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German Pages 482 [484] Year 2008
Matthias Perkams Selbstbewusstein in der Spätantike
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Quellen und Studien zur Philosophie Herausgegeben von Jens Halfwassen, Dominik Perler, Michael Quante
Band 85
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Selbstbewusstein in der Spätantike Die neuplatonischen Kommentare zu Aristoteles’ De anima von
Matthias Perkams
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Gedruckt mit Unterstützung der Prof. Dr. Peter-Fritz Hager-Stiftung, Zürich
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.
ISBN 978-3-11-020492-6 ISSN 0344-8142 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co., Göttingen
Vorwort *CDGPV UWC HCVC NKDGNNK. Diese alte Weisheit trifft auf Habilitationen in be-
sonderer Weise zu: Bei ihnen liegen mühsame wissenschaftliche Initationsriten und häufig dementsprechend viel Zeit zwischen dem eigentlichen Abschluss der Arbeit und ihrer Veröffentlichung. Umso glücklicher bin ich, dass ich das vorliegende Werk nun aus der Hand geben und den Menschen danken kann, ohne deren Hilfe dieses glückliche Ende nicht möglich gewesen wäre. Beginnen möchte ich bei den Vorgesetzten, deren Großzügigkeit es mir über Jahre hinweg ermöglicht hat, mich im Rahmen der Jenaer Nachwuchsgruppe „Spätantike und byzantinische Literatur“ mit den griechischen Kommentaren zu beschäftigen, nämlich Prof. Dr. Rosa Maria Piccione (jetzt Turin) als Leiterin dieser Gruppe und Prof. Dr. Meinolf Vielberg als Sprecher des Graduiertenkollegs „Leitbilder der Spätantike“. Zu danken habe ich ferner Prof. Dr. Richard Sorabji, unter dessen kompetenter Begleitung während eines halbjährigen Oxford-Aufenthalts große Teile dieser Arbeit entstanden. Im Rahmen des Habilitationsverfahrens wurde die Arbeit von den Professoren Christoph Horn, Theo Kobusch, Rainer Thiel und Wolfgang Welsch begutachtet. Unter ihnen gilt mein erster und vorzüglichster Dank Herrn Thiel, der sich unmittelbar nach seiner Ankunft in Jena der Arbeit annahm und sich im Laufe des Verfahrens besonders engagierte. Herrn Horn und Herrn Kobusch danke ich auch dafür, dass jeder von ihnen einmal die mühsame Reise von Bonn nach Jena auf sich genommen hat, um in der Habilitationskommission anwesend zu sein. Zu danken habe ich schließlich den Herausgebern der „Quellen und Studien zur Philosophie“ für die Aufnahme der Arbeit in diese Reihe. Eine Arbeit über die neuplatonische Aristoteles-Auslegung kann aber gar nicht erst entstehen, ohne dass man einen ausgezeichneten Aristoteliker und einen hervorragenden Kenner des Neuplatonismus als Gesprächspartner an seiner Seite hat. Diese Rolle haben für mich Dr. Michael Schramm und Prof. Dr. Christian Tornau ausgeübt, deren Unterstützung sich im Übrigen nicht auf fachliche Fragen beschränkte. Ihre Namen seien daher stellvertretend für die vielen Freunde und Kollegen genannt, die meine Zeit in Jena menschlich wie wissenschaftlich äußerst angenehm machten.
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Vorwort
Vor der Drucklegung hat Birgit Kempfle die gesamte Arbeit noch einmal Korrektur gelesen. Bei der Erstellung der Druckvorlage haben Enrico Barbiero und Tobias Keppler durch Formatierungsarbeiten, Korrekturen und das Erstellen von Registern geholfen. Ihnen sei für diese Mühe ebenso herzlich gedankt wie Gertrud Grünkorn und Claudia Hill vom Verlag DeGruyter für die sehr gute Zusammenarbeit. Zu danken habe ich schließlich den Institutionen, die mich in der langen Zeit der Entstehung dieser Arbeit finanzierten, nämlich dem Land Thüringen mit seinem Programm für Nachwuchswissenschaftler und der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die sowohl den Aufenthalt in Oxford als auch – durch ein Heisenberg-Stipendium – die letzte Bearbeitung des vorliegenden Buches ermöglichte. Schließlich danke ich der Prof. Dr. Fritz-Peter Hager-Stiftung (Zürich) für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Den letzten und größten Dank möchte ich aber auch an dieser Stelle meinen Eltern sagen, deren persönliches Vorbild und dauernde Unterstützung meine persönliche und wissenschaftliche Entwicklung bis heute prägen. München, im August 2008
Matthias Perkams
Inhaltsverzeichnis I. EINLEITUNG ..................................................................................................... 1 A. Die philosophischen Fragestellungen der &GCPKOC-Kommentare ........ 3 B. Die aktuelle Bedeutung der &GCPKOC-Kommentare................................. 5 1. Die aktuelle Bedeutung von Aristoteles’ Seelenlehre................................. 5 2. Die Aktualität der neuplatonischen Seelenlehre ......................................... 7 3. Die Konfrontation von Neuplatonismus und Aristotelismus in den &GCPKOC-Kommentaren....................................................................... 10 C. Die philosophiehistorische Bedeutung der &GCPKOC-Kommentare .... 12 1. Für das Verständnis von &GCPKOC ............................................................. 12 2. Im Rahmen der Tradition des Aristotelismus........................................... 14 3. Für die Geschichte des Neuplatonismus ................................................... 16 D. Zum Forschungsstand................................................................................. 19 E. Gliederung und Methode ............................................................................ 23 F. Zu einzelnen Problemen der Interpretation der Kommentare.............. 25 1. Die Einheitlichkeit der antiken Kommentartradition.............................. 25 2. Übersetzung und Behandlung griechischer Termini................................ 28 II. DIE ARISTOTELES-INTERPRETATION DER KOMMENTATOREN ......... 30 A. Aristoteles’ Seelenlehre in der Diskussion: Johannes Philoponos’ Kommentar zu &GCPKOC .......................................... 30 1. Einleitung........................................................................................................ 30 Ammonios Hermeiou........................................................................................ 31 Johannes Philoponos......................................................................................... 31
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Interpretatorische Probleme in Philoponos’ Aristoteles-Kommentaren.. 34 Ammonios und Philoponos im &GCPKOC-Kommentar............................... 36 Weitere Einleitungsfragen................................................................................. 37 Forschungsstand zum Inhalt des &GCPKOC-Kommentars .......................... 38 Methodische Vorbemerkungen ....................................................................... 39 2. Die Grundzüge der Seelenlehre nach der Einleitung des Kommentars ............................................................ 40 a. Die verschiedenen Fähigkeiten der Seele (1, 1-8, 15)............................... 41 Die Erkenntnisvermögen der rationalen Seele.............................................. 42 Das Meinen (ƥ̆ƯƢ)............................................................................................. 42 Das diskursive Denken (ƥƪ˾ƮưƪƢ)..................................................................... 44 Der Geist (ƮưͨƲ) und seine Art des Denkens ................................................ 45 Die Strebevermögen der rationalen Seele ...................................................... 47 Die Erkenntnisvermögen der nicht rationalen Seele.................................... 48 Die Strebevermögen der nicht rationalen Seele ............................................ 49 Die vegetativen Vermögen ............................................................................... 50 Die Einheit der Seele (8, 16-9, 2)..................................................................... 50 Resumée............................................................................................................... 51 b. Die Unkörperlichkeit der Seele und ihre Trennbarkeit vom Körper.... 52 Analogie der Seelenlehre bei Aristoteles ........................................................ 54 Argumente für ein differenziertes Verhältnis der Seele zum Leib ............. 56 Argumente für die Unkörperlichkeit der wahrnehmenden und vegetativen Seele................................................... 56 Selbstreflexivität und die Immaterialität der rationalen Seele nach Proklos.................................................................... 59 Die Anwendung durch Philoponos ................................................................ 61 Neuplatonischer Aristotelismus: Methodische Grundlagen ....................... 63 Die Beweise für die verschiedene Relation der Seelenvermögen zum Körper.................................................................... 69 Ergebnisse ........................................................................................................... 73 3. Das Verhältnis von Leib und Seele allgemein........................................... 74 Die Bedeutung des Terminus ʟƮƴƦƬ̀ƷƦƪƢ........................................................ 74 Die ganze Seele als Entelechie ......................................................................... 77 Seele als homonymer Begriff............................................................................ 79 Das Verhältnis von vegetativer und nicht rationaler Seele zum Körper... 82 Das Verhältnis der rationalen Seele zum Körper ......................................... 83 Die Vereinbarkeit von Neuplatonismus und Aristotelismus ...................... 85 Das Problem der Einheit der Seele ................................................................. 87 Philoponos und die neuplatonische Aristoteles-Kritik ................................ 89 Ergebnis: Der Wert von Philoponos’ Interpretation der Entelechie ........ 91
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4. Die Rolle des Leibes in der hylemorphistischen Beziehung zur Seele.. 92 Der Leib als werkzeughafter Körper (ˑƱƤƢƮƪƫ̅ƮƳͲƭƢ) .............................. 93 Der Leib als physischer Körper (ƶƵƳƪƫ̅ƮƳͲƭƢ) ........................................... 96 Die Überlegenheit des Seelischen.................................................................... 99 Relation und Sympathie .................................................................................. 102 Die nicht rationale Seele und das Pneuma................................................... 104 5. Die Stellung und Bedeutung der vegetativen Seele ................................ 108 6. Die Lehre von der Sinneswahrnehmung ................................................. 110 Der Ablauf der Wahrnehmung...................................................................... 110 Die Wahrnehmung als unkörperliches Geschehen .................................... 111 Der physiologische Prozess bei der Wahrnehmung................................... 114 Sinnesorgane und Pneuma.............................................................................. 117 Die Leistungsfähigkeit der Sinneswahrnehmung........................................ 119 Ergebnis............................................................................................................. 121 7. Die Lehre vom Geist bzw. von der rationalen Seele ............................. 122 Der Geist als Teil der Seele und seine verschiedenen Funktionen .......... 124 Erste oder zweite Potentialität des Geistes.................................................. 125 Das Meinen und diskursive Denken............................................................. 128 Das Erkennen der reinen Formen und der Formen in Materie ............... 130 Der leidensfähige Geist und die Vorstellungskraft..................................... 133 Der aktive Geist ............................................................................................... 134 Der praktische Geist........................................................................................ 139 8. Ergebnis ........................................................................................................ 141 Spannungen im &GCPKOC-Kommentar und ihre Erklärung ..................... 142 Der neuplatonische Aristoteliker Ammonios.............................................. 144 Philosophische Ideen in Philoponos’ Bearbeitung..................................... 146 Aristoteles-Auslegung in Philoponos’ Kommentar.................................... 147 Die philosophische Leistung des &GCPKOC-Kommentars ........................ 148 B. Aristoteles als Vertreter der neuplatonischen Wahrheit: Der Kommentar des Priskian ........................................................................ 149 1. Einleitung...................................................................................................... 149 Priskian von Lydien als Autor des &GCPKOC-Kommentars ...................... 150 Bemerkungen zum Autor und seinem Werk............................................... 153 2. Hermeneutische Voraussetzungen............................................................ 154 Das Vorbild Jamblich...................................................................................... 154 Die wissenschaftliche Einordnung der Seelenlehre.................................... 156
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3. Die Seele als Formursache bzw. Entelechie ............................................ 158 Die erste Stufe der Entelechie: Die Seelenspur........................................... 160 Die doppelte Entelechie als Bewegtes und Bewegendes........................... 162 Damaskios’ Hylemorphismus ........................................................................ 162 Beweger und Bewegtes bei Priskian.............................................................. 165 Die doppelte Entelechie als Werkzeug und Benutzer................................ 169 Die Unterschiedlichkeit der beiden Formursachen.................................... 170 Priskians Prinzip und Proklos’ Regel............................................................ 172 Die rationale Seele als Entelechie .................................................................. 173 Die strukturellen Besonderheiten von Priskians Ansatz ........................... 175 Die Ideen der Einzelseelen............................................................................. 177 4. Die Auseinandersetzung mit Aristoteles’ Aussagen............................... 180 Die Seele als Lebensprinzip............................................................................ 180 Der Unterschied von Sein und Aktivität...................................................... 182 Die Seele als Wirkursache............................................................................... 184 Die Entfaltung der Seele im Körper ............................................................. 184 Rationale und nicht rationale Seelen ............................................................. 186 Die Doppelnatur der rationalen Seele .......................................................... 188 Die Einheit der menschlichen Seele.............................................................. 190 Die Verbindung der rationalen Seele mit den übrigen Vermögen........... 192 5. Die Seelenfunktionen aller Lebewesen..................................................... 194 a. Die vegetative Seele ..................................................................................... 194 b. Die Sinneswahrnehmung............................................................................ 196 Die einzelnen Sinne ......................................................................................... 196 Die beiden Seelenarten in der Sinneswahrnehmung .................................. 197 Der physiologische Prozess bei der Sinneswahrnehmung ........................ 201 Die Vollständigkeit der fünf Sinne................................................................ 203 Die Einheit der Sinneswahrnehmung........................................................... 205 c. Die Vorstellungskraft .................................................................................. 210 Die Vorstellungskraft als Erinnerungsvermögen........................................ 210 Die Vorstellungskraft und die Einheit der Erkenntnis .............................. 212 6. Die Lehre vom Geist................................................................................... 215 Die zwei Stufen des menschlichen Geistes.................................................. 215 Die triadische Struktur des menschlichen Geistes...................................... 216 Die Aktivität des hervorgehenden Geistes .................................................. 219 Das praktische Denken................................................................................... 222 7. Konstanz und Wandelbarkeit des seinshaften Geistes.......................... 224 Der Hintergrund der Theorie der systematischen Wandelbarkeit ........... 224 Die Beschreibung des seinshaften Geistes der Seele.................................. 229
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Der historische Hintergrund der Lehre........................................................ 232 Aristoteles, Platon und Jamblich ................................................................... 232 Die Wandelbarkeit der Seele im Neuplatonismus ...................................... 233 8. Ergebnis ........................................................................................................ 235 C. Neuplatoniker oder Aristoteliker? Stephanos von Alexandrien.......... 237 1. Einleitung...................................................................................................... 237 2. Die Sinneswahrnehmung............................................................................ 239 Die Vollständigkeit der Einzelsinne.............................................................. 240 Die Wahrnehmung der allgemeinen Objekte.............................................. 242 Existenz und Funktion des Gemeinsinns .................................................... 246 3. Aisthesis, Phantasia und die Möglichkeiten nicht rationalen Erkennens.................................... 251 Die Vorstellungskraft als höchstes Vermögen der Tiere........................... 255 4. Die Lehre vom Geist................................................................................... 257 Die drei Stufen des Geistes ............................................................................ 257 Ammonios und die Kritik an Alexander und Plutarch .............................. 261 Die Lehre vom aktiven Geist ......................................................................... 263 Diskursives Denken und Meinen .................................................................. 264 5. Erkenntnistheoretische Überlegungen ..................................................... 266 Die Leistung des intuitiven Erkennens ........................................................ 266 Die Leistung des diskursiven Denkens......................................................... 268 Die intuitive Erkenntnis materiell verfasster Objekte................................ 271 Die Erkenntnis mathematischer und immaterieller Objekte .................... 274 Praktische Erkenntnis...................................................................................... 276 6. Ergebnis ........................................................................................................ 277 D. Zusammenfassung: Deutung und Rezeption von &GCPKOC durch die Kommentatoren ............................................................................. 278 1. Neuplatonismus und Aristotelismus bei den einzelnen Kommentatoren............................................................... 278 2. Die Bedeutung der Aristoteles-Interpretation der Kommentare......... 280 3. Die Stellung der Kommentare in der Tradition des Aristotelismus .. 282
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III. PRISKIANS THEORIE DER RÜCKWENDUNG DES MENSCHEN AUF SICH SELBST ....................... 284 A. Die Problematik einer Theorie der Bezugnahme des Menschen auf sich selbst ......................................................................... 284 1. Phänomene des Selbstbezugs in der gegenwärtigen philosophischen Diskussion..................................... 285 Selbstbezug als Grundphänomen menschlichen Daseins ......................... 286 Die philosophische Bedeutung des Selbstbezugs: ...................................... 288 Rationalität, Personalität und Menschenwürde........................................... 288 Selbstbezug als Seinsweise der Person.......................................................... 291 Selbstbewusstsein, Bewusstsein, Selbsterkenntnis und Introspektion .... 295 Was ist Selbstbewusstsein? ............................................................................. 299 2. Die Bedeutung der neuplatonischen Fragestellung................................ 302 3. Zum weiteren Vorgehen............................................................................. 304 B. Plotins Lehre von der Selbsterkenntnis und ihre Veränderung im späten Neuplatonismus................................................................................... 305 1. Plotins Beschreibung der Selbsterkenntnis des Geistes ........................ 305 2. Selbsterkenntnis, diskursives Denken und Personalität ........................ 313 3. Die Veränderung der Fragestellung im späten Neuplatonismus ......... 320 Proklos’ Erklärung ........................................................................................... 324 Philoponos’ Anthropologie ............................................................................ 328 Damaskios’ Diskussion einer substantiellen Wandelbarkeit des Selbst... 333 C. Die Struktur des menschlichen Selbstbezugs nach Priskian ................ 335 1. Eine Typologie der Phänomene menschlichen Selbstbezuges............. 337 Das Bewusstsein der Sinneswahrnehmung (ƳƵƮƢ̄ƳƩƨƳƪƲ) ......................... 338 Die Selbsterkenntnis der diskursiven Vernunft .......................................... 341 Die Grundstruktur der Reflexivität (˞Ý̆ƬƨƸƪƲ) im diskursiven Denken . 341 Die Reflexivität des Meinens und die sinnliche Erkenntnis...................... 343 Die Reflexivität der praktischen Vernunft ................................................... 346 Selbsterkenntnis................................................................................................ 348 Die phänomenale Verschiedenheit von Selbsterkenntnis und Selbstbewusstsein............................................... 348 Substantieller Wandel und die Formen der Selbsterkenntnis ................... 350
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2. Was ist und wie funktioniert direkte Selbsterkenntnis?......................... 352 Der Zusammenhang von Selbsterkenntnis und Denken .......................... 355 Die Erkenntnis des Geistes der Seele ........................................................... 358 Was erkenne ich bei der Selbsterkenntnis? .................................................. 362 Die Struktur der Selbsterkenntnis ................................................................. 366 Einheit und Mannigfaltigkeit der Selbsterkenntnis..................................... 370 Abschließende Überlegungen ........................................................................ 373 D. Das Selbst und die Entwicklung der Person.......................................... 374 1. Die Definition der Person bzw. des „Selbst“.......................................... 375 Bestimmungen des Selbst in der Spätantike ................................................ 375 Die Bestimmung des Selbst nach Priskian................................................... 377 Person und Rationalität................................................................................... 382 2. Die Dynamik geistigen Lebens.................................................................. 383 Das Leben der Person in den zwei Seinsweisen des hervorgehenden Geistes ......................................................................... 383 Selbsterkenntnis und die Vollendung des Geistes ...................................... 385 3. Die Seinsweisen des höheren Selbst ......................................................... 388 Der seinshafte Geist der Seele als ideales Selbst ......................................... 388 Die fundamentalen Seinsweisen der denkenden Seele............................... 390 Die Bedeutung der Wandelbarkeit des idealen Selbst................................ 393 Die Vergöttlichung der Seele – Ewigkeit in der Zeit ................................. 394 Das Denken des Geistes und seine Bedeutung für die Seele.................... 398 4. Die Einheit der Person ............................................................................... 402 Die historischen Wurzeln der Theorie ......................................................... 402 Stephanos und das Konzept des Proshektikon........................................... 404 Stephanos’ Begründung der Lehre vom Proshektikon.............................. 406 Priskians Überlegungen zur Einheit der Erkenntnis.................................. 408 Die Einheit des praktischen Denkens .......................................................... 410 Theoretisches und praktisches Selbstverhältnis .......................................... 412 E. Schlussbetrachtung: Der neuplatonische Aristotelismus und die Theorie des Selbstbezugs.................................................................. 416 IV. BIBLIOGRAPHIE ........................................................................................ 421 A. Quellen ......................................................................................................... 421 1. Die neuplatonischen &GCPKOC-Kommentare ......................................... 421
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2. Weitere Quellen ........................................................................................... 422 B. Sekundärliteratur ......................................................................................... 427 V. INDICES........................................................................................................444 A. Index nominum et rerum (et verborum Graecorum)...........................444 B. Index locorum.............................................................................................454
I. Einleitung „Was ist uns näher als die Erkenntnis unserer selbst?1“. Diese Frage stellt Johannes Philoponos zu Beginn seines Kommentars zu Aristoteles’ Schrift „Über die Seele“ – &GCPKOC. Sein Zeitgenosse Priskian von Lydien sekundiert: „Bemühen muss man sich in erster Linie um die Wahrheit über die Sachen selbst, und zwar um die über die anderen und um die über die Seele, welche für uns von Anfang an näher als alles andere ist“2. Diese Aussagen bezeugen das philosophische Programm des Neuplatonismus: Die Forschung des Menschen über sich selbst bzw. über die eigene Seele, ist sowohl der Ausgangs- als auch der Zielpunkt des Philosophierens, das getragen wird von der Überzeugung, dass das Nachdenken nicht nur ein Weg zur theoretischen Erkenntnis, sondern auch zur Vervollkommnung als Mensch ist. „Denn die Philosophie ist die Vervollkommnung der Seele, so wie die Medizin die des Leibes“3. Diese Konzentration auf den Menschen wirkt verblüffend aktuell. Denn die Ansicht, dass die Frage nach dem Menschen und seiner Stellung in der Natur ein zentrales philosophisches Thema ist, hat die Philosophie des 20. Jahrhunderts besonders geprägt4 und gilt als Charakteristikum neuzeitlichen bzw. modernen Denkens. Die philosophische Anthropologie wird als „der letzte Fluchtpunkt philosophischer Erkenntnisbemühungen“5 angesehen, und die von den Neuplatonikern besonders gepflegte Philosophie des Geistes gilt vielen als „die Leitdisziplin innerhalb des Fachs“6. In der Konzentration auf den Menschen und seinen Geist kann die neuplatonische Philosophie daher als Urahn neuzeitlicher Interessen angesehen werden, der zudem über seine Rezeption im arabischen und
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ƕ̄ưˁƫƦƪ̆ƴƦƱưƮʲƭ͙Ʈƴ͋ƲʲƭͲƮƢ˝ƴͲƮƤƮ̊ƳƦƹƲ; Philop. in an. 12, 15. ƒƦƱƪƳÝư̈ƥƢƳƴưƮ ƭ˿Ʈ ÝƱưƨƤưƵƭ̀ƮƹƲ ʲ ÝƦƱ̃ Ƣ˝ƴͲƮ ƴͲƮ ÝƱƢƤƭ˾ƴƹƮ ƴͲƮ ƴƦ ʙƬƬƹƮ ƫƢ̄ ʲ ÝƦƱ̃ƸƵƷ͋ƲʕƬ̂ƩƦƪƢ,Ƣ˝ƴ̄ƫƢưˁƫƦƪưƴ˾ƴƨÝƢƳͲƮʲƭ͙Ʈ˞Ý˾ƱƷưƵƳƢ. Prisc. in an. 1, 3-5. ʫÝƦƪƥ́Ƥ˽ƱƴƦƬƦ̄ƹƳ̄ƲʟƳƴƪƴ͋ƲƸƵƷ͋ƲʲƶƪƬưƳưƶ̄Ƣ˲ƳÝƦƱƴưͨƳ̊ƭƢƴưƲʲˁƢƴƱƪƫ̂. Simpl. in phys. 1, 6f. Vgl. die treffende Charakterisierung der ethischen Dimension der neuplatonischen Philosophie bei Beierwaltes 2007, 29f. Vgl. exemplarisch die bei Arlt 2001, 175-215 geschilderten Diskussionen. Arlt 2001, 1. Metzinger 1995a, 12 (Subjekt des Satzes ist die „Philosophie des Geistes“).
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lateinischen Mittelalter sowie im deutschen Idealismus durchaus zur Entstehung der modernen Philosophie beigetragen hat7. Dies gilt in besonderem Maße für die Hervorhebung des Selbstbewusstseins bzw. der Beziehung des Menschen zu sich selbst8 als des zentralen Merkmals menschlicher, rationaler Existenz. Ebenso wie die Frage nach dem Selbstbewusstsein auch heute in ganz verschiedenen Hinsichten (angefangen von der Frage nach der Menschenwürde bis zum Problem einer naturwissenschaftlichen Beschreibung des Menschen) einen Kernpunkt der philosophischen Anthropologie darstellt, waren auch bereits die Neuplatoniker von der Bedeutung dieser Tatsache überzeugt. Hierin gingen sie über frühere Ansätze zu einer philosophischen Beschreibung des Menschen deutlich hinaus, und zwar insbesondere über die aristotelische Bemühung, die menschliche Seele durch ihre Beziehungen zu verschiedenen Klassen von Objekten eher von außen zu diskutieren. Insofern für den Neuplatoniker diese Bezüge nur insoweit die Dignität des Menschen verdeutlichen, als sie Anteil an der Rückwendung zu sich selbst (ʟÝƪƳƴƱưƶ́ ÝƱ̅ƲʠƢƵƴ̆Ʈ) haben, findet hier ein anthropologischer Paradigmenwechsel statt, der die bis heute andauernde Entwicklung wesentlich bestimmt hat9. Wenn die Veränderung der aristotelischen Anthropologie mithilfe des neuplatonischen Konzepts menschlichen Selbstbezugs daher einen Meilenstein in der Geschichte des philosophischen Nachdenkens über den Menschen bildet, so stellt die Untersuchung der relevanten Texte ein wichtiges Element bei der Selbstvergewisserung und kritischen Selbstprüfung der modernen Philosophie vor dem Hintergrund ihrer Geschichte dar. Zu ihr möchte die vorliegende Arbeit einen Beitrag leisten, deren Hauptthema die Überlegungen zum Selbstbezug in den neuplatonischen Kommentaren zu Aristoteles’ &GCPKOC darstellen. Konkret geht es um drei Texte aus dem 6. Jahrhundert n. Chr.: 1. Den Kommentar des Johannes Philoponos, der nach seiner Überschrift die Bearbeitung einer Mitschrift aus einer Vorlesung von dessen Lehrer Ammonios darstellt, der seinerseits bei dem berühmten Neuplatoniker Proklos gelernt hat10.
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Vgl. auch die Untersuchungen zur Wirkung der neuplatonischen Philosophie in Beierwaltes 1985; Beierwaltes 2001, 182-227; Halfwassen 1994, 31-33; Halfwassen 22005. 8 Ich verstehe Selbstbewusstsein hier und im Titel der Arbeit in diesem sehr weiten Sinn. Zu einer genaueren Begriffsbestimmung s. u. S. 284-301. 9 Das wird – auf durchaus unterschiedliche Weise – verdeutlicht von Halfwassen 2004, 132-135 (unter Bezugnahme auf Descartes), Steel 2006 und auch Beierwaltes 2007, 36f., 43f. sowie für Plotin ausführlich dargelegt von O’Daly 1973 und Remes 2007. 10 Griechischer Text des Kommentars zu Buch I+II findet sich in CAG 15, 1-445; die lateinische Übersetzung des Kommentars zu III, 4-8 findet sich in Verbeke 1966. Weiteres s. u. S. 37f.
Einleitung
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2. Den unter dem Namen des Simplikios überlieferten Kommentar, der allerdings aufgrund von stilistischen und methodischen Unterschieden dem Simplikios ab- und seinem Kollegen Priskian von Lydien zugesprochen werden muss11. 3. Einen Kommentar zum dritten Buch von &G CPKOC, der zusammen mit dem Kommentar des Johannes Philoponos zu Buch I und II überliefert ist. Er ist, wie u.a. aus dem Zeugnis einiger Handschriften hervorgeht, Stephanos von Alexandrien zuzuschreiben, der um die Wende vom 6. zum 7. Jahrhundert in Alexandrien Philosophie und Medizin lehrte12.
A. Die philosophischen Fragestellungen der &GCPKOC-Kommentare Der historische Ort dieser Kommentare bringt es mit sich, dass die in ihnen enthaltenen philosophischen Theorien außerordentlich komplex sind. Das hängt mit ihrem doppelten Bezugsrahmen zusammen, da sie einen Text zum Thema haben, der zu den schwierigsten Grunddokumenten abendländischen Philosophierens gehört, und zugleich der neuplatonischen Philosophie ihrer Zeit sowie deren Problemstellungen verpflichtet sind. Diese Konfrontation beinhaltet eine große philosophische Spannung: Der kommentierte Text, &GCPKOC, betont die Verbindung jeder Seele, auch der menschlichen, mit dem Körper, dessen Lebensprinzip sie ist. Eine Sonderstellung des Geistes wird zwar deutlich gemacht, aber nur in Ansätzen erklärt. Für die Neuplatoniker ist dagegen der Geist des Menschen seine eigentliche und wahre Seele, der gegenüber die übrigen Seelenarten, die vegetative und die sinnliche Seele, nur abgeleitet sind. Begründet wird dieses Menschenbild in erster Linie mit einer Theorie des Selbstbezuges bzw. der Selbsterkenntnis13, deren Bedeutung für die Beschreibung der menschlichen Natur hier erstmals in der Philosophiegeschichte klar herausgestellt wird. Aus dieser doppelten historischen Perspektive stellten sich den Kommentatoren zwei Grundfragen, nämlich zum einen die nach einer adäquaten Theorie der menschlichen Selbsterkenntnis zur Begründung einer Sonderstellung des Menschen, und ande-
_____________ 11 Griechischer Text in CAG 11. Zur Begründung der Zuschreibung s. Perkams 2005a und u. S. 149-153. 12 Griechischer Text: CAG 15, 446-607. 13 Zur Begrifflichkeit s. u. S. 295-301.
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Einleitung
rerseits die nach der Konstitution des empirischen Menschen durch Verbindung seiner Seele mit dem Leib. Diese Problemstellung ist in der Struktur mit der aktuellen Debatte um den Menschen durchaus vergleichbar, die ebenfalls von zwei Problemfeldern geprägt ist: Das eine ist die Debatte um das Verhältnis geistiger und körperlicher Eigenschaften des Menschen, das sogenannte LeibSeele-Problem, und das andere ist die Diskussion um die Bestimmung und den Status des Menschen als Person. Besonders die analytische Philosophie war in den letzten Jahrzehnten stark auf eine Erklärung des LeibSeele-Problems fokussiert. Dabei war allerdings nicht eine Definition des Menschen und seines Daseins das Ziel der Bemühungen, sondern die Erstellung einer ontologischen Theorie des menschlichen Bewusstseins, die mit den Voraussetzungen und Ergebnissen der modernen Naturwissenschaft vereinbar ist und diesen gegenüber Erklärungspotential besitzt. Konkret geht es besonders um die Frage nach dem Verhältnis von Leib und Seele bzw. Geist und die Probleme, die dieses Verhältnis innerhalb eines naturwissenschaftlichen Weltbilds aufwirft. Zu nennen sind hier etwa die Fragen nach der Freiheit des Willens oder die Deutung des Weltbezugs des Menschen, seiner Intentionalität. Das zweite Hauptthema der philosophischen Frage nach dem Menschen, die Theorie der Person, ist unter anderem wichtig, um eine anthropologische Grundlage für ethische und politische Theorien zu liefern. Besondere Bedeutung hat es in Zusammenhang mit dem Problem der Menschenwürde, das die Grundlage von demokratischen politischen Verfassungen darstellt und auch für aktuelle Fragen der angewandten Ethik große Bedeutung besitzt. Mit dem Leib-Seele-Problem steht die Theorie der Person deswegen in einem gewissen Zusammenhang, weil auch sie auf der Besonderheit des menschlichen Bewusstseins fußt, dass der Mensch sich allen anderen Lebewesen gegenüber dadurch auszeichnet, in ein Verhältnis zu sich selbst treten zu können. Die unterschiedliche Perspektive im Vergleich zum naturwissenschaftlich bestimmten Leib-Seele-Problem wird andererseits dadurch unterstrichen, dass die Annahme der menschlichen Willensfreiheit für eine Theorie der Person kein Problem, sondern ein wichtiges Begründungselement darstellt, während sie in Anbetracht moderner naturwissenschaftlicher Erkenntnisse überhaupt erst einmal erklärt werden muss. Beide Fragestellungen der modernen Philosophie stehen in einer engen Beziehung zu den Problemen, die sich für die neuplatonischen Kommentatoren aus ihren historischen Voraussetzungen ergaben: Annahmen über die menschliche Selbsterkenntnis als konstitutives Element personalen Seins sind die Grundlage für ihr Menschenbild und in gewissem Sinne für ihre gesamte Philosophie. Das bei der Interpretation von &GCPKOC be-
Einleitung
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sonders markant auftretende Problem, wie der so herausgehobene Mensch als Glied der sinnlich wahrnehmbaren Welt gedacht werden kann, führt dagegen zu der Frage nach dem Verhältnis von Leib und Seele, wenn diese auch von den Neuplatonikern nicht unter den Bedingungen eines naturwissenschaftlichen Weltbilds gestellt wurde. In jedem Fall gibt es genug Grund für die Vermutung, bei den neuplatonischen Kommentatoren eine differenzierte und umfassende Theorie des Menschen zu finden, die interessante Parallelen zur modernen Diskussion aufweist.
B. Die aktuelle Bedeutung der &GCPKOC-Kommentare Da sich die systematischen Konturen der &G CPKOC-Kommentare in diesem Kontext aus ihren historischen Bezügen zum Aristotelismus und zum Neuplatonismus ergeben, soll nun etwas ausführlicher dargestellt werden, wie diese beiden Traditionen in der gegenwärtigen philosophischen Debatte rezipiert werden und welche Probleme sich dabei ergeben. Von hier aus ergibt sich der Hintergrund, vor dem die vorliegende Untersuchung ein philosophisch-systematisches Interesse beanspruchen kann, wie im dritten Teil dieses Abschnitts näher erläutert wird. 1. Die aktuelle Bedeutung von Aristoteles’ Seelenlehre Nachdem Aristoteles jahrhundertelang als „Vater der Psychologie“ gegolten hat14, entwickelt sich in neueren Veröffentlichungen wiederum ein spezielles Interesse an seiner Schrift „Über die Seele“, und zwar besonders an der dort erhaltenen Erklärung des Verhältnisses von Körper und Seele. Denn Aristoteles’ Theorie, deren berühmter Kernsatz darin besteht, dass „die Seele die Verwirklichung/Entelechie des physischen organischen Körpers“ sei, erscheint einigen gegenwärtigen Philosophen als ein attraktiver Ansatz zur Überwindung des Dualismus von Leib und Seele, der seit Descartes’ Unterscheidung von TGU GZVGPUC und TGU EQIKVCPU ein zentrales Themenfeld der philosophischen Anthropologie darstellt. Aristoteles’ Sicht des Menschen, so argumentieren beispielsweise Martha Nussbaum und Hilary Putnam15, geht von der breiteren ontologischen Frage aus, wie die Einheit und Verschiedenheit von Gegenständen zu denken sind. Dazu ist nach Aristoteles grundsätzlich das Zusammenspiel eines materiellen Substrats und einer Identität verleihenden Form zu beachten, so dass vom
_____________ 14 Siwek 31957, 1. 15 Nussbaum/Putnam 1992.
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Zusammenspiel eines sich wandelnden und eines gleichbleibenden Elements auszugehen ist. Auf diese Weise sei auch die Seele die Form des Leibes, die ihm durch alle Veränderungen Kontinuität und Identität verleihe. Daher sei die Seele notwendig in einem Leib realisiert, dessen Organismus-Sein sie bestimme; das impliziere aber nicht, dass die Seele sich aus diesem Leib kausal oder auch nur logisch erklären lasse: Das gleiche funktionale Zusammenspiel des Seelischen sei auch in einem anderen Leib realisierbar, und konsequenterweise vertrete Aristoteles im Prinzip dieselbe funktionalistische Theorie, mit der auch Nussbaum und Putnam selbst den Menschen erklären wollen. Das grundsätzliche Problem dieser Ansicht ist, dass Aristoteles das Leib-Seele-Problem, wie wir es verstehen, gar nicht kannte16. Denn das moderne Leib-Seele-Problem versucht nicht nur, den Menschen mit Hilfe einer ontologischen Theorie zu erklären, sondern es geht von der Voraussetzung aus, dass das Körperliche und das Mentale bzw. Seelische zwei verschieden definierte Arten des Seins sind, deren gegenseitiges Verhältnis erst zu klären ist. Der Ausgangspunkt für die Definition des Seelischen als eines eigenen ontologischen Bereiches ist die Bewusstheit des Subjekts, ein eigenes Selbst zu sein17, das schon den eigenen Leib als etwas anderes, als „Umwelt“ erfährt. Dagegen erklärt die aristotelische Form-StoffUnterscheidung zwar die Zusammengehörigkeit zweier analytisch trennbarer Elemente, wie der durch eine Statue repräsentierten Person und der Statue als stofflicher Masse, aber es lässt sich nicht unbedingt auf die zwei unterschiedlichen Wirklichkeitsebenen beziehen, als die das Körperliche und das Mentale in der nachcartesianischen Diskussion gefasst werden. Von diesen allgemeinen Beobachtungen abgesehen, ist es auch im Detail höchst fraglich, ob die funktionalistische Deutung Aristoteles’ Theorie gerecht wird18. Allerdings lässt auch Aristoteles selbst deutlich erkennen, dass er das Verhältnis von Leib und Seele als ein Problem sui generis ansieht, indem er hier den ungewöhnlichen Begriff „Verwirklichung“ (ʟƮƴƦƬ̀ƷƦƪƢ) anbringt und zudem die Relation von Wirklichkeit und Möglichkeit auch auf den lebenden Organismus überträgt, bei dem der Leib das Leben „in
_____________ 16 Vgl. dazu Emilsson 1988, 146; interessant auch Burnyeat 1992, obwohl der Autor Putnams Interpretation zu „materialistisch“ deutet. Vgl. zur Funktionalismus-Debatte allgemein Perler 1996. 17 Zu den Merkmalen des Mentalen gegenüber dem Körperlichen vgl. Seifert 21989, 812. 18 Vgl. dazu u.a. Perler 1996; Johansen 1998, 281-291.
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Möglichkeit“ (ƥƵƮ˾ƭƦƪ), die Seele es aber „in Wirklichkeit“ (ʟƮƦƱƤƦ̄̾) ist19. Aus diesen Aussagen auf ein dahinterstehendes System zu schließen, ist aber schwierig, zumal als Erläuterung fast ausschließlich Aristoteles’ Aussagen zur sinnlichen Wahrnehmung zur Verfügung stehen, die ihrerseits eine umfangreiche Kontroverse entfacht haben20. Hinzu kommt, dass Aristoteles dem Geist (ƮưͨƲ) eine besondere Rolle zuschreibt und sein Verhältnis zum Körper klar dualistisch darstellt21. Der Bereich menschlichen Seins, der aus heutiger Perspektive besonders typisch und auch problematisch ist, wird damit in einer Weise erklärt, die vielen modernen Forschern in Anbetracht naturwissenschaftlicher Erkenntnisse wenig plausibel erscheint. Zudem wird die Akzeptanz von Aristoteles’ Theorie dadurch erschwert, dass seine Analyse geistigen Seins nur skizzenhaft erfolgt und er das zentrale Problem des Selbstbezuges lediglich andeutungsweise als „Selbst-Denken“ (ʠƢƵƴ̅Ʈ ƮưƦ͙Ʈ) bezeichnet, ohne die Bedeutung und die Komplexität dieses Phänomens klar anzusprechen. Auch die getrennte Behandlung von Sinneswahrnehmung und Geist, die in der Neuzeit als mentale Phänomene zusammen betrachtet werden, verblüfft den heutigen Leser. Diese Punkte verdeutlichen, dass Aristoteles’ Position sehr weit von modernen Debatten entfernt ist und jede aktualisierende Interpretation sie grundlegend umformulieren muss. Das sollte jedoch nicht dazu führen, das Interesse an ihr aufzugeben; schließlich ist die aus Aristoteles’ biologischen Interessen herrührende Nähe zum modernen Leib-Seele-Problem durchaus beachtlich. Die angesprochenen Schwierigkeiten zeigen aber, dass der systematische Wert seiner Theorie nur vor einem breiteren Kontext ermessen werden kann. 2. Die Aktualität der neuplatonischen Seelenlehre Eine solche Einordnung geschah historisch dann, als Aristoteles’ Seelenlehre in das neuplatonische Denken integriert wurde. Die bedeutendsten Zeugen dafür sind die &G CPKOC-Kommentare des 6. Jahrhunderts, die das Thema der vorliegenden Untersuchung darstellen. Ihren Hintergrund bildet die neuplatonische Philosophie, und zwar nicht in der gleichsam klassischen Form, die sie bei Plotin gefunden hat, sondern in der Form des sogenannten späten Neuplatonismus. Dessen
_____________ 19 Diese Aussage darf nicht so verstanden werden, als sei der Körper nur „möglicherweise“ lebendig; Aristoteles spricht hier von zwei gleichzeitigen Modi des LebendigSeins. S. u. S. 93-96. 20 Ausgehend von Sorabji 1979, 49f. mit Anm. 22; mehr dazu s. u. S. 110. 21 Wie die von Philoponos gesammelten Zitate beweisen; s. u. S. 54-56.
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System22 wurde von Jamblich (ca. 240-nach 320) in der Perspektive entwickelt, die platonische und die aristotelische Philosophie zu einer Gesamtdeutung der Wirklichkeit zu vereinen, die auch als weltanschauliches Gegenbild zum aufstrebenden Christentum verstanden werden konnte23. Die bedeutendsten erhaltenen Zeugen für diese Philosophie sind die Werke des Proklos24 und die neuplatonischen Aristoteles-Kommentare, deren Autoren Mitglieder neuplatonischer Schulen waren, die sich diesem Hintergrund verpflichtet wussten25. Trotz dieser Weiterentwicklung gegenüber Plotin wurden die Grundannahmen von dessen Philosophie auch im späten Neuplatonismus weiter anerkannt. Das gilt auch für die klare Unterscheidung von körperlicher und seelischer (sowie nicht zuletzt auch geistiger) Existenzweise, die die engste Parallele im antiken Denken zu der modernen Unterscheidung beider Größen bildet und einen wichtigen Schritt in der Entwicklung des philosophischen Denkens darstellt. Diese Neuerung steht im größeren Zusammenhang der Beziehungen der Philosophie Plotins zum neuzeitlichen Denken mit seiner Betonung der menschlichen Subjektivität26. Plotin ist hier insofern von besonderer Bedeutung, als er wohl als erster in der Geschichte der Philosophie direkt nach dem menschlichen Ich fragt27. Der Mensch ist für Plotin weder mit dem Körper noch mit dem leib-seelischen Wesen ohne weiteres zu identifizieren, sondern bleibt in gewisser Weise ambivalent. Platons Lehre von der Unsterblichkeit der Seele wird von ihm dahingehend weiterentwickelt, dass der seiner selbst bewusste Mensch im Kern Teil der unveränderlichen Welt des Intelligiblen ist28. Andererseits wird der empirische Mensch von Plotin auch mit dem menschlichen Alltagsbewusstsein identifiziert, das kein Phänomen der intelligiblen Welt, sondern eines der mit dem Leib verbundenen Seele ist. In jedem Fall ist das Ich nicht materiell und daher ganz anders zu definieren als der Körper. Die Parallelen zum neuzeitlichen Menschenbild, wie es besonders Descartes mit seiner Definition der sich selbst reflektierenden Seele als TGU EQIKVCPU, die von der sie umgebenden TGUGZVGPUC verschieden ist und diese erst sekundär erkennt, herausgestellt hat, sind im Vergleich mit Aristoteles
_____________ 22 Zum Systembegriff vgl. Beierwaltes 2007, 65-84; s. aber u. S. 18. 23 Zu Leben und Werk Jamblichs vgl. Dillon 2002 (Übersetzung von Finamore/Dillon 2002, 1-10 ins Deutsche; ausführlichere Darstellung: Dillon 1987). 24 Zu seinem Werk ist noch immer grundlegend die Einleitung zu Dodds 21963. 25 Das hat vor allem Hadot 1978 für Simplikios gezeigt; vgl. ferner Sorabji 1990, 3-22. 26 Vgl. Beierwaltes 1981; Beierwaltes 1985, 446-449. 27 Vgl. die Frage: ˲ƳƴƦƴ̄ƬưƪÝ̅ƮʲƭƦ͙Ʋ; Plot. enn. II 3, 9, 14. 28 Beispielsweise im weiteren Verlauf von Plot. enn. II 3, 9.
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klar erkennbar29. Vor diesem Hintergrund erkannten auch Plotin und die Neuplatoniker nach ihm das Problem, wie denn die Einheit des Leibes mit der Seele zu denken sei30. Eyjólfur Emilsson hat Plotin deswegen pointiert als „den Vater des Leib-Seele-Problems oder, sozusagen, seinen Großvater“ bezeichnet31. Noch enger sind die Parallelen der Neuplatoniker zur Geistlehre des deutschen Idealismus, wie besonders Werner Beierwaltes und Jens Halfwassen gezeigt haben32, was sich besonders an der neuplatonischen Behandlung des Selbst-Denkens zeigt. Denn Plotin erkannte wohl als erster die Bedeutung des Selbstbezugs, den er „Rückwendung auf sich selbst“ (ʟÝƪƳƴƱưƶ́ÝƱ̅ƲʠƢƵƴ̅Ʈ) nennt, als besonderes Kennzeichen eines rationalen Wesens, das vom Geist (ƮưͨƲ) geprägt ist. Wenn heute Selbstbewusstsein, Selbsterkenntnis, Selbstbestimmung und Personalität die Konzepte sind, anhand derer die Besonderheit des Menschen unter den Lebewesen erklärt wird, dann stellt dies letzten Endes ein Erbe aus der neuplatonischen Philosophie dar, deren breiter Einfluss dafür verantwortlich ist, dass diese Idee die Neuzeit erreichte. In der modernen Debatte ist besonders Plotins Idee der Einheit von Subjekt und Objekt bei der Selbsterkenntnis des Geistes auf Interesse gestoßen, die von einigen Forschern als eine Lösung des Problems des Selbstbewusstseins angesehen wird33. Andere sind skeptisch, ob das ein gangbarer Weg ist34. Ein weiteres, bisher kaum überzeugend gelöstes Problem ist, wie der von Plotin beschriebene Akt der Einheit mit sich selbst überhaupt mit dem menschlichen Selbstbewusstsein zusammenhängt; Plotin scheint darin einen transzendentalen Akt zu verstehen, der in gewissen Momenten nach seiner Erfahrung einholbar, aber von unserem alltäglichen Bewusstsein sehr verschieden ist35. Mit dem Neuansatz Plotins verbunden war auch eine Kritik an den Positionen seiner Vorgänger, insbesondere der materialistischen stoischen Seelenlehre und der aristotelischen Doktrin von der Seele als Form des Leibes; Plotin ist nicht der Meinung, dass diese Lehre der besonderen Struktur des Seelischen, die durch den Selbstbezug des Geistes gekennzeichnet ist, gerecht werden kann. Eine überzeugende Lösung der
_____________ 29 Zu Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Descartes und Plotin Emilsson 1988, 146. 30 Vgl. Blumenthal 1975, 123. 31 Emilsson 1988, 148. 32 Halfwassen 22005, 14. 33 Beierwaltes 1991, 108-113; Halfwassen 1994, 29f.; Düsing 1997, 101f.; Crystal 2002, 179-206. 34 Horn 2000; Horn 2003; s. u. S. 306f. 35 S. u. S. 313-318.
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Frage, wie denn das Zusammenwachsen des Mentalen und des Körperlichen zu einem Wesen zu erklären ist, blieb er allerdings ebenfalls schuldig36. In seinem Menschenbild bleibt ein Bruch bestehen, der sich daran zeigt, dass der rationale, zum Intelligiblen ausgerichtete Teil des Menschen so scharf von den anderen Teilen, die mit körperlichen Aktivitäten in Verbindung stehen, getrennt wird, dass die Vorstellungskraft (ƶƢƮƴƢƳ̄Ƣ), die mit beidem in Verbindung steht, in einen rationalen und einen nicht rationalen Teil gespalten wird37. Damit bleibt die Beziehung von Leib und Seele eine offene Frage im plotinischen Menschenbild, die bei den folgenden Philosophen zu weiteren Bemühungen um die Frage und auch zu Korrekturen der plotinischen Beschreibung führt38. 3. Die Konfrontation von Neuplatonismus und Aristotelismus in den &GCPKOC-Kommentaren Mit diesen Beobachtungen ist der Fragehorizont skizziert, vor dem die neuplatonischen &G CPKOC-Kommentare geschrieben wurden: Sie hatten der aristotelischen Idee der Verbindung von Leib und Seele gerecht zu werden und zudem zu zeigen, wie dieser Gedanke unter den Bedingungen einer klaren Unterscheidung leiblichen und seelischen Seins mithilfe des Konzepts der Rückwendung auf sich selbst zu halten war. Mit Jamblichs Feststellung, dass Aristoteles die Seelenlehre vollendet habe39, wurde dieser ganz offen als autoritative Quelle für die neuplatonische Seelenlehre anerkannt, während Plotin und wohl auch Porphyrios sich zu seiner Entelechie-Lehre noch kritisch geäußert hatten40. Der Unterschied von Aristoteles und Platon wurde bei diesem Bemühen so geschickt nivelliert, dass vor Thomas von Aquin kaum jemand die grundsätzlich andere philosophische Perspektive der beiden Philosophen bemerkte, die die moderne historisch-kritische Forschung herausgearbeitet und betont hat41. Die spätneuplatonische Anthropologie kann daher als der Versuch verstanden
_____________ 36 Plot. enn. IV 3, 21f. 37 Plot. enn. IV 3, 31; vgl. Blumenthal 1971, 89-95; aber Emilsson 1988, 108 mit Anm. 46 und jetzt Gritti 2005; zu Proklos Lautner 2002, 257-269. 38 Kurzer Überblick bei Steel, 1978, 38-45. 39 Prisc. in an. 1, 9f. 40 Zum Hintergrund und Inhalt dieser Kritik Verbeke 1971; Perkams 2003b, 59f. 41 Da Thomas durch einen Vergleich mit Proklos’ 1268 ins Lateinische übersetzter 'NG OGPVCVKQ VJGQNQIKEC erkannte, dass der pseudo-aristotelische .KDGT FG ECWUKU weitgehend aus dieser exzerpiert war, gewann er erstmals die Mittel aristotelisches Gut von platonisch inspirierten Theorien zu unterscheiden.
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werden, mit einem Rückgriff auf die aristotelische Theorie vom Menschen die Einheit der Seele als Bestandteil der intelligiblen Welt mit dem Leib als Bestandteil der Welt der wahrnehmbaren Dinge zu erklären. Die &GCPKOC-Kommentare können als die wichtigsten Zeugnisse für dieses philosophische Bemühen im Bereich der Anthropologie gelten42. Die Arbeit mit Aristoteles ist für die Kommentatoren ein systematisches Projekt, den zu erläuternden Text als Zeugen für die eigene Theorie zu verstehen. Das Ziel ist, alle seine Aussagen im Lichte der eigenen Voraussetzungen als Beitrag zu diesen zu lesen. Insofern handelt es sich nicht um historische Abhandlungen, sondern um Texte mit einem systematischen Anspruch, dessen Grundkoordinaten sich aus zeitgenössischen Kontexten ergeben. Diese Situation stellt strukturell eine Parallele zu heutigen Bemühungen um die Aktualisierung aristotelischen Gedankenguts dar: Bei aller Treue zum historischen Erbe konnten auch die Kommentatoren Aristoteles nicht unhinterfragt übernehmen, sondern sie mussten seine Theorie umdeuten und neuen Kontexten anpassen43. Inwieweit sie Aristoteles dabei folgen konnten oder sein Vorbild verlassen mussten, kann Aufschluss darüber geben, unter welchen Bedingungen Aristoteles’ Seelenlehre in einem komplexeren Menschenbild ihre Gültigkeit behalten kann. Von noch größerer Bedeutung ist aber die Frage nach der Struktur und Begründung dieses Menschenbildes selbst. Dafür ist letztlich das bereits angesprochene Faktum des menschlichen Selbstbezugs entscheidend, und zwar gerade im Hinblick auf die Fragen, die bei Plotin nicht abschließend gelöst worden waren. Zum einen ist das Problem der Einheit von Erkennendem und Erkanntem von Belang, noch stärker aber die Frage, wie diese geistige Selbsterkenntnis mit der menschlichen Seele zusammenhängt. Für diesen Punkt sind die Theorien des späteren Neuplatonismus besonders interessant, da hier schärfer zwischen geistigen und seelischen Akten unterschieden wird als bei Plotin, so dass die Aktivitäten der Seele, besonders ihre Bezugnahme auf sich selbst, zu einem eigenen Gegenstand der Reflexion werden. Das gilt besonders für die &G CPKOC-Kommentare, da sie sich nicht nur mit der Seele allgemein beschäftigen, sondern auch &G CPKOC III 4-8 erklären müssen, wo das Verhältnis von Geist und Seele explizit zum Thema wird. Carlos Steel und Thomas Welt haben bereits darauf hingewiesen, wie zentral die dynamische Entwicklung des Selbstbezugs in Priskians Kommentar ist44. Eine detaillierte Analyse der hier entwickelten Theorie haben sie aber nicht vorgelegt, ebensowenig wie für die damit zusammenhängende Frage
_____________ 42 Steel 1978; Blumenthal 1990; Blumenthal 1996. 43 So auch Beierwaltes 2007, 87 in Bezug auf Proklos’ Platon-Deutung. 44 Steel 1978, 132-141; Welt 2003, 93f.
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nach dem Verhältnis der ihrer selbst bewussten Seele zum Leib, auf die die Kommentatoren Antworten finden mussten, wenn sie Aristoteles’ Entelechie-Lehre erklärten.
C. Die philosophiehistorische Bedeutung der &GCPKOC-Kommentare Die systematische Bedeutung der neuplatonischen &GCPKOC-Kommentare darf deren hohen Rang als historische Dokumente nicht vergessen lassen: Sie sind sowohl von Bedeutung für das rechte Verständnis des aristotelischen Textes als auch Bestandteil der an diesen anschließenden Auslegungstradition sowie nicht zuletzt wichtige Dokumente des späten Neuplatonismus. In alle drei Richtungen haben sie auf je verschiedene Weise einen Beitrag geleistet, für dessen Verständnis eine philosophische Aufarbeitung der Kommentare die unabdingbare Voraussetzung ist. 1. Für das Verständnis von &GCPKOC Zunächst wird man die Bedeutung der &G CPKOC-Kommentare darin sehen, dass sie eine Hilfe zum besseren Verständnis von Aristoteles’ Text selbst darstellen. Die Hoffnung hierauf ergibt sich sicherlich zunächst besonders aus der sprachlichen Nähe, die die Kommentatoren zu Aristoteles aufweisen, dessen grundsätzliche Konzepte – Stoff und Form, Substanz und Akzidens, Potentialität und Aktualität – sie im Übrigen zumindest in ihrem Sprachgebrauch treu bewahrt haben. Diese im Vergleich zu allen anderen erhaltenen Interpreten große Nähe der Kommentatoren zu Aristoteles ist prima facie Grund genug, ihrer Interpretation einen Vertrauensvorschuss einzuräumen. Welche Bedeutung den &G CPKOC-Kommentaren tatsächlich zukommen kann, das haben bis jetzt vor allem R.D. Hicks und Georges Rodier in ihren ausführlichen Kommentaren zu &G CPKOC sowie Wolfgang Bernard für das Problem der Sinneswahrnehmung gezeigt. Alle drei führen die Interpretationen der griechischen Kommentatoren zu den einzelnen Stellen jeweils an und diskutieren ihre Berechtigung, wobei Hicks zusätzlich die Erklärungen Thomas von Aquins und des RenaissanceKommentators Zabarella hinzuzieht45. Diese Methode führt jedoch dazu, dass das Zeugnis der Kommentatoren zerstückelt und unabhängig von
_____________ 45 Rodier 1900; Hicks 1907; Bernard 1988. Der lateinisch überlieferte Teil von Philoponos’ Kommentar wird allerdings in keiner einschlägigen Edition berücksichtigt.
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ihrem eigenen philosophischen Hintergrund zur Geltung kommt. Dieser muss aber für eine angemessene Würdigung ihrer Interpretationen berücksichtigt werden, da er über ihr Vorverständnis Aufschluss gibt und die Interpretation einzelner Passagen aus einem größeren Gesamthorizont heraus verstehen lässt. Das ist auch deswegen wichtig, weil die Textdeutung der Kommentatoren, so wie jede gute Interpretation, von der Identifikation zentraler Stellen und Passagen ausgeht, vor deren Hintergrund dann schwierigere Stellen gedeutet werden. Für die &G CPKOCKommentatoren ist das auch deswegen selbstverständlich, weil es zu den Aufgaben neuplatonischer Interpreten gehörte, Aristoteles’ Gesamtwerk bei jeder Einzelauslegung zu berücksichtigen46, so dass sie auch seine Seelenschrift in einem größeren Horizont lasen. Gerade dieser Horizont lässt allerdings die Arbeit der Kommentatoren von vornherein zweifelhaft erscheinen, insofern sie ganz und gar nicht voraussetzungslos an den Text herangingen, sondern dabei von den teils ganz anders gearteten philosophischen Vorstellungen des Neuplatonismus ausgingen. Das ist besonders von Henry Blumenthal immer wieder betont worden47. Das Ausmaß dieser „Verzerrungen“ ist freilich nicht leicht zu ermitteln. So könnte man zwar vermuten, dass sie sich besonders in der Theorie des Geistes auswirken, deren Bedeutung für die Neuplatoniker wohl bekannt ist; doch andererseits erheben sich gerade hiergegen auch wieder begründete Zweifel: Denn es steht außer Frage, dass die neuplatonische Noetik von der aristotelischen Geistlehre wesentlich beeinflusst ist, aus der sie die Aussagen zur Trennbarkeit des Geistes, zur Ununterschiedenheit von Subjekt und Objekt und die Unterscheidung verschiedener Arten des Denkens übernehmen konnte. Insbesondere kommen die Neuplatoniker mit Aristoteles darin überein, dass Denken im Prinzip unabhängig von körperlichen Prozessen abläuft. Daraus ergibt sich, insofern auch sie die Seele als ein Prinzip der Belebung von Körpern ansehen, eine ähnliche Grundkonstellation in der Anthropologie, insofern diese erklären muss, wie ein im Grunde transzendenter Geist mit dem Körper in Beziehung steht. Während in dieser Hinsicht also zumindest von einer vergleichbaren Problemstellung gesprochen werden kann, scheint das für die übrigen Seelenvermögen bzw. ihre ontologische Verankerung im Menschen gerade nicht zu gelten. Denn für den Neuplatoniker sind diese Seelenvermögen stets ein Produkt der vom Körper ursprünglich getrennten Seele, die die-
_____________ 46 Elias in cat. 123, 1-10; Simpl. in cat. 7, 24-32; Prisc. in an. 1, 17f. 47 Blumenthal 1990a, 311-320; Blumenthal 1996, 170; vgl. auch Bernard 1988, 5 Anm. 26.
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sen belebt, um sich seiner für das Wirken in der materiellen Welt zu bedienen. Daher besteht für die Neuplatoniker stets eine ursprüngliche Differenz zwischen Körper und Seele, die so in Aristoteles’ Text nicht vorausgesetzt ist. Zwar schließt Aristoteles’ Beschreibung einen Leib-SeeleDualismus nicht unbedingt aus, doch ist er kaum die natürlichste Deutung seiner Beschreibung von Leib und Seele als einer hylemorphistischen Wirkungseinheit, deren einzelne Elemente sich voneinander nicht trennen lassen. Eine Seele, die sich in einer solchen Einheit befindet, kann sich zu ihrem Leib streng genommen nicht verhalten; eher ist sie das Lebensprinzip des lebendigen Leibes. Keinesfalls legt Aristoteles’ Text es nahe, dass eine ursprünglich außerhalb des Leibes existierende Seele sekundär in das leib-seelische Kompositum eingetreten ist – so dass womöglich gerade hier neuplatonische Verzerrungen der Kommentare auftreten könnten. Eine Untersuchung der &GCPKOC-Kommentare hat die Frage nach ihrer Bedeutung für die Aristoteles-Interpretation daher so zu stellen, dass sie den neuplatonischen Einfluss auf ihre Interpretation stets im Blick behält, ohne ihn aber von vornherein als verzerrend wahrzunehmen. Vielmehr ist die Leistungsfähigkeit der Interpretationen trotz Anerkennung dieser Einflüsse in jedem Fall sorgfältig zu prüfen, wobei nicht zuletzt zu ermitteln ist, welches anthropologisch-psychologische Gesamtbild der einzelne Kommentator aufgrund von &GCPKOC entwickelt, wie stark dieses neuplatonischen Einflüssen unterliegt und welche Leistungen es für das Verständnis einzelner Stellen entfaltet. 2. Im Rahmen der Tradition des Aristotelismus Von der Bedeutung der Kommentare für das Verständnis von &G CPKOC ist ihre Rolle innerhalb der Geschichte der Aristoteles-Interpretation sowie der hierauf beruhenden aristotelisch-peripatetischen Philosophie zu unterscheiden. Im Rahmen der Auslegungsgeschichte von &GCPKOC liegt die Bedeutung der neuplatonischen Kommentare zunächst einmal darin, dass ihre Interpretation des aristotelischen aktiven Geistes (ƮưͨƲÝưƪƨƴƪƫ̆Ʋ) als eines Elements des Verstandes jedes einzelnen Menschen sich allen Deutungen dieses Vermögens als universal auf alle Menschen bezogen entschieden widersetzt. Insofern stehen die Kommentatoren, zusammen mit ihrem Vorgänger Themistios, gegen eine Tradition, mit der in klassischer Weise die Namen von Alexander von Aphrodisias in der Antike, im arabischen Raum von Ibn Ruschd (Averroes) und im lateinischen Mittelalter von Si-
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ger von Brabant verbunden werden48. Durch ihr Beharren auf der Individualität des aktiven Geistes sticht die Position der Kommentatoren sogar noch deutlicher hinaus, denn nicht anders als Alexander hatte auch Ibn SĩnĆ (Avicenna) für die Universalität dieser Quelle der Denkinhalte votiert, und auch Thomas von Aquin hatte dies für eine ernstzunehmende Option gehalten, gegen die nichts Grundsätzliches einzuwenden sei. Die radikale Gegenposition, dass auch das rezeptive Vermögen des Geistes, also der sogenannte materiale oder mögliche Geist, universal und nicht individuell sei, ist hingegen erst in Ibn Ruschds Großem Kommentar zu &G CPKOC und noch deutlicher vom jungen Siger von Brabant ausdrücklich vertreten worden49. Für die spätantike und mittelalterliche Philosophie war die Interpretation von Aristoteles’ Meinung zur Individualität oder Universalität des Geistes auch von systematischer Bedeutung. Die von den Kommentatoren vertretene Position der Individualität des gesamten in &GCPKOC III 4-5 diskutierten Intellekts hat dabei im Neuplatonismus ebenso wie im Christentum die Funktion, die individuelle Unsterblichkeit der Seele zu sichern. Umso wichtiger schien die interpretatorische und argumentative Fundierung dieser Ansicht, zu der die &G CPKOC-Kommentatoren, für die die Auseinandersetzung mit Alexander ein Hauptanliegen war50, ausführliche Argumente lieferten. Daher stellen die Kommentare sowohl eine historische Etappe als auch eine klare systematische Option innerhalb der Tradition einer aristotelischen Geistlehre dar, zumal die Ansichten der Kommentatoren sowohl in der arabischen als auch in der lateinischen Philosophie des Mittelalters im Grunde bekannt waren51. Die Rolle der Kommentare in der Auslegungsgeschichte von &G CPK OC kann auch an weiteren Punkten verdeutlicht werden, die freilich in der Regel nicht so sehr im Mittelpunkt der antiken und mittelalterlichen Diskussion standen und bis heute textlich und inhaltlich nicht so erschlossen sind wie die Frage nach dem Geist. Im Zusammenhang mit der neueren Diskussion über Aristoteles’ Theorie der Wahrnehmung (Ƣ˅ƳƩƨƳƪƲ) hat Richard Sorabji etwa behauptet, dass Philoponos’ Kommentar einen wichtigen Schritt bei der „Entmaterialisierung“ der aristotelischen Theorie der Wahrnehmung darstelle, die in der fortdauernden Interpretation dieses
_____________ 48 Eine Typologie der möglichen Positionen zum ƮưͨƲÝưƪƨƴƪƫ̆Ʋ bietet Merlan 1963, 4853. 49 Einen knappen Überblick über diese Debatte habe ich gegeben in Perkams 2007a, 1521. Zur Diskussion im arabischen Raum Davidson 1992, zu der im lateinischen 13. Jahrhundert Petagine 2004. 50 S. u. S. 122-123. Vgl. auch Elias in cat. 123, 1-10. 51 Zur arabischen Tradition: Arnzen 1998, 80-139. Zur lateinischen: Verbeke 1966, LXXI-LXXXVI.
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Textes von der Antike bis ins Mittelalter zu beobachten sei52. Für Miles Burnyeat wurde Philoponos aufgrund derselben Annahme zusammen mit Thomas von Aquin und Franz Brentano zum Kronzeugen seiner eigenen, nicht materialistischen Aristoteles-Interpretation53. Neuerdings hat Victor Caston dagegen bezweifelt, dass Philoponos Aristoteles’ Wahrnehmungslehre tatsächlich nicht materialistisch interpretiert54 ȥ so dass man für das Problem der Wahrnehmung konstatieren muss, dass der historische Ort der Kommentatoren gegenwärtig nicht sicher zu bestimmen ist. Eine eigenständige Untersuchung ihrer wichtigsten Argumente, wie sie im Folgenden versucht wird, kann daher in ganz verschiedener Richtung dazu beitragen, die Geschichte des Aristotelismus besser zu verstehen, indem man zumindest mit der Theorie der Kommentatoren eine zentrale Position klar aufarbeitet. 3. Für die Geschichte des Neuplatonismus Nicht weniger bedeutend sind die &GCPKOC-Kommentare als Dokumente der Philosophie des späten Neuplatonismus. Die bewusste Bezugnahme dieser Philosophie auf die platonische und aristotelische Tradition sowie ihre Verbundenheit mit dem philosophischen Unterricht brachte es mit sich, dass die einzelnen Denker sich häufig nicht in ausgedehnten systematischen Werken äußerten. Vielmehr legten sie ihre philosophischen Ideen in Kommentaren zu den einzelnen Schriften nieder, die für sie kanonisch waren und jeweils einen Teilbereich philosophischen Nachdenkens abdeckten55. Auf diese Weise entwickelten die Neuplatoniker ihre Logik bei der Interpretation von Aristoteles’ 1TICPQP, ihre Physik bei der Deutung des gleichnamigen Werks des Stagiriten, ihre Kosmologie vorwiegend bei der Erklärung von Platons 6KOCKQU und ihre Ontologie bei derjenigen des 2CTOGPKFGU56. Für die &GCPKOC-Kommentare bedeutet dies, dass in ihnen, entsprechend dem Thema (ƳƫưÝ̆Ʋ) des kommentierten Werkes, die Lehre der Seele, und zwar konkret der Seele der sterblichen Lebewesen und be-
_____________ 52 Sorabji 1991, 232-235. Vgl. auch ebd. 245-247 zum Einfluss von Philoponos’ Theorie. 53 Burnyeat 1992, 18. 54 Ich danke Herrn Caston, dass er mich Einblick in das Manuskript seiner in Vorbereitung befindlichen Geschichte der Wahrnehmungstheorie nehmen ließ. 55 Einen Überblick hierüber habe ich gegeben in Perkams 2007c. Zu Proklos s. Beierwaltes 2007, 87. 56 Eine Übersicht über die Gliederung des neuplatonischen Aristoteles-Kurses gibt Amm. in cat. 5f.; die Lektüreordnung der platonischen Schriften erklärt Abbate 2004, XX-XXIII.
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sonders des Menschen, behandelt wurde57. Aus dieser Klassifizierung folgt, dass die Kommentare zu &G CPKOC ausführliche Darstellungen der spät-neuplatonischen Lehre von der menschlichen Seele sind, wie sie sich in den anderen Schriften der Zeit so nicht finden. Auch wenn sich etwa aus vielen Stellen bei Proklos die Grundzüge seiner Seelenlehre ermitteln lassen, so findet sich dort nirgends eine wirklich ausführliche thematische Darstellung. Diese Aussagen lassen sich noch etwas konkretisieren. Für die Neuplatoniker geht es bei der Auslegung von Aristoteles’ Seelenschrift besonders um das Verhältnis der Seele zu ihrem Körper und um die strukturelle Beschreibung des empirischen Menschen. Die Unsterblichkeit und ethische Würdigkeit der Seele wurden eher in Kommentaren zu verschiedenen platonischen Dialogen behandelt: Zu erwähnen sind dabei besonders der 2JCKFQP, der 2JCKFTQU, der 'TUVG#NMKDKCFGU und natürlich der 6KOCKQU58. Zu allen diesen Werken sind uns neuplatonische Kommentare erhalten, die gelegentlich in der folgenden Untersuchung zur Klärung einzelner Punkte angeführt werden59. Mit ihrer Hilfe wäre eine noch vollständigere Darstellung des neuplatonischen Menschenbildes möglich, doch ist es häufig nicht einfach, die Aussagen, die in verschiedenen interpretatorischen Kontexten von verschiedenen Autoren gemacht werden, aufeinander zu beziehen. Aus diesem Grund beschränkt sich die folgende Untersuchung auf die Kommentare zu &G CPKOC; die Einordnung in einen größeren neuplatonischen Kontext mag anderen überlassen bleiben. Methodisch macht diese Beschränkung auf die &G CPKOCKommentare aber auch deswegen Sinn, weil sich natürlich die Frage stellt, inwieweit die Beschäftigung mit Aristoteles eine Veränderung im Denken der Neuplatoniker selbst bewirkt hat. Dieses Problem kann man in gewisser Weise für die gesamte Epoche des ausgehenden Neuplatonismus nach Proklos aufwerfen, aus der uns – vom Werk des Damaskios abgesehen – überwiegend Kommentare zu Werken des Stagiriten überliefert sind. Besonders stellt sie sich aber für die überwiegend alexandrinischen Autoren vom Ende des 5. Jahrhunderts an, die fast ausschließlich Aristoteles erklärt und im Laufe der Zeit zunehmend dessen Eigenständigkeit gegen-
_____________ 57 Philop. in an. 64, 30; in an. L 46, 80-83; Prisc. in an. 1, 22; 3, 29f. 58 Die gemeinsame Behandlung von &G CPKOC und dem 2JCKFQP im neuplatonischen Unterricht erwähnt Marin. Procl. 12, 9-11. 59 Zum 2JCKFTQU von Hermeias, zum 2JCKFQP von Damaskios und Olympiodor, zum 'TUVGP #NMKDKCFGU von Proklos und Olympiodor sowie zum 6KOCKQU von Proklos. Zum 2JCKFTQU-Kommentar des Hermeias gibt es eine deutsche Übersetzung von H. Bernard in Hermeias von Alexandrien 1997. Ein genauerer Abgleich mit diesem Kommentar wäre für das Verständnis der Rolle der &GCPKOC-Kommentare im Neuplatonismus besonders interessant, kann aber hier nur punktuell geleistet werden.
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über Platon betont haben60. Die hierbei erkennbare Dominanz der Aristoteles-Exegese am Ende der Spätantike wird eindrucksvoll dadurch unterstrichen, dass die Araber, die das spätantike Curriculum kaum verändert übernahmen, ausschließlich aristotelische bzw. dem Aristoteles zugeschriebene Werke in der philosophischen Lehre heranzogen61. Aus diesem Grund hat Robert Wisnovsky neuerdings die Leistung von Philoponos’ und Simplikios’ Lehrer Ammonios als die „Zusammenfaltung des größeren Projektes der Harmonisierung von Platon und Aristoteles in das kleinere Projekt der Harmonisierung von Aristoteles und Aristoteles“ bezeichnet62. Wenn diese Charakterisierung von Wisnovsky auch eher behauptet als belegt wird, eröffnet sie doch einen Blickwinkel auf die spätantike Kommentierungstätigkeit, der von der Deutung der AristotelesKommentare als neuplatonische Schriften tout court in interessanter Weise abweicht. Die Kommentare erscheinen so als Zeugen eines „aristotelisierenden Neuplatonismus“ oder vielleicht eines „neuplatonischen Aristotelismus“, den man nicht undifferenziert in einem allumfassenden „System“ FGU Neuplatonismus aufgehen lassen sollte63. Inwieweit solche Bezeichnungen angemessen sind, lässt sich nur anhand der Schriften der späten Neuplatoniker selbst entscheiden. Die &G CPKOC-Kommentare sind hierfür besonders wichtig. Denn die meisten uns überlieferten Aristoteles-Kommentare beziehen sich auf die Schriften des 1TICPQP, deren logisch-erkenntnistheoretische Inhalte weitgehend ohne Parallelen im platonischen Schrifttum waren. Die Neuplatoniker konnten hier auf Aristoteles zurückgreifen, ohne notwendig in einen Konflikt mit Platon zu treten64. Anders sah das bei der Interpretation von &G CPKOC und Aristoteles’ /GVCRJ[UKM aus. Hier erforderte die neuplatonische Interpretation eine kritische Auseinandersetzung mit der Auslegung der peripatetischen Schule, besonders des Alexander von Aphrodisias. Dies können wir an den Kommentaren zu &GCPKOC besonders gut nachvollziehen, da wir hier über mehrere nahezu vollständige Kommentare verfügen, während uns zur /GVCRJ[UKM nur Teilkommentare oder unvollständige Erklä-
_____________ 60 Letzteres wird von Gutas 1988, 201-206 anhand der Texte einiger Aristoteles-Viten gezeigt. 61 Das wird eindrucksvoll gezeigt von dem bei Gutas 1988, 102 abgedruckten Aufbau von Avicennas Hauptwerk -KVÞDCīĪKHÞŏ, das um 1020 das spätantike AristotelesCurriculum noch praktisch unverändert abbildet. 62 Wisnovsky 2003, 15. 63 Zum Begriff eines neuplatonischen „Systems“ s. u. S. 280. 64 Obwohl das womöglich ein Abweichen von Plotin bedeutete; vgl. die sehr verschiedenen Meinungen von Wurm 1973; Horn 1995, 62-105; de Haas 2001; Chiaradonna 2002; Thiel 2004.
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rungen aus der Antike überliefert sind65. Es lässt sich daher hoffen, dass die Untersuchung der &GCPKOC-Kommentare einen wesentlichen Beitrag zur geistigen Kontur des späten Neuplatonismus liefern wird.
D. Zum Forschungsstand Die moderne Beschäftigung Forschung mit den &GCPKOC-Kommentaren begann in der historischen Aristoteles-Forschung des 19. Jahrhunderts, wo die griechischen Handschriften der Kommentare zur Verbesserung des aristotelischen Textes herangezogen wurden. Diese Verarbeitung war für die Aristoteles-Forschung allerdings insgesamt enttäuschend, da die von neuplatonischen Ideen bestimmte Kommentierung den am historischen Aristoteles interessierten Philologen des 19. Jahrhunderts unbefriedigend erscheinen musste. Immerhin entstanden zu dieser Zeit die kritischen Ausgaben der &G CPKOC-Kommentare in den %QOOGPVCTKC KP #TKUVQVGNGO )TCGEC, die bis heute die Grundlage aller Arbeit an ihnen bilden. Außerdem wurden die Interpretationen der Kommentatoren, wie bereits erwähnt, in die großen Kommentarwerke von R.D. Hicks und Georges Rodier aufgenommen, die sich auch nicht selten der Meinung der antiken Interpreten anschließen. Der modernen Aristotelesforschung liegt damit ein Potential vor, das im Allgemeinen zu selten genutzt wird. Die zweite Phase der Forschung setzte, nachdem das Interesse an den Kommentatoren in den ersten drei Vierteln des 20. Jahrhundert eher gering war, in den 70er Jahren wieder ein, wofür besonders die Forschungen von Henry Blumenthal, Carlos Steel und Ilsetraut Hadot wegweisend waren. Der gemeinsame Nenner ihrer Arbeiten ist die Einsicht, dass es sich bei den Kommentaren um neuplatonische Schriften handelt. Das zeigt für die &GCPKOC-Kommentare ausdrücklich Blumenthal in seinem 1976 veröffentlichten Aufsatz „Neoplatonic Elements in the &G CPKOCCommentaries“, in dem er zu dem Schluss kommt: „Die Auswirkungen dieses Einflusses können auf fast jeder Seite dieser langen und mühevollen Kommentare gefunden werden“66. Ilsetraut Hadot kommt in ihrer Untersuchung „Le problème du néoplatonisme Alexandrin. Hiéroclès et Simplicius“ zu der Auffassung, dass aus den Inhalten neuplatonischer Texte nur dann Schlüsse über das von ihnen zugrundegelegte philosophische Gedankengebäude gezogen werden können, wenn der Inhalt der kommentierten Texte und ihr Platz im philosophischen Unterricht berücksichtigt
_____________ 65 Das Verhältnis der neuplatonischen /GVCRJ[UKM-Kommentare zueinander sowie zu Alexander von Aphrodisias wird untersucht von Luna 2001c. 66 Blumenthal 1990, 324.
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werden. Beide Punkte beeinflussen das, was ein Kommentator sagt und besonders auch, was er an welcher Stelle nicht sagt67. Diese These, die ursprünglich an den Werken des Hierokles und an Simplikios’ Kommentar zu Epiktets 'PEJGKTKFKQP aufgewiesen wurde, ist nach Ilsetraut Hadot für das gesamte neuplatonische Schrifttum gültig und soll insbesondere die von Karl Praechter68 vorgeschlagene inhaltliche Verschiedenheit der philosophischen Schulen in Athen und Alexandrien widerlegen. Alle neuplatonischen Texte bezeugten im Prinzip ein- und dasselbe philosophische System. Blumenthal und Hadot kommen also darin überein, dass die &G CPKOC-Kommentare schlicht neuplatonische Schriften sind, die ihre eigenen Ansichten in die kommentierten Texte hineinlesen. Auf dieser Grundlage hat Blumenthal in einigen Artikeln begründet, warum seiner Meinung nach Alexander von Aphrodisias der letzte wirklich am Text orientierte Kommentator von &G CPKOC war, so dass die neuplatonischen Kommentare eher als Verzerrungen erscheinen. „Mit der Ausnahme des Themistios steht er auch darin allein, dass er mehr oder weniger nicht gewaltsame Kommentare zu Aristoteles schrieb, Kommentare, die im Ganzen ein ehrlicher (JQPGUV) und im Allgemeinen erfolgreicher […] Versuch waren darzulegen, was Aristoteles gedacht hatte“69. Blumenthals Meinung nach ist eine neuplatonische Aristoteles-Auslegung also schon allein deswegen nicht „ehrlich“, weil sie ihre eigenen philosophischen Voreinnahmen in die Interpretation einbringt, ohne – so wird man Blumenthal verstehen dürfen – methodisch klar zwischen historischer und systematischer Forschung zu trennen. Am ausführlichsten hat er seine Interpretationen in dem 1996 erschienenen Buch „Aristotle and Neoplatonism in Late Antiquity. Interpretations of the &GCPKOC“ dargelegt. Dieses Buch fasst die bisherigen Ergebnisse seiner Forschungen zusammen und begründet sie anhand ausgewählter Stellen aus den Kommentaren, die nebeneinander behandelt werden. Wiederum findet der Autor bei den Kommentatoren „ein beachtliches Arsenal an Zugängen, Methoden und Techniken, um nicht zu sagen an Vorurteilen und Voreinstellungen“, um Aristoteles im neuplatonischen Sinne misszuverstehen70. In ähnlicher Weise sind einige Aspekte der Kommentare von Robert Wisnovsky behandelt worden, was einen auffälligem Gegensatz zu seiner erwähnten Annahme einer rein aristotelischen Synthese im spätantiken Alexandrien bildet. Er meint beispielsweise, in den Kommentaren die dezidiert unaristotelische, angeblich von Proklos’ Kausalitätsverständnis
_____________ 67 Hadot 1978, 189-191; Hadot 1996, 61-69. 68 Praechter 1910. 69 Blumenthal 1987, 90. Zu weiteren Aufsätzen von Blumenthal vgl. das Literaturverzeichnis. Zu Alexanders Qualität als Ausleger vgl. Thiel 2004, 2f. 70 Blumenthal 1996, 34.
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inspirierte These finden zu können, mit Entelechie werde eine vom Körper getrennte Seele bezeichnet71. Derartige Auslegungen zeigen, dass die Betrachtung der &G CPKOCKommentare als neuplatonische Texte in Verbindung mit einem nichtplatonischen Verständnis der aristotelischen Lehre dazu führen kann, diese Schriften nicht mehr als Dokumente einer legitimen Form des Aristotelismus, sondern als eine Verzerrung der aristotelischen Lehre anzusehen. Damit droht freilich die Gefahr, im Anschluss an die Nicht-Beachtung des neuplatonischen Hintergrundes der Kommentatoren in das entgegengesetzte Extrem zu verfallen, indem man sie schlichtweg über einen neuplatonischen Kamm schert, ohne die Wirkung ihrer aristotelischen Prägung im Vergleich zu anderen neuplatonischen Texten zu untersuchen. Damit ist etwa die angesprochene Erwägung von vornherein ausgeschlossen, es könne in der Spätantike auch etwa einen Neo-Aristotelismus gegeben haben, der mit dem Label „Neuplatonismus“ nur unzureichend beschrieben werden kann. Im Hinblick auf diese Frage, die sich quasi von selbst aufdrängt, ist es auch kaum hilfreich, alle Kommentare zunächst in einen Topf zu werfen und erst nachträglich zwischen dem „anscheinend nüchterneren“ bzw. „moderaten“ Philoponos und „extremeren Neuplatonikern“ (worunter wohl auch Pseudo-Simplikios bzw. Priskian zu fassen wäre) zu unterscheiden, wie es Blumenthal und Wisnovsky tun72. Derartige Formulierungen deuten nicht nur eine unverdiente Geringschätzung für den philosophischen Rang des Neuplatonismus und ein Verkennen seiner eigenen philosophischen Anliegen an. Sie lassen auch übersehen, dass eine Klärung des Verhältnisses von Neuplatonismus und Aristotelismus in diesen Schriften eine differenzierte Antwort erfordert, die anhand einer Aufarbeitung jeder einzelnen Schrift und ihrer Verortung am richtigen Punkt der neuplatonischen Geistesgeschichte erfolgen muss. Erste, aber wichtige Schritte dazu finden sich bei Carlos Steel. Hinsichtlich der Interpretation der Kommentare als neuplatonischer Schriften stimmt Steel mit Blumenthal und Hadot prinzipiell überein. Er unterscheidet sich aber von ihnen dadurch, dass er um die detailliertere Rekonstruktion der philosophischen Ideen bemüht ist, die in den Kommentaren ihren Ursprung nehmen. Das tut er in seiner Dissertation „The Changing Self“ (1978) – bis heute wohl das beste Buch über die &G CPKOCKommentare – besonders für den Kommentar des Pseudo-Simplikios, dessen Autor er erstmals zu Recht als Priskian von Lydien identifiziert73. Steels Ausgangspunkt ist die Rekonstruktion der Lehre Jamblichs in des-
_____________ 71 Wisnovsky 2003, 6. 87. Zu Wisnovskys Philoponos-Deutung s. u. S. 74-76. 72 Blumenthal 1996, 98; Wisnovsky 2003, 96. 73 In Bossier/Steel 1972. S. u. S. 149-153.
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sen Werk „Über die Seele“, das Priskian ausgiebig benutzt hatte. Steel kann dabei zeigen, dass sich Priskian eng an Jamblich anschließt, und weist darauf hin, dass Johannes Philoponos’ Kommentar eher die Seelenlehre des Proklos wiedergibt74. Diese Grundausrichtung der beiden Kommentatoren, die in Priskians Fall auch aus seinen eigenen Aussagen ziemlich offensichtlich ist, hat bisher weder Zustimmung noch Korrektur erfahren; insofern bildet Steels Buch den Ausgangspunkt für jede weitere Forschung zu den Kommentaren. Problematisch ist lediglich, dass Steel einen großen Teil von Priskians Aussagen unhinterfragt für jamblicheisches Gut nimmt, teilweise sogar dort, wo der Name des Vorbilds gar nicht genannt wird. Auf diese Weise wird Priskians Theorie auf zwei Kapitel verteilt, von denen eines die Philosophie des rekonstruierten Jamblich und das andere die eigenen Gedanken Priskians wiedergeben soll. Das ist methodisch bedenklich, zumal die Terminologie und Ausdrucksweise Priskians recht einheitlich ist und auch die Stellen, die ausdrücklich auf Jamblich Bezug nehmen, teilweise eindeutig auf Priskians eigener Meinung fußen75. Insofern muss erst einmal diese rekonstruiert werden, bevor die Bezüge auf Jamblich in ihrem Umfang korrekt bestimmt werden können. Ein weiteres Manko von Steels Untersuchung ist, dass er die Beziehung des Textes zu Aristoteles’ &G CPKOC weitgehend ignoriert. Das ist für Steels eigene systematische Zielsetzung nicht unbedingt notwendig, für eine gerechte Würdigung der Kommentare und ihrer Beziehung zum neuplatonischen Umfeld dagegen unumgänglich. Andere Autoren haben darauf hingewiesen, dass die Kommentatoren überhaupt nicht nur neuplatonischen Einflüssen unterliegen, sondern zu wesentlichen Teilen aus einer aristotelischen Quelle schöpfen, nämlich aus Alexander von Aphrodisias. So hat Wolfgang Bernard die These vertreten, die neuplatonischen &G CPKOC-Kommentare gäben zur Sinneswahrnehmung inhaltlich die Position Alexanders wieder76. Daniela Taormina, die durch ihre kommentierte Edition der Fragmente des ältesten uns bekannten neuplatonischen &G CPKOC-Kommentators Plutarch von Athen eine wichtige Grundlage für die hier verfolgte Untersuchung gelegt hat, liest die erhaltenen Kommentare ebenfalls nicht nur als Zeugnisse des Neuplatonismus, sondern auch als solche der Tradition der AristotelesKommentierung77. Am Beispiel der Konzepte von *[RQUVCUKU und *[RCTZKU kommt sie dabei zu dem Schluss, dass der Kommentar des Simplikios bzw. Priskian ein kohärentes platonisches Schema einer innerseelisch ent-
_____________ 74 Steel 1978, 16-20. 75 So ist Prisc. in an. 240, 35-241, 19 kaum auflösbar mit einer Aristoteles-Erklärung verwoben. Weiteres s. u. S. 151f. 76 Bernard 1988, 6. 77 Taormina 1994; zu Plutarch von Athen vgl. Taormina 1989.
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stehenden Erkenntnis auf Aristoteles’ Text anwendet, während für den des Philoponos auch die peripatetische Tradition Alexanders eine große Rolle spielt. Durch derartige Feststellungen könnte evt. die genannte These eines neuplatonischen Aristotelismus zumindest in der AmmoniosSchule erhärtet werden, ein Schluss, der von Taormina selbst freilich nicht erwogen wird.
E. Gliederung und Methode Dieser nicht sehr umfangreiche, aber keineswegs einheitliche Forschungsstand zeigt, welchen Unsicherheiten das Verständnis der Kommentare auch nach der grundsätzlichen Anerkennung ihres neuplatonischen Charakters unterworfen ist. Es wird daher im Folgenden stark darauf ankommen, die Aussagen der einzelnen Kommentatoren auf eine umsichtige Weise zu erheben, die sowohl ihren direkten Bezugspunkt, Aristoteles’ Text, als auch die Vielzahl sonstiger Einflüsse sowie nicht zuletzt die eigenen Anliegen der Kommentatoren im Blick behält. Aus diesen Erwägungen ergeben sich die Ziele des vorliegenden Projektes: Sie beginnen dabei, die Kommentare in ihrem philosophischen Gehalt zu untersuchen und zu würdigen. Ihre Lösungsvorschläge für die Verhältnisbestimmung von Leib und Seele sollen erhoben werden. Dabei soll jeweils die Grundkonzeption herausgearbeitet werden, mit der jeder einzelne Kommentator den Aristoteles-Text deutet und aus der sich seine Stellungnahmen zur Auslegung einzelner Stellen und zur Lösung einzelner sachlicher Probleme ergeben. Diese Herausarbeitung muss vor dem Hintergrund der aristotelischen Vorlage geschehen, die den natürlichen Ausgangspunkt für die Bemühungen der Kommentatoren, aber auch den Bezugspunkt für ihre Bewertung als Interpreten bildet. Zugleich müssen, wie gesagt, auch die Einflüsse späterer Quellen beachtet werden. Der so zu erstellende Überblick über das Menschenbild der Kommentatoren führt auf die systematische Frage nach dessen Grundlagen. Da diese im Neuplatonismus besonders durch die Annahme der Rückwendung auf sich selbst geliefert wird, erfordert diese Theorie eine eigene Herausarbeitung im Kontext der modernen und neuplatonischen Diskussion über die Selbsterkenntnis. Aus diesem Grund werde ich im Folgenden in zwei Schritten vorgehen: In einem ersten Teil werden die Deutungen der Kommentare zu den wichtigsten Themenbereichen der aristotelischen Lehre vom Menschen untersucht: Zur Bestimmung des Verhältnisses von Körper und Seele, zur Lehre von der vegetativen Seele, von der Wahrnehmung, von der Vorstellungskraft (ƶƢƮƴƢƳ̄Ƣ) und vom Geist (ƮưͨƲ) bzw. vom Denken. Dabei soll
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jeder einzelne Kommentar – der des Philoponos, der des Priskian und der des Stephanos – einzeln untersucht werden, um seine spezifische historische und systematische Position herauszuarbeiten. Zunächst wird anhand der Einleitung zu Philoponos’ Kommentar ein allgemeiner Überblick über die neuplatonische Seelenlehre und die für sie angeführten Argumente gegeben. Diese Übereinstimmung von Einleitung in den Text und in die Sache ergibt sich daraus, dass dieser Text die prägnanteste Übersicht über die spät-neuplatonische Anthropologie darstellt, die uns überliefert ist. Der aristotelische Kontext wird im Lauf der Erörterung erläutert: Die Bearbeitung jedes einzelnen Themas der aristotelischen Philosophie wird dabei mit einer problemgeschichtlichen Einleitung eröffnet, wenn das Thema das erste Mal auftritt, in der Regel bei der Behandlung durch Philoponos. Bei der Frage nach dem Gemeinsinn (III 1-2) und der Vorstellungskraft (III 3), zu denen uns Philoponos’ Kommentar fehlt, werden diese Informationen bei Priskians Kommentierung nachgeliefert. Diese problemgeschichtlichen Einleitungen dienen zur Klärung des Kontexts für den Leser. Sie sollen keine geschlossene Interpretation von &GCPKOC darbieten, um die Offenheit für die Lösungen der Kommentatoren nicht durch ein Vorverständnis zu verbauen. Meine eigene Meinung zu gewissen Problemen – die nicht selten die der Kommentatoren ist – wird dabei aber hinreichend deutlich werden. Im Übrigen ergibt sich der Fortschritt des Gedankens aus der Verschiedenheit der Kommentatoren selbst, die sich keineswegs immer über einen Leisten schlagen lassen. In einem zweiten Hauptteil wird dann versucht, Priskians Aussagen zum Selbstbezug des Geistes und der Seele als eine Theorie von Selbsterkenntnis und Personalität zu deuten. Nachdem in einem ersten Abschnitt anahnd von Plotins Lehre von der Selbsterkenntnis des Geistes der Umriss und die Probleme der neuplatonischen Lehre geistigen Selbstbezugs dargestellt und die späteren Entwicklungen dieser Lehre kurz skizziert wurden, stellen sich zwei Kapitel der Frage, ob aus Priskians „Dynamik“ seelischen Seins eine philosophische Theorie des menschlichen Selbstbezuges und der Personalität zu gewinnen ist und welche Vorzüge einer solchen Theorie zukommen. Dieser zweite Teil wird durch eine relativ ausführliche systematische Problemdarstellung eingeleitet, die den Hintergrund für die folgende Rekonstruktion von Priskians Position liefern soll. Ohne solche ausführlichen Vorbemerkungen, die in der ansonsten historisch geprägten Untersuchung einen gewissen Fremdkörper darstellen, ist eine philosophisch aufschlussreiche Darstellung einer historischen Theorie m.E. kaum möglich. Der systematische Gehalt einer Position, die von ganz anderen Voraussetzungen ausgeht und eine ganz eigene Terminologie verwendet, lässt sich nur erheben, wenn man zunächst das Raster offenlegt, vor dem die
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erforschte Theorie gedeutet wird. Eine Untersuchung, die sich rein intern innerhalb der Ideenwelt des gewählten Textes bewegt, ohne diese zu übersetzen, erschließt die philosophische Bedeutung dieses Textes gerade nicht. Sie lässt dem Interpreten im Prinzip nur die unbefriedigende Alternative, die interpretierte Position entweder vollständig zu akzeptieren oder sie ganz zu verwerfen. Eine fruchtbare philosophische Untersuchung wird sich aber bemühen, alles zu prüfen und das, was gut ist, zu behalten – was zur Voraussetzung hat, dass man sich die Umrisse der Sachprobleme bewusst gemacht hat.
F. Zu einzelnen Problemen der Interpretation der Kommentare Diese grundsätzlichen Ziele und Schwierigkeiten sind freilich nur unter Beachtung einiger struktureller Probleme zu erreichen, die jede moderne Interpretation der Kommentare von vornherein erschweren. Sie sollen hier kurz benannt und ihre Behandlung in der folgenden Arbeit verdeutlicht werden. 1. Die Einheitlichkeit der antiken Kommentartradition Ein Problem ergibt sich aus der Tatsache, dass alle &GCPKOC-Kommentare Bestandteil der einen antiken Tradition der Auslegung dieses Werkes sind. Grundsätzlich hat nicht jeder Kommentator nach neuen Erklärungen für jede einzelne Stelle gesucht, sondern die Erklärungen seiner Vorgänger wurden normalerweise übernommen und nur dort korrigiert, wo es nötig schien. In der Praxis führt das dazu, dass viele Stellen von allen Kommentatoren in ein und derselben Weise erklärt werden, obwohl auch andere Erklärungen offenstünden (die in der modernen Forschung teils auch ausdrücklich vertreten werden). Diese einheitlichen Erklärungen führen natürlich zu der Frage, inwieweit die uns erhaltenen &G CPKOCKommentare voneinander abhängig sind – so wie sich nach neuesten Untersuchungen bei den Kommentaren zu Aristoteles’ -CVGIQTKGP und zur /GVCRJ[UKM die Abhängigkeitsverhältnisse klar zeigen lassen78. In Bezug auf die erhaltenen &G CPKOC-Kommentare bestehen allerdings keine textlichen Übereinstimmungen, anhand derer die Abhängigkeiten in vergleichbarer Weise gezeigt werden können, sondern die Übereinstimmungen beschränken sich auf inhaltliche Aspekte der
_____________ 78 Luna 2001a; Luna 2001c.
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Interpretation und systematischen Erklärung zahlreicher Passagen. Auch nennt keiner der erhaltenen &GCPKOC-Kommentare den anderen, so dass uns positive Hinweise dafür fehlen, dass die Kommentatoren einander benutzt haben. Das überrascht nicht, da Philoponos und Priskian späte Randfiguren des neuplatonischen Schulsystems waren, die weniger rezipiert wurden als die langjährigen Leiter der einzelnen Schulen, deren Auslegungen uns aber verloren sind. Die Parallelen der Kommentare lassen sich aus diesem Grund auf gemeinsame Quellen zurückführen, die in den Texten keinesfalls immer genannt werden. Eine genaue Zuordnung einer Tradition zu einer Quelle ist daher meist nicht möglich, da die meisten der Quellen verloren sind. Um welche Quellen es sich handelte, ist jedoch im Prinzip bekannt, wie die folgende Vorstellung der vier Hauptquellen deutlich macht. Ihre Benutzung durch mehrere Kommentatoren dürfte die meisten Übereinstimmungen der verschiedenen Kommentare erklären können. Der Peripatetiker Alexander von Aphrodisias (um 200)79 schrieb nicht nur die erhaltene, von Aristoteles inspirierte Schrift „Über die Seele“, sondern auch einen verlorenen Kommentar zu Aristoteles’ &GCPKOC80. Dieser Kommentar scheint für die künftige Kommentierungstätigkeit geradezu kanonische Bedeutung gehabt zu haben und wird von allen erhaltenen Kommentatoren häufig zitiert. Das Ausmaß dieser Zitation lässt sich allerdings nur gelegentlich sicher erheben, wenn entweder sein erhaltenes „Über die Seele“, das zumindest Philoponos ebenfalls benutzte81, Alexanders namentliche Erwähnung oder eine Parallele bei Themistios auf Alexanders Einfluss hindeuten. Die zweite gemeinsame Quelle ist die erhaltene &GCPKOC-Paraphrase des Themistios (um 317-388)82. Dieser Text war allen drei Kommentatoren bekannt83, wobei es im Falle Priskians unklar ist, ob er die erhaltene Paraphrase benutzt hat: An der einen Stelle, an der er Themistios erwähnt84, könnte er dessen Meinung aus Plutarch kennen, der im gleichen Zusammenhang genannt wird. Wichtig ist an einigen Stellen der Vergleich der Kommentare mit Themistios’ Paraphrase, um festzustellen, ob eine bestimmte Textauslegung spezifisch neuplatonisch ist oder nicht. Wo
_____________ 79 Zur Einführung in Alexander vgl. Sharples 1987. 80 Eine Sammlung der Fragmente existiert nicht, doch listet Moraux 2001, 317-385 die Bezeugungen von Alexanders Kommentar auf (vgl. auch Sharples 1987, 1186) und diskutiert die Schrift „Über die Seele“. 81 Philop. in an. 159, 18-20; vgl. Steph. in an. 464, 20f. 82 Die beste Zusammenstellung der Belege zu Leben und Werk ist wohl Seeck 1906, 291-307; vgl. auch Schroeder/Todd 1990, 33f. 83 Vgl. die Namensregister der Werkausgaben. 84 Prisc. in an. 151, 19.
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Themistios mit den späteren Kommentatoren übereinstimmt, muss entweder er selbst oder Alexander die Quelle sein, so dass es sich nicht um eine Innovation der Neuplatoniker handeln kann. Eine solche ist in den meisten Fällen wohl auf Plutarch von Athen (ca. 350-432)85 zurückzuführen, den ersten bekannten neuplatonischen &G CPKOC-Kommentator (wobei es unklar ist, ob er mehr als Buch III kommentiert hat)86. Seinen Einfluss bekommen wir dort zu fassen, wo seine Ansichten ausdrücklich genannt werden, was aber meistens nur dann der Fall ist, wenn die erhaltenen Kommentatoren sie ablehnen. Plutarchs Einfluss kann daher stets dort vermutet werden, wo eine Interpretation eindeutig neuplatonische Züge aufweist, z.B. wenn Philoponos auf die Begründung der aristotelischen Regeln zur Feststellung der Transzendenz der Seele abhebt87. Der bedeutendste Beitrag des Plutarch ist jedenfalls seine Lehre, dass Aristoteles in &G CPKOC nur den einen menschlichen Geist beschreibe, der zeitweise noetisch denke und zeitweise nicht88. Diese Lehre haben alle erhaltenen späteren griechischen Kommentatoren übernommen. Eine letzte gemeinsame Quelle der Kommentatoren ist wohl Ammonios, der Sohn des Hermias (437/50-nach 517), der im 5. und 6. Jahrhundert an die 40 Jahre lang in Alexandrien Vorlesungen über die aristotelischen Schriften gab89. Philoponos’ Kommentar ist wohl eine bearbeitete Variante einer Mitschrift aus einer derartigen Vorlesung, und auch Stephanos kennt Ammonios’ Auslegung90. Auf ihn geht wohl die Unterscheidung von vier grundsätzlichen Interpretationsmöglichkeiten von Aristoteles’ aktivem Geist zurück, die wir bei beiden Autoren finden91. Ob auch Priskian Ammonios’ Auslegung kannte, wissen wir nicht, doch ist es gut möglich, dass er, ebenso wie Simplikios und Philoponos, bei ihm in Alexandrien eine Zeitlang studiert hat. Auch Ammonios’ Einfluss auf alle erhaltenen Kommentare lässt sich nur selten feststellen, da wir meist nicht wissen, worin sich seine Ansichten von seinen Vorgängern unterschieden.
_____________ 85 86 87 88 89 90 91
Zu seiner Person vgl. Westerink 1968, XXVI-XXX. Taormina 1989, 159-165; Blumenthal 1996, 56f. S. u. S. 64-69. S. u. S. 134f. Dazu Westerink 1990, 326-328, erneut diskutiert von Perkams, im Druck a. S. u. S. 30. 35-40. 142f. S. u. S. 134f.
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2. Übersetzung und Behandlung griechischer Termini Ein besonderes Problem für die Erklärung von spätantiken Texten unter heutigen Umständen stellt ihr reiches und relativ präzises begriffliches Arsenal dar, das aufgrund seiner langen Geschichte zahlreiche Implikationen und Ambivalenzen hat, die für den Leser nicht offenkundig sind. Auch jemand, der des Griechischen mächtig ist, wird besonders Priskians Kommentar häufig missverstehen, wenn er ihn nur mit einer Kenntnis des aristotelischen Vokabulars liest. Denn dieses wird hier auf der Grundlage einer Umdeutung verwendet, die es im Laufe von 600 Jahren Interpretation und 300 Jahren Neuplatonismus erhalten hat. Um diesem Problem zu begegnen, werden in der vorliegenden Untersuchung die griechischen Begriffe durchgehend in einer Weise übersetzt, die der Bedeutung nahekommen sollen, die das jeweilige Wort an der betreffenden Stelle des Kommentars hat. Als Richtlinie dienen dabei Übertragungen, die in einer Arbeitsgruppe zur Übersetzung der griechischen Kommentare zur aristotelischen Geistlehre ins Deutsche gewonnen wurden, deren Veröffentlichung in Vorbereitung ist92. Folgende Übersetzungen sind besonders erläuterungsbedürftig: ȥ Ƒ˝Ƴ̄Ƣ wird in der Regel mit „Sein“ und seltener mit „Substanz“ übersetzt. Bei den Neuplatonikern bezeichnet der Begriff die Art und Weise, auf welche Art ein einzelnes Element innerhalb der neuplatonischen Seinshierarchie existiert; Dasein und Sosein bzw. Existenz und Essenz werden dabei nicht unterschieden93. In diesem Sinne „ist“ jeder Gegenstand nicht absolut, sondern abhängig von seinem Verhältnis zu den transzendenten Formen bzw. Ideen, die als einzige wahres „Sein“ haben. Wo eine derartige bestimmte Art zu sein gemeint ist, wird häufig „Seinsform“ übersetzt. Das Substanz-Sein der körperlichen Gegenstände ist nur die unterste Art, auf diese Weise zu „sein“, weswegen die aristotelische Bedeutung „Substanz“ in den meisten Fällen nicht als Übersetzung gewählt wurde94. – ʫƮ̀ƱƤƦƪƢ ist die dem jeweiligen Sein entsprechende „Aktivität“ eines Gegenstandes, wobei die Übereinstimmung von Sein und Aktivität zunimmt, je höher ein Objekt in der Seinshierarchie steht; die Ideen sind
_____________ 92 Busche (Hrsg.), im Druck. 93 Das geschah in klarer Weise erst durch die arabische Unterscheidung von YWþijF (= Existenz) und JCSĄSC bzw. OÞJK[[C (= Essenz). Vgl. z.B. die wirkungsgeschichtlich bedeutsamen Texte Avicenna metaph. I 5 (I, 31, 10-32, 5 Madkur; dt. Avicenna 1907, 48-50) und VIII 4 (II, 344, 8-347, 16 Madkur; dt. Avicenna 1907, 499-504). 94 Auf die Debatte über die Bedeutung von ư˝Ƴ̄Ƣ in Aristoteles’ Kategorienschrift und ihren neuplatonischen Interpreten wird in dieser Arbeit nicht explizit Bezug genommen. S. o. S. 18 mit Anm. 64.
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so, dass sie ununterbrochen aktiv sind. Seltener wird das Wort im aristotelischen Sinn der Verwirklichung einer Möglichkeit verstanden. – ƏưͨƲ wird mit Geist übersetzt, während alle der gleichen Wurzel entstammenden Begriffe (ƮưƦ͙Ʈ,Ʈưƨƴ̆Ʈ,ƮưƦƱ̆Ʈ,Ʈ̆ƨƳƪƲusw.) durch Denken bzw. ein von diesem Stamm abgeleitetes deutsches Wort wiedergegeben werden. Auf diese Weise soll besonders dem Faktum Rechnung getragen werden, dass Aristoteles und die Kommentatoren ebenso wie die Philosophen jeder Epoche zu erklären versuchen, was es heißt zu denken. Welche Besonderheiten ihr Ansatz hat, soll dabei die Interpretation klären. Generell wurde sehr häufig einer deutschen Übersetzung in Klammern das griechische Äquivalent hinzugefügt, nicht nur beim ersten Auftreten eines Begriffs. Für den Kenner des Neuplatonismus zeigen die griechischen Begriffe, welches Konzept hier gerade thematisiert wird, ohne dass der deutschsprachige Leser damit unmittelbar belastet wird.
II. Die Aristoteles-Interpretation der Kommentatoren A. Aristoteles’ Seelenlehre in der Diskussion: Johannes Philoponos’ Kommentar zu &GCPKOC
1. Einleitung Beginnen möchte ich mit dem &G CPKOC-Kommentar, der landläufig als Werk des Johannes Philoponos bezeichnet wird. Der vollständige in den Handschriften überlieferte Titel „Schulmitschriften zu Aristoteles’ ,Über die Seele‘ von Johannes von Alexandrien aus den Seminaren des Ammonios, Sohn des Hermias, mit einigen eigenen Ergänzungen“1 verrät nämlich, dass dieser Kommentar Ansichten zweier verschiedener Philosophen enthält: Philoponos’ Auslegung fußt – in noch näher zu bestimmender Weise – auf der des Ammonios, Sohn des Hermias, der bestimmenden Figur in der neuplatonischen Aristotelesauslegung. Insofern kann man hoffen, durch Philoponos’ Werk einen Einblick in die &GCPKOC-Deutung zu erhalten, die den Ausgangspunkt der Bemühungen aller hier zu besprechenden Autoren darstellt. Zudem gilt die in diesem Kommentar zu findende Auslegung, wie in der Einleitung bereits kurz erwähnt, als recht textnah. Auch deswegen bietet es sich an, an seinem Beispiel die Grundlinien der spätantiken Deutung von &GCPKOC im Verhältnis zum kommentierten Text darzulegen, bevor die beiden anderen erhaltenen Werke betrachtet werden. Einleitend ist dabei zunächst das Verhältnis von Ammonios und Philoponos anhand ihrer erhaltenen Werke zu besprechen.
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ˉƹ˾ƮƮưƵʝƬƦƯƢƮƥƱ̀ƹƲƦˁƲƴ́ƮƒƦƱ̃ƸƵƷ͋ƲʝƱƪƳƴưƴ̀ƬưƵƲƳƷưƬƪƫƢ̃ʕÝưƳƨƭƦƪ̊ƳƦƪƲʟƫƴͲƮ ƳƵƮưƵƳ̄ƹƮʝƭƭƹƮ̄ưƵƴưͨʬƱƭƦ̄ưƵƭƦƴ˾ƴƪƮƹƮˁƥ̄ƹƮʟÝƪƳƴ˾ƳƦƹƮ. Philop. in an. 1 titulus. Angesichts dieses Titels überrascht die Behauptung von Moraux 2001, 323, es lasse sich nicht nachweisen, dass Ammonios &GCPKOC kommentiert habe.
Johannes Philoponos
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Ammonios Hermeiou Ammonios, Sohn des Hermias, war von Geburt an in die neuplatonische Schultradition integriert, die in Athen und Alexandrien gepflegt wurde: Sein Vater studierte zusammen mit dem wesentlich bekannteren Proklos in Athen, bevor er seine eigene Lehrtätigkeit in Alexandrien aufnahm2; dort lernte er mit Sicherheit bei Syrian, Proklos’ Vorgänger in der Leitung der Athener Schule3, und vielleicht auch schon bei dessen Lehrer Plutarch, der die dortige neuplatonische Schule neu begründete und den ersten neuplatonischen &G CPKOC-Kommentar verfasste, von dem wir wissen. Ammonios selbst studierte in Athen bei Proklos, bevor er die Arbeit seines Vaters in Alexandrien fortführte4. Obwohl Ammonios also tief in der neuplatonischen Schultradition verwurzelt war, hat man vermutet, dass er gegenüber einer zu ausgeprägten Metaphysik skeptisch gewesen sei und einige Kritikpunkte am Christentum zu entschärfen gesucht habe5. Seine Zeitgenossen sahen jedenfalls sein Verdienst vor allem in der Auslegung des Aristoteles sowie in den naturwissenschaftlichen Disziplinen der Geometrie und Astronomie6. Es kann als sicher gelten, dass er die Tradition der Aristoteles-Auslegung in Alexandrien bis ins 7. Jahrhundert hinein wesentlich prägte. Umso bedeutender ist es, genauer einordnen zu können, inwieweit seine AristotelesDeutung von neuplatonischen Voraussetzungen bestimmt war. Der Untersuchung seiner &GCPKOC-Auslegung, die uns nur innerhalb von Philoponos’ Kommentar überliefert ist, kommt dabei deswegen eine besondere Rolle zu, weil diese Schrift des Aristoteles nicht nur streng naturwissenschaftliche Fragen berührte (die nach Meinung der Neuplatoniker ohnehin am besten von Aristoteles dargelegt wurden), sondern auch die Seelenlehre als ein zentrales Interessengebiet auch der platonischen Philosophie. Johannes Philoponos Eine ganz andere Persönlichkeit ist Ammonios’ berühmtester Schüler Johannes von Alexandrien, besser bekannt als Johannes Philoponos oder
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Zu Hermias Dam. vit. Isid. 74 (100, 7-12); Westerink 1990, 325. Zur Geschichte der neuplatonischen Schule im Athen des 5. Jhdts. Westerink 1968, IX-LIV. Dam. vit. Isid. 127 (109, 9-11); Westerink 1990, 326f. Verrycken 1990a. Dam. vit. Isid. 79 (110, 2).
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Aristoteles-Interpretation
Johannes der Grammatiker7. Er ist einer der schillerndsten und am schwersten zu fassenden Autoren der Spätantike, der nicht nur als Philosoph hervortrat, sondern auch als Naturwissenschaftler und christlicher Theologe sowie als Grammatiker und Astronom. Sein überliefertes Werk enthält zahlreiche Widersprüche: Seine Aristoteles-Kritik nahm wichtige Erkenntnisse der Philosophiegeschichte um Jahrhunderte vorweg, andererseits zeigt ihn ein sehr großer Teil des von ihm erhaltenen Schrifttums als einen Kommentator, für den der Stagirite eine unzweifelhafte Autorität darstellte. Die Brillanz seiner Naturphilosophie kontrastiert in auffälliger Weise mit einer recht dürftigen Leistung als Logiker8. Diese Breite und Unausgewogenheit von Philoponos’ Werk kann bis heute nicht sicher gedeutet werden. Eine Erklärung ist nicht zuletzt deswegen schwierig, weil wir sowohl über Philoponos’ Leben als auch über seinen geistigen Hintergrund, den philosophischen Schulbetrieb im damals schon weitgehend christlichen Alexandrien, nur wenige Informationen besitzen9. Als sichere Daten sind bekannt, dass er um 529 die Streitschrift „Über die Ewigkeit der Welt gegen Proklos“ (&GCGVGTPKVCVGOWPFKEQPVTC 2TQENWO) verfasste10, wohl zwischen 551 und 565 in vorgerücktem Alter einen Brief an Kaiser Justinian schrieb11 und 567 oder später die theologische Schrift „Gegen Themistios“ veröffentlichte12. Aufgrund der Voraussetzung, dass sein 2J[UKM-Kommentar, der wohl nicht seine erste Schrift war, um 517 verfasst wurde, nehmen die meisten Autoren an, dass er gegen 490 geboren wurde13. Allerdings bezieht sich das im 2J[UKMKommentar genannte Datum 10. Mai 517 wohl auf eine Vorlesung des Ammonios, die die Grundlage für Philoponos’ Kommentar bildete14; Philoponos’ Bearbeitung dieser Vorlesung wird man daher zwischen 529 und 534 ansetzen können, d.h. nach &GCGVGTPKVCVGOWPFKEQPVTC2TQENWO15 und
_____________ 7 8 9 10 11 12 13 14 15
Diese Namensform wird besonders in arabischen Quellen bevorzugt; vgl. aber auch Suda s.v. ˉƹ˾ƮƮƨƲƅƱƢƭƭƢƴƪƫ̆Ʋ (2, 649, 15 Adler). Diese Beobachtung macht Ebbesen 1990, 445. Überblicksdarstellungen von Philoponos’ Leben und Werk finden sich bei Saffrey 1954; Sorabji 1987; Verrycken 1990b; Verrycken 1994, 40-63; Scholten 1996, 118-143; Verrycken 1998. Philop. aet. mund. 16, 4 (579, 14-17); vgl. Scholten 1996, 121. Scholten 1996, 58 mit Anm. 212. Chadwick 1987, 55. Saffrey 1954, 401-403. Das habe ich begründet in Perkams, im Druck a. Wie Koenraad Verrycken beobachtet hat, vertritt Philoponos im 2J[UKM-Kommentar weiter entwickelte Positionen als in &GCGVGTPKVCVGOWPFK (Verrycken 1990, 241-254). Ich schreibe diese aber nicht, wie Verrycken, einer zweiten Redaktion des Kommentars durch Philoponos zu, sondern halte seine „erste Redaktion“ für den Text einer Mitschrift aus Ammonios’ 2J[UKM-Vorlesung von 517. Die Begründung dafür liefert Perkams, im Druck a.
Johannes Philoponos
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vor Simplikios’ Antwort auf Philoponos’ spätere Schrift %QPVTC #TKUVQVG NGO16. Man braucht daher Philoponos’ Geburt nicht in die Zeit vor 500 zu verlegen und kann seine Lebensdaten auf ca. 500-575 schätzen. Es gibt keine Hinweise darauf, dass er in dieser Zeit Alexandrien jemals verlassen hätte. Nicht weniger unklar als Philoponos’ Biographie ist seine berufliche und schriftstellerische Entwicklung: Wir kennen ihn als Autor17 von mindestens sieben Aristoteles-Kommentaren. Des Weiteren besitzen wir von ihm eine Schrift zur Widerlegung von Proklos’ Argumenten für die Ewigkeit der Welt, der weitere Schriften gefolgt sind, mit denen Philoponos Grundannahmen der platonischen und aristotelischen paganen Philosophie aus christlichen Prinzipien heraus widerlegen wollte. Von diesen Schriften, deren Argumente Philoponos’ philosophische Bedeutung in erster Linie ausmachen, ist wenig erhalten. Von seiner vielfältigen Lehr- und Forschungstätigkeit an der (Hoch-)Schule von Alexandrien zeugen verschiedene Schriften zur Medizin, Grammatik und Astrologie. In seinem letzten Lebensdrittel hat sich Philoponos vorwiegend mit theologischen Fragen beschäftigt, wobei er sich bemühte, den alexandrinischen Monophysitismus zu verteidigen18. Diese vielfältige schriftstellerische Produktion weist darauf hin, dass Philoponos nicht einfach PhilosophieProfessor gewesen ist; sein verbreiteter Beiname „der Grammatiker“ bzw. „Philologe“ (˒ƅƱƢƭƭƢƴƪƫ̆Ʋ) deutet an, dass er seine erste Ausbildung in diesem Fachgebiet erhielt. Vielleicht hatte er auch eine Art Lehrstuhl für Grammatik inne und ging von dieser Position aus seinen verschiedenen Interessen nach19. Diese Vermutungen können aber das Hauptproblem der PhiloponosForschung nicht lösen, nämlich dass sich in seinen Werken gegensätzliche Standpunkte zu einigen Lehren der neuplatonischen Philosophie finden. Da man sich heute einig ist, dass Philoponos von Kindheit an ein Christ gewesen ist, wie es sein Vorname Johannes nahe legt20, scheidet die Annahme, dass Philoponos nach seiner Bekehrung vom Heidentum zum
_____________ 16 Simplikios kritisiert Philoponos’ %QPVTC#TKUVQVGNGO in seinen Kommentaren zu Aristoteles’ &GECGNQ und zu dessen 2J[UKM, wobei letzterer nach dem Tod des Damaskios 538 entstanden ist (Hadot 1987, 22). Da %QPVTC#TKUVQVGNGO nach Philoponos’ 2J[ UKM-Kommentar, aber vor seinem /GVGQTQNQIKG-Kommentar entstanden ist (Wildberg 1987, 206f.), ist das Werk wohl noch in die erste Hälfte der 530er Jahre zu datieren. 17 Die aktuellste Liste von Philoponos’ Schriften findet sich bei Scholten 1996, 429-435; sie ist eine ergänzte Übersetzung der bei Sorabji (Hrsg.) 1987, 231-235 vorliegenden Liste. 18 Zu Philoponos’ Theologie vgl. Chadwick 1987. 19 Saffrey 1954, 403; vgl. Simpl. in cael. 26, 21-23 und dazu Verrycken 1990b, 250 Anm. 103. 20 Definitiv gezeigt von Saffrey 1954.
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Christentum begonnen habe, eine dezidiert christliche, antineuplatonische Philosophie zu betreiben, aus. Im Moment gibt es zwei rivalisierende Erklärungsmodelle für die Wendung in den Interessen des Philoponos: K. Verrycken unterscheidet einen neuplatonischen Philoponos 1 von einem an christlichen Lehren orientierten Philoponos 2. Die Grenze beider Ansätze markiert für ihn das Jahr 529 mit der Abfassung von „Die Ewigkeit der Welt gegen Proklos“: Vor diesem Datum sei Philoponos Neuplatoniker gewesen, danach sei er dazu übergegangen, diese Philosophie vom christlichen Standpunkt aus zu widerlegen. Als Grund für diese Wendung nimmt Verrycken mit späten arabischen Quellen Opportunismus an. Clemens Scholten meint dagegen, die Einheit des Lebenswerkes des Philoponos dadurch retten zu können, dass er die Aussagen der einzelnen Texte von der jeweiligen Gattung abhängig macht. Interpretatorische Probleme in Philoponos’ Aristoteles-Kommentaren Ein Urteil über diese Debatte hängt entscheidend davon ab, wie man Philoponos’ Aristoteles-Kommentare bewertet. Anhand ihrer versucht Scholten, das Ungenügen von Verryckens These darzulegen: In diesen Kommentaren habe Philoponos die Meinung des Aristoteles wiedergeben wollen, wie er sie aus seiner neuplatonischen Bildung heraus verstanden habe. Seine eigene Meinung finde man daher nur dort, wo persönliche Exkurse vorliegen; der Rest – also im Prinzip Verryckens „Philoponos 1“ – sei schlichtweg Aristoteles-Interpretation, die nie Philoponos’ eigene Meinung gewesen sei. Scholten kann für seine Ansicht gewichtige Argumente anführen: So muss Verrycken, um seine chronologische Einteilung aufrecht zu erhalten, schwer beweisbare textgeschichtliche Zusatzhypothesen annehmen, etwa eine verlorene Redaktion des 8. Buches von Philoponos’ 2J[UKMKommentar oder eine verlorene Redaktion desselben Kommentars, dessen uns vorliegende Fassung eine Überarbeitung darstelle. Ferner kann die Annahme einer opportunistischen Abwendung des Philoponos vom Neuplatonismus einen so kompletten philosophischen Neuansatz, wie er in seiner Naturphilosophie sichtbar wird, sicherlich nicht erklären. Aber das Hauptproblem, dass Philoponos in einigen Werken fest auf dem Boden des Alexandriner Neuplatonismus steht und sich in anderen Werken gegen diese Richtung wendet, kann Scholten umso weniger erklären, als gerade Philoponos sich in den nicht-neuplatonischen Werken durch große formale und inhaltliche Originalität auszeichnet. Warum sollte er diese in seinen Aristoteles-Kommentaren so total zurückgestellt haben, dass er
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hier eine Philosophie unterrichtet, deren Inhalte er, seinen anderen Schriften nach zu schließen, offensichtlich für falsch hält? Eine mögliche Erklärung für die Unterschiede von Philoponos’ Aristoteles-Kommentaren zu seinen übrigen Schriften, die von Scholten nur am Rande berücksichtig wird, ist mit der eingangs zitierten Überlieferung gegeben, dass Philoponos’ Aristoteles-Kommentare, darunter der Kommentar zu &G CPKOC, aus Mitschriften von Vorlesungen seines Lehrers Ammonios hervorgegangen sind. Von seinen sieben AristotelesKommentaren erwähnen neben dem zu &GCPKOC noch drei weitere (zur ersten und zweiten #PCN[VKM sowie zu „Über Werden und Vergehen“ [&G IGPGTCVKQPG GV EQTTWRVKQPG]) im Titel, dass Philoponos einen ammonianischen Vorlesungstext überarbeitet hat21. Ein Beispiel für eine solche Überarbeitung scheint schließlich ein fünfter Kommentar darzustellen, nämlich die Auslegung der -CVGIQTKGP. In diesem Fall ist auch eine Mitschrift aus Ammonios’ Vorlesungen erhalten, die keine Veränderungen durch Philoponos erfahren hat. Ein Vergleich beider Texte durch Concetta Luna hat ergeben, dass eine Mitschrift aus einer Vorlesung des Ammonios, die der uns erhaltenen sehr ähnlich war, von Philoponos leicht verändert und vor allem ergänzt wurde, wobei in großem Maße traditionelles Material Verwendung fand22. Zum gleichen Ergebnis war bereits 1964 Leendert G. Westerink in Bezug auf Philoponos’ Kommentar zur Arithmetik des Nikomachos von Gerasa gekommen, die sich als Überarbeitung einer von Asklepios von Tralles angefertigten Mitschrift einer Ammonios-Vorlesung zu diesem Thema erwies23. Auf dieser Grundlage scheint die Arbeitshypothese sinnvoll, dass Philoponos für seine Aristoteles-Kommentare generell bereits vorliegende Mitschriften aus Vorlesungen des Ammonios zugrunde legte und diese bearbeitete, ergänzte und die hier vertretenen Meinungen gegebenenfalls korrigierte. Die in den Kommentaren zu findenden Ansichten, die Philoponos anderswo (manchmal im selben Werk) zurückweist, erklären sich dann als zumeist als Aristoteles-Interpretationen gedachte Meinungen des Ammonios, die Philoponos nur dort korrigiert, wo ihm eine kritische Auseinandersetzung angebracht zu sein scheint. An allen anderen Stellen blieb die Vorlage im Prinzip unverändert. Dabei kann man mit der bisherigen Forschung durchaus vermuten, dass Philoponos’ Eingriffe auch von dem Stand seiner eigenen, häufig aristoteleskritischen
_____________ 21 S. o. S. 30. 22 Luna 2001a, 355-358; vgl. dazu die Rezension Chiaradonna 2003, 193f.; ähnlich auch schon, mit knapperer Argumentation, Busse 1895, V-VIII. 23 Westerink 1964.
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Überlegungen abhängen24; dabei ist aber zu bedenken, dass Philoponos nicht notwendig jede eigene Erkenntnis überall dort ausführlich begründet, wo Aristoteles – und in seinem Gefolge Ammonios – etwas Gegenteiliges behauptet. Das Stehenbleiben von anderswo zurückgewiesenen Behauptungen muss demnach nicht bedeuten, dass Philoponos zum Zeitpunkt der Abfassung des jeweils infrage stehenden Kommentars seine Kritik gegen diese Ansichten noch nicht entwickelt hatte. Ammonios und Philoponos im &GCPKOC-Kommentar Unter diesen Voraussetzungen soll im Folgenden der &G CPKOCKommentar des Philoponos betrachtet werden. Für ihn ist ein Vergleich mit einer ammonianischen Vorlage nicht möglich. Als mögliches Indiz für eine Bearbeitung durch Philoponos hat William Charlton allerdings das Faktum benannt, dass die teilweise klare Struktur des Kommentars häufiger von langen Diskussionen verdunkelt wird, die später von Philoponos eingesetzt sein könnten25. Das Problem an dieser vorderhand plausiblen Annahme ist, dass sich Philoponos’ Aristoteles-kritische Ansichten, wie man sie zuerst in &GCGVGTPKVCVGOWPFK findet, in diesem Kommentar noch nicht beobachten lassen, weswegen er seit Alfred Gudeman als Frühwerk des Philoponos gilt26. Verrycken schreibt ihn deswegen als ganzen seinem „Philoponos 1“ zu, nimmt also keine spätere Bearbeitung des Kommentars an27. Dieser Ansicht hat Richard Sorabji widersprochen und an einigen Stellen des Kommentars Hinweise auf eine späte Überarbeitung durch Philoponos selbst vermutet28. In Anbetracht des Gesagten ist das jedoch wenig überzeugend: Wenn man in 339, 35 und 391, 32 tatsächlich Hinweise auf frühere Erklärungen der -CVGIQTKGP und der /GVGQTQNQIKEC sieht, können derartige Anspielungen auf den Vorlesungsbetrieb des Ammonios zurückgehen, der diese Werke in seinem Kurs vor &G CPKOC behandelte. Die Erwähnung des Schöpfergottes (330, 24: ˒ƩƦ̆Ʋ), die sich im längsten Exkurs des Werkes, einer Behandlung der Lichtthematik, findet, kann Philoponos problemlos vor seinem grundsätzlichen Wechsel zu christlichen
_____________ 24 Das ist auf klassische Weise für den 2J[UKM- und /GVGQTQNQIKG-Kommentar gezeigt worden von Évrard 1953, 303-345. 25 Charlton 1991, 12. 26 Nach Gudemans RE-Artikel (1916, 1769f.) akzeptierten namentlich Évrard 1953, 349 und Wolff 1971, 78-80 diese Meinung. 27 Verrycken 1990b, 256. 28 Sorabji 1990, 13.
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Positionen benutzt haben, wenn er an den neuplatonischen Demiurgen dachte (vgl. Tim. 30b). Auch eine weitere Korrektur des Philoponos an einer Vorlage, die Sorabji in seiner Diskussion des Geruchssinns festgestellt hat, lässt sich als Kritik des Philoponos an Ammonios deuten29. Ich werde daher im Folgenden entsprechend dem überlieferten Titel des Werkes davon ausgehen, dass Inkonsistenzen im &G CPKOC-Kommentar auf die Bearbeitung der ammonianischen Vorlage durch Philoponos’ zurückgehen und prüfen, ob diese Annahme mit dem erhaltenen Kommentar vereinbar ist. Weitere Einleitungsfragen Chronologisch lässt sich aus dem bis jetzt Gesagten schließen, dass der &G CPKOC-Kommentar ein Frühwerk des Philoponos ist, das vor seinen verlorenen „Vermischten Untersuchungen“ (5[OOKMVC \GVGOCVC) entstand, die ihrerseits vor dem 2J[UKM-Kommentar anzusetzen sind30. Wenn dieser, wie oben ausgeführt, erst nach 529 überarbeitet wurde, bildet dieses Datum den terminus ante quem für den &G CPKOC-Kommentar, der aber sicherlich einige Jahre vor dem 2J[UKM-Kommentar, also in der ersten Hälfte der 520er Jahre, in der vorliegenden Form entstanden sein wird. Freilich sind diese Überlegungen zunächst Hypothesen und sollen anhand der folgenden Textanalyse noch einmal überprüft und, wenn möglich, konkretisiert werden. Eine Schwierigkeit an Philoponos’ Kommentar zu &G CPKOC ist mit der textlichen Überlieferung gegeben: Zwar überliefern griechische Handschriften unter Philoponos’ Namen einen vollständigen Kommentar zu &G CPKOC, doch stammt der Kommentar zum dritten Buch offensichtlich nicht von Philoponos, sondern von einem anderen Autor31. Etwa die Hälfte von Philoponos’ eigenem Kommentar zum dritten Buch ist aber in einer lateinischen Übersetzung erhalten, die Thomas von Aquins Übersetzer Wilhelm von Moerbeke 1268 anfertigte. Diese Übersetzung ist jedoch nicht einfach zu benutzen: Wilhelm von Moerbekes Übersetzungsstil schließt sich so eng an das griechische Original an, dass er im Lateinischen grammatische Fehler (besonders fehlende Übereinstimmungen im grammatischen Geschlecht) zulässt. Deswegen ist sein Text häufig schwer verständlich. Zudem war, wie er selbst bezeugt, die griechische Handschrift,
_____________ 29 Sorabji 1991, 233f. 30 Sorabji 1987, 40. 31 Das stellt zum ersten Mal der Editor Michael Hayduck fest (1897, V); zur weiteren Diskussion um die Autorschaft des dritten Buches s. u. S. 237.
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die er für seine Übersetzung benutzte, nur mit Mühe lesbar32. All das führt dazu, dass Moerbekes lateinischer Text, wie ihn Gerard Verbeke herausgegeben hat, stellenweise gar keinen Sinn mehr ergibt. Aus diesem Grund hat William Charlton für seine englische Übersetzung des Textes zahlreiche Korrekturen übernommen, die der Moerbeke-Spezialist Ferdinand Bossier aufgrund seiner Kenntnis von Moerbekes Übersetzungsgewohnheiten vorgeschlagen hat33. Da sie den Text an vielen Stellen erst benutzbar machen, wurden sie für die vorliegende Arbeit komplett berücksichtigt. Wo ich Begriffe des lateinischen Texts zitiere, füge ich den anzunehmenden griechischen Originalbegriff hinzu, soweit er mit hinreichender Sicherheit zu ermitteln ist; dadurch soll die terminologische und inhaltliche Einheit der verschiedenen Teile von Philoponos’ Werk klarer herausgestellt werden. Forschungsstand zum Inhalt des &GCPKOC-Kommentars Wie nahezu alle neuplatonischen Aristoteles-Kommentare ist auch Philoponos’ &GCPKOC-Erklärung nur in groben Zügen erforscht. Am ausführlichsten ist das Werk von Henry Blumenthal, der auch für diesen Kommentar betont hat, dass die neuplatonischen Lehren in Philoponos’ Auslegung von Aristoteles’ eigener Position ganz verschieden sind34. Allerdings gibt Blumenthal zu, dass Philoponos zumindest versucht, Aristoteles’ Text ernstzunehmen, auch wenn er sich damit argumentativ in Schwierigkeiten begibt. „Als Ergebnis sind seine Erklärungen weniger kohärent als die von Pseudo-Simplikios, der sich nicht durch den Druck, sich dem Inhalt des kommentierten Textes anzupassen, von der Darlegung seiner eigenen neuplatonischen Ansichten abbringen lässt“35. Diese Bemerkung zeigt noch einmal deutlich die Folgen von Blumenthals hermeneutischer Voraussetzung eines scharf akzentuierten Gegensatzes zwischen neuplatonischer und aristotelischer Philosophie: Die Kommentare werden am aristotelischen Maß (wie es der moderne Interpret versteht!) gemessen und, entgegen Blumenthals Versicherung, nicht an der argumentativen Bedeutung ihrer eigenen philosophischen Position. Konsequenterweise werden die Inkohärenzen und Schwächen der Kommentare stark herausgestellt, während die Frage, ob ihre Anliegen möglicherweise
_____________ 32 In der Endnote zu seiner Übersetzung: Philop. in an. L 119, 66-120, 69. 33 Zu den Problemen, die Moerbekes Übersetzung bietet, Charlton 1991, 1-3. Eine Liste von Bossiers Korrekturen zu Verbekes Text gibt Charlton auf S. 135-139. 34 Vgl. zum Beispiel Blumenthals Beobachtung zu Philoponos’ Vorwort (1996, 74f.) oder zu seiner Auseinandersetzung mit Aristoteles’ Platon-Kritik (1996, 82f.). 35 Blumenthal 1996, 96.
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eine berechtigte Weiterentwicklung von Aristoteles’ Gedanken darstellen, erst gar nicht gestellt wird. Differenzierter ist der Ansatz des in der Einleitung genannten Artikels von Daniela Taormina. Sie betont nicht nur, dass neben dem neuplatonischen Denken auch die peripatetische Auslegung Alexanders einen starken Einfluss auf Philoponos’ Auslegung hat, sondern sieht den Kommentar generell gekennzeichnet „durch eine grundsätzliche Ambiguität, Oszillationen und Überlagerungen, die die ganz allgemeine Unsicherheit widerzuspiegeln scheinen, die ein doppeltes begriffliches Umfeld mit sich bringt, während sie sich nur schwer auf ein systematisches Raster zurückführen lassen“36. Während diese Interpretation den neuplatonischen Akzent bei Philoponos relativiert, den Blumenthal betont, stimmt sie hinsichtlich des eklektischen Charakters von Philoponos’ Interpretation mit diesem überein. In diesem Zusammenhang ist ferner zu beachten, dass Philoponos neben Alexander und den Neuplatonikern eine dritte Inspirationsquelle besaß, auf die Robert Todd aufmerksam gemacht hat. Er würdigt seinen &G CPKOC-Kommentar als „das beste Beispiel eines griechischen philosophischen Kommentars, der medizinische Ideen anwendet“37, und zeigt, dass Philoponos Kenntnisse, die er Galen oder dessen doxographischer Tradition verdankt, sowohl zur Erklärung aristotelischer Aussagen als auch für typisch neuplatonische Fragen verwendet38. Auch Richard Sorabji und Robert Wisnovsky haben einzelne Stellen des &G CPKOC-Kommentars diskutiert, ohne eine ausschließliche Abhängigkeit vom Neuplatonismus anzunehmen39. Methodische Vorbemerkungen Im Folgenden soll vor diesem Forschungsstand gefragt werden, inwieweit der Kommentar auf der Grundlage von Aristoteles’ Überlegungen eigene Ansichten zum Verhältnis von Leib und Seele entwickelt und welchen philosophischen Wert diese haben. Wenn die Begriffe Aristotelismus und Neuplatonismus immer wieder herangezogen werden, dient das der historischen und systematischen Einordnung der erkennbaren Positionen, ohne dass diese Chiffren als Wertung verstanden werden sollen. Eine solche kann nur als Einschätzung der systematischen Stringenz, der argumentativen Begründung und der Nähe zum interpretierten Text gegeben werden.
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Taormina 1994, 115. Todd 1984, 103. Todd 1984, 105-110. Sorabji 1991, 232-235; Wisnovsky 2003, 79-87.
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Dabei ist auf das durch die Überschrift vorgegebene Problem der Anteile des Ammonios und Philoponos am Kommentar besonders zu achten. Denn selbst wenn man annimmt, dass eine Mitschrift aus Ammonios’ Vorlesung von Philoponos bearbeitet wurde, ist immer noch völlig unklar, welchen Umfang beide Bearbeitungsstufen haben und wie man sie voneinander unterscheidet. Scholten hat anhand einiger Stellen des 2J[UKMKommentars verdeutlicht, dass das kriteriologische Problem hierbei beträchtlich ist40. Ich möchte dem kriteriologischen Problem hier nicht eigens nachgehen. Stattdessen gehe ich zunächst von Philoponos’ Autorschaft aus, notiere aber punktuell Stücke, die den Gedankengang des Kommentars unterbrechen oder Spannungen zum übrigen Text aufweisen; typisch sind etwa Passagen, die mit „es ist es wert zu untersuchen“ eingeführt werden. Inwieweit derartige Stücke jeweils dem Philoponos zugewiesen werden können, während die umgebenden Teile eine Meinung des Ammonios wiedergeben, diskutiere ich nur dort, wo meines Erachtens sinnvolle Argumente dafür vorliegen. Die dabei zutage tretenden Ergebnisse werden dann am Ende zu dem Versuch zusammengefasst, die jeweiligen Anteile des Ammonios und Philoponos näher zu bestimmen und die Positionen beider zumindest ansatzweise auseinanderhalten zu können. 2. Die Grundzüge der Seelenlehre nach der Einleitung des Kommentars Philoponos beginnt seinen Kommentar mit einer längeren Einleitung, die auch heute noch die wohl beste Darstellung und Begründung des neuplatonischen Menschenbilds darstellt, soweit dies auf Aristoteles’ Theorie der Seelenvermögen beruht. Aus diesem Grund eignet sie sich auch dazu, in die Fragestellung dieser Arbeit und in die sachlichen Probleme einzuführen, die mit diesem Menschenbild verbunden sind und zu denen die Kommentatoren Lösungen suchten. Formal weicht Philoponos’ Einleitung vom neuplatonischen Standardschema der Einleitung zu einem Kommentar merklich ab: Anstelle der sieben Punkte, deren Erörterung üblich ist (das Ziel des Werkes, sein Nutzen, seine Stellung im neuplatonischen Curriculum, der Grund für die Niederschrift, seine Echtheit als aristotelisches Werk, seine Gliederung und die hier behandelte philosophische Disziplin41), erörtert Philoponos
_____________ 40 Scholten 1996, 138-142. 41 Philop. in an. pr. 1, 7-10: ƳƫưÝ̆Ʋ, ƷƱ̂ƳƪƭưƮ, ƴ˾ƯƪƲ ʕƮƢƤƮ̊ƳƦƹƲ, Ƣˁƴ̄Ƣ ʟÝƪƤƱƢƶ͋Ʋ, Ʀˁ ƤƮ̂ƳƪưƮ ƴưͨ ƶƪƬưƳ̆ƶưƵ ƴ̅ ƣƪƣƬ̄ưƮ, ʲ Ʀ̄Ʋ ƴ˽ ƫƦƶ˾ƬƢƪƢ ƥƪƢ̄ƱƦƳƪƲ. ÝƱưƳƩ̂Ƴƹ ƥ˿ ƫƢ̃ ʩƣƥưƭưƮ, ˞Ý̅ Ýư͙ưƮ ƴ͋Ʋ ƶƪƬưƳưƶ̄ƢƲ ƭ̀ƱưƲ ʕƮ˾ƤƦƴƢƪ. Vgl. in cat. 1-3. Die Anordnung und die Listen der einzelnen Punkte schwanken in den Kommentaren, s. Westerink 1990, 341-348.
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fast ausschließlich inhaltliche Fragen: Im ersten Teil stellt er die verschiedenen Fähigkeiten bzw. Vermögen der menschlichen Seele dar und diskutiert deren Abgrenzung voneinander sowie ihre Einheit (1, 5-9, 2). Im zweiten Teil der Einleitung fragt er, ob die Seele körperlich oder unkörperlich ist (9, 3-20, 22). Lediglich am Ende der Einleitung wird eine der Standardfragen behandelt, nämlich die Gliederung von &GCPKOC: Das erste Buch diskutiert ihm zufolge die Meinungen von Aristoteles’ Vorgängern, die akzeptiert oder zurückgewiesen werden. Das zweite Buch behandelt dann die nicht rationalen Seelenvermögen, während sich das dritte mit der rationalen Seele und ihren Vermögen befasst (20, 23-21, 7). Dieselbe Gliederung wird auch in Priskians Einleitung skizziert, während uns von Stephanos hierzu nichts überliefert ist. Von den Punkten, die Philoponos nicht explizit behandelt, ist besonders das Ziel bzw. Thema (ƳƫưÝ̆Ʋ) von &G CPKOC bemerkenswert, denn das Thema einer Schrift war nach den Regeln der spätantiken Hermeneutik wichtig, um einzelne Passagen korrekt zu verstehen. Bei der Interpretation von &GCPKOC III 5 tut Philoponos das auch selber, so dass das Fehlen der Zielangabe in der Einleitung besonders überrascht42. a. Die verschiedenen Fähigkeiten der Seele (1, 1-8, 15) Philoponos stellt als erstes die verschiedenen Seelenvermögen (ƥƵƮ˾ƭƦƪƲ ƴ͋ƲƸƵƷ͋Ʋ) dar, wobei sowohl eine grundsätzliche Treue zur aristotelischen Psychologie als auch gewisse Unterschiede erkennbar sind. Zunächst unterscheidet Philoponos rationale (ƬưƤƪƫƢ̄) und nicht rationale (ʙƬưƤưƪ) Vermögen sowie innerhalb dieser Klassen Lebens- und Strebens- (ƧƹƴƪƫƢ̃ ƫƢ̃ˑƱƦƫƴƪƫƢ̄) sowie Erkenntnisvermögen (ƤƮƹƳƴƪƫƢ̄)43. Die rationalen Erkenntnisvermögen sind Meinen (ƥ̆ƯƢ), diskursives (ƥƪ˾ƮưƪƢ) und noetisches Denken bzw. Geist (ƮưͨƲ)44, die rationalen Strebevermögen sind Wille (ƣư̈ƬƨƳƪƲ) und wählende Entscheidung (ÝƱưƢ̄ƱƦƳƪƲ)45. Nicht rationale Erkenntnisvermögen sind Sinneswahrnehmung (Ƣ˅ƳƩƨƳƪƲ) und Vorstellungskraft (ƶƢƮƴƢƳ̄Ƣ)46, nicht rationale Strebevermögen Begehren (ʟÝƪƩƵƭ̄Ƣ) und Zorn (ƩƵƭ̆Ʋ)47. Daneben gibt es die vegetativen Vermögen (Ƣ˂ ƶƵƴƪƫƢ̄), das Nähr-, das Wachstums- und das Zeugungsvermögen
_____________ 42 43 44 45 46 47
S. u. S. 135. Philop. in an. 1, 1-13. Philop. in an. 1, 14f. Philop. in an. 5, 24f. Philop. in an. 5, 35. Philop. in an. 6, 11.
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Aristoteles-Interpretation
(ƩƱƦÝƴƪƫ́ Ƣ˝Ưƨƴƪƫ́ ƤƦƮƮƨƴƪƫ̂)48, die offenbar nicht in Strebe- und Erkenntnisvermögen aufgeteilt werden49. Für die Interpretation dieser Liste ist zu beachten, dass Philoponos’ Terminologie fast durchweg aristotelisch ist, dass die Liste aber, wie Jan Opsomer gezeigt hat, nahezu vollständig das bei Proklos ermittelbare System der Seelenvermögen reproduziert50, das aufs Ganze gesehen recht einheitlich und konstant ist51. In Anbetracht der Tatsache, dass Ammonios ein direkter Proklos-Schüler war, überrascht diese Nähe zu Proklos nicht. Die entscheidende Frage ist jedoch, inwieweit der proklische Einfluss die Aristoteles-Interpretation von vornherein einseitig determiniert52. Die Erkenntnisvermögen der rationalen Seele Das Meinen (ƥ̆ƯƢ) Wenn Philoponos das Meinen eindeutig dem rationalen Seelenteil zuweist, folgt er grundsätzlich dem aristotelischen Ansatz. Denn dieser hatte das Meinen ebenso wie das Wissen (ʟưƩƳƴ̂ƬƧ) und die Klugheit (ƶƱ̆ƭƧƳƩƲ) der rationalen Seele (III 3, 427b 8-11. 24-26; 428a 18-28) zugeordnet, während Platon es durch die Aussage, das wir „durch Meinen zusammen mit nicht rationaler Sinneswahrnehmung“ (Ƥ̆Ʈ͉ Ƭƥƴ’ ơˁƳƨ̂ƳƥƹƲ ʕƫ̆ƣƯƵ. 6KOCKQU 28a) die sinnlich wahrnehmbare Welt erkennen, eng an die Sinneswahrnehmung gebunden ist. Im neuplatonischen Kontext erinnert die von Philoponos vorgenommene Einordnung eher an Proklos als an Plotin. Denn während dieser das Meinen als eine höhere Art der Vorstellungskraft, also als ein nicht rationales Vermögen, ansah53, stellte Proklos selbst bei der Interpretation des 6KOCKQU den rationalen Charakter des Meinens heraus. Anders als die Sinneswahrnehmung erfasse es das Sein bzw. die Substanz einer Sache (Ư˝Ƴ̄ơ), wenn es auch die Gründe für dieses Wissen nicht angeben könne54. Während Proklos aber davon auszugehen scheint, dass das Meinen nicht die Art bzw. Gattung eines Objekts erkennt, son-
_____________ 48 Philop. in an. 6, 26f. 49 Vgl. die Übersicht bei Opsomer 2006, 145. 50 Opsomer 2006, 144f. Für den Kommentar wurde die Nähe zu Proklos zuerst festgestellt von Steel 1978, 19 mit Anm. 60. 51 Vgl. Lautner 2002, 268 zum Verhältnis von ƶƢƮƴƢƳ̄Ƣ und ƥ̆ƯƢ. 52 Die hieran anschließende Frage, inwieweit auch Proklos’ eigenes Konzept aristotelisch ist, kann hier nicht weiter verfolgt werden. 53 Plot. enn. III 6, 4, 18-23; vgl. Blumenthal 1971, 43f. 92f. 54 Procl. in Tim. 1, 223, 16-224, 4; 1, 248, 11-22. Der gesamte Abschnitt über die ƥ̆ƯƢ geht von 248, 7 bis 252, 15.
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dern dieses als Individuum, schreibt ihm Philoponos, wohl im Anschluss an &GCPKOC II 5, 417b 22-2555, auch die Erkenntnis allgemeiner Aussagen zu, während Einzeldinge ihm zufolge von der Sinneswahrnehmung unterschieden werden. Allerdings geht er nicht so weit, den sinnlich erkennbaren Bereich auch auf allgemeine Objekte auszudehnen, wie Aristoteles dies in den #PCN[VKEC RQUVGTKQTC tut (II 19, 100a 15-18)56, worin ihm auch ein anonymer neuplatonischer Kommentator im Prinzip folgt57. Andererseits nimmt Philoponos nicht nur an, dass das Meinen allgemeine Konzepte sinnlich wahrnehmbarer Objekte erkennen kann, sondern er schreibt ihm auch die Kenntnis der Ergebnisse logischer Schlussfolgerungen zu, die eigentlich dem diskursiven Denken zuzuweisen wären (ƴͲƭ ƤƩơƭƯƧƴͲƭ ƴ˽ ƳƵƬưƥƱ˾ƳƬơƴơ)58. Als Beispiele nennt er Sätze wie, dass jeder Mensch zwei Füße hat oder dass die Seele unsterblich ist59. In den Fällen, die sich auf sinnliche Wahrnehmung stützen, nimmt er zudem an, das Meinen könne bereits aus nur einem vorliegenden Fall auf die Artnatur eines Dinges und seine Eigenschaften schließen60; er setzt also nur ein Minimum an Erfahrung für das Bilden einer Meinung voraus. Der Begründung dieser Ansicht widmet Philoponos seinen ersten als persönliche Stellungnahme gekennzeichneten Exkurs61. Dort führt er aus, dass uns in jedem Fall die sinnlich wahrgenommenen Einzeldinge dazu anregen, eine Meinung zu bilden, und zwar indem sie Gehalte (ƫ̆ƣƯƩ) in Erinnerung rufen, die in der Seele vorhanden sind, aber bisher nicht angewandt werden konnten, da sie „wie der Funke in der Asche“ verschüttet waren62. So könne man, wenn der Funke, z.B. durch die Mitteilung eines Lehrers, wieder offengelegt worden sei, aus dem Anblick eines zweifüßigen Menschen auf die Zweifüßigkeit aller Menschen schließen. Rationale Erkenntnisse gewinne das Meinen hingegen aus dem Geiste oder dem diskursiv schließenden Denken, doch würden sie im Meinen gewusst63. Es überrascht nicht, dass Philoponos in dieser Würdigung der Anamnesis-Lehre mit seinen neuplatonischen Zeitgenossen übereinstimmt: Ganz ähnliche Aussagen finden sich in Olympiodors Kommentar zu Pla-
_____________ 55 56 57 58 59 60 61
Vgl. dazu Philop. in an. 307, 25-308, 2. Kahn 1992, 365. Philop. (?) in an. post. 437, 15-438, 2. Philop. in an. 4, 6-8. Philop. in an. 1, 15-20. Philop. in an. 5, 14-16. Philop. in an. 4, 4-5, 23, eingeleitet durch: ʙƯƪưƮ ƥ˿ Ƨƨƴ͋ƳƢƪ [...], Ý̆ƩƦƮ ƴ͌ ƥ̆Ư͉ ʲ ƤƮͲƳƪƲƴưͨƫƢƩ̆ƬưƵʟƮƴư͙ƲƢˁƳƩƨƴư͙Ʋ. 62 ˶Ʋ˒ʟƮƴ͌ƴ̀ƶƱ̾ƫƱƵÝƴ̆ƭƦƮưƲƳÝƪƮƩ̂Ʊ. Philop. in an. 4, 32. 63 Philop. in an. 4, 30-5, 23.
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Aristoteles-Interpretation
tons 2JCKFQP, der weithin die Ansichten des Proklos wiedergibt64, und in Proklos’ eigenem 6KOCKQU-Kommentar. Hier wird sowohl behauptet, das Meinen bringe, durch die Sinneswahrnehmung gereizt, die inhaltlichen Bestimmungen der seienden Dinge hervor (ưƱƯƢ˾ƫƫƥƩ ƴƯ̇Ʋ ƫ̆ƣƯƵƲ ƴͲƭ ˕ƭƴƹƭ)65, als auch, dass Meinungen auch über nicht begründete rationale Aussagen bestünden (ebenfalls unter Berufung auf Platon 5QRJKUVGU 264a)66. Obwohl auch unter Berücksichtigung dieser Parallelen Philoponos’ Annahme einer Induktion aus einem einzigen beobachteten Fall als seine persönliche Sondermeinung angesehen werden kann, ist sein in dem Exkurs herausgestelltes Interesse an der Anamnesis-Lehre bemerkenswert: Hier wird in einem Exkurs ein platonisches Element eingeführt, das nicht leicht mit dem aristotelischen Text vereinbar ist. Das diskursive Denken (ƥƪ˾ƮưƪƢ) Die beiden übrigen Formen rationaler Erkenntnis entsprechen im Prinzip dem schon bei Platon und Aristoteles zu findenden noetischen und dianoetischen Denken67. In &GCPKOC werden diese Konzepte aber nicht ausdrücklich unterschieden, sondern beide Begriffe scheinen allgemein die menschliche Vernunft zu bezeichen: An einigen Stellen bezeichnet ƥƪ˾ƮưƪƢ das rationale Erkenntnisvermögen im Allgemeinen (III 3, 427b 15; III 9, 432a 16), während in III 4-5 offenbar im selben Sinn ƮưͨƲ verwendet wird. Im Neuplatonismus wurde hingegen ein deutlicher Unterschied gemacht: Schon Plotin bezeichnete das diskursive Denken als die normale Bewusstseinsstufe des Menschen, während der noetisch denkende Geist eine höhere Seinsstufe bildete68. Da der späte Neuplatonismus diese Unterscheidung um das Meinen als unterstes rationales Seelenvermögen ergänzte, ergab sich die Dreiheit von Meinen, diskursivem und noetischem Denken. Dabei nimmt das diskursive Denken eine Mittelstellung ein und erkennt „mittlere“ Objekte69. Diese Mittelstellung bildet den Kernpunkt von Philoponos’ Exposée. Dass das diskursive Denken die alltägliche Aktivitätsform des menschli-
_____________ 64 Olymp. in Phaed. 11, 7, 2f.; zur Abhängigkeit dieses Kommentars von Proklos vgl. Westerink 1976, 28; Westerink 1977, 16. 65 Philop. in an. 5, 3-14 66 Procl. in Tim. 1, 223, 16-224, 4. Vgl. Philop. in an. 1, 20f. mit Procl. in remp. 1, 262, 25-29. 67 In der Terminologie von Oehler 1962. Vgl. zum noetischen Denken bei Platon jetzt z.B. auch Bearzi 2004. 68 Plot. enn. V 3, 3, 2. 20; s. u. S. 313f. 69 Procl. in Tim. 1, 247, 1f.; 1, 249, 4-7; vgl. auch 1, 223, 22-24.
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chen Geistes ist, betont er dadurch, dass er es analog zur Seele als ganzer beschreibt: Das diskursive Denken kann sowohl mit dem noetischen Geist aktiv sein als auch mit der Sinneswahrnehmung, wobei es ihm die erste Art der Aktivität durch Gewöhnung ermöglicht, auch selbst noetisch das Wesen der Dinge zu erkennen und so seine eigentliche Bestimmung zu erlangen70. Daher ist es Sache des diskursiven Denkens, die Ausrichtung der menschlichen Seele als ganzer darin zu bestimmen, ob sie sich nach oben zu den Ideen oder unten zur körperlichen Welt wendet71. Diese für den Neuplatonismus typische existentielle Deutung der Mittelstellung des diskursiven Denkens findet sich so bei Aristoteles nicht. Zwar erwähnt auch dieser das Wissen (ʟÝƪƳƴ̂ƭƨ) – das von den Neuplatonikern häufig als Synonym für diskursives Denken (ƥƪ˾ƮưƪƢ) verwendet wird – zusammen mit den Begriffen Meinen und Geist (III 3, 428a 4f.) und beschreibt es als begründetes, schließendes Wissen72. Insofern referiert Philoponos die aristotelische Aufteilung durchaus korrekt, wenn er, nicht anders als Proklos, sagt, dass das diskursive Denken die Ursachen für die durch das Meinen aufgefassten Gegenstände erkennen kann, etwa indem es aus der Fähigkeit der Seele zur Selbstbewegung auf ihre Unsterblichkeit schließt73. Die besondere Rolle des diskursiven Denkens für die menschliche Lebensführung ist dagegen nicht aristotelisch und weist auf die existentielle Perspektive hin, unter der die Neuplatoniker auch theoretische Texte aus dem Corpus Aristotelicum lasen. Der Geist (ƮưͨƲ) und seine Art des Denkens Jenseits des Meinens und diskursiven Denkens bildet Philoponos zufolge der Geist (ƮưͨƲ) die oberste Stufe der rationalen Erkenntnis, da er die Wahrheit als solche in einem einzigen Akt erfasse, so wie wir mit der Sinneswahrnehmung automatisch und unfehlbar erkennten, dass das, was wir sehen, weiß ist74. Das ist an sich kein neuer Gedanke, sondern in der platonischen und aristotelischen Epistemologie vorgezeichnet75. Im Neuplatonismus hatte allerdings das Konzept des Geistes eine eigene Relevanz gewonnen, insofern es als eine eigene Seinsstufe oberhalb der Seele angesehen wurde, in der die platonischen Ideen in gleichzeitiger Einheit und
_____________ 70 71 72 73
Philop. in an. 2, 21-3, 15. S. u. S. 383-385. An. post. I 33. II 19; zur Stellung der ʟÝƪƳƴ̂ƭƨ vgl. auch an. post. I 33, 89a 1. Philop. in an. 1, 21-2, 6; vgl. Procl. in Tim. 1, 248, 14f.; 1, 249, 1f. (der Kontext zeigt, dass Ƭ̆ƤưƲ hier synonym für ƥƪ˾ƮưƪƢ verwendet wird). 74 Philop. in an. 1, 14f.; 2, 7-17. 75 Vgl. z.B. Oehler 1962, 245-250.
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Aristoteles-Interpretation
Verschiedenheit enthalten waren76. Die Bemerkungen zum Geist in Philoponos’ Einleitung stellen diesen Aspekt jedoch nicht heraus, sondern wirken durchaus aristotelisch, insofern der menschliche Geist als Sitz der „allgemeinen Einsichten“ (ƫưƪƮƢ̃ ʩƮƮưƪƢƪ) beschrieben wird. Hierzu rechnet Philoponos z.B. den Satz vom ausgeschlossenen Dritten oder die Erkenntnis, dass alles nach dem Guten strebt77. Obwohl Aristoteles den wohl erst im Stoizismus geprägten Ausdruck „allgemeine Einsichten“ nicht benutzt, kann Philoponos doch zu Recht auf Aristoteles’ #PCN[VKMGP als Quelle seiner Beschreibung verweisen78. Andererseits entspricht Philoponos’ Formulierung durchaus den Ansichten seiner Zeitgenossen. Denn ebenso wie er sahen viele späte Neuplatoniker im Geist den Sitz der apriorischen Sätze menschlicher Erkenntnis, während die untrennbare Ideengemeinschaft, durch die Plotin den Geist charakterisiert hatte, in ihrer höchsten Ausprägung den Henaden zugeschrieben wurde, die die primäre Entfaltung des Einen in das Seiende hinein darstellen79. Wie Dominic O’Meara gezeigt hat, wurde die prinzipienstiftende Funktion des Geistes von Proklos’ Lehrer Syrian bei seinem Versuch entwickelt, die Metaphysik auf der Grundlage von Aristoteles’ gleichnamigem Werk neu zu begründen. Insofern dem Geist dabei nicht nur logische Prinzipien, sondern auch Grundsätze der euklidischen Mathematik und der neuplatonischen Theologie zugeschrieben wurden, erhielt er eine umfassende erkenntnisbegründende Funktion80. Diese Annahme hat auch Vorteile für die neuplatonische Rezeption und Weiterentwicklung von Aristoteles’ Geistlehre. So ist bei diesem z.B. nicht klar, wie es mit der Prinzipienerkenntnis des Geistes vereinbar ist, dass menschliches Denken immer mit Vorstellungsbildern (ƶƢƮƴ˾ƳƭƢƴƢ) verbunden sein soll (III 7, 431a 16f.). Wenn die Neuplatoniker das Wissen um die Prinzipien und das auf die körperliche Welt bezogene Denken klar voneinander trennen und die Rolle der Vorstellungsbilder im Denken nur
_____________ 76 Zur Geschichte dieser Idee vgl. Armstrong 1960; zum Zusammenhang mit der aristotelischen Tradition vgl. Merlan 1963, 9-35. Zur Einheit und Vielheit des Geistes bei Plotin s. Tornau 1998b; Nikulin 2005; Emilsson 2007, 202-207, bei Proklos s. Beierwaltes 2007, 109-126; zum Vergleich beider auch Lloyd 1990, 166-169. Zum Zusammenhang von geistigem und seelischem Denken bei Plotin s. Emilsson 2007, 207-213. 77 Philop. in an. 3, 16-25. Tempelis 1997, 311-313 sieht den Geist als Ort der „cognitive reason principles [i.e. Ƭ̆Ƥưƪ] of all intelligible and material entities“ (312). Das lässt sich aus Philoponos’ Einleitung nicht eindeutig bestätigen. 78 Philop. in an. 3, 25-4, 4; genauer ausgeführt: in an. pr. 2, 24-4, 25. Zu Aristoteles’ Position vgl. v.a. an. post. I 3, 72b 23-25; I 33, 88b 36; II 19, 100b 5-17) und dazu z.B. Höffe 21999, 84-92. 79 Lloyd 1990, 166-169; vgl. aber Beierwaltes 2007, 109f. zur prinzipiellen Einheit von Plotin und Proklos in diesem Punkt. Zur Stellung der Henaden bei Proklos s. Cürsgen 2007, 74-83. 80 O’Meara 1986, bes. 13f.
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auf das praktische Denkvermögen beziehen81, können sie eine Lösung angeben, die zugleich Raum für die von ihnen angenommene Sonderstellung des Geistes lässt. Wenn man auf dieser Grundlage bei den Neuplatonikern eine „wahrhaft innovative Konzeption von Metaphysik“ zu finden bereit ist82, kann man Philoponos’ Aussagen als berechtigte Ausarbeitung aristotelischer Gedanken ansehen. Die Strebevermögen der rationalen Seele Für die Interpretation von &GCPKOC weniger zentral als die rationalen Erkenntniskräfte sind die entsprechenden Strebevermögen. Diese werden von Aristoteles in III 9, 432a 25-b 7 ähnlich aufgeteilt wie bei Philoponos, wobei die in diesem Text fehlende wählende Entscheidung (ÝƱưƢ̄ƱƦƳƪƲ) allerdings aus der 0KMQOCEJKUEJGP 'VJKM zu ergänzen ist83. Philoponos unterscheidet das Wollen (ƣư̈ƬƨƳƪƲ) dadurch von der wählenden Entscheidung, dass er allein auf das Gute gerichtet sei und nur der rationalen Seele angehöre, während die wählende Entscheidung zwar ein Teil der rationalen Seele, aber nur in Verbindung mit den nicht rationalen Vermögen aktiv sein könne, weswegen sie manchmal die richtige und manchmal die falsche Wahl treffe84. All das lässt sich in derselben Weise bei Proklos finden85, der dabei auf eine neuplatonische Tradition zurückgreift, die bereits bei Jamblich zu finden ist86. In den &G CPKOC-Kommentaren finden sich genauere Erläuterungen zu dem hier genannten Willen vor allem bei Priskian87, während der entsprechende Teil von Philoponos’ Kommentar verloren ist. Sowohl bei Aristoteles als auch bei den Neuplatonikern ist dabei zu beachten, dass der Begriff Wollen nicht im Sinn eines spontanen Wahlvermögens zu verstehen ist88, sondern ein rationales, durch das Ziel bestimmtes Streben meint.
_____________ 81 Philop. in an. L 97, 8-15. 82 O’Meara 1986, 4. Die Frage, ob es sich dabei um eine „Vollendungsgestalt von Metaphysik“ (Halfwassen 22005, 468) handelt, kann dabei guten Gewissens dahingestellt bleiben. 83 Eth. Nic. III 2, 1111b 19-30. Die ÝƱưƢ̄ƱƦƳƪƲ wird in &GCPKOC nur I 3, 406b 25 kurz erwähnt. 84 Philop. in an. 5, 24-33. 85 Procl. prov. 56-61 (165-167). Mit XQNWPVCU übersetzt Moerbeke ƣư̈ƬƨƳƪƲ und mit GNGE VKQ ÝƱưƢ̄ƱƦƳƪƲ. Proklos lässt erkennen, dass er sich für diese Unterscheidung bereits auf Vorgänger berufen konnte. 86 Iambl. myst. I 10, 36, 3f. Ich danke Richard Sorabji für diesen Hinweis. 87 Im u. S. 364 beschriebenen Kontext. 88 Vgl. zu den Bedingungen für den Willensbegriff Horn 1996, 115f.
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Die Erkenntnisvermögen der nicht rationalen Seele Die von Philoponos vorgenommene Aufteilung der Seele auf einen rationalen, einen nicht rationalen und einen vegetativen Teil lässt sich aus III 9, 432a 25-31 ableiten. Doch lässt Aristoteles hier deutliche Reserven gegenüber dieser Einteilung erkennen, besonders der Annahme eines nicht rationalen Teils, von dem er lediglich in seinen ethischen Schriften spricht89. Die neuplatonische Annahme einer nicht rationalen Seele, die Philoponos hier wiedergibt, ist in erster Linie von Platons 6KOCKQU inspiriert, dem zufolge die wahre, rationale Seele vom Demiurgen, die übrigen, im Körper wirkenden Seelenbestandteile aber von den sogenannten „jüngeren Göttern“ geschaffen wurden90, also in ihrer ontologischen Grundlage verschieden sind. Die Konsequenz dieser Ansicht ist, dass wir nach Meinung zumindest des Proklos hier eine eigene Seinsstufe betreten, die sowohl von der transzendenten rationalen Seele als auch vom bloß körperlichen Dasein verschieden ist91; das wird freilich von Philoponos, dem aristotelischen Kontext gemäß, hier nicht ausgeführt. Innerhalb dieser nicht rationalen Seele unterscheidet Philoponos zwei Erkenntnisvermögen, die Sinneswahrnehmung (Ƣ˅ƳƩƨƳƪƲ) und die Vorstellungskraft (ƶƢƮƴƢƳ̄Ƣ), die bekanntlich beide in &GCPKOC ausführlich diskutiert werden. Weitergehende Ausführungen zu diesen Vermögen, etwa zum Verhältnis von Aktivität und Passivität bei der Wahrnehmung92, lässt Philoponos’ Einleitung noch nicht erkennen. Es wird lediglich gesagt, dass sie sich mit Einzeldingen beschäftigten, während alle rationalen Vermögen Allgemeines zum Objekt hätten. Den Unterschied beider sieht Philoponos darin, dass die Sinneswahrnehmung sich auf das Anwesende beziehe und ihre Eindrücke von außen erhalte, während die Vorstellungskraft ihre Erkenntnisgegenstände in sich selbst habe93. Dies ist eine typisch neuplatonische Aussage, die besonders die Vorstellungskraft betrifft. So arbeitet Proklos heraus, wenn er im 6KOCKQUKommentar die beiden Vermögen auf dieselbe Weise unterscheidet wie Philoponos94, dass die Vorstellungskraft als unterste Form geistiger Erkenntnis angesehen werden könne, da ihre Objekte bereits in der Seele
_____________ 89 Z.B. eth. Nic. IX 8, 1168b 20f. 90 Tim 41cd. 91 Opsomer 2006. Ich bevorzuge es, von nicht rationalen anstatt von irrationalen Seelen zu sprechen, da diese Seelen sich in erster Linie dadurch auszeichnen, nicht rational zu sein. Ein irrationales Benehmen folgt daraus nicht notwendigerweise. 92 Zur neuplatonischen Position hier zu und deren Spannungen mit Aristoteles vgl. z.B. Emilsson 1988, 64-67; Sorabji 1991, 228f.; Blumenthal 1996, 123. 93 Philop. in an. 5, 35-38. 94 Procl. in Tim. 3, 286, 24-29; vgl. auch in Tim. 1, 323, 16-19.
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hervorgebracht würden95. Der Begriff „geistige Erkenntnis“ (Ʈ̆ƨƳƪƲ) ist dabei in einem weiten Sinn zu verstehen, der alle Vermögen bezeichnet, deren Objekte sich ausschließlich innerhalb der Seele befinden. Aus dieser Annahme ergibt sich für Philoponos, wie ebenfalls schon für Proklos, der hier fast wörtlich zitiert wird96, die Feststellung, dass die Vorstellungskraft der von Aristoteles erwähnte leidensfähige Geist (ƮưͨƲ ÝƢƩƨƴƪƫ̆Ʋ) ist97. Damit ist allerdings, wie Philoponos später im Kommentar betont, nicht gemeint, dass die Vorstellungskraft im eigentlichen Sinn Geist sei98; das Ziel der Argumentation ist vielmehr, die aristotelische Rede vom leidensfähigen Geist in einer Weise zu erklären, bei der das Geistige weiterhin als reine Aktivität erscheinen kann. Die Strebevermögen der nicht rationalen Seele Weiterhin gehören zur nicht rationalen Seele zwei Strebevermögen, Begehren (ʟÝƪƩƵƭ̄Ƣ) und Zorn bzw. Mut (ƩƵƭ̆Ʋ)99, die bekanntlich besonders von Platon (resp. 434c-443a) ausführlich diskutiert, aber auch in &GCPKOC erwähnt werden (III 9, 432a 25f. 432b 5f.). Zu ihnen bemerkt Philoponos, dass sie uns gegeben sind, um in diesem Leben zurechtzukommen, nämlich das Begehren, um das Vergehende zu erneuern, und den Zorn, um das Betrübende abzuwehren100. Außerdem gibt er zu, dass man Begehren auch allgemeiner von jedem Streben aussagen kann101. Obwohl er hierin im Wortlaut teilweise mit Proklos übereinstimmt, geht seine Terminologie zumindest teilweise direkt auf Aristoteles zurück (I 1, 403a 30f.)102. Die anschließende exkursartige Diskussion darüber, ob die beiden Strebevermögen mit der vegetativen Seele identisch sind oder nicht, geht vielleicht von
_____________ 95 Procl. in Tim. 1, 244, 19-25. 31-245, 6. 96 Vgl. Philop. in an. 6, 2-4 mit Procl. in Tim. 1, 244, 21f. 97 Philop. in an. 6, 2-4 (auch 11, 9-11); in an. L 13, 0-5; Procl. in Tim. 1, 244, 21; in remp. 2, 52, 6-8; in Eucl. 52. 56; Blumenthal 1996, 157-160; Arnzen 1998, 419. 98 Philop. in an. L 13, 0-10. 99 Wenn ich den schwierigen griechischen Begriff im Folgenden mit Zorn übersetze, geschieht das, um ein deutsches Äquivalent zur Verfügung zu haben, wenngleich das Bedeutungsspektrum des griechischen Worts deutlich weiter ist. 100 Philop. in an. 6, 23-25. 101 Philop. in an. 6, 15-19. 102 Vgl. Philop. in an. 6, 24 „ʕƮƵƶƢ̄ƮƦƪƮ“ mit Procl. in Tim. 3, 287, 12. Dagegen sind Philop. in an. 6, 13 „ʕƮƴƪƬƵÝ͋ƳƢƪ“ und Procl. in remp. 1, 208, 18 „ʕƮƴƪƬƵÝ̂ƳƦƹƲ ˑƱ̀ƤƦƳƩƢƪ“ aristotelische Terminologie.
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proklischen Voraussetzungen aus103, ist aber in ihrem Ergebnis, dass Begierde und Zorn der nicht rationalen Seele zuzuordnen sind, nicht der vegetativen, gut aristotelisch104. Die vegetativen Vermögen Noch unterhalb der nicht rationalen Seele wird sowohl von Aristoteles als auch von Philoponos das vegetative Seelenvermögen angesetzt, das Aristoteles in das Fortpflanzungs- und das Nährvermögen unterteilt hatte (ƤƦƮƮƨƴƪƫ̂ und ƩƱƦÝƴƪƫ́ ƥ̈ƮƢƭƪƲ). Dagegen fasst Philoponos unter der nicht aristotelischen105 Bezeichnung „Pflanzenvermögen“ (ƶƵƴƪƫƢ̃ ƥ̈ƮƢƭƦƪƲ) das Nähr-, das Wachstums- und das Zeugungsvermögen zusammen106, wobei er dem Fortpflanzungsvermögen (ƤƦƮƮƨƴƪƫ̂) besondere Bedeutung beimisst, und zwar mit der aristotelischen Begründung, dass dieses Vermögen die Ewigkeit der Art sichere107. Das von Philoponos angeführte Wachstumsvermögen (Ƣ˝Ưƨƴƪƫ̆Ʈ) wird zwar II 4, 416b 12f. erwähnt, doch ergibt sich hieraus nicht, dass Aristoteles es als eigene Fähigkeit neben dem Nährvermögen angesehen hätte. Die Einheit der Seele (8, 16-9, 2) Als Ergebnis dieser Aufzählung der verschiedenen Seelenvermögen stellt Philoponos die Frage nach deren Einheit, um sie gleich wieder als unsinnig zu verwerfen: Wie es eine Wirkeinheit des aus Seele und Körper bestehenden Lebewesens gebe, so entstehe auch durch die gegenseitige Berührung (ƳƵƮ˾ƶƦƪƢ) der verschiedenen Seelenvermögen eine Auffassungsgemeinschaft (ƳƵƭÝ˾ƩƦƪƢ)108, die dadurch gestärkt werde, dass die rationale Seele sich der übrigen Seelenvermögen als Werkzeuge bediene. Gleichwohl wird nahegelegt, dass durch diese Einheit im Wirken die ontologische Verschiedenheit der verschiedenen genannten Seelen nicht
_____________ 103 Opsomer 2006, 144-147. Proklos dürfte hier wiederum von Galens Aussagen zur platonischen und aristotelischen Terminologie beeinflusst sein, wie sie Moraux 1984, 744 wiedergibt. 104 Philop. in an. 7, 28-8, 16. 105 Vgl. aber eth. Nic. I 13, 1102b 29. 106 Philop. in an. 6, 26-30. 107 Philop. in an. 7, 16-22; vgl. II 4, 416b 23-25 und Philoponos’ Kommentar 279, 9-31. 286, 28-34. 108 S. zu diesem Begriff u. S. 87f.
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aufgehoben wird (ƫƢƴ˽ ʕƬ̂ƩƦƪƢƮ ƥ˿ ư˝Ʒ ʪƮ ƴ̄ ʟƳƴƪƮ)109. Das ruft Plotins Charakterisierung des Geistes und der Seele als „Eines und Vieles“ (ʪƮƫƢ̃ ÝưƬƬ˾) in Erinnerung, die von Proklos auf die menschliche Seele angewandt wurde110. Philoponos’ Betonung der Verschiedenheit der zahlreichen Seelenvermögen findet dann auch ihre engsten Parallelen bei Proklos111. Deutlich ist jedenfalls die neuplatonische Inspiration von Philoponos’ Ausführungen zu dieser Stelle, insofern die ontologische Unterschiedenheit der verschiedenen Seelenvermögen stärker betont wird als die Einheit der Seele. Über diese neuplatonische Zugangsweise hinaus muss man jedoch betonen, dass sich das Problem der Einheit der Seele letztlich aus dem Ansatz von &G CPKOC ergibt, insofern Aristoteles hier viele Seelenvermögen unterschiedlich charakterisiert, ohne zu erklären, wie ein vom Körper abtrennbarer Geist denn eines mit dem Nähvermögen der Seele sein soll. Unabhängig von der Qualität ihrer Lösungsversuche, die im Folgenden zu diskutieren sind112, erben die Neuplatoniker Aristoteles’ Problem schlichtweg dadurch, dass sie seinen psychologischen Ansatz aufnehmen, zuerst verschiedene Seelenvermögen anhand ihrer Objekte zu beschreiben und erst dann zu fragen, wie diese eine Seele bilden können. Vermutlich bildet diese Zugangsweise einen der klarsten Kontraste der antiken im Vergleich zur modernen Psychologie. Resumée Insgesamt legt Philoponos’ Einleitung also ein durchweg aristotelisches Schema der Seelenvermögen dar, das sich von seinem Vorbild abgesehen von einer konsequenteren Gliederung vor allem durch bestimmte inhaltliche Akzentierungen abhebt. Diese Veränderungen sind aber nicht durchweg typisch neuplatonisch, sondern die Frucht einer jahrhundertelangen Auslegungsgeschichte. Hieran ändert auch der durchweg erkennbare Einfluss des Proklos nichts, der zwar punktuell zum Aufgreifen neuplatonischer Thematiken führt, aber auf solche Punkte beschränkt bleibt, die geeignet sind, Aristoteles’ Text zu erläutern. Am stärksten tritt der neuplatonische Einfluss in der fortlaufenden Erläuterung der Seelenvermögen dort zutage, wo das diskursive Denken als Ort der existentiellen
_____________ 109 Philop. in an. 8, 16-23. 110 Vgl. bei Plotin z.B. enn. IV 8, 3, 6-13; ferner Procl. in Tim. 3, 254, 28-255, 1 und Perkams 2006a. 111 Philoponos’ Nähe zu Proklos in diesem Punkt vermerkte als erster Steel 1978, 19 Anm. 60. 112 S. u. S. 87-89.
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Wahl der Zuwendung nach oben oder unten charakterisiert wird: Hierdurch wird der Inhalt von &GCPKOC im neuplatonischen Kosmos verortet. Während dies aber die Darstellung der einzelnen Seelenvermögen ansonsten nicht direkt beeinflusst, wird Platons Anamnesislehre an einer Stelle virulent. Doch handelt es sich hier, bei der Frage nach der Möglichkeit des Meinens (ƥ̆ƯƢ), um einen klar erkennbaren Exkurs, der – ebenso wie der einzig weitere erkennbaren Exkurs über das Verhältnis von vegetativer Seele und Begierde – gut eine der im Titel erwähnten Hinzufügungen des Philoponos sein könnte. b. Die Unkörperlichkeit der Seele und ihre Trennbarkeit vom Körper Der zweite Teil der Einleitung, der die Relation der Seele zum Körper behandelt, baut auf der Erörterung der verschiedenen Seelenvermögen auf. Philoponos’ These ist, dass das Verhältnis von Leib und Seele nicht auf eine einheitliche Weise erklärt werden kann, sondern eine differenzierte Theorie erfordert. Hier wird also eine Kernfrage der neuplatonischen &G CPKOC-Interpretation berührt: Wie lässt sich Aristoteles’ Lehre von der Seele als Verwirklichung der im Leib liegenden Möglichkeiten mit der platonischen Annahme verbinden, dass sie unabhängig vom Körper existiert? Das Problem ist Philoponos klar, da auch für ihn eine Entelechie-Relation Untrennbarkeit vom Leib impliziert113. Da er trotzdem an der Übereinstimmung von Aristoteles und Platon festhält, muss er zwischen Seelenteilen unterscheiden, die als Entelechie vom Leib untrennbar sind, und anderen Seelenteilen, die auch nach Ansicht des Stagiriten unabhängig vom Körper existieren können. Der natürliche Kandidat für die zweite Kategorie ist dabei der Geist (ƮưͨƲ), den Philoponos als Synonym für die „rationale Seele“ versteht, die nach Meinung der Neuplatoniker auch von Platon als einzige als unsterblich angesehen worden war114. Philoponos wendet freilich ein noch komplexeres Schema auf den aristotelischen Text an. Nur die vegetative Seele ist ihm zufolge mit dem materiellen Körper untrennbar verbunden (ʕƷ̊ƱƪƳƴưƮ), während die nicht rationale Seele nur von einem sogenannten pneumatischen Körper (ÝƮƦƵƭƢƴƪƫ̅ƮƳͲƭƢ), dem „Seelenwagen“ (˕ƷƨƭƢ), untrennbar ist, sich hingegen vom materiellen Körper durchaus lösen kann. Die rationale Seele ist andererseits von jedem Körper trennbar (ƷƹƱƪƳƴ̂), was die theoretische Grundlage für ihre Unsterblichkeit liefert. Denn obwohl alle diese Seelen
_____________ 113 Vgl. Philop. in an. 9, 22-35, wo das ʟƮƴƦƬ̀ƷƦƪƢ-Konzept unter den Möglichkeiten aufgeführt wird, eine unkörperliche Seele als vom Leib untrennbar zu bezeichnen. Weiteres s. u. S. 74-79. 114 Vgl. Herm. in Phdr. 102, 10-26; dazu Perkams 2006b, 340.
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körperlos (ʕƳ̊ƭƢƴưƲ) sind, gehen doch die, die nicht von einem Körper trennbar sind, mit diesem zugrunde115. Diese Einteilung ist weder Philoponos’ Eigengut, noch hat sie allzu viel mit der Interpretation des aristotelischen Textes zu tun. Vielmehr handelt es sich um ein Schema, dass in der Athener neuplatonischen Schule allgemein anerkannt war und von den beiden Syrian-Schülern Proklos und Hermias als dessen Lehre bezeugt wird116, während andere Neuplatoniker, z.B. Priskian, anstelle der zwei bzw. drei117 Seelenfahrzeuge der Athener Tradition nur eines annahmen118. Alle Neuplatoniker akzeptierten jedenfalls die Grundannahmen der heute fremd wirkenden Theorie des Seelenwagens, nämlich, dass die Seelen auch außerhalb der Verbindung mit unserem Körpers nicht völlig immateriell sind, sondern über eigene Körper verfügen, die ihnen einen Ort (ʪƥƱƢ) im Kosmos verleihen119, die aber nicht in gleicher Weise sterblich sind wie unsere Körper120. Aus diesem neuplatonischen Hintergrund folgen auch einige weitere Besonderheiten von Philoponos’ Darstellung: Zum einen behandelt er die verschiedenen, im Kern aristotelischen Seelenvermögen, die er bis jetzt erläutert hat, nicht mehr einzeln, sondern nur in der Grobeinteilung rationale – nicht rationale – vegetative Seele, da nur diese Vermögen in eine je eigene Beziehung zum Körper aufweisen. Außerdem spielt die Frage des Seins der verschiedenen Seelenarten eine zentrale Rolle. Der Begriff „Sein“ (ư˝Ƴ̄Ƣ) ist dabei weniger in seinem aristotelischen Sinn als etwas selbständig Existierendes („Substanz“) zu verstehen, sondern unter der neuplatonischen Voraussetzung, dass „Sein“ etwas ist, was einem Gegenstand mehr oder weniger zukommen kann, wobei niederrangige seiende Dinge im Rahmen des Entfaltungsprozesses der Wirklichkeit aus höheren entstehen. In diesem Sinn ist es nicht widersinnig, in der Seele verschiedene Seinsformen zu unterscheiden, sondern diese Ausdrucksweise besagt nur, dass die Seele in ihren verschiedenen Aktivitäten die Stufung der Wirklichkeit nachvollzieht.
_____________ 115 Philop. in an. 10, 5-8. Zum Unsterblichkeitsproblem vgl. Opsomer 2006, 164-166. 116 Die Belege sind zusammengestellt bei Hadot 1978, 181-187 und Bernard 1997, 56-68. 117 Zur uneinheitlichen Behandlung des Astralleibes (Ƣ˝ƤưƦƪƥ˿ƲƳͲƭƢ) der rationalen Seele durch Philoponos vgl. Bernard 1997, 63. Vgl. ferner in an. L 24, 61 mit der Anmerkung von Verbeke zur Stelle. Auf das in dieser Arbeit randständige Phänomen des Astralleibes gehe ich im Folgenden nicht weiter ein. 118 S. u. S. 186f. 119 Procl. in Tim. 3, 235, 11-30. 120 Dodds 21963, 313-321; Smith 1974, 152-158; Blumenthal 1992; Zambon 2005.
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Analogie der Seelenlehre bei Aristoteles Der wichtigste Punkt von Philoponos’ Darlegung bleibt in diesem Kontext zu zeigen, dass Aristoteles ebenso wie Platon die Unsterblichkeit der rationalen Seele vertritt. Dazu führt Philoponos eine beeindruckende Auswahl von Aristoteles-Stellen an, die entweder erwägen, nahelegen oder direkt aussprechen, dass der Geist im Gegensatz zu den anderen Seelenarten vom Leib abgetrennt existiert. Philoponos beginnt mit zwei Stellen aus Aristoteles’ Schrift &KG 6GKNG FGT.GDGYGUGP (ƒƦƱ̃ƭưƱ̄ƹƮƧͱƹƮ bzw. &GRCTVKDWUCPKOCNKWO): In der ersten Passage121 begründet Aristoteles zu Beginn122 des Werkes, warum es auch Aufgabe des Naturwissenschaftlers (ƴưͨƶƵƳƪƫưͨ) ist, die Lebewesen zu erforschen, obwohl diese primär durch ihre Seelen bestimmt sind. Seine Antwort lautet, dass diese Forschung soweit zur Aufgabe des Naturwissenschaftlers gehört, wie die Seele die Natur des Lebewesens bestimmt, und zwar indem sie es bewegt und sein Ziel ist. Letzteres treffe aber auf die Vernunftseele nicht zu. Daher sei es auch absurd, wenn die Vernunft und ihre Gegenstände von derselben Wissenschaft erforscht würden wie die Sinneswahrnehmung. Hier spricht Aristoteles tatsächlich klar aus, dass mindestens ein Teil der Seele keine leibliche Veränderung bewirkt. Daraus folgt allerdings nicht automatisch Philoponos’ Schluss, dass dieser Teil vom Leib trennbar ist123. In seinem Kommentar erklärt Philoponos dazu, diese Teile müssten, da sie derselben Wissenschaft angehörten wie die Verstandesgegenstände, vom Metaphysiker erforscht werden und daher vom Leib trennbar sein124. Das Argument ist für einen Neuplatoniker sicherlich einleuchtend; zwingend ist es aber nur dann, wenn auch für Aristoteles alle geistigen Objekte Gegenstand der Metaphysik und damit abtrennbar sind – und das ist ja gerade zu beweisen. Besser sieht es für Philoponos mit der kurz darauf angeführten &G CPKOC-Stelle I 1, 403a 27f. aus: „Und schon deswegen ist es Aufgabe des Naturwissenschaftlers, die Seele zu erforschen, entweder die ganze oder die derartige“125. Hier werden zwar in erster Linie zwei Beschreibungsweisen menschlicher Emotionen unterschieden, nämlich insofern sie körperliche Phänomene und insofern sie Elemente menschlichen Handelns sind. Im Weiteren spricht Aristoteles aber auch von Phänomenen, die nicht
_____________ 121 Philop. in an. 10, 11-24; vgl. Prisc. in an. 2, 2-3, 28 (s. u. S. 156f.). 122 Philoponos schreibt unrichtig „am Ende“ (in an. 10, 11). Das ist möglicherweise auf einen Fehler bei der Mitschrift von Ammonios’ Vortrag oder auf falsche Zitation aus dem Gedächtnis zurückzuführen. 123 Philop. in an. 10, 18 nach Aristot. part. an. I 1, 641a 14-b 10. 124 Philop. in an. 55, 11-14 (zu I 1, 403a 27). 125 ƌƢ̃ƥƪ˽ƴƢͨƴƢʵƥƨƶƵƳƪƫưͨƴ̅ƩƦƹƱ͋ƳƢƪÝƦƱ̃ƸƵƷ͋Ʋ,ʳÝ˾ƳƨƲʳƴ͋ƲƴưƪƢ̈ƴƨƲ.
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mehr als körperlich angesehen werden könnten, sondern tatsächlich abgetrennt (ƫƦƷƹƱƪƳƭ̀ƮƢ) seien, und weist sie als Arbeitsgebiet dem Metaphysiker zu (403b 12-16). Allerdings sagt er nicht explizit, dass es derartige Gegenstände auch in der Seele gibt, und Philoponos weist das auch nicht nach. In seinem Kommentar zu dieser Stelle gibt er sogar nur verschiedene Meinungen dazu wieder, ohne sich auf eine eigene Position festzulegen126. Die nächste von Philoponos angeführte Stelle ist der berühmte Passus, dem zufolge der Verstand, da er göttlich ist, von außen (Ʃ̈ƱƢƩƦƮ) in den Leib, oder besser in das männliche Sperma127, eintritt128; hier kann sich Philoponos zu Recht auf Aristoteles berufen, denn dieser behauptet nicht nur, dass körperliche Aktivität an der Verstandesaktivität keinen Anteil hat, sondern einige Zeilen später auch ausdrücklich, dass der Verstand vom Leib trennbar (ƷƹƱƪƳƴ̆Ʋ) ist129. Während diese Zitate zeigen, dass für Aristoteles mit dem Geist ein unkörperlicher, abtrennbarer Teil der Seele gegeben ist, beweisen die nächsten Zitate, die aus &GCPKOC selbst stammen, dass Aristoteles diesen Teil der Seele für ewig und unsterblich hielt130. Philoponos beginnt mit Aristoteles’ Vermutung, dass der Verstand „eine andere Gattung der Seele“ zu sein scheint, die als etwas Ewiges von etwas Vergänglichem getrennt werden kann (II 2, 413b 24-27). Dann folgen zwei Zitate aus den Geist-Kapiteln III 4-5, die ebenfalls diese Unsterblichkeit des Verstandes belegen (429a 13-15. 430a 22f.)131. Schließlich führt er eine Reihe von Belegstellen an, die zeigen, dass der Verstand nicht mit dem Körper vermischt ist (III 4, 429a 22-25. b 4f. 430a 17f.) und schließlich drei Zitate, in denen der Verstand ausdrücklich als eine selbständig beschreibbare Wesenheit (ư˝Ƴ̄Ƣ) bezeichnet, aber auch als Teil (ƭ̆ƱƪưƮ) der Seele angesehen wird (I 4, 408b 18-20; I 5, 411b 18f.); die letzte der drei Stellen ist das bereits zitierte II 2, 413b 24-27132. Philoponos ist überzeugt, damit gezeigt zu haben, dass Aristoteles einen körperlosen, unsterblichen Verstand als Teil der Seele annimmt. Damit hat er im Prinzip Recht. Zwar äußert sich Aristoteles nicht an allen Stellen so eindeutig (vgl. z.B. II 1, 413a 3-9), doch kann man nicht wie Henry Blumenthal behaupten, die dualistische neuplatonische Seelen-
_____________ 126 Philop. in an. 63, 6-14. 127 Balme 1992, 159; anders Charlton 1987, 412-417. 128 Gen. an. II 3, 736b 27-29, zitiert Philop. in an. 10, 24-7. Philoponos’ Zitat ist in mancher Hinsicht ungenau. 129 Aristot. gen an. II 3, 737a 8-11. 130 Philop. in an. 10, 31-11, 11. 131 Philop. in an. 11, 11-19. 132 Philop. in an. 11, 19-27.
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lehre stehe in einem scharfen Gegensatz zum aristotelischen Monismus und erhebe einen „Rest-Platonismus“ bzw. eine von Aristoteles nur widerwillig angedeutete Lehre vom Geist zur Gewissheit133. Vielmehr zeigt Philoponos’ differenzierte Darlegung der einzelnen Seelenarten deutlich ein Bewusstsein für die Schwierigkeit, dass der Geist nur schwer in Aristoteles’ Seelendefinition zu integrieren ist. Wenn Philoponos das als sachliches Problem der aristotelischen Seelenlehre ernstnimmt, sollte ihm die moderne Interpretation hierin folgen. Es wäre jedenfalls unsinnig, aus dem Zugeständnis einer Sonderrolle des Geistes innerhalb der aristotelischen Seelenlehre zu folgern, dass seine Lehre vom Geist philosophisch uninteressant ist, wie einige moderne Interpreten zu meinen scheinen134. Argumente für ein differenziertes Verhältnis der Seele zum Leib Dieser historischen Argumentation fügt Philoponos eine systematische hinzu, da es nicht ausreiche, die Beweise der alten Philosophen zu wiederholen. „Denn diese Lehren beziehen sich auf unser ganzes Leben. Was ist uns auch sonst näher als die Erkenntnis unserer selbst?“135. Argumente für die Unkörperlichkeit der wahrnehmenden und vegetativen Seele Als erstes führt er Argumente dafür an, dass die Seele bzw. die einzelnen Seelenarten unkörperlich (ʕƳ̊ƭƢƴưƪ) sind. Diese Frage war von Aristoteles so nicht gestellt worden. Zwar erwähnt er im ersten Buch von &GCPKOC Autoren, die die Seele als „möglichst unkörperlich“ definierten, gemeint ist damit aber wohl, dass sie aus einem möglichst leichten (ƬƦÝƴưƭƦƱ̀ƳƴƢƴưƮ) Element bestehe (I 2, 404b 31. 405a 7. 27. b 12; I 5, 409b 21). Ein Bewusstsein für die Problematik der Körperlichkeit bzw. Unkörperlichkeit, das wohl aus einer Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen Stoizismus und Platonismus erwachsen ist, ist aber spätestens bei Alexander von Aphrodisias vorhanden, der die Seele als Form des Körpers als unkörperlich und untrennbar bezeichnet136. Hier ist das Pro-
_____________ 133 Blumenthal 1996, 74f. 96f. 134 Belege bei Shields 1993, 175f.; anders z.B. Kahn 1992, 359f. 135 ƒƱ̅Ʋ˖ƬưƮƤ˽ƱʲƭͲƮƴ̅Ʈƣ̄ưƮƴƦ̄ƮƦƪƴ˽ƥ̆ƤƭƢƴƢƴƢͨƴƢ.ʙƬƬƹƲƴƦƴ̄ưˁƫƦƪ̆ƴƦƱưƮʲƭ͙Ʈƴ͋Ʋ ʲƭͲƮƢ˝ƴͲƮƤƮ̊ƳƦƹƲ;Philop. in an. 12, 14f. 136 Alex. an. 17, 9-11; einen Ansatzpunkt in Aristoteles’ Text fand Alexander wohl in II 1, 412a 16 (vgl. Philop. in an. 215, 24-26). Zur Problemstellung bei Alexander vgl. Henry 1960, 437f.
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blem von Monismus und Dualismus des Seelischen, wie Plotin es ausgeführt hat137, im Prinzip präsent. Wenn Philoponos nach der Unkörperlichkeit der Seele fragt, muss er diese Auslegungs- und Problemgeschichte berücksichtigen, um zu einer inhaltlich fundierten Aristoteles-Deutung zu kommen. Dass seine Entscheidung für den Dualismus nicht als neuplatonische Entfremdung des Aristoteles angesehen werden darf, ergibt sich bereits daraus, dass sie auf den Peripatetiker Alexander von Aphrodisias zurückgeht, der sicher nicht unter Neuplatonismus-Verdacht steht. Über die Richtigkeit von Philoponos’ Argumentation ist damit natürlich noch nichts gesagt. Allerdings ist in den letzten Jahren in mehreren Beiträgen dafür plädiert worden, &GCPKOC dualistisch zu interpretieren, so dass diese Ansicht auch heute nicht generell als überholt gelten kann138. Konkret bringt Philoponos zwei Argumente. Das erste geht von der Annahme aus, dass alles Körperliche zusammengesetzt ist und sich daher in unendlich viele Teile auflösen würde, wenn es nicht durch etwas zusammengehalten wird. Dieses Zusammenhaltende kann selbst nicht körperlich sein, sonst käme es zu einer unendlichen Wiederholung des Arguments139. Das Argument ist aus &GCPKOC übernommen, wo Aristoteles mit ihm zeigen will, dass die Seele nicht viele Wesenheiten, sondern nur eine ist (I 5, 411b 9-14)140. Als allgemeiner Beweis für die Unkörperlichkeit der Seele ist es allerdings nicht unbedingt überzeugend, da es voraussetzt, was es beweisen will, nämlich dass nichts Körperliches in der Lage ist, einen Körper zusammenzuhalten. Ein Monist könnte einwenden, dass auch materielle Bestandteile des Körpers eigene Energien entwickeln könnten, die einen Zusammenhang ermöglichen – wie schon die Stoiker mit ihrer Lehre einer „Spannung“ (ƴ̆ƮưƲ) im Kosmos vorgeführt haben. Das zweite Argument ist die von Richard Sorabji GegenteilArgument141 genannte Überlegung: Sie geht davon aus, dass ein Körper nicht gleichzeitig zwei entgegengesetzte Eigenschaften am selben Ort aufnehmen kann. Erkenntnis, insbesondere Sinneswahrnehmung, setze aber die Möglichkeit der Unterscheidung zweier gleichzeitig präsenter gegensätzlicher Eigenschaften (z.B. zweier verschiedener Farben) durch eine Fähigkeit voraus; also kann diese Fähigkeit kein Körper sein, da sich die beiden unterschiedenen Aspekte dann an räumlich getrennten Orten befinden müssten142. Auch dieses Argument stammt, wie Philoponos selbst
_____________ 137 138 139 140
S. o. S. 8f. Bes. Shields 1988; Heinaman 1990; weiteres bei Blumenthal 1996, 202 Anm. 13. Philop. in an. 12, 24-32. Shields 1988 benutzt diese Stelle ebenfalls, um die Unkörperlichkeit der Seele nach Aristoteles zu zeigen. 141 Contraries-Argument: Sorabji 1991, 227f. 142 Philop. in an. 12, 32-13, 20.
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festhält, aus &G CPKOC: III 2, 426b 8-427a 18 wird es benutzt, um die Notwendigkeit eines einheitlichen Sinnesvermögens anzuzeigen, das die mit den Einzelsinnen gewonnenen Daten vergleicht; auf die Unkörperlichkeit dieses Sinnesvermögens schließt Aristoteles allerdings nicht. Das tut aber Platon im 6JGCKVGV, der damit ausdrücklich die Unkörperlichkeit desjenigen Vermögens beweist, das die Objekte verschiedener Einzelsinne miteinander vergleicht (184b 7-185e 2). Als Beweis der Unkörperlichkeit von Sinneswahrnehmung wird das Argument auch von Alexander von Aphrodisias und Themistios angeführt, die es aber vorwiegend auf das Vermögen anwenden, die Objekte eines einzelnen Sinns, nämlich des Sehens, voneinander zu unterscheiden143. Entsprechend einer von Richard Sorabji vorgebrachten Aristoteles-Interpretation kann man einwenden, dass die Unterscheidung Aristoteles zufolge in einem körperlichen Wahrnehmungsorgan geschieht, das etwa beim Sehen gefärbt wird oder beim Hören Geräusche wiedergibt144. Philoponos’ Argument würde von dieser Annahme jedoch nicht betroffen, denn die Unterscheidung zweier repräsentierter Objekte ist in seiner Vorstellung etwas anderes als deren Repräsentation im jeweiligen Organ145. Er könnte argumentieren, dass die Repräsentation materiell geschehen muss, die Deutung des so Repräsentierten selbst jedoch unkörperlich abläuft. Er würde sogar annehmen, dass nur der Übermittlungsprozess körperlich geschieht, während die darin repräsentierten Inhalte nicht körperlich sind146. Eine weitere Anfrage könnte lauten, warum dieses Unterscheidungsvermögen nicht ein körperliches Vermögen auf einer höheren Stufe sein kann147. Hierauf könnte Philoponos entgegnen, dass das gleichzeitige Repräsentieren verschiedener Gegenstände wegen der ausgedehnten Natur von Körpern in diesen nur an verschiedenen Orten stattfinden kann. Aber kein Körper kann gleichzeitig an mehreren Orten sein und daher die verschiedenen Objekte vergleichen. Mit ähnlichen Argumenten belegt Philoponos die Unkörperlichkeit des Vorstellungsvermögens und der vegetativen Seele. Beim Vorstellungsvermögen werde die Unkörperlichkeit dadurch gezeigt, dass einzelne Inhalte nicht verlorengehen, wenn neue hinzukommen148. Das Argument ist insofern schwach, als man aristotelisch zumindest zwischen aktiv gebrauchten und möglichen Vorstellungen unterscheiden könnte, ohne dass
_____________ 143 Alex. an. 61, 24-62, 15; Them. an. paraphr. 57, 2-12. Vgl. Sorabji 1991, 229. 144 Erstmals vertreten 1974 von Sorabji 1979, 72 mit Anm. 22; vgl. zur Diskussion u.a. die verschiedenen Beiträge in Nussbaum/Rorty 1992. 145 Diese Unterscheidung trifft für das Wahrnehmungsorgan Shields 1993, 173. 146 S. u. S. 114-121. 147 Gerson 1994, 130. 148 Philop. in an. 12, 20-24.
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daraus ein Unterschied für deren Körperlichkeit folgen muss. Für die vegetative Seele führt Philoponos an, das Erwachsen eines Lebewesens aus einem einzigen Spermium oder das Vorhandensein aller Wachstumskräfte in dem abgeschlagenen und wieder eingepflanzten Zweig eines Baums zeigten, dass die derartig verteilten Kräfte nicht körperlich sein könnten149. Diese Argumente entsprechen natürlich nicht dem Standard heutigen biologischen Wissens; so ist weder das männliche Sperma der Ort der gesamten Erbinformation, noch sagt die mit unseren Augen sichtbare räumliche Verteilung etwas darüber aus, ob die gesamte Information „an einem Ort“ in Philoponos’ Sinn ist. Trotzdem wird man sich auch heute schwer damit tun, das Wachstum einer Pflanze oder überhaupt die Entstehung eines Lebewesens als natürliche Eigenschaften eines Körpers zu charakterisieren, ohne zu erklären, inwieweit ein Körper sie besitzen kann bzw. was sein „Leben“ ist. Insofern behalten Philoponos’ Argumente mutatis mutandis durchaus ihre Berechtigung. Wichtig ist jedenfalls, sich die Stellung des Arguments im Rahmen des neuplatonischen Verständnisses vom Aufbau der Welt klarzumachen: Es basiert auf Annahmen über die Natur ausgedehnter Körper und besagt, dass der Wahrnehmungs- und Wachstumsvorgang kein in dieser Weise körperlicher Prozess sein kann. Trotzdem unterscheidet er sich von geistigen Prozessen: Die Wahrnehmungsfähigkeit ist eine Form in der Materie (ʩƮƵƬưƮƦˇƥưƲ), das heißt sie ist eine unkörperliche Eigenschaft eines in der materiellen Welt ablaufenden Prozesses; geistiges Erkennen ist demgegenüber abgetrennt (ƷƹƱƪƳƴ̆Ʋ) bzw. immateriell (ʙƵƬưƲ)150. Selbstreflexivität und die Immaterialität der rationalen Seele nach Proklos Was das bedeutet, wird deutlich, wenn Philoponos die Sonderstellung der rationalen Seele erklärt. Sein Ausgangspunkt ist, dass alles, was sich auf sich selbst zurückwenden kann, unkörperlich sein muss: „Kein Körper erkennt sich selbst oder wendet sich sich selbst zu“151. Dieser Satz setzt in dieser generellen Form mehrere Beweisgänge voraus, die Proklos152 in seiner 6JGQNQIKUEJGP 'NGOGPVCTNGJTG (ƔƴưƪƷƦ̄ƹƳƪƲ ƩƦưƬưƤƪƫ̂) erklärt, obwohl das Argument, aus Selbsterkenntnis auf Unkörperlichkeit zu schließen, äl-
_____________ 149 Philop. in an. 12, 24-13, 28. 150 Philop. in an. L 11, 73-12, 77. 151 Philop. in an. 14, 31f.: ư˝ƥ˿Ʈ ƴͲƮ Ƴƹƭ˾ƴƹƮ Ƣ˝ƴ̅ ʠƢƵƴ̅ ƤƪƮ̊ƳƫƦƪ ư˝ƥ˿ ÝƱ̅Ʋ ʠƢƵƴ̅ ʟÝƪƳƴƱ̀ƶƦƴƢƪ. 152 Philoponos’ Abhängigkeit von Proklos’ wurde festgestellt von Dodds 21963, 204 und Steel 1978, 19 Anm. 60.
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ter ist und sich schon bei Porphyrios finden lässt153. Philoponos’ Formulierungen am nächsten kommt der 15. Leitsatz von Proklos’ Werk: „Alles, was sich sich selbst zuwendet, ist unkörperlich“154. Proklos begründet diesen Satz mit der Zusammensetzung alles Körperlichen aus Teilen und seiner räumlichen Ausdehnung: Etwas derartig Konstituiertes könne nie mit sich selbst eins werden, da dann jeder einzelne Teil mit jedem anderen Teil eins werden müsse; das sei aber bei einem geteilten Ding unmöglich, da die räumliche Lage der Körper verhindere, dass diese miteinander eins würden. Die hier vorausgesetzte Identifizierung von Selbstbezug und Einswerdung begründet Proklos in Bezug auf die Selbsterkenntnis im 83. Leitsatz desselben Werkes: „Alles, was sich selbst erkennt, ist in jeder Hinsicht auf sich selbst bezogen“155. Das trifft nach Proklos’ Ansicht auch auf die menschliche Seele zu, deren Selbsterkenntnis im genannten Sinn definiert ist. Denn diese ist nicht anders denkbar denn als ungetrennte Einheit von Erkennendem und Erkannten, wie Proklos im Anschluss an Plotin ausführt156. Ohne die Annahme einer derartigen ursprünglichen Einheit des Bewusstseins seiner selbst werde man schnell mit der problematischen Frage konfrontiert, was denn das sich selbst Erkennde ist, und auf diese Weise entstehe ein infiniter Regress157. Proklos’ Argumentation geht aber noch weiter. Er nimmt an, dass eine solche Selbstzuwendung nicht nur von keinem Körper, sondern auch nicht von einer Substanz vollzogen werden kann, die mit einem Körper notwendig verbunden ist, selbst wenn sie selbst unkörperlich sein sollte. Das Argument dafür ruht auf einem weiteren Argument über die Tätigkeiten (ʟƮƦƱƤƦ̄Ƣƪ), die von dieser Substanz ausgehen: Können sie nur mit dem Körper verbunden operieren, dann kann Selbsterkenntnis nicht dazu gehören, denn an ihr kann, aufgrund des ersten Arguments, kein Körper teilhaben158. Wenn sich also eine mit dem Körper verbundene Seele selbst erkennen würde, könnte sie nur einen bestimmten Aspekt ihrer selbst erkennen, aber nicht ihre Beziehung zum Körper. Im Moment der Aktivität der Selbsterkenntnis muss das Erkenntnisvermögen daher von jedem körperlichen Substrat gelöst sein, um nicht unter die vorhergehende Bedingung zu fallen. Dieses Argument begründet über die Ausgangsannahmen hinaus die Unterscheidung unkörperlicher und immaterieller Substanzen. Denn wäh-
_____________ 153 Porph. sent. 41 (52, 7-53, 5). 154 ƒ̀Ʈƴ̅ÝƱ̅ƲʠƢƵƴ̅ʟÝƪƳƴƱƦÝƴƪƫ̅ƮʕƳ̊ƭƢƴ̆ƮʟƳƴƪƮ. Procl. elem. 15 (16, 30). 155 ƒ̀Ʈ ƴ̅ ʠƢƵƴưͨ ƤƮƹƳƴƪƫ̅Ʈ ÝƱ̅Ʋ ʠƢƵƴ̅ Ý˾Ʈƴ͉ ʟÝƪƳƴƱƦÝƴƪƫ̆Ʈ ʟƳƴƪƮ. Procl. elem. 83 (76, 29f.); vgl. in Tim. 2, 286, 32f. 156 Proklos beweist diese Voraussetzung in elem. 83 (76, 31-78, 2). 157 S. u. S. 300. 158 Procl. elem. 186 (162, 17-19).
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rend Unkörperlichkeit in Alexanders Tradition auch der Sinneswahrnehmung zugeschrieben werden kann, die mit dem Körper unabtrennbar verbunden ist159, impliziert der Schluss auf die Immaterialität der zugrunde liegenden Substanz eine Folgerung von einer Aktivität auf ihre ontologischen Grundlagen: Eine immaterielle Tätigkeit hat zur Bedingung, dass auch eine Substanz vorliegt, die aber immateriell sein muss, da sie vom Körper abgetrennt ist160. Proklos schließt aus diesem Zusammenhang auf sein Konzept des Geistes bzw. der Seele als einer selbstkonstituierten, wenn auch nicht absolut unabhängigen Größe (ƴ̅Ƣ˝ƩƵÝ̆ƳƴƢƴưƮ)161. Die Anwendung durch Philoponos Philoponos setzt diese bei Proklos zu findenden Überlegungen mit der Einteilung der Seelenvermögen in Verbindung: Da Selbsterkenntnis nur der Vernunftseele zukommt, kann sie auch nur für diese die Immaterialität begründen; für sie allein trifft daher die Identität von Erkennendem und Erkanntem zu. Dagegen erkennt sich die Sinneswahrnehmung nicht selbst, zumindest solange sie als menschliche in Verbindung mit dem Körper als solche aktiv ist162. Proklos’ Begründung der Unkörperlichkeit der rationalen Seele liefert damit auch die theoretische Begründung der im Neuplatonismus verbreiteten Annahme, dass nur die rationale Seele eigentlich Seele ist163. Philoponos trifft ebenso wie der von ihm kommentierte aristotelische Text diese Unterscheidung nicht, sondern lässt die Bezeichnung „Seele“ sogar durch ihre Relation zum Körper konstituiert sein, „denn Seele wird in Bezug auf den Leib ausgesagt“164. Daher werden auch die nicht rationale und die vegetative Seele von ihm meist einfach „Seele“ genannt, während er die rationale Seele gelegentlich „Wesenheit der Seele“
_____________ 159 Zur sinnlichen Selbstwahrnehmung, die Aristoteles in III 2, 425b 12-25 annimmt, äußert sich besonders Priskian; s. u. S. 338-341, während Stephanos hier die rationale Seele am Werk sieht, s. u. S. 406-408. 160 Procl. elem. 16 (18, 7-20). 161 Procl. elem. 189-191 (164, 20-168, 10 Dodds); in Parm. 1004, 18-20; Beierwaltes 2001, 160-181. 162 Philop. in an. 14, 31-38 (wie schon Porph. sent. 41 [52, 16-53, 4]). Der schwer verständliche Nebensatz in 14, 38, dass die ʙƬưƤưƪƥ̈ƮƢƭƦƪƲ,ƫƢ̄ƴưƪʕƳ̊ƭƢƴưƪưˣƳƢƪʠƢƵƴ˽Ʋ ˅ƳƢƳƪƮ, bezieht sich wohl auf die bei Proklos belegte Möglichkeit, dass die nicht rationalen Vermögen auch eine noetische Existenz haben, in der sie natürlich unkörperlich sind; vgl. Opsomer 2006, 156-158; Lautner 2006, 130f. 163 Vgl. z.B. Procl. in Tim. 2, 285, 21-27; Opsomer 2006, 136-138. 164 ʺƤ˽ƱƸƵƷ́ÝƱ̅Ʋƴ̅ƳͲƭƢƬ̀ƤƦƴƢƪ. Philop. in an. 225, 3f.; zur Formulierung vgl. 206, 18f. (zitiert u. S. 81-81), außerdem 198, 17f. zum Verhältnis von Form und Stoff.
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Aristoteles-Interpretation
(ư˝Ƴ̄Ƣƴ͋ƲƸƵƷ͋Ʋ) nennt165. Hierbei handelt es sich um einen terminologischen Einfluss des kommentierten Textes, der an der neuplatonischen Hierarchisierung der Seelen nichts ändert. Philoponos deutet allerdings ein weiteres Verständnis von Selbsterkenntnis an, als es die Identitätsrelation von Erkennendem und Erkanntem erlaubt166: Wie schon Proklos festgehalten hatte, impliziert die Selbsterkenntnis des Geistes (ƮưͨƲ) die Erkenntnis von allem, was von ihm ausgegangen ist167. Philoponos zufolge untersucht (ƧƨƴƦ͙) die rationale Seele die Natur der Seelenvermögen: So bezieht sich die Vernunft (Ƭ̆ƤưƲ) sowohl auf sich selbst als auch auf die Sinneswahrnehmung des Menschen. Damit wird Selbsterkenntnis fast auf die ganze aristotelische Untersuchung des Menschen und seiner Fähigkeiten ausgedehnt: Der Geist untersucht auch seine verschiedenen Fähigkeiten als Mensch. Außerdem deutet das Wort „untersuchen“ an, dass hiermit nicht nur noetisches Denken gemeint ist, sondern möglicherweise auch diskursives. All das wird von Philoponos mehr angedeutet als ausgesprochen; dass er seine Überlegungen zur gesamten menschlichen Seele aber als Beitrag zur Selbsterkenntnis versteht, zeigt auch die oben zitierte Frage, mit der er den argumentativen Teil seiner Untersuchung eröffnet168. Diese neuplatonische Theorie der Selbsterkenntnis scheint vor einem aristotelischen Hintergrund nicht nur deswegen problematisch, weil ihre Begründung bei Aristoteles nicht zu finden ist, sondern man könnte sogar vermuten, dass sie Aristoteles’ Ansicht direkt widerspricht. Denn Aristoteles scheint jegliche Bezugnahme auf sich selbst in der Sinneswahrnehmung (Ƣ˅ƳƩƨƳƪƲ) anzusiedeln (eth. Nic. IX 9, 1170a 29-b 2; sens. 7, 448a 26-30). Charles Kahn zufolge macht dies den wesentlichen Unterschied des Aristoteles zu Theorien dieser Art aus169. Hierzu muss man allerdings feststellen, dass Kahns Beobachtung vor einem breiteren terminologischen Horizont zu interpretieren ist. Schon Platon verwendet die Wurzel „wahrnehmen“ (ƢˁƳƩ˾ƮƦƳƩƢƪ) nicht nur für Sinneswahrnehmung im engeren Sinne170, und Plotin gebraucht sie ebenfalls als Synonym zu „bewusst auffassen“ (ʕƮƴƪƬƢƭƣ˾ƮƦƳƩƢƪ)171. Obwohl Aristoteles meistens trennschär-
_____________ 165 Philop. in an. 58, 19-24. 166 Vgl. die Kritik daran in Verrycken 1994, 227 Anm. 245. Allerdings geht Philoponos davon aus, dass der theoretische Verstand unabhängig vom Körper wirkt, daher kann er ihm Selbsterkenntnis im proklischen Sinne zugestehen. S. u. S. 328-333. 167 Procl. in Parm. 958, 23-35; in Tim. 3, 254, 27-255, 25. 168 Vgl. die oben S. 56 mit Anm. 135 zitierte Frage und auch Priskians Bemerkung zu Beginn seines Kommentars über die Bedeutung der Seelenlehre (1, 1-2), die zu Beginn dieser Arbeit zitiert wird. 169 Kahn 1979, 28-30; Kahn 1992, 362. 364. 170 Perkams 2007b, 265. 171 Plot. enn. IV 8, 8, 5. 18; V 1, 12, 6.
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fer ist, muss dieser Hintergrund gerade für die ethischen Schriften beachtet werden. An der Stelle aus der 0KMQOCEJKUEJGP'VJKM ist auch recht deutlich, dass Aristoteles vom Selbstgegebensein der Einzelsinne (vgl. dazu III 2, 425b 12-25172) zu einer allgemeinen Aussage über die Selbstwahrnehmung jedes Vermögens überleitet, worunter anscheinend sogar das Denken gefasst werden kann; hier ist also eher allgemein von einem Auffassen als von Sinneswahrnehmung im strengen Sinn die Rede. In &GUGPUW (und Eth. Eud. VII 12, 1245a 35-b 1) wird die hier erwähnte Selbstwahrnehmung mit der Fremdwahrnehmung parallelisiert, so dass hier jedenfalls kein spezieller Bewusstseinsmodus der Sinneswahrnehmung zugeschrieben werden kann. Daher kann man aus diesen Zitaten nicht schließen, dass dem Stagiriten zufolge jeglicher Selbstbezug in der Sinneswahrnehmung anzusiedeln ist. In &G CPKOC ist der Selbstbezug des Menschen jedenfalls nicht ausschließlich eine Leistung der Sinneswahrnehmung, denn hier spricht Aristoteles, abgesehen von der Bewusstheit der Einzelsinne, ausdrücklich und in erster Linie von der Selbsterkenntnis des Geistes (III 4, 429b 9. 26), was terminologisch mit der /GVCRJ[UKM übereinstimmt (XII 9, 1074b 33-1075a 5). Philoponos ist demnach berechtigt, die geistige Selbsterkenntnis in der &GCPKOC-Interpretation zu behandeln. Systematisch bleibt dabei die Frage interessant, ob und wie er unser alltägliches Selbstbewusstsein in diese Konzeption integrieren kann, die aber mangels klarer Aussagen von Philoponos’ Seite erst im zweiten Teil dieser Arbeit anhand von Priskians Konzeption besprochen werden soll. Neuplatonischer Aristotelismus: Methodische Grundlagen Im folgenden Abschnitt führt Philoponos den Nachweis, wie die Seelenarten, deren Unkörperlichkeit bzw. Immaterialität er in Bezug auf ihre Vermögen gezeigt hat, ontologisch mit dem Leib bzw. mit den verschiedenen Leibern, die er zuvor aufgezählt hat, zusammenhängen. Die dabei zugrundegelegte Fragestellung lautet, ob sie vom Körper trennbar (ƷƹƱƪƳƴ̆Ʋ) oder untrennbar (ʕƷ̊ƱƪƳƴưƲ) sind. Diese Begriffe setzen für Philoponos die Unkörperlichkeit der Seele und damit einen Leib-Seele-Dualismus voraus, was bei Aristoteles nicht so klar ist. Während für ihn die Frage nach der Trennbarkeit der Seele vom Leib eng damit verbunden zu sein scheint, ob eine untrennbare Form überhaupt etwas von ihrem geformten Körper verschiedenes ist (vgl. II 1, 412b 6-9. 413a 3-5), stellt sie sich für Philoponos als eine Frage nach der Intensität des Dualismus: Ist die Seele vom
_____________ 172 S. dazu u. S. 338-340.
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Leib nicht trennbar, so existiert jedes Erkennen oder jede Emotion in notwendiger Verbindung mit einem materiellen Geschehen. Ist sie dagegen trennbar, dann kann eine seelische Tatsache auch ohne eine solche Verbindung existieren. Hinsichtlich des methodischen Vorgehens gibt Philoponos hierzu an, eine Richtschnur (ƫƢƮ̊Ʈ) des Aristoteles aus der Einleitung zu &G CPKOC vorzustellen, die von allen Philosophen anerkannt werde, unabhängig davon, welche Meinung sie zur Unsterblichkeit der Seele verträten173. Dann trägt er die folgenden Regeln vor, die er direkt (ƶƨƳ̄Ʈ) Aristoteles zuschreibt: 1. „Jedes Sein (ư˝Ƴ̄Ƣ), das keine vom Leib trennbare Aktivität (ʟƮ̀ƱƤƦƪƢ) hat, hat notwendig auch kein vom Leib trennbares Sein“174. Denn, so Philoponos weiter, eine derartige Substanz hätte dann, wenn sie vom Leib getrennt würde, keine Aktivität mehr, wäre also überflüssig (ƭ˾ƴƨƮ). „Etwas Überflüssiges schafft aber weder der Gott noch die Natur“175, wie Philoponos im Anschluss an Aristoteles176 formuliert. 2. „Jedes Sein, das eine vom Leib trennbare Aktivität hat, ist notwendig auch selbst vom Leib trennbar“177. Denn sonst wäre das Verursachte, nämlich die Aktivität, größer als seine Ursache, nämlich das Sein, das das Vermögen (ƥ̈ƮƢƭƪƲ) habe, die Aktivität zu verursachen, und das in der Natur einen höheren Rang einnehme178. Der Bezugspunkt dieser Aussagen in Aristoteles’ Text ist I 1, 403a 1012: „Wenn also eine der Funktionen oder Eigenschaften der Seele ihr eigen ist, dann ist es gewiss möglich, dass sie abgetrennt wird; wenn ihr aber nichts eigen ist, dann ist sie gewiss nicht trennbar“179. Hier finden sich beide von Philoponos genannte Regeln, wenn auch in einer weniger technischen Terminologie und nicht so sehr als universelle metaphysische Prinzipien formuliert. Allerdings möchte Aristoteles diese Prinzipien auf die eine Seele anwenden und sagt, anders als sein neuplatonischer Interpret, nicht explizit, dass es möglich ist, von den Wirkungen bzw. Aktivitäten der Seele auf deren vom Leib trennbare oder untrennbare Substanz (bzw. ihr Sein) zu schließen. In seiner Perspektive ist es auch nicht zwingend, dass aus der vom Körper unabhängigen Aktivität eines Seelenvermögens
_____________ 173 Philop. in an. 15, 12-15. 174 ƒ̀ƳƢưˣƮ,ƶƨƳ̄Ʈ,ư˝Ƴ̄ƢƭƨƥƦƭ̄ƢƮʩƷưƵƳƢʟƮ̀ƱƤƦƪƢƮƷƹƱƪƳƴ́ƮƳ̊ƭƢƴưƲ,ʟƯʕƮ˾ƤƫƨƲư˝ƥ˿ ƴ́Ʈư˝Ƴ̄ƢƮʪƯƦƪƷƹƱƪƳƴ́ƮƳ̊ƭƢƴưƲ. Philop. in an. 15, 17f. 175 Ƒ˝ƥ˿Ʈ ƥ˿ ƭ˾ƴƨƮ ưˡƴƦ ˒ ƩƦ̅Ʋ ÝưƪƦ͙ ưˡƴƦ ʲ ƶ̈ƳƪƲ. Philop. in an. 15, 18-21, Zitat 20f. (ebenso Procl. in Tim. 2, 90, 30f.); 46, 35-47, 2. 176 Cael. I 4, 271a 33. 177 ƒ̀ƳƢ ư˝Ƴ̄Ƣ ʩƷưƵƳƢ ʟƮ̀ƱƤƦƪƢƮ ƷƹƱƪƳƴ́Ʈ Ƴ̊ƭƢƴưƲ ʟƯ ʕƮ˾ƤƫƨƲ ƫƢ̃ Ƣ˝ƴ́ ƷƹƱƪƳƴ́ ʩƳƴƢƪ Ƴ̊ƭƢƴưƲ. Philop. in an. 15, 22-24. 178 Philop. in an. 15, 26-34; 46, 22-28. 179 Ƈˁ ƭ˿Ʈ ưˣƮ ʟƳƴ̄ ƴƪ ƴͲƮ ƴ͋Ʋ ƸƵƷ͋Ʋ ʩƱƤƹƮ ʳ ÝƢƩƨƭ˾ƴƹƮ ˅ƥƪưƮ, ʟƮƥ̀Ʒưƪƴ’ ʗƮ Ƣ˝ƴ́Ʈ ƷƹƱ̄ƧƦƳƩƢƪŻƦˁƥ˿ƭƨƥ̀ƮʟƳƴƪƮ˅ƥƪưƮƢ˝ƴ͋Ʋ,ư˝ƫʗƮƦ˅ƨƷƹƱƪƳƴ̂.
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dessen abgetrenntes Sein folgt; das ist nach der Aussage des Stagiriten lediglich eine Möglichkeit (403a 11: ʟƮƥ̀Ʒưƪƴ’ʗƮƢ˝ƴ́ƮƷƹƱ̄ƧƦƳƩƢƪ). Mit dem begrifflichen Apparat, den Philoponos anwendet, ist dieser Schluss aber konsequent: Dass die Seele unkörperlich ist, hat er zuvor bewiesen, und als Form (ƦˇƥưƲ) ist bzw. hat sie ein eigenes Sein (ư˝Ƴ̄Ƣ)180. Eine Aussage über das Verhältnis der Seele zum Körper ist daher konsequenterweise eine Aussage über das Verhältnis zweier eigenständig seiender Dinge bzw. Substanzen. Ein schwierigeres Problem als diese Deutung des aristotelischen Wortlauts war für die antiken Interpreten die Begründung der beiden Regeln, die sich bei Aristoteles nicht findet. Wie problematisch diese Begründung für die Interpretation von &G CPKOC war, teilt Philoponos im Kommentar zur Stelle mit. Seine eigene Erklärung übernimmt er von den „attischen Kommentatoren (ư˂ ʝƴƴƪƫữ ʟƯƨƤƨƴƢ̄)“, einer unter diesem Namen nicht näher bekannten Gruppe. Diese hätten als erste die beiden Sätze richtig als zwei voneinander unabhängige Regeln gedeutet. Dagegen hätten frühere Kommentatoren die zweite Regel als eine Ableitung aus der ersten verstanden: Aus dem Umkehrschluss aus der ersten Regel: „Wenn etwas eine vom Leib unabhängige Aktivität hat, dann ist es abtrennbar“, nämlich: „Wenn etwas nicht abtrennbar ist, hat es keine vom Leib unabhängige Aktivität“, habe Aristoteles die Formulierung der zweiten Regel geschlossen: „Wenn etwas keine vom Leib unabhängige Aktivität hat, dann ist es auch nicht abtrennbar“. Für diese Argumentation sei Aristoteles als ungeschickt kritisiert worden181. Die Leistung der attischen Exegeten sei es gewesen, den zweiten Satz unabhängig vom ersten zu begründen und somit Aristoteles vor dem Vorwurf ungeschickten Argumentierens in Schutz zu nehmen182. Diese Darstellung der Auslegungsgeschichte lässt sich historisch und systematisch genauer erklären. Die Begründung der ersten Regel durch die Ablehnung alles Überflüssigen in der Natur findet sich bereits in Alexander von Aphrodisias’ Schrift ¯DGTFKG5GGNG183, und man kann davon ausgehen, dass sie auch in Alexanders verlorenem Kommentar zu &G CPKOC stand. Dass diese Begründung für beide Sätze noch Mitte des 4. Jahrhunderts die einzig bekannte war, zeigt Themistios’ Auslegung der Stelle, der die erste Regel auf dieselbe Weise begründet wie Alexander und Philoponos. Für den zweiten Satz kennt er dagegen keine Begründung und fasst ihn daher als nicht zwingend auf. Denn es könne mehr eigene Aktivitäten
_____________ 180 181 182 183
Philop. in an. 212, 23f. Philop. in an. 46, 10-18. Philop. in an. 46, 18-22. Alex. an. 12, 21-24.
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als vom Leib trennbare Gegenstände geben. Schließlich hätte die Hand oder das Auge ja auch eine eigene Aktivität184. Auf diesen Einwand geht Philoponos ausdrücklich ein und bringt die naheliegende Erklärung, dass eine Eigenwirkung eines Teils des Menschen anders zu behandeln sei als eine von dessen ganzer Seele, da der Teil trotz eigener Wirkungen vom Ganzen abhängig sei185. Die Begründung, die Philoponos für die zweite Regel nennt, setzt das neuplatonische Axiom voraus, dass eine Ursache stets stärker ist als das von ihr Verursachte. In Philoponos’ Formulierung weist die Ausführung des Arguments eine große terminologische Nähe zu Proklos’ 6JGQNQIKUEJGT 'NGOGPVCTNGJTG auf. Dort wird die Überlegenheit der Ursache über das Verursachte in Leitsatz 7 ausdrücklich bewiesen186, womit der Schluss möglich wird, dass eine Aktivität nicht stärker sein kann als die seinsmäßige Grundlage, von der sie ausgeht, da ein selbständiges Sein einem abhängigen Sein immer überlegen sei187. Der von Philoponos genannte Beweis, dass die Wirkung der Ursache überlegen wäre, wenn eine Aktivität stärker sein könnte als das ihr zugrunde liegende Sein, findet sich auch in Proklos’ Schrift &KG8QTUGJWPI (&GRTQXKFGPVKC), wo das Problem, ob die Seele vom Leib trennbar ist, eigens behandelt wird. Hier weist Proklos auch darauf hin, dass dieses Argument von Aristoteles stamme. Er kannte also bereits die Tradition, I 1, 403a 10-12 in diesem Sinne zu interpretieren188. Damaskios behauptet sogar, dass sich das Argument bereits vor Aristoteles auch bei Platon finde189. Philoponos’ Hinweis auf die attischen Kommentatoren und die Unterschiede in der Beweisführung machen deutlich, dass die AristotelesAusleger seine Quelle waren und nicht Proklos. Eine große sachliche Differenz bedeutet das nicht, denn diese Autoren gehörten wohl selbst zu den Athener Neuplatonikern des 5. Jahrhunderts. Es wurde sogar vermutet, dass Proklos’ Lehrer Plutarch zu ihnen gezählt wird bzw. dass die Verweise auf die attische Interpretation von &G CPKOC überhaupt seinen Kommentar meinen190. Gegen die Identifizierung mit Plutarch spricht aber, dass dieser von Philoponos einmal selbst mit Namen genannt wird,
_____________ 184 185 186 187 188
Them. an. paraphr. 6, 4-33. Philop. in an. 47, 5-26. Zur Struktur dieses Arguments vgl. Lloyd 1976, 152-155. Procl. elem. 44 (46) unter Verwendung von elem. 9. Procl. prov. 15, 2-9 (122); wie weit die neuplatonische Prinzipienlehre sich von Aristoteles’ Text entfernt hat, wird auch daran deutlich, dass Proklos’ Editor Helmut Boese nicht feststellen konnte, auf welche Aristoteles-Stelle Proklos anspielt. 189 Dam. in Phaed. 72. 190 Das vermutet Beutler 1951; zurückhaltender sind Immisch 1904, 31; Westerink 1976, 13.
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während er die attischen Kommentatoren als Gruppe so bezeichnet191. Zudem führt die von Philoponos vorgestellte Methodik direkt zu der von Plutarch abgelehnten These, dass die Seele nicht eine Seinsform, sondern mehrere sei. Allerdings ist es denkbar, dass Plutarch diese Methodik im Anschluss an den aristotelischen Text auf die Seele als ganze angewandt hat und so zu dem Ergebnis gekommen ist, sie sei eine vom Leib abtrennbare Wesenheit mit vielen Fähigkeiten (ƭ̄Ƣư˝Ƴ̄ƢÝưƬƵƥ̈ƮƢƭưƲ), während Philoponos aufgrund von Proklos’ Unterscheidung mehrerer Wesenheiten in der Seele zu einem anderen Ergebnis kam192. Mit den attischen Exegeten können also auch andere Platoniker gemeint sein, die in Athen nach Themistios (Mitte des 4. Jahrhunderts)193 und vor Plutarch194 Werke über die aristotelische Philosophie verfassten, für deren Beschäftigung mit &G CPKOC wir jedoch keine Zeugnisse besitzen; es kann sich aber auch einfach um eine Gruppenbezeichnung für die Athener Platoniker um Syrian und Proklos handeln. Die eigenständige Begründung der zweiten aristotelischen Regel ist jedenfalls eine wichtige Neuerung in der Deutungsgeschichte von &GCPKOC, denn erst sie macht es möglich, die aristotelische Schrift als Zeugnis für die neuplatonische Seelenlehre zu verwenden: Eine Skepsis wie die des Themistios gegenüber der Schlussfolgerung, dass eine vom Leib unabhängige Aktivität der Seele zu der Annahme berechtigt, diese Seele sei wesenhaft vom Leib unabhängig, musste eine plausible neuplatonische Deutung der Schrift erschweren, denn dieses Prinzip ist die methodische Voraussetzung dafür, bei Aristoteles eine eindeutige Aussage über die Unkörperlichkeit des Geistes zu finden. Die Bedeutung dieser Entwicklung wird von Philoponos selbst in der Einleitung deutlich gemacht, wenn er sagt, dass er mit der Trennbarkeit der Seele auch ihre Unsterblichkeit beweisen kann. Dafür führt er zwei Argumente an: Zum einen hätte die Seele, wäre sie nicht ewig, entstehen müssen, dann aber sei sie materiell, denn nur körperliche Dinge entstünden und vergingen; wenn die Seele aber trennbar sei, dann sei sie notwendig immateriell (ʙƵƬưƲ), könne also auch nicht vergehen195. Dieser Beweis zeigt noch einmal den erwähnten Unterschied zwischen Körperlichkeit und Materialität: Erst die Immaterialität, die aus der Trennbarkeit vom Körperlichen, und nicht nur der Unkörperlichkeit, folgt, impliziert die Unvergänglichkeit und Unsterblichkeit. Das wird auch bei Proklos vor-
_____________ 191 Philop. in an. 21, 20-29. Taormina 1989 zitiert nur den ersten Teil der Stelle als Beleg für Plutarch (test. 18), geht aber auf die attischen Kommentatoren gar nicht ein. 192 S. u. S. 85f. 193 Stegemann 1934, 1651f. 194 Zum Beispiel Priskos (Iulian. Imp. ep. 12 [19, 15-20]). 195 Philop. in an. 16, 12-18.
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ausgesetzt, z.B. wenn er festhält, dass die im pneumatischen Leib befindliche Seele in Materie ist, während nur die geistige Seele materielos ist196. In der 6JGQNQIKUEJGP 'NGOGPVCTNGJTG hält Proklos ausdrücklich fest, dass auch etwas Unkörperliches affiziert werden bzw. etwas erleiden (Ý˾ƳƷƦƪƮ) kann, wenn es in Verbindung mit dem Körper besteht197.Nur die Trennbarkeit vom Körper garantiert also die Unsterblichkeit. Auch das zweite Argument ist nicht Philoponos’ Eigengut, sondern Leitsatz 187 in Proklos’ 6JGQNQIKUEJGT'NGOGPVCTNGJTG: Nur auf zwei Weisen könne etwas vergehen, entweder indem die Teile von etwas Zusammengesetztem getrennt würden oder indem sich das auflöste, auf dessen Grundlage etwas existiere (ƴ̅˞ÝưƫƦ̄ƭƦƮưƮ). Ein Beispiel für den zweiten Fall sei, dass bei Auflösung der Saiten auch deren Harmonie ende198. Auch dieser Beweis ist natürlich voraussetzungsreich: Er nimmt an, dass etwas Unkörperliches prinzipiell einfach ist und dass etwas Einfaches nicht vergehen kann, was von Proklos ebenfalls in der Elementarlehre bewiesen wird199. Letzten Endes beruht die Argumentation auf der Annahme der Ewigkeit der Welt: Wenn alles ewig ist, solange kein Grund dafür angegeben wird, dass es vergeht, wird die Beweislast demjenigen zuteil, der die Vergänglichkeit von etwas beweisen will. Diesen Beweis führen die Neuplatoniker nur für die körperlichen, aus Materie und Form zusammengesetzten Dinge, während für das Immaterielle ihrer Meinung nach kein eigener Grund für seine Ewigkeit angeführt werden kann. Solange es nicht teilbar ist, ist es nicht auflösbar, und damit ewig. Mithilfe dieser Erörterungen lässt sich der Unterschied von Unkörperlichkeit und Immaterialität, wie Philoponos ihn versteht, genauer angeben: Materie ist ein grundsätzlicheres metaphysisches Prinzip zur Beschreibung der in Werden und Vergehen befindlichen Welt, das die Zusammensetzung aus Teilen und damit die Auflösbarkeit impliziert. Jeder ausgedehnte Körper ist daher ein Bestandteil der materiellen Welt, doch genügt das Phänomen der Körperlichkeit nicht, um die Welt als ganze zu beschreiben: Der Ablauf der Welt wird durch unkörperliche, teilweise seelische, d.h. lebendig machende Formen bestimmt, die aber untrennbar mit einem Körper verbunden und daher als Bestandteil der materiellen Welt vergänglich sind. Dabei ist auch zu beachten, dass „Unkörperlichkeit“ ein Element eines körperlichen Prozesses charakterisiert. Die Folgerung, dass es sich um ein seelisches Phänomen handelt, ergibt sich daraus, dass die neuplatonische Ontologie die Wirklichkeit ausschließlich in körperliche
_____________ 196 Procl. in Tim. 3, 285, 12-16. 197 Procl. elem. 80 (74, 28-30). 198 Philop. in an. 46, 28-34; 16, 18-24; L 34, 1-35, 27; 54, 77-81; Procl. elem. 187 (162, 2431); vgl. 48f. (48, 5-15). 199 Procl. elem. 15f.; 42-47 (16, 30-18, 20; 44, 11-48, 4).
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und seelische Phänomene aufteilt und Körper recht eng durch die Merkmale Ausdehnung und Widerständigkeit definiert. Diese methodischen Grundsätze, die übrigens auch von anderen Neuplatonikern zugrundegelegt werden, zeigen, wie abhängig Philoponos’ Aristoteles-Deutung von neuplatonischen Grundannahmen ist. Freilich spricht diese Abhängigkeit nicht gegen den Kommentator: Methodisch ist er auf der Höhe der Zeit und interpretiert den aristotelischen Text philosophisch-systematisch unter Gesichtspunkten, die er für korrekt hält. Die Beweise für die verschiedene Relation der Seelenvermögen zum Körper Die Beweise, mit denen Philoponos auf das unterschiedliche Sein der einzelnen Seelenvermögen schließt, folgern entsprechend diesen methodischen Voraussetzungen von den beobachtbaren Aktivitäten der Vermögen auf ihr Sein. Da die rationale Seele mit der Selbsterkenntnis über eine Aktivität verfügt, die in keiner Weise mit dem Leib verbunden ist, folgert Philoponos als erstes, dass auch ihr Sein trennbar und sie damit unsterblich ist200. Das ist für ihn auch wegen ihrer Fähigkeit zur Erkenntnis der Verstandesgegenstände (Ʈưƨƴ˾) klar, die selbst immaterial sind und daher auch nur von einem immaterialen Vermögen erkannt werden können201. Von den übrigen Seelenvermögen behandelt Philoponos zunächst die vegetativen und mit ihnen zusammen Zorn und Begierde, die Strebevermögen der nicht rationalen Seele. Für all diese Kräfte erhebt er den Anspruch, sie „seien im Körper und wirkten durch ihn und in Bezug auf Körper“202. Als Beweis wird für die vegetativen Vermögen angeführt, dass man ihr Verbleiben im Körper daran feststellen könne, dass sich auch nach dem Tod noch Reste ihrer Aktivität feststellen ließen: Haare sowie Fuß- und Fingernägel wüchsen noch eine Zeitlang weiter, so dass das Wachstums- und das damit verbundene Nährvermögen noch nicht erloschen sei. Die Anwesenheit des Fortpflanzungsvermögens ergebe sich aus dessen notwendiger Verbundenheit mit den beiden vorgenannten, aber auch daraus, dass ein Leichnam Würmer, Wespen und Bienen hervorbringe203. Philoponos schließt hier also entsprechend seiner ersten Regel aus dem Fehlen von Fähigkeiten, die ohne den Körper ausgeübt werden können, darauf, dass auch das Sein, das diese Fähigkeiten bewirkt, vom Kör-
_____________ 200 201 202 203
Philop. in an. 16, 7-9; zum Astralleib vgl. oben S. 53 Anm. 117. Philop. in an. 16, 4-7. ʫƮƳ̊ƭƢƴ̄ƦˁƳƪƫƢ̃ƥƪ˽Ƴ̊ƭƢƴưƲʟƮƦƱƤưͨƳƪƫƢ̃ÝƦƱ̃Ƴ̊ƭƢƴƢ. Philop. in an. 16, 30f. Philop. in an. 17, 4-19.
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per untrennbar ist. Die biologischen Beobachtungen, mit denen er die Untrennbarkeit dieser Funktionen vom Körper begründet, könnten auf das Interesse der Alexandriner Neuplatoniker an naturwissenschaftlichen Fakten zurückzuführen sein. Die Feststellung, dass die vegetativen Vermögen auch nach dem Tod im Körper weiterwirken, ist dabei vor allem wichtig, um den Unterschied zwischen der in unserem Körper beheimateten vegetativen und der nicht rationalen Seele zu erklären, die dem pneumatischen Körper innewohnt. Denn das Argument, dass bei dieser Seelenart ein unkörperliches Sein angesichts ihrer nur körperlichen Fähigkeiten nicht angenommen werden darf, weil sie im Fall der Separation ins Leere ginge, scheint ja auch für sie zu gelten. Das bestätigt Philoponos’ Argumentation zu den nicht rationalen Strebevermögen Begierde und Zorn. Sie sind kaum weniger eng mit dem Körper verbunden als die vegetativen. Der Zorn wirkt, wie Philoponos gemäß einer spätantiken Tradition ausführt204, indem er das Blut im Herzbereich (ÝƦƱƪƫ˾ƱƥƪưƮƢˈƭƢ) in Bewegung setzt (I 1, 403a 29-31; Plat. Tim. 70bc), und die Begierde, indem sie die Leber verändert (Tim. 71b); beide beziehen sich zudem auf körperliche Objekte, die sie begehren bzw. denen sie in Revanche Schmerz zufügen (ʕƮƴƪƬƵÝ͋ƳƢƪ) wollen. Ein unkörperliches Sein wäre bei diesen Vermögen entsprechend Philoponos’ erster Regel überflüssig205. Diese Bezogenheit von Begierde und Zorn auf den materiellen Körper führt Philoponos zu der ausdrücklichen Frage, ob es denn den vorher erwähnten pneumatischen Körper, in dem die nicht rationale Seele ihren Sitz haben soll, überhaupt gibt. Seine Antwort lautet, dass die nicht rationale Seele irgendeinen Körper haben müsse, um bestraft und gereinigt werden zu können, damit sie ohne Zorn und Begierde ewig leben könne206. Dieses neuplatonische Argument, das von Proklos als Meinung Syrians referiert wird207, aber auch schon von Porphyrios verwendet wurde208, wirkt in Philoponos’ Argumentation wie ein Fremdkörper, denn es verwendet weder die Methode, von den Aktivitäten auf ein Sein zu schließen, noch geht es wie andere Argumente des Abschnitts auf naturwissenschaftliche Beobachtungen zurück. Mit einer aristotelischen Psychologie hat es schließlich sehr wenig zu tun. Zudem gilt es natürlich nur für die Strebevermögen Begierde und Zorn, aber nicht für die nicht rationalen Erkenntnisvermögen Sinneswahrnehmung und Vorstellungskraft. Deren Verwurzelung im pneumati-
_____________ 204 205 206 207 208
Parallelen bei Gronau 1914, 251. Philop. in an. 16, 32-17, 4. Philop. in an. 17, 23-18, 31. Procl. in Tim. 3, 236, 18-237, 31; vgl. Dodds 21963, 320; Bernard 1997, 66f. Smith 1974, 156 nach Aug. civ. X 9 (282, 18-27); dazu Zambon 2005, 324-328.
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schen Leib hält Philoponos deswegen für gesichert, weil dann, wenn schon die nicht rationalen Strebevermögen eigentlich nicht unserem Leib angehören, dies bei den Erkenntnisvermögen erst recht nicht sein könnte, denn durch ihre Erkenntnisfunktion seien diese höherrangiger und daher noch unkörperlicher als die Strebevermögen209. Dieses ganz neuplatonische Argument hilft allerdings auch nicht, den pneumatischen Körper mit Aristoteles’ Menschenbild zu verbinden. Wenn man bedenkt, dass die Wirkung der Sinneswahrnehmung darin besteht, Eigenschaften an Körpern zu erkennen, wäre vielmehr zu erwarten gewesen, dass diese vom materiellen Körper nicht trennbar ist. Philoponos geht hierauf nicht näher ein, sondern wendet sich der Frage zu, wie die nicht rationalen Fähigkeiten mit dem materiellen Körper zusammenhängen, wobei er betont, dass die nicht rationale Seele mit diesem eng verbunden ist. Denn „Spuren“ (˅ƷƮƨ) bzw. „Erleuchtungen“ (ʟƬƬ˾ƭƸƦƪƲ) der nicht rationalen Seele reichten in unseren Körper herein und zögen materielle Veränderungen nach sich: Die Begierde verändere die Leber, der Zorn bewege das Blut im Herzbereich, und die verschiedenen Sinne wirkten im Gehirn, von wo aus sie durch einen Nerv mit den einzelnen Sinnesorganen in Verbindung stünden210. Diese Theorie der Seelenspuren, d.h. die Annahme, dass gewisse seelische Fähigkeiten sich in einem Wesen finden können, ohne dass die Seele selbst voll gegenwärtig ist, findet sich bereits bei Plotin, der sie namentlich auf die vegetative Seele anwendet, aber auch auf die Sinneswahrnehmung, die nur ein Abbild (Ʀ˅ƥƹƬưƮ) der Wahrnehmung innerhalb der Seele sei211. Plotin meint, wie auch spätere Neuplatoniker, dass der Körper durch eine solche Seelenspur soweit vorbereitet wird, dass die Seele selbst in diesen Körper eingehen und sich seiner bedienen kann212. Proklos bezeichnet mit dem Terminus „Erleuchtung“ (ʩƬƬƢƭƸƪƲ) in seiner 6JGQNQIKUEJGP 'NGOGPVCTNGJTG sogar die gesamte Wirkung der transzendenten Seele im Körper, d.h. die nicht rationale und vegetative Seele als ganze213. Auch Philoponos greift diese Terminologie einmal ausdrück-
_____________ 209 Philop. in an. 18, 34-38. 210 Philop. in an. 18, 37-19, 8. 211 Plot. enn. I 1, 7, 12f. ˅ƷƮưƲ, Ʀ˅ƥƹƬưƮ und ʩƬƬƢƭƸƪƲ werden in dieser Bedeutung von den Neuplatonikern synonym gebraucht; s. Tornau 1998a, 283f. 212 Plot. enn. VI 4, 15, 8-17. 213 Dodds 21963, 244, meint, die Seelenspur sei das ƳƵƮƢƭƶ̆ƴƦƱưƮ; dieses ist jedoch nicht ʕƷ̊ƱƪƳƴưƮ, da es nicht einfach ʕƳ̊ƭƢƴưƮ ist; vgl. z.B. auch Plot. enn. I 1, 7, 1-6; Simpl. in Epict. I, 355-357, ferner Perkams 2006a, 178f. Nach Zambon 2005, 333f. und Dillon 2005, 342 nimmt die Seelenspur bei Plotin in etwa die Systemstelle ein, die bei Porphyrios der pneumatische Körper hat. Für Proklos und Philoponos trifft das jedenfalls nicht mehr zu, sondern sie benutzen beide Begriffe gleichzeitig und sind um eine sinnvolle Zuordnung bemüht.
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lich auf, um die metaphysische Unterscheidung des menschlichen Geistes vom Geist über dieser Seele zu verdeutlichen, an dem sie teihat. Der menschliche Geist, also die rationale Seele, könne zwar abgetrennt vom Körper existieren (FGKRUQKNNQKPVGNNGEVWUGRCTCVQGPVG = ÝƦƱ̃ƴư̈ƴưƵƴưͨƮưͨ ƷƹƱƪƳƴưͨ˕ƮƴưƲ), belebe ihn aber durch eine untrennbare Erleuchtung (KN NWUVTCVKQ = ʩƬƬƢƭƸƪƲ), während das auf den höheren Geist nicht zutreffe214. Ansonsten bezeichnet er gelegentlich von der Seele verursachte Veränderungen im Leib und auch vom Leib verursachte in der Seele in diesem Sinn als „Spuren“215, gebraucht das Konzept aber insgesamt recht sparsam. Stattdessen beschreibt er das Verhältnis dieser Seelenarten zum Körper in hylemorphistisch klingenden Wendungen wie „im Körper als einem zugrundeliegenden das Sosein haben“ (ʟƮ ˞ÝưƫƦƪƭ̀ƮͰ ƴͳ Ƴ̊ƭƢƴƪ ƴ̅ ƦˇƮƢƪ ʩƷƦƪƮ)216. Der Grund dafür ist sicherlich, dass Seelenspuren im kommentierten Text nicht vorkommen; eine weitere inhaltliche Aristotelisierung war aber nicht nötig, da das Konzept der Seelenspur im proklischen Sinne die Untrennbarkeit der nicht rationalen und vegetativen Seele von den Körpern, die sie formen, voraussetzt. Der nächste Absatz, der die argumentative Begründung der Seelenlehre abschließt, kritisiert hingegen eine Meinung des, namentlich allerdings auch hier nicht genannten, Proklos auf harsche Weise, nämlich die auf Platons 2JCKFQP (81cd) zurückgehende Ansicht, dass die Seelen der Toten deswegen nachts um die Gräber strichen, da ihr pneumatischer Leib durch eine zu fette Nahrung verdickt sei und so sichtbar werde217. Philoponos wendet dagegen ein, dass diese Erscheinungen keine Menschenseelen sein könnten, sondern nur Dämonen. Denn Menschenseelen würden, hätten sie die Wahl, in den Hades hinabsteigen und nicht auf Friedhöfen herumgeistern. Wären sie dort aber gezwungenermaßen, ließe sich nicht erklären, wie sie böser sein sollten als Menschen, denn sie seien von unserem Leib erlöst und nur noch in dem weniger materiellen, also besseren pneumatischen218. Diese deutliche Kritik an einer auf Platon zurückgehenden und von Proklos vertretenen neuplatonischen Lehre überrascht gerade in diesem stark platonisch geprägten Teil der Einleitung, und zwar auch deswegen, weil der Anfang des Abschnitts (19, 15-20) eindeutig erwarten ließ,
_____________ 214 Philop. in an. L 45, 62-66. 215 Philop. in an. 155, 17-35; s. u. S. 102f. 216 Philop. in an. 18, 37f., was 215, 13-18 näher erläutert wird. Vgl. aber 52, 26-53, 8 und dazu u. S. 101f. 217 Philop. in an. 19, 17-20, 9. Dass Proklos diese Theorie vertrat, zeigt in remp. 1, 119, 12-22. Die übrigen von Todd 1984, 109 Anm. 65 genannten Parallelen sind nicht so eng und können hier außer Betracht bleiben. 218 Philop. in an. 20, 10-22. Eine andere Kritik an dieser Auffassung 239, 15-38; vgl. dazu Todd 1984, 109 mit Anm. 66.
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dass die Erscheinung der Gestalten um das Grab ein Argument für die Annahme des pneumatischen Körpers darstellen würde. Sie passt allerdings zu der distanzierten Behandlung (ƶƢƳƪ) der zuvor referierten proklischen Meinung, auch die rationale Seele sei immer mit einem Astralleib verbunden, die aber nicht eigens kommentiert wird219. Angesichts dieser problemorientierten und teils widersprüchlichen Diskussionen kann man hier wohl eine Bearbeitung durch Philoponos annehmen, der vielleicht zuerst Aussagen aus Ammonios’ Vorlesung referiert (19, 20-36), um dann selbst in einer Ergänzung dagegen Stellung zu nehmen (19, 36-20, 22), wie es auch in dem später zu besprechenden Abschnitt 239, 2-38 in Bezug auf die Lehre vom pneumatischen Leib insgesamt geschieht220. Ein derartiger Widerspruch zur sonst vertretenen Position des Kommentators entspricht den Korrekturen, die Philoponos in anderen Kommentaren gegenüber Ammonios vorgenommen hat, ohne die zurückgewiesenen Meinungen an allen Stellen zu tilgen221. Allerdings ist die gesamte Diskussion spätestens ab 17, 20 so komplex, dass eine sinnvoll fundierte traditionsgeschichtliche Scheidung für diesen Abschnitt nicht möglich ist. Ergebnisse Obwohl Philoponos Proklos nirgendwo mit Namen nennt, ist seine Argumentation im zweiten Teil der Einleitung stark von diesem beeinflusst. Daher ist dieser Teil stärker als die Aufzählung der Seelenvermögen von neuplatonischen Voraussetzungen geprägt. Das zeigt sich besonders, wenn Philoponos die rationale, nicht rationale und vegetative Seele als verschiedene Weisen seelischen Seins beschreibt, die auf verschiedenen ontologischen Stufen angesiedelt und mit unterschiedlichen Körpern verbunden sind. Diese Grundzüge neuplatonischer Seelenlehre, besonders die Unterscheidung von unkörperlichen Lebensfunktionen und der rationalen Fähigkeit zur Selbstzuwendung, die innerhalb der materiellen Welt eine Sonderstellung einnimmt, enthalten hier ihre systematischste Begründung im gesamten Schrifttum dieser Epoche. Wenn Philoponos dabei anhand zahlreicher Stellen nachweisen kann, dass bereits Aristoteles den immateriellen und unsterblichen Geist (ƮưͨƲ) von den übrigen Seelenteilen unterschied, so dass die neuplatonische Bezugnahme auf ihn prinzipiell
_____________ 219 Philop. in an. 18, 22-31. Vgl. zu Philoponos’ Behandlung dieses Problems Verrycken 1994, 225-231; zu beachten ist, dass es nicht um eine eigene Theorie von Philoponos I, sondern eine von Ammonios übernommene Ansicht des Proklos geht. 220 S. u. S. 104-108. 221 Verrycken 1990b, 246-254.
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berechtigt ist, widerspricht das dem neuplatonischen Charakter dieses argumentierenden Teils keineswegs; die Frage ist allerdings, inwieweit sich die hier vorgelegten ontologischen Grundsätze bei der Textinterpretation in den Vordergrund drängen. Darauf ist jetzt einzugehen. 3. Das Verhältnis von Leib und Seele allgemein Die Bedeutung des Terminus ʟƮƴƦƬ̀ƷƦƪƢ Wie man Aristoteles’ Seelenlehre versteht, entscheidet sich an der Interpretation seiner Definition der Seele als „die erste Verwirklichung eines natürlichen Leibes, der der Möglichkeit nach Leben hat“ (ʟƮƴƦƬ̀ƷƦƪƢ ʲ ÝƱ̊ƴƨ Ƴ̊ƭƢƴưƲ ƶƵƳƪƫưͨ ƥƵƮ˾ƭƦƪ Ƨƹ́Ʈ ʩƷưƮƴưƲ). Philoponos versteht den schwierigen Begriff Verwirklichung bzw. Entelechie (ʟƮƴƦƬ̀ƷƦƪƢ) ganz traditionell als die Form (ƦˇƥưƲ) eines Gegenstandes bzw. seiner „Wesenheit der Form nach“ (ư˝Ƴ̄ƢʲƫƢƴ˽ƴ̅ƦˇƥưƲ)222. Im Anschluss an II 1, 412b 6-9 hält er fest, dass man zur Erklärung der Einheit einer derartigen Form mit ihrem Stoff keine weitere Verbindung, etwa in Form eines Mittelglieds, benötigt: „Wenn das eine Form ist und das andere Stoff, dann nimmt die Eignung (ʟưƩƴƧƤƥƩ̆ƴƧƲ)223 des Stoffs unmittelbar (Ʀ˝Ʃ̈Ʋ) die Vollendung der Form auf, ohne dass irgendein Mittleres benötigt wird“224.
Diese Aussage scheint allerdings nur schwer mit dem dualistischen Menschenbild aus Philoponos’ Einleitung vereinbar zu sein, in dem die rationale Seele nicht wesenhaft mit ihrem Leib verbunden ist. Daher könnte man vermuten, dass Henry Blumenthals Ansicht richtig ist, Philoponos sei nicht, wie Priskian, zu einer systematischen Erklärung der Vereinbarkeit des aristotelischen Hylemorphismus mit dem neuplatonischen Dualismus gekommen225. Eine Beurteilung dieser Aussage erfordert aber eine genauere Untersuchung von Philoponos’ Verständnis des Entelechie-Konzeptes, die Blumenthal nicht vorgenommen hat. Zentral ist die Deutung der Entelechie hingegen für Robert Wisnovskys Philoponos-Interpretation, da die Erklärung der Entelechie als „Vollendung“ (ƴƦƬƦƪ̆ƴƨƲ) seiner Meinung nach ein zentrales Element der
_____________ 222 Aristoteles selbst schreibt ư˝Ƴ̄ƢʲƫƢƴ˽ƴ̅ƮƬ̆ƤưƮ (II 1, 412b 10f.), doch ist Philoponos’ Erklärung als ƫƢƴ˽ƴ̅ƦˇƥưƲ (in an. 219, 11f.) inhaltlich unproblematisch. 223 Zu diesem Begriff Tornau 1998a, 219f. Die mittelalterliche, über das arabische ŏKUVKŎFÞF vermittelte Übersetzung lautet RTCGRCTCVKQ. 224 ˜ƴƢƮ ƴ̅ ƭ˿Ʈ ̡ ˢƬƨ ƴ̅ ƥ˿ ƦˇƥưƲ, Ƣ˝ƴ́ ʲ ƴ͋Ʋ ˢƬƨƲ ʟÝƪƴƨƥƦƪ̆ƴƨƲ Ʀ˝Ʃ̇Ʋ ƴ́Ʈ ƴưͨ Ʀ˅ƥưƵƲ ƥ̀ƷƦƴƢƪƴƦƬƦƪ̆ƴƨƴƢƭƨƥƦƮ̅ƲÝƱưƳƥƦƨƩƦ͙ƳƢƭ̀ƳưƵ. Philop. in an. 218, 27-29. 225 Blumenthal 1996, 96.
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inneraristotelischen Harmonisierung darstellt, die das Programm der durch Philoponos repräsentierten Ammonios-Schule darstellen soll226. Die Grundlage dazu hat Wisnovsky zufolge bereits Alexander von Aphrodisias gelegt. Dieser habe das Konzept der Entelechie so interpretiert, dass es die spezifische Vollendung der Art bedeute, der jedes Wesen angehöre; demnach bestünde die Vollendung jedes Menschen in der Vollendung seines typischen Merkmals als Mensch, d.h. der Vernunft, und nicht notwendig in einer Vollendung als leib-seelisches Wesen227. Im Neuplatonismus sei die Entelechie im Sinne der „Vollendung“ interpretiert worden, die bei Proklos eine Zielursache kennzeichne. Philoponos gibt diese Annahme Wisnovsky zufolge „die Freiheit, das Leib-Seele-Verhältnis in allererster Linie (HKTUV CPF HQTGOQUV) als ein Verhältnis von Ursache und Wirkung zu analysieren“ – mit dem Ergebnis, dass der Begriff Entelechie, da hierunter eine transzendente Zielursache verstanden werden müsse, in Philoponos’ Interpretation die Trennbarkeit der Seele vom Körper anzeige228. Abgesehen von der Tatsache, dass Wisnovsky keine Belege für einen primär kausalen Zusammenhang zwischen Leib und Seele, geschweige denn für eine Interpretation von Entelechie als vom Körper trennbarer Vollendung aus Philoponos’ Text anführen kann, kann man schon an dieser Stelle festhalten, dass Wisnovskys These dem gesamten Duktus des Kommentars widerspricht, da bereits in Philoponos’ Einleitung keineswegs eine Trennbarkeit der ganzen Seele vom Körper angenommen wurde. Das wird von Philoponos’ Deutung der Entelechie klar bestätigt. Ganz allgemein bedeutet Entelechie dem Kommentator zufolge, dass die Seele als Form des Körpers der Grund für dessen Zusammenhalt (ƳƵƮưƷ̂) und die Definition (˖ƱưƲ) seiner Materie ist229. Doch bezeichne „Entelechie“ nicht schlechthin dasselbe wie „Form“, sondern Aristoteles verwende bewusst einen anderen Begriff: Von Alexander von Aphrodisias, den er offenbar wörtlich zitiert, übernimmt Philoponos, dass „Verwirklichung“ bzw. „Entelechie“ im Unterschied zu „Form“ sowohl ein Vermögen als dauernden Zustand (ʪƯƪƲ; die erste ʟƮ̀ƱƤƦƪƢ) bezeichnet als auch dessen tatsächliche Wirksamkeit zu einem konkreten Zeitpunkt (die zweite ʟƮ̀ƱƤƦƪƢ), während sich „Form“ nur auf den Zustand bezieht. Daher habe Aristoteles in seiner Definition auch von der „ersten“ Entelechie gesprochen230. Ferner spreche er deswegen von „Verwirklichung“, weil auch Akzidenzien eine „Form“ hätten, während nur bei Substanzen eine
_____________ 226 227 228 229 230
S. o. S. 18. Wisnovsky 2003, 42-48. Wisnovsky 2003, 84f. Philop. in an. 208, 26-29. Philop. in an. 216, 9-26. Das wörtliche Zitat Alexanders reicht von Zeile 10-21; vgl. Alex. an. 23, 17-24, 3 und Moraux 2001, 332.
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Vollendung stattfinde231. Damit kommt Philoponos zum wichtigsten, von Wisnovsky korrekt benannten Punkt seiner Charakterisierung der Entelechie: Dieser Begriff ist Philoponos zufolgeetymologisch abzuleiten „von dem Einen und dem Vollendeten und dem Zusammenhalten“232. Neben die Funktion der Seele, den Leib zusammenzuhalten, tritt die Idee, dass sie dessen Vollendung (ƴƦƬƦƪ̆ƴƨƲ) darstellt233. Philoponos’ Erklärung des Begriffs „Vollendung“ enthüllt aber einen ganz anderen Sinn, als von Wisnovsky behauptet wird. Die Deutung der Entelechie als Vollendung ermöglicht es Philoponos, das Leib-SeeleVerhältnis als bestimmt durch gegenseitige Wirkungen zu beschreiben, die sich entweder aufeinander oder gemeinsam auf ein bestimmtes Objekt richten. Wenn eine Seele Vollendung eines Leibes ist, dann kann sie von diesem nicht getrennt werden, insofern Handeln und Erkennen in einer materiell geprägten Welt gegenseitige Wechselwirkung und gemeinsame Aktivität voraussetzen. Die Begriffe „Form“ und „Vollendung“ bezeichnen eine Relation und werden nur dann richtig verwendet, wenn eine Beziehung zu einem geformten bzw. vollendeten Objekt besteht und man deswegen sagen kann, dass die Seele die Verwirklichung bzw. Entelechie der Möglichkeiten dieses Leibes ist234. Das so Vollendete ist aber nicht mehr der Leib als solcher, sondern das aus Form und Stoff bzw. Leib und Seele zusammengesetzte Lebewesen (ƳƵƮƢƭƶ̆ƴƦƱưƮ bzw. ʩƭƸƵƷưƮ ƳͲƭƢ)235. Dieses Konzept ermöglicht es, eine Seele auch dann als Entelechie anzusehen, wenn sie nicht als ganze, sondern nur in Bezug auf bestimmte Wirkungen untrennbar mit dem Leib verbunden ist. Blumenthals Dilemma, wie eine Seele zugleich vom Leib trennbar und doch dessen Entelechie sein soll, wird damit von vornherein ausgeschlossen. „Entelechie“ bezeichnet Philoponos zufolge also einzelne Relationen, die nicht notwendigerweise die seelische Wesenheit als ganze betreffen. Dabei handelt es sich, entgegen Wisnovskys Behauptungen, nicht um ein Schema von einer transzendenten Ursache und ihrer Wirkung im körperlichen Bereich. Vielmehr beeinflusst das Bestehen einer leib-seelischen Einheit auch die Seele, die als Entelechie nichts anderes ist der vollendende Teil dieser Einheit selbst.
_____________ 231 232 233 234 235
Philop. in an. 211, 23-26; 216, 21f. ƒƢƱ˽ƴ̅ʪƮƫƢ̃ƴ̅ƴ̀ƬƦƪưƮƫƢ̃ƴ̅ƳƵƮ̀ƷƦƪƮ. Philop. in an. 209, 1. Philop. in an. 211, 13-16. Philop. in an. 223, 23-31. Philop. in an. 221, 26-30.
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Die ganze Seele als Entelechie Vor diesem terminologischen Hintergrund lässt sich Philoponos’ Interpretation des aristotelischen Textes angemessen verstehen. Er beginnt seine Erklärung von Aristoteles’ Seelendefinition mit dem Nachweis, dass sie Aristoteles zufolge für alle Seelenarten gelte, auch für die rationale. Das ist im Kontext des späten Neuplatonismus eine brisante Aussage, denn, so Philoponos, „alle, die wollen, dass der Philosoph die rationale Seele unsterblich nennt, sagen, dass diese Definition nicht für die ganze Seele gilt, sondern für die vegetative“236. Die Entelechie sei eine vom Leib nicht abtrennbare Form, daher könne nur die Seele Entelechie unseres Körpers sein, die von ihm nicht abtrennbar sei, und das treffe nur für die vegetative Seele zu237. Diese Argumentation setzt die in der Einleitung dargestellte proklische Seelenkonzeption voraus, der zufolge nur die vegetative Seele untrennbar mit dem materiellen Körper, die nicht rationale Seele dagegen nur mit einem pneumatischen Leib verbunden ist238. Philoponos’ Behauptung, dass „alle“ das meinen, ist allerdings EWO ITCPQUCNKU zu nehmen, selbst wenn man es nur auf die Neuplatoniker bezieht. Von den Autoren, deren Ansicht wir kennen, hat nur Proklos lediglich die vegetative Seele als Entelechie gelten lassen, da sie sich als vom einzelnen Leib nicht trennbare Größe von der nicht rationalen Seele unterscheide, die sich nacheinander mit verschiedenen Leibern vereinigen könne239; als Konsequenz daraus hat er die Brauchbarkeit der EntelechieFormel als allgemeine Seelendefinition bestritten240. Dagegen war Plotin der Auffassung, dass die Lehre von der Seele als Entelechie des Körpers selbst für die vegetative Seele ungeeignet war241, während Jamblich die Entelechie mit der alles bewirkenden rationalen Seele identifizierte, was ihm zufolge die Peripatetiker nicht verstanden hätten242. Philoponos’ Betonung von Proklos’ Konzeption zeigt einmal mehr, wie sehr dessen Philosophie den geistigen Hintergrund des Kommentators darstellt. Umso auffälliger ist seine Bereitschaft, von Proklos’ Ansicht abzuweichen, um dem kommentierten Text gerecht zu werden, indem er gegen die proklische Identifizierung von Entelechie und vegetativer Seele argumentiert. Dabei gibt er die Idee der Unsterblichkeit der rationalen Seele nicht auf, sondern geht,
_____________ 236 ˜Ƴưƪƴ̅ƮƶƪƬ̆ƳưƶưƮƣư̈ƬưƮƴƢƪʕƩ˾ƮƢƴưƮƬ̀ƤƦƪƮƴ́ƮƬưƤƪƫ́ƮƸƵƷ́Ʈ,ƶƢƳ̃Ʈ˖ƴƪư˝Ý˾ƳƨƲ ƸƵƷ͋ƲʟƳƴƪƮưˤƴưƲ˒˒ƱƪƳƭ̆Ʋ,ʕƬƬ˽ƴ͋ƲƶƵƴƪƫ͋Ʋ. Philop. in an. 203, 12f. 237 Philop. in an. 203, 14-17. 238 S. o. S. 52. 239 Procl. in Tim. 3, 300, 2-5; vgl. 3, 255, 17-19. 240 Procl. in Tim. 3, 254, 13-27. 241 Plot. enn. IV 7, 85, 25-39. 242 Iambl. an. 16 (40, 14-21); vgl. Finamore/Dillon 2002, 119-121.
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entsprechend seinen Aussagen in der Einleitung, im Prinzip von derselben systematischen Konstruktion aus wie Proklos. Philoponos’ erster Einwand gegen die traditionelle Ansicht bezieht sich darauf, dass die Seele für Aristoteles nicht allgemein die Entelechie, sondern die erste Entelechie des Leibes ist; weder Plotin noch Proklos hatten dieses Element der Definition mitzitiert243. Diese Charakterisierung schließt es nach Philoponos aus, dass nur die vegetative Seele gemeint sein kann. Denn Aristoteles unterscheidet II 1, 412a 22-28 die erste und die zweite Entelechie dadurch, dass die erste so ist wie das Wissen (ʟÝƪƳƴ̂ƭƨ), während die zweite für den tatsächlichen Gebrauch dieses Wissens (ƩƦƹƱ̄Ƣ) steht. Die erste Entelechie ist eine dauerhafte habituelle Vollendung, die auch dann vorhanden ist, wenn sie im Augenblick keine Wirkungen hervorbringt, etwa dann, wenn ein Mensch schläft. Dagegen wäre die zweite Entelechie die tatsächliche Aktivität dieser Wirkungen zu einem bestimmten Zeitpunkt, also etwa dann, wenn jemand wach ist. Ein solcher Unterschied, so Philoponos, sei bei der vegetativen Seele gar nicht verständlich, daher könne Aristoteles auch nicht nur sie gemeint haben, wenn er die Seele „Entelechie“ nannte: Denn er setzt eine Seele voraus, deren Vermögen zeitweise gebraucht und nicht gebraucht werden können244, was für die vegetative Seele nicht gilt, da sie auch dann aktiv ist, wenn jemand schläft245. Dieses Argument zwingt Philoponos allerdings zu einer weiteren Erklärung, um zu zeigen, dass Aristoteles’ Definition trotzdem auch für die vegetative Seele gilt. Denn wenn diese immer aktiv ist, könnte man meinen, dass sie nur die zweite Entelechie des Körpers und nicht die erste sei. Diese Konsequenz ist aber nicht notwendig: Ebenso wie die rationale und nicht rationale Seele ist die vegetative Seele, wie Philoponos schreibt, dauernd eine erste Entelechie, denn wenn etwas zweite Entelechie sei, sei es automatisch auch erste246. Außerdem behaupte Aristoteles ja ausdrücklich (II 1, 412b 4-6), dass die Definition für die gesamte Seele gelte247. Es ist interessant festzustellen, dass die Frage des Zusammenhangs der „ersten“ Entelechie mit dem Schlaf und der vegetativen Seele bereits bei Themistios und dann wieder bei Priskian auftaucht, der von Philoponos unbeeinflusst ist248. Das bedeutet nicht nur, dass alle diese Autoren in einer Tradition der Aristoteles-Auslegung stehen, die wohl auf Alexander von Aphrodisias zurückgeht, sondern auch, dass Philoponos ein aus peripateti-
_____________ 243 244 245 246 247 248
Plot. enn. IV 7, 85, 3-5; Procl. in Tim. 3, 254, 21-23; zu Priskian s. u. S. 180f. Philop. in an. 203, 18-204, 12. Philop. in an. 204, 7-8. Philop. in an. 204, 25-205, 13. Philop. in an. 205, 13-17. Them. an. paraphr. 41, 11-22; Prisc. in an. 88, 31-37.
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scher Tradition stammendes Argument benützt, um eine neuplatonische Ansicht zu bekämpfen. Als zweites Argument gegen Proklos führt er den bekannten (und bekanntermaßen schwierigen) Abschnitt vom Ende von II 1 an, dem zufolge die Seele bei einigen Lebewesen in verschiedenen Teilen existiert, von denen einige als Entelechie mit dem Körper verbunden sein könnten, während andere abtrennbar seien. Für die zuletzt genannten Seelenteile – gemeint ist natürlich der Geist (ƮưͨƲ) –, die Aristoteles mit der platonischen Metapher des Verhältnisses eines Steuermanns zu einem Schiff vergleicht, sei noch unklar, ob sie sich zum Körper als Entelechie verhalten (II 1, 413a 3-9). Diese Aussage wird von Philoponos so interpretiert, dass Aristoteles es nicht ablehnt, den Geist als Entelechie zu bezeichnen. Vielmehr führe er, weil seine Definition für die gesamte Seele gelten solle, eine weitere Art und Weise an, in der man von Entelechie sprechen kann und in der der Geist den Körper vollendet, nämlich eben wie ein Steuermann das Schiff249. Im Gegensatz zu vielen modernen Interpreten250 sieht Philoponos diese Metapher also nicht als platonischen Fremdkörper im aristotelischen Text an. Damit hat er zumindest insoweit recht, als Aristoteles’ Ausführungen in diesem Abschnitt vor dem Hintergrund seiner Theorie des Geistes in III 4-5 durchaus erkennen lassen, welches Problem er im Blick hatte, als er nach dem Entelechie-Sein der Gesamtseele fragte. Wie das Problem zu lösen ist, hat der Stagirite allerdings nicht mehr erklärt. Seele als homonymer Begriff Aus diesem Grund ist die Annahme, dass Aristoteles’ Seelendefinition ebenso auf die rationale Seele zutrifft wie auf die enger mit dem Leib verbundenen nicht rationalen und vegetativen Seelen, keine selbstverständliche Interpretation von &G CPKOC. Denn ein immaterieller und unsterblicher Geist kann offensichtlich nicht eine untrennbare Form des Leibes sein. Problematisch ist allerdings weniger die Auslegung des aristotelischen Textes, denn die Annahme, dass Aristoteles einen trennbaren Verstand annimmt und dabei keinen Widerspruch zu seiner Entelechie-Konzeption sieht, ist zumindest unter der Voraussetzung, er wolle in &GCPKOC eine geschlossene philosophische Theorie präsentieren, nicht zu vermeiden. Das Problem ist vielmehr, dass es kaum nachzuvollziehen ist, wie eine solche Konzeption systematisch zu
_____________ 249 Philop. in an. 224, 4-18. 250 Vgl. exemplarisch Hamlyn 1968, 87; auch Blumenthal 1996, 97. Eine interessante Diskussion des Bildes vom Steuermann bietet Hardie 21980, 82f. 371f.
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beschreiben sein soll, was vielleicht der Grund für Aristoteles’ tastende Formulierung ist (413a 8: ʩƴƪ ƥ˿ ʙƥƨƬưƮ). Das zeigt nicht nur die bis hierhin referierte neuplatonische Diskussion vor Philoponos, sondern auch ein Blick in die moderne Forschungsliteratur. „Jeder, der eine hylemorphistische Darstellung der Leib-Seele-Beziehung mit einer Lehre von persönlicher Unsterblichkeit versöhnen kann, gewinnt einen Jackpot jenseits aller Träume der Aristotelesforschung“, wie William Charlton prägnant formuliert hat251. Philoponos antwortet auf diese Herausforderung mit der dargestellten Erklärung von Entelechie als Vollendung, der zufolge die Seele durch bestimmte Wirkungen sich selbst und den Leib zum hylemorphistischen Lebewesen vereinigt252. Auf diese Weise kann er die Mannigfaltigkeit der verschiedenen Seelenvermögen ebenso bewahren wie die Entelechie-Lehre, wobei er diese aber nicht als einheitliche Definition der Seele ansieht: „Es ist also nicht möglich, für jede Seele schlechthin eine Definition (˒ƱƪƳƭ̆Ʋ) anzugeben, aber eine Umschreibung (˞ÝưƤƱƢƶ̂)“253. Was Philoponos damit meint, macht er an Aristoteles’ eigenem Beispiel254 „gesund“ (˞ƤƪƦƪƮ̆Ʈ) klar: Dieser Terminus ist zwar ein einziger Begriff, seine Bedeutungen sind aber verschieden, denn „gesund“ kann heißen „Gesundheit bewirkend“ (z.B. ein Medikament), „Gesundheit zeigend“ (z.B. eine gesunde Gesichtsfarbe) oder „die Gesundheit schützend“ (z.B. Sport). Alles, was als „gesund“ bezeichnet wird, hat also einen positiven Bezug zur Gesundheit, und deshalb ist die Bezeichnung nicht willkürlich oder beliebig gewählt. Eine solche Relation wurde im Neuplatonismus wie in der mittelalterlichen Philosophie auch als Analogie bezeichnet, doch scheint Philoponos diesen Begriff nur für den Vergleich von Gott und Mensch benutzt zu haben255. Wenn er davon spricht, dass die so bezeichneten Gegenstände „homonym“ sind, also nur dem Namen nach übereinkommen, folgt er Aristoteles’ eigener Terminologie, denn nach dessen Beispielen für Homonymie in den -CVGIQTKGP (1, 1a 1-4: ein Mensch/ein gemalter Mensch) und der 6QRKM256 beziehen sich homonyme Begriffe nicht auf beliebige Gegenstände, sondern auf solche, die durch einen gemeinsamen Bezugs-
_____________ 251 Charlton 1987, 408. Vgl. Auch Shields 1988, 106 Anm. 5. Bezeichnenderweise „ignoriert“ Nussbaum 1984 die Aussagen von Robinson 1983 über den ƮưͨƲ, wenn sie seine Ansichten über die Seele richtigstellen will. 252 S. o. S. 74-76. 253 Ƒ˝ƥ˿˒ƱƪƳƭ̅ƮʙƱƢÝ˾ƳƨƲʩƳƴƪƮʖÝƬͲƲʕÝưƥưͨƮƢƪƸƵƷ͋Ʋ,ʕƬƬ’˞ÝưƤƱƢƶ́Ʈ. Philop. in an. 205, 29. 254 Top. I 15, 107b 8-12. 255 Philop. in phys. 72, 16-20; zur Begriffsgeschichte Kluxen/Schwarz/Remane 1971. 256 Top. I 15, 107b 6-12.
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punkt miteinander verbunden sind. Erst in der /GVCRJ[UKM257 nennt Aristoteles ein derartiges Verhältnis eine Relation von einem gemeinsamen Gesichtspunkt her (ÝƱ̅Ʋ ʪƮ-Relation) und unterscheidet es von der reinen Homonymie, worauf Philoponos ausdrücklich anspielt258. Als einen derartigen homonymen Begriff sieht Philoponos auch Aristoteles’ Definition der Seele als Entelechie des natürlichen Körpers an. Dabei kann er darauf verweisen, dass Aristoteles zu zögern scheint, eine umfassende Seelendefinition abzugeben (II 1, 412b 4f.), und meint, diese könne nur umrisshaft umschrieben (ƴ̈ÝͰ [...] ˞ÝưƤƦƤƱ˾ƶƩƹ. II 1, 413a 9f.) und müsse für die verschiedenen Seelenvermögen verschieden konkretisiert werden (II 3, 414b 25-34)259. Neben diesen Stellen könnte Philoponos auf das sechste Buch der 6QRKM260 verweisen, wo das von der Seele bewirkte Leben ausdrücklich als homonym bezeichnet wird. Allerdings ist das Substantiv „Umschreibung“ (˞ÝưƤƱƢƶ̂) nicht aristotelisch. Es wurde möglicherweise von den Stoikern als fester Terminus eingeführt. Jedenfalls wird es in Pseudo-Galens /GFK\KPKUEJGP &GHKPKVKQPGP (1. Jhdt.) unter einer Reihe stoischer Definitionen als ein umrisshaft (ƴƵÝƹƥͲƲ) erklärender Begriff eingeführt261.Philoponos definiert „Umschreibung“ bereits in seinem Kategorienkommentar im hier verwendeten Sinn und verwendet das Wort auch sonst öfters so262. Inhaltlich begründet Philoponos die Homonymie der Seelendefinition mit dem unterschiedlichen Verhältnis der Seelenarten zum Leib: „Denn die Entelechie wird von der untrennbaren Form des Leibes und der trennbaren ausgesagt. Denn eine Vollendung ist sowohl der Steuermann für das Schiff als auch die Form des Fleisches für den Körper des Fleisches“263.
Der Unterschied zwischen beiden Arten der Vollendung besteht darin, dass einige Seelenarten in allen ihren Wirkungen vom Leib untrennbar sind, während andere nur in Bezug auf einzelne Wirkungen mit dem Leib wesenhaft verbunden sind264. Das ist jetzt anhand der einzelnen Seelenarten näher zu erläutern.
_____________ 257 Metaph. IV 2, 1003a 33-b 6. 258 Philop. in an. 206, 32f. Allerdings hatte Aristoteles bereits in der Topik auf einen gemeinsamen Begriff bezogene Reihen durch die Bezeichnung Paronymie gekennzeichnet: Schramm 2004, 182f. 259 Kahn 1979, 5; Sorabji 1979, 43. 260 Top. VI 10, 148a 29-31. 261 Ps.-Galen def. med. (19, 348f. Kühn) = Stoicorum Veterum Fragmenta 2, 227 = Fragm. Dial. Stoik. 624. 262 Philop. in cat. 19, 22-20, 3; in an. post. 183, 30-184, 5; in phys. 72, 10-20. 263 ʺ Ƥ˽Ʊ ʟƮƴƦƬ̀ƷƦƪƢ Ƭ̀ƤƦƴƢƪ ƫƢ̃ ʟÝ̃ ƴưͨ Ʀ˅ƥưƵƲ ƴưͨ ʕƷƹƱ̄ƳƴưƵ ƴưͨ Ƴ̊ƭƢƴưƲ ƫƢ̃ ʟÝ̃ ƴưͨ ƷƹƱƪƳƴưͨ.ʩƳƴƪƤ˽ƱƴƦƬƦƪ̆ƴƨƲƫƢ̃˒ƫƵƣƦƱƮ̂ƴƨƲƴưͨÝƬư̄ưƵƫƢ̃ƴ̅ƴ͋ƲƳƢƱƫ̅ƲƦˇƥưƲƴưͨ ƴ͋ƲƳƢƱƫ̅ƲƳ̊ƭƢƴưƲ. Philop. in an. 206, 18-20. 264 Philop. in an. 206, 20-26.
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Aristoteles-Interpretation
Das Verhältnis von vegetativer und nicht rationaler Seele zum Körper Die Seelenarten, deren auf den natürlichen Körper bezogene Funktionen Philoponos zufolge ihre Wesenheit bzw. ihr Sosein ausmachen, da sie überhaupt keine Aktivität (ʟƮ̀ƱƤƦƪƢ) verursachen, die vom Leib getrennt ist, sind als Form eines Leibes per definitionem mit diesem untrennbar verbunden, da Form und Stoff als Glieder einer Relation aufeinander bezogen sind265. Das Beispiel par excellence hierfür ist die vegetative Seele, die ja nach der Einleitung als einzige von unserem Körper nicht lösbar ist. Das gilt besonders für das Nährvermögen bzw. die Nährseele (ʲ ƩƱƦÝƴƪƫ̂), die eine Vollendung (ƴƦƬƦƪ̆ƴƨƲ) des Leibes ist, deren Aktivität sich ebenfalls ganz auf körperliche Objekte richtet. Die Wirkung dieser Seele ist also in jeder Hinsicht mit dem Leib verbunden, daher ist es unmöglich, dass sie von ihm getrennt wird266. Nach dem aristotelischen Text wäre zu erwarten, dass das auch auf die Sinneswahrnehmung zutrifft, da jeder Einzelsinn mit dem für ihn geeigneten und durch ihn geformten Organ in der gleichen Verbindung steht wie die Seele zum Körper, also als Form bzw. Entelechie des zum Sehen befähigten Auges. Das ist aber mit der aus Philoponos’ Einleitung bekannten Ansicht, die wahrnehmende Seele sei nicht mit dem materiellen, sondern mit dem pneumatischen Körper untrennbar verbunden, nicht zu vereinen. Das Problem tritt offen zutage, wenn Philoponos II 1, 412b 18-25 interpretiert, wo Auge und Sehvermögen als Beispiel für eine hylemorphistische Relation genannt werden: Zuerst bestätigt er die Form-Stoff-Relation von wahrnehmender Seele und Sinnesorgan sowohl für den Einzelsinn, im konkreten Fall das sehende Auge, als auch für die Sinneswahrnehmung insgesamt267. Den auf diesem Argument aufbauenden Einwand, dann müsse die ganze Seele unsterblich sein – und nicht nur die rationale –, da jeder Teil von ihr ebenso vom Leib trennbar sei wie die Seele als ganze, widerlegt Philoponos aber nur mit einem Verweis auf die vegetative Seele, da diese gar nicht vom materiellen Leib trennbar ist. Dagegen ist die wahrnehmende Seele nur mit dem pneumatischen Körper untrennbar verbunden, von unserem Körper, also auch von ihrem eigenen körperlichen Organ aber trennbar268. Die spätantike Lehre ist hier also wichtiger als der aristotelische Text. Allerdings wird der Begriff des Pneuma auch im Kommentar selbst noch problematisiert, wie später zu besprechen ist269.
_____________ 265 266 267 268 269
Philop. in an. 223, 25-27. Philop. in an. 223, 29-37. Philop. in an. 221, 17-222, 3. Philop. in an. 222, 3-16. S. u. S. 104-108.
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Das Verhältnis der rationalen Seele zum Körper Während also die nicht rationale Seele zumindest vom pneumatischen Körper untrennbar und damit immer noch Form in der Materie ist, sieht die Sachlage bei der rationalen Seele nach Philoponos’ Ansicht anders aus, wie seine Interpretation des aristotelischen Bildes von der Seele als Steuermann zeigt. Im Falle des Steuermanns ist Philoponos zufolge zwischen den Wirkungen zu unterscheiden, die er als Steuermann, und denen, die er als Mensch hat. Qua Steuermann ist er von seinem Schiff nicht trennbar; seine Aktivität als Steuermann hat er nur im und mit dem Schiff, und sie kommt zum Erliegen, wenn er das Schiff verlassen hat. Qua Mensch ist er dagegen vom Schiff abtrennbar, sowohl hinsichtlich einiger seiner Aktivitäten, zum Beispiel Trinken oder Denken, als auch hinsichtlich seines Seins (ư˝Ƴ̄Ƣ), denn ein Steuermann ist letzten Endes doch mehr Mensch als Steuermann270. Aristoteles’ Bild führt daher zu einem richtigen Verständnis der Verbindung der rationalen Seele mit dem Leib: „So ist also auch die rationale Seele, insofern sie ein abtrennbares Sein hat, keine Verwirklichung des Leibes, sofern sie aber eine derartige Verbindung mit dem Leib annimmt, der gemäß es ihr auch zukommt, Seele genannt zu werden (denn Seele wird in Bezug auf den Leib ausgesagt), ist sie eine Entelechie des Leibes und von ihm untrennbar. Denn wenn sie von ihm getrennt wird, verliert sie diese Wirkungen, die sie aus der Relation zu ihm angenommen hatte, wie das Lebendigmachen, das Bewegen von ihm in allen den natürlichen Bewegungen, und was es noch derartiges gibt“271.
Die unlösbare Verbindung in bestimmten Aktivitäten erlaubt es also, den in seinem Sein unsterblichen Geist als Entelechie, also als Verwirklichung im Körper liegender Möglichkeiten zu betrachten. Diese Relation ist aber nicht ontologisch, sondern funktional, so dass der Entelechie-Begriff ganz anders zu verstehen ist als bei der vegetativen oder nicht rationalen Seele: Entelechie ist für die rationale Seele im Sinne des oben zur Vollendung Gesagten nichts anderes als eine Relation, die ein reziprokes Verhältnis von Ursache und Wirkung begründet. Insofern erklärt sich die Homonymie des Entelechiebegriffs aus den bereits in der Einleitung genannten unterschiedlichen Relationen der Seelenarten zum Körper. Hierfür kann Philoponos auch noch einige weitere Argumente anführen:
_____________ 270 Philop. in an. 224, 34-37. 271 ƑˢƴƹƲ ưˣƮ ƫƢ̃ ʲ ƬưƤƪƫ́ ƸƵƷ́ ˮƲ ƭ˿Ʈ ƷƹƱƪƳƴ́Ʈ ʩƷưƵƳƢ ư˝Ƴ̄ƢƮ ư˝ƫ ʩƳƴƪƮ ʟƮƴƦƬ̀ƷƦƪƢ Ƴ̊ƭƢƴưƲ, ˮƲ ƭ̀Ʈƴưƪ ƴưƪ˾ƮƥƦ ƳƷ̀ƳƪƮ ʕƮƢƬƢƭƣ˾ƮưƵƳƢ ÝƱ̅Ʋ ƴ̅ ƳͲƭƢ, ƫƢƩ̅ ƫƢ̃ ƴ̅ ƸƵƷ́ Ƭ̀ƤƦƳƩƢƪ ʩƷƦƪ (ʲ Ƥ˽Ʊ ƸƵƷ́ ÝƱ̅Ʋ ƴ̅ ƳͲƭƢ Ƭ̀ƤƦƴƢƪ) ʟƮƴƦƬ̀ƷƦƪ˾ ƴ’ ʟƳƴ̃ ƴưͨ Ƴ̊ƭƢƴưƲ ƫƢ̃ ʕƷ̊ƱƪƳƴưƲƢ˝ƴưͨŻƷƹƱƪƳƩƦ͙ƳƢƤ˽ƱƢ˝ƴưͨʕÝ̆ƬƬƵƳƪƴƢ̈ƴƢƲƴ˽ƲʟƮƦƱƤƦ̄ƢƲ,ʘƲʟƫƴ͋ƲÝƱ̅Ʋ Ƣ˝ƴ̅ƳƷ̀ƳƦƹƲʕƮƦƪƬ̂ƶƦƪ,ưˈưƮƴ̅ƧͰưÝưƪƦ͙Ʈ,ƴ̅ƫƪƮƦ͙ƮƢ˝ƴ̅Ý˾ƳƢƲ ƴ˽ƲƶƵƳƪƫ˽ƲƫƪƮ̂ƳƦƪƲ, ƫƢ̃Ʀ˅ƴƪƴưƪưͨƴưƮʙƬƬư. Philop. in an. 225, 1-7.
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Aristoteles-Interpretation
So stellt Aristoteles ja selbst fest, man könne aus dem Verhältnis anderer Seelenvermögen zum Körper nicht auf das des Geistes schließen. „Über den Geist und das theoretische Vermögen ist noch nichts klar, sondern es scheint eine andere Gattung von Seele zu sein, und diese allein kann abgetrennt werden, so wie das Ewige vom Vergänglichen“272 (II 2, 413b 24-27).
Eine andere Gattung (Ƥ̀ƮưƲ) impliziert in der aristotelischen Ontologie ein anderes Sein (ư˝Ƴ̄Ƣ), denn das Sein ist nichts anderes als die Form bzw. Art (ƦˇƥưƲ), durch die ein Ding wieder einer bestimmten Gattung zugeordnet ist. Was gattungsmäßig verschieden ist, gehört also notwendig einer anderen Art an und hat daher auch ein anderes Sein. Dieser Zusammenhang ist für Philoponos so selbstverständlich, dass er ihn nicht mehr eigens erklärt273, was die heutige Interpretation nachholen muss. In einem weiteren Passus (I 4, 408b 18f.) sagt Aristoteles ausdrücklich, dass der Verstand in den Körper als eine bestimmte eigene Substanz (ư˝Ƴ̄Ƣ ƴƪƲ) eintritt und nicht vergeht. Laut Philoponos müsste sogar Alexander von Aphrodisias, „ob er wollte oder nicht“ (ʠƫ̉Ʈ ƫƢ̃ ʙƫƹƮ), diese Stelle als Zeugnis für einen unsterblichen Geist im Menschen akzeptieren. Allerdings habe Alexander aufgrund seiner Lesart von 408b 29274 gemeint, hier sei vom göttlichen Geist die Rede275. Philoponos betont hingegen, dass hier sowohl der unkörperliche Ursprung der Seele als auch ihr eigenständiges Sein sowie ihre Unsterblichkeit ausgesagt sind; die von Alexander angeführte Stelle sei schon wegen des „vielleicht“ (˅ƳƹƲ) nicht auf den göttlichen Geist zu beziehen, denn dieser werde mit Sicherheit nicht durch den Leib behindert276. Für die gattungsmäßige Verschiedenheit der Seelen bringt Philoponos schließlich noch einen eigenen Beweis: Die verschiedenen Seelenarten können nämlich nicht als verschiedene Arten verstanden werden, die Bestandteile einer übergeordneten Gattung sind, d.h. die innerhalb dieser Gattung durch eindeutige Merkmale voneinander unterschieden sind. Das wird dadurch ausgeschlossen, dass sie in einem Verhältnis der Vor- und Nachordnung (ƴ̅ÝƱ̆ƴƦƱưƮƫƢ̃ƴ̅ˢƳƴƦƱưƮ) zueinander stehen, also einige Seelenarten auf anderen basieren: Bei Vorhandensein der rationalen Seele
_____________ 272 ƒƦƱ̃ƥ˿ƴưͨƮưͨƫƢ̃ƴ͋ƲƩƦƹƱƨƴƪƫ͋ƲƥƵƮ˾ƭƦƹƲư˝ƥ̀ƮÝƹƶƢƮƦƱ̆Ʈ,ʕƬƬ’ʩưƪƫƦƸƵƷ͋ƲƤ̀ƮưƲ ʪƴƦƱưƮƦˇƮƢƪ,ƫƢ̃ƴưͨƴưƭ̆ƮưƮʟƮƥ̀ƷƦƴƢƪƷƹƱ̄ƧƦƳƩƢƪ,ƫƢƩ˾ÝƦƱƴ̅ʕ͘ƥƪưƮƴưͨƶƩƢƱƴưͨ. 273 Vgl. allerdings Philop. in an. 194, 4-8. 274 ˘ƥ˿ƮưͨƲ˅ƳƹƲƩƦ͙̆ƮƴƦƫƢ̃ʕÝƢƩ̀ƲʟƳƴƪ soll Alexander anstelle der Standardlesart ˘ ƥ˿ƮưͨƲ˅ƳƹƲƩƦƪ̆ƴƦƱ̆ƮƴƪƫƢ̃ʕÝƢƩ̀ƲʟƳƴƪ, die sich auch in Philoponos’ Lemma findet, gelesen haben. Die von Philoponos genannte Lesart wird in keiner modernen Ausgabe zitiert, obwohl sie durch die Zurückführung auf Alexander einiges Interesse verdient. Vgl. auch Alexanders Erklärung von ʕÝƢƩ̀Ʋ bei Steph. in an. 521, 18-22. 275 Philop. in an. 159, 9-17; ähnlich wie Philoponos beurteilt Moraux 2001, 343 Alexanders Behandlung der Stelle. 276 Philop. in an. 159, 16-18; 165, 11-15.
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in einem sterblichen Lebewesen müssen alle anderen Seelenarten ebenfalls vorhanden sein, aber nicht umgekehrt. Daher kann „Seele“ keine Gattung sein, die die einzelnen Seelenarten zusammenfasst277. Auch die Erläuterung von Entelechie als „Sein in Bezug auf die Form“ (ư˝Ƴ̄ƢʲƫƢƴ˽ƴ̅ƦˇƥưƲ) bietet dafür keinen Ansatzpunkt; zwar fallen alle Seelen unter die Gattung (bzw. die Kategorie) „Sein“ bzw. „Substanz“ (ư˝Ƴ̄Ƣ), aber das ist keine für die Definition relevante Gattung, denn zu ihr gehört auch vieles, was keine Seele ist278. Die Vereinbarkeit von Neuplatonismus und Aristotelismus Der Ansatz, die mit Aristoteles’ Seelenbegriff verbundenen Schwierigkeiten dadurch zu lösen, dass man „Seele“ als homonymen Begriff versteht, ist im neuplatonischen Rahmen nicht selbstverständlich: So hatte der erste neuplatonische &G CPKOC-Kommentator Plutarch von Athen die Seele als „ein Sein mit vielen Vermögen“ (ƭ̄Ƣ ư˝Ƴ̄Ƣ ÝưƬƵƥ̈ƮƢƭưƲ) beschrieben. Damit brachte er eine Position in die Interpretation der aristotelischen Schrift hinein279, die von den führenden Neuplatonikern geteilt wurde: Nachdem schon Plotins Aristoteles-Kritik vorausgesetzt hatte, dass eine Beschreibung für die ganze menschliche Seele des Menschen gesucht wird280, griff Plutarch wohl auf Jamblichs Annahme zurück, dass die rationale Seele eine einzige Substanz ist, aus der die rationalen, nicht rationalen und vegetativen Seelenvermögen hervorgebracht werden281. Auch Proklos’ zweiter Lehrer Syrian, ebenfalls ein Schüler Plutarchs, hat wohl diese Position vor Augen gehabt, als er (nach dem Zeugnis von Ammonios’ Vater Hermeias) die Seele in seinen Vorlesungen zum 2JCKFTQU als „ein Sein mit vielen Vermögen“ bezeichnete282. Eine Änderung an dieser Sichtweise hat es wohl erst mit Proklos gegeben, der womöglich Philoponos zu seinem Verständnis von Entelechie als einem homonymen Begriff angeregt hat283. Systematisch entspricht sein Konzept jedenfalls ganz der Lehre des Proklos. Das zeigt noch über das zur Einleitung des Kommentars Gesagte
_____________ 277 278 279 280 281
Philop. in an. 206, 28-33. Philop. in an. 209, 24-210, 22. Taormina 1989, 76-81; 221f. Plot. enn. IV 7, 85, 36-43, vgl. 15f. Vgl. Plutarch bei Steph. in an. 520, 36-521, 3 (= test. 69-72 Taormina) mit dem u. S. 186-188 zu Jamblich ausgeführten. 282 Herm. in Phdr. 146, 4; 158, 4; 199, 15. Zur Abhängigkeit von Hermias’ 2JCKFTQUKommentar von Syrian vgl. Praechter 1912, 733-735. 283 Ausführlich dazu Perkams 2006a mit weiterer Literatur.
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Aristoteles-Interpretation
hinaus ein Vergleich mit Leitsatz 81 der 6JGQNQIKUEJGP 'NGOGPVCTNGJTG, wo Proklos einen Leitsatz aufstellt, durch den er die Seele als ein besonderes Element seines ontologischen Systems charakterisieren kann: nämlich als ein abgetrenntes Sein, an dem doch etwas anderes teilhat (ƷƹƱƪƳƴͲƲ ƭƦƴƦƷ̆ƭƦƮưƮ), obwohl die Teilhaberelation normalerweise eine unlösbare Verbindung darstellt284. In einer untrennbaren Verbindung wäre es für die rationale Seele aber unmöglich, sich selbst zu erkennen285. Aus demselben Grund beschränkt auch Philoponos, wie seine Einleitung zeigt, die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis auf die abgetrennte Seele bzw. „das Sein der Seele“ (ƴ́Ʈư˝Ƴ̄ƢƮƴ͋ƲƸƵƷ͋Ʋ)286, d.h. die selbständige Seele, die das Lebewesen auf transzendente Weise begründet. Ein derartiges transzendentes Sein muss nach Proklos durch ein „untrennbares Vermögen“ (ʕƷ̊ƱƪƳƴưƲ ƥ̈ƮƢƭƪƲ), nämlich die „Seelenspur“ oder „Erleuchtung“ mit demjenigen verbunden sein, was an ihm teilhat287, so wie es Philoponos für die nicht rationale und vegetative Seele annimmt. Seine bereits anhand der Einleitung aufgewiesene sachliche Übereinstimmung mit Proklos wird also bei Philoponos’ Deutung der Entelechie konsequent durchgehalten. Nach einem der besten Proklos-Kenner, Jean Trouillard, wurde das Modell der Homonymie sogar schon von Proklos auf Aristoteles bezogen: Diese sei genau das Verständnis von dessen Seelendefinition gewesen, mit dem Proklos sich auseinandergesetzt habe288. Hiergegen ist aber noch einmal zu betonen, dass Philoponos die aristotelische EntelechieKonzeption entgegen den ausdrücklichen Ansichten von Plotin und Proklos289 auf die ganze Seele anwendet. Inwieweit man also die Homonymie als aristotelisches Seelenverständnis auch bei Proklos findet, wäre in einer eigenen Untersuchung zu klären; für den Moment sollte man diese Leistung Philoponos oder vielleicht besser seinem Lehrer, dem Proklos-Schüler Ammonios, zuschreiben, der auch schon von Wisnovsky als eigentlicher Schöpfer der hier infrage kommenden Passagen angesehen wird. Die interpretative Arbeitsweise, die Nähe zu Proklos und das Fehlen textinterner Spannungen in diesem Abschnitt sprechen jedenfalls dafür, dass Philoponos hier keine entscheidenden Überarbeitungen vorgenommen hat.
_____________ 284 285 286 287 288 289
Meijer 1992, 86f.; vgl. auch De Rijk 1992. Procl. elem. 82 (76, 22-28). Philop. in an. 58, 20. 21. S. o. S. 71f. Vgl. auch Procl. elem. 20 (22, 4-12). Trouillard 1982, 207-211. S. o. S. 77.
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Das Problem der Einheit der Seele Sachlich enthält diese Homonymie-Lehre natürlich das in der Einleitung bereits angedeutete Problem, wie eine so mannigfaltige Seele denn eine sein kann290. Ohne diese Einheit, die sich natürlich auch aus der naturgegebenen Einheit des Bewusstseins nahelegt, wäre es nur schwer zu erklären, wie etwa die rationale Seele sinnlich erfasste Objekte angemessen deuten kann291. Auch die Vereinigung der rationalen Seele mit dem Körper wäre nicht erklärbar, da für sie eine Vermittlung durch die vom Körper untrennbaren Seelenarten erforderlich ist, mit denen die Seele also irgendwie vereint sein muss292. Ferner scheint sich die Einheit der Seele aus dem aristotelischen Text zu ergeben. Nachdem Aristoteles gezeigt hat, dass die Vermögen der Seele so mannigfaltig sind, dass sie nicht dieselbe Form haben können (I 5, 410b 16-411a 26), betont er, dass die Seele eine sein muss, wenn sie den Leib zusammenhält; denn sonst müsste man wieder nach einem die Seele zusammenhaltenden Element fragen, usw. ad infinitum (I 5, 411a 26-b 14). Die Frage, wie diese Einheit der Seele zu erklären ist, wird von Aristoteles allerdings kaum angemessen beantwortet293. Seine Theorie, die niedrigeren Seelenarten seien in den höheren der Möglichkeit nach enthalten, so wie einfache geometrische Formen in komplexeren (II 3, 414b 20-415a 15), ist eher eine zutreffende Beschreibung als eine Erklärung einer derartigen Einheit. Eine genauere Erklärung dieses Problems versucht Philoponos bei der Interpretation von I 5 zu geben, da für ihn die zitierte Stelle nicht ausschließt, „dass es sich um eine einzige Seele handelt, die die verschiedenen genannten Vermögen gebraucht“294. Doch das kann, wie die Interpretation des Gesamtwerks zeigt, nicht Aristoteles’ Meinung sein295. Für seine Erklärung reproduziert Philoponos, ohne das ausdrücklich zu sagen, Überlegungen, die wir in Proklos’ Kommentar zu Platons 2QNKVGKC finden296. Hier hatte Proklos die These aufgestellt, dass die Seelenvermögen Vernunft, Zorn und Begierde nicht zu einer einzigen Seinsform gehören können, so dass die Seele aus verschiedenen zusammengesetzt
_____________ 290 Im Neuplatonismus ist allerdings auch die Frage von Belang, ob die (Welt-)Seele als ganze eine ist bzw. ob alle Seelen teil an einer Gesamtseele haben (Plot. enn. IV 9; VI 4-5). Das Problem ist aber für die Interpretation von &G CPKOC von geringerer Bedeutung. Vgl. dazu z.B. Tornau 1998b; Nikulin 2005; Emilsson 2007, 204-207. 291 Vgl. Philop. in an. 1, 15-17. 292 Philop. in an. 206, 27f. S. o. S. 71. 293 So auch Gerson 1994, 43. 294 ˶Ʋ ƭ̄Ƣ ƴ̄Ʋ ʟƳƴƪƮ ʲ ƸƵƷ́ ƥƪƢƶ̆ƱưƪƲ ƷƱƹƭ̀Ʈƨ ƥƵƮ˾ƭƦƳƪ ƴƢ͙Ʋ ƦˁƱƨƭ̀ƮƢƪƲ. Philop. in an. 193, 2-8, Zitat 7-8. 295 Philop. in an. 193, 8-194, 28. 296 Das wurde erstmals von Steel 1978, 19 Anm. 60 festgestellt.
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Aristoteles-Interpretation
sein muss297. Um trotzdem die Einheit der Gesamtseele wahren zu können, nimmt er an, dass sich die Seelenarten in einem Lebewesen zueinander wie Stoff und Form verhalten, und Philoponos folgt ihm darin: Die rationale Seele ist die Form der nicht rationalen, und diese wieder die Form der vegetativen298. Eine größere Einheit als eine derartige StoffForm-Relation ist nach Aristoteles (II 1, 412b 6-9) nicht möglich, wie Philoponos in Übereinstimmung mit Proklos unterstreicht299. Das ist natürlich eine systematische Weiterentwicklung, die aus der neuen Problemstellung folgt; eine eigentliche Aristoteles-Interpretation ist es nicht. Da allerdings auch Aristoteles die Einheit der Seele vorauszusetzen scheint, kann man Philoponos’ Überlegung als berechtigte Weiterentwicklung des aristotelischen Gedankens ansehen. Allerdings ist die Lösung in mancher Hinsicht unbefriedigend. Zum einen wirkt sie wie ein FGWU GZ OCEJKPC, da weder von Proklos noch von Philoponos begründet wird, wieso die verschiedenen Seelenarten in einem hylemorphistischen Verhältnis stehen sollen. Das wird vielmehr einfach angenommen300. Ein besonderes Problem stellt aber Philoponos selbst fest: Mag diese Erklärung für die menschliche Seele zutreffen, in der die Vernunft allen anderen Seelenvermögen übergeordnet ist, so ist sie auf die Seelen nicht vernünftiger Tiere und auf die Pflanzen nicht anwendbar; denn in diesen Fällen sind die verschiedenen Fähigkeiten der Seelen und die ihnen jeweils zugrunde liegenden Seinsformen im Prinzip gleichwertig, und es lässt sich nicht erkennen, welche von ihnen denn die übrigen einen sollte301. Philoponos’ tastende Antwort besagt, dass auch hier eine Einheit möglich sein könnte, so wie bei körperlichen Gegenständen die Formen der Gegenstände die unbestimmte Materie prägen302. Damit ist allerdings das Problem, dass alle nicht rationalen und vegetativen Formen unter sich im Prinzip gleichrangig sind, nicht gelöst, denn der Unterschied zwischen der unbestimmten Materie und bestimmten physischen Dingen ist wesentlich klarer ausgeprägt als der zwischen verschiedenen nicht rationalen Seelenvermögen bzw. Seelenarten. An diesem Punkt bleibt in Philoponos’ wohl auf Ammonios zurückgehender Theorie also eine nicht unbedeuten-
_____________ 297 Procl. in remp. 1, 223, 1-224, 19; vgl. Perkams 2006a, 173f. 298 Procl. in remp. 1, 234, 21-25 (vgl. auch in Alc. 326, 17f.); Philop. in an. 198, 23-25; nach Deuse 1983, 192f. (gegen Dörrie 1959, 108-110) greift Proklos hier auf Porphyrios zurück; vgl. auch Männlein-Robert 2001, 614-620. 299 Philop. in an. 198, 8-23; 25-29 (vgl. o. S. 72). 300 Vgl. Dörrie 1959, 108-110. 301 Philop. in an. 198, 32-199, 8. 302 Philop. in an. 199, 8-11.
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de Lücke bestehen. Sie war möglicherweise ein Grund dafür, dass Priskian die Einheit der Seele auf andere Weise erklärte303. Philoponos und die neuplatonische Aristoteles-Kritik Angesichts von Plotins Ablehnung des Entelechie-Konzepts ist die Frage interessant, ob dessen Rehabilitation durch Philoponos vor dieser Kritik bestehen kann. Sie richtet sich zunächst auf die Definition der Seele als Entelechie insgesamt und argumentiert dann anhand der einzelnen Seelenvermögen304. Generell kritisiert Plotin, dass, wäre die Seele die Entelechie des Körpers, bei Verlust eines Körperteils ein Seelenteil mit verlorenginge305. Hierzu könnte Philoponos auf die von ihm angenommene Unkörperlichkeit der Seele verweisen, die eine solche Annahme ausschließt: Die Seele selbst wird nicht beschädigt, wenn der Körper beschädigt wird, sondern nur in ihrer faktischen Wirkkraft eingeschränkt. Diese Position entspricht offenbar auch Aristoteles’ eigener Ansicht, zumindest was die wahrnehmende Seele und den Verstand betrifft (I 4, 408b 19-25). Plotins Kritik geht von der Vorstellung aus, dass die Entelechie zum Menschen dasselbe Verhältnis hat wie die äußere Gestalt zu einer Statue306 bzw. wie die Gestalt (ƳƷ͋ƭƢ) der Axt zu deren Form307; die Entelechie wird also nicht als Funktionsprinzip verstanden, sondern allein als körperliche Gestalt – eine Ansicht, die Philoponos erwähnt, aber ganz in Aristoteles’ Sinn explizit ausschließt308. Von der gleichen Vorstellung inspiriert ist offenbar Plotins Kritik, eine Entelechie-Konzeption erlaube es nicht einmal, das Schlafen, geschweige denn das Träumen zu erklären. Den ersten Punkt hat Philoponos dadurch geklärt, dass er auf Aristoteles’ Definition der Seele als erster Entelechie verweist309. Der zweite ist, wie Verbeke gezeigt hat, ein Reflex von Plotins Verständnis des Traums als einer temporären Lösung der Seele vom Körper310. Bei Aristoteles’ und Philoponos’ Annahme, dass der Geist vom Leib trennbar und trotzdem Entelechie ist, ergibt sich auch hier kein sachliches Problem. Allerdings kritisiert Plotin grundsätzlich, dass sich die
_____________ 303 S. u. S. 190-192. 304 Vgl. dazu Verbeke 1971, der allerdings den systematischen Wert von Plotins Kritik letztlich offenlässt; Gerson 1994, 134-136, und Tornau 2005. 305 Plot. enn. IV 7, 85, 7-9. 306 Plot. enn. IV 7, 85, 4f. 307 Plot. enn. I 1, 4, 20-25. 308 Philop. in an. 211, 20-26; zu Aristoteles vgl. Heinaman 1990, 89f. 309 S. o. S. 78f. 310 Verbeke 1971.
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Selbständigkeit des Geistes mit der Idee von der Entelechie nicht verträgt, und betont, dass Aristoteles deswegen eine von der Entelechie getrennte rationale Seele annehmen muss311. Damit rührt er ohne Zweifel an einen wunden Punkt der aristotelischen Theorie312, und Philoponos’ Unterscheidung von seinsmäßig verschiedenen Arten von Entelechie ist offensichtlich ein Versuch, dieses Problem so zu lösen, dass er an der aristotelischen Terminologie festhalten kann. Seine eigene Position fällt jedenfalls nicht unter Plotins Verdikt, da sie die rationale Seele als vom Leib trennbar ansieht. Durch die mögliche Wirkung solcher Seelen auf die materielle Welt wird auch Plotins Vorwurf hinfällig, eine Spontanzeugung sei mit Aristoteles’ Philosophie nicht zu vereinbaren313. Durch seine Annahme, dass die verschiedenen Seelenarten verschiedene Seinsformen darstellen, entgeht Philoponos auch der Kritik, dass eine Entelechie-Konzeption den Widerstreit von Vernunft und Begierde nicht erklären könne314. Besonders aufschlussreich in Plotins Darstellung ist, dass er es ablehnt, die vegetative Seele Entelechie des Leibes zu nennen, worin ihm Proklos, wie erwähnt, nicht gefolgt ist. Auch diese Kritik versteht die Entelechie so, dass sie die Gestalt des Leibes ist, denn Plotin betont, eine Entelechie-Theorie könne nicht erklären, wie die Wachstumsseele in der Wurzel ebenso präsent sei wie in der Pflanze, die aus ihr wächst315. Philoponos’ Antwort ergibt sich aus der Einleitung, wo er gerade anhand der Möglichkeit der vollständigen Präsenz der vegetativen Seele in einem Teil einer Pflanze gezeigt hat, dass diese unkörperlich sein muss316. Anders als Plotin zieht er daraus aber nicht den Schluss, dass sie deswegen auch von diesem Körper trennbar ist, sondern er kann sich einen Dualismus vorstellen, in dem eine unkörperliche Substanz mit einem Körper untrennbar verbunden ist317. Ähnliches könnte er auf Plotins Kritikpunkt antworten, dass eine Entelechie-Lehre es nicht zulasse, Sinneswahrnehmung korrekt zu denken, da die gleichzeitige Anwesenheit verschiedener sinnlicher Abbilder in der Seele dann nicht erklärbar sei. Das Problem ist innerhalb von Philoponos’ System so nicht rekonstruierbar, da er die Seele generell als unkörperlich ansieht. An dieser Auseinandersetzung zeigt sich die Bedeutung von Philoponos’ Hylemorphismus, in dem Unkörperliches und Körperliches zwar un-
_____________ 311 Plot. enn. IV 7, 85, 15-18. 312 Gerson 1994, 136. 313 Plot. enn. IV 7, 85, 36-43. Während Verbeke 1971 meint, hier gehe es um Reinkarnation, bezieht Tornau 2005, 163-170 den Text auf Spontanzeugung. 314 Plot. enn. IV 7, 85, 11-14. 315 Plot. enn. IV 7, 85, 25-36. 316 S. o. S. 59f. 317 Anders als Plot. enn. I 1, 4, 18-20; IV 7, 85, 43-50.
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terschieden, aber nicht voneinander trennbar sind. Ein Vergleich seiner Aussagen mit der Kritik Plotins demonstriert vor allem, dass der neuplatonische Aristotelismus zu größeren Integrationsleistungen kam, indem er Aristoteles’ Positionen differenzierter las als der Begründer des Neuplatonismus und sie so ins eigene Denken integrieren konnte. Das unterstützt moderne Interpretationen, die Plotins Kritik aufgrund der darin enthaltenen polemischen Verzerrungen von Aristoteles’ Position als ungerecht ansehen318. Allerdings ist damit über die sachliche Berechtigung von Aristoteles’, Plotins und Philoponos’ Annahmen noch nicht das letzte Wort gesprochen: Man kann durchaus die Ansicht vertreten, dass Philoponos &G CPKOC zu dualistisch interpretiert, so dass seine Entkräftung einiger Kritikpunkte Plotins für den historischen Aristoteles nicht überzeugen kann319. Auch kann man natürlich die systematische Durchführbarkeit von Philoponos’ Homonymie-Modell insgesamt bezweifeln; eine mögliche Diskussion hierüber, die seine Ansicht komplett aus den Angeln heben könnte, würde allerdings die Voraussetzungen des späten Neuplatonismus insgesamt betreffen und kann hier nicht geleistet werden. So, wie sie formuliert ist, ist Philoponos’ Position jedenfalls gegen Plotins AristotelesKritik haltbar. Ergebnis: Der Wert von Philoponos’ Interpretation der Entelechie Bietet Philoponos also eine gute Interpretation der Entelechie? Hierzu ist als erstes festzuhalten, dass seine Deutung nicht willkürlich ist: Er kann mit seinem Homonymie-Konzept sowohl den aristotelischen Gedankengang erklären als auch eine überzeugende Erklärung des verwirrenden Steuermannsgleichnisses geben. So kann er, aufbauend auf der proklischen Theorie von verschiedenen Wesenheiten in der Seele, alle Seelenarten als vom Leib untrennbare Entelechie deuten und zugleich Aristoteles’ Skepsis gegenüber einer einheitlichen Seelendefinition gerecht werden, ohne die in seiner Einleitung dargelegte systematische Grundlinie verlassen zu müssen. Für seine Interpretation spricht auch ein Vergleich mit aktuellen dualistischen &GCPKOC-Deutungen: So interpretiert Howard Robinson das Bild vom Steuermann in genau derselben Weise wie Philoponos. Dann erkennt er aber seine eigene Analyse nicht an, sondern meint, Aristoteles könne ja offenbar nicht geglaubt haben, dass die Seele ein vom Leib
_____________ 318 So z.B. Verbeke 1971. 319 Ähnliches setzt etwa Tornau 2005 voraus.
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trennbares Sein habe320. Robinsons Inkonsequenz folgt aus der Tatsache, dass er das Verhältnis des Geistes zum Leib nur als eine besondere Form von Aristoteles’ Hylemorphismus ansehen will, den er als emergentistischen Dualismus interpretiert321. Dieses Problem stellt sich für Philoponos nicht, da er ja gerade betont, dass Aristoteles die rationale Seele nicht im gleichen Sinn Entelechie nennt wie die übrigen Seelenarten; als Gesamtdeutung ist sie daher Robinsons Versuch klar vorzuziehen. Seine Interpretation zeigt weiterhin Parallelen zu der von Charles Kahn, nach der der Geist qua abtrennbarer Geist nicht als Entelechie angesehen werden kann, wohl aber in den uns bekannten Funktionen des alltäglichen Denkens mit dem Körper und aus körperlicher Aktivität gewonnenen Bildern verbunden ist322. Wenn Philoponos darin über Kahn hinausgeht, dass er das Verhältnis dieser Aktivitäten zum Körper als Entelechie-Relation kennzeichnet, bleibt er der aristotelischen Terminologie sogar noch treuer als Kahn selbst. Somit zeigen diese Beispiele, dass Philoponos’ Interpretation bis heute aufschlussreich ist. Von einer verzerrenden Interpretation des EntelechieBegriffs kann man jedenfalls nicht sprechen. Dieses Ergebnis muss nun weiter überprüft werden, indem einerseits auf Philoponos’ Interpretation der aristotelischen Gedanken zum Verhältnis von Leib und Seele und andererseits auf seine Behandlung der verschiedenen Seelenarten eingegangen wird. An diesen beiden Punkten entscheidet sich, inwieweit es ihm gelingt, seine neuplatonische Aristoteles-Interpretation zu einer kohärenten Lösung auszubauen, die dem Text gerecht wird und vor der Kritik anderer Neuplatoniker daran bestehen kann. 4. Die Rolle des Leibes in der hylemorphistischen Beziehung zur Seele Während die Stellung der rationalen, nicht rationalen und vegetativen Seele aus diesen Ausführungen relativ klar wird, gilt das für den beseelten Leib nicht in gleicher Weise. Denn dieser wird von Philoponos, im Anschluss an Proklos, einerseits, wie gesagt, als beseelter Leib, zum anderen aber als das Lebewesen charakterisiert, das aus Leib und Seele besteht (ƳƵƮƢƭƶ̆ƴƦƱưƮ). Daher soll im folgenden Abschnitt das gegenseitige Verhältnis beider Beschreibungen untersucht werden.
_____________ 320 Robinson 1983, 128-130. 321 Robinson 1983, 123. Ein differenzierterer moderner Versuch, Aristoteles’ Hylemorphismus mit seiner Lehre vom Geist zu vereinen, ist O’Meara 1987. 322 Kahn 1992, 361-363; nach Frede 1992 ist dabei ƶƢƮƴƢƳ̄Ƣ als Bindeglied vonnöten.
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Diese Untersuchung berührt ein wesentliches Problem der aristotelischen Biologie, nämlich die genaue Bestimmung des Verhältnisses von Leib und Seele sowie desjenigen des Leibes zu seinen materiellen Grundlagen. Diese Frage wird in der Aristoteles-Forschung unter dem Begriff „Homonymie-Prinzip“ diskutiert (was mit der gerade diskutierten Homonymie der verschiedenen Seelenarten nichts zu tun hat): Ein Körper hat nur dann im aristotelischen Sinne „in Möglichkeit Leben“ (ƥƵƮ˾ƭƦƪ Ƨƹ́Ʈ ʩƷưƮ), wenn er tatsächlich mit der Seele verbunden ist, d.h. wenn er auch in Wirklichkeit (ʟƮƦƱƤƦ̄̾) Leben hat. Ein Leichnam, also ein Körper, der nicht mehr mit der Seele verbunden ist, kann nur in übertragener Weise (˒ƭƹƮ̈ƭƹƲ) menschlicher Leib genannt werden, während ein Same oder eine Frucht wiederum nur in Möglichkeit Körper sind, die in Möglichkeit Leben haben (II 1, 412a 20-27). Dieses Prinzip ist in der modernen Aristoteles-Auslegung deswegen umstritten, weil man offenbar nur dann sinnvoll von Potentialität und Materie sprechen kann, wenn diese Prinzipien auch unabhängig von einem hylemorphistischen Kompositum beschreibbar sind, wie John Ackrill in einem berühmten Artikel dargelegt hat323. Nach Christopher Shields stellt dieses Problem das wesentliche Hindernis für den Versuch dar, zu einer systematisch kohärenten AristotelesDeutung zu gelangen324. Die bei Philoponos zu findende Beschreibung des beseelten Körpers berührt also einen wichtigen Punkt der Erklärung von Aristoteles’ Seelenlehre. Der Leib als werkzeughafter Körper (ˑƱƤƢƮƪƫ̅ƮƳͲƭƢ) Philoponos geht, um Aristoteles’ Theorie des menschlichen Leibes zu erläutern, von den Implikationen von dessen Seelenlehre aus. Entscheidend ist die Deutung des Begriffs ˑƱƤƢƮƪƫ̆Ʈ, wörtlich „werkzeughaft“, dem Wort, mit dem Aristoteles den Leib näher beschreibt, der seiner Definition nach „in Möglichkeit Leben hat“ (II 1, 412a 27-b 6). Philoponos interpretiert das Wort im Sinne von „mit Werkzeugen versehen“: „,Organikon‘ ist das, was Werkzeuge hat, durch die die dem Leben entsprechenden Wirkungen geschehen“325.Mit dieser Interpretation folgt er, ohne das ausdrücklich zu erwähnen, Alexander von Aphrodisias326 und stimmt mit der Mehrzahl der modernen Ausleger überein, insofern er das „werkzeughaft“ mit der Ausstattung mit geeigneten Organen in Verbindung bringt
_____________ 323 Ackrill 1972/73, bes. 124-127. 324 Shields 1993, 169-172. 325 ˗ƱƤƢƮƪƫ̅Ʈƥ̀ʟƳƴƪƴ̅ʩƷưƮ˕ƱƤƢƮƢ,ƥƪ’˴ƮƢ˂ƫƢƴ˽ƴ̅Ƨ͋ƮʟƮ̀ƱƤƦƪƢƪƤ̄ƮưƮƴƢƪ. Philop. in an. 217, 13f. 326 Alex. an. 16, 11-14.
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(ƥƪƹƱƤƢƮƹƭ̀ƮưƮ)327. Priskian teilt dieses Verständnis allerdings nicht, sondern erklärt ˑƱƤƢƮƪƫ̆Ʈ durch „als Werkzeug dienend“, d.h. er sieht den gesamten Leib als ein Werkzeug der Seele an328. Die Auslegung des aristotelischen Textes ist also weniger von der neuplatonischen oder peripatetischen Schulzugehörigkeit eines Kommentators bestimmt als von seinem eigenen Textverständnis. In einem Punkt stimmt Philoponos aber mit Priskian gegen die moderne Tradition überein: Er hält, wie in der Übersetzung oben bereits angedeutet, klar fest, dass die Organe Werkzeuge sind. ˗ƱƤƢƮƪƫ̆Ʈ bezeichnet nicht nur die Ausstattung mit Organen, sondern interpretiert den so ausgestatteten Leib wiederum als Werkzeug für den Körper. Dass sich Philoponos bei dieser Erklärung der aristotelischen Homonymie-Lehre in Bezug auf den belebten Körper bewusst ist, geht aus seiner Deutung des Bildes von der Axt hervor, mit dem Aristoteles die hylemorphistische Leib-Seele-Relation bei Lebewesen illustriert (II 1, 412b 1117): Der Vergleichspunkt von Leib und Axt liegt Philoponos zufolge darin, dass sie einen „werkzeughaften Körper“ (ƳͲƭƢˑƱƤƢƮƪƫ̆Ʈ) haben, d.h. einen Körper, der zur Erfüllung einer bestimmten Funktion dient329. Dieser Interpretation zufolge betrifft Aristoteles’ Bild also nicht jeden beliebigen Körper, sondern nur den, der einem funktionalen Ziel dient. Dagegen können ein Stein oder eine Statue zwar auch durch eine Form-StoffRelation beschrieben werden, aber ohne dass der Stoff einen Körper mit einem funktionalen Ziel bildet. Ein derartiger Stoff kann problemlos eine neue Form annehmen, etwa eine griechische Götterstatue die eines christlichen Heiligen. Für einen Körper, der als Werkzeug dient bzw. aus Werkzeugen/Organen besteht, gilt das nicht, denn in dem Moment, wo er die Funktionsfähigkeit verliert, die seine Form ausmacht, ist er kein derartiger Körper mehr, sondern nur noch das, was die für eine Statue verwendete Bronze ist, nämlich ein Stück Stoff von einer bestimmten Art. Die Schneide der Axt ist nicht mehr dies, sondern nur noch ein Stück Eisen. Das gleiche gilt für den menschlichen Körper: „Denn wenn die Seele abgetrennt ist, dann ist der Körper nicht mehr werkzeughaft, außer homonym“330. Abgesehen von dieser Verdeutlichung dessen, was den Vergleichspunkt zwischen Mensch und Axt ausmacht, erklärt Philoponos auch den von Aristoteles (II 1, 412b 15-17) angegebenen Unterschied, dass die Axt einen hergestellten (ƴƦƷƮƨƴ̆Ʈ) Körper hat, während der menschliche Körper natürlich (ƶƵƳƪƫ̆Ʈ) ist. Die letztere Bestimmung be-
_____________ 327 328 329 330
Eine Übersicht bei Bos 2003, 85f. Anm. 75. Prisc. in an. 90, 34-38. S. u. S. 184f. Philop. in an. 219, 13-19. ƘƹƱƪƳƩƦ̄ƳƨƲƤ˽Ʊƴ͋ƲƸƵƷ͋Ʋư˝ƫ̀ƴƪˑƱƤƢƮƪƫ̅Ʈƴ̅ƳͲƭƢ,ʕƬƬ’ʳ˒ƭƹƮ̈ƭƹƲ. Philop. in an. 219, 21-220, 1, Zitat 219, 25f.
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deutet, wie Philoponos nach Aristoteles’ 2J[UKM331 ausführt, dass der menschliche Körper von innen bewegt wird bzw. dass das Kompositum Mensch sich selbst bewegt332. Dieser Unterschied zwischen Mensch und Axt darf nicht aus den Augen verloren werden, will man Aristoteles’ Bild nicht überinterpretieren: So macht es keinen Sinn, mit Ackrill zu fragen, wie der Fall, dass eine Axt stumpf geworden ist333, auf die Seele übertragen werden kann. Eine Axt kann ihre Funktion verlieren und wiedergewinnen, da sie von einem Benutzer, der von ihr selbst verschieden ist, wieder geschärft werden kann. Ein Mensch kann das nicht: Hat sein Körper seine Lebensfunktionen einmal verloren, kann er sie nicht wiedergewinnen, da es niemand Außenstehenden gibt, der sie ihm wiederbringen könnte. Die Zusatzbedingung, dass ein technischer von einem natürlichen Leib verschieden ist, zeigt also, worin genau der Vergleichspunkt beider liegt und dass die von Aristoteles gezogene Parallele nur bei einer dauernden Zerstörung der Axt zutrifft. Der Charakter des Leibes als Werkzeug erklärt somit, warum der Körper nach dem Tod kein menschlicher Leib mehr ist. Ferner erklärt die Werkzeugfunktion Aristoteles’ paradoxe Formulierung, dass ein Same oder eine Frucht nur in Möglichkeit ein solcher Leib sind, der in Möglichkeit Leben hat. „Denn es kann etwas werden, was in Möglichkeit Leben hat“334. Das heißt, so Philoponos weiter, der menschliche Leib hat „in Möglichkeit Leben“ im Sinne der zweiten Stufe der Möglichkeit, d.h. des bereits erworbenen Zustands, so wie der Wissende, der bereits etwas weiß, aber nicht anwendet. Das Werkzeug-Sein des menschlichen Körpers ist also wie ein bereits erworbenes Wissen, das frei angewandt werden kann335. In Aristoteles’ Worten, die Philoponos zitiert, „wird das Mögliche nicht auf nur eine Weise ausgesagt, sondern zum einen als etwas, das in Wirklichkeit (ʟƮƦƱƤƦ̄̾) ist, so wie gesagt wird, für etwas sei es möglich zu gehen, wenn es geht, und so wie überhaupt gesagt wird, es ist möglich, wenn es schon in Wirklichkeit ist“336.
Der Körper eines Lebewesens ist demnach, insofern er immer beseelt ist, nichts anderes als das aus Leib und Seele bestehende Lebewesen: Die zweite Stufe der Möglichkeit des Körpers ist die erste Stufe der Wirklich-
_____________ 331 332 333 334 335 336
Phys. II 1, 192b 20-33. Philop. in an. 221, 6-16. Ackrill 1972/73, 127f. Ɔ̈ƮƢƴƢƪƤ˽ƱƤƦƮ̀ƳƩƢƪƥƵƮ˾ƭƦƪƧƹ́ƮʩƷưƮ. Philop. in an. 209, 19. Philop. in an. 209, 22-29. ƕ̅Ƥ˽ƱƥƵƮƢƴ̆Ʈư˝ƷʖÝƬͲƲƬ̀ƤƦƴƢƪ,ʕƬƬ˽ƴ̅ƭ˿ƮˮƲʟƮƦƱƤƦ̄̾˕Ʈ,ưˈưƮƥƵƮƢƴ̅ƮƣƢƥ̄ƧƦƪƮ, ˖ƴƪƣƢƥ̄ƧƦƪ,ƫƢ̃˖ƬƹƲƥƵƮƢƴ̅ƮƦˇƮƢƪ,˖ƴƪʵƥƨʩƳƴƪƫƢƴ’ʟƮ̀ƱƤƦƪƢƮ. Aristot. int. 13, 23a 710, zitiert Philop. in an. 209, 31-33. Das Original enthält ein ˖ƴƪʕƬƨƩ̀Ʋ nach dem ƴ̅ ƭ˿Ʈ. Der Nachsatz mit ,zum anderen‘ wird von Philoponos nicht mehr zitiert.
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keit des Lebewesens. Wenn Aristoteles trotzdem sagt, der Leib sei in Möglichkeit lebendig, dann ist damit gemeint, dass der eigene Beitrag des Körpers zum Kompositum, die Fähigkeit, als Werkzeug zu dienen, analytisch von der Verwirklichung, dem tatsächlichen Beleben, das der Beitrag der Seele ist, getrennt werden kann. Trotzdem sind beide in dieser Verbindung nicht real verschieden, sondern bilden in ihrer gemeinsamen Aktivität zu leben eine Substanz bzw. ein Sein337. Diese Interpretation zeigt zum einen, dass nach Aristoteles der Leib gegenüber der Seele die Funktion eines Werkzeugs hat. Das ist gerade gegenüber dem heutigen Funktionalismus hervorzuheben, insofern er das Seelische als eigenes Funktionssystem nur indirekt mit dem Leib verbinden will. Zum zweiten zeigt sie gegenüber Ackrills Artikel zweierlei: 1.) Aristoteles bestimmt das Verhältnis von Leib und Seele trotz des Bildes von Stoff und Form als eine Relation eigener Art, die dadurch gekennzeichnet ist, dass Leib und Seele durch ihre Fähigkeit zu gemeinsamem Wirken voneinander untrennbar sind. Der Leib wird also durch seine Funktion als Leib definiert, nicht durch seine materielle Zusammensetzung. Diese ist zwar möglicherweise nicht beliebig, doch ist für die Definition des Leibes nicht entscheidend, wie sie genau aussieht338. 2.) Im aristotelischen Weltbild kann etwas auch dann nach Stoff und Form bzw. Wirklichkeit und Möglichkeit analysiert werden, wenn diese Komponenten nicht real voneinander getrennt werden können. Damit nimmt Philoponos im Ergebnis die moderne Auseinandersetzung mit Ackrills Überlegungen vorweg, indem er die Übereinstimmung der Annahme eines notwendig beseelten organischen Körpers mit den Grundannahmen der aristotelischen Ontologie nachweist339. So kann Philoponos zeigen, dass Aristoteles’ Erklärung des Leib-Seele-Verhältnisses innerhalb seiner eigenen Konzeption sinnvoll und hinreichend bestimmt ist. Der Leib als physischer Körper (ƶƵƳƪƫ̅ƮƳͲƭƢ) Systematisch betrachtet ist es aber weniger die Einordnung der Rede vom werkzeughaften Leib in Aristoteles’ ontologische Gesamtkonzeption, die die heutige Interpretation vor ein Problem stellt. Vielmehr ist es die durch die besondere Bestimmung des werkzeughaften Körpers auftretende Schwierigkeit, dass es zwar nach dem Tod den Körper als Leib eines Le-
_____________ 337 Philop. in an. 209, 20-22. Vgl. 218, 33f.:ƴ̅ƫƵƱ̄ƹƲʨƮƫƢ̃ƴ̅ƫƵƱ̄ƹƲƦˇƮƢƪƴư͙ƲÝƱ˾ƤƭƢƳƪ ƫƢƴ˽ƴ́Ʈʠƫ˾ƳƴưƵʟƮƴƦƬ̀ƷƦƪ˾ƮʟƳƴƪ,ƫƢƩ’ʴƮƫƢ̃˖ƬƹƲʟƳƴ̃ƫƢ̃Ƭ̀ƤƦƴƢƪƴ̆ƥƦƴƪ. 338 So auch Whiting 1992, 77-85. 339 Whiting 1992, 88-91 begründet dasselbe Ergebnis wie Philoponos nur mit einer Einzelstelle aus den biologischen Schriften, part. an. II 3, 649b 14-19.
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bewesens nicht mehr gibt, wohl aber den Körper als materiellen, „dass also A’s Körper zu existieren aufhören kann, während er weiter existiert“340. Aber dieser rein materielle Körper existierte natürlich bereits zur Zeit des Lebens; das Verhältnis beider Körper nach Aristoteles’ Theorie ist daher unklar, so dass neben das Leib-Seele-Problem gleichsam ein Leib-KörperProblem tritt341. Philoponos kennt dieses Problem und geht darauf anlässlich des letzten Teils des ersten Kapitels von &GCPKOC gesondert ein, wo Aristoteles diskutiert, inwieweit die Seele ein Objekt verschiedener Wissenschaften ist (I 1, 403a 25-b 19). Philoponos erklärt hier, dass nicht nur Leib und Seele hylemorphistisch miteinander verbunden sind, sondern dass auch das Fleisch, also der natürliche Körper (ƶƵƳƪƫ̅ƮƳͲƭƢ) des Menschen, und die Elemente, aus denen es zusammengesetzt ist, sich zueinander wie Stoff und Form verhalten342. Demnach ist eine Beschreibung des Körpers als eines natürlichen, materiell konstituierten möglich, in dem die Beziehung zur Materie so eng ist, dass die materielle Zusammensetzung das Fleisch in einer praktisch nicht weiter analysierbaren Weise prägt: Obwohl die Form des Fleisches das ist, was das Fleisch ausmacht343, kann es auch in der gedanklichen Analyse (ƫƢƴ’ ʟÝ̄ƮưƪƢƮ) nicht ohne seine Schwere und andere Eigenschaften vergegenwärtigt werden, die eine direkte Konsequenz seiner stofflichen Zusammensetzung sind344. Das Fleisch hat also ohne weitere Abgrenzung materielle Eigenschaften (ˢƬƨƲÝ˾Ʃƨ)345. Diese Bedeutung materieller Beschreibungen gilt auch für den Körper eines Lebewesens. Für dieses ist das Fleisch als ganzes der Stoff, während die Seele seine Form ausmacht. Das bedeutet aber, dass die Seelenfunktionen für die Beschreibung eines körperlichen Prozesses unverzichtbar sind: Denn der Naturwissenschaftler (ƶƵƳƪƫ̆Ʋ) wäre kein Wissenschaftler, wenn er nicht auch den Grund für die von ihm beschriebenen materiellen Prozesse angeben würde. Philoponos begründet diese gut aristotelische Annahme zusätzlich mit einem Zitat aus Platons )QTIKCU (465a 5f.), nach dem jede Fertigkeit (ƴ̀ƷƮƨ) auch ihre Gründe mit angeben muss, und stellt so die Harmonie beider Autoren her346. Im Falle des Lebewesens ist dieser Grund die Funktion des jeweiligen Körpers für die Seele. Philoponos erläutert das am Beispiel des Zorns (ƩƵƭ̆Ʋ), der vom Dialektiker als Streben nach Vergeltung, vom Naturwissenschaftler aber als Sieden des Blutes in
_____________ 340 341 342 343 344 345 346
Williams 1986, 189. Williams 1986, 192f.; Cohen 1992, 69f.; Shields 1993, 171f. Philop. in an. 53, 4f.; 105, 29-33. 37f. Philop. in an. 105, 37f. Philop. in an. 57, 30-34. Philop. in an. 61, 23f. Philop. in an. 57, 11-13; 61, 31-34.
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der Herzgegend beschrieben wird (Ƨ̀ƳƪƲ ƴưͨ ÝƦƱƪƫƢƱƥ̄ưƵ ƢˆƭƢƴưƲ347. I 1, 403a 30-32). Dabei muss der Naturwissenschaftler nicht nur Form und Stoff des natürlichen Körpers beschreiben, sondern auch die Gründe für den beschriebenen Prozess angeben348. So wird er das Blut in der Herzgegend als Stoff und das Sieden als dessen Form bestimmen, die erkenntnismäßig von ihrem Stoff nicht zu trennen ist, so wie das Fleisch von den Elementen349. Der seelische Vorgang des Zorns ist aus dieser Perspektive die Ursache für das körperliche Geschehen, den der Naturwissenschaftler bei seiner Beschreibung nicht auslassen darf350. Dagegen beschreibt der Dialektiker den gleichen Zorn als ein Faktum (ÝƱ̀ƤƭƢ) eigener Art, das selbst wieder als Form-Stoff-Relation strukturiert ist. Das seelische Geschehen, nämlich den Zorn, definiert er als das Streben nach Vergeltung, und das als ganzes betrachtete körperliche Geschehen des Siedens des Blutes gibt hierfür den Stoff ab351. Diese Art der Beschreibung ist notwendig, da das Sieden des Blutes selbst wiederum den Stoff für diverse hylemorphistische Relationen abgeben kann, während nur die psychologische Beschreibung als Wille zur Vergeltung sicherstellt, dass es sich um Zorn handelt352. Philoponos arbeitet also heraus, dass Prozesse im Körper eines Lebewesens auf zweierlei Weise beschrieben werden können, nämlich sowohl als materielle Prozesse als auch als Funktionen des beseelten Wesens. Das entspricht der Beschreibung des Körpers einerseits als werkzeughafter, andererseits als natürlicher. Die natürliche Beschreibung bleibt auch nach dem Tod möglich, allerdings ist dann die Funktion, die durch die Form angegeben wird, nicht mehr durch die Seele, sondern durch andere Naturprozesse bestimmt. Diese Interpretation der aristotelischen Aussagen zum menschlichen Körper ermöglicht auch eine Antwort auf die zu Beginn dieses Kapitels gestellte Frage nach der Rolle des Körpers im Neuplatonismus. Die beiden Beschreibungen als beseelter Leib und als leib-seelisches Lebewesen sind nicht voneinander zu trennen, denn das beseelte Lebewesen ist nichts anderes als ein Leib in einer bestimmten Form der Aktualität. Als solcher ist es nicht identisch mit der Materie, aus der es besteht, die zwar selbst eine Beziehung von Stoff und Form darstellt, aber auf einer niederen Stufe der Hierarchie der seienden Dinge. Der aristotelische Hylemorphismus ist demzufolge in gewissem Sinne ein „schwacher Materialismus“, der auch nicht materialistische Beschreibungen gewisser Eigenschaften zu-
_____________ 347 348 349 350 351 352
Das ist Philoponos’ Formulierung: in an. 54, 31f. Philop. in an. 54, 18-25. Philop. in an. 61, 29f. Philop. in an. 58, 26-30. Philop. in an. 56, 16-27. Philop. in an. 58, 31-59, 13.
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lässt353. In Bezug zur rationalen Seele ist das leib-seelische Kompositum allerdings nur eine Art Werkzeug für diese, die wiederum sowohl vom Leib als auch von der mit diesem untrennbar verbundenen Seele zu unterscheiden ist. Philoponos ordnet so die Sonderstellung des aristotelischen Geistes in seinen Hylemorphismus ein, was von Aristoteles selbst nicht geleistet wird. Die Überlegenheit des Seelischen Diese Überzeugung bestätigt sich bei der Behandlung des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen Leib und Seele nach Philoponos. Hier setzt er sich mit einer Theorie auseinander, der zufolge „die Vermögen der Seele den Mischungen des Leibes folgen“354. Dies ist der Titel eines Traktats Galens, in dem dieser die obige These nachzuweisen versucht und darauf drängt, durch eine richtige Diät zu einem wahrhaft philosophischen Leben zu gelangen355. Dabei geht er so weit, gutes und schlechtes Handeln nicht auf die menschliche Handlungsfreiheit, sondern auf die körperliche Disposition eines jeden zurückzuführen, und die Bestrafung von Übeltätern rein pragmatisch zu begründen356. Allerdings scheint kein absoluter Determinismus intendiert zu sein, da Galen auch bei schlechten Menschen die Möglichkeit anerkennt, sich moralisch zu bessern357. Diese Theorie, die sich auch gegen einige mittelplatonische Philosophen wandte358, wurde im Neuplatonismus häufig diskutiert. Proklos lehnt sie zweimal ausdrücklich ab: Im Kommentar zum 6KOCKQU weist er vor allem darauf hin, dass es unakzeptabel ist, dass eine verstandesbegabte Seele den Mischungen des Leibes folgt359. Im 2QNKVGKC-Kommentar betont er, dass charakterliche Eigenschaften verschiedener Völker von der Seele abhängen, während nur äußere Eigenschaften wie Farben und Körperformen vom Körper verursacht sind, und weist darauf hin, dass zwar nicht bei Ungebildeten (ʕÝƢƪƥƦ̈ƴưƪƲ), aber bei gut erzogenen Menschen (ÝƦÝƢƪƥƦƵƭ̀ƮưƪƲ) die Seele den körperlichen Mischungen überhaupt nicht folgt360. Auch für eine neu-
_____________ 353 Sorabji 1979, 55-59; Williams 1986, 194f. 354 ƕƢ͙ƲƴưͨƳ̊ƭƢƴưƲƫƱ˾ƳƦƳƪƮʪÝƦƳƩƢƪƴ˽Ʋƴ͋ƲƸƵƷ͋ƲƥƵƮ˾ƭƦƪƲ. Philop. in an. 51, 14f. Zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund dieser Stelle vgl. Sorabji 2002, 157f.; zur Argumentation Todd 1984, 110. 355 Galen. sequ. pot. 1 (32, 1-13). Vgl. dazu Moraux 1984, 779-781. 356 Galen. sequ. pot. 11 (73, 3-74, 21). 357 Galen. affect. dign. 7, 13-17; 8, 1f. (26, 22-28, 8); Moraux 1984, 795. 358 Galen. sequ. pot. 9 (64, 19-65, 4). 359 Procl. in Tim. 3, 349, 21-350, 8; vgl. Sorabji 2002, 157. 360 Procl. in remp. 1, 221, 12-223, 1.
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platonische Aristoteles-Interpretation war es wichtig, Galens Ansicht zu widerlegen, denn dieser behauptete ausdrücklich, dass auch Aristoteles die Seele als nicht trennbar vom Leib angesehen hatte361. Philoponos scheint dieser Zusammenhang nicht ganz klar gewesen zu sein, vermutlich weil er Galens Thesen, wie er selbst sagt, den Attischen Auslegern362 verdankt, Galen nicht mit Namen nennt und auch keine gute eigene Kenntnis von dessen Schrift zeigt363. Auf die Frage geht er bei der Interpretation von Aristoteles’ Feststellung ein, dass die Eigenschaften (Ý˾Ʃƨ) der Seele nur insofern zukommen, als sie mit dem Leib verbunden ist (I 1, 403a 16). Von Aristoteles übernimmt er die Argumente, dass 1.) eine seelische Aktion sich auch im Leib ausdrückt, und 2.) die verschiedenen Temperamente bestimmter Menschen, etwa ihre Neigung zu Furcht oder Zorn, sich aus ihrer Mischung (ƫƱ̀ƳƪƲ), d.h. ihrer körperlichen Struktur ergeben364. Trotzdem meint Philoponos, dass Galens These hieraus nicht folgt. Denn wenn die Möglichkeit besteht, trotz schlechter körperlicher Anlagen ein guter Mensch zu werden, dann „folgen also die Impulse der Seele den Mischungen des Körpers nicht notwendigerweise“365. Diese Möglichkeit ist nach der Erfahrung der antiken Philosophen gegeben: Obwohl unsere seelischen Tendenzen von der körperlichen Verfassung abhängig sind, lassen sie sich, anders als Farbe und Gestalt unseres Körpers, durch eine philosophische Lebensführung (ƫƢƴ˽ƶƪƬưƳưƶ̄ƢƮƥƪƢƴƱƪƣƢ̄) positiv beeinflussen366. In diesem Sinne betont Philoponos wie Galen, dass diese Mischung durch eine richtige Ernährung positiv beeinflusst werden kann367, so dass die menschliche Willensfreiheit auch gegenüber dem eigenen Körper in gewisser Weise wirksam ist (ʩƳƴƪƴƪʙƱƢƫƢ̃ʟƶ’ʲƭ͙Ʈ)368. Während diese Argumentation den genannten Ausführungen Galens nur in moderater Form widerspricht, kommt im nächsten Abschnitt die neuplatonische Tendenz voll zum Tragen. Zuerst wird die Möglichkeit, seine Emotionen trotz deren körperlicher Verursachung positiv zu beeinflussen, als Argument für die Trennbarkeit der rationalen Seele interpretiert369. Zudem deutet Philoponos das Verhältnis der Seele zum Körper als
_____________ 361 362 363 364 365 366 367 368 369
Galen. sequ. pot. 3 (37, 5-12); Moraux 1984, 741. 780. S. o. S. 66. So Todd 1984, 109. Philop. in an. 50, 16-51, 7. Ƒ˝ƫʙƱƢƢ˂˒ƱƭƢ̃ƴ͋ƲƸƵƷ͋ƲƴƢ͙ƲƴưͨƳ̊ƭƢƴưƲƫƱ˾ƳƦƳƪƮʟƯʕƮ˾ƤƫƨƲʪÝưƮƴƢƪ. Philop. in an. 51, 28f. Zur Tradition dieser Aussage Sorabji 2002, 157f. Philop. in an. 51, 7-12. Philop. in an. 51, 15-34. Philop. in an. 51, 34-52, 4.
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das einer Harmonie zu den Saiten eines Instrumentes: Die Harmonie ist von den Saiten verschieden, ist aber nicht ohne sie zu erreichen. Auf dieselbe Weise sei die Seele durch die Aktivität des Demiurgen in den Körper gekommen, ohne dass sie mit diesem identisch sei370. In ähnlicher Weise betont Philoponos an anderer Stelle (zu I 3, 407b 13-26; II 2, 414a 22-25), dass der Seele kein beliebiger Körper zugrunde liegen darf, sondern dass jeder einzelne Körper der in ihm regierenden Seelenart angemessen ist, so wie es der zweifüßige Körper für die rationale Seele ist, denn eine Seelenart verhalte sich zum Körper wie eine Technik zu ihrem Werkzeug371 bzw. wie die Harmonie zum Instrument. Die Meinung, die Seele sei selbst als eine Harmonie zu definieren, lehnt er dagegen mit Argumenten aus &G CPKOC (I 4, 407b 30-408a 13) und Platons 2JCKFQP (92a 3–95a 3) ab372. Obwohl also das Verhältnis von Harmonie und Saiten nur als Bild, nicht als Definition der Seele gebraucht wird, klingt es sehr verschieden vom aristotelischen Hylemorphismus, den Philoponos übernimmt. Das fällt ihm auch selbst auf, denn er verwendet einen eigenen Exkurs für den Nachweis, dass die nicht rationale und die vegetative Seele nicht als etwas anderes in einem zugrundeliegenden Körper beheimatet sind (ʟƮ ˞ÝưƫƦƪƭ̀ƮͳƴͳƳ̊ƭƢƴƪʩƷƦƪƴ̅ƦˇƮƢƪ), sondern als Formen mit einem Stoff eine untrennbare Einheit bilden373. Das werde auch dadurch klar, dass diese Seelenarten massiv vom Körper beeinflusst würden: Philoponos schließt daraus, anders als Priskian374, dass sie den Körper nicht als Werkzeug gebrauchen können375. Das scheint zunächst dem zu widersprechen, dass er das Verhältnis jeder Seele zu ihrem Körper mit dem einer Technik zu ihrem Werkzeug vergleicht. Allerdings könnte Philoponos beide Formulierungen deswegen für vereinbar halten, weil er 1.) dort die Entstehung der Seele im Körper erklärt hat, während er hier die Situation der Seele in diesem Körper diskutiert, und 2.) dass er dort die Seele mit einer Technik (ƴ̀ƷƮƨ), nicht mit dem Benutzer (ƴƦƷƮ̄ƴƨƲ) verglichen hat. Ähnliche Unterschiede liegen vor, wenn Philoponos betont, dass der werkzeughafte Leib wegen der Seele für das beseelte Lebewesen geschaffen wurde, das als leib-seelisches mit diesem Leib identisch ist376. Derartige Unschärfen sind also im Rahmen von Philoponos’ Terminologie erklärbar.
_____________ 370 Philop. in an. 52, 4-21. Vgl. auch die 6KOCKQU-Auslegung 115, 22-123, 32 und dazu Heilmann 2007, 253f. 371 Philop. in an. 140, 2-141, 30; 247, 14-248, 11. 372 Philop. in an. 141, 30-145, 10. 373 Philop. in an. 52, 29-53, 8. 374 S. u. S. 169f. 375 Philop. in an. 53, 28-35. 376 Philop. in an. 274, 8-23.
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Allerdings widerspricht die in diesem Exkurs vorgenommene klare Unterscheidung von etwas „in einem Zugrundeliegenden Befindlichen“ (ƴ̅ ʟƮ ˞ÝưƫƦƪƭ̀ƮͰ) und einer Form dem sonstigen Wortgebrauch des Kommentars, der in Anlehnung an II 1, 412a 17-19 die Form mit dem im Zugrundeliegenden Befindlichen identifiziert, so dass der letztere Ausdruck eine hylemorphistische Relation bezeichnet. „Denn das im Zugrundeliegenden befindliche ist die Form“377. Damit widerspricht Philoponos’ Exkurs so eindeutig einer Lehre in anderen Teilen des Kommentars, wie man es etwa aus dem 2J[UKM-Kommentar kennt. Der Abschnitt 52, 26-53, 8 kann daher sehr warscheinlich Philoponos’ Bearbeitung einer Vorlage zugeschrieben werden. Relation und Sympathie Dass Philoponos wie Aristoteles eine untrennbare Verbindung aller Seelenarten zum Körper befürwortet, wird des Weiteren dadurch klar, dass er einen reziproken Einfluss von Körper und Seele aufeinander annimmt: „Denn weil die Verbindung der Seele zum Leib nicht ohne eine Beziehung (ư˝ƫʙƳƷƦƴưƲ)378 ist, sondern gemeinsam erleidend (ƳƵƭÝƢƩ̂Ʋ), gehen sowohl Spuren von den Bewegungen der Seele auf den Leib über als auch von denen des Leibs auf die Seele“379. Diese Beobachtung gilt für alle Seelenarten bzw. Seelenvermögen, die in einem direkten Kontakt zum Körper stehen. Sie wird auch für das diskursive Denken (ƥƪ˾ƮưƪƢ), also eine Aktivität der rationalen Seele, im Anschluss an den aristotelischen Text (I 4, 408b 9) ausdrücklich zugegeben: Sie sei nicht aktiv, ohne eine Art Bewegung bzw. Veränderung des Gehirns und infolgedessen auch eines anderen Körperteils, nämlich des Gesichts, zu verursachen380. Das unterstreicht Philoponos auch durch die Bemerkung, dass die Denkaktivität durch Kopfverletzungen eingeschränkt werden kann381. Auf ähnliche Weise wird die Sinneswahrnehmung durch Schäden an den Organen behindert, wobei allerdings die wahrnehmende Seele und ihr pneumatischer Körper von dieser Veränderung gar nicht betroffen, sondern lediglich in
_____________ 377 ƕ̅Ƥ˽ƱʟƮ˞ÝưƫƦƪƭ̀ƮͰʟƳƴ̃ƴ̅Ʀ˅ƥưƲ. Philop. in an. 215, 15f.; vgl. auch o. S. 72. 378 Hier steht offenbar eine Formulierung des Theodor von Asine im Hintergrund: Procl. in Tim. 2, 142, 24-27. 379 ʫÝƦƪƥ́Ƥ˽Ʊư˝ƫʙƳƷƦƴ̆ƲʟƳƴƪƮ˒ƥƦƳƭ̅ƲƢ˝ƴ͋Ʋ˒ÝƱ̅ƲƢ˝ƴ̅ʕƬƬ˽ƳƵƭÝƢƩ̂Ʋ,ƥƪƢƣƢ̄ƮƦƪ ƤưͨƮƫƢ̃ʟƫƴͲƮƴ͋ƲƸƵƷ͋ƲƫƪƮƨƭ˾ƴƹƮ˅ƷƮƨÝƱ̅Ʋƴ̅ƳͲƭƢƫƢ̃ʟƫƴưͨƳ̊ƭƢƴưƲÝƱ̅Ʋƴ́Ʈ ƸƵƷ̂Ʈ. Philop. in an. 155, 17-19; vgl. 23-28. 380 Philop. in an. 156, 29-31; 157, 6-9. 381 Philop. in an. 155, 28-31. Und zwar zusätzlich zu der Tatsache, dass diskursives Denken ohnehin nur deswegen nötig ist, weil der Verstand im Körper nicht noetisch denken kann; s. u. S. 128.
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ihrer Funktion eingeschränkt sein sollen382; ebenso muss man vermutlich annehmen, dass die körperlichen Einflüsse auf das Denken dieses nur als Aktivität, nicht in ihrem Sein betreffen, das ja im Kommentar als von der Seele trennbar beschrieben wird. Als Begründung für den Einfluss der Seele auf den Körper führt Philoponos besonders Argumente aus der antiken Physiognomie an383, wobei er auf die sogenannte Physiognomie des Aristoteles Bezug nimmt, ein anonymes Werk aus dem 3. Jahrhundert v. Chr.384, das in der Antike Aristoteles zugeschrieben wurde. Hier findet sich ausdrücklich die Behauptung, dass der Leib und die Seele gemeinsam erleiden (ƳƵƭÝƢƩƦ͙Ʈ)385, was offenbar den Grund dafür darstellt, dass Philoponos hier von Sympathie spricht386. Es ist interessant, dass er diese Annahme mit Galens oben diskutierter These in Verbindung setzt, dass die Seelenvermögen den Mischungen des Körpers folgen, denn auch in der Forschung ist bereits vermutet worden, dass Galens Schrift eine Rechtfertigung der Physiognomie liefern sollte387. Die Berufung auf die Physiognomen zeigt, dass Philoponos nicht nur momentane Veränderungen im Sinn hat, etwa dass jemand momentan traurig aussieht und ein andermal nachdenklich, denn die Physiognomen versuchten, Charaktereigenschaften festzustellen388. Andererseits führt Philoponos auch momentane Änderungen der körperlichen Struktur durch die Seele an, etwa dass das Herz im Zorn schneller schlage und bei der Furcht weniger aktiv sei, da ein von Furcht befallener Mensch blass werde389. Die von Philoponos zur Erklärung des Sachverhalts angewandte Terminologie, dass Leib und Seele „nicht ohne Beziehung zueinander“ (ư˝ƫ ʙƳƷƦƴưƲ) sind390, bestimmt das Verhältnis von Leib und Seele als Glieder einer Relation. Diese Relation (ƳƷ̀ƳƪƲ) bewirkt, dass ein Relationsglied nicht verändert werden kann, ohne dass auch das andere betroffen ist391. Das ist offenbar eine Beschreibung dessen, was die Physiognomen im Wortsinne mit Sympathie meinten, eine Verbindung, in der jede Veränderung eines Gliedes auch in einem anderen Glied wirksam wird. Philopo-
_____________ 382 383 384 385 386 387 388 389 390 391
S. u. S. 106. Philop. in an. 155, 19-23. Touwaide 2000, 997. Ps.-Arist. physiogn. 35 (40, 1-5); ein Hapax im Corpus Aristotelicum; vgl. Vogt 1999, 395. Man sollte hier also nicht zu sehr an Plotins Konzept der Sympathie denken; s. zu diesem Emilsson 1988, 47-62. Evans 1945, 294-298. Touwaide 2000, 998. Philop. in an. 156, 26-28. Philop. in an. 125, 27-33; 161, 31-162, 2. Philop. in cat. 102, 31-103, 3; in phys. 368, 4-18.
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nos erklärt genauer, dass damit weder ein Nebeneinandersein gemeint ist, bei dem kein Glied das andere beeinflusst, noch eine Mischung, in der das einzelne Glied eine ununterscheidbare Einheit mit dem anderen eingeht, wie etwa bei einem Honigwein392. Das passt zu seiner Feststellung, dass Beschreibungen als körperliches oder seelisches Phänomen etwa beim Zorn zumindest erkenntnismäßig unterschieden werden können. Es widerspricht auch nicht der Annahme, dass die Seele die Form bzw. Vollendung der körperlichen Möglichkeiten im Kompositum ist, doch setzt sie deren dualistische Interpretation voraus: Die unkörperlichen seelischen Prozesse stehen mit dem Körper in enger Verbindung und formen diesen zu einem funktionierenden Lebewesen. Diese Formung bewirkt aber keine Identität, denn der als Werkzeug dienende Körper und der in ihm ablaufende seelische Prozess sind nicht identisch, sondern lediglich untrennbar miteinander verbunden. Die nicht rationale Seele und das Pneuma Während Philoponos insofern als guter Aristoteliker erscheint, zeigen einige Bemerkungen, dass er noch ein weiteres ontologisches Schema kennt, das die Annahme, menschliche Lebensprozesse seien nie ohne ihre materiellen Aspekte zu begreifen, auf spezifische Weise konkretisiert. Als der Körper, mit dem die nicht rationale Seele unmittelbar verbunden ist, gilt ihm nämlich im Allgemeinen das Pneuma bzw. der pneumatische Körper, wie schon in der Einleitung deutlich wurde393. Dieses Konzept wies zu Philoponos’ Zeit bereits eine lange und komplizierte Geschichte auf. Schon Aristoteles hatte in &GIGPGTCVKQPGCPKOCNKWO das Zentralorgan der Sinneswahrnehmung sowie dessen Verbindung zum Hör- und Geruchsinn als Pneuma beschreiben394, ohne dass er von der Existenz der Nerven Kenntnis hatte395. Deren Entdeckung durch die Ärzte Herophilos396 und Erasistratos im 3. Jahrhundert v. Chr. gab dann diesem Pneuma einen anatomisch auffindbaren Ort und sicherte die Verbindung von Sinneswahrnehmung und Gehirn ab397. Galen beschreibt dann im Anschluss an
_____________ 392 Philop. in an. 121, 5-9. 393 S. o. S. 52f. 394 Mot. an. 10, 703a 9-28; gen. an. II 3, 736b 35-737a 1; II 6, 744a 1-5. Dazu Neuhäuser 1878, 87-91; Nussbaum 1978, 143-164 (mit einer Interpretation des Pneumas, die dem Hylemorphismus nicht widerspricht). 395 Solmsen 1961, 169-175. 396 Zu ihm Touwaide 1998. 397 Solmsen 1961, 186-190.
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die Forschungen des Erasistratos398 das Gehirn als Zentralorgan der Erkenntnisfähigkeit, das über Nerven mit den äußeren Sinnesorganen Augen, Ohren, Nase und Zunge verbunden ist399. In Nerven und Gehirn sieht er den Sitz des Pneumas, das als eine Art Botenstoff die Übermittlung der Erkenntnis besorgt. Zugleich betont er, dass das Gehirn das wichtigste Organ für die Seele im Körper ist, ohne dass damit etwas über die Körperlichkeit der Seele selbst bzw. ihrer Wesenheit (ư˝Ƴ̄Ƣ) gesagt sei400. Wenn Philoponos die Theorie vom Pneuma beibehält, tut er zunächst einmal nicht mehr, als dem medizinischen und naturwissenschaftlichen Fortschritt Rechnung zu tragen. Das bot sich umso mehr an, als es leicht vereinbar schien mit der erwähnten Annahme, das Pneuma sei der mit der nicht rationalen Seele untrennbar verbundene Körper. In diesem Sinne schreibt Philoponos, dass die nicht rationale Seele „im Pneuma als dem Zugrundeliegenden das Sosein hat“ (ʟƮ ˞ÝưƫƦƪƭ̀ƮͰ ƴͳ ÝƮƦ̈ƭƢƴƪ ƴ̅ ƦˇƮƢƪ ʩƷƦƪ) bzw. eine Art hylemorphistische Verbindung mit dem pneumatischen Leib hat401. Diese Verbindung des Pneumas mit der nicht rationalen Seele, die nicht mit unserem Körper stirbt, ist auch die Bedingung für die genannte Möglichkeit, dass der pneumatische Leib unter gewissen Bedingungen sichtbar werden kann402. Von hierher erklären sich auch einige andere verstreute Bemerkungen des Philoponos, die ihrerseits auf den breiteren neuplatonischen Horizont seiner Theorie verweisen: So betont er im Hinblick auf den Zorn (ƩƵƭ̆Ʋ), dass die Verbindung mit dem Fleisch auf ihn nur dann zutrifft, wenn ein materielles Lebewesen zornig ist, aber nicht auf den im Pneuma oder als Begriff im Verstand ansässigen Zorn403. Diese zunächst schwer verständliche Feststellung kann anhand von Aussagen in Proklos’ 6KOCKQU-Kommentar besser verstanden werden: Die verschiedenen Funktionen der nicht rationalen Seele (Sinneswahrnehmung, Vorstellungskraft, Begierde, Zorn) bestehen diesem zufolge auf verschiedene Weise: Die Sinneswahrnehmung existiere einmal in sterblicher Form (ƩƮƨƴưƦƪƥ̂Ʋ) in einem sterblichen Körper und seinen einzelnen Organen, sodann in einem pneumatischen Körper, wo sie zwar allgemein sei, aber trotzdem wegen der Verbundenheit mit dem Körper (ƳƹƭƢƴưƦƪƥ̂Ʋ)noch leidensfähig, und
_____________ 398 399 400 401
Vgl. Nutton 1998a. Galen. plac. Hipp. 7, 3 (596, 10-15; 599, 5-600, 12 = 5, 600. 603f. Kühn). Galen. plac. Hipp. 7, 3 (602, 9-604, 2 = 5, 605-607 Kühn). Philop. in an. 52, 6; vgl. 239, 35f.; 438, 25-27. Zur Bedeutung von ʟƮ˞ÝưƫƦƪƭ̀ƮͰƴ̅ ƦˇƮƢƪʩƷƦƪƮ s. o. S. 72. 402 Vgl. Philop. in an. 239, 6-15 mit 19, 15-20, 22. 403 Philop. in an. 64, 11-17.
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schließlich als logischer Begriff in der rationalen Seele404. Diese Dreiteilung, die dem von Philoponos über den Zorn Gesagten entspricht, nimmt Proklos für alle nicht rationalen Seelenvermögen an405. Denn so wie alle Arten des Seins existieren sie nach Meinung der späten Neuplatoniker in sogenannten „Ketten“ (ƳƦƪƱƢ̄), bei denen alle auf verschiedenen Stufen der Seinshierarchie zu findenden Realisierungen einer Sache oder eines Vermögens letztlich von einer Idee im Geist abhängen, die ihr eigentliches Sein ist. Diese Annahme einer Stufung des Seins ermöglicht es Philoponos prinzipiell, die nicht rationale Seele mit Aristoteles für untrennbar vom menschlichen Körper zu halten und ihr trotzdem eine eigentliche Existenz außerhalb dieses Körpers zuzuschreiben. Während die Verbindung mit dem Pneuma im Falle des Zorns relativ unproblematisch ist, erfordert sie für die Sinneswahrnehmung genauere Erklärungen, da es verschiedene Sinne in verschiedenen Organen gibt. Wenn man einfach annähme, dass jeder Sinn sein eigenes Organ belebte, dann wäre es schwierig, den Zusammenhang der verschiedenen Sinne zu erklären. Eine Lösung scheint die Theorie des Pneumas in der Weise zu bieten, dass die in diesem befindliche Seele auf das Gehirn einwirkt und von hier aus durch die Nerven die einzelnen Organe aktiviert. Schon in der Einleitung hatte Philoponos das damit begründet, dass bei Anwendung eines medizinischen Apparats, der bei Operationen vor Verletzungen im Schädelbereich schützen soll, des „Membranschützers“ (ƭƨƮƪƤƤưƶ̈ƬƢƯ)406, der Patient sich weder bewegen noch sinnlich wahrnehmen kann und dass bei Rückenverletzungen der darunter liegende Körperteil möglicherweise die Wahrnehmungsfähigkeit einbüsst407. Historisch beruht diese Überlegung wohl in erster Linie auf dem medizinischen System und der teilweise platonisierenden Philosophie Galens, obwohl das Gehirn auch im 6KOCKQU als Zentralorgan beschrieben wird408. Auf jeden Fall erklären in diesem Modell die Funktionen des Pneumas als Körper der nicht rationalen Seele und als Übermittlungsorgan einander gegensei-
_____________ 404 Procl. in Tim. 3, 286, 1-287, 10; vgl. dazu Lautner 2006, 125-127. Proklos selbst spricht hier vom „ersten Seelenwagen“ als Ort der Sinneswahrnehmung. 405 Procl. in Tim. 3, 287, 10-288, 27. 406 Philop. in an. 238, 31 wird dieses Gerät einfach als „trockener Körper“ (ƫ˾ƱƶưƲ) bezeichnet. Eine Beschreibung liefert Celsus 8, 3, 8, wozu Spencer 1938, 500 Anm. b bemerkt, das Gerät sei nach wie vor in Gebrauch. 407 Philop. in an. 19, 8-14; vgl. Galen. plac. Hipp. 1, 6 (141, 17-142, 6 = 5, 186 Kühn); in Hipp. epid. 2, 4 (17, 1, 522 Kühn); Alex. Trall. 14 (1, 535 Puschmann); Todd 1984, 106 mit Anm. 30. 408 Philop. in an. 19, 5-15; 201, 2-8; 238, 27-37 nach Plat. Tim. 73c 6-d 2. Zu Galens Platonabhängigkeit vgl. z.B. sequ. pot. 3 (36, 1-19) und Moraux 1984, 744; Nutton 1998b, 749. Zur Bedeutung Galens für Philoponos’ medizinische Kenntnisse s. Todd 1984, 104f.
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tig: Die wahrnehmende Seele ist die Form desjenigen Organs, mit dem sie die leib-seelische Funktionseinheit (ƴ̅ƳƵƮƢƭƶ̆ƴƦƱưƮ) bildet, die Funktionen der nicht rationalen Seele ermöglicht409. Trotz dieser durchdachten Kombination wird die Pneuma-Theorie im Text kritisiert. Den Anlass dazu liefert Aristoteles’ Aussage, dass die vegetativen und nicht rationalen Seelenvermögen voneinander nicht trennbar und daher in jedem beseelten Körperteil gleich wirksam sind (I 5, 411b 14-27; II 2, 413b 13-24). Das ist zum einen mit der Ansicht kaum vereinbar, jede Seelenart forme ein einzelnes Körperteil. Zudem widerspricht die Behauptung, alle vegetativen und nicht rationalen Vermögen seien in jedem einzelnen Körperteil präsent, der Annahme, dass die gesamte nicht rationale Seele einheitlich auf das Gehirn wirkt und von dort sekundär über die Nerven die einzelnen Organe beseelt410. Zur Vermeidung dieser Schwierigkeit wird bei der Interpretation von I 5, 411b 19 nur sehr undeutlich gesagt, durch die Aktivierung des eigentlichen Organs entfalte ein Vermögen im ganzen Körper Wirkung411. Bei der Interpretation von II 2, 413b 13 wird das Problem dann aber ausdrücklich benannt und die gesamte Lehre vom pneumatischen Leib in der Folge für unaristotelisch erklärt: Ein pneumatischer Körper erfülle nicht die Kriterien, die Aristoteles an den Leib eines beseelten Lebewesens stelle. Philoponos’ Interpretation des „werkzeughaften Leibes“ (ƳͲƭƢ ˑƱƤƢƮƪƫ̆Ʈ) zufolge ist dieser ja aus verschiedenen Organen zusammengesetzt bzw. mit ihnen versehen (ƥƪƹƱƤƢƮưƭ̀ƮưƮ)412. Wenn das Pneuma daher „nicht mit Organen versehen ist, dann umfasst die Definition [der Seele als Entelechie eines ƳͲƭƢˑƱƤƢƮƪƫ̆Ʈ] die nicht rationale Seele nicht, sondern nur die vegetative und die rationale. Denn im Pneuma hat die nicht rationale ihr Sosein“413.
Nimmt man andererseits an, dass das Pneuma Organe hat, dann kann es die Funktion, alle Organe der nicht rationalen Seele gleichmäßig im ganzen Körper wirksam sein zu lassen, nicht erfüllen. Die, nur angedeutete, Konsequenz aus dieser Kritik am Pneuma ist, dass sich Aristoteles’ Text nur auf die Seele bezieht, soweit sie in diesem Leib ist. Das bedeutet auch, dass sie nicht auf die metaphysischen Grundlagen des Seelischen allgemein zutrifft, z.B. auf die Seelen der Himmels-
_____________ 409 410 411 412 413
Vgl. Philop. in an. 221, 18-222, 3. Philop. in an. 238, 24-239, 2. Philop. in an. 201, 24-32. S. o. S. 93. Ƈˁƥ˿ƭ́ƥƪƹƱƤ˾ƮƹƴƢƪ,ư˝ÝƦƱƪ̀ƯƦƪƴ́ƮʙƬưƤưƮƸƵƷ́Ʈ˒˖ƱưƲ,ʕƬƬ˽ƭ̆ƮƨƮƴ́ƮƶƵƴƪƫ́ƮƫƢ̃ ƴ́ƮƬưƤƪƫ̂ƮŻʟƮƤ˽ƱƴͳÝƮƦ̈ƭƢƴƪƴ̅ƦˇƮƢƪƴ͌ʕƬ̆ƤͰ. Philop. in an. 239, 2-36, Zitat 34-36; vgl. Todd 1984, 109.
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körper414. Damit ist der interpretatorische Weg frei, Aristoteles’ Schrift nicht als Zeugnis für die gesamte neuplatonische Seelenlehre zu lesen, sondern als das, was sie ist: eine Schrift über die Seele von Lebewesen in materiellen Körpern. Sofern bestimmte Seelenvermögen auch im pneumatischen Leib oder als reine Form im Geist existieren, gehören sie nicht zum Untersuchungsgegenstand von &GCPKOC. Diese Kritik stellt offensichtlich einen Zusatz zum ursprünglichen Text dar: Für das aristotelische Problem wird eine Lösung von anderer Hand angeführt (ƶƨƳƪ)415 und dann erklärt: „Vielleicht könnte jemand so die Aporie wegerklären. Aber Aristoteles will offenbar nicht, dass sie [die Wahrnehmungsvermögen] so ungeteilt sind“416. Philoponos zitiert offenbar eine ältere Schicht des Kommentars und distanziert sich von ihr. Selbst wenn dabei die Lehre vom pneumatischen Leib nicht als ganze, sondern nur für die Aristoteles-Interpretation abgelehnt wird, entsteht ein deutlicher Widerspruch zum Rest des Werks, wo das Pneuma ganz selbstverständlich als Körper der nicht rationalen Seele angesehen wird. Eine Korrektur des Ammonios durch Philoponos wäre wohl die leichteste Erklärung dieses Widerspruchs. 5. Die Stellung und Bedeutung der vegetativen Seele Nach diesen allgemeinen Bemerkungen zum Verhältnis von Seele und Körper ist nun, entsprechend Aristoteles’ und Philoponos’ eigenem Plan, auf die einzelnen Seelenarten einzugehen, die vegetative, nicht-rationale und rationale Seele (II 4, 415a 14-22). Philoponos betont, dass aus den Aktivitäten dieser Vermögen auf ihr jeweiliges Sein bzw. ihre Substanz geschlossen werden muss, während Aristoteles eher unbestimmt fragt, was (ƴ̄) die einzelnen Vermögen sind417. Die Grundlage für die Erkenntnis der Aktivitäten sind dabei wiederum die Objekte, auf die diese gerichtet sind. Zuerst wird nach dieser Methode von Aristoteles die Nährseele (ʲ ƩƱƦÝƴƪƫ̂) als die bei sterblichen Lebewesen allgemein verbreitete Seelenart untersucht, auf der alle anderen aufbauen (II 4, 415a 23-25). Obwohl Philoponos diese Art Pflanzen- bzw. vegetative Seele (ʲ ƶƵƴƪƫ̂) nennt und
_____________ 414 Philop. in an. 239, 36-38. Zur Beziehung von Aristoteles’ eigener Pneuma-Lehre zur Lehre von den Gestirnen s. Nussbaum 1978, 159f. 415 Philop. in an. 238, 2. 20. 416 ˍƳƹƲưˣƮƴƢ̈ƴ͉ÝƢƱƢƭƵƩ̂ƳƢƪƴưʙƮƴƪƲƴ́ƮʕÝưƱ̄ƢƮŻʕƬƬͻư˝ƶƢ̄ƮƦƴƢƪưˢƴƹƣưƵƬ̆ƭƦƮưƲ ʕƭƦƱƦ͙Ʋ Ƣ˝ƴ˽Ʋ ƦˇƮƢƪ ˒ ʝƱƪƳƴưƴ̀ƬƨƲ. Philop. in an. 238, 37f. Zur Bedeutung von ÝƢƱƢƭƵƩƦ͙ƳƩƢƪ im Sinne von „wegerklären“ vgl. Plut. moral. 2, 248b (238, 15 Nachstädt/Sieveking/Titchener). 417 Philop. in an. 264, 6-265, 19.
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innerhalb von ihr neben der Nähr- auch eine Wachstums- (ʲ Ƣ˝Ưƨƴƪƫ̂) und eine Fortpflanzungsseele (ʲƤƦƮƮƨƴƪƫ̂) ansiedelt418, begründet er seine Darstellung anhand des Nährvermögens, denn nur dieses hat ein spezifisches Objekt, nämlich die Nahrung (ƴƱưƶ̂)419. Die Bedeutung der Wachstums- und Fortpflanzungsfunktion kann dagegen nicht ausgehend von ihren Objekten erhoben werden, sondern nur von ihrer Zielsetzung im Lebewesen420. Allerdings gilt das in gewisser Weise auch für die Nährseele, die eigentlich weniger über ihr Objekt als über ihr Ziel, die Erhaltung des Menschen, definiert wird421. Sie bildet „das Vermögen, welches das sie besitzende Wesen als das, was es ist, erhalten kann“ (ƥ̈ƮƢƭ̄ƲʟƳƴƪƮưˆƢƳ̊ƧƦƪƮ ƴ̅ ʩƷưƮ Ƣ˝ƴ́Ʈ ̢ ƴưƪưͨƴưƮ. II 4, 416b 18f.). Auf dieser Basis führt das Wachstumsvermögen das Lebewesen zu seiner vollständigen Form, während das Fortpflanzungsvermögen die Fähigkeit darstellt, etwas anderes von der gleichen Art hervorzubringen422. Dies ist letztlich das Ziel aller drei vegetativen Vermögen, denn in ihr ahmt das vergängliche Lebewesen die göttliche Ewigkeit nach, insofern es zu einer ewigen Art gehört (II 4, 415a 29f. b 3f.)423. Aufgrund des Vorrangs der theologischen Perspektive würden daher auch das Wachstums- und das Fortpflanzungsvermögen korrekterweise nach der Fortpflanzung benannt424. Bei der Fortpflanzungsfunktion ergibt sich für Philoponos allerdings ein Problem: Wie soll die vegetative Seele über das Sperma die nicht rationale Seele hervorbringen? Denn wenn man annähme, dass die Inhalte (Ƭ̆Ƥưƪ) der nicht rationalen Seele auch mit dem Sperma als Produkt der vegetativen übermittelt werden, dann würde ja eine schwächere Kraft, die vegetative, eine stärkere, die nicht rationale hervorbringen. Die nicht rationale Seele scheint auch deswegen kein Produkt der Fortpflanzung sein zu können, da sie bereits vor dem Eintritt in unseren Körper im Pneuma existiert hat. Philoponos erwägt als Antwort, dass die nicht rationale Seele durch die demiurgische Schöpfung mit den Körpern vereinigt werden könnte, so wie er es bei den vom Leib nicht trennbaren Seelenarten annimmt, doch gewinnt man den Eindruck, dass er es bevorzugen würde, der nicht rationalen Seele eine eigene Fortpflanzungsfähigkeit zuzugestehen425. Diese Schwierigkeiten im hierarchischen Weltbild des Neuplato-
_____________ 418 419 420 421 422 423 424 425
Philop. in an. 267, 6; vgl. 268, 5-9. Philop. in an. 265, 22-29. Philop. in an. 265, 29-37. Philop. in an. 265, 37-266, 2; vgl. 289, 11f.: ƥ̈ƮƢƭƪƲƸƵƷ͋ƲƳƹƳƴƪƫ́ƴưͨʩƷưƮƴưƲƢ˝ƴ́Ʈ ƥƪ˽ƴ͋ƲưˁƫƦ̄ƢƲʟƮƦƱƤƦ̄ƢƲ,ʶƴƪƲÝƢƱưƵƳ̄̾ƴƱưƶ͋ƲƤ̄ƮƦƴƢƪ. Philop. in an. 286, 29-34. Philop. in an. 267, 22f. Philop. in an. 279, 9-23. Philop. in an. 268, 9-38.
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Aristoteles-Interpretation
nismus stellten sich für Aristoteles in dieser Form natürlich nicht. Allerdings gibt es ein vergleichbares Problem für die rationale Seele nicht: In Übereinstimmung mit Aristoteles’ Aussage, dass der Geist von außen (Ʃ̈ƱƢƩƦƮ. gen. an. II 3, 736b 27f.) kommt, nimmt Philoponos an, dass die rationale Seele erst dann im Menschen aktiv wird, wenn alle anderen Seelenvermögen bereits im Sperma vorhanden sind426. Von Interesse ist Philoponos’ Begründung von Aristoteles’ Annahme, dass die Seele nicht nur die Form-, sondern auch die Ziel- und die Wirkursache der Lebewesen ist (II 4, 415b 8-416a 17). Dieser etwas isolierte Exkurs427 hat für die heutige &GCPKOC-Interpretation insofern Bedeutung, als die Wirkursächlichkeit der Seele mit der funktionalistischen AristotelesInterpretation kaum vereinbar ist428. Philoponos zufolge ist die Wirkursächlichkeit notwendig, um tatsächlich von den Objekten eines Vermögens auf dessen Sein schließen zu können. Denn damit dieser Schluss möglich ist, müssen die Gegenstände als Glieder einer Relation zu einer Seelenfunktion gesehen werden, also ein Stein nicht als Stein, sondern als ein sichtbarer Gegenstand. Diese Relation ist nur dann gegeben, wenn die Seele nicht nur die Form des Lebewesens bestimmt, sondern auch die Wirkursache der Relationen zu den verschiedenen Objekten ist: Nur wenn die Seele die Sinneswahrnehmung bewirkt, stehen die Wahrnehmungsgegenstände in einer Relation zu ihr, durch die Aussagen über die Seele möglich werden429. Indem diese Interpretation die Bedeutung des Exkurses in &GCPKOC herausarbeitet, stellt sie ein weiteres Argument dafür dar, die Wirkursächlichkeit der Seele ernstzunehmen. Damit gibt Philoponos auch ein Argument gegen die funktionalistische Interpretation an die Hand. 6. Die Lehre von der Sinneswahrnehmung Der Ablauf der Wahrnehmung Die Lehre von der Sinneswahrnehmung ist der Teil von Philoponos’ &G CPKOC-Interpretation, der die meiste Beachtung in der neueren Forschung
gefunden hat. Der Grund dafür ist die Bedeutung von Aristoteles’ Wahrnehmungstheorie für die Interpretation seiner Seelenlehre: Richard Sorabjis These, dass Aristoteles’ Formulierung, Sinneswahrnehmung sei „das
_____________ 426 427 428 429
Philop. in an. 163, 33-36. Hicks 1907, 341; Ross 1961, 228. Cohen 1992, 71f. Philop. in an. 271, 10-273, 6.
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Aufnehmen der wahrgenommenen Formen ohne den Stoff“ (ƴ̅ƥƦƫƴƪƫ̅Ʈ ƴͲƮƢˁƳƩƨƴͲƮƦˁƥͲƮʙƮƦƵƴ͋ƲˢƬƨƲ. II 12, 424a 18f.), einen physiologischen Prozess beschreibe430, gilt als wichtiges Argument gegen eine dualistische Aristoteles-Deutung431. Kritisiert wurde Sorabjis Interpretation der aristotelischen Wahrnehmungslehre v.a. von Myles Burnyeat, der sich dabei auf Philoponos, Thomas von Aquin und Franz Brentano berief, die gezeigt hätten, dass die Sinneswahrnehmung bei Aristoteles kein physiologischer Prozess sei432. Auch Sorabji selbst433 sieht Philoponos als Anhänger der in polemischer Weise als „spiritualistisch“434 bezeichneten Interpretationsrichtung, da er in der Sinneswahrnehmung keinen physiologischen Prozess sehe und diese Interpretation noch radikaler durchführe als seine Vorgänger Alexander von Aphrodisias und Themistios435. Diese Behauptungen sollen im Folgenden geprüft werden, wobei der Besprechung von Philoponos’ Interpretation jeweils einige Bemerkungen zu Aristoteles’ Text vorgeschaltet werden. Die Wahrnehmung als unkörperliches Geschehen Das fünfte Kapitel des zweiten Buchs von &G CPKOC spricht tendenziell für die Annahme, dass die Sinneswahrnehmung für Aristoteles nicht ein einfacher physiologischer Prozess ist, wie sogar Anhänger der materialistischen Auslegung zugeben436. Denn Aristoteles hält hier fest, dass die Sinneswahrnehmung nur in bestimmter Weise Erleiden (Ý˾ƩưƲ) oder Veränderung (ʕƬƬư̄ƹƳƪƲ) genannt werden kann, da sie einen Übergang von der ersten Stufe der Aktivität (ʟƮ̀ƱƤƦƪƢ) auf die zweite darstellt. Demnach meint er mit Erleiden keine physiologische Veränderung, sondern gebraucht diesen Begriff nur, weil ihm kein besserer zur Verfügung steht (II 5, 417a 30-b 18. b 30-418a 6)437. Philoponos ist aufgrund dieser Formulierungen der Meinung, dass das Kapitel darüber spricht, was bei der Wahrnehmung in der Seele, und nicht im körperlichen Organ, geschieht.
_____________ 430 Sorabji 1979, 72 mit Anm. 22; Sorabji 1992; ausgebaut und verteidigt von Everson 1997. 431 Vgl. dazu summarisch Sorabji 1992, 209f. 432 Burnyeat 1992, 18. Darauf aufbauend, aber teilweise wenig sachlich Nussbaum/Putnam 1992, 51f. 433 Das Folgende referiert Sorabji 1991, 232-235; Sorabji 1992, 224f. 434 Dieser Begriff wurde von Everson 1997, 58-60 für die von ihm abgelehnte Position geprägt. 435 Sorabji 1991, 232-235. 436 Sorabji 1992, 220f.; Everson 1997, 93-95; dazu Magee 2000, 313-315. 437 Burnyeat 2002, 28f.
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„Denn die Sinneswahrnehmung ist das Vermögen der Seele, durch Veränderung den Wahrnehmungsgegenständen (ƴư͙ƲƢˁƳƩƨƴư͙Ʋ) ähnlich zu werden. So wird sie auch wahrnehmende Seele (ƢˁƳƩƨƴƪƫ́ƸƵƷ̂) genannt“438 (vgl. II 5, 416b 35).
Dass Bewegung (ƫ̄ƮƨƳƪƲ) und Erleiden (Ý˾ƩưƲ) nicht im eigentlichen Sinne (ƫƵƱ̄ƹƲ) von diesem Prozess ausgesagt werden können439, ist für Philoponos ebenfalls ein Beweis dafür, dass Aristoteles hier von einer seelischen, nicht von einer körperlichen Tätigkeit spricht440. Als Bewegung wäre sie nur eine unvollendete (ʕƴƦƬ̂Ʋ) Aktivität der ersten Stufe, aber nicht eine vollendete (ƴƦƬƦ̄Ƣ) der zweiten, wie Aristoteles es voraussetzt441. Ein Erleiden könne diese Wahrnehmung noch weniger sein, denn so werde nur eine Bewegung genannt, die eine qualitative Veränderung mit sich bringe, während man auch örtliche oder mengenmäßige Veränderungen als Bewegung bezeichnen könne442. Doch gerade ein qualitatives Erleiden finde bei der Sinneswahrnehmung nicht statt, da diese nur eine bereits bestehende Eigenschaft aktualisiere, aber nicht eine Veränderung in der Kategorie Qualität darstelle; eine solche liege z.B. dann vor, wenn etwas, das vorher eine andere Farbe gehabt habe, plötzlich weiß werde443. Der Begriff des Erleidens erklärt dieser Interpretation zufolge also nur, warum die Wahrnehmung und ihr Gegenstand zuerst unähnlich waren und einander dann ähnlich wurden, nämlich weil die Wahrnehmung ebenso aktualisiert wurde, wie der Gegenstand vorher schon aktualisiert war444. Da Sinneswahrnehmung demnach kein Erleiden sein kann, erklärt Philoponos sie auf eine Weise, die sich so in &GCPKOC nicht findet: Sie sei ein unmittelbares Hervorbringen (ʕƩƱ̆ƢÝƱưƣưƬ̂) ihrer Gehalte, das keine zeitliche Ausdehnung habe. Ein Wahrnehmungsgegenstand werde ebenso direkt und unfehlbar wahrgenommen, wie ein aufstrahlendes Licht alles in seiner Umgebung erleuchte445. So entstehe eine unmittelbare Relation zwischen dem Objekt und dem wahrnehmenden Sinn. Diese Vorstellung entnimmt Philoponos Aristoteles’ 2J[UKM, wo dieser die Bewegung von einer einfachen Aktivität (ʟƮ̀ƱƤƦƪƢʖÝƬ͋) unterscheidet, die in Philoponos’ 2J[UKM-Kommentar als unmittelbare Verwirklichung (ʕƩƱ̆Ƣ ʟƮƴƦƬ̀ƷƦƪƢ) interpretiert wird446.
_____________ 438 ƕ́Ʈ Ƥ˽Ʊ Ƣ˅ƳƩƨƳƪƮ ƦˇƮƢƪ ƥ̈ƮƢƭƪƮ ƴ͋Ʋ ƸƵƷ͋Ʋ ƥƪ’ ʕƬƬưƪ̊ƳƦƹƲ ˒ƭưƪưͨƳƩƢƪ ƴư͙Ʋ ƢˁƳƩƨƴư͙Ʋ, ƴƢ̈ƴ͉ƫƢ̃ƢˁƳƩƨƴƪƫ́ƮƸƵƷ́ƮʟƱƦ͙. Philop. in an. 289, 18f. 439 Philop. in an. 289, 31f.; 296, 20-24. 440 Blumenthal 1996, 121. 441 Philop. in an. 296, 33-297, 2. 442 Philop. in an. 297, 27-35; hier folgt er wohl Alexander: Philop. in an. 100, 19-26. 443 Philop. in an. 301, 11-23. 444 Philop. in an. 298, 9-23. 445 Philop. in an. 297, 2-10. 446 Aristot. phys. III 2, 201b 31-35. Dazu Philop. in phys. 368, 21-23; vgl. in an. 296, 25f.
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Diesem als Aktivität beschriebenen seelischen Akt ist allerdings eine Einwirkung von außen an die Seite zu stellen, wie Philoponos’ weitere Interpretation deutlich macht. Dabei schließt allerdings Aristoteles’ Vergleich der Sinneswahrnehmung mit der Aufnahme eines Siegelzeichens in einem Stück Wachs (II 12, 424a 19-21) Philoponos’ Meinung nach aus, dass die Wahrnehmung sich zu ihrem Objekt wie ein Stoff zu seiner Form verhält. Denn der Vergleichspunkt des Bildes liegt ihm zufolge darin, dass eine Form aufgenommen wird. „Denn nicht insofern das Siegel golden oder silbern ist, wird das Wachs ihm ähnlich, sondern insofern es diese bestimmte Form hat“447. Diese bestimmte „Form“ ist dabei eine Information über die inhaltliche Struktur des Objekts, die im Wachs erkennbar ist (um wessen Siegel handelt es sich?) bzw. bei der Wahrnehmung erkannt wird (welche Farbe sehe ich?). „So nimmt also auch die Sinneswahrnehmung die Form ,Süße‘ im Honig wahr, nicht insofern er Honig ist, sondern insofern er eine derartige Form ,Süße‘ besitzt“448. Jeder Einzelsinn hat so nur eine bestimmte Eigenschaft des wahrgenommenen Gegenstandes zum Objekt, und nicht diesen als ganzen bzw. seine ganze körperliche Struktur. Neben diesem Vergleichspunkt ist aber auch zu beachten, dass die Sinneswahrnehmung wesentlich mehr leistet als ein Stück Wachs: Sie nimmt den erkannten Gegenstand nicht nur oberflächlich auf, sondern „bildet seinen Inhalt erkenntnismäßig nach“ (ƤƮƹƳƴƪƫͲƲ ƴ́Ʈ ˁƥ̀ƢƮ Ƣ˝ƴưͨ ʟƫƭ˾ƴƴƦƴƢƪ), und zwar so, dass sie „als ganze“ (˖Ƭƨ ƥƪ’ ˖ƬƨƲ) betroffen ist449. Das Wort „ʟƫƭ˾ƴƴƦƴƢƪ“ bezeichnet sowohl das Entstehen eines Eindrucks im Wachs als auch die modellierende Tätigkeit des Künstlers: Demnach wird das Objekt im Organ gleichsam nachgebildet und auf diese Weise in seiner formalen Struktur erkannt. Die Sinneswahrnehmung bringt ihr Objekt also nicht, wie der Geist, selbst hervor, sondern sie empfängt es von außen und reproduziert dabei eine der ihr innewohnenden Möglichkeiten. Vorher ist sie, insofern sie habituell die Fähigkeit hat, den Erkenntnisgehalt ihrer Objekte zu aktualisieren, potenziell dasselbe wie jedes von ihnen450. Wenn sie ein Objekt wiedergibt, hat sie dann aktuell eine bestimmte von diesen möglichen Formen. Der Unterschied der Sinneswahrnehmung zum Geist451 liegt also – entsprechend dem in Philoponos’ Einleitung Gesagten – darin, dass der
_____________ 447 Philop. in an. 309, 19-25; 437, 9-17. Zitat 437, 14f.: ư˝ Ƥ˽Ʊ ƫƢƩ̅ ƷƱƵƳ͋ ʳ ʕƱƤƵƱ̀ʲ ƳƶƱƢƤ̃Ʋ˒ƭưƪưͨƴƢƪƢ˝ƴ͌,ʕƬƬ˽ƫƢƩ̅ƴưƪ̆ƮƥƦƦˇƥưƲʩƷƦƪ. 448 ƑˢƴƹƲưˣƮƫƢ̃ʲƢ˅ƳƩƨƳƪƲƥ̀ƷƦƴƢƪ ƴ̅ʟƮƴͳƭ̀Ƭƪƴƪƴ͋ƲƤƬƵƫ̈ƴƨƴưƲƦˇƥưƲ,ư˝ƫƢƩ̅ƭ̀Ƭƪ ʟƳƴ̄Ʈ,ʕƬƬ˽ƫƢƩ̅ʩƷƦƪƴ̅ƤƬƵƫ̈ƴƨƴưƲƦˇƥưƲ. Philop. in an. 437, 17-19. 449 Philop. in an. 309, 25-29. 450 Philop. in an. 310, 29f. 451 Von Charlton 1991, 13 wurde bezweifelt, dass es bei Philoponos überhaupt einen solchen Unterschied gibt.
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seelische Erkenntnisprozess bei diesem innerhalb der Seele in Gang gesetzt und bei der Sinneswahrnehmung von außen angeregt wird, während die spontane Auffassung des jeweiligen Objektes mit der daraus folgenden Identität von Erkennendem und Erkanntem bei Geist und Sinneswahrnehmung auf parallele Weise erklärt wird. Der physiologische Prozess bei der Wahrnehmung Das bis jetzt Gesagte erweckt in der Tat den Eindruck, als verstehe Philoponos die Sinneswahrnehmung als ein seelisches Geschehen, ohne dass hierzu ein physiologischer Prozess notwendig wäre. Allerdings ist die Behandlung physiologischer Aspekte in den bis jetzt zitierten Aussagen auch nicht zu erwarten, da sie den Wahrnehmungsakt in der Seele erklären sollen. Der Prozess im Organ, durch den das Objekt erst aufgefasst wird, ist hiermit aber Philoponos zufolge nicht identisch. Allerdings schließt Philoponos, wie manche moderne Interpreten452, auch für diesen Prozess aus, dass nach Aristoteles’ Meinung z.B. das Auge beim Sehen von etwas Weißem selbst weiß wird. Denn eine derartige qualitative Veränderung des Organs wäre ein Erleiden, wie es oben ausgeschlossen wurde. Philoponos versteht Aristoteles’ Aussage, die „wahrgenommenen Formen“ würden „ohne den Stoff“ aufgenommen, daher so, dass diese Formen erkenntnismäßig (ƤƮƹƳƴƪƫͲƲ) aufgenommen werden453. Denn das Sinnesorgan (ƢˁƳƩƨƴ̂ƱƪưƮ) ist zwar ein natürlicher Körper (ƶƵƳƪƫ̅ƮƳͲƭƢ), der als solcher auch leidensfähig ist, so dass sich seine Eigenschaften bzw. Qualitäten verändern können: Der Körper wird heiß, kalt, grün, rau, weich usw. Als Organ verhält es sich aber auf andere Weise, indem es Dinge ihrem Wahrnehmungsgehalt nach wiedergibt454. Diese Eigenschaft des körperlichen Organs ist Philoponos zufolge das, was Aristoteles als Mitte (ƭƦƳ̆ƴƨƲ. II 11, 424a 4f. 424b 1) bezeichnet, nämlich die Eigenschaft, Erkenntnisgehalte aufzunehmen455. Muss man daher annehmen, dass auch die Übertragung der Formen ins Organ nicht physiologisch geschieht? Philoponos’ Beschreibung der Tätigkeit der Organe weist in eine andere Richtung. Er vergleicht deren Tätigkeit mit Spiegeln (ƫ˾ƴưÝƴƱƢ), Pressformen (ʟƫƭƢƤƦ͙Ƣ) oder ähnlichem456, erklärt also Aristoteles’ Text mit Begriffen aus Platons 6JGCKVGV (193c 7. 194d 6), wo auch das Bild vom Siegel im Wachs vorkommt (z.B. 193b 10f.). Dabei macht besonders der
_____________ 452 453 454 455 456
Welsch 1987, 170; Shields 1993, 173. Philop. in an. 303, 4-6; 437, 11; L 32, 55-58. Philop. in an. 432, 36-433, 4. Philop. in an. 435, 25-28. Philop. in an. 437, 22.
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Vergleich mit dem Spiegel deutlich, dass die Aufnahme der Formen im Organ ein materieller bzw. physiologischer Prozess ist, wenn auch einer von besonderer Art: Es handelt sich Philoponos zufolge um eine temporäre Wiedergabe des gesehenen, gerochenen etc. Objekts. Sie verschwindet, wenn der abgebildete Gegenstand das Wahrnehmungsfeld des Organs verlässt, und stellt daher keine qualitative Veränderung des Organs dar, die als Erleiden zu beschreiben wäre457. Es entsteht nur eine vorübergehende Relation zwischen dem Organ und dem wahrgenommenen Objekt, nicht aber zwischen ihm als Körper und dem Körper, der die wahrgenommene Qualität hat458: Das Ohr hört von einer Stimme abgegebene Laute, aber nicht den Sprecher459; und die Laute sind zwar natürliche Gegenstände, aber nur, insofern sie gehört werden, sind sie auch Wahrnehmungsgegenstände (ƢˁƳƩƨƴ˾)460. Die Voraussetzung für einen solchen Prozess ist die Existenz bestimmter Arten von Materie, die zur Aufnahme wahrnehmbarer Information in der Lage sind, ohne dabei selbst qualitativ verändert zu werden. Auf derartige Gegenstände weist nach Philoponos’ Meinung Aristoteles hin, wenn er „das Erleidende unbegrenzt“ nennt (ƴ˽ Ý˾ƳƷưƮƴƢ ʕ̆ƱƪƳƴƢ. 424b 15). Gemeint sei damit „Feuchtes, so wie die Luft und das Wasser“ (˞ƤƱ˾, ˮƲ ˒ ʕ́Ʊ ƫƢ̃ ƴ̅ ˢƥƹƱ)461. Diese Gegenstände nenne Aristoteles deswegen „unbegrenzt“, „weil sie keine eigene Gestalt haben und leicht veränderlich sind“462. Aus diesem Grund erlitten sie nichts, wenn sie wahrgenommene Information übermitteln (ƥƪƢÝưƱƩƭƦ̈ƦƪƮ), sondern diese Übermittlung stelle ihre eigene spezifische Natur dar. Diese Materialien sind für Philoponos das Medium, das sich nach Aristoteles zwischen Objekt und Organ befinden muss. Philoponos zufolge gibt es ein solches Medium aber auch innerhalb der Sinnesorgane, wie es für die Erkenntnis der wahrgenommenen Formen auch notwendig ist. Man kann in Bezug auf Philoponos’ Theorie also nicht mit Sorabji von einem puren „Durchlassen“ der Sinneseindrücke durch die Sinnesorgane sprechen463. Den ganzen Prozess der Sinneswahrnehmung hindurch muss vielmehr die unkörperliche wahrnehmbare Form mit etwas Materiellem verbunden sein, dessen Fähigkeit, Wahrnehmungsobjekte weiterzuleiten, durch eben diese Objekte aktualisiert wird464. Diese Verbindung ist so eng, dass die Wahr-
_____________ 457 458 459 460 461 462 463 464
Vgl. Philop. in an. L 33, 74-80. Philop. in an. 437, 24-438, 10. Philop. in an. 438, 20-23. Philop. in an. 438, 15-20. Philop. in an. 443, 18. Philop. in an. 443, 18-27, Zitat 21: ƥƪ˽ƴ̅ƭ́ʩƷƦƪƮưˁƫƦ͙ưƮƳƷ͋ƭƢƫƢ̃ƥƪ˽ƴ̅ƦˡƴƱƦÝƴưƮ. Sorabji 1991, 232. Philop. in an. 373, 4-8; ähnlich Magee 2000, 327f.
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nehmungsinformation auch eine materielle Wirkung haben kann, wie etwa der Luftdruck beim Donner (II 12, 424b 11)465. Dabei macht es keinen wesentlichen Unterschied, ob das weiterleitende Material im Falle des Tastsinns das menschliche Fleisch ist oder im Falle der auf Entferntes gerichteten Sinne die Luft (bzw. das Wasser) innerhalb oder außerhalb des Organs466. In jedem Fall existieren die unkörperlichen Wahrnehmungsgegenstände stets nur als (akzidentelle) Formen eines materiellen Substrats, wobei es gewisse Unterschiede im Verhältnis der einzelnen Wahrnehmungsobjekte (Farben beim Sehen, Töne beim Hören etc.) zu ihren Transmitterstoffen gibt467. Die Verbindung von beidem ist aber in allen Fällen wie bei einem hylemorphistischen Kompositum nicht auflösbar. Trotzdem bleiben unkörperlicher Inhalt und materielles Substrat wesenhaft verschieden, so dass die Sinneswahrnehmung dank ihrer speziellen Anlage den formalen Gehalt von dem ihn übertragenden Substrat trennen kann. Nach dieser Beschreibung gibt es bei Philoponos eindeutig einen physiologischen Vorgang, der Voraussetzung für den seelischen Wahrnehmungsakt ist. Ein Lebewesen sieht, indem es die im Organ aufgenommene Form anhand ihrer unterscheidenden Merkmale erkennt (˲ƳƴƦ ƤƮƹƱ̄ƧƦƪƮƫƢ̃ƫƱ̄ƮƦƪƮƴ̅ʟƮƢ˝ƴư͙ƲƤƪƮ̆ƭƦƮưƮƦˇƥưƲ)468. Auf diese Weise ,weiß‘ der Geruchssinn über den Honig: „Das ist süß“, oder der Gesichtssinn über den Schimmel: „Das ist weiß“. Allerdings macht Philoponos häufig nicht klar, ob von physiologischen Vorgängen im Organ oder der seelischen Erkenntnisfähigkeit die Rede ist. Diese Unschärfe ergibt sich aus der zugrunde liegenden hylemorphistischen Ontologie: Zwar können Form (die Wahrnehmungsfähigkeit) und Stoff (das Wahrnehmungsorgan) analytisch unterschieden werden, sie sind aber als Form und Stoff ebenso eins wie Seele und Körper des gesamten Lebewesens469. Dieser eine Prozess der Sinneswahrnehmung ist daher beides zugleich, ein physiologischer Prozess der Übermittlung eines sinnlichen Gehalts und ein seelischer Erkenntnisakt470. Dieses Konzept kann man als eine plausible Wiedergabe des aristotelischen Anliegens ansehen, die sowohl die Vorstellung ernst nimmt, dass bei der Sinneswahrnehmung ein Objekt ohne den Stoff aufgenommen
_____________ 465 466 467 468
Philop. in an. 442, 14-31. Philop. in an. 354, 8f. 12f.; 364, 13-15. 32-365, 2. Philop. in an. 373, 8-12. Philop. in an. 437, 19-24. Zur hier vorausgesetzten Bedeutung von ƫƱ̄ƮƦƪƮ Ebert 1983; Bernard 1988, 79f. Anm. 24. 469 Philop. in an. 221, 30-222, 3. 470 Philop. in an. 438, 30-439, 2; s. u. S. 162-164 zur Aufnahme dieser These durch Damaskios.
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wird, als auch berücksichtigt, dass diese Aufnahme im Organ und durch das Organ geschieht. Von Sorabjis Vorschlag unterscheidet er sich weniger stark, als das Philoponos’ Insistenz darauf, dass die Wahrnehmung nicht schwarz, weiß oder süß wird471, vermuten lässt. Das ist nicht so gemeint, dass bei der Wahrnehmung gar kein physiologischer Vorgang stattfindet, sondern dass dieser physiologische Vorgang die qualitative Struktur des Organs nicht verändert: Das Organ nimmt nicht die grüne Farbe an, sondern bildet sie ab. Der physiologische Vorgang, der den materialen Aspekt der Sinneswahrnehmung ausmacht472, findet nicht im Körper als Naturprodukt, sondern im werkzeughaften Körper des leib-seelischen Wesens statt, der gleichsam auf der ersten Stufe der Verwirklichung bzw. der zweiten der Möglichkeit steht. Soweit man dabei von Passivität sprechen kann, betrifft dieses nicht den seelischen Wahrnehmungsvorgang, sondern den körperlichen Kontakt, der zu ihm führte473. Sinnesorgane und Pneuma Um die Erkenntnisfunktion der Wahrnehmung beschreiben zu können, reichen die bis jetzt gegebenen Erklärungen aber Philoponos zufolge nicht aus, denn sie unterscheiden ja nur die Übermittlung durch einen nicht erkenntnisfähigen Transmitterstoff und den seelischen Erkenntnisakt. Um beides zu verbinden, ist ein Wahrnehmungsorgan erforderlich, das in unauflöslicher Verbindung mit einer seelischen Erkenntnisfähigkeit steht und dadurch erst das Zustandekommen von Erkenntnis ermöglicht474. Dieses Organ ist für Philoponos das bereits im letzten Kapitel diskutierte Pneuma. Dieses Pneuma sieht Philoponos als das erste Organ der Sinneswahrnehmung (ÝƱͲƴưƮƢˁƳƩƨƴ̂ƱƪưƮ) an, das Aristoteles im Zusammenhang mit dem Tastsinn diskutiert (II 11, 422b 22. 423b 30f.), während die körperlichen Wahrnehmungsorgane Nase, Augen, Ohren usw. dem Kommentator zufolge lediglich die von den sinnlichen Dingen empfangenen Eindrücke nach oben, d.h. in das eigentliche Sinnesorgan, „hochschicken“ (ʕƮƢÝ̀ƭÝƦƴƢƪ)475. Konkreter wird diese These, wenn Philoponos das Pneuma zu einer überraschenden Interpretation der aristotelischen Annahme eines Mediums (ƭƦƴƢƯ̈) zwischen Wahrnehmungsorgan und Objekt (II 7, 419a 15-21; II 9, 421b 9; II 11, 422b 21-23) nützt: Da das
_____________ 471 472 473 474 475
Philop. in an. 303, 4f.; 309, 17f.; 437, 9f. Vgl. Sorabji 1992, 208f. Philop. in an. 438, 10-15. Philop. in an. 444, 17-26. Philop. in an. 438, 25-30.
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Pneuma das eigentliche Organ sei, seien die Augen und anderen Organe aus seiner Perspektive Teil des Mediums, aus der Perspektive der Objekte dagegen Wahrnehmungsorgane476. Anders ausgedrückt, haben Geruchs-, Gesichts- und Hörsinn jeweils zwei Medien, nämlich sowohl ihr Organ als eigenes (˅ƥƪưƮ) Medium als auch die Luft zwischen ihnen und ihrem Objekt als ihnen fremdes (ʕƬƬ̆ƴƱƪưƮ) Medium477. Bei Tast- und Geschmackssinn, die in direkten körperlichen Kontakt mit ihrem Objekt treten, ist das Medium das Fleisch bzw. die Zunge, die den empfangenen Eindruck an das Pneuma weiterleiten478. Bei den Sinnen, die über eine gewisse Distanz wahrnehmen, wird eine ähnliche Berührung479 dadurch bewirkt, dass die Medien Luft oder Wasser eine Art Transmitterstoffe bilden, über die die Inhalte der Sinneswahrnehmung, also die unkörperlichen Formen (Ʀ˅ƥƨ), zu den Organen übertragen werden480. Innerhalb der sichtbaren Organe des menschlichen Körpers (Auge, Nase usw.) setzt sich dieselbe Art der Übermittlung fort, da diese ebenfalls aus Luft und Wasser bestehen, die in der Lage sind, die Formen der Wahrnehmungsgegenstände bis hin zum jeweiligen Pneuma zu übertragen, das beim Sehen (ˑÝƴƪƫ̅ƮÝƮƦͨƭƢ) in der Pupille oder dem Sehnerv, beim Hören (ʕƫưƵƳƴƪƫ̅ƮÝƮƦͨƭƢ) und Riechen aber in bestimmten Teilen des Gehirns seinen Sitz hat. Philoponos’ Formulierungen deuten an, dass er dieses Pneuma in den Teilen des jeweiligen Organs verortet, in denen der zum Gehirn führende Nerv beginnt und somit die im Pneuma ruhende Wahrnehmungsfähigkeit präsent ist481. Diese Stellung des Pneumas als Ort der wahrnehmenden Seele führt auch dazu, dass es als Substrat des Gemeinsinns angesehen und als Zentralfunktion im Gehirn verortet wird. „Denn das Pneuma ist das allen Sinnen gemeinsame Wahrnehmungsorgan. Denn auch der Gemeinsinn (ʲ ƫưƪƮ̂Ƣ˅ƳƩƨƳƪƲ) ist in diesem“482. Einen Eindruck über diesen Aspekt von Philoponos’ Theorie kann uns die byzantinische &GCPKOC-Paraphrase des Sophonias geben, ein Werk, das Philoponos’ Kommentar häufig zitiert, und zwar auch dessen heute verlorene Erklärungen zum Dritten Buch von &G CPKOC483. Wahrscheinlich gilt das auch für die Aussage, dass das Zen-
_____________ 476 477 478 479 480 481 482
Philop. in an. 418, 17-25. Philop. in an. 398, 13-21. Philop. in an. 398, 12-15. 20-22; 418, 22f. Philop. in an. 367, 7f. Philop. in an. 443, 16-28. Philop. in an. 350, 25f.; 364, 15-20. 36; 398, 16-19. ƕ̅Ƥ˽ƱÝƮƦͨƭƢƫưƪƮ̆ƮʟƳƴƪÝƢƳͲƮƢˁƳƩƨƴ̂ƱƪưƮ.ƫƢ̃Ƥ˽ƱʲƫưƪƮ́Ƣ˅ƳƩƨƳƪƲʟƮƴư̈ƴͰ. Philop. in an. 433, 34f. 483 Verbeke 1966, CIVf. Es wäre zu prüfen, ob mit Hilfe der unedierten &G CPKOCParaphrase des Theodoros Metochites (14. Jhdt.) Material zur Rekonstruktion von Philoponos’ Interpretation dieser Kapitel gewonnen werden könnte. Die von Arnzen
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tralorgan (ƴ̅ʲƤƦƭưƮƪƫ̆Ʈ) im Pneuma seinen Sitz hat und dass die einzelnen Sinnesorgane ihre Erkenntnisse zu diesem hochschicken (ʕƮƢÝ̀ƭÝƦƪ)484. Hierbei dient das Pneuma entsprechend dem in Philoponos’ Einleitung genannten Gegenteil-Argument zur Erklärung der Einheit und Vielheit der Wahrnehmung485. Dass dieses Argument, das sonst die Unkörperlichkeit der wahrnehmenden Seele beweisen soll486, hier auf das Pneuma angewandt wird, zeigt dessen besondere Stellung als ein körperliches Substrat, für das die Regeln der Ausdehnung der Körper teilweise außer Kraft gesetzt sind. Eine genaue Erklärung dieser interessanten Annahme bietet Philoponos’ erhaltener Text aber leider nicht. Ein Grund hierfür mag darin liegen, dass die Pneuma-Theorie nur schwer mit dem aristotelischen Text zu vereinbaren ist: Denn abgesehen von Philoponos’ eigener, bereits diskutierter487 Kritik ist die PneumaLehre auch aus weiteren Gründen kaum geeignet, zu einer adäquaten Würdigung der von Aristoteles beschriebenen Sinnesorgane zu gelangen: Im Falle des Sehvermögens ist etwa kaum mehr zu erkennen, worin eigentlich die Funktion des Auges besteht, dessen einzelne Teile wie die Luft nur die wahrnehmbaren Farben weiterleiten, bis sie im Seh-Pneuma beurteilt werden488. Ähnlich ist es mit dem Ohr und mit der Nase, deren Wahrnehmungsfähigkeit durch eine innewohnende Luft (ƳƵƭƶƵ́Ʋ ʕ̂Ʊ) gekennzeichnet sein soll489; auch hier finden wir im Organ nur denselben zur Weiterleitung geeigneten Stoff wie in der Strecke vom Objekt zum Organ, so dass die eigene Funktion von letzterem, die nach den allgemeinen Aussagen zur Sinneswahrnehmung anzunehmen ist, nicht mehr erklärbar ist. Die Leistungsfähigkeit der Sinneswahrnehmung Aufgrund des Verlusts von Philoponos’ Interpretation der ersten beiden Kapitel von &GCPKOC III sind uns seine Ausführungen zum Gemeinsinn, abgesehen von den genannten Spuren bei Sophonias, nicht bekannt. Deswegen kann man nur aus einigen verstreuten Bemerkungen etwas dazu
_____________ 484 485 486 487 488 489
1998 herausgegebene arabische &GCPKOC-Paraphrase kann dies in der edierten Form nicht, da gerade die Interpretation der infrage kommenden Kapitel fehlt. Soph. an. paraphr. 114, 27-35. Soph. an. paraphr. 114, 29-115, 13. Vgl. Sorabji 1991, 232f. S. o. S. 57f. S. o. S. 107f. Philop. in an. 350, 24-33; 364, 33-365, 2. Philop. in an. 364, 11-16; 398, 16-19.
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sagen, wie er die Reichweite der Sinneswahrnehmung als ganzer bestimmte. So diskutiert Philoponos die Möglichkeit der Selbstwahrnehmung der Sinne bei der Interpretation von Aristoteles’ Bemerkung, dass für die Sinneswahrnehmung wie für das Feuer ein von ihnen verschiedener Brennstoff erforderlich sei, da beide von etwas Äußerem von der Möglichkeit in die Wirklichkeit überführt werden müssten (II 5, 417a 2-9). Philoponos sieht hierin eine Ablehnung einer Selbstwahrnehmung der Sinne. Denn diese könne nur bedeuten, dass die Wahrnehmung ihr Organ (ƢˁƳƩƨƴ̂ƱƪưƮ) erkenne, das ein physischer und daher wahrnehmbarer Gegenstand sei. Für diese so nicht von Aristoteles inspirierte Überlegung führt Philoponos drei Argumente an, von denen das erste der neuplatonischen Selbsterkenntnislehre entspricht, während die beiden anderen direkt auf aristotelischen Überlegungen fußen: 1. Die Sinneswahrnehmung ist von ihrem körperlichen Organ, mit dem sie erkennt, nicht trennbar; dieses müsste sich aber selbst berühren, um sich zu erkennen, was bei einem Körper nicht möglich ist490. Dieses Argument gewinnt Philoponos aus Aristoteles’ Vergleich von Sinneswahrnehmung und Denken (II 5, 417b 22-26), der aber vom Stagiriten nicht mit der Frage nach Selbsterkenntnis verbunden wird. 2. Die Sinneswahrnehmung benötigt ein Medium, um wahrzunehmen, und so etwas gibt es zwischen ihr und ihr selbst nicht, so dass sie sich nicht selbst zum Objekt werden kann491. 3. Ein Wahrnehmungsgegenstand, der aktuell ist, ist dem Wahrnehmungsorgan vor der Wahrnehmung unähnlich (ʕƮ̆ƭưƪưƮ), denn dieses ist nur potenziell dieser Gegenstand. Doch kann nichts sich selbst unähnlich sein, und folglich ist das Wahrnehmungsorgan kein geeignetes Objekt für sich selbst492. Abgesehen von dieser Unmöglichkeit der Selbsterkenntnis beurteilt Philoponos die Leistungsfähigkeit der Wahrnehmung differenziert. Zwar kann sie nie das Sein (ư˝Ƴ̄Ƣ) eines Dinges als solches erfassen, also seine wesenhafte Charakteristik, doch ist sie in der Lage, anhand des Schemas der wahrgenommenen Eigenschaften Dinge wiederzuerkennen, so wie etwa ein Hund sein Herrchen erkennt493. Sie kann daher genug Orientierung im praktischen Lebensvollzug eines nicht rationalen (und wohl auch eines rationalen) Wesens liefern494, doch hat sie keinen wissenschaftlichen Erkenntniswert, für den eine Einordnung des Objekts in das begriffliche Schema von Gattung und Art nötig wäre.
_____________ 490 491 492 493 494
Philop. in an. 292, 7-16. Philop. in an. 292, 18-21. Philop. in an. 292, 27-32. Philop. in an. 317, 25-36. S. u. S. 139f. zur Rolle des praktischen Geistes.
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Ergebnis Philoponos’ Aussagen zur Sinneswahrnehmung zeigen, genau interpretiert, deutlich, dass diese nicht als ein bloßes seelisch-spirituelles „gewahr werden“ verstanden wird495. Vielmehr wird die Sinneswahrnehmung stets als Verwirklichung der habituell vorhandenen Anlage betrachtet, ganz bestimmte Objekte wahrzunehmen. Damit ist sie im Sinne von &GCPKOC II 5 eine Aktualisierung der zweiten, nicht der ersten Stufe, und somit ein materieller Prozess, aber nicht im Sinne einer natürlichen Bewegung. Diese Deutung ist prinzipiell geeignet, zu einem besseren Verständnis von Aristoteles’ Wahrnehmungslehre jenseits der Alternative von „Spiritualismus“ und materialistischem „Literalismus“ zu kommen. Dazu ist insbesondere am aristotelischen Text zu prüfen, wie die Annahme, dass der Mensch habituell über die zur Wahrnehmung notwendigen Gehalte (Ƭ̆Ƥưƪ) verfügt496, mit der physiologischen Beschreibung der einzelnen Organe zu vereinbaren ist. Erste Schritte dazu gibt es bereits in der modernen Forschung: T.K. Johansen sieht in der Sinneswahrnehmung eine Aktivität der zweiten Stufe und meint, ganz ähnlich wie Philoponos, dass ein Sinnesorgan sich im Wesentlichen dadurch auszeichnet, dass es durch Transparenz für die Aufnahme der jeweiligen Sinnesobjekte geeignet ist497. Besonders nahe an Philoponos’ Interpretation ist der von Joseph Magee in Anlehnung an Thomas von Aquin gemachte Vorschlag, einen Prozess der zweiten Stufe der Möglichkeit im Sinnesorgan anzunehmen498. Insofern ist, zumindest was die Wahrnehmungslehre betrifft, Philoponos’ Argument mit der zeitgenössischen Interpretation gut zu vereinbaren und sollte in Diskussionen ernster genommen werden, als das bisher geschah. Andererseits erweist sich Philoponos’ Heranziehung der spätantiken Pneuma-Theorie, die Erkenntnisse der zeitgenössischen Medizin berücksichtigt, letztlich für das Verständnis von &G CPKOC als unfruchtbar und passt auch systematisch kaum in eine aristotelische Wahrnehmungslehre. Philoponos war vielleicht derjenige Denker der Ammonios-Schule, der die Unvereinbarkeit eines durchgängigen, ungeteilten Pneumas mit Aristoteles’ Lehre vom werkzeughaften Körper erkannte. Die breite Rolle, die dem Pneuma trotzdem in der Wahrnehmungslehre des &G CPKOCKommentars zukommt, ist daher wahrscheinlich ein Teil der wohl dem Ammonios zuzuschreibenden Grundschicht des Kommentars, und das
_____________ 495 496 497 498
Burnyeat 1992, 18. Vgl. Welsch 1987, 45-59. Johansen 1998, 281f. Magee 2000, 327.
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Aristoteles-Interpretation
gleiche gilt wohl auch für die Interpretation der aristotelischen Aussagen zur Sinneswahrnehmung499. Ammonios erwiese sich damit als ein Ausleger, der sowohl eng am Text interpretiert als auch medizinische Fragen wie die nach dem Pneuma aufzunehmen bereit war. 7. Die Lehre vom Geist bzw. von der rationalen Seele Bei der Interpretation von Aristoteles’ Aussagen zur rationalen Seele muss Philoponos seiner Gesamtinterpretation entsprechend zeigen, dass einige geistige Vermögen untrennbar mit dem Körper verbunden sind, obwohl die rationale Seele als solche von ihm abtrennbar ist. Diese Aufgabe hängt eng mit einem der Hauptziele der neuplatonischen Aristoteles-Exegese zusammen, nämlich zu zeigen, dass die Form des Geistes, die Aristoteles zufolge dadurch charakterisiert ist, „alles zu wirken“ (ƴͳÝ˾ƮƴƢÝưƪƦ͙Ʈ. III 5, 430a 15), und daher in der späteren Tradition „aktiver“ bzw. „wirkender Geist“ (ƮưͨƲÝưƪƨƴƪƫ̆Ʋ) genannt wird, Teil der menschlichen Seele ist. „Dieser Geist ist auch abtrennbar, frei von Erleiden und Vermischung, da er der Wesenheit nach Wirklichkeit ist“ (III 5, 430a 17f.500), was ihn für eine Philosophie, die die Unsterblichkeit der menschlichen Seele zeigen will, äußerst attraktiv macht – wenn man zeigen kann, dass er in der Tat von Aristoteles als Vermögen der menschlichen Seele und nicht, wie Alexander von Aphrodisias meinte, als überindividueller Geist angesehen werden muss501. Philoponos’ Ziel, diese Annahme zurückzuweisen, wird an zahlreichen Stellen des Kommentars deutlich: Bereits in der Einleitung und zu Beginn des Kommentars wird Alexander unterstellt, er verdrehe Aristoteles’ Text, um diesen als Vertreter seiner eigenen Meinung erscheinen zu lassen502. Jedoch habe Aristoteles auch den individuellen menschlichen Geist als ein eigenes, vom Körper unabhängiges Sein betrachtet503. Schließlich könne er nicht sagen, welches Körperteil der Geist zusammenhalte (I 5, 411b 18f.)504, und zweifle, ob der Geist zugrundegehen könne (I 4, 408b 18-20; II 1, 413a 8f.), was in Bezug auf den göttlichen Geist eine sinnlose Frage
_____________ 499 Abgesehen von einigen Spezialfragen, etwa dem Exkurs über das Licht. S. dazu u. S. 167. 500 ƌƢ̃ưˤƴưƲ˒ƮưͨƲƷƹƱƪƳƴ̅ƲƫƢ̃ʕÝƢƩ́ƲƫƢ̃ʕƭƪƤ̂Ʋ,ƴ͌ư˝Ƴ̄̾˯ƮʟƮ̀ƱƤƦƪƢ. Die Übersetzung von Seidl sieht fälschlich auch die letzte Hälfte des Satzes als Teil der Aufzählung an. 501 Vgl. Elias in cat. 123, 4-7. 502 Philop. in an. 10, 1-3; 21, 19-23 (unter Berufung auf Plutarch von Athen). 503 Vgl. die Belege o. S. 54-56. 504 Philop. in an. 199, 24-200, 6.
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wäre505. Auch Aristoteles’ Feststellungen, dass es trotz der untrennbaren Verbindung der Seele mit dem Körper offen bleibt, ob der Geist von diesem trennbar ist (II 1, 413a 8f.; II 2, 413b 24-27), bewertet Philoponos – anders als Alexander – als Anerkennung einer solchen Trennbarkeit506. In Anbetracht dieser Stellen und auch vom Gesamtwerk her gibt es gute Gründe, dieser Argumentation zuzustimmen. Bei der Behandlung von Aristoteles’ Geist-Kapiteln setzt sich Philoponos auch mit anderen Theorien über den Geist auseinander, die in der neuplatonischen Diskussion aufgebracht wurden, ohne direkt Interpretationen von &GCPKOC zu sein507. Im Folgenden werde ich mich allerdings, entsprechend dem Ziel dieser Untersuchung, vorwiegend auf die positive Beschreibung des menschlichen Geistes und seiner verschiedenen Funktionen beschränken und die Auseinandersetzung mit anderen Positionen vergleichsweise kurz behandeln. Philoponos sieht in den Kapiteln von &GCPKOC, in denen sich Aristoteles mit dem Geist beschäftigt (III 4-6), drei Fragen behandelt, nämlich „ob die rationale Seele vom Körper trennbar oder untrennbar ist“, „worin sie sich von der Sinneswahrnehmung unterscheidet“508 und „wie in uns das Denken geschieht“509. Die ersten beiden Fragen werden demnach in den Kapiteln III 4 und 5 behandelt, während sich Aristoteles in III 6 der Funktionsweise des Denkens zuwendet. Für den Interpreten, der sich an Aristoteles’ knappen und schwer verständlichen Bemerkungen abarbeitet, hält Philoponos am Anfang von Kapitel 6 die tröstliche Bemerkung bereit, dass dieser sich in den vorhergehenden beiden Kapiteln „hinreichend lange bei den ersten beiden Problemen aufgehalten hat, indem er zeigte, dass der Geist von der Sinneswahrnehmung verschieden und dass er trennbar ist“ 510. Um diese luzide Kürze zumindest annähernd nachzuahmen, versuche ich im Folgenden, durch eine sachliche Gliederung Philoponos’ Hauptanliegen zu erschließen, ohne allen Verästelungen seiner Interpretation zu folgen.
_____________ 505 506 507 508
Philop. in an. 159, 29-160, 7; 241, 28-242, 5. Philop. in an. 225, 20-31; 241, 28-33. Merlan 1963, 48f.; Blumenthal 1990, 312-316; Blumenthal 1996, 168-170. Unum quidem utrum separata est rationalis anima a corpore aut inseparabilis. Secundum autem in quo differt a sensu. Philop. in an. L 2, 14f. 509 Quomodo fiat in nobis intelligere [i.e. ƴ̅ƮưƦ͙Ʈ]. Philop. in an. L 2, 26f. 510 Immoratus igitur sufficienter circa duo priora problemata, et ostenso quod diversus est intellectus a sensu et quod separatus. Philop. in an. L 64, 47-50, Zitat 47f.
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Der Geist als Teil der Seele und seine verschiedenen Funktionen Dass Aristoteles den Geist einen Teil der Seele nennen kann (III 4, 429a 10), ist Philoponos’ genereller Interpretation entsprechend darauf zurückzuführen, dass der homonyme Begriff „Seele“ sowohl sterbliches als auch unsterbliches Sein umfasst511. Die rationale Seele selbst weist in sich aber keine Teile auf, sondern hat ein einziges Sein mit verschiedenen Fähigkeiten512. Was Philoponos für die ganze Seele ablehnt – nämlich dass es sich um eine Wesenheit mit vielen Fähigkeiten handelt –, das nimmt er für die rationale Seele also an: Diese kann sowohl diskursiv und praktisch denken, was in Verbindung mit dem Körper geschieht, als auch noetisch, was völlig unabhängig von jeder Materie erfolgt und daher den Schluss auf die Unsterblichkeit der Seele zulässt. Für die rationale Seele ist also das Prinzip der Zuordnung einer Seinsform zu genau einer Aktivität aufgehoben, das die übrigen Seelenvermögen kennzeichnet. Wäre es vor diesem Hintergrund nicht auch möglich gewesen, das nicht rationale und das vegetative Leben als Funktionen einer Seele zu erklären, die diese eben, ebenso wie das praktische Denken, beim Verlassen des Leibes verliert? Das dürfte die Theorie gewesen sein, auf deren Basis Plutarch und Syrian von einem seelischen Sein mit vielen Fähigkeiten sprachen513. Philoponos lehnt diese Lösung wohl deswegen ab, weil er die Eigenständigkeit der Seele als immaterielle Substanz gefährdet sieht, wenn sie über die genannten Vermögen unmittelbar mit dem Körper in Verbindung gebracht wird514, wie es auch Proklos’ Theorie der getrennten Teilhabe verdeutlichen will515: Die Vermittlung zwischen der autarken Seele und dem beseelten Körper durch ein „untrennbares Vermögen“ (ʕƷ̊ƱƪƳƴưƲ ƥ̈ƮƢƭƪƲ) sichert die Autonomie der eigentlichen, rationalen Seele, ohne deren Wirkung auf den Körper unmöglich zu machen. Auch Philoponos’ Einteilung der verschiedenen Vermögen der rationalen Seele erschließt sich nicht auf den ersten Blick: Zu Beginn seiner Interpretation unterscheidet er, gut aristotelisch, drei Stufen des Denkvermögens, nämlich einen Verstand der Möglichkeit nach, einen weiteren habituellen (UGEWPFWO JCDKVWO = ƫƢƩ’ ʪƯƪƮ), d.h. auf der ersten Stufe der Verwirklichung bzw. der zweiten der Möglichkeit stehenden, und einen, der in Wirklichkeit (UGEWPFWOCEVWO = ƫƢƴ’ʟƮƦƱƤƦ̄ƢƮ), d.h. auf der zweiten Stufe der Verwirklichung aktiv ist516. Ein Durchgang durch seinen Text
_____________ 511 512 513 514 515 516
Philop. in an. L 2, 33-3, 53. Philop. in an. L 3, 54f. S. o. S. 85. Philop. in an. L 54, 67-81. Procl. elem. 81 (76, 12-21); s. o. S. 71f. 85f. und u. S. 327. Philop. in an. L 3, 54-4, 62.
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zeigt aber, dass diese aristotelische Terminologie nur begrenzt dazu geeignet ist zu erklären, welche verschiedenen Funktionen der menschliche Verstand nach Philoponos’ eigener Ansicht besitzt und wie diese miteinander in Verbindung stehen. Erste oder zweite Potentialität des Geistes Ein erstes Problem ergibt sich aus der Annahme, dass der Geist zunächst als erste Potentialität existiert. Diese Folgerung zieht Philoponos aus Aristoteles’ Vergleich der Seele mit einer leeren Schreibtafel (III 4, 429b 31430a 1): Wenn die rationale Seele in den Körper eintritt, so seine Deutung dieses Bildes, hat sie jede Erinnerung an ihr vorhergehendes Wissen verloren517. Das ändert sich erst, wenn sie durch die Sinne oder durch einen Lehrer neue Erkenntnisse gewinnt. Dieses Wissen hat sie dann habituell, befindet sich also erst dann auf der zweiten Stufe der Möglichkeit518. Die hierbei implizierte Voraussetzung, dass die Seele bereits vor ihrem Eintritt in den Körper existierte und prinzipiell die Möglichkeit hat, sich an frühere Erkenntnisse zu erinnern, bringt Platons Anamnesis-Lehre auch in diese Lesart ein519: Aristoteles’ Beschreibung der Seele als erster Potentialität stellt demnach keinen Gegensatz zu Platon dar. Diese Harmonisierung von Platon und Aristoteles wurde freilich nicht von allen Neuplatonikern geteilt. Viele von ihnen meinten vielmehr, dass Aristoteles’ Vergleich mit der Schreibtafel Platons Position widerspreche520. Philoponos dagegen ging die bis jetzt beschriebene Harmonisierung offenbar noch nicht weit genug. Denn, so fährt er fort, es bedeute einen Unterschied zu Platon, wenn Aristoteles meine, die Formen seien nur in Möglichkeit in der rationalen Seele und müssten erst durch Sinneswahrnehmung aktualisiert werden521. Diese Kritik erinnert an eine verbreitete neuplatonische 2JCKFQP-Deutung und die dabei angewandte aristotelische Terminologie522. Damaskios und Olympiodor, die den verlorenen Kommentar des Proklos benutzt haben, betonen nämlich in ihren 2JCKFQPKommentaren, dass unsere denkende Erkenntnis keine erste, d.h. noch nie da gewesene, sondern eine zweite Erkenntnis ist, d.h. sie ist gleichsam eine aristotelische zweite Möglichkeit, die im Geist bereits vorhanden ist
_____________ 517 518 519 520 521 522
Philop. in an. L 37, 81-38, 84. Philop. in an. 306, 24-35. Vgl. besonders Plat. Phaid. 72e-77a. Anon. Prol. 10, 51-55. Philop. in an. L 14, 29-45. Dazu Perkams 2006b. Zur Verbreitung dieser Ansicht im Neuplatonismus vgl. Taormina 1989, 75-78; 210f.
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und durch Erinnerung aktiviert werden kann523. In diesem Sinn behauptet auch Philoponos, dass sein erster Lösungsansatz falsch gewesen sei, da Aristoteles unter dessen Voraussetzungen im Ergebnis Platon doch widersprochen hätte. Diese Behauptung überrascht, da der erste Lösungsansatz ja sehr wohl erklärt hatte, wie die Seele als präexistente in unseren Körper eintreten kann, ohne eine Potentialität der zweiten Stufe zu sein, nämlich indem der Körper sie wie eine Krankheit an jeder Aktivität hindert. Es drängt sich die Frage auf, was die Motivation für das letztliche Einschwenken auf eine neuplatonische Standard-Harmonisierungslösung war. Entscheidend scheint hierfür ein Argument zu sein, das Philoponos an zwei Stellen gegen die erste Potentialität des Geistes anführt524. Denn wäre diese vorhanden, so Philoponos, müsste die menschliche Seele sterblich sein: Da sie bei ihrem Eintritt in den Leib keinerlei Vorwissen hätte, müsste man annehmen, sie entstehe erst zu diesem Zeitpunkt. Wenn sie aber entstehen könnte, dann müsste sie auch vergänglich sein525. Aus dieser Sterblichkeit der menschlichen Seelen würde aber folgen, dass ihre Zahl unendlich sein müsste, um die ewige Welt, die Aristoteles annimmt, mit Leben erfüllen zu können. Also müsse entweder die Seele unsterblich sein oder die Welt nicht unendlich lange existieren526. Philoponos löst dieses Problem hier noch nicht, wie in seinem späteren Werk, durch die Ablehnung der Lehre von der Ewigkeit der Welt527, sondern er passt seine Interpretation den systematischen Erfordernissen eben dieser Ansicht an, indem er behauptet, Aristoteles habe den Geist gar nicht als erste Potentialität beschreiben können. Genauso, wie man von einem schlafenden und von einem wachen Geometriker sagen kann, er sei habituell in der Lage, geometrische Dinge zu erkennen, könne auch Aristoteles’ Vergleich des Geistes mit einer leeren Schreibtafel diesen als zweite Potentialität beschreiben, wenn man sich nur die (für den Moment völlig verlorene, aber prinzipiell vorhandene) Fähigkeit eines betrunkenen Geometrikers vorstelle528. Diese gewagte Interpretation dieser Stelle wird damit gerechtfertigt, dass Aristoteles ja auch an anderen Stellen die Unsterblichkeit der Seele annehme, und vor allem damit, dass seine Beschreibung des wirkenden Geistes nahelege, dass dieser keinen neuen Geist schaffe, sondern einen bereits habituell bestehenden aktualisiere529. Ob-
_____________ 523 Dam. in Phaed. 253, 1f.; 254, 1f.; Olymp. in Phaed. 11, 8. 524 Philop. in an. L 16, 82-96; 37, 81-98. Die zweite Stelle ist zum großen Teil bei Sophonias auf Griechisch erhalten. 525 Philop. in an. L 37, 81-38, 89. 526 Philop. in an. L 16, 82-96; 38, 90-98. 527 Charlton 1991, 21f. 528 Philop. in an. L 39, 5-15. 529 Philop. in an. L 39, 1-5. 16-40, 43.
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wohl der Geist, ebenso wie ganz ungeformte Materie, alles werden kann, wird er durch die Formen nicht zu etwas Neuem, sondern bildet sie in dem aufnahmebereiten Raster ab, das durch die Schreibtafel charakterisiert ist530. Dieser innere Widerspruch des Kommentars zur Interpretation des Bildes von der VCDWNC TCUC deutet wiederum531 auf eine Korrektur der ursprünglichen Schicht des Kommentars hin. Besonders interessant ist aber, dass wir in diesem Fall über externe Evidenz darüber verfügen, wessen Lehre hier kritisiert wird: Denn Stephanos von Alexandrien erwähnt, dass Ammonios das Vorhandensein von Ideen im Verstand der Kinder als &G CPKOC-Interpretation abgelehnt habe, da das Platons Meinung und nicht die des Aristoteles gewesen sei532. Dies ist genau die Meinung, die in Philoponos’ erhaltenem Kommentar ausgeführt und dann widerlegt wird. Zudem erfolgt diese Widerlegung mithilfe des Zusammenhangs der Ewigkeit der Welt und einer möglichen Unendlichkeit vorhandener Seelen, also einem Argument, das Philoponos selbst später im genau umgekehrten Sinn gebraucht, um die Lehre von der Ewigkeit der Welt mithilfe der absurden Konsequenz zu widerlegen, dann müssten aktual unendlich viele Elemente in dieser Welt angenommen werden533. Wir verfügen damit über starke Argumente, die Grundschicht des Kommentars dem Ammonios und die erkennbare Bearbeitung dem Philoponos zuzuschreiben, der schon über dieselben Argumente nachdenkt, die ihn später zu weitergehenden Schlüssen führen. Die erkennbaren Brüche und Ergänzungen im Kommentar, von denen schon einige festgestellt wurden, lassen sich demnach genau nach den Angaben aus seinem überlieferten Titel auflösen: Die Kommentierung des Ammonios wurde durch Philoponos punktuell ergänzt und teils auch korrigiert. Das sich hieraus ergebende Bild überrascht: Während der ProklosSchüler Ammonios aus der Aristoteles-Interpretation heraus die Meinung seines Lehrers aufgab, schwenkte der spätere Rebell Philoponos wieder auf die traditionelle Linie ein. Während sein Lehrer versucht hatte, Aristoteles’ Text gerecht zu werden, ohne seinen Neuplatonismus aufzugeben, begann der junge Philoponos, eine eigenständige Position zu entwickeln, die sich nur mit Mühe aus Aristoteles’ Text herauslesen lässt. Dabei scheint er von der Überlegung ausgegangen zu sein, dass die Seele einen Anfang haben könnte. Er ist also durch Probleme, die aus der christlichen
_____________ 530 Philop. in an. L 15, 70-16, 81; vgl. 11, 61-64 (in Bossiers Retroversion, bei Charlton 1991, 36 Anm. 53). 531 S. o. S. 107f. 532 Steph. in an. 518, 32f.; 519, 37-520, 6. Auf Ammonios zurückgeführt wird dieser Abschnitt auch von Kurfess 1911, 26f. und Tornau 2007, 125-127. 533 Ein typisches Beispiel ist Philop. in meteor. 16, 36-18, 16.
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Annahme einer Schöpfung jeder Einzelseele in Verbindung mit der Lehre von der Ewigkeit der Welt resultieren, dazu gebracht worden, die Präexistenz der Seele und die mit ihr verbundene Anamnesis-Lehre besonders zu betonen. Ein christlicher Gedanke hat ihn zu einer im neuplatonischen Kontext vergleichsweise konservativen Position geführt. Das Meinen und diskursive Denken Ein ähnliches Problem wie bei der Beschreibung des menschlichen Geistes als reine Potentialität ergibt sich für seine Aktivität. Wenn wir diskursiv denken, kann nämlich nicht gesagt werden, dass unser Geist vollständig aktiv ist, „denn er hat nicht die ganze Verwirklichung zugleich, sondern als vom Früheren zum Späteren übergehende“534. Diskursives Denken ist ein Prozess, der sich in einzelnen Schritten entwickelt: Aus Voraussetzungen zieht man Schlüsse, die wieder zu Voraussetzungen für andere Folgerungen werden. Dieser zeitliche Ablauf ähnelt mehr einer körperlichen Bewegung (ƫ̄ƮƨƳƪƲ) als der puren Aktivität (ʟƮ̀ƱƤƦƪƢ), als die Philoponos das noetische Denken beschreibt. Das schrittweise Vorgehen des menschlichen Denkens hat Philoponos zufolge mit seiner untrennbaren Verbindung mit dem Körper zu tun: Beim diskursiven Denken wird im Gehirn ein körperlicher Prozess (ƫ̄ƮƨƳƪƲ) ausgelöst, der sich auch auf andere Organe auswirkt535, weswegen die rationale Seele in gewisser Weise als Entelechie bezeichnet werden kann536. Diese Annahme bringt Philoponos freilich einige interpretatorische Probleme zu III 4 ein, wo seiner Ansicht nach das Meinen und diskursive Denken von Aristoteles thematisiert werden. Wenn dieser von dem Geist spricht, „mit dem die Seele diskursiv denkt und Annahmen macht“ (̲ ƥƪƢƮưƦ͙ƴƢƪ ƫƢ̃ ˞ÝưƬƢƭƣ˾ƮƦƪ ʲ ƸƵƷ̂. III 4, 429a 23)537, bezeichnet er ihn nämlich zugleich als „vom Körper abtrennbar“ (III 4, 429a 24f.), was schlecht zu der von Philoponos angenommenen Verbindung des diskursiven Denkens und Meinens mit dem Körper passt. Deswegen nimmt der Kommentator an, dass die Verbindung des diskursiven Denkens mit kör-
_____________ 534 Quia non simul totum habet actum, sed transitivum a prioribus in secunda. Philop. in an. L 4, 64f. 535 Philop. in an. 156, 28-32; 157, 6-13. 536 S. o. S. 83f. 537 Philop. in an. L 1, 7-10; 11, 69-72. Mit OGFKVCVKQTCVKQEKPCVKQOGPUF[CPKC sowie den entsprechenden Verben übersetzt Moerbeke ƥƪ˾ƮưƪƢbzw.ƥƪƢƮưƦ͙ƳƩƢƪ, mit QRKPKQ GZKUVKOCVKQ bzw. GZKUVKOCTK ƥ̆ƯƢ bzw. das nach Philoponos’ Meinung darauf bezogene Verb ˞ÝưƬƢƭƣ˾ƮƦƪƮ. Vgl. Philop. in an. L 11, 69f.; 19, 65 und die entsprechenden Abschnitte in Verbekes lateinisch-griechischem Wörterverzeichnis.
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perlichen Abläufen zwar unaufhebbar ist, aber nicht seiner Natur als rationales Erkenntnisvermögen entspricht, der zufolge er, wie Aristoteles zu Recht sagt, tatsächlich abtrennbar ist. Zu den diskursiven Denkprozessen kommt es, weil der Körper das Denken behindert538. Der menschliche Geist ist daher nie uneingeschränkt „in Aktivität“ (ƫƢƴ’ʟƮ̀ƱƤƦƪƢƮ) theoretisch (URGEWNCVKXWU = ƩƦƹƱƨƴƪƫ̆Ʋ), denn dann wäre er von dem gemeinsamen Erleidenszusammenhang (EQORCUUKQ = ƳƵƭÝ˾ƩƦƪƢ539) mit dem Körper ganz getrennt540. Mit dieser Aussage ist offensichtlich nur gemeint, dass der menschliche Geist sich niemals ganz vom Körper lösen und sämtliche Verstandesgegenstände auf noetische Weise zugleich auffassen kann, nicht aber, dass nicht auch er seine Objekte tatsächlich aktiv erkennen kann. Denn jede einzelne diskursive Schlussfolgerung ist ein Denkakt541. „Wenn der Geist also in einem einzelnen Fall (UGEWPFWOWPWOSWQFSWG = ƫƢƩ’ʪƫƢƳƴưƮ) ein Denkobjekt empfängt und es gleichsam verwirklicht, dann ist er aktiver Geist – es ist nämlich nicht möglich, vieles zugleich zu denken“542. Dem Geist auf der ersten Stufe der Aktivität sind demnach alle Objekte in gleicher Weise so gegeben, dass er sie potentiell denken kann. Aber er kann immer nur jeweils ein Objekt zu einem bestimmten Zeitpunkt tatsächlich denken, also als Aktivität der zweiten Stufe. Das geschieht nicht noetisch, sondern durch das syllogistische Fortschreiten entstehen stets neue Akte. Über jeden von ihnen kann gesagt werden, dass der Geist das gedachte Objekt wird543, da er dieses Objekt als reine Form gleichsam im Denken rekonstruiert. Vor dem Hintergrund dieser Lehren ist schließlich auch Philoponos’ Erklärung der Selbsterkenntnis des Geistes zu betrachten, die im zweiten Teil dieser Arbeit noch näher diskutiert werden wird544. Für den Moment genügt es festzuhalten, dass er die Selbsterkenntnis des menschlichen Geistes als indirekte Entwicklung beschreibt, bei der der Geist sich durch seine Objekte Stück für Stück selbst erkennt. Damit folgt er der Position des Alexander von Aphrodisias und entscheidet sich nicht wie Priskian dafür, Aristoteles eine neuplatonische Erkenntnistheorie zu unterstellen.
_____________ 538 539 540 541 542
Philop. in an. L 20, 69-82. S. o. S. 102-104. Philop. in an. L 20, 84-88. Philop. in an. 297, 11-27. Quando quidem igitur secundum unumquodque accipit intelligibile, et quasi actuans hoc, est qui secundum actum intellectus (non enim possibile est simul multa intelligere). Philop. in an. L 21, 97-99. Vgl. mit dieser Formulierung Them. an. paraphr. 95, 19-32. 543 Philop. in an. L 91, 62-92, 66. 544 S. u. S. 328-333.
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Das Erkennen der reinen Formen und der Formen in Materie Diese Unterscheidung von noetischem und diskursivem Denken hängt sowohl bei Aristoteles als auch bei Philoponos zusammen mit zwei verschiedenen Klassen gedachter Objekte. Denn einerseits gibt es reine Denkobjekte, die keine Verbindung mit der Materie haben, wie etwa die Seele, der Geist oder Gott, und andererseits gibt es Gegenstände, die aus Form und Materie zusammengesetzt sind545. Diese Gegenstände sind, insofern sie stets materiell existieren, Objekte der Sinneswahrnehmung. Wenn der Geist daher ihre Formen erkennen will, benötigt er zunächst geeignete Sinnesdaten. Während diese sich jeweils auf einzelne Objekte beziehen, ist der Geist in der Lage, daraus allgemeine Erkenntnisse über den Gegenstand zu gewinnen546. Philoponos findet diese Unterscheidung bei Aristoteles in III 4, 429b 10-21, wo dieser das Wirken des Geistes auf Objekte wie „Fleisch“ oder „Fleisch-Sein“ unterscheidet und betont, dass beide entweder von verschiedenen Vermögen erkannt werden oder von demselben Vermögen, das sich nur unterschiedlich verhält. Während Aristoteles diese Entscheidung offen lässt547, votiert Philoponos klar für die zweite Alternative: Beide werden vom selben Geist erkannt, der dabei nur auf unterschiedliche Weise aktiv ist548. Die materiellen Objekte, die aus Stoff und Form zusammengesetzt sind, können vom Geist nur erkannt werden, indem er zwei verschiedene Erkenntnisse zusammensetzt549: Der Satz „Das weiße Ding dort drüben mit vier Beinen ist ein Pferd“ setzt ein sinnlich erkanntes Objekt mit einer Definition in Verbindung, die dem Geist aus seiner Kenntnis der reinen Formen bekannt ist550. Erforderlich ist hier also ein diskursives Denken, das in einzelnen Schritten vorgeht. Während uns dieses Vorgehen wohlbekannt ist, ist es das noetische Denken nicht. Seine Möglichkeit wird in Philoponos’ Interpretation von Aristoteles daher dadurch beschrieben, dass er die einschränkenden Umstände unseres Denkens wegdenkt (III 6, 430b 26-31)551. Demnach ist das noetische Denken frei von dem zeitlichen Prozess, der einzelne Erkenntnisse miteinander in Verbindung setzt552. Seine Objekte sind reine Formen bzw. einfache Gegenstände des Den-
_____________ 545 Philop. in an. L 22, 21-23, 31. 546 Philop. in an. L 23, 38-43. 547 Nach Kahn 1992, 370-372 macht es keinen großen Unterschied, welche Lösung man wählt. 548 Philop. in an. L 23, 35-38. 549 Philop. in an. L 91, 53-58. 550 Für Philoponos’ eigenes Beispiel vgl. in an. L 87, 49-54. 551 Philop. in an. L 86, 33-87, 38. 45-47. 552 Philop. in an. L 86, 24-32.
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kens, die keine weitere Erklärung mehr erfordern; daher kann es bei ihrer Erkenntnis auch keinen Irrtum geben553. Irren kann nur das diskursive, zusammensetzende Denken, während die Sinneswahrnehmung und noetisches Denken ihre Objekte stets richtig auffassen554. Daher besteht eine strukturelle Ähnlichkeit zwischen der Tätigkeit der Einzelsinne und der des noetischen Geistes in Bezug auf ihre jeweiligen Objekte, d.h. die Objekte der Einzelsinne (Farben, Töne etc.) und die reinen Formen555: All das wird direkt und unfehlbar erkannt. Ebenso, kann man ergänzen, ähneln sich die verschiedenen Formen des zusammensetzenden Erkennens, angefangen vom Gemeinsinn über das Vorstellungsvermögen bis hin zum syllogistischen Denken: Alle gewinnen ihre Objekte, indem sie verschiedene Erkenntnisse miteinander verbinden, und in diesem Prozess sind sie irrtumsfähig. Während all das kaum mehr ist als eine Paraphrase der aristotelischen Position, bereitet die Einordnung dieser Aussagen in einen neuplatonischen Kontext Probleme: Zum einen sieht sich Philoponos veranlasst, auch dem göttlichen Geist die Möglichkeit offenzuhalten, Formen zu erkennen, die mit der Materie untrennbar verbunden sind. Aus diesem Grund muss er auch die Möglichkeit haben, in Verbindung mit Sinneswahrnehmung zu erkennen, und daher schreibt ihm Philoponos einen Astralkörper (Ƣ˝ƤưƦƪƥ˿ƲƳͲƭƢ)556 zu, der mit entsprechend besseren Sinnen ausgestattet ist und die verstandesmäßige Erkenntnis nicht behindert. Wie diese von Proklos übernommene Lehre mit dem klaren aristotelischen Schema zu verbinden ist, wird dabei nicht diskutiert557. Wichtiger ist die oben bereits angesprochene Schwierigkeit, inwieweit man das diskursive Denken und das Meinen überhaupt als geistige Aktivitäten ansehen kann oder ob sie nicht vielmehr immer in gewisser Weise potenziell bleiben. Philoponos’ Aussagen hierzu sind nicht eindeutig: Während die oben genannten Stellen darauf hindeuten, dass auch derartige Erkenntnisse denkende Aktivitäten sein können, scheint er das an anderen Stellen zu bestreiten: „Der Geist ist zeitweise aktiv, zeitweise aber nur möglich; dann erkennt er Zusammengesetztes durch Zusammensetzung (ƭƦƴ˽ ƳƵƮƩ̀ƳƦƹƲ). So ist er nämlich entweder diskursives Denken
_____________ 553 554 555 556
Philop. in an. L 68, 48-69, 53; 88, 79-89, 95. Philop. in an. L 87, 45-88, 72. Philop. in an. L 88, 73-78. Moerbeke übersetzt und erklärt „autoeides, id est eiusdem speciei dico“ (Philop. in an. L 24, 61), hat also offenbar Ƣ˝ƴưƦƪƥ̀Ʋ anstelle von Ƣ˝ƤưƦƪƥ̀Ʋ gelesen. Verbeke 1966 und Charlton 1991 zur Stelle haben gezeigt, dass das nicht richtig sein kann. Vgl. auch o. S. 52. 557 Philop. in an. L 23, 55-24, 65. Vgl. den parallelen Fall beim Zorn o. S. 69f.
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Aristoteles-Interpretation
oder Meinen“558. An einer anderen Stelle heißt es, dass nur derjenige Geist theoretisch (URGEWNCVKXWU = ƩƦƹƱƨƴƪƫ̆Ʋ) genannt werden kann, der ganz vom Körper getrennt aktiv ist559. Das würde bedeuten, dass jeder Geist, der mit dem Körper in Verbindung steht, praktisch ist560 – obwohl der diskursive Verstand sich offensichtlich auch mit reinen Erkenntnisproblemen ohne direkten praktischen Bezug beschäftigt561. Eine genauere Analyse zeigt, dass sich dieses Problem aus Formulierungen ergibt, die die Meinung des Philoponos von verschiedenen Seiten aus illustrieren. Wie jeder Neuplatoniker nimmt er an, dass der menschlichen Geist normalerweise gar nicht noetisch denkt. Wenn Philoponos schreibt: „Und selten oder einmal im ganzen Leben arbeitet bei denen, die den höchsten Gipfel der Philosophie erreicht haben, der Geist ohne das Vorstellungsvermögen“562,
spielt er wahrscheinlich auf Porphyrios’ Plotin-Biographie an, wo dieser erwähnt, dass er selbst nur einmal den Gott erkannt habe, der über dem Geist sei, Plotin dagegen viermal563. Plotins mystische Vereinigung mit dem Einen wird also von Philoponos offenbar im Sinne eines Zugangs zum noetischen Denken verstanden. Das zeigt noch einmal deutlich, dass unser menschliches Denken Philoponos zufolge im Regelfall diskursiv und nur in Ausnahmefällen noetisch ist. Das schließt nicht aus, dass wir auch auf diskursive Weise theoretische Erkenntnisse erlangen können, doch ist dies noch kein theoretisches Denken im vollen Sinn564, weswegen Philoponos’ Ausdrucksweise häufig nicht eindeutig ist. Während diese Spannung relativ problemlos aufgelöst werden kann, bleibt Philoponos’ Erklärung der zwei Stufen von Möglichkeit und Wirklichkeit im Geist problematisch und inkonsequent: Die erste Stufe der Potentialität darf es nicht geben, da es dann keine Unsterblichkeit der Seele gäbe, und die zweite gibt es im Normalfall nicht – der faktisch erfahrbare menschliche Geist bleibt daher, im Gegensatz zu Philoponos’ urspüngli-
_____________ 558 Quandoque quidem actu est intellectus, quandoque autem potentia: tunc cum compositione cognoscit composita. Sic enim aut meditatio aut opinio. Philop. in an. L 91, 56f. Zur griechischen Terminologie vgl. die Parallelen bei Sophonias. 559 Philop. in an. L 20, 82-88. 560 Philop. in an. 194, 18-26; 241, 9-14; 261, 30-262, 4; L 5, 7-6, 9. 561 Ebenso Charlton 1991, 22f. 562 Et raro aut semel in tota vita his qui ascenderunt ad summum philosophiae, sine phantasia intellectus operatur. Philop. in an. L 61, 79-81. Vgl. Philop. in an. L 89, 9699 mit Bezug auf Plotins enn. IV 8, 1, 1-6, wo dieser seine eigene Erfahrung beschreibt. 563 Porph. vit. Plot. 23, 9-18. 564 Philop. in an. L 84, 75-78.
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cher Ankündigung, auf die erste Aktivität bzw. zweite Potentialität beschränkt565. Der leidensfähige Geist und die Vorstellungskraft Die Ansicht, dass der Mensch im Normalfall nur diskursiv denkt, findet Philoponos in Aristoteles’ Aussagen, dass wir nie ohne das Vorstellungsvermögen (ƶƢƮƴƢƳ̄Ƣ) denken (III 7, 431a 16f.)566 und dass der leidensfähige Geist (ƮưͨƲÝƢƩƨƴƪƫ̆Ʋ) vergänglich ist (III 5, 430a 23-25). Dass Philoponos wie andere Neuplatoniker diese Art Geist mit dem Vorstellungsvermögen gleichsetzt567, beruht wohl auch auf der Kombination dieser beiden Aussagen: Da ohne Vorstellungsbilder kein Denken und ohne den leidensfähigen Geist kein Erinnern möglich ist, müssen beide dasjenige Vermögen bezeichnen, das uns als körperlichen Wesen das Material für unser Denken liefert – nämlich die Vorstellungskraft, in der uns die in unserem Leben gewonnenen Sinneserkenntnisse zur Verfügung stehen. Als Aristoteles-Interpretation ist eine solche Gleichsetzung allerdings keineswegs selbstverständlich, denn man könnte vermuten, dass das Gegenstück zum wirkenden Geist der mögliche bzw. werdende Geist ist. Moderne Interpreten nehmen an, dass der leidensfähige Geist der I 4, 408b 24-29 erwähnte Geist ist, der mit dem Körper in Verbindung steht568. Diese Verbindung hatte Themistios mit der Begründung abgelehnt, dass Aristoteles den Geist, der vom aktiven Geist her etwas erleidet, als unvermischt mit dem Körper bezeichne (III 4, 429a 21-27)569. Philoponos kann allerdings dieses Argument kaum übernehmen, da er in dem mit dem Körper verbundenen Geist das diskursive Denken sieht. Da er zudem die gesamte rationale Seele als unsterblich ansieht, muss er den sterblichen leidensfähigen Geist auf eine Fähigkeit beziehen, die nicht dieser Seele angehört. Dass das die Vorstellungskraft als Teil der nicht rationalen Seele ist, ist dann nur folgerichtig, zumal man sie als Geist im weiteren Sinne verstehen kann, da sie ihre Objekte selbst hervorbringt. Diese Gleichsetzung gibt dem Kommentator auch die Möglichkeit, die Aussage „und ohne diesen erkennt er nichts“ (III 5, 430a 23-25) auf den leidensfähigen Geist zu beziehen, während etwa in den Ausgaben von
_____________ 565 566 567 568
S. o. S. 124. Philop. in an. L 61, 77-81; 69, 53-55. S. o. S. 49. Hicks 1907, 508; Ross 1961, 47; Hamlyn 1993, 141; vgl. schon Them. an. paraphr. 105, 15-21. 569 Them. an. paraphr. 105, 22-32.
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Aristoteles-Interpretation
Ross suggeriert wird, dass entgegen dem natürlichen Duktus des Textes der wirkende Geist das Objekt dieses Satzes sei570. Für Philoponos ist die Aussage, dass wir uns nicht erinnern, weil unser Vorstellungsvermögen sterblich ist, eine Antwort auf das kurz zuvor von Aristoteles aufgeworfene, aber nicht gelöste Problem, warum der Verstand nicht ununterbrochen aktiv ist (III 4, 430a 5f.). Die Verbindung mit dieser Frage hatten andere Interpreten, wie wohl auch Plutarch, in III 5, 430a 22 gefunden, wo sie „Es ist so, dass der Geist manchmal denkt und manchmal nicht denkt“571 lasen und diese Aussage auf die nur zeitweilige noetische Aktivität des menschlichen Geistes bezogen. Philoponos hält dagegen mit der Mehrzahl der Textzeugen daran fest, dass der Satz zu Beginn negiert wird, so dass gesagt wird, der Geist denke dauernd572. Da Aristoteles’ Frage, warum unser einzelner Geist nicht ununterbrochen denkt, bei der von Philoponos gewählten Lesart ohne Antwort geblieben ist, muss diese Antwort im folgenden Schlusssatz von III 5 zu finden sein, wo von der Verbindung des menschlichen Geistes mit der Vorstellungskraft die Rede ist. Der aktive Geist Wie aber kann Philoponos meinen, dass der menschliche Geist ununterbrochen denkt? Diese Position widerspricht dem Raster der antiken und mittelalterlichen Auslegungsgeschichte von Aristoteles’ Aussagen über den aktiven bzw. wirkenden Geist (ƮưͨƲ Ýưƪƨƴƪƫ̆Ʋ), das historisch wohl umstrittenste Thema aus &G CPKOC573. Wie Philip Merlan gezeigt hat, bieten sich im Prinzip zwei Auslegungsmöglichkeiten an, die aufs engste mit dem Verständnis von 430a 22 zusammenhängen: Entweder man liest diesen Satz unter Beibehaltung der Negation so, dass der Geist ununterbrochen denkt, dann liegt es nahe, an einen übermenschlichen Geist zu denken oder zumindest ein dauerhaft denkendes Element in der Seele anzunehmen, oder man liest den Text in der von Plutarch vorgeschlagenen Weise ohne die Negation, so dass er ein ununterbrochenes Denken bestreitet. Typisch für Philoponos’ Position – und für die der anderen späten Neuplatoniker – ist, dass ein dauerhaftes Denken des individuellen
_____________ 570 Begründet bei Ross 1961, 48. 571 ʝƬƬ’˒ƴ˿ƭ˿ƮƮưƦ͙,˒ƴ˿ƥ˿ư˝ƮưƦ͙. Zur Überlieferung eines ư˝Ʒ vor dem ersten ˒ƴ˿ vgl. die Apparate von Biehl/Apelt und von Siwek, die die Kommentatoren ausführlich zitieren. Zur inhaltlichen Problematik Merlan 1963, 49-52. 572 Philop. in an. L 61, 67-76; auf Plutarch als Erfinder dieser Interpretation deutet Steph. in an. 541, 20-24 = test. 44 hin; vgl. Taormina 1989, 217-219. 573 Aus heutiger Perspektive ist das nicht immer leicht nachvollziehbar; vgl. Shields 1993, 175.
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menschlichen Geistes zurückgewiesen wird, so dass sowohl der mögliche als auch der wirkende Geist im Menschen selbst anzusiedeln sind und nur einen einzigen Geist bilden. Aus dieser Perspektive heraus beginnt Philoponos seine Diskussion des aktiven Geistes damit, dass er drei konträre Ansichten zurückweist: Dass der von Aristoteles erwähnte Geist göttlich, dass er dämonisch und dass er zwar in der menschlichen Seele, aber nicht mit deren üblichem Bewusstsein identisch ist574. Philoponos führt diese Positionen anonym ein, doch sind sie Stephanos zufolge Alexander von Aphrodisias, Marinos und Plotin zuzuschreiben575. Nach Blumenthal sind sie weniger als Deutungen der aristotelischen Lehre zu verstehen denn als Zeugnisse für die Diskussion der Neuplatoniker über den Geist. Folglich seien sie „faktisch irrelevant für die Lösung“ der Frage, was Aristoteles mit dem wirkenden Geist gemeint haben mag576. Es ist schwer einzusehen, warum das richtig sein soll: Schließlich finden sich unter den vier aufgeführten Positionen die beiden Interpretationsschemata, die bis in die Renaissance hinein die Diskussion um Aristoteles’ Text prägten und die auch heute noch die grundsätzlichen Deutungsalternativen darstellen: Zum einen die Position, dass der aktive Verstand im Menschen anzusiedeln ist (Themistios, Plutarch von Athen, Philoponos, Priskian, Stephanos, Thomas von Aquin), und zum anderen diejenige, dass er universal und transzendent ist (Alexander von Aphrodisias, Ibn SinĆ, Ibn Ruschd, Siger von Brabant). Philoponos (und Stephanos) erfassen also sehr wohl die philosophische Grundproblematik ihres Textes. Überzeugender als Blumenthals Annahme ist daher Merlans These, hier liege eine „Typologie von Interpretationen der Passage“ vor, die bis heute als Klassifizierung von Geisttheorien der aristotelischen Tradition nützlich sein kann577. Philoponos weist die drei genannten Positionen zurück. Gegen Alexander führt er, neben den genannten Argumenten578 an, dass es unsinnig sei, von einem göttlichen Geist zu sagen, er trete in den Körper ein oder sei dessen Entelechie, bzw. ihn mit einem Wissen zu vergleichen, das nicht dauernd aktuell sei; das entspreche auch nicht dem Thema von &G CPKOC, nämlich der menschlichen Seele579. Gegenüber Marinos’ Deutung des aktiven Geistes als dämonischem Intellekt und Plotins Annahme eines dauernden Geistes in der Seele ist der wichtigste Kritikpunkt, dass Menschen nicht dauernd geistig aktiv sind, denn das sind sie weder als Kinder noch im Schlaf; ein zweiter Geist oder ein über der Seele befindlicher
_____________ 574 575 576 577 578 579
Philop. in an. L 44, 25-45, 52. Steph. in an. 535, 16-536, 5. Blumenthal 1990, 312-315, Zitat 312; Blumenthal 1996, 169; vgl. Ross 1961, 43. Vgl. Merlan 1963, 48-52, Zitat 51. S. o. S. 122f. Philop. in an. L 45, 60-46, 87.
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Aristoteles-Interpretation
müsste aber dauernd aktiv sein580. Kurz diskutiert er auch Plotins Argument581, dass wir möglicherweise mit dem Geist aktiv sind, ohne uns dessen bewusst zu sein (RGTRGPFGTG = ʕƮƴƪƬƢƭƣ˾ƮƦƳƩƢƪ?). Ein solches MetaBewusstsein lehnt Philoponos deswegen ab, weil er Bewusstsein für jede geistige Aktivität als notwendig erachtet. Das zeige sowohl unsere Erfahrung als auch ein Rekurs auf die Situation der Menschen, die ein Höchstmaß an Tugend erreicht haben, denn sogar diese dächten nicht ununterbrochen582. Da Philoponos sich aus diesen Erwägungen heraus Plutarchs583 Ansicht anschließt, dass jeder Mensch einen Geist hat, der sowohl in Möglichkeit als auch in Wirklichkeit Geist ist, und daher auch den aktiven Geist innerhalb der menschlichen Seele ansetzt584, stellt sich ihm das genannte Problem, warum Aristoteles denn dann sagt, der Geist denke ununterbrochen. Seine Antwort ist eine überraschende Neudeutung der Lehre vom wirkenden Geist. Ihm zufolge wird der potentielle Geist des Menschen, also das diskursive Denken, „von einem anderen Geist zur Aktivität geführt, der auch selbst in der menschlichen Seele ist, nämlich in der des Lehrers, und der selbst einmal aus der Möglichkeit zur Aktivität geführt worden ist“585.
Aktiv ist der menschliche Geist also insofern, als er das Wissen im Geist anderer Menschen hervorbringt. Philoponos’ Meinung nach lässt sich diese Theorie gut mit dem aristotelischen Text verbinden: Sie wird der Formulierung gerecht, es gebe in jeder einzelnen Gattung, also auch in der menschlichen Seele, Wirklichkeit und Möglichkeit (III 5, 430a 10-14)586. Denn da Aristoteles von der Natur (ƶ̈ƳƪƲ) einer jeden Gattung spricht, müssen der mögliche und der wirkende Verstand nicht notwendigerweise gleichzeitig in einem einzelnen Wesen vorhanden sein. Es genügt, wenn sie gleichzeitig im Schüler und im Lehrer präsent sind, also in verschiedenen Individuen derselben Art587. Entsprechend kann man auch die genannte Stelle III 5, 430a 22 interpretieren: Sie besagt dann, dass es den Unterschied zwischen möglichem und aktivem Verstand zwar nicht im
_____________ 580 581 582 583 584 585
Philop. in an. L 46, 93-95; 47, 21-48, 23. Plot. enn. IV 8, 8, 7-11. Philop. in an. L 47, 96-4. Vgl. o. S. 132. Steph. in an. 535, 13-16; 536, 2-5 = Plut. test. 42. Philop. in an. L 45, 53-56; 48, 28-30. Et ductum in actum ab alio intellectu et ipso ente in humana anima, scilicet in ea quae doctoris, et ipso videlicet ex potentia aliquando in actum ducto. Philop. in an. L 48, 30-32. 586 Philop. in an. L 48, 33-49, 48. 587 Philop. in an. L 54, 85-55, 14.
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einzelnen Menschen gibt, wohl aber im menschlichen Geist als ganzem, im Geist aller Menschen auf der Welt588. Dabei versteht Philoponos die Aktivität des wirkenden Geistes nicht so, dass dieser die geistigen Objekte erschafft. Das wäre auch unlogisch, denn es gibt ja bereits vor seiner Tätigkeit derartige Objekte, wie etwa Gott oder die Engel. Der aktive Geist bewirkt lediglich, dass diese Gegenstände durch den möglichen bzw. werdenden Geist, also das diskursive Denken, tatsächlich erkannt werden. Eine schöpferische Funktion hat er nur in Bezug auf die Formen der Gegenstände, die als hylemorphistische Komposita existieren (OCVGTKCNGU URGEKGU = ʩƮƵƬƢƦ˅ƥƨ), insofern erst er sie zu geistigen Objekten bzw. reinen Formen macht589. Die Tätigkeit des wirkenden Geistes überführt die geistigen Objekte von der ersten zur zweiten Stufe der Möglichkeit590, während die immer neu stattfindende Überführung in die Wirklichkeit, d.h. die Anwendung des Gelernten, immer wieder neu durch die Schüler erfolgt. Diese Aktivität des Geistes in der Vermittlung von Wissen ist das charakteristische Merkmal der ganzen menschlichen Seele: „Wenn Aristoteles also sagt, dass der Geist dem Sein nach Aktivität ist (III 5, 430a 18), dann sagt er nichts anderes als, wodurch der Geist charakterisiert ist und sein Sein hat“591.
Das aktive Denken ist als die höchste Fähigkeit des menschlichen Geistes das einende Ziel aller rationalen Vermögen und vollendet so auch die Aufgabe aller menschlichen Seelenvermögen, der ihrem Wesen nach körperlosen rationalen Seele Orientierung und Wirkung in dieser Welt zu ermöglichen. Sowohl für die rationale als auch für die gesamte menschliche Seele ist das aktive Hervorbringen von Gehalten das Merkmal, auf das alle anderen Fähigkeiten hingeordnet sind (III 5, 430a 18f.)592. Insofern diese Gehalte Philoponos zufolge in einer anderen Seele gesetzt werden, ist also die höchste Aktivität des menschlichen Geistes interessanterweise auf die menschliche Gemeinschaft, nicht auf die einzelne Seele selbst bezogen. Diese Gemeinschaft erklärt schließlich auch, inwiefern der Geist Aristoteles zufolge ununterbrochen denkt: Denn in der ewigen Art Mensch, die in einer ewigen Welt lebt, findet sich immer jemand, der seinen Geist aktiv anwendet.
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Philop. in an. L 49, 48-54; 52, 17-29; 91, 40-49. Philop. in an. L 50, 82-51, 5; 114, 28-115, 3. Zu dieser Frage Kosman 1992, 344f. Dicens igitur intellectum substantia actum esse, nihil aliud dicit quam quo characterizatur intellectus et substantiam habet. Philop. in an. L 53, 45f. 3WQ ist anstelle des in den Handschriften überlieferten SWQF zu lesen; Charlton 1991, 70 mit Anm. 38. 592 Philop. in an. L 52, 30-53, 44. 46-59.
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Aristoteles-Interpretation
In Anbetracht von Philoponos’ gesamter Interpretation der aristotelischen Geistlehre überrascht allerdings, dass er nicht das noetische Denken, zu dem die menschliche Seele in Ausnahmefällen gelangen soll593, als deren höchstes Merkmal bezeichnet. Philoponos diskutiert dieses Problem selbst und sagt, wie er seine Aussagen verstanden wissen möchte: Sie beziehen sich nicht auf die Seele in ihrer eigenen unsterblichen, mit keinem Körper verbundenen Natur, sondern auf die Fähigkeiten, die sie als menschliche Seele hat. Das erläutert er anhand einer Passage aus Platons 2QNKVGKC (X 611b 9-d 6), der zufolge die wahre Natur der Seele nicht aus einer Beschreibung erkannt werden kann, die von ihrer Verbindung mit dem sterblichen Leib ausgeht594. Für Philoponos zeigt diese Stelle auch die Harmonie zwischen Aristoteles und Platon: In &GCPKOC beschreibt Aristoteles die menschliche Seele auf die Weise, auf die auch Platon sie verstanden hat595, indem er sie aus ihrer Funktion als Prinzip des menschlichen Lebens erklärt, nicht aber in ihrer transzendenten Existenz. In dieser denkt sie als reine Aktivität (Ƣ˝ƴưƦƮ̀ƱƤƦƪƢ) ununterbrochen596, so dass sie „sich selbst erkennt und in ihrer Aktivität abtrennbar ist“, also die ihrem Sein entsprechende Aktivität tatsächlich entfaltet597. Somit ist das Hervorbringen von Gehalten in anderen Menschen bzw. deren Erziehung nicht die höchste Form des Denkens, sondern die edelste Aktivität, zu der sich Menschen in diesem Leben entscheiden können. Auf diese Weise entwickelt Philoponos eine Beschreibung des aktiven Geistes, die diesen aus den Sphären der Spekulation löst und ihm einen klaren Platz im menschlichen Leben zuweist. Damit erkennt er zugleich an, dass unsere Vernunft in höchstem Maße von unseren Lehrern, oder allgemeiner gesprochen, von unserem gesamten sozialen Umfeld beeinflusst wird. Diese Theorie scheint eine eigene Entwicklung des Philoponos bzw. wahrscheinlich schon des Ammonios zu sein. Es ist sehr zweifelhaft, ob schon Plutarch von Athen sie vertreten hat. Daniela Taormina schließt zwar einige Aussagen dazu ohne weiteren Kommentar in ein Plutarch-Testimonium ein598, doch scheint das kaum hinreichend begründet. Denn in den ausführlichen Referaten des Stephanos, die Plutarch aus-
_____________ 593 594 595 596 597
S. o. S. 132. Die Stelle wird in ähnlichem Sinne von Plotin zitiert: enn. I 1, 12, 13-17. Philop. in an. L 53, 62-54, 84. Philop. in an. L 53, 59-62. Philop. in an. L 84, 63-78. Diese Interpretation wird dadurch erleichtert, dass Philoponos im Gegensatz zu dem Rest der Tradition ein „und“ (ƫƢ̄) zu Beginn von 430b 26 nicht gelesen hat. Diese Variante ist auch in den Editionen von Paul Siwek und David Ross, die nach der Veröffentlichung dieses Teils von Philoponos’ Kommentar erschienen, noch nicht berücksichtigt. 598 Plut. test. 43, 8-10.
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drücklich nennen, findet sich diese Lehre nicht599. Für Ammonios könnte sie dagegen auch deshalb zentral gewesen sein, weil sie in Bezug zu der erwähnten Annahme steht, der menschliche Geist sei bei der Geburt rein potenziell und erlange erst durch Sinneswahrnehmung und die Hilfe eines Lehrers habituelle Erkenntnis, so dass er selbst aktiv sein kann600. Da Plutarch wohl ebenso wie Proklos der Meinung war, die menschliche Seele sei niemals reine Potentialität, sondern verfüge durch die Erinnerung immer schon über einen Grundstock an Wissen, ist es kaum wahrscheinlich, dass er den aktiven Geist als Lehrer verstanden hat; eher dürfte er III 5, 430a 22 ebenso wie Priskian601 als Beschreibung eines nicht dauernden Denkens gelesen haben, so dass er den Satz auf den menschlichen Geist beziehen konnte602. In Bezug auf die richtige Deutung von Aristoteles’ Text hat er damit vielleicht sogar Recht gehabt. Denn Ammonios’ Erklärung hat, vielleicht abgesehen von dem Wort „lernen“ (ƭƢƩƦ͙Ʈ) in III 4, 429b 9, keine positive textliche Grundlage und kann auch nicht erklären, warum ausgerechnet der Geist eines Lehrers als immateriell, unvermischt und aktiv bezeichnet wird (III 5, 430a 17-19). Im Ergebnis kann jedenfalls auch er keine klare und befriedigende Interpretation des schwierigen Kapitels III 5 geben. Der praktische Geist Zu klären bleibt noch die Frage nach dem praktischen Geist. Ich hatte bereits erwähnt, dass dieser dem theoretischen insofern gegenübergestellt wurde, als er in keiner Weise vom Leib trennbar agieren kann603. Der Grund dafür ist ebenfalls im Prinzip schon klar geworden, nämlich, dass das noetische Schauen der reinen Formen, also die einzige Aktivität der menschlichen Seele, die von Sinneswahrnehmung ganz frei ist, eine theoretische und keine praktische Erfahrung ist. Es ist also nicht zu sehen, wie der praktische Geist jemals außerhalb des leib-seelischen Kompositums von Bedeutung sein könnte. Philoponos’ nicht allzu umfangreiche Aussagen zum praktischen Denken haben denn auch zwei andere Punkte zum Ziel, die sich leicht aus den bisherigen Ausführungen erklären: Zum einen betont er, dass der praktische Geist – als Teil der einen rationalen Seele – sich nur dem Ziel, nicht dem Sein nach vom theoretischen Geist unterscheidet. Dessen Ziel
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Charlton 1991, 9. Philop. in an. 306, 24-35; s. o. S. 136f. S. u. S. 230f. Vgl. Steph. in an. 535, 13-16. S. o. S. 132.
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ist die Erkenntnis der Wahrheit, das des praktischen Geistes dagegen das Erreichen des Guten604. Andererseits wird herausgestellt, dass der praktische Geist niemals vom Körper getrennt agiert, daher immer auf das Vorstellungsvermögen angewiesen ist und in III 7, 431a 16f. demzufolge allein gemeint ist605. Für diese Interpretation kann sich Philoponos immerhin auf den Satz berufen, der dieser Stelle vorhergeht und in der Tat von der Fähigkeit spricht, zum Guten oder Schlechten Stellung zu nehmen. Die spezifische Aufgabe der praktischen Vernunft erklärt Philoponos dadurch, dass sie etwas Erkanntes, also in der Regel eine mögliche Handlungsoption, als gut oder schlecht einschätzt. Aristoteles’ Aussagen darüber, dass die Sinneswahrnehmung etwas als erstrebenswert oder nach Möglichkeit zu vermeiden darstellt (III 7, 431a 8-16) versteht er als eine beispielhafte Erläuterung dieser Funktion des praktischen Denkens606. Dabei bezieht sich praktisches Wissen nicht auf allgemeine Erkenntnisse, sondern jeweils auf konkrete Situationen, die, wie alle Einzeldinge, nicht allein von der Vernunft, sondern nur mit Hilfe der nicht rationalen Seele erkannt werden607. Die Rolle der Vorstellungskraft wird daher auch dann betont, wenn sich jemand Gedanken über künftige Ziele und Gefahren macht608. Damit ist allerdings noch nicht alles gesagt, was die Erkenntnis von etwas Gutem oder Schlechtem betrifft. Denn in gewisser Hinsicht werden diese Konzepte nicht durch den praktischen Verstand, sondern durch den theoretischen erkannt. Philoponos’ Aussage dazu ist allerdings nicht einfach zu verstehen: „Das was gut ist, weil es wahr ist, unterscheidet sich also vom praktischen Guten und das, was schlecht ist, weil es falsch ist, unterscheidet sich vom praktischen Schlechten, weil das Wahre schlechthin und im allgemeineren Sinn und von Natur aus gut ist, und das Falsche schlechthin schlecht; das Gute oder Schlechte in Handlungen ist aber nicht schlechthin so, sondern zu einer gewissen Zeit und für jemanden“609.
Philoponos versucht hier anscheinend den partikulären Charakter praktischen Handelns von einer theoretischen Prinzipienerkenntnis des Guten und Schlechten abzugrenzen. Vermutlich erklärt sich diese Position aus
_____________ 604 605 606 607 608 609
Belege oben S. 132 Anm. 560. Philop. in an. L 97, 8-15. Philop. in an. L 94, 46-49; vgl. aber 105, 5-7. Philop. in an. L 93, 15-94, 45; 98, 32-35. Philop. in an. L 105, 8f. Differt autem quod ut verum bonum (ƴ̅ˮƲʕƬƨƩ˿ƲʕƤƢƩ̆Ʈ?) a practico bono et quod ut falsum malum (ˮƲƸƦƵƥ˿ƲƫƢƫ̆Ʈ?) a practico malo, quia verum quidem simpliciter est et universalius et natura bonum, et falsum simpliciter malum; quod autem in agibilibus bonum et malum, non simpliciter, sed aliquando et alicui. Philop. in an. L 107, 51-55.
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dem Bemühen, alle reinen Wahrheiten dem theoretischen Erkennen vorzubehalten, während sich der praktische Geist nur mit Daten beschäftigt, die mit Sinneswahrnehmung und Vorstellungsvermögen in Verbindung stehen. Die Rolle des praktischen Geistes ist darauf beschränkt, sich in Anbetracht der von den Sinnesdaten gebotenen Situation für eine Handlungsalternative zu entscheiden bzw. auf Zukunft hin über solche Alternativen nachzudenken610. Diese Position ist mit Philoponos’ neuplatonischer Ontologie und ihrem Glauben an eine wahre Sphäre intelligibler Gehalte gut zu vereinen und unterstützt die in Philoponos’ Einleitung getroffene Unterscheidung von Wưllen (ƣư̈ƬƨƳƪƲ) und Wahlvermögen (ÝƱưƢ̄ƱƦƳƪƲ)611. Motiviert ist sie vermutlich nicht zuletzt von der für den Neuplatonismus typischen Identifizierung des Guten mit dem Einen, das als Spitze der Seinsordnung nur mit der höchsten geistigen Funktion zu erfassen ist. Allerdings führt sie dazu, dass der praktische Verstand nur als derivative Form des Denkens angesehen wird, die für die Verbindung des Menschen mit der ewigen Wahrheit keine große Bedeutung hatund daher auch keinen entscheidenden Beitrag zur Charakterisierung der menschlichen Seele leistet. Zudem impliziert sie den Verzicht auf eigene praktische Prinzipien612. Es wäre nicht einfach, auf der Grundlage dieser Theorie eine Ethik zu entwerfen, die zwei so verschiedene Dinge wie wandelbare praktische Anweisungen und ewige Wahrheiten über Gut und Böse miteinander verbindet. In jedem Fall dürfte sich Philoponos’ Ansicht kaum mit Aristoteles’ ausgeprägt praktischer Philosophie in der 0KMQOCEJKUEJGP 'VJKM vereinbaren lassen. 8. Ergebnis Der Durchgang durch Philoponos’ Kommentar hat ein vielfältiges Bild ergeben: Einerseits finden sich hier sorgfältige und genaue Interpretationen von Aristoteles’ Text, die insgesamt eine systematisch recht geschlossene Deutung von dessen Position vor dem Hintergrund des späten Neuplatonismus bieten. Andererseits enthält der Kommentar einige philosophische Entwicklungen, die nicht direkt zu dieser Deutung gehören und teilweise sogar mit ihr in Konflikt stehen – den zeitgenössischen Aristotelismus also kritisch diskutieren. Hier sollen zunächst diese Unterschiede zusammengestellt und ihre Entstehung diskutiert werden, bevor
_____________ 610 Philop. in an. L 105, 10-16. 611 Charlton 1991, 22f.; s. o. S. 47. 612 S. dazu u. S. 224.
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ich auf dieser Grundlage den historischen und systematischen Wert des erhaltenen Kommentars würdige. Spannungen im &GCPKOC-Kommentar und ihre Erklärung Inhaltliche Spannungen innerhalb des Kommentars sind an drei Punkten deutlich zutage getreten, wo jeweils auch im Text selbst offen auf sie hingewiesen wird613: 1. In einem Exkurs wird die Ansicht kritisiert, das in einem Zugrundeliegenden Befindliche sei die Form (ƦˇƥưƲ); an anderen Stellen des Kommentars wird dagegen vorausgesetzt, dass genau dies der Fall ist. 2. Weiterhin werden Grundlagen einer (angeblich) aristotelischen Theorie des Pneumas dargelegt, um dann zu erweisen, dass die Voraussetzungen dieser Überlegungen mit dem aristotelischen Text nicht vereinbar sind. 3. Der Text interpretiert Aristoteles’ Bild vom Geist als VCDWNCTCUC (III 4, 430a 1f.) vor der Aufnahme von Denkinhalten dahingehend, dass der Geist des Menschen bei seiner Geburt erste bzw. reine Potentialität ist; unmittelbar im Anschluss wird diese These aber zurückgewiesen. Diese inneren Widersprüche bestätigen nicht nur, dass der &G CPKOCKommentar mehrere Bearbeitungsstufen aufweist, sondern lassen seine Struktur im selben Licht erscheinen wie Philoponos’ Kommentare zu Aristoteles’ 2J[UKM und seiner /GVGQTQNQIKG, wo ebenfalls eine reine Textinterpretation durch kritische Bemerkungen ergänzt ist, die dieser teilweise widersprechen. Ebenso wie dort sind solche Stellen auch hier teilweise durch die erste Person als persönlicher Standpunkt des Kommentators gekennzeichnet (239, 15f.: ʕƬƬ˽ÝƱ̅ƲƴưͨƴưƦ˅ÝưƪƭƪʙƮ. L 15, 49: Dico itaque quod non). Andererseits argumentiert Philoponos bei der Auslegung von &GCPK OC nicht offen gegen Aristoteles wie in den genannten Kommentaren, sondern ist bemüht, diesem jeweils die eigene Lehre zuzuschreiben, z.B. die, dass der Geist eine zweite, keine erste Vollendung sei. Des Weiteren fällt auf, dass seine Kritik an der Lehre, der Geist sei bei der Geburt erste Potentialität, nicht mit christlichen Motiven begründet wird. Vielmehr verweist Philoponos im &GCPKOC-Kommentar auf die inakzeptable Kon-
_____________ 613 Weitere als persönliche Meinung des Auslegers gekennzeichnete kritische Anmerkungen zu Aristoteles bzw. dessen vorgeschlagener Interpretation finden sich z.B. 123, 517; 125, 22-31. Diese Stellen und die hier eingetragenen Verweise auf Platons 6KOCKQU wären eine eigene Untersuchung wert, auch im Vergleich zu Philoponos’ späterer Verwendung dieses Dialogs.
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sequenz, aus der zurückgewiesenen Ansicht folge bei gleichzeitiger Annahme der Ewigkeit der Welt eine unendliche Zahl von Seelen. Ab &GCG VGTPKVCVG OWPFK dient derselbe Zusammenhang dagegen in umgedrehter Form als Argument gegen die Ewigkeit der Welt, die im &G CPKOCKommentar vorausgesetzt wird: Wenn die Welt ewig wäre, wäre eine aktual unendliche Zahl von Seelen die Folge, was einen Widerspruch zu aristotelischen Überzeugungen bedeutete. Die dem Stil nach Philoponos zuzuschreibenden Ergänzungen im &G CPKOC-Kommentar kann man daher nicht der von Verrycken „Philoponos 2“ genannten Position zurechnen. Sie befassen sich aber bereits mit einigen der Problemfelder, die für diese Position wichtig sind. Als chronologische Schlussfolgerung drängt sich auf, dass der &GCPK OC-Kommentar eigene Einschaltungen des Philoponos enthält, die früher sind als seine Ausführungen in &G CGVGTPKVCVG OWPFK, %QPVTC #TKUVQVGNGO sowie seinen Kommentaren zur 2J[UKM und zur /GVGQTQNQIKG. Während Philoponos’ Bearbeitungsmethode also in allen drei Kommentaren ähnlich zu sein scheint, lässt sich in den Inhalten seiner Einlassungen eine Entwicklung erkennen, die es nahelegt, an der Frühdatierung des &G CPKOCKommentars festzuhalten614. Insofern ändern meine Ergebnisse den Forschungsstand nicht, können ihn aber mit klareren Argumenten bestätigen615. Auch für die Zuweisung der Grundschicht an Ammonios erbringt die Analyse des Kommentars ein wichtiges Argument: Denn das Verständnis der aristotelischen VCDWNCTCUC als erster Potentialität, das offenbar vom Bearbeiter Philoponos nicht geteilt wird, schreibt Stephanos von Alexandrien ausdrücklich Ammonios zu, dem ja auch im Titel unseres Kommentares dessen Grundschicht zugewiesen wird. Das macht es sehr wahrscheinlich, dass Philoponos eine Vorlage bearbeitete, die Ammonios’ Vorlesungen wiedergab, wie das für die -CVGIQTKGP- und NikomachosKommentare nachgewiesen ist. Das ist wiederum ein beachtliches Argument dafür, die Grundschicht von Philoponos’ 2J[UKM- und /GVGQTQNQIKGKommentaren Ammonios zuzuweisen, dessen Name in den Handschriften dieser Kommentare – wie auch im -CVGIQTKGP-Kommentar – nicht explizit genannt wird. Man gelangt so zu dem Bild, dass Philoponos im Laufe der Jahre eine Reihe ammonianischer Vorlesungsmitschriften mit Ergänzungen versah und unter eigenem Namen herausgab, wobei sich – wie bereits von Frans de Haas aufgrund von Philoponos’ Theorie der Ma-
_____________ 614 Wie oben S. 36-38 dargelegt. 615 Wie auch schon Wolff 1971, 79-81, wobei die von diesem angeführten Texte nochmals hinsichtlich ihrer Rolle im &GCPKOC-Kommentar zu prüfen wären.
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terie vermutet616 – eine langsame Entwicklung seiner eigenen Gedanken feststellen lässt. Dazu gehört möglicherweise auch, dass er ab einem gewissen Zeitpunkt Ammonios im Titel seiner Kommentare nicht mehr erwähnte, vielleicht nach dessen Tod, der vermutlich in den 520er Jahren anzusetzen ist, oder in Anbetracht seiner schärfer werdenden Kritik an Ammonios; doch können die unterschiedlichen Titel natürlich auch auf Überlieferungsmängel zurückgehen. Der neuplatonische Aristoteliker Ammonios Die Annahme, dass der Kommentar im Wesentlichen auf Vorlesungen des Ammonios zurückgeht, scheint auch eine Erklärung für dessen in der Forschung allgemein akzeptierten neuplatonischen Charakter zu liefern: Was wir von Ammonios wissen, zeugt von einer tiefen Verwurzelung des Proklos-Schülers in der neuplatonischen Schultradition, ohne dass ein Abweichen von ihr belegbar wäre617. Das ist im &GCPKOC-Kommentar an vielen Stellen zu erkennen: Zu Beginn der Einleitung wird die Seelenlehre von &GCPKOC in die neuplatonische Theorie der Wendung der Seele nach oben oder unten gedeutet, im Kommentar werden neuplatonische Seinsketten zumindest gelegentlich angedeutet, und die Interpretation der Geistlehre ist von vornherein auf eine Harmonisierung mit Platon hin angelegt. Allerdings ist mit dieser Feststellung über den &G CPKOC-Kommentar bei weitem nicht alles gesagt. Denn dieser interpretiert den aristotelischen Text zwar vor dem Hintergrund eines neuplatonischen Rahmens, doch beeinflusst das die Interpretation in der Regel nur in relativ geringem Maße. Vielmehr scheint Ammonios bereit gewesen zu sein, Aristoteles selbst dort zu folgen, wo klassische neuplatonische Begrifflichkeiten korrigiert werden müssen oder wo man aus einer neuplatonischen Perspektive sogar zu anderen Positionen gelangen sollte. Das deutlichste Beispiel dafür ist Ammonios’ auch von Stephanos bezeugte These, dass der menschliche Geist, Aristoteles’ Bild von der leeren Schreibtafel zufolge, bei der Geburt erste Potentialität ist. Diese Annahme wird nicht zufällig sowohl von Philoponos als auch von Stephanos zurückgewiesen, und zwar jeweils mit dem Hinweis darauf, dass eine platonische Anamnesis-Lehre mit ihrer Annahme der Präexistenz der Seele damit nicht vereinbar sei und insbesondere der neuplatonischen Deutung etwa des 2JCKFQP widerspreche. Ammonios war dagegen bereit, in seiner
_____________ 616 De Haas 1997, xii-xiv; 291-293; vgl. schon Todd 1980, 151. 617 Verrycken 1990a.
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Geistlehre der aristotelischen Position zu folgen, wenn auch vermutlich unter Beibehaltung der platonischen Anamnesis-Lehre. Trotzdem bleibt es bemerkenswert, dass er an dem vielleicht für einen Platoniker schwierigsten Punkt von &GCPKOC entschieden der richtigen Aristoteles-Deutung folgt und diese systematisch zu integrieren sucht. Weitere recht klar aristotelisch konturierte Interpretationen, die wohl auf Ammonios zurückgehen, betreffen das Verständnis von Aristoteles’ Seelendefinition, die Selbsterkenntnis des Geistes und die Interpretation des aktiven Geistes. Die Seelendefinition wird gegen neuplatonische Kritik verteidigt und auf alle menschlichen Seelen angewandt. Im Hinblick auf die Selbsterkenntnis wird Alexanders Position übernommen, der Geist erkenne sich indirekt selbst, d.h. vermittelt über seine Objekte, was von Priskian in plotinischer Tradition klar zurückgewiesen wird618. Auch die Interpretation des aktiven Geistes als das stets aktuelle Denken irgendeines Menschen, das andere Menschen zum Denken bewege und die Ewigkeit des Denkens ausmache, trägt keine dezidiert neuplatonischen Züge, insofern Aristoteles’ aktiver Geist nicht zur Verbindung menschlichen und göttlichen Denkens herangezogen wird. Dem widerspricht auch nicht, dass große Teile der Terminologie des Kommentars auch bei Proklos zu finden sind und dass er konzeptuelle Weiterentwicklungen im Vergleich zu Aristoteles enthält, etwa die klare Unterscheidung von Körperlichkeit, Unkörperlichkeit und Immaterialität. Denn diese Begriffe sind trotz der neuplatonischen Systematisierung entweder von Aristoteles oder dem Peripatetiker Alexander von Aphrodisias grundgelegt worden, wie besonders Bernard und Taormina zu Recht betont haben619. Sie sind also einem originären Aristotelismus nicht fremd. In Anbetracht dieser Sachlage lässt es sich kaum rechtfertigen, die ammonianische Grundschicht von Philoponos’ Kommentar als Neuplatonismus tout court zu bezeichnen. Eher könnte man von einem Aristotelismus im neuplatonischen Rahmen sprechen. Insofern Ammonios diesen weder verlassen will noch im Ergebnis verlässt, ist seine Klassifizierung als Aristoteliker kein Widerspruch zu derjenigen als Neuplatoniker. Eher wird man zu dem Ergebnis kommen, dass die namentlich von Blumenthal stark gemachte Konfrontation neuplatonischer und aristotelischer Tradition ein Anachronismus ist: Das Beispiel Ammonios zeigt, dass ein Neuplatoniker durchaus in hohem Maße Aristoteliker sein kann. So ist Ammonios jedenfalls von Philoponos gesehen worden, wenn er nach Darstellung einer aristotelischen Position schreibt: „Dies ist also die Position des Aristoteles
_____________ 618 S. u. S. 353f. 619 S. o. S. 22.
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und seiner Nachfolger“620, konkret des sicher auch hier zugrundeliegenden Ammonios. Philosophische Ideen in Philoponos’ Bearbeitung Betrachtet man die als solche erkennbaren Bearbeitungen des Philoponos, fällt es schwer, hier eine klare inhaltliche Linie auszumachen. Während sein Plädoyer für die Anamnesis-Lehre – das bereits in einem Exkurs in der Einleitung zum Meinen aufscheint – eine neuplatonische Ansicht gegen Ammonios’ Aristotelismus wieder zur Geltung bringt, scheint seine Kritik am Pneuma-Begriff eine neuplatonische Lehrmeinung überhaupt in Frage zu stellen, wie er das später häufiger tat. Die ausführliche Diskussion zur Erklärung des Lichts621 lässt andererseits Philoponos’ Interesse an naturwissenschaftlichen Fragen erkennen. Im Übrigen ist es gut möglich, dass Philoponos’ Bearbeitung seiner Vorlagen sich nicht nur auf mehr oder weniger kritische Exkurse beschränkte, sondern auch weiteres, nicht kontroverses Material hinzufügte; der Fall des Kategorien-Kommentars scheint darauf hinzudeuten, dass Philoponos hier auch viel Material ergänzt hat, das ihm interessant schien, dessen Inhalte aber nicht im Widerspruch zu Ammonios’ Aussagen standen622. Für den &G CPKOC-Kommentar lässt sich das nicht sicher feststellen, doch liegt es an einigen Stellen nahe, eine Ergänzung durch Philoponos zu vermuten, ohne dass ein Widerspruch im Text vorliegt. Das ist etwa der Fall, wenn in der Einleitung Beweise für die Unkörperlichkeit der Seele und die Immaterialität des Geistes gebracht werden, aber auch an einigen weiteren Stellen623. So entsteht die Vermutung, dass Philoponos die von ihm bearbeiteten Aristoteles-Kommentare als ein Forum zur Diskussion philosophischer Probleme nutzte, die sich aus dem Text und Ammonios’ Auslegung ergaben. Dabei konnte er einzelne Fragen kritisch diskutieren, ohne von vornherein eine systematische Gesamtgestalt im Hinterkopf zu haben. So konnte er genau die Methoden kritischer Hinterfragung anwenden, die später in den polemischen Schriften gegen Proklos und gegen Aristoteles seine Stärke ausmachen und die ihm wohl besonders lagen. Wahrscheinlich bildeten sich hierbei die Grundzüge einer neuen Naturphilosophie,
_____________ 620 621 622 623
ƕ˽ƭ˿ƮưˣƮʝƱƪƳƴưƴ̀ƬưƵƲƫƢ̃ƴͲƮ˞ÝͻƢ˝ƴ̅ƮƴưƪƢͨƴƢ. Philop. in meteor. 41, 23f. Zu dieser hier nicht genauer diskutierten Lehre vgl. Sorabji 1987, 26-30. Luna 2001a, 355f. Z.B. die durch durch als Ergänzungen gekennzeichneten Stellen 115, 31-121, 10 und 205, 18-207, 15.
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die seine Bedeutung vor allem ausmacht, erst im Laufe der Zeit anhand dieser Auseinandersetzungen heraus. Zumindest in dieser Hinsicht kann man demnach zu Recht mit Verrycken von einem Philoponos 1 sprechen, der dem Neuplatonismus noch stark verhaftet ist. Doch handelt es sich bereits um einen Denker, der Aristoteles’ und Ammonios’ Annahmen nicht fraglos akzeptiert, sondern sie kritisch prüft, ohne bereits seine späteren Ergebnisse zu erreichen. Ein durchgängiger Zug von Philoponos’ Arbeit liegt daher eher darin, anders als Ammonios und die meisten Neuplatoniker an einer kritischen Lösung philosophischer Probleme mehr interessiert zu sein als an der Textauslegung selbst, die für ihn nur ihren Ausgangspunkt bildet. Aristoteles-Auslegung in Philoponos’ Kommentar Die Qualität der Aristoteles-Auslegung des Kommentars ergibt sich demnach vor allem aus der Textarbeit des Ammonios. Das macht die Qualität der Interpretation aus: Der Text wird sehr genau gelesen und seine verschiedenen Aspekte sorgfältig berücksichtigt. Bei Vergleichen wird das tertium comparationis genau herausgearbeitet, etwa bei der Erläuterung des Hylemorphismus durch die Funktion einer Axt. Einzelne Aussagen interpretiert der Kommentar stets vor dem Hintergrund des Gesamttextes von &G CPKOC und unter Umständen auch vor dem Gesamthintergrund von Aristoteles’ Werk, zum Beispiel bei der Beurteilung von dessen Aussagen zum Geist. Nur selten kann man Philoponos’ Kommentar daher ein entstellendes oder verzerrendes Missverständnis des Textes vorwerfen. Allerdings sind seine Erklärungen vor dem philosophischen Hintergrund des 6. Jahrhunderts nach Christus entstanden, nicht vor Aristoteles’ eigenem Fragehintergrund und schon gar nicht vor dem des 20. Jahrhunderts. Das ist zu beachten, wenn man heute Philoponos liest: Zu seiner Interpretation benutzt er eine philosophische Begrifflichkeit, die wesentlich technischer ist als Aristoteles’ eigene, so dass dessen Text in einer sehr eindeutigen Weise verstanden wird. Hierfür war bereits die Philosophie Alexanders ein wichtiger Schritt, etwa in der klareren Definition des Unkörperlichen und in der Erklärung von Entelechie als „Vollendung“. Philoponos macht sich ferner die Entwicklung der antiken Medizin zunutze und führt deren Ansichten mit Aristoteles’ Text gelegentlich so zusammen, dass das Ergebnis beiden nicht wirklich gerecht wird. Derartige Veränderungen sind im Ergebnis folgenreicher für seine AristotelesInterpretation als die namentlich von Blumenthal betonte neuplatonische Warte von Philoponos’ Interpretation. Wo diese wirklich präsent ist, ist sie meist relativ leicht zu identifizieren, etwa bei dem Schluss von den Aktivi-
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täten auf das Sein der einzelnen Seelenarten. In den meisten Einzelfragen tritt hingegen der neuplatonische Charakter hinter den Einfluss der Quellen zurück, die die genannten terminologischen und inhaltlichen Präzisierungen bewirkt haben. In jedem Fall sind all diese Veränderungen zu beachten, wenn man Philoponos zum Verständnis von Aristoteles heranziehen will. Es ist meistens nicht damit getan, seine Interpretation einer Einzelstelle zu lesen, sondern diese wird erst verständlich, wenn man die Interpretation des größeren Abschnitts insgesamt sorgfältig studiert sowie Philoponos’ und Ammonios’ spätantike Voraussetzungen beachtet. Ist auf diese Weise Philoponos’ Verständnis eines Problems erst einmal klar, dann kann man auch seine Aussagen zu einzelnen Stellen angemessen würdigen und sie mit hinreichend kritischer Distanz für das eigene Aristoteles-Verständnis nutzen. Die philosophische Leistung des &GCPKOC-Kommentars Auch bei der Bewertung der philosophischen Leistung des Kommentars muss man seine Entstehungsgeschichte berücksichtigen. Ammonios’ philosophische Leistung wird man angesichts der Vielzahl von herangezogenen Quellen eher integrativ als originell nennen wollen: Er führt Gedanken von Proklos mit solchen aus der medizinischen Tradition und der spätantiken Aristoteles-Deutung zusammen. Im Gegensatz zur bisherigen Forschung ist aber zu betonen, dass bereits Ammonios trotz der Vielzahl von Quellen und Einflüssen durchaus über eine systematisch recht geschlossene Theorie verfügt, die er durch originelle Neudeutungen der Schlüsselkonzepte Entelechie und Geist erreicht. Ihm gelingt es zu erklären, wie man einen Hylemorphismus dualistisch denken kann, wie die aristotelische Entelechie-Konzeption mit der Idee einer transzendenten Seele zu vereinen ist und wie der aktive Geist in der Alltagswelt lokalisiert werden kann. Diese Leistung verdankt sich nicht zuletzt der Tatsache, dass Ammonios verschiedene Aspekte eines Problems geschickt miteinander verbindet. So entsteht kein eklektizistisches Durcheinander, sondern ein facettenreiches Bild des Menschen, das den verschiedenen Anliegen gerecht zu werden sucht. Der wichtigste Gedanke, der auf Ammonios zurückgehen dürfte, ist die Homonymie des Seelenbegriffs: Er ermöglicht es, sowohl Aristoteles’ einheitliche Behandlung der Seele als biologisches Prinzip beizubehalten als auch der rationalen Seele eine Sonderstellung zuzuweisen. Dadurch weist seine philosophische Psychologie sowohl auf die Einheit als auch auf die Mannigfaltigkeit ihres Gegenstands hin: Es ist weder gerechtfertigt,
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vom Menschen als Vernunftwesen zu reden, ohne seine biologische Verfasstheit zu berücksichtigen, noch wird man der Natur des Menschen gerecht, wenn man außer Acht lässt, dass in dessen Vernunft Regeln des Denkens und Definierens gelten, die als solche nicht mehr biologisch erklärbar sind. Philoponos’ eigene Beiträge sind zu punktuell für eine klar konturierte Gesamtdeutung, sie lassen aber, neben einem gelegentlich traditionellplatonischen Zug, eine ausgeprägte Problemorientierung erkennen. Damit werden hier Grundlagen einer systematischen Aristoteles-Kritik gelegt, die andernorts voll entfaltet werden.
B. Aristoteles als Vertreter der neuplatonischen Wahrheit. Der Kommentar des Priskian 1. Einleitung Etwas jünger als Philoponos’ Auslegung ist wohl der zweite praktisch vollständig erhaltene neuplatonische &G CPKOC-Kommentar, der in der Forschung etwas mehr Aufmerksamkeit gefunden hat. Das liegt an seinen originellen und recht eigenständigen philosophischen Inhalten sowie an seiner Bedeutung als Quelle für die Seelenlehre Jamblichs1. Das größte Interesse hat aber, wie so häufig, eine Debatte um die Autorschaft des Kommentars erregt2. Die Handschriften und die komplette Tradition schreiben ihn Simplikios zu3, dem wohl angesehensten der neuplatonischen AristotelesAusleger, dessen 2J[UKM-Kommentar bis heute vielfach als der beste Kommentar überhaupt zu dieser Schrift angesehen wird4. Seine Autorschaft am &G CPKOC-Kommentar ist aber kaum haltbar, wie zuerst Francesco Piccolomini zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts und im vergangenen Jahrhundert Carlos Steel und Ferdinand Bossier betont haben: Der Stil des &GCPKOC-Kommentars ist so verschieden von den authentischen Werken des Simplikios, dass dieser unmöglich sein Autor sein
_____________ 1 2
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Montoya Sáenz 1968; Steel 1978, 7. 10-13; Blumenthal 1987; Taormina 1994, 123-129; Blumenthal 1996; Finamore/Dillon 2002, 15. 18f.; Perkams 2003a; Perkams 2003b. Bossier/Steel 1972; Hadot 1978, 193-202; Hadot, in: Blumenthal/Lloyd (Hrsg.) 1982, 94; Huby, ebd. 95; Hadot 1987, 23-27; Urmson 1995; Lautner 1995, 10; Blumenthal 1996, 66-71; Steel 1997; Hadot 2001; Luna 2001b, 504 Anm. 54; Finamore/Dillon 2002, 18-24; Perkams 2003b, 84-89; Perkams 2005a. Zeugnisse gesammelt bei Steel 1997, 106-108. Tarán 1987, 246f.; Urmson 1995, 2.
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kann5. Auch philosophische Unterschiede sind – trotz der neuplatonischen Grundausrichtung beider Autoren – erkennbar6. Die große Mehrheit der Forscher nimmt daher an, dass der Kommentar nicht von Simplikios verfasst wurde. Priskian von Lydien als Autor des &GCPKOC-Kommentars Dagegen hat die zweite These von Steel und Bossier weniger Zustimmung erfahren, nämlich ihre Annahme, dass der Autor des &G CPKOCKommentars Priskian von Lydien ist. Dass aber „wachsende Übereinstimmung herrscht, dass das Werk weder von Simplikios noch von Priskian ist“7, ist ebenfalls nicht richtig. Denn es ist weithin anerkannt, dass die von Steel und Bossier angeführten Argumente für die Identität der Autoren des &G CPKOC-Kommentars und der Theophrast-Paraphrase starkes Gewicht haben8. Sie wiegen noch schwerer, wenn man einmal zugegeben hat, dass Simplikios nicht der Autor des Kommentars sein kann. Vor diesem Hintergrund habe ich an anderer Stelle dargelegt, warum die Zuschreibung an Priskian m.E. richtig ist9. Ohne die dort angeführten Gründe ausführlich zu wiederholen, seien die wichtigsten von ihnen hier kurz wiederholt. Steels und Bossiers Argument ruht zum einen darauf, dass der &G CPKOC-Kommentar und Priskians erhaltene /GVCRJTCUG in der philosophischen Aussage und in der Wortwahl starke Parallelen aufweisen, die so eng sind, dass sie auf einem direkten Kontakt der Texte basieren müssen10. Vor dem Hintergrund dieser Parallelen lesen Steel und Bossier die folgende Stelle, in der der Kommentator darauf hinweist, „dass er dies genauer in der 'RKVQOG von Theophrasts 2J[UKM“ begründet habe: &GCPKOC-Kommentar 136, 25-29: Ɔƪ̅ƫƢ̃ƴ̅ƥƪƢƶƢƮ˿ƲʕÝưƳƴ˾ƮƴưƲƴưͨƷƱ̊ƭƢƴưƲ ư˝ƫ̀ƴƪƫƢƴ’ʟƫƦ͙ƮưƫƪƮƦ͙ƴ́Ʈ˕ƸƪƮ.Ʀˁƥ˿ƫƢƩ’Ƣ˞ƴ̅ʟƫ̄ƮƦƪƴ́Ʈ˕ƸƪƮƴ̅ƥƪƢƶƢƮ̀Ʋ,Ƣ˝ƴưͨ ʟƷƱ͋ƮƦˇƮƢƪƴ́ƮƢ˅ƳƩƨƳƪƮʕƬƬ’ư˝ƴưͨƫƦƷƱƹƳƭ̀ƮưƵ.ƮͨƮƥ˿ʟƫƦ̄ƮưƵƫƢ̃ƴưͨƭƦƴƢƯ̇ ƥƪƢƳƴ̂ƭƢƴưƲ ʕƮƴƪƬƢƭƣƢƮ̆ƭƦƩƢ. ƫƢ̃ ƳƢƶ̀ƳƴƦƱ̆Ʈ ƭưƪ ƴƢͨƴƢ ʟƮ ƴ͌ ʟÝƪƴưƭ͌ ƴͲƮ ƊƦưƶƱ˾ƳƴưƵƗƵƳƪƫͲƮƥƪ̊ƱƪƳƴƢƪ. Deswegen bewegt auch das Durchsichtige, wenn die Farbe nicht da ist, das Sehvermögen nicht mehr ihr entsprechend. Wenn das Durchsichtige aber aus
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Piccolomini 1602, 216f.; Steel 1997, 105. Steel 1997, 116-120; Perkams 2003b, 84-89. Huby 1999, 65. Huby 1999, 2; Blumenthal 1996, 69f.; Finamore/Dillon 2002, 20. Perkams 2005a. Texte bei Steel 1997, 128-132. Im Deutschen bezeichnet Fettdruck, im Griechischen Unterstreichungen wörtliche Gemeinsamkeiten beider Texte.
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sich selbst das Sehvermögen bewegte, dann müsste sich die Wahrnehmung auf es beziehen, und nicht auf den gefärbten Gegenstand. Nun nehmen wir aber diesen und den Abstand dazwischen war. Und das wurde von mir genauer in der Epitome von Theophrasts 2J[UKM dargelegt. Priskians Theophrast-Paraphrase 12, 10-17: ʥƱƢưˣƮƢ˝ƴ˽ƭ˿Ʈƴ̅ƥƪƢƶƢƮ̀Ʋ,ƴưͨƴư ƥ˿ƫƪƮƦ͙ƴ́Ʈ˕ƸƪƮ,ưˈưƮƭưƱƶƹƩ˿ƮƢ˝ƴ̅˞Ý̅ƴͲƮƷƱƹƭ˾ƴƹƮ;ʕƬƬ’ưˢƴƹƴưͨƥƪƢƶƢƮưͨƲ ʗƮÝƦÝưƮƩ̆ƴưƲ̛ƳƩƢƮ̆ƭƦƩƢƫƢ̃ư˝ƴưͨƷƱ̊ƭƢƴưƲŻƦˁƥ˿ƴưͨƷƱ̊ƭƢƴưƲ,ƴưͨƴưʗƮƫƢ̃ ƴ́Ʈ ˕ƸƪƮ ƫƪƮư̄ƨ. ʕƬƬ˽ ƴưͨ ƥƪƢƶƢƮưͨƲ - ƴ̅ ƥ˿ ƥƪƢƶƢƮ˿ƲƫƢ̃ ƫƢƩ’ Ƣ˞ƴ̅ ƫƪƮƨƴƪƫ̅Ʈ ƴ͋Ʋ ˕ƸƦƹƲ,˖ƴƢƮƶƹƴ̄ƧƨƴƢƪ,ư˝ƥƪ’ʠƴ̀ƱưƵƫƢ̃ˮƲ˞Ý̅ƴͲƮƷƱ̊ƭƢƴƹƮƫƪƮƨƩ̀Ʈ-ƴ̄ƲưˣƮʲ ƫ̄ƮƨƳƪƲ;ˆƮƢƫƢ̃˖ÝƹƲƢ˝ƴ˽ƴ˽˒Ʊ̊ƭƦƮƢƥƪ˽ƴưͨƭƦƴƢƯ̇ƫƪƮƦ͙ƴ́Ʈ˕ƸƪƮƤƮƹƱ̄ƳƹƭƦƮ. Bewegen diese (die Farben) also das Durchsichtige, dieses aber das Sehvermögen, wobei es gleichsam durch die Farben geformt ist? Aber so würden wir das erleidende Durchsichtige wahrnehmen, und nicht die Farbe; wenn wir aber die Farbe wahrnähmen, dann würde diese auch das Sehvermögen bewegen. Aber was ist für das Durchsichtige die Bewegung – das Durchsichtige bewegt das Sehvermögen ja auch aus sich selbst, wenn es erleuchtet wird, nicht durch etwas anderes und gleichsam von den Farben bewegt? Damit wir auch erkennen, wie das Gesehene durch das Dazwischenliegende das Sehvermögen bewegt.
Die Sätze im &G CPKOC-Kommentar scheinen den Gedankengang von Priskians Theophrast-Paraphrase zusammenzufassen, was aber nach dem Hinweis des &G CPKOC-Kommentators auf seine eigene Theophrast'RKVQOG aufhört. An zwei weiteren Stellen in der betreffenden Passage11 finden sich allerdings ebenfalls enge textliche Berührungen mit Priskians Paraphrase. Das macht es sehr wahrscheinlich, dass der Kommentator hier auf die erhaltene Theophrast-Paraphrase Priskians verweist, dass er also selbst Priskian ist. Gegen diese Identifizierung wurden allerdings einige Punkte eingewandt, von denen hier die beiden wichtigsten kurz diskutiert werden sollen12: Zum einen meint man, dass sich die Gemeinsamkeiten aus einer gemeinsamen Quelle erklären lassen, und zwar aus Jamblich, der sowohl im Kommentar als auch in der Metaphrase mit großer Ehrerbietung zitiert wird13. Obwohl diese Hypothese auf den ersten Blick plausibel scheint, kann doch mit großer Sicherheit gezeigt werden, dass sie nicht zutrifft. Denn der Name Jamblich ist selbst Teil einer Parallele, müsste also in einer eventuellen gemeinsamen Vorlage bereits gestanden haben:
_____________ 11 Vgl. in an. 136, 8f.; 137, 3-5 mit in Theophr. 12, 20-22. 27f. 12 Ausführlichere Diskussionen finden sich in Perkams 2005a, 511-519 und ders., im Druck b. 13 Finamore/Dillon 2002, 20f. Die Überlegungen von Blumenthal 1996, 65-71 sind leider recht spekulativ und gehen nicht detailliert auf die Texte ein.
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Aristoteles-Interpretation
Priskians Theophrast-Paraphrase 24, 1-6: Aber wenn die Vorstellungskraft auch die anderen Lebensarten Jamblich zufolge eindruckhaft abbildet, auch die rationalen und denkfähigen Aktivitäten, wie kann dann Aristoteles’ Aussage noch wahr sein, dass die Vorstellungskraft von den Wahrnehmungsformen bewegt wird? Nun, wenn sie auch die besseren Aktivitäten alle eindruckhaft abbildet, bildet sie diese dennoch auf die Weise der Wahrnehmungsformen gestalthaft und geteilt ab. ʝƬƬ’ƦˁƫƢ̃ƴ˽ƲʙƬƬƢƲʕÝưƴƵÝưͨƴƢƪƧƹ˽ƲƫƢƴ˽ƴ̅Ʈˉ˾ƭƣƬƪƷưƮƫƢ̃Ƣ˝ƴ˽Ʋƴ˽ƲƬưƤƪƫ˾Ʋ ƴƦ ƫƢ̃ ƮưƦƱ˽Ʋ ʟƮƦƱƤƦ̄ƢƲ, ÝͲƲ ʩƴƪ ʕƬƨƩ˿Ʋ ƴ̅ ʝƱƪƳƴưƴƦƬƪƫ̆Ʈ, ƴ̅ ˞Ý̅ ƴͲƮ ƢˁƳƩƨƴƪƫͲƮ ƦˁƥͲƮƫƪƮƦ͙ƳƩƢƪƴ́ƮƶƢƮƴƢƳ̄ƢƮ;ʳƦˁƫƢ̃ƴ˽ƲƫƱƦ̄ƴƴưƵƲʕÝưƴƵÝưͨƴƢƪʟƮƦƱƤƦ̄ƢƲÝ˾ƳƢƲ, ˖ƭƹƲƫƢƴ˽ƴ˽ƢˁƳƩƨƴƪƫ˽ʕÝƦƪƫưƮ̄ƧƦƴƢƪƦ˅ƥƨƭưƱƶƹƴƪƫͲƲƫƢ̃ƭƦƱƪƳƴͲƲ. &GCPKOC-Kommentar 214, 18-20: Denn wenn die Vorstellungskraft auch unsere rationalen, wie Jamblich es will, Aktivitäten alle eindruckhaft abbildet, bildet sie diese dennoch auf die Weise der Wahrnehmungsformen gestalthaft und geteilt ab. ƌƢ̃Ƥ˽ƱƦˁƫƢ̃ƴ˽ƲƬưƤƪƫ˽ƲʲƭͲƮ,ˮƲ˒ˉ˾ƭƣƬƪƷưƲƣư̈ƬƦƴƢƪ,ʕÝưƴƵÝưͨƴƢƪʟƮƦƱƤƦ̄ƢƲ Ý˾ƳƢƲ,˖ƭƹƲƫƢƴ˽ƴ˽ƢˁƳƩƨƴ˽ʕÝƦƪƫưƮ̄ƧƦƴƢƪƦ˅ƥƨƭưƱƶƹƴƪƫͲƲƫƢ̃ƭƦƱƪƳƴͲƲ.
Angesichts dieser von Steel und Bossier noch nicht berücksichtigten Parallele ist es praktisch unmöglich, Jamblich als die gemeinsame Quelle beider Texte anzusehen. Ebenso unwahrscheinlich ist die m.W. noch von niemandem ernsthaft angenommene Abhängigkeit von einer anderen Quelle als Jamblich. Zum einen geben beide Autoren an, Jamblichs Schrift „Über die Seele“ zu kennen14, so dass sie dessen Meinung nicht von dritter Seite erfahren haben werden. Außerdem spricht der Vergleich beider Texte nicht für eine gemeinsame Quelle, da der Text des Kommentars in den entsprechenden Stellen regelmäßig eine knappe – und deswegen z.T. schwer verständliche15 – Wiedergabe des Gedankens aus der Paraphrase darstellt, ohne dass die Benutzung weiterer Quellen nachgewiesen werden kann. Weiterhin wird eingewandt, Priskians Paraphrase sei keine „Epitome“, d.h. eine kurze Zusammenfassung eines Textes16. Dazu ist zu sagen, dass das Wort Epitome in der Antike eine weitere Bedeutung hatte als in der Gegenwart und insbesondere jede systematische Darstellung von Lehrmeinungen bezeichnete17. Im Kreis um Simplikios und Priskian wurde jedenfalls nicht scharf zwischen Kommentar und Epitome unterschieden:
_____________ 14 Prisc. in Theophr. 7, 17f.; in an. 1, 19; 240, 37f. 15 Als Beispiel kann in an. 137, 3-5 dienen, wo das doppelte ʟÝưƷưƵƭ̀ƮƨƮ sich am einfachsten aus der Verbindung zweier Sätze der Paraphrase erklärt. 16 Huby, in: Blumenthal/Lloyd (Hrsg.) 1982, 95; Blumenthal 1996, 68; Finamore/Dillon 2002, 23f. 17 Ausführlich dazu Perkams 2005a, 520-522.
Priskian von Lydien
153
Priskian erwähnt in der Einleitung zu seinen Antworten an den Perserkönig Chosroes einen „Kommentar des Geminos zu Poseidonios’ Meteorologika“ (EQOOGPVWO )GOKPK 2QUKFQPKK FG ƎƦƴƦƹƱƹƮ)18. Sein Kollege Simplikios zitiert, in der Nachfolge Alexanders, dieselbe Schrift folgendermaßen: „Er vergleicht eine Passage des Geminos aus der 'RKVQOG von Poseidonios’ /GVGQTQNQIKMC, die bei ihrer Auslegung von Aristoteles ausgeht“19. Angesichts dieser, für antike Gattungsbezeichnungen nicht ungewöhnlichen, Ungenauigkeiten bei der Benutzung des Terminus Epitome spricht nichts dagegen, dass Priskians ausschnittweise erhaltene Theophrast-Paraphrase so bezeichnet werden konnte. Sicher ist jedenfalls, dass die 'RKVQOG des &G CPKOC-Kommentators keine knappe Zusammenfassung gewesen sein kann. Denn nach den Aussagen des Kommentators hat sie das Problem des Mediums bei der Wahrnehmung ausführlicher behandelt als sein auch nicht gerade kurzer &GCPKOC-Kommentar. Es muss sich also um eine ausführliche inhaltliche Auslegung gehandelt haben, wie es Priskians /GVCRJTCUG ist. Mit diesen Bemerkungen ist das philosophische Verhältnis zwischen der Paraphrase und dem Kommentar noch nicht geklärt20; dies soll erst im Anschluss an die folgende Interpretation des Kommentars geschehen. Ich denke aber, die bisherigen Argumente reichen aus, um im Folgenden davon auszugehen, dass Priskian der Autor dieses Kommentars ist. Bemerkungen zum Autor und seinem Werk Über die Person des Priskian wissen wir nur soviel, dass er aus Lydien stammte und gemeinsam mit Damaskios, Simplikios und vier anderen Philosophen ca. 529 an den Hof des persischen Königs Chosroes gezogen ist, um dem Lehrverbot im byzantinischen Reich zu entgehen21. Möglicherweise hat er, ebenso wie Simplikios, in Athen bei Damaskios gearbeitet, dessen Lehre von der wesentlichen Veränderbarkeit der Seele er teilt22. Da er in einer eigenen Schrift philosophische Fragen des Chosroes beantwortet hat, war er wahrscheinlich zur Zeit des Persien-Aufenthalts ein angesehenes Mitglied seiner Gruppe. Da sein &G CPKOC-Kommentar einige
_____________ 18 Prisc. solut. 42, 10f. 19 ˘ ƥ˿ ʝƬ̀ƯƢƮƥƱưƲ ƶƪƬưÝ̆ƮƹƲ Ƭ̀ƯƪƮ ƴƪƮ˽ ƴưͨ ƅƦƭ̄ƮưƵ ÝƢƱƢƴ̄ƩƨƳƪƮ ʟƫ ƴ͋Ʋ ʟÝƪƴưƭ͋Ʋ ƴͲƮ ƒưƳƦƪƥƹƮ̄ưƵ ƎƦƴƦƹƱưƬưƤƪƫͲƮ ʟƯƨƤ̂ƳƦƹƲ ƴ˽Ʋ ʕƶưƱƭ˽Ʋ ʕÝ̅ ʝƱƪƳƴưƴ̀ƬưƵƲ ƬƢƣưͨƳƢƮ. Simpl. in phys. 291, 21-23. 20 Dazu ausführlich Perkams 2005a, 522-527. 21 Agath. hist. 2, 30, 3-31, 9 (80, 5-82, 16). Dazu Thiel 1999; zur Harran-Hypothese vgl. aber Luna 2001b. 22 S. u. S. 224-235.
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Aristoteles-Interpretation
Parallelen zu Damaskios’ &GRTKPEKRKKU aufweist, aber nicht zu dessen späterem 2CTOGPKFGU-Kommentar, der ebenfalls noch vor 529 entstanden ist, sollte man seine Entstehung vielleicht auf einige Jahre vor 529 ansetzen, also kaum später als Philoponos’ Kommentar, den Priskian jedenfalls nicht zu kennen scheint23. Im Gegensatz zu Philoponos’ Kommentar ist der des Priskian praktisch vollständig auf Griechisch überliefert. Trotzdem ist seine Benutzung kompliziert, da er sich in einem geschlossenen Sprach- und Gedankensystem bewegt, das sowohl durch eine sehr eigentümliche Terminologie geprägt ist als auch auf vorausgesetzte Sachverhalte häufig nur sehr knapp verweist. Das führt dazu, dass seine Sprache schwerer zu verstehen ist als die des Philoponos oder vieler anderer neuplatonischer Autoren (mit den bekannten Ausnahmen Plotin und Damaskios). Um den Sinn einer Aussage zu begreifen, muss man diese meist aus dem Gesamtkontext des Kommentars erklären. Aufgrund dieser Schwierigkeit zitiere ich im Folgenden häufiger wörtlich als bei der Behandlung des Philoponos, um einzelne Textstellen in einer Übersetzung verständlich zu machen, und gebe auch mehr detailliertere Erklärungen einzelner Formulierungen, die sich erst aufgrund einer längeren Lektüre des Kommentars erschließen. Auf diese Weise ist einer Einführung in dieses Hauptwerk des späten Neuplatonismus besser gedient als mit einer eher systematischen Interpretation, die auch jemand, der gute Griechischkenntnisse besitzt, am Text nur schwer nachzuvollziehen vermag. 2. Hermeneutische Voraussetzungen Das Vorbild Jamblich Anders als Philoponos behandelt Priskian in seiner wesentlich kürzeren Einleitung mehrere der Punkte, die in einer neuplatonischen Standardeinleitung üblicherweise thematisiert werden, und gibt einen Überblick über die methodischen Voraussetzungen seiner Kommentierung und seiner Bewertung von &G CPKOC. Daneben kommen die wissenschaftliche Einordnung der Seelenlehre und, allerdings weit weniger ausführlich als bei Philoponos, die eigene Seelenkonzeption des Kommentators zur Sprache. Zu Beginn stellt dieser – an der wohl am häufigsten zitierten Stelle seines Kommentars – eindeutiger als jeder andere neuplatonische Ausleger heraus, dass er im kommentierten Text in erster Linie ein Zeugnis der philosophischen Wahrheit sieht. Diese Wahrheit ist für ihn im Prinzip schon
_____________ 23 Vgl. dazu Perkams 2005a, 525f.
Priskian von Lydien
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angemessen dargestellt worden, nämlich von Jamblich, „dem besten Beurteiler der Wahrheit“ (ƴͳʕƱ̄ƳƴͰƴ͋ƲʕƬ̂ƩƦƪƢƲƫƱƪƴ͌). Dieser24 hat nicht nur die Theorie entwickelt, an der Priskian in seinem Kommentar festhalten will25, er war es auch, der die Bedeutung von Aristoteles’ Psychologie herausgestellt hat, indem er betonte, dass dieser die Seelenlehre vollendet habe26. Priskian liest &GCPKOC also nicht als einen Text, dessen eigene Aussage zu ermitteln ist, sondern er will ihn von einem vorab festgelegten Standpunkt aus deuten. Erst in zweiter Linie will er die Ansichten (ƴ˽ ƥưƫưͨƮƴƢ) der besten Philosophen, nämlich Platons und Aristoteles’, erschließen27. Eine Würdigung von Aristoteles’ Seelenlehre in ihrer Differenz zu Platon ist damit nicht intendiert; vielmehr ist Aristoteles nichts anderes als „der beste Ausleger Platons“ (˒ ƴưͨ ƒƬ˾ƴƹƮưƲ ʙƱƪƳƴưƲ ʟƯƨƤƨƴ̂Ʋ)28. Diese Aussagen lassen vermuten, dass der Kommentar im Wesentlichen die Lehre Jamblichs reproduziert und auf Aristoteles anwendet29. Hier ist aber eine gewisse Skepsis angebracht: Priskian sagt nicht, dass sein ganzer Kommentar ein einziges großes Jamblich-Referat darstellt. Er ist an der philosophischen Wahrheit als solcher interessiert, auch wenn er diese „nach Möglichkeit“ (ƫƢƴ˽ ƥ̈ƮƢƭƪƮ) Jamblich entsprechend darlegen möchte30. Auch in seiner Theophrast-Paraphrase betont er, dass er Jamblichs Seelenlehre voraussetzt, doch möchte er auch prüfen, inwieweit die Lektüre Theophrasts neben der des Aristoteles zusätzliche Erkenntnisse über die systematischen Probleme vermittelt und auf offene Fragen aufmerksam macht31. Priskian verfolgt also eine Art Forschungsprojekt, bei dem Jamblichs Lehre anhand einiger als Autorität angesehener Texte weiter verdeutlicht werden soll. Ein solches Unternehmen bedeutet aber automatisch eine Weiterentwicklung des jamblicheischen Gutes, auch wenn Priskian selbst diesen Aspekt eher herunterspielt32. Zudem kann man kaum erwarten, dass Priskian einen Autor, der etwa 200 Jahre vor ihm gelebt hat, ohne irgendein Missverständnis rezipiert hat, selbst wenn beide als Neuplatoniker wesentliche philosophische Grundannahmen teilten. Wenn der &G CPKOC-Kommentar also wiedergibt, was Priskian nach der Lektüre von Platon, Aristoteles, Theophrast und Jamblich für die phi-
_____________ 24 25 26 27 28 29 30 31 32
Zu seinem Leben und Werk s. o. S. 7. Prisc. in an. 1, 18-20. Prisc. in an. 1, 10f. Prisc. in an. 1, 3-6. Prisc. in an. 245, 12. Vgl. schon Kurfess 1911, 32. Finamore/Dillon 2002, 252. Prisc. in an. 1, 18. Prisc. in Theophr. 7, 16-20. Vgl. Prisc. in an. 313, 1-6; s. u. S. 233.
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Aristoteles-Interpretation
losophische Wahrheit hält, dann kann das durchaus eine eigenständige Entwicklung der neuplatonischen Seelenlehre sein. Man muss damit rechnen, dass Abweichungen von Jamblich häufiger erfolgen, ohne dass Priskian darauf ausdrücklich hinweist. Da uns Jamblichs eigene Seelenlehre weitgehend verloren ist, können wir solche Abweichungen im Übrigen nur selten nachvollziehen33. Man muss allerdings damit rechnen, dass Jamblichs Einfluss auch dort vorhanden ist, wo sein Name nicht genannt wird34. Carlos Steels Annahme, der Unterschied zwischen Philoponos’ und Priskians Kommentar erkläre sich aus ihrer Benützung von Proklos bzw. Jamblich als Hauptquelle35, kann daher im Folgenden als Arbeitshypothese herangezogen werden, zumal Philoponos’ Bezugnahme auf Proklos bereits deutlich geworden ist. Es ist allerdings zu beachten, dass beide Kommentare in der Tradition der &GCPKOC-Auslegung stehen und die verlorenen Kommentare des Alexander von Aphrodisias und Plutarch von Athen benutzt haben. Die Auseinandersetzung mit Priskians Text muss zeigen, inwieweit dieser Hintergrund die Bezugnahme auf Jamblich ergänzt. Da sich die vorliegende Untersuchung allerdings in erster Linie mit der systematischen Position der Kommentatoren selbst beschäftigt, werde ich nur dort auf historische Abhängigkeiten eingehen, wo das aufgrund einer eindeutigen Bezeugungslage möglich ist, und ansonsten eher einer systematischen Gliederung folgen. Die wissenschaftliche Einordnung der Seelenlehre Besondere Sorgfalt verwendet Priskian in seiner Einleitung auf die wissenschaftstheoretische Einordnung der Seelenlehre: „Denn das trägt auch zum Verständnis einer Seinsform selbst bei, ob sie irgendwie ein Gegenstand der Natur oder höherrangig (ƫƱƦ̄ƴƴƹƮ) oder in gewisser Weise beides ist“36.
Diese Feststellung und eine Antwort auf seine Frage findet Priskian in derselben Passage vom Beginn von Aristoteles’ &KG6GKNGFGT.GDGYGUGP (&G RCTVKDWUCPKOCNKWO; ƒƦƱ̃ƭưƱ̄ƹƮƧͱƹƮ), auf die auch Philoponos anspielt37.
_____________ 33 Diese Schwierigkeiten sind besonders dann zu beachten, wenn man mithilfe des Kommentars Jamblichs Seelenlehre oder seine Schrift „Über die Seele“ (ƒƦƱ̃ƸƵƷ͋Ʋ) rekonstruieren will, was Finamore/Dillon 2002 kaum tun. Vgl. Perkams 2005a. 34 Steel 1978, 17-20. 35 Steel 1978, 19. 36 ƔƵƮƴƦƬƦ͙ Ƥ˽Ʊ ƴưͨƴư ƫƢ̃ ƦˁƲ ƴ́Ʈ ƴ͋Ʋ ư˝Ƴ̄ƢƲ Ƣ˝ƴ͋Ʋ ƫƢƴ˾ƬƨƸƪƮ, Ý̆ƴƦƱưƮ ƶƵƳƪƫ̂ ÝƹƲ ʳ ƫƱƦ̄ƴƴƹƮʵÝ͉ʟƫ˾ƴƦƱưƮ. Prisc. in an. 1, 25-2, 1. 37 S. o. S. 54.
Priskian von Lydien
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Priskian zitiert und interpretiert den Abschnitt aber wesentlich ausführlicher als sein Kollege. In der angeführten Passage begründet Aristoteles, warum die Seele Gegenstand der Naturwissenschaft ist, während das für den Geist (ƮưͨƲ bzw. ƥƪ˾ƮưƪƢ) nicht zutreffen kann. Er behandelt also das Problem, das in &GCPKOC dazu führt, dass der Geist zumindest nicht im selben Sinn Entelechie genannt werden kann wie die übrigen Teile der Seele (II 1, 413a 29)38. Als Argument dafür wird in &GRCTVKDWUCPKOCNKWO angeführt, dass 1. dann, wenn der Verstand Objekt der Naturwissenschaft sei, auch seine Erkenntnisgegenstände deren Objekt sein müssten, da eine Wissenschaft ein Erkenntnisvermögen und seine Objekte stets zugleich behandle39. Eine andere Philosophie neben der Naturwissenschaft könne es dann aber überhaupt nicht geben, weil für Aristoteles alle Dinge entweder naturwissenschaftlich erfassbare Gegenstände der Sinneswahrnehmung oder eben geistige Objekte seien (III 8, 431b 21f.). 2. verursache nicht jeder Seelenteil Bewegung, der Geist (ƴ̅Ʈưƨƴƪƫ̆Ʈ) nämlich nicht. Das ergebe sich daraus, dass er in vielen bewegten Lebewesen gar nicht vorhanden sei40. Ohne bewegende Funktion kann der Geist aber mit der Wissenschaft von der bewegten Welt, also der Naturwissenschaft, nicht erfasst werden. Priskian schließt aus diesem Text zum einen, dass „die erste Philosophie“ (ʲÝƱ̊ƴƨƶƪƬưƳưƶ̄Ƣ), also die Metaphysik, nicht nur den göttlichen Geist zum Gegenstand hat, sondern auch denjenigen in der menschlichen Seele41. Damit wird dem Geist nicht nur eine Sonderrolle in der Seele zugeschrieben, sondern zugleich wird von vornherein ein Unterschied zwischen dem menschlichen Denken und dem reinen Geist eingeführt. Aristoteles’ Einteilung der Disziplinen hält Priskian im Übrigen deswegen für sachgemäß, weil die mittlere Stellung der Seelenlehre zwischen der Erforschung natürlicher Körper und der der reinen Formen bzw. Ideen die mittlere Stellung der Seele selbst widerspiegelt, durch die sich diese sowohl den reinen Formen als auch der materiellen Welt zuwenden kann42. Mit dieser Bemerkung ordnet er &G CPKOC in denselben neuplatonischen Rahmen ein, den auch Philoponos bzw. Ammonios in seiner Einleitung erwähnt hatte43. Der eigentlich wissenschaftstheoretische Text erhält dadurch auch eine ethische Konnotation, insofern die Einteilung der Wissenschaften die Handlungsmöglichkeiten der Seele darstellt. Diese Inter-
_____________ 38 S. o. S. 74-79. 39 Part. an. I 1, 641a 36-b 4. 40 Part. an. I 1, 641b 4-8. Zu Aristoteles’ Argumentation vgl. Charlton 1987, 410f.; Balme 1992, 89-93; Lennox 2001, 142-144. 41 Prisc. in an. 2, 33-3, 4. 42 Prisc. in an. 3, 18-21. 43 Vgl. z.B. Plot. enn. IV 8, 7; Anon. Prol. 15, 11-13; s. o. S. 44.
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Aristoteles-Interpretation
pretation bildet ein interessantes Zeugnis für den existentiellen Charakter, der der neuplatonischen Philosophie auch dann innewohnt, wenn sie sich mit rein theoretischen Problemen zu beschäftigen scheint. 3. Die Seele als Formursache bzw. Entelechie Wichtig für Priskians persönliche Position ist eine weitere Aussage der zitierten Passage, nämlich dass die Seele sowohl die Form der Lebewesen als auch deren Bewegungsursache ist44. Diese Aussage wird für den Kommentator zum Ausgangspunkt seiner Theorie einer doppelten Entelechie-Funktion der Seele, die die Grundlage seiner AristotelesKommentierung bildet. Einen ersten Überblick über diese Lehre gibt er im folgenden Abschnitt bei seinem ersten Überblick über das Verhältnis der Seele zum Körper in den sterblichen Lebewesen, was seiner Meinung nach das Thema von &GCPKOC darstellt45. Die Idee lässt sich dahingehend zusammenfassen, dass die Seele auf zweierlei Weise die Formursache bzw. Entelechie ihres Körpers ist, nämlich indem sie diesen einerseits zu einem Lebewesen formt, das aus sich selbst heraus bewegt und als Werkzeug für bestimmte Lebensfunktionen benutzt werden kann, und indem sie andererseits dieses Werkzeug bewegt und benutzt46. Priskians Übersetzer John Urmson, selbst altgedienter Aristoteles-Spezialist, hält hierzu lapidar fest: „Diese Fehlinterpretation wird den ganzen Kommentar hindurch dauernd wiederholt“47 – eine Bemerkung, die insofern gerechtfertigt ist, als Priskians Theorie nichts mit Aristoteles’ Theorie der Seele als „erster“ Verwirklichung eines Körpers zu tun hat, sondern eine eigene systematische Entwicklung ist. Im Folgenden sollen deren Grundzüge, im Anschluss an eine an anderer Stelle gegebene Darstellung48, wiedergegeben und in die zeitgenössische Diskussion eingeordnet werden. Dabei beschränke ich mich zunächst weitgehend auf die Aussagen der Einleitung des Kommentars, deren Darstellung ich aber, wo das nötig ist, durch Passagen aus den übrigen Teilen erläutere. Ganz allgemein hält Priskian fest, dass die Seele des sterblichen Lebewesens als Formursache (Ʀˁƥƨƴƪƫ́Ƣˁƴ̄Ƣ) eines Körpers charakterisiert werden kann, und zwar in beiden genannten Weisen der Formursächlichkeit49. Den Begriff „Formursache“ verwendet er dabei synonym zum aristoteli-
_____________ 44 45 46 47 48 49
Part. an. I 1, 641a 27f.; diskutiert bei Prisc. in an. 2, 29-33. Prisc. in an. 3, 29f. Prisc. in an. 4, 12-34. Übersetzung der Stelle bei Perkams 2003b, 64f. Steel 1978, 128; Urmson 1995, 3; Blumenthal 1996, 94; Steel 1997, 117. Dazu ausführlich Perkams 2003b. Prisc. in an. 4, 14f.
Priskian von Lydien
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schen Begriff der „Verwirklichung“ (ʟƮƴƦƬ̀ƷƦƪƢ)50. Die Synonymie der beiden Begriffe ist in einer aristotelischen Ontologie gut verständlich: Die Verwirklichung der einem Gegenstand innewohnenden Möglichkeiten ist diejenige Vollendung dieses Gegenstandes, die diesem von seiner Form her zukommt, also insofern er durch seine Artnatur definiert ist. Bei Priskian ist zu beachten, dass der Begriff Formursache an die Stelle des bei Aristoteles zu findenden Begriffs Form (ƦˇƥưƲ) tritt. Nach Priskians Ontologie ist eine Form eine platonische Idee, die transzendent ist und nicht direkt mit der wahrnehmbaren Welt in Verbindung tritt. Bei der Entstehung des Menschen formt daher nicht die Form selbst den Leib, sondern einzelne Gehalte (Ƭ̆Ƥưƪ), die sich aus ihr entwickeln51. Daher ist die Seele, die aus diesen verschiedenen Gehalten besteht, auch nicht in gleicher Weise ungeteilt (ʕƭ̀ƱƪƳƴưƲ) wie die anderen in der Materie wirksamen Formen, die keine solchen Gehalte entwickeln52. Für die durch die Seele bestimmten Lebewesen haben die in ihr vorhandenen Gehalte die Funktion von Formursachen, aber sie sind, wenn man sich korrekt ausdrückt, selbst keine Formen (obwohl Priskian sie gelegentlich als Formen bezeichnet, wenn er ihre Rolle in einem hylemorphistischen Kompositum beschreibt53). Die gleiche Differenzierung gilt für das Konzept der Entelechie: Priskian zufolge ist nur eine transzendente Form eine reine Entelechie, während die Seele das nur in gewisser Weise ist (ʟƮƴƦƬ̀ƷƦƪ˾ƴƪƲ. I 1, 402a 26)54. Hier fällt der Unterschied zu Philoponos (bzw. Ammonios) auf, der, ganz im aristotelischen Sinn, eine Entelechie prinzipiell als untrennbar vom Körper ansieht, so dass er eigens klarstellen muss, dass nicht nur die vegetative Seele mit diesem Begriff bezeichnet wird55. Dagegen präsentiert Priskian eine Umdeutung des Begriffs, durch den der Entelechie das ursprüngliche Sein zugeschrieben wird, das im neuplatonischen Denken nur reine Formen bzw. Ideen haben, so dass ihre Funktion im Körper nur eine sekundäre Bedeutung von Entelechie sein kann. Diese Umdeutung des aristotelischen Begriffs ist wohl von Jamblich inspiriert, der die Entelechie ebenfalls in erster Linie als reine Wirklichkeit der transzendenten Seele angesehen hatte, die von den mit dem Leib verbundenen Seelenarten völlig verschieden ist56. Auf ähnliche Weise unterscheidet er eine vollkommene Entelechie von einer unvollkommenen, die die Bewegung von der Mög-
_____________ 50 51 52 53 54 55 56
Prisc. in an. 4, 31-34; vgl. 111, 15-17. Prisc. in an. 12, 8-22; 86, 23f.; Steel 1978, 125-129. Prisc. in an. 86, 28-31. Prisc. in an. 111, 15-17. Prisc. in an. 11, 3f. S. o. S. 78f. Iambl. an 16 (40, 17-42, 2).
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Aristoteles-Interpretation
lichkeit zum Ziel hin ist57. Mithilfe dieser Terminologie kann Priskian einen grundsätzlichen Unterschied einführen zwischen der reinen Entelechie, die als pure Form vollkommene Wirklichkeit ist, und der menschlichen Seele, die immer in gewisser Weise in Möglichkeit existiert; denn sie ist als Seele eines Lebewesens mit der Materie verbunden und daher keine transzendent existierende reine Form bzw. Idee58. „Die Seele steht in Wahrheit in der Mitte zwischen den Formen und den geformten Dingen, weil sie als ganze durch und durch Gemeinschaft mit jedem von beiden darstellt“59.
Die erste Stufe der Entelechie: Die Seelenspur Diese Mittelstellung hat die ursprünglich geistige Seele durch die Verbindung mit dem Körper, durch die sie auf die genannte zweifache Weise Formursache beseelter Lebewesen ist. Auf die erste, niedrigere Weise bewirkt die Seele, dass der natürlich entstandene Körper zu einem menschlichen Leib wird, der als Werkzeug im Leben der Seele dienen kann (˕ƱƤƢƮưƮƧƹƴƪƫ̆Ʈ). Priskian betont besonders, dass diese Belebung bereits eine Wirkung der Seele ist, denn ihr Verursacher ist „entweder Seele oder Seelenteil oder nicht seelenlos“ (ʳƸƵƷ́ʳƭ̀ƱưƲƸƵƷ͋Ʋʳư˝ƫʙƮƦƵƸƵƷ͋Ʋ)60. Diese Formulierung stammt aus der kurz zuvor diskutierten Stelle aus &G RCTVKDWU CPKOCNKWO61, wo sich auch eine klare Unterscheidung zwischen dem Seelischen und der Natur (ƶ̈ƳƪƲ) findet. Daher sieht Priskian es als Aristoteles’ Meinung an, dass schon die erste Stufe der Formung des Lebendigen durch die Seele und nicht durch die Natur bewirkt wird. Zwar bewirkt die Natur allgemein, dass etwas bewegt werden kann; damit es aus sich selbst heraus bzw. von innen bewegbar ist, muss es jedoch von der Seele geformt werden62, so dass ein Lebewesen, und nicht ein reiner physischer Gegenstand, z.B. ein Stein, entsteht. Auf diese Weise ist die Natur die unterste Stufe der Seinshierarchie, die eine eigene Wirkung entfaltet, indem sie die nicht lebendigen Dinge in der sichtbaren Welt formt63.
_____________ 57 Iambl., in: Simpl. in cat. 307, 10-15; ähnlich Simpl. in phys. 278, 5-9; 414, 34-415, 24. 58 Prisc. in an. 11, 12-16. 59 ʺƥ˿ƸƵƷ́ƫƢƴ˽ƭ˿ƮʕƬ̂ƩƦƪƢƮƭ̀ƳƨƴͲƮƦˁƥͲƮƫƢ̃ƴͲƮƦˁƥưÝƦÝưƪƨƭ̀ƮƹƮˮƲ˖Ƭƨƥƪ’˖ƬƨƲ ʠƢƵƴ͋Ʋƴ́ƮÝƱ̅Ʋʠƫ˾ƴƦƱưƮʟƭƶƢ̄ƮưƵƳƢƫưƪƮƹƮ̄ƢƮ. Prisc. in an. 11, 8-10. 60 Prisc. in an. 4, 12-18, Zitat 16f.; vgl. 24, 31f. 61 Prisc. in an. 2, 6f. Philoponos gibt die Stelle in demselben, von Aristoteles leicht abweichenden, Wortlaut wieder wie Priskian (Philop. in an. 10, 15). 62 Prisc. in an. 24, 27f. 63 Procl. theol. Plat. III 2 (8, 14-20); in Tim. 1, 10, 22-11, 20; elem. 21 (24, 22-33); Dodds 21963, 209.
Priskian von Lydien
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Unter der ersten Formursache, die eher ein Seelenteil als die Seele selbst ist, versteht Priskian das, was bei anderen Neuplatonikern als Bild, Spur oder Erleuchtung (Ʀ˅ƥƹƬưƮ, ˅ƷƮưƲ, ʩƬƬƢƭƸƪƲ) der Seele bezeichnet wird64. Priskian möchte allerdings für jede einzelne Seelenart (ƫƢƩ’ʠƫ˾ƳƴƨƮ [ƸƵƷ́Ʈ]65) aufweisen (d.h. für jedes einzelne Seelenvermögen, das seiner Meinung nach Sein – ư˝Ƴ̄Ƣ – bzw. Leben – Ƨƹ̂ – besitzt), dass sich beide Weisen der Formursächlichkeit, die als Werkzeug (ƴ̅ˑƱƤƢƮƪƫ̆Ʈ) und die als Benutzendes (ƴ̅ ƷƱ̊ƭƦƮưƮ), in ihr finden66. Anders als Philoponos sieht er also nicht die nicht rationale und vegetative Seele insgesamt als Seelenspur an, sondern meint, dass in jeder einzelnen Seele, unabhängig davon, welche Vermögen sie besitzt, sowohl eine selbständige, benutzende bzw. bewegende Seele als auch eine Seelenspur vorhanden ist. Ein Vorteil dieser Konzeption gegenüber der bei Philoponos vertretenen ist, dass sie es ermöglicht, auch ein Tier oder eine Pflanze so zu beschreiben, dass die Hierarchieverhältnisse in ihren Seelen klar werden, was bei Philoponos’ Position problematisch ist67. Zudem relativiert sie die Sonderstellung der rationalen Seele, solange sie sich in einem Lebewesen befindet. Dazu passt, dass Priskian auch den Geist in seine Untersuchung einbezieht, an dem die menschliche rationale Seele nur teilhat68: Er verdeutlicht noch stärker als Philoponos, wie ungewöhnlich ein rein geistiges Erkennen in Bezug auf die menschliche Natur ist, die doch als Naturgegenstand im Wesentlichen der der Tiere entspricht. Historisch ist bemerkenswert, dass Priskian hier auf eine Theorie zurückgreift, die sich am ehesten noch bei Plotin findet, der in der Tat Ansätze dafür liefert, die Wirkung jeder einzelnen Seelenart durch eine eigene Seelenspur geschehen zu lassen69, während Philoponos’ Klassifizierung der nicht rationalen und vegetativen Seele als von ihrem Körper untrennbarer Entelechie der bei Proklos aufzufindenden Unterscheidung einer wahren rationalen Seele entspricht, der gegenüber die anderen Seelenarten nur in abgeleiteter Weise als ,Seele‘ bezeichnet werden können70.
_____________ 64 65 66 67 68 69
S. o. S. 71. Das Nomen ist aus dem Bezugswort ƸƵƷƢ͙Ʋ(Z. 34) zu ergänzen. Prisc. in an. 4, 34-38. S. o. S. 88. S. u. S. 398-402. Tornau 1998a, 283 nach einem Vergleich von Plot. enn. VI 4, 15, 12-18 und VI 7, 5. Vgl. auch II 3, 9, 24-31, aber I 1, 8, 16-23. 70 Vgl. Opsomer 2006; s. o. S. 59-63.
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Aristoteles-Interpretation
Die doppelte Entelechie als Bewegtes und Bewegendes Die Bezogenheit dieser ersten Stufe der Beseelung auf eine zweite sowie die Verschiedenheit der beiden Arten von Formursächlichkeit der Seele zeigt Priskian anhand zweier Erklärungsmuster: Zum einen leitet er sie aus dem Konzept der Bewegung nach Art des Lebendigen ab, zum anderen aus dem Verhältnis eines Werkzeugs zu seinem Benutzer. Damaskios’ Hylemorphismus Das Verhältnis von Beweger und Bewegtem ist ein Hauptgegenstand der aristotelischen Physik, die auch die Basis für die neuplatonische Lehre von der Bewegung natürlicher Gegenstände abgibt, wie sie etwa in Proklos’ 2J[UKUEJGT'NGOGPVCTNGJTG dargelegt ist71. Priskians Verwendung dieses Konzepts in der Seelenlehre bezieht sich aber nicht auf Proklos, sondern auf seinen mutmaßlichen Lehrer Damaskios. Dessen einschlägige Aussagen sind daher kurz nachzuzeichnen, bevor ich auf Priskians Text eingehe, der sich am besten als direkte Auseinandersetzung mit Damaskios’ Annahmen liest. Damaskios diskutiert in seinen 2TQDNGOGP WPF .ÑUWPIGP ×DGT FKG GTUVGP 7TUCEJGP (ʝÝưƱ̄Ƣƪ ƫƢ̃ Ƭ̈ƳƦƪƲ ÝƦƱ̃ ƴͲƮ ÝƱ̊ƴƹƮ ʕƱƷͲƮ. &G RTKPEKRKKU) ausführlich die Frage, unter welchen Bedingungen etwas als ein aus sich selbst heraus und nicht von außen her konstituierter Gegenstand gelten kann. Als unterstes Prinzip der Selbstkonstitution stellt er dabei, im Gegensatz zu einem hergestellten Gegenstand (ƴ̅ƴƦƷƮƨƴ̆Ʈ), die Natur fest72, geht also von einer ähnlichen Unterscheidung aus, wie sie Philoponos in II 1, 412b 11-17 auffindet73, und untersucht dann dasselbe Prinzip bei den seelischen Eigenschaften des vegetativen, nicht rationalen und rationalen Lebens. Die Darstellung bedient sich also der neuplatonischen Standardterminologie, die auch die Kommentatoren verwenden. Innerhalb dieser Diskussion führt Damaskios die Sinneswahrnehmung als die erste Stufe an, auf der nicht nur Selbstkonstitution, sondern auch eine Selbstbewegung dem Ort nach (Ƣ˝ƴưƫƪƮƨƳ̄Ƣ) auftritt. Zu einer solchen Selbstbewegung sei die nicht rationale Seele (ʲ ʙƬưƤưƲ ƸƵƷ̂) allein fähig, ohne die Unterstützung durch irgendein grundsätzlicheres Prinzip74. Denn die wahrnehmende Seele sei mit ihrem Körper in anderer Weise
_____________ 71 72 73 74
Vgl. Dodds 21963, XVIIf. Dam. princ. 1, 41, 17-20. S. o. S. 94-96. Dam. princ. 1, 43, 9-22.
Priskian von Lydien
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verbunden als die rationale Seele, die von diesem immer verschieden bleibe und für die gelte: „Die Seele bewegt, der Körper aber wird bewegt“75. Dagegen existiere die wahrnehmende Seele nur in einem Zusammengesetzten (Ƴ̈ƮƩƦƴưƮ oder ƳƵƮƢƭƶ̆ƴƦƱưƮ) mit dem wahrnehmenden Körper, und die darin stattfindende Bewegung lasse sich nicht von einem von beiden Elementen aussagen, sondern sei die eigene Wirkung dieses Zusammengesetzten76. Freilich sei dieses nur ein scheinbar Selbstbewegtes (ƶƢƪƮ̆ƭƦƮưƮƢ˝ƴưƫ̄ƮƨƴưƮ), da es nicht durch sich selbst (˞ƶ’ʠƢƵƴưͨ) bewegt werde, denn diese Art der Selbstbewegung komme nur immateriellen Wesenheiten zu77. Stattdessen sagt Damaskios, dass das eine Zusammengesetzte gemäß der Seele (ƫƢƴ˽ƴ́ƮƸƵƷ́Ʈ) bewegt, gemäß dem Leib (ƫƢƴ˽ƴ̅ ƳͲƭƢ) aber bewegt wird78. Dieser Argumentation liegt die Unterscheidung zweier Bewegungsprinzipien zugrunde, von denen das eine, durch das (˞ƶ’ ưˤ) etwas bewegt wird, außerhalb von dem Bewegten steht und seine Bewegung initiiert, während das andere, dem gemäß (ƫƢƩ’˖) es bewegt wird, die abgeleitete Selbstbewegung eines einmal in Bewegung gesetzten Lebewesens bezeichnet. Damaskios sieht die Annahme des zweiten, internen Bewegungsprinzips als notwendig an, da ohne ein solches hylemorphistisches Prinzip wiederum ein weiteres Prinzip außerhalb des Leibes angenommen werden müsste. Dieser Prozess setze sich ins Unendliche fort, wenn man nicht ein letztes Bewegungsprinzip annimmt, das dem Zusammengesetzten eigen ist, nämlich das abgeleitete Prinzip, dem gemäß es bewegt wird79. Diese Überlegungen wendet Damaskios auf die verschiedenen Stufen des natürlichen und seelischen Seins an und kommt zu dem Ergebnis, dass sich auf jeder von ihnen eine derartige Unterscheidung von Bewegungsprinzipien finden lasse. Das gelte auch für das hochsteigende Feuer und für die nährende und zeugende vegetative Seele. Den nicht rationalen Lebewesen, d.h. den wahrnehmungsbegabten Tieren, könne man ebenfalls eine ganz schwache Spur der Rationalität zusprechen80. Damaskios gelangt also zu einem Bild der Wirklichkeit, in dem eine klare Trennung von selbständigen, unkörperlichen und rationalen Dingen aufgelöst wird zu einer Leiter von mehr oder weniger stark unkörperlich beeinflussten Wesenheiten, deren Unterschiede sich nicht in eindeutiger Weise abgrenzen lassen81.
_____________ 75 76 77 78 79 80 81
ƌƪƮƦ͙ƭ˿ƮʲƸƵƷ̂,ƫƪƮƦ͙ƴƢƪƥ˿ƴ̅ƳͲƭƢ. Dam. princ. 1, 46, 2. Dam. princ. 1, 46, 5-47, 1. Dam. princ. 1, 47, 2-24; vgl. Procl. elem. 16f. (18, 7-20, 2). Dam. princ. 1, 47, 24-48, 6. Dam. princ. 1, 48, 7-49, 4. Dam. princ. 1, 50, 2-17. Dam. princ. 1, 50, 18-51, 5.
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Aristoteles-Interpretation
Möglich wird diese Veränderung dadurch, dass Damaskios den aristotelischen Hylemorphismus ernstnimmt und die Vorstellung entwickelt, dass zumindest bestimmte unkörperliche Gehalte in einer unauflösbaren Verbindung zu den Körpern stehen, deren Form sie sind. Das gilt nicht nur für die Formen natürlicher Körper, sondern auch für die seelischen Formen von Lebewesen, solange diese sich auf die nicht rationale und die vegetative Seele beschränken. Das ist im Grunde dieselbe Lehre über die nicht rationale und vegetative Seele, die wir auch in Philoponos’ Kommentar finden und die wohl auf Ammonios zurückgeht. Es ist gut möglich, dass dieser auch Damaskios’ Quelle war, da er ebenfalls bei dem Alexandriner Aristoteles-Kommentator gelernt hat82. Damaskios’ Gebrauch dieser Erkenntnis geht aber über Ammonios’ Unterfangen weit hinaus. Das betrifft die Betonung der Untrennbarkeit des Hylemorphismus durch Formulierungen wie „wahrnehmungsfähiger Körper beziehungsweise verkörperte Wahrnehmung“ (ƳͲƭƢƢˁƳƩƨƴƪƫ̅Ʈʳ ƳƹƭƢƴƹƩƦ͙ƳƢ Ƣ˅ƳƩƨƳƪƲ)83, aber besonders die Überlegungen zur Fähigkeit derartiger Körper zur Selbstbewegung, die, wie gesagt, die relativ klaren Differenzierungen des proklischen Neuplatonismus zugunsten fließenderer Übergänge auflöst. Es überrascht, dass ausgerechnet der PlatonAusleger Damaskios, und nicht einer der zahlreicheren AristotelesKommentatoren die Aristotelisierung der neuplatonischen Ontologie am weitesten vorantreibt. Damaskios war wohl zu Beginn des sechsten Jahrhunderts der kritische Geist, der neue philosophische Akzente setzte. Allerdings konnte Damaskios’ Ergebnis zur Selbstbewegung nicht rationaler Komposita seine Zeitgenossen wohl kaum befriedigen: Denn auf die Frage, wodurch denn die nicht rationale Seele bewegt wird, gibt er letzten Endes keine klare Antwort, indem er nur eine abgeleitete Selbstbewegung annimmt, ohne zu erklären, wovon sie abgeleitet ist und wie diese Ableitung funktioniert. Dabei war es gerade die Angabe des tatsächlichen Bewegers, die der Kreis um Syrian und Proklos nach Damaskios’ Meinung schuldig geblieben war, als er der nicht rationalen Seele die Selbstbewegung absprach84.
_____________ 82 Dam. vit. Isid. 101, 2-3 Zintzen = 54, 1-2 Athanassiadi; vgl. Combès/Westerink 1986, XVII. 83 Dam. princ. 1, 46, 7. 84 Dam. princ. 1, 44, 15-45, 2.
Priskian von Lydien
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Beweger und Bewegtes bei Priskian An diesem Punkt setzt Priskian an, wenn er die erste und zweite Formursache eines Lebewesens anhand des Gegensatzes von Beweger und Bewegtem beschreibt: Ebenso wie Damaskios betont er, dass es eine Formursache gibt, „der gemäß“ (ƫƢƩ’ʶƮ) das Lebewesen bewegbar ist, hält aber im gleichen Atemzug fest: „Eine andere [Formursache] ist die, durch die (˞ƶ’ ʸƲ) es bewegt wird“85. Gegenüber Damaskios betont Priskian also, dass die Ursache der Bewegung eines leib-seelischen Kompositums zwar innerhalb von diesem liegen, aber nicht mit dem Prinzip identisch sein kann, durch die das Lebewesen geformt wird: Das als bewegbar geformte Kompositum hat keine Kraft, seine eigene Bewegung zu verursachen, auch nicht eine abgeleitete, sondern es ist lediglich in der Lage, diese Bewegung zu empfangen86. Diese Annahme, dass in Dingen, die nicht völlig immateriell sind, Beweger und Bewegtes unterschieden sein müssen, ist die traditionelle neuplatonische Ansicht, wie sie sich auch bei Proklos findet87. Priskian folgt also in dieser Hinsicht nicht Damaskios’ Versuch, der in der Natur beobachtbaren Selbstbewegung von Tieren dadurch gerecht zu werden, dass er die neuplatonische Bewegungstheorie durch Betonung des unauflösbaren Zusammenhangs hylemorphistischer Komposita weiterentwickelt, sondern versucht, den Hylemorphismus so zu formulieren, dass eine klare Unterscheidung von Beweger und Bewegtem gewahrt bleibt. Er begründet seine Position mit Aristoteles, und zwar zunächst mit einer Anspielung auf II 1, 413a 8f.: Die Seele kann auch so Entelechie des Körpers sein wie der Schiffer im Schiff, d.h. sie formt nicht nur das Lebewesen zu etwas, das durch die Seele bewegt werden kann, sondern sie ist auch die Ursache für dessen tatsächliche Bewegung88. Für Priskian und seine Leser war es offenbar selbstverständlich, dass Aristoteles sagen will, auch der Schiffer sei in der Tat – und nicht nur, dem Wortlaut der Stelle nach, möglicherweise – eine Entelechie des Leibes. Die Interpretation der Stelle, wie sie Philoponos (und vor ihm wohl Ammonios, vielleicht sogar Plutarch von Athen) gibt, wird also stillschweigend vorausgesetzt, aber in spezifischer Weise weiterentwickelt.
_____________ 85 86 87 88
ʬƴ̀ƱƢƥ˿ʲ˞ƶ’ʸƲƫƪƮƦ͙ƴƢƪ. Prisc. in an. 4, 18f. Prisc. in an. 302, 9-14; 303, 31-37. Procl. elem. 17 (18, 21-20, 2). Prisc. in an. 4, 19f. Der zweite Satz in Z. 20 ist für dieses Argument notwendig, also wohl keine Glosse, wie ich in Perkams 2003b, 64 mit Anm. 17 angenommen habe. Zur Deutung des Bildes vom Steuermann aus 2JCKFTQU 247c bei den Neuplatonikern vgl. Bernard 1997, 13-19, doch scheint der Zusammenhang mit der &G CPKOCInterpretation gering zu sein.
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Aristoteles-Interpretation
In einem nächsten Schritt verdeutlicht Priskian, dass diese beiden Seelen, die bewegende und die bewegte, Aristoteles zufolge nicht dasselbe sein können, sondern verschieden sein müssen. Um das zu zeigen, verweist er auf Aristoteles’ eigene Aussage, dass etwas Bewegendes und das von ihm Bewegte nicht dasselbe sein können. Dieser Hinweis bezieht sich nicht auf &GCPKOC, sondern auf einen Text aus dem VIII. Buch der 2J[ UKM, den Priskian schon kurz zuvor89 erwähnt hatte. Hier hält Aristoteles fest: „Es scheint nämlich wie bei den Schiffen und den nicht von Natur aus zusammengesetzten Dingen, so auch bei den Lebewesen das Bewegende und das Bewegte getrennt zu sein, und daher das Ganze sich selbst zu bewegen“ 90.
Aristoteles selbst vertritt nach dieser Interpretation nicht die Position des Damaskios, dass der bewegte Körper und die diesen bewegende Seele zwei nicht trennbare Aspekte eines Kompositums sind, sondern er unterscheidet beide als zwei getrennte Entitäten innerhalb des Kompositums. Hinzu kommt ein weiterer Punkt: Es ist nicht richtig, das bewegte Element einfach als Körper zu bezeichnen, sondern es ist ein bereits durch seelische Aktivität, nämlich durch die erste Stufe der Formursächlichkeit, belebter Körper. Aber diese seelische Aktivität ist eben nicht mit der der bewegenden Seele identisch. „Denn [sonst] wäre das ganze Lebewesen ihr gemäß geformt, Bewegtes und Bewegendes, und nicht, wie Aristoteles meint: Die Seele bewegt, das Lebewesen aber wird bewegt“91.
Der letzte Satz ahmt bis in die Wortstellung hinein Damaskios’ eben zitierte Aussage nach, „die Seele bewegt, der Körper aber wird bewegt“: Priskian meint also, anders als Damaskios, dass die Formung des Lebewesens nicht durch die Seele selbst, sondern durch einen Teil bzw. ein Bild von ihr (ƭ̆ƱƪưƮƸƵƷ͋ƲʳƦ˅ƥƹƬưƮƸƵƷ͋Ʋ) verursacht ist, also durch die Seelenspur, die von der selbstbewegten Seele verschieden ist92. Ist dieser Unterschied einmal verdeutlicht, dann wird auch klar, dass die in jedem Lebewesen befindliche Seele die Ursache seiner Bewegung ist, so dass man keine weitere Ursache annehmen muss, die das in abgeleiteter Weise bewirkt. Auch für Tiere braucht man kein aktives Bewegungsprinzip anzunehmen, dem gemäß sie bewegt werden, sondern sie haben ein Prinzip in
_____________ 89 Prisc. in an. 3, 11-13. 90 ʯưƪƫƦƮ Ƥ˽Ʊ ˲ƳÝƦƱ ʟƮ ƴư͙Ʋ ÝƬư̄ưƪƲ ƫƢ̃ ƴư͙Ʋ ƭ́ ƶ̈ƳƦƪ ƳƵƮƪƳƴƢƭ̀ƮưƪƲ, ưˢƴƹ ƫƢ̃ ʟƮ ƴư͙Ʋ ƧͱưƪƲƦˇƮƢƪƥƪ͉Ʊƨƭ̀ƮưƮƴ̅ƫƪƮưͨƮƫƢ̃ƴ̅ƫƪƮư̈ƭƦƮưƮ,ƫƢ̃ưˢƴƹƴ̅ʚÝƢƮƢ˝ƴ̅Ƣ˞ƴ̅ƫƪƮƦ͙Ʈ. phys. VIII 4, 254b 30-33; vgl. 255a 5-18. 91 ˀƮƤ˽ƱʗƮƫƢ̃ƴ̅˖ƬưƮƧͳưƮƫƢƴ’Ƣ˝ƴ́ƮƦˁƥưÝưƪư̈ƭƦƮưƮ,ƫƪƮư̈ƭƦƮ̆ƮƴƦƫƢ̃ƫƪƮưͨƮ,ƫƢ̃ ư˝Ʒ,ˮƲƴͳʝƱƪƳƴưƴ̀ƬƦƪƥưƫƦ͙,ƫƪƮƦ͙ƭ˿ƮʲƸƵƷ́,ƫƪƮƦ͙ƴƢƪƥ˿ƴ̅ƧͳưƮ. Prisc. in an. 4, 2628; vgl. III 10, 433b 18. 92 Prisc. in an. 85, 17f.; vgl. z.B. Plot. enn. II 3, 9, 19-24.
Priskian von Lydien
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sich, durch das sie sich selbst bewegen: Das Geformte (ƦˁƥưÝưƪƨƩ̀Ʈ) bzw. gleichsam durch eine Definition (˖ƱưƲ) Konstituierte (˒ƱƪƧ̆ƭƦƮưƮ) wird das Lebewesen (ƧͳưƮ), das durch die Seele bewegt wird93. Ein Vorteil dieses Konzeptes ist, dass Priskian die volle Breite des aristotelischen Bewegungsbegriffs zurückgewinnt und seine Erläuterung nicht auf die Ortsbewegung beschränkt: Es geht hier z.B. um „Gehen, Fliegen und Atmen“94, also um jede Art von Veränderung bzw. Lebensaktivität, so wie es Aristoteles’ Bewegungsbegriff in II 4, 415b 21-416a 18 voraussetzt. Diese Stelle spricht aber nicht für Priskians AristotelesInterpretation, da hier klar die Seele nur auf eine Weise, und nicht auf zwei, Bewegungsursache ist. Auch I 3, 406b 24f., das dem Wortlaut nach Priskians Formulierung ähnlich ist, impliziert nicht die Unterscheidung zweier Arten der Entelechie in der Seele, da die Stelle keinen Anhaltspunkt dafür liefert, dass die bewegende Seele von der verschieden ist, die das Lebewesen geformt hat. In diesem Sinne sollte man daher auch Phys. VIII 4, 254b 7-33 interpretieren, das keinen Anhaltspunkt dafür liefert, im aristotelischen Hylemorphismus zwei Formursachen zu unterscheiden. Das hat Damaskios klarer erfasst als der Aristoteliker Priskian. Während also die Begründung mithilfe der Autorität des Aristoteles nicht überzeugen kann, rechtfertigen systematische Überlegungen Priskians Ansatz: Ein dualistisches Menschenbild, wie der Neuplatonismus es voraussetzt, ist nicht mit einem Hylemorphismus zu vereinbaren, der die Seele nur als Aspekt des leib-seelischen Kompositums ansieht. Daher betont Priskian deren Eigenständigkeit gegenüber dem Körper in konsequenter Weise, wodurch er auch die Möglichkeit gewinnt, die vom Lebewesen selbst nicht zu trennende Form als das Bindeglied anzusehen, das notwendig ist, um die Art der Verbindung einer unkörperlichen Seele mit einem Körper zu erklären. Damit stellt er die komplexe Position Plotins wieder her95 und liefert zugleich eine Begründung dafür, dass es eine vom Leib wesenhaft verschiedene Seele gibt. Diese Überlegung betrifft auch die Selbständigkeit und Autonomie der Seele im Körper. In dieser Hinsicht entwickelt Priskian eine Überlegung, die für seine generelle Einschätzung des Menschen große Bedeutung hat: Aristoteles zufolge (I 3, 406b 14f.) bewegen menschliche Seelen nicht aus sich heraus (ƥƪ’ʠƢƵƴ˾Ʋ), sondern akzidentell (ƫƢƴ˽ƳƵƭƣƦƣƨƫ̆Ʋ). Priskian erklärt das so, dass sie von einem außerhalb ihrer selbst befindlichen Ziel angeregt werden96. Dieser fremdbestimmte Aspekt seelischen
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Zu dieser Terminologie vgl. Steel 1978, 124-129; Perkams 2003b, 63-71. Ƅ˾ƥƪƳƪƮƫƢ̃Ýƴ͋ƳƪƮƫƢ̃ʕƮƢÝƮư̂Ʈ. Prisc. in an. 4, 23. Vgl. dazu Gerson 1994, 136-138; Tornau 1998a, 315f. Prisc. in an. 25, 3-6.
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Aristoteles-Interpretation
Seins beeinflusst auch das Verständnis der Seele als „selbstbewegt“ (Ƣ˝ƴưƫ̄ƮƨƴưƲ). Mit „selbst“ wird dabei ihre selbständige Existenz als reine Form und mit „bewegt“ ihre Beziehung zu den Körpern ausgesagt97, deren Veränderung in aristotelischer Terminologie allein als Bewegung bezeichnet werden kann98. Carlos Steel hat auf diese außergewöhnliche Terminologie aufmerksam gemacht und gezeigt, dass sie Priskians Eigengut ist, das ihn auch vom authentischen Simplikios unterscheidet99. Der Unterschied ist jedoch nicht nur ein terminologischer, sondern betrifft auch den ontologischen Status der Seele. Denn nach der Theorie der Schule Syrians, wie sie sich etwa in Proklos’ 6JGQNQIKUEJGT 'NGOGPVCTNGJTG findet, ist die Selbstbewegung ein Kennzeichen der reinen transzendenten Seele. Dagegen ist das aus dieser Seele und dem Leib bestehende Lebewesen nur scheinbar selbstbewegt (ƥưƫưͨƮ Ƣ˝ƴưƫ̄ƮƨƴưƮ), denn ein Teil von ihm, die rationale Seele, verursacht die Bewegung der anderen Teile. Die sich selbst bewegende Seele weist dagegen keine derartigen Teile auf, da sie sich als ganze bewegt100. Wenn Priskian nun die Bezeichnung „selbstbewegt“ auch in Bezug auf die Seele so einschränkt, dass sie sowohl ihre Fähigkeit zur Bewegung beinhaltet als auch ihre Abhängigkeit von äußeren Einflüssen, die sie als Teil der Welt der körperlichen Bewegung hat, dann hebt er die Transzendenz, die Proklos und Philoponos der rationalen Seele im Körper zuschreiben, implizit auf: Sofern sie ihre Funktion als Seele wahrnimmt, also einen Körper beseelt, unterliegt sie Einflüssen von außen. Daher ist auch das Ziel ihrer Existenz faktisch außerhalb von ihr anzusiedeln. Es kann aber nicht in der körperlichen Außenwelt liegen, sondern nur in der transzendenten Existenz der Seele als Geist (˒ ʟƯ͉Ʊƨƭ̀ƮưƲ ƮưͨƲ), mit der die rationale Seele im Körper (˒ʟƮʲƭ͙ƮƮưͨƲ) nicht identisch ist101. Die Lehre von der Mittelstellung der Seele wird also von Priskian grundsätzlich als ein Abhängen von äußeren Einflüssen gedeutet, mögen diese nun von unten, d.h. der körperlichen Welt, oder von oben, vom Geiste her, kommen; ein Ruhen in sich selbst ist der Seele im menschlichen Körper jedenfalls grundlegend verwehrt.
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Prisc. in an. 26, 23-28. Prisc. in an. 25, 17-24; 26, 28-31; 39, 3-12. Steel 1978, 67f.; Steel 1997, 117f. Procl. elem. 17 (18, 21-20, 2) in Verbindung mit 16 (18, 7-20). 20 (22, 4-8). Vgl. schon Prisc. in an. 3, 1f., woher die griechischen Bezeichnungen entnommen sind. Außerdem 5, 14-21; 17, 35-18, 3; 59, 31-39.
Priskian von Lydien
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Die doppelte Entelechie als Werkzeug und Benutzer Wie sorgfältig Priskian vorgeht, wird an seinem zweiten Erklärungsmodell für die doppelte Formursächlichkeit der Seele noch deutlicher, dem Vergleich von Werkzeug und Benutzer. Hierzu betont er zunächst: „Die charakterisierende Form [des Werkzeugs] als Werkzeug ist etwas anderes als das Gebrauchende; und Verwirklichung ist auch das Gebrauchende, so wie der Schiffer für das Schiff“102.
Das entspricht exakt der Argumentation zum Unterschied von Beweger und Bewegtem, hat aber in diesem Fall keine Beziehung zum aristotelischen Text, der lediglich allgemein die Seele als Gebrauchendes und Ziel sowie den Körper als Werkzeug bezeichnet (I 3, 407b 25f.; II 4, 415b 1820). Die deutliche Unterscheidung von Werkzeug und Benutzer geht eher auf Platons 'TUVGP#NMKDKCFGU (129c 2-130c 3) zurück, der im Neuplatonismus als Einführung in die Seelenlehre gelesen wurde103. Dabei wird die Identifizierung der Seele mit dem Benutzer eines Werkzeugs damit erklärt, dass Platon die Unabhängigkeit vom Leib betonen wolle, die es ausschließe, dass die Seele, insbesondere die rationale, durch den Körper etwas erleide104. In diesem Sinn sagt auch Priskians Vorbild Jamblich einfach, dass sich die Seele des Körpers als Werkzeug bedient105. Vor diesem Hintergrund überrascht die Deutung, die Priskian dem Bild gibt. Indem er es als Ausdruck einer Entelechie-Relation versteht, also einer untrennbaren Beziehung der Seele zum Leib, betont er die gegenseitige Verwiesenheit von Werkzeug und Benutzer, und nicht so sehr ihre Unterschiedlichkeit. Denn auch die zweite Formursache, die den Leib benutzt, ist mit ihm notwendig verbunden und gehört daher auch nicht mehr dem Bereich der reinen Formen an. Diese Interpretation passt perfekt zu Priskians Erklärung des neuplatonischen Menschenbildes. Bei ihm wird es zum Grundzug der &GCPKOC-Deutung, dass die benutzende Seele die eigentliche Seele (ʲƫƵƱ̄ƹƲƸƵƷ̂) ist106, während derartige Bezeichnungen in der Athener Schule auf die auch während ihrer Existenz im Menschen noch transzendente rationale Seele angewandt wurden107. Zwar formuliert auch Proklos manchmal ähnlich108, doch bleibt dies ein isolier-
_____________ 102 ƌƢ̃ƴ̅ˮƲˑƱƤ˾ƮưƵʙƱƢƷƢƱƢƫƴƨƱƪƳƴƪƫ̅ƮƦˇƥưƲʪƴƦƱưƮƴưͨƷƱƹƭ̀ƮưƵ.ƫƢ̃ʟƮƴƦƬ̀ƷƦƪƢƫƢ̃ ƴ̅ƷƱ̊ƭƦƮưƮˮƲ˒ÝƬƹƴ́Ʊƴ͋ƲƮƦ̊Ʋ. Prisc. in an. 4, 29-31. 103 Vgl. Abbate 2004, XX. 104 Plot. enn. I 1, 3, 3-17; IV 7, 1, 24f.; Procl. in Alc. 168, 11-16; in remp. 1, 171, 22-172, 6. 105 Iambl. an. 16 (42, 16f.). 106 Prisc. in an. 85, 18; vgl. 24, 21 (ʲʖÝƬͲƲ); 58, 21 (ʴƮƫƢ̃ƭ̀ƬƬưƮƫƢƬƦ͙ƸƵƷ̂Ʈ). 107 Herm. in Phdr. 102, 20-25. 108 Procl. in Alc. 45, 13-22. Vgl. auch Segonds 1985, 148f.
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Aristoteles-Interpretation
ter Einzelfall, während Priskian regelmäßig die ganze Seele als den Leib benutzende bzw. bewegende von der Verbindung mit ihm bestimmt. Die Unterschiedlichkeit der beiden Formursachen Das Bild vom Werkzeug und Benutzer zeigt noch einmal, dass Priskian anders als Damaskios einen deutlichen Unterschied zwischen Beweger und Bewegtem im Lebewesen annimmt: Als Benutzer eines Werkzeugs ist das Bewegende mit dem Bewegten so verbunden, dass nur der Beweger auf das Bewegte wirkt und nicht umgekehrt. Beide sind bei aller Verbindung verschiedene Dinge und formen erst in zweiter Linie eine Sache. Priskian verdeutlicht das, indem er die verschiedenen Formen seelischen Seins ontologisch einordnet: „So sind die Unterschiede zwischen ,trennbar‘ und ,untrennbar‘ sowie zwischen ,in einer Hinsicht trennbar, in einer anderen untrennbar‘ und ,ganz untrennbar‘ oder zwischen ,ein Werkzeug gebrauchendes seiend‘ und ,das Werkzeug charakterisierend‘ keine unterteilenden, sondern konstitutive Unterschiede der Seelen“109.
Die Unterscheidung zwischen unterteilenden (ƥƪƢƪƱƦƴƪƫƢ̃ ƥƪƢƶưƱƢ̄) und konstitutiven Unterschieden (ƳƵƳƴƢƴƪƫƢ̃ ƥƪƢƶưƱƢ̄) wird im Neuplatonismus aus der Analyse des sogenannten „Baums des Porphyrios“ abgeleitet, dem zufolge sich jede Gattung in weitere Untergattungen aufspalten lässt, die jeweils alle Merkmale der Gattung und zusätzlich einen Unterschied aufweisen, der sie von allen anderen Arten der Gattung unterscheidet. Dies sind die unterteilenden, die Art begründenden Unterschiede (FKHHGTGP VKCGURGEKHKECG), die die Aufteilung der Gattung in Arten ermöglichen. Von ihnen werden die konstitutiven Unterschiede unterschieden, die zusammen mit der übergeordneten Gattung dazu führen, dass eine bestimmte Art oder niedriger liegende Gattung definiert werden kann110. Alle konstitutiven Unterschiede, die eine Gattung bestimmen, kommen daher allen unter diese Gattung fallenden Arten zu, während die unterteilenden Unterschiede nur den Arten einer Gattung zukommen, die durch sie konstituiert werden, wie Simplikios in seinem -CVGIQTKGP-Kommentar erläutert: Zwar verfügen alle Lebewesen über Sinneswahrnehmung und die Fähig-
_____________ 109 Ƒˢƴƹ ƥ́ ƫƢ̃ ƴ̅ ƷƹƱƪƳƴ̅Ʈ ʳ ʕƷ̊ƱƪƳƴưƮ, ƫƢ̃ ƴ̅ Ý͌ ƭ˿Ʈ ƷƹƱƪƳƴ̅Ʈ Ý͌ ƥ˿ ʕƷ̊ƱƪƳƴưƮ ʳ Ý˾Ʈƴ͉ ʕƷ̊ƱƪƳƴưƮ, ƫƢ̃ ƴ̅ ˮƲ ˑƱƤ˾ƮͰ ƷƱ̊ƭƦƮưƮ ʕƷ̊ƱƪƳƴưƮ ˓Ʈ ʳ ˮƲ ƴưͨ ˑƱƤ˾ƮưƵ ƷƢƱƢƫƴƨƱƪƳƴƪƫ̅Ʈư˝ƥƪƢƪƱƦƴƪƫƢ̃ʕƬƬ˽ƳƵƳƴƢƴƪƫƢ̄ƦˁƳƪƴͲƮƸƵƷͲƮƥƪƢƶưƱƢ̄. Prisc. in an. 107, 27-30. 110 Amm. in Porph. 113, 12-16.
Priskian von Lydien
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keit zur Selbstbewegung, aber nur einige von ihnen über Vernunft, andere hingegen nicht111. Priskian deutet diese Unterscheidung um, um mit ihr die Stellung der Seele bzw. ihrer verschiedenen Formen in der neuplatonischen Seinshierarchie zu erläutern112: Seele ist nicht eine Gattung, die als Oberbegriff von mehreren Arten ausgesagt wird, sondern sie ist ein homonymer Sammelbegriff für Dinge, die verschiedenen Gattungen angehören113. Das erklärt auch Priskian am Beispiel der Klassifizierung von Lebewesen: Der Unterschied zwischen sterblich (ƶƩƢƱƴ̆Ʈ) und unsterblich (ʙƶƩƢƱƴưƮ) ist kein unterteilender Unterschied der Gattung Lebewesen, sondern bereits der allgemeineren, übergeordneten Gattung Wesenheit (ư˝Ƴ̄Ƣ). Wenn daher die Dinge, auf die die konstitutiven Merkmale von Lebewesen, Sinneswahrnehmung und Selbstbewegung114, zutreffen, teilweise sterblich und teilweise unsterblich sind, dann können sie nicht alle derselben Gattung angehören, denn unsterbliche und sterbliche Dinge gehören nur einer gemeinsamen Gattung an, nämlich der der Wesenheit. Daher konstituieren die Begriffe „sterblich“ und „unsterblich“, wenn sie auf Lebewesen angewandt werden, nicht eine Gattung bzw. Art, sondern zwei, nämlich „sterbliches Lebewesen“ und „unsterbliches Lebewesen“115. Eine ähnliche Unterscheidung trifft das oben angeführte Zitat für die Seele, insofern sie den Körper gebraucht und insofern sie ihn als Werkzeug charakterisiert: Es handelt sich um einen unterteilenden Unterschied innerhalb der allgemeineren Gattung der unkörperlichen Wesenheit (ʕƳ̊ƭƢƴưƲ ư˝Ƴ̄Ƣ)116. Wenn es also sowohl Werkzeuge formende als auch diese Werkzeuge benutzende Seelen gibt, ist das ein konstituierender Unterschied, der zwei verschiedene Gattungen von Seelen charakterisiert. Von Philoponos’ Differenzierung zwischen der vom Leib trennbaren rationalen von der untrennbaren nicht rationalen und vegetativen Seele117 unterscheidet sich Priskians Konstruktion dadurch, dass er nicht zwischen den verschiedenen Seelenarten differenziert, sondern abstrakter zwischen den verschiedenen Weisen, auf denen jede Seelenart mit ihrem Körper verbunden ist. Wenn man von irgendeiner Seele, sei sie nun durch Vernunft, Sinneswahrnehmung oder die Fähigkeit zu Wachstum und Ernährung gekennzeichnet, sagt, sie sei die Form des Leibes, sagt man zweierlei von ihr aus, nämlich, dass sie den Leib formt und zur Aufnahme der Seele
_____________ 111 112 113 114 115 116 117
Simpl. in cat. 59, 5-35. Steel 1997, 119. Vgl. o. S. 80f. zu Philoponos’ Begründung der Homonymie. Simpl. in cat. 59, 7f. Prisc. in an. 82, 31-83, 5; 107, 18-27. Prisc. in an. 107, 30f. S. o. S. 82f.
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Aristoteles-Interpretation
befähigt und dass sie diesen geformten Leib bewegen und sich seiner bedienen kann, ohne auf dieselbe Weise wie er definiert zu sein118. Diese gebrauchende Seele ist also mit dem Leib untrennbar verbunden, bleibt aber doch von ihm so deutlich unterschieden, dass sie so wenig von ihm beeinflusst werden kann wie ein Benutzer von seinem Werkzeug und nicht nur die Seele ist, der gemäß (ƫƢƩ’ ʶƮ) sich das Lebewesen bewegt, sondern auch die Ursache, durch die (˞ƶ’ʸƲ) es das tut. Die erste Stufe der Formursächlichkeit ist die Voraussetzung aller Akte, die die Seele als Formursache der zweiten Stufe mit ihrem Körper vollzieht. Priskians Prinzip und Proklos’ Regel Betrachtet man dieses Prinzip Priskians vor dem Hintergrund des gedanklichen Systems des Neuplatonismus, dann scheint das Verhältnis der beiden Formursachen zueinander ein Problem zu schaffen. Denn offensichtlich muss ja die Formung des Organs seiner Benutzung durch die Seele zumindest logisch vorausgehen. Das würde allerdings bedeuten, dass ein ontologisch niedrigerrangiges Vermögen entscheidend dafür ist, dass ein ontologisch höherrangiges, weniger mit der Materie verbundenes Vermögen aktiv werden kann; demnach würde das System der zwei Entelechien der von oben nach unten reichenden neuplatonischen Seinshierarchie widersprechen. Priskian diskutiert dieses Problem nicht ausdrücklich, doch lässt sich aus dem Text ermitteln, wie wohl seine Lösung aussehen würde. Denn die Entstehung von bewegender Seele und bewegtem Lebewesen schildert er als einen einzigen, gleichzeitigen Schöpfungsakt der Seele119. Diese Gleichzeitigkeit müsste dazu führen, dass sich das oben genannte Problem so nicht stellt: Zwar stimmt es, dass der Körper die nötige Eignung mitbringen muss, damit die Seele ihn benutzen kann, doch hat er sie nie unabhängig von der Seele, sondern diese geht so in den Körper ein, dass die leib-seelische Einheit von Beweger und Bewegtem als ganze entsteht. Diese Lösung passt gut zu Aristoteles’ Feststellung, dass ein Körper überhaupt nur als belebter das Leben in Möglichkeit hat. Im neuplatonischen Kontext fällt allerdings auf, dass Priskian nicht auf ein Prinzip eingeht, das gerne zur Lösung von Schwierigkeiten in der gegenseitigen Abhängigkeit von Seinsstufen genutzt wird, nämlich die Regel, dass ein höherrangiges Vermögen prinzipiell weiter nach unten reichende Wirkun-
_____________ 118 Vgl. Prisc. in an. 62, 20f. 119 Prisc. in an. 52, 2-10.
Priskian von Lydien
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gen entfaltet als ein weniger hochrangiges120. Diese Annahme, die seit Olympiodor als „proklische Regel“ (ƫƢƮ̉ƮƒƱ̆ƫƬƦƪưƲ) bekannt ist121, würde eine einfache Erklärung von Priskians Ansatz ermöglichen: Zunächst formt die in ihrer geistigen Existenz befindliche Seele die weiter unten liegende Materie, und dann nimmt sie als auf den Leib bezogene Seele den so belebten Körper in Gebrauch. Dass Priskian diese Regel gar nicht erwähnt, mag daran liegen, dass er sich eher als auf Proklos auf Jamblich bezog, der Proklos’ Regel offenbar noch nicht kannte122. Von der Sache her ist es allerdings so, dass Priskian die systematischen Grundlagen dieser Regel einholt. Deren Begründung liegt nämlich darin, dass die Rezeptivität eines Körpers der Kraft des ihn formenden Prinzips entspricht123. Insofern spiegelt auch der durch die erste Entelechie geformte Körper bei Priskian die Formkraft seines Prinzips, nämlich der Seele als solcher wider, die dieselbe Kraft zeigt, wenn sie den so entstandenen Körper gebraucht. Etwaige Mängel an der Eignung des Körpers gehen folglich auf Mängel der formenden Kraft der Seele selbst zurück. Die rationale Seele als Entelechie Eine weitere Frage ist, welche Rolle die rationale Seele in diesem System spielen kann. Das neuplatonische Menschenbild lebt ja von der Möglichkeit, dass diese in ihrer eigentlichen Existenz vom Körper trennbar ist, so dass der Mensch auch in diesem Leben die Möglichkeit hat, sich von seinen leiblichen Bindungen zu lösen und sich für die Freiheit kontemplativer Erkenntnis zu entscheiden. Wie kann dieses Anliegen gewahrt werden, wenn Priskian das Verhältnis der rationalen Seele zum Körper prinzipiell ähnlich beschreibt wie das der übrigen Seelenvermögen, die als Bewegungs- und Benutzungsprinzipien mit ihrem Körper verbunden sind wie eine bestimmte Art von Formen? Priskians Formulierung zu diesem Punkt ähnelt in auffälliger Weise der Konzeption des Philoponos: „Aristoteles lehrt ja, dass jede Seelenart Entelechie des werkzeughaften Körpers ist, aber nicht jede gemäß jedem ihrer Vermögen“124. Auch Priskian nimmt also an, dass eine Seelenart, nämlich die rationale Seele, über mindestens ein Vermögen verfügt, das nicht an die Benutzung oder Bewegung des Körpers gebunden ist. Das
_____________ 120 121 122 123 124
Belege bei Lloyd 1990, 106 Anm. 10. Olymp. in Alc. 109, 17-21. Vgl. Olymp. in Alc. 110, 13-111, 1. Lloyd 1990, 107-110. ƌƢ̃Ý̀ƳƢƮƭ˿ƮƦˇƮƢƪƸƵƷ́ƮʟƮƴƦƬ̀ƷƦƪƢƮƴưͨˑƱƤƢƮƪƫưͨƳ̊ƭƢƴưƲÝƢƱƢƥ̄ƥƹƳƪƮ,ư˝Ý̀ƳƢƮ ƥ˿ƫƢƴ˽Ý̀ƳƢƮʠƢƵƴ͋Ʋƥ̈ƮƢƭƪƮ. Prisc. in an. 4, 38-5, 2.
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Aristoteles-Interpretation
sucht er mit seiner generellen Charakterisierung der Seele dadurch zu verbinden, dass er eine wesentlich komplexere Gliederung der Vermögen des menschlichen Geistes vorschlägt, als Philoponos und Proklos das tun. Er unterscheidet nicht nur das theoretische vom praktischen und das diskursive vom noetischen Denken, sondern baut eine differenzierte Stufenordnung auf: Während das diskursive Denken (ƥƪƢƮưƦ͙ƳƩƢƪ) ganz dem leibseelischen Wesen zuzuordnen ist, kommt dem noetischen Denken (ƮưƦ͙Ʈ) eine Sonderstellung innerhalb der Seele zu. Dieses Denken gehört nach Priskian zur sogenannten geistigen Seele (ʲ Ʈưƨƴƪƫ́ ƸƵƷ̂) und kann als primäres Denken (ƴ̅ÝƱ̆ƴƦƱưƮƮưƦ͙Ʈ) bezeichnet werden125. Dabei ist nicht vom transzendenten Geist die Rede, der ja nicht mehr Teil der menschlichen Seele ist, sondern von einem Element innerhalb dieser Seele, das aber nicht zum leib-seelischen Funktionssystem gehört126. Zu diesem „primären Denken“ rechnet Priskian wiederum zwei verschiedene Arten geistigen Erkennens, nämlich das ganz unveränderliche Denken (ƴ̅ ƭ̆ƮƪƭưƮƮưƦ͙Ʈ) und das Denken im (von der transzendenten Seele) hervorgebrachten Leben (ƴ̅ƫƢƴ˽ÝƱưƣưƬ́ƮƮưƦ͙Ʈ)127. Die erste Art ist nichts anderes als der „seinshafte Geist der Seele“ bzw. der „bleibende“ oder „seelische Geist“, den Priskian bei der Interpretation von III 4-5 ausführlich behandelt. Seine Aktivität ist eine reine noetische Erkenntnis, bei der Sein (ư˝Ƴ̄Ƣ) und Aktivität (ʟƮ̀ƱƤƦƪƢ) übereinstimmen (III 5, 430a 18), wodurch der transzendente Geist (˒ ʟƯ͉Ʊƨƭ̀ƮưƲƮưͨƲ) nachgeahmt wird128. Der empirischen Person näher steht die zweite Art, unter der wir ein noetisches Denken zu verstehen haben, das zwar zu der ihm eigenen Aktivität kein körperliches Werkzeug benötigt, aber trotzdem untrennbar (ʕƷ̊ƱƪƳƴưƲ) vom Körper ist, da seiner Erkenntnis stets „wie ein Schatten“ Bilder der Vorstellungskraft folgen129. Der rein rationale Charakter dieses Denkens, das nicht auf Sinneswahrnehmung und Vorstellungen rekurrieren muss, erklärt, warum Priskian es zur „geistigen Seele“ und nicht zur gebrauchenden Seele rechnet. Trotzdem gehört es offensichtlich zum „hervorgebrachten Leben“ (ʲ ƫƢƴ˽ ÝƱưƣưƬ́Ʈ Ƨƹ̂)130, d.h. zu dem Leben, das wir in unserem menschlichen Körper führen und das vom transzendenten Geist hervorgebracht wurde, der als die Ursache dieses Lebens nicht mit ihm identisch ist.
_____________ 125 126 127 128 129
Prisc. in an. 77, 32-34. Prisc. in an. 5, 14-21. Die beiden Bezeichnungen sind aus 77, 32f. rekonstruiert. Mehr dazu u. S. 229-232. Prisc. in an. 16, 23-30; 18, 21-24. Das Bild vom vorgestellten Schatten, der dem Denken folgt, findet sich bereits bei Plotin: enn. IV 3, 31, 10f. Dazu Gritti 2005, 257. Zu Priskians Position s. u. S. 361f. 130 Vgl. Prisc. in an. 77, 11-15.
Priskian von Lydien
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Diesem Schema entsprechend gehört also die geistige Seele mit ihren beiden Vermögen, bei denen der Geist ohne Einfluss von materiellen Dingen aktiv ist, nicht mehr zu der Seele, die als Entelechie den Körper entweder formt oder gebraucht, aber sehr wohl zu der Seele, die die menschliche Erkenntnis bestimmt. Später im Kommentar hält Priskian ausdrücklich fest, dass nur sie allein die Fähigkeit zur Selbsterkenntnis besitzt, weswegen er bei der Behandlung dieses Phänomens im zweiten Hauptteil der Arbeit noch einmal ausführlich thematisiert werden soll131. Die strukturellen Besonderheiten von Priskians Ansatz Die auch innerhalb der neuplatonischen Diskussion ungewöhnliche Komplexität des Bildes, das Priskian zeichnet, enthüllt der Vergleich mit Philoponos. Dieser hatte sich ja im Wesentlichen auf das Verhältnis der rationalen Seele zum beseelten Lebewesen beschränkt und sich damit im Rahmen des Menschenbildes aus Proklos’ 6JGQNQIKUEJGT'NGOGPVCTNGJTG bewegt132. Schematisch ergibt sich dabei folgendes Bild: 1. Eigentliche, rationale Seele = ƷƹƱƪƳƴͲƲƭƦƴƦƷ̆ƭƦƮưƮ 2. Nicht rationale und vegetative Seele = Seelenspur/ʕƷ̊ƱƪƳƴưƲƥ̈ƮƢƭƪƲ 3. Das beseelte Lebewesen = ƴ̅ƭƦƴ̀ƷưƮ Dagegen entwirft Priskian ein komplexeres Schema, das sich freilich auch als dreigliedrig rekonstruieren lässt: 1. Die geistige Seele 2. Die Zweite Entelechie bzw. gebrauchende Seele (rational, nicht rational, vegetativ) 3. Der durch die erste Entelechie bzw. formende Seele (rational, nicht rational, vegetativ) beseelte Körper bzw. das Lebewesen Die wichtigsten Unterschiede zu Philoponos sind, dass 1. innerhalb der menschlichen Seele nicht in erster Linie das rationale, nicht rationale und vegetative Leben unterschieden wird, sondern dass alle diese Arten seelischen Daseins Entelechie, und zwar auf beide genannte Weisen, sind, und dass 2. das diskursive Denken auch ontologisch klar dem mit dem Körper verbundenen Leben zugerechnet wird und insofern von der geistigen See-
_____________ 131 Prisc. in an. 218, 36-39; 227, 13-24. 132 Procl. elem. 80-82 (74, 27-75, 28). Dazu und zu Philoponos s. o. S. 59-63. Eine genauere Beschreibung der Seelenvermögen gibt Opsomer 2006.
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Aristoteles-Interpretation
le getrennt ist133, während Philoponos betont hatte, dass das eine geistige Sein verschiedene Vermögen hat134. Der Unterschied zu anderen Neuplatonikern betrifft interessanterweise nicht nur Proklos, Ammonios und Philoponos, sondern auch Priskians Vorbild Jamblich. Dieser unterscheidet in der Seele „ein doppeltes Leben“ (ƥƪƴƴ́Ƨƹ̂), insofern die Seele sowohl mit dem Leib als auch, in bestimmten Aktionen der rationalen Seele, getrennt von ihm agieren kann135. Das ist im Prinzip bereits das proklische Schema, dem zufolge der beseelte Leib das unterste Glied, die rationale Seele in ihrer eigentlichen Natur, durch die sie sich den Verstandesgegenständen zuwenden kann, aber das oberste Glied einer Dreierrelation ausmacht136. Terminologisch wird der Unterschied dadurch deutlich, dass Priskian den Ausdruck „doppeltes Leben“ zwar von Jamblich übernimmt, aber nicht auf die vom Leib getrennte und mit ihm verbundene Existenz der Seele bezieht, sondern auf die für sein Denken typischen zwei Arten von Entelechie, die Jamblich beide als Teil des Lebens der Seele mit dem Leib ansehen würde137. Es ist daher sehr wahrscheinlich, dass die Annahme der doppelten Entelechie ein Eigengut des Kommentators ist, und weist damit auf die Grenzen seiner Treue zu Jamblich hin. Neben dieser Lehrmeinung weist auch die Beschreibung der geistigen Aktivität selbst gewisse Unterschiede zu anderen neuplatonischen Positionen auf. In diesem Bereich herrscht zwar grundsätzliche Übereinstimmung in der Beschreibung des geistigen Umfelds der Seele, wo alle Autoren annehmen, dass die rationale Seele der unterste Bestandteil der geistigen Sphäre ist, die sich in einer steten Spannung nach dem Gesetz von Verharren, Hervorgehen und Rückkehr bewegt. Konkret stellt sie das untere Glied einer derartigen Triade dar, durch deren Mittelglied sie mit dem reinen transzendenten Geist verbunden ist138: 1. Reiner Geist (ƷƹƱƪƳƴ̅Ʋ,ʟƯƨƱ͊ƭƦƮưƲoderʕƭ̀ƩƦƫƴưƲƮưͨƲ) 2. Geist, an dem die Seele teilhat/Form der Seele (ƭƦƴƦƷ̆ƭƦƮưƲ oder ƭƦƩƦƫƴ̅ƲƮưͨƲ) 3. Rationale Seele (ƬưƤƪƫ́ƸƵƷ̂oderƬưƤƪƫ́ư˝Ƴ̄Ƣ) Allerdings sind auch hierzu zwei Unterschiede zu bemerken: 1. Man muss nach Priskian das unterste Element dieser Triade eher als geistige denn als
_____________ 133 Vgl. Prisc. in an. 77, 31-35:ƴ̅ƭ̀ƮƴƪƮưƦ͙Ʈƴ͋ƲƮưƨƴƪƫ͋ƲʟƳƴƪƸƵƷ͋Ʋ˅ƥƪưƮ […],ƴ̅ƥ̀ƴƪ ƮưƦ͙Ʈ,˔ÝƢƩƨƴƪƫ̅ƮʟƱƦ͙Ƴ̇ƮƶƢƮƴƢƳ̄̾ƤƪƮ̆ƭƦƮưƮ […], ƥƪƢƫƱ̄ƮƦƪƢ˝ƴ̅ʕÝ̅ƴưͨÝƱưƴ̀ƱưƵ. 134 S. o. S. 124f. 135 Iambl. myst. III 3, 106, 4-9; an. 10 (34, 12-16). 136 Iambl. an. 16 (40, 17-42, 26). 137 Prisc. in an. 87, 16; 90, 29-31; 227, 12-15. 138 Prisc. in an. 217, 23-35; 218, 29-31; vgl. Steel 1978, 123f.
Priskian von Lydien
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rationale Seele bezeichnen, so dass ihr Vermögen wesentlich eingeschränkter ist als bei Philoponos. 2. Priskian ist auch für die geistige Seele nicht der Meinung, dass es sich bei ihr um ein ontologisch stabiles Element handelt, das nur durch gewisse Aktivitäten mit dem Körper verbunden ist, während andere Aktivitäten rein geistig sind. Er hält sogar fest, dass nicht nur die rationale Seele – was hier unter Einschluss der sogenannten geistigen Seele zu verstehen ist –, sondern auch der Geist, an dem diese teilhat (ʲ ƬưƤƪƫ́ ƸƵƷ́ ƫƢ̃ ˒ ƭƦƴƦƷ̆ƭƦƮưƲ ˞Ý’ Ƣ˝ƴ͋Ʋ ƮưͨƲ), also das Mittelglied der Triade, nicht reine Form bzw. Entelechie genannt werden kann, da sie anders als der transzendente Geist nicht als vollständige, ganz ungelöste Einheit gelten können139. Diese Einbeziehung der Form der Seele in die Untersuchung scheint Priskians Denken in eine Aporie zu führen: Denn wenn schon dieser transzendente Geist nicht mehr uneingeschränkt zum noetischen Denken fähig ist, wie kann dann die menschliche Seele diese Fähigkeit besitzen? Denn weder sie noch der Geist, an dem sie teilhat, können offenbar die geistigen Objekte oder auch sich selbst erkennen, wenn nicht einmal die Idee der Seele das kann. Einen Hinweis darauf, warum dieses Problem seiner Meinung nach nicht auftritt, gibt Priskian bereits in seiner Einleitung. Es gehört zur Wesenheit der menschlichen rationalen Seele, dass ihr Sein sich mit ihrer Aktivität in gewissem Maße ändert, von der Priskian in traditioneller Weise annimmt, dass sie zeitweise auf geistige Objekte und zeitweise auf die sinnliche Welt bezogen ist140. Diese Feststellung verweist auf die von Carlos Steel analysierte Lehre von der Wandelbarkeit der Seele in ihrem Sein (ƫƢƴ’ư˝Ƴ̄ƢƮ), die im Mittelpunkt von Priskians Beschreibung geistiger Vermögen steht. Die Begründung und innere Struktur dieser Position kann aber erst bei der Untersuchung von Priskians Noetik dargelegt werden. Die Ideen der Einzelseelen Im Kontext des Verhältnisses von menschlichem Geist und der allgemeinen Sphäre des Geistes ist auch Priskians Annahme wichtig, dass jede Seele über eine eigene Form verfügt, d.h. über jeweils einen individuierten Geist, an dem sie teilhat. Priskian artikuliert dieses Prinzip zu Beginn seiner Auseinandersetzung mit dem Geist, erläutert es anhand der aus dem Stoizismus übernommenen Idee einer „eigentümlichen Qualität“ (ˁƥ̄ƹƲ
_____________ 139 Prisc. in an. 11, 14; vgl. auch 67, 1-32; 313, 1-30; in Theophr. 35, 2-23. Zum Verhältnis zu Jamblich vgl. Steel 1978, 153. 140 Prisc. in an. 6, 7-12; vgl. Steel 1978, 123-141.
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Aristoteles-Interpretation
Ýưƪ̆Ʈ)141 und hält fest, dass diese Form der Einzelseele das Element jedes Menschen ist, das die dauernde Identität seiner Person garantiert142. Damit gibt er eine bemerkenswert klare Antwort auf ein vieldiskutiertes Problem der Philosophie Plotins, bei der die Existenz solcher Einzelideen aufs Ganze gesehen ungelöst bleibt143. Das grundsätzliche Problem hier ist natürlich die Frage, wie überhaupt die Vereinzelung formal identischer unkörperlicher Dinge denkbar ist. Für die späten Neuplatoniker ist dieses Problem im Rahmen der triadischen Struktur der geistigen Welt lösbar: Die Formen der Einzelseelen befinden sich nicht auf der Ebene des reinen Geistes, sondern auf der des Geistes, an dem die Seele teilhat und durch den sie definiert wird. Hier setzt sich die Vervielfältigung fort, die bereits bei der Auflösung der ungetrennten Einheit des Einen in die Dynamik des Geistes hinein begonnen hat144. Man kann die spätneuplatonische Triadik als eine dynamisierte Fassung desjenigen Verhältnisses von einzelnem und allgemeinen Geist verstehen, das zunächst Plotin durch die Analogie der Wissenschaft dargelegt hat: Ebenso wie in jedem einzelnen Satz einer Wissenschaft „in Möglichkeit“ (ƥ̈ƮƢƭƦƪ), was man hier vielleicht mit „implizit“ erläutern könnte, die ganze Wissenschaft gegeben ist, so ist in jedem aktuell wirksamen (ʟƮƦƱƤƦ̄̾) einzelnen Geist der Gesamtgeist in Möglichkeit vorhanden145. Die Allgemeinheit des Geistes bildet also keinen Widerspruch zu einer Vielheit einzelner geistiger Formen, die vielmehr erst die Gesamtheit des Geistes konstituieren. Für die späteren Neuplatoniker war diese Aussage noch weniger problematisch als für Plotin, insofern die Einheit des Geistes ihnen generell gelockert schien (im Vergleich zu den Henaden), weil er „gemäß der Andersheit vom Sein der seienden Dinge unterschieden ist und die eigene Existenzweise ihnen gegenüber unvermischt bewahrt“146. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Eigenexistenz einer individuierten Seelenform, wie Priskian sie hier besonders deutlich betont147, ohne große Probleme annehmen und bedarf an dieser Stelle keiner besonderen Erläuterung.
_____________ 141 142 143 144
Zu diesem Konzept im Neuplatonismus vgl. Chiaradonna 2000. Prisc. in an. 217, 29-218, 7. Gerson 1994, 72-78 mit Verweisen auf weitere Literatur. Procl. elem. 23 (26, 22-28, 7); Dodds 21963, 210-212; Lloyd 1955, 62f.; Steel 1978, 129f.; De Rijk 1992, 19f. 145 Plot. enn. VI 2, 20, 1-29. Dazu ausführlich Tornau 1998b; Nikulin 2005, 286-291; Emilsson 2007, 202-207. 146 Procl. Theol. Plat. I 21 (97, 22-98, 12, Zitat 97, 24-98,1): ƒ˾ƬƪƮ ƥ˿ Ƣˣ ƫƢƴ˽ ƴ́Ʈ ʠƴƦƱ̆ƴƨƴƢ ƥƪƢƫƱ̄ƮƦƴƢƪ ƴ͋Ʋ ư˝Ƴ̄ƢƲ Ƣ˝ƴͲƮ [sc. ƴͲƮ ˕ƮƴƹƮ] ƫƢ̃ ƴ́Ʈ ˁƥ̄ƢƮ ˞Ý̆ƳƴƢƳƪƮ ʕƳ̈ƤƷƵƴưƮÝƱ̅ƲƢ˝ƴ˽ƥƪƢƶƵƬ˾ƴƴƦƪ. Dazu Lloyd 1990, 166f. 147 Am deutlichsten noch in Proklos’ Plotin-Paraphrase: Procl. in Plot. OD 32 (S. 5, Z. 1-4 Westerink).
Priskian von Lydien
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Übersehen werden darf dabei freilich nicht, dass die Beziehung auch eines solchen individuierten Geistes zur Seele einige strukturelle Schwierigkeiten aufweist. Sie ergeben sich besonders aus der Ewigkeit des Geistes, der auch für die individuelle Form der Seele zutreffen muss. Sie existiert folglich ganz unabhängig von einer konkreten körperlichen Existenz. Insofern dies ein zeitliches Vor- und Nacheinander einschließt, wenn die Seele einmal in die Welt eingetreten ist, bildet dies den Hintergrund für die von vielen Neuplatonikern angenommenen Lehre der Reinkarnation, die Priskian freilich nicht diskutiert. Problematischer noch ist die Frage, wie es überhaupt einen Kontakt zwischen zeitlicher Seele und ewigem Geist geben kann, die sich besonders scharf dann stellt, wenn man, wie die Neuplatoniker, eine zeitweilige geistige Existenz der Seele für möglich hält. Hierauf wird im zweiten Hauptteil dieser Arbeit noch näher eingegangen werden148. Abschließend sei bemerkt, dass die bis jetzt rekonstruierte Theorie Priskians leicht misszuverstehen ist149: Sie ist nicht nur in sich sehr komplex, sondern wird auch, gerade in der Einleitung, in sehr knappen Worten ausgedrückt. Außerdem werden die verschiedenen Arten seelischen Seins mit vielen verschiedenen Begriffen belegt, was auf den Leser leicht einen chaotischen Eindruck macht – obwohl eine genauere Analyse zeigt, dass Priskian ein recht exaktes Schema im Kopf hat. Viele seiner Begriffe sind zudem nur dann verständlich, wenn man bereits tiefer in die neuplatonische Terminologie und Aristoteles-Interpretation eingedrungen ist, etwa einige Anspielungen auf bestimmte Aristoteles-Stellen150. Das gilt noch mehr für die Zielsetzung des Textes in der zeitgenössischen Diskussion, bei der Aristoteles offenbar als Kronzeuge gegen eine Ansicht des Damaskios ins Feld geführt wird. Innerhalb des kleinen Kreises der damaligen Neuplatoniker war das sicherlich verständlich, für den heutigen Interpreten sind diese Anspielungen jedoch nur mühsam aufzufinden. Sie unterstreichen aber, dass es sich bei diesem &G CPKOC-Kommentar um einen systematischen Text handelt, und nicht einfach um eine Auslegung, die bestrebt ist, ihre systematischen Linien aus dem Text selbst zu entwickeln, wie das bei Philoponos durchaus der Fall ist.
_____________ 148 S. u. S. 394-398. 149 Zwei Beispiele dazu aus der Forschung bei Perkams 2003b, 70f. 150 Z.B. Prisc. in an. 4, 19f. auf II 1, 413a 6-9 oder 5, 2-5 auf III 4, 429a 29-b 5.
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Aristoteles-Interpretation
4. Die Auseinandersetzung mit Aristoteles’ Aussagen Diese in der Einleitung in knappen Worten dargelegte, zum Teil nur angedeutete Konzeption wird bei der Kommentierung des aristotelischen Textes weiter ausgeführt und verdeutlicht. Für den Gesamtzusammenhang besonders wichtig ist wiederum die Auslegung des Beginns des zweiten Buches von &G CPKOC, wo Aristoteles seine Lehre von der Seele als Entelechie darstellt. Die Seele als Lebensprinzip Priskian versteht dieses Kapitel als Erläuterung dessen, was die Seele in Verbindung mit dem Leib ist, nicht in ihrer eigenen transzendenten Natur. Gleich zu Beginn seiner Ausführungen erläutert er ähnlich wie Philoponos, dass „Seele“ ein homonymer Begriff ist, der zwar ganz verschiedene Dinge bezeichnet, aber doch von einem einheitlichen Gesichtspunkt her. Die Erklärung dafür ist die bereits dargelegte Tatsache, dass das, was als Seele bezeichnet wird, auf verschiedenen Stufen der Seinshierarchie einzuordnen ist. Daraus ergibt sich, dass die einzelnen Stufen seelischen Seins, nämlich die verschiedenen Weisen, auf die die Seele Formursache ist, „auch nicht nur innerhalb einer gemeinsamen Ebene (ƳƵƳƴư̄ƷƹƲ) voneinander getrennt sind, sondern dass auch in der Tiefe (ƫƢƴ˽ƣ˾ƩưƲ) ein sehr großer Unterschied zwischen ihnen besteht“151.
Trotzdem ist die Definition von Seele nicht völlig beliebig, da sie ganz allgemein durch ihre Fähigkeit begründet wird, den Körper von innen zu bewegen152. Bei Aristoteles findet der Kommentator eine etwas andere Definition von Seele, nämlich nach der Fähigkeit, einen Körper in seiner Art zu bestimmen (ƴ̅ Ƴ̊ƭƢƴưƲ ˒ƱƪƳƴƪƫ̆Ʈ). Diese Definition betrifft in Priskians Augen nur die Seele in den sterblichen Lebewesen, nicht ihre reine transzendente Form153. Doch ist sie nicht, wie man vermuten könnte, auf Priskians untere Seelenstufe bzw. die erste Formursache beschränkt, denn die Formungskraft der Seele und die Benutzung des so Geformten hängen unauflösbar zusammen und werden von einer Seele herbeigeführt154.
_____________ 151 Ƒ˝ƥ˿ ƳƵƳƴư̄ƷƹƲ ƭ̆ƮưƮ ʕƮƴƪƥƪƢƪƱưƵƭ̀ƮƹƮ, ʕƬƬ˽ ƫƢ̃ ƫƢƴ˽ ƣ˾ƩưƲ ÝƬƦ̄ƳƴƨƲ ưˡƳƨƲ ƥƪƢƶưƱ̀ƲʟƮƢ˝ƴƢ͙Ʋ. Prisc. in an. 82, 23f. 152 Prisc. in an. 81, 16f. 153 Prisc. in an. 86, 17-19. 154 Prisc. in an. 90, 29-34.
Priskian von Lydien
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„Denn jede Seele sterblicher Lebewesen ist ja auf beide Weisen Entelechie, sowohl weil sie nach Art des Lebendigen bewegt wird, als auch weil sie das Bewegende innerhalb des Lebewesens ist“155.
Priskian findet, mit reichlich Phantasie, diesen Gedanken im aristotelischen Text dadurch ausgedrückt, dass die Seele einerseits Entelechie des „werkzeughaften“ Leibes sei und dass dieser „in Möglichkeit Leben habe“ (II 1, 412a 27-b 1. 5f.). Denn die erste Formulierung deute mit dem Gebrauch als Werkzeug auch den Benutzer an, während die zweite nur die niedrigste Stufe des Lebens (ʟƳƷ˾ƴƨ Ƨƹ̂) bezeichne, wie die Erwähnung des möglichen Lebens verdeutliche156. An dieser Stelle fällt der Gegensatz von Priskians systematisch vorbestimmter Relecture zu Philoponos’ ausgewogener Interpretation besonders deutlich auf. Dagegen ähnelt Priskians Deutung der des Philoponos darin, dass er die Formulierung, der Leib habe „in Möglichkeit Leben“, auch auf den lebendigen Leib bezieht, der tatsächlich lebendig ist157. Er trifft diese für die Aristoteles-Interpretation wichtige Feststellung aber eher im Vorübergehen, und ohne sie am Text zu rechtfertigen. Offenbar ist in seinen Augen diese Interpretation, die Philoponos ausführlich erläutert und begründet, so klar, dass sie keiner weiteren Begründung bedarf; sie ist, wie einige Andeutungen bei Themistios zeigen158, älter als die spätneuplatonische Kommentierungstradition und wird wahrscheinlich seit Alexander zum Gemeingut der spätantiken &GCPKOC-Deutung gehören. Priskian lässt allerdings an anderer Stelle erkennen, dass die Unterscheidung eines lebendigen von einem nicht lebendigen Körper im Neuplatonismus auch systematisch wichtig ist, um klarzumachen, dass der Körper seine Belebung, und nicht erst seine Benutzung, durch die Seele erfährt: Denn sonst wäre er ja nur eine Zusammenstellung materieller Elemente, doch eine derartige Mischung kann nur den Stoff darstellen, aus dem die erste Entelechie als Formursache ein lebendiges Wesen macht159. Priskian greift hier auf Alexanders Ansicht zurück, dass die Seele etwas anderes ist als die Mischung der Elemente160, doch betrifft dieser Unterschied für ihn nur die Formung durch die erste Entelechie, während die Benutzung durch die zweite, also das eigentliche Sein der Seele, ohnehin eine vom Leib nicht durchgängig geprägte Existenzweise voraussetzt. Die neuplatonische Perspektive wird auch dann deutlich, wenn Priskian bei der Erklärung von II 1, 412a 20f.
_____________ 155 ƌƢ̃ Ƥ˽Ʊ Ý̀ƳƢ ƸƵƷ́ ʲ ƴͲƮ ƩƮƨƴͲƮ ƫƢƴ’ ʙƭƶƹ ʟƳƴ̃Ʈ ʟƮƴƦƬ̀ƷƦƪƢ, ʟÝƦƪƥ́ ƫƢ̃ ƧƹƴƪƫͲƲ ƫƪƮƦ͙ƴƢƪ,ƫƢ̃ƴ̅ƫƪƮưͨƮʩƮƥưƮ. Prisc. in an. 90, 34-36. 156 Prisc. in an. 90, 36-91, 4. 157 Prisc. in an. 87, 3-6. Zu Philoponos s. o. S. 95f. 158 Them. an. paraphr. 43, 8-14. 159 Prisc. in an. 52, 17-22. 160 Alex. an. 24, 21-25, 5; Blumenthal 1996, 15f.; Moraux 2001, 359.
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Aristoteles-Interpretation
Aristoteles’ Position in den Rahmen der Kosmologie einordnet: Die Rede von einem möglicherweise lebendigen Leib ist nur bei sterblichen Wesen sinnvoll, nicht bei Himmelskörpern; denn diese haben gegenüber ihren Seelen nicht die Stellung von Werkzeugen161. Zwischen dem Himmelskörper und seiner Seele nimmt Priskian demnach einen ähnlich engen Zusammenhang an wie Damaskios zwischen Körper und Seele162. Der Unterschied von Sein und Aktivität Priskians Beschreibung des inneren Zusammenhangs der verschiedenen Arten des Seelischen setzt die neuplatonische Vorstellung voraus, dass die Mannigfaltigkeit der Seelenfunktionen ein Ergebnis des Abstiegs der einen Seele in den Körper sowie der dabei vonstatten gehenden Entfaltung (ʕƮ̀ƬƪƯƪƲ163) der ursprünglichen Einheit in verschiedene Fähigkeiten ist. Dieser Prozess ist ein Teilschritt der Entfaltung der geistigen und sinnlichen Welt aus der Auffaltung der ursprünglichen Ungetrenntheit des Einen heraus. Daher sind alle Stufen dieses Prozesses, wie schon Plotin festhält, in gewisser Weise zugleich eines und vieles (ʪƮƫƢ̃ÝưƬƬ˾). Wieviele Elemente man in dieser Vielheit identifiziert, ist vor diesem Hintergrund nicht entscheidend164, da die geistige Welt nicht auf die Weise mannigfaltig ist, wie körperliche Dinge voneinander getrennt sind, deren Grenzen man feststellen kann. Daher übersieht Blumenthals Einwand, Priskians Erklärung der Einheit der Seele sei kaum mit seiner Annahme vereinbar, dass deren Stufen seinsmäßig voneinander verschieden sind165, schlichtweg den systematischen Hintergrund von Priskians Philosophie, vor dem seine Lösung gut verständlich ist. Ein besonderes Problem stellt die menschliche Seele für den Neuplatoniker allerdings insofern dar, als in ihr das Einheitsverhältnis, das im Geist immer noch dominiert und vorrangig ist, in der Seele aufgespalten ist, da sie Fähigkeiten besitzen muss, mit denen sie der Mannigfaltigkeit der Körperwelt mit ihren vielen Einzeldingen gerecht werden kann. Aufgrund dieser Grenzstellung der Seele ist es nicht überraschend, wenn man bei der Erschließung ihrer Struktur aus ihren Wirkungen heraus nicht zu einem abschließenden Ergebnis kommt, da die verschiedenen Aktivitäten der einen Seele insofern äußerlich sind, als sie von äußeren Notwendigkeiten bestimmt werden, die nicht von der eigenen Struktur dieser Seele bzw.
_____________ 161 162 163 164 165
Prisc. in an. 87, 6-12. S. o. S. 164f. Der Begriff fällt z.B. Prisc. in an. 92, 17. Klar formuliert bei Horn 2000, 97. Blumenthal 1996, 94.
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ihrer Teile abhängen166. Diese Zuwendung der Seele zu äußeren Gegenständen und das Entstehen von nach außen gerichteten Wirkungen ist das entscheidende Kennzeichen der Existenz der Seele im Vergleich zu der des Geistes, der als Einheit von Sein (ư˝Ƴ̄Ƣ) und Aktivität (ʟƮ̀ƱƤƦƪƢ) beschrieben werden kann. Nachdem bereits Aristoteles mit der Einheit dieser beiden Aspekte die Freiheit des aktiven Geistes von jedem Erleiden und jeder Vermischung mit der Materie begründet hatte (III 5, 430a 17f.), benutzte Plotin dieselbe Terminologie zur Erklärung der geistigen Dynamik der fünf obersten Gattungen aus Platons 5QRJKUVGU167 und führte sie so in den Neuplatonismus ein. Erst vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum Priskian die Unterscheidung von Sein und Aktivität zur Erklärung dafür einführt, dass Aristoteles die Seele nicht als Entelechie schlechthin, sondern als erste Entelechie bezeichnet (II 1, 412a 27), und welche Bedeutung diese Interpretation hat: Mit Aristoteles’ biologisch motivierter Formulierung sieht der Interpret das fundamentale Merkmal des Seelischen im neuplatonischen Sinne angesprochen. Schon wenn die Seele eine einzige Aktivität hat, die nicht auf sie selbst gerichtet ist, ist sie nicht mehr einheitlich und unteilbar, sondern zumindest zweigeteilt, erste Entelechie in dem Sinn, dass sie sich von einer reinen transzendenten Entelechie unterscheidet168. So verstanden, bezeichnet Aristoteles’ Seelendefinition für Priskian ganz allgemein die Seele in ihrer Mittelstellung zwischen den reinen, ungeteilten Formen und den in vielerlei Weise geteilten Körpern, wobei sie die Unteilbarkeit zugleich bewahrt und auch verliert: „Deswegen wird auch ihr Unsterblich-Sein dann in seiner Gänze von SterblichSein erfüllt und bleibt nicht ausschließlich unsterblich; und ihr UnveränderlichSein befindet sich irgendwie in Veränderung, so wie auch ihr Unteilbar-Sein aufgeteilt ist“169.
Anders als Blumenthal meint170, lässt Priskian Aristoteles’ Rede von der Seele als erster Entelechie des Körpers also nicht unberücksichtigt171, sondern er sieht sie als Erklärung des Hauptmerkmals seelischer Existenz in seinem Sinne. Aristoteles’ Definition der Seele bezeugt deren Mittelstellung in der radikalen Weise, die bereits in Priskians Einleitung deutlich
_____________ 166 167 168 169
Vgl. Prisc. in an. 288, 3-289, 7. Plot. enn. VI 2, 8, 11-18. Prisc. in an. 88, 37-89, 12. ˜ƩƦƮ ƫƢ̃ ƴ̅ ʕƩ˾ƮƢƴưƮ Ƣ˝ƴ͋Ʋ ƴ̆ƴƦ ʕƮƢÝ̄ƭÝƬƢƴƢƪ ƴưͨ ƩƮƨƴưͨ ƫƢƴ˽ Ý̀Ʈ ʠƢƵƴ̆, ƫƢ̃ ư˝ ƭ̀ƮƦƪƭ̆ƮưƮʕƩ˾ƮƢƴưƮ,ƫƢ̃ƴ̅ʕƤ̀ƮƨƴưƮƤƪƮ̆ƭƦƮ̆ƮÝƹƲƴƵƤƷ˾ƮƦƪ˕Ʈ,ˮƲƫƢ̃ƴ̅ʕƭ̀ƱƪƳƴưƮ Ƣ˝ƴ͋ƲƭƦƱƪƧ̆ƭƦƮưƮ. Prisc. in an. 90, 20-27, Zitat 21-24. 170 Blumenthal 1996, 96. 171 Vgl. auch seine Übernahme des Arguments über das Entelechie-Sein der vegetativen Seele Prisc. in an. 88, 31-37; s. o. S. 78.
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geworden war: Selbst in ihrer größtmöglichen Verschiedenheit vom Körper ist die Seele nicht identisch mit dem unsterblichen Geist, als der sie getrennt von ihm existieren würde. Die Seele als Wirkursache Trotz dieser Unterschiedenheit von ihrem transzendenten Sein ist die Seele eines Lebewesens die konstitutive Ursache von dessen Existenz. Denn der Prozess der Bildung des Lebewesens vollzieht sich, indem die Seele sich aus der vorhandenen Materie einen Körper erschafft, der für ihr Leben geeignet ist. In diesem Sinne schreibt Priskian Aristoteles’ Lehre eine Bedeutung zu (II 4, 415b 21-416a 18), die Seele, und zwar die eigentliche Seele, d.h. die gebrauchende, zweite Stufe der Entelechie, sei nicht nur die Form-, sondern auch die Wirk- (Ýưƪƨƴƪƫ̅ƮƢ˅ƴƪưƮ) bzw. Konstitutionsursache (˞ÝưƳƴƢƴƪƫ̅Ʈ Ƣ˅ƴƪưƮ) des so entstehenden Wesens172. Wirkursache ist sie dabei insofern, als sie in der körperlichen Welt des Werdens und Vergehens aktiv ist, in der sie ihren Leib neu schafft173. In gewisser Weise ist die Unterscheidung von Wirk- und Form- bzw. Zielursache durch die Teilung der Seele in Sein und Aktivität bedingt. Denn dadurch entsteht im Geist ein aktives, wirkendes und ein gleichsam passives Element (III 5, 430a 10-15), von denen das eine den Prozess des Hervorgehens bewirkt, der zur Beseelung der Körper führt (ʲÝƱư˾ƤưƵƳƢƧƹ̂), während das zweite Element dieser Prozess selbst ist (ʲ ÝƱưƺưͨƳƢ Ƨƹ̂), nämlich die Formung des Körpers als dessen erste und zweite Entelechie174. Die Entfaltung der Seele im Körper Nach der ersten und grundlegenden Entfaltung der Einheit der Seele in die Vielheit setzt sich der Prozess der Ausbildung vielfältiger Fähigkeiten fort. Priskian erläutert ihn, wenn er Aristoteles’ Aussage erklärt, die Seele könne nicht mit einem beliebigen Körper in Verbindung treten, sondern dieser müsse zu ihr passen (I 3, 407b 12-26): Die gebrauchende Seele wirkt in dem Körper, der geeignet (ʟÝƪƴ̂ƥƦƪưƮ) ist, sie aufzunehmen175, da er zuvor auf eine Weise geformt wurde, die dieser benutzenden Seele ähnlich ist, nämlich von der Formursache der ersten Stufe. Diese notwendige
_____________ 172 Prisc. in an. 70, 28-34; 87, 32; vgl. zu Aristoteles’ Position o. S. 394. 173 Prisc. in an. 112, 5-12. 174 Prisc. in an. 312, 13-15. Vgl. zur dynamischen Beziehung dieser Arten des Geistes u. S. 215-222 und 383-394. 175 Prisc. in an. 51, 12-16.
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Ähnlichkeit der gebrauchenden Seele und des für ihren Gebrauch geformten Werkzeugs findet Priskian in Aristoteles’ Bemerkung angedeutet, dass die Seele sich wie die Baukunst zu Flöten verhalten würde, wenn ihr Körper nicht zu ihr passte (I 3, 407b 24f.)176. Diese Passage zeigt, in welchem Verhältnis Priskians eigene Theorie zu der des Aristoteles steht: Aussagen, die dieser über das Verhältnis des Körpers zur Seele macht, bezieht Priskian darauf, wie sich ein aus Leib und einer Formursache der ersten Stufe bestehendes Lebewesen zur zweiten Stufe der Beseelung verhält, die durch die gebrauchende bzw. bewegende Seele bewirkt wird. Die Art der Beseelung, die, als Lebensprinzip eines lebendigen Körpers, Aristoteles’ eigener Lehre von der Entelechie am nächsten steht, wird dem zugerechnet, was Aristoteles selbst einfach Körper nennt, nämlich dem werkzeughaften Leib, der der Möglichkeit nach Leben hat. Die eigentliche Seele tritt mit diesem Körper nur so in Verbindung, dass der Unterschied zwischen beiden deutlich erkennbar bleibt. Das heißt freilich nicht, dass Priskian den notwendigen Zusammenhang der gebrauchenden Seele mit ihrem Körper aufhebt: Wenn er das hylemorphistische Verhältnis beider zueinander als ein platonisches Teilhabe-Verhältnis beschreibt, dann ist die gebrauchende Seele das, an dem teilgehabt wird (ƴ̅ƭƦƴƦƷ̆ƭƦƮưƮ)177. Sie hat in dieser Hinsicht die Rolle des mittleren Gliedes einer Triade, das als bestimmter Faktor des unteren Teils eher zu diesem gehört als zu dem oberen Element, an dem nichts teilhat178. Das gilt auch für den Geist, soweit er zu diesem Kompositum gehört: Zwischen ihm und dem Leib des vernunftbegabten Lebewesens entsteht eine so enge Beziehung, dass beide, Werkzeug und Benutzer, zu einer Natur zusammenwachsen (ƳƵƭƶƵͲƲ) und gemeinsame Bewegungen vollziehen (ƭ̆Ʈ͉ ˒Ʊƭ͌)179. Denn, so Priskian, die Formursachen beider sind nicht voneinander getrennt, sondern stammen aus derselben Quelle, so dass aus dem werkzeughaften Lebewesen und der benutzenden Seele eine seinshaft gemeinsame Natur (ư˝Ƴƪ̊ƥƨƲ Ƴ̈ƭƶƵƳƪƲ) entsteht. Das ist auch der Grund dafür, dass das Verhältnis von Seele und Körper von dem eines Benutzers zu einem technisch verfertigten Werkzeug unterschieden ist180. Auch für Priskian bezeichnet Aristoteles’ Rede vom Werkzeug also in erster Linie die natürliche Ausstattung eines Lebewesens mit den Fähigkeiten, die erforderlich sind, um seine Lebensziele innerhalb der Welt
_____________ 176 177 178 179 180
Prisc. in an. 51, 28-52, 1. Prisc. in an. 52, 13-17. Vgl. die Schemata o. S. 175-177 und die Bemerkungen bei De Rijk 1992, 19. Prisc. in an. 87, 31f. Prisc. in an. 52, 35-53, 1.
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zu verwirklichen. Das entspricht sachlich der Interpretation des Philoponos181. Rationale und nicht rationale Seelen Die Verbindung der Seele mit dem beseelten Körper erklärt Priskian so, dass der Körper durch seine Formursache, also die erste Entelechie, der Bewegungsursache bzw. zweiten Entelechie ähnlich wird. „Aber er muss nicht nur so ähnlich werden wie ein Bewegtes zu etwas Bewegendem, sondern zu etwas auf eine bestimmte Weise Bewegenden, z.B. durch Sinneswahrnehmung (ƢˁƳƩƨƴƪƫͲƲ) oder durch Vernunft (ƬưƤƪƫͲƲ)“182.
Demnach macht die erste Formursache aus den physischen Körpern ein bestimmtes Lebewesen in seiner körperlichen Existenz, im Falle des Menschen also ein zweifüßiges Wesen mit entsprechenden Organen, vor allem einem Gehirn, das die Möglichkeit zu denken hat183, usw., im Falle eines Pferdes ein vierfüßiges Wesen mit den Organen, die für ein Leben als Pferd notwendig sind. Obwohl man also bei jedem Lebewesen beide Stufen der Beseelung unterscheiden kann184, unterscheidet sich die menschliche Seele von den Seelen der Tiere doch deutlich, denn sie tritt aus einer immateriellen (ʙƵƬưƲ), von jedem Körper getrennten Existenz heraus in Verbindung mit dem Körper und ist daher unsterblich, auch wenn ihre mit dem Körper verbundene Aktivität mit dem Tod des Menschen endet185. Diese unterschiedliche Wirkung der einzelnen Seelen hängt damit zusammen, dass die Unterscheidung zwischen gebrauchender und formender Seele nicht mit der zwischen rationaler, nicht rationaler und vegetativer Seele einhergeht: Eine rationale Seele beseelt ihren Körper insgesamt durch eine rationale Seelenspur und eine nicht rationale Seele den ihren insgesamt durch eine nicht rationale Seelenspur. Voraussetzung dafür ist, dass die verschiedenen Seelenvermögen sich nicht erst dann miteinander verbinden, wenn sie einen Körper beleben, sondern dass sie verbunden sind, bevor die Seele in diesen eintritt und auch nachdem sie ihn verlassen hat. Wie das möglich ist, erklären die Neuplatoniker anhand der Theorie vom Seelenwagen (˕ƷƨƭƢ), die bereits anlässlich von Philoponos’ Behandlung des pneumatischen Körpers dis-
_____________ 181 S. o. S. 93-95. 182 ʝƬƬ’ ư˝Ʒ ˮƲ ƫƪƮư̈ƭƦƮưƮ ƫƪƮưͨƮƴƪ ƭ̆ƮưƮ ˮƭưƪͲƳƩƢƪ ƥƦ͙, ʕƬƬ˽ ƫƢ̃ ˮƲ ƴưƪͲƳƥƦ ƫƪƮưͨƮƴƪ, ưˈưƮƢˁƳƩƨƴƪƫͲƲʳƬưƤƪƫͲƲ. Prisc. in an. 52, 9f. 183 Prisc. in an. 57, 23-29. 184 Prisc. in an. 59, 12-14. 185 Prisc. in an. 59, 14-21.
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kutiert wurde186. Anders als Proklos und Philoponos nimmt Priskian allerdings nur ein Seelenfahrzeug an187: „Es ist auch nicht verwunderlich, wenn unseren verschiedenen Lebensformen derselbe Wagen zugrundeliegt, wo er doch auch der rationalen Seele zugrundeliegt“188.
Da es in dieser Passage um Sinneswahrnehmung und Vorstellungskraft geht, sieht Priskian alle drei Vermögen offenbar auch außerhalb unseres Körpers als verbunden an. „Denn zu Wahrnehmung und Vorstellungskraft ist auch unser ätherischer Seelenwagen befähigt“, und nicht nur unser irdischer Körper189, betont er an anderer Stelle. Diese Begründung für die Annahme nur eines Seelenwagens zeigt deutliche Spuren der von Proklos und Damaskios überlieferten Meinung Jamblichs, neben der rationalen Seele seien auch die nicht rationale und ihr Seelenfahrzeug unsterblich190. Ebenso wie Jamblich191 nimmt Priskian allerdings auch an, dass die rationale Seele ganz abgetrennt von jedem Körper existiert und sich erst in zweiter Linie mit den „körperartigen Lebensformen“ (ƴƢ͙ƲƳƹƭƢƴưƦƪƥ̀ƳƪƧƹƢ͙Ʋ), d.h. den vegetativen und nicht rationalen Seelenvermögen, vereinigt192. Daher erhält die rationale Seele erst dann ein Seelenfahrzeug, wenn sie eine Einheit mit der nicht rationalen eingeht. Der Unterschied zu Proklos und Philoponos liegt also näherhin darin, dass diese die rationale Seele mit einem eigenen, unsterblichen Seelenfahrzeug ausstatten – das auch noch die Idealformen (ʕƫƱ̆ƴƨƴƦƲ) der nicht-rationalen Seele enthält und damit deren Unsterblichkeit wahrt193 – und die nicht rationale mit dem prinzipiell sterblichen pneumatischen Fahrzeug verbunden sein lassen. Jamblich und Priskian verzichten auf dieses höhere Fahrzeug und gewinnen damit die Möglichkeit, die Verbindung der nicht rationalen und rationalen Lebensformen als Einheit in dem einen Seelenwagen zu beschreiben.Für Priskian ist außerdem wichtig, dass er den funktionalen Zusammenhang der verschiedenen Erkenntnisvermögen der Seele miteinander erklären kann. Eine Voraussetzung dafür ist,
_____________ 186 S. o. S. 53. 187 Blumenthal 1992, 178; 180; 182f.; Blumenthal 1996, 98. 188 ƌƢ̃ư˝ƩƢƵƭƢƳƴ̅ƮƦˁƴ̅Ƣ˝ƴ̅˕ƷƨƭƢƴƢ͙ƲƥƪƢƶ̆ƱưƪƲʲƭͲƮ˞Ý̀ƳƴƱƹƴƢƪƧƹƢ͙Ʋ,˖ÝưƵƤƦƫƢ̃ ƴ͌ƬưƤƪƫ͌ʲƭͲƮƧƹ͌. Prisc. in an. 213, 37-214, 1. Dass dieses an der u. Anm. 194 zitierten Stelle „stärkerer Seelenwagen“ (ƴ̅ƫƱƦ͙ƴƴưƮ˕ƷƨƭƢ) heißt, erklärt sich aus der Unterscheidung zum materiellen Körper, der für die Neuplatoniker auch ein Seelenfahrzeug ist. 189 Prisc. in an. 17, 16f. 190 Procl. in Tim. 3, 234, 32-235, 1 (= Iambl. in Tim. frg. 81 Dillon); Dam. in Phaed. 177, 4f.; Blumenthal 1992, 182f. 191 Zu seiner Position vgl. Dillon 1973, 371-377; Zambon 2005, 310-323. 192 Prisc. in an. 76, 35-77, 11; 287, 16-22. 193 Procl. in Tim. 3, 236, 31-237, 6; Dillon 1973, 374.
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dass „sich auch der stärkere Wagen mit der Seele zusammen in den sterblichen Körper hinein ausdehnt“194, dass also auch der pneumatische Leib Teil der Einheit unseres Körpers mit der rationalen Seele wird195. Eine Erklärung dafür, wie sich der pneumatische Körper mit dem irdischen verbindet, bleibt Priskian allerdings schuldig. Aufgrund dieser Ausführungen kann man auch vermuten, dass Priskian, ebenso wie Jamblich, aufgrund der Annahme eines Wesensunterschieds zwischen rationalen und nicht rationalen Seelen196 die Wiedergeburtslehre nicht in der Form vertreten hat, dass einzelne Seelen sich abwechselnd mit menschlichen und mit tierischen Körpern verbinden können197. Nach der Begründung, die unser wichtigster Zeuge für Jamblichs Meinung, der christliche Philosoph Nemesios von Emesa, für dessen Ansicht gibt, hätte der Demiurg diese Seelen direkt mit allen für ihr Überleben nötigen Fähigkeiten in die entsprechenden Lebewesen gesetzt198. Jamblich soll seine Position damit begründet haben, dass eine rationale Seele in einem Tierkörper überflüssige Fähigkeiten besitze, die sie nicht benötige199. Dieses Argument ist, wenn auch bei Nemesios teilweise in christlichen Begriffen formuliert, interessanterweise eine der beiden Regeln zur Feststellung der Trennbarkeit von Seelen von ihrem Körper, die Philoponos aus der Tradition der Seelenlehre übernimmt200. Nemesios scheint hier auf eine neuplatonische Schultradition zurückzugreifen, die auch Priskian vielleicht angeführt hätte. Dass dieser selbst zur Frage des Ursprungs und Weiterlebens der nicht rationalen Seelen schweigt, wird wohl daran liegen, dass er derartige Probleme bereits in seiner Einleitung aus dem Thema des aristotelischen Werkes ausgeschlossen hatte201. Die Doppelnatur der rationalen Seele Eine entscheidende Frage für eine neuplatonische Interpretation der Entelechie-Lehre ist, wie sich bereits bei Philoponos gezeigt hat, das Problem der Verbindung der rationalen Seele mit dem Körper. Priskians generelle Aussagen zur Gliederung der Seelenvermögen haben hierzu bereits deut-
_____________ 194 ƌƢ̃ƴ̅ƫƱƦ͙ƴƴưƮ˕ƷƨƭƢƳƵƤƫƢƴƢƴƦƪƮ̆ƭƦƮưƮƴ͌ƸƵƷ͌ƦˁƲƴ̅ƩƮƨƴưƦƪƥ˿ƲƳͲƭƢ. Prisc. in an. 74, 2f. 195 Prisc. in an. 214, 1f. 196 Nem. nat. hom. 117f. (35, 4-11); Dillon 1973, 45f. 197 Dazu z.B. Gerson 1994, 209f. 198 Nem. nat. hom. 120f. (36, 11-21). 199 Nem. nat. hom. 119f. (35, 20-23; 36, 6-10). Vgl. Deuse 1983, 132; 163. 200 S. o. S. 64. 201 Prisc. in an. 3, 29-4, 11
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lich gemacht, dass dieses Verhältnis alle rationalen Vermögen irgendwie betrifft, aber doch auf sehr unterschiedliche Weise: Als gebrauchende Seele ist das diskursive Denken eine Art Entelechie, das noetische als geistige Seele dagegen nicht, obwohl auch sein Sein durch die Lage im Körper beeinflusst wird. Der innere Zusammenhang dieser Positionen wird bei der Erklärung von II 1, 413a 3-9 besonders deutlich: „Durch diese Aussage zeigt Aristoteles, dass jeder Seele der sterblichen Lebewesen, um welche es hier geht, das vom Körper Untrennbar-Sein (ƴ̅ Ƴ̊ƭƢƴưƲ ʕƷ̊ƱƪƳƴưƮ), und dass der rationalen Seele auch das Trennbar-Sein (ƴ̅ƷƹƱƪƳƴ̆Ʈ) zukommt, und dass das Untrennbar-Sein auf mehrfache Weise (ÝƬƦưƮƢƷͲƲ) besteht. Und außerdem, dass dann, wenn dasselbe sowohl trennbar als auch untrennbar ist, dieses nicht geteilt (ƭƦƱƪƳƴ̆Ʈ) sein wird, so dass es die entgegengesetzten Eigenschaften in verschiedenen Teilen enthält, sondern auf andere Weise, und nicht wie die Körper geteilt ist“202.
Demnach soll Aristoteles aussagen, dass jede Seele vom Körper untrennbar ist, obwohl es für Teile auch anders aussehen kann (3-6). Mit diesen Teilen ist nach Priskian gemeint, dass die rationale Seele „sowohl als ganze fließt und in den Körper hervorgeht und ihn als dienendes Werkzeug gebraucht, als auch als ein bestimmter Teil, weil sie auch jetzt das Dauerhaft-Sein (ƴ̅ ƭ̆ƮƪƭưƮ) besitzt, und weil dieser dauerhafte Teil abgetrennt ist“203.
Dieser Satz braucht nicht, wie der Herausgeber Michael Hayduck und der Übersetzer John Urmson meinen, korrigiert zu werden, sondern die paradoxe Formulierung ist genau Priskians Meinung: Aristoteles legt sich deswegen nicht klar darauf fest, ob die ganze Seele oder nur Teile von ihr vom Körper untrennbar sind, weil beides richtig ist. Sie ist als ganze untrennbar, weil sie ganz in die Verbindung mit dem Körper eingeht (8f.)204. Trotzdem verliert sie ihre Natur als reine Form nicht, und behält auch im Körper prinzipiell die Fähigkeit, ohne diesen zu erkennen205, so dass Aristoteles zu Recht sagen kann, dass nur Teile von ihr Entelechie des Körpers werden. Trotz Priskians Ablehnung von Plotins Annahme, dass ein
_____________ 202 Ɔƪ˽ ƴưͨƥƦ ƴưͨ ͧƨƴưͨ ˖ƴƪ ƫƢ̃ Ý˾Ƴ͉ ƴͲƮ ƩƮƨƴͲƮ ƸƵƷ͌, ÝƦƱ̃ ʸƲ ˒ Ƭ̆ƤưƲ, ƴ̅ ʕƷ̊ƱƪƳƴưƮ Ƴ̊ƭƢƴưƲÝƱưƳ̂ƫƦƪ,ƫƢ̃˖ƴƪƴ͌ƬưƤƪƫ͌ƫƢ̃ƴ̅ƷƹƱƪƳƴ̆Ʈ,ƫƢ̃˖ƴƪÝƬƦưƮƢƷͲƲƴ̅ʕƷ̊ƱƪƳƴưƮ ʟƮƥƦ̄ƫƮƵƴƢƪ. ƫƢ̃ ÝƱ̆Ʋ ƤƦ ˖ƴƪ ư˝ƫ Ʀˁ ƴ̅ Ƣ˝ƴ̅ ƫƢ̃ ƷƹƱƪƳƴ̅Ʈ Ʀ˅ƨ ƫƢ̃ ʕƷ̊ƱƪƳƴưƮ, ƭƦƱƪƳƴ̅Ʈ ʩƳƴƢƪ, ˆƮƢ ƫƢƴ˽ ƥƪ˾ƶưƱƢ ƭ̀Ʊƨ ʩƷ͉ ƴ˽ ʕƮƴƪƫƦ̄ƭƦƮƢ, ʕƬƬ’ ʪƴƦƱưƮ ƴƱ̆ÝưƮ ƫƢ̃ ư˝Ʒ ˮƲ ƴ˽ Ƴ̊ƭƢƴƢ˕ƮƭƦƱƪƳƴ̆Ʈ. Prisc. in an. 94, 28-33. 203 Ƒˢƴƹƥ˿ƫƢ̃ʲ˖ƬƨƳƹƭ˾ƴƹƮʕƷ̊ƱƪƳƴưƲƬ̀ƤƦƴƢƪʳƭ̀ƱƨƴƪƮ˾,ʟÝƦƪƥ́ƫƢ̃ƴư̈ƴƹƮʠƫ˾ƴƦƱ̆Ʈ ÝƹƲʕƬƨƩ˿ƲʟÝ̃ƴ͋ƲƬưƤƪƫ͋Ʋ,˖ƬƨƲƴƦͧƦÝư̈ƳƨƲƫƢ̃ÝƱưƺư̈ƳƨƲƦˁƲƳͲƭƢƫƢ̃ˮƲˑƱƤ˾ƮͰ Ƣ˝ƴͳ ˞ÝƦƱƦƴưͨƮƴƪ ƷƱƹƭ̀ƮƨƲ, ƫƢ̃ Ƣˣ ƭ̀ƱưƵƲ ƴƪƮ̅Ʋ ˮƲ ƫƢ̃ ƮͨƮ ʩƷưƵƳƨƲ ƴ̅ ƭ̆ƮƪƭưƮ, ƫƢ̃ ƴư̈ƴưƵ˕ƮƴưƲƷƹƱƪƳƴưͨ. Prisc. in an. 95, 2-6. 204 Prisc. in an. 96, 3-10. 205 Grammatisch sind also ˖ƬƨƲƴƦ und ƫƢ̃Ƣˣ parallel, während ˮƲ einen neuen Begründungssatz einleitet, dessen Subjekt nicht der Teil, sondern die Seele ist.
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Teil der Seele im Bereich der reinen Formen verbleibt206, behält die Seele auch ihm zufolge ihre Ewigkeit und Unveränderlichkeit, während sie einen Menschen belebt und vollendet (II 1, 413a 6f.)207. Mit dieser Theorie versucht Priskian den Balanceakt ernstzunehmen, der das Herz der neuplatonischen Seelenlehre darstellt, indem die Seele als Bestandteil des intelligiblen Kosmos und zugleich als Lebensprinzip in der sichtbaren Welt angesehen wird. Während der erste Teil dieser Dichotomie von Plotin besonders betont und auch von Proklos und Philoponos hochgehalten wurde, indem sie die transzendente Natur der rationalen Seele betonen208, misst Priskian dem zweiten Aspekt das gleiche Gewicht zu: Die Seele muss bei aller Konstanz dem Prozess der Veränderung so unterworfen sein, dass kein Aspekt von ihr ganz davon frei bleibt. Die Einheit der menschlichen Seele Einen Prüfstein für eine Theorie, die diese Spannung aushalten will, stellt die Annahme der Einheit der Seele dar, die so disparate Vermögen besitzt. Priskian äußert sich dazu bei der Interpretation von Aristoteles’ Aussagen zur Einheit der Seele am Ende des ersten Buches von &GCPKOC (I 5, 411a 26-b 27). Er beginnt mit einer Darstellung seiner systematischen Position, die er nach dem Prinzip der Harmonie Aristoteles ebenso wie Platon zuschreibt209. Demnach ist ein Grund für die Einheit der Seele, dass sie sonst nicht das Lebensprinzip des Körpers sein könnte210. Ein zweites Argument besteht in der Erfahrungstatsache, dass jeder Mensch sich als die Ursache verschiedener seelischer Fähigkeiten erfährt („Ich habe gedacht, ich habe wahrgenommen, ich bin zornig geworden, und ich habe erstrebt“)211. Diese Einheit der Erfahrung äußert sich vor allem darin, dass wir eine Übereinstimmung der Erkenntnisse unserer verschiedenen Vermögen oder deren Fehlen feststellen212. Das wäre nicht möglich, wenn unsere Seele nicht eine wäre. Im Rahmen der neuplatonischen Argumentationsweise überrascht dieses Argument dadurch, dass es unmittelbar auf unsere Selbsterfahrung zurückgreift. Das war allerdings nicht erst Priskians Erfindung, sondern auch Proklos hatte schon aus der Einheit des „Ich“ auf die Ein-
_____________ 206 207 208 209 210 211 212
Prisc. in an. 6, 8-15. Prisc. in an. 95, 24-27. S. o. S. 59-63. Prisc. in an. 76, 35-77, 8. Prisc. in an. 76, 17-19. ʫƤ̉ʟƮ̆ƨƳƢƫƢ̛̃ƳƩ̆ƭƨƮƫƢ̃ʟƩƵƭ̊ƩƨƮƫƢ̃˭Ʊ̀ƷƩƨƮ. Prisc. in an. 76, 19-21, Zitat 20. Prisc. in an. 78, 6-8.
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heit der Seele geschlossen213. Zudem besteht für Priskian das eigentliche Argument nicht in der Evidenz der Erfahrung, sondern diese bildet lediglich den Hintergrund, vor dem die eigentliche Argumentation plausibel wird. Denn damit aus der Erfahrung auf eine ontologische Tatsache geschlossen werden kann, ist ihm zufolge der Nachweis nötig, dass eine solche Einheit überhaupt sinnvoll gedacht werden kann. Diesen liefert Priskian durch eine grundsätzliche Reflexion auf die Möglichkeit der Einheit unkörperlicher Dinge: Anders als die Verbindung körperlicher Teile zu einem Ganzen, bei der ein kontinuierlicher Zusammenhang (ƳƵƮ̀ƷƦƪƢ) räumlich weiterhin getrennter Elemente bestehen müsse, sei zwischen unkörperlichen Seinsformen eine Vereinigung möglich, bei der die einzelnen Elemente unteilbar (ʕƭƦƱ̄ƳƴƹƲ) miteinander zu einem Ganzen verbunden seien214. Mit dieser Annahme hatten bereits Proklos und vermutlich auch Porphyrios215 gezeigt, warum für Platon die Einheit seiner drei Seelenteile kein Problem darstelle. Denn unkörperliche Gegenstände könnten sich, anders als Körper, „unvermischt vereinigen“ (ʕƳƵƤƷ̈ƴƹƲ ʲƮƹƭ̀ƮƹƮ). Priskian verdeutlicht dies weiter durch ein Argument aus der aristotelischen Tradition, nämlich das bereits anlässlich von Philoponos’ Einleitung erörterte Gegenteil-Argument, dem zufolge etwa beim Sehen zwei verschiedene Gehalte, weiß und schwarz, gleichzeitig aktuell gegenwärtig sind, was nicht vorstellbar wäre, wenn beide körperliche Ausdehnung besäßen216. Diese Beobachtung aus dem leichter erkennbaren Bereich der Sinneswahrnehmung zeigt, dass die bei bestimmten Aktivitäten erkennbare Einheit auf eine ontologische Einheit hinweist, die diesen Aktivitäten zugrundeliegt. Das gilt Priskian zufolge auch dann, wenn die verschiedenen Aktivitäten sich ontologisch auf so unterschiedlichen Stufen der neuplatonischen Seinshierarchie befinden, wie das bei der denkenden, den Körper gebrauchenden und ihn formenden Seele der Fall ist: „Auch wenn die einen Seelenarten untrennbar vom Körper sind, wird doch die trennbare Seele durch das Herausgehen aus sich selbst und die Neigung nach außen hin in gewisser Weise untrennbar und mit ihnen zusammengefügt, und die mit dem Körper gemeinsamen Wirkungen wirkt sie als ganze (ƫƢƩ’˖ƬƨƮƢ˝ƴ́Ʈ), die abtrennbaren aber als sie selbst (ƫƢƩ’ʠƢƵƴ́Ʈ), bzw. indem sie gegenüber den übrigen Seelenarten Herausgehobenheit besitzt (ƴ̅ʟƯ͉Ʊƨƭ̀ƮưƮʩƷưƵƳƢ)“217.
_____________ 213 Procl. in Parm. 957, 28-958, 7. S. u. S. 403. 214 Prisc. in an. 77, 11-15. 215 Procl. in remp. 1, 234, 11-17; Dörrie 1959, 107f.; Deuse 1983, 192; aber nicht aufgenommen von Andrew Smith 1993 in Porph. frg. 263F. 216 Prisc. in an. 77, 15-17; s. o. S. 57f. 217 ƌʗƮƢ˂ƭ˿Ʈ˳ƳƪƮʕƷ̊ƱƪƳƴưƪ,ʲƥ˿ƷƹƱƪƳƴ́ƭ˿Ʈƴ͌ƥ˿ʕƶ’ʠƢƵƴ͋ƲʟƫƳƴ˾ƳƦƪƫƢ̃ÝƱ̅Ʋƴ̅ʩƯƹ ƮƦ̈ƳƦƪ ʕƷ̊ƱƪƳƴ̆Ʋ ÝƹƲ ƤƪƮưƭ̀Ʈƨ ƫƢ̃ ƳƵƮƢƱƭƢƧưƭ̀Ʈƨ ÝƱ̅Ʋ Ƣ˝ƴ˾Ʋ, ƫƢ̃ ƴ˽Ʋ ƭ˿Ʈ ƫưƪƮ˽Ʋ
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Das Argument für die Einheit der Seele zeigt so noch einmal, warum die rationale Seele Priskians Meinung nach nicht die ontologische Transzendenz bewahrt, die ihr Proklos und Philoponos zuschrieben. Denn durch ihre gemeinsame Aktivität mit den auf Körperliches bezogenen Fähigkeiten geht sie mit diesen eine Einheit im Sein ein, durch die sie, solange sie dieses Lebewesen bewegt, ein untrennbarer Teil von dessen Gesamtseele ist. „Denn es ist die ganze Seele, die das ganze leib-seelische Wesen bestimmt“218. Diese ganze Seele kann als Sitz der Fähigkeiten des leibseelischen Wesens daher auch von außen kommende, körperliche Einflüsse erleiden (Ý˾ƳƷƦƪƮ). Wenn Priskian so nicht die Bewahrung des Eigencharakters jeder einzelnen Seelenart in den Mittelpunkt stellt, sondern die Einheit der Gesamtseele, ist auch dies ein Unterschied zu Proklos und Philoponos, bei denen nur der rationalen Seele eine ungeteilte Einheit zukommt, während die den Körper belebenden Seelen entsprechend den verschiedenen Fähigkeiten, die sie vermitteln, und den Körperteilen, die sie auf diese Weise formen, in ihrem Sein geteilt sind219. Wenn den verschiedenen Fähigkeiten der Seele ein verschiedenes Sein zugeschrieben werden kann, zeigt das nach Priskian nur, dass die mit vielen Fähigkeiten ausgestatte (ÝưƬƵƥ̈ƮƢƭưƲ) Seele eine Einheit aus vielen Wesenheiten (ÝưƬƵư̈ƳƪưƲ ʪƮƹƳƪƲ) bildet220, die das Sein der verschiedenen Vermögen mitbestimmt. Denn diese existieren nicht in jedem Lebewesen auf dieselbe Weise, sondern sind, entsprechend der wesenhaften Verschiedenheit menschlicher und tierischer Seelen, der Natur des betroffenen Lebewesens angepasst: Alle seine Vermögen haben jeweils dieselbe Form (˒ƭưƦƪƥƦ͙Ʋ), so dass etwa das Nährvermögen eines Menschen verschieden von dem einer Pflanze und sein Wahrnehmungsvermögen verschieden von dem eines Pferdes ist. Die Verbindung der rationalen Seele mit den übrigen Vermögen Nach dem Ende der körperlichen Existenz gilt allerdings, dass die verschiedenen Vermögen wieder voneinander getrennt werden können, wie es die Lehre vom Seelenfahrzeug voraussetzt221. Das trifft besonders auf
_____________ 218 219 220 221
ʟƮƦƱƤƦ̄ƢƲ ƫƢƩ’ ˖ƬƨƮ Ƣ˝ƴ́Ʈ ʟƮƦƱƤưͨƳƢ ƴ˽Ʋ ƥ˿ ƷƹƱƪƳƴ˽Ʋ ƫƢƩ’ ʠƢƵƴ́Ʈ ʳ ƴ̅ ʟƯ͉Ʊƨƭ̀ƮưƮ ʩƷưƵƳƢÝƱ̅Ʋƴ˽ƲƬưƪÝ˾Ʋ. Prisc. in an. 77, 19-23. ʺƤ˽Ʊ˖ƬƨʟƳƴ̃Ʈʲƴ̅Ƴ̈ƮƩƦƴưƮ˖ƬưƮ˒Ʊ̄ƧưƵƳƢ. Prisc. in an. 78, 1-6, Zitat 5f. Procl. elem. 190 (166, 3-10); 197 (172, 5-14); Perkams 2006a. Vgl. Prisc. in an. 286, 34-287, 4; vgl. auch 14, 3-13; Steel 1978, 62 mit Anm. 35; Blumenthal 1996, 98f. Prisc. in an. 12, 15-23; 13, 27-14, 3; 79, 29-80, 17; 187, 35-38; s. o. S. 186f.
Priskian von Lydien
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die rationale Seele zu, die sich zuerst mit den übrigen Seelenarten und, wie man wohl ergänzen muss, ihrem Seelenfahrzeug bzw. pneumatischen Leib verbunden hatte und erst in einem zweiten Schritt mit dem menschlichen Körper222. Schon der erste Schritt bedeutete dabei den Verlust ihrer ganz transzendenten Seinsweise, den der späte Neuplatonismus gegen Plotin betonte223. Allerdings meint Priskian, dass die Trennung der Seele vom Geist nicht vollständig ist, da auch die menschliche rationale Seele weiterhin in gewisser Weise die Unveränderlichkeit der transzendenten Formen hat224: „Aber auch die Spitze der Seele hängt unmittelbar mit der denkfähigen Seinsform über ihr und den Formen in dieser zusammen. Denn jede denkfähige Seinsform über der Seele ist ungeteilt; deswegen ist auch ihre Aktivität dasselbe wie ihr Sein und ihr Sein wie ihre Aktivität, natürlich nicht im Hinblick auf ihre spezifischen Eigenschaften, sondern im Hinblick auf die ungeteilte Vereinigung beider zu einem“225.
Angesprochen ist hier das Verhältnis der Seele zu dem Geist, an dem sie teilhat (˒ƭƦƴƦƷ̆ƭƦƮưƲƮưͨƲ), also zu dem Mittelglied der geistigen Triade, das ihre individuelle Existenz und Identität im körperlichen Leben begründet226. Diese Verbindung begründet die oben angesprochene geistige Seele, durch die der Mensch stets die Fähigkeit behält, aus sich heraus zu denken227. Der stete Kontakt mit dem Geist macht die Seele zum „Bürger zweier Welten“, des sinnlich wahrnehmbaren und des intelligiblen Kosmos. Allerdings liegt der Schwerpunkt von Priskians Theorie darauf, dass die Seele nicht zugleich rein intelligibel und im Körper sein kann. Sie ist gleichsam „Geist in Welt“ und auch in ihrer höchsten Funktion beeinflusst von der grundsätzlichen Trennung von Sein und Aktivität, die alle sterblichen Seelen von reinen Formen unterscheidet. Ihre Einheit ist nur abgeleitet und kann die grundsätzliche Geteiltheit nicht aufheben, ist aber stark genug, die bis jetzt beschriebene Einheit der unkörperlichen Seelenvermögen von oben her zu begründen. Diese Theorie hat gegenüber der des Philoponos den Vorzug, dass sie einfacher ist und nicht auf die relativ starke These einer hylemorphistischen Verbindung zwischen verschiedenen Seelenarten zurückgreifen muss. Die Lehre von der rationalen Seele ist radikaler, was ihre Bindung
_____________ 222 223 224 225
Prisc. in an. 76, 35-77, 11; 287, 16-22. S. u. S. 320-324. S. o. S. 177. ʝƬƬ˽ƫƢ̃ʲʕƫƱ̆ƴƨƲƴ͋ƲƸƵƷ͋Ʋʕƭ̀ƳƹƲƳƵƭÝ̀ƶƵƫƦƴ͌˞Ý˿ƱƢ˝ƴ́ƮƮưƦƱ́ư˝Ƴ̄̾ƫƢ̃ƴư͙ƲʟƮ Ƣ˝ƴ͌Ʀ˅ƥƦƳƪƮ.ʕƭ̀ƱƪƳƴưƲƥ˿Ý̀ƳƢʲ˞Ý˿ƱƸƵƷ́ƮƮưƦƱ˽ư˝Ƴ̄ƢŻ˖ƩƦƮƫƢ̃ʲʟƮ̀ƱƤƦƪƢ˖ÝƦƱ ư˝Ƴ̄ƢƫƢ̃ʲư˝Ƴ̄Ƣ˖ÝƦƱʟƮ̀ƱƤƦƪƢ,ư˝ƴ͌ˁƥƪ̆ƴƨƴƪƥƨƬƢƥ̂,ʕƬƬ˽ƴ͌ƦˁƲʨƮʕƭƶư͙ƮʕƭƦƱ̄ƳƴͰ ƳƵƮƢƤƹƤ͌. Prisc. in an. 240, 21-23. 25f. 226 S. o. S. 177-179. 227 S. o. S. 174f.
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Aristoteles-Interpretation
an den Körper anbelangt, dadurch aber auch harmonischer, da die rationale Seele nicht als intelligibles Sein beschrieben werden muss, das faktisch keine ihm entsprechenden Aktivitäten ausüben kann. 5. Die Seelenfunktionen aller Lebewesen Ebenso wie Philoponos228 sieht Priskian in Aristoteles’ genereller Beschreibung der Seele nur eine grobe Charakterisierung, aus der eine adäquate Beschreibung des Gegenstandes nur entwickelt werden kann, indem jede einzelne Seelenart für sich abgehandelt wird229. Daher gilt es jetzt zu zeigen, wie Priskians allgemeine Theorie bei seiner Beschreibung der einzelnen Seelenarten bzw. Seelenvermögen konkretisiert wird, um besser zu verstehen, auf welche Weise die beiden Stufen der Formursächlichkeit von jeder einzelnen Seelenart ausgesagt werden können, wobei „die einen mehr zum werkzeughaften Sein hinneigen, die anderen aber in der Art des gebrauchenden Seins dastehen“230.
a. Die vegetative Seele Bei der vegetativen Seele stellt sich die Frage, ob sie überhaupt Anteil an der bewegenden Seele hat. Priskian bemerkt dazu ganz eindeutig, dass auch die Pflanzenseele bereits alle Merkmale des Seelischen hat: „In den Pflanzen und überhaupt in dem ernährten Wesen liegt die die Nahrung gewinnende Fähigkeit innen und die sie verändernde [...]. Diese leben also, weil ihr Bewegendes innen ist [...]. Denn auch in der niedrigsten Lebensform ist nicht nur das nach Art des Lebendigen Bewegte, das heißt das Ernährte und Heranwachsende und Vergehende, sondern auch das Bewegende und die Fähigkeit bzw. Seinsform, die dies bewirkt“231.
_____________ 228 S. o. S. 80f. 229 Prisc. in an. 96, 23-28. 230 ƕ˽Ʋ ƭ˿Ʈ ƭ̀ƬƬưƮ ƦˁƲ ƴ̅ ˑƱƤƢƮƪƫ̅Ʈ ʕÝưƫƬƪƮư̈ƳƢƲ, ƴ˽Ʋ ƥ˿ ƫƢƴ˽ ƴ̅ ƷƱ̊ƭƦƮưƮ ˂ƳƴƢƭ̀ƮƢƲ ƭ̀ƬƬưƮ. Prisc. in an. 4, 37f. (s. o. S. 169f.).
231 ʫƮ ƥ˿ ƴư͙Ʋ ƶƵƴư͙Ʋ ƫƢ̃ ˖ƬƹƲ ʟƮ ƴư͙Ʋ ƴƱƦƶưƭ̀ƮưƪƲ ʶ ƴƦ ʪƬƫưƵƳƢ ƴ́Ʈ ƴƱưƶ́Ʈ ƥ̈ƮƢƭƪƲʩƮƥưƮƫƢ̃ʲʕƬƬưƪưͨƳƢƢ˝ƴ́ƮƫƢ̃ƴư͙ƲʵƥƨưˣƳƪÝƱưƳƫƱ̄ƮưƵƳƢƭưƱ̄ưƪƲ ƫƢ̃˖ƬƢƥƪ’˖ƬƹƮƢ˝ƴ˽ʟÝƪƱƱƹƮƮͨƳƢ.Ƨ͌ưˣƮƴƢͨƴƢ,˖ƴƪʩƮƥưƮƴ̅ƫƪƮưͨƮ,ƫƢ̃ƴưͨƴư ƥƨƬư͙ ƴ̅ ,ƥƪ’ Ƣ˝ƴưͨ‘. ƫƢ̃ Ƥ˽Ʊ ʟƮ ƴ͌ ʟƳƷ˾ƴ͉ Ƨƹ͌ ư˝ ƭ̆ƮưƮ ʟƳƴ̃ ƴ̅ ƧƹƴƪƫͲƲ ƫƪƮư̈ƭƦƮưƮ,ƴưƵƴ̀ƳƴƪƴƱƦƶ̆ƭƦƮưƮƫƢ̃Ƣ˝Ư̆ƭƦƮưƮƫƢ̃ƶƩ͙ƮưƮ,ʕƬƬ˽ƫƢ̃ƴ̅ƫƪƮưͨƮ ƫƢ̃ ʲ ʕÝƦƱƤƢƧưƭ̀Ʈƨ ƴƢͨƴƢ ƥ̈ƮƢƭƪƲ ƫƢ̃ ư˝Ƴ̄Ƣ. Prisc. in an. 86, 1-7; vgl. 301, 36f.
Priskian von Lydien
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Auch in der untersten Lebensform bzw. ihrer Seele besteht demnach der Unterschied zwischen der ersten und der zweiten Formursache. Dies gilt auch dann, wenn die Pflanzenseele als vegetative Seele der unterste Teil einer komplexeren Seele wie der des Menschen oder eines Tieres ist. In diesem Fall beweist die Fähigkeit der Pflanzenseele, sich mit den höheren Seelenteilen zu einem Ganzen vereinigen zu können (ƳƵƭƶ̈ƦƳƩƢƪ), ihr vollständiges Seele-Sein232. Andere Stellen des Kommentars könnten allerdings den Eindruck erwecken, die erste Stufe der Beseelung würde hier mit der vegetativen Seele identifiziert, wie es eher der neuplatonischen Tradition entspricht233: „Vielleicht sagt Aristoteles dies [i.e. dass die Seele das Lebewesen nur örtlich bewege] auch, weil die Pflanzenseele das Bewegungsprinzip ,durch etwas‘ nicht klar hat, da sie eher dem ,gemäß etwas‘ zuneigt, weswegen sie eine Art Natur ist (denn auch die Natur ist der Ursprung des Bewegt-Werdens und des Erleidens, aber nicht des Bewegens), so dass auch bei dem Ernährten das gemäß seiner Selbst Bewegende die Grundlage bildet, so wie bei dem gemäß der Natur Bewegten. Klar ist aber die Bewegung durch die Seele, da sie gemäß einem Antrieb geschieht“234.
Die Stelle ist eine Reaktion auf Aristoteles’ Aussage, die Seele, für die die Fähigkeit zum Bewegen charakteristisch sei, scheine den Leib nur örtlich zu bewegen (I 5, 410b 19-21), die es anscheinend ausschließt, dass auch die vegetative Seele Bewegung verursachen kann. Denn die von ihr verursachte Bewegung, z.B. das Wachstum, ist ja nicht örtlich. Priskian erklärt Aristoteles’ Formulierung damit, dass die Bewegung der vegetativen Seele im Unterschied zu einer Bewegung aus einem bewussten Antrieb bzw. Entschluss nicht deutlich erkennbar (ʟƮƢƱƤͲƲ)235 sei, und schließt daraus, dass die Pflanzenseele mehr dem Bewegungsprinzip ,gemäß ihr‘ (ƫƢƩ’ʶƮ) zuneige, also der ersten Formursache, ohne aber der zweiten zu entbehren. Ihr Wirken sei lediglich stärker von der ersten Stufe des Seelischen geprägt, d.h. sie bewege weniger selbst, als sie ein unverzichtbares Mittel für das Überleben der übrigen Seelenarten in der Welt sei. Warum Priskian sie trotzdem auch als zweite Formursache ansieht, erläutert er bei der Erklärung von Aristoteles’ Ausführungen zum Nährvermögen (ʲƩƱƦÝƴƪƫ́ƥ̈ƮƢƭƪƲ. II 4, 416a 25-b 29). Dabei schließt er sich dessen Kritik an, Empedokles habe zu Unrecht die Elemente allein für das
_____________ 232 Prisc. in an. 80, 22-32. 233 Hadot 1978, 197f.; dazu auch Perkams 2003b, 70f. 234 Ǝ̂ÝưƴƦƥ˿ƫƢ̃ˮƲƴ͋ƲƶƵƴƪƫ͋Ʋư˝ƫʟƷư̈ƳƨƲʟƮƢƱƤͲƲƴ̅˞ƶ’ưˤ,ʟÝƪƫƬƪƮư̈ƳƨƲƥ˿ƭ̀ƬƬưƮ ƦˁƲƴ̅ƫƢƩ’˖,ƥƪ˽ƴưͨƴưƶ̈ƳƦ̊ƲƴƪƮưƲưˡƳƨƲ(ƫƢ̃Ƥ˽Ʊʲƶ̈ƳƪƲʕƱƷ́ƴưͨƫƪƮƦ͙ƳƩƢƪƫƢ̃ƴưͨ Ý˾ƳƷƦƪƮ, ʕƬƬ’ ư˝ ƴưͨ ƫƪƮƦ͙Ʈ), ˆƮƢ ƫƢ̃ ʟÝ̃ ƴͲƮ ƴƱƦƶưƭ̀ƮƹƮ ƴ̅ ƫƢƩ’ Ƣ˞ƴ̅ ƫƪƮưͨƮ ƴ̅ ˞ÝưƳƴ͋ƳƢƮ ̡, ˮƲ ƫƢ̃ ʟÝ̃ ƴͲƮ ƫƢƴ˽ ƶ̈ƳƪƮ ƫƪƮưƵƭ̀ƮƹƮ. ʟƮƢƱƤ́Ʋ ʲ ˞Ý̅ ƴ͋Ʋ ƸƵƷ͋Ʋ ƫ̄ƮƨƳƪƲƥƪ˽ƴ̅ƫƢƩ’˒Ʊƭ́ƮƤ̄ƮƦƳƩƢƪ. Prisc. in an. 71, 24-30. 235 Ebenso ʟƮƢƱƤͲƲ Prisc. in an. 80, 22f.
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Aristoteles-Interpretation
Wachstum verantwortlich gemacht; vielmehr seien diese, insbesondere das Feuer, nur Nebenursachen für die Ernährung, von denen die bewegende Seele (ʲ ƸƵƷ́ ˮƲ Ƣ˝ƴ́ ƫƪƮưͨƳƢ) als eigentliche Ursache der Ernährung Gebrauch mache236. Diese „erste“ (416b 22), d.h. die mit dem Leib am engsten verbundene Seelenart, das Ernährende (ƴ̅ ƴƱ̀ƶưƮ), hat gemäß Priskian in sich (ʩƮƥưƮ) die Fähigkeit, Nahrungsmittel so umzuwandeln, dass das Ernährte (ƴ̅ƴƱƦƶ̆ƭƦƮưƮ), also das leib-seelische Wesen, durch sie erhalten wird und wächst. Sie setzt also den Vorgang der Umwandlung, wenn geeignete Nahrung vorliegt, aktiv in Bewegung237. Dazu verwendet sie die Wärme des Körpers, der also für diesen Prozess geeignet, d.h. durch die erste Formursache geformt ist. Priskian vergleicht das Nährvermögen sogar mit dem Steuermann, der auch das Schiff in Bewegung setzt, und zwar vermittelt durch ein Ruder238. Die Nährseele ist also eine Entelechie der zweiten Stufe, da sie die Tätigkeit ihres körperlichen Substrats auch aktiv in Gang setzt und einzusetzen sucht. Die tiefere Begründung für die Annahme einer zweiten Formursache in allen Seelenarten ist demnach, dass alle Lebewesen von Natur aus nach ihrem Überleben bzw., wie Priskian mit Aristoteles festhält239, nach dem Überleben ihrer Art streben. Die zweite Entelechie besteht nicht erst da, wo die Fähigkeit zu bewusstem Handeln gegeben ist, sondern sie liegt in der artgemäßen Lebensaktivität jedes natürlichen Wesens. b. Die Sinneswahrnehmung Die einzelnen Sinne Anders stellt sich das Verhältnis von erster und zweiter Formursache bei den Seelenarten dar, bei denen es außer Frage steht, dass sie von der Seele aktiv angewandt werden können, dass also eine gebrauchende bzw. bewegende Seele vorhanden ist. Das zeigt sich bereits bei der Sinneswahrnehmung, die von Priskian als Wirkung der wahrnehmenden Lebensform (ʲ ƢˁƳƩƨƴƪƫ́ Ƨƹ̂)240 angesehen wird. Eingangs sei ein terminologischer Unterschied zu vielen anderen Neuplatonikern hervorgehoben: Während Philoponos und andere Kommentatoren, darunter der historische Simplikios, die Sinneswahrnehmung zusammen mit der Vorstellungskraft (ƶƢƮƴƢƳ̄Ƣ) als einen Teil der nicht rationalen Seele ansehen und teilweise
_____________ 236 237 238 239 240
Prisc. in an. 112, 19-113, 15, Zitat 113, 12f.. Prisc. in an. 115, 17-25. Prisc. in an. 115, 30-116, 8. Prisc. in an. 110, 15-30. Prisc. in an. 117, 7 u.ö.
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zusammen mit ihr behandeln241, fasst Priskian sie nicht unter diesem einheitlichen Begriff zusammen. Von einem nicht rationalen Leben (ʙƬưƤưƲ Ƨƹ̂) spricht er im Hinblick auf die Erkenntnis und das Streben vernunftloser Tiere242, doch diskutiert er es nie als zusammenhängende Seelenart beim Menschen243. Der Grund für diese Eigenheit ist wohl Priskians Annahme der Einheit jeder einzelnen Seele, in der die einzelnen Lebensfunktionen nicht nach Rationalität und Nicht-Rationalität geschieden werden, sondern danach, ob sie funktional mit dem Leib verbunden sind oder nicht244. Philoponos’ nicht rationaler Seele entsprechen insofern Priskians Bezeichnung „körperartige Lebensformen“ (ƳƹƭƢƴưƦƪƥƦ͙ƲƧƹƢ̄), zu denen das diskursive und praktische Denken in einer unauflösbaren Beziehung steht245. Die beiden Seelenarten in der Sinneswahrnehmung Priskian beschreibt die Sinneswahrnehmung als die unterste der Erkenntnisfähigkeiten (ʟƳƷ˾ƴƨ ƤƮƹƳƴƪƫ́ Ƨƹ̂)246, zu denen die Seele ihren werkzeughaften Körper gebraucht. Denn anders als die rationalen Erkenntnisvermögen oder auch die Vorstellungskraft ist die Sinneswahrnehmung nicht in der Lage, ihre Erkenntnisgegenstände aus sich selbst heraus hervorzubringen247. Denn diese sind Einzeldinge, die nicht in der Seele vorhanden, sondern nur durch Erkenntnisfähigkeit (ƫƢƴ˽ƭ̆ƮƨƮʟÝ̄ƮưƪƢƮ) von den Gegenständen der Welt zu unterscheiden sind248. Die Aufgabe der Sinnesorgane besteht also darin, der Seele Eindrücke aus der Körperwelt zu vermitteln, die diese erkenntnismäßig identifizieren kann; Priskian betont dabei, ähnlich wie Philoponos, dass dieses Unterscheidungsurteil (ƫƱ̄ƳƪƲ) selbst nicht mit einem Erleiden (Ý˾ƩưƲ) verbunden ist, da die Sinneswahrnehmung als Erkenntnisfähigkeit nicht körperlich ist. Ein Erleiden geschieht höchstens bei der körperlichen Übermittlung des Objekts zur wahrnehmenden Seele hin249.
_____________ 241 242 243 244 245 246 247 248 249
Zu Simplikios Hadot 1978, 176-178; zu Philoponos s. o. S. 48f. Prisc. in an. 11, 18f.; 211, 1-10. Vgl. auch Prisc. in an. 287, 19: ƴ́ƮʙƬưƤưƮƫƢƬưƵƭ̀ƮƨƮ. S. o. S. 170-177. Prisc. in an. 218, 33-40; 227, 10f.; 238, 31-33; 243, 17f. Vgl. auch die o. S. 187 Anm. 192 genannten Belege. Prisc. in an. 119, 3f. Prisc. in an. 165, 31-166, 28. Prisc. in an. 124, 6-14. Prisc. in an. 124, 3-6; vgl. Blumenthal 1996, 123f.
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Diese Beschreibung hängt mit Priskians Theorie der Seele als doppelter Formursache zusammen: Ohne ihre vorhergehende Beseelung könnten die Sinnesorgane gar nicht geeignet dazu sein, Wahrnehmungen zu machen, die von der Seele erkannt werden können. Daher benennt Priskian zwei Ursachen, die der sinnlichen Wahrnehmung durch die Seele voraus liegen, nämlich eine stoffliche, d.h. das Organ als rein körperliche Größe (ƭ̀ƤƦƩưƲ), und eine seelische, nämlich die wahrnehmende Seele, insofern sie dieses Organ formt und damit zum Lebensorgan macht (ʲƴưͨ ƧƹƴƪƫưͨˑƱƤ˾ƮưƵˮƲƴưƪư̈ƴưƵƷƢƱƢƫƴƨƱƪƳƴƪƫ́Ƨƹ̂)250. Durch die Formung entsteht ein körperliches Organ, das selbst nicht rein passiv erleidet (vgl. II 5, 417b 2-5), sondern „nach Art des Lebendigen“ (ƧƹƴƪƫͲƲ), indem es den von außen empfangenen Eindruck in eine „Aktivität als Form“ (Ʀˁƥƨƴƪƫ́ʟƮ̀ƱƤƦƪƢ) verwandelt251. Dies wird von Priskian auch als ein „lebensgemäßes Erleiden bzw. eine erleidende Wirksamkeit“ (Ƨƹƴƪƫ̅ƮÝ˾ƩưƲ ʳ ÝƢƩƨƴƪƫ̅Ʈ ʟƮ̀ƱƤƨƭƢ) bezeichnet252. Im Organ entsteht auf diese Weise ein Objekt, auf das sich die Erkenntnis der wahrnehmenden Seele beziehen kann. Die Gemeinsamkeit der wahrnehmenden Seele und ihres Organs liegt also auch hier, wie bei Philoponos, in der gemeinsamen Aktivität von „Werkzeug“ und „Benutzer“253. Den eigentlichen Erkenntnisakt der wahrnehmenden Seele beschreibt Priskian als aktives Geschehen. Denn die Seele muss zum einen den Wahrnehmungsvorgang erst in Bewegung setzen, indem sie sich den Gegenständen der sie umgebenden Welt zuwendet und ihr körperliches Organ in geeigneter Weise formt254. Andererseits sind auch die Formen, anhand derer sie die Wahrnehmungsobjekte beurteilt, in ihr selbst präsent, und mit ihrer Hilfe erkennt sie die von außen aufgenommenen Gegenstände. Priskian beschreibt diesen Vorgang, wie schon in seiner Theophrast-Paraphrase255, als „das Hervorbringen von Gehalten von innen heraus“ (ʲʩƮƥưƩƦƮƴͲƮƬ̆ƤƹƮÝƱưƣưƬ̂), was, ebenso wie bei Philoponos und Stephanos, direkt (ʕƩƱ̆Ƣ) ablaufen soll256. Allerdings versteht Priskian Wahrnehmung so, dass ein innerhalb der Seele bereits vorhandener Erkenntnisgehalt (Ƭ̆ƤưƲ) aktualisiert wird, während Stephanos meint, dass
_____________ 250 251 252 253 254 255 256
Prisc. in an. 167, 19-34. Prisc. in an. 128, 26-28; vgl. 125, 31-35; 169, 11-19. Prisc. in an. 192, 18. Prisc. in an. 167, 21-23; s. o. S. 94-96. Prisc. in an. 125, 27f.; 190, 15-20. Zu textlichen Zusammenhängen vgl. Perkams 2005a. Prisc. in an. 119, 8f.; 123, 19. 36; 138, 14f.
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derartige Strukturen nicht vor der Wahrnehmung vorhanden sind, sondern erst beim Wahrnehmen aufgenommen werden257. Nach dieser Beschreibung liegt der Unterschied der Wahrnehmung zu den anderen Vermögen lediglich darin, dass die Sinne erst durch einen äußeren Eindruck zum Hervorbringen von Gehalten angeregt werden müssen258. Dabei ist der Gehalt, wie in der aristotelischen Terminologie vorgesehen, nichts anderes als die Form, durch die der durch die Wahrnehmung erkennbare Gegenstand das ist, was er ist (ƴ̅ ƴưͨ ƤƮƹƳƴưͨ ƦˇƥưƲ)259. Der sichtbare Gehalt eines schwarzen Steins ist also seine schwarze Farbe, während sein Sein (ư˝Ƴ̄Ƣ) durch die Wahrnehmung nicht direkt, sondern nur akzidentell (ƫƢƴ˽ƳƵƭƣƦƣƨƫ̆Ʋ) erkannt werden kann260. Für jede Farbe oder jede Tonstufe ist ein eigener Gehalt in der Seele vorhanden, durch den sie als diese oder jene Farbe oder Tonstufe sinnlich wahrgenommen werden kann261. Ähnlich wie Philoponos betont Priskian, dass der so hervorgebrachte Gehalt einer Farbe, z.B. weiß, keine qualitative Veränderung des Auges meint, sondern eine Erkenntnisaktivität der wahrnehmenden Seele262. Indem diese die Gehalte ihrer Gegenstände aus sich selbst heraus schafft, ist sie eine vollendete (ƴƦƬƦ̄ƢʟƮ̀ƱƤƦƪƢ), rein seelische Aktivität263, die allerdings, wie die anderen Erkenntnisvermögen auch, nicht schöpferisch (ÝưƪƨƴƪƫͲƲ), sondern beurteilend und verstehend (ƫƱƪƴƪƫͲƲƫƢ̃ƳƵƮƦƴƪƫͲƲ) aktiv ist264. Auch nach Priskians Meinung schafft Wahrnehmung also ihre Gegenstände nicht selbst, sondern erkennt sie als das, was sie in einer Welt sind, in der jeder Gegenstand und jede Eigenschaft prinzipiell durch eine bestimmte Form charakterisiert ist. Obwohl ein passives Moment der Affizierung von außen notwendig bleibt, ist sie in erster Linie ein aktives Geschehen, bei dem die gebrauchende Seele die sie umgebende Welt im Lichte der ihr bekannten, in der Welt vorhandenen Wahrheit deutet. Nach Priskians Theophrast-Paraphrase sind zumindest die Grundzüge dieser Lehre von Jamblich übernommen, dem zufolge im körperlichen Sinnesorgan die Darstellung (ʩƭƶƢƳƪƲ) des wahrgenommenen Objekts zu einer Form vollendet wird (ƦˁƲ ƦˇƥưƲ ƴƦƬƦƪưƵƭ̀ƮƨƮ), zu der die wahrnehmende Seele den Gehalt hervorbringt, nach dem das Urteil und das Ver-
_____________ 257 Vgl. z.B. Steph. in an. 516, 25f. S. u. S. 239. Philoponos’ Ansicht scheint der von Priskian näher zu sein (vgl. etwa 444, 2-4), er äußert sich aber nicht eindeutig. 258 Prisc. in an. 165, 31-166, 8. 259 Prisc. in an. 166, 7f., vgl. 3. 6; 189, 36-38. 260 Prisc. in an. 127, 21-128, 17. 261 Prisc. in an. 271, 25f. 31f. 262 Prisc. in an. 190, 7-10. 263 Prisc. in an. 126, 1-16; 138, 11-15. 264 Prisc. in an. 166, 4f.; 189, 34.
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stehen (ʲƫƱ̄ƳƪƲƫƢ̃ʲƳ̈ƮƦƳƪƲ) geschieht265. Auch die dort dargestellte Seelenlehre ist aber nur „zum größten Teil“ (ƭ˾ƬƪƳƴƢ) jamblicheisch, wie Priskian selbst erwähnt. Im &G CPKOC-Kommentar wird der Unterschied wohl noch größer, da er hier die ihm eigene Unterscheidung der zwei Formursachen des Seelischen in die Wahrnehmungslehre einbringt266: Das Wahrnehmungsorgan ist ein durch die erste Formursache beseelter Körper, während die wahrnehmende Lebensfunktion auf der Stufe der gebrauchenden Seele angesetzt wird. Im Unterschied zu Priskians Jamblich-Referat in der Theophrast-Paraphrase gehört nicht nur die erste dieser Stufen „in das gemeinsame Leben des [aus Körper und Seele] zusammengesetzten [Wesens]“267, sondern beide268. Die Formulierung in der Paraphrase entspricht der Unterscheidung zweier seelischer Lebensformen, wie wir sie bei Jamblich finden269, aber nicht der Unterscheidung der zwei Formursachen im &G CPKOC-Kommentar. Hier kann Priskian die wahrnehmende Seele als aktive Lebensfunktion und als Entelechie beschreiben und bleibt damit in Aristoteles’ Terminologie, obwohl die Annahme einer gebrauchenden wahrnehmenden Seele bzw. der zwei von Priskian beschriebenen Arten von Entelechie kaum als eine Interpretation von dessen Text gelten kann. Bernards Annahme eines nur terminologischen, nicht sachlichen Unterschieds zwischen neuplatonischer und peripatetischer Interpretation der Wahrnehmung ist daher für Priskian nicht zu halten, wenn man seine systematische Konstruktion betrachtet. Zutreffender ist Daniela Taorminas Betonung einer innatistischen Tendenz des Kommentators270. Dass die Unterscheidung des natürlichen, des geformten und des benutzten Leibes ein Ergebnis der philosophischen Analyse des wahrnehmenden Wesens ist und nicht die Unabhängigkeit der drei Größen voneinander bedeutet, kann für die Sinneswahrnehmung an der von Aristoteles erwähnten (II 12, 424a 28-32) Möglichkeit der Zerstörung des Sinnesorgans durch übermäßige Wahrnehmungen aufgezeigt werden: „Denn wenn das Empfangende durch fehlende Maßhaftigkeit zerstört wird, wird notwendig auch die einzelne, gleichsam das Organ bestimmende Lebensform zerstört, insofern ihr Sein darin besteht, dieses zu bestimmen, und auch die gebrauchende Lebensform, wenn ihr Sein darin besteht, nur dieses Organ zu gebrauchen. Das ist nicht der Fall, wenn sie stattdessen entweder abgetrennte Tätigkeiten besitzt, so wie der Steuermann des Schiffes, insofern er ein Mensch ist,
_____________ 265 266 267 268 269 270
Prisc. in Theophr. 7, 11-20. Zu Prisc. in an. 126, 7-9. ʫƮƴ͌ƫưƪƮ͌ƴưͨƳƵƮƩ̀ƴưƵƧƹ͌. Prisc. in Theophr. 7, 14. Klar festgestellt Prisc. in an. 123, 30-32. S. o. S. 176. S. o. S. 22.
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oder wenn sie in einem ewigen Leib existiert, so dass sie nicht mehr als die diesen Gebrauchende aufgelöst wird, nicht aber ohne weitere Erklärung“271.
Sowohl das körperliche Organ als auch die beiden seelischen Formursachen sind also so, wie sie sind, auf diese Verbindung hin ausgerichtet. Das körperliche Organ ist in zweifacher Hinsicht Möglichkeit: Ohne die Formung zum Wahrnehmungsorgan und ohne die Benutzung durch die Seele bleibt der natürliche Körper bloße Potenzialität und beginnt als reine Materie gar nicht erst, wirklich zu existieren. „Denn die Werkzeuge sind wegen des Gebrauchenden da, damit dieses aktiv ist“272. Aber auch die beiden Formen der wahrnehmenden Seele existieren nur solange, wie sie das körperliche Wahrnehmungsorgan von innen her beleben bzw. sich seiner bedienen. Sie gehen daher als solche beim Tode des Menschen mit dem körperlichen Organ zugrunde273. Priskian weist allerdings in diesem Zusammenhang gleich darauf hin, dass damit das letzte Wort noch nicht gesprochen ist, weder für die rationale Seele als ganze, die auch vom Leib getrennte Fähigkeiten hat, noch für die körperartigen Lebensformen, deren eigener Körper, das Seelenfahrzeug, nicht mit dem natürlichen Leib zugrunde geht. Womöglich hat Priskian das Seelenfahrzeug sogar wie Jamblich als ewig angesehen274. Der physiologische Prozess bei der Sinneswahrnehmung Den materiellen bzw. physiologischen Prozess, der der Sinneswahrnehmung zugrunde liegt, beschreibt Prisikan ähnlich wie Philoponos. Am deutlichsten wird das im Falle des Hörsinns: Dessen Organ ist die mit dem Ohr zusammengewachsene Luft (˒ƳƵƭƶƵ́Ʋʕ̂Ʊ), und innerhalb von ihr findet sich „die Lebensfunktion des Hörens (ʲʕƫưƵƳƴƪƫ́Ƨƹ̂), einerseits als die, die sie [sc. die Luft im Ohr] als lebendiges Werkzeug [...] charakterisiert, andererseits die, die das derartige Werkzeug gebraucht“275.
_____________ 271 ƗƩƦƪƱưƭ̀ƮưƵ Ƥ˽Ʊ ƴ͌ ʕƳƵƭƭƦƴƱ̄̾ ƴưͨ ƥƦƫƴƪƫưͨ ƫƢ̃ ƴ́Ʈ ˮƲ ˑƱƤ˾ƮưƵ ƭƦƱƪƫ́Ʈ ˒ƱƪƳƴƪƫ́Ʈ Ƨƹ́ƮƶƩƦ̄ƱƦƳƩƢƪʕƮ˾Ƥƫƨ,ʟƮƴͳʟƫƦ͙Ʈư˒Ʊ̄ƧƦƪƮư˝Ƴƪƹƭ̀ƮƨƮ,ƫƢ̃ƴ́ƮƷƱƹƭ̀ƮƨƮ,ʟ˽ƮʟƮƴͳ ƴưƪư̈ƴͰ ƭ̆ƮͰ ƷƱ͋ƳƩƢƪ ư˝Ƴ̄ƹƴƢƪŻ ˮƲ Ʀ˅ ƤƦ ƭ̂, ʕƬƬ’ ʳ ƷƹƱƪƳƴ˽Ʋ ʩƷưƪ ʟƮƦƱƤƦ̄ƢƲ, ˮƲ ˒ ÝƬƹƴ́Ʊƴ͋ƲƮƦ̉Ʋ̢ʙƮƩƱƹÝưƲ,ʳÝƱ̊ƴƹƲʟƮʕƪƥ̄Ͱ˞ƶ̄ƳƴƢƴƢƪƳ̊ƭƢƴƪ,ˮƲƭƨƫ̀ƴƪƭ˿Ʈƴư̈ƴͰ ƷƱƹƭ̀ƮƨƬ̈ƦƴƢƪ,ư˝ƷʖÝƬͲƲƥ̀. Prisc. in an. 168, 10-15. 272 ƕ˽Ƥ˽Ʊ˕ƱƤƢƮƢƴưͨƷƱƹƭ̀ƮưƵƦˁƳ̃ƮʪƮƦƫƢ,ˆƮƢʟƫƦ͙ƮưʟƮƦƱƤ͌. Prisc. in an. 111, 24f. 273 Vgl. Prisc. in an. 195, 1-12. 274 S. o. S. 187; dieser Zusammenhang war mir in Perkams 2003b, 79 noch nicht klar. 275 ƌƢ̃ ʟƮ ƴư̈ƴͰ ʲ ʕƫưƵƳƴƪƫ́ Ƨƹ̂, ʲ ƭ˿Ʈ ˮƲ Ƨƹƴƪƫưͨ ˑƱƤ˾ƮưƵ ưˣƳƢ ƷƢƱƢƫƴƨƱƪƳƴƪƫ̂ (ƳƵƭƶƵưͨƲƴưƵƴ̀ƳƴƪƧƹƴƪƫưͨ),ʲƥ˿ˮƲƷƱƹƭ̀Ʈƨƴͳƴưƪư̈ƴͰˑƱƤ˾ƮͰ. Prisc. in an. 143, 2931.
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Aristoteles-Interpretation
Die Luft im Ohr ist, ebenso wie die Feuchtigkeit im Auge, der durch die erste Formursache zum Werkzeug geformte Körper. Die gebrauchende Seele ist in diesem Organ präsent, aber nicht mit ihm identisch. Der Ton kann daher dann gehört werden, wenn er im Organ als intentionale Information präsent ist276. Mit dem aristotelischen Medium, der Luft zwischen dem Ursprungsort des Tons und dem hörenden Organ, ist das Organ durch körperliche Kontinuität (ƳƵƮ̀ƷƦƪƢ) verbunden, obwohl es in seinem Seinsgehalt (ƴͳƬ̆ƤͰ) von ihm verschieden ist277. Ebenso wie bei Philoponos besteht also das Erkennen eines Tons z.B. als laut oder leise, scharf oder angenehm, als ein C oder D in einem Urteil der gebrauchenden Seele; in Priskians Worten ist die Lebensfunktion des Hörens (ʲ ʕƫưƵƳƴƪƫ́ Ƨƹ̂) dasjenige, was die durch einen Ton „bestimmte Luft besitzt“ (ƴ̅ ʩƷưƮ ƴ̅ƮˮƱƪƳƭ̀ƮưƮ ʕ̀ƱƢ)278. Das Hören beginnt also mit einer körperlichen Übermittlung und endet mit einer Wahrnehmung, die den aufbereiteten Ton erkennt, d.h. mit einem in ihr enthaltenen Gehalt belegt279. Auf entsprechende Weise beschreibt Priskian auch die übrigen Sinne. So gebraucht der Geruchssinn (ʲ˕ƳƶƱƨƳƪƲ) die Luft, die einen vorhandenen Geruch (ƴ́Ʈ ʟƮ̀ƱƤƦƪƢƮ ƴưͨ ˑƳƶƱƢƮƴưͨ) zum Organ des Riechens (ƴ̅ ˑƳƶƱƢƮƴƪƫ̅Ʈ ƢˁƳƩƨƴ̂ƱƪưƮ) überträgt (ƥƪƢƣƪƣ˾ƧƦƪ)280. Dieses ist die Nase, während die Luft das Medium außerhalb unseres Körpers ist, das die Geruchsobjekte übermittelt281. Hier deutet sich an, dass Priskian bei den Sinnen, die ihre Objekte nicht berühren, das Sinnesorgan, anders als Philoponos282 (aber sicherlich in Aristoteles’ Sinn), von dem Medium zwischen Organ und erkanntem Gegenstand unterscheidet. Das liegt wohl daran, dass er Galens Theorie vom Hirn als Zentralsinnesorgan und vom mit ihm verbundenen Pneuma nicht übernimmt. Daher kann er den Sinnesorganen eine stärkere Funktion zuschreiben als die bloße Weiterleitung sinnlicher Daten, nämlich die Umwandlung der übermittelten Objekte in eine Information, die mental erkannt werden kann. Dazu passt terminologisch, dass er nicht wie Philoponos von zwei verschiedenen Medien spricht, was bei diesem die Bedeutung des Organs reduziert283. Ebenso wie Philoponos legt er aber Wert darauf, dass auch Tast- und Geschmackssinn ein Medium haben, so dass ihr Wahrnehmungsorgan nicht mit dem Fleisch oder
_____________ 276 277 278 279 280 281 282 283
Prisc. in an. 143, 20-25. Prisc. in an. 143, 19f. Prisc. in an. 145, 31f. Vgl. Benz 1990, 15-26. Prisc. in an. 154, 18-21. Vgl. Prisc. in an. 154, 6-8. S. o. S. 117. Prisc. in an. 174, 7-12.
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der Zunge identisch ist, die ihre Objekte berühren; andernfalls litte das Organ unter einer Berührung, die ja eigentlich nur seine Funktion aktivierte284. Mit der klaren Unterscheidung der physischen Übermittlung von der seelischen Erkenntnis lässt Priskians Wahrnehmungstheorie deutlich das Problem erkennen, dass wir materielle Gegenstände auf mentale Weise wahrnehmen und klassifizieren, obwohl sie uns auf physische Weise übermittelt werden. Wie genau aus dem Naturereignis des Tons eine intentionale Information wird, bleibt dabei aber ebenso offen wie in vielen anderen philosophischen Theorien. Die Vollständigkeit der fünf Sinne Historisch besonders interessant ist Priskians Interpretation der ersten drei Kapitel des dritten Buches von &GCPKOC, da die entsprechende Passage bei Philoponos verloren ist. Diese Kapitel sind für Aristoteles’ Wahrnehmungstheorie von besonderer Bedeutung, da sie zeigen, welche Möglichkeiten der Stagirite der Wahrnehmung und der mit ihr zusammenhängenden Vorstellungskraft (ƶƢƮƴƢƳ̄Ƣ) zuschreibt. Dabei geht er sowohl in der Ansiedlung der Koordination der verschiedenen Sinne im Wahrnehmungsvermögen als auch in der Beschreibung der sinnlich erkennbaren Objekte weit über Platons Aussagen im 6JGCKVGV hinaus, so dass er die Wahrnehmung, und nicht die rationale Fähigkeit zu meinen (ƥ̆ƯƢ), als Leitvermögen der Tiere darstellen kann285. Diese Konzeption wurde in der Folgezeit recht selbstverständlich akzeptiert, wovon die Neuplatoniker keine Ausnahme bildeten286. Die Interpretation von &GCPKOC zeigt das besonders deutlich und bietet zudem die Gelegenheit, die Grundannahmen über das Verhältnis von Rationalität und sinnlicher Erkenntnis sowie über die Unterscheidung von Mensch und Tier unter Berücksichtigung der aristotelischen Vorlage aufs Neue zu durchdenken. Aristoteles’ erster grundlegender Punkt ist der Nachweis, dass es nicht mehr als die fünf Sinne geben kann, die wir aus unserer Erfahrung kennen (III 1, 424b 22-425a 13). Sowohl die Frage, warum hier ein Beweis für eine Erfahrungstatsache geführt wird (anders als hist. an. IV 8, 532b 29-33), als auch die Struktur des Arguments selbst sind in Aristoteles’ Text nicht leicht nachzuvollziehen287. Robert Hicks vermutet, dass sich Aristoteles
_____________ 284 285 286 287
Prisc. in an. 155, 3-5; 158, 18-23; 161, 4-19;177, 28-32. Sorabji 1992, 195f. Vgl. Opsomer 2006. Hamlyn 1968, 115-117.
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Aristoteles-Interpretation
hier gegen Demokrit wendet, der mehr als fünf Sinne angenommen habe, doch ist das keineswegs sicher288. Priskian zufolge ist das Argument über die Vollständigkeit der Sinne deswegen wichtig, weil es die Vollkommenheit (ƴƦƬƦƪ̆ƴƨƲ) der sinnlichen Wahrnehmung beweist, aus der man wiederum schließen kann, dass sie unmittelbar mit dem Geist in Verbindung stehen289. Das ist einer der Gründe, die Priskian dafür anführt, die ersten beiden Kapitel des dritten Buchs bereits als Vorbereitung auf die Geistlehre anzusehen, um die es seiner Meinung nach in diesem ganzen Buch geht290. Ein weiteres Argument dafür, dass Aristoteles einen logischen Beweis für die Vollständigkeit der Sinneswahrnehmung führt und sich nicht mit einem Verweis auf die Erfahrung zufriedengibt, sieht Priskian darin, dass Jamblich zufolge davon auszugehen sei, dass wir auch Vermögen haben, die unserer Beobachtung nicht zugänglich (ʕƶƢƮ͋) sind291. Ein erstes aristotelisches Argument für die Vollständigkeit der Sinne findet Priskian darin, dass in uns die wahrnehmende Lebensfunktion vollständig vorhanden ist. Das erkenne man aus der Art unserer Bewegung: Wir bewegen uns örtlich, haben also die vornehmste Art der Bewegung, die unseren ganzen Körper, und nicht nur einen Teil davon umfasst. Weiterhin bewegen wir uns, anders als Würmer und Fliegen, in zielgerichteter Weise (ˮƱƪƳƭ̀ƮƹƲ), die nicht irgendwie eingeschränkt (ʕÝƦƳƴƦƮ̊ƭƦƮưƮ) ist, wie es etwa bei Ameisen und Bienen der Fall ist292. Diese Unterscheidung der Bewegung verschiedener Insekten erklärt sich wohl damit, dass Priskian in der schwarmartigen, auf Nahrungsquellen ausgerichteten Bewegung von Ameisen und Bienen eine größere Ordnung erkannte. Einleuchtender ist der Unterschied, den er zwischen diesen Wesen und denen mit einer noch zielgerichteteren Bewegung macht: Deren Bewegung ist „entscheidungs- und einfallsreich“ (ʟÝƪƮưƨƴƪƫ̅ƮƫƢ̃Ʀ˝ƭ̂ƷƢƮưƮ), was sich besonders bei den Lebewesen zeigt, deren Wahrnehmungsfähigkeit der Vernunft (Ƭ̆ƤưƲ) gehorchen und ihre Anweisungen verstehen kann. Diese Bezogenheit auf die Vernunft zeigt, dass die Sinneswahrnehmung in diesen Wesen vollständig entwickelt ist, und wenn sie nur fünf Sinne haben, dann kann es keine weiteren Sinne geben293. Übrigens soll nicht nur der Mensch auf diese Weise eine vollständige Sinneswahrnehmung haben, sondern auch die höheren Tiere294, wobei man etwa an Hunde oder Pferde denken
_____________ 288 289 290 291
Hicks 1907, 422f.; Ross 1961, 268f. Prisc. in an. 172, 16-20. Prisc. in an. 172, 10-16. Prisc. in an. 173, 7-9; 174, 38-41. Diese Ansicht wird von Finamore/Dillon 2002 nicht zur Rekonstruktion von Jamblichs &GCPKOC herangezogen. 292 Prisc. in an. 173, 22-27. 293 Prisc. in an. 173, 27-33. 294 Prisc. in an. 173, 33-37.
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kann, die erzogen werden können. Diese Erklärung der Vollständigkeit von Sinneswahrnehmung scheint allerdings wenig überzeugend: Denn der Bezug von Sinneswahrnehmung auf Vernunft impliziert höchstens deren vertikale Vollkommenheit, insofern die Wahrnehmung als ganze mit der Vernunft kommunizieren kann, aber nicht, dass nicht weitere Sinne neben den fünf bekannten vorhanden sein könnten, die vielleicht für den Menschen nicht notwendig sind, sehr wohl aber für ein anderes Lebewesen. Übrigens geht Priskian auch darüber hinweg, dass sich sein Argument in Aristoteles’ Text gar nicht finden lässt, sondern, wie Stephanos bemerkt, von Themistios stammt295; Priskians Ausführungen scheinen hier also einer Vorlage zu folgen und sind nicht direkt dem aristotelischen Text entnommen. Das zweite Argument für die Vollständigkeit der Sinne lehnt sich hingegen an Aristoteles’ eigenen Beweisgang an, der von der Vollständigkeit der erfassten Objekte ausgeht296. Priskian vereinfacht den Gedankengang allerdings etwas, indem er besonders auf die Medien abhebt, durch die vermittelt das wahrgenommene Objekt sein Organ erreicht: Dieses Medium ist entweder aus allen Elementen gemischt, wie unser Körper als Tastorgan, oder es entstammt den Elementen Luft oder Wasser, durch die wir entfernter liegende Gegenstände erkennen, da Feuer und Erde zur Übermittlung ungeeignet sind. Da die Sinnesorgane die gleiche stoffliche Zusammensetzung haben müssen wie die Medien und unsere Sinne demnach in der Tat alle diese Stoffe enthalten, kann es keine weiteren Sinne neben den bekannten fünf geben297. Auch dieses Argument behält natürlich nur im Rahmen einer Physik seine Gültigkeit, die mit den vier Elementen Feuer, Wasser, Erde, Luft operiert. Für Priskian trifft das zu, und daher kann er in dieser Argumentation eine Grundlage für die wichtigeren folgenden Gesichtspunkte sehen. Die Einheit der Sinneswahrnehmung Der zweite Teil dieses Kapitels (III 1, 425a 14-b 11) fährt mit der Frage fort, ob für die Erkenntnis der Gegenstände, die durch mehrere Sinne gleichzeitig erfasst werden (ƫưƪƮ˽ ƢˁƳƩƨƴ˾), nämlich Bewegung, Ruhe, Gestalt, Größe, Zahl und Einheit298 (425a 16; vgl. II 6, 418a 16f.), ein weiteres Sinnesvermögen anzunehmen ist. Aristoteles’ Argumentation dazu
_____________ 295 296 297 298
S. u. S. 242. Rekonstruktion von Aristoteles’ Gedankengang bei Hamlyn 1968, 115f. Prisc. in an. 174, 2-37. Zu letzterem vgl. aber Ross 1961, 270.
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Aristoteles-Interpretation
ist nicht einfach zu interpretieren. Denn im ersten Teil des Abschnitts (425a 14-27) lehnt er ein derartiges zusätzliches Vermögen klar ab und behauptet, die allgemeinen Wahrnehmungsgegenstände würden nur akzidentell (ƫƢƴ˽ƳƵƭƣƦƣƨƫ̆Ʋ) erkannt. Dagegen spricht er in der Fortsetzung von einer allgemeinen Wahrnehmung (Ƣ˅ƳƩƨƳƪƲƫưƪƮ̂), die wir nicht akzidentell (ư˝ƫƢƴ˽ƳƵƭƣƦƣƨƫ̆Ʋ) haben (v.a. 425a 27f.; vgl. auch III 7, 431b 5), wie es sich auch aus dem sechsten Kapitel des zweiten Buchs von &G CPKOC (418a 8f. 24f.) ergibt, wo die allgemeinen Wahrnehmungsobjekte eingeführt werden. Allerdings impliziert eine direkte Erkenntnis der allgemeinen Objekte nicht unbedingt die Annahme eines eigenen Sinns für diese299. Das Problem wird dadurch verkompliziert, dass Aristoteles in anderen Schriften offensichtlich einen derartigen Gemeinsinn (ƫưƪƮ́ Ƣ˅ƳƩƨƳƪƲ,ƫ̈ƱƪưƮƢˁƳƩƨƴ̂ƱƪưƮu. ä.) annimmt300. Auch aus diesem Grund ist die Rede von einem Gemeinsinn für die nacharistotelische Tradition größtenteils selbstverständlich gewesen. Unter den modernen Interpreten herrscht hierüber hingegen keine Einigkeit. Während einige die Existenz eines Gemeinsinns bei Aristoteles überhaupt bestreiten301, beschränken ihn andere auf die Koordination der verschiedenen Wahrnehmungen302. Eine dritte Gruppe schreibt ihm schließlich auch die Zuständigkeit für die allgemeinen Objekte zu303. Zum letzten Punkt ist mehrfach vermerkt worden, dass sich Priskian und Stephanos gegen die Annahme eines Gemeinsinns aussprechen. Aus diesem Grund werden sie als Kronzeugen dafür angeführt, dass die Annahme eines Gemeinsinns überhaupt weder philosophisch richtig noch Aristoteles’ Ansicht sei304. Das wird im Folgenden kritisch zu prüfen sein. Für Priskian liegt das Problem bei der Interpretation dieser Passage im unterschiedlichen Gebrauch von „nebenbei“ (ƫƢƴ˽ƳƵƭƣƦƣƨƫ̆Ʋ), was auch schon Themistios und wahrscheinlich Alexander von Aphrodisias und Plutarch von Athen so gesehen hatten305. Um dieses Problem zu lösen, unterscheidet er zu Beginn seiner Interpretation zwei verschiedene Verwendungsweisen des gegenteiligen Ausdrucks „an sich“ (ƫƢƩ’Ƣ˞ƴ̆) in Bezug auf Wahrnehmungsgegenstände: Etwas kann „entweder in erster Linie
_____________ 299 Ross 1961, 270; Hamlyn 1968, 117, vgl. aber 119f. 300 Mem. 1, 450a 10 bzw. 13; somn. 2, 455a, 12-26; part. an. IV 10, 686a 31. Dazu Ross 1955, 35; Kahn 1979, 12-16. 301 Welsch 1987, 307-380. 302 Z.B. Cantin 1961; Bernard 1988, 113-180. 303 Z.B. Modrak 1981. 304 So pointiert Welsch 1987, 283; vgl. Kahn 1979, 9 Anm. 24; anders Hicks 1907, 431; Welt 2003, 92. 305 Them. an. paraphr. 81, 29-36. Zu Plutarch s. u. S. 243. Die Übereinstimmung von Plutarch und Themistios macht einen gemeinsamen Bezug auf Alexander wahrscheinlich.
Priskian von Lydien
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und, indem es der Wahrnehmung durch sich selbst unterfällt, oder in zweiter Linie und gleichsam einer Ursache folgend“ wahrgenommen werden. „So wie das Sehvermögen die Größe und die Gestalt einer Sache sieht, indem es vermittels der Farbe auch durch die Größe und die Gestalt etwas erleidet, aber nur insofern, als sie gefärbt sind und zusammen mit der Farbe wirken“306.
Priskian betont also, dass alle Wahrnehmungsgegenstände durch einen physiologischen Prozess im Organ wahrgenommen werden müssen, wenn auch auf zweierlei Weise. Der erste Fall betrifft die eigentümlichen Wahrnehmungsgegenstände jedes einzelnen Sinns, der zweite, bei dem die Erkenntnis gleichzeitig durch mehrere Sinne erfolgt307, die Wahrnehmung der allgemeinen Gegenstände. Diese ist demnach ein Begleitumstand der Wahrnehmung der direkten Objekte, weil deren Bewegtheit oder Gestalt in der direkten Wahrnehmung, bei der eine körperliche Wirkung auf das Organ stattfindet, miterkannt wird. Diese Interpretation steht im Zusammenhang mit der Deutung von Aristoteles’ Aussage, dass wir die allgemeinen Objekte „durch Bewegung wahrnehmen“ (ƫƪƮ̂ƳƦƪ ƢˁƳƩƢƮ̆ƭƦƩƢ; 425a 17). Priskian versteht das, wie die übrigen antiken Interpreten308, nicht als einen Hinweis darauf, dass alle allgemeinen Objekte vermittelt durch Bewegung als allgemeines Objekt wahrgenommen werden, sondern als eine Aussage über das Erleiden, das auch bei ihrer Wahrnehmung erfolgt309. Diese Interpretation ist nicht selbstverständlich. Der Text suggeriert auf den ersten Blick eher, dass die Bewegung der äußeren Wahrnehmungsobjekte selbst dazu führt, dass wir diese als bewegt, ruhend, in einer gewissen Zahl etc. wahrnehmen, und zwar indem die Erkenntnisse der verschiedenen Sinne aufeinander bezogen werden (425b 4-11). So lesen viele moderne Interpreten den Text310. Priskian hatte seine Deutung bereits in seiner Theophrast-Paraphrase vorgetragen. Dort geht er vielleicht von einer Aussage Theophrasts aus311, wenn er festhält, dass Gestalt (ƭưƱƶ̂) nicht durch Bewegung, also durch ein anderes allgemeines Objekt, erkannt werde. Vielmehr würden alle allgemeinen Objekte „durch die Bewegung, das heißt durch das Verändert-
_____________ 306 Ɔƪ̊ƱƪƳƴƢƪ ƥ˿ ˮƲ ƫƢ̃ ƴ̅ ƫƢƩ’ Ƣ˞ƴ̅ ƥƪƴƴ̆Ʈ, ʳ ÝƱưƨƤưƵƭ̀ƮƹƲ ƫƢ̃ ƥƪ’ ʠƢƵƴ̅ ˞ÝưÝ̄ÝƴưƮ ƴ͌ ƢˁƳƩ̂ƳƦƪ,ʳƥƦƵƴ̀ƱƹƲƫƢ̃ˮƲƢˁƴ̄ͰʟÝƢƫưƬưƵƩưͨƮ,ƥƱͲƮƭ˿ƮƫƢ̃Ƣ˝ƴ̅ƦˁƲƴ̅ƢˁƳƩƨƴ̂ƱƪưƮ, ʕƬƬ˽Ƴ̇ƮʙƬƬͰÝ˾ƮƴƹƲÝƱưƨƤưƵƭ̀ƮͰŻˮƲƴ̅ƭ̀ƤƦƩưƲƫƢ̃ƴưƳƷ͋ƭƢƴưͨÝƱ˾ƤƭƢƴưƲʲ˕ƸƪƲ ˒Ʊ́,ƥƪ˽ƴưͨƷƱ̊ƭƢƴưƲÝ˾ƳƷưƵƳ˾ƴƪƫƢ̃˞Ý̅ƴưͨƭƦƤ̀ƩưƵƲƫƢ̃˞Ý̅ƴưͨƳƷ̂ƭƢƴưƲ,ʕƬƬ˽ ƫƦƷƱƹƳƭ̀ƮƹƮƫƢ̃Ƴ̇ƮƴͳƷƱ̊ƭƢƴƪƥƱ̊ƮƴƹƮ. Prisc. in an. 182, 23-29. 307 Prisc. in an. 182, 29-32. 308 Vgl. Bernard 1988, 115f. Anm. 8. 309 Prisc. in an. 183, 10-24. 310 Hicks 1907, 428f. Weiteres bei Bernard 1988, 115-120. 311 Das vermutet jedenfalls Huby 1999, 81, doch ist es mindestens ebenso gut möglich, dass Priskian einer späteren Kommentartradition folgt.
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Aristoteles-Interpretation
Werden“ (ƴ͌ ƫƪƮ̂ƳƦƪ, ƴư̈ƴƦƳƴƪ ƴͳ ʕƬƬưƪưͨƳƩƢƪ) des Sinnesorgans wahrgenommen312. Bei der Interpretation von &GCPKOC betont er entsprechend, dass Aristoteles’ Formulierung, die allgemeinen Wahrnehmungsobjekte würden nur nebenbei (ƫƢƴ˽ƳƵƭƣƦƣƨƫ̆Ʋ. 425a 15) wahrgenommen, einen Einwand gegen diese Theorie wiedergebe – eine Annahme, bei der ihm einige moderne Interpreten folgen313. Denn sie könne nicht Aristoteles’ Meinung darstellen, da diesem zufolge ja auch die allgemeinen Objekte ebenfalls „an sich“, wenn auch in einem bestimmten Sinn, wahrgenommen würden, die wirklich akzidentellen Wahrnehmungsobjekte, z.B. Kleons Sohn als Substanz (ư˝Ƴ̄Ƣ), hingegen von gar keinem Sinn314. Zu Aristoteles’ Formulierung, dass wir dabei eine allgemeine Sinneswahrnehmung der allgemeinen Objekte haben (III 1, 425a 27), betont Priskian, dass hier nicht eine gemeinsame Wirkung aller Einzelsinne gemeint ist, sondern dass jeder von ihnen mit allen anderen in Verbindung steht (ƫưƪƮƹƮƦ͙Ʈ)315. Während Wolfgang Welsch diese Ablehnung eines Gemeinsinns aufnimmt316, ist Priskians Auslegung von Robert Hicks dafür kritisiert worden, dass sie den Unterschied zwischen einzelsinnlicher und gemeinsamer Wahrnehmung nicht erklären könne317. Dieser Vorwurf ist jedoch falsch, denn Priskian legt großes Gewicht auf diesen Unterschied und kann, wie wir gesehen haben, plausibel erklären, inwieweit die allgemeinen Objekte zwar direkt, aber doch in eigener Weise erkannt werden. Wenn Priskians Ausführungen dabei über Aristoteles hinausgehen, sind sie ein systematisches Weiterdenken, um zu verdeutlichen, dass die allgemeinen Objekte nicht nur nebenbei (ư˝ ƫƢƴ˽ ƳƵƭƣƦƣƨƫ̆Ʋ) wahrgenommen werden und daher nicht einem eigenen Gemeinsinn zuzuordnen sind, sondern durch die Gemeinschaft mehrerer Sinne erkannt werden. Obwohl die Auslegung von „durch Bewegung“ diskutabel ist, trifft das sicherlich Aristoteles’ Hauptanliegen in diesem Abschnitt318.
_____________ 312 Prisc. in Theophr. 21, 16-32. Die ähnliche moderne Interpretation von Cantin 1961, 19-21, möchte zugleich nicht auf die Annahme verzichten, dass die anderen allgemeinen Objekte vermittelt durch die Bewegung wahrgenommen werden, vermeidet also eine klare Entscheidung. 313 Prisc. in an. 182, 16-23. Entsprechend, und mit Berufung auf Priskian, Kahn 1979, 9 Anm. 24; Bernard 1988, 118f. (mit Verweisen auf Vertreter der gegenteiligen Interpretation). 314 Prisc. in an. 183, 3-15; vgl. 216, 11-14. 315 Prisc. in an. 185, 7-11; vgl. 274, 6-10 (zu III 7, 431b 5). 316 S. dazu u. S. 244f. 317 Hicks 1907, 428. 318 Vgl. dazu u. S. 242-245. Unrichtig ist die Aussage von Blumenthal 1996, 129, dass Priskian und die anderen Kommentatoren eine eigene Fähigkeit für die Erkenntnis der allgemeinen Objekte annehmen.
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Allerdings nimmt Priskian sehr wohl einen Gemeinsinn an, der von den Einzelsinnen verschieden ist. Dieser ist aber nicht für die allgemeinen Wahrnehmungsgegenstände zuständig, sondern ist in der Lage, die von verschiedenen Einzelsinnen wahrgenommenen Objekte voneinander zu unterscheiden oder in Beziehung zu setzen, dass z.B. das Gelbe dort zugleich das Süße dort ist, nämlich der Honig. In dieser Annahme folgt er wiederum einer Tradition, die sich in den Grundzügen schon bei Themistios und Alexander finden lässt319. Die sachliche Erklärung, die Priskian für dieses Phänomen gibt, ist jedoch neuplatonisch: Die allgemeine Wahrnehmung ist nicht einfach die Einheit der Einzelsinne, sondern ergibt sich daraus, dass diese zusammengenommen werden, so wie die eine Hand über fünf Finger verfügt320. In diesem Sinn stellt die allgemeine Wahrnehmung ein eigenes Vermögen dar, das „vor der Menge existiert und mit allen zusammenwirkt“321 und „einen herausgehobenen Rang hat“322. Diese Aussagen sind nicht ganz einfach zu gewichten: Denn im gleichen Atemzug erklärt Priskian die Einheit beider Formen der allgemeinen Wahrnehmung dadurch, dass die Sinne zwar verschieden sind, wegen ihrer unkörperlichen Natur als Seelenarten aber auf ein Erkenntnisvermögen zurückführbar sind bzw. eines bilden323. Die herausgehobene Natur der allgemeinen Wahrnehmung ist also ein Sonderfall der seelischen Natur jedes Einzelsinns, mit dem sie im Prinzip identisch ist, ohne aber direkt mit einem Organ verbunden zu sein324. Priskians Idee der Sinnesgemeinschaft erklärt sich demnach aus der Anwendung des neuplatonischen Prinzips von der Einheit und Vielheit unkörperlicher Dinge, für das sich allerdings bereits Ansätze bei Alexander von Aphrodisias finden, und zwar auch bei der Interpretation dieser Stelle325. Diese von den antiken Interpreten angenommene gleichzeitige Einheit und Verschiedenheit der Sinne gibt wohl die Richtung für die am ehesten erfolgversprechende Interpretationsrichtung von Aristoteles’ Aussagen zum Geimeinsinn an, wobei die Fundierung in der neuplatonischen Ontologie allerdings mit Vorsicht zu behandeln ist326. Ein Gemeinsinn als Erkenntnisorgan für die allgemeinen Sinnesobjekte ist jedenfalls nicht in Aristoteles’ Sinn, wie Priskian deutlich macht.
_____________ 319 320 321 322 323 324 325 326
Them. an. paraphr. 84, 35-86, 38; zu Alexander s. u. S. 248. Prisc. in an. 185, 11-20. ˶ƲƴưͨÝƬ̂ƩưƵƲÝƱưƻÝ˾ƱƷưƵƳƢƮƫƢ̃Ý˾ƳƢƪƲƳƵƮƦƱƤưͨƳƢƮ. Prisc. in an. 269, 39f. ƕ̅ʟƯƢƪƱƦƴ̅ƮʩƷưƵƳƢƮ. Prisc. in an. 195, 31. Prisc. in an. 185, 27-186, 3; 196, 1-4; wie es auch für die Gesamtseele gilt, s. o. S. 191f. Prisc. in an. 196, 23-31; vgl. Blumenthal 1982, 86. Dazu genauer u. S. 248. Ähnlich Kahn 1979, 10f. 15; Bernard 1988, 113-180; Busche 2001, 48 Anm. 89.
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c. Die Vorstellungskraft Die Vorstellungskraft als Erinnerungsvermögen Aristoteles’ Aussagen zur Vorstellungskraft (ƶƢƮƴƢƳ̄Ƣ) gehören zu den schwierigsten Passagen seiner Seelenlehre; es wird sogar mit gutem Grund bezweifelt, dass Vorstellungskraft überhaupt eine geeignete Übersetzung des aristotelischen Terminus darstellt, der verschiedene Weisen, auf die uns Dinge erscheinen (ƶƢ̄ƮƦƳƩƢƪ), umfasst327. In Ermangelung einer besseren Übersetzung werde ich jedoch diesen Begriff oder das griechische Wort in Umschrift benutzen und an gegebener Stelle auf seine Schwierigkeiten hinweisen. Diese terminologische Schwierigkeit hat nicht zuletzt mit den Problemen der Interpretation von Aristoteles’ Text zu tun. Dabei kann man zwei Problemdimensionen festhalten. Einerseits scheint Aristoteles die Vorstellungskraft teilweise als bloßes Epiphänomen der Wahrnehmung (III 3, 428b 10-17) und teilweise als die Voraussetzung für das Denken zu schildern (ƮưƦ͙Ʈ. III 3, 427b 27-29)328, so dass sich die Frage stellt, inwieweit sie neben der passiven Aufnahme der Wahrnehmungsgegenstände auch aktive Züge hat. Eine weitere Frage ist, inwieweit Aristoteles die Vorstellungskraft als ein Vermögen ansieht, das ausschließlich in Vorstellungen bzw. mentalen Bildern denkt oder inwieweit es auch nicht bildlich zu denkende Aspekte umfasst329. Priskian betont sowohl den passiven, auf die Sinneswahrnehmung bezogenen, als auch den aktiven, das Denken vorbereitenden Aspekt der Vorstellungskraft. Einerseits ist sie mit der Sinneswahrnehmung verbunden und empfängt die in ihr vorhandenen Eindrücke (ƴ̈Ýưƪ) von ihr, andererseits bringt sie aus sich selbst heraus (ʕƶ’ ʠƢƵƴ͋Ʋ) neue Eindrücke hervor und ist, insofern sie diese Selbständigkeit besitzt, ein reflexives Vermögen (Ʈư̂ƳƪƲ bzw. ƮưͨƲ. Vgl. III 3, 427b 16; III 9, 433a 10), was allerdings nur für die Vorstellungskraft der rationalen Wesen gilt330. Diese Beschreibung stellt gegenüber Plotin, der innerhalb der Vorstellungskraft das bereits rationale Meinen und ein nicht rationales Vorstellen unterschieden hatte331, eine klarere Abgrenzung dar, die zugleich mit einer Aufwertung der Phantasia verbunden ist, denn diese kann nun auch als nicht rationales Abbildungsvermögen einen Gegenstand für das Denken abgeben. Priskian zögert freilich, anders als Philoponos und Stephanos332, die
_____________ 327 328 329 330 331 332
Schofield 1979, 103f.; Frede 1992, 279f. Frede 1992, 282. Sheppard 1991, 165f. Prisc. in an. 17, 2-4; 202, 4-9; 296, 19-21. Plot. enn. III 6, 4, 18-23. S. o. S. 42; vgl. auch Cürsgen 2003, 100. S. o. S. 48f.
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Vorstellungskraft mit dem leidensfähigen Geist (ÝƢƩƨƴƪƫ̅Ʋ ƮưͨƲ. III 5, 430a 23-25) zu identifizieren und scheint diesen eher als den Verstand anzusehen, der in Verbindung mit Vorstellungsbildern denkt333. Die Nähe zur Sinneswahrnehmung beschreibt er dadurch, dass das Entstehen der vorgestellten Bilder direkt mit dem aktiven Hervorbringen der Gehalte (Ƭ̆Ƥưƪ) durch die Sinneswahrnehmung in Verbindung steht, sich aber dadurch von ihr unterscheidet, dass die einmal empfangenen Gehalte immer wieder hervorgebracht werden können334. Dieses Hervorbringen steht im Unterschied zum Meinen, das wir mit jeder Aussage automatisch verbinden, in unserem Belieben (ʟƶ’ ʲƭ͙Ʈ. III 3, 427b 18-20), wenn auch nicht ausschließlich, da wir auch nicht gewollte Vorstellungsbilder hervorbringen, z.B. wenn wir träumen335. Allerdings sind die Ergebnisse dieser selbständigen Aktivität der Phantasia häufig, oder sogar meistens, nicht richtig, da sie zum Ausschmücken neigt (Ýưƪƫ̄ƬƬưƵƳƢ)336, also die infolge der Sinneswahrnehmung gewonnenen Erkenntnisse nicht unverändert wiedergibt. Das trifft insbesondere auf die Vorstellungskraft rationaler Wesen zu, die sich gleichzeitig auf verschiedene Dinge beziehen kann, während die Vorstellungskraft nicht rationaler Wesen häufiger zu richtigen Erkenntnissen gelangt337. Die Phantasia hat also in erster Linie eine Erinnerungsfunktion, durch die einmal gewonnene Erkenntnisse über die sinnlich wahrnehmbare Welt reproduzier- und damit benutzbar werden; sie ist kein Erkenntnis-, sondern ein Abbildungsvermögen338. Aus diesem Grund brauchen wir sie auch nicht, wenn wir uns eine Meinung über eine Wahrnehmung bilden339: Das ist ein momentaner Akt, der zunächst einmal keine Erinnerungsleistung enthält. Gebraucht wird die Vorstellungskraft dagegen bei jedem Urteil der praktischen Vernunft340: Diese bezieht sich auf Einzelereignisse immer so, dass diese in Bezug zur eigenen Persönlichkeit gesetzt werden; daher müssen sie unter Anwendung der Gedächtnisfunktion der Phantasia gedeutet sein. Allerdings spielt die Vorstellungskraft insofern eine Rolle bei der Erkenntnis, als sie die sinnlich erkannten Formen durch Anwendung geo-
_____________ 333 Prisc. in an. 247, 27-248, 17; vgl. aber 17, 4f.; Blumenthal 1996, 161; ungenau Welt 2003, 95. 334 Prisc. in an. 213, 25-35; 214, 5-8. 20-22. 335 Prisc. in an. 206, 8-14. 336 Prisc. in an. 206, 18-20; 209, 30f.; 214, 11f. 337 Prisc. in an. 215, 35-216, 1. 338 Sheppard 1991, 169f.; zur analogen Funktion der Phantasia bei Proklos Cürsgen 2003, 102f. 339 Prisc. in an. 212, 11-20. 340 S. u. S. 411f.
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metrischer Figuren auf exaktere Weise abbilden kann341. In dieser Funktion bringt sie Thomas Welt zufolge „apriorische Strukturen des Seins [...] zur Erscheinung“342 und ist damit ein wichtiger Schritt auf dem Weg der Seele zur Erkenntnis der reinen Formen. Es ist allerdings bei Priskian nicht ganz klar, ob auch diese Funktion durch die Neigung der Vorstellungskraft zur Ausschmückung beeinträchtigt wird, die der Kommentator im gleichen Atemzug erwähnt. Jedenfalls sorgt diese Ungenauigkeit dafür, dass die Vorstellungskraft nicht geeignet ist, das Leben von rationalen Menschen in geeigneter Weise zu leiten, wie es bei schlafenden oder betrunkenen Menschen deutlich wird. Für Tiere ist es nur deswegen unproblematisch, dass ihr Leben durch Vorstellungskraft bestimmt ist, weil ihre nicht rationale Phantasia, wie bereits erwähnt, der Sinneswahrnehmung direkter folgt als die menschliche, die durch ihre Verbindung mit der Vernunft weitere Synthesemöglichkeiten hat, die zu Fehlern führen können (III 3, 429a 5f.)343. Dieser Unterschied deutet an, dass bei Priskian rationale und nicht rationale Vorstellungskraft nicht innerhalb eines Lebewesens bestehen, sondern dass die Vorstellungskraft ebenso wie die Sinneswahrnehmung in rationalen Wesen wegen des Zusammenhangs mit dem Geist etwas anderes ist als die in nicht rationalen344. Die Vorstellungskraft und die Einheit der Erkenntnis Priskian betont, dass Sinneswahrnehmung und Vorstellungskraft dasselbe körperliche Organ gebrauchen, nämlich das aus Philoponos bereits bekannte, aber von Priskian bei der Sinneswahrnehmung kaum berücksichtigte Pneuma, das sowohl die wahrgenommenen Gegenstände als auch die von der Vorstellungskraft eigenständig hervorgebrachten Eindrücke abbildet345. Diese Aussagen führen Priskians Grundanliegen fort, jede seelische Fähigkeit als doppelte Formursache eines körperlichen Gegenstandes zu sehen, insofern das Pneuma als Werkzeug der vorstellenden Lebensfunktion (ʲƶƢƮƴƢƳƴƪƫ́Ƨƹ̂) verstanden wird. Im Hintergrund steht wiederum Jamblichs Theorie von dem einen Seelenfahrzeug, über das Sinneswahrnehmung, Vorstellungskraft und in gewisser Weise auch die rationale Seele mit ihrem Körper verbunden sind346. Dass Priskian diese Lehre im Vergleich zu seiner Theophrast-Paraphrase stärker hervor-
_____________ 341 342 343 344 345 346
Prisc. in an. 214, 9f. Welt 2003, 95. Prisc. in an. 214, 23-26; 217, 3-14. Prisc. in an. 286, 26-32; unklar Blumenthal 1982, 87. Prisc. in an. 213, 35-214, 4. S. o. S. 186f.
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kehrt347, liegt an der gesteigerten Bedeutung, die er bei seiner AristotelesInterpretation dem Werkzeug der Seele, d.h. dem lebendig geformten Körperteil beimisst. Da die Vorstellungskraft und die rationale Seele nicht auf so eindeutige Weise mit einem Körperteil verbunden sind, wie das für die Einzelsinne und damit in gewisser Weise auch für deren einendes Vermögen, die allgemeine Wahrnehmung, der Fall ist, blieb nur das Pneuma, das mit dem Seelenfahrzeug identisch ist, übrig, um die Verbindung auch dieser Seelenvermögen mit dem Körper zu erklären348. Priskians Überlegungen zur Einheit des Pneuma haben systematisch vor allem die Bedeutung, die Einheit der von den verschiedenen Vermögen gewonnenen Erkenntnisse des Menschen zu erklären. Auf der Grundlage von Aristoteles’ Annahme, dass das menschliche Denken immer mit vorgestellten Bildern (ƶƢƮƴ˾ƳƭƢƴƢ) agiert (III 7, 431a 14-17)349, ergab sich dabei im Neuplatonismus das Problem, wie denn die Vorstellungskraft als mit dem Körper verbundenes Vermögen in der Lage sein soll, Gedanken abzubilden. Plotin hatte dieses Problem diskutiert und mit der Gedächtnisfunktion der Vorstellungskraft erklärt, dass wir die Gedanken des Geistes nicht immer wahrnehmen350. Seiner Meinung nach bildet die Vorstellungskraft Gedanken „wie in einem Spiegel“ ab, was nach Eyjólfur Emilsson eher eine Abbildung im Sinne des diskursiven Denkens meint als ein eigentliches Vorstellungsbild351. Jamblich scheint diese Annahme so weiterentwickelt zu haben, dass der Vorstellungskraft die Rolle des einenden Bewusstseins zukommt, in dem die Erkenntnisse der verschiedenen Seelenvermögen versammelt sind, wie Priskian in seiner TheophrastMetaphrase mitteilt352. Seine Ansicht führte Priskian allerdings in Verbindung mit Aristoteles’ Einschätzung der Vorstellungskraft als ein auf sinnliche Weise abbildendes Vermögen – die vermutlich auch den Sinn hatte, die Sonderstellung der geistigen Erkenntnis erhalten zu können353 – zu der Frage, wie rationale Erkenntnis von einem Vermögen repräsentiert werden soll, das mit mentalen Bildern operiert.
_____________ 347 Finamore/Dillon 2002, 266-269. 348 Gerade an dieser Stelle wird übrigens deutlich, dass Priskian auf seine Paraphrase zurückgreift, und nicht direkt auf Jamblich, so dass nur der Bedingungssatz selbst dessen Meinung wiedergibt, während der Rest Priskians eigener Beitrag ist (unrichtig in diesem Punkt Cürsgen 2003, 102), wie der Text der Paraphrase nahelegt (vgl. die Einleitung sowie Steel 1997, 133f.; Perkams 2005a. Natürlich sah auch Jamblich das Seelenfahrzeug als den Sitz des Vorstellungsvermögens an: myst. III 14, 132, 11-15. 349 Vgl. dazu z.B. Frede 1992, 289f. 350 Plot. enn. IV 3, 30. 351 Plot. enn. IV 3, 30, 9f. Vgl. Emilsson 1988, 135f. 352 Prisc. in Theophr. 23, 13-23. 353 Frede 1992, 292-294.
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Aristoteles-Interpretation
Priskian löst dieses Problem, indem er den Unterschied von Vorstellungskraft und rationalem Erkennen näher erklärt. Dieser liegt nicht im Ausgangspunkt beider Vermögen, denn sie beruhen jeweils auf Sinnesdaten und ihrer Interpretation im Pneuma, sondern in der Art ihrer Ausrichtung auf Objekte. Beide nehmen von der Sinneswahrnehmung den Anfang, „aber während die rationalen Erkenntnisvermögen zum unkörperlichen, nichteindruckhaften und ungeteilten Erkannten fortschreiten, bleibt die Vorstellungskraft im körperartigen, eindruckhaften und geteilten stehen“354.
Trotz der Selbständigkeit der Vorstellungskraft hat diese ihren Gegenstandsbereich mit der Sinneswahrnehmung gemeinsam, nicht mit dem Geist. Entsprechend bildet sie auch die im Denken gebildeten rationalen Formen auf dieselbe Weise ab wie sinnliche Eindrücke355. Die rationalen Erkenntnisse werden demnach nicht in Form z.B. von Definitionen in der Vorstellungskraft präsent gehalten, sondern als bildliche Eindrücke; ein Mensch wird also von uns im Alltag nicht als „vernünftiges sterbliches Lebewesen“ erinnert, sondern etwa durch das Bild einer zweifüßigen, aufrechten Gestalt. Aus diesem Material muss die Verstandeserkenntnis ihre immer neuen Erkenntnisse gewinnen356. Auch die rationale Dimension des menschlichen Erkennens bleibt demnach durch die Vorstellungskraft auf die sinnliche Wahrnehmung angewiesen, und nur in Verbindung mit ihr hat der Mensch Erinnerung357. Die Verankerung der Erinnerung im Vorstellungsvermögen ist auch entscheidend dafür, dass die menschliche Seele nur eingeschränkt noetisch erkennen kann und dass menschliche Aktivität daher generell von der des reinen Geistes verschieden ist. Hier zeigt sich wiederum Priskians Einschränkung von Aristoteles’ Sonderstellung der noetischen Erkenntnis, die sich in Plotins Lehre vom zugleich transzendenten und immanenten Geist fortgesetzt hatte: Im Gegensatz zu beiden nimmt Priskian an, dass die gesamte menschliche Seele durch ihre Verbindung mit dem Körper bestimmt ist.
_____________ 354 ʝƬƬ˽ƴư̈ƴƹƮƭƦƴƢƣƢƪƮưƵƳͲƮʟÝ̃ƴ̅ʕƳ̊ƭƢƴưƮ[scr.; Hayduck:ʕƳ̊ƭƢƴƹƮ]ƫƢ̃ʕƴ̈ÝƹƴưƮ ƫƢ̃ ʕƭ̀ƱƪƳƴưƮ ƤƮƹƳƴ̅Ʈ ʲ ƶƢƮƴƢƳ̄Ƣ ʟƮ ƴͳ ƳƹƭƢƴưƦƪƥƦ͙ ƫƢ̃ ƴƵÝƹƴƪƫͳ ƫƢ̃ ƭƦƱƪƳƴͳ ƫƢƴ̀ƷƦƴƢƪ. Prisc. in an. 214, 16-18. 355 Prisc. in an. 214, 18-20. 356 Vgl. dagegen u. S. 251-257 zur nicht-abbildhaften Vorstellungskonzeption des Stephanos. 357 Prisc. in an. 248, 5-10.
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6. Die Lehre vom Geist Die zwei Stufen des menschlichen Geistes Das zeigt sich noch deutlicher in Priskians Lehre vom Geist358. Hier legt der Kommentator dar, wie er sich die Mittelstellung der menschlichen Seele zwischen der körperlichen Existenz und der Seinsweise eines ganz unkörperlichen Geistes vorstellt. Stand bis jetzt die Verbindung der Seele mit ihrem Leib im Mittelpunkt, so gilt Priskians Interesse in diesem Teil seines Kommentars besonders der Frage, wie sich die menschliche Seele zu dem reinen Intellekt verhält, mit dem sie ebenfalls untrennbar verbunden ist. Die Struktur des Textes ist geprägt von der Unterscheidung zweier Seinsweisen des menschlichen Geistes: Neben dem Geist, der in Verbindung mit der Vorstellungskraft die materiell existierenden Dinge erkennt und deswegen prinzipiell nicht zur noetischen Erkenntnis reiner Formen in der Lage ist, besitzt unsere Seele einen weiteren Geist, der die Verbindung zu den Formen nie ganz verliert und in dieser Hinsicht dem transzendenten Geist ähnelt. Die erste Form nennt Priskian den „hervorgehenden Geist“ (˒ ÝƱưƺ̉Ʈ ƮưͨƲ359) oder auch den Geist „in Hervorbringung“ (˒ ƫƢƴ˽ ÝƱưƣưƬ́Ʈ ƮưͨƲ360). Die zweite Form nennt er den „seinshaften Geist der Seele“ (˒ư˝Ƴƪ̊ƥƨƲƴ͋ƲƸƵƷ͋ƲƮưͨƲ)361, die „erste seinshafte Vernunft“ (˒ ÝƱͲƴưƲ ư˝Ƴƪ̊ƥƨƲ Ƭ̆ƤưƲ)362 oder auch den „bleibenden Geist“ (˒ƭ̀ƮƹƮƮưͨƲ363). Ich werde die beiden Formen im Folgenden als „hervorgehenden“ und „seinshaften“ Geist bezeichnen. Für den Kenner neuplatonischer Texte verdeutlichen diese Bezeichnungen, welche Unterscheidung Priskian im Sinn hatte: Als „seinshaft“ (ư˝Ƴƪ̊ƥƨƲ) bezeichnete bereits Plotin den reinen Geist, der stets sich selbst und alle seine Objekte denkt und daher stets unveränderlich „bleibt“ (ƭ̀ƮƦƪ)364. Von dieser unveränderlichen Einheit ist der hervorgehende Geist abgeleitet, insofern der reine Geist eine neue Seinsstufe hervorbringt, die sich durch einen geringeren Grad von Dauerhaftigkeit auszeichnet. In der Seele bilden sich also für Priskian typische Schemata des neuplatonischen Wirk-
_____________ 358 Eine textnahe Darstellung von Priskians Noetik bietet Montoya Sáenz 1968, der freilich den neuplatonischen Hintergrund nicht angemessen berücksichtigt. 359 Vgl. zur Bezeichnung „hervorgehender Geist“ für den unvollendeten und den vollendeten Geist vgl. Prisc. in an. 229, 39; 236, 7. 15. 26f.; 238, 23f. 33; 243, 29; 244, 7f. 38. 360 Diese Formel erscheint nie in Reinform, zu ƫƢƴ˽ÝƱưƣưƬ́Ʈvgl. aber 219, 8. 361 Prisc. in an. 230, 2f. 362 Prisc. in an. 219, 21. 363 Prisc. in an. 229, 39; 236, 15. 364 Plot. enn. V 3, 5, 37; s. u. S. 310f.
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lichkeitsverständnisses ab. Zudem ist deutlich, dass diese beiden Stufen mit der zu Beginn des Kommentars erwähnten geistigen und der gebrauchenden Seele, insofern diese rational ist, zu identifizieren sind. Nach den Geist-Kapiteln ist der seinshafte Geist dasjenige Sein (ư˝Ƴ̄Ƣ), von dem alle anderen Formen seelischen Seins ihre Existenz ableiten, und verhält sich zu dem Geist, der mit den körperlichen Erkenntnisformen die materiellen Dinge erkennt, wie eine Definition (˖ƱưƲ) zu etwas Definiertem (˒ƱƪƧ̆ƭƦƮưƮ)365. Doch ist auch diese Form der geistigen Aktivität durch die Verbindung mit dem körperlichen Geist beeinflusst und bei aller Konstanz doch in gewisser Hinsicht veränderlich366. Andererseits ist auch der hervorgehende Geist, der von Aristoteles auch Vernunft (Ƭ̆ƤưƲ) genannt wird367, in seiner Erkenntnis nicht unwandelbar, sondern er entwickelt sich auf dynamische Weise, wie noch näher zu erläutern ist. Eine eigene Behandlung erfährt der praktische Geist, da seine Tätigkeit auf ein Überleben in der körperlichen Welt bezogen ist. Eine Analyse von Priskians Theorie beginnt am besten mit den grundsätzlichen Formen der gewöhnlichen theoretischen und praktischen Erkenntnis. Während der Leser so in die Noetik Priskians eingeführt wird, kann deren innere Logik erst vor dem Hintergrund seiner Theorie der Selbsterkenntnis aufgezeigt werden, die das Thema des zweiten Hauptteils dieser Untersuchung darstellt. Für die Grundzüge der Aristoteles-Interpretation wird aber das im Folgenden Gesagte genügen. Die triadische Struktur des menschlichen Geistes Die grundsätzliche Unterscheidung innerhalb des hervorgehenden Geistes, der mit dem Körper und seinen Erkenntnisformen zusammenwirkt und verbunden ist (ƳƵƭÝƬƦƫ̆ƭƦƮưƲ ƴƢ͙Ʋ ƳƹƭƢƴưƦƪƥ̀Ƴƪ ƤƮ̊ƳƦƳƪ368), besteht darin, dass er in seiner weitesten Entfernung zum seinshaften Geist der Seele ganz unvollendet (ʕƴƦƬ̂Ʋ) ist, von diesem aber vollendet (ƴ̀ƬƦƪưƲ) werden kann369. Wenn das geschehen ist, besitzt er die dauerhafte Fähigkeit (ʪƯƪƲ), die reinen Formen (Ʀ˅ƥƨ) zu erkennen. Ebenso wie Philoponos nutzt also auch Priskian Aristoteles’ Dreistufenschema zur Erläuterung der Struktur des menschlichen Geistes und unterscheidet einen Geist in reiner Möglichkeit von einem, der tatsächlich in der Lage ist, seiner Natur entsprechend aktiv zu werden, und schließlich von dessen Aktivität
_____________ 365 366 367 368 369
Prisc. in an. 218, 20-29; 219, 29-36; 221, 14f. 24. S. dazu u. S. 229-232. Prisc. in an. 238, 7f. S. o. S. 197. Prisc. in an. 218, 40f.
Priskian von Lydien
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(ʟƮ̀ƱƤƦƪƢ)370. Diese Unterscheidung findet er wie Philoponos in Aristoteles’ Unterscheidung des Geistes, der als reine Möglichkeit einer leeren Schreibtafel gleicht (III 4, 429b 29-430a 2), von demjenigen, der bereits aus sich selbst heraus die Möglichkeit zu erkennen hat (III 4, 429b 5-9). Im Unterschied zu seinem Vorgänger bezieht Priskian diese drei Stufen aber nicht auf jede Art geistiger Aktivität, sondern auf die Fähigkeit, auf direkte und intuitive Weise die reinen Formen zu erkennen. Der rein mögliche Geist hat diese Fähigkeit verloren, was nicht heißt, dass er nicht im Zusammenwirken mit der Sinneswahrnehmung zur diskursiven Erkenntnis körperlicher Dinge fähig ist. Den bereits vollendeten hervorgehenden Geist zeichnet es aus, dass er die reinen, immateriellen Formen, darunter auch seine eigene Natur, zu erkennen vermag, wenn auch nicht dauerhaft, sondern nur zeitweise371. Die Aktivität dieser Art des Denkens wird von Priskian nicht so klar als eigene Stufe der Struktur des Geistes herausgestellt, wie das in der Einleitung geschieht372. Das bedeutet nicht, dass die höchste Aktivität des hervorgehenden Geistes mit dem Verharren (ƭưƮ̂), also dem seinshaften Geist der Seele identisch ist. Priskian betont vielmehr, dass auch diese Art des Denkens die verursachten (ƴ˽ƢˁƴƪƢƴ˾), d.h. in Körpern existierenden Formen auf deren eigener Seinsstufe erkennt373. Es ist in dieser Perspektive folgerichtig, die Trennung zwischen dem seinshaften und dem hervorgehenden Geist auch dann nicht aufzuheben, wenn der hervorgehende seine höchste Aktivität entfaltet; denn diese Aktivität kommt ihm immer noch in abgeleiteter Weise zu und ändert nichts an seiner Abhängigkeit vom seinshaften Geist. Auch als Aktivität gehört der vollendete Geist demnach zur mittleren Existenzweise des menschlichen Geistes, doch hat er an dieser Stelle sich selbst insofern überstiegen, als er durch die Selbständigkeit seines Denkens nicht mehr von körperlichen Organen abhängig ist. In der Aktivität des hervorgehenden Geistes erreicht der Mensch damit eine Weise des Denkens, die bereits zur geistigen, nicht mehr zur gebrauchenden Seele gehört, und nur noch durch eine Verbindung mit der Vorstellungskraft in Bezug zu dieser steht374. Diese Beschreibung des Geistes hat eine triadische Struktur, wie es im Neuplatonismus in Bezug auf die Dynamik geistigen Seins üblich ist. Hierbei tritt ein dauerhaftes Element (ƭưƮ̂) aus sich heraus (ÝƱ̆ưƥưƲ) und kehrt zu sich zurück (ʟÝƪƳƴƱưƶ̂). Wenn die rationale Seele bei ihrer Rückkehr ihre ursprüngliche Position nicht ganz erreicht, widerspricht das
_____________ 370 371 372 373
Prisc. in an. 219, 2-21. Prisc. in an. 229, 26-32. Prisc. in an. 5, 10-12. Prisc. in an. 231, 11-17; s. u. S. 360f. zu den mannigfaltigen Erkenntnisweisen dieses Denkvermögens. 374 S. o. S. 174f. und u. S. 388f.
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Aristoteles-Interpretation
der Triadik nicht, da die sogenannte „Rückkehr“ nicht den Urzustand vollständig wiederherstellen muss, sondern häufig einfach eine Rückwendung des Verursachten zu seiner Ursache bedeutet. So wird diese Ursache im Hervorgegangenen wirksam, ohne dass die anfängliche Identität wiederhergestellt wird375. Das hat Damaskios in seiner Untersuchung der philosophischen Prinzipien besonders deutlich gemacht: „Das Zurückkehren ist das Umschreiben der eigenen Wesenheit (ʲ ʠƢƵƴưͨ ˞Ý̆ƳƴƢƳƪƲ) im Hervorgegangen-Sein zusammen mit dem Verharren, so dass dasselbe hervorgegangen und nicht hervorgegangen ist“376.
Mit der Annahme einer höchsten Denkfähigkeit, die noch keine vollständige Identität mit dem Bleibenden der Seele besitzt, schreibt Priskian dem menschlichen Geist also ein Element zu, das die Eigenständigkeit seiner abgeleiteten Existenzform gegenüber deren Ursache ermöglicht. Das ist bemerkenswert, da Priskian keine rein geistige Größe, sondern die menschliche Seele beschreibt, für die die Wiederherstellung einer vollen Einheit mit ihrer Ursache schon deswegen problematisch sein muss, weil sie als stets vom Körper beeinflusstes Phänomen zu einer vollen Rückkehr ins Geistige nicht fähig sein kann. Das gilt in Priskians System umso mehr, als der oberste Geist in der Seele, den das menschliche Denken nie voll einholen kann, bereits selbst eine gewisse Lockerung der Einheit mit sich selbst aufweist377. Die Besonderheit der Situation der menschlichen Seele scheint auch Priskians Terminologie anzudeuten, wenn er das Heraustreten meist als Sinken (ͧưÝ̂) oder als Fließen (ͧư̂) bezeichnet378. Diese Worte sind wahrscheinlich gewählt, weil die Seele die rein geistige Welt verlassen hat und in den Prozess des Werdens und Vergehens (Ƥ̀ƮƦƳƪƲ) eintritt; in diesem Sinn verwendet wohl auch Proklos „Sinken“, während er den bekannteren Begriff Hervorgehen (ÝƱ̆ưƥưƲ) verwendet, wenn er die triadische Struktur der rein geistigen Welt erklärt379. Priskian macht also wiederum mit dem Gedanken ernst, dass die rationale Seele im Mittelpunkt zwischen veränderlicher und unveränderlicher Welt steht, denn in ihr verbindet sich die gleichförmige Konstanz geistiger Prozesse mit dem Werden und Vergehen, das die materielle Welt charakterisiert. Die rationale Seele ist in ihrer Gesamtheit nicht nur von der körperlichen, sondern auch von der geistigen Welt verschieden, doch tritt sie im Laufe ihres Ver-
_____________ 375 Lloyd 1990, 128. 376 ƕ̅ƥ˿ʟÝƪƳƴƱ̀ƶƦƪƮʟƳƴ̃ƴ̅ƴ́ƮʠƢƵƴưͨÝƦƱƪƤƱ˾ƶƦƪƮ˞Ý̆ƳƴƢƳƪƮʟƮƴͳÝƱưƦƬƨƬƵƩ̀ƮƢƪƭƦƴ˽ ƴưͨƭ̀ƮƦƪƮ,ˆƮƢ̡ƴ̅Ƣ˝ƴ̅ÝƱưƦƬƨƬƵƩ̅ƲƫƢ̃ư˝ÝƱưƦƬƨƬƵƩ̆Ʋ. Dam. princ. 2, 132, 32-133, 2. 377 S. u. S. 229-232. 378 Prisc. in an. 223, 28-33. Zum letzten Begriff vgl. Plat. Theaet. 152e 8. 379 Procl. elem. 209 (182, 27) im Gegensatz zu ebd. 29-31 (34, 3. 8. 14. 31).
Priskian von Lydien
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änderungsprozesses mit beiden Welten in verschiedenartige Verbindungen ein. Die Aktivität des hervorgehenden Geistes Für die beiden genannten Existenzweisen des abgeleiteten Verstandes, die ich ab jetzt den unvollendeten und den vollendeten Geist nenne, bedeutet das, dass sie beide nicht frei von Erleiden und in gewissem Sinne passiv sind, da sie sich nicht selbst vollenden, sondern vom wesenhaften Verstand der Seele vollendet werden. So interpretiert Priskian Aristoteles’ Vergleiche des Geistes mit der Sinneswahrnehmung (III 4, 429a 13-15. 29b 5): In der Leidensfähigkeit ist der hervorgehende Geist der Sinneswahrnehmung ähnlich, doch unterscheidet er sich auch von ihr, da er die Vollendung von seiner eigenen eigentlichen Natur, dem seinshaften Geist her erfährt380. Das gilt besonders für den unvollendeten Geist, der vom seinshaften so verschieden ist, dass man sagen kann, er wird nicht aus sich heraus, sondern von etwas anderem vollendet381, aber auch für den vollendeten, der seine Fähigkeit zur Erkenntnis auch nicht aus sich heraus, sondern vom seinshaften Geist hat382. Der unvollendete Geist ist vom seinshaften so verschieden, dass er nur in Möglichkeit, aber nicht in Wirklichkeit die Fähigkeit zu rationaler Erkenntnis besitzt.Seine Objekte sind keine Seinsformen (ư˝Ƴ̄Ƣƪ) bzw. die in diesen existierenden Ideen (Ʀ˅ƥƨ), sondern lediglich Akzidenzien der durch sie konstituierten Gegenstände, nämlich die Gegenstände der Sinneswahrnehmung383, insofern sie allgemein erkannt und in Zusammenhang miteinander gesetzt werden. Priskian erklärt die Aktivität dieser Form des Geistes durch einen Vergleich mit handwerklichen Fertigkeiten (ƴ̀ƷƮƢƪ)384. Der unvollendete Geist ist demnach ein praktisch orientiertes Wissen über innerweltliche Zusammenhänge, das keinen wissenschaftlichen Rang und Anspruch hat, da es nicht versucht zu verstehen, was die Gegenstände wirklich, nämlich von ihrer Definition her sind. Anders als Philoponos, der das rein mögliche Erkennen auf Kinder bezog, die noch nichts gelernt haben385, sieht Priskian es durch eine Lebensführung charakterisiert, die ganz auf das Zurechtkommen bezogen ist und sich nicht mit grundsätzlichen Fragen auseinan-
_____________ 380 381 382 383 384 385
Prisc. in an. 223, 17-28. Prisc. in an. 223, 34-224, 9. Prisc. in an. 219, 14-16. Prisc. in an. 226, 26-34. Prisc. in an. 224, 22-38. Priskian billigt unmündigen Kindern gar keinen Verstand, sondern nur Vorstellungskraft zu: in an. 217, 14.
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dersetzt. In Frage steht also nicht das Maß des vorhandenen Wissens, sondern dessen Charakter und Bezug zur eigenen Persönlichkeit386. Aus diesem Grund nimmt er auch an, dass die Existenzweise des vollendeten Geistes dann beginnt, wenn der Geist sich sich selbst zuwendet, und nicht den wahrnehmbaren Dingen387; denn nur, wenn sich ein Mensch sich selbst zuwendet, kann er die reinen Formen erkennen, über die er in diesem seinshaften Geist verfügt. Hier wird bereits eine Bedeutung deutlich, die der seinshafte Geist der Seele in Priskians Theorie hat, nämlich dass durch ihn alle Formen in der Seele gegenwärtig sind. Auf diesen vollendeten Geist, der das jeweilige Sein der Dinge erkennen kann, bezieht Priskian III 4, 429b 10-21, wo Aristoteles zwei Weisen unterscheidet, in denen Wesenheiten vom Geist erkannt werden, nämlich entweder als mit der Materie verbundene oder als ganz immaterielle Formen. Der vollendete Geist erkennt die mit der Materie verbundenen Formen auf derselben Seinsebene (ƳƵƳƴư̄ƷƹƲ), da er selbst eine solche Form ist. Denn ebenso wie alle in der Materie existierenden Dinge ist der abgeleitete Geist nicht selbst eine Form, sondern ist durch eine solche bestimmt (˒ƱƪƧ̆ƭƦƮưƲ) und hat an ihr teil; das ist Priskians Interpretation von Aristoteles’ Bild von der gekrümmten Linie (III 4, 429b 16f.), während die ausgestreckte Linie die direkte Erkenntnis der Formen bezeichnet, durch die zugleich auch die von ihnen in der Materie geformten Dinge erkannt werden388. Diese Erkenntnisfähigkeit der Existenzweisen des abgeleiteten Geistes lässt Rückschlüsse auf ihren Zusammenhang mit dem Körper zu: Zum einen folgert Priskian aus Aristoteles’ Vergleich von Geist und Sinneswahrnehmung III 4, 429a 24-b 5, dass bereits der unvollendete Geist weder einen Körper formt noch ihn benutzt und daher höherrangig ist als jede vom Körper untrennbare Lebensform (Ý˾ƳƨƲ ʕƷƹƱ̄ƳƴưƵ Ƴƹƭ˾ƴƹƮ Ƨƹ͋ƲʟƯ͉Ʊƨƭ̀ƮưƮ); sonst könnte er nicht einmal die Fähigkeit haben, sich selbst und andere mit dem Körper unverbundene Seinsformen zu erkennen389. Damit folgt Priskian einer Aussage Plotins, der zufolge bereits die Fähigkeit zur Erkenntnis von Formen voraussetzt, dass der Geist nicht den Körper als Werkzeug gebraucht390. Das ist aber nicht Priskians vollständige Position zur Abtrennbarkeit des hervorgehenden Geistes, wie sich aus seiner Beschreibung des vollendeten Geistes ergibt. Denn da dieser auch die materiellen Gegenstände auf ihrer eigenen Ebene (ƳƵƳƴư̄ƷƹƲ), d.h. in Verbindung mit der Sinneswahrnehmung, erkennt, ist er in gewis-
_____________ 386 387 388 389 390
S. u. S. 383-385. Prisc. in an. 229, 11-14. Prisc. in an. 231, 16-37. Prisc. in an. 227, 10-29. Plot. enn. V 1, 10, 12-18; vgl. Atkinson 1983, 218.
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ser Hinsicht auch vollständig untrennbar vom Körper. Die Verbindung des Geistes mit dem Körper ist aber nicht direkt, sondern vermittelt über die sekundären bzw. körperartigen Lebensformen (ƴ̅ [...] ˖ƬưƮ ƴƢ͙Ʋ ƥƦƵƴ̀ƱƢƪƲ ƳƵƭÝƬ̀ƫƦƳƩƢƪ ƧƹƢ͙Ʋ)391, d.h. mit der Sinneswahrnehmung und insbesondere mit der Vorstellungskraft392, in deren Organ, dem Pneuma, die Wahrnehmungsgegenstände präsent sind und auch die rationalen Erkenntnisse abgebildet werden393. Dieser Zusammenhang ist auch dann nicht aufgehoben, wenn der hervorgehende Geist in seiner vollendeten Form existiert, denn sogar wenn er ohne Benutzung von Vorstellungsbildern aktiv ist, werden seine Erkenntnisse als solche aufgenommen und gehen daher beim Tod des Lebewesens verloren394. Diese verschiedenartige Verbindung des Geistes mit dem Körper enthält für Priskian keinen Widerspruch: Seine Quasi-Untrennbarkeit widerspricht nicht der Tatsache, dass er aus einem anderen Blickwinkel entweder in gewisser Weise (Ý͌) oder sogar vollständig trennbar ist395. Hinsichtlich dieses abgeleiteten Geistes hat Priskian also eine ähnliche Position wie Philoponos zum Geist insgesamt396, insofern er ihm sowohl trennbare als auch untrennbare Wirkungen (ʟƮ̀ƱƤƦƪƢƪ) zuschreibt. Allerdings unterscheidet sich seine Position von der seines Vorgängers dadurch, dass diese verschiedenen Aktivitäten nicht einer trennbaren Seinsform zugeschrieben werden, sondern dass sich der hervorgehende Geist selbst entsprechend diesen Wirkungen verändert. Das zeigt sich besonders deutlich daran, dass der Geist dann, wenn er ganz unvollendet existiert, gar keine Formen mehr erkennen kann, also aktuell keine vom Leib trennbaren Wirkungen mehr hat397. In dieser Situation ist es, wie man aus den generellen Regeln zum Zusammenhang von Sein und Aktivität folgern kann, auch nicht mehr möglich, dem hervorgehenden Geist ein abgetrenntes Sein zuzuschreiben, da dieses ohne abgetrennte Aktivitäten im teleologischen Naturverständnis überflüssig wäre398. Der unvollendete Geist ist also auf Abtrennung vom Körper hin angelegt, doch selbst nicht abgetrennt, der vollendete Geist ist dagegen auch aktuell abgetrennt, wenn auch ebenfalls nur in eingeschränkter Weise. Die Abgetrenntheit vom Körper ist nach dieser Darstellung ebenso relativ, wie es auch das Sein und die Unsterblichkeit der Seele für die Neuplatoniker sind. All diese
_____________ 391 392 393 394 395 396 397 398
Prisc. in an. 234, 26; vgl. 218, 33f. Prisc. in an. 238, 31-33. S. o. S. 212-214. Prisc. in an. 5, 12f.; 248, 4-10; 267, 11-30. Prisc. in an. 234, 14-19. S. o. S. 124f. Prisc. in an. 236, 20-23. Vgl. Jamblichs Argument o. S. 188.
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Wandlungsmöglichkeiten finden allerdings auf einer festen Grundlage statt: Der abgeleitete Geist ist als ganzer von seinem ursprünglichen Sein (ʕÝ̅ ƴ͋Ʋ ưˁƫƦ̄ƢƲ ư˝Ƴ̄ƢƲ)399 abhängig, nämlich vom wesenhaften Geist in der Seele. Derartige Überlegungen zur Unverbundenheit von Denken und körperlicher Aktivität wirken auf den ersten Blick irritierend, wenn man sich vergegenwärtigt, dass unser Denken im und nicht getrennt vom Gehirn stattfindet. Es ist jedoch zu beachten, dass Priskian dieser Tatsache nicht widerspricht, obwohl er sie auf zeitgebundene Weise formuliert: Die Annahme, dass auch unser Geist in verschiedener Weise mit Vorstellungsbildern verbunden ist, impliziert das Zugeständnis, dass er sich generell nicht immateriell seinen Objekten zuwenden kann. Priskian nimmt also keinen ganz unkörperlichen Geist im Menschen an, sondern analysiert unser Denken so, dass er es von dem Ideal eines ganz körperlosen Denkens unterscheidet. Ein unmittelbares Erkennen erscheint als denkbares Ideal, dessen Verwirklichung aber nicht automatisch gegeben ist. Inwieweit sie möglich ist, muss die Analyse des seinshaften Geistes zeigen, in dem das theoretische Erkennen seine letzte Einheit mit dem praktischen findet, das nun zu analysieren ist. Das praktische Denken Noch deutlicher ist die Verbindung mit dem Körper beim praktischen Geist. Das praktische Denken erklärt Priskian dadurch, dass das diskursive Denken (ƥƪ˾ƮưƪƢ) nicht nur als Funktion des theoretischen Verstandes auf Erkenntnis abzielt, sondern auch als solche des praktischen Verstandes auf Handlungen400. Das erläutert er anhand von Aristoteles’ Vergleich der Ausrichtung auf Gutes und Schlechtes mit der Sinneswahrnehmung (III 7, 431a 6-17): Diese nimmt etwas nicht nur als ein bestimmtes Objekt wahr, etwa als grün oder süß, sondern auch als angenehm (ʲƥ̈) oder unangenehm (ƬƵÝƨƱ̆Ʈ), worauf der Impuls folgt, es zu erstreben (ˑƱƦƷƩ͋ƮƢƪ) oder zu vermeiden (ʕÝưÝ̀ƭƸƢƳƩƢƪ)401. Priskian ist weniger an einer zeitlichen Abfolge dieser drei Schritte interessiert als daran, dass sie logisch aufeinander basieren, da sie jeweils ohne den vorangehenden Schritt nicht denkbar sind. Allerdings erreicht diese praktische Dimension der Sinneswahrnehmung nicht die Unterscheidung von Gut und Böse, da sie lediglich darauf achtet, ob es sich um „erhaltende oder zerstörerische Arten des
_____________ 399 Prisc. in an. 236, 20. 400 Prisc. in an. 264, 10-12. 401 Prisc. in an. 266, 19-27.
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Erleidens“ (Ƴƹƴ̂ƱƪƢʳƶƩƢƱƴƪƫ˽Ý˾Ʃƨ) in Bezug auf den Körper handelt, dessen sich die Sinneswahrnehmung als Organ bedient402. Der praktische Geist funktioniert insofern parallel zu diesem Modell, als er ebenfalls die erkannten Objekte als erstrebbar oder nicht klassifiziert und darauf mit Wollen oder Nicht-Wollen reagiert; der Unterschied zur Sinneswahrnehmung liegt darin, dass sein Kriterium nicht ist, ob die Objekte angenehm oder unangenehm, sondern ob sie gut oder schlecht sind. Daher kann er auch angenehme Objekte meiden und unangenehme erstreben403. Das praktische Denken ist somit eine eigene Art rationaler Aktivität, die anders als das theoretische immer mit dem Körper verbunden ist, also nicht nur dann, wenn sie sich mit einer bestimmten Klasse von Objekten befasst. Als praktischer gebraucht der Geist daher auch den Körper, was er als theoretischer nicht tut404. Denn für das Handeln sind die körperlichen Objekte nicht nur, wie für den theoretischen Geist, eine Klasse von Erkenntnisgegenständen unter mehreren, sondern Handeln dreht sich ausschließlich um sie. Priskian betont das zum einen für allgemeine Lebenseinstellungen: Meine eigene Lebensführung (ʷƩưƲ) oder die eines anderen, die ich verbessern will, ist ein Gegenstand der Sinneswahrnehmung, weil sie an einem einzelnen Menschen existiert405. Dasselbe gilt für noch allgemeinere Handlungsregeln: In Bezug auf die Verfassung ganzer Städte kommt der praktischen Vernunft durchaus ein theoretisches Potenzial zu, doch bezieht sie sich auch hier auf veränderliche Gegenstände und bleibt daher an die körperliche Welt gebunden, so dass ihr Objekt nicht unveränderlich ist406. Diese Aussagen zeigen ein Verständnis dafür, dass praktisches Erkennen nicht in der Anwendung allgemeiner Regeln auf Einzelfälle besteht, sondern sich an diesen Einzelfällen bewährt und sich ihnen entsprechend verändert. Der praktische Geist trifft seine Entscheidungen in einem Abwägungsprozess, in dem auch schlechte Alternativen eine Rolle spielen, da seine Gegenstände Situationen sind, die sich dauernd verändern. Das kann die theoretische Vernunft nicht, sondern sie bezieht sich auf immer gleich bleibende Objekte, über die prinzipiell eine objektive Wahrheit erreicht werden kann. In der praktischen Vernunft sind dagegen Grenzfälle nicht zu vermeiden, da sie mit stets neuen Situationen zu tun hat, die sich nicht unter ein einfaches Wahrheitskriterium fassen lassen407.
_____________ 402 403 404 405 406 407
Prisc. in an. 266, 13-15. Prisc. in an. 267, 35-268, 9. Prisc. in an. 95, 25f. Vgl. die o. S. 132 zu Philoponos gemachten Ausführungen. Prisc. in an. 273, 22-26. Prisc. in an. 275, 12-26. Prisc. in an. 275, 22-39.
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Priskian weist denn auch darauf hin, dass der praktische Geist sich irren kann, wenn er eine einzelne Handlungsmöglichkeit bzw. eine konkretere Handlungsregel auffasst und, als die zweite Prämisse eines praktischen Syllogismus, mit den allgemeinen Grundsätzen des Guten in Verbindung setzt, um sie im Hinblick auf ihren moralischen Wert zu beurteilen408. Demnach setzt er voraus, dass der praktische Verstand grundsätzliche Einsichten in richtiges moralisches Handeln besitzt, also, wie es im Mittelalter formuliert wurde409, grundsätzlich weiß, dass das Gute zu tun und das Böse zu lassen ist (DQPWO GUV HCEKGPFWO GV OCNWO XKVCPFWO) und wahrscheinlich auch einige Grundregeln guten Handelns kennt410. Das ist eine prinzipiell aristotelische Konzeption praktischen Denkens, die dessen eigenen, handlungsorientierten Charakter erkennt. Sie ist jedoch insofern neuplatonisch, als sie das Gute und die Prinzipien des Handelns prinzipiell als Gegenstände der theoretischen Erkenntnis ansieht, so dass die praktische Vernunft auf einer theoretischen Erkenntnis ruht411. Im Gegensatz zu Philoponos412 ist allerdings zu bemerken, dass Priskian die theoretische Vernunft nur auf das Gute, nicht aber auf das Gute und das Böse bezogen sein lässt. Der Bereich des Praktischen ist bei ihm daher größer, so dass nur das Eine bzw. Gute als die Spitze aller Erkenntnis und einige allgemein geistig begründete Grundsätze dem praktischen Denken entzogen sind413. In jedem Fall behält die handlungsorientierte Vernunft große Bedeutung für die eigene Personalität, wie Priskians Überlegungen zur menschlichen Reflexivität verdeutlichen, die im zweiten Hauptteil dieser Arbeit zu behandeln sind414. 7. Konstanz und Wandelbarkeit des seinshaften Geistes Der Hintergrund der Theorie der systematischen Wandelbarkeit Als Wurzel der dem praktischen Denken entzogenen Grundlagen muss man den seinshaften Geist der Seele sehen, der vom hervorgehenden Geist verschieden ist. Über und neben der aktuellen Erkenntnis der von uns gewussten Objekte gibt es demnach ein wesentliches Moment unserer
_____________ 408 Prisc. in an. 273, 9f. 409 Abael. in Rom. 207, 699-707; Thom. Aqu. STh I-II, 94, 2 c.a. (Ed. Leon. 7, 170). Zur Entstehung dieser Idee vgl. Perkams, im Druck c. 410 Dazu genauer u. S. 410-416. 411 Prisc. in an. 268, 17-21; vgl. 222, 2-6; 264, 5-8. 412 S. o. S. 140f. 413 S. dazu ebenfalls u. S. 410-416. 414 S. u. S. 410f.
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Personalität, in dem uns unsere Stellung als rationales Wesen auf andere Weise bekannt ist. Das war natürlich im Neuplatonismus kein neuer Gedanke, denn schon Plotin hatte den reinen Geist in der Seele von der Person unterschieden, die das Subjekt der körperlichen Handlungen ist415. Von einem ersten Blick auf Priskians Text scheint es allerdings keineswegs selbstverständlich, dass dieser in ähnlicher Weise wie Plotin von der mit dem Körper verbundenen Seele einen Geist unterscheidet, der mit dieser nicht schlechthin identisch, aber doch in ihr präsent ist. Denn Priskian verwahrt sich sowohl in der Einleitung als auch zu Beginn seiner Erklärung von Aristoteles’ Kapiteln zum Geist gegen Plotins Position, dass ein Teil der Seele immer unverändert und rein bleibt416. Nachdem diese Lehre von Jamblich entschieden abgelehnt worden war, waren ihm alle späteren Neuplatoniker darin gefolgt417, und es ist nicht überraschend, dass sich der Aristoteles-Kommentator dieser Meinung seines Vorbilds anschließt. Trotzdem zeigt seine Position eine gewisse Nähe zu Plotin, insofern auch er den bleibenden Geist als eine unbewusste Grundlage unseres Denkens neben der Alltagserfahrung ansetzt. Das wird bereits in der Einleitung eindeutig ausgesprochen, wo Priskian diesen Geist das erste Mal von den verschiedenen Formen des hervorgehenden Geistes unterscheidet. Bereits hier betont er, dass dieser Teil der Seele, in dem allein sie unsterblich ist, besonders durch seine Dauerhaftigkeit (ƴ̅ ƭ̆ƮƪƭưƮ) geprägt ist, die er immer hat, und zwar „in reiner Weise im abgetrennten Leben, in dem Sinken ins Sekundäre aber als etwas, das aus sich selbst in gewisser Weise herausgetreten ist, aber nicht so, dass er überhaupt nicht mehr verharrt; in sekundärer Weise ist er also auch dann verharrend“418.
Im gleichen Sinn stellt Priskian an anderer Stelle heraus, dass der Geist nicht vollständig hervorgeht, sondern eine Verbindung zu seiner separaten Existenz besitzt419. Der seinshafte Geist der Seele ist zwar eine dauernde Quelle des seelischen Seins, aber vom transzendenten Geist unterschieden.
_____________ 415 Vgl. z.B. Plot. enn. I 1, 10, 5-11; IV 4, 18, 10-15; VI 7, 4, 28-5, 31; s. u. S. 313-320. 416 Prisc. in an. 6, 12f. 220, 12f. An der zweiten Stelle lesen die Handschriften anstelle von Plotin „Platon“, doch bezieht sich die Formulierung sicherlich auf Plotin. Vgl. Steel 1978, 39 Anm. 26 (mit Verweis auf die indirekte byzantinische Überlieferung, die Hayduck bei seiner Ausgabe nicht berücksichtigte) und Blumenthal 1996, 139 Anm. 310. 417 S. u. S. 320-335. 418 ˶ƲʕƦ̃ƭ˿Ʈƴ̅ƭ̆ƮƪƭưƮʩƷưƵƳƢ,ʕƫƱƢƪƶƮ˿Ʋƭ˿ƮʟƮƴ͌ƷƹƱƪƳƴ͌Ƨƹ͌,ʕƶƪƳƴ˾ƭƦƮưƮƥ˿ÝƹƲ ʠƢƵƴưͨʟƮƴ͌ƦˁƲƴ˽ƥƦ̈ƴƦƱƢͧưÝ͌,ʕƬƬ’ư˝ƷưˢƴƹƲˮƲƭƨƥƢƭͲƲƭ̀ƮưƮ.ʩƳƴƪƭ˿ƮưˣƮƫƢ̃ ƴ̆ƴƦƭ̆ƮƪƭưƮƥƦƵƴ̀ƱƹƲ. Prisc. in an. 5, 15-19, Zitat 17-19; vgl. 219, 36-38. 419 Prisc. in an. 6, 13-15; 220, 13-15.
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Aristoteles-Interpretation
Die Konsequenz aus diesen Überlegungen ist die wohl bekannteste Lehre aus Priskians Kommentar, nämlich seine Annahme, dass die Seele in ihrem Sein, und nicht nur in ihrer Aktivität veränderlich ist. Diese Lehre wurde in verschiedener Weise interpretiert: Nach Carlos Steel handelt es sich um eine Position Jamblichs, die Priskian nur zögerlich übernommen habe, während er selbst eine Leidensfähigkeit der Seele ablehne420. Henry Blumenthal tendiert dazu, die Ansicht als einen spezifischen Ausdruck der Mittelposition der Seele anzusehen, der als solcher im neuplatonischen Kontext nicht besonders revolutionär ist421. Ilsetraut Hadot sieht die Frage nach der wesenhaften Veränderlichkeit der Seele als ein strukturelles Grundproblem des Neuplatonismus an, wobei erst Syrian und Proklos die wesentliche Wandelbarkeit der Seele abgelehnt hätten422. Thomas Welt betont dagegen die Neuartigkeit von Priskians Position und scheint diese so zu verstehen, dass die Veränderlichkeit der Seele in ihrem Sein darin besteht, dass sich diese als ganze immerzu auf und ab bewegt und in verschiedenen Weisen von ihrer Dauerhaftigkeit getrennt ist423. Zu den Positionen von Blumenthal und Hadot muss an dieser Stelle nicht viel gesagt werden, da bereits gezeigt wurde, auf welche Weise Priskians Konzeption innerhalb des neuplatonischen Systems durchaus einen eigenen Standpunkt bildet, der durch eine besondere Ausarbeitung der gemeinneuplatonischen Lehre der Mittelstellung der Seele geprägt ist424. Aber auch die Positionen von Steel und Welt werden der internen Kohärenz und Komplexität von Priskians Ansatz nicht voll gerecht. Es ist insbesondere nicht einzusehen, wieso Steel aus Priskians Zurückweisung der Ansicht, dass die Seele durch von außen kommende und im Körper reflektierte Einflüsse etwas erleide, schließen kann, dass dieser Schwierigkeiten mit der Vorstellung hat, die Seele verändere sich ihrem Sein nach425. Dass Priskian einen essentiellen Einfluss der äußeren Wahrnehmungsgegenstände auf die wahrnehmende Seele ablehnt, steht außer Frage, zumal dies ein generelles Interesse der Neuplatoniker darstellt426. Das schließt aber nicht aus, dass die Seele als ganze durch die Verbindung mit dem Körper einer gewissen Veränderung unterliegt, die sogar ihre höchste Spitze beeinflusst. Priskian betont dies ausdrücklich, wenn er sagt, dass
_____________ 420 421 422 423 424
Steel 1978, 59. Blumenthal 1982, 91f.; Blumenthal 1996, 114f.; vgl. Taormina 1994, 124. Hadot 1978, 200f.; Hadot 1982, 59-67; Hadot 1996, 107-111. Welt 2003, 93. S. o. S. 183. Dass Montoya Sáenz 1968, 83 die von Priskian charakterisierte Mittelstellung typisch aristotelisch nennt, kann nur einer geringen Kenntnis des neuplatonischen Hintergrunds zugeschrieben werden. 425 Steel 1978, 59 zu Prisc. in an. 19, 16-31. 426 Blumenthal 1996, 123.
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das seinshafte Denken, da es in der Seele geschieht, seiner eigenen Meinung nach einer Veränderung unterliegt (ƭưƪ ƥưƫƦ͙ ʲ ư˝Ƴƪ̊ƥƨƲ Ʈ̆ƨƳƪƲ Ƣ˝ƴưͨ ÝƢƱƢƩƱƢ̈ƦƳƩƢƪ)427. Dagegen unterschätzt Welt die grundsätzliche Unterscheidung zwischen dem prinzipiell dauernden Element der Seele und deren abgeleiteten Formen. Die Analyse der Texte wird zeigen, dass Priskian diesen Unterschied trotz der auf beiden Ebenen stattfindenden Dynamik konsequent durchhält. Als Ausgangspunkt bietet sich ein Vergleich mit Proklos’ 6JGQNQIKUEJGT 'NGOGPVCTNGJTG an. Wenn man Priskians Aussagen zur Seele mit der dort beschriebenen Triadik vergleicht, dann fällt auf, dass Priskian ein wichtiges Prinzip triadischen Denkens verlässt, nämlich dass das dauerhafte Element an der Spitze der Triade während des Hervorgangs unverändert bleibt und nicht an Wirkung verliert. „Alles Hervorbringende bleibt so, wie es ist, und während es bleibt, geht das Nachfolgende hervor“428. Diese Konstanz begründet Proklos damit, dass jedes hervorbringende Prinzip das höchste Prinzip der Seinshierarchie, nämlich das Eine, nachahmt429. Der bleibende Geist der menschlichen Seele verhält sich Priskian zufolge im Prinzip ähnlich, weil auch er dauerhaft bleibt und die Dauerhaftigkeit des hervorgehenden Geistes begründet430, doch ist damit noch nicht alles gesagt; „sondern wenn der Geist hervorgeht, dann verharrt er nicht auf uneingeschränkte Weise“431. Denn seine Verbindung mit den niedrigeren Seelenteilen bewirkt, dass er „in gewisser Weise aus sich selbst heraustritt“ (ʕƶ̄ƳƴƢƴƢ̄ ÝƹƲ ʠƢƵƴưͨ)432. Denn auch die von ihm hervorgehenden Lebensformen (ƧƹƢ̄) sind selbst Seinsformen (ư˝Ƴ̄Ƣƪ), was sie, ebenso wie die von ihnen abgeleiteten Lebensformen, nur durch ihre enge Verbindung mit dem bleibenden Geist der Seele sein können433. Diese Verbindung könnte es nach Priskian nicht geben, wenn die Seele weitere Seinsformen lediglich durch eine äußere Aktivität hervorbrächte, sondern ihr eigenes Sein kann hiervon nicht unbeeinflusst bleiben. Sowohl im &GCPK OC-Kommentar als auch in der Theophrast-Metaphrase wird deutlich, dass es sich hierbei um ein Prinzip der Ontologie Jamblichs handelt: „Aus einer leidensfreien und vollendeten Wesenheit geht gewiss keine gestörte und unvollendete Wirkung hervor“434. Diese Beschreibung des Verhältnis-
_____________ 427 Prisc. in an. 238, 14f. 428 Ǝ̀ƮƦƪƥ˿ưˈ̆ƮʟƳƴƪÝ̀Ʈƴ̅Ý˾ƱƢƤưƮŻƫƢ̃ƭ̀ƮưƮƴưƲ,ƴ̅ƭ˿ƴ’Ƣ˝ƴ̅ÝƱ̆ƦƪƳƪ. Procl. elem. 26f. (30,10-32, 9, Zitat 30, 31f.). 429 Procl. elem. 25f. (28, 27f.; 30, 18f.). 430 Prisc. in an. 5, 14f.; 219, 37f. 431 ʝƬƬ’˖ƴƢƮÝƱư͉̄,ư˝ƫƦˁƬƪƫƱƪƮͲƲƭ̀ƮƦƪ. Prisc. in an. 219, 39f. 432 Prisc. in an. 220, 3; vgl. 5, 18. 433 Prisc. in an. 219, 27-36. 434 Prisc. in an. 89, 33f.
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ses von Sein und Aktivität unterscheidet sich deutlich von Philoponos’ aus Proklos übernommener Beschreibung dieses Verhältnisses. Denn Philoponos zufolge muss eine trennbare Seinsform zwar mindestens eine vom Leib trennbare Aktivität haben, aber es ist unproblematisch, dass sie zusätzlich auch vom Leib ungetrennte Aktivitäten besitzt435. Dagegen bedeutet für Jamblich die Tatsache, dass eine Seinsform eine unvollendete Aktivität hat, dass auch ihr Sein von dieser beeinflusst wird. Die Annahme einer seinshaften Veränderlichkeit der Seele hängt also mit einem Unterschied von Jamblichs und Proklos’ Bestimmung des Verhältnisses von Sein und Aktivität zusammen, also mit einer verschiedenen Einschätzung ontologischer Grundtatsachen. Priskian folgt seinem Vorbild Jamblich auch dann, wenn er akzeptiert, dass die Seele selbst in ihrer höchsten Existenz Veränderungen unterliegt, die er als leichtes Erleiden (ÝƢƩƢ̄ƮƦƳƩƢƪ) oder Gebrochen-Werden (ÝƢƱƢƩƱƢ̈ƦƳƩƢƪ) bezeichnet436. Es ist allerdings nicht einfach zu sagen, was Priskian unter einer Wandlungsfähigkeit der Seele im Sein versteht, zumal er diese, wie von Blumenthal zu Recht festgehalten wurde437, teils einfach auf die traditionelle Annahme der Mittelstellung der Seele zwischen Geteiltem und Ungeteiltem bzw. Vergänglichem und Unvergänglichem zurückführt438. Diese Feststellung liefert aber nur ansatzweise eine Erklärung für die Wandelbarkeit der Seele. Schließlich hatte Proklos dieselbe Mittelstellung einfach damit begründet, dass die Seele zwar von den direkt mit dem Körper verbundenen Lebensformen verschieden ist, aber trotzdem nur in abgeleiteteter Weise Sein hat, da sie selbst vom reinen Geist abhängig ist. Er kann in diesem Zusammenhang auch von einem leichten Erleiden (ÝƢƩƢ̄ƮƦƳƩƢƪ) derjenigen Seele sprechen, die einen Körper beseelt und daher zusätzliche Lebensformen annimmt. Allerdings behauptet er, soweit ich sehe, nirgendwo, dass diese Leidensfähigkeit das Sein dieser Seele betrifft439. Eine Auseinandersetzung mit dieser Position sucht Priskian nicht; sie war für ihn, anders als für Proklos’ Athener Nachfolger Damaskios, nicht nötig, da er die ältere Position Jamblichs aufgriff, den er ohnehin als eine größere Autorität als Proklos ansah. Für die heutige Interpretation sieht die Sachlage etwas anders aus: Die bloße Tatsache, dass die Seele eine Mittelposition einnimmt, erklärt weder, dass sie einem Erleiden unterliegt, noch dass sie das nicht tut.
_____________ 435 436 437 438 439
Procl. elem. 191f. (166, 26-168, 19); Philop. in an. 48, 6-10. Prisc. in an. 89, 35; 220, 4. 10. Zum letzten Wort vgl. Plat. nom. 757e. S. o. S. 226. Prisc. in an. 89, 35-90, 7; 220, 5-10; 238, 10-19; 240, 37-39. Procl. elem. 190 (166, 1-25); 209 (182, 31, vgl. 19-21); in Tim. 1, 362, 20-22; in Alc. 258, 3-6.
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Die Beschreibung des seinshaften Geistes der Seele Um Priskians Position besser zu verstehen, ist es daher nötig, seine Beschreibung des seinshaften Geistes genauer zu untersuchen. Denn gerade die Veränderung von dessen Natur ist ja wirklich bemerkenswert, während sich die Veränderlichkeit der übrigen seelischen Lebensformen im neuplatonischen Kontext eigentlich von selbst versteht, da sie durch die Verbindung mit dem räumlich geteilten Körper mit ihren Objekten nicht vollständig identisch werden und sie nicht korrekt erkennen können440. Priskians Beschreibung des bleibenden Geistes ist an dem bereits bei der Untersuchung seiner Entelechie-Konzeption erwähnten Verhältnis von Sein und Aktivität orientiert, geht also wesentlich auf eine Formulierung aus Aristoteles’ Lehre vom Geist zurück (III 5, 430a 18)441. Die Einheit dieser beiden Größen macht die Besonderheit des seinshaften Geistes innerhalb der Seele aus442, deren Status insgesamt durch die Trennung beider Elemente gekennzeichnet ist. Dagegen betrachtet die höchste Spitze der Seele die reinen Formen in sich selbst und ist dabei, insofern sie selbst die Gesamtheit dieser Formen ist, mit ihnen und damit mit sich identisch; ihr Sein ist ihre Aktivität443. Entscheidend ist nun, dass dieser natürliche Zustand der Seele aufgebrochen wird, wenn sie einen Körper beseelt, indem sie den hervorgehenden Geist hervorbringt. Priskian erklärt das damit, dass durch die Wendung nach außen die Einheit von Sein und Aktivität aufgehoben wird, während eine vollständige Wendung nach innen sie wiederherstellt444. Als ihr eigener bleibender Geist ist die Seele „so, wie es einem seelischen Gehalt möglich ist, dem Sein nach Aktivität“ (ˮƲ Ƭ̆ƤͰ ƸƵƷƪƫͳƥƵƮƢƴ̆Ʈ,ƴ͌ư˝Ƴ̄̾˯ƮʟƮƦƱƤƦ̄̾)445. Das ist im neuplatonischen Kontext leicht erklärlich: Wenn die Einheit von Sein und Aktivität darin besteht, dass die Seele die reinen Formen innerhalb ihrer selbst betrachtet, dann wird diese Einheit eingeschränkt, sobald die Seele etwas außerhalb ihrer selbst bewirkt, etwa die Beseelung eines Körpers, der selbst nicht die geistige Natur einer Idee hat. Neben das seinshafte Denken (ư˝Ƴƪ̊ƥƨƲ Ʈ̆ƨƳƪƲ) tritt die Sorge um das hervorgegangene Element446, so dass die Seele kein reiner Geist bleibt. Das scheint aber zu implizieren, dass die Verbindung von Sein und Aktivität in der Seele prinzipiell aufgelöst ist, so dass man fragen kann,
_____________ 440 441 442 443 444 445 446
Procl. elem. 190 (166, 5-10); 197. S. o. S. 183. Prisc. in an. 5, 14-16. Prisc. in an. 240, 11-13. Prisc. in an. 240, 13-21. Prisc. in an. 219, 22f., vgl. 26f. Prisc. in an. 238, 13-15.
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warum ihr bleibender Geist davon ausgenommen ist. Priskians Antwort ist die bereits diskutierte Theorie, dass die höchste Spitze der Seele weiterhin untrennbar mit ihrer Form verbunden ist, also mit dem Geist, an dem sie teilhat. Dieser steht selbst nicht in Beziehung zu einem Körper und ist damit nichts anderes als die Fülle seiner dauernd bekannten Ideen. Das gilt dann aber auch für die von ihm abhängige Seele, wenn sie sich einem beseelten Lebewesen zuwendet: „Wegen des Zusammenwachsens mit dem Geist über ihr besitzt die Spitze der Seele in reichem Maße Ungeteiltheit. Deswegen wird auch ihre Aktivität in abgeleiteter Weise mit ihrem Sein vereinigt“447.
Diese Vollendung ist für den seinshaften Geist der Seele nicht äußerlich, denn er ist nicht ontologisch getrennt (ʕÝưƳÝƢƳƩƦ̄Ʋ) von dem Geist, an dem er teilhat, sondern so mit ihm zusammengewachsen (ƳƵƭƶƵƦ̄Ʋ), dass er seine eigene Natur als reiner Geist in sich wiederfinden kann und sich auf diese Weise durch Rekurs auf sich selbst vollendet448. Die Zuwendung der Seele zum Körper heißt also, dass etwas von ihrem Denken verschiedenes aus ihr hervorgeht, ohne dass sich die Seele in dieses Hervorgehende ganz verliert: Beim Entstehen der gebrauchenden und formenden Entelechie entsteht zugleich eine Spannung zwischen der Wirkung dieser Entelechie und der Aktivität der Seele als Geist, die trotzdem bestehen bleibt. Insofern ist die Einheit des Geistes in eine Zweiheit von Wirkungen aufgebrochen, und trotzdem bleibt der Geist er selbst. Priskian ist bemüht, die Sonderstellung dieser Seelenspitze zwischen ihrer Wurzel im reinen Geist und den abgeleiteten Lebensformen klar zu beschreiben. Aus III 5, 430a 19-23 liest er drei Punkte heraus, durch die sich der seelische vom reinen Geist unterscheiden soll: Zum einen denkt der seelische Geist nicht nur noetisch, sondern auch diskursiv. Das zeige Aristoteles dadurch, dass er ihn mit dem Wissen vergleiche, und Platon, indem er ihm im 6KOCKQU „Verstandeserkenntnis mit Begründung“ (Ʈ̆ƨƳƪƲ ƭƦƴ˽ Ƭ̆ƤưƵ) zuschreibe449. Das körperliche Denken des hervorgehenden Geistes wirkt demnach mit seinen auf die Sinnenwelt bezogenen Sorgen auf den sonst noetisch denkenden seelischen Geist zurück. Deutlicher fassbar ist der zweite Unterschied, dass auch dann, wenn im Geist der Seele Sein und Aktivität vereinigt sind, beide immer noch wieder getrennt werden können. Diese zeitliche Begrenztheit der absoluten Selbstidentität im Menschen lässt diese Fähigkeit insgesamt weniger vollkommen sein, als
_____________ 447 ƔƵƭƶƵưƭ̀Ʈƨƴư̄ƮƵƮƴͳ˞Ý˿ƱƢ˝ƴ́ƮƮͳʲƴ͋ƲƸƵƷ͋ƲʕƫƱ̆ƴƨƲÝưƬ̇ƴ̅ʕƭ̀ƱƪƳƴưƮʩƷƦƪŻƫƢ̃ ƥƪ˽ƴưͨƴưƥƦƵƴ̀ƱƹƲƫƢ̃ʲʟƮ̀ƱƤƦƪƢƢ˝ƴ͋Ʋƴ͌ư˝Ƴ̄̾ʠƮ̄ƧƦƴƢƪ. Prisc. in an. 240, 24-26. 448 Prisc. in an. 243, 19-26; vgl. 312, 36-40. 449 Tim. 28a 1, laut Prisc. in an. 245, 7-16.
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es die ist, deren Dauerhaftigkeit nicht unterbrochen wird450. Von hier aus ergibt sich auch der dritte Unterschied, der schlicht darin besteht, dass die Seele nicht immer „nur das ist, was sie ist“ (ʟƳƴƪƮƭ̆ƮưƮƴưͨƩ’˖ÝƦƱʟƳƴ̄. III 5, 430a 22f.), sondern nur dann, wenn sie momentan von ihren sekundären Lebensformen getrennt ist (ƷƹƱƪƳƩƦ̄Ʋ. III 5, 430a 23), während der reine Geist dauerhaft abgetrennt ist (ƷƹƱƪƳƴ̆Ʋ)451. Die hierbei vorausgesetzte Einheit in der Zweiheit erklärt sich wiederum durch den spezifischen Charakter des triadischen Daseins. Schon für Proklos ist die Beschreibung einer Triade in erster Linie die Beschreibung einer Einheit452, und Damaskios greift dies auf, indem er jede Triade zugleich als Monade bezeichnet453. Eine derartige Einheit gilt in besonderer Weise für die unteren Aspekte einer Triade, deren Mittelglied, an dem das untere Glied teilhat (ƴ̅ƭƦƴƦƷ̆ƭƦƮưƮ), im Grunde nichts anderes ist als die Form des unteren Gliedes, also seine spezifische Weise zu sein454. Die Annahme derartiger spannungsgeladener Identitäten ist ein Schlüsselkonzept für die spätneuplatonische Theorie der Einheit und Vielheit des Geistes, insofern es die Spannung der ursprünglichen Einheit des Geistes und seiner gleichzeitigen nicht nur horizontalen, sondern auch vertikalen Mannigfaltigkeit erklärt. Vor diesem Hintergrund ist es für Priskian unproblematisch, eine gleichzeitige Identität und Nicht-Identität des höchsten Geistes der Seele und desjenigen Geistes auszusagen, an dem diese teilhat, denn beide sind reiner Geist, deren Einheit durch die Einheit des oberen Glieds der Triade garantiert wird, das im Sinne von Damaskios als Monade bezeichnet werden kann, von der jede Vielfalt ausgeschlossen ist. Die Abkünftigkeit des seelischen Geistes von einem derartigen Prinzip verdeutlicht also seine Identität mit sich selbst, während die Hinwendung zu Körpern das leichte Erleiden bzw. Gebrochen-Werden oder, wie Priskian auch sagt, eine gewisse Lockerung (ƷƢƬƢƳƭ̆Ʋ) der ursprünglichen Einheit des Geistes bereits im der Teilhabe unterliegenden Geist bewirkt455. Eine derartige Identität bei aller Differenz besteht jedoch zwischen dem seinshaften Geist der Seele und dem hervorgehenden im Normalfall, also der zeitlichen Existenz, nicht. Der Grund dafür ist, dass der hervorgehende Geist im Prinzip der Sphäre der Bewegung im aristotelischen Sinne – also der Sinnenwelt – angehört, indem er körperliche Bewegungen
_____________ 450 451 452 453
Prisc. in an. 245, 16-25. Prisc. in an. 240, 31-33; 245, 34-246, 13. Gersh 1973, 52; Cürsgen 2007, z.B. 153-162, zur Seele 159f. Dam. princ. 2, 129, 15-22 Westerink/Combès. Zum „seelischen Einen“ bei Damaskios s. Cürsgen 2007, 403f. 454 De Rijk 1992, 19f. 27. 455 Prisc. in an. 218, 2-8; 220, 2-12; 238, 24-28; 241, 7-19; vgl. auch in Theophr. 35, 5-19.
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mit verursacht456. Das ist ein Aus-Sich-Heraustreten von ganz anderer Art als innerhalb der geistigen Welt, das die beschriebene geistige Einheit nicht mehr zulässt, selbst wenn auch der menschliche Geist, gleichsam als Abbild, triadisch beschreibbar ist. Zum menschlichen Denken verhält sich der seelische Geist wie eine Ursache zum Verursachten und wahrt eine Distanz zur diskursiven Vernunft, sowohl wenn er sie hervorbringt, als auch wenn er sich zu ihr hinneigt457. Das ist entscheidend dafür, dass es überhaupt einen seelischen Geist geben kann: „Deswegen fällt er auch niemals in die letzte Unvollkommenheit heraus, sondern [nur] in eine abgesunkene Vollkommenheit“458. Da auf diese Weise die Verschiedenheit des seinshaften Geistes der Seele von ihrem hervorgehenden Geist niemals aufgehoben wird, bleibt der erste in gewisser Weise so, dass er nicht auf Körper bezogen ist. Daher kann der menschliche Geist stets in sich selbst sein eigentliches Sein finden, auch wenn er sich grundlegend davon entfernt hat459. Der historische Hintergrund der Lehre Aristoteles, Platon und Jamblich Dieses Ergebnis seiner Analyse des aristotelischen Textes hält Priskian selbst für durchaus neuartig und bedeutend, zumal Aristoteles seiner Meinung nach bei der Beschreibung der teilbaren Dinge auch über Platon hinausgeht460. Diese Ansicht schreibt Aristoteles einen bemerkenswert hohen Rang für die Formulierung des neuplatonischen Dogmas zu, die mit Priskians Bemerkung in seiner Einleitung übereinstimmt, dass er Jamblich zufolge die von Platon begonnene Seelenlehre vollendet habe461. Inhaltlich sieht Priskian Aristoteles’ besondere Leistung darin, dass er, ausgehend von Platons Beschreibung der Seele als Selbstbewegendes, die auf ihre Weise die Mittelstellung der Seele betont, insbesondere die aktive Wirksamkeit des seinshaften Geistes der Seele herausarbeitet. Die Unsterblichkeit der Seele ist weniger dadurch gegeben, dass sie einfach gegen den Tod immun ist, sondern in erster Linie durch ihre aktive Wirkung, dauernd neue Lebensformen hervorzubringen, durch die Körper bewegt und be-
_____________ 456 Prisc. in an. 311, 12-22. 457 Prisc. in an. 244, 26-35. 458 Ɔƪ̅ ƫƢ̃ ƴưͨƴư ƭ˿Ʈ ư˝ƥ̀ÝưƴƦ ƦˁƲ ʟƳƷ˾ƴƨƮ ʟƫÝ̄ÝƴƦƪ ʕƴ̀ƬƦƪƢƮ, ʕƬƬ’ ƦˁƲ ƫƦƷƢƬƢƳƭ̀ƮƨƮ ƴƦƬƦƪ̆ƴƨƴƢ. Prisc. in an. 244, 35f. 459 Prisc. in an. 244, 37-39. 460 Prisc. in an. 246, 18-21. 461 Prisc. in an. 1, 10f.
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seelt werden462. Die wechselhafte Natur der Seele ruht also in ihrer Aktivität als schöpferisches Prinzip. Priskians Wertschätzung für Aristoteles zeigt sich auch an der einzigen Stelle, an der er zugibt, von Jamblich abzuweichen: Hier gesteht er zu, dass dieser den Geist in Möglichkeit und in Wirklichkeit als die Idee oberhalb der Seele angesetzt habe, während er selbst, entsprechend dem aristotelischen Text, all dessen Aussagen auf die Seele im Menschen bezieht. Priskian rechtfertigt sich damit, dass er der Möglichkeit nach Jamblichs Aussagen gefolgt sei, jedoch nicht die göttliche Höhe von dessen Gesichtspunkt einnehmen könne463 – eine charmante Begründung für eine systematische Abweichung. In jedem Fall ist zu betonen, dass diese mit Aristoteles’ Text und seiner Auslegung zusammenhängt. Denn Priskian stellt, ähnlich wie Philoponos464, deutlich heraus, dass &GCPKOC nur über die menschliche Seele handelt, und nicht über den oberhalb von ihr angesiedelten Geist465, woraus seine Veränderung von Jamblichs Position resultiert. Seine eigene Theorie der Seele, deren Ausgewogenheit bis jetzt deutlich geworden sein sollte, ist also nicht eine reine Reproduktion Jamblichs; wie weit dessen Einfluss geht, muss allerdings im Dunkeln bleiben, solange wir keine positiven Hinweise darauf haben, ob diverse Passagen jamblicheisches Gut enthalten oder nicht466. Die Wandelbarkeit der Seele im Neuplatonismus Was folgt aus diesen Ausführungen für die oben aufgeworfene Frage, wie originell und bedeutsam Priskians Seelenlehre im späten Neuplatonismus ist467? Hier ist zunächst festzuhalten, dass eine Veränderlichkeit der Seele in ihrem Sein damals nicht selbstverständlich war, wie Carlos Steel zu Recht festgehalten hat. Während es für Jamblich, Damaskios und Priskian klar ist, dass sie eine derartige Theorie vertreten haben, ist die Evidenz für andere Autoren weniger überzeugend. In Bezug auf Simplikios fällt auf, dass Ilsetraut Hadot trotz ihrer intensiven Untersuchung von dessen Texten keine Stelle aufweisen kann, die eindeutig eine wesenhafte Veränderung der Seele aussagt. Das folgt jedenfalls nicht aus ihrem Hauptbeleg aus dem Kommentar zum 35. Kapitel von Epiktets 'PEJGKTKFKQP, wo von
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Prisc. in an. 246, 28-247, 15. Prisc. in an. 313, 1-31. S. o. S. 135. Prisc. in an. 218, 29-34; 220, 15-221, 33. Natürlich kann man mit Steel 1978 an vielen Stellen einen Einfluss Jamblichs vermuten; der Beweis lässt sich jedoch häufig nicht führen. 467 Zu Plotin vgl. auch u. S. 393-393.
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der untersten Art von Seelen ausgesagt wird, dass sie sich wesensmäßig wandeln und dem Schlechten zuneigen können; die Formulierung legt eher nahe, dass Simplikios mit „unterste Seelen“ die nicht rationalen Seelen meint, während die rationalen Seelen eher die mittleren sein dürften. Zudem werden auch die unteren Seelen so beschrieben, wie Proklos die wesenhaft unveränderlichen Seelen charakterisiert, als unveränderlich im Sein, aber veränderlich in der Aktivität468. Abgesehen davon fällt auch auf, dass Simplikios die Wandelbarkeit der rationalen Seele in ihrem Sein nicht offen behauptet, obwohl sein eigener Lehrer Damaskios sich klar dafür ausgesprochen hatte. Für den zweiten Autor, bei dem Ilsetraut Hadot eine seinshafte Veränderlichkeit der Seele annimmt, Hierokles von Alexandrien, ist die Situation eindeutiger: Zwar nimmt er an, dass auch die Wesenheit der Seele in gewissem Maße geschädigt werden kann, wenn die Seele sich schlecht verhält469. Diese ethische Aussage behandelt aber ein anderes Thema als Priskians grundsätzliche Erörterungen über die Natur der Seele in ihrer Verbindung mit dem Körper. Hierokles macht an einigen Stellen deutlich, dass sein Problem ist, dass die menschliche Seele von ihrem eigenen Sein getrennt werden kann, wenn sie es vergisst470, aber durch eine gute Lebensführung zu ihm zurückfinden kann471. Das setzt voraus, dass das Sein selbst nicht verändert, sondern lediglich in seiner prinzipiellen Güte in diesem Leben nicht wirksam werden kann. In diesem Sinne kann man auch die erste von Hadot zitierte Stelle so verstehen, dass die seinshafte Güte der Seele durch ihr Leben hindurch wirksam bleibt472. Es scheint mir daher nicht möglich, Hierokles und Simplikios zu Anhängern von Jamblichs Seelenlehre zu machen; vielmehr weisen ihre Aussagen auf eine generelle Schwierigkeit der neuplatonischen Ethik hin, nämlich die Frage, wozu eine solche Ethik überhaupt nötig ist, wenn die Seele nach dem Tod ohnehin wieder in ihre eigentliche Existenz als reiner Geist eingeht, dessen Sein transzendent ist473. Priskians Theorie ist vor diesem Hintergrund deswegen von besonderem Interesse, weil ihm zufolge das Sein der Seele nicht erst durch ein untugendhaftes Leben, sondern schon durch das bloße Faktum erschüttert ist, dass die Seele mit dem Körper in Verbindung steht. Hierin unterscheiden er und Damaskios sich sowohl von Plotin als auch von Proklos und
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Simpl. in Epict. XXXV, 245-273; vgl. Hadot 1996, 96. Hierocl. in carm. aur. 14, 4 (64, 10-15). Hierocl. in carm. aur. 1, 4 (9, 1-5). Hierocl. in carm. aur. 14, 9 (65, 25-66, 1). Vgl. Hierocl. in carm. aur. 1, 5 (9, 7-14), wo der Tod der Wesenheit der Seele als ihre aktuelle Unwissenheit dargestellt ist. Auch Schibli 2002, 250 n. 2 und Aujoulat 2003, 112 bezweifeln Hadots Interpretation. 473 Vgl. Gerson 1994, 144.
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Simplikios: Im Gegensatz zu ihnen allen können sie annehmen, dass die Lebensführung der Seele für ihre ganze Existenz relevant ist. Das wird besonders von Damaskios betont, der die Funktion der Selbstbewegung (ƴ̅ Ƣ˝ƴưƫƪƮƨƴ̆Ʈ) der Seele darin sieht, sich als ganze nach oben oder unten wenden zu können474. Seine Analyse der seinshaften Wandelbarkeit der Seele zeichnet sich gegenüber Proklos gerade dadurch aus, dass sie in der Lage ist, die Besonderheit des mit dem Körper verbundenen Lebens zu erklären475. Auch Priskians Analyse der Selbstbewegung betont deren Mittelstellung und die mit ihr gegebene Veränderlichkeit476. Sie beschreibt die menschliche Psychologie aber auf noch komplexere Weise als Damaskios, wenn sie die geistige Dynamik in der Seele triadisch strukturiert und dabei die Verbindung des Geistes nach oben festschreibt, weil der theoretische Geist stets auf das Gute ausgerichtet ist, während der praktische zwischen ihm und dem Bösen entscheiden muss: In jedem Menschen ist die Spannung spürbar zwischen dem, was er als Mensch sein will, nämlich gut, und dem, was er faktisch tun kann und was in vieler Hinsicht davon abweicht. Auch gegenüber Damaskios’ etwa gleichzeitigem und ebenfalls von Jamblich inspiriertem Entwurf bewahrt Priskian also klar eigene Konturen, die teilweise von der Auseinandersetzung mit Aristoteles’ Text angeregt sind477. 8. Ergebnis Die durchgeführte Analyse konnte bestätigen, dass Priskians &G CPKOCKommentar zu den wichtigsten Darstellungen der neuplatonischen Seelenlehre zählt. Das konnte nicht nur für seine von Carlos Steel untersuchte Lehre von der Wandelbarkeit der Seele in ihrem Sein gezeigt werden, sondern für das gesamte Menschenbild des Kommentars, das an Differenziertheit im Neuplatonismus seinesgleichen sucht. Entscheidend ist Priskians Bemühen, die Spannungen konsequent darzulegen und auszuhalten, die sich nach den Neuplatonikern für eine Seele ergibt, die in der Mitte zwischen der unwandelbaren Welt des Geistigen und der werdenden und vergehenden körperlichen Sphäre steht. Diese Seele steht nicht nur als ganze in der Mitte zwischen beiden Aspekten, so dass sie in einer Hinsicht veränderlich ist und in anderer nicht; sie ist vor allem auch in sich selbst
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Dam. in Parm. 4, 16, 21-17, 15. Vgl. Dam. in Parm. 4, 13, 13-19. Prisc. in an. 26, 22-31; 34, 10-15; 246, 25-28; 312, 33-36. Zur historischen Unabhängigkeit beider Positionen vgl. Steel 1978, 159.
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so differenziert, dass das komplexe, aber doch eine Alltagsbewusstsein des Menschen von einem rein geistigen Element in der Seele zu unterscheiden ist, das sich bei aller Differenz doch mit dem Leben jedes Menschen zu größerer oder geringerer Vollkommenheit und Präsenz entwickelt. Es greift zu kurz, diese Struktur durch eine generelle neuplatonische Tendenz zur Vermehrung von Entitäten zu erklären. Stephen Gersh hat gezeigt, dass die Vermehrung ontologischer Stufen im späten Neuplatonismus stets dem Ziel dient, die komplexe Entfaltung eines in Entwicklung befindlichen Universums aufzugliedern und zu analysieren478. Das gleiche leistet Priskian für die menschliche Seele: Obwohl er im Anschluss an Aristoteles verschiedene Formen seelischen Seins unterscheidet und feststellt, dass deren Verbindung mit dem Körper auf sehr differenzierte Weise zu denken ist, macht er immer wieder deutlich, dass er eine Seele philosophisch analysieren möchte, die über so verschiedene Fähigkeiten wie theoretische und praktische Intelligenz, Vorstellungskraft, Erinnerung und Sinneswahrnehmung verfügt und doch stets eine ist. Dabei stellt Priskian auf eine im Neuplatonismus seltene Weise heraus, dass alle diese Fähigkeiten auf unterschiedliche Weise mit dem Körper verbunden und durch ihn beeinflusst sind. So unterscheidet er die Funktion der Seele, den Körper zu definieren und zu formen, von dem Verhältnis, das das Denken an sich zu diesem Körper hat, das ihn benutzen und sich auf ihn verlassen kann, so dass eine unauflösbare funktionale Verwiesenheit entsteht. Schließlich führt uns unser Denken über diese Sphäre des Gebrauchens des Körpers und der Sorge um ihn hinaus zu einer Sphäre, in der die Regeln des Denkens allein in ihrer Eigengesetzlichkeit wirksam sind. Schon diese skizzenhafte Darstellung macht die Komplexität von Priskians Position deutlich, eine Komplexität, die nahezu jedem philosophischen Menschenbild Anregungen in der einen oder anderen Weise geben kann. Wenn dies hier festgehalten wird, sei zugleich darauf verwiesen, dass bis jetzt eines der wichtigsten Themen für Priskian, nämlich die menschliche Selbsterkenntnis, noch gar nicht behandelt wurde. Wenn das im zweiten Hauptteil dieser Arbeit erfolgt, kann die bis jetzt gebotene Perspektive durch ein besseres Verständnis der inneren Struktur von Priskians Geistlehre weiter vertieft werden. Es ist häufig behauptet worden, dass dieser systematischen Tiefe des Kommentars ein gründliches Missverständnis des aristotelischen Textes zugrundeliege479. In der Tat wäre es töricht bestreiten zu wollen, dass Priskian an vielen Stellen seine Positionen in Aristoteles’ Text geradezu hineinliest. Trotzdem muss man festhalten, dass seine Position in vieler
_____________ 478 Gersh 1973, 120f. 479 Montoya Sáenz 1968, 75; Steel 1978, 8f.; Urmson 1995, 2f.
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Hinsicht aristotelisch geprägt ist und insofern auf ein prinzipiell gutes Verständnis des Stagiriten verweist. Die aristotelische Prägung zeigt sich schon in Priskians Versuch, die ganze Seele als Entelechie zu definieren: Die über Aristoteles hinausgehende Differenziertheit seiner Erklärung dieses Begriffs ist sein persönlicher Versuch, Aristoteles’ eigenes Anliegen zu retten, die Seele als eine mit dem Körper verbundene Größe zu verstehen. Dieser Versuch scheint schon durch Aristoteles’ eigene Lehre vom Geist gefährdet, und deswegen setzt Priskian gerade hier zu einer Neudeutung an, die einem reinen Aristoteliker freilich fremd vorkommen wird. Die wichtigsten Kerngedanken der aristotelischen Noetik, nämlich die Strukturiertheit der theoretischen Vernunft in einen aktiven und einen passiven Teil sowie die Unterscheidung von theoretischer und praktischer Vernunft spielen aber in Priskians Konzept eine wichtige Rolle und werden mit seinen philosophischen Mitteln neu erklärt. Das macht er so gründlich, dass er dafür sogar seine unhinterfragbare Autorität, Jamblich, verlässt. Damit ist Priskians Kommentar im Grunde beides, eine systematische Darlegung der neuplatonischen Seelenlehre und eine Auseinandersetzung mit Aristoteles, dessen Philosophie vor dem neuplatonischen Horizont Priskians aber nur dann bestehen kann, wenn sie gründlich neu gedeutet wird. Es ist daher die Auseinandersetzung mit Aristoteles’ Philosophie, die Priskian über eine bloß rezeptive Deutung von dessen Text hinausführt.
C. Neuplatoniker oder Aristoteliker? Stephanos von Alexandrien 1. Einleitung Der dritte neuplatonische Kommentar zu Aristoteles’ &G CPKOC, der uns teilweise erhalten ist, ist durch einen historischen Zufall auf uns gekommen: Alle griechischen Handschriften von Philoponos’ Kommentar enthalten nicht dessen eigene Auslegung des dritten Buches, die uns nur in Moerbekes lateinischer Übersetzung teilweise erhalten ist, sondern einen griechischen Text, dessen Stil und Inhalt vermuten lassen, dass er nicht von Philoponos stammt. In der Tat gibt ein Teil der griechischen Handschriften an, dass dieser Kommentar „nach den Vorlesungen des Stephanos“ (ʕÝ̅ ƶƹƮ͋Ʋ ƔƴƦƶ˾ƮưƵ) entstanden ist, also offenbar eine Mitschrift aus dessen Seminaren darstellt. Dass dieser Stephanos in der Tat der Autor des Kommentars zum dritten Buch von &G CPKOC und mit dem gleichnamigen Verfasser eines Kommentars zu Aristoteles’ *GTOGPGWVKM und zu Hippokrates’ 2TQIPQUVKMQP identisch ist, wird auch durch stilistische
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Aristoteles-Interpretation
und inhaltliche Parallelen wahrscheinlich gemacht1. Neuerdings ist das von Christian Tornau noch einmal anhand eines offensichtlichen Selbstzitates gezeigt worden2. Ich setze daher im Folgenden voraus, dass Stephanos, der wohl bis um 610 in Alexandrien und später in Konstantinopel lehrte, der Autor des Kommentars ist. Für die philosophische Analyse des Kommentars wichtiger als der Name des Autors ist dessen Arbeitsweise, die der Übersetzer William Charlton herausgearbeitet hat: Stephanos zeichnet sich durch eine sorgfältige Analyse und Gliederung des zu interpretierenden Textes aus, der ihn selbst in schwierigen aristotelischen Kapiteln einen klaren Gedankengang finden lässt. Dieses Bemühen um eine klare Gliederung des Textes geht mit einem Interesse an klaren Formulierungen logischer Probleme Hand in Hand. Da Stephanos zudem eine Vorliebe für didaktisch hilfreiche Formulierungen zeigt, kann man mit Charlton festhalten, dass der Kommentar einen hervorragenden Grundkurs über die Aussagen von &GCPKOC abgibt3. Weiterhin bescheinigt Charlton dem Kommentator einen kritischen Geist und Bereitschaft zur Übernahme neuer Theorien4. Denn Stephanos’ Bemühen um Klarheit und Struktur schließt nicht aus, dass seine Erläuterungen häufig über den kommentierten Text hinausgehen. Die für ihn typische sorgfältige Unterscheidung der philosophischen Interpretation und Diskussion des Textes in einem ersten Abschnitt (ƩƦƹƱ̄Ƣ) sowie des Nachweises dieser Interpretation am Text in einem zweiten Abschnitt (ÝƱ̀ƯƪƲ bzw. Ƭ̀ƯƪƲ5) erlaubt ihm lange Argumentationsgänge, die auch die Ideen anderer Philosophen einbeziehen und manchmal Aristoteles’ Text nur als Ausgangspunkt für eigene Entwicklungen nehmen, während konkrete Textfragen teilweise recht kurz abgehandelt werden. In einem gewissen Gegensatz hierzu steht Tornaus Beobachtung, dass Stephanos in ho-
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Vgl. neben Hayduck 1897, V (s. o. S. 37 Anm. 31) Wolska-Conus 1989 sowie die von Charlton 2000, 1f. genannte Literatur. Tornau 2007, 107-109. Zu den vor allem von Lautner 1992 vorgebrachten Argumenten gegen Stephanos’ Autorschaft vgl. schon Arnzen 1998, 95-97 und Charlton 2000, 2-10. Zu Bernard 1988, 111f. Anm. 57 s. u. S. 267 Anm. 167. Vgl. auch Kurfess 1911, 27. Charlton 2000, 6f. Es ist kein Zufall, dass Bernard 1988, 6 für die Unterscheidung von Texterklärung und systematischer Überlegung bei den Kommentatoren ein Beispiel aus Stephanos anführt, für den dieses Vorgehen in der Tat typisch ist, während es von den anderen Auslegern häufig nicht beachtet wird. Charlton 2000, 12. Stephanos’ Abschnitte werden danach unterteilt, dass jeweils auf eine ƩƦƹƱ̄Ƣ eine sogenannte ÝƱ̀ƯƪƲ, nämlich die Textanalyse folgt (Steph. in an. 453, 22; 462, 23 u.ö.). An einer Stelle im Text wird allerdings der von der ƩƦƹƱ̄Ƣ zu unterscheidende Abschnitt als Ƭ̀ƯƪƲ bezeichnet (Steph. in an. 508, 24; vgl. Prisc. in an. 241, 26). In anderen Texten bezeichnet ÝƱ̀ƯƪƲ meist eine komplette Unterrichtsstunde, die aus ƩƦƹƱ̄Ƣ und Ƭ̀ƯƪƲ besteht.
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hem Maße von seinen Quellen – namentlich Ammonios Hermeiou – abhängt, deren Widersprüche er nicht bereinigt6. Abgesehen von den Einleitungsfragen hat Stephanos’ Kommentar wenig philosophiehistorische Aufmerksamkeit erfahren: Neben der Berücksichtigung bei Blumenthals Analyse der neuplatonischen &G CPKOCKommentare hat nur Wolfgang Bernard – der allerdings Philoponos für den Autor hält – der hier vertretenen Theorie eines Apperzeptionsvermögens (ƴ̅ÝƱưƳƦƫƴƪƫ̆Ʈ) einen eigenen Artikel gewidmet7. Auf die Wichtigkeit seiner Theorie der Vorstellungskraft (ƶƢƮƴƢƳ̄Ƣ) haben Thomas Welt und besonders Anne Sheppard hingewiesen8. Im Folgenden wird es darum gehen, ein Gesamtbild der Ansichten zu gewinnen, mit denen Stephanos &GCPKOC zu verstehen sucht. Die Textbasis bedingt freilich, dass das nur eingeschränkt möglich sein wird – schließlich fehlen uns sowohl Stephanos’ Einleitung als auch seine Auslegung zu den ersten beiden Büchern, also sowohl seine methodischen Vorbemerkungen wie seine Aussagen zur Entelechie und zu den Einzelsinnen. 2. Die Sinneswahrnehmung Ein gewisser Ausgleich für den Verlust von Stephanos’ Aussagen über die Einzelsinne liegt darin, dass wir seine Interpretation von Aristoteles’ allgemeinen Überlegungen zu den Sinnen sowie von dessen Vergleich der Sinneswahrnehmung mit Vorstellungskraft und Geist im dritten Buch von &G CPKOC besitzen. Diese ist auch deswegen interessant, da uns sowohl Philoponos’ Interpretation als auch der entsprechende Teil der arabisch überlieferten &G CPKOC-Paraphrase fehlen, so dass Stephanos das einzige Zeugnis für die Deutung dieser Kapitel in der Tradition des Ammonios darstellt. Die Interpretation der ersten Kapitel des dritten Buches enthüllt aber zunächst einige Grundelemente von Stephanos’ Verständnis der Sinneswahrnehmung, das er wahrscheinlich in seiner Interpretation des zweiten Buches näher dargelegt hat. Die erhaltenen Andeutungen lassen erkennen, dass seine Erklärung dieses Phänomens besonders den Überlegungen des Philoponos ähnelt: Sinneswahrnehmung ist eine direkte Veränderung im Organ (ʕƩƱ̆Ƣ ƭƦƴƢƣưƬ̂), die ungeteilt (ʕƭƦƱͲƲ), d.h. nicht in mehreren Schritten, und zeitlos (ʕƷƱ̆ƮƹƲ) erfolgt9. Dabei geschieht ein Erleiden
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Tornau 2007, 114-127. Bernard 1987; vgl. ferner Blumenthal 1996 sowie zum Geist Kurfess 1911, 27-32; Bormann 1982, 18-20, zu den Begriffen ˞Ý̆ƳƴƢƳƪƲ und ˢÝƢƱƯƪƲ Taormina 1994, 123. Sheppard 1991, 170-172; Welt 2003, 82-90. Steph. in an. 487, 31-35.
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Aristoteles-Interpretation
(Ý˾ƳƷƦƪƮ) im Sinnesorgan, aber im Sinne der zweiten Stufe der Entelechie als „vollendendes Erleiden“ (ƴƦƬƦƪƹƴƪƫ̅Ʈ Ý˾ƩưƲ), das nicht das Sein des Sinnesorgans betrifft, sondern der Wirkung nach (ƫƢƴ˽ƴ́ƮʟƮ̀ƱƤƦƪƢƮ) erfolgt10. Dieses Erleiden, gleichsam ein Schlag auf das Organ, ist zudem sorgfältig von der tatsächlichen, rein seelischen Beurteilung des Wahrgenommenen bzw. der Aktualisierung (ʟƮ̀ƱƤƦƪƢ) von dessen Gehalt durch die Wahrnehmung selbst zu unterscheiden11. Dabei lehnt Stephanos ausdrücklich die Vorstellung ab, dass die Gehalte (Ƭ̆Ƥưƪ) der Wahrnehmungsgegenstände bereits in der Seele vorgebildet sind; Wahrnehmung sei ein Aufnehmen der Eindrücke (ƴ̈Ýưƪ) der Wahrnehmungsobjekte, wodurch eine Möglichkeit des Wahrnehmungsvermögens realisiert werde12. Das unterscheidet sich deutlich von Priskians Vorstellung, dass die Erkenntnisgehalte der Wahrnehmung in der Seele vorhanden sind und bei der aktuellen Wahrnehmung nur aktualisiert werden13. Die Vollständigkeit der Einzelsinne Für die Gesamtinterpretation des dritten Buches stimmt der Kommentator mit Priskian darin überein, dass das Thema die rationale Seele ist und dass die höchsten der nicht rationalen Seelenvermögen, nämlich der Gemeinsinn (ƫưƪƮ́ Ƣ˅ƳƩƨƳƪƲ) und die Vorstellungskraft (ƶƢƮƴƢƳ̄Ƣ), hier nur behandelt werden, um sie von der niedrigsten rationalen Fähigkeit der Seele, dem Meinen (ƥ̆ƯƢ), abzugrenzen14. Dazu soll auch Aristoteles’ Nachweis der Vollständigkeit der Einzelsinne dienen, der die Funktion des Gemeinsinns sicherstellen soll15. Stephanos versucht zunächst, den aristotelischen Gedanken exakt zu rekonstruieren: Dieser beweise die Vollständigkeit der fünf Sinne durch den Nachweis, dass wir alle möglichen Wahrnehmungsorgane besitzen. Wegen der notwendigen Korrespondenz zwischen Wahrnehmungsorgan und Einzelsinn (424b 26f.) sei Aristoteles zufolge damit gezeigt, dass es keinen weiteren Einzelsinn geben könnte16. Stephanos gibt sich aber nicht mit der Erklärung dieses hypothetischen Syllogismus zufrieden, sondern er unterzieht ihn einer philosophischen Prüfung: Die Annahme, dass die Zahl der Einzelsinne denen der Wahrnehmungsorgane entsprechen müs-
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Steph. in an. 510, 3-7; 516, 32-517, 1; 522, 3f. 10f. Steph. in an. 466, 7-15. Steph. in an. 516, 24-27. S. o. S. 198 mit Anm. 257 und Blumenthal 1996, 124f. Steph. in an. 446, 1-18. Steph. in an. 446, 19-447,14. Steph. in an. 447, 15-24.
Stephanos von Alexandrien
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se, lässt sich ihm zufolge dadurch zeigen, dass 1. Einzelsinn und Wahrnehmungsorgan jeweils aufeinander bezogen seien, 2. ein Einzelsinn überflüssig wäre, wenn er kein Organ hätte, denn dann könne er seinen Zweck nicht erfüllen, und 3. ein Einzelsinn ohne ein Wahrnehmungsorgan gar nicht in Kontakt zu einem Wahrnehmungsobjekt treten könne17. Doch haben wir tatsächlich alle möglichen Wahrnehmungsorgane? Hier findet Stephanos bei Aristoteles zwei Argumentationsgänge: 1. Wir haben Wahrnehmungsorgane aus allen Stoffen, aus denen diese entstehen können (425a 3-10). 2. Es gibt kein Wahrnehmungsobjekt, das wir nicht wahrnehmen können (424b 27-30)18. Hierzu findet Stephanos wiederum Gegenargumente, die er allerdings gleich beantwortet: 1. Es gibt in Wirklichkeit nur drei als Organ geeignete Stoffe für fünf Einzelsinne, nämlich Wasser, Luft und Erde. Stephanos begegnet diesem Argument mit dem Hinweis, dass Wasser, Erde und Luft keineswegs nur ein Organ sind, sondern dass verschiedene Arten von Erde das Organ für Tast- und Geschmackssinn abgeben und dass verschiedene Arten von Luft das im Organ befindliche Medium für Geruchssinn und Gehör darstellen19. 2. In Wirklichkeit gibt es mehr Organe als nur fünf, etwa riechen Landtiere und Vögel vermittels Luft und Fische vermittels Wasser. Stephanos antwortet darauf, dass diese verschiedenen Organe bei verschiedenen Tieren vorhanden sind, während bei jedem einzelnen die Fünfzahl aufgeht20. Bis hierhin könnte man vermuten, dass Stephanos sich auf die detaillierte Rekonstruktion und Erläuterung von Aristoteles’ Argumenten beschränkt und dass seine Stärke in dieser Verdeutlichung besteht. Die Fortsetzung von Stephanos’ Text zeigt jedoch, dass er Aristoteles’ Argumente nicht für hinreichend hält, um das zu beweisen, was er beweisen will. Denn obwohl diese Argumente für die Vollständigkeit der Sinnesorgane bzw. Wahrnehmungsobjekte im Prinzip, wie oben gezeigt, verteidigt werden könnten, stellten sie doch keinesfalls einen notwendigen Schluss dar. Das gilt schon für das erste Argument, denn es gibt ja Lebewesen, die gar nicht sehen können, obwohl sie Zugang zur Luft haben. Bei ihnen fehlt also schlichtweg eine bestimmte Wahrnehmungsfähigkeit, warum sollte das also bei uns anders sein21? In ähnlicher Weise lässt sich gegen das zweite Argument einwenden, dass wir ja keineswegs wissen können, ob wir Kenntnis von allen möglichen Wahrnehmungsgegenständen haben. „Es hat ja auch keiner von uns Kamelfleisch gegessen“22. Stephanos hebt
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Steph. in an. 447, 26-448, 1. Steph. in an. 448, 2-24; 449, 28-30. Steph. in an. 448, 26-449, 6. Steph. in an. 449, 7-18. Steph. in an. 449, 18-28. Steph. in an. 450, 3-8; Zitat Z. 7: ƌƢ̃ƤưͨƮƫƢƭ̂ƬưƵƫƱ̀ƢƲư˝ƫʩƶƢƤ̀ƴƪƲʲƭͲƮ.
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also auf den Grundsatz ab, dass aus der Kenntnis eines einzigen Falls kein induktiver Schluss gezogen werden kann23. Er erwartet also von Aristoteles’ Argument, dass es von sichereren Prämissen ausgeht, als es seine Konklusion – die im Falle des Menschen hinreichend bekannt ist – tut; und das ist offenbar nicht der Fall. Anstelle des verworfenen aristotelischen Beweises schlägt Stephanos eine andere Argumentation vor, indem er, ebenso wie Priskian24, behauptet, dass die Vollständigkeit der Einzelsinne schon dadurch bewiesen sei, dass in einem Lebewesen, das auch über höherrangige Fähigkeiten verfügt als die Sinneswahrnehmung, wie der Mensch, doch offenbar nur fünf Sinne vorhanden seien, so dass keine weiteren Sinne zur Vollständigkeit des Sinnesvermögens erforderlich zu sein scheinen. Anders als Priskian erklärt Stephanos offen, dass das Argument in dieser Form nicht von Aristoteles, sondern von Themistios stammt25. Allerdings interpretiert er es dann doch in III 1, 425a 10f. herein, so dass er die Erfindung des Arguments Aristoteles zuschreiben kann26. Damit hinterlässt Stephanos’ Argumentation letztlich einen ambivalenten Eindruck: Zum einen prüft er die Argumente, die er im Text findet, durchaus kritisch. Andererseits möchte er aber in Aristoteles’ Text selbst dort die wahre Lehre und ihre Begründung finden, wo sie nach seiner übrigen Auslegung gar nicht sein dürfte. Der einzige Schluss hieraus ist, dass auch hier Aussagen verschiedener Quellen mit eigenen Überlegungen vermischt wurden. Dabei verrät nicht nur der explizite Hinweis auf Themistios die Kommentartradition, sondern Stephanos’ beiläufige Aussagen zu den Wahrnehmungsorganen und z.B. zur Luft innerhalb und außerhalb dieses Organs zeigen, dass er den Vorgang der Wahrnehmung als ganzen ähnlich rekonstruiert wie Philoponos, so dass er auch hierin ebenso wie dieser von Ammonios abhängen könnte. Die Wahrnehmung der allgemeinen Objekte Diese Ablehnung eines sechsten Sinnes führt Stephanos weiter, wenn er Aristoteles’ Aussagen dazu interpretiert, wie wir in der Lage sind, die allgemeinen Wahrnehmungsobjekte (ƫưƪƮ˽ƢˁƳƩƨƴ˾) zu erkennen. Denn diese werden, wie Stephanos ebenso wie Priskian und wohl auch die anderen spätantiken Interpreten27 betont, nicht als Nebeneffekt (ƫƢƴ˽ƳƵƭƣƦƣƨƫ̆Ʋ)
_____________ 23 Was Philoponos ja aufgrund der Anamnesis-Lehre zumindest in Frage gestellt hatte. S. o. S. 43f. 24 S. o. S. 204f. 25 Steph. in an. 450, 8-19; vgl. den kurzen Hinweis Them. an. paraphr. 81, 15-17. 26 Steph. in an. 450, 20-27. 27 S. o. S. 206.
Stephanos von Alexandrien
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erkannt28, was allerdings im erhaltenen Kommentar zum Beginn des dritten Buches von &G CPKOC (III 1, 425a 14-b 2) nicht wirklich begründet wird29. Stephanos geht aber auch für diese Stelle davon aus, dass die allgemeinen Objekte direkte Gegenstände der Wahrnehmung sind und erklärt das so, dass sie ein Erleiden (Ý˾ƩưƲ) in den Wahrnehmungsorganen verursachen. Das trifft für Gegenstände, die von etwas anderem direkt wahrgenommen werden, nicht zu, wie Stephanos ebenso wie Priskian und in engem Anschluss an Themistios erläutert: So wie ein Sinn unter dem Objekt eines anderen Sinns auch dann nichts erleidet, wenn dieses Objekt durch ihn miterkannt wird, etwa die Süße des Honigs zusammen mit seiner Farbe (425a 21-24), oder wenn die Erkenntnis des Wesens (ư˝Ƴ̄Ƣ) z.B. von Kleons Sohn (425a 25-27) nur als Nebeneffekt durch die Sinneswahrnehmung geschieht, da sie eigentlich Aufgabe der Vernunft ist30. Dass Aristoteles ein derartiges Erleiden für die allgemeinen Objekte im Sinn hat, entnimmt Stephanos auch dessen Behauptung, dass wir die allgemeinen Objekte vermittelt durch ihr Bewegtsein (ƫƪƮ̂ƳƦƪ) wahrnehmen (III 1, 425a 16f.). „Bewegung nennt er aber das Erleiden bzw. die Veränderung“31. Stephanos interpretiert also die durch die Bewegung der Gegenstände vermittelte Wahrnehmung ebenfalls in der heute nicht selbstverständlichen32 Weise, dass auch die allgemeinen Objekte direkt auf die Wahrnehmungsorgane wirken. Zur Rechtfertigung seiner Position muss er insbesondere erklären, wie das Erleiden aussieht, das von dem allgemeinen Wahrnehmungsobjekt der Ruhe bzw. Bewegungslosigkeit (ʱƱƦƭ̄Ƣ) verursacht wird. Dazu führt er eine Theorie Plutarchs von Athen an, dem zufolge auch das Fehlen einer Bewegung eine bestimmte Haltung (ƥƪ˾ƩƦƳƪƲ) bedeutet, die in jedem Fall ein Erleiden darstellt33. Dass Stephanos weiterhin ausführt, die Bewegungslosigkeit entstehe gerade durch das Fehlen einer äußeren Bewegung, wird von Hicks als Hinweis darauf verstanden, dass auch Stephanos eine Vermittlung durch eine äußere Bewegung annehmen muss34. Das ist so allerdings nicht richtig: Stephanos hat keinen Grund, die Selbstverständlichkeit zu bestreiten, dass Ruhe Abwesenheit von Bewegung im Bereich der Wahrnehmungsobjekte bedeutet. Für seine Interpretation kommt es nur darauf an, mit Plutarch festzuhalten, dass die Wahrnehmung dieser Bewegungslosigkeit selbst als ein bestimmtes Er-
_____________ 28 29 30 31 32 33 34
Steph. in an. 454, 1-9. Zur Problemlage s. o. S. 205f. Steph. in an. 454, 15-26; vgl. Them. an. paraphr. 81, 24-82, 18. Steph. in an. 457, 27-31; Zitat Z. 29: ƌ̄ƮƨƳƪƮƥ˿Ƭ̀ƤƦƪƴ̅Ý˾ƩưƲ,ƴ́ƮʕƬƬư̄ƹƳƪƮ. Vgl. Hicks 1907, 428-431; Horn 1994, 20. Steph. in an. 457, 34-458, 3 = Plut. test. 25, 8-12. Hicks 1907, 429 zu Steph. in an. 458, 31-36.
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Aristoteles-Interpretation
leiden im Organ verstanden wird, das eben im Fehlen von dessen Veränderung besteht35. Problematisch könnte eher ein anderer Punkt scheinen, den ein Vergleich mit der Interpretation von Wolfgang Welsch zutage bringt, der ähnlich wie Priskian und Stephanos den Gedanken ablehnt, für die allgemeinen Wahrnehmungsobjekte sei ein eigener Gemeinsinn (ƫưƪƮ́ Ƣ˅ƳƩƨƳƪƲ) zuständig36. Welsch nimmt aber im Gegensatz zu Stephanos und Priskian an, dass die allgemeinen Objekte von den Einzelsinnen nebenbei (ƫƢƴ˽ ƳƵƭƣƦƣƨƫ̆Ʋ) wahrgenommen werden und beruft sich dazu auf 425a 1537. Dagegen bezeichnet Stephanos diesen Satz als eine unglückliche Formulierung (ÝͲƲ ʕƳƢƶͲƲ ƴ̅ ƫƢƴ˽ ƳƵƭƣƦƣƨƫ̅Ʋ ƦˇÝƦƮ) und sieht ihn auf der Grundlage von 425a 27f. als eine Aussage über die problematischen Folgen der Annahme eines Gemeinsinns an38. Denn er schließt aus Aristoteles’ Beispielen, dass die allgemeinen Wahrnehmungsgegenstände, wenn sie nur nebenbei wahrgenommen würden, eigentlich gar keine Gegenstände der Wahrnehmung wären, da „nebenbei wahrgenommen“ immer bedeutet, dass etwas kein Erleiden eines Sinns verursacht (ư˝ƥ̀ƴƦƱưƮ ƴͲƮ ƳƨƭƢƪƮưƭ̀ƮƹƮ ƴư̈ƴƹƮ Ý˾ƩưƲ ÝưƪƦ͙). Denn dieser Ausdruck beziehe sich entweder darauf, dass ein Sinn das Objekt eines anderen Sinnes wahrnehme (also z.B. dass der Gesichtssinn etwas als „süß“ erkennt), oder auf die genannten Wesensaussagen, die von der Vernunft auf der Grundlage der Wahrnehmung getroffen würden, wie etwa in Aristoteles’ Beispiel von der Erkenntnis von Kleons Sohn (425a 21-27)39. Die Konsequenz aus dieser Beobachtung ist klar und wird von Stephanos zu Recht Aristoteles zugeschrieben: Die Wahrnehmung der allgemeinen Objekte muss ein Empfinden der Einzelsinne beinhalten, sonst kann es gar keine Wahrnehmung sein. Die Annahme eines eigenen sechsten Sinns für die allgemeinen Objekte ändert nicht nur nichts hieran, sondern es bleibt völlig unklar, wie und mit welchem Organ sich dieser Sinn auf seine Objekte beziehen sollte. Die Wahrnehmung von Bewegung, Ruhe, Zahl etc. ist also ein Bestandteil der einzelsinnlichen Wahrnehmung. Sie beschränkt sich aber nicht unbedingt, wie die Wahrnehmung der Eigenobjekte (˅ƥƪƢ ƢˁƳƩƨƴ˾),
_____________ 35 Anders als Taormina 1989, 197 darf man dazu also nicht eine Erklärung des Stephanos einer des Plutarch gegenüberstellen, sondern muss annehmen, dass Stephanos diese übernimmt – was er offensichtlich tut. 36 Ähnlich auch Horn 1994, 19-22. 37 Welsch 1987, 287-294. Vgl. zur Interpretation dieser Stelle als Einwand gegen Aristoteles’ eigene Meinung o. S. 208f. 38 Steph. in an. 457, 17-23. 39 Steph. in an. 454, 15-26.
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auf jeweils einen einzelnen Sinn, sondern kann gemeinsam erfolgen und setzt daher ein koordiniertes Wahrnehmen der Sinne voraus40. Während das bei Stephanos hinreichend deutlich wird, bleibt es unklar, wie er den Unterschied der Wahrnehmung der allgemeinen und der einzelsinnlichen Objekte erklären will. Zwar zitiert er dazu Plutarch von Athen dahingehend, dass deren Wahrnehmung „nicht gemäß der Eigentümlichkeit der Wahrnehmung“ erfolge, doch bezieht er diese Aussage zugleich auf nebenbei aufgefasste Wahrnehmungsobjekte, was die allgemeinen Objekte ja gerade nicht sein sollen; auch seine Beispiele gehen in diese Richtung41. Für eine Klärung ist es sinnvoll, die von Priskian angeführte und dort auch erklärte Unterscheidung von zwei Weisen einer Wahrnehmung „an sich“ (ƫƢƩ’Ƣ˞ƴ̆) heranzuziehen42. Fasst man die verschiedenen Argumentationsschritte zu diesem Problem zusammen, dann ist Priskians und Stephanos’ Ablehnung eines Gemeinsinns, der für die allgemeinen Objekte zuständig ist, konsequent und zutreffend. Dass man eine direkte Wahrnehmung der allgemeinen Gegenstände vertreten muss, wird deswegen in der jüngeren Forschung etwa von Wolfgang Bernard und Stephen Everson betont43. Aus einem systematischen Blickwinkel ist die Annahme, dass die Wahrnehmung der allgemeinen Objekte immer durch ein physisches Erleiden in verschiedenen Einzelsinnen geschieht, geeignet, Sinneswahrnehmung als eigene Erkenntnissphäre auf breiter Basis zu beschreiben, nämlich mit einer möglichst großen Zahl eigener Erkenntnisobjekte. Unterstellt man Aristoteles eine gewisse terminologische Konsequenz, dann ist auch Priskians und Stephanos’ Skepsis gegenüber Aristoteles’ Aussage, dass die allgemeinen Objekte nebenbei (ƫƢƴ˽ ƳƵƭƣƦƣƨƫ̆Ʋ. 425a 15) wahrgenommen werden, durchaus verständlich. Sie ist jedenfalls konsequenter als die Interpretation von Welsch, der zufolge die allgemeinen Wahrnehmungsgegenstände von den Einzelsinnen nur nebenbei wahrgenommen werden. Das widerspricht nicht nur II 6, 418a 8, sondern provoziert auch die Frage, ob nicht doch ein weiterer Sinn für diese Objekte anzunehmen ist, der sie eben nicht nebenbei, sondern an sich wahrnimmt.
_____________ 40 41 42 43
Kahn 1979, 9. Stephanos in an. 458, 9-17. S. o. S. 206f. Bernard 1988, 115-120; Everson 1997, 148-157; vgl. auch Busche 2001, 47-49.
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Existenz und Funktion des Gemeinsinns Die Ablehnung eines Gemeinsinns als Erkenntnisorgan für die allgemeinen Wahrnehmungsobjekte bildet allerdings, ebenso wie bei Priskian, nur die eine Hälfte von Stephanos’ Aussagen zu diesem Thema. Denn er nimmt einen solchen Sinn sehr wohl an, und zwar mit der Aufgabe, die verschiedenen Wahrnehmungsobjekte aufeinander zu beziehen. Die Notwendigkeit dieser Annahme ergibt sich auch für Stephanos aus dem letzten Abschnitt der Wahrnehmungskapitel von &GCPKOC (III 2, 426b 8-427a 15), wo Aristoteles betont, dass zur Unterscheidung44 der verschiedenen Wahrnehmungsobjekte voneinander, etwa zur Unterscheidung von „süß“ und „gelb“, ein einheitliches Vermögen angenommen werden muss, das dem Bereich der Wahrnehmung zuzurechnen ist. Obwohl Aristoteles hier den Ausdruck Gemeinsinn (ƫưƪƮ́Ƣ˅ƳƩƨƳƪƲ) nicht gebraucht, wird das damit gemeinte Faktum auch von vielen modernen Interpreten hier gefunden45. Stephanos’ Interpretation zeichnet sich wiederum durch seine sorgfältige Gliederung des Textes und der Argumentationsstruktur aus. Er teilt den Abschnitt in vier Unterabschnitte ein: Im ersten (426b 8-15)46 geht es darum, dass es ein Sinnesvermögen geben muss, das die Unterscheidung zwischen den Objekten verschiedener Einzelsinne vornimmt – in Stephanos’ Terminologie zwischen Objekten, die nicht einer Gattung angehören (ƴ˽ ʕƮưƭưƤƦƮ͋). Der zweite Abschnitt (426b 15-23) zeigt, dass diese Wahrnehmung unkörperlich sein, der dritte (426b 23-28)47, dass sie gleichzeitig erfolgen muss. Der Rest des Abschnitts beantwortet dann die Frage, wie eine solche Wahrnehmung möglich ist. Grundsätzlich ruht die Argumentation auf zwei Säulen: Zum einen muss eine Unterscheidung der Objekte der verschiedenen Sinne möglich sein, und zum zweiten muss sie durch sinnliche Wahrnehmung erfolgen. Den letzten Punkt, der bei Aristoteles nicht näher begründet wird, erläutert Stephanos durch einen Verweis auf das Verhalten von Tieren, etwa Hunden, die auch dazu in der Lage sind, aus den sichtbaren Qualitäten einer Sache auf ihre Geschmackseigenschaften bzw. ihre Essbarkeit zu schließen48. Auch die Tiere haben also gleichsam ein „gemeinsames Zusammenführungsvermögen“ (ƫưƪƮ̅ƮƫƢƴƢƤ̊ƤƪưƮ) aller Wahrnehmungsob-
_____________ 44 Dass ƫƱ̄ƮƦƪƮ hier, wie meistens in Aristoteles’ Wahrnehmungstheorie, mit „unterscheiden“ („to discriminate“) zu übersetzen ist, hat Ebert 1983 überzeugend gezeigt. 45 Beispielhaft ausgeführt bei Hicks 1907, 444f. 46 Steph. in an. 482, 30. 47 Steph. in an. 483, 18. 28; 484, 3. 48 Steph. in an. 478, 11-15.
Stephanos von Alexandrien
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jekte49. Wie Stephanos sich die funktionelle Bedeutung dieser Fähigkeit vorstellt, hatte er bereits zuvor bei der Interpretation von Aristoteles’ Ausführungen dazu deutlich gemacht, wie etwas zugleich von verschiedenen Sinnen erkannt wird, etwa der Honig, der sowohl süß als auch gelb ist (III 1, 425a 21-25). Stephanos versteht Aristoteles’ Aussage so, wiederum in der Nachfolge des Plutarch von Athen, dass zuerst eine gleichzeitige Wahrnehmung des Süßen und des Gelben vorliegt, die als Honig identifiziert wird, und dass später zugleich mit dem Eindruck „gelb“ auch der Eindruck „süß“ aktiviert wird, sobald ein entsprechendes Gelb gesehen wird. Der Gemeinsinn spielt bei beiden Schritten eine Rolle: Zum einen bringt er die von verschiedenen Einzelsinnen gewonnenen Eindrücke „gelb“ und „süß“ zusammen – „auf beides bezieht Aristoteles den Gemeinsinn“ (ʕƭƶư͙Ʈ ƥ˿ Ƭ̀ƤƦƪ ƴ́Ʈ ƫưƪƮ́Ʈ Ƣ˅ƳƩƨƳƪƮ) –50, und zum anderen werden diese Eindrücke im Gemeinsinn aufbewahrt, so dass dieser dann, wenn das Auge ein entsprechendes „gelb“ sieht, auch den Eindruck „süß“ zugleich hervorbringt und damit die Erkenntnis ermöglicht, dass es sich um Honig handelt51. Der Gemeinsinn funktioniert also auf zwei unterschiedliche Arten: Bei der Koordinierung verschiedener Wahrnehmungen fasst er die verschiedenen Objekte direkt (ƫƢƩ’Ƣ˞ƴ˾) auf; wenn er aber aus dem Eindruck eines Einzelsinns auf den eines anderen Sinns schließt – etwa vom Gelben auf das Süße im Falle des Honigs –, dann erkennt er den zweiten Eindruck nur nebenbei (ƫƢƴ˽ ƳƵƭƣƦƣƨƫ̆Ʋ)52. Auch für den Gemeinsinn unterscheidet Stephanos also scharf zwischen einer eigentlichen, direkten sinnlichen Wahrnehmung und den Nebeneffekten einer derartigen Wahrnehmung, die auch andere Erkenntnisvermögen mit einbezieht: Der im Gemeinsinn erfolgende Schluss auf etwas, das nicht direkt sinnlich erkannt ist, ist zwar selbst eine sinnliche Erkenntnis, er geschieht jedoch nicht in der Form eines Erleidens im Sinnesorgan, so wie es bei der Wahrnehmung von direkt sinnlich erfassten Objekten geschieht. Nach Plutarch von Athen, dessen Ansicht Stephanos hier anführt, erfolgen diese nebenbei geschehenden Wahrnehmungen daher „nicht gemäß der Eigentümlichkeit der Wahrnehmung“ (ư˝ ƫƢƴ˽ ƴ̅ ƢˁƳƩƨƴƪƫ̅Ʈ ˁƥ̄ƹƭƢ)53. Diese von einer eigentlichen Wahrnehmung unabhängige Schlusskraft des Gemeinsinns wird auch dadurch deutlich, dass Stephanos den Gemeinsinn,
_____________ 49 Steph. in an. 555, 3-5. 50 Zitat: Steph. in an. 460, 1f.; weiterhin: 459, 31-460, 5 (Plut. test. 26); 461, 18-20. Stephanos beschreibt hier eine Wirkung des Gemeinsinns und nicht, wie Hicks 1907, 430 vermutet, des Gesichtssinns. Vgl. Steph. in an. 478, 22-24. 51 Steph. in an. 455, 18-30. 52 Steph. in an. 461, 9-15; vgl. 510, 9-23. 53 Steph. in an. 458, 13-15; das Beispiel wird allerdings im Kontext der Wahrnehmung der allgemeinen Objekte angeführt.
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Aristoteles-Interpretation
insofern er Eindrücke (ƴ̈Ýưƪ) im Gedächtnis präsent halten und im Bedarfsfall wieder hervorbringen kann, mit dem Vorstellungsvermögen (ƶƢƮƴƢƳ̄Ƣ) und damit indirekt auch mit dem leidensfähigen Geist (ÝƢƩƨƴƪƫ̅Ʋ ƮưͨƲ) identifiziert, der für die Gedächtnisfunktion zuständig ist54. Der Gemeinsinn im eigentlichen Sinne ist dagegen die Fähigkeit, gleichzeitig verschiedene Gegenstände wahrzunehmen und voneinander zu unterscheiden. Problematisch an dieser Beschreibung ist vor allem, wie dieser Sinn sich zugleich mehrere Objekte vergegenwärtigen kann. In Stephanos’ Fall ergibt sich dieses Problem, das auch schon Alexander von Aphrodisias aufgeworfen hatte55, direkt aus seiner Interpretation des vorhergehenden Abschnittes III 2, 425b 26-426b 7, bei dem er die Identität des aktuell (ʟƮƦƱƤƦ̄̾) Wahrnehmenden mit dem Wahrnehmungsobjekt behandelt hatte56. Denn mit diesem Hinweis kann er den Lösungsansatz widerlegen, die notwendige Einheit und Verschiedenheit des Gemeinsinns – bzw. jeder Wahrnehmung überhaupt57 – dadurch zu erklären, dass eine einheitlich existierende Wahrnehmung (Ƣ˅ƳƩƨƳƪƲƭ̄Ƣ ƴͳ˞ÝưƫƦƪƭ̀ƮͰ), also entweder der Gemeinsinn oder jeder Einzelsinn, mehrere Relationen (ƳƷ̀ƳƦƪƲ) bzw. erkennbare Strukturen (Ƭ̆Ƥưƪ) aufweise, die gleichsam wie aus einer Quelle aus ihr hervorgingen. Stephanos lehnt das auch deswegen ab, weil man daraus entgegen Stephanos’ zitierter Ansicht schließen könnte, die Gehalte der Wahrnehmung stammten ursprünglich aus der Seele58. Die Zusammensetzung der Wahrnehmung aus verschiedenen Relationen ist dem Kommentator zufolge zwar, wie sich aus Aristoteles’ Text entnehmen lässt (427a 4-9), in Bezug auf die Potenzialität dieser Gehalte möglich, nicht aber hinsichtlich einer aktuellen Wahrnehmung, bei der das Substrat tatsächlich aktuell eine bestimmte Form annehmen muss59. Vielmehr muss man annehmen, dass jeder Sinn bereits als ontologisches Substrat (ƴͳ˞ÝưƫƦƪƭ̀ƮͰ) zugleich eines und mannigfaltig (ƭ̄ƢƫƢ̃ÝưƬƬƢ̄) ist, so dass eine Unterscheidung mehrerer gleichzeitig aufgefasster Objekte möglich wird. Hiermit erklärt Stephanos Aristoteles’ Bild von dem einen Punkt, der zugleich Endpunkt verschiedener Linien ist (427a 9-11)60. Die von Stephanos abgelehnte Erklärung erinnert an Themistios’ Interpretation der Stelle, wo sich auch das Bild vom Gemeinsinn als Quelle
_____________ 54 Steph. in an. 455, 21-25; vgl. 482, 4. S. o. S. 133f. Vgl. aber auch Stephanos’ eigene Begründung für diese Identifizierung u. S. 254. 55 Alex. apor. 3, 9 (95, 18-96, 6), aus einer direkten Kommentierung dieser Passage. 56 Steph. in an. 469, 1-473, 19. 57 Vgl. Steph. in an. 480, 19-25. 58 Steph. in an. 469, 15-23; s. o. S. 295. 59 Steph. in an. 480, 31-481, 2. 60 Steph. in an. 481, 3-16.
Stephanos von Alexandrien
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der Einzelsinne findet61. Allerdings geht Themistios noch weiter als Stephanos’ Gegenposition, da für ihn die zentrale Wahrnehmungsfähigkeit nur der Struktur (Ƭ̆ƤͰ) nach unkörperlich ist62. Dagegen geht Stephanos von einer durch die Gleichzeitigkeit von Einheit und Vielheit strukturierten, ontologisch klar unkörperlichen Struktur aus, in der Wahrnehmung als ganze stattfindet. Damit kann er an Alexander von Aphrodisias anknüpfen, der ebenfalls angenommen hatte, dass die Wahrnehmungsfähigkeit (ʲƢˁƳƩƨƴƪƫ́ƥ̈ƮƢƭƪƲ) im Gegensatz zum untersten Wahrnehmungsorgan (ƴ̅ ʩƳƷƢƴưƮ ƢˁƳƩƨƴ̂ƱƪưƮ) unkörperlich sei63. Alexanders Schluss aus dieser Unkörperlichkeit auf die Gleichzeitigkeit von Einheit und Vielheit64 hatte Themistios in dieser Form nicht übernommen, obwohl seine Erklärung der Alexanders ansonsten terminologisch ähnelt. Die bis jetzt gegebene Darstellung ist Stephanos zufolge die „eher logische“ (ƬưƤƪƫ̊ƴƦƱƢ) Erklärung des Aristoteles. Er selbst ergänzt diese durch eine „eher naturwissenschaftliche“ (ƶƵƳƪƫ̊ƴƦƱƢ) Erläuterung. Dieser zufolge wird die Einheit der Sinneswahrnehmung durch die unkörperliche Natur des Urteilsvermögens garantiert, während ihre gleichzeitige Vielfalt aus der prinzipiell materiellen Verfasstheit ihres Organs, nämlich des pneumatischen Körpers, resultiert65. Dieser Gedanke findet sich in Alexanders überlieferter Kommentierung der Stelle nicht, wohl aber bei Themistios66. Im Vergleich zu Philoponos, soweit dessen Interpretation dieser Stelle aus Sophonias’ Paraphrase zu ermitteln ist67, fällt auf, dass die PneumaTheorie bei Stephanos nur hier erwähnt wird, so dass sie für ihn, ebenso wie für Priskian, nicht die Bedeutung hatte, die Philoponos ihr beimaß. Trotzdem verdeutlicht sowohl seine Voraussetzung bei der Behandlung der allgemeinen Wahrnehmungsobjekte, dass echte Sinneswahrnehmung immer ein Erleiden des Organs impliziert68, als auch die Annahme des Pneumas, dass Stephanos prinzipiell in derselben Tradition steht, die wahrscheinlich schon von Ammonios oder sogar von Plutarch von
_____________ 61 62 63 64 65 66 67 68
Them. an. paraphr. 86, 33. Them. an. paraphr. 86, 31. Alex. apor. 3, 9 (97, 8-19). Vgl. an. 60, 3-9; dazu Henry 1960, 437f. Vgl. Alex. apor. 3, 9 (98, 10-15). Steph. in an. 481, 17-24. Them. an. paraphr. 86, 32. S. o. S. 118. Sophonias kennt, womöglich aus Philoponos, die gleiche Theorie: Soph. an. paraphr. 108, 6-15.
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Athen69 bei der Interpretation von &GCPKOC entwickelt wurde und die sich auch bei Priskian findet. Anhand von Stephanos und Priskian wird jedenfalls deutlich, dass die späten Kommentatoren über eine systematisch geschlossene und auf Aristoteles’ Text basierende Theorie zum Verhältnis von Einzelsinnen und Gemeinsinn verfügten. Sie geht im Wesentlichen von zwei Voraussetzungen aus: Zum einen sind Einzel- und Gemeinsinn nicht real voneinander zu trennen: „Er ist nicht abgetrennt. Denn es wurde gezeigt, dass es keinen sechsten anderen Einzelsinn gibt, der von den fünf bekannten abgetrennt ist; also ist er diesen gemeinsam“70. Diese Einheit zeigt sich auch in der Funktion des Gemeinsinns, denn dieser bezieht sich direkt auf dieselben, durch die einzelnen Organe gewonnenen, materiell verfassten Sinnesdaten, die auch jeder Einzelsinn, wenn auch in eingeschränkterer Weise, erkennt. Ein Unterschied ergibt sich nur in der größeren Breite des Gemeinsinns, der damit die Fähigkeit der Wahrnehmung, die aufgefassten Gegenstände zu unterscheiden bzw. zu erkennen, weiter ausdehnt. Vor dieser Perspektive lässt sich auch der zweite Punkt fassen, nämlich das Verhältnis des Gemeinsinns zu den allgemeinen Wahrnehmungsobjekten. Wie oben bereits festgestellt, müssen diese, um tatsächlich Wahrnehmungsobjekte zu sein, in der Art eines Erleidens oder, anders ausgedrückt, auf materielle Weise erkannt werden. Insofern sind sie nicht spezielle Objekte des Gemeinsinns bzw. ist der Gemeinsinn kein spezieller Sinn für sie. Hinsichtlich dieser materiellen Wahrnehmung der aktuellen Objekte macht es dann aber keinen Sinn, von einer „stärkeren Aktivität oder Spontaneität“ des Gemeinsinns zu sprechen71. Auch die allgemeinen Objekte müssen zuerst durch die Organe der Einzelsinne wahrgenommen werden, bevor sie Gegenstand des Gemeinsinns werden72. Stephanos betont zudem, dass erst die Auffassung durch mehrere Sinne der Erkenntnis der allgemeinen Objekte eine gewisse Zuverlässigkeit verleiht, die fehlt, wenn nur ein Sinn diese erkennt73. Die Koordinationsleistung der verschiedenen Sinne endet also im Gemeinsinn. Insofern besteht durchaus eine Verbindung von Gemeinsinn und allgemeinen Objekten, die aber, wie die spätantike Interpretation vorbildlich zeigt, auch ihre Grenzen hat. In dieser Interpretation ist Aristoteles’ Theorie durchaus in der Lage, der Komple-
_____________ 69 Zur Rolle des Plutarch vgl. Stephanos’ häufige Verweise auf ihn in der Wahrnehmungstheorie sowie die übrigen Angaben der erhaltenen Kommentatoren, gesammelt von Taormina 1989 als Plut. test. 21-31. 70 Steph. in an. 479, 4-6:ư˝ƫʩƳƴƪƥƪƢƫƦƫƱƪƭ̀ƮƨŻƥ̀ƥƦƪƫƴƢƪƤ˽Ʊ˖ƴƪư˝ƫʩƳƴƪƮʪƫƴƨƴƪƲʠƴ̀ƱƢ ƥƪƢƫƦƫƱƪƭ̀ƮƨƴͲƮÝ̀ƮƴƦƴư̈ƴƹƮŻƫưƪƮ́ʙƱƢʟƳƴ̄Ʈ. 71 So Busche 2001, 48 Anm. 89. 72 Steph. in an. 453, 29-31. 73 Steph. in an. 510, 31-511, 6.
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xität einer Wahrnehmung, die aus spezifischen Objekten einzelner und aus gemeinsamen Objekten mehrerer Sinne ein bereits recht komplexes Bild der Wirklichkeit erstellt, gerecht zu werden. Diese Überlegung lässt zugleich die besondere Situation der sinnlichen Wahrnehmung als ganzer innerhalb der neuplatonischen Theorie gut erkennen: Ihre spezifische Natur besteht darin, dass in ihr materielle und nicht materielle Prozesse eine funktionale Einheit eingehen, die nicht aufgetrennt werden kann, ohne den Funktionszusammenhang aufzuheben. Bei allen „höheren“ Erkenntnisvermögen liegen die Daten über die materielle bzw. sinnlich erkennbare Welt bereits in bearbeiteter Form vor, in der sie dann für die aktuelle Erkenntnis nutzbar gemacht werden können. Bereits die Darstellung des Gemeinsinns hat das für das Vorstellungsvermögen angedeutet, dem sich Stephanos, dem aristotelischen Text folgend, anschließend zuwendet. 3. Aisthesis, Phantasia und die Möglichkeiten nicht rationalen Erkennens Stephanos’ Behandlung der Phantasia74 macht es nicht leicht, eine geschlossene Theorie dieses Vermögens zu erkennen, da der Kommentar dem aristotelischen Text von III 3 folgt, der sich vor allem der Abgrenzung von anderen Seelenvermögen widmet, während wichtige Aussagen zum Vorstellungsvermögen in anderen Kapiteln getroffen werden. Trotzdem lohnt dieses Vermögen eine ausführlichere Darstellung, da Stephanos gerade hierzu eine Menge Dinge zu sagen hat und die Vorstellungskraft, wie Anne Sheppard gezeigt hat, nicht ausschließlich als Vermögen der Erstellung mentaler Bilder ansieht75. Eine generelle Charakterisierung des Vermögens gewinnt er aus III 3, 428b 10-17: „Die Vorstellungskraft ist ein Vermögen, das die Wahrnehmungsformen vermittelt durch die Sinneswahrnehmung aufnimmt“76. Vom Gemeinsinn, für den diese Definition auch zutrifft, unterscheidet sich die Vorstellungskraft dadurch, dass sie ihre Eindrücke von der gesamten Wahrnehmung empfängt, also sowohl von den Einzelsinnen als auch vom Gemeinsinn77. Stephanos unterstreicht diesen Unterschied, indem er Themistios’ Überlegung ablehnt, dass es im Moment der Wahrnehmung kaum möglich wäre, zwischen Vorstellungskraft und Sinneswahrnehmung zu unterscheiden. Ihm zufolge kann man von Vorstellungskraft erst dann
_____________ 74 Vgl. dazu auch Welt 2003, 82-90 und Perkams 2005c. 75 Sheppard 1991, 170-172. 76 ƗƢƮƴƢƳ̄ƢʟƳƴ̃ƥ̈ƮƢƭƪƲƥƦƫƴƪƫ́ƥƪ˽ƭ̀ƳƨƲƢˁƳƩ̂ƳƦƹƲƴͲƮƢˁƳƩƨƴͲƮƦˁƥͲƮ. Steph. in an. 507, 16f. 77 Steph. in an. 507, 20-31.
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Aristoteles-Interpretation
sprechen, wenn einmal ein sinnlicher Wahrnehmungsakt erfolgt ist und die Vorstellungskraft in Aktivität versetzt hat78. Ferner hält die Phantasia in bestimmten Situationen die Objekte der Sinne fest, aber in weniger deutlicher Weise, wenn wir etwa beim Schließen der Augen nach dem Blick in eine Lampe noch immer Funken vor uns sehen79. Eine weitere Klassifizierung der Vorstellungskraft ergibt sich aus einem Vergleich mit dem Geist: Da sie sich mit Objekten befasst, die sich bereits im Inneren des Menschen befinden, ist sie zusammen mit diesem als reflexive Erkenntnis im Allgemeinen (ʲƫưƪƮưƴ̀ƱƢƮ̆ƨƳƪƲ) einzustufen. Andererseits unterscheidet sie sich vom rationalen Erkennen, insofern sie sich auf Einzelgegenstände (ƭƦƱƪƫ˾) bezieht, weswegen sie auch leidender Geist (ÝƢƩƨƴƪƫ̅ƲƮưͨƲ) genannt wird80. Auch hier finden wir bei Stephanos eine konzise Zusammenfassung einer traditionellen Gliederung, die mindestens auf Proklos zurückgeht81. Der Beschreibung der Vorstellungskraft als eines rezeptiven Vermögens fügt Stephanos eine weitere Dimension hinzu, nämlich die Fähigkeit, Dinge, die der Vorstellende will, selbständig abzubilden (ڲƭơƦƹƣƱơƶƥݶƭ)82. Auf diese Weise kann man sich nicht nur von der Wahrnehmung gegebene Gegenstände vorstellen, sondern auch neue Vorstellungen bilden, z.B. die vom Bockshirsch (ƴƱƢƤ̀ƬƢƶưƲ)83. Dieses Beispiel zeigt aber, dass die Vorstellungskraft sich gerade in dieser Eigenschaft allzu leicht falsche Vorstellungen macht, was einen entscheidenden Unterschied zu ihrer rein rezeptiven Funktion bildet84. Allerdings bleibt sie auch in ihrer aktiven Funktion auf Eindrücke aus der Wahrnehmung angewiesen. Sie kann diese lediglich neu kombinieren, etwa den vom Bock mit dem vom Hirsch, aber nicht selbst neue Eindrücke kreieren85. Die Möglichkeiten und Grenzen der aktiven Vorstellungskraft werden noch deutlicher bei Stephanos’ Interpretation von Aristoteles’ Aussage, dass das Meinen (ƥ̆ƯƢ) automatisch auf das Vorliegen der Fakten folgt, während die Vorstellungskraft auf unserer eigenen Entscheidung beruht (427b 17-21). Das bezieht sich nach Stephanos auf die Vorstellungskraft, die „selbständig abbildet, was sie nur will“ (ʕƮƢƧƹƤƱƢƶưͨƳƢ ˖ƴƪ ƫƢ̃
_____________ 78 Steph. in an. 508, 19-509, 2 mit Bezug auf Them. an. paraphr. 92, 1-13. 79 So ist m.E. 464, 13-18 zu verstehen, wo die ƶƢƮƴƢƳ̄Ƣ als ƭƪƫƱ˽Ƣ˅ƳƩƨƳƪƲ beschrieben wird. 80 Steph. in an. 490, 20-25; vgl. Blumenthal 1996, 160. 81 S. o. S. 48f. 82 Steph. in an. 509, 16-18. Dazu Welt 2003, 87. 83 Steph. in an. 507, 35-508, 2. 84 Steph. in an. 509, 20-22. 85 Steph. in an. 508, 4-7.
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ƣư̈ƬƦƴƢƪ)86. Noch deutlicher als Priskian87 diskutiert er die Tragweite dieser selbständigen Vorstellungskraft: Denn nicht nur im Traum gehorcht sie nicht meiner Entscheidung, sondern auch konkrete Vorstellungen kann ich mir nicht beliebig bilden. So stelle ich mir Stephanos zufolge Sokrates immer als kahl und dick und nicht als hübsch und prunkvoll vor. Aristoteles’ zitierte Aussage meint daher nur, dass eine Meinung niemals unserer Entscheidung gehorcht, die Vorstellung aber manchmal88. Das Beispiel vom Traum zeigt zudem, dass die aktive Vorstellungskraft nicht immer an unser Wollen gebunden ist89. Das Sokrates-Beispiel zeigt zudem die inhaltlichen Möglichkeiten und Grenzen der Vorstellungskraft. Denn einerseits ist ihr Gegenstandsbereich genauso weit wie der der Sinneswahrnehmung, denn sie bezieht sich ebenfalls auf einzelsinnliche und allgemeine Objekte der Wahrnehmung sowie, in Verbindung mit der Vernunft, auf nebenbei wahrgenommene Objekte90, zum Beispiel eine „individuelle Wesenheit“ (ʙƴưƭưƮƦˇƥưƲ), wie es Sokrates ist91. Insofern ist bei rationalen Wesen die Vorstellungskraft an die Vernunft gebunden. In diesem Fall begrenzt und ordnet das Verstandesurteil über die Wirklichkeit die aktive Vorstellungskraft, die so trotz ihrer Neigung zum Irrtum einen positiven und zuverlässigen Beitrag zur Erkenntnis leisten kann. „Vom Geist und vom diskursiven Denken wird die Vorstellungskraft gereinigt, und ihre Unvollkommenheit wird von ihnen vollendet. Ferner wird sie von ihnen zur Wahrheit geführt, soweit sie diese Wahrheit von ihrer eigenen Natur aus erhalten kann“92.
Neben der Unterscheidung von rezeptiver und aktiver Vorstellungskraft kennt Stephanos auch eine weitere Unterteilung der Phantasia in ein bloß erinnerndes und ein lernendes Vermögen: „Die Vorstellungskraft ist zweifach, die eine erinnernd, die andere lernfähig, durch die wir lernen und die auch der Papagei hat“93. Neben der Fähigkeit des Erinnerns beinhaltet die Vorstellungskraft demnach bei einigen Wesen nicht nur die Fähigkeit zu lernen, sondern auch sich auszudrücken und Worte zu bilden. Gemeint
_____________ 86 87 88 89 90 91
Steph. in an. 509, 17f. 20. S. o. S. 210. Steph. in an. 488, 22-30. Steph. in an. 513, 6-8. Steph. in an. 509, 6-9. Vgl. Steph. in an. 509, 26-510, 4. Dass mit ʙƴưƭưƮƦˇƥưƲ eine individuelle Form und nicht eine unterste Art gemeint ist, ergibt sich aus der Klassifizierung als etwas akzidentell Wahrgenommenes. 92 ʺ ƭ˿Ʈ ưˣƮ ƶƢƮƴƢƳ̄Ƣ [...] ʕÝ̅ ƴưͨ Ʈưͨ ƫƢ̃ ƴ͋Ʋ ƥƪƢƮ̆ƪƢƲ ʕƮƢƫƢƩƢ̄ƱƦƴƢƪ, ƫƢ̃ ƴ̅ ʕƴƦƬ˿Ʋ Ƣ˝ƴ͋Ʋ ˞Ý̅ ƴư̈ƴƹƮ ƴƦƬƦƪưͨƴƢƪ, ʕƬƬ˽ ƫƢ̃ ʗƤƦƴƢƪ ˞Ý̅ ƴư̈ƴƹƮ ƦˁƲ ʕƬ̂ƩƦƪƢƮ, ƫƢƩ’ ˖ƳưƮ Ý̀ƶƵƫƦƮʩƷƦƪƮʕƬ̂ƩƦƪƢƮ. Steph. in an. 515, 16-18. 93 Ɔƪƴƴ́ ʲ ƶƢƮƴƢƳ̄Ƣ, ʲ ƭ˿Ʈ ʕƮƢƭƮƨƳƴƪƫ́ ʲ ƥ˿ ƥƪƥƢƫƴ̂, ƫƢƩ’ ʴƮ ƥƪƥƢƳƫ̆ƭƦƩƢ, ʴƮ ƫƢ̃ ƸƪƴƴƢƫ̅ƲʩƷƦƪ. Steph. in an. 495, 25f.
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Aristoteles-Interpretation
ist, wenn man von dem Beispiel des Papageis extrapolieren darf, Worte artikulieren und nachahmen zu können, nicht notwendig aber die Fähigkeit, ihren Sinn zu verstehen und sie sinnvoll zu gebrauchen. Ohne diese Qualifizierung scheint sich jedenfalls kein Unterschied der Phantasia zu den rationalen Vermögen angeben zu lassen. Stephanos erklärt mit dieser Unterscheidung, warum Aristoteles Bienen, Ameisen und Würmern Vorstellungskraft abspricht (nach 427a 9-11, wo Fliegen anstelle von Bienen erwähnt werden)94, während er sie an anderer Stelle, zusammen mit dem Streben (˕ƱƦƯƪƲ), allen Lebewesen zuspreche95. Das Problem ergibt sich allerdings in Wirklichkeit nicht aus Aristoteles’ Text, da dieser zur Vorstellungskraft keine definitive Aussage trifft (II 3, 414b 1-16), sondern aus Stephanos’ Reflexion über dessen Beispiele: Denn da Ameisen und Bienen zu ihren Bauten zurückfinden, müssen sie offensichtlich die durch Wahrnehmung gewonnenen Eindrücke im Gedächtnis behalten können96 und folglich über die rezeptive Vorstellungskraft verfügen. Was ihnen fehlt, muss demnach eine andere Art von Vorstellungskraft sein, nämlich die lernfähige Phantasia. Während das rezeptive und das erinnernde Vorstellungsvermögen wohl miteinander identifiziert werden können, bleibt es bei Stephanos unklar, wie sich das Lernvermögen zur selbständig zusammensetzenden Vorstellungskraft verhält. Man kann vermuten, dass beide nicht identisch sind, wenn das Lernen sich auf eine Reproduktion des rezeptiv Wahrgenommenen beschränkt. Daher kann man wohl am ehesten sagen, dass durch die Lernfähigkeit die Menge und Komplexität der rezeptiv erinnerten Objekte vergrößert und besser durchdrungen wird, worauf die selbständige Reproduktionskraft der Vorstellungsgehalte beruht. Eine dritte und fundamentale Unterscheidung der Vorstellungskraft übernimmt Stephanos von Plutarch von Athen, insofern sie nämlich sowohl die Untergrenze des diskursiv denkenden Vermögens als auch die Spitze der nicht rationalen Seele ist97. Damit berührt er ein Kernproblem neuplatonischer Theorien der Vorstellungskraft, das sich aus einer Doppelfunktion dieses Vermögens ergibt, die auch bei Stephanos gut sichtbar wird: Denn einerseits kann die Phantasia aus sich selbst heraus ihre Objekte hervorbringen und gehört insofern zum Geist98. Andererseits ist sie durch die Art ihrer Objektauffassung mit der Sinneswahrnehmung verbunden. Problematisch hieran ist für Stephanos vor allem, wie es der Phantasia möglich sein soll, auch rein geistige bzw. göttliche Gegenstände
_____________ 94 95 96 97 98
Steph. in an. 495, 5-8. Steph. in an. 495, 9-13. Steph. in an. 495, 19-24. Vgl. Philop. in an. 240, 10-15; Prisc. in an. 209, 21-25. Steph. in an. 515, 12-15. Steph. in an. 506, 23f. Zu diesem Problem s. o. S. 48f.
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abzubilden, die in derartigen Abbildungen nicht in ihrer natürlichen Einfachheit erkannt werden können; eine Antwort auf das Problem gibt er aber nicht99. Jedenfalls sieht er die Vorstellungskraft nicht, wie Priskian es im Anschluss an (Plotin und) Jamblich diskutiert, als zentrales Bewusstseinsvermögen an100. Sie ist für ihn ein Teil des menschlichen Erkenntnis- und Orientierungsapparates, nicht aber seine grundsätzliche reflexive Fähigkeit; diese ist vielmehr der Vernunft bzw. ihrem Vermögen der Aufmerksamkeit (ÝƱưƳƦƫƴƪƫ̆Ʈ) vorbehalten101. Erkenntnistheoretisch wichtig ist aber, dass die bei vernünftigen Wesen vorhandene überlegende Vorstellungskraft (ʲƣưƵƬƦƵƴƪƫ́ƶƢƮƴƢƳ̄Ƣ) „aus mehreren Vorstellungsbildern eines machen kann, d.h. ein gemeinsames Vorstellungsbild aus vielen einzelnen Vorstellungsbildern“102. Diese Vereinheitlichung der mannigfaltigen sinnlichen Eindrücke durch die „eingestaltige Vorstellungskraft“ (ʠƮưƦƪƥ́Ʋ ƶƢƮƴƢƳ̄Ƣ) ist die Grundlage für die gesamte begriffliche Erkenntnis der rationalen Seele und ermöglicht so letztlich sogar die Erkenntnis der immateriellen Gegenstände, die selbst nicht mehr von der Phantasia erkannt werden103. Diese Theorie, die eher auf neuzeitliche Überlegungen zur Vorstellungs- bzw. Einbildungskraft vorausweist104, als dass sie ein ausschließlich rezeptives Vermögen im aristotelischen Sinn darstellt, ist eine der systematisch bedeutendsten Entwicklungen der antiken &G CPKOCKommentierung. Die Vorstellungskraft als höchstes Vermögen der Tiere Die eigenen Vermögen der Vorstellungskraft und auch deren Veränderbarkeit durch die Verbindung mit der Vernunft werden besonders deutlich in Bezug auf die Rolle der Phantasia als höchstes Lebensvermögen der Tiere, die Stephanos offenbar besonders interessiert hat105. Die Bedeutung dieser nicht-rationalen Phantasia zeigt sich daran, dass sie den mit ihr versehenen Lebewesen nicht einfach zum Überleben bzw. zur Nahrungsaufnahme dient, sondern als Leitungsvermögen eine analoge Funktion zur Vernunft beim Menschen hat. Auf ähnliche Weise vollendet die Vorstel-
_____________ 99 100 101 102
Steph. in an. 515, 21-29; 542, 10-12. S. o. S. 212-214. S. u. S. 404-408. ʰƮʟƫÝƬƦƪ̆ƮƹƮƶƢƮƴƢƳƭ˾ƴƹƮƥ̈ƮƢƴƢƪÝưƪƦ͙Ʈ,ƴưƵƴ̀ƳƴƪƮʪƮƫưƪƮ̅Ʈƶ˾ƮƴƢƳƭƢʟƫÝưƬƬͲƮ ƭƦƱƪƫͲƮƶƢƮƴƢƳƭ˾ƴƹƮ. Steph. in an. 592, 35-593, 4, Zitat 592, 36-593, 1. 103 S. dazu u. S. 271f. 104 Vgl. dazu Trede/Homann 1972, 348-358. 105 Blumenthal 1996, 143.
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Aristoteles-Interpretation
lungskraft allerdings auch bei den rationalen Wesen die körperliche Konstitution so, dass sie aufnahmefähig für die Vernunft werden. Sie kann sogar, wenn die Vernunft als Leitungsfunktion ausfällt, die Leitung dieser Wesen übernehmen106. Ebenso wie sie auch bei einigen Tieren offenbar nur schwach ausgeprägt oder gar nicht vorhanden ist107, fehlt sie andererseits bei neugeborenen Kindern. Denn diese scheinen keine Lehren daraus zu ziehen, wenn sie sich am Feuer verbrennen, woraus Stephanos schließt, dass ihnen die Erinnerungsfähigkeit fehlt, die durch die Vorstellungskraft garantiert wird108. Neben der Erinnerung sind aber auch weitere Aufgaben der Vorstellungskraft für das Überleben relevant. Das ergibt sich aus Stephanos’ Diskussion von Aristoteles’ Feststellung, dass ein Mensch sich etwas Schreckliches vorstellen kann, ohne darauf zu reagieren, während das nicht geht, wenn er die Meinung hat, dass etwas Schreckliches geschieht (427b 21-24). Der Kommentator akzeptiert das nicht ohne weiteres. Denn z.B. reagiert ein Pferd mit Erschrecken auf den Anblick einer Peitsche. Deswegen muss es auch bei Tieren, die ja auch über ein Streben verfügen109, möglich sein, dass die Verbindung der Peitsche mit Schmerz, die aus der Erinnerung an das Zusammenfallen beider in der Vorstellungskraft gebildet wird (ƴ͌ƶƢƮƴƢƳ̄̾ƴͲƮƥƦƪƮͲƮ), eine Zustimmung (ƳƵƤƫƢƴ˾ƩƦƳƪƲ) des Erkennenden mit sich bringt110. Dass diese Stelle mithilfe des stoischen Begriffs der Zustimmung erklärt wird, konnte Stephanos der Tradition entnehmen, wie sie sich bei Themistios und Priskian zeigt. Allerdings sind diese Autoren mit dem aristotelischen Text der Meinung, dass man nur einer rational begriffenen Meinung zustimmen kann, während eine Vorstellung einfach wahrgenommen wird. Sie lehnen also das Vorhandensein der Zustimmungsfähigkeit bei Tieren im Gegensatz zu Stephanos grundsätzlich ab111. Stephanos vertieft seine abweichende Einschätzung dieses Punktes, indem er auch zu Aristoteles’ Aussage, dass auf eine Meinung immer Überzeugung (Ý̄ƳƴƪƲ) und auf diese eine rationale Erkenntnis (Ƭ̆ƤưƲ) folgt, mehrere Gegenbeispiele bringt: Man kann doch sagen, dass eine Schlange von ihrem Beschwörer, ein Löwe vom Jäger oder ein Pferd von seinem Trainer überzeugt wird (ÝƦ̄ƩƦƴƢƪ)112. Insofern muss man die Unterscheidung von menschlichem und tierischem Verhalten konkretisieren: Wäh-
_____________ 106 107 108 109 110 111 112
Steph. in an. 511, 26-36. S. o. S. 254f. Steph. in an. 494, 26-495, 4. Vgl. Steph. in an. 592, 7-9. Steph. in an. 488, 31-489, 6. Them. an. paraphr. 89, 6-8. 21f.; Prisc. in an. 206, 31-207, 5; 210, 25-27. Steph. in an. 497, 3-5.
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rend die Schlange von ihrem Beschwörer gleichsam gezwungen wird113, gewöhnen sich (ʟƩ̄ƧƦƪ) gezähmte Tiere an gewisse Regeln, was aber immer noch nicht heißt, dass sie in dieser Hinsicht eine Überredung (ÝƦƪƩ̊) entwickeln. Aus der Gewöhnung (ʩƩưƲ) an das Erschrecken vor der Peitsche folgt vielmehr regelmäßig auf die bloße Vorstellung der Peitsche die Furcht. Der Löwe schließt nicht aus einem früheren Ereignis auf die richtige Reaktion, sondern reagiert gleichsam auf einen Überrest (ƬƦ̄ƸƢƮưƮ) des früheren Schmerzes114. Zustimmung ist demnach eine übergreifende Bezeichnung für Überredung und für Gewöhnung115, die sich aber dadurch unterscheiden, dass die Überredung Erkenntnis voraussetzt und sich infolge der Änderung einer derartigen Erkenntnis auch wieder ändern kann116. Stephanos’ Beispiele führen ihn so zu Ansätzen einer Theorie des tierischen Reaktionsvermögens. Hieran ist aber nicht nur die Vorstellungskraft beteiligt, denn sie wird ja erst durch den Anblick der Peitsche, d.h. durch Sinneswahrnehmung, hervorgerufen. Die in ihr entstehende Verbindung von Peitsche und Schmerz wird erst durch die Zustimmung des Pferdes zu einer Reaktion geführt, deren instinktiver Charakter diese Reaktion aber von rationaler Überlegung unterscheidet. Insgesamt enthüllen Stephanos’ Bemerkungen eine bemerkenswert breite Theorie der Vorstellungskraft, die durch die Heranziehung neuer Beispiele und Ideen innovativ ist, ohne dass die einzelnen Punkte freilich systematisch kohärent dargestellt wären. Dazu trägt auch die literarische Form des Kommentars bei, die dem Kommentator eine Mannigfaltigkeit von nicht aufeinander abgestimmten Ansatzpunkten liefert, von denen andererseits einige in einer systematischen Schrift der Kohärenz der Darstellung zum Opfer fallen könnten. 4. Die Lehre vom Geist Die drei Stufen des Geistes Stephanos’ Darstellung der aristotelischen Geistlehre ergibt sich aus einer Auseinandersetzung mit der Auslegungstradition: Sie geht aus von einer Darstellung der ihm bekannten Positionen und setzt sich ausdrücklich mit Alexander von Aphrodisias, dem Vorbild und Gegenpart der neuplatoni-
_____________ 113 114 115 116
Steph. in an. 497, 5f.; 500, 30-33. Steph. in an. 581, 13-19. Steph. in an. 497, 6-9; 500, 26-30. Steph. in an. 497, 9-12; 500, 33-501, 3.
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Aristoteles-Interpretation
schen Exegese117, mit Plutarch von Athen, dem Begründer der neuplatonischen &G CPKOC-Kommentierung, und mit Ammonios, dem Begründer der alexandrinischen Auslegungstradition, auseinander. Dagegen finden die erhaltenen Auslegungen von Philoponos und Priskian keine Erwähnung; im Fall Priskians erklärt sich das wohl daraus, dass Stephanos ihn nicht kannte. Die Parallelen zu ihm sind jedenfalls gering. Auch zu Philoponos bestehen beträchtliche Unterschiede, wie William Charlton gezeigt hat118. Trotzdem gibt es zwischen beiden Texten immer wieder Parallelen sowohl in den kritisch diskutierten als auch in den tatsächlich akzeptierten Meinungen, so dass sich eine gemeinsame Tradition, die vermutlich der alexandrinischen Schule des Ammonios entstammt, ebenso abzeichnet wie die verschiedenen Ansichten beider Kommentatoren zu einzelnen Fragen. Das zeigt sich bereits bei Stephanos’ erstem Argumentationsgang zur Geistlehre: Zum einen schließt er hier auf die Immaterialität und damit zugleich auf die Ewigkeit und Unsterblichkeit des Geists. Dabei fügt er Aristoteles’ Argumenten noch zwei Beweisgänge hinzu, die auf der Annahme basieren, dass der Geist in der Tat alles denkt (III 4, 429a 18): Das wäre bei einem Körper nicht vorstellbar, da dieser ja körperliche Qualitäten, die seiner eigenen Verfasstheit entsprechen, nicht auffasst, wie z.B. der Tastsinn keine Temperaturen wahrnimmt, die seiner eigenen Temperatur entsprechen (II 11, 424a 2f.). Ebenfalls sei es nicht denkbar, dass die Seele den Körper als Werkzeug benutzt, da sie dann dieses Werkzeug bzw. Organ nicht auffasse, also auch nicht alles denke119. Durch diese Überlegungen erreicht Stephanos denselben Punkt wie Philoponos, und vor diesem Proklos und wohl auch Ammonios120, nämlich dass die Seele nicht ein Sein hat, sondern aus mehreren Substanzen zusammengesetzt ist. Ganz offen kritisiert er die gegensätzliche, aber der neuplatonischen Tradition vor Proklos entsprechende Ansicht Plutarchs von Athen, die Seele sei ein Sein mit vielen Vermögen (ƭ̄Ƣư˝Ƴ̄ƢÝưƬƵƥ̈ƮƢƭưƲ)121:
_____________ 117 Zu den Einstellungen der neuplatonischen Kommentatoren zu Alexander vgl. Blumenthal 1987, auch Thiel 2004, 2f. 118 Charlton 1991, 8-12. 119 Steph. in an. 517, 20-32. 120 S. o. S. 85f. und Perkams 2006a, 171-181. 121 Zur Geschichte dieser Position vgl. Dörrie 1959, 169-171; Taormina 1989, 221f.; Männlein-Robert 2001, 620-623; Finamore/Dillon 2002, 112; Perkams 2006a, 168171.
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„Denn wie konnte er sagen, dass sie ein Sein mit vielen Vermögen ist, wo er doch annahm, dass die Seele unsterblich und sterblich sei? Es kann nicht ein Teil desselben Seins sterblich und ein anderer unsterblich sein“122.
Herrscht in diesem Punkt also Übereinstimmung zwischen den alexandrinischen Kommentatoren, so schwindet diese bei der Einschätzung der Präexistenz der Wahrnehmungsgegenstände im Verstand. Eine derartige Theorie, die Philoponos bevorzugt123, lehnt Stephanos ausdrücklich ab. Er schreibt sie allerdings nicht Philoponos, sondern wiederum Plutarch zu und wirft diesem vor, damit die Meinung Platons wiederzugeben, nicht aber die des Aristoteles, der die Seele mit einer unbeschriebenen Tafel verglichen habe124. Stephanos selbst möchte den Anliegen beider Positionen gerecht werden: Ihm zufolge ist der Verstand der Kinder zwar, wie Alexander und Ammonios annehmen, reine Potentialität, indem er keinerlei Gehalte enthält; allerdings ist er trotzdem selbst eine Form (ƦˇƥưƲ)125. Bei der Textinterpretation macht Stephanos genauer klar, was er mit diesen Überlegungen meint: Mit Alexander versteht er Aristoteles’ Aussage über die Freiheit des Geistes von Formen (429a 18f.) so, dass dieser keine eigene Natur (ƶ̈ƳƪƲ) hat. Doch bedeutet das Stephanos zufolge nicht, dass der Geist gar nichts ist, sondern dass er alle Gegenstände in Möglichkeit (ƥƵƮ˾ƭƦƪ) ist, d.h. dass er die Möglichkeit hat, auch tatsächlich die Form eines jeden von ihnen aufzunehmen126. Dass es sich hierbei nicht bloß um eine Rezeptivität handelt, sondern um eine Prägbarkeit in einer im Verstand vorgegebenen Richtung, zeigt Stephanos’ Vergleich der Potentialität des Geistes mit der Umrissskizze eines Bildes (ƳƫƪƢƤƱƢƶ̄Ƣ), in dem alle Elemente präsent sind, aber noch keines ausgeführt bzw. erkennbar ist127. Auch nach Aristoteles ist demnach Geist, ähnlich wie Sinneswahrnehmung, die Fähigkeit, sich ein prinzipiell vorgegebenes Raster von Erkenntnisbegriffen zu verdeutlichen; Aristoteles’ unbeschriebene Schreibtafel ist daher auch nach Stephanos keine VCDWNCTCUC. Während dies die eine Seite seiner Position ist, besteht die andere darin, dass diese Potentialität des Geistes bei einem neugeborenen Menschen noch nie aktualisiert wurde. Darin liegt der Unterschied zur platonischen Position, die voraussetzt, dass der Geist immer wirklich (ʟƮƦƱƤƦ̄̾) die Formen der Gegenstände enthält.
_____________ 122 ƒưͨƤ˽Ʊʱƥ̈ƮƢƴưƦˁÝƦ͙Ʈƭ̄ƢƮư˝Ƴ̄ƢƮÝưƬƵƥ̈ƮƢƭưƮ,˖ÝưƵƤƦ˞Ý̀ƩƦƴưƸƵƷ́ƮʙƶƩƢƱƴưƮƫƢ̃ ƶƩƢƱƴ̂Ʈ;ƴ͋Ʋƥ˿Ƣ˝ƴ͋Ʋư˝Ƴ̄ƢƲư˝ƥ̈ƮƢƴƢƪƴ̅ƭ˿ƮƦˇƮƢƪƶƩƢƱƴ̅Ʈƴ̅ƥ˿ʙƶƩƢƱƴưƮ. Steph. in an. 518, 3-7; vgl. auch 571, 34-37. 123 S. o. S. 125-127. 124 Steph. in an. 526, 24f.; 519, 27-520, 6. 125 Steph. in an. 520, 8-12. 126 Steph. in an. 523, 20-26. 127 Steph. in an. 519, 8-12.
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„Aristoteles vergleicht sie [sc. die Seele] mit einer unbeschriebenen Tafel und spricht von Lernen im eigentlichen Sinn, Platon aber mit einer beschriebenen Tafel, und nennt das Lernen Erinnerung“128.
Diese Charakterisierung des möglichen Geists erinnert an Überlegungen von Philoponos, denen zufolge der Geist darin von der Materie unterschieden ist, dass er sich nicht selbst verändert, wenn er eine Form annimmt129. Auch Stephanos’ gegen Alexander gerichtetes Argument, dass der Geist dann, wenn er Formen so aufnähme wie die Materie, auch nichts werden könnte, da er auch die Form von etwas nicht Existierendem aufnehmen könne, ist ein radikalisiertes Weiterdenken der bei Philoponos zu findenden Annahme, dass sich der Geist, wenn er keine Form sei, sondern ebenso potentiell wie reine Materie, selbst in seine Gegenstände verwandeln müsse, ohne eine eigene Existenzweise zu behalten130. Im Ergebnis charakterisiert Stephanos den Geist als die Summe der Denkmöglichkeiten: In ihm sind die Begriffe der gesamten Wirklichkeit vorhanden, so dass deren Deutung immer einem gewissen Apriori folgt. Welche dieser Möglichkeiten jedoch tatsächlich erkannt wird, hängt vom Lernprozess des Individuums ab, dessen tatsächlicher Wissenserwerb die im Geist liegenden Möglichkeiten erst realisiert. Stephanos’ Tendenz zur Herausarbeitung einer typisch aristotelischen Position zeigt sich auch an einer weiteren Annahme seiner Geisttheorie: Denn auch für die oberste der drei Stufen des menschlichen Geistes schlägt er eine Deutung vor, die Aristoteles’ Gedanken gerecht werden soll; sie besteht ihm zufolge einfach darin, dass der Geist der dritten Stufe derjenige ist, der nicht nur dauerhaft (ƫƢƩ’ ʪƯƪƮ) Wissen erworben hat, sondern der dieses auch tatsächlich anwendet131. Diese Auskunft gibt die von Aristoteles selbst dargestellte Grundstruktur des Wissens getreu wieder (z.B. II 1, 412a 22f.; II 5, 417a 21-b 3). Für einen neuplatonischen Kommentator ist die daraus resultierende Theorie aber erstaunlich lapidar: Weder wird eine Unterscheidung getroffen zwischen diskursivem und noetischem Denken, noch wird die Bedeutung dieser Form des Geistes für die Frage nach der Verbindung zur geistigen Welt oder zur Unsterblichkeit gestellt. So hatte etwa Philoponos die dritte Stufe des Geistes mit der Erkenntnis von Prinzipien und der Unsterblichkeit des Verstandes in Verbindung gebracht132 und andererseits das diskursive Denken eher auf
_____________ 128 ˘ Ƥ˽Ʊ ʝƱƪƳƴưƴ̀ƬƨƲ ʕƤƱ˾ƶͰ ƤƱƢƭƭƢƴƦ̄Ͱ Ƣ˝ƴ́Ʈ Ʀˁƫ˾ƧƦƪ ƫƢ̃ ƫƵƱ̄ƹƲ Ƭ̀ƤƦƪ ƭ˾ƩƨƳƪƮ, ̅ ƭ̀Ʈƴưƪ ƒƬ˾ƴƹƮ ʟƤƤƱ˾ƶͰ ƤƱƢƭƭƢƴƦ̄Ͱ, ƫƢ̃ ƴ́Ʈ ƭ˾ƩƨƳƪƮ ʕƮ˾ƭƮƨƳƪƮ Ƭ̀ƤƦƪ. Steph. in an. 524, 13-16. 129 Philop. in an. L 16, 73-81. 130 Vgl. Steph. in an. 519, 31-33 und Philop. in an. L 15, 71-16, 75. 131 Steph. in an. 520, 16-19. 132 Philop. in an. L 3, 59-4, 69.
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den Geist der zweiten Stufe verlagert133. Eine derartige Verbindung zieht Stephanos nicht; vielmehr lehnt er, gegen Alexander und Plutarch von Athen, die Vorstellung ab, diese dritte Form des Geistes sei der transzendente, von außen (Ʃ̈ƱƢƩƦƮ) in den Menschen hereinkommende Geist. Damit wird auch die dritte Stufe des Geistes klar auf den menschlichen Geist bezogen. Wie Stephanos die Verbindung von ewigem und partiellem Geist sieht, bleibt dabei aber recht unklar. Ammonios und die Kritik an Alexander und Plutarch Stephanos’ Kritik an den Positionen Plutarchs und Alexanders ist historisch interessant, da er sich dabei auf Philoponos’ Lehrer Ammonios beruft. Schon Hans Kurfess hat vermutet, dass der gesamte betreffende Abschnitt Ammonios entnommen ist134. Daran ist allerdings problematisch, dass sich nicht alle der hier gemachten Aussagen in Philoponos’ Kommentar auffinden lassen, der selbst wohl auf einer Mitschrift einer ammonianischen Vorlesung basiert. Zudem wird es von Philoponos letztlich abgelehnt, dass die Seele zunächst der ersten Stufe der Potentialität entspricht, wie Ammonios das gelehrt haben soll135. Auch Philoponos’ Theorie der zweiten Verwirklichung des Geistes unterscheidet sich von der des Stephanos, die nach seinen Angaben auf Ammonios zurückgeht. Außerdem findet sich bei Philoponos die Kritik an Alexander und Plutarch, die Stephanos unter Ammonios’ Namen referiert, zumindest nicht in der bei Stephanos gegebenen Form: Zwar kann man Stephanos’ gemeinschaftliche Kritik an Plutarch und Alexander, dass es in &GCPKOC III um einen menschlichen, und nicht um den göttlichen Geist gehe, durchaus bei Philoponos finden136. Das gleiche gilt für den Vorwurf, dass gewisse Ausleger in Aristoteles’ Text Platons Meinung zur Präexistenz der Ideen hineinläsen. Doch wird dies von Philoponos nicht als ausdrückliche Kritik gegen Plutarch gesagt, wie Stephanos es schildert. Und wenn Philoponos Alexanders Annahme eines „materiellen Geists“ (˞Ƭƪƫ̅ƲƮưͨƲ) kritisiert, gebraucht er andere Argumente, als Stephanos sie anführt137. Nun muss Stephanos natürlich nicht mit Philoponos’ Version von Ammonios’ Vorlesungen gearbeitet haben, sondern könnte einen Text ohne dessen
_____________ 133 134 135 136 137
S. o. S. 125-133. Kurfess 1911, 25f. über Steph. in an. 518, 34-520, 20. S. auch Tornau 2007, 125-127. S. o. S. 125-127. Steph. in an. 518, 34-519, 5; zu Parallelen vgl. Charlton 2000, 159 Anm. 177. Vgl. Steph. in an. 519, 31-35 mit Philop. in an. L 15, 65-16, 81.
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Aristoteles-Interpretation
Hinzufügungen benutzt haben138. In einem solchen Text könnte in der Tat gestanden haben, dass nach Aristoteles der Geist von Kindern eine Potentialität der ersten Stufe darstellt. Dass er aber die von Stephanos wiedergegebene komplexe Argumentation enthielt, ist unwahrscheinlich, da bei Philoponos jede Spur einer solchen Argumentation fehlt. William Charlton hat daher vermutet, dass Stephanos’ Text eine eigene Komposition von diesem selbst darstellt139. Diese Ansicht lässt sich durch Details aus dem Text stützen: Stephanos sagt nur, dass Ammonios die Fehler von Plutarch und Alexander gezeigt hat, nicht aber, dass alle angeführten Argumente von Ammonios stammen140. Stephanos’ Darstellung von Alexanders Position, dass die Formlosigkeit des Geistes eine notwendige Bedingung für dessen Fähigkeit ist, alles zu erkennen, kann direkt aus einem Text wie Alexanders &GKPVGNNGEVW entnommen sein141. Die Parallelen zwischen diesem Text und Stephanos sind so klar, dass man eine neuplatonische Zwischenquelle nicht annehmen muss142. Stephanos’ Kritik an Alexander ist zudem in der ersten Person formuliert143 und kann daher gut seine eigene Zutat sein, um das von Ammonios erzielte Ergebnis zu bestätigen. Wenn Stephanos sich zudem, wie oben aufgewiesen, vom bei Philoponos erhaltenen Ammonios zu einem Kritikpunkt an Alexander anregen ließ, dann kann er ebenso Ideen von Ammonios auf Plutarchs Position bezogen haben, ohne dass es für diese Anwendung eine Vorlage bei Philoponos’ Lehrer gibt. Wenn diese Überlegungen zutreffen144, konnte der Kommentator nicht nur philosophische Positionen vergleichend analysieren, sondern hatte auch Talent, deren Entwicklung auf den Punkt zu bringen und überzeugend darzustellen. Sein Vorgehen zeigt aber auch, dass die Bedeutung der Autoritäten bei Stephanos insoweit eingeschränkt ist, als sie alle, einschließlich Platon und Aristoteles, als Teile eines geistesgeschichtlichen Mosaiks gegeneinander ausgespielt werden können, während dem Kommentator das letzte Wort bleibt – ein Vorgehen, das sich von den Harmonisierungstendenzen des klassischen späten Neuplatonismus nicht unwesentlich unterscheidet.
_____________ 138 Eine derartige Mitschrift aus einer Vorlesung des Ammonios ist etwa zu Aristoteles’ Kategorienschrift erhalten; Luna 2001a, 355-358; s. auch o. S. 35-40. 139 Charlton 2000, 159 Anm. 177. 140 Steph. in an. 518, 32f. 141 Vgl. zu diesem Werk Moraux 1942, 109-142; Sharples 1987, 1211-1214; Moraux 2001, 386-394. 142 Vgl. Steph. in an. 519, 24-30 mit Alex. mant. 106, 19-30. 143 Steph. in an. 519, 31-35. 144 Das Gegenteil hat für denselben Abschnitt neuerdings Tornau 2007, 114-127 zu zeigen versucht.
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Die Lehre vom aktiven Geist Der Zusammenhang von Stephanos’ Auslegung mit der neuplatonischen Debatte über den Status des Geistes, den Aristoteles in &GCPKOC III behandelt, zeigt sich besonders deutlich an seiner Behandlung des aristotelischen aktiven Geistes (ƮưͨƲÝưƪƨƴƪƫ̆Ʋ). Hier führt er dieselben vier Positionen zu der Frage vor, was Aristoteles mit diesem Konzept meint, die wir bereits in Philoponos’ Kommentar finden, wenn auch dort die Namen der beteiligten Philosophen nicht genannt werden145. Auch Stephanos’ Diskussion und Ergebnis ähneln dem, was man bei Philoponos findet. Das bedeutet auch, dass Stephanos Plutarchs Ansicht übernimmt, Aristoteles’ aktiver Geist sei der menschliche Verstand, der zeitweise eine angemessene Aktivität entfaltet146. Stephanos’ Theorie, die nicht ganz einfach zu ermitteln ist, da er sich überwiegend mit Argumenten gegen die abgelehnten Positionen befasst, betont besonders die Verschiedenheit des menschlichen Geistes von jedem transzendenten Geist. Das zeigt sich an der Bedeutung von Aristoteles’ Formel „dem Sein nach in Aktivität“ (ƴ͌ ư˝Ƴ̄̾ ˱ƮʟƮ̀ƱƤƦƪƢ 147. 430a 18), die schon Priskian zum Ausgangspunkt seiner Interpretation nahm. Stephanos erklärt sie dadurch, dass das Wissen (ʟÝƪƳƴ̂ƭƨ) die Form (ƦˇƥưƲ) und damit auch das Sein (ư˝Ƴ̄Ƣ) der Seele darstelle; daher dürfe die Formel nicht dazu führen, diesen Geist mit dem göttlichen Geist gleichzusetzen148. Ein weiterer wichtiger Punkt ist für Stephanos Aristoteles’ Vergleich des Geistes mit dem Licht (430a 15-17): Er betont, dass Aristoteles dessen Funktion als eine Haltung (ʪƯƪƲ) charakterisiert, also als eine Möglichkeit der zweiten Stufe, keineswegs als eine vollkommene Aktivität. Was er hervorbringt, sind dann auch nicht die Dinge selbst bzw. ihr Sein, sondern die Aktualisierung (ʟƮ̀ƱƤƦƪƢ) der Gehalte, die im Geist der Möglichkeit nach angelegt sind (˒ƮưͨƲƥƵƮ˾ƭƦƪ)149. Stephanos’ Bemerkungen zu diesem Punkt stehen in enger Übereinstimmung mit seinen Ausführungen zum möglichen Geist, dessen Aufnahmefähigkeit eben durch den aktiven Geist realisiert wird: „Man sagt, dass der aktive Geist alles macht, weil er die Eindrücke von allem im möglichen Geist nieder-
_____________ 145 S. o. S. 135. 146 Steph. in an. 535, 13-16. 147 Im Gegensatz zu Priskian und Philoponos, aber in Übereinstimmung mit allen Handschriften liest Stephanos dabei das letzte Wort als einen Dativ (ʟƮƦƱƤƦ̄̾) anstatt als Nominativ (ʟƮ̀ƱƤƦƪƢ). Für seine Interpretation scheint das keine Konsequenzen zu haben, zumal er den Ausdruck meist durch ƴ͌ư˝Ƴ̄̾ʟƮƦƱƤƦ͙Ʈ paraphrasiert (538, 15. 22f.; 540, 6f.). Vgl. auch Kurfess 1911, 29f. 148 Steph. in an. 538, 10-29. 149 Steph. in an. 534, 28-31; 539, 26-35.
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schreibt“150. Gemeint ist damit wohl, dass dann, wenn der Mensch ein bestimmtes Objekt denkt, eine aktive Hervorbringung des betreffenden Gehaltes im Geist stattfindet, der von nun an so im Gedächtnis gespeichert wird, dass diese Möglichkeit dem betreffenden Menschen wirklich zur Verfügung steht. Stephanos ist also nicht der Meinung, die Aktivierung der Möglichkeiten des Geistes müsse von außen erfolgen, also etwa durch den Einfluss eines Lehrers, wie es Philoponos wohl von Ammonios übernimmt151. Eine Spur dieser Theorie findet sich aber darin, dass Aristoteles’ Aussage, der aktive Geist denke unablässig (III 5, 430a 22), auf die dauernde Aktivität des menschlichen Geistes im Allgemeinen, nicht auf diejenige in einem einzelnen Menschen bezogen wird152. Stephanos zufolge ist es die Fähigkeit des menschlichen Geistes, Erkenntnisse zu machen, etwa durch die richtige Zuordnung von Wahrnehmungseindrücken zu einem bestimmten Gegenstand, die die möglichen Erkenntnisse des passiven Geists realisiert. Das ist wiederum eine ganz auf den beobachtbaren Verstand des Einzelmenschen bezogene Interpretation des aristotelischen Textes. Die Beziehung des menschlichen Geistes zu den höheren Formen geistigen Erkennens hat Stephanos offenbar nicht besonders interessiert. Das spricht dafür, dass er nicht mehr in unmittelbarem Kontakt mit einer neuplatonischen Gruppe stand, die die aristotelische Geistlehre in erster Linie aus der Perspektive einer vielschichtigen Theorie geistiger Wirklichkeit interpretierte. Diskursives Denken und Meinen Für seine Beschreibung des Denkens geht Stephanos von der traditionellen Unterscheidung von Meinen (ƥ̆ƯƢ), diskursivem (ƥƪ˾ƮưƪƢ) und noetischem Denken (ƮưͨƲ) aus, wobei die beiden ersten Fähigkeiten, ebenso wie bei Priskian, unter dem Namen des Annehmens bzw. der Reflexivität153 (˞Ý̆ƬƨƸƪƲ) zusammengefasst werden können. Die Mittelstellung des diskursiven Denkens wird dabei nicht besonders betont, ergibt sich aber aus der Aussage, dass das noetische Denken auf stärkere Weise (ƫƱƦ̄ƴƴƹƮ)
_____________ 150 ƒ˾ƮƴƢ Ƭ̀ƤƦƴƢƪ ÝưƪƦ͙Ʈ ˒ ʟƮƦƱƤƦ̄̾ ƮưͨƲ ƥƪ˽ ƴ̅ Ý˾ƮƴƹƮ ƴư̇Ʋ ƴ̈ÝưƵƲ ƫƢƴƢƤƱ˾ƶƦƪƮ ʟƮ ƴͳ ƥƵƮ˾ƭƦƪƮͳ. Steph. in an. 538, 4-6. 151 S. o. S. 136f.; zu diesem Unterschied vgl. auch Charlton 1991, 9. 152 Steph. in an. 528, 32-539, 9; zu Philoponos’ Ansicht s. o. S. 134-139. Vgl. Merlan 1963, 49. 153 So die u. S. 341-343 bei Priskian aus den dort genannten Gründen verwendete Übersetzung. Stephanos’ Abhängigkeit von Themistios wird betont von Bormann 1982, 18-20.
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als durch syllogistischen Schluss geschieht, das Meinen dagegen auf schwächere Weise (ƷƦƪƱ̆ƮƹƲ)154. Zum Meinen sagt er weiterhin, dass es nicht unserer Entscheidung unterliegt und automatisch eine Zustimmung (ƳƵƤƫƢƴ˾ƩƦƳƪƲ) zu dem, was man meint, einschließt (entsprechend III 3, 427b 17-26)155. Schwieriger zu deuten sind einige weitere Äußerungen zum Thema. So identifiziert Stephanos das noetische Denken mit dem „Geist der Haltung und der Wirksamkeit nach“ (ƩƦƹƱƨƴƪƫ̅ƲƮưͨƲƫƢƩ’ʪƯƪƮƫƢ̃ƫƢƴ’ʟƮ̀ƱƤƦƪƢƮ)156 und das diskursive Denken mit dem möglichen Geist (˒ ƮưͨƲ ƥƵƮ˾ƭƦƪ), weil dieser Geist sich, im Gegensatz zum aktiven Geist (˒ʟƮƦƱƤƦ̄̾ƮưͨƲ) auch irren könne (nach 427b 8)157. Es ist schwer zu sehen, wie dies mit den zitierten Aussagen vereinbar sein soll, dass die zweite Aktualität des Geistes im aktiven Denken bestehen soll (das dann ja wohl auch diskursiv sein kann) und dass der aktive Geist die Gehalte des möglichen aktualisiert. Unklar bleibt auch, wie Stephanos das Verhältnis von noetischem und diskursivem Denken ontologisch bestimmt. Die Frage stellt sich anhand von Aristoteles’ Darstellung des Problems, wie der Geist sinnlich wahrnehmbare Objekte auffassen kann (III 4, 429b 13): Sind beide Erkenntnisweisen auf einen einheitlich existierenden Geist zurückzuführen, der nur zwei Funktionen hat, die unterschiedlich zu beschreiben sind (ƴͳƭ˿Ʈ ˞ÝưƫƦƪƭ̀ƮͰƦˈƲ […],ƴͳƥ˿Ƭ̆ƤͰƥƪ˾ƶưƱưƲ), oder handelt es sich um zwei Größen bzw. um zwei Teile des Geistes, die sich auch in ihrem Sein unterscheiden? Stephanos hält die erste Alternative für die Meinung des Aristoteles, während er die zweite den Kommentatoren Plutarch und Alexander zuschreibt158. Auch als Ergebnis der Überlegung, dass auch der Geist die wahrnehmbaren Dinge erkennen muss, hält er entschieden fest, dass sich ein Geist auf beide Gegenstandsklassen bezieht, je nachdem, ob er von der Sinneswahrnehmung Gebrauch macht oder nicht159. Einige Seiten weiter hingegen, nach seiner Darstellung der Funktionsweise von noetischem und diskursivem Denken, bestreitet Stephanos die ontologische Identität von Geist und diskursivem Denken und möchte sie auf verschiedene Entitäten verteilen160.
_____________ 154 155 156 157 158
Steph. in an. 490, 25-30. Steph. in an. 488, 15-489, 6. Steph. in an. 490, 27. Steph. in an. 491, 9-14. Vgl. Steph. in an. 554, 7-12. Steph. in an. 529, 17-26. Philoponos (s. o. S. 124f.) und Priskian (231, 19f.) vertreten dagegen „Aristoteles’“ Meinung. 159 Steph. in an. 526, 2-10. 160 Steph. in an. 556, 32-34. Vgl. Charlton 1991, 9, der die Stelle richtig deutet, obwohl er ihren Bezug nicht sieht.
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Eine Vereinheitlichung solch widersprüchlicher Stellungnahmen ist weder möglich noch sinnvoll. Sie müssen vielmehr als Indiz dafür angesehen werden, dass Stephanos’ Kommentar zu nicht geringen Teilen ein Amalgam verschiedener Quellen darstellt, die nicht konsequent miteinander identifiziert wurden. 5. Erkenntnistheoretische Überlegungen Die Leistung des intuitiven Erkennens Eine einheitlichere und durchaus interessante Theorie stellen dagegen Stephanos’ Ausführungen zur Erkenntnistheorie dar. In der systematischen Darstellung (ƩƦƹƱ̄Ƣ) der Aussagen von Kapitel III 6 gibt er eine ausführliche Erörterung von einer Art intuitiven Erkennens. Hierzu erklärt er, dass sich das intuitive Erkennen jeweils auf einen „einfachen Ausdruck“ (ʖÝƬ͋ ƶƹƮ̂) bezieht161. Dieses Konzept gewinnt er aus einer Reflexion darauf, dass Aristoteles nach der traditionellen Interpretation dieses Kapitels, die sich auch bei Philoponos findet162, fünf Bedeutungen des Wortes „Terminus“163 (˖ƱưƲ) unterscheidet: Während dieses Wort auch eine zusammenhängende Größe (ƳƵƮƦƷ˿Ʋƭ̀ƤƦƩưƲ), ein mengenmäßig nicht mehr teilbares Element (ƴ̅ʟƮÝưƳͳʕƭƦƱ̀Ʋ) sowie die in der Materie befindliche (ʩƮƵƬưƮ ƦˇƥưƲ) und die immaterielle Form (ʙƵƬưƮ ƦˇƥưƲ) bezeichnet164, ist „einfacher Ausdruck“ Stephanos zufolge die eigentliche Bedeutung von Terminus (˒ ʖÝƬͲƲ ˖ƱưƲ). Die übrigen vier Bedeutungen von Terminus bezeichnen daher bestimmte Arten von Termini, die intuitiv erkannt werden165. Ein derartiger Terminus wird von Stephanos nicht exakt definiert, doch wird durch seine Beispiele klar, was er darunter versteht: „Beim Aussprechen von ,er geht umher‘ hat mit einem Male der Geist das Gehen gedacht, ohne irgendetwas anderes hinzuzusetzen, sondern nur dies. Und beim Essen hat er wiederum direkt das Kauen gedacht, d.h. dass der Zahn sich wiederkehrend in Bewegung befindet, ohne irgendeinen anderen Zusatz“166. Stephanos bezieht sich hier, wie er selbst sagt, auf den
_____________ 161 Steph. in an. 544, 18f. 162 Philop. in an. L 65, 56-68, mit Unterschieden zu Stephanos’ Darstellung. 163 Das Wort Terminus als Übersetzung für ˖ƱưƲ verwende ich hier in dem Sinne, in dem es sich etwa bei Wilhelm von Ockham findet. 164 Steph. in an. 543, 9-16. 165 Steph. in an. 543, 24-27. 166 ʫƮƴͳƦˁÝƦ͙Ʈ,ÝƦƱƪÝƢƴƦ͙‘ʟƯƢÝ̄ƮƨƲ˒ƮưͨƲƣ˾ƥƪƳƪƮʟƮ̆ƨƳƦƭƨƥ˿ƮʙƬƬưÝƱưƳƩƦ̄Ʋ,ʕƬƬ’Ƣ˝ƴ̅ ƭ̆ƮưƮ. Ý˾ƬƪƮ ʟƮ ƴͳ ʟƳƩ̄ƦƪƮ (besser ʟƳƩ̄Ʀƪ?) ƭ˾ƳƨƳƪƮ ʟƮ̆ƨƳƦƮ Ʀ˝Ʃ̀ƹƲ, ƴưƵƴ̀ƳƴƪƮ ˑƥ̆ƮƴƢ
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Beginn von Aristoteles’ *GTOGPGWVKM (I 1, 16a 9ff.), wo er auch in seinem eigenen Kommentar Aristoteles’ Aussagen so erklärt, dass es analog zu einem „einfachen Gedanken“ (ʖÝƬưͨƮƮ̆ƨƭƢ) auch einen „einfachen Ausdruck“ gibt167. Wenn bei der Kommentierung von III 6 die dort erwähnten Termini nur als „einfache Ausdrücke“ gedeutet werden168, muss man daher die bei der *GTOGPGWVKM-Kommentierung ausgesprochene Übereinstimmung von Ausdruck und Gedanke im Auge behalten: Der einfache Ausdruck, den der intuitive Geist bildet, entspricht einer innerhalb oder außerhalb von Materie befindlichen Form, einer Ausdehnung oder Größe, so wie all dies vom Verstand erkannt wird. Die einfachen Gedanken und einfachen Ausdrücke entsprechen andererseits einfachen Gegenständen (ÝƱ˾ƤƭƢƴƢ), wobei es sich offenbar sowohl um ein Einzelding (Sokrates) als auch um eine Art (Pferd, Mensch) handeln kann169. Diese Einfachheit garantiert die Wahrheit des intuitiven Erkennens, denn ein einfacher Begriff wird dabei entweder ungeteilt in seiner Gänze oder eben gar nicht erfasst. Aus diesem Grund gibt es bei dieser Erkenntnisform keinen Irrtum, sondern sie kommt entweder zustande oder nicht zustande170. Während diese Begründung der Irrtumslosigkeit traditionell ist, ist die Charakterisierung des Inhalts des intuitiven Erkennens vom noetischen Denken der neuplatonischen Tradition recht deutlich verschieden. Denn dieses bezieht sich ja nach Stephanos nicht nur auf reine, immaterielle Formen nach einem ontologischen Kriterium, sondern auf sämtliche Gegenstände, sofern sie als einfache, d.h. nicht aus verschiedenen Begriffen zusammengesetzte Denkinhalte aufgefasst werden. Zu III 4, 429b 26-29 erklärt Stephanos nämlich, dass nur die ganz immateriellen Gegenstände (ƴ˽Ý˾Ʈƴ͉ʙƵƬƢ) Objekte des Geists im eigentlichen Sinn (ƴ˽ƫƵƱ̄ƹƲƮưƨƴ˾) sind, während Wahrnehmungsgegenstände, z.B. ein Stein, nur im übertragenen Sinn so genannt werden171. Wenn nicht auch ein Stein ein Gegenstand intuitiver Erkenntnis sein könnte, dann hätte dieses Beispiel im Kontext des Problems der Möglichkeit von Selbsterkenntnis, also des deutlichsten Beispiels für eine intuitive Erkenntnis, keinen Sinn. Für die Verstandeserkenntnis allgemein, also nicht notwendig für das intuitive Er-
_____________ 167
168 169 170 171
ʟÝƪƳƴƱưƶ͌ƥưƮư̈ƭƦƮưƮ,ƷƹƱ̃ƲʙƬƬƨƲÝƱưƳƩ̂ƫƨƲ. Steph. in an. 544, 33-545, 2; vgl. auch Steph. in int. 2, 5: ƔƹƫƱ˾ƴƨƷƹƱ̃ƲʟƮƦƱƤƦ̄ƢƲƴƪƮ̅ƲʳÝ˾ƩưƵƲ. Steph. in int. 2, 3-9; 6, 15-23. Diese Parallelen stehen also in Bezug zu einer im neuplatonischen Kontext durchaus ungewöhnlichen Interpretation des Stephanos; daher stellen sie auch ein Argument dafür dar, dass er den &GCPKOC-Kommentar verfasste (entgegen Bernard 1988, 111f. Anm. 57). In Ammonios’ Kommentar findet sich keine vergleichbare Aussage. Vgl. dagegen Steph. in an. 554, 2f. Steph. in an. 543, 3f.; in int. 8, 35; 9, 2. Steph. in an. 545, 2-5. Steph. in an. 527, 33-35.
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kennen, begründet Stephanos die Notwendigkeit, dass auch materielle Dinge deren Objekte sein können, mit zwei Argumenten, von denen er das erste auf Aristoteles, das zweite auf eigene Reflexion zurückführt: 1. Sonst sei der Geist in gewisser Hinsicht unwissend (ʙƮưƵƲ)172. 2. Der Geist sei nur unter dieser Bedingung in der Lage, Irrtümer, die aus sinnlicher Wahrnehmung resultieren, zu korrigieren173. Die Bedeutung des intuitiven Geistes für das menschliche Denken besteht darin, dass er die Anfänge bereitstellt, auf deren Grundlage das diskursive Denken geschieht: Die einfachen Begriffe sind die Termini, aus denen die Sätze aufgebaut sind, die logische Schlüsse ermöglichen und als solche analysiert werden können: „Denn wir wissen, dass der Satz zwei Termini hat, den zugrundeliegenden und den ausgesagten, so wie ,Platon geht umher‘ ein Satz ist, und wie sowohl ,Platon‘ als auch ,geht umher‘ Termini sind“174.
Auch die Grundlagen dieser Theorie findet man in Stephanos’ ganz übereinstimmender Auslegung von Aristoteles’ Hermeneutik (I 1, 16a 19-27), der zufolge „einfacher Ausdruck“ (ʖÝƬ͋ƶƹƮ̂), „Subjekt“ (˕ƮưƭƢ), „Prädikat“ (ͧ͋ƭƢ), „Satzteil“ (ƶ˾ƳƪƲ) und „Terminus“ (˖ƱưƲ) dasselbe Wort meinen und nur relational (ƫƢƴ˽ƴ́ƮƳƷ̀ƳƪƮ) voneinander verschieden sind, je nachdem, ob sie es als Bedeutungsträger in seiner Beziehung zum Gegenstand oder als einen bestimmten Teil eines Satzes bzw. als den eines logischen Schlusses bezeichnen175. Die Leistung des diskursiven Denkens Nicht minder explizit und ausführlich äußert sich Stephanos zum diskursiven Denken (ƥƪ˾ƮưƪƢ)176, in dem die intuitiv erkannten einfachen Begriffe miteinander verbunden werden. Dessen grundsätzliche Merkmale bestehen ihm zufolge darin, dass es nicht einfach (ʠƮưƦƪƥͲƲ) erkennt, sondern durch Zusammensetzung von Begriffen, und deswegen sowohl wahr als auch falsch sein kann177. Beide Merkmale hängen zusammen, denn die Möglichkeit der Täuschung ergibt sich daraus, dass die Zusammensetzung in Form von aussagenden Sätzen (ÝƱưƴ˾ƳƦƪƲ) geschieht. In diesen ge-
_____________ 172 Steph. in an. 525, 21-24. 173 Steph. in an. 525, 25-32. 174ˍƳƭƦƮ Ƥ˽Ʊ ˖ƴƪ ʲ ÝƱ̆ƴƢƳƪƲ ƥ̈ư ˖ƱưƵƲ ʩƷƦƪ ƴ̅Ʈ ˞ÝưƫƦ̄ƭƦƮưƮ ƫƢ̃ ƴ̅Ʈ ƫƢƴƨƤưƱư̈ƭƦƮưƮ, ưˈ̆ƮʟƳƴƪÝƱ̆ƴƢƳƪƲ,ƒƬ˾ƴƹƮÝƦƱƪÝƢƴƦ͙‘,ƫƢ̃,ƒƬ˾ƴƹƮ‘˖ƱưƲʟƳƴƪƫƢ̃ƴ̅,ÝƦƱƪÝƢƴƦ͙‘˖ƱưƲ. Steph. in an. 543, 6-8. 175 Steph. in int. 8, 32-9, 1. 176 Vgl. Charlton 1991, 9. 177 Steph. in an. 545, 13-17; 553, 24-30.
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schieht immer eine Zusammensetzung (Ƴ̈ƮƩƦƳƪƲ) von Subjekt und Prädikat, wobei es für die Beschreibung des diskursiven Denkens nicht auf eine Unterscheidung positiver oder negativer Urteile ankommt178. Die Möglichkeit des Irrtums ergibt sich, wie in der aristotelischen Tradition allgemein angenommen, daraus, dass diese Zusammensetzungen auch falsch sein können. Das kann, wie Stephanos auf der Grundlage von III 6, 430a 27-b 2 erläutert, entweder daraus resultieren, dass ganz allgemein über eine existierende Größe (ƴ̅ ˞ÝưƫƦ̄ƭƦƮưƮ) eine falsche Aussage (ƴ̅ ƫƢƴƨƤưƱư̈ƭƦƮưƮ) getroffen wird, z.B. wenn man sagt, ein Mensch sei gefiedert179. Oder aber der Grund kann sein, dass ein zeitliches Adverb (jetzt, gestern) oder eine andere Zeitangabe falsch angewandt wird, so dass der gesamte Satz aus diesem Grund falsch ist – eine Möglichkeit, die, wie Stephanos ausdrücklich festhält, bei zeitlich nicht veränderlichen Erkenntnisobjekten nicht besteht180. Diese Überlegungen weisen eine bemerkenswerte Originalität auf. Das gilt besonders für das intuitive Erkennen, in dem sich Stephanos’ Annahmen deutlich von Plotins Identifikation des Geists mit den Formen, die das wirkliche Sosein der Dinge darstellen181, unterscheiden. Andererseits reproduziert er auch nicht die aristotelische Epistemologie, wie sie sich in Philoponos’ Modell zumindest insoweit wiederfinden lässt, als der Geist dort die Prinzipien des Denkens bereitstellt182. Zwar vergleicht auch Stephanos entsprechend den #PCN[VKEC RQUVGTKQTC das intuitive Erkennen mit dem Prinzip des Wissens (ʕƱƷ́ʟÝƪƳƴ̂ƭƨƲ) und das diskursive Denken mit dem Wissen selbst (ʟÝƪƳƴ̂ƭƨ)183. Während aber Philoponos Axiome des Denkens wie das Widerspruchsprinzip als die Objekte des intuitiven Erkennens ansieht, versteht Stephanos darunter inhaltlich gefüllte Gedanken bzw. Ausdrücke, die zu Subjekten und Prädikaten des diskursiven Schließens werden. Das erinnert eher an eine EQIPKVKQKPVWKVKXC, wie man sie etwa bei Wilhelm von Ockham findet: Auch dessen Grundlegung der Logik ist von der Interpretation der Termini in den Anfangskapiteln der aristotelischen *GTOGPGWVKM bestimmt und lebt von einem natürlichen Bezug normalsprachlicher und mentalsprachlicher Zeichen zu den Dingen, die ontologisch immer nur als Einzeldinge existieren184. Konsequenterweise schreibt
_____________ 178 179 180 181 182 183 184
Steph. in an. 546, 1-12. Steph. in an. 545, 22-24; vgl. 548, 20-23. Steph. in an. 545, 24-29. Vgl. dazu z.B. Emilsson 1995. S. o. S. 46f. Steph. in an. 542, 32-543, 3 zu Aristot. an. Post. I 3, 72b 23-25. Die Grundgedanken werden aus einer Lektüre des Beginns von Ockhams Summe der Logik gut deutlich: SL I 1-3 (OP 1, 7-14).
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Aristoteles-Interpretation
Ockham auch dem intuitiven Erkennen die Aufgabe zu, das Sosein der Einzeldinge in einem ersten Akt zu ermitteln. Erst auf dieser Grundlage kann die sogenannte abstraktive Erkenntnis mithilfe syllogistischer Schlüsse eine Struktur der Wirklichkeit rekonstruieren, die diese Welt der Einzeldinge abbildet185. Ein in Vielem noch neuplatonischer Autor entwickelt also Grundzüge einer nominalistischen Erkenntnistheorie. Zu der Frage, was Stephanos hierzu geführt hat, kann man auf die Geschichte der neuplatonischen Logik verweisen. Obwohl sie seit Porphyrios einige anscheinend nominalistische Positionen integriert hatte, war sie doch nie bis zur Identifizierung von Allgemeinbegriffen mit sprachlichen Zeichen vorgestoßen, deren Bedeutung im Wesentlichen durch ihre Referenz bestimmt wird186. Das liegt insbesondere daran, dass die Einzelnatur des Dinges von Porphyrios nur insofern als ein Bündel von Eigenschaften angesehen wird, als es zur Individualisierung der einzelnen Repräsentanten erforderlich ist. Die wesentliche Natur eines Dinges als Teil einer Art hängt dagegen von den reinen Formen oder Ideen ab und kann auch nur vermittelt durch diese erkannt werden. Wenn Stephanos dagegen annimmt, das Einzelding könne als solches erkannt werden und habe offenbar auch eine ontologische Selbständigkeit, so dass die Struktur der Welt im Prinzip grammatisch rekonstruiert werden kann, ist das offensichtlich durch einige Elemente seiner AristotelesInterpretation zumindest mitverursacht. Insbesondere musste seine Annahme, dass die menschliche Seele von sich aus über keinerlei eigene Inhalte (Ƭ̆Ƥưƪ) verfügt, sondern lediglich zu deren Aufnahme geeignet ist187, zu der Frage führen, wie der Geist überhaupt Inhalte gewinnt. In Verbindung mit einer Theorie des aktiven Geists bietet sich hierauf die Antwort an, dass er sie selbst hervorbringt. Den Ausgangspunkt dafür kann aber offensichtlich nur der Bezug auf Einzeldinge in der Welt darstellen, da dem Geist ja keine eigenen Ideen zur Verfügung stehen. Stephanos’ intuitives Auffassen von Einzeldingen kann man also durchaus als eine systematisch gebotene Weiterentwicklung der Theorie des aktiven Geistes sehen, mit dem das intuitive Denken ja identifiziert wird: Nur in ihm können Erkenntnisgegenstände aktiv verwirklicht werden, während das diskursive Denken insofern reine Möglichkeit ist, als es erst auf der Grundlage der intuitiv erkannten Verstandesobjekte aktiv werden kann.
_____________ 185 Das intuitive Erkennen unterscheidet Ockham vom abstraktiven zu Beginn seines Kommentars zu den Sentenzen des Petrus Lombardus, der Ordinatio: Ord. I 1 (OT 1, 12-47). Später im selben Werk wird die Erkenntnis der Einzeldinge erläutert: Ord. I 3, 6 (OT 2, 492-496). 186 Lloyd 1990, 68-70. 187 S. o. S. 240. Vgl. auch Steph. in an. 552, 30-553, 1; 564, 38-565, 1.
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Die intuitive Erkenntnis materiell verfasster Objekte Offen bleibt dabei aber die Frage, wie ein intuitives Hervorbringen von Gehalten überhaupt stattfinden kann. Als einzige Quelle der so aufgefassten Gegenstände kommt die Sinneswahrnehmung, bzw. ihre Fortsetzung in der Vorstellungskraft, in Frage, da ja im Geist selbst keine Gehalte bereitliegen, um das sinnlich Erfasste zu deuten. Sinnlich werden aber nach der von Stephanos offenbar fraglos akzeptierten neuplatonischen Tradition nur Gegenstände erfasst, die in verschiedenen Teilen existieren, in einer Weise, die dieser Mannigfaltigkeit entspricht. Wie kann aber auf dieser Grundlage eine einheitliche intuitive Erkenntnis zustande kommen? Stephanos erläutert diese Frage bei der Interpretation des sechsten und siebten Kapitels des dritten Buchs von &GCPKOC. Ausgangspunkt ist die Frage nach der Wahrnehmung der in der Materie existierenden Formen, also derjenigen Formen, die die Gegenstände dazu bestimmen, dies und jenes zu sein. In einem aristotelischen Weltbild stellt die Erkenntnis dieser Formen die Inhalte und Begriffe bereit, mit denen die Welt überhaupt erst erklärt werden kann. Wenn Stephanos zufolge trotz der Priorität der Sinneswahrnehmung eine Erfassung dieser Gegenstände durch den Geist möglich sein soll, dann liegt das an der erwähnten besonderen Beschaffenheit der Vorstellungskraft bei rationalen Wesen, die in sich bereits die Möglichkeit hat, ungeteilte einheitliche Bilder hervorzubringen. „Weil der Geist vermittelt durch die Vorstellungskraft erkennt, erkennt er deswegen nicht gleich in Teilen. Denn auch in der Vorstellungskraft gibt es etwas Unteilbares“188.
Stephanos begründet dieses Vorhandensein einer unteilbaren Vorstellungskraft auf verschiedene Weise: Zum einen verweist er darauf, dass in der Vorstellungskraft verschiedene Eindrücke zugleich existieren, die einander weder verdecken noch ersetzen189 – für die Neuplatoniker ein klares Zeichen unkörperlicher Existenz, aus dem Stephanos sogar schließt, dass die Vorstellungskraft in erster Linie ungeteilt und nur durch ihre körpergebundene Existenzweise sekundär geteilt ist190. Andererseits erklärt er die Unteilbarkeit der Eindrücke der Vorstellungskraft aus der Unmittelbarkeit der Sinneswahrnehmung, die ebenfalls nicht diskursiv vorgeht, sondern mit einem Mal erkennt: Auf diese Weise entstehe etwa ein einheitliches
_____________ 188 Ƒ˝Ʒ˖ƴƪƥ˿ƥƪ˽ƭ̀ƳƨƲƶƢƮƴƢƳ̄ƢƲƮưƦ͙˒ƮưͨƲ,ʵƥƨƥƪ˽ƴưͨƴưƭƦƱƪƳƴͲƲƮưƦ͙ŻʩƮƦƳƴƪƤ˽ƱƫƢ̃ ʟƮƴ͌ƶƢƮƴƢƳ̄̾ʕƥƪƢ̄ƱƦƴ̆Ʈƴƪ. Steph. in an. 546, 33f. 189 Steph. in an. 546, 34-36; 551, 9-11. 190 Steph. in an. 551, 11f.
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Aristoteles-Interpretation
Bild eines laufenden Sokrates, in dem ,Sokrates‘ und ,läuft‘ nicht mehr voneinander getrennt werden können191. Diese recht knappe Charakterisierung ist vor dem Hintergrund eines klassischen Aristotelismus überraschend: Zum einen ist die Erkenntnis, die hier der Sinneswahrnehmung zugewiesen wird, ungewöhnlich komplex. Eine unmittelbare, direkte Wahrnehmung geschieht nach aristotelischer Lehre bei der Wahrnehmung der primären Objekte, aber nicht notwendig bei der Verbindung verschiedener Gehalte im Gemeinsinn. Innerhalb einer eigentlichen Wahrnehmungstheorie gar nicht erklärbar scheint die Wahrnehmung von Sokrates, der ja nur akzidentell ein Wahrnehmungsgegenstand ist, da er eigentlich der Vernunft zukommt. Ferner ist ,Sokrates läuft‘ kein gutes Beispiel für einen einheitlichen Begriff nach Stephanos’ eigener Definition, da hier zwei Termini nach der vorherigen Konzeption erhalten sind, man diese Aussage also als eine Verknüpfung des diskursiven Denkens ansehen muss. Um zu verstehen, was Stephanos meint und wie er es begründet, muss man sich seine Theorie der Vorstellungskraft in Erinnerung rufen: Hier hatte er ja festgehalten, dass diese bei rationalen Wesen von beiden Formen der Vernunft, intuitivem Erkennen und diskursivem Denken, so berichtigt wird, dass die Bildung von Vorstellungsbildern danach nicht mehr beliebig ist (ʕÝ̅ƴưͨƮưͨƫƢ̃ƴ͋Ʋƥƪ˾ƮưƪƢƲʕƮƢƫƢƩƢ̄ƱƦƴƢƪ[...]ƫƢ̃ʙƤƦƴƢƪ ˞Ý̅ ƴư̈ƴƹƮ ƦˁƲ ʕƬ̂ƩƦƪƢƮ)192; die Folge ist, dass Aussagen wie ,Sokrates ist dick‘, bei denen das Dick-Sein als untrennbar mit dem Bild des Sokrates bzw. mit seiner individuellen Form verbunden ist, auch in jedes Vorstellungsbild von dieser Person eingehen193. Vor diesem Hintergrund ist es folgerichtig, der Vorstellungskraft eine erkenntnisleitende Funktion zuzuschreiben, bei der kein Irrtum möglich ist194; denn offensichtlich bildet sie zugleich rein rezeptiv das Wahrgenommene ab und tritt bei vernunftbegabten Wesen nicht von der Rationalität isoliert auf: Erkennen ist so ein einziger Akt der Verbindung von Sinnesdaten zu einer einheitlichen Form, durch die ein einheitliches Vorstellungsbild entsteht, das mit der rational erkannten Form übereinstimmt. Stelle ich mir etwas real Existierendes vor, dann ist daran sogleich die Vernunft beteiligt und vereinigt die Vielfalt des Wahrgenommenen zu einem einheitlichen Bild, das der rationalen Form entspricht. Dass Stephanos diese Fähigkeit sowohl dem intuitiven als auch dem diskursiven Denken zuschreibt, erklärt auch, warum er ,Sokrates läuft‘ als ein einziges Vorstellungsbild ansehen kann: Offensicht-
_____________ 191 192 193 194
Steph. in an. 562, 30-32. Steph. in an. 515, 16f. S. o. S. 253. Steph. in an. 488, 25-28. Steph. in an. 509, 18; 563, 1f.
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lich meint er, dass es sich hier um das Ergebnis einer diskursiv erfolgenden Zusammensetzung handelt, was allerdings etwas schwer nachzuvollziehen ist. Vermutlich scheint hier der recht skizzenhafte Charakter seiner Theorie durch. Für das intuitive Denken, dessen Rolle in diesem Zusammenhang leichter verständlich ist, muss Stephanos jedenfalls eine weitere Funktion voraussetzen, nämlich die des Vereinheitlichens disparater Eindrücke zur Bildung formaler Konzepte, die die Unteilbarkeit sowohl der geistig erkannten Form als auch ihrer wahrnehmungsmäßigen Repräsentation voraussetzt. In der Tat ist gerade das nach Stephanos die charakteristische Funktion des intuitiven Geistes, wie er aus III 6, 430b 5 schließt: „Das aber, was jedes von ihnen zu einem macht, ist der Geist. […] Denn so wie das Seiende allem das Sein mitteilt, und das Schöne das Schön-Sein, so macht auch der Geist gemäß seiner Einfachheit und Vereinheitlichungskraft das Zusammengesetzte einfach“195.
Insofern kommt die durch das intuitive Erkennen des Geistes hergestellte Einheit dem Geist selbst an sich zu, den erkannten Gegenständen dagegen nur akzidentell, da in ihnen wegen ihrer materiellen Verfasstheit die Form immer nur in geteilter Weise vorkommt196 – eine Erklärung, die ihrerseits wieder auf der traditionellen Geistlehre ruht, wie schon die Formulierung des angeführten Zitats zeigt. Als weitere grundlegende Funktion intuitiver Erkenntnis muss die Erfassung von zusammenhängenden Größen und von unaufteilbaren Mengen, etwa Punkten, gelten. Bei den zusammenhängenden Größen findet ebenfalls ein einziger Erkenntnisakt statt, der das jeweilige Objekt in einem Augenblick (ʟƮƴͳƮͨƮ) als eine zusammenhängende Größe erfasst197. Stephanos betont gegenüber Aristoteles, dass es hierbei nicht um das Jetzt als Prinzip zeitlicher Ausdehnung (ƴ̅ʟƮÝƬ˾ƴƦƪƮͨƮ) geht, sondern um das Jetzt als Augenblick ([ƴ̅] ƴưͨ ʕƫƢƱưͨƲ ƮͨƮ); sein Punkt ist wiederum die zeitliche Unteilbarkeit dieses Wahrnehmungsmoments198. Stephanos zufolge ist diese Momentaneität der Erkenntnis einerseits grundlegend für die Ganzheit der Erkenntnis der Fläche: Im Moment der intuitiven Wahrnehmung rekonstruiert der Geist die Fläche als ein wirklich zusammenhängendes Ganzes (ƭ̀ƤƦƩưƲ bzw. ƳƵƮƦƷ˿ƲʟƮƦƱƤƦ̄̾)199, nicht als etwas Zusammengesetztes, als das es vom diskursiven Denken erfasst wird. Dessen
_____________ 195 ƕ̅ƥ˿ÝưƪưͨƮƴư̈ƴƹƮʪƫƢƳƴưƮʪƮ˒ƮưͨƲ.[...]˲ƳÝƦƱƤ˽Ʊƴ̅˓ƮÝ̀ƳƪƭƦƴƢƥ̄ƥƹƳƪƴưͨƦˇƮƢƪ, ƫƢ̃ ƴ̅ ƫƢƬ̅Ʈ ƴưͨ ƫƢƬư̇Ʋ ƦˇƮƢƪ, ưˢƴƹ ƫƢ̃ ˒ ƮưͨƲ ƫƢƴ˽ƴ̅ ʠƢƵƴưͨ ʖÝƬưͨƮ ƫƢ̃ ʠƮƪƢ͙ưƮ ƴ˽ ƳƵƤƫƦ̄ƭƦƮƢʖÝƬ̀ÝưƪƦ͙. Steph. in an. 548, 29-549, 1. 196 Steph. in an. 550, 28-551, 6. 197 Steph. in an. 546, 22. 198 Steph. in an. 549, 10-13. 199 Steph. in an. 549, 16-19.
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Aristoteles-Interpretation
Funktion erstreckt sich aber nicht zugleich auf die Teile der Fläche; auch diese sind vielmehr Gegenstand des intuitiven Geistes200. Nicht weniger gewichtig scheint ein zweiter Punkt, den Stephanos eher kurz andeutet, nämlich dass der Geist, würde er zeitlich erkennen, auch zeitweilig nicht erkennen würde201. Diese kurze Bemerkung enthüllt die fundamentale Bedeutung, die der Kommentator der Erkenntnis von Flächen als Ganzheiten beimisst: Es handelt sich dabei um ein dauernd erfolgendes Geschehen, das der gesamten rationalen Erkenntnis zugrundeliegt, insofern sie aus den mannigfaltigen Wahrnehmungsgegenständen einheitliche Größen herstellt, die diese als Entitäten eigener Art zu verstehen ermöglicht. Das Gegenstück zu dieser rekonstruierenden Erkenntnis von Flächen ist die auf negative Weise erfolgende intuitive Erkenntnis von unteilbaren Vielheiten wie Punkt, Einzahl und Augenblick (ƳƴƪƤƭ̂, ƭưƮ˾Ʋ, ƮͨƮ). Alle diese Größen werden durch Negierung der entsprechenden Ausdehnung (ʕÝưƶƢƴƪƫͲƲ) erkannt; lediglich einem göttlichen Geist kann, wie Stephanos im Sinne der neuplatonischen Tradition festhält, ihre positive Erkenntnis (ƫƢƴƢƶƢƴƪƫͲƲ) zukommen202. Fläche und Teilbarkeit erscheinen auf diese Weise als Grundfunktionen einer Erkenntnis, die Wirklichkeit rekonstruiert, indem sie sie auf intuitive Weise in ein Raster einfacher Gehalte bzw. ihnen entsprechender Begriffe einordnet, die erst die Grundlage für ein propositionales Wissen abgeben. Die Erkenntnis mathematischer und immaterieller Objekte Aus diesen Bemerkungen könnte es so scheinen, als würde für Stephanos die gesamte Erkenntnis bei der Sinneswahrnehmung ansetzen. Dass das jedoch nur unter den Bedingungen des Lebens in der materiellen Welt und für deren Objekte gilt, ergibt sich aus der nächsten Fragestellung, die Stephanos angeht, nämlich der nach der Erkenntnis der mathematischen und immateriellen Erkenntnisobjekte und der Frage, ob der Geist sie in dieser Welt erkennen kann203; damit ist natürlich vorausgesetzt, dass der Geist von seiner mit den Körpern nicht verbundenen Natur aus sehr wohl erkenntnisfähig für diese Objekte ist. Ob und inwiefern dieses Vermögen die Vorbedingung für die eben genannte Fähigkeit ist, die materiellen Dinge intuitiv zu erkennen, wird allerdings aus Stephanos’ Darlegungen nicht klar. Deutlich ist aber, dass neben seinen nominalistischen Ansätzen
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Steph. in an. 546, 24-30. Steph. in an. 546, 24. Steph. in an. 546, 37-547, 11. Steph. in an. 563, 5-11; vgl. auch 568, 1-6.
Stephanos von Alexandrien
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traditionell neuplatonische Ideen stehenbleiben, die teilweise zur Konkretisierung seiner Position nützlich sein können, insgesamt aber in einer Spannung zu der Terminus-Theorie stehen. Stephanos’ Meinung nach wirft Aristoteles’ Text (III 7f., 431b 12-432a 14) allerdings nicht das Problem der intuitiven Erkenntnis materieller Dinge auf, sondern eher die traditionelle Frage, ob eine Erkenntnis auch der immateriellen Objekte in dem uns vertrauten Leben möglich ist, wie Platon204 es annimmt. Stephanos schließt sich in diesem Punkt der platonischen Position an, sieht aber Aristoteles’ Text dagegen gerichtet (obwohl er nicht zu einer letzten Entscheidung kommt), da der Stagirite eine Erkenntnis ohne Zuhilfenahme der Vorstellungskraft, d.h. jede ganz immaterielle Erkenntnis, ablehne205. Stephanos antwortet auf dieses Argument, dass auch die Erkenntnis der immateriellen Gegenstände durch die Vorstellungskraft vermittelt (ƥƪ˽ƶƢƮƴƢƳ̄ƢƲ), aber selbst nicht gemeinsam mit ihr (ƭƦƴ˽ƶƢƮƴƢƳ̄ƢƲ) geschieht: Denn durch die sinnlich wahrgenommenen Dinge nehmen wir die Ordnung der Welt (Ʀ˝ƴƢƯ̄Ƣ bzw. Ʀ˝ƫưƳƭ̄Ƣ) wahr, durch die wir auf die Existenz immaterieller Gegenstände geführt werden, die wir dann ohne Vorstellungsbilder erkennen206. Stephanos nimmt also an, dass wir zur Erkenntnis der immateriellen Entitäten erst durch ein richtiges Verständnis der sinnlich erfassbaren Wirklichkeit gelangen207; etwas Ähnliches ergibt sich aus seiner Aussage, das Immaterielle werde insofern erkannt, als es Wirk- und Zielursache sei bzw., anders als die innerweltlichen Gegenstände, kein Gegenteil habe. Obwohl Stephanos die hierdurch entstehende Erkenntnis des Immateriellen ganz traditionell so beschreibt, dass das geistig Erkennende (ƮưưͨƮ) mit dem Erkannten (Ʈưư̈ƭƦƮưƮ) identisch wird, können auch diese Charakteristika ihm zufolge aus einer Reflexion auf materielle Erkenntnisformen gewonnen werden208; die aristotelische Annahme des Ursprungs aller Erkenntnis in der Sinneserkenntnis wird also in dieser Hinsicht durchgehalten. Dass Stephanos trotzdem der aristotelisch-neuplatonischen Geistlehre folgt, zeigt sich an seinen Überlegungen zur Selbsterkenntnis: Hier fragt er, wie das Dilemma zu lösen ist, dass entweder der Geist als Erkennendes und Erkanntes in sich selbst Verschiedenheit aufweist oder dass jedes geistig Erkannte auch ein Erkennendes ist209. Stephanos’ Antwort ist, dass
_____________ 204 Plat. Phaed. 83a ff.; 81c ff. 205 Steph. in an. 563, 22-26. Ich beschränke mich auf den Kernpunkt der Auseinandersetzung. 206 Steph. in an. 564, 7-13. 207 Die hier gemeinten Vorstellungsbilder sind also, anders als Welt 2003, 89 meint, sehr wohl „Eindrücke des Sinnfälligen“. 208 Steph. in an. 547, 16-23; 553, 1-16. 209 Steph. in an. 527, 5-22.
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Aristoteles-Interpretation
man hier genauer formulieren muss: Geist ist nicht das, was erkannt wird, sondern das, was von sich selbst erkannt wird210. Als Grund für diese Einschränkung nennt er zum einen, dass der platonische bzw. christliche Gott das Sich-Selbst-Erkennende ja noch überschreitet211, und zum anderen, dass die Allgemeinbegriffe (ƴ˽ƫƢƩ̆ƬưƵ) zwar geistig erkennbar, aber nicht jeweils ein Geist sind212. Wenn der erste Punkt eine interessante Parallelisierung von Neuplatonismus und Christentum herstellt, geschieht das ganz in neuplatonischer Perspektive: Im Grunde zeigen Stephanos’ Ausführungen, dass für ihn die Ordnung der Wirklichkeit in das Eine, den Geist und die materielle Welt mit ihren Formen noch ganz selbstverständlich ist. Aufschlussreich ist aber die Art seiner Argumentation, die Selbsterkenntnis als ein Phänomen sui generis tatsächlich auf geistbegabte Wesen beschränkt, nicht aber ontologisch aus dem Status als reine Form bzw. Idee ableitet. Obwohl das einer neuplatonischen Position nicht widerspricht (da auch hier die sinnlich erkannten Objekte dazu führen, dass man sich an die intellektiven Formen erinnert), ist Stephanos’ Perspektive doch eher vom Text von &GCPKOC bestimmt und insofern durchaus unplatonisch: Die intuitive Erkenntnis des Immateriellen ist nicht fraglos die Normalform wahrer Erkenntnis, sondern eher die erklärungsbedürftige Ausnahme. Praktische Erkenntnis Die letzte Unterscheidung im Geist, die Stephanos diskutiert, ist die zwischen theoretischem und praktischem Geist (III 7, 431a 8-16). Als Unterschiede benennt er, dass der praktische Geist sich immer auf Einzelgegenstände richtet, daher zweitens immer die Vorstellungskraft benötigt, und drittens auf gut und schlecht anstelle von wahr und falsch gerichtet ist213. Allerdings relativiert Stephanos den zweiten Unterschied entsprechend seiner bereits erklärten – und im Prinzip gut aristotelischen – Ansicht, dass auch der theoretische Geist immer auf die Vorstellungskraft angewiesen sei214. Er geht auch auf den aristotelischen Vergleich des praktischen Geists mit dem Streben nach Angenehmem und Unangenehmem ein, das dem theoretischen Erkennen ein Moment hinzufügt, das der Ori-
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Steph. in an. 527, 37-528, 1. Steph. in an. 527, 29-32. Steph. in an. 528, 4-6. Steph. in an. 554, 14-19. Steph. in an. 554, 19-25. Dagegen gibt 560, 2-4 entweder wieder, was Stephanos für Aristoteles’ Meinung hält, oder das ƷƹƱ̄Ʋ ist im Sinne von ƥƪ˽ƶƢƮƴƢƳ̄ƢƲ(564, 12f.) zu lesen.
Stephanos von Alexandrien
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entierung des praktischen Geists auf Gut und Böse entspricht215. Dabei unterscheidet sich der praktische Geist vom bloßen Streben der Tiere dadurch, dass er durch Überlegung (ƣưƵƬƦ̈ƦƳƩƢƪ) eine Entscheidung (ÝƱưƢ̄ƱƦƳƪƲ) erreicht, die auch die Bedingung seiner Bewusstheit (ƳƵƮƢ̄ƳƩƨƳƪƲ) darstellt216. Ebenso wie der auch bei Priskian zu findende Gedanke, dass man aufgrund des praktischen Denkens häufig etwas tut, was nicht angenehm ist217, handelt es sich hier um traditionelle Ansichten, die nicht die Eigenständigkeit von Stephanos’ Erkenntnistheorie erreichen. 6. Ergebnis Die Durchsicht von Stephanos’ Kommentar hinterlässt ein ambivalentes Bild: Eigenständige Überlegungen, die aus einem kritischen Weiterdenken von Aristoteles’ Text resultieren, stehen neben zahlreichen Anleihen aus der Tradition, die häufig erst durch innere Wiedersprüche im Text kenntlich sind. Dabei stehen offenbar Zitate aus erster Hand neben solchen aus sekundären Quellen218. Der Quellengebrauch dürfte auch der Grund dafür sein, dass Stephanos’ Gedankengang häufig extrem uneinheitlich und widersprüchlich ist, sowohl was seine philosophischen Ideen als auch was seine Interpretationen angeht. Insgesamt steht sein Kommentar jedenfalls nicht fest im neuplatonischen System: Argumente aus dieser Tradition stehen weitgehend unvermittelt und neben Überlegungen, die auf ein eher empirisches Interesse des Stephanos hindeuten und eine überraschend starke nominalistische Tendenz beinhalten. Andererseits fügen sich dessen eigene Beiträge, die häufig an phantasievollen Beispielen und an deutlichen Parallelen zu seinem *GTOGPGWVKM-Kommentar zu erkennen sind, nicht zu einem geschlossenen System zusammen, obwohl Aussagen in verschiedenen Teilen des Kommentars teils klare systematische Zusammenhänge aufweisen. Die Überlegungen zur Phantasia, zum Verhältnis von menschlichem und tierischem Erkennen und zur Funktion des intuitiven und diskursiven Denkens lassen sich in einem argumentativen Zusammenhang lesen. Sie hatten jedoch offenbar keine unmittelbare Nachwirkung, und erst Jahrhunderte später tauchten ähnliche Ansätze wieder auf. Bestätigt wird Stephanos’ philosophisches Niveau auch durch
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Vgl. die Parallelen o. S. 140 (Philoponos) und 222f. (Priskian). Steph. in an. 592, 1-15. Steph. in an. 554, 29-37. Zu Priskian s. o. S. 222f. So auch Tornau 2007, 109-127.
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Aristoteles-Interpretation
seine Diskussion der menschlichen Selbsterkenntnis, die im zweiten Hauptteil dieser Arbeit thematisiert werden wird. So zeigt uns Stephanos’ Werk das Bild einer durchaus fruchtbaren Übergangsperiode zwischen dem Neuplatonismus, der um 600 wohl nicht mehr als dezidiert paganes, geschlossenes System vertreten wurde, und einem aristotelisch orientierten Neuansatz, der in der Tradition des Ammonios stand, aber auch ganz neue Überlegungen enthielt. Trotz der historischen Isoliertheit dieser Ansätze, die in der bisherigen Forschung komplett ignoriert wurden, kommt Stephanos’ Kommentar ohne Zweifel als dem spätesten erhaltenen Zeugnis der antiken Philosophie zweifelsohne ein ehrenvoller Platz in der Philosophiegeschichte zu.
D. Zusammenfassung: Deutung und Rezeption von &GCPKOC durch die Kommentatoren 1. Neuplatonismus und Aristotelismus bei den einzelnen Kommentatoren Die Übersicht über die &GCPKOC-Kommentare hat gezeigt, dass unter ihnen trotz aller grundsätzlichen Übereinstimmungen sehr tiefgreifende Unterschiede bestehen. Das ist zunächst bei den Auslegungen von Johannes Philoponos und Priskian sehr auffällig, die sich sowohl in ihren philosophischen Voraussetzungen als auch in ihrem Umgang mit dem Text unterscheiden: Während Philoponos’ philosophische Voraussetzungen terminologisch und auch inhaltlich als weitgehend aristotelisch bezeichnet werden können, operiert Priskian mit einem durchgängig neuplatonischen psychologisch-noetischen Begriffsgerüst, das an Jamblich anknüpft, aber faktisch zu großen Teilen eine Ausarbeitung des Kommentators zu sein scheint, die in Auseinandersetzung mit &GCPKOC (sowie mit Theophrasts Psychologie und evt. weiteren aristotelischen Werken) gewonnen wurde. Beide Kommentare zeigen also ganz unterschiedliche Verflechtungen aristotelischer und neuplatonischer Elemente. Bei Philoponos ist zu erkennen, dass die Aussagen zu einzelnen Passagen und Stellen des aristotelischen Textes primär von dem Bemühen geprägt sind, eine sachlich richtige Auslegung des betreffenden Abschnittes vor dem Hintergrund der aristotelischen Philosophie zu geben1. Das gelingt im Großen und Ganzen auch, und zwar deswegen, weil das ver-
_____________ 1
In dieser Hinsicht kann man in der Tat Wisnovskys Idee einer „aristotelischen Synthese“ (2003, 15; s. o. S. 18) bestätigen.
Zusammenfasung
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wendete zeitgenössische terminologische Raster, nämlich die proklische, oder besser aus der Athener neuplatonischen Schule übernommene, Struktur der Seelenvermögen selbst bereits von Aristoteles’ Gliederung geprägt ist, die im Kommentar nur leicht abgewandelt wird. Die bei Philoponos tatsächlich zu findenden Abweichungen von Aristoteles’ Lehre sind auch nicht alle spezifisch neuplatonisch: Die Annahme der Unkörperlichkeit jeder Seele geht (mindestens) auf den vorneuplatonischen Aristoteliker Alexander von Aphrodisias zurück. Auch die Erklärungen der Unterscheidung von diskursivem und noetischem Denken (bzw. ƥƪ˾ƮưƪƢ und ƮưͨƲ) innerhalb der rationalen Seele tendieren teilweise zu aristotelischen Lösungen, die aus neuplatonischer Perspektive problematisch sind; das betrifft zum einen die Annahme, der Geist erkenne sich nur indirekt, vermittelt durch seine Inhalte, selbst – was Priskian scharf zurückweist – sowie die Deutung, dass die VCDWNCTCUC des Geistes (III 4, 430a 1f.) nicht eine zweite, sondern eine erste Potentialität des Geistes anzeigt, was es nahezu unmöglich macht, den Text mit einer platonischen AnamnesisLehre zu identifizieren. Wenn zumindest der zweite Punkt im Text selbst korrigiert wird, ist dies eines von mehreren Anzeichen für Philoponos’ teils kritische Bearbeitung eines Kommentars des Ammonios, die interessanterweise neuplatonische Anliegen aufnimmt. Über die Interpretation des Ammonios, die auch von Zeugnissen bei Stephanos bestätigt wird, lässt sich dafür umso deutlicher unterstreichen, dass sie in erster Linie von dem Bemühen bestimmt war, Aristoteles auszulegen, und zwar offenbar selbst dann, wenn hierdurch (neu-)platonische Motive infrage gestellt oder nur unter Schwierigkeiten erklärt werden konnten. Wenn dies selbst bei einem Text wie &G CPKOC geschieht, der das wichtige Motiv der Seelenlehre berührt, wird man diesem Bemühen die Bezeichnung „neuplatonischer Aristotelismus“ kaum verweigern können. Für Stephanos von Alexandrien gilt das nicht mehr: Neuplatonische Erklärungen stehen bei ihm neben ausführlichen Erwägungen, die teilweise an Wilhelm von Ockham erinnern. 70 Jahre nach Schließung der Schule von Athen hatte Stephanos vermutlich keine geschlossene neuplatonische Ausbildung mehr und entwickelte sein Denken in Auseinandersetzung mit dem Text selbst und vorliegenden Interpretationen, die dabei nicht vollständig harmonisiert werden konnten. Ein ganz anderer Eindruck entsteht bei Priskian: Hier wird jede Stelle so interpretiert, dass sie zu seiner eigenen Seelenlehre passt, die man wegen ihres Interesses an der dynamischen Struktur des Seins sowohl im Verhältnis von Geist und Seele als auch im Verhältnis von Seele und Körper nur als neuplatonisch verstehen kann. Die aristotelische Terminologie wird aufgenommen, aber auf vielfache Weise umgedeutet, bereichert und ergänzt. Gleichwohl prägt Aristoteles’ Fragestellung nach dem Verhältnis
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Aristoteles-Interpretation
von Körper und Seele das Ergebnis dieser Kommentierung, wenn Priskian den Entelechie-Begriff bis in die rationale Seele hinein ausdehnt und jede Stufe des menschlichen Geistes in ihrem Sein durch die Verbindung mit dem Körper geprägt sein lässt. Aus dieser Perspektive heraus kann man Priskians Ansatz einen „aristotelisierenden Neuplatonismus“ nennen. Innerhalb des späten Neuplatonismus konnte also eine recht große Bandbreite philosophischer Positionen entwickelt werden, und zwar selbst dann, wenn es um die Deutung nur eines Textes geht. Dieses Phänomen, das Priskian für &G CPKOC sogar ausdrücklich hervorhebt2, verdeutlicht, dass man die Philosophie dieser Zeit nicht einfach als ein monolithisches „System“ ansehen kann, das von den einzelnen Denkern einfach auf bestimmte Texte angewandt wird. Eher wird man von einem weltanschaulichen und philosophischen Rahmen sprechen können, innerhalb dessen Philosophie betrieben wurde, aber als eine durchaus persönliche Auseinandersetzung mit Texten, die als Autoritäten angesehen werden konnten3. Vor diesem Hintergrund kann man durchaus auch von philosophischen Unterschieden der Schulen in Athen, vielleicht repräsentiert durch Priskian, sicher aber durch Proklos und Damaskios, und Alexandrien, repräsentiert von Ammonios, Philoponos und Stephanos sprechen. Das Beispiel des Simplikios, der in Alexandrien und Athen lernte, zeigt, dass derartige Unterschiede für die zeitgenössischen Philosophen kein Problem darstellten. Für den heutigen Interpreten sind aber die Fragen nach dem geistigen Profil und den philosophischen Lehren der alexandrinischen und Athener Schule legitim und wichtig, geht es doch nicht nur darum, das Selbstverständnis der antiken Platoniker insgesamt zu verstehen, sondern auch zu fragen, wie es sich bei der Arbeit der verschiedenen Denker und Denkschulen auswirkte. 2. Die Bedeutung der Aristoteles-Interpretation der Kommentare Betrachtet man das Verhältnis der Kommentatoren zu Aristoteles, so ergibt sich bei ihnen allen ein ambivalentes Bild, was den Umgang mit dem Text anbelangt: Neben Stellen, an denen die Kommentatoren ihrem Objekt Gewalt anzutun scheinen, stehen bemerkenswert gute und treffende Interpretationen einzelner Stellen oder längerer Passagen. Dabei lassen sich, der Grundeinstellung der Kommentatoren entsprechend, einige Unterschiede feststellen: So wird in Philoponos’ Kommen-
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Prisc. in an. 1, 12-14. Damit soll nicht bestritten werden, dass sich der Systembegriff namentlich für Proklos, vielleicht aber auch für den Neuplatonismus als ganzen, sinnvoll verwendet werden kann. S. dazu Beierwaltes 2007, 65-84.
Zusammenfasung
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tierung die Seelenlehre des Athener Neuplatonismus weitestgehend in ein aristotelisches Modell überführt, indem jede Seelenart als Entelechie, d.h. zumindest qua Seele als untrennbar vom Körper verstanden wird. Hingegen verteilt Priskian das Konzept der Entelechie auf zwei Stufen, so dass neben der Formung des Körpers auch dessen Benutzung Aufgabe der Seele ist. Insofern sich hierdurch jede Seele aktiv zu ihrem Körper verhält, der zugleich von ihr verschieden ist, ist damit die aristotelische fundamentale Einheit von Seele und Körper aufgelöst. Auch in Bezug auf das Denken bzw. den Geist (ƮưͨƲ) ist immerhin festzuhalten, dass die von Philoponos und Stephanos angeführten Deutungsmöglichkeiten des in &GCPKOC III, 4-5 geschilderten Geistes Haupttypen der Aristoteles-Interpretation abdecken, selbst wenn die Details der Interpretation der Kommentatoren selbst insgesamt wenig überzeugen können: Während Philoponos’ Verständnis des aktiven Geistes (ƮưͨƲ Ýưƪƨƴƪƫ̆Ʋ) als der Geist des Lehrers jeder textlichen Grundlage ermangelt, ist Priskians „Interpretation“ der aristotelischen Geistlehre nichts anderes als eine anspruchsvolle Darstellung der neuplatonischen Problemlage in aristotelischer Terminologie. Trotz dieser konzeptuellen Unterschiede bieten die Neuplatoniker aber häufig eine Interpretation an, die bis heute zu beachten ist. Als Beispiele können Philoponos’ Deutungen der Entelechie-Lehre und des Ablaufs der Sinneswahrnehmung dienen, aber auch Priskians und Stephanos’ Aussagen zum Gemeinsinn. Der Grund für solche gelingenden Analysen besteht darin, dass die Kommentatoren mit dem kommentierten Text einige Voraussetzungen teilten, die dem modernen Interpreten fehlen. Neben der fundamentalen Gemeinsamkeit der griechischen Sprache und der Abhängigkeit vom peripatetischen Interpreten Alexander von Aphrodisias gehören hierzu auch einige inhaltliche Aspekte: So ist die aristotelische Gliederung der Seelenvermögen bei den Kommentatoren im Prinzip erhalten, sowie auch die Beschreibung von sinnlicher Erkenntnis als ein Auffassen des spezifischen Merkmals des erkannten Objekts bzw. das Identisch-Werden des erkennenden Vermögens mit diesem, was als „Unterscheiden“ (ƫƱ̄ƮƦƪƮ) beschrieben wird und kein Urteil impliziert4. Methodisch folgen die Neuplatoniker Aristoteles darin, dass sie den Menschen und seine verschiedenen Vermögen sowie deren Zusammenhang mit der äußeren Welt zunächst einzeln untersuchen, bevor sie sich der Seele als Ganzes zuwenden. Aristoteles’ berühmter Aussage „Die Seele ist in gewisser Weise das Seiende. Denn alles Seiende ist entweder ein Objekt der Sinneswahrnehmung oder ein Objekt des Denkens“5 entspricht im Neu-
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Vgl. dazu Ebert 1983, auch Bernard 1988, 79f. Anm. 24. ʺƸƵƷ́ƴ˽˕ƮƴƢÝ̊ƲʟƳƴƪƮ.Ý˾ƮƴƢƤ˽ƱʳƢˁƳƩƨƴ˽ƴ˽˕ƮƴƢʳƮưƨƴ˾. III 8, 431b 21f.
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Aristoteles-Interpretation
platonismus die Überzeugung, dass die Seele das Abbild der geistigen sowie das Urbild der sinnlichen Dinge ist, so dass die Elemente beider Sphären in ihr präsent sind6. Obwohl diese Bildtheorie nicht aristotelisch ist, bleibt doch das Parallelitätsverhältnis von Seele und Wirklichkeit ein Element, das den antiken Aristotelismus und Neuplatonismus von den Grundannahmen des modernen Denkens unterscheidet. 3. Die Stellung der Kommentare in der Tradition des Aristotelismus Innerhalb der Auslegungsgeschichte von &G CPKOC war der Einfluss der neuplatonischen Kommentare begrenzt. Dies ist namentlich in Bezug auf ihr Hauptanliegen zu erkennen, die in III 4-5 diskutierten Geistphänomene der menschlichen Seele zuzuschreiben. Hierin sind ihnen, wie bereits erwähnt7, die folgenden Ausleger keineswegs insgesamt gefolgt, weder die Araber Avicenna und Averroes noch die lateinischen Interpreten Albertus Magnus, Siger von Brabant und Thomas von Aquin – sie alle sind zumindest für den aktiven Intellekt skeptisch gegen den Versuch, ihn ausschließlich individuell zu verstehen. Dagegen wurde das neuplatonische System, vor dem namentlich Priskian interpretierte, nicht in seiner Gänze rezipiert, so dass das Interesse an noetischen Fragen weniger von der Existenz einer eigenen Geistsphäre bestimmt war als von der Möglichkeit der Erkenntnis universaler Begriffe, die Albertus Magnus von Averroes übernahm8. Für die übrigen in den Kommentaren vertretenen Interpretationen ist es in Ermangelung detaillierter Forschungen hierzu weniger einfach, sie wirkungsgeschichtlich einzuordnen, doch scheinen sich hier keine wesentlichen Veränderungen des Bildes zu ergeben. Eine Ursache für diese spärliche Rezeption war übrigens die geringe Bekanntheit der Kommentare: Zwar wurde eine frühe griechische Paraphrase, die Passagen von Philoponos und Stephanos wörtlich übernahm, rasch ins Arabische übersetzt und übte dort einen gewissen Einfluss aus9. Doch weder sie noch Wilhelm von Moerbekes lateinische Übersetzung von Philoponos’ Kommentar zu Aristoteles’ Lehre vom Geist im Jahr 1268 gaben einen vollständigen Überblick des Bemühens der neuplatonischen Kommentatoren. Das änderte sich teilweise in der Renaissance, als Priskians Kommentar zweimal ins Lateinische übersetzt und zur Widerle-
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Dazu Procl. in Tim. 2, 296, 13-16; 2, 301, 17-29. S. o. S. 15. Vgl. dazu Petagine 2004, z.B. 64f. Die arabische Übersetzung und deren Übersetzung ins Persische sind bis heute erhalten und wurden von Arnzen 1998 herausgegeben.
Zusammenfasung
283
gung averroistischer Positionen benutzt wurde10. Eine eigene Traditionsbildung hat der Kommentar aber auch damals nicht ausgelöst. Daher wird man die neuplatonischen Kommentare aufs Ganze gesehen eher als eine Momentaufnahme der aristotelischen Tradition ansehen müssen, in der der Text von &G CPKOC aus Fragestellungen des 6. Jahrhunderts heraus gedeutet wurde. Für einen modernen Aristotelismus haben die neuplatonischen Kommentare, als die einzigen erhaltenen Aristoteles-Auslegungen in dessen Muttersprache, bis heute einen Wert als kritische Instanz gegenüber neuen Deutungsversuchen, die sich stets gegen die Argumente der griechischen Ausleger behaupten müssen. Denn diese sind durchweg eindrucksvolle Vertreter des Bemühens um ein Gesamtverständnis der aristotelischen Philosophie, das seine Texte insgesamt zur Kenntnis nimmt und aus ihnen philosophische Lösungen zu entwickeln sucht. Daher können sie auch jeder neuen Deutung auf verschiedene Weise helfen, &G CPKOC vor dem Gesamtwerk des Aristoteles richtig zu deuten. Mehr kann man von einem Kommentar fairerweise kaum erwarten.
_____________ 10 Dazu jetzt Salatowsky 2006. Einer der letzten Vertreter dieser Interpretationstradition war Piccolomini 1602.
III. Priskians Theorie der Rückwendung des Menschen auf sich selbst A. Die Problematik einer Theorie der Bezugnahme des Menschen auf sich selbst Ermöglicht die bis jetzt geleistete Untersuchung der Kommentare einen Einblick in ihre philosophischen Anliegen und eine genauere historische Verortung, so ist über ihre Bedeutung als philosophische Dokumente noch nicht viel ausgesagt. Denn dies setzt voraus, dass man die philosophisch wesentlichen Aussagen der Kommentatoren auf problemorientierte Weise mitdenkt. Das soll nun für die Fragestellung versucht werden, die, wie sich gezeigt hat, den Hintergrund für die gesamte Anthropologie der Kommentatoren liefert: die Frage nach der Bezugnahme des Menschen auf sich selbst. Insofern die Neuplatoniker ihre gegenüber Aristoteles neue, deutliche Trennung geistiger und körperlicher Phänomene damit begründen, dass sich der menschliche Geist auf sich selbst zurückwenden bzw. sich selbst erkennen kann, berührt dieses Thema nicht nur die Philosophie der Kommentatoren, sondern die sachliche Berechtigung der neuplatonischen Anthropologie als ganzer mit der in ihr grundgelegten Würdigung des Menschen als rationalen Wesens. Eine stärker systematische Untersuchung der in den Kommentaren entwickelten Theorie menschlichen Selbstbezugs, die faktisch weit über Aristoteles’ verstreute Bemerkungen hinausgeht1, ist in dieser Hinsicht nicht nur von historischer Bedeutung: Die Frage, ob sich eine tragfähige Theorie des Selbstbezugs rationaler Wesen entwickeln lässt, die zur Begründung einer besonderen Rolle des Menschen in der Welt benutzt werden kann, ist von zeitloser Aktualität und findet auch heute großes Interesse. Angesichts dieses stärkeren Bezugs der folgenden Untersuchungen zu systematischen Fragestellungen sollen zuerst die hermeneutischen Voraussetzungen dargestellt werden, unter denen ich im Folgenden die Kommentare studiere. Daher beginne ich mit einer Darlegung der Problemfelder, vor deren Hintergrund die neuplatonischen Texte meines Erachtens interessant sein können. Diese Überlegungen dienen zum einen zur Ge-
_____________ 1
S. dazu o. S. 62f.
Problemstellung
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winnung eines adäquaten terminologischen und sachlichen Gerüsts, das eine systematische Interpretation in einer unter gegenwärtigen Bedingungen nachvollziehbaren Begrifflichkeit erlaubt, die natürlicherweise nicht die der Texte selbst ist. Zum anderen können sie helfen, mein Vorverständnis bei der anschließenden Interpretation zu verdeutlichen. Dabei versteht es sich von selbst, dass die folgenden Ausführungen nicht den Anspruch haben, die komplexe moderne Debatte insgesamt darzustellen oder gar Lösungsmöglichkeiten für ihre Probleme zu entwickeln. Sie sollen lediglich zu den Texten hinführen, deren eigene Antworten dann entwickelt und diskutiert werden sollen. 1. Phänomene des Selbstbezugs in der gegenwärtigen philosophischen Diskussion Bei der philosophischen Untersuchung der besonderen Situation geistig verfasster Wesen – und damit insbesondere des Menschen – geht es in moderner Terminologie um die Problemfelder von Selbstbewusstsein, Bewusstsein, Selbsterkenntnis, Introspektion und Personalität. Gegenüber dieser Mannigfaltigkeit von Begriffen sprachen die Neuplatoniker in der Regel nur von der „Zuwendung“ bzw. „Rückwendung zu sich selbst“ (ʟÝƪƳƴƱưƶ́ ÝƱ̅Ʋ ʠƢƵƴ̆Ʈ) als dem Kennzeichen eines geistigen Wesens. Ohne ein näheres Eingehen auf dieses Konzept2 lässt allein seine Ausschließlichkeit bereits erkennen, dass den spätantiken Philosophen keine so diversifizierte Terminologie zur Verfügung stand (bzw. sie an ihrer Entwicklung kein Interesse hatten), wie das in der heutigen Diskussion der Fall ist. Dieser begriffliche Befund zeigt, dass eine Lektüre der neuplatonischen Texte vor dem Hintergrund moderner philosophischer Diskussionen zur Voraussetzung hat, dass die mit den modernen Begriffen gemeinten Phänomene und ihre philosophische Bedeutung hinreichend bestimmt sind, bevor eine Antwort darauf gegeben werden kann, inwieweit die Neuplatoniker trotz ihrer eingeschränkten begrifflichen Mittel die hiermit gemeinten Phänomene erkannt oder zu ihrer Erklärung beigetragen haben. Das ist umso wichtiger, als sich in der aktuellen Diskussion, wie sich bereits aus der Vielfalt der genannten Begriffe ergibt, mehrere verschiedene Diskurse zu Fragen des menschlichen Selbstbezugs abspielen, deren sorgfältige Abgrenzung inhaltlich von großer Bedeutung ist. Diese Abgrenzung soll nun in der Weise skizziert werden, dass der innere Zusammenhang der verschiedenen modernen Begriffe aus zentralen Problemen der philosophischen Diskussion heraus entwickelt wird. Um
_____________ 2
S. genauer u. S. 336f.
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Theorien des menschlichen Selbstbezuges
diese terminologische und sachliche Klärung erfolgreich durchführen zu können, spreche ich auch weiterhin häufig vom „Selbstbezug“ des Menschen. Diesen Terminus benutze ich als Sammelbegriff für jede Rückwendung eines Wesens auf sich selbst, ohne dass über die Art dieser Selbstzuwendung bereits eine Aussage getroffen wäre. Insofern kann „Selbstbezug“ sowohl als Wiedergabe des neuplatonischen Terminus ʟÝƪƳƴƱưƶ́ÝƱ̅ƲʠƢƵƴ̆Ʈ dienen3 als auch dazu verwendet werden, die in der modernen Diskussion mit Selbsterkenntnis, Selbstbewusstsein und den anderen genannten Termini zusammenhängenden Phänomene zusammenfassend zu bezeichnen, bevor die einzelnen Begriffe und Problemfelder näher geklärt und voneinander abgegrenzt werden können. Selbstbezug als Grundphänomen menschlichen Daseins Den Ansatzpunkt der Frage nach dem menschlichen Selbstbezug bildet die besondere Situation des Menschen, die schon dann, wenn man sie aus der Außenperspektive betrachtet, von den übrigen empirisch feststellbaren Phänomenen in spezifischer Weise verschieden ist: Zwar ist der Mensch ein biologisches Wesen wie alle anderen auch, hat entsprechende Eigenschaften und verhält sich in hohem Maße auf eine Weise, die sich aus den natürlichen Bedingungen seines Lebens ergibt. Aber andererseits verhält er sich und kommuniziert nach Gesetzen ganz eigener Art. Sein Handeln ist zunächst einmal dadurch gekennzeichnet, dass es von unter Umständen langfristigen Zweckbestimmungen geleitet ist, die sich nicht immer mit seinem aktuellen Nutzen decken. So ist es nicht ungewöhnlich, dass einzelne Menschen auch auf biologisch sinnvolle Güter, etwa Nachkommenschaft oder Ansehen, verzichten, um ihnen einleuchtende Ideale anzustreben (hier ergibt sich eine interessante Parallelität von Nonnen, Künstlern und Revolutionären). Kurz: Menschen verhalten sich nicht durchweg instinktgeleitet, wie das bei Tieren offenbar der Fall ist, sondern sind in gewissem Maße selbst die Ursache ihrer Handlungen. Aus dieser Selbstbestimmung erwächst, auch das sollte nicht vergessen werden, eine Schaffenskraft und Kreativität, die gerade in ihren höchsten Momenten nicht mehr vorhersagbar und auch nicht reproduzierbar ist; erinnert sei nur an die einmaligen Taten großer Künstler, Wissenschaftler und Abenteurer. Ermöglicht wird dieses komplexe Verhalten des Menschen durch ein ausdifferenziertes Rollensystem in den menschlichen Gesellschaften, die im Einzelnen sehr verschieden strukturiert sein können. Alle diese Gesellschaften beruhen aber auf der Möglichkeit sprachlicher
_____________ 3
Wie auch bei Beierwaltes 2007, 43.
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Kommunikation, die die Interaktion der verschiedenen Individuen ermöglicht und damit auch die Grundlage des spezifischen Verhaltens der einzelnen Menschen darstellt. Eine derartige sprachliche Kommunikationsebene liegt im Tierreich in dieser Form nirgendwo vor, weshalb sie als Kriterium der spezifisch menschlichen Rationalität besonders geeignet ist. Für die vorliegende Fragestellung ist hieran besonders wichtig, dass auch der Selbstbezug des Menschen in sprachlicher Form geschieht, wobei das Sprechen in der ersten Person, wie neue analytische Untersuchungen gezeigt haben, ein sprachliches Phänomen besonderer Art ist4. Mit dieser äußeren Beschreibungsebene ist die Darstellung der Besonderheiten der menschlichen Natur aber nicht abgeschlossen. Denn eine der Bedingungen für das gerade skizzierte beobachtbare menschliche Handeln ist die besondere innere Verfasstheit jedes Menschen oder, anders gesagt, sein Bezug auf sich selbst. Wie sich die einzelnen Menschen in bestimmten Situationen und auch auf längere Sicht verhalten, das ist offenbar von dem Wissen bestimmt, das jeder einzelne Mensch von sich selbst hat, sowie von der Deutung, die er sich aufgrunddessen im Rahmen seiner (natürlichen und kulturell bestimmten) Umwelt gibt. In allem, was er tut, verhält sich der Mensch nicht nur zu seiner Umwelt, sondern auch zu sich selbst, zu seiner Entwicklung, zu seiner aktuellen Situation und zu dem Idealbild, das er von seiner Zukunft hat. Vor diesem Hintergrund reflektiert er seine Handlungen im Vorhinein und im Nachhinein und misst sie an ethischen und anderen Maßstäben, deren Gültigkeit er für sich in von Mensch zu Mensch unterschiedlichem Maße bejaht. Das Ergebnis dieser impliziten Selbstbezüglichkeit menschlichen Handelns ist eine große Mannigfaltigkeit des Verhaltens verschiedener Menschen und eine Vielzahl unterschiedlicher Reaktionen auf vergleichbare Situationen. Als ein weiteres erklärungsbedürftiges Phänomen in Zusammenhang mit dem menschlichen Selbstbewusstsein ergibt sich also das Faktum der Individualität verschiedener Menschen, dass das Verhalten jedes einzelnen von ihnen in gewissem Maße von ihm selbst bestimmt zu sein scheint, und nicht von Zielen, die sich gleichsam automatisch aus seiner Art, seinem Geschlecht oder anderen allgemeinen Voraussetzungen ergeben. Diese Bedeutung des Selbstbezugs des Menschen führt schließlich zu einer dritten Ebene von Phänomenen, nämlich zu den nur introspektiv bekannten, aber gleichwohl auf dieser Grundlage evidenten Phänomenen der menschlichen Selbsterfahrung. Jeder Mensch hat ein Wissen um sich selbst, das für andere Menschen nicht in derselben Weise zugänglich zu
_____________ 4
Beispielsweise Shoemaker 1963, 81-164; Tugendhat 1979, 128-132: „So ergibt sich der einzigartige Fall von assertorischen Sätzen, die wahr oder falsch sein können und gleichwohl nicht kognitiv sind“. (Zitat 131).
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sein scheint. Wesentliche Fragen, wie: War ich an einer gewissen Sache schuldig? Was sagt mein Gewissen dazu? Hätte ich eine Frage beantworten können? Habe ich Schmerzen?, kann häufig zumindest in gewisser Hinsicht nur der Betroffene selbst beantworten. Selbst wenn sich aus seinem Verhalten Rückschlüsse auf die richtige Antwort zu gewissen Aspekten der genannten Fragen ergeben können, kann niemand etwa einen Mann widerlegen, der bestreitet, in eine bestimmte Frau verliebt gewesen zu sein. Man mag seinen Beteuerungen aus guten Gründen keinen Glauben schenken, mag ihn auch der Selbsttäuschung bezichtigen – ob diese Vorwürfe berechtigt sind, muss wiederum der Einzelne für sich prüfen. Diese privaten Kenntnisse über sich selbst, die nur aus der Binnenperspektive erhebbar sind, sind für seine Existenz nicht beliebig, sondern Fakten wie, ob ich verliebt in jemanden oder schuldig an etwas bin, sind wesentliche Faktoren bei der Bestimmung dessen, wer ich bin. Dass ein Mensch Zwecke setzt und bestimmte Entscheidungen über sein Leben trifft, ist in den meisten Fällen eine Folge von Erfahrungen, die er in einer ihm eigenen Weise gemacht bzw. verarbeitet hat und die von anderen nicht vollständig nachvollzogen werden können. Auch wenn diese Erfahrungen in vielfacher Weise von anderen beeinflusst sind, stellen die Ergebnisse dieses Einflusses ein Phänomen dar, das in erster Linie subjektiv erfahren und erst sekundär in äußeren Handlungen nachvollziehbar wird. Diese aus dem Wissen des Menschen um sich selbst resultierenden Phänomene scheinen für die bis jetzt beschriebene Besonderheit spezifisch menschlichen Handelns mitursächlich zu sein. Die philosophische Bedeutung des Selbstbezugs: Rationalität, Personalität und Menschenwürde Diese Beobachtungen zum menschlichen Handeln weisen darauf hin, dass die menschliche Weise zu sein ein Problemfeld von eigener Bedeutung darstellt, das in hohem Maße dadurch bestimmt ist, dass der Mensch die Fähigkeit hat, in ein Verhältnis zu sich selbst zu treten. Das ist für ihn von großer Bedeutung: Eine Beschreibung der spezifischen Bedingungen auf sich selbst bezogenen, geistigen Seins ist immer eine Reflexion darauf, was es bedeutet, Mensch zu sein – sowohl als Einzelwesen wie auch als Art. Wie wichtig diese Frage in der aktuellen philosophischen Diskussion ist, zeigt sich deutlich an der Relevanz eines Begriffs, der diese spezifisch menschliche rationale Daseinsform mit einer deutlichen Wertäußerung zusammenbringt: Der Begriff der Menschenwürde. Das durch diesen Begriff ausgedrückte Konzept stellt gleichsam die metaphysische Basis für das Wert- und Normensystem dar, das in den Verfassungen, den Gesetzen
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und auch den moralischen Grundsätzen der Demokratien westlicher Prägung seinen Ausdruck findet. Fragt man nach den philosophisch-argumentativen Grundlagen dieses Konzeptes, dann wird man zu ähnlichen Überlegungen geführt, wie sie im vorherigen Abschnitt als besondere Kennzeichen menschlichen Seins herausgestellt wurden, nämlich zu den Fähigkeiten, Zwecke zu setzen, sich selbst zu bestimmen und sich seiner selbst bewusst zu sein. Diese verschiedenen Aspekte des Selbstverhältnisses finden ihren Ausdruck in einem Begriff, der spezifisch menschliches Sein beschreiben soll: dem der Person, als deren Kennzeichen die „Würde“ (FKIPKVCU) seit der philosophisch-theologischen und juristischen Diskussion des 12. und frühen 13. Jahrhunderts angesehen wird5. Eine adäquate philosophische Beschreibung dessen, was mit dem Begriff Person gemeint ist, ist allerdings ein schwieriges und keineswegs unstrittiges Unterfangen. Die Unklarheit des Begriffs zeigt sich daran, dass es auch in der aktuellen Diskussion noch Versuche gibt, die Person schlichtweg durch das gleichzeitige Vorhandensein körperlicher und geistiger Eigenschaften zu beschreiben. Peter Strawson hat diese Überlegung sogar als „den üblichen Begriff von Person“ bezeichnet6, obwohl eine derartige Definition gerade nicht erkennen lässt, worin sich menschliche Personalität von der Daseinsweise eines Kaninchens unterscheidet – wie Harry Frankfurt auf ebenso ironische wie treffende Weise anmerkt. Er möchte stattdessen das besondere Kennzeichen der Person als eines rationalen Akteurs durch seine Fähigkeit zu einem Selbstverhältnis beschrieben, das Frankfurt selbst vorwiegend an Willensakten, nämlich seinen viel diskutierten „second-order-volitions“, festmacht7. Damit macht er deutlich, inwieweit für ein Verständnis dessen, was mit dem Begriff Person gemeint ist, eine adäquate Beschreibung des spezifisch menschlichen, durch Rationalität und Selbstbezug geprägten Seins notwendig ist. Aus diesem Grund verstehe ich den Begriff der Person bzw. die menschliche Personalität im Folgenden als das Verhältnis des Menschen zu sich selbst, wie es seiner Lebensführung zugrundeliegt und sich im Rahmen dieser Lebensführung weiter entwickelt8.
_____________ 5
6 7 8
Für eine Beschreibung der mittelalterlichen Ursprünge dieser modernen Konzeption, die sich eher in der rechtlichen (Alexander von Hales) als in der theologischtrinitarischen Konzeption finden, vgl. Fuhrmann/Kible 1989, 282. 288 zur Verbindung der Begriffe RGTUQPC und FKIPKVCU. Ausführlich dazu Kobusch 1993, 23-54; vgl. aber auch Sturma 1997, 52. Im Folgenden beschränke ich mich auf die philosophische Begründung des Personbegriffs; die besonderen Personbegriffe etwa der Grammatik oder des Rechts werden nicht berührt. Strawson 1959, 101f. (vgl. Frankfurt 1988, 11). Vgl. insbesondere Frankfurt 1988. Aus diesen Gründen halte ich den Begriff der Person für ein nützliches Interpretament neuplatonischer Ansätze. Die gegenteilige Entscheidung von Remes 2007, 9f.
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Ein solches Verständnis von Personsein kann sich auf eine lange philosophiegeschichtliche Tradition stützen. Dass Personalität eine Besonderheit rationalen Seins ist, wurde bereits in der Definition des Boethius festgehalten: „Die Person ist die individuelle Substanz einer rationalen Natur“9. Dass hiermit eine willentliche Bestimmung seiner selbst einherging, war sowohl der erwähnten kanonistischen Tradition des 12./13. Jahrhunderts wie auch Thomas von Aquin bewusst, der die Rolle der menschlichen Vernunft und ihrer Prinzipien für die Lebensführung besonders betonte10. Erst in der neuzeitlichen Diskussion wurden Körper und Seele klar als Gegensätzte aufgefasst, was sich nicht zuletzt René Descartes’ Argumentation verdankt, es bestehe ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Körper als ausgedehntem und der Seele als denkendem Ding. Als Reaktion auf eine solche Theorie, die körperliches und seelisches Sein in besonders grundsätzlicher Weise voneinander unterschied, traf John Locke die einflussreiche Feststellung, dass Person-Sein nicht dasselbe bedeutet wie, eine geistige Substanz zu sein, da die Person durch die Einheit des Bewusstseins auch gerade ihrer körperlichen Eigenschaften gekennzeichnet sei11. Mit diesem Schritt wurde der neuzeitliche Problemkontext hergestellt, in dem die rationale Existenzweise, sich zu sich selbst verhalten zu können, als Eigenschaft des körperlich verfassten Menschen angesehen wurde, weswegen man unter dem Schlagwort der Person besonders das Problem der Beschreibung des Verhältnisses des Menschen zu seiner empirisch erfassbaren Umwelt behandelte. Dass damit aber keine befriedigende Beschreibung menschlichen Daseins gegeben werden konnte, zeigten Kants Überlegungen zu der Frage, was die Besonderheit des durch „Personalität“ gekennzeichneten menschlichen Seins in der Natur ausmacht: Für ihn ist es die Fähigkeit, Zwecke zu setzen, die die inhaltliche Ausfüllung des Personbegriffs darstellt. Eng damit verbunden ist seine berühmte Formulierung des kategorischen Imperativs als Zweck-Mittel-Relation, der zufolge jeder einzelne Mensch immer auch ein eigener Zweck und nicht ein bloßes Mittel für eine Handlung sein darf12. Auf diese Weise wird die inhaltliche Verbindung der Zwecke setzenden Person, der einer solchen Person zukommenden Selbstzwecklichkeit und der sich aus dieser Würde ableitenden Rechte besonders deutlich. In dieser Fähigkeit, sich selbst zu einem zielgerichteten
_____________ liegt daran, dass sie Person eher vom Rollenbegriff her versteht und daher körperliche Merkmale in ihm enthalten sieht. 9 Persona est naturae rationalis individua substantia. Boeth. c. Eut. et Nest. 3. 10 Im Gefolge des Alexander von Hales: Fuhrmann/Kible 1989, 288; Kobusch 1993, 24-26. 11 Locke, Essay 335-337; vgl. Sturma 1997, 53. 12 Kant, GMS BA 74f. (Akad.-Ausg. 4, 429-431).
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Handeln zu bestimmen, lassen sich unschwer dieselben Merkmale personalen Seins wiederfinden, wie sie von Harry Frankfurt formuliert wurden und wie sie auch den folgenden Überlegungen zum Verhältnis von Selbsterkenntnis und Personsein zugrundeliegen sollen. Um auf die Einheitlichkeit dieser unterschiedlichen Beiträge einer langen Tradition hinzuweisen, möchte ich den Ausgangspunkt meiner Überlegungen mit einer recht wenig bekannten Überlegung Peter Abaelards abschließend verdeutlichen. Sie zeigt besonders deutlich die inhaltliche Verbindung zwischen der von Kant betonten Fähigkeit rationaler Wesen, sich zu ihren eigenen Zwecken zu bestimmen, und der Annahme zweier Arten des Wollens, wie sie Frankfurt beschreibt, indem sie die Intention als eine Art grundlegenderen, durch eine rationale Zweckmäßigkeit bestimmten Wollens vom konkreten Handlungsentschluss unterscheidet; insofern zeigt sie auch, dass die neuzeitliche Frage nach der Person einem philosophischen Problem entspricht, das spätestens im Mittelalter in seinen systematischen Grundzügen bekannt war: „Denn bei der freien Entscheidung geht die Intention der Sache voran, die deswegen geschieht; zum Beispiel führe ich, wenn ich mir überlege, zur Kirche zu gehen und dies tue, das, was ich intendiert habe, aus der Freiheit meiner Entscheidung heraus aus, und daher muss man sagen, dass es weniger aus Zufall als aus Vernunft geschieht. Doch nichts von beidem geschieht natürlich, sondern beides gleichermaßen aus einem Willen von uns“13.
Selbstbezug als Seinsweise der Person Diese typische Fähigkeit, Entscheidungen vor dem Horizont selbstgegebener Zielsetzungen zu treffen, also im strengen Sinn zu „handeln“, weist Personen als Wesen aus, die auf eine bestimmte, in der Natur sonst nicht anzutreffende Weise existieren. Ihre besondere Struktur kann durch die Aussage beschrieben werden, dass sich das rationale Wesen in dem Sinne seiner selbst bewusst ist, dass es jeden seiner Akte und Zustände als bezogen auf sich selbst versteht. Die Beschreibung der Person als GUUG OQTCNG leitet so über zu der Idee eines Wesens, das sich seiner selbst bewusst ist. Diese Reflexion auf die Selbstverfasstheit, die der Fähigkeit zu ethischem und damit selbstbezogenem Sein zugrunde liegt, führt auf die ontologischen Probleme des Begriffs der Person. Denn die Handlungsfähigkeit ist
_____________ 13 In libero quippe arbitrio, eius rei que inde contingit intentio precedit, veluti si deliberem ire ad ecclesiam et ita exsequar, ex libertate arbitrii mei id quod intendebam perficio, ideoque id non tam casu quam ratione fieri dicendum est. Neutrum tamen horum naturaliter contingit, sed utrumque pariter ex aliqua nostra voluntate. Abael. Theol. Schol. III 86 (CCM 13, 536, 1152-1157).
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ja nur ein äußeres Merkmal, das generell darauf verweist, dass das Subjekt dieser Handlungen, die Person, auf eine ganz bestimmte, ihr eigene Weise existiert, die von anderen Wesen so nicht geteilt wird. Dabei sind neben den praktischen auch die theoretischen Elemente ihrer Selbstdeutung mit einzubeziehen, in denen sich ein Mensch in erster Linie gegeben ist: Wie er sich selbst einschätzt, liegt weitgehend daran, was er über sich selbst tatsächlich in bewusster Weise weiß bzw. zu wissen meint. Ein solcher Selbstbezug stellt offenbar die Grundlage dar, aufgrund derer man von Personalität und Menschenwürde im oben genannten Sinn sprechen kann. Die Fähigkeit, ein Bild seiner selbst zu entwickeln, scheint ein wichtiges Kennzeichen des Menschen zu sein, der aus einem Bezug auf sich selbst heraus sein Leben entwickelt. Sein Wollen und Handeln beruht, selbst wenn es als praktisches Wissen in anderer Weise denn als theoretisches gegeben sein soll, auf den Überzeugungen, die er von sich selbst hat und die in gewisser Weise eine Konstitutionsleistung für ihn selbst darstellen. Praktische Absichten und Ziele sowie theoretische Überzeugungen sind hierbei untrennbar verknüpft, und die besondere Natur des denkenden Wesens besteht darin, dass es sowohl diese Absichten, Ziele und Überzeugungen als auch ihren Zusammenhang noch einmal zum Gegenstand der Reflexion machen kann. An dieser Fähigkeit zur gedanklichen Selbstzuwendung hängen sowohl der gesamte Selbstbezug eines Menschen als auch, dadurch vermittelt, seine Personalität, die sich damit im Umkehrschluss auch als durchaus konstruiertes Phänomen erweisen könnte. Diese problematische Konsequenz wird besonders deutlich, wenn man sich der Frage zuwendet, was eigentlich das „Selbst“ ist, zu dem sich eine Person verhält bzw. als das sie sich konstituiert, wenn sie bestimmten Objekten Aufmerksamkeit schenkt, über sich selbst nachdenkt oder Handlungen vollzieht. Als derartige Subjekte scheinen wir auf den ersten Blick individuell verschiedene geistige Entitäten zu sein, was eine Begründung dafür darstellen könnte, dass wir Personen mit Menschenwürde sind. Diese Annahme ist jedoch in verschiedener Hinsicht problematisch. Schon der Begriff einer geistigen Entität ist mit Schwierigkeiten verbunden: Was soll man sich etwa unter der Annahme einer geistigen Substanz vorstellen? Sydney Shoemaker hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Substanz hier nicht heißen kann als, ein einziges Subjekt einer Mehrzahl zeitlich und inhaltlich verschiedener Akte zu sein. Selbst wenn der Begriff „Substanz“ in dieser Bedeutung sinnvoll und verständlich gebraucht werden kann, ergibt sich daraus nicht eine stärkere Aussage über die reale Existenz einer derartigen Substanz14. So folgt etwa nicht, dass jeder
_____________ 14 Shoemaker 1963, 41-80.
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Mensch „Substanz“ im Sinne eines selbstständig existierenden geistigen Gegenstands ist, wie es Boethius’ Definition der Person nahelegt. Die Annahme selbständig existierender geistiger Substanzen stößt ferner auf das Problem, wie eine Individualität im geistigen Bereich sinnvoll zu beschreiben ist. Denn wodurch sollen sich geistige Individuen unterscheiden, da ja rationale Gehalte offenbar jedem rationalen Subjekt in gleicher Weise zugänglich sind, wenn es nur seine Gedanken in adäquater Weise entwickelt? Individuelle Subjekte, wie wir sie kennen, sind offenbar nicht wegen ihrer Geistigkeit, sondern deswegen voneinander verschieden, weil sie in verschiedenen Körpern angesiedelt sind und aufgrund verschiedener Erfahrungen ein unterschiedliches Wissen erworben und eine unterschiedliche Selbstdeutung entwickelt haben; eine solche Erfahrung setzt aber immer Erkenntnisse über die materielle Welt voraus. Ein weiterer Fragenkomplex stellt sich von dem Problem der Dauerhaftigkeit der ihrer selbst bewussten Person her. Die Brisanz dieser Frage ergibt sich schon aus der oben geschilderten ethischen Relevanz der Zweistufigkeit menschlichen Wollens. Denn je nachdem, ob man annimmt, dass eine Person sich einmal konstituiert und diese Konstituierung die Grundlage ihrer Entwicklung in der Folgezeit darstellt, oder ob man von Konstituierung einer Person erst im Nachhinein sprechen kann, wird der Zweistufigkeit des Willens eine andere ethische Konnotation gegeben. Den ersten Fall repräsentieren etwa Abaelard und Kant: Für beide steht es außer Frage, dass ein rationales Selbstverhältnis immer bereits ein Urteil darüber einschließt, was eine Person tun muss, die durch Vernunft charakterisiert ist. Das rationale Wollen, das den konkreten Entscheidungen ihre Richtung gibt, misst deren sittliche Qualität an einem Maßstab, der grundsätzlich im voraus festliegt, auch wenn der Einzelne ihn immer für sich selbst nachvollziehen und als selbstgegebenes Gesetz anerkennen muss. Die für rationale Wesen typische Selbstbestimmung bzw. Autonomie kommt nur zur Geltung, wenn ich das tue, was ich im Gewissen als meine Pflicht erkennen kann15. Im zweiten Fall, für den die auf den ersten Blick moralfreie Definition der UGEQPFQTFGTXQNKVKQPU bei Frankfurt ein typisches Beispiel ist, brauche ich eine derartige vorgegebene Struktur des Selbstverhältnisses nicht anzunehmen. Wer ich als Person bin, entscheidet sich durch die Willensentscheidungen, die ich zu einem bestimmten Zeitpunkt treffe: Wenn ich etwa unter Drogen stehe und daher langfristig das Ziel habe, mir genug Drogen zu verschaffen, ist das eine hinreichende Erklärung für meinen
_____________ 15 Vgl. z.B. Abael. in Rom. 208f.; Kant GMS BA 6-8; MS Tug. A 98f. (Akad.-Ausg. 4, 395-397. 6, 437f.).
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Willen und meine moralische Verantwortlichkeit16. Diese Sicht hat interessante Konsequenzen, denn was mein eigentlicher Wille der zweiten Ordnung war, liegt demnach nicht von vornherein fest, sondern konstituiert sich im Laufe des Lebens immer wieder neu. Ein Willenskonflikt mit sich selbst, in dem ich aktuelle Ziele – etwa das Nehmen von Drogen – mit meiner langfristigen Planung vergleiche, die die Anerkennung moralischer Regeln voraussetzt, scheint sich in diesem System nicht ernsthaft annehmen zu lassen, sondern lediglich die Möglichkeit, dass ich zu etwas, das ich aktuell anstrebe, keine Lust (bzw. ein abweichendes HKTUVQTFGTFGUKTG) habe. Eine derartige Konsequenz lässt sich mit Abaelard und Kant nur dann ziehen, wenn ich mich in Anbetracht dessen, was ich aus meiner rationalen Struktur heraus als verpflichtend erkannt habe, richtig entschieden habe; ansonsten bleibt eine Unzufriedenheit darüber bestehen, nicht nach den moralischen Maßstäben der eigenen Vernunft gehandelt zu haben, wie sie sich auch nach Ende des konkreten Konflikts im Gewissensurteil ausdrücken. Es ist deutlich, dass bei der von Abaelard und Kant repräsentierten Meinung eine Einheitlichkeit der Person über ihre ganze Lebensdauer hinweg vorausgesetzt ist, die letztlich aus der Einheitlichkeit der Entwicklung eines rationalen Wesens her resultiert. Die zweite, konsequentialistische Position lässt sich dagegen so beschreiben, dass im Moment der Entscheidung einer grundsätzlichen willentlichen Änderung gleichsam eine neue Person entsteht; es ist jedenfalls nicht unmittelbar einsichtig, warum die Person des Drogenabhängigen mit der Person identisch sein sollte, die er vor dieser Drogenabhängigkeit war. In einer ethischen Perspektive sind verschiedene Erklärungen für das Problem der Einheit der Person möglich: Entweder entscheide ich mich für eine Theorie wie die von Abaelard und Kant vorgeschlagene. Oder ich lehne die Plausibilität dieser Theorie ab und suche nach anderen Wegen der Begründung personaler Identität. Dann bleibt mir entweder die Möglichkeit, Personalität durch die Identität des körperlich verfassten Wesens zu begründen, oder ich kann sie im Sinn einer Kontinuität der Erinnerung verstehen: Ich bin derselbe wie der, der sich früher ganz anders verstanden hat. Bei der ersten dieser Lösungen wird die Einheit der Person aber nicht mehr mit dem Merkmal beschrieben, das nach unseren ursprünglichen Überlegungen die Einheit der Person ausmachen soll, nämlich der Selbstbestimmung und Selbstkonstitution, die sich zwar in mancherlei Hinsicht weiter entwickeln, aber doch grundsätzlich im Handeln auch bewähren oder verfehlen kann. Bei der zweiten Lösung stellt sich das Problem, das auch die Erinnerung dem Wandel unterworfen ist und es fraglich wird, ob ich überhaupt die Person
_____________ 16 Vgl. Frankfurt 1988, 23-25.
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gewesen bin, die nicht erinnerte Phasen meines Lebens erlebt hat17. Andererseits scheint es außer Zweifel zu stehen, dass diese vergessenen Phasen mich als denjenigen geprägt haben, der ich heute bin. Ferner wird mir auch die Verantwortung für frühere Taten nach wie vor zugeschrieben, was ebenfalls eine personale Identität über das ganze Leben voraussetzt. Insofern hat die zweite Position mit Begründungsproblemen zu kämpfen, die nicht unterschätzt werden sollen. Von daher stellt sich immer wieder die Frage, ob sich nicht doch stets gleichbleibende, der individuellen Entwicklung vorausliegende Konstitutionsmomente personalen Seins aufweisen lassen. Diese Frage führt in Anbetracht der zentralen Bedeutung des Selbstbezugs für die Person zu dem Problem, wie sich dieser adäquat beschreiben lässt und ob sich aus ihm nicht derartige konstant bleibende Momente ergeben. Zu zeigen, dass und warum dies tatsächlich der Fall ist, ist ein zentrales Anliegen der neuplatonischem Lehre von Seele und Geist, die insofern ein zentrales Problem anspricht. Bevor die neuplatonischen Thesen aber näher diskutiert werden, soll der Problemrahmen noch näher abgesteckt werden, indem die einzelnen Formen menschlicher Bezugnahme auf sich selbst anhand der hierfür verwendeten modernen Begriffe analysiert werden. Selbstbewusstsein, Bewusstsein, Selbsterkenntnis und Introspektion In der modernen Diskussion scheint der zentralste Begriff der Beschreibung menschlichen Selbstbezugs der des Selbstbewusstseins zu sein, auf den zumindest die deutschsprachigen Diskussionen über den Selbstbezug des Menschen häufig hinauslaufen. Der Begriff wird dabei nach den geläufigen Diskussionen in der neuzeitlichen Philosophie als Chiffre für ein umfassendes und unmittelbares Sich-Selbst-Gegeben-Sein des Menschen in allen seinen Empfindungen und Akten verstanden, wobei davon ausgegangen wird, dass ein exaktes begriffliches Äquivalent hierzu in antiken und mittelalterlichen Entwürfen nicht angegeben werden kann18. Während dies erst nach der Untersuchung entschieden werden kann, scheint es an dieser Stelle sinnvoll, den Begriff des Selbstbewusstseins ins Zentrum der Klärung zu stellen. Dies soll hier in indirekter Weise geschehen, indem er von den anderen genannten Begriffen – Bewusstsein, Selbsterkenntnis, Introspektion – abgegrenzt wird, so dass auch für diese Begriffe vorläufige Klärungen ermöglicht werden, anhand derer später der Gegenstand der neuplatonischen Diskussion näher bestimmt werden kann.
_____________ 17 Vgl. dazu aber Shoemaker 1963, 123-164. 18 Zum Begriff „Selbstbewusstsein“ vgl. Jaeschke/Heckmann 1995 und Gloy 1999.
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„Bewusstsein“ kann man allgemein als die Summe aller subjektiv erfahrenen Eindrücke verstehen, ohne dass in diesem Begriff impliziert ist, dass sich das Subjekt, das diese Empfindungen hat, dabei auch seiner selbst gewärtig ist und seine Eindrücke zur Deutung seines Selbstseins heranzieht. In einem engeren Sinn kann man „Bewusstsein“ auf subjektive und gleichsam private phänomenale Zustände und Eindrücke beziehen, die erfahren und bezeichnet werden können, sich aber nicht eigentlich auf intersubjektiv überprüfbare Weise beschreiben lassen. Dies ist etwa dann der Fall, wenn jemand „rot“ sieht oder wenn er „Zahnschmerzen“ hat: Niemand anders als die betroffene Person selbst weiß streng genommen, was er damit meint, wenn er sich einen solchen Zustand zuschreibt – es kann nicht garantiert werden, dass ein anderer, der über sich dasselbe aussagt, dieselbe Vorstellung damit verbindet. Derartige Zustände sind heute ein wichtiger Gegenstand der philosophischen Diskussion: Aus der Perspektive eines naturwissenschaftlich geprägten Weltbildes mit einer Tendenz zum Materialismus ist es das so beschriebene „Bewusstsein“ (EQPUEK QWUPGUU), und nicht die „Aufmerksamkeit“ (CYCTGPGUU), die eher einem Selbstbezug im Sinne einer rationalen Selbsterkenntnis entspricht, das die größten Erklärungsprobleme bietet. Das behauptet jedenfalls David Chalmers aufgrund der Überlegung, dass die phänomenalen Bewusstseinszustände nicht gemäß den Regeln der physisch beobachtbaren Welt beschreibbar seien, weswegen zu einer vollständigen Beschreibung der Wirklichkeit eine materialistische Erklärung nicht ausreiche. Vielmehr müsse das Bewusstsein als eine eigene Dimension von Fakten neben die materiell beschreibbaren Phänomene treten und mit diesen zu einer einheitlichen metaphysischen Theorie vereinigt werden19. Die mit einem reflektierten Selbstverhältnis zusammenhängenden psychologischen Zustände lässt er dagegen beiseite, da sie seiner Meinung nach mithilfe einer funktionalistischen Theorie hinreichend erklärt werden können und daher kein grundsätzliches wissenschaftliches Problem darstellen20. Das LeibSeele-Problem wird folglich auf eine Weise behandelt, die von den besonderen Eigenschaften des rationalen Selbstbezuges absehen kann21. Für Chalmers’ Argument ist es sogar entscheidend, dass die genannten Bewusstseinserfahrungen keinerlei Erklärungswert für das menschliche Ver-
_____________ 19 Chalmers 1996, 1968-1971. 20 Chalmers 1996, 26-31. 21 Das trifft in gewisser Weise auf weite Teile der analytischen Theorie zu, die das LeibSeele-Verhältnis anhand von Modellen wie Supervenienz, Emergenz usw. erklären. Auf ihre zahlreichen Beiträge kann aber hier nicht in angemessener Weise eingegangen werden.
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halten haben, denn nur so sollen sie einen Fall darstellen, der nicht rein materialistisch-monistisch erklärt werden kann22. Unabhängig davon, welchen Nutzen ein derartiger Ansatz für eine Beschreibung der Welt als ganzer hat, wird man kaum behaupten können, dass derartige Bewusstseinsphänomene das sind, was mit dem Begriff des Selbstbewusstseins üblicherweise gemeint ist. Denn hierunter versteht man jedenfalls ein Selbstverhältnis, das eine Kenntnis der eigenen Akte und Zustände als eigener beinhaltet. Dieses kann sich zudem nicht nur auf Empfindungen beschränken, die phänomenal erfahren werden, sondern muss, im Sinne des in den vorigen Abschnitten Gesagten, auch solche einschließen, die sich auf eigene Handlungen, rationale Einstellungen oder allgemein das Verhältnis des Subjekts zu seiner Umwelt beziehen und damit – ausdrücklich oder implizit – zur Selbstdeutung und Selbstkonstitution dieses Subjektes beitragen. Dieses Wissen muss entweder auf bewusste Weise vorliegen oder zumindest bei Bedarf bewusst gemacht werden können, weswegen der Terminus „Selbstbewusstsein“ überhaupt sinnvoll ist. Demnach erscheint Selbstbewusstsein eher denn ein Bewusstseinsphänomen ein rationales Wissen um sich selbst zu sein, für das man sinnvollerweise den Terminus Selbsterkenntnis (UGNHEQIPKVKQP) verwenden kann, wie es etwa auch Sydney Shoemaker im Titel seines einschlägigen Werks tut23. Wie aber hat man sich eine solche Selbsterkenntnis vorzustellen? In diesem Zusammenhang liegt zunächst einmal die Vorstellung nahe, Selbsterkenntnis werde dadurch gewonnen, dass man gleichsam einen Blick in sich selbst hineinwerfe, so wie man sich auch gewissen äußeren Ereignissen zuwenden kann. Das ist jedenfalls das Verständnis, das man zunächst dem Begriff der Introspektion zuweisen würde. Dieses in der philosophischen Diskussion ebenfalls wichtige Konzept deckt ein sehr weites Phänomenspektrum ab, kann es doch sowohl die Wahrnehmung dessen bezeichnen, was ich empfinde, wenn ich etwas Rotes sehe oder wenn ich feststelle, Zahnschmerzen zu haben, als auch in Bezug auf die intuitive Erkenntnis verwendet werden, dass ich, als ein denkender, existieren muss – wie es Descartes’ berühmtes Cogito-Argument voraussetzt. Abgesehen von solchen intuitiven Gesichtspunkten introspektiver Erkenntnis scheinen auch viele weitere Gegebenheiten unserer rationalen Struktur ganz oder doch zumindest in privilegierter Weise introspektiv zugänglich zu sein, wie oben bereits erwähnt wurde24: Etwa kann ich die Frage, warum ich Philosophie studiert habe, in gewisser Weise nur selbst beantworten, weil nur ich einen direkten Zugang zu den Erwägungen ha-
_____________ 22 Chalmers 1996, 181-189. 23 Shoemaker 1963. 24 S. o. S. 287f.
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be, die mich damals dazu geführt haben. Nur mir sind ja meine Erinnerungen präsent. In Anbetracht dieser anscheinend großen Leistungsfähigkeit war die Introspektion in der neuzeitlichen Philosophie für einige zentrale Probleme des Selbstbezuges von großer Bedeutung und lieferte wesentliche Anregungen für das Konzept des Selbstbewusstseins; Descartes’ %QIKVQArgument ist nur das prominenteste Beispiel hierfür. Wenn man nämlich annimmt, dass die verschiedenen introspektiv erkannten Inhalte nicht nur einfach gegeben sind, sondern durch Introspektion tatsächlich erkannt werden, scheint mit diesem Konzept sowohl die Breite der erfassten Phänomene als auch das tatsächliche Vorliegen von Erkenntnis gegeben zu sein, so dass hier ein Ansatzpunkt nicht nur für das Verständnis dessen, was unter „Selbsterkenntnis“ verstanden wird, sondern auch davon, was noch allgemeiner mit „Selbstbewusstsein“ gemeint ist. Gegen diesen Versuch sprechen aber gewichtige Gründe. Diese ergeben sich zunächst aus der erkenntnistheoretischen Problematik des Modells der Introspektion, die sich bei näherer Betrachtung herausstellen. Erstens besitzt introspektiv gewonnenes Wissen nicht notwendig eine größere Richtigkeit als von außen eingestellte Beobachtungen. Denn andere Menschen, die meinen Lebensweg beobachtet haben, erinnern sich vielleicht an Äußerungen oder Beobachtungen zu meinen Motiven, die ich selbst vergessen habe. Zwar ist es mein persönliches Innenleben, aus dem diese Äußerungen und beobachteten Verhaltensweisen erklärbar waren, und zu diesem hat mein Gedächtnis, so unvollkommen es auch sein mag, introspektiv einen besonderen Zugang, wie bereits angedeutet wurde. Doch lässt sich dieses Innenleben nur momentan feststellen, d.h. ich weiß, woran ich mich jetzt bewusst erinnere; aber ich weiß weder, was ich vergessen, noch was ich verdrängt habe und daher nicht abrufen kann. Insofern gilt der Vorrang der Introspektion nur in begrenztem Maße, und sie ist prinzipiell korrigierbar. Man kann allerdings der Meinung sein, er gelte in bestimmten Fällen in höherem Maße, z.B. wenn ich mich frage, (ob und) warum ich jetzt Philosophie-Dozent sein will. Wo diese Frage gestellt werde, seien meine eigenen Motive gefragt, über die ich mir in gewisser Weise nur allein Rechenschaft ablegen und dann anderen Auskunft geben könne. Doch auch hierbei ist es möglich, dass andere mich besser verstehen, als ich es selbst tue, so dass sich meine Überlegungen in gewisser Weise als eine Art Selbsttäuschung erweisen. Das liegt womöglich daran, dass auch diese introspektiv ermittelten Motive selbst wieder eine Art Konstruktion sind, da sie mir vielleicht nicht unmittelbar gegeben sind, sondern mich erst die Frage anderer oder das äußere Faktum des Schreibens dieser Arbeit dazu bringt, über die Motive nachzudenken und die eigenen Motive zu „bil-
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den“. Ob etwas mein Motiv ist, das beurteile ich demnach zwar in gewisser Weise alleine, aber die so konstruierte Identität ist keinesfalls etwas vorab Gegebenes, das durch eine Art Introspektion erkannt wird. Ebenso zweifelhaft wie die erkenntnistheoretische Zuverlässigkeit der Introspektion ist zweitens ihre Direktheit, die ja andererseits für ein Selbstbewusstsein als unmittelbares Gegeben-Sein typisch sein soll. Denn wenn Introspektion einen gezielten Blick in sich selbst bedeutet, um bestimmte Feststellungen über das eigene Innere zu machen, dann ist sie offenbar nicht unmittelbar gegeben, sondern sie hängt von einem bewussten Entschluss ab, einen derartigen Erkenntnisakt zu vollziehen. Zudem ist Introspektion unter dieser Bedingung nicht etwas, das dauernd vorhanden ist, sondern sie findet, wenn überhaupt, nur dann statt, wenn sich jemand zu einem Akt der Selbstbeobachtung entscheidet. Damit kann sie aber kein dauerndes Bei-Sich-Sein des Subjekts selbst in allen seinen Akten und Empfindungen sein, die diesem Subjekt zugeschrieben werden, ohne dass jemals alle von ihnen vom Subjekt thematisiert werden müssen. Damit scheint aber die Introspektion jedenfalls für die Erklärung dessen, was mit „Selbstbewusstsein“ gemeint ist, ungeeignet zu sein. Aber auch wenn man sie als exemplarischen und privilegierten Modus der Selbsterkenntnis auffassen will, ergeben sich aus den bei ihrer Untersuchung aufgetretenen Zweifeln wiederum Probleme für dieses Konzept als ganzes. Denn wenn es zweifelhaft ist, dass diese auf einem privilegierten und stets richtigen Zugang zu sich selbst beruht, wie es die Introspektion sein sollte, dann stellt sich die Frage, inwieweit man Selbsterkenntnis überhaupt als einen spezifischen, privilegierten Erkenntnismodus des rationalen Wesens bezeichnen kann. Denn ebenso wie meine Introspektion kann ich ja auch die Zuverlässigkeit der anderen Quellen der Selbsterkenntnis bezweifeln, etwa meine Erinnerungen, die ja nach dem oben Gesagten unter Umständen durch andere korrigiert werden können. Es ist zwar unbezweifelbar, dass wir so etwas wie Selbsterkenntnis besitzen, doch scheint diese im Prinzip genauso fragmentarisch und unsicher zu sein, wie jede andere Erkenntnis, über die wir verfügen. Wie der menschliche Selbstbezug adäquat beschrieben werden kann, muss daher zweifelhaft bleiben, wenn man nur vom Modell der Selbsterkenntnis her kommt. Was ist Selbstbewusstsein? Zum Vorhandensein eines Selbstbezuges, der die in den vorherigen Kapiteln geschilderten Phänomene erklären soll, ist daher noch mehr erforderlich als eine derartige Erkenntnis seiner selbst. Diese Überlegung führt zurück zur Frage nach dem „Selbstbewusstsein“, das nach dem Gesagten
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weder als Bewusstsein noch als Selbsterkenntnis noch als Introspektion zureichend beschrieben werden kann, sondern ein Selbstbezug ganz eigener Art zu sein scheint. Bis jetzt lässt sich nur angeben, was das mit diesem Begriff Bezeichnete leisten soll: Es soll ein unmittelbares GegebenSein seiner selbst vorstellen, das eine erkenntnismäßig zuverlässige Basis des Selbstbezugs darstellen und diesen zugleich im Handeln wirksam werden lassen soll. Über die Frage, wie dieses Sich-Gegeben-Sein des Selbst in jedem unserer Zustände zu beschreiben ist, hat sich in den letzten zwei Jahrhunderten, insbesondere im Anschluss an Immanuel Kants Auseinandersetzung mit dieser Selbstgegebenheit des Ichs25, eine fruchtbare Diskussion über das Selbstbewusstsein entwickelt, die freilich nicht zur Lösung aller Probleme geführt hat. In den bedeutendsten Behandlungen dieses Themas im deutschsprachigen Raum, die in den letzten Jahrzehnten u.a. Dieter Henrich, Ernst Tugendhat und Klaus Düsing geleistet haben26, wird immer wieder die besondere Stellung des Selbstbewusstseins gegenüber anderen Phänomenen des Selbstbezugs hervorgehoben. Denn abgesehen von den unterschiedlichen Formulierungen und der exakteren Klassifikation von Phänomenen der Selbstzuwendung, die diese Autoren anbieten, unterscheiden sie stets klar zwischen einem gezielten Erfassen seiner selbst, bei dem dieses ausdrücklich zum Thema wird, und dem unthematischunmittelbaren Gegebensein, in dem wir uns als Subjekt jedes einzelnen unserer Akte und Empfindungen stets wissen, das damit zumindest begrifflich auch nicht mit dem Bewusstsein einzelner Akte identisch ist27. „Selbstbewusstsein“ bezeichnet demnach weder die bewusstseinsmäßigen Akte und Empfindungen noch auch die Phänomene der rationalen Selbsterkenntnis (einschließlich der Introspektion) als solche, sondern eher das in all diesen Zuständen vorhandene Gegenwärtigsein des Subjekts selbst, das diese stets unthematisch als seine eigenen erfährt. Im Mittelpunkt der im Anschluss an eine derartige Begriffsbestimmung geführten Debatte steht der Versuch, das Selbstbewusstsein nach dem sogenannten „Reflexionsmodell“ zu erklären, dem zufolge im Selbstbewusstsein eine vollständige und unmittelbare Beziehung des Selbst als Subjekt zu sich selbst als Objekt vorliegen soll28. Auf die grundsätzliche Schwierigkeit dieses Modells hat jüngst in exemplarischer Weise Klaus Düsing aufmerksam gemacht. Denn wer nach der Möglichkeit einer symmetrischen Einholung des eigenen Selbst durch genau dasselbe Selbst
_____________ 25 26 27 28
Eine prägnante Übersicht über Kants Position gibt Gloy 1999, 1443-1445. Henrich 1970, 279; Tugendhat 1979, 144f.; Düsing 1997, 123-128. Vgl. Henrich 1970, 279. Frank 1991, 435.
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fragt, der begibt sich damit in die Schwierigkeit, dass ein unendlicher Zirkel von aufeinander aufbauenden Selbstbezügen zu entstehen droht. Denn sobald ein Subjekt sich selbst erkennt, stellt sich gleich die Frage, was denn hier eigentlich das erkennende Subjekt und was das erkannte Objekt ist29: Entweder verschwindet der Pol, der sich seiner selbst bewusst ist, in diesem bewussten Selbst, oder der erkannte, bewusste Pol, löst sich in den erkennenden hinein auf. Düsing selbst vermutet aufgrund dieser Problematik, dass die Frage nach dem Selbstbewusstsein falsch gestellt ist, wenn damit eine symmetrische Kenntnis eines Objekts durch ein Subjekt gemeint sein soll. Das sei nicht nur aus dem genannten Punkt heraus problematisch, sondern sei auch sachlich völlig unnötig, denn in den faktisch beobachtbaren Fällen von Selbsterkenntnis werde das Selbst fast durchgängig in bestimmter Hinsicht zum Untersuchungsgegenstand30. Diese Position ist jedoch im Sinne des von uns bisher Festgestellten wieder problematisch: Denn es ist zwar richtig, dass bei Phänomenen wie Bewusstsein, Introspektion und Selbsterkenntnis allgemein das Selbst immer nur asymmetrisch zum Untersuchungsgegenstand wird, doch waren gerade diese Fälle nicht in der Lage, den Selbstbezug des Menschen als ganzen zu erklären und ihm ein solides Fundament zu verleihen. Die bis jetzt vorgelegte grobe Analyse der Hauptbegriffe der modernen deutschen Diskussion über den menschlichen Selbstbezug zeigt damit, wie schwierig es ist, eine adäquate philosophische Theorie dieses Phänomens zu liefern – und damit auch eine theoretische Klarstellung dessen, was nach dem vorigen Abschnitt das Dasein derjenigen Person ausmacht, die durch die besondere menschliche Würde gekennzeichnet sein soll. Gerade der Selbstbezug, der die personale Struktur des Menschen ausmacht, scheint in allen bis jetzt beschriebenen Konzepten unklar zu bleiben, ja es ist überhaupt nicht sichtbar, was diese mit der Selbstkonstitution von Personen zu tun haben können. Viele Gedanken, Einstellungen, Meinungen und Kenntnisse, die ich über mich selbst habe, schreibe ich mir nicht anders zu, als ich anderen Menschen gewisse Eigenschaften zuschreibe, ohne dass für diese Selbsterkenntnis, Bewusstsein, Introspektion oder auch Selbstbewusstsein im beschriebenen Sinne eine Rolle spielten. Andererseits scheinen diese Begriffe aber unverzichtbar zu sein, um menschliche Selbstdeutung in ihrer Gesamtheit beschreiben zu können, und gerade der als Selbstbewusstsein bezeichnete Phänomenkomplex scheint in gewisser Weise die Grundlage dafür zu sein, dass man überhaupt von einem Selbstbezug sprechen kann.
_____________ 29 Düsing 1997, 97-120; vgl. auch Henrich 1970, 264-267; Frank 1991, 447-449 (zu Fichte). 483f. (zu Herbart). 30 Düsing 1997, 119f.; vgl. schon Tugendhat 1979, 64-67.
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2. Die Bedeutung der neuplatonischen Fragestellung Aus diesen Überlegungen ergibt sich eine relativ klare Fragestellung für den, der besser verstehen will, wie der menschliche Selbstbezug adäquat zu beschreiben ist. Als Zentralfragen haben sich herauskristallisiert: Wie hängen die verschiedenen Phänomene, die bis jetzt diskutiert wurden, miteinander zusammen? Worin kann das erkenntnistheoretische Fundament liegen, dass ihnen ein besonderes Maß an Zuverlässigkeit sichert? Kann es eine direkte Erkenntnis des eigenen Selbst geben? Oder ist dieses eine Konstruktion, die nicht eigentlich erkennbar sein kann? Inwieweit lässt sich dieses Selbst als eine Person beschreiben, und inwiefern impliziert dieser Begriff eine dauernde, unveränderliche Existenzweise, die allen Umwelteinflüssen vorausliegt? Inwiefern beinhaltet dies schließlich wieder eine besondere metaphysische Dignität des so charakterisierten Selbst? Ein besseres Verständnis dieser Fragen – soviel lässt sich jedenfalls festhalten – erfordert eine ausgearbeitete Theorie rationalen bzw. geistigen Seins, das sich wesentlich durch den zu untersuchenden Selbstbezug auszeichnet. Dies ist der Punkt, an dem die neuplatonische Anthropologie, Psychologie und Geistlehre auch aus heutiger Sicht von Interesse sein kann. Das ergibt sich zunächst daraus, dass die Neuplatoniker – vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte der Philosophie – den Geist bzw. das rationale Leben anhand der Fähigkeit zur Selbstzuwendung und Selbsterkenntnis charakterisierten und daher den gerade geschilderten Problemkomplex des Selbstbezuges detailliert beschrieben und untersuchten31. Weil sie dabei den Geist, wie sich bereits im ersten Teil dieser Arbeit gezeigt hat, nicht nur als Phänomen ganz eigener Art behandelten, sondern auch diskutierten, inwieweit es einen menschlichen Geist als den Verstand eines körperlich verfassten Lebewesens geben kann, liegt auch das Problem menschlicher Personalität, insofern es wesentlich mit der Frage nach dem menschlichen Selbstbezug zusammen ist, durchaus im Horizont der Neuplatoniker, selbst wenn diese die moderne Terminologie selbstverständlich noch nicht kannten und verwendeten. Diese Einschätzung der neuplatonischen Geistlehre macht diese schon deswegen zu einer Besonderheit, weil ausgearbeitete Theorien eines durch Selbstbezug wesentlich gekennzeichneten menschlichen Verstandes weder in der Geschichte der Philosophie noch in der heutigen Debatte eine Selbstverständlichkeit sind. Als historische Beispiele drängen sich auf der christliche Neuplatoniker Augustinus, die deutsche Dominikanertradi-
_____________ 31 Vgl. die Bemerkungen von A.H. Armstrong und E.R. Dodds zu Schwyzer 1960, 379. 385.
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tion des 14. Jahrhunderts (Meister Eckhart, Dietrich von Freiberg, Berthold von Moosburg), Nikolaus von Kues, Kant und die ihn weiterführende Diskussion der Klassiker des deutschen Idealismus (Fichte, Hegel, Schelling) sowie die Philosophie des frühen 20. Jahrhunderts, namentlich Husserls Phänomenologie. Diese sicherlich unvollständige, aber trotzdem bemerkenswert kurze Liste zeigt, dass die reflexive Konstitution geistiger Subjekte keineswegs ein allgegenwärtiges Thema philosophischen Nachdenkens war. Daran hat sich im Prinzip bis heute nicht allzu viel geändert. Die eben kurz geschilderte, an Beiträgen reiche Diskussion in der analytischen Philosophie ist meist auf wenige, recht spezielle Fragen beschränkt und behandelt etwa das Verhältnis von Geist und Natur oder die Frage nach der Konstitution der Person häufig in voneinander isolierter Weise. Die detaillierten analytischen Diskussionen zum Selbstbewusstsein haben infolgedessen oft gar nicht die Absicht, eine Theorie geistigen Daseins zu schaffen, die die bis jetzt geschilderten Probleme im Zusammenhang behandelt. Wenn heute gefragt wird, wie sich geistiges von physischem Sein abhebt, wird die Frage nach der inneren Struktur des Seelischen häufig gar nicht erst gestellt. Einschränkungen ganz anderer Art sind dort gegeben, wo das „Selbstbewusstsein“, wie oben angesprochen, ausschließlich nach dem genannten Reflexionsmodell thematisiert wird, so dass eigentlich nur nach einer Beschreibung des unmittelbaren Gegebenseins des Selbst gesucht wird, nicht nach einer Analyse des gesamten Problembestands menschlichen Selbstbezugs und seiner Bedeutung für die Personalität32. Kurz: Was Selbstbezug mit der Person zu tun hat, bleibt in allen diesen Ansätzen unklar. Wenn ich im Folgenden versuche, aus den &G CPKOC-Kommentaren, und zwar insbesondere aus Priskian, Elemente einer Theorie menschlichen Selbstbezugs zu gewinnen, dann wird besonders zu prüfen sein, inwieweit es den Neuplatonikern gelingt, die hieran noch einmal deutlich werdenden vielfältigen Elemente menschlichen Selbstbezugs einheitlich und sinnvoll zu deuten. Erst am Gelingen oder Misslingen eines solchen Versuches lässt sich ermessen, wie die philosophische Leistung der neuplatonischen Philosophie des Geistes aus heutiger Perspektive zu bewerten ist.
_____________ 32 S. o. S. 300.
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3. Zum weiteren Vorgehen Die folgenden Überlegungen sind freilich nicht nur von einer systematischen Fragestellung motiviert. Vielmehr sind sie insofern eine Fortsetzung des ersten Hauptteils der Arbeit, als die besondere Bedeutung der Frage nach dem Selbstbezug für die Begründung des neuplatonischen Standpunkts sich dort bereits herauskristallisiert hat. Daher stellt dieser zweite Hauptteil den systematischen Hintergrund der enger am Text erfolgenden Analyse im ersten Teil dar. Auch die Beschränkung der folgenden Überlegungen auf die Konzeption in Priskians &GCPKOC-Kommentar ergibt sich aus einigen Resultaten, die im ersten Teil dieser Arbeit erzielt wurden: 1. Von den behandelten &GCPKOC-Kommentatoren ist Priskian der einzige, in dessen Werk sich eine weitgehend konsistente, systematisch durchdachte Theorie der menschlichen Seele und des menschlichen Geistes findet. Nur auf einer solchen einheitlichen Grundlage lässt sich aber ein Bild zeichnen, dessen philosophische Leistungsfähigkeit argumentativ nachvollzogen und überprüft werden kann. 2. Priskians Theorie stellt auch innerhalb der neuplatonischen Anthropologie einen eigenen Standpunkt dar, der sich sowohl von Plotin als auch von Proklos durch seine Annahme einer essentiellen Wandelbarkeit der gesamten menschlichen Seele unterscheidet. Wir finden hier nicht eine Schulmeinung vor, sondern eine Position, die das Ergebnis einer eigenständigen Reflexion ist und im neuplatonischen Kontext ernst genommen zu werden verdient. 3. Da für diese Theorie neben der jamblichischen Tradition auch die Anforderungen, die der kommentierte Text stellt, eine wichtige Grundlage waren, haben wir in Priskian einen Zeugen für die systematische Bedeutung der Aristoteles-Rezeption, die für die philosophische Zielsetzung, wie sie in der Einleitung dargelegt wurde33, von besonderer Bedeutung ist. Trotz dieser Orientierung an Priskian wird dieser aber nicht die einzige Quelle für die folgenden Ausführungen darstellen: Denn trotz seiner Originalität darf man nicht vergessen, dass es sich bei seinen Aussagen um eine antike neuplatonische Position handelt. Ohne diesen Hintergrund lassen sie sich nicht verstehen und auch nicht kritisch würdigen. Denn das setzt voraus, dass man sich über die argumentativen Grundlagen und die philosophischen Intentionen des antiken Neuplatonismus und über seine Analyse des menschlichen Geistes als ganzer Rechenschaft ablegt. Diese
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argumentativen Grundlagen finden sich im Wesentlichen bereits beim Begründer des Neuplatonismus, bei Plotin, dessen Überlegungen zum Selbstbewusstsein des Geistes den Ausgangspunkt und den Problemhorizont für die Auseinandersetzung mit Priskian bilden. Vor dem Hintergrund seiner Gedanken und im Anschluss an eine Nachzeichnung der spätantiken Diskussion lassen sich dann die von Priskian auch selbst angemerkten Unterschiede zu Plotin angemessen würdigen. Das wird entsprechend der systematischen Schwerpunkte in zwei Kapiteln geschehen, wobei 1. Priskians Überlegungen zu den verschiedenen Phänomenen menschlichen Selbstbezugs dargestellt und 2. deren Konsequenzen für eine Theorie der Personalität untersucht werden sollen. Die behandelten Themen sind dabei zwangsläufig gelegentlich dieselben wie bei der Analyse seines Kommentars, doch während dort die im Text genannten Elemente der Anthropologie mit einer gewissen Vollständigkeit und Textnähe wiedergegeben werden sollten, kommen im Folgenden nur die Aspekte zur Sprache, die für die Erklärung von Selbstbezug und Personalität von Bedeutung sind. Dabei gibt die sachliche Notwendigkeit und nicht der textliche Bestand die Reihenfolge der behandelten Themen vor. Wo dabei bereits angesprochene Themen wieder aufgegriffen werden, wird zumindest der Versuch einer Vertiefung unternommen.
B. Plotins Lehre von der Selbsterkenntnis und ihre Veränderung im späten Neuplatonismus 1. Plotins Beschreibung der Selbsterkenntnis des Geistes Die philosophische Untersuchung des menschlichen Selbstbezugs hängt zu einem nicht unwesentlichen Teil an der Frage nach der Möglichkeit und Leistungsfähigkeit von Selbsterkenntnis1. Dies ist jedenfalls die feste Überzeugung der antiken Neuplatoniker. Deren Verständnis von Selbsterkenntnis als einer direkten, aber nicht schlechthin einfachen Rückwendung zu sich selbst, wie es sich in zahlreichen Zeugnissen findet und auch als Grundlage des ontologischen Status des Menschen dient2, geht wie die meisten neuplatonischen Lehren auf Überlegungen Plotins zurück. Eine Auseinandersetzung mit seinem Argument zur Möglichkeit von Selbsterkenntnis ist daher der Schlüssel zu einer systematischen Würdigung der
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Schwyzer 1960, 363-367 unterscheidet zwischen „Selbsterkenntnis“ und „Selbstbewusstsein“ bei Plotin. Vgl. auch Horn 2003, 81-85. Exemplarisch bei Procl. elem. 15f. (17, 30-18, 20). Weiteres s. o. S. 59-63.