Schriften und Entwürfe II (1826-1831) 3787309071, 9783787333981


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Schriften und Entwürfe II (1826-1831)
 3787309071, 9783787333981

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HEGEL • GESAMMELTE W E R K E 16

GEORG WILHELM FRIED RIC H HEGEL

GESAMMELTE W E R K E

IN V E R B IN D U N G M IT D E R

DEUTSCHEN FORSCHUNGSGEMEINSCHAFT HERAUSGEGEBEN V O N D E R

NORDRHEIN-WESTFÄLISCHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN

BAND 16

FELIX M E I N E R VERLAG H A M B U R G

GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL

SCHRIFTEN UND ENTWÜRFE II

(1826-1831)

U N T E R M ITARBEIT V ON C H R IS T O P H JA M M E HERAUSGEGEBEN V O N

FRIEDRICH H O G E M AN N

FELIX M E I N E R VERLAG H A M B U R G

In Verbindung mit der Hegel-Kommission der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und dem Hegel-Archiv der Ruhr-Universität Bochum

Die Deutsche Bibliothek - C IP —Einheitsaufnahme Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Gesammelte Werke / Georg W ilhelm Friedrich Hegel. In Verbindung mit der Deutschen Forschungsgemeinschaft hrsg. von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Hamburg : Meiner Bd. 16. Schriften und Entwürfe. - 2. (1826-1831) / unter Mitarb. von Christoph Jamme hrsg. von Friedrich Hogemann. - 2001 ISBN 3-7873-0907-1

ISBN eBook: 978-3-7873-3398-1

© Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Düsseldorf 2001 Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, Vorbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Übertragung einzelner Textabschnitte durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf Papier, Film, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 U R G ausdrücklich gestatten. Schrift: Bembo. Satz: Rheingold-Satz Hildegard Smets, Flörsheim-Dalsheim. Druck: Strauss, Mörlenbach. Einband: Keller, Kleinlüder. Printed in Germany.

IN H A L T S V E R Z E IC H N IS

UEBER DIE B E K E H R T E N .................................................................

1

Antikritisches .........................................................................................

3

PostScript

........................................................................................................

14

AUS D EN JA H R B Ü C H E R N FÜ R WISSENSCHAFTLICHE K R I T I K .....................................................................................................

17

H U M B O L D T - R E Z E N S IO N .............................................................

19

Ueber die unter dem Namen Bhagavad-Gita bekannte Episode des Mahabharata. S O L G E R - R E Z E N S IO N .....................................................................

77

Solger’s nachgelassene Schriften und Briefwechsel. H A M A N N - R E Z E N S IO N .................................................................129 Hamanns Schriften. G Ö S C H E L - R E Z E N S IO N .................................................................188 Aphorismen über Nichtwissen und absolutes Wissen im Verhältnisse zur christlichen Glaubenserkenntniß. R E P L I K E N .........................................................................................216 1. Ueber die Hegel’sche Lehre, oder: absolutes Wissen und moderner Pantheismus....................................................................... 216 2. Ueber Philosophie überhaupt und Hegel’s Encyklopädie der philosophischen Wissenschaften insbesondere.................................. 251 O H L E R T - R E Z E N S IO N .....................................................................275 Der Idealrealismus. Erster Theil. G Ö P J^JE S -R E ZE N S IO N .....................................................................290 Ueber die Grundlage, Gliederung und Zeitenfolge der Weltgeschichte.

O R A T IO IN SACRIS SAECULARIBUS TERTIIS T RA D ITAE CONFESSIONIS A U G U S T A N A E .........................................................311

VI

IN H A LT SV ER ZE IC H N IS

Ü B E R DIE ENGLISCHE R E F O R M B IL L ............................................ 323 B E I L A G E N ............................................................................................ 405 Drei Fragmente aus V orarbeiten............................................................ 407 Notizen zu H a m a n n ............................................................................ 407 Fragment zum dritten Artikel der R e p l i k e n .................................... 409 Fragment zur Reformbill-Schrift........................................................ 416 E R G Ä N Z U N G Z U HEGEL: GESAMMELTE W ERK E. BAND 15

421

Uber die Einrichtung einer kritischen Zeitschrift: der Literatur

423

. . .

E R R A T A IN HEGEL: GESAMMELTE W ERK E. BAND 15 . . .

.

441

A N H A N G ................................................................................................ 443 Zeichen, Siglen, Abkürzungen, S y m b o le ............................................ 445 Editorischer B e r ic h t ................................................................................ 449 Anmerkungen

........................................................................................ 493

Personenverzeichnis................................................................................ 607

UEBER DIE BEKEHRTEN

31a

3

A N T IK R IT IS C H E S

U E B E R D IE B E K E H R T E N .

A ntik ritisches. (Eingesandt.) Vom 11. Januar. Nach

der gestern erfolgten zweiten Aufführung

des neuen

R au-

p a c h ’sehen Stücks, die B e k e h rte n , erlauben Sie mir einige antikritische Bemerkungen über die Kritik, die Sie im dritten Stücke der Schnellpost davon gegeben, zu übersenden; indem ich es Ihrem Urtheil überlasse, ob Sie dieselben, die nicht auf Humor und Witz gestellt sind, in Ihr von beiden sprudelndes Blatt aufnehmen mögen. Die erste Bemerkung betrifft gleich die Beziehung Ihrer Kritik auf die gestrige Aufführung. Bei der ersten war das Haus, wie Sie gesehen haben werden, nicht voll, die beiden Reihen Logen waren so gut als ganz leer! ich stimmte von Herzen in die Deklamationen eines unserer Bekannten ein, der sich darüber ereiferte, nicht lebhaftere Neugierde auf ein neues Stück eines Autors zu finden, der die Bühne schon mit mehreren beliebten Produk­ ten bereichert hatte; jener Bekannte hatte, wie er sagte, bei seinem späten Hingang zum Schauspielhause, einen Queue vor den Thüren zu finden gehofft, der entweder bereits die Hände aus äußerlicher Kälte in die innere Wärme voraus klatschte, oder auch die Erfüllung dessen was geschrieben steht, ahnen ließe: siehe die Füße derer, die dich hinauspochen werden, ste­ hen schon vor der Thüre. Keins von beiden, — die Gleichgültigkeit ist immer das Schlimmste. Nun stand weiter zu hoffen, eine Anzeige in Ihrem Blatte werde auf das Stück, wenigstens auf das Interesse aufmerksam machen, welches von dem Publikum für ein neues Stück zu erwarten sey. Solche Lau­ igkeit aber, wie sich für die zweite Aufführung, so sehr als für die erste, fri­ scheste, zeigte, kann weder für Schauspieler noch für Verfasser aufmunternd sein. Wenn die Zuschauerschaft, die sich zufälliger Weise an einem Abende einfmdet, von der Art zu seyn pflegt, nur ä la fortune du pot gekommen zu sein, bloß um die Langeweile etwas besser als zu Hause zu vertreiben, so weiß auch nach bestandener erster und zweiter Aufführung vor der trägen

18 Queue] O : Q u e e u

4

U E B E R D IE B E K E H R T E N

31a—31b

Masse, weder Dichter noch Schauspieler, noch selbst Intendanz, recht, wie sie mit dem Stück und dem Spiel bei dem Publikum daran sind. Der Schnellpost-Artikel über »die Bekehrten« war nicht von der Art, die Lauigkeit und Trägheit zur Theilnahme, und Bezeigung einer Theilnahme, zu bekehren. Er läßt dem Spiele der s äm m tlic h e n Schauspieler zwar die gebührende Gerechtigkeit widerfahren, daß dasselbe be |friedigend nicht nur, vortrefflich, ja, ausgezeichnet gewesen. Diese Harmonie des Genusses ist schon nichts Alltägliches; welcher Unterschied entstand durch solche Art von Harmonie und Disharmonie für die Wirkung der letzten Aufführungen von D o n Ju a n und A rm ide ! An die Anerkennung welche Sie den Leistungen der Schauspieler angedei­ hen lassen, knüpfe ich aber die Frage an, ob der Dichter nicht seinerseits die Aufgabe in der Hauptsache müsse erfüllt haben, wenn er Situationen und Charaktere gezeichnet hat, in denen Künstler, die wir als vorzüglich kennen, in den Stand gesetzt wurden, ihr Vermögen zu entfalten und geltend zu ma­ chen. Es hilft nichts wenn ausgezeichnete Schauspieler an mittelmäßige R o l­ len die viele Würze ihres Talents aufbieten; in mittelmäßigen Rollen mögen mittelmäßige Talente leicht sich als gut ausnehmen, ausgezeichnete werden eher nur eine mittelmäßige Erscheinung hervorbringen; so werde ich in dem »P rinzen v o n Pisa« durch den Widerspruch dessen gequält, was Hr. Be­ schort und selbst Mad. Stich in ihren Rollen leisten können, und was sie für sich zu leisten vermögen. U m aber Ihrer Kritik näher zu kommen, so macht sie es sich vornehmlich mit der Fabel des Stücks, mit der H a n d lu n g , oder vielmehr mit dem Mangel an Handlung, zu thun. Sie lassen sich in eine Charakterisirung der allgemeinen Manier des Hrn. Verfassers verfallen. Als Hauptzug hebe ich zu­ nächst aus, daß derselbe sich zu sehr gefallen mit A u ß e rw e se n tlich e m , mit Z u fä llig e m zu spielen, —daß seine Lustspiele aus einer überschraubten G e ­ w altaufgabe eines b lin d e n Zufalls fließen. Ich kenne nur wenige der R a u p a c h ’sehen Stücke, will aber dessen ungeachtet sogleich wieder die Frage hinzusetzen, und zwar nicht die allgemeinere: sollen wir mit dem Zu­ fälligen, dem Außerwesentlichen mehr als spielen? sondern die nähere Frage: ob nicht eben dieß die Natur des Lustspiels ist, mit dem Zufälligen, dem Außerwesentlichen zu spielen? Auf diesem Boden ohnehin ist es, daß sich die h e ite re n Lebensverwirrungen ergeben, die Sie für das Lustspiel fordern. Von dieser heiteren Art ist denn auch der eine Theil der Verwirrungen in

7—8 gewesen. Diese . . . Alltägliches;] O: gewesen.; Diese . . . Alltägliches (Semikolon am Zeilenende versehend, in die darüber stehende Zeile geraten)

31b-32a. 35a

a n tik r itis c h e s

d

den »Bekehrten«, der andere freilich ist ernsterer Art; würde aber ein Lust­ spiel ganz des Ernstes entbehren, so sänke es in der That zum Possenspiele und noch tiefer herab. Wenn Sie zwar dieses Stück - doch wohl nur nach einer Seite oder in einem Augenblicke der Laune - für ein Possenspiel anzu­ sehen geneigt scheinen, so halte ich dieß selbst noch immer für ein größeres Kompliment, als wenn, wie wir neulich gesehen, das Publikum das Lustspiel in ein Schauspiel umtauft; und der Verfasser selbst dazu Gevatter steht. Wäre es um Authoritäten für | Nicht-bloß-Heiteres in den Lustspielen zu thun, so würde ich vor allen den A ristophanes citiren, in dessen meisten, zugleich für uns wenigstens den farcenhaft zugehenden Stücken, der allerbitterste Ernst, nemlich sogar der p o litisch e — und zwar in allem Ernste, das Haupt­ interesse ausmacht. Ich könnte fortfahren und die Shakespearschen Lust­ spiele anführen; allein ich finde, daß Sie das Heitere nicht sowohl dem Ernste, als dem Zufälligen und Gewaltthätigen der Zufälligkeit entgegen set­ zen, und will daher nur dieß noch bemerken, daß mir in dem neuen Lust­ spiele gerade darin das richtige Verhältniß getroffen scheint, daß die ernsthaf­ ten Verwickelungen, die Verwicklungen der tiefern edleren Leidenschaften, der würdigeren Charaktere, aus den komischen Verwickelungen der unter­ geordneten Personen herkommen. | Es wird auf die nähere Art und Weise ankommen, wie das Zufällige her­ eingelassen ist. Herrn Raupach’s Erdennacht, Isidor und Olga und was sonst von ihm früher auf die Bühne kam, kenne ich nicht; was ich von diesen Stücken gehört, macht mich vermuthen, daß Hrn. R ’s. dramatisches Talent vielleicht seitdem eine heitere, wahrhaftere Ansicht gewonnen, und eine glücklichere Laufbahn gewählt hat; es ist nicht für billig zu achten, Vorurtheile, die aus jenen ersten Arbeiten geschöpft sein mögen, in die Betrach­ tung anderer Produktionen einzumischen. So habe ich in dem neuen Stücke nichts von einer Disharmonie eines Gemüths in »sich selbst« finden können, so wenig als in der K r itik und A n t ik r itik , und in A lan g h u . Warum sollte nicht ein Autor, der Bekehrte auf die Bühne bringt, sich selbst be­ kehrt haben können, insbesondere, wenn das, was in Früherem angenehm war, etwa mehr einer Verstandesansicht über einen Kreis äusserlicher Ver­ hältnisse, oder einer Theorie der Kunst, als dem Talente selbst angehörte. Nur Mangel des Talents ist unverbesserlich, aber auch ein solches, das Er­ freuliches zu leisten im Stande wäre, wird von einer schiefen, verderblichen Pachtung schwer abzubringen seyn, wenn es in selbstgemachte Sublimitäten einer Kunsttheorie festgerannt ist, und sich jene durch diese rechtfertigt. — 1 B e k e h rte n ] O : B e k e h r te u

18 würdigeren] O W x: w ü rd ig e re m

6

U E B E R D IE B E K E H R T E N

35a~36a

A l a n g h u , das zwei Tage nach den Bekehr t en gegeben wurde, zu sehen, hatte mir das letztere | Stück Lust gemacht. Wie ich in Ihrem Artikel las, daß Hr. R . sich gefalle, mit dem Ausserwesentlichen, Zufälligen zu spielen, so fiel mir dabei mehr noch Alanghu als die Bekehrten ein; und ich will mich zunächst über den einen Sinn erklären, indem ich wohl damit überein­ stimme, daß Hr. R . es mit dem Zufälligen nicht genau genommen habe. In Alanghu wird die Verwicklung durch die Eifersucht eines der Chefs in der Horde, deren Verbündung mit dem Fanatismus und Hochmuth des Lama, die Entwickelung durch den Gott aus der Feuerwerkermaschinerie, der den Priester todtblitzt, bewirkt, wie jene in den Bekehrten durch die Gespenster­ erscheinung, die hier jedoch nur als Posse gebraucht wird, eingeleitet ist. Dergleichen Motive gehören freilich zu den ganz abgedroschenen Theater­ coups, und es liegt nahe, an den Dichter die Forderung zu machen, daß er uns mit etwas durch die Neuheit Pikantem von Zufälligkeit überrascht hätte. In der That aber ist in die E r f i n d u n g der Begebenheiten kein besonders großes Verdienst zu setzen; sie sind nur der äusserliche Rahmen für die Cha­ raktere, für die Leidenschaften und deren Situationen, für den eigentlichen Stoff der Kunst. Die Fabeln, die Sophokl es in der Antigone, Elektra u.s.w. behandelt hat, waren doch auch wohl sehr abgedroschene Geschichten, wie die Geschichten, die Shakespeare bearbeitete, aus Chroniken, Novellen der bekannten Historie u.s.f. genommen, und wenigstens nicht seine Erfindung sind. Es ist um das vornehmlich zu thun, was der Dichter in solchen Rah­ men eingeschlossen hat. In Alanghu hat Hr. R . zu dem viel |leicht nachläs­ sig und bequem aufgenommenen Beiwesen einen etwa auch nicht weit her­ geholten Mittelgrund einer tartarischen Horde hinzugefügt, der es aber so­ gleich auch äusserlich noch natürlicher und möglicher machte, jene breite, weinerliche Empfindsamkeit, jene weinerliche, matte und oft schlechte M o­ ralität, oder die krampfhafte Leidenschaftlichkeit einer beschränkten oder verkehrten armen Seele, — an denen wir so lange gelitten und unsere Thränen erschöpft haben, - zu verbannen, und dagegen das uns längst verleidete Bild eines Nat ur ki ndes wieder in sein theatralisches Recht einzusetzen. W ir können uns mit der Unbedeutenheit, vielleicht selbst Trivialität des Rahmens aussöhnen, weil er als die äusserliche Bedingung erscheint, die Hauptfigur einzuführen; - ein Bild von lebens- und seelenvoller Natürlich­ keit, das durch diese Zeichnung die Schauspielerin in den Stand setzte, alle Seiten ihres Talents, Gemüths und Geistes zu entfalten und uns das anzie-

14 Pikantem] O : Pikantes 18 u.s.w.] O: u,s.w. 19 abgedroschene] O : abgedroscheue 35 das durch . . . setzte] so Druckfehlerverzeichnis; O : daß durch . . . setzt

u.s.f.] O : u.s.f,

21

36a—36b

A N T IK R IT IS C H E S

7

hende Gemälde feuriger, unruhiger, thätiger Leidenschaftlichkeit mit naiver, liebenswürdiger Jugendlichkeit, der lebhaftesten, entschlossensten Energie mit empfindungsvoller, geistreicher Sanftmuth und Anmuth verschmolzen, vor die Seele zu bringen. Eine solche Hauptfigur drückt die Umgebung, wenn sie auch mit mehr Bemühung erfunden wird, sehr bald zu außerwe­ sentlichen Zufälligkeiten herab. Doch bei Gelegenheit der Bekehr t en sprachen Sie nicht sowohl von zu­ fälligen Zufälligkeiten, als von gezwungener, von überschraubter Gewaltauf­ gabe, die vermittelst eines gemachten Zufalls gemacht wird. W enn, wie es scheint, das Verhältniß von zwei jungen Liebenden, deren Temperament durch ihre natürliche, aber noch unbesonnene, oder ungezogene Lebhaftig­ keit in Heftigkeit gegen einander verfällt und sie bis zur Feindschaft ent­ zweit, nicht in jenen Ihren Tadel eingeschlossen ist, so trifft derselbe dage­ gen ganz den alten Grafen, der, um dem Neffen die Geliebte zu erhalten, sich selbst mit ihr trauen, dann vom Papst scheiden gelassen, seinen Tod und Begräbniß gespielt hat, und nun in der Exposition des Stücks als Eremit auftritt. Ob solche Großmuth für sich allzu abentheuerlich, ob sie für ein Lust­ spiel zu abentheuerlich sei, darüber ließe sich wohl hin und her reden, aber ich würde nicht absehen, wie man es darüber zu einer entscheidenden A n­ sicht bringen könnte. Doch ist hierbei daran zu erinnern, daß die Vor aus ­ setzung, welche jedes Drama hat, auf Handlungen und Begebenheiten be­ ruht, die der Eröffnung desselben im R ü c k e n liegen; mehr oder weniger Wahrscheinlichkeit, die ohnehin ein sehr relatives Ding ist, in dem was be­ reits hinter uns ist, kann uns eben nicht viel kümmern; was uns wesentlich angeht, ist die dadurch herbeigeführte Si t uat i on für sich; sie ist das Gegen­ wärtige, das interessant und im Lustspiele pikant sein soll. W ir sind es ohne­ hin längst gewohnt, auch selbst für die Tragödie in Ansehung der Voraus­ setzungen uns Vieles gefallen zu lassen. Ich führe das nächste Beispiel an, an das ich durch häufige Erklärungen eines Bekannten dagegen, erinnert werde; bei Lear ist die Voraussetzung die Abtretung seines Reichs, und daß er das schlechte Herz (man kann es nicht einmal schlechte Gesinnung nennen) sei­ ner beiden ältern Töchter, und die baare Niederträchtigkeiten seiner beiden Herrn Ei |dame gar nicht in seiner Empfindung gehabt, gar nicht gekannt habe; — immer für sich eine starke Zumuthung, solche Voraussetzung zuläs­ sig zu finden, wenn man sie auch nur als die äußerl i che Bedingung für das Schauspiel des sich von da aus entwickelnden, wahnsinnigen Kummers be­ trachten will. I 21-22 welche jedes .. . desselben] O : welches jedes . . . derselben

8

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39a-40a

Wichtiger ist es, ob der Zwang und die Gewaltthätigkeit auch die H a n d ­ l u n g des Stücks regiert, das ist, diejenige welche von jener ersten gegebe­ ne n Situation an, sich nun als gegenwärtig dem Zuschauer entwickelt, und weil dieser zufälliger Weise bekanntlich der verständige Mensch ist, verstän­ diger Weise von jenem Anfang aus und dann in sich nach consequentem Zu­ sammenhänge fortgehen und den Schluß gewinnen soll. Ich meinerseits kann nicht sa |gen, daß ich etwas wie einen Zwang oder eine Gewaltthätigkeit, z.B. durch die Erscheinung des Gespenstes, das Sie mit in jene Kategorie zu neh­ men scheinen, ausgestanden hätte; ich habe darin vielmehr, als vom Rathe Burchiello’s erdacht und citirt und nur auf das Kammermädchen berechnet, ein komisches und nur komisch sein sollendes Motiv, und es daher ganz an seinem Platze gefunden. Ich wünschte, die neulichen Macbet hschen He x e n hätten im entgegengesetzten Sinne mehr Gewalt über mich ausge­ übt; diese wollen ernsthaft genommen sein, und bringen dafür noch ganz an­ dere Prätensionen mit - den Ernst der | Tragödie selbst, ein häßliches, wid­ riges Gekreische — und vollends die neuerliche Correctheit, vermöge der sie es Sc h we i n e n anget han, Kästenbräter Weib aber geschnaut und geschnaut und geschnaut hat u.s.f. Das Motiv selbst, das in diesen Hexen liegt, unterscheide ich von der Gestalt, in die es eingekleidet ist; und so sieht mir das in der Komödie als Posse gebrauchte Gespenst auf unserer Bühne überhaupt bei weitem berechtigter aus, als jene Hexen dieß sind, deren Ernst, vollends in der Tragödie, für uns, wie wir nun einmal sind, doch nicht viel mehr als eine Posse, und leicht sogar eine widrige, langweilige Posse sein könnte. A la fin, für gut erfunden halte ich es ferner, daß der Zweck, der durch das Gespenst in unserm Stücke erreicht werden soll, vermittelst dieses M it­ tels selbst nahe in ’s Scheitern geräth. Dieser Rückschlag der List gegen die pfiffigen Urheber derselben ist für sich auf einen ganz consequenten Zusam­ menhang gebaut, und scheint mir überhaupt die Seele einer ächt komischen Handlung auszumachen. Das weitere Detail dieser Verkettung, die Angst, die von derselben erzeugten Lügen, u.s.f. können wir eben so für ergötzlich, als folgerecht, das Husten aber für einen vollkommen gelungenen Einfall gelten lassen, der durch seine Zweckmäßigkeit und Heiterkeit seine Wirkung auf der Bühne nie verfehlen wird. Vergleichen Sie die vielen anderen Wege, die Verwirrung in der Komödie hervorzubringen, z. B. das Horchen, vollends wenn es nicht durch falsches Hören fehl geleitet wird, sondern zu direktem Verrath übergeht, oder das Mittel des baaren, direkten Verraths ausdrück-

3 Situation an,] so Druckfehlerverzeichnis; O : Situation, an fin; Druckfehlerverzeichnis: Im a fin.

7 z.B.] O : z .B ,

24 A la fin,] O : , A

40a—40b

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9

liehen Vertrauens, etwa gar Geldes willen und dergleichen; das Mittel und die Pointe, wie in unserem Stücke die Verwickelung bewirkt wird, verdient vor solchen, zum Theil ganz offnen Plattheiten wohl den Vorzug. Im Zusammenhange hiermit finde ich es ferner zu rühmen, daß die Intrigue, der anfänglichen Situation gemäß, zwar vom alten Grafen ausgeht, aber durch das Werkzeug, das er gebraucht, die interessante eigentliche Intrigue zu Stande kommt, so daß diese in die basse cour der Familie fällt, und deren höherer Kreis der Personen erst hierdurch sowohl in die Mißverständnisse und Verlegenheit versetzt wird, als aber selbst frei davon bleibt; wenn auch der junge Graf sich vom alten Grafen einmal zu einem intriganten Benehmen verleiten läßt, so hat der Dichter ihn doch im Uebrigen, und Clotilden im Ganzen, davon rein gehalten. Es ist noch ein Wort über die H a n d l u n g zu sagen, insofern sie das Verhältniß dieser Haupt p er s o ne n betrifft, in deren Charaktere und Situatio­ nen ihr Kern fallen muß. Ihr Artikel nimmt die beiden Hauptfiguren gleich zu Anfang des Stücks für so m ü r b e , daß sie für sich weiter nichts zu thun hätten, als beim ersten Anblick sich einander in die Arme zu fallen. »Weil aber die neuern Lustspieldichter,« wie Sie ihnen Schuld geben, »alle Perso­ nen gerade das Gegentheil von dem, was sie (ohne Zweifel die Personen) eigentlich w o l l e n , thun lassen«, noch mehr, »weil ein Drama nicht mit dem ersten Akte, oder | gar der ersten Scene schließen soll, so müsse das Kam­ merkätzchen und der Narr das Stück aufhalten.« Dieser Angabe kann ich nicht beistimmen. Die Exposition setzt es vielmehr weitläuftig genug, (sie nimmt zwei Scenen ein, die den ganzen ersten, darum vielleicht zu einfachen Akt ausmachen) und gehörig motivirt auseinander, daß Clotilde und Tor­ quato weit entfernt sind, einander in die Arme fallen zu wollen. Sie sind als Personen geschildert, die längst Verzicht auf einander gethan haben, einen Verzicht, der nicht erst ein bloßer Entschluß ist, auch nicht nur durch äußer­ liche Verhältnisse und in der Länge verflossener Zeit begründet, sondern noch mehr durch die Vorwürfe und Beschämung eines jeden in sich selbst befestigt, und bis zur Ruhe und Stille des Gemüths gediehen ist. Die Expo­ sition ist freilich bei der ersten Aufführung nicht deutlich genug an den Zu­ hörer gekommen, das späte Eintreten mancher der sparsamen Schaugäste, machte in der ersten Scene Störung. Auch hat es etwas zur Undeutlichkeit beigetragen, daß, natürlich bei einer ersten Aufführung, längere Erzählungen

5—6 zwar . . . interessante eigentliche] Druckfehlerverzeichnis: zwar . . . die eigentliche O: zwar durch das Werkzeug, das er gebraucht, vom alten Grafen ausgeht; aber die interessante eigentliche 18 alle] O : allen

33 späte] so Druckfehlerverzeichnis; O : stete

10

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40b-[la]

(wie Mad. Stich mit einer solchen aufzutreten hatte) nicht mit der Fertigkeit und Präcision gesprochen werden können, als bei einer zweiten und folgen­ den Vorstellungen. (So klang etwa das E in in: »Ein wichtiges Geschäft führt’ ihn nach Rom,« oder etwas dergleichen, fast aus dem Tone des Soufleurs aufgenommen und denselben echoirend, was bei der zweiten Aufführung an­ ders lautete.) U m aber auf die Sache zurückzukommen, so ist jene erste Stim­ mung in den beiden Hauptpersonen als dieselbe gezeichnet, auch Cha­ rakter und Temperament haben gleiche Grundlage. Ich rechne dieß der gan­ zen sinnigen Art des Stücks zu Gute. Dadurch, daß sie von Hause aus zu­ sammen passen, wird die Bekehrung um so weniger gewaltsam und um so gründlicher; denn außerdem, daß sie durch die Erfahrung etwas ver­ ständiger werden, haben sie sich nur zu dem zu bekehren, was sie bereits sind, es wird dann von der vortheilhaftesten und angemessensten Wirkung für das Lustspiel, daß jene Gleichheit im weiteren Verlauf zu einem Paralle­ lismus der Täuschung ausgebildet wird, und eben so bei der Enttäuschung zu einem Parallelismus zuerst der Entdeckung des eignen Unrechts und der Vor­ würfe eines jeden gegen sich selbst, die auch in Gleichheit der Ausdrücke: »Ich bin nicht werth, daß mir die Sonne scheint« u.s.f. ausbricht, alsdann der Entdeckung des Unrechts des Ändern und des gleichen Vorwurfs gegen den­ selben. | Es versteht sich aber von selbst, daß der Dichter diese Gleichheit nach Weiblichkeit und Männlichkeit zu nuanciren hatte, eben so, daß die Frau dabei nur gewinnen konnte, darum mag auch hier nur diese Modifikation näher erwähnt werden, die der Dichter mit einer Zartheit behandelt hat, welche, anvertraut der Künstlerin, die wir als J u l i a des Romeo kennen, ihre volle Wirkung thun mußte. In Torquato darf es nicht schwer halten die alte Empfindung und die Hoffnung wieder zu erwecken; in Clotilde geschieht dieser Uebergang durch eine schöne Stufenfolge, deren Reize um so anzie­ hender sind, je mehr sie zugleich innere Wahrheit hat. Die Stimmung der ersten Situation exponirt sich in dem noch unbelebteren aber ruhigen und edlen Sinn einer schmerzlosen, aber nicht empfindsamen, kläglichen Trauer einer empfindungslos gewordenen, doch interessant gebliebenen Erinnerung. Diese Ruhe wird gestört in dem Wiedersehen Clotildens mit Torquato; der erste Moment darin erinnerte uns an Julia, mit dem Unterschiede freilich, daß Julia, indem bei ihr in der Unwissenheit der Liebe, Clotilde aber indem hier nur in deren Schlaf und äußerliche Erinnerung diese Empfindung, dort als nie vormals gefühlt, hier wieder erwachend, eintritt, von der gleichen reizenden Verlegenheit übergossen wird. Clotildens Verlegenheit; — eine Schüchternheit gegen sich selbst so sehr als gegen Torquato, — wird darum

[ la - lb ]

A N T IK R IT IS C H E S

11

eine reichere Scene; Stellung und Arme blieben u n b e we g l i c h , das Auge, das man sonst in so lebhafter Bewegung zu sehen gewohnt ist, wagt es zu­ erst nicht aufzusehen, seine Stummheit unterbricht hie und da ein Heben der Brust, das nicht zum Seufzer wird, es wagt einige verstohlene Blicke, die denen Torquato’s zu begegnen fürchten, es drängt sich aber auf ihn, wenn die seinigen sich anderwärts hinwenden. Der Dichter ist für glücklich zu ach­ ten, dessen Conception von einer Künstlerin1 ausgeführt wird, die es für die Erzählung des Inhalts der durch die Sprache ausgedrückt ist, überflüssig macht, mehr als die Züge der seelenvollen Beredsamkeit ihrer Geberde an­ zugeben. Der Gartenscene, in welcher das Entfalten der aufblühenden Empfindung und die welke Erinnerung derselben, vermittelst der Erinnerung selbst, zur belebten Gegenwart erfrischt wird, weitläuftiger zu erwähnen, bin ich enthoben, da Sie deren Vortrefflichkeit anerkannt haben. Aber der Scenen der Entzweiung ist noch zu gedenken, die auf die Unter­ brechung der Gartenscene durch das noch unverfängliche Mittel des Hustens und dann durch die darauf gebauten Lügen erfolgt. Die Entzweiung steigert sich zu bitterem Zorne, selbst bis zur Heftigkeit | des Hohnes. Je vortreffli­ cher sich diese Scenen in der Darstellung machen, desto mehr können sie die Empfindung von Gewaltsamkeit erregen, sowohl in Rücksicht auf das frü­ here Lob der erworbenen Müdigkeit, das jedes sich selbst und dem Anderen darüber ertheilt hat, als in Rücksicht auf die Befriedigung, welche die zu er­ wartende Wiederversöhnung gewähren soll. Für den Glauben jedoch an die Möglichkeit einer gründlichen Aussöhnung sind wir an den ganzen Ton des italienischen Kreises gewiesen, in dem die Handlung spielt, der gleich ent­ fernt von der in der That gewaltsamen und gewaltthätigen Spitzfindigkeit spanischer Delikatesse und Ehre, als von der moralischen Empfindsamkeit ge­ halten ist, welche den vergänglichen Zorn nicht als eine acute Krankheit kennt, in der sich vielmehr der Unwille in eine chronische Krankheit, in un­ endliche Gekränktheit und Verachtung eines unversöhnbaren Hochmuths verwandelt. Am profitabelsten ließe sich der Tadel eines Widerspruchs zwi­ schen der Heftigkeit dieser Scenen und der sonstigen Empfindung und Stim­ mung, damit abweisen, daß dieser Widerspruch der Triumph der Kunst, daß er die I r o n i e sei, denn bekanntlich wird diese für den Gipfel der Kunst er­ klärt. Sie soll darin bestehen, daß alles, was sich als schön, edel, interessant anläßt, hintennach sich zerstöre und auf’s Gegentheil ausgehe, der echte 1 Mad. Stich. D. R. 1 blieben u n b e w e g lic h ,] so Druckfehlerverzeichnis; O W xH : bleiben

12

U E B E R D IE B E K E H R T E N

[lb - 2 a]

Genuß in der Entdeckung gefunden werde, daß an den Zwecken, Interessen, Charakteren ni cht s sei. Der gesunde Sinn hat solche Verkehrungen sonst nur für ungehörige und unerfreuliche Täuschung, solche Interessen und Cha­ raktere, die nicht durchgeführt werden, für Ha l b h e i t e n genommen, und dergleichen Haltungslosigkeit dem Unvermögen des Dichters zugeschrieben. W enn nun zwar die Verfeinerung der Gedanken dahin gekommen, jene Halbheit für mehr, so gar als ein Ganzes zu erklären, so ist das Publikum je­ doch noch nicht dahin gebracht, an Geburten solcher Theorie Interesse und Gefallen zu finden. In unserem Stücke werden die Hauptpersonen zwar be­ kehrt, doch sind sie Gottlob! nicht ironisch; es giebt sich wie in den beiden früher genannten Raupach’sehen Stücken, ein gesunder Sinn und gesunder Geist zu erkennen, der nicht zur Krankheit jener Theorie versublimirt ist. An Ironie fehlt es auch übrigens hier nicht, sie ist aber an ihrem rechten Platz, in das Kammermädchen und den Narren, verlegt. Die völlige Inconsequenz und daß sie nur in dem Wunsche einen Mann zu bekommen, Hal­ tung hat, nur durch das Gespenst eine weitere bekommt, so wie, daß Burchiello seinen Widerwillen gegen eine Heirath am Ende hinunterschlucken muß, ist wenn es einmal Ironie sein soll, ironisches genug, wenigstens ist es lustiges. Lustig bleibt auch der Mißton jener Scenen; aber überdem bleibt er inner­ halb der Möglichkeit, daß nicht | bloß ein äußerliches Ende des Lustspiels, sondern daß bei dem Naturell der Hauptpersonen eine gründliche Auflösung der Verwickelung zu Stande komme. Der alte Graf nennt sie am Ende der Katastrophe noch Kinder, wie sie früher waren, und er selbst steht mit ihnen und den Uebrigen in dem Kreise einer wohlwollenden und sinnigen Natür­ lichkeit, welche durch Leidenschaftlichkeit wohl getrübt werden kann, eine Trübung aber, die noch frei von moralischer Reflexion, nicht den innern Kern angreift und sich nicht zur Zerrissenheit steigert. Vielleicht hätte es in der Exposition geschehen können, daß diese Grundlage von Heiterkeit auch an den Hauptfiguren sich sichtbarer hervorhöbe. Shakespeare bewirkt dieß öfter durch das Verhältniß und Conversationen der Hauptpersonen mit dem Narren oder Kammerkätzchen; freilich nicht immer auf eine Weise, die für fein oder selbst nur für anständig gelten könnte. Die Empfindlichkeit Clotildens, die dem Kammermädchen einmal mit dem Fortschicken droht, ist vielleicht ein Zug, der für jenen Kreis etwas Fremdartiges hat. Dem Narren Burchiello ist am meisten oder allein das Reflektiren und die allgemeinen und ernsthaften Gedanken zugetheilt, und dieß nach Standes Gebühr, denn 9 unserem] O : nnserem

[2a]

A N T IK R IT IS C H E S

13

das Stück soll Lustspiel sein und ist Lustspiel. Die Ausführung des »Unlogicalischen« in dem Vorgeben des Grafen von seinem Tode, in einer der ersten Scenen, in denen Burchiello auftritt, ist vielleicht etwas zu trocken gerathen; sonst fehlt es nicht an witzigen Einfällen, und die Rolle, wie das ergötzliche Spiel, ist in dem zierlichen Style eines Grazioso gehalten. Der Lebenskreis wie der Ton der Charaktere, erinnert überhaupt an die heitere, sinnige, ed­ lere Sphäre, in denen sich die komische Muse Calderons und zuweilen auch Shakespears bewegt. Unter den vielen Formen von Drama, in denen unsere dramatischen Au­ toren sich herumversuchen, ist diejenige, die Herr Raupach in diesem Stücke gewählt hat, gewiß vorzüglich werth, angebaut zu werden. Es sind der Stücke von sinniger Heiterkeit, die auf unserem Boden wachsen, eben nicht sehr viele; unsere Bühnen pflegen sich dafür an die Bühnen unserer erfindungsreichen Nachbarn zu wenden. Herr Raupach verdient daher um so mehr auf dem erfreulichen Wege, den er hier eingeschlagen, alle mögliche Aufmunterung vom Publikum. Diese letztere Rücksicht muß auch die Ent­ schuldigung enthalten für die Weitläuftigkeit, in welche diese Bemerkungen ausgelaufen sind;1 die Entschuldigung aber gleichfalls weitläuftig zu machen, würde überflüssig sein, indem, wenn ich sie zu lesen bekommen werde, ich damit Ihre Verzeihung lese. Aber Druckfehler im Anfänge dieses Artikels No. 8, rügen und unter ändern z. B. bemerken zu wollen, daß es daselbst S. 31, Z. 14, 2. Sp. heißen solle: die viele Würze ihres Talents pasteten, S.

32, Z. 3. dem Farcenhaft en, - würde noch überflüssiger sein, da Leser, vollends Schnellpostleser, wenn sie einmal über Stock und Stein hinwegge­ kommen, sich billig nicht mehr darauf zurückführen lassen. 1Eine so vortreffliche, gehaltvolle Weitläuftigkeit, wird der Redaktion dieser Blät­ ter stets viel erfreulicher sein, als eine kurze Beiläufigkeit. D. R .

14

U E B E R D IE B E K E H R T E N

[3b—4a]

P o s tS c r ip t.

Die Bekehr t en hatten bei ihrer ersten Aufführung ein PostScript, so füge ich auch eines hinzu; bei der zweiten ein - soll ich sagen - Antescript? da sie keinen ganzen Abend ausfüllen. Von beiden erwähnt Ihr Artikel nichts; vom zweiten finde ich nur dieß anzuführen, daß Herr Beschort eine Hauptrolle darin und gleich darauf in den Bekehrten noch mehr zu thun hat, man sieht wie sehr unsere vorzüglichen Schauspieler auch thätig sind. Ueber das erstere darf ich nichts sagen, denn ich habe mich gegen einen Freund, der es mit ansah, gegenseitig anheischig machen müssen, es nicht zu geste­ hen, es ausgehalten zu haben. Nachdem aber die einen Augenblick gemachte Hoffnung, die Bekehrten auf Zephyrinischen Flügeln in die höhern Regio­ nen eines umfassendem Horizonts emporgetragen zu sehen, verschwunden und dieses Stück nur mit demselben Ballast, wie das erstemal, completirt auslaufen soll, so darf ich Sie, den erklärten Liebhaber der sieben Mädchen des Königstädter Theaters auf jenen Anhang aufmerksam machen, ob Sie da selbe nicht durch die vi erzi g Mädchen des Königl. Schauspielhauses mögen über­ boten finden? Ich erwähne jedoch dieser Supplemente nur als eine Veranlas­ sung zu einer Aufforderung an Sie, uns ändern nach und nach mit der Gallerie des Bessern bekannt zu machen, was sich auf unserem Repertoire erhal­ ten hat. Ehe man in das Schauspiel geht, wünscht man ungefähr zu wissen, was man daselbst zu erwarten habe. Der berühmten Stücke sind im Ganzen nicht viele - und diese hat man wohl schon oft gesehen - gegen die Legion der weniger bekannten, aus der wir auf dem wöchentlichen Repertoire ein halbes Dutzend und mehr angekündigt finden. Es hilft nichts, daß wir wis­ sen, ein Referent würde sie ohne Zweifel vor einem halben, ganzen Jahre, vor fünf, zehn und mehr Jahren gewürdigt | haben. Ohnehin ist uns hier die Erleichterung noch nicht geworden, die sich durch die Sammlung der Referate ergeben würde, zu welcher Gö t h e den so geistreichen als amtsbe­ ständigsten Referenten längst aufgefordert hat. Aus dem, was ich wünsche, geht schon selbst hervor, daß nicht die chronologische Erzählung dessen, was jeden Abend auf der Bühne vorgekommen, gemeint ist. Zwischen diesem höchst dürren und langweiligen Extreme und dem ändern — vornehmen — Extreme, nur die neuen Stücke und etwa auch nur ei nmal zu beurtheilen, werden Sie die geist- und lehrreiche Mitte zu finden wissen. Wenn eine sol­ che Geschichte des Bessern dazu beitragen kann, daß das Publikum nicht

[4a]

PO STSCRIPT

15

mehr sich so dem Zufalle ohne Wahl hinzugeben im Falle ist, und die bes­ sern Vorstellungen fleißiger besucht sind, so ist damit zugleich die Möglich­ keit eingeleitet, daß dergleichen öfter wiederholt werden, und solche Lükkenbüßer1, die selbst nichts besseres, als eine Lücke sind, ganz wegfallen kön­ nen; woraus nichts als Nutzen für das Publikum, Schauspieler und Direktion entstehen müßte. ★★★ Etliche Druckfehler, die sich im Verfolg des Artikels eingeschlichen, hat der geneigte Leser gewiß sogleich selbst verbessert, nur mag er noch aus­ drücklich gebeten werden, gelesen zu haben: Nr. 10, S. 39, lste Sp., Z. 3 Situation an, sich Ebendas., S. 40, lste Sp., Im a fin. Im Z u s a mme n h a n g e Z. 3. lies: zwar vom alten Grafen ausgeht, aber durch das Werkzeug, das er gebraucht, die eigentliche u.s.w. Ebendas., 2te Sp. Z. 16. stete, lies: späte Beiwagen Nr. 4, lste Sp., Z. 27 lies: Stellung und Arme blieben u n b e ­ wegl i ch Früher Nr. 9, S. 36, lste Sp., Z. 15 lies: das - setzte; (denn daselbst wird nicht von einer Künstlerin irgendwo und irgend wenn gesprochen, sondern historisch von der, die das dort beschriebene Gemälde gegeben.) 1 Hahn im Korbe. D. R .

6 müßte.] O : müßte,

AUS DEN JAHRBÜCHERN FÜR WISSENSCHAFTLICHE KRITIK

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H U M B O L D T - R E Z E N S IO N • ERSTER A R T IK E L

H U M BO LD T-RE ZE N SIO N

Ue b e r Episode

di e

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Berlin, 1826. Erster A r t i k e l . Bei dem Gegenstand, über welchen der höchst verehrte Hr. Verfasser das Publikum mit seinen Untersuchungen hat beschenken wollen, drängt sich zunächst die Bemerkung auf, daß der Ruhm der i n d i s c h e n W e i s h e i t zu den ältesten Traditionen in der Geschichte gehört. W o von den Quellen der P h i l o s o p h i e die Rede ist, wird nicht nur auf den Orient überhaupt, son­ dern insbeson |dere auch namentlich auf Indien hingewiesen; die hohe Mei­ nung von diesem Boden der Wissenschaft hat sich früh in bestimmtere Sagen, wie von einem Besuche, den Pythagoras auch dort gemacht habe, u.s.f. ge­ faßt; und zu allen Zeiten ist von indischer Religion und Philosophie gespro­ chen und erzählt worden. Nur seit Kurzem hat sich uns aber der Zugang zu den Quellen eröffnet, und mit jedem Fortschritte, der in dieser Kenntniß ge­ macht wird, zeigt sich alles Frühere theils unbedeutend, theils schief und un­ brauchbar. So eine alte Welt Indien nach der allgemeinen Bekanntschaft der Europäer mit diesem Lande ist, so ist es eine eben erst entdeckte neue Welt für uns nach seiner Literatur, seinen Wissenschaften und Künsten. Die erste Freude der Entdeckung dieser Schätze ließ es nicht zu, sie mit Ruhe und Maaß anzunehmen: W i l l i a m J o n e s , dem wir es vornehmlich verdanken, sie uns aufgeschlossen zu haben, und andere ihm nach, haben den Werth der Entdeckungen besonders auch darein gesezt, in ihnen theils die directen Quellen, theils neue Beglaubigungen für die alten welthistorischen Traditio­ nen, die sich auf Asien beziehen, so wie für die weiter westlichen Sagen und Mythologieen aufgefunden zu haben. Die Bekanntwerdung aber mit Originalien selbst, auch die Aufdeckung ausdrücklichen weitläufigen Betrugs, den Kapitän W i l f o r d seinem Eifer, mosaischen Erzählungen und europäischen

1 Humboldt-Rezension Überschrift des Herausgebers

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Vorstellungen und Kenntnissen, und Aufschlüssen über die asiatische Ge­ schichte u.s.f. in der indischen Literatur nachzuspüren, durch gefällige Bra­ minen1 spielen ließ, hat darauf geführt, sich vor allem | nur an die O r i g i n a l i e n und an das Studium der E i g e n t h ü m l i c h k e i t i n d i s c h e r A n ­ s i c h t e n und Vorstellungen zu halten.

5

Es ist von selbst klar, daß unsere Kenntnisse nur durch solche Richtung wahrhaftig gefördert werden. In diesem Sinne hat Hr. von Humboldt die berühmte Episode des Mahabharata behandelt, und unsere Einsicht in die in­ dische Vorstellungsweise von den höchsten Interessen des Geistes, wesentlich bereichert. Wirkliche Belehrungen können nur hervorgehen aus der, in der io vorliegenden Abhandlung ausgezeichneten, seltenen Vereinigung von gründ­ licher Kenntniß der Originalsprache, von vertrauter Bekanntschaft mit der Philosophie, und von besonnener Zurückhaltung, über den strikten Sinn des Originals nicht hinaus zu gehen, nichts anderes und nicht mehr zu sehen, als genau darin ausgedrückt ist. In dem Vorhererwähnten ist unsere vollkom-

15

mene Beistimmung zu der Erinnerung des Hrn. Verf. enthalten, welche der1 Der Pandit, welchem Wilford auch ausdrücklich aufzugeben die Unvorsichtigkeit hatte, über Geschichten, die er demselben aus mosaischen, griechischen und ändern Grundlagen erzählte, Nachforschungen anzustellen, fand gefällig Alles, was der Kapi­ tän wünschte, in den Werken, welche ihm dieser mit großen Kosten lieferte. Als 20 derselbe die Falschheit der gemachten Auszüge zu entdecken anfing, verfälschte der Pandit die Manuscripte auf das Frechste, um sich herauszuziehen, sezte sich in die heftigsten Paroxysmen der W uth, rief die Rache des Himmels mit den horribelsten, furchtbarsten Verwünschungen auf sich und seine Kinder herab, wenn die Auszüge nicht treu seien. Er brachte z e h e n B r a m i n e n herbei, die ihn nicht etwa nur zu 25 vertheidigen, sondern bei Allem, was das Heiligste in ihrer Religion ist, auf die Rich­ tigkeit der Auszüge zu schwören, bereit waren. »Nachdem ich ihnen einen strengen Verweis über diese Prostitution ihres priesterlichen Charakters gegeben, gestattete ich | es nicht, daß sie dazu fortgingen.« W ilford’s eigene Erzählung in Asiat. Researches T. VIII. p. 251. — Von Werken, welche die Früchte der mühsamen, ehrenvollsten 30 Anstrengungen sind, wie z. B.

de P o l i e r Mythologie des Indous, werden wir

nun (es ist erst 1809 erschienen) Bedenken tragen, Gebrauch zu machen, da es auf Dictaten und mündlichen Angaben von Braminen beruht, vollends da wir von Colebroke wissen, welchen Verfälschungen und beliebigen Ueberarbeitungen und Ein­ schaltungen selbst Werke, wie astronomische, die überdem ihres Alterthums und der 35 Autorität ihrer Verfasser wegen in hoher Verehrung stehen, ausgesezt gewesen sind, und immer sind. 27—28 »Nachdem ich .. . gestattete ich] O: Nachdem ich . . . gestattete ich W XH : Nachdem W il­ ford . . . gestattete er

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selbe in einer Vorbemerkung macht, daß es »schwerlich« (wir dürfen dies zu­ rückhaltende »schwerlich« wohl dreist in »gar nicht« verwandeln) »ein ande­ res Mittel giebt, die mannichfaltigen Dunkelheiten aufzuklären, welche noch in der indischen Mythologie und Philosophie übrig bleiben, als jedes der 5 Werke, die man als Hauptquellen derselben ansehen kann, einzeln zu excerpiren, und erst vollständig für sich abzuhandeln, ehe man Vergleichungen mit ändern anstellt. — Nur eine solche Arbeit würde eine Grundlage abge­ ben, alle indischen philosophischen und mythologischen Systeme ohne Ge­ fahr der V e r w i r r u n g

mit einander vergleichen — zu können.« Man

10 braucht nur den Versuch gemacht zu haben, auch aus neuern Schriftstellern, welche Quellen vor sich gehabt, über indische Religion, Kosmogonie, Theogonie, Mythologie u.s.f. sich zu unterrichten, so wird man bald die | Erfahrung machen, daß wenn man aus einem solchen Schriftsteller eine be­ stimmte Kenntniß der Grundzüge indischer Religion erworben zu haben 15 meint, und nun an einen ändern geht, man sich hier unter ganz ändern Nah­ men, Vorstellungen, Geschichten u.s.f. befindet. Das hiedurch geschöpfte Mißtrauen muß sich in die Einsicht auflösen, daß man überall nur particuläre Darstellungen vor sich gehabt, und nichts weniger als eine Kenntniß von a l l g e m e i n e r indischer Lehre gewonnen hat. In so vielen deutschen Schrif20 ten, in welchen indische Religion und Philosophie ausdrücklich oder gele­ gentlich dargestellt ist, wie auch in den vielen Geschichten der Philosophie, wo sie ebenfalls aufgeführt zu werden pflegt, findet man eine aus irgend einem Schriftsteller geschöpfte particuläre Gestalt, für indische Religion und Philosophie ü b e r h a u p t ausgegeben. 25

Aber das vorliegende Gedicht scheint insbesondere geeignet zu seyn, uns eine bestimmte Vorstellung von dem Allgemeinsten und Höchsten der indi­ schen Religion gewähren zu können. Es hat als Episode ausdrücklich eine doctrinelle Bestimmung, und ist damit freier von der wilden, enormen Phan­ tasterei, die in der indischen Poesie herrscht, wenn sie erzählend ist, und uns

30 Begebenheiten und Thaten von Heroen und Göttern, von der Entstehung der Welt u.s.f. schildert. Es ist zwar nöthig, auch in diesem Gedichte vieles zu ertragen und abzuziehen, um sich das Interessante herausheben zu kön­ nen. — Der große General-Gouverneur von Indien Warren Hastings, dem wir vornehmlich die erste Bekanntschaft mit dem Ganzen dieses Gedichts 35 durch die Aufmunterung verdanken, für welche der erste Uebersetzer dessel­ ben, Wilkins, sich demselben verpflichtet erkennt, sagt in dem Vorworte, das

2 »ein] O W x: ein

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54-55

jener Uebersetzung vorangeht, daß man, um das Verdienst einer solchen Production zu schätzen, alle aus der europäischen alten oder modernen Lite­ ratur geschöpften Regeln, alle Beziehungen auf solche Empfindungen oder Sitten, welche in unserem Denken und Handeln die eigenthümlichen Grundsätze sind, und eben so alle Appellationen an unsere geoffenbarten Religions-Lehren, und moralischen Pflichten, gänzlich ausschließen müsse. Dann fügt er weiter hinzu, jeder Leser müsse zum Voraus die Eigenschaften von D u n k e l h e i t ,

Absurdität,

barbarischen

Gebräuchen

und

e i n e r v e r d o r b e n e n M o r a l i t ä t z u g e g e b e n haben. W o dann das Gegentheil zum Vorschein komme, habe er es nun als einen reinen Gewinn zu betrachten, und es ihm als ein | Verdienst zuzugestehen, das im Verhältniß mit der entgegengesezten Erwartung stehe. Ohne eine solche Nachsicht in Anspruch zu nehmen, hätte er es schwerlich wagen dürfen, dieses Gedicht zur Herausgabe zu empfehlen. Herr von Humboldt hat uns durch die müh­ same und sinnige Zusammenstellung der Grundgedanken, die in den acht­ zehn Gesängen des Werks ohne Ordnung enthalten sind, die Mühe jenes Ab­ ziehens erleichtert oder erspart; solcher Auszug enthebt uns insbesondere auch der Ermüdung, welche die tädiösen Wiederholungen der indischen Poesie hervorbringen. Dieses Gedicht, eine U n t e r r e d u n g des K r i s c h n a s ( Bha g a v a d ist, wie W . Hastings die ungelehrten Leser belehrt, und wofür auch ich ihm Dank weiß, einer der Nahmen Krischnas) hat in Indien den Ruhm , das All­ gemeinste der indischen Religion vorzutragen. Herr A . W . v o n S c h l e ­ gel in der Vorrede zu seiner Ausgabe (p. VIII.) desselben bezeichnet es als carmen philosophicum, quo vix aliud ullum sapientiae et sanctitatis laude per totam Indiam celebratius exstat. Dasselbe bezeugt W i l k i n s in der Vorrede zu seiner Uebersetzung; er sagt, die Braminen sehen es dafür an, daß es alle großen Mysterien ihrer Religion enthalte. - Es ist dieser Gesichtspunkt, auf welchen die folgenden Bemerkungen gerichtet seyn sollen. Die vorliegende Abhandlung, welche die Veranlassung dazu ist, indem sie uns die Grundleh­ ren so bestimmt zusammenstellt, führt von selbst auf solche Betrachtung, und gewährt die Leichtigkeit, dabei nur ihrer Anleitung folgen zu dürfen. Ich führe zunächst die S i t u a t i o n des Gedichtes an, weil sie sogleich charakteristisch genug ist. Der Held Ardschunas, im Kriege mit seinen Ver­ wandten, an der Spitze seines Heers, den Gott Krischnas zu seinem Wagen­ lenker, vor sich die zur Schlacht aufmarschirte feindliche Armee, und indem

26 bezeugt]

O : hezeugt

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schon die Schlachtmusik der Hörner, Muscheln, Trompeten, Pauken u.s.f. vom Himmel zur Erde fürchterlich wiederhallt, schon Geschosse fliegen, geräth in zaghaften Kleinmuth, läßt Bogen und Pfeile fallen, und fragt Krischnas um Rath; das Gespräch, das hiedurch veranlaßt wird, giebt ein vollständiges philosophisches System in achtzehn Gesängen, welche die bei­ den Uebersetzer Lectionen benennen, und die das Bhagavad-Gita heißen. — Solche Situation widerspricht freilich allen Vorstellungen, die wir Europäer vom Kriegführen und dem Augenblicke haben, wo zwei große Armeen schlagfertig einander gegenüber ge |treten sind, so wie allen unsern Foderungen an eine poetische Composition, auch unsern Gewohnheiten, auf die Studirstube oder sonst wohin, gewiß wenigstens nicht in den M und des Generals und seines Wagenlenkers in solcher Entscheidungs-Stunde, die Meditation und Darstellung eines vollständigen philosophischen Systems zu versetzen. - Dieser äußere Eingang bereitet uns darauf vor, daß wir auch über das Innere, die Religion und Moralität, ganz andere, als uns gewöhn­ liche Vorstellungen zu erwarten haben. Die großen Interessen unseres Geistes können im Allgemeinen unter die zwei Gesichtspunkte des t h e o r e t i s c h e n

und p r a k t i s c h e n

gebracht

werden, deren jenes das E r k e n n e n , dieses das H a n d e l n betrifft. Nach diesen beiden Bestimmungen ordnet der philosophische Sinn des Hrn. Verf. die Lehren des Werks zusammen. Nach der Veranlassung der Unterredung wird das p r a k t i s c h e Interesse zuerst betrachtet. Hier findet sich als Princip (S. 6.) die Nothwendigkeit des V e r z i c h t e n s auf die F r ü c h t e der Handlungen, auf alle Rücksicht des E r f o l g s

ausgesprochen. Nie, sagt

Krischnas, sei die Würdigung des Werths des Handelns in die Früchte gesezt; dieser G l e i c h m u t h

bezeichnet, wie der höchstverehrte Hr. Verf. mit

Recht sagt, »unläugbar philosophisch eine an das Erhabene grenzende See­ lenstimmung.« W ir können darin die moralische Forderung, das Gute nur um seiner selbst, die Pflicht nur um der Pflicht willen zu thun, erkennen. Aber daß die Forderung solcher Gleichgültigkeit gegen den Erfolg zugleich eine große poetische Wirkung hervorbringe (ebendaselbst) dagegen etwa könnten sich Zweifel erheben, wenn man für poetische Charaktere mehr eine concrete Individualität, die Richtung ihrer ganzen Intensität auf ihre Zwecke und deren Verwirklichung zu fordern, und nur in dieser Einigkeit ihrer Willenskraft mit den Interessen, welche sie behaupten, poetische Lebendigkeit und damit große poetische Wirkung zu sehen geneigt seyn möchte. 6 Bhagavad-Gita] O W x: Bhagat-Gita

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Außer diesem großen moralischen Sinne entsteht für das praktische Inter­ esse aber sogleich das zweite Bedürfniß, welche Zwecke sich das Handeln zu setzen, welche Pflichten es zu vollbringen, oder bei irgend einem von der W illkühr und den Umständen bestimmten Interesse zu respectiren habe. Auf diesen Gesichtspunkt erlaube ich mir episodischer Weise zunächst die Auf­ merksamkeit zu richten, weil jenes indische Princip gleich dem neuerer Moral für sich noch nicht weiter | führt, und aus ihm selbst keine sittlichen Pflichten hervorgehen können. Man kann solche Bestimmungen zunächst in der Veranlassung des ganzen Gedichts zu finden erwarten, und nur hierauf soll sich das Aufsuchen zunächst beschränken; weiterhin ist das Verhältniß von Pflicht und vom Handeln überhaupt zur Yoga-Lehre in Betracht zu zie­ hen. — Daß der Krieg des Ardschunas, den er gegen seine Verwandte unter­ nommen, gerecht ist, haben wir etwa vorauszusetzen; es tritt nicht in den Kreis des Bhagavat-Gita ein, das Prinzip dieses Rechts näher zu erläutern. Der Zweifel aber, der den Ardschunas befällt, im Augenblicke, wo die Schlacht beginnen soll, ist eben der Umstand, daß es seine und seines Hee­ res Verwandte sind, die er bekämpfen soll, und die genau aufgezählt sind, — Lehrer, Väter, Söhne, ingleichen Großväter, Oheime, Schwiegerväter, Neffen, Schwäger und Agnaten. — Ob nun dieser Zweifel eine s i t t l i c he Bestimmung, wie es uns zunächst scheinen muß, enthalte, dies muß von der Art des Werths abhängen, welcher in des Indiers Ardschunas Sinne auf das Familienband gelegt wird. Für den moralischen Sinn der Europäer ist das Ge­ fühl dieses Bandes das sittliche selbst, so daß die Familienliebe als solche das Erschöpfende ist, und das Sittliche allein darin besteht, daß alle damit zusam­ menhängenden Empfindungen der Ehrfurcht, des Gehorsams, der Freund­ schaft u.s.f., so wie die auf das Familien-Verhältniß sich beziehenden Hand­ lungen und Pflichten jene Liebe zu ihrer Grundlage, und zum für sich ge­ nügenden Ausgangspunkte haben. Allein es zeigt sich, daß es nicht diese moralische Empfindung ist, welche in dem Helden den Widerwillen, die Verwandten auf die Schlachtbank zu bringen, veranlaßt. W ir würden in Ver­ brechen verfallen, sagt er, wenn wir jene Räuber (Wilkins: Tyrannen) tödteten; nicht so, daß das Tödten derselben als Anverwandte (die Lehrer immer mit eingeschlossen) selbst das Verbrechen wäre, sondern das Verbrechen wäre eine F o l g e , diese nehmlich, daß durch die Ausrottung der Geschlechter die sacra gentilitia, — die einer Familie zur Pflicht gemachten und religiösen Handlungen zu Grunde gingen. Wenn dies erfolgt, so wächst die Gottlosig­ keit d u r c h d e n g a n z e n S t a m m , (—dies ist für uns etwas zu incohärent, indem etliche Worte vorher die Ausrottung des Stammes angenommen war —). Dadurch werden die e d e l n Frauen —von dem Stamme können nur

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die Männer, da nur sie sich in der Schlacht befinden, zu |nächst umkommen — verdorben, und es entsteht daraus die Varna-sankra, die Vermischung der Casten (the spurious brood). Das Verschwinden aber des Castenunterschiedes bringt die, welche an dem Untergange der Stämme schuld sind, und den Stamm selbst ins ewige Verderben (Schlegel: i n f e r n i s mancipat, Wilkins: provideth H e l l for those etc.), denn die V o r e l t e r n stürzen aus den H im ­ meln herab, weil sie der K u c h e n und des Wass er s fürder entbehren; — die Opfer nehmlich nicht mehr erhalten, indem ihre Nachkommen die Reinheit des Stammes nicht bewahrt haben; - Nachkommen, wird zugege­ ben, können die Voreltern immer noch haben, von denselben könnten sie also auch Opfer bekommen, allein diese Opfer würden ihnen ungedeihlich seyn, weil sie von einer Bastartbrut gebracht wären, und so unterbleiben sie von selbst. — Wie W i l k i n s angiebt (in den Notes zu p. 32.), werden die Kuchen nach Verordnung der Veda’s den Manen bis in die dritte Generation gebracht, am Tage jedes Neumonds, die Wasserlibation aber täglich.1 Erhal­ ten die Verstorbenen keine solche Opfer, so sind sie zu dem Loose verurtheilt, in unreinen Bestien wiedergebohren zu werden. Was hieraus für das Interesse eines praktischen Princips hervorgeht, ist, wie wir sehen, daß zwar das Gefühl des Familienbandes als Grundlage er­ scheint, aber daß dessen Werth nicht als Familienliebe, und hiemit nicht als moralische Bestimmung gehalten ist. Das Gefühl dieses Bandes haben auch die Thiere; im Menschen wird es zugleich geistig, aber sittlich nur, insofern es in seiner Reinheit erhalten, oder vielmehr in seine Reinheit als Liebe aus­ gebildet, und, wie vorhin bemerkt, diese Liebe als Grundlage festgehalten wird. Hier wird vielmehr der Werth auf der Verwandlung dieses Bandes in einen abergläubischen Zusammenhang gesezt, in einen zugleich unmora­ lischen Glauben an die | Abhängigkeit des Schicksals der Seele nach dem 1 Das Ausführlichere über diese Todtenopfer ist bei Ga n s E r b r e c h t in welt­ geschichtlicher Entwicklung l r Bd. S. 9ff. zu finden, wo überhaupt die Natur der in­ dischen Ehe und des Familienbandes dargestellt wird; die Vaterschaft hat das Inter­ esse, Kinder als Werkzeuge für die Abtragung der Schuld des Todtenopfers an die Vorfahren zu erhalten; S. 247. die ausschweifenden Weisen, zu diesem Behuf Kinder zu bekommen, werden S. 78 f. angeführt. Auch ist S. 90. angeführt, daß die oben mit den Verwandten aufgeführten Lehrer beim Mangel anderer Anverwandten als Erben eintreten.

5 i n f e r n i s ] O W xH :

inferis

mancipat] O W rH : mancipant

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Tode, von den Kuchen und Wassersprengungen der Verwandten, und zwar solcher, welche dem Castenunterschiede treu geblieben sind. So haben wir uns auch nicht durch den ersten guten Anschein täuschen zu lassen, wenn wir in der Auseinandersetzung, die Ardschunas von seinen Zweifeln macht, sogleich auf Sätze stoßen, in denen wir die Religion ganz hoch gestellt finden. Der schon oben angeführte Satz, nach der Schlegelschen Uebersetzung (S. 132.) religione deleta per omnem stirpem gliscit impietas, klingt nach unserem europäischen Sinne so im Allgemeinen genommen sehr gut. Nach den gemachten Bemerkungen aber heißt religio Kuchenopfer und Wassersprengungen, und die impietas heißt theils das Unterbleiben von sol­ chen Ceremonien, theils das Heirathen in niedrigem Casten; - ein Gehalt, vor dem wir weder religiöse noch moralische Achtung haben. — In der ind. Bibi. Bd. II, H. 2. bestimmt Hr. v. H. das, was hier impietas lautet, näher zur Bedeutung von vernichtetem Rechte. —Der Dichter hat sich hierin noch nicht über den gemeinen indischen Aberglauben, zu einer sittlichen, wahr­ haft religiösen oder philosophischen Bestimmung erhoben. Sehen wir nun, was Krischnas auf die Bedenklichkeiten des Ardschunas erwiedert. Das nächste ist, daß er noch diese Unlust zum Kampf Schwäche, eine unwürdige Feigheit nennt, aus der er sich ermannen solle. In Wilkins Uebersetzung liegt eine ausdrücklichere Erinnerung an die P f l i c h t (wie derselbe erläutert: des Soldaten gegen die allgemeinen moralischen Pflich­ ten). Wenn die moralische Collision auch nicht bestimmter durch den Aus­ druck hervorgehoben ist, so ist sie vorhanden, und für die Auflösung ist jenes bloße Schmälen Krischnas nicht befriedigend; auch genügt es dem Ardschu­ nas nicht, der vielmehr nur das schon Gesagte wiederholt, und bei seinem Entschlüsse, sich nicht zu schlagen, beharrt. N un fängt Krischnas an, die höhere, alles überfliegende Metaphysik loszu­ legen, welche einerseits über das Handeln ganz hinaus zum reinen Anschauen oder Erkennen, und damit in das Innerste des indischen Geistes übergeht, andererseits die höhere Collision zwischen dieser Abstraction und dem Prak­ tischen, und damit das In |teresse herbeiführt, sich um die Art umzusehen, wie diese Collision vermittelt und aufgelöst sei. Das nächste jedoch, was Krischnas entgegnet, führt nicht sogleich zu jener Höhe fort, der metaphysische Anfang führt zunächst nur auf gewöhnliche populäre Vorstellungen. Krischnas sagt, daß Ardschunas zwar weise Reden führe, aber die Weisen betrauern weder die Todten noch die Lebendigen. »Weder i c h , Krischnas, bin jemals n i c h t g e w e s e n , n o c h d u , n o c h al l e diese Könige der Sterblichen, noch ist es jemals in Zukunft, daß wir n i c h t seyn w e r d e n . — Diese Leiber, welche von der unveränderlichen,

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unzerstörbaren und unendlichen Seele belebt sind, werden hinfällig genannt; darum kämpfe, Ardschunas! — Wie kann der Mensch, der weiß, daß die Seele unsterblich ist, meinen, daß er sie tödten lassen, oder tödten könne? wie kannst du dazu kommen, sie zu beklagen? Wenn du aber auch glaubst, daß die Seele entstanden sei, und daß sie wieder sterben werde, so kannst du auch so nicht um sie klagen; denn dem, was gebohren, ist der Tod gewiß, und dem, was gestorben, die Geburt; über das Unvermeidliche mußt du daher dir keinen Kummer machen!« —Eine moralische Bestimmung, die wir suchen, ist hierin nicht wohl zu sehen. Es ist dasselbe, was wir sonst lesen: »Freund, es sind sterbliche Menschen, sterbliche Menschen! die du zu tödten im Begriffe bist; die Seele aber wirst du nicht tödten, denn sie kann nicht getödtet werden.« W ir finden ohne Zweifel, daß was zu viel beweist (- aus dem Tödten überhaupt wird in solcher Vorstellung nicht viel gemacht -), gar nichts beweist. Dann fährt Krischnas fort: Eingedenk der Pflichten deiner besondern Ca s t e , geziemt dir, nicht zu zagen; für einen K s c h e t r i giebt es nichts höheres als Krieg. Bei Schlegel heißt es dort: p r o p r i i o f f i c i i m e m o r e m etc., und hier legitimo bello melius quidquam m i l i t i evenire nequit, so auch in der Folge. Europäer, die dies lesen, nehmen es ohne Zweifel in dem Sinne der P f l i c h t des S o l d a t e n als eines solchen; so haben diese Aufrufungen einen moralischen Sinn für sie, wenn sie sich nicht erinnern, daß in Indien Stand und Pflicht eines Soldaten nicht eine Sache für sich, sondern an die Caste gebunden und beschränkt ist. Wilkins giebt in seiner Uebersetzung die bestimmtem Ausdrücke: the duties of thy particular t r i b e , und: a soldier of the | K s h a t r e e t r i b e hath no duty superior to fighting. Die allgemei­ nen Ausdrücke, p r o p r i u m officium und milites, wie vorhin religio und impietas, versetzen uns zunächst nur in europäische Vorstellung, sie benehmen dem Inhalt seine Farbe, veranlassen es zu leicht, uns über die eigenthümliche Bedeutung zu täuschen, und die Sätze für etwas besseres zu nehmen, als sie in der That sagen. - In dem eben Angeführten liegt eben so wenig das, was wir Pflicht nennen, sittliche Bestimmung, sondern nur Naturbestimmung zu Grunde. — Weiter hält Krischnas dem Ardschunas noch die Schande vor, in die er sich bei Freund und Feind stürzen würde, — ein passendes, doch für sich formelles Motif, indem es immer darauf ankommt, worein die Ehre und Schande gesezt wird. Aber Krischnas sezt nun hinzu, daß dies, was er hier dem Ardschunas vor­ gehalten, nach der Sanc’hya-Weise gesprochen, daß er nun aber nach der Y o g a Weise sprechen werde. Hiemit eröffnet sich erst das ganz andere Feld indischer Betrachtungsweise. Die Zusammenstellung, die Erläuterungen und

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JA H R B Ü C H E R F Ü R W IS S E N S C H A F T L IC H E K R IT IK

61-62

Aufschlüsse, welche uns über diese hervorstechendste Seite des Gedichts der höchstverehrte Hr. Verf. aus seinem tiefen Sinne und dem Schatze seiner Ge­ lehrsamkeit gibt, sind von vorzüglichem Interesse. Der höhere Schwung, oder vielmehr die erhabenste Tiefe, welche sich hier aufthut, führt uns so­ gleich über den europäischen Gegensatz, mit welchem wir diese Darstellung eröffnet, v o n d e m P r a k t i s c h e n und T h e o r e t i s c h e n hinaus, das Han­ deln wird im Erkennen oder vielmehr in der a b s t r a c t e n V e r t i e f u n g des Bewußtseyns in sich absorbirt. Auch Religion und Philosophie fließen hier so in einander, daß sie zunächst ununterscheidbar scheinen. So hat der Hr. Verf. gleich von Anfang den Inhalt des Gedichts, wie oben angegeben, ein vollständiges p h i l o s o p h i s c h e s Sys t em genannt. Es macht überhaupt in der Geschichte der Philosophie eine bedeutende Schwierigkeit und Verle­ genheit aus, insbesondere den ältern Perioden der Bildung eines Volkes, eine Gränze zwischen diesen ^Veisen des Bewußtseyns, denen gemeinschaftlich das Höchste und darum das Geistigste, nur im Gedanken seinen Wohnsitz habende,

Gegenstand ist, zu bestimmen,

und

eine Eigenthümlichkeit

auszufinden, vermöge deren solcher Inhalt nur der einen oder der ändern Region angehörte. Für die indische Bildung ist uns nun endlich eine solche Unterscheidung möglich geworden, durch | die auch von dem Hrn. Verf. öfters angeführten Auszüge, welche Colebrocke aus eigentlich philosophi­ schen Werken der Indier in den Transactions of the R . Asiatic society Vol. I. dem europäischen Publicum gegeben hat, und die zu den schätzenswerte­ sten Bereicherungen gehören, welche unsere Kenntniß auf diesem Felde er­ halten konnte. Bei den philosophischen Systemen zeigt es sich gleichfalls, daß, wie hier im Gedicht, Sanc’hya-Lehre, und Yoga-Lehre eine Grundunterscheidung zwischen denselben ausmacht; obgleich Sanc’hya zunächst als eine allgemei­ nere Bestimmung (bei Colebrocke) erscheint, unter welche hiemit auch die Yoga-Lehre befaßt wird, so ist doch die Unterscheidung des Inhalts vor­ nehmlich an jene Verschiedenheit des Ausdrucks geknüpft. - Was zunächst Sanc’hya betrifft, so führe ich aus Colebrocke an, daß ein System der Philo­ sophie so genannt werde, in welchem die Präcision des Z ä h l e n s Rechnens

oder

in der Aufzählung seiner Principien beobachtet werde; -

Sanc’hya heiße eine Zahl. In der That zeigen sich die philosophischen Systeme, mit denen er uns bekannt macht, vornehmlich als Aufzählungen von den Anzahlen der Gegenstände, Elemente, Kategorien u.s.f., welche jedes System annimmt, und welche so nacheinander vorgetragen, dann für 33 werde] O : w erden

62-63

29

H U M B O L D T - R E Z E N S IO N • ERSTER A R T IK E L

sich näher erläutert und bestimmt werden. Das W ort, von welchem Sanc’hya herkomme, bedeute überhaupt Raisonniren oder Nachdenken (reasoning or deliberation); wie denn auch Hr. v. H. in den Bemerkungen, welche derselbe über die Kritik des Hrn. Langlois von der Schlegelschen Ausgabe und Uebersetzung des Bhagavad-Gita, in der indischen Bibliothek gegeben, daselbst II. Bd. 2. H. S. 236. die Sanc’hya-Lehre eben dahin bestimmt, daß in ihr das r a i s o n n i r e n d e

und p h i l o s o p h i r e n d e

Nachdenken rege

sei. Was vorhin in Rücksicht auf moralische Bestimmungen ausgehoben wor­ den, zeigte sich als sehr unbedeutend, und wir würden dergleichen als popu­ läre, ganz gewöhnliche Motife charakterisiren. W enn nun das Uebrige das interessantere ist, worin, wie Hr. v. H. S. 32 heraushebt, in seinem Vortrage Krischnas sichtlich bei dem Yoga stehen bleibt, so ist jedoch einerseits gleich zu bemerken, daß auf dem höchsten indischen Standpuncte, wie dies auch im Bhagavad-Gita in der 5ten Lect. 5 Sl. ausgesprochen ist, dieser Unterschied verschwindet; beide | Weisen haben Ein Ziel und: Unam eandemque esse disciplinam rationalem (Sanc’hya-Sastra) et devotionem (Yoga-Sastra) qui cernit, is vere cernit (Schlegelsche Uebers.) Andererseits kann erinnert werden, daß so sehr in diesem lezten Ziel indische Religion und Philosophie Überein­ kommen, doch die Ausbildung dieses Einen Zieles und wesentlich des Weges zu diesem Ziele, wie sie durch und für den Gedanken zu Stande gebracht worden, so zu dem Unterschiede von der religiösen Gestalt gediehen ist, daß sie sehr wohl den Nahmen der Philosophie verdient. Vollends zeigt sich der Weg, den die Philosophie vorzeichnet, eigenthümlich und würdig, wenn man ihn mit dem Wege vergleicht, welchen die indische Religion theils vor­ schreibt, theils wenn sie selbst den höhern Schwung zu dem Yoga-Sinne nimmt, noch gleichsam vermengungsweise zuläßt. So würde man der indi­ schen Philosophie, welche Sanc’hya-Lehre ist, höchst unrecht thun, wenn man sich ein Urtheil über sie und ihre Weise aus dem, was nach oben in dem Bhagavat-Gita Sanc’hya-Lehre heißt, und was über die gemeinen, po­ pulär-religiösen Vorstellungen nicht hinausgeht, machen würde. Für eine kurze Bestimmung der Yoga-Lehre können wir am zweckmäßig­ sten gleichfalls anführen, was Hr. v. H. (ind. Bibi. a. a. O .) von ihr angibt, daß in ihr nämlich dasjenige N a c h d e n k e n (wenn es etwa noch so heißen kann) rege sei, welches ohne Raisonnement, durch eine Vertiefung zur un­ mittelbaren Anschauung der Wahrheit, ja zur Vereinigung mit der Urwahr-

5 Bhagavad-Gita] O : Bhagat-Gita

28 Sanc’hya] O: Sanc’hia

30

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63.1441-1442

heit selbst gelangen will. Aus den Darstellungen des Hrn. Verf. dasjenige zu entnehmen, was sich in dieser Yoga-Richtung für die Bestimmung von Gott, so wie für das Verhältniß des Menschen zu Gott, ferner dann auch wieder für den Gesichtspunkt des Handelns und der Sittlichkeit ergibt, — soll der Gegenstand eines zweiten Artikels seyn. |

Zweiter A r t i k e l . Nachdem in einem frühem Artikel (N. 7 dieser Jahrbücher) diese gelehrte Arbeit des höchstverehrten Hrn. Verfassers dazu benuzt worden, zu versu­ chen, das herauszuheben, was aus diesem berühmten Gedichte sich für die sittlichen Bestimmungen der Indier ergebe, so soll aus der Zusammenstellung und den Aufklärungen, welche uns diese höchst schätzbare Darstellung über die r e l i g i ö s e A n s i c h t dieses Volkes gewährt, der Vortheil gezogen wer­ den, einige Grundbestimmungen zu derselben in Betracht zu ziehen und R e­ chenschaft über diese zu geben. Die Aufschlüsse, welche wir in den vor­ liegenden Vorlesungen erhalten, sind um so interessanter, als sie nicht irgend eine particuläre Seite der unendlich viel gestalteten indischen Mythologie be­ handeln, sondern sich vornehmlich mit der Yoga-Lehre, dem innersten der Religion dieses Volkes beschäftigen, worin eben so sehr die Natur seiner Religiosität als seines höchsten Begriffes von Gott enthalten ist. Diese Lehre ist die Grundvorstellung, welche durch das ganze Gedicht herrschend ist und geltend gemacht wird. Sogleich ist zu bemerken, daß der Ausdruck Y o g a - L e h r e nicht das Mißverständniß veranlassen darf, als ob Yoga eine Wissenschaft, ein entwickeltes System sei. Es ist damit nur eine Lehre in dem Sinne gemeint, wie man etwa von der mystischen Lehre spricht, um einen Standpunkt zu bezeichnen, der als Lehre betrachtet, nur etliche wenige Behauptungen und Versicherungen enthält, und vornehmlich erbauend, zur gefoderten Erhebung ermahnend und aufregend ist. Es ist dieß mit ein Grund, warum, wie Hr. v. H. S. 33 anführt, diese Lehre eine Ge |heimlehre ist; sie kann ihrer Natur nach nicht objectiv seyn, denn sie hat keinen entwickelten, in den Boden des Beweisens eintretenden Inhalt. Die höchste Lehre in Indien, die Vedas, sind aber dort auch äußerlich ein Geheimniß; die Brahminen sind eigentlich im ausschlie­ ßenden Besitz und Lesen dieser Bücher, das für die ändern K a s t e n nur etwas Tolerirtes ist. Die großen Gedichte Ramayana und Mahabharata schei­ nen dagegen die Bestimmung zu haben, auch diesem aus dem Eigenthume der Brahminen ausgeschlossenen Theile der Nation die religiösen Kenntnisse

1442-1443

H U M B O L D T - R E Z E N S IO N • Z W E IT E R A R T IK E L

31

zu gewähren, die derselbe freilich nur bis zu einem gewissen Grade und in dem Sinne zu benutzen fähig ist, um welchen sich die ganze Yoga-Lehre dreht. Hr. v. H. führt ebendas, an, daß Colebrooke in seinen Auszügen aus den philosophischen Systemen der Indier (T r a n s a c t . of t he R . A s i a t . S o ­ c i e t y , V o l . I . ) von dem Werke Patandschali’s (eines mythologisch er­ scheinenden Wesens, bei Colebr. geschrieben: Patanjali), das die Yoga-Lehre enthält, nur kurze Andeutungen gebe, so daß sich nicht beurtheilen lasse, in wie fern das, was Krishna in der Bhagavad-Gita vorträgt, damit überein­ stimme. Die s peci al t o p i c s , deren Colebrooke erwähnt, auf welche sich die Meditation in der genannten Lehre ausdehne, mögen wohl eigenthümliches enthalten; allein es läßt sich nicht zweifeln, daß wenigstens die Natur dessen, was Yoga heißt, und das lezte Ziel, welches sich darin vorgesezt ist, der Hauptsache nach auf dieselbe Weise in beiden Darstellungen vorgestellt werde. Schon der Inhalt der vier Kapitel der Yoga-Sutras des Patanjali, den jener sorgfältige Gelehrte angibt, so wie einige weitere Anführungen, die er daraus macht, lassen dieß schließen, und wir werden auch die besondern Ge­ sichtspunkte, die der Gegenstand jener Kapitel sind, in dem Inhalte der Gita finden. Ich will sie kurz angeben; das erste der Kapitel (padu), sagt Colebrooke, handelt von der Beschauung (Contemplation), das zweite von den Mitteln sie zu erlangen; das dritte von der Uebung übernatürlicher Macht ( ex e r c i c e of t r a n s c e n d e n t

| p o w e r , v i b h u t i ) , das vierte

von der Abstraction oder geistigen Isolirung. Daß Colebrooke von den spe­ cial topics der Patanjali-Lehre nichts näheres anführt, während er von den ändern Lehren sehr ausführliche und bestimmte Auszüge gibt, hat wohl sei­ nen guten Grund; es ist nicht zu vermuthen, vielmehr scheint es der Natur der Sache nach eher unmöglich, daß viele andere als uns fremdartige, wilde, abergläubische Dinge, die mit Wissenschaftlichkeit nichts zu thun haben, zu berichten gewesen wären. Auch die Sanc’hya selbst, welche wesentlich von der Patanjali-Lehre verschieden ist, kommt in ihrem lezten und einzigen Zwecke mit dieser überein und ist darin Yoga-Lehre. Nur der Weg weicht von einander ab, in dem die Sanc’hya ausdrücklich durch die denkende Be­ trachtung der besondern Gegenstände und der Kategorien der Natur und des Geistes zu jenem Ziel fortzuschreiten anweist, die eigentliche Yoga-Lehre des Patanjali dagegen ohne solche Vermittlung gewaltsam und auf einmal in diesen Mittelpunkt sich zu versetzen treibt. Ausdrücklich macht Colebrooke den Anfang der Exposition der Sanc’hya damit, zu sagen, daß der anerkannte Zweck aller Schulen, der theistischen (worunter die Patanjali-Lehre gehört), der atheistischen und mythologischen wie anderer philosophischen Systeme

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1443-1444

der Indier, dieser ist, die Mittel zu lehren, durch welche ewige Seeligkeit er­ langt werden könne, nach dem Tode oder vor demselben. Von den V e d a s führt Colebrooke dabei nur eine Stelle in dieser Bezie­ hung an; von der V e d a n t a (der Theologie der Vedas als ihr räsonnirender Theil) sagt er, ihr ganzer Zweck sei, eine Erkenntniß zu lehren, durch wel­ che die Befreiung von der Metempsychose erreicht werde, und dieß als das große Ziel einzuschärfen, das durch die in jener Theologie angegebenen M it­ tel zu erlangen sei. Bestimmter gibt derselbe anderwärts ( As i a t . R e s . I X . p. 289) an, die Anhänger der Vedas glauben, daß die menschliche Seele nicht allein einer vollkommenen Einheit mit dem göttlichen Wesen fähig ist, was durch die Erkenntniß Gottes, wie sie von den Vedas gelehrt wird, erreicht werde, sondern sie haben auch angedeutet, daß durch dieses Mittel die be­ sondere Seele Gott werde, selbst bis zur wirklichen Erlangung der obersten Macht. Sogar in den Aphorismen von N y a y a der Philosophie des Gotama, von welcher Colebrooke im zweiten Aufsatze über die indische Philosophie ( T r a n s a c t . of t he R . As i a t i c S o c i e t y V o l . I. P. 1) einen ausführ­ lichen Auszug gibt, | — einer ziemlich trockenen formellen Logik, die der Gegenstand von einer unendlichen Menge von Commentarien in Indien geworden sei, — werde dieselbe Belohnung einer vollkommenen Kenntniß dieser philosophischen Wissenschaft verheißen. W ir dürfen daher mit Recht das, was Yoga heißt, für den allgemeinen Mittelpunkt indischer Religion und Philosophie betrachten. Was nun Yoga ist, sezt der Hr. Verf. S. 33 sowohl etymologisch als in dem weitern Sinne auseinander; auch in der indischen Bibliothek B. II. H. 2. S. 248. ff. finden sich interessante Erörterungen sowohl von Hr. v. H. als auch von Hrn. v. Schlegel über die Schwierigkeit der Uebersetzung eines solchen Worts. Yoga wird also (S. 33.) beschrieben als die beharrliche Richtung des Gemüths auf die G o t t h e i t , die sich von allen ändern Gegenständen, selbst von d e m i n n e r n G e d a n k e n zurückzieht, jede Bewegung und Körper­ verrichtung möglichst hemmt, sich allein und ausschließend in das Wesen der Gottheit versenkt, und sich mit demselben zu v e r b i n d e n strebt. Hr. v. H. übersezt das Wort durch V e r t i e f u n g , in dem die I n s i c h g e k e h r t h e i t das auffallendste Merkmal des im Yoga begriffenen Menschen bleibe und darin auch die eigne mystische Gemüthsstimmung eines solchen liege; obgleich jede Uebertragung eines aus ganz eigenthümlicher Ansicht entsprin­ genden Ausdrucks einer Sprache durch ein einzelnes Wort einer ändern man­ gelhaft bleibe. Leztere Bemerkung enthält wohl die Rechtfertigung des Hrn. 9 Vedas glauben] O : Vedasglauben

19 vollkommenen] O : vollkom m enen

1444-1445

H U M B O L D T - R E Z E N S IO N • Z W E IT E R A R T IK E L

33

v. Schlegel, der Yoga vornehmlich mit devotio übersezt, wie es auch Langlois und Wilkins mit devotion (ind. Bibi. a. a. O . S. 250.) geben; sonst ge­ braucht Hr. v. Schl, a p p l i c a t i o , d e s t i n a t i o , e x e r c i t a t i o , wo der Sinn etwa nicht so specifisch zu seyn scheint. Der Hr. v. H. macht daselbst jedochden Uebelstand bemerklich, daß dem Leser bei allen diesen verschiedenen Ausdrücken der ursprüngliche allgemeine Begriff dieses Worts fehle, durch den man erst die einzelnen Anwendungen, jede in ihrer Eigenthümlichkeit, wahrhaft fassen könne, in welche Bemerkungen Hr. v. Schl, mit seiner vol­ len Kenntniß der Schwierigkeiten des Uebersetzens, und im tiefen Gefühle der Uebersetzer-Leiden einstimmt. Es widerstreitet gewiß geradezu der Natur der Sache die Forderung zu machen, daß ein Ausdruck der Sprache eines Volkes, das gegen die unsere eine eigenthümliche Sinnesart und Bil­ dung hat, wenn solcher Ausdruck nicht unmittelbar sinnliche Gegenstände, wie Sonne, Meer, Baum, Rose u.s.f., son |dern einen geistigen Gehalt betrifft, mit einem Ausdruck unserer Sprache wieder gegeben werde, wel­ cher jenem in seiner vollen Bestimmtheit entspreche. Ein W ort unserer Spra­ che gibt uns u n s e r e bestimmte Vorstellung von solchem Gegenstände, und eben damit nicht die des ändern Volkes, das nicht nur eine andere Sprache, sondern andere Vorstellungen hat. Indem der Geist das Gemeinsame aller Völker ist, und wenn die Bildung desselben zugleich vorausgesezt wird, so kann sich die Verschiedenheit nur um das Verhältniß eines Inhalts nach sei­ ner G a t t u n g und deren Bestimmungen, die A r t e n ,

drehen. In einer

Sprache sind für viele, gewiß nicht für alle Bestimmtheiten etwa besondere Ausdrücke vorhanden, aber etwa nicht für das sie befassende allgemeine Subject, oder aber wohl für dieses, und zwar daß der Ausdruck entweder nur auf das Allgemeine eingeschränkt, oder auch für den Sinn einer besondern Art geläufig ist; - so enthält die Z e i t zwar sowohl die erfüllte als die leere und die rechte Zeit, darum muß aber tempus doch oft durch: Umstände, die rechte Zeit, übersezt werden. Was wir in den Wörterbüchern als verschie­ dene B e d e u t u n g e n eines Wortes angeführt finden, sind meistentheils Be­ stimmtheiten einer und derselben Grundlage. W enn auch, wie Hr. v. Schl, (ind. Bibi. 2. B. 2. H. S. 257) sagt, die Europäischen Völker in Absicht auf die Sprachen und auf Geschmack, gesellige und wissenschaftliche Bildung Eine große Familie ausmachen, so geht die Verschiedenheit ihrer Sprachen dennoch zu der angegebenen Abweichung fort, und macht an einem Uebersetzer die Eigenschaften nothwendig, welche allein der Schwierigkeit auf

7 Eigenthüm lichkeit] O : E igenthüm lickeit

34

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1445-1446

eine Weise abhelfen können, wie Hr. v. Schl, es in den mannichfaltigsten Proben geleistet, gebildeten Tact und geistreiches Talent. Hr. v. H. bemerkt (ebendas. S. 250) gegen die Französische Uebersetzung des Ausdrucks Yoga mit devotion und die Lateinische mit devotio, daß sie die Eigenthümlichkeit des Yoga nicht bezeichnen; in der That drücken sie nicht die allgemeine Bestimmung für sich, und sie nur in einer Modification aus, die nicht im Yoga enthalten ist. Der Deutsche Ausdruck V e r t i e f u n g , dessen sich der höchstverehrte Hr. Verf. bedient (S. 41), zeigt sich sogleich als bedeutend und passend; er drückt die allgemeine Bestimmtheit aus, wel­ che Yoga überhaupt bedeutet, und für die destinatio, applicatio paßt. Yoga aber hat insbesondere die eigenthümliche Bedeutung, welche für die Kenntniß des Ausgezeichneten der Indischen Religionen das Interes |sante ist. Wilkins S. 140 seiner Uebersetzung in den Anmerk, sagt nach der Erwähnung H pr n n m i t f p I K a r p n n n r l A f*r W n 1ii5 1 V11AV11 n1V11 R p^UCULUll^ r ) p n f n n (Y uVnUnli

J U 11 V , l, 1 U 1 1

d i l y or m e n t a l a p p l i c a t i o n , daß es in der Bhagavad-Gita is a l l y

u s e d as a

t he m i n d

in

t h e o l o g ic a l

spiritual

A U^

U .1 1 V J. L J KJ —

g e n e r

-

t e r m , to express t he a p p l i c a t i o n of

things,

and t he p e r f o r m a n c e

of re-

l i g i o u s c e r emo ni e s . Diese specifische Bedeutung zeigt sich hiemit im Ausdrucke der allgemeinen Grundlage die überwiegende zu seyn. Unsere Sprache kann nicht wohl ein Wort besitzen, welches solcher Bestimmung entspräche, weil die Sache nicht in unserer Bildung und Religion liegt. Der passende Ausdruck V e r t i e f u n g geht darum gleichfalls nicht soweit; Yoga in jener Eigenthümlichkeit ist weder Vertiefung in einen Gegenstand über­ haupt, wie man sich in die Anschauung eines Gemähldes, oder einen wissen­ schaftlichen Gegenstand vertieft, noch die Vertiefung in sich selbst, d. i. in seinen concreten Geist, in die Empfindungen oder Wünsche desselben u.s.f. Yoga ist vielmehr eine Vertiefung o h n e a l l e n I n h a l t , ein Aufgeben jeder Aufmerksamkeit auf äußere Gegenstände, der Geschäftigkeit der Sinne eben­ sosehr als das Schweigen jeder innern Empfindung der Regung eines W un­ sches oder der Hoffnung oder Furcht, die Stille aller Neigungen und Leiden­ schaften wie die Abwesenheit aller Bilder, Vorstellungen und aller bestimm­ ten Gedanken. Insofern diese Erhebung nur als ein momentaner Zustand be­ trachtet wird, würden wir ihn A n d a c h t nennen können; allein unsere An­ dacht kommt aus einem concreten Geiste und ist an einen inhaltsvollen Gott gerichtet; ist inhaltsvolles G e b e t , eine erfüllte B e w e g u n g des religiösen

8—10 bedient (S. 41), .. .die destinatio] OW^H: bedient, .. .die (S. 41) destinatio

1446-1447

H U M B O L D T - R E Z E N S IO N • Z W E IT E R A R T IK E L

35

Gemüths. Die Yoga1 könnte man darum nur abst ract e A n d a c h t nennen, weil sie sich nur in die vollkommene Inhaltslosigkeit des Subjects und des Ge­ genstandes, und damit gegen die Bewußtlosigkeit hinsteigert. U m zum Bestimmten überzugehen, so ist sogleich zu bemerken, daß diese Abstraction nicht als eine vorübergehende Spannung verstanden wird, son­ dern sie wird als habituelle Stimmung und Charakter des Geistes wie die A n­ dacht zur Frömmigkeit überhaupt werden soll, gefodert. Der Weg zu diesem constanten Versenktseyn des | Geistes hat verschiedene Stufen und damit verschiedene Werthe. Aus tausenden von Sterblichen strebt kaum einer nach Vollendung, und von den Strebenden und Vollendeten ist es kaum einer, der mich vollkommen kennt, sagt Krishna Bhag. VII. 3. Die untergeordneten Vollendungen (denn so muß man nach dem eben angeführten Ausspruch reden) zu bezeichnen und ihren Werth unter den der höchsten Vollendung zu setzen, macht einen Hauptinhalt der Bhagavad-Gita aus. Der Vortrag fällt jedoch vornehmlich immer in die Wiederholung des allgemeinen Gebots, sich in Krishna zu versenken, zurück; die Mühe, die Hr. v. H. übernommen das Verwandte, im Gedicht so sehr Zerstreute, zusammen zu stellen, erleich­ tert es, diesen Unterschieden nachgehen zu können. Daß die Richtung des Geistes auf Krishna den Charakter durchdrungen habe, wird sogleich zu der Gleichgültigkeit gegen die F r ü c h t e der Hand­ lungen gefodert, von welcher im ersten Artikel gesprochen worden, und die in den ersten Lectionen des Gedichts vornehmlich eingeschärft wird; s. Hr. v. H. S. 5 ff. Diese Verzichtleistung auf den Erfolg ist nicht ein Enthalten vom Handeln selbst, sezt dasselbe vielmehr voraus. Jene Verzichtleistung wird aber X II. 11. als die niedrigste Stufe der Vollendung ausgesprochen. Wenn du, sagt Krishna daselbst, nicht einmal das Vorhergehende (was dieß sei, davon sogleich) zu erreichen vermagst, so thu, mich vor Augen habend, in Bescheidenheit auf die Früchte der Handlungen Verzicht. Wenn dieß Absehen von dem Erfolg der Handlungen einerseits ein Ele­ ment sittlicher Gesinnung ist, so ist es in dieser Allgemeinheit zugleich unbestimmt und darum formeller und selbst zweideutiger Natur. Denn Handeln heißt nichts anderes als irgend einen Zweck zu Stande bringen; damit Etwas h e r a u s , damit es zu einem Erfolg komme, wird gehandelt. Die Verwirklichung des Zwecks ist ein Gelingen; daß die Handlung Erfolg 1

Es mag erlaubt seyn, d ie Yoga zu sagen im Sinne des D e u t s c h e n femininen

Artikels, mit dem Qualitäten meist bezeichnet zu werden pflegen.

14 Bhagavad] O : Bhagarad

36

1447-1448

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hat, ist eine Befriedigung, eine von der vollführten Handlung untrenn­ bare Frucht. Zwischen das Handelnde und das Erreichen des Zwecks kann sich Trennendes einschieben und das Handeln aus Pflicht wird in vielen Fäl­ len zum Voraus sogar wissen, daß es keinen äußerlichen Erfolg haben kann, aber die Pflicht ist etwas anderes als jene bloß negative Gleichgültigkeit gegen den Er |folg. Je sinnloser und stumpfer ein opus o p e r a t u m vollbracht wird, eine desto größere Gleichgültigkeit gegen einen Erfolg ist darin vorhanden. Die nächst höhere Stufe, wodurch Vollendung ( c o n s u m m a t i o ) erreicht werde, wird X II. sl. 10 angegeben als eine Vertiefung in die W e r k e des K r i s h n a und ein Vollbringen von W e r k e n u m s e i n e t w i l l e n ( mei grat i a) . Die Stelle, welche die leztere Bestimmung enthält, erklärt Hr. v. H. (ind. Bibi. a. a. O. 251) unter den schwierigen sl. 9—12 für die, die ihn vorzüglich zweifelhaft lasse. W i l k i n s : p r e m e

f o l l o w

f or by p e r f o r m i n g w o r k s

;

f o r

me i n m y m e

,

thou

w o r k s

s u

-

shalt at t a i n

p e r f e c t i o n . Hr. v. H. interpretirt im ersten Satze nicht Vertiefung in die Werke des Krishnas, sondern das um Krishnas willen in alleiniger Pachtung auf ihn zu übende Handeln.

M

ea

o p e r a

q u i p e r f i c i t gibt einen Sinn,

der allerdings zunächst nicht einleuchtet, und Hr. v. H. erinnert, daß diese Uebersezung den Sterblichen etwas Unmögliches aufzuerlegen scheint. Außerdem daß überhaupt alle unsere Vorstellungen von Unmöglichkeiten an der Indischen Vorstellungswelt scheitern, als in welcher das fai re l ’ i mp o s s i b l e ganz zu Hause ist, so erhalten wohl jene Werke des Krishnas durch das Folgende ihre nähere Erläuterung. Die Frage ist, was es für Hand­ lungen sind, die der Andächtige zu vollbringen habe? In III. 26. wird, wie überhaupt alle die wenigen Gedanken dieses Gedichts auf die tädiöseste Weise wiederholt werden, dasselbe gesagt, der Weise solle mit andächtigem Sinne alle Handlungen verrichten, und dann heißt es weiter sl. 27, daß die Handlungen durch die Q u a l i t ä t e n der Natur bestimmt sind, es sind dieß die drei bekannten Kategorien der Indier, nach welchen sie sich alles systematisiren. In X V III. 40 ff. ist es weiter ausgeführt, daß die eigenthümlichen Geschäfte der K a s t e n nach diesen Qualitäten vertheilt sind. Auch in dieser Stelle, wo von dem specifischen Unterschiede der Kasten ausdrücklich ge­ sprochen ist, übersezt Hr. v. Schlegel, wie im l sten Art. bemerkt wurde, die erste zwar mit Brachmani, aber die drei folgenden mit m i l i t e s , opi f i ces und servi ; die jedesmalige Wiederholung bei der Angabe der eigenthüm­ lichen Eigenschaften jeder Kaste, dieß seien die ihnen durch die N a t u r be15

Fo r

m e

]

O: Fo r me

1448-1450

H U M B O L D T - R E Z E N S IO N • Z W E IT E R A R T IK E L

stimmten Geschäfte ( W i l k e n s : n a t u r a l d u t y ) , lautet: m u n e r a , ipsorum

in d o l e

37 ex

n a t a . I n d o l e s ist wohl Naturbestimmtheit, als Natur­

anlage, Naturell; aber daß es ganz nur | der physische Umstand der Geburt ist, wodurch jedem Menschen sein Geschäft bestimmt ist, dieß wird durch diesen Ausdruck eher verdunkelt, so sehr daß man nach dem Sinne der Euro­ päischen Freiheit leicht das Gegentheil verstehen könnte, nämlich, daß von dem Naturell, der geistigen Naturanlage, Talent, Genie, abhängig gemacht werde, zu welchem Geschäfte, d. i. zu welchem Stande jedes Individuum sich selbst bestimme. Es ist eher für wichtig anzusehen, es bemerklich zu ma­ chen, daß auch in diesem Gedichte, welches dieß große Ansehen Indischer Weisheit und Moral genießt, die bekannten Kastenunterschiede, ohne die Spur einer Erhebung zur moralischen Freiheit zu Grunde liegen. Den ersten Anschein, reine sittliche Principien zu enthalten, geben demselben die theils schon angeführten, theils gleich näher zu erörternden Grundsätze der nega­ tiven Gesinnung zunächst gegen die Früchte des Handelns. Grundsätze, die im Allgemeinen sich ganz gut ausnehmen, sind um ihrer Allgemeinheit selbst willen zugleich schwankend, und erhalten den inhaltsvollen Sinn und Werth erst durch die concreten Bestimmungen. Der Sinn und Werth Indischer R e­ ligiosität und der damit zusammenhängenden Pflichtenlehre bestimmt und versteht sich aber nur aus dem Gesetz der Kaste, — dieser Institution, welche Sittlichkeit und wahre Bildung ewig unter den Indiern unmöglich gemacht hat und macht. Die Aufforderung an den Arjunas die Schlacht zu liefern, ist die Aufforde­ rung, weil er zur Kshitri-Kaste gehört, das naturbestimmte Geschäft zu ver­ richten, opus t i b i d e m a n d a t u m , III. 19. Ebendas, sl. 29 ist eingeschärfft, daß der Wissende ( u n i v e r s i t a t i s gnar us, vergl. Ind. Bibi. II. 3. S. 350.) die Unwissenden in diesem Thun ihrer Kastenpflichten nicht wankend ma­ chen solle; — was einerseits einen guten Sinn, andererseits eben die Verewi­ gung der Naturbestimmtheit enthält. Es ist besser, heißt es X V III. 47, seine Kastenpflicht mit e r m a n g e l n d e n K r ä f t e n zu vollbringen; wenn sie auch (hier heißt sie c

o n n a t u m

opus) mit Schuld vergesellschaftet ist, soll sie kei­

ner verlassen. Was daselbst ferner gesagt ist, daß wer zufrieden mit seinem Geschäfte ist, die Vollendung erreicht, wenn er ohne Ehrsucht und Begierden es vollbringt, enthält, daß, wie wir uns etwa ausdrücken könnten, nicht die äußerl i chen Werke als solche (das opus o p e r a t u m ) zur Seligkeit verhel­ fen. Aber diese Aussprüche haben nicht den christ |liehen Sinn, daß in jedem Stande, wer Gott fürchtet und Recht thut, ihm angenehm ist; denn dort gibt es keinen affirmativen Zusammenhang zwischen einem geistigen Gott und den Pflichten, und somit kein innerliches Recht und Gewissen; denn der

38

1450-1451

J A H R B Ü C H E R F Ü R W IS S E N S C H A F T L IC H E K R IT IK

I n h a l t der Pflichten ist nicht geistig, sondern natürlich bestimmt. Die Aus­ drücke H a n d l u n g e n , C h a r a c t e r , die wir oben gebrauchten, zeigen sich dadurch unpassend, hier angewendet zu werden, denn sie schließen mora­ lische Imputabilität und subjective Eigenthümlichkeit in sich. — Krishnas sagt von sich III. sl. 22: Ich habe zwar in der Welt nichts zu verrichten noch zu erlangen, was ich noch nicht erlangt hätte; doch verbleibe ich im Wirken ( ver s or tarnen i n o p e r e ) ; wenn ich je nicht fortdauernd in Wirksam­ keit wäre, so würden die Menschen ins Verderben stürzen ( W i l k i n s : thi s w o r l d w o u l d f ai l i n t h e i r

d u t y

),

ich würde der Urheber von was?

— von d e r V e r m i s c h u n g der K a s t e n seyn, und dieß Geschlecht ver­ schlechtert werden (W. I s h o u l d d r i v e t he p e o p l e f r o m t he r i g h t way) . Die allgemeinen Ausdrücke, Pflicht, rechter Weg — der Engländer verbessert j _ O„ p,___ U- di UJ)

o pu s ,

U.dS

in

a c t i o n s - oder p e s s u m i r e, e x i t i u m , wie __ ;____ _— ™ 111__:__ U i i U i C i l 11 eil U d U U l lllllliCl VU l l U J L l l l g L , clUll , ILtiC

m o r a l

xVJL I M/ l i l l d

Declamationen zu seyn, daß es zu einem bestimmten Inhalt und Bedeutung kommt. Dieser ist in der V e r m i s c h u n g der K a s t e n angegeben: W i l ­ k i n s : I s h o u l d be cause of l u v ie s

,

s p u r io u s

b ir t h s

;

Hr. v. Schl, nur

c o l

-

— ein für sich nicht genug bestimmtes Wort; genauer heißt es (in

der im ersten Art. angeführten Stelle) colluvies

o r d i n u m

,

das specifische

v ar n a-s ar k a, das wohl auch hier im Original steht. Statt des Werkes der Weisheit, der Güte und Gerechtigkeit, welches in einer höhern Religion als das Werk der göttlichen Weltregierung gewußt wird, ist das Werk, welches Krishna immer vollbringt, die Erhaltung der Kastenunterschiede. Zu den Werken, die dem Menschen auferlegt sind, gehören wesentlich die O p f e r und die gottesdienstlichen Handlungen überhaupt — ein Boden, der zunächst etwa eine Region zu seyn scheinen könnte, worin jene Natur-Unterschiede, wie bei uns der Unterschied der Stände, der Bildung, des Talents u.s.f. ver­ schwänden und der Mensch als Mensch sich gleich zu Gott verhielte. Dieß ist aber nicht der Fall; die religiösen Verrichtungen, wie das, was sonst auch im täglichen Leben bei den gleichgültigsten oder äußerlichsten Handlungen zu beobachten ist, sind nach der Kaste bestimmt; | es versteht sich von selbst, daß die Brahminenkaste auch darin ausgezeichnet ist, an tausend und aber tausend abgeschmackte Bestimmungen eines geistlosen Aberglaubens gebun­ den zu seyn. —Es hängt mit dem Gesagten zusammen, was Wilford (As. Res. X I. p. 122) von der Beziehung der Indischen Religion auf die Europäer und Nichtindier bemerkt. Die Indier lassen keine Proselyten zu, in dem Sinne,

10 V e rm is c h u n g ] O : V e rm is c h n n g (der . . . act i ons)

12 -13 - der . . .

a c t i o n s

-] O : der . . .

a c t i o n s

W x:

1451-1452

39

H U M B O L D T - R E Z E N S IO N • Z W E IT E R A R T IK E L

daß wir alle zu ihr gehören, aber in der niedrigsten Classe; aus solcher kön­ nen die Mitglieder dieser Kirche nicht in eine höhere übergehen, außer sie sterben vorher, und dann, wenn sie es verdienen, mögen sie in Indien in einer der vier Kasten geboren werden. In dem Kreisläufe ( or bi s , 5

W.

w h e e l ) von Opfer und Gottesdienst überhaupt, Mensch, Gott oder Brahm und Götter, der 41 sl. 14 ff. angegeben ist, ist das wichtigste Moment, daß das, was wir als subjective Gesinnung und Thun des Darbringenden ansehen würden, Brahm selbst ist; doch hierauf werde ich bei dem Begriffe von Brahm zurückkommen. Ueber den beiden Vollendungen der Gleichgültig-

10 keit gegen die Früchte, und der Richtung des Innern auf Krishnas in Ver­ knüpfung mit den Werken, ist die höhere Stufe angegeben, welche die Werke oder Handlungen, das Gottesdienstliche, wie das Thun jeder Art, ver­ läßt. Sie lautet X II. sl. 9. nach Hrn. v. Schlegels Uebersetzung als t a t is

15

a s s id u i

-

d e v o t i o ; ein Ausdruck, der, wie Hr. v. H. Ind. Bibi. a. a. O . S.

251. bemerkt, allerdings dunkel ist. Derselbe führt (ebend. S. 252) an, daß der Ausdruck des Originals (wie es scheint, a b h y a s a h ) von dem Uebersetzer an einer ändern Stelle VIII. 8—9 ganz ausgelassen sei, wo doch in den vor- und nachfolgenden Sloken verschiedene Zustände beschrieben seien. Vielleicht hat Hr. v. Schl, dort in ad d e v o t i o n e m

e x e r c e n d a m

die As-

20 siduität andeuten wollen; aber in der That, erst indem man sieht, daß auf diese Assiduität ein Accent zu legen sei, wird es deutlich, daß in L. VIII. 8— 10 gleichfalls die Stufenfolge der Vollendungen und zwar dieselbe wie L. X II. 9—12 bezeichnet ist. Wilkins hat das ebenfalls unbestimmtere W ort p r a c t i c e und 25

c o n s t a n t

practice.

W orin diese Assiduität besteht, läßt sich zunächst aus der vorhergehenden Stufe schließen, und aus der nachfolgenden. Von jener kann die Pachtung auf Krishnas, die Andacht, nicht wegfallen, sondern nur die Werke; die fol­ gende, höchste Stufe ist, das vollbrachte der Werke und des Strebens entle­ digte Einsseyn und Wohnen | mit Gott. Die dazwischenliegende ist sonach

30

constante Devotion; wir können den Ausdruck d e v o t i o

assi dui t at i s

umkehren und sie die Assiduität der Devotion nennen. Ihre weitere Bestim­ mung geben theils Beschreibungen auch der Bhagavad-Gita selbst, theils aber ist es die Stufe, welche für sich nothwendig das Auffallendste für alle gewe­ sen ist, welche von Indischem berichtet haben. Zunächst bemerke ich in 35

Beziehung auf das Vorhergehende, daß sie, da in ihr das r e i n n e g a t i v e Verhalten des Geistes hervorzutreten anfängt, welches die specifische Be­ stimmtheit Indischer Religiosität ausmacht, im Widerspruche mit dem H a n 17 8-9] O W xH : 89

40

J A H R B Ü C H E R F Ü R W IS S E N S C H A F T L IC H E K R IT IK

1452-1453

d e i n steht, zu welchem Krishnas früher den Arjunas aufgefordert hat. Es macht eine der tädiosen Seiten des Gedichtes aus, diesen Widerspruch der Aufforderung zum Handeln und der Aufforderung zu der handlungslosen, ja ganz bewegungslosen, alleinigen Versenkung in Krishnas, immerfort hervor­ kommen zu sehen, und keine Auflösung dieses Widerspruchs zu finden. U n­ möglich aber ist diese Auflösung, weil das Höchste des Indischen Bewußtseyns das abstracte Wesen, Brahm, in ihm selbst ohne Bestimmung ist, welche daher nur außer der Einheit, und nur äußerliche, natürliche Bestimmung seyn kann. In diesem Zerfallen des Allgemeinen und des concreten sind beide geistlos, jenes die leere Einheit, dieses die unfreie Mannichfaltigkeit; der Mensch an diese verfallen ist nur an ein Naturgesetz des Lebens gebunden, zu jenem Ex­ trem sich erhebend, ist er auf der Flucht und in der Negation aller concreten, geistigen Lebendigkeit. Die Vereinigung dieser Extreme, wie sie in der vor­ hergehenden Stufe der Indischen Vollendung erscheint, kann darum auch nur die Gleichgültigkeit in den Werken der Naturgesetzlichkeit gegen diese Werke selbst, keine erfüllte, versöhnende geistige Mitte seyn. Ueber die nä­ here Art und Weise der Uebung der Assiduität kann kein Zweifel seyn. Sie ist die bekannte indische Ausübung gewaltsamer Zurückziehung und das Aus­ halten in der Einförmigkeit eines that- und gedankenlosen Zustandes. Es ist die Strengigkeit, in leerer Sinnlosigkeit sich zu erhalten, nicht die Strengigkeit der Büßungen des Fastens, Geißeins, Kreuztragens, stupiden Gehorchens in Handlungen und äußerlichem Thun u.s.f. als womit wenigstens noch immer eine Mannigfaltigkeit von körperlicher Bewegung, wie von Emp­ findungen, Vorstellungen und geistigen Erregungen verbunden ist. Auch werden jene Uebungen nicht zur Buße auferlegt, son |dern direct allein um die Vollendung zu erreichen; der Ausdruck B ü ß u n g e n für jene Uebungen gebraucht, bringt eine Bestimmung herein, die nicht in ihnen liegt, und daher an ihrem Sinne ändert. Die, welche sich ihnen unterziehen, sind gewöhnlich unter den Yogi verstanden. Von ihnen ist auch zu den Griechen Kunde ge­ kommen; es fällt das hieher, was sie von den Gymnosophisten berichten. Dem, was hier assi dui t ati s d e v o t i o heißt, entspricht das, was Colebrooke aus P a t a n j a l i ’ s Y o g a sastra (3tes Kap.) anführt, daß es die dem höchsten, der Erreichung der Seligkeit, vorhergehende Stufe sei. Er sagt die­ ses Kapitel enthalte fast ausschließend Anleitungen zu körperlichen und innern Uebungen, die aus einer intensiv-tiefern Meditation bestehen, verbun­ den mit Zurückhaltung des Athems und Unthätigkeit der Sinne, und dabei einer stäten Haltung in vorgeschriebenen Stellungen. Hr. v. H. nimmt S. 34 Bezug auf diese Stelle, und schließt aus dem Ausdrucke der m e d i t a t i o n o n s p e c i a l t o p i c s , worüber oben schon eine Bemerkung gemacht wor-

1453-1454

41

H U M B O L D T - R E Z E N S IO N • Z W E IT E R A R T IK E L

den, daß es scheine, das stiere Nachdenken des Yogi habe auch auf andere Gegenstände als die Gottheit gerichtet seyn können. Colebrooke’s Anfüh­ rung ist sehr unbestimmt; Nachdenken über bestimmte Gegenstände und damit eine Erkenntniß von und in Gedanken ist vielmehr das der Sanc’hyaLehre eigenthümliche. Wenn auch der Meditation dessen, der der PatanjaliLehre als einem philosophischen System anhing, eine, obwohl selbst nur ge­ ringe Ausdehnung zuzuschreiben wäre, so fällt eine solche doch in der allge­ meinen Indischen Yoga ganz hinweg. Alle Beschreibungen und Vorschriften schildern sie als eine Uebung oder Anstrengung zur äußern und innern Lebenslosigkeit. Zu oft ist in der Bhagavad-Gita, n i c h t s zu d e n k e n als Erforderniß ausgesprochen, wie in der Stelle VI. 19—27, von der ich einen Theil in Hrn. v. H. Uebersetzung hersetze, um auch von dieser ein Beispiel zu geben; das beibehaltene Sylbenmaaß des Originals, das wohl Schwierig­ keiten genug gemacht haben mag, zeigt sich hier besonders passend, indem sein hemmender Gang den Leser nöthigt, sich in den von der Vertiefung handelnden Inhalt zu vertiefen; es heißt: In der Vertiefung der Mensch muß so vertiefen, sinnentfremdet sich, tilgend jeder B e g i e r Streben, von Eigenwillens Sucht erzeugt, | der S i n n e Inbegriff bändigend mit dem Gemüthe ganz und gar. So strebend, nach und nach r u h ’ er, im Geist gewinnend S t ä t i g ­ ke i t , auf si ch sel bst das Gemüth heftend, und i r g e n d et was denkend n i c h t ; (Sc

h l

,

n i h i l u m q u i d e m cogi t et . )

wohin, wohin herumirret das unstät leicht Bewegliche, von da, von da zurückführ’ er es in des i n n e r n Sel bst s Gewal t . Weitere Vorschriften und Züge, die im Gedichte von den Uebungen der Yogi angegeben sind, stellt Hr. v. H. S. 35 zusammen; ein solcher soll in einer menschenleeren, reinen Gegend einen nicht zu hohen und nicht zu niedrigen, mit Thierfellen und Cupagras (mit dem die Brahminen immer zu thun haben, p o a c y n o s u r i d e s nach Hrn. v. H. aus Wilson) bedeckten Sitz haben, Hals und Nacken unbewegt, den Körper im Gleichgewicht halten, den Odem hoch in das Haupt zurückziehen und gleichmäßig durch die Na­ selöcher aus- und einhauchen, nirgends umherblickend, seine Augen gegen die Mitte der Augenbraunen und die Spitze der Nase richten, und die be­ rühmte Sylbe O m ! aussprechen. Hr. v. H. führt S. 36 den von Warren Ha­ 29 einen] O : einen auf einem

42

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1454-1455

stings in dem convulsivischen Beten eines Rosenkranzes (denn auch die In­ dier bedienen sich seit alten Zeiten eines solchen) gesehenen Yogi, inglei­ chen die Aeußerung Hastings an, daß man wohl schließen könnte, da seit vielen Menschenaltern Männer in der täglichen und ein ganzes Leben hin­ durch fortgesezten Gewohnheit abstracter Contemplation leben, und indem jeder einen Beitrag von Erkenntniß zu dem Schatze, den seine Vorgänger er­ worben, hinzufügt, daß diese collectiven Studien sie zur Entdeckung neuer Richtungen und Combinationen des Bewußtseyns ( n e w

tracks

and

c o m b i n a t i o n s of s e n t i me n t ) geführt haben, die von den Lehren ande­ rer Nationen ganz abweichen, und da sie aus einer so von aller Beimischung des Zufälligen befreiten Quelle herkommen, von gleicher Wahrheit als unsre abstracte Lehren ( t he mo s t s i mp l e of o u r o w n , gleich nachher th e m o s t abs t r use of ours) seyn möchten. Hr. v. H. gibt mit Recht nicht viel auf diese Vorstellung, und stellt solche Ueberspannungen auf gleiche Linie mit dem schwärmerischen Mysticismus anderer Völker und Religionen. Man sieht in der That, daß der General-Gouverneur zwar damit bekannt war, daß die Erkenntniß nur durch Abstraction vom Sinnlichen und durch Nachdenken gewonnen wird, aber er unterschei |det hievon nicht die stiere Indische Beschauung, in der der Gedanke so bewegungslos und unthätig bleibt, als die Sinne und Empfindungen zur Unthätigkeit gezwungen werden sollen. Auch möchte ich, wenigstens nach dieser Seite, nicht die Yoga mit dem Mysticismus anderer Völker und Religionen vergleichen, denn dieser ist reich an geistigen Productionen, und oft höchst reinen, erhabenen und schönen, gewesen, denn er ist in der äußerlichstillen Seele zugleich ein Er­ gehen derselben in sich und ein Entwickeln des reichen Gegenstandes, zu dem sie sich verhält, und ihrer Beziehungen auf denselben. Das Indische Ver­ einsamen der Seele in die Leerheit ist vielmehr eine Verstumpfung, die viel­ leicht selbst den Namen Mysticismus gar nicht verdient, und die auf keine Entdeckung von Wahrheiten führen kann, weil sie ohne Inhalt ist. Ausführlicheres über die Uebungen der Y o g i’s außer jenem Stillsitzen oder Stehen, das viele Jahre, oft lebenslänglich fortgesezt wird, ersehen wir aus ändern Beschreibungen, wovon ich das Merkwürdigste anführen will. Capitain Turner, der die Reise nach Kleintibet zum dortigen Dalai-Lama gemacht hat, erzählt von einem Yogi, den er auf seiner Reise traf, welcher sich auf­ erlegt hatte, 12 Jahre lang auf den Beinen zu bleiben, und sich während die­ ser Zeit nie auf den Boden niederzusetzen oder zu liegen, um zu schlafen. U m sich daran zu gewöhnen, hatte er sich anfangs an Bäume, Pfosten u.s.f. 7 hinzufügt] O : h inzu fü g e n

1455-1456

H U M B O L D T - R E Z E N S IO N • Z W E IT E R A R T IK E L

43

festgebunden; bald war es ihm zur Gewohnheit geworden, daß es nichts Peinliches mehr für ihn hatte, stehend zu schlafen. Als Turner ihn sprach, kam er von einer Reise zurück, deren vorgeschriebene zwölf Jahre sich ihrem Ende nahten, und die er durch einen Theil des Asiatischen Rußlands, die große Tartarei und China gemacht hatte; und zwar befand er sich jezt im zweiten Stadium seiner Uebungen. Die Strengigkeit, die er während die­ ser zweiten zwölf Jahre übte, war, die Arme ausgestreckt mit gefalteten Hän­ den über dem Kopfe zu halten, gleichfalls ohne an einem festen Aufenthalts­ ort zu bleiben. Er war zu Pferd, zwei Begleiter pflegten seiner, und halfen ihm auf und vom Pferde. Die Arme waren ganz weiß und hart, doch sagte der Yogi, daß sie Mittel haben, sie wieder geschmeidig und empfindlich zu machen. Es standen ihm noch die weitern vorgeschriebenen Uebungen bevor, um die Vollendung zu erlangen. Sie sind, in der heißen | Jahrszeit mit aufgehobenen Händen zwischen fünf Feuern 3 3/ 4 Stunden lang zu sit­ zen, vieren in seiner Nähe angezündeten nach den vier Himmelsgegenden, dem fünften der Sonne über dem bloßen Haupte mit unverwandtem Blicke in dieselbe; ferner ebenfalls 3 3/ 4 Stunden über einem Feuer hin- und her­ geschwungen zu werden, und zulezt 3 3/ 4 Stunden lebendig begraben zu seyn, stehend mit etlichen Fuß Erde über dem Kopfe. W enn der Yogi alles dieß ausgehalten, so ist er ein Vollendeter. Voriges Jahr unterzog sich, wie man in Englischen Berichten las, ein Indier, der die frühem Strengigkeiten durchgemacht hatte, nun der des Schwingens über dem Feuer; er war an einem Beine angebunden, der Strick an einem hohen Balken befestigt; der Kopf hing unterwärts über dem Feuer, so daß die Flamme die Haarspitzen erreichte; nach einer halben Stunde sah man aus M und und Nase des hinund hergeschwungenen Patienten das Blut in Strömen brechen, worauf er abgenommen wurde und entseelt war. Im Ramayana I. Bd. Sect. 32 kommen in der Episode, die sich auf die Geburt der Ganga bezieht, (s. Ind. Bibi. 1 Bd. 1 Abth.) auch Strengigkeiten vor, die ein Nachkomme des Sugura, Königs von Uyodha übt. Die eine Ge­ mahlin dieses Königs hatte einen K ü r b i s mit 60000 S ö h n e n geboren; sie wurden erschlagen, sollten aber in den Himmel aufgenommen werden, wenn Ganga sie bespühle. Dieß bewirkte der König durch die Strengigkei­ ten. Außer dem Sitzen zwischen den fünf Feuern in der heißen Jahrszeit lag er in der kalten im Wasser, stand er in der regnigten ausgesezt den herab­ stürzenden Wolken, lebend von gefallenem Laub, seine Gedanken in sich zu­ rückgezogen. Vieles, was in Europa von abergläubischen Bußübungen erfun­ den worden, kommt in Indien auf dieselbe oder ähnliche Weise vor, wie das Vorhinerwähnte nach einem Rosenkränze wiederholte Aussprechen von

44

JA H R B Ü C H E R F Ü R W IS S E N S C H A F T L IC H E K R IT IK

1456-1458

Worten, das Pilgern, wobei nach einer Anzahl vorwärtsgemachter Schritte eine Anzahl zurückgemacht wird, oder so, daß der ganze Körper sich auf die Erde legt, und sich auf dem Bauche nach einer entfernten Pagode fortschiebt, auch mit Unterbrechung des Fortschreitens durch rückwärtige Bewegung, wozu mehrere Jahre angewendet werden müssen. |

5

Die n e g a t i v e Natur dessen, was das Höchste in der Indischen Religiosi­ tät ist, begnügt sich auch mit ganz abstractem Entäußern, ohne jenen Zustand der Innerlichkeit; - dem unmittelbaren Tödten. So lassen sich Viele von den Rädern des Wagens des Götzen zu Jaghernaut, der fünfhundert Menschen braucht, um in Bewegung gesezt zu werden, wenn er am großen Feste um

10

die Pagode herumgeführt wird, zermalmen1, Viele, insbesondere Weiber, zehn, zwanzig miteinander, sich an den Händen haltend, stürzen sich in den Ganges, oder auch, nachdem sie den Himmalaya erklommen, in den Schnee und dl^~ ■*r₩p*r -n(TPcnn#=»11 •»-»^ AJ.V~.111 H P^ A ^ A ^ ^ vj“ li6 vjvl uvllvi 1, v v i u i v i m ^ u liclCii V 1 UUL CIC3 Mannes o d e r ei nes K i n d e s 2 u.s.f.

15

Was nun der Yogi durch die Devotion der Assiduität zunächst erreicht, ist das Wunderbare einer ü b e r s c h w ä n g l i c h e n

Macht

(transcendent

p o w e r ) . Hr. | v. H. kommt S. 41 auf diese Zaubermacht zu sprechen, aber bemerkt (S. 42) von der Bhagvad-Gita, daß in dem auch in dieser Rücksicht reinern Gedicht, abergläubische Spielereien dieser Art nicht Vorkommen,

20

und der Ausdruck v i b h u t i , der jene Macht bedeutet, nicht von Sterblichen gebraucht, sondern dieser Macht nur gedacht werde als von der G o t t w e r d u n g die Rede ist, und insofern sie sich in Besiegung des Zweifels und der Sinne auf das eigene Gemüth verbreite. Vibhuti ist (Ind. Bibi. 3. 11. H. 3. S. 253) als in X , 7 vorkommend bemerkt, wo Krishnas es von sich selbst

25

sagt: Hr. v. Schlegel übersezt es daselbst mit majestas, was Hr. v. H. nicht 1 Doch sollen in den lezten Jahren an dem Feste, bei dem sich früher Millionen eingefunden hatten, nicht so viele Fromme anwesend gewesen seyn, um den Wagen in Bewegung setzen zu können. - Der kahle Meeresstrand, auf dem der Tempel liegt, ist auf viele Meilen weit, mit Skeletten von Pilgern bedeckt, die der Reise und 30 ihren Uebungen unterlegen sind. 2 Zwei Englische Officiere, die voriges Jahr bei der Verbrennung einer Frau, von geringem Stande, die ihr todtes Kind auf den Armen trug, anwesend waren, wand­ ten sich, nachdem sie vergeblich ihre Vorstellungen an die Frau gerichtet hatten, an den Mann, der ihnen aber erwiederte, daß er diese Frau entbehren könne; da er 35 deren noch drei zu Hause habe, und daß ihm und seiner Familie (ohne Zweifel auch seinen Voreltern) aus dieser Verbrennung große Ehre erwachse. 27 sollen] O : soll

1458-1459

H U M B O L D T - R E Z E N S IO N • Z W E IT E R A R T IK E L

45

billigt, da es zu wenig oder gar nicht an die Eigentümlichkeit der Bedeu­ tung erinnert. (Vergl. des jungen Gelehrten Hrn. Dr. Rose: R a d i c e s Sanscri tae. Berol . 1827. p. 122, welche Stelle mir für die Erläuterung der Vibhuti mein Hr. College Bopp nachweist.) - Ueber die andere Bemerkung des höchstverehrten Hrn. Verf. erlaube ich mir zu erinnern, daß die Yoga das Specifische dessen, was wir uns unter Sterblichen vorstellen, aufhebt, und wenn jene Macht von Gottgewordenen und von Krishnas ausgesagt wird, darin zugleich liegt, daß sie von Sterblichen, welche vollendete Yogi sind, erlangt werden könne. Dafür, daß aber in dem Gedichte nicht die näheren Züge dieser Macht Vorkommen, läßt sich der Grund angeben, daß wenn be­ reits die Verlegung dieser Unterredung, welche das Gedicht ist, in dem M o ­ ment, wo Arjunas eine Schlacht beginnen soll, auffallend genug ist, es zur förmlichen Ungeschicklichkeit geworden wäre, wenn Krishnas bei seinen Versicherungen, daß der Yogi identisch mit ihm werde, und nachdem er dem vertieften Arjunas Lect. X I sein ganzes Wesen anzuschauen gegeben hatte, demselben auch die näheren Züge jener Macht auseinander gesezt hätte. Es hätte zu nahe gelegen, daß Arjunas von Krishnas die Verleihung jener Macht erwartet hätte, mit der er ohne Kampf in einem Nu die feind­ liche Armee ver |nichten konnte; Arjunas müßte nach der erwähnten Gnade, der Anschauung Krishnas gewürdigt worden zu seyn, vollgültige A n­ sprüche auf diese Macht zu haben scheinen, die Position hätte sich noch schiefer gestellt, als sie bereits ist. Yogi und Zauberer sind, sagt Hr. v. H. S. 41, ferner, mit Anführung Colebrookes, bei dem V o l k s h a u f e n in Indien gleichbedeutende Begriffe. Man könnte diesen Ausdruck etwa so mißverstehen, den Glauben an jene Macht nur dem gemeinen Volke zuzuschreiben; Colebrooke führt jedoch da­ selbst an, daß eben so sehr Pantanjali’s Yoga-Lehre die Behauptung, daß der Mensch in diesem Leben solche transcendente Macht zu erreichen fähig sei, als die Sanc’hya-Lehre sie enthalte; leztere ist, wie schon bemerkt wor­ den, die ins Specielle ausgebildete Logik und Metaphysik, und beide Lehren oder Philosophien sind überhaupt ein höheres Studium, das über das gemeine Volk hinausgeht oder darüber erhebt; Colebrooke auch fügt hinzu, daß die Lehre allgemein, wie sich in dem Folgenden näher zeigen wird, unter den Indiern herrschend sei. Es ist merkwürdig, die besonderen Züge der Macht zu sehen, die der jener Vertiefung Ergebene erwerben soll. Im 3ten, dem von v i b h u t i handelnden Kapitel der Lehre Pantanjali’s heißt es, nach dem Aus-

14 werde] O : werden Joga-Lehre Pantandschalis

27 Pantanjali’s Yoga-Lehre] O W 1: die Pantanjali’s Yoga-Lehre

H : die

46

1459-1460

JA H R B Ü C H E R F Ü R W IS S E N S C H A F T L IC H E K R IT IK

zuge Colebrooke’s, daß der Adept die Kenntniß aller Dinge der vergange­ nen und der zukünftigen, der entfernten und verborgenen erlange; er erräth die Gedanken der Ändern, gewinnt die Stärke des Elephanten, den Muth eines Löwen und die Schnelligkeit des Windes; fliegt in der Luft, schwimmt im Wasser, taucht in die Erde, sieht alle Welten in Einem Blick (dieß, was höher als das Vorhergehende, oder ungetrennt davon ist, hat Arjunas er­ reicht) und vollbringt andere außerordentliche Thaten. Hinter dieser Be­ schreibung bleibt die Sanc’hya-Lehre nicht zurück; Colebrooke gibt folgen­ den Auszug: diese Macht ist achtfach, und besteht in der Fähigkeit, sich in eine kleine Gestalt zusammenzuziehen, welcher Alles durchgängig ist, oder sich zu einer gigantischen Gestalt auszudehnen, sich leicht zu machen (wie längs eines Sonnenstrahls in die Sonne emporzusteigen), unbeschränkten Be­ reich der Sinne zu besitzen (wie mit der Fingerspitze den Mond zu berüht*A n \

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sinken), Herrschaft über alle belebten oder unbelebten Dinge; das | Vermö­ gen, den Lauf der Natur zu ändern, das Vermögen, Alles, was man wünscht, zu erreichen. Höher zeigt sich noch die Kraft der Vertiefung, wenn sie in den Kosmound Theogonien, wie in der, mit welcher M e n u s Gesetzbuch sich eröffnet, als die Macht angegeben wird, welche die Welt erschaffen hat. Nachdem das Ewige zuerst durch sein D e n k e n das Wasser geschaffen, und in dasselbe den Samen, der zum Ei wurde, gelegt hatte, war E r s e l b s t , Brahm, ebenso durch seinen G e d a n k e n geboren; er theilte dann seine Substanz in Männ­ liches und Weibliches, und Menu sagt von sich, daß er die Person, der Bild­ ner aller dieser sichtbaren Welt ist, welche aus der männlichen Kraft, v i r a i , nachdem sie st renge

Andachtsübung

( aust ere

devotion)

voll­

bracht, erzeugt worden. - Auch Shiwa im Ramayuna I. Bd. Sect. [36] macht einen Cursus heiliger Strengigkeiten, auf der Nordseite des schneeigen Himuvut, mit seiner Gemahlin Ooma, welche, nachdem sie von Indra und den ändern Göttern um die Empfängniß eines Sohns gebracht worden war, über alle Götter den Fluch ausgesprochen, und in tiefen Ingrimm und Schmerz sich versenkte. In der vorhergehenden Erzählung von der Hochzeit Shiwas mit Ooma und den hundert Jahren, die er in der Umarmung derselben zu­ bringt, und während deren er sein nach Außen gehendes Geschäft der Zer­ störung unterlassen, werden gleichfalls die Ausdrücke e n g a g e d w i t h t he goddes s i n m o r t i f i c a t i o n (nach der Engl. Uebers.) gebraucht. Was die

12 längs] O : längst Bd.

19 Theogonien] O : Theogenien

30 eines] O : eins

27 Bd. Sect. [36]]

32 vorhergehenden] O; vorhergenden

O H ',: Bd. Sect. H :

1460-1461

H U M B O L D T - R E Z E N S IO N • Z W E IT E R A R T IK E L

47

Frucht dieses hundertjährigen Zurückziehens, welche Ooma zu empfangen gehofft hatte, war, ist im Folgenden beschrieben (den Vorgang selbst in modernen Sprachen vorzutragen, kann für einen Uebersetzer eine Verlegen­ heit seyn; die Englischen Uebersetzer zu Serampore hatten schon beim Vor­ hergehenden angemerkt, daß die gross i n d e l i c a c y nicht erlaubt habe, die Worte des Originals wörtlich wieder zu geben). Am ausführlichsten und glänzendsten aber ist das, was durch jenes Ver­ sinken in sich bewirkt wird, in der Episode des Ramayuna, dieses Indischen Nationalgedichts dargestellt, welche vom Vishmamitra handelt. Ich will die Hauptzüge davon kürzlich ausheben, theils zur Vervollständigung der Vor­ stellung von dieser wesentlichsten Seite Indischer Eigenthümlichkeit, theils in Beziehung auf eine weitere höchst interessante Bestimmung, die sich daran anschließt. — Vushishta, ein Brahmin, lebt in einer Einsiedelei, die mit Blumen, ranken­ den Pflanzen u.s.f. bedeckt ist, be |obachtend heilige Gebräuche, umringt von Weisen, die dem Opfer und der Wiederholung des heiligen Namens gewidmet sind, und zwar den Balukhilya-Weisen, 60000 aus den Haaren Brahma’s entsprungen so g r o ß

wi e

ei n D a u m e n ,

den Vikhanusas,

ändern Pygmäen-Weisen aus den Nägeln Brahma’s u.s.f. Vishwamitra, (nun der Führer und Begleiter Rama’s, des Helden des Gedichts, und seines Bruders Lukshmuna’s) kam als mächtiger Monarch, der manche 1000 Jahre seine Unterthanen beglückt hatte, und nun mit einer großen Armee die Erde durchzog, zu jenem Weisen, der die Kuh, Shubala, (im allgemeinen Symbol der Productivität der Erde) besaß, welche der König zu erhalten wünschte, und nachdem er vergebens 100,000 Kühe, dann 14,000 Elephanten mit allem Rüstzeug von purem Gold, 100 goldene Wagen, jeden von vier weißen Rossen gezogen, für sie geboten hatte, sie mit Gewalt hinweg­ nahm. Shubala entflieht zu Vushishta, der, äußernd, daß er gegen den mäch­ tigen König, den Herrn so vieler Elephanten, Pferde, Mannschaft u.s.f. nichts machen könne, von ihr daran erinnert wird, daß die Macht des Kshetri

nicht größer sei, als die eines B r a m i n e n ;

Brahma-Kraft sei

göttlich, weit erhaben über die eines Monarchen. Sie erschafft dann dem Vushishta eine Armee von 100 Puhlava- (Pelhvi, Perser-) Königen, welche die Armee des Vishwamitra zerstören; dieser erschießt sie mit seinen Pfeilen. Die Kuh bringt von Neuem Heere, Saken, Yavanas (die man mit Javan, Joniern zusammenstellt) u.s.f. hervor; es geht ihnen durch die Pfeile des K ö­ nigs wie den Ändern. Vushishta heißt die Kuh neue Heere herbeischaffen, 12 auf] O : anf

14 Vushishta] O : Vushistha

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1461-1462

von denen dann die Armee des Vishwamitra vernichtet wird, dessen 100 Söhne, die ergrimmt auf den Brahminen losgehen, von diesem mit einem lauten Bl as des Na b e l s verbrannt werden. — Solches ist die Macht des Braminen. Nun überläßt der König seinem einzigen übrigen Sohne, sein Reich zu bewahren, und geht in die Wildniß des Himuvut. U m die Gunst Mahadeva’s (Shiwas) zu erlangen, übernimmt er die s t r e n g s t e n U e b u n g e n ; steht auf den Spitzen seiner großen Zehen, mit aufgehobenen Händen, wie eine Schlange von Luft gefüttert, h u n d e r t J ahr e. Der Gott gewährt dem Könige die von ihm verlangte Kunst des Bogens in ihrem ganzen Umfange; er gebraucht sie, an Vushishta Rache zu nehmen, verbrennt und verwüstet den Wald, den Schauplatz der Devotion desselben, daß die Weisen, Thiere und Vö|gel zu Tausenden fliehen. Aber seine Waffe, vor der die Götter und u .j .^ 1

c ~ U ___ u _______ ____ c~i_______________ j_______ i_ j_„ vV e it e n u i o c i i i c cjs.cn g c i a u i c n , w i i u z,u o c iia ii u c n u u r c i i u c i i e n i i a -

yst^U—

chen Stab Vushishta’s. Der König tiefseufzend, sehend, was die Macht eines Brahminen ist, tritt eine neue Laufbahn strenger Uebung und der Abstractionen seines Gedankens an, um die B r a h m a n s c h a f t zu e r l a n g e n , und bringt so 1000 Jahre zu. Nach Verlauf derselben erklärt ihn Brahma, der Herr der Welt, für einen k ö n i g l i c h e n We i s en . Vishwamitra läßt sein Haupt mit Scham hängen, von Verdruß erfüllt: nachdem ich solche Uebungen vollbracht, n u r ein königlicher Weiser! ich achte mich für Nichts! und beginnt von Neuem seine Abstractionen. Indessen fällt es dem Fürsten Trichunko, einem Manne der Wahrheit, von besiegten Leidenschaften ein, ein Opfer anzustellen, daß er in seinem körperlichen Zustande unter die Götter komme. Vushishta, an den er sich wendet, sagt ihm, dieß sei unmöglich, verflucht ihn, und macht eine niedrige Creatur, Chundula, aus der Kaste gestoßen, aus ihm. Vishwa­ mitra, den er nun auf die gewünschte Versetzung in den Himmel angeht, ist dazu bereit, dieß sei in seinen Händen, er wolle es bewirken. Er bereitet ein Opfer, zu dem er dem Vushishta mit seinen Asceten die Einladung macht; dieser schlägt sie aus: wie soll der Herr des Himmels von einem Opfer essen, wo ein K s c h e t r i Priester ist, von Dingen, die ein C h u n d u l a darbietet. Die Götter schlagen ebenso die Einladung aus. Der große Vishwamitra, voll Zorn, ergreift den geheiligten Kochlöffel und sagt, Kraft seiner geübten Strengigkeiten, seiner selbsterworbenen Energie wolle er es bewirken. — Da stieg der Fürst Trichunko unmittelbar in den Himmel. Indra, der König des Himmels wirft ihn herunter; Trichunko ruft im Fallen den Vishwamitra: 25 Vushishta] O ; Vishushta

1462-1463

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49

Hilf! Hilf! Dieser voll Zorn ruft: Halt! Halt! Trichunko bleibt so zwischen Himmel und Erde. Vishwamitra erschafft im Zorn sieben andere große W ei­ sen (die Plejaden, sagt der Ausleger, am südlichen Himmel) und, wie er diese an ihrem Platze sah, noch andere Familien von himmlischen Körpern, und dann einen ändern Indra und einen ändern Kreis von Göttern. Die Götter und Weisen, versteinert vor Erstaunen, wenden sich hierauf an Vishwamitra mit d e m ü t h i g e r

Bitte,

nicht auf der Versetzung des von Braminen

Verfluchten in den Himmel ohne R e i n i g u n g (zur Wiederaufnahme in die Kaste) zu bestehen, und die Ordnung der Dinge nicht zu zerstören. Der | König beharrt darauf, was er versprochen, dürfe nicht unerfüllt bleiben; sie verständigen sich dann über einen Platz für Trichunko am Himmel außerhalb des Feuerkreises. Nach tausend Jahren vollbrachter Abstraction erklärt Brahma den König für einen obersten Weisen ( c h i e f sage). Nicht zufrieden damit fängt er einen neuen Cursus an; hier kommt ein schönes Mädchen (Menoka, die Mutter der Sacontala wird) zu ihm, verführt ihn, daß er 25 Jahre mit ihr ver­ tändelt. Erwachend aus dieser Vergessenheit fängt er ein neues Jahrtausend von Strengigkeit an. Die Götter gerathen in Bangigkeit, er bereite durch seine stupenden Uebungen ihnen allen Unglück. Brahma erklärt ihm hierauf, daß er ihm den Vorrang unter den obersten Weisen gebe. Auf Vishwamitra’s Entgegnung, daß er hiemit noch nicht für einen B r a h m a - W e i s e n (Brahma-sage) erklärt werde, erwiedert Brahma, du hast deine Leidenschaf­ ten, Zorn und Lust, noch nicht unterjocht,1wie kannst du Brahmaschaft ver­ langen? Vishwamitra beginnt seine Uebungen abermals; vergebens versucht ihn Indra wieder durch die schönste Upsura, vergebens reizt er ihn zum Aerger. Nachdem der Chef der Weisen nun tausend Jahre geschwiegen und seinen Athem zurückgehalten, wird dem Gott des Himmels, Indra, himmelbang, ingleichen den ändern Göttern; sie wenden sich an Brahma: in diesem gro­ ßen Weisen ist nicht der kleinste Schatten einer Sünde mehr; wenn das Ver-

1 Ein merkwürdiges Beispiel, wie gleichfalls durch die abstracten Uebungen hohe Macht erlangt wird, obgleich die Besiegung der Leidenschaften noch fehlt, ist in der Episode des M a h a b h a r a t a : Sundas und Upasundas, vorhanden, mit der mein ge­ lehrter Freund und College, Hr. Prof. B o p p das Publicum bekannt gemacht hat, in: A r d s c h u n a s R e i s e zu I n d r a ’ s H i m m e l . 1824. Uebers. S. 37. — In dessel­ ben Gelehrten Conjugations-System der Sanscrit-Sprache hat er eine Uebersetzung der Episode des Vishwamitra gegeben; bei meinem Auszuge hatte ich die Englische Uebersetzung in der Seramporer Ausgabe des Ramayuna vor mir.

50

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1463-1464

langen seines Geistes nicht erfüllt wird, wird er mit seiner Abstraction das Universum zerstören. Die Extreme der Welt sind in Verwirrung, die Meere im Sturm, die Berge im Falle begriffen, die Erde zittert u.s.f. O Brahma, wir können nicht versichern, daß die Menschen nicht Atheisten werden, die Welt ist | voll Staunens und Unordnung. - So wird nun Vishwamitra von 5 Brahma endlich für einen B r a h m a - W e i s e n (Brahma-sage) erklärt, und versöhnt sich mit Vushishta. Diese Erzählung ist höchst charakteristisch schon für den Mittelpunkt der Indischen Weltanschauung. Das Grundverhältniß aller Religion und Philoso­ phie ist das Verhältniß zunächst des Geistes überhaupt zur Natur, und dann

10

des absoluten Geistes zum endlichen Geiste. Die Indische Grundbestimmung ist, daß die abstracte Geistigkeit, die Concentration der reinen bestimmungsund schrankenlosen Abstraction, die absolute Macht des Natürlichen ist; es 1Q t rlpr j .'fv

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in der alles Besondere und alle Naturmacht zu einem Unmächtigen, Un- 15 selbstständigen und Verschwindenden herabgesezt ist. Aber diese abstracte Subjectivität erscheint hier zunächst als Concentration, die der M e n s c h in sich hervorbringt; wie sie sich zu Gott oder vielmehr Brahma verhält, will ich nachher erwähnen. Vornehmlich charakteristisch ist diese Episode für das Verhältniß eines 20 Kshetri zum Brahminen, bei dem ich zuerst verweilen will. - Diese viel­ fachen Curse von Mortificationen in der Assiduität der Vertiefung sind zu durchlaufen, damit ein Kshetri dasjenige erreiche, was der Brahmine von Haus aus, d. i. durch die Geburt ist. Wenn ein Mann aus einer ändern Kaste erst durch die erzählten langwierigen Härten und Zustände der äußern und 25 innern Abstraction wiedergeboren werden kann, so ist der Brahmine so­ gleich als solcher ein Z w e i m a l g e b o r n e r ; eine Benennung, die im Ramayuna dem Brahminen als ein zu einem Titel gewordener Ausdruck gege­ ben wird. In den G e s e t z e n des M e n u (I. 93-100) wo in der Stufenreihe der existirenden Dinge die Brahminen-Kaste als die vortrefflichste angegeben 30 wird, ist wohl auch wieder unter den Brahminen eine Stufenfolge angegeben und gesagt, daß unter ihnen diejenigen, welche ihre Schuldigkeit kennen, eminiren, unter diesen die, welche sie tugendhaft ausüben, unter ihnen die, welche Seligkeit suchen, durch eine vollkommene Bekanntschaft mit der heiligen Lehre. Theils sind diese Stufen nicht durch Uebungen jener Indi- 35 sehen Art, noch durch die geistigere Erwerbung einer intellectuellen und wirklich moralischen Bildung bedingt, theils ist für sich das Lesen der Veda’s,

6 sage]

O : sagge

1464-1465

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51

in deren Besitz die Brahminen sind, nebst den Lebensvorschriften, die sie zu beobachten haben, der Zustand dieser durch die Natur | schon Zweimalgebornen selbst, die Einheit mit Gott. Wenn der Engländer in der angeführten Stelle aus Menu die Europäischen Ausdrücke von Pflicht und Tugendübung anwendet, so haben sie nur den formellen Sinn der genauen Beobachtung seiner Kastengebote. Unter diese gehören nicht politische Bürgerpflichten, auch nicht die, Abgaben zu entrichten; »der König, auch wenn er aus Man­ gel stirbt, darf nicht irgend eine Taxe vom Brahminen, weil er in den Veda’s gelehrt ist, nehmen.« Dem Brahminen ist es wohl verboten zu morden, zu stehlen; — doch darf er für solche Verbrechen nicht bestraft, nur, jedoch mit Beibehaltung seines Vermögens, aus dem Lande verbannt werden. Auch gel­ ten für ihn, wie für den Indier überhaupt, nicht die moralischen Pflichten der Menschenliebe; — ein Brahmine darf oder muß den Chundula tödten, der ihm zu nahe käme, und ihn durch Berührung beflecken könnte; viel­ weniger hat er die moralische Pflicht, einem solchen, wenn er vor ihm ver­ schmachtend läge, und durch eine kleine Hülfe, einen Trunk Wassers, vom Tode errettet werden könnte, eine Hülfe zu leisten, eben so wenig als gegen irgend Andere Menschenliebe auszuüben. Die geforderte Moralität be­ schränkt sich auf das Negative, die Unterdrückung der Leidenschaften; a m an o f s u b d u e d pas s i o n s , diesen Ausdruck liest man allenthalben als ein Prädicat des Weisen. So wichtig die Abwesenheit böser Neigungen und Empfindungen ist, so ist dieß noch nicht Tugend und praktische Moralität. Die affirmativen Pflichten des Brahminen bestehen in einer unendlichen Menge von Beobachtungen der leersten und abgeschmacktesten Vorschrif­ ten, und in dem Lesen und Meditiren der Vedas. W enn wir die noch in den allgemeinen Ausdrücken ausgesprochenen Lehren und Vorschriften lesen, werden wir zu leicht verführt, sie in dem Sinne unserer Moralität zu neh­ men; ihr Verständniß liegt allein in ihrem wirklichen Inhalt1. Die Gelehrsam1 Theils um eine nähere Vorstellung, theils um den Beweis dieser unglaublichen Abgeschmacktheit zu geben, sei Einiges von dem Vielen (in den ersten paar Stunden des Tags kann der Brahmine etliche und 40 Fehler begehen, ob er den rechten oder den linken Fuß zuerst aus dem Bette sezt, in den rechten oder linken Pantoffel zu­ erst schlupft u.s.f.) aus den Gesetzen des Menu ausgehoben; - der Brahmine darf IV. 43 seine Frau oder seine Frauen (denn er kann deren viele haben), mit denen er auch nicht essen darf, nicht essen sehen, noch sie sehen niesen oder gähnen u.s.f., er darf nicht essen, und dabei nur Ein | Kleid anhaben; er darf nicht uriniren und seine Nothdurft verrichten auf der Landstraße, noch auf Asche, noch wo Kühe grasen, 12 überhaupt, nicht] O : überhaupt nicht,

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1465-1467

keit ist | für sich als eine untergeordnete Stufe angegeben; den absoluten Werth hat das Lesen der Vedas, das Innehaben und Meditiren derselben ist als solches schon die absolute Wissenschaft. Welche Geistlosigkeit selbst dieß unendlich verdienstliche Lesen der Veda’s zuläßt, sagt uns Colebrooke (Asiat. Res. VIII. p. 390), wo er die verschiedenen abergläubischen Arten angibt, in denen dieß Lesen geschieht, - nämlich entweder so, daß jedes Wort für sich einzeln gesprochen, oder die Worte abwechselnd wiederholt werden, und zwar rückwärts und vorwärts, und wieder einmal oder öfter; zu wel­ chem Behufe besonders eingerichtete Abschriften gemacht werden, deren Namen Colebrooke daselbst angibt, so daß auch jede Mühe der eigenen Auf­ merksamkeit für das Anordnen des sinnlosen Lesens erspart wird. Die transcendente Macht, welche nach den obigen Anführungen dem Vushishta zugeschrieben wird, ist nicht eine Licenz der Dichtung, sich in der­ gleichen Erfi ndun^en zu ergehen. Unsere Vorstellungen vun willkürlichen Erdichtungen in der Poesie passen ohnehin auf die Indischen Productionen nicht. Die Hoheit der Brahminen ist wesentlicher Theil des Systems der Ge­ setzgebung, und selbst die Vorstellung von jener überschwänglichen Macht ist in die Gesezgebung selber aufgenommen. Unter der weitläufigen Ausfüh­ rung der Pflichten und Rechte der Brahminen in dem Codex findet sich auch Folgendes: Ein Brahmine hat es nicht nöthig, bei dem König über Unrecht und Verletzung zu klagen, weil er selbst durch seine eigene Macht die, die ihn beleidigen, strafen kann. - Der König, obgleich in der äußersten Noth, hüte sich Brahminen zum Unmuth zu reizen; denn einmal | aufgebracht könnten sie unmittelbar ihn mit seinen Truppen, Elephanten, Pferden und Wagen vernichten. Wer könnte ohne zu Grunde zu gehen diese heiligen Männer reizen, durch welche die allverzehrende Flamme geschaffen ward, die See mit untrinkbaren Wassern, und der M ond mit seinem Ab- und Zu­ nehmen? Welcher Fürst könnte Reichthum gewinnen, wenn er diejenigen noch auf beackertem Grund, noch ins Wasser oder auf Brennholz; noch (außer in großer Noth) auf einem Berg, noch auf die Ruinen eines Tempels, noch zu irgend einer Zeit auf ein Ameisennest, noch in Gräben, worin lebendige Wesen sind, noch im Gehen, noch im Stehen, noch an dem Ufer eines Flusses, noch auf dem Gipfel eines Bergs, noch bei solcher Verrichtung sehen auf etwas vom Winde Bewegtes, oder auf ein Feuer, oder auf einen Priester, oder auf die Sonne oder auf Wasser, oder auf Pdndvieh, — muß dabei bei Tage mit seinem Gesichte gegen Norden, bei Nacht nach Süden gewendet seyn, Morgens und Abends wie bei Tag u.s.f. Unzählig ist das, was er in Beziehung auf das Essen zu beobachten hat. 3 solches] O : solche

21 Verletzung] O: Veletzung

37 in] O : n

1467-1468

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unterdrückte, welche, wenn sie zornig, andere Welten und Regenten der Welten erschaffen, und ändern Göttern und Sterblichen Daseyn geben könn­ ten? Welcher Mann, dem sein Leben lieb ist, wird diejenigen beleidigen, durch deren Hülfe die Welten und die Götter fortbestehen; — diejenigen, w e l c h e r e i c h s i nd i n der K e n n t n i ß der V e d a ’ s? Ein Brahmin, g e l e h r t o d e r u n g e l e h r t , ist eine m ä c h t i g e G o t t h e i t , so wie Feuer eine mächtige Gottheit ist, ob es geweiht ist oder nicht. (Menus Gesetzb. v. W . Jones, C. IX . 317.) Der Brahmin, indem er die Veda’s liest, und seine pflichtmäßigen Werke, d. i. das für alle und jede tägliche, trivialste Verrich­ tung Vorgeschriebene beobachtet, ist ein Vollendeter und lebt in der Voll­ endung; der oben angeführte Unterschied betrifft, wie in der Bhagavad-Gita die Stufen der Yoga, den verschiedenen Werth seiner Verrichtungen in Be­ ziehung auf die unterschiedenen Stufen der Vollendung, deren höchste das Lesen und die Meditation der Vedas die Stufe des Weisen und die Seligkeit ist. — Daß es dagegen unter den ändern Kasten nur Wenige geben werde, welche durch die angeführten beschwerlichen Mittel diejenige Hoheit zu er­ langen suchten, die der Brahmine unbeschwerlich besizt, ist von selbst zu vermuthen. Die oben erwähnten Beispiele sind einzelne Erscheinungen, die eben so sparsam Vorkommen, als der gleichfalls erwähnte religiöse Selbst­ mord häufig ist. Dieser aber bewirkt nicht diese Vereinung mit Gott und die transcendente Gewalt, noch die Befreiung von der Seelenwanderung, welche das Ziel dessen ist, der sich der ausführlichen Selbsttödtung und dem Z u­ stande der Bewußtlosigkeit im Bewußtseyn widmet. Krishnas klagte (s. oben) über die Seltenheit derer, welche die Vollendung suchen, und Capitän Wilford, der hier aus eigener Erfahrung spricht, sagt darüber: so viel die Indier von der Erlangung der Seligkeit auf dem Wege der Yoga sprechen; so habe ich doch keinen einzigen Indier finden können, welcher diesen Weg nehmen wollte; sie führten an, daß eine Verzichtleistung auf die Welt und ihre Ver­ gnügungen, eine vollkommene Selbstverläug|nung gefordert werde, und sie sich keine Vorstellung von den Genüssen der versprochenen Seligkeit ma­ chen können, da es dabei nicht Essen, Trinken, Heurathen u.s.f. gebe. In dem irdischen Paradiese dagegen (wie wir es etwa nennen könnten — Swergathumis, unterschieden von Mocsha jener Seligkeit) esse man, trinke, heurathe u.s.f. Den Brahminen sind die genannten Entbehrungen, die an die än­ dern Kasten zur Vollendung gefordert werden, nicht auferlegt. Unter den Fakirs im nördlichem Hindostan führt Capitain Rapter ( As i a t . R e s . XI . ) eine Art an, die J o g i heißen, aber als eine besondere Secte aufgeführt wer­ 2 Daseyn] O : Dasyen

7 nicht.] O W x: nicht.«

8 W .] O W xH : M .

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1468-1469

den. So sehr sie wie die anderen Fakirs, der Indischen Religion angehören und theils den Siwa, theils den Vishnu verehren, (Rapter führt auch eine Secte unter diesen Fakirs an, die den N a’na, den Stifter der Secte der Sikh’s verehrt,) — so haben sie sich doch vom Brahminen-Uebergewicht losge­ macht, und nehmen sich auf ihre mitunter sehr leichtfertige Weise, ohne den Weg jener langwierigen Mortificationen durchzumachen, die Vorzüge, wel­ che den Brahminen die Geburt und die Lebensweise der Kaste gewährt. Die übernatürliche Macht haben wir als der dritten Stufe der Yoga ange­ hörig gesehen. Der Genuß, der dieser Stufe zukommt, ist, da sie nicht die höchste ist, gleichfalls noch nicht der höchste. Ich habe hierüber das anzu­ führen, was Hr. v. H. S. 41 über diese, wie es sich nennen läßt, relative Se­ ligkeit, aus dem Gedichte zusammenstellt und dieses Loos von der absoluten Seligkeit unterscheidet. Dieß Loos heißt nämlich Erhebung in die fleckenIrv c A n Wv v/^1 t"an ur l va fi avi *i v i i v n

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darin, gewiß mit Recht, dasselbe mit dem Leben in den Welten derer, die reinen Wandels gewesen, welches unendliche Jahre vor einer neuen Wieder­ geburt in die zeitliche Welt, dauern soll VI. 41. 42. Die Wiedergeburt steht zwar einem solchen bevor, weil er nicht absolut die Devotion vollendet hat (Wilk. durch den Tod unterbrochen, Hr. v. Schl, überhaupt: q u i devot i o n e e x c i d i t ) , jedoch eine Geburt in einer hei l i gen und achtungswerthen Familie, ohne Zweifel einer Brahminenfamilie, (Hr. v. Schl, hat nur t o r u m

c a s

-

bea t or u mque familia) oder aus dem Geschlecht eines gelehrten

Yogi; eine solche Wiedergeburt sei höchst schwer (wie wir gesehen) zu er­ langen. IX . 20—22 ist dasselbe wiederholt. Hr. v. H. fügt hinzu, daß die W ie­ dergeburt in die irdische Welt | nach Erschöpfung des erworbenen Verdien­ stes als das Schicksal derer geschildert werde, die sich auf beschränkte Weise nur an die heiligen Bücher und die in ihnen vorgeschriebenen Ceremonien gehalten; es heißt nämlich nach Hrn. v. Schl. Uebersetzung daselbst (sl. 21) sic r e l i g i o n e m l i b r o r u m s a c r o r u m s ect ant es,

d e s id e r iis

c a p t i

,

f e l i c i t a t e m f l u x a m ac r e c i p r o c a n t e m a d i p i s c u n t u r ; denn gegen die Lehre der Vedas und die wissenschaftliche Theologie eifere die BhagavadGita auch sonst, nicht sie ganz wegwerfend, aber sie darstellend, als nicht den lezten Grund erforschend, nicht das lezte Ziel erreichend (II. 41—53). Vorhin ist des Les ens der Vedas als des heiligsten Geschäfts der Brahminen erwähnt worden; um hierin nicht einen Widerspruch mit dem zu finden, was Hr. v. H. hier von dem Verhältnisse der Ansichten des Gedichts zu den Vedas sagt, ist in Erinnerung zu bringen, daß an die Brahminen zur höchsten 6—7 welche] O W 1: welchen

9 die] O: der

1469-1470

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Vollendung gleichfalls die Unterdrückung der Leidenschaften gefordert wird; ferner daß II. 41ff. nicht von dem der Brahminenkaste eigenthümlichen Lesen der Vedas als s o l c h e m gesprochen wird, sondern von dem verkehr­ ten oder ungenügenden Gebrauche, der von diesen Büchern und deren Vor5 Schriften gemacht, und der hier getadelt wird. Hr. v. Schl, nimmt die Stelle in einem viel stärkern Sinne nämlich als Tadel der Vedas selbst, (ind. Bibi. 2

H. S. 237) indem der Dichter in ihr sie angreife, und ihnen vorwerfe: auch

sie begünstigten durch verheißene Segnungen für äußerliche Religionslei­ stungen eine weltliche Denkart, und meint, der Dichter habe sich in eine, 10 wie es scheine, absichtliche Dunkelheit gehüllt, wegen der Kühnheit seines Unternehmens. Hr. v. Schl, gibt dabei die interessante Hoffnung, dieses einst in der philosophischen Auslegung des Gedichtes zu beweisen. Einstweilen können wir uns nur an die verschiedenen Uebersetzungen halten und alle drücken denselben wesentlichen Sinn [aus], wie ihn auch Langlès nach den 15

zu anderweitigem Behufe gemachten Citationen (ind. Bibi. 2. H. S. 235) gibt: 1’ a u t e u r (des Gedichts) c r i t i q u e la c o n d u i t e des f a u x d é v o t s qui

d a n s

d e s

v u e s

in t e r e s s e e s

o b s e r v e n t les règl es pr és cr i t es

,

par les v édas , il f i n i t par di r e: Ils p r a t i q u e n t aussi , ils a g i s ­ sent , mai s

s a n s

l a

r e t e n u e

d ig n e

d u

s a g e

.

Ferner S. 238 zu si. 45.

20 C r i c h n a di t à A r j o u n a que l ’ e x p l i c a t i o n des Védas p e u t p r ê t e r des sens f a v o r a b l e s aux gens ami s de la l i b e r t é , ou des pas s i ­ ons ou des t é n è b r e s (den drei obenerwähnten Qualitäten, die | überall die drei Grundkategorien sind). Die Englische Uebersetzung drückt den Sinn wie La n g l è s aus, hie und da nur in entschiedeneren Zügen, als die Schle25

gel’sche ebendenselben darstellt. Diese lautet sl. 41—43. M u l t i p a r t i t a e ac i nf i ni ta e sententiae

in c o n s t a n t iu m

(s .

darüber Hrn. v. H. zu L a n g ­

lès a . a . O . S. 236). Q u a m f l o r i d a m i st am o r a t i o n e m p r o f e r u n t INSIPIENTES,

LIBRORUM

SACRORUM

q u i c q u a m dari af f i r ma n t e s , 30

DICTIS

c u p id it a t ib u s

GAUDENTES,

nec

ultra

o b n o x i i , s edem a pu d

superos f i n e m b o n o r u m p r a e d i c a n t e s ; ( o r a t i o n e m , i n q u a m , ) i ns i g ne s nat al es

t a n q u a m

o p e r u m

p r a e m iu m

pollicentem,

ri-

t u u m v a r i e t a t e a b u n d a n t e m , qu i b u s a l i q u i s opes ac d o m i n a t i o n e m n a n c i s c a t u r : qui

h a c

a

r e c t o

p r o p o s it o

opes ac d o m i n a t i o n e m a m b i t i o s i s un t , h o r u m 35 P O N i T U R

c o n t e m p l a t io n e

a b r e p t i m e n s

,

n o n

ci rca c o m

-

ad p e r s e v e r a n t i a m .

Ich kann hierin nichts sehen, als daß vom Mißbrauche der Vedas (l i br . sacr.

D iC T is

g a u d e n t e s heißt bei Wilkins: d e l i g h t i n g i n

27 o r a t i o n e m] O: o r a t i o n e f m nicht kursiv)

t h e

c o n

-

56

J A H R B Ü C H E R FÜR W IS S E N S C H A F T L IC H E K R I T I K

t r o v e r s ie s

1470-1471

of t he Veds) und zwar ausdrücklich durch Menschen, die in

Irrthümern und noch in Leidenschaften befangen sind, die Rede ist, wie bei uns vom Mißbrauche der Bibel gesprochen wird, die für alle möglichen Irrthümer citirt worden, von denen man auch sagen kann, sie seien durch Aus­ sprüche der Bibel veranlaßt worden, ohne daß darum dem Ansehen und dem wahren Inhalte der Bibel Eintrag geschehe, weil es nur der Irrthum selbst ist, der sich solche Veranlassung nimmt. Gleich in sl. 46 heißt es, daß zu so vie­ lem Gebrauch ein voller Brunnen dient, so vielfachen Gebrauch gewähren dem

PRUDENTi

t h e o l o g o die Vedas, wie auch unsere Theologen so k l u g

sind, ihre willkürlichen Meinungen auf die Bibel stützen zu können. Ist unter p r u d e n s t h e o l o g u s etwas Wahreres als nur ein kluger Theolog zu ver­ stehen, ( W i l k . k n o w i n g d i v i n e ) , so liegt darin immer, daß von einem vielfachen Gebrauche der Vedas die Rede ist. In L. IX . 20 wird solchen, die kenntmßreich m den d r e i (hier sind nicht vier erwähnt) Vedas, den Asklepias-Saft trinken nach den Opfern und den Reinigungen von ihren Sünden, die Seligkeit der Welt des Indra zugesagt. Aber L. VIII. 11 ff. eröffnet Krishna dem Arjunas das Innerste und Höchste, - nämlich die Yoga - und sagt aus­ drücklich, daß dieß der reine Pfad sei, den die Weisen der Vedas lehren, und diese sind keine Anderen als Brahminen, und dürfen keine Anderen seyn. | Am bestimmtesten heißt es L. XV. 15: Ic h (Krishnas) b in in a l l e n Vedas zu e r k e n n e n , ich bin der Urheber der theologischen Lehre, ( ve da n t a ) und (nach Hrn. v. Schl.) bin der Ausleger der Vedas; W i l k . k n o w e d t he Veds.

I am w h o

Der die Kenntniß und Erkenntniß, und die Aus­

legung der Vedas hat, ist der Brahmine; Krishna spricht sich als i d e n t i s c h , nicht bloß übereinstimmend, mit den Brahminen aus, wie er auch die Vedas selbst ist - wovon nachher. Krishna theilt dem Arjunas das Wesentliche der Weisheit dieser Bücher und der Brahminen mit, weil Arjunas ein Kshetri ist, und darum für sich sie nicht besizt. So muß die Bhagavad-Gita selbst nur als Mittheilung dieser Weisheit an die Nation angesehen werden, wodurch das, was ihr sonst auf andere Weise nicht bekannt wird, vielmehr im Ganzen un­ zugänglich ist, zur allgemeinem Kenntniß gemacht wird, - auf die angemes­ sene Weise, nämlich in einem poetischen Werke. Die beiden National­ gedichte Indiens leisten den Indiern was die Homerischen Gedichte den Griechen, die Belehrung über ihre Religion; sonst ist für diese Völker keine irgendwoher zu schöpfen, der Cultus selbst ist nicht lehrend. Auch die Grie­ chischen Dichter, welche nach der berühmten Stelle Herodots den Griechen ihre Götter gemacht haben, hatten Mythen, Traditionen, Cultus, Mysterien u.s.f. schon vor sich; aber die Vedas sind für die Indischen Dichter eine viel festere Grundlage. Die Gedichte beider Nationen, wie überhaupt, sind nur

1471-1472

H U M B O L D T - R E Z E N S I O N • Z W E IT E R A R T IK E L

57

Nationalgedichte insofern sie ganz in dem religiösen Geiste und in den Vor­ stellungen ihres Volkes stehen. Die Vedas liegen uns zwar noch nicht zur Einsicht vor, - welcher Gelehrte oder vielmehr welche Regierung wird uns einst dieß Geschenk machen? — aber man braucht nur die einstweilen dem, der sich für die Religionen der Völker interessirt, unschätzbaren Auszüge an­ zusehen, die uns Colebrooke gegeben hat, um auch unabhängig von der an­ gegebenen allgemeinen Anerkennung und religiösen Verehrung dieser Bücher, sich zu überzeugen, daß, was in der Bhagavad-Gita überhaupt und von dem Innersten der Indischen Vorstellung gemein gemacht ist, sich ganz nur auf die Lehre der Vedas gründet. In diesen heiligen Büchern selbst er­ scheint der Widerspruch, daß Opfer, Gebete, Werke und Anderes, was äußerliche Erscheinung wird, das einemal als wesentlich vorgeschrieben, das anderemal Brahma und die reine Richtung auf ihn als das Höchste, ja allein Wahre gepriesen wird. Von den Vedas sagt theils Krishnas, daß er selbst alle drei Vedas ist (IX. 17), theils in einem Zuge (das.) daß er das concentrirte Monosyllabum O m in denselben ist, (auch VII. 8), ingleichen X . 35, daß er unter den heiligen Hymnen (ohne Zweifel den Mantras, den Theilen der Vedas, welche aus Hymnen und Gebeten bestehen) der berühmte G a y a t r i ist (Hr. v. Schl, schwächt | durch: ma g n u s h y m n u s das specifische G a ­ y a t r i , das Wilkins angibt), dessen Uebersetzung Colebrooke (Asiat. Res. VIII. 400) gegeben hat. - Derselbe Gegensatz und Widerspruch erscheint al­ lenthalben, wo äußerlicher Cultus und Ceremonien zugleich mit dem Bewußtseyn höherer Innerlichkeit verbunden ist. In einer ändern Religion, die einen Ceremonial-Cultus von Opfern u.s.f. hat, heißt es auch: Opfer und Brandopfer gefallen dir nicht, was dir wohlgefällt ist nur ein reines Herz; es ist derselbe Gegensatz, der unter ärgeren Aeusserlichkeiten zugleich mit einer großem Tiefe des Inhalts verbunden, zwischen dem Glauben und den Wer­ ken vorgekommen ist. Es ist als Indisches Gedicht, daß gleicher Weise Bhagavad-Gita den Unterschied von Innerlichem und Aeusserlichem nur als Ge­ gensatz, nur als höchsten Widerspruch ohne seine Versöhnung enthalten kann. Dieser Umstand macht das Tädiöse der Darstellung sogar nothwendig; wenn die eine Seite, die Werke und das Handeln überhaupt, geboren wor­ den, so fällt die andere, die Abstraction von aller Handlung des Gottesdien­ stes und der Wirklichkeit wieder ein, aber diese Einseitigkeit macht auch wieder die andere, die Aufforderung zum Handeln insbesondere an den Kshetri, nothwendig; so daß der Vortrag von selbst durch den Inhalt in diese lästigen Wiederholungen geräth. 17 Hymnen] O : Heym nen

19 ist] O: ist.

WXH: ist,

58

J A H R B Ü C H E R FÜR W IS S E N S C H A F T L IC H E K R I T I K

1472-1473

U m nun aber von der Stufe der Vollendung, welche das höchste Ziel ist, zu sprechen, so betrachten wir sie zunächst in ihrer subjectiven Form. Diese Vollendung bestimmt sich als dauernder Zustand der Abstraction, um die es sich in allem Vorhergehenden gehandelt hat, - perennirende Einsamkeit des Selbstbewußtseyns die alle Sensationen, alle Bedürfnisse und Vorstellungen 5 von äußeren Dingen aufgegeben hat, somit nicht mehr Bewußtseyn ist, — auch nicht ein erfülltes Selbstbewußtseyn, welches den Geist zum Inhalte hätte und insofern auch noch Bewußtseyn wäre; - ein Anschauen, das nichts anschaut, von nichts weiß - die reine Leerheit seiner in sich selbst. Nach modernen Ausdrücken ist die Bestimmtheit dieses Zustandes die absolute

10

U n m i t t e l b a r k e i t des Wissens zu nennen. Denn wo Wissen von etwas, von einem Inhalt ist, darin ist sogleich und bereits Vermittelung; das wis­ sende Subject ist Inhaltswissendes nur vermittelst dieses Inhalts, der ihm Ge­ genstand ist, und der Inhalt ist nur Gegenstand vermittelst dessen, daß er ge­ wußt wird. Einen Inhalt aber hat das Bewußtseyn nur, insofern er ihm Ge- 15 genstand ist, es sei fühlend, anschauend oder wie man wolle; denn das Füh­ len, Anschauen, wenn es nicht Fühlen des Thieres ist, ist Fühlen, Anschauen des Menschen, d. i. des Bewußtseienden; — einfache nur analytische Bestim­ mungen, welche sogar nicht zu bemerken und zu wissen, diejenigen, die heutigstags soviel vom unmittelbaren Wissen sprechen, bewußtlos und un-

20

wissend genug sind. | Diese abstracte Concentration ist nun die Seligkeit, deren nähere Bestim­ mungen Hr. v. H. S. 39. zusammenstellt, — die den Frommen und Gläubi­ gen fast auf jeder Seite unseres Gedichts mehremal verheißen wird, — durch­ weg das Eingehen in die Gottheit — oder wörtlich zunächst in Krishna, das

25

V e r w e h e n in Brahma, die V e r w a n d l u n g i n B r a h m a (V. 24.) S c h l . ad

EXSTINCTIONEM

in

n u m in e

(d. i. Brahma) p e r v e n i t , W i l k i n s : ob-

t a i n t he i n c o r p o r e a l B r a h m , und dann weiter: B r a h m is pr epar ed, f r o m t he b e g i n n i n g , f or such as are free f r o m l ust and a n g e r etc.

Diese Einheit mit Brahma gibt auch die Befreiung von der 30

Metempsychose. Diese Einheit mit Brahm führt von selbst auf den lezten Punkt, welcher in dem Zusammenhange der Indischen Religion der höchste ist, - den Be­ griff des Brahm, die Spitze der betrachteten Vertiefung. So leicht faßlich und bekannt es ist, was Brahm ist, so größere Schwierigkeiten bietet sein Zusam- 35 menhang mit dieser Vertiefung selbst dar, und so interessanter ist es, diesen

30 etc.] O : e t c . ) .

1473-1475

H U M B O L D T - R E Z E N S I O N • Z W E IT E R A R T IK E L

59

Zusammenhang zu betrachten, aus dem, wie sich ergeben wird, der Begriff Brahm selbst resultirt oder der vielmehr er selbst ist. Gehen wir davon aus, näher zu betrachten, welche die a f f i r m a t i v e Stelle oder Bestimmtheit des Geistes sei, der jene Vertiefung seiner in sich, jene Vereinsamung des Selbstbewußtseyns mit sich, angehöre, so ist es das D e n k e n . Vertiefung und die ändern Ausdrücke Devotion, Contemplation, bezeichnen das Z u s t ä n d l i c h e , nicht die Sache selbst. Jene Abstraction von aller äusserlichen und innerlichen Bestimmtheit, allem Inhalte der Emp­ findung und des Geistes in ihrem affir |mativen specifischen Daseyn ist das zustandslose Denken. Es ist für erhaben zu achten, daß die Indier sich zu die­ ser Absonderung des Unsinnlichen vom Sinnlichen, der empirischen Mannichfaltigkeit von der Allgemeinheit, des Empfindens, Begehrens, Vorstel­ lens, Wollens u.s.f. von dem Denken und zu dem Bewußtseyn der Hoheit des Denkens erhoben haben. Aber das Eigenthümliche ist, daß sie von der ungeheuern Abstraction dieses Extrems nicht zur Versöhnung mit dem Besondern, nicht zum Concreten durchgedrungen sind; ihr Geist ist deßwegen nur der haltungslose Taumel von dem Einen zu dem Ändern, und zulezt die Unglückseligkeit, die Seligkeit nur als Vernichtung der Persönlichkeit, was dasselbe mit dem Niban der Bhuddisten ist, zu wissen. Wenn statt des Ausdrucks Devotion, Vertiefung u.s.f. die Benennung der Sache, D e n k e n , gebraucht worden wäre; so stünde dem entgegen, daß wir bei dem Denken selbst dem reinen, auch abstracten Denken immer noch die Vorstellung haben, daß E t wa s gedacht werde, daß wir als denkend G e ­ d a n k e n haben, d. i. sie als innern Gegenstand haben. In gleicher Bestimmungslosigkeit das A n s c h a u e n als so ganz reines Anschauen genommen, ist es dieselbe abstracte Identität mit sich; das nur reine Anschauen schaut auch nicht Etwas an, so daß man es selbst nicht Anschauen des Nichts nen­ nen kann, denn es ist gegenstandslos. Doch Anschauen schließt wesentlich ein, concret zu seyn; wenn das Denken zwar auch nur wahr ist, insofern es concret in sich ist, so ist seine eigenthümliche Bestimmtheit jene reine All­ gemeinheit, die einfache Identität; der Yogi, der innerlich und äußerlich un­ bewegt da sizt, und auf die Spitze seiner Nase hinstarrt, ist jenes zur leeren Abstraction gesteigerte, gewaltsam festgehaltene Denken. Solcher Zustand aber ist uns ein durchaus Fremdartiges und Jenseitiges, und würde uns durch den Ausdruck des Denkens, als welches uns in unserer | Vorstellung etwas ganz Geläufiges ist, viel zu nahe gelegt.

10 sich] O : sic

31 Identität] O: Iedentität

60

1475-1476

J A H R B Ü C H E R FÜR W IS S E N S C H A F T L IC H E K R I T I K

Erinnern wir uns aber jedoch der Ausdrücke, daß jene Vertiefung den Brahma s u c h e , der W e g die R i c h t u n g auf ihn und die V e r e i n i g u n g mit ihm sei, so liegt darin wohl, daß sie einen Gegenstand habe, den sie zu gewinnen strebe. In der That aber ist sie, wie gezeigt, in ihrer eigenen Bestimmung objectlos, und Streben, Richtung, u. dergl. gehört nur dem Be-

5

wußtseyn an, in dem das Vertiefen selbst nicht erreicht ist. Insofern nun die­ ses objectlose Denken zugleich wesentlich als Beziehung auf Brahma vor­ gestellt ist, - aber als eine u n m i t t e l b a r e d. h. unterschiedslose Beziehung; so nothwendig is t

dieses

rein

abst r act e

Denken

als B r a h m a

sel bst bestimmt; - ein subjectives, das mit dem als objectiv Gesagten iden-

10

tisch ist, so daß dieser Gegensatz verschwindet, und zu einem im Inhalte selbst nicht vorhandenen, äußerlichen Sagen wird. Es versteht sich hiebei von selbst, daß wenn hier die Ausdrücke von Subip rh v p m

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A

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w u iu c n ,

diese Erfindungen der denkenden Reflexion neuerer Zeit den Indiern nicht

15

zugeschrieben werden sollen, so wenig als wenn eine denkende Mythologie zeigt, was der B e g r i f f von Zevs, Here, Demeter u.s.f. ist, derselbe hiemit als reflectirter Begriff den Griechen zugeschrieben wird. Man hat dabei wohl Recht zu sagen, sie haben diesen Begriff von Zevs nicht gehabt . Aber darum ist solcher Begriff, wenn er richtig bestimmt ist, nicht weniger Inhalt

20

ihrer Phantasievorstellung von Zevs gewesen. Die Unwissenheit über diesen Unterschied, ob ein Inhalt das sinnliche oder phantasirende nur erfüllt, oder ob ebenderselbe Inhalt vom reflectirenden Bewußtseyn als Gedanke und Begriff gewußt wird, ist die Quelle vielen Mißverständnisses und rohen Widerspruchs geworden. - Wenn nun Brahm als jene Einheit bestimmt wor-

25

den, so ist es diese Einheit selbst, auf welche die wesentliche Ungunst gegen diese abstracten Bestimmungen fällt. In der That ist sie als abstracte Einheit ohne Bestimmung in ihr selbst das Mangelhafteste und Unwahre; eben diese Dürftigkeit ist es, welche die Natur des Indischen Brahma constituirte; er ist die Einheit nur als die abstracte Allgemeinheit, als bestimmungslose Substanz.

30

Und wenn vorhin aus der Bestimmung der subjectiven Seite gezeigt worden, daß indem sie das ganz abstracte Denken, das Nichts denkt, ist, | ebendamit kein Gegenstand für sie vorhanden ist, so erhellt dieß gleichfalls aus der ebengenannten Bestimmung, die wir die objective nennen können, nämlich der reinen A l l g e m e i n h e i t oder reinen Substanz, als welche eben dieß ist, daß von aller Besonderheit, somit auch von der Besonderheit eines Objects gegen ein Subject abstrahirt ist. Man gehe von der subjectiven oder von der 18 den] O : nicht den

35

1476-1477

H U M B O L D T - R E Z E N S I O N • Z W E IT E R A R T IK E L

61

objectiven Bestimmung aus, so zeigt sich Brahm als das Mangelhafte, das ohne den Unterschied des Subjectiven und Objectiven ist. Aber die Nothwendigkeit und damit die Macht des U n t e r s c h i e d e s ist so groß, daß er auch auf dieser höchsten Spitze recurriren muß. Er begegnet uns schon, so wie der Ausdruck Brahma zu gebrauchen ist. Hr. v. H. S. 21, wie auch Hr. v. Schl, ausführlicher (ind. Bibi. II. B. 4. H. S. 420) (bei Gelegenheit eines gelehrtthuenden aber in der That zu nichts führenden oder zu nichts kommen wollenden Geredes) bringen den Unter­ schied von Brahma mit einem kurzen a hinten, dem neutrum, und mit einem langen, dem Masculinum, wieder in Erinnerung, und geben dessen genaue Bestimmung an. [Es ist] die Sitte (wie ebend. Hr. v. Schl. S. 422 an­ gibt) der heutigen und besonders der Bengalischen Pandits, — also ein usus der Gelehrten des Landes selbst, hiemit auch im Deutschen, wo sich der Unterschied eines langen und kurzen a nicht gut ausdrücken läßt, den kur­ zen Schlußvocal des Neutrums zu unterdrücken, und Brahm zu schreiben. Das Masculinum Brahma, der H e r r der Geschöpfe nach der Laconischen Angabe des ältesten Indischen Lexicographen (ebendas. S. 423), ist Indivi­ duum, Person, und spricht daher unsere Europäische Vorstellungsweise gün­ stig an. Ich bemerke hierüber, daß es für die Beurtheilung dieser Persönlich­ keit wesentlich auf den innern Gehalt derselben ankommt. Brahma bleibt seiner innern Bestimmung nach, das abstracte S e y n ; das Allgemeine, die S u b s t a n z o h n e Subj e c t i v i t ä t in sich, ist daher nicht das C o n c r e t e , nicht der Geist (eben so wenig Gott als das moderne W e s e n der Wesen, hiemit als concret, als Geist bestimmt ist). Mit solchem Gehalt, welcher viel­ mehr Gehaltlosigkeit ist, ist in der That jenes Masculinum nicht ein indivi­ duelles Subject; die Persönlichkeit ist an ihm leere Form, sie ist bloße Pers o n i f i c a t i o n . - Es ist in der Betrachtung der Religionen von unbedingter Wichtigkeit, die bloße Personification des Gottes oder eines Gottes, die man in allen Mythologien finden kann, von der Persönlichkeit, die es dem Ge­ halte nach ist, zu | unterscheiden. Bei der Oberflächlichkeit der Personifica­ tion fällt sogleich auch die gegenständliche Selbstständigkeit des Gottes gegen das Subject hinweg. So nehmen wir den Eros, oder die Pallas zu Anfang der Iliade, wenn sie das Herausziehen des Schwerts in Achill hemmt, sogleich für die subjective Empfindung der Liebe, für die in Achill selbst eintretende Be­ sonnenheit. Ein erläuterndes Beispiel aber, wie Brahma personificirt und selbst bis zu einer trivialen Aeusserlichkeit, erscheint, zugleich aber seine Unterscheidung 11 [Es ist] die] O : Die W x: Es ist

24 bestimmt] O : besimmt

36 Ein] O : Als

62

1477-1478

JA H R B Ü C H E R FÜR W IS S E N S C H A F T L IC H E K R I T I K

gegen das Subject, dem er gegenüber steht, aufgehoben, und er nur als des­ sen subjectives Sinnen, als Neutrum, kundgegeben ist, bietet sich gleich in der Einleitung zum Ramayuna dar. Valmiki (der Verfasser des Ramayunas, - ein Zweimalgeborner) mit dem Stoff und Vorhaben dieses Gedichts be­ schäftigt, spricht eine Klage über einen eben vor seiner Hütte Erschlagenen und dessen überlebende Geliebte aus; das Versmaaß, in dem ihm diese Klage ausbricht, frappirt ihn und seinen Schüler, der dieses Versmaaß gleichfalls gutfindet. Valmiki sezt sich darauf in der Hütte auf seinen Stuhl nieder, und fällt in tiefe Betrachtung. Da kam der glorreiche Brahma (ob im Original Brahm oder Brahma in dieser ganzen Erzählung steht, weiß ich nicht zu sagen, es ist aber für sich selbst gleichgültig) der viergesichtete, der Herr der drei Welten, in der Hütte an. Valmiki in seiner Vertiefung erblickt ihn, steht auf, bückt sich mit gefalteten Händen, präsentirt ihm einen Stuhl, sezt ihm R PK v o r •

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liehe Gaben und Bezeigungen gegen einen geistigen Lehrer); Brahma läßt sich auf den dargebotenen Stuhl nieder, und heißt den Valmiki sich gleich­ falls einen nehmen. Valmiki sezt sich, ist mit seinem Geiste auf Brahma ge­ richtet, fällt in tiefes Nachdenken, und singt eine Strophe (nicht etwa des Lobes auf Brahma, der vor ihm säße, sondern) der Klage über die Unthat, den vorhinerwähnten Mord, - im Versmaß der vorigen Klage. Brahma sagt ihm nun umständlicher, in diesem Metrum soll er Ram a’s Thaten besingen, und verschwindet. Valmiki und der Schüler ist voll Erstaunens; die Schüler insgesammt rufen in diesem Versmaaße aus, daß aus den Worten, die der Lehrer über die Mordthat gesprochen, dieß Versmaaß entstanden sei. So ent­ schließt sich nun Valmiki, in demselben den Ramayuna zu componiren. — Man sieht, daß selbst gegen jene | Aeußerlichkeit des Erscheinens Brahma als das tiefe Sinnen charakterisirt bleibt. Es sind aber die Momente und deren Verhältniß, welches im Vorherge­ henden aus der Natur der Sache sich ergeben hat, nach ihrem bestimmtem Vorkommen in der Indischen Darstellung aufzuzeigen. Brahm’s m e t a ­ p h y s i s c h e Bestimmung ist so bekannt, als einfach und schon angeführt worden, das reine Seyn, reine Allgemeinheit, s u p r e m e

being,

das

höchste Wesen; das Wesentliche und Interessanteste dabei aber ist, daß diese Abstraction festgehalten werde gegen die Erfüllung, Brahm nur als das reine Seyn, ohne alle concrete Bestimmung in sich. Wenn wir Europäer sagen, Gott ist das höchste Wesen, so ist diese Bestimmung ebenso abstract und dürftig, und die Verstandesmetaphysik, welche das Erkennen Gottes, d. h. 30-31 m e t a p h y s i s c h e ] O: meta-/physische

1478-1479

HUMBOLDT-REZENSION • ZWEITER ARTIKEL

63

Bestimmungen von ihm zu wissen läugnet, fordert, daß die Vorstellung von Gott sich auf dieselbe Abstraction beschränke, von Gott nichts weiter wissen soll, als was Brahm ist. Dieser kritischen Weisheit unerachtet wird im All­ gemeinen die Europäische Vorstellung dieß in sich behalten, daß sie, bei dem 5 Worte höchstes Wesen oder noch mehr Gott, ein Concretes, ihn als Geist vor sich hat, und daß das, was sie meynt, reicher und gehaltvoller ist, als das, was sie sagt. Dieß veranlaßt mich zu einer Bemerkung über die Uebersetzung von Brahm (im Neutrum) bei Hrn. v. Schl, durch numen, wie Krishnas zum Un10 terschiede durch almum numen bezeichnet wird; Hr. v. H. gebraucht den Ausdruck Gott, wie derselbe ausdrücklich S. 21 bemerkt, daß aus vielen Stel­ len deutlich hervorgehe, daß das Brahma und Gott dieselben Begriffe seien. Hr. Guigniaut in der Uebersezung der Creutzer’sehen Symbolik (Tome I. P. II. Notes p. 618) erklärt sich sehr bestimmt gegen Hrn. v. Schl.’s me t h o 15 de, q u i consi st e à t r a d u i r e g é n é r a l e m e n t , par des ex pr e s s i on s l at i nes c o r r e s p o n d a n t e s , les t ermes s a c r a men t el s de la p h i l o ­ s o p h i e r é l i g i e u s e des B r a h m a n e s , et b e a u c o u p d ’ autres d é ­ n o m i n a t i o n s t h é o l o g i q u e s et m y t h o l o g i q u e s , en f ai sant d i s ­ pa r a î t r e c o m p l è t e m e n t les n o m s o r i g i n a u x . - C e t t e m a n i è r e 20 efface

et d é t r u i t

toute

originalité,

toute

propriété,

toute

c o u l e u r l o c a l e . - Hr. von Schl, gibt zwar an (ind. Bibi. II. B. 4. H. S. 422), daß das Wort Brahma (neutr.) ganz genau dem griechischen

t o

Oeiov,

e i n i g e r m a ß e n auch dem Lateinischen numen entspreche, wenn dieses schöne W ort nach seiner wahren Würde | gebraucht werde. In allen diesen 25 Ausdrücken, wie nicht weniger in Deus und Gott, ist Gott zwar so unbe­ stimmt gesagt, als Brahm an sich unbestimmt, d. h. abstract ist, aber der große Unterschied ist, daß jene Ausdrücke von einer concreten Vorstellung begleitet, nicht in der Unbestimmtheit gemeint sind, welche das innere Wesen Brahmas ausmacht. Es ist oben bemerkt worden, daß beim Ueber30 setzen außer der äußerlichen Nothwendigkeit auch der Sache nach für zuläs­ sig angesehen werden muß, für den Ausdruck einer Sprache, der etwas Be­ sonderes bezeichnet, in der ändern den Ausdruck des Allgemeinem zu neh­ men, oder auch umgekehrt; anders aber ist es, wenn jeder der beiden Aus­ drücke etwas eigenthümlich Specificirtes bedeutet, und das Allgemeine nur 35 das Gemeinschaftliche derselben ist. Hier bringt der Gebrauch des specifischen Ausdrucks in unsere Vorstellung eine Bestimmung des Inhalts, welche

13 Guigniaut]

OWx: Guigniant

14

Sc hl.’s]

OWx: Schl.

64

JA H R B Ü C H E R FÜR W IS S E N S C H A F T L IC H E K R I T I K

1479-1480

vielmehr entfernt bleiben, und läßt dagegen eine andere weg, welche aus­ drücklich vor uns gebracht werden soll. Diese Veränderung, die bei unterge­ ordneten Zügen und Modificationen unwichtiger werden kann, wird ver­ wirrend, wenn sie bei den allgemeinsten und wichtigsten Grundbestimmun­ gen eintritt. Deus, 0eo?, wie Deva auch Anderes der Indier, mag wohl und muß sogar als G o t t übersezt werden, wenn es nur um die unbestimmtere Vorstellung zu thun ist. Wenn aber die Verschiedenheit herausgetreten und sie ausdrücklich für die Vorstellung zum Auffassen bezeichnet ist, da werden wir getäuscht; wenn uns statt eines Specifischen das davon specifisch Unter­ schiedene gegeben wird. So, wie im ersten Artikel bemerkt worden, enthal­ ten unsere Priester, Soldaten u.s.f. eigenthümliche Verhältnisse, die in den Brahminen, Kshetri u.s.f. fehlen, wogegen in diesen wieder Bestimmungen sind, welche untrennbar zu ihrer wesentlichen Natur gehören. So wird man auch gewiß nicht für Zevs, Jupiter, ob dieß gleich der höchste Vater der Göt­ ter ist, Gott oder auch das höchste Wesen übersetzen. Die objective Bestim­ mung Brahms, diese Kategorie des r e i n e n S e y n s , in welches die Indische Vorstellung A l l e s besondere sich au f l ö s e n läßt, als das Nichts alles End­ lichen macht das Erhabene der

Indischen Religion aus, das jedoch darum

noch nicht das Schöne noch weniger das wahrhaft Wahre ist. Vielmehr ist das reine Seyn, um seiner Abstraction willen, nur endliche Kategorie. Doch begehen hiebei die Indier, so wenig als die Eleaten, die Inconsequenz nicht, das Nichtseyn von dem Seyn unterschieden zu se |tzen, oder es von ihm aus­ zuschließen; Hr. v. Humboldt bemerkt dieß 14 nach Lect. IX. 19. wo Krishnas sagt: Unsterblichkeit und Tod bin ich, was i st , was n i c h t ist. Dasselbe, daß Brahma die e n t i t y und n o n - e n t i t y ist, kommt auch an­ derwärts genugsam vor. - Dieses reine Seyn, weil es nicht bis zur Bestim­ mung der unendlichen Subjectivität fortgeführt ist, gibt den Indischen Pantheismus,

wie zugleich insofern den M o n o t h e i s m u s ,

weil das

reine Seyn das Eine ist. Colebrooke’s so häufig angeführtes Resultat aus der Kenntniß der Vedas, ( Asi at . R e s . V o l . VIII), daß die alte Indische Reli­ gion nur E i n e n G o t t anerkennt, aber das Geschöpf nicht hinlänglich von dem Schöpfer unterscheidet, hat zwar die nähere Bestimmung, daß ursprüng­ lich die Sonne als die große Seele (Mahanatma) gefaßt worden ist; aber inso­ fern es nur um solchen Monotheismus zu thun ist, bleibt derselbe, oder ist vielmehr reiner vorhanden im Brahm. Dieser Monotheismus ist aber eben so wesentlich Pantheismus, denn wenn das Eine auch als W e s e n oder als die Abstraction des A l l g e m e i n e n bestimmt wird, ist es um dieser Abstraction selbst willen die U n m i t t e l b a r k e i t , und darum allerdings als das Seyn der D i n g e ,

immanent und identisch mit ihnen, das Geschöpf insofern

1480-1481

H U M B O L D T - R E Z E N S I O N • Z W E IT E R A R T IK E L

65

nicht vom Schöpfer unterschieden; allein dieß immanente Seyn ist darum nicht die concreten und empirischen Dinge und deren Endlichkeiten, son­ dern vielmehr nur das S e y n ihres Daseyns, die unbestimmte Identität. Dieß ist es, was die Unvollkommenheit der Kategorie der Substanz ausmacht, daß es in die Betrachtung des äußerlichen denkenden Subjects gelegt ist, die U n­ terscheidung zu machen, in dem Anschauen und Bewußtseyn der endlichen, einzelnen Dinge von ihrer Endlichkeit und Einzelnheit zu abstrahiren, und die Substanz, das Eine Seyn, festzuhalten. Ich habe es anderwärts (Encyklop. der philos. Wissensch. 2te Ausg. S. 519 ff. u. Vorr. S. X III.) ausführlicher ge­ rügt, daß es heutigstags besonders bei den Theologen, welche die Vernunft nicht von dem Verstände, nicht einmal die Substanz von der Accidentalität zu unterscheiden wissen, vielmehr überhaupt das Vernünftige zur Albernheit verkehren und dichten, Mode ist, den Pantheismus gerade in sein Gegentheil zu verkehren, indem sie versichern, durch ihn werde das Unendliche zu end­ lichen Dingen, das Gute zum Bösen u.s.f. und hiemit ebenso das Endliche als a f f i r m a t i v bestehen bleibend zum Unendlichen, das Böse als solches seiend, zum Guten gemacht. Sie fas |sen so den Pantheismus als eine Al l esg ö t t e r e i auf, als ob [von] ihm die einzelnen Dinge und deren empirische endliche Existenz als solche für göttlich oder gar für Gott gehalten würden. Es wäre nur dem Vieh, als welches Anschauungen wie auch Vorstellungen von Bildern hat, aber als nicht denkend nicht zum Allgemeinen kommt, sol­ ches Dafürhalten zuzuschreiben; und unter den Menschen gehört nur jenen Erfindern solcher Behauptung eine solche Vorstellung an. Der Unterschied der Erkenntniß in dieser Rücksicht ist sehr gut in dem Bewußtseyn der Indier, und in der von Hrn. v. H. S. 13 angeführten XVIII. Lection sl. 20-22 angegeben. Die wahrhafte Erkenntniß, heißt es daselbst, ist, in A l l e m , was existirt, nur das E i n e u n v e r ä n d e r l i c h e Princip, das U n g e t h e i l t e in dem Theilbaren zu sehen. Die zweite Erkenntniß ist, die verschiedenen (besonderen) Principien in den einzelnen Dingen zu erken­ nen, — noch beschränkte Allgemeinheit, wie unsere allgemeinen Naturkräfte u.s.f. Die widrigste Erkenntniß, die der dritten Qualität, der F i n s t e r n i ß , ist aber die, nur vom Einzelnen zu wissen, als ob ein solches ein Ganzes für sich wäre, ohne ein allgemeines Princip. Von solcher absoluten Selbstständig­ keit der einzelnen Dinge und deren Bestimmtheiten kommt jene Vorstellung des Pantheismus nicht hinweg, und da es die ausdrücklichste Bestimmung des Pantheismus ist, daß die einzelnen Dinge und alle endlichen Qualitäten als nicht selbstständig, vielmehr als in dem reinen Seyn nur aufgehobene, neg i r t e zu fassen seien, so ist es in der That nur die eigene Unfähigkeit der Subjecte, die sich jene falsche Vorstellung machen, sich von dem Glauben an

66

J A H R B Ü C H E R FÜR W IS S E N S C H A F T L IC H E K R I T I K

1481-1482

die Selbstständigkeit, an die Absolutheit des Endlichen nicht losmachen, um das Factum nicht richtig auffassen zu können. Es sind lange Tiraden im Gedichte, in denen Krishnas dieses allgemeine Seyn von sich ausspricht. Lect. VII: Ich bin der Geschmack in den Wassern, der Glanz in der Sonne und Mond, das mystische Wort in den heiligen Büchern, der Ton in der Luft, das Wissen der Wissenden u.s.f. Weiter Lee. X : Unter den Aditiaden bin ich V i s h n u s , unter den Sternen die Sonne u.s.f. unter den R u d r a s bin ich Si vas , u.s.f. Diese Tiraden, die Anfangs erhaben lauten, macht die Monotonie bald gleichgültig; zunächst sprechen sie aus, daß Krishnas in allem Einzelnen das Wesentliche, das Princip sei, welches jedoch wie Geschmack, Glanz, u.s.f. selbst noch | etwas Beschränk­ tes ist. — In diesen Tiraden führt dann auch Hr. v. Schl., beiläufig gesagt, die oben bemerkte Weise des Uebersetzens nicht durch; diese Stellen strotzen v o n

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ens, fatum oder dergleichen, wie statt Krishnas immer numen almum steht. -Jene vielen besonderen Allgemeinheiten werden aber selbst absorbirt in das Eine, Brahm, das Krishnas ist. Wenn hier Krishnas sagt, er sei Sivas, so gibt Sivas, wenn er seinerseits loslegt, dieß dem Krishnas heim, und sagt, er sei Krishnas. In Oupnekat IX der dem Sivas gewidmet ist, spricht dieser ebenso, zum Theil mit den kühn­ sten Wendungen der Abstraction, die in die Einheit auf diese Weise eine Be­ wegung bringt, von sich. Was gewesen ist, ist Rudras (d. i. Sivas) und was ist, ist er, und was seyn wird, ist er; Ich war immer, bin immer, und werde immer seyn. Es gibt kein Zweites, von dem ich sagen könnte: Ich bin es, und es ist Ich. Was ist, bin Ich, und was n i c h t i st , bin Ich. Ich bin Brahma und Ich bin Brahm, u.s.f. Auch fernerhin in Einem Zuge: Ich bin die Wahrheit, Ich bin der Ochs u.s.f. Ich bin das höchste Seyn. Ferner wird deßwegen, wo die Anschauung oder Vorstellung von ändern einzelnen Ge­ genständen, Elementen u.s.f. anfängt, von ihnen gleichfalls als das Lezte gesagt, daß sie Brahm sind. In den Vedas wird dem Vach (der Sprache) bei­ gelegt, daß sie dieß von sich sagt; - ebenso: Luft, du bist Brahm, die Sonne ist Brahm, Speise, Brod u.s.f. ist Brahm. - Ein Engländer, ( Mi l l s H i s t o r y of B r i t i s h I n d i a Vol.

I), der diese Zusammenstellung aus den Vedas

macht, kommt dadurch und nachher zu Erwähnendes auf die Vorstellung, daß Brahm, wie auch das E i n e , bei den Indiern nur ein vages Prädicat des Preises, gleichsam eine Nichts sagende Titulatur sei. Der Grund, den er an­ gibt, ist, daß die Indier nicht zu der Vorstellung der Einheit Gottes gekom30 den] O : dem

34 Vorstellung] O: Verstellung

1482-1483

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men sind; und was ihm hiegegen spricht, ist, wie er es nennt, ihre ungeheure Inconsistenz, die Thätigkeit des Einen Gottes zu den Charakteren von Brahma, Vishnu und Sivas fortgebildet zu haben. Diese Inconsistenz ist aller­ dings die Folge davon, daß jene Einheit noch nicht in ihrer wahrhaften Bestimmung, nicht als in sich concret, als Geist aufgefaßt; daß sie nur die Kategorie des Substantialitäts-Verhältnisses ist. Die hiemit nothwendige In­ consistenz erscheint als der haltungslose Taumel, der oben nach der subjectiven Seite bemerklich gemacht worden, und ebenso in | der Vorstellung des Objectiven nothwendig ist, — als das Herausfallen von dem Einen in die vie­ len Götter und das Zurückfallen von diesem Reichthum und Pracht der Phantasie in das leere, trübe Eine; ein perennirendes Abwechseln, das wenig­ stens diese Wahrheit in sich hat, daß diese Götter und die endlichen Dinge überhaupt nicht selbstständige Wirklichkeiten sind. Die metaphysische Be­ stimmung, die wir gesehen, ist als solche nur für das denkende Subject; ihr Inhalt ganz nur die Abstraction selbst; sie hat darum für sich selbst keine Wirklichkeit; denn in der Welt machen nur die endlichen, einzelnen Dinge ihre Existenz aus, in welchen sie also nicht als sie selbst, sondern als ein An­ deres ihrer selbst existirt. Aber die Morgenländer s i n d nicht zu diesem Ver­ stände gekommen, sich auch an solcher Abstraction, dem reinen Seyn, dem bloßen Wesen, zu begnügen, wenn sie auch dieselbe denkend gefunden haben. Das Eigenthümliche nach dieser Seite ist die Art, in welcher Brahm als solcher nicht als abstracter Gedanke eines Ändern, noch in einer Personification für einen Ändern, sondern fü r s i c h existirend gewußt wird. Nach dieser Bestimmung sehen wir Brahm als das abstracte Selbstbewußtseyn ausgesprochen, zu welchem der Yogi gewaltsam sich concentrirt und aus­ leert. An dieser Vertiefung des Bewußtseyns in sich hat das reine Seyn in der That eine Existenz, die eben so allgemein d. i. abstract, als es selbst, ist. Dieser Sinn der Vertiefung eben so sehr als des Brahm zeigt sich schon an dem Beispiele der Vertiefung Valmiki’s, das oben aus dem Ramayuna ange­ führt worden; doch erscheint dieser Sinn dort mit Phantasie und Personification vermischt. Er ist in seinen unvermischteren Formen zu betrachten. — Zunächst ist die Andacht eine solche Form als ein momentaner Zustand, den der Yogi zum anhaltenden zu machen strebt. Am deutlichsten macht den Sinn der Indischen Andacht die Darstellung eines Engländers, der sich gründ­ lich um die Einsicht in die Indische Religiosität bemüht hat, und sich durch Fragen, die er macht, und Antworten, die er dem Indier in den M und legt, erklärt. Fragt man einen Indier: verehrt ihr das höchste Wesen (d. i. Brahm) 17 welchen] O : welche

33 deutlichsten] O: deutlichtsen

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1483-1484

mit einem Cultus? Betet ihr zu ihm? Bringt ihr ihm Opfer? Er wird unmit­ telbar antworten: »Nein, niemals!« So betet ihr ihn im Geist an, - was der reinste, zugleich auch der thunlichste Gottesdienst ist, da er wenige oder keine Umstände nöthig macht? »Nein.« Prei |set ihr ihn? »Nein.« Denkt ihr über seine Eigenschaften und Vollkommenheiten nach? »Nein« (Oben haben wir gesehen, daß die Devotion ganz leer ist). Was heißt denn nun jene so gerühmte stille Meditation? Seine Antwort wird seyn, »wenn ich in irgend einem Gottesdienste mit übergeschlagenen Beinen, mit erhobenen gefalteten Händen, die Augen geschlossen, in Ruhe des Geistes, der Gedanken, der Zunge und Lippen, sitze, so sag’ ich innerlich: Ic h b in

B r a h m . W ir

haben nicht das Bewußtseyn, Brahm zu seyn, durch die Ma y a . Es ist ver­ boten das höchste Wesen zu verehren, ihm Gebete und Opfer darzubringen, denn dieß wäre ein Gottesdienst an uns selbst gerichtet; Emanationen von ihm mögen wir verehren und anbeten.« — Von Brahma ist zwar die Tradi­ tion vorhanden, daß er vormals Tempel gehabt, aber auch sie sind umge­ stürzt worden (s. Creutzer Symb. I. 575 u. Guigniaut I. 241.) aber um so weniger hat Brahm Tempel. — Auf ähnliche Weise ist in unsern Zeiten, wie man in öffentlichen Nachrichten gelesen, dem Künstler Canova, der sein Vermögen zur Erbauung einer Kirche in seiner Vaterstadt Possagno bestimmt hat, von der geistlichen Behörde nicht gestattet worden, sie G o t t zu wid­ men. Dieß Verschwinden der Objectivität des Brahm liegt schon unmittelbar in dem, zum Ueberflusse angeführten, auf jeder Seite unseres Gedichts als Ziel der Vertiefung ausgesprochenen Einswerden mit Brahm, Werden zu Brahm, Deification, oder vielmehr Bramification. Ich übergehe, über dieß Einswer­ den Stellen anzuführen, die sich ins Unendliche vermehren ließen. Nur hat es ein näheres Interesse, die Bestimmungen zu betrachten, welche der schon angeführte älteste Indische Lexicograph von Brahm gibt, und mit denen uns Hr. v. Schl. (ind. Bibi. II. Bd. 4. H. S. 423) bekannt macht. Außer der Be­ stimmung von reinem Seyn gibt derselbe noch zwei Bedeutungen an, näm­ lich 1. die Vedas (sogar steht diese vor dem reinen Seyn) und 2. Religions­ übung. Daß dieß nur scheinbar verschiedene Bedeutungen wesentlich nur äußerlich unterschiedene Formen eines und desselben Inhalts sind; muß nir­ gend mehr der Fall seyn als bei dieser absoluten Einheit selbst, dem Brahm. Der Sinn der Verbindung dieser Bestimmungen geht bereits aus allem Bishe­ rigen hervor; Brahma ist die Vedas und die Opfer, nicht nur wie er das nur ansichseiende Seyn von Allem ist, sondern die Vedas, als von den Brahmi16 Guigniaut] O W 1: Guigniant

1484-1486

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69

nen gelesen, die Opfer von ihnen dargebracht, | sind die Vertiefung, die Andacht, welche Brahm ist. Es ist dasselbe, was in Lect. IX. 16. Krishnas, d. i. wie wir gesehen soviel als Brahm, sagt: Ich bin das Opfer, Ich die A n­ betung, ich das gesprengte Wasser und die Kräuter: Ich bin das Gedicht (car5

men, W i l k : t h e c e r e m o n i e s to the manes of t he a n c e s t o r s ) ; Ich ingleichen das heilige Oel, Ich das Feuer, Ich der angezündete Weihrauch (W . th e v i c t i m ) . Indem Brahm selbst das ganze Opfer und die verschie­ denen Dinge ist, welche dargebracht werden, wird er sich selbst durch sich dargebracht und geopfert; — er ist als Andacht das abstracte reine Sich-selbst-

10 vernehmen, und als Opfer eben dieß sinnlich-vermittelte-Verhalten zu sich selbst. So ist der Alles durchdringende Brahm, wie es III. 15 heißt, im Opfer g e g e n w ä r t i g , eine auch dort, in der unklaren Darstellung nicht zu ver­ kennende, näher bestimmte Weise der Gegenwart, als in dem allgemeinen pantheistischen Sinne. In dieser Stelle ist ein Kreislauf aufgestellt, der zu15

nächst einen oberflächlichen Sinn gibt, nämlich, daß durch Opfer Regen und durch diesen die Speise, und damit die Erhaltung der Lebendigen erlangt wird; das Opfer aber wird durch das gottesdienstliche Werk vollbracht, die­ ses aber entspringt vom Brahm, welcher, heißt es, aus dem Einfachen und Untheilbaren entsprungen ist1 ( n u m e n e s i m p l i c i et i n d i v i d u o or-

20 t um) . Hier ist Brahm selbst (das Neutrum) von dem einfachen Einen ( t he great O n e ) unterschieden. Vornehmlich aber ist die Wirksamkeit des O p ­ fers bemerklich zu machen; Fruchtbarkeit der Erde darf hier nicht als eine Folge desselben vermittelt durch die göttliche Rücksicht auf die mit Opfern unterstüzten Bitten der Sterblichen vorgestellt werden. Der Zusammenhang 25

des Opfers und der Hervorbringung oder Schöpfung ist, wie aus dem O bi­ gen erhellt, directer; aus Tod kommt Leben, ist der abstractere Satz. Am wunderbarsten ist die Darstellung dieses Zusammenhangs in einer der Stel­ len, die Colebrooke in den Auszügen aus den Veda’s (Asi at. Res. VIII. 404 ff.) gibt; als die Urheber dieser Gebete, die sich auf das Todtenopfer be-

30

ziehen, wird Prajapati und sein Sohn Yajnya angegeben, jener die ursprüng­ liche Seele, Brahm, der andere Name scheine, sagt Col., auf das allegorische Opfer des Brahma anzuspielen, — ( G u i g n i a u t . 1. c. S. 602: le sacrifi ce

ou

la v i c t i m e ) .

Dieses Opfer aber hat folgende Stellung: das

Schaffende | der ersten unterschiedenen Masse ist die Macht der C o n t e m 35

p l a t i o n ; zuerst ward V e r l a n g e n in diesem seinem Denken gebildet, der 1 W i 1kins hat nur: B r a h m , whose nature is i n c o r r u p t i b l e .

32 G u i g n i a u t ] O W x: G u i g n i a n t

70

J A H R B Ü C H E R FÜR W IS S E N S C H A F T L IC H E K R I T I K

1486-1487

ursprüngliche productive Samen, das die Weisen durch den Verstand es in ihren Herzen erkennend, als das B a n d des Seyns in d e m N i c h t s e y n bestimmen; dann folgt die weitere schwer verworrene Beschreibung, worin sich wenigstens so viel erkennt, daß das Erste, was geschieht, das allgemeine Opfer ist, mit welchem das Erschaffen unmittelbar verknüpft wird, oder wel­ ches vielmehr selbst als Schöpfung der Welt erscheint. Ich füge eine Stelle noch hinzu, die Colebrooke (ebendas. S. 475ff.) aus dem ersten Upanishad des 4ten Veda gibt und die gleichfalls das Hervorgehen des Einen aus sich, und somit sein Zurückgehen in sich, so wie damit zu­ gleich das Erschaffen der Welt auszudrücken scheint; es heißt: durch die Contemplation

k e im t

das weite E i n e ; von ihm wird die Speise (Kör­

perliches) hervorgebracht, und von da nach einander Athem, Gedanke, wirkliche Welten, und Unsterblichkeit entspringend aus Werken. Der All­ wissende ist t i ef e C o n t e m p l a t i o n ; in dem Wissen seiner besteht, der Alles weiß; und daraus geht das w e i t e E i n e , sowohl als Namen, Formen und die Speisen hervor; und dieß ist W a h r h e i t . Das Abstrahiren, wodurch das Vertiefen wird, ist für sich das Moment der Negation, des Opferns; und der weitere tiefsinnige Gedanke ist nicht zu ver­ kennen, daß an diese Negativität, die Unendlichkeit, unmittelbar die Thätigkeit des Producirens geknüpft wird (wie bei Jac. Böhm an die Pein, Q u a l das Q u a l i r e n und Q u e l l e n ) . Der Wendungen aber nun in den vielen Theogonien oder Kosmogonien, die uns bereits bekannt sind, Formen, Nahmen und Gestaltungen sind unzählige, in welchen aus jenem vertieften Beschauen, aus der nur in sich versenkten Einsamkeit des Brahm, die pro­ ductive Thätigkeit, das Erzeugen und der Erzeugende hervorgehend und un­ terschieden gefaßt wird. Es scheint in diesen vielfachen Darstellungen nichts Gleichförmiges zu seyn, als die allgemeine Grundlage der angegebenen Ge­ danken. Eben so wirft sich das Indische Mythologisiren oder Philosophiren, um das Höchste zu fassen und zu bestimmen, in vielen Formen vom großen Einen, der allgemeinen Seele u.s.f. umher, die schwerlich vom Brahm wahr­ haft werden unterschieden werden können. Gleichfalls erscheint B r a h m a (masc.) nur als eine von den vielen Auffas­ sungen und Gestaltungen des, zum | Subject bestimmten Brahms. Hier, wo die äußerliche Erscheinung (die Maja) beginnt, wird die Mannichfaltigkeit der Gestaltungen immer größer und willkürlicher. Brahma erscheint vor­ nehmlich im Verhältnisse zu Vishnu oder Krishna und zu Siva in bestimmte­ rer Gestalt und als Eine Figur der Trimurti, der Indischen Dreieinigkeit; eine B e s t i m m u n g des Höchsten, welche im Indischen anzutreffen nothwendig die Aufmerksamkeit der Europäer hat auf sich ziehen müssen. So sehr die

1487-1488

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71

Ausführung dieser Vorstellung hier wild ist, und den Begriff von G e i s t viel­ mehr zerstört, der aus ihr hervorgehen sollte; so sehr enthält sie wenigstens die abstracte Form (wie die Pythagoräische und Platonische Trias) zu der concreten Bestimmung des Geistes; und es ist die höhere wissenschaftliche Ausführung, die es erweist, daß wenn die Vorstellung des Geistes durch das Denken zum Begriff erhoben wird, er schlechthin als dreieinig in sich gefaßt werden müsse. Es würde aber zu weit abführen, es auseinander zu setzen, wie das Rudiment der Dreiheit, welche erst im Christenthume zur wahrhaf­ ten Idee Gottes gediehen, in der Indischen Vorstellung nur zu etwas Ver­ kehrtem ausgewachsen ist. — Für unsern Zweck aber, den Begriff Brahm’s zu bestimmen, ist das Verhältniß höchst charakteristisch, das ihm zu Vishnu gegeben, und das Geschäft, das ihm in seinen Erscheinungen auf der Welt zugetheilt wird. Ich meine in der Darstellung, welche Creutzer Symbolik I. Th. S. 626 ( G u i g n i a u t L. I. c. 4) nach Polier gibt. Sie zeigt den Brah­ ma, wie derselbe außer dem Antheile, den er, wie Vishnu und Sivas an der Welt erhalten, noch einen Raum für sich behalten will, wegen dieses Raubs aber von ihnen gezüchtigt wird; dessen ungeachtet, stolz darauf, daß er die Vedas geoffenbart, mehr zu seyn vermeinte als die beiden Ändern. Zur Strafe dieses Hochmuths und dann wegen Lüsternheit wird er verurtheilt eine Reihe von Büßungen in vier Gestalten, in denen er auf die Welt zu kom­ men hat, zu durchlaufen. Er kommt als Rabe, als Chundula und meuchel­ mörderischer Räuber u.s.f. in die weltliche Existenz; nach strengen Uebungen, an denen gleichfalls die Jahre und Jahrhunderte nicht gespart sind, ge­ langt er wieder dazu, Brahma zu seyn. Unter den Bußen zu denen er ver­ dammt wird, gehört die, den Vishnu anzubeten, und die Geschichte der Incarnationen desselben zu schreiben. In der zweiten Existenz aus dem Chundula und Räuber ein Weiser geworden, sezte er durch seine Kenntniß und Auslegung der Vedas Alle in Verwunderung; in Demuth gesteht er, daß | er der ins Fleisch gekommene Brahma sei, verdammt seinen Stolz zu büßen; er wird dann ein begeisterter Sänger, besingt die Incarnationen des Vishnu, dichtet den Mahabharata und den Ramayuna, - Rama der Held die­ ses Gedichtes ist eine Incarnation Vischnu’s, und Arjunas der Held des ersten, mit dem Krishnas die Unterredung (Bhagavad-Gita) hält, ist Krishnas selbst, Lect. X . 37. — Creutzer macht a. a. O . S. 634 auf den Unterschied aufmerk­ sam, daß dem Vishnu Erscheinungen in der Welt als Incarnationen, dem Brahma aber die Rückkehr durch Buße, R e g e n e r a t i o n e n seiner zu sich selbst zugeschrieben werden. Es ergibt sich noch ein weiterer charakteristi­ 14 G u i g n i a u t ]

O W x: G u i g n i a n t

I.] O: 1. (kursiv)

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1488-1489

scher Unterschied. Jene Krishnaschen Erscheinungen sind die eines unmittel­ bar Glücklichen, für die Liebe Lebenden, große Thaten Vollbringenden, Mächtigen; die Ehre, zu der es Brahma in seinen vier Gestaltungen und zwar vermittelst der Büßungen bringt, ist die eines weisen Sängers und seine Tha­ ten sind die großen Nationalgedichte. Seine Grundbestimmung bleibt sonach die Contemplation, die Existenz des E i n e n als abstracte Rückkehr seiner in sich selbst zu sich; indem aber die Meditation zur concreten selbstbewuß­ ten That wird, ist sie die eines gebildeten Weisen, ein Gedicht. Und zwar gedeiht sie dazu durch die Vermittelung der Uebungen, durch die Erhebung aus dem niedrigsten Zustande und Charakter vermittelst jener Büßungen zur Vollendung. Brahma als Valmiki, der Verfasser des Ramayuna wird der Kaste nach als Chundula angegeben; auch Chaldas (a. a. O . S. 633) der W ie­ derfinder und Sammler der Gedichte Valmiki’s; die vierte und lezte Gestal­ tung Brahmas ist von armen Eltern geboren ohne Erziehung und Bildung, und wie er sich am Hofe, wo er bekannt ist, als ein Brahmine zeigt, geschieht dieß, um unbekannt zu seyn, und ist dieß nicht sein Stand. Von den Brahminen aber ist oben gesagt, daß sie durch die Geburt die Zweimalgeborne sind, und durch sie unmittelbar die Hoheit besitzen, zu welcher der Yogi und der Dichter sich hervorbringen; in ihnen ist Brahma nicht bemüht, die Vermittelung der Uebungen zu durchlaufen. Man kann diese Zusammenstellung auch in unserem Gedicht L. VIII. 11 nicht verken­ nen, wo die Weise der Vertiefung, wie gewöhnlich als das Zuschließen aller Sinne u.s.f. das Aussprechen des einsylbigen O m , beschrieben, und als das angegeben wird, was sowohl die Lehrer der Vedas, als diejenigen üben, die sich der Yoga ergeben. Jenes sind die Brahminen. W enn wir die Ausdrücke der Schlegel’schen Uebersetzung, bei der wir vornämlich dazu berechtigt sind, in ihrer genauen Bestimmtheit nehmen, so liegt auch darin die obige Bestimmung von der Subjectivität des Brahm’s. Von den Brahminen aber heißt es, daß sie das Vertiefen s i m p l e x ac i n d i v i d u u m n u n c u p a n t , womit das Einfache, Brahma, das Vertiefen selbst als mit Inbegriff des subjectiven Moments, bezeichnet ist. | Daß dem Brahminen die Macht über die Natur beigelegt wird, ist oben angeführt. Das gleichfalls schon citirte, älteste, Indische Wörterbuch (Ind. Bibi. II. Bd. 4. H. S. 423) gibt als die erste Bedeutung des Brahma (masc.) an, ein geborner Priester, als die Zweite: der Herr der Geschöpfe; man sieht, daß Beides ein und dieselbe Bestimmung ist. Brahma, so ist bei Guigniaut I. p. 241 das Verhältniß zusammengefaßt, existirt in den Brahminen, sie wer­ 29 i n d i v i d u u m ] O : i n v i d u u m

36 Guigniaut]

OWx: Guigniant

1489-1490

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H U M B O L D T - R E Z E N S I O N • Z W E IT E R A R T IK E L

den an seiner Stelle verehrt, denn er wohnt in ihnen, - noch eigentlicher: er selbst wird verehrt, indem sie verehrt werden, sie sind seine Existenz; er ist sie als selbstbewußte Existenz; sie sind seine ununterbrochene Incarnation. Wenn ein Brahmin geboren wird, heißt es in Menus Gesetzbuch, wird er über den Welten geboren, der H e r r al l er C r e a t u r e n ; - dieß ist wört­ lich dasselbe, was das alt-indische Wörterbuch sagt. — Die Brahminen sind aus dem M u n d e Brahm’s entsprungen - der M und ist theils das Sprechen, — oben ist des Vach’s, der Rede erwähnt worden, die Vedas und das Lesen derselben; — theils ist der Mund das Essen; es ist der Brahmin, der die Opfer darbringt; Beides sind die einzigen Pflichten und Geschäfte desselben. Der oben angegebene Sinn des Opfers ist in Menus Gesetzbuch in der Beziehung auf die Brahminen so ausgedrückt: der Brahmin bringt die geschmolzene Butter den Göttern, und die Reiskuchen den Erzeugern des Menschen­ geschlechts dar, z u r E r h a l t u n g der W e l t e n ; näher ist dieß daselbst so bestimmt, daß mit dem Mund des Brahminen die Götter des Firmaments fortwährend mit geschmolzener Butter gespeist werden,

(f

ea st

on clarified

butter) und die Manen der Voreltern mit geweihten Kuchen. — Das Ver­ zehren der Opfer durch die | Brahminen ist Speisen und Ernähren der Göt­ ter, damit die Production und Erhalten derselben und der Welten. In den Betrachtungen, die der Brahmin an die aufgehende Sonne zu rich­ ten hat, Asiat. Res. V. p. 349, (—es sind ihm deren für alle Zeiten und Hand­ lungen des Tages vorgeschrieben) sagt er bei sich; - das geheimnißvolle Licht (von dem er auch sagt, daß es die Erde und die dreifältige Welt u.s.f. ist) das in m ir wohnt, innerlich in m e i n e m H e r z e n vorhanden ist, ist eins und dasselbe mit jener glänzenden Kraft. Ich bin eine strahlende Offenbarung des höchsten Brahm. — Der Indier hat an dem Brahminen den gegenwärtigen Gott vor sich, wie der Thibetaner, Mogole u.s.f. an dem Dalailama, wie die Secte der Ganapatyas (s. Colebr. As. Res. VII. p. 279ff.) zu Chinchwer in der Nähe von Puna den Ganesa (den Gott mit dem Elephantenkopf) in einem Individuum verehren, dessen Familie das Privilegium der erblichen Incarnation dieses Gottes besizt. Der Indier, wie ein Engländer sich aus­ drückt, hat gegen den Brahmin die Empfindung, vor ihm niederzufallen und zu ihm zu sagen: Brahmin du bist mein Gott. - Fitz-Clarence, der Adjutant des General-Gouverneurs, Marquis von Hastings, sagt in seiner Reise, daß einem Brahmin, der in untergeordneten Diensten und Geschäften bei der Englisch-Ostindischen Regierung steht, dieselbe hohe Verehrung bleibt; er führt das Beispiel an, daß ein Brahmin als Bote mit Depeschen in beschmuz1 denn] O : dann

28 Res.] O ; Rech.

33 Fitz-Clarence] O : Fitz. Clarence

74

J A H R B Ü C H E R FÜR W IS S E N S C H A F T L IC H E K R I T I K

1490-1491

tem Aufzug im Gouvernements-Hause ankam; Indier, die sich auf dessen Wege befanden, und den Strick um seinen Nacken (die Auszeichnung der Brahminen) unter dessen staubigen Kleidern wahrnahmen, fielen nieder, und küßten die Fußtapfen seiner beschmuzten Schuhe. Dieß ist die Art und Weise, wie sich mir die Verknüpfung der abgehan-

5

delten Principien des Indischen Geistes auf dem Grund der vom Hrn. Verf. gegebenen Forschungen und durch die Vergleichung mit ändern Materialien gezeigt hat. Je mehr der gründliche | und kritische Fleiß der Europäischen Gelehrten uns den Zugang zu der Indischen Sinnesart in ihrem eig e ntüm ­ lichen Lichte aufgeschlossen hat, desto mehr tritt das Detail der Theogonien 10 und Kosmogonien und der sonstigen Mythen zu geringerer Wichtigkeit zu­ rück, denn es zeigt sich bereits, daß die Willkür der Phantasie, mit der die Versatilität einer feinen Reflexion verbunden ist, solchen Stoff in wilde und unsägliche Mannichfaltigkeit ausgedehnt hat. Man wird dadurch von selbst darauf geführt, den Grundlinien des Gemeinsamen, den Principien des Indi-

15

sehen Bewußtseyns nachzuforschen und nachzugehen. Je mehr aber bereits jener Reichthum zugleich in der Originalfarbe sich uns darbietet, desto mehr müssen die oberflächlichen Vorstellungen von Indischer Religiosität und deren Inhalt, die aus der Anwendung theils der nächsten besten Kategorien unserer Bildung, theils einer Europäischen, oft selbst verworrenen Philo-

20

sophie entsprangen, aufgegeben werden. Sie müssen der immermehr sich documentirenden Eigenthümlichkeit Indischen Geistes weichen. Aber die Aufgabe der Auffassung wird zugleich um so schwieriger; nicht sowohl um durchgängiger Verschiedenheit Indischer Vorstellungsweise von der unsrigen wegen, als vielmehr weil sie in die höchsten Begriffe unseres Bewußtseyns

25

eingreift, - aber in der wundervollen Tiefe selbst ungetrennt in das Erniedrigendste verfällt. Der höchstverehrte Hr. Verf., der in so vielen der schwie­ rigsten und an Vorarbeiten oft wenig oder selbst gar keine Unterstützung findenden Forschungen ein neues und selbst oft ein erstes Licht angezündet hat, hat sich auch die Mühe nicht verdrießen lassen, aus der diffusen Darstel-

30

lung des hier behandelten Gedichts die Grundsteine zusammen zu stellen. W ir verdanken ihm, daß er es uns damit möglich gemacht hat, anderweiti­ ges Material in Verknüpfung zu bringen, und in dessen näheres Verständniß einzudringen. Es wäre freilich noch von der zweiten Vorlesung (vergl. S. 45 bis Ende) Rechenschaft zu geben gewesen, welche sich, wie die erste mit dem Inhalte des Systems, nun mit dem Vortrage, sowohl dessen Anordnung als dem Ver-

6 dem]

O W ^H : den

35

1491-1492

75

H U M B O L D T - R E Z E N S I O N • Z W E IT E R A R T IK E L

hältnisse desselben zu poetischer und philosophischer Form, beschäftigt. Doch ist dieser Artikel bereits weitläufig genug gediehen, und man wird von selbst erwarten, daß die Gelehrsamkeit und der Geschmack dem Hrn. Verf. interessante Reflexionen und insbesondere tiefgehende Vergleichungspunkte mit der Verschmel |zung von Poésie und Philosophie im Griechischen Alter­ thum dargeboten, so wie der ausgebildete kritische Tact desselben uns eine Verschiedenheit zwischen den eilf ersten und den sieben lezten Gesängen des Gedichts bemerklich gemacht hat. Die üble Entdeckung, daß in astronomi­ schen und genealogischen Werken die Interpolationen etwas Gewöhnliches sind, hat den Gelehrten, welche daraus, wenn nicht geschichtliche, doch endlich sichere chronologische und genealogische Data schöpfen zu können gehofft, ein neues Feld von Schwierigkeiten und Unsicherheit eröffnet. Die etwas Centoartige Beschaffenheit unseres Gedichts hat auf den Inhalt keinen wesentlichen Einfluß, und vermehrt nur das sonst für sich genug Tädiöse der Indischen Breite und Wiederholung. Hegel .

403-404

77

SO L G E R - R E Z E N S IO N • ERSTER A R T IK E L

SOLGER-REZENSION

S o l g e r ’s n a c h g e l a s s e n e S c h r i f t e n u n d B r i e f w e c h s e l . g e g e b e n v o n L u d w i g T i e ck u n d F r i e d r i c h

v o n

Heraus­

R a u m e r . Erster

Band 780 S. m it Vorr. X V I S. Zweiter Band 784 S. Leipzig 1826.

Erst er A r t i k e l . Bei Schriften von so reichem und mannigfaltigem, auch viele uns nächst umgebende Verhältnisse berührendem Inhalte, liegt die Anforderung näher, daß eine Anzeige frühzeitig nach deren Erscheinung erfolge. Es konnte auf das Interessante, als auf einen Stoff für die Neugierde aufmerksam gemacht werden, welches in den Anschauungen und Urtheilen eines bedeutenden Mannes über die wichtigen, so eben vorbeigegangenen, oder noch in die Gegenwart unserer Theilnahme hereingreifenden Zeitereignisse, Individuali­ täten und deren Werke, und in der Besprechung derselben unter einem Kreis von Freunden, meist noch mit uns lebenden Männern, liegt. Das Bedürfniß, die Neugierde zu beschäftigen, fällt nunmehr meist hinweg; aber außer den pikanten Einzelnheiten liegen noch gediegenere Gesichtspunkte in der Be­ stimmung dieser Sammlung, ein Denkmal der würdigen Individualität des Mannes zu seyn, und dem Publicum in den nachgelassenen lezten Arbeiten desselben die Schluß-Punkte seiner philosophischen Ausbildung vorzulegen. Der erste Theil der Sammlung enthält zuerst Auszüge aus einem Tagebuche Solger’s aus seinen früheren Lebensjahren, und dann über den weiteren Ver­ lauf derselben bis an seinen Tod, den reichen Schatz einer Briefsammlung, die in den Kreis vertrauter Freundschaft eingeschlossen bleibt, und durch und durch den Charakter solcher Unterhaltung und Mittheilung trägt. Die Her­ ausgeber, von denen auch der größere Theil der mitgetheilten Briefe der Freunde Solger’s herrührt, ergänzen durch Einschaltung kurzer historischer Notizen den Zusammen |hang, und haben durch Einleitung und Schluß die Sammlung ziemlich zu einem biographischen Ganzen abgerundet. Das Gesammtbild von Solger’s Charakter konnte von Niemand richtiger entwor­ fen werden, als von diesen so innig und lang mit ihm vertrauten Männern; 1 Solger-Rezension Überschrift des Herausgebers

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404-405

J A H R B Ü C H E R FÜR W IS S E N S C H A F T L IC H E K R I T I K

wir heben diese Schilderung aus, welche deren Geschäft auf eine würdige Weise schließt: »In der Jugend war er schlank und blühend, von mittlerer Größe. Sein Auge, vom klarsten Blau, etwas hervorstehend, Gutmüthigkeit und Adel der vorzüglichste Ausdruck seines Angesichts. Ein erhabener Zorn konnte zu Zeiten, wenn der Gegenstand wichtig genug war, diese Gemüthlichkeit, die selbst Kindern Vertrauen abgewann, auslöschen. Im Ernst war der Ausdruck seiner Physiognomie überhaupt ein ganz anderer, als wenn er lächelte; seine Freundlichkeit war herzgewinnend. Seit dem Nervenfieber, das ihn im J. 1807 tödtlich anfiel, veränderte sich sein Humor etwas, und nach und nach auch seine Gestalt. Er ward stärker und voller; der Ausdruck männ­ licher Kraft und Ruhe trat an die Stelle des beweglichen Jünglings.« »Nur wenigen Menschen war dieser Zauber der Sprache verliehen. Auch dem Uneingeweiheten sprach er klar und faßlich über schwierige GegenstänHF*

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nur selten. Als Gatte, Vater, Freund, Lehrer und Staatsbürger wird man seinen Namen immer als Vorbild zur Nachahmung nennen und preisen können.« W ir glauben, es werde dem Leser nicht unwillkommen seyn, die Hauptdata der Lebensgeschichte in Kürze zu übersehen: C a r l W i l h e l m F e r d i n a n d Sol ger wurde am 28sten November 1780 zu S c h w e d t geboren, wo sein Vater Director der damals noch bestehenden Markgräflichen Kammer war, — ein im Amte wie im Familienkreise und unter seinen Freunden höchst würdiger und geehrter, wahrer Deutscher Cha­ rakter. Aus der ersten Jugend des Sohnes sind einige Anekdoten beigebracht, von denen wir eine bezeichnend scheinende nacherzählen wollen: S . nannte sich mit seinem jüngeren Bruder lange Sie, was oft bei ihren kindischen Strei­ tigkeiten ihrem Verhältniß eine komische Feierlichkeit gab. M it dem frühen Talente, Thiere und menschliche Figuren in Papier auszuschneiden, wußte er jenen oft zu unterhalten; wenn aber dieser ihn deßhalb zu ungelegener Zeit quälte, pflegte er wohl eine sehr ernsthafte Miene anzunehmen, und mit gro­ ßer Heftigkeit sein unstatthaftes Begehren zurückzuweisen und zuzuru |fen: Denken Sie, daß ich nichts Anderes zu thun habe, als Ihnen Puppen auszu­ schneiden? Diese »komische Feierlichkeit«, diese Ernsthaftigkeit, die sich in sich vernichtet, die Nichtigkeit, die sich ernsthaft macht, kann als ein Bild der Grille angesehen werden, deren Kindisches von selbst durch die Reife, und aus der Gediegenheit des Charakters verschwunden, aber die als Princip der Ironie das Bewußtseyn S.’s durch sein ganzes Leben verfolgt hat. Solger besuchte zuerst die Schule in Schwedt, dann vom vierzehnten Jahre in Berlin das Gymnasium des grauen Klosters, bezog im neunzehnten die Universität Halle, wo er Rechtswissenschaft studirte, ihm aber zugleich das

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Studium der alten Sprachen, durch W o l f s geistreichen Vortrag nur noch mächtiger angeregt, Lieblingsbeschäftigung war; dabei erwarb er sich im Englischen und Italienischen eine nicht gewöhnliche Fertigkeit, fing Spanisch zu lernen an, und indem er dieß Alles zu beschicken wußte, nahm er den heitersten Antheil an den Ergötzlichkeiten; hier knüpfte sich auch der Kreis der Freunde, der uns in dem Briefwechsel näher gebracht wird. Michaelis 1801 ging er auf ein halb Jahr nach Jena, vorzüglich um S c h e l l i n g zu hören. Von dieser Wendung seines wissenschaftlichen Interesses und seinem dortigen Studium ist nichts Näheres angeführt, als später S. 88 Theses von C a r l S c h e l l i n g , welche Solger in dem von dessen Bruder veranstalteten, lebhaft betriebenen Disputatorium bekämpfte, wie Theses gleichfalls von der damaligen Art metaphysischer Speculation, die S . für solchen Zweck aufsezte. Im Jahr 1802 machte er eine Reise nach der Schweiz und Frankreich, über welche interessante Auszüge aus den Tagebüchern gegeben werden. M it Anfang des Jahrs 1803 wurde S . bei der damaligen Kriegs- und Domainenkammer in Berlin angestellt; doch sezte er seine Studien, besonders die Griechischen, mit dem größten Eifer fort, und ließ im Jahre 1804 die Uebersetzung von Sophokles’ König Oedipus drucken; über die Arbeit der Uebersetzung des ganzen Sophokles, die sich noch immer als die vorzüglichste behauptet, findet sich nur S. 159 eine Erklärung über die Ansicht, die ihn bei dieser Arbeit geleitet. Im zweiten Band dieser Sammlung S. 445ff. ist die gehaltvolle V o r r e d e zu dieser Uebersetzung wieder abgedruckt. Im Jahre 1804 hörte Solger F i c h t e ’ s Collegium über die Wissenschaftslehre »mit un­ endlichem Vergnügen und Vortheil, wie ich hoffe (schreibt er S. 131); wer zusammengenommen, geschult und rast |los durchgearbeitet werden will, der gehe zu ihm«; und S. 134: »ich bewundere seinen streng-philosophischen Vortrag; — kein Anderer reißt so mit Gewalt den Zuhörer an sich, keiner bringt ihn so ohne alle Schonung in die schärfste Schule des Nachdenkens. Es ist eine wahre Wollust, die beiden großen Männer unserer Zeit in diesem Fache, ihn und Schelling, kennen gelernt zu haben und zu vergleichen.« Im Jahre 1806 nahm er Abschied von der Kammer, um sich der Gelehrsamkeit ganz widmen zu können; man ließ ihm noch lange die Stelle offen, damit er sogleich wieder eintreten könne, im Fall er diesen Entschluß fassen sollte. Von hier, wo die Tagebücher aufhören, beginnen die Auszüge und Mitthei­ lungen aus den Schriften. Sammlungen zur Geschichte, besonders zu einem Werke über Griechische Mythologie, zur Indischen Religionslehre und Phi­ losophie, über Pausanias, Plato und die Griechischen Tragiker fangen jezt an; 18 Sophokles’] O W x: Sophokles

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— man erstaunt (wie die Herausgeber, die die Masse von seinen dahin bezüg­ lichen Papieren vor sich haben, mit Recht sagen) über den Fleiß des Man­ nes; man sieht, daß er es auf umfassende Gelehrsamkeit angelegt hat, die aber zugleich als Material und Füllung für seine höheren philosophischen Interes­ sen und Ansichten dienen sollte, zu denen er aus jenen äußerlichen Arbeiten immer wieder zurückkehrt, oder vielmehr nicht aufhört an der Beschäfti­ gung mit ihnen festzuhalten. Durch das Ganze seiner geistig- und lebensthätigen Stellung zieht sich ein Grundzug seines Gemüths, der sich S. 143 in einem Brief an K r a u s e , eines (Seite XVI der Vorrede) der besten Freunde des Verstorbenen, welcher durch Rechtschaffenheit, Kenntnisse, Scharfsinn und gründliches Urtheil ausgezeichnete Mann in seinen besten Jahren, geschäzt von Allen, die ihn gekannt, dahin gerafft wurde — so ausspricht: »So will ich denn gestehen, daß für mich das dringendste, ja das einzige recht ernste Bedürfniß Dein Umgang ist. Es gibt keinen festen Grund und Boden in Wirklichkeit, als diesen innigen Umgang mit Freunden; — nur so kann ich feststehen, um allenfalls auch Andere zu heben und zu tragen.« Dieses Gefühl für die Mittheilung an seine Freunde, und für deren Theilnahme an seinen Arbeiten, herrscht durch den ganzen Briefwechsel, und stärkt und tröstet ihn bis an sein Ende über die Verstimmungen, die ihm sonst das Leben bot. Tief schmerzte den patriotischen Solger das Unglück des Staats im J. 1806; doch findet sich nichts Näheres über S.’s Anschauungen und Verhältnisse in diesen Zeitläuften. | Im Jahre 1808 ist er Doctor der Philosophie geworden (S. 158), ohne daß angegeben wäre, wo und wie. Im Herbst 1809 geht er als solcher nach F r a n k f u r t a. d. O ., wo er bald Professor extraordinarius wurde, da­ selbst theils philologische, theils philosophische Collegien las, und, wie man sieht, eine bedeutende Belebung in diese Studien brachte. Auch die Bürger­ schaft dieser Stadt gewann ein solches Zutrauen zu ihm, daß im J. 1810 die Stadtverordneten den Pr of essor der P h i l o s o p h i e , der noch nicht be­ soldet war, und sich mit sonstigen Subsistenzmitteln nicht auf lange hin ver­ sehen sah, zum O b e r b ü r g e r m e i s t e r , mit 1500 Thalern Gehalt, erwähl­ ten. Oberflächlich angesehen könnte man hiebei an die Mitbürger Demokrits erinnert werden. Allein, um den Namen Abderiten durch ein Benehmen gegen einen Philosophen zu verdienen, dazu gehört mehr; denn nach D io­ genes Laert. beehrten die Abderiten den Philosophen ihrer Stadt nach An­ hören seines Werkes, Diakosmus, mit einem Geschenk von fünfhundertmal 1500 Thalern etwa, — außer weiteren Bezeigungen hoher Achtung. Uebrigens sieht man, daß es jenen Stadtverordneten mit ihrer Wahl und mit ihrem durch eine Deputation feierlich an Solger gemachten Antrag Ernst gewesen ist, und daß sie nicht etwa nur eine ma u v a i s e p l a i s a n t e r i e gegen die

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Philosophie hätten machen wollen. Aber man soll überhaupt entfernte Zei­ ten von so unterschiedenen Umständen und Charakteren nicht mit einander vergleichen. Solger fand eine gewissenhafte Thätigkeit in dem Amte, das ihm angeboten wurde, unvereinbar mit der Arbeit in demjenigen, was das Eigen­ ste und Innerste seines Geistes ausmachte; er schlug wohlbedacht die Stelle aus, erhielt bald einigen Gehalt von der Regierung, und kurz nachher (im Sommer 1811) wurde er an die neuerrichtete Universität zu Berlin gezogen, wo er nun vornehmlich der Philosophie sowohl sein glänzendes Lehrertalent, als seine schriftstellerische Thätigkeit bis an seinen Tod (25sten Oct. 1819; S. 778 finden sich Druckfehler über dieses Datum) widmete. Der größere Theil des im ersten Bande mitgetheilten Briefwechsels, und wohl sämmtliche bisher ungedruckte Aufsätze des zweiten Bandes fallen in diese lezte Lebensperiode Solgers. Man sieht, daß ihm die briefliche Unter­ haltung mit seinen abwesenden Freunden ein angelegentliches ausführliches Geschäfte gewesen. Seine Leichtigkeit, sich gebildet auszudrücken, machte die Ausarbeitung der vielen und weitläuftigen Briefe ohne zu vielen Zeitauf­ wand möglich. In dem Reichthum der Gegenstände, | die besprochen wer­ den, muß diese Anzeige sich ohnehin auf Weniges beschränken; sie soll nur das herausheben, was allgemeinere Richtungen Solgers und der Zeit charakterisirt. Gleich von vorn herein macht es sich bemerklich, daß S. Fertigkeit des Ausdrucks, Reife des Styls und Urtheils sehr früh gewonnen; sie ist schon in den ersten Aufsätzen des zwanzigjährigen Jünglings ausgezeichnet. Die mitgetheilten Auszüge aus dem Tagebuch von diesen Jahren tragen das Gepräge der bereits vorhandenen gesezten Haltung. Die Kritiken und die Reisebemerkungen durch die Schweiz und Frankreich sind nicht Producte eines Jugend-Enthusiasmus, jugendlicher Oberflächlichkeit und Lebhaftig­ keit, sondern Resultate einer besonnenen Reflexion. Die literarischen Urtheile betreffen meist belletristische Schriften, — Kritiken, die sich in einer öffentlichen Zeitschrift wohlanständig ausgenommen, ja ausgezeichnet hät­ ten. Gleich die ersten betreffen Schriften des einen der Herausgeber, den Z e r b i n o , den g e t r e u e n E c k a r t , den T a n n h ä u s e r ; - man sieht da­ rin schon den Zug zu dieses spätem Freundes (die erste persönliche Bekannt­ schaft fällt in die lezte Zeit des Aufenthalts Solgers in Frankfurt) Dichtungs­ und Beurtheilungsweise, und den Jüngling in den ersten Aeußerungen seines erwachten Interesses sogleich eingetaucht in den neuen eigenthümlichen Ton und Pachtung jener Zeit. Verschieden von dem Gewöhnlichen jugendlichen Urtheils ist Stoff und Gehalt weniger mächtig, nicht von vorherrschender Wirkung auf die Kritik; diese ergözt sich vornehmlich an dem Formellen und an den subjectiven Eigenschaften, der außerordentlichen Fülle der Phan­

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tasie, der Laune u.s.f. Indem an der Schiller’sehen Umarbeitung Macbeths und der Hexen die alten eingeschrumpften Weiber vermißt werden, in wel­ chen mehr Phantastisches gelegen haben soll u.s.f., fehlt nicht die neu auf­ gekommene Zuneigung zu H o l b e r g (S. 101, 102), dem ein Zauber zu­ geschrieben wird, der auf der ganz heiteren und äußerst g e m ü t h l i c h e n Nordischen Laune beruhe, welche insbesondere da ausgezeichnet gefunden wird, wo fast alle Personen des Stücks a u s g e m a c h t e N a r r e n sind, und daher eine u n g e h e u r e Menge v o n v o r t r e f f l i c h e m U n s i n n sagen; - besonders wird »die g ä n z l i c h e A l b e r n h e i t seiner Bedienten als u n ­ ver be s s e r l i ch « gerühmt. So sehen wir uns mitten in die Ansicht der einen der merkwürdigen Epo­ chen versezt, welche als die Krisen in der Deutschen Literatur angesehen werden können, und von deren Vergleichungspunkten wir einige heraus­ heben | wTollen. Die eine fallt in G ö t h e ’ s Jugend; wir finden sie von ihm selbst, der einen so großen Antheil an deren Vollführung hatte, in seinem Leben nach ihrem ganzen charakteristischen Umfange geschildert. Nachdem er »die Rathlosigkeit« beschrieben, in welcher die Kritik ließ, die Verwir­ rung, in welche »junge Geister durch deren ausgerenkte Maximen, halb ver­ standene Gesetze und zersplitterte Lehren sich versezt fühlten«, gibt er die Weise an, wie er für sich aus diesem chaotischen Zustande und dieser Noth sich rettete; - um zu seinen Gedichten eine wahre Unterlage, Empfindung oder Reflexion zu gewinnen, mußte er in s e i n e n B u s e n greifen, und für die Anschauung eines Gegenstandes oder Begebenheit, für poetische Darstel­ lung zunächst sich innerhalb des Kr ei ses halten, der ihn zu b e r ü h r e n , ihm ein Interesse einzuflößen vermochte. Ein Ingrediens in diesem kräftigen Gebären ist die Bekanntschaft mit S h a k e s p e a r , deren große Wirkung ins­ besondere in Wilhelm Meisters Lehrjahren weiter geschildert ist, wo der Dichter den Wilhelm ausrufen läßt, daß diese Shakespear’sehen Dramen »keine Gedichte seien; man glaube vielmehr vor den aufgeschlagenen, ungeheuern Büchern des Schicksals zu stehen, in denen der Sturmwind des be­ wegtesten Lebens sause, und sie mit Gewalt rasch hin- und herblättere; alle V o r g e f ü h l e , die er jemals über Menschheit und ihre Schicksale gehabt, die ihn von Jugend auf, ihm selbst unbemerkt, begleiteten, habe er darin er­ füllt und entwickelt gefunden.« So hat Shakespear der erweiterten Lebens­ erfahrung des Dichters nachgeholfen, und das Seinige gethan, um den Vor­ stellungskreis über die nur unmittelbaren Gegenstände und Verhältnisse wie über die darauf beschränkten Reflexionen hinauszutragen, und tieferen Ge­ halt, aber immer aus dem Schacht des eigenen Busens, zu gewinnen. Denn, und dieß ist ein großes Wort, das Goethe in dem zuerst erwähnten Zusam-

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menhange hinzusezt: »der i n n e r e G e h a l t des bearbeiteten Gegenstandes ist der A n f a n g und das E n d e der Kunst.« Noch fügt er dann bei, daß er und die Freunde, welche diesen Enthusiasmus theilten, die Möglichkeit nicht läugneten, die Verdienste Shakespears näher zu erkennen, sie zu begreifen, mit Einsicht zu beurtheilen; aber sie behielten sich dieß für spätere Epochen vor; gegenwärtig wollten sie nur freudig theilnehmen, und l e b e n d i g nac h b i l d e n . Die andere Krise hat unseren literarischen Gesichtskreis über noch weitere Erscheinungen ausgedehnt, und die Kenntniß von D a n t e , H o l b e r g , den N i e b e l u n g e n , Ca l |d e r o n ,

nicht bloß zu verbreiten beigetragen, son­

dern, außer einem erneuerten Enthusiasmus für Shakspear, auch zum Studium, Bewunderung und Nachahmung dieser fernen und heterogenen Gestaltungen angetrieben. Wie aber die erste Krise im Ueberdruß des For­ mellen nach Gehalt grub, und diesen zu Tag herausarbeitete, so war um­ gekehrt mit dieser Erweiterung des Geschmacks für Formen und fremde Eigenthümlichkeit verbunden, daß der Sinn für Gehalt und Inhalt sich in d ie s u b j e c t i v e A b s t r a c t i o n , in ein gestal tl oses W e b e n des Geistes in sich zusammenzog, daß er sogar dem Genüsse und der Werthschätzung des Humors und gemeinen Witzes weichen mußte. Es ist vorhin des vor­ trefflichen Unsinns und der herrlichen Albernheit erwähnt worden, und wohl gibt es noch Verehrer Shakespears, die aus dem ästhetischen Enthusias­ mus für Corporal Nym und Lieutenant Pistol nicht herauskommen können. So machte sich denn von selbst in den eigenen Productionen Gehalt und In­ halt nüchtern, dünn, ohne Ernst; er wurde absichtlich aufgeopfert, um ins Leere zu verschweben, und mit Bewußtseyn, ironischer Weise, die innere Wahrheitslosigkeit des Stoffes für das Beste auszugeben. Einerseits sahen wir die Theorie von der Poesie der Poesie, andererseits den Kreis von Poeten sich bilden, die es darauf anlegten, sich gegenseitig und das Publicum mit den morgenröthlichen Producten der neuen poetischen Poesie mit einer cometarischen Welt aus Duft und Klang ohne Kern zu mystificiren. Für diese ironische Sublimation zur Inhaltslosigkeit und Sehnsucht liegt die lyrische Form ganz nahe, und macht sich gleichsam von selbst, denn das Spiel im wirklichkeitslosen Tönen des hohlen Geistes ist für Vers und Reim nicht durch Inhalt genirt. Im dramatischen Fache kann Wirklichkeit, Charakter und Handlung nicht entbehrt werden; die innere Nichtigkeit, welche von der Theorie der Ironie gefordert wird, führt hier auf dasjenige, worauf die Mittelmäßigkeit von selbst geräth, - Charakterlosigkeit, Inconsequenz und 13 Gestaltungen] O : Gestaltung

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Zufälligkeit, aufgespreizte Nüchternheit; die Theorie fügt nur dieß hinzu, daß die Mittelmäßigkeit auch mit der Maxime der Haltungslosigkeit und Halbheit producirt. Die Kritik gab sich mit diesem Standpunkt einen neuen, kecken, nicht selten auch frechen Aufschwung, und imponirte einer Menge, die auf der ästhetischen Höhe seyn wollte, denn ein Publicum bildet sich, wie Solger öfters die Erfahrung ausspricht, um jede kecke und glänzende Schiefheit. Aber die Nation — denn wir dürfen doch wohl auch von einer Nation in Beziehung auf Literatur sprechen, und sie von einem bloßen | Pu­ blicum unterscheiden, - die Nation also hat sich dieses, den äußern Formen wie dem Gehalte nach, Fremdartige nunmehr um so weniger aufdringen las­ sen, als sie ehemals nach Vertreibung des Französischen Geschmacks durch jene erste Krisis an Form und Gemüth einheimische nationelle Poesie ge­ wonnen hatte. Eine Menge literarischer Erscheinungen und Urtheile, welche dem Geiste dieser Zeit angehören, gehen in diesem Briefwechsel an unsern Augen vor­ bei; doch fällt die keckste und blühendste Periode der Ironie, Lucinde, Athenäum u.s.f. schon jenseits desselben. Bald waren es ernsthaftere Interes­ sen, der Krieg und die politischen Umstände, welche jenen einem ernst­ lichen Inhalt feindseligen Standpunkt zu einem immer mehr particularen Kreise sowohl nach Außen als im Innern der Individuen zusammenengten. Solgers gründlicheres Urtheil blieb immer weit hinter dem Standpunkte des Athenäums, ohnehin einer Lucinde zurück, noch weniger konnte er in rei­ fem Jahren an der höchsten Fratzenhaftigkeit Theil nehmen, zu welcher der Humor in den H o f f m a n n i s c h e n

Productionen sich steigerte. - Um

einige Beispiele von jener Pachtung zu geben, so findet Solger in seiner Jugendzeit in dem angefangenen Roman von N o v a l i s , dem Heinrich von O f t e r d i n g e n S. 95. einen neuen und äußerst kühnen Versuch, d ie P o e ­ sie durch das L e b e n

darzustellen, die Idee einer m y s t i s c h e n

Ge­

schichte, einer Zerreißung des Schleiers, welchen das Endliche auf dieser Erde um das Unendliche hält, ei n e r E r s c h e i n u n g der G o t t h e i t auf Erden, eines wahren Mythos, der sich aber hier in dem Geiste eines einzel­ nen Mannes bilde. — »Daß dieser Roman nicht weiter fortgeführt, und ge­ rade beim Anfang des Wichtigsten stehen geblieben ist, das schmerzt mich ungemein.« Den Jüngling bestach der glänzende Anlauf, aber er sah noch nicht ein, daß eine Conception dieser Art gerade darin mangelhaft ist, nicht weiter geführt und zu einem Ende gebracht werden zu können; die hohlen Gestalten und Situationen schrecken vor der Wirklichkeit zusammen, der sie 16 Ironie,] O : Ironie

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zugehen sollten, wenn sie weiter fortrückten. — S. 124. wird das Lied der N i e b e l u n g e n seiner Anlage nach für größer als die Ilias erklärt. In einer Vorlesung A. W . S c hl e g el s über D a n t e findet Solger nicht die g e ­ h ö r i g e h e i l i g e S c h e u vor dieser hohen Mystik, noch Empfänglichkeit genug für die erhabene Einfalt. — Solgers enge Freundschaft mit T i eck führt die öftere Erwähnung der Tieck’schen Productionen herbei; dieser | Theil des Briefwechsels ist beson­ ders charakteristisch rücksichtlich der literarischen und damit zusammenhän­ genden mystischen T e n d e n z jener Periode; wir wollen uns daher länger dabei verweilen. Was die Tieck’schen Producte zunächst betrifft, so hat bei Solger die Freundschaft billig ihren Antheil an der Werthschätzung dersel­ ben, geht aber zuweilen zu offener eindringender Kritik fort. Tieck hat es wohl als ein Denkmal der Freundschaft abdrucken lassen, wenn wir S. 350 lesen, daß S. dem B l a u b a r t wenige Deutsche Dramen an die Seite zu set­ zen wüßte, oder S. 428., was S. im J. 1816 schreibt, »es ist meine innigste Ueberzeugung: auf Ihnen (Tieck) beruht das Heil der Deutschen Kunst; Sie sind der Einzige, der mitten in dem gefälschten Zeitalter in reiner poetischer Klarheit dasteht; Ihr Treiben ist das Wahre und Göttliche, es ist immer rei­ ner und reiner aus dem ganzen Gewirre hervorgegangen.« S. 294. sieht zwar S. es noch für ein Zeichen an, wie stark der reflectirende Sinn geworden, daß an den Tieck’schen Mährchen die Vermischung einer Mährchenwelt mit der wirklichen und alltäglichen getadelt worden sei. W enn S., wie er sagt, diesen Einwurf sich kaum hätte träumen lassen, so haben wir in neuern Zeiten Tieck selbst jene Heterogeneität aufgeben, den Mährchenboden ver­ lassen, und zu Novellen übergehen sehen, wo die Einfassung und der äußer­ liche Stoff nicht aus dem oft Kindischen und Läppischen auf allen Fall aus unserem Glauben Verschwundenen oder von demselben Verworfenen der Mährchen, sondern aus Verhältnissen unserer Welt und Wahrheit genommen wird. In spätem Beurtheilungen, welche Tieck der Freundschaft Solgers ab­ dringt, bestimmt sich das kritische Gefühl des Leztern näher zur Einsicht in Mängel, welche er an dem Zerbino S. 388f. und an der Genoveva S. 465ff. dem Verfasser bemerklich zu machen sucht. Was Solgern nicht mehr zusagt, ist der Mangel an Haltung, merkwürdig genug, im Grunde selbst die Ver­ mischung, deren Vorwurf er früher nicht zugab, — nur dieselbe höher aufgefaßt, nämlich als Vermischung von wirklich Poetischem mit nur Gemachtem, Willkürlichem, Absichtlichem. Die beiden Freunde sprechen durch mehrere Briefe über die G e n o v e v a herüber und hinüber, und die gründlich gewor­ dene Einsicht Solgers drückt sich darin im Unterschiede gegen seine frühere Art der Kritik und den Tieck’schen Standpunkt bestimmt aus. Wenn Tieck

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seinerseits (S. 453.) von diesem Gedicht sagt, daß es ihm ganz aus dem Gemüthe gekommen, ihn selbst wie überrascht habe, gar | nicht g e m a c h t , sondern g e w o r d e n sei - S. 465., daß es eine Epoche in seiner Sinnesart gemacht, daß er dabei durchaus u n b e f a n g e n gewesen sei: so fühlt Solger, daß, so sehr es in vielen Stellen und Scenen ganz von Innigkeit und Liebe durchdrungen sei, dennoch diese Sinnesart nicht der Zustand des Dichters, sondern vielmehr eine tiefe Sehnsucht nach derselben gewesen, sonst würde sie mehr u n m i t t e l b a r g e g e n w ä r t i g , ja als die einzig wahre und mögli­ che in uns eindringen; - die Innigkeit erscheine in einem Ge g e n s ä t z e gegen etwas Anderes, wodurch das Bewußtseyn in sich uneins gemacht, und zur R e f l e x i o n veranlaßt werde; - es fehle an der innern und gegenwärti­ gen Nothwendigkeit. Weiter hin (S. 501.) gibt T. die Kritik zu, daß auch ihm das Gedicht wie unharmonisch erscheine; aber dieß läuft nur darauf hin­ aus, daß die Töne, die Anklänge, Rührungen, Ahnung, Wald, Luft u.s.w, in H a r m o n i e und M u s i k a u f g e h e n ; was eigentliche Zeichnung, Fär­ bung, Styl betreffe, da sei er unzufrieden, und finde die Disharmonie. Die R e l i g i o n , die Wüste, die Erscheinungen seien ihm der Alles zusammen­ haltende Ton des Gemäldes, und dieses möchte er nicht gern m a n i e r i r t heißen lassen. — Man sieht, daß in Tieck’s Bewußtseyn der Ton, das Lyri­ sche und Subjective, nicht der Gehalt und innere Gediegenheit zur Betrach­ tung gebracht wird. Noch bestimmter aber geht in Solger das Gefühl über jenes Grundübel an den K l e i s t i s c h e n Producten auf, welche in dem Briefwechsel oft zur Sprache kommen. Der Charakter der Kleistischen Werke ist eben so gründ­ lich als geistreich in diesen Jahrbüchern früher auseinandergesezt und nach­ gewiesen worden. So sehr Solger Kleist’s Talent achtete, und S. 559., wo ausführlich von ihm gesprochen wird, insbesondere auch die energische und plastische Kraft der äußern Darstellung anerkannte, welche vorzüglich sich in dessen Erzählungen documentirt, so frappirt ihn dennoch der große Werth, den dieser Dichter auf g e s u c h t e Situationen und Effecte legte, das a b s i c h t l i c h e Streben, über das G e g e b e n e und W i r k l i c h e hinweg zu gehen, und die eigentliche Handlung in eine f r e m d e g e i s t i g e und w u n d e r b a r e Welt zu versetzen, kurz ein gewisser Hang zu einem willkür­ lichen Mysticismus. Die Selbstfälschung, mit der das dichterische Talent sich versezte, ist hier treffend angegeben. Kleist leidet an der gemeinsamen, un­ glücklichen Unfähigkeit, in Natur und Wahrheit das Hauptinteresse zu legen, und an dem Triebe, es in | Verzerrungen zu suchen. Der w i l l k ü r l i c h e M y s t i c i s m u s verdrängt die Wahrheit des menschlichen Gemüths durch Wunder des Gemüths, durch die Mährchen eines höher seyn sollenden in­

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nern Geisteslebens. — Solger hebt den P r i n z e n v o n H o m b u r g desselben Verfassers mit Recht über seine ändern Stücke, weil hier Alles im Charakter liege und daraus sich entwickele. Bei diesem verdienten Lobe wird nicht in Anschlag gebracht, daß der Prinz zu einem somnambulen Kranken gleich dem Käthchen von Heilbronn gemacht ist, und dieses Motiv wird nicht nur mit seinem Verliebtseyn, sondern auch mit seiner Stellung als General und in einer geschichtlichen Schlacht verschmolzen; dadurch wird das Princip des Charakters wie der ganzen Situation und Verwickelung etwas Abgeschmack­ tes, wenn man will, gespenstig-Abgeschmacktes. Tieck gibt uns in seinen Briefen, die er in dieser Sammlung hat abdrucken lassen, sehr Vieles zum Besten, das in diesen Kreis gehört; neugierig möchte man auf die Ausführung der Figur seyn, die eine von ihm selbst abgeschil­ derte Quintessenz jener Tendenzen hätte werden sollen (S. 597), — die Figur »eines Verächters alles Gründlichen und Guten, aus Zerbino, Sternbald, Kater und seinen ändern Schriften erwachsen, mit jener Hyperkritik, die gleich Null ist.« Daß Sha k e s p e a r ein häufiger Gegenstand der Unterhal­ tung in diesen Briefen ist, war zu erwarten; auch Mehreres aus den Eigen­ tüm lichkeiten und Gründlichkeiten der Tieck’schen Betrachtungsweise des­ selben spuckt hier bereits. »Es gibt in Deutschland kein Studium, kein ächtes des Dichters; und in England ein egarirtes,« sagt Tieck, S. 565. nach seiner Rückkehr aus England; »wir Deutsche sind seit Wieland in recht saumseliger und bequemer Bewunderung.« Man sollte meinen, an einem ächten Studium und Verständniß Shakespears und ausdrücklich als Dichters habe es in Deutschland (s. oben) niemals gefehlt, und eben so wenig an offenkundigen und berühmten Früchten dieses Studiums, deren uns z. B. Goethe und A. W. v. Schlegel gegeben; auch die Engländer, sollte man denken, verstehen ihren Shakespear; sie würden wenigstens den spießbürgerlichen Dünkel des Continents sehr verlachen, wenn wir um der Abwege einiger ihrer Kritiker und deren gelehrten Irrthümer willen über werthloseste Einzelnheiten unser Studium über ihre Werthschätzung ihres Dichters erheben wollten; für diese ist das historisch-gelehrte Studium meist überflüssig. Daß es aber auch dießseits des C a n a l s

| leicht auf Abwege und Schrullen führt, weil aus solchen

weitschichtigen und unerquicklichen Bemühungen denn doch endlich etwas Absonderliches erwachsen seyn soll, davon geben die vorliegenden Briefe selbst das Beispiel. Es spuckt darin bereits Tiecks bekannte Schrulle über den Vorzug der äußern Einrichtung, die das Theater zu Shakespears Zeiten hatte, vor der jetzigen. Es soll ein Vorzug gewesen seyn, daß die Bühne nur breit, 30 diese] O ; dieses

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und nicht, wie heut zu Tage, tief war. Dem Uebelstande der häufigen Ver­ änderungen der Scene, welche bei der Aufführung Sh’scher Dramen nöthig werden, so wie der Ungewißheit, in welche Stadt oder Gegend man jezt versezt sei, war, wie man weiß, allerdings abgeholfen, und zwar der leztern da­ durch, daß ein vor dem gemalten Thore, Stadtmauer, Häusern u.s.f. auf einer Stange aufgesteckter großer Zettel mit dem Namen der Stadt, Burg u.s.f. die gewünschte Auskunft gab; daß ferner die Schauspieler, um von einer Stadt in eine andere zu reisen, nur durch einen Vorhang zu gehen brauchten, der die Bühne so theilte, daß auf deren anderen Seite die andere, gleichfalls durch eine Aufschrift kenntlich gemachte Stadt oder Gegend gemahlt war; somit keine Veränderung der Scene lästig fiel. Zwar findet sich der fernere Umstand nicht für einen Nachtheil heutiger Kunst ausgegeben, daß nämlich in jetzigen Häusern nicht nur die Zuschauer in den Logen, son­ dern auch die im Parterre durch ein Dach gegen Regen, W ind und Sonne geschüzt sind; aber von jener ältern Einrichtung schreibt T. S. 693., daß er »nicht ungeneigt sei, zu glauben, daß selbst der M a n g e l an D i c h t e r n und

Sinn

großentheils vom untergegangenen Brettergerüst entstanden,

und daß er (!? sic) uns in Deutschland an der H e r v o r b r i n g u n g ächt er W e r k e gehindert hat.« Doch in dieser Correspondenz kommt noch nichts von den weitern absonderlichen Grillen vor, die Tieck seitdem über die Charaktere im Hamlet auch über Lady Macbeth in das Publicum hat aus­ gehen lassen. Sonst aber wird Manches erzählt, über das man sich wundern könnte; wie S. 502., daß T. Jahre lang den Perikies von Shakespear vielleicht übertrieben verehrt habe (— woraus Zerbino und Octavian entstanden sei!); S. 696., daß ihm ein Stück von Calderon, das er vor zehn Jahren verehrt, nunmehr fast g a n z s c h l e c h t erscheine. Dergleichen Verirrungen des Geschmacks lassen sich nur aus der abstracten Richtung der Kritik verstehen, die das Objective der Kunst nicht beachtet. — Solger ist durch seine classische Bildung und die Philosophie bewahrt worden, an die Extreme mitzu |gehen; ob aber gleich das vorhin Angeführte Elemente gediegenerer Kritik enthält, und ihm bei manchem romantischen Producte (wie S. 606. z. B. dem For­ tunat) eben nicht ganz geheuer ist, so hat dieß doch nicht durchgedrungen, und ebendas, (noch v.J. 1818) findet sich das Urtheil über Shakespear’s »der Liebe verlorne Mühen« — dieß im Ganzen eben so schwache als im Einzel­ nen an Plattheit überreiche Stück — das Urtheil, daß sich darin unter den komischen am bestimmtesten die R e i f e der Po e s i e in diesem Dichter ausdrücke, wei l es am wenigsten durch irgend eine s peci el l e R i c h t u n g 24 habe (— woraus

sei!);] O W x: habe; (- woraus

sei!)

H : habe (— woraus . . . sei!),

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(—die Richtung ist in der That nur ganz kahl —) gerichtet, und »auf die rein­ ste Ironie gegründet ist,« — das Leztere kann man in dem Sinne, der häufig damit verbunden ist, zugeben, daß es die reinste Ironie ist, in dem Stücke irgend einen Werth antreffen zu wollen, — welche Täuschung irgend einer 5

Erwartung denn eben der Humor der Sache seyn soll. Dagegen erweist sich sein Urtheil besonders trefflich, reif und prompt über die vielfachen weitern außer dem Gebiete des Romantischen liegenden Er­ scheinungen, die während der Periode dieses Briefwechsels eine unverdiente Aufmerksamkeit erregten. Man sieht mit Befriedigung, wie Solger mit den-

10 selben sogleich bei deren erstem Auftreten fertig ist, während sie bei einem ausgebreiteten Publicum das größte Aufsehen erwecken, und dasselbe die wichtigsten Folgen hoffen lassen, bis ihm diese Gegenstände und alle seine Hoffnungen verkommen, gleichfalls ohne sich hierüber Rechenschaft zu geben, wie durch ein bloßes Vergessen. Man sehe z. B. Solgers frühes und 15

sogleich reifes Urtheil über das einst bewunderte, nun ganz vergessene Naturdichten Hillers I. S. 128. noch mehr über Pestalozzi ebend. S. 135. ff., das für Manchen auch jezt darüber belehrend seyn kann, warum die Sache dieses als Individuum so edlen Mannes keine Revolution im Erziehungs­ wesen hervorgebracht, sondern selbst keine Nuance eines Fortschrittes hat

20 bewirken können. — Eben so sehr erfreut man sich der gründlichen Ansich­ ten über so manche literarischen Productionen, die mit großer Prätension und mit noch größerer Bewunderung aufgetreten sind, z. B. über die Ahn­ frau S. 636. die Sappho 653. u.s.f. | Ueber N i e b u h r s R ö m i s c h e G e s c h i c h t e noch kann, was er S. 222., 25

verhindert weitläuftiger zu schreiben, nur kurz bemerkt, herausgehoben werden, da nunmehr die zweite Ausgabe mit frühem gründlichen Urtheilen verglichen werden kann. S. äußert, daß ihm das Meiste über die ersten Jahr­ hunderte Roms, besonders die Meinung von alten Gedichten, aus denen Livius geschöpft haben soll, durchaus chimärisch erscheine. Schl egel s

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Recension in den Heidelb. Jahrbüchern wird S. 222. für eine solche erkannt, wie sie selten Vorkommen, und welche die höchste Achtung für Schl, bei allen Unparteiischen wieder erneue. »Von Niebuhrs Hypothesen bis auf Romulus bleibt beinahe nichts stehen, und es wird Al l es m i t sehr t r i f ­ t i g e n G r ü n d e n w i d e r l e g t . Schl, gerathe zwar von Romulus an auch

35 in Vermuthungen, die er (Solger) nicht unterschreiben könne, aber nicht in imaginäre saturnische Heldengedichte, deren Erfindung für ihn (Solger) zu

1 »auf] O W x: auf

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den unbegreiflichsten Verirrungen gehöre.« — Den Philosophen ist in neuern Zeiten der Vorwurf, Geschichte ä priori zu schreiben, gemacht worden. Solgers philosophischer Sinn konnte solches Recht den Historikern vom Fach und den Philologen eben so wenig zugestehen als Ändern. Gleich interessant sind Ansichten über viele Begebenheiten der Zeit, über Zustände und den Geist derselben. Solgers Aeußerungen z. B. über die S a n d ’sehe Mordthat und den damit zusammenhängenden Geist sind merk­ würdig genug, um Einiges davon auch jezt auszuzeichnen; S. 722fF. schreibt er darüber: »Es macht einem Grausen, wenn man einen Blick in ein solches Gemüth, wie dieses S a n d ’sehe, thut. Er ist gewiß von Hause aus ein gut gearteter junger Mensch, den man bedauern muß. Aber nun | die s t u p i d e D u m m h e i t , durch den Mord des alten Waschlappens das Vaterland retten zu wollen! Der k a l t e , f r eche H o c h m u t h , als k l e i n e r W e l t r i c h t e r die sogenannten Schlechten abzuurtheilen! Die l eer e H e u c h e l e i vor sich selbst mit der Religion, oder vielmehr ihren Floskeln, die die größten Greuel heiligen sollen! Es ist zum Verzweifeln, wenn man daran denkt! Indessen ist m ir das Al l es n i c h t i m G e r i n g s t e n neu. I c h w e i ß au c h g e n a u , w o h e r Al l es k o m m t . — Man hat ihnen ja seit zehn Jahren genug v o r ­ g e p r e d i g t , sie seien die Weisen und Vortrefflichen, von denen die W ie­ dergeburt des Staats und der Kirche ausgehen müsse. — Dummheit, Leerheit, Hochmuth, das sind die Geister, die sie treiben, und das sind wahre Geister der Hölle. — S. 725. die Sand’sehe Geschichte — einen traurigen Blick ge­ währt sie uns in den Zustand so vieler junger Gemüther. Es zeigt sich hier eine Mischung von ursprünglicher Gutartigkeit mit einer Beschränktheit, Dummheit möchte ich es nennen, einem Hochmuth, einer unbewußten reli­ giösen Heuchelei vor sich und Ändern, daß Einen schaudert. Können Sie glauben, daß es hier Professoren gibt, die den leeren coquetten Bombast, den der junge Mensch an die Seinigen geschrieben hat, bewundern? — Nur allzu sehr erinnert man sich aber auch an das Gewäsch der W a r t b u r g s r e d n e r und an so vieles Aehnliche; doch, wie ich sagte, wir wollen Niemand be­ schuldigen, als etwa den beliebten Zeitgeist. Schon lange nimmt Alles diese verderbliche Richtung auf das muthwillige Weltverbessern und den leeren Hochmuth, und viele ganz verschiedene Lehren haben sie immerfort beför­ dert. — Die unselige intellectuelle Aufklärung, die so Viele im Leibe haben, die frevelhafte Lehre, daß die sogenannten Bessern Alles seyn und thun müs­ sen, und daß Jeder, der an nichts glaubt, als an die leere Weltverbesserung, einer von diesen Bessern sei, ist die rechte Schule des aufgeblasenen dummen 1 gehöre] O : gehören

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Hochmuths. Man muß diesem aus allen Kräften entgegenarbeiten, und we­ nigstens sein Gewissen salviren.« — | [Von den] Wartburgsscenen heißt es S. 720., daß »daselbst einige Profes­ soren a l b e r n e , k i n d i s c h e Reden gehalten haben, um ihren hohlen En­ thusiasmus auszubreiten. Man hätte dieß entweder zeitig genug verbieten und verhindern, oder nachher diese p o l i t i s c h - p h i l o s o p h i s c h e n N a r ­ r en so darstellen können, daß sie in ihrer ganzen Blöße erschienen wären.« — Man möchte es vielleicht für etwas Ersprießliches haben halten können, wenn Solger diese Darstellung übernommen, und durch Oeffentlichkeit sei­ ner Ansichten jenem grellen Unwesen entgegengearbeitet hätte; es ist ihm aber wohl zu gönnen gewesen, für sein übriges Leben, das nur noch etwas über sechs Monate dauern sollte, sich die zu erwartende böse Anfeindung, Verunglimpfung von serviler Gesinnung u.s.f. erspart, und durch öffentliches Stillschweigen sich Ruhe bewahrt zu haben. Doch wir müssen der Auszeichnung des Interessanten Schranken setzen, dessen sich noch so Vieles in den Briefen Solgers, und dann in denen seiner Freunde, besonders des einen der Herausgeber, von Raumer, an frischer, eben so durchdringender als heiterer Kunst- und Lebensansicht vorfindet, um zu der Seite überzugehen, welche unser Interesse vornehmlich in Anspruch nehmen muß. Die Correspondenz enthält jedoch weniger Data und Aufklä­ rungen über Solger’s Ausbildung und Fortschritte in der Philosophie, als man etwa zunächst meinen könnte. Der Kreis von Männern, die sich hier durch Briefe unterhalten, hatte sich nicht eine und dieselbe gelehrte Bestimmung gewählt. Jeder verfolgt ein eigenthümliches großes Interesse, nimmt zwar den Antheil eines gebildeten Freundes an den Arbeiten des Anderen, aber geht nicht in deren Gegenstände und Inhalt näher ein. Man hat also nicht das Schauspiel einer Entwickelung einer Philosophie, einer wechselseitigen Mittheilung und Erörterung philosophischer Sätze und Begriffe zu erwarten. Die Gegenseitigkeit ist allgemeine Aufmunterung oder Theilnahme, und wenn Solger zu näheren Aeußerungen und Kritik über seine herausgegebe­ nen Schriften auffordert, so geht es, wie gewöhnlich, der eine der Freunde hatte noch nicht Zeit gehabt, die Schrift zu lesen, der andere verspart ein tieferes Eingehen auf die zu wiederholende Lectüre, und beschränkt sich vor­ läufig auf Kritik von Partikeln, Styl u. dgl. Die Tieck’sehen Briefe drücken ein directeres Verhalten zur Philosophie aus; Solger’s Explicationen darüber sind gegen | diesen Freund am häufigsten und ausführlichsten; er spricht die

3 [Von den] Wartburgsscenen heißt] O: Die Wartburgsscenen, heißt

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Befriedigung, die es für ihn hat, sich Tieck mitzutheilen, vielfach und innig aus; »wie oft (sagt er S. 375) gibt es mir neuen Muth und neue Kraft, daß Sie meine Bemühungen anerkennen, wenn Alles um mich her darüber schweigt. - Sie kommen mir zu Hülfe; wenn Sie auch nicht Philosoph sind, so kennen Sie doch die Philosophie, und, was weit mehr ist, Sie leben durch Ihren eigenen Beruf im Gegenstände der Philosophie; Ihr Beifall und Urtheil erhält mich oft in meiner Ruhe, wenn der Verdruß sich bei mir ein­ schleicht.« Tieck legt in diesen herausgegebenen Briefen die Art seines Ver­ hältnisses zur Philosophie, und den Gang seines Gemüths und Geistes vor das Publicum. Solche Eröffnung eines bedeutenden Individuums über sich ist für sich ein interessantes Seelengemälde, und noch mehr, indem es eine Gattung repräsentirt. Tieck’s Standpunkt zur Philosophie ist zwar das mit der Zeit­ bildung des Verstandes gemeinschaftliche, negative Verhalten gegen sie, inQ

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der Philosophie überhaupt, als des mit dem Wesen der Religion und Poesie Identischen verknüpft ist, und insofern von dem gewöhnlichen Verstände der Aufklärung und der Theorie des Glaubens abweicht. Aber jenes negative Verhalten zur Philosophie bringt zugleich eine Einseitigkeit in das Princip selbst, das sich für die Mystik der Religion und Poesie hält, und gibt, weil dieses Princip ein Product der Reflexion, nicht unbefangene Religiosität und Poesie geblieben ist. Diese Mystik macht nur eine weitere Abspiegelung des vorhin besprochenen Standpunktes aus, und indem sie zugleich der Reflex des einen Theils des philosophischen Standpunkts Solgers ist, soll die Be­ leuchtung dieser Eröffnung in ihren Hauptzügen zugleich als Einleitung für diesen dienen. »Aller Gedanken- und Ideengang soll mir nur t i ef e V o r u r t h e i l e bestä­ tigen, d. h. doch nur mit ändern Worten, den Glauben und die unendliche Liebe.« S. 341. W ir sehen darin die alte Lehre, welche Sokrates und Plato angefangen haben, daß, was dem Menschen als wahr und gut gelten solle, in seinem Geiste ursprünglich liegen müsse; indem es aber ferner auch auf eine dunkler oder deutlicher gefühlte oder geahnete Weise in sein Bewußtseyn getreten, wird es erst Glaube, und kann auch, indem es nicht auf Einsicht gegründet ist, Vorurtheil genannt werden. Jene Lehre hebt, wie der Mysticismus, alles bloß Positive äußer |licher Autorität auf. In Beziehung auf den innersten, ächten Gehalt thut die Philosophie nichts, als solchen bestätigen, aber was sie zugleich damit bewerkstelligt, ist die Reinigung desselben, und die Absonderung des Unächten, des Positiven anderer Art, was in ihm als Vorurtheil ist. In demselben Zusammenhange sagt aber T., daß es ihm »ni e u m das D e n k e n als sol ches zu t h u n g e w e s e n ; « »die bloße Lust,

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Uebung und Spiel der Ideen, auch der kühnsten, ist mir uninteressant.« Dem Glauben auch die philosophische Form, denkende Erkenntniß des Gehalts zu erwerben, hängt natürlich ganz von dem individuellen Bedürfniß ab; aber erst diese Erkenntniß führt zur Einsicht der Natur des Denkens, und zeigt, daß das Denken etwas Anderes als nur eine Uebung und Spiel von Ideen her­ vorbringt; und verhindert, ohne Erkenntniß über dasselbe nur so abzuspre­ chen. In dem Briefe vom 24. März 1817 S. 535. gibt T. eine ausführliche Erzählung, die er ein Selbstgeständniß nennt, über den Gang seiner geistigen Pachtung. Vor seiner Bekanntschaft mit Jacobi, mit dem er zuerst einen Dia­ log habe halten können (»von zwei Ufern einer Kluft, wo wir wohl mehr das Echo, als unsere Worte hörten«), hatte er keine dialogischen Philosophen gefunden, und die verschiedenen Systeme befriedigten ihn nicht; (— die Be­ friedigung hängt mit dem zusammen, was man sucht, und Plato z. B. ist doch wohl auch ein dialogischer Philosoph gewesen —) »besonders verlezten A l l e m e i n e n I n s t i n c t zur R e l i g i o n ; « so führte ihn »die Liebe zur Poesie, zum Sonderbaren und Alten, Anfangs fast mit f r e v l e m Leichtsinn (—worin das Frevelhafte bestanden hätte, sieht man nicht, —) zu den M y s t i k e r n , vorzüglich zu J. B ö h m e , der sich aller meiner Lebenskräfte so bemächtigt hatte, daß ich von hier aus nur das Christenthum verstehen wollte, das leben­ digste Wort im Abbild der ringenden und sich verklärenden Naturkräfte, und nun wurde mir alle alte und neuere Philosophie nur h i s t o r i s c h e Erschei­ nung,« (das Umgekehrte geschieht der philosophischen Erkenntniß, als wel­ cher der Mysticismus und dessen Gestaltungen zu historischen Erscheinungen werden —); »von meinem Wunderlande aus las ich Fi c h t e und S c h e l l i n g , und fand sie l e i c h t , n i c h t t i ef genug, und gleichsam nur als Silhouetten oder Scheiben aus jener unendlichen Kugel voll Wunder,« (— l e i c h t , weil es dem mystischen Bedürfniß nur um den allgemeinen Sinn, die abstracte Idee, wie oben gesagt, nicht um das Denken als solches zu thun war; - nicht t i ef genug, weil in der Form des Gedankens und dessen Entwickelung der Schein der Tiefe | dem des Gedankens Unkundigen verschwindet, denn tief pflegt man einen Gehalt nur im Zustand seiner Concentration, und oft, wie er bei J. Böhme am meisten vorkommt, einer phantastischen Verwirrung und Härte zu finden, das Tiefe aber in seiner Entfaltung zu verkennen) - bei Böhme wurde T. von dem »Zauber des wundersamsten Tiefsinns und der lebendigsten Phantasie« hingerissen; die eben so ungeheuere Mangelhaftig­ keit in diesem Mysticismus aber wird allerdings nur dem Bedürfnisse des Ge-

1 0 -1 1 (»von . . . Kluft, wo . . . hörten«),] O W x: »(von . . . Kluft, »wo . . . hörten),« H : »(von . . . Kluft, wo . . . hörten)«,

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dankens auffallend. Anderwärts S. 392., und zwar außerhalb und nach Verfluß jenes Zustandes, kommt zwar auch die Vorstellung einer Verbindung von Vernunft und Verstand mit der Erhebung des Gemüths vor; es ist daselbst ge­ sagt, »sich in die Erleuchtung eines begeisterten Gemüths zu erheben, und hier in den Sphären eines viel verschlungenen Zusammenhangs und der har­ monischen Vereinigung aller Kräfte auch V e r n u n f t u n d V e r s t a n d wie­ der (!?) anzutreffen, ist nur Wenigen gegeben, den Allerwenigsten, bis jezt, scheint es, K e i n e m , K u n d e und R e c h e n s c h a f t darüber zu geben.« W enn T. ebendas, durch Fr. Baader, Hamann, St. Martin u.s.f. nach dieser Seite nicht befriedigt worden, was hinderte, z. B. bei P l a t o , um nicht An­ dere zu nennen, die verlangte Vereinigung des begeisterten Gemüths und der davon Kunde und Rechenschaft gebenden Vernunft und Verstandes zu finden? Offenbar nur die Unkenntniß und Ungewohntheit, in der Art, wie Hip

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so zurecht zu finden, um denselben in dieser wieder zu erkennen, — oder die verkehrte Forderung, mit der philosophischen Erkenntnißweise auch das damit unverträgliche trübe Gähren und die Phantasmagorie des Mysticismus verbunden zu sehen. Ist man aber mit der Natur und Weise des Den­ kens vertraut, so weiß man, daß der Philosophie nur ihr Recht widerfährt, wenn man behauptet, daß wenigstens von Plato an, nicht etwa keine, noch die allerwenigsten, sondern die allermeisten Philosophieen vielmehr mit Ver­ nunft und Verstand von jenem ächten Gehalt, seiner Verschlingung in sich und deren Zusammenhang, Kunde und Rechenschaft gegeben, und die, deren Geist sich in der Philosophie einheimisch gemacht, diese Kunde und Rechenschaft besessen haben. —Aus jener hypochondrischen Periode fügt T. S. 539. hinzu, er habe »sich thörichterweise oft bemüht, Ändern jene Gefühle des Mysticismus zu geben;« was er hinzusezt, »Keiner war so tief in Böhme, ja er argwöhne, selbst nicht in den Philosophen,« | ist wohl nicht der rich­ tige Grund, daß es ihm nicht gelang; denn dem J. Böhme gelang diese M it­ theilung an Tieck selbst; sondern dieß, daß ihm, außer dem Organ der Phi­ losophie, das er verkannte und verschmähte, das inwohnende Vermögen der Mittheilung, wodurch es ihm wohl vorher und nachher gelungen, Gefühle der Tiefe mitzutheilen, damals nicht zu Gebote stand; denn er gibt von die­ sem Seelenzustande an, »daß ihm die Lust an Poesie, an Bildern, als etwas Verwerfliches, Verfehltes erschienen sei.« Er fügt diesem Gemälde hinzu, daß, da er nun die S p e c u l a t i o n (!?) und das i n n e r e L e b e n gefunden zu haben glaubte, er dafür hielt, »daß es sich mit weltlichen Beschäftigungen nicht vertrüge, - so gab es viele Stunden, in denen er sich nach der Abge­ schiedenheit eines Klosters wünschte, um ganz seinem Böhme und Tauler

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und d e n W u n d e r n seines G e m ü t h s zu leben.« »Meine Productionskraft, mein poetisches Talent schien mir auf immer zerbrochen.« Diese inter­ essanten Züge führen von selbst auf die Betrachtung, daß an und für sich mit solcher Hypochondrie, mit diesem Zustande der Unlebendigkeit und Form5

und Gestaltlosigkeit des Geistes, ob sie schon inneres Leben, Wunder des Ge­ müths genannt sind, eben so wenig Speculation verbunden seyn kann, als poetische Production. Aber Tieck kommt aus diesem Zustande wieder heraus; es ist interessant zu lesen, was ihn geheilt hat; nur was »der Leichtsinn« und »der willkürliche

10 Act« in dieser Schilderung solle, ist nicht wohl zu verstehen: es war (S. 540) »mein alter Homer und die Niebelungen und Sophokles (die Niebelungen zwischen sich zu finden, darüber könnte sich Homer und Sophokles wohl wundern), mein theurer Shakespear, eine Krankheit, Italien, eine Uebersättigung an den Mystikern, vorzüglich wohl m e i n si ch r e g e n d e s T a 15

lent,

was mir im Verzweifeln neuen Leichtsinn gab; und fast eben so

l e i c h t s i n n i g , wie ich in dieß Gebiet hineingerathen war, versezte ich mich durch einen Act der Willkür wieder hinaus, und s t a n d nun wieder auf dem G e b i e t e der Poesi e u n d der H e i t e r k e i t , und k o n n t e wieder ar b e i t e n . « Diese zurückgekehrte Fähigkeit zur Arbeit ist wohl das 20 ächteste Zeugniß von wieder erlangter Gesundheit des Geistes aus jener un­ fruchtbaren Abstraction der Innerlichkeit; denn das Arbeiten heißt dieser Abstraction entsagen, und dem, was die Innerlichkeit Gehalt hätte, Wirklichkeit und Wahrheit geben. In seine Urtheilsweise aber hat Tieck den Sinn seiner Rückkehr zur | Arbeit nicht vollständig aufgenommen; in seinen Ansichten 25

bleibt jene Entzweiung, und damit die einseitige und abstracte Subjectivität, noch ein wahrhafter, ja höherer Standpunkt. U m z. B. das Wesen der Größe Shakespears oder der Poesie überhaupt in den M y s t i c i s m u s desselben set­ zen zu können, wovon so viel die Rede ist, ist erforderlich, vielmehr von dem zu abstrahiren, was denselben zum Dichter macht, von der concreten

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Bestimmtheit und entwickelten Fertigkeit der Charaktere und Handlungen; das Concrete und Feste seines Gestaltens zur Abstraction des Mystischen, In­ nerlichen zu verflüchtigen, ist die Wirkung eines reflectirenden Verstandes, nicht der die Idee und die Lebendigkeit fordernden und erkennenden Kri­ tik. M it dem inneren Leben, als Princip der Kritik, hat es in solcher Ansicht

35

noch immer dieselbe Bewandtniß, als früher im Zustande des Subjects, daß gegen die entwickelnde Thätigkeit des Gedankens, so gegen die gestaltende der Poesie, die Abstraction festgesezt ist.

10 dieser]

O : die-/

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Von diesem Standpunkt hängt nun auch ganz die Art ab, wie Tieck’s Ein­ sicht und Auffassung von der dichterischen Natur und Production G o e t h e ’ s beschaffen ist; wir haben ihrer hier zu erwähnen, in so fern sie auf jenen Standpunkt selbst ihrerseits ein weiteres Licht wirft, und indem Tieck dieß Verhältniß aus der vertraulichen, nur dem Freunde zunächst bestimmten Mittheilung herausgenommen, und vor dem Publicum ausgelegt hat; die Aeußerungen zeigen sich zugleich nicht als momentane Stimmung, sondern als constantes Urtheil. Er kömmt öfters auf Goethe, und zwar mit Verstim­ mung, um dieß W ort sogleich auch zu gebrauchen, zu sprechen; denn von dieser, und auch auf diese, geht das Urtheil aus. Oben wurde die Kritik Solger’s über die Genoveva angeführt, in der diesem die Absichtlichkeit und Reflexion, die nur sehnsüchtige, nicht im Dichter wirklich gegenwärtige, Stimmung der Liebe und Innigkeit aufgefallen war, so daß, wie Tieck es richtig ausspricht, Solgern das als V e r s t i m m u n g erschien, w’as Tieck für B e g e i s t e r u n g gehalten hatte. Außerdem, daß Tieck sonst Goethen Man­ ches übel nimmt (unter Anderem, S. 488, ärgert es ihn, daß Goethe den Erwin noch nicht einmal gelesen), meint er, S. 485, ein Autor selbst möge, was er früher Begeisterung genannt, später Verstimmung nennen; so scheine es ihm Goethe mit seinem Werther gemacht zu haben, und frägt S. 487 un­ willig: »darf er, weil sein überströmendes j u n g e s Gemüth uns zuerst zeigte, was di ese W e l t

| der E r s c h e i n u n g e n u m uns sei, die bis auf

i h n u n v e r s t a n d e n war, - darf er sich, bloß weil er es verkündigte, mit einer Art vornehmen Miene abwenden, und unfromm und undankbar gegen sich und gegen das Schönste seyn?« Goethe sezt in seinem Leben eben so in­ teressant als anmuthig aus einander, wie er krank an einer freilich noch nicht metaphysischen, sondern sentimentalen Hypochondrie, einer noch nicht in die Abstraction, sondern ins Leben verwickelten, noch lebenslustigen und lebenskräftigen Sehnsucht, gerade durch die Production jenes Romans diese Verstimmung aus sich herausarbeitete, und sich davon befreite. Wie bei einer Krankheit, um von ihr genesen zu können, der Kern des Lebens noch ge­ sund seyn muß, so waren Herz und Kopf noch gesund, und ihre Kraft wurde die Poesie, welche das verstimmte Gefühl zum Stoff und Gegenstand zu machen, und es zu einem äußerlichen Ausschlag hinauszuverarbeiten fähig war. Indem die Verstimmung nur zum Inhalt des Werkes wurde, hörte sie auf, Stimmung des Dichters zu seyn; dieser machte sich durch die Arbeit eben so in sich fertig, als das Werk selbst ein in sich fertiges, ein Kunstwerk,

2 dichterischen] O : dichterischer

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wurde. Allein damit war er noch nicht mit dem lieben Publicum fertig; er beschreibt die Qual, die er sich von allen Seiten herbeigezogen, die ihn an allen Orten und fortwährend verfolgt hat; sie war, daß man ihm immerfort jene Krankhaftigkeit des Gemüths noch zutraute, ja sie in ihm gerne lieben und schätzen wollte. Und jezt noch, nach dem, was nun ohnehin aus allen seinen Werken, was sogleich aus dem nächsten, dem Götz, hervorleuchtete, und nachdem er sogar jene Krisis durch die Production und seine Cur be­ schrieben, soll er sich den Vorwurf machen sehen, daß jenes kranke Verständniß der Welt der Erscheinungen der rechte Verstand gewesen, und daß er unrecht sich von solchem Standpunkte abgewandt, und damit »unfromm und undankbar gegen sich geworden sei.« Aus dem Vorwurfe dieser U n­ frommheit und Undankbarkeit folgt ganz natürlich die weitere Schrulle, der Vorwurf, »daß dieses herrliche Gemüth eigentlich aus Verstimmung, Ueberdruß, sich einseitig in das Alterthum geworfen«, daß Goethe »sich damit vom Vaterland losreiße.« — Es würde schwer zu sagen seyn, ob ein Dichter tiefer in seinem Vaterlande wurzle, als Goethe; aber, wenn Andere, Ausländisches und Aelteres, Shakespear, Calderon u.s.f., eben so hoch oder höher stellen, als Vaterländisches, so ist ihm doch eben so wenig ein Vergehen daraus zu machen, wenn auch ihm nicht | alle einheimische Kunst, unter Anderem die Poesie der Poesie, nicht zusagt, und er in dem unverstimmten Alterthume eine höhere Befriedigung findet; ohnehin handelt es sich nicht um Gegen­ einanderstellung subjectiver Gefühle, sondern um Kunsteinsicht, auf Sinn, Studium und Nachdenken gegründet. Vollends unglücklich ist der Gegensatz auf der folgenden Seite 488: »Ich (Tieck) hatte auch die Antike gesehen, St. Peter, und konnte den Strasburger Münster nur um so mehr bewundern;« — ist denn nicht Goethe einer der Ersten gewesen, der den Sinn für den Stras­ burger Münster gehabt, und für die Werthschätzung und Einsicht gleichsam denselben wieder erfunden hat? Bei Erwähnung der Darstellungsweise der Indischen Religion durch F r i e d r i c h v o n S c h l e g e l (S. 709) sagt Solger sehr gut: »eine Hauptsache ist, daß man gleich alle hergebrachte Terminologie von Emanation, Pan­ theismus, Dualismus u. s. w. fahren lasse; die einseitigen und leeren Begriffe, welche diese Ausdrücke bezeichnen, hat n i e m a l s ei n V o l k o d e r ei n M e n s c h i m E r n s t e gehegt, und sie stammen auch aus Zeiten her, wo man die lebendige Erkenntniß grausam anatomirte.« So hätte es wohl auch für die philosophischen Unterhaltungen der beiden Freunde mehr Gedeihen gebracht, wenn die Ausdrücke von Mysticismus, innerem Leben, Poesie, ins­ besondere Ironie, ja auch von Religion und Philosophie selbst aus dem Spiele geblieben wären; denn alsdann hätte von der S a c h e und vom Inhalt gespro­

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chen werden müssen. Diese Art zu urtheilen ist eine entschieden n e g a t i v e Richtung gegen Objectivität — eine der Richtungen, welche von der Fichte’sehen Philosophie der Subjectivität ausgegangen. Solches Urtheilen handelt nicht vom Inhalte, sondern dreht sich um verblasene Vorstellungen, welche die Sache der Religionen und Philosophieen, mit Abstractionen von innerem Leben, Mystik mit Reflexionsbestimmungen von Identität, Dua­ lismus, Pantheismus u.s.f. abthun. Diese Manier erscheint zugleich als eine vornehme

Stellung, welche mit der S a c h e

fertig ist und ü b e r

ihr

s t e h t ; sie ist in der That mit der Sache in dem Sinne fertig, daß sie dieselbe bei Seite gebracht hat; eine Stellung über ihr, denn sie ist in der That a u ß e r h a l b derselben. Die selbstbewußte Vereitelung des Objectiven hat sich I r o n i e genannt. Da die ausgezeichnetste ironische Individualität sich auf unserem Wege befindet, sei derselben kurze Erwähnung gethan. — In dem angeführten Zusammenhänge bemerkt Solger zunächst j sehr treffend von einem Theile der Bearbeiter der Indischen Religion: — »sie haben den Faden, an den ich Alles anknüpfen kann, — ganz e i n s e i t i g t h e o r e t i s c h und d o g m a t i s c h herausgezogen, daß er gar nicht mehr das ist, was er als l e b e n d i g e s B a n d war, und dieß hat besonders Fr. S c h l e g e l gethan.« Dieselbe Beziehung, die hier bemerkt ist, auf die Philosophie, hat sich dieser Vater der Ironie seine ganze öffentliche Laufbahn hindurch gegeben. Er hat sich nämlich immer u r t h e i l e n d gegen sie verhalten, ohne je einen philo­ sophischen Inhalt, philosophische Sätze, noch weniger eine entwickelte Folge von solchen auszusprechen, noch weniger, daß er dergleichen bewie­ sen, eben so wenig auch widerlegt hätte. Widerlegen fordert die Angabe ei nes G r u n d e s , und hiemit ein Einlassen in die Sache; dieß hieße aber, von der vornehmen Stellung oder (um eine seiner vormaligen Erfindungen von Kategorien zu benutzen) — von der göttlichen Frechheit (und auf der Höhe der Ironie läßt sich wohl eben so gut sagen — von der satanischen oder diabolischen Frechheit) des Urtheilens und Absprechens, der Stellung ü b e r der Sache, auf den Boden des Philosophirens selbst und der Sache sich her­ ablassen. Hr. Fr. v. Schlegel hat auf diese Art immerfort darauf hingewiesen, daß er auf dem höchsten Gipfel der Philosophie stehe, ohne jemals zu bewei­ sen, daß er in diese Wissenschaft eingedrungen sei, und sie auf eine nur ge­ wöhnliche Weise inne habe. Sein Scharfsinn und Lectüre hat ihn wohl mit Problemen, die der Philosophie mit der Religion gemeinsam sind, und wel­ che selbst bei der philologischen Kritik und Literärgeschichte in Weg kom­ men, bekannt gemacht. Aber die Art der Lösung, die er allenthalben andeu­ tet, auch nur prunkend zu verstehen gibt, statt sie schlicht auszusprechen oder gar philosophirend zu rechtfertigen, ist theils eine subjective Lösung,

427-428.838

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die ihm als Individuum so oder anders conveniren mag, theils aber beweist das ganze Benehmen seiner Aeußerungen, daß ihm das Bedürfniß der d e n ­ k e n d e n V e r n u n f t , und damit das Grundproblem derselben und einer be­ wußten und gegen sich ehrlichen Wissenschaft der Philosophie, fremd ge5

blieben ist. Tieck’s Ironie hält sich in ihrem Verhältniß zur Philosophie von der Charlatanerie frei, und beschränkt sich überhaupt darauf, mit Beiseitesetzen der objectiven Gestaltung des Inhalts, durch Denken, d. i. des Eigenthümlichen der Philosophie, das abstracte Allgemeine, das mystisch Genannte heraus-

10 zulesen, und, in Beziehung auf | Solger’s Philosophie, eine innige freund­ schaftliche Theilnahme zu haben, zuweilen sich zu deren Inhalt zu bekennen, gewöhnlich auf die expliciten Solger’sehen Darstellungen und Erläuterungen die Erwiederung mit einer dieselben einwickelnden allgemeinen Zustim­ mung zu machen, mit der oft wiederholten gutmüthigen Versicherung, Sol­ ls

gern zu verstehen, ihn ganz zu verstehen, ihn endlich verstanden zu haben; im Jahre 1814 (S. 322) hatte er geschrieben, daß er (nach Lesung einiger Dia­ logen Erwins) erst jezt glaube, Solgern ganz verstanden zu haben; wie auch S. 320 Solger seine Zufriedenheit ausdrückt, daß Tieck bei mündlicher Unterredung ihm gestanden, daß ihm der Trieb der Begeisterung, wonach

20 er in der Kunst gehandelt, durch die Solger’sehe Enthüllung erst zum klar­ sten Bewußtseyn gebracht worden sei, was auch sonst noch wiederholt wird. So schreibt Tieck noch eben so im Jahre 1819 (S. 711) (auf die Mittheilung von philosophischen Briefen, die sich im 2ten Bd. dieses Nachlasses zum erstenmale abgedruckt finden): »ich glaube Sie mit jedem Worte mehr zu ver25

stehen, und immer wird es mir deutlicher, daß es dieß war, was ich gesucht habe.« | Zweiter Artikel. Was zulezt im vorhergehenden Artikel als Beziehung auf die Philosophie Sol ger s angeführt worden, mag zwar für einen Reflex derselben in der

30

Freundschaft T i e c k s

genommen werden; es erhellt jedoch schon von

selbst, daß die Art dieses Reflexes nur für eine Seite, etwa der Solgerschen Ideen, Bedeutung haben könne; für den Inhalt müssen wir uns nun an die Solgerschen Expositionen wenden, welche uns in der vorliegenden Samm­ lung dargeboten sind. Diese Expositionen sind von der Art, daß sie eine weit

22 (S. 711) (auf] O W x: [S. 711] (auf H : (S. 711, auf

100

J A H R B Ü C H E R FÜR W IS S E N S C H A F T L IC H E K R I T I K

838-839

bestimmtere Vorstellung von Solgers Grundansichten gewähren, als die Schriften, die bei seinen Lebzeiten erschienen sind. W ir sehen ihn in diesem Nachlasse vielfach bestrebt, seine Ideen theils seinen Freunden, theils dem Publicum in einigen Aufsätzen, welche er für die Herausgabe in seinem lezten Lebensjahr ausgearbeitet hat, andringlich zu machen; jedoch sind diese nicht systematische Ausführungen, sondern nur für die Vorbereitung des Publicums und zur Ankündigung bestimmt, als »Manifest,« wie Solger den Hauptaufsatz nennt (I. 688ff. 726), »um darin auch für das größere Publicum zu erklären, w ie er es m it der P h i l o s o p h i e m e i n e , und wie er gegen die jetzigen Bestrebungen stehe.« Sie gehen aber bei diesem äußern Zweck so weit, um die Tiefe seiner Idee und seines speculativen Vermögens in der Philosophie vorstellig zu machen und zu beurkunden. Es handelt sich bei Solger nicht um das, was wohl sonst oft auch Philosophie genannt wird; _________________ _____________ i ~.u: __ J J C U U I 1 1 1 1 1 J u c i ₩r _____ £j. W ll 1 1 1 1 U C 1 1 U C l 111111 V 1C 1111C 11I U di ^ p C L U l d l l V C V C IllU llll lebendig, das Interesse und Be |wußtseyn der höchsten Gegensätze und der Widersprüche, die daraus entspringen, wie den M uth, dieselben nicht mit Klage und Demuth auf die Seite zu stellen, sondern ihnen in ihrer ganzen Bestimmtheit und Härte ins Angesicht zu sehen, und in ihrer Auflösung die Befriedigung des Geistes allein zu suchen und zu gewinnen. Solger scheut auch die auffallenden Formen nicht, in denen es sich darbietet, die Versöh­ nung der Gegensätze auszusprechen; was dann der Fall ist, wenn diese Ge­ gensätze in einer concreten Weise, wie sie in der Vorstellung liegen, be­ lassen, und nicht auf ihre einfache Gedankenbestimmung zurückgeführt sind. Ich führe zuerst die geläufige Form an, in welcher er sowohl in den Briefen vielmals als in den ändern Abhandlungen die Idee ausspricht (I. S. 603), »daß nämlich, wenn wir unser absolutes und ewiges Verhältniß zu Gott gefaßt haben, wir klar und ohne alles Wanken einsehen, daß Alles, was in unserem Treiben und Leben wahr und gut ist, n u r G o t t sel bst seyn kann. «

»Indem nun Gott in unserer Endlichkeit existirt oder sich offenbart,

o p f e r t er si ch sel bst auf , und v e r n i c h t e t si ch in uns; denn w ir sind N i c h t s . « Es sind hiezu die folgenden weitern Bestimmungen anzufüh­ ren. In dem Zusammenhange (I. S. 511), daß »nicht unser ei g e n e s wesent­ liches Seyn unsere Wahrheit ausmache,« heißt es, daß » wi r

deßhalb

n i c h t i g e Erscheinungen sind, weil Gott in uns selbst Existenz angenom­ men, und sich dadurch v o n sich selbst g e s c h i e d e n hat.« »Und ist die­ ses nicht die höchste Liebe, daß er sich selbst in das N i c h t s begeben, damit wir s ey n möchten, und daß er sich sogar selbst geopfert und sei n N i c h t s vernichtet,

seinen Tod getödtet hat, damit w ir

nicht e in bl oßes

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S O L G E R -R E Z E N S IO N • Z W E IT E R A R T IK E L

101

N i c h t s bleiben, sondern zu ih m z u r ü c k k e h r e n und i n i h m seyn möchten?« Weiter alsdann: »Das N i c h t i g e i n uns ist selbst das G ö t t ­ l i c h e , insofern w ir es nämlich als das N i c h t i g e und uns selbst als dieses er kennen. « — Ich bemerke zunächst überhaupt, daß sich in dieser Idee der logische Begriff, welcher die Grundlage für alles speculative Erkennen aus­ macht, vorfindet, — die »allein w a h r h a f t e Affirmation nämlich« (es ist das ewige göttliche Thun, welches vorgestellt wird) als d ie N e g a t i o n der N e g a t i o n gefaßt. — Ferner sieht man diese abstracte Form in ihrer concretesten Gestalt, in ihrer höchsten Wirklichkeit genommen, — nämlich als das O f f e n b a r e n Gottes, und zwar dieses nicht in dem formalen, oberfläch­ lichem Sinn, daß Gott sich in der Natur, Geschichte, in dem Geschicke des einzelnen Menschen u.s.f. offenbare, sondern in dem absoluten Sinne, daß dem Menschen die in Christo, also ursprüng |lieh und göttlich seiende E i n ­ h e i t der g ö t t l i c h e n und m e n s c h l i c h e n N a t u r , und eben damit das, was die Natur Gottes und was die menschliche in Wahrheit ist, nebst den daraus sich weiter entwickelnden Folgerungen zum Bewußtseyn gebracht ist. Im Zusammenhange des zuerst Angeführten ist dieß S. 603 f. (wie anderwärts S. 511) bestimmt so ausgesprochen, — »so (indem Gott in unserer Endlichkeit existirt und sich selbst aufopfert) ist unser ganzes Verhältniß zu ihm fortwäh­ rend dasselbe, welches uns in C h r i s t u s zum Typus aufgestellt ist; nicht bloß e r i n n e r n sollen wir uns, nicht bloß G r ü n d e daher für unser Ver­ halten schöpfen, sondern wir sollen diese Begebenheit der göttlichen Selbst­ opferung in uns e r l e b e n und w a h r n e h m e n ; was so in einem Jeden von uns geschieht, das ist in C h r i s t u s f ür di e g a n z e M e n s c h h e i t gesche­ hen, — es ist nicht bloß ein Reflex unserer Gedanken, was wir vor uns haben, sondern die w i r k l i c h s t e W i r k l i c h k e i t . «

(Vergl. S. 632.) Man sieht,

diese Lehre des Christenthums mit Inbegriff der Dreieinigkeit, die ihrer Grundbestimmung nach in dem Angeführten enthalten ist, hat ihren Zu­ fluchtsort in der speculativen Philosophie gefunden, nachdem sie von der in der protestantischen Kirche fast ausschließend herrschenden Theologie durch Exegese und Raisonnement bei Seite gebracht, die Erscheinung Christi zu einem bloßen Objecte der Erinnerung und moralischer Gründe herabgesezt, und Gott in ein in sich bestimmungsloses leeres Jenseits, als unerkennbares, hiermit nicht geoffenbartes Wesen, außerhalb der Wirklichkeit verwiesen worden ist. Es erhellt aber, daß wenn die Negation der Negation als wahrhafte Affirmation, welches der ganz abstracte Begriff ist, die in den angeführten Ausdrücken enthaltene ganz concrete Gestalt erhält, welche er in der Lehre des Christenthums hat, daß es einer ausführlichem wissenschaftlichen Expli-

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cation bedarf, um den Uebergang von jener Abstraction zu dieser Fülle des Inhalts aufzuzeigen, um eben so sehr der Vernunftidee eine concrete Gestalt zu gewinnen, als die christliche Lehre wieder dem denkenden Geiste zu vindiciren, und sie gegen die Le e r e jener sogenannten Vernunft und der pietistischen Frömmigkeit, welche gemeinschaftliche Sache gemacht, wieder in ihre Rechte einzusetzen. In jenem Uebergang, der philosophisch durchgeführt nothwendig ein lan­ ger Weg wird, ergeben sich viele Schwierigkeiten und Widersprüche, wel­ che aufgelöst werden müssen. Schon in dem angeführten Vortrage zeigen | sich dergleichen; das einemal sind w ir darin als das N i c h t s (was das Böse ist) v o r a u s g e s e z t , dann ist auch wieder von Gott der harte, abstracte Aus­ druck gebraucht, daß er sich v e r n i c h t e , also er es sei, der sich als das Nichts setze, und ferner dieß, damit wir s e i e n , t v t : _ i_ ^ : _____________________ I M t l l l i g C 111 U115*

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tige erkennen. Diese Entgegensetzung der Bestimmungen, daß wir Nichts ursprünglich sind, und erst in der Beziehung auf Gott zum Seyn gelangen, und wieder, daß wir erst durch diese Beziehung zu Nichts werden, hätte einer weitern Ausführung bedurft, um ausgeglichen zu werden. Das Ange­ gebene, das als der Proceß der ewigen Liebe angesehen werden kann, ent­ hält ferner sogleich schon die Voraussetzung von G o t t einerseits und von U n s andererseits, und die Schwierigkeit ist dieselbe, ob wir als Seiendes oder als das Nichts vorausgesezt werden. Es fehlt hiebei das Moment der S c h ö p f u n g überhaupt und des Menschen insbesondere nach Gottes Eben­ bild, und von da aus des U e b e r g a n g e s von dieser nur ursprünglichen, nur an

s i ch

seienden, nicht in die Existenz noch getretenen Einheit der

menschlichen Natur mit der göttlichen zu dem, was als der S c h e i n und das Nichts ausgesprochen ist. Der Schein bestimmt sich zu dem Concretern, was Bewußtseyn und Freiheit ist, und die Schwierigkeit ist, daß dieser Schein nicht nur den Quell des Bösen, das von der Ebenbildlichkeit a b f a l l e n d e Essen von dem Baume der E r k e n n t n i ß des Guten und Bösen enthält, son­ dern auch das Princip der Rückkehr zum Ebenbilde; so daß Gott selbst sa­ gend eingeführt wird: Siehe Adam ist worden wie U n s e r

e i n e r , und

w e i ß , was Gut und Böse ist (1 Mos. 3,22) — die Stelle, welche die andere Seite zu der erstem Bedeutung des Erkennens ausmacht, und die gewöhnlich viel zu wenig in ihrer Tiefe betrachtet, ja auch nur beachtet zu werden pflegt. Der hiemit angedeutete Mangel jenes Voraussetzens verschwindet in fol­ gender Darstellung nicht, die I. Bd. S. 703 vorkommt: »das Wahre und Ewige existirt als das, was ist, als Gott, als das Gute. Für uns in die Wirklich-

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SO L G E R - R E Z E N S IO N • Z W E IT E R A RT IK E L

keit geworfene Wesen ist Beides (das Wahre und der Schein) untrennbar1. Denn das Gute würde für uns nicht | seyn, wenn es nicht einen Schein hätte, den es tödtet, um dessen willen es sich v e r k ö r p e r t , Fleisch wird, weil es ihn seiner e w i g e n g u t e n N a t u r nach vernichten, und so die Existenz 5

mit sich versöhnen muß. Die h ö h e r e Art d a z u s e y n ist, sich zu offen­ baren; und sich o f f e n b a r e n durch

heißt sein N i c h t s

vernichten,

si ch sel bst da seyn; Bei des ist g a n z Eins.«

d.i.

Es könnte

scheinen, daß auch der Proceß der Schöpfung in dem Gesagten enthalten sei, jedoch ist derselbe wenigstens mehr mit dem Processe der Versöhnung, in 10 welchem die endliche Existenz vorausgesezt erscheint, nur vermischt. Es heißt eben sowohl, daß die Untrennbarkeit des Guten und des Scheinens oder der Negation nur fü r uns sei, als auch, daß des Guten ewige Natur 1 Diese Exposition ist in einem Zusammenhange gemacht, in welchem Solger von jetziger Philosophie, und wie es nach dem Anfangsbuchstaben H. scheinen könnte, 15

vielleicht von dem Ref. spricht. Es ist daselbst von einer Ansicht die Rede, in wel­ cher das höhere speculative Denken in seiner Gesetzmäßigkeit und | Allgemeinheit für das einzig wirkliche, und alles Uebrige, auch die Erfahrungserkenntniß, insofern sie sich nicht auf diese Gesetze z u r ü c k f ü h r e n lasse, für eine täuschende und in jeder (?) Rücksicht nichtige Zersplitterung desselben erklärt wäre. Ohne auseinander

20 zu setzen, inwiefern diese Darstellung Schiefes enthält, will ich nur dieß bemerken, was S. als seine Meinung entgegensezt. Dieß ist, daß »das unwahre Erkennen und sein Gegenstand gleichfalls sei , beides nur allzusehr da sei.« Es erhellt sogleich, daß diese Bestimmung schon dem Obigen nicht entgegengesezt wäre, wo nicht von einem L ä u g n e n des D a s e y n s der Erfahrungskenntniß, was schwerlich je irgend 25

einem Menschen eingefallen, sondern nur von der Möglichkeit, dieselbe auf den Begriff zurückzuführen, und an demselben zu prüfen, die Rede ist. W enn aber im Verfolge nach dem oben Angeführten das, was hier unwahre Erkenntniß heißt, abst r act er als das Moment des Scheines, welches dem Guten zu seiner Offenbarung selbst wesentlich ist, als welche das V e r n i c h t e n des N i c h t s sei , ausgedrückt

30

ist, so ist von diesem Begriffe schon vorhin die Rede gewesen, und die oberflächli­ che Ansicht jeder meiner Schriften, schon der Phänomenologie des Geistes, die im J. 1807, noch mehr meiner Logik, die im J. 1811ff. erschienen, würde zeigen, daß darin alle Formen, sie mögen als Formen des Daseyns oder des Denkens genommen werden, sich in denselben Begriff auflösen, der nicht nur als Mittelpunkt von Allem

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daselbst längst vorgetragen, sondern erwiesen ist. In dieser abstractesten speculativen Spitze würde sich somit keine Differenz gegen die erwähnte Philosophie ergeben. Aber die Entwickelung dieses Begriffes und das Bedürfniß derselben ist noch ein W ei­ teres, und daß S. sich über die Einsicht in dieselbe nicht klar geworden, liegt in dem bereits von seinen Ideen Angeführten, und wird sich noch mehr im Verfolg zei-

40

gen.

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sel bst si ch de n S c h e i n m a c h e , um ihn zu vernichten, und daß es nur so d u r c h si ch sel bst sei, womit dieser Untrennbarkeit dieß, nur relativ für uns zu seyn, genommen wäre. Allenthalben aber bleibt es wesentliche, unaufgelöste Grundbestimmung, wie S. 578, daß, »da wir nicht anders als unter Gegensätzen zu denken und | zu erkennen vermögen, in uns wider­ spruchvollen Wesen der Wirklichkeit oder Offenbarung des Ewigen der völ­ lig leere Schein, das wahre positive Nichts, entgegenstehen müsse.« Es ist Solgers ausdrückliche Bestimmung der Philosophie, nicht in einem Dualis­ mus befangen zu seyn (z. B. I. 510). Denn in der That ist schon aller Trieb zur Wahrheit dieß, dem Dualismus unseres Bewußtseyns, unserer Erschei­ nung, oder dem Manichäismus, denn aller Dualismus hat den Manichäismus zur Grundlage, sich zu entreißen. Die Endigung in der höhern Wirklichkeit und in der Versöhnung muß sich aber auch dahin vollenden, nicht mit der Voraussetzung eines Dualismus anzufangen. Dieß hängt dann wesentlich damit zusammen, daß in den angeführten Ex­ positionen auch die V o r s t e l l u n g von Gott als eine V o r a u s s e t z u n g vor­ handen ist. Wenn, wie in den obigen Ideen, als bekannt angenommen wird, was Gott ist, wie daß er ist, so wäre überhaupt nicht abzusehen, wofür noch zu philosophiren wäre, denn die Philosophie kann keinen ändern End­ zweck haben, als Gott zu erkennen. Wäre jene Bekanntschaft jedoch nicht befriedigend, und würde mehr als nur Bekanntschaft, nämlich Erkenntniß gefordert, so liegt hierin, daß die Berechtigung nicht für sich vorhanden ist, von Gott zu sagen, er thut dieß oder jenes, verkörpert sich u.s.f. Denn alle dergleichen Bestimmungen könnten nur durch die Erkenntniß seiner Natur ihre Begründung erlangen. Jene Art sich auszudrücken hat zunächst den Vortheil, populär zu seyn, und die allgemeine Religiosität in Anspruch zu nehmen, auch mit einer gewissen Zuversicht auftreten zu können, um der imposanten Wirkung willen, die das Wort: G o t t , hat. Aber diese Weise hat in philosophischer Rücksicht Nachtheile, insbesondere den, daß der Zu­ sammenhang dessen, was Gott zugeschrieben wird, mit seiner Natur, das ist, die Einsicht in die N o t h w e n d i g k e i t jener Bestimmungen oder Handlun­ gen sich nicht zeigt, ja nicht einmal die Forderung dieser Nothwendigkeit, um welche es, wenn über das Glauben zum Philosophiren hinausgegangen wird, allein zu thun seyn kann. Eben so nachtheilig als für das Philosophiren selbst ist für den Vortrag und das Verständniß die in den angeführten Ideen vorhandene Vermischung sol­ cher concreten Vorstellungen, wie Gott, sich opfern, wir Menschen, Erken­ nen, das Böse u.s.f. mit den Abstractionen von Seyn, Nichts, Schein und dergl.; man wird unbequem von einem dieser heterogenen Boden auf den

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S O L G E R -R E Z E N S IO N • Z W E IT E R A R T IK E L

ändern herüber und hinüber geworfen; das Gefühl der Unangemessenheit der | abstracten Denkformen zu der Fülle, welche in den Vorstellungen ist, ist für sich störend, wenn man auch die nähere Einsicht in das Unzusammen­ hängende, das jene Vermischung in den Gedankengang bringt, nicht besizt. In der ersten Abhandlung des II. Bds.: B r i e f e , di e M i ß v e r s t ä n d ­ nisse ü b e r P h i l o s o p h i e u n d der en V e r h ä l t n i ß zur R e l i g i o n b e t r e f f e n d S. 1—53, und in der zweiten: U e b e r di e w a h r e B e d e u ­ t u n g u n d B e s t i m m u n g der P h i l o s o p h i e , b e s o n d e r s i n uns er er Z e i t S. 54—199, ist es das weitere Hauptinteresse, das Verhältniß der ange­ gebenen Grundidee zum philosophischen Erkennen zu bestimmen, und die Abweichungen des Erkennens und die falschen Surrogate aufzudecken und zu verfolgen. Zunächst ist hierüber die von Solger auch sonst überall ausge­ sprochene Bestimmung auszuheben, daß P h i l o s o p h i e

und R e l i g i o n

denselben Inhalt hat, daß die Philosophie nichts anders ist als das D e n k e n über die G e g e n w a r t

des Wes ens i n u n s e r e r E r k e n n t n i ß

und

E x i s t e n z , oder mit ändern Worten über die g ö t t l i c h e O f f e n b a r u n g (II. S. 116), daß das Denken, welches das P h i l o s o p h i r e n ist, mit der E r ­ k e n n t n i ß d u r c h O f f e n b a r u n g ganz dasselbe ist, nur von einer ändern Seite betrachtet (S. 174.) — Die Philosophie ist über ihr Verhältniß zur Reli­ gion früher in schlechten R uf gebracht worden. Nachdem die Vernunft dem, was einst Religion genannt wurde, in der That entgegengesezt gewesen war, ist endlich eine Vereinbarung beider auf die Weise erreicht, daß die soge­ nannte Vernunft von der Theologie auf ihre Seite genommen, und durch sie der religiöse Inhalt immer dünner und leerer gemacht wurde. Diese inhalts­ leere Ueberzeugung, die sich fortwährend den Namen Christenthum beilegt, pocht auf die Einschrumpfung des objectiven Inhalts zum subjectiven, dem Gefühl, und erklärt sich nunmehr aus dem ganz gegen vormals entgegengesezten Grunde gegen die Philosophie, aus dem Grunde nämlich, daß die G r u n d l e h r e n des C h r i s t e n t h u m s , mit welchen die neue Theologie so eben fertig geworden zu seyn meint, in der Philosophie vielmehr ihre Vertheidigung finden, und daß von daher diesem Gefühlschristenthum die Erhaltung oder Wiedererweckung desjenigen droht, dessen Tod es bereits in Ruhe genießen zu können meint. - Unter den Planen, mit denen Solger umging, nennt er I. S. 349 auch die Entwickelung, wie das Christenthum aus rein speculativen Gründen verstanden und zur Einsicht gebracht werden könne. Von dem philosophischen Erkennen ist im Allgemeinen diese wesentliche Bestimmung gegeben: »die Idee ist | der positive Inhalt der höheren Er­ kenntniß, die w a h r h a f t e E i n h e i t der durch den Verstand bloß auf ein­

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JA H R B Ü C H E R FÜR W IS S E N S C H A F T L IC H E K R I T I K

ander b e z o g e n e n Stoffe (S. 92f.); das Organ der Philosophie ist das D e n ­ k e n ; sie entsteht daraus, daß das W e s e n und die i n n e r e E i n h e i t unse­ rer Erkenntniß T h ä t i g k e i t ist, Thätigkeit einen U e b e r g a n g von Einem zum Ändern, und folglich einen G e g e n s a t z in sich schließt; das Erkennen der Gegensätze aber in ihren Beziehungen auf einander, und ihre A u f ­ h e b u n g i n di e u r s p r ü n g l i c h e E i n h e i t , worin sie zugleich Gegen­ sätze desselben (des Denkens) mit sich selbst werden, das Denken ist.« Es wird daselbst das Fortschreiten des Denkens erwähnt, und seine Einseitigkei­ ten bemerklich gemacht; zu der höheren Aufgabe aber, dieß Fortschrei ten für sich selbst, d. i. die innere Nothwendigkeit im Erkennen zu begreifen, zu der eigentlichen Natur der Dialektik ist Solger nicht fortgegangen. Dagegen spricht er sich über die von der Reflexion ausgehende Nothwen­ digkeit des philosophischen Erkennens mit bestimmter Einsicht und nachJ _*-

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digung durch das Wahre, jeder Genuß am Schönen, jede Beruhigung im Guten kommt uns von diesem Wesentlichen, insofern es in dem gegebenen Momente uns gegenwärtig ist; aber dasselbe ist für den bestimmten Moment immer nur das Wesentliche des g e g e b e n e n Zustandes, der r e l a t i v e n Verknüpfung, und fällt so selbst unter die Beziehungen der Existenz. Bei die­ sen relativen Gestalten kann sich das reine Bewußtseyn nicht beruhigen; durch die Philosophie, w e l c h e der G l a u b e sel bst i st, aber i n sei ­ ner Ge s t a l t als E i n s i c h t gef aßt , wenn er in der ändern als Erfahrung vorkam, wird d ie I dee e r k a n n t , wie sie in

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M o m e n t e n i hr er

O f f e n b a r u n g di esel be ist, wie sie durch die Gegensätze, die sie als voll­ kommene Einheit in sich selbst enthält, sich an die Existenz anzuschließen, und sie in sich aufzunehmen fähig ist.« So kommt die Idee erst in i h r e r g a n z e n B e d e u t u n g zum Bewußtseyn, da sie sonst immer durch b e s o n ­ dere Z u s t ä n d e und Beziehungen getrübt ist. Daß in diesen das Bewußt­ seyn sich nicht befriedigt finden kann, darin liegt die Nothwendigkeit, daß es zur Philosophie getrieben wird. Das Philosophiren ist daher keineswegs ein willkürliches Unternehmen, sondern ein nothwendiges und unausweich­ liches. Wer sich nicht entschließen will zu philosophiren, muß dennoch sein Heil darin versuchen, und wird nun getrieben, sich mit einem unglücklichen Ersätze zu begnügen, und dadurch den Glauben selbst zu entwürdigen; II. Il6ff. - | »Der M e n s c h m u ß p h i l o s o p h i r e n , er mag wollen oder nicht (ist es II. S. 112 ausgedrückt), und wenn er sich nicht entschließt es au f die r e c h t e wi s s e n s c h a f t l i c h e W e i s e zu thun, so rächt sich die Philosophie an ihm durch die g r u n d l o s e s t e n u n d v e r d e r b l i c h s t e n Sophi st er ei en. « — Mit den falschen Surrogaten für die Philosophie, mit

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den Ausweichungen und Ausflüchten, sich mit Ersparung des Denkens Be­ friedigung zu finden, ist Solger sehr bekannt; er entwickelt diese Irrthümer und bekämpft sie unter allen den vielartigen Gestaltungen, die sie annehmen, mit Wärme und mit gründlicher Einsicht. »Die Frommen (heißt es II. S. 37), die nur das Wesentliche und Einfache, über welches nicht gedacht zu wer­ den brauche, in der Religion festhalten wollen, haben sich wohl vorzusehen, was dieses Wesentliche sei; der Glaube ohne Einsicht verliert sich in äußer­ liche Thatsachen, Wunder und Aberglauben.« Solger macht die Einseitigkei­ ten des gemeinen Verstandes und der um nichts weniger darin befangenen Orthodoxie und Pietisterei bemerklich (II. S. 37ff.); er zeigt die Oede, in welche dieser Verstand als Aufklärerei verfallen ist, aus welcher wieder eine andere Scheinphilosophie hervorgegangen ist, das R e i c h der A n s i c h ­ t en S. 58, das insbesondere gut charakterisirt ist als ein Denken, das sich nach jeder Gestalt der Erfahrung, und nach jedem Treiben der Zeit modelt, Theorien, besonders in der Geschichte, indem es doch immer Erinnerung an das Wesentliche bedarf, für den Augenblick und für jeden besondern Zweck erfunden; Niemand glaubt daran, und Jeder heuchelt sie vor sich und vor Ändern. Wie über diese Halbheit des Bewußtseyns, mit der sie um die Wahr­ heit herumgehen, so finden sich S. 192 über ein p h a n t a s i r e n d e s H e r ­ u m s p i e l e n um die Tiefen des menschlichen Gemüths und anderwärts über andere Charlatanerien aus gründlicher Erfahrung geschöpfte und mit sicherer Hand gezeichnete ernste Gemälde. Diese Sophistereien erhalten den schwär­ merischen Beifall der Menge, weil sie leicht aufzufassen sind, und d ie M ü h e des D e n k e n s unnütz, ja unmöglich machen. S. 193. Die erwähnte R e i h e v o n B r i e f e n läßt sich näher auf die Aufdeckung und Bestreitung der M i ß v e r s t ä n d n i s s e ü b e r P h i l o s o p h i e und deren V e r h ä l t n i ß zur R e l i g i o n ein. So viel Wichtiges und Lehrreiches sie ent­ halten, so pflegen dergleichen Zurechtweisungen doch nicht so viel Wirkung zu thun, als von ihrem Gehalte zu erwarten stände; man ist überhaupt der Erklärung der Philosophen müde geworden, daß man sie mißverstanden habe. Die Ver |ständlichkeit im Vortrage abstracter Ideen einerseits, und an­ dererseits das Vermögen, philosophische Gedanken nachdenken zu können, sind Bedingungen, über welche es wenigstens von langer Hand seyn würde, ins Klare zu kommen. Doch gibt es eine Art von Mißverständnissen, von welchen sich direct fordern läßt, daß sie nicht statt finden sollten, nämlich die U n r i c h t i g k e i t e n in dem, was das Fa c t i s c h e ist. W enn es zu nichts oder gar nur zu größerer Verwirrung führt, gegen andere Arten von M iß­ verständnissen zu polemisiren, so hat die Philosophie sich wenigstens über die f al sche A n g a b e der T h a t s a c h e n mit Recht zu beschweren, und

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wenn man näher zusieht, ist diese Art wider Vermuthen die häufigste, und geht zum Theil ins Unglaubliche. Das Hauptinteresse der zweiten Abhandlung ist theils dasjenige Verhältniß, welches in der r e l a t i v e n Art des Erkennens statt findet, daß nämlich das Ewige nur eine Voraussetzung, hiemit aber nur ein abstract Allgemeines sei, so daß die ursprüngliche Identität eine bloße F o r m der Einheit und Ver­ knüpfung, nicht die g ö t t l i c h e Tha t s a c he sel bst werden könne; theils aber das wahrhafte Verhältniß dieser göttlichen Thatsache zum Erkennen darzuthun. Diese Thatsache wird nach dem schon Angeführten so bestimmt, daß Gott in unserer Existenz wirklich und gegenwärtig sei, sich in uns zur Existenz schaffe, und wir diese Existenz desselben in uns e r l e b e n u n d w a h r n e h m e n müssen. Das wahrhafte Verhältniß dieser Thatsache zum Er­ kennen soll dieses seyn: indem das Denken sich in seinem Fortgang abtrpfp

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und relativen Bestimmungen bringe und aufhebe, die Idee sel bst als der e w i g e A c t der E i n h e i t frei h e r v o r , und stelle sich als gegenwärtiges Wesen wieder her; so müsse die Gegenwart Gottes in uns selbst unmittelbar erfahren werden. (S. 101.) Indem es aber dem Verf. in der oben angegebenen Absicht »eines Manife­ stes« nicht darum zu thun ist, die Grundideen zu beweisen, sondern diesel­ ben nur zu exponiren mit der polemischen Rücksicht auf unvollkommene Erkenntnißweisen, so erwächst für den Aufsatz der Nachtheil mehr eine Reihe von wiederholenden Behauptungen und Versicherungen als eine Ent­ wickelung von Gründen zu geben, welche eine Ueberzeugung hervorbrin­ gen könnte. Es wird weder an dem Denken selbst die Nothwendigkeit auf­ gezeigt, daß es sein Reflectiren aufgebe, zum Aufgeben seiner Gegensätze und zur Vereinigung derselben fortgehe, noch weniger die Nothwendigkeit des | Uebergangs von einer g e d a c h t e n Einheit zur sogenannten göttlichen Thatsache und der wirklichen Erfahrung derselben. Dem Verfasser war es noch zu sehr Angelegenheit, nach Außen seinen Standpunkt eindringlich zu machen und gegen Ausweichungen zu verwahren, als daß es seiner philoso­ phischen Bildung schon hätte Angelegenheit werden können, die Richtung nach Innen zu nehmen, und unbekümmert um jene äußeren Rücksichten die logische Entwickelung dieser Gedanken zu erreichen, und sich und seine Leser damit ins Klare zu bringen. Es fehlt daher nicht, daß jene Exposition so tiefer Gedanken noch unaufgeklärte Schwierigkeiten und Widersprüche

6 Identität]

O : Identät

22 eine] O: einer

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von Bestimmungen darbietet, welche das Verständniß vielmehr erschweren, als die nicht methodische Art des Vortrags es erleichtern sollte. Die zwei Bestimmungen, auf deren Beziehung Alles gesezt ist, sind, wie angeführt, die Entwickelung des Denkens und das Ewige selbst. Die Natur des W i s s e n s ist (S. 141) in die wichtige Bestimmung gefaßt, daß es »der Abschluß und die Vollendung des Denkens ist, und zwar so, daß diese Voll­ endung niemals d u r c h das D e n k e n a l l e i n möglich sei, sondern sie er­ fordere zugleich, daß die Stoffe des Denkens in ihren Gegensätzen

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s ic h

E i ns seien; so sei mit einem jeden s o l c h e n Abschlüsse (eigentlich indem das Denken jene Gegensätze zu ihrer erst an si ch seienden Einheit z u ­ rückbringt)

zugleich eine W a h r n e h m u n g

oder E r f a h r u n g dieser

w e s e n t l i c h e n E i n h e i t des Stoffes verbunden, und es entstehe erst aus beiden

S e i t e n der Erkenntniß das v o l l e Wi ssen. «

Man sieht zu­

nächst, daß das Denken unterschieden wird von seiner Vollendung. Bei der Rücksicht auf die, welche es für Selbsttäuschung, Anmaßung, Schwärmerei und dergl. ausgeben, die göttlichen Dinge wissen zu wollen, oder die auch sagen (S. 143), daß der Mensch wohl noch einmal so weit komme, aber noch seien wir nicht dahin gelangt, wird das Verhältniß vom Seyn des Ewigen und vom Wissen so behauptet, daß »im vollen Bewußtseyn das ewige Wesen sich selbst zum Stoffe macht, sich zu G r u n d e l i e g t , und vor seiner Aeußerung und Offenbarung v o r a u s b e s t e h t ; die Art, wie wir dieses sein Vor­ ausbestehen erkennen, ist, was der G l a u b e genannt wird, die absolut g e ­ wi sse u n m i t t e l b a r e Erkenntniß selbst, auf dem für uns schlechthin Alles beruht; was nun durch den Glauben für uns da ist, die Offenbarung und ihre Verzweigungen in den Gegensätzen der Existenz, können und sollen wir in Wahrheit wi ssen. « | Diese Gegenwart, Wirklichkeit des Wahren, die Unmöglichkeit, irgend etwas zu wissen und zu thun ohne diese G r u n d l a g e

und V o r a u s ­

s e t z u n g , ist der ei ne F u n d a m e n t a l p u n k t . Es kann als unbedeutende Abweichung angesehen werden, daß in dem leztern Vortrag die Unmittel­ barkeit des Ewigen im Bewußtseyn unterschieden wird von dem W i s s e n , in dem erstem aber nur von dem D e n k e n , welches damit als das eine nur der beiden Momente des Wissens, wie dieses daselbst bestimmt war, wird. Der andere Fundamentalpunkt aber außer dem Verhältniß der Grundlage und Voraussetzung ist das Auseinanderhalten dessen, was die Erfahrung des Ewi­ gen genannt wird, von diesem Wissen oder dem sich abschließenden Den­ ken. Der Vortrag bleibt in dieser Behauptung bei den Kategorien von W irk­ lichkeit, Thatsache, Glauben, Erfahrung einerseits, und von Denken anderer­ seits, und bei der Assertion ihres wesentlichen Getrenntbleibens stehen, ohne

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J A H R B Ü C H E R FÜR W IS S E N S C H A F T L IC H E K R I T I K

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diese Kategorien weiter zu analysiren; der Eifer, die Behauptung andringlich zu machen, verhindert auf sie selbst zurück zu sehen. Die meisten aber, ja alle Streitigkeiten und Widersprüche müssen sich durch das leichtscheinende Mittel ausgleichen lassen, nur dasjenige, was sich im Behaupten ausspricht, vor sich zu nehmen und es einfach zu betrachten, und mit dem Weitern zu vergleichen, was man gleichfalls behauptet. Wissen, was man sagt, ist viel sel­ tener, als man meint, und es ist mit dem allergrößten Unrecht, daß die An­ schuldigung, nicht zu wissen, was man sagt, für die härteste gilt. - Sehen wir hiemit nun die Behauptung Solgers genau an. Zunächst wird vom philosophischen Erkennen immer die richtige und große Bestimmung gegeben, daß es das Denken des E w i g e n ist, insofern das Ewige in den Ge |gensätzen seiner Offenbarung als ei ns u n d das ­ sel be enthalten ist (S. 124). Es wird wiederholt als die wahrhafte Weise des — ~,-i™ — X V dl 111L,

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Vorstellung von seiner Zeit sehen wir bei Solger in dem Briefwechsel nur zu häufig wiederkehren, und die wenige Aufmerksamkeit, mit welcher ihm seine Bemühungen für die Belebung des Sinnes für göttliche Dinge auf­ genommen zu werden scheinen, vermehrt die Verstimmung seines Urtheils über das Publicum, das er nur unter dem Bilde sieht, welches er sich aus der nähern oder entferntem Umgebung macht, die sein Umgang berührt. Im J. 1815 schreibt er (S. 345) an die Frau v. Groben: »Diese Art Alles, was nur recht rein und wahrhaft schön ist, herabzusetzen, ist mir sehr wohl bekannt, und es geht mir so übel, daß ich sie oft bei Leuten finde, bei denen man sonst den erhabenen Eifer für das Herrlichste bewundert. — Um in den Augen der j e t z i g e n

Welt

und selbst der sogenannten Bessern etwas

Rechtes zu gelten, muß man wenigstens nach einer Seite r e c h t t ü c h t i g b o r n i r t seyn, irgend einer schwachen Neigung schmeicheln, das W a h r e und G u t e immer nur in einer v e r f ä l s c h t e n G e s t a l t sehen.« — S. 359 an seinen Bruder: »Du glaubt nicht, wie es in u n s e r n G e s e l l s c h a f t e n , selbst unter Gelehrten, zugeht: man langweilt sich lieber und spricht über die albernsten Dinge, als daß Einer dem Ändern seine Gegenmeinung sagt«; vorher hieß es: »sie nehmen sich in Acht, selbst sich über irgend Etwas gründlich zu äußern, weil dabei notwendig der S c h e i n der A l l w i s s e n ­ h e i t Gefahr läuft.« Zu vielfach anderwärts (S. 410, 421, 462) kommen sol­ che Klagen vor, um nicht zu fühlen, daß dieser Unmuth mehr als vorüber­ gehende Stimmung ist. Noch aus dem J. 1818 (S. 607) lesen wir folgendes Resultat seiner Erfahrungen über seine Bekanntschaften: »Ich lebe in dieser großen Stadt fast | wie auf einer wüsten Insel. Selbst derer, die ein be­ schränktes Privatinteresse bewegt, sind doch nur wenige, Alles Uebrige ist,

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wo es nicht auf das t ä g l i c h e B r o d u n d di e t ä g l i c h e n A u s t e r n geht, ein w e i t e r s t e h e n d e r Sumpf .

So sieht es in dieser » g r o ß e n «

Z e i t aus. — Was dieses Geschlecht etwa noch mag, das sind Müllnerische Rabenstein-Tragödien, — frömmelnde gedankenlose Beispielsammlungen darüber, daß es einen Gott gibt u.s.f. Und wenn sie nur durch so etwas hin­ gerissen und erregt würden, so wäre d o c h n o c h ei n K e i m da! Aber nein! Diese Dinge wirken in Wahrheit so wenig wie unsere guten Sachen; man hat sich willkürlich vorgenommen, daß sie wirken sollen; es steht ja darüber geschrieben, daß darin vortreffliche tugendhafte Modegesinnungen enthalten seien, diese muß man doch auch haben wollen, und das ist der ein­ zige Grund, warum man sich selbst vorschwazt, davon begeistert zu seyn! So sieht es in dieser » h o f f n u n g s r e i c h e n Z e i t « aus.« Bei Gelegenheit, daß S. 686 Solger auf den Ref. zu sprechen kommt, äußert er sich: »Ich war be­ gierig, was H. hier für einen Eindruck machen würde. Es spricht Niemand von ihm. Es durfte nur der dümmste Nachbeter hergekommen seyn, der­ gleichen sie gar zu gern einen hätten, so würde großer Lärm geschlagen, und die Studenten zu H e i l und R e t t u n g i h r e r S ee l e n in seine Collegien g e w i e s e n werden. - Ich mache mir zuweilen den Spaß, recht dummdreist hineinzuplumpen, und das geht um so eher, als sie gar nichts Edles oder Tu­ gendhaftes mehr von mir erwarten; was mich für mein Gelingen immer am meisten besorgt macht, das ist, daß ich k e i n e n e u e N a r r h e i t v o r z u ­ s c h l a g e n habe.« Man kann nicht ohne schmerzliche Empfindung solche Schilderung der bis zum Aeußersten gehenden Verstimmung und des Ueberdrusses an dem Gei­ ste sehen, dessen Bild er sich aus seiner Erfahrung gemacht hat. W ill man sich freilich an das halten, was in dem öffentlichen Verkehr, in Literatur­ zeitungen, oder auch auf dem Theater u.s.f. häufig am beliebtesten und am gerühmtesten zu seyn pflegt, so wird man solche Schilderungen etwa nicht zu grell und solche Empfindungen nicht ungerecht finden. Was es auch mit dem eigenthümlichen Geiste der Stadt, in dessen Anschauung Solger lebte, der für dieselbe immer für auszeichnend gehalten worden ist, für eine Bewandtniß habe, so möchte man Solgern gewünscht haben, daß die Erschei­ nungen des Umganges und des gesellschaftlichen Treibens und Redens ihn weniger frappirt, und daß er sie von seiner Phantasie und Empfindung mehr ab |gehalten hätte, wenn es freilich nicht angeht, alle Verhältnisse und Be­ gegnungen zu vermeiden, in welchen die Plattheit oder Rohheit solcher Er­ scheinungen sich zuträgt oder plump aufdringt. Zur Verminderung der Reiz­ barkeit dagegen aber mußte die Betrachtung beitragen, daß die Weise der äußerlichen Geselligkeit und des literarischen Treibens, das sich am lautesten

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macht, für sich nicht nur, sondern oft auch in Beziehung auf die Individuen selbst, die sich darin bewegen, eine Oberfläche ist, innerhalb deren sie wohl noch einen nicht erscheinenden Ernst und das Bedürfniß denselben, aber ohne ihn auszustellen oder auszusetzen, unbeschrieen abzumachen und gründlich zu befriedigen, haben können. W o aber solches Bedürfniß nicht vorhanden, und der ganze Zustand des wissenschaftlichen und überhaupt des geistigen Interesses durch und durch zu einer gleißenden Oberfläche gewor­ den, wie Solger solche Anschauung vor sich hat, so ist solche gründliche Verflachung ihrem Schicksal, dem Glücke ihrer Eitelkeit, zu überlassen. Indem Solger dieses Bild seiner Erfahrung zu mächtig in sich seyn läßt, mußte er das tiefere Bedürfniß, das in seiner und jeder Zeit vorhanden ist, verkennen und sich abhalten lassen, seine Thätigkeit und Arbeit nur nach der Stätte, die derselben würdig ist, zu richten, daselbst seine Wirkung zu suchen und zu erwarten. Er kehrt zwar öfters auch zu heiterem Muthe zurück, wie S. 413, wo er darauf, daß vom E r w i n »eben fast Niemand Notiz nehme«, sagt: »Wir müssen also uns und den Musen schreiben, und, nicht zu verges­ sen, unsern Freunden.« So fängt es auch S. 509 mit einem Ausdruck besserer Ueberzeugung an, nämlich daß die wahre Philosophie n u r im S t i l l e n — wirken könne, aber es ist hinzugesezt, im Stillen und g l e i c h s a m u n b e ­ w u ß t , weil es »immer sehr wenige Menschen gebe, die n u r d a h i n zu bringen seien, daß sie das Einfache und Reine als das Höchste erkennen. Sie wollen Schwung und Pomp und außerordentliche, unerhörte Herrlichkeiten, die sie sich doch nur aus den Lumpen der gemeinen Gegenwart zusammen­ setzen.« »Darum«, ist dann fortgefahren, »bleibe ich immer dabei, daß sich die Philosophie am besten in ihrer ganzen Wirklichkeit darstellt durch das G e s p r ä c h , und daß dieß ihr bestes Mittel bleibe, auf Menschen l e b e n d i g zu wirken.« Die zuerst genannte Stille, in welcher die Philosophie gedeihe, hätte eher auf das entgegengesezte Resultat führen können, bei der Absicht des Wirkens vielmehr jene wenn auch Wenigen im Auge zu haben. Bei jener Stimmung kann es nicht wundern, Solgern sich die P o p u l a r i ­ t ät zum wesentlichen Ziele machen zu sehen; »besonders will ich aber«, heißt es I. B. S. 385, »der W e l t das H e r z rühren über R e l i g i o n ; der Himmel helfe mir nur zu einer recht eindringenden Darstellung, damit ich nicht ganz in den W ind rede«, oder noch im J. 1818 (I. B. S. 593): »Einen Gedanken hege ich mit großer Liebe — es ist der, einen p o p u l ä r e n Unter­ richt über Religion, Staat, Kunst und die allgemeinsten sittlichen Verhältnisse von meiner Philosophie auszuschrei |ben, so daß sich U n g e l e h r t e , W e i ­ b e r und die e r wa c h s e n e J u g e n d daraus belehren können.« Was er für das Mittel ansieht, ist in Folgendem (I. B. S. 316) angegeben: »Ich glaube

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durch Erfahrung gewiß zu seyn, daß in der heutigen Welt den Menschen ein B l i c k aufs H ö h e r e noch am ersten durch die K u n s t a b g e l o c k t wird, und daß sie diese in das Innere der Dinge zuerst hineinzieht.« W enn es seine Richtigkeit hätte mit solchem Urtheile der Verzweiflung, daß es mit einer Zeit so weit gekommen, um es nur darauf anlegen zu müssen, den M e n ­ s chen e i n e n B l i c k aufs H ö h e r e a b z u l o c k e n , so müßte man noch mehr an den Mitteln dazu, an der Kunst oder Philosophie oder was es sei, verzweifeln. Der Zusammenhang von D e n k e n , L e b e n , K u n s t ist so ge­ dacht (II. S. 620): »Ich möchte gern das D e n k e n wieder ganz ins L e b e n aufgehen lassen; — daher kam es, daß ich mir die k ü n s t l e r i s c h e d i a l o g i ­ sche Form gleich als mein Ziel hinstellte, — fast glaube ich nun, daß ich etwas unternommen habe, was die Zeit nicht will und mag. Man will n i c h t l e b e n , sondern vom Leben s c h w a t z e n ; - hat doch Keiner, der in unse­ rer Zeit et was r e c h t L e b e n d i g e s leisten wollte, wie N o v a l i s , Kl e i s t u.s.w. d u r c h k o m m e n können!« — Es ist oben gezeigt, daß Solger die eigenthümliche Lebendigkeit, welche die Natur der denkenden Idee in ih r sel bst enthält, mißkannt hat, welche schon Aristoteles so tief und innig als die höchste Lebendigkeit faßte. Dieser Alte sagt (Metaph. X I. 7): Die Thätigkeit des Denkens ist Leben; Gott aber ist die Thätigkeit; die für sich selbst seiende Thätigkeit aber ist dessen vollkommenes und ewiges Leben. —Wenn aber von dem künstlerischen Bewußtseyn des » r e c h t L e b e n d i g e n « die Rede seyn, und ein Moderner und Deutscher als Exempel angeführt werden sollte, und nicht G o e t h e etwa, der wohl das »recht Lebendige« geleistet, und auch hat » d u r c h k o m m e n « können, angeführt ist, sondern N o v a ­ lis ! sondern K l e i s t ! — so würde man hieraus inne, daß nur ein durch reflectirendes Denken vielmehr in sich entzweit bleibendes, sich selbst stö­ rendes Leben gemeint ist. Denn was sich als die Individualität von Novalis zeigt, ist, daß das Bedürfniß des Denkens diese schöne Seele nur bis zur Sehnsucht getrieben, und den abstracten Verstand weder zu überwinden, noch ihm auch zu entsagen vermocht hat. Dieser ist dem edlen Jüngling viel­ mehr so ins Herz geschlagen, mit solcher Treue kann man sagen, daß die transcendente Sehnsucht, diese Schwindsucht des Geistes, sich durch die Leiblichkeit durchgeführt, und dieser consequent ihr Geschick bestimmt hat. - Die in der Entzweiung bleibende Reflexion der Kleistischen Productionen ist oben berührt worden; bei aller Lebendigkeit der Gestaltungen, der Cha­ raktere und Situationen mangelt es in dem substantiellen Gehalt, der in lezter Instanz entscheidet, und die Lebendigkeit wird eine Energie der Zerris­ senheit und zwar einer absichtlich sich hervorbringenden, der das Leben zer­ störenden und zerstören wollenden Ironie. |

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Schon aus dem J. 1800 ist aus Solgers Tagebuche eine Stelle (S. 15) gege­ ben, worin er den Vorsatz ausspricht, ein Buch in Dialogen zu schreiben, und noch unter seinem Nachlasse (im 2ten Bd. dieser Sammlung) findet sich ein speculativer Aufsatz in derselben [Form] verfaßt. Man kann nicht in Ab­ rede seyn wollen, daß sich der Platonischen Meisterschaft im Dialog nicht in jetzigen Zeiten noch würdig nacheifern und damit große Wirkung und Anerkenntniß hervorbringen lassen möge. Doch protestirt Solger ausdrücklich dagegen, daß er Plato habe nachahmen wollen; aber die Nachahmung einer Methode kann doch nichts Anderes heißen, als was an ihr zweckmäßig und richtig ist ausüben. Allein Solger hat die plastische Form, welche der Dialog allein durch die Eigenschaft, die Dialektik zur Seele zu haben, gewinnen kann, nicht aufgenommen, sondern ihn in das Gegentheil, in die C o n v e r s a t i o n verändert, wodurch aller Vortheil dieser Form für abstracte Mate­ rien, die strenge Nothwendigkeit des Fortgangs mit einer äußerlichen Be­ lebung begleitet, verloren gegangen, und nur der Nachtheil, ermattende Breite des Vortrags, ein lästiger Ueberfluß, die Gestalt der Zufälligkeit des Vorgetragenen, die Störung oder Unmöglichkeit, den Faden des Raisonnements festzuhalten und zu übersehen, hereingebracht worden ist. Der eine der Freunde hält (I. Bd. S. 353) die Gespräche des Erwin für schwer. »Sie müssen schlechterdings, durch welche Mittel es sei, die künftigen verständ­ licher machen.« Ein Anderer sagt ihm noch spät (S. 741) in auch sonst nicht heiterem Zusammenhange: »Bis jezt verstehe ich noch das Straßburger M ün­ ster besser als deinen Erwin.« Das beste Mittel, den Inhalt Erwins verständ­ licher zu machen, wäre die schlichte Exposition in zusammenhängendem | Vortrag gewesen; die Gedanken des ersten Theils, der sich mit Widerlegung früherer Definitionen und Standpunkte, das Schöne zu betrachten, beschäf­ tigt, ließen sich wohl auf wenigen Blättern deutlich und bestimmt vortragen: so würde leicht zu fassen seyn, was mit der schweren Mühe des Durchlesens der Gespräche kaum erreicht wird. Der erstere der Freunde äußert in dem­ selben Zusammenhang, um Solgern die Bemühung um Verständlichkeit näher ans Herz zu legen: »Nicht P l a t o n s Parmenides, Euthydem(?), Timäos haben seinen R uf hauptsächlich gegründet, nicht durch diese schweren Dialogen hat er w e i t v e r b r e i t e t g e w i r k t , nicht darum den Beinamen des Göttlichen erhalten, nicht mit dem mühsam zu Ergründenden die Seele erneuet und wiedergeboren; weit mehr durch den Phädon, das Gastmahl und die bei der großen Tiefe so sehr verständliche Republik.« Für eine hievon abweichende Ansicht möchte ich mich auch auf die Geschichte berufen, daß 4 derselben [Form]] O : derselben W XH : dialogischer F orm

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nämlich P 1a t o ’ s Lehre, wie sie im P a r m e n i d e s und T i m ä u s vornehm­ lich vorgetragen ist, zu Ecksteinen der Alexandrinischen Philosophie gewor­ den, welche der Ausbildung des höheren christlichen Lehrbegriffs, insofern er die Erkenntniß von der Natur Gottes enthält, wesentlichen Vorschub gethan hat. Das Schwere jener Dialogen, durch welche Plato diesen großen Einfluß gehabt, liegt in der Natur des tiefen Gehalts; aber dieser allein ist es, der in die Erleuchtung des Christenthums eingedrungen, und darin sich so mächtig bewiesen hat; die Art, wie er in jenen Dialogen vorgetragen ist, ist ihm angemessen; sie ist die abstracteste, strengste, von aller ConversationsManier am entferntesten. —W ir haben in modernen Sprachen Meisterwerke des dialogischen Vortrags (man braucht nur auf Gagliani’s Dialoge, Diderot, Cousin und Rameau zu verweisen); aber hier ist die Form gleichfalls der Sache untergeordnet, nichts Müßiges; die Sache ist aber kein speculativer In­ halt, sondern eine solche, welche ganz wohl ihrer Natur nach Gegenstand der Conversation seyn kann. In jener | plastischen Form P l a t o ’ s behält Einer der Unterredenden den Faden des Fortgangs in der Hand, so daß aller Inhalt in die Fragen, und in das Antworten nur das formelle Zustimmen fällt; der Belehrende bleibt leitender Meister, und gibt nicht Auskunft auf Fragen, die man ihm machte, oder Antworten auf vorgebrachte Einwendungen. Die Stellung ist die umgekehrte der Vorstellung, die man sich von der Socratischen Methode, wie man auch die Einrichtung des Katechismus nennt, etwa macht; nicht der Unwissende frägt, und die Personen des Dialogs außer jenem Einen und zwar Fragenden benehmen sich nicht mit der Selbstständig­ keit, die das Recht einer herüber und hinüber gehenden Conversation gäbe, seine besonderen Ansichten, Ueberzeugungen mit Gründen zu behaupten, die entgegengesezten Ansichten zu widerlegen oder aus deren Gründen für sich Vortheile zu suchen. Solches Verfahren des Raisonnements, welches wohl in der Conversation vorherrschend seyn darf, ist von den Alten Sophistik genannt worden. An der von Platon ihr entgegengesezten Dialektik ist jene Form des Dialogs ein Aeußerliches, welches nur die Lebendigkeit her­ beibringt, die Aufmerksamkeit nicht bloß auf das Resultat oder die Totalvor­ stellung zu richten, sondern zur Zustimmung für jede Einzelheit des Fort­ gangs aufgeregt zu werden. Die e p i s o d i s c h e Anmuth, welche mit dieser Form gleichfalls herbeigeführt wird, ist nur zu oft zu verführerisch, als daß nicht Viele bei den Einleitungen stehen bleiben, bei der aber so sehr damit contrastirenden Trockenheit der logischen Abstractionen und der Entwicke­ lung derselben ermattend, nicht in diese hineingehen, und doch meinen, den 9 sie] O : er W XH : es

24 einer] O : einer der

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Plato gelesen und seine Philosophie inne zu haben. Jenes Verhältniß aber, damit das Zustimmen nicht etwas Kahles und ein lahmer Formalismus sei, führt die Nöthigung mit sich, daß jede einzelne Bestimmung und Satz ein­ fach und im strengsten Zusammenhange exponirt sei. Solche plastische Form des Fortgangs ist aber nur möglich durch die bis zum Einfachsten durchge­ drungene Analyse der Begriffe. Nach dieser wesentlichen Bestimmung speculativen Vortrags ist Ar i s t o t e l e s in seinen Entwickelungen eben so pla­ stisch, so daß, wenn man den gediegenem Dialogen Plato’s die Form des Fragens benähme und die Sätze in directer Elocution an einander reihte, man eben so sehr Aristotelische Schriften zu lesen glauben würde, als man Aristo­ telische Schriften oder Kapitel durch Verwandlung der Reihenfolge von Sät­ zen in die Form von | Fragen zu Abschnitten Platonischer Dialogen würde machen können. T

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es würde tediös seyn, sie mit Beispielen aus dem in diesem Nachlasse enthal­ tenen philosophischen Gespräche zu belegen, oder dafür zu E r w i n und den im J. 1817 von Solgern herausgegebenen p h i l o s o p h i s c h e n G e s p r ä c h e n zurückzugehen. Von jenem Dialoge: ü b e r S e y n , N i c h t s e y n u n d E r ­ k e n n e n (II. Bd. S. 199—262) mag nur angeführt werden, daß sich darin, wie schon aus dem Titel erhellt, Solgers philosophische Laufbahn zur Er­ hebung in die Betrachtung reiner speculativer Gegenstände vollendet. Bei diesem Versuch tritt außer dem Störenden der Conversations-Form gleich­ falls der früher bemerkte Uebelstand ein, daß die Abstractionen von Seyn und Nichtseyn mit den concreteren Bestimmungen, wie Erkennen ist, ver­ mischt sind; die Hauptsätze sind solche unangemessene Verbindungen, wie die, daß das N i c h t s e y n das E r k e n n e n sei, das Erkennen ein Nichtseyn des ins Unendliche besondern Seyns, damit aber auch das Allgemeine, u.s.f. Sonst aber ist der allgemeine Begriff der Evolution der Idee, daß sie in jedem Punkte ein Synthesiren, Rückkehr zu sich ist, wie überhaupt der speculative Charakter des Begriffs darin herrschend. Solger scheut nicht, die Einheit von Seyn und Nichtseyn auszusprechen; es kommt vor, daß das Erkennen mit dem Seyn vollkommen Eins, n u r daß das Eine das ist, was das Andere n i c h t ist; S. 224, daß das Allgemeine und das Besondere nothwendig v o l l ­ k o m m e n E i n s i st, da eben das Allgemeine nichts Anderes ist als das N i c h t s e y n des gesammten Besondern (S. 245). Man sieht es, an der speculativen Kühnheit, den Widerspruch zu denken, der nach der traditionellen Logik nicht denkbar und wohl noch weniger existirend seyn soll, fehlte es 9 benähme] O ; b e ne hm e n W x: nähm e

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nicht, so wie nicht an der speculativen Einsicht, daß die Idee wesentlich den Widerspruch enthält. Nur ist dieser in den angeführten Ausdrückungen in seiner ganzen Schroffheit festgehalten, so daß er wie ein Bleibendes er­ scheint, und nicht sein eben so unmittelbar wesentliches Verschwinden damit verknüpft ist, was seine Auflösung ist, und ihn zugleich der Vorstellung, wie dem Denken, erträglich macht. Aber auch jene schroffen Ausdrücke des W i­ derspruchs sind für sich wichtig, damit, wenn man vom Auflösen des Wider­ spruchs und dem Versöhnen des Denkens aus und in demselben mit sich spre­ chen hört, man von der Vorstellung entfernt werde, als | ob solches Auflösen und Versöhnen, und irgend ein Affirmatives, Vernunft und Wahrheit über­ haupt, ohne die Immanenz des Widerspruches statt haben könne. Zu dem Umfange der philosophischen Meditationen Solgers muß noch die P h i l o s o p h i e des R e c h t s u n d Staats angeführt werden, über welche im zweiten Bande drei früher ungedruckte Aufsätze gegeben sind. Obgleich sie aphoristisch und zum Theil nicht vollendet, wohl zunächst zum Leitfaden seiner Vorlesungen über diese Materie dienen sollten, so läßt sich daraus die Tiefe der Gedanken sattsam erkennen, und die gründliche Ansicht ist be­ stimmt genug gezeichnet, um sie sowohl nach der allgemeinen Idee als nach den besondern Kategorien, die über Recht, Staat, Verfassung in Betracht kommen, vor dem ganz auszuzeichnen, was über diese Materien die laufen­ den Principien sind. Ref. hat sich gefreut, bei Durchlesung dieser Aufsätze sich so gut als in Allem übereinstimmend mit ihrem Inhalte zu finden. Es folgen noch einige ungedruckte Aufsätze und an des Königs Geburtstag gehaltene Reden, darunter eine Lateinische. Solgers Fertigkeit in gerundeter, klarer und zugleich gedankenvoller Diction gibt diesen Aufsätzen einen be­ sondern Werth. Man muß es den Herausgebern Dank wissen, daß sie die ge­ haltvolle V o r r e d e Solgers zu seiner Uebersetzung des S o p h o k l e s , und die in den Wiener Jahrb. erschienene, eben so gewichtige, mehr noch in dem, was hin und wieder darin ausgeführt ist, als in den Widerlegungen in­ teressante B e u r t h e i l u n g

der A.

W.

Schlegel schen V o r l e s u n g e n

über dramatische Kunst und Literatur hier haben abdrucken lassen. Den Be­ schluß machen Aufsätze aus dem Gebiete des geistvollen classischen Stu­ diums, welchem sowohl für sich als in Beziehung auf Philosophie Solger seine Neigung und Arbeitsamkeit früh zugewandt und seine ganze Laufbahn hindurch erhalten hat. Die m y t h o l o g i s c h e n A n s i c h t e n sind ein Auf­ satz, der von Hrn. Prof. M ü l l e r in Göttingen aus Solgers Heften und handschriftlichen Sammlungen redigirt ist, und so reichhaltig er ist, doch nur 14 sind. Obgleich] O : sind, obgleich

128

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wenig von dem enthalten konnte, worauf Solger es angelegt und vielfache Vorbereitungen gemacht hatte. Eine von Solgern selbst ausgearbeitete Ab­ handlung: U e b e r di e äl teste A n s i c h t der G r i e c h e n v o n der G e ­ stal t der W e l t geht Vossens bekannten Aufsatz über diesen Gegenstand durch, wo es sich zeigt, wie dieser leidenschaftliche Polterer bei seinem Pochen auf Historie und Genauigkeit der Daten es sich zugestand, seine an und für sich kahlen Vorstellungen mit selbstgemachten | Erdichtungen aus­ zustatten. Die vielen von Solger für die Geschichte der Religionen aus der Lectüre und der Meditation gesammelten Materialien waren für eine umfas­ sende Arbeit über diesen Gegenstand bestimmt; sein Interesse greift tief in die verschiedenen streitigen Ansichten und Behandlungsweisen der Mytholo­ gie in neueren Zeiten ein; Briefe aus den lezten Monaten seines Lebens (s. I. Bd.), in denen er mit seinem Freunde v. H a g e n etwas scharf ZUSammen^^ptv

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der Mannigfaltigkeit der Materien hat dieses, wie noch viel Anderes, seinem allgemeinen Inhalte oder auch der Persönlichkeit nach Interessantes, wie die reiner und zarter Empfindungen vollen Briefe an seine Gattin in dieser An­ zeige müssen übergangen werden, welche von dem, was hier aus dem fami­ liären Kreise der persönlichen Bekanntschaft durch den Druck vor das Publi­ cum gebracht, und so der Beurtheilung ausgestellt worden, nur dasjenige hat aufnehmen sollen, was nicht sowohl die persönliche, mit welcher auch Ref. noch in Berührung zu kommen die Befriedigung gehabt hat, als die wissen­ schaftliche Individualität näher zu bezeichnen dienen konnte. Hegel .

620-621

129

H A M A N N - R E Z E N S IO N • ERSTER A R T IK E L

HAMANN-REZENSION

H

a m a n n s

Sc

h r if t e n

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Herausgegeben vo n Fr i edri ch

R

o t h

.

VII.

Th. Berlin bei Reimer. 1821-1825. Erster Ar t i ke l . Das Publicum ist dem verehrten Hrn. Herausgeber den größten Dank schuldig, daß es durch dessen Veranstaltung und Ausdauer sich H a m a n n s Werke in die Hände | gefördert sieht, nachdem sie früher schwer, und voll­ ständig nur Wenigen zugänglich waren, und nachdem sich so manche Aus­ sichten zu einem gesammten Wiederabdrucke derselben zerschlagen hatten; Hamann leistete (S. X Vorr.) der vielfältigen Aufforderung, eine Sammlung seiner Schriften zu veranstalten, nicht selbst Genüge. Wenige nur besaßen eine vollständige Sammlung derselben; G o e t h e

(1. aus meinem Leben

X IItes B.) hatte den Gedanken gehabt, eine Herausgabe der Hamann’sehen Werke zu besorgen, aber ihn noch nicht ausgeführt. J a c o b i , der ernstliche Anstalten dazu machte, hatte es das Schicksal nicht mehr vergönnt, inglei­ chen ein jüngerer Freund Hamanns, wirkl. Geh. Oberregierungsrath Hr. L. N i c o l o v i u s in Berlin, diese Besorgung abgelehnt und den jetzigen Hrn. Herausgeber vielmehr dazu aufgefordert, welcher als der in der lezten Lebensperiode Jacobi’s mit ihm aufs Innigste vertraute Freund von diesem zum Gehülfen der Herausgabe gewählt worden war; so vollführte denn die­ ser das Vermächtniß des ehrwürdigen, theuren Freundes und befriedigte die Wünsche des Publicums, ausnehmend begünstigt zugleich von dem weitern Glücke (S. X II.), von Freunden Hamanns oder deren Erben eine große An­ zahl von Briefen, und zum Theil in einer mehrjährigen Reihenfolge, zum Abdruck überlassen zu erhalten, und so diese Ausgabe so ausstatten zu kön­ nen, daß nur wenige Umstände oder Verwicklungen des Lebens Hamanns seyn werden, über die man nicht Auskunft erhielte. Zu dem in dieser Samm­ lung Vereinigten ist noch die dritte Abth. des IV. Bandes von J a c o b i ’ s Werken hinzuzunehmen, worin sich der vorzüglich interessante Briefwech­ sel Hamanns mit diesem innigen Freunde befindet, deren Verleger nicht ein1 Hamann-Rezension Überschrift des Herausgebers

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gewilligt hat, daß ein neuer Abdruck für die gegenwärtige Sammlung ge­ macht würde. Dem versprochenen a c h t e n Bande dieser Ausgabe, welcher Erläuterungen, zum Theil von Hamann selbst, vielleicht Nachträge von Brie­ fen und ein Register enthalten soll, haben wir ein Paar Jahre vergebens ent­ gegengesehen; da die Erscheinung desselben sich dem Vernehmen nach leicht noch geraume Zeit verzögern kann, wollen wir diese längst vorgehabte Anzeige nicht länger aufschieben, so wünschenswerth es gewesen wäre, die versprochenen Erläuterungen schon zur Hand zu haben. Man fühlt deren dringendes

Bedürfniß

beim

Lesen Hamann’scher

Schriften;

aber

die

Hoffnung, durch das Versprochene große Erleichterung zu erhalten, vermin­ dert sich ohnehin schon sehr, indem man Vorr. S. X zum ersten Th. liest, daß | die von Hamann selbst anerkannte Unmöglichkeit, alles Dunkle in sei­ nen Schriften aufzuhellen, es war, was ihn zurückgehalten hatte, die Ausgabe derselben zu veranstalten. Auch Jacobi wurde durch die Scheu dieser Forde­ rung früher daran verhindert, und der jetzige Hr. Herausgeber sagt S. X III ebendas., daß die Erläuterungen, die im achten Bande folgen sollen, nur eine sehr mäßige Erwartung vielleicht befriedigen werden, und daß die Zeitfolge der Schriften, hauptsächlich die vielen auf Hamanns Autorschaft bezüglichen Briefe die vornehmlichste Erleichterung des Verständnisses gewähren müs­ sen. Außerdem findet man bald aus, daß das Räthselhafte selbst zum Charak­ teristischen der Schriftstellerei und der Individualität Hamanns gehört und einen wesentlichen Zug derselben ausmacht. Das Hauptdunkel aber, das über Hamann überhaupt lag, ist damit schon verschwunden, daß dessen Schriften nun vor uns liegen. Die allgemeine Deutsche Bibliothek hatte sich freilich viel mit ihm zu thun gemacht, aber nicht auf eine Weise, die ihm Anerken­ nung'und Eingang beim Publicum verschaffen sollte. H e r d e r dagegen und J a c o b i insbesondere (abgesehen von G o e t h e ’ s einzelner Aeußerung, die Vorr. S. X . angeführt ist, aber durch dessen ausführlichere gründliche W ür­ digung Hamanns am vorhin angeführten Orte ihre Einschränkung erhält) er­ wähnten desselben so, daß sie sich auf ihn wie auf einen zu berufen schie­ nen, der da habe kommen sollen, der im vollen Besitze der Mysterien sei, in deren Abglanz ihre eigenen Offenbarungen nur spielten, wie in den Frei­ maurerlogen die Mitglieder vornehmlich auf höhere Obere hingewiesen werden sollen, welche sich in dem Mittelpunkte aller Tiefen der Geheim­ nisse Gottes und der Natur befänden. Ein Nimbus hatte sich so um den M a g u s aus N o r d e n , dieß war eine Art von Titel Hamanns geworden, verbreitet. Dem entsprach, daß er selbst in seinen Schriften überall nur frag­ mentarisch und sibyllinisch gesprochen hatte, und die einzelnen Schriften, deren man habhaft werden konnte, auf die übrigen neugierig machten, in

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denen man sich Aufschluß versprechen mochte. Durch diese Ausgabe seiner Werke, die nun vor uns liegen, sind wir in Stand gesezt, zu sehen, wer Hamann, was seine Weisheit und Wissenschaft war. Fassen wir zuerst die allgemeine Stellung auf, in welcher sich Hamann zeigt, so gehört er der Zeit an, in welcher der d e n k e n d e Geist in Deutsch­ land, dem seine Unabhängigkeit zunächst in der Schulphilosophie aufgegangen war, sich nunmehr in der Wirklichkeit zu ergehen | anfing, und was in dieser als fest und wahr galt, in Anspruch zu nehmen und ihr ganzes Gebiet sich zu vindiciren begann. Es ist dem Deutschen Vorwärtsgehen des Geistes zu seiner Freiheit eigenthümlich, daß das Denken sich in der W ö l f i s c h e n P h i l o s o p h i e eine methodische nüchterne Form verschaffte; nachdem der Verstand nun mit Befassung auch der anderen Wissenschaften, der Mathema­ tik ohnehin, unter diese Form, den allgemeinen Unterricht und die wissen­ schaftliche Cultur durchdrungen hatte, fing er jezt an, aus der Schule und seiner schulgerechten Form herauszutreten und mit seinen Grundsätzen alle Interessen des Geistes, die positiven Principien der Kirche, des Staats, des Rechts auf eine populäre Weise zu besprechen. So wenig diese Anwendung des Verstandes etwas Geistreiches an sich hatte, so wenig hatte der Inhalt ein­ heimische Originalität. Man muß es nicht verhehlen wollen, daß dieß Auf­ klären allein darin bestand, die Grundsätze des Deismus, der religiösen Tole­ ranz und der Moralität, welche R o u s s e a u und V o l t a i r e zur allgemeinen Denkweise der höheren Classen in Frankreich und außer Frankreich erho­ ben hatten, auch in Deutschland einzuführen. Während Voltaire in Berlin am Hofe Friedrichs II. selbst sich eine Zeitlang aufgehalten hatte, viele andere regierende Deutsche Fürsten (vielleicht die Mehrzahl) es sich zur Ehre rech­ neten, mit Voltaire oder seinen Freunden in Bekanntschaft, Verbindung und Correspondenz zu seyn, ging von Berlin der Vertrieb derselben Grundsätze aus in die Sphäre der Mittelclassen, mit Einschluß des geistlichen Standes, unter dem, während in Frankreich der Kampf vornehmlich gegen denselben gerichtet war, vielmehr in Deutschland die Aufklärung ihre thätigsten und wirksamsten Mitarbeiter zählte. Dann aber fand ferner zwischen beiden Län­ dern der Unterschied statt, daß in Frankreich diesem Emporkommen oder Empören des Denkens Alles sich anschloß, was Genie, Geist, Talent, Edelmuth besaß, und diese neue Weise der Wahrheit mit dem Glanze aller Ta­ lente und mit der Frische eines naiven, geistreichen, energischen, gesunden Menschenverstandes erschien. In Deutschland dagegen spaltete sich jener große Impuls in zwei verschiedene Charaktere. Auf der einen Seite wurde das Geschäft der Aufklärung mit trockenem Verstände, mit Principien kahler Nützlichkeit, mit Seichtigkeit des Geistes und Wissens, kleinlichen oder ge­

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meinen Leidenschaften, und wo es am respectabelsten war, mit einiger, doch nüchternen Wärme des Gefühls betrieben, und trat gegen | Alles, was sich von Genie, Talent, Gediegenheit des Geistes und Gemüths aufthat, in feind­ selige, tracassirende, verhöhnende Opposition. B e r l i n war der Mittelpunkt jenes Aufklärens, wo Nicolai, Mendelsohn, Teller, Spalding, Zöllner u.s.f. in ihren Schriften, und die Gesammtperson, die allgemeine Deutsche Biblio­ thek, in gleichförmigem Sinne, wenn auch mit verschiedenem Gefühle thätig waren; Eberhard, Steinbart, Jerusalem, u.s.f. sind als Nachbarn in diesen Mittelpunkt einzurechnen. Außerhalb desselben befand sich in Peripherie um ihn her, was in Genie, Geist und Vernunft-Tiefe erblühte, und von jener Mitte aus aufs Gehässigste angegriffen und herabgesezt wurde. Gegen Nord­ ost sehen wir in Königsberg K a n t , H i p p e l , H a m a n n , gegen Süden in Weimar und Jena H e r d e r , c : _ 1_

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nen Freunden; L e s s i n g , längst gleichgültig gegen das Berliner Treiben, lebte in Tiefen der Gelehrsamkeit wie in ganz anderen Tiefen des Geistes, als seine Freunde, die vertraut mit ihm zu seyn meinten, ahneten. Hippel etwa war unter den genannten großen Männern der Literatur Deutschlands der einzige, der den Schmähungen jenes Mittelpunktes nicht ausgesezt war. Obgleich beide Seiten im Interesse der Freiheit des Geistes übereinkamen, so verfolgte jenes Aufklären, als trockener Verstand des Endlichen, mit Haß das Gefühl oder Bewußtseyn des Unendlichen, was sich auf dieser Seite befand, dessen Tiefe in der Poésie wie in der denkenden Vernunft. Von jener Wirksamkeit ist das W e r k geblieben, von dieser aber auch die W e r ­ ke. W enn nun diejenigen, welche dem Geschäfte der Aufklärung verfallen waren, weil formelle Abstractionen und etwa allgemeine Gefühle von Reli­ gion, Menschlichkeit und Rechtlichkeit ihre geistige Höhe ausmachten, nur unbedeutende Eigenthümlichkeit gegen einander haben konnten, so war jene Peripherie ein Kranz origineller Individualitäten. Unter ihnen ist wohl H a ­ m a n n nicht nur auch originell, sondern mehr noch ein Original, indem er in einer Concentration seiner tiefen Particularität beharrte, welche aller Form von Allgemeinheit, sowohl der Expansion denkender Vernunft als des Geschmacks, sich unfähig gezeigt hat. | Hamann steht der Berliner Aufklärung zunächst durch den Tiefsinn seiner christlichen Orthodoxie gegenüber, aber so, daß seine Denkweise nicht das Festhalten der verholzten orthodoxen Theologie seiner Zeit ist; sein Geist behält die höchste Freiheit, in der nichts ein Positives bleibt, sondern sich zur geistigen Gegenwart und eigenem Besitz versubjectivirt. M it seinen bei­

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den Freunden in Königsberg, Kant und Hippel, die er ehrt, und mit denen er auch Umgang hat, steht er in dem Verhältnisse eines allgemeinen Zutrau­ ens, aber keiner Gemeinschaftlichkeit ihrer Interessen. Von jener Aufklärung ist er ferner nicht nur durch den Inhalt geschieden, sondern auch aus dem Grunde, aus dem er von K a n t getrennt ist, weil ihm das Bedürfniß der den­ kenden Vernunft fremde und unverstanden geblieben ist. H i p p ei n steht er insofern näher, indem er seinen inneren Sinn wie nicht zur Expansion der Erkenntniß, eben so wenig der Poesie herausführen kann, und nur der humoristischen, blitzenden, desultorischen Aeußerung fähig ist; aber dieser Humor ist ohne Reichthum und Mannigfaltigkeit der Empfindung und ohne allen Trieb oder Versuch von Gestalten; er bleibt ganz beschränkt subjectiv. Am meisten Uebereinstimmendes hat er mit dem seiner Freunde, mit dem sich das Verhältniß auch in dem Briefwechsel am innigsten und rückhalts­ losesten zeigt, mit J a c o b i , welcher nur Briefe, und gleichfalls wie Hamann kein Buch zu schreiben fähig war; doch sind Jacobi’s Briefe in sich klar, sie gehen auf Gedanken, und diese kommen zu einer Entwickelung, Ausführung und einem Fortgang, so daß die Briefe zu einer zusammenhängenden Reihe werden und eine Art von Buch ausmachen. Die Franzosen sagen: le Stile c’est l ’homme même; Hamanns Schriften h a b e n nicht sowohl einen eigenthümlichen Styl, als daß sie | durch und durch Styl sind. In Allem, was aus Hamanns Feder gekommen, ist die Persönlichkeit so sehr zudringlich und das Ueberwiegende, daß der Leser durchaus allenthalben mehr noch auf sie als das, was als Inhalt aufzufassen wäre, hingewiesen wird. An den Erzeugnissen, welche sich für Schriften geben und einen Gegenstand abhandeln sollen, fällt sogleich die unbegreifliche Wunderlichkeit ihres Verfs. auf, sie sind eigent­ lich ein und zwar ermüdendes Räthsel, und man sieht, daß das W ort der Auflösung die Individualität ihres Verfs. ist; diese erklärt sich aber nicht in ihnen selbst. Dieß Verständniß vornehmlich wird uns nun aber in dieser Sammlung durch die Bekanntmachung zweier bisher ungedruckter Aufsätze Hamanns aufgeschlossen; der eine ist die von ihm im J. 1758 und 1759 ver­ faßte Lebensbeschreibung, welche freilich nur bis zu diesem Zeitpunkt geht, somit nur den Anfang seines Lebens, aber den wichtigsten Wendungspunkt seiner Entwickelung enthält; der andere, am Ende seines Lebens verfaßt, sollte die ganze Absicht seiner Autorschaft enthüllen (B. VII. Vorr. S. VII), und gibt eine Uebersicht über dieselbe. Die reichhaltige bisher ungedruckte Briefsammlung vervollständigt die Materialien zur Anschaulichkeit seiner Persönlichkeit. Es ist jene Lebensbeschreibung, von der wir auszugehen haben, die auch als das vornehmlichste Neue dieser Ausgabe eine ausführ­ lichere Anzeige verdient.

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Sie ist im I. B. S. 149-242 enthalten, und führt den Titel: Gedanken über meinen Lebenslauf, Ps. 94, 19. (der Anfang) datirt von L o n d o n , 21. Apr. 1758. Die Stimmung, in der sich Hamann daselbst befand, ist in dem ruhig und sehr gut stylisirten und insofern besser als meist alle seine späteren Schrif­ ten geschriebenen Anfänge eines anderen Aufsatzes: B i b l i s c h e B e t r a c h ­ t u n g e n ei nes C h r i s t e n , auch von L o n d o n d. 19. März am Palmsonn­ tage 1758 datirt, ausgedrückt: »Ich habe heut mit Gott den Anfang gemacht, zum zweiten Mal die heilige Schrift zu lesen. Da mich meine Umstände zu der größten Einöde | nöthigen, worin ich wie ein Sperling auf der Spitze des Daches sitze und wache, so finde ich gegen die Bitterkeit mancher trau­ rigen Betrachtungen über meine vergangenen Thorheiten, über den M iß­ brauch der Wohlthaten und Umstände, womit mich die Vorsehung so gnä­ dig unterscheiden wollen, ein Gegengift in der Gesellschaft meiner Bücher, i AAX

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senschaften und jene Freunde meiner Vernunft scheinen gleich Hiobs mehr meine Geduld auf die Probe zu stellen, anstatt mich zu trösten, und mehr die Wunden meiner Erfahrung bluten zu machen, als ihren Schmerz zu lin­ dern. Die Natur hat in alle Körper ein Salz gelegt, das die Scheidekünstler auszuziehen wissen, und die Vorsehung (es scheint) in alle Widerwärtigkei­ ten einen moralischen Urstoff, den wir aufzulösen und abzusondern haben, und den wir mit Nutzen als ein Hülfsmittel gegen die Krankheiten unserer Natur und gegen unsere Gemüthsübel anwenden können. Wenn wir Gott bei Sonnenschein in der Wolkensäule übersehen, so erscheint uns seine Ge­ genwart des Nachts in der Feuersäule sichtbarer und nachdrücklicher. Ich bin zu dem größten Vertrauen auf seine Gnade durch eine Rücksicht auf mein ganzes Leben berechtigt. Es hat weder an meinem bösen Willen gelegen, noch an Gelegenheit gefehlt, in ein weit tieferes Elend, in weit schwerere Schulden zu fallen, als worin ich mich befinde. Gott! wir sind solche arm­ selige Geschöpfe, daß selbst ein geringerer Grad unserer Bosheit ein Grund unserer Dankbarkeit gegen dich werden muß.« Die Veranlassung zu dieser bußfertigen Stimmung so wie zu dem Niederschreiben seines bisherigen Lebenslaufs waren die Verwickelungen, in welche er in dieser Epoche gerathen war, und die hier mit den früheren Hauptmomenten seines Lebens kurz herauszuheben sind. Hamann ist den 27sten August 1730 in Königsberg in Preußen geboren; sein Vater war ein Bader, und, wie es scheint, von bemittelten Umständen. Das Andenken seiner Eltern (S. 152) »gehört unter die theuersten Begriffe seiner Seele, und ist mit zärtlicher Bewegung der Liebe und Erkenntlichkeit ver­ knüpft«; ohne weiteres Detail über ihren Charakter ist gesagt, daß die Kinder

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(Hamann hatte nur noch einen etwas jüngeren Bruder) »zu Hause eine Schule an der Aufsicht, ja an der strengen Aufsicht und an dem Beispiele der Eltern fanden.« Das elterliche Haus war jederzeit eine Zuflucht junger Studirenden, welche die Arbeit sittsam machte; in diesem Umgange | trieb Hamann Spra­ chen, Griechisch, Französisch, Italienisch, Musik, Tanzen, Mahlen; »so schlecht und recht wir in Kleidern und in anderen Thorheiten kurz gehalten wurden, so viel Ausschweifung wurde uns hier verstattet und nachgesehen.« In seiner Schulerziehung hatte er sieben Jahre Unterricht bei einem Manne, der ihm das Latein ohne Grammatik beizubringen gesucht hatte; alsdann bei einem mehr methodischen Lehrer, bei dem er dafür nun mit dem Donat an­ fangen mußte. Die Fortschritte, die er hierin machte, waren so, daß derselbe sich und Hamann schmeichelte, an diesem einen großen Lateiner und Grie­ chen erzogen zu haben; Hamann nennt ihn einen Pedanten, und über die er­ langte Fertigkeit im Uebersetzen Griechischer und Lateinischer Autoren, in der Rechenkunst, in der Musik, läßt er sich in den damals sich verbreitenden Ansichten gehen, daß die Erziehung auf Bildung des Verstandes und Urtheils gerichtet seyn müsse. Der junge Adel und viele Bürgerskinder sollten eher die Lehrbücher des Ackerbaues als das Leben Alexanders u.s.f. zu Lehrbüchern der Römischen Sprache haben und dergleichen; Ansichten, von welchen die Basedow’schen, Campe’schen u. a. Declamationen und Aufschneidereien, wie ihre pomphaften Unternehmungen ausgegangen, und welche auf die O r­ ganisation und den Geist des öffentlichen Unterrichts so nachtheilige, noch jezt, so sehr man davon zurückgekommen, in ihren Folgen nicht ganz besei­ tigte Einwirkungen gehabt haben. Hamann klagt, daß er in Historie, Geogra­ phie ganz zurückgelassen worden und nicht den geringsten Begriff von der D i c h t k u n s t erlangt habe, den Mangel der beiden ersten niemals gehörig habe ersetzen können, auch sich in vieler Mühe finde, seine Gedanken münd­ lich und schriftlich in Ordnung zu sammeln und mit Leichtigkeit auszudrükken. Wenn ein Theil dieses Mangels auf den Schulunterricht kommt, so liegt jedoch davon, wie wir weiterhin sehen werden, wohl am meisten in der sonst charakteristischen Temperatur und Stimmung seines Geistes. Es ist eben so charakteristisch für ihn, obgleich wohl nicht für den Schul­ unterricht, was er ferner angibt, daß alle Ordnung, aller Begriff und Faden und Lust an derselben in ihm verdunkelt worden sei. M it einer Menge W ör­ ter und Sachen überschüttet, deren Verstand, Grund, Zusammenhang, Ge­ brauch er nicht gekannt, sei er in die Sucht verfallen, immer mehr und mehr ohne Wahl, ohne Untersuchung und Ueberlegung auf einander zu schütten; und diese Seuche habe sich auf alle seine Handlungen | ausgebreitet; auch in seinem übrigen Leben ist er hierüber nicht reifer geworden. Als einen wei-

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tern Abweg, in den er verfallen, gibt er eine Neugierde und kindischen Vor­ witz an, in allen Ketzereien bewandert zu werden; — »so sucht der Feind unserer Seelen und alles Guten den göttlichen Weizen durch sein Unkraut zu ersticken.« Nach ferneren Schulstudien, worin er die ersten Begriffe von Philosophie und Mathematik, von Theologie und Hebräischem bekam, ein 5 neues Feld von Ausschweifungen: — »das Gehirn wurde zu einer Jahrmarkts­ bude von ganz neuen Waaren;« mit diesem Wirbel kam er im Jahre 1746 auf die hohe Schule. Er sollte Theologie studiren, fand aber ein Hinderniß »in seiner Zunge, schwachem Gedächtnisse, viele Heuchelhindernisse in seiner Denkungsart« u.s.w. Was ihn vom Geschmacke an derselben und an allen

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ernsthaften Wissenschaften entfernte, sei eine neue Neigung gewesen, die in ihm aufgegangen, nämlich zu Alterthümern, Kritik, hierauf zu den soge­ nannten schönen und zierlichen Wissenschaften, Poesie, Romanen, PhiloiU g lC ,

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len, schildern, der Einbildungskraft zu gefallen u.s.w., er bittet Gott inbrün- 15 stig um Verzeihung dieses Mißbrauchs seiner natürlichen Kräfte u.s.f. Er be­ kannte sich also »zum Schein zur Rechtsgelehrsamkeit, ohne Ernst, ohne Treue, ein Jurist zu werden;« seine Thorheit, sagt er, ließ ihn eine Art von Großmuth und Erhabenheit sehen, nicht für Brod zu studiren, sondern nach Neigung, zum Zeitvertreibe und aus Liebe zu den Wissenschaften selbst, daß

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es besser wäre, ein Märtyrer denn ein Taglöhner und Miethling der Musen zu seyn; »was für Unsinn läßt sich,« fügt er mit Recht gegen solchen Hochmuth hinzu, »in runden und wohllautenden Worten ausdrücken.« Er gedachte nun eine Hofmeisterstelle anzunehmen, um Gelegenheit zu finden, in der Welt seine Freiheit zu versuchen; auch weil er im Geld etwas

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sparsam gehalten wurde; er schiebt die Schuld, mit seinem Gelde nicht besser ausgekommen zu seyn, auf den Mangel des göttlichen Segens, die »Un­ ordnung, den allgemeinen Grundfehler meiner Gemüthsart, eine falsche Großmuth, eine zu blinde Liebe und Wohlgefallen für anderer Urtheile, und Sorglosigkeit aus Unerfahrenheit;« - von dem Fehler des Wohlgefallens für 30 anderer Urtheile ist er bald nur zu sehr geheilt worden. Aus dem Detail der Mißverhältnisse, in die er in seinen Hofmeisterstellen sich verwickelte, mag hier nur ausgehoben werden, was er davon auf seinen Charakter schiebt; — »seine ungesellige oder wunderliche Lebensart,« sagt er S. 177, »die theils Schein, theils falsche Klugheit, theils eine Folge einer in- 35 neren Unruhe war, an der er sehr lange in seinem Leben siech gewesen; —

10 Denkungsart« u.s.w.] O : Denkungsart u.s.w. W XH : Denkungsart u.s.w.« dere

29 anderer] O: an­

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eine Unzufriedenheit und Unvermögenheit sich selbst zu ertragen, eine Eitelkeit, sich selbige zum Räthsel zu machen — verdarben viel und machten ihn anstößig.« In seiner ersten Stelle schrieb er zwei Briefe an die Mutter, eine | Baronin in Liefland, die ihr das Gewissen aufwecken sollten, das Ant­ wortschreiben gab ihm seine Entlassung; es ist S. 255 buchstäblich abge­ druckt, der Anfang mag hier stehen: »Herr Hamann, da die Selben sich gahr nicht bei Kinder von Condition zur information schicken, noch mir die schlechte Briefe gefallen, worin Sie meinen Sohn so auf eine gemeine und niederträchtige Ahrt abmalen u.s.f.« — Für die Demüthigungen seines Stolzes fand er durch die Zärtlichkeit des Kindes, und die Schmeichelei, unschuldig zugleich oder mit Bösem für Gutes vergolten zu seyn, einige Genugthuung; »ich wickelte mich,« sagte er, »in den Mantel der Religion und Tugend ein, um meine Blöße zu decken, schnaubte aber vor W uth, mich zu rächen und mich zu rechtfertigen; doch verrauchte diese Thorheit bald.« In ähnliche Mißverhältnisse gerieth er in einem zweiten Hause, und späterhin in noch weitere Mißstimmungen dadurch, daß er, nachdem er dasselbe verlassen, sich nicht enthalten konnte, sowohl seinem Nachfolger, einem Freunde, als auch den Zöglingen fernerhin seine brieflichen Belehrungen und Zurechtweisun­ gen aufzudringen; »sein Freund schien diese Aufmerksamkeit für den jungen Baron als Eingriffe oder Vorwürfe anzusehen, und der Leztere bezahlte ihn (Hamann) mit Haß und Verachtung.« In Königsberg hatte Hamann die Freundschaft eines der Brüder Be r e n s aus Riga gewonnen; — »der die Herzen kennt und prüft und zu brauchen weiß, hat seine weisen Absichten gehabt, uns beide durch einander in Ver­ suchung zu führen.« In der That sind die Verwickelungen mit diesem Freunde und dessen Familie das Durchgreifendste in Hamanns Schicksal. Er lebte eine Zeitlang in diesem Hause, wo er, wie er sagt, als ein Bruder, ja beinahe als ein älterer Bruder angesehen wurde; aber er gibt zugleich an, daß er ungeachtet alles Anlasses zufrieden zu seyn, sich der Freude in der Gesell­ schaft der edelsten, muntersten, gutherzigsten Menschen beides Geschlechts doch nicht überlassen konnte; nichts als Mißtrauen gegen sich selbst und A n­ dere, nichts als Qual, wie er sich ihnen nähern oder entdecken sollte; er sieht dieß als eine Wirkung der Hand Gottes an, die schwer über ihm geworden, daß er sich selbst u n t e r a l l e m d e m G u t e n , was ihm von Menschen geschah, — als deren Bewunderer, Verehrer und Freund er sich zugleich angibt, — n i c h t e r k e n n e n sollte. — Hamann beschreibt diesen Zustand seiner inneren Unruhe als ein Gedrücktseyn, das gegen die wohlwollendste Freundschaft, die er auch empfand und anerkannte, nicht zu einem inneren Wohlwollen gegen sie, und damit nicht zur Offenheit und Freimüthigkeit

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des Verhältnisses mit ihnen gelangen konnte. Die Franzosen haben einen kurzen Ausdruck für einen Menschen von dieser Widerwärtigkeit des Gemüths, welche wohl Bösartigkeit zu nennen ist; sie nennen einen solchen un homme mal élevé, indem sie Wohlwollen und Offenheit mit Recht für die nächsten Folgen einer guten Erziehung ansehen. Auch ein anderer Keim zu einer späteren, höheren Selbst |erziehung von Innen heraus, dessen Zeit ist, in der Jugend zu erwachen, thut in Hamanns Jugend sich nicht hervor nicht irgend eine Poesie dieser Lebenszeit oder, wenn man will, Phantaste­ rei und Leidenschaft, die ein zwar noch unreifes, ideales, aber festes Interesse für einen Gegenstand geistiger Thätigkeit enthält und für das ganze Leben entscheidend wird. Die Energie seines intelligenten Naturells wird nur zu einem wilden Hunger geistiger Zerstreuung, die keinen Zweck enthält, in den sie sich resumirte. Aber das Uebel seiner Gemüthsart sollte bald in einer r_______r ;__ „ui •_____ ___ wr,:.,„ — _ a _____u i__u ________ w c i b c z,uin .rvuààciilag, js^uiiiiiicn.

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Er war auf kurze Zeit in die zweite Hofmeisterstelle zurückgekehrt, die er in Curland bekleidet hatte; jedoch zurückgerufen nach Haus, um seine ster­ bende Mutter noch einmal zu sehen, und auf das Anerbieten engerer Verbin­ dungen mit dem Berensschen Hause in Pdga, verließ er jene Stelle wieder; »Gott,« sagt er S. 189 »gab außerordentlichen Segen, daß ich von dem Hause aus Curland, mit Scheingründen und ohne Aufrichtigkeit, losgelassen wurde, unter dem Versprechen wieder zu kommen, das eine offenbare Lüge, und wider alle meine Absichten und Neigungen war.« Die Verbindung mit den Brüdern Berens war die Aufnahme Hamanns in ihre Dienste, Geschäfte und Familie; er sollte auf ihre Kosten eine Reise thun, »um ihn aufzumuntern und mit mehr Ansehen und Geschick in ihr Haus zurückzukehren.« Nachdem er seine Mutter sterben gesehen, wo er bei der unsäglichen Wehmuth und Betrübniß, die er empfunden, zugleich gesteht, daß »an ihrem Todtenbette sein Herz weit unter der Zärtlichkeit geblieben, die er ihr schuldig gewesen, und sich im Stande fühlte, ungeachtet der nahen Aussicht sie zu verlieren, sich auf der Welt ändern Zerstreuungen zu überlassen,« — trat er am 1. Oct. 1756 mit Geld und Vollmacht versehen, die Reise nach L o n d o n an, über B e r l i n , wo er unter Anderm die erste Bekanntschaft mit Moses Mendelssohn machte, über Lübek, wo er bei Blutsverwandten die Wintermonate zubrachte, und Amsterdam. In dieser Stadt, sagt er, daß er alles Glück, Bekannte und Freunde nach seinem Stande und Gemüthsart zu finden, worauf er sonst so stolz gewesen sei, verloren; so daß er glaubte, daß sich Jedermann vor ihm

5—7 ein anderer . . . nicht hervor] O: einen anderen

nicht hervor W x: kein anderer

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scheute, und er selbst scheute Jeden; von jener einfachen Erfahrung in einer ganz fremden holländischen Stadt weiß er sich keinen ändern Grund anzuge­ ben, als daß Gottes Hand schwer über ihm gewesen, weil er ihn aus den Augen gesezt, ihn mit lauem Herzen nur bekannte u.s.f. Auf der Weiterreise 5 nach London wurde er von einem Engländer um Geld betrogen, den er Morgens auf den Knieen betend gefunden, und daher Zutrauen zu ihm ge­ faßt hatte. In London, wo Hamann den 18. Apr. 1757 ankam, war sein erster Gang, einen Marktschreier aufzusuchen, von dem er gehört hatte, daß er alle Fehler der Sprache heilen könnte, (schon oben war eines solchen Fehlers er10 wähnt, der wohl im Stottern bestand). Weil aber die Cur kostbar und lang­ wierig schien, unterzog sich Hamann derselben nicht, und | mußte also, wie er sagt, seine Geschäfte mit der alten Zunge und mit dem alten Herzen an­ fangen; er entdeckte selbige (wie es scheint Schuldforderungen) denjenigen, an die er gewiesen war. »Man erstaunte über deren Wichtigkeit, noch mehr 15 über die Art der Ausführung, und vielleicht am meisten über die Wahl der Person, der man selbige anvertraut hatte;« man lächelte, und benahm ihm die Hoffnung etwas auszurichten. Hamann aber spiegelte sich nun als das Klügste vor, »so wenig als möglich zu thun, um nicht die Unkosten zu häufen, sich nicht durch übereilte Schritte Blößen zu geben und Schande zu machen.« Er 20 ging also unterdrückt und taumelnd hin und her, hatte keinen Menschen, dem er sich entdecken, und der ihm rathen oder helfen konnte, war der Ver­ zweiflung nahe und suchte in lauter Zerstreuungen selbige aufzuhalten und zu unterdrücken. »Mein Vorsatz war nichts, als eine Gelegenheit zu finden, und dafür hätte ich Alles angesehen, um meine Schulden zu bezahlen und in 25 einer neuen Tollheit anfangen zu können; die leeren Versuche, in die ich durch Briefe, durch die Vorstellungen der Freundschaft und Erkenntlichkeit aufwachte, waren lauter Schein; nichts als die Einbildung eines irrenden R it­ ters und die Schellen meiner Narrenkappe waren meine gute Laune und mein Heldenmuth.« So beschreibt er die Rath- und Haltungslosigkeit, in der 30 sich sein Charakter befand. Endlich zog er auf ein Caffeehaus, weil er keine Seele zum Umgang mehr hatte, »einige Aufmunterung in öffentlichen Gesell­ schaften zu haben, um durch diesen Weg vielleicht eine Brücke zum Glück zu bauen.« So ganz heruntergekommen durch den Eigensinn einer herum­ lungernden, alle Haltung und Rechtlichkeit, wie den Zusammenhang mit 35 seinen Freunden in Riga und mit seinem Vater verschmähenden Thorheit sehen wir ihn nach einem ohne alles Geschäft und Zweck verbrachten Jahre in einem Hause bei einem ehrlichen dürftigen Ehepaar vom 8. Febr. 1758

27 nichts] O : nicht

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einquartiert, wo er in drei Monaten höchstens viermal ordentliche Speise ge­ habt und seine ganze Nahrung Wassergrütze und des Tags einmal Caffee war; Gott, sagt er, hat ihm selbige außerordentlich gedeihen lassen, denn er be­ fand sich bei dieser Kost in guter Gesundheit; die Noth, fügt er hinzu, war der stärkste Beweggrund zu dieser Diät, diese aber vielleicht das einzige M it­ tel, seinen Leib von den Folgen der Völlerei wieder herzustellen. Die innerlich und äußerlich rathlose Lage trieb ihn, eine B i b e l aufzu­ suchen; hier beschreibt er die »Zerknirschung, die das Lesen derselben in ihm hervorbrachte, die Erkenntniß der Tiefe des göttlichen Willens in der Erlösung Christi, seiner eigenen Verbrechen und seines Lebenslaufs in der Geschichte des Jüdischen Volkes; sein Herz ergoß sich in Thränen, er konnte es nicht länger, konnte es nicht länger seinem Gotte verhehlen, daß er der Brudermörder, der Brudermörder seines eingebornen Sohnes war.« W ir finHf^n QHQ r₩f*r r₩o r-n ol i n-pn 7 a if- ViTnfirr ------- —

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in welche Menschen von einfachem ruhigem Leben geriethen, wenn sie | die Forderung zur Buße und die Bedingung der Gnade, in ihrem Herzen eine abscheuliche Sündhaftigkeit zu finden, bei aller Erforschung ihres Innern nicht erfüllen konnten; aber sie belehrten sich endlich, daß eben dieß, die Sündhaftigkeit nicht in sich zu entdecken, die ärgste Sünde selbst sei, und waren hiemit auf den Weg, Buße thun zu können, gediehen. Hamann hatte nach dem, wie er seinen Aufenthalt in London schildert, diese Wendung nicht nöthig. Durch seine Buße und Reue fühlte er nun sein Herz beruhig­ ter als jemals in seinem Leben; der Trost, den er empfangen, verschlang alle Furcht, alle Traurigkeit, alles Mißtrauen, daß er keine Spur davon mehr in seinem Herzen finden konnte. Die nächste Anwendung, die er von diesem empfangenen Tröste machte, war die Stärkung gegen die Last seiner Schul­ den; 150 Pfund St. hatte er in London durchgebracht, ebensoviel war er in Curland und Liefland schuldig geblieben; »seine Sünden sind Schulden von unendlich mehr Wichtigkeit und Folgen, als seine zeitlichen; wenn der Christ mit Gott wegen der Hauptsache richtig geworden, wie sollte es die­ sem auf eine Kleinigkeit ankommen, sie obenein zum Kauf zu geben; die 300 Pf. S. sind s e i n e Schulden; er überläßt nun Gott alle Folgen seiner Sün­ den, da derselbe deren Last auf sich genommen.« In dieser beruhigten Stimmung schrieb er diese höchst charakteristische Schilderung seines Lebenslaufs und seines Innern, bis Ende April 1758, und setzt sie auch von da noch weiter fort. Auf Briefe von Hause und von Riga, die ein Mann für ihn hatte, der ihn zufällig endlich auf der Straße traf, kam er zum Entschluß, nach Riga zurück­ zukehren, wo er im Juli 1758 wieder eintraf, und in dem Hause des Herrn

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Berens, wie er sagt, mit aller möglichen Freundschaft und Zärtlichkeit bewillkommt worden. Er bleibt in demselben; seine Geschäfte bestehen bloß in einem Briefwechsel mit dessen Bruder, in dem Unterricht der ältesten Tochter des Hauptes der Familie, und einer kleinen Handreichung eines jün5 gern Bruders, der auf dem Comptoir war. Er dankt Gott, daß derselbe bis­ her diese Arbeit mit sichtbarer Hand gesegnet, und nach einer schlaflosen, in Ueberlegung zugebrachten Nacht stand er am 15. Dec. mit dem Gedan­ ken auf, zu heirathen, nachdem er sich und seine Freundin, eine Schwester seiner Freunde, der Hrn. Berens, der Barmherzigkeit Gottes empfohlen. 10 Nach erhaltener Zustimmung seines Vaters eröffnet er seinen Entschluß den Brüdern Berens und deren Schwester selbst, die einverstanden scheint; aber der lezte Tag des 1758 Jahrs, schreibt Hamann (S. 230), war voller außer­ ordentlicher Auftritte zwischen ihm und einem der Brüder, den er wie Saul u n t e r de n P r o p h e t e n mit ihm (Hamann) reden hört; das war ein Tag 15 der Noth und Scheltens und Lästerns; erbaulich genug spricht er aber auch dabei von der ungemeinen Rührung über die Sinnesänderung (?) und die Eindrücke der Gnade, die er in jenem wahrzunehmen schien, und geht mit Freudigkeit, die Nacht zu s t e r b e n , ins Bett, wenn Gott so gnädig seyn sollte, die Seel e die| ses B r u d e r s zu retten. In einem Briefe an seinen 20 Vater gibt er den Tag jener Auftritte der Saul’schen Prophetensprache, der Noth, des Scheltens u.s.f. für einen Jahresschluß von vielem a u ß e r o r d e n t ­ l i c h e n S e g e n aus, den ihm Gott widerfahren lassen. M it einem bußferti­ gen und salbungsvollen Gebete für alle seine Freunde, vom ersten Tage des Jahrs 1759 schließt das Tagebuch. Noch in jenem Briefe an seinen Vater vom 25 9. Jan. schreibt er von den Hoffnungen, die Einwilligung des einen Bruders Berens, der sich zu Petersburg befand, und der Chef der Familie gewesen zu seyn scheint, zu der Heirath mit seiner Schwester zu erhalten. Aber die Sammlung ist hier lückenhaft; der nächste Brief derselben vom 9. März ist aus Königsberg; aus demselben geht hervor, daß er Riga verlassen hat, und 30 zunächst alle Verhältnisse zwischen ihm und dem Berens’sehen Hause abge­ brochen sind. Im Verfolg des Briefwechsels zwischen Hamann und dem Rec­ tor J. G. L i n d n e r in Riga, dem gemeinschaftlichen Freunde Hamanns und der Gebrüder Berens, finden sich jene dunkel gebliebenen Vorfallenheiten nicht weiter aufgehellt, aber man liest genug, um die gänzliche Mißstim35 mung der beiden Theile zu sehen, bei den Hrrn. Berens die tiefe Emp­ findung des Contrasts zwischen Hamanns üblem Betragen in England und der Fortsetzung eines unthätigen Lebens, und zwischen dem breiten Aus19 In] O W x: »In

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legen seiner Frömmigkeit und der von Gott empfangenen Gnade, insbeson­ dere der Prätension seiner Frömmigkeit, durch diese soviel vor seinen Freun­ den voraus zu haben, und von ihnen als ihr Meister und Apostel anerkannt werden zu wollen. Hamann hatte seinen Lebenslauf, der durch das Ange­ führte charakterisirt genug ist, dem Hrn. Berens, wie es scheint, nach dem Heirathsproject und den zur selben Zeit erfolgten Explosionen, in die Hände kommen lassen; es erhellt von selbst, in welcher Absicht und ebenso mit wel­ cher Wirkung; von Berens kommt die Aeußerung vor, daß er diesen Lebens­ lauf mit Ekel gelesen, S. 362; um nicht Hunger zu sterben, habe Hamann die Bibel nöthig gehabt, um sich zu überwinden, nach Riga zurück­ zukommen; S. 355 sogar liest man von der Drohung, Hamann zu s ei ner B e s s e r u n g in ein Loch stecken zu lassen, wo nicht Sonne noch Mond scheine. Der vorhin genannte L i n d n e r , und dann auch K a n t bei der AnWP'vPlI ll PI t" PinP«

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führt hatten, bemühten sich als gemeinschaftliche Freunde beider Theile, das Mißverhältniß auszugleichen. Die Briefe Hamanns in dieser Angelegenheit, besonders auch einige an Kant sind von dem Lebendigsten, auch Offensten und Verständlichsten, was aus seiner Feder geflossen. Nachdem Hamanns Frömmigkeit die Hauptstimmung der Büßfertigkeit, der innern Freudigkeit und einer Ergebenheit nicht nur gegen Gott, sondern auch einer äußern Be­ ruhigung gegen ein Verhältniß und den Zustand mit Menschen gehabt hatte, so wird jezt in dem Gedränge des Mißverhältnisses mit seinen Freunden seine ganze Leidenschaftlichkeit und geniale Energie erregt, und diese Leiden­ schaftlichkeit und Unabhängigkeit seines Naturells | in diese Frömmigkeit gelegt. Indem in diesem ein halbes Jahr fortgesezten Kampfe und Zanke die ganze Individualität Hamanns wie seine Darstellungsweise und Styl ihre Ent­ wickelung erlangt, auch seine eigentliche schriftstellerische Laufbahn hier ihre Veranlassung hat, so verweilen wir bei der Heraushebung der Züge die­ ses Zanks, die für das Verständniß dieses Charakters die bedeutendsten wer­ den; sie sind auf einem allgemeinem, wesentlichen und darum überall durch­ dringenden Gegensätze gegründet. Beide Theile dringen und arbeiten auf eine Sinnesänderung des ändern Theils; an Hamann wird die Anerkennung, der Entschluß und das wirkliche Eingehen in ein rechtliches, brauchbares und arbeitsames Leben gefordert, und die Prätension seiner Frömmigkeit, insofern diese ihn nicht auch hiezu treibt, nicht geachtet. Hamann dagegen sezt sich in die Stellung seiner innern Zuversicht auch praktisch fest; seine Buße und der an die göttliche Gnade 5 H rn.] O : H rrn . W XH : H errn

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erlangte Glaube sind die Burg, in der er sich isolirt, und nicht nur gegen die Anforderungen seiner Freunde, mit ihnen über die Verhältnisse der W irk­ lichkeit zu etwas Gemeinsamem und Festem zu kommen und objective Grundsätze anzuerkennen, sondern auch auf ihre Vorwürfe die Haltung um ­ kehrt, ihnen die Erkenntniß ihrer selbst zu erwerben aufgibt und Buße und Bekehrung an sie verlangt. Der gemeinschaftliche Punkt, der sie zusammen­ hält, ist das, und auch nach allen Differenzen scheinbar wenigstens bei Ha­ mann unerschütterlich gebliebene Band der Freundschaft; aber indem er dar­ aus Rechte und Pflichten gegen sie nimmt, weist er zugleich Alles ab, was sie daraus gegen ihn geltend machen wollen, und läßt sie nicht an ihn kom­ men. Das Princip, aus dem er seine Dialektik führt, ist das religiöse, welches seine Superiorität gegen die sogenannten weltlichen Pflichten und gegen die Thätigkeit in und für bestehende Verhältnisse abstract behauptet und in diese Superiorität seine zufällige Persönlichkeit einschließt: - eine Dialektik, die auf diese Weise Sophisterei wird. Als Hauptzüge mögen folgende mit einiger Anführung der eigenthümlichen Weise, in der sich Hamanns Humor dabei ausspricht, ausgehoben werden. — Zunächst kommen die Freunde L i n d n e r und K a n t über ihr Vermittlergeschäft selbst sehr übel weg. Als ihm jener als unparteiisch seynwollender Mittelsmann die Aeußerungen des Freundes Berens mittheilt, fragt Hamann, ob das neutral seyn heiße, wenn man gehar­ nischte Männer unter dem Dache seiner Briefe einnehme, und sein Couvert zum hölzernen Pferde mache; er sezt diese Gefälligkeit mit der einer Herodias gegen ihre Mutter, das Haupt des Johannes sich auszubitten, parallel; er heißt dieß als ein Heuchler in Schafskleidern zu ihm kommen u.s.f. An K a n t schreibt er über dessen Bemühungen: »ich muß über die Wahl eines Philosophen zu dem Endzweck, eine Sinnesänderung in mir hervorzubrin­ gen, lachen; ich sehe die beste Demonstration wie ein vernünftig Mädchen einen Liebesbrief, und eine Baumgarten’sehe Erklärung wie eine witzige Fleurette an.« Am meisten charakteristisch drückte Hamann seine Stellung in diesem Kampfe so aus, daß | Kant, indem er mit hereingezogen worden, der Gefahr ausgesezt worden sei, »einem Menschen zu nahe zu kommen, dem d ie K r a n k h e i t sei ner L e i d e n s c h a f t e i n e S t ä r k e zu denken und zu empfinden gebe, die e in G e s u n d e r n i c h t besi tze. « Dieß ist ein Zug, der für die ganze Eigenthümlichkeit Hamanns treffend ist. — Die Briefe an Kant sind mit besonderer, großartiger Leidenschaftlichkeit ge­ schrieben. Wie es scheint hatte Kant nicht mehr auf Hamanns Briefe oder dessen ersten Brief geantwortet und Hamann vernommen, daß Kant dessen 20-22 ob . .. mache;] O : ob . . . mache;« W x: »ob . . . mache;« H : »ob . . . mache«

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Stolz unerträglich gefunden habe; über diesen seinen Stolz und Kants Still­ schweigen entgegnet und fordert ihn Hamann mit weitläufiger Heftigkeit heraus; er fragt ihn: »ob Kant sich zu Hamanns Stolz erheben wolle, oder Hamann sich zu Kants Eitelkeit herablassen solle.« — Den Vorwürfen, die ihm wegen seines frühem Benehmens und seiner jetzigen Bestimmungslosigkeit gemacht werden, entgegnet er auf die einfache Weise durch die Parrhesie des Bekenntnisses und Zugeständnisses, daß »er der vornehmste unter den Sündern sei; eben in dieser Empfindung seiner Schwäche liege der Trost, den er in der Erlösung genossen;« die Demüthigung, die aus jenen Vorwür­ fen gegen ihn erwüchse, erwiedere er mit »dem Stolze auf die alten Lumpen, welche ihn aus der Grube gerettet, und er prange damit, wie Joseph mit dem bunten Rocke.« — Die nähere Besorgtheit seiner Freunde um seine Lage und Zukunft, seine Unbrauchbarkeit und Arbeitslosigkeit beantwortet er damit, daß seine Bestimmung weder zu einem Staats-, Kauf- noch Weltmann sei; er danke Gott für die Ruhe, die derselbe ihm gebe. — Hamann lebte, nach­ dem er Riga verlassen, bei seinem alten Vater; dieser gebe ihm Alles reich­ lich, was ihm zur Leibesnahrung und Nothdurft gehöre, und wer frei sei und frei seyn könne, solle nicht ein Knecht werden; er gehe seinem alten Vater zur Seite und frage nicht darnach, wie viel Vortheil oder Abbruch er diesem schaffe; B i b e l l e s e n u n d B e t e n sei di e A r b e i t ei nes C h r i s t e n ; seine Seele sei in Gottes Hand mit allen ihren moralischen Mängeln und Grundkrümmen. Wenn man ja wissen wolle, was er thue: — er l u t h e r i si re; es müsse doch etwas gethan seyn. »Dieser abentheuerliche Mönch sagte zu Augsburg (!): hie bin ich - ich kann nicht anders. Gott helfe mir, Amen!« — Seine Geldschuld gegen das Berens’sehe Haus thut er zunächst (in dem einen Briefe an Kant S. 444) so ab, daß, wenn davon vielleicht die Rede würde, so soll Kant dem Hrn. Berens sagen, daß er, Hamann, jezt nichts habe, und selbst von seines Vaters Gnade leben müsse; — wenn er sterben sollte, wolle er seinen Leichnam dem Hrn. Berens vermachen, an dem er sich, wie die Aegyptier, pfänden könne. Ein Jahr später (III. Th. S. 17f.) schreibt er an jenes Haus, um den Anspruch seiner Schulden auf einen ordentlichen Fuß zu bringen; er erhält die Erledigung in der Antwort, daß der Abschied, den er aus jenem Hause genommen, die Quittung aller Ver­ bindlichkeiten seyn möge, die je zwischen ihnen gewesen. - Die hauptsäch­ lichste Wendung seines Benehmens aber gegen seine Freunde ist die Umkeh­ rung des Angriffs auf sie, die | Anforderung an sie, zunächst an einen der Brüder Berens, daß er bei allen den gründlichen Entdeckungen, die er über 23 abentheuerliche] O : ebentheuerliche

34 gewesen.] O W x: gewesen.«

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Hamanns Herz gemacht, in s e i n e n e i g e n e n B u s e n f ü h l e n , und sich so gut für einen M i s c h m a s c h v o n g r o ß e m Ge i s t e und e l e n d e m Tropf

erkennen soll, als er ihn, Hamann, mit viel Schmeichelei (die

Schmeicheleien, die Berens ihm mache, thuen ihm weher als seine beißen­ den Einfälle) und Treuherzigkeit erkläre. Daß er in seiner Privatsache dem F r e u n d L i n d n e r wider Gewissen und Pflicht so überlästig geworden, sei gewesen, weil er gewünscht und gehofft, daß er (Lindner) mehr A n w e n ­ d u n g d a v o n auf si ch sel bst machen würde. Wie oft sei er (Hamann) aber an das Leiden unsers Erlösers erinnert worden, da seine Nächsten, seine Tischfreunde der k e i ne s v e r n a h m e n , und nicht wußten, was er r e ­ det e und was er i h n e n zu v e r s t e h e n geben wollte. Man beschuldige ihn hart, daß er die Mittel verachte; aber so wäre er ein Verächter der gött­ lichen Ordnung; aber was für ein besser Mittel hätte sich sein Freund von Gott selbst erbitten können als i h n ,

den man für einen alten, wahren

Freund ansehe, wenn er in seinem eigenen Namen komme? W eil m a n aber d e n n i c h t k e n n e , der i h n g es a nd t h a b e , so sei er (Hamann) auch verworfen, so bald er in dessen N a m e n k o m m e ; sie verwerfen den, d e n G o t t v e r s i e g e l t habe z u m D i e n s t e i h r e r Seel en. Sei­ nen Freunden ekle vor der losen Speise, die sie in seinen Briefen finden; was lese er aber in den ihren? Nichts als die Schlüsse seines eigenen Fleisches und Blutes, das verderbter sei als ihres; nichts als das Murren seines eigenen alten Adams, den er mit seinen eigenen Satyren geißle, und die Striemen davon eher als sie selbst fühle, länger als sie selbst behalte, und mehr darunter brumme und girre als sie, weil er m e h r L e b e n , m e h r A f f e c t , m e h r L e i d e n s c h a f t b e s i t z e , nach ihrem eigenen Geständniß. Den ihm von Gott zugetheilten Beruf, seinen Freunden zur Selbsterkenntniß zu verhelfen, bestätigt er noch weiter damit, daß, wie man den Baum an den Früchten erkenne, so wisse er, daß er ein Prophet sei, — aus dem S c h i c k s a l , das er m i t al l en Z e u g e n t h e i l e , gelästert, verfolgt und verachtet zu werden; — die größte Stufe des G o t t e s d i e n s t e s ,

den

H e u c h l e r G o t t b r i n g e n , sagt er seinen Freunden ein andermal, bestehe in der V e r f o l g u n g w a h r e r B e k e n n e r .

Dieser angemaßten Stellung

gemäß fordert er Kant (S. 505) heraus, ihn mit eben dem Nachdruck zurück­ zustoßen und sich seinen Vorurtheilen zu widersetzen, als er (Hamann) ihn und seine Vorurtheile angreife; sonst werde in seinen Augen Kants Liebe zur Wahrheit und Tugend so verächtlich als Buhlerkünste aussehen. Mitunter gibt er auch den ganzen Hader für eine gemeinschaftliche Prüfung ihrer Her­ 22 Striemen] so Druckfehlerverzeichnis; O : Briem en

33 mit] O W xH : »m it

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zen, seines mit eingeschlossen, an. So an L i n d n e r S. 375, er soll r i c h t e n , was er, Hamann, sage, und das Gericht seines Nächsten als eine Z ü c h t i ­ g u n g des H e r r n ansehen, auf daß wir nicht sammt der Welt verdammt werden; er, Lindner, soll die Wunden, die Hamann ihm schlagen müsse, den Schmerz, den er ihm machen müsse, als ein Christ vergeben. So erkennt, wie er S. 353 schreibt, Hamann die Heftigkeit nicht, die in des | Freundes Berens Zuschriften sich finde; er sehe Alles als eine Wirkung der Freund­ schaft desselben, und diese sowohl als ein Geschenk wie als eine Prüfung Gottes an. Daß er, Hamann, S. 393 in so einem harten und seltenen Ton geschrieben, sei nur darum geschehen, »daß eure Neigung, euer Herz gegen uns offenbar würde vor Gott; Gott wollte versuchen, was in meinem Herzen die Liebe Christi gegen euch für Bewegungen hervorbringen würde, und was die Liebe Christi in euch gegen uns hervorbringen würde.« — Bei einer H p ra n cfn r^ p rn n rr

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die Gemeinsamkeit der Prüfung zu stellen, ist, wie angeführt, die Zuversicht der eigenen Vollendung in der Buße und seiner Ueberlegenheit über die Freunde zu stark ausgesprochen, als daß diese darin nicht Hamanns »Stolz« vornehmlich hätten empfinden müssen. Bei jenen Voraussetzungen von sei­ ner Seite, sieht man wohl, konnte es zu keinem Verständnisse kommen. Kant scheint, wie erwähnt, schon früher sich mit Hamann über diese Sache nicht weiter eingelassen zu haben; der lezte Brief Hamanns an Kant (S. 504) macht ihm den Vorwurf über sein Stillschweigen und versucht ihn zu Erklärungen zu zwingen; auch fühlt Hamann eben so, daß er vergebene Mühe aufwen­ det, den ändern Freunden Lindner und Berens (S. 469 »Alle meine Sirenen­ künste sind umsonst u.s.f.«) zu imponiren, und macht (S. 405) den Vorschlag, da der Briefwechsel zwischen ihnen immer mehr ausarten möchte, von der Materie abzubrechen und denselben eine Weile ruhen zu lassen. In der That ist die Erfahrung, welche Hamann hiebei gemacht hat, für ihn nicht verloren gegangen; wir sehen ihn von nun an gegen Lindner, mit dem der Briefwech­ sel nach längerer Zeit sich wieder aufnahm, so wie auch gegen spätere Freunde in einem veränderten, verständigen Benehmen, das sich auf die Gleichheit des Rechts moralischer und religiöser Eigenthümlichkeit gründet, und die Freiheit der Freunde unbeeinträchtigt und unbedrängt läßt. Allein dieser Verzicht, die Herzen seiner Freunde zu bearbeiten oder sie wenigstens zu Discussionen über den Zustand ihrer Seelen zu drängen, ist mehr ein äußerlicher Schein und erstreckt sich nur auf das directe Benehmen gegen sie. Sein Drang wirft sich jezt, weil er es in der Correspondenz auf24—25 Sirenenkünste] so Druckfehlerverzeichnis; O : Sin-/nenkünste

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geben muß, sich als Meister und Prophet anerkannt zu sehen, in das andere Mittel, das Wort zu haben, — in das Mittel von Druckschriften. W ir sehen schon in den lezten Briefen an Lindner, und vornehmlich an Kant, die Keime und dann die nähere Ankündigung der S o k r a t i s c h e n D e n k w ü r ­ d i g k e i t e n , des Anfangs seiner Autorschaft, wie Hamann selbst diese Schrift nennt. Er stellt den jungen Berens mit Kant gegen sich in das Verhältniß von Alcibiades zu Sokrates, und bittet um die Erlaubniß, als der G e n i u s zu reden. In dem ganz charakteristischen, höchst geistreichen Briefe (S. 430) an Kant geht er zu der Wendung über, daß es ihm (Hamann) »um die Wahr­ heit so wenig zu thun sei als Kants Freunden«; »ich glaube, wie Sokrates, Alles, was der Andere glaubt — und gehe nur darauf aus, Andere in i h r e m G l a u b e n zu | stören. « Im ändern öfters angeführten Briefe an Kant (S. 506) wirft er diesem vor, es sei ihm nicht daran gelegen, ihn (Hamann) zu verstehen oder nicht zu verstehen; seine (Hamanns) Anerbietung sei gewe­ sen, die Stelle des Kindes zu vertreten; Kant hätte ihn daher ausfragen sollen; dieß Einlassen ist es, was er auf alle Weise hervorzurufen bestrebt ist, und zwar in dem Zwecke, die Freunde zur Selbsterkenntniß zu bringen. Die S o ­ k r a t i s c h e n D e n k w ü r d i g k e i t e n sind die Ausführung und ausdrückliche Exposition der Stellung, die er sich nehmen will — als Sokrates sich zu ver­ halten, der unwissend gewesen, und seine Unwissenheit ausgestellt habe, um seine Mitbürger anzulocken und sie zur Selbsterkenntniß und einer Weisheit zu führen die im Verborgenen liege. Man sieht im Verfolge, daß Hamann mit dem eigenthümlichen Zwecke dieser Schrift nicht glücklicher gewesen als mit seinen Briefen; auf Kant hat sie offenbar weiter keine Wirkung ge­ macht, und ihn nicht zum Einlassen vermocht; von der anderen Seite her, wie es scheint, hat sie ihm Verachtung und selbst Hohn zugezogen. Aber sie drückt sowohl den allgemeinen Grundtrieb der sämmtlichen Schriftstellerei Hamanns aus, als auch aus ihr die Sätze geschöpft worden sind, welche spä­ terhin eine allgemeine Wirkung hervorgebracht haben. W ir verweilen daher bei ihr noch etwas, indem wir nur noch bemerken, daß Hamann zum Behuf dieser Schrift sich nicht einmal die Mühe gab, den Plato und Xenophon selbst nachzulesen, wie er irgendwo zugesteht. In der Zueignung - sie ist gedoppelt, an N i e m a n d , den Kündbaren (das Publicum) und an Z w e e n - charakterisirt er diese (Berens und Kant, II. Bd. S. 7) »der erste arbeite am Stein der Weisen, wie ein Menschenfreund, der ihn für ein Mittel ansieht, den Fl e i ß , die b ü r g e r l i c h e n T u g e n d e n und das W o h l des g e m e i n e n We s e n s zu fördern; der andere möchte 24 Briefen] so Druckfehlerverzeichnis; O : Schriften

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einen so a l l g e m e i n e n W e l t w e i s e n und g u t e n M ü n z w a r d e i n ab­ geben, als Newton war.« (Hamann =) Sokrates selbst sei der Reihe von Lehrmeistern und Lehrmeisterinnen, die man ihm gegeben, unerachtet u n ­ w i s s e n d geblieben; aber »er übertraf die Anderen an Weisheit, weil er in der Selbsterkenntniß weiter gekommen war als sie, und w u ß t e , daß er

5

n i c h t s wuß t e . M it diesem seinem: N i c h t s w e i ß i c h ! wies er die ge­ lehrten und neugierigen Athenienser ab, und erleichterte seinen schönen Jünglingen die Verläugnung ihrer Eitelkeit, und suchte ihr Vertrauen durch seine Gleichheit mit ihnen zu gewinnen.« »Alle E i n f ä l l e des Sokrates, die n i c h t s als A u s w ü r f e und A b s o n d e r u n g e n sei ner U n w i s s e n h e i t io waren, schienen den Sophisten, den Gelehrten seiner Zeit, so fürchterlich, als die Haare an dem Haupte Medusens, dem Nabel der Aegide.« Von dieser Unwissenheit geht er dazu über, daß unser e i g e n D a s e y n und die E x i ­ st enz al l er D i n g e außer uns g e g l a u b t und auf keine andere

eise aus­

gemacht werden müsse. »Der Glaube«, sagt er, »ist kein Werk der Vernunft,

15

und kann daher auch keinem Angriff derselben unterliegen, weil G l a u b e n so wenig durch Gründe geschieht als S c h m e c k e n | und Sehen.« Für das Sokratische Zeugniß von seiner Unwissenheit gibt es kein ehrwürdigeres Sie­ gel als I. Kor. VII. »so Jemand sich dünken läßt, er wisse Etwas, der weiß noch Nichts, wie er wissen soll. So aber Jemand Gott liebt, der wird von 20 ihm erkannt.« — »Wie aus der Unwissenheit, diesem Tode, diesem Nichts, das Leben und Wesen einer höheren Erkenntniß neu geschaffen her­ vorkeime, so weit reicht die Nase eines Sophisten nicht.« »Aus dieser Unwissenheit des Sokrates fließen als leichte Folgen die Son­ derbarkeiten seiner Lehr- und Denkart. Was ist natürlicher, als daß er sich

25

genöthigt sah, immer zu fragen, um klüger zu werden; daß er leichtgläubig that, jede Meinung für wahr annahm, und lieber die P r o b e der S p ö t t e ­ rei und g u t e n L a u n e als eine ernsthafte Untersuchung anstellte; E i n ­ f ä l l e sagte, weil er k e i n e D i a l e k t i k verstand; daß er, wie alle Idioten, oft so z u v e r s i c h t l i c h und e n t s c h e i d e n d sprach, als wenn er unter allen

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Nachteulen seines Vaterlandes die einzige wäre, welche der Minerva auf ihrem Helm säße.« Man sieht, wie auch nach der Seite des Styls Hamann den Sokrates und sich selbst zusammenmengt; die lezteren Züge dieser Zeichnung passen ganz auf ihn selbst, und mehr als auf Sokrates; so auch Folgendes, worin schon oben Angeführtes nicht zu verkennen ist: »Sokrates antwortete auf die gegen ihn gemachte Anklage mit einem Ernst und Muth, mit einem » S t o l z « und Kaltsinn, daß man ihn eher für einen Befehlshaber seiner Rich17 S eh en .«] O W xH : S e h e n .

35

640.859

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ter als für einen Beklagten hätte ansehen sollen. Plato macht die f r e i w i l l i g e A r m u t h des Sokrates zu einem Zeichen seiner göttlichen Sendung; ein grö­ ßeres ist seine Gemeinschaft an dem lezten Schicksale der P r o p h e t e n und G e r e c h t e n « (Matth. 23, 29; s. oben: gelästert, verspottet zu werden). 5

So ganz persönlich, wie der Sinn, Inhalt und Zweck dieser Schrift ist, wäh­ rend ihr zugleich gegen das Publicum der Schein eines objectiven Inhalts ge­ geben wird, ist zwar der Sinn anderer Schriften nicht, aber in allen ist mehr oder weniger das Interesse und der Sinn der Persönlichkeit eingemischt. Auch die Sätze über den G l a u b e n sind auf ähnliche Weise zunächst vom christli-

10 chen Glauben hergenommen, aber zu dem allgemeinen Sinn erweitert, daß die s i n n l i c h e G e w i ß h e i t von äußerlichen, zeitlichen Dingen, — »von unserem eigenen Daseyn und von der Existenz aller Dinge«, auch ein G l a u b e genannt wird. In dieser Erweiterung ist das Princip des Glaubens von J a c o b i bekanntlich zu dem Principe einer Philosophie gemacht wor15

den, und man erkennt in den Jacobi’schen Sätzen nahezu wörtlich die Hamann’schen wieder. Der hohe Anspruch, den der religiöse Glaube, und zwar nur in Recht und Kraft seines absoluten Inhaltes hat, ist auf diese Weise auf das subjective Glauben mit der Particularität und Zufälligkeit seines relativen und endlichen Inhaltes ausgedehnt worden. Der Zusammenhang auch dieser

20 Verkehrung mit Hamanns Charakter überhaupt wird sich weiterhin näher er­ geben. | Z w e i t e r Ar t i ke l . Ehe wir die schriftstellerische Laufbahn H a m a n n s weiter verfolgen, ist in Kürze den weitern Umständen seiner äußerlichen Lebensgeschichte nach25

zugehen. Die reiche Sammlung von hier dem Publicum mitgetheilten Brie­ fen, insbesondere a n j .

G. L i n d n e r und, wo diese abbrechen, an H e r ­

de r , so wie an einige andere Männer, mit denen H. in Verhältniß kam, zeichnen manche Seiten dieses im Ganzen sehr einfachen Lebens in der gan­ zen Eigenthümlichkeit, mit der sich H. darin befindet; doch müssen wir uns 30

mehr auf die trockene Reihe der Facten beschränken. — H. lebte, wie schon gesagt, seit er im Jan. 1759 das Behrens’sche Haus in Riga verlassen, ohne Berufsgeschäft oder Bestimmung in dem Hause und auf Kosten seines Vaters; auch der einzige Bruder H ’s., der in Fdga als Gymnasiallehrer angestellt war, mußte in das väterliche Haus zurückgebracht werden, weil er in einen Trüb-

35 sinn verfallen war, der ihn für sein Amt unfähig machte, und der zulezt in 4 Gerechte n«

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völligen Blödsinn überging; H. hatte sich noch bei achtzehn Jahren mit des­ sen Pflege und Vormundschaft zu schleppen. Unter den Vorfallenheiten aus dieser Zeit ist durch H. und seine Individualität eine Verbindung, in die er trat, denkwürdig gemacht worden, welche sonst für sich eben kein besonde­ res Interesse hätte. Er ging im Jahre 1763 mit einem, wie es scheint, sich durch Nichts auszeichnenden Bauermädchen eine zuweilen von ihm soge­ nannte Gewissensehe ein, die fruchtbar an Kindern war, und in der er sein ganzes Leben blieb. Der Hr. Herausgeber sagt (Vorr. zu Bd. III), daß Rück­ sichten ihm untersagt haben, H ’s. denkwürdige Mittheilungen über das Ent­ stehen dieser Verbindung in die gegenwärtige | Sammlung aufzunehmen; es werde aber dafür gesorgt werden, daß sie nicht untergehen. Doch findet sich schon in gegenwärtiger Sammlung genug, um etwa wohl die Neugierde dar­ über zu befriedigen. Ganz nach der Analogie dessen, was in H ’s. Gemüth u ^ :

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Herren Behrens zu bewerben, vorging, läßt sich nicht auf die Empfindungen schließen, die ihn zu diesem zweiten Entschlüsse brachten. W o er in seinem Tagebuche (B. I. S. 237) von den Bewegungen, die in ihm bei jener frühe­ ren Absicht vorgingen, spricht, dankt er Gott, »von Anfechtungen des Flei­ sches überhoben zu seyn«, und bat ihn auch darum aufs Künftige. »Soviel«, sagt er in einer Diction, die dem Incohärenten dieses halbträumenden Zu­ standes entspricht, »ist er sich bewußt, daß er nicht schlafen konnte;« er hörte eine Stimme in sich, die ihn über den Entschluß, ein Weib zu nehmen, frug, »aus Gehorsam gegen ihn, ich redete nicht ein Wort; es kam mir aber vor, als wenn ich mit einem Geschrei aufspränge und schrie: W e n n i ch sol l , so gib mir keine andere.« - Er fügt hinzu: »Ja, weil Gott mit einer besondern Vorsicht über mich gewacht hatte, daß ich zu keiner fleischlichen Ver­ mischung hatte sündigen können, gesezt auch, mein Leib sollte erstorben seyn, — Abraham glaubte und wankte nicht; gibt er nicht Einsamen Kinder und kann aus Steinen welche erwecken?« Ueber Modificationen seiner Empfindung bei der zweiten Verbindung, die, wie gesagt, mit einem reichen Kindersegen begleitet war, und über die Veranlassung derselben macht er an Herder und nachher an Franz v. Buchholz, dessen noch weiter erwähnt wer­ den wird, ganz offene Aeußerungen. In einem Briefe an den lezteren (vom 7. Sept. 1784 Bd. VII S. 162) erzählt er ganz einfach die entstandene Zunei­ gung zu diesem Landmädchen, die in seines Vaters Haus als Dienstmädchen kam. »Ihre blühende Jugend, eichenstarke Gesundheit, mannfeste Unschuld, Einfalt und Treue brachte in mir eine solche hypochondrische Wuth hervor, welche weder Religion, Vernunft, Wohlstand noch Arznei, Fasten, neue Reisen und Zerstreuungen überwältigen konnten.« - In Ansehung des U n­

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gewöhnlichem in dem außerehelichen Verhältnisse mit ihr für immer zu bleiben, erklärt er sich über diesen damals ins siebenzehnte Jahr laufenden Roman seines Lebens an Herder in Folgendem (V. S. 193): »Ungeachtet meiner großen Zufriedenheit (in der er lebe und die sein ganzes Glück ausmache)

fühle

ich

die Seite des bürgerlichen

Uebelstandes

(seiner

Ge |wissensehe; oder wie man s e i n e n Fuß zu l e b e n nennen wolle) leb­ haft. Eben das Bauermädchen, dessen vollblütige, blühende Gesundheit, und eben so vierschrötige, eigensinnige, dumme Ehrlichkeit und Standhaftigkeit so viel Eindruck auf mich gemacht, daß Abwesenheit und die Versuche der höchsten Verzweiflung und kältesten Ueberlegung ihn nicht haben auslö­ schen können; — diese Magd, die Kindesstelle an meinem alten, unvermö­ genden, gelähmten Vater vertreten, und die er als leibliche Tochter geliebt, würde v i e l l e i c h t als m e i n e E h e f r a u i ch w e i ß n i c h t was seyn. — Nicht aus Stolz, dazu bin ich zu dankbar, sondern weil ich die innere Ueberzeugung habe, daß diese Lage ihre eigene Glückseligkeit mindern, und vielleicht dem Glücke ihrer eigenen Kinder nachtheilig werden könnte.« Vielleicht trug auch dieß Verhältniß H ’s. im Hause seines Vaters dazu bei, daß dieser zu Anfang des Jahrs 1763 sich entschloß, die Abtheilung des müt­ terlichen Vermögens mit seinen beiden Söhnen vorzunehmen (III. S. 183). H. hatte sich in dieser Zeit mit Abfassung mehrerer kleiner Aufsätze — im Verfolg der Sokratischen Denkwürdigkeiten — und mit Kritiken für die Königsberger Zeitung (welche der Hr. Herausgeber sorgfältig aufgesucht und der Sammlung beigefügt hat; sie sind eben nichts Bedeutendes) und mit der buntesten Lecture beschäftigt. H. ist nun veranlaßt, selbst für sich zu sorgen und sich nach weiterer Arbeit umzusehen als Beten und Bibellesen, was er früher als die Arbeit eines Christen angegeben hatte; Gott gab ihm, wie er sich ausdrückt (S. 184), Anlaß, an seine eigene Hütte zu denken; »der da war, da ich mir in der Hölle bettete, und mir die S c h a n d e der M u ß e überwin­ den half, wird mir jezt in der Gefahr der Geschäfte eben so gegenwärtig seyn.« In III. S. 207 ist seine Supplik an die königl. Preuß. Kriegs- und DomänenKammer zu Königsberg abgedruckt, vom 29. Juli 1763, worin er angibt, daß eine schwere Zunge und Unvermögenheit der Aussprache, nebst einer eben so empfindlichen Gemüthsart als Leibesbeschaffenheit ihn zu den meisten öffentlichen Bedienungen untüchtig machen, und er sich weder auf irgend einige Verdienste berufen noch auf andere Bedingungen einlassen könne, als daß er zu r N o t h

l e s e r l i c h s c h r e i b e n und e i n w e n i g r e c h n e n

könne; er bittet, ihn eine Probe seiner freiwilligen Dienste machen zu lassen, daß es ihm durch diesen Weg gelingen möchte, als ein I n v a l i d e

des

A p o l l o mit einer Zöllnerstelle zu seiner Zeit begnadigt zu werden. Doch

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nach einem halben Jahre | bittet er wieder »in der gänzlichen Verzweiflung an der Möglichkeit, einer Copistenhand und des dazu nöthigen Augenmaßes jemals mächtig zu werden«, wieder um seine Entlassung (III. S. 210), und übernimmt die Herausgabe einer gelehrten Zeitung. H. war durch eine Aeußerung, die er (in den Kreuzzügen des Philologen II. S. 149) über Hrn. v. M o s e r s damals Aufsehen erregende Broschüre: Der Herr und der Diener, gemacht hatte, mit diesem in Beziehung gekommen. H. hoffte nun durch dessen Verwendung eine Anstellung (das. S. 205 »mit einem recht ansehnli­ chen Gehalt als Lehrer der langen Weile«) zu erhalten, reiste deßhalb im Juni, wie es scheint, ohne bei Hrn. v. Moser vorher darüber anzufragen oder ihn von seiner Absicht in Kenntniß zu setzen, nach Frankfurt a. M ., von wo die­ ser jedoch vier Tage vor H ’s. Ankunft auf eine weite Reise abgegangen war. H ., der dessen Rückkunft nicht abwarten konnte, kam ungeschickter und un­ verrichteter Dinge Ende Sept. nach Königsberg zurück. Im Juni 1767 wurde er als Secrétaire-Interprète bei der Königsberger Provincial-Accise- und Zolldirection zuerst mit 16 Thlrn. monatl. Gehalt angestellt, der später bis auf 30 Thlr. stieg, aber dann wieder auf 25 Thlr. herabfiel. Er sezte in diesem Amte, vornehmlich auch durch den Ankauf vieler Bücher, den größten Theil des durch seines Vaters Tod ihm zugefallenen Vermögens zu; seinen ökono­ mischen Zustand (von einem Minus von 600 fl.) legt er dem Hrn. v. Moser V. S. 57f., wahrscheinlich von ihm aufgefordert, vor; nach ebendas. S. 116f. ist zu schließen, daß H. Hülfe bei ihm gefunden hat. Später hilft ihm Herder großmüthig aus einer Geldverlegenheit, die ihn sonst genöthigt haben würde, seine Bibliothek zu verkaufen. Am Ende des Jahrs 1774 muß er wieder als »expedirender Copist« arbeiten (V. S. 95), vergl. IV. S. 242, wo er in ei n e r S c h r i f t an das P u b l i c u m auch des Umstandes erwähnt, seinen Monats­ gehalt von 750 Düttchen in Scheidemünze ausgezahlt zu erhalten, die von der Post nicht angenommen werde; das Briefporto machte ihm bedeutende Auslagen. Anfangs des Jahrs 1777 wurde er endlich zum Packhofverwalter er­ nannt (V. S. 216f.); sein Gehalt war derselbe, 300 Rthlr., aber überdem hatte er freie W ohnung und Garten, und einen Antheil an den sogenannten Fooigeldern, der über 100 Rthlr. betrug; womit er nun »zufrieden und glücklich zu seyn gedachte, wenn der Neid des Satans nicht die köstliche Salbe der Z u­ friedenheit verderben werde;« die weitläufigen Verdrießlichkeiten über den Garten sind in den Briefen an | seinen Freund, den Capellmeister Reichardt in Berlin, zu lesen, dessen Verwendung er in seinen Amtsverhältnissen, aber freilich fruchtlos, in Anspruch nahm; auch hatte er den Kummer, jenen Zuschuß aus den Fooigeldern zu verlieren; so daß er, nachdem seine Lage zwar durch den Tod seines unglücklichen Bruders, der am Ende des Jahrs 1778

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endlich erfolgte, und das ihm dadurch zufallende Vermögen desselben etwas erleichtert wurde, sich bei einer zahlreichen Familie, seinem Hang zum Bücherkaufen und beträchtlichen Verlusten beim Verkauf von Häusern, in die er sein Vermögen gesteckt hatte, immer in bedrängten Umständen befand 5

(V. S. 287 »das Gemüth voller niedriger, kriechender, irdischer Nahrungs­ sorgen«), die er jedoch durch die Wirtschaftlichkeit, seinen christlichen Muth und eigenthümlichen Humor mit der Ruhe und Heiterkeit seiner Art standhaft trug, wobei ihm auch von Freunden manche Unterstützung zu Theil wurde. Er bezeugt übrigens öfters, daß die Packhofverwalterssteile der einzige

io Dienst im Lande gewesen, den er sich gewünscht; nach eines ehemaligen kön. Pr. Licent-Packhofmeisters Bonmot hätten alle anderen Beamten Eselsarbeit und Zeisigsfutter; bei ihm aber sei die einzige Ausnahme, Eselsfutter und Zeisigsarbeit zu haben (V. S. 210). Er hatte wenig oder, nach seinen Aus­ drücken, gar nichts zu arbeiten, »im Grunde weder Geschäfte noch Verant15

wortung« (VI. S. 193); »mich verderbt eher zu viel Bequemlichkeit, zu viel Ruhe und Muße.« Die Zeit, die er (VI. S. 218) von 7 Uhr Morgens bis 12 Uhr, und von 2 bis 6 Uhr Abends auf seiner Station zuzubringen hatte, ver­ brachte er vornehmlich mit Lesen. Diese Lecture ist durchaus bunt; ohne die Pachtung auf einen Zweck, Alles nach Zufall durch einander, daher sie mehr

20 eine üble Wirkung als einen bildenden Einfluß auf seine Schriftstellerei hatte. Eine ungefähre Liste der Bücher, die er vom Sommer 1781 in seinen Briefen als seine Lecture anführt, mag als Beispiel dienen: Am 8ten Apr. die 54 Bde. des Voltaire zu Ende gebracht; nun die 30 ersten Bogen von Kants Kritik der reinen Vernunft; Le procès des trois Rois. Londres, 1780; wieder 18 Bogen von 25

Kant; Des Erreurs et de la Vérité, Locke, über den menschlichen Verstand; His­ toire privée de Louis XV; Herders theologische Briefe u.s.f.; darauf Buffons Histoire des Oiseaux, die Bibliotheca Fratrum Polonorum; Zeltners Histor. arcani Cryptosocinianismi Altdorfini u.s.f. Diese Lesesucht konnte um so weniger fruchtbar seyn nach dem, was er an Lavater schreibt (im J. 1781, V,

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S. 280): »Seit lan |ger Zeit genieße ich einen Schriftsteller bloß, so lange ich das Buch in der Hand habe; sobald ich es zumache, fließt Alles in meiner Seele zusammen, als wenn mein Gedächtniß Löschpapier wäre.« - Unterricht im Griechischen, auch Englischen, Italienischen u.s.f., den er seinen Kindern und zum Theil ändern Bekannten ertheilte, Umgang mit Freunden in Königsberg,

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dem dahin versezten J. G. Lindner, Hippel, Kant, mit welchen beiden er auf einem bald mehr oder weniger entfernten, und obzwar nicht vertraulichen (die Autorschaft der Lebensläufe hatte Hippel Hamann nicht nur nicht anver5 niedriger] O : niediger

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traut, sondern abgeläugnet), doch auf gutem Fuße stand, und mit einigen Än­ dern, Kreuzfeld, Kraus u.s.f., dann der Briefwechsel mit auswärtigen Freun­ den, und zulezt Schriftstellerei und sonstiges im Leben Gewöhnliches mach­ ten seine übrigen Beschäftigungen aus. - Die früher ausführlich erzählte Er­ fahrung hatte ihn endlich davon abgebracht, sich zum Straf- und Bußprediger seiner Freunde aufzuwerfen, und ihn gelehrt, sich auch mit Solchen zu ver­ tragen, denen sein Inneres fremd bleiben mußte; wie die Noth ihn dahin ge­ bracht hatte, sich mit einer Stelle und Arbeit zu vertragen, welche gegen seinen Geist und seine Kenntniß ganz und gar heterogen, aber vielleicht eben dadurch angemessener war als jenes Verhältniß, in welchem er bei seinen Freunden in Riga hätte verbleiben können, indem ein ganz äußerliches und stumpfes Geschäft die Hartnäckigkeit seines abstracten Charakters unange­ fochten ließ, wo hingegen ein Verhältniß von sinnigerer Arbeit und concreterer Stellung mit Menschen ihm zugemuthet hätte, seine Isohrung zu verlas­ sen und sich in verständigere Gemeinsamkeit zu setzen. W ir sehen ihn nun sowohl mit alten Jugendfreunden als mit Solchen, welche ihm seine Schriften erwarben, in einem gemüthlichen und ruhigen Verhältniß bei der größten Verschiedenheit seiner und ihrer Eigenthümlichkeiten; er ist fähig, auch Sol­ che, wie z.B. K r a u s und vollends den Kriegsrath S c h e f f n e r , der seine weit gegangene Flachheit in seiner hinterlassenen Biographie noch nach sei­ nem Tode dem Publicum hat wollen vorlegen lassen, im Umgange mit ihm gewähren zu lassen. Es ist dieselbe Erscheinung wie die vorhin bemerkte, daß ihn die fremdartigste Lecture, deren Inhalt kein Interesse für ihn haben konnte, gegen die Unthätigkeit und Langeweile seines amtlichen Vegetirens beschäftigte und unterhielt. | Die F r e u n d s c h a f t war im Verhältnisse der Gelehrten und Literatoren der damaligen Zeit eine wichtige Angelegenheit, wie wir aus den vielen Briefwechseln, die seitdem in Druck gekommen sind, ersehen. Die Ver­ gleichung der verschiedenen Arten und Schicksale dieser Freundschaften würde wohl eine interessante Reihe von Charakteristiken liefern können, besonders wenn man diese Briefwechsel mit den gleichfalls zahlreichen Bän­ den von gedruckten Briefen der Französischen Literatoren der damaligen Zeit parallelisiren wollte. Hamanns religiöse Wendung hatte die Gestalt einer abstracten Innerlichkeit genommen, deren hartnäckige Einfachheit objective Bestimmungen, Pflichten, theoretische wie praktische Grundsätze nicht als schlechthin wesentlich anerkennt, noch ein leztes Interesse für dieselben hat. Eine Verschiedenheit hierüber, die hiermit allerdings sehr weit gehen kann, 19 den] so Druckfehlerverzeichnis; O : der

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kann deßwegen die Freundschaft nicht stören, welche aus demselben Grunde meist durch Zufall und subjective Neigung entstanden ist; ein Hauptzug H ’s. ist daher auch seine Beständigkeit in derselben. Es ist interessant, ihn über seine Vorstellung von der Freundschaft sich erklären zu hören, was er beson­ ders bei dem geschilderten früheren Hauptzwist mit seinen damaligen Freun­ den vielfach thut. Nach seinem Sinne gelten die heftigsten Vorwürfe, die leidenschaftlichsten Aeußerungen bloß als Prüfungen (B. I. S. 391); die Freundschaft ist ihm ein göttliches Geschenk, insofern Alles dasjenige, was auf ihre Vernichtung zu zielen scheint, nichts als ihre Läuterung und Be­ währung hervorbringt. Sie hat ihm (B. I. S. 474) mit Lehren, Unterrichten, Umkehren und Bekehren nichts zu schaffen. »Was ist denn das Augenmerk der Freundschaft?« fragt er. »Lieben, Empfinden, Leiden. Was wird Liebe, Empfindung, Leidenschaft aber eingeben und | einen Freund lehren? Gesich­ ter, Mienen, Verzuckungen, Figuren, redende Handlungen, Strategeme, Schwärmerei, Eifersucht, Wuth.« - Ferner: »Ich würde der niederträchtigste und undankbarste Mensch seyn, wenn ich mich durch die Kaltsinnigkeit (des Freundes), durch sein Mißverständniß, ja selbst durch sei ne o f f e n b a r e F e i n d s c h a f t so bald sollte abschrecken lassen, sein Freund zu bleiben; unter diesen Umständen ist es desto mehr meine Pflicht, Stand zu halten, und dar­ auf zu warten, bis es ihm gefallen wird, mir sein Zutrauen wieder zu schen­ ken.« So behält H. dieselben warmen Gesinnungen gegen die Brüder Beh­ rens, mit denen er so hart zusammen gekommen, sein ganzes Leben bei. So wachen auch in ihm nach M e n d e l s s o h n s Tod frühere Empfindungen gegen denselben auf, dem »der Antritt von seiner (H ’s.) literarischen Lauf­ bahn nicht verächtlich geschienen habe;« er überredet sich nach allen Heftig­ keiten, in die er gegen denselben explodirt war, dessen Freund geblieben zu seyn, und daß er ihn hievon noch hätte überzeugen können. —M it H e r der n steht er fortdauernd, wenigstens in dem (oft sehr geschraubt oder auch persifflirend werdenden) Tone vertraulicher Freundschaft. Bei aller dieser Freundschaft erklärt H. einmal Herdern (V. S. 61), was sonst offen genug daliegt, daß beider Gesichtspunkt und Horizont zu entfernt und verschieden sei, um sich über gewisse Dinge vergleichen zu können; er » v e r d a m m t « eine der Preisschriften Herders (ebend. S. 77), die diesem sonst viel R uhm erworben hatte; ja von dessen Schrift über die Apokalypse schreibt ihm H. (VI. S. 103) vom 29sten Oct. 1779, daß dieß Buch das erste sei, welches er (Hamann) aus der Fülle des Herzens und Mundes lieben und loben könne; was um so weniger ist, je ein geringeres Verhältniß jene Schrift überhaupt zur 32 vergleichen] O : v rgleichen

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Fülle des Herzens und Geistes hat. Es ist ein allgemeiner, aber eben kein Zug des Wohlwollens, daß H. gerade durch die Schriften seiner besten Freunde so aufgeregt wird, daß er in Aufsätzen über sie herfällt, die zum Drucke be­ stimmt, nach seiner | sonstigen Weise mit leidenschaftlicher Heftigkeit und Muthwillen angefüllt, selbst nicht ohne ein Ingredienz sind, das als bitterer Hohn empfunden werden und kränkend seyn kann. Ueber Herders Preis­ schrift vom Ursprung der Sprachen hatte Hamann eine kurze Anzeige in der Königsberger Zeitung gemacht, welche sich nur versteckter Weise gegen deren Hauptgedanken erklärt; aber er verfaßte auch einen sehr heftigen Auf­ satz unter dem Titel: P h i l o l o g i s c h e E i n f ä l l e u n d Z w e i f e l u.s.f. (Bd. IV. S. 37ff.), worin er seine Zweifel in nichts weniger als dahin ausdrückt: »ob es dem Verfasser je ein Ernst gewesen, sein Thema zu beweisen oder auch nur zu b e r ü h r e n « ; die Merkmale zu diesem Zweifel fänden sich darin, r lo ß V jc lXJ

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einem runden Cirkel, ewigen Kreisel, und w e d e r v e r s t e c k t e m n o c h f e i n e m U n s i n n zusammengesezt, auf verborgenen Kräften willkürlicher Namen und gesellschaftlicher Losungswörter oder Lieblingsideen beruhe u.s.f. Diesen Aufsatz enthielt sich H. jedoch drucken zu lassen, nachdem Herder, der davon gehört, ihm den Wunsch, denselben nicht vor das Publicum zu bringen, geäußert hatte. Eben so ließ er eine für die Königsberger Zeitung verfertigte Recension über Kants Kritik der reinen Vernunft, und den Auf­ satz: Metakritik, auf den wir späterhin zurückkommen werden, wenigstens ungedruckt. Daß Jacobi’s Schriften in Betreff seiner Dissidien mit Mendels­ sohn, die Briefe über Spinoza u.s.f., auf die sich Jacobi sehr viel zu Gute that, vor H. keine Gnade fanden, wird noch späterhin berührt werden. An diese besondere Art von Freundschaft schließt sich das Eigenthümliche seiner Frömmigkeit an, der Grundzug in seiner Schriftstellerei wie in seinem Leben überhaupt, welcher nun näher anzugeben ist. W ir sahen ihn früher in dem religiösen Gefühle seines äußern und innern Elends, aber auch bald dar­ aus zur Freudigkeit eines versöhnten Herzens übergegangen, so daß die Qual und Unseligkeit eines Gemüths, das die Entzweiung in die religiösen Forde­ rungen und in das denselben widersprechende Bewußtseyn der Sündhaftig­ keit perennirend in sich trägt, überwunden war. Aber in dem, was über jene Periode aus seiner Lebensbeschreibung ausgehoben worden ist, und in dem Aufsatze selbst in der breitesten Fülle, liegt jene frömmelnde Sprache und der widrige Ton schon ganz fertig vor, welcher noch mehr die Sprache der Heu­ chelei als der Frömmigkeit zu seyn pflegte. Daß er der erstem verfallen sei, dafür vermehrt sich der Anschein, wenn | H ., nachdem er sich innerlich von seinen Sünden absolvirt hat, nun gegen seine Freunde auf die Anerkenntniß,

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der größte Sünder zu seyn, nicht nur pocht, sondern auch über seine lun­ gernde, bestimmungs- und arbeitsscheue Lebensart ihnen mit dem Pantheis­ mus der unächten Religiosität, daß Alles Gottes Wille sei, entgegnet. »Der Christ,« schreibt er an seine Freunde, »thut Alles in Gott: essen und trinken, aus einer Stadt in die andere reisen, sich darin ein Jahr aufhalten und handeln und wandeln, oder darin stillsitzen und harren (geht auf seinen Aufenthalt in England) sind Alles g ö t t l i c h e Geschäfte und Werke.« Es würde ihm nicht gefehlt haben, einen vergnüglichen Kreis von neuen Freunden aufzufinden, mit denen er sich gemeinsam in dem Dunste selbstgefälliger Sündhaftigkeit hätte laben und preisen können. G o e t h e in seinem Leben erzählt, wie zu jener Zeit »die Stillen im Lande« zu Frankfurt dem Hamann ihre Aufmerk­ samkeit zuwendeten und mit ihm sich in Verhältniß sezten; wie diese from­ men Menschen sich H. nach ihrer Weise fromm gedacht, und ihn als »den Magus aus Norden« mit Ehrfurcht behandelten; aber bald Aergerniß schon an seinen W o l k e n und noch mehr an dem Titelblatt zu den K r e u z z ü g e n ei nes P h i l o l o g e n nahmen, auf welchem das Ziegenprofil eines gehörn­ ten Pans, und dann noch ein weiterer satyrischer Holzschnitt (die auch in dieser Ausg. B. II. S. 103 u. 134 zu finden sind): ein großer Hahn, tactgebend jungen Hühnchen, die mit Noten in den Krallen vor ihm standen, sich höchst lächerlich zeigte, worauf sie ihm ihr Mißbehagen zu erkennen gaben, er aber sich von ihnen zurückzog. Hamann würde wohl in seiner Gegend gleichfalls dergleichen neue Freunde haben finden können, und wenn etwa das Naturell seines Bruders, der in Blödsinn endete, eine weitere Wahr­ scheinlichkeit, daß er die Richtung der Heuchelei verfolgen würde, an die Hand gäbe, so bewahrte ihn hievor die in seinem Gemüthe noch starke und frische Wurzel der Freundschaft, die geniale Lebendigkeit seines Geistes und das edlere Naturell. Jene Wurzel der Freundschaft erlaubte ihm nicht, in ihm selbst unredlich gegen sich und gegen sie zu werden, und das Princip weltli­ cher Rechtlichkeit zu verschmähen. Es hatte eines streng positiven Elements, eines harten Keils bedurft, der durch sein Herz getrieben werden mußte, um dessen Hartnäckigkeit zu überwinden; aber es wurde damit nicht getödtet, sondern vielmehr dessen energische Lebendigkeit ganz in die Frömmigkeit aufgenommen. H. hat darüber ein bestimmtes Bewußt |seyn, so daß er auch Gott dafür dankt (I. S. 373), daß er »wunderlich gemacht ist.« In dem oft angeführten Kampfe mit seinen Freunden spricht er vielfach diese Verknüpfung seiner Frömmigkeit und seiner eigenthümlichen

Leben­

digkeit aus; so sagt er (I. S. 393): »Wie Paulus an die Korinther in einem so 1-2 lungernde] so Druckfehlerverzeichnis; O : hungernde

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harten und seltsamen Tone geschrieben (was er mit seinem eigenen Benehmen in Parallele sezt), was für ein G e m i s c h v o n L e i d e n s c h a f t e n habe dieses sowohl in dem Gemüthe Pauli als der Korinther zuwege gebracht ? Verantwor­ tung, Zorn, Furcht, Verlangen, Eifer, Rache; —wenn der natürliche Mensch fünf Sinne habe, so sei der Christ ein Instrument von zehn Saiten, und o h n e 5 L e i d e n s c h a f t e n einem klingenden Erz ähnlicher als einem neuen Men­ schen.« Diese Frömmigkeit, die so das weltliche Element einer eminenten Ge­ nialität zugleich in sich trägt, unterschied sich wesentlich eben so sehr von den Arten einer bornirten pietistischen, süßlichen oder fanatischen Frömmigkeit, als auch von der ruhigem, unbefangenem Frömmigkeit eines rechtschaffenen

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Christen, und gestattete ferner auch Ändern, die nicht zu den »Stillen im Lande« gehörten, mit ihm in Gemeinsamkeit und Anerkennung zu seyn. Der Hr. Herausgeber gibt (Vorr. zu B. III. S. VIff.) die in Bezug auf H am ann

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