtteil Katernberg trotzdem sooft als problematisch und unschön abqualifiziert wird. Während die

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Frauen das Kunsthandwerk und Kulturangebot im Stadtteil erkunden, begeben sich die Männer der Gruppe gern auf Erkundungstour in die Natur. Alle von ihnen sind dafür mit exakt dem gleichen Mountainbike ausgestattet, auf dem sie gemeinsam Touren durch das Ruhrgebiet unternehmen. Diese Touren beeinf lussen die Gruppe stark, da man sich mindestens zwei Mal pro Woche auf den Sattel schwingt. Mit zweien meiner Gastväter habe ich während meiner Wohnphase eine 30 km Tour über die Fahrradtrassen im Ruhrgebiet gemacht. Die beiden in voller Montur mit Radhosen, Radschuhen, Helmen und Blinklichtern. Für die Radhosen mit gepolstertem Hinterteil gab es von den Frauen zunächst viel Spott, bis sie selber erkannten, wie unbequem ein Sattel nach mehreren Kilometern Fahrt werden kann. Mittlerweile sind nun auch die Frauen überzeugte Fahrradhosenträgerinnen. Was für mich ein ziemlicher Kraftakt war, gehört bei meiner Gastfamilie fast zum Alltag. Nach unserer Tour durfte ich noch auf den Männerabend mit, bei dem dann natürlich noch Essen bei Paolo bestellt wurde. An den Donnerstagen, bei denen sich die Gruppe trifft, werden dann Fotos von den Ausflügen gezeigt und neue Routen besprochen. In der Woche gibt es dabei kürzere Touren und am Wochenende längere. Sogar ganze Mountainbike Urlaube werden gemeinsam unternommen. Mittlerweile geht die Begeisterung so weit, dass ein Schwiegervater der Gruppe auch ein Mountainbike besitzt. Die Rituale und gemeinsamen Hobbys der Gruppe verschlingen viel Zeit. Für jeden scheint es dabei jedoch selbstverständlich, sich diese Zeit auch füreinander zu nehmen. Es ist fast wie in einer Familie und schweißt die Freunde eng zusammen. Wichtig hierbei ist noch zu erwähnen, dass nur eines der drei Ehepaare Kinder hat. Diese sind mittlerweile schon erwachsen. Vielleicht ist auch das ein Grund dafür, dass Heimat sich für meine Gastfamilie in erster Linie im Freundeskreis abspielt.

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5.4 Ergebnisse Im Folgenden werden die gestalterischen Arbeiten von Torben Körschkes, Maren Wagner und Lena Halbedel vorgestellt, deren dazugehörige sentimentale Spots bereits im vorangegangenen Kapitel beschrieben wurden.61

Projekt 1: Der „Marktfunk“ Torben Körschkes beschäftigte sich mit dem Katernberger Markt und überzog diesen im spoerrischen Sinn mit einer neuen Semantik. Für seine Gastgeberin hat dieser Ort diverse sentimentale Qualitäten. So verbindet sie mit dem Markt ein Gemeinschaftsgefühl, das auf eine vergangene Demonstration gegen Rechtsradikalität 62 rekurriert, an der sie selbst teilnahm. Jutta Potreck ist in diversen Gruppierungen 63 politisch und kirchlich engagiert. Der Katernberger Markt als Ort wird für Jutta Potreck zum Symbol ihrer eigenen Aktivitäten und Vergangenheit.64 Sie hält sich häufig auf dem Katernberger Markt als auch im an den Markt

61 | Komplette Teilnehmerliste mit Gastgebern und Studierenden im Projekt „Sentimentale Urbanität“, siehe Anhang der vorliegenden Arbeit. 62 | „500 Gegendemonstranten stellten sich 50 NPD-Anhängen auf dem Katernberger Markt entgegen. Unter dem Motto “NEIN zur Überfremdung unserer Schulen” versuchte die mit einem Ratsherrn im Essener Parlament vertretene NPD eine Kundgebung in Katernberg abzuhalten. Zahlreiche lautstarke Gegendemonstranten und die auffällig häufig und lang läutenden Glocken am „Katernberger Dom“ führ ten dies allerdings schon akustisch ad absurdum. Die Polizei verhinderte eine gewaltsame Eskalation. Drei Eierwerfer wurden festgenommen.“ Ulrich von Born: NPD-Kundgebung, Artikel der WAZ vom 27.11.10 (http://www. derwesten.de/staedte/essen/npd-kundgebung-id3992163.html#plx179516249, zuletzt aufgerufen 09.02.2014). 63 | Laut Weichhart konstituiert sich die Teilhabe eines Individuums an einem sozialen System durch die Übernahme einer spezifischen sozialen Funktion. Vgl. Peter Weichhart: Raumbezogene Identität. Bausteine zu einer Theorie räumlich-sozialer Kognition und Identifikation, Stuttgart 1990, S. 72. 64 | Zu Gruppenidentitäten zählen neben den einzelnen Subjekten auch Raumausschnitte, die symbolisch für das jeweilige soziale System stehen. Vgl. Peter Weichhart: Raumbezogene Identität. Bausteine zu einer Theorie räumlich-sozialer Kognition und Identifikation, Stuttgart 1990, S. 18. Der physische Raum wird hier zur Projektionsfläche des personalen Ichs und zum Gegenstand der Ich-Darstellung. Vgl. ebd., S. 41.

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grenzenden sogenannten „Bergmannsdom“ auf. Der Markt steht als Gedächtnisort stellvertretend für die sozialen Systeme, in denen Frau Potreck sich engagiert. Simone Egger legt dar: „Heimat hat oft auch eine soziale Komponente, das heißt, Menschen fühlen sich heimisch im Kreise ihrer Lieben, in der Familie, unter Bekannten, unter Gleichgesinnten. Für die einen bedeutet Heimat, sich politisch zu engagieren, das Spektrum reicht vom Kaffeekochen für den Nachbarschaftsverein über den Einsatz in einer Kirchengemeinde oder die Gründung einer Bürgerinitiative bis hin zum Kampf gegen ein politisches Regime. Andere verstehen ihre Mitgliedschaft im Trachtenverein als Ausdruck von Heimatpf lege. Immer geht es dabei um Herzensangelegenheiten.“65

In Eggers Aussage wird deutlich, dass privates Engagement, wie Jutta Potreck es in ihrem Quartier betreibt, Heimatgefühle erzeugen und stärken kann. In diesem Zusammenhang ist die Verwendung des Begriffs „Herzensangelegenheiten“ hervorzuheben, da dieser auf den emotionalen Kontext des Handelns verweist. Da der Katernberger Markt also ein prägnantes Zeichen für das Leben und Wirken von Jutta Potreck darstellt und sich in ihm diverse sentimentale Qualitäten kanalisieren, nahm sich der Industrial Design Student Torben Körschkes die Gemeinschaftlichkeit und Lebendigkeit66 des Marktes als Ort der Meinungsäußerung und der dialogischen Auseinandersetzung zum Motiv, um dahingehend seine Gestaltung zu entwickeln. Innerhalb der Recherchephase stellte Herr Körschkes fest, dass während der wöchentlichen Markttage dienstags und freitags viele Standf lächen ungenutzt bleiben.

65 | Simone Egger: Heimat. Wie wir unseren Sehnsuchtsort immer wieder neu erfinden. München 2014, S. 15. 66 | Der Markt ist in diesem Zusammenhang Projektionsfläche von sozialen Bezügen, Interaktion und Werten. Als Träger und Verteiler von Information wird der physische Raum des Katernberger Marktes zum Bestandteil sozialer Kommunikation. Vgl. Peter Weichhart: Raumbezogene Identität. Bausteine zu einer Theorie räumlich-sozialer Kognition und Identifikation, Stuttgart 1990, S. 39.

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An allen übrigen Tagen ist der Marktplatz eine freie Fläche, auf der wenig Interaktion stattfindet. Diese sogenannten „Marktlücken“67 waren dann der Einstieg in seine konzeptionellen Überlegungen. Herr Körschkes machte es sich zum Ziel, den Markt als Ort der Gemeinschaftlichkeit und des aktiven Austauschs wiederzubeleben über ein Medium, zu dem viele Menschen Zugang haben. Er entwickelte ein Radio 68 in Form eines selbstzusammensteckbaren Systems, das als Wurfsendung an die Katernberger Haushalte verteilt werden sollte. Dieses Radio empfängt nur einen Sender, nämlich den sogenannten „Marktfunk“. Gebrandet mit dem Katernberger Kater, der sich als Skulptur auf dem Katernberger Markt findet, sollte auch durch das „do it yourself“ Motiv eine unmittelbare Identifikation seitens des Nutzers mit dem Gerät erzeugt werden. Gestalterisch ließ Herr Körschkes sich dabei von Dosentelefonen inspirieren und entwickelte darauf basierend auch das Design des Radios. Das Radio hat die Funktion Menschen zu erreichen, die an Markttagen nicht selbst auf den Katernberger Platz kommen können, da sie zu alt oder beruflich verhindert sind. Herr Körschkes zu seiner Idee: „Im besten Fall soll der Katernberger Markt durch meine Intervention wieder zum lebendigen Zentrum Katernbergs werden, in welchem die Bewohner des Viertels sich austauschen, einkaufen, kennen (lernen), sich Informieren.“69

Um dieses Ziel zu erreichen, sollte der „Marktfunk“ zunächst über eine/n professionelle/n Moderator/in mit einer Sendeeinrichtung auf dem Marktplatz etabliert werden. Mögliche Programmpunkte der Sendung wären zum Beispiel die Vorstellung des Stadtteils selbst über Unternehmen und

67 | Torben Körschkes: Zwischenpräsentation LAB „Sentimentale Urbanität“, Essen 21.11.2013. 68 | „Der Rundfunk wäre der denkbar großartigste Kommunikationsapparat des öffentlichen Lebens, ein ungeheures Kanalsystem, d. h.er würde es, wenn er es verstünde, nicht nur auszusenden, sondern auch zu empfangen, also den Zuhörer nicht nur hören, sondern auch sprechen zu machen und ihn nicht zu isolieren, sondern ihn in Beziehung zu setzen.“ Torben Körschkes zitiert Bertolt Brecht. In: Abschlusspräsentation LAB „Sentimentale Urbanität“, Essen 04.02.14, S. 19. 69 | Torben Körschkes Abschlusspräsentation LAB „Sentimentale Urbanität“, Essen 04.02.14, S. 7.

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soziale Projekte sowie spezifische Tagesthemen von lokalen Trägern wie Schulen oder Kindergärten und Vereinen. Die Tagesthemen böten zudem die Möglichkeit der Kritikäußerung an Missständen oder die Möglichkeit des Aufrufs zur Vergemeinschaftung über diverse Themenfelder.

Projekt 2: Die Schurenbachhalde Maren Wagner setzte sich mit der Schurenbachhalde70 in Altenessen auseinander und implementierte nach spoerrischem Vorbild Kontraste bzw. Unwahrscheinlichkeiten in den Raum. Ihre Gastgeberin Stefanie Kölking sieht in den Ruhrgebietshalden generell einen starken Verweis auf ihre Heimat, da sie unmittelbar für die industrielle Vergangenheit des Ruhrgebiets und den Strukturwandel stehen.71 Gleichzeitig ist die Halde für sie ein Naherholungsgebiet 72 und ein Ort der Entspannung.73 Interessant ist in diesem Kontext, dass Stefanie K. sich nicht über die im Rahmen der IBA gesetzten Landmarke der sogenannten Bramme von Richard Serra identifiziert. Der Ort ist vielmehr aufgrund persönlicher und industriegeschichtlicher Belegungen sentimental für sie.

70 | Die Schurenbachhalde enthält vornehmlich Abraum der Zeche Zollverein und ist nach einem unter ihr begrabenen Gewässer benannt, dem „Schurenbach“. 71 | Die Halden zeigen vor allem einen typischen Blick auf das Ruhrgebiet. Trotz Strukturwandel wirkt der Anblick mit den Industrieanlagen immer noch vertraut. Siehe dazu auch Mischa Kuball, Harald Welzer (Hgg.): New Pott. Neue Heimat im Revier. Zürich 2011, S. 29. 72 | „Es klingt vielleicht ein wenig sentimental, aber es ist dennoch nicht unwichtig, dass Heimat mental wohl auch etwas mit der glücklichen „Einbettung“ von Menschen in Natur zu tun hat. In der vorwiegend industriellen Welt von Rhein und Ruhr ist davon nur selten die Rede.“ Kurt Düwell: Von der Landschaft ins Landesbewusstsein. In: Heimat Nordrhein-Westfalen. Identitäten und Regionalität im Wandel, hg. von Jürgen Brautmeier, Kurt Düwell, Ulrich Heinemann, Dietmar Petzina. Essen 2010, S. 27-57: S. 46. 73 | Auch Gerd Fischer sieht eine enge Korrelation zwischen Bergbau und Natur. Er merkt an, dass Bergleute nach der Arbeit unter Tage ihre Arbeit vor allem in der Natur verbrachten. Zudem stellt er die These auf, dass durch den Umgang mit organischen Ressourcen im Bergbau auch das Interesse für Pflanzen und Nutztiere über Tage verbunden war. Zudem gehörten noch zu Beginn der Montankultur Bergbau und Landwirtschaft zusammen. Fischer folgend rückten viele Bauern wie auch Handwerker in den Bergbau ein. Vgl. Gerd Fischer: Unter Tage wuchs der Traum vom Grün, ein Spaziergang durch Gärten, Grün und Geschichte. In: …und dann kommst du nach Hause. Geschichte(n) vom Wohnen und Leben im Revier. 75 Jahre THS, eine Epoche von 1920 bis 1995, hg. von Hubert Maessen. Bochum 1995, S. 81-90: S. 83.

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Die Bramme, die die Schurenbachhalde als Industriemonument/-denkmal markiert ist dabei sekundär. Spezifisch verbindet Frau Kölking mit der Schurenbachhalde viele Erinnerungen an ihre Kindheit, in der sie viel Zeit auf dem für sie damals großen Abenteuerspielplatz verbrachte.74 Von ihrem Kinderzimmerfenster aus blickte sie als kleines Mädchen unmittelbar auf die damals noch nicht begrünte Schurenbachhalde und ist zudem auf vielfältige Weise mit dem Ort durch ihre Familiengeschichte verbunden.75 Simone Egger weist nach: „Die erste Heimat – und das heißt manchmal die einzige Heimat – ist mit der eigenen Kindheit verbunden. Die Orte des Aufwachsens, der Plattenbau ebenso wie das kleine Haus mit den grünen Fensterläden, der Tabakgeruch in Großvaters Wohnzimmer, der Spielplatz, das nahe gelegene Freibad im Sommer, das Einkaufscenter, das man jeden Mittwoch mit der Mutter und den Geschwistern besucht hat, die Rhabarberpf lanzen im Garten, die Regentage in den Ferien, all diese Eindrücke bleiben ein Leben lang in Erinnerung. […] Die Heimat der Kindheit ist eine Mischung aus Eindrücken, Empfindungen und Bildern, meistens geht es um einzelne Motive und fragmentarische Sequenzen, weniger um zusammenhängende Bezüge. Diese Heimat gleicht einem Album mit vielen Abbildungen und Versatzstücken, die puzzleartig auftauchen, wenn man an eine bestimmte Zeit zurückdenkt.“ 76

Über Eggers Feststellung wird hier deutlich, dass die Schurenbachhalde das Bild einer Kindheit symbolisiert, das sich zum einen aus den auf der Halde ausgeführten Aktivitäten zusammensetzt sowie

74 | Die Halde wird hier zum Ausdruck des personalen Ichs von Frau Kölking. Der Ort ist untrennbar mit ihrer Kindheit verbunden und daher emotional tief verwurzelt in ihrer Biographie. Siehe dazu auch Peter Weichhart: Raumbezogene Identität. Bausteine zu einer Theorie räumlich-sozialer Kognition und Identifikation, Stuttgart 1990, S. 23. 75 | „Der [Fehler im Orig.] Bedeutung der Generationenorte entsteht mit einer langfristigen Bindung von Familien oder Gruppen an einen bestimmten Ort. Dabei entsteht ein enges Verhältnis zwischen Menschen und geographischem Ort: Dieser bestimmt die Lebens- und Erfahrungsformen der Menschen ebenso, wie diese den Ort mit ihrer Tradition und Geschichte imprägnieren.“ Aleida Assmann: Erinnerungsräume, München 1999, S. 308 f. 76 | Simone Egger Heimat. Wie wir unseren Sehnsuchtsort immer wieder neu erfinden. München 2014, S. 110.

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aus dem täglichen Blick aus dem Kinderzimmerfenster. Der Fotografie Studentin Maren Wagner war es wichtig, diese vergangenen Kindheitsfragmente fotografisch sichtbar zu machen und auch einen Querverweis zu der Halde als Sehenswürdigkeit des Ruhrgebiets zu schaffen. Frau Wagner inszenierte daher Menschen in verschiedenen Freizeitaktivitäten auf der Schurenbachhalde und ließ die Motive als Postkarten drucken. Im sogenannten „Schurenbach-Kabäusken“ sollten die dazu notwendigen Freizeit- und Spielgeräte auf der Halde zu entleihen sein, sodass der Rezipient die Qualitäten selbst nachempfinden könnte. Zudem plante Wagner einen Postkarten-Automaten ein, an dem die Schurenbachbesucher ihre Karten ziehen könnten, um sie dann als Ansichtskarten in Anlehnung an die Brieftauben-Kultur des Ruhrgebiets an ihre Freunde und Verwandte zu versenden.

Projekt 3: Die „PottPola“ Die Industrial Design Studentin Lena Halbedel machte gemeinsam mit ihrem Gastgeber Jörg Blome und dessen großem Freundeskreis die Erfahrung, dass Gedächtnisorte oder die Identifikation mit der Heimat sich auch über Menschen und gemeinsame Rituale erschließen können.77 Annette Ankener offenbart: „Ist die Gruppe in der Lage, Bedürfnisse zu verändern, kann sie folglich auch angestrebte Ziele beeinf lussen. Hat der Einzelne in der Gruppe darüber hinaus die Möglichkeit, sein grundlegendes Bedürfnis nach Achtung und das Gefühl von Zugehörigkeit zu befriedigen, ist es wahrscheinlich, dass dies die Identifikation der Gruppe steigern wird. Fraglich bleibt, ob eine Identifikation mit der Gruppe eine Identifikation mit dem Ort, an dem die Gruppe lebt, notwendig impliziert.“ 78

77 | „Neben Liebe und Zuneigung zählen [zum menschlichen, A. C.] […] Bedürfnisensemble vor allem auch der „Hunger nach einem Platz in der Gruppe oder Familie“ [Herv. im Orig.] und damit das Streben nach Gemeinschaft, sozialem Anschluss, Identifikation und befriedigenden sozialen Kontakten. Werden diese Bedüfnisse frustriert, kann dies zu schlechter Anpassung, Einsamkeit, Isolation und Entfremdung führen.“ Annette Ankener: Identitätsbildung und Orte der Identifikation. In: „Ich gehör hier hin.“: Spielarten von Identifikation mit dem Ruhrgebiet, hg. von Barbara Mettler-v. Meibom. Münster 2004, S. 33-55: S. 37. 78 | Ebd., S. 43.

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Ankener zeigt hier auf, dass Identifikation womöglich nur über die Gruppe und nicht notwendigerweise auch über den Raum entsteht. Fußend auf den empirischen alltagsweltlichen Beobachtungen von Frau Halbedel spielen sich die Rituale ihrer Gastgeber-Gruppe jedoch in spezifischen Räumen ab.79 Diese Räume sind folglich zentral im Bereich der Identitätsbildung bzw. die gemeinsame Identität ist eng an die Räume der Gruppe gebunden. Es zeigt sich, dass sich die Geschichten und Erfahrungen der Gruppe in die jeweiligen Räume eingeschrieben haben und so auch das Gefühl der Identität und der Beheimatung hervorrufen konnten. Gemeinsame Erlebnisse sind dabei fest mit den Orten verbunden.80 So verbindet Jörg Blome mit seiner Heimat vor allem Erinnerungen und gemeinsame Erlebnisse mit seinen Freunden.81 Die eng verschworene Gruppe82 geht dabei in diversen Ritualen auf, die mit ihrer Heimat Essen und einem Gefühl

79 | Als Beispiel können hier die gemeinsamen Abende der Gruppe beim Italiener benannt werden. Als dieser mit seinem Restaurant umzog, zog die Gruppe mit. Man blieb dem Stammlokal treu und nahm dafür auch Umwege in Kauf. 80 | Orte müssen in diesem Zusammenhang nicht zwingend geographisch oder mathematisch bestimmbar sein. Es kann sich ebenso um Raumdimensionen handeln, die aus Beziehungen und Bildungsprozessen entstehen. Vgl. Annette Ankener: Identitätsbildung und Orte der Identifikation. In: „Ich gehör hier hin.“: Spielarten von Identifikation mit dem Ruhrgebiet, hg. von Barbara Mettler-v. Meibom. Münster 2004, S. 33-55: S. 45. 81 | Hier wird offenbar, dass Identifikation auf vielfältige Weise entstehen kann. Die Befriedigung sozialer Bedürfnisse in Familie, Freundschaft oder Nachbarschaft bildet dabei ein zentrales Moment. Die so entstehenden Netzwerke sind entscheidend, um sich in einer Heimat verwurzeln zu können, bzw. sich mit einem Raum zu identifizieren. Vgl. Barbara Mettler-v. Meibom: Einleitung. In: „Ich gehör hier hin.“: Spielarten von Identifikation mit dem Ruhrgebiet, hg. von Barbara Mettler-v. Meibom. Münster 2004, S. 5-11: S. 9. 82 | Heinz Lillig folgend zeichnen sich Gruppen durch ein Wir-Gefühl aus, das sie zum einen verbindet und zum anderen nach außen hin abgrenzt. Familie, Freunde oder Nachbarn können sich dabei als Gruppen mit besonderer Kontaktdichte und Intimität hervorheben. Die Gruppe sozialisiert in diesem Kontext die persönlichen Leitbilder und Wertvorstellungen ihrer Mitglieder. Vgl. Heinz Lillig: Identität durch Interaktion: Wege zur Identitätsfindung in der Religionspädagogik. Sankt Ottilien 1987, S. 139.

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von Sicherheit verwoben sind.83 So trifft sich die Gruppe bereits seit Jahren immer zum selben Tag im Monat beim Lieblingsitaliener zum Essen. Die Freunde verbringen gemeinsame Männer- und Frauenabende, an denen das Ruhrgebiet und der Stadtteil Katernberg z. B. mit dem Fahrrad erkundet werden. Kulturell interessiert und charakterisiert durch eine starke lokale Bindung, spielen diese Rituale eine wichtige Rolle bei der Identifikation der Gruppe mit ihrer Heimat. Ausgehend von den Ritualen, bzw. den gemeinschaftlichen regelmäßigen Ausflügen der Gastgeber, entwickelte Halbedel eine digitale Sofortbildkamera, die die personalisierten Daten und individuellen Fotos des Nutzers auf einem dazugehörigen Armband speichert. Ein in die Kamera integrierter GPS Sender garantiert dabei, dass jedes mit der Kamera gemachte Foto über ein Wasserzeichen an seinen jeweiligen Ort zurückverfolgbar ist. Die Sofortbildkamera ermöglicht es in diesem Zusammenhang, das jeweilige Foto direkt vor Ort auszudrucken. Die Bilder werden auf einem wieder ablösbaren klebenden Trägermaterial ausgegeben und können somit auch direkt an dem jeweiligen Ort (z.  B. an Stromkästen oder Straßenlaternen) hinterlassen werden. Die sogenannte „PottPola“ dient dazu, Eindrücke und besondere Orte auf Streifzügen durch das Ruhrgebiet festzuhalten und im Sinne eines spielerischen Umgangs ein Ritual des Suchens und Findens der Bilder zu initiieren. Lena Halbedel schlug zudem ein dazugehöriges Sammelheft84 vor, dass die Bilder jedoch nicht nach topographischen Kategorien absortiert, sondern nach „weichen“ Standortfaktoren wie Erlebnis, Gemeinschaft oder Freundschaft kategorisiert. Dadurch wird gewährleistet, das Stadtteile mit Qualitäten assoziiert werden, die vordergründig zunächst einmal nicht offensichtlich erscheinen. Die Orte erhalten damit einen neuen Bedeutungszusammenhang und werden durch den Rezipienten selbst im Alltagshandeln anekdotiert. Als spätere Weiterführung ihres Projekts erdachte Halbedel eine Gesamtausstellung der gefüllten Sammelheftchen.

83 | „Beispielsweise vermitteln traditionelle Feste, tradierte Bräuche und Wertvorstellungen Sicherheit und Geborgenheit, die im “Heimatgefühl“ impliziert sind.“ Andrea Bastian: Der Heimat-Begriff. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung in verschiedenen Funktionsbereichen der deutschen Sprache, hg. von Helmut Henne, Horst Sitta, Ernst Herbert Wiegand. Berlin 1995, S. 41. 84 | In Anlehnung an das Projekt „Revier sammelt Revier“ von Alexander Böker und Oliver Wurm.

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Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die sentimentalen Erinnerungsorte der Essener Gastfamilien nicht den typischen Klischees wie Bolzplätzen, Büdchen, Halden, Zechengeländen, Schrebergärten oder Ähnlichem entsprachen. Vielmehr zeigte sich, dass die am Projekt teilnehmenden Gastgeber ihre Heimat und die damit zusammenhängenden sentimentalen Gedächtnisorte in Ritualen, Kindheitserinnerungen, Gemeinschaft und Spiritualität verwirklicht sahen, also ihrer persönlichen sozialen Realität. Alle Studierenden berichteten von der Erfahrung, dass sich diverse sentimentale Gedächtnisorte erst durch zufällige Entdeckungen während der gemeinsamen Wohnphase herauskristallisierten. So waren die meisten Gastgeber bereits mit einer festen Vorstellung darüber in das Projekt gestartet, welche Orte sie den Studierenden zeigen wollten. Dabei war es häufig so, dass sich die Studierenden zunächst mit den o. g. Klischees konfrontiert sahen. Es wurden Kleingartenkolonien besucht, selbst gezüchtete Tomaten geerntet und das Areal der Zeche Zollverein sowie diverse Zechenhalden besichtigt. Die Studierenden sahen sich also konfrontiert mit den öffentlich erzeugten Bildern einer kollektiven Identität. Erst durch die Gespräche zwischen Studierenden und Gastgebern und sicherlich auch nach Überwindung anfänglicher Berührungsängste gelangten sowohl Studierende als auch Gastgeber zu tieferen Einsichten in die sentimentale Verbindung zur Heimat und die privaten Gefühle zu den jeweiligen Gedächtnisorten. In der persönlichen Auseinandersetzung offenbarte sich stückweise das tatsächliche subjektive Heimatempfinden. Das Kollektive überdeckte an dieser Stelle die in der Realität gefühlten Wahrnehmungen und wurden als gesetzt übernommen, ohne das persönliche Verhältnis zu reflektieren.85 Sennett weist nach: „Indem wir uns anderen preisgeben, könnten wir lernen zu beurteilen, was wichtig ist und was nicht. Wir sollten Unterschiede auf den Straßen oder bei anderen Menschen weder als Bedrohung noch als sentimentale Verlockung, sondern als notwendige Visionen verstehen. Notwendig

85 | „Jeder Versuch, die Erinnerungen der einzelnen [Fehler im Orig.] zu mehr als divergenten Erfahrungstypen zu synthetisieren und zu einem sinnhaften Identitätsmuster der nationalen Geschichtserfahrung vorzustoßen, ist zum Scheitern verurteilt oder muß von der Differenz der Erfahrungen absehen: Zwischen dem Mythos und der Erfahrung klafft ein Spalt.“ Lutz Niethammer: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. Reinbeck bei Hamburg, 2000, S. 365.

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sind sie für uns, wenn wir – individuell und kollektiv – lernen wollen, im Gleichgewicht zu leben.“ 86

Sennett legt hier dar, warum die Wohnphase innerhalb des LABs von so entscheidender Bedeutung war. Erst der persönliche Austausch und die Überwindung von Vorurteilen ermöglichten Gestaltungskonzepte, die sich tatsächlich nahe an den Menschen und den jeweiligen Identitäten selbst bewegten, ohne dabei aufgesetzte oder realitätsferne Strategien zu entwickeln. Das Projekt hat gezeigt, dass die Stadt als ein sentimentales Museum definierbar ist, wenn ihre Gedächtnisorte als Exponate, die ähnlich wie im Musée Sentimental mit eigentümlichen und subjektiven Geschichten belegt sind, verstanden werden. Durch die Interventionen der Studierenden gelang es, diese sentimentale Dimension des Urbanen offen zu legen und die Stadt selbst zum sprechen zu bringen87.

5.5 Regionalisierte Strategien in NRW und dem Ruhrgebiet In dem Folkwang LAB „Sentimentale Urbanität“ hat sich die Konzentration auf emotionale Heimatbilder fruchtbringend im Lichte der Identitätsbildung erwiesen. Da die Identität von Regionen über zumeist regionalisierte Strategien in erster Linie Sache der politischen Steuerung ist, soll im Folgenden die Situation im Ruhrgebiet untersucht werden. Während Heimatstolz oder die Auseinandersetzung mit Deutscher Geschichte jahrelang mehr als problematisch waren88, weckt das Thema heute zunehmend das Interesse der Medien89 und kommt entstaubter und zukunftsorientierter

86 | Richard Sennett: Civitas. Berlin 2009, S. 16. 87 | Vgl. ed., S. 15. 88 | Man kann festhalten, dass sich die Rolle von Identität und Heimatwahrnehmung in den letzten vierzig Jahren vor allem in Deutschland und Europa stetig gewandelt hat. Noch die fünfziger und sechziger Jahre des letzten Jahrhunderts waren geprägt durch ein auf das Vergessen begründete Klima, das das Trauma des Zweiten Weltkrieges und die damit verbundenen Verbrechen an der Menschheit zu verdrängen suchte. 89 | WDR3 veröffentlichte unlängst eine Reihe mit dem Titel „Heimatabend“, in der die Kulturgeschichte diverser Städte Nordrheinwestfalens thematisiert wird: http://www.wdr.de/ tv/wdrdok_af/unsere_reihen/heimatabende/heimatabend_uebersicht.jsp

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daher. Dies ist auch darauf zurückzuführen, dass die Unverwechselbarkeit und Attraktivität von Regionen90 zu einem entscheidenden Wirtschaftsfaktor geworden ist. Guido Hitze zur Identität NRWs: „Das einwohner- und wirtschaftsstärkste Land, zugleich größter Zahler im Länderfinanzausgleich, war nicht ein ,“ sondern der Machtfaktor der jungen Bundesrepublik, ihr Zentrum und ihr ökonomischer Antriebsmotor. Hinzu trat der Umstand, dass Nordrhein-Westfalen zusätzlich auch Sitz der (provisorischen) Bundeshauptstadt und damit der wichtigsten Verfassungsorgane war. All das reichte dafür aus, sich in dem „Land der Retorte“ einigermaßen komfortabel einzurichten, seinen Wohlstand zu genießen und ansonsten seine kleinen, regionalen, ja lokalen Identitäten zu pf legen. Politische Debatten über Staatlichkeit und Selbstverständnis wurden unter diesen Umständen als ziemlich überf lüssig angesehen und blieben daher auch innerhalb wie außerhalb des Parlaments weitgehend aus. Überhaupt legte sich der nordrhein-westfälische Landtag eine merkwürdige Abstinenz in Sachen Landesbewusstsein auf. Fragen nach der Landesidentität bzw. deren Stärkung in der Bevölkerung waren so gut wie nie Gegenstand plenarer Beratungen oder Inhalt parlamentarischer Initiativen von Landesregierung bzw. Fraktionen.“ 91 [Herv. im Orig.]

Hitzes Zitat stammt aus einem im Jahr 2010 veröffentlichten Bericht der Landeszentrale für politische Bildung Nordrhein-Westfalen . Die Düsseldorfer Schriften zur Neueren Landesgeschichte und zur Geschichte Nordrhein-Westfalens beschäftigen sich dabei mit einem im Wandel begriffenen Heimatmotiv in Nordrhein Westfalen. Mit Franz Meyers (NRW Ministerpräsident von 1958-1966) ist erstmals der Versuch assoziiert, ein Landesbewusstsein in NRW zu schaffen. Sein erklärtes Ziel war dabei die Überwindung der imaginären Grenzen

90 | Siehe dazu auch Aleida Assmann: Einführung in die Kulturwissenschaft, Berlin, 2. Auflage 2008, S. 180. 91 | Guido Hitze: Von „Wir in NRW“ bis „Nordrhein-Westfalen kommt wieder“. In: Heimat Nordrhein-Westfalen. Identitäten und Regionalität im Wandel, hg. von Jürgen Brautmeier, Kurt Düwell, Ulrich Heinemann, Dietmar Petzina. Essen 2010, S. 89-119: S. 95.

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zwischen dem Rheinland und Westfalen.92 So findet man im Rheinland eine andere Mentalität als in Westfalen. Die Kölner verkörpern bereits ein anderes Lebensgefühl als die Düsseldorfer93 und die Münsteraner ein anderes als die sogenannten „Ruhris“. Die einzelnen regionalen Färbungen sind dabei so charakteristisch, dass Köln, Düsseldorf oder auch das Ruhrgebiet für sich genommen nicht in ein vereinheitlichendes Gesamtimage überführt werden können. Vielmehr erscheinen regionalisierte Strategien erfolgreich, bzw. publikumsbindend, die sich mit den individuellen Färbungen der einzelnen Regionen befassen.94 1984 gab es in NRW die von der SPD

92 | Vgl. Dietmar Petzina: Landesstrategien zur regionalen Modernisierung. In: Heimat NordrheinWestfalen. Identitäten und Regionalität im Wandel, hg. von Jürgen Brautmeier, Kurt Düwell, Ulrich Heinemann, Dietmar Petzina. Essen 2010, S. 119-147: S. 125. 93 | Als klassische Städtekonkurrenz, die die Profile der jeweiligen Städte deutlich geschärft hat, bezeichnet Horst Matzerath das Verhältnis zwischen Köln und Düsseldorf. Während die Domstadt dabei für Kölsch, Herz und Gemütlichkeit stünde, bezeichne Düsseldorf Alt, Reichtum und Arroganz. Vgl. Horst Matzerath: Land der Städte. Lokale Identitäten und Städtekonkurrenz. In: Heimat Nordrhein-Westfalen. Identitäten und Regionalität im Wandel, hg. von Jürgen Brautmeier, Kurt Düwell, Ulrich Heinemann, Dietmar Petzina. Essen 2010, S. 227-243: S. 234. Ähnliche Erscheinungen beobachtet Matzerath im Bereich des Brauchtums. Dies bilde sich u. a. im Schützenwesen und großen Volksfesten, wie dem Neusser Bürger-Schützenfest, der Cranger Kirmes in Herne, der Annakirmes in Düren, dem Pützchens

Markt in Bonn-Beuel, der Sterkrader Frohnleichnamskirmes, der Allerheiligenkirmes in Soest und der „Größten Kirmes am Rhein“ in Düsseldorf ab. Vgl. ebd., S. 237. Der Pützchens Markt in Bonn-Beuel, der Send in Münster sowie die Allerheiligenkirmes in Soest sind an dieser Stelle als religiös verwurzelte Feste hervorzuheben. Siehe dazu auch Barbara Stambolis: Regionalität und konfessionelle Teilidentitäten in NRW. In: Mythen – Möglichkeiten – Wirklichkeiten. 60 Jahre Nordrhein-Westfalen, hg. von Jürgen Brautmeier, Ulrich Heinemann. Essen 2007, S. 35-61: S. 38. 94 | In diesem Zusammenhang öffnet sich das Spannungsfeld von Inklusion und Exklusion. In München gab es beispielsweise im Herbst 2013 ein spezielles Angebot zum Erwerb eines limitierten Wiesn-Sets, das nur Einheimische gegen Vorlage des Personalausweises erwerben konnten. Vgl. Simone Egger: Heimat. Wie wir unseren Sehnsuchtsort immer wieder neu erfinden. München 2014, S. 270. Simone Egger dazu: „Ohne die Aktion bewerten zu wollen, zeigt sich an diesem Beispiel doch ganz deutlich, dass das Aushandeln von Identitäten immer auch mit Abgrenzen zu tun hat. Wenn ich weiß, wer ich nicht bin, weiß ich vielleicht eher, wo ich mich selbst zugehörig fühle.“ Ebd, S. 271.

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initiierte Parteikampagne „Wir in NRW“. Diese legte den Fokus ganz bewusst auf die vielen Einzelidentitäten in Nordrhein-Westfalen und versuchte gerade die Vielzahl als qualitative Identität des gesamten Landes zu definieren. Laut Hitze war darin auch der Erfolg der Kampagne begründet: „[…] weil ihre einfache Aussage die in einem „Bindestrich-Land“ unvermeidlichen Gegensätze nicht aussparte oder gar übertünchte, sondern der unterschiedlichen Herkunft und Geschichte seiner Bewohner bewusst Raum ließ, regionale Besonder- und landesmannschaftliche Eigenheiten implizierte, keinen unveränderlichen Status Quo beschwor, sich vielmehr in jeder Hinsicht offen und f lexibel zeigte für neue Entwicklungen und dabei niemanden ausschloss, ein „Land für alle Bürger“ beschrieb und insgesamt die offensichtlichen Probleme eines landesmannschaftlichen, kulturellen und regionalen „Gemischtwarenladens“ geschickt umwandelte in die Vorzüge einer sich in Vitalität und Optimismus ausdrückenden, positiven […] inneren Spannung […].“ 95

Die Betonung einzelner regionaler Merkmale sollte in diesem Kontext politisch mobilisierte Identitätsdiskurse in NRW anstoßen. Ein emotionales Zusammengehörigkeitsgefühl96 der NRW-Bevölkerung konnte dadurch jedoch nicht erzielt werden.97 Guido Hitze hält fest: „Ein Sozialverband, […] lebt keineswegs allein von einem abstrakten allgemeinen Konsens über gemeinsame Interessen, Ziele und Bedürfnisse, sondern auch von verbindenden, sinnstiftenden Gefühlen wie Liebe zur

95 | Guido Hitze: Von „Wir in NRW“ bis „Nordrhein-Westfalen kommt wieder“. In: Heimat Nordrhein-Westfalen. Identitäten und Regionalität im Wandel, hg. von Jürgen Brautmeier, Kurt Düwell, Ulrich Heinemann, Dietmar Petzina. Essen 2010, S. 89-119: S. 98. 96 | Ein emotionales Zusammengehörigkeitsgefühl wird jedoch nicht über die affirmative Zuordnung zu einem politischen System erreicht. Heimat ist Ina-Maria Greverus folgend demnach auch keine politische Vokabel, sondern sie meint die emotionale Bindung der Menschen an einen satisfaktionierenden, erfahrenen bzw. erfühlten Lebensraum. Vgl. Ina-Maria Greverus: Auf der Suche nach Heimat. München 1979, S. 13. 97 | Vgl. Guido Hitze: Von „Wir in NRW“ bis „Nordrhein-Westfalen kommt wieder“. In: Heimat Nordrhein-Westfalen. Identitäten und Regionalität im Wandel, hg. von Jürgen Brautmeier, Kurt Düwell, Ulrich Heinemann, Dietmar Petzina. Essen 2010, S. 89-119: S. 103.

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Heimat, Stolz auf das gemeinsam Erreichte, Sorge um den Erhalt gewachsener wie geschaffener materieller und ideeller Traditionen und Werte.“ 98

Hitze argumentiert hier, dass Heimatzugehörigkeit sich über „weiche“ Faktoren wie Liebe zur Heimat und Stolz auf das Erreichte konstituiere, führt jedoch weiter aus, dass Identität sich über wirtschaftlichen Erfolg definiere: „Vor allem aber werden Identität und Zusammengehörigkeitsgefühl eindeutig über den gemeinsamen wirtschaftlichen Erfolg des ganzen Landes definiert; Erfolg als Indikator und Maßstab für Integration und Identität.“ 99

Die Diskrepanz zwischen dem Wunsch nach emotionaler Zugehörigkeit einerseits und andererseits der Erreichung dieses Wunsches durch Mittel die nichts mit Emotionalität oder Sentimentalität gemein haben100, bilden sich an diversen Stellen in Identitätsdebatten um NRW und das Ruhrgebiet ab.101 Häufig werden die Ursachen unter anderem darin gesucht, dass „[…] Nordrhein-Westfalen bis heute eine wirklich zentrale politische Kernidentität fehlt. Gewiss kann man Mannigfaltigkeit als Stärke definieren und den ausgeprägten nordrhein-westfälischen Polyzentrismus als

98 |Guido Hitze: Von „Wir in NRW“ bis „Nordrhein-Westfalen kommt wieder“. In: Heimat Nordrhein-Westfalen. Identitäten und Regionalität im Wandel, hg. von Jürgen Brautmeier, Kurt Düwell, Ulrich Heinemann, Dietmar Petzina. Essen 2010, S. 89-119: S. 93 f. 99 | Ebd., S. 108. 100 | Hitze weist unter anderem darauf hin, dass das Ruhrgebiet stets versuche, sich über den „Fortschrittsgedanken“ zu definieren. Dieser sei jedoch von allen Gefühlen und emotionalen Bindungen entkleidet. Vgl. ebd., S. 90. 101 | Ursula Rombeck-Jaschinski zum Besipiel sieht das Landesbewusstsein NRWs vor allem durch moderne Kunst geprägt. Der Ankauf mehrerer moderner Gemälde von Paul Klee durch den ehemaligen Ministerpräsidenten Meyers sei ein wichtiger Baustein der nordrheinwestfälischen Landesidentität. Vgl. Ursula Rombeck-Jaschinski: Landesbewusstsein durch Repräsentation. Das Haus der Geschichte Baden-Württemberg. In: Heimat Nordrhein-Westfalen. Identitäten und Regionalität im Wandel, hg. von Jürgen Brautmeier, Kur t Düwell, Ulrich Heinemann, Dietmar Petzina. Essen 2010, Essen 2010, S. 185-211: S. 208.

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Vorzug. Aber doch sicher nur dann, wenn diese bunte Mannigfaltigkeit und dieser Polyzentrismus sinnvoll mit- und untereinander verbunden werden […].“102

Faktoren wie wirtschaftliche Stärke und eine politische Kernidentität sind ohne Zweifel entscheidend, um ein Land zu stabilisieren103, da die äußeren Bedingungen auch einen Eindruck von Lebensqualität vermitteln.104 Jedoch stellt sich die Frage, wie durch solch abstrakte Faktoren eine emotionale Bindung entstehen, oder eine sentimentale Identität gebildet werden soll. Die Diskrepanz zwischen sentimentaler Bindung einerseits und ihre Erreichung durch infrastrukturelle oder politische Faktoren andererseits105 zeigt sich auch in den Ausführungen des BDI106-Kulturkreises: „Ästhetische Urbanität beschreibt die Aura bzw. das Ambiente oder – alltagssprachlich formuliert – das Flair einer Stadt. Es geht also um den

102 | Guido Hitze: Von „Wir in NRW“ bis „Nordrhein-Westfalen kommt wieder“. In: Heimat Nordrhein-Westfalen. Identitäten und Regionalität im Wandel, hg. von Jürgen Brautmeier, Kurt Düwell, Ulrich Heinemann, Dietmar Petzina. Essen 2010, S. 89-119: S. 103. 103 | Dies zeigt sich u. a. am Beispiel Bayerns. Simone Egger folgend sind Begriffe wie Landschaft und Tradition hier politisch aufgeladen. Die enge Verflechtung einer nationalen Idee mit der Region und ihren Eigenheiten, hätte mit dem Erhalt der Königswürde der Wittelsbacher 1806 begonnen. Diese Entwicklung sei bis in den heutigen Freistaat erhalten geblieben. Vgl. Simone Egger: Heimat. Wie wir unseren Sehnsuchtsort immer wieder neu erfinden. München 2014, S. 171. 104 | Vgl. Hermann Bausinger: Heimat und Globalisierung. In: Österreichische Zeitung für Volkskunde (2001), Bd. LV, S. 121-135. 105 | Am 15. März 2013 fand auf dem Gelände der Zeche Zollverein eine Veranstaltung zum Thema „Heimat im Quartier“ der Landesregierung Nordrhein-Westfalen statt. Dem vorausgegangen war der Austausch auf digitaler Ebene von Bürgern NRWs (http://www.heimat-imquartier.de/). Von der Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit wurde Bezug genommen auf heimatbildende Faktoren wie Zusammenhalt, damit verbundene Verantwortung, Beständigkeit und Lebendigkeit. Sie sprach von einer „Architektur der Nähe“. Sie stellte die zentrale Frage danach, wie Menschen sich mit ihrer Heimat identifizieren könnten. Anstatt dann jedoch zu überlegen, wie man gefühlte Qualitäten erzeugen oder sichern könne, wurde über den demografischen Wandel, Fahrradwege, Barrierefreiheit und Lärmbelästigung diskutiert. 106 | Bundesverband der Deutschen Industrie e. V.

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„Gefühls- und Erlebniswert “ der Stadt.“ Der BDI-Kulturkreis spricht auch vom „ Aroma“ […].“ 107 [Herv. im Orig.]

Laut BDI konkretisiert sich dieses „Aroma“ jedoch über Faktoren, die kaum oder gar nicht das sentimental narrative Moment, wie in der vorliegenden Arbeit propagiert, integrieren. Angeführt werden vielmehr Faktoren wie „Raumpluralismus“, „lokale und regionale Kontextbezogenheit durch Baumaterialien und Bautypen“, „gestaltete Übergänge zwischen öffentlichen und privaten Räumen“ sowie das „Mythenpotential von Gebäuden, Ensembles und Texturen“. Die baulichen und infrastrukturellen Gegebenheiten sind hier folglich zentral.108 Das Erschließen vom durch den BDI benannten Aroma über „lokale und regionale Kontextbezogenheit durch Baumaterialien und Bautypen“ sowie das „Mythenpotential von Gebäuden“ bildet sich beispielhaft in der erfolgreichen Vermarktung des Bayerischen bzw. der bayerischen Lebensart ab, die mittlerweile weltweit zum prägenden Bild der gesamten Bundesrepublik Deutschland avanciert ist. Offenkundig erscheint in diesem Zusammenhang, dass sich die traditions-109 und geschichtsschwangeren Bilder Bayerns mit den idyllischen Landschaften für Vermarktungsstrategien besonders gut eignen. Egger hält fest: „In den Zeiten des Wirtschaftswunders war technischer Fortschritt der breiten Bevölkerung oftmals wichtiger als rückschauendes Bewahren. Platten aus Eternit zierten bald landauf, landab das deutsche Eigenheim, die Gärten schmückten Koniferen. Ob Bauernhäuser oder historische

107 | Annette Ankener: Identitätsbildung und Orte der Identifikation. In: „Ich gehör hier hin.“: Spielarten von Identifikation mit dem Ruhrgebiet, hg. von Barbara Mettler-v. Meibom. Münster 2004, S. 33-55: S. 51. 108 | Vgl. ebd. 109 | Simone Egger hat sich bereits in ihrer Promotion intensiv mit der bayerischen Lebensart befasst. Sie stellt heraus, dass der Freistaat eine bilderreiche Identität aufweist, die sich aus diversen (christlichen) Bräuchen, Sitten und Symbolen konstituiert. Als Beispiel führt sie den Leonhardiritt in Bad Tölz an. Diese Wallfahrt sei ein Schaustück und Spektakel der bayerischen Tradition. „Bayern meint immer auch eine Fülle von Traditionen, Bräuchen und Symbolen, die mit der christlichen Prägung der Region zusammenhängen. Vgl. Simone Egger: Heimat. Wie wir unseren Sehnsuchtsort immer wieder neu erfinden. München 2014, S. 165.

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Gebäude in der Stadt, der Modernisierung musste vieles weichen. Stadtautobahnen und Bürohäuser ersetzten binnen weniger Jahre ganze Stadtviertel, die über Jahrhunderte gewachsen waren. In den alten Dörfern wurde das neue Wohngebäude neben das alte, weniger komfortable Haus gesetzt, das fortan dem Verfall preisgegeben war. Man wollte Neues, und es sollte unbedingt auch danach aussehen.“ 110

Womöglich ist die Vorstellung der bayerischen Heimatidentität als Gegenpol zum technischen Fortschritt industrialisierter Regionen für viele Menschen erstrebenswert. Es ist festzustellen, dass bayerische Traditionen, Mundart, Baustile und eine malerische Landschaft den größtmöglichen Kontrast zum Funktionalismus der Moderne und den Monumenten der Industrie bilden.111 In den idyllischen Heimatdarstellungen einer bayerischen Lebensart liegt jedoch die Gefahr einer Verflachung oder Verkitschung von Heimatbildern, wie Michael Neumeyer veranschaulicht: „Und tatsächlich ist Heimat wie kaum ein anderes Phänomen vereinnahmt, kommerziell und politisch mißbraucht, sentimentalisiert und verf lacht worden, bis nur noch die bekannten Klischees von Dialekt und Dirndl, Bergidylle und Heideromantik übrig geblieben sind.“ 112

Anfang der 1980er Jahre brachte Otto Wiesheu, damaliger CSU Generalsekretär, eine Broschüre mit dem epischen Titel „Wir in Bayern und unsere Partei, die CSU“ heraus, die sich genau auf die oben genannten Klischees stützte.113 Bodo Hombach dazu: „Das Gefühl, ein Bayer zu sein, war wohl leicht zu beschreiben. Heimat, Trachten, Dialekt, Zünftiges bei Tisch und Liedertafel. Kurz: „Mir san’ mir.“ Aber gilt das auch für NRW? Die Antwort lieferte eine von mir in Auftrag gegebene Studie. Mit einem Wort: nein. Die Begründung war

110 | Simone Egger: Heimat. Wie wir unseren Sehnsuchtsort immer wieder neu erfinden. München 2014, S. 61. 111 | Siehe dazu u. a. ebd., S. 61 f. 112 | Michael Neumeyer: Heimat. Zu Geschichte und Begriff eines Phänomens. Kiel 1992, S. 2. 113 | Vgl. Bodo Hombach: Wir im Ruhrgebiet. In: Ein Revier für die Kultur. Ruhr 2010. Kulturhauptstadt Europas, hg. von Marie-Luise Marjan. Köln 2008, S. 52-59: S. 52.

Das Sentimentale im Ruhrgebiet

ernüchternd. Anders als die Bayern hat NRW nichts von all dem, was im herkömmlichen Sinn zur Identitätsfindung eines Landes gehören würde.“ 114

Hombach hebt hier die zentrale Konf liktlinie zwischen einer möglichen Identitätsbildung in NRW gegenüber dem Vermarktungsvorbild Süddeutschland hervor. Bereits in den 1960er Jahren folgte Franz Meyers einer Politik, die das Landesbewusstseins NRWs nach süddeutschem Vorbild fördern sollte. Dies bildet sich u. a. in der Popularisierung repräsentativer Landessymbole ab, wie Wappen, Landeskunstgalerie und des Landesverdienstordens.115 Süddeutsche Regionen wir Baden-Württemberg gerieten auch deshalb zum Vorbild für ein Landesbewusstsein in NRW, da sie sich als Bindestrich-Land einer ähnlichen Problematik ausgesetzt sahen.116 Baden-Württemberg hat seine Landesidentität maßgeblich über Kulturschöpfungen geprägt. Ähnlich wie im Ruhrgebiet fehlte zunächst die emotionale Bindung der Bürger an die Landesidentität. Der wirtschaftliche Erfolg und der damit zusammenhängende Wohlstand 117 begünstigten den Umstand, sich zunächst nicht mit einer Landesidentität zu befassen. Der von

114 | Bodo Hombach: Wir im Ruhrgebiet. In: Ein Revier für die Kultur. Ruhr 2010. Kulturhauptstadt Europas, hg. von Marie-Luise Marjan. Köln 2008, S. 52-59: S. 52. 115 | Vgl. Klaus Pabst: Mit dem Herzen Nordrhein-Westfalen. In: Heimat Nordrhein-Westfalen. Identitäten und Regionalität im Wandel, hg. von Jürgen Brautmeier, Kur t Düwell, Ulrich Heinemann, Dietmar Petzina. Essen 2010, S. 73-89: S. 75. 116 | „Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen sind politische Neuschöpfungen der frühen Nachkriegszeit, die bei ihrer Geburt über keine eigenen historischen Traditionen verfügten. Beide sind mit dem Makel behaftet, ein aus verschiedenen Raumbausteinen mehr oder weniger willkürlich zusammengefügtes Bindestrichland zu sein. Im Unterschied zu Nordrhein-Westfalen verdankt Baden-Württemberg seine Existenz jedoch nicht einer von der britischen Besatzungsmacht verordneten Zwangsehe, sondern einer Neugliederung gemäß Artikel 118 GG.“ Ursula Rombeck-Jaschinski: Landesbewusstsein durch Repräsentation. Das Haus der Geschichte Baden-Württemberg. In: Heimat Nordrhein-Westfalen. Identitäten und Regionalität im Wandel, hg. von Jürgen Brautmeier, Kurt Düwell, Ulrich Heinemann, Dietmar Petzina. Essen 2010, S. 185-211: S. 185. 117 | Ursula Rombeck-Jaschinski folgend gingen mit einem steigenden Wohlstand auch eine Zufriedenheit der Bürger und die primäre Identifikation mit dem engeren Lebensraum einher. Eine emotionale Bindung an das Land sei dabei jedoch nicht entstanden. Vgl. ebd., S. 188.

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1972 bis 1978 amtierende Ministerpräsident Baden-Württembergs, Hans Filbinger, machte es sich daher zum Ziel, die Identifikation und emotionale Bindung der Bürger an das eigene Land zu stärken.118 Ursula Rombeck-Jaschinski hält fest: „Das 1977 anstehende 25-jährige Landesjubiläum bot dazu eine gute Gelegenheit. Die Landesregierung erteilte dem Württembergischen Landesmuseum den Auftrag, eine kulturgeschichtliche Ausstellung über die Zeit der Staufer vorzubereiten. […] Alles was Rang und Namen in Baden-Württemberg hatte, war in irgendeiner Form an dem riesigen Ausstellungsprojekt beteiligt. Über fast drei Monate wurde die StauferAusstellung im Alten Schloss in Stuttgart gezeigt. Sie diente der Selbstdarstellung des Landes nach innen und außen.“ 119

Der Zugang über eine repräsentative historische Ausstellung zur Stärkung der Landesidentität erwies sich in Baden-Württemberg als Publikumserfolg. Dieser reichte auch über die Grenzen des Landes hinaus.120 Das Konzept erfuhr zahlreiche Nachahmer.121 1977 spielte auch NordrheinWestfalen mit dem Gedanken eine große Landesausstellung zu implementieren. „[…] in Ermangelung einer Herrscherdynastie fehlten faszinierende Schauobjekte à la Staufer und Wittelsbacher.“ 122 Unklar war, welche Themen, Personen und Ereignisse nun publikumswirksam und repräsentativ für die industrielle Landesidentität inszeniert werden könnten.123 Nicht zuletzt deshalb wurde das Vorhaben einer Landesausstellung in NRW nie durchgeführt. Guido Hitze hält fest: „Gewiß ist eine Ästhetik der Ebene, der Flachländer zwischen Maas, Niederrhein, Weser und Elbe, schwieriger zu entwickeln und zu begründen

118 | Vgl. Ursula Rombeck-Jaschinski: Landesbewusstsein durch Repräsentation. Das Haus der Geschichte Baden-Württemberg. In: Heimat Nordrhein-Westfalen. Identitäten und Regionalität im Wandel, hg. von Jürgen Brautmeier, Kurt Düwell, Ulrich Heinemann, Dietmar Petzina. Essen 2010, S. 185-211: S. 190. 119 | Ebd., S. 190 f. 120 | Vgl. ebd.: S. 191. 121 | Siehe dazu auch ebd., S. 191 f. 122 | Ebd., S. 192. 123 | Vgl. ebd.

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als eine Ästhetik der Landschafts-Fugen des Chiemgaus oder Breisgaus, gewiß bieten unseren optischen Gewohnheiten die Anlagen von Nymphenburg, Würzburg oder Ludwigsburg andere ästhetische Identifikationsansätze als die Gründerzeitfassaden der Großmühlen am Rheinufer von Uerdingen und Homberg, aber gerade dieser Kontrast müßte ein so reichlich mit Denk- und Gestaltungszentren ausgestattetes Land [NRW, A. C.] zu einer Diskussion reizen, die nicht stattfindet. Und da sie nicht stattfindet, begreift das Land seine Aktualität nicht, hat es kein ‚Landesbewußtsein’ [Fehler im Orig.].“ 124

Hitze hebt hier hervor, dass keine Diskussion über den Kontrast der Gedächtnisorte NRWs zu denen Süddeutschlands stattfinde und macht u.a. daran ein fehlendes Landesbewusstsein NRWs fest. Bis heute wird jedoch immer wieder von den jeweiligen Landtagspräsidenten/innen die Diskussion um ein Haus der Geschichte125 Nordrhein-Westfalen angestoßen. Zuletzt stellte Carina Gödecke (SPD) Anfang 2013 zur Debatte, ob nicht auch eine „Geschichtsroute“die Landeskultur erlebbar machen

124 | Guido Hitze: Von „Wir in NRW“ bis „Nordrhein-Westfalen kommt wieder“. In: Heimat Nordrhein-Westfalen. Identitäten und Regionalität im Wandel, hg. von Jürgen Brautmeier, Kurt Düwell, Ulrich Heinemann, Dietmar Petzina. Essen 2010, S. 89-119: S. 91. 125 | Nach dem Vorbild des Nahum Goldmann Museum of the Jewish Diaspora in Tel Aviv plante man ab den 1980er Jahren zudem in Baden-Württemberg ein Haus der Geschichte. Innerhalb dieses Hauses wollte man dem Vorbild in Tel Aviv folgend mit weiterentwickelten Präsentationsformen von Geschichte arbeiten. Es sollte sich also nicht wie bei der Staufer-Ausstellung um eine historisch fundierte Präsentationsform handeln, sondern es sollten auch Fakes Eingang in die Ausstellung finden. Das Vorhaben, von einer repräsentativ historischen Ausstellungsform abzuweichen, stieß in Baden-Württemberg auch auf Kritik. Der Tübinger Kulturwissenschaftler Gottfried Korff z. B. weist darauf hin, dass der Erfolg der Staufer-Ausstellung vom Vorhandensein echter Exponate abhängig war. Der Stuttgarter Historiker Eberhard Jäckel hielt es für falsch ein Geschichtsbewusstsein mit musealer Hilfe zu konstruieren. Nur zweifelhafte Staaten wie die DDR oder Rumanien hätten dies im 20. Jahrhundert nötig. Vgl. Ursula Rombeck-Jaschinski: Landesbewusstsein durch Repräsentation. Das Haus der Geschichte Baden-Württemberg. In: Heimat Nordrhein-Westfalen. Identitäten und Regionalität im Wandel, hg. von Jürgen Brautmeier, Kurt Düwell, Ulrich Heinemann, Dietmar Petzina. Essen 2010, S. 185-211: S. 196. f.

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könne, die die einzelnen historischen Stätten in NRW verbindet.126 Diese Idee entspricht jedoch im weitesten Sinne der bereits im Rahmen der IBA im Ruhrgebiet gesetzten Landmarken. Zudem benennt Guido Hitze das Problem einer fehlenden verbindenden architektonischen Symbolik in NRW: „Ein wirklich die sprichwörtliche nordrhein-westfälische Vielfalt und die so unterschiedlichen Menschen und Regionen dieses Landes koordinierendes politisches Programm ist hinter solchen Allgemeinplätzen ebenso wenig mehr auszumachen wie die Lösung des bisher ungelösten Rätsels eines tatsächlich repräsentativen architektonischen Symbols für Nordrhein-Westfalen in der Antwort des Ministerpräsidenten: „Die B I“ als fast alle Landesteile verbindende Autostraße. Womit wir wieder bei der irgendwie seelenlosen, abstrakten Selbstwahrnehmung dieses Landes als einem Grundproblem seiner Identitätssuche angelangt wären.“ 127

Die B1 als historisch gewachsenen Gedächtnisort für NRW anzuführen ist inhaltlich zwar interessant, jedoch ist fraglich, inwiefern man von einer emotionalen Bindung der Bevölkerung an den Hellweg ausgehen kann. Vermutlich müsste man sie erst im spoerrischen Sinn Anekdotieren128, um sie als Gedächtnisort zu kultivieren und so einen emotional gefärbten Identitätsbildungsprozess in Gang zu setzen. Heidemarie Bennent-Vahle bestätigt: „Es geht heute nicht mehr darum, den Störfaktor Emotion einfach ruhigzustellen oder auszuschalten. Vielmehr zielt jetzt alles darauf, das emotionale Geschehen zum Schrittmacher des Gelingens werden zu lassen […]. Eine Art Strategieverlagerung hat sich vollzogen: Während

126 | Vgl. RP-online: Muss es ein Haus der Geschichte sein? 20.02.13, (http://www.rponline.de/politik/deutschland/kolumnen/hier-in-nrw/muss-es-ein-haus-der-geschichtesein-aid-1.3206700, zuletzt augerufen 15.03.14). 127 | Guido Hitze: Von „Wir in NRW“ bis „Nordrhein-Westfalen kommt wieder“. In: Heimat Nordrhein-Westfalen. Identitäten und Regionalität im Wandel, hg. von Jürgen Brautmeier, Kurt Düwell, Ulrich Heinemann, Dietmar Petzina. Essen 2010, S. 89-119: S. 113 f. 128 | Bazon Brock: Interview. Nicht »wie der Keks in der Schachtel«. In: Musée Sentimental 1979. Ein Ausstellungskonzept, hg. von Anke te Heesen, Susanne Padberg. Ostfildern 2011, S. 89-102: S. 89.

Das Sentimentale im Ruhrgebiet

der intellektuelle Herrschaftsgestus ehemals auf Unterdrückung und Ausschaltung der Emotionalität zielte, sucht man sich neuerdings die emotionalen Potentiale zielstrebig zunutze zu machen.“129

Daraus kann man folgern, dass es sich sowohl wirtschaftlich als auch politisch und kulturell für Nordrhein-Westfalen lohnen würde, seine sentimentalen Gedächtnisorte im Sinne Spoerris zu kultivieren und sich mit den gefühlten Orten der Landesidentität auseinanderzusetzen. Dies könnte vor allem deshalb hilfreich sein, da die Methoden des Musée Sentimental die Identität einer Stadt/Region eben nicht über Monumente, sondern über subjektive Geschichten zu den „unsichtbaren Monumenten“ einer Kultur herleiten. Eine solche Kultivierung kann in erster Linie durch kulturelle und gestalterische Interventionen erreicht werden, da es in diesem Kontext darum geht, nicht sichtbare Qualitäten sichtbar zu machen und empathisch auf subjektives Erleben zu reagieren. In Konsequenz ist es essentiell, dass kulturelle und gestalterische Projekte zur Landesidentität auch politisch stärkere Berücksichtigung finden.

129 | Heidemarie Bennent-Vahle: Mit Gefühl denken. Einblicke in die Philosophie der Emotionen. Freiburg/München 2013, S. 94.

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6  Das Sentimentale im musealen Kontext 6.1 Das sentimentale Objekt Das sentimentale Objekt fungiert in Spoerris Musée Sentimental als emotionaler Bedeutungsträger, dessen sinnliche Erfahrung eine neue Möglichkeit der kulturellen Weltaneignung darstellt. Im Sinne Spoerris ist die Sentimentalität dabei eine sinnlich gefühlvolle Sichtweise und eine dem Naiven entgegengesetzte ästhetische Ausdrucksform.1 Bazon Brock beschreibt daher das Musée Sentimental auch als „Museum der Liebe zu den Dingen“2 . Hierbei wird die Einbildungskraft zur elementaren Voraussetzung für einen Erkenntnisprozess. Im Lichte einer postmodernen Avantgarde Kunst, soll die imaginative Rezeption der ausgestellten Objekte den „[…] Subjekten helfen, sich von externen Abhängigkeiten zu befreien und sich selbst in autonome, in sich zentrierte Individuen zu transformieren.“3 Jean Baudrillard hält fest: „Die zum Fetisch gewordenen Objekte sind also nicht Beiwerk, auch keine bloßen Zeichen unter anderen Zeichen: sie symbolisieren eine innere Transzendenz, den Zauber der verborgensten Realität, von dem jedes mythologische und individuelle Bewußtsein erfasst wird […].“4

1 | Vgl. Alke Hollwedel: Das sentimentale Museum Daniel Spoerris, Magisterarbeit im Fach Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Berlin 1999, S. 2. 2 | Bazon Brock: Zur Rekonstruktion einer zeitgenössischen Kunst- und Wunderkammer. In: Entwurf zu einem Lexikon eines Musée Sentimental de Cologne: Reliquien und Relikte aus zwei Jahrtausenden „Köln Incognito“ nach einer Idee von Daniel Spoerri, hg. von Wulf Herzogenrath. Köln 1979, S. 18-28: S. 18. 3 | Jochen Schulte-Sasse: Einbildungskraft/Imagination. In: Ästhetische Grundbegriffe Studienausgabe, 7 Bde., Bd. 2 Dekadent bis Grotesk, hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhardt Steinwachs, Friedrich Wolfzettel. Stuttgar t/Weimar, 2001/2010, S. 88-121, hier S. 118. 4 | Jean Baudrillard: Das System der Dinge. Über das Verhältnis zu alltäglichen Gegenständen. Frankfurt a. M., 3. Auflage 2007, S. 102.

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Die Wahrnehmung der inneren Objekt-Transzendenz, die Baudrillard hier benennt, erfordert die Einbildungskraft 5 des Rezipienten, bzw. seinen Glauben an die allegorische Überlieferung des Objekts. Die auf das Objekt hin gestartete Erzählung funktioniert nur dann, wenn der Rezipient ihr Glauben schenkt oder persönliche Anbindungspunkte zu der Geschichte findet. Jean-Paul Sartre dazu: „Die Objekte existieren nur, insofern man sie denkt. […] Mit einem Wort, das Wahrnehmungsobjekt übersteigt dauernd das Bewußtsein; das Vorstellungsobjekt ist nie mehr als das Bewußtsein, das man von ihm hat, es definiert sich durch dieses Bewußtsein: man kann nichts von einer Vorstellung erfahren, als man schon weiß. […] Das Objekt zeigt sich also in der Vorstellung als eines, das in einer Vielzahl synthetischer Akte erfaßt werden muß.“6

Die von Sartre benannten synthetischen Akte, werden im Musée Sentimental über diverse Sinnlichkeitsebenen erfasst. Die Objekte erreichen den Rezipienten über sinnliche Reize, die widerum auf einer persönlichen Ebene eine Bandbreite an Gefühlen hervorrufen. Durch den Kontakt zur eigenen Lebensrealität werden Geschichten oder Anekdoten assoziiert bzw. imaginiert, die eine besondere Nähe zwischen Objekt und Betrachter herstellen.7 Dieser Prozess soll hier auch als sentimental definiert werden. Als Akt vollzieht er sich, indem der Rezipient sich mit seiner Seele in das

5 | „Die Einbildungskraft (nach dem Griechischen »Phantasie«; nach dem Lateinischen »Imagination«) gilt einer esoterischen Tradition als vor-diskursive Erkenntnisweise des Paradieses.“ Dietmar Kamper: Zur Geschichte der Einbildungskraft. München/Wien, 1981, S. 7. 6 | Jean-Paul Sartre: Das Imaginäre. Reinbeck bei Hamburg, 1994, S. 25 f. 7 | Die Nähe zwischen Objekt und Rezipient konstituiert sich auch aus dem Umstand, dass Gegenstände sich besonders leicht verpersönlichen lassen. Als Spiegel reflektieren sie nur erwünschte Bilder und stellen ein Übertragungsmedium für alles, was in menschlichen Beziehungen keinen Platz gefunden hat. Indem der Mensch sich dem Objekt bedient, sammelt er sich selbst. Vgl. Jean Baudrillard: Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen, München, 3. Auflage 2007, S. 115.

Das Sentimentale im musealen Kontext

Unbeseelte hineinversetzt.8 Der Zugang ist dabei subjektiv und lebendig, was den Vorteil hat, dass der Betrachter die Rezeption des Musées zuvor nicht erlernt haben muss. Er rekonstruiert den Sinn durch sein selbst gelebtes Leben bzw. die damit einhergehenden Erfahrungen. Bazon Brock stellt heraus: „Alle Beziehungen der Menschen untereinander laufen aber über die Objekte der Außenwelt, seien sie natürlich gegeben oder kultürlich hergestellt. Auch unsere Gedanken und Vorstellungen vermitteln sich uns und anderen über objekthafte Vergegenständlichungen und seien es die gesprochene Sprache oder gesungene Tonfolgen. Andererseits bedeuten uns irgendwelche gegebenen Dinge auch nur etwas im Hinblick auf andere Menschen und unsere Beziehung zu ihnen. Deshalb verbinden sich für uns die Dinge mit den Formen und Absichten unserer Beziehung auf und mit anderen Menschen; die Dinge werden zu Trägern unserer Leidenschaften und Kalküle, die wir auf andere Menschen hin entwickeln. Mit dem Gebrauch der obsessionellen, sentimental besetzten Dinge, die dadurch zu Objekten werden, entfalten wir also Beziehungen zu anderen, wobei die Objekte stellvertretend für diese anderen, tatsächlich gemeinten Menschen werden können. Als deren Stellvertreter sind die Objekte gleichsam agierende Subjekte, was sich im englischen Sprachgebrauch von Objekt als subject noch besonders gut verstehen läßt.“9

Brock quantifiziert das sentimentale Objekt als Bedeutungsträger zwischenmenschlicher Beziehungen und Alltagsformen. Die von ihm benannten Leidenschaften und Kalküle können sich nur im Objektgebrauch des durchfühlten alltäglichen Handelns einschreiben und festigen.10 In Bezug auf andere Menschen und unsere Beziehung zu ihnen, kann das Objekt dem folgend auch als Distinktionsmedium zum

8 | Vgl. Mar tin Fontius: Einfühlung/Empathie/Identifikation. In: Ästhetische Grundbegriffe Studienausgabe, 7 Bde., Bd. 2 Dekadent bis Grotesk, hg. von Karlheinz Barck, Mar tin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhardt Steinwachs, Friedrich Wolfzettel. Stuttgart/Weimar 2001/2010, S. 121-142: S. 131. 9 | Bazon Brock: Was ist ein ‚Musée sentimental‘? (http://www.bazonbrock.de/werke/ detail/?id=213, zuletzt abgerufen 31.05.2014). 10 | So machen auch die exponierten Trivialobjekte des Musée Sentimental sichtbar, wie sich das Emotive als innere Bewegtheit symbolisch ausdrückt.

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Subjekt verstanden werden.11 Unter Rückgriff auf Vischer untermauern Thomas Friedrich und Jörg H. Gleiter, dass „[d]er Akt der Einfühlung […] in einer „merkwürdigen Verschmelzung von Subjekt und Objekt in der Gefühlsvorstellung [besteht, A. C.].“12 Diese atmosphärische Dimension des Objekthaften wurde auch von Gernot Böhme in einer semantischen Überschneidung zum „Aura“-Begriff von Walter Benjamin festgestellt. Die Objekte des Musée Sentimental operieren dabei mit dem Umstand, „[…] dass wir den Objekten, überhaupt allen äußeren Erscheinungen, unwillkürlich Seelenstimmungen unterlegen“13. Hier offenbart sich eine Verpersönlichung des Objekts. Das tote Ding wird zum beseelten Objekt und in diesem Zusammenhang zum Agens, dass das sinnliche Strebevermögen anhand seiner Aura stimuliert14: „Im Lexikon wird der Gegenstand etwa folgendermaßen definiert: »Grund, Subjekt einer Leidenschaft. Bildlich und vorzugsweise der geliebte Gegenstand.« Nehmen wir an, daß unsere Gegenstände tatsächlich der Grund einer Leidenschaft sind, der Leidenschaft des Besitzens, deren gefühlsmäßige Stärke sich in nichts von der Leidenschaft zu einer Person unterscheidet; daß sie eine ständige Leidenschaft ist, die häufig alle anderen an Heftigkeit übertrifft und manchmal sogar die einzige ist, die einen ergreift.“ 15

Objekte, die leidenschaftlich geliebt werden, verfügen über einen unsichtbaren Wert. Der Verweis auf das, was im Material nicht zu fassen ist, sondern nur gefühlt werden kann, wird auch als Semiophorizität beschrieben. Im Musée Sentimental entspricht der Semiophor dem sentimentalen Objekt. Dies offenbart sich u.a. darin, dass der materielle Wert der Objekte

11 | Vgl. Thomas Friedrich, Jörg H. Gleiter: Einleitung. In: Einfühlung und phänomenologische Reduktion. Grundlagentexte zu Architektur, Design und Kunst, hg. von Thomas Friedrich, Jörg H. Gleiter. Berlin 2007, S. 7-37: S. 11. 12 | Ebd. 13 | Ebd., S. 7. 14 | Vgl. Martin Pickavé: Thomas von Aquin: Emotionen als Leidenschaften der Seele. Emotion und Kognition. In: Klassische Emotionstheorien: Von Platon bis Wittgenstein, hg. von Hilge Landweer, Ursula Renz. Berlin 2008, S. 192-195: S. 190. 15 | Jean Baudrillard: Das System der Dinge. Über das Verhältnis zu alltäglichen Gegenständen. Frankfurt a. M., 3. Auflage 2007, S. 110.

Das Sentimentale im musealen Kontext

nicht entscheidend ist, sondern vielmehr die Aura16-erzeugende Geschichte des Objekts: „Je interessanter die Geschichte des Objektes, desto größer sein Wert für mich.“17 Der von Spoerri hier hervorgehobene Objektwert deckt sich mit der Überzeugung Pomians, welcher den Tauschwert eines Sammlungsstücks allein auf seine Bedeutung zurückführt. Wertvoll wird ein Objekt erst dann, wenn es das Unsichtbare repräsentiert. Pomian führt aus: „[…] die Gegenstände […], stellen das Unsichtbare zunächst durch das Material, aus dem sie hergestellt sind, dar. Doch sie repräsentieren es auch durch ihre Form, in der jeweils auf eine eigene Tradition verwiesen wird, […] oder durch die Tatsache, daß sie von einer bestimmten Person erworben wurden und so die Erinnerung an vergangene Geschehnisse bewahren, oder sie repräsentieren es durch ihr Alter oder ihren exotischen Ursprung. […] in diesem Fall sind also die angesammelten Gegenstände Vermittler zwischen dem Betrachter und dem Unsichtbaren.“

Pomian macht hier deutlich, dass die unsichtbare Qualität eines Objektes sich u.a. aus persönlichen Bezügen seitens des Betrachters konstituiert, weshalb man auch von einer Vergegenständlichung gelebter Zeit 18 sprechen kann. Persönliche/sentimentale Objektbezüge entstehen über Erinnerungen, Personen und Geschehnisse und sichern so

16 | „Alltagssprachlich bezeichnet Aura eine diffuse, im naturwissenschaftlichen Sinne nicht objektivierbare, oft jedoch intensiv empfundene physisch-materielle ›Ausstrahlung‹, die einen Wahrnehmungsgegenstand zu umgeben scheint. […] Die Wahrnehmung der Aura unterscheidet nicht nur auratische von nicht-auratischen Objekten, sondern sie bezeichnet zugleich eine Wertpräferenz, da sie die Bedeutsamkeit eines auratischen Erfahrungsgegenstandes gegenüber dessen lebensweltlicher Normalität hervorhebt.“ Peter Spangenberg: Aura. In: Ästhetische Grundbegriffe Studienausgabe, 7 Bde., Bd. 1 Absenz bis Darstellung, hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhardt Steinwachs, Friedrich Wolfzettel. Stuttgart/Weimar, 2000/2010, S. 400-416: S. 400 f. 17 | Daniel Spoerri: Einleitung. In: Entwurf zu einem Lexikon eines Musée Sentimental de Cologne: Reliquien und Relikte aus zwei Jahrtausenden „Köln Incognito“ nach einer Idee von Daniel Spoerri, hg. von Wulf Herzogenrath. Köln 1979, S. 8-11: S. 11. 18 | Vgl. Margret Westerwinter: Museen erzählen. Sammeln, Ordnen und Repräsentieren in literarischen Texten des 20. Jahrhunderts. Bielefeld 2008, S. 90.

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die „[…] Kontinuität der eigenen personalen wie sozialen Identität.“19 Das sentimentale Objekt wird hier zur Verlängerung des eigenen Ichs und stellt durch seine Unsterblichkeit auch die Fortsetzbarkeit des Besitzenden nach dem Tode sicher, was z.B. Erbstücke belegen. Sentimentale Objekte sind aufgeladen mit einer Fülle von Erinnerungen, bzw. inneren Bildern. Dieter Roth dazu: „Diese Bilder, die Bilder der weggeworfenen Gegenstände, mit ihrem Schweif aus verwandten Bildern und Tönen hinter sich her, haben manchmal – oder können haben – einen Schweif, der die ganze Welt enthält. Das ist: natürlich nur die ganze Welt, die man nennen, sehen, denken kann, kurz: die Welt, die man wahrnimmt – innen in sich oder außen außer sich. Und diese Dinger, die da weggeworfen werden und einen Schweif (wie er soeben beschrieben worden ist) hinter sich herhaben, das sind Symbole. Die Symbole sind alle altes, weggeworfenes Zeug. (...). Und dabei geschieht was Verrücktes: Die Gegenstände liegen da, verbraucht – nach Gebrauch, oder die Gegenstände liegen da, ungebraucht – vor Gebrauch. Und die Bilder, die Namen und das Anderemehr steigen von ihnen auf, als unbestimmt-bestimmte – jedenfalls gewisse Leute reizende – Wolke. Und nun kommen die, dies reizt, die, dies sehen – Bildermacher, Schreiber und Irre – die Menschen, die Leute ganz allgemein, und sie nehmen, was da aufsteigt, und benutzen es. Sie brauchen es als Gegenstände ihrer Bild-, Laut- oder Gebärdensprachen – als Schriftzeichen, und dann sinds wieder Gebrauchsgegenstände, und man weiß nicht mehr, was sie sind, weils Gebrauchsgegenstände geworden sind, von denen man ja nicht weiß, was sie sind, weil sie noch nicht wegf liegen und weder Schweife gebildet haben noch Wolken aufsteigen lassen. Aber dann werden diese Dinger doch wieder alt, dumm oder sowas, sie werden verbraucht und weggeschmissen, wobei sie den altbekannten Schweif ziehen – dann sind sie schon wieder recht schöne Symbole. Dann fallen sie auch noch runter und bleiben liegen – in Museen, Bibliotheken

19 | Carl F. Graumann: Phänomenologische Gedanken zur psychologischen Gedächtnisforschung. In: Kontexte und Kulturen des Erinnerns: Maurice Halbwachs und das Paradigma des kollektiven Gedächtnisses, hg. von Gerald Echterhoff, Mar tin Saar. Konstanz 2002, S. 59-75: S. 68.

Das Sentimentale im musealen Kontext

und Lagerhäusern, und die geladene, volle Wolke steigt von ihnen auf, und dann gehts weiter.“20

Roth beschreibt den Schweif, was hier auch als Dingaura oder Semiophorizität verstanden werden kann, als kennzeichnend für das zum Symbol/ Semiophor gewordene Objekt. Als markantes Merkmal lässt sich die Vermittlerfunktion zwischen dem profan Sichtbaren und dem Unsichtbaren, das die Objekte transportieren hervorheben.21 Ein sentimentales Objekt konzentriert Erfahrenes oder Gefühltes in der Form und vollzieht damit einen Prozess hin zu einem symbolischen Objekt, das unser Verstehen und Fühlen organisiert und unsere Existenz bis in das Gefühlsleben hinein prägt.22 Rolf Lachmann weist auf das menschliche Bedürfnis nach Symbolisierung hin, da Symbole genuine Formen des Verstehens darstellen. Gefühle, Haltungen oder auch individuelle Erfahrungen werden durch sie dargestellt.23 Das sentimentale Objekt als Symbol ist damit auch ein Verständigungsinstrument. Es weist über sich selbst hinaus und kann seine erahnte Bedeutung über vertraute Wörter (wie im Musée Sentimental für Anekdoten) zum Audruck bringen.24

20 | Dieter Roth: 46 a. Abgebranntes Streichholz. In: Anekdoten zu einer Topographie des Zufalls, hg. von Daniel Spoerri. Hamburg 1998, S. 129. 21 | Vgl. Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin 1988, S. 40. 22 | Vgl. Rolf Lachmann: Langer: Philosophie des Fühlens. Die kulturelle Form des Fühlens. In: Klassische Emotionstheorien: Von Platon bis Wittgenstein, hg. von Hilge Landweer, Ursula Renz. Berlin 2008, S. 700-705: S. 700 f. 23 | Vgl. Lachmann, Rolf: Langer: Philosophie des Fühlens. Der philosophische Ansatz. In: Klassische Emotionstheorien: Von Platon bis Wittgenstein, hg. von Hilge Landweer, Ursula Renz. Berlin 2008, S. 683-686: S. 684 f. 24 | Vgl. Heinz Hamm: Symbol. In: Ästhetische Grundbegriffe Studienausgabe, 7 Bde., Bd. 5 Postmoderne bis Synästhesie, hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhardt Steinwachs, Friedrich Wolfzettel. Stuttgart/Weimar 2003/2010, S. 805-840: S. 806.

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Der Symbolcharakter von Semiophoren lässt sich beispielhaft auch an den Objekten fürstlicher Schatzkammern und Reliquien darlegen.25 Diese repräsentieren z. B. religiöse Mythen oder geschichtliche Fakten und Taten, was die Krone oder das Zepter beweisen. Kleinode aus anderen Ländern hingegen stehen für das Exotische und Geheimnisvolle der fremden Kulturen, die ihrerseits wieder mit eigenen Traditionen verbunden sind 26, was sich als Paradigma bis in die heutige Souvenirkultur27 hinein abbildet. Semiophoren haben damit neben der materiellen auch eine semiotische Disposition. Abgesehen von allen physischen Charakteristika bestehen die sichtbaren Verweisungen auf das, was augenblicklich nicht sichtbar ist.28 In den Semiophoren des Musée Sentimental drückt sich eine nostalgische Rückkehr in das Vergangene aus. Da viele Objekte symbolisch für etwas stehen und der Eindruck vermittelt wird, sie hätten die Situation, von der sie berichten, selbst als Zeitzeugen miterlebt, bestaunt der Betrachter sie mit einer fast mystischen Faszination. Ähnlich wie durch einen Geruch, der an vergangene Erlebnisse oder an Personen erinnern kann, führen unmittelbare Anwesenheit und Geschichte des Objekts zu einem direkten Wiederaufleben von Vergangenem. Als Beispiel kann hier der Meisterschaftsball aus dem glorreichen Spiel des 1. FC Köln, der im Musée Sentimental de Cologne exponiert wurde, angeführt werden. So wird dieser Ball viele Rezipienten nicht nur daran erinnert haben, in welcher Situation sie damals das Spiel erlebten, sondern durch seine Materialität und die an ihm zu findenden Gebrauchsspuren vielleicht auch an den eigenen Kontakt zum Sport und die ersten kindlichen Berührungspunkte mit dem Bolzplatz um die Ecke.

25 | „Symbolisch trugen diese Objekte schon verfallene und übrigens widersprüchliche Werte; die einen besagten die Seltenheit und das Kostbare, das vom Seltenen herrührt (Schmuckstücke, Nippsachen usw.), andere besagten die Fruchtbarkeit, die Fülle, den Überfluß für die Privilegierten innerhalb der Knappheit.“ Henri Lefebvre: Das Alltagsleben in der modernen Welt. Frankfurt a. M., 1972, S. 93. 26 | Vgl. Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin 1988, S. 42. 27 | „Hier wird das Andenken als säkularisierte Reliquie behandelt. Und die sentimentale Lust am »Souvenir« ist habituell der Semiotik der Alienation zuzuordnen. Eigentlich tote Erfahrung soll bürokratisch bedingt repetitiv als Erlebnis memoriert werden […].“ Volker Steffen: Unfähigkeit zu vergessen. Über das sentimentale Prinzip der Erinnerung. Bielefeld 2012, S. 153. 28 | Vgl. Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin 1988, S. 43 f.

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Es ist also festzuhalten, dass Semiophoren unsichtbare Beziehungen herstellen, die allein der Geist des Betrachters zu entwickeln vermag.29 Krzysztof Pomian unterscheidet die Sichtbarkeit der Objekte nochmals in zwei Kategorien: „Auf der einen Seite befinden sich die Dinge, nützliche Gegenstände, daß heißt solche, die konsumiert werden können oder die dazu dienen, sich Subsistenzmittel zu verschaffen oder auch Rohstoffe umzuwandeln, so daß sie konsumiert werden können oder schließlich dazu, gegen die Veränderungen der natürlichen Umgebung zu schützen. […]. Auf der anderen Seite befinden sich die Semiophoren, Gegenstände ohne Nützlichkeit im eben präzisierten Sinn, sondern Gegenstände, die das Unsichtbare repräsentieren, das heißt, die mit einer Bedeutung versehen sind. Da sie ausgestellt werden, um den Blick auf sich zu ziehen, unterliegen sie nicht der Abnutzung. Die produktive Tätigkeit ist damit in zwei verschiedene Richtungen orientiert zum Sichtbaren hin und zum Unsichtbaren hin, zur Maximierung der Nützlichkeit oder zur Maximierung der Bedeutung.“30 [Herv. im Orig.]

Ein Semiophor ist also ein Gegenstand ohne Nützlichkeit, dessen Bedeutung im Unsichtbaren liegt. Doch auch Objekte die weder über Nützlichkeit noch Bedeutung verfügen, realitär also dem Abfall zuzuordnen sind, können zu Semiophoren werden. Hierzu führt Pomian das Beispiel der antiken Kameen an. Mit Ausnahme von Reliquien, galten die Überreste der Antike bis zur zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts noch als unbedeutender Schund. Mit der erneuten Auseinandersetzung kamen jedoch jahrhundertelang verborgene Gegenstände und Texte wie auch die Kameen wieder an die Oberfläche. Sie erhielten nun, da sie in Beziehung gesetzt werden konnten, Verständlichkeit und Sinn. Damit ergibt sich eine neue Klasse von Semiophoren. Wir sprechen von Gegenständen oder Texten, die aus der

29 | Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Objekte dem Vergessen entrissene persönliche Erinnerungen repräsentieren. „In ihrer sinnlichen Intensität und Expression variieren die jeweiligen Erinnerungen und drücken Sehnsucht und Widerwillen, Glück und Scham, Erfolg und Demütigung aus.“ Margret Westerwinter: Museen erzählen. Sammeln, Ordnen und Repräsentieren in literarischen Texten des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2008, S. 94. 30 | Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin 1988, S. 49 f.

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Dimension des Abfalls herausgehoben wurden, da ihre Bedeutung erst später erkannt werden konnte.31 Die Grenzüberschreitung vom Müll zum Semiophor bildet eine Analogie ab, da beide Kategorien eine Grenzüberschreitung in beide Richtungen unternehmen können. Assmann verdeutlich dies am Verhältnis von Archiv und Müll: „Was nicht ins Archiv kommt, landet auf der Mülldeponie; und was im Archiv von Zeit und Zeit aus Platzmangel aussortiert wird, landet ebenfalls dort.“32

Im Musée Sentimental de Cologne zeigt sich dies in u.a. in Exponaten wie der Fixerjacke oder den mit Kamellen verklebten Schuhen. Beide erhalten ihren Wert erst durch den musealen Kontext sowie den zeitgeschichtlichen Zusammenhang, den sie symbolisch vertreten. Im Musée wird offenbar, dass sich die Sammlungsmotive zur Kategorie des Mülls hin verschoben haben.33 Was wir sammeln, erfährt eine Umwertung, indem wir ihm eine persönliche Bedeutung zuschreiben, die nichts mehr mit seinem eigentlichen Charakter gemein hat.34 So ist die Fixerjacke nicht nur die alte Kleidung eines Toten, sondern sie wird zum Symbol für eine erste Welle an Drogentoten in Köln. Die mit Kamellen verklebten

31 | Vgl. Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin 1988, S. 56. 32 | Aleida Assmann: Erinnerungsräume. München 1999, S. 383. 33 | Siehe dazu auch Bärbel Schmidt: Prachtstück oder Plunder? Vom Sammeln Materieller Kultur. In: Kulturanthropologie des Textilen, hg. von Gabriele Mentges. Bamberg 2005, S. 97-131: S. 97 f. 34 | Der Prozess der Umwertung beginnt laut Michel de Certeau mit dem Beiseitelegen und Produzieren der Objekte, wodurch sich ihr Status verändert. Das Objekt wird dabei de Certeau folgend isoliert und denaturiert. Vgl. Michel De Certeau: Der Raum des Archivs oder die Perversion der Zeit. In: Archivologie. Theorien des Archivs in Wissenschaft, Medien und Künsten, hg. von Knut Ebeling, Stefan Günzel. Berlin 2009, S. 113-123: S. 113.

Das Sentimentale im musealen Kontext

Stiefel35, weisen über sich selbst als nicht mehr tragbares Schuhwerk hinaus, indem sie kölnisches Brauchtum transportieren. Damit ein Objekt zum Semiophor werden kann, ist die durch seine individuelle Geschichte erzeuget Aura entscheidend. Bazon Brock beschreibt dieses Verfahren als anekdotieren36 .

6.2 Anekdotieren 37 im Musée Sentimental Weiter oben in Kapitel drei der Arbeit wurden fünf künstlerische Strategien für die Sentimentalisierungsprozesse im Musée Sentimental indentifiziert. Diese lauteten: 1. Narrativierung durch Anekdotisierung 2. Bildung von Assoziationsketten 3. Integration des Zufalls 4. Mystifizierung des trivial Alltäglichen 5. Arbeit mit Gegensätzen Der entscheidende Punkt im Musée Sentimental ist der gefühlsbetonte Zugang zum Objekt. Dies wird durch die Anekdotisierung bzw. dadurch erreicht, dass das Objekt mittels einer Geschichte mit einer neuen Semantik überzogen wird. Punkt 2-5 verstehe ich daher als Unterkategorien, die Punkt 1 ermöglichen. Indem Spoerri ein beliebiges Objekt des Alltags

35 | Als Beispiel könnte man hier für das Musée Sentimental de Cologne die mit Kamellen verklebten Schuhe nennen. Kamellen werden während des Kölner Karnevals von den Wagen in die Menge geworfen und treten sich dadurch zu tausenden am Boden und dem Schuhwerk fest. Einer der mitwirkenden Assistenten am Musée Sentimental de Cologne, Stephan Andreae, der selbst ein gebürtiger Kölner ist, hatte ein solches Paar Kamellenverklebter Schuhe aufbewahrt und brachte es in die Ausstellung ein. Vgl. Marie-Louise von Plessen: Interview, »Man hatte das Gefühl, man geht jetzt fischen, jagen sammeln«. In: Musée Sentimental 1979. Ein Ausstellungskonzept, hg. von Anke te Heesen, Susanne Padberg. Ostfildern 2011, S. 16-32: S. 20. 36 | Bazon Brock: Interview. Nicht »wie der Keks in der Schachtel«. In: Musée Sentimental 1979. Ein Ausstellungskonzept, hg. von Anke te Heesen, Susanne Padberg. Ostfildern 2011, S. 89-102: S. 89. 37 |  Ebd.

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mit einer einzigartigen Geschichte/sentimentalen Aura versieht, mystifiziert er Trivialgegenstände. Sowohl in der Beliebigkeit des Objekts als auch in den verschiedenartigen Objektarrangements steckt dabei die Integration des Zufalls. Spoerri appelliert mit den sich ergebenden Gegensätzen und den Assoziationsketten an die Verknüpfungsfähigkeit38 , bzw. die eigene Erzähl- und Erinnerungsfähigkeit des Rezipienten. Die Rekonstruktion von Geschichte erfolgt im Musée Sentimental also allein über die Chroniken und Anekdoten, die zu den Objekten erzählt werden. Spoerris Methode entspricht damit einer postmodernen Herangehensweise, die sich auf die Rhetorik des Erzählens konzentriert anstatt auf rationale Argumentation und Reglementierung.39 Die lebendige Beschreibung oder Erzählung wurde dabei gegenüber einer abstrakten Erklärung oder Analyse bevorzugt und warme Empathie stand kalter Theorie gegenüber.40 Das Mittel des „Geschichtenerzählens“ ist einer der Gründe, warum die Trivialobjekte im Musée Sentimental überhaupt als Transmitter zwischen Geschichte/Stadt und Privatheit funktionieren. Die Anekdoten bilden dabei

38 | Vgl. Bazon Brock: Interview. Nicht »wie der Keks in der Schachtel«. In: Musée Sentimental 1979. Ein Ausstellungskonzept, hg. von Anke te Heesen, Susanne Padberg. Ostfildern 2011, S. 89-102: S. 90. 39 | Vgl. Jörn Rüsen: Über die Ordnung der Geschichte. In: Orte der Erinnerung: Denkmal, Gedenkstätte, Museum, hg. von Ulrich Borsdorf, Heinrich Theodor Grütter. Frankfurt a. M/ New York 1999, S. 79-101: S. 91. 40 | Vgl. ebd. S. 94.

Das Sentimentale im musealen Kontext

aus zahlreichen Froschperspektiven41 mit privatem Duktus, die Identität einer Stadt ab.42 Aleida Assman legt dar: „Zur Anekdote werden Erinnerungen, die durch wiederholtes Erzählen regelrecht poliert worden sind. In diesem Prozeß verlagert sich die stabilisierende Kraft allmählich vom Affekt in die sprachliche Formel. […] Anekdoten und Symbol stehen hier für unterschiedliche Formen von Narrationen: Während sich dort eine Erinnerung im wiederholten Sprechakt festigt, festigt sie sich hier in einem Akt hermeneutischer Selbstdeutung. Die eine Narration steht im Zeichen des Merk-Würdigen und somit des Gedächtnisses, die andere im Zeichen von Deutung und Sinn.“43 [Herv. im Orig.]

Hier wird deutlich, dass die Anekdoten, mit denen Spoerri im Musée Sentimental arbeitet, Geschichten sind, die sich durch ihre „MerkWürdigkeit“4 4 auszeichnen. Dabei werden durch wiederholtes Erzählen immer wieder Teile hinzugefügt oder weggenommen. Ein Prozess, den Assmann als „polieren“ beschreibt. Hier wird die Geschichte gewissermaßen auf ihre identitätsbildende Essenz reduziert. Die Anekdote gibt damit Aufschluss darüber, was eine Gruppe für „merk-würdig“45

41 | „Geschichte wird im Musée Sentimental mit den Objekten erzählt. Dabei hat nicht nur jedes Objekt eine Geschichte, Anekdote oder ähnliches, sondern die Objekte zusammen ergeben wieder ein neues Narrativ.“ Marie-Louise von Plessen: Interview, »Man hatte das Gefühl, man geht jetzt fischen, jagen sammeln«. In: Musée Sentimental 1979. Ein Ausstellungskonzept, hg. von Anke te Heesen, Susanne Padberg. Ostfildern 2011, S. 16-32: S. 21 f. Von Plessen führt in diesem Zusammenhand die Adenauer Vitrine des Musée Sentimental

de Cologne an: „In der [Adenauer, A. C.] Vitrine befand sich seine Rosenschere – jeder wusste, dass er Rosen züchtete, und heute würde ich wahrscheinlich einfordern, die Auswahl der Rosen zu benennen oder ihre Anordnung darzustellen. Da waren nur diese Rosenschere und dann natürlich ein optischer Knaller, gerade am Anfang: Ein Indianerschmuck mit Adlerfedern, den er in Erinnerung an Buffalo Bill von den »Vereinigten Indianerstämmen« der USA geschenkt bekommen hatte.“ Ebd. 42 | Vgl. Georg Jappe: Geschichte als Flohmarktbewältigung: Musée Sentimental de Cologne. In: Kunstnachrichten (1979), H. 6, S. 149-156: S.150. 43 | Aleida Assmann: Erinnerungsräume. München 1999, S. 263 f. 44 | Ebd., S. 264. 45 | Ebd.

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hält und ist folglich auch fest im kollektiven Gedächtnis verankert. Im Musée Sentimental bildet sich dies über Objekte ab, deren Zugehörigkeit zur jeweiligen Stadt im Rahmen des anekdotischen Wissens kollektiv anerkannt ist. So würde niemand bestreiten, dass Schlagworte wie „Kamelle“, „Kölnisch Wasser“ und „Willi Millowitsch“ unmittelbar mit der Stadt Köln assoziiert sind. Cordula Meier erkennt: „Bei der Unterscheidung von individueller und kollektiver Erinnerung ist es in diesem Rahmen notwendig, den Begriff ›kollektive Erinnerung‹ genauer zu beleuchten. Dies vor allem deshalb, weil im Kunstschaffen im Allgemeinen von einer Rezeption ausgegangen wird, die gehäuft auf eine Form von Erinnerungskonstruktion abzielt, die kollektiven Charakter hat. Zwar ist auch die individuelle Erinnerung in gewissem Sinne für einen Rezipienten nachzuvollziehen, […] aber natürlich ist ein gewisser Rahmen an kollektiver Übereinkunft notwendig, um Rezeption im Grundsatz überhaupt möglich zu machen.“ 46

Neben der kollektiven Übereinkunft zur städtischen Objektzugehörigkeit bietet das Musée Sentimental durch seinen anekdotischen Rahmen aber auch eine Verknüpfungsmöglichkeit mit individuellen Erinnerungen des Rezipienten. Da die Anekdoten eng mit dem Alltagsleben verbunden sind bzw. gleichsam aus ihm resultieren, 47 beinhalten sie sowohl persönliche als auch kollektive Bezüge. Die narrative Technik des Anekdotierens, die sich u.a. auch in der im Musée Sentimental vorgenommene alphabetischen Ordnung abbildet,

46 | Cordula Meier: Kunst und Gedächtnis. Zugänge zur aktuellen Kunstrezeption im Licht digitaler Speicher, Habil. München 2002, S. 24. 47 | Lefebvre hält fest, dass sich die Dramen des menschlichen Daseins im Alltag abspielen und weist ihm so eine Erhabenheit zu. Hieraus ergäbe sich ihre Authentizität und Tiefe. Vgl. Henri Lefebvre: Kritik des Alltagslebens. In: Ders.: Kritik des Alltagslebens, 3 Bde., Bd. 2 Grundriss einer Soziologie der Alltäglichkeit. München 1975, S. 74.

Das Sentimentale im musealen Kontext

erinnert sowohl an die Oral-history-Bewegung, als auch an die Methoden der Spurensicherung48 als künstlerische Strategie. Bazon Brock dazu: „Die Anekdote war dabei das Grundprinzip, aber nicht nur im Sinne von »anekdotisch«, im Sinne des bloßen Erzählens, sondern als »anekdoté« als »anekdotieren« […] Was bei den Objekten der ›Fall‹ ist, also das zufällig entstandene Arrangement, das ist die Komposition in und mit der Erzählung, die von einem Objekt aus startet. Der Fall ist immer ein Verweis auf ein Objekt und das war dann seine [Spoerris, A. C.] Version der Oral History. Er hat diese einzelnen kleinen Objekte vor sich hingelegt oder aus der Tasche gezogen und dann direkt auf das Objekt hin die Erzählung gestartet. […] Diese Orientierung auf die Kraft der Verlebendigung des Objekts durch die Erzählung war das Entscheidende. Das heißt, die Leute wurden nicht für dumm verkauft, indem man sagte, die Bedeutung steckt eben in den Dingen, wie der Keks in der Schachtel – das war die Formulierung, die wir in der Besucherschule wählten –, sondern man muss sie schon aus Anlass der Wahrnehmung des Objekts im Sinne der Stimulierung der eigenen Erinnerung, der eigenen Erzählfähigkeit, der Verknüpfungsfähigkeit entwickeln. Und zwar sinnhaft, so dass aus der Geschichte der Einzelobjekte, die in sich alle abgeschlossen waren, dann doch wiederum eine große Kette entsteht […].“49

Die an das Objekt gebundene Geschichte steigert in diesem Zusammenhang die Produktivität der Erinnerungsarbeit. Das Objekt wird „Verlebendigt“50. Aleida Assmann berichtet von einem Experiment amerikanischer Psychologen, bei dem zwei Probandengruppen jeweils identische Bilderserien

48 | Bei der Spurensicherung wird der Künstler zum Ethnologen. Über das Sammlen der Spuren rekonstruiert er einen Gesamtzusammenhang. Diese Form der Feldforschung integriert das Subjektive des Künstlers in den Prozess. Vgl. Günter Metken: Spurensicherung. Archäologie und Erinnerung. Didier Bay/Christian Boltanski/Jürgen Brodwolf/Claudia Costa/ Nikolaus Lang/Anne und Patrick Poirier, hg. von Kunstverein in Hamburg. Hamburg 1974. S. 7-9: S. 7 f. 49 | Bazon Brock: Interview. Nicht »wie der Keks in der Schachtel«. In: Musée Sentimental 1979. Ein Ausstellungskonzept, hg. von Anke te Heesen, Susanne Padberg. Ostfildern 2011, S. 89-102: S. 90. 50 | Ebd.

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gezeigt wurden. In Gruppe 2 wurden die Bilder zudem mit Geschichten hinterlegt. Das Fazit der Untersuchung ergab, das Gruppe 2 die Bilder wesentlich besser als Gruppe 1 erinnern konnte. Assmann folgend wurde der Text hier zum Träger des Affekts für die Einprägsamtkeit von Erinnerungen.51 Assmanns Feststellung kann im Kontext der vorliegenden Untersuchung auf die Erinnerungsarbeit im Musée Sentimental übertragen werden. Die mit dem Objekt verknüpfte Anekdote wird hier zum Träger des Affekts/des Gefühls und der Identitäts- bzw. Erinnerungsbildung: „Das Musée Sentimental ist ja nichts anderes als eine fixierte, permanente Erzählung über einzelne Objekte im Zusammenhang eines übergeordneten Gesichtspunkts oder eines Themas, das dann mehr oder weniger weit poetisch offen oder auch sehr verengt sein kann. Der entscheidende Punkt ist dieses Erschließen des einzelnen Objekts im Hinblick auf die Möglichkeit, es mit anderen in Beziehung zu setzen. Wir nannten das damals »Relationalismus« und »Konstellationsbildung« oder auch »Konstellationsforschung«.“52

Brock bezieht sich hier auf die von Spoerri genutzten Assoziationsketten. Die hierin begründete, konstrastreiche Gegenüberstellung 53 von Objekten bezeichnet er als „Konstellationsbildung“54 . Die Assoziationskette ist

51 | Vgl. Aleida Assman: Erinnerungsräume. München 1999, S. 251. 52 | Bazon Brock: Interview. Nicht »wie der Keks in der Schachtel«. In: Musée Sentimental 1979. Ein Ausstellungskonzept, hg. von Anke te Heesen, Susanne Padberg. Ostfildern 2011, S. 89-102: S. 92. 53 | Die Gegensätze im Musée Sentimental sollten den Beweis erbringen, dass im Menschen ebenso wie in der Stadt diverse Gegensätze enthalten sind. Vgl. Ute Kaltwasser: Aus dem Alltag der alten Stadt. In: Kölner-Stadtanzeiger (1979), Nr. 53, S. unbekannt. Interessant ist in diesem Kontext die erneute Verbindung von Raum- und Menschwerdung. 54 | Bazon Brock: Interview. Nicht »wie der Keks in der Schachtel«. In: Musée Sentimental 1979. Ein Ausstellungskonzept, hg. von Anke te Heesen, Susanne Padberg. Ostfildern 2011, S. 89-102: S. 92.

Das Sentimentale im musealen Kontext

in diesem Kontext auch als Ausdruck des menschlichen Gedächtnisses55 zu betrachten, da sich in ihm Erinnerungspunkte verbinden, die letztlich die Geschichte unseres Lebens ausmachen.56 Zentrales Beispiel für die sich ergebenden Kontraste eines alphabetischen Ordnungssystem, bzw. den im Musée typischen Relationismus, sind die im Musée Sentimental de Cologne dargestellten „drei Ursulas“.57 Neben einer Reliquienbüste der Heiligen Ursula, die als Plastik zu einem Souvenir-Exporterfolg Kölns wurde, wird hier eine Bettpfanne und eine Flohfalle aus der Habe der Ursula Colomba de Groote (geb. zum Pütz) ausgestellt, die der Autobiografie Casanovas folgend im Kölner Karneval eine Liebesaffäre mit ihm gehabt habe, sowie ein schwarzes Höschen mit offenem Schritt und ledernem Maulkorb der Ursula Gerdes, die als erste Prostituierte das Kölner Eros-Center bezog58. So verbinden Spoerris Assoziationsketten sich über Jahrhunderte und verkuppeln sich wiederum mit anderen Assoziationsketten.59 Bazon Brock legt dar: Daniel Spoerri „[…] konstruiert [dabei, A. C.] nicht wissenschaftlich eine Ordnung der Dinge, sondern verflicht die Erzählungen über sie zu einem

55 | „Kommen die fremdesten Dinge, so schrieb Novalis, durch einen Ort, eine Zeit, eine seltsame Gelegenheit zusammen, so entstehen wunderliche Einheiten und eigentümliche Verknüpfungen und eines erinnert an alles…“ Martin Zeiller zitiert Novalis: Musée sentimental – Oberfläche, Organisation, Obszönität, Magisterarbeit am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen. Tübingen 1986, S. 13. 56 | Vgl. Aleida Assmann zitiert Ilja Kabakow: Erinnerungsräume. München 1999, S. 396. 57 | Anhand der drei Ursulas öffnet sich auch eine Öbszönitätsdebatte, die bereits im Rahmen der sexuellen Befreiung in den sechziger Jahren ihren Lauf genommen hatte und von Spoerri im Musée Sentimental aufgegriffen wird. Zeiller legt dar: „Im „Musée sentimental de Prusse“ befindet sich so eine ’Vorrichtung zum Festhalten eines Fischblasenkondoms’, ’Klosettpapier fürs Feld in grauer Verpackung’, darauf geschrieben: „Das Allernötigste für unsere Soldaten im Felde“, eine ’weibliche Wachsfigur zur Demonstration von Schnürfurchen nach Korsettragen’, Objekte, die in sexuellem und exkrementellen Kontext stehen.“ Martin Zeiller: Musée sentimental – Oberfläche, Organisation, Obszönität, Magisterarbeit am Ludwig-UhlandInstitut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen. Tübingen 1986, S. 68. 58 | Vgl. ebd., S. 67. 59 | Vgl. Georg Jappe: Geschichte als Flohmarktbewältigung: Musée Sentimental de Cologne. In: Kunstnachrichten (1979), H. 6, S. 149-156: S. 153.

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Reigen der Bilder, Visionen, Spekulationen, wie sie der Mythos, die Märchen und Sagen des anonymen Volksmundes vortragen.“60

Die in der Objektgegenüberstellung erzeugten Plurivalenzen und Kontrafakturen sowie die Abkehr von einer wissenschaftlich historiographischen Darstellung, ermöglichen Spoerri verschiedene auch ironische Lesarten städtischer Geschichte. 61 Im Kontrast dazu sind die Museen unserer Gegenwart durch Ordnung der Objekte in konkrete Sparten und Epochen sowie eine spezifische Beweisführung geprägt. 62 Die Präsentation der Exponate ist in der Regel nicht auf die Entwicklung von Assoziationen oder spekulativen Anteilen ausgelegt 63, sondern auf ein reines Sortieren 64 nach Epoche, Persönlichkeit oder Stil, wodurch der Sammlung ihre Freiheit entzogen wird. Dieses Prinzip läuft diametral zu einem Begriff des Sammelns, der sich als spielerische Aktivität definiert. Sammeln als freie und nicht immer zweckgebundene

60 | Bazon Brock: Was ist ein ‚Musée sentimental‘? (http://www.bazonbrock.de/werke/ detail/?id=213, zuletzt abgerufen 31.05.2014). 61 | Vgl. Gottfried Korff: Bildwelt Ausstellung – Die Darstellung von Geschichte im Museum. In: Orte der Erinnerung, hg. von Ulrich Borsdorf, Heinrich Theodor Grütter. Frankfurt a. M./ New York 1999, S. 319-337: S. 329. 62 | Im Zuge der Aufklärung begannen sich Spezialsammlungen zu etablieren, womit die Kunst- und Naturalienkammer (als Archetyp des Musée Sentimental ) allmählich verschwand. 63 | „Das Musée Sentimental ist ein Künstlermuseum. ›Normale‹ Museen historischen Inhalts sind meist wissenschaftlich ausgerichtet, vermitteln den aktuellen Kenntnisstand der Geschichtswissenschaft und stellen ihr Exponate modo analytico [Herv. im Orig.], nämlich systematisch und chronologisch aus. Das Musée Sentimental funktioniert dagegen rein assoziativ; heterogene Objekte werden in unterschiedlicher Weise zusammengestellt. Das Prinzip der Chronologie ist zwar vorhanden, ist aber nicht strukturdominant.“ Gottfried Korff: Interview. »Es leistet viel, weil es viel zulässt«. In: Musée Sentimental 1979. Ein Ausstellungskonzept, hg. von Anke te Heesen, Susanne Padberg. Ostfildern 2011, S. 102-118: S. 103 f. 64 | Siehe dazu u. a. Marie Louise von Plessen: Zum Verhältnis von historischem Museum und Musée Sentimental. In: Entwurf zu einem Lexikon eines Musée Sentimental de Cologne: Reliquien und Relikte aus zwei Jahrtausenden „Köln Incognito“ nach einer Idee von Daniel Spoerri, hg. von Wulf Herzogenrath. Köln 1979, S. 15-16: S. 15.

Das Sentimentale im musealen Kontext

Unternehmung ist ebenso wie das Spiel geprägt durch Chaos 65, Lust und Kreativität. Es ist Spoerris erklärtes Ziel, mit dem Musée Sentimental der Vereinzelung entgegenzuwirken und über die gezeigten Gegensätze „[…] zurück zu einer allgemein menschlichen Dimension aus den verschiedenen Spezialisierungen“66 zu gelangen. Der Künstler hält fest: „Im Projekt „Le Musée Sentimental de Cologne“ versuchten wir, eine Stadt in ihren wesentlichen Merkmalen zunächst mit Stichworten zu erfassen und wieder im Sinne einer alten Universalkunst dilettierend zwar, also mit viel Freude und Spaß an der Sache, aber vielleicht manchmal ohne die nötige Sachkenntnis (was unsere Ungehemmtheit förderte) sowohl historisch als auch phänomenologisch das Stichwort „Köln“ in seiner ganzen Vielfältigkeit und Breite auszuloten und vielleicht sogar mit oder anhand dieser Funde, die wir machen würden, die Identität dieser Stadt zu finden.“ 67

Das Musée Sentimental wendet sich dem städtischen Fragment zu und versucht – ausgehend von den Kunst und Wunderkammern – ein universales Bild der Stadt zu versammeln. Der Fokus liegt auf der Beziehungsbildung, als besonderer Wirkung einer universalen Zusammenstellung. Im Musée Sentimental wird phänomenologische gearbeitet und daher auch alles gesammelt und ausgestellt, was einen Bezug zur lokalen Stadtgeschichte hat. Die mit den Dingen verwobenen Anekdoten und geschichtlichen Fakten werden durch Addition der Geschichten von Menschen und Orten gebildet. Der Organismus Stadt wird lebendig durch die menschlichen Zeugnisse und Erzeugnisse, die das Musée Sentimental präsentiert.

65 | Chaos steht im Zusammenhang mit dem Musée Sentimental nicht für Strukturlosigkeit oder entropische Vermischung, sondern für Komplexität. Vgl. Bianca Theisen: Chaos – Ordnung. In: Ästhetische Grundbegriffe Studienausgabe, 7 Bde., Bd. 1 Absenz bis Darstellung, hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhardt Steinwachs, Friedrich Wolfzettel. Stuttgart/Weimar 2000/2010, S. 751-772: S. 765 f. 66 | Daniel Spoerri: Einleitung. In: Entwurf zu einem Lexikon eines Musée Sentimental de Cologne: Reliquien und Relikte aus zwei Jahrtausenden „Köln Incognito“ nach einer Idee von Daniel Spoerri, hg. von Wulf Herzogenrath. Köln 1979, S. 8-11: S. 10. 67 | Ebd.: S. 9.

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Ich möchte noch einmal zurückkommen zum Prinzip der Erinnerungskette, anhand derer sich in Spoerris Musée ein weiteres Phänomen des anekdotischen Arbeitens offenbart: die Täuschung. Vor der Folie des sentimentalen Ansatzes von Spoerri, lässt sich dies gut mit der «Kette der Gefühle» (la chaine des sentiments) nach Jean-Jacques Rousseau veranschaulichen. Dieser legt dar: „Ich habe nur einen treuen Führer, auf den ich zählen kann, das ist die Kette der Gefühle, die die Entwicklung meines Daseins begleitet haben, und durch sie die der Ereignisse, die ihre Ursache oder Wirkung gewesen sind. Ich vergesse leicht mein Unglück, aber ich kann meine Fehler nicht vergessen, und noch weniger vergesse ich meine guten Gefühle. Ihre Erinnerung ist mir zu teuer, als daß sie je aus meinem Herzen schwinden könnte. Ich kann Lücken in den Tatsachen lassen, sie verschieben, mich in den Daten irren, aber ich kann mich nicht über das täuschen, was ich gefühlt habe [Herv. im Orig.].“68

In der Definition Rousseaus zeigt sich ein wesentliches Charaktermerkmal des Musée Sentimental, die Akzeptanz von Verschiebungen und Täuschungen im Erinnerten. Das unmittelbar mit dem Erinnerten verbundene Gefühl jedoch wird als prinzipiell richtig und wahr angesehen. So steht das Sentiment, bzw. die gefühlte Qualität der Objekte im Musée Sentimental weit über den beweisbaren historischen Fakten und eröffnet so ein Spannungsfeld zwischen Realität und Fiktion, Wahrheit und Fake. Wulf Herzogenrath legt dar: „Was ist eine „echte Reliquie“? Ist nicht die emotionale Bindung zu einem Objekt eine stärkere als eine intellektuelle oder ästhetische? Was unterscheidet die Rosenschere Adenauers von einer anderen? Diese hier kurz angedeuteten Fragen gehören zu dem Museumskonzept Daniel Spoerris und geben der Versammlung solch traditionsträchtiger, schwergewichtiger, symbolischer, trivialer, heiliger, banaler Gegenstände einen künstlerischen Zusammenhang: Die Frage nach der Kunst, so überf lüssig sie oftmals ist: hier kann sie beantwortet werden. Erst im Kopf des Betrachters entsteht die Vorstellung von der Bedeutung des Objektes, das er sieht. Jeder einzelne Betrachter hat sein individuelles Koordinatensystem,

68 | Aleida Assmann zitiert Jean-Jacques Rousseau: Erinnerungsräume. München 1999, S. 252.

Das Sentimentale im musealen Kontext

mit dem er die Sprache der Bilder verstehen lernt und in das er das gesehene Objekt einordnen kann. Ist es ein sentimentales Gedankenobjekt, ein verehrungswürdiges Glaubensobjekt oder ästhetisches Kunstwerk, vielleicht sogar Symbol für neue Taten?“69

Dieses hier definierte Verhältnis von Vernunft und Magie 70 drückt sich im Musée Sentimental durch den erforderlichen Glauben an die einzelnen Exponate aus. Auch eine Reliquie ist nur so lange heilig, wie der Mensch an sie glaubt. „[…] die verehrte Locke der Geliebten verkommt zu einem Staubflusen, der keine Sentimentalität mehr birgt, sobald die Liebe vergangen ist.“71 Spoerri hebt jedoch hervor, dass die Geschichten des Musée Sentimental sich durch eine „virtuelle Wahrheit“72 auszeichnen. Das „es hätte stimmen können müssen“73 war entscheidend, da dies auch ein Charakteristikum der Anekdote an sich ist. Was anekdotisch überliefert ist, wird als gesichert angesehen.74 Hier zeigt sich der wichtige Anteil von Marie-Louise von Plessen, die für das Musée Sentimental de Cologne die Anekdoten und Objektgeschichten recherchierte. Da dies in einer Art und Weise geschehen musste, die kategorial scharf gedacht und selektiert war 75, arbeitete sie hierzu

69 | Wulf Herzogenrath: Daniel Spoerri und Künstler-Museen. In: Entwurf zu einem Lexikon eines Musée Sentimental de Cologne: Reliquien und Relikte aus zwei Jahrtausenden „Köln Incognito“ nach einer Idee von Daniel Spoerri, hg. von Wulf Herzogenrath. Köln 1979, S. 1115: S. 14. 70 | Siehe dazu u. a. Daniel Spoerri: Einleitung. In: Entwurf zu einem Lexikon eines Musée Sentimental de Cologne: Reliquien und Relikte aus zwei Jahrtausenden „Köln Incognito“ nach einer Idee von Daniel Spoerri, hg. von Wulf Herzogenrath. Köln 1979, S. 8-11: S. 10. 71 | Ebd., S. 9. 72 | Daniel Spoerri: Interview. »Man muss es finden! «. In: Musée Sentimental 1979. Ein Ausstellungskonzept, hg. von Anke te Heesen, Susanne Padberg. Ostfildern 2011, S. 32-45: S. 43. 73 | Ebd. 74 | Vgl. ebd. 75 | Vgl. Marie-Louise von Plessen: Interview, »Man hatte das Gefühl, man geht jetzt fischen, jagen sammeln«. In: Musée Sentimental 1979. Ein Ausstellungskonzept, hg. von Anke te Heesen, Susanne Padberg. Ostfildern 2011, S. 16-32: S. 18.

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vorwiegend mit Primärquellen.76 Die von ihr recherchierten Textstücke ließen das Objekt authentisch erscheinen und entzogen es der Gefahr der Lächerlichkeit 77, die in den exponierten Trivialobjekten steckte. Von Plessen dazu: „Ein Schlüssel ist kein Schlüssel mehr, wenn er zur Bastille gehört. Eine Stricknadel ist ein Gegenstand von eigener Aura, wenn damit Marie Antoinette geklappert hat, und ein Rasierzeug löst anekdotischen Schauder aus, wenn es aus dem Besitz Dantons stammt. Gegenstände – so vereinzelt und zueinander in Text und Kontext gestellt – erzählten Geschichte durch Geschichten.“ 78

Die Fiktion führt hier über die verbürgte Quelle hinaus und erzeugt eines Lebendigkeit des Objektes und seiner Geschichte.79 Die erlebte Einzigartigkeit des Objektes erzeugt seine Vollkommenheit und lässt den Diskurs über wahr und unwahr in den Hintergrund treten.80

76 | „[…] Virginia Woolf: «Fiction must stick to facts, and the truer the facts the better the fiction. »“ Aleida Assman zitiert Virginia Woolf. In: Geschichte im Gedächtnis. München 2007, S. 151. 77 | Vgl. Marie-Louise von Plessen: Interview, »Man hatte das Gefühl, man geht jetzt fischen, jagen sammeln«. In: Musée Sentimental 1979. Ein Ausstellungskonzept, hg. von Anke te Heesen, Susanne Padberg. Ostfildern 2011, S. 16-32: S. 16 f. 78  |  Marie-Louise von Plessen: Interview mit Lorenz Tomerius (http://www.zeit.de/1993/22/ das-glueck-zu-finden-die-lust-zu-zeigen, zuletzt abgerufen 04.02.2013). 79 | Vgl. Aleida Assmann: Geschichte im Gedächtnis. München 2007, S. 150. 80 | „Epochen, Stile, Modelle und Serien, Wertvolles und Kram, Echtes und Plunder – nicht von all dem ändert seine erlebte Einzigartigkeit: Es ist weder echt noch unecht, es ist »vollkommen«; es ist weder Inneres noch Äußeres, es ist ein »Alibi«; es ist weder Synchronie noch Diachronie (es stellt sich weder in eine räumliche noch in eine zeitliche Struktur), es ist anachron.“ Jean Baudrillard: Das System der Dinge. Über das Verhältnis zu alltäglichen Gegenständen. Frankfurt a. M., 3. Auflage 2007, S. 104.

Das Sentimentale im musealen Kontext

6.3 Fake und hypothetische Geschichtsschreibung als künstlerische Strategie Die massenhafte Verbreitung von Kunstkopien oder auch Designrepliken erfüllt heute zunehmend den Zweck der Inszenierung des eigenen Ichs.81 Das mit dem gefälschten Objekt verknüpfte Image oder sein scheinbar kultureller Wert sollen zur Individualisierung und Identitätsinszenierung seines Käufers beitragen: „Warum geben wir uns der Illusion so gerne hin? Weil wir es gar für echt halten? Nein, bestimmt nicht. Vielmehr ermöglichen uns die Reproduktions- und Imitationstechniken etwas, was ein barocker Feudalherr mit seinem Schloss und seinem Kabinett repräsentieren konnte: Universalismus, Totalität und Dekor.“82

Schmid zeigt hier auf, dass die Prestigeträchtigkeit der Dinge und das ihnen anhaftende Image immer für die Anfälligkeit des Menschen sorgen werden, sich einer Illusion oder Fälschung hinzugeben. Gerade weil der Schein in unserer Konsumgegenwart eine so wichtige Rolle spielt, sind die konzeptionellen Strategien des Musée Sentimental auch im Blick auf den Umgang mit Fälschungen nach wie vor von aktueller Relevanz. Das Musée Sentimental bewegt sich an den Grenzlinien von Fiktion und Wahrheit und verweist auf den demokratischen Rezeptionsansatz, selbst zu entscheiden, was wahr oder was falsch sei. Volker Steffen bemerkt: „Verklärende Erinnerung hat nach dem Prinzip des Sentimentalen ihre komplementierende Entsprechung im utopischen Design. Idealisierte Vergangenheit wird hoffnungsvoll als Vision in die Zukunft projiziert. Wir haben es bei dieser temporalen Strategie des Sentimentalen mit einem duplizitären Prinzip der Verfälschung zu tun. Zeitgleich gesehen

81 | Historisch betrachtet geht die Fälschung von Objekten im Ausstellungskontext bis ins

Neolithikum zurück, in dem man Muschelgeldimitationen aus Stein und Knochen mit in Gräber gab. Grabbeigaben wurden durch Nachbildungen oder Modelle ersetzt, was Pomian darauf zurückführt, dass die Objekte nie gebraucht, sondern lediglich betrachtet werden würde. Demzufolge wurden Menschen- oder Tieropfer durch Figuren getauscht. Vgl. Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin 1998, S. 22. 82 | Erik Schmid: Echt und falsch. Die Wahrheit im Medienzeitalter. Heidelberg 2000, S. 58.

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bewegt sich das Sentimentale spielend in den beiden denkbaren Formen des Nicht-Seienden, womit sich auch schon ein weiterer bestimmender Zug des Sentimentalen andeutet: Das, was nicht ist, allemal wichtiger zu nehmen als das, was ist. Die Realität der Gegenwart wird auf diese Weise doppelt desavouiert.“83

Steffen macht hier sichtbar, dass der sentimentale Fake 84 sich nicht nur – wie in Spoerris Musée – auf die Fälschung von Objekten bezieht, sondern vielmehr die sentimentale Erinnerung oder Assoziation selbst eine Verfälschung darstellt.85 Dadurch, dass sie sich auf das Nicht-Seiende bezieht und einen nostalgischen Blick in das Vergangene forciert, utopisiert oder verfälscht sie die vergangene Realität. Damit wird das sentimental Assoziative selbst zu einer Strategie des Fake. Im Musée Sentimental führt der sentimentale Blick in die Vergangenheit 86 zu einer hypothetischen Geschichtsschreibung sowie gleichfalls zu einer sentimentalisierten Wahrnehmung der Gegenwart. Jedoch ist das Sentimentale in Spoerris Kunstwerk mehr als nur Trugbild.

83 | Volker Steffen: Unfähigkeit zu vergessen. Über das sentimentale Prinzip der Erinnerung. Bielefeld 2012, S. 26. 84 | „Fake und Fälschung, werden etwa seit Anfang der 1990er Jahre im Deutschen synonym verwendet – »Fake« ist trendy und kürzer. Das augenzwinkernd implizierte konspirative Wissen um einen geschickten, witzigen Akt der Täuschung scheint ein »Fake« zu bezeichnen, während nach der Entschleierung eines Betrugs eher verurteilend von »Fälschung« die Rede ist.“ Stefan Römer: Der Begriff des Fake, Phil. Diss. Institut für Kunstgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin. Berlin 1998, S. 7. 85 | Hume hingegen hat festgehalten, dass das eigene Gefühl – womit in der Rezeption der Exponate des Musée Sentimental gespielt wird – immer im Recht sein müsse. Vgl. Brigitte Scheer: Gefühl. In: Ästhetische Grundbegriffe Studienausgabe, 7 Bde., Bd. 2 Dekadent bis Grotesk, hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhardt Steinwachs, Friedrich Wolfzettel. Stuttgart/Weimar, 2001/2010, S. 629-661: S. 637. 86 | Volker Steffen weist darauf hin, dass Vergangenheit im sentimentalen Sinne immer einer Phantasmagorie entspräche. Der nostalgische Blick auf das Vergangene erkläre sich dabei aus der schmerzhaften Erkenntnis der Differenz. Das Sentimentale definiert Steffen im Rückschluss als Selbstbetrug über eine illusionistische Vergangenheit, als ein trügerisches Beruhigungsmittel, das ein verstelltes Bild der Welt erzeuge. Volker Steffen: Unfähigkeit zu vergessen. Über das sentimentale Prinzip der Erinnerung. Bielefeld 2012, S. 29.

Das Sentimentale im musealen Kontext

In Spoerris Musée kommt dem Fake ebenso große Bedeutung zu wie der Reliquie. Etwa ein Fünftel der 250 Objekte im Musée Sentimental de Cologne waren museumsgerecht gefälscht.87 Dana Cebulla folgend traf dies ebenso auf einige der zu den Objekten gehörigen Geschichten zu. Cebulla im Interview über das Musée Sentimental de Cologne: „[…] Gab es in eurer Ausstellung auch Objekte, die gefälscht waren? [Cebulla:] Ja, es gab ein paar Sachen. Das waren größenteils die Ideen von Daniel Spoerri, die zudem sehr witzig waren. Hat sich jemand darüber aufgeregt? [Cebulla:] Es war ja bekannt, dass es gefälschte Sachen in der Ausstellung gibt. Das wusste man. Das war von Anfang an klar. Und die Leute konnten ja gucken, was sie denken, was gefälscht ist – Klaus der Geiger zum Beispiel. War damals so eine Ikone. Den hat ein Student reingebracht. Das weiß ich noch. Oder Nippes. Das war auch so eine Geschichte, die unecht war. Hatten wir da Spaß! Die Geschichte war gefälscht?! Interessant! Das ist das erste Mal, dass das zu uns durchdringt. Bisher hieß es immer, dass lediglich einzelne Objekte gefälscht seien, die Anekdoten dazu jedoch allesamt wahr… [Herv. im Orig.] 88

87 | Vgl. Georg Jappe: Geschichte als Flohmarktbewältigung: Musée Sentimental de Cologne. In: Kunstnachrichten (1979), H. 6, S. 149-156: S. 155. Ute Kaltwasser schreibt in dem Artikel des Kölner Stadtanzeigers vom 3./4. März 1979: „Aus dem Alltag der alten Stadt“ hingegen von 20 % gefälschter Objekt samt dazugehöriger Beschreibungen. 88 |  Dana Cebulla: Interview. »Wir haben gearbeitet wie die Hafennutten«. In: Musée Sentimental 1979. Ein Ausstellungskonzept, hg. von Anke te Heesen, Susanne Padberg. Ostfildern 2011, S. 60-74: S. 69. Stephan Andreae hingegen äußert sich anders als Cebulla zur hundertprozentigen Authentizität der Anekdoten: „Die Texte sind alle authentisch. Wir haben nicht selber einen Text oder eine andere Quelle darunter geschrieben, das hätte niemand verstanden. Wir hatten zum Beispiel Flohfallen in Verbindung mit Casanova ausgestellt – diese gehörten zu Spoerris Lieblingsobjekten. Diese Flohfallen trugen die Damen früher unter den Röcken, damit sie nicht gebissen wurden. Da war ein Lockstoff drin, und dann krabbelten die Flöhe hinein und konnten nicht mehr raus. Die Flohfallen sind ganz kunstvoll gearbeitet, da gibt es ganz tolle Sammlungen. Und natürlich hatten diese Flohfallen nichts mit Casanova zu tun, aber der kannte sie mit Sicherheit. Wir haben ihm dann in der Anekdote ein Verhältnis mit einer Bürgermeister-Ehefrau untergeschoben, die Geschichte ist eventuell sogar wahr, aber das müsste man jetzt wirklich seriös recherchieren.“ Stephan Andreae: Interview. »Pass auf, nicht alles ist echt! «. In: Musée Sentimental 1979. Ein Ausstellungskonzept, hg. von Anke te Heesen, Susanne Padberg. Ostfildern 2011, S. 45-60: S. 51.

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Fiktion und Wahrheit gehen im Musée Sentimental eine Symbiose ein. Daniel Spoerri beschreibt die fiktiven Objekte des Musée als Wunschobjekte, da die Dinge dazu da waren, die recherchierten Anekdoten zu illustrieren. Vor diesem Hintergrund sei es Spoerri folgend egal, ob man ein Original oder eine Fälschung vor sich habe. 89 Dies lässt sich auch anhand des Simulationsbegriffs bei Jean Baudrillard darlegen, der hervorbringt, dass sich die Simulation nicht mehr auf ein referentielles Wesen, ein Territorium oder eine Substanz bezieht, sondern dass sie das Reale ohne Ursprung oder Realität generiert.90 Bazon Brock unterstützt dies mit folgender Definition zum Begriff des Fake: „Fakes sind Fälschungen, die darauf abzielen, als solche erkannt zu werden, um unsere Wahrnehmung an den minimalsten Differenzen zwischen Original und Nachahmung zu schärfen – allerdings unter der anspruchsvollen Voraussetzung, daß es für sie keine Originalvorlage gibt, sondern dass der Fälscher eine originale Fälschung leistet, also doch ein Original und keine Fälschung produziert.“91

Das Simulakrum oder der Fake verstehen sich hier also als Original ohne realen Ursprung/Vorlage.92 Wulf Herzogenrath weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass sich die Fälschungen im Kölner Musée Sentimental dem Rezipienten auf den ersten Blick als solche offenbarten.

89 | Vgl. Daniel Spoerri: Interview. »Man muss es finden! «. In: Musée Sentimental 1979. Ein Ausstellungskonzept, hg. von Anke te Heesen, Susanne Padberg. Ostfildern 2011, S. 32-45: S. 39. 90 | Vgl. Jean Baudrillard: Agonie des Realen. Berlin 1987, S. 7. 91 | Bazon Brock: Fake – Fälschung – Täuschung. In: Wa(h)re Kunst. Der Museumsshop als Wunderkammer. Theoretische Objekte, Fakes und Souvenirs (Werkbund-Archiv 26). Frankfurt/ Main 1997, S. 132 f. 92 | „Wenn also der Begriff der Mimesis das »System von Vorbild und Kopie, Original und Fälschung, Replikation ersten und zweiten Grades« bezeichnet, so definiert sich Simulation in genauem Gegensatz dadurch, daß hier keine »Möglichkeit der Differenzierung zwischen Original und Kopie« mehr besteht. In der »Welt des Simulakrums« implodiert jede solche Unterscheidung: »Der Effekt des Realen ersetzt das Reale selbst. «“ Bernhard Dotzler: Simulation. In: Ästhetische Grundbegriffe Studienausgabe, 7 Bde., Bd. 5 Postmoderne bis Synästhesie, hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhardt Steinwachs, Friedrich Wolfzettel. Stuttgart/Weimar 2003/2010, S. 805-840: S. 511.

Das Sentimentale im musealen Kontext

Fakes wurden ihm folgend nur dann eingesetzt, wenn es keine andere Wahl gab,93 wie z.B. beim Exponat „Erbse“, das zum Schlagwort „Heinzelmännchen“ in die Ausstellung eingebracht wurde. So konnte es sich bei der Erbse, auf der die Kölner Heinzelmännchen ausgerutscht seien, nur um einen Fake handeln.94 Der Fake spielt hier mit dem, was Benjamin als Aura definiert und bricht als künstlerische Strategie mit der „Selbstverständlichkeit diskursiver Prozesse“95. Stefan Römer dazu: „Im Gegensatz zur traditionellen Kunstfälschung handelt es sich bei der hier vorgeschlagenen Konzeption von Fake um eine künstlerische Strategie, die sich von vornherein selbst als Fälschung bezeichnet; insofern ist die juristisch verfolgte Täuschungsabsicht mit Betrugsvorsatz für das Fake weitgehend irrelevant. Daraus läßt sich allerdings keine Fixierung auf eine rein ästhetische Rezeption ableiten, die eine künstlerische Autonomie voraussetzte.“96

Wie Stefan Römer hier herausstellt, kann auch im Zusammenhang des Fake mit dem Musée Sentimental von einer künstlerischen Strategie gesprochen werden, um den Rezipienten in den Interpretationsprozess mit einzubeziehen. Der Fake wird hier zur partizipativen Methode bzw.

93 | Vgl. Wulf Herzogenrath: Interview. »Das müssen wir im Kunstkontext tun«. In: Musée Sentimental 1979. Ein Ausstellungskonzept, hg. von Anke te Heesen, Susanne Padberg. Ostfildern 2011, S. 74-89: S. 81. 94 | „Ist ein Wunschobjekt nicht existent oder nicht erreichbar oder wie eine Reliquie multipel, wird ein Fake zwingend und ist kein moralischer kultureller Betrug.“ Susanne Padberg: Vom Fallenbild zum Bilderfall: Wunschobjekt, Fake und die Schriftlichkeit als Objekt. In: Musée Sentimental 1979. Ein Ausstellungskonzept, hg. von Anke te Heesen, Susanne Padberg. Ostfildern 2011, S. 166-182: S. 171. 95 | „In den heutigen bürgerlichen Gesellschaften wird Macht sehr stark auf diskursivem Wege ausgeübt und legitimiert. Fakes sind ein Versuch, dieses Funktionsprinzip der Macht zu stören und ihre Legitimation zu beschädigen, indem in ihrem Namen falsche, gezielt modifizierte oder auch schlicht sinnlose Informationen verbreitet werden. Dadurch soll die Selbstverständlichkeit der diskursiven Prozesse aufgebrochen werden, in denen sich Macht konstituiert und produziert.“ Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Drei Studien zur Kunstsoziologie, Frankfurt a. M. 1963, S. 11. 96 | Stefan Römer: Der Begriff des Fake. Phil Diss. Institut für Kunstgeschichte der HumboldtUniversität zu Berlin. Berlin 1998, S. 7.

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künstlerischen Strategie. Spoerri verfolgt dabei keine Täuschungsabsicht sondern erschafft Objekte ohne Ursprung. Es wurde keine Erbse gefälscht, sondern vielmehr ihre Bedeutung. Der Fake besteht in der inhaltlichen Aufladung. Die unterschiedlichen Verständnis- und Auslegungsmöglichkeiten der Fakes im Musée Sentimental eröffnen dem Rezipienten diffizile Interpretationsmöglichkeit der dargestellten Stadt oder kulturellen Identität. Spoerri vertritt also einen deutlich anderen Wissenschafsbegriff als den der historischen Überprüf barkeit. Der besondere Reiz bestand in der Option des „hätte sein können“97. Georg Jappe dazu: „Die Dimension «es hätte sein können» geht über Nostalgie weit hinaus. Gerade weil es immer in Wahrscheinlichkeitsgrenzen bleibt, ist es keine Utopie in die Vergangenheit, sondern ein theatrum mundi von Satire und tieferer Bedeutung. Ein Auf leuchten, welche Dinge uns «in Wahrheit» am Herzen liegen, und Kritik daran.“98

Die durch den Fake hervorgerufene geheimnisvolle Aura provoziert im Falle der Erbse das „Staunen“ oder „sich wundern“ und ist als Methode auch in historischen Kunst- und Wunderkammern zu finden99, was hier in erster Linie durch die Exponierung exotischer und kurioser100 oder mythischer Objekte hervorgerufen wurde. Bazon Brock zum Moment des Staunens: „Schon alte Philosophenweisheit legt uns nahe, zunächst wieder das Staunen (Wundern) zu lernen, was nichts anderes meint als dazu fähig zu

97 | Vgl. Georg Jappe: Geschichte als Flohmarktbewältigung: Musée Sentimental de Cologne. In: Kunstnachrichten (1979), H. 6, S. 149-156: S.155. 98 | Ebd. 99 | Wulf Herzogenrath setzt das sich Wundern als Kategorie der Kunst- und Wunderkammern gleich mit dem Sentiment bei Spoerri. Vgl. Wulf Herzogenrath: Interview. »Das müssen wir im Kunstkontext tun«. In: Musée Sentimental 1979. Ein Ausstellungskonzept, hg. von Anke te Heesen, Susanne Padberg. Ostfildern 2011, S. 74-89: S. 79. 100 | „›Kurios‹ kann wie im Französischen ›curieux‹ aktivistisch im Sinne von ›neugierig, vorwitzig‹ und passivisch im Sinne von ›selten, merkwürdig, seltsam‹ verwendet werden […].“ Barbara Vinken: Curiositas/Neugierde. In: Ästhetische Grundbegriffe Studienausgabe, 7 Bde., Bd. 1 Absenz bis Darstellung, hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhardt Steinwachs, Friedrich Wolfzettel. Stuttgart/Weimar, 2000/2010, S. 794-814: S. 795.

Das Sentimentale im musealen Kontext

sein, etwas für allzubekannt Gehaltenes oder für unbedeutend Gehaltenes mit anderen Augen anzusehen und zu begreifen, also zu manipulieren.“101

Brock macht hier die Rolle des Auges deutlich, da das Sehen im Musée Sentimental oder auch die „Seh-Sucht“102 , um es mit den Worten von Marie-Louise von Plessen auszudrücken, eine essentielle Rollen spielen. Um dieser „Seh-Sucht“103 Genüge zu tun, nutzte Spoerri im Musée Sentimental Methoden der Relationalität im Bereich der Exponierung von Exponaten, die ihrerseits starke optische Reize durch ihre Kuriosität aussendeten. Das Musée Sentimental ist damit gewissermaßen auch ein Produkt der Medienkultur104, das dem Auge als Träger von Reizen

101 | Bazon Brock: Zur Rekonstruktion einer zeitgenössischen Kunst- und Wunderkammer. In: Entwurf zu einem Lexikon eines Musée Sentimental de Cologne: Reliquien und Relikte aus zwei Jahrtausenden „Köln Incognito“ nach einer Idee von Daniel Spoerri, hg. von Wulf Herzogenrath. Köln 1979, S. 18-28: S. 19. 102  |  Marie-Louise von Plessen: Interview mit Lorenz Tomerius (http://www.zeit. de/1993/22/das-glueck-zu-finden-die-lust-zu-zeigen, zuletzt abgerufen 04.02.2013). 103 | Ebd. 104 | Assman hebt hervor, dass die Medienkultur durch Kategorien bestimmt wird, die den Körper als Träger von Reizen ansprechen und neu zur Erscheinung bringen. Inzenierung, Theatralität und Performance spielen demnach eine entscheidende Rolle. Vgl. Aleida Assmann: Einführung in die Kulturwissenschaft. Berlin 2008, S. 121.

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eine besondere Rolle zukommen lässt 105. Unter Rückgriff auf die im Auge begründeten komplementären Wahrnehmungsweisen des ästhetischen und des empirischen Blicks wird hier auch kulturhistorisch gesehen eine Haltung deutlich, die das produktive Vermögen der Einbildungskraft fokussiert 106: „Beim Musée sentimental zeigt sich beim Umgang sowohl mit ‚falschen‘ als auch mit ‚echten‘ Objekten ein neuer Ansatz des Spekulativen, der Identifizierung, die etwas im Beschauer auslöst. “107

Die Auslösung, die Martin Zeiller hier benennt, wird in der vorliegenden Arbeit als die Pluralisierung historiographischer Darstellung durch individuelle Perspektiven verstanden. Das Musée Sentimental

105 | Der Prozess, das Auge auf die Spitze der Sinneshierarchie zu stellen und damit auch der Einbildungskraft mehr Bedeutung zuzumessen, begann in den Künstlerkreisen der Renaissance. Dem voraus ging eine kulturelle Umwertung des Gesichtssinns. Augustinus hatte in der christlichen Tradition noch empfohlen, das Auge als Einfallstorder Sünde zu schließen. Eher als Schwachstelle als als zuverlässige Zeugen der Wahrheit angesehen, forcierten die Augen Trugbilder und stimulierten niedrige körperliche Leidenschaften. Noch im 16. Jahrhundert war das Primat des Gehörs lebendig weil die Kirche ihre Autorität auf das Wort gründete: Glaube ist Hören: auditum verbi Dei, it est fidem. Vgl. ebd., S. 95 ff. „Dennoch gilt das Theater, das Theatralische, manchem Historiker als Bedrohung wissenschaftlicher Seriosität, als Panoptikum, welches mit allerlei Augenblendwerk vom ernsthaften Tun geschichtswissenschaftlicher Sinnbildung ablenkt, diese aber nicht befördert. Der Vorwurf des UnseriösTheatralischen ist auch einer der Gründe für das Mißtrauen mancher Historiker gegenüber dem Bild. Es lenke ab, weil es seine Botschaft verpacke und nicht in Form einer präzisen Lerndefinition artikuliere. Das Bild, so lautet der Vorwurf, sei unbestimmt, nicht überprüfbar, seine Information werde nicht in Eindeutigkeit übermittelt. Mancher Historiker sieht, kommen Bilder auf den Plan, den historischen Diskurs von „Vernunftdefiziten“ bedroht, die Nüchternheit des historisch-analytischen Blicks im Zauber ästhetischer Zeitimaginationen verloren.“ Gottfried Korff: Bildwelt Ausstellung – Die Darstellung von Geschichte im Museum. In: Orte der Erinnerung, hg. von Ulrich Borsdorf, Heinrich Theodor Grütter. Frankfurt a. M./ New York 1999, S. 319-337: S. 320. 106 |  Vgl. Aleida Assmann: Einführung in die Kulturwissenschaft. Berlin 2008. S. 99. 107 | Martin Zeiller: Musée sentimental – Oberfläche, Organisation, Obszönität, Magisterarbeit am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen. Tübingen 1986, S. 54.

Das Sentimentale im musealen Kontext

präsentiert materielle Reste des menschlichen Alltags im städtischen Raum und setzte das Persönliche/Subjektive dabei in den Fokus. Indem die Wahrheit im Auge des Betrachters liegt, werden Geschichte und Legende auf künstlerischer Ebene verbunden. Erik Schmid bestätigt in diesem Zusammenhang, dass das Falsche das Echte sogar überhaupt erst sichtbar mache.108 Übertragen auf den Kontext des Musée Sentimental hieße dies, dass die Geschichten des Stadtalltags die Stadt als Kunstwerk erst erschaffen. Die Fälschung als künstlerische Strategie, bei der das Objekt zum Simulakrum 109 wird, stellt im Musée Sentimental das Mittel einer hypothetischen Geschichtsschreibung 110 . Das Musée Sentimental spielt mit einem unkonventionellen Wahrheitsgehalt seiner Exponate und der Subjektivität des Rezipienten. Erinnerung als fundamentaler Bestandteil menschlichen Daseins gewinnt im Spoerrischen Ausstellungskonzept an Wichtigkeit.111 Bazon Brock zum Vergangenheitsbegriff im Musée:

108 | Vgl. Erik Schmid: Echt und falsch. Die Wahrheit im Medienzeitalter. Heidelberg 2000, S.12. 109 | „Simulation (frz. simulation): die Vortäuschung, die Verstellung von lat. simulatio: die Verstellung, die Heuchelei, die Täuschung, das Vorschützen (eines Sachverhalts), die Vorspiegelung, der Vorwand, der Schein, die Vorschiebung; lat. similis: ähnlich, gleichartig, gleich […] Simulacrum (frz. simulacre): das Trugbild, das Blendwerk, die Fassade, der Schein; von lat. simulacrum: das Bild, das Abbild, das Bildnis, die Nachbildung, das Gebilde, die Statue, das Götterbild, die Bildsäule, das Traumbild, der Schatten, das Gespenst. […] die entscheidende Dimension der Simulation ist die genetische Verkleinerung. Die Produktion des Realen basiert auf verkleinerten Zellen, Matritzen und Erinnerungen, auf Befehlsmodellen – ausgehend davon läßt es sich unzählige Male reproduzieren. Es muß nicht mehr vernünftig sein, da es nicht mehr an irgendeiner idealen oder negativen Instanz gemessen wird.“ Jean Baudrillard: Agonie des Realen. Berlin 1987, S. 6 ff. 110 | Als hypothetische Geschichtsschreibung definiere ich hierbei die Gedächtnisarbeit mithilfe von Fiktionalität. Geschichte wird in diesem Verständniskontext zum Entwurf. 111 | Die menschelnden Geschichten des Musée Sentimental eröffneten im Hinblick auf eine sich etablierende Alltags- und Erfahrungsgeschichte einen neuen historischen Zugang. Vgl. Gottfried Korff: Interview. »Es leistet viel, weil es viel zulässt«. In: Musée Sentimental 1979. Ein Ausstellungskonzept, hg. von Anke te Heesen, Susanne Padberg. Ostfildern 2011, S. 102-118: S. 104.

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„Im Unterschied zu epigonalen Traditionalisten und konservativen Traditionsfechtern entwickeln Avantgardisten neue Vergangenheiten unserer Gegenwart. „Utopische Vergangenheiten“ (Nikolaus Himmelmann) verdanken wir Künstlern wie A.R. Penck und Daniel Spoerri, die in einer Art von „experimenteller Geschichtsschreibung“ den Zusammenhang von Kulturen und Artefakten in Objekten realisierten.“112

Brock zeigt mit dem Begriff der „experimentellen Geschichtsschreibung“ auf, dass die Erinnerung oder persönliche Erfahrung des Rezipienten bei der Ausdeutung der Exponate im Musée Sentimental im Vordergrund steht. Der Rezipient bildet das informationszusammenführende Zentrum.113 Da das subjektive Gedächtnis den Interpretationsrahmen im Musée bildet, sei hier noch mit Blick auf den sentimentalen Zusammenhang darauf verwiesen, dass Jean Starobinski das Gefühl als das unzerstörbare Zentrum des Gedächtnisses betrachtet.114 Unter Rückgriff auf Rousseau beschreibt Starobinski das Sentiment als Kern einer Erinnerungskultur, wie es im Musée Sentimental anerkannt und als Strategie eingesetzt wird. So ist im Bereich der Objektwahrnehmung die affektiv emotionale Wirkung zentral. Geschichte wird im Musée Sentimental demnach nicht als intellektuelle Operation oder reine Rekonstruktion verstanden. Stattdessen steht das Gedächtnis mit seinen offenen Verwendungen und Manipulationen sowie sinnbildlichen Übertragungen und Projektionen im Vordergrund: „Das Gedächtnis ist das Leben: stets wird es von lebendigen Gruppen getragen und ist deshalb ständig in Entwicklung, der Dialektik des Erinnerns und Vergessens offen, es weiß nicht um die Abfolge seiner Deformationen, ist für alle möglichen Verwendungen und Manipulationen anfällig, zu langen

112 | Bazon Brock: Lustmarsch durchs Theoriegelände. Musealisiert euch!. Köln 2008, S. 197. 113 | Heidemarie Bennent-Vahle hält fest: „[…] wie sehr unser Leib das Zentrum des Fühlens ist. Emotionen gehen mit leiblichen Regungen eine unmittelbare Allianz ein. Weil das Fühlen tief in die Leiblichkeit eingelassen ist, besitzt es einen besonders hohen, »berückenden« Realitätsgrad. Das heißt: Leibempfindungen werden als konkret, intensiv und anhaftend erlebt, auch wenn sie einen eher diffusen, nicht scharf abgegrenzten Charakter aufweisen. Durch Empfindungen und Gefühle wird unleugbar, dass man seinen Leib nicht ablegen oder hinter sich lassen kann. Heidemarie Bennent-Vahle: Mit Gefühl denken. Einblicke in die Philosophie der Emotionen. Freiburg/München 2013, S. 113. 114 | Vgl. Jean Starobinski: Rousseau: eine Welt von Widerständen. München 1988, S. 294.

Das Sentimentale im musealen Kontext

Schlummerzeiten und plötzlichem Wiederaufleben fähig. Die Geschichte ist die stets problematische und unvollständige Rekonstruktion dessen, was nicht mehr da ist. Das Gedächtnis ist ein stets aktuelles Phänomen, eine in ewiger Gegenwart erlebte Bindung, die Geschichte hingegen eine Repräsentation der Vergangenheit. Weil das Gedächtnis affektiv und magisch ist, behält es nur die Einzelheiten, welche es bestärken: es nährt sich von unscharfen, vermischten, globalen oder unsteten Erinnerungen, besonderen oder symbolischen, ist zu allen Übertragungen, Ausblendungen, Schnitten oder Projektionen fähig. Die Geschichte fordert, da sie eine intellektuelle, verweltlichende Operation ist, Analyse und kritische Argumentation. Das Gedächtnis rückt die Erinnerung ins Sakrale, die Geschichte vertreibt sie daraus, ihre Sache ist die Entzauberung. […] Die Geschichte dagegen gehört allen und niemandem; so ist sie zum Universalen berufen. Das Gedächtnis haftet am Konkreten, im Raum, an der Geste, am Bild und Gegenstand. Die Geschichte befaßt sich nur mit zeitlichen Kontinuitäten, mit den Entwicklungen und Beziehungen der Dinge. Das Gedächtnis ist ein Absolutes, die Geschichte kennt nur das Relative.“ 115

Pierre Nora beschreibt das Gedächtnis als lebendig und offen für Deformationsprozesse. Es bildet sich stetig in der Gegenwart und neigt durch seine Projektionsfähigkeit auch zur Täuschung. Die Geschichte signiert er im Kontrast dazu als Entzauberung, als das Rationale und Abgeschlossene. Durch die Integration des Fake befördert das Musée Sentimental einen transformatorischen/gedächtnisorientierten Blick auf Geschichte und Alltagskultur. Bedingt durch die offensichtliche Veränderlichkeit in den gefälschten Objekten und ihren Geschichten kann, auch bezogen auf den im Musée transportierten Heimatbegriff, von einem prozessorientierten Konzept ausgegangen werden, das von der subjektiven Sicht/dem Gedächtnis des Rezipienten abhängt.

115 | Pierre Nora: Zwischen Geschichte und Gedächtnis, aus dem Französischen von Wolfgang Kaiser. Frankfurt a. M. 1998, S. 13 f.

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7  Kulturgeschichte des Musée Sentimental 7.1 Museale Wunder. Historische Kontexte des Musée Sentimental Der Begriff Museum stammt ab von den Tempeln der Musen, der griechischen und römischen Antike. Der bekannteste Musentempel1 ist das Museion von Alexandria 2, welches seit seiner Gründung 295 v. Chr. mit der benachbarten großen Bibliothek einst die gleichnamige Stadt zum geistigen Zentrum der antiken Welt machte. 3 Die Schätze griechischer Tempel sind die ersten Museen gegenwärtiger Kunst- und Nationalgeschichte. Pomian hält fest: „Gegenstände, die aus dem Kreislauf ökonomischer Aktivitäten herausgehalten wurden, sammelten sich jedoch nicht nur in den Tempeln an, sondern auch dort, wo die Machthaber residierten. Hierher brachten die Gesandtschaften ihre Geschenke, und manchmal wurden diese der Menge gezeigt, die bei der Ankunft der Botschafter zugegen war. Hierher strömten auch Tribut und Kriegsbeute. Alle diese Gegenstände, die gut geschützt in Schatzkammern verwahrt wurden, waren im allgemeinen

1 | „Der Begriff ,Museum‘ rührt von den Musen her, von denen die griechische Mythologie neun kannte, alle anmutigen Töchter des Zeus und der Mnemosyne. Sie galten als Schutzgöttinen der Künste und des geistigen Lebens. Vier von ihnen widmeten sich dem Gesang, der Flöte und dem Tanz, die anderen dem Epos, der Tragödie, der Komödie der Geschichte und der Astronomie. […] ,Musa‘ heißt die Sinnende, die Nachsinnende, während Mnemosyne, die Mutter der Musen, die Göttin der Erinnerung war. Ihre Kinder dienten zuallererst als Schutzgöttinnen der Rhapsoden, der fahrenden Sänger, die ihre Lieder bei Festlichkeiten ohne Textund Notenbücher auswendig vortragen mußten. So galt ihre Sorge der Gedächtniskraft, mit der allein sie ihr Repertoire erhalten konnten. Deshalb riefen die Rhapsoden die Musen an. Die Musen sind also, im Unterschied zur landläufigen Auffassung, nicht so sehr die Göttinnen der künstlerischen Inspiration, sondern Bewahrung und Weitergabe des kulturellen Erbes. […] Die Musen vermitteln nicht Eingebung, sondern Erinnerung.“ Waldemar Ritter: Deutschland – Kultur in Europa. Betrachtungen über das europäische Kulturerbe. Bonn 1999, S. 64 f. 2 | griech.: Musenheiligtum. 3 | Vgl. Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin, 1988, S. 23.

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[Fehler im Orig.] nicht zugänglich. Nur bei Festen und Zeremonien wurden sie zur Schau gestellt.“4

Die herrschenden Schichten sammelten bereits in der Frühzeit Informationen, Machtsymbole, Schätze und Verträge. Dies wird u. a. ersichtlich in den mesopotamischen Tempelarchiven (seit 3000 v. Chr.) sowie den Archiven der Kreter auf Knossos und der Hethiter bei Hattuscha nahe Ankara (um 1500 v. Chr.).5 Ebenso besaßen die Griechen häufig ein Thesaurio in ihren Tempelanlagen, das als Depot von Votivgaben und Kostbarkeiten fungierte.6 Am Eingang der Akropolis befand sich zudem im linken Flügel der Propyläen eine Pinakothek.7 Griechische wie auch römische Musentempel zeichneten sich durch Ansammlungen von Opfergaben aus, die dann auch ausgestellt wurden.8 In den Ausstellungen reihte sich sacrum an sacrum, um Unantastbarkeit und Allmacht der Götter zu demonstrieren.9 Das Entnehmen einer dieser Gegenstände galt als Sakrileg und konnte nur durch ein Volksdekret erlassen werden.10 Objekte oder Opfergaben, die sich in den Kultstätten befanden, waren endgültig aus einem alltäglichen Kreislauf entfernt und durften diesem – auch bei Beschädigung – niemals wieder zugeführt werden.11 Krzysztof Pomain definiert Sammlungen wie folgt: „(...) eine Sammlung ist jede Zusammenstellung natürlicher oder künstlicher Gegenstände, die zeitweise oder endgültig aus dem Kreislauf ökonomischer Aktivitäten herausgehalten werden, und zwar an einem abgeschlossenen, eigens zu diesem Zweck eingerichteten Ort, an dem die Gegenstände ausgestellt werden und angesehen werden können.“12

4 | Vgl. Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin, 1988, S. 26. 5 | Vgl. Klaus Schleicher: Zur Biographie Europas: Identität durch Alltagshandeln. Hamburg 2007, S.153. 6 | Vgl. ebd. 7 | Vgl. ebd. 8 | Vgl. Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin, 1988, S. 23. 9 | Vgl. ebd. 10 | Vgl. ebd., S. 24. 11 | Vgl. ebd., S. 23 f. 12 | Ebd., S. 16.

Kulturgeschichte des Musée Sentimental

Die Schatzkammern und Tempel bildeten den Ausgangspunkt, auf deren Boden sich schließlich auch eine kollektive Tradition und ein historisches Gedächtnis realisieren konnten. So stellen die Sammlungen der Frühzeit Klaus Schleicher folgend die Grundlage für die Herausbildung eines europäischen Selbstverständnisses bzw. seiner Bewusstseinsgeschichte.13 Als Archive bildeten sie die Voraussetzung zur Entfaltung von Erinnerungskultur und Geschichte.14 Dies ist u. a. darauf zurückzuführen, dass die Exponate authentische Zeugnisse der Vergangenheit sind, die die geschichtliche Distanz verringern und in ihrer Zusammenstellung ein historisches Wachstum präsentieren.15 Emile Durkheim folgend, haben Sammlungsarrangements erst zu den Kategoriesystemen geführt, mit denen Gesellschaften ihr Weltbild ordnen.16 Häufig wurden den Tempeln Teile von Kriegsbeuten zur Exponierung angeboten,17 weshalb Walter Benjamin darauf hinweist, dass jedes Dokument auch immer ein Zeugnis der Barbarei sei, da es im Prozess der Überlieferung häufig von dem Einen an den Anderen falle. 18

13 | Vgl. Klaus Schleicher: Zur Biographie Europas: Identität durch Alltagshandeln. Hamburg 2007, S. 154. 14 | „Das geschichtlich Neue, Aktuelle, Lebendige und Wirkliche kann nicht anders als durch den Vergleich mit dem Archivierten, Alten diagnostiziert werden. Und das bedeutet, dass die Funktion des Archivs nicht bloß darin bestehen kann, die Geschichte abzubilden, zu repräsentieren – die Erinnerungen an die Geschichte festzuhalten, wie diese »in der Wirklichkeit« stattgefunden hat. Vielmehr bietet das Archiv die Voraussetzung dafür, dass so etwas wie Geschichte überhaupt stattfinden kann – denn nur wenn das Archiv immer schon vorhanden ist, kann der Vergleich des Neuen mit dem Alten vollzogen werden, der die Geschichte als solche produziert.“ Boris Groys: Der submediale Raum des Archivs. In: Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten, hg. von Knut Ebeling, Stephan Günzel. Berlin 2009, S. 139-153: S. 140. 15 | Vgl. Adrian Stähli: Sammlungen ohne Sammler. Sammlungen als Archive des kulturellen Gedächtnisses im antiken Rom. In: Sammler – Bibliophile– Exzentriker, hg. von Aleida Assmann, Monika Gomille, Gabriele Rippl. Tübingen 1998, S. 55-87: S. 67. 16 | Vgl. Justin Stagl: Homo Collector: Zur Anthropologie und Soziologie des Sammelns. In: Sammler – Bibliophile– Exzentriker, hg. von Aleida Assmann, Monika Gomille, Gabriele Rippl. Tübingen 1998, S. 37-55: S. 43. 17 | Vgl. Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin 1988, S. 26. 18 | Vgl. Aleida Assmann zitiert Walter Benjamin: Geschichte im Gedächtnis. München 2007, S. 160.

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Die Zurschaustellung von Kriegsbeute erfolgte in diesem Zusammenhang auch, um auf die Bedeutung ihres ehemaligen Besitzers zu verweisen. Demütigung des Besiegten und Unterwerfung desselben waren dabei zielführend.19 Im Laufe des späten 2. und des 1. Jhd. v. Chr. änderte sich die Tradition der Überführung an Tempel. Feldherrn behielten Teile der praeda in eigenen privaten Sammlungen.20 Stähli unterstreicht: „Je besser die Staatskasse dastand, um so mehr gelangte Kriegsbeute in Privatbesitz: Da nunmehr das aerarium auf den Beuteerlös weitgehend verzichten konnte, verfügten die Feldherren über umfangreichere manubia , die dann auch durch Verkauf oder Schenkung breite Verteilung fanden.“21 [Herv. im Orig.]

Pomian definiert die römische Kriegsbeute gar als Ursprung von Privatsammlungen, aus denen sich schließlich auch Bibliotheken entwickelten. Klaus Schleicher dazu: „Bibliotheken entstanden in der Frühzeit z. T. auch infolge von Kriegszügen, z. B. wenn römische Heerführer (wie Sulla und Lucullus) griechische Bücher von ihren Feldzügen heimbrachten. Später betrachteten die römischen Kaiser die Einrichtung von Bibliotheken als Ausdruck ihrer Macht (z. B. Trajan). Ab dem 2. Jh. n. Chr. lösten dann christliche Akzentuierungen [Herv. im Orig.] die antike Ausrichtung ab.“ 22

Auch Pomian stellt er heraus, dass die bekanntesten und größten römischen Sammler allesamt Generäle oder Prokonsuln waren, deren Sammlungsgegenstände vornehmlich aus Plünderungen stammten.23 Die ersten Sammlungen dieser Art waren geprägt durch die absolute Zwecklosigkeit

19 | Siehe dazu u. a. Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin, 1988, S. 26. 20 | Vgl. Adrian Stähli: Sammlungen ohne Sammler. Sammlungen als Archive des kulturellen Gedächtnisses im antiken Rom. In: Sammler – Bibliophile– Exzentriker, hg. von Aleida Assmann, Monika Gomille, Gabriele Rippl. Tübingen 1998, S. 55-87: S. 68 f. 21 | Ebd., S. 69. 22 | Klaus Schleicher: Zur Biographie Europas: Identität durch Alltagshandeln. Hamburg 2007, S.127. 23 | Vgl. Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin 1988, S. 27.

Kulturgeschichte des Musée Sentimental

ihrer Objekte und eine dekadente Maßlosigkeit, was Preis und Wert der Gegenstände anbelangte.24 Im Laufe des ersten Jhd. v. Chr. kamen neue Schichten zu Vermögen, was zu einer sprunghaften Expansion des privaten Ausstellungsluxus und dem damit verbundenen Repräsentationsbedürfnis und Konkurrenzdruck führte.25 Kunsthändler sowie Antiquare sorgten dabei für ein spezialisiertes Angebot.26 Der Trend des privaten Sammelns in der Oberschicht verbreitete sich schließlich so stark, dass Vitruv zur Zeit des Römischen Reichs bereits in seinen Grundrissplänen einen Raum im Haus vorsah, der eigens für die Unterbringung von Gemälden und Skulpturen gedacht war.27 Der private Ausstellungsluxus führte so auch zu einem wachsenden Markt, der die gestiegenen Bedürfnisse der Sammler zu befriedigen suchte. So entstanden ab dem 2. Jh. v. Chr. im römischen Reich Kopistenwerkstätten, die versuchten, der wachsenden Sammelleidenschaft mit kostengünstigen Repliken entgegenzutreten.28 Bis ins 17. Jh. hinein konnte die Sammelleidenschaft nach Statuen, Medaillen oder Bildnissen nur auf diesem Wege befriedigt werden. Im Mittelalter besaßen Kirche und Adel große und wertvolle Sammlungen. Diese „[…] bestanden aus Reliquien, sakralen Gegenständen, mirabilia , [Herv. im Orig.] aus Gaben wie aus Kunstwerken, wobei das Material der Kunstwerke oft für wertvoller gehalten wurde als ihre Ausführung.“29

24 | Vgl. Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin 1988, S. 28. 25 | Vgl. Adrian Stähli: Sammlungen ohne Sammler. Sammlungen als Archive des kulturellen Gedächtnisses im antiken Rom. In: Sammler – Bibliophile– Exzentriker, hg. von Aleida Assmann, Monika Gomille, Gabriele Rippl. Tübingen 1998, S. 55-87: S. 70 f. 26 | Siehe dazu auch ebd. S. 71 f. 27 | Vgl. Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin 1988, S. 28. 28 | „Seit dem 2. Jh. v. Chr. arbeiteten Kopistenwerkstätten, die die römischen Interessenten mit Imitationen der auf dem Markt immer seltener und teurer werdenden griechischen

opera nobilia [Herv. im Orig.] versorgten […].“ Adrian Stähli: Sammlungen ohne Sammler. Sammlungen als Archive des kulturellen Gedächtnisses im antiken Rom. In: Sammler – Bibliophile– Exzentriker, hg. von Aleida Assmann, Monika Gomille, Gabriele Rippl. Tübingen 1998, S. 55-87: S. 72. 29 | Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin,1988, S. 60.

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Der einzige Sinn einer sakralen Sammlung bestand dabei im Betrachten und Huldigen der Objekte sowie der damit verbunden Vorstellungswelten, Überzeugungen oder Gottheiten.30 Julius von Schlosser legt dar: „Neben den geistlichen Schatzkammern der Kirchen, […] stellen sich seit dem hohen Mittelalter, in immer erkennbareren Zügen, die weltlichen Schatzkammern der Fürsten; sie sind im Grunde nicht wesentlich anders geartet als jene. Natürlich tritt das Profane, ihrer Bestimmung nach, in ihnen selbständiger und klarer hervor; aber gleichwohl nimmt sakrales, liturgisches Gerät, zu der nie fehlenden Hauskapelle gehörig, nehmen Reliquien aller Art einen breiten Raum ein.“ 31

Herrscher hatten mit den Sammlungen ein Vehikel, um die eigene Position zu stärken und auch den Zugang zu den Sammlungen für die Bevölkerung bzw. das Bildungsniveau zu beschränken. Ingo Herklotz folgend sammelten im 17. Jahrhundert die Aristokraten “per l´arte” und die Humanisten “per l´eruditione“. Die Sammlungen unterscheiden sich in diesem Zusammenhang durch den sozialen Status der Sammler und die inhärente Semiophorizität der Objekte.32 Klaus Schleicher hält fest: „Der 30-jährige Krieg führte dann zum Einbruch des erreichten Informationsniveaus und der Bibliotheksbestände – teils durch Brandschatzung und teils durch Raub. Die anschließend aufgebauten Hof bibliotheken (z. B. in Weimar oder Wolfenbüttel) wurden jedoch weniger als Studienplätze, denn als Repräsentationsräume – z. T. mit Raritätenkabinetten – konzipiert.“ 33

30 | Siehe dazu u. a. Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin,1988, S. 40 f. 31 | Julius von Schlosser: Die Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance. Braunschweig 1978, S. 28. 32 | Vgl. Aleida Assmann, Monika Gomille, Gabriele Rippl: Einleitung. In: Sammler – Bibliophile– Exzentriker, hg. von Aleida Assmann, Monika Gomille, Gabriele Rippl. Tübingen 1998, S. 7-21: S. 14. 33 | Klaus Schleicher: Zur Biographie Europas: Identität durch Alltagshandeln. Hamburg 2007, S. 130.

Kulturgeschichte des Musée Sentimental

Schleicher legt hier anhand von Bibliotheken dar, dass diese im Verlauf des 17. Jahrhunderts nicht vornehmlich Bildungs- sondern Repräsentationszwecken dienten.34 Zudem benennt er die Integration von Raritätenkabinetten. Diese bestimmten im 17. und 18. Jahrhundert mit den artverwandten Kunst- und Naturalienkammern weitestgehend die museale Landschaft. Bis zum 17. Jahrhundert gab es für das Bürgertum kaum eine Möglichkeit diese Sammlungen zu besichtigen.35 Als Gegenbewegung tauchten schließlich auch Naturaliensammlungen (per l´eruditione) im bürgerlichen Umfeld auf. Besonders Mediziner und Pharmazeuten taten sich hier als bedeutende Sammler hervor, die die Sammlungen zu Studienzwecken anlegten.36 Julius von Schlosser erklärt: „Aber wenn nicht nur die Apotheken, sondern auch die Schatzkammern des Wissens damaliger Zeit, die großen Bibliotheken mit solchem pittoresk, uns heute freilich altväterlich, zuweilen fast abgeschmackt anmutenden Durcheinander ausstaffiert wurden, so hat das einen ernsten Hintergrund. Denn diese spielende, dilettierende Neugier hat die wissenschaftliche Neugier, den Forschungstrieb mächtig angeregt und gefördert, und jene alten kuriosen Sammlungen sind eine [Fehler im

34 | „Ein weiterer Ordnungsaspekt hat zur Ausbildung der Kunst- und Wunderkammern geführt: Hier fanden die Dinge ihren Platz und wurden damit auch im Bewusstsein bzw. Gedächtnis des Besitzers und Initiators (dem Inventor ) [Her. im Orig.] sowie seiner Besucher verankert. Damit manifestierte sich gleichzeitig die Machtposition hochadliger Gastgeber, wie etwa der Dynastie der Habsburger, die über die prächtigsten Räume verfügten und somit ihre Sammlungsbesonderheiten in ein angemessenes architektonisches Ambiente einbetten konnten: Hier herrschten sie über ein symbolisch überhöhtes, nunmehr überschaubares Miniaturreich.“ Gabriele Beßler: Wunderkammern. Weltmodelle von der Renaissance bis zur Kunst der Gegenwart, Berlin 2009, S. 15. 35 | Für die Veränderung dieser Umstände mussten sich sowohl die sozialen als auch die politischen Anschauungen von Grund auf wandeln. Die abgeschlossene Aristokratie wurde vom abstrakten Staat und einer selbstbewussten Bevölkerung aufgebrochen. Vgl. Julius von Schlosser: Die Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance. Braunschweig 1978, S. 28. 36 | Siehe dazu u. a. Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln, Berlin 1988, S. 56 ff.

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Orig.] Lehrwert, ein schwerlich gering zu achtender Faktor im geistigen Leben Europas gewesen.“37

Aus dieser Feststellung lässt sich die Signifikanz privater Sammlungen des Bürgertums für die weitere Entwicklung musealer Konzeption und vor allem der Entstehung der Wunderkammern ableiten. In den Wunderkammern war das Streben nach Neuerkenntnis und spielerischem Lernen charakteristisch. Man versuchte globale Zusammenhänge in einem kleineren Kosmos darzulegen. Schon aufgrund der geringeren finanziellen Mittel konnten diese Sammlungen jedoch lange nicht mit fürstlichen Kollektionen konkurrieren. Die einzig wirklich öffentlichen Sammlungen waren zu diesem Zeitpunkt kirchlich und damit auch von klerikalen Interessen geprägt. Der Eröffnung des ersten Museums im Jahre 1675 (Elias Ashmole vermachte seine Sammlung der Universität Oxford zum Gebrauch durch Studierende)38 ging ein langer Prozess voraus. Die Entwicklung begann in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts mit der Bildung einer intellektuellen Mittelschicht aus Wissenschaftlern, Schriftstellern, Gelehrten und Künstlern.39 Pomian beschreibt die Ausgangssituation dieses Prozesses wie folgt: „In anderen Worten: zwei Gruppen, der Klerus und die Inhaber der Macht, haben ein Monopol auf die Semiophoren, kontrollieren den Zugang der Bevölkerung dazu und benutzen sie, um ihre beherrschende Position weiter zu verstärken. In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts beginnt ein Prozeß, der schließlich zur Auf lösung dieses Systems führen wird, um es durch ein anderes zu ersetzen. Neue soziale Gruppen bilden sich; sie verdanken ihre Existenz dem Monopol, das sie auf dem Gebiet bestimmter Kenntnisse und Fertigkeiten besitzen; […].“40

37 | Julius von Schlosser: Die Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance. Braunschweig 1978, S. 199 ff. 38 | Vgl. Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin 1988, S. 66. 39 | „Die Pluralisierung der Gedächtnisse hat auch etwas mit der Medienschwelle zu tun. Im Zeitalter des Buchdrucks öffnete die Schrift neue Erinnerungsräume. Der Buchdruck brach das Erinnerungsmonopol von Kirche und Hof und ermöglichte einen neuartigen Zugriff auf Geschichte und Gedächtnis.“ Aleida Assmann: Erinnerungsräume, München 1999, S. 49. 40 | Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin 1988, S. 60.

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Graduell wurde immer mehr Druck auf die Machthaber ausgeübt, um Zugang zu Sammlungen zu erhalten, die für die oben beschriebene monopolisierte Schicht essentiell waren, um neue Erkenntnisse zu erarbeiten und daran zu forschen.41 Hatte man gute Beziehungen oder stieg gesellschaftlich auf, so konnte man als Gast schließlich die fürstlichen Sammlungen besichtigen. Diese behielten jedoch den Charakter von Privatsammlungen und unterlagen damit nach wie vor Beschränkungen.42 Auch in den ersten Staatsmuseen waren noch lange die Auswirkungen der alten fürstlichen Sammlungen zu verspüren: „[…] noch in der zweiten Hälfte des verf lossenen Jahrhunderts war hie und da das Douceur für den Herrn Inspektor nicht verschwunden, das seitdem durch die demokratischere Form des Eintrittsgeldes ersetzt worden ist, oder es durfte zum Beispiel die kaiserliche Eremitage in St. Petersburg nur in Frack und weißer Halsbinde betreten werden. […] Am allerspätesten haben sich natürlich die höfischen Schatzkammern dem Publikum geöffnet, und ihr Besuch unterliegt begreif licherweise noch heute besonderen Einschränkungen.“43

Im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts wurde die Sammlung zum Kennzeichen des sozialen Standes.4 4 Es prägte sich ein Markt für „sammelwürdige“ Raritäten aus. Mit dieser Tendenz stieg parallel auch die Bedeutung der finanziellen Möglichkeiten eines Sammlers weiter an. Auf Auktionen wurde das Prestige- und Imponiergehabe des machthabenden Sammlermilieus ausgelebt. 45

41 | Vgl. Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin 1988, S. 60. 42 | Vgl. Julius von Schlosser: Die Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance. Braunschweig 1978, S. 238. 43 | Ebd, 44 | „Denn Sammlungsstücke sind, wie wir eben gesehen haben, Insignien sozialer Zugehörigkeit, wenn nicht gar Überlegenheit. Der Kauf von Semiophoren entspricht daher einer Eintrittskarte in ein geschlossenes Milieu; man erhält nur Zutritt, nachdem man einen Teil des Geldes, das man besitzt, der Zirkulationssphäre des Nützlichen entzogen hat. Da so die Nachfrage gewährleistet ist, organisiert sich im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts ein Markt für die unterschiedlichsten Kunstwerke, Altertümer und Raritäten.“ Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin 1988, S. 63. 45 | Vgl. Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin 1988, S. 63.

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Außerdem entwickelte sich im 16. Jahrhundert das Fundament für die ethnologischen Museen unserer Zeit. 46 Mit den Entdeckungsfahrten in ferne Länder bildeten sich unter den Wunderkammern immer stärker sogenannte Naturalienkabinette heraus, deren Objekte eine Fülle merkwürdiger und neuer Kenntnisse transportierten. 47 Margret Westerwinter dazu: „Die Begegnung mit fremden, anderen, unbekannten Dingen ließ das Verlangen entstehen, den eigenen Reichtum durch sie zu mehren und zu Forschungszwecken und aus Prestige- und Machtgründen in die Heimat zu bringen und zu zeigen. Neue Wunderkammern und Kuriositätenkabinette wurden eingerichtet, bereits bestehende durch Dinge aufgefüllt

46 | „So war zu bemerken, wie schon in den alten Kunst– und Raritätenkammern des 16. Jahrhunderts der Grundstock zu den ethnologischen Museen neuerer Zeit gelegt worden war. Amerikanische Federkleider, grönländische Kähne, afrikanische Tuthörner, ostasiatisches Porzellan wurden jetzt ständige Objekte der Sammlungen, und sehr häufig erinnern noch alte abendländische Fassungen an diesen Ursprung – gerade wie einst in den mittelalterlichen Schatzkammern.“ Julius von Schlosser: Die Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance. Braunschweig 1978, S. 199. „In der humanistischen Renaissance entstand ein neues Berufsbild mit einem neuen Titel. Der ›Antiquar‹ war derjenige, der den königlichen Sammlungen, Wunderkammern und Bibliotheken vorstand. Er ist nicht nur Urahn der Archäologen, sondern der historischen Geisteswissenschaften überhaupt.“ Aleida Assmann: Archive im Wandel der Mediengeschichte. In: Archivologie. Theorien des Archivs in Wissenschaft, Medien und Künsten, hg. von Knut Ebeling, Stephan Günzel. Berlin 2009, S. 165-177: S. 165. 47 | Im Lauf der Zeit splitteten sich die Naturalienkabinette immer stärker von den Kunstund Wunderkammern ab. Grund hierfür ist vor allem das steigende naturwissenschaftliche Interesse und Verständnis sowie die Entdeckungsreisen in aller Welt, die zu einer Entschleierung eines mystifizierten Märchenhorizonts beitrugen und neue Einsichten nach Europa brachten. Vgl. Julius von Schlosser: Die Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance. Braunschweig 1978, S. 199. Gabriele Beßler bemerkt: „Ferne Länder werden durch fabulöse Erscheinungen symbolisiert. Vor allem die seit dem Mittelalter bekannten und in einschlägigen Berichten unisono erwähnten „Wunder des Ostens“: hundsköpfige Menschen, solche mit nur einem Bein (Skiapoden), behaarte und vielarmige Kreaturen – Vorstellungen, die noch aus der Spätantike stammten. Ab dem 13. Jh. trugen Reisen ins Morgenland ganz allmählich zur empirischen Überlagerung der bis dato stets ungeprüft übernommenden Informationen bei. Der Glaube an das ‚Wunderbare‘ blieb gleichwohl erhalten.“ Gabriele Beßler: Wunderkammern. Weltmodelle von der Renaissance bis zur Kunst der Gegenwart, Berlin 2009, S. 65.

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– das „Jahrhundert des Staunens“ wurde begründet. Das in fernen Ländern gesehene, in der alten Welt Versammelte und den Daheimgebliebenen präsentierte, sprengte die Vorstellungskraft und die Grenzen der bekannten Welt so nachhaltig, dass auf einmal die Möglichkeit bestand, auch alles vorzustellen.“48

Die Spannbreite der Exponatkataloge reichte dabei über Manuskripte und Texte der Antike bis hin zu Kunst, naturgeschichtlichen Raritäten, Exoten – vor allem ab dem aufkommenden Reiseboom des 15. Jahrhunderts –, Kleinodien, Schmuck, wissenschaftlichen Instrumenten, Stoffen und Möbeln.49 Exponate aus fernen Ländern nahmen hierbei eine ähnliche Rolle ein wie das zeitgenössische Souvenir.50 Diese dienen nicht nur zur Erinnerung an das Vergangene bzw. an die Erlebnisse im Ausland, sondern sie sind auch ein Ausdruck einer uns fremden Welt oder Heimat. Ihre Gegenwart kann entweder zu einer stärkeren Ausdifferenzierung oder Abgrenzung des eigenen Heimatbegriffs werden, oder auch dazu führen, dass man sich fremde Naturelle aneignet oder sich ihnen zumindest näher fühlt. Trotz kontinuierlich fortschreitender Aufklärung war das „Naturwunder“ in den alten Kunstkammern essentiell. Kuriosa, exotische Tiere und Missgeburten waren in den Sammlungen obligatorisch. Fabeln, Mythen und Phantasmen des Mittelalters waren dabei so stark etabliert, dass sie

48 | Margret Westerwinter: Museen erzählen. Sammeln, Ordnen und Repräsentieren in literarischen Texten des 20. Jahrhunderts. Bielefeld 2008, S. 170 f. 49 | Vgl. Krzysztof Pomian: Der Ursprung des Museums. Vom Sammeln. Berlin 1988, S. 58. „Doch dienten Handel und Verkehr auch dazu Materialien für Repräsentationsbauten (Tempel, Kastelle oder Paläste) zu beschaffen oder um Luxus- und Kunstartikel zu erwerben (Seide und Tapisserien) bzw. um wissenschaftliche Kenntnisse (ob Bücher oder Geräte) europäisch zu verbreiten. Ein besonderer Kultur- wie Bildungseinfluß ging dabei von den Archiven und Schatzkammern aus (ob von Klosterbibliotheken, fürstlichen Kabinetten oder staatlichen Dokumentationen).“ Klaus Schleicher: Zur Biographie Europas: Identität durch Alltagshandeln. Hamburg 2007, S. 60. [Herv. im Orig.] 50 | Die Schatz- und Kunstkammern lösten nicht zuletzt durch exotische Souvenirs ein Fernweh beim Rezipienten und die Sehnsucht nach einer heilen und befriedigenden Welt aus. Vgl. Martin Zeiller: Musée sentimental – Oberfläche, Organisation, Obszönität, Magisterarbeit am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen. Tübingen 1986, S. 28. Die gedankliche Flucht in eine arkadische Idylle kann hier auch als Form des Eskapismus betrachtet werden.

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auch mit dem Aufkommen des Kopernikanischen Weltbildes nicht aus den Kunstkammern verdrängt wurden.51 Die fürstlichen Kunst- und Wunderkammern waren besonders gekennzeichnet durch einen Hang zum Kuriosen. Diese Freude hatte bis zum 18. Jahrhundert nicht nachgelassen. „[…] die Franzosen haben bekanntlich noch jetzt das Wort curiosité für eine bestimmte Richtung der Sammlertätigkeit.“52 Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass Kuriositäten nicht nur Seltenheiten, sondern auch eine Sammlung bezeichnen, die die Neugierde stimuliert.53 Kuriosität, Neugierde und auch das Staunen sind Begrifflichkeiten, die in diesem Verständniskontext demnach eng zusammenhängen. So wurden in fürstlichen Kunst- und Wunderkammern auratische Objekte54 exponiert, die den Betrachter mit einer unsichtbaren Welt verbanden und seine Phantasie anregten. Eine bekannte und methodologisch stark ausgearbeitete Kunst- und Wunderkammer ist die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts gegründete Sammlung des Erzherzogs Ferdinand II von Tirol auf Schloss

51 | Vgl. Julius von Schlosser: Die Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance. Braunschweig 1978, S. 186. 52 | Ebd., S. 211 ff. 53 | Vgl. Barbara Vinken: Curiositas/Neugierde. In: Ästhetische Grundbegriffe Studienausgabe, 7 Bde., Bd. 1 Absenz bis Darstellung, hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhardt Steinwachs, Friedrich Wolfzettel. Stuttgar t/Weimar 2000/2010, S. 794-814: S. 795. 54 | Walter Benjamin definiert den Begriff Aura im Zusammenhang mit Kunstwerken als sozial geprägt. Erst die Erfahrungen des Betrachters lassen dem Exponat seine spezifische Deutung angedeihen. „Dem Blick wohnt aber die Erwartung inne, von dem erwidert zu werden, dem er sich schenkt. […] Die Aura einer Erscheinung erfahren, heißt sie mit dem Vermögen belehnen, den Blick aufzuschlagen.“ Walter Benjamin: Über einige Motive bei Baudelaire (1939). In: Ders.: Gesammelte Schriften, 7 Bde., Bd. 1 Abhandlungen, hg. von Hermann Schweppenhäuser, Rolf Tiedemann. Frankfurt am Main 1974, S. 646.

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Ambras.55 In der Sammlung des Erzherzogs findet sich unter anderem ein „Zwerchkasten“, an dem sich nachhaltig der Anteil der Curiosis aufzeigen lässt, wie Julius von Schlosser darlegt: „Da finden wir: ein Scheit Holz, das zu Stein geworden war, als es ein ungläubiger Bauersmann am Tage eines Heiligen unter gröblichen Reden spalten wollte, ein Stück von dem Strick, daran sich Judas erhängte, von Sebastian Schertlin beim Sacco de Roma aus St. Peter erbeutet, ein Zapfen von den Zedern des Libanon, die zum Bau des salomonischen Tempels dienten, ein Hirschgeweih, das an einem Judenhaus angebracht, an einem Karfreitag Blut geschwitzt hat, und anderer solcher kurioser Profanreliquien mehr, die die Denkweise selbst dieser humanistisch gebildeten, aber noch voll von Wunder- und Aberglauben steckenden Zeit kennzeichnen.“56

Die Erscheinungsbilder der Kunstkammern waren jedoch ausgesprochen vielseitig und je nach Ausrichtung nicht immer auf die Curiosis, wie von Schlosser sie benennt, fokussiert. So heißt es in der Museographie von Neickel: „Die Teutschen haben auch unterschiedene Namen erdacht, womit sie ihre Curiositäten-Behältnisse zu benennen pf legen, als: Eine Schatz- Raritäten- Naturalien- Kunst- Vernunfft- Kammer, Zimmer oder Gemach.“57

55 | Noch heute sind Fragmente der Kunstkammer Erzherzogs Ferdinand auf Schloss Ambras zu sehen. Die Kunstkammer wurde am 1583 aufgebaut und während der Hofhaltung in die Innsbrucker Hofburg verlegt. Das Hochschloss von Ambras war während dieser Zeit Sommerresidenz des Erzherzogs. Im Unterschloss befanden sich mehrere Sammlungen, darunter auch die Kunstkammer. Vgl. Christine Hertel: “Der rauch man zu Münichen”: Die Portraits der Familie Gonsalus in der Kunstkammer Erzherzogs Ferdinand II. von Tirol. In: Sammler – Bibliophile– Exzentriker, hg. von Aleida Assmann, Monika Gomille, Gabriele Rippl. Tübingen 1998, S. 163-193: S. 165. 56 | Julius von Schlosser: Die Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance. Braunschweig 1978, S. 91 f. 57 | Caspar Friedrich Neickel: Museographia Oder Anleitung Zum rechten Begriff und nützlicher Anlegung der Museorum oder Raritäten-Kammern… In beliebter Kürtze zusammen getragen, und curiösen Gemüthern dargestellt. Auf Verlangen mit einigen Zusätzen und dreyfachem Anhang vermehret von D. Johann Kanold. Leipzig 1727, S. 409.

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Trotz der unterschiedlichen Benennungen war allen Kabinetten jedoch das Ziel gemeinsam, das Universum als zusammenhängende Ordnung darzustellen und verständlich zu machen. Thomas Müller-Bahlke legt fest: „Alles was wertvoll war, merkwürdig erschien, Seltenheitswert besaß, einer Erklärung bedurfte oder eine nähere Untersuchung rechtfertigte, wurde in den Wunderkammern zusammengetragen – und doch keineswegs wahllos. Entscheidend war, daß man anhand dieser Sammlungen die Schöpfung kennen- und verstehen lernte. […] Meint man zunächst durch ein heilloses Sammelsurium zu schreiten, so gewinnt die Sammlung bei näherer Betrachtung allmählich einen ganz und gar systematischen Charakter und bildet durch den Zusammenhang aller Einzelteile ein großes begehbares Gesamtexponat.“58

Hieraus lässt sich entnehmen, dass der Nachbau im Kleinen (terre en miniature) als Erklärungsmuster für die dahinter stehenden großen Zusammenhänge galt.59 Die Theorie verglich Wunderkammern aufgrund der thematischen Breite gesammelter Naturalien auch oft mit dem biblischen Vorbild der Arche Noah. 60 Das Ende der Wunderkammern lässt sich auf das letzte Drittel des 18. Jahrhunderts festlegen: „Einer weit verbreiteten These zufolge bewirkten die Französische Revolution und der Zusammenbruch der französischen Monarchie die gleichzeitige Ausbildung eines neuen aufstrebenden Bürgertums sowie die Trennung von Staat und Kirche. In diese Zeit fiel auch die Gründung moderner Museen mit spezifizierten und nach wissenschaftlichen Forschungsfächern ausgerichteten Sammlungen. Zunächst wurden Kunst-

58 | Thomas J. Müller-Bahlke: Die Wunderkammer der Franckeschen Stiftungen. Halle/Saale 1998, S. 10. 59 | Etymologisch stammt der Begriff „Ausstellung“ oder „Exposition“ vom lateinischen expositio was wörtlich „Aussetzung“ und im übertragenden Kontext „Darlegung“ bedeutet. Damit lässt sich ein wesentliches Charakteristikum der Ausstellung herleiten. Sie hat den Zweck, dem Besucher diffizile Inhalte darzulegen, d. h. sie anschaulich und verständlich zu machen. Nicht zuletzt, indem ein großer Zusammenhang auf einen kleineren Umfang komprimiert wird. 60 | Vgl. Thomas J. Müller-Bahlke: Die Wunderkammer der Franckeschen Stiftungen. Halle/ Saale 1998, S. 10.

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und Antikmuseen, Glyptotheken, Pinakotheken und Nationalmuseen errichtet. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts folgten naturhistorische, ethnologische und technische Museen sowie Kunstgewerbe-, Heeres- und Spezialmuseen.“61

Im Zuge der Aufklärung geriet das museale Konzept der Wunder- und Kunstkammern allmählich aus der Mode und Spezialsammlungen begannen sich herauszubilden.62 Gottfried Korff dazu: „Was unter Humboldts Ägide passiert, ist bezeichnend für die Entwicklung der Idee und der Institution Museum im 19. Jahrhundert – überall in Europa, in Deutschland begleitet und gesteigert durch die Philosophie, durch die Geschichts- und Ästhetiktheorie des Idealismus. All das, was bis etwa 1800 in der Tradition Kunst-, Wunder- und Raritätenkabinette zusammen deponiert war, wird auseinanderdividiert. Spezialmuseen entstehen, und den höchsten Rang nimmt die Gemäldegalerie ein.“63

Das Musealwesen wurde also entscheidend durch die Renaissance bzw. die Aufklärung beeinflusst. Mit dem Anstieg eines weltlichen Erkenntnisinteresses entwickelten sich neue Bedarfe, unter deren Eindruck u.a. auch Herbarien entstanden.64 Alte Wunderkammern wurden aufgelöst und verschwanden oder ihre Bestände wurden in öffentliche Kollektionen überführt.65 Seit dem 19. Jh. ist zusammenfassend eine Entwicklung erkennbar,

61 | Margret Westerwinter: Museen erzählen. Sammeln, Ordnen und Repräsentieren in literarischen Texten des 20. Jahrhunderts. Bielefeld 2008, S. 12. 62 | Vgl. Thomas J. Müller-Bahlke: Die Wunderkammer der Franckeschen Stiftungen. Halle/ Saale 1998, S. 18. 63 |  Gottfried Korff: Bildwelt Ausstellung – Die Darstellung von Geschichte im Museum. In: Orte der Erinnerung, hg. von Ulrich Borsdorf, Heinrich Theodor Grütter. Frankfurt a. M./New York, 1999, S. 319-337: S. 326. 64 |  Vgl. Klaus Schleicher: Zur Biographie Europas: Identität durch Alltagshandeln. Hamburg 2007, S.154 f. 65 |  Vgl. Thomas J. Müller-Bahlke: Die Wunderkammer der Franckeschen Stiftungen. Halle/ Saale 1998, S. 18.

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die ein didaktisch arrangiertes und fachlich differenziertes Museumswesen proklamiert.66

7.2 Das Musée Sentimental im zeitgenössischen Kontext der 1960er und 1970er Jahre Das erste Musée Sentimental wurde im Jahr 1978 in Paris implementiert. Ein Jahr darauf folgte bereits das zweite Musée in Köln. Um den historischen Rahmen und mögliche künstlerische Bezugnahmen auf den zeitlichen Kontext zu identifizieren, werden in diesem Kapitel die politischen und gesellschaftlichen Strukturen der 1960er und -siebziger Jahre67 in Frankreich und Deutschland untersucht. Vorallem betrachtet werden in diesem Zusammenhang die Studierendenproteste in beiden Ländern bis zum Mai achtundsechzig sowie die sich entwickelnde Europapolitik zu dieser Zeit. Mit dem Beginn der 5. Französischen Republik ab 1958 war Frankreich einem schnell voranschreitenden Modernisierungsschub unterworfen.68 Anfang der sechziger Jahre begann eine anhaltende industrielle Expansion, begleitet von einem raschen sozio-ökonomischen Strukturwandel.69 Die steigenden Einkommen in den Städten und die damit verbundene Entwicklung einer französischen Konsumgesellschaft zogen eine rasche Verstädterung sowie eine zunehmende Landflucht nach sich.70 In

66 |  Vgl. Klaus Schleicher: Zur Biographie Europas: Identität durch Alltagshandeln. Hamburg 2007, S. 156. 67 |  Christian Schmid sieht diesen zeitlichen Rahmen als den Übergang vom „technizistischautoritativen industriellen Entwicklungsmodell hin zu einem differentiellen urbanen“, weshalb er auch von einem Übergang der Moderne zur Postmoderne spricht. Christian Schmid: Stadt, Raum und Gesellschaft. Henri Lefebvre und die Theorie der Produktion des Raumes. München 2005, S. 286 f. 68 |  Ab 1945 erlebte Frankreich einen Modernisierungsschub, der innerhalb von drei Jahrzehnten eine argrarisch-kleinindustriell geprägte Sozialstruktur in eine Wohlfahrts-, Industrieund Dienstleistungsgesellschaft veränder te. Vgl. René Lasserre Joachim Schild, Henrik Uterwedde (Hgg.): Frankreich – Politik, Wirtschaft, Gesellschaft. Opladen 1997, S. 189. 69 |  Vgl. ebd, S. 121. 70 |  Vgl. ebd.

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den Ballungszonen hatte man in Konsequenz mit wanderungsbedingten Problemen wie Wohnungsmangel und unterentwickelten Infrastrukturen zu kämpfen.71 Dies ist einer der Punkte, der als Teilaspekt einer Krise der Stadt den Ursprung der sozialen Proteste gegen Ende der sechziger Jahre lieferte.72 Christian Schmid erkennt: Die Krise der Stadt „[…] lässt sich auf vielfältige Aspekte der Modernisierung der Gesellschaft zurückführen, die mit dem Urbanisierungsprozess und dem funktionalen Städtebau der Nachkriegszeit verknüpft waren: der „autogerechte“ Umbau der Städte, die Errichtung von anonymen Wohnblockzonen in den Vorstädten, die City-Expansion und damit verbunden die Vertreibung von Teilen der Bevölkerung aus den Innenstädten, die Zerstörung einer lebendigen Alltagswelt mit ihren sozialen Netzen, die Normierung der Gesellschaft, die in den uniformen Wohnzonen ihren Ausdruck fand.“ 73

Schmid schreibt in diesem Zusammenhang auch von einer „Krise des Fordismus“74. Die von Schmid benannte Errichtung anonymer Wohnblockzonen ist vor allem für Frankreich kennzeichnend. Hier zog die rasche Verstädterung die Entstehung problematischer Wohnverhältnisse

71 |  Die sogenannten goldenen Sechziger und ihre rasche Expansion brachten Schwierigkeiten im Bereich der Infrastruktur und der notwendigen Schaffung von Unterbringung und öffentlichen Einrichtungen mit sich. Vgl. René Lasserre Joachim Schild, Henrik Uterwedde (Hgg.): Frankreich – Politik, Wirtschaft, Gesellschaft. Opladen 1997, S. 121. 72 |  Vgl. Christian Schmid: Stadt, Raum und Gesellschaft. Henri Lefebvre und die Theorie der Produktion des Raumes. München 2005, S. 31. 73 |  Ebd. 74 | Vgl. ebd. „Der Fordismus war auf eine quantitative Steigerung des Produktionsvolumens und eine räumliche Expansion der industriellen Strukturen ausgerichtet. In der Annahme, dass das nationale Territorium als Ganzes die entscheidende geographische Einheit darstellte, sollten durch ein Gerüst von „zentralen Orten“ gleichmäßiges Wachstum hergestellt und bestehende sozialräumliche Disparitäten beseitigt werden. Ziel war die „Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse“ und eine gesamtgesellschaftlich ausgewogene Wohlfahrtssituation. Dieses zentralstaatliche Interventionsmodell versuchte lokale Eigeninitiativen einzuschränken, die man als „borniertern Partikularismus“ wahrnahm.“ Klaus Ronneberger: Von der Regulation zur Moderation. In: Temporäre Räume. Konzepte zur Stadtnutzung, hg. von Florian Haydn, Robert Temel. Basel 2006, S. 49-59: S. 52.

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in Großraumsiedlungen, den sog. Cités nach sich, in denen vornehmlich Menschen aus Afrika und den Magreb-Staaten lebten, die in den 1960er und -siebziger Jahren als Gastarbeiter nach Frankreich eingewandert waren.75 Der von 1958 bis 1969 amtierende französische Präsident Charles de Gaulle hatte zwar entschieden die industrielle Expansion und auch die Europapolitik vorangetrieben, jedoch gerieten soziale und gesellschaftliche Fragen dabei eher in den Hintergrund.76 Ingo Koolboom dazu: „Die „funktionalistische“ Deutung versteht den Mai als überfälligen Prozess des Nachholens sozialer Reformen in einer blockierten Gesellschaft. Gegenüber vergleichbaren hochindustrialisierten westeuropäischen Ländern wie der Bundesrepublik war das unter de Gaulle in den 60er Jahren beschleunigt modernisierte Frankreich in einen sozialen Rückstand geraten. Die Streiks vom Mai 1968 lagen somit im Interesse des gesamten Wirtschaftssystems, das von außen gezwungen werden musste, sozialen Reformen und einer Kauf krafterhöhung zuzustimmen. Die heitere Feier der „Wünsche“ half demnach einer jungen Konsumgesellschaft zum Durchbruch, was durch das traditionelle Gesellschaftsbild des konservativen Gaullismus zuvor verhindert worden war.“ 77

Die von Koolboom hier benannte Erhöhung der Kaufkraft und die damit verbundene Hinwendung zu materialistischen Werten bildeten auch den Nährboden für die Entstehung des Nouveaux Réalisme.78 So wurden die

75 | Siehe dazu u. a. René Lasserre Joachim Schild, Henrik Uterwedde (Hgg.): Frankreich – Politik, Wirtschaft, Gesellschaft. Opladen 1997, S. 197. 76 | Anstelle der gesellschaftlichen Hoffnung auf Freiheit und ein neues Leben brachte der

Gaullismus eine erstarkte Staatsgewalt, die sich eher auf die Außenpolitik anstatt auf die Wünsche der eigenen Bevölkerung konzentrierte. Vgl. Henri Lefebvre: Kritik des Alltagslebens. In: Ders.: Kritik des Alltagslebens, 3 Bde., Bd. 1 Kritik des Alltagslebens. München, 2. Auflage 1976, S. 7 f. 77 | Ingo Koolboom: Das Jahr, das Frankreich veränderte: der französische Mai ´68 (http:// www.bpb.de/internationales/europa/frankreich/152656/der-franzoesische-mai-68, zuletzt abgerufen 04.02.2013). 78 | Die Künstlergruppe um den Kunstkritiker Pierre Restany, bestehend aus Daniel Spoerri, Jean Tinguely, Yves Klein, Niki de Saint Phalle, Martial Raysse, Armand Fernandez, Jaques de la Villeglé und François Dufrêne (ehemaliger Ultra-Lettrist um Guy Debord), veröffentlichte im April 1960 ihr erstes Manifest.

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Abfälle der durchbrechenden Konsumgesellschaft zum Faszinosum und wesentlichem Gestaltungselement innerhalb des künstlerischen Schaffens dieser Gruppierung, der auch Daniel Spoerri angehörte. Aus dem von de Gaulle forcierten Modernisierungsschub ergaben sich zahlreiche Konflikte.79 Kritisiert wurde unter anderem der Widerspruch zwischen einem sozio-ökonomischen Modernisierungsschub einerseits und autoritären Unternehmensstrukturen andererseits.80 Frankreich war in den 1960er und -siebziger Jahren immer noch durch eine LinksRechts Spaltung81 charakterisiert, die sich im Arbeitermilieu durch eine dominante kommunistische Arbeiterbewegung82 äußerte. Bedingt durch Wettbewerbsschwächen in wichtigen Industriezweigen Frankreichs ergab sich auch eine Wachstumsschwäche auf dem Arbeitsmarkt. Diese

79 | So führten die gesellschaftliche Verjüngung und der technologische Fortschritt im Kontrast zu Instabilität und Immobilismus des politischen Systems dazu, dass sich eine lebendige gesellschaftliche Schicht von den öffentlichen Institutionen abspaltete. Vgl. Gilbert Ziebura: Frankreich: Geschichte, Gesellschaft, Politik. Opladen 2003, S. 116. 80 | Siehe dazu auch René Lasserre Joachim Schild, Henrik Uterwedde (Hgg.): Frankreich – Politik, Wirtschaft, Gesellschaft. Opladen 1997, S. 121 f. und 191. 81 | „Die zentrale Konfliktlinie der französischen politischen Kultur, die die Grundeinstellung der Bürger – und auch ihr Wahlverhalten – charakterisierte, war in der Vergangenheit stets die Links-Rechts-Spaltung – ein direktes Erbe der französischen Revolution. Die LinksRechts-Spannungslinie verband sich im 19. und 20. Jahrhundert mit unterschiedlichen Bedeutungsinhalten. Drei soziopolitische Spaltungslinien charakterisieren die französische Gesellschaft heute: a) religiös-laizistische Spannungslinie b) sozioökonomische Spannungslinie c) soziokultureller Wertekonflikt zwischen traditionalistischen, autoritären und enthnozentrischen Wertemustern einerseits und libertären Selbstentfaltungswerten andererseits. Häufig wird dieser Wertekonflikt in der Tradition der Arbeiten Ronald Ingleharts (Inglehart 1989) auch als Wertekonflikt zwischen „Materialisten“ und „Postmaterialisten“ beschrieben.“ René Lasserre Joachim Schild, Henrik Uterwedde (Hgg.) zitieren Henrik Uterwedde: Frankreich – Politik, Wirtschaft, Gesellschaft. Opladen 1997, S. 22. 82 | Die französische Arbeiterklasse orientierte sich an der organisierten Arbeitnehmerschaft des industriellen Nordens, Ostens und des Pariser Großraums, welche politisch, ideologisch und kulturell von der kommunistischen Arbeiterbewegung (PCF, CGT) geprägt war. Vgl. René Lasserre Joachim Schild, Henrik Uterwedde (Hgg.): Frankreich – Politik, Wirtschaft, Gesellschaft. Opladen 1997, S. 194.

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wiederum führte zu einer anhaltenden Unzufriedenheit der Arbeitnehmer.83 Vermittlungsinstanzen fehlten jedoch, wodurch es keine Möglichkeit einer politischen Partizipation gab.84 Nicht zuletzt dieser Umstand begünstigte abrupt auf brechende soziale Konflikte, die von der Bevölkerung militant 85 und mit politischen Aktionen, – schließlich potenziert im Mai achtundsechzig –, ausgetragen wurden. Ingo Koolboom stellt fest, dass der französische Mai ´68 Umstrukturierungen der Parteienlandschaft und der politischen Kultur der Fünften Republik erwirkte. Koolboom folgend begünstigte er den Niedergang des traditionellen Gaullismus und zwang konservative Eliten zu einer Modernisierung.86 Die Kritik an den Defiziten der gaullistischen Modernisierungspolitik gipfelte im Mai achtundsechzig in gewaltsamen Studentenprotesten in Nanterre87 und Paris. Auf die Besetzung der Sorbonne88 in Paris folgten auch militante Unruhen an den Universitäten in Nantes und Bordeaux. Die Studierenden forderten einen sozialgesellschaftlichen Umbruch, dessen Kritik sich auf Religion,

83 | Vgl. René Lasserre Joachim Schild, Henrik Uterwedde (Hgg.): Frankreich – Politik, Wirtschaft, Gesellschaft. Opladen 1997, S. 121 ff. 84 | Ein wesentliches Problem Frankreichs ist bis heute das Fehlen von Vermittlungsinstanzen zwischen Bürgern und Staat. Vielmehr ist die französische Geschichte durch die Entwicklungen des zentralisierten Nationalstaates und dem Parlaments- und Souveränitätsverständnis einer politischen Elite geprägt. Vgl. ebd., S. 26. 85 | Vgl. ebd., S. 25 f. 86 | Vgl. Ingo Koolboom: Das Jahr, das Frankreich veränderte: der französische Mai ´68 (ht tp://w w w.bpb.de/internationales/europa/frankreich/152656/der-franzoesischemai-68, zuletzt abgerufen 04.02.2013). 87 | „22.03.1968 Nanterre . [Herv. im Orig.] In der Philosophischen und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität besetzen 500 Studierende den Sitzungssaal der Professoren, um gegen die Verhaftung von zwei Studierenden und drei Gymnasiasten zu protestieren, die Angehörige des „Nationalen Vietnam Komitees“ sind und mit einem Attentat auf die Pariser Agentur des „American Express“ in Verbindung gebracht werden. Die Initiatoren der Aktionen bezeichnen sich nach dieser Besetzung als „Bewegung des 22. März“.“ Thomas P. Becker, Ute Schröder (Hgg.): Die Studentenproteste der 60er Jahre. Köln 2000, S. 180. 88 | Die Sorbonne wurde am 3. Mai mit polizeilicher Gewalt geräumt. Dieses Vorgehen stellte einen Tabubruch dar und zog einen Generalstreik der sich mit den Studierenden solidarisierenden Gewerkschaften am 13. Mai nach sich. Vgl. Ingo Koolboom: Das Jahr, das Frankreich veränderte: der französische Mai ´68 (http://www.bpb.de/internationales/europa/frankreich/152656/der-franzoesische-mai-68 zuletzt abgerufen 04.02.2013).

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Weltanschauung, Wissenschaftlichkeit und Staatsbürgerlichkeit, kurz die bestehenden Verhältnisse in jeglicher Hinsicht bezog89. Verlangt wurden außerdem ein Ende des Vietnam-Krieges90 sowie die Aufhebung starrer Strukturen der „Ordinarienuniversität“91. Die Studierenden bestanden auf mehr Mitspracherecht in Hochschulgremien und ein Studium auf Augenhöhe mit den verantwortlichen Professoren. Die politische Linke in den französischen Studentenrevolten war insbesondere durch die Situationistische Internationale (im Folgenden S.I.) beeinflusst. Die Situationisten hatten sich bereits 1957 konstituiert und lösten sich 1972 wieder auf. Die Gruppe aus Künstlern, Gelehrten und Architekten um den Revolutionär Guy Debord ging aus der Bewegung der Lettristen bzw. dem Vorläufer der S.I., der Lettristischen Internationale hervor, denen Debord bereits angehört hatte.92 Auch in Deutschland potenzierten sich die Studentenrevolten zum Mai achtundsechzig. Die gestellten Forderungen ähnelten denen der französischen Studierenden. Neben einer Demokratisierung der Hochschullandschaft93, definiert durch mehr Mitbestimmungsrecht, die Modernisierung akademischer Traditionen, Gründung von Studentengewerkschaften und

89 | Vgl. Wolfgang Kraushaar: Denkmodelle der 68er. (http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/68er-bewegung/51820/denkmodelle, zuletzt abgerufen 23.07.2015). 90 | Henri Lefebvre hebt hervor, dass sich die unter Linksradikalen entwickelte Widerstandsbewegung mit Aufständen in der Dritten Welt, Land- und Stadtguerillas Lateinamerikas sowie Kriegen in Algerien und Vietnam verband. Einen Höhepunkt stellen die Ereignisse von Prag Jahr 1968 dar. Vgl. Henri Lefebvre: Kritik des Alltagslebens. In: Ders.: Kritik des Alltagslebens, 3 Bde., Bd. 1 Kritik des Alltagslebens. München, 2. Auflage 1976, S. 9. 91 | Meike Dülffer: 1968 - Eine europäische Bewegung? (http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/68er-bewegung/51820/denkmodelle?p=1, zuletzt abgerufen 23.07.2015). 92 | Siehe dazu auch Simon Ford: Die Situationistische Internationale. Hamburg 2006, S. 6 f. 93 | „15.10.1967 Berlin [Herv. im Orig.]. Landesparteitag der Berliner SPD. Den Delegierten liegen zwei Ausarbeitungen zur Hochschul- und Studentenpolitik vor. Es sind die von Senator Stein und Prof. Dr. Fritz Borinski (FU) verfaßten „Leitsätze für die Berliner Hochschulpolitik“ und die vom Landesvorstand der SPD in Auftrag gegebene Analyse „Zur Situation der studentischen Jugend“ der Autoren Stobbe, Heyen, Ristock und Korber. Stein und Borinski fordern eine Demokratisierung der Hochschulen, der Begriff Demokratisierung schließe ein, daß sich die Studentenschaft „als mitbestimmender Teil der Universität empfinde, nicht als eine Art klassenkämpferischer Gegner“.“ Thomas P. Becker, Ute Schröder (Hgg.): Die Studentenproteste der 60er Jahre. Köln 2000, S. 154.

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Rechtshilfefonds, beanstandeten auch die deutschen Studierenden den Krieg in Vietnam94 und übten zudem Kritik an den Medien95. Der deutsche wie auch der französische Konflikt waren geprägt durch die Wahrung der Freiheit der Lehre einerseits und gewaltsamen Ausschreitungen andererseits, die diese Freiheit massiv einschränkten.96 Auch Deutsche Studierende bedienten sich situationistischer Methoden, wie sie in den französischen Ausschreitungen zu beobachten waren. Nach dem Vorbild der S.I. verteilte die Kommune I97 um Fritz Teufel und Werner Langhans satirische und hetzerische Flugblätter98 an den Hochschulen.

94 | „Es waren drei grundlegende Kritiken, die den Kanon an neugewonnenen Überzeugungen bestimmten: der Antifaschismus, der Antikapitalismus und der Antiimperialismus. Die erste Kritik richtete sich gegen die Nichtauseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit, die zweite gegen eine auf Ausbeutung und sozialer Ungerechtigkeit basierende Wirtschaftsordnung und die dritte gegen die Unterjochung der Länder der Dritten Welt durch die der Ersten und Zweiten.“ Wolfgang Kraushaar: Denkmodelle der 68er. (http://www.bpb.de/ geschichte/deutsche-geschichte/68er-bewegung/51820/denkmodelle, zuletzt abgerufen 23.07.2015). 95 | „In einer Erklärung zu dem Attentat auf Rudi Dutschke fordern Heinrich Böll, Theodor W. Adorno, Ludwig von Friedeburg, Walter Jens, Alexander Mitscherlich, Golo Mann, Eugen Kogon, Helge Pross, Helmut Ridder u. a. eine „öffentliche Diskussion über den Springer- Konzern, seine politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen und seine Praktiken der publizistischen Manipulation“.“ Thomas P. Becker, Ute Schröder (Hgg.): Die Studentenproteste der 60er Jahre. Köln 2000, S. 185. 96 | „17.04.1968 Marburg . [Herv. im Orig.] „Marburger Manifest“ zur Hochschulreform. In dem von acht Marburger Professoren veröffentlichten Begleitmemorandum heißt es, daß das Manifest dem Streben radikaler Professoren und Studentengruppen nach totaler Politisierung der Universitäten und Technischen Hochschulen und dem dabei als Kampfmittel eingesetzten gezielten Terror entgegentrete. In der Folgezeit wird das Marburger Manifest von über 1.000 Hochschullehrern unterzeichnet.“ Ebd., S. 187. 97 | Gründung der Kommune I am 01.01.1967. Vgl. ebd., S. 121. 98 | „06.07.1967 Berlin [Herv. im Orig.]. Vor der 6. großen Strafkammer in Moabit beginnt der Prozeß gegen den 27-jährigen Psychologiestudenten Rainer Langhans und den 24-jährigen Publizistikstudenten Fitz Teufel. Ihnen wird vorgeworfen, in Flugblättern der Kommune I am 24. Mai 1967 zu menschengefährdender Brandstiftung aufgefordert zu haben.“ Ebd., S. 148.

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1967 demonstrierte eine Gruppe von SDS99 Mitgliedern während des Weihnachtsgottesdienstes in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche gegen den Vietnamkrieg.100 Im Rahmen situationistischer Proteste wurde u. a. die Forderung nach Entchristianisierung sowie nach diversen Interventionen in Kirchen laut.101 Auch Störungen von Eröffnungsvorlesungen oder Vereidigungen an Universitäten waren bei der französischen S.I.102 ebenso wie bei deutschen Studierenden beliebt.103 Neben den Interventionen der S.I. in der französischen Studentenrevolte nahmen künstlerische Methoden wie die Oral History oder die Spurensicherung 104 ihren Anfang, die sich in Ansätzen zehn Jahre später auch in der Realisierung des Musée Sentimental wiederfanden.105 Die künstlerischen Methoden der

99 | Sozialistischer Deutscher Studentenbund. 100 | Vgl. Thomas P. Becker, Ute Schröder (Hgg.): Die Studentenproteste der 60er Jahre. Köln 2000, S. 165. 101 | Siehe dazu auch Simon Ford: Die Situationistische Internationale. Hamburg 2007, S. 138. 102 | Siehe dazu auch ebd., S. 128. 103 | Siehe dazu auch Thomas P. Becker, Ute Schröder (Hgg.): Die Studentenproteste der 60er Jahre. Köln 2000, S. 153. 104 | Weitere Methoden, die sich gegen die von den Situationisten benannte Entfremdung im Alltagsleben richten, sind die künstlerische Strategie der Spurensicherung sowie die künstlerische Anwendung von Herangehensweisen der Oral History. Unter Rekurs auf Günter Metken bemerkt Cordula Meier: „Die Gründe für die Art und Weise, wie die ›Spurensicherer‹ Kunst verstanden und machten, waren in zeitgleichen Kritiken formuliert durch Zweifel am

technischen Fortschritt, Zweifel an den Massenmedien, die einen eindimensionalen Alltag vermitteln, Phantasieausschaltung zwischenmenschlicher Beziehungen und Verödung von Umwelt . Die Künstler antworten darauf introspektiv: sie machen ihre Arbeit zum Gedächtnis der von der industriellen Entwicklung entwurzelten Völker, versuchen Spuren festzuhalten und aus Relikten des einzelnen oder einer Kultur Aussagen über das Menschsein zu gewinnen. Sich selbst als Beobachtungsobjekt am nächsten, betreiben sie Feldforschung an bzw. mit der eigenen Person, untersuchen ihre nähere Umgebung, ihre Ansichten, Gefühle usw.“ Cordula Meier: Kunst und Gedächtnis. Zugänge zur aktuellen Kunstrezeption im Licht digitaler Speicher. Habil. München 2002, S. 145. [Herv. im Orig.] 105 | In Architektur, Kunst und Philosophie entwickelte sich die Tendenz, die neue Zeit unter ästhetischen und kulturellen Aspekten erkenntnistheoretisch zu untersuchen. Diese Tendenz wird vom Christian Schmid mit dem Titel der Postmoderne zusammengefasst. Vgl. Christian Schmid: Stadt, Raum und Gesellschaft. Henri Lefebvre und die Theorie der Produktion des Raumes. München 2005, S. 49.

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Noveaux Réalistes oder auch der Situationisten waren dabei vor allem durch einen romantischen Phantasiebegriff als Mittel der Befreiung aus der Entfremdung geprägt. Jochen Schulte-Sasse folgend wurden die französischen und deutschen Studentenbewegungen durch den surrealistische Begriff der Phantasie inspiriert, was sich auch in ihrem Kampfruf ›Pouvoir à l´imagination‹ audrücke. 106 Im Gegensatz zum Deutschen Mai achtundsechzig gelang in Frankreich etwas Einzigartiges, da sich schließlich Arbeiter und Studierende solidarisierten und Unternehmen und Fabriken besetzten.107 Geimeinsam traten sie ein für mehr soziale Rechte, Lohnerhöhungen und die Einführung einer Sozialversicherung. De Gaulle lenkte schließlich mit Reformen ein, die bis heute Gültigkeit haben, und beendete so gegen Ende der 1960er Jahre, auch Dank seines Premiers Georges Pompidou, die Proteste in Frankreich.108 Ausgehend von den Aufständen der sechziger Jahre entwickelte sich anschließend ein auf Neutralität bedachtes Klima in Frankreich. Aleida Assmann weist nach:

106 | Vgl. Jochen Schulte-Sasse: Phantasie. In: Ästhetische Grundbegriffe Studienausgabe, 7 Bde., Bd. 4 Medien bis Populär, hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhardt Steinwachs, Friedrich Wolfzettel. Stuttgart/Weimar, 2002/2010, S. 778-798: S. 796. 107 | Siehe dazu auch Ingo Koolboom: Das Jahr, das Frankreich veränderte: der französische Mai ´68 (http://www.bpb.de/internationales/europa/frankreich/152656/der-franzoesischemai-68 zuletzt abgerufen 04.02.2013). 108 | „Das politische Establishment der Republik war paralysiert. Auch die von Präsident Charles de Gaulle hastig vollzogene Ankündigung von Neuwahlen und eines Referendums über Reformen brachte keine Ruhe ins Land. Gleichzeitig aber begannen sich die Wege der teilweise aufständischen Protestgruppen und die der Gewerkschaften zu trennen. Für Letztere blieben Streiks und Fabrikbesetzungen klassische Druckmittel, um Lohnerhöhungen und andere Forderungen in den Betrieben durchzusetzen. Auf Initiative von Premierminister Georges Pompidou kam es zu Verhandlungen, und am 27. Mai unterzeichneten Arbeitgeber, Gewerkschaften und Regierung die Accords de Grenelle (Abkommen von Grenelle) über eine Erhöhung des Mindestlohns (35%), Tariferhöhungen, Verkürzung der Arbeitszeit, Mitbestimmung und andere arbeitsrechtliche Verbesserungen. Mit den Accords de Grenelle kam die Wende, beschleunigt durch die Auflösung der Nationalversammlung am 30. Mai, durch die Ankündigung von Neuwahlen für den 23. Juni und durch gaullistische Gegendemonstrationen im ganzen Land, die die Revolte damals in die Defensive brachten.“ [Herv. im Orig.] Ebd,

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„Imperiale Themen und markante Herrscherpersönlichkeiten standen in den 70er Jahren nicht gerade auf der öffentlichen Agenda. Es gab zum Beispiel 1971 unter den Bedingungen der wachsenden Europäischen Gemeinschaft und mit Rücksicht auf die deutsch-französischen nachbarschaftlichen Beziehungen wenig Anlass, sich pompös an den Beginn des Kaiserreichs von 1871 zu erinnern. Ebenso wenig waren solche Themen in der wissenschaftlichen Geschichtsforschung angesagt. An den Universitäten herrschte die unanschauliche Sozial- und Strukturgeschichte zusammen mit unterschiedlichen Varianten der Mikrogeschichte: neben der Frauengeschichte standen die ›oral history‹ und die Alltagsgeschichte hoch im Kurs. Ausserdem [Fehler im Orig.] herrschten Foucault und das marxistische Paradigma. Nichts davon ließ sich in einer glanzvollen Erzählung darstellen oder bot der kollektiven Imagination Stoff für die Produktion innerer und äußerer Bilder.“109

Der von Assmann hier abgesteckte historische und kulturelle Zeitrahmen, nimmt zum einen Bezug auf die Folgen des Zweiten Weltkrieges, die bis in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts das deutsch-französische Verhältnis prägten und zum anderen die aus dem Krieg hervorgegangene Angst vor der Inszenierung imperialer Herrscherpersönlichkeiten. Die Genese einer darauf begründeten Öffentlichkeit bildete den optimalen Nährboden für die Entstehung und auch den letztendlichen Erfolg des Musée Sentimental. Zwar ging es hier nicht um die pompöse Glorifizierung von Herrscherpersönlichkeiten, jedoch wurde mit der Objekt-Fetischisierung berühmter Künstler und Persönlichkeiten ein Identifikationsmoment geschaffen. Auf der Grundlage einer Oral history des Objekts oder einer Alltagsgeschichte kamen die Trivialobjekte des Alltags in Spoerris Museum zu ihrem Recht. Als Zeitzeugen erzählten sie wahre und falsche Geschichten des Vergangenen und boten so den imaginativen Stoff, der Assmann folgend in den 1970er Jahren zu vermissen war. Zudem vollzog sich in den 1960er und -70er Jahren, auch auf dem Humus der politischen Revolten, eine Demokratisierung des Kunstbegriffs, die sich auch in der Konzeption des Musée Sentimental abbildete. Die im Musée präsentierten Exponate entstammten der Alltagssphäre und waren so nicht nur einem Fachpublikum zugänglich. Hilmar Hoffmann

109 | Aleida Assmann: Geschichte im Gedächtnis. München 2007, S. 139 f.

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benannte dieses Prinzip mit der Forderung nach einer „Kultur für alle“110. Hierbei ging es Hoffmann vor allem um die Rückeroberung urbaner Räume durch eine kulturelle Praxis, die als demokratischer Prozess der Bevölkerung verstanden wurde. Ein entscheidender Punkt für den in der vorliegenden Arbeit geführten geschichtlichen Diskurs ist zudem die Bedeutung der Europapolitik im Frankreich und Deutschland der 1960er und 1970er Jahre. Im Hinblick auf das politische Klima sowie die Entwicklung und Stabilität der Europäischen Union sollen für Deutschland und Frankreich folgende Eckpunkte zugrunde gelegt werden: Die Ölpreiskrise 1973111, Rücktritt Charles de Gaulles und Ernennung Georges Pompidous zum zweiten Präsident der V französischen Republik im Jahr 1969112 , die Demission Georges Pompidous 1968113 unter Charles de Gaulle, die Zerschlagung des Prager Frühlings 1968114, der deutsche Auschwitz Prozess 1965115, die Entkolonisierung Frankreichs bis 1962116, die Gründung der EWG 1958117 sowie natürlich die Zusammenlegung der deutschen und französischen

110 | Hilmer Hoffmann: Kultur für alle. Perspektiven und Modelle. Frankfurt a. M. 1979. 111 | Siehe dazu René Lasserre Joachim Schild, Henrik Uterwedde (Hgg.): Frankreich – Politik, Wirtschaft, Gesellschaft. Opladen 1997, S.122. 112 | Siehe dazu Claudia Hiepel: Willy Brandt und Georges Pompidou. München 2012, S. 35. 113 | Siehe dazu ebd., S. 27. Am 10. Juli 1968 entließ de Gaulle Georges Pompidou in die „Reserve der Republik“, da er seine alleinige Machtposition durch den aus seinem Schatten getretenen Begleiter bedroht sah. Vgl. Ebd., S. 34. 114 | „Die Niederschlagung des Prager Frühlings im August 1968 markierte einen Tiefpunkt nicht nur wegen der völlig unterschiedlichen Bewertung der Ereignisse und ihrer Tragweite, sondern vor allem wegen der damit verbundenen Vorwürfe, die Bundesrepublik habe durch die Intensivierung ihrer politischen und wirtschaftlichen Kontakte mit der CSSR den Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten mit verursacht.“ Ebd., S. 23. 115 | Siehe dazu Hubert Christian Ehalt: Vorwort. In: Aleida Assmann: Auf dem Weg zu einer europäischen Gedächtniskultur?. Wien 2012, S. 11-16: S. 13. 116 |  Siehe dazu René Lasserre Joachim Schild, Henrik Uterwedde (Hgg.): Frankreich – Politik, Wirtschaft, Gesellschaft. Opladen 1997, S. 120. Gilbert Ziebura hebt hervor, dass erst die koloniale Frage Frankreich abseits seiner Strukturprobleme in die Krise stürzte. Die Frage nach dem nationalen Selbstverständnis wurde in diesem Zusammenhang dadurch erschwert, dass Politik und Öffentlichkeit in einer traditionellen nationalen Ideologie gedacht wurden. Vgl. Gilbert Ziebura: Frankreich: Geschichte, Gesellschaft, Politik. Opladen 2003, S. 117. 117 | Siehe dazu Claudia Hiepel: Willy Brandt und Georges Pompidou. München 2012, S. 17.

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Kohle- und Stahlproduktion, mit der die Europäische Gemeinschaft 1950 begonnen hatte.118 Aleida Assmann weist nach: „Wir dürfen nicht vergessen, dass im Kern des Europagedankens die traumatische Erfahrung einer über ihre Grenzen expandierenden, ganz Europa kolonialisierenden deutschen Großmacht steht. […] Die Maßnahme der Zusammenführung deutscher und französischer Kohle und Stahlproduktion, die ursprünglich als Kriegsprävention gedacht war, gewann aber schon bald eine Eigendynamik und wurde zur Keimzelle einer sich stetig ausweitenden Wirtschaftkooperation. Der gemeinsame wirtschaftliche Wiederauf bau bewährte sich dabei auch, wie sich bald herausstellte, als Mittel der Anästhetisierung der Erinnerung an die traumatische Geschichte.“119

Zwei Aspekte aus Assmanns Argumentation sind für die vorliegende Arbeit konstitutiv. Erstens die Tilgung von Großmächten durch den Europagedanken, der im Ruhrgebiet mit der Gründung der EGKS 1951 120 seinen Ursprung nahm und zweitens eine Konsolidierung des Friedens durch Anästhesierung der traumatischen Ereignisse des

118 | Vgl. Aleida Assmann: Auf dem Weg zu einer europäischen Gedächtniskultur?. Wien 2012, S. 26. 119 | Ebd. 120 | „Nach Konstituierung des ‚Committee of European Economic Cooperation‘ (ECCE 1947) führten sechs westeuropäische Staaten große Teile ihrer Schwerindustrie in die sog. ‚Montanunion‘ (EGKS 1951) zusammen. Da weitergehende Projekte – z.B. eine ‚Europäische Verteidigungsgemeinschaft‘ und ‚Europäische politische Gemeinschaft‘ vor allem an Frankreich scheiterten (1954), konzentrierte sich der weitere Einigungsprozeß auf die wirtschaftli-

che Zusammenarbeit im Sinne einer Zollunion. Hier konnte ein ökonomischer Mehrwert ohne politisch-nationalen Substanzverlust erwartet werden. Unter dem Eindruck äußerer Gefahren (u. a. angesichts des Ungarnaufstands und des französisch-britischen Suezdebakels) unterzeichneten die sechs EGKS-Staaten 1957 die sog. ‚Römischen Verträge‘ zur Errichtung einer ‚Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft‘ (EWG).“ Klaus Schleicher: Zur Biographie Europas: Identität durch Alltagshandeln. Hamburg 2007, S. 54. [Herv. im Orig.]

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Zweiten Weltkrieges.121 Aleida Assman führt aus, dass sich nach dem Zweiten Weltkrieg eine Praxis des Vergessens etabliert hatte122 : „Diesen Konsens einer Politik des Vergessens praktizierten nach dem Krieg auch De Gaulle und Adenauer. Sie nahmen gemeinsame Paraden ab und zelebrierten 1962 gemeinsam das Hochamt in der Kathedrale von Reims. Damit signalisierten sie über regionale Grenzen hinweg Versöhnung und Vergebung in einem militärischen und religiösen Rahmen. Der historische Schauplatz war dabei hoch symbolisch gewählt: In der nordfranzösischen Stadt Reims war am 7. Mai 1945 die deutsche Kapitulation unterzeichnet worden, hier hatte General Eisenhower sein Hauptquartier aufgeschlagen. […] Die Gesellschaft der fünfziger und frühen sechziger Jahre ist durch das charakterisiert, was man damals »Vergangenheitsbewältigung« und eine »Politik des Schlussstrichs« genannt hat. Vergessen wurde damals nicht mit »Verdrängen« gleichgesetzt, sondern mit »Erneuerung« und einer Öffnung zugunsten der Zukunft.“123

Die nach außen gelebte Vergebung und Tilgung der Vergangenheit wurde in den 1967er und 1968er Jahren durch die Studierendenproteste aufgebrochen. Vor allem in Deutschland thematisierten die Studierenden das Engagement der Professoren während des NS-Regimes. Der Historiker Götz Aly hebt jedoch hervor, dass die Bewegung mit ihrer Veehrung des Massenmörders Mao Zedong und dem Ingnorieren der großen Nazi-Prozesse nicht besser gewesen seien, als diejenigen, deren Schweigen sie kritisierten.124

121 | Auf Basis der Erfahrungen aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts entwickelten sich überall in Europa politische Rahmenkonzepte als kulturelle Sinnsysteme, um nationalistische Tendenzen zu unterbinden. Das heißt, dass spezifische kulturelle Identitäten entweder weg- oder zumindest uminterpretiert wurden. Vgl. Rien T. Segers, Reinhold Viehoff (Hgg.): Kultur Identität Europa. Über die Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer Konstruktion. Frankfurt a. M. 1999, S. 24. 122 | Vgl. Aleida Assmann: Auf dem Weg zu einer europäischen Gedächtniskultur?, Wien 2012, S. 25. 123 | Aleida Assmann: Auf dem Weg zu einer europäischen Gedächtniskultur?, Wien 2012, S. 28 f. 124 | Vgl. (http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte/68er-bewegung/51992/1968-ineuropa?p=1, zuletzt abgerufen 23.07.2015)

Exkurs in den Situationismus Haltung, künstlerische Strategien und Einfluss der Avantgarde-Bewegung auf den Nouveaux Réalisme Guy Debord als radikaler Kritiker des Kapitalismus und der Konsumgesellschaft entwickelte als Kopf der ersten Situationistischen Internationale1 das für die Bewegung grundlegende Werk „La société du Spectacle“ (1967). Debord beschreibt darin eine Gesellschaft, deren höchste Heiligkeit die Illusion sei. Diese Gesellschaft ergehe sich in einer Verkehrung des Lebens als Spektakel.2 Debord dazu: „Die teilweise betrachtete Realität entfaltet sich in ihrer eigenen allgemeinen Einheit als abgesonderte Pseudo–Welt, Objekt der bloßen Kontemplation. Die Spezialisierung der Bilder der Welt findet sich vollendet in der autonom gewordenen Bildwelt wieder, in der sich das Verlogene selbst belogen hat. Das Spektakel überhaupt ist als konkrete Verkehrung des Lebens, die eigenständige Bewegung des Unlebendigen.“3

Debord folgend ist das Spektakel eine unlebendige Teilrealität. Es handelt sich gewissermaßen um eine Pseudo-Welt mit materieller Weltanschauung. Werbung, Massenmedien sowie die damit verbundenen

1 | Die Situationistische Internationale wurde 1957 gegründet und 1972 wieder aufgelöst. 2 | Bereits die Surrealisten „[…] formulierten in ihren gestalterischen Werken und theoretischen Texten drastisch, dass die Gegenstände gar nicht mehr als solche wahrgenommen werden könnten, weil sie längst so sehr mit Bedeutungen und subjektivem [Fehler im Orig.] Vorstellungen jeglicher Art aufgeladen und überzeichnet seien, dass man sie nicht mehr erkennen könne. Denn im Verlauf der Geschichte habe eine Metamorphose der Objekte und somit des Objektivem stattgefunden und das Gegenständliche in eine pure Zeichenwelt verwandelt. Alles sei zum Spektakel geworden.“ Uta Brandes, Michael Erlhoff, Nadine Schemmann (Hgg.): Designtheorie und Designforschung. Stuttgart 2009, S. 48. 3 | Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels, Hamburg 1978, 1. Kapitel Die vollendete Trennung.

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illusionistischen Bilder erzeugen eine Hyperrealität.4 Lefebvre schreibt in diesem Zusammenhang von Bildern des Alltäglichen „[…] in denen das Abstoßende schön, das Leere erfüllt, das Gemeine großartig wird. Und das Schreckliche »faszinierend«.“ Kein Subjekt könne sich Lefebvre folgend heute mehr der Anziehungskraft der verführerischen Bilder entziehen.5 Das Moment von Simulation und Massenmedien im Zusammenhang mit Architektur fasst Jean Baudrillard in seinem Text „Kool Killer“ zusammen: „Architektur und Urbanismus, selbst wenn sie umgestaltet sind durch Imagination, vermögen nichts zu verändern, denn sie sind selbst Massenmedien, und reproduzieren bis in ihre kühnsten Konzeptionen hinein das gesellschaftliche Massenverhältnis, das heißt, sie lassen die Leute kollektiv ohne Antwort. Alles, was sie ausrichten können, gehört zur Animation, zur Partizipation, zum urbanen Recycling, zum Design im weitesten Sinne des Wortes, das heißt zur Simulation des Tauschs und der kollektiven Werte, zur Simulation des Spiels und der nicht-funktionalen Räume.“6

Baudrillard verdeutlicht hier, dass aus seiner Sicht Architektur und Urbanismus selbst als Massenmedien zu betrachten sind, die den Rezipienten

4 | „Der Leiter des Instituts für Motivationsforschung, Dr. Dichter, behandelt in seinem Werk

Strategie der Wünsche [Herv. im Orig.] das Programm des neuen Menschen. »Wir haben uns mit dem Problem zu befassen, das Selbstvertrauen des Durchschnittsamerikaners soweit zu stärken, daß er sich, selbst wenn er flirtet, das Geld hinauswirft und einen zweiten oder dritten Wagen kauft, noch immer als ein moralisches Wesen fühlt. Ein grundlegendes Element der Prosperität liegt darin, daß die Menschen für ihre Genußsucht und Lebensfreude eine Rechtfertigung zur Hand haben, daß sie überzeugt sind, Leben als Vergnügen sei durchaus moralisch. Dieses Zugeständnis an den Verbraucher, sein Leben hemmungslos zu genießen, und der Hinweis, daß er auch das Recht darauf hat, sich mit allen Gütern auszustatten, die Lust und Glanz in seine Existenz bringen, hat der Grundsatz jeder Werbung und Verkaufsförderung zu sein.« Mit einer solchen Manipulation der Motive beginnt eine neue Ära, in der die Werbung auch die moralische Verantwortung für die Gesellschaft übernimmt.“ Jean Baudrillard: Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen. München, 3. Auflage 2007, S. 228 f. 5 | Vgl. Henri Lefebvre: Kritik des Alltagslebens. In: Ders.: Kritik des Alltagslebens, 3 Bde., Bd. 1 Kritik des Alltagslebens. München, 2. Auflage 1976, S. 43. 6 | Jean Baudrillard: Kool Killer oder Aufstand der Zeichen. Berlin 1978, S. 33.

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nicht in einen partizipativen Prozess mit einbeziehen.7 Ein wichtiges Mittel, um der Scheinwelt zu entkommen, war für Debord die Wiederaneignung der weltlichen Geschichte und der Rückblick auf Vergangenes. Die situationistische Internationale kann daher auch als einer der Wegbereiter postmoderner ästhetischer Ideen8 betrachtet werden, deren Gestaltungsprämissen eher in der Komplexität 9 als in der modernen Reduktion verortet waren. Die Gesellschaft des Spektakels ist dabei gleichzusetzen mit einer Depolitisierung im Sinne der Reduktion des Bürgers

7 |  „Mitscherlich und Berndt argumentierten gegen den ästhetischen ›Gestalt‹-Verlust des funktionalistischen Städtebaus. Es wird beklagt, daß architektonische Gebilde nicht mehr aufweisen, was Kevin Lynch als ›Einprägsamkeit‹ […] bezeichnet. Rigider funktionalistischer Urbanismus und funktionalistische Architektur produzierten soziale und individuelle Neurosen. Mitscherlich wertet das Wohnen in einer »Konfession zur Nahwelt« auf. Die ›Nahwelt‹ ist für ihn der Ort psychischer Identitätsbildung und persönlicher Imaginationskraft.“ Heinz Paetzold: Urbanismus. In: Ästhetische Grundbegriffe Studienausgabe, 7 Bde., Bd. 6 Tanz bis Zeitalter/Epoche, hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhardt Steinwachs, Friedrich Wolfzettel. Stuttgart/Weimar 2005/2010, S. 281-312: S. 298. 8 | Den Anfang einer postmodernen Diskussion bildete nicht die Architektur, sondern eine Literaturdebatte. Anschließend wurde der Begriff zunächst soziologisch analysiert und schließlich in der Philosophie rezipiert. Heute sind Sektoren wie Musik, Theater oder Ökonomie hinzugekommen. Vgl. Wolfgang Welsch: Einleitung. In: Wege aus der Moderne, hg. von Wolfgang Welsch. Weinheim, 1988, S. 1-47: S. 6. 9 | Architektur, die Komplexität proklamiert, muss sich Venturi folgend der Herausforderung einer Einheit im Mannigfachen bzw. der Bezogenheit auf die Totalität stellen. Vgl. Robert Venturi: Komplexität und Widerspruch in der Architektur. In: Wege aus der Moderne, hg. von Wolfgang Welsch. Weinheim 1988, S. 79-85: S. 80.

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auf ein unmündiges Konsumtier10. Kurz gesagt, der Situationismus und sein poetischer Zugang forderten einen aktiven Handlungsraum, während Spektakularität Passivität fokussierte.11 Der Situationismus lehnte sich gegen die Mechanisierung von Stadt und Mensch auf. Ordnung und Raster der Moderne passten nicht mehr in das ornamentale Weltbild einer postmodernen Phase, die eher den Pluralismus proklamierte. So verortet Debord die Geburt des Spektakels als Folge der industriellen Revolution in der Moderne: „Nach Debords Schätzung ist die Geburt der Gesellschaft des Spektakels Mitte der zwanziger Jahre anzusetzen. Seitdem ist es dahin gekommen, dass sie weit mehr als die Massenmedien Film und Fernsehen umfasst, sie ist zudem »ein durch Bilder vermitteltes gesellschaftliches Verhältnis zwischen Personen« (These 4). Wir werden durch unseren Status als Zuschauer definiert und somit ist das Spektakel das »Gegenteil des Dialogs« (These 18), echte Kommunikation ausschließend, entspricht es nur einer »konkreten Herstellung der Entfremdung« (These 32), einer starren, passiven Betrachtung dessen, was das Spektakel zu bieten hat – und was das Spektakel zu bieten hat, ist alles und nichts. Seine Macht

10 | Erwähnenswert sind an dieser Stelle Adaption und Missbrauch situationistischer Methoden von Großkonzernen, welche die ihnen eigentlich kontrovers oder kritisch gegenüberstehenden Gestaltungsmethoden heute anwenden, um Werbung für ihre Produkte zu machen: „Die Werbe- oder Aktivierungskampagnen adaptieren dabei Methoden, die von subkulturellen Bewegungen entwickelt und angewandt wurden: Mal mit Graffiti, mal mit gefakter Medienguerilla, mal mit Kampagnen a la Auktionskunst. Der Global Player NIKE greift in Berlin der Ästhetik der Streetculture und der subversiven Jugendbewegung auf. NIKE versucht, ein Image des Widerstandes gegen repressive Urbanität aufzubauen, und kopiert dafür die Strategien der Stadtguerilla der 70er Jahre.“ Friedrich von Borries: Die Markenstadt – Marketingstrategien im urbanen Raum. Ing. Diss. Fakultät für Architektur der Universität Karlsruhe. Karlsruhe 2004, S. 14. 11 | „»Der Mensch« ist entfremdet: sich selbst entrissen oder »entäußert«, zum Ding, zur Sache verwandelt, mitsamt seiner Freiheit.“ Henri Lefebvre: Kritik des Alltagslebens. In: Ders.: Kritik des Alltagslebens, 3 Bde., Bd. 3 Grundrisse einer Soziologie der Alltäglichkeit. München, 1975, S. 35.

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beruht in der Behauptung des Scheins und der Behauptung des gesellschaftlichen Lebens als eines bloßen Scheins (These 10).“ 12

Guy Debord hebt in seinen Thesen das Spektakel als Gegenteil des Dialogs hervor. Innerhalb des Spektakels steht die Simulation der Partizipation diametral gegenüber. Die Gesellschaft des Spektakels (1967) erzeugt Debord folgend eine Entfremdung 13, Passivität und Langeweile, auf die mit Konsum 14 und neuen Produkten reagiert wird. Das Erlebnis wird hier zum Selbstzweck und hat den Vorgang des Konsumierens in einen Erlebnisvorgang transformiert.15 Die moderne gesellschaftliche Realität sah Debord also geprägt durch Konformität und Passivität, anhand derer er auch das Desinteresse aneinander und an kreativen Prozessen festmachte. Seine Ansichten lassen sich auch anhand der etymologischen Wortbedeutung des Spektakulären herleiten. Spektakularität kommt aus dem Lateinischen von spectaculum (dt. Schauspiel) und verweist damit schon deutlich auf die darin enthaltene Aufführungspraxis.16

12 | Simon Ford nimmt Bezug auf die Thesen Guy Debords aus die „Gesellschaft des Spektakels“: Die situationistische Internationale. Hamburg 2007, S. 115. 13 | Vgl. Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels, Hamburg 1978, 1. Kapitel Die vollendete Trennung. 14 | „In dieser Konjunktur haben sich die Ideologie der Produktion und der Sinn der schöpferischen Tätigkeit in eine Ideologie des Konsums [Herv. im Orig.] verwandelt. Diese Ideologie hat die Arbeiterklasse um ihre Ideen und »Werte« gebracht, indem sie der Bourgeosie die Vorherrschaft konservierte, indem sie ihre Initiative reservierte. Sie hat das Bild des aktiven »Menschen« verwischt, indem sie ihm das Bild des Konsumenten als Motiv für das Glück, als höchste Rationalität, als Identität von Realem und Idealem (des »Ichs«, des individuellen »Subjektes«, das lebt und handelt, mit seinem »Objekt«) unterschob.“ Henri Lefebvre: Das Alltagsleben in der modernen Welt. Frankfurt a. M. 1972, S. 83. 15 | Vgl. Uwe Lewitzky: Kunst für alle? Kunst im öffentlichen Raum zwischen Partizipation, Intervention und Neuer Urbanität. Bielefeld 2005, S. 17. 16 | Dem Alltagsleben haftet damit auch etwas Illusionäres an. Lefebvre betont dabei die Illusion einer heilen Welt, die die Sehnsucht nach dem Wunderbaren nähre. Vgl. Henri Lefebvre: Kritik des Alltagslebens. In: Ders.: Kritik des Alltagslebens, 3 Bde., Bd. 1 Kritik des Alltagslebens. München, 2. Auflage 1976, S. 49.

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Regina Bittner definiert das Spektakuläre Event als Vehikel, um „zersplitterte Lebensformen hochindividualisierter Stadtbewohner“17 zu kollektivieren. Dieses Moment macht die Spektakularität attraktiv für machtinhabende Instanzen, um die eigene Position zu stärken und den Raum sowie die darin Lebenden zu kontrollieren. Das Spektakel fungiert also auch als Vereinigungsinstrument18, das jedes Bewusstsein auf sich zieht.19 Weiter oben wurde bereits festgehalten, dass Debord die Geburt des Spektakels in der Mitte der 1920er Jahre verortet. In dieser Hochphase der Modernisierung ist die Trennung in individualisierte Einzelbereiche des Öffentlichen und des Privaten kennzeichnend: „Das Leben solcher Individualität zerfällt in widersprüchliche und getrennte Dinge: Arbeit und Freizeit, öffentliches und persönliches Leben, die äußeren Umstände und die Intimsphäre, die Zufälle und das innere Geheimnis, die Chancen und die Zwänge, das Ideal und die Wirklichkeit, das Ungewöhnliche und das Alltägliche.“20

Die Idee der Moderne, wie Lefebvre sie oben mit der Trennung der Individualität hervorhebt oder Bittner mit den „zersplitterten Lebensformen hochindividualisierter Stadtbewohner“21, beherrschte ab den

17 | Regina Bittner: Body Movies. Szenerien in urbanen Netzwerken. In: Stadt. Szenen – Künstlerische Praktiken und theoretische Positionen, hg. von Gabriele Klein. Wien 2005, S. 115-129: S. 126. 18 | Vgl. Guy Debord: Die Gesellschaft des Spektakels, Hamburg 1978, 1. Kapitel Die vollendete Trennung. 19 | Regina Bittner definiert das moderne Spektakel als liminoide Kulturperformance, bei der das Visuelle zentral ist. Der gemeinsame Gebrauch des Spektakels diene zur scheinbaren Gemeinschaftsbildung in Gesellschaften. Vgl. Regina Bittner: Body Movies. Szenerien in urbanen Netzwerken. In: Stadt. Szenen – Künstlerische Praktiken und theoretische Positionen, hg. von Gabriele Klein. Wien 2005, S. 115-129: S. 123. 20 | Henri Lefebvre: Kritik des Alltagslebens. In: Ders.: Kritik des Alltagslebens, 3 Bde., Bd. 1 Kritik des Alltagslebens. München, 2. Auflage 1976, S. 154. 21 | Regina Bittner: Body Movies. Szenerien in urbanen Netzwerken. In: Stadt. Szenen – Künstlerische Praktiken und theoretische Positionen, hg. von Gabriele Klein. Wien 2005, S. 115-129: S. 126.

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1950er und 60er Jahren nahezu alle Lebensbereiche.22 Imagination und Expression gingen den Situationisten folgend zugunsten der Rigidität der Moderne verloren. Ihre Forderung nach einer poetischen Architektur machten die Situationisten an einer kritischen Haltung gegenüber dem Brutalismus der Moderne fest. Die corbusiersche Wohnmaschine23 hielte nichts für die tatsächlich menschlichen Bedürfnisse nach Poesie und Traum bereit, sondern begrübe sie als Teil der funktionalistischen Gesellschaft.24 Henri Lefebvre dazu: „Das Alltagsleben hat eine Dimension verloren: Seine Tiefe. Es bleibt nur Trivialität. Die Häuser sind »Wohnmaschinen«, oft durchaus gut konstruiert, und die Stadt ist eine Maschine zur Versorgung des Arbeitslebens außerhalb der Arbeit. Jedes Objekt, determiniert durch seine Funktion, reduziert sich auf ein Signal: Es befiehlt dies und verbietet jenes, es stiftet Verhaltensweisen, es konditioniert.“25

Das Stiften von Verhaltensweisen und die Konditionierung des alltäglichen Lebens sahen die Situationisten in der Entfremdung realisiert. Entfremdung wird von Peter Weichhart mit dem Verlust von Identifikationsangeboten des soziokulturellen Systems gleichgesetzt. Damit zusammen hingen auch der moderne Attraktionsverlust von Heimatmotiven sowie sozio-territorialer Bindungen. Die mit dem Funktionalismus einhergehenden technokratisch strukturierten Räume, die zentralistische Fremdbestimmung und die daraus resultierende räumliche Nivellierung der Lebenswelt verhinderten die emotionale Anbindung und

22 |  Vgl. Simone Egger: Heimat. Wie wir unseren Sehnsuchtsort immer wieder neu erfinden. München 2014, S. 65. 23 | Sie dazu Alban Janson, Carsten Krohn, Anja Grunwald (Hgg.): LeCorbusier. Unite D‘habitation Marseille. Fellbach 2008. 24 | „There is worse: for our intrasignet rationalists, a residential building can be nothing other than the superimposition of four, ten, any number of linked machines for living in. (…) The ambiance is overwhelming: at the end of this day, man quits his factory for working in for his factory for eating and sleeping in.“ Simon Sadler: The Situationist City. Massachusetts 1998, S. 7. 25 | Henri Lefebvre: Kritik des Alltagslebens. In: Ders.: Kritik des Alltagslebens, 3 Bde., Bd. 1 Kritik des Alltagslebens. München, 2. Auflage 1976, S. 88.

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Identifikation seitens des Individuums. 26 Ausgehend von der Entwicklung einer Leitmetapher der Architektur ab 1945 für die Gesellschaft und den Staat folgte nach Aleida Assmann die Absage an monumentale und repräsentative Baugestaltung.27 Sie schreibt: „Die großen Anstrengungen in Wirtschaft und Zukunft gehen hier mit einer Tilgung von Geheimnis und Abenteuer, von Vergangenheitssubstanz und Erinnerung einher. Die Geschichte, die sich an diesem Ort in Schichten abgelagert hatte, wird abgetragen und weicht einem hygienischen Funktionsbau […]. Der Preis für den sozialen und wirtschaftlichen Sprung nach oben ist der Verlust der eigenen Vergangenheit.“28

Assmann versteht in Deutschland vor allem das Trauma des Nationalsozialismus und die Folgen des Zweiten Weltkrieges29 als Grundlage für die Entwicklung einer „gedächtnislosen“ Stadtgestaltung.30 Erst auf diesem Nährboden konnte sich in Zusammenhang mit Wiederauf bau

26 | Vgl. Peter Weichhart: Raumbezogene Identität. Bausteine zu einer Theorie räumlichsozialer Kognition und Identifikation, Stuttgart 1990, S. 27 f. 27 |  Vgl. Aleida Assmann: Geschichte im Gedächtnis. München 2007, S. 103 ff. 28 |  Ebd., S. 108. 29 | „Der patzigen Kleinbürgerei Hitlerscher Herkunft folgte ein schäbiger, zusammengestoppelter Wiederaufbau, mit gelegentlicher Überschreitung eines landschaftsunabhängigen Minimalstandards durch Anwendung teurer Materialien – mehr als ein Dutzend ungewöhnlicher, weltgängiger Inventionen sind nicht darunter. Kunst im Schinkelschen Sinn hat 20 Jahre lang gründlich versagt. Was wir zuließen, war die Egalisierung der deutschen Städte auf einem Planungs- und Gestaltungsniveau dritter und vierter Hand. Die Zerstörung war einmalig; sie hat die Fähigkeit zur Restitution doch viel tiefer, viel nachhaltiger getroffen, als sich das unser Bewußtsein einzugestehen erlaubt. […] Sozial und material blieb kaum ein Stein auf dem anderen. Und als wieder Steine aufeinander gelegt wurden, das geschah es ohne Kraft, sich einen neuen Stil zu geben, man fand keinen Weg, sich von einem gefestigten, durchgespielten, abzusetzen. Der extreme Notstand der Überlebenden einer ungeahnten Katastrophe schien jede Kulturlosigkeit zu entschuldigen.“ Alexander Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte, Anstiftung zum Unfrieden. Frankfurt a. M. 1965, S. 63 f. 30 | Vgl. Aleida Assmann: Geschichte im Gedächtnis. München 2007, S. 104 ff.

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und Wohnungsmangel31 in den 1950er Jahren eine architektonische und städtebauliche Praxis entwickeln, die historische Strukturen negierte. Mit diesem Prozess ging in den 60er Jahren schließlich ein gesellschaftlicher Umbruch32 einher, der entscheidend durch die Situationisten vorangetrieben wurde. Simone Egger dazu: Die Proteste der Studierenden in den späten 1960er Jahren bildeten den Auftakt […] damit setzte [auch] ein tiefgründiges Nachdenken über den eigenen Lebensraum und damit über die Heimat ein.“33

Für die vorliegende Arbeit ist an Eggers Feststellung entscheidend, dass die Auseinandersetzungen und Umwälzungen der Achtundsechziger Revolten, die die Situationisten mitunter als ihr größtes künstlerisches Werk bezeichneten, auch ein Ausdruck für die erneute Hinwendung zum Thema Heimat 34 waren.

31 | „Die Monotonie der Fensterreihung der meisten Hochhäuser und der starren Addition von Siedlungshäusern sind ein abstoßender Beweis für die schwache Fähigkeit, gestalterisch mit den biologischen Prozessen (der Vermehrung) und den technologisch ausgelösten (der Ballung) Schritt zu halten.“ Alexander Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte, Anstiftung zum Unfrieden. Frankfurt a. M. 1965, S. 19. 32 | Andrea Bastian stellt heraus, dass der Heimatbegriff unmittelbar nach dem 2. Weltkrieg aufgrund des Endes einer politischen Großmacht ein zentrales Thema war. Die alte Politik der großen Bereiche wurde nun von den Siegermächten in eine Kleinräumlichkeit zurückgeworfen. Die alten Werte galten nun nicht mehr und man versuchte sich zunächst mit seiner unmittelbaren Umwelt zu identifizieren. Neuorientierung und -definition sowohl in gesellschaftlicher als auch in politischer Hinsicht waren zentral. Bastian sieht in der Nachkriegszeit einen Heimat-Begriff konstituiert, der auf ein soziales Miteinander zielt. Angesichts einer sich schnell stabilisierenden kollektiven wirtschaftlichen Erfolgsidentität verschwand die Auseinandersetzung im Anschluss schnell aus einer öffentlichen Diskussion. Vgl. Andrea Bastian: Der Heimat-Begriff. Eine begriffsgeschichtliche Untersuchung in verschiedenen Funktionsbereichen der deutschen Sprache, hg. von Helmut Henne, Horst Sitta, Ernst Herbert Wiegand. Berlin 1995, S. 139 f. 33 | Simone Egger: Heimat. Wie wir unseren Sehnsuchtsort immer wieder neu erfinden. München 2014, S. 65. 34 | Max Frisch entwickelte zu Beginn der 1970er-Jahre einen Fragebogen zum Thema Heimat. In Frage 24 heißt es dort zum Beispiel: „Können Sie sich überhaupt ohne Heimat denken?“.

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Die Proteste stellen damit die Gegenbewegung zu der von Guy Debord identifizierten Entortung. Der Mensch sollte zur persönlichen Verantwortlichkeit und Teilhabe zurückgeführt werden, um Anonymität zu überwinden und sich durch aktives Handeln selbst in die Identität seiner Region einzuschreiben.35 Ina-Maria Greverus weist darauf hin, dass eine Entfremdung im Wohnen, das heißt ein Wohnen ohne Mitgestaltungs- und Aneignungsmöglichkeiten, auch einer Entfremdung des Heimatbegriffs entspräche36: „Die Wohnmaschinen sind Symptome zunehmender Entheimatung des Menschen. Und Heimat ist für [Ernst, A. C.] Bloch Hoffnung in eine Welt der Menschlichkeit in wirklicher Demokratie, die den Menschen die Entfaltung ihrer schöpferischen Fähigkeiten ermöglicht.“37

Im Blick auf die Entwicklung schöpferischer Fähigkeiten bildeten die Situationisten diverse Vorschläge zur Rückeroberung der urbanen Oberfläche heraus. In Paris fordertden sie z.B. begehbare Dächer für Spaziergänge, zu Kinderspielsplätzen umfunktionierte Kirchen und die Auflösung von Museen, deren Schätze und Kunstwerke auf Kneipen und Cafés verteilt werden sollten.38 Die Situationisten konzentrierten ihr künstlerisches Betätigungsfeld in erster Linie auf die Alltagskultur. Henri Lefebvre hält fest: „Das Alltagsleben erscheint und nur als das Gewohnte, das Banale, das Unwahre. Warum also sollten wir nicht versucht sein, uns von ihm abzuwenden? Phantastischen Früchten und verführerischen Früchten gleich – die im Augenblick, da wir sie berühren wollen, in Staub zerfallen – warten die Mythen, die »reine« Poesie, die Mysterien auf uns, strecken uns ihre Arme entgegen.“39

35 | Siehe dazu auch Simone Egger: Heimat. Wie wir unseren Sehnsuchtsort immer wieder neu erfinden. München 2014, S. 68. 36 | Vgl. Ina-Maria Greverus: Auf der Suche nach Heimat. München 1979, S. 14. 37 | Ebd. 38 | Vgl. Klaus Ronneberger: Von der Regulation zur Moderation. In: Temporäre Räume. Konzepte zur Stadtnutzung, hg. von Florian Haydn, Robert Temel. Basel 2006, S. 49-59: S. 49 f. 39 | Henri Lefebvre: Kritik des Alltagslebens. In: Ders.: Kritik des Alltagslebens, 3 Bde., Bd. 1 Kritik des Alltagslebens. München 2. Auflage 1976, S. 139.

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Poesie und Phantasie sollten den Situationisten folgend also wieder in das Alltagsleben integriert werden, der Mensch als affektives40 und emotionales Wesen in den Vordergrund treten. Die avantgardistische Bewegung ließ sich dabei vom romantischen Begriff der Phantasie inspirieren. Jochen Schulte-Sasse dazu: „Eine nicht bloß spielerische, sondern erkenntniskritische radikalisierte Phantasie ist für Friedrich Schlegel das einzige Mittel, das dem menschlichen Geist in seinem Kampf gegen die Instrumentalisierung und Petrifizierung des Denkens in der Moderne zur Verfügung steht.“41

Um durch eine radikalisierte Phantasie zu einer Befreiung aus der Entfremdung zu gelangen, entwickelten die Situationisten diverse künstlerische Strategien. So entstand auf der Grundlage der Kreation von Situationen und des Widerstandes gegen kollektiv vereinheitlichende Systeme der Urbanisme unitaire (dt. unitärer Urbanismus). Dieser übte Kritik an der Trennung von Arbeiten, Wohnen, Konsumieren und Produzieren, wie sie die moderne Stadtplanung proklamiert hatte. Die spielerische Rückgewinnung der Einheit aller Lebensbereiche in Form performativer Strategien im urbanen Raum war dabei unter anderem das Ziel. Klaus Ronneberger dazu: „Auch wenn die avantgardistischen Ideen der Situatonisten einen ausgesprochen spielerischen Charakter besaßen, beruhten sie auf der grundlegenden Prämisse, die bebaute Umwelt auf den gesellschaftlichen Kontext zu beziehen, den Raum als Konstrukt des sozialen Handelns zu denken.“ 42

40 | „Bei Aristoteles und auch bei Platon spielen bestimmte Affekte eine wichtige Rolle für die Ermöglichung des guten Lebens: Geeignet geformt, bilden sie den entscheidenden Antrieb für Aktivitäten, die das gute Leben unterstützen.“ Friedmann Buddensiek: Stoa und Epikur: Affekte als Defekte oder als Weltbezug? In: Klassische Emotionstheorien: Von Platon bis Wittgenstein, hg. von Hilge Landweer, Ursula Renz. Berlin 2008, S. 69-95: S. 71. 41 | Jochen Schulte-Sasse: Phantasie. In: Ästhetische Grundbegriffe Studienausgabe, 7 Bde., Bd. 4 Medien bis Populär, hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhardt Steinwachs, Friedrich Wolfzettel. Stuttgart/Weimar, 2002/2010, S. 778-798: S. 787. 42 | Klaus Ronneberger: Von der Regulation zur Moderation. In: Temporäre Räume. Konzepte zur Stadtnutzung, hg. von Florian Haydn, Robert Temel. Basel 2006, S. 49-59: S. 50.

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Der unitäre Urbanismus bewegte sich als Praktik weit über die Kunst hinaus und prägte ein Raumverständnis, das sich aus menschlichen Erfahrungen und der sozialen Interaktion heraus konstituiert. 43 Die daraus entwickelte Gesellschafts– und Planungskritik sowie die erneute Hinwendung zu emotionalen Raumqualitäten ist ein wichtiger Betrachtungspunkt für die vorliegende Arbeit. Charakteristisch für die Situationisten war zudem ein künstlerischer Aktionismus, der den Rezipienten durch partizipative Momente einbezog. In diesem Kontext ging es auch um die Politisierung von Kunst. Die Situationisten proklamierten eine aktivistische Kunstpraxis im Bereich politischer und sozialer Themen.44 Dabei waren partizipative Strategien zentral für die künstlerische und theoretische Produktion. So zielten die Methoden der Pariser Situationisten u. a. auf die Technik der Störung oder auch der Provokation, um Unterbrechungen in den urbanen Fluss zu implementieren.45 Bei der Gründung der Situationisten erklärte Debord: „Wir glauben vor allem, dass die Welt geändert werden muss. Wir wollen die denkbar befreiendste Transformation der Gesellschaft und des Lebens, in die wir eingesperrt sind. Wir müssen neue Umwelten schaffen, die zugleich das Produkt und das Instrument neuer Verhaltensweisen sind.“46

Debord macht hier deutlich, dass die Situationisten von einer gegenseitigen Beeinflussung von Mensch und Architektur überzeugt waren. Neue Umwelten seien zugleich Produkt und Instrument neuer Verhaltensweisen. Interessant an den situationistischen Ideen ist hierbei die menschlich narrative Komponente, die dem urbanen Raum angetragen wurde. Guy Debord und Asger Jorn über den Stadtplan Manhattans:

43 | Vgl. Anh-Linh Ngo: Vom Unitären zum situativen Urbanismus. In: Archplus (2007), H. 183, S. 20-21: S. 20. 44 | Vgl. Silke Feldhoff: Zwischen Spiel und Politik – Partizipation als Strategie und Praxis in der bildenden Kunst, Phil. Diss. Fakultät Bildende Kunst der Universität der Künste Berlin, Berlin 2011, S. 82 f. 45 | Vgl. Hermann Korte: Urbanität? Ein Zwischenruf. In: Stadt.Szenen – Künstlerische Praktiken und theoretische Positionen, hg. von Gabriele Klein. Wien 2005, S. 41-51: S. 57. 46 | Ruth Eaton zitier t Guy Debord: Die ideale Stadt. Von der Antike bis zu Gegenwar t, Nicolaische Verlagsbuchhandlung GmbH, Berlin 2001, S. 223.

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„As you can see, we´re f lying over an island, a city, a particular city, and this is the story, also, of the city itself. It was not photographed in a studio. Quite the contrary … the actors played out their roles on the streets, in the apartment houses. … This is the city as it is, hot summer pavements, the children at play, the buildings in their naked stone, the people without makeup.“47

Hier zeigt sich, dass Urbanität erst durch die Interaktion der Menschen mit dem Raum und den damit verbundenen Geschichten und Verhaltensweisen entsteht. Narrative Methoden sind daher wichtig in der künstlerischen Herangehensweise der Situationisten. Experiment und Spiel haben in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle, wie Uwe Lewitzky herausstellt: „Mit der Rückkehr zu echten Erlebnissen und Situationen innerhalb des städtischen Raums wollten die Situationisten die Kreativität der Menschen freisetzen und entwickelten diesbezüglich verschiedene Techniken und Strategien für eine subjekt- und gebrauchswertbezogene Stadtwahrnehmung.“48

Eine der von Lewitzky benannten Strategien der subjektbezogenen Wahrnehmung von Stadt ist die sogenannte Psychogeographie: „Psychogeography was playful, cheap, and populist, an artistic activity carried out in everyday space of the street rather than in the conventional art spaces of the gallery theater.“49

Die Psychogeographie meint das experimentelle Erkunden und Entwerfen einer Stadt. Sie stellt eine neue Form der Kartographie dar, die eher subjektiv-narrativ als universell lesbar war. Bekannte Beispiele sind

47 | Simon Sadler: The Situationist City. Massachusetts 1998, S. 82. 48 | Uwe Lewitzky: Kunst für alle? Kunst im öffentlichen Raum zwischen Partizipation, Intervention und Neuer Urbanität. Bielefeld 2005, S. 20. 49 | Simon Sadler: The Situationist City. Massachusetts 1998, S. 69.

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der Guide Psychogéographique de Paris von 1957 und Naked City50 von 1958. Die künstlerische Aktion löste sich hierbei vom musealen Raum und wendete sich den urbanen Räumen des Alltags zu. 1973 forderte der Arbeitskreis Bildung und Kultur des Deutschen Städtetags: „Die Stadt muß als Ort begriffen werden, der Sozialisation, Kommunikation und Kreativität ermöglicht. Kultur in der Stadt bedeutet daher – die Kommunikation zu fördern und der Vereinzelung entgegenzuwirken, – Spielräume zu schaffen und damit ein Gegengewicht gegen die Zwänge des heutigen Lebens zu setzen, – die Ref lexion herauszufordern und damit bloße Anpassung und oberf lächliche Ablenkung zu überwinden.“51

Die hier enthaltenen Forderungen nach Spielräumen und Reflexion im urbanen Kontext finden sich auch in den Manifesten der Situationisten. Vorschläge wie die Psychogeographie und das détournement, die zu einem neuen emotionalen Erleben von Stadt führen sollten,52 sind in Konsequenz wichtige Anhaltspunkte für eine Reform der Urbanistik. Die Psychogeographie ist durch kontrastierende Wahrnehmungen geprägt, wie die Kombination subjektiver und objektiver Aneignung urbaner Exploration zeigt. Die Psychogeographie eröffnete die Beherrschung der Straße

50 | In „The Naked City“ befinden sich 19 ausgeschnittene Sektionen des Pariser Stadtplans. Die einzelnen Sektionen wurden mit Pfeilen verbunden. Die Pfeile symbolisieren spontane Bewegungen durch das Urbane. Der Plan widersetzt den universalen Vorgaben eines herkömmlichen Stadtplans und führt subjektiv-narrative Elemente ein. Vgl. Uwe Lewitzky: Kunst für alle? Kunst im öffentlichen Raum zwischen Partizipation, Intervention und Neuer Urbanität. Bielefeld 2005, S. 74. 51 | Uwe Lewitzky zitiert aus dem Vorbericht des Arbeitskreises Bildung und Kultur der 17. ordentl. Hauptversammlung des Deutschen Städtetags (1973). In: ebd., S. 83. 52 | Zur emotionalen und träumerischen Raumwahrnehmung entwickelte Gaston Bachelard die Topo Analyse . Er definierte in seiner „Poetik des Raumes“ eine Phänomenologie der Ein-

bildungskraft . In ihr sah Bachelard das Aufflammen des Seins als plötzliches Bild tief aus dem Bewusstsein auftauchend, quasi als direktes Erzeugnis des Herzens und des Individuums in seiner persönlichen Gegenwärtigkeit. Einbildungskraft wird so zur Leistung der Seele und ein erstrangiges Vermögen der menschlichen Existenz. Vgl. Gaston Bachelard: Die Poetik des Raumes. Frankfurt a. M. 1987, S. 8 f.

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auf eine neue emotionale Art.53 Das Dérive (sich treiben lassen) durch den urbanen Raum ließ die Situationisten dabei Orte zurückerobern und neu entdecken, es veränderte die städtische Wahrnehmung und ermöglichte die Formulierung von Hypothesen für eine bessere Stadt. Georg Simmels Flaneur54 galt dabei als wichtige Inspiration für Untersuchungen auf dem Gebiet der Psychogeographie. Dem Flaneur, der durch Großstädte streift, bietet sich Material zu Reflexion und Erzählung. Der Flaneur sieht und will gesehen werden. Die Situationisten machten sich mit dem Dérive und der Psychogeographie die Stadt zum Spielplatz. Selbstgestaltung und Neuinterpretation sollten dabei zu Raumerweiterung und assoziativer Wahrnehmung führen. Der Mensch sollte das urbane Umfeld ganz bewusst auf sich wirken lassen. Dabei ließ der poetische Zugang der Situationisten Freiräume

53 | „Der plötzliche Stimmungswechsel auf einer Straße in einer Entfernung von nur wenigen Metern; die offensichtliche Aufteilung einer Stadt in einzelne, scharf unterteilte Klimazonen; (…) der anziehende oder abstoßende Charakter bestimmter Ort – all dies wird scheinbar nicht beachtet, jedenfalls wird es nie als abhängig von den Ursachen betrachtet, die man durch eine tiefgreifende Analyse aufdecken und sich zunutze machen kann. Zwar wissen die Leute, dass es trübsinnige und angenehme Stadtviertel gibt. Sie bilden sich aber gewöhnlich fast ohne jede weitere Unterscheidungen ein, dass die eleganten Straßen ein Gefühl der Zufriedenheit vermitteln, während die ärmlichen deprimierend wirken. In Wirklichkeit aber hat die Vielfalt der Kombinationsmöglichkeiten von Stimmungen (…) ebenso komplizierte und differenzierte Gefühle zur Folge wie diejenigen, die jede andere Art von Spektakel auflösen kann. Schon die kleinste entmystifizierende Forschung macht sichtbar, dass zwischen den Einflüssen der verschiedenen Ausstattungen innerhalb einer Stadt eine Unterscheidung, sei sie qualitativ oder quantitativ, nicht von einer Epoche oder einem Baustil aus formuliert werden kann und noch weniger von den Wohnbedingungen aus.“ Guy Debord: Einführung in eine Kritik der städtischen Geographie. In: Der Beginn einer Epoche. Texte der Situationisten, hg. von Roberto Ohrt. Hamburg 1995, S. 18 f. 54 | Das Umherschweifen, wie wir es bei Simmels Flaneur beobachten, sowie die imaginative Wahrnehmung des Städtischen spielen auch eine Rolle der subversiven Praxis der Situatio-

nisten . In sog. psychogeographischen Erkundungen erlebten die Situationisten die Sozialität des Städtischen. Die in „Naked City“ festgehaltenen Streifzüge sprechen dabei für das Temporäre und die Entfernung der Permanenz. Tatsächlich forderten die Situationisten eine Variabilität des Raums bis hin zu einer Stadt, die einem beständigen Zerfall unterworfen sein sollte. Vgl. Klaus Ronneberger: Von der Regulation zur Moderation. In: Temporäre Räume. Konzepte zur Stadtnutzung, hg. von Florian Haydn, Robert Temel. Basel 2006, S. 49-59: S. 50.

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entstehen, die individuellen Interpretationen und Assoziationen im Raum gewährten. Während der Rezipient im Idealfall aktiv bewusst und verantwortlich behandelt werden sollte, ging es laut situationistischer Kritik in der Konsum- und Kapitalgesellschaft um programmierte Unterhaltung, um ein gesteuertes und bequemes Erlebnis sowie die totale Vorhersehbarkeit. Die Psychogeographie als Einfluss gebendes Mittel auf Verhalten und Emotion der Individuen55 und im Idealfall auch die Stadtgestaltung, bildet ein strategisches Gegengewicht zur gesteuerten Wahrnehmung und darf auch als Wegbereiter für das Werk von Kevin Lynch betrachtet werden, welcher mit dem „Bild der Stadt“ auf die Interaktion der Städter mit ihrem urbanen Umfeld verwies. Imagination und kognitives Verhalten spielen hierbei eine spezifische Rolle, um sich den urbanen Raum anzueignen. Da die Psychogeographie subjektiv und nicht universell lesbar ist, lässt sich hier eine Analogie zum Musée Sentimental und einem subjektzentrierten Rezeptionsansatz ziehen. Zudem findet sich in beiden Fällen die Konzentration auf die narrative Dimension des Urbanen. Das erklärte Ziel der Situationisten war laut Uwe Lewitzky: „[…] die Schaffung von Situationen [Hervorhebung im Orig..], die die Momente äußerster Forcierung von Subjektivität (,das Erlebte‘), der Verbindung zu anderen (Kommunikation in ,wirklicher Anwesenheit‘), der neuen Zeitlichkeit (blitzartig gelingender Moment), der Geste (des nicht-sprachlichen Verhaltens in Reaktion auf andere) und des Spiels verbinden.“56

Die Schaffung eines subjektiven Situationserlebens sowie das blitzlichtartige Aufleuchten von Wahrnehmungsmomenten sind ebenso signifikante Merkmale des Musée Sentimental, weshalb im Folgenden genauer auf mögliche Gemeinsamkeiten und Überschneidungspunkte zwischen dem Schaffen Spoerris bzw. den Nouveaux Réalistes und den Situationisten eingegangen werden soll. Weder im Musée Sentimental noch in den künstlerischen Strategien ging es um die Erzeugung eines positivistischen Monogefühls oder reiner Unterhaltung im Sinne der Unmündigkeit, sondern

55 | Siehe dazu auch Sadler, Simon: The Situationist City, MIT Press, Massachusetts 1998, S. 92. 56 | Uwe Lewitzky: Kunst für alle? Kunst im öffentlichen Raum zwischen Partizipation, Intervention und Neuer Urbanität. Bielefeld 2005, S. 71.

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um subjektive Aneignungsprozesse. Die Desorientierung die Spoerri dabei im Musée Sentimental durch ungewöhnliche Objektkombinationen oder Text-Objektkombinationen erzeugt, führen den Rezipienten, wie auch im Situationismus gefordert, zu einer Variation der Gefühle, also zum autonomen Denken, zur Analyse und zum Zweifel. Gleichzeitig wird der Rezipient ähnlich wie im situationistischen Dérive dazu angehalten, sich in der urbanen Kultur ohne Orientierung treiben zu lassen und seine Struktur fragmentarisch neu wahrzunehmen. So wurde im Dérive untersucht, „was die unmittelbare Wirkung der geographischen Umwelt auf das Gefühlsleben ausdrückt.“57 Die Stimmungen und Atmosphären des Raumes, produziert durch das Alltagshandeln der Menschen wurde dabei weitaus höher bewertet, als die urbane Oberfläche selbst. Ähnliches gilt im Musée für die Objekte. Ihre sentimentale Aura überstrahlt den fassbaren Wert. Sowohl die Situationisten als auch Spoerri erfassten also die Gefühlswirklichkeiten des Urbanen und richteten dabei ihren Blick auf das Nebensächliche, was zum Essentiellen geriet. Die Stadt steckt geronnen in jedem Exponat des Musées, welche der Betrachter dann subjektiv assoziiert. Durch die eigentümliche Verbindung der einzelnen Fragmente, (Objekte, Situationen oder Architekturen) ergeben sich Assoziationen und Geschichten in den Zwischenräumen. Das Dérive sowie das Konzept Musée Sentimental können daher beide als Instrumente der Stadtanalytik betrachtet werden. So war die Wissenschaft der Situationisten Wolman nach dem Zweck bestimmt, bewusst Situationen zu konstruieren aus Elementen, die unter anderem dem Urbanismus und der Psychologie entlehnt waren.58 Das Musée Sentimental setzt ebenfalls explizit auf die Konstruktion von Situationen, indem es die Exponate in einen neuen Kontext stellt und dadurch einen unmittelbaren Wahrnehmungsschock provoziert. Martin Zeiller bemerkt: „Im Musée Sentimental wird auf offenbare Auslegung und Interpretation der Objekte verzichtet. Bedeutungen ergeben sich durch eine chock-artige

57 | Simon Ford: Die situationistische Internationale. Hamburg 2007, S. 38. 58 | Vgl. ebd., S. 24 f.

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Montage einerseits von Objekten zueinander und andererseits von Texten zu den Objekten.“59

Objekterleben entsteht im Musée Sentimental also durch den Fragmentcharakter der Exponate bzw. durch das imaginative60 Zusammenspiel dieser Fragmente.61 Die so erreichten Kontraste, können ebenfalls als Methode der Desorientierung verstanden werden. Im Situationismus wie auch im Musée Sentimental spielt das Moment der Zweckentfremdung (détournement) eine wichtige Rolle. Dieses führt die Objekte zur Konstruktion einer neuen Mitwelt. Während im situationistischen Sinn ästhetische Fertigteile zweckentfremdet62 und collagiert wurden, vollzieht sich das Détournement im Musée Sentimental durch die Belegung von Alltagsgegenständen mit wertsteigernden Geschichten und Anekdoten. Diese erheben sie vom nichtssagenden Trivialobjekt in den Status eines auratischen Exponats. Im Situationismus wie auch im Musée Sentimental ist dabei der Umgang mit den Objekten gefühlsbetont und subjektiv. Der Rezipient entwickelt einen Ich-bezogenen Zugang zum Objekt. Im Musée Sentimental wurden in diesem Kontext vor allem die magischen Qualitäten des Alltagslebens hervorgehoben. So erhielten die Objekte durch die an sie gebundenen Geschichten eine mystische oder

59 | Martin Zeiller: Musée sentimental – Oberfläche, Organisation, Obszönität, Magisterarbeit am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen. Tübingen 1986, S. 53. 60 | „Die Imagination indessen vermag das Vergangene zu benutzen, um das Zukünftige zu erfinden. Sie projiziert die Erfahrungen und Errungenschaften in die Zukunft, und sie beginnt oftmals beim Allerältesten, um sich das im Unmöglich-Möglichen Allerfernste vorzustellen.“ Henri Lefebvre: Kritik des Alltagslebens. In: Ders.: Kritik des Alltagslebens, 3 Bde., Bd. 3 Grundrisse einer Soziologie der Alltäglichkeit. München, 1975, S. 122. 61 | Vgl. Martin Zeiller: Musée sentimental – Oberfläche, Organisation, Obszönität, Magisterarbeit am Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kultur wissenschaf t der Universität Tübingen. Tübingen 1986, S. 54. 62 | Vgl. Simon Ford: Die situationistische Internationale. Hamburg 2007, S. 41 f. Als Beispiel für den experimentell-künstlerischen Umgang mit Produkten der Massen- und Medienkultur kann die Arbeit Fin de Copenhague von Asger Jorn und Guy Debord angeführt werden. Die Arbeit besteht aus gefundenen Bildern und Texten, welche bei dem Besuch eines Zeitschriftenkiosks aufgelesen wurden. Die Collagen befinden sich auf einer Trägerstruktur von Jorns Farbtropfen Rastern. Vgl. ebd., S. 66.

Exkurs in den Situationismus

skurrile Aura.63 Dieser Prozess wird sowohl mit den Objekten des Musée Sentimental als auch mit den Schrott-Skulpturen der Neuen Realisten und den Plakat-Collagen64 der Situationisten vollzogen. Den abgelegten und unbeachteten Objekten der Alltagssphäre kommt nun eine gesellschaftliche und kulturelle Bedeutung zu. Die Wiederaneignung der Alltagskultur wird in beiden Fällen als Mittel angesehen, um der Entfremdung zu entgehen. Beide Bewegungen schöpften aus den Abfällen der Massenproduktion und des Konsums einen kreativen Mehrwert. Das als wertlos stigmatisierte Objekt generiert dabei neue Möglichkeiten. Situationismus wie auch neuer Realismus65 zielten darauf ab, die Konsumwelt einerseits zu kritisieren und sie andererseits durch differenzierte Untersuchungen oder ästhetische Hervorhebung der Alltagskultur, durch Zerstören wie Glorifizieren umzuwerten. Beide hatten den Anspruch, dem Menschen durch die Kunst eine subjektive Lebenswirklichkeit zurückzugeben. So wie sich an dieser Stelle Ideen des Situationismus mit denen des Neuen Realismus verbunden haben, stellt sich auch die Frage nach einem gemeinsamen Ursprung, bzw. einer gegenseitigen Durchdringung. Simon Sadler schreibt über den Einf luss des Situationismus auf den neuen Realismus folgendes:

63 | Mit den Magica des Alltags befasste sich auch Henri Lefebvre in seiner „Kritik des Alltagslebens“. Er schreibt: „Mehrere Kapitel sollten sich mit den kleinen Magien des Alltagslebens befassen, mit den zahllosen Kleinformen des Aberglaubens (gewohnheitsmäßige Gesten und Riten, Sprichwörter, Horoskope, Hexereien, Teufelsspuk) […].“ Henri Lefebvre: Kritik des Alltagslebens. In: Ders.: Kritik des Alltagslebens, 3 Bde., Bd. 2 Grundrisse einer Soziologie der Alltäglichkeit. München, 1975, S. 80. 64 | Als methodische Beispiele wären hier Collagen anzuführen, die die Situationisten zum Beispiel nutzten, um Werbungen zu verfremden oder deren Aussage umzukehren. Durch das Überkleben und Übermalen ergaben sich so neue Bedeutungszusammenhänge. 65 | „Den Künstlern des Nouveaux Réalisme geht es um den materiellen Stoff der Welt, die Dinge des Alltags und Realien ohne erkennbare persönliche Handschrift. Ihre Objekte sind konkret und spielerisch zugleich, sie werden durch die beteiligten Künstler auf die unterschiedlichste Weise zur Kunst und revolutionieren so den Kunstbegriff. Aus heutiger Sicht ist die Banalität mancher Objekte in ihrer direkten Übertragung zum Kunstwerk eher befremdlich.“ Susanne Padberg: Vom Fallenbild zum Bilderfall: Wunschobjekt, Fake und die Schriftlichkeit als Objekt. In: Musée Sentimental 1979. Ein Ausstellungskonzept, hg. von Anke te Heesen, Susanne Padberg. Ostfildern 2011, S. 166-182: S. 166.

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„By the late fifties, indeed, interest in the everyday life, space, and culture of the masses was mushrooming in British and American pop art and in French nouveau réalisme [emphasis by the author], though rarely in as serious and confrontational a way as the situationists would have liked.“66

Als sich die Neuen Realisten 1960 in Paris gründeten, geschah dies in einer Zeit, in der die Situationistische Internationale ihren Höhepunkt mit der 1968er Revolution vorbereitete. Nicht zuletzt deshalb kann man, auch mit Rückgriff auf Sadler, davon ausgehen, dass die Neuen Realisten sich zu ihrer Gründungszeit durch die Ideen und Methoden der Situationisten inspirieren ließen und in die eigene künstlerische Haltung integrierten.

66 | Simon Sadler: The Situationist City. Massachusetts 1998, S. 11.

8   Gedächtnisorte und künstlerische Interventionen 8.1 Die gestalterische Intervention im urbanen Kontext Henri Lefebvre beschreibt den Wohnraum als Ort der Poiesis, charakterisiert durch Symbole, Erinnerungen und Sinn. 1 Demgegenüber stünde jedoch eine Architektur des abstrakten und geometrischen Raumes, gekennzeichnet durch eine totale Reduktion des Alltäglichen.2 Richard Sennett zur Situation des Urbanen: „Das kulturelle Problem der modernen Stadt besteht darin, wie man diese unpersönliche Umgebung zum Sprechen bringen kann, wie man ihr ihre Ödnis, ihre Neutralität nimmt, deren Ursprünge an die Überzeugung geknüpft sind, daß die Außenwelt der Dinge nicht die eigentlich wirkliche Welt ist.“3

In der vorliegenden Arbeit werden künstlerisch gestalterische Arbeiten als effektives Instrument betrachtet, um die Symbole und Erinnerungen einer urbanen Alltagskultur4 auszuformulieren oder ausformulierbar zu machen und so die Stadt zum Sprechen zu bringen5. Die künstlerische Intervention im urbanen Raum ist dabei gekennzeichnet durch „die Überwindung der Isolation des Kunstsystems“6. Dieser Paradigmenwechsel be-

1 | Vgl. Henri Lefebvre: Die Revolution der Städte. München 1972, S. 192. 2 | Vgl. ebd. 3 | Richard Sennett: Civitas. Berlin 2009, S. 15 f. 4 | Die räumliche Praxis wird in diesem Zusammenhang durch das Alltagshandeln der Menschen erst konstituiert. Es entsteht ein spezifischer Rhythmus in einem Erfahrungsraum, der die Produktionsprozesse der materiellen Umwelt in sich vereint. Vgl. Hans-Jürgen Macher: Methodische Perspektiven auf Theorien des sozialen Raumes: Zu Henri Lefebvre, Pierre Bourdieu und David Harvey. München 2007, S. 61. 5 | Vgl. Richard Sennett: Civitas. Berlin 2009, S. 15 f. 6 | Gerrit Gohlke: Urbane Interventionen – Kunst im Nahkontakt mit dem städtischen Raum. Beitrag zu einer Konferenz der Heinrich-Böll-Stiftung NRW und des Essener Kulturwissenschaftlichen Instituts, Urbane Interventionen – Welche Kunst braucht die Stadt? 31.10.2003.

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Sentimentale Urbanität

gann Uwe Lewitzky folgend, in Deutschland im Laufe der 1970er Jahre und entstand aus der gewachsenen Erkenntnis, dass Kunst im urbanen Raum weder als dekorative Verschönerung zu verstehen sei, noch ohne Vermittlungsinstanzen funktioniere.7 Im Sinne einer Demokratisierung der Kunst präsentieren sich auch die im Folgenden vorgestellten Kunstprojekte im urbanen Raum. Sie steigern die Beredtheit der Stadt als soziales Gedächtnis und machen sie lesbar, indem sie städtische Orte und Objekte mit anschlussfähigen Geschichten belegen und so auch Identifikationsangebote stellen. Die authentischen Gedächtnisorte werden in den Projekten zu begehbaren Geschichtsbüchern, deren Texte die Künstler in Form von optischen Inszenierungen schreiben und dabei mit Erinnerungen arbeiten, die sich an die urbanen Orte angelagert haben: „Die Stadt schreibt sich auf ihren Mauern, in ihren Straßen nieder. Niemals jedoch wird diese Schrift vollendet werden. Das Buch hat kein Ende und viele leere oder zerrissene Seiten.“8

Lefebvre proklamiert ein Verständnis von Kultur als Text, der sich in der gebauten Umwelt niederschreibt. In diesem Zusammenhang lässt sich die Stadt auch als Palimpsest beschreiben.9 Zentral ist hierbei eine Methodik der Freilegung, Überschreibung und Bedeutungszuweisung, wie wir sie auch im Musée Sentimental finden. Hier wird die mit den Gedächtnisorten verbundene Qualität zunächst freigelegt und schließlich durch eine narrative Herangehensweise, nämlich die Belegung mit einer Geschichte, sichtbar gemacht. Assmann hält fest: „Ein Gedenkort ist das, was übrigbleibt von dem, was nicht mehr besteht und gilt. Um dennoch fortbestehen und weitergelten zu können, muß eine Geschichte erzählt werden, die das verlorene Milieu supplementär ersetzt.“10

7 | Vgl. Uwe Lewitzky: Kunst für alle? Kunst im öffentlichen Raum zwischen Partizipation, Intervention und Neuer Urbanität. Bielefeld 2005, S. 81. 8 | Henri Lefebvre: Die Revolution der Städte. München 1972, S.131. 9 | Siehe dazu auch Kapitel 2.3 der vorliegenden Arbeit. 10 | Aleida Assmann: Erinnerungsräume. München 1999, S. 309.

Gedächtnisorte und künstlerische Interventionen

Die künstlerische Arbeit erzählt nicht nur die verlorene Geschichte und sichert so den Fortbestand des Gedenkorts, sondern sie legt ebenso dar, über welche Symbole kulturelle Identität verstanden, verwendet und ausgeübt werden kann.11 Assmann dazu: „Um mit den Künstlern zu beginnen: sie nehmen sich mit Vorliebe des Unscheinbaren und Unsichtbaren an und verwandeln gerade das in einen Denkanstoß, was keinen Denkmalswert und den Status eines anerkannten historischen Ortes hat. Sie leisten damit einen wichtigen Beitrag zu der immer offenen Frage, was wir in der Gegenwart jeweils als Geschichte anerkennen oder wo wir bereit sind, Geschichte wahrzunehmen. Auf diese Weise fokussieren viele Künstler auf die Mechanismen der Erzeugung und Abblendung von Aufmerksamkeit sowie auf die Dynamik des Erinnerns und Vergessens. Sie stellen mit ihren Interventionen wichtige Metaref lexionen zu diesen kulturellen Grundsatzfragen bereit.“12

Die Wahrnehmungsqualität von Gedächtnisorten kann in diesem Zusammenhang umgekehrt oder auch gesteigert werden. Zentral ist dabei das Moment der Umkodierung. Die an dem Gedächtnisort durchgeführte künstlerische Intervention würdigt ihn als Symbol und überzieht ihn mit einem neuen Kontext. Gestaltung als Kultivierungsinstrument ersetzt hier verlorene oder verdrängte Milieus, indem sie Geschichten addiert und so den Fortbestand sichert: „Sofern diese Geschichte weiter tradiert und erinnert wird, bleiben die Ruinen Stütze und Unterpfad des Gedächtnisses, und das gilt auch für die Geschichten, die man für sie erfindet und die sich wie Efeu um die Trümmer ranken. Sofern sie jedoch kontext- und wissenlos in eine fremd gewordene Welt hineinragen, werden sie zu Monumenten des Vergessens.“13

11 | Vgl. Rien T. Segers, Reinhold Viehoff: Die Konstruktion Europas. Überlegungen zum Problem der Kultur in Europa. In: Kultur, Identität, Europa. Über die Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer Konstruktion, hg. von Reinhold Viehoff, Rien T. Segers. Frankfurt a. M. 1999, S. 28. 12 | Aleida Assmann: Geschichte im Gedächtnis. München 2007, S. 167 f. 13 | Aleida Assmann: Erinnerungsräume. München 1999, S. 315.

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Assmann folgend hat sich unter anderem Adrian von Buttlar zum Verteidiger von Architektur aufgeschwungen, der der Status des Unbequemen in ästhetischer oder ideologischer Hinsicht zukäme. Als Erinnerungsträger müsste diese Architektur erhalten werden, um so auch Widersprüchlichkeiten sichtbar zu machen und einer Anästhetisierung des Vergangenen entgegenzuwirken.14 Richard Sennett stellt heraus: „Der Planer einer modernen, humanen Stadt müßte die Unterschiede übereinanderschichten statt sie zu segmentieren, und zwar aus dem gleichen Grund. Aus der Überlagerung ergeben sich komplexe, offene Grenzen. Das Humane Rezept lautet: Verschiebung statt Linearität.“15

Humane Urbanität propagiert also eine Kultur des Unterschieds, indem sie durch offene Bedeutungszuweisungen vor allem ein Moment der Komplexität befördert. Sennett sieht dies realisiert durch narrative Methodiken, mit denen bestimmte Erzählungen im Alltag wirksam und Räume mit Zeit gefüllt werden.16 Auch die hier vorgestellten Arbeiten erzeugen im Rahmen einer Gedächtniskunst eine Aufmerksamkeit für vernachlässigte Gedächtnisorte und entreißen sie dem Vergessen oder heben sie erst aus ihrer Namenlosigkeit hervor. Sabine Folie dazu:

14 | Vgl. Aleida Assmann: Geschichte im Gedächtnis. München 2007, S. 131. Einer der bekanntesten Vorschläge zur Neutralisierung von Geschichte ist der Plan Voisin, den Le Corbusier 1925 für Paris entwickelte: „Dieser Plan hätte das mittelalterliche Stadtviertel Marais dem Erdboden gleichgemacht. Anstelle des tausend Jahre alten Häuserwirrwarrs wollte Le Corbusier riesige Hochhäuser mit kreuzförmigem Grundriß auf einem Gitternetz errichten. Dabei war es ihm ziemlich gleichgültig, daß sein Plan Voisin immense Zerstörungen einschloß […]. Die Hochhäuser mit dem kreuzförmigen Grundriß sind als architektonischer Ausdruck der Maschinenproduktion gedacht; sie sind beliebig wiederholbar. Insofern bilden sie ein unabgeschlossenes Gitter vom modernen Typus; dem Plan Voisin sind keine Schranken gesetzt, er könnte sich auf das Marais ebenso wie auf ganz Paris erstrecken. Der planerische Akt wendet sich dagegen, wie menschliches Wohnen und Leben sich in alternden Steinen und Häusern niederschlägt und in ihnen festgehalten wird. […] So gehen in Le Corbusiers Manifest historische Beziehungen und konkrete Details verloren; sein Plan ist der Inbegriff einer gleichsam körperlosen, neutralen Stadt.“ Richard Sennett: Civitas. Berlin 2009, S. 245 f. 15 | Ebd., S. 286. 16 | Vgl. ebd., S. 270.

Gedächtnisorte und künstlerische Interventionen

„Der Ton ist registrierend, dokumentierend, ironisch kommentierend, aber eben auch der berichtende Ton einer romantischen Reise, einer éducation sentimentale [Herv. im Orig.] gewissermaßen, die durch die Erforschung der mehr oder weniger sichtbaren Abgründe, Untergründe und Ruinen der urbanen Topologien das kollektive Unbewusste offenlegt und Platz für einen verinnerlichten Erfahrungsraum schafft.“17

Auch wenn Folie sich hier in erster Linie auf das Werk Matta-Clarks bezieht, so lassen sich im Zusammenhang der in der Arbeit diskutierten Interventionen das Gefühl oder Herz im Sinne einer „éducation sentimentale“18 als wegweisend hervorheben, um die gestalteten Orte aus ihrer Kontextlosigkeit zu emanzipieren. Dass Folie die Auseinandersetzung mit urbanen Topologien als sentimentalen Prozess beschreibt, ist im Verständniskontext der vorliegenden Arbeit besonders hervorzuheben. Unter Rekurs auf Gustave Flaubert stellt sie so eine Verbindung zwischen der Historizität des Urbanen und einer Schule der Empfindsamkeit her.19 Das affektiv Emotionale tritt in der Wahrnehmung der urbanen Oberfläche hervor. Versteht man die Stadt selbst als ein sentimentales Museum, so bilden die in ihm befindlichen Orte, Architekturen und Objekte die Exponate. Ebenso wie das Museum, hat auch die Stadt die Aufgabe, ein kulturelles Gedächtnis sowie die damit verbundenen Analogien zu sichern. Der Zusammenhang von Musealität und Stadt lässt sich mit Aleida Assmann darlegen: „Der Schritt vom Generationen – zum Gedenk- und Erinnerungsort, vom ‹milieu de mémoire› zum ‹lieu de mémoire›, erfolgt mit dem Abbrechen, Zerbrechen von kulturellen Bedeutungs-Rahmen, und gesellschaftlichen

17 | Sabine Folie: Einführung. In: Die Moderne als Ruine. Eine Archäologie der Gegenwart, hg. von Sabine Folie. Wien 2009, S. 8-9: S. 9. 18 | Siehe dazu Gustave Flaubert: Lehrjahre des Herzens, Coburg 1996. 19 | Dies geschieht auch im Musée Sentimental . Spoerri verfolgt hier einen Sentimentalitätsbegriff, der sich aus der Tradition der Empfindsamkeit sowie aus der Tradition der Kunst- und Wunderkammern speist. Beide verfolgen dabei eine theoretische und praktische Neugierde. Vgl. Gottfried Korff: Interview. »Es leistet viel, weil es viel zulässt«. In: Musée Sentimental 1979. Ein Ausstellungskonzept, hg. von Anke te Heesen, Susanne Padberg. Ostfildern 2011, S. 102-118: S. 106 f.

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Kontexten. Wie die Gebrauchsgegenstände die ihren ursprünglichen Funktions- und Lebenszusammenhang verloren haben, als Relikte vom Museum aufgenommen werden. Gegenstände, die ihren Kontext verloren haben, nähern sich Kunstgegenständen an, die von vornherein auf funktionsfreie Kontextlosigkeit angelegt sind. Dieser schleichenden Ästhetisierung von Gegenständen im Museum entspricht einer schleichende Auratisierung der Relikte an Erinnerungsorten.“20

Objekte die im Museum präsentiert werden, haben ihren ursprünglichen Funktions- und Lebenszusammenhang verloren und werden so zu Kunstgegenständen, die auf eine Kontextlosigkeit angelegt sind. Dieser Prozess entspricht Assmann folgend der Auratisierung von Gedächtnisorten. Demnach erfährt ein urbaner Gedenkort dieselbe Ästhetisierung wie ein museales Objekt. Gedächtnisorte können nach Trond Maag auch als Orientierungspunkte verstanden werden: „Ich möchte in diesem Zusammenhang daher den Begriff des ›Orientierungspunkts‹ vorschlagen. Ein Ort wird zum Orientierungspunkt und erzeugt ein räumlich stabilisierendes Moment, so mein Verständnis, wenn die Differenzen seiner Eigenschaften gegenüber anderen Orten wahrgenommen und narrativ – über Geschichten oder Erinnerungen an bestimmte Momente – repräsentiert werden.“21

Um also das identitätsbildende Potential eines Gedächtnisorts entfalten zu können oder zu sichern, müssen seine Geschichten und Erinnerungen narrativ repräsentiert werden. Die so entstehende Allegorie innerhalb eines gestalterischen Zeremonials hat Einfluss auf die menschliche Bewusstseinsentwicklung und auf die Entstehung eines Wir-Gefühls.22

20 | Aleida Assmann: Erinnerungsräume. München 1999, S. 338. 21 | Trond Maag: Orientierungspunkt Bahnhof. In: Des-Orientierung 2, hg. von Ruedi Baur, Clemens Bellut, Stefanie-Vera Kockot, Andrea Gleininger. Baden 2010, S. 228-233: S. 231. 22 | „Sehen wir die Stadt in diesem Zusammenhang, dann treten zwei Funktionen hervor, die sie für ihre Bewohner hat. Sie ist, einerseits, Ort der Sicherheit, der Produktion, der Befriedigung vieler Vitalbedürfnisse. Andererseits ist sie der Nährboden, der einzigartige Ort der menschlichen Bewußtseinsentwicklung – sowohl im Einzelnen wie auf der Gruppenebene als Wir-Bewußtsein.“ Alexander Mitscherlich: Die Unwirtlichkeit unserer Städte, Anstiftung zum Unfrieden. Frankfurt a. M. 1965, S. 14.

Gedächtnisorte und künstlerische Interventionen

In diesem Zusammenhang ist der partizipative Ansatz gestalterischer Auseinandersetzungen im urbanen Raum entscheidend. Im Rahmen partizipativer Strategien werden die Rezipienten entweder aktiv in den Gestaltungsprozess mit eingebunden oder stehen mit ihren Bedürfnissen im Mittelpunkt einer künstlerischen Entwicklung die die urbane Lebensqualität verbessern soll.23 Christopher Dell legt dar: „[Gestaltung , A. C.] […] ist nicht politisch durch die Art und Weise, wie sie die Strukturen der Gesellschaft eins zu eins repräsentiert, ihre Konf likte oder ihre Identitäten zeigt. Sie ist politisch durch den Abstand, den sie im Hinblick auf diese Funktionen findet. Sie ist politisch durch die Art und Weise, wie sie spezifische Zeiträume erzeugt und erfahrbar macht, wie sie Verhandlungen über einen spezifischen gesellschaftlichen Raum ermöglicht und mitgestaltet.“24

Dell hebt hier die Gestaltung als Vehikel hervor, um Werkzeuge und Methoden zu entwickeln, die die Verhandlung über gesellschaftliche Räume ermöglichen. Hierbei geht es ebenso um die Implementierung von Unwahrscheinlichkeiten, die sich natürlicherweise durch partizipative

23 | „So dient in einer ersten Phase das Design dazu, die Stadt zu erfassen, sie abzustecken, zu markieren, und dazu, alle freien Zonen an die Peripherie zu treiben. […]. In einer zweiten „modernistischeren“ Phase jedoch besteht die Aufgabe des Designs darin, im vorhinein jenen für immer verlorenen Freiraum zu antizipieren und zu simulieren, den Freiraum der Kinder, der freien Wege, der verlorenen Zeit, des Umwegs, der urbanen Imagination und der Revolte.“ Christopher Dell: Improvisation als (Des)-Orientierung. In: Des-Orientierung 2, hg. von Ruedi Baur, Clemens Bellut, Stefanie-Vera Kockot, Andrea Gleininger. Baden 2010, S. 32-41: S. 39. 24 | Ebd.

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Modelle ergeben. 25 So entwickelt sich die partizipativ angelegte gestalterische Intervention nach Umberto Eco hin zu einem „offenen Kunstwerk“26, das kulturelle und soziale Funktionen aktiviert. Ein offenes Kunstwerk hat kein fest definiertes Ziel, da seine Aussage erst im Prozess entsteht. Improvisierende oder auch desorganisierende Faktoren sind dabei in der Regel Teil des Prozesses. Bezogen auf die hier untersuchte gestalterische Intervention an urbanen Gedenkorten, forciert der partizipative Ansatz ebenso einen offenen Symbolbezug, da bedingt durch die fehlende Steuerung diverse Gedächtniseinträge seitens der Rezipienten ermöglicht werden. Die Offenheit der künstlerischen Interventionen ermöglicht dem Subjekt dabei neue Erfahrungsmuster und Alltagswahrnehmung27 und macht durch Pluralität den gestalterisch kultivierten Gedächtnisort anschlussfähig. Die improvisatorische Aneignung von Geschichte wird zur prozessorientierten Interpretation. Geschichte realisiert sich hier durch die Subjekte und ihre Objekte, die sie zuvor produziert haben. Christopher Dell verdeutlicht diesen Prozess anhand der Aneignung von Raum: „Die synthetische Bewegung in der situativen (improvisatorischen) Aneignung von Raum ist als aktiver Prozess des Verstehens und Deutens zu begreifen. Die Bewegung der Handlung des Subjekts in der Auseinandersetzung mit dem urbanen Sein, das es gleichzeitig als sozialen Raum mitproduziert. Orientierung ist dann auch eine Frage des Massstabs

25 | „[…] Mitte der Sechziger [entstand, A. C.] die Idee, das Publikum nicht länger auf die bloße Betrachtung der Kunstobjekte zu fixieren, sondern es zum Handeln mit ihnen zu autorisieren. Solche von den Künstlern dem Publikum zugedachte Selbsttätigkeit entspricht nicht nur noch weitergehend dem Ideal der Autonomie, sondern ist vor allem auch prinzipiell unerschöpflich, so daß die Handelnden etwa […] sowie in der Happening- und Fluxusbewegung gleichsam als ständige Unwahrscheinlichkeits-Generatoren fungieren können. […] Daß sich auf diese Weise die Unwahrscheinlichkeiten von Laien und Künstlern wechselseitig potenzieren ließen, machte das Ästhetische als eine spezifische menschliche Erfahrungsform weiterhin möglich.“ Michael Lingner: Ermöglichung des Unwahrscheinlichen. Von der Idee zur Praxis ästhetischen Handelns bei Clegg & Guttmanns Offener Bibliothek. In: Clegg & Guttmann. Die Offene Bibliothek, hg. von Achim Könneke. Ostfildern-Ruit 1994, S. 47-52: S. 50. 26 | Umberto Eco: Das offene Kunstwerk. Berlin. 1977. 27 | Vgl. Christopher Dell: Improvisation als (Des-) Orientierung. In: Des-Orientierung 2, hg. von Ruedi Baur, Clemens Bellut, Stefanie-Vera Kockot, Andrea Gleininger. Baden 2010, S. 32-41: S. 40.

Gedächtnisorte und künstlerische Interventionen

und der Fähigkeit, Massstäbe zu wechseln. Unter diesem Gesichtspunkt eröffnet sich eine paradoxe Perspektive: Komplexität und Mehrdeutigkeit tragen zur Orientierung sogar bei, denn sie regen Differenzierung von Wahrnehmung an und lassen Heterogenität des Möglichen zu. Empfindung wird entscheidend: zu fühlen, wo es hingeht. Wer nur der Form nach bestimmt und erkennt, verliert sich in der Abstraktion unrealer Möglichkeit. Erst durch die Empfindung wird Möglichkeit zur Wirklichkeit.“28

Dell folgend führt also die Praktik der Desorientierung oder Unordnung 29 zu einer Variation der Gefühle, was wiederum die Wahrnehmungskomplexität in Richtung des Absoluten steigert. Die Phantasie30 generiert dabei die Wirklichkeit. Eine Praktik der „Des-Routine“31, durch die Implementierung von Varianzen, ist hierbei nicht nur als ein Topos

28 | Christopher Dell: Improvisation als (Des-) Orientierung. In: Des-Orientierung 2, hg. von Ruedi Baur, Clemens Bellut, Stefanie-Vera Kockot, Andrea Gleininger. Baden 2010, S. 32-41: S. 34. 29 | Lefebvre definiert die Straße als Unordnung per se. Sie sei ein Ort der lebendigen Begegnung und des urbanen Flusses. Die Unordnung der Straße schaffe Lefebvre folgend eine höhere Ordnung. Vgl. Henri Lefebvre: Die Revolution der Städte. München 1972, S. 25. 30 | „Das seit dem frühen 16. Jh. gebräuchliche ›Einbildungskraft‹ ist die dt. Entsprechung von griech. ›phantasia‹ und lat. ›imaginatio‹ oder ›phantasia‹. Die Wortprägung geht offensichtlich auf Paracelsus zurück, der sie als Übersetzung von lat. ›vis imaginationis‹ einführte. Bis ins 18. Jh. werden Einbildungskraft, Imagination und Phantasie meist als gleichbedeutend behandelt.“ Jochen Schulte-Sasse: Einbildungskraft/Imagination. In: Ästhetische Grundbegriffe Studienausgabe, 7 Bde., Bd. 2 Dekadent bis Grotesk, hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhardt Steinwachs, Friedrich Wolfzettel. Stuttgart/ Weimar, 2001/2010, S. 88-121: S. 89. 31 | Henri Lefebvre: Die Revolution der Städte. München 1972, S. 36.

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des Chaos zu verstehen, sondern ebenso als Ausdruck der phantasievollen Wahrnehmung.32 Lothar Romain stellt fest: „Eingriffe in eine vorgegebene Ordnung müssen diese nicht zerstören, sondern können ihr die Unerbittlichkeit nehmen. Die Alternative heißt nicht Chaos, sondern das Ereignis der Ausnahme.“33

Indem die Integration des Chaos alternative Sichtweisen erschließt, können daraus entstandene symbolische Bezüge zu neuen Anschauungskategorien im urbanen Kontext führen. Die im Folgenden vorgestellten Interventionen befördern eine Kultur der Komplexität und Diversität indem sie sich gegen eine global verständliche Beliebigkeit und Kontextlosigkeit eines Verbrauchs-Urbanismus wenden.

32 | Der Zusammenhang zwischen Phantasie und Chaos lässt sich auf die Romantik zurückführen. Jochen Schulte-Sasse dazu: „Die Frühromantiker kehren folglich die aufklärerische Charakterisierung einer ungebundenen Phantasie als Wahnsinn um. Phantasie ist ihnen Garant der Gesundheit, ein Vermögen, das Wirklichkeit (im Sinne von Bestimmtheit bzw. Strukturiertheit) in erkenntniskritischer Absicht verflüssigt. Es wird in ihren Augen als Vermögen gerade deshalb immer wichtiger, weil das Projekt der Moderne zu materiellen wie kognitiven Einschränkungen und Begrenzungen von Wirklichkeit geführt hat – ein Prozeß, der seinerseits die intellektuelle Kreativität des Menschen eingeengt hat. Die Bedingungen der Moderne, so die Romantiker, haben das nachdrückliche und berechtigte Bedürfnis hervorgerufen, etablierte und ossifizierte Denkstrukturen durch nicht-konformes Denken aufzuweichen. […] Was sich dem Versuch des Verstandes widersetzt, Wirklichkeit zu kategorisieren bzw. kausalgenetisch zu verstehen, muß ihm chaotisch erscheinen. Für die Romantiker eröffnet das Chaotische jedoch einen Zugang zum Absoluten.“ Jochen Schulte-Sasse: Phantasie. In: Ästhetische Grundbegriffe Studienausgabe, 7 Bde., Bd. 4 Medien bis Populär, hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhardt Steinwachs, Friedrich Wolfzettel. Stuttgart/ Weimar, 2002/2010, S. 778-798: S. 788. 33 | Lothar Romain (Hg.): Busstops. Internationales Design-Projekt 1994. Hannover 1994, S. 58.

Gedächtnisorte und künstlerische Interventionen

8.2 Projekt Hotel Neustadt : Raumlabor, 2003 Ausgangspunkt für die Entstehung des Hotel Neustadt bildete der Wettbewerb Stadtumbau-Ost für Halle-Neustadt. Das Stadtplanungsamt Halle beauftragte das Raumlabor Berlin damit, neue Perspektiven für die Stadtentwicklung Halle-Neustadts zu konzipieren34. Markus Bader offenbart: „So entstand der Raumlabor-Vorschlag, Halle-Neustadt zu KoloradoNeustadt weiterzuentwickeln: eine offene Strategie, die darauf abzielt, den ehemals homogenen Stadtteil innerlich und äußerlich zu diversifizieren, die Bewohner für die Chancen im Transformationsprozeß als Akteure zu gewinnen, mit dem Einrichten von Kommunikationsplattformen den Austausch unter den Akteuren zu stimulieren und die ganze Entwicklung mit zeitlich gestaffelten Impulsen gezielt in Gang zu setzen. Der erste Schritt ist eine radikale Neustrukturierung von Neustadt in neue Untereinheiten. Im nächsten Schritt werden für ausgewählte Teilfelder zusammen mit lokalen Teams Maßnahmenkonzepte entwickelt.“35

34 | „Projektansatz: Halle-Neustadt ist eines der letzten europäischen Idealstadtprojekte. Die Stadt wurde auf politischen Beschluß 1964 gegründet und für die Chemiearbeiter von Buna, Leuna und Bitterfeld bis in die neunziger Jahre weitergebaut. Rationalisierungen in der Industrie führten zu Arbeitslosigkeit und Wegzug, Halle-Neustadt schrumpfte von mehr als 100.000 auf um die 65.000 Einwohner. Rund ein Viertel der zu 99% in Plattenbauten liegenden Wohnungen stehen heute leer. Um mit unseren Vorschlägen möglichst direkt auf die Probleme reagieren zu können, verfolgten wir eine doppelte Strategie der Ortsanalyse: zum einen die klassische Studioarbeit mit den Mitteln des Plans, der Tabelle und der Planungsgeschichte, zum anderen die Mittel der systematischen und unsystematischen subjektiven Ortserkundungen. Wir führten experimentelle Stadtläufe durch, befragten und diskutierten mit Bewohnern, mieteten und bewohnten eine P2-Wohnung im 11. Stock, luden zum Kaffeetrinken ein, entdeckten die Menschen hinter der Hallenser Subkultur, diskutierten das Wohnen in der Platte, den Imagewandel, das Grün, den Städtebau, die Nachbarn und die Zukunft. Unser Bild von Halle- Neustadt wurde zu einem komplexen Gebilde aus sechs individuell gefärbten, vernetzten Interpretationen all dieser Wahrnehmungsebenen.“ Markus Bader im E-Mail Interview mit ARCH+ (Nikolaus Kuhnert, Susanne), 2003 (http://www.archplus.net/ home/archiv/artikel/46,53,1,0.html, zuletzt aufgerufen 05.02.2014. 35 | Ebd.

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Eines der von Bader beschriebenen Maßnahmenkonzepte war das Hotel Neustadt , eine im Sommer 2003 entstandene Vision von Hotel und Theater in Halle-Neustadt. Bader dazu: „Ein wichtiger Baustein der Kolorado-Strategie ist die Installation von Aktionsknoten. Das sind Aktionen, die Leute vor Ort zusammenbringen und andere nach Neustadt holen, die sonst nicht dorthin kämen. Bestes Beispiel ist das diesjährige Theaterfestival in Halle, “Hotel- Neustadt“, dessen Organisationsteam mit Benjamin Foerster-Baldenius und Matthias Rick gleich zwei Raumlabor- Aktive enthält. Herausforderung und Themenschwerpunkt des Festivals sind Halle-Neustadt, Leerstand und Perspektiven. Teil des Projektes ist es, eins von vier leerstehenden 18-geschossigen Hochhäusern im Zentrum von Neustadt, ein ehemaliges Wohnheim für 1.000 Studierende, für die Dauer des Festivals als temporäres Hotel zu nutzen.“ 36

An das Hotelprojekt, das vom Raumlabor Berlin koordiniert und durch Jugendliche der Stadt Halle Saale gebaut und gestaltet wurde, schloss sich ein Festival des Thalia Theaters an, welches im Hotel Neustadt im September 2003 zum Thema „Leben in Großwohnsiedlungen“ stattfand.37 Die Location des Hotel- und Theaterfestivalprojekts bildete ein leerstehender Plattenbau, den Jugendliche, inspiriert durch die Gestalter und Architekten des Raumlabors, revitalisierten. Jedes Hotelzimmer wurde mit unterschiedlichen Themenschwerpunkten und damit auch ästhetischen Aspekten geplant. So gab es neben einem „Oma-Zimmer“ z. B. auch einen „Aggressionsraum“ und ein „Comic-Zimmer“. Besonders das „Oma-Zimmer“ eignet sich an dieser Stelle, um eine sentimentale Dimension des Projekts aufzuzeigen. So machen die in dem Zimmer enthaltenen sentimentalen Symbole auf das, was man vielleicht auch aus der eigenen Erinnerung an die „gute Stube“ der Großmutter kannte, den Kitsch als äußerste Klimax der Sentimentalität

36  |  Markus Bader im E-Mail Interview mit ARCH+ (Nikolaus Kuhnert, Susanne), 2003 (http:// www.archplus.net/home/archiv/artikel/46,53,1,0.html, zuletzt aufgerufen 05.02.2014. 37 | Vgl. Autor unbekannt: Thalia Theater Halle: Hotel Neustadt (http://www.hotel-neustadt. de/deutsch/index_html.html zuletzt aufgerufen 07.10.2010).

Gedächtnisorte und künstlerische Interventionen

sichtbar.38 Kitsch kann man in diesem Zusammenhang auch als „Beseelung“ toter Objekte verstehen.39 Unter Rückgriff auf Abraham A. Moles hält Volker Steffen fest: „Festzuhalten bleibt, was Abraham A. Moles zum Zusammenhang von Sentimentalität und Kitsch zu sagen hatte: Die Kitschdimension ist das äußerste, was an Sentimentalität überhaupt möglich ist …“40 [Herv. im Orig.]

Das „Oma-Zimmer“ steht an dieser Stelle sinnbildlich für diverse sentimentale Qualitäten des Projekts. Die Sentimentalität war in diesem Zusammenhang vor allem zentral, um den leerstehenden Plattenbau als Gedächtnisort zu kultivieren und ihn im Rahmen des spoerrischen Anekdotierens mit emotionalen Verweisen aufzuladen. Neben einem nostalgischen Rückblick eröffnete das Projekt jedoch auch Zukunftsperspektiven. Durch Anerkennung und Auseinandersetzung mit dem Vergangenen erwuchsen hier neue Perspektiven. Die Idee des temporären Wohnens in der leerstehenden Platte resultierte nicht zuletzt aus den Wünschen und Vorstellungen, die Jugendliche zu ihrer individuellen Zukunft und zu möglichen Wohnvorstellungen formulierten. Damit ist das Projekt auch im Licht von Heimatwahrnehmungen identitätsbildend. Es forciert die

38 | „Ein zweiter denotativer Kernbereich der Bezeichnung Kitsch ist die spezifische Art und Weise ästhetischer Wahrnehmung von Gegenständen und Beziehungen: Kitscherleben ist privat, isoliert, gefühlsimmanent und distanzlos. Es ist solipsistischer Genuß: Genüßlichkeit statt Genuß. Während der distanzierte ästhetische Genuß auf den Gegenstand gerichtet ist und ihn zugleich transzendiert, verliert die kitschige Genüßlichkeit ihr Objekt und genießt nur noch die durch den Gegenstand ausgelösten Stimmungen und Gefühle für sich.“ Dieter Kliche: Kitsch. In: Ästhetische Grundbegriffe Studienausgabe, 7 Bde., Bd. 3 Harmonie bis Material, hg. von Karlheinz Barck, Martin Fontius, Dieter Schlenstedt, Burkhardt Steinwachs, Friedrich Wolfzettel. Stuttgart/Weimar 2001/2010, S. 272-289: S. 277. 39 | Bazon Brock: Kitsch als Objektmagie. In: Ders.: Der Barbar als Kulturheld. Gesammelte Schriften 1991-2002, hg. von Anna Zika. Köln 2005, S. 578-582: S. 578. 40 | Volker Steffen zitiert Abraham A. Moles: Unfähigkeit zu vergessen. Über das sentimentale Prinzip der Erinnerung. Bielefeld 2012, S. 136.

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Sentimentale Urbanität

Auseinandersetzung mit den eigenen Vorstellungen und Wünschen für das persönliche Lebensumfeld.41 Walter Prigge erkennt: „Schrumpfende Städte in Ostdeutschland haben zu viel Vergangenheit und zu wenig Zukunft. Sie gewinnen diese wieder zurück, wenn es ihnen gelingt, urbane Perspektiven zu erobern. Es ist die Jugend, die das Hotel Neustadt animierte, solchen urbanen Eroberungswillen zu verwirklichen: Selbst zwischen kindlicher Vergangenheit und erwachsener Zukunft schwankend, entdecken Jugendliche frische Potenziale der schrumpfenden Stadträume, erobern sich ungeplante Spielräume in gewohnter Architektur und verwirklichen Träume im alltäglichen Probehandeln auf Zukunft.“42

Prigge folgend entwickelten also die an dem Projekt teilnehmenden Jugendliche neue und unbelastete Perspektiven für den alten Plattenbau. An die Gestaltung der Hotelzimmer schlossen sich Konzeptideen und Umsetzungen zur Lobby, einem Wellnessbereich, einer Sauna und einer Hotelbar an. Die Ressourcen, die das Gebäude selbst lieferte, wurden genutzt, um daraus neue Sachen zu entwickeln: „Innerhalb des Hotelprojekts gab es Raumlabor-Plug-Ins: Mit der gocji-crew, einer Studentengruppe der BTU Cottbus, untersuchten wir, wie die beim Abriß von Gebäuden anfallenden überf lüssigen Materialien und Strukturen als Ressource begriffen werden können. Experiment: Wie kann man mit 50 Türen in einem heruntergekommenen Hochhaus temporäre Wohnenklaven schaffen? Wir wohnten und bauten eine Woche lang vor Ort. Im Rahmen des Hotel-Neustadt- Festivals erprobten wir dann den Freizeitwert von 50 weiteren Türen: Zusammen mit Jugendlichen aus Hallenser Radfahrszenen bauten wir daraus einen Bikeparcours auf dem Neustädter Platz.“43

41 | Siehe dazu auch Simone Egger: Heimat, wie wir unseren Sehnsuchtsort immer wieder neu erfinden. München 2014, S. 74. 42 | Walter Prigge: Jugendliche Zukunft. In: Thalia Hotel Neustadt, hg. von Thalia Theater Halle. Berlin 2004, S. 42-43: S. 42. 43  |  Markus Bader im E-Mail Interview mit ARCH+ (Nikolaus Kuhnert, Susanne), 2003 (http:// www.archplus.net/home/archiv/artikel/46,53,1,0.html, zuletzt aufgerufen 05.02.2014.

Gedächtnisorte und künstlerische Interventionen

Die Peanutz Architekten Elke Knöß und Wolfgang Grillitsch entwickelten begleitend das Projekt „SR-Balconytuning“, das es sich zum Ziel machte, durch individuelle Balkongestaltungen einer architektonischen Eintönigkeit entgegenzutreten. Der Künstler Kyong Park konzipierte die architekturutopische Umnutzung „The Slide“, bei der er eine riesige Rutschröhre durch das gesamte Gebäude führen sollte. Wesentliches Ziel dieser Idee war die Rückführung von Freude und Spiel in die Architektur. Neben einer zumindest temporären Verbesserung von Lebensqualität durch kulturelle Reichhaltigkeit während des Theaterfestivals und Hotelbetriebs zeichnete sich das Projekt Hotel-Neustadt jedoch auch durch soziale Aspekte aus, die eine nachhaltige Veränderung im Umgang mit der Stadt und der Lebenssituation der Halle-Neustädter herbeiführen sollte. Das Thalia Theater trat in dem Projekt als Mediator auf und schaffte einen Ort der Kommunikation, indem das Spezielle des Stadtteils, soziale Probleme sowie Geschichte und Perspektiven in dem Projekt thematisiert und als Aktionsraum begriffen wurden. Halle-Neustadt, errichtet als Arbeiterunterkunft für die umliegende Chemieindustrie, ist heute durch Leerstand und Arbeitslosigkeit geprägt. Einst Vision einer modernen Stadt und Vorbildmetropole für Gesundheit, Volksbildung, Handel, Versorgung und Kultur ist Halle-Neustadt heute zu großen Teilen abrissreif.44 Die Stadt ist semantisch verbraucht, weil ihre ursprüngliche politisch–ideologische Grundlage nicht mehr vorhanden ist.45 Theatermacher, Städteplaner und Künstler setzten dem alten Kollektivgedanken des Sozialismus eine vitale und individuelle Gestaltung nach persönlichem Bedarf entgegen. Der leerstehenden Platte, als unliebsamem Zeugnis einer abgelegten politischen Vergangenheit, kam neue Aufmerksamkeit zu, indem man sie als Gedächtnisort akzeptierte und aktivierte. Aleida Assmann hält fest: „Während über das Geschichtsbewußtsein einer Nation die chronologisch geordneten Geschichtsbücher Aufschluß geben, findet das Gedächtnis einer Nation seinen Niederschlag in der Gedächtnislandschaft seiner Erinnerungsorte. Die eigentümliche Verbindung von Nähe und

44 | Vgl. Annegret Hahn: Vorwort. In: Thalia Hotel Neustadt, hg. von Thalia Theater Halle. Berlin 2004, S. 32-33: S. 32 f. 45 | Vgl. Wolfgang Grillitsch, Elke Knöß: Balkon-Galerie Rundgang. In: Thalia Hotel Neustadt, hg. von Thalia Theater Halle. Berlin 2004, S. 62-67: S. 62.

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Sentimentale Urbanität

Ferne macht diese zu auratischen Orten, an denen man einen unmittelbaren Kontakt mit der Vergangenheit sucht. Die Magie, die den Erinnerungsorten zugeschrieben wird, erklärt sich aus ihrem Status als Kontaktzone.“ 46

Obwohl ursächlich durch die sozialistisch geprägte Plattenbauarchitektur eine Neutralität und Funktionalität47 angestrebt wurde, die man gewiss nicht als auratischen Ort beschreiben würde, hat der geschichtliche Zusammenhang Jahre nachdem die Platte ihren semiotischen Bezug verloren hat, zu einer Transformation als Erinnerungsort geführt. Während es 1949 zur Gründung der DDR noch als kapitalistisches Ideal galt, Arbeitskräfte zweckmäßig unterzubringen, und die Architektur durch den Import sowjetischer Prunk-Bauweise geprägt war, verzeichnete sich ab 1953 ein Kurswechsel im Städtebau der DDR. Die Wohnung wurde zum Konsumgut für alle erklärt.48 Daniel Hermann hält fest: „Die industrielle Vorfertigung galt als Maxime für schnelles und kostengünstiges Bauen. Der Städtebau der DDR folgt dieser Maxime. Auch der alleinige Einsatz der Plattenbauweise im Städtebau war ein sowjetischer Import.“49

Die Industrialisierung des Bauwesens galt hierbei als wissenschaftlichtechnische Revolution des Sozialismus mit einer en Detail durchgenormten

46 | Aleida Assmann: Erinnerungsräume. München 1999, S. 337. 47 | Gemäß dem corbusierischen Modulor wurde in Halle–Neustadt das Klonen der typisierten Zelle zur Maxime eines totalitären Systems. Vermaßung und Einheitlichkeit der PlattenGrundrisse machten den Menschen zwangsweise gleich, indem sie ihn in seiner Individualität einschränkten. Vgl. Daniel Herrmann: Halle Neustadt – späte Besinnung auf die Moderne (http://www.kulturblock.de/downloads/Halle-Neustadt.pdf zuletzt abgerufen 17.10.2010) S. 44 f. 48 | Vgl. ebd., S. 25. 49 | Vgl. ebd.

Gedächtnisorte und künstlerische Interventionen

Architektur.50 Im Vordergrund stand die Überzeugung einer DDR Führung, die Bauen mit industrieller Denke gleichsetzte.51 Pragmatismus und architektonische Eintönigkeit führten in Halle-Neustadt jedoch zu einem erheblichen Orientierungsproblem. Das Ordnen der Platten nach Nummern und Zahlen erzeugte eine optische Gleichförmigkeit und spiegelte die Repression der Bewohner. Weder das Anbringen von Tier-Piktogrammen an den Hauswänden noch das Aufstellen von Schildern Anfang der 1980er Jahre brachten eine Verbesserung im Bereich der Strukturierung und Orientierung. Nach wie vor richtete sich die Bevölkerung nach den wenigen prägnanten Bauwerken der Umgebung, um sich zurechtzufinden.52 In Konsequenz widmeten sich die jugendlichen Gestalter im Projekt Hotel-Neustadt auch der Fassade des Gebäudes. Zu den oben beschriebenen Balkongestaltungen wurden große Piktogramme auf farbigem Fond an der Fassade angebracht, die inhaltlich auf das temporäre Hotelprojekt und das Theaterfestival verwiesen. Das zeitlich begrenzte Hotel-Projekt mit dem angegliederten Festival53 trug entscheidend zur Imagefindung des Stadtentwicklungsgebietes Halle–Neustadt bei. Es schaffte eine junge Identität innerhalb zusammenfallender Stadtstrukturen, die durch Perspektivlosigkeit und soziale Defizite geprägt sind. Das Projekt ist in erster Linie ein Beispiel für die Reaktivierung oder Wiederbelebung toter Strukturen und die vitale Partizipation seitens der Rezipienten.

50 | „Bei der Errichtung zahlreicher ausgedehnter Arbeitersiedlungen in Europa hat man dasselbe visuelle Vokabular der Neutralität angewendet. […] [S]olche Siedlungsprojekte entspringen dem Traum der Reformer des 19. Jahrhunderts, die in Massen gesunde Wohnstätten für die Arbeiter errichten wollten. Im visuellen Vokabular dieser Bauten wird allerdings ein ganz anderer Wertekanon sichtbar, der die alten Ideen, die sich an die Grenzenlosigkeit des Raumes knüpften, in neue Formen der Repression verwandelt.“ Richard Sennett: Civitas. Berlin 2009, S. 97. 51 | Vgl. Daniel Herrmann: Halle Neustadt – späte Besinnung auf die Moderne (http://www. kulturblock.de/downloads/Halle-Neustadt.pdf zuletzt abgerufen 17.10.2010), S. 32. 52 | Vgl. ebd., S. 43. 53 | „Wohnen und Leben im Allgemeinen und im Speziellen (in der Platte), Hotel, städtebauliche Wandlungsprozesse und Visionen sind zentrale Themen des [begleitenden, A. C.] Festivals [gewesen, A. C.].“ Hotel Neustadt: Thalia Theater Halle: Hotel Neustadt (http:// www.hotel-neustadt.de/deutsch/index_html.html zuletzt aufgerufen 07.10.2010).

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Sentimentale Urbanität

Ein ursprünglich negativ konnotierter Raum gelangte innerhalb des Projekts zu einer neuen Identität und einer Wiederverzauberung durch die Akteure. Die Passanten und Anwohner erhielten außerdem die Möglichkeit, sich mit Kunst und Kultur abseits der klassischen Museen, Kunsthallen oder Galerien auseinanderzusetzen. „Die vorläufige Auswertung sieht so aus: Ein durchschnittlich zu 80% ausgebuchtes Hotel, mit Übernachtungsgästen aus aller Welt, wie auch aus Halle, wie die Bürgermeisterin Frau Häusler und ihren [Fehler im Orig.] DezernentInnen. Über 100 beteiligte Jugendliche bei der Planung, dem Ausbau der Zimmer und beim Betrieb des Hotels und des Clubs. Über 60 beteiligte, glückliche KünstlerInnen. Ein Festival mit Besucherzahlen, die nicht nur in Halle ihres gleichen [Fehler im Orig.] suchen. Eine tägliche Kollumne [Fehler im Orig.] aus dem vorort [Fehler im Orig.] Büro der Mitteldeutschen Zeitung und zahllose überregionale Berichte (Zeit, FR, Deutschlandradio, ZDF, Arte, Schweizer Fernsehen...). Und nicht zu vergessen, eine große Zahl an offengelegten Entwicklungspotentialen für Halle Neustadt, Scheibe A und das Bahnhofsgebäude.“54

Der Handlungsraum des Projekts Hotel-Neustadt war bestimmt durch das Zusammenwirken von Bevölkerung und Künstlern. Als touristisches Angebot setzte das Hotel Neustadt eine nomadische Zelle in die permanente urbane Struktur und vereinte in sich alle der eigentlichen Stadt fehlenden Elemente.55 Das Hotel Neustadt forciert ein Kontrasterlebnis, indem es ein gewohntes Deutungsschema eines Ortes auf brach und neu konnotierte. Jedoch führte vor allem auch die soziale Interaktion mit der Bevölkerung56 nach dem Bottom-up Prinzip zu einer Wahrnehmungsverschiebung der

54 | Hotel Neustadt: Thalia Theater Halle: Hotel Neustadt (http://www.hotel-neustadt.de/ deutsch/index_html.html zuletzt aufgerufen 07.10.2010). 55 | Vgl. Kyong Park: The Slide. In: Thalia Hotel Neustadt, hg. von Thalia Theater Halle. Berlin 2004, S. 120-123: S. 123. 56 | „[Im Rahmen einer partizipatorischen Praxis kommt es, A. C.] [ü]bertragen auf die Raumtheorien von Bourdieu und Lefebvre […] zur Produktion sozialer Räume, d. h. zur Schaffung bestimmter Identitäten und Netzwerke, die darüber hinaus auch zur Aneignung physischer Räume bzw. der Produktion von differentiellem Raum führen können.“ Uwe Lewitzky: Kunst für alle? Kunst im öffentlichen Raum zwischen Partizipation, Intervention und Neuer Urbanität. Bielefeld 2005, S. 98.

Gedächtnisorte und künstlerische Interventionen

zunächst negativ konnotierten Platte. Ein Wiederverzaubern, bzw. eine erneute Wertzuschreibung dieses Ortes und die Konsensfähigkeit des Projekts waren erst durch den Einbezug der Bevölkerung und die damit verbundene Kommunikation möglich. Die gleichberechtigte Kooperation zwischen Stadtentwicklern, Gestaltern und Anwohnern war hierbei entscheidend. Das Hotel-Neustadt forcierte die Auseinandersetzung mit der städtischen Geschichte und stellte gleichzeitig ein neues Identifikationsangebot. Das Projekt entwickelte sich so zum Wahrzeichen des Wandels der Region.57

8.3 Promenade Sentimentale de Cologne : Daniel Spoerri, 1981 Die Promenade Sentimentale de Cologne war 1981 ein erster Versuch Spoerris, das eigene museale Ausstellungskonzept des Musée Sentimental auf den urbanen Raum zu übertragen. So wie der Exponatkatalog im Musée Sentimental durch starke Kontraste geprägt war, zeichneten sich auch die Ausstellungsorte der Promenade Sentimentale durch intensiv variierende Raumempfindungen aus. Der Gedächtnisort im Musée Sentimental war das Objekt. In der Promenade Sentimentale hingegen war es der Raum. Teilweise wurden die thematisierten Räume dabei inhaltlich überhöht oder mit einer neuen Bedeutung versehen. Hans Joachim Schyle dazu:

57 | Am Beispiel des Hotel Neustadt lässt sich darlegen, dass temporäre Interventionen als Initiator und Aufzeiger von Möglichkeiten in einer konservativen Stadtplanung gewinnbringend eingesetzt werden können. Vgl. Klaus Overmeyer: Mit Zwischennutzungen Stadt entwickeln. Einbeziehung von Akteuren in prozessorientierte Planung. In: Hier entsteht, hg. von Jesko Fezer, Mathias Heyden. Berlin 2007, S. 45-55: S. 47. Ein relativ geringer Kapitalaufwand, bedingt durch das experimentelle Recycling von Urbanität, setzte im Hotel-Neustadt eine Innovationskraft frei, die Lösungsvorschläge fernab der Rendite bzw. einer Marketing gesteuerten Stadtplanung zuließ. Die Entwicklung von Netzwerken und das Formulieren differenter Nutzungskonzepte und damit auch die Möglichkeit, persönliche Vorstellungen der Rezipienten zu verwirklichen, sind weitere Vorteile partizipativ ausgelegter Interventionen.

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Sentimentale Urbanität

„Was Spoerri und seine Projektgruppe von der Kölner-Fachhochschule für Kunst mit dieser Wall-Fahrt […] angerichtet hatten, war gedacht als kuriose Ergänzung zu seiner Ausstellung „Le Musée Sentimental de Cologne“ vor zwei Jahren in der Kunsthalle. Köln zu zeigen, wo es am skurrilsten, schmutzigsten, verkommensten, abgelegensten ist (eine Idee, die übrigens schon die Spoerri-Schüler Jürgen Raap und Thomas Fischer in kleinerem Rahmen vor ihm realisierten), barg gewiß allerlei Reize und Überraschungseffekte.“ 58

Wie auch beim Musée Sentimental war der Künstler in der Promenade also von der Skurrilität und Kuriosität sowie optischen Reizen angezogen. Hierbei lag der Fokus auf der räumlichen Betrachtung der Regionalspezifika Kölns. Spoerri legt dar: „Es ist ja das Prinzip [des regional funktionierenden Musée Sentimental , A. C.], das heute noch interessant ist, eben die Geschichte lokal anzugehen. Die Idee kam damals im richtigen Moment. Es wurden gerade – auch in der Soziologie – die Alltagswelten interessant. Der Nouveau Réalisme stellte einfache Sachen in den Vordergrund und beschäftigte sich mit gewissen Konzepten, wie zum Beispiel Kompression, Akkumulation und Bewegung.“59

Das Moment der Bewegung und der Akkumulation, das Spoerri hier als Prämisse des Noveaux Réalisme hervorhebt, kam in der Promenade Sentimentale zur Anwendung. Ebenso zentral war in der Promenade- wie auch im Musée Sentimental die Methodik der Oral History. So geriet das Geschichtenerzählen in beiden Konzepten zur dominanten Form der Inszenierung. Konzipiert als Wallfahrt waren während der Promenade Sentimentale überall in der Stadt Köln Ausstellungsspots aufgebaut, die die Geschichte der Stadt und ihre Charakteristika abseits

58 | Hans Joachim Schyle: Wolfsgeheul im dunklen Bunker. In: Kölner Stadt-Anzeiger (1981) Nr. 141/6, S. unbekannt. 59 | Daniel Spoerri: Interview. »Man muss es finden! « In: Musée Sentimental 1979. Ein Ausstellungskonzept, hg. von Anke te Heesen, Susanne Padberg. Ostfildern 2011, S. 32-45: S. 36.

Gedächtnisorte und künstlerische Interventionen

der typischen Touristenattraktionen sammelten und beleuchteten.60 Der Begriff Wallfahrt findet seine Relevanz hier jedoch nicht nur in einer Rundreise durch Köln, sondern auch durch seine Definition als Pilgerreise. So hat „wallen“ die etymologische Bedeutung von pilgern, umherschweifen oder gehen, verknüpft mit einem meist sakralen oder spirituellen Ziel.61 Die sentimentale Wallfahrt 62 kommt genau wie die sakrale einer Bildungsreise gleich, auf der nach Zeichen und Wundern gesucht wird, um den weltlichen Kontext zu verstehen oder ihn erträglicher zu machen. Die Promenade Sentimentale führte die Menschen im Rahmen ihres sentimentalen Besichtigungsprogramms zu den geheimnisvollen und skurrilen Orten Kölns. Jürgen Raap dazu: „Die Konservierung preußischer Geschichte und Ideologie an Denkmälern und in Denkmaldepots, die Aspekte der Geschichte der Industrialisierung, der geheimnisvolle Gewölbecharakter von U-Bahnschächten, verrottete Parks, Lagerhallen und Pavillons laden ein zur Entmystifizierung, zur Ironisierung und Denunzierung: der tatsächliche Charakter der jeweiligen Orte, die auf der Tour angepeilt werden, wird in den Inszenierungen pervertiert im Sinne von parodieren, umkehren, entlarven.“63

60 | „Wer mit Daniel Spoerri eine Kölner „Wall-Fahrt“, eine „Promenade sentimentale“, zu unternehmen sich entschloß, der konnte kaum damit rechnen, an die bekannten sakralen Preziosen der Stadt geführt zu werden. Und so lagen denn auch weder der Dom noch St. Aposteln an der 70 Kilometer langen Route, die die fünf mit 200 neugierigen Festival-Touristen beladenen Busse abfuhren.“ Hans Joachim Schyle: Wolfsgeheul im dunklen Bunker. In: Kölner StadtAnzeiger (1981) Nr. 141/6, S. unbekannt. 61 |  Vgl. Jürgen Raap: Promenade Sentimentale. In: Programmheft Promenade Sentimentale, Köln 1981. 62 | „In Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ „[…] steht auch die Episode der als Wall-

fahrt nach meiner Heimat [Herv. im Orig.] titulierten Reise zum Ort der Kindheit. Erinnerung wird hier stilisiert zu einer personalen Religion, der sich nichts vergleichen ließe […].“ Volker Steffen: Unfähigkeit zu vergessen. Über das sentimentale Prinzip der Erinnerung. Bielefeld 2012, S. 37. Interessant ist in diesem Kontext der Vergleich der Reise durch die persönliche Vergangenheit mit dem religiösen Akt der Wallfahrt. Das Vergangene wird sakralisiert, der Erinnernde wird zum Pilger. 63 | Jürgen Raap: Promenade Sentimentale. In: Programmheft Promenade Sentimentale, Köln 1981.

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Sentimentale Urbanität

Hier zeigt sich, ebenso wie bereits im Musée Sentimental die hohe Relevanz der Desorientierung durch Umkehrung und Parodie. Die ganze Stadt wird zum Handlungsraum, der stark differierende oder auch desorientierende Aspekte miteinander in Kontakt bringt. Die Wallfahrt verbindet „[…] Schönes und Abstoßendes, Aufregendes und Müßiges, Lustiges und Kurioses, Romantisches und Banales […].“64 Wie auch im Musée Sentimental oder dem situationistischen Détournement65 wird in diesem Fall mit Kontrasten gearbeitet, die die Widersprüchlichkeiten des komplexen urbanen Gefüges verdeutlichen. Im Rahmen der Promenade Sentimentale wandte sich Spoerri den vernachlässigten oder auch unschönen urbanen Orten zu66 und hob sie als Zwischenräume in die Aufmerksamkeit der Rezipienten bzw. als Gedächtnisorte Kölns hervor. Hans Joachim Schyle berichtet: „Im Prinz-Wilhelm-Fort am Neusser Wall, zwischen Schuttcontainern und den Denkmalresten preußischer Gloria, intonierte eine Punkgruppe in wilder Kriegsbemalung zartstimmig „Sah ein Knab ein Röslein stehen“. In einem Ehrenfelder Autofriedhof zwischen Oldtimer-Wracks und Stroboskopgef lacker wurde ein müdes Salonspektakel inszeniert. Und in einem Luftschutzbunker in Mauenheim durfte man sich wohligen Schauern hingeben, wenn man durch die stockfinsteren Gänge tappte, in denen der Franzose François Dufrêne mit Wolfsgeheul und ächzender, belfernder Lautpoesie zum akustischen Grusel beitrug. Motto: „In diesen heiligen Hallen kennt man die Rache nicht.“ Vieles war als reiner Jokus gemeint. Den harmlosesten Spaß bereitete der Besuch im Deutzer

64 | Jürgen Raap: Promenade Sentimentale. In: Programmheft Promenade Sentimentale, Köln 1981. 65 | Das Détournement verschrieb sich der Umdeutung, indem im Raum befindliche Objekte in einen neuen Kontext gestellt oder Teile nachgebildet wurden, um eine Desorientierung hervorzurufen. 66 | „In [Köln, A. C.] Kalk durfte man eine abbruchreife, von Bomben und natürlichem Verfall fürchterlich zugerichtete Fabrik besichtigen, mußte durch fingerdicken schwarzen Ruß waten, um an Ende in einer finsteren Halle an einer festlich mit Kerzen geschmückten Tafel eine saure Brotsuppe zu löffeln, mit „mobilen Transklängen“ des Cocoba Orchesters als Ohrenschmaus-Beigabe. Motto: „Noch ist Kalk ein kleiner Gnadenort.“ Hans Joachim Schyle: Wolfsgeheul im dunklen Bunker. In: Kölner Stadt-Anzeiger (1981) Nr. 141/6, S. unbekannt.

Gedächtnisorte und künstlerische Interventionen

Thermalbad, der „S.S.S.S.-Schäl Sick Sanitary Station“. Da wurden die Besucher in die Rolle von Tollhauspatienten versetzt […].“67

Unter Bezug auf Schyle zeigt sich hier, dass in der Promenade ebenso ironisch oder parodierend mit den Orten wie im Musée mit den Objekten umgegangen wurde. In beiden Fällen ist die Inszenierung auf die Totalität der Sinne ausgelegt, um möglichst viele Gefühlsreize beim Rezipienten auslösen. Dies geschieht nicht zuletzt durch die kontrastreichen Darstellungen. Ein starres Ordnungsprinzip gibt es daher auch in der Promenade Sentimentale nicht. Während im Musée Sentimental de Cologne einfach nach dem Alphabet sortiert wurde68, sollten in der Promenade zunächst Orte, die alle in den Liedern69 des Volksdichters Willi Ostermann besungen werden, als Ausstellungsspots dienen, diese Idee wurde schlussendlich unter

67 |  Hans Joachim Schyle: Wolfsgeheul im dunklen Bunker. In: Kölner Stadt-Anzeiger (1981) Nr. 141/6, S. unbekannt. 68 | „Die Anordnung der Objekte haben wir alphabetisch organisiert und wenn das von der Anordnung her langweilig war, dann haben wir die Objekte einfach umbenannt, damit sie im Alphabet irgendwo anders hin rutschten. Das geht ganz leicht, nichts ist eindeutig. Man kann die Gitarre unter »G« ausstellen, aber wenn sie Bebel gehört, kann man sie auch unter »B« ausstellen, und wenn das da nicht passt, dann unter »Frühe Sozialdemokraten« oder so. Das ist komplett manipulierbar und ganz flexibel. Das Witzige war ja, dass dieses Alphabet funktionierte, obwohl das Alphabet im Prinzip eine absurde, aus der Luft gegriffene Struktur ist, die mit der Sache nichts zu tun hat. Aber das haben die Leute ohne weiteres akzeptiert, so wussten sie immer, wo sie gerade sind in der Ausstellung. Es ist keine Chronologie, es ist auch nicht nach Genre geordnet, so dass man eben da nur die Bilder oder da nur die Objekte ausgestellt hätte. Es gibt unendlich viele Strukturmöglichkeiten. Das Alphabet erschien uns absurd genug als etwas, wo sich jedermann auskannte.“ Stephan Andreae: Interview. »Pass auf, nicht alles ist echt!« In: Musée Sentimental 1979. Ein Ausstellungskonzept, hg. von Anke te Heesen, Susanne Padberg. Ostfildern 2011, S. 45-60: S. 55. 69 | Die ursprüngliche Wahl des Volksliedgutes als Konzept für die Promenade ist insofern interessant, als dass das Volkslied als intensiver Ausdruck des Sentimentalischen selbst betrachtet werden kann. Es ist Auslöser sinnlicher Gefühlsreize, indem es dem Anekdotischen und kulturellen Gut einer Gesellschaft entspringt. Vgl. Harm-Peer Zimmermann: Sentimentalität. In: Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und vergleichenden Erzählforschung, 13 Bde., Bd. 12: Schinden – Sublimierung, hg. von Rolf Wilhelm Brednich. Berlin/New York 2007, S. 578-585: S. 582.

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anderem aufgrund der verwendeten Kölner Mundart verworfen. Wulf Herzogenrath hält zur Verständlichkeit sentimentaler Ortsbezüge fest: „Das sind ganz unterschiedliche Schnittkreise, in denen ein Sentiment funktioniert. Das Sentiment kann nur da sein, wo ich zu Hause bin. Das kann sein »ich bin Frau«, das kann sein »ich bin Schlesier«, das kann sein »ich bin 20«. Ich persönlich könnte nie in ein Musée Sentimental für 20-jährige Diskohippies gehen, ich würde da gar nicht wissen, warum der DJ interessant ist, wenn da dessen Hose glitzernd hängt. Das heißt, es muss natürlich genau zu dem Feld passen, für das dieses Sentiment auch funktioniert. Und deshalb ist es eben so etwas wie ein Heimatmuseum einer Region, da funktioniert das natürlich sehr gut.“ 70

Herzogenrath benennt hier als eines der wesentlichen Charakteristika des Musée Sentimental, dass es sich immer an eine spezifische Region und die in ihr lebenden Menschen bindet. Hierdurch wird gewährleistet, dass die Rezipienten sich über ihre individuellen Erfahrungen mit der Region, ihrer Herkunft und der Teilnahme an der regionalen Kulturgeschichte mit dem musealen Konzept identifizieren.71 Je spezifischer der sentimentale Zugang wird, wie z. B. über Kölner Mundart 72 oder 20-jährige Diskohippies73, desto kleiner die Identifikationsgruppe. In der Promenade Sentimentale wurde dies jedoch aufgebrochen, indem man die Stadt selbst touristisch inszenierte und so auch für ein internationales Publikum interessant machte. Durch die verschiedenen

70 | Wulf Herzogenrath: Inter view. »Das müssen wir im Kunstkontext tun«. In: Musée Sentimental 1979. Ein Ausstellungskonzept, hg. von Anke te Heesen, Susanne Padberg. Ostfildern 2011, S. 74-89: S. 84. 71 | „Spoerri und seine Studenten haben mit Sachen operiert, die auch für Nichtkölner als zu Köln gehörig entzifferbar waren. Und das, was nicht entzifferbar war, wurde zusätzlich erklär t. Man konnte sich in die Beschriftungen ver tiefen, wenn man das wollte.“ Walter Grasskamp: Interview. »›Nichts altert schneller als ein Avantgardist‹, ich meine dieser Satz gehört doch gestickt!«. In: Musée Sentimental 1979. Ein Ausstellungskonzept, hg. von Anke te Heesen, Susanne Padberg. Ostfildern 2011, S. 118-136: S. 121. 72 | Siehe Lieder des Volksdichters Willi Ostermann. 73 | Vgl. Wulf Herzogenrath: Interview. »Das müssen wir im Kunstkontext tun«. In: Musée Sentimental 1979. Ein Ausstellungskonzept, hg. von Anke te Heesen, Susanne Padberg. Ostfildern 2011, S. 74-89: S. 84.

Gedächtnisorte und künstlerische Interventionen

Inszenierungen in der Stadt selbst wurde die Stadtgeschichte auch für Fremde sentimental erlebbar, indem sie im Rahmen der Wallfahrt selbst Aktionen in die Stadt einschrieben. Bezogen auf Wulf Herzogenrath könnte das Sentiment der Promenade Sentimentale lauten „ich bin ein Stadtentdecker“ oder „ich bin ein Kölner“. Indem Spoerri hier unmittelbar Teile seiner Methodologie zur Sentimentalisierung auf die urbane Oberfläche übertrug, intendierte er bereits, dass sich die künstlerischen Strategien aus dem musealen Raum lösen lassen.

8.4 Cuttings : Gordon Matta-Clark, 1974-1978 Die architektonischen Projekte Gordon Matta-Clarks proklamierten Veränderung und Einbrüche in die repressiven Räume einer privatwirtschaftlich orientierten Urbanität. Matta-Clark beschrieb daher seine Cuttings auch als Anarchitecture 74. Diese war ein „Instrument der Kritik an der herrschenden Definitionsmacht seiner Zunft“75. In dem Begriff der Anarchitecture lässt sich der oppositionelle Geist der Dekonstruktion ablesen.76 Matta-Clark wandte sich dabei einer konkreten urbanen Realität zu, die den entropischen Zustand der Gegenwart sichtbar machte.77 Der Künstler schreibt: „So, for five years I have worked to the best of my abilities to produce small breaks in the repressive conditions of space generated by the system.“ 78

74 | „[…] Matta-Clarks´s portmanteau word „anarchitecture“, its combination of the words „anarchy“ and „architecture“, can be said to sum up the simultaneous desire for disorder and order, as well as to evoke the political implications of his art.“ John Yau: The Anarchitectural Vision of Gordon Matta-Clark (1943-1978). In: Anarchitecture. Works by Gordon MattaClark, hg. von Peter Noever. Los Angeles/Wien 1997, S. 7-13: S. 9. 75 | Sabine Folie: Einführung. In: Die Moderne als Ruine. Eine Archäologie der Gegenwart, hg. von Sabine Folie. Wien 2009, S. 8-9: S. 8. 76 | Vgl. ebd. 77 | Vgl. ebd. 78 | Gloria Moure (Hg.): Gordon Matta-Clark – Works and Collected Writings. Barcelona 2006, S. 120.

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Die von Matta-Clark hier beschriebenen Einbrüche erzeugte er durch das Zerschneiden und Zerteilen von Architektur.79 Die bauliche Struktur wurde physisch aufgebrochen. Matta-Clarks Architekturprojekte kritisierten soziale Strukturen, indem sie sie rein physisch auf brachen. Nach Ansicht des Künstlers würde Architektur den Bewohner nicht nur körperlich begrenzen, sondern sei auch ein politisches Kontrollmedium. Er erkennt: „[…] a state of enclosure which had been preconditioned not only by physical necessity but by the industry that prof ligates suburban and urban boxes as a context for insuring a passive, isolated consumer – a virtually captive audience.“80

Der Künstler reagierte damit bereits in den 1970er Jahren auf die städtebaulichen Entwicklungen der Privatisierung, Segregation und Isolation. Indem er Architektur gewaltsam öffnete, hob er ihr isolierendes Moment auf und verband ihr Inneres mit Straße und Öffentlichkeit. Soziale und ökonomische Barrieren wurden so durch die Gebäudeeinschnitte geöffnet.81 Das Ziel war die Schaffung eines „[…] Non.u.mental, that is, an expression of the commonplace that might counter the grandeur and pomp of architectural structures and their self-glorifying clients.“82 Matta-Clark schaffte mit seinen architektonischen Interventionen sogenannte Nonuments, die sich selbst und seine Nutzer der Monumentalisierung und einer

79 | Aus der von Matta Clark betriebenen Dekonstruktion ergibt sich schließlich auch die Bezeichnung seines künstlerischen Schaffens als Anarchitecture. Diese beschreibt den Prozess des Zerschneidens und Zerteilens von existierenden Gebäuden. Durch die Dekonstruktion befreit der Künstler die Architektur von ihren statischen und konstruktiven Vorgaben. Vgl. Peter Noever: Gordon Matta-Clark´s Penetration of Space. In: Anarchitecture. Works by Gordon Matta-Clark, hg. von Peter Noever. Los Angeles/Wien 1997, S. 5-6: S. 5. 80 | Gloria Moure (Hg.): Gordon Matta-Clark – Works and Collected Writings. Barcelona 2006, S. 132. 81 | „Among other things, Matta-Clark wanted the viewer to reconsider the deeply ingrained mechanisms of a society committed to progress, to question wether society was truly committed to improving the lives of all its citizens. John Yau: The Anarchitectural Vision of Gordon Matta-Clark (1943-1978). In: Anarchitecture. Works by Gordon Matta-Clark, hg. von Peter, Noever. Los Angeles/Wien, 1997, S. 7-13: S. 9. 82 | Gloria Moure (Hg.): Gordon Matta-Clark – Works and Collected Writings. Barcelona 2006, S. 132.

Gedächtnisorte und künstlerische Interventionen

damit zusammenhängenden Glorifizierung entziehen. Durch das Entfernen einzelner Gebäudesegmente wurden architektonische Monumente dekonstruiert und in ein Nonument verwandelt. Dies evozierte nicht nur ungewohnte Einblicke, sondern erzeugt eine einzigartige Situation, die der Anonymität glatter Fassaden entgegen tritt.83 Für den Künstler sind Architekturen Abbilder kultureller Evolution, die soziale Strukturen ausformen, indem sie sie unterdrücken oder fördern können.84 Matta-Clark konzentrierte sich in den Cuttings vornehmlich auf vernachlässigte oder zerstörte Gebäude85. Diese wurden während der Projektphase als künstlerisches Studio umgenutzt. Der Prozess war dabei zentral für die Konzeption der Cuttings ebenso wie die Klarheit ihrer Non-Permanenz. Da es sich bei den meisten Gebäuden bereits um zum Abriss freigegebene Orte handelte, ließ dies keinen Zweifel daran, dass das Kunstwerk wieder verschwinden würde.86 Die Integration des Künstlers in einen urbanen Kontext, der physisch, sozial und politisch strukturiert ist, und die Verlegung der Kunst auf die Straße verstand Matta-Clark als essentiell. Seine Arbeitsweise definierte er wie folgt: „Consequently, what I do to buildings is what some do with languages and others with groups of people: I organize them in order to explain and defend the need for change […]. To later a structure that still exists as a bad memory until it is transformed into something that gives way to

83 | Vgl. Gloria Moure (Hg.): Gordon Matta-Clark – Works and Collected Writings. Barcelona 2006, S. 132. 84 | Vgl. ebd., S. 120. 85 | Philip Ursprung weist jedoch darauf hin, dass Matta-Clark mehrmals betont habe, dass er sich lieber neuen Gebäuden zugewendet und seine Intervention dann auch gern auf Dauer konserviert habe. Es sei Ursprung folgend ein Trugschluss, davon auszugehen, dass Matta-Clark ausschließlich mit dem Zerfall ausgesetzten Häusern arbeiten wollte. Vgl. Philip Ursprung: Living Archeology: Gordon Matta-Clark und das New York der 1970er-Jahre. In: Die Moderne als Ruine. Eine Archäologie der Gegenwar t, hg. von Sabine Folie. Wien 2009, S. 18-25: S. 19. 86 | Das Nonument steht für den Prozesscharakter in Matta-Clarks Arbeiten. Doris Leutgeb weist nach: „Keiner der von Matta-Clark transformierten Orte wurde zu einem Monument, alle wurden abgerissen. Das Temporäre dieser Werke ist Teil des Konzepts.“ Doris Leutgeb: Gordon Matta-Clark: Filme. In: Die Moderne als Ruine. Eine Archäologie der Gegenwart, hg. von Sabine Folie. Wien 2009, S. 56-76: S. 57.

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hope and fantasy. I´ll achieve this by resuming my early works, opening breaches in walls to give an idea of a free passage. A wide passage that is neither a door nor a monumental arch, but a sort of unlimited stage on which we are the actors.“87

Matta-Clark hält hier fest, wie Architektur unter seiner künstlerischen Intervention zur Bühnenkulisse wurde. Ungeachtet des komplexen Zusammenhangs oder der Struktur eines Gebäudes schnitt der Künstler Öffnungen in Fassaden, Wände und Böden, die dem Rezipienten einen überraschenden Einblick in das Gebäudeinnere und den Eindruck von leerer Offenheit verschafften. Hierbei wurde eine Kontrasterfahrung von Architektur forciert, die sich an den Grenzlinien von Reduktion und Zusammenbruch bewegte. Es entstanden fragil anmutende Strukturen, die die Architektur ihrer Permanenz und Monumentalität beraubten.88 Das Entmystifizieren von Architektur führte hier zu neuen Assoziationsketten und Semantiken. Gleichzeitig brach Matta-Clark hier das Tabu einer privatisierten Gesellschaft. Er öffnete den privaten Wohnkokon und erzeugte eine veränderliche Architektur 89, einen f lexiblen Raum, der einem gängigen statischen Raumverständnis widersprach und Freiräume eröffnete.90 Das Entstehen der architektonischen Bühne wird von Matta-Clark als performativer Akt beschrieben, der sich nach

87 | Gloria Moure (Hg.): Gordon Matta-Clark – Works and Collected Writings. Barcelona 2006, S. 120. 88 | Moure beschreibt diesen Prozess auch als Grenzüberschreitung, da die Architektur daran wachsen müsse, ihre einzelnen freigeschnittenen Teile wieder zu einem Ganzen zusammenzufügen. Vgl. ebd., S. 122. 89 | „By removing the wall separating a building´s interior from the exterior, thus making it possible for the viewer to have a glimpse of an unbounded interior space, Matta-Clark establishes a continuum between the world of change (the outside) and the word of order (the domestic or interior). For a building to be true to reality, which is time passing, it too must create a continuum between the outside and the inside, between change and stasis.“ John Yau: The Anarchitectural Vision of Gordon Matta-Clark (1943-1978). In: Anarchitecture. Works by Gordon Matta-Clark, hg. von Peter, Noever. Los Angeles/Wien, 1997, S. 7-13: S. 9. 90 | Auch Richard Sennett fordert einen prozessualen Charakter von Architektur. Narrative Kraft könne dabei nur zustande kommen, wenn Architektur möglichst viele Nutzungsformen zuließe. Ähnlich wie bei Matta-Clark wird auch von Sennett die Mauer als schwache Grenze betrachtet, die es zu durchbrechen gelte. Vgl. Richard Sennett: Civitas. Berlin 2009, S. 279.

Gedächtnisorte und künstlerische Interventionen

der Fertigstellung durch den Passanten weiter fortsetzte.91 Matta-Clark hebt hervor: „People are fascinated by space-giving activity. I am sure that it is a fascination with the underground that most captures the imagination of the random audience; people can´t resist contemplating the foundations of a new construction site. So in a reverse manner, the openings I have made stop the viewer with their careful revealings.“92

Ein willkürliches sich ständig wandelndes urbanes Publikum wurde also fasziniert durch eine raumgebende Praktik im physischen wie psychischen Sinn. So regten die Fassadenlöcher und Gebäudeeinschnitte Phantasie und Imagination der Rezipienten an und stellten Unterbrechungen im urbanen Fluss dar. Die gewonnene skulpturale Qualität der zuvor unbeachteten oder verfallenen Häuser hob neben der architektonischen Bedeutung auch die Auseinandersetzung mit den jeweiligen Quartieren an. So legte Matta-Clark Wert auf die soziale Komponente seiner Arbeit. Ein Einbezug der Bevölkerung in die Gestaltung von Lebensumfeldern war unumgänglich: „A specific project might be to work with an existing neighborhood youth group and to involve them in converting the all too plentiful abandoned buildings into a social space. In this way, the young could get both practical information about how buildings are made and, more essentially,

91 | „Matta-Clark wanted nothing less than for us to rethink the very nature of a building, not in a design sense, but on a philosophical level. What is necessary to a building? What makes it responsive to human interaction and presence? What and whose purposes are served when society destroys one building and erects another one in its place? Is the architect´s creation equal to, and more useful than, Matta-Clark´s seeming destruction? Matta-Clark´s interventions are directed toward this socially defined process of renewal, which he sees as the sanctioned creation of more waste. He not only directs our attention outside the space of a gallery, he transfers the act of viewing art from the solace of a gallery to the cacophony of the urban environment.“ John Yau: The Anarchitectural Vision of Gordon Matta-Clark (19431978). In: Anarchitecture. Works by Gordon Matta-Clark, hg. von Peter, Noever. Los Angeles/ Wien, 1997, S. 7-13: S. 13. 92 | Gloria Moure (Hg.): Gordon Matta-Clark – Works and Collected Writings. Barcelona 2006, S. 132.

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some first-hand experience with one aspect of the very real possibility of transforming their space. In this way, I could adapt my work to still another level of the given situation. It would no longer be concerned with just personal or metaphoric treatment of the site, but finally responsive to the express will of its occupants.“93

Matta-Clarks Projekte versuchten also, ein soziales Klima zu verändern, indem die gängigen metaphorischen Bedeutungsebenen des vorliegenden Raumes zerstört wurden und eine vorgefundene Situation in den persönlichen Ausdruck der Rezipienten verwandelt wurde. Hierbei ging es Matta-Clark vor allem auch darum, den Nutzern aufzuzeigen, dass sie selbst Einfluss auf die Gestaltung des sie umgebenden Raumes nehmen können. Dies wurde unter anderem dadurch deutlich, dass Architekturen durch die Einschnitte ihrer Permanenz entzogen wurden und so als transformierbare Objekte erschienen. Die Inakzeptanz gegebener architektonischer Oberflächen und damit einhergehender Repressionen ist in Matta-Clarks Arbeit vorherrschend. In diesem Kontext machte der Künstler keinen Unterschied zwischen suburbanen Vororten oder ghettoisierten Räumen, da jede Form auf andere Art Isolierung forciert. Standardisierte Fassaden wurden durch die Eingriffe des Künstlers zu komplexen Gestaltungen, die Architektur zum Exponat: „[…] what the cutting´s done is to make the space more articulated, but the identity of the building as a place, as an object, is strongly preserved, enhanced.“94

Gesichtslosigkeit und Eintönigkeit wurden durch Matta-Clarks Arbeit aufgehoben, indem die Architektur sich unter seiner Intervention artikulieren konnte, ihre Identität als Objekt wurde bewahrt und betont. Der Künstler vertiefte sich dabei „in das entropisch Ruinöse als Zeuge des Vergänglichen, als Geschichtsträger und Träger von Neuem.“95

93 | Gloria Moure (Hg.): Gordon Matta-Clark – Works and Collected Writings. Barcelona 2006, S. 133. 94 | Ebd., S. 174. 95 | Sabine Folie: Einführung. In: Die Moderne als Ruine. Eine Archäologie der Gegenwart, hg. von Sabine Folie. Wien 2009, S. 8-9: S. 8.

Gedächtnisorte und künstlerische Interventionen

Sabine Folie bezieht sich in der Darlegung dieses Umstands auf Walter Benjamin: „Das Potenzial des allegorisch Ruinösen liegt demnach in seiner durch das Fragmentarische gegebenen Vieldeutigkeit und daher einer maximalen Zeichenhaftigkeit, die sich in der Überdeterminierung nahezu selbst auf hebt und die Leere des Zeichens zum Träger des Neuen werden lässt.“96

Die Vieldeutigkeit der Fragmentarik machte unter Matta-Clarks Intervention auch den autobiografischen Charakter des vorliegenden Raumes sichtbar.97 Die Einschnitte eröffneten multiple Lesarten von Vergangenheit und Zukunft. Durch das gewaltsame Öffnen der privaten Räume wurden auch die Gebrauchsspuren der vormaligen Bewohner oder Nutzer sichtbar. Eine zunächst anonyme Lebenssituation wurde so künstlerisch umdefiniert und zu einer alternativen Raumnutzung. Matta-Clark erkannte in seiner Arbeit die Qualität historisch gewachsener, mit Geschichten behafteter Architektur an und stellte sie vor die hygienische Reinheit moderner Konsumarchitektur und infrastruktureller Erschließungen.98

96 | Sabine Folie: Einführung. In: Die Moderne als Ruine. Eine Archäologie der Gegenwart, hg. von Sabine Folie. Wien 2009, S. 8-9: S. 8. 97 | „Mehr als die Geschichte der autonomen Architektur interessierte ihn, wie die Spuren der Biograhien von BewohnerInnen von Bauten sich mit der Gegenwart verkeilten. Raum war für ihn kein abstraktes, leeres Medium, sondern ein Produkt zahlloser konkreter Momente, ein „moment-to-moment space“, wie er einmal notierte. Er bezeichnete seine Methode, die vom Kleinsten zum Größten führt und den sozialen Kontext stets mit einbezieht, als „marxistische Hermeneutik“.“ Philip Ursprung: Living Archeology: Gordon Matta-Clark und das New York der 1970er-Jahre. In: Die Moderne als Ruine. Eine Archäologie der Gegenwart, hg. von Sabine Folie. Wien 2009, S. 18-25: S. 24. 98 | „More than a call for preservation, this work reacts against a hygienic obsession in the name of redevelopment which sweeps away what little there is of an American past, to be cleansed by pavement and parking. What might have been richly layered underground is being excavated for deeper, new building foundations. Only our garbage heaps are soared as they fill up with history.“ Gloria Moure (Hg.): Gordon Matta-Clark – Works and Collected Writings. Barcelona 2006, S. 252.

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Indem er wie ein Archäologe Schicht um Schicht eines Gebäudes abtrug, erfand Matta-Clark aus der so entstehenden Ruine etwas Neues. Bazon Brock legt dar: „[…] [wir können sagen, A. C.], daß der Ruinencharakter alles Geschaffene die beste, produktivste Vermittlung von Gedanken und Vorstellungen, von Plänen und Programmen einerseits und ihrem Ausdruck respektive ihrer verwirklichenden Ausführung andererseits darstellt. In diesem Sinne können wir Ruinieren als eine ästhetische Strategie auffassen. Alles Geschaffene ist nur ein vergängliches Gleichnis und wert, daß es durch Neugeschaffenes ersetzt wird – so ungefähr sagen es die Dichter. Was bleibt, sind die Ruinen, die jedoch gerade deshalb so aussageund erkenntnisträchtig sind, weil sie uns zwingen, ihnen Gedanken und Konzepte zuzuordnen, die sich in ihnen nur noch spurenweise andeuten. Und sie machen uns produktiv, indem sie uns zur Imagination ihrer ursprünglichen historischen Gestalt veranlassen.“99

Brock folgend liegt im Fragment oder Spur also ein produktiv imaginatives Potential. Dadurch, dass Matta-Clark Architektur aufschnitt, legte er ihre Zeit- und Zeichenschichten offen und machte sie als Exponat les- und erkennbar. Der monumentale Charakter von Architektur wurde hier dekonstruiert und eine Wahrnehmungsverschiebung erzeugt. Indem MattaClark Architektur neu kontextualisierte und ihren monumentalen Charakter entfernte100, machte er sie anschlussfähig. Architektur grenzte sich in diesem Zusammenhang nicht länger ab, sondern öffnete ihr Inneres zur Straße hin. Philip Ursprung hält fest: „Gordon Matta-Clark, ursprünglich zum Architekten ausgebildet, ließ sich wie manche seiner Zeitgenossen diesseits und jenseits des Atlantiks – in London beispielsweise Stephen Willats – auf den zerfallenden

99 | Bazon Brock: Strategien der Ästhetik. In: Ders.: Der Barbar als Kulturheld. Gesammelte Schriften 1991–2002, hg. von Anna Zika. Köln 2002, S. 416-427: S. 424. 100 | „Namen lassen sich mit einem Federstrich ändern, Denkmäler lassen sich abbauen (wie die Leninstatuen) oder umwidmen (wie die Neue Wache), Gebäude dagegen setzen der symbolischen Umkodierung einen stärkeren Widerstand entgegen. Sie können abgerissen und überbaut werden, aber ihre Spuren lassen sich nicht so einfach tilgen.“ Aleida Assmann: Geschichte im Gedächtnis. München 2007, S. 115.

Gedächtnisorte und künstlerische Interventionen

urbanen Raum ein und zeigte zugleich pragmatisch Auswege aus der Krise. Wie ein Archäologe grub er Schicht für Schicht der materiellen Substanz von Bauten ab, sicherte die Spuren des alltäglichen Lebens, das in den Häusern in und um die Metropole stattgefunden hatte, und suchte gleichzeitig im Schutt nach den Bausteinen des Neuen. Sein Œvre handelt von der Beziehung zwischen Abbruch und Auf bau, Planung und Improvisation.“101

Aus Ursprungs Zitat lässt sich herleiten, dass Matta-Clarks Interventionen ebenso städtische und gesellschaftliche Geschichten oder Probleme sichtbar machten und versuchten Lösungsansätze zu entwickeln. So bezog sich Matta-Clark unter anderem auf die New Yorker Krise der 1970er- Jahre.102 Das Zerschneiden oder Zerstören war in Matta-Clarks Arbeit als Gestaltungsakt zu verstehen, der entmenschlichte Lebensbedingungen und die Architektur als propagandistische oder politische Instanz enttarnte und auflöste. Die Einschnitte bewegten sich fernab dekorativer Kunst, indem das Gebäude selbst als Kunst deklariert wurde.103 Die künstlerischen Interventionen Matta-Clarks stellten in diesem Zusammenhang ein narratives Kultivierungskonzept für vorhandene urbane Strukturen. Heinrich Klotz bemerkt zum narrativen Moment von Architekturen: „Dieses leitende Prinzip kann man darin wirksam sehen, daß die Gestaltung eines Bauwerks bewußt verbunden wird mit der Rückgewinnung von Inhalten, die zum „Erzählstoff“ der Gebäudeform und der Einzelform werden können. Das soll nicht heißen, daß die Architektur sich

101 | Philip Ursprung: Living Archeology: Gordon Matta-Clark und das New York der 1970erJahre. In: Die Moderne als Ruine. Eine Archäologie der Gegenwart, hg. von Sabine Folie. Wien 2009, S. 18-25: S. 18. 102 | Ursprung hält fest, dass die New Yorker Krise durch Abwanderungsprozesse in die Suburbs, bzw. ein Aussterben des Zentrums geprägt war. Die sogenannte „stagflation“ brachten die USA, welche mit finanziellen und infrastrukturellen Problemen zu kämpfen hatte, an die „Grenzen des Wachstums“. Vgl. ebd. 103 | Gloria Moure beschreibt die Anarchitecture von Matta-Clark als Bild. Sie legt dar: „A simple cut or series of cut, acts as a powerful drawing device able to redefine spatial situations and structural components. What is invisibly at ploy behind a wall or floor, once exposed, becomes an active participant in a spacial drawing of the building´s inner life.“ Gloria Moure (Hg.): Gordon Matta-Clark – Works and Collected Writings. Barcelona 2006, S. 252.

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einer illustrativen Absicht unterordnen müßte. Vielmehr geht es darum, die Architektur aus der Stummheit von „reinen Formen“ und vom Lärm ostentativer Konstruktionen zu befreien, damit ein Bau wieder zu einem Gestaltungsanlaß werden kann, der nicht nur Fakten und Nutzungsprogramme berücksichtigt, sondern auch poetische Vorstellungen aufnimmt und dichterische Stoffe gestaltet.“104

Klotz zeigt hier auf, wie narrative Elemente in Gebäudeformen Architektur aus ihrer Sprachlosigkeit befreien können. Bei Matta-Clark wird dies durch das Zerstören der stereometrischen Geometrie erreicht. Die Gebäudeeinschnitte ermöglichen fiktive Interpretationszugänge und Verweise über das Bauwerk hinaus.105 Es wird offenkundig, dass Architektur sich nicht nur über die Verbindung mehrerer geometrischer Körper realisiert, sondern dass in diesem Falle gerade ihre Dekonstruktion das Deutungsspektrum um poetische Facetten bereichert.

104 | Heinrich Klotz: Moderne und Postmoderne. In: Wege aus der Moderne, hg. von Wolfgang Welsch. Weinheim 1988, S. 99-110: S. 104 . 105 |  Siehe dazu auch ebd., S. 105.

9   Potentiale des Musée Sentimental 9.1 Sentimentales Design Abschließend sollen die gestalterischen Methoden im LAB „Sentimentale Urbanität“ reflektiert und ihre Vorteile im Kontrast zur allgemeinen Gestaltungspraxis herausgearbeitet werden. Innerhalb des Entwurfsprozesses ist der Designer in der Regel nicht direkt mit dem Konsumenten/Nutzer seines Werks konfrontiert. Er gestaltet Dinge oder Medien auf der Grundlage von Erhebungen u.o. Beobachtungen, die auch persönlicher Natur sein können. Das Subjekt für das er gestaltet, wird innerhalb dieses Prozesses zu einer abstrakten Größe mit hypothetischen Bedürfnissen und Verhaltensweisen.1 Die Gestaltung erfolgt dabei nach einem Top-Down Prinzip, d.h. das Design wird von oben aufgesetzt und reproduziert dabei kulturelle oder gesellschaftliche Klischees, bzw. kollektive Annahmen, um den (ökonomischen) Erfolg des jeweiligen Gestaltungsprodukts zu sichern. Dabei können auch, wie z.B. im Experience Design, psychologisch manipulierende Anteile integriert werden, was der Gestaltung an dieser Stelle ein normativ-erziehrisches Element hinzufügt. Im LAB „Sentimentale Urbanität“ hingegen, favorisierten wir ein Bottom-Up Prinzip, bei dem die Gestalter sich unmittelbar und kontinuierlich mit dem Subjekt (Gastgeber/in) des zu gestaltenden Objekts (sentimentaler Ort) auseinandersetzen mussten. Dieser partizipativ angelegte Prozess, bei dem der/die Gastgeber/in unmittelbar Einfluss auf die Gestaltungskonzeption nehmen konnte, war essentiell, um sich mit den gefühlten und damit auch beweglichen Vorstellungen von Heimat im Ruhrgebiet auseinandersetzen zu können, bzw. die gefühlte Qualität gestalterisch sichtbar zu machen.

1 | „Jedes Design hat Primär- und oft mehrere Sekundärbotschaften, die in erster Linie über Form, Farbe und Materialität vermittelt werden. Dabei erwarten Menschen von nahezu allen Produkten, dass die wahrnehmbare Erscheinung ihren persönlichen Vorstellungen und Wünschen entgegenkommt. Über die Wirkungen der Einzelkomponenten und deren Ursachen wird in der Regel nicht reflektiert – nicht vom Betrachter bzw. Konsumenten und meist auch nicht vom Designer. Die Gestaltung wird teilweise intuitiv, aus dem Bauchgefühl heraus komponiert.“ Mareike Roth, Oliver Seiz: Emotion Gestalten. Methodik und Strategie für Designer. Basel 2014, S. 12.

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Sentimentale Urbanität

Die Designer hatten es innerhalb des Projekts mit nicht objektivierbaren, statistisch nicht abbildbaren individuellen Vorstellungen zu tun. Empathie und Sensibilität waren gefragt, um die Gastgeber zunächst zum Verbalisieren ihrer Heimatkonzepte anzuregen. Dafür waren die Wohnphase sowie die innerhalb dieser Phase durchgeführten Stadtund Ortsbegehungen entscheidend: „Wenn wir uns das Gedächtnis als riesiges Haus vorstellen mit vielen Fragen und Treppen, dann würden die Erinnerungen an das, was wir erlebt, gesehen, gehört oder gefühlt haben, hinter unzähligen Türen in Räumen verborgen liegen. Manche dieser Türen wären einfach zu öffnen und in den Räumen erschienen klare Bilder, sodass die erlebten und erfahrenen Momente und Geschichten ganz nah wirkten. Andere bräuchten ein bisschen Geduld, da die Türen alt, die Erinnerungen durch den langen Abstand getrübt sein könnten und sich der Blick darauf möglicherweise auch verändert hat. Vielleicht gibt es dann kleine Hilfen, mit denen bewusst oder unbewusst Assoziationen verknüpft werden. Eine große Hilfe kann es auf jeden Fall sein, wenn wir beispielsweise Orte, oder genauer gesagt: physische – also real begehbare – Räume betreten, in denen wir Zeit verbracht haben, denn dann werden häufig Erinnerungen wachgerufen und uns fallen Dinge wieder ein.“2

Melanie Keding und Carmen Weith bezeichnen die Technik der Raumbegehung, verknüpft mit der gleichzeitigen Befragung des/der Erinnernden, als „bewegtes Interview“3. Als solches können auch die Stadtbegehungen im LAB verstanden werden. Die urbane Oberfläche wurde in diesem Zusammenhang als Sozialraum4 betrachtet, dessen Aneignung

2 | Annette Allerheiligen, Ronja Donsbach: Offene und geschlossene Türen. Räumlichkeiten im Spiegel der Erinnerung. In: Räume/Dinge/Menschen. Eine Bonner Kulturwissenschaft im Spiegel ihrer Narrative, hg. von Katrin Bauer, Lina Franken. Münster/New York 2015, S. 45-71: S. 45. 3 | Melanie Keding, Carmen Weith: Bewegte Interviews im Feld. In: Methoden der Kulturanthropologie, hg. von Christine Bischoff, Karoline Oehme-Jüngling, Walter Leimgruber. Bern 2014, S. 131-142. 4 | Siehe dazu Henri Lefebvre: Die Produktion des Raums. In: Raumtheorie, hg. von Jörg Dünne, Stephan Günzel. Frankfurt a.M. 2006, S. 330-340.

Potentiale des Musée Sentimental

sich über Alltagspraxen ständig aktualisiert. Über das „bewegte Interview“5 konnten im LAB Erinnerungen und Assoziationen zum erlebten Ort und den daran gebundenen sozialen Verknüpfungen 6 hervorgeholt werden. Hierbei war vor allem auch die sinnliche Wahrnehmung der Orte relevant, welche wir durch aktive Praktiken des Riechens, Fühlens und Hörens der jeweiligen sentimentalen/emotionalen Orte in den Gestaltungsprozess integrierten. Die mitunter sehr privaten Prozesse des heimelig-machens/-werdens mussten wertneutral zu Tage gefördert und damit auch von Anfang an klargestellt werden, das jegliche Sinnbilder von Heimat und seien sie noch so speziell, als richtig anerkannt wurden. Das Gefühlte, bzw. die sentimentale Bindung an einen Ort war der einzige zu erfüllende Parameter, bei der Auswahl der Heimatsinnbilder. Dass die sentimentale Gestaltung im Zusammenhang mit der Produktion von Heimatbildern nicht die Erzeugung kitschiger Souvenirs oder kollektiver Klischees 7 meint, hat das in der Arbeit vorgestellte LAB bereits gezeigt. Vielmehr ging es um ein „heimelig-machen“ 8 durch sentimentale Gestaltung.9

5 | Melanie Keding, Carmen Weith: Bewegte Interviews im Feld. In: Methoden der Kulturanthropologie, hg. von Christine Bischoff, Karoline Oehme-Jüngling, Walter Leimgruber. Bern 2014, S. 131-142. 6 | „Die Erinnerung an einen Ort ist für beide Akteure zugleich auch die Erinnerung an das Selbst an diesem Ort, und wie das Selbst – nicht nur räumlich, sondern eben auch sozial – im Verhältnis zu anderen stand.“ Annette Allerheiligen, Ronja Donsbach: Offene und geschlossene Türen. Räumlichkeiten im Spiegel der Erinnerung. In: Räume/Dinge/Menschen. Eine Bonner Kulturwissenschaft im Spiegel ihrer Narrative, hg. von Katrin Bauer, Lina Franken. Münster/New York 2015, S. 45-71: S. 50. 7 | „Als kitschig gelten Dinge, die Gefühle oder Erinnerungen klischeehaft darstellen. Bekannte Beispiele sind Urlaubssouvenirs, Plüschartikel, Gartenzwerge oder Porzellanfiguren. Mareike Roth, Oliver Seiz: Emotion Gestalten. Methodik und Strategie für Designer. Basel 2014, S. 14. 8 | Als heimelig wird hier das Gefühl verstanden, welches Heimat auslöst. Verschiedene Sinneseindrücke, die in der vorliegenden Arbeit als sentimental besetzt definiert sind, reizen dabei den Prozess des „heimelig-machens“, bzw. setzen ihn in Gang. 9 | Siehe dazu auch das Projekt „homesick sports nets“ von Silvia Knüppel und Damien Regamey. Hier wurde die mit dem Spitzendeckchen assoziierte Vertrautheit an Omas gute Stube in anonymisierte Sportanlagen versetzt, um diese so mit einer Persönlichkeit aufzuladen.

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Sentimentale Urbanität

Mit dem, was schließlich für diese Orte gestalterisch artikuliert wurde, betonten wir individuelle Froschperspektiven auf das Thema Heimat. Es ging weder, wie im Stadtmarketing, um die Erzeugung eines kollektiven Einheitsgefühls, noch um das am Ende stehende, gestalterische Objekt mit womöglich erzieherischer/identitätsstiftender Ausstrahlung, um dadurch einen Heimatbegriff zu prägen oder zu simulieren. Die partizipative Struktur im LAB ging vielmehr vom Subjekt und seinem persönlichen biographischen Kontext aus und nicht vom Objekt/ dem zu gestaltenden Endergebnis. 10 Gestaltung diente hier nicht dem Verkauf/der Dienstleistung, sondern der Sensibilisierung für einen prozessorientierten Heimatbegriff und der Generierung von Möglichkeitsräumen. Zu Beginn der hier vorliegenden Arbeit definierte ich Heimat als Prozess. Diesen Prozess der Beheimatung versuchten wir in dem durchgeführten LAB durch sinnliche Gestaltung zu reproduzieren. Da Daniel Spoerri mit seiner Operativen Ästhetik des Musée Sentimental sowohl das Partizipative als auch das Subjektive betonte, waren die von ihm dafür angewandten künstlerischen Methoden fruchtbar für die Adaption in ein Gestaltungsprojekt im Heimatkontext. Wir übernahmen dabei Spoerris Verständnis des Sentimentalen als emotionale Brücke zwischen Objekt und Subjekt. Jedoch war das Ziel nicht die museale Ausstellung von sentimentalen Objekten sondern, befördert durch die Auseinandersetzung mit der Wirkung der Sentimentalität, die Entwicklung des Sentimentalen als Gestaltungswerkzeug. Spoerri als Künstler des Noveaux Réalisme untersuchte das Sentimentale im Objekt und schloss mit seinem Musée Sentimental die Lücke zwischen Kunst und Alltag. Der Künstler setzte mit der Inszenierung von emotionalen Qualitäten an Alltagsgegenständen einen

10 | „„Form follows function“ war in der Hochzeit des Funktionalismus – den 1920er-Jahren – ein unumstößlicher Leitspruch. Bekannt wurde er durch den amerikanischen Architekten Louis Sullivan. Im Gegensatz zu Sullivan verstanden die Funktionalisten „function“ allerdings als rein technische Funktion. Der symbolische und der ästhetische Gehalt wurden komplett missachtet. In den 1950er- und 60er-Jahren stieß dieser Funktionalismus mit seinen gehemmten Emotionen und seiner langweiligen Sachlichkeit auf Kritik und Gegenreaktionen […].“ Mareike Roth, Oliver Seiz: Emotion Gestalten. Methodik und Strategie für Designer. Basel 2014, S. 13.

Potentiale des Musée Sentimental

Kontrapunkt zum Funktionalismus. 11 Die Neuen Realisten betrieben eine Kunst, die sich durch die Integration von Materialien und Techniken des Designs selbst/ der Massenkultur auszeichnete. Im Noveaux Réalisme wurde die Kunst zum Alltag und das Alltägliche zur Kunst. Genau wie das Design, können die Methoden des Musée Sentimental hier als eine Form der Alltagsästhetik begriffen werden. In der vorliegenden Arbeit eröffnete sich ein Spannungsfeld, das sich durch die Rückführung der durch das Design in der Kunst abgebildeten Methodologie zurück in das Design ergab. Für die Rückführung der Spoerrischen Sentimentalisierungsmethodologie in das Design ist hervorzuheben, dass bei Spoerri nicht das Ready-Made im Zentrum stand, sondern vielmehr das „Anekdotieren“ 12 der Dinge, welches sich auch in der Vernetzung der einzelnen Objekthistorien im Musée Sentimental abbildet. Die Dinge und ihre Geschichten werden im Musée Sentimental zu mythischen Objekten, da sie vor der Folie einer industrialisierten Zeit, eine Existenz ohne (Produktions)-geschichte führen. 13 Die Gewichtung der Emotion im Objekt, die Spoerri bereits in den 1970er Jahren vornahm, gewinnt im heutigen Zeitalter der Entmaterialisierung besondere Relevanz. 14 Der Mensch spielt in der Entstehung von Objekten gegenüber von Maschinen und Computern nur noch eine marginale Rolle, worin mitunter auch eine Entfremdung des Alltags begründet liegen dürfte. So ist die Entstehung, das Machen von Dingen, längst aus unserer bewussten Wahrnehmung verschwunden.

11 | „Das Heimatgefühl entsteht in diesem Zusammenhang nicht durch die Dinge selbst, sondern durch die menschlichen Beziehungen, die an den Ort und die Dinge geknüpft sind.“ Julia Kraus, Sandra Alica Müller: Spuren hinterlassen. Aneignung und Privatisierung durch Dinge in den Räumen. In: Räume/Dinge/Menschen. Eine Bonner Kulturwissenschaft im Spiegel ihrer Narrative, hg. von Katrin Bauer, Lina Franken. Münster/New York 2015, S. 71-91: S. 76. 12 | Bazon Brock: Interview. Nicht »wie der Keks in der Schachtel«. In: Musée Sentimental 1979. Ein Ausstellungskonzept, hg. von Anke te Heesen, Susanne Padberg. Ostfildern 2011, S. 89-102: S. 89. 13 | Vgl. Konrad Paul Liesmann: Das Universum der Dinge. Zur Ästhetik des Alltäglichen. Wien 2010, S. 14 f. 14 | Vgl. Mareike Roth, Oliver Seiz: Emotion Gestalten. Methodik und Strategie für Designer. Basel 2014, S. 13.

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Die Dinge geben keine Auskunft mehr über ihre Entstehungsbedingungen „[…] jede Spur ihres Gewordenseins ist an Ihnen getilgt: Sie sind einfach alle da“ 15. Im Musée Sentimental wird der Konsument dieser Dinge wieder zu ihrem Leser.16 Das Musée Sentimental wendet sich damit gegen ein Entfremdungsparadigma und überhöht diesen Prozess durch eine regelrechte Fetischisierung des Trivialgegenstandes. Im Gegensatz zum Musée Sentimental ist das Design jedoch eher ein Instrument der Wirtschaft, dass die Massenkultur und die technische Reproduzierbarkeit des Objekts befördert. 17 Im Alltags lässt sich gemeinhin beobachten, dass die im Design produzierten Verbrauchsgüter in der Regel durch ihre kurzen Nutzungszyklen charakterisiert sind18. Damit integrieren sie das Problem der Kommunikations- und

15 | Konrad Paul Liesmann: Das Universum der Dinge. Zur Ästhetik des Alltäglichen. Wien 2010, S. 15. 16 | Das Menschen kein gesichertes Verhältnis zu Dingen und Besitz entwickeln können, liegt Christoph Asendorf fogend „[…] neben der Massenproduktion, die den Wert des einzelnen Dinges in gewisser Hinsicht relativiert, auch an den alle Verhältnisse umwälzenden Erfahrungen nach 1914, die die »Welt der Sicherheit«, von der Stefan Zweig mit Blick auf die Vorkriegszeit noch sprechen konnte, schnell aufgelöst haben.“ Christoph Asendorf: Verlust der Dinge? Stationen einer endlosen Diskussion. In: „Die Tücke des Objekts“. Vom Umgang mit den Dingen, hg. von Katharina Ferus, Dietmar Rübel, Berlin 2009, S. 10-24: 15. 17 | „Das anti-industrielle englische Arts and Crafts Movement [Herv. im Orig.] proklamierte angesichts dieser zunehmenden Verbreitung von maschinellen Produktionsformen seit Mitte des 19. Jahrhunderts gegenüber den Dingen wie deren handwerklicher Bearbeitung eine quasi-religiöse Wahrhaftigkeit. Damit wurde deutlich, dass die industriellen Dinge als vermeintliche Surrogate unter dem Verdacht standen, zum Verlust des traditionellen Handwerks zu führen und dass die massenweise produzierten Waren den ästhetischen Geschmack der neu erschlossenen Käuferschichten verdarben.“ Dietmar Rübel: Dinge werden Kunst – Dinge machen Kunst. Über das Verhalten eigensinniger Objekte. In: Katharina Ferus, Dietmar Rübel (Hgg.), „Die Tücke des Objekts“. Vom Umgang mit den Dingen, Berlin 2009, S. 128-156: 136. 18 | „Spricht uns ein Produkt emotional nicht an, kaufen wir es wahrscheinlich nicht. Wenn doch, ist dies wahrscheinlich einem sehr günstigen Preis oder reiner Pragmatik ui verdanken. Häufig werden solche Produkte jedoch schnell wieder entsorgt und fallen so auch der Umwelt zur Last. Im Sinne der Nachhaltigkeit muss es ein Ziel im Design sein, Produkte zu entwerfen, die über den funktionalen Nutzen hinaus eine emotionale Bindung zum Menschen herstellen können.“ Mareike Roth, Oliver Seiz: Emotion Gestalten. Methodik und Strategie für Designer. Basel 2014, S. 15.

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Beziehungsbildung zwischen Nutzer und Objekt. 19 Spoerri begegnete diesem Problem, indem er die Gebrauchsgeschichte der Dinge in den Fokus rückte. Dies wurde ins LAB transferiert, indem die Gestalter sich hier auf die biographischen Kontexte ihrer Gastgeber und deren Orte konzentrierten. Diese Herangehensweise kann generell als fruchtbringend für das Design betrachtet werden, da innerhalb der Profession u.a. versucht wird, Gebrauchspraktiken und damit zusammenhängende Objektbiographien zu operationalisieren: „Der professionelle Designer ist in seiner Autorität latent dadurch bedroht, dass der Benutzer im Gebrauch womöglich zu originelleren Abweichungen kommt, während der Designprofi die neuen Gebrauchspraktiken in der nächsten Iteration nur wieder operationalisiert und in das Produkt «einschreibt».“20

Spoerri zeigt mit seinem handlungstheoretischen Ansatz im Musée Sentimental auf, wie sich die Einschreibung von Bedeutung durch den Gebrauch im Objekt vollzieht. Dinge können so „[…] zu Repräsentaten einer funktional-emotionalen Potentialität […]“ 21 werden. Dies würdigt der Künstler, indem er sie als Exponat aus ihrer Namenlosigkeit enthebt. Die Objekte erhalten ihren Wert durch die emotionale Aufladung während des Gebrauchs durch den Nutzer. Emotionalität ist hier sowohl ein Resultat des Gebrauchs als auch der Aneignung. Das Objekt erhält in diesem Prozess seinen spezifischen emotionalen Charakter. Dieses Prinzip versucht sich auch die Gestaltung zueigen zu machen. Mit dem sog. „Emotional Design“ wird z.B. versucht, Trivialgegenstände mit Hilfe von Emotionen aufzuwerten und sie so von der Massenware

19 | Dem wird u.a. damit begegnet, dass sich im Design Verfahren wie das „Cue-Management“ entwickelt haben, mit deren Hilfe man versucht, einzelne Eigenschaften eines Produktes zu entwickeln und ihm über die sinnliche Wahrnehmung eine emotionale Typik zuzuweisen. Vgl. Christoph Asendorf: Verlust der Dinge? Stationen einer endlosen Diskussion. In: „Die Tücke des Objekts“. Vom Umgang mit den Dingen, hg. von Katharina Ferus, Dietmar Rübel, Berlin 2009, S. 10-24: 21. 20 | Katharina Bredies: Gebrauch als Design. Über eine unterschätzte Form der Gestaltung. Bielefeld 2014, S. 58. 21 | Gottfried Korff: Einleitung – Notizen zur Dingbedeutsamkeit. In: Museum für Volkskultur in Württemberg (Hg.): 13 Dinge. Form – Funktion – Bedeutung. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Museum für Volkskunde in Württemberg. Stuttgart 1992, S. 8-17 : 8.

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scheinbar abzuheben. In diesem Zusammenhang sollen positive Gefühle transportiert werden. Spoerri hingegen spart in seinem Musée Sentimental auch negative Emotionen wie Ekel, Wut oder Verstörtheit nicht aus. Gleichzeitig zeigt der Künstler durch die Integration von Fakes und einer damit verbundenen hypotehtischen Geschichtsschreibung die Wandelbarkeit von Objekten (auch im Bereich ihrer emotionalen Biographien) auf. Gestalter können daher mit Hilfe des Musée Sentimental u.a. lernen, wie sich die emotionale Beziehung zwischen Objekt und Nutzer im Laufe der Zeit entwickeln und stärken, aber ebenso in Ablehnung umschwenken kann. Das es für Gestalter lohnenswert ist, sich mit diesen Bindungsprozessen auseinanderzusetzen, unterstreichen die Designer Mareike Roth und Oliver Saiz in ihrem Werk „Emotion gestalten“ (2014). Hier stellen Sie u.a. die These auf, dass Dinge die wir ins Herz geschlossen haben, weniger schnell in den Müll wandern und damit auch nachhaltiger seien. 22 Anzustreben wäre daher eine Gestaltung, die Emotionsbildungsprozesse versteht und anwenden kann. Fakt ist jedoch, und dies lässt sich sehr gut im Musée Sentimental beobachten, dass die Ausdeutung eines Objekts sich nicht im Detail steuern lässt. Welche Emotionen vom Rezipienten mit dem Objekt konkret assoziiert werden und welche nicht, steht in direkter Beziehung zur persönlichen Situation des Nutzers und ist damit sehr wandelbar. Um in den Prozess der emotionalen Beziehungsbildung einzutauchen und ihn mitzugestalten, begaben sich die Designer im LAB in einen partizipativen Austausch mit den Nutzern/Gastgebern. Im Musée Sentimental hingegen ist es der Künstler, der zwischen Objekt und Nutzer moderiert. Innerhalb eines partizipativen Deutungsprozesses entwickelt der Rezipient dabei eigene Wahrnehmungsmuster zu den Objekten, die unter Umständen auch Fehler/Unwahrheiten im Rahmen der hypothetischen Geschichtsschreibung einschließen. Dieser Prozess lässt sich ebenso als Form des parizipativen Designs beschreiben, bei der der Designer dem Nutzer Methoden der Gestaltung vermittelt. Indem Spoerri

22 | „Verkürzt ausgedrückt ließe sich sagen: Was geliebt wird, wird nicht weggeworfen. Produkte zu denen es eine starle emotionale Bindung gibt, sind eben keine Wegwerfprodukte und werden im besten Fall sogar ein Leben lang behalten.“ Mareike Roth, Oliver Seiz: Emotion Gestalten. Methodik und Strategie für Designer. Basel 2014, S. 15.

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im Musée Sentimental Alltagsgegenstände zu Kunstobjekten stilisierte, veränderte er die die Sicht auf die Dinge. Liessmann hält fest: „Bei Gegenständen des Alltags fragen wir: Was kann ich damit tun? Bei Kunstwerken fragen wir: Was können Sie bedeuten?“23

Darauf Bezug nehmend werden im Musée Sentimental beide Fragestellungen auf das Objekt angewandt, da es sich sowohl um ein Alltags- als auch um ein Kunstobjekt handelt. Im Kontext der Nutzungsgeschichte der Objekte könnte man den Katalog um eine dritte Frage nach der Objektbiographie erweitern: Woher kam ich (das Objekt) und wohin ging ich? und das Musée Sentimental als ein Aufnahme- und Aneignungsinstrument für Objekte des Alltags verstehen, dass das Deutungspotential der Objekte vergrößert24: „Bei deponierten und exponierten Museumsdingen wird deutlich, dass Zuweisungen von Dingbedeutungen nicht ein für allemal feststehen. […] Die künstlerische wie kulturhistorische Verwendung von Dingen ist eine offene Operation, bei welcher die kontextgebundene Sinngebung und das damit gekoppelte historische Designverständnis zur Disposition stehen: Beim Umgang mit Dingen geht es also um die Verwandlung der Objekte, nach welcher der Umgang mit ihnen kein alltäglicher mehr, sondern ein kunstvoller ist […].“25

In Bezug auf die methodische Rückführung in das Design, kann die künstlerische Herangehensweise Spoerris hilfreich sein, um einerseits die Aneignung von Gestaltetem zu provozieren und andererseits neue

23 | Konrad Paul Liesmann: Das Universum der Dinge. Zur Ästhetik des Alltäglichen. Wien 2010, S. 74. 24 | Vgl. Katharina Bredies: Gebrauch als Design. Über eine unterschätzte Form der Gestaltung. Bielefeld 2014, S. 74. In diesem Zusammenhang ist noch hervorzuheben, dass Spoerri den Aneignungsprozess auch durch die Arbeit mit Irritationen (bzw. ungewöhnliche Lesarten von Objekten) anstößt. So wies bereits Wolfgang Jonas darauf hin, das im Design Irritation der fruchtbarste Weg sei, um geschlossene Systeme zu beeinflussen. 25 | Dietmar Rübel: Dinge werden Kunst – Dinge machen Kunst. Über das Verhalten eigensinniger Objekte. In: Katharina Ferus, Dietmar Rübel (Hgg.), „Die Tücke des Objekts“. Vom Umgang mit den Dingen, Berlin 2009, S. 128-156: 142.

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Interpretationen von Dingen zu ermöglichen,26 die wie Dietmar Rübel oben festhält, sowieso durch eine offene Operation charakterisiert sind. Katharina Bredies folgend ist der Dinggebrauch, durch Aufnahme und Aneignung sowie schließlich auch durch eine Umnutzung seitens des Rezipienten bestimmt, wobei die Aneignung eine Umnutzung bereits integrieren kann. 27 Bredies definiert die einzelnen Parameter wie folgt: „Aufnahme (adoption): Eine Person setzt sich überhaupt mit einem Gegenstand auseinander. Aneignung (appropriation): Der Gegenstand wird mit persönlicher (symbolischer) Bedeutung aufgeladen, durch persönliche Erlebnisse, Deutungen und Handlungen, die damit in Verbindung gebracht werden können. Die angebotenen Funktionen des Gegenstands werden beibehalten, aber für unerwartete Zwecke benutzt. Umnutzung (reuse): Der sozial genormte Gebrauch wird durch einen selbst erdachten oder nachgeahmten, abweichenden Gebrauch ersetzt, der nicht mehr der intendierten Funktion des Gegenstands entspricht. Es kommt nicht nur zur symbolischen, sondern auch zur instrumentellen Aneignung.“ [Herv. im Orig.]28

Bezogen auf das Musée Sentimental ist die Umnutzung der Objekte in Form ihrer Transformation vom Alltagsobjekt/Trivialgegenstand zum Kunstgegenstand vollzogen. Das Musée Sentimental leistet, im Lichte von Bredies´ Umnutzungskonzept betrachtet, demnach sowohl eine symbolische als auch eine instrumentelle Aneignung. Bedingt durch die Umnutzung provoziert das Objekt im Musée Sentimental damit sowohl die „adoption“ als auch die „appropriation“. Verstärkt wird dieser Prozess mit dem Blick auf die Objekte durch die sentimentale Brille. Das Sentimentale wird innerhalb des Musée Sentimental als ehrlicher und natürlich gegebener Ausdruck einer Gesellschaft

26 | Im LAB „“Sentimentale Urbanität“ versuchten wir, die Aneignung von Heimat durch Operationalisierung der spoerrischen Sentimentalisierungsmethoden im Design zu provozieren. Den Prozess der Aneignung konnten wir so im Rahmen einer gestalterischen Aktionsforschung untersuchen. Die Aneignung im Gebrauch war hier Teil des Designprozesses. 27 | Vgl. Katharina Bredies: Gebrauch als Design. Über eine unterschätzte Form der Gestaltung. Bielefeld 2014, S. 67. 28 | Ebd., S. 70 f.

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anerkannt und bewusst als Reizauslöser eingesetzt.29 Betrachtet man das Sentimentale und seine imaginäre Qualität wie im Musée Sentimental, als natürliche Ausdrucksform naturā und damit als das Wahre, so scheint eine Qualifizierung des Begriffs auch für die gestalterische Produktion gewinnbringend, da das Imaginative das Erleben des Subjekts grundlegend prägt30. Indem die Sentimentalisierungsmethodologie Spoerris in den Designprozess übertragen wird, kann so das Gestaltete selbst zum Emotionsauslöser werden. Es geht dabei nicht um eine Reduzierung des individuellen Gefühls sondern vielmehr um ein Vorherrschen des Ich in der sentimentalen Gestaltung. Diese Prämisse war bereits strukturdominant in der impressionistischen Kunst, bei der der Anblick des Werks ein Gefühl/eine Impression im subjektiven Sinne auslösen sollte. Die Genese des Gefühls beim Nutzen oder Betrachten von Dingen und Oberflächen ist ebenso zentral im Design. Der italienische Gestalter Roberto Lazzeroni zum Beispiel bezeichnet seine Arbeit als „sentimentales Design“ und meint dabei unter anderem die Spannung zwischen Vergangenheit und Zukunft, die sich in seinen Entwürfen realisiert. Hierbei ist aber nicht nur die Integration traditioneller Produktionstechniken oder Materialien als sentimental zu bezeichnen31, sondern vielmehr auch die Wahrnehmungsform, mit der der Gestalter seine Umwelt aufnimmt und über sein Design dem Rezipienten vermittelt. Bei der Integration des Sentimentalen in die Gestaltung geht es immer um Beziehungsbildung. Das Sentimentale stellt hierbei die Brücke zwischen Gestalter und Gestaltetem sowie zwischen Gestaltetem und Rezipient. Es ergibt sich durch die Aneignung bzw. die Beziehungsbildung und ist damit Teil von Gestaltungsprozessen. Dies ist insbesondere zentral in der Aneignung von Heimat, da die Entstehung von Wohnräumen in diversen Facetten durch kreative Prozesse im Alltag geprägt ist.

29 | Immanuel Kant folgend darf Kunst weder reizen noch rühren, da sonst die ästhetische Urteilskraft am Ende sei. Vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Werkausgabe Bd. X, hg. Von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M.1986, S. 138. Demfolgend wird das Musée Senti-

mental in der vorliegenden Arbeit auch nicht als Künstlermuseum, sondern als Methodologie zur Sentimentalisierung verstanden. 30 | Vgl. ebd., S. 74. 31 | Siehe dazu auch die Arbeiten von Sebastian Cox.

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9.2 Die Anschlussfähigkeit des Musée Sentimental für eine europäische Identitätskultur. Ausblick Die vorliegende Arbeit wurde eingeleitet durch ein Gedicht von Mascha Kaléko, einer jüdischen Lyrikerin, die Zeit ihres Lebens auf der Suche nach Heimat war. Diese Suche war geprägt durch Vertreibung, Flucht und immer wieder auch nach der Frage der eigenen Identität. Die Wahl Kalékos als einleitende Instanz für eine Forschungsarbeit, die sich mit der sentimentalen Heimat befasst, ist kein Zufall. So stammen doch „[…] die wichtigsten Beiträge zur subjektiven Identität und zum sozialen Konstruktivismus von Emigranten und anderen Wanderern zwischen den Kulturen oder von Intellektuellen, deren kreative Spannung durch andere tiefe Kontinuitätsbrüche in ihrem Leben erregt wurde […].“32

Lutz Niethammer verdeutlicht hier u.a. anhand von Migrationsbewegungen, dass Identität multipel und wandelbar ist und sich als Hybrid dynamisch anpassen kann. Auch Beate Binder weist darauf hin, dass Flüchtlinge nicht nur in ihrer Schwellensituation verharren würden, sondern vielmehr Praxen der Beheimatung am neuen Ort entwerfen würden.33 Binder geht grundsätzlich davon aus, „[…] dass sich auch unter den Bedingungen von [erzwungener, A. C.] Mobilität und Flexibilität Ortsbezogenheit nicht auflöst, sondern vielmehr eine neue Qualität erhält. Auf die damit verbundenen Praktiken und Sinnbezüge soll also der Blick gerichtet und danach gefragt werden, unter welchen Bedingungen und auf welche Weise Menschen sich an und zwischen Orten einrichten und soziale wie emotionale Zugehörigkeiten konstituieren. Der Perspektivwechsel

32 | Lutz Niethammer: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. Reinbeck bei Hamburg, 2000, S. 53. 33 | Vgl. Beate Binder: Beheimatung statt Heimat. Translokale Perspektiven auf Räume der Zugehörigkeit. In: Manfred Seifert (Hg.): Zwischen Emotion und Kalkül. ´Heimat´ als Argument im Prozess der Moderne. Dresden, 2010, S. 189-204: S. 202.

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von Heimat zu Beheimatung fußt dabei grundsätzlich auf einem Verständnis von Heimat als Prozess und Aushandlung.34

In Zusammenhang der vielfältigen Bezogenheit auf Heimat warnt Binder vor einer Fixierung auf ethnische Gruppen, da dies die Gefahr der Essentialisierung und Homogenisierung beinhalten und gleichzeitig die Forcierung von Grenzziehungen und die Zuweisung marginalisierter Positionen inkludiere.35 Unter Bezug auf Nadje Al-Ali und Khalid Koser betont Binder die „[…] machtvollen, sozial wirksamen Differenzierungen, die jede Erfahrung von Heimat/‚home‘ durchziehen. Gerade in der Auseinandersetzung mit einem Außen, die jeden Versuch, sich zu beheimaten, mitbestimmt, wird insbesondere für diejenigen, die in prekären – oder wie sie [Al-Ali und Koser, A. C.] es nennen – verletzbaren sozialen Positionen leben, die Suche nach Heimat und die Auseinandersetzung mit Möglichkeiten der Beheimatung zur (auch) Besorgnis erregenden Erfahrung.“36

Das von Binder hier angerissene Moment der Machtausübung und Abgrenzung in Bezug auf Beheimatungsprozesses37, findet sich auch bei

34 | Beate Binder: Beheimatung statt Heimat. Translokale Perspektiven auf Räume der Zugehörigkeit. In: Manfred Seifert (Hg.): Zwischen Emotion und Kalkül. ´Heimat´ als Argument im Prozess der Moderne. Dresden, 2010, S. 189-204: S. 203. 35 | Vgl. ebd. 36 | Ebd., S. 200. 37 | Segers und Viehoff heben den janusköpfigen Charakter von Öffnung und Schließung hervor: „Wie es scheint, kann Europa in seiner gegenwärtigen Verfassung jedenfalls das eine ohne das andere nicht haben und nicht bekommen: keine transnationalen wissenschaftlichen Kommunikationsnetze ohne ein Kommunikationsnetzwerk rechtsradikaler Cliquen; keine Wahlberechtigung für alle dort, wo sie wohnen, ohne die Errichtung einer »Festung Europa« gegen alle Zu- und Einwanderer; keine Vollbeschäftigung in Europa ohne auch die »billige« Arbeit aus anderen Weltregionen zurückzuholen und dort Arbeitslosigkeit zu hinterlassen; keine preiswerten Konsumgüter in den eigenen Supermärkten ohne unfaire Preise in den Ländern zu zahlen, die die natürlichen Rohstoffe für diesen Konsum produzieren …“ Rien T. Segers, Reinhold Viehoff: Die Konstruktion Europas. Überlegungen zum Problem der Kultur in Europa. In: Kultur Identität Europa. Über die Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer Konstruktion, hg. von Reinhold Viehoff, Rien T. Segers. Frankfurt a. M. 1999, S. 9-50: S. 15.

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Niethammer, der dies anhand von Identitätsbildungsprozessen darlegt, welche im Verständnis der vorliegenden Arbeit in Korrelation zu Heimatkonzepten zu sehen sind. Niethammer zieht in diesem Kontext die jüdische Identität und den damit zusammenhängenden Herrschaftsgestus38 im Nationalsozialismus heran. Dieser äußerte sich in voller Brutalität in den Identitätsbestimmungen des NS-Regimes gegenüber KZ-Häftlingen. Die Inhaftierten wurden hier als Kollektiv egalisiert und ihrer Individualität als Mensch beraubt (Uniformierung, Rasur des Kopfes und erneute Identitätszuschreibung durch Kategorisierung ihres Wesens als Jude oder Homosexueller, was sich in der zugeschriebenen Nummer abbildete). 39 Niethammer zieht u.a. dieses extreme Beispiel heran, um aufzuzeigen, dass „[…] der Zusammenhang zwischen Herrschaft und Identitätszuschreibung [heute, A.C.] weitgehend verdrängt wird.“40

Vor diesem Hintergrund warnt Niethammer eindrücklich vor einer „Identität à la carte“ 41, die zugunsten des Kollektivs eben nicht ohne eine Enttraditionalisierung auskommt. 42 Er weist darauf hin, dass der Begriff der Identität immer die Abgrenzung vom Nicht-Identischen beinhalte und damit ipsā naturā auf Konflikt angelegt sei.43 Der kollektiven Identität sei die Tendenz zum Fundamentalismus und zur Gewalt inhärent.44 So schließt das Kollektive immer auch den Ausschluss ein. Trotz allem wird in erster Linie von politischer Seite immer wieder zur „Wir-Stärke“45 aufgerufen. Diese bezieht sich zumeist auf das nationale Selbstbild/die Selbstwahrnehmung in Bezug auf Städte, Länder und auch

38 | Vgl. Lutz Niethammer: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. Reinbeck bei Hamburg, 2000, S. 51. 39 | Vgl. ebd. 40 | Ebd. 41 | Ebd. S. 53. 42 | Vgl. ebd. 43 | Vgl. ebd., S. 625. 44 | Vgl. ebd. 45 | „Die Aufforderung zur Wir-Stärke ist dabei keineswegs ein Reservat der politischen Rechten, obwohl nicht übersehen werden sollte, daß Identität seit den 70er Jahren zu einem Leitbegriff besonders des europäischen Rechtsextremismus geworden ist […].“ Ebd., S. 20.

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Systeme wie die Europäische Union. Insbesondere im Kontext einer europäischen Identität gewinnt die Debatte von anhaltenden Flüchtlingsströmen und den damit einhergehenden Verantwortlichkeiten an besonderer Brisanz: „In diesem Strudel von staatlicher Souveränität, nationaler Selbstbestimmung, Menschenrechten und kultureller Selbstbestimmung wird kollektive Identität von jedweder Seite eingefordert, denn niemand will ausbuchstabieren, was das bedeutet und wer für die Kosten aufkommt.“46

Identitätskonstrukte sind demnach politisch motiviert47 und integrieren einen nicht unerheblichen ökonomischen Faktor. Zudem setzten Migrationsbewegungen nicht nur die Entwicklung von Heimatpraxen bei den Einwandernden, sondern ebenso bei den Ortansässigen in Gang, bei denen im Umgang mit transnationalisierten lokalen Räumen, neue Strategien zur Heimatschaffung und -erhaltung entstehen. 48 Die sogenannten „identity politics“ tauchen überall dort und immer dann auf, „[…] wo Ungeklärtes mit besonderer Emphase vereinnahmt werden soll. 49 Ungeklärte, schwimmende Zustände verursachen nicht nur Verunsicherungen sondern mitunter sogar Ängste.50 Gudrun Quenzel erkennt:

46 | Lutz Niethammer: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. Reinbeck bei Hamburg, 2000, S. 25. 47 | „Die herzustellenden Identitäten sollen etwas bewirken, insbesondere sollen sie der Ausbreitung und Festigung demokratischer Strukturen dienen und diese von Belastungen durch den Überhang sozio-kultureller Traditionen und von den Kontingenzen der Geschichte überhaupt entlasten.“ Ebd. S. 481. 48 | Vgl. Beate Binder: Beheimatung statt Heimat. Translokale Perspektiven auf Räume der Zugehörigkeit. In: Manfred Seifert (Hg.): Zwischen Emotion und Kalkül. ´Heimat´ als Argument im Prozess der Moderne. Dresden, 2010, S. 189-204: S. 204. 49 | Lutz Niethammer: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. Reinbeck bei Hamburg, 2000, S. 12. 50 | Für die Verlagerung dieser Ängste ist insbesondere die kollektive Identität geeignet, weil diese die Komplexität der Ursachen reduziert und auf das nächste Fremde ableitet. Vgl. ebd., S. 535.

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„Bedingt durch den fortgesetzten Prozess der EU-Erweiterung bilden die Bürger/innen der Union, anders als in den Nationalstaaten, keine feste Größe. Zwar bleiben auch die Bürger/innen der Nationalstaaten nicht identisch und dies nicht nur aufgrund von Zu- oder Abwanderung, sondern auch durch Tod und Geburt neuer bzw. alter Mitglieder. Bei Nationalstaaten besteht jedoch zumindest die glaubhafte Fiktion einer hohen personalen Kontinuität, die die Identifikation mit dem Demos erleichtert. Die Durchsetzung einer solchen Fiktion ist in der Europäischen Union erst dann denkbar, wenn keine Diskussionen über mögliche Erweiterungen mehr stattfinden. Dieser Zustand wird frühestens erreicht sein, wenn die Europäische Union eine definitive Entscheidung über einen Beitritt von Albanien, Island, Kroatien, Makedonien, Moldawien, Norwegen, Bosnien-Herzegowina, Russland, der Schweiz, der Staatenunion Serbien und Montenegro, der Türkei, der Ukraine, von Weißrussland und vermutlich auch von Israel gefällt hat. Allein die Liste möglicher Beitrittskandidaten deutet darauf hin, dass diese Diskussion erst in ferner Zukunft abgeschlossen sein wird.“51

Klaus Schleicher hebt hervor, dass der Erweiterungsprozess Europa an eine Wegscheide führe. Je mehr Länder mit geringem europäischem Werte- und Traditionsbestand dabei in die EU kämen, desto schwerer die Erreichung einer konsensfähigen Identität.52 So ist es wenig verwunderlich, dass sich Europa mit seinem stetigen Erweiterungsprozess der Grenzen und den damit verbundenen Bürgerschaften immer wieder der Forderung nach einer kollektiven Identität ausgesetzt sieht.53 Identität, also „Einerleiht“, womit sie im 19. Jahrhundert ins Deutsche übersetzt wurde54, kann realistisch

51 | Gudrun Quenzel: Konstruktion von Europa. Die Europäische Identität und die Kulturpolitik der Europäischen Union. Bielefeld 2005, S. 31. 52 | Vgl. Klaus Schleicher: Zur Biographie Europas. Hamburg 2007, S. 7. „Europa erfährt seine Identität weniger durch Platon, Bach, Adam Smith oder Picasso als durch die Afrikaner, Asiaten, Lateinamerikaner oder Ost- und Südeuropäer, die an seine Tore klopfen oder seine grünen oder blauen Grenzen überwinden.“ Lutz Niethammer: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. Reinbeck bei Hamburg, 2000, S. 528. 53 | „Echte europäische Identität ist […] aus der Sicht führender europäischer Politiker vor allem dort gefragt, wo es um die Anhebung des staatlichen Gewaltmonopols auf die kontinentale Ebene und um die Wahrnehmung der Interessen Europas außerhalb seiner Grenzen geht.“ Ebd., S. 533 f. 54 | Ebd., S. 41.

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betrachtet aber nur für heterogene Systeme wie Europa funktionieren, wenn dafür marginalisierte Gruppen systematisch ausgeschlossen werden. Auch Reinhold Viehoff und Rien T. Segers halten fest: „Auf der gleichen Linie des »Weginterpretierens« (und der damit verbundenen entsprechenden sozialen Spannungen) liegt die innereuropäische Wahrnehmung der differenten kulturellen Identitäten jener Gruppen vor allem aus den südlichen Teilen Europas, Vorderasiens und Nordafrikas […]. Die Motive der Grenzüberschreitung mögen ja noch aus Rücksicht auf eine mögliche Wende des Schicksals von vielen Europäern anerkannt werden, nicht aber, daß die »Fremden« dann auch eine eigenkulturelle Dynamik entwickeln, die sich nicht den Regeln des jeweiligen »Gastlandes« akulturieren mag (Türken in Deutschland, Marokkaner in Frankreich, Pakistani in England, Surinamesen in den Niederlanden etc.). Das führt eben notwendig in beinahe allen Ländern Europas zu erheblichen sozialen Spannungen und zu manifesten Ausgrenzungsprozessen, keineswegs aber zu einer glatten europäischen Identität […].“55

Das von Viehoff und Segers verharmlosend titulierte Konzept des „Weginterpretierens“ läuft u.a. diametral zu den Forderungen Maurice Halbwachs’. Ihm folgend müsste ein multikultureller Staat eine Gedächtnispolitik betreiben, die den öffentlichen Gedächtnisraum nicht kolonialisiert sondern ein reflexives Bewusstsein wahrt.56 Auch Joseph Beuys stellte heraus, dass sein utopisches Ideal eine Gesellschaft meint, die eine Kultur des Unterschieds lebt. Diese Unterschiede müssten zur Entfaltung gebracht werden, damit man sich gegenseitig ergänzen könne, denn dies sei auch ein europäischer Gedanke.57 Trotzdem setzt sich bis heute das Konzept

55 | Rien T. Segers, Reinhold Viehoff: Die Konstruktion Europas. Überlegungen zum Problem der Kultur in Europa. In: Kultur Identität Europa. Über die Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer Konstruktion, hg. von Rien T. Segers, Reinhold Viehoff. Frankfurt a. M., 1999, S. 25. 56 | Martin Saar: Wem gehört das kollektive Gedächtnis? Ein sozialphilosophischer Ausblick auf Kultur, Multikulturalismus und Erinnerung. In: Kontexte und Kulturen des Erinnerns: Maurice Halbwachs und das Paradigma des kollektiven Gedächtnisses, hg. von Gerald Echterhoff, Martin Saar. Konstanz 2002, S. 267-283: S. 276. 57 | Vgl. Clara Bodenmann-Ritter: Gespräch mit Joseph Beuys. In: Joseph Beuys. Jeder Mensch ein Künstler. Gespräche auf der documenta 5/1972, hg. von Clara Bodenmann-Ritter. Frankfurt a. M./Berlin, 5. Auflage 1994, S. 57 f.

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des „Weginterpretierens“ durch, was sich u.a. eindrücklich in der europäischen Flüchtlingspolitik darstellt. Als damaliger UNO-Generalsekretär prognostizierte Kofi Annan bereits in seinem Jahresbericht 1997 „[…], daß die «Verteufelung der Anderen» zu den explosivsten Zukunftsproblemen gehöre. […] [Er lässt, A. C.] keinen Zweifel daran, daß es sich bei dieser Qualifizierung von Differenz nicht um Sachverhalte, sondern um Zuschreibungen an andere sozio-kulturelle Kollektive als Personifizierung des Bösen handelt. Im projektiven und manipulierbaren Charakter von «identity politics» sieht er also ihren Kern oder zumindest ihr Hauptrisiko. Offensichtlich handelt es sich dabei nicht um eine individuelle Identitätsaussage, als wenn die Welt volle Teufel wär; vielmehr ist die Suche nach kollektiver [Her. im Orig.] Identität mit der Abwertung ganzer anderer Kollektive dialektisch verbunden, indem sie diese zugleich forciert und sich aus ihr nährt.58

Ohne mich vorher mit den hier klar aufgezeigten Ambivalenzen des Begriffs der kollektiven Identität auseinandergesetzt zu haben, stand diese auch für mich zunächst als zentrale Frage in dem durchgeführten Folkwang LAB. Ich hatte gehofft, mit dem Projekt eine kollektive Identität des Ruhrgebiets identifizieren zu können und wurde sehr schnell eines Besseren belehrt. Ganz bewusst hatten wir uns innerhalb Essens auf

58 | Lutz Niethammer: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. Reinbeck bei Hamburg, 2000, S. 11.

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heterogene Stadtteile konzentriert59, die der vielbeschworenen Nord-Süd Schneise60 folgten. Die Studierenden wohnten sowohl bei Familien im „reicheren Süden“ als auch im „ärmeren Norden“. Innerhalb unserer phänomenologischen Untersuchung konnten wir dabei feststellen, dass unabhängig der Parameter soziale Herkunft, Bildungsniveau oder Einkommen (die im Übrigen auch nicht zwangsweise der betonten Schneise entsprachen), durchweg persönliche Momente als sentimentale Orte benannt wurden. Diese Orte folgten dabei nicht den öffentlichen Angeboten oder Klischees, die man mit dem Ruhrgebiet verbindet. Zudem waren nicht alle Gedächtnisorte tatsächlich verortbar, im Sinne von im Boden verankert. Die spoerrischen Methoden zur Sentimentalisierung eigneten sich hier perfekt, um genau diese individuellen Orte und diversen Identitäten zu betonen. Spoerri ironisierte mit seinem Musée Sentimental nämlich einen allgemeinen Identitätsanspruch, indem er den Charakter einer Stadt aus vielen einzelnen Geschichten zu Objekten des Alltags zusammensetzte.

59 | Diese Heterogenität bildet sich im ganzen Ruhrgebiet ab. Aufgrund der Zuwanderungswellen, die Essen im Rahmen der Montanindustrie erlebt hat, lässt sich im Blick auf Identitäts- und Heimatmotive eine Verbindung zu europäischen Problematiken herstellen. Marie-Louise Marjan hält fest: „Heute leben ca. 15 Nationen in einem der dichtesten Ballungsräume Europas, tolerant neben- und miteinander, ein kraftvoller Meltingpot, der nur noch mit New York verglichen werden kann. Aus dieser Mischung der Völker sprudelt eine Kreativität, die ständigem Wandel unterliegt und sich stetig selbst erneuert. […] in jeder kleinen Zelle der Stadt [Essen, A. C.] spiegelt sich Europa mit seiner Vielfalt wieder.“ (Marie-Luise Marjan: Der Himmel über dem Ruhrgebiet. In: Ein Revier für die Kultur. Ruhr 2010. Kulturhauptstadt Europas, hg. von Marie-Luise Marjan. Köln 2008, S. 62-68: S. 66.) Zudem ist Essen mit der Zeche Zollverein ein Sinnbild für erste europäische Handelsabkommen im Bereich der Montanunion. Ein wirtschaftliches Konstrukt bildete dabei eine erste Brücke zur Ausbildung einer europäischen Gemeinschaft: „Der Name „Zollverein“ basiert auf der 1834 in Kraft getretenen Freihandelszone aus 14 deutschen Staaten und war Programm, stand der Deutsche Zollverein doch synonym für wirtschaftlichen Aufschwung und Prosperität.“ Zeche Zollverein: Industriekultur auf dem Welterbe Zollverein. Typisch Revier: Kohle, Koks & Kumpel (https://www.zollverein.de/welterbe/geschichte_zollverein/geschichte-ueberblick/ industriekultur-auf-zollverein, zuletzt aufgerufen 28.03.14). 60 | Das Ruhrgebiet und insbesondere die Stadt Essen werden durch ihre Diversitäten und Nachbarschaften charakterisiert. Bedingt durch die Industrie und die damit zusammenhängende Gastarbeiterzuwanderung hat sich in Essen im Laufe der Jahrzehnte eine Nord-Süd-Schneise entwickelt. So findet man im Süden einkommensstärkere Schichten und im Norden in den alten Arbeitersiedlungen rund um die stillgelegten Zechen die einkommensschwächeren Schichten und Migranten.

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Er wählte hunderte kleine Perspektiven und Ausschnitte, um so das große Ganze abzubilden. Dem folgend produzierten wir auch in dem LAB keine repräsentativen Symbole, sondern nutzen die Methoden Spoerris als gestalterische Artikulationstechnik, um sich die Geschichten des gelebten Raumes anzueignen bzw. sie sichtbar zu machen. Das LAB betonte in diesem Zusammenhang die Prozesshaftigkeit und die ästhetische Übersetzung, die der Ortsbezug erforderlich machte. Wird dieses Verfahren nun in den Europafokus transferiert, so eröffnet sich ein starker Kontrast zu den Listen entwickelnden Identitätssuchen der UNESCO. Diese deklarierte 1983 die kulturelle Identität zu einem Grundrecht der Nationen61 und sichert dafür ihr kulturelles Erbe in Listen, welche als repräsentative Symbole für die kollektive Identität eines sozialen Systems zu sehen sind. Es stellt sich jedoch nicht nur die Frage, ob die in den Listen enthaltenen Dinge wirklich eine kollektive Identität transportieren, sondern auch ob die Vorstellung, menschliche Kollektive sollten identisch sein, nicht generell ad absurdum zu führen ist.62 Bereits im Lichte der herrschenden Erinnerungsasymmetrie63 in Europa ist eine Kollektivierung von Identität mehr als unwahrscheinlich. Das kulturelle Gedächtnis Europas gründet auf diversen kulturellen Erben64, woraus sich wiederum unterschiedliche Geschichten und mannigfaltige Erinnerungen entwickeln.65 Aleida Assmann erläutert die Asymmetrie am Beispiel des Nationalsozialismus und des Stalinismus in ihrem Wiener Vortrag 2009

61 | Lutz Niethammer: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. Reinbeck bei Hamburg, 2000, S. 10. 62 | Vgl. ebd. S. 19. 63 | Auch Gudrun Quenzel erkennt: „Gemeinschaften unterscheiden sich […] nicht primär aufgrund unterschiedlicher Erfahrungen, sondern vielmehr durch unterschiedliche Bezugnahmen und Ereignisse des kollektiven Gedächtnisses. Das gleiche historische Ereignis kann […] diesseits und jenseits einer Grenze unterschiedlich erinnert werden.“ Gudrun Quenzel: Konstruktion von Europa. Die Europäische Identität und die Kulturpolitik der Europäischen Union. Bielefeld 2005, S. 149. 64 | Vgl. Aleida Assmann: Einführung in die Kulturwissenschaft. Berlin, 2. Auflage 2008, S. 183. 65 | Auch Niethammer fordert, die Gesellschaft müsste sich wieder gewahr werden, wie viele Einflüsse auf sie eingewirkt haben (nationale, geschlechtliche, religiöse, berufliche u.v.m.), um das Nicht-Identische an sich selbst wahrzunehmen. Vgl. Lutz Niethammer: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. Reinbeck bei Hamburg, 2000, S. 627. In der vorliegenden Arbeit werden die Methoden des Musée Sentimental von Daniel Spoerri als Artikulationsmethode für das Nicht-Identische verstanden.

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Auf dem Weg zu einer europäischen Erinnerungskultur?. Sie hält fest, dass weder der Sieg über den Faschismus noch der Zusammenbruch der Sowjetunion eine kollektive europäische Identität hervorbringen konnten66 und untermauert dies unter anderem mit einem Hinweis von Janusz Reiter: „Janusz Reiter, ehemaliger polnischer Botschafter in Deutschland, hat das gespaltene europäische Gedächtnis auf den Punkt gebracht: »Was ihre Erinnerungen angeht, so ist die Europäische Union ein gespaltener Kontinent geblieben. Nach ihrer Erweiterung verläuft die Grenze, die die EU einst von den östlichen Staaten getrennt hatte, nun mitten durch sie hindurch.« Dieses gespaltene Gedächtnis entsteht durch das Spannungsfeld zweier Erinnerungsbrennpunkte: des Holocaust und des Gulag, deren Unvereinbarkeit dem Zusammenwachsen einer europäischen Gedächtniskultur vorerst noch im Wege stehen.“67

Zur Lösung des Erinnerungskonf liktes sieht Assmann die einzige Chance des Konsens im Dissens, d. h. durch die „Koexistenz einander

66 | Assmann führt in diesem Zusammenhang das Beispiel des 9. Mai 1945 an. Die Russen verbänden mit diesem Tag das Ende des 2. Weltkrieges, bzw. den ruhmreichen Sieg der Roten Armee und nicht das Ende des Holocaust. Vgl. Aleida Assmann: Auf dem Weg zu einer europäischen Gedächtniskultur?. Wien 2012, S. 51. Zudem gründet Europa auf der Problematik, dass es weder durch eine Revolution noch durch einen historischen Konflikt hervorgebracht wurde. Bernhard Giesen dazu: „[…] keine charismatischen Gründerfiguren und mythischen Plätze geben Europa ein symbolisches Zentrum, keine große historische Erfahrung, kein gemeinsamer Aufstand gegen eine fremde Usurpation, keine Abwehr einer Invasion von außen wird zum Anlaß einer Erinnerung europäischer Vergangenheit genommen. Der Sieg über den Faschismus, der als ein solcher europaweiter Bezugspunkt der Erinnerung hätte dienen können, wird vorwiegend in nationalem Rahmen erinnert und verdankt sich nicht zuletzt vor allem einer massiven externen Intervention: es waren die Amerikaner und nicht die Europäer selbst, die Europa befreit haben. Die zweite übernationale geschichtliche Erfahrung dieses Jahrhunderts, der Zusammenbruch des sowjetischen Imperiums, betrifft eben nur einen Teil der Völker Europas; sie ist im übrigen auch zu jung, um den Kern einer Erinnerungstradition bilden zu können.“ Bernhard Giesen: Europa als Konstruktion der Intellektuellen. In: Kultur Identität Europa. Über die Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer Konstruktion, hg. von Reinhold Viehoff, Rien T. Segers. Frankfurt a. M. 1999, S. 130-147: S. 135 f. 67 | Aleida Assmann: Auf dem Weg zu einer europäischen Gedächtniskultur?. Wien 2012, S. 41.

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widerstreitender Erinnerungen.“68 Sie führt deshalb den Begriff oder die Forderung des »dialogischen Erinnerns«69 ein. Dieses Prinzip meint unter anderem die gegenseitige Anschlussfähigkeit nationaler Geschichtsbilder.70 Dafür ist eine von Passerini gemachte Unterscheidung grundlegend: „Die italienische Oral-History-Forscherin Luisa Passerini hat eine wichtige Unterscheidung eingeführt, die in diesem Zusammenhang hilfreich ist. Sie unterscheidet zwischen »shared narratives« (oder gemeinsamen Geschichten) und »shareable narratives« im Sinne von anschlussfähigen Geschichten.“ 71

Die von Assmann hier herausgestellten anschlussfähigen Geschichten werden also erforderlich, um zu einer europäischen Gedächtniskultur zu finden.72 „Es geht bei der Frage nach einer Europäisierung der Erinnerungskultur als ganzes ausgesprochen nicht um ein abstraktes, vereinheitlichtes europäisches Masternarrativ, in dem sich die Erinnerungsperspektiven der Betroffenen verwischen, sondern um die dialogische Bezogenheit und gegenseitige Anschlussfähigkeit nationaler Geschichtsbilder. […] Der Weg zu einer europäischen Gedächtniskultur führt nicht zu einer gemeinsamen Geschichte, sondern zu anschlussfähigen Geschichten.“ 73

Wie bereits weiter oben gezeigt wurde, hat Daniel Spoerri es mit seinen im Musée Sentimental angewandten Sentimentalisierungsstrategien geschafft, über bewegliche Objekte der Alltagskultur „shareable

68 |  Aleida Assmann: Auf dem Weg zu einer europäischen Gedächtniskultur?. Wien 2012, S. 47. 69 | „Es geht dabei um die traumatische Beziehungsgeschichte zwischen zwei oder mehreren Staaten, die nachträglich von beiden beziehungsweise allen Seiten in einen gemeinsamen Erinnerungsrahmen aufgenommen wird. Der Begriff »dialogisches Erinnern« steht allgemein für die wechselseitige Verknüpfung und Aufrasterung allzu einheitlicher und kompakter Gedächtniskonstruktionen […].“ Ebd., S. 54. 70 | Vgl. ebd., S. 62. 71 | Aleida Assmann zitiert Luisa Passerini. In: ebd., S. 63. 72 | Vgl. ebd., S. 63. 73 | Ebd., S. 62 f.

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narratives“ im Sinne Passerinis zu erzeugen. Das dialogische74 Erinnern ist dabei zentral im Musée Sentimental. Der Künstler konzentrierte sich hierbei nicht auf lokal fixierte Monumente, sondern auf ephemere, emotionale Bezüge von Heimatpraxen, die er in beweglichen Objekten der Alltagssphäre realisiert sah. Diese entwickeln und verändern ihre Biographien analog zu ihrem Nutzer und bilden damit auch einen dynamischen und prozessorientierten Heimatbegriff ab. Betont wurde dabei das Heterogene von Heimatkonzepten, d.h. das Einzelne/ das Individuelle stand dem Mehrheitlichen/ Kollektiven gegenüber. Gudrun Quenzel folgend weißt vor allem die europäische Identität einen natürlich gegebenen hohen Grad an Heterogenität auf. Sie weist darauf hin, dass europäische Identifikationsobjekte weder in einer gemeinsamen Sprachkultur noch in einer einheitlichen ästhetischen Kultur, Regionalkultur oder politischen Kultur oder einer gemeinsame Religion oder Geschichtsschreibung zu finden sein könnten.75 Bis heute ist die Europäische Union für die meisten Europäer ein abstraktes politisches und/oder wirtschaftliches Konstrukt 76 geblieben, das sich

74 | Dialogisch meint in diesem Zusammenhang nicht die Einebnung kultureller Diversitäten, sondern vielmehr die Bewertung der Unterschiede, da eine europäische Identität sich insbesondere aus der Diversität konstituiert, die immer wieder neu zu schaffen sein wird. Vgl. Siegfried J. Schmidt: Kultur als Programm. In: Kultur Identität Europa. Über die Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer Konstruktion, hg. von Reinhold Viehoff, Rien T. Segers. Frankfurt a. M. 1999, S. 120-130: S. 128 f. 75 | So auch bei Bernhard Giesen: „Im Unterschied zu Nationen und Religionsgemeinschaften verfügt die europäische Gemeinschaft über keine nennenswerten rituellen Konstruktionen von kollektiver Identität. Solche rituellen Grundlagen der Identität erhalten im europäischen Fall eine besondere Bedeutung, da eine gemeinsame Sprache fehlt und jeder Ansatz zur Dominanz einer Sprache von den rivalisierenden Sprachgemeinschaften argwöhnisch beobachtet wird. Hymne und Flagge, parlamentarische Rituale und Aufnahmezeremonielle sind zwar vorhanden, bleiben aber ohne identitätsstiftende Kraft für die Europäer.“ Bernhard Giesen: Europa als Konstruktion der Intellektuellen. In: Kultur Identität Europa. Über die Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer Konstruktion, hg. von Reinhold Viehoff, Rien T. Segers. Frankfurt a. M. 1999, S. 130-147: S. 135. 76 | Vaclav Havel bezeichnet die Europäische Union gar als eine „seelenlose Maschinerie von Institutionen und Regeln“, als einen „politisch-administratischen Roboter“, zu dem kein inneres Band entstehen könne. Vgl. Thomas Meyer: Die Identität Europas. Frankfurt a. M. 2004, S. 17 f.

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distanziert zu ihrer subjektiven Lebensrealität verhält 77 und damit auch keine Heimatzugehörigkeit transportiert.78 Die Initiativen der UNESCO versuchen dem entgegen zu treten, indem diverse Gedächtnisorte identifiziert und gesichert werden, die die Identität Europas sichtbar abbilden sollen. Hierbei beziehen sich die UNESCO jedoch nicht auf die Wandelbarkeit von Heimatkonzepten, sondern vielmehr auf Motive der Verwurzelung und Herkunftsromantik 79. Innerhalb dieses statischen Blickes ist es nicht möglich, wie z.B. im Künstlermuseum Musée Sentimental, Brüche und Risse von Heimatkonzepten80 aufzugreifen. Die von den Listenverfahren der UNESCO betriebene Ortsbezogenheit passt dabei weder zum heutigen Mobilitätsverständnis, noch zu anhaltenden Identitätstransformationen durch Flüchtlingsströme. Davon abgesehen beinhalten derlei Konzepte der Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy folgend die Problematik eines „annektierten Erbes“. Am Ausgangspunkt eines nationalen Kulturerbes stünden dabei immer militärische Praktiken der Expansion und der

77 | „[…] gewöhnlich ist die Nation zu weit vom Individuum entfernt, als daß es die Geschichte seines Landes als etwas anderes als einen sehr ausgedehnten Rahmen betrachtet, mit dem seine eigene Geschichte nur sehr wenige Berührungspunkte hat.“ Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis. Stuttgart 1967, S. 64. 78 | Siehe dazu auch Identitätsproblematik NRW in Kapitel 5 der vorliegenden Arbeit. 79 | „Die Verbindung von politischen Zielen und dem Heimatbegriff, die Hinwendung zum Nationalen hat ihren Ursprung […] in der Romantik. Heimat ist aber auch nicht per se deckungsgleich mit der Idee einer Nation. Heimat ist nicht Deutschland und auch nicht zwingend Australien, Indonesien oder die Schweiz. Selbstverständlich kann man Italien als seine Heimat oder als seinen Sehnsuchtsort empfinden, aber Zugehörigkeit muss – und das wird oft falsch verstanden – wie das Gefühl, zu Hause zu sein, nichts mit Grenzen, Pässen und anderen Regelungen zu tun haben.“ Simone Egger: Heimat. Wie wir unseren Sehnsuchtsort immer wieder neu erfinden. München 2014, S. 32. 80 | Vgl. Beate Binder: Beheimatung statt Heimat. Translokale Perspektiven auf Räume der Zugehörigkeit. In: Manfred Seifert (Hg.): Zwischen Emotion und Kalkül. ´Heimat´ als Argument im Prozess der Moderne. Dresden, 2010, S. 189-204: S. 194.

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Ent- und Aneignung.81 In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass die künstlerische Identitätsproduktion eine gesonderte Rolle innerhalb einer Europathematik einnimmt. Quenzel dazu: „Sprache und damit auch der gesamte Bereich der künstlerischen Produktion sind nicht die Produkte nationaler Identität, sondern konstituieren diese vielmehr.“82

Quenzel unterstützt hier die These, dass künstlerische Produktion Identitäten herausbilden kann, so wie es bereits in dem LAB „Sentimentale Urbanität“ festgestellt wurde. Allgemein vorherrschend ist jedoch die Vorstellung einer künstlerischen Produktion als Ergebnis einer nationalen Identität. Diese Vorstellung beinhaltet im Zusammenhang mit einer kollektiven europäischen Identität Problematiken der Grenzziehung, der Machtkonstitution83 und des kulturellen Erbes. Quenzel schlussfolgert aus diesem Umstand, dass eine Neuerzählung der nationalen europäischen Kunst- und Kulturgeschichte angestrebt werden müsse. Wie die Problematik des Erbes zeigt, kann diese Neuerzählung nicht über die reine Bewahrung oder Konservierung der kulturellen Erben wie von der UNESCO betrieben, erzielt werden.84 Quenzel konstatiert:

81 | Vgl. Stefan Willer: Kulturelles Erbe. Tradieren und Konservieren in der Moderne. In: Erbe. Übertragungskonzepte zwischen Natur und Kultur, hg. von Stefan Willer, Siegrid Weigel, Bernhard Jussen. Frankfurt a. M. 2013, S. 160-202: S. 165. Savoy hat diesen Prozess anhand der deutsch-französischen Beziehungen untersucht. Stefan Willer stellt in diesem Kontext heraus, dass der Pariser Palais du Louvre planmäßig mit Artefakten anderer Länder bestückt wurde. Dahinter stünde eine republikanische Ideologie, die das revolutionäre Frankreich als einzigen freien Staat in Europa sähe. Da nun die Kunst ebenso als frei gälte, sei ihre Bleibe schlusslogisch auch in Frankreich. Vgl. ebd., S. 196. 82 | Gudrun Quenzel: Konstruktion von Europa. Die Europäische Identität und die Kulturpolitik der Europäischen Union. Bielefeld 2005, S. 19. 83 | Das Museum tritt in diesem Zusammenhang als Bewahrer des nationalen Kulturerbes auf und bildet die Souveränität des Staates ab, indem es sein Erbe visualisiert und reproduziert sowie eine fiktive Kontinuität generiert. Vgl. ebd., S. 17. 84 | Vielmehr muss Maurice Halbwachs folgend ein Wiederaufbau von Erinnerung anhand gemeinsamer Gegebenheiten und Vorstellungen erfolgen. Vgl. Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis. Stuttgart 1967, S. 12.

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„In den letzten Jahren ist eine aufgeregte Suche nach europäischen Traditionen, Errungenschaften, Einstellungen und Werten zu verzeichnen […]. Wachsende Publikumszahlen des kulturellen Großereignisses „europäische Kulturhauptstadt“ und auch zahlreiche Ausstellungen […] verweisen darüber hinaus auf ein zunehmendes Interesse.“85

Neben der Kulturinitiative der Europäischen Union, die für jeweils ein Jahr den Titel „Kulturhauptstadt Europas“86 verleiht, verweist Quenzel mit der Suche nach Traditionen, Einstellungen und Werten auch auf die kulturelle Arbeit der UNESCO. Der Kulturbegriff der UNESCO soll im Blick auf die Konservierung eines europäischen kulturellen Erbes im Folgenden noch

85 | Gudrun Quenzel: Konstruktion von Europa. Die Europäische Identität und die Kulturpolitik der Europäischen Union. Bielefeld 2005, S. 11 f. 86 | „Im Rahmen dieser Initiative [der „Kulturhauptstadt Europas“, A. C.] soll sowohl die nationale Kultur als auch die europäische Kultur repräsentiert werden und die Bürger/innen angsprechen [Fehler im Orig.]. Konkret wird hier ein Versuch unternommen, die kulturellen Repräsentationen der Nationalkulturen als Repräsentationen einer europäischen Kultur umzudeuten und mit dieser Verschiebung einen Legitimationstransfer von der nationalen auf die europäische Kultur zu vollziehen. […] Über diese, die Kulturen der Länder repräsentierende Veranstaltungen sollen sich die Völker der Mitgliedstaaten näher kommen. Der Rat schlägt hier vor, dass Völker etwas über andere Völker lernen sollen, indem sie deren künstlerische und kulturelle Repräsentationen besichtigen. Das heißt, über den Besuch von Kulturhauptstädten lernen die Besucher etwas über das Land, in dem sich die Stadt befindet, und über den Besuch von künstlerischen Darbietungen aus anderen Ländern lernen die Bewohner/innen der Stadt etwas über andere Kulturen.“ Ebd., S. 156 f.

Potentiale des Musée Sentimental

einmal in den Fokus genommen werden.87 Die konservatorische Praxis des Welterbe-Programms der UNESCO bezeichnet anschaulich das oben benannte Problem einer kollektiven Identität, das immer auch mit einer Enthebung und einem damit verbundenen Identitätskonflikt einhergeht. Stefan Willer dazu: „[So ist eine Welterbe Stätte, A. C.] […] mit dem Moment ihrer Erhebung in den Stand des Erbes der ganzen Menschheit […]“88 als Eigentum der ganzen Welt deklariert.

Die prosperierenden Welterbe Stätten tragen aus Willers Sicht dazu bei, die Ambivalenzen der kulturellen Überlieferung bzw. des kulturellen Erbes auszugleichen.89 Jedoch erkennt er darin auch eine Frage nach Eigentumsverhältnissen sowie einen offensichtlichen Wertekontrast, der sich zwischen dem herausgehobenen Welterbe und dem Rest ergibt.90 Als Kontrapunkt zur Monumentalisierung des Welterbeprogramms legte die Konvention des UNESCO-Welterbe-Zentrums im Jahr 2003 zusätzlich das Intangible Cultural Heritage Programm auf.91 Hier werden – anders als

87 | „Die UNESCO vertritt einen umfassenden Kulturbegriff und definiert: „Kultur ist die Gesamtheit aller Lebensäußerungen.“ Den gleichen Tenor verfolgt der Schlussbericht, den der beratende Ausschuß der Europäischen Gemeinschaft bereits am 7. November 1989 in Brüssel vorgelegt hat. Demnach ist Kultur „die Gesamtheit der zahlreichen, verschiedenartigen Sitten und Gebräuche, die in allen Bereichen des täglichen Lebens ihren Ausdruck finden. In der Kultur spiegeln sich unser jeweiliger Lebensstil, unsere Traditionen und Ideale wider. In ihr wurzeln unsere Dialekte und unser Liedgut. Sie ist bestimmend dafür, wie wir eine Liebeserklärung machen oder wie wir unsere Toten beerdigen. Kultur ist somit das bedeutsamste und stärkste Charakteristikum der menschlichen Gemeinschaft. Kultur steht in engem Zusammenhang mit den direkten und indirekten Lebensprozessen und der menschlichen Entwicklung schlechthin. Als dynamisches, in ständiger Wandlung befindliches Element stellt sie eine Verbindung zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart her.“ Waldemar Ritter: Deutschland – Kultur in Europa. Betrachtungen über das europäische Kulturerbe. Bonn 1999, S. 12 f. 88 | Stefan Willer: Kulturelles Erbe. Tradieren und Konservieren in der Moderne. In: Erbe. Übertragungskonzepte zwischen Natur und Kultur, hg. von Stefan Willer, Siegrid Weigel, Bernhard Jussen. Frankfurt a. M. 2013, S. 160-202: S. 161. 89 | Vgl. ebd., S. 160. 90 | Vgl. ebd. 91 | Siehe dazu auch ebd., S. 183.

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bei den verortbaren Welterbe Stätten –, „[…] mündliche, theatralische und musikalische Überlieferungen, Rituale, Feste, traditionelles Wissen und Handwerk […] aufgeführt.“92 Die UNESCO begreift diese immateriellen Güter als eine Art ideologischen Berater 93, indem Traditionen von den Alten an die Jungen weitergegeben werden.94 Quenzel belegt: „Der [Europa, A. C.] Rat setzt […] deutlich unterhalb der nationalen Gründungsmythen bei den „Gebräuchen“, dem „Leben“, den „Geschichten“ und den „Landschaften“ an. Diese Verortung von Identität auf der kulturellen Ebene kann als Entpolitisierungstrategie [Fehler im Orig.] sowohl der nationalen Identitäten als auch der europäischen Identität gedeutet werden. Statt einen eigenen europäischen Gründungsmythos zu inszenieren, zielt die EU hier vor allem auf die Vermittlung von Gemeinsamkeiten und Vielfalt einer europäischen (Alltags-)kultur.“95

92 | Stefan Willer: Kulturelles Erbe. Tradieren und Konservieren in der Moderne. In: Erbe. Übertragungskonzepte zwischen Natur und Kultur, hg. von Stefan Willer, Siegrid Weigel, Bernhard Jussen. Frankfurt a. M. 2013, S. 160-202: 183. 93 | „Kulturelle Identität etabliert sich primär über die Sozialisation des Kulturangehörigen. Als mentale Konstruktion wie als Lebenspraxis wird sie also gelernt. Durch diese Dimension wird das kommunikative Element von kultureller Identität noch einmal verstärkt.“ Ulrich Saxer: Kulturelle Identitätsmuster und Medienkommunikation. In: Kultur Identität Europa. Über die Schwierigkeiten und Möglichkeiten einer Konstruktion, hg. von Reinhold Viehoff, Rien T. Segers. Frankfurt a. M. 1999, S. 98-120: S. 101. 94 | Siehe dazu auch Stefan Willer: Kulturelles Erbe. Tradieren und Konservieren in der Moderne. In: Erbe. Übertragungskonzepte zwischen Natur und Kultur, hg. von Stefan Willer, Siegrid Weigel, Bernhard Jussen. Frankfurt a. M. 2013, S. 160-202: S. 186. 95 | Gudrun Quenzel: Konstruktion von Europa. Die Europäische Identität und die Kulturpolitik der Europäischen Union. Bielefeld 2005, S. 154.

Potentiale des Musée Sentimental

Vor dem Hintergrund einer Entpolitisierung96, die in der vorliegenden Arbeit als wesentliche Voraussetzung für die Herausbildung einer kollektiven europäischen Identität angesehen wird, ist eine Erinnerungsarbeit erforderlich, die sich auf gelebte Erfahrungen und nicht auf politische Zugehörigkeiten konzentriert. Auch in diesem Zusammenhang erscheint der Rückgriff auf das Musée Sentimental sinnvoll. Als Kunstwerk ist es Ausdruck einer Demokratisierung von Kultur, die alle individuellen Lebensweisen und Produkte der Alltagskultur umfasst. Im Gegensatz zur Kunst, die natürlich ein Kristallisationsobjekt von Kulturen und gesellschaftlichen Auffassungen darstellt, haben alltagsbezogene Phänomene dabei den Vorteil der leichteren Lesbarkeit. Sie setzen kein kunstgeschichtliches Wissen voraus, um verstanden werden zu können. Das Musée Sentimental vermittelt seine Inhalte über mentale emotionsgeladene Bilder.97 Dies ist gegenüber einer wissenschaftlich

96 | Dass Politisierung wenig produktiv ist, zeigt sich auch in der 1995 in Lübeck verabschiedeten Charta der Europäischen Identität. Diese konzentriert sich im Wesentlichen auf die politischen Parolen Freiheit, Friede, Menschenwürde, Gleichberechtigung und sozialer Gerechtig-

keit. Diese universellen politischen Grundwerte sind zwar überall auf der Welt nachvollziehbar, jedoch bringen sie keine kulturelle Besonderheit Europas zum Ausdruck, die Europa einzigartig hervorheben könnte. [Herv. im Orig.] Vgl. Thomas Meyer: Die Identität Europas. Frankfurt a. M. 2004, S. 12. Thomas Meyer hält fest, dass politische Identitätsbildung nicht nur aus dem Interesse an Entscheidungsprozessen in Demokratien erwachse, sondern auch aus emotionalen Identifikationsangeboten, die eben nicht im Politischen aufgehen. In Europa würde es derzeit jedoch sowohl am Interesse an Entscheidungsprozessen als auch an emotionalen Identifikationsangeboten mangeln, was die Entwicklung einer kollektiven Gemeinschaft verhindere. Ebd., S. 172. 97 | Das Musée Sentimental strebt gewissermaßen eine Art Gedächtnistheater an. Dies wird über die Vermittlung innerer wie äußerer Bilder erreicht. Das Musée Sentimental trägt dem Umstand Rechnung, dass sich private wie auch kollektive Erinnerung über Bilder vollzieht. Geschichte wird hier mit Hilfe von Bildern erst vorstellbar. Vgl. Gottfried Korff: Bildwelt Ausstellung Die Darstellung von Geschichte im Museum. In: Orte der Erinnerung, hg. von Ulrich Borsdorf, Heinrich Theodor Grütter. Frankfurt a. M./New York 1999, S. 319-337: S. 319.

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historiographischen Geschichtsarbeit ein entscheidender Vorteil98, wenn man sich dem Diskurs einer anschlussfähigen Geschichtsarbeit im europäischen Kontext zuwendet. Geschichtlichkeit ist in diesem Zusammenhang ein veränderlicher Prozess. Die Verbindung zur alltäglichen Lebensrealität erscheint dabei als grundlegendes Moment, um eine Identifikation hervorzurufen.

98 | Dies ist darauf zurückzuführen, dass Emotionen die Gedächtnisbildung verbessern. Die Emotion beeinflusst in diesem Zusammenhang die Speicherung und Rekonstruktion von Gedächtnisinhalten, d. h. sie kann sie fördern als auch verhindern. Vgl. Claudia Wassmann: Die Macht der Emotionen – Wie Gefühle unser Denken und Handeln beeinflussen. Darmstadt, 2. Auflage 2010, S. 141.

Anhang Teilnehmerliste Folkwang Universität der Künste Projekt „Sentimentale Urbanität“: 01

Ekaterina Donis (Studentin Kommunikationsdesign Sem. 5) und Gaby Hensch (Gastgeberin), Sentimentaler Spot: Lobby Motel One, Essen Innenstadt/Kennedyplatz

02

Lena Marie Halbedel (Studentin Industrial Design Sem. 3) und Eheleute Blome (Gastgeber), Sentimentaler Spot: Diverse Rituale, die die Eheleute gemeinsam mit ihrem Freundeskreis in Essen erleben

03

Deborah Eisinger (Studentin Fotografie Sem. 9) und Familie Heise (Gastgeber), Sentimentaler Spot: HSE Getränkemarkt/handel in Essen Katernberg

04

Barbara Pohl (Studentin Industrial Design Sem. 7) und Eheleute Porr (Gastgeber), Sentimentaler Spot: Bäckerei König, im Grenzgebiet Essen Schonnebeck/Gelsenkirchen Rotthausen

05

Eva Czaya (Studentin Fotografie Sem. 5) und Ute Erbach (Gastgeberin), Sentimentaler Spot: Die Bibliothek der Folkwang Universität der Künste in Essen Werden

06

Anna Marie Knüppel (Studentin Fotografie Sem. 7) und Mawena Wennemann mit Waltraud Pohlen (Gastgeberinnen), Sentimentaler Spot: Beginenhof, Essen Rüttenscheid

07

Maren Wagner (Studentin Fotografie Sem. 5) und Stefanie Kölking (Gastgeberin), Sentimentaler Spot: Schurenbachhalde, Essen Altenessen

08

Torben Körschkes (Student Industrial Design Sem. 7) und Jutta Potreck (Gastgeberin), Sentimentaler Spot: Marktplatz, Essen Katernberg

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Videodokumentation zum Projekt: Kerstin Hoebink, Universität Duisburg-Essen Lea Grote, Universität Duisburg-Essen Beteiligte Institutionen und Fachöffentlichkeit: Prof. (stellv.) Carolin Schreiber, Studiengang Industrial Design, Folkwang Universität der Künste Benjamin Foerster-Baldenius, Raumlabor Berlin Dr. David Gehne, Sebastian Kurtenbach, Zentrum für interdisziplinäre Regionalforschung (ZEFIR), Ruhr-Universität Bochum Prof. Heinrich Theodor Grütter, Direktor Ruhr Museum Prof. Dr. Christa Reicher und Päivi Kataikko mit Studierenden der Fakultät Raumplanung TU Dortmund Dr. Irene Wiese von Ofen, Architektin AKNW, Beigeordnete der Stadt Essen a.D. Sponsoren der Auftaktveranstaltung im SANAA Gebäude am 22.10.2013: Privatbrauerei Jacob Stauder, Stern Pils Brauerei

Literaturverzeichnis Allerheiligen, Annette, Ronja Donsbach: Offene und geschlossene Türen. Räumlichkeiten im Spiegel der Erinnerung. In: Räume/Dinge/ Menschen. Eine Bonner Kulturwissenschaft im Spiegel ihrer Narrative, hg. von Katrin Bauer, Lina Franken. Waxmann, Münster/New York 2015, S. 45-71 Andermann, Kerstin, Undine Eberlein: Einleitung. Gefühle als Atmosphären? Die Provokation der Neuen Phänomenologie. In: Gefühle als Atmosphären. Neue Phänomenologie und philosophische Emotionstheorie, hg. von Kerstin Andermann, Undine Eberlein. Akademie Verlag, Berlin 2011, S. 7-21 Andreae, Stephan: Interview. »Pass auf, nicht alles ist echt!«. In: Musée Sentimental 1979. Ein Ausstellungskonzept, hg. von Anke te Heesen, Susanne Padberg. Hatje Cantz, Ostfildern 2011, S. 45-60 Ankener, Annette: Identitätsbildung und Orte der Identifikation. In: „Ich gehör hier hin“. Spielarten von Identifikation mit dem Ruhrgebiet, hg. von Barbara Mettler-v. Meibom. LIT, Münster 2004, S. 33-55 Asendorf, Christoph: Verlust der Dinge? Stationen einer endlosen Diskussion. In: „Die Tücke des Objekts“. Vom Umgang mit den Dingen, hg. von Katharina Ferus, Dietmar Rübel, Reimer, Berlin 2009, S. 10-24 Assmann, Aleida, Monika Gomille, Gabriele Rippl: Einleitung. In: Sammler – Bibliophile– Exzentriker, hg. von Aleida Assmann, Monika Gomille, Gabriele Rippl. Narr, Tübingen 1998, S. 7-21 Assmann, Aleida: Erinnerungsräume. C. H. Beck, München 1999 Assmann, Aleida: Geschichte im Gedächtnis. C. H. Beck, München 2007 Assmann, Aleida: Einführung in die Kulturwissenschaft. Erich Schmidt, Berlin, 2. Auflage 2008

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Dank

Dank für das in mich und meine Forschung gesetzte Vertrauen an: Prof. Dr. habil. Cordula Meier, Prof. Dr. Christine Heil für die Unterstützung und den Rückhalt an: meine Eltern, Markus, Annika, Callo, Saadet für die Beratung und Inspiration an: Prof. Dr. h.c. Ruedi Baur, Christoph Dorsz, Mona Mönnig, Daniel Spoerri, Prof. Dr. Bazon Brock, Dr. Louis Peters, Stephan Andreae, Barbara Räderscheidt, Monika Anderegg/Nationalbibliothek Bern, Prof. Marion Digel, Dr. Irene Wiese von Ofen, Lukas Feireiss, Prof. Jesko Fezer für das auf den Weg bringen an: Prof. Uwe J. Reinhardt, Christian Jendreiko Mein Dank gilt außerdem den Studierenden, Gastgebern und Kooperationspartnern des interdisziplinären Projektlabors „Sentimentale Urbanität“, das im Wintersemester 2013/14 im Fachbereich Gestaltung der Folkwang Universität der Künste in Essen durchgeführt wurde

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Kunst- und Designwissenschaft Thilo Schwer Produktsprachen Design zwischen Unikat und Industrieprodukt 2014, 336 Seiten, kart., zahlr. Abb., 38,99 €, ISBN 978-3-8376-2778-7

Jörg Ibach Ästhetische Impulse der Netzkommunikation Eine designwissenschaftliche Betrachtung multimedialer Diskurse 2014, 232 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2743-5

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