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German Pages 525 [528] Year 1995
Sebastian Franck Paradoxa
Sebastian Franck
PARADOXA Herausgegeben und eingeleitet von Siegfried Wollgast
2., neubearbeitete Auflage
Akademie Verlag
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Franck, Sebastian: Paradoxa / Sebastian Franck. Hrsg. und eingeleitet von Siegfried Wollgast. - 2., neubearb. Aufl. - Berlin : Akad. Verl., 1995 ISBN 3-05-002608-1
© Akademie Verlag GmbH, Berlin 1995 Der Akademie Verlag ist ein Unternehmen der VCH-Verlagsgruppe. Gedruckt auf chlorfrei gebleichtem Papier. Das eingesetzte Papier entspricht der amerikanischen Norm ANSI Z.39.48-1984 bzw. der europäischen Norm ISO TC 46. Alle Rechte, insbesondere die der Übersetzung in andere Sprachen, vorbehalten. Kein Teil dieses Buches darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form - durch Photokopie, Mikroverfilmung oder irgendein anderes Verfahren - reproduziert oder in eine von Maschinen, insbesondere von Datenverarbeitungsmaschinen, verwendbare Sprache übertragen oder übersetzt werden. Lektorat: Peter Heyl Satz: Hans Herschelmann Druck und Bindung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, Bad Langensalza Printed in the Federal Republic of Germany
Inhalt
Einleitung des Herausgebers Faksimile des Titelblattes der Ausgabe von 1542 Paradoxa Anhang Abkürzungsverzeichnis der biblischen Bücher Bibelstellenverzeichnis Namen- und Titelverzeichnis Verzeichnis der der deutschen Paradoxa-Titel
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Einleitung
Die deutsche Reformation des 16. Jahrhunderts ist untrennbar mit dem Namen Martin Luthers verknüpft. Die jahrhundertelange Prägung des Geschichtsbildes dieser Zeit durch protestantische Theologen hat Luther ungerechtfertigt zum alleinigen Zentralpunkt der Reformation werden lassen. Dementsprechend wurden der Große Deutsche Bauernkrieg, Thomas Müntzer und andere wichtige Ereignisse und Personen vornehmlich von Urteilen Luthers ausgehend betrachtet. Dabei wurde eine Reihe von Denkern besonders abwertend behandelt, die Luther verächtlich als „Enthusiasten" und „Schwarmgeister" abtat. Zu ihnen gehört neben Caspar von Schwenckfeld, Andreas Rudolf Bodenstein von Karlstadt und anderen vor allem Sebastian Franck. Francks historische Arbeiten werden noch von Spezialisten zur Erforschung der Frühen Neuzeit, vornehmlich in Deutschland, genutzt. Seine philosophischen Arbeiten, die zu seiner Zeit großes Aufsehen erregten, sind hingegen weitgehend der Vergessenheit anheimgefallen. 1 Wenn wir hier Francks philosophisches Hauptwerk neu herausbringen, so nicht nur aus Pietät gegenüber einem vergessenen Denker. Diese Arbeit soll uns vielmehr helfen, das Bild der Renaissance und der Reformation exakter zu fassen und den Anhängern der plebejischen Fraktion, zu der Franck zu zählen ist, den ihnen gebührenden Platz bei der Bestimmung dieser Epoche einzuräumen. Das macht zunächst einen kurzen Überblick über Francks Lebensgang erforderlich. 1
Noch Ludwig Büchner zitiert allerdings Franck als einen Kronzeugen für seine materialistische Auffassung von der „Unsterblichkeit des Stoffs" (vgl. L. Büchner, Kraft und Stoff. Empirisch-naturphilosophische Studien, in: Vogt, Moleschott, Büchner, Schriften zum kleinbürgerlichen Materialismus in Deutschland, hrsg. und eingel. von D. Wittich, Bd. 2, Berlin 1971, S. 361.
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Zum Entwicklungsgang Sebastian Francks Friedrich Engels kennzeichnete die Renaissance als eine Zeit, die „Riesen brauchte und Riesen zeugte. Riesen an Denkkraft, Leidenschaft und Charakter, an Vielseitigkeit und Gelehrsamkeit."2 Zu diesen Männern ist auch Sebastian Franck zu zählen. Lange vor Spinoza, Bayle und Voltaire forderte er Gedankenfreiheit und Toleranz. Erstaunliche Belesenheit und wissenschaftliche Produktivität zeichnen ihn aus. Er ist der erste große Historiker und Geschichtsphilosoph Deutschlands. Von Franck stammt die erste allgemeine Geographie in deutscher Sprache. Er liefert die erste und einzige zeitgenössische objektive Würdigung der Täufer. Auf philosophischem Gebiet setzt er die progressive Linie der Mystik fort, reichert sie mit humanistischen und rationalistischen Elementen an und bewahrt die aus der Mystik des 13. und 14. Jahrhunderts übernommene dialektische Tradition. Erbittert kämpft er gegen die mittelalterliche und die neu aufkommende protestantische Scholastik. In all seinen Schriften erweist er sich als Prosaist und Sprachkünstler ersten Ranges, der Luther durchaus gleichkommt. Obwohl Franck wegen seiner weltanschaulichen Haltung verfolgt und verketzert wurde, blieb er sich und seinen Auffassungen stets treu. Vertrieben, gehetzt, mit Berufsverbot belegt, mit Not und Elend kämpfend opfert er dennoch nichts von seinen Überzeugungen. Sebastian Franck wurde im Jahre 1499 in der damaligen Freien Reichsstadt Donauwörth geboren. Von seiner Familie wissen wir lediglich, daß ein Bruder seines Vaters als Gastwirt in Nördlingen lebte. Hier besuchte Franck die Lateinschule. Von 1515 bis 1517 studierte er an der Universität Ingolstadt. Am 15. Dezember 1517 promovierte er zum baccalaureus in artibus, erhielt somit die unterste akademische Würde. Anfang 1518 verließ er Ingolstadt, um in dem der Universität inkorporierten Heidelberger Dominikanerkolleg Theologie zu studieren. Hier wurde er wohl am 25. April 1518 Zeuge der bekannten Disputation im Augustinerkolleg, wo in Luthers Anwesenheit einige lutherische theologische und philosophische Thesen, besonders über die menschliche 2
F. Engels, Dialektik der Natur, in: K. Marx/F. Engels, Werke, Bd. 20, Berlin 1962, S. 312.
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Unfreiheit und die Gnade, verteidigt wurden. Zu Francks Kommilitonen in Heidelberg gehörten unter anderem Johannes Brenz (1494-1570), Martin Bucer (1491-1551) und Martin Frecht (1494-1556). Die beiden letzteren sollten Francks erbitterte Gegner in seinem letzten Lebensjahrzehnt werden. Dauer und einzelne Gegenstände von Francks Studien in Heidelberg sind uns nicht bekannt. Jedenfalls war er nach deren Abschluß geweihter katholischer Priester im Bistum Augsburg. Auch über den Zeitpunkt seiner Weihe, den Ort seines Wirkens und den Zeitpunkt der Aufgabe des katholischen Glaubens fehlen uns jegliche Nachrichten. Über Francks Haltung im Bauernkrieg wissen wir nichts. Die Annahme liegt aber nahe, daß er ihn aus nächster Nähe miterlebt hat. Ein Brief vom 3. April 1526 weist Franck als evangelischen Prädikanten in Büchenbach (heute Kreis Roth, damals Markgrafschaft Brandenburg-Ansbach) aus. Im folgenden Jahre oder 1528 wurde Sebastian Franck Frühmessner in Gustenfelden (heute auch zum Kreis Roth gehörig). Hier Schloß er im März 1528 die Ehe mit Ottilie Beheim (gest. 1540), der Schwester von Barthel (1502-1540) und Hans Sebald Beheim (1500-1550). Die Brüder Beheim, gemeinsam mit Georg Pencz (um 1500-1550) als die „gottlosen Nürnberger Maler" bekannt, waren mit dem Täuferführer Hans Denck (um 1500-1527) befreundet. 3 Im gleichen Jahre beginnt Francks schriftstellerisches Wirken. Er übersetzt zunächst die „Diallage" des Andreas Althamer (um 1500-um 1539), damals Pfarrer in Eltersdorf bei Nürnberg, später lutherischer Reformator, ins Deutsche. Althamer hatte 100 sich einander widersprechende Bibelstellen gegenübergestellt und die Widersprüche durch Anführung weiterer Stellen zu lösen versucht. 4 Insgesamt richtet sich Althamers Text gegen Denck. Franck verfaßt zu Althamers Schrift viele Zusätze und eine lange 3 Die genannten Maler waren Antitrinitarier. So erklärte Barthel Beheim: er kenn keynen christum. wisz nichts von Ime zu sagen, sey Ime eben, alls wan er höre von herczog ernsten sagen der In berg gefahren soll sein." (Zit. nach: Th. Kolde, Zum Prozeß des Johann Denk und der „drei gottlosen Maler" von Nürnberg, in: Kirchengeschichtliche Studien. Hermann Reuter zum 70. Geburtstag gewidmet, Leipzig 1888, S. 246.) 4 A. Althamer, Diallage, hoc est, conciliatio locorum scripturae, qui prima facie inter se pugnare uidentur, Nürnberg 1527. Vgl. Th. Kolde,
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Vorrede. Schon in dieser Arbeit deutet sich Francks Kritik an der Reformation an, bereits hier erweist sich seine kritische Natur. Er geht dabei stets von Luthers Argumenten aus. Stellen wir Francks Leben bis zu diesem Zeitpunkt in den Rahmen des allgemeinen gesellschaftlichen Geschehens in Deutschland. Es war eine revolutionäre Zeit. Deutschland war zu Beginn des 16. Jahrhunderts ein Feudalland. Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung, die feudal-abhängigen Bauern, wurde unterdrückt. Noch nahm Deutschland hinsichtlich der Welthandelswege eine außerordentlich günstige Stellung ein, wenngleich sich die infolge der großen geographischen Entdeckungen herausbildenden Veränderungen bereits ankündigten. Besonders Augsburg, Nürnberg und einige Rheinstädte waren noch wichtige europäische Handelszentren. In der Silbergewinnung - Silber war das wichtigste Tauschmittel jener Zeit - nahm Deutschland den ersten Platz in der Welt ein. Das Aufblühen der Warenproduktion in den Städten führte zu einem Aufschwung in der Landwirtschaft, aber aus verschiedenen Ursachen hatte dies im deutschen Dorf eine Verstärkung, des feudalen Jochs zur Folge. In der Stadt hingegen bildeten sich kapitalistische Elemente heraus, für deren Entwicklung besonders die Rolle der großen Handels- und Wucherfirmen (Fugger, Welser) von Bedeutung war. Insgesamt jedoch war Deutschland wirtschaftlich zersplittert. Entsprechend war Deutschlands politische und soziale Struktur. Zum Deutschen Reich gehörten damals fast tausend selbständige territoriale Gebilde. Die Macht der Zentralgewalt, des deutschen Kaisers, war äußerst gering. Die Rolle der Einzelfürsten nahm zu. Die ökonomische und politische Zersplitterung Deutschlands hemmte die Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse. Alle Schichten der Bevölkerung (außer der hohen Geistlichkeit) waren aus unterschiedlichen Gründen mit den bestehenden sozialen Verhältnissen unzufrieden. Die Opposition der Bauern und der Plebejer fand in revolutionären Bewegungen wie dem „Bundschuh" ihren Ausdruck. Das radikale Bürgertum ver-
Andreas Althamer, der Humanist und Reformator in Brandenburg-Ansbach, Erlangen 1895; Neue Deutsche Biographie, Bd. I, Berlin 1953, S. 219.
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langte, die Realisierung des antifeudalen Programms mit einer Reichsreform zu verbinden. Ausdruck hierfür war das populäre, weitverbreitete anonyme Pamphlet „Das Buch der hundert Kapitel und vierzig Statuten", das ein unbekannter „Oberrheinischer Revolutionär" zwischen 1498 und 1510 verfaßt hat. Zur allgemeinen feudalen Ausbeutung in Deutschland gesellte sich noch die Ausplünderung Deutschlands durch den römischen Klerus. Handel mit Pfründen und Ablaßhandel breiteten sich in unerträglichem Maße aus. In dieser Situation wirkte Martin Luthers Anschlag der 95 Thesen an der Schloßkirche zu Wittenberg wie ein Fanal. Dieses Ereignis vom 31. Oktober 1517, gegen den Mißbrauch einiger Formen des Ablaßhandels und einige Prinzipien der damaligen katholischen Kirche gerichtet, 5 wurde vom frühbürgerlichen Deutschland, zum Erstaunen Luthers selbst, zum Ausgangspunkt der Reformation genommen. Für einige Jahre - bis 1520 - wurde Luther zum anerkannten Führer der in religiöse Form gekleideten „frühbürgerlichen Revolution". Sehr bald jedoch verband er sich mit den Fürsten und bekämpfte in deren Interesse eine radikale, konsequente Entwicklung der reformatorischen Bewegung. Thomas Müntzer (um 1489-1525) hingegen, den auch die Täufer unterstützten, wurde zum Interessenvertreter der Bauern und Plebejer. Am großen deutschen Bauernkrieg schieden sich die Geister. Luther rief zur brutalen Vernichtung der radikalen Opposition auf. Müntzer und seine Anhänger wurden geschlagen. Blutige Repressalien, Massenhinrichtungen von Bauern und Haftstrafen waren die direkte Folge der Niederlage. Der Prozeß der Verstärkung des feudalen Jochs der Bauern entwickelte sich nunmehr ungehindert. Die nach der Niederschlagung des Bauernkrieges angewachsene Fürstenwillkür drückte Deutschland in seinem wirtschaftlichen Entwicklungsniveau unter den Stand, den es zu
5 These 71: „Wer gegen die Wahrheit des apostolischen Ablasses spricht, der sei verworfen und verflucht. 72. Aber wer gegen Zügellosigkeit und Frechheit der Worte der Ablaßprediger auftritt, der sei gesegnet." (Die 95 Thesen Martin Luthers, hrsg. und übers, von J. Ludolphy, Berlin 1967, S. 25; Original in: Martin Luther, Werke. Weimarer Ausgabe, Bd. 1, Weimar 1883, S. 229ff.)
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Beginn des 16. Jahrhunderts erreicht hatte. Der stürmische revolutionäre Aufschwung wurde von dunkelster Reaktion abgelöst. Die universelle Macht der katholischen Kirche war im Gefolge der Reformation gebrochen worden. Die Mehrzahl der deutschen Gebiete wurde zunächst protestantisch. Aber die neuen evangelischen Landeskirchen gingen über das Prinzip einer „wohlfeilen" bürgerlichen Kirche nicht hinaus. Der Reichstag zu Speyer (1526) räumte zudem den Fürsten das Entscheidungsrecht über die Glaubenszugehörigkeit ihrer Untertanen ein. Das Luthertum selbst wurde sehr bald engstirnig und doktrinär. Von seinen ursprünglichen Elementen war nur sehr wenig Übriggeblieben. Eine neue, eine protestantische Scholastik bildete sich heraus, die bis zum 18. Jahrhundert in Ausmaß und Erscheinungsformen durchaus der spätmittelalterlichen gleichkam. Alle revolutionären Geister hatten von der Reformation eine grundlegende Wende erwartet. So auch Franck. Seiner Enttäuschung über die eingetretene Entwicklung gibt er durch Aufgabe seines geistlichen Amtes Ausdruck. Spätestens 1529 verläßt er Gustenfelden und geht nach Nürnberg. Von nun an führt er vorwiegend das unsichere Leben eines freien Schriftstellers. Noch in Gustenfelden soll Franck 1528 die Schrift „Von dem greulichen Laster der Trunckenheyt" herausgebracht haben. Wir wissen aber nur von einer Ausgabe von 1531. Der Alkoholmißbrauch gilt in dieser Zeit als ein Kennzeichen der Deutschen der verschiedensten Stände, und nicht wenige Zeitgenossen (Martin Luther, Ulrich von Hutten u. a.) nahmen dagegen Stellung. In Nürnberg übersetzte Franck zunächst „Klagbrief oder Supplication der armen Dürftigen in England" (1529). Es ist dies eine an den englischen König gerichtete Beschwerde über die reichen geistlichen Bettler, d. h. den katholischen Klerus.6
6 In den biographischen Angaben folge ich vor allem: S. Wollgast, Der deutsche Pantheismus im 16. Jahrhundert. Sebastian Franck und seine Wirkungen auf die Entwicklung der pantheistischen Philosophie in Deutschland, Berlin 1972, S. 62-112; St. E. Ozment, Sebastian Franck. Kritiker einer „neuen Scholastik", in: Radikale Reformatoren. 21 biographische Skizzen von Thomas Müntzer bis Paracelsus, hrsg. von H.-J. Goertz, München 1978, S. 201-209; Chr. Dejung, Sebastian Franck,
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Die Freie Reichsstadt Nürnberg war zur Zeit von Francks Aufenthalt noch immer ein ökonomischer und geistiger Mittelpunkt. Sie war unter anderem das bedeutendste Zentrum des metallbearbeitenden Handwerks. Nürnberg war eine der ersten deutschen Städte, in denen die humanistische Bildung eine Heimstatt finden sollte. Hier wirkten in den 20er bzw. 30er Jahren des 16. Jahrhunderts Albrecht Dürer (1471-1528), Hans Sachs (1496-1576), Wilibald Pirckheimer (1470-1530), Philippus Aureolus Paracelsus (eigentl. Theophrastus Bombastus von Hohenheim; 1493/94 -1541) und andere hervorragende Geister. Hier hatten Thomas Müntzer und Hans Denck bleibende Spuren hinterlassen. In dieser auch für den Buchhandel und den Buchdruck bedeutsamen Stadt gibt Sebastian Franck 1530 „Cronica, Abkonterfyung und entwerffung der Türckey" heraus. In dieser Bearbeitung und Übersetzung eines um 1480 - lange nach der Niederschrift - erschienenen lateinischen Werkes 7 gibt Franck in einem Anhang schon einen wichtigen Hinweis auf seine inzwischen erworbene neue Welt- und Religionsauffassung: „Weyter seind zu vnsern zeyten drey fürnemlich glauben auffgestanden / die grossen anhang haben / als Lutherisch / Zwinglisch / vnd Taufferisch / der vierd ist schon auff der ban / das man alle eusserlich predig / Ce-
in: Bibliotheca dissidentium. R6pertoire des non-conformistes religieux des seizifeme et dix-septiöme sifecles. Ed. par A. Seguenny, Τ. VII, BadenBaden 1986, S. 39-119. 7 Es handelt sich um den „Tractatus de moribus, condicionibus et nequitia Turcorum". Von dem aus Siebenbürgen stammenden Dominikaner Georg von Ungarn verfaßt, gibt er erstmals zuverlässige Nachricht über Leben und Sitten im Osmanischen Reich. Diese Übersetzung, die mehrere Auflagen erlebte, war für die Zeitgenossen u. a. deshalb von großem Interesse, weil die Türken 1529 vor Wien standen. Nach B. Capesius (Sebastian Francks Verdeutschung des „Tractatus de ritu et moribus Turcorum", in: Deutsche Forschung im Südosten, Hermannstadt/Sibiu, 3 (1944) Η. 1) sind 18 % dieser Übersetzung Zusätze Francks, 9 % stark verändert. Vgl. R. Klockow, Theologie contra Erfahrung: Die Argumentationsstruktur des .Tractatus de moribus, condicionibus et nequitia Turcorum' des Georg von Ungarn, in: Zeitschrift für Balkanologie, Wiesbaden, 25 (1989), S. 60-75.
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remoni / Sacrament / ban / berüff / als vnnoetig / wil auß dem weg räumen / vnd glat ein vnsichtpar geystlich kirchen in ainigkeyt des geyst vnd glauben versamlet / vnter allen voelckern / und allein durchs ewig vnsichtbar wort / von Got on ainich eusserlich mittel regiert / wil anrichten / als sey die Apostolisch kirch bald nach der Apostel abgang / durch den grewel verwuest / gefallen / vnd seind zü mal geferlich zeyt". 8 Um die Jahreswende 1529/30 verläßt Franck aus unbekannten Gründen Nürnberg. Sein späterer Ulmer Hauptgegner, Martin Frecht, deutet allerdings an, dieser Abschied sei nicht zufällig gewesen, sondern durch Francks Beziehungen zu den Täufern mitveranlaßt. Franck wendet sich nach Straßburg. Dies war damals eine sozial stabile Stadt, zugleich eine Zufluchtstätte für Mittellose und für die ansonsten allerorts verfolgten Täufer. Hier lernte Franck auch den von ihm höchlichst geschätzten Täufer und Spiritualisten Johannes Bünderlin (Johann Wunderle; Johann Fischer; um 1500-nach 1540) und den Antitrinitarier Michael Servet (1511-1553) kennen. In Straßburg erschien 1531 Francks „Chronica, zeitbuch vnnd geschichtbibell". Der erste Teil umfaßt die Zeit von Adam bis Christus. Hierfür ist neben dem Alten Testament die zu Francks Zeit bekannte antike Geschichte Grundlage. Der zweite Teil, die sogenannte Kaiserchronik, beginnt bei Jesus und führt über die römischen Kaiser bis zu Kaiser Karl V., also in Francks Gegenwart. Der dritte Teil der Chronik umfaßt die „Chronica der Bäpst vnd Geystlichen händel" von Petrus bis Clemens VII. (1523-1534). Breiten Raum nimmt in diesem Teil die Ketzerchronik ein. Franck bekennt: „... sollt ich urteilen / ich würde villeicht das spiel umbkören und deren vil canonisiren (von den Ketzern - S. W.) / und in der heyligen zal setzen / die hie für ketzer außgerufft / von Gott außgemustert / verstürtzt / vnd
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S. Franck, Chronica vnnd beschreibung der Türckey mit yhrem begriff / ynnhalt / prouincien / völckern / ankunfft / kriegen / reysen / glauben / religionen / gesatzen / sytten / geperden / weis / regimenten / frümkeyt / vnnd boßheiten ..., in: S. Franck, Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe mit Kommentar, Bd. 1: Frühe Schriften. Text-Redaktion P. K. Knauer, Bern u. a. 1993, S. 304.
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dem Teufel überliuert werden / dan gar vil theur leut / seind hie mit dem romigen (rußigen - S. W.) kessel des Papsts beschmeißt / die ich der untödtlichkeit wirdig acht." 9 Die Darstellung der Täufer ist ob ihrer Objektivität bewundernswert. Entschiedene Angriffe richtet Franck gegen die katholischen Orden. Er überschüttet sie mit Hohn und Spott. Tempel, Heiligen Verehrung, Bilderanbetung und Messe werden als wider die Schrift und den Brauch der Urkirche dargestellt. Franck ist einer der ersten, der Petrus' Wirken als Bischof und seinen Märtyrertod - und damit die Grundlagen des ganzen Papsttums - bestreitet. Franck fordert vom Historiker, das Eigentliche, das Wesen in der individuellen Erscheinung mit geschichtlicher Treue darzustellen. Charakteristisch ist sein durchgängiges Streben nach Objektivität. Der Inhalt der „geschichtbibell" ist Anlaß für den Beginn der Verfolgungen Francks. Der Rat der Stadt Straßburg läßt ihn ob dieses Buches in den Turm werfen und weist ihn aus der Stadt. Fast alle Parteien fühlten sich durch dieses Werk vor den Kopf gestoßen: Franck fordert für jedermann das Recht der freien Meinung über göttliche und menschliche Dinge, Absage an allen Zwang, der Staat wird als weltliches Papsttum und „eitel Tyranney" gekennzeichnet. Die Bibel wird anderen Büchern gleichgestellt und ihres Vorranges entkleidet. Franck setzte an die Stelle einer unbedingten Hingabe des Verstandes an die Autorität der Bibel, wie sie die lutherische Reformation unter Aufgabe des Sola-fide-Prinzips in wachsendem Maße forderte, die Geschichte - daher auch der Titel „geschichtbibell". Die Geschichte ist für Franck die größte Lehrmeisterin der Menschheit. Mit Ingrimm wendete er sich gegen den Prunk und die Geldgier der Päpste, Bischöfe und Pfaffen, gegen Lehen und Ablässe, gegen die Spitz-
9 S. Franck, Chronica, zeitbuch vnnd geschichtbibell von anbegyn bis in diss gegenwertig MDCXXXVI. iar verlengt / Darinn bede Gottes vnd der weit lauff / händel / ort / wort / werck / thun / lassen / kriegen / wesen / vnd leben ersehen vnd begriffen wirdt ..., Ulm Anno MDCXXXVI (Reprint Darmstadt 1969), S. 334 R. Von der ersten Auflage von 1531 weicht diese im Typographischen ab, ist in Einleitung und Schluß erweitert und in wesentlichen Formulierungen abgeschwächt.
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findigkeiten des kanonischen Rechts. Er weist darauf hin, welchen ungeheuerlichen Raub am Besitz der deutschen Nation die katholische Kirche durch die Zehnten, Palliengelder, Feste, Orden, den Ablaß usw. begangen hat. Der - von Luther besonders in der Schrift „Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei" (1523) betonte - Gedanke eines christlichen Staates ist für Franck eine contradictio in adjecto. Immer wieder wendet er sich scharf gegen die Fürsten und ihre Räte und Schmeichler, die er unter anderem als „Heuchler, Ohrenklauber, Zungendrescher" bezeichnet. Der Adel sei aus nichtsnutzigen Kreaturen entstanden, die sich mit Liebedienerei und roher Gewalt emporgeschwungen und durch Hilfestellung bei allen Schandtaten der Fürsten unentbehrlich gemacht haben. Die Adligen saugten dem armen Mann das Blut aus. Sie seien gewalttätig, roh und schlimme Heuchler. Der gute Fürst wird für eine Erfindung der Philosophen erklärt. In der Vorrede zum zweiten Teil der „geschichtbibell" wird eine Untersuchung darüber angestellt, weshalb die Fürsten gerade zumeist den Adler - das räuberischste, blutrünstigste und gefräßigste Tier - als Wappentier erwählen. 10 Diese Stelle rief unter 111 „Weyl die Keyser ein Adler füren und wir yetz von den Keysern zu sagen Vorhand haben, wil ich des Adlers natur und eygenschafft, darbey der Keyser, Fürsten und herrn leben, hoff, hoffgesind etc. abconterfeit und anzeygt wirt, erzölen ... Dann etlich ander vögel / seind von natur zam un sitsam / Ettlich seind wild und ungezoge werde doch mit kunst und Übung gewent und heimlich / allein der Adler ist zu einicher zucht nicht düchtig / mag auch mit keyner Übung gezämpt oder heimlich gemacht werde / Und obwohl sechs geschlecht der Adler / von Plinio und and'n werden erzelt / so haben sy doch den krumen zugreiffenden schnabel / und scharpffen pfaten allgmein / also dz man auch auß jrer gestalt und proportz des leibs abnemen mag / dz der fleischfressend vogel / des frides hässig un feindselig / gleichsam zurauben / morden / streite / geborn ist / un gleichsam als sei es dem blutgirigen vogel zuwenig / dz er von der and'n vögel blut und fleysch lebt... Sprichstu heimlich / mein leser, wz sol dise bildnus / od' vogel zum künig / des eyge lob sein sol guttigkeyt / senfftmut / dz er niemant wöll / wie fast er müg / schaden / un allein on angel sei / ja sich gantz in des volks nutz verzere un der in suma mer der best dan / der gröst sei / Diß muster eins Fürsten / von philosophen ent-
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anderem Ferdinand I. auf den Plan, der sich bei seinem Bruder Karl V. über diese Chronik beschwerte. Herzog Georg von Sachsen und Albrecht von Brandenburg, Erzbischof von Mainz, verboten die „Chronica" in ihren Ländern. Alle späteren Angriffe und Gegenschriften an die Adresse Francks richten sich - neben den „Paradoxa" - hauptsächlich gegen die „geschichtbibell". Wieweit sich Francks philosophische Auffassungen bis zu dieser Zeit entwickelt hatten, bezeugt sein Brief vom 4. Februar 1531 an Johannes Campanus (um 1500-um 1575), einen Täufer vom Niederrhein. In den verschiedenen Zeiten haben progressive Denker ihrer Auffassung in Briefen und persönlichen Äußerungen anderer Art offener als in zum Druck vorgesehenen Schriften Ausdruck gegeben. Dies gilt auch für Franck. Für ihn hat nach diesem Brief die Kirche mit dem Aussterben der Apostel ihre äußerliche Gestalt endgültig verloren. Jetzt existiere sie nur dem Geiste nach, und dies sei ihre eigentliche Existenzform. Eine Wiederherstellung ihrer äußerlichen Gestalt hält Franck für unnütz, womit er die ganze Reformation weitgehend in Frage stellt. Der Kirchenbegriff wird so ausgedehnt, daß er zugleich Christen wie Heiden umfaßt. Der wahre Glaube komme durch das innere Licht und brauche nichts von Christus zu wissen. Eindeutig bekennt sich Franck hier zum Antitrinitarismus. Er schreibt: „Der Spanier (Michael Servet - S. W.) ... behauptet nur eine Person Gottes in seinem Büchlein („De trinitatis erroribus", 1531 - S.W.), nämlich die des Vaters, den er den Geist an sich oder den eigentlichen Geist nennt, und er sagt, daß keiner von den beiden andern eine Person ist. Die römische Kirche behauptet drei Personen in einem
worffen / ist gleich wol lobs wert / weiß aber nicht / ob solch Fürsten den gemeinen nutz in der Stadt Piatonis handthaben und administriren / ja in den Chronicken findt man kaum ein oder zwen / den du zu disem exemplar darffst behalten." (S. Franck, Chronica, zeitbuch vnnd geschichtbibell . . . , o . O. 1531, fol. 119a; vgl. Ausgabe 1536, a. a. 0 . , S . 156a: ohne die ersten Zeilen.) Vgl. W. Kühlmann, Die Vorrede vom Adler in Sebastian Francks Geschichtsbibel (1531), in: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch. NF, Berlin, 24 (1983), S. 51-76.
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Wesen. Ich möchte es lieber mit dem Spanier halten."" Der Antitrinitarismus ist im ganzen 16. und 17. Jahrhundert ein Banner der fortschrittlichen theologischen Kräfte und in seiner Fortentwicklung zum rationalistisch gefärbten Sozinianismus ein Bindeglied zum englischen Deismus. Der Mystiker des Mittelalters wandte der Infragestellung der Trinität, des Zentraldogmas des christlichen Glaubens, geringe Aufmerksamkeit zu. Francks Werk ist in diesem Sinne keine einfache Fortsetzung etwa des Denkens des von ihm hoch geschätzten Johannes Tauler (um 1300-1361). Wie wir noch zeigen werden, ist die Mystik bei ihm bereits weitgehend um das Gedankengut des Humanismus und des Rationalismus erweitert. Der Brief an Johannes Campanus zeigt die Nähe Francks zur Täuferideologie. Unbestritten ist Francks Verbindung zu Hans Denck und Ludwig Hätzer (um 1490-1529), täuferischen Antitrinitariem. Er kennt weiter unter anderem Melchior Hofmann (um 1500-1543) und besonders Johannes Bünderlein, von dem er eine Schrift an Campanus sendet. Eine spezielle Arbeit zum Verhältnis Francks zu den Täufern ist noch nicht geschrieben. Sie würde sicherlich interessantes Material liefern, war doch Franck an den meisten seiner Wirkungsstätten - Straßburg, Nürnberg, Eßlingen - in täuferischen Zentren. Durch die Beschlagnahme seiner „geschichtbibell" war Franck wirtschaftlich ruiniert. Er mußte zudem Straßburg Ende 1531 verlassen und ging über Kehl nach Eßlingen, wo er eine nur wenig ertragreiche Seifensiederei betrieb. Im Oktober 1534 erhält Franck das Bürgerrecht der Reichsstadt Ulm, allerdings unter dem Vorbehalt, daß dieses erlösche, wenn der Stadt seinetwegen vom Kaiser oder König oder aus seinen künftigen Schriften Nachteile entstünden. Franck betreibt neben seiner schriftstellerischen Arbeit in Ulm eine Buchdruckerei. Schon 1534 erschien sein „Weltbuch = Spiegel vn bildtnisz des gantzen erdbodens" - die erste Geographie in deutscher Sprache. Bürger und Bauernstand schätzt Franck hier für die weitere Entwicklung für ungleich
11 Zit. nach: Der linke Flügel der Reformation. Glaubenszeugnisse der Täufer, Spiritualisten, Schwärmer und Antitrinitarier, hrsg. von H. Fast, Bremen 1962, S. 231f.
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wichtiger ein als Fürsten und Kaiser. Der Bauer dürfe nicht jedermanns Fußhader sein. Dieser Arbeit Francks waren vier Auflagen beschieden. Im gleichen Jahre übersetzt er das „Encomium moriae" des Erasmus ins Deutsche und gibt es mit drei Anhängen unter dem Titel „Vier Kronbüchlein" heraus. Diese Anhänge sind: 1. Ein Auszug aus Agrippa von Nettesheims Schrift „De incertitudine et vanitate omnium scientiarum et artium"; 2. „Von dem Bawm des wißens Guotz und böß ..."; 3. „Encomion: Ein Lob des Thorechten Goetlichen Worts". Im wesentlichen werden hier bereits die gleichen Gedanken wie später in den „Paradoxa" geäußert. Mit dieser Ausgabe wurde des Erasmus berühmte Arbeit überhaupt erst einem breiten Leserkreis zugänglich. Ebenfalls 1534 erscheint die erste Auflage der „Paradoxa". 1536 folgt eine zweite Auflage der „geschichtbibell" mit Zusätzen und Korrekturen, die aber ihren Grundgehalt nicht berühren. Neben kleineren Werken ist aus Francks Ulmer Zeit noch das Erscheinen der „Guldin Arch" (1538), des „Verbüthschiert mit siben Sigeln verschlossen Buch" (1539) und des „Germaniae Chronicon" (1538) erwähnenswert. Die letztere Schrift, die vor allem eine politische Geschichte Deutschlands bis auf Karl V. darstellt, ist besonders durch Francks von jedem Nationalismus freie Vaterlandsliebe gekennzeichnet. Er preist bei den Deutschen „langwiriges treyd / gutter gesunder wein / lufft / volck / fruchtpar / volckreich land vnnd leut / all künst auffs höchst / also das bede truckerey vnd büchsen giessen vnd noch vil mehr Germania erfunden h a t . . . Da findet mann die weitreisendsten / reichesten kaufleut / als kaum in einem land / so künstlich arbeyt in malen / sticken / graben / schnitzen / bauwen / giessen / schreiben / vnnd allerley kunst... Es ist auch ein mutig ringfertig (hurtig - S. W.) leichtsinnig volck / zu allerley schimpff vnnd ernst gericht / vnnd auff alle sättel gericht." 12 Hans Sachs schätzt diese Francksche Arbeit besonders. 12 Germaniae Chronicon. Von des gantzen Teutschlands / aller Teutschen völcker herkomen / Namen / Händeln / Guten und bösen Thaten / Reden / Räthen / Kriegen / Sigen / Niderlagen / Stifftungen. Veränderungen der Sitze / Reich / Länder / Religion / Gesatze / Policei / Spraach / völcker uü Sitten / Vor und nach Christi Geburt / vonn Noe biß auf Carolum V ... Durch Sebastian Francken von Word. Vorrede.
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Franck war auch während seines Aufenthalts in Ulm Verfolgungen ausgesetzt. Ständig bedrohte ihn Ausweisung. Alle von ihm gedruckten Werke bedurften der Genehmigung durch die Zensur, und für eine Reihe seiner Werke wurde ihm die Druckerlaubnis versagt. Haupteinpeitscher der Anti-Franck-Hetze war der Ulmer Stadtpfarrer Martin Frecht. Die Franck zur Last gelegten neun Anklagepunkte stammen vor allem aus den „Paradoxa" (Nr. 163,226, 124, 125, 118,78, 171, 173, 174, 44,233, 153) sowie aus der Übersetzung des Erasmischen „Encomium moriae" und der „geschichtbibell". Es sind hauptsächlich folgende 13 : Das äußere Mittel ist für das göttliche Wirken entbehrlich. Der Glaube geht aus dem inneren, nicht aus dem äußeren Wort hervor. Gott kann nicht durch Gottlose wirken. Gott lehrt in einem Augenblick mehr als alle Schrift bis an den Jüngsten Tag. Unter den Christen sollen alle Dinge gemeinsam sein. Hinsichtlich des Paradoxons 279 werden die Auffassungen von Franck, Hätzer und Denck gleichgesetzt.14 Franck sucht sich zu rechtfertigen, gibt aber seine Grundposition nicht auf. Im Jahre 1539 erscheint unter dem Pseudonym Friederich Wernstreyt (d. h.: wehre den Streit) Francks „Kriegbüchlin des friedes", eine zutiefst humanistische Arbeit, die erneut Francks gesellschaftlich progressive Stellung fixiert. Seinen besonderen Abscheu vor der katholischen Kirche begründet er damit, daß sie, anstatt Kriege zu hindern, vielmehr den Krieg schüre. Die Landsknechte und kriegführenden Fürsten werden in ihrer ganzen Brutalität dargestellt. Der Krieg ist für Franck das direkte Gegenteil der christlichen Liebe. Er sei ein Spiel der Fürsten auf dem Rücken des Volkes. Hier findet sich auch schon die Unterscheidung von gerechten und ungerechten Kriegen, wobei Franck die Kämpfe der Schweizer um ihre Freiheit zu den gerechten Kriegshändeln zählt. Die Friedenssehnsucht des Volkes bringt Franck mit vielen prophetischen Bibelstellen, wie auch Texten von Erasmus und anderen zum Ausdruck. Demnach werde eine
13
Vgl. Erklärung der Verordneten über Francks Irrtümer (Auszug) vom 4. Juli 1535, in: A. Hegler, Beiträge zur Geschichte der Mystik in der Reformationszeit, hrsg. von W. Köhler, Berlin 1906, S. 180. 14 Erklärung der Schulpfleger über Francks Irrtümer, in: ebenda, S. 131.
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Zeit kommen, da „kein Volk wider das andre ein Schwert zücken, und sie werden fortan nit mehr Krieg üben". 15 Nach jahrelangen Anfeindungen und Verleumdungen muß Franck im April 1539 Ulm verlassen. Er wendet sich nach Basel. Hier erscheint 1541 seine Sprichwörtersammlung. Sie umfaßt 663 Sprichwörter, von denen ein Großteil noch heute gebräuchlich ist. Keine deutsche Sprichwortsammlung hat bis zur Gegenwart auf einen Rückgriff auf diese Francksche Sammlung verzichten können. Die den einzelnen Sprichwörtern beigefügten Interpretationen Francks bergen viel sozialpolitisch und kulturhistorisch Interessantes. Auch in der Auswahl seiner Sprichwörter dokumentiert sich Francks progressive Haltung, die in der Ablehnung der feudalen Obrigkeit, vor allem der Klerikalen, und in der Liebe zum einfachen Volk gipfelt. Franck hat wirklich, um ein Wort Luthers zu gebrauchen, „dem Volke aufs Maul" gesehen. Im Jahre 1542 erscheint die zweite Auflage seiner „Paradoxa". Im Oktober des gleichen Jahres stirbt Sebastian Franck in Basel. Schon 1540 hatten die protestantischen Theologen das Verdammungsurteil über Franck gefällt. In Schmalkalden fand im selben Jahr ein Konvent südwest- und mitteldeutscher Theologen statt. Führer des Protestantismus, wie Philipp Melanchthon (1497-1560), Johannes Bugenhagen (1485-1558) und Martin Bucer, wandten sich gegen die Auffassungen Francks und Caspar von Schwenckfelds (1489-1561). Hauptanklagepunkte gegen Franck sind: die Verachtung des Predigeramtes, die Ablehnung der in der Kirche gepflegten Kulte, Francks Auffassung von der Gleichheit aller Sünden, seine Mißachtung des Wortes, d. h. der Bibelgläubigkeit u. a. Im lateinischen Text beginnen die einzelnen Abschnitte mit dem aus päpstlichen Bullen bekannten „damnant" und „damnatur".16 Auch nach Francks Tod machen die
15 S. Franck, Das Kriegbiichlin des Friedes, in: Zur Friedensidee in der Reformationszeit. Texte von Erasmus, Paracelsus, Franck, eingel. und mit erklärenden Anmerkungen hrsg. von S. Wollgast, Berlin 1968, S. 80. 16 Der Franck betreffende deutsche Text des lateinischen Originals dieser protestantischen Verdammungsthesen bei: E. Teufel, „Landräumig". Sebastian Franck, ein Wanderer an Donau, Rhein und Neckar, Neustadt a. d. Aisch 1954, S. 91f.
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Schmähungen führender protestantischer, calvinistischer und katholischer Theologen vor ihm nicht halt. Gerade Luther überbietet sich in Unflätigkeiten. Noch das harmloseste ist es, wenn er Franck eine „lateinische Kunsthummel" (ars = lat. Kunst) nennt. Auch mit Thomas Müntzer wird Franck von Luther in Beziehung gesetzt. In der Tat hat Franck Müntzers religiös-philosophische Anschauungen gekannt und wohlwollend gewertet. Von dessen revolutionärer Tätigkeit hat sich Franck allerdings - zum Teil wohl aus taktischen Gründen - distanziert. Noch 1556 setzt sich Melanchthon ausführlich, aber sehr unsachlich mit Franck auseinander. Immer wieder werden Franck seine Auffassungen von der Gleichheit aller Sünden, von der Ablehnung der kirchlichen Kulte und von der Gemeinsamkeit des Eigentums zum Vorwurf gemacht. Franck wirkt weit über Lebzeiten hinaus. Es war nie seine Absicht, eine neue Kirche oder Sekte zu gründen. Zwar gab es bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts viele Franck-Anhänger, 17 hingegen existierte nie eine Sekte der „Franckisten". Dies ist eine Erfindung der Gegner Sebastian Francks. Unmittelbar war sein Einfluß auf den niederländischen mystischen Spiritualisten Dirck Volkert Coornhert (1522-1590), ebenso auf Valentin Weigel (1533-1588), der ihn teilweise wörtlich ausschreibt. Einflüsse Francks sind auch bei Caspar von Schwenckfeld nachweisbar. Besonderen Einfluß hat Sebastian Franck auf Gottfried Arnold (1666-1716), den Vertreter des radikalen Pietismus und entschiedenen Ankläger des Kirchenchristentums, den für die Entwicklung bürgerlich-demokratischen Denkens in Deutschland im 18. Jahrhundert einflußreichen Historiker, ausgeübt. Obwohl Franck auch noch zu Arnolds Zeit, wie dieser bemerkt, im Geruch eines „Heyden und Atheisten" stand, folgt Arnold in seiner Auffassung von der Methode der Geschichte durchaus Franck. Auch die philosophischen Ansichten Sebastian Francks - der Mensch als Mikrokosmos, Abbild des universalen Makrokosmos, die Falschheit des durch Dogmen gebundenen Christentums, die pantheistischen Züge u. a. - finden bei Arnold Aufnahme und Weiterführung.
17 Vgl. S. Wollgast, Der deutsche Pantheismus im 16. Jahrhundert, a. a. O., S. 249-326.
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Schließlich folgt Arnold Franck auch hinsichtlich der Kennzeichnung der häretischen Strebungen. Über Arnold finden Francks Gedanken bei Johann Conrad Dippel (1673-1734) Fortführung und Radikalisierung. Dieser propagierte eine klassenlose Gesellschaft ohne Staat und Privateigentum, in der niemand von der Arbeit des anderen leben dürfe. Mittelbar - u. a. über Valentin Weigel - wirkt Franck auf Jakob Böhme (1575-1624) und geht damit in eine mystisch-pantheistische Tradition ein, die bei Hegel Höhepunkt und Weiterführung erfährt. Besonderen Einfluß aber erlangt Franck in Holland. Schon zu Lebzeiten bestanden Verbindungen zwischen Franck und holländischen Täufern (davon zeugt u. a. der Brief an Campanus). Zwischen 1542 und 1649 erschienen 29 Übersetzungen bzw. Teilübersetzungen von Schriften Francks in Holland. Einige von ihnen sind postum in Gouda, einem holländischen Häretikerzentrum, erstmalig erschienene Francksche Traktate („Von het rycke Christi", „Een stichtelijck Tractaet von der werelt, des Duy vels Ryck ... by ghe voecht de Ghemeynschap der Heyligen"). Zudem erschienen auch niederdeutsche, tschechische und englische Übersetzungen. Die deutsche Franck-Forschung setzt erst Ende des 18. Jahrhunderts ein. Vorauf gehen vorwiegend Schmähschriften. Allerdings ist Franck zumeist nur einseitig theologisch oder quasitheologisch interpretiert worden. Dennoch enthalten viele dieser Arbeiten wertvolles Einzelmaterial.18
Die „Paradoxa" Sebastian Francks Sebastian Francks „Paradoxa", sein Hauptwerk, wurde bis 1690 achtmal aufgelegt. Sie bezeichnen einen Höhepunkt im philosophischen Denken des 16. Jahrhunderts in Deutschland. Diese Schrift hat von Francks Arbeiten die meisten bewußten und unbewußten Mißdeutungen erfahren. Zunächst aber ist die Anerken-
18 Vgl. K. Kaczerowsky, Sebastian Franck. Bibliographie, Wiesbaden 1976 (Lit. bis 1972); Chr. Dejung, Sebastian Franck, in: Bibliotheca dissidentium, Tom. VII, a. a. O., S. 49-119. Vgl. auch die übrigen in dieser Einleitung und in den Anmerkungen zum Text angeführten Schriften.
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nung einhellig. Dafür nur drei extreme Beispiele. Wilhelm Dilthey spricht von den „genialen Paradoxa". 19 C. A. Hase meint, sie seien „dem Inhalt nach das wichtigste Buch Franck's", weil es „nicht wie die meisten andern aus Compilation entstanden ist, sondern in zwar paradoxer, doch immer geistvoller Form seine eigensten Anschauungen und zwar meist, wozu schon die gewählte Form verführt, auf die äußerste Spitze getrieben, ausspricht". 20 Ernst Bloch sieht in Sebastian Franck 1936 „einen großen Freund". Dieser sei seit 1900 nur für kurze Zeit „aus der Vergessenheit hervorgeholt" worden. Franck sei zeitlebens ein Verehrer Thomas Müntzers, und vom Ausgang des Bauernkrieges zeitle-· bens tief niedergedrückt gewesen. 21 Bloch sieht die pantheistischen Züge bei Franck und zitiert gezielt aus den Paradoxa Nr. 39, 153f., 178-180, 229, 231, 234, 237 und 249. Die beiden letzten Paradoxa (Nr. 279 und 280) beträfen das Recht auf Revolution und ihren christlichen Antrieb. Geht es aber um die Deutung und Wertung der „Paradoxa" im einzelnen und damit um die Bestimmung der Position und philosophischen Stellung Francks, so sehen wir, daß diese seine Hauptschrift häufig vereinseitigt wird. Je nach Position des entsprechenden Autors werden aus ihr die unterschiedlichsten Auffassungen herausgelesen. Gleichzeitig wird diese Schrift Francks mit anderen von seiner Hand verglichen, um dann voller Empö-
" W. Dilthey, Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert, in: ders., Gesammelte Schriften, 2. unveränd. Aufl., Bd. II, Leipzig - Berlin 1921, S. 81. Vgl. zum folgenden: S. Wollgast, Zu Sebastian Francks philosophischen Auffassungen (im Druck). Im weiteren werden Zitate aus den „Paradoxa" und Verweise auf sie im Text mit der Nr. des Paradoxons bei Franck bzw. mit der Seitenangabe nach dieser vorliegenden Ausgabe belegt. 2H C. A. Hase, Sebastian Franck von Word der Schwarmgeist. Ein Beitrag zur Reformationsgeschichte, Leipzig 1869, S. 145. Vg. auch: W.-E. Peuckert, Sebastian Franck - ein deutscher Sucher, München 1943, S. 22Iff. 21 Ε. Bloch, Aus Sebastian Francks „Paradoxa" (1936), in: ders., Philosophische Aufsätze zur objektiven Phantasie (Gesamtausgabe, Bd. 10), Frankfurt/M. 1969, S. 66.
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rung auf logische Widersprüche, Ungereimtheiten, Unausgegorenes zu verweisen. Hermann Kömer stellt die „Paradoxa" in die Nähe der Mystiker, da von Gott nur in Negationen gesprochen werde. Franck habe hier, in dieser seiner Paraphrase zur „Theologia teutsch" die Konsequenz aus dem neuplatonischen Gottesbegriff gezogen und die Persönlichkeit Gottes geleugnet, andererseits komme gerade in den „Paradoxa" ein anderer Standpunkt heraus, denn wenn Franck hier die Bibel zitiere, so nehme er stets (!) wieder die biblische Gottesauffassung an. 22 Nach Karl Klemm ist schon der Titel von Francks Schrift kennzeichnend: „einzelne Teile der,Paradoxa' ζ. B. machen fast den Eindruck, als ob sie am Setzkasten entstanden seien". 23 Auch Adolf von Grolmann will Franck einfach als Mystiker abtun: „gewissermaßen sind die Paradoxa von 1534 eine Art deutscher Paraphrase der Theologia deutsch, Vorläuferin also des Spätwerkes, der lateinischen Paraphrase des gleichen Grundwerkes". 24 Nach Paul Joachimsen sind „die Paradoxa keine Hermeneutik der Schrift, sie sind eine Fortsetzung der Kritik der Welt von Gott aus, wie sie Franck schon in seinen früheren Schriften geübt hat, am ähnlichsten der, die er bei den Propheten findet".25 In neuerer Zeit haben Francks „Paradoxa" auch in Fortführung der Ideengänge von Will-Erich Peuckert erneut hohe Wertung erfahren. Nach Gerhild Scholz Williams zeugen sie „von der zutiefst zwiespältigen Menschlichkeit, die sich einem mächtigen Gott nähert und für sich und für die Menschheit Angst hat". 26 Und nach Gerd Schimansky erweist sich Sebastian Franck in seinen „Paradoxa" „als besonders radikal. Das Werk ist aufgeladen mit 22 H. Körner, Studien zur geistesgeschichtlichen Stellung Sebastian Francks, Phil. Diss., Breslau 1935, S. 55ff. 23 K. Klemm, Das Paradoxon als Ausdrucksform der spekulativen Mystik Sebastian Francks, Phil. Diss., Leipzig 1937, S. 8. 24 A. v. Grolmann, Das Wissen um das Verhältnismäßige in der Paradoxic des Seins (Studie zur „teutschen theologei" des Sebastian Franck), in: Blätter für deutsche Philosophie, Berlin, 2 (1928), S. 58. 25 P. Joachimsen, Zur inneren Entwicklung Sebastian Francks, in: ebenda, S. 20. 26 G. Scholz Williams, Gelächter vor Gott: Mensch und Kosmos bei Franck und Paracelsus, in: Daphnis. Zeitschrift für Mittlere Deutsche Li-
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Spannung. Die Sätze stehen gegeneinander, folgen einander, Hieb um Hieb." 27 Und auch Joseph P. Strelka weist erneut nachdrücklich auf die Nähe der „Paradoxa" zur Mystik hin.28 Im Titelblatt bezeichnet Franck sein Werk als „Teütsche Theologey" und widmet sie voller Spott „Allen predicanten und lerern des volcks". Beigegeben ist dem Titelblatt der Spruch IKo 14 bzw. ITh 5: „Ist yemandt geystlich / der vrtheil was ich sag. Den geist lescht nit auß / die Prophecey verachtet nit / Brüffet aber alles / vnd was gut ist, das behalt." Schon Francks Vorrede sagt, um was es dem Autor geht: „Das Evangelium ist eine ewig lautere Wunderrede ... Die Schrift ist ein verschlossenes Buch mit sieben Siegeln ... Der Buchstabe der Schrift, des Antichrists Schwert, tötet Christum ... Die Schrift ist ohne das Licht, Leben und Auslegung des Geistes ein toter Buchstabe und eine finstere Laterne ... Ketzerei und Sekten entspringen aus dem Buchstaben der Schrift" - so lauten fünf von den sechs Überschriften seiner „Vorrede". Hier definiert Franck auch, was er unter „Paradoxa" versteht: „Paradoxon ... heißt ... ein Ausspruch, der gleichwohl gewiß und wahr ist, den aber die ganze Welt und was nach Menschenweise lebt, nichts weniger als für wahr h ä l t . . . " (S. 3). Das Paradox ist seit dem Altertum eine gebräuchliche Denkform. Wir finden sie etwa bei Sokrates, den Stoikern, den frühen Kirchenvätern, später unter anderem bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel und Sören Kierkegaard. Mit dem Widersprüchlichen ist das Paradox, die Paradoxie, das Paradoxon nicht immer gleichzusetzen. Aber es signalisiert eine Denkkrise, die durch Widersprüchlichkeiten ausgelöst wird. teratur, Amsterdam, 15 (1986), S. 476; vgl. St. E. Ozment, Sebastian Franck, in: ders., Mysticism and Dissent. Religious Ideology and Social Protest in the Sixteenth Century, New Haven - London 1973, S. 154f. 27 G. Schimansky, Christ ohne Kirche. Rückfrage beim ersten Radikalen der Reformation: Sebastian Franck. Mit einem Vorwort von W. Kramp, Stuttgart 1980, S. 54. 28 J. P. Strelka, Sebastian Francks Paradoxa. Zu ihrer geistesgeschichtlichen Stellung und Bedeutung, in: Virtus et Fortuna. Zur deutschen Literatur zwischen 1400 und 1720. Festschrift für Hans-Gert Roloff zu seinem 50. Geburtstag, hrsg. von J. P. Strelka und J. Jungmayr, Bern u. a. 1983, S. 212.
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Paul Geyer gibt als Arbeitsdefinition: „Paradoxien sind Reibungsenergien, die entstehen, wenn die zeitlose Logik des Entweder-Oder auf Gegenstandsbereiche historischer Bewußtseinsphänomene, oder allgemeiner, auf dynamische Kontinua angewendet wird ... Geistesgeschichtlich gesehen markieren Perioden, in denen das paradoxe Denken aus der Defensive in die Offensive übergeht, krisenhafte Epochenschwellen." 29 Das ist m. E. auch für Sebastian Franck zutreffend, erfaßt aber nicht das Ganze. Franck knüpft mit der Wahl der Paradoxa als Gegenstand seiner Arbeit an seine Nürnberger Zeit an, in der er des Reformators und Humanisten Andreas Althamers „Diallage" verdeutscht und bereits in seinem Sinne erweitert hatte. Der Gedanke der Paradoxa findet sich in dieser Zeit überhaupt häufig, so etwa bei Martin Luther. Das ist keineswegs verwunderlich, ist es doch wahrlich eine „krisenhafte Epochenschwelle". Franck wurde zudem von seinem Kommilitonen und späteren Gegner Martin Frecht auf die Paradoxa von Juan Luis Vives (1492-1540) und Cicero hingewiesen. Ähnlich wie Vives nennt auch Franck seine Paradoxa gelegentlich „Symbola". Insgesamt aber bleibt der Zusammenhang beider Schriften fast rein äußerlicher Natur, was Frecht in den Auseinandersetzungen der folgenden Jahre als Anklage gegen Franck vor dem Ulmer Rat benutzt. Die „Paradoxa Stoicorum" des Marcus Tullius Cicero führt Franck hingegen in seinem Sinne an sechs Stellen zustimmend an, ζ. B. Ciceros Par. 3: „So wie die Sünden, so sind auch die guten Handlungen einander gleich" (S. 388). Schon Francks Vorrede gibt im wesentlichen das Programm der stellenweise langatmigen, wiederholenden Paradoxa. So führt er hier aus, daß die Welt das Evangelium nicht glaube, es nicht halten und nicht leiden könne. Die wahren Boten Gottes seien von der Welt als Ketzer und Buben behandelt worden. Die Welt habe
29 P. Geyer, Das Paradox = Historisch-systematische Grundlegung, in: P. Geyer/R. Hagenbüchle (Hrsg.), Das Paradox. Eine Herausforderung des abendländischen Denkens, Tübingen 1992, S. 12. Die Beiträge von Α. M. Haas, R. Hagenbüchle, H. Schröer, H. F. Plett und J. Simon geben weiteres Material zu diesem Begriff. Vgl. W.-E. Peuckert, Sebastian Franck, a. a. O., S. 224-231.
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sich einen guten fleischlichen Gott ausgedacht, der in Wirklichkeit der Teufel ist. Hingegen halte die Welt den wirklichen Gott, der verlangt, daß man sich selber abtäte, für den Teufel. Daher habe Gottes Wort auch keinen Erfolg. Den Sinn der Bibel lassen die Weltkinder nicht in sich eingehen, weshalb dieses heilige Buch für sie auch mit sieben Siegeln verschlossen ist. Hier findet sich auch schon der Gedanke, daß Gott eine besondere Sprache, in Gleichnissen mit den Seinen rede, damit es die Weltkinder nicht verstünden. Unter Berufung auf seine zu den vier „Kronbüchlein" gehörige Schrift „Encomion: Ein Lob des Thorechten Goetlichen Worts ..." stellt Franck fest, daß „das Alte Testament, Gesetz, Schrift und Buchstaben (was die Schrift wechselnd eins für das andere setzt) ohne das Licht, Leben, Sinn und Auslegung des Heiligen Geistes nichts als ein tötender Buchstabe und nichts weniger als Gottes Wort" ist (S. 5).30 Wenn man die Schrift nach dem toten Buchstaben versteht, so folgt viel Ungereimtes und Ungefüges daraus. Man könnte Ovids „ars amandi" ebenso leicht verteidigen als den toten Buchstaben der Schrift. Mit dem Buchstaben hätten ja auch die Pharisäer Christus totgeschlagen, der eben gegen Tempel, Gesetz und Beschneidung redete und handelte. Deshalb gilt: Der Buchstabe, das heißt alle Schrift, tötet. Nur der Geist macht lebendig. So werde es bleiben, bis ans Ende der Welt. Wie schon in seinem Lied „Von vier zwiträchtigen Kirchen" (1529)31, im Brief an Johannes Campanus u. a. erfolgt auch hier bei Franck eine Wendung gegen eine neue Kirchengründung, denn die Kirche ist für ihn „ein geistlicher, unsichtbarer Leib aller Glieder Christi, aus Gott geboren, und in einem Sinn, Geist und Glauben; aber nicht in einer Stadt oder etwa an einem Ort äußerlich versammelt, daß man sie sehen und mit Fingern zeigen könnte, sondern die wir glauben und nicht anders sehen als mit
30 Vgl. S. Franck, Encomion: Ein Lob des Thorechten Goetlichen Worts / Was das sei / von des selben Maiestaet / vnd was für underschaid zwischen der Schrifft / eussern vnd innern Worts sei, in: S. Franck, Sämtliche Werke. Kritische Ausgabe mit Kommentar, Bd. 4: Die vier Kronbüchlein (1534), hrsg. von P. K. Knauer, Bern u. a. 1992, S. 227-260. 31 Vgl. den neuhochdeutschen Text in: E. Teufel, „Landräumig", a. a. O., S. 122.
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gleich geistlichen Augen des Gemüts und des inneren Menschen: die Versammlung und Gemeinde aller recht gottesfrommen und gutherzigen, neuen Menschen in aller Welt, durch den Heiligen Geist in dem Frieden Gottes mit dem Band der Liebe zusammengegürtet, außer der kein Heil, kein Christus, kein Gott, Verstand der Schrift, Heiliger Geist noch Evangelium ist" (S. 11 f.). Nach dieser Gemeinde, die unter den Heiden verstreut ist, sehnt sich Franck, an sie glaubt er und hält sich ihr zugehörig. Die Kirche als Institution ist für ihn überflüssig. Franck betont, daß er seine „Paradoxa" für die „recht geistlich Gesinnten" schreibt. Er nimmt hier eine ähnliche Einschränkung seines Leserkreises vor, wie später im „Kriegbüchlin". 32 Abschließend betont Franck in seiner Vorrede zu den „Paradoxa", er wolle „einstmals noch etliche hundert Wunderreden aus der Heiligen Schrift, aus Pythagoras, Plato, Plotin, Plutarch, Cicero, Seneca, Erasmus von Rotterdam, Ludovicus Vives, Ludovicus Caelius Rhodoginus etc. nachschicken und eine Chronik über Germania, das ganze deutsche Land, besonders über das Schwabenland" (S. 14f.). Seine Pläne hat Franck später weitgehend verwirklicht. Die Sammlung der Weisheit der „erleuchteten Heiden und Philosophen" als Erklärung der Bibel gibt seine „Guldin Arch", den Beschluß seiner historischen Produktion stellt sein „Chronicon Germaniae" dar und eine neue Sammlung von „Wunderreden" aus der Bibel hat er in seinem „Verbüthschierten Buch" gegeben. Kennzeichnend für Sebastian Francks Weltsicht, vor allem für seine „Paradoxa", sind Mystik und Pantheismus. Beide Begriffe schillern. Ich habe in meinem Verständnis dieser Begriffe bisher eine gewisse Entwicklung durchlaufen. Dabei halte ich es nicht für erforderlich, mein Mystik- oder Pantheismus-Verständnis hier darzulegen oder zu verteidigen. Ich habe stets betont, daß ich Franck vornehmlich als Mystiker und Pantheisten fasse. Deshalb will ich ihn und seine Quellen nachstehend weiter zu Wort kom-
32 S. Franck, Das Kriegbüchlin des Friedes, in: Zur Friedensidee in der Reformationszeit, a. a. O., S. 66 u. ö.; eine Begründung der Franckschen „Esoterik" bei: J. P. Strelka, Sebastian Francks Paradoxa, a. a. O., S. 210-212.
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men lassen. Ich möchte dabei noch zunächst zustimmend Erwin Metzke erwähnen. Für ihn ist die Mystik des 16. Jahrhunderts vor allem durch vier Elemente bestimmt: 1. Gegensatz gegen alle Substanzmetaphysik und ihre vergegenständlichte Gottesauffassung. 2. Gegensatz gegen die autoritäre Herrschaft der „Institutionen", die sich mit dem Anspruch einer absolut entscheidenden Instanz zwischen Gott und Mensch schieben, der Allmacht Gottes ebenso wie der Unmittelbarkeit religiösen Erlebens in den Weg tretend. 3. Setzung des Begriffs des „Wesens" als Leben und Wirken, dem actus purus des Aquinaten verwandt. 4. Das Gegensatzmotiv: Not, Leiden, Kreuz als Ort Gottes, Entwerden und neues Leben, Vernichtung und Wiedergeburt als Korrelata, Sein und Umwandlung des Menschen als fortgesetzter Kampf. 33 Eine progressive mystische Entwicklungslinie geht vom Werk des Meister Eckhart aus. Er wurde vornehmlich wegen seiner deutschen Predigten in einem Inquisitionsprozeß verurteilt. Charakteristisch für Eckharts aus der Mystik stammendes Denken sind die Hauptanklagepunkte gegen ihn, wie sie die päpstliche Bulle „In agro dominico" (27. März 1329) wiedergibt: Behauptung der Ewigkeit der Welt, Tendenzen des Antitrinitarismus, Annahme eines unerschaffbaren Teils der Seele (des „Seelenfünkleins"), die Gleichstellung von Gott und Mensch, ja, sogar die Predigt des Vorranges des Menschen vor Gott.34
33 Vgl. E. Metzke, Lutherforschung und deutsche Philosophiegeschichte, in: Blätter für Deutsche Philosophie, Berlin, 8 (1934/35), S. 360f. 34 In der neueren Eckhart-Literatur wird gerade der mystische Aspekt herabgesetzt. Vgl. K. Flasch, Meister Eckhart - Versuch, ihn aus dem mystischen Strom zu retten, in: Gnosis und Mystik in der Geschichte der Philosophie, hrsg. von P. Koslowski, Zürich - München 1988, S. 94-110. Ausgewogener: K. Ruh, Meister Eckhart. Theologe - Prediger - Mystiker, München 1985; O. Langer, Meister Eckharts Lehre vom Seelengrund, in: Grundfragen christlicher Mystik. Wissenschaftliche Studientagung Theologia mystica in Weingarten vom 7.-10. November 1985, hrsg. von M. Schmidt und D. R. Bauer, Stuttgart - Bad Cannstatt 1987, S. 173-191. Auch nach Otto Langer fußt Francks Denken gerade auf mittelalterlicher Mystik, sie zur Auseinandersetzung mit der Reformationstheologie nutzend - vgl. O. Langer, Inneres Wort und inwohnender Christus. Zum my-
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Nun lernten Franck und seine Zeitgenossen die Mystik nicht aus Eckharts Arbeiten direkt kennen, sondern vermittelt über Johannes Tauler. Der Dominikaner Tauler wurde, gleich Heinrich Seuse (1295/1300-1366) auch von Eckhart stark beeinflußt. Von diesem übernimmt er die Kernpunkte von dessen Mystik (die negative Theologie, die Gottesgeburtslehre mit der Seelengrundspekulation und die Aufwertung des tätigen Lebens). Bei Tauler tritt das spekulative Element in seiner Mystik zugunsten ethisch-seelsorgerischer Zielstellungen weitgehend zurück. Dabei hielt er das Einswerden des Menschen mit Gott für möglich, vorausgesetzt, daß er sich von allen Bindungen an die äußere Welt löse und unter Verzicht auf jeden Eigenwillen Christo nachfolge. Damit tritt auch bei ihm, wenn auch nicht so ausgeprägt wie bei Meister Eckhart, das für die Mystik typische Moment der direkten Verbindung des Einzelnen mit Gott gegenüber der kirchlichen Bindung deutlich hervor. Tauler nutzt philosophische Grundsätze, um bestimmte Lehren für das Streben nach letzter Vollkommenheit zu begründen. Er liest und verwertet „die Bibel aus einer Perspektive, die als ,neuplatonisch' zu charakterisieren ist". 35 Ihr Leitmotiv ist dabei das Einswerden des geschaffenen Menschengeistes mit dem ungeschaffenen Gottesgeist. Für Tauler ist Gott
stischen Spiritualismus Sebastian Francks und seinen Implikationen, in: Sebastian Franck (1499-1542), hrsg. von J.-D. Müller, Wiesbaden 1993, S. 55-69. 35 D. M. Schlüter OP, Philosophische Grundlagen der Lehren Johannes Taulers, in: Johannes Tauler. Ein deutscher Mystiker. Gedenkschrift zum 600. Todestag, hrsg. von Ε. M. Filhaut OP, Essen 1961, S. 122. Die Gedenkschrift ist bis heute für Tauler grundlegend. Eine kurze, treffende Darstellung des theologisch-philosophischen Lehrgebäudes und der Forschungsetappen zu Meister Eckhart mit ausführlichen Belegen bei: D. Mieth, Die Einheit von vita activa und vita contemplativa in den deutschen Predigten und Traktaten Meister Eckharts und bei Johannes Tauler. Untersuchungen zur Struktur des christlichen Lebens, Theol. Diss., Würzburg 1968, Regensburg 1969, S. 119-182. Mieth ist ein Schüler K. Ruhs. Natürlich ist die Arbeit auch daher auf die katholische Interpretation festgelegt. - Vgl. W. Nigg, Das mystische Dreigestirn. Meister Eckhart Johannes Tauler - Heinrich Seuse, Zürich - München 1988.
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„Grund", „Abgrund" (nach Ps 42). Sein ganzes Reich ist im Menschen, er soll ihn suchen und wird ihn finden. „Seelengrund" ist für Tauler eine letzte Innerlichkeit des Menschen, hinter welche im Bereich des Menschseins nicht mehr zurückgegangen werden kann. Meines Erachtens bewegt sich um diesen Komplex Taulers (wie auch Francks) idealistischer Pantheismus. So, wenn es bei Tauler heißt, der Mensch könne die Vereinigung mit Gott erreichen, was aber keine Identität besage.36 Damit paare sich Gelassenheit und Liebe. Auch Tauler unterscheidet zwischen einem inneren und einem äußeren Menschen. Der innere Mensch ist durch die Gottebenbildlichkeit gekennzeichnet, der äußere durch seine Verhaftung mit der Kreatur. Dem inneren Menschen entspricht eine innere, gottförmige Welt, dem äußeren die irdische Welt. Tauler folgt hiermit ebenfalls dem Neuplatonismus. So ist die irdische Umwelt die Welt der Erscheinungen, die innere Welt die Welt des eigentlichen Seins, die Welt in Gott. Göttlicher und irdischer Bereich stehen deshalb zunächst in einem nicht zu vereinbarenden Gegensatz zueinander. Der irdische Bereich ist hinfällig und kontingent, in Vielfalt zersplittert und von den Auswirkungen der Sünde angegriffen. Was für den irdischen Bereich zutrifft, gilt zugleich für den äußeren Menschen; was für den göttlichen Bereich gilt, hat auch für den inneren Menschen Gültigkeit. Demgemäß gehört für Tauler die biblische Vorstellung vom Reiche Gottes zum inneren Menschen. Er verbindet die platonische Tradition von der Gottähnlichkeit des menschlichen Geistes, der das innerste Prinzip des Menschen ist, nicht nur mit der christlichen Vorstellung von der Gottebenbildlichkeit des Menschen, sondern auch mit einer bestimmten Gottesreich Vorstellung (Lk 17,21). Diese Gedanken finden sich auch bei Franck. Gerade in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurde Tauler heterodoxer verstanden, als er sich wohl selbst fühlte. Franck zitiert Tauler in seinen „Paradoxa" an 18 Stellen. Er ist damit hier nach Augustinus und der „Theologia teutsch" - und natürlich den fast unzähligen Bibelzitaten - der meistangeführte Autor. Hinzu
36 Vgl. J. Tauler, Predigten, übertragen und hrsg. von G. Hofmann. Einführung von Α. M. Haas, 3. unveränd. Aufl., Einsiedeln 1987, S. 229f.
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kommt, daß Franck die Baseler Ausgabe der Taulerschen Predigten von 1522 benutzt, die auch Stellen aus dem Werke Meister Eckharts enthalten (vgl. S. 255 und 367). Der überragende Einfluß Taulers auf das frühe 16. Jahrhundert ist in allen Fraktionen der Reformation zu konstatieren - von Luther bis Müntzer. Dabei muß man nicht von der Lehre Taulers abstrakt ausgehen, sondern von ihren Wirkungen auf die verschiedenen Richtungen. An Taulers Lehre vom inneren und äußeren Menschen wurde eben unterschiedlich angeknüpft. Nach Tauler ist Gott die ungeschaffene Grundlage alles Geschaffenen, die menschliche Seele der Tempel Gottes. Vom Menschen selbst hängt es ab, ob er Gottes Gnade teilhaftig wird. Nach Tauler übt jeder inwendige Mensch priesterliche Funktionen aus. Die Geistlichen haben die Funktion des Lehrers. Auch der unwissende, unvollkommene Priester kann auf Grund seines Amtes Träger des Heiligen Geistes sein. Bei Franck bedarf es des Priesters schon nicht mehr. Insgesamt findet sich aber auch bei Tauler eine negative Einstellung zum Priestertum im Sinne der katholischen Kirche. Kirche und Papst haben nur Gewalt über die äußeren Attribute der Heiligkeit (Kappe, Kleider usw.). Das innere Verhältnis des Menschen zu Gott ist nicht in ihrer Gewalt. Alle äußeren Momente der kirchlichen und klösterlichen' Tätigkeit sind nur insofern von Bedeutung, als sie den Menschen anleiten und ihm den rechten Weg weisen. So betrachtet Tauler auch das Abendmahl. Insgesamt hat Taulers Sicht einen positiven Kern in der Einstellung zur weltlichen Tätigkeit und zum weltlichen Leben, da ja keine Verneinung (ζ. B. Askese) der äußeren Welt verlangt wird. Auch diese positive Haltung zur Welt mag Franck aus seiner Haltung zu Tauler heraus von einer theoretischen Identifizierung mit weltverachtenden Täufergruppierungen bewahrt haben. Für Tauler ist Gott das allen Dingen immanente Gute und überhaupt nicht positiv bestimmbar. Er ist für Tauler Substanz, die Seele ist in ihrem innersten Wesen ein Teil der göttlichen Substanz, in dem sie aufgehen will wie der Tropfen im Meer. Auch das ist in meinem Verständnis idealistischer Pantheismus. Es ist mehr und anders als Luthers Auffassung, für den Gott - wie etwa für Wilhelm von Ockham (um 1295-1349) - stets als persönlicher Gott gesehen wurde. Es sei keineswegs angezweifelt, daß Luther im Lehrsatz Taulers, daß das Einswerden der menschlichen Seele mit ih-
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rer göttlichen Quelle letztlich nur ein Akt des höchsten Ausdrucks grenzenloser Liebe sein kann, die Bestätigung eines Gedankens sah, der zum Ausgangspunkt seiner Reformation wurde: Gott ist eitel Liebe und Erbarmen. Aber Franck zieht aus Tauler weitergehende Schlußfolgerungen und läßt damit Luther und seine Reformation hinter sich. Die zweite mystische Quelle, aus der Sebastian Franck unmittelbar schöpft, ist die „Theologia teutsch". Hier findet er, wie bei Tauler, seinen Begriff der Kirche, seine Auffassung vom inneren und äußeren Wort vorgeformt. Er sieht die „Theologia teutsch" nicht im Sinne Luthers, der sie 1516 und 1518 herausgab. Luther hatte sie vor allem gebraucht, um den Ursprung des menschlichen Willens aus der Sünde und also dessen Nichtigkeit gegenüber der Gnade zu erweisen. Wie sehr die „Theologia teutsch" des anonymen Autors der Orthodoxie mißfiel, erhellt daraus, daß sie von der katholischen Kirche in der Zeit der Gegenreformation (1612) auf den Index gesetzt wurde. Johannes Calvin (1509-1564) hatte schon 1559 die gänzliche Ablehnung dieser mystischen Schrift empfohlen. Für Franck sind in ihr offenbar die pantheistischen Ansätze bedeutsam. Die „Theologia teutsch" enthält Gedanken über das Entstehen des Christus in uns, von der notwendigen Vermenschung und Vergottung. Franck zieht diese Schrift als Zeichen für den göttlichen Charakter und das Licht Gottes in uns heran. So schreibt er ζ. B.: „Christus im Fleische außer uns, ja, Gott selbst außer unserer Seele, ist nichts nütz. Davon besiehe die ,Teutsche Theologie', Kap. 9" (S. 234).37 Die „Theologia teutsch"
37 „Sich, wo die bekentniß ist, do wirt bekant, das Cristus leben das beste vnd das edelste ist, vnd do von ist eß auch das aller libste vnd wirt gerne gehabt vnd getragenn vnd wirt nicht gefraget ader gerucht, ab eß der nature ader joch ymant wol ader we thu, lib ader leid sey. Auch sal man mercken, in welchen menschen diß war gut bekant wirt, do muß auch daz leben Cristi seyn vnd bleiben biß yn den leiplichen tod. Vnp wer anders wenet, der ist betrogen, vnd wer anders spricht, der luget. Vnd yn welchem menschen das leben Cristi nicht ist, da wart auch das ware gute vnnd die warheit nye bekant." Der Franckforter (Theologia Deutsch) Kritische Textausgabe von W. von Hinten, München - Zürich 1982, S. 95f. (Kap. 18).
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ist ihm Zeuge dafür, daß der Mensch einen eigenen Willen hat (S. 253, vgl. S. 404). 38 Und wohl das höchste Lob, dessen Franck fähig ist, wendet er an diese Schrift und Tauler mit den Worten: „Die alten Lehrer haben leider wenig Erkenntnis von Christo gehabt. Tauler ist der beste unter ihnen, und die ,Teutsche Theologie' bezeugt auch einen rechten Christum" (S. 222). Nicht zu vergessen ist auch der Einfluß der mystischen Ideen des Johannes Staupitz (um 1468-1524) auf Francks Gedankengänge. Er, der Generalvikar der sächsisch-thüringischen Augustiner-Provinz, hatte schon bei der Formung der Ideen Martin Luthers eine wesentliche Rolle gespielt. Franck bezieht sich auf Staupitz' Büchlein „Vö der Liebe gottes ..." (1518), sagt, daß dieser dort das Paradoxon setze, „Gott läßt sich erschleichen, aber nicht erlaufen", und zieht weiter aus dieser Arbeit heran, daß keiner aus dem Buchstaben der Schrift lernen könne (S. 78 und 361). Es sei nochmals betont, daß der junge Luther mit seinen Schriften auf Franck in all seinen Werken nachwirkt. Im ausgehenden 20. Jahrhundert kann man kaum noch ermessen, von welch gewaltiger Bedeutung, von welch revolutionärer Spannkraft Luthers allein bis 1521 geschriebene Werke für die theoretisch agierenden Strömungen und Vertreter aller Richtungen außerhalb der katholischen Kirche gewesen sind. Noch das „Kriegbüchlin des Friedes", in breiten Strecken als Auseinandersetzung mit Luthers und Bucers Auffassungen zum Kriegsproblem angelegt, entzieht sich nicht der bejahenden Hinweise auf
38 „Den Hauptzügen der Grundstruktur (der „Paradoxa" - S. W.) liegen ... Ideen der Deutschen Theologie und Johannes Taulers zugrunde, was nicht nur keinen Gegensatz, sondern eine unmittelbare innere Einheit bedeutet. Denn die Betonung des ethischen Willens wie der Liebe, der heilbringende Aspekt geistlicher Armut, all dies sind Züge, welche die Deutsche Theologie mit Tauler gemeinsam hat, wie sie überhaupt auch Aspekte Eckhartischer Spekulation in Taulers Fassung ebenso übernommen hat wie dies bei Franck der Fall ist. Das einzige Mal, da der größte deutsche Mystiker in den Paradoxa genannt wird, geschieht dies im Zusammenhang mit Tauler." J. P. Strelka, Sebastian Francks Paradoxa, a. a. O..S. 213.
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Lutherische Schriften. 39 In den „Paradoxa" beruft sich Franck auf Luther explizit nur an zwei Stellen - auf dessen Kirchenlied „Wyr gleuben all an eynen Gott...", allerdings mit deutlicher Ablehnung (S. 41 und 336). Zudem führt er implizit mehrfach eine Auseinandersetzung mit Luthers Bibelverständnis, wendet sich ζ. B. dagegen, daß Luther den Jakobusbrief des Neuen Testaments eine „stroherne Epistel" genannt hatte (S. 10 und 224). Für Franck ist auch Augustinus' 412 verfaßte Schrift „De spiritu et litera" von Bedeutung (S. 8 und 397). Bereits auf den jungen Luther hatte diese Schrift des Kirchenvaters 1515 einen gewaltigen Eindruck gemacht, seine mystischen Denkaspekte überhaupt.40 Der Einfluß Luthers auf Franck läßt sich auch aus seiner möglichen Teilnahme am Generalkapitel des Augustinerordens in Heidelberg im April 1518 nachweisen. Allerdings nur in Analogie, denn wir wissen nur um einen Eindruck, den Luthers Thesen und die Disputation darüber auf Bucer gemacht haben. Es sei auch auf die Schilderung der Lehren Luthers in der „Chronica der Römischen Ketzer" hingewiesen, die eine subtile Kenntnis Lutherischen Gedankengutes verrät. Eine weitere Quelle der Franckschen „Paradoxa" bilden Auffassungen des Henricus Cornelius Agrippa von Nettesheim (1486-1535). Er ist ein Beispiel dafür, in welch großem Maße auch in Deutschland - die Mensch-Natur-Problematik schon zu jener Zeit im Mittelpunkt philosophischer Überlegungen stand. Agrippa von Nettesheim war stark neuplatonisch beeinflußt. Vor allem seine Jugendschrift „De occulta philosophia" (1510) ist hier zu nennen. Agrippas Bestreben war darauf gerichtet, die Natur dem Menschen mittels der Magie zu unterwerfen. Er betrachtete den Menschen als Mittelpunkt dreier Welten, die das All bilden: des natürlichen Reichs der Elemente, der himmlischen Welt der Gestirne und der intelligiblen Welt, deren aller Vermittler die al-
39
Vgl. S. Franck, Kriegbüchlin des Friedes, a. a. O., S. 74, 208 u. a. Vgl. u. a. W. Link, Das Ringen Luthers um die Freiheit der Theologie von der Philosophie, Berlin 1954, S. 248-270; A. Rühl, Der Einfluß der Mystik auf Denken und Entwicklung des jungen Luther, Theol. Diss., Marburg 1960. 40
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len Dingen innewohnende Seele, der spiritus mundi, sei. Diesen sah er als eine lebendige Kraft an, die alles Wachstum und alle Veränderungen hervorruft. Der Mensch als Kristallisationspunkt des Alls könne, da sich alle Eigenschaften des Universums in konzentrierter Form in ihm vorfänden, die gesamte Wirklichkeit erkennen. Auch bei Agrippa von Nettesheim finden wir im Grund die Makrokosmos-Mikrokosmos-Vorstellung wieder, gepaart mit einem völlig unscholastischen Erkenntnisoptimismus.41 Wesentliches verdankt Sebastian Franck auch Erasmus von Rotterdam. Sicherlich ist Franck nicht im direkten Sinne ein Humanist gewesen. Fest steht jedenfalls, daß er „seinen" Erasmus gut gekannt hat.42 Ziel des Erasmus ist - man vergleiche sein „Enchiridion militis christiani" (1503) - die Gesellschaft als ein hierarchisches Ganzes mit Christus als Mittelpunkt. Diese Gedanken eines der führenden Vertreter der „dritten Kraft" (F. Heer) im 16. Jahrhundert finde ich auch bei Franck. Sie liegen auch den „Paradoxa" zugrunde. Franck wird noch viel zu oft einseitig dem Mittelalter zugeordnet. Kommoß, der selbst sehr reichhaltiges Material zu Francks Herkunft auch vom Humanismus Erasmischer Prägung gibt, kommt erstaunlicherweise abschließend zu dem Ergebnis: „Francks schließlicher Pessimismus und seine weltvemeinende Ethik sind Mittelalter, aber großartiges Mittelalter ... Erasmus wurzelt im Rationalen, Franck im Irrationalen, Erasmus ist, um Sprangersche Kategorien zu gebrauchen, theoretischer Mensch, Franck religiöser Mensch."43 Ich meine hinge-
41
Vgl. H. C. Agrippa von Nettesheim, Über die Fragwürdigkeit, ja Nichtigkeit der Wissenschaften, Künste und Gewerbe. Mit einem Nachwort hrsg. von S. Wollgast. Übers, und mit Anm. versehen von G. Güpner, Berlin 1993. 42 Vgl. zum folgenden auch: R. Kommoß, Sebastian Franck und Erasmus von Rotterdam, Berlin 1934 (Reprint Nendeln/Liechtenstein 1967). 43 Ebenda, S. l l l f . Dilthey sieht in Franck den „Konkursverwalter des Mittelalters" (Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert, a. a. O., S. 218) und Körner bemerkt: „Francks Mystik und Rationalismus, aus denen man immer wieder Ansätze moderner Gedankenbildungen ableiten wollte, sind rückwärts gewandt, bedeuten, psychologisch betrachtet, ein Zurückgreifen über die Krise der Reformation auf
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gen: Erasmus hat Großes und Originelles bei der Kritik an der Autorität der kirchlichen Traditionen geleistet. Nach seinen Aussagen haben die Kirchenväter vielfältig geirrt, ebenso auch die Päpste und die Scholastiker. Da er seiner Ausgabe des Neuen Testaments einen griechischen Urtext zugrunde legt, enthüllte er zudem schwerwiegende Fehler und Mängel in der „Vulgata". Aber auch der gereinigte Text der Bibel ist noch nicht Gotteswort. Wie Erasmus in seiner „Ratio seu methodus compendio perveniendi ad veram theologicae" (1519, dann 1522, 1527, 1535) ausführt, gelangt man zum Sinn der Schrift durch vernünftige Auslegung, Berücksichtigung der kulturellen Zusammenhänge und Achtung auf den Zusammenhang überhaupt. Außerdem sei zu beachten, daß viele biblische Erzählungen allegorischen Charakter tragen. Von der Bibel bleibt bei Erasmus nur ihr reiner Sinn übrig. Alles Historische, Zeremonielle, Dogmatische wird unwesentlich, und Franck folgt ganz Erasmus, wenn er sagt: „Darum muß man die Schrift nicht nach dem Wesen des Buchstabens verstehen, sondern ihre Gelegenheit, ihr Objekt, ihre Transition, Allegorie und alle Umstände ganz genau erwägen, Gott in der Furcht um den Verstand fragen und per collationem konferieren, den Heiligen Geist zum Ausleger und Licht mit dreintragen und zur Hand haben" (S. 193). Auch in der Hochschätzung der Vernunft stimmt Franck weitgehend mit Erasmus überein. So stellt er fest: „Wie nun die Vernunft ein Brunnen ist aller menschlichen Rechte, deshalb über alles geschriebene Recht, also daß man sie mit dem Buchstaben nicht gefangennehmen soll, und ein Richter viel klüger sein und weiter sehen muß, als auch in Moses, dem göttlichen Rechtsbuch, im Buchstaben lag, und muß auch ein rechtes, gutes Urteil nicht aus dem Buchstaben der vorgeschriebenen Rechte, sondern aus freier Vernunft geschlossen werden, als gäbe es kein Buch"
eine Form der Frömmigkeit, die auf die verzweifelte Frage, wo ist nun die Wahrheit in diesen sich gegenseitig verdammenden und bekämpfenden Sekten, einen Ausweg zu zeigen schien." - H. Körner, Studien zur geistesgeschichtlichen Stellung Sebastian Francks, a. a. O., S. 23.
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(S. 368). Das schließt allerdings nicht aus, daß bei Franck das emotionale Moment der Willens- und Gefühlskräfte dennoch die wesentlichere Rolle spielt. Erasmus war innerlich vom Trinitätsdogma abgerückt. Wenngleich der stets Vorsichtige diesen Tatbestand zu verschleiern sucht, sieht er in Christus letztlich doch nur einen Menschen, allerdings einen solchen von außerordentlicher Größe. So wies Erasmus nach, daß die einzige biblische Textstelle, welche die Trinitätsdoktrin stützt (lJh 5,7f.), unecht ist. In Christi Lehre und Vorbild liege seine Bedeutung für uns. Die Ethik Christi, eine Ethik der Friedfertigkeit, Selbstlosigkeit, Reinheit und Liebe sei zu bejahen. Damit stimmen Francks Gedankengänge wesentlich überein. Weiter deckt sich Francks Auffassung von der Willensfreiheit weitgehend mit den entsprechenden Ausführungen des Erasmus in „De libera arbitrio" (1524), wonach Willensfreiheit ist: „eine Kraft des menschlichen Wollens ..., durch die sich der Mensch dem zuwenden, was zum ewigen Heil führt, oder sich davon abkehren könnte". 44 Franck folgt Erasmus in dieser Frage manchmal sogar hinsichtlich der Beispiele. Mit der Prädestinationslehre geht Franck in den „Paradoxa" noch schärfer ins Gericht als Erasmus selbst (S. 125f.). Auch der junge Erasmus kämpfte gegen Wallfahrten, prächtigen Kirchenschmuck, Heiligen-, Reliquien- und Bilderverehrung. Auch für ihn sind die Sakramente größtenteils nicht zur Seligkeit erforderlich, die Mönchsorden mit ihren unzähligen Vorschriften überflüssig. Ebenso findet sich der Gedanke der unsichtbaren Kirche auch bei Erasmus. Franck bleibt aber im Gegensatz zu Erasmus hier nicht stehen. Er macht Ernst mit der unsichtbaren Kirche, greift die katholische und jede andere Religionsgemeinschaft unnachsichtig an und unterscheidet sich von Erasmus vor allem durch seine Kompromißlosigkeit. Möglicherweise wird auch
44 Erasmus von Rotterdam, Gespräch oder Unterredung über den freien Willen, übersetzt, eingel. und mit Anm. von W. Lesowsky, in: Erasmus von Rotterdam, Ausgewählte Schriften, hrsg. von W. Welzig, Bd. IV, Darmstadt 1969, S. 37.
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Francks Vorstellung, daß die Reformation den Menschen nicht gebessert habe, ja, nicht zu verbessern vermöge, durch Erasmus bestärkt. 45 Schon in seinen ersten Paradoxa geht Sebastian Franck auf die Zentralfrage seiner Weltanschauung ein: seinen Gottesbegriff. Viele Franck-Forscher haben sich gedreht und gewunden, haben verklausulierte Formulierungen und Abschwächungen gebraucht - alles um nicht zugeben zu müssen, daß bei Franck eindeutig Pantheismus vorliegt. Im 18. und noch im 19. Jahrhundert hat man den Pantheismus bei ihm durchaus gesehen, Valentin Ernst Löscher und Ferdinand Christian Baur mögen dafür als Beispiel stehen.46 Will-Erich Peuckert meint: „Im Mittelpunkt des philosophischen Denkens Francks steht Gott", wobei er Francks Gottesverständnis als pantheistisch faßt. 47 Und 1979 stellt Robert Wesley Brenning in seiner Dissertation fest: „For Franck, God has a multi-faceted character which has been variously interpreted as pantheistic or panentheistic." 48 Dabei setzt er fort: „with Erbkam, we have the beginning of an interpretative movement that began consistently to see Franck as a pantheist".49 Körner gesteht in unserem Jahrhundert immerhin letztlich zu, Franck stehe
45
Vgl. ζ. B. Erasmus, Epistola ad Pseudoevangelicos, in: Desiderii Erasmi Roterodami, Opera omnia emendatoria et avctiora, t. X, Lugdvni Batavorvm MDCCVI, 1578c. 46 V. E. Löscher, Praenotiones Theologicae Contra Naturalistarum & Fanaticorum omne genus, Atheos, Deistas, Indifferentistas, Anti-Scriptuarios, &c. Crassos aeque ac subtiles, nec non suspectos Doctores, Custodiendae. Editio Secunda emendata & aucta, Wittenberg 1713, S. 85, 120, 135-139 u. ö.; F. Chr. Baur, Zur Geschichte der protestantischen Mystik, die neueste Literatur derselben, in: Theologische Jahrbücher, Tübingen, 7(1848), S. 453-528. 47 W.-E. Peuckert, Sebastian Franck, a. a. O., S. 236; vgl. dazu auch S. 240-242 u. ö. 48 R. W. Brenning, The Ethical Hermeneutics of Sebastian Franck, 1499-1542, Temple University, Philadelphia, Ph. D. 1979 (Reprint University Microfilms, Inc., Ann Arbor, Michigan 1980), S. 28. 49 Ebenda, S. 175; vgl. H. W. Erbkam, Geschichte der protestantischen Sekten im Zeitalter der Reformation, Hamburg - Gotha 1848, S. 289; es
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„an der Grenze der Aufklärung des religiösen Denkens". 50 Alfred Hegler, einer der besten Franck-Kenner, meint zu diesem Problem: Franck bilde „eine Etappe in der Entwicklung des mystisch gefärbten pantheistischen Gottesbegriffs des Mittelalters zum Pantheismus Spinozas". Nachdem Hegler ausführlich Francks entsprechende Äußerungen zitiert hat, sagt er: „Es scheint klar, daß man auf Grund dieser Aussagen Francks Gotteslehre als entschieden pantheistisch' bezeichnen muß ... Und doch ist dieses Urteil ... - ohne erhebliche Einschränkung ausgesprochen - unrichtig."51 Hingegen schreibt Gerhard Müller, Franck verwische „den Unterschied zwischen seinem zum Pantheismus neigenden Gottesbegriff und seiner Vorstellung von der eigentlichen Würde des wiedergeborenen Menschen durch seinen Mystizismus: das Mittleramt des Menschen- und Gottessohnes, Christus, wurde ausgeschaltet zugunsten des ,Christus in uns', der als Wirkung des Geistes schwärmerisch-mystisch den Menschen erleuchtet und ihn zum Gotteskind im Sinne einer überforderten Gottesebenbildlichkeit macht" 52 Bedeutend weiter geht schon der große deutsche, zu Unrecht viel zuwenig bekannte Historiker und Demokrat Karl Hagen: „In der That ist Sebastian Franck derjenige, in welchem die Ideen der neueren Philosophie bereits im Keime vorhanden sind: ja manche derselben sind von ihm schon vollkommen ausgebildet worden." 53 Nach Hagen ist bei Sebastian
geschah, daß Franck „unvermeidlich dem entschiedensten Pantheismus anheim fiel". Tausch gesteht Franck einen - allerdings durch die Mystik eingeschränkten - Pantheismus zu. Vgl. E. Tausch, Sebastian Franck von Donauwörth und seine Lehrer. Eine Studie zur Geschichte der Religionsphilosophie, Phil. Diss. Halle-Wittenberg 1893, Halle/S. 1893, S. 69. 50 H. Körner, Studien zur geistesgeschichtlichen Stellung Sebastian Francks, a. a. O., S. 79. 51 A. Hegler, Geist und Schrift bei Sebastian Franck. Eine Studie zur Geschichte des Spiritualismus in der Reformationszeit, Freiburg/Br. 1892, S. 213,215. 52 G. Müller, Sebastian Francks „Krieg-Büchlin des Friedes" und der Friedensgedanke im Reformationszeitalter, Phil. Diss., Münster 1954, S. 115. 53 K. Hagen, Deutschlands literarische und religiöse Verhältnisse im Reformationszeitalter, Bd. III, Erlangen 1844, S. 314.
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Franck die Materie von Anfang an in Gott gewesen, sie ist deshalb ewig und unendlich. Jedes Ding vergeht, verliert seinen individuellen Charakter, aber die Substanz bleibt ewig. Jedoch Hagen steht ziemlich allein. So meint Hase, Franck unterscheide doch ständig zwischen einem Gott an sich und einem Gott in uns. Letzterer verhalte sich wie bei Ludwig Feuerbach, d. h., das Sein Gottes in uns ist immer nur so, wie wir es denken. „Aber", fahrt Hase fort, „es ist klar, daß damit eben das Wesentliche jener Lehre fehlt, wonach das Wesen Gottes und jener falsche Schein identisch sind, mit andern Worten, daß Gott nur ein falscher Schein, also nichts ist. Nach allen bisher angeführten Stellen ist Franck also kein Pantheist." 54 Der Pfarrer Otto Haggenmacher behauptet kurz und bündig: „Man hat ihm (Franck - S. W.) Pantheismus und zwar sogar materialistischen vorgeworfen. Man hat ihn beschuldigt, er lehre eine Weltschöpfung im Sinne gnostischer Emanationen. Das alles mit Unrecht." 55 Nach Ernst Wilhelm Eschmann und Arnold Reimann ist Franck kein Pantheist, sondern Panentheist, was sie argumentierend belegen. 56 Meines Erachtens ist aber Panentheismus letztlich auch eine Form des Pantheismus. 57 Wilhelm Dilthey schrieb: „Der religiös-universalistische Theismus oder Panentheismus, von den Alten, besonders von der in der römischen Stoa vorliegenden letzten und menschlich höchsten Form ihres Denkens getragen, war damals (d. h. im 16. Jahrhundert - S. W.) das höchste und freieste Element der europäischen 54 C. A. Hase, Sebastian Franck von Word der Schwarmgeist, a. a. O., S. 167. 55 O. Haggenmacher, Sebastian Franck, sein Leben und seine religiöse Stellung. Eine Studie aus der Reformationszeit, Zürich 1886, S. 12. Zum gnostischen Gedankengut bei Franck vgl. auch: M. Barbers, Toleranz bei Sebastian Franck, Theol. Diss. 1963, Bonn 1964, S. 17f. 56 E. W. Eschmann: Sebastian Franck, in: Die Tat. Wege zum freien Menschentum, Jena, 26 (1934), S. 656f.; A. Reimann, Sebastian Franck als Geschichtsphilosoph. Ein moderner Denker im 16. Jahrhundert, Berlin 1921, S. 37. 57 Vgl. S. Wollgast, Karl Christian Friedrich Krause (1781-1832). Anmerkungen zu Leben und Werk, Berlin 1990, S. 17ff.; ders., Deus sive natura: Zum Pantheismus in der europäischen Philosophie- und Religionsgeschichte (im Druck).
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Bildung. Er ist nun auch der Gesichtspunkt, unter welchem Franck die von ihm innerlichst miterlebte deutsche religiöse Bewegung, von Tauler und der deutschen Theologie bis auf Luther, Zwingli und die Täufer, gestellt hat."58 Ich möchte mich Dilthey anschließen. Leider ist auf Francks pantheistische Position in jüngerer Zeit kaum eingegangen worden, wie überhaupt Francks theologisch-philosophische Position zumeist ein Randproblem der Forschung war. Ich kann hier keine Geschichte des Pantheismus geben und will ihn lediglich auf der Stufe behandeln, die wir m. E. bei Sebastian Franck und seinen Nachfolgern vorzufinden glauben. Schon seine „geschichtbibell" von 1531 leitet Franck mit einem Abschnitt „Von Gott / vnd dem namen Gottes" ein.59 Hier wie in den „Kronbüchlein" - wird vieles vorweggenommen, was später in den „Paradoxa" seinen Platz hat. Hier finden wir auch bereits die Unterscheidung zwischen innerem und äußerem Menschen. Der Gedanke, daß die Schrift, d. h. die Bibel, Ursache vieler Spaltungen der Christenheit sei, wird in der Vorrede zur dritten „Chronik" ausführlich dargestellt.60 Das Verhältnis von innerem und äußerem Christus verdeutlicht Franck an folgendem Beispiel. Christus heiße zu recht eher Gott denn Mensch: „die menschheit ist nun die arch vnd tempel darin got wonet ja in Got eingeleibt und vergottet / So heißt dz Wirtshaus oder tempel billicher nach dem wirt und priester / dann der wirt und priester nach der tabern vnd tempel / das vass nent man nach dem wein und nit den wein nach dem vass / Also sol man Christum nach dem bösten theil das ist nach der gotheit kenen / nennen und anbetten / und nicht nach dem fleisch ..." 61 58
W. Dilthey, Auffassung und Analyse des Menschen im 15. und 16. Jahrhundert, a. a. O., S. 81. 59 Sebastian Franck, Chronica, zeitbuch vnnd geschichtbibell ..., a. a. O., fol. Ia-IXa; vgl. ders., Encomion: Ein Lob des Thorechten Goetlichen Worts ..., a. a. O., fol. 244-260. 60 S. Franck, Chronica, zeitbuch vnnd geschichtbibell ... Chronica der Bäpst und Geystlichen händel, a. a. O., Vorrede, fol. Illb-IVb. 61 S. Franck, Chronica, zeitbuch vnnd geschichtbibell 1.. Die erst Chronick / Von Adam biß auff Christum, a. a. 0., fol. Illb. Das Beispiel vom Wein und Faß als Kennzeichen für idealistischen Pantheismus schon
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Nach Sebastian Franck weiß niemand, was Gott ist. Er gehört nicht zu den Dingen, die man zeigen, schreiben, hören und mit den Sinnen begreifen kann. Er ist vielmehr, so Franck unter Berufung auf Laktanz bzw. Pythagoras: „ein Gemüt ohne Leib, der durch alle Dinge der Natur ausgegossen ist und lebt, der Wesen und Empfindungen allen Dingen mitteilt" (S. 18). Weiter wird gesagt: man kann Gott nicht definieren. Er ist und wirkt alles in allen, ausgenommen der Sünde, er ist das Wesen aller Dinge selbst. Weil er alles in allen ist, hat er keinen Namen, „er, der aller sichtbaren und unsichtbaren Dinge Substanz" (S. 23). Mir scheint, daß Karl Hagen hier in der Tendenz zuzustimmen ist: „Die Lehre Francks nähert sich sehr dem Systeme Spinozas: ja er gebraucht sogar dieselbe Bezeichnung für Gottes Wesen, wie dieser, nämlich den Ausdruck ,Substanz'." 62 Freilich nur in der Tendenz, denn die gleiche Benutzung eines Terminus für eine bestimmte Sache sagt zunächst noch nichts aus. Es kommt auf seine Belegung an. Aber zweifellos ist bei Franck eine Richtung angelegt, die letztlich zu Spinoza hinführt. Wird man die pantheistische Elle allerdings an Spinoza anlegen, so kommt man zu einem anderen Ergebnis. Spinoza ist ein Höhepunkt pantheistischen Denkens, Gesinnungsgenossen vor ihm erreichen diese Höhe nicht, bleiben etwa auf der Stufe des Panentheismus. Nach Franck gelangt £ott erst im Menschen zum wirkenden Dasein und zur Selbsterfassung. Gott hat nichts von der Frömmigkeit des Menschen. Der Mensch genießt sie, nicht Gott. Dieser wird dadurch nicht reicher oder ärmer (S. 30) 63 . Dementsprechend sind Beten, Kirchgang, Fasten, Tempel, kirchliche Feste und alle Zeremonien überflüssig (Par. 89). Gott ist überhaupt ohne Begierde, Affekt und Willen. „Die Gottheit muß sich mit uns
bei Meister Eckhart in: Meister Eckhart, Predigten, hrsg. und übers, von J. Quint, Bd. I, Stuttgart 1958, S. 264; dann auch bei V. Weigel, Vom Ort der Welt, in: ders., Ausgewählte Werke, hrsg. und eingel. von S. Wollgast, Berlin 1977, S. 343. 62 K. Hagen, Deutschlands literarische und religiöse Verhältnisse im Reformationszeitalter, Bd. III, a. a. O., S. 342. 63 Vgl. S. Franck, Von dem Bawm guts vnd boeses / ... / Was der sei / . . . , in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 4, a. a. O., S. 187-225.
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vereinigen, (in uns - Η. Z.) ausgießen und uns ergreifen und an sich ziehen, damit wir auf Grund dieser Gemeinschaft, diesem Einfluß selber Götter, ... ein Licht und Salz der Erde genannt werden" (S. 24). Gott ist die Liebe und gebietet die Liebe, Treue usw. „Gott sollte nicht ohne die Kreatur sein, denn dann wäre er sich selbst unbekannt und nicht gepriesen gewesen" (S. 28). Er hat nichts davon, wenn wir uns alle zu ihm bekehren. Seine Gebote sind für uns gut, nicht für Gott. Er ist völlig passiv. Gott ist zwar allmächtig und weiß alles vorher, aber das bleibt für den Menschen ohne Einfluß. Im Anschluß an Boethius begründet Franck diese seine Auffassung mit einem Gleichnis (S. 50). Weiter wird Gott völlig subjektiviert: „Denn wie Gott alles allen ist, dem Guten gut, dem Lichten licht, dem, der aus Gott ist, Gott, also ist er dem Verkehrten verkehrt, dem Stolzen stolz, dem Reichen reich, dem Wollenden willig, und in summa: einem jeden wie er ihn in sich selbst findet und will." Und: „Gott wird erst in uns zum Willen; an sich selbst willenlos, wie wir ihn nun in uns ziehen, so will Gott" (S. 50f. und 53). An anderer Stelle wird faktisch gesagt, Gott sei das, was wir aus ihm machen (Par. 27a). Bezeichnenderweise sagt Franck: „Seneca nennt zuweilen Gott die Natur und die Vernunft (wie auch Franciscus Petrarca), den Geist Gottes in uns, der uns über sich ziehe zum Guten und zu göttlichen Dingen etc. Andere anders" (S. 227). Daß diese Äußerung nicht zufällig ist, erhellt daraus, daß Franck auch in seinen „Kronbüchlein" folgende Worte Senecas zitiert: „... dann was ist die Natur anders dann Gott / vnd die Goetlich art und ordenung / der gantzen Welt eingesenckt etc. Darumb ist die Natur nicht on Gott / noch got on die natur / baide sind sie ains / und haben im ämptern kain underschaid". 64 In Francks „Paradoxa" ist der Gedanke der Wiedergeburt zentral. Er findet sich aber nicht transmundal und transzendental abgehandelt, sondern als Wandlung des aus zwei Naturen zusammengesetzten Menschen, durch die Verwandlung des fleischli-
64 S. Franck, Was von Künsten vnd Menschlicher Weyßhait zü halten sei / etwas auß der Declamation Heinrici Cornelij Agrippe von der ongewißhait vnd eittelkait aller Kiinst/..., in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 4, a. a. O., S. 173.
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chen in den geistigen Menschen: „Sprichst du: Wie und wann geschieht die Wiedergeburt, daran alles gelegen und die ja eitel Geist und Leben ist? Antwort: Durch das lebendige Gotteswort in uns, wenn wir uns zu seinem Einleuchten, Zusprechen, zu seiner Ankunft und seiner vorhergehenden Gnade begeben, aller Dinge gelassen, verleugnend und uns lebendig im Tode dem Wort aufopfern, daß es uns wiedergebäre, anders formiere, bilde, pflanze am Sinn, am Geist, Willen etc." (S. 378). Hier ist die Wiedergeburt pantheistisch, als Vergottung in diesem Leben angelegt. Daraus wird auch die Überschrift von Paradoxon 255 verständlich: „Gerechtigkeit ist die Wiedergeburt". Diese Art der Wiedergeburt faßt Franck auch allein als Frömmigkeit. Dabei ist er sich bewußt, daß es ein ständiger Kampf ist, den der geistige und der fleischliche Mensch ausfechten: „Darum benimmt der Geist dem Fleisch hier nicht seine Natur, sondern er zwingt und drückt es allein nieder, damit es nicht aufkomme und den Kopf aufhebe" (S. 379). Von diesem Gottesverständnis her läßt sich allein der Wert der Dinge einschätzen: „Wer Gott nicht hat, der hat nichts. Wer Gott nicht weiß, der weiß nichts, wer nicht in Gott lebt, der ist lebendig tot" (S. 152). Soweit ich davon entfernt bin, Zieglers sonstige Schlußfolgerungen zu teilen, so möchte ich ihm an Hand der angeführten Stellen insoweit zustimmen: Franck „geht so weit ..., daß nur das Schema des allgemeinen Seins, der Substanz, für den Begriff Gottes übrig bleibt". 65 (Dies stimmt übrigens mit K. Hagens bereits zitierter Position fast wörtlich überein.) Aus Francks Gottesbegriff ergeben sich naturgemäß Konsequenzen für seine Christusauffassung. Wie wir aus seinem Brief an Campanus wissen, war Franck letztlich Antitrinitarier. Diese Tatsache findet auch in den „Paradoxa" Niederschlag. Jesus Christus wird mit der dem göttlichen Willen aus persönlicher Überzeugung und innerstem Antrieb zustimmenden Freiheit des moralischen Bewußtseins identifiziert. Franck unterscheidet einen inneren und einen äußeren Christus. Der innere Christus ist nicht
65 H. Ziegler, Sebastian Franck. Kurze Darstellung seines theologischen Standpunktes nach seinem Buch der 280 Paradoxa, in: Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie, Leipzig, 50 (1908), S. 411.
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nur Eigentum der Christen selbst. Er existierte schon in der Zeit des alten Bundes, des Alten Testaments: „Christus ist das Wort des Vaters, nach der Gottheit und anderen Natur wahrer Gott und Gott selbst, ist im Alten Testament... von Anfang an verborgen ..." (S. 166). Auch viele vor- bzw. nichtchristliche Philosophien haben den inneren Christus besessen: Christus ist als ideeller Christus zu allen Zeiten als göttliche Kraft im Menschen wirksam gewesen. Er wird also letztlich für jeden Gott (das Gute, die Liebe usw.) suchenden Menschen nur ein Bruder, ein Gesinnungsgenosse, höchstens ein Priester. Vom geschichtlichen Christus ist demgemäß bei Franck, sooft er auch den Begriff Christus gebraucht, wenig die Rede. Entscheidend ist der innere Christus: „Christus ist in uns und nicht außer uns, er ist unsere Gerechtigkeit, unser Heil und Leben, daß wir, von Adam in ihn versetzt, aller Dinge seinem Bilde ähnlich werden und uns an dieses Muster, das er uns vorgetragen hat, halten; ja, daß er selbst in uns lebe. Denn wie Christus unser Fleisch ist, also muß er auch in uns geboren werden, leben, sterben, erstehen und gen Himmel fahren, seine Geschichte, sein Leiden und seine Auferstehung muß in allen seinen Gliedern vollführt werden, auf daß wir mitleben wie mitleiden und wir alle Christus sind ..." (S. 179f.). Und an anderer Stelle sagt Franck: „Denn das Reich Christi kommt nicht von außen, sonst wäre es gleich mit dem toten Christus oder mit sonst einem figürlichen Opfer des Gesetzes... das Leiden Christi muß im innersten Heiligtum unseres Herzens vollbracht und ausgespendet werden ..." (S. 187). Schließlich stellt Franck fest: „Christus ist nicht, solange er außer uns ist und allein von ferne angebetet wird, gerühmt und im Munde allein auf der Zunge umhergetragen. Er muß in das Herz und muß in uns mit unserer Seele vereint werden, damit er in uns lebe ..." (S. 234). Nach Will-Erich Peuckert gilt: in Francks Christologie „spukt auch die Aufklärung schon voraus". 66 Neben diesen Stellen finden sich eine Reihe anderer, die den Christusgedanken wieder den offiziellen kirchlichen Lehrmeinungen der Zeit annähern (Par. 99). Aber sie treten im Gesamtzusammenhang zurück. Franck leugnet nicht den historischen Christus,
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W.-E. Peuckert, Sebastian Franck, a. a. O., S. 253.
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aber er setzt ihn in seiner Wertung stark herab. Schon allein damit mußte er das entschiedene Mißfallen der Orthodoxie erregen. Die Vergeistigung des Gottessohnes, seine Einbeziehung in Gott selbst, entmystifizierte die christliche Religion merklich. Francks Ideen basieren auch in dieser Frage auf mystischen Quellen. Vom Heiligen Geist, der dritten Person in der Trinität, handelt Franck wenig explizit, wenngleich er diesen Begriff häufig anführt. Dabei läßt sich erkennen, daß er - der Antitrinitarier - den Heiligen Geist nicht als eigene Gottheit in der Trinität faßt. Auch hier steht Franck in der Schülerschaft des Erasmus, der schon durch seine textkritische Bibeledition die Trinitätslehre erschütterte, und von dem in dieser Hinsicht eine direkte Linie zu den Sozinianern führt. Wie sieht nun Franck das Verhältnis von Gott und Welt? Wie dementsprechend den Menschen? 67 Die Welt ist ihm, entsprechend seinem Grundverständnis, der absolute Gegensatz zu Gott. Wir lassen dafür einige Paradoxa-Überschriften zeugen: „Gott ist der Welt Teufel, Christus der Welt Antichrist", „Gott ist der Welt Gegensatz und Widerpart" (Par. 15 und 17). „Mensch, Welt, Fleisch und Teufel eins", „Die Gottlosen sind der Welt heilig" (Par. 66 und 80). „Der Welt Friede ist der höchste Unfriede und Feindschaft Gottes", „Christus, Gott, das Evangelium, Gottes Wort - das ist der Welt Antichrist, Teufel, Ketzerei. Dagegen: der Antichrist, Satan und sein Wort - das ist der Welt Christus, Gott und Evangelium", „Was die Welt Liebe nennt, ist vor Gott Haß" (Par. 145, 177 und 229). Unter Welt versteht Franck alles, was dem unter dem Begriff der Liebe, Güte, Reinheit, Friedfertigkeit, Toleranz, Wahrheit, Treue, Barmherzigkeit usw. zusammengefaßten Gott entgegensteht. Da nun Gott im wahrhaft gläubigen Menschen „west", in ihm zum Akteur wird, steht zugleich mit Gott der wahrhaft gläubige Mensch der Welt gegenüber. Welt ist alles Fleischliche. Das ist für Franck die ungerechte soziale Ordnung seiner Welt mit ih-
67 Vgl. G. Zaepernick, Welt und Mensch bei Sebastian Franck, in: Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Pietismus, Göttingen, 1 (1974), S. 9 - 2 4 .
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rer Obrigkeit, es sind die Pfaffen und Mönche, die scholastischen Gelehrten, die nach Titeln, Namen, Reichtum usw. Gierenden, die Heuchler, die Gott in Kirchen und Tempeln anbeten, ihre Sünden beichten und dann von neuem zu sündigen beginnen. Welt ist so für Franck der ganze soziale Bau der 30er Jahre des 16. Jahrhunderts. Er wendet sich gegen die ,.Maulchristen" der Welt, die Luthers Kirchenlied „Wyr gleuben all an eynen Gott" singen und zugleich in ihrem alten verwerflichen Leben und Streben fortfahren, aus ihrem vorgeblichen Glauben keine Konsequenzen für ihr sittliches Handeln ziehen (Par. 18). Voller Empörung wendet sich Franck auch gegen die Bemäntelung von menschlichen Schwächen der „Welt" durch die Bibel: „Dann müssen Davids Ehebruch, Moses und Elias Eifer, des Patriarchen Jakob vierweibrige Ehe und andere Fehler der Frommen, die sich hin und wieder in der Bibel finden, ihren falsch gedachten, fleischlichen, toten Wahnglauben entschuldigen ... Damit geben sie aber zu verstehen, daß sie eben diejenigen sind, die der Herr Christus Pharisäer n e n n t . . . " (S. 336f.). Dabei ist diese Weltverachtung und ihre Entgegensetzung gegen Gott nicht in dem Sinne absolut, daß „Welt", d. h. einzelne ihrer Kinder, nicht „Gott" werden könnte. Gott und der Weg zu ihm steht nach Franck allen offen, die ihn gehen wollen. Dieser Weg führt über den geistigen Christus, über sein Begreifen, zu dem der gekreuzigte Christus nur ein ,.Zeiger" war. Was aber Welt bleibt, ist verdammt. In konsequenter Weiterführung seiner Entgegensetzung von Gott und Welt, innerem und äußerem Christus, postuliert Franck auch einen inneren und äußeren Menschen. Der äußere Mensch gehört der Welt an. Jeder Mensch ist aus Geist und Fleisch zusammengesetzt. Bleibt er Fleisch, so ist er Welt. Wird er Geist, so wird er eins mit Gott. Gegen den äußeren Menschen, den der Welt seiner Zeit, ihrer Herrschaft und Religion verhafteten Menschen, ergießt sich Francks ganzer Zorn, wie wiederum allein schon aus einigen Paradoxa-Titeln erhellt: „Der Mensch ist ein Schandtitel und Lästername", „Den Menschen mißfallen - das größte Lob", „Die Welt sind alle Menschen" (der innere Mensch ist ja nach Franck faktisch schon Gott), „Was menschlich, das ist teuflisch", „Alle Menschen sind verdammt und keiner selig unter ihnen" usw. (Par. 68-71 und 73). Dabei beinhalte das menschliche Leben ein stetes Ringen beider Komponenten.
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Wir können also sagen: Francks Pantheismus ist inkonsequent. Er verbindet zwar Gott und Mensch zu einer Einheit, bei der Gott faktisch im Menschen aufgeht, erst hier seine Aktivität gewinnt, aber diese Gleichsetzung, die auch für die Natur insgesamt gilt (Uber die Franck aber nur beiläufig meditiert), gilt nur für den inneren Menschen. Hierin kommt vielleicht Francks Resignation über die bestehenden sozialen, politischen und intolerant-religiösen Verhältnisse seiner Zeit zum Ausdruck. Nun ist nach seinen eigenen Worten die Gemeinschaft der inneren Menschen, die über die ganze Welt unter Christen und Heiden zerstreut ist, recht klein. So ist scheinbar die Wirkung dieses pantheistischen Ansatzes bei Franck recht gering. Dem ist aber nicht so, denn die Folgerungen, die er aus dem Gott-Welt-Verhältnis, aus der Lehre vom inneren und äußeren Christus, vom inneren und äußeren Menschen zieht, sind so umfassend, daß man sie für ihre Zeit als revolutionär bezeichnen muß. Jedenfalls haben sie eine solche Wirkung bis zum Beginn der Frühaufklärung auf die Theologie und Philosophie, auf die gesamte Geisteswissenschaft. Und die Diskussionen zu diesem Thema sind weder heute abgeschlossen, noch ist ein Ende absehbar. Zudem darf man die Wirkung des geschriebenen Wortes nicht unterschätzen - jedenfalls nicht im 16. Jahrhundert! Francks Auffassung von der Sünde und der Willensfreiheit steht zu der der Reformation in entschiedenem Gegensatz. Luther und Melanchthon gehen aus vom tiefen Gefühl der Hilflosigkeit des Menschen, das durch die Sünde verursacht wird. Dieses Gefühl wird bereits in der Augustinischen Lehre von der Erbsünde reflektiert. Christus hat für die Sünde des menschlichen Geschlechts, die mit Adams Sündenfall im Paradies beginnt, der göttlichen Gerechtigkeit vollkommen Genugtuung geleistet. Daher ist nur in der Hingabe des ganzen Sinnens und Trachtens des Menschen an Gott das Heil zu finden. Sola fide - nur durch den Glauben allein kann die Erlösung des Menschen erfolgen. Die Satzungen der Kirche - wie auch ihre Werke - sind nur insofern heilsam, als sie aus dem Glauben hervorgehen. Erasmus hatte sich mit Luther nach langem Drängen in seiner Schrift „De libera arbitrio. Diatribe" (1524) mit dem Problem der Willensfreiheit auseinandergesetzt. Während der Rotterdamer die Willensfreiheit des Menschen behauptete, protestierte Luther in
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„De servo arbitrio ad Erasmum" (1525) leidenschaftlich. Hier streitet der Reformator für die angeborene Unfreiheit des menschlichen Willens, indem er die Bibelstellen, die für die Willensfreiheit sprechen, durch die Behauptung zu entschärfen sucht, daß Gott heimlich das Gegenteil dessen wolle, was sein geoffenbarter Wille ausspreche. Die Apostel hätten nur spottweise von solcher Freiheit gesprochen. Erasmus widerlegt diese Aussagen in seinem „Hyperaspistes" (1527). 68 Aber Erasmus schrieb lateinisch. Das Volk wurde mit seinen Auffassungen nicht bekannt. Von Franck und anderen wurde die Erasmische Auffassung von der „Freiheit eines Christenmenschen" in die Volkssprache übersetzt und somit zum wirksamen Kampfbanner. In seiner „Chronica der Römischen Ketzer" sagt Frank zu Luthers Auffassung von der Erbsünde: „In der gloß über den spruch Joan. XV. Si non venissem etc. spricht er lauter / dz durch Christum die erbsünd sey auffgehaben / vnd verdam nach Christus zukunfft niemandt / dann wer sy nit lassen / dz ist / wer nicht glauben wöll. Zeucht auch darauff Ezechielem cap. XVIII an / dz ein yeder umb seiner eyge Sünden willen sterben werde." 69 Zweifellos gibt es für Luthers Auffassung von der Sünde markantere Stellen. Aber Franck benutzt eben Luther in seiner Weise. Versteckt - ohne Namensnennung - polemisiert er gegen Luthers entscheidende Lehren über Sünde und Willensfreiheit in den „Paradoxa". Die Paradoxa 266-270 bezeugen das. Die Übereinstimmung mit des Erasmus „De libero arbitrio" geht hier bis zur Gleichheit der Beispiele. Aber zumeist zeigt Franck dadurch seinen Gegensatz zu Luther, daß er ihm seine eigene, stark an Erasmus orientierte Freiheitskonzeption entgegenstellt.
68 Vgl. S. Wollgast, Nachwort zu: Erasmus von Rotterdam, Schutzschrift (Hyperaspistes) gegen Martin Luthers Buch „Vom unfreien Willen", Erstes Buch, hrsg. von S. Wollgast, Leipzig 1986, S. 2 0 9 - 2 3 8 . Francks entsprechende Auffassung nähert sich Erasmus an, ist aber nicht mit ihr identisch. Vgl. G. Goldbach, Hans Denck und Thomas Müntzer ein Vergleich ihrer wesentlichen theologischen Auffassungen. Eine Untersuchung zur Morphologie der Randströmungen der Reformation, Theol. Diss. Hamburg 1969 (Masch.), S. 4 2 - 4 5 . 69 S. Franck, Chronica, zeitbuch vnnd geschichtbibell ..., a. a. O., fol. CLXXa.
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Nach Sebastian Franck gilt: „... der Vogel singt und fliegt eigentlich nicht, sondern er wird gesungen und in den Lüften dahergetragen. Gott ist es, der in ihm singt, lebt, webt und fliegt. Er ist aller Wesen Wesen, also daß alle Kreaturen Gottes voll sind, sie tun und sind nichts anderes, als sie Gott heißt und will. Allein diesen Unterschied hat es mit dem Menschen, daß er ihn mit seinem freien Willen, den er ihm auch gegeben hat, führen und nicht ohne seinen Willen wie andere Kreaturen ziehen will" (S. 406). Franck stellt in seinen Paradoxa 266-270 zusammenfassend fest: „Die nun sich als Christen bekennen und doch daneben vorgeben, daß nichts Gutes in ihnen sei, daß sie nichts Gutes tun oder auch nur wollen und wählen könnten, die verneinen erstlich, daß sie Christen sind, zum anderen, daß Gott in ihnen wohne, zum dritten, daß sie den Heiligen Geist haben, zum vierten, daß sie gläubig sind" (S. 408). Und er betont weiter: „So sehr frei und göttlicher Art ist des Menschen Wille, daß ihn niemand einschließen, nötigen oder hindern kann" (S. 411). Es ist unser Wille, ob wir Gott annehmen wollen oder nicht, Gott bietet sich uns, wie ein Vater einem Kind einen roten Apfel bietet. Er zwingt es nicht, diesen anzunehmen, aber gibt ihm doch die Möglichkeit, zeigt sie ihm (S. 399). Wie die Biene aus der Blume Honig saugt, die Spinne aber Gift, wie durch die Sonne Wachs weich, Kot aber hart wird, so steht es dem Menschen auch frei, ob er den inneren oder äußeren Menschen, Gott oder die Welt wählen will. Dieses Beispiel taucht bei Franck häufig auf (S. 68, 69 u. ö.).70 Deshalb bewirkt Gott auch nicht die Sünde. Somit ist also der freie Wille des Menschen von Gott geschaffen, sein Gebrauch aber ausschließlich zu einer Sache des Menschen geworden. Francks Lehre gipfelt in der Feststellung, daß Gott die Sünde weder wehren noch fördern kann. Die Paradoxa 29-31 („Gott ist ein Verursacher des Übels, aber nicht der Sünde", „Auch das Übel oder das Böse ist
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Vgl. Th. Hall, Possibilities of Erasmian Influence on Denck and Hubmaier in their Views on the Freedom of the Will, in: The Mennonite Quarterly Review, Goshen, 35 (1962), S. 149-170. Franck wird hier nicht genannt. Da aber die Möglichkeiten der Einflußnahme bejaht werden, und S. Franck J. Denck sehr nahestand, erhellt ra. E. auch die Bejahung der Erasmischen Position der Willensfreiheit.
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vor Gott nicht böse", „Sünde ist vor Gott nichts") sind von diesen Gedanken bestimmt. Allein mit diesen Ausführungen über die Sünde und den freien Willen gebührt Franck ein Ehrenplatz in der Geschichte des theoretischen Denkens. Dazu kommt noch seine Auffassung von der Gleichheit aller Sünden (Par. 261-264). Damit wird einmal gegen die Staffelung der Sünden in der katholischen Kirche Stellung genommen. Zum anderen betont dieser Gedanke die Gleichheit der Menschen. Drittens wird somit der Vorrang des Priesters vor den Laien aufgehoben, der Priester zudem seiner Rolle als Sakramentspender entkleidet. Letztlich fällt damit die Berechtigung eines besonderen Klerus. Unter Berufung auf Cicero sagt Franck: „Ebenso, wenn einer ... ein schlecht Mägdlein schwächt, ist das nicht weniger Sünde, obwohl weniger Schade, als wenn er eine edle Jungfrau verunehrt hätte. Denn die Sünden werden nicht nach dem Schaden, sondern nach der Menschen Bosheit gemessen; nicht wie sie geschehen, sondern wie und in welcher Gesinnung man sündigt; der Schaden und die Schande mag wohl größer und kleiner sein, aber nicht das Sündigen an sich selbst" (S. 388). Verständlich, daß gerade Francks Auffassung von der Gleichheit aller Sünden den Zorn der Reformatoren und seines Ulmer Hauptgegners Martin Frecht erregte. Wesentlich ist dabei auch, daß nicht die Sinnenlust Ursache der Sünde ist, sondern die Eigenliebe, der Egoismus der Menschen. Auch dadurch, daß bei Franck die Erbsünde verworfen wird (Par. 130 und 131), ist ebenfalls ein großer Schritt zur Freisetzung der menschlichen Persönlichkeit getan. Die Aufklärung wird auch diesen Gedanken aufnehmen. Luther sah die Freiheit nicht im geistigen Prinzip der Menschen selbst, sondern in der Begnadigung, in der Sündenvergebung durch Gott. Die katholische Kirche hielt fest an der These des Thomas von Aquino, daß alles Denken und Handeln der Menschen vorherbestimmt sei und von Gott gewollt. Doch da Gott frei ist, kommt der Vorherbestimmung des Menschen zugleich Freiheit zu.71 Welch Unterschied - und Fortschritt - demgegenüber
71
Vgl. Thomas von Aquin, Summe der Theologie, zusammengefaßt, eingel. und erl. von J. Bernhart, Bd. 2: Die sittliche Weltordnung, 3. durchges. und verb. Aufl., Stuttgart 1954, S. 144-148.
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bei Franck! Im Gegensatz zu Luther findet sich in seinem Freiheitsbegriff nicht mehr die alleinige und absolute Beschränkung auf den Bereich des Glaubens. Der Übergang zur Fassung der Freiheit auch im politischen und sozialen Leben deutet sich an. In Luthers „Freiheit eines Christenmenschen" wird auf IKo 9,19 gefußt, auf die dort angelegten beiden Sätze, wonach der Christ vor Gott frei ist, vor der Welt aber jedermann Untertan, der Gewalt über ihn habe, in Liebe und Gehorsam. Bekanntlich ist auch hier die Lehre von den „beiden Reichen" angelegt. Bei Franck hingegen entspricht der radikalen Entgegensetzung von Gott und Welt, von menschlichem, zur Sünde führendem Egoismus und dem In-Gott-gegründet-Sein eine letztliche Negierung der bestehenden sozialen Ordnung. Daraus ergibt sich wiederum, daß es für Franck in dieser Hinsicht keine „doppelte Wahrheit" gibt. Die bestehende Ordnung seiner Zeit hat Gott nicht. Christus wird notwendig von der Welt verfolgt. Mit den großen Herren kann kein Christ, wie ihn Franck faßt, zusammengehen, denn „Der Welt Herrschaft - die größte Knechtschaft" (Par. 11). Den Gedanken entwickelnd, daß Gott allein der Herr sei, fährt Franck fort: „Anderer Herren Herrschaft und Reich liegt auf des armen Mannes Schultern, der bedarf jedermann und muß von ihnen ernährt, bekleidet, beschirmt, erhalten, getragen und zum Herrn gemacht werden. Dies ist eine arme Herrschaft, ja vielmehr eine rechte Knechtschaft, nämlich auf anderen liegen, von sich selbst nichts haben, jedermanns Hilfe bedürfen, nichts vermögen, von anderer Leute Schweiß sich nähren und (dabei - Η. Z.) ein Herr sein. Darum hat jede Weltherrschaft nichts als den Namen von der Herrschaft ... die Weltherrschaft liegt auf den Schultern der Armen. Ja, es sind arme und lahme Herren, die man zu reichen Herren machen und tragen muß, die aber nichts von sich selber haben. Aber die aus Gott geboren sind, herrschen nach göttlicher Art mit eitel Guttat, Dienst, Hilfe, Trost..." (S. 33f.). Die letztlich radikale Ablehnung der bestehenden weltlichen Obrigkeit führt Franck m. E. in seiner Zeit zu einer Weiterentwicklung des Freiheitsbegriffes. Zudem entwickelt er auch hier seine Gedanken, wonach die Ketzer die eigentlichen Christen, die so scheinenden Christen die wahren Ketzer seien. „Wiederum sind vor der Welt nie Gott, Christus, Gottes volk, Christen etc. solche gewesen, die vor Gott dafür in der Wahrheit sind, sondern An-
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tichristen, Teufel, Ketzer, Teufelsvolk" (S. 41). Seinen Auffassungen aus der „geschichtbibell" bleibt er treu, wenn er auch hier die Ablehnung jeder weltlichen Obrigkeit vertritt (Par. 10 und 11). Die Gleichheit aller Völker (Par. 82) ist auch in den „Paradoxa" Francks Anliegen. Die Liebe zum Menschen kommt im Paradoxon 227 besonders eindeutig zum Ausdruck. Der Toleranzgedanke Francks wird u. a. in die programmatischen Worte gefaßt, daß alle Menschen in allen Ländern von Natur aus gleich seien. Alle Menschen seien ein Mensch. 72 Der Unterschied bestehe nur im äußeren Ansehen (Par. 92-93). Man kann sich der bitteren Erkenntnis nicht verschließen, daß ein Mann des 16. Jahrhunderts hier Wahrheiten ausspricht, die heute, mehr als vierhundertfünfzig Jahre später, immer noch nicht in allen Kulturnationen Allgemeingut sind. Franck wendet sich aus seiner Grundhaltung heraus gegen die 10 Gebote. Sie seien gleich Taufe, Abendmahl und anderem zeitbedingt (Par. 47-50, 86-88). Entschieden verteidigt er das Urchristentum, in dem es noch keine Tempel und Zeremonien gab (Par. 89). Weiterhin wendet sich Franck gegen gewaltsame Bekehrungsversuche zum Christentum. Auch brauchen die wahren Christen keine Gesetze (Par. 151b), eine Auffassung, die Franck wiederum in die Nähe der radikalen Strömungen unter den Täufern führt. Die Arbeit wird von Franck hoch geschätzt (vgl. Par. 93-95). Der Mensch sei zur Arbeit geschaffen wie der Vogel zum Fluge (Par. 141-144). In Notzeiten sei auch erlaubt, was unter anderen Bedingungen Sünde genannt werde (Par. 274). Bedeutsam, jedoch in der Forschung vernachlässigt, sind die Aussagen Francks im Paradoxon 153 („Das Gemeine ist rein, das Dein und Mein unrein"). Er hält dabei den zu seiner Zeit vorhandenen individuellen Besitz an privaten Gütern nur für eine Verirrung von zeitlicher Dauer. Nebenbei: Sebastian Franck hat seine ,gleichheitskommunistischen' Ideen bis zu seinem Tode vertreten. Sie sind auch aus seiner chiliastischen Grundposition erklärbar. Nach Franck (Par. 57) kann man auch nichts sagen, was nicht zugleich wahr und falsch ist. Bei aller Betonung des inneren Wor72
Vgl. L. Blaschke, Der Toleranzgedanke bei Sebastian Franck, in: Zur Geschichte der Toleranz und Religionsfreiheit, hrsg. von H. Lutz, Darmstadt 1977, S. 4 2 - 6 3 .
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tes, des individuellen Gefühls, zeigt sich bei ihm immer wieder die Wertschätzung der Vernunft. Er schreibt sogar, daß die Vernunft die Quelle aller menschlichen Rechte sei und höher als das geschriebene Gesetz stehe (Par. 248 und 249). Von ihr sollen sich die Menschen sowohl in ihren Beziehungen untereinander als auch in den Beziehungen zu allen Dingen überhaupt leiten lassen. Dabei ist die Vernunft allen Menschen gleichermaßen gegeben. Es kommt allein darauf an, wie wir sie zu nutzen wissen. Auch in seiner Einstellung zu den Sakramenten und der Bibel bleibt Franck konsequent - ein stiller, aber revolutionären Sprengstoff herstellender Denker. In seiner Bibelbetrachtung entwickelt er einen für seine Zeit enormen Skeptizismus. Luther hatte die Gleichstellung der Lehren der Kirchenväter und Heiligen mit der Bibel beseitigt. Franck ging darüber hinaus und setzte die Bibel in einem Maße herab, daß von Gottes Wort wenig in ihr bleibt. Dies ist schon aus seinem inneren Gottes- und Christusbegriff verständlich und geht weiter aus seiner Lehre vom inneren Menschen hervor, der der Schrift nicht mehr bedarf. In der Einleitung zu den „Paradoxa" lesen wir: „Es möchte einer Ovids ,De arte amandi' ebenso leicht verteidigen, als wenn man der Schrift allenthalben nach dem Buchstaben folgen wollte. Die Hände abhauen, die Augen ausstechen, Christi Fleisch essen und sein Blut trinken, wiedergeboren werden, den Tempel zerbrechen und in dreien Tagen ihn wieder errichten etc. ... Gewalt an sich selbst legen, den Rock für ein Schwert hingeben ..." (S. 7). Franck setzt dann fort: „Hieraus folgt, daß der Buchstabe und grammatische Sinn der Schrift auch nicht der Probierstein und die Goldwaage der Geister sein kann, sondern derselben Geist, Sinn, Auslegung und Verstand ist allein gleich Gottes Wort, also allein die Probe der Geister" (S. 10). Zu Francks Bibelauffassung seien wiederum allein die Titel einiger seiner Paradoxa angeführt: „Das Evangelium ist eine lebendige Kraft Gottes und kein toter Buchstabe", „Das neue Testament, das der Heilige Geist ist, ist kein geschriebenes Buch, sondern mit dem Finger Gottes in die Tafeln des Herzens geschrieben" und demgemäß: „Das Neue Testament ist des Alten Aufhebung und Erfüllung" (Par. 172, 173 und 88). Fast am Beginn der „Paradoxa" führt Franck aus: „daß es alles nur ein Bild und Schatten ist, von weitem entworfen, was man
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von Gott schreibt oder sagt" (S. 21). Der Buchstabe der Schrift hindert die Menschen also nur, Gott persönlich zu fassen, Gott zu werden. (Man vergegenwärtige sich dabei immer, welchen Gottesbegriff Franck zugrunde legt!) Er gibt für seine Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Bibel auch Ursachen an, wie den Wechsel der Sprachen, die Unsicherheit des Buchstabens usw. Er begibt sich also unter die Textkritiker.73 Nach Franck hat die Bibel überhaupt „gespaltene Klauen". Sie ist von Widersprüchen durchzogen, enthält auch, wörtlich verstanden, viel Törichtes und Gottes Unwürdiges (Par. 83-85, 119-123). Aus der Bibel könne man alles beweisen (Par. 200-203). Sie sei zur Seligkeit nicht nötig (Vorrede). Ihre Widersprüche seien für den, der kein geistiges Erkennen der Bibel vornimmt, nicht zu lösen. Aus der Überschätzung des „Wortes" ergibt sich auch die scharfsinnige und spöttische Polemik Francks gegen die Scholastiker, die sich immer für die besten Christen hielten (ζ. B. Par. 248). Dabei wird kein Unterschied zwischen alten und neuen Scholastikern gemacht. Gott existiert nicht außerhalb von Raum und Zeit (Par. 49). Er kann niemandem dienen oder schaden. Er ist für Franck überall, in allen Dingen und das welterhaltende Prinzip (vgl. Par. 1-4, 22, 29-31 und 42). Für den Menschen ist Gott unerkennbar und undefinierbar. Gott habe auch nichts von der Frömmigkeit der Menschen. Der Mensch genieße sie, nicht Gott (Par. 9). Dementsprechend ist Gott das, was der Mensch aus ihm macht: „dem Verkehrten verkehrt, dem Stolzen stolz, dem Reichen reich, dem Wollenden willig, und in summa: einem jeden, wie er ihn in ihm selbst findet und will" (S. 51). Francks theologisch-philosophische Position war, wenn sie auch bei ihm nicht immer konsequent ist, wahrhaft revolutionär. Zumeist berief man sich ja in der Frühen Neuzeit auf den Bibeltext, wenn man gegen wissenschaftliche Neuerungen anging. So modern sich die christlichen Konfessionen in dieser Hinsicht auch heute geben und verstehen mögen - ihre historische Schuld steht außer Frage. Und so hat I. Hagiwara in gewissem Sinne recht, wenn sie schreibt: „Es ist heute von der neutestamentlichen
73 Vgl. auch S. Franck, Was von Künsten vnd Menschlicher Weyßhait zuhalten sei / . . . , in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 4, a. a. O., S. 125.
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Wissenschaft klar herausgestellt, daß die Tatsachen des Heilsgeschehens in Form von Predigten und Erzählungen auf mythologischen Hintergrund mit kerygmatischer Ausrichtung dargestellt sind, welche das Geheimnis der Gottesherrschaft enthalten. Diese Einsicht ist erstmals von Seb. Franck umfassend zu Geltung gebracht worden." 74 Bei Franck ist bereits angelegt, was Helmut Seidel für Spinoza als entscheidend hervorhebt: „Die von Spinoza erstmals durchgeführte historische Analyse der Bibel führte zu dem Resultat, daß ... sie keine Naturgesetze, sondern Sittengesetze lehre, daß sie keine theoretische Wahrheit, sondern praktische Moral enthalte, die weitgehend historisch bedingter Natur ist, und nur in der Liebe zu Gott ein allgemeines ethisches Moment enthält." 75 Ähnlich Spinoza beruft sich Franck ständig auf die Bibel, sie ist das von ihm am meisten zitierte Buch. Es wäre einer speziellen Untersuchung würdig, wie Franck den Bibeltext nutzt und welche Stellen - etwa im Unterschied zu den Reformatoren oder zu Spinoza - seine Hauptstützen sind (vgl. das Bibelstellenverzeichnis zum Text, S. 436-447). Wenn aber Spinoza meint, daß die Freiheit vom religiösen Kirchenglauben nur für einen sehr begrenzten Kreis von Menschen erreichbar ist, für „Weise", so setzt Franck diese Schranke nicht. Für Franck kann ein jeder zum „Weisen" werden - es liegt an seinem Willen. Aus Francks theoretischen Auffassungen zu Gott und Mensch ergibt sich auch die entschiedene Ablehnung der kirchlichen Zeremonien einschließlich der Sakramente (Par. 112 und 130), ebenso die Ablehnung jedes Kultus, die Nutzlosigkeit der Gebete und die Gleichstellung der Heiden mit den Christen. Nicht durch den Glauben allein wird man selig, sondern durch ein anständiges Leben. Damit ist ein wesentlicher Schritt zur Befreiung der Persönlichkeit getan. Die Sünde wie die Frömmigkeit seien allein im Willen, Affekt und Herzen (Par. 269 und 270). Nicht der Ehebruch macht den Ehebrecher, sondern umgekehrt, sagt Franck.
74 I. Hagiwara. No-Church Movement. Ein Vergleich des Kirchenbegriffs von Sebastian Franck und Kanzo Utschimura, Phil. Diss. Marburg 1962, S. 27. 75 H. Seidel, Spinoza und die Denkfreiheit, in: B. Spinoza, Der theologisch-politische Traktat, Leipzig 1967, S. 364.
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Auch ist nicht, wie im Kirchenglauben, die Sinneslust Ursache der Sünde, sondern die Eigenliebe, der Egoismus des Menschen. Jesus Christus wird mit der dem göttlichen Willen aus persönlicher Überzeugung und innerstem Antrieb zustimmenden Freiheit des moralischen Bewußtseins identifiziert. Das historische Erlösungswerk Jesu Christi sei nur von symbolischem Wert (Par. 131). Die Erlösung durch Christus erfolge in uns. Der von der Kirche gepredigte Christus sei nicht entscheidend und seligmachend, sondern ein idealer Christus, der zu allen Zeiten als göttliche Kraft im Menschen wirksam gewesen sei (Par. 132, 138 und 134). So wird das Dogma von Jesu Opfer und Kreuzigungstod bewußt beiseite geschoben. Es gibt für Franck auch keine Rechtfertigung durch den Glauben an jene göttliche Gnade, die die Sünde äußerlich aufhebt und als nicht geschehen ansieht. Es gibt nur den rein innerlichen Vorgang jener Wiedergeburt, zu der Christus überhaupt nicht erforderlich ist. Damit wird der Solafide-Theorie der protestantischen Theologie der Grund entzogen. Die zweite Gestalt in der christlichen Trinität wird faktisch in ein innerliches Prinzip aufgelöst: Von Jesus in der von den Evangelien gepredigten Gestalt bleibt nichts und damit nichts von der organisierten christlichen Kirche.
Zur vorliegenden Ausgabe Dieser Edition liegt die zweite Auflage der „Paradoxa" von 1542 zugrunde (vgl. Faksimile). Sie wurde mit der von Heinrich Ziegler herausgegebenen und von Walter Lehmann eingeleiteten Ausgabe der „Paradoxa" von 1909 (Eugen Diederichs, Jena) verglichen. Ziegler benutzte eine ohne Nennung des Druckortes, des Verlegers und der Jahreszahl erschienene, auf der Ausgabe von 1534 basierende Vorlage. Dabei nimmt er mit der Begründung, die entsprechenden Stellen seien Wiederholungen bzw. böten nichts Wesentliches für den Gesamtzusammenhang, umfängliche Kürzungen vor, hebt seiner Auffassung genehme Stellen im Druck hervor, sucht radikale Aussagen in seiner Übersetzung zu mildern usw. Auch deshalb ist der Wert der Ausgabe der „Paradoxa" von 1909 in Fachkreisen umstritten. Da die Abweichungen der zweiten von der ersten Auflage verhältnismäßig geringfügig
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sind, konnte auch der Zieglersche Text für die vorliegende Ausgabe als Grundlage genutzt werden. Von einem getreuen Abdruck des frühneuhochdeutschen Textes Francks wurde hier abgesehen, um möglichst vielen Lesern den Zugang zu Francks Hauptwerk zu erleichtern. Zugleich aber wurde auf eine gänzliche Modernisierung des Textes verzichtet. Die Orthographie ist vorsichtig modernisiert, die Groß- und Klein-, Getrennt- und Zusammenschreibung den heute geltenden Regeln angepaßt worden. So wurden auch die Großschreibungen bei Heilige Schrift, Heiliger Geist, Jüngster Tag und Deus im gesamten Text vereinheitlicht. Die Interpunktion hingegen wurde lediglich in einigen wenigen Fällen verändert; bei den lateinischen Paradoxa-Titeln wurde die originale Zeichensetzung beibehalten. Die Zählung der Paradoxa folgt der Franckschen Ausgabe; die Wunderreden 58, 219 und 256 fehlen, statt dessen werden einige zusätzlich mit Kleinbuchstaben benannt, andere hinwiederum ohne Zählung abgedruckt. Sämtliche Bibelstellen, deren Nachweise mitunter auch berichtigt wurden, werden im Text und in den Verweisungen in einer modernen Siglierung gegeben, die in einem Verzeichnis im Anhang des Bandes aufgelöst wird. In einer Reihe von Fällen wurden im Text bzw. in den Anmerkungen sprachliche Erläuterungen beigegeben. Bei Ziegler nicht enthaltene Stellen sind in der vorliegenden Ausgabe in den Fußnoten kenntlich gemacht. Der Anmerkungsapparat wurde gegenüber Zieglers Ausgabe beträchtlich erweitert,76 die Franckschen lateinischen Überschriften der einzelnen Paradoxa wieder eingeführt. Die im Text vorgenommenen Erläuterungen und Ergänzungen sind durch „H. Z." (Heinrich Ziegler) bzw. „S. W." (Siegfried Wollgast) kenntlich gemacht und in Klammern gesetzt. Die Marginalien der Ausgaben von 1534 und 1542 wurden hier nicht mit übernommen. Ein Vergleich der von mir benutzten Ausgabe von 1542 mit der der Zieglerschen Ausgabe zugrunde liegenden war leider nicht möglich.
76 Zur Unterscheidung bedienen wir uns folgender Kennzeichnung: Fußnoten Zieglers: „H. Z."; neu beigegebene Fußnoten: ohne besondere Kennzeichnung.
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Eine textkritische Ausgabe der „Sämtlichen Werke" Sebastian Francks wird seit 1991 unter der Leitung von Hans-Gert Roloff erarbeitet. Sie wird die frühneuhochdeutschen Texte mit textkritischem Apparat, interdisziplinär orientiertem Kommentar, Bibliographie, Lebenszeugnissen, Wörterbuch und Gesamtregister enthalten; die lateinischen Texte werden zudem in einer Übersetzung beigegeben. Geplant ist die Herausgabe von 16 Bänden; bisher sind drei Textbände dieser „Berliner Ausgabe" erschienen: Bd. 1: Frühe Schriften (1993); Bd. 4: Die vier Kronbüchlein (1992); Bd. 11: Sprichwörter (1993). Gegenüber der ersten Auflage dieser hier vorliegenden Ausgabe der „Paradoxa" (1966) habe ich im Text einige Verbesserungen vorgenommen sowie die Anmerkungen aktualisiert und erweitert. Ich bin dem Akademie Verlag, insbesondere dem Lektor, Herrn Peter Heyl, sehr dankbar, der diese Neuauflage angeregt und ermöglicht hat. Und wiederum danke ich auch meiner Frau, Dr. med. Edith Wöllgast, für ihre Hilfestellung bei diesem Unternehmen. Dresden, November 1994
Siegfried Wollgast
PARADOXA DVCENTA OCTOGINTA. SDas if?.
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