Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits: Band II. 1970–1975 9783518583524


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German Pages 1032 [1030] Year 2002

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Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits: Band II. 1970–1975
 9783518583524

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Michel Foucault Schriften in vier Bänden Dits et Ecrits Band II 1970-1975 Herausgegeben von Daniel Defert und François Ewald unter Mitarbeit von Jacques Lagrange Aus dem Französischen von Reiner Ansén, Michael Bischoff, Hans-Dieter Gondek, Hermann Kocyba und Jürgen Schröder

Suhrkamp

Titel der Originalausgabe: Dits et écrits © 1994 Éditions Gallimard, Paris © Éditions Fata Morgana, 1985, für den Text 73 © Presses universitaires de France, 1971, und © Éditions Gallimard, 1994, für den Text 84 © Ediçoes Tempo Brasileiro, 1971, für den Text 85 © Éditions du Seuil, 1971, und © Éditions Gallimard, 1994, für den Text 98 © Éditions Pion, 1975, und Éditions Gallimard, 1994, für den Text 144 © Galerie Jeanne Bücher, 1975, und © Éditions Gallimard, 1994, für den Text 150 Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Unterstützung des Französischen Ministeriums für Kultur - Centre National du Livre und der Maison des sciences de l’homme. Ouvrage publié avec le concours du Ministère français chargé de la culture - Centre National du Livre et la Maison des sciences de l’homme

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 2. Auflage 2014 Erste Auflage 2002 © der deutschen Ausgabe Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2002 Alle Rechte Vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Umschlag: Hermann Michels und Regina Göllner Druck: Druckhaus Nomos, Sinzheim Printed in Germany ISBN 978-3-518-58353-1

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Inhalt *

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72. Vorwort zur englischen Ausgabe................................ 9 »Foreword to the English Edition« (übers, von F. Durand-Bogaert), in: M. Foucault, The Order of Things, London 1970, S. IX-XIV. 73. Sieben Thesen über den siebten Engel........................ 17 74. Vorwort. »Présentation« in: G. Bataille, Œuvres complètes, Paris 1970, Bd. I: Premiers Ecrits 1922-1940, S. 5-6................................ 32 75. Die phantastische Bibliothek....................................... 34 76. Diskussionsbeitrag zu François Dagognet.................. 34 77. Die Situation Cuviers in der Geschichte der Biologie (Vortrag).................... 37 78. Die Falle von Vincennes............................................. 82 79. Es wird einen Skandal geben, aber.............................. 91 80. Theatrum philosophicum........................................... 93 81. Wachsen und vermehren............................................... 123 82. Wahnsinn, Literatur, Gesellschaft................................. 129 83. Wahnsinn und Gesellschaft........................................... 157 1971 84. Nietzsche, die Genealogie, die Historie......................... 166 85. Gespräch mit Michel Foucault..................................... 191 86. (Manifest der G.I.P. - Gruppe Gefängnisinformation). 211 87. (Über die Gefängnisse)................................................. 213 88. Untersuchung über die Gefängnisse: Zerbrechen wir die Gitter des Schweigens............................................. 215 89. Gespräch mit Michel Foucault.....................................222 90. Das Gefängnis ist überall........................ 236 91. Vorwort (Vorwort zu Enquete dans vingt prisons, Paris 1971)................................................................... 237 92. Artikel 15. »L’article 15«, in: La Cause du peuple J'accuse, Sondernummer: Flics. Uaffaire Jaubert, 3. Juni 1971).................................................. 241 93. Bericht der Informationskommission zur Affäre Jaubert......................................................... 243

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Inhalt

94. Ich sehe das Unerträgliche.........................................247 95. Ein Problem interessiert mich seit langem: das Problem des StrafSystems.......................................250 96. Brief von Michel Foucault...........................................255 97. Monstrositäten der Kritik............................................. 262 98. Jenseits von Gut und Böse...........................................273 99. Die Rede von Toul....................................................... 289 100. Foucault antwortet....................................................... 292 101. Der Wille zum Wissen................................................. 294 1972 102. Mein Körper, dieses Papier, dieses Feuer.................... 300 103. Zur Geschichte zurückkehren.......................................331 104. Erwiderung auf Derrida............................................... 347 105. Die große Einsperrung............................................ . 367 106. Die Intellektuellen und die Macht.................................382 107. Gesprächsrunde........................................................... 394 108. Über die Volksjustiz. Eine Auseinandersetzung mit Maoisten ...................... 424 109. Die Probleme der Kultur. Eine Debatte zwischen Foucault und P reti................ 461 110. Die wesentlichen Funktionen der Medizin in unserer Gesellschaft................................................................. 474 in . Seine eigene Kultur in die Falle locken........................476 112. Das Meeting Wahrheit-Gerechtigkeit. 1500 Bürger von Grenoble klagen an (Wortmeldung) 477 113. Ein Blutspritzer oder ein Brand (Wortmeldung) . . . . . 480 114. Die zwei Toten von Pompidou.................................. 481 115. Theorien und Institutionen des Strafvollzugs.............. 486 1973

116. Vorwort. »Préface«, in: S. Livrozet, De la prison à la révolte, Paris 1973 . . 491 >117. Für eine Chronik des Arbeitergedächtnisses................497 118. Die Kraft zu fliehen..................................................... 499 119. Von der Archäologie zur Dynastik...............................504 120. Statt einer Konklusion................................................. 519 121. Eine neue Zeitung?....................................................... 522 122. Rings um Ödipus......................................................... 524

Inhalt

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123. Der Intellektuelle hat die Aufgabe, Ideen zusammen­ zutragen, aber sein Wissen ist nur bruchstückhaft im Verhältnis zum Wissen der Arbeiterschaft.................. 524 124. Der Philosoph Foucault spricht. Denken Sie.............. 527 125. Gefängnisse und Gefängnisrevolten............................ 530 126. Die Welt ist eine große Anstalt.................................. 539 127. Zum geschlossenen Strafvollzug................................... 541 128. Vorladung bei der Kripo............................................... 554 129. Erste Diskussionen, erste Versuche: Ist die Stadt eine produktive Kraft oder eine Kraft der Antiproduktion?........................................................... 557 130. Durch energische Interventionen aus unserem euphorischen Aufenthalt in der Geschichte herausgerissen, nehmen wir mühsam »logische Kategorien« in Angriff................................... 563 131. Die Strafgesellschaft..................................................... 568 1974 ..

132. Über die Natur des Menschen: Gerechtigkeit versus Macht........................................... 586 133. Über die »Zweite chinesische Revolution«...................637 134. »Die Zweite chinesische Revolution«...........................641 135. (Über D. Byzantios) (Ausstellung)...............................644 136. Gefängnisse und Anstalten im Mechanismus der Macht............................................... 648 137. Michel Foucault über Attica.......................................653 138. Sexualität und Politik. (Stellungnahme).........................66y 139. Die Wahrheit und die juristischen Forme# . . . . . . . . . 669 140. Anti-Retro...................... 793 141. Wahnsinn, eine Frage der Macht........ ........................811 142. Runder Tisch zum psychiatrischen Sachverstand........ 816 143. Die psychiatrische Macht............................................. 829 1975

144. Vorwort. »Préface«, in: Jackson, B., Leurs prisons. Autobiographies de prisonniers américains, Paris 1975 . 844 145. Brief..............................................................................850 146. Das Haus der Wahnsinnigen................ 852 147. Ein Feuerwehrmann plaudert aus dem Nähkästchen . . 859

Inhalt

148. Die Politik ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen M itteln....................................................... 149. Worüber denken die Philosophen nach?.................. 150. Die photogene Malerei. (Präsentation)...................... 151. Von den Martern zu den Zellen................................ 152. Auf dem Präsentierteller........................................... 153. Das Gefängnis aus Sicht eines französischen Philosophen............................................................. 154. Das Fest des Schreibens........................................... 155. Der Tod des Vaters................................................... 156. Gespräch über das Gefängnis; das Buch und seine Methode................................................ 157. Macht und Körper................................................... 158. Der Gang nach Madrid............................................. 159. Über Marguerite Duras.......................... ............... . 160. Irrenanstalten. Sexualität. Gefängnisse...................... -$6i. Eine Durchleuchtung von Michel Foucault............. 162. Die Verrückten spielen............................................. 163. Michel Foucault. Die Antworten des Philosophen. . . 164. Sade, Offizier des Geschlechts.................................. 165. Die Anormalen.........................................................

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7 Vorwort zur englischen Ausgabe »Foreword to the English Edition« (übers, von E Durand-Bogaert), in: M, Foucault, The Order of Thingsy London 1970, S. IX-XIV.

Vielleicht sollte ich dieses Vorwort besser als »Gebrauchsanlei­ tung« bezeichnen. Nicht dass der Leser in meinen Augen kein Vertrauen verdiente - mit dem Buch, das er freundlicherweise liest, kann er natürlich machen, was er will. Ich kann niemandem vorschreiben, welchen Gebrauch er von diesem Buch machen soll. Doch als ich es schrieb, waren mir viele Dinge gar nicht so klar; manches schien mir allzu selbstverständlich, anderes ausgespro­ chen dunkel. Ich habe mich daher gefragt, wie wohl der ideale Leser an mein Buch heranginge, wenn ich meine Absichten klarer gemacht und meinem Vorhaben deutlichere Gestalt verliehen hätte.1 1. Er würde erkennen, dass die Untersuchung einem relativ ver­ nachlässigten Gebiet gilt. Zumindest in Frankreich konzentrieren Wissenschafts- und Ideengeschichte sich auf Mathematik, Kos­ mologie und Physik, edle, exakte Wissenschaften von größter Strenge, die der Philosophie nahestehen; in ihrer Geschichte kön­ nen wir gleichsam die ununterbrochene Entstehung der Wahrheit und der reinen Vernunft verfolgen. Bei den anderen Disziplinen etwa bei jenén, die sich mit Lebewesen, Sprachen oder ökonomi­ schen Zusammenhängen befassen - hat man dagegen den Ein­ druck, sie seien allzu sehr dem empirischen Denken verhaftet und allzu stark den Launen des Zufalls, rhetorischen Figuren, jahrhundertealten Traditionen oder äußeren Ereignissen ausge­ setzt, als dass man ihnen eine regelmäßige Geschichte Zutrauen könnte. Man erwartet vielmehr, dass sie Ausdruck einer Geistes­ verfassung, einer intellektuellen Mode, eines Gemischs aus archai­ schen Vorstellungen und gewagten Vermutungen, aus Intuition

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und Blindheit sind. Und wenn das empirische Wissen einer Kultur zu einer bestimmten Zeit nun doch eine klar umrissene Regel­ mäßigkeit aufwiese? Wenn die Möglichkeit, Tatsachen zu erken­ nen, sich von ihnen überzeugen zu lassen, sie im Lichte von Tra­ ditionen zu verbiegen oder rein spekulativen Gebrauch davon zu machen - wenn diese Möglichkeit nun nicht vom Zufall abhinge? Wenn Irrtümer (und Wahrheiten), die Ausübung alter Glaubens­ überzeugungen - zu denen nicht nur wirkliche Entdeckungen, sondern auch äußerst naive Vorstellungen zählen -, wenn all das nun zu einer bestimmten Zeit den Gesetzen eines Wissenscodes gehorchte? Kurz: wenn die Geschichte des nichtformalisierten Wissens gleichfalls ein System besäße? Das war meine Ausgangs­ hypothese - das erste Risiko, das ich einging. 2. Dieses Buch sollte nicht als symptomatologische, sondern als vergleichende Studie gelesen werden. Ich hatte nicht die Absicht, auf der Grundlage eines bestimmten Wissenstyps oder eines Ideenkorpus das Bild einer Zeit zu zeichnen oder den Geist eines Jahrhunderts zu rekonstruieren. Vielmehr wollte ich ganz be­ stimmte Elemente - das Wissen über Lebewesen, über die Gesetze der Sprache und über ökonomische Zusammenhänge - für einen Zeitraum, der sich vom 17. bis ins 19. Jahrhundert erstreckt, dar­ stellen und in einen Zusammenhang mit dem philosophischen Diskurs dieser Zeit bringen. Es sollte keine Analyse des klassi­ schen Zeitalters insgesamt oder einer bestimmten Weltanschauung werden, sondern eine streng »regionale« Untersuchung.1 Diese vergleichende Methode führt unter anderem zu Ergeb­ nissen, die in erstaunlicher Weise von den Ergebnissen fachspezi­ fischer Untersuchungen abweichen. (Der Leser darf hier keine jeweils gesonderte Geschichte der Biologie, der Linguistik, der Politischen Ökonomie und der Philosophie erwarten.) Manche Dinge haben ein anderes Gewicht erhalten: Ich habe den Kalender der Heiligen und Helden ein wenig verändert (Linné erfährt grö­ ßere Beachtung als Buffon, Destutt de Tracy größere als Rous­ seau, und Cantilion steht allein gegen sämtliche Physiokraten). Die Grenzen sind neu gezogen; Dinge, die gewöhnlich als ver1 Ich benutze gelegentlich Ausdrücke wie »klassisches Denken« oder »klassische Wissenschaft«, aber in aller Regel meine ich damit das jeweils untersuchte Fach­ gebiet.

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schieden gelten, wurden zusammengebracht, und umgekehrt: Statt die biologischen Taxonomien mit anderen, das Leben betref­ fenden Wissensbereichen zu verknüpfen (zum Beispiel mit der Theorie der Keimung oder der Physiologie der tierischen Bewe­ gung oder auch der Statik der Pflanzen), vergleiche ich sie für die jeweilige Zeit gleichsam mit sprachlichen Zeichen, mit der Bil­ dung allgemeiner Ideen, mit der Sprache menschlichen Handelns, der Hierarchie der Bedürfnisse und dem Austausch von Waren. Das hat zwei Folgen: Zunächst einmal musste ich die großen Klassifikationen aufgeben, die uns allen heute sehr vertraut sind. Ich habe nicht im 17. und 18. Jahrhundert nach den Anfängen der Biologie (oder Philosophie oder Ökonomie) des 19. Jahrhunderts gesucht. Aber ich habe Figuren entstehen sehen, die typisch für das klassische Zeitalter sind: eine »Taxonomie« oder »Naturge­ schichte«, die von dem damals bereits vorhandenen Wissen im Bereich der Tier- und Pflanzenphysiologie relativ unbeeinflusst waren; eine »Analyse der Reichtümer«, die sich wenig um die zeitgenössische »politische Arithmetik« scherte; und eine »allge­ meine Grammatik«, die nichts mit den damals unternommenen historischen Analysen und Exegesen gemein hatte. Es handelte sich in Wirklichkeit um epistemologische Figuren, die nicht den Wissenschaften überlagert sind, wie sie im 19. Jahrhundert abge­ grenzt wurden und ihre Namen erhielten. Ich sah auch zwischen diesen Figuren ein Netz von Analogien entstehen, das über die herkömmlichen Ähnlichkeiten hinausging: In den Wissenschaften des klassischen Zeitalters stößt man auf Isomorphien zwischen der Klassifikation der Pflanzen und der Theorie des Münzgeldes oder zwischen dem Begriff des Gattungsmerkmals und der Ana­ lyse des Warentauschs, die sich um die extreme Verschiedenheit der betrachteten Gegenstände gar nicht zu kümmern scheinen. Der Raum des Wissens ist im klassischen Zeitalter vollkommen anders organisiert als der von Comte oder Spencer systematisierte Raum, der das 19. Jahrhundert beherrscht. Hier liegt das zweite Risiko, das ich eingegangen bin: die Entscheidung, ilicht die Ge­ nese unserer Wissenschaften zu beschreiben, sondern einen epistemologischen Raum, der für eine bestimmte Zeit typisch ist. 3. Folglich habe ich nicht auf der Ebene oder eigentlich: den beiden Ebenen gearbeitet, auf denen Wissenschaftshistoriker ge-

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wohnlich operieren. Einerseits zeichnet die Wissenschaftsge­ schichte tatsächlich den Fortschritt der Entdeckungen, die For­ mulierung von Problemen und den Tumult der Kontroversen nach; und sie analysiert die innere Ökonomie der Theorien; kurz, sie beschreibt die Prozesse und Ergebnisse des wissenschaftlichen Bewusstseins. Andererseits versucht sie ausfindig zu machen, was diesem Bewusstsein entgangen ist: die prägenden Einflüsse, die zugrundeliegenden Philosophien, die unausgesprochenen The­ men, die unsichtbaren Hindernisse; sie beschreibt das Unbewuss­ te der Wissenschaft. Dieses Unbewusste ist stets die negative Seite der Wissenschaft, also jene Dinge, die Widerstand leisten, sie vom Wege abbringen und in Verwirrung stürzen. Ich möchte dagegen ein positives Unbewusstes ans Licht holen: eine Ebene, die dem Bewusstsein der Forscher entgeht und dennoch Teil des wissen­ schaftlichen Diskurses ist, aber weder dessen Geltung noch dessen wissenschaftlichen Charakter in Frage stellt. Was Naturge­ schichte, Ökonomie und Grammatik des klassischen Zeitalters gemein hatten, war dem wissenschaftlichen Bewusstsein gewiss nicht präsent; und was davon ins Bewusstsein drang, war allenfalls künstlich, begrenzt und reine Fantasie (so träumte Adanson von einer künstlichen Nomenklatur der Pflanzen, und Turgot verglich die Münzprägung mit der Sprache). Aber ohne dass es ihnen be­ wusst wurde, folgten Naturhistoriker, Ökonomen und Gramma­ tiker denselben Regeln, wenn sie die Objekte ihres Forschungs­ feldes definierten, Konzepte bildeten und Theorien konstruierten* Diese Bildungsregeln, die niemals präzise formuliert wurden und sich nur aus den äußerst unterschiedlichen, von mir untersuchten Theorien, Konzepten und Forschungsgegenständen erschließen lassen, habe ich ans Licht zu holen versucht, indem ich gleichsam als ihren gemeinsamen Ort eine Ebene isolierte, die ich vielleicht ein wenig willkürlich als archäologisch bezeichne. Am Beispiel der für dieses Buch gewählten Zeit habe ich die gemeinsame Grundlage oder das gemeinsame archäologische System einer Rei­ he wissenschaftlicher »Darstellungen« oder »Ergebnisse« zu be­ stimmen versucht, die sich über Naturgeschichte, Ökonomie und Philosophie des klassischen Zeitalters verstreut finden.4 4. Ich wünsche mir, dass der Leser dieses Buch als Baustelle be­ greift. Zahlreiche Fragen werden aufgeworfen, die noch keine

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Antwort gefunden haben; und unter den Lücken verweisen viele auf frühere Arbeiten oder auf solche, die noch nicht abgeschlossen oder nicht einmal begonnen sind. Dennoch imöchte ich auf drei Probleme hinweisen. Das Problem des Wandels. Man hat behauptet, dieses Buch bestreite die Möglichkeit jeglichen Wandels. In Wirklichkeit galt gerade dem Wandel mein Hauptaugenmerk. Zwei Dinge haben mich besonders erstaunt: einerseits, mit welcher Schnelligkeit und Radikalität Wissenschaften gelegentlich eine Neuordnung erfah­ ren, und andererseits, dass es zur selben Zeit auf ganz verschiede­ nen Fachgebieten zu ähnlichen Veränderungen kommt. Innerhalb weniger Jahre (um 1800) wurde die Tradition der allgemeinen Grammatik durch eine im Wesentlichen historische Philologie er­ setzt, die naturhistorischen Klassifikationen wurden an den Ana­ lysen der vergleichenden Anatomie ausgerichtet, und man schuf eine Politische Ökonomie, deren wichtigste Themen Arbeit und Produktion bildeten. Angesichts eines so erstaunlichen Zusam­ mentreffens schien es mir erforderlich, diese Veränderungen ge­ nauer zu untersuchen, ohne dabei ihr plötzliches Auftreten oder ihre Reichweite herunterzuspielen. Anfangs glaubte ich, innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses verschiedene Arten von Verän­ derungen ausmachen zu können - Veränderungen, die nicht auf derselben Ebene lagen, nicht mit derselben Geschwindigkeit er­ folgten und nicht denselben Gesetzen gehorchten. Die Bildung neuer Aussagen, die Isolierung neuer Tatsachen und die Schaffung neuer Konzepte (Ereignisse, die das Alltagsleben einer Wissen­ schaft ausmachen) erfolgen innerhalb der einzelnen Wissenschaft höchstwahrscheinlich nicht nach demselben Modell wie die Ent­ stehung neuer (und das oft damit einhergehende Verschwinden alter) Forschungsgebiete; aber die Entstehung neuer Forschungs­ gebiete darf*ihrerseits nicht mit jenen globalen Neuverteilungen verwechselt werden, die nicht nur die allgemeine Form einer Wis­ senschaft, sondern auch deren Beziehung zu anderen Wissensbe­ reichen verändert. Mir schien daher, man dürfe all diese Verände­ rungen nicht auf ein und dieselbe Ebene reduzieren, sie nicht in einem einzigen Punkt zusammenlaufen lassen und sie auch nicht auf das Genie einzelner Menschen, einen neuen kollektiven Geist oder gar auf die Fruchtbarkeit einer einzelnen Entdeckung zu­ rückführen; stattdessen schien es mir besser, diese Unterschiede

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zu respektieren und sogar zu versuchen, sie in ihrer Besonderheit zu erfassen. Aus diesen Gründen haben ich mich darangemacht, jene Kombination von Veränderungen zu beschreiben, die an der Schwelle zum 19. Jahrhundert mit der Geburt der Biologie, der Politischen Ökonomie, der Philosophie, einer Reihe von Human­ wissenschaften und einer neuen Art von Philosophie einhergin­ gen. Das Problem der Kausalität. Oft lässt sich nur schwer bestim­ men, wodurch eine bestimmte Veränderung innerhalb einer Wis­ senschaft ausgelöst worden ist. Wodurch ist diese Entdeckung möglich geworden? Warum ist jenes Konzept entstanden? Woher kommt diese Theorie? Und woher jene? Solche Fragen lassen sich oft nur sehr schwer beantworten, weil es keine präzise umrissenen methodologischen Prinzipien gibt, mit deren Hilfe man solche Analysen vornehmen könnte. Die Verlegenheit wächst bei allge­ meinen Veränderungen, die eine Wissenschaft als ganze betreffen. Sie wird noch größer, wenn man es mit mehreren, einander ent­ sprechenden Veränderungen zu tun hat. Und zweifellos erreicht sie ihren Gipfel bei den empirischen Wissenschaften, denn dort zeigt sich die Bedeutung der Instrumente, Techniken, Institutio­ nen, Ereignisse, Ideologien und Interessen zwar in aller Deutlich­ keit, aber wir wissen nicht, wie eine so komplexe Verknüpfung derart unterschiedlicher Elemente tatsächlich funktioniert. Mir schien es im Augenblick nicht klug, nach einer Lösung zu greifen, von der ich offen gestanden nicht überzeugt bin: Die herkömm­ lichen Erklärungen - der Zeitgeist, technologischer oder sozialer Wandel, Einflüsse jeglicher Art - erscheinen mir größtenteils eher magisch als triftig. Daher habe ich das Problem der Ursachen in diesem Buch beiseite gelassen2 und beschränke mich auf die bloße Beschreibung der Veränderungen, zumal dies eine unverzichtbare Vorstufe darstellt, wenn eine Theorie des wissenschaftlichen Wan­ dels und der epistemologischen Kausalität jemals Gestalt anneh­ men soll. Das Problem des Subjekts. Wenn ich zwischen der epistemolo­ gischen Ebene des Wissens (oder des wissenschaftlichen Bewusst­ seins) und der archäologischen Ebene unterscheide, so bin ich mir sehr wohl bewusst, dass ich einen sehr schwierigen Weg einschla2 Ich habe diese Frage in Bezug auf die Psychiatrie und die medizinische Klinik in zwei früheren Arbeiten behandelt.

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ge. Kann man über die Wissenschaft ünd ihre Geschichte sprechen (und damit auch über ihre Existenzbedingungen, ihre Verände­ rungen, ihre Irrtümer, über plötzliche Fortschritte, die sie in eine neue Richtung drängen), ohne dabei den Wissenschaftler zu be­ rücksichtigen - und ich meine nicht nur das konkrete, mit einem Namen versehene Individuum, sondern auch sein Werk und die besondere Form seines Denkens? Kann man sich eine gültige Wissenschaftsgeschichte vorstellen, die von Anfang bis Ende die gesamte spontane Bewegung eines anonymen Wissenskorpus nachzeichnete? Ist es legitim und überhaupt sinnvoll, das her­ kömmliche »X dachte ...« durch ein »man dachte ...« zu erset­ zen? Aber das ist gar nicht meine Absicht. Ich bestreite weder die Sinnfälligkeit intellektueller Biographien noch die Möglichkeit einer Geschichte der Theorien, Konzepte oder Themen. Ich frage mich nur, ob solche Beschreibungen allein schon ausreichen, ob sie der außerordentlichen Dichte des wissenschaftlichen Diskur­ ses gerecht werden und ob es nicht jenseits der üblichen Grenzen Systeme von Regelmäßigkeiten gibt, die in der Wissenschaftsge­ schichte eine entscheidende Rolle spielen. Ich möchte wissen, ob die für den wissenschaftlichen Diskurs verantwortlichen Subjekte nicht in ihrer Situation, ihrer Funktion, ihrem Wahrnehmungsver­ mögen und ihren praktischen Möglichkeiten unter dem Einfluss von Bedingungen stehen, die sie beherrschen und sogar erdrü­ cken. Kurz, ich versuche, den wissenschaftlichen Diskurs nicht aus der Sicht der sprechenden Individuen zu erfassen und auch nicht aus der Sicht der formalen Strukturen, die bestimmen, was sie sagen, sondern aus der Sicht der Regeln, die für die bloße Existenz dieses Diskurses bedeutsam sind: Welche Voraussetzun­ gen musste Linné (oder Petty oder Arnauld) erfüllen, damit sein Diskurs nicht nur in einem allgemeinen Sinne wahr und wider­ spruchsfrei w"ar, sondern zu der Zeit, als er geschrieben und auf­ genommen wurde, auch praktischen Wert und praktische Anwen­ dungsmöglichkeiten als wissenschaftlicher Diskurs - oder genauer als naturhistorischer, ökonomischer oder grammatikalischer Dis­ kurs - besaß? Auch hier ist mir sehr wohl bewusst, dass ich nicht sonderlich weit gekommen bin. Aber aus den Bemühungen, die ich in diese Richtung unternommen habe, sollte man nicht den Schluss zie­ hen, ich lehnte alle anderen denkbaren Ansätze ab. Der Diskurs

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und insbesondere der wissenschaftliche Diskurs stellt eine so komplexe Realität dar, dass es nicht nur möglich, sondern not­ wendig ist, ihn auf unterschiedlichen Ebenen und mit verschiede­ nen Methoden anzugehen. Wenn es jedoch einen Ansatz gibt, den ich kategorisch ablehne, so ist das jener (wir wollen ihn grob den phänomenologischen Ansatz nennen), der dem beobachtenden Subjekt absolute Priorität einräumt, einem Akt eine konstitutive Rolle zuweist und seine Sicht zum Ursprung jeglicher Geschicht­ lichkeit erklärt - also kurz gesagt, jenen Ansatz, der in ein tran­ szendentales Bewusstsein mündet. Ich denke, die historische Ana­ lyse des wissenschaftlichen Diskurses sollte letztlich eher auf einer Theorie der Diskurspraktiken als auf einer Theorie des erkennen­ den Subjekts basieren. 5. Zum Abschluss möchte ich eine Bitte an den englischen Leser richten. In Frankreich hängen einige bornierte »Kommentatoren« mir hartnäckig das Etikett eines »Strukturalisten« an. Trotz mei­ ner Bemühungen geht es offenbar nicht in ihren Kopf, dass ich keine der Methoden, keines der Konzepte und keinen der Schlüs­ selbegriffe verwende, die für die strukturale Analyse typisch sind. Ich wäre einem ernsthafteren Publikum sehr dankbar, wenn es mich von dieser Assoziation befreite, die zwar ehrenvoll ist, aber die ich nicht verdiene. Es mag durchaus gewisse Ähnlichkeiten zwischen meinen Arbeiten und denen der Strukturalisten geben. Es stünde mir schlecht an - noch schlechter als jedem anderen -, wenn ich behauptete, mein Diskurs sei unabhängig von Voraus­ setzungen und Regeln, die mir zu einem guten Teil gar nicht be­ wusst sind und alle übrigen Arbeiten unserer Zeit bestimmen. Aber es ist nur allzu einfach, sich der Aufgabe der Analyse solch einer Arbeit zu entziehen, indem man ihr ein hochtönendes, aber falsches Etikett anheftet. Übersetzt von Michael Bischoff

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Sieben Thesen über den siebten Engel »Sept propos sur le septième ange«, in: Bisset, J.-R, La Grammaire logique, Paris 1970, S. 9-57.

I. La Science de Dieu und zu einem guten Teil auch La Grammaire logique präsentieren sich als Studien über den Ursprung der Spra­ chen. Solche Studien gibt es seit Jahrhunderten, doch im 19. Jahr­ hundert wurden sie nach und nach an den Rand des Deliriums gedrängt. Ein symbolisches Datum für diesen Ausschluss ist der Tag, als die gelehrten Gesellschaften erstmals Denkschriften über die Ursprache ablehnten. Doch in dieser langen, eines Tages ins Exil getriebenen Dynas­ tie nimmt Brisset eine besondere Stellung ein; er spielt den Stö­ renfried. Ein plötzlicher Wirbel inmitten sanfter Delirien.

IL Das Prinzip der Nichtübersetzung Im Vorwort zu La Science de Dieu heißt es: »Dieses Buch lässt sich nicht vollständig übersetzen.« Warum? Bei jemandem, der nach dem gemeinsamen Ursprung aller Sprachen sucht, muss solch eine Behauptung erstaunen. Besteht dieser Ursprung nach einer Tradition, für die insbesondere Court de Gébelin steht, nicht in einer kleinen Zahl einfacher, mit den Dingen selbst verbunde­ ner Elemente, deren Spuren sich in allen Sprachen der Welt er­ halten haben? Kann man nicht alle Elemente einer Sprache - di­ rekt oder indirekt - auf diese Ursprache zurückführen? Ist sie nicht die Sprache, in die man jedes Idiom rückübersetzen kann, und bildet sie nicht ein Ensemble von Punkten, über die alle Sprachen der Gegenwart und der Vergangenheit miteinander in Verbindung stehen? Sie ist das Element der universellen Überset­ zung: anders bezüglich aller Sprachen und dieselbe innerhalb je­ der von ihnen.

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Aber Brisset wendet sich nicht dieser obersten, elementaren, unmittelbar expressiven Sprache zu. Er bleibt zu Hause, bleibt bei und in der französischen Sprache, als wäre sie ihr eigener Ur­ sprung, als würde sie seit Anbeginn der Zeiten gesprochen, mit denselben Worten, nur in anderer Reihenfolge, weil durch Meta­ thesen durcheinandergewürfelt, durch Dehnung und Kontraktion verformt. Der Ursprung des Französischen liegt für Brisset nicht vor dem Französischen, sondern in einem mit sich selbst spielen­ den Französisch, das dort, außerhalb seiner selbst, in einen Urstaub fällt, der seinen Anfang bildet. Zum Beispiel die Entstehung des Daumens: pouce. »Cepouce = ce ou ceci pousse. Dieser Daumen = Dies oder das wächst. Dieser Zusammenhang sagt uns, dass man den Daumen wachsen sah, als Finger und Zehen bereits bezeichnet waren. Pous ce = Nimm das! Man begann les jeunes pousses, die jungen Triebe der Gräser und Sträucher zu nehmen, als le puce> alors jeuney der noch junge Daumen sich bildete. Mit der Entstehung des Daumens wurden unsere Vorfahren zu Pflanzenfressern.« Genau genommen gibt es für Brisset keine Ursprache, die man in einen Zusammenhang mit den verschiedenen Elementen der heutigen Sprachen bringen könnte, und auch keine archaische Form von Sprache, aus der sich Punkt für Punkt herleiten ließe, was wir heute sprechen. Der Ur­ zustand ist für ihn vielmehr ein fließender, veränderlicher, unend­ lich durchdringbarer Sprachzustand, die Möglichkeit, sich darin in alle Richtungen zu bewegen, die Freiheit zu jeglicher Trans­ formation, Umkehrung, Zerlegung, die Vervielfältigung des Be­ zeichnungsvermögens an jedem Punkt, in jeder Silbe oder jedem Laut. Am Ursprung entdeckt Brisset keine begrenzte Menge ein­ facher, eng an ihren Referenten gebundener Worte, sondern die Sprache, wie wir sie heute sprechen, nur gleichsam als Spiel, in dem Augenblick, wenn die Würfel bereits geworfen sind und die Laute noch rollen, so dass ihre Seiten nacheinander sichtbar wer­ den. In dieser Urzeit springen die Worte aus dem Würfelbecher und werden immer wieder von ihm aufgenommen, fallen neuer­ lich heraus, jedes Mal in neuen Formen und nach anderen Regeln der Zerlegung oder Zusammensetzung: »Le démon - le doigt mien: Dämon = mein Finger. Le démon montre son dé, son dais, ou son dieu, son sexe... Der Dämon zeigt seinen Würfel, seinen Baldachin oder seinen Gott, sein Geschlechtsteil... Verkehrt man

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die Silben in démony erhält man le mon dé = le mien dieux: mein Würfel = mein Gott. Le monde ai = je possède le monde: die Welt habe ich = ich besitze die Welt. So wird der Dämon dank seiner sexuellen Vollkommenheit zum Herrscher der Welt... In seinem sermon, seiner Predigt, rief der Dämon seinen cerf: le serf mon: meinen Hörigen. Le sermon ist der serviteur, der Diener des Dä­ mons. Viens dans le lit mon: Komm in mein Bett. Le limon, der Schlamm, war sein Bett, sein gewöhnlicher Aufenthaltsort. Er war ein großer Springer (Windbeutel) und der erste unter den saumons, den Salmen. Sieh le beaux saut mon: meinen schönen Sprung.« In einer emulgierten Sprache springen die Worte zufällig umher wie einst unsere froschartigen Vorfahren in den Ursümpfen. Am Anfang waren die Würfel. Die Wiederentdeckung der Ursprache ist nicht das Ergebnis einer Übersetzung; sie ergibt sich aus dem Nachvollzug der Wege des Zufalls und aus dessen Wie­ derholung. Deshalb war Brisset so stolz, gezeigt zu haben, dass es die la­ teinische Sprache gar nicht gegeben hatte. Wenn es das Lateini­ sche gegeben hätte, müsste man vom heutigen Französisch auf diese andere Sprache zurückgehen und es nach bestimmten Re­ geln daraus herleiten; und darüber hinaus müsste man bis auf den stabilen Zustand einer elementaren Sprache zurückgehen. Elimi­ niert man das Lateinische, verschwindet der chronologische Ka­ lender; das Ursprüngliche ist nicht länger das Frühere; es erscheint vielmehr als die plötzlich wiedergefundenen Möglichkeiten der Sprache.

III. Die unendliche Verschachtelung Als Duret, de Brosses oder Court de Gébelin den Urzustand der Sprache nachzuzeichnen versuchten, rekonstruierten sie eine be­ grenzte Menge von Lauten, Wörtern, semantischen Inhalten und syntaktischen Regeln. Wenn dieses Idiom die gemeinsame Wurzel aller Sprachen der Erde darstellen und sich noch heute in jeder von ihnen wiederfinden sollte, konnte es nur aus einer kleinen Zahl von Elementen bestehen und nur wenige Konstruktionsge­ setze besitzen. An der Spitze der Pyramide befindet sich im Grenzfall nur ein einziger Ausruf (der sich von den übrigen Ge­

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räuschen oder einem anderen artikulierten Laut abhebt). Die Ur­ sprache gilt traditionell als ein armes Idiom. Brissets Ursprache ist dagegen ein grenzenloser Diskurs, dessen Beschreibung sich nie­ mals abschließen lässt. Und das aus mehreren Gründen. Seine Analyse führt einen heutigen Ausdruck nicht auf ein Ur­ element zurück, das sich in mehr oder weniger verkleideter Form anderswo fände, sondern zerlegt das Wort nacheinander in meh­ rere elementare Kombinationen; bei dieser Zerlegung werden in der heutigen Form mehrere elementare Zustände erkennbar, die sich ursprünglich voneinander unterschieden, aber durch eine Reihe von Setzbewegungen, Kontraktionen und phonetischen Modifikationen schließlich in einem einzigen Ausdruck konver­ gierten, der sie zusammenfasst und enthält. Die Wissenschaft von Gott hat die Aufgabe, diese Zustände wieder hervortreten und wie einen großen vielfarbigen Ring um das analysierte Wort krei­ sen zu lassen. Etwa bei dem Ausdruck en société, in Gesellschaft: »En ce eau sieds-té = sieds-toi en cette eau: Setz dich in dieses Wasser. En seau sieds-té, en sauce y était; il était dans la sauce, en société. Setz dich in den Eimer, in der Soße war er; er war in der Soße, in Gesellschaft. Der Urozean war ein Eimer, eine Soße oder ein Sumpf, und die Vorfahren waren dort in Gesellschaft.« Das ist das Gegenteil des Verfahrens, bei dem man für mehrere Worte nach einer gemeinsamen Wurzel sucht; hier geht es darum, bei einer heutigen Einheit zahllose frühere Zustände ausfindig zu ma­ chen, die sich zu dieser Einheit kristallisiert haben. In die endlose Urflüssigkeit zurückversetzt, zeigt jeder heutige Ausdruck die vielfältigen Facetten, aus denen er hervorgegangen ist und die dessen unsichtbare Geometrie für den informierten Blick sichtbar machen. Ein und dasselbe Wort kann auch mehrfach durch den Filter dieser Analyse geschickt werden. Seine Zerlegung ist weder ein­ deutig noch ein für allemal abgeschlossen. Oft greift Brisset ein Wort mehrfach auf, zum Beispiel das Verb être, »sein«, das er mal von avoir, »haben«, mal von sexe, »Geschlecht« her analysiert. Letztlich könnte man sich vorstellen, dass jedes Wort der Sprache zur Analyse aller übrigen Worte dienen kann; dass sie alle fürei­ nander Destruktionsprinzipien bilden; dass die ganze Sprache sich von sich selbst her zerlegt; dass sie ihr eigener Filter, ihr eigener Urzustand ist; dass sie in ihrer heutigen Form das Ergebnis eines

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Spiels darstellt, dessen Elemente und Regeln weitestgehend aus der heute gesprochenen Form stammen. Wenn wir heute irgend­ ein Wort durch den Filter aller übrigen Wörter schickten, hätte es ebenso viele Ursprünge, wie es Worte in der Sprache gibt. Und sogar noch mehr, wenn man bedenkt, dass jede Analyse in unauf­ löslicher Verbindung mehrere mögliche Zerlegungen ergibt. Brissets Suche nach dem Ursprung verengt die Sprache nicht, sondern zerlegt und vervielfältigt sie in sich selbst. Ein letztes Vervielfältigungsprinzip: Im Urzustand der Sprache stoßen wir nicht auf einen - noch so reichhaltigen - Wortschatz, sondern auf eine Vielzahl von Aussagen. Unter einem Wort, das wir aussprechen, verbirgt sich kein anderes Wort und auch keine Verschmelzung mehrerer Worte, sondern meist ein Satz oder eine Reihe von Sätzen. Betrachten wir die doppelte Etymologie - und bewundern wir die zweifache Verschwisterung - von origine und imagination, »Ursprung« und »Vorstellungskraft«: »Eau rit, ore ist, oris. Wasser lacht/rinnt, es ist Urin, Urin. J*is nœud, gine. Ich habe nicht [= Frau]. Oris = gine - la gine urine, Veau rit gine. Urin = Frau = die Frau uriniert, das Wasser rinnt aus der Frau. Au rige ist nœud. Origine. Urin springt. Ursprung. Das fließende Wasser ist der Ursprung der Sprache. Dreht man oris um, so erhält man rio, und rio oder rit eau, das ist ruisseau, der Bach. Der Ausdruck gine diente schließlich zur Bezeichnung der Frau: Tu te lime à gine? Tu te Vimagine. Du reibst dich an der Frau? Du stellst es dir vor.Je me lime, à gine est?Je me Vimaginais. Ist es eine Frau, an der ich mich reibe? Ich stellte es mir vor. On ceyVimage ist né; on ce, lime a gine ai, on se Vimaginait. Dort ist das Bild geboren; dort habe ich mich an der Frau gerieben; das stellte man sich vor. Lime a gine a sillon; Vimage ist, nœud a sillon; Vimage ist, n3ai d sillon. Das Bild ist in der Furche entstanden.« Der Urzustand der Sprache war also keine abgrenzbafe Menge von Symbolen und Bildungsregeln, sondern eine unbestimmte Masse von Aussagen, das Rieseln gesagter Din­ ge: Hinter den Wörtern unseres Wörterbuchs gilt es nicht nach morphologischen Konstanten zu suchen, sondern nach Aussagen, Fragen, Wünschen, Befehlen. Die Wörter sind Bruchstücke von Diskursen, die von ihnen selbst gezeichnet werden, Modalitäten erstarrter und neutralisierter Aussagen. Vor den Wörtern waren die Sätze, vor dem Wortschatz die Aussagen; vor den Silben und ele­ mentaren Lautfolgen war das endlose Gemurmel des Gesagten.

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Schon lange vor der Sprache wurde gesprochen. Aber wovon wur­ de gesprochen, wenn nicht von jenem Menschen, den es noch gar nicht gab, weil er noch keine Sprache besaß; von seiner Entstehung und seiner langsamen Ablösung aus der Tierwelt; von den Sümp­ fen, denen er in seiner Kaulquappenexistenz kaum entronnen war? So erscheinen denn unter den Wörtern unserer heutigen Sprache Sätze, in denselben oder ähnlichen Worten von Menschen ausge­ sprochen, die noch nicht existierten und von ihrer zukünftigen Geburt sprachen. Es geht darum, sagt Brisset, »die Schöpfung des Menschen aus Stoffen aufzuzeigen, die du, Leser, in den Mund nimmst, wohin Gott sie schon vor der Schöpfung des Menschen gelegt hatte«. Die zweifache, einander überlagerte Schöpfung des Menschen und der Sprachen vor dem Hintergrund eines bereits existierenden Diskurses. Nach dem Ursprung der Sprachen suchen heißt für Brisset nicht, in der Geschichte ein Bildungsprinzip aufzuspüren, ein Spiel identifizierbarer Elemente zu entdecken, die deren Kon­ struktion ermöglichen, oder ihren universellen Zusammenhang aufzuzeigen. Es heißt vielmehr, jede einzelne Sprache für eine grenzenlose Vielfalt zu öffnen, in der wuchernden Fülle der Sätze eine stabile Einheit zu bestimmen, die Organisation des Systems nach außen zum Gesagten hin zu wenden.

IV. Der Lärm der gesagten Dinge »Voici les salauds pris; ils sont dans la sale eau pris, dans la salle aux prix. Da sind die gefangenen Dreckskerle; sie sind im schmutzigen Wasser gefangen, im Auktionssaal. Les pris, das waren les prison­ niers, die Gefangenen, denen man die Kehle durchschneiden wür­ de. Bis zum jour des pris, dem Tag der Gefangenen, der auch le jour du prix, der Lohntag war, sperrte man sie in einen Saal, salle, in schmutziges Wasser, eau sale, wo man sie mit saloperies, mit Beschimpfungen überschüttete. Dort beschimpfte man sie und nannte sie salauds, Dreckskerle. Le pris avait du prix. Der Fang war wertvoll. Denn man fraß ihn auf, und als Köder bot man Beute und einen Preis: du pris et du prix. Das ist wertvoll - c'est du prix. Das ist Betrug - cyest duperie, erwiderte der Weise, ak­ zeptiere keinen Preis, o Mensch, das ist Betrug.«

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Wie man sieht, versucht Brisset nicht, die Distanz zwischen saloperie und duperie möglichst zu verringern, damit der Über­ gang zwischen beiden Worten wahrscheinlicher erscheint. Auf dem Weg vom einen Wort zum anderen wuchern vielmehr die Episoden: von Schlachten und Siegen, Käfigen und Verfolgungen, von Schlachtereien und Menschenfleisch, das verkauft und geges­ sen wird, von skeptischen Weisen, die schmollend am Boden ho­ cken. Das beiden Wörtern gemeinsame Element - pri - gewähr­ leistet keineswegs den Übergang vom einen zum anderen, denn es wird seinerseits aufgelöst, mehrfach neu eingeführt, mit neuen Aufgaben versehen und mit anderen Lauten belastet: als Form des Verbs prendre (nehmen, fangen), als Kurzform für prisonnier (der Gefangene), als Geldsumme, als Wert einer Sache und sogar als Belohnung (die man am Lohntag auszahlt). Brisset nähert die beiden Wörter saloperie und duperie einander nicht an, sondern entfernt sie voneinander, oder vielmehr spickt er den Raum zwi­ schen ihnen mit diversen Ereignissen und unwahrscheinlichen, heterogenen Figuren; er bevölkert ihn mit möglichst vielen Unter­ schieden. Aber er will auch nicht zeigen, wie die Wörter saloperie und duperie entstanden sind. So ist das erste gleich zu Beginn fast vollständig gegeben: »Voilà les salauds pris«; es bedürfte nur einer Endung, damit daraus saloperie entstünde. Doch es löst sich auf und verschwindet fast - salle eau, salle -, um dann plötzlich fertig und in seiner heutigen Bedeutung aufzutauchen: »On leur jetait des saloperies, man überschüttete sie mit Beschimpfungen.« Keine langsame Genese, keine fortschreitende Herausbildung einer Form und eines stabilen Inhalts, sondern Auftauchen und Ver­ schwinden; das Wort blinkt gleichsam, es verdunkelt sich und kehrt in periodischen Abständen wieder, taucht diskontinuierlich auf, zerfällt und wird wieder neu zusammengesetzt. Jedes Mal, wenn das Wort auftaucht, hat es eine neue Form, es hat eine andere Bedeutung und bezeichnet eine andere Realität. Seine Einheit liegt also weder in der Morphologie noch in der Semantik, noch auch im Referenten. Das Wort existiert nur als Bestandteil einer Szene, in der es als Schrei, als Gemurmel, als Befehl oder als Beschreibung auftaucht; seine Einheit verdankt es einerseits der Tatsache, dass sich von Szene zu Szene trotz unterschiedlicher Kulissen, wechselnder Schauspieler und verän­ derter Umstände dasselbe Geräusch, dieselbe lautliche Geste vor

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dem Durcheinander abzeichnet und einen Augenblick lang über der Episode schwebt wie deren hörbares Zeichen; andererseits dem Umstand, dass diese Szenen eine Geschichte bilden und sich sinnvoll je nach den Daseinserfordernissen der froschartigen Vor­ fahren aneinander reihen. Ein Wort, das ist das Paradoxon, das Wunder, der wunderbare Zufall ein und desselben Geräuschs, das ganz unterschiedliche Personen aus verschiedenen Gründen und mit unterschiedlicher Zielrichtung im Laufe einer Geschichte er­ tönen lassen. Es ist das unwahrscheinliche Ereignis, dass der Wür­ fel sieben Mal hintereinander auf dieselbe Seite fällt. Da ist es unwichtig, wer spricht und zu welchem Zweck und mit welchem Wortschatz: Dasselbe klirrende Geräusch ertönt hier auf unwahr­ scheinliche Weise. »Voici les salauds pris« - Da sind die gefangenen Dreckskerle. So klang ganz gewiss das Kriegsgeschrei unserer schwimmenden Vorfahren, ihr siegestrunkenes Gebrüll. Sogleich verbreitet sich das Gerücht von der Schlacht; allenthalben berichten die Boten von der Niederlage der Feinde und wie man sich ihrer bemächtigt hat - dans la sale eau, im schmutzigen Wasser; Gemurmel der Frösche rund um den Sumpf; raschelndes Schilfrohr am Abend nach der Schlacht; quakend wird die Neuigkeit weitergegeben. Dann ertönt die Parole; eilig macht man sich an die Vorbereitun­ gen, Käfigtüren öffnen und schließen sich, am Weg der Gefange­ nen schreit die Menge: »Dans la salle au pris, dans la salle au pris In den Gefangenensaal!« Aber die Hungrigen, die Habgierigen, die Geizhälse, alle Händler der Kaulquappenstadt denken eher an das Fleisch und an den Markt; andere Wünsche, andere Worte, dasselbe Gebrüll: »Salle aux prix - In den Auktionssaal!« Die Gefangenen werden im schlammigsten Teil des Sumpfes einge­ sperrt. Doch welcher Erzähler, welcher wachsame Frosch, wel­ cher alte Schreiber der Kräuter und des Wassers oder auch wel­ cher heutige, in der zeitlosen Wissenschaft Gottes hinreichend fortgeschrittene Denker bemerkt verträumt, dass es sich da um recht schmutziges Wasser, sale eau, handelt und dass man die Gefangenen mit gemeinsten Beschimpfungen, mit saloperies über­ schüttet? Indessen schreit und brüllt die Menge vor den Gittern des Gefängnisses: »Salauds! - Dreckskerle«. Und plötzlich be­ ginnt sich über diesen vielstimmigen Beschimpfungen, diesen buntscheckigen, von Kriegsgeschrei durchzogenen Szenen die

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große, geflügelte, majestätische, hartnäckige, schwarze Form der saloperie, der Gemeinheit schlechthin zu drehen. Ein einziger ein­ heitlicher Lärm. Gemeinheit der Kriege und der Siege im Dreck. Gemeinheit der feiernden, die Gefangenen beschimpfenden Men­ ge. Gemeinheit der Gefängnisse. Gemeinheit der verteilten Beloh­ nungen, der Märkte, auf denen man das Fleisch der Menschen verkauft. Die Essenz des Wortes, seine Form und sein Sinn, sein Körper und seine Seele, das ist stets und überall derselbe Lärm. Wenn die Träumer sich auf die Suche nach dem Ursprung der Sprache machen, fragen sie sich immer, wann das erste Phonem aus dem Lärm hervortrat und mit einem Schlage ein für alle Mal, jenseits der Dinge und der Gesten die reine Ordnung des Sym­ bolischen einführte. Ist es so verrückt, wenn Brisset erzählt, wie in Szenen, in Kämpfen, im endlosen Spiel der Begierden und Ge­ walttaten gefangene Diskurse nach und nach diesen großen, stän­ dig wiederholten Lärm herausbildeten, der das Wort in Fleisch und Blut ist? Das Wort erscheint nicht, wenn der Lärm endet; es entsteht samt seiner ausgeprägten Form und seinen vielfältigen Bedeutungen, wenn die Diskurse sich innerhalb des Lärms über­ einander türmen, sich ineinander verknäueln und einander zer­ malmen. Brisset hat die Definition des Wortes durch szenische Homophonie erfunden.

V. Ideenflucht Wie R. Roussel und wie Wolfson, so arbeitet auch Brisset syste­ matisch mit Unbestimmtheiten. Entscheidend ist jedoch, wo oder wie diese Unbestimmtheit ins Spiel gebracht wird. Roussel nutzt nacheinander zwei Verfahren. Bei dem einen nimmt er einen Satz oder ein beliebiges Satzelement und wieder­ holt sie auf nahezu identische Weise, nämlich bis auf einen kleinen Riss, der zwischen beiden Formulierungen einen Abstand schafft, in den die ganze Geschichte hineinstürzen muss. Bei dem anderen Verfahren nimmt er ein zufällig sich bietendes Textfragment und erzeugt daraus durch eine Folge wiederholter Transformationen eine Folge ganz unterschiedlicher, heterogener Motive, wobei eine Geschichte entsteht, die alle so erhaltenen Worte durchläuft, als handelte es sich um unvermeidliche Etappen. Bei Roussel haben

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wir wie bei Brisset einen vorgängigen, zufällig gefundenen oder anonym wiederholten Diskurs; bei beiden entsteht in den Zwi­ schenräumen der nahezu identischen Elemente eine Folge wun­ dersamer Szenen, in denen die Worte Gestalt annehmen. Doch Roussel lässt seine Hände, seine Schienen aus Kalbslunge, seine kadaverähnlichen Automaten in einem merkwürdig leeren und schwer zu füllenden Raum entstehen, der sich mitten in einem beliebigen Satz durch die Wunde einer kaum wahrnehmbaren Distanz öffnet. Der Riss eines phonologischen Unterschieds (etwa zwischen p und b) führt bei ihm nicht zu einem bloßen Bedeu­ tungsunterschied, sondern zu einem nahezu unüberbrückbaren Abgrund, zu dessen Verringerung es eines ganzen Diskurses be­ darf; und wenn man sich vom einen Ufer dieses Unterschieds aufmacht, um das andere zu erreichen, ist es keineswegs sicher, dass die Geschichte dieses doch so nahe und identische andere Ufer erreicht. Brisset dagegen springt schneller als jeder Gedanke von einem Wort zum anderen: salaud, sale eau, salle aux prix, salle aux prisonniers), saloperie; und jeder dieser winzigen Sprünge, bei denen die Laute sich kaum verändern, lässt eine neue Szene er­ scheinen: eine Schlacht, einen Sumpf, Gefangene, denen man die Kehle durchschneidet, einen Markt für Menschenfresser. Um den Laut, der so nahe wie möglich bei seiner Identitätsachse bleibt, drehen sich die Szenen wie auf dem Umfang eines großen Rades; und jeweils durch nahezu identische Schreie herbeigerufen, die sie rechtfertigen und in gewisser Weise ihrerseits tragen sollen, bilden sie eine absolut mehrdeutige Geschichte aus Worten (die jeweils in den Episoden durch den leichten, unhörbaren Übergang von ei­ nem Wort zum anderen eingeführt werden) und zugleich eine Geschichte dieser Worte (die Szenenfolge, in der dieser Lärm entsteht, sich erhebt und zu Worten erstarrt). Für Wolfson ist die Unbestimmtheit ein Mittel, seine eigene Sprache wie einen Handschuh zu wenden und in dem Augenblick auf die andere Seite zu wechseln, da sie bei uns eintrifft, uns ein­ hüllt, in uns eindringt, sich mit Gewalt Einlass verschafft, unseren Körper mit bösartigen, lärmenden Objekten füllt und noch lange in unserem Kopf widerhallt. Es ist ein Mittel, sich plötzlich drau­ ßen wiederzufinden und endlich jenseits des Vaterlandes (oder eher des Mutterlandes) eine neutralisierte Sprache zu verpehmen. Die Unbestimmtheit ermöglicht durch den flüchtigen Lautkon­

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takt die semantische Angleichung zwischen einer Muttersprache, die man weder sprechen noch hören darf (obwohl sie einen von allen Seiten bedrängt), und den nun endlich glatten, ruhigen, entwaffneten Fremdsprachen. Dank dieser leichten, von einer Spra­ che zur anderen geschlagenen und klug im Voraus berechneten Brücken kann die Flucht augenblicklich erfolgen, und der Erfor­ scher der psychotischen Sprache, der gerade noch vom wütenden Idiom seiner Mutter bestürmt wurde, zieht sich ins Fremde zu­ rück und hört nur noch befriedete Worte. Brisset geht genau um­ gekehrt vor: Um ein beliebiges, farbloses Wort seiner Sprache, wie man es im Wörterbuch findet, versammelt er durch grelle Allite­ rationen andere Wörter, die an alte, aus unvordenklichen Zeiten stammende Szenen des Begehrens, des Krieges, der Barbarei und der Zerstörung denken lassen - oder an die kleinen Schreie der Dämonen und das Gequake der Frösche, die an den Rändern der Sümpfe umherspringen. Er gibt die Wörter jenem Lärm zurück, aus dem sie hervorgegangen sind, und setzt nochmals die Gesten, Angriffe, Gewalttaten in Szene, deren heute stilles Wappen sie gleichsam bilden. Er setzt den Thesaurus linguae gallicae dem Urlärm aus, verwandelt die Worte zurück in Theater, bringt die Laute zurück in die quakenden Kehlen, vermischt sie aufs Neue mit den Fetzen herausgerissenen und verschlungenen Fleisches, richtet sie auf wie einen schrecklichen Traum und zwingt den Menschen noch einmal auf die Knie: »Alle Wörter waren im Mund; sie mussten sich dort in einer sinnlichen Form befinden, bevor sie spirituelle Gestalt annehmen konnten. Wir wissen, dass unser Vorfahr anfangs nicht Speisen als Opfer darbot, sondern etwas Anbetungswürdiges, einen heiligen Gegenstand, eine fromme Reliquie, nämlich sein Geschlecht, das ihn peinigte.« Ich weiß nicht, ob die Psychiater in Brissets schwindelerregen­ den Wendungen jenen Verwirrtheitszustand erkennen würden, den sie gemeinhin als »Ideenflucht« bezeichnen. Ich glaube jedoch nicht, dass man Brisset in der Weise analysieren kann, wie sie dieses Symptom analysieren: Im bloßen Lautmaterial der Sprache gefangen, vergisst ihr Denken den Sinn, verliert den rhetorischen Faden der Rede und springt auf Grund der Wiederholung einzel­ ner Silben von einem Wort zum anderen, so dass die Abfolge der Laute wie das Klappern einer Maschine erscheint. Brisset und sicher auch viele andere, denen man dieses Symptom zuschreibt,

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tun aber genau das Gegenteil: Bei ihnen bedeutet die phonetische Wiederholung keine totale Loslösung der Sprache von den Din­ gen, Gedanken und Körpern; sie zeugt nicht von einer absoluten Schwerelosigkeit des Diskurses; vielmehr gräbt sie die Silben in den Körper ein, verleiht ihnen wieder ihre Funktion als Schreie und Gesten und findet zurück zu der großen formenden Kraft des Rufens und Gestikulierens; sie ersetzt die Wörter im Mund und um das Geschlecht; schneller als jeder Gedanke zu erfassen ver­ mag, lässt sie einen Wirbel aus frenetischen, wilden, jubilierenden Szenen entstehen und vergehen, aus dem die Wörter hervorgehen und den die Wörter auslösen. Sie sind das vielstimmige »Evohe« dieses Bacchanals. Es handelt sich nicht um eine in sprachlicher Iteration gründende Ideenflucht, sondern um eine unendlich be­ schleunigte phonetische Szenographie.

VI. Die drei Verfahren Deleuze hat einmal gesagt: »Die Psychose und ihre Sprache lassen sich nicht vom sprachlichen Verfahren, von einem bestimmten sprachlichen Verfahren trennen. Das Problem des Verfahrens hat in der Psychose das Problem der Bedeutung und der Verdrängung ersetzt.« (Vorwort zu Louis Wolfson, Le Schizo et les langages, Paris 1970, S. 23.) Das Verfahren kommt ins Spiel, wenn das Ver­ hältnis zwischen Worten und Dingen nicht mehr durch Bezeich­ nen, das Verhältnis zwischen Sätzen nicht mehr durch Bedeuten und das Verhältnis zwischen Sprachen (oder Sprachzuständen) nicht mehr durch Übersetzen charakterisiert ist. Das Verfahren, das ist zunächst all das, was die in den Wörtern eingeschlossenen Dinge manipuliert, nicht um sie herauszulösen und der Sprache ihr reines Bezeichnungsvermögen zurückzugeben, sondern um die Dinge zu reinigen, zu desinfizieren, von all den Dingen zu befreien, die mit einer schädlichen Macht begabt sind, um die »schlechte, kranke Materie« zu bannen, wie Wolfson sagt. Das Verfahren ist auch all das, was zwischen den Sätzen, so nahe sie einander sein mögen, nicht nach Bedeutungsgleichheit sucht, son­ dern eine dichte Schicht aus Diskursen, Abenteuern, Szenen, Per­ sonen und Maschinerien aufbaut, die selbst für eine materielle Verschiebung sorgen: ein Rousselscher Satzzwischenraum. Und

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schließlich zersetzt das Verfahren - im Gegensatz zu jeder Über­ setzung - einen Sprachzustand durch einen anderen und baut aus diesen Ruinen, diesen Fragmenten, diesen noch glimmenden Scheiten eine Kulisse für die Aufführung der gewalttätigen, mör­ derischen, menschenfresserischen Szenen. Damit sind wir wieder bei der Absorption des Unreinen. Aber es handelt sich nicht um einen Kreis, sondern um eine Spirale, denn wir befinden uns nicht mehr auf derselben Ebene. Wolfson fürchtete, das schlechte Mut­ terobjekt könne durch Wörter in seinen Körper gelangen; Brisset lässt die Menschen einander im Würgegriff der wieder wild ge­ wordenen Wörter verschlingen. Keines der drei Verfahren fehlt bei Wolfson, Roussel und Bris­ set. Aber jeder räumt einem von ihnen den Vorrang ein, je nach­ dem, welche Dimension der Sprache sie auf Grund ihres Leidens, ihrer Vorsichtsmaßnahmen oder ihrer Freude in erster Linie aus­ schließen. Wolfson leidet unter dem Eindringen all der englischen Worte, die sich mit der Feindseligkeit der mütterlichen Nahrung verbinden: Auf diese Sprache, der die zum Bezeichnen erforder­ liche Distanz abhanden gekommen ist, reagiert ein Verfahren, das einerseits auf Abschließung zielt (des Körpers, der Ohren, aller Körperöffnung, also auf die Flerstellung eines abgeschlossenen Inneren) und andererseits nach außen flüchtet (in die Fremdspra­ chen, zu denen zahllose unterirdische Stollen führen); zu dieser kleinen, bestens abgeschlossenen Monade, die zum Symbol aller Fremdsprachen wird, kann Wolfson nur noch er sagen. Ist der Mund erst einmal fest verschlossen, saugen die Augen in den Bü­ chern gierig alle Elemente auf, die nach einem erprobten Verfah­ ren dazu dienen, die Worte der Muttersprache, sobald sie in die Ohren eingedrungen sind, in fremdsprachige Ausdrücke umzu­ wandeln. Hier haben wir die Folge: Mund, Auge, Ohr. Über sämtliche Risse der Sprache wie über die Linse eines Sou­ venir-Federhalters gebeugt, erkennt Roussel zwischen zwei nahe­ zu identischen Ausdrücken solch einen Bruch in der Bedeutung, dass er ihn nur zu schließen vermag, indem er die Ausdrücke durch den Filter der elementaren Laute presst, indem er sie mehr­ fach aufeinander prallen lässt und aus diesen phonetischen Frag­ menten Szenen zusammensetzt, deren Substanz häufig seinem ei­ genen Mund entstammt - Brotkrumen, Kalbslunge oder Zähne. Hier lautet die Folge: Auge, Ohr, Mund.

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Bei Brisset übernimmt dagegen das Ohr die Führung, sobald der Panzer des Codes aufgebrochen ist, so dass jede Übersetzung unmöglich wird. Als elementare Kerne erscheinen dann Ge­ räusche, die sich wiederholen; und um sie herum entsteht und verschwindet ein Wirbel von Szenen, die sich noch weniger als einen Augenblick lang dem Blick darbieten; unablässig verschlin­ gen unsere Vorfahren sich gegenseitig. Wenn das Bezeichnen verschwindet und die Dinge sich mit den Wörtern verschränken, schließt sich der Mund. Wenn die über den Sinn vermittelte Kommunikation zwischen Sätzen unterbrochen wird, weitet sich das Auge angesichts der unendlichen Unter­ schiede. Und wenn der Code abgeschafft wird^ klingen die Ohren von ständig wiederholten Geräuschen. Ich will nicht sagen, der Code trete durch das Ohr ein, der Sinn durch das Auge und die Bezeichnung durch den Mund (das hat möglicherweise Zenon gedacht); ich sage vielmehr, wenn eine der sprachlichen Dimen­ sionen ausgeblendet wird, richtet sich jeweils ein anderes Organ auf, wird jeweils eine der Körperöffnungen erregt und eines der Elemente erotisiert. Zwischen diesem erigierten Organ und den beiden anderen entfaltet sich eine Maschinerie - zugleich Herr­ schaftsprinzip und Transformationsverfahren. Dann beginnen die Orte der Sprache - Mund, Ohr, Auge - lautstark in ihrer urtüm­ lichen Stofflichkeit zu funktionieren, in den drei Gipfeln des Ap­ parats, der sich im Schädel dreht. Verschlossener Mund, aus dem Zentrum gerücktes »ich«, uni­ verselle Übersetzung, allgemeine Symbolisierung der Sprachen (mit Ausnahme der unmittelbaren, der Muttersprache) - das ist Wolfsons Gipfel, der Punkt, an dem das Wissen entsteht. Gewei­ tetes Auge, ein Spektakel, das sich aus sich selbst heraus verviel­ fältigt, sich endlos in sich selbst einhüllt und sich erst nach der Rückkehr aus der Scheinidentität schließt - das ist Roussels Gip­ fel, der des Traums und des Theaters, der unbeweglichen Kontem­ plation, des gespielten Todes. Lärm in den Ohren, unstete Wie­ derholungen, Gewalt und entfesselte Begierden - das ist Brissets Gipfel, der des Tanzes und der Trunkenheit, des orgiastischen Gestikulierens: der Punkt, an dem die Poesie abbricht und die Zeit in der Wiederholung aufgehoben wird.

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VII. Was wir über Brisset wissen Wir kennen sieben Publikationen von Brisset: - La Grammaire logique ou Théorie d'une nouvelle analyse mathématique résolvant les questions les plus difficiles, Paris: Selbstverlag, 1878, 48 S. - La Grammaire logique résolvant toutes les difficultés et fai­ sant connaître par l'analyse de la parole la formation des langues et celle du genre humain, Paris: E. Leroux, 1883, in-180, 176 S. - Le Mystère de Dieu est accompli, Angers, Saint-Serge: Selbst­ verlag, 1890, in-180, 176 S. - La Science de Dieu ou la Création de l'Homme, Paris: Chamuel, 1900, in-180, 252 S. - La Grande Nouvelle, Paris 1900, 2 S. - Les Prophéties accomplies (Daniel et l'Apocalypse), Angers: Selbstverlag, 1906, in-180, 299 S. Les Origines humaines, zweite, gänzlich überarbeitete Ausgabe von La Science de Dieu, Angers: Selbstverlag, 1913, in-180, 244 S. 2. Brisset war Kriminalbeamter. Er unterrichtete auch lebende Sprachen. Seinen Schülern diktierte er Texte wie diesen: »Wir, Paul Parfait, Streifenpolizist, uns zum Dorf Capeur begeben ha­ bend, uns dort eingefunden habend, bekleidet mit unserem Amts­ zeichen.« 3. Er hatte La Grammaire logique der Académie vorgelegt. Renan wies das Werk ab. 4. Als er an einem Juniabend des Jahres 1883 nach Hause zu­ rückkehrte, kam ihm der Gedanke zu Le Mystère de Dieu. 5. Am 29. Juli 1904 veröffentlichte Le Petit Parisien einen Ar­ tikel mit dem Titel »Bei den Irren«; darin ist von einem Geistes­ kranken die Rede, der »mit einem System aus Alliterationen und Eselsbrücken eine metaphysische Abhandlung über La Science de Dieu geschrieben hat... Mir fehlt hier der Platz, um Passagen aus dieser irren Philosophie zu zitieren. Die Lektüre stiftet reale Ver­ wirrung im Geiste. Der Leser wird mir dankbar sein, wenn ich ihn damit verschone.« 6. Für den 3. Juni 1906 hatte Brisset eine Tagung organisiert. Er hatte ein Programm verfasst, in dem es hieß: »Der Erzengel der Auferstehung und der siebte Engel der Apokalypse, die in Wirk­

lichkeit eins sind, werden ihre Stimme erheben und die Posaune Gottes durch den Mund des Vortragenden erschallen lassen. In diesem Augenblick wird der siebte Engel seine Schale ausgießen.« Brisset fand nur gut fünfzig Zuhörer. In seiner Enttäuschung verkündete er, nun werde niemand mehr die Stimme des siebten Engels hören. 7. Dennoch schrieb er danach Les Origines humaines. In der Einleitung heißt es: »Wir werden zunächst zeigen, dass wir all unsere Kraft eingesetzt und mit Donnerstimme geredet haben.« Übersetzt von Michael Bischoff

74 Vorwort »Présentation« in: G. Bataille, Œuvres complètes, Paris 1970, Bd. I: Premiers Écrits 1922-1940, S. }-6.

Heute wissen wir: Bataille ist einer der wichtigsten Schriftsteller seines Jahrhunderts. L'Histoire de l'œil1 und Madame Edwarda2 haben den Faden der Erzählungen zerrissen, um Dinge zu erzäh­ len, die noch nie erzählt worden sind; die Somme athéologique3 führt das Denken in das - gefährliche - Spiel mit der Grenze, den Extremen, dem Gipfel, der Überschreitung ein: L'Érotisme4 hat uns Sade nähergebracht und ihn zugleich schwieriger für uns ge­ macht. Wir verdanken Bataille einen Großteil des gegenwärtigen Augenblicks; aber auch was noch zu tun, zu denken und zu sagen bleibt, werden wir ihm zu verdanken haben, und das noch für lange Zeit. Die Bedeutung seines Werkes wird weiter wachsen. Sein Werk, das aus Gründen des Zufalls und der Notwendigkeit oder auch der bloßen Verausgabung verstreut und heute nur schwer zugänglich ist, sollte wenigstens in gesammelter Form vorliegen. Und hier sind sie nun: Batailles Œuvres complètes. 1 [Dt. »Die Geschichte des Auges«, in: G. Bataille, Das obszöne Werk, Reinbek bei Hamburg 1972, A.d.Ü.] 2 [Dt. »Madame Edwarda«, in: Das obszöne Werk, a.a.O., A.d.Ü.] 3 [Ein erster Teil erschien deutsch unter dem Titel: Die innere Erfahrung. Atheologische Summe /, München 1999, A.d.Ü.] 4 [Dt. Der heilige Eros, Neuwied 1963, A.d.Ü.]

74 Vorwort

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Diese Ausgabe versammelt neben den bereits erschienenen Bü­ chern und Aufsätzen auch alle nach seinem Tod aufgefundenen Texte. Einige dieser Texte sind fertig oder nahezu abgeschlossen und wurden aus unterschiedlichen Gründen niemals veröffent­ licht. Bei anderen handelt es sich um aufgegebene oder später überarbeitete Teile veröffentlichter Arbeiten; wenn sie erheblich von den veröffentlichten Fassungen abweichen, werden sie voll­ ständig abgedruckt; anderenfalls erscheinen die Varianten als An­ merkungen am Ende des jeweiligen Bandes. Es gibt außerdem zahlreiche Texte, die Bataille auf lose Blätter oder gelegentlich auch in Hefte geschrieben hat; sie werden ohne weitere Bearbei­ tung abgedruckt, in der Reihenfolge ihrer angenommenen Entste­ hungszeit. Schließlich hat Bataille in Exemplaren seiner gedruck­ ten Werke Ergänzungen oder Korrekturen vorgenommen entweder am Rand oder auf eingelegten Blättern. All diese Ver­ änderungen sind in den Anmerkungen wiedergegeben. Insgesamt bilden die unveröffentlichten Texte etwa ein Drittel der vorliegen­ den Ausgabe. Bataille hat mehrfach daran gedacht, seine Werke zusammenzu­ stellen. Dafür skizzierte er mehrere Pläne, die im vorliegenden Band abgedruckt sind. Keiner davon wurde verwendet, weil kei­ ner vollständig oder endgültig erschien. Die meisten sehen jedoch eine Unterteilung in zwei große Bereiche vor - in Texte, die zur Somme athéologique, und solche, die zu La Part maudite5 gehö­ ren. Dieses Gliederungsprinzip haben wir beibehalten. Die zehn Bände der Œuvres verteilen sich daher auf vier Abteilungen: 1. Frühe Texte (1922-1949): Bände I und II. 2. Romane und Gedichte (1940-1961): Bände III und IV. 3. Aphoristische Texte (1940-1961), um die Somme athéologique angeordnet: Band V. 4. Diskursive Texte (1940-1961), die ökonomische oder ästheti­ sche Themen behandeln, aber alle um den Begriff der Veraus­ gabung kreisen: Bände VI bis X. In allen vier Abteilungen kommen zunächst die Bücher, dann folgen die Aufsätze und die posthumen Schriften; Bücher und Aufsätze erscheinen in chronologischer Reihenfolge. 5 [Dt. »Der verfemte Teil«, in: G. Bataille, Die Aufhebung der Ökonomie. Das theoretische Werk Band /, München 1975, A.d.Ü.]

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Batailles Werk war auf ganz verschiedene Publikationen ver­ streut. Erst nach dem Krieg, ab 1946, veröffentlichte er den Groß­ teil seiner Arbeiten in der von ihm gegründeten Zeitschrift Cri­ tique, der er bis zum Schluss seine ganze Tatkraft widmete. Die Herausgeber standen also vor einer ganz beträchtlichen Aufgabe. Sie hätten sie nicht bewältigen können ohne die aufmerksame Hilfe von Diane Bataille und den Rat von Jean Bruno. Das Kol­ lationieren der Texte, die Lektüre und abschließende Prüfung der Manuskripte sowie die Herstellung des kritischen Apparats be­ sorgten: für die Bände I und II Denis Hollier, für die Bände III und IV Thadée Klossowski, für Band V Mme Leduc und für die letzten fünf Bände Henri Ronse und J.-M. Rey. Übersetzt von Michael Bischoff

75 D ie phantastische Bibliothek »La bibliothèque fantastique«, in: R. Debray-Genette (Hg.), Flauberty Paris 1970, S. 171 -190.

Siehe Nr. 20, »Nachwort« [Band 1, S. 397-433].

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Diskussionsbeitrag zu François Dagognet »(Discussion)«, in: Revue d'histoire des sciences et de leurs applications, Bd. XXIII, Nr. 1, Januar-März 1970, S. 61-62. (Über den Vortrag von François Dagognet »La situation de Cuvier dans l’histoire de la biologie«, a.a.CX, S. 49-6o> Journées Cuvier, Institut d’histoire des sciences, 30.-31. Mai 1969.)

J. Piveteau: Ich sehe bei Ihrem Vortrag1 zwei Teile. Im ersten Teil speziell handelt es sich eher um eine wissenschaftliche als um eine wissenschaftsgeschichtliche Frage. Ich wäre sehr glücklich, wenn wir gemeinsam darüber sprechen würden, aber ich befürchte, dass 1 Es handelt sich um den vorangegangenen Vortrag von François Dagognet.

y6 D iskussionsbeitrag zu François D agognet

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wir uns bei den Problemen der Homologie der Mittelohrknochen, der Beziehung zwischen Endoskelett und Ektoskelett auf ein für das Auditorium etwas schwieriges Terrain begeben würden. Es wäre mehr im Geiste unseres Treffens, das Problem auf eine philo­ sophischere Weise anzugehen, und ich gebe das Wort direkt an Herrn Foucault. M. Foucault: Ich hätte gegen Herrn Dagognet zwei oder drei die Tatsachen betreffende Punkte vorzubringen, beispielsweise zur Entwertung des Integuments. Es gibt einen Text, in dem Cu­ vier sagt: die äußeren Elemente des Organismus müssen gerade als Anhaltspunkte für die Entdeckung des inneren Aufbaus dienen. Ich möchte die Ebenen bestimmen, auf denen diese Interven­ tionen jeweils angesiedelt sind. Innerhalb der Disziplin, die man willkürlich als Epistemographie bezeichnen könnte, d. h. als Be­ schreibung der Diskurse, die in einer Gesellschaft zu einem be­ stimmten Zeitpunkt als wissenschaftliche Diskurse funktionierten und institutionalisiert waren, kann man, wie mir scheint, verschie­ dene Ebenen unterscheiden. Als epistenomische Ebene bezeichne ich das Ermitteln interner epistemologischer Kontrollen, die ein wissenschaftlicher Diskurs über sich selbst ausübt. Mir scheint, dass verschiedene Arbeiten von Michel Serres dieses epistenomische Feld definieren: er zeigte, wie die Mathematik ihre eigene Epistemologie internalisierte. Dies gilt für die Mathematik, ich glaube jedoch, dass jede Wissen­ schaft ihre epistenomischen Funktionen besitzt. Man könnte bei­ spielweise in der Biologie eine epistenomische Selbstkontrolle fin­ den. Als epistemokritisch bezeichne ich die Analyse, die in Begriffen von Wahrheit und Irrtum erfolgt; sie befragt jede Aussage, die in einer bestimmten Epoche als wissenschaftlich fungierte und insti­ tutionalisiert war, daraufhin, ob sie wahr oder falsch ist. Sie ana­ lysiert die experimentellen Verfahren, die verwendet wurden, um diese Aussage zu validieren. Sie bestimmt die Kohärenzen, die sich zwischen verschiedenen Aussagen und Behauptungen fest­ stellen lassen. Das ist es letztlich, was Herr Dagognet tat, als er Cuvier die Frage nach der Wahrheit seiner Behauptungen stellte. Daraus konnte man ableiten, und Herr Dagognet tat dies auf schla­ gende Weise, dass Cuvier erhebliche Irrtümer unterlaufen sind. Als epistemologisch bezeichne ich die Analyse der theoretischen

Strukturen eines wissenschaftlichen Diskurses, die Analyse des begrifflichen Materials, die Analyse der Anwendungsfelder und der Gebrauchsregeln dieser Begriffe. Mir scheint, dass beispiels­ weise die Untersuchungen, die zur Geschichte des Reflexbegriffs unternommen wurden, auf dieser epistemologischen Ebene ange­ siedelt sind. Schließlich gibt es eine letzte Ebene, der ich keinen Namen gebe, auf der sich nach meinem Eindruck Herr Courtès platzierte. Auf dieser Ebene möchte ich mich ebenfalls platzieren. Es handelt sich um die Analyse der Transformation der Wissensfelder. Zur Profilierung gegenüber Herrn Dagognet möchte ich gerne sagen, dass ich hoffe, dass er Recht hat. Aber ich bin da nicht kompetent. Herr Piveteau wird uns Auskunft geben können. Aber ich hoffe, dass Herr Dagognet Recht hat und ich wünschte, dass er noch mehr Recht hätte. Ich möchte, dass man sagen könnte, dass keine einzige Aussage von Cuvier als wahr betrachtet werden kann. Dies würde mich sehr freuen und ermöglichte mir, zwei Analyseebenen voneinander zu trennen, die man in den Tex­ ten Cuviers ausmachen kann: das System der Wahrheiten und Irrtümer; im Extremfall der »Irrtum Cuvier«, all das, wodurch die Behauptungen Cuviers sich von dem unterscheiden, was man heute als wahr behaupten kann; und dann die »Transforma­ tion Cuvier«, d. h. die Gesamtheit der Modifikationen, die man in den Texten Cuviers am Werk sehen könnte, Modifikationen, die nicht so sehr Modifikationen der Objekte, der Begriffe und der Theorien sind, sondern Modifikation der Regeln, gemäß denen die biologischen Diskurse ihre Objekte bildeten, ihre Begriffe definierten, ihre Theorie konstituierten. Diese Modifikation der Formationsregeln der Objekte, der Begriffe, der Theorien ver­ suche ich bei Cuvier zu isolieren. Man kann also eine epistemologische Transformation annehmen, die unterschieden wäre von der Wahrheit der wissenschaftlichen Behauptung selbst. Es gibt keine epistemologische Transformation, die nicht durch ein System wissenschaftlicher Aussagen hindurch verliefe. Ich glaube jedoch, dass eine epistemologische Transformation sich auch durch ein System von Aussagen hindurch vollziehen können muss, das sich als wissenschaftlich falsch erweist. Man muss in der Tiefe eines wissenschaftlichen Diskurses unterscheiden zwi­ schen dem, was zur Ordnung wahrer oder falscher Wissenschaft­

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licher Behauptungen gehört und dem, was zur Ordnung der epistemologischen Transformation gehörte. Dass bestimmte epistemologische Transformationen sich über einen Komplex wissen­ schaftlich falscher Aussagen vollziehen, deren Gestalt annehmen, scheint mir eine historisch gewiss mögliche und notwendige Fest­ stellung zu sein. Glauben Sie beispielsweise wirklich, dass ein Arzt von heute in den Texten Bichats viele wissenschaftlich wahre Aussagen entde­ cken könnte? Ich sage nicht, dass es die nicht gibt, ich sage ledig­ lich, dass es nicht viele davon gibt. Ebenso bei Broussais, was könnte man dort als gültig anerkennen? Wenn man sich nun aber für die Geburt der klinischen Medizin interessierte, so könnte man zeigen, dass die Transformation des wissenschaftlichen Wis­ sens tatsächlich über Bichat und Broussais erfolgte. Gibt es einen einzigen Satz von Esquirol, den man heute als exakt ansehen könnte? Und dennoch vollzog sich die Transformation der Psy­ chiatrie im 19. Jahrhundert über Esquirol. Ich glaube daher, dass man wissenschaftliche Wahrheit und Falschheit und epistemologische Transformation unterscheiden muss. Diese Perspektive würde ich mir gerne zu Eigen machen. Des­ halb möchte ich, dass Dagognet Recht hat. Ich würde mich be­ ruhigt und wenigstens dieses Mal bestätigt fühlen. Übersetzt von Hermann Kocyba

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Die Situation Cuviers in der Geschichte der Biologie (Vortrag) »La situation de Cuvier dans l’histoire de la biologie«, in: Revue d’histoire des sciences et de leurs applications, Bd. XXIII, Nr. 1, Januar-März 1970, S. 63-92. (Journées Cuvier, Institut l’histoire des sciences, 3 0 .-31. Mai 1969.)

Vortrag von Michel Foucault Ich möchte anhand von zwei Beispielen präzisieren, was ich als epistemologische Transformation bezeichne.



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Nehmen wir zunächst das erste Beispiel. Es handelt sich um die Biologie, um die Position des Individuums und die individuelle Variation innerhalb des biologischen Wissens. Wenn es, so könnte man sagen, überhaupt jemals jemanden gab, der wirklich an die Art glaubte, der sich nicht für das interessierte, was unterhalb der Art existierte, der an der Mauer der Art festhielt, der nie versuchte, unter die Ebene der Art zurückzugehen und das biologische Wissen beim Individuum beginnen zu lassen, dann war dies Cuvier. Er war der Meinung, dass alles von der Art aus, für die Art und auf die Art hin organisiert war. Umgekehrt weiß jeder­ mann, was Darwin über die Art sagte. Die Art ist für Darwin, anders als für Cuvier, keine dem Ursprung nach erste und zugleich analytisch letzte Realität. Für Darwin ist es schwierig, zwischen Art und Varietät zu unterscheiden. Er zitiert zahlreiche Beispiele, bei denen man nicht als guter Botaniker oder Zoologe sagen kann »dies ist eine Art« oder »dies ist eine Varietät«. Außerdem nahm Darwin eine fortschreitende Verstärkung individueller Variationen an. Innerhalb der Art selbst entstehen ihm zufolge kleine Variatio­ nen, die immer stärker hervortreten und schließlich den aposteriori festgesetzten Rahmen der Art überschreiten; und schließlich ver­ knüpfen sich die Individuen von Variation zu Variation miteinan­ der, jenseits wie oberhalb des definierten Rahmens der Art. Im Grunde nimmt Darwin an, dass all die taxonomischen Rahmen, die zur Klassifikation der Tiere und Pflanzen vorgeschlagen wur­ den, an einem bestimmten Punkt abstrakte Kategorien sind. Für ihn gibt es folglich eine Realität, die das Individuum darstellt, eine zweite Realität, die in der »Variativität« des Individuums besteht, in seiner Variationsfähigkeit. Alles andere (ob es sich nun um die Arten, um die Gattungen oder um die Ordnungen handelt) ist eine Art Konstruktion, die auf der Realität des Individuums basiert. Insoweit kann man sagen, dass Darwin Cuvier absolut entgegen­ gesetzt ist. Und er scheint kurioserweise auf eine Tendenz der klassischen Taxonomie im 17. und 18. Jahrhundert zurückzugrei­ fen, als beispielsweise die Methodiker und insbesondere Lamarck sich die Frage nach der Realität der Art stellten und annahmen, dass die Kontinuität der Natur so durchgängig wäre, dass vielleicht sogar die Art eine abstrakte Kategorie bildete. Dies bedeutete folg­ lich eine Art Rückkehr Darwins zu Themen, die nicht nur bei Lamarck, sondern auch bei den Methodikern der Epoche La-

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marcks zu finden sind. Man kann sich fragen, ob man in der Ge­ schichte der Biologie und des Individuums am Ende nicht an Cu­ vier vorbei direkt von Jussieu oder Lamarck zu Darwin springen sollte. Auf diese Weise würde man Cuvier ganz aus dieser Ge­ schichte verschwinden lassen. Ich glaube, dass eine solche Analyse weder ganz gerechtfertigt noch zureichend wäre. Wie so häufig bei Phänomenen der Wiederkehr, der Wiederholung, der Reaktivie­ rung liegt dem ein komplexes Phänomen, ein vielschichtiger Trans­ formationsprozess zugrunde. Ich möchte zeigen, dass das Individuum oder genauer die Kritik der Art bei Lamarck und den Zeitgenossen Lamarcks mit der Kritik, wie sie sich bei Darwin findet, absolut nicht identisch oder deckungsgleich ist. Und dass diese Kritik der Art, die man bei Darwin am Werk sieht, nur ausgehend von einer Transformation, einer Reorganisation, einer Neuverteilung des biologischen Wis­ sens stattfinden konnte, die sich durch das Werk Cuviers hindurch vollzieht. Worin besteht diese Transformation? Die klassische Taxonomie war im Wesentlichen Wissenschaft von den Arten, d. h. Definition der Differenzen, die die Arten voneinander unterscheiden; die Klassifikation dieser Differenzen; die Einführung allgemeiner Kategorien für diese Differenzen; die Hierarchisierung dieser Differenzen untereinander. Mit anderen Worten, das ganze Gebäude der klassischen Taxonomie geht von der Differenz der Arten, der spezifischen Differenz aus, der differentia specifica, und versucht Differenzen oberhalb der Stufe der spezifischen Differenz zu definieren. Es gab, wie ich glaube, Belege dafür, dass die biologische Klas­ sifikation die spezifische Differenz als Minimalelement wählte oder dass sie sie nicht unterhalb der Ebene der spezifischen Diffe­ renz ansetzen konnte; Linné beispielsweise erklärt, dass die Er­ kenntnis der Individuen und der Varietäten die Erkenntnis des Floristen sei, es handele sich nicht um die Differenz des Botani­ kers. Er erklärt zugleich, dass die Kenntnis der Varietäten wichtig sei für die Ökonomie, für die Medizin und für die Küche. Aber sie gehe nicht darüber hinaus. Er fügt hinzu: die Kenntnis der Varie­ täten ist eine praktische Erkenntnis. Umgekehrt beginnen die Theorie und die Wissenschaft oberhalb der Art. Die Existenz dieser Schwelle zwischen dem Individuum und der Art zieht eine Reihe von Konsequenzen nach sich.

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Zunächst gibt es zwischen der spezifischen Differenz und der individuellen Differenz einen Abstand, einen Sprung, eine Schwelle. Diese Schwelle ist die Schwelle, von der an die wissen­ schaftliche Erkenntnis beginnen kann. Die individuelle Differenz ist für die Wissenschaft unerheblich. Man kann sagen, dass es zwischen Individuen und Arten eine epistemologische Schwelle gibt. Keine wissenschaftliche Erkenntnis Individuen

Arten

Wissenschaftliche Erkenntnis möglich Konstruktionen Art Ordnung Klasse des Wissens —

i--------------------- 1------------------------- 1------------------------------------------------------- > -

epistemologische Schwelle

Wenn es andererseits wahr ist, dass die Art und die spezifischen Differenzen das ursprüngliche Objekt der Wissenschaft bilden, dann sind all die Kategorien Konstruktionen, die auf der spezifi­ schen Differenz aufbauen, d. h. die Differenzen der Differenzen oder die Ähnlichkeiten der Differenzen, die Differenzen, die all­ gemeiner sind als die spezifischen Differenzen und folglich die Kategorien, die allgemeiner sind als die der Art. Diese Konstruk­ tionen des Wissens, die im Unterschied zur Definition der Art nicht auf etwas tatsächlich der Erfahrung Gegebenem beruhen, sind Hypothesen, die man mehr oder weniger gut verifizieren kann, Hypothesen, die mehr oder weniger gut begründet sind, Hypothesen, die vielleicht mit den Tatsachen übereinstimmen. Und alles was oberhalb der Art liegt,, gehört nicht in dieselbe ontologische Kategorie wie das, was sich auf die Art oder unter­ halb der Art auf das Individuum bezieht. Zwischen Art und Gat­ tung gibt es eine weitere Schwelle, die nicht mehr epistemologisch, sondern diesmal ontologisch ist. Arten Ordnung Klasse

------------- 1—---1----epistemologische Schwelle

ontologische Schwelle

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Oberhalb des Individuums lässt sich ein Wissen organisieren. Mit der Art beginnt die Ordnung eines Wissens, das nicht gege­ ben, sondern konstruiert ist, und unterhalb der Art liegt ein Kom­ plex von Realitäten, die tatsächlich in der Erfahrung gegeben sind. Hieraus resultiert das Problem der klassischen Taxonomie: wie lassen sich reale Gattungen errichten oder vielmehr, da Gattungen niemals real sind, wohlfundierte Gattungen? Hierin besteht die ganze Antinomie, die ganze Opposition zwischen Systematikern und Methodikern. Die ersteren sagen, dass man oberhalb der Art jedenfalls nicht direkt die Realität erreichen kann. Es gilt eine Technik der Einteilung zu wählen, die arbiträr ist, aber wirksam und angemessen sein muss. Die zweiten, die Methodiker, sagen im Gegensatz dazu, dass die Einteilungen und klassifikatorischen Konstruktionen, die man errichten will, sich bis zu einem gewis­ sen Grad den globalen Ähnlichkeiten, die in der Erfahrung gege­ ben sind, anzupassen haben. Man kann nicht einen Salat und eine Tanne in dieselbe Kategorie einreihen. Aber gleichgültig, ob es sich um die natürliche Methode oder um ein arbiträres System handelt, es liegt stets jenseits dieser ontologischen Schwelle. Die Frage ist die, wie sich diese Konfiguration der klassischen Taxonomie transformiert. Wie lässt sich am Ende in den nach Arten eingeteilten Individuen und in der Gattung ein und dieselbe Verknüpfung der Realität wiederfinden (diese Verknüpfung be­ steht für Darwin dann in der Genealogie)? Darwin wird einerseits die epistemologische Schwelle beseitigen und zeigen, dass die Er­ kenntnis beim Individuum und seinen individuellen Variationen zu beginnen hat; auf der anderen Seite wird er zeigen, wie man ausgehend vom Individuum das, was man als seine Art, seine Ordnung oder Klasse fixieren könnte, die Realität seiner Genea­ logie ist, d. h. die Abfolge der Individuen. Man erhält nun ein uniformes Tableau, ohne System mit zweifacher Schwelle. Diese Transformation wurde durch das Werk Cuviers bewerk­ stelligt. Der erste Auswirkung der vergleichenden Anatomie, wie sie Cuvier praktizierte, bestand in der Einführung der vergleichenden Anatomie als Instrument der Klassifikation und der taxonomischen Organisation der Arten. Dies hatte zugleich zur Folge, dass der Art, der Gattung, der Ordnung und der Klasse dasselbe on­ tologische Niveau verliehen wurde. Die erste Folge der verglei-

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chenden Anatomie bestand in der Beseitigung der ontologischen Schwelle. Die vergleichende Anatomie zeigte, dass alle Kategorien oberhalb der Art, alle höherstufigeren Kategorien jenseits der Art, nicht einfach wie in der klassischen Taxonomie Arten von Ähn­ lichkeitsbereichen sind, Analogiegruppierungen, die man entwe­ der arbiträr auf ein System von Zeichen oder im Großen und Ganzen auf die allgemeine Form der Pflanzen und der Tiere grün­ den konnte, sondern Organisationstypen darstellen. Von nun an bedeutet die Zugehörigkeit zu einer Gattung, zu einer Ordnung, zu einer Klasse nicht, mit anderen Arten bestimmte Merkmale gemeinsam zu haben, die zahlenmäßig geringer sind als die spe­ zifischen Merkmale; sie bedeutet nicht, einen Gattungs- oder ei­ nen Klassencharakter zu besitzen, es bedeutet, eine präzise Orga­ nisation zu besitzen, d. h. eine doppelte Lunge und ein doppeltes Herz oder einen Verdauungsapparat, der unterhalb oder oberhalb des Nervensystems angeordnet ist. Kurz, die Zugehörigkeit, zu einer Gattung, einer Klasse oder Ordnung, zu all dem, das ober­ halb der Art angesiedelt ist, bedeutet, in seiner Anatomie, in sei­ nen Funktionen, in seiner Physiologie, in seiner Existenzweise eine bestimmte vollständig analysierbare Struktur zu besitzen, eine Struktur, die somit ihre Positivität besitzt. Man hat folglich positive Korrelationssysteme. In dieser Hin­ sicht kann man nicht sagen, dass die Gattung weniger existierte als die Art oder die Klasse weniger als die Art. Von der Art bis zur allerallgemeinsten Kategorie handelt cs sich um ein und dieselbe Realität, die biologische Realität, das heißt die Realität der anato­ misch-physiologischen Funktionen. Die ontologische Schwelle Art-Gattung ist beseitigt. Die onto­ logische Homogenität erstreckt sich nunmehr in ungebrochener Kontinuität vom Individuum bis zur Art, zur Gattung, zur Ord­ nung, zur Klasse. Überdies bestand im Falle der klassischen/Taxonomie die Verbindung der Kategorien in der charakteristischen Verbindung eines klassifikatorischen Tableaus. Bei Cuvier jedoch gibt es eine anatomisch-physiologische Verbindung all dieser Ka­ tegorien mit ihrem inneren Träger. Sie liegt im Individuum selbst, es ist das Individuum in seinem realen Funktionieren, das alle Überlagerungen, alle Determinationen, die Anordnungen, die Steuerungen, die Korrelationen, die zwischen den verschiedenen Ebenen des Tableaus bestehen können, in seinem Inneren und in

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der Dichte seines Mechanismus in sich trägt. Für Cuvier ist das Individuum durch eine Verbindung anatomisch-physiologischer Strukturen konstituiert, die seine Verzweigung [»embranche­ ment«], seine Klasse, seine Ordnung und seine Gattung konstitu­ ieren. Die Gesamtheit dieser Strukturen, die tatsächlich in ihm präsent sind, die sich hier beharrlich organisieren, die sich in ihm physiologisch kontrollieren, definiert folglich zu einem Teil seine Existenzbedingungen. Unter Existenzbedingungen versteht Cuvier die Gegenüberstellung zweier Komplexe: auf der einen Seite der Komplex der Korrelationen, die physiologisch mitei­ nander kompatibel sind und auf der anderen das Milieu, in dem es lebt, d. h. die Natur der Moleküle, die es sich, sei es durch Atmung, sei es durch Ernährung assimilieren muss. So findet man am Anfang der Révolutions du globe1 eine Passage, in der Cuvier zeigt, wie die Existenzbedingungen funktionieren. In sei­ ner wirklichen Existenz, seinem Leben ist das Individuum nichts anderes als ein ganzer Komplex von zugleich taxonomischen und anatomisch-physiologischen Strukturen, und zugleich ist dieser Komplex gewissermaßen im Individuum, im Inneren eines gege­ benen Milieus präsent. Man hat folglich zwei Serien, die eine, in der das Individuum unterhalb der Ebene des Wissens angesiedelt ist und in der die Art, die Gattung, die Ordnung usw. ontologisch miteinander verknüpft sind, und eine andere, bestehend aus dem wirklichen Leben des Individuums und dem Milieu, in dessen Innerem die spezifischen Gattungsmerkmale wirksam sind. Es lassen sich folglich zwei Typen von Erkenntnis errichten: die ver­ gleichende Anatomie, die es gestattet, die allerallgemeinsten Merkmale und die globalsten Strukturen der Individuen zu be­ trachten, die Klasse, die Ordnung, die Gattung, die Art, zu der sie gehören, zu ermitteln; die Paläontologie beginnt beim Individu­ um, wie man *es möglicherweise auf einer Ebene unterhalb des Individuums beobachten kann, sofern es sich nur um ein Organ handelt; wenn man schließlich das Organ betrachtet, dann geht sie zur Art zurück, wenn sie das Milieu berücksichtigt, in dem es lebt, oder sie sich gleichzeitig auf anatomische und Umweltaspektei i Cuvier, Georges, Discours sur les révolutions de la surface du globe et sur les changements qu'elles ont produits sur le règne animal, Paris 1825; Neuauflage bei L. Bourgois, coll. »Épistémè«, Paris 1985 [dt. Die Erdumwälzungen, bearb. von Christoph Andreas Giebel, Leipzig 1851].

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bezieht. Somit gibt es zwei epistemologische Linien, die der ver­ gleichenden Anatomie und die der Paläontologie, die zwei von der klassischen Taxonomie verschiedene Wissenssysteme bilden. Die ontologische und die epistemologische Schwelle sind nun­ mehr beseitigt. Zugleich wird sichtbar, wie dies Darwin ermögli­ chen konnte. Darwin zu ermöglichen bedeutet nicht, dass es nach Cuvier keine anderen Transformationen mehr gab und dass Dar­ win hier nicht noch eine Anzahl weiterer Transformationen hin­ zuzufügen hatte. Was die Besonderheit und die Begrenztheit von Cuviers Transformation ausmacht, ist, dass Cuvier beide Linien nur dadurch miteinander kompatibel machen konnte, dass er eine Finalität annahm, der zufolge bei der Schöpfung gewissermaßen die Klasse, die Ordnung, die Gattung, die Art so determiniert waren, dass das Individuum leben konnte; es handelt sich um eine Art Prädetermination der wirklichen Lebensbedingungen des In­ dividuums durch dieses System der Finalität. Auf der anderen Seite trägt das Individuum Cuvier zufolge die Merkmale der Art, der Gattung, die für es unüberwindliche Festlegungen bilden. Daher der Fixismus. Der Fixismus und die Finalität bilden theo­ retische Zusatzannahmen, die Cuvier für den Zusammenhalt sei­ nes Systems unterstellen musste - dieses Systems, das Vorausset­ zung der Gesamtheit seines Wissens war. Diese Analyse der vergleichenden Anatomie und ihres Leitfadens der Finalität defi­ niert das, was Cuvier die Einheit des Typus nennt. Dagegen be­ steht Cuviers Analyse der Existenzbedingungen darin, die Art, die Gattung usw. ausgehend von einem bestimmten Individuum und den Umweltbedingungen, in denen es funktioniert, zu analysie­ ren. Man kann sagen, dass Cuvier der Gesamtheit seines Systems nur dadurch Halt verleihen konnte, dass er die Existenzbedingun­ gen der Einheit des Typus unterwarf. Was Darwin tat, er spricht es im Ursprung der Arten2 deutlich aus, war, dass er die Existenzbe­ dingungen von der Beziehung auf die Einheit des Typus befreite. Die Einheit des Typus ist letztlich nichts anderes als Resultat einer Arbeit am Individuum. Darwin war gezwungen, den Sinn der Existenzbedingungen selbst zu verändern, während für Cuvier 2 Darwin, Charles, On the Origins of Species by Means of Natural Sélection or the Préservation ofFavoured Races in the Struggle for Life, i 8j 9 [dt. Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder Die Erhaltung der bevorzugten Rassen im Kampfe ums Dasein, Leizig 1893].

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die Existenzbedingungen abhängig waren von der Gegenüberstel­ lung der das Individuum charakterisierenden und seine taxonomische Zugehörigkeit verdeckenden anatomisch-physiologischen Ausstattung und der Umwelt, in der es lebt. Seit Darwin werden die Bedingungen, befreit von der Einheit des Typus, zu Existenzbedingungen, die einem lebenden Indivi­ duum von seiner Umwelt vorgegeben sind. So könnte man die Transformation beschreiben, durch die man von der Problematik Art-Individuum in der klassischen Epoche zur Problematik Art-Individuum bei Darwin überging. Mir scheint, dass der Übergang vom einen zum anderen nur durch eine Neugliederung des gesamten epistemologischen Feldes der Biologie möglich wurde, die sich im Werk Cuviers vollzieht. Was auch immer die Irrtümer Cuviers gewesen sein mögen, man kann sagen, dass es eine »Cuvier-Transformation« gibt.

Diskussion J. Piveteau: Die Paläontologen, die Anatomen, die das Werk Cu­ viers aus der Nähe verfolgten, die es im Labor lasen, die es be­ nutzten, sind offensichtlich nie zu einer so zugespitzten episte­ mologischen Analyse gelangt. Ich kann Ihnen jedoch sagen, dass sie alle sehr zufrieden wären. Es ist sehr erhellend, eine solche Präsentation zu erleben. F. Dagognet: Durch ihre Bemerkungen zieht sich, so glaube ich, eine recht negative Haltung zur »Taxonomie«. Machen Sie sie nicht zu einem abstrakten und von der Natur abgetrennten Wissen? Mir indes schiene nichts erstaunlicher. Jussieu beispielsweise erfasst besser als jeder andere die Realität. Mit seinem System und dessen Einteilungen braucht er nur einige Indizien, um alles zu erkennen, alles abzuleiten oder zu deduzieren. M, Foucault: Ich hatte anfangs gesagt, dass es keine Rückkehr Darwins zu Lamarck oder zu Jussieu gibt. Vielleicht sollte man ein Korrektiv einführen. Tatsächlich versuchte man seit der Mitte des 18. Jahrhunderts stets: 1. die epistemologische Schwelle ein wenig unter die spezifische Differenz zurückzuverlegen; 2. die ontologische Differenz ein wenig oberhalb der Art anzu-

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setzen. Dies war bei den Methodikern der Fall; sie warfen dem Linné'schen System vor, arbiträr zu sein und Lebewesen, die die­ selben Merkmale aufweisen, zusammenzustellen, indem als unter­ scheidende Merkmale nur bestimmte Elemente (beispielweise die Geschlechtsorgane) verwendet werden. Sobald man jedoch allge­ meinere, sichtbarere und gleichsam unmittelbarere Merkmale nimmt (wie die allgemeine Morphologie der Pflanze oder des Tiers), sobald man Gruppen festlegen konnte, Gattungen, Ord­ nungen, Klassen, Gruppen, die der Gesamtheit der Ähnlichkeiten entsprechen, erhält man eine fundierte Einteilung. Wenn ich fun­ diert sage, dann will ich damit nicht sagen, dass sie sich wie eine reale Diskontinuität abhebt. Anders gesagt, ich glaube nicht, dass Jussieu oder Lamarck sich vorstellen, dass die Arten säuberlich getrennt und gewissermaßen in den Organismus des Individuums selbst eingeschrieben existierten. E Dagognet: Leider doch. Für Jussieu gibt es ein MerkmaL... M, Foucault: Zwischen real und fundiert muss man jedoch un­ terscheiden: eine taxonomische Idee ist fundiert: 1. wenn sie im Kontinuum der Differenzen die Individuen zu­ sammenfasst, die innerhalb dieses Kontinuums einander benach­ bart sind; 2. wenn man zwischen dem letzten Element, das zu dieser Ka­ tegorie gehört, und dem ersten der Elemente der nachfolgenden Kategorie eine Grenzlinie ziehen kann, die für jedermann sicht­ bar, gewiss, feststellbar und erkennbar wäre. Dies sind die beiden Kriterien der fundierten Kategorie. Der fundierten Kategorie stellen die Methodiker die nicht fun­ dierte Kategorie Linne'schen Typs entgegen. Was man Linné vor­ werfen kann, ist, Kategorien eingeführt zu haben, die unterschied­ lichen Gruppen von Individuen entnommen sind, Lebewesen nebeneinander gestellt zu haben, die voneinander getrennten Ähnlichkeitsfeldern zugehören, und unter dem Vorwand, dass die sexuellen Organe auf dieselbe Weise geformt wären, eine Ka­ tegorie zu etablieren, die über die unmittelbar gegebenen Ähn­ lichkeiten hinausgeht; er bildete somit abstrakte Kategorien, d. h. nicht fundierte Kategorien. Was Jussieu, Lamarck, die Methodiker anstreben, ist eine fundierte Gattung. J.-E Leroy: Ich verstehe nicht. Sie haben gesagt: für die klassi­ sche Taxonomie ist das Gegebene die Art. Das Konstruierte ist

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die Gattung. Ich stelle fest, dass die erste Entität, die dem Na­ turforscher entgegentrat, die Gattung war, insbesondere bei den Botanikern. Denn Ende des 17. Jahrhunderts hatte Tournefort die Gattung abgegrenzt. Die Gattungen, nicht die Arten traten ihm in den Blick. Die Art war bis zu Tournefort hin nicht anerkannt. Wenn man die Natur beobachtet, dann sind es die Gattungen und sogar die Familien, die sichtbar werden. Man ist weit entfernt von der Art. So weit, dass der Begriff der Familie sehr früh entdeckt wurde. Es gab Familien der Pflanzen, der Umbelliferen (Doldenblütler), der Kompositen (Korbblütler). Dies war prä­ gender als die Art. Es handelte sich um Gruppen. Sie sprechen andererseits von der von Cuvier in Bezug auf die Gattung gelie­ ferten Positivität. Sie denken nicht, dass es Ende des 17. Jahr­ hunderts bereits eine Positivität gab. Natürlich, so werden Sie mir sagen, handelte es sich um Naturgeschichte. Aber 1969 be­ treiben wir immer noch Naturgeschichte. Ich sehe nicht, warum wir sie bei Cuvier enden lassen sollten. Was die Biologie anbe­ trifft, deren Existenz für Sie Sache Cuviers ist, so sehe ich sie sich deutlich vor dem 18. Jahrhundert und sogar bereits im 17. Jahr­ hundert konstituieren. Sie entwickelte sich schrittweise. Die Na­ turforscher betrieben Naturgeschichte. Sie hatten nicht das Be­ wusstsein, Biologie zu betreiben, aber sie näherten sich Schritt für Schritt der Biologie, die sich zu einem bestimmten Augen­ blick ihrer selbst bewusst werden und sich als autonome Diszi­ plin konstituieren musste. M. Foucault: Ich unterschreibe, was sie soeben gesagt haben. Sogar vor Linné hat man die großen Familien wie die Dolden­ blütler erfasst. Wo habe ich das Gegenteil gesagt? Ich habe ver­ sucht, die Art und Weise zu definieren, in der man von Tourne­ fort bis zu Lamarck die taxonomischen Tabellen aufstellte. Dies heißt nicht, dass man in der Geschichte der Botanik alle Arten nacheinander erfasste und danach daranging, sie zu ordnen und umzugruppieren. Ich suche nach dem Konstruktionsgesetz, das man sich gab, um so etwas wie die Taxonomie zu konstituieren. Was die Naturgeschichte und die Biologie anbelangt, so weiß ich nicht, was sie unter Biologie verstehen. Was ich meinerseits viel­ leicht etwas willkürlich als Naturgeschichte verstanden habe, ist die Gesamtheit der Methoden, durch die man die Lebewesen als Gegenstände einer möglichen Klassifikation definierte, und der

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zwischen ihnen errichteten Ordnungsbeziehungen. Vom Ende des 17. Jahrhunderts bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts ver­ wendete man eine bestimmte Anzahl von Regeln, um das zu klassifizierende Objekt zu definieren, das Klassifikationsverfah­ ren festzulegen, um Beschreibungen zu begründen, die es ermög­ lichen, zu klassifizieren usw., die das charakterisieren, was ich als Naturgeschichte bezeichnet habe, wobei ich ein Wort aufgriff, das damals häufig gebraucht wurde. Es versteht sich von selbst, dass man in der Epoche, in der man dies tat, viele Beobachtungen mit Hilfe des Mikroskops vornahm oder zahlreiche Unter­ suchungen über die animalische und menschliche Physiologie anstellte. Ich vernachlässige dies jedoch systematisch, und ich habe recht deutlich gesagt: mein Problem bestand darin, zu er­ mitteln, wie man während einer Reihe von Jahren die Lebewesen tatsächlich klassifizierte. Folglich unterschreibe ich das, was Sie mir sagen, wenn Sie mich darauf hinweisen, dass die Biologie vor Cuvier beginnt. Im Falle der Grammatik ist es ein ähnliches Problem. Als ich die Grammatik untersuchte, sagten mir die Philologen, dass man bereits historische Untersuchungen über das Lateinische anstellte. Dies war nicht mein Problem. Es be­ stand darin, zu untersuchen, was die allgemeine Grammatik war, d. h. wie man sich die Sprache im Allgemeinen als Objekt mög­ licher Analyse vorstellte. J.-E Leroy: Wenn ich sage, dass man weiterhin Naturgeschichte betreibt, dann will ich damit sagen, dass man fortfährt, auf diesel­ be oder zumindest beinahe dieselbe Weise zu klassifizieren. M. Foucault: Ja, man klassifiziert weiterhin und beginnt von neuem damit, indem man eine bestimmte Zahl von Methoden benutzt, die gewisse Analogien zu denen aufweisen, die im 17. Jahrhundert verwendet wurden. Die Art und Weise, in der Cuvier seine Arten klassifizierte, war eine andere. An dieser Stelle glaubte ich eine charakteristische Transformation feststellen zu können. Ich habe niemals behauptet, dass man nach Cuvier auf­ hörte, Lebewesen zu klassifizieren. Als Naturgeschichte habe ich, vielleicht konventionell, eine Methode des Klassifizierens be­ zeichnet, aber zugleich auch eine bestimmte Definitionsweise des Objekts, der Begriffe und der Methode. /. Piveteau: Die aktuelle Klassifizierung ist eine völlig andere. Es ist eine Ordnung der Genese, die wir wiederzufinden versu­

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chen, während es sich zur Zeit Cuviers um eine logische Ordnung handelte. Man kann die Cuvier’sche Ordnung sehr einfach in die Ordnung der Genese übersetzen. Dies genau hatte einst Darwin gezeigt und dies tun wir jeden Tag. F Dagognet: Die fundierte Ordnung ist nicht die präexistierende Ordnung. Eine Pflanze wurde endgültig klassifiziert, sie besitzt ein einzigartiges Merkmal, das bewirkt, dass sie zu einer Gruppe gehört und... M. Foucault: Dies ist die fundierte Ordnung. F Dagognet: Warum wäre sie nicht real? M. Foucault: In dem Maße, in dem man damals das natürliche Kontinuum annahm... F Dagognet: Das nahm man nicht an. M. Foucault: ...war der Einschnitt zwischen den Gattungen vielleicht ein unserer Erkenntnis geschuldeter Einschnitt und kein der Natur selbst geschuldeter Einschnitt. Er ist weder absolut noch unveränderlich, sagt Adanson. F Dagognet: Jussieu sagt genau, dass dieser Einschnitt in der Natur liegt und dass er deren Schlüssel gefunden habe. M. Foucault: Dass er den Schlüssel gefunden hätte, der es ihm ermöglichte, in diesem natürlichen Kontinuum ein Ensemble ho­ mogener Kriterien zu benutzen, die es ihm gestatten, durchgängig Gruppen zu fixieren, dies ist Zeichen dafür, dass seine Methode fundiert ist. Aber er vergleicht die natürliche Kontinuität entwe­ der mit einer Kette oder mit einer Landkarte. F Dagognet: Die Gattung und das Individuum sind klar und deutlich getrennt. Das Individuum ist das entwickelte Lebewesen. Der Samen jedoch ist die Zusammenfassung des Individuums und der Gattung. Man kann die Gattung lesen wie man das Individu­ um liest. M. Foucault: »Fundiert« bedeutet, dass die Gattung nicht will­ kürlich ist, im Gegensatz zur arbiträren Gattung Linnés. Die fun­ dierte Gattung ist natürlich. Und das Wort natürlich kehrt immer wieder, wenn es um die Methode geht. Ich glaube, dass sie nicht das Recht haben, das Wort »real« dort zu verwenden, wo die Natur­ forscher das Wort fundiert oder natürlich gebrauchen. Adanson spricht zwar von »realen« Unterteilungen, aber um auszudrücken, dass sie nur real sind im Verhältnis zu uns und nicht zur Natur. Die realen Einschnitte sind bei Buffon Einschnitte, die sich Katastro­



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phen verdanken; bei Lamarck verdanken sie sich den Existenzbe­ dingungen. Die große Diskussion, die um 1830 zur Konfrontation zwi­ schen Cuvier und Geoffroy Saint-Hilaire führte, ging zum Teil um die Weise, in der man ein Element, ein Organ, ein biologisches Segment über unterschiedliche Arten bzw. Gattungen hinweg als identisch betrachten kann: in welchem Maße und in wessen Na­ men kann man die menschliche Hand, die Pfote der Katze, den Flügel der Fledermaus einander gleichsetzen? In der klassischen Taxonomie diskutierte man nicht über die Identität der Elemente. Sie war unmittelbar gegeben, da man sich auf sie stützte, wenn man die Lebewesen klassifizierte. Dort, wo ein Organ von einem Individuum zum anderen, von einer Varietät zur nächsten ein identisches Element verkörperte, und zwar nach Größe, Volumen und Gestalt, hatte man es mit einem Merkmal zu tun: das Problem bestand nun darin, zu wissen, ob es sich auf die Art beschränkte, ob es für die ganze Gattung galt oder sogar darüber hinaus. Es handelte sich darum, die Grenzen der Aus­ dehnung einer unmittelbar erkannten Identität zu bestimmen. Darüber hinaus legte die Linnésche Taxonomie Variablen fest, die allein zur Definition einer Differenz und folglich einer Grenze innerhalb der Identität relevant sein durften: allein die Variationen der Form, der Größe, der Anordnung und der Anzahl konnten berücksichtigt werden (die Farbe dagegen betraf nicht die Identi­ tät eines Elements und ging nicht in das wissenschaftliche Merk­ mal ein). Insgesamt kann man sagen, dass in dieser Naturge­ schichte die Identität unmittelbar sichtbar ist und ihre Grenzen systematisch konstruiert sind. Für Geoffroy Saint-Hilaire kann die Identität verborgen sein. Es ist nicht unmittelbar sichtbar, dass die Kiemendeckel der Fi­ sche in Korrespondenz gesetzt werden können zu den Innenohr­ knochen der höheren Wirbeltiere. Was die von den Systematikern gezogenen Grenzen anlangt, so sind sie allesamt zu verwerfen. Eine Differenz der Zahl darf nicht die Ermittlung eines identi­ schen Elements verhindern (der Zungenbeinknochen ist beim Menschen aus vier Knöchelchen zusammengesetzt, bei der Katze aus neun); auch die Gestaltdifferenz ist nicht mehr zwangsläufig entscheidend: man muss einen Daumen erkennen können im ru­ dimentären Höcker, den man bei bestimmten Spinnenaffen findet;

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auch die Form kann vor dem Hintergrund einer Identität variie­ ren (man muss lernen, von der Pfote eines Hundes zur Flosse eines Seehunds überzugehen); schließlich kann die Anordnung sich verändern, ohne dass die Identität verschwände (der Kopf­ füßer kann als ein über den Rücken gebeugtes Wirbeltier betrach­ tet werden, so dass Becken und Beine sich nahe beim Kopf befinden). Geoffroy Saint-Hilaire behält also keines der im 18. Jahrhundert üblicherweise anerkannten Identifikationskrite­ rien bei. Außerdem verwirft er auf unmittelbarste Weise das Kriterium funktioneller Identität: ein und dieselbe Funktion kann durch verschiedene Elemente erfüllt werden (würde man sagen, dass die Krücke ein Bein ist?); ein und dasselbe Ensemble von Elemen­ ten kann bei einem Jungen und bei einem Erwachsenen sehr ver­ schiedene Funktionen erfüllen (die Füße des Kindes dienen nicht zum Gehen und sind dennoch Füße). Dagegen erkennt Geoffroy Saint-Hilaire die Identität eines bio­ logischen Elements trotz enormer Verschiedenheit an, wenn man seine Position oder seine Transformation innerhalb der Art be­ stimmen kann, die es gestatten, sie wieder zu erkennen. Ich be­ zeichne, so erklärt er, als Fuß jenes Ensemble anatomischer Ele­ mente, das bei einem Tier auf das dritte Segment der unteren Gliedmaßen folgt. Der Fuß definiert sich durch eine bestimmte anatomische Position, oder mehr noch, ich kann den Zungen­ beinknochen des Menschen im Zungenbeinknochen der Katze wieder erkennen, da ich die Elemente definieren kann, die zusam­ mengewachsen sind, die verschwunden sind, die in der Form von Bändern fortbestehen usw., die das Profil geändert haben. Die Identität ist nichts sichtbar Gegebenes: sie ist Resultat des Inbe­ ziehungsetzens (einer »Analogie« nach Geoffroy Saint-Hilaire) und der Ermittlung einer Transformation. Wie ging der Übergang von der »taxonomischen« Identität der Naturgeschichte zu dieser analogischen Identität vonstatten? Hier muss man auf Cuvier verweisen. Cuvier erkennt wie Geoffroy Saint-Hilaire das allgemeine Prinzip der Analogie an. »Der Kör­ per aller Tiere ist aus denselben Elementen geformt und aus ana­ logen Organen zusammengesetzt.« Mehr noch, für ihn wie für Geoffroy Saint-Hilaire begründet sich die Entsprechung zwi­ schen zwei Organen nicht durch die Identität der Formen (von

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den Würmern zu den höheren Wirbeltieren nehmen sie an Kom­ plexität zu), weder durch die Proportionen (je nach Tier kann die Größe der Atmungs- und der Bewegungsorgane variieren), noch durch die Position (im Tierreich gibt es eine räumliche Umstel­ lung des Nervensystems und des Verdauungssystems). Keines der von den klassischen Autoren vertretenen Identifikationskriterien wird von Cuvier anerkannt und ebenso wenig von Geoffroy Saint-Hilaire. Das Verschwinden dieser Kriterien ist eine Trans­ formation, die sich bei Cuvier und Geoffroy Saint-Hilaire ge­ meinsam ereignet. Nun scheint mir aber diese Transformation in der Verwen­ dung der vergleichenden Anatomie impliziert zu sein, wie man sie bei Cuvier findet und die ihrerseits zwei verschiedene Syste­ matisierungen möglich gemacht hat - die Cuviers und die Geoff­ roys. 1. Die vergleichende Anatomie ermöglichte die Gegenüberstel­ lung nicht nur benachbarter, sondern auch extrem unterschied­ licher Arten. Sie ermöglichte es, unabhängig von Komplexität und jeweiligem Organisationsgrad die Gemeinsamkeiten aller Le­ bewesen festzuhalten. Sie ermöglichte es, jedes Ensemble von Elementen in seiner maximalen Transformation zu erfassen. Und aus diesem Grund müssen die Identifikationskriterien (Form, Gestalt, Anordnung, Anzahl), die gültig sein mögen für die Erfassung nahe beieinander liegender Unterschiede, außer Kraft gesetzt werden. Der Raum der Differenzierung hat seinen Maßstab gewechselt. 2. Cuvier und Geoffroy Saint-Hilaire haben nun dasselbe Prob­ lem zu lösen: es gilt eine Identität der Organe auf der Grundlage einer Konstante festzustellen, die nicht unmittelbar in der Wahr­ nehmung gegeben ist. Diese Konstante sucht Cuvier in der Funk­ tion, die unbeschadet der Vielfalt der Instrumente, die sie ge­ währleisten, dieselbe bleibt: die Atmung, die Bewegung, das Empfindungsvermögen, die Verdauung, der Kreislauf. Diese Kon­ stante weist Geoffroy Saint-Hilaire aus Gründen, die ich gerade genannt habe, zurück; und er setzt an ihre Stelle das Prinzip der Position und der Transformation im Raum. Es liegen zwei Lösungen vor, um dasselbe Problem zu lösen, das aus derselben Transformation resultierte, d. h. aus dem Ver­ schwinden sichtbarer Identifikationskriterien biologischer Seg­

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mente: die funktionalistische und die topologische Lösung. Zwei Lösungen, die in der Wissenschaftsgeschichte zwei ganz unter­ schiedliche Schicksale haben sollten. Auf der einen Seite hat es Cuvier, der von der Funktion her nach dem Faktor der Indivi­ dualisierung der Organe forschte, möglich gemacht, die Anatomie in einer Physiologie zu verdoppeln, die immer unabhängiger wer­ den sollte. Cuvier lässt dadurch gewissermaßen die Physiologie aus der Anatomie hervorgehen. Auf der anderen Seite führte Geoffroy Saint-Hilaire, indem er die topologischen Kriterien ent­ deckte, eine bestimmte Analyse des inneren Raums des Indivi­ duums ein. Geoffroy Saint-Hilaire bereicherte die Anatomie, Cu­ vier setzte die Physiologie frei. So haben beide Lösungen, die für dasselbe Problem vorgeschla­ gen wurden, das aus derselben Transformation entsprang, jeweils ihre Funktion in der Geschichte der Biologie: die eine für die Entwicklung der Physiologie, die andere für die Hereinnahme der Topologie in die Anatomie. Es ist evident, dass die Freisetzung der Physiologie unmittelbar fruchtbarer war, da die Physiologie damals von Magendie bis Clau­ de Bernard ein epistemologisches Niveau erreicht hatte, das deren direkte Verwendung in der Biologie ermöglichte. Indem Geoffroy Saint-Hilaire die topologische Analyse in die anatomische Bezie­ hung einfügte, unternahm er eine risikoreichere Operation, die zu diesem Zeitpunkt als Hirngespinst erscheinen konnte. Tatsächlich verstand Cuvier diese Operation Geoffroy Saint-Hilaires nicht. Er erblickte darin die Wiederkehr des Themas der Naturphilosophie.3 In Wirklichkeit war es zugleich etwas anderes. Die Topologie war als angewandte Wissenschaft erst lange nach 1830 verfügbar. Es war normal, dass Cuvier vom ersten Augenblick an erfolgreich und fruchtbar war. Im Gegensatz dazu konnte Geoffroy Saint-Hilaire, der in den Randbereichen der Wissenschaftsgeschichte verblieb, seine Fruchtbarkeit erst in dem Augenblick tatsächlich zurückge­ winnen, in dem man in der normalen Anatomie wie in der Terato­ logie das Problem der Topologie wieder fand. /. Piveteau: Wenn wir das Schicksal der beiden großen Prinzi­ pien von Cuvier und von Geoffroy Saint-Hilaire verfolgen, das Prinzip der Korrelationen und das Prinzip der Verbindungen, so 3 [Im Original deutsch, A.d.Ü.]

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wird uns mehr und mehr bewusst, dass diese Prinzipien für uns in der Forschung komplementäre Prinzipien sind. Das Korrelations­ prinzip liefert die Einheit im Tier, das Verbindungsprinzip die Einheit in der Serie des Animalischen. Wir brauchen beide Prin­ zipien. Das Prinzip der Korrelation ist es, das mit Cuvier Rekon­ struktionen erlaubt. Das Prinzip der Verbindungen gestattet es, diese Transformationen den Verlauf einer Serie entlang zu verfol­ gen. Wir sehen aktuell nicht die Notwendigkeit, sie einander ent­ gegenzusetzen. Je nach Stadium der Forschung kann man aus ihnen zwei komplementäre Prinzipien machen, die nicht auf dem­ selben Niveau angesiedelt sind. Y. Conry: 1. Gibt es in den Arbeiten Cuviers nicht eine Bedingung der Unmöglichkeit für ein Denken der Evolution, speziell die Dar­ winsche Evolutionstheorie ? Diese Unmöglichkeitsbedingung lässt sich so formulieren: ist im »diskursiven Feld« Cuviers nicht die Repräsentation des Organismus, unter den Bedingungen stren­ ger Korrelationen, ein Hindernis, sogar ein wesentliches Hindernis für eine Evolutionstheorie? - mit anderen Worten, ich schließe mich dem Vortrag von Herrn Limoges heute morgen an. 2. Herr Foucault sagt, dass die von Darwin vorgenommenen Transformationen durch die Texte von Cuvier hindurch zustande kommen. a) Wenn man diese Behauptung akzeptiert, dann möchte ich wissen, wie es möglich ist, dass die Grundlegung des Darwin­ schen Denkens woanders stattfindet als im diskursiven Feld Cu­ viers. Ich spiele auf den ökologischen und biogeographisphen Kontext an, der das Denken Darwins prägt. Mir scheint, wenn man zugesteht, dass Darwin sich außerhalb des Feldes von Cuvier herausgebildet hat, dann kann Letzteres nicht einmal eine Zwi­ schenstation hin zur späteren Evolutionstheorie sein. b) Wie erklären sich die Widerstände gegen den Darwinismus im Namen der Schule Cuviers (beispielsweise von Flourens, dem Schüler Cuviers)? c) Das von Herrn Foucault vorgeschlagene Schema des Ver­ schwindens der Schwellen hat mich schließlich davon überzeugt, dass Cuvier tatsächlich ein Moment des Bruchs mit dem 18. Jahr­ hunderts darstellt. Aber bleibt dieses Schema nicht für das Prob­ lem der Evolution gleichgültig?

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B. Balan: i. Die erste Frage zielt auf die Natur des inneren Bands.* Sie sagten auf Seite 276 von Les Mots et les Choses [dt. Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main 1971, S. 322]: »das innere Band, das die Strukturen voneinander abhängen lässt, ruht nicht mehr allein auf der Ebene der Frequenzen, es wird zur Grundlage selbst die­ ser Korrelationen.« Ich bin überzeugt, dass der Übergang von der Problematik der Klassifikatoren des 18. Jahrhunderts zum Problem der Art bei Darwin sich über eine neue Konzeption des inneren Bands voll­ zieht, eine Analyse der internen Struktur des Organismus. In die­ sem Punkt spielt das Prinzip der Korrelation bei Cuvier eine entscheidende Rolle, wobei seine Bedeutung möglicherweise über Cuvier hinausreicht. Ich stelle nun jedoch die Frage nach der Natur dieses inneren Bandes, das bei Cuvier, folgt man den Aus­ führungen im Abschnitt »Cuvier« von Les Mots et les Choses, zur 4 Ein vor der Sitzung verteilter vervielfältigter Text formulierte die Frage wie folgt: Verkörpert wirklich Cuvier und nicht Lavoisier den Bruch zwischen der Natur­ geschichte und der Biologie (wenn es denn einen solchen Bruch gab)? - Les Mots et les Choses (S. 276; dt. Die Ordnung der Dinge, S. 322): »das innere Band, das die Strukturen voneinander abhängen lässt, ruht nicht mehr allein auf der Ebene der Frequenzen, es wird zur Grundlage selbst dieser Korrelationen.« - Das innere Band scheint auf den »Kalkül« der Natur der Lebewesen zu ver­ weisen. Vgl. Historie du progrès des sciences naturelles, 1826, Bd. I, S. 249. Der Kalkül selbst scheint auf die Atmung gegründet zu sein. Vgl. Leçons dyanatomie comparée, 1805, Band IV, Lektion 24, S. 168: Bedeutung des Kreislaufs basierend auf dem des Blutes als Transportmittel des Sauerstoffs. Diese Perspektive der Sauerstoffaufnahme gestattet die Einführung des quantitativen Gesichtspunkts. Vgl. a.a.O., S. 172 sowie die folgenden Ableitungen. - Diese Problematik scheint der von Fournoy homolog. Vgl. Systeme des connais­ sances chimiques, Brumaire des Jahres IX, Sektion VIII, Ordnung IV, Art. 2, Para­ graph 7 (Bd. X, S. 373 f.), Art. 11 und 12 (S. 405-413). - Schließlich wird die Theorie der Verbrennung von Cuvier als die wichtigste Revolution betrachtet, die die Naturwissenschaften seit dem 18. Jahrhundert er­ fahren haben. Vgl. Histoire de progrès des sciences naturelles, 1826, Bd. I, S. 62 f. - Konsequenzen: können die Brüche nicht als Resultat eines Spiels von Verschie­ bungen begriffen werden, die innerhalb eines vorangehenden Begriffssystems neue Gliederungen produziert? »Macht es die Existenz eines solchen Spiels von Verschiebungen nicht unmöglich, einen Bereich oder eine Vielzahl von Bereichen zu betrachten, ohne zugleich die Gliederung des oder der für die Untersuchung ausgewählten Objekte im Verhält­ nis zum allgemeinen Netz der zu einem bestimmten Zeitpunkt verfügbaren wis­ senschaftlichen Begriffe zu berücksichtigen?«

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Übernahme einer finalistischen, vitalistischen und fixistischen Konzeption führt. Hier stellt sich das Problem: verlangt die Idee des inneren Bands nicht ein Korrelationsprinzip von der Art, wie es Cuvier vorgeschlagen hat? Ich wiederhole die Argumentation, die ich in Bezug auf die Entwicklung der chemischen Theorie entwickelt habe. In den Briefen an Pfaff zeigt Cuvier ein frühes Interesse an der Chemie, an der von Lavoisier. In diesen Briefen empfiehlt er eine Lektüre von Lavoisier und die Lektüre der Annales de chimie. Ich erinnere mich an einen Brief, in dem es um die ersten sechs Bände der Annales de chimie geht, deren Lektüre er Pfaff5 empfiehlt; im siebten Band empfiehlt er Pfaff Lavoisiers Analysen chemischer Probleme. Cuvier grenzt sich von Aristoteles ab, und zwar deshalb, weil dieser die Gesetze der Physik und der Chemie nicht kannte. Dies ermöglicht mir zu verstehen, wie entscheidend wichtig die Rolle ist, die die Chemie in den Leçons d'anatomie comparée (i. und 24. Vorlesung, Band IV) und im Brief an Lacépède spielt. Es gibt bei Cuvier eine Möglichkeit der Interpretation der Physiologie ausgehend von der Chemie, der Chemie Lavoi­ siers. Dies verweist auf den Text von Foucroy.6 Es gibt Texte, die in der Histoire des progrès des sciences natu­ relles gegenwärtig sind, an denen man erkennt, dass dem Prinzip der Korrelation der Formen das Problem der Korrelationen der Funktionen vorausging. Dieses Problem ist das des Verhältnisses von Kreislauf und Atmung. Die Atmung macht schließlich den Anfang aufgrund einer Theorie der Sauerstoffaufnahme, die einen quantitativen Gesichtspunkt einführte; dieser Gesichtspunkt wur­ de indes in der Folgezeit eliminiert. Was die moderne wissenschaft­ liche Physiologie anlangt, so konnte Cuvier zu deren Begründung durch die Bedeutung beitragen, die er in seiner Problematik der Chemie zuwies. Ich habe jedoch den Eindruck, dass er, obgleich er in seinem ganzen Werk von der Physiologie sprach, ihr in Wirk­ lichkeit ausgewichen ist. Von dem Augenblick an, in dem die Kor­ relation der Funktionen sich in eine Korrelation der Formen ver­ wandelt, von diesem Augenblick an, so glaube ich, kann man nicht mehr sagen, dass Cuvier direkt zur Physiologie hinführt. Mir scheint, dass die experimentelle Physiologie einen anderen Weg 5 Brief vom 31. Dezember 1790.

6 Systeme des connaissances chimiques, Jahr IX, Bd. X, S. 363 f.

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nimmt. Mit Cuvier, so kann man sich vorstellen - bei Dareste und bei Milne-Edwards verhält es sich anders -, bildet sich sehr dif­ ferenziert eine vergleichende Physiologie heraus. Diese Physio­ logie jedoch tendiert zu Pseudoerklärungen metaphorischen Typs, die nicht sehr viel gemein haben mit dem Experimentieren, dessen Statuten von Claude Bernard fixiert werden sollten. Es handelt sich jedoch um ein physiologisches Experimentieren, dessen Prinzipen sehr viel höher zurückreichen. Selbst wenn man das Prinzip der Korrelation als notwendig an­ sieht, um von einer vor-Cuvier’schen Theorie der Art zu einer nach-Cuvierschen Theorie zu gelangen, kann man sich fragen, ob dieses Prinzip selbst den Finalismus und Fixismus rechtfertigt. Ich habe tatsächlich einen Bericht von Geoffroy Saint-PIilaire und Latreille über das Mémoire de Laurencet et Meyran gefunden; in diesem Bericht greifen Geoffroy Saint-Hilaire und Latreille das Prinzip der Korrelationen gegen Cuvier selbst auf (in Procès-Ver­ baux de l'Académie des sciences, 15. Februar 1830, Bd. IX, 18281831, S. 406). Die Frage ist die, ob es sich im Falle der Wirbeltiere und der Wirbellosen um ein anders verflochtenes oder anders kom­ biniertes Ensemble handelt. »Um diese Behauptung zu überprüfen, muss man darin das Thema eines Texts über die allererstaunlichste Anomalie finden. Dies wäre schwieriger als die gegenteilige These zu unterstützen, da man zugestehen müsste, dass diese Organe ei­ nander notwendig wechselseitig bedingen und aufgrund der rezi­ proken Entsprechung zur Funktion des Nervensystems nicht län­ ger zusammengehörten, nicht länger übereinstimmten. Eine solche Hypothese ist jedoch keineswegs zulässig, da das Leben aufhört, sobald es keine Harmonie mehr zwischen den Organen gibt... Mehr Tier bedeutet hier gar kein Tier mehr. Wenn jedoch im Ge­ genteil das Leben fortbesteht, so deshalb, weil alle Organe in ihren gewohnten und unvermeidlichen Beziehungen verblieben, und weil sie untereinander verschränkt wie üblich zusammenspielen. Dies bedeutet, dass sie durch dieselbe Ordnung der Formation ver­ knüpft, derselben Regel unterworfen sind und wie jede animalische Komposition nicht den Konsequenzen des universellen Naturge­ setzes entgehen kann: der Einheit der Komposition.« Darüber hinaus ist die Einheit der Komposition ein Modell der Transformation, das es gestattet, insbesondere die Probleme der Teratologie experimentell zu formulieren. Demzufolge ist die

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Korrelation zwischen den Organen funktionell begründet durch die Notwendigkeit des Überlebens, sie kann auch unabhängig von der fixistischen Theorie funktionieren, im Rahmen der Regeln der Entwicklung. War das Problem der Korrelation der Funktionen notwendig? Könnte das Prinzip der Konnexion von Geoffroy Saint-Hilaire nicht dieselbe Funktion erfüllen? Ich würde diese Perspektive unter Berücksichtigung der Schü­ ler Cuviers, Richard Owen und Milne-Edwards, begründen. Aus der Perspektive der Spezialisten der Morphologie, der verglei­ chenden Anatomie, der Embryologie usw., hat es den Anschein, dass sie abgesehen vom Bereich der Paläontologie die Prinzipien der Korrelationen, wie sie Cuvier entwickelt hatte, nicht aufrecht­ erhalten konnten. Ich denke insbesondere an Richard Owen. Hier hat man es mit einer Preisgabe des Prinzips funktioneller Korrela­ tion zu tun, zugunsten einer systematischen Verwendung der Prinzipien der Konnexion als heuristischer Prinzipien in der ver­ gleichenden Anatomie. So habe ich im Übrigen die Leçons d'ana­ tomie comparée von Richard Owen und sein Werk über den Ar­ chetypus und die Homologien des Wirbeltierskeletts gelesen. Es existiert eine Transformation der Problematik von der Taxonomie des 18. Jahrhunderts an. Welches sind die Bedingungen dieser Transformation und welches ist die Philosophie, die diese Bedin­ gungen implizieren? Ich glaube, dass die vom Beginn des Jahr­ hunderts datierende Veränderung der Prinzipien mehr möglich gemacht hat als eine durch Interiorität definierte Theorie des Le­ bens. Denn man kann nicht von Interiorität sprechen, wenn nian Texte wie die von Virchow oder von Haeckel und seiner Schule liest. 2. Die zweite Frage betrifft die Stufenleiter der Lebewesen7. Was das Problem der Stufenleiter der Wesen anbetrifft, so bin ich nach wie vor nicht überzeugt, denn man muss unterscheiden zwischen dem, was einerseits eine bestimmte Anzahl von Autoren auf theoretischer Ebene behauptet, und andererseits den Elemen­ ten, die sie sich weigern in Betracht zu ziehen, von den sie sich 7 Ein vor der Sitzung verteilter vervielfältigter Text formulierte die Frage wie folgt: - Ist das Zerbrechen der Stufenleiter der Lebewesen eine wesentliche Tatsache? Les Mots et les Choses, S. 284-285, [dt. Die Ordnung der Dinge, S. 332-333]. Vgl.

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weigern zu sprechen, die jedoch in der Tiefe wirksam zu sein scheinen, und die sie zwingen, Verschiebungen, Komplikationen des Schemas einzuführen. Diese Komplikationen des Schemas können gewissermaßen als Elemente der Antizipation künftiger Brüche betrachtet werden. In der Tat glaube ich, dass es beispiels­ weise im Bereich der Neurologie eine durch das Prinzip der Lo­ kalisierung bestimmte Periode gab, die sich auf eine vollständig kohärente und systematische Weise entwickelte. Mir scheint je­ doch, dass die Vermehrung des klinischen Materials zu Kompli­ kationen der Theorie führte und in dem Moment, in dem die Theorie derart kompliziert wurde, sich exakt ein Bruch vollzog und eine bestimmte Zahl von Autoren übereinkam, zu versuchen, das Problem auf eine ganz andere Weise anzugehen. Während des 18. Jahrhunderts wird Beobachtungsmaterial ak­ kumuliert. Dieses Material führte zu einem Punkt des Bruchs, und Cuvier war dessen erster Nutznießer. Denn die Gesamtheit der von den Spezialisten der Zoologie, der Paläontologie zusammen­ getragenen Tatsachen machte es nicht mehr möglich, die Welt des Lebenden im Rahmen der Stufenleiter der Lebewesen zu denken. Daher war eine Umarbeitung erforderlich. Daher stellte sich die Mémoire concernant l'animale de l'hyale, un nouveau genre de mollusques mains intermédiaires entre l'hyale et le clio, et d'établissement d'un nouvel ordre dans la classe des mollusques, 1817, wo sich die Idee entwickelt findet, dass die offen­ kundigen Leerstellen oft nur damit zu tun haben, was wir von den Lebewesen nicht wissen. Vgl. S. 10. Das Pneumoderm: weder Kopffüßer noch Gasteropoden, noch Akephal: die Tendenz der Natur, alle möglichen Kombinationen zu nutzen. Vgl. Coleman, G. Cuvier; Zoologist, S. 172-173. - Es gibt eine Substitution der Leiter durch das Bündel in einem Kontext der Fülle. Diese Fülle erscheint als Konstante im Denken Cuviers. Vgl. Daudin, Les classes zoologiques et l'Idée de série animale, 1926, Bd. II, S. 249 f. - Konsequenzen: Ist die Einführung der Differenz nicht tatsächlich einem Anta­ gonismus geschuldet zwischen der Stufenleiter der Lebewesen auf der einen und der Erneuerung der Kombinatorik des Lebenden durch die von der Chemie eröffneten Perspektiven auf der anderen Seite? - Wenn andererseits die so eröffnete Differenz eine Möglichkeit konstituiert, das Leben zu denken, gehört diese neue Möglichkeit dann nicht zu einem Netz, das sie mit dem Thema konfrontiert, das sich die Morphologen seit Goethe stellen, dem der Stufenfolge der Lebewesen und der Konzeption eines Plans? - Anders gesagt, haben wir einen grundlegenden Raum neuer Oppositionen oder eine neue Opposition, die im Inneren eines vorausgehenden Netzes auftritt, das einerseits unzureichend geworden ist, aber andererseits stets und für lange Zeit ein System wirksamer Markierungen bildet?

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Frage: welches Begriffssystem führt auf epistemologischer Ebene zur wichtigsten und wirksamsten Veränderung? Es gibt ein Prob­ lem der Eröffnung eines neuen epistemologischen Feldes. Es gibt das Problem, wie die Eröffnung des neuen epistemologischen Fel­ des stattfindet. Bei Cuvier gibt es ideologische Elemente. Was ist die Rolle dieser Elemente? In welchem Maße haben diese Elemen­ te die wissenschaftliche Forschung eingeschränkt? Haben sie als Hindernisse dieser wissenschaftlichen Forschung gewirkt? M. Foucault: Mir schien, dass es drei technische Fragen gab, über die man diskutieren könnte. 1. Die eine betrifft die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit, von Cuvier und seiner Biologie her die Geschichte der Lebewesen zu denken. 2. Das Problem der Kontinuität der Lebewesen und die Art und Weise, in der Cuvier die Stufenleiter der Lebewesen, wenn Sie so wollen begriffen, exorziert, verbannt, wieder verwendet, fragmentiert hat. 3. Das Verhältnis zwischen der Biologie Cuviers und einigen damit zusammenhängenden Wissenschaften, insbesondere der Chemie. Gleichzeitig gibt es zwei Reihen von allgemeinen methodologi­ schen Fragen. 1. Das Problem der Methode in Bezug auf die Arbeitsweise der Wissenschaftsgeschichte selbst. Zunächst der Begriff des Hinder­ nisses. Was will man sagen, wenn man erklärt, dass Cuvier für etwas ein Hindernis war oder dass die Kette der Wesen ein Hin­ dernis für etwas bildete? \ 2. Das Problem des Individuums oder der Individualität. Wir sind mit der Zeit dahin gelangt, zu sagen: »Cuvier«, »Geoffroy Saint-Hilaire« oder »Dies geschieht bei Cuvier« oder »Dies findet sich in den Werken Cuviers«. Worin besteht diese merkwürdige Individualisierung? Wie manipuliert man die Begriffe des Autors, des Werks, des Individuums, wenn man Wissenschaftsgeschichte betreibt? A) Untersuchen wir zunächst das Problem der Chemie. Cuvier sagt selbst, dass Lavoisier ein sehr wichtiges Moment in den Naturwissenschaften war. Herr Balan formuliert von hier aus die Probleme der Berech­ nung und der Quantifizierung: er fragt sich, ob es nicht zu einem

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bestimmten Zeitpunkt bei Cuvier die Tendenz gab, die Möglich­ keit offenstand, sich der Chemie innerhalb der Biologie zu bedie­ nen, experimentelle Methoden und quantitative Analysen einzu­ führen. Ich werde einige Anmerkungen machen. Im zitierten Text spricht Cuvier von Lavoisier und seiner Bedeutung; er spricht von der Bedeutung Lavoisiers in den »Naturwissenschaften«. Dies ist etwas ganz anderes als die »Naturgeschichte«. Die Na­ turwissenschaften sind eine Kategorie oberhalb der Naturge­ schichte, die die Physik, die Chemie, die Geographie usw. um­ fasst. Lamarck trifft übrigens diese Unterscheidung. Die Naturwissenschaften sind all das, was nicht Mathematik ist. Da­ her denkt Cuvier Lavoisier und die Chemie in ihrem Verhältnis nicht zur Naturgeschichte, sondern zu den experimentellen Wis­ senschaften. Ich würde diesen Text neben einen anderen stellen, in dem Cuvier von jemandem spricht, der ebenso wichtig war wie Lavoisier innerhalb der Chemie: es ist Jussieu innerhalb der Na­ turgeschichte. Cuvier platziert Lavoisier und Jussieu im Himmel der allgemeinen Naturwissenschaften, Lavoisier für die Chemie, Jussieu für die Naturgeschichte. Die Analyse von B. Balan könnte jedoch auch für den Kalkül der Quantifizierung bei Cuvier nicht akzeptiert werden. Es gibt dort ein sehr wichtiges Problem. In der Tat wird der Begriff des Kalküls von Cuvier sehr häufig gebraucht. Was ver­ steht er jedoch darunter? In den Texten der Periode von 1785 bis 1808 sagt er, dass die Taxonomie die Natur jeder Art gemäß der Anzahl der Organe, ihrer Ausdehnung, ihrer Gestalt, ihrer Ver­ knüpfungen, ihrer Steuerungen kalkuliert. Der Kalkül ist bei ihm kein Kalkül der Quantität, sondern gewissermaßen ein logischer Kalkül variabler struktureller Elemente. Es ist ein struktureller Kalkül und ktin quantitativer Kalkül. Sobald Cuvier andererseits das Vokabular der Quantität verwendet, benutzt er es in einem Kontext, der von dem des Kalküls verschieden ist. Er verwendet es in Bezug auf physiologische oder chemische Prozesse der At­ mung. Aber um was zu sagen? Dass die Kraft der Bewegung der Wirbeltiere abhängig ist von der Quantität ihrer Atmung; dass die Quantität der Atmung von der Quantität des Bluts abhängt, das die Organe bekommen; und dass diese Quantität des den Organen zuströmenden Bluts von der Anordnung der Atmungsorgane und

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der Organe des Blutkreislaufs abhängt. Diese Organe des Kreis­ laufs können doppelt Vorkommen. Die Quantität des Blutes ist daher wichtig. Sie können einzeln Vorkommen und die Quantität des Blutes ist geringer. So dass die Quantität auf bloßer Schätzung beruht. Es handelt sich um Grade. Es gibt mehr oder weniger Bewegung, es gibt mehr oder weniger Blut. Cuvier hat niemals Maße benutzt, um die Quantität zu berechnen. Folglich sind diese drei Begriffe des Kalküls, der Quantität und des Maßes, die für uns miteinander verknüpft sind, bei Cuvier sehr eigenartig unter­ schieden. Wir haben: 1. einen Kalkül, der der strukturelle Kalkül organischer Variab­ len ist; 2. eine Betrachtung der Quantität, die gewissermaßen eine ge­ schätzte Quantität ist; 3. die Abwesenheit eines Maßes. Es führte zu extremen Konfusionen, wollte man erklären, dass das Inbetrachtziehen der Chemie bei Cuvier für ihn die Möglich­ keit einer quantitativen und messenden Biologie eröffnet hätte. Zu diesem Thema möchte ich eine Anmerkung machen. In der Wissenschaftsgeschichte muss man eine sehr klare Unterschei­ dung zwischen zwei verschiedenen Prozessen treffen. Manchmal konstatiert man die faktische Einführung eines epistemologischen Feldes, das in einem anderen epistemologischen Feld konstituiert wurde. Dies ereignete sich beispielsweise, als das relativ geschlossene und autonome epistemologische Feld, dessen Prinzipien der Schließung und der Autonomie ich zu de­ finieren versucht habe und das man als Taxonomie bezeichnen könnte, gegen Ende des 18. Jahrhunderts von einem anderen, wo­ anders konstituierten epistemologischen Feld, dem der Anatomie, durchdrungen und ausgefüllt wurde. Die Überschneidung dieser beiden unterschiedlichen epistemologischen Raster ruft einen neuen Diskurs hervor, den man als Biologie charakterisieren kann. Ich will nicht sagen, dass dies die einzige Interferenz wäre, die sich seither ereignet hätte. Dass das physiologische Feld in der Form eingeführt wurde, in der es damals existierte, ist ein anderes Thema. Hiervon muss die (durch die Konstitution, die Organisa­ tion, die Verteilung eines epistemologischen Feldes gegebene) Möglichkeit unterschieden werden, epistemologische Elemente, die anderswo funktionieren, generell oder bereichsspezifisch ein­

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geschränkt einzuführen, sei es auf dem Niveau der Methoden, sei es auf dem Niveau der Begriffe. So scheint mir, dass die Biologie Cuviers, so wie sie sich konstituierte und in dem Maße, in dem sie das Problem der Atmung stellte, ein Problem stellte, das in einem bestimmten Augenblick nach der chemischen Theorie rufen musste. Und in diesem Sinne machte die Biologie Cuviers schließ­ lich die Konstitution einer Biochemie möglich. Aber sie hat sie nicht hervorgebracht. B) Untersuchen wir jetzt das Problem der Stufenleiter der We­ sen. In einigen theoretischen Texten sagt Cuvier, dass die Herrschaft der Stufenleiter der Lebewesen zu Ende ist. Geben diese reflexi­ ven Aussagen tatsächlich die wirkliche Praxis Cuviers wieder? Sind sie nicht eine Art idealer Forderung? Benutzt die wissen­ schaftliche Praxis Cuviers nicht weiterhin auf die eine oder andere Weise das Thema der Kette der Wesen als Leitfaden? Cuvier kritisiert die Kette der Lebewesen, nicht die Kontinui­ tät. Auf jeden Fall hat nie jemand, sogar im Rahmen der klassi­ schen Taxonomie, eine wirkliche Kontinuität zwischen den Arten angenommen. Auf die eine oder andere Weise, sei es über eine Verzerrung durch Katastrophen, sei es über eine dem Milieu ge­ schuldete Störung, wird stets eine Art Diskontinuität anerkannt. Was Cuvier kritisiert, ist die Behauptung, dass jedes beliebige Lebewesen mit Ausnahme des ersten oder einfachsten und des komplexesten, des Menschen, ein Übergang ist; mit anderen Wor­ ten, er kritisiert die Behauptung, dass jedes Wesen zwei direkte und symmetrische Nachbarn hat. Zugleich weist Cuvier die Idee einer schrittweisen Abstufung zurück - die Idee, dass es zwischen aufeinander folgenden Lebewesen eine konstante Differenz gebe und dass alle Stufen dieser Leiter besetzt sind, besetzt waren oder besetzt sein könnten. Schließlich weist Cuvier zuletzt die Idee einer einzigen Serie zurück, auf der alle Lebewesen, unbeschadet der verwendeten Klassifikationskriterien einheitlich angeordnet werden könnten. Es gibt folglich bei Cuvier eine Kritik an drei Themen: dem des Übergangs, dem der Abstufung und dem der Einheit der Serie. Umgekehrt ist das Konzept, das Cuvier beständig verwendet, das des Hiatus. Was versteht er darunter? Er versteht darunter (und er sagt dies ausdrücklich) weder das katastrophische Ver­

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schwinden bestimmter Arten, die die Kontinuität einer einheit­ lichen biologischen Kette sichergestellt hätten, noch die »Zufalls­ verteilung« der Differenzen. Als Hiatus bezeichnet Cuvier: 1. Die erste Konsequenz des Prinzips der Korrelation, die be­ sagt, dass, wenn dieses oder jenes Organ vorhanden (oder nicht vorhanden) ist, dann auch diese oder jene anderen notwendiger­ weise vorhanden (oder nicht vorhanden) sein müssen; es gibt folg­ lich keine Abstufung der Arten, die sich über das gesamte Tableau aller möglichen Präsenzen oder Absenzen erstreckte, sondern un­ auflösliche Bündel von Präsenzen und Absenzen. Daher der Hia­ tus der biologischen Realität im Verhältnis zum abstrakten Kalkül der Möglichkeiten. 2. Die Konsequenz des Prinzips der Einheit des Plans, der zufolge jede große Kategorie einem bestimmten anatomischen und funktionellen Plan gehorcht. Eine andere Kategorie folgt ei­ nem anderen Plan. Von der einen zur anderen Kategorie findet eine völlige Reorganisation, eine vollständige Redistribution statt. Diese verschiedenen Pläne bilden keine lineare Serie punktueller Transformationen. Die Kopffüßer sind, so sagt Cuvier, nicht der Übergang von nichts zu nichts. Man kann nicht sagen, dass sie mehr oder weniger perfekt wären als diese oder jene Lebewesen. Sie resultieren nicht aus der Entwicklung anderer Tiere und sie werden sich nicht zu perfekteren Tieren weiterentwickeln. 3. Die Konsequenz des Prinzips heterogener Abstufungen: wenn es wahr ist, dass man keine einheitliche und globale Stufen­ leiter errichten kann, so kann man indes verschiedene Abstufun­ gen entwickeln. Man kann beispielsweise über die verschiedenen Arten hinweg das Wachstum des Kreislaufs und der Quantität des absorbierten Sauerstoffs verfolgen; oder auch die wachsende Komplexität des Verdauungssystems. Man kann auf diese Weise zu mehreren Serien gelangen, von denen einige parallel verlaufen und andere sich kreuzen. Es ist nicht in jedem Falle möglich, sie alle auf einer einheitlichen Linie anzuordnen und aus ihnen eine durchgängige Serie zu bilden. Man kann sie nicht allesamt durch­ laufen, ohne auf Diskontinuitäten zu stoßen. Es existiert keine Stufenleiter, sondern ein verzweigtes Netz. Es ergäbe keinen Sinn zu sagen: vor Cuvier ist alles kontinuier­ lich und nach ihm alles diskontinuierlich. Denn die klassische Taxonomie hatte bestimmte Formen der Diskontinuität zugelas­

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sen und Cuvier Formen der Kontinuität. Was jedoch wichtig ist und näher bestimmt werden muss, ist die sehr besondere und neue Weise, in der Cuvier mit dem Kontinuierlichen und dem Diskon­ tinuierlichen spielt. Hierfür ein präzises Beispiel: die Art und Weise, wie Cuvier dazu kam, zwei Gattungen neben der Gattung Clio zu definieren (glasartig und pneumoderm). B. Balan sieht in dieser Entdeckung eine Anwendung des alten Prinzips der »Kette der Wesen«. So­ bald die Gattung Clio vage zwischen den Kephalopoden und den Gasteropoden isoliert und situiert war, hätte Cuvier die notwen­ digen Zwischenglieder gesucht: und er hätte versucht, die Stufen zu rekonstruieren, die Lücke zu schließen. Dies heißt jedoch die Arbeit Cuviers vollständig zu verkennen. Was tat Cuvier wirklich? Zunächst eine prinzipielle Erklärung. »Mir scheint, dass die Natur zu fruchtbar gewesen ist, um eine Hauptform geschaffen zu haben, ohne sie sukzessive mit all den Einzelheiten auszustat­ ten, deren sie fähig ist.« Dieser Text bezieht sich entgegen dem Anschein nicht auf eine kontinuierliche Kette der Lebewesen. Cu­ vier behauptet nicht, dass man hier notwendig ein Zwischenglied zwischen den Gasteropoden und den Kephalopoden benötigte. Was er sagt, ist, dass eine Form existiert, die Clios, die einzig, isoliert ist. Nach dem Prinzip des Reichtums der Natur jedoch kann man behaupten, dass, wenn die Natur eine Form hervorge­ bracht hat, sie dies nutzt, um sie zu variieren und um eine be­ stimmte Zahl von Untermodellen dieses allgemeinen Modells zu liefern. Es handelt sich nicht um die Kontinuität der Kette, um den Übergang vom einen Ende zum anderen, nicht um eine Brücke zwischen zwei Ufern der Natur. Es handelt sich einfach um das Prinzip, dass die Natur die Form, die sie sich gegeben hat, selbst ausfüllt. Es i£t die Sättigung einer Ordnung durch Gattungen. Man findet ein Tier wie das Clio, dessen Gattung weder zu den Kepha­ lopoden noch zu den Gasteropoden passt. Aufgrund des Prinzips, dass die Natur zugleich sparsam und freigebig ist (sparsam in der Zahl der Formen, freigebig in der Art und Weise, in der sie jede dieser Formen ausfüllt), muss es andere Gattungen geben, die diese Art der Form erfüllen müssen, die man bei Clio auftreten sieht. Dies ist das heuristische Prinzip Cuviers. Er sucht nicht nach anderen Gattungen neben Clio, um diese Familie zu füllen, die

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noch leer oder von einer Gattung besetzt ist. Er forscht nach dem eigenen Charakter von Clio und indem er dies tut, findet er zwei andere Tiere, das Hyal und das Pneumoderm, die derselben Form gehorchen. Sie können eine Familie bilden, die so beschrieben wird: Körper frei und flossentragend; distinkter Kopf ohne andere Gliedmaßen als die Flossen. Folglich war die Bewegung der For­ schung zur Konstitution dieser neuen Familie nicht dazu be­ stimmt, eine Lücke in der Stufenleiter der Lebewesen auszufüllen; sie sollte zeigen, wie die Natur eine Form von dem Augenblick an ausfüllt, an dem sie sie sich gegeben hat. Es kann hier keine Gat­ tung für sich allein geben in einer Ordnung, so lautet das Postulat, und nicht: es muss hier ein Zwischenglied geben zwischen zwei verschiedenen Gattungen. Man muss die Ordnung sättigen, dahin gelangen, eine Vielzahl von Gattungen zu bilden, die genau sagen, worin die volle Realität der Ordnung besteht. G. Canguilhem: Ich möchte ein Wort hinzufügen zur Stufen­ leiter der Wesen, indem ich auf die Existenz des Artikels »Natur« im Dictionnaire des sciences naturelles8 verweise, wo Cuvier die drei scholastischen Begriffe des Sprungs, des Hiatus und des Lee­ ren verwendet, d. h. die drei Begriffe, die zu den Axiomen gehö­ ren, die Kant in der transzendentalen Methodenlehre kommen­ tiert. Er sagt dort: es gibt keinen Sprung, es gibt den Hiatus - trotz all denen, die, sobald sie ein Fehlen entdecken, unter Bezugnahme auf die Stufenleiter der Wesen sagen, dass sich eine Zwischenstufe finden lassen müsse. Indes, selbst wenn man die Zahl der Arten verhundertfachte, diese Lücken blieben bestehen. Und das ist es, was hier befremdlich ist, dass man Cuvier aufgrund seines unter­ stellten Aristotelismus vorwerfen konnte, scholastisch zu denken, während seine Zurückweisung und seine Kritik gerade auf die drei Grundbegriffe zielte, die die scholastische Philosophie benutzte, um die Kontinuität der Formen darzulegen. J. Piveteau: Ich danke Herrn Foucault und allen Diskussions­ teilnehmern. G. Canguilhem: Wir danken Herrn Piveteau im Namen der Lehrenden und der Forscher dieses Instituts dafür, dass er die Diskussionsleitung übernommen hat.9 8 Bd. XXXIV, 1825, S. 261. 9 Hier enden die Vorträge und Diskussionen vom Nachmittag des 30. Mai. Die Diskussion wird am folgenden Morgen fortgesetzt.

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S. Delorme: Ich bitte Frau Conry, ihre Einwände darzulegen. Y Conry: 1. Unterstellt man, dass die Kritik des Darwinismus sich nur durch die Texte Cuviers hindurch vollziehen konnte, d. h. der Diskurs Cuviers die Bedingung der Möglichkeit des Darwi­ nismus war, dann lässt dies zwei Tatsachen unerklärt, macht sie sogar unerklärlich: a) die Tatsache, dass das diskursive Feld Darwins dem von Cuvier fremd war, d. h. sich ausgehend von einer ökologischen und biogeographischen Problematik entwickelte; b) die Tatsache, dass ein Teil der Widerstände gegen den Dar­ winismus sich im Umkreis der Schule Cuviers entfaltete. 2. Ist das Schema der Auflösung der epistemologischen und der ontologischen Schwelle, wenn dies tatsächlich der Zeitpunkt und der Ort des Bruchs im klassischen Denken ist, nicht indifferent gegenüber einer Theorie der Evolution? Mit anderen Worten, au­ torisiert uns die Untersuchung der epistemologischen Transfor­ mationen, Cuvier als Vorstufe von Darwin zu denken? M. Foucault: Ihre zweite Frage: »Wie lassen sich die Wider­ stände von Schülern Cuviers wie beispielsweise Flourens gegen den Darwinismus erklären, wenn es zutrifft, dass Cuvier Bedin­ gung der Möglichkeit des Darwinismus war?« berührt ein Prob­ lem der Methode. Ich glaube nicht, dass man im Feld der Ge­ schichte Widerständen, die auf begrifflicher Ebene liegen mögen und »archäologischen« Widerständen, die auf der Ebene der dis­ kursiven Formationen angesiedelt sind, denselben Status einräu­ men kann oder sie auf dieselbe Weise funktionieren lassen kann. 1. Ein Begriff wie der des fixen Charakters der Arten wider­ streitet exakt dem der Evolution der Arten und kann folglich ein Hindernis für ihn bilden. 2. Eine Theorie einer in einem Prozess historischer Evolution befindlichen Natur steht in Gegensatz zur Theorie einer ein für alle Mal durch eine allmächtige Hand geschaffenen Natur, und daher leisten sie gegeneinander Widerstand. Schon diese beiden Typen von Widerstand sind nicht dieselben und funktionieren nicht auf dieselbe Weise. Auf einer dritten Ebene, der der diskur­ siven Formationen, kann man ebenfalls von Phänomenen des Wi­ derstands sprechen. Sie sind jedoch völlig anderen Typs; sie ent­ falten sich gemäß sehr verschiedenen Prozessen (so der Widerstand einer auf die Analyse der Merkmale gegründeten Na­

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turgeschichte gegen eine auf die Analyse physiologischer Funk­ tionen und anatomischer Strukturen gegründeten Biologie). Auch wenn diese letztere Form des Widerstands einerseits sehr wohl wichtiger und massiver werden kann, so löst sie nicht notwendi­ gerweise die längsten oder die lautesten Polemiken aus; und an­ dererseits können die beiden ersten Formen des Widerstands sehr wohl innerhalb ein und derselben diskursiven Formation entste­ hen. Ich habe versucht, für Cuvier und Geoffroy Saint-Hilaire zu zeigen, wie ihr Gegensatz hinsichtlich der Kriterien der Identifi­ kation organischer Segmente eine Möglichkeitsbedingung in der­ jenigen Biologie hatte, deren gemeinsame Begründer sie waren. Wir können uns jetzt dem Gegensatz Darwin-Cuvier und der Relaisfunktion zuwenden, die man der Biologie Cuviers bei der Herausbildung des Darwinismus zuerkennen kann. Das Konzept der Existenzbedingung ist zweifellos einer der Grundbegriffe der Biologie zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Er scheint den Konzepten des Einflusses oder der Milieus, wie man sie im 18. Jahrhundert in der Naturgeschichte findet, weder iso­ morph noch deckungsgleich. Diese Begriffe dienten in Wirklich­ keit dazu, einem Mehr an Variation Rechnung zu tragen; sie be­ trafen zusätzliche Diversifikationsfaktoren; sie dienten dazu, der Tatsache Rechnung zu tragen, dass ein Typus zu einem anderen werden konnte. Umgekehrt bezieht sich der Begriff der Existenz­ bedingung auf die eventuelle Unmöglichkeit, weiterzuleben, in der sich ein Organismus befände, wenn er nicht so wäre, wie er ist, und nicht dort, wo er ist: er bezieht sich auf das, was die Grenze bildet zwischen Leben und Tod. Sehr allgemein betrachtet ist das Objekt der Naturgeschichte im klassischen Zeitalter ein Ensemble von Differenzen, die es zu beobachten gilt; im 19. Jahr­ hundert ist Objekt der Biologie das, was fähig ist, zu leben und was imstande ist, zu sterben. Diese Idee, dass das Lebendige ge­ bunden ist an die Möglichkeit des Sterbens, verweist auf zwei mögliche Systeme von Existenzbedingungen: - Existenzbedingungen verstanden als internes System, d.h. die Korrelationen. Wenn sie die Krallen wegnehmen oder ihm keine Mahlzähne geben, wird das Wesen notwendig sterben. Dies ist die innere Existenzbedingung und dies impliziert eine Biologie, die direkt auf der anatomischen Physiologie basiert; - Existenzbedingungen verstanden als Bedrohung, die aus der

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Umwelt kommt oder Bedrohung des Individuums, nicht mehr leben zu können, wenn die Umwelt sich ändert. Man gründet die Biologie auf die Analyse der Beziehungen, die zwischen der Umwelt und den Lebewesen besteht, d. h. auf die Ökologie. Die doppelte Verknüpfung der Biologie mit der Physiologie auf der einen Seite und der Ökologie auf der anderen Seite ist in den Möglichkeitsbedingungen von dem Moment an enthalten, in dem man das Lebende durch seine Existenzbedingungen und durch die Möglichkeit seines Todes definiert. Von nun an sehen wir, dass die Ökologie, als in die Biologie integrierbare Wissenschaft, dieselben Möglichkeitsbedingungen besitzt wie die Physiologie als in die Taxonomie integrierbare Wissenschaft. Die Integration des Anatomisch-Physiologischen wird von Cuvier realisiert, die Integration der Ökologie in die Biologie wird von Darwin realisiert. Beides erfolgt ausgehend von denselben epistemologischen Bedingungen. C. Limoges: Es gibt keinen Widerspruch zu dem, was Frau Conry und ich denken. Ich bin sehr befriedigt von dieser zweiten Antwort. S. Delorme: Die zweite Frage, gestellt von Herrn Saint-Sernin, zielt auf die von Herrn Foucault vorgenommene Unterscheidung zwischen fundiert, natürlich und real. M. Foucault: In dem Augenblick, in dem man vom einen In­ dividuum zum nächsten ein Kontinuum an Variationen annimmt, können die Arten nicht mehr gegeneinander abgesetzt werden und mit perfekt abgegrenzten Schwellen existieren. Die Natur isoliert keine Arten, sie ermöglicht lediglich, durch die Heraus­ bildung von Ähnlichkeitsregionen, Arten zu rekonstruieren, die gut fundiert sind, wenn sie dem Netz der Ähnlichkeiten von In­ dividuen unterschiedlicher Morphologie folgen. Wenn Linné ein einfaches, für älle Pflanzen konstantes Kriterium nimmt, so klas­ sifiziert er innerhalb seines Systems alle Pflanzen. In dem Maße jedoch, in dem er als Variable nur einen kleinen Ausschnitt des Pflanzenwesens genommen hat, klassifiziert er innerhalb dersel­ ben Kategorie aufgrund vergleichbarer sexueller Organe Lebewe­ sen, die ein unterschiedliches allgemeines Aussehen haben. Folg­ lich hat er ein lokalisiertes Ähnlichkeitskriterium verwendet, indem er nicht die natürliche Serie globaler Ähnlichkeiten berück­ sichtigte. In diesem Sinne sind die Kategorien Linnés arbiträr und

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abstrakt. Das Problem bestand für die Nachfolger Linnés, die Methodiker wie Jussieu beispielsweise, darin, Klassifikationen zu finden, bei denen man in derselben Gattung, in derselben Klas­ se nur Pflanzen findet, die sich tatsächlich in allen Aspekten äh­ neln. Dies ist die fundierte Gattung im Unterschied zur abstrakten Gattung Linnés. B. Saint-Sernin: Ich hatte geglaubt zu verstehen, dass »fundiert« das war, was es ermöglichte, eine passende natürliche Einteilung vorzunehmen, eine Einteilung, die mit der Beobachtung und der Erfahrung übereinstimmte. M. Foucault: ... mit der totalen Beobachtung der Arten. Das der Anschauung gegebene Reale ist als solches durch eine Anzahl von Prozeduren ermittelbar, die entweder methodisch oder systematisch sein können. M.-D. Grmek: Das Schema, das uns Herr Foucault vorschlägt und seine Unterscheidung zwischen zwei Hauptschwellen ist eine logische Konstruktion. Dann stellt sich die Frage: welches ist ihr historischer Gehalt? Und verkörpert im Rahmen dieser Debatte das Werk Cuviers wirklich einen fundamentalen Einschnitt im Prozess der historischen Explikation dieses Schemas? Es ist sicher, dass die beiden vorgeschlagenen Schwellen, und zwar der Übergang von der Art zur Gattung und vom Individu­ um zur Art, eine historische Realität besitzen, d. h. sie verkörpern seit langem ein Problem, das man zu lösen versucht. In Paren­ these, ich wundere mich, dass Sie die erste Schwelle »ontologisch« und die zweite »epistemologisch« genannt haben; ich hätte es umgekehrt erwartet, da die erste Schwelle das Problem der Klas­ sifikation stellt und die zweite das der Existenz, des Seins. Um die beiden Schwellen zu überwinden, wurde in der Geschichte der Biologie eine Reihe von Lösungen vorgeschlagen. Sehr rasch hat man fast alle logischen Möglichkeiten in Betracht gezogen, und ich sehe nicht, was das Werk Cuviers, aus epistemologischer Sicht, wirklich neues hinzugefügt hätte. Gewiss, es liefert unter dem Gesichtspunkt der konkreten Klas­ sifikation erneut taxonomische Details, aber es gibt keine wirk­ liche Überwindung der Schwellen, von denen Sie gesprochen ha­ ben. Für die aktuelle Wissenschaft sind die beiden Schwellen überschritten: für die erste Schwelle liegt die Lösung in den phy­ logenetischen Affiliationen, d. h. in der Theorie der Evolution,

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und für die zweite in der modernen Genetik. Um einen histori­ schen Bruch zu finden, müsste man den Ursprung dieser beiden Lösungen erforschen und bei dem uns hier interessierenden Prob­ lem sehen, ob das Werk Cuviers Teil dieses radikalen Wandlungs­ prozesses ist. M. Foucault: Ich glaube nicht, dass man in der Wissenschafts­ geschichte von Veränderung in einem absoluten Sinne sprechen könnte. Je nachdem, wie man die Diskurse klassifiziert, je nach dem Niveau, auf dem man sie ansiedelt oder dem Analyseraster, das man ihnen aufzwingt, wird man entweder Kontinuitäten oder Diskontinuitäten, Konstanten oder Modifikationen erscheinen se­ hen. Wenn Sie die Geschichte des Artenbegriffs verfolgen oder die der Evolutionstheorie, dann bildet Cuvier offenkundig keine Ver­ änderung. Das Niveau jedoch, auf dem ich mich selbst ansiedle, ist nicht das der Begriffe, der Theorien: es ist das der Operationen, von denen ausgehend in einem wissenschaftlichen Diskurs Ge­ genstände auftreten, Begriffe gebildet werden und Theorien kon­ struiert werden können. Auf diesem Niveau kann man Ein­ schnitte feststellen: aber auf der einen Seite koinzidieren sie nicht notwendig mit denen, die man anderswo feststellen kann (beispielsweise auf der Ebene der Begriffe selbst oder der Theo­ rien); und auf der anderen Seite bieten sie sich nicht immer auf sichtbare Weise an der Oberfläche der Diskurse dar. Man muss sie ausgehend von einer bestimmten Anzahl von Zeichen aufspüren. Man kann ein erstes Indiz für einen Einschnitt in einem plötz­ lichen Wandel finden, der die Gesamtheit der Gegenstände, der Begriffe, der Theorien betrifft, die zu einem bestimmten Zeit­ punkt auftreten. (Auf diese Weise kann man in groben Umrissen sagen, dass die Gegenstände, die Begriffe, die medizinischen Theorien von Hippokrates bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Anhaltspunkte für relativ schwache Veränderungen geliefert hat­ ten. Wenn Sie umgekehrt Boissiers de Sauvage und Bichat neh­ men, dann sehen Sie, dass in vierzig, in fünfundvierzig Jahren sich alles verändert hat, und zwar viel mehr als in mehreren Jahrhun­ derten davor.) Man kann ein weiteres Indiz für einen Einschnitt in einem genau entgegengesetzten Phänomen erkennen: der Wieder­ kehr und der Wiederholung; plötzlich ahmt ein Wissensstand gleichsam einen früheren Stand nach. Es handelt sich hier um Zeichen eines Einschnitts, die als erste Hinweise dienen können.

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Aber das letzte Ziel der Analyse besteht für mich nicht darin, zu sagen, ob es einen Einschnitt gibt; es besteht darin, sich ausgehend von diesen eigenartigen Phänomenen - seien es plötzliche Verän­ derungen, seien es Überschneidungen - zu fragen, auf welchem Niveau diese Transformation angesiedelt ist, die sie möglich machte. Die Analyse soll letztlich nicht einen Einschnitt festlegen und endlos verehren; sie muss eine Transformation beschreiben. Mir scheint, dass es eine Transformation Cuvier gibt und dass sie notwendig war, um von dem für die klassische Epoche charak­ teristischen Wissensstand (ich habe versucht, ihn abstrakt durch das Schema der Schwellen zu definieren) zu dem anderen Wis­ sensstand zu gelangen, den man bei Darwin findet. Dieser Über­ gang impliziert in der Tat eine Homogenisierung aller supraindi­ viduellen Kategorien, von der Varietät bis zur Ordnung, zur Klasse, zur Familie (man findet diese Homogenisierung bei Cu­ vier durchgeführt mit Ausnahme der Varietät); sie implizierte auch, dass das Individuum auf der Ebene seiner anatomisch-phy­ siologischen Strukturen und seiner internen Existenzbedingungen Träger dessen ist, was es zu seiner Art, zu seiner Gattung, zu seiner Familie gehören lässt (genau so jedoch versteht Cuvier die Art, die Gattung usw. auf diese Weise). Um vom Stand Linné zum Stand Darwin des biologischen Wissens zu gelangen, war die Transformation Cuvier notwendig. M.-D. Grmek: Diejenigen, die eine »historiographische« Wis­ senschaftsgeschichte betreiben, habm den Drang, sie an einer »epistemologischen« Wissenschaftsgeschichtsschreibung festiumachen. Zwischen beiden Formen historischer Darstellung muss eine Verbindung existieren. Sie haben die Frage beiseite gelassen, die den Historiographen am meisten berührt: wenn sich die Lö­ sung eines Problems verändert, so muss man präzisieren, worin diese Veränderung besteht, wann und wodurch sie erfolgt. Ist Cuvier im untersuchten Fall der Ausgangspunkt? Für mich ist er es nicht. M. Foucault: Das vorgeschlagene Schema soll nicht dazu die­ nen, innerhalb einer internen und unüberschreitbaren Existenzbe­ dingung all die Begriffe oder die Theorien zu umfassen, die wäh­ rend dieser Epoche formuliert werden konnten; zwischen Linné und Jussieu beispielsweise besteht eine Differenz der Methoden, der Begriffe und beinahe der Theorien, die zumindest ebenso groß

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ist wie die Differenz zwischen Jussieu und Cuvier. Übrigens sagt Cuvier unablässig, dass derjenige, der am meisten Entdeckungen gemacht habe, Jussieu war. Auf der Ebene der begrifflichen oder theoretischen Abstände ist Jussieu näher bei Cuvier als bei Linné. Die Theorie- oder Begriffsgeschichte könnte Verbindungen und Distanzen ermitteln und Jussieu direkt in die Nähe Cuviers stel­ len. Aber dies war nicht mein Problem. Es besteht darin, zu sehen, wie sie formiert wurden, von wo aus und gemäß welchen Bil­ dungsregeln. Man gelangt zu paradoxalen Ergebnissen: man kann wechselseitig analoge Begriffe, isomorphe Theorien besitzen, die gleichwohl verschiedenen Systemen, verschiedenen Formations­ regeln gehorchen. Mir scheint, dass die Taxonomie von Jussieu nach demselben Schema gebildet ist wie die von Linné, obgleich und gerade weil er versucht, ihn zu überwinden. Umgekehrt scheint mir die Biologie Cuviers anderen Formationsregeln zu gehorchen. Eine begriffliche Kontinuität oder ein theoretischer Isomorphismus kann einen archäologischen Einschnitt auf der Ebene der Formationsregeln der Objekte, der Begriffe und der Theorien vollständig verdecken. M.-D. Grmek: In der Geschichte der Biologie repräsentierte Cuvier also eine Transformation, keine Revolution. M. Foucault: Ich war bei diesem Thema stets sparsam mit dem Gebrauch des Wortes Revolution. Ich zog das Wort Transforma­ tion vor. Man stößt überdies auf ein wichtiges methodologisches Prob­ lem: das der Attribution. Dieses Problem stellt sich nicht auf allen Ebenen in derselben Weise. Gesetzt, man verstünde als Doxologie die Untersuchung der Meinungen eines oder mehrerer Individuen: das Individuum ist nunmehr als eine Invariante gefasst; die Frage ist jetzt die, ob man ihm einen derartigen Gedanken, eine derartige Formulie­ rung, einen derartigen Text definitiv zuschreiben kann. Problem der Authentizität. Der Hauptfehler besteht nun darin, ihm das zuzuschreiben, was ihm nicht zugehört, oder im Gegenteil einen Teil dessen, was es sagte, glaubte oder behauptete im Dunkeln zu lassen. Man stellt sich nicht die Frage (zumindest nicht in erster Linie), was ein Individuum ist, sondern die, was ihm zugeschrie­ ben werden kann.

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Wenn man eine epistemologische Analyse eines Begriffs oder einer Theorie vornimmt, so ist es sehr wahrscheinlich, dass man es mit einem meta-individuellen Phänomen zu tun hat; und gleich­ zeitig handelt es sich um ein Phänomen, das den Bereich durch­ dringt und durchschneidet, den man einem Individuum zuschrei­ ben kann. Man wird veranlasst, im Werk eines Autors die Texte beiseite zu lassen, die nicht hineinpassen (die Jugendwerke, die persönlichen Schriften, die Auffassungen, die einen Augenblick lang vertreten, dann aber aufgegeben wurden). Was bezeichnet demnach den Autor? Welchen Gebrauch macht man genau von seinem Eigennamen? Was bezeichnet man, wenn man unter die­ sen Bedingungen »Darwin« oder »Cuvier« sagt? Wenn es sich jedoch darum handelt, die diskursiven Netze zu untersuchen oder die epistemologischen Felder, die eine (simul­ tane oder sukzessive) Pluralität von Begriffen und Theorien um­ fassen, dann ist evident, dass die Zuschreibung an ein Individuum praktisch unmöglich wird. Ebenso kann die Analyse dieser Trans­ formationen nur schwer auf ein präzises Individuum bezogen werden. Und zwar deshalb, weil die Transformation sich im All­ gemeinen durch die Werke verschiedener Individuen vollzieht und nicht so etwas ist wie eine Entdeckung, eine Behauptung, ein klar formulierter Gedanke, der innerhalb eines Werks explizit gegeben wäre, vielmehr wird die Transformation von dem konsta­ tiert, der nach ihr sucht als etwas, was sich innerhalb verschiede­ ner Texte vollzog. So dass die Beschreibung, die ich zu unterneh­ men versuche, eigentlich ohne jede Referenz auf eine Individualität erfolgen oder aber das Problem des Autors grund­ sätzlich wieder aufnehmen müsste. Ich muss gestehen, dass ich mich unbehaglich fühlte (und dieses Unbehagen konnte ich nicht überwinden), als ich in Les Mots et les Choses Namen voranstellte. Ich sagte »Cuvier«, »Bopp«, »Ri­ cardo«, während ich damit in Wahrheit versuchte, Namen zu be­ nutzen nicht um die Totalität eines Werks zu bezeichnen, die einer bestimmten Abgrenzung entspräche, sondern um eine bestimmte Transformation zu bezeichnen, die in einer bestimmten Epoche stattfindet und die man in diesem Moment und im Besonderen in diesen Texten am Werk sehen kann. Der Gebrauch, den ich in Les Mots et les Choses vom Eigennamen machte, muss verändert wer­ den, und man dürfte Ricardo oder Bopp nicht als den Namen

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begreifen, der es gestattet, eine bestimmte Anzahl von Werken, einen bestimmten Komplex von Meinungen zu klassifizieren, sondern als das Siegel einer Transformation, und man müsste von »Ricardo-Transformation« so sprechen wie man »RamsayEffekt« sagt. Diese »Ricardo-Transformation«, die Sie bei Ricardo finden, finden Sie ebenso gut früher oder später auch woanders, dies hat keine Bedeutung. Denn mein Problem besteht darin, die Transformation zu ermitteln. Anders gesagt, der Autor existiert nicht. J.-E Leroy: Aus der Perspektive der Geschichte ist der Name ein wenig hinderlich. M. Foucault: Ich erkenne das gerne an. Und ich glaube, dass man genau so, wie sich die Logiker und Linguisten das Problem des Eigennamens stellen, in Bezug auf die Geschichte der Wissen­ schaften und der Epistemologie versuchen müsste, über die Ver­ wendung von Eigennamen nachzudenken. Was will man sagen, wenn man von Cuvier, Newton spricht? Letztlich ist das nicht klar. Sogar in der Literaturgeschichte wäre eine Theorie des Ei­ gennamens zu formulieren. E Dagognet: Das Wort der »Bedingungen der Möglichkeit«, auf das Sie sich beziehen, hat eine »theoretische« Bedeutung. Aber kann es nicht eine materiellere Bedeutung, einen materielleren Inhalt erhalten? Was veranlasst einen plötzlich, Tiere zu registrieren und zu klassifizieren? Dies dient keineswegs dazu, sie in ihrer Verschie­ denheit zu erfassen oder um sie zu repräsentieren. Es ist weder eine Frage der Ordnung noch der Zerstreuung oder der Theorie. Stumme politisch-ökonomische Zwänge sind wirksam. Die ge­ samte Werkstatt und über sie das Leben der Nation ist im 18. Jahr­ hundert von ihnen, den Pflanzen und Tieren abhängig. Man ver­ sucht, bestimmten Zwängen zu entkommen. Man ist rasch imstande, die »Ähnlichen« durch andere zu ersetzen, die eventuell verwandt sind und sich für die gleiche »Nutzung« oder denselben Gebrauch eignen. Eine vorteilhafte Substitution. Sie ist es, die zur Untersuchung der Ähnlichkeiten und zur Erzeugung von Familien begeistert und drängt. Man hat tatsächlich das viel versprechende Axiom entdeckt, wonach ein »Individuum« Linné und Jussieu zufolge nicht in eine Kategorie eingereiht werden kann (dessen charakteristisches Merkmal es trägt, das eine unmittelbare Identi­

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fikation autorisiert), wenn es nicht all deren fundamentale Quali­ täten besitzt. Und wenn man diese nicht entdeckt, dann deshalb, weil man nicht genug danach gesucht hat oder weil man sie nicht ausdrücken konnte. Was man erneut untersuchen sollte. So ist diese Pflanze eine Leguminose: unter diesen Bedingungen muss man lernen, sich ihrer zu bedienen. Sie muss auf die eine oder andere Weise nähren. Daher muss man ihre Produktion ent­ wickeln. Dadurch könnte man ruinöse Importe oder kostspielige Wir­ kungen vermeiden. Kurz, die Möglichkeitsbedingungen, die Agenten der Transformation, verweisen auf nationale und indust­ rielle Erfordernisse, eher auf wirkliche Situationen als auf theo­ retische Bestrebungen oder die Erforschung von Dokumenten und Schriften. Die Veränderungen der Eintragungen oder Neu­ anordnungen antworten auf Notwendigkeiten, die oftmals tech­ nologischer oder agronomischer Natur sind, auf die Kontingenz oder die Notwendigkeit der Dinge. M. Foucault: Wenn Sie von materiellen, sozialen, ökonomi­ schen, technischen Möglichkeitsbedingungen sprechen, so glaube ich nicht, sie ignoriert zu haben. Mir ist es in zwei Fällen - in Bezug auf die Psychiatrie und die klinische Medizin - gelungen, zu untersuchen, welches die Bedingungen der Konstitution und der Transformation beider Wissensordnungen waren. Zu behaup­ ten, dass ich mich mit Worten statt mit den Dingen beschäftige, heißt leichtfertig daherzureden. C. Salomon: Ist es legitim, in Bezug auf Cuvier den Terminus Biologie zu verwenden, soweit sich die Biologie für etwas inte­ ressiert, was dem Kork, dem Elefanten und dem Menschen ge­ meinsam ist? M. Foucault: Die Formulierung ist hübsch. Vielleicht weil ich beim Zuhören Vergnügen empfand, habe ich den Punkt der Frage schlecht verstanden. C. Salomon: ... Sie sprechen von der »Biologie« Cuviers. Wer von »Biologie« spricht, hält den Bruch mit der klassischen Taxo­ nomie (der Klassifikation der Lebewesen) und den Übergang zu einer Physiologie für abgeschlossen, die sich mit dem Leben be­ schäftigt, einem Element, das dem Kork, dem Elefanten und dem Menschen gemeinsam ist, und das nunmehr Objekt der Zellphy­ siologie oder der Mikrobiologie ist.

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Für Cuvier handelt es sich um Ähnlichkeiten der Beziehungen, nicht um einen gemeinsamen Gegenstand. Es sind Korrelationen, die Gegenstand der Taxonomie sind, nicht die lebendige Einheit: dies bedeutet, dass es bei Cuvier nur Lebewesen gibt, noch nicht das Leben, mithin kann man eigentlich nicht von einer »Cuvier’sehen Biologie« sprechen. M. Foucault: Wir kommen hier zu den Existenzbedingungen. B. Balan: Die philosophischen Implikationen des Prinzips der Korrelation: wenn dieses Prinzip Finalität impliziert, ist es dann nicht doch gar kein Prinzip, von dem her sich das Konzept der Finalität auflöst? M. Foucault: Einverstanden. Die Determinationen, die Bezie­ hungen, die ich zwischen den Theorien, den Begriffen usw. und ihren Formationssystemen zu errichten versuche, verhindern nicht, ganz im Gegenteil, dass ein Begriff und eine Theorie aus diesem System herausgelöst werden können. Der Begriff der Or­ ganisation, der innerhalb der klassischen Taxonomie gebildet wur­ de, da er im Wesentlichen im Umkreis von Daubenton und Jussieu seine Bedeutung gewann, wurde durch die Biologie wieder ver­ wendet. Mir scheint, dass innerhalb dieses Komplexes von Analysen und Forschungen, die im Wesentlichen auf Klassen, Verwandtschaften und Ähnlichkeiten der Lebewesen zielten, letztlich das Wachstum das Lebewesen im Kern charakterisierte. Was lebt, ist das, was wächst und was in unterschiedliche Richtungen wachsen kann. 1. Wachsen der Größe nach. Das Lebende ist dasjenige, das fähig ist, seine Gestalt zu vergrößern. Dieses Thema war ziemlich wichtig, da man in der Naturgeschichte lange Zeit angenommen hatte, dass die Mineralien wachsen würden und daher Lebewesen wären. 2. Wachsemgemäß der Variable der Anzahl. Dieses Wachstum gemäß der Variable der Zahl ist die Reproduktion. Es ist interes­ sant festzustellen, dass man lange Zeit glaubte, dass die Reproduk­ tion durch Ableger oder durch Sexualität auf jeden Fall ein Wachstumsphänomen sei. Man sprach der Sexualität in ihrer phy­ siologischen Funktion keine wirkliche Unabhängigkeit zu. Sich zu reproduzieren hieß, sich auszudehnen, aber nicht mehr inner­ halb des individuellen Rahmens und nicht mehr durch einfaches Größenwachstum. Sich zu reproduzieren hieß, sich über seine



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eigene Gestalt hinaus zu vergrößern durch die Hervorbringung neuer Individuen. »Wachset und mehret Euch.« 3. Das Wachstum innerhalb der Ordnung der Lebewesen zeigt sich in einer dritten Dimension, die nicht mehr Wachstum des Individuums noch auch der Generation, sondern diesmal der Ge­ samtheit der Arten ist. Wachstum vollzieht sich als Wachstum der Komplexität. Wachstum der Form, die immer komplexer wird. Anders gesagt, das Lebewesen ist dasjenige, was gemäß der Variablen der Größe, der Variablen der Zahl und der Variabilität der Form wächst, das heißt gemäß den drei Variablen, die gerade dazu dienen, die Individuen zu klassifizieren, die Arten zu cha­ rakterisieren und die Gattungen zu ermitteln. Man kann bei den Naturforschern der klassischen Epoche sogar eine vierte Variable des Wachstums erkennen; es ist die der Posi­ tion im Raum. In dem Maße, in dem die Individuen sich fort­ pflanzen und sich die Revolutionen des Globus vollziehen, wächst das Durcheinander der Arten; Individuen, die sehr verschiedenen und einstmals getrennten Gruppen angehören, mischen sich und geben Hybridisierungen Raum, denen Linné am Ende seines Lebens so große Bedeutung zusprach; auf diese Weise können einander wechselseitig entsprechende Typen entstehen usw. Nun kann man sehen, dass diese vier Variablen, entsprechend denen - der Naturgeschichte zufolge - die Individuen und Arten wachsen, zugleich die vier Variablen sind, gemäß denen man sie charakterisieren und klassifizieren kann. All dies macht aus der Naturgeschichte ein solides und kohärentes Gebäude. Dies impli­ ziert: a) dass sich das Leben damals nicht durch seine Beziehung zum Tod definiert, sondern durch seine Möglichkeit der Ausdehnung. Das Leben ist das, was fortbesteht und sich fortsetzt; b) dass diese Kontinuität nicht einfach räumlich ist, sondern zeitlich; c) dass die Sexualität nicht in ihrer Spezifität begriffen wird, sondern als Wachstumsphänomen; d) dass die Naturgeschichte als epistemologisches Hauptprob­ lem auf das Problem der Kontinuität-Vergrößerung trifft, das zu­ gleich eines der Probleme der Physik und der Mechanik ist. Die Biologie ist seit dem 19. Jahrhundert durch eine Anzahl wesentlicher Veränderungen gekennzeichnet.

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1. Das Individuum ist nicht mehr so sehr durch die Möglich­ keit des Wachstums innerhalb einer gegebenen Form definiert, sondern als Form, die sich nur unter strengen Bedingungen er­ halten kann und deren Auflösung nicht nur Verschwinden ist, sondern Tod (gemäß einem Prozess, der selbst biologischer Natur ist). 2. Die Sexualität tritt als autonome biologische Funktion in Erscheinung. Bis dahin war die Sexualität eher als eine Art von zusätzlichem Apparat betrachtet worden, dank dessen das Indivi­ duum, sobald es ein bestimmtes Stadium erreicht hatte, zu einem anderen Modus des Wachstums überging: nicht mehr Größen­ wachstum, sondern Vermehrung. Die Sexualität war eine Art Wachstumsumschalter. Seit dem 19. Jahrhundert untersucht man, welche spezifische Beziehung sie zum Wachstum unterhal­ ten kann. Eine Forschung, die auf der einen Seite zur Entdeckung der Gametenverschmelzung und der Chromosomenreduktion führt (in einer bestimmten Hinsicht das Gegenteil von Wachstum) und auf der anderen zu der von Nussbaum und Weissmann ent­ wickelten Idee, dass das Individuum selbst nichts anderes ist als eine Art von Auswuchs aus der Kontinuität der Keimlinien. Statt dass die Sexualität auf dem Höhepunkt des Individuums als der Moment auftritt, an dem sein Wachstum zur Vermehrung wird, wird sie zu einer im Vergleich zur Episode, die das Individuum selbst darstellt, grundlegenderen Funktion. 3. Zugleich tritt das Thema einer Geschichte auf, die nicht mehr an die Kontinuität gebunden ist: von dem Moment an, in dem sich ein Leben, das nicht sterben will, und ein Tod, der das Leben bedroht, innerhalb der Zeit gegenüberstehen, tritt Diskon­ tinuität auf. Diskontinuität der Bedingungen dieses Kampfes, sei­ nes Ausgangs, seiner Phasen. Dies ist das Prinzip der anatomischphysiologischfen Bedingungen; dies ist das Thema der Transforma­ tionen und Mutationen. Die Tatsache, dass man im Denken des 19. Jahrhunderts die Themen des Todes, der Sexualität und der Geschichte auftreten sieht, scheint mir die philosophische Bestätigung der Transforma­ tion zu sein, die sich im Feld der Wissenschaften vom Leben voll­ zog. Diese drei Begriffe: Tod, Sexualität, Geschichte, die im 17. und 18. Jahrhundert schwache, abgeleitete, sekundäre Begriffe waren, brechen im 19. Jahrhundert als höhere, autonome Begriffe

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in das Feld des Denkens ein und provozieren im Bereich der Philosophie eine bestimmte Anzahl von »Reaktionen« im starken Sinne des Begriffs, d. h. im Nietzsche'schen Sinne. Und das Prob­ lem der gesamten Philosophie bestand im 19. und 20. Jahrhundert darin, die damit aufkommenden Begriffe einzuholen. Und auf den Einbruch des Begriffs des Todes hat die Philosophie mit der Über­ setzung reagiert, dass es schließlich normal sei, dass der Tod und das Leben im Widerstreit lägen, da der Tod die Erfüllung des Lebens sei, da das Leben im Tod seinen Sinn gewinne und der Tod das Leben in Schicksal verwandle. Auf das Thema der Sexua­ lität als autonomer Funktion im Verhältnis zum Individuum oder zum individuellen Wachstum reagierte die Philosophie mit der Übersetzung, dass die Sexualität in Wirklichkeit nicht so unab­ hängig sei vom Individuum, da das Individuum durch die Sexua­ lität sich in gewisser Weise selbst entwickeln, über sich selbst hin­ ausgehen, durch die Liebe mit anderen und durch seine Nachkommenschaft mit der Zeit in Verbindung treten könne. Was die Geschichte anlangt und die mit ihr verknüpfte Diskonti­ nuität, so ist es überflüssig, zu sagen, wie und auf welche Weise der Gebrauch einer bestimmten Form von Dialektik hierauf rea­ giert hat, um ihr die Einheit eines Sinns zu verleihen und um hierin die fundamentale Einheit eines freien Bewusstseins und seines Entwurfs wieder zu finden. Als humanistische Philosophie bezeichne ich jede Philosophie, die behauptet, dass der Tod der letzte und höchste Sinn des Le­ bens ist. Als humanistische Philosophie jede Philosophie, die denkt, dass die Sexualität dazu bestimmt ist, zu lieben und sich fortzupflan­ zen. Als humanistische Philosophie jede Philosophie, die glaubt, dass die Geschichte an die Kontinuität des Bewusstseins gebunden ist. M.-D. Grmek: Ich bewundere das philosophisch-historische Tableau, das sie soeben vom großen Thema des Lebens entworfen haben, stoße mich jedoch an der Tatsache, dass - von Aristoteles bis ins 19. Jahrhundert hinein - die von den einflussreichsten Ge­ lehrten formulierten Definitionen des Lebens weder das Wachs­ tum noch die Sexualität berücksichtigen, sondern sich auf andere Charakteristika beziehen, die als das quid proprium des Lebens­ phänomens betrachtet werden.

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M. Foucault: Ich stelle mich nicht auf die Ebene der Theorien oder der Begriffe, sondern der Art und Weise, in der der wissen­ schaftliche Diskurs praktiziert wird. Beobachten Sie, wie man tat­ sächlich das Lebende von dem unterscheidet, das nicht lebt. Be­ obachten Sie, was man im Lebenden analysiert, was man aus dem Lebenden herausgreift, um daraus ein Problem der Naturge­ schichte zu machen: es handelt sich stets um Wachstum. J.-F. Leroy: Im 17. und 18. Jahrhundert ist es das Wachstum, das grundlegend ist und es gestattet, zum Begriff der Biologie zu ge­ langen, d. h. das Wachstum in der Form des Größenwachstums, der Vermehrung, der Differenzierung. Dies wird sich sehr lange fortsetzen, denn es findet sich in der Theorie der Pangenese bei Darwin wieder. Wir finden sie schon bei Buffon, und während des ganzen 18. Jahrhunderts versucht man die Evolution zu erklären durch die Ernährung und durch Größenzunahme. Man vergleicht die Evolution der Arten mit der Evolution der Individuen. Es besteht kein Zweifel, dass es sich um das handelt, was ich die historische Perspektive der Biologie vor dem 18. Jahrhundert nenne. Der Vortrag von M. Foucault war sehr erhellend. Ich konnte mir nicht erklären, warum er von der Biologie Cuviers ausging. Jetzt verstehe ich, dass er dem Wort Biologie einen bestimmten Sinn gibt, den wir als Biologen weiter fassen. Für uns ist die Biologie etwas Breiteres, und dieser erste Teil der Biologie, in deren Verlauf es um den Übergang geht, ist immer noch Teil der Biologie. Damit definiert sich die Biologie in einem bestimm­ ten Sinne im 18. Jahrhundert, und in der Botanik beispielsweise wird die Frage der Sexualität seit dem Ende des 17. Jahrhunderts wichtig. S. Delorme: Ich danke dem Institut für Wissenschaftsgeschichte dafür, dass es uns gestattete, uns zu versammeln, um die Philo­ sophie Cuviers besser zu verstehen... aber auch und vor allem die Philosophie M. Foucaults. G. Canguilhem: Die Forscher und die Lehrenden des Instituts für Wissenschaftsgeschichte danken natürlich allen Zuhörern, den einheimischen und den illustren Besuchern, die auf unsere Ein­ ladung reagierten, und bedauern, dass uns andere berühmte Be­ sucher fehlten, wie die Herren Jacob und Vuillemin vom Collège de France, die wir hier zu sehen hofften und die sich mit triftigem

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Grund entschuldigt haben. Ich möchte den Rednern danken. Und damit meine Dankesbekundungen nicht den Eindruck des Dis­ kurses einer Preisverleihung machen, werde ich ihnen danken in der Reihenfolge zunehmender Entfernung, die sie überwinden mussten, um zu uns zu gelangen: Michel Foucault aus Vincennes, François Dagognet aus Lyon, Francis Courtès aus Montpellier und Camille Limoges aus Montreal. Gestatten Sie mir einen letzten Gedanken an den, in dessen Namen wir uns versammelt haben, um den Herren Foucault, Dagognet, Courtès, Limoges zuzuhören, d. h. an den Menschen, der am 23. August 1769 als »Schild« den Namen seines Vaters erhielt, d. h. Cuvier. Übersetzt von Hermann Kocyba

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D ie Falle von Vincennes »Le piège de Vincennes« (Gespräch mit P. Loriot), in: Le Nouvel Observateur,, Nr. 274, 9.-15. Februar 1970, S. 33-35. Im Januar 1970 informierte Erziehungsminister Olivier Guichard den Präsidenten der Fakultät in Vincennes, Cabot, über seine Absicht, den Absolventen der philosophischen Abteilung in Vincennes keine Lehrbe­ fugnis für das Gymnasium zu erteilen. Im Radio Luxemburg rechtfertigte der Minister sein Vorhaben mit dem Hinweis, die philosophische Aus­ bildung in Vincennes sei zu »speziell«. Zum Beleg für die Zuhörer las er die Titel einiger Vorlesungen über Marxismus und Politikwissenschaft vor. Diese Erklärungen führten zu der erwartbaren Unruhe. Michel Fou­ cault war zu dieser Zeit verantwortlich für die philosophische Abteilung in Vincennes.

Betrachten wir kurz die Elemente der Diskussion. Man müsste einwenden: Wie soll man eine gute, vielseitige Ausbildung ge­ währleisten, wenn neunhundertfünfzig Studenten auf acht Do­ zenten kommen? Man müsste auch einwenden: Ein Teil der Stu­ denten in Vincennes hat sechs Monate studiert, ein Teil schon achtzehn Monate; und nun sagt man ihnen plötzlich, was ihr bisher gemacht habt, ist umsonst gewesen, ihr müsst anderswo

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noch einmal von vorn anfangen. Man müsste weiter einwenden: Will man ein paar hundert arbeitslose Intellektuelle produzieren, obwohl die Arbeitslosenstatistik schon jetzt bedrohlich ist? Und schließlich könnte ich noch hinzufügen: Möge man uns doch klar und eindeutig sagen, was Philosophie ist und auf welcher Grund­ lage - aufgrund welchen Textes, welchen Kriteriums, welcher Wahrheit - man ablehnt, was wir hier tun. Aber ich denke, wir sollten auf den wesentlichen Punkt kom­ men; und wesentlich an den Äußerungen eines Ministers sind nicht die vorgetragenen Gründe, wesentlich ist die beabsichtigte Entscheidung. Diese Entscheidung ist klar: Studenten, die ihr Phi­ losophiestudium in Vincennes absolvieren, sollen keine Lehrbe­ fugnis für das Gymnasium erhalten. Ich frage nun meinerseits: Warum dieser cordon sanitaire? Was ist so kostbar und zerbrechlich an der Philosophie (und insbeson­ dere am philosophischen Schulunterricht), das solchen Schutz er­ forderlich machte? Und was ist an den Absolventen von Vincen­ nes so gefährlich? - Was werfen Sie der Philosophieausbildung und vor allem dem philosophischen Schulunterricht vor? - Ich träume von einem chinesischen Borges, der zur Belusti­ gung seiner Leser aus dem Lehrplan für den Philosophieunter­ richt an französischen Schulen zitiert: »Gewohnheit; Zeit; spe­ zielle Probleme der Biologie; Wahrheit; Maschinen; Materie; Leben; Geist; Gott - alles in einem Atemzug und auf derselben Ebene -; Neigung und Verlangen; Notwendigkeit und Ziel der Philosophie.« Allerdings sollten wir uns hüten, darüber zu la­ chen: Dieser Lehrplan ist von intelligenten, gebildeten Leuten zusammengestellt worden. Diese tadellosen Gelehrten haben in zuweilen archaischen, zuweilen verstaubten Worten eine Land­ schaft beschrieben, die uns durchaus vertraut ist und für die wir verantwortlich sind. Aber vor allem ist das Wesentliche erhalten geblieben, nämlich die Funktion des Philosophieunterrichts. Und diese Funktion liegt meines Erachtens in der Stellung des Philo­ sophieunterrichts. In seiner privilegierten Stellung, denn der Phi­ losophieunterricht bildet, wie man sagt, den Abschluss oder die »Krönung« des gymnasialen Unterrichts. Auch in seiner bedroh-

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ten Stellung, denn seit hundert Jahren wird seine Existenz immer wieder infrage gestellt, und regelmäßig fordert man seine Ab­ schaffung. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es eine ausgedehnte Diskus­ sion darüber, die man einmal nachlesen sollte. Einer der heftigsten Gegner des gymnasialen Philosophieunterrichts warf ihm vor, ganze Banden von »Anarchisten« in die Welt zu setzen. Schon damals. Das war Maurice Pujo, einer der Gründer der Action française. Ein zerbrechliches Königreich ist der Philosophieunter­ richt, eine Krone, die ständiger Kritik ausgesetzt ist und jederzeit stürzen kann. Seit gut hundert Jahren überlebt er trotz seiner ge­ fährdeten Stellung. Denn die Philosophie soll den Schülern, die in den Genuss des Philosophieunterrichts gekommen sind, das Bewusstsein verlei­ hen, dass sie nun das Recht auf eine Gesamtschau der Dinge ha­ ben. Der Lehrer sagt seinen Schülern: »Ich werde Ihnen nichts beibringen. Die Philosophie ist kein Wissen, sie ist Reflexion, eine bestimmte Art der Reflexion, die es gestattet und dazu zwingt, alles infrage zu stellen. In den letzten fünf oder sechs Jahren haben Sie gelernt, an die Schönheit der Iphigenie, an die Meiose der Geschlechtszellen, an den ökonomischen Take-off im bürgerli­ chen England zu glauben. Nun dürfen Sie dieses ganze Wissen einer neuerlichen Prüfung unterziehen - nicht im Blick auf seine Exaktheit, sondern hinsichtlich seiner Grenzen, seiner Grundla­ gen, seiner Ursprünge. Und was Sie demnächst lernen, wenn Sie sich auf den Beruf des Arztes, des Marketingleiters oder des Che­ mikers vorbereiten, werden Sie derselben Prüfung unterziehen müssen. Sie sind auf dem Weg, mündige Bürger in der Republik des Wissens zu werden; nun ist es an Ihnen, die zugehörigen Rechte wahrzunehmen. Aber unter einer Bedingung: Sie müssen sich der Reflexion bedienen und ausschließlich der Reflexion. Re­ flexion ist gesunder Menschenverstand in leicht verbesserter Form, ist ein Urteilsvermögen, das unparteiisch das Für und Wi­ der anzuhören weiß, ist Freiheit. Freiheit und Urteilskraft werden die Form unseres Diskurses bestimmen. Und natürlich auch den Inhalt: Mein Kollege, der um die sechzig ist, wird die Urteilskraft in den Vordergrund stellen und sich eher auf Alain stützen. Ich dagegen werde vor allem über Freiheit sprechen - und über Sartre, denn ich bin Mitte vierzig. Aber weder Sie noch Ihre Mitschüler

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werden dadurch einen Schaden erleiden. Alain und Sartre, das ist Gedanke gewordener Philosophieunterricht.« Diese Ansprache ist nicht vergebens. Aber von draußen erwi­ dert ein anderer: »Die Philosophielehrer sind immer nutzlose und zuweilen gefährliche Schwätzer. Sie sprechen über Dinge, die sie nichts angehen; sie nehmen sich das Recht heraus, alles zu kriti­ sieren - die Erkenntnis, die sie nicht haben, und die Gesellschaft, die sie ernährt. Es ist höchste Zeit, dass die Schüler nicht länger ihre Zeit verschwenden. Schaffen wir diesen Unsinn endlich ab.« Wir sollten diese Gefahr nicht unterschätzen; sie ist da. Aber sie war schon immer da. Sie gehört zu den Existenzbedingungen des Philosophieunterrichts in Frankreich. Sie ist der Gendarm, ohne den die Intrige gar keine wäre; weil es sie gibt, ist der Vorhang noch nicht gefallen. Das Spiel scheint mir folgendermaßen abzu­ laufen: Den Schülern der Grundschule gibt die Gesellschaft eine Grundausbildung (Lesen und Schreiben); denen der Fachschulen vermittelt sie ein spezielles und zugleich nützliches Wissen; und denen des Gymnasiums schließlich, die in der Regel studieren sollen, vermittelt sie ein allgemeines Wissen (die Literatur, die Naturwissenschaft), aber zugleich auch die allgemeine Form des Denkens, die es gestattet, jegliches Wissen, jegliche Technik und sogar die Wurzeln der Ausbildung zu beurteilen. Sie gibt ihnen das Recht und die Pflicht zur »Reflexion«, zum Gebrauch ihrer Freiheit, doch nur auf der Ebene des Denkens; das Recht und die Pflicht zur Ausübung ihres Urteilsvermögens, doch nur auf der Ebene freien Prüfens. Der Philosophieunterricht ist das laizisti­ sche Äquivalent des Luthertums, die Gegen-Gegenreformation: die Wiedereinsetzung des Edikts von Nantes. Wie die Bourgeoi­ sien anderer Länder, so brauchte auch das französische Bürgertum diese Art von Freiheit. Nachdem es sie im 16. Jahrhundert ver­ loren hatte, gewann es sie im 18. zurück und institutionalisierte sie während des 19. Jahrhunderts im Bildungswesen. Der Philoso­ phieunterricht ist das Luthertum eines katholischen, aber antikle­ rikalen Landes. Die angelsächsischen Länder brauchen ihn nicht und verzichten darauf. - Auch in Frankreich verzichtet man in gewisser Weise darauf, denn nur vergleichsweise wenige junge Franzosen erhalten Philo­ sophieunterricht.

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- Sie haben Recht: Für die Bourgeoisie handelt es sich um ein Lu­ thertum für den internen Gebrauch. Im 19. Jahrhundert war sie gezwungen, das allgemeine Wahlrecht zu gewähren. Im Unter­ schied zum Protestantismus vermochte jedoch das katholische Be­ wusstsein nicht zugleich die Bourgeoisie zu unterstützen (die gegen den Willen der Kirche an die Macht gelangt war) und die Kontrolle über diese Freiheit zu gewährleisten. Daher blieb nur das Bildungs­ wesen. Das staatliche Bildungswesen. Das Gymnasium, das in der Philosophie zu seiner Blüte fand, sicherte die Bildung einer Elite, die das allgemeine Wahlrecht kompensieren, seinen Gebrauch len­ ken und seinen Missbrauch in Grenzen halten sollte. Es ging darum, statt des nicht vorhandenen Luthertums ein politisch-moralisches Bewusstsein zu schaffen. Eine Nationalgarde des Bewusstseins. - Das alles gilt vielleicht für die erste Hälfte des Jahrhunderts. Aber gilt es auch heute noch? - Es stimmt, die Dinge sind im Wandel begriffen. Die Verlänge­ rung der Schulzeit ist eine Tatsache, und eigentlich könnte der Philosophieunterricht auf alle erweitert werden. Aber zugleich sucht man nach Mitteln, die verhindern sollen, dass alle studieren. Der Philosophieunterricht läuft Gefahr, unnütz zu werden (falls er allen zuteil wird) oder gefährlich (falls er das Recht auf eine Gesamtschau jeglicher Erkenntnis verleiht). Seine Abschaffung steht tatsächlich auf der Tagesordnung. - Nach allem, was Sie sagen, würden Sie das wohl nicht sonderlich bedauern. - Doch, doch, in gewisser Hinsicht schon und vielleicht sogar in mehreren Hinsichten. Die Situation ist reichlich kompliziert. Die einen sagen: »Wir müssen den Philosophieunterricht abschaffen; er hat schon genug Schaden angerichtet, und wir müssen uns auf noch weitaus Schlimmeres gefasst machen, wenn erst die neue Generation von Studenten (und insbesondere die aus Vincennes) an die Schulen kommt; darum sollten wir zunächst einmal die Studenten in Vincennes ausschalten; danach können wir Schritt für Schritt zunächst an den Gymnasien und dann an den Hoch­ schulen aufräumen.«

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Andere sagen: »Wir müssen den Philosophieunterricht um je­ den Preis bewahren. Die Vincenner kompromittieren ihn mit ih­ ren Absonderlichkeiten; wenn wir sicher sein können, dass diese sonderbaren Philosophen keinen Zugang zu den Gymnasien er­ halten, werden wir die legitime Tradition des Philosophieunter­ richts leichter verteidigen können.« Mir scheint, wenn wir den Philosophieunterricht in seiner alten Form erhalten wollen, laufen wir in eine Falle. Denn diese Form war mit einer Funktion verbunden, die im Verschwinden begrif­ fen ist. Schon bald wird man sagen: »Weshalb sollen wir zu einer Zeit, da das gesamte Wissen eine Neuordnung erfährt, an einem so veralteten und leeren Unterricht festhalten? Was bedeutet in Zu­ kunft diese universelle kritische Reflexion? Es ist höchste Zeit, sie über Bord zu werfen.« - Aber wirft man Ihnen nicht vor, sie betrieben in Vincennes alles andere als Philosophie? - Ich bin mir gar nicht sicher, dass es Philosophie überhaupt gibt. Es gibt »Philosophen«, also eine bestimmte Gruppe von Men­ schen, deren Tun und Reden sich über die Jahrhunderte beträcht­ lich verändert hat. Typisch für sie ist wie für ihre Nachbarn, die Dichter und die Irren, nicht die Einheit einer Gattung oder die Gleichförmigkeit einer Krankheit, sondern das Trennende, das sie isoliert. Erst vor kurzem hat man sie alle zu Professoren gemacht. Viel­ leicht ist das nur eine Episode, vielleicht ist es aber auch von Dauer. Jedenfalls ist die Integration der Philosophen in die Uni­ versität hier in Frankreich anders erfolgt als in Deutschland. Seit Fichte und Hegel ist der Philosoph dort eng mit dem Staat ver­ bunden; daher* das Gefühl einer tiefgründigen Bestimmung, der Ernst dieser »Beamten der Geschichte«, die Rolle des Wortfüh­ rers, Gesprächspartners oder Schmähers des Staates, die sie von Hegel bis Nietzsche gespielt haben. In Frankreich kam es auf bescheidenere Weise (unmittelbar an den Gymnasien, mittelbar an der Universität) zu einer Verbin­ dung des Philosophielehrers mit dem staatlichen Bildungswesen, dem sozialen Bewusstsein einer sorgfältig bemessenen »Gedan­ kenfreiheit« oder kurz gesagt: mit der fortschreitenden Verwirk­

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lichung des allgemeinen Wahlrechts. Daher das Gehabe eines Len­ kers des Bewusstseins oder eines Wehrdienstverweigerers, die bei ihnen so beliebte Rolle eines Verteidigers der individuellen Frei­ heit und eines Gegners jeglicher Beschränkung für das Denken; daher die Vorliebe für den Journalismus, der Drang, seine Mei­ nung bekannt zu machen, und die Manie, auf Interviews zu ant­ worten ... - Das ist ja gar nicht so schlecht. Die öffentlichen Erklärungen der »Philosophen« hatten einen gewissen Nutzen... - Jedenfalls wird verständlich, dass sie angesichts der ihnen zuge­ wiesenen Rolle eine Philosophie des Bewusstseins, des Urteils, der Freiheit lehren mussten. Es musste eine Philosophie sein, die an den Rechten des Subjekts gegenüber jeglichem Wissen und an der Suprematie des individuellen Bewusstseins gegenüber jeglicher Politik festhielt. Angesichts der jüngeren Entwicklungen haben sich jedoch neue Problemstellungen ergeben. Heute stellt sich nicht mehr die Frage, wo die Grenzen des Wissens liegen (und auf welchen Grundlagen es beruht), sondern wer die Inhaber des Wissens sind. Wie wird Wissen angeeignet und verteilt? Auf wel­ che Weise kann Wissen Bedeutung in einer Gesellschaft erlangen, sich darin entwickeln, Ressourcen mobilisieren und in den Dienst einer Ökonomie gestellt werden? Wie entsteht Wissen in einer Gesellschaft, und wie verwandelt es sich? Daraus ergeben sich zwei Fragengruppen; die eine ist eher theoretisch und betrifft das Verhältnis zwischen Wissen und Politik; die andere ist eher kritisch und gilt dem Bildungswesen (der Universität und dem Gymnasium) als einem scheinbar neutralen Ort, an dem objekti­ ves Wissen angeblich gerecht verteilt wird. Es liegt auf der Hand, dass die traditionelle Funktion des Philosophieunterrichts sich tiefgreifend ändern müsste, wenn solche Fragen dort gestellt wür­ den. Erziehungsminister Guichard gibt vor, die Philosophie gegen eine Invasion von Studenten zu verteidigen, die nicht die nötige Qualifikation für den Philosophieunterricht besitzen. In Wirk­ lichkeit schützt er die alte Funktion des Philosophieunterrichts vor Fragestellungen, die diese Funktion unmöglich machen.

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- Wie ist es dazu gekommen ? Hat man Ihnen bei der Gründung der Universität Vincennes keine Zusagen gemacht? - Man hat uns von Anfang an alle Freiheit gelassen. Natürlich hätten wir versuchen können, uns vor dieser Freiheit zu drücken. Wir hätten zum Beispiel bei jener kleinen Heuchelei Zuflucht nehmen können, die darin besteht, die Unterrichtsformen (Grup­ penunterricht, Mitwirkungsmöglichkeiten der Studenten) zu ver­ ändern, aber an den Lehrinhalten festzuhalten; dann hätten wir weiterhin Plotin oder Hamlin gelehrt, aber mit Lehrmethoden, die den »Reformern« gefallen hätten. Auch eine andere Heuchelei wäre möglich gewesen; wir hätten den Inhalt verändert und Au­ toren wie Nietzsche, Freud oder Marx in den Lehrplan aufgenom­ men, aber die herkömmlichen Formen der Lehre beibehalten (Dissertation, Examen, diverse Kontrollen). Wir haben beides ab­ gelehnt und stattdessén versucht, eine Freiheit zu erproben, die zwar nicht total ist, aber so weit reicht, wie es an einer Universität wie Vincennes möglich erscheint. Im vergangenen Jahr zeigte sich, dass die meisten Studenten direkt aus der Philosophieklasse kamen; sie wussten also sehr genau, was sie sich im Philosophieunterricht gewünscht und was sie dort gebraucht hätten. Sie waren für uns die besten Führer, als es darum ging, Form und Inhalt der von uns zu leistenden philosophischen Ausbildung festzulegen. Und mit ihrem Einver­ ständnis haben wir zwei große Lehrbereiche bestimmt; der eine befasst sich im Wesentlichen mit der politischen Analyse der Ge­ sellschaft, der andere mit der Analyse der Wissenschaft und ein­ zelner Fachgebiete. Diese beiden Bereiche, Politik und Wissen­ schaft, schienen uns, Studenten und Professoren, die aktivsten und fruchtbarsten zu sein. Diese Entscheidung fand damals übrigens nicht nur die Zustim­ mung der Generalversammlung der philosophischen Abteilung, sondern auch die der Universitätsverwaltung und des Erziehungs­ ministeriums. Wenn man uns heute sagt: »Was ihr da lehrt, ent­ spricht nicht unserem Verständnis der Philosophie und eines phi­ losophischen Lehrplans«, dann können wir daraus nur den Schluss ziehen, dass man uns eine Falle gestellt hat, oder zumin­ dest, dass man uns in eine Richtung hat laufen lassen, die, wie man uns heute mitteilt, versperrt ist.



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- Wie wird es Ihrer Meinung nach weitergehen? - Wir haben beschlossen, entschieden dafür zu kämpfen, dass die in Vincennes erworbene licence1als Lehrbefugnis anerkannt wird, so dass die Studenten von Vincennes nicht vom Höheren Lehramt ausgeschlossen sind. - Könnte man da nicht einwenden, der Lehrplan in Vincennes unterscheide sich zu stark von den Lehrplänen anderer philosophi­ scher Fakultäten? - Diesen Unterschied hat es immer gegeben. Man hat uns gesagt: »Euer Lehrplan entspricht nicht dem Lehrplan des Gymnasiums.« Ich erwidere darauf: Es hat schon immer so viele Lehrpläne für die licence gegeben, wie es Universitäten gibt. An jeder Universi­ tät wird der Lehrplan für die licence im Wesentlichen von den Interessen der Professoren oder ihren Spezialgebieten oder ihrer Neugier oder vielleicht auch ihrer Faulheit bestimmt. Daneben gab es einen zweiten Lehrplan, nämlich den der agrégation} Er unterschied sich deutlich vom Lehrplan für die licence. Und beide unterschieden sich wiederum vom Lehrplan für das Abitur. Und hinter alledem standen die Bedürfnisse, Wünsche und Interessen der Gymnasiasten. Zwischen den Studenten für das Höhere Lehr­ amt und den Schülern an den Gymnasien befanden sich also drei Schirme, die von drei verschiedenen Lehrplänen gebildet wurden. - Wenn die licence von Vincennes anerkannt würde, hätten die dortigen Studenten dann ebenso gute Aussichten hei der agréga­ tion wie die übrigen ? - Unbedingt. Der Lehrplan für die agrégation hat in den letzten Jahren eine sehr glückliche Korrektur erfahren, und zwar durch einen Präsidenten des Prüfungsamts, dem dafür großer Dank ge­ bührt.3 Übrigens sind die meisten Hochschullehrer in Vincennes Schüler dieses Präsidenten. Der Streit, den man mit uns sucht, ist ein schlechter Streit. Aber jetzt möchte ich Ihnen eine Frage stel1 [Akademischer Grad, dem Magister artium vergleichbar, A.d.Ü.] 2 [Zulassungsprüfung für das Lehramt an Höheren Schulen, A.d.Ü.] 3 [Es handelt sich um Georges Canguilhem.]

79 Es wird einen Skandal geben, aber. . .

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len. Wissen Sie, von wem dieser Satz stammt: »Durch ihre Ableh­ nung jeglicher Neuerung hat die Universität Paris den Gipfel der Lächerlichkeit und Widerwärtigkeit erreicht.« - Edgar Faure? - Nein, Renan. Übersetzt von Michael Bischoff

79 Es wird einen Skandal geben, aber... »II y aura scandale, mais«, in: Le Nouvel Observateur, Nr. 304, 7.-13. September 1970, S. 40. (Über P. Guyotat, Êden, Éden, Éden> Paris 1970.) Privater Brief an Pierre Guyotat, der in der Hoffnung veröffentlicht wur­ de, ein Verbot des im September bei Gallimard erschienenen Buches Éden, Éden, Éden zu verhindern. Ende des Jahres 1970 griff das Innenministerium häufig willkürlich auf Artikel 14 des zum Schutz der Jugend erlassenen Gesetzes vom 26. Juli 1949 zurück. Wenn ein Verlag dreimal von einem Verbot betroffen war, konnte das Ministerium verlangen, dass ihm sämtliche Bücher ähnlicher Art im Voraus vorgelegt wurden. So hatte das Ministerium die Möglich­ keit, die gesamte Produktion des abgelaufenen Jahres zu prüfen. Dieser politische und wirtschaftliche Druck auf die Verlage verstärkte die N ei­ gung, Bücher durch Vorworte abzusichern. Dies ist einer der Gründe, weshalb M. Foucault ein Vorwort für Batailles Œuvres complètes schrieb. Um dieselbe Zeit wurde auch William Kleins Film über Eldridge Cleaver in Frankreich verboten. Trotz des Vorworts von Michel Leiris, Roland Barthes und Philippe Söllers wurde das Buch am 15. Oktober 1970 als jugendgefährdend ein­ gestuft, und das hieß: kein Verkauf an Jugendliche unter 18 Jahren, keine öffentliche Auslage oder Ausstellung und keine Werbung, wobei Bespre­ chungen als Werbung eingestuft werden konnten. Daraufhin Unterzeich­ neten zahlreiche Intellektuelle eine Petition gegen dieses Verbot. François Mitterand, damals noch Abgeordneter, richtete eine mündliche Anfrage an den Premierminister. Claude Simon zog sich aus der Jury Médicis zurück. Pierre Guyotat war kurz zuvor der Kommunistischen Partei Frankreichs beigetreten, der sich auch Tel quel 1968 angenähert hatte.

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Zu dieser Affäre siehe P. Guyotat, Littérature interdite, Paris 1972; dort ist der Text von M. Foucault wieder abgedruckt. Siehe auch Nr. 82, »Wahnsinn, Literatur, Gesellschaft« [Band 2, S. 143- 145].

Dieses Buch, das wissen Sie selbst, wird nicht so leichte Aufnahme finden wie Tombeau.1 Hier fehlt das Kriegsgeschrei, das Ihrem ersten Roman Gehör verschaffte. Man möchte, dass der Krieg nur eine Abschweifung, eine kurze Unterbrechung im gewöhnli­ chen Lauf der Welt sei; unter dieser Voraussetzung gesteht man zu, dass alle Extreme einander berühren. Ich frage mich, ob der Erfolg von Tombeau nicht letztlich auf einer falschen Dramatisierung be­ ruht. Man sagte: Das ist Algerien, das ist die Okkupation, obwohl es doch der Marschtritt aller Armeen, das endlose Getöse jeglicher Knechtschaft war. Man sagte: Das ist die Zeit, als wir schuldig waren, wir erkennen uns darin wieder; doch jetzt sind wir unschul­ dig. Obwohl doch diese Schläge, diese Leiber, diese Wunden in ihrer Nacktheit keineswegs ein Bild der Moral waren, sondern rei­ ner Ausdruck der Politik. Im Schutz der großen Ausrede Krieg kam, was Sie uns erzählten, leicht wie ein ferner Gesang daher. Ihr drei­ faches Eden nimmt denselben Diskurs wieder auf, aber mit der kleinstmöglichen Distanz, unterhalb der Akkomodationsgrenze. Man kann den Ort, von dem aus Sie sprechen, von dem her diese Sätze und dieses Blut kommen, nicht mehr sehen, man kann ihn sich nicht mehr vorstellen in diesem Nebel absoluter Nähe. Tombeau stand, auch wenn es nicht so schien, außerhalb der Zeit; man ver­ kannte diesen Roman, als man versuchte, ihm ein Datum zuzuord­ nen. Eden hat (per definitionem) keinen Ort, aber man wird sicher versuchen, es einzuordnen, indem man dafür eine Heimat findet. Und das wird der Leib sein (der Leib, das war im früheren Denken ein - materialistischer - Kunstgriff, der das Subjekt, das Ich, die Seele retten sollte). Dennoch erreicht uns Ihr Text diesseits des Leibes: Oberflächen, Berstendes, Öffnungen-Wunden, Kleidung und Häute, die sich umstülpen und von innen nach außen wenden, weiße und rote Flüssigkeiten, »Rieseln des ewigen Außen«. Ich habe den Eindruck, Sie treffen damit, was man seit langem schon über die Sexualität weiß, aber bewusst ausblendet, um den Primat des Subjekts, die Einheit des Individuums und die Abstrak­ tion des »Sex« zu schützen: Die Sexualität ist nichts, das an der 1 [Guyotat, P, Tombeau pour cinq cent mille soldats: sept chants, Paris 1967, A.d.Ü.]

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Grenze des Leibes geschieht wie der »Sex«; sie ist auch kein Kommunikationsmittel und nicht einmal das Grund- oder Urbegehren des Individuums; vielmehr liegen ihre Prozesse dem Individuum weitgehend voraus, und das Individuum ist nur eine labile, kurz­ lebige, rasch verlöschende Verlängerung; es ist letztlich nur eine blasse Form, die für einige Augenblicke aus einer großen, eigen­ sinnigen, sich ständig wiederholenden Schicht heraustritt. Die In­ dividuen sind Pseudopodien der Sexualität, die rasch wieder zu­ rückgezogen werden. Wenn wir wissen wollten, was wir wissen, müssten wir vergessen, was wir uns über unsere Individualität, unser Ich, unsere Stellung als Subjekt vorgestellt haben. In Ihrem Text werden die Beziehungen zwischen Individuum und Sexualität wahrscheinlich zum ersten Mal offen und entschlossen umgekehrt: Nicht die Personen verlöschen zugunsten der Elemente, der Struk­ turen, der Personalpronomen; vielmehr wechselt die Sexualität ge­ genüber dem Individuum auf die andere Seite und hört auf »unter­ worfen« zu sein. In der Annäherung an diesen Punkt waren Sie gezwungen, ge­ rade auf das zu verzichten, was Tombeau so zugänglich gemacht hatte. Sie mussten alle Formen und Körper sprengen, die ganze Maschinerie der Sexualität beschleunigen und deren endlose Wie­ derholungen auf der Geraden der Zeit vorführen. Sie versprechen sich, fürchte ich (oder hoffe ich, hätte ich fast gesagt, doch das wäre zu einfach bei einem anderen) genau das Gegenteil Es wird einen Skandal geben, aber es geht um ganz anderes. Übersetzt von Michael Bischoff

8o * Theatrum philosophicum »Théatrum philosophicum«, in: Critique 282, November 1970, S. 885-908. (Über G. Deleuze, Différence et Répétition, Paris 1969 [dt. Differenz und Wiederholung, München 1992], und Logique du sens, Paris 1969 [dt. Logik des Sinns, Frankfurt am Main 1993]).

Ich möchte über zwei Bücher sprechen, die mir groß unter den großen erscheinen: Différence et Répétition und Logique du sens. So groß jedenfalls, dass es schwer ist, darüber zu sprechen, und

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dass nur wenige es getan haben. Lange glaubte ich, diese beiden Werke kreisten hoch über unseren Köpfen, in rätselhafter Reso­ nanz mit Klossowskis Werken, gleichfalls ein großes, jedes Maß sprengendes Zeichen. Aber eines Tages wird das Jahrhundert viel­ leicht deleuzianisch sein. Nacheinander werde ich mehrere Zugangswege zum Herzen dieses gewaltigen Werkes erkunden. Die Metapher taugt nichts, sagt mir Deleuze: Es gibt kein Herz, sondern ein Problem, also eine Verteilung bemerkenswerter Punkte; kein Zentrum, sondern ständige Dezentrierungen, Folgen mit hinkendem Wechsel zwi­ schen Anwesenheit und Abwesenheit, Übermaß und Mangel. Lassen Sie den Kreis, dieses schlechte Prinzip der Wiederkehr; lassen Sie die sphärische Anordnung aller möglichen Dinge; auf der geraden Linie kehrt alles wieder, auf der geraden, labyrinthischen Linie. Fäserchen und Verzweigung (es wäre gut, die groß­ artigen Folgen von Leiris einmal deleuzianisch zu analysieren). Welche Philosophie hätte nicht versucht, den Platonismus umzu­ kehren? Könnte man Philosophie nicht geradezu als jede beliebige Tätigkeit definieren, die darauf abzielt, den Platonismus umzu­ kehren? Dann begänne die Philosophie bei Aristoteles, nein, bei Platon, am Ende des Sophistes, wo man Sokrates nicht mehr von dem listigen Nachahmer zu unterscheiden vermag; und bei den Sophisten, die viel Lärm um den in Entstehung begriffenen Pla­ tonismus machten und sich über dessen zukünftige Größe mo­ kierten. Sollten alle Philosophien nur Unterarten der Gattung »Antiplatonicea« sein? Nehmen sie alle ihren Ausgang in der großen Weigerung? Sind sie alle um dieses ersehnte - verächtliche - Zent­ rum angeordnet? Sagen wir lieber, die Philosophie eines Diskurses ist dessen platonisches Differential. Ein Element, das bei Platon fehlt, in dem betreffenden Diskurs aber präsent ist? Das ist es auch nicht; vielmehr ein Element, für das die Wirkung seines Fehlens in die platonische Folge eingeführt wird, und zwar durch die Exis­ tenz dieser neuen divergierenden Folge (im platonischen Diskurs spielt sie dabei die Rolle eines zugleich überschüssigen und an seiner Stelle fehlenden Signifikanten); ein Element auch, dessen platonische Folge die freie, flottierende, überschüssige Zirkulation

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in diesem anderen Diskurs erzeugt. Platon, der im Übermaß prä­ sente und fehlende Vater. Man wird daher wohl nicht versuchen, Philosophien nach dem Merkmal ihres Antiplatonismus zu unter­ scheiden (wie Pflanzen nach ihren Fortpflanzungsorganen); eher schon wird man Philosophien in ähnlicher Weise zu erkennen versuchen, wie man ein Phantasma an der jeweiligen Verteilung des Mangels in den beiden Folgen erkennt, aus denen es besteht, der »archaischen« und der »aktuellen«. Und man wird von einer allgemeinen Geschichte der Philosophie träumen, die keine Ar­ chitektur der Systeme wäre, sondern eine platonische Phantas­ menkunde. Deleuze jedenfalls sieht es so.1 Seine »Umkehrung des Plato­ nismus« besteht darin, die platonische Folge zu durchlaufen und darin einen bemerkenswerten Punkt sichtbar zu machen: die Tei­ lung. Die Aristoteliker werfen Platon vor, die Teilung zwischen Gattungen wie »Jäger«, »Koch« oder »Staatsmann« nur unvoll­ kommen vorzunehmen; aber er will gar nicht wissen, was die Untergruppe des »Fischers« von der des »Fallenstellers« unter­ scheidet; er will wissen, wer der wahre Jäger ist. Wer und nicht was. Er sucht nach dem Echten, nach dem reinen Gold. Statt zu unterteilen, gilt es, die rechte Ader zu finden und ihr zu folgen; unter den Freiern zu wählen, ohne sie nach ihrem Grundbesitz einzuteilen; sie der Probe des Bogenspannens zu unterziehen, die sie alle aussondern wird mit Ausnahme des einen (und ausgerech­ net des Namenlosen, des Nomaden). Wie soll man nun aber zwi­ schen all diesen Falschen (Blendern, Vortäuschern) und dem Wah­ ren (Unvermischten, Reinen) unterscheiden? Nicht indem man ein Gesetz des Wahren und des Falschen aufdeckt (die Wahrheit ist hier nicht das Gegenteil zum Irrtum, sondern zum falschen Schein); vielmehr indem man über alledem nach dem Urbild sucht: so reins dass nur die Reinheit des Reinen sich mit ihm vergleichen, in seine Nähe kommen, sich mit ihm messen kann; und von so starkem Sein, dass die eitle Täuschung des Falschen sich mit einem Schlage als Nichtsein entlarvt sieht. Wenn Odys­ seus erscheint, der für alle Zeiten Angetraute, verschwinden die Freier. Die Trugbilder treten ab. Man sagt, Platon habe Wesen und Schein, die obere und die i Différence et Répétition, S. 82-85,165-168 [dt. Differenz und Wiederholung, S. 8790, 166-168]; Logique du sens, S. 292-300 [dt. Logik des Sinns, S. 311-318].

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untere Welt, die Sonne der Wahrheit und die Schatten der Höhle einander entgegengesetzt (und es sei an uns, die Wesenheiten auf die Erde zurückzuholen, unsere Welt zu glorifizieren und den Menschen die Sonne der Wahrheit einzupflanzen). Doch Deleuze sieht Platons Besonderheit in jener feinen Auswahl, die aus der Masse des Scheins die schlechten Trugbilder aussondert - eine subtile Operation, die der Entdeckung des Wesens vorausgeht, weil erst sie diese Entdeckung notwendig macht. Wenn man den Platonismus umkehren möchte, braucht man also gar nicht die Erscheinung wieder in ihre Rechte einzusetzen, ihr Festigkeit und Sinn zu verleihen und sie den Wesensformen anzunähern, indem man ihr das Rückgrat des Begriffs einpflanzt. Ermuntern wir nicht die Ängstliche, sich gerade zu halten. Und versuchen wir auch nicht, auf die große feierliche Geste zurückzukommen, die ein für alle Mal die unzugängliche Idee etabliert hat. Öffnen wir vielmehr die Tür für all die listigen Trugbilder, die vor der Tür kläffen. Eintreten wird dann das Ereignis, das die Erscheinung überschwemmt und seine Verlobung mit dem Wesen löst; eintreten wird das Körperlose, das die Schwere der Materie vertreibt; eintreten wird das hartnäckig Zeitlose, das den Kreis als nachge­ ahmte Ewigkeit zerbricht; eintreten wird das undurchdringlich Singuläre, das sich von jeder Vermischung mit der Reinheit rei­ nigt; eintreten wird die Scheinhaftigkeit des Trugbildes, die der Falschheit des Falschen nachhilft. Der Sophist jubelt, weil Sokra­ tes ihm nicht beweisen kann, dass er ein unrechtmäßiger Freier ist. Den Platonismus mit Deleuze umkehren heißt, darin umherzu­ gehen und ein wenig tiefer hinabzusteigen, bis zu jener kleinen diskreten, aber moralischen - Geste, die das Trugbild ausschließt: es heißt, sich ein wenig von ihm abzusetzen, links oder rechts eine Tür zu öffnen und nebenan ein kleines Schwätzchen zu halten; es heißt, eine andere, abweichende, divergierende Folge zu beginnen und durch diesen kleinen Seitensprung einen Paraplatonismus zu begründen, der keine Krone beanspruchen kann. Es gilt, eine Kon­ version des Platonismus zu betreiben (eine ernste Arbeit), das heißt, ihn zu mehr Mitleid mit der Realität, der Welt und der Zeit zu bewegen. Es gilt, eine Subversion des Platonismus zu betreiben, das heißt, ihn von oben (aus der vertikalen Distanz der Ironie) zu betrachten und ihn wieder in seinem Ursprung zu erfassen. Es gilt, eine Perversion des Platonismus zu bewirken, das heißt, ihn bis ins

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extremste Detail voranzutreiben und (mit der dem Humor eigenen Gravitation) bis zum letzten Haar, zum Schmutz unter den Finger­ nägeln hinabzusteigen, die ganz gewiss nicht die Würde einer Idee verdienen. Es heißt, auf diesem Wege die Dezentrierung aufzu­ decken, die er vorgenommen hat, um das Urbild, das Identische, das Selbe wieder ins Zentrum zu rücken; es heißt, sich selbst im Verhältnis zu ihm zu dezentrieren, um (wie bei jeder Perversion) benachbarte Flächen für sich zu nutzen. Die Ironie erhebt sich und ist subversiv; der Humor lässt sich fallen und pervertiert.2 Platon pervertieren heißt sich auf die Bosheit der Sophisten, die Ungezo­ genheit der Zyniker, die Spitzfindigkeiten der Stoiker, die Luft­ schlösser Epikurs einlassen. Man lese Diogenes Laertius. Bei den Epikuräern sollten wir auf all die Oberflächeneffekte achten, in denen ihre Lust sich entfaltet:3 Emanationen, die tief aus dem Körper kommen und sich wie Nebelschwaden erheben Phantome des Innern, die rasch wieder durch Nase, Mund und andere Öffnungen eingesogen werden; dünne Häutchen, die sich von der Oberfläche der Dinge ablösen und in unseren Augen den Eindruck von Farben und Umrissen erzeugen (schwebende Häut­ chen, Idole des Blicks); Phantasmen der Angst und des Begehrens (Wolkengötter am Himmel, Schönheit des angebeteten Gesichts, »elende Hoffnung, vom Winde verweht«). Dieses ganze Gestrüpp aus Ungreifbarem gilt es heute zu denken: in einer Philosophie des Trugbilds, die das Phantasma nicht über Wahrnehmung oder Bild auf den Einfluss eines ursprünglich Gegebenen zurückführt, son­ dern es zwischen den Oberflächen belässt, auf die es sich bezieht, in der Verkehrung, die alles Innere nach außen und alles Außere nach innen treten lässt, in der zeitlichen Oszillation, die dafür sorgt, dass es sich selbst ständig vorausgeht und nachfolgt; kurz, in seiner »körperlosen Stofflichkeit«, wie man sagen könnte, auch wenn Deleuze vielleicht nicht damit einverstanden wäre. Jedenfalls ist es sinnlos, hinter den Trugbildern nach einer Wahrheit zu suchen, die wahrer wäre als das Trugbild, so dass es nur als deren verworrenes Zeichen gelten könnte (es ist also 2 Zur Ironie, ^die aufsteigt, und zum Humor, der hinabsteigt, siehe Différence et Répétition, S. 12 [dt. S. 20] und Logique du sens, S. 159-166 [dt. S. 170-178]. 3 Logique du sens, S. 307-321 [dt. S. 324-338].

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sinnlos, das Trugbild zum bloßen Symptom zu erklären und es dadurch zu »symptomatologisieren«); ebenso sinnlos ist es, die Trugbilder als stabile Figuren zu verstehen, als Konvergenzpunkte und feste Kerne, an die man all diese Blickwinkel, Blitze, Häut­ chen und Dämpfe wie an ein mit sich selbst identisches Objekt anbinden könnte (also keine »Phänomenologisierung«). Vielmehr treiben sie ihr Spiel an der Grenze der Körper: gegen die Körper, weil sie daran kleben und sich darauf projizieren, aber auch weil sie die Körper berühren, schneiden, in Sektionen oder Regionen einteilen und deren Oberflächen vervielfachen; und auch außer­ halb der Körper, weil sie wechselseitig aufeinander einwirken, nach Gesetzen der Nachbarschaft, der Verwindung und der ver­ änderlichen Distanz, die sie selbst nicht kennen. Die Phantasmen verlängern nicht die Organismen ins Imaginäre hinein, sondern topologisieren die Stofflichkeit des Körpers. Daher müssen wir sie aus dem Gegensatz zwischen Wahr und Falsch, Sein und Nicht­ sein befreien (der nur den Unterschied zwischen Trugbild und Abbild festschreibt) und sie mit ihren Tänzen und Schauspiele­ reien als »Außer-Sein« behandeln. Man kann Logique du sens als das Buch mit dem denkbar größ­ ten Abstand zur Phénoménologie de la perception* lesen; dort war der Körper oder Organismus durch ein Netz ursprünglicher Be­ deutungen mit der Welt verbunden, das die Wahrnehmung der Dinge selbst auftat. Bei Deleuze bildet das Phantasma die körper­ lose, undurchdringliche Oberfläche des Körpers; und in dieser zugleich topologischen und grausamen Arbeit konstituiert sich etwas, das vorgibt, ein Organismus mit einem Zentrum zu sein, und das um sich herum die Dinge mit zunehmender Entfernung verteilt. Logique du sens muss aber vor allem als die denkbar kühnste und vermessenste metaphysische Abhandlung gelesen werden - sofern man denn die Metaphysik nicht ein weiteres Mal der Seinsvergessenheit bezichtigt, sondern ihr die Aufgabe zuweist, über das Außer-Sein zu sprechen. Physik ist der Diskurs über die ideale Struktur der Körper, über die Gemische, die Re­ aktionen, die Mechanismen des Innern wie des Äußeren. Meta­ physik ist der Diskurs über die Stofflichkeit der körperlosen Din­ ge: der Phantasmen, Idole und Trugbilder. 4 [Merleau-Ponty, M., Phénoménologie de la perception, Paris 19455 dt. Phänomeno­ logie der Wahrnehmung, Berlin 1966.]

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Die Illusion ist das Unglück der Metaphysik: nicht weil sie selbst zur Illusion verdammt wäre, sondern weil sie allzu lange davon besessen war und die Angst vor dem Trugbild sie auf den Weg der Illusion geführt hat. Nicht die Metaphysik ist eine Illu­ sion im Sinne der Unterordnung eines Begriffs unter seinen Ober­ begriff; vielmehr ist die Illusion eine Metaphysik, ist sie das Pro­ dukt einer bestimmten Metaphysik, die ihre Trennungslinie zwischen dem Trugbild einerseits und dem Original sowie dem getreuen Abbild andererseits gezogen hat. Es gab eine Kritik, deren Aufgabe es war, die metaphysische Illusion in ihrer Not­ wendigkeit aufzuzeigen; Deleuze unternimmt in seiner Metaphy­ sik die zur Entillusionierung der Phantasmen notwendige Kritik. Damit ist der Weg frei für die einzigartige Zickzacklinie der epi­ kureischen und materialistischen Folge. Sie enthält keine ver­ schämt verschwiegene Metaphysik, sondern führt voller Freude zu einer Metaphysik, die frei von der Ursprungstiefe und dem höchsten Wesen ist, aber dafür das Phantasma jenseits jeden Ur­ bilds und im Spiel der Oberflächen zu denken vermag; eine Me­ taphysik, in der nicht vom unum bonum die Rede ist, sondern von der Abwesenheit Gottes und den Hautspielen der Perversion. Der Tod Gottes und die Sodomie sind die beiden Brennpunkte der neuen metaphysischen Ellipse. Während die natürliche Theologie die metaphysische Illusion mit sich brachte und die metaphysi­ sche Illusion stets mehr oder weniger mit der natürlichen Theo­ logie gleichgesetzt wurde, kreist die Metaphysik des Phantasmas um Atheismus und Überschreitung. Sade und Bataille und ein wenig weiter, mit einladend-abwehrender Geste, Roberte. Diese Folge des befreiten Trugbilds entfaltet sich oder spielt vor allem auf zwei Bühnen: in der Psychoanalyse, die man eines Tages als metaphysische Praxis wird begreifen müssen, weil sie es stets mit Phantasmen zu tun hat; und im Theater, dem in sich verviel­ fältigten Theater, das mit mehreren simultanen Bühnen arbeitet, in mehrere Bühnen zerstückelt ist, die einander ignorieren und ei­ nander Zeichen geben und auf denen Masken tanzen, Körper schreien, Hände und Finger gestikulieren, ohne irgendetwas dar­ zustellen (zu kopieren, nachzuahmen). Und in jeder dieser beiden neuen divergierenden Folgen finden wir Freud und Artaud, die einander ignorieren, aber zugleich in Resonanz miteinander treten (obwohl es von einer bemerkenswerten Naivität zeugt, wenn

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manche meinen, sie im lächerlichen »Psychodrama« wieder mit­ einander versöhnen und aufeinander abbilden zu können). Die Philosophie der Repräsentation, des Urbilds, des ersten Mals, der Ähnlichkeit, der Nachahmung, des getreuen Abbilds löst sich auf. Der Pfeil des epikureischen Simulacrum fliegt geradewegs zu uns und lässt eine »Phantasmaphysik« entstehen oder Wiederer­ stehen. Hier der Platonismus, dort die Stoiker. Wenn ich sehe, wie Deleuze nacheinander Epikur und Zenon, Lukrez und Chrysipp auf der Bühne erscheinen lässt, kann ich mich nicht des Gedankens erwehren, dass er streng freudianisch vorgeht. Er geht nicht mit wehenden Fahnen auf die großen Verdrängungen der westlichen Philosophie los, sondern verweist fast nebenbei auf die Unter­ lassungen, die Brüche, die Lücken, die unscheinbaren, nicht son­ derlich bedeutsamen Dinge, die der philosophische Diskurs über­ gangen hat. Sorgfältig notiert er die kaum wahrnehmbaren Auslassungen, weil darin das große Vergessen seinen Ausdruck findet. Die Pädagogik hat uns allzu sehr daran gewöhnt, die epi­ kureischen Trugbilder für unbrauchbar und ein wenig kindisch zu halten. Der berühmte Kampf um die Stoa, der gestern tobte und auch morgen toben wird, blieb für die Schulen unentschieden. Deleuze greift, wie ich finde, all diese zarten Fäden wieder auf und spielt nun seinerseits mit dem ganzen Netz aus Diskursen, Argumenten, Gegenargumenten und Paradoxa, das sich jahrhun­ dertelang durch den Mittelmeerraum zog. Statt die Konfusion der Griechen zu brandmarken oder verächtlich auf die Plattheit der Römer zu schauen, sollten wir uns anhören, was im riesigen Raum des Römischen Reiches gesagt wird, sollten wir uns ansehen, was dort geschieht: An allen Ecken und Enden wüten Kämpfe, werden Feldherren ermordet, brennen Schiffe, greifen Königinnen zum Gift, führen Siege zu neuem Gemetzel, Aktium als immer wäh­ rendes Exempel: das ewige Ereignis. Wenn wir das reine Ereignis denken wollen, müssen wir ihm zunächst eine Metaphysik geben.5 Dann müssen wir uns darüber verständigen, was sie sein soll: keine Metaphysik der Substanz, die 5 Logique du sensy S. 13-21 [dt. S. 19-28].

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all diese Akzidentien begründen könnte; und auch keine Meta­ physik der Kohärenz, die sie in den Zusammenhang von Ursache und Wirkung einbettete. Das Ereignis - Verwundung, Sieg oder Niederlage, Tod - ist stets Wirkung, ist stets Ergebnis des Zusam­ menstoßes, der Vermischung oder Trennung von Körpern; doch diese Wirkung ist selbst niemals etwas Körperliches, sie ist eine ungreifbare, unzugängliche Schlacht, die unzählige Male um Fabricius tobt und über den verletzten Prinzen Andreas hinwegrast. Die Waffen, die den Körper zerfleischen, bilden immer wieder den körperlosen Kampf. Die Physik befasst sich mit den Ur­ sachen; doch die Ereignisse, die deren Wirkung darstellen, gehö­ ren nicht mehr zur Physik. Die Kausalität müssen wir uns als handgreiflich vorstellen; Körper stoßen gegeneinander, vermi­ schen sich, leiden und verursachen dadurch an ihrer Oberfläche Ereignisse, die keine Dichte haben, sich nicht vermischen und nicht leiden, so dass sie nicht Ursache sein können. Sie bilden untereinander ein anderes Netz, dessen Verknüpfungen in den Bereich einer Quasiphysik der körperlosen Dinge, in den Bereich der Metaphysik fallen. Das Ereignis bedarf auch einer komplexeren Logik.6 Das Er­ eignis ist kein Sachverhalt, der Gegenstand eines Satzes sein könnte (die Tatsache, tot zu sein, ist ein Sachverhalt, im Hinblick auf den eine Aussage wahr oder falsch sein kann; Sterben ist da­ gegen ein reines Ereignis, das nichts verifiziert). Die dreiwertige Logik, in deren Mittelpunkt der Gegenstand der Aussage steht, muss durch ein vierwertiges Spiel ersetzt werden. »Markus An­ tonius ist gestorben« bezeichnet einen Sachverhalt, bringt eine Meinung oder Überzeugung zum Ausdruck, bedeutet eine Aus­ sage und hat außerdem einen Sinn: das »Sterben«. Einen ungreif­ baren Sinn, der eine Seite den Dingen zuwendet, denn das »Ster­ ben« ist ein Ereignis, das Markus Antonius zustößt, während er die andere Seite der Aussage zukehrt, denn das Sterben wird von Markus Antonius in einem Satz ausgesagt. Das Sterben ist also Dimension der Aussage, körperlose Wirkung des Schwertes, Sinn und Ereignis, ein Punkt ohne jede Dichte oder Masse, über den etwas ausgesagt wird und der sich über die Oberfläche der Dinge bewegt. Statt den Sinn in einen noematischen Kern einzuschlie­ 6 Vgl. Logique du sens, S. 22-35 [dt. S. 29-42].

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ßen, der gleichsam das Herz des Erkenntnisgegenstandes bildet, sollten wir ihn lieber an der Grenze zwischen Dingen und Worten treiben lassen, als das, was von dem Ding ausgesagt wird (weder als dessen Attribut noch als das Ding selbst), und als das, was ihm geschieht (weder als Prozess noch als Zustand). Der Tod ist das exemplarische Ereignis schlechthin, ist Sinn in Reinform; er hat seinen Ort im anonymen Durcheinander des Diskurses; er ist das, worüber man spricht, er ist immer schon eingetreten und liegt immer in der Zukunft, und dennoch ereignet er sich an der äu­ ßersten Spitze des Singulären. Der Ereignis-Sinn ist neutral wie der Tod: »Nicht das Ende, sondern das Endlose; nicht der eigene, sondern irgendein Tod, nicht der wirkliche Tod, sondern, wie Kafka sagt, das Kichern seine Hauptirrtums.«7 Dieser Ereignis-Sinn benötigt schließlich auch eine Grammatik, die auf ein anderes Zentrum ausgerichtet ist;8 denn im Satz hat er seinen Ort nicht im Attribut (tot sein, lebendig sein, rot sein), sondern wird vom Verb aufgespießt (sterben, leben, erröten). So verstanden besitzt das Verb zwei bemerkenswerte Formen, um die sich die übrigen Formen verteilen: das Präsens, das den Eintritt des Ereignisses verkündet, und den Infinitiv, der den Sinn in die Sprache einführt und als jenes Neutrum zirkulieren lässt, von dem im Diskurs die Rede ist. Wir sollten die Grammatik des Ereignis­ ses nicht in den Zeitformen und die Grammatik des Sinns nicht in einer fiktiven Analyse von der Art »leben = lebendig sein« suchen; die Grammatik des Ereignis-Sinns kreist vielmehr um zwei asym­ metrische und leicht hinkende Pole: Infinitiv und Präsens. Der Ereignis-Sinn ist stets zugleich die verschobene Spitze des Präsens und die ewige Wiederholung des Infinitivs. Das Sterben lässt sich niemals in der Dichte eines Augenblicks lokalisieren, sondern zerteilt mit seiner bewegten Spitze noch den kleinsten Moment; Sterben ist noch kürzer, als man benötigt, um es zu denken; und beiderseits dieses dimensionslosen Spalts wiederholt es sich un­ endlich oft. Ewige Gegenwart? Sofern man die Gegenwart ohne Fülle und die Ewigkeit ohne Einheit denkt: (vielfältige) Ewigkeit der (verschobenen) Gegenwart. Fassen wir zusammen: An der Grenze der tiefgründigen Kör7 Blanchot, M., UEspace littéraire, zitiert in Différence et Répétition, S. 149 [dt. S. 150]. Vgl. auch Logique du sens> S. 175-179 [dt. S. 186-192]. 8 Vgl. Logique du sens, S. 212-216 [dt. S. 226-230].

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per ist das Ereignis etwas Körperloses (metaphysische Oberflä­ che); an der Oberfläche der Dinge und Wörter ist das körperlose Ereignis der Sinn des Satzes (logische Dimension); im Faden des Diskurses wird der körperlose Ereignis-Sinn vom Verb aufge­ spießt (die unendliche Spitze der Gegenwart). Es hat in der jüngeren Vergangenheit, wie ich meine, drei große Versuche gegeben, das Ereignis zu denken - den Neopositivismus, die Phänomenologie und die Geschichtsphilosophie. Doch der Neopositivismus verfehlte die eigentliche Ebene des Ereignisses; er verwechselte es logisch mit dem Zustand der Dinge und war daher gezwungen, es tief in den Körper hineinzuverlegen, einen materiellen Prozess daraus zu machen und sich mehr oder weni­ ger explizit auf einen Physikalismus einzulassen (man könnte es fast schizophren nennen, dass er die Oberfläche in die Tiefe ver­ legte); und auf der Ebene der Grammatik verschob er das Ereignis in Richtung des Attributs. Die Phänomenologie verschob das Er­ eignis im Verhältnis zum Sinn; entweder isolierte sie das nackte Ereignis - als Fels der Faktizität, stumme Trägheit des Gesche­ henden - und überließ es dann der agilen Arbeit des Sinnes, der höhlt und formt; oder sie unterstellte eine vorgängige Bedeutung, die längst die Welt um mich herum geordnet, Wege und ausge­ zeichnete Orte markiert und aufgezeigt hat, wo das Ereignis statt­ finden und welche Gestalt es annehmen kann. Entweder die Kat­ ze, die dem Grinsen mit gesundem Menschenverstand vorausgeht, oder das Grinsen, das mit gleichermaßen gesundem Menschenver­ stand vor der Katze da ist. Entweder Sartre oder Merleau-Ponty. Für sie war der Sinn niemals zeitgleich mit dem Ereignis. Daraus ergab sich in jedem Fall eine Logik der Bedeutung, eine Gramma­ tik der ersten Person, eine Metaphysik des Bewusstseins. Die Ge­ schichtsphilosophie dagegen schließt das Ereignis in den Kreislauf der Zeit ein; ihr Irrtum ist grammatischer Natur. Sie macht die Gegenwart zu einer von Zukunft und Vergangenheit eingerahm­ ten Figur; die Gegenwart ist das ehedem Zukünftige, das sich in seiner Form bereits abzeichnete; sie ist die kommende Vergangen­ heit, die sich ihre inhaltliche Identität bewahrt. Sie bedarf daher einerseits einer Logik des Wesens und des Begriffs (die sie als Gedächtnis bzw. als Wissen über die Zukunft begründet) und andererseits einer Metaphysik des widerspruchsfreien, hierar­ chisch aufgebauten Kosmos.

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Drei Philosophien also, die das Ereignis verfehlen. Die erste lehnt die reine Oberfläche des Ereignisses ab, weil man über das, was »außerhalb« der Welt liegt, nichts sagen könne, und will es mit Gewalt - wie einen Referenten - in die volle Kugel der Welt einschließen. Die zweite siedelt das Ereignis draußen und in der Zukunft oder drinnen und in der Vergangenheit an, weil es Be­ deutung nur für das Bewusstsein geben könne, und setzt es damit stets in ein Verhältnis zum Kreis des Ich. Die dritte zeichnet das Ereignis in seiner Identität, weil es Ereignisse nur in der Zeit geben könne, und unterwirft es einer genau zentrierten Ordnung. Die Welt, das Ich und Gott, Kugel, Kreis und Zentrum: drei Be­ dingungen, die bewirken, dass man das Ereignis nicht zu denken vermag. Eine Metaphysik des körperlosen Ereignisses (die sich daher nicht auf eine Physik der Welt zurückführen lässt), eine Logik des neutralen Sinns (statt einer Phänomenologie der Bedeu­ tungen und des Subjekts), ein Denken der unbegrenzten Gegen­ wart (und das Aufspüren der begrifflichen Zukunft im Wesen der Vergangenheit) - das, so meine ich, schlägt Deleuze uns vor, um die dreifache Unterwerfung zu beenden, in der das Ereignis heute noch gefangen ist. Wir müssen nun die beiden Folgen in Resonanz zueinander brin­ gen: die des Ereignisses und die des Phantasmas. Des Körperlosen und des Ungreifbaren. Des fortwährenden Kampfes und Todes und des ersehnten Idols, das jenseits der klirrenden Waffen nicht im Herzen der Menschen, sondern über ihren Köpfen schwebt: Schicksal und Begehren. Nicht dass sie in einem gemeinsamen Punkt konvergierten, in einem eingebildeten Ereignis oder im Ur-Ursprung eines Trugbildes. Das Ereignis ist genau das, was der Folge des Phantasmas stets entgeht - der Mangel, in dem sich seine Wiederholung zeigt, das kein Original und keine Nachah­ mung kennt und daher frei von den Zwängen der Ähnlichkeit ist. Eine verkleidete Wiederholung also, stets neue Masken, die nichts verbergen; Trugbilder ohne Verschleierung, fadenscheinige Lum­ pen, zwischen denen keine Nacktheit sichtbar wird; reine Diffe­ renz. Das Phantasma ist das Überschüssige in der Singularität des Ereignisses; aber dieses Zuviel ist kein imaginärer Überschuss,

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der zur nackten Realität der Tatsache hinzuträte; und auch keine embryonale Allgemeinheit, aus der nach und nach jegliche be­ griffliche Ordnung hervorginge. Der Tod oder die Schlacht als Phantasma, das ist nicht das Bild des Todes, das über dem dum­ men Unfall schwebte, und auch nicht der zukünftige Begriff der Schlacht, der unter der Hand bereits diesen ungeordneten Auf­ ruhr steuerte; es ist die Schlacht, die urplötzlich aufflammt; der Tod, der endlos diesen Schlag wiederholt, den er führt und der ein für alle Mal erfolgt. Das Phantasma als Spiel des (fehlenden) Er­ eignisses und seiner Wiederholung darf weder Individualität als Form (als eine dem Begriff unterlegene und daher informelle Form) noch Realität als Maß (eine Realität, die ein Bild nach­ ahmte) erhalten, sondern findet seinen Ausdruck als universelle Singularität: sterben, sich schlagen, siegen, besiegt werden. Logique du sens sagt uns, wie wir Ereignis und Phantasma, ihre disjunktive Affirmation und ihre affirmative Disjunktion denken können. Von Erkennen können wir vielleicht sprechen, wenn wir das Ereignis nicht von der Wiederholung, sondern vom Begriff her bestimmen; von Urteilen, wenn wir das Phantasma an der Realität messen, indem wir nach seinem Ursprung suchen. Die Philosophie wollte beides zugleich, sich als Wissenschaft träumen und als Kritik gerieren. Denken hingegen hieße, das Phantasma in jenem Nachahmungskünstler zur Ausführung bringen, der es in diesem Falle selbst hervorbrächte, und dem Ereignis Unendlich­ keit zu verleihen, damit es sich als das universell Einzigartige wie­ derholt. Absolut denken hieße danach, das Ereignis und das Phan­ tasma zu denken. Doch damit ist nicht genug gesagt, denn wenn das Denken die Aufgabe hat, das Phantasma theatralisch zu er­ zeugen und an seiner äußersten singulären Spitze das universelle Ereignis zu wiederholen, was ist dann dieses Denken anderes als das Ereignis, das dem Phantasma geschieht, und die phantasmati­ sche Wiederholung des abwesenden Ereignisses? Phantasma und Ereignis in disjunktiver Affirmation sind Gedanke und Denken; sie verlegen an die Oberfläche der Körper das Außer-Sein, das nur das Denken zu denken vermag; und sie zeichnen das topologische Ereignis, in dem das Denken selbst sich bildet. Das Denken muss das denken, woraus es sich bildet, und es bildet sich aus dem, was es denkt. Der Dualismus Kritik-Erkenntnis wird vollkommen nutzlos: Das Denken sagt, was es ist.

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Doch diese Formel ist gefährlich. Sie lässt an Gleichheit denken und beschwört wieder einmal die Vorstellung einer Identität von Objekt und Subjekt herauf. Das ist aber nicht der Fall. Wenn der Gedanke das Denken bildet, so bedeutet das im Gegenteil eine zweifache Loslösung: die eines zentralen, grundlegenden Sub­ jekts, dem ein für alle Mal Ereignisse geschehen; und die eines Objekts, das Brenn- und Konvergenzpunkt der erkannten For­ men und der behaupteten Attribute wäre. Wir müssen die unend­ liche Gerade erfassen, auf der die Ereignisse nicht wie Knoten auf einem Faden aufgereiht sind; vielmehr schneidet und zerschneidet sie jeden Augenblick so oft, dass jedes Ereignis zugleich körperlos und unendlich vervielfacht erscheint. Wir müssen diesen unheil­ baren Riss erfassen und nicht das synthetisierend-synthetisierte Subjekt. Wir müssen schließlich die Folge erfassen, müssen uns klarmachen, dass Trugbilder, Idole und Phantasmen nicht ein für alle Mal aufgespießt werden, sondern in der zeitlichen Dualität ihrer Entstehung stets beiderseits des Risses sind, wo sie zu Zei­ chen werden und als Zeichen zu existieren beginnen. Der Riss des Ich und die Folge der signifikanten Punkte bilden nicht jene Ein­ heit, die es dem Denken ermöglichte, Subjekt und Objekt zu­ gleich zu sein; vielmehr sind sie selbst das Ereignis des Denkens und die Körperlosigkeit des Gedankens: der Gedanke als Problem (als Mannigfaltigkeit zerstreuter Punkte) und das Denken als Nachahmung (als Wiederholung ohne Urbild). Deshalb könnte Logique du sens auch den Untertitel haben: »Was ist Denken?« Im ganzen Buch stellt Deleuze diese Frage stets doppelt, nämlich einmal im Kontext einer stoischen Logik des Körperlosen und dann im Kontext der Freud’schen Analyse des Phantasmas. Was ist Denken? Hören wir die Stoiker, die uns sagen, wie es ein Denken des Gedankens geben kann; lesen wir Freud, der uns sagt, wie das Denken zu denken vermag. Vielleicht nähern wir uns hier zum ersten Mal einer Theorie des Denkens, die sich vollständig vom Subjekt und vom Objekt befreit hat. Ein Ereignis-Denken, das ebenso einzigartig ist wie der einmalige Wurf eines Würfels; ein Phantasmen-Denken, das nicht nach Wahrheit sucht, sondern das Denken wiederholt. Jedenfalls verstehen wir nun, warum von der ersten bis zur letzten Seite des Buches immer wieder der Mund auftaucht. Der Mund, von dem Zenon wusste, dass nicht nur Wagenladungen

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von Nahrung ihn passieren, sondern auch die Vehikel des Sinns. (»Wenn du Wagen sagst, fährt dir ein Wagen durch den Mund.«) Mund, Öffnung, Kanal, durch den das Kind die Trugbilder, die zerstückelten Glieder, die Körper ohne Organe aufnimmt; der Mund, der das Innere mit der Oberfläche verbindet. Der Mund auch, aus dem die Stimme der anderen hervorkommt, die all die hohen Idole über dem Kind schweben lässt und das Über-Ich formt. Der Mund, in dem die Schreie sich in Phoneme, Morpheme und Semanteme zerlegen; in dem das Innere eines oralen Körpers sich vom körperlosen Sinn trennt. In diesem offenen Mund, dieser nährenden Stimme setzen die Entstehung der Sprache, die Bildung des Sinns und der Blitz des Denkens ihre divergierenden Folgen in Gang.9 Man könnte fast von einem strengen Phonozentrismus sprechen, wenn Deleuze das Lautliche nicht ständig aus dem Zent­ rum rückte. Man fühlt sich unwillkürlich an den phantastischen Grammatiker [Brisset] erinnert, jenen dunklen Vorläufer, der die entscheidenden Punkte dieser Dezentrierung aufgezeigt hat: - les dents, la bouche (die Zähne, der Mund); - les dents la bouchent (die Zähne verschließen ihn); - Vaidant la bouche (zur Unterstützung des Mundes); - laides en la bouche (hässlich am Mund); - lait dans la bouche (Milch im Mund) usw. Logique du sens gibt uns zu denken, was die Philosophie seit Jahrhunderten vernachlässigt: das Ereignis (das man mit dem Be­ griff gleichsetzte und dann vergeblich wieder davon zu lösen ver­ suchte: als Tatsache, die einen Satz verifiziert; als Erleben des Sub­ jekts; als das Konkrete, das den empirischen Inhalt der Geschichte ausmacht); und das Phantasma (das man im Namen der Realität reduzierte und ans äußerste, pathologische Ende einer normativen Folge setzte: Wahrnehmung-Bild-Erinnerung-Täuschung). Kann es in diesem 20. Jahrhundert etwas Wichtigeres geben, als Ereignis und Phantasma zu denken? Wir sollten Deuleuze dankbar sein. Er wiederholt nicht die alte Leier: Freud mit Marx, Marx mit Freud, und beide, wenn’s recht ist, mit uns. Er hat vielmehr klar analysiert, was notwendig ist, um Phantasma und Ereignis zu denken. Er versucht nicht, beides mit­ einander zu versöhnen (die äußerste Spitze des Ereignisses um die 9 Siehe dazu insbesondere Logique du sens, S. 217-267 [dt. S. 231-288]. Ich kann diese großartigen Analysen hier allenfalls in Andeutungen wiedergeben.

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ganze imaginäre Dichte eines Phantasmas zu erweitern oder dem flottierenden Phantasma durch ein Körnchen realer Geschichte ein wenig Gewicht zu verleihen). Er hat die Philosophie entdeckt, die es möglich macht, beide disjunktiv zu behaupten. Schon vor Logique du sens hatte Deleuze diese Philosophie mit beispielloser Kühnheit in Différence et Répétition formuliert. Auf dieses Buch müssen wir nun zurückgreifen. Statt das große Vergessen anzuprangern, mit dem der Westen sei­ nen Ausgang genommen haben soll, verweist Deleuze mit der Geduld eines an Nietzsche geschulten Genealogen auf eine Viel­ zahl kleiner Verunreinigungen und fauler Kompromisse.10 Er nimmt die unzähligen kleinen Bequemlichkeiten aufs Korn, das ganze Geflecht aus Dummheit, Eitelkeit und Selbstgefälligkeit, das den großen Pilz der Philosophie ernährt. »Lächerliches Wur­ zelwerk«, würde Leiris sagen. Wir alle verfügen über gesunden Menschenverstand; jeder kann sich irren, aber niemand ist dumm (niemand von uns natürlich). Ohne guten Willen kein Denken; jedes echte Problem hat eine Lösung, denn unser Lehrer stellt nur Fragen, auf die es in seinem Heft auch Antworten gibt. Unsere Schule ist die Welt... Kleingläubigkeit. Aber was? Die Tyrannei eines guten Willens, die Pflicht, »gemeinsam« mit den anderen zu denken, die Vorherrschaft des pädagogischen Modells und insbe­ sondere der Ausschluss der Dummheit, all das begründet eine gemeine Moral des Denkens, deren Wirkung sich in unserer Ge­ sellschaft leicht aufzeigen ließe. Davon müssen wir uns befreien. Aber wenn wir diese Moral pervertieren, verschieben wir die gan­ ze Philosophie. Betrachten wir die Differenz. Sie wird meist als Differenz zu etwas oder innerhalb einer Sache analysiert. Um ihr eine Grund­ lage und einen Ort zu geben, um sie abzugrenzen und damit zu beherrschen, postuliert man hinter oder jenseits der Differenz mit 10 Ich behandle hier einige der in Différence und Répétition [dt. Differenz und Wiederholung] angesprochenen Probleme in einer anderen Reihenfolge, als sie dort vorgestellt werden. Ich bin mir bewusst, dass ich die Akzente verschoben habe und vor allem nicht den unerschöpflichen Reichtum dieses Textes wieder­ gebe. Ich habe eines der möglichen Modelle rekonstruiert. Deshalb verweise ich nicht auf bestimmte Seitenzahlen.

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dem Begriff die Einheit einer Gattung, die von ihr in verschiedene Spezies unterteilt werden soll (organische Herrschaft des aristo­ telischen Begriffs); die Differenz wird damit zu dem, was inner­ halb des Begriffs spezifiziert werden muss, ohne dass es über den Begriff hinausginge. Doch oberhalb der Spezies wimmelt es von Individuen. Diese maßlose Vielfalt, die sich jeder Spezifizierung entzieht und nicht unter den Begriff fällt, was ist sie anderes als das Wechselspiel der Wiederholungen? Unterhalb der Schafarten kann man nur noch die Schafe zählen. Das ist die erste Form der Unterwerfung: Differenz als Spezifizierung (innerhalb des Be­ griffs) und Wiederholung als Indifferenz der Individuen (außer­ halb des Begriffs). Aber Unterwerfung unter was? Unter den ge­ sunden Menschenverstand, der nicht verrückt werden will und sich von der anarchischen Differenz abwendet, weil er Gleiches überall und bei allem auf dieselbe Weise zu erkennen vermag. Der gesunde Menschenverstand schneidet das Allgemeine im Objekt zum selben Zeitpunkt ab, da er über einen Pakt des guten Willens die Universalität des erkennenden Subjekts herstellt. Aber wenn man nun den guten Willen durch einen bösen ersetzte? Wenn das Denken sich vom gesunden Menschenverstand frei machte und nur noch an der äußersten Spitze des Singulären denken wollte? Wenn es sich nicht mehr selbstgefällig als Bürger der doxa emp­ fände, sondern böswillig auf den Zwiespalt des Paradoxons setzte? Wenn es nicht mehr nach den Gemeinsamkeiten unter der Differenz suchte, sondern die Differenz differentiell dächte? Dann wäre die Differenz kein relativ allgemeines Merkmal des allgemeinen Begriffs mehr, sondern - als differierendes Denken und als Denken der Differenz - ein reines Ereignis; und die Wie­ derholung wäre nicht mehr trübsinniges Gewimmel von Immer­ gleichem, sondern verschobene Differenz. Wenn das Denken den guten Willen und die Ausübung eines gesunden Menschenver­ standes hinter sich lässt, der die Dinge zergliedert und nach Merk­ malen ordnet, dann schafft es keine Begriffe mehr, sondern er­ zeugt durch Wiederholung eines Phantasmas ein Sinn-Ereignis. Der moralisch gute Wille, im Sinne des gesunden Menschenver­ standes zu denken, hatte im Grunde zur Aufgabe, das Denken vor seiner singulären »Genialität« zu bewahren. Aber kehren wir zur Funktionsweise des Begriffs zurück. Wenn er die Differenz beherrschen soll, muss die Wahrnehmung in der

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so genannten Vielfalt globale Ähnlichkeiten erkennen (die an­ schließend in Differenzen und partielle Identitäten zerlegt wer­ den); jede neue Darstellung muss von Darstellungen begleitet sein, die sämtliche Ähnlichkeiten ausbreiten; und in diesem Darstel­ lungsraum (Wahrnehmung-Bild-Erinnerung) setzt man das Ähn­ liche dem Test der quantitativen Gleichheit und der graduell ab­ gestuften Quantitäten aus; so entsteht das große Tableau der messbaren Differenzen. Und in der Ecke der Tafel, dort wo auf der Abszisse der kleinste quantitative Abstand mit der kleinsten qualitativen Variation zusammentrifft, also im Nullpunkt des Koordinatensystems, haben wir die vollkommene Gleichheit, die exakte Wiederholung. Die Wiederholung, die im Begriff nur das impertinente Vibrieren des Gleichen war, wird in der Dar­ stellung zum Ordnungsprinzip des Ähnlichen. Aber wer erkennt das Ähnliche, das genau Ähnliche und das weniger Ähnliche? Das Größte und Kleinste, das Hellste und Dunkelste? Der gesunde Menschenverstand. Er erkennt; er stellt Äquivalenzen her; er schätzt Abstände ab und misst die Distanzen; er assimiliert und verteilt; er ist die bestverteilende Sache der Welt. Der gesunde Menschenverstand herrscht über die Philosophie. Wenn wir den gesunden Menschenverstand pervertieren und das Denken aus dem geordneten Tableau der Ähnlichkeiten herausführen, er­ scheint es als Senkrechte aus Intensitäten, denn an sich und noch vor der Abstufung durch die Darstellung ist Intensität reine Dif­ ferenz: eine Differenz, die sich verschiebt und wiederholt, die sich zusammenzieht oder ausbreitet, ein singulärer Punkt, der sich in seiner zugespitzten Ereignishaftigkeit durch endlose Wiederho­ lungen anspannt und lockert. Wir müssen das Denken als inten­ sive Regellosigkeit denken. Als Auflösung des Ich. Einen Augenblick lang wollen wir noch das Tableau der Dar­ stellung betrachten. Im Ursprung der Achsen herrscht vollkom­ mene Übereinstimmung; dann entfalten sich die Unterschiede im Sinne geringerer Ähnlichkeit und begrenzter Identität; die Diffe­ renz ist gegeben, wenn die Darstellung das Präsente nicht mehr ganz präsentiert und die Probe des Wiedererkennens scheitert. Damit etwas anders ist, darf es zunächst nicht dasselbe sein; erst vor diesem negativen Hintergrund, diesem dunklen Teil, der das Selbe abgrenzt, lassen sich dann die entgegengesetzten Prädikate formulieren. In der Philosophie der Repräsentation ist das Spiel

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zweier Prädikate wie rot und grün nur die oberste Ebene einer komplexen Konstruktion; ganz unten herrscht der Widerspruch zwischen Rot und Nichtrot (nach dem Modus von Sein und Nichtsein); darüber dann die Nichtidentität von Rot und Grün (auf der Grundlage der negativen Probe des Wiedererkennens); und darüber erst folgt die ausschließliche Stellung von Rot und Grün (in dem Tableau, das den Gattungsbegriff Farbe spezifi­ ziert). So findet sich die Differenz zum dritten Mal - und dieses Mal noch radikaler - in ein System der Gegensätze, des Negativen und des Widerspruchs eingespannt. Wenn eine Differenz entste­ hen soll, muss das Selbe durch den Widerspruch zerlegt, seine unendliche Identität vom Nichtsein begrenzt und seine bestim­ mungslose Positivität vom Negativen bearbeitet worden sein. Aus dem ursprünglich Identischen kann Differenz nur durch diese drei Vermittlungsschritte entstehen. Wiederholung stellt sich ein, wenn die Vermittlung, kaum begonnen, gleich wieder in sich zu­ rückfällt; wenn sie statt des Neins zweimal dasselbe Ja sagt und wenn sie, statt die Gegensätze auf ein System von Beschränkun­ gen zu verteilen, immer wieder auf dieselbe Position zurückkehrt. Die Wiederholung verrät die Schwäche desselben in dem Augen­ blick, da sie unfähig ist, sich im Anderen zu negieren und sich darin wieder zu finden. Aus ihr, die doch reine Äußerlichkeit war, reine Figur des Ursprungs, wird innere Schwäche, Mangel an Endlichkeit, ein Stottern des Negativen: die Neurose der Dialek­ tik. Denn zur Dialektik führte schließlich die Philosophie der Repräsentation. Aber ist Hegel nicht gerade der Philosoph der größten Diffe­ renzen - gegenüber Leibniz als dem Denker der kleinsten? Genau genommen, befreit die Dialektik gar nicht das Abweichende, son­ dern garantiert, dass es stets wieder eingefangen wird. Die dialek­ tische Souveränität des Selben besteht darin, es sein zu lassen, aber unter dem Gesetz des Negativen, als Moment des Nichtseins. Man meint, der Subversion des Anderen beizuwohnen, doch im Gehei­ men arbeitet der Widerspruch für das Identische. Muss daran er­ innert werden, dass die Dialektik stets einen schulmeisterlichen Ursprung hat? Unfehlbar nimmt sie ihren Anfang bei dem erfun­ denen Frage-und-Antwort-Spiel zwischen Schüler und Lehrer, das immer wieder aufs Neue die Aporie des Seins und des Nicht­ seins erstehen lässt: »Dies ist rot; das ist nicht rot. - Ist jetzt Tag?

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Nein, jetzt ist Nacht.« In der Dämmerung der Oktobernacht fliegt die Eule der Minerva nicht sonderlich hoch: »Schreibt! Schreibt!«, krächzt sie. »Morgen früh wird nicht mehr Nacht sein.« Zur Befreiung der Differenz brauchen wir ein Denken ohne Widerspruch, ohne Dialektik und ohne Negation: ein Denken, das Ja zur Divergenz sagt; ein bejahendes Denken, dessen Werk­ zeug die Disjunktion ist; ein Denken der Vielfalt, der zerstreuten, nomadisierenden Mannigfaltigkeit, die sich von keinem der Zwänge des Selben begrenzen und zusammenfassen lässt; ein Denken, das nicht dem Schulmodell (mit seinen vorgefertigten Antworten) folgt, sondern unlösbare Probleme aufwirft; das heißt eine Mannigfaltigkeit aus bemerkenswerten Punkten, die sich ver­ schiebt, sobald man die verschiedenen Bedingungen betrachtet, und als ein Spiel von Wiederholungen beharrlich fortbesteht. Das Problem ist hier nicht das unvollständige, trübe Bild einer Idee, die im Himmel der Ideen von jeher die Antwort bereithielte, sondern die Idee selbst, oder anders gesagt, die Idee hat keine andere Seinsweise als die des Problems: eine unterscheidbare Plu­ ralität, deren Dunkelheit sich nicht vertreiben lässt und in der die Frage nicht zur Ruhe kommt. Was ist die Antwort auf die Frage? Das Problem. Wie lässt sich das Problem lösen? Indem man die Frage verschiebt. Das Problem entzieht sich der Logik des aus­ geschlossenen Dritten, weil es eine zerstreute Mannigfaltigkeit ist: Es lässt sich nicht durch die klare Unterscheidung der kartesi­ schen Idee lösen, weil es eine unterscheidbar-dunkle Idee ist; es gehorcht nicht dem Ernsthaften der HegePschen Negation, weil es mannigfaltige Affirmation ist; es ist nicht dem Widerspruch zwi­ schen Sein und Nichtsein unterworfen, weil es Sein ist. Statt dia­ lektisch zu fragen und zu antworten, müssen wir problematisch denken. Wie man sieht, greifen die Bedingungen für das Denken von Differenz und Unterschied immer weiter aus. Wir mussten mit Aristoteles die Identität des Begriffs aufgeben, in der Wahrneh­ mung auf die Ähnlichkeit verzichten, uns mit einem Schlage jeg­ licher Philosophie der Repräsentation entledigen, und nun müssen wir uns auch von Hegel freimachen, vom Gegensatz der Prädi­ kate, vom Widerspruch, von der Negation und von der ganzen Dialektik. Aber schon zeichnet sich die vierte, noch furchterre­ gendere Bedingung ab. Am zähesten ist die Unterwerfung der

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Differenz unter die Kategorien. Denn sie zeigen, in welch unter­ schiedlichen Weisen das Sein ausgesagt werden kann, sie spezifi­ zieren im Voraus die Formen der Attribution von Sein, geben gewissermaßen den seienden Dingen ihr Verteilungsschema vor und sichern dadurch dem höchsten Gipfel seine differenzlose Ru­ he. Die Kategorien bevormunden das Spiel der Affirmationen und Negationen, begründen de jure die Ähnlichkeiten der Darstel­ lung, garantieren die Objektivität des Begriffs und seiner Arbeit; sie unterdrücken die anarchische Differenz, verteilen sie auf Re­ gionen, begrenzen ihre Rechte und schreiben ihr die Spezifizie­ rungsaufgabe vor, die sie unter den seienden Dingen zu erfüllen hat. Einerseits kann man die Kategorien als apriorische Formen der Erkenntnis begreifen; aber andererseits erscheinen sie auch als archaische Moral, als der alte Dekalog, den das Identische der Differenz auferlegt hat. Um das zu überwinden, gilt es, ein Den­ ken zu erfinden, das ohne Kategorien auskommt. Erfinden ist jedoch nicht das richtige Wort, denn zumindest zweimal in der Geschichte der Philosophie ist die Einstimmigkeit des Seins be­ reits radikal formuliert worden: von Duns Scotus und von Spino­ za. Doch Duns Scotus dachte das Sein als neutral, Spinoza als Substanz. Für beide hatte die Ausblendung der Kategorien, die Behauptung, das Sein werde von allen Dingen in derselben Weise ausgesagt, nur ein Ziel, nämlich die Einheit des Seins unter allen Umständen zu bewahren. Wenn wir uns dagegen eine Ontologie vorstellen, in der das Sein in derselben Weise von allen Differen­ zen, aber auch nur von den Differenzen ausgesagt wird, dann verschwänden die Dinge nicht mehr wie bei Duns Scotus unter der großen monotonen Abstraktion des Seins, und Spinozas Modi kreisten nicht mehr um die substantielle Einheit; die Differenzen kreisten um sich selbst, da das Sein sich von allen Differenzen auf dieselbe Weise aussagen ließe und nicht mehr die Einheit wäre, die sie leitete und verteilte, sondern deren Wiederholung als Differen­ zen. Bei Deleuze verknüpft die akategoriale Einstimmigkeit des Seins das Viele nicht direkt mit dem Einen (als universelle Neut­ ralität des Seins oder als Ausdrucksvermögen der Substanz); für ihn ist das Sein, was in der Wiederholung von der Differenz aus­ gesagt wird; das Sein ist die Wiederkehr der Differenz, ohne dass es in der Art, wie das Sein ausgesagt wird, eine Differenz gäbe. Das Sein ist nicht auf Regionen verteilt: Das Reale ist nicht unter

das Mögliche subsumierbar; Kontingenz und Notwendigkeit sind keine Gegensätze. Ob die Schlacht von Actium und der Tod des Antonius nun notwendig waren oder nicht, das Sein wird in jedem Falle von diesen beiden Ereignissen - kämpfen, sterben - in der­ selben Weise ausgesagt; wie auch von jener phantasmatischen Kas­ tration, die stattgefunden und nicht stattgefunden hat. Die Unter­ drückung der Kategorien, die Affirmation der Einstimmigkeit des Seins und das unablässig wiederholte Kreisen des Seins um die Differenz, das waren letztlich die Bedingungen für das Denken des Phantasmas und des Ereignisses. Letztlich? Nicht ganz. Wir werden auf das »Wiederkehren« zu­ rückkommen müssen. Doch zuvor eine kleine Abschweifung. Kann man sagen, Bouvard und Pécuchet täuschten sich und begingen Irrtümer, sobald sich nur die geringste Gelegenheit dazu fände? Wenn sie sich irrten, gäbe es ein Gesetz für ihr Scheitern, und dann müsste es unter bestimmten, definierbaren Bedingungen auch möglich sein, dass sie einmal Erfolg hätten. Doch sie schei­ tern in jedem Fall, ganz gleich was sie tun, ob sie Bescheid wissen oder nicht, ob sie die Regeln korrekt anwenden oder falsch, ob das zu Rate gezogene Buch gut ist oder schlecht. Ihrem Unternehmen bleibt nichts erspart: Irrtum, Feuer und Frost, die Dummheit und Bosheit der Menschen, die Wut eines Hundes. Doch hier handelt es sich nicht um Fehler, sondern am Versagen. Einen Fehler macht, wer eine Ursache für eine andere hält; wer die zufälligen Ereignisse nicht vorhersieht; wer die Substanzen nicht hinrei­ chend kennt; wer das Mögliche mit dem Notwendigen verwech­ selt. Versagen ist etwas ganz anderes: Jemand versagt, wenn er sich das ganze Arsenal der Kategorien entgehen lässt (und nicht nur deren Anwendung). Bouvard und Pécuchet halten nicht deshalb für sicher, was in Wirklichkeit nur wenig wahrscheinlich ist, weil sie sich im unterscheidenden Umgang mit dem Möglichen irrten, sondern weil sie das ganze Wirkliche mit dem ganzen Möglichen verwechseln (deshalb werden selbst ihre selbstverständlichsten Erwartungen von den unwahrscheinlichsten Ereignissen durch­ kreuzt). Sie vermengen - oder vielmehr: in ihnen vermengen sich - die Notwendigkeit ihres Wissens und die Zufälle der Jahres­ zeiten, die Existenz der Dinge und all die Schatten, von denen

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die Bücher bevölkert sind: Der Zufall hat bei ihnen die Hartnä­ ckigkeit einer Substanz, und die Substanzen gehen ihnen in den unwahrscheinlichsten Zufällen geradewegs an die Gurgel. Ihre Dummheit ist von pathetischer Größe und lässt sich nicht mit der dürftigen Dummheit ihrer Mitmenschen vergleichen, die sie zu Recht verachten. Innerhalb der Kategorien irrt man sich; au­ ßerhalb, oberhalb, jenseits der Kategorien ist man dumm. Bou­ vard und Pécuchet sind akategoriale Wesen. Das macht es uns möglich, eine weniger offenkundige Verwen­ dung der Kategorien zu erkennen: Indem sie einen Raum des Wah­ ren und Falschen aufspannen und damit erst Raum für den Irrtum schaffen, verbannen sie unauffällig die Dummheit. Mit lauter Stim­ me sagen die Kategorien uns, wie wir erkennen, und warnen uns feierlich vor möglichen Irrtümern; doch mit leiser Stimme garan­ tieren sie uns, dass wir intelligent sind; sie bilden das Apriori der ausgeschlossenen Dummheit. Darum ist es gefährlich, auf die Ka­ tegorien verzichten zu wollen. Kaum ist man ihnen entkommen, steht man vor dem Magma der Dummheit; und hat man diese Verteilungsprinzipien aufgegeben, läuft man Gefahr, um sich he­ rum nicht die wunderbare Mannigfaltigkeit der Differenzen erste­ hen zu sehen, sondern das »Gleichgültige«, das Wirre, das »alles läuft aufs selbe hinaus«, die eintönige Nivellierung und die Ther­ modynamik der misslungenen Bemühungen. In der Form der Ka­ tegorien denken heißt, das Wahre zu erkennen, um es vom Fal­ schen zu unterscheiden. »Akategorial« denken heißt dagegen, die schwarze Dummheit ins Auge zu fassen und sich einen winzigen Augenblick lang davon zu unterscheiden. Die Dummheit kann man betrachten; man schaut hinein, lässt sich von ihr faszinieren, sich von ihr tragen; man ahmt sie nach, indem man sich ihr hingibt; man sucht Halt in ihrer Formlosigkeit, hält Ausschau nach der ersten Zuckung der unmerklichen Differenz, und mit leerem, küh­ lem Blick beobachtet man die Rückkehr des Lichts. Man sagt nein zum Irrtum und versagt; man sagt ja zur Dummheit und sieht sie, wiederholt sie, wünscht sich, vollständig darin einzutauchen. Die Größe Warhols mit seinen Konservendosen, seinen stupi­ den Unfällen, seinen Serien werbewirksam lächelnder Gesichter: die Gleichwertigkeit von Mund und Nahrung bei diesen halb geöffneten Lippen, diesen Zähnen, diesen Tomatensaucen, dieser Hygiene der Reinigungsmittel; die Gleichwertigkeit eines Todes

in einem aufgeschlitzten Auto, am Ende einer Telegraphenleitung auf einem Mast, zwischen den bläuliche Funken sprühenden Armlehnen des elektrischen Stuhls. »Gleichviel« sagt die Dumm­ heit und versinkt in sich selbst; durch das, was sie sagt, verlängert sie ins Unendliche, was sie ist: »Hier oder anderswo immer das­ selbe. Was zählen ein paar Unterschiede der Farbe oder der Hel­ ligkeit? Wie dumm ist doch das Leben, die Frau, der Tod. Wie dumm ist doch die Dummheit.« Aber betrachtet man diese gren­ zenlose Gleichförmigkeit genauer, zeigt sich plötzlich die Man­ nigfaltigkeit - mit nichts im Zentrum, nichts an der Spitze und nichts dahinter. Ein Blitz leuchtet auf, der sich noch schneller bewegt als der Blick und nacheinander diese veränderlichen Eti­ ketten, diese Momentaufnahmen ans Licht holt, die von nun an zu Zeichen werden, ohne etwas zu formulieren. Vor dem Hinter­ grund der alten gleichgültigen Trägheit zerreißt die Zeichnung des Ereignisses die Dunkelheit, und das ewige Phantasma findet seinen Ausdruck in dieser einzigartigen Dose, diesem einzigarti­ gen Gesicht, denen jede Tiefe abgeht. Die Intelligenz antwortet nicht auf die Dummheit; sie ist die besiegte Dummheit, die Kunst, mit Hilfe der Kategorien Irrtümer zu vermeiden. Der Wissenschaftler ist intelligent. Aber das Den­ ken begegnet der Dummheit, der Philosoph versenkt sich in ihre Betrachtung. Lange verweilt sein Blick auf diesem lichtlosen Schä­ del. Das ist sein Totenschädel, seine Versuchung, sein Begehren, sein katatones Theater. Letztlich wäre Denken nichts anderes, als die Dummheit intensiv, aus nächster Nähe zu betrachten, bis man sich fast darin verliert. Und der Überdruss, die Unbeweglichkeit, eine große Müdigkeit, ein verstocktes Schweigen sind die andere Seite des Denkens - oder vielmehr dessen Begleiter, die tägliche undankbare Übung, die es vorbereitet und plötzlich von ihm zer­ streut wird. Der Philosoph muss böswillig genug sein, um das Spiel der Wahrheit und des Irrtums nicht ganz korrekt zu spielen; dieser böse Wille, der sich im Paradoxon äußert, ermöglicht es ihm, den Kategorien zu entkommen. Aber er muss auch »übel­ launig« genug sein, um der Dummheit ins Auge zu sehen, sie unverwandt bis hin zur Verblüffung zu betrachten, sich ihr an­ zunähern und sie nachzuahmen, sie langsam in sich aufsteigen zu lassen (vielleicht ist das gemeint, wenn man sagt, jemand sei in Gedanken versunken) und um am niemals im Voraus festzule-

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HL genden Ende dieser sorgfältigen Vorbereitung den Schock der Differenz zu erwarten: Die Katatonie spielt das Theater des Den­ kens, sobald das Paradoxon das Tableau der Darstellung erschüt­ tert hat. Nun sieht man auch leicht, wie LSD das Verhältnis zwischen schlechter Laune, Dummheit und Denken umzukehren vermag. Es setzt nicht die Oberhoheit der Kategorien außer Kraft, sondern entzieht der Indifferenz den Boden und reduziert die stumpfsin­ nige Nachahmung der Dummheit auf null. Und diese ganze ein­ stimmige, akategoriale Masse erscheint nun nicht nur als bunt, beweglich, asymmetrisch, dezentriert, spiralförmig und klingend, sondern wimmelt plötzlich von Phantasma-Ereignissen. Von sei­ ner katatonen Verpuppung befreit, gleitet das Denken über diese punktuelle und zugleich vibrierende Fläche hinweg und versenkt sich in die Betrachtung der unendlichen Gleichgültigkeit, aus der nun zugespitztes Ereignis und reich geschmückte Wiederholung geworden ist. Opium hat eine andere Wirkung. Unter seiner Ein­ wirkung sammelt das Denken an seiner Spitze die einzigartige Differenz, schiebt den Hintergrund in weite Ferne zurück und zieht aus der Unbeweglichkeit die Aufgabe hervor, die Dummheit zu betrachten und sie durch Nachahmung zu sich zu rufen. Opium erzeugt eine schwerelose Unbeweglichkeit, es führt zu einer Schmetterlingserstarrung ohne katatone Steifheit. Und weit dahin­ ter entfaltet es einen Hintergrund, der nicht mehr stumpfsinnig alle Differenzen verschluckt, sondern sie als winzige, ferne, lächelnde, ewige Ereignisse aufleuchten lässt. Die Droge - wenn man diesen Ausdruck denn überhaupt sinnvoll im Singular benutzen kann hat nichts mit wahr und falsch zu tun; nur Kartenlegerinnen öffnet sie eine Welt, die »wahrer als die Wirklichkeit« ist. Tatsächlich verschiebt sie Dummheit und Denken gegeneinander und nimmt dem unbeweglichen Theater seine alte Notwendigkeit. Aber wenn das Denken der Dummheit ins Gesicht sehen muss, dann gilt für die Droge, die sie mobilisiert, vielleicht, dass sie die Dummheit mit Farben versieht, in Bewegung setzt, mit Furchen überzieht, sie zerstreut, sie mit Differenzen bevölkert und den seltenen Blitz durch ein kontinuierliches Leuchten ersetzt, so dass sie vielleicht nur zu einem Scheindenken führt. Vielleicht.11 Zumindest wäh11 »Was wird man von uns denken?« (Gilles Deleuze).

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rend des Entzugs besitzt das Denken zwei Hörner: das eine ist der böse Wille (der die Kategorien aus dem Spiel bringt), das andere die schlechte Laune (die auf die Dummheit zeigt und sich nicht weiter darum schert). Wir sind weit entfernt von dem alten Weisen, der sich mit so viel gutem Willen um die Wahrheit bemühte, dass er die indifferente Vielfalt der Schicksale und der Dinge mit Gleichmut aufnimmt; weit von Schopenhauers Pessimismus, der sich von den Dingen verdrießen lässt, die nicht von selbst in ihre Indifferenz zurückkehren; aber auch weit von der »Melancholie«, die der Welt mit Gleichgültigkeit begegnet und deren Unbeweglichkeit neben den Büchern und der Kugel für die Tiefe des Denkens und die Vielfalt des Wissens steht. Das Denken gibt sich übellaunig, spielt mit seinem schlechten Willen und erwartet so den Ausgang dieser perversen Übung und dieses Theaters: die plötzlich auftretende Differenz des Kaleidoskops, die für einen Augenblick aufleuch­ tenden Zeichen, die Seite der geworfenen Würfel, das Ende eines anderen Spiels. Denken spendet keinen Trost und macht nicht glücklich. Denken zieht sich in die Länge wie eine Perversion; Denken ist eifrige Wiederholung auf einer Bühne; Denken fällt mit einem Male aus dem Würfelbecher. Und wenn der Zufall es will, wenn Theater und Perversion in Resonanz zueinander treten, wenn der Zufall will, dass alle drei in Resonanz treten, dann ist Denken Trance; und es hat sich gelohnt, zu denken. Die Einstimmigkeit des Seins, das sich nur auf eine einzige Art und Weise aussagen lässt, ist paradoxerweise die wichtigste Vo­ raussetzung dafür, dass die Identität nicht die Differenz be­ herrscht und das Identitätsgesetz sie nicht als bloßen Gegensatz im Element des Begriffs fixiert. Das Sein lässt sich stets auf ein und dieselbe Weise aussagen, weil die Differenzen nicht von vorneherein durch die Kategorien reduziert werden, weil sie sich nicht auf eine von der Wahrnehmung stets wieder erkennbare Mannigfaltigkeit verteilen, weil sie sich nicht gemäß der Begriffs­ hierarchie nach Gattungen und Arten ordnen. Das Sein ist das, was sich stets von der Differenz aussagen lässt; es ist die Wieder­ kunft der Differenz.12 12 Siehe dazu Différence et Répétition, S. 52-61, S. 376-384 [dt. S. 58-66, S. 365-373]; Logique du $en$y S. 190-197, S. 208-211 [dt. S. 203-210, S. 221-225].

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Wiederkunft ist weder Werden noch Wiederkehr. Denn die Dif­ ferenzen sind nicht die Elemente - und nicht einmal die bruch­ stückhaften, vermischten, monströs vermengten Elemente - eines großen Werdens, das sie mit sich trüge und gelegentlich nackt oder maskiert hervortreten ließe. Die Synthese des Werdens mag schwach sein, sie bewahrt dennoch ihre Einheit; nicht nur und nicht so sehr die Einheit eines unendlichen Inhalts, sondern die des Fragments, eines Augenblicks, der vergeht und wiederkehrt, und die des schwebenden Bewusstseins, das ihn wieder erkennt. Misstrauen wir also Dionysos und seinen Bacchantinnen, so trun­ ken sie sein mögen. Und muss es sich bei der Wiederkehr denn unbedingt um den vollkommenen Kreis handeln, das gut ge­ schmierte Mühlrad, das sich um seine Achse dreht und zur fest­ gesetzten Stunde Dinge, Figuren und Menschen wiederkehren lässt? Muss es unbedingt ein Zentrum geben und einen Umfang, auf dem die Ereignisse wiederkehren? Selbst Zarathustra fand diesen Gedanken unerträglich: »Alles Gerade lügt, murmelte ver­ ächtlich der Zwerg. Alle Wahrheit ist krumm, die Zeit selber ist ein Kreis. - Du Geist der Schwere, sprach ich zürnend, mache dir es nicht zu leicht!« Und der genesende Zarathustra seufzt: »Ach der Mensch kehrt ewig wieder! Der kleine Mensch kehrt ewig wieder!« Vielleicht verkündet Zarathustra gar nicht den Kreis; oder vielleicht ist das unerträgliche Bild des Kreises nur das letzte Zeichen eines höheren Denkens. Vielleicht müssen wir mit dem listigen Kreis brechen wie der junge Hirte oder auch wie Zara­ thustra selbst, als er der Schlange den Kopf abbeißt und ihn aus­ speit. Chronos ist die Zeit des Werdens und des neuerlichen Anfangs. Chronos verschlingt Stück für Stück, was er hat entstehen lassen, und lässt es zu seiner Zeit wieder erstehen. Das monströse, regel­ lose Werden, das große Verschlingen jeglichen Augenblicks, jeg­ lichen Lebens und das Zerstreuen seiner Glieder sind an die Ge­ nauigkeit des neuerlichen Anfangs geknüpft: Das Werden zieht in dieses große Labyrinth alles hinein, was sich nicht in seinem We­ sen von dem darin hausenden Ungeheuer unterscheidet; doch tief in diesem verwinkelten, gänzlich in sich geschlossenen Bau macht ein fester Faden es möglich, die Spur seiner früheren Schritte wie­ der zu finden und dasselbe Licht wiederzusehen. Dionysos mit Ariadne: Du bist mein Labyrinth. Aion dagegen ist die Wieder­

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kunft selbst, die gerade Linie der Zeit, der Riss, der schneller ist als das Denken, kürzer als jeder Augenblick, der beiderseits seines endlos schneidenden Pfeils dieselbe Gegenwart als bereits von jeher gegenwärtig und auf ewig kommend erstehen lässt. Es ist wichtig zu begreifen, dass es sich hier nicht um eine Folge von Gegenwarten handelt, die von einem stetigen Strom getragen wür­ den und in ihrer Fülle die dichte Schicht der Vergangenheit durch­ scheinen ließe, während sich am Horizont die Zukunft abzeich­ net, deren Vergangenheit sie ihrerseits sein werden. Vielmehr schneidet die gerade Linie der Zukunft wieder und wieder die Gegenwart, zerlegt sie in so viele Schichten, dass man, so weit man auch vorzudringen versuchte, dennoch niemals auf das nicht weiter teilbare Atom stieße, das man als kleinste Einheit der Ge­ genwart begreifen könnte (die Zeit ist stets weiter teilbar als das Denken). An beiden Rändern des Risses findet man stets, dass es bereits geschehen ist (dass es bereits geschehen war und dass es bereits geschehen war, dass es bereits geschehen war) und dass es erst geschehen wird (und dass es noch geschehen wird, dass es noch geschehen wird). Es ist weniger ein Schnitt als eine endlose Faserung. Die Zeit ist das, was sich wiederholt; und die Gegen­ wart - von jenem Pfeil der Zukunft zerschnitten, der sie trägt, indem er sie ständig von der einen auf die andere Seite trägt -, die Gegenwart ist endlose Wiederkunft. Aber sie kommt wieder als einzigartige Differenz; keine Wiederkehr erlebt dagegen das Analoge, Ähnliche, Identische. Die Differenz kehrt wieder; und das Sein, das sich in derselben Weise von der Differenz aussagen lässt, ist nicht der universelle Strom des Werdens und auch nicht der genau zentrierte Kreislauf des Identischen; das Sein ist die gegenüber der Krümmung des Kreises versetzte Wiederkehr, die Wiederkunft. Drei Tode: Tod des Werdens, verschlingender Vater und gebärende Mutter; Tod des Kreises, durch den in jedem Früh­ ling die Gabe des Lebens in die Blumen zurückkehrt; Tod der Wiederkunft, vielfältig wiederholte Faserung der Gegenwart, ewi­ ger und zufälliger Riss, der ganz und gar und ein für alle Mal mit einem Schlage in seiner Positivität hervortritt* In ihrem Bruch und ihrer Wiederholung ist die Gegenwart das Werfen eines Würfels. Sie ist nicht Teil eines Spiels, in dem es ein wenig Kontingenz oder ein Korn Ungewissheit gäbe. Sie ist der Zufall im Spiel und zugleich das Spiel als Zufall; der Wurf des

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Würfels ist zeitgleich mit der Aufstellung der Regeln. Der Zufall ist nicht zerstückelt und hier oder dort verteilt; er tritt mit einem Schlage in seiner ganzen Positivität hervor. Die Gegenwart als Wiederkehr der Differenz, als von der Differenz ausgesagte Wie­ derholung, lässt den ganzen Zufall mit einem Male in seiner Po­ sitivität erscheinen. Bei Duns Scotus verwies die Einstimmigkeit des Seins auf die Unbeweglichkeit der Abstraktion, bei Spinoza auf die Notwendigkeit und Ewigkeit der Substanz; hier dagegen verweist sie allein auf den Zufall im Riss der Gegenwart. Das Sein lässt sich nicht deshalb stets auf dieselbe Weise aussagen, weil es eins wäre, sondern weil im Würfelwurf der Gegenwart der ganze Zufall in seiner Positivität hervortritt. Kann man sagen, die Einstimmigkeit des Seins sei in der Ge­ schichte dreimal gedacht worden? Von Duns Scotus, von Spinoza und dann von Nietzsche, der sie erstmals nicht als Abstraktion oder als Substanz, sondern als Wiederkehr verstanden hätte? Sa­ gen wir lieber, Nietzsche hat sich bis zum Gedanken der ewigen Wiederkehr vorgewagt; oder genauer, er hat diesen Gedanken als unerträglich empfunden. Unerträglich für das Denken, weil er sich, kaum dass er hervorgetreten ist, im Bild jenes Kreises ver­ fängt, der sich in der ewigen Wiederkehr aller Dinge zu verlieren droht - Wiederholung nach Art der Spinne. Doch gerade dieses Unerträgliche gilt es zu denken, denn es ist nur ein leeres Zeichen; eine Ausfallpforte, die geöffnet werden muss; die Stimme über jenem Abgrund, an den heranzutreten Glück und Ekel bedeutet. Zarathustra ist der »Fürsprecher«13 der Wiederkehr; einer der für sie und an ihrer Stelle spricht und den Ort bezeichnet, an dem sie noch nicht ist. Zarathustra ist kein Bild, sondern ein Zeichen. Ein Zeichen für den Bruch (und nicht etwa dessen Symptom). Das Zeichen, das dem Unerträglichem im Gedanken der Wiederkehr am nächsten kommt. Nietzsche hat es uns als Aufgabe hinterlas­ sen, die ewige Wiederkehr zu denken. Seit nahezu einem Jahr­ hundert ist es die höchste Aufgabe der Philosophie, diese Wieder­ kehr zu denken. Aber wer wollte behaupten, er hätte sie gedacht? Sollte die Wiederkehr etwas sein, das ähnlich dem Ende der Ge­ schichte im 19. Jahrhundert nur wie eine Phantasmagorie des Weltuntergangs in unseren Köpfen zu spuken vermag? Sollten 13 [Im Original deutsch, A.d.Ü.]

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wir dieses von Nietzsche gleichsam überschüssig gesetzte leere Zeichen nach und nach mit mythischen Inhalten füllen, die ihm seinen Stachel nehmen und es reduzieren? Oder sollten wir im Gegenteil versuchen, es zurechtzustutzen, damit es in einen Dis­ kurs passt und dort erhobenen Hauptes auftreten kann? Oder sollen wir auf dieses überschüssige, ständig verschobene und stets als Lücke präsente Zeichen eingehen und es, statt willkürlich eine passende Bedeutung dafür zu finden und ein Wort daraus zu kon­ struieren, mit dem großen Signifikat in Resonanz bringen, das unser Denken heute umtreibt: Sollten wir die Wiederkunft mit der Differenz in Resonanz bringen. Das soll nicht heißen, dass die Wiederkehr die Form und die Differenz deren Inhalt wäre; sondern dass von einer ständig nomadisierenden, anarchischen Differenz ein Licht auf das stets überschüssige und ständig ver­ schobene Zeichen der Wiederkehr gefallen ist, ein Licht, das ein­ mal den Namen Deleuze tragen wird. Ein neues Denken ist mög­ lich geworden; es ist überhaupt wieder möglich, zu denken. Dieses Denken ist kein Versprechen, das in ferner Zukunft ein­ mal Wirklichkeit werden soll. Es ist da, in den Texten von De­ leuze; es springt und tanzt vor unseren Augen, mitten unter uns. Genitales Denken, intensives Denken, affirmatives Denken, akategoriales Denken - sämtlich Gesichter, die wir nicht kennen; Masken, die wir noch nie gesehen haben; eine Differenz, die nicht vorherzusehen war und dennoch als Masken ihrer Masken Platon, Duns Scotus, Spinoza, Leibniz, Kant und alle Philosophen wie­ derkehren lässt. Die Philosophie nicht als Denken, sondern als Theater: wo auf vielen Bühnen flüchtige, kurzlebige Szenen ge­ spielt werden; wo die Gebärden einander Zeichen geben, ohne einander zu sehen; wo unter der Maske des Sokrates plötzlich das Lachen des Sophistes erklingt; wo Spinozas Modi ein dezentriertes Rondo anführen, während die Substanz sie wie ein irrer Planet umkreist; wo ein hinkender Fichte erklärt: »Zerrissenes Ich £ aufgelöstes Ich«; wo Leibniz, auf dem Gipfel der Pyramide angelangt, in der Dunkelheit erkennt, dass die Himmelsmusik Pierrot lunaire ist. Duns Scotus streckt den Kopf aus dem kreis­ runden Fensterchen des Schilderhauses am Luxembourg; er hat einen gewaltigen Schnurrbart; es ist der von Nietzsche, als Klossowski verkleidet. Übersetzt von Michael Bischoff

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81 Wachsen und vermehren »Croître et multiplier«, in: Le MondeyNr. 8037, 15.-16. November 1970, S. 13. (Über François Jacob, La Logique du vivant. Une histoire de l>héréditéy Paris, Gallimard, 1970; dt.: Die Logik des Lebendigen. Von der Urzeugung zum genetischen Codey Frankfurt am Main 1972.)

François Jacob hat ein wirklich großes Buch der Geschichtsschrei­ bung verfasst. Er erzählt nicht, wie nach und nach die Gesetze und Mechanismen der Vererbung entdeckt wurden, sondern berichtet von der Umwälzung des ältesten überkommenen Wissens des Ok­ zidents durch die Genetik, die zunächst im Stillen, in langwieriger Arbeit und gleichsam durch unterirdische Gräben hindurch ver­ läuft, die im letzten Jahrhundert angelegt worden waren; und die uns dann plötzlich unter großem Getöse die alltäglichsten Ver­ trautheiten raubt. Dieses bemerkenswerte Buch sagt uns wie und warum man das Leben, die Zeit, das Individuum, den Zufall ganz anders denken muss. Und dies nicht an den Grenzen der Welt, sondern genau hier, in der kleinen Maschinerie unserer Zellen. Wissen ist nicht dazu bestimmt, uns zu trösten: es enttäuscht, beunruhigt, schneidet, verletzt. François Jacob demonstriert dies: die Biologie zeigte seit dem Ende des 18. Jahrhunderts keine Nachsicht gegen all das, was wir um uns herum geschart hatten, um das Unvorhersehbare zu bannen. Über Jahrhunderte hatte der Mensch die frühere Arbeit Adams mühsam noch einmal getan: er hatte den Tieren, den Kieseln und den Pflanzen Namen gegeben und sie klassifiziert; er hatte eingeteilt, aufgestellt, die Lücken ausgefüllt, hatte diese große Kette der Lebewesen geknüpft, die sich bruchlos vom Mineral - schwarze Vegetation im beinahe unveränderlichen Herzen der Dinge - bis zum vernünftigen, von einer Seele gekrönten Lebewesen erstrecken sollte. Dieses Reich haben vier Erschütterungen im Verlauf von hun­ dertfünfzig Jahren vollständig umgewälzt. François Jacob gibt je­ der einen Namen, und zwar den des sich jeweils konstitutierenden Gegenstandsbereichs, der der Biologie ein neues Erfahrungsfeld

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eröffnet und in die sich die Beobachtungen, die Begriffe, die Hypo­ thesen einfügen: die Organisation, die Zeit, das Gen, das Molekül. Die Anatomie Cuviers sprengte die alte Kette der Wesen und setzte die großen Klassen nebeneinander. Darwin demütigte den Menschen möglicherweise dadurch, dass er ihn vom Affen ab­ stammen ließ; sehr viel wichtiger jedoch war, dass er durch die Untersuchung der Zufallsvariationen einer Population im Zeitver­ lauf das Individuum seiner Privilegien beraubte. Mendel und spä­ ter die Genetiker zerlegten das Lebende in Erbmerkmale, deren Träger Chromosomen sind, die die sexuelle Reproduktion gemäß berechenbarer Wahrscheinlichkeiten kombiniert, die nur Mutatio­ nen plötzlich durchbrechen können. Schließlich hat die Moleku­ larbiologie im Zellkern eine Verbindung zwischen Nukleinsäuren und Proteinen entdeckt, die arbiträr ist wie ein Code; mehr noch: sie hat bei der Übertragung dieses Codes Irrtümer, Auslassungen, Vertauschungen ermittelt, vergleichbar den Fehlern oder unfrei­ willigen Erfindungen eines Schreibers, der einen Augenblick lang zerstreut ist. Das ganze Leben hindurch spielt der Zufall mit dem Diskontinuierlichen. Man sagt oft, dass der Mensch seit Kopernikus daran leidet, dass er weiß, dass er sich nicht mehr im Zentrum der Welt be­ findet: die große kosmologische Enttäuschung. Die biologische und zelluläre Enttäuschung ist anderer Art: sie lehrt uns, dass das Diskontinuierliche uns nicht nur begrenzt, sondern zugleich durchdringt: sie lehrt uns, dass die Würfel uns regieren. Die Genetik kränkt uns noch auf vielfältige andere Weisen; sie verletzt einige der grundlegenden Postulate, in denen sich, auf konfuse Art und Weise, unsere vergänglichen Wahrheiten bilden und einige unserer alterslosen Träume verdichten. Das Buch von François Jacob stellt sie erneut in Frage. Ich werde mich darauf beschränken, eines der am besten ver­ ankerten in Erinnerung zu rufen: dasjenige, das die Fortpflanzung vom Individuum, seinem Wachstum und seinem Tod abhängig macht. Lange Zeit glaubte man, dass die Fortpflanzung für das im Sinne seines Wachstums »reife« Individuum ein Mittel bedeu­ tete, sich gewissermaßen über sich selbst hinaus zu verlängern und den Tod zu kompensieren, indem es sich durch die ferne Verdopp­ lung seiner Form in die Zukunft überträgt. Man benötigte fünfzig Jahre, um zu erkennen, dass der Metabolismus der Zelle und die

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Mechanismen des Wachstums des Individuums durch einen Code bestimmt sind, der in der DNA des Zellkerns festgelegt ist und durch Botenelemente übertragen wird, um zu wissen, dass die gesamte chemische Miniaturfabrik eines Bakteriums darauf ge­ richtet ist, ein zweites zu produzieren (dies ist sein »Traum«, wie François Jacob sagt), um zu wissen, dass die komplexeren Organisationsformen (mit der Sexualität, dem Tode, ihrem Beglei­ ter, den Zeichen und der Sprache, ihren fernen Effekten) nichts anderes sind als Umwege, um immer wieder die Reproduktion zu sichern. Ja gewiss, das Ei existiert vor der Henne. So lange man es zu tun hat mit einem, relativ gesehen, so einfachen Organismus wie ei­ nem Bakterium, kann man dann wirklich von einem Individuum sprechen? Kann man sagen, dass es einen Anfang hat, da es schließlich nur die Hälfte einer früheren Zelle ist, die ihrerseits die Hälfte einer anderen Zelle war und so weiter bis in die fernste Vergangenheit des ältesten Bakteriums der Welt? Und kann man sagen, dass es stirbt, wenn es sich teilt, zwei Bakterien Platz macht, die unablässig bestrebt sind, sich alsbald ihrerseits zu tei­ len? Das Bakterium: eine Reproduktionsmaschine, die ihren Re­ produktionsmechanismus reproduziert, ein Erbmaterial, das sich um seiner selbst willen ins Unendliche vermehrt, reine Wieder­ holung vor der Singularität des Individuums. Im Verlauf der Evo­ lution war das Lebende eine Verdopplungsmaschine, bevor es in­ dividueller Organismus wurde. Es kommt indes vor, dass zur Übertragung dieser Erbinforma­ tionen zwei distinkte Zellen erforderlich sind, von denen jede ihre Chromosomen trägt, die in Verbindung treten, um den Kern einer neuen Zelle zu bilden. Dies ist das Prinzip der geschlechtlichen Fortpflanzung: auf seiner Grundlage kann man vom Auftreten eines Individuums sprechen, das seinerseits und in mehr oder weniger langen Zyklen sexuelle Zellen tragen wird, die fähig sind, sich zu kombinieren: es selbst hat dann nur noch zu verschwin­ den. Geburt und Tod der Individuen sind die Lösung, die die Evolution wählte, um die geschlechtliche Fortpflanzung zu be­ gleiten. Der Tod, sagt François Jacob, ist »eine im genetischen Programm ex ovo vorgeschriebene Notwendigkeit«.1 1 S. 331 [frz. Ausg.] und S. 329 [dt. Ausg.].

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Man muss daher die vertraute Reihe umkehren: das Individuum (das geboren wird und stirbt), die Sexualität (die es ihm ermög­ licht, sich fortzupflanzen), die Vererbung (die Generationen nach und nach über die Zeit hinweg verbindet). Man muss sagen, dass das Lebende zunächst und vor allem ein Vererbungssystem ist; dass die Sexualität, die Geburt und der Tod der Individuen nur verdeckte Weisen darstellen, das Erbgut weiterzugeben. Das alte Gesetz schrieb vor: »Wachset und mehret Euch«, als ob es zu verstehen gäbe, dass die Vermehrung nach dem Wachstum käme und um sie zu verlängern. Das Neue Testament der Biologie sagt demgegenüber: »Vermehrt Euch, vermehrt Euch: Dann werdet Ihr wachsen, als Art und als Individuen; die Sexualität, der Tod werden Euch dabei bereitwillig helfen.« Gilt es hier eine zweite große Kränkung zu erkennen, die der von der Psychoanalyse ausgehenden, die vom Begehren sprechen lässt, wenn der Mensch es zum Schweigen bringen oder darum herumreden möchte, zugleich ähnlich und verschieden ist? Wir stehen nun vor der erstaunlichen »Ungeniertheit« der Biologie, die den Reproduktionsdrang sogar vor das Individuum stellt. Für die Wissenschaften vom Leben blieb die Kenntnis der Ver­ erbung lange Zeit marginal. Noch in der Mitte des 19. Jahrhun­ derts wusste man nicht genau, gemäß welcher Gesetze die Erb­ eigenschaften im Verlaufe der Generationen und Kreuzungen verschwanden und wieder auftraten. Mendels Formulierung die­ ser einfachen Arithmetik blieb lange Zeit toter Buchstabe, aber was im Laufe des 19. Jahrhunderts von den Physiologen auf der Ebene der Zelle, von den Mikrobiologen über die Bakterien, durch die Chemiker und Biochemiker in Bezug auf die Diastase, die Enzyme und Proteine analysiert wurde, gestattete schließlich zu zeigen, dass das Lebewesen ein Vererbungssystem ist, und setzte zugleich die Genetik an die Spitze aller biologischen Wis­ senschaften. Dies gestattete der Genetik, sich in einer Rückwende wieder all den Gebieten zuzuwenden, die sie von langer Hand vorbereitet hatten, deren Platz zu definieren und sich selbst als erste allgemeine Theorie lebender Systeme zu präsentieren. Dies ist es, was François Jacob in seinem Buch analysiert und erklärt. »Geschichte der Vererbung« lautet allzu bescheiden der (französische) Untertitel. In Wirklichkeit handelt es sich um eine Geschichte der gesamten Biologie; es geht um deren umfassende

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Neueinteilung in der gegenwärtigen Epoche; es geht vor unseren Augen um die Grundlegung einer ebenso wichtigen und revolu­ tionären Theorie wie dies zu ihrer Zeit die Theorien von Newton oder Maxwell waren (und an deren Entwicklung François Jacob selbst wesentlichen Anteil hatte). Kurz, es handelt sich um die größte Umwälzung des Wissens, die sich um uns herum vollzieht. Und hier tritt eines der für unser Denken befremdlichsten Er­ gebnisse der modernen Biologie auf - auf den ersten Blick eines der enttäuschendsten und letztlich doch wunderbarsten: sie raubt uns genau das, was wir seit so langer Zeit von ihr erwarten: das Geheimnis des Lebens selbst. Tatsächlich analysiert sie das Leben­ de nach der Art eines im Kern niedergelegten Programms, das für den Organismus die Grenzen seiner möglichen Reaktionen fest­ legt; alles vollzieht sich so, als ob angesichts eines beliebigen Sti­ mulus eine Konsultation des Programms erfolgte, Information durch Boten übermittelt, Anweisungen weitergegeben, Befehle umgesetzt würden. Entscheidend ist zunächst, wie man sieht, dass das Alphabet des Programms nicht dem gleicht, was es vorschreibt; das Lebende, so formuliert François Jacob, schreibt nicht auf Chinesisch; Arbitrarität durchzieht die grundlegenden Strukturen der lebenden Zelle, und dies absolut universell. Man muss jedoch überdies beachten, dass die Interpreten hier die Reaktionen selbst sind: es gibt keinen Leser, keinen Sinn, sondern ein Programm und eine Produktion. Es ist sinnlos, hier von einer Sprache zu sprechen, und sei es die Sprache »der Natur«. Die Biologie besaß lange Zeit sehr spannungsgeladene Verbin­ dungen zur Chemie, zur Physik, zur Maschinentechnik. Den Re­ duktionsversuchen setzte man das Prinzip der Nichtreduzierbar­ keit entgegen. Man erklärte, dass die Chemie vom Leben nur parzellierte und willkürlich geschnittene Prozesse untersuche; in­ dem sie nur das verschwindend Kleine untersuche, vernachlässige sie die Spezifität des Ganzen; denen jedoch, die nur das Ganze des Individuums oder die Masse einer Population in ihrem Milieu betrachten wollten, hielt man entgegen, dass sie eine komplette Metaphysik des Lebens eindringen ließen. Seitdem die Biologie die ultramikroskopische Ebene des Moleküls erreichte, konnte sie schließlich begreifen, wie sich auf der Ebene der Massen und in der Abfolge der Jahrtausende die Transmission der Vererbung, das

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Spiel der Mutationen und die Gesetze der evolutiven Selektion vollzogen. All diese kleinen Maschinerien der Physikochemie be­ gründen die Darwinsche Theorie und erklären die wachsende Komplexität der Arten im Laufe der Geschichte der Welt. Bedeutet dies die Rückkehr zur Tier-Maschine, den Triumph der Existenz-Fermentation, da nun die mysteriöse Besonderheit des Lebens verschwunden ist? Die Frage macht kaum noch Sinn; man kann jetzt jedoch sagen, in welchem Maße die Zelle ein Sys­ tem physikochemischer Reaktionen ist, in welchem Maße sie wie eine Rechenmaschine funktioniert. Nunmehr steht der Begriff des Programms im Mittelpunkt der Biologie. Eine Biologie ohne Leben? Wir stehen damit zum dritten Mal vor der Notwendigkeit, ganz anders zu denken als zuvor. Kann man diese produktive Ernüchterung mit derjenigen vergleichen, die man heute erfährt, wenn man gewahr wird, dass man den »Menschen« oder die »menschliche Natur« meiden muss, wenn man die Systeme der Gesellschaft und des Menschen analysieren will? Hören wir auf die glänzende Lektion von François Jacob: »Man untersucht heute in den Labors nicht mehr das Leben. Man sucht nicht mehr dessen Konturen zu erfassen. Man bemüht sich lediglich, lebende Systeme zu analysieren, ihre Struktur, ihr Funk­ tionieren, ihre Geschichte... Ein lebendes System zu beschreiben heißt, sich sowohl auf die Logik seiner Organisation wie auf die seiner Evolution zu beziehen. Die Biologie interessiert sich heute für die Algorithmen der lebenden Welt.« Man kann das Leben nicht länger als große kontinuierliche und absichtsvolle Erschaffung von Individuen denken; man muss das Lebende als das kalkulierbare Spiel des Zufalls und der Reproduk­ tion denken. Das Buch von François Jacob ist die bemerkenswer­ teste Geschichte der Biologie, die jemals geschrieben wurde: es lädt jedoch gleichzeitig zu einem großen Wiedererlernen des Den­ kens ein. Die Logik des Lebenden zeigt zugleich, welches Wissen für die Wissenschaft erforderlich war und was dieses Wissen das Denken selbst kostet. Übersetzt von Hermann Kocyba

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82 Wahnsinn, Literatur, Gesellschaft »Kyoki, bungaku, shakai« (Gespräch mit T. Shimizu und M. Watanabe; übers, von R. Nakamura), Bungei 12 (Dezember 1979), S. 266-285.

T Shimizu: Wir freuen uns sehr, Michel Foucault, dass Ihr Auf­ enthalt in Japan uns Gelegenheit gibt, mit Ihnen zu sprechen. Seit dem Erscheinen von Les Mots et les Choses [dt. Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main 1971] wird Ihr Werk selbst in Japan unter verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. La Maladie mentale et la Psychologie [dt. Psychologie und Geisteskrankheit, Frankfurt am Main 1968] und Naissance de la clinique [dt. Die Geburt der Klinik, München 1973] sind beide von Mieko Kamiya übersetzt worden. Und erst vor kurzem ist bei Kawade-shobo L'Archéo­ logie du savoir [dt. Die Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1973] erschienen. Während Ihres leider viel zu kurzen Auf­ enthalts haben Sie in Tokio, Nagoya, Osaka und Kyoto drei Vor­ träge gehalten, »Manet«, »La folie et la société«1 und »Revenir à l’histoire«12. Darin haben Sie Ihr Denken, das manchem schwierig erscheinen mag, in großer Klarheit dargestellt. Nun sind Sie ein Philosoph, der bereits ein glanzvolles Werk vorweisen kann. Sie haben eine neuartige, strenge Analyse der Grundlagen jenes Denkens unternommen, das der westlichen Welt seit der Renaissance zugrunde liegt. Doch da Sie dieses In­ terview einer Literaturzeitschrift geben, möchte ich Sie nach dem Verhältnis Ihres Denkens zur Literatur befragen. M. Watanabe: Außer den beiden bereits genannten Büchern über den Wahnsinn liegen in japanischer Sprache auch »La pensée du dehors«3 über Maurice Blanchot und »Préface à la transgres­ sion«4 über Georges Bataille vor. Obwohl es sich um sehr schwie­ rige Texte handelt, sind diese beiden Essays bei japanischen Le­ sern auf lebhaftes Interesse gestoßen. Dort befassen Sie sich jeweils ganz unmittelbar mit einem Schriftsteller, doch auch in 1 2 3 4

[Siehe Nr. [Siehe Nr. [Siehe Nr. [Siehe Nr.

83, Band 2, S. 157-165.] 103, Band 2, S. 331-347.] 38, Band 1, S. 670-697.] 13, Band 1, S. 320-342.]

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den »Archiven«, die den Untersuchungsgegenstand der von Ihnen so genannten »Archäologie« bilden, nimmt die Literatur eine na­ hezu privilegierte Stellung ein; Schriftsteller wie Sade, Hölderlin, Mallarmé, Nietzsche, Raymond Roussel, Artaud, Bataille oder Blanchot ziehen sich wie Leitmotive durch Ihre Texte und dienen, wie mir scheint, als Leitschnur für Ihre Thesen. Wir nehmen daher an, dass der Literatur in Ihrem Denken eine bestimmende Rolle zukommt, und deshalb möchten wir unsere Fragen auf diesen Bereich konzentrieren. Außerdem würden wir uns freuen, wenn Sie uns Auskunft über das Verhältnis zwischen Literatur und Gesellschaft oder Politik geben könnten. T. Shimizu: Das klingt vielleicht etwas allgemein, doch mir scheint, in Ihrem Denksystem orientiert sich die Literatur an drei Achsen. Für die erste, das Problem des Wahnsinns, stehen Höl­ derlin und Artaud. Für die zweite, das Problem der Sexualität, Sade und Bataille. Und für die dritte, das Problem der Sprache, stehen Mallarmé und Blanchot. Natürlich ist das nur eine summarische Gliederung, aber könnten Sie etwas über diese drei Achsen sagen? M. Foucault: Ihre Analyse ist präzise und trifft meine Interes­ senschwerpunkte sehr genau. Doch das gilt nicht nur für mich, sondern für das gesamte westliche Denken der letzten hundert­ fünfzig Jahre. Nun haben Sie zu Beginn gesagt, ich sei ein Philosoph; das ist mir nicht recht, und darum möchte ich zunächst etwas dazu sa­ gen. Diese Bezeichnung stört mich, weil ich mich selbst nicht als Philosophen verstehe. Das ist keine falsche Bescheidenheit. Viel­ mehr handelt es sich um einen Grundzug der westlichen Kultur der letzten einhundertfünfzig Jahre: Als eigenständige Tätigkeit ist die Philosophie verschwunden. In diesem Zusammenhang ver­ dient ein soziologisches Symptom Beachtung: Die Philosophie ist heute nur noch ein Professorenberuf. Seit Hegel wird Philo­ sophie von Professoren gelehrt, deren Aufgabe es ist, Philosophie nicht unbedingt zu praktizieren, sondern vor allem zu lehren. Was einst die höchste Ausdrucksform des Denkens im Abendland dar­ stellte, ist heute auf den Rang einer Tätigkeit abgesunken, die im Bereich des Erziehungswesens das geringste Ansehen genießt. Darin zeigt sich, dass die Philosophie ihre Rolle, ihre Funktion und ihre Autonomie wahrscheinlich längst verloren hat.

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Auf die Frage »Was ist Philosophie?« würde ich ganz summa­ risch antworten: Sie ist der Ort einer ursprünglichen Wahl, einer Grundentscheidung, auf der eine ganze Kultur beruht. T. Shimizu: Könnten Sie dieses Konzept einer »Grundentschei­ dung« etwas näher erläutern? M. Foucault: Unter der Grundentscheidung verstehe ich keine spekulative Wahlentscheidung im Bereich der reinen Ideen, son­ dern eine Wahl, die ein ganzes Ensemble umreißt, das aus dem menschlichen Wissen, den menschlichen Aktivitäten, der Wahr­ nehmung und dem Empfindungsvermögen besteht. In der griechischen Kultur stehen Parmenides, Platon und Aristoteles für diese Grundentscheidung. Die politische, wissen­ schaftliche und literarische Grundentscheidung beruht in der grie­ chischen Kultur zumindest zu einem großen Teil auf dem funda­ mentalen Erkenntnisprinzip, das diese Philosophen formuliert haben. Aus demselben Grund erfolgte die grundlegende Wahlent­ scheidung im Mittelalter zwar nicht unbedingt durch die Philo­ sophen, aber doch im Zusammenhang mit der Philosophie. Das gilt im 11. und 12. Jahrhundert für die platonische und im 13. und 14. Jahrhundert dann für die aristotelische Philosophie. Descartes, Leibniz, Kant und Hegel stehen gleichfalls für eine Grundent­ scheidung, die ihren Ausgang in der Philosophie nahm und inner­ halb der Philosophie erfolgte, im Zusammenhang mit einer ganzen Kultur, einem ganzen Wissensbereich, einer ganzen Denk­ weise. Bei Hegel dürfte die Grundentscheidung zum letzten Mal von der Philosophie als eigenständiger Tätigkeit getroffen worden sein. Denn das Wesen der HegePschen Philosophie besteht weit­ gehend darin, keine Wahl zu treffen, sondern alle in der Ge­ schichte getroffenen Wahlentscheidungen in die eigene Philoso­ phie, den eigenen Diskurs, aufzunehmen. Ich habe den Eindruck, in der westlichen Welt liegt der Aus­ gangspunkt der im eigentlichen Sinne philosophischen Wahlent­ scheidung, also der Grundentscheidung, seit dem 19. und vielleicht schon seit dem 18. Jahrhundert nicht mehr in der Philosophie, sondern in anderen Bereichen. So waren die Marx'schen Analysen ihrem Geiste nach nicht philosophisch, und wir sollten sie auch nicht dafür halten. Es handelt sich um rein politische Analysen, die einige der für unsere Kultur grundlegenden und bestimmenden

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Wahlentscheidungen unerlässlich machen. Freud war gleichfalls kein Philosoph und wollte es auch gar nicht sein. Aber die Tat­ sache, dass er die Sexualität so beschrieben hat, wie er es tat, dass er Neurose und Wahnsinn in ihren wesentlichen Eigenschaften klärte, zeigt ganz deutlich, dass es sich hier um eine Grundent­ scheidung handelt. Genau besehen, ist diese von Freud getroffene Wahl für unsere Kultur sehr viel bedeutsamer als die philoso­ phischen Wahlentscheidungen zeitgenössischer Philosophen wie Bergson oder Husserl. Die Entdeckung der allgemeinen Sprachwissenschaft, die Be­ gründung der Linguistik durch Saussure, ist gleichfalls eine Grundentscheidung von großer Bedeutung, von größerer jeden­ falls als die damals herrschende neukantianische Philosophie. Könnten wir nicht folgende These aufstellen? Es wäre vollkom­ men falsch, wenn wir behaupten wollten, unsere Epoche, also das 19. und 20. Jahrhundert, habe die Philosophie zugunsten der Po­ litik und der Naturwissenschaft aufgegeben. Vielmehr müssen wir sagen, die Grundentscheidung sei früher aus der Tätigkeit einer autonomen Philosophie hervorgegangen, während sie heute in anderen Tätigkeitsbereichen wie der Naturwissenschaft, der Poli­ tik oder der Literatur erfolgt. Da meine Arbeiten sich hauptsäch­ lich mit der Geschichte befassen, stütze ich mich bei der Unter­ suchung des 19. und 20. Jahrhunderts lieber auf die Analyse literarischer statt philosophischer Werke. So sind die von Sade getroffenen Wahlentscheidungen für ans sehr viel bedeutsamer als für das 19. Jahrhundert. Und da wir solchen Wahlentscheidun­ gen immer noch unterworfen sind, sehen wir uns zu überaus fol­ genreichen Entscheidungen veranlasst. Deshalb interessiere ich mich für die Literatur, insofern sie der Ort ist, an dem unsere Kultur einige Grundentscheidungen getroffen hat. M. Watanabe: Könnten wir nun etwas konkreter auf das Prob­ lem des Wahnsinns eingehen? Dass Philosophen - wenn Sie mir diesen Ausdruck gestatten - sich mit diesem Problem befassen, scheint mir nicht außergewöhnlich zu sein. Ich denke vor allem an Jaspers und seine Allgemeine Psychopathologie5aus dem Jahr 1913 oder an Strindberg und van Gogh6 aus dem Jahr 1922. Doch diese 5 [Jaspers, K., Allgemeine Psychopathologie, Berlin 1913.] Versuch einer pathographischen Analyse unter vergleichender Heranziehung von Svedenborg und Hölderlin, Bern 1922.]

6 [Ders., Strindberg und van Gogh.

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philosophischen Überlegungen zu den Geisteskrankheiten, die man als »Philosophie des Wahnsinns« bezeichnen könnte, unter­ scheiden sich grundlegend von Ihrem methodischen Vorgehen. Bei Ihnen bildet eine soziologische Perspektive den Ausgangs­ punkt der Analysen, wie daraus zu ersehen ist, dass Sie der Nais­ sance de la clinique den Untertitel Une archéologie du regard médical? gegeben haben. Können Sie uns den Grund für diese methodologische Entscheidung erläutern? M. Foucault: Bei meinen bisherigen Untersuchungen ging es, wie Sie bereits gesagt haben, um die soziologische Analyse ver­ schiedener Institutionen. Insofern ist das etwas ganz anderes als die Philosophie des Wahnsinns oder der Geisteskrankheiten, die man bei Jaspers findet oder, falls man noch weiter zurückgeht, bei Pierre Janet oder Ribot. In ihren Analysen befragen sie den Wahn­ sinn, und Ribot möchte dabei über das pathologische Verhalten etwas ausfindig machen, das die normale Psychologie betrifft, während es für Jaspers darum geht - das ist bei weitem das Wich­ tigste und Entscheidende -, so etwas wie den verborgenen Code der Existenz zu entdecken: Was ist das menschliche Dasein, wenn es von so etwas wie dem Wahnsinn bedroht wird und wenn es eine Art höchster Erfahrung nur über den Wahnsinn zu erlangen ver­ mag? So war es bei Hölderlin, van Gogh, Artaud oder Strindberg, und genau das hat Jaspers untersucht. Mein Untersuchungsgegen­ stand ist aber ein völlig anderer. Denn ich habe mich, wie gesagt, immer in erster Linie für das Problem einer außerhalb der Philo­ sophie entstandenen Grundentscheidung interessiert. Ich habe mich gefragt, ob sich in den diversen Aktivitäten, die das soziale System bilden, oder sogar in den weniger auffälligen, weniger sichtbaren und tiefer verborgenen Aktivitäten nicht eini­ ge der für unsere Kultur und Zivilisation fundamentalsten Wahl­ entscheidungen finden lassen. Als ich einen rein historischen Blick auf ein absolut banales historisches Material warf, hatte ich den Eindruck, dass Mitte des 17. Jahrhunderts eine Erscheinung auf­ trat, die von den Historikern bislang nicht behandelt worden ist und deren Bedeutung über die einer bloßen sozio-ökonomischen Tatsache hinausging. Bei der Durchsicht der historischen Doku­ mente stellte ich fest, dass man sich im Westen bis zur Mitte des7 7 [Eine Archäologie des ärztlichen Blicks.]

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ij. Jahrhunderts bemerkenswert tolerant gegenüber den Irren und dem Wahnsinn verhalten hat, obwohl der Wahnsinn durch ein System der Ausschließung und der Abwehr definiert war; dennoch wurde er in das Gewebe der Gesellschaft und des Den­ kens aufgenommen. Natürlich verbannte man die Irren und den Wahnsinn an den Rand der Gesellschaft, doch sie waren in der Gesellschaft, aus der sie hervorgingen, weit verbreitet. Trotz ihrer randständigen Existenz waren sie nicht vollkommen ausgeschlos­ sen, sondern in die Funktionsweise der Gesellschaft integriert. Nach dem 17. Jahrhundert kam es dann zu einem deutlichen Bruch; eine Reihe von Umständen verwandelten den Irren in ein an den Rand gedrängtes, vollkommen ausgeschlossenes We­ sen. Diese Umstände bildeten ein System, das auf polizeilicher Macht basierte, zum Beispiel auf Einschließung und Zwangsar­ beit. Über diese Phänomene der Schaffung einer Polizei und einer Einschließungsmethode, die von den Historikern bislang prak­ tisch nicht wahrgenommen wurden, traf die westliche Welt offen­ bar eine der bedeutsamsten Grundentscheidungen. Das wollte ich untersuchen, und daher bestand das Problem nicht in der mensch­ lichen Natur oder im menschlichen Bewusstsein. Anders gesagt, ich wollte die Grundentscheidung untersuchen, die der Westen durch diese recht grobschlächtigen und wenig erforschten Maß­ nahmen zur Einschließung der Irren getroffen hat. M. Watanabe: Wenn man von »Wahnsinn und Literatur« spricht, läuft man Gefahr, beides zu unveränderlichen Wesenhei­ ten zu stilisieren. Nach Ihrer Darstellung ist das Verhältnis zwi­ schen Wahnsinn und Literatur jedoch zumindest im Westen stark von der jeweiligen Zeit geprägt. Können Sie uns diesen Zusam­ menhang etwas genauer erläutern? M. Foucault: Sie haben zunächst den Wahnsinn genannt und dann die Literatur; das ist tatsächlich die notwendige Reihenfolge. In gewisser Weise können wir nicht anders, als dem Gefälle zu folgen. Der Grund, weshalb ich mich für die Literatur interessie­ re, ist der folgende: Im 18. Jahrhundert wurden, wie gesagt, im Bereich der Politik, der Gesellschaft, der Ökonomie und der Po­ lizei diverse Maßnahmen ergriffen; die Grundentscheidung, die letztlich zum Ausschluss der Irren und des Wahnsinns führt, wird ab dem 19. Jahrhundert dann auch in der Literatur thematisiert. Ich denke nun, Sade gehört in gewisser Weise zu den Begründern

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der modernen Literatur, auch wenn sein Stil noch vollkommen dem 18. Jahrhundert verhaftet bleibt und seine Philosophie insge­ samt einer für das 18. Jahrhundert typischen Form von Materia­ lismus und Naturalismus entstammt. In Wirklichkeit gehört Sade seiner Herkunft nach noch vollständig ins 18. Jahrhunderts, also zur Aristokratie und zum Erbe des Feudalismus. Doch insofern Sade sein Werk im Gefängnis schrieb, und mehr noch, insofern er es in einer inneren Notwendigkeit begründete, ist er der Begrün­ der der modernen Literatur. Anders gesagt, ein bestimmtes Aus­ schließungssystem ist mit dem menschlichen Wesen namens Sade verknüpft, mit der Sexualität, mit sexueller Abweichung, sexueller Monstrosität, kurz, mit allem, was aus unserer Kultur ausge­ schlossen wird. Nur weil es dieses Ausschließungssystem gab, war sein Werk möglich. Die Tatsache, dass in einer Übergangs­ phase zwischen dem 18. und dem 19. Jahrhundert innerhalb des Ausgeschlossenen eine Literatur entstand oder wieder erstand, zeigt meines Erachtens, dass dort etwas außerordentlich Grund­ legendes geschehen ist. Und der größte deutsche Dichter dieser Zeit, Hölderlin, war geisteskrank. Die Dichtung, die er gegen Ende seines Lebens schrieb, kommt in unseren Augen dem Wesen der modernen Dichtung denkbar nahe. Genau dies zieht mich zu Hölderlin hin und zu Sade, Mallarmé oder auch zu Raymond Roussel und Artaud: Die seit dem 17. Jahrhundert an den Rand gedrängte Welt des Wahnsinns, diese festliche Welt der Narren bricht plötzlich in die Literatur ein. Deshalb trifft sich mein In­ teresse für Literatur mit meinem Interesse am Wahnsinn. M. Watanabe: Ihr Vortrag über »La folie et la société«8 war an zwei Achsen ausgerichtet. Die erste, synchrone Achse besteht aus vier Formen der Ausschließung: aus den Produktionsverhältnis­ sen, aus der Familie, aus der Kommunikation, aus dem Spiel. Hinsichtlich der zweiten, diachronen Achse haben Sie auf die Bedeutung der Zwangseinschließung der Irren im 17. Jahrhundert hingewiesen, auf ihre partielle Befreiung durch Pinel Ende des 18. Jahrhunderts und schließlich auf die Schaffung einer neuen Kategorie: der »Geisteskrankheit«. Zu den vier Formen der Ausschließung möchte ich Ihnen nun eine Frage stellen. Unterscheidet sich die vierte Form, die Aus8 [Siehe Nr. 83, Band 2, S. 157-165.]

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Schließung aus dem Spiel, nicht ein wenig von den drei übrigen? In Ihrem Vortrag haben Sie zum Beispiel auf die Narrenfeste im mittelalterlichen Europa hingewiesen und insbesondere auf den Buffo im Theater der Renaissance und des Barock, eine Figur, die, wie Sie sagen, »die Wahrheit erzählt«. Im traditionellen japani­ schen Theater und vor allem im No spielen Irre und Wahnsinn in Gestalt von Delirien und Verhexung - eine große Rolle; es handelt sich um eine Erfahrung, die über eine Verwirrung des Bewusstseins den Zugang zu einem kosmischen Empfinden eröff­ net; kurz gesagt, es handelt sich um den Ort der Offenbarung des Heiligen. Kann man auch hier von einer Ausschließung des Irren aus dem Spiel sprechen? Mir scheint jedenfalls, der Irre und der Wahnsinn werden hier zumindest in Gestalt des Deliriums wieder ins Theater eingeführt. M. Foucault: Dass die Irren aus dem Spiel ausgeschlossen sind, ist tatsächlich, wie Sie gesagt haben, nicht dasselbe wie die Aus­ schließung aus der Familie oder aus den Produktionsverhältnissen. Ein Irrer arbeitet ja nicht, auch wenn man ihm gelegentlich klei­ nere Arbeiten zuweisen mag. Bei der Familie ist die Situation eben­ so klar: Der Irre wird aus der Familie ausgeschlossen und verliert seine Rechte als Familienmitglied. Kompliziert werden die Dinge dagegen beim Spiel. Wenn ich »Spiel« sage, liegt die Betonung auf dem Fest, und ich hätte wohl gleich »Fest« sagen sollen. Bei der Ausschließung der Irren aus dem Spiel handelt es sich eigentlich nicht um eine Ausschließung im direkten Sinne; vielmehr wird ihnen im Spiel ein besonderer Platz zugewiesen. Bei den Festen zum Beispiel sind sie gelegentlich die Opfer des Spiels: in einer Zeremonie, die der Vertreibung des Sündenbocks ähnelt, oder im Theater etwa, wenn der Narr eine Figur verkörpert, über die man sich lustig macht. In gewissem Maße findet man ein Echo der Figur des von Feindseligkeit und allgemeinem Misstrauen umgebenen Irren in einem Werk wie Le Misanthrope.9 Der Irre kann also zum Objekt eines Spiels werden oder in diesem Spiel eine in ge­ wisser Weise privilegierte Rolle spielen, aber angesichts ihrer Rolle und ihrer Funktion nimmt diese Figur niemals eine ähnliche Posi­ tion ein wie die übrigen Figuren. In Europa, im Theater des Mittel­ alters oder der Renaissance oder auch noch des Barock Anfang des 9 [Molière (J.-B. Poquelin, genannt), Le Misanthrope, Paris 1667; dt. Der Menschen­ feind, in: ders., Werke, Wiesbaden 1954.]

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17. Jahrhunderts, fällt der Figur des Narren häufig die Aufgabe zu, die Wahrheit zu sagen. Wie Sie eben ausgeführt haben, ist der Narr im traditionellen japanischen Theater ein Repräsentant des Heili­ gen. Im Westen, zumindest im Theater des 16. und 17. Jahrhun­ derts, ist er dagegen eher der Träger der Wahrheit. Wenn der Narr in Ihrem Land ein Repräsentant des Heiligen und in unserem der Träger der Wahrheit ist, so zeigt sich darin meines Erachtens ein bedeutsamer Unterschied zwischen der japanischen und der euro­ päischen Kultur. Der Narr ist der Träger der Wahrheit, und er sagt sie auf ausgesprochen sonderbare Weise. Denn er weiß viel mehr als alle, die nicht verrückt sind; er hat Zugang zu einer anderen Dimension. In diesem Sinne ähnelt er dem Heiligen. In Europa ähnelt er dem Propheten. Aber in der jüdisch-christlichen Tradi­ tion ist der Prophet jemand, der die Wahrheit sagt und weiß, dass er die Wahrheit sagt. Der Narr dagegen ist ein naiver Prophet, der die Wahrheit sagt, ohne es zu wissen. Die Wahrheit scheint durch ihn hindurch, aber er selbst besitzt sie nicht. Die Worte der Wahrheit entwickeln sich in ihm, ohne dass er dafür verantwortlich wäre. Im Theater des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts nimmt der Narr als der Träger der Wahrheit einen Platz ein, der ihn deutlich von den übrigen Figuren unterscheidet. Die Handlung entfaltet sich bei den anderen Figuren; sie empfinden bestimmte Gefühle füreinan­ der, spinnen Intrigen untereinander und teilen gewissermaßen die Wahrheit. In gewissem Sinne wissen sie genau, was sie wollen, aber sie wissen nicht, was nun mit ihnen geschehen wird. Der Narr steht außerhalb, er steht neben oder über diesem Geschehen; er weiß nicht, was er will; er weiß nicht, wer er ist, und beherrscht weder sein eigenes Verhalten noch seinen Willen, aber er erzählt die Wahrheit. Auf der einen Seite steht eine Gruppe von Figuren, die ihren Willen beherrschen, aber die Wahrheit nicht kennen. Auf der anderen Seite steht der Narr, der ihnen die Wahrheit erzählt, aber nicht die Herrschaft über seinen Willen besitzt und nicht einmal über die Tatsache, dass er die Wahrheit erzählt. Diese Kluft zwi­ schen Wille und Wahrheit, also zwischen der des Willens beraubten Wahrheit und dem Willen, der die Wahrheit noch nicht kennt, ist nichts anderes als die Kluft zwischen dem Narren und denen, die nicht verrückt sind. Ich denke, Sie haben verstanden, aber im Me­ chanismus des Theaterstücks nimmt der Narr eine ganz besondere Stellung ein: Er ist nicht vollkommen ausgeschlossen, und man

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könnte vielleicht sagen, er ist zugleich ausgeschlossen und inte­ griert, oder vielmehr, aufgrund seiner Ausschließung spielt er eine bestimmte Rolle. In diesem Zusammenhang möchte ich noch auf zwei Dinge hinweisen. Erstens, seit der Mitte des 17. Jahrhunderts, also seit dem Beginn des klassischen Zeitalters, ist der Narr als Figur ver­ schwunden; das gilt für Frankreich, aber, ich denke, sicher auch für die englische und die deutsche Literatur. Eben haben Sie Le Misanthrope erwähnt. Alceste ist die letzte Narrenfigur im klassi­ schen Theater. Er erzählt in gewissem Maße die Wahrheit und weiß viel mehr über Menschen und Dinge als die anderen, aber er besitzt dieselben Qualifikationen wie die übrigen Figuren in Molières Theater. Er steht nicht wirklich am Rande; nur sein Charakter entfernt ihn von den übrigen Figuren. Denn in diesem Stück geht es um das Verhältnis zwischen dem Menschenfeind Alceste und den übrigen Personen. In Molières Werk ist er keine von eigener Verantwortung freie, prophetische Stimme. Gestatten Sie mir eine Assoziation: In der Literatur des Mittel­ alters, der Renaissance und des Barock ist der Narr jemand, der die Wahrheit erzählt, ohne zu wissen, dass er die Wahrheit erzählt; anders gesagt, es handelt sich um einen Wahrheitsdiskurs, der in Wirklichkeit keinen Willen zur Wahrheit besitzt und ihn nicht in sich selbst trägt. Lastet nicht genau dieses Thema schon lange so schwer auf dem westlichen Denken? Denn was versuchte Freud letztlich anderes bei seinen Patienten zu erreichen, als diese Wahr­ heit durch sie hindurch erscheinen zu lassen? Es ging darum, das neurotische Wesen des Patienten in seiner authentischen Form hervortreten zu lassen, also die Wahrheit, die er selbst nicht be­ herrscht. Auf dieser Grundlage könnte man ein breit angelegtes Bild der Geschichte der westlichen Kultur entwerfen. Das gleich­ zeitige Erscheinen der Wahrheit und des Wahnsinns, diese enge Verbindung zwischen Wahnsinn und Wahrheit, die man bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts beobachten konnte, wurde in der Folgezeit für anderthalb oder zwei Jahrhunderte verleugnet, igno­ riert, abgewehrt und versteckt. Seit dem 19. Jahrhundert machte zunächst die Literatur und später dann die Psychoanalyse deut­ lich, dass es im Wahnsinn um eine Art Wahrheit geht und dass im Verhalten und in den Gesten des Irren etwas aufscheint, das nur Wahrheit sein kann.

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M. Watanabe: Als der Misanthrop Alceste die Szene verließ, trat auf der literarischen Bühne nicht mehr der Narr in den Vor­ dergrund, sondern ein tragisches Bewusstsein, das in einer Erfah­ rung der Angst und der Blendung angesichts der Gefahr gründet, dem Wahnsinn zu verfallen. Die romantischen Dichter sind ty­ pisch für diese Geisteshaltung. Ich glaube, Hugo hatte einen Irren in der Familie. Aber gibt es dafür nicht auch schon Anzeichen bei Diderot oder Rousseau? M. Foucault: In gewissem Sinne kann ein Schriftsteller des klas­ sischen Zeitalters gar nicht verrückt sein, und er kann keine Angst haben, verrückt zu werden. Seit dem 19. Jahrhundert jedoch fin­ det sich im Schreiben großer Dichter immer wieder als Unter­ strömung die Gefahr des Verrücktwerdens. Rousseau bestreitet allerdings seltsamerweise hartnäckig die Möglichkeit, er könnte dem Wahnsinn verfallen. Er war besessen von der Gewissheit, er sei nicht geblendet von der Angst, in den Wahnsinn abzugleiten, und er war überzeugt, man behandle ihn als Irren, obwohl er keiner war. Bei Hugo, der vollkommen normal war, finden wir dagegen die Angst, verrückt zu werden, doch sie überschreitet nicht die Grenzen der intellektuellen Erfahrung. Heute kann man sich dieser seltsamen Erfahrung, die das Schreiben darstellt, nicht mehr unterziehen, ohne sich mit der Gefahr des Wahnsinns auseinander zu setzen. Das hat uns Hölderlin gelehrt, und in ge­ wissem Maße auch Sade. Meines Erachtens gilt dasselbe auch für die Philosophie. Zu Beginn der Méditations10 schreibt Descartes ganz klar: Vielleicht träume ich, vielleicht täuschen mich meine Sinne, aber eines kann mir nicht geschehen, da bin ich mir ganz sicher: Ich kann nicht dem Wahnsinn verfallen. Er verwirft diese Hypothese zugunsten der Prinzipien seines rationalen Denkens. Und zwar deshalb, sagt er, weil er, wenn er denn verrückt wäre, Halluzinationen haben müsste wie in einem tiefen Traum, aber dieses Trugbild sei sehr viel schwächer und weniger ausgefallen als die Bilder, die er in seinen realen Träumen sieht. Daraus folgert er, dass der Wahnsinn nur Teil des Traumes ist. Eine große Gefahr bestünde nur, falls er Folgendes dächte: »Wenn ich verrückt wäre, hätte ich dann nicht mehr den Wunsch nach rationaler Reflexion? 10 [Descartes, R., Meditationes de prima philosopbia, Paris 1641, Paris 1641; dt. Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Hamburg 1965, »Erste Me­ ditation: Woran man zweifeln kann«.]

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Könnte ich dann mein aktuelles rationales Denken nicht mehr auf Wahnsinn und Traum anwenden?« Der Tatsache, dass im Inneren von Anfang an Minen gelegt sind, die den Namen Wahnsinn tra­ gen, vermochte Descartes nicht ins Gesicht zu sehen, und wenn er es dennoch tat, wies er es sogleich zurück. Mit Nietzsche kommt dann schließlich der Augenblick, in dem der Philosoph fragen kann, ob er am Ende nicht vielleicht wahn­ sinnig ist. M. Watanabe: Kündigt sich dort nicht der damals entstehende fundamentale Zusammenhang an zwischen der Zeit, in der das Schreiben nicht mehr bloße Unterstützung des gesprochenen Wortes war, sondern für sich selbst zu existieren begann, und dem Eindringen des Wahnsinns in die Literatur? M. Foucault: Bis zum Ende des 17. Jahrhunderte bedeutete Schreiben: für jemanden schreiben, etwas schreiben, um es den anderen mitzuteilen, um sie zu unterhalten oder um aufgenom­ men zu werden. Das Schreiben diente lediglich der Unterstützung des gesprochenen Wortes, das in einer sozialen Gruppe zirkulie­ ren sollte. Heute dient das Schreiben anderen Zwecken. Natürlich schreiben Schriftsteller, um davon zu leben und um öffentlichen Erfolg zu haben. Auf der psychologischen Ebene hat sich das Schreiben gegenüber früheren Zeiten nicht verändert. Entschei­ dend ist die Frage, welche Richtung die Fäden nehmen, aus denen das Gewebe des Schreibens entsteht. In diesem Punkt existiert das Schreiben nach dem 19. Jahrhundert offensichtlich für sich selbst und, falls nötig, auch ohne jeden Konsum, ohne Leser, ohne jeg­ liches Vergnügen und ohne jeden Nutzen. Diese vertikale und nahezu nicht übertragbare Tätigkeit des Schreibens ähnelt in Tei­ len dem Wahnsinn. Der Wahnsinn ist in gewisser Weise eine Sprache, die sich in der Senkrechten hält, die nicht mehr über­ tragbares Wort ist, weil sie ihren Wert als zirkulierende Münze, als Tauschmittel, eingebüßt hat. Entweder weil diese Sprache jeden Wert verloren hat und niemand sie mehr haben will, oder weil man zögert, sie wie Geld zu benutzen, als schriebe man ihr einen ganz außergewöhnlichen Wert zu. Aber letztlich berühren die Extreme einander. Dieses nicht auf Zirkulation ausgerichtete Schreiben, dieses gewissermaßen senkrechte Schreiben, ist ein Äquivalent für den Wahnsinn. Es ist ganz normal, dass die Schrift­ steller ihr Gegenstück im Irren oder in einem Phantom finden.

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Hinter jedem Schriftsteller steht der Schatten des Wahnsinnigen, der ihn stützt, beherrscht und verdeckt. Man könnte sagen, sobald der Schriftsteller schreibt, ist das, was er erzählt, was er im Akt des Schreibens hervorbringt, ohne Zweifel nichts anderes als Wahnsinn. Die Gefahr, dass der Schreibende dem Wahnsinn verfällt, dass sein Doppelgänger, der Wahnsinnige, immer größeres Gewicht erhält, ist meines Erachtens das Wesensmerkmal des Schreibens. Hier stoßen wir auf das Thema der Subversivität des Schreibens [»écriture«]. Ich glaube, der intransitive Charakter des Schreibens [»écriture«] ist etwas Ähnliches wie die Funktion der Überschrei­ tung, von der Barthes spricht. Allerdings sollte man vorsichtig mit diesem Thema umgehen. Denn in Frankreich behaupten einige Schriftsteller - da sie der Kommunistischen Partei angehören, sind es wohl eine Hand voll linker Schriftsteller -, Schreiben sei subversiv. Da ist jedoch Vor­ sicht geboten, denn in Frankreich genügt solch eine Behauptung, um sich von jeglicher politischen Aktivität freizustellen. Wenn Schreiben grundsätzlich subversiv ist, braucht man nur ein paar Worte, so unbedeutend sie sein mögen, zu Papier zu bringen und schon hat man sich in den Dienst der Weltrevolution gestellt. Aber nicht in diesem Sinne können wir sagen, Schreiben sei subversiv. Meines Erachtens wirkte das Schreiben - ein Akt außer­ halb des sozio-ökonomischen Systems wie etwa der Zirkulation und Erzeugung von Werten - bisher allein schon aufgrund seiner Existenz als eine Kraft, die sich gegen die Gesellschaft wendet und sie infrage stellt. Das gilt ganz unabhängig von der politischen Position des Schreibenden. Sade mochte sich noch so sehr als Anarchist geben, er war vor allem Aristokrat. Gewiss traf er Vor­ kehrungen, um nicht zum Opfer der Revolution zu werden, doch aus seiner Abneigung gegen die Jakobiner machte er keinen Hehl. (Vielleicht versteckte er sie, aber das auch nur für eine gewisse Zeit.) Flaubert hegte in seinem Innersten zutiefst bourgeoise Überzeugungen, und so gelangte er über die Pariser Kommune zu Urteilen, die man aus heutiger Sicht nur als vollkommen un­ haltbar bezeichnen kann. Dennoch spielten Sades und Flauberts Schriften in der Kritik der europäischen Gesellschaft eine Rolle, die selbst die noch so linken Texte eines Jules Vallès niemals hätten spielen können. Daher kann man sagen, das Schreiben habe seine

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subversive Funktion durch seine bloße Existenz zumindest hun­ dertfünfzig Jahre lang durchhalten können. Das Problem stellt sich also folgendermaßen: Wenn die franzö­ sischen Intellektuellen sich heute in einer äußerst schwierigen Si­ tuation befinden und wenn sie einen gewissen Schwindel oder sogar Hoffnungslosigkeit empfinden, so weil sie seit der chinesi­ schen Kulturrevolution und insbesondere, seit sich nicht nur in Europa, sondern in der ganzen Welt revolutionäre Bewegungen entwickeln, gezwungen sind, sich eine Reihe von Fragen zu stel­ len: Hat Schreiben auch weiterhin eine subversive Funktion? Ist die Zeit, als das bloße Schreiben, der Akt, durch Schreiben Lite­ ratur entstehen zu lassen, schon ausreichte, um die moderne Ge­ sellschaft infrage zu stellen - ist diese Zeit nicht längst vorbei? Ist es heute nicht vielmehr an der Zeit, zu wirklich revolutionären Aktionen zu greifen? Dient das Schreiben heute, da Bourgeoisie und kapitalistische Gesellschaft das Schreiben solcher Aktionen vollkommen beraubt hat, nicht nur noch der Stärkung des bürger­ lichen Repressionssystems? Müssen wir nicht aufhören zu schrei­ ben? Wenn ich dies alles sage, dürfen Sie nicht glauben, ich scherzte nur. Hier spricht einer, der immer noch schreibt. Einige meiner engsten und jüngsten Freunde haben das Schreiben voll­ ständig aufgegeben; zumindest habe ich diesen Eindruck. Ehrlich gesagt, empfinde ich angesichts dieses Verzichts zugunsten der politischen Aktion nicht nur Bewunderung, sondern auch ein hef­ tiges Schwindelgefühl. Da ich selbst nicht mehr ganz jung bin, begnüge ich mich mit der Fortsetzung dieser Tätigkeit, obwohl sie die kritische Bedeutung, die ich ihr geben wollte, vielleicht schon verloren hat. Als ich Histoire de la folie [dt. Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1969] schrieb, ging es mir um Gesellschafts­ kritik, und ich weiß nicht, ob mir das gelungen ist. Im Augenblick plane ich ein Buch über das Strafsystem und die Definition des Verbrechens in Europa. Aber ich bin mir nicht sicher, ob ein kri­ tisches Buch dieser Art noch dieselbe Bedeutung haben kann wie die Histoire de la folie zur Zeit ihres Erscheinens vor zehn Jahren. Ich stelle mir gern vor, dass die Histoire de la folie vor zehn Jahren nützlich war. Doch ich weiß nicht, ob das geplante Buch über Strafe und Verbrechen heute ebenso nützlich sein kann. In Frankreich fühlen sich die Schriftsteller heute zwischen zwei

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Versuchungen hin und her gerissen: entweder auf das Schreiben zu verzichten und sich jenseits des Schreibens direkten revolutio­ nären Aktivitäten zu widmen; oder aber der Kommunistischen Partei Frankreichs beizutreten, die ihnen den sozialen Status des Schriftstellers garantiert und die Möglichkeit bietet, innerhalb der sozialistischen Gesellschaft und der marxistischen Ideologie auch weiterhin zu schreiben. Es liegt auf der Hand, dass viele ange­ sichts dieser beiden Versuchungen von einem Schwindelgefühl befallen werden, und ich weiß, wofür sie sich entscheiden. Aber stellen Sie sich vor, in welcher Verlegenheit ich mich befinde, denn ich habe mich für keine der beiden Möglichkeiten entschie­ den. X Shimizu: Im Rahmen eines Gesprächs über den Wahnsinn haben wir uns gefragt, ob die Literatur wirklich die Kraft hat, die etablierte Ordnung umzustoßen. Nun möchte ich gerne auf unser zweites Problem zu sprechen kommen, nämlich auf das der Sexualität. Denn Ihre Äußerungen haben mich an Ihren kürzlich erschienenen Text über das letzte Buch von Pierre Guyotat, Éden, Éden, Éden,n erinnert. Mir scheint, dieses Buch und Ihr Text können uns als Ausgangspunkt dienen, wenn wir uns mit der Frage der Sexualität befassen. Sie schreiben, in diesem Roman sei das Verhältnis zwischen Individuum und sexuellem Begehren zum ersten Mal eindeutig umgekehrt worden; nach der Zerstö­ rung der Einheit des Individuums und der Vorherrschaft des Sub­ jekts bleibe nur die Sexualität als ein gewaltiges Stratum. M. Foucault: Ich denke auch, dass wir uns nun mit dem Prob­ lem der Sexualität befassen sollten. Sie haben Guyotat als Aus­ gangspunkt gewählt. Die Umstände, unter denen dieser Text er­ schien, sind recht kompliziert. Ich weiß nicht, ob hier der rechte Ort ist, darüber zu reden, doch der Fall dürfte in soziologischer Hinsicht interessant sein. Guyotat hat ein Buch mit einer Sprache von unerhörter Kühn­ heit geschrieben. Etwas Vergleichbares hatte ich zuvor noch nicht gelesen, weder in der französischen noch in der englischen Lite­ ratur. Niemand hatte bis dahin über die Dinge gesprochen, von denen Guyotat sprach. Nun gibt es in Frankreich noch eine Zen­ sur, und das Buch lief Gefahr, verboten zu werden. Deshalb1 11 [Paris 1970. Siehe Nr. 79, Band 2, S. 91-93.]

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schrieben Michel Leiris, Roland Barthes und Philippe Söllers ein Vorwort, während ich diesen Zeitschriftenartikel veröffentlichte. Es handelte sich gewissermaßen um ein Komplott, das wir ein oder sogar anderthalb Jahre vorbereitet hatten. Wir sagten uns, das Buch würde wahrscheinlich nicht verboten, wenn man es rundum mit einer literarischen Garantie versah. Ich weiß nicht, ob Leiris, Söllers oder ich alles gesagt haben, was wir über das Buch dachten, doch das Vorwort und der Artikel hatten eine strategische Funktion gegenüber dem französischen Gesetzgeber. Damit möchte ich die Qualität des Textes natürlich keineswegs herabsetzen. Ich kenne das Problem der Strafe und der Repression in all seinen Verzweigungen genau und bin zutiefst davon über­ zeugt, dass Texte eine strategische und taktische Bedeutung haben können. Ich würde daher niemals sagen, solche Texte seien un­ wichtig, weil sie den Umständen geschuldet sind. Im Gegenteil: Solche Texte sind gerade deshalb wichtig, weil sie sich den Um­ ständen verdanken. Es ist schon seltsam, wenn in Frankreich ein bestimmter Wortschatz, bestimmte Wendungen, Bilder oder Vor­ stellungen in einen Text eingebracht werden sollen, benötigen sie ein literarisches Alibi. Genau an diesem Punkt - und damit komme ich auf das eben angesprochene Problem zurück - wird die Literatur zu einem Ort, an dem grenzenlose Überschreitung möglich ist. Vor Guyotat hatte noch niemand über die Dinge geredet, von denen er in seinem Buch spricht. Da die Grenzen des in unserem Wortschatz und unserer Sprache Ausdrückbaren in Guyotats Text überschritten werden, kann man sagen, dass dieser Text eine Überschreitung darstellt. Doch in unserer Gesell­ schaft ist die Literatur zu einer Institution geworden, in der die ansonsten unmögliche Überschreitung möglich wird. Deshalb übt die bürgerliche Gesellschaft größte Toleranz gegenüber allem, was in der Literatur geschieht. In gewisser Weise wird die Literatur in der bürgerlichen Gesellschaft deshalb akzeptiert, weil sie einver­ leibt und assimiliert worden ist. Die Literatur gleicht einer Aus­ reißerin; sie macht Dummheiten, aber wenn sie zurückkommt, verzeiht man ihr. Im Zusammenhang mit Guyotat möchte ich auf das Beispiel der Madame Bovary12 hinweisen; dieser Roman handelt von Ehebruch und Selbstmord. Im 19. Jahrhundert waren 12 [Flaubert, G., Madame Bovary, mœurs de province, 2 Bde., Paris 1857; dt. Ma­ dame Bovary, München 1959.]

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Ehebruch und Selbstmord alltägliche Dinge. Daher wurde der Roman verfolgt. Als Guyotats Roman dagegen mit seiner ganzen Aureole aus literarischen Vorsichtsmaßnahmen erschien, wurden Woche für Woche fünfzehntausend Exemplare verkauft, und eine Verfolgung blieb aus. In Frankreich ist Homosexualität übrigens immer noch verboten, und man riskiert stets eine Woche Gefäng­ nis. Wie Sie sehen, haben wir es hier gegenüber Madame Bovary mit einer diametral entgegengesetzten Situation zu tun. Als Ma­ dame Bovary erschien, besaß die Literatur eine ausreichende Kraft zur Überschreitung; aber die Darstellung der alltäglichen Realität einer bürgerlichen Familie wurde als Skandal empfunden. Heute dagegen stellt die Literatur weit mehr dar, als die Pariser Homosexuellen praktizieren. Aber das Buch wird nicht verfolgt, während die Homosexuellen unter allen Umständen bestraft wer­ den. An diesem Punkt hat die Literatur ihre Kraft zur Überschrei­ tung verloren. Und damit sind wir wieder bei unserer Frage: Sol­ len wir uns bei unseren subversiven Bemühungen heute überhaupt noch auf das Medium der Literatur stützen? Ist solch eine Ein­ stellung heute noch begründet? Ist Subversion durch Literatur nicht nur noch ein Wunschtraum, da die Literatur in solchem Maße vom System vereinnahmt worden ist? M. Watanabe: Mir scheint, man könnte das Verhältnis zwischen den sexuellen Perversionen in der Literatur und in der realen Gesellschaft noch weiter präzisieren - wobei wir uns hier auf die Homosexualität beschränken können, da es um dieses Thema geht. Ich möchte sagen, angesichts der in der modernen Gesell­ schaft zu beobachtenden Inflation der Informationen über die Sexualität kann man den Eindruck gewinnen, die alten Tabus würden hinweggefegt, und in diesem Sinne herrsche nun weitge­ hend sexuelle Freiheit. Daher glauben wir nicht unbedingt, die Wirklichkeit hinke auf diesem Gebiet hinter der Literatur her. Tatsächlich jedoch unterscheiden die dargestellten sexuellen Per­ versionen sich von dem, was jeder von uns erlebt, und diese Tat­ sache trägt zweifellos dazu bei, die Realität zu verdecken. M. Foucault: Das ist richtig. Die Gesellschaft, in der wir leben, schränkt die sexuelle Freiheit auf direkte oder indirekte Weise ganz beträchtlich ein. Zwar werden Homosexuelle in Europa seit 1726 nicht mehr hingerichtet, aber noch immer ist die Homo­ sexualität mit einem zählebigen Tabu behaftet. Ich habe deshalb

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die Homosexualität in den europäischen Gesellschaften als Bei­ spiel gewählt, weil dieses Tabu die größte Verbreitung besitzt und am tiefsten verankert ist. Das Tabu hinsichtlich der Homosexuali­ tät beeinflusst zumindest indirekt auch den Charakter eines Men­ schen; so wird ihm dadurch eine bestimmte Form sprachlichen Ausdrucks unmöglich gemacht; man verweigert ihm die soziale Anerkennung, und die homosexuellen Praktiken flößen ihm Schuldgefühle ein. Auch wenn Homosexuelle nicht mehr hinge­ richtet werden, lastet das Tabu hinsichtlich der Homosexualität dennoch schwer auf den Homosexuellen, und nicht nur auf ihnen, sondern auf allen, so dass selbst die Heterosexuellen von den Aus­ wirkungen dieses Tabus in gewisser Weise betroffen sind. M. Watanabe: Mir kommt da Genets Werk in den Sinn, und zwar nicht, weil wir gerade über Homosexualität und Repression sprechen, sondern im Blick auf das Thema der Literatur als Über­ schreitung. Vor allem denke ich an die politische Funktion seines Theaters, denn auch dort besitzt er ein geschärftes Bewusstsein für die Tatsache, dass die bürgerliche Gesellschaft den Wahnsinn wie­ der vereinnahmt, sobald er Fest oder Spektakel wird. M. Foucault: Das ist richtig, aber in diesem Fall müssen wir zwischen realem Wahnsinn und Literatur unterscheiden. Ich wie­ derhole nochmals, dass der reale Wahnsinn durch einen Aus­ schluss aus der Gesellschaft definiert ist; der Irre befindet sich per se ständig im Zustand der Überschreitung. Er steht immer »außerhalb«. Die Literatur dagegen steht nicht aufgrund dieses Ausschließungsmodus »außerhalb«, sie kann sich vielmehr inner­ halb des sozialen Systems befinden. Wie bereits gesagt, war die Literatur im 17. Jahrhundert normativ, damals besaß sie eine ge­ sellschaftliche Funktion. Im 19. Jahrhundert wechselte sie auf die andere Seite. Doch heute scheint mir die Literatur dank eines Abnutzungseffekts oder dank des beträchtlichen Assimilations­ vermögens der Bourgeoisie ihre normale gesellschaftliche Funk­ tion wiedergewonnen zu haben. Denn wir dürfen nicht vergessen: Der Imperialismus mag ein »Papiertiger« sein, doch die Bourgeoi­ sie ist ein System, das eine enorme Anpassungsfähigkeit besitzt. So ist es der Bourgeoisie gelungen, die Literatur zu besiegen. Die neuerliche Vereinnahmung der Literatur im Westen bedeutet wahrscheinlich den Sieg der Bourgeoisie - da die Literatur in Verlagen und in der Welt des Journalismus zu Hause ist, fällt es

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mir schwer, dies in einem Interview mit einer Literaturzeitschrift zu sagen. M. Watanabe: Dann sind Sie sicher der Ansicht, dass Genets jüngste politischen Aktivitäten - seine Zusammenarbeit mit den Black Panthers - nicht nur richtig sind, sondern auch die logische Fortsetzung seiner literarischen Arbeit darstellen. M. Foucault: So ist es. Da Genets Welt so ist, wie sie ist, ver­ stehe ich nicht - selbst wenn ich mich auf die Ebene des Werkes beschränke, auf das, was sein Werk zu einem bestimmten Zeit­ punkt hätte sein können -, wie er es zulassen kann, dass seine Stücke im Théâtre Récamier gespielt werden. Für mich ist das von Renaud und Barrault geleitetet Récamier das konformistisch­ ste Theater Frankreichs: Haute Surveillance13 ist dort aufgeführt worden; ein schöner Junge zeigt sich nackt, und die jungen Pariser Paare applaudieren. Ich verstehe nicht, wie das mit Genets Werk verträglich sein soll. Ich habe eben von der Metamorphose der Funktion der Literatur gesprochen, aber das Problem ist hier nicht die Psychologie des Schriftstellers Genet. Wenn ich sehe, dass sein Werk auf das Niveau dieser Stripteaseshow eines schö­ nen Jungen herabgewürdigt wird, begreife ich nicht, warum er nicht mit dem Schreiben aufhört. Denn als er Haute Surveillance schrieb, da war das ein wahrhaft subversiver Akt. Doch wenn man es nun wie ein Kabarettstück aufführt, bedeutet das keine Schwä­ che des Genet’schen Werkes, sondern beweist lediglich das gewal­ tige Ausmaß des Vereinnahmungsvermögens der Bourgeoisie. Kurz, es zeigt, wie stark der Feind ist, gegen den wir kämpfen, und welch eine schwache Waffe die Literatur darstellt. M. Watanabe: Ich bin nicht ganz einverstanden mit Ihrem Ur­ teil über Renaud und Barrault, aber ich verstehe, dass Sie über die Inszenierung von Haute Surveillance im Théâtre Récamier em­ pört sind. Denn ich frage mich, ob die Nacktheit, die gegenwärtig im westlichen Theater so beliebt ist, ihre Popularität nicht ihrem Warencharakter verdankt. Ich habe den Vortrag gelesen, den der polnische Regisseur Grotowski kürzlich in New York gehalten hat; darin betont er den Unterschied zwischen der Nacktheit in seinem Experimentaltheater und der Nacktheit in der kommer­ zialisierten New Yorker Avantgarde. Ich verstehe diesen Unter13 [Genet, J., Haute Surveillance (1949), endgültige Fassung: Paris 1965; dt. »Unter Aufsicht«, in: ders., Alle Drameny Reinbek bei Hamburg 1990.]

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schied sehr wohl, aber mir scheint, er ist in der modernen Gesell­ schaft ständig bedroht, weil sie in der Lage ist, alles in eine kom­ merzielle Show zu verwandeln. Ich glaube, das gilt für jede Form der Überschreitung und nicht nur für das literarische Schreiben. M. Foucault: Was die Moden und kulturellen Werte unserer westlichen Gesellschaften angeht, können wir sagen, wir leben in einer interessanten Zeit. Während der letzten hundert Jahre besaß der weibliche Akt in Europa keinerlei Subversivität. Man zog die Frauen aus, um sie zu malen oder auf der Bühne zu zeigen. Der männliche Akt ist dagegen eine echte Überschreitung. Wenn die Literatur den Mann wie bei Genet wirklich entblößte und die Liebe zwischen Männern beschrieb, besaß sie eine destruktive Kraft. Aber das ist heute nicht mehr der Fall. X Shimizu: Die Frage, ob es möglich ist, die bestehende Ord­ nung allein mit den Mitteln der Literatur zu zerschlagen, hat uns zu Genets Werk geführt. In einem Interview hat er etwas gesagt, das auf subtile Weise mit Ihrer Äußerung eben übereinstimmt, wonach Sie »nicht mehr ganz jung« sind. Genet bemerkte dort: »In meinem Alter kann ich nichts mehr tun..., ich kann allenfalls die französische Sprache verderben, damit eines Tages die franzö­ sische Gesellschaft verdirbt...« Genets Einstellung ist vollkom­ men klar; er verflucht die Gesellschaft. Was halten Sie von dieser Einstellung? M. Foucault: Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was Genet mit »die französische Sprache verderben« meint. Wenn es darum geht, in die französische Sprache, die literarische Sprache, Wendungen einzuführen, die dort noch kein Bürgerrecht besaßen, dann tut er letztlich nichts anderes als Céline, um ein Beispiel aus der Ver­ gangenheit zu nennen. Aber ich frage mich, ob er damit in Wirk­ lichkeit die Alibifunktion der Literatur nicht noch verstärkt. Wenn ein Schriftsteller Ausdrücke aus dem Argot oder Redewen­ dungen aus dem Proletariat nachahmt, übernimmt oder bevor­ zugt, was kann er damit denn letztlich bewirken? Ändert das etwas an der Lage des Proletariats? Und was den wirklichen Klas­ senkampf angeht, hat man sich da nicht eine heuchlerische Maske aufgesetzt, und ist die Rhetorik der Literatur nicht diesem Bei­ spiel gefolgt? Die Literatur, die wieder vollständig in die bürger­ liche Welt integriert worden ist, redet nun folgendermaßen: »Seht her, ich schließe das Proletarische nicht aus meiner Sprache aus.

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Ich bin kein Bourgeois. In Wirklichkeit habe ich keine Verbin­ dung zum kapitalistischen System, denn wie ihr seht, rede ich wie ein Arbeiter.« Indem sie so spricht und in der Veränderung ihrer Ausdrucksweise und ihrer theatralischen Gesten ersetzt die Lite­ ratur nur eine Maske durch eine andere. Aber all das ändert nichts an der tatsächlichen Rolle der Literatur in der Gesellschaft. Wenn Genets Ausdruck diese Bedeutung hat, kann ich nur lachen. Wenn der Ausdruck »die französische Sprache verderben« je­ doch bedeutet, das System unserer Sprache - also wie die Worte in der Gesellschaft funktionieren, wie Texte bewertet und aufge­ nommen werden und in welcher Weise sie politische Wirkungs­ macht erlangen -, dieses System unserer Sprache müsse überdacht und reformiert werden, dann kann das »Verderben der französi­ schen Sprache« ganz gewiss revolutionäre Bedeutung haben. Aber wie Sie wissen, kann die Gesamtsituation der Sprache und der bereits genannten Modalitäten nur durch eine gesellschaftliche Revolution verändert werden. Mit anderen Worten, die globale Reorganisation und Neuverteilung der Modalitäten und Bedeu­ tungen unserer Sprache lässt sich nicht bewerkstelligen, indem man sie von innen her verdirbt, sondern von einer Reform außer­ halb der Sprache. Ein literarisches Projekt, das volkstümliche Re­ dewendungen, den entsprechenden Wortschatz und die zugehö­ rige Syntax in die Sprache einführt, kann unter keinen Umständen als Protest oder revolutionäres Projekt gelten. X Shimizu: Ganz gleich, welche Anstrengungen ein Schriftstel­ ler unternimmt, seine Arbeit lässt sich, wie Sie sagen, von der Gesellschaft leicht vereinnahmen und assimilieren. Von außen be­ trachtet, das heißt aus soziologischer Sicht, befindet sich die Li­ teratur in dieser Situation. Untersucht man jedoch von innen her die darin vor allem auf sexuellem Gebiet anzutreffende Über­ schreitung, zeigt sich dann nicht eine wichtige Bedeutung? In der ganzen Welt gibt es heute eine Bewegung für freien Sex, und auf der anderen Seite gibt es literarische Erfahrungen im se­ xuellen Bereich. Zwischen beiden Erscheinungen besteht ein in­ teressanter Zusammenhang, doch wenn die Überschreitung in der Literatur einen Sinn hat, dann gewiss nicht deshalb, weil all das von den Leuten aufgenommen worden ist, so dass der freie Sex sich ausbreitet und damit auch die Banalisierung der Sexualität oder die Entsexualisierung. Liegt der Grund nicht vielmehr darin,

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dass die Sexualität das Mittel zur Schaffung einer neuen Form des Heiligen darstellt? M. Foucault: Ja, das Heilige, letztlich dürfte das schon zutref­ fen. Doch abgesehen von den primitiven Gesellschaften, bestand die Erfahrung des Heiligen während der nachfolgenden Entwick­ lungsstufen der europäischen Gesellschaften in einer Annäherung an den jeweils zentralsten gesellschaftlichen Wert. Anders gesagt, es ging um größtmögliche Nähe zum Zentrum einer absoluten göttlichen Kraft, zur Spitze der hierarchischen Ordnung des Hei­ ligen und seiner verschiedenen Bedeutungen, kurz: zu Gott. Die Erfahrung des Heiligen war eine zentrale Erfahrung. Doch in der Folgezeit hörte der Westen auf, an Gott zu glauben. Seither geht es nicht mehr um die Annäherung an ein Zentrum, einen Herd, an etwas wie die Sonne, die alles erleuchtet, sondern um die Überschreitung des absolut Verbotenen. In diesem Sinne und insofern der Wahnsinn von permanenter Ausschließung betroffen ist, können wir sagen, die Erfahrung des Wahnsinns sei bis zu einem Punkt die Erfahrung des Heiligen. In diese Richtung zu gehen, von der die Götter sich abgewendet haben, ist dann letztlich unsere eigentliche Erfahrung geworden. Die Sexualität wird insbesondere seit dem 19. Jahrhundert stärker unterdrückt als jemals zuvor. Wir dürfen nur noch nach den von der bürgerlichen Gesellschaft aufgestellten Regeln darüber spre­ chen, sie nur noch nach diesen Regeln praktizieren. Darum ist sie zu einem privilegierten Ort für die Eifahrung des Heiligen ge­ worden. Am Ende ist nun die Überschreitung der Grenzen im Bereich der Sexualität gleichbedeutend mit der Erfahrung des Heiligen. M. Watanabe: Wenn man sagen kann, die Erfahrung des Hei­ ligen als Überschreitung sei eine Erfahrung der Grenzen, kann man dann nicht auch sagen, es handle sich um eine Gleichsetzung der Erfahrung der Grenzen auf der Ebene des Textes und dersel­ ben Erfahrung auf der Ebene der Existenz? M. Foucault: Mir scheint, diese Gleichsetzung ist in Genets Werk verwirklicht. Aber hier stellt sich nun umgekehrt das Prob­ lem der Diskrepanz zwischen der sexuellen Überschreitung im realen Leben und der sexuellen Überschreitung in der Literatur. Wie gesagt, erschien die sexuelle Überschreitung, die Überschrei­ tung der Sexualmoral in der Literatur meines Erachtens bis vor

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kurzem gerade deshalb besonders bedeutsam, weil sie innerhalb der Literatur erfolgte. Überschreitungen, die als individuelle Akte tolerierbar waren, wurden nicht mehr toleriert, sobald sie in der Literatur auftauchten. Die Literatur als Bühne, auf der sexuelle Überschreitungen gespielt wurden, machte die Sache noch uner­ träglicher. Heute dagegen hat die Literatur als Bühne sexueller Überschreitung den Akt der Überschreitung als solchen fade wer­ den lassen, und wenn er auf der literarischen Bühne erfolgt, er­ scheint er daher weitaus erträglicher. Aus dieser Sicht ist für mich Blanchot der letzte Schriftsteller, und so hat er sich selbst auch ohne Zweifel gesehen. T. Shimizu: Sie haben Blanchot erwähnt. Ich habe gehört, dass Sie seit zwei Jahrzehnten großen Respekt vor ihm empfinden. Könnten Sie uns die Feststellung, Blanchot sei der letzte Schrift­ steller, etwas näher erläutern? M. Foucault: Im Grunde seines Herzens möchte jeder Schrift­ steller das letzte Buch schreiben. Blanchot hat das verstanden. Aber wenn ich sage, Blanchot sei der letzte Schriftsteller, dann meine ich damit, dass er für die Literatur des 19. und 20. Jahr­ hunderts, über die er mit unvergleichlicher Brillanz gesprochen hat, in größter Vollkommenheit jenen literarischen Raum abge­ grenzt hat, der sich auf keinen realen Raum zurückführen lässt, weder auf den sozialen Raum noch auf den der Umgangssprache. Wir wissen nicht, ob das Drama des Schreibens ein Spiel oder ein Kampf ist, doch Blanchot hat in größter Vollkommenheit jenen »ortlosen Ort« abgegrenzt, an dem alles geschieht. Die Tatsache, dass eines seiner Bücher den Titel L'Espace littéraire14 trägt und ein anderes den Titel La Part du feu,15 scheint mir die beste De­ finition von Literatur zu sein. Das muss man sich einmal genau durch den Kopf gehen lassen: Der literarische Raum ist das, was man den Flammen opfert. Anders gesagt, was eine Kultur dem Feuer, der Vernichtung, dem Nichts überantwortet, was sie in Asche verwandelt, womit sie nicht weiterleben kann, genau das nennt Blanchot den literarischen Raum. Dieser imposante Ort, die Bibliothek, in der alle literarischen Werke eines nach dem anderen eintreffen, in die sie wie die Ernte eingefahren werden, dieser Ort, 14 [Blanchot, M., VEspace littéraire, Paris 1955; dt. Teilübersetzung in: ders., Das Unzerstörbare, München 1991.] 15 [Ders., La Part du feu, Paris 1949.]

der wie ein Museum erscheint, in dem die kostbarsten Schätze der Sprache sicher aufgehoben werden, dieser Ort ist in Wirklichkeit ein Herd, ein ewiger Brand. Oder in gewisser Weise ist es auch ein Ort, an dem diese Werke nur in Feuer, Brand, Zerstörung und Asche entstehen können. Literarische Werke entstehen wie etwas bereits Aufgezehrtes. Genau diese Themen hat Blanchot so bril­ lant dargestellt. In meinen Augen ist das der schönste und funda­ mentalste Ausdruck zur Definition dessen, was die Literatur nicht nur in der westlichen Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts, sondern überhaupt in ihrem Verhältnis zur gesamten westlichen Kultur dieser Zeit war. Aber ist die Literatur heute noch so, wie Blanchot sie beschrieben hat? Spielt sie heute nicht eine viel be­ scheidenere Rolle? Ist dieses große Feuer nicht längst verloschen, das einst alle Werke im Augenblick ihrer Entstehung oder sogar schon vorher verzehrte? Sind Literatur und literarischer Raum nicht wieder im Raum der gesellschaftlichen Zirkulation und des Konsums aufgegangen? Und falls das so ist, müssen wir dann nicht etwas anderes tun als schreiben, wenn wir die andere Seite erreichen, wenn wir verzehren und verbrennen und in einen Raum gelangen wollen, der sich nicht auf unseren Raum zurück­ führen lässt, an einen Ort, der keinen Platz innerhalb unserer Gesellschaft zu finden vermöchte. Blanchot ist gewissermaßen der Hegel der Literatur, doch zu­ gleich steht er im Gegensatz zu Hegel. Als Hegel der Literatur bezeichne ich ihn aus folgendem Grund: Unter den großen Wer­ ken der deutschen, englischen oder französischen Literatur - ich glaube, über die japanische Literatur hat er leider nicht gespro­ chen -, also unter den bedeutenden Werken der westlichen Kultur gibt es keines, in dem Blanchot keine Spuren irgendwelcher Art hinterlassen hätte - und mehr als nur Spuren, nämlich Sinn und Bedeutung. Hegel hat schließlich nicht nur wiederholt, was das Raunen der Geschichte erzählte; er hat dieses Raunen umgewan­ delt, um daraus den Sinn der Moderne zu schaffen. Ganz ähnlich hat auch Blanchot aus allen wichtigen Werken des Westens genau das herausgezogen, was es diesen Werken ermöglicht, uns heute noch anzusprechen, aber auch Teil der heute von uns gesproche­ nen Sprache zu sein. Wenn Hölderlin, Mallarmé, Kafka in der Sprache, die wir heute sprechen, immer noch sehr gegenwärtig sind, so verdanken wir das Blanchot. Auf ähnliche Weise hatte

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Hegel im 19. Jahrhundert die griechische Philosophie, Platon, die griechische Bildhauerkunst, die mittelalterlichen Kathedralen, Le Neveu de Rameau{(i und vieles andere rekapituliert. Darum ist Blanchot der Hegel der Literatur, aber zugleich steht er im Gegensatz zu Hegel. Denn wenn Hegel den Inhalt der gan­ zen Philosophie und letztlich aller großen Erfahrungen der Ge­ schichte zusammenfasste, so verfolgte er damit kein anderes Ziel, als diesen Inhalt der so genannten Gegenwart einzuverleiben, um zu beweisen, dass diese geschichtlichen Erfahrungen in uns gegen­ wärtig sind, oder auch, dass wir in diesen Erfahrungen gegenwär­ tig sind. Es handelte sich um eine großartige Synthese der Verin­ nerlichung in Form des Gedächtnisses. Letztlich ist Hegel Platoniker geblieben, denn für ihn existierte die Weltgeschichte im Gedächtnis des Wissens fort. Für Blanchot gilt jedoch das Ge­ genteil. Er nimmt die großen Werke der Weltliteratur und webt sie in unsere Sprache ein, um zu beweisen, dass man diese Werke niemals einverleiben kann, dass sie außerhalb unserer selbst exis­ tieren, dass sie draußen entstanden sind und dass wir, wenn sie außerhalb unserer selbst existieren, auch unsererseits außerhalb dieser Werke sind. Und wenn wir auch weiterhin ein gewisses Verhältnis zu ihnen haben, so geschieht dies aufgrund einer Not­ wendigkeit, die uns zwingt, sie zu vergessen und sie außerhalb unserer selbst zu belassen; gewissermaßen in Gestalt einer rätsel­ haften Zerstreuung und nicht in Form einer kompakten Imma­ nenz. Auf diese Weise sind literarische Werke für Blanchot gegen­ wärtig. Blanchot selbst steht außerhalb all dieser Werke. Er hat nie versucht, sie in seine Welt hereinzuholen oder sie ein zweites Mal von draußen sprechen zu lassen. Er hält den größtmöglichen Ab­ stand zu ihnen und bezeichnet diese Distanz zu den Werken als »Neutralität«. Er versucht nicht, die bereits geschriebenen Werke in sich selbst, in seine Subjektivität hereinzuholen, doch er vergisst sich selbst so vollkommen, dass diese Werke aus dem Vergessen auftauchen. Selbst wenn er spricht, spricht er stets nur vom Ver­ gessen. Das Verhältnis zwischen den Werken und diesem Mann, der über sie in Gestalt des Vergessens spricht, ist das genaue Ge­ genteil der Wirkung, die sich in Gestalt der Darstellung oder des Gedächtnisses bei Hegel einstellt. 16 [Diderot, D., Le Neveu de Rameau (1762, posthum erschienen), Paris 1823; dt. Rameaus Neffe, Köln 1963.]

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Ich möchte sogar noch weiter gehen: Blanchot steht nicht nur außerhalb all der Bücher, über die er spricht, sondern außerhalb jeglicher Literatur. Auch darin unterscheidet er sich von Hegel. Denn Hegel verstand sich selbst als Konzentrat aller Philosophen oder als die Philosophie in Person. Hegel trat niemals aus der Philosophie heraus. Wenn er überhaupt aus etwas heraustrat, dann aus der Zeit, das heißt aus dem, was die Philosophie zerstörte, ihren Fortbestand gefährdete und sie wie Sand in alle Winde zer­ streute. Hegel stellte sich außerhalb der Zeit, um in die Philoso­ phie hineinzugelangen. Blanchot dagegen tritt aus der Literatur heraus, sobald er darüber spricht. Letztlich ist er niemals in der Literatur, sondern bleibt stets außerhalb. Wenn wir heute wissen, dass wir die Literatur verlassen müssen, dass wir ihr »Innen« nicht als jenen eher angenehmen Ort begrei­ fen dürfen, an dem wir miteinander kommunizieren und uns er­ kennen, oder auch dass wir uns außerhalb der Literatur stellen und sie ihrem uninteressanten historischen Schicksal überlassen müs­ sen, ein Schicksal, das im Übrigen von der modernen bürgerlichen Gesellschaft bestimmt wird, der sie angehört - dann hat Blanchot uns diesen Weg gewiesen. Er hat uns die tiefgründigsten Dinge darüber erzählt, was Literatur gewesen ist; und er, der sich ständig aus der Literatur davonschlich, hat uns gezeigt, dass man unter allen Umständen außerhalb der Literatur bleiben muss. M. Watanabe: Damit sind wir wieder beim zentralen Thema der letzten Texte von Blanchot: der atheistischen Literatur und den damit verbundenen Problemen: Schrei und Graffiti. M. Foucault: Ganz richtig. Als ich eben fragte, ob man nicht mit dem Schreiben aufhören solle, wollte ich sagen: Müssen wir das Schreiben, das bislang einen hohen Wert besaß, nicht vorläufig in all seinen Formen einstellen, ob nun literarisch oder philoso­ phisch? Als mir die Zweifel hinsichtlich der subversiven Funktion des Schreibens kamen, da betrafen sie nicht nur die Literatur, sondern natürlich auch die Philosophie - die Literatur habe ich nur als Beispiel gewählt, weil sie sich in besonderem Maße an­ bietet. Die Philosophie hat ihre subversive Kraft sogar in beson­ derem Maße verloren, weil sie seit dem 18. Jahrhundert zu einem Beruf für Universitätsprofessoren geworden ist. Und das gilt für jegliches theoretisches Schreiben, bei dem es um eine theoretische Analyse geht.

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Die Literatur habe ich als Beispiel gewählt, weil diese Form des Schreibens bislang noch am wenigsten von der herrschenden Ord­ nung vereinnahmt worden und daher noch die subversivste ge­ blieben ist. Aber wenn auch die Literatur heute ihre destruktive Kraft eingebüßt hat, liegt es auf der Hand, dass die anderen For­ men des Schreibens sie schon lange verloren haben. Ich sage nicht, das Schreiben müsse durch Kommunikationsmittel ersetzt wer­ den, die sich nicht auf Buchstaben stützen. Es geht hier nicht um McLuhan und auch nicht genau um das Schreiben [»écriture«], das Barthes meint. Vielmehr handelt es sich um ein System, das gänzlich charakteristisch für die kapitalistische und bürgerliche Gesellschaft ist, das heißt ein System, das ein ganzes Ensemble von Wissen und Symbolen erzeugt, ihm Werte zuweist, es verteilt und überträgt. Das ist, grob gesagt, unser »System des Schrei­ bens«. In anderen Sozialstrukturen fällt dieses System der Erzeu­ gung von Symbolen und der Zuweisung von Werten natürlich ganz anders aus. Die Menschheit wird gewiss auch weiterhin Buchstaben auf Blätter schreiben oder Plakate und Wandzeitun­ gen fabrizieren. Zum Abschluss möchte ich noch auf eines zu sprechen kom­ men, auch wenn es eine Abschweifung sein sollte. Ich weiß nicht, wie es in Japan ist, aber im Westen haben Studenten und Hoch­ schullehrer, also jene, deren Aufgabe es ist, Wissen entgegenzu­ nehmen und weiterzugeben, seit Mai 1968 begriffen, dass ihre Tätigkeit eng mit der gegenwärtigen Entwicklung der bürgerli­ chen Gesellschaft zusammenhängt. Trotz dieser Entdeckung ha­ ben sie jedoch nicht verstanden, was es heißt, innerhalb dieser Gesellschaft eine Ausbildung zu erhalten oder andere auszubil­ den; sie haben nicht begriffen, dass diese Ausbildung letztlich nichts anderes ist als die Erneuerung und Reproduktion der Kenntnisse und Werte der bürgerlichen Gesellschaft. Alle Leh­ renden und Lernenden, nicht nur in Europa, sondern in der gan­ zen Welt, durchleben zur Zeit eine Krise, und in dieser Situation müssen die von ihnen benutzten Worte und deren Bedeutung überdacht werden. Wenn ich eben gesagt habe, das Schreiben als Überschreitung sei fade geworden, so weil viele europäische Schriftsteller sich durch ihr Schreiben vor dieser Situation geschützt wähnen. Ich kann ihnen versichern, einige von ihnen denken und argumentie­

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ren etwa folgendermaßen: »Wenn ich schreibe, kann das, was ich schreibe, nur subversiv sein, denn mein Schreiben geschieht an jenem externen, notwendig aus der Gesellschaft ausgeschlossenen Ort, den Blanchot den neutralen Ort der Literatur genannt hätte.« Natürlich wende ich mich damit keineswegs gegen Blanchot. Es gibt ganz sicher neutrale Orte der Literatur, zumindest gab es sie bis vor kurzem. Aber ich bin mir nicht sicher, ob diese Orte ihren neutralen Charakter auch heute noch besitzen - natürlich waren die Orte des Schreibens nicht neutral in ihrer empirisch-ge­ schichtlichen Stellung, außerhalb lagen sie vielmehr im Hinblick auf ihr Verhältnis zur Gesellschaft -, und ich weiß auch nicht, ob sie in dieser Hinsicht immer noch außerhalb liegen. Gegenwärtig haben Lehrende und Lernende an allen Universitäten der Welt das Gefühl, dass es unmöglich geworden ist, zu lehren und zu lernen; mir scheint, dieses Gefühl sollten auch alle empfinden, die schrei­ ben und lesen. Natürlich wird es immer notwendig sein, zu lehren und zu lernen. Es fragt sich nur, nach welcher Methode. Und das wissen wir noch nicht. Die Unruhe, die uns heute erfasst hat - und die Sie gewiss selbst sehr genau kennen, weil sie unsere Lehrver­ anstaltungen und die Aufnahme unserer Vorlesungen so schwierig macht -, ist ganz sicher notwendig und wird eines Tages ihre Früchte tragen. Aber müssen wir sie nicht auch auf das Schreiben übertragen? Müssen wir sie dort nicht ebenfalls empfinden? Die Schriftsteller können sich angesichts des gewaltigen politischen Protests gegen das Bildungssystem und das Wissen der kapitalis­ tischen Gesellschaft nicht an einen sicheren Ort zurückziehen. In China jedenfalls genießen die Schriftsteller ähnlich den Studenten und Hochschullehrern keinen besonderen Schutz aufgrund ihrer Stellung als Schriftsteller. Auch in unserer Gesellschaft sollte das Schreiben nicht als Alibi dienen oder als Vorwand, die Dinge, gegen die an der Universität protestiert wird, zu dämpfen oder abzumildern. Seit ich die Frage gestellt habe, ob man nicht mit dem Schreiben aufhören müsse, habe ich viel geredet. Vielleicht sollte ich jetzt auch einmal mit dem Reden aufhören? Übersetzt von Michael Bischoff

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Wahnsinn und Gesellschaft »Kyoki to shakai« (»La folie et la société«, übers, von R. Nakamura), in: MisuzHy Dezember 1970, S. 16-22. (Vortrag vom 29. September 1970 im Institut franco-japonais in Kyoto.)

Bei der Erforschung der abendländischen Denksysteme ist man bisher traditionell so vorgegangen, dass man ausschließlich posi­ tiven Phänomenen Beachtung schenkte. In den letzten Jahren hat nun Lévi-Strauss in der Ethnologie eine Methode erprobt, mit der sich in jeder Gesellschaft oder Kultur die negative Struktur ans Licht holen lässt. So hat er gezeigt, dass ein Inzestverbot in einer Kultur nicht auch die Existenz bestimmter Werte bedeutet. Es gibt gewissermaßen ein kaum wahrnehmbares Schachbrettmuster aus schwarzen und weißen Feldern, das die Modalität einer Kul­ tur definiert. Das Muster dieser Felder wollte ich auch auf die Erforschung der Geschichte der Denksysteme anwenden. Dabei ging es mir nicht um die Dinge, die in einer Gesellschaft oder einem Denksystem behauptet oder als wertvoll erachtet werden; vielmehr wollte ich erforschen, was abgelehnt und ausgeschlossen wird. Ich habe also lediglich eine Methode angewendet, die in der Ethnologie bereits bekannt war. Der Wahnsinn war zu allen Zeiten ausgeschlossen. In den letz­ ten fünfzig Jahren haben Ethnologen und vergleichende Psychia­ ter in den so genannten fortgeschrittenen Ländern herauszufinden versucht, ob die in ihren Ländern anzutreffenden Formen von Wahnsinn, also geistige Störungen wie Zwangsneurose, Paranoia oder Schizophrenie, auch in den so genannten »primitiven« Ge­ sellschaften Vorkommen. Weiter versuchten sie zu klären, ob diese primitiven Gesellschaften den Irren nicht einen anderen Status einräumten, als man es in ihren eigenen Gesellschaften tat. In ihren eigenen Gesellschaften schloss man die Irren aus. Legte man ihnen in den primitiven Gesellschaften nicht einen positiven Wert bei? Waren die Schamanen in Sibirien oder Nordafrika nicht Geisteskranke? Drittens fragten sie sich, ob bestimmte Gesell­ schaften nicht insgesamt geisteskrank waren. So gelangte Ruth Benedict zu dem Schluss, beim Stamm der Kwakiutl-Indianer zeige sich ein paranoider Charakter.

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Heute möchte ich über ein Vorgehen sprechen, das dem Vor­ gehen dieser Forscher entgegengesetzt ist. Ich möchte erstens untersuchen, welchen Status der Irre in den primitiven Gesell­ schaften besaß, zweitens klären, wie dieser Status in unseren in­ dustriellen Gesellschaften beschaffen ist, drittens fragen, welche Ursache die im 19. Jahrhundert auf diesem Gebiet zu beobach­ tende Veränderung hatte, und schließlich zeigen, dass die Stellung des Irren sich in der modernen Industriegesellschaft nicht grund­ legend verändert hat. Die menschlichen Aktivitäten lassen sich, grob gesprochen, in vier Kategorien unterteilen: - Arbeit oder wirtschaftliche Produktion; - Sexualität, Familie, also Reproduktion der Gesellschaft; - sprachliche Aktivitäten; - Spiele und Feste. In allen Gesellschaften gibt es Menschen, die in ihrem Verhalten von den anderen abweichen oder sich den für die vier genannten Bereiche geltenden Regeln entziehen, kurz gesagt diejenigen, die man als marginalisierte Personen bezeichnet. Schon in der ganz normalen Bevölkerung variiert das Verhältnis zur Arbeit nach Alter und Geschlecht. In vielen Gesellschaften arbeiten politische Führer und Priester nicht selbst und sind nicht in den Produk­ tionskreislauf eingebunden, falls sie die Kontrolle über die Arbeit anderer ausüben oder als Mittler zu einer übernatürlichen Kraft fungieren. Es gibt auch Menschen, die nicht in den Kreislauf der sexuellen Reproduktion eingebunden sind. Ein Beispiel dafür sind die Un­ verheirateten, von denen viele Mönche, Nonnen oder Priester sind. Wir wissen übrigens, dass es bei den nordamerikanischen Indianern Homosexuelle und Transvestiten gibt; in der gesell­ schaftlichen Reproduktion nehmen sie natürlich eine Randstel­ lung ein. Auch im Bereich der Sprache gibt es Menschen, die aus der Norm herausfallen. Die von ihnen benutzten Worte haben einen anderen Sinn. Bei den Worten eines Propheten, die zunächst nur symbolische Bedeutung haben, könnte später einmal die verbor­ gene Wahrheit ans Licht kommen. Die Worte der Dichter liegen im Bereich des Ästhetischen und entziehen sich der Norm. In allen Gesellschaften werden schließlich auch Menschen von

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Spielen und Festen ausgeschlossen, entweder weil sie als gefähr­ lich gelten oder weil sie selbst Objekt des Festes sind. Wie beim Sündenbock der Hebräer wird manchmal jemand geopfert, der die Sünden der anderen auf sich nehmen soll; während der Vertrei­ bungszeremonie feiern die Übrigen ein Fest. In den genannten Beispielen werden aus den verschiedenen Be­ reichen jeweils verschiedene Personengruppen ausgeschlossen, aber es kommt auch vor, dass dieselbe Person aus allen Bereichen ausgeschlossen wird. Das gilt für den Irren. In allen oder fast allen Gesellschaften wird der Irre von allem ausgeschlossen, wobei man ihm je nach den Umständen einen religiösen, magischen, mit Spiel und Fest verbundenen oder pathologischen Status zuweist. So gilt der Irre in einem primitiven australischen Stamm als ein furchterregendes, mit übernatürlichen Kräften begabtes Wesen. Andererseits fallen manche Irre der Gesellschaft zum Opfer. Je­ denfalls sind es Menschen, die im Bereich der Arbeit, der Familie, der Sprache und des Spiels ein anderes Verhalten zeigen als die Übrigen. Ich möchte nun auf die Tatsache hinweisen, dass in unseren modernen Industriegesellschaften die Irren durch ein isomorphes System ausgeschlossen und auf einen Platz am Rande der Gesell­ schaft verwiesen werden. Was die Arbeit angeht, gilt als wichtigstes Kriterium für die Feststellung, ob ein Mensch geisteskrank ist, selbst heute noch der Nachweis, dass er nicht arbeiten kann. Freud hat sehr präzise gesagt, der Geisteskranke (er sprach hauptsächlich von Neuroti­ kern) sei ein Mensch, der weder arbeiten noch lieben könne. Ich werde auf das »Lieben« noch zurückkommen, doch Freuds Ge­ danke enthält eine tiefgründige geschichtliche Wahrheit. Im Mit­ telalter wurde die Existenz des Irren in Europa anerkannt. Gele­ gentlich erregten sie sich, wurden unzuverlässig oder faul, doch man ließ zu, dass sie sich frei bewegten. Etwa im 17. Jahrhundert entstand nun die industrielle Gesellschaft, und von da an wurde die Existenz solcher Menschen nicht mehr geduldet. Gemäß den Anforderungen der Industriegesellschaft schuf man in Frankreich und England nahezu gleichzeitig große Einrichtungen zur Ein­ schließung der Irren. Aber nicht nur die Irren waren davon be­ troffen, sondern auch Arbeitslose, Kranke, Alte, also alle, die nicht arbeiten konnten.

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Nach der traditionellen Auffassung der Historiker wurden die Irren Ende des 18. Jahrhunderts von ihren Ketten befreit, in Frank­ reich 1793 durch Pinel und in England um dieselbe Zeit durch Tuke, einen Quäker, der ein psychiatrisches Krankenhaus gründe­ te. Man glaubt, die Irren seien bis dahin als Kriminelle behandelt worden und Pinel und Tuke hätten sie erstmals als Kranke einge­ stuft. Ich muss jedoch sagen, dass diese Sicht der Dinge falsch ist. Erstens wurden die Irren vor der Französischen Revolution kei­ neswegs als Kriminelle betrachtet. Und zweitens ist es ein Vorur­ teil, wenn man meint, die Irren seien aus ihrer vorherigen Stellung befreit worden. Die zweite Vorstellung ist wahrscheinlich ein noch größeres Vorurteil als die erste. In den primitiven wie in den modernen Gesellschaften, im Mittelalter wie im 20. Jahrhundert wurde den Irren derselbe Status zugewiesen. Der einzige Unterschied liegt darin, dass vom 17. bis zum 19. Jahrhundert das Recht, die Ein­ schließung eines Irren zu verlangen, der Familie zustand. Zu­ nächst einmal war es die Familie, die den Irren ausschloss. Seit dem 19. Jahrhundert verlor sich dieses Vorrecht zunehmend und ging von der Familie auf die Ärzte über. Wollte man einen Geis­ teskranken in eine geschlossene Anstalt einweisen, benötigte man ein ärztliches Gutachten, doch nach der Einweisung sah der Irre sich jeglicher Verantwortung und jeglichen Rechts als Mitglied einer Familie beraubt; er verlor sogar seine staatsbürgerlichen Rechte und war vollständig entmündigt. Man könnte sagen, das Recht siegte über die Medizin und wies dem Irren einen margi­ nalen Status zu. Zweitens gibt es im Blick auf Sexualität und Familiensystem eine bemerkenswerte Tatsache. Sieht man sich europäische Doku­ mente bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts an, so zeigt sich, dass sexuelle Praktiken wie Masturbation, Homosexualität oder Nym­ phomanie keineswegs als Erscheinungen galten, die in den Zu­ ständigkeitsbereich der Psychiatrie fielen. Erst Anfang des 19. Jahrhunderts wurden diese sexuellen Anomalien dem Bereich der Geisteskrankheiten zugeordnet und galten als Störungen eines Menschen, der unfähig war, sich an die europäische bürgerliche Familie anzupassen. Als Beyle die fortschreitende Paralyse be­ schrieb und bewies, dass sie durch die Syphilis verursacht wurde, festigte sich der Gedanke, wonach die Hauptursache des Wahn-

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sinns in der sexuellen Anomalie liege. Und als Freud dann Stö­ rungen der Libido als Ursache oder Ausdruck von Wahnsinn in­ terpretierte, wirkte das in dieselbe Richtung. Drittens besaß der Irre im Verhältnis zur Sprache in Europa einen merkwürdigen Status. Einerseits tat man die Sprache der Irren als sinnlos ab, andererseits überging man sie niemals voll­ ständig. Vielmehr schenkte man ihr stets besondere Beachtung. Vom Mittelalter bis zum Ende der Renaissance gab es zum Bei­ spiel in der kleinen Gesellschaft der Aristokraten den Hofnarren. Man könnte sagen, der Hofnarr war gleichsam die Institutionali­ sierung der Sprache des Wahnsinns. Ohne Rücksicht auf Moral und Politik und unter dem Schutz der Verantwortungslosigkeit gaben sie in symbolischer Form Wahrheiten kund, die gewöhn­ liche Menschen nicht äußern konnten. Ein weiteres Beispiel: Bis ins 19. Jahrhundert hinein war die Literatur institutionell in hohem Maße darauf ausgerichtet, die gesellschaftliche Moral zu stützen und die Menschen zu unter­ halten. Heute hat die Sprache der Literatur sich von alledem be­ freit und ist vollkommen anarchisch geworden. Es gibt daher eine bemerkenswerte Affinität zwischen Literatur und Wahnsinn. Die literarische Sprache ist nicht an die Umgangssprache gebunden. So ist sie nicht der strengen Regel unterworfen, immer die Wahr­ heit zu sagen, wie ja auch der Erzähler nicht gezwungen ist, immer in dem aufrichtig zu sein, was er denkt und fühlt. Kurz gesagt, im Unterschied zur Sprache der Politik oder der Wissenschaft nimmt die literarische Sprache eine Randstellung gegenüber der Um­ gangssprache ein. In der europäischen Literatur hat sich die Marginalität der li­ terarischen Sprache in folgenden drei Epochen ganz besonders verstärkt: 1. Im 16. Jahrhundert rückte sie noch weiter an den Rand als im Mittelalter. Heldenepen und Ritterromane waren destruktiv und stellten die Gesellschaft infrage. Man denke etwa an das Lob der Torheit des Erasmus, an Tassos Werk oder an das elisabethanische Theater. In Frankreich entstand sogar eine Literatur des Wahnsinns. Der Duc de Bouillon ließ auf eigene Kosten den Text eines Irren drucken, und den Franzosen gefiel die Lektüre. 2. Die zweite Epoche reicht vom Ende des 18. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. In der Literatur der Geisteskranken sehen

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wir hier die Dichtungen von Hölderlin und Blake und das Werk von Raymond Roussel entstehen. Roussel geht wegen einer Zwangsneurose in eine psychiatrische Anstalt und wird von dem herausragenden Psychiater Pierre Janet behandelt, doch am Ende begeht er Selbstmord. Dass ein zeitgenössischer Autor wie Robbe-Grillet ihn zum Ausgangspunkt wählte, erkennt man an der schlichten Tatsache, dass er ihm sein erstes Buch widmete.1 Antonin Artaud war selbst schizophren; nach dem Verblassen des Surrealismus eröffnete er der Poesie neue Perspektiven. Man braucht im Übrigen nur an Nietzsche und Baudelaire zu denken, dann wird deutlich, dass man den Wahnsinn nachahmen oder selbst wahnsinnig werden muss, wenn man in der Literatur etwas Neues schaffen will. 3. Heute schenkt man dem Verhältnis zwischen Literatur und Wahnsinn immer größere Aufmerksamkeit. Letztlich befinden Literatur und Wahnsinn sich gegenüber der Umgangssprache in einer marginalen Position, und sie suchen das Geheimnis der literarischen Produktion in einem Modell, das der Wahnsinn be­ reitstellt. Zum Schluss wollen wir noch die Situation betrachten, in der sich der Irre in einer industriellen Gesellschaft gegenüber Spielen und Festen befindet. Im traditionellen europäischen Theater - und ich nehme an, im japanischen Theater ist es dasselbe - spielt der Narr vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert eine zentrale Rolle. Er brachte die Zuschauer zum Lachen. Denn er sah, was die übrigen Figuren nicht sahen, und enthüllte lange vor ihnen den Ausgang der Verwicklungen. Das heißt, er war ein Wesen, das die Wahrheit glanzvoll enthüllte. Ein gutes Beispiel ist Shakespeares King Lear. König Lear ist ein Opfer seiner eigenen Wahnvorstel­ lungen, aber zugleich ist er jemand, der die Wahrheit erzählt. Anders gesagt, im Theater ist der Narr eine Figur, die mit ihrem Körper eine Wahrheit kundtut, von der die übrigen Personen und die Zuschauer noch nichts wissen; die Wahrheit wird durch ihn sichtbar. Im Mittelalter gab es zahlreiche Feste, doch nur ein einziges war nichtreligiösen Charakters, das so genannte Narrenfest. Bei diesem Fest wurden die überkommenen gesellschaftlichen Rollen 1 [Robbe-Grillet, A., Un régicide, Paris 1949; dt. Ein Königsmord, Berlin 1983.]

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vertauscht: Ein Armer spielte die Rolle eines Reichen, ein Macht­ loser die eines Mächtigen. Die Geschlechtsrollen wurden ver­ tauscht, sexuelle Verbote zeitweilig außer Kraft gesetzt. Das ein­ fache Volk hatte bei diesem Fest das Recht, dem Bischof oder dem Bürgermeister alles zu sagen, was es wollte. Meist handelte es sich um Beleidigungen... Kurz, bei diesem Fest wurden alle gesell­ schaftlichen, sprachlichen, familiären Institutionen auf den Kopf und infrage gestellt. In der Kirche las ein Laie die Messe; danach führte man einen Esel herein, dessen Wiehern als Spott auf die Litanei empfunden wurde. Letztlich handelte es sich um ein Ge­ genfest zum Sonntag, zu Weihnachten oder Ostern, das aus dem üblichen Festkreis herausfiel. Heute haben die Feste ihre politisch-religiöse Bedeutung ver­ loren; stattdessen greift man zum Alkohol oder zu anderen Dro­ gen, die gleichsam einen künstlichen Wahnsinn erzeugen und da­ durch die soziale Ordnung infrage stellen. Im Grunde wird hier der Wahnsinn nachgeahmt, und man könnte darin den Versuch erblicken, die Gesellschaft herauszufordern, indem man densel­ ben Zustand wie beim Wahnsinn herbeiführt. Ich bin absolut kein Strukturalist. Der Strukturalismus ist le­ diglich ein analytisches Verfahren. In welcher Weise haben sich zum Beispiel die Lebensbedingungen der Irren vom Mittelalter bis heute verändert? Worin bestanden die notwendigen Bedingun­ gen dieser Veränderung? Ich bediene mich der strukturalistischen Methode lediglich, um diese Dinge zu analysieren. Im Mittelalter und in der Renaissance erlaubte man den Irren, im Schoß der Gesellschaft zu leben. Der so genannte Dorftrottel heiratete nicht, nahm nicht an den Spielen teil, aber er wurde von den anderen ernährt und versorgt. Sie irrten von Stadt zu Stadt, manche traten in die Armee ein, andere versuchten sich als flie­ gende Händler, doch wenn einer von ihnen allzu erregt und ge­ fährlich wurde, baute man ein kleines Haus außerhalb der Stadt und schloss ihn dort vorläufig ein. Die arabische Gesellschaft ist heute noch tolerant gegenüber den Irren. Die europäische Gesell­ schaft verlor diese Toleranz im 17. Jahrhundert. Der Grund liegt, wie schon erwähnt, in der Entstehung der industriellen Gesell­ schaft. Ich habe auch dargestellt, dass man schon 1650 bis 1750 in Großstädten wie Hamburg, Lyon oder Paris große Einrichtungen schuf, in denen man nicht nur die Irren einschloss, sondern auch

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wahre Welt< endlich zur Fabel wurde«.

84 Nietzsche, die Genealogie, die Historie

YH keit schenken, sie muss sich darauf gefasst machen, dass sie, wenn die Masken endlich gefallen sind, mit dem Gesicht eines anderen hervortritt; sie darf sich nicht scheuen, sie dort zu suchen, wo sie sind, und in den »Niederungen zu wühlen«; und sie muss ihnen Zeit lassen, aus dem Labyrinth hervorzukommen, wo keine Wahr­ heit jemals über sie gewacht hat. Der Genealoge braucht die His­ torie, um die Schimäre des Ursprungs zu bannen; darin ähnelt er dem Philosophen, der den Arzt braucht, um das Dunkel der Seele zu bannen. Er muss es verstehen, die Ereignisse der Geschichte zu erkennen, ihre Erschütterungen, ihre Überraschungen, ihre glück­ lichen Siege und kaum verwundenen Niederlagen, die von den Anfängen, Atavismen und Erbschaften zeugen. Wie man ja auch in der Lage sein muss, die Krankheiten des Körpers, seine Schwä­ chen und Stärken, seine Wunden und Widerstände zu diagnosti ­ zieren, wenn man beurteilen will, was ein philosophischer Dis­ kurs ist. Die Geschichte mit ihren Höhen und Tiefen, ihren geheimen Rasereien und Fieberstürmen als Synkopen ist der Leib des Werdens. Man muss schon Metaphysiker sein, um dafür eine Seele in der fernen Idealität des Ursprungs zu suchen. 3. Ausdrücke wie Entstehung oder Herkunft bezeichnen den ei­ gentümlichen Gegenstand der Genealogie besser als Ursprung. Im Französischen werden sie meist mit origine übersetzt, aber wir müssen versuchen, ihre eigentliche Verwendungsweise zu klären. Herkunft meint die uralte Zugehörigkeit zu einer Gruppe - zu einer Blutsgemeinschaft, einer Traditionsgemeinschaft, einer Gruppe von Menschen gleichen Standes. Bei der Analyse der Her­ kunft kommt oft auch die Rasse18 oder die Schichtenzugehörig­ keit19 ins Spiel. Allerdings geht es nicht so sehr darum, bei einem Individuum, einem Gefühl oder einer Idee die jeweils gemeinsa­ men Gattungsmerkmale zu bestimmen und etwa zu sagen, das ist griechisch oder das ist englisch, sondern darum, die vielfältigen subtilen, einzigartigen, subindividuellen Merkmale aufzuspüren, die sich darin kreuzen und ein schwer zu entwirrendes Netz bil­ den. Diese Art Ursprung ist keine auf Ähnlichkeit basierende Kategorie, sondern gestattet es, die verschiedenen Merkmale aus18 19

Siehe etwa Die fröhliche Wissenschaft, § 13 Jenseits von Gut und Bösey §§ 200, 242, 244; Genealogie der Moraly I, § 5. Die Fröhliche Wissenschaft, §§ 348-349; Jenseits von Gut und Bösey § 260.

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zubreiten und zu sortieren. Die Deutschen glauben den Gipfel der Komplexität erreicht zu haben, wenn sie sagen, sie trügen zwei Seelen in ihrer Brust; sie irren sich in der Zahl, oder besser gesagt, sie versuchen nach besten Kräften, mit dem Rassengemisch, das sie darstellen, fertig zu werden.20 Genau dort, wo die Seele den Anspruch auf Einheit erhebt, wo das Ich sich eine Identität oder Kohärenz erfindet, dort macht der Genealoge sich auf die Suche nach dem Anfang - nach den unzähligen Anfängen, die eine un­ scheinbare Verfärbung oder ein kaum noch zu erkennendes Zei­ chen hinterlassen, auf die ein historischer Blick achten sollte. Die Analyse der Herkunft macht es möglich, das Ich aufzulösen und am Ort seiner leeren Synthese zahllose heute verlorene Ereignisse hervortreten zu lassen. Die Herkunft macht es auch möglich, unter der scheinbaren Einheit eines Merkmals oder Begriffs die vielfältigen Ereignisse ausfindig zu machen, durch die (gegen die) sie sich gebildet haben. Die Genealogie erhebt nicht den Anspruch, in die Zeiten hinab­ zusteigen und eine das Vergessen übergreifende Kontinuität her­ zustellen; sie soll nicht zeigen, dass die Vergangenheit noch da ist und die Gegenwart immer noch insgeheim mit Leben erfüllt, nachdem sie den Lauf der Zeit von Anfang an geprägt hat. Nichts ähnelt hier der Evolution der Arten oder dem Schicksal eines Volkes. Das komplizierte Netz der Herkunft aufdröseln heißt vielmehr festhalten, was in der ihr eigenen Zerstreuung geschehen ist; es heißt die Zufälle, die winzigen Abweichungen - oder tota­ len Umschwünge -, die Irrtümer, falschen Einschätzungen und Fehlkalkulationen nachvollziehen, die hervorgebracht haben, was für uns existiert und Geltung besitzt; es heißt entdecken, dass an der Wurzel dessen, was wir erkennen und was wir sind, nicht die Wahrheit liegt und auch nicht das Sein, sondern die Äußer­ lichkeit des Zufalls.21 Darum verdient jeder Ursprung der Moral Kritik, sofern wir uns nur klarmachen, dass er nicht ehrwürdig ist - und die Herkunft ist das niemals.22 Ein gefährliches Erbe hinterlässt uns die so verstandene Her­ kunft. Nietzsche stellt mehrfach die Begriffe Herkunft und Erb­ schaft nebeneinander. Aber wir sollten uns nicht täuschen: die 20 Jenseits von Gut und Böse, § 244. 21 Genealogie, III, 17, »Abkunft des Hemmungsgefühls«. 22 Götzendämmerung, »Die >Vernunft< in der Philosophie«.

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Erbschaft ist kein Besitz, der immer größer und sicherer würde; vielmehr ist sie voller Spalten und Risse und besteht aus hetero­ genen Schichten, die sie brüchig werden lassen und den fragilen Erben von innen her oder von unten bedrohen: »Das Ungerechte und Sprunghafte im Gemüt mancher Menschen, ihre Unordnung und Maßlosigkeit sind die letzten Folgen unzähliger logischer Ungenauigkeiten, Ungründlichkeiten und übereilter Schlüsse, welcher sich ihre Vorfahren schuldig gemacht haben.«23 Die Er­ forschung der Herkunft schafft keine sichere Grundlage; sie er­ schüttert, was man für unerschütterlich hielt; sie zerbricht, was man als eins empfand; sie erweist als heterogen, was mit sich über­ einzustimmen schien. Welche Überzeugung könnte dem wider­ stehen? Und erst recht welches Wissen? Betrachten wir doch ein­ mal die Genealogie der Wissenschaftler - die Tatsachen sammeln und sorgfältig Buch darüber führen oder beweisen und widerle­ gen. Sucht man nach ihrer Herkunft, wird man in ihrem schein­ baren Desinteresse, ihrer Hingabe an die »reine« Objektivität rasch auf die Listen der Büroschreiber und die Plädoyers der Advokaten - ihrer Väter24 - stoßen. Schließlich wirkt sich die Herkunft auch auf den Leib aus.25 Auf das Nervensystem, das Temperament, die Verdauung. At­ mung und Ernährung sind schlecht, der Körper ist zerrüttet und geschwächt, wenn die Vorfahren Fehler gemacht haben. Ob die Väter Ursache und Wirkung verwechseln, ans Jenseits glauben oder das Ewige zum Wert erheben - die Kinder werden es an ihrem Leib büßen. Feigheit und Heuchelei sind Folgen von Feh­ lern; nicht im sokratischen Sinne, nicht weil man sich täuschen muss, um böse zu sein, nicht weil man sich von der ursprüng­ lichen Wahrheit abgewandt hätte, sondern weil der Leib in seinem Leben und Sterben, seiner Stärke und Schwäche die Folgen jeg­ licher Wahrheit und jeglichen Irrtums zu tragen hat, wie er um­ gekehrt auch deren Ursprung trägt: die Herkunft. Warum haben die Menschen das kontemplative Leben erfunden? Warum messen sie dieser Lebensweise einen höheren Wert bei? Warum empfin­ den sie die Vorstellungen, die man sich davon macht, als höchste 23 Morgenrötey § 247. 24 Die fröhliche Wissenschaft, § 348-349. 25 Jenseits von Gut und Bôsey§ 200: »Der Mensch aus einem Auflösungszeitalter..., der die Erblast einer vielfältigen Herkunft im Leibe hat«.

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Wahrheit? »Läßt seine Kraft aber nach, fühlt er sich müde oder krank oder schwermütig oder übersättigt und infolge davon zeit­ weilig wünsch- und begierdenlos, so ist er [der Einzelne] da ein verhältnismäßig besserer, das heißt weniger schädlicher Mensch, und seine pessimistischen Vorstellungen entladen sich dann nur noch in Worten und Gedanken [...]. In diesem Zustande wird er zum Denker und Vorausverkünder, oder er dichtet an seinem Aberglauben weiter.«26 Der Leib - und alles, was damit zusam­ menhängt: Ernährung, Klima, Boden - ist der Ort der Herkunft; auf dem Leib findet man die Stigmata vergangener Ereignisse; aus ihm erwachsen die Begierden, Schwächen und Irrtümer; in ihm verschlingen sie sich miteinander und kommen plötzlich zum Ausdruck, aber in ihm lösen sie sich auch voneinander, geraten in Streit, bringen sich gegenseitig zum Verlöschen und tragen ihren unüberwindlichen Konflikt aus. Der Leib: eine Fläche, auf dem die Ereignisse sich einprägen (während die Sprache sie markiert und die Ideen sie auflösen); Ort der Zersetzung des Ich (dem er die Schimäre einer substantiellen Einheit zu unterstellen versucht); ein Körper, der in ständigem Zerfall begriffen ist. Die Genealogie stellt als Analyse der Her­ kunft eine Verbindung zwischen Leib und Geschichte her. Sie soll zeigen, dass der Leib von der Geschichte geprägt und von ihr zerstört wird. 4. Entstehung bezeichnet den Punkt, Sonne und Licht< mitein­ ander ringen«.27 Gelegentlich kämpft die Kraft auch gegen sich selbst, und das nicht nur im Rausch eines Überschusses, der es ihr erlaubt, sich zu teilen, sondern auch in einer Phase der Schwäche. Sie reagiert auf ihre Ermüdung, indem sie selbst von dieser Er­ müdung zehrt, die darauf noch größer wird; und um sie noch weiter zu schwächen, erlegt sie ihr Grenzen, Opfer und Kastei­ ungen auf, stattet sie mit einem hohen moralischen Wert aus und findet so selbst zu neuer Stärke. Auf diese Weise entsteht das asketische Ided im »Instinkte eines degenerierenden Lebens, wel­ ches ... um sein Dasein kämpft«.28 Das ist der Grund, warum die Reformation von einem Land ausging, in dem die katholische Kirche noch am wenigsten korrumpiert war29 Im Deutschland des 16. Jahrhunderts besaß der Katholizismus noch genügend 27 Jenseits von Gut und Böse, § 262. 28 Genealogie, III, 13. 29 Die fröhliche Wissenschaft, § 148. Auch die Entstehung des Buddhismus und des Christentums ist einer Willensschwäche zuzuschreiben.

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Kraft, um sich gegen sich selbst zu wenden, seinen eigenen Körper und seine Geschichte zu kasteien und sich zu einer reinen Reli­ gion des Gewissens zu vergeistigen. Von Entstehung ist also die Rede, wenn Kräfte auf der Bühne erscheinen, wenn sie dort einbrechen und voll Jugendfrische aus den Kulissen springen. Der von Nietzsche so genannte Entste­ hungsherd30 des Begriffs des Guten ist weder die Kraft der Star­ ken noch die Reaktion der Schwachen, sondern die Bühne, auf der sie einander gegenübertreten und Aufstellung nehmen, die einen über den anderen; der Raum, der zwischen ihnen liegt; der Ab­ grund, der zwischen ihnen klafft; die Leere, durch die sie ihre Drohgebärden und Worte austauschen. Während die Herkunft die Qualität eines Instinkts bezeichnet, seine Stärke oder Schwä­ che und die Spuren, die er auf dem Leib hinterlässt, bezeichnet die Entstehung einen Ort der Konfrontation. Allerdings dürfen wir uns diesen Ort nicht als einen abgeschlossenen Kampfplatz vor­ stellen, als ein ebenes Feld, auf dem ein Kampf zwischen Gleichen stattfände. Wie das Beispiel der Guten und der Bösen zeigt, han­ delt es sich vielmehr um einen »Nicht-Ort«, um reine Distanz, um die Tatsache, dass die Gegner nicht demselben Raum angehören. Daher ist niemand für das Entstehen verantwortlich, und niemand kann sich dessen rühmen. Es geschieht stets in einem Zwischen­ raum. In gewisser Weise wird auf dieser Bühne immer dasselbe Stück gespielt, jenes Stück nämlich, das Herrscher und Beherrschte un­ ablässig aufführen. Wenn Menschen über andere Menschen herr­ schen, kommt es zu den Wertunterscheidungen;31 wenn Klassen über andere Klassen herrschen, entsteht die Idee der Freiheit;32 wenn Menschen bei der Beschaffung lebensnotwendiger Dinge Ungleiches als gleich behandeln und Veränderliches als unverän­ derlich, bedeutet das die Geburt der Logik.33 Das Herrschafts­ verhältnis ist ebenso wenig ein »Verhältnis«, wie der Ort, an dem es stattfindet, ein Ort ist. Und deshalb fixiert es sich in jedem Augenblick der Geschichte in einem Ritual; es schafft Verpflich­ tungen und Rechte; es bildet minutiöse Verfahrensweisen aus. Es Genealogie, I, 2. Jenseits von Gut und Böse, § 260; v g l. 32 Der Wanderer und sein Schatten, § 9. 33 Die fröhliche Wissenschaft, § i n .

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auch

Genealogie,

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sorgt für Merkzeichen, gräbt den Dingen und selbst noch dem Körper Erinnerungen ein und führt Buch über die Schulden. Eine Welt von Regeln, die keineswegs die Gewalt mildern, sondern sie im Gegenteil zufriedenstellen soll. Es wäre falsch, wenn man der überkommenen Vorstellung anhinge, wonach der allgemeine Krieg sich am Ende in seinen Widersprüchen erschöpft, auf die Gewalt verzichtet und darin einwilligt, sich selbst durch die Ge­ setze des Landfriedens zu unterdrücken. Die Regel ist vielmehr die kalkulierte Lust am Gemetzel und die Hoffnung auf Blut. Sie gestattet es, das Herrschaftsspiel ständig von neuem zu begin­ nen; sie setzt eine peinlich genaue Wiederholung in Szene. Der Wunsch nach Frieden, der sanfte Kompromiss, die stillschweigen­ de Anerkennung des Gesetzes sind nicht die große moralische Wende oder der Nutzenkalkül, aus denen die Regel hervorgegan­ gen ist; sie sind vielmehr deren Folge und, genau besehen, deren Perversion: »>SchuldGewissenPflicht< haben ihren Entste­ hungsherd ... im Obligationen-Rechte; ihr Anfang ist, wie der Anfang alles Großen auf Erden, gründlich und lange mit Blut begossen worden.«34 Die Menschheit schreitet nicht langsam von Kampf zu Kampf voran, bis sie zu einer universellen Gegen­ seitigkeit fände, in der die Regeln für immer an die Stelle des Krieges träten; sie fasst jede dieser Gewalttätigkeiten in ein Regel­ system und bewegt sich so von einer Herrschaft zur anderen. Die Regel macht es möglich, dass der Gewalt Gewalt angetan wird und eine andere Herrschaft die gerade Herrschenden unters Joch beugt. Die Regeln selbst sind leer, gewalttätig, nicht zweck­ bezogen; sie können jedem Zweck dienen und lassen sich von jedem für seine Zwecke nutzen. Das große Spiel der Geschichte dreht sich um die Frage, wer sich der Regeln bemächtigt; wer an die Stelle derer tritt, die sie für sich nutzen; wer sie am Ende pervertiert, in ihr Gegenteil verkehrt und gegen jene wendet, die sie einst durchsetzten; wer in den komplizierten Apparat ein­ dringt und ihn so funktionieren lässt, dass die bisherigen Herr­ scher nun von ihnen beherrscht werden. Die verschiedenen Ent­ stehungsprozesse lassen sich nicht als einander folgende Gestalten derselben Bedeutung begreifen; sie sind vielmehr das Ergebnis unterschiedlicher Arten der Ersetzung, Versetzung und Verschie34

Genealogie, II,

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bung, der verdeckten Eroberung und der systematischen Verkeh­ rung. Wenn Deuten hieße, eine im Ursprung verborgene Bedeu­ tung langsam ans Licht zu holen, dann könnte nur die Metaphysik das Werden der Menschheit deuten. Wenn aber Deuten heißt, sich mit Gewalt und List eines Regelsystems zu bemächtigen, das in sich keine Wesensbedeutung trägt, und es in den Dienst eines neuen Willens zu stellen, in ein anderes Spiel einzubringen und es anderen Regeln zu unterwerfen, dann ist das Werden der Menschheit eine Abfolge von Deutungen. Und die Genealogie muss deren Historie sein: Geschichte der Moralvorstellungen, der Ideale, der metaphysischen Begriffe, des Begriffs der Freiheit oder des asketischen Lebens, jeweils als Entstehung andersartiger Deutungen. Und sie muss diese Deutungen wie Ereignisse im Theater des Gerichts erscheinen lassen. 5. Welcher Art sind nun die Beziehungen zwischen der Genea­ logie als Erforschung der Herkunft und Entstehung und dem, was man gemeinhin als Historie bezeichnet? Nietzsches Ausfälle ge­ gen die Historie sind bekannt, und wir werden gleich darauf zu­ rückkommen. Dennoch bezeichnet er die Genealogie als die wirk­ liche Historie, und mehrfach spricht er von »historischem Geist« oder »historischem Sinn«.35 Tatsächlich zog Nietzsche seit der zweiten seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen unablässig gegen jene Art von Geschichtsschreibung zu Felde, die eine überhisto­ rische Perspektive einführt (und voraussetzt); eine Historie, die sich die Aufgabe stellt, in einer in sich abgeschlossenen Totalität die bereits reduzierte Vielfalt einer Zeit zu sammeln; eine Histo­ rie, die es uns ermöglicht, uns selbst überall wieder zu erkennen und jeder vergangenen Verschiebung die Form der Versöhnung zu verleihen; eine Historie, die alles Vergangene vom Ende der Welt her betrachtet. Diese Historie der Historiker sucht sich einen Standort außerhalb der Zeit; sie beansprucht für ihre Urteile eine Objektivität, die auf der Apokalypse beruht; aber das kann sie nur, weil sie eine ewige Wahrheit, eine unsterbliche Seele und ein Bewusstsein voraussetzt, die sich stets gleich bleiben. Wenn historischer Sinn sich durch eine überhistorische Sicht gewinnen lässt, kann die Metaphysik ihn für sich beanspruchen und ihm 35 Genealogie, Vorrede, § 7; und I, 2; Jenseits von Gut und Böse> § 224.

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unter dem Deckmantel einer objektiven Wissenschaft ihren eige­ nen »Ägyptizismus« aufprägen. Dagegen wird der historische Sinn sich der Metaphysik entziehen und zum bevorzugten Instru­ ment der Genealogie werden, wenn er sich nicht auf Absolutes stützt. Er darf nur jener scharfe Blick sein, der Abstände und Ränder unterscheidet, verteilt, zerstreut und zur Geltung kom­ men lässt - ein auflösender Blick, der in der Lage ist, auch sich selbst und die Einheit jenes menschlichen Wesens aufzulösen, das ihn angeblich souverän in die Vergangenheit trägt. Der historische Sinn führt alles, was am Menschen als unsterb­ lich galt, wieder dem Werden zu - und genau dies tut die wirkliche Historie. Wir glauben an die Unsterblichkeit der Gefühle? Aber alle Gefühle, selbst die scheinbar edelsten und uneigennützigsten, haben eine Geschichte. Wir glauben an die dumpfe Beständigkeit der Triebe und wir stellen uns vor, sie seien hier und dort, heute wie früher immer noch am Werk. Aber dem historischen Wissen fällt es leicht, sie zu zerlegen, ihre Wandlungen aufzuzeigen, die Zeiten zu benennen, in denen sie stark oder schwach waren, ihre Herrschaft zu verfolgen, ihre langsame Herausbildung und die Entwicklung nachzuzeichnen, in der sie sich schließlich gegen sich selbst wenden und sich zerstören können.36 Wir glauben, der Leib unterliege allein den Gesetzen der Physiologie und sei daher der Geschichte entzogen. Doch auch das ist ein Irrtum. Der Leib ist einer ganzen Reihe von Regimen unterworfen, die ihn formen, etwa dem Wechsel von Arbeit, Muße und Festlichkeiten; er wird vergiftet, von Nahrung und von Werten, von Ernährungs­ gewohnheiten geradeso wie von Moralgesetzen; und er bildet Re­ sistenzen aus.37 Die »wirkliche« Historie unterscheidet sich von der Historie der Historiker dadurch, dass sie keinerlei Beständig­ keit voraussetzt: Nichts am Menschen - und auch nicht an seinem Leib - ist so unveränderlich, dass man die anderen dadurch be­ greifen und sich selbst in ihnen wieder erkennen könnte. Alles, worauf man sich stützen mag, um sich der Geschichte zuzuwen­ den und sie in ihrer Totalität zu erfassen, und alles, was sie als ruhige, kontinuierliche Bewegung erscheinen lässt, muss systema­ tisch zerstört werden. Es gilt, alles in Stücke zu schlagen, was dem tröstlichen Spiel des Wiedererkennens Vorschub leistet. Wissen 36 Die fröhliche Wissenschaft § 7. 37 Ebd.

bedeutet selbst auf historischer Ebene nicht »wieder finden« und erst recht nicht »uns selbst wieder finden«. Die Historie wird in dem Maße »wirklich« sein, wie sie das Diskontinuierliche in unser Sein einführt. Sie wird unsere Gefühle unterteilen und unsere Triebe dramatisieren; sie wird unseren Leib vervielfachen und ihm selbst entgegensetzen. Sie wird nichts unter sich dulden, das die beruhigende Stabilität des Lebens oder der Natur besäße; sie wird sich nicht von einer stummen, beharrlichen Bewegung tra­ gen lassen, die angeblich in ein großes Ziel mündet. Sie wird ihre eigenen Fundamente untergraben und die vorgebliche Kontinuität zerstören. Denn Wissen dient nicht dem Verstehen, sondern dem Zerschneiden. Von daher lassen sich die Merkmale des historischen Sinns erfassen, wie Nietzsche ihn versteht und als die wirkliche Historie der traditionellen Geschichtsschreibung gegenüberstellt. Die wirk­ liche Historie verkehrt das übliche Verhältnis zwischen dem Ein­ tritt des Ereignisses und der kontinuierlichen Notwendigkeit. Eine ganze Tradition (theologischer oder rationalistischer) Ge­ schichtsschreibung versucht das einzelne Ereignis in einem idealen Kontinuum aufzulösen - entweder in einer teleologischen Ent­ wicklung oder in einer natürlichen Kausalkette. Die »wirkliche« Historie dagegen lässt das Ereignis wieder in seiner Einzigartigkeit hervortreten. Unter einem Ereignis ist dabei nicht eine Entschei­ dung, ein Vertrag, eine Regierungszeit oder eine Schlacht zu ver­ stehen, sondern die Umkehrung eines Kräfteverhältnisses; der Verlust der Macht; die Übernahme eines Wortschatzes, der nun gegen seine bisherigen Benutzer gewendet wird; die Schwächung einer Herrschaft, die sich selbst vergiftet, während eine andere noch verdeckt auf den Plan tritt. Die Kräfte, die in der Geschichte am Werk sind, gehorchen weder einer Bestimmung noch einer Mechanik, sondern nur den Zufällen des Kampfes.38 Sie manifes­ tieren sich nicht als sukzessive Ausprägungen einer ursprüngli­ chen Absicht und nehmen auch nicht die Gestalt von Ergebnissen an, sondern erscheinen stets nur als das einzigartige Zufällige des Ereignisses. Im Gegensatz zur christlichen Welt, deren gesamtes Gewebe auf die göttliche Spinne zurückgeht, und im Unterschied zur griechischen Welt, die in das Reich des Willens und das der 38

Genealogie,

II, 12 .

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großen kosmischen Dummheit aufgeteilt ist, kennt die wirkliche Historie nur ein einziges Reich, in dem es weder Vorsehung noch Endursache gibt, sondern nur »jene eisernen Hände der Notwen­ digkeit, welche den Würfelbecher des Zufalls schütteln«.39 Auch darf man diesen Zufall nicht als bloße Auslosung verstehen, son­ dern als das ständig erneuerte Risiko des Willens zur Macht, der jedem Zufall einen noch größeren Zufall entgegensetzt, um die damit verbundenen Risiken zu beherrschen.40 Die Welt, die wir kennen, ist daher nicht jene letztlich einfache Figur, in der die Ereignisse zurücktreten, so dass nach und nach die Wesensmerk­ male, der eigentliche Sinn oder der erste und letzte Wert hervor­ treten; vielmehr ist sie ein Gewirr aus Myriaden ineinander ver­ schachtelter Ereignisse; sie erscheint uns heute »wundersam bunt, schrecklich, bedeutungstief«, aber sie ist aus einer »Menge von Irrtümern und Phantasien« hervorgegangen, die sie immer noch insgeheim bevölkern.41 Wir glauben, unsere Gegenwart beruhte auf tiefgründigen Absichten und stabilen Notwendigkeiten; und wir erwarten von den Historikern, dass sie uns in dieser Über­ zeugung bestärken. Doch der wahre historische Sinn erkennt, dass wir ohne sicheres Bezugssystem inmitten zahlloser verlorener Er­ eignisse leben. Der historische Sinn vermag auch das Verhältnis zwischen Fer­ nem und Nahem umzukehren, das die traditionelle Geschichts­ schreibung in ihrer Treue zur Metaphysik herstellt. Sie richtet ihren Blick gerne auf ferne Höhen: auf die edelsten Zeiten, die erhabensten Formen, die abstraktesten Ideen, die reinsten Aus­ prägungen von Individualität. Und dazu versucht sie ihnen mög­ lichst nahe zu kommen, an den Fuß dieser Gipfel zu gelangen und sie aus der berühmten Froschperspektive zu betrachten. Die wirk­ liche Historie richtet ihren Blick dagegen auf das Nächstgelegene, auf den Leib, das Nervensystem, auf Nahrung und Verdauung, auf die Energien; sie sucht nach dem Verfall; und wenn sie sich den erhabenen Zeiten zuwendet, so mit dem keineswegs grollenden, sondern fröhlichen Verdacht, dass sie auf ein unaussprechliches, barbarisches Gewimmel stoßen wird. Sie fürchtet sich nicht vor dem Blick von unten. Aber sie schaut von oben herab, taucht 39 40 41

Morgenröte, § 130. Genealogie, II, 12. Menschliches, Allzumenschliches, § 16.

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hinunter, um die Perspektiven zu erfassen, um Streuung und Un­ terschiede auseinanderzubreiten, um jedem Ding sein Maß und seine Intensität zu lassen. Ihre Bewegung ist der verstohlenen Bewegung der Historiker genau entgegengesetzt, die so tun, als betrachteten sie dieses ferne Versprechen aus größter Ferne, wäh­ rend sie sich ihm in Wirklichkeit kriechend nähern (darin ähneln sie den Metaphysikern, die hoch über der Welt ein Jenseits erbli­ cken, nur um sich dieses Jenseits dann selbst als Belohnung zu versprechen). Die wirkliche Historie sieht sich die Dinge aus nächster Nähe an, doch dann reißt sie sich von ihnen los, um sie aus der Distanz zu betrachten (ähnlich dem Blick des Arztes, der eindringt, um eine Diagnose zu stellen und den Unterschied zu benennen). Der historische Sinn steht der Medizin sehr viel näher als der Philosophie. »Historisch und physiologisch« sagt Nietz­ sche gelegentlich.42 Das ist keineswegs verwunderlich, denn in der Idiosynkrasie des Philosophen findet man nicht nur die systema­ tische Verleugnung des Leibes, sondern auch einen »Mangel an historischem Sinn, den Hass gegen die Vorstellung selbst des Wer­ dens, den Ägyptizismus«, den hartnäckigen Willen, »an den An­ fang zu setzen..., was am Ende kommt« und »das Letzte und das Erste zu verwechseln«.43 Die Historie hat Besseres zu tun als die Magd der Philosophie zu sein und von der unvermeidlichen Ge­ burt der Wahrheit und der Werte zu erzählen; sie soll die diffe­ renzierende Erkenntnis der Stärke- und Schwächeperioden, der Höhen und Tiefen, der Gifte und Gegengifte, also die Wissen­ schaft der Heilmittel sein.44 Und schließlich ein letztes Kennzeichen der wirklichen Histo­ rie: Sie hat keine Angst, ein perspektivisches Wissen zu sein. Die Historiker versuchen, in ihrem Wissen alles zu verwischen, was ihren Standort in Raum und Zeit, ihre Einstellung und ihre un­ vermeidlichen Gefühle verraten könnte. Der historische Sinn, wie Nietzsche ihn versteht, weiß dagegen, dass er auf einer Perspek­ tive beruht, und verleugnet nicht das System der eigenen Unge­ rechtigkeit. Er betrachtet die Dinge unter einem bestimmten Blickwinkel, fällt seine Urteile ganz bewusst, sagt ja oder nein, verfolgt alle Spuren des Gifts und sucht nach dem wirksamsten 42 Götzendämmerung, »Streifzüge eines Unzeitgemäßen«, § 44. 43 Ebd., »Die >Vernunft< in der Philosophie«, §§ 1 und 4. 44 Der Wanderer und sein Schatten, § 188.

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Gegengift. Statt so zu tun, als träte er diskret hinter das Betrach­ tete zurück, statt nach dessen Gesetz zu suchen und es auf alle seine Bewegungen anzuwenden, weiß dieser Blick nicht nur, was er betrachtet, sondern auch von welchem Standort aus er dies tut. Der historische Sinn gibt dem Wissen die Möglichkeit, innerhalb seines Erkenntnisprozesses die eigene Genealogie zu ergründen. Die wirkliche Historie betreibt an dem Ort, an dem sie steht, die Genealogie der Historie. 6. In dieser Genealogie der Historie, mit der Nietzsche sich mehrfach befasst, verknüpft er den historischen Sinn mit der His­ torie der Historiker. Beide gehen in unreiner Vermengung auf denselben Anfang zurück. Gemeinsam und zur selben Zeit sind sie in einem Zeichen entstanden, in dem man sowohl das Symp­ tom einer Krankheit als auch den Keim eines wunderbaren Ge­ wächses erblicken kann, und erst später sollten sie sich vonei­ nander trennen.45 Verfölgen wir also ihre gemeinsame Genealogie. Über die Herkunft des Historikers kann kein Zweifel bestehen; er ist von niederer Abstammung. Es gehört zu den charakteristi­ schen Merkmalen der Historie, dass sie keine Auswahl trifft; sie macht es sich zur Aufgabe, alles zu erkennen, ohne eine Hierarchie der Bedeutung einzuführen; alles zu verstehen, ohne auf den Rang zu achten, und alles zu akzeptieren, ohne Unterschiede zu machen. Nichts soll ihr entgehen, und nichts soll ausgeschlossen werden. Die Historiker sehen darin einen Beweis von Takt und Diskretion: Mit welchem Recht könnten sie ihren eigenen Geschmack und ihre Vorlieben ins Spiel bringen, wenn es doch um den Geschmack der anderen und um das wirklich Geschehene geht? Aber in Wirklich­ keit beweist es einen völligen Mangel an Geschmack und eine ge­ wisse Plumpheit, wenn man einen vertrauten Umgang mit etwas Höherem vortäuscht und seine Befriedigung darin findet, in die­ sem Höheren etwas Niedriges aufzuspüren. Der Historiker kennt keinen Ekel. Was ihn anwidern sollte, macht ihm sogar noch Freu­ de. Hinter seiner scheinbaren Gelassenheit verbirgt sich der Wunsch, nichts Großes anzuerkennen und alles auf den kleinsten Nenner zu bringen. Nichts soll höher sein als er selbst. Er will nur deshalb möglichst alles wissen, weil er hinter die Geheimnisse 45 Die fröhliche Wissenschaft § 337-

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kommen möchte, die seinen Gegenstand herabsetzen. »Gemeine Neugier.« Woher kommt die Geschichte? Aus der Plebs. An wen wendet sie sich? An die Plebs. Und was sie sagt, ähnelt stark der Rede des Demagogen, der dem Pöbel zuruft: »Niemand ist größer als ihr, und wer behauptet, er sei größer als ihr - die ihr gut seid -, der ist böse.« Der Historiker redet geradeso: »Keine Vergangenheit ist größer als eure Gegenwart, und wenn in der Geschichte etwas den Anspruch auf Größe erhebt, wird mein minutiöses Wissen euch zeigen, wie klein, böse und elend es ist.« Der Stammbaum des Historikers geht bis auf Sokrates zurück. Doch solche Demagogie muss heuchlerisch sein. Sie muss ihren unendlichen Groll hinter der Maske des Universellen verstecken. Und wie der Demagoge sich auf Wahrheit, Wesensgesetz und eherne Notwendigkeit berufen muss, so muss der Historiker sich auf Objektivität, Faktengenauigkeit und die Unabänderlichkeit der Vergangenheit berufen. Der Demagoge verleugnet den Leib, um die Hoheit der zeitlosen Idee zu begründen; der Historiker löscht seine eigene Individualität aus, damit die anderen die Bühne betreten und das Wort ergreifen können. Er muss sich daher gegen sich selbst wenden, seine Vorlieben hintanstellen, seinen Ekel überwinden, seine eigene Perspektive trüben und durch eine an­ geblich universelle Geometrie ersetzen; er muss den Tod nachah­ men, um ins Reich der Toten einzudringen; er muss sich eine gesichts- und namenlose Scheinexistenz zulegen. Und in dieser Welt, in der er seinem eigenen Willen Zügel angelegt hat, kann er dann den anderen das unausweichliche Gesetz eines höheren Willens vorführen. Nachdem er in seinem Wissen alle Spuren seines Wil­ lens beseitigt hat, stößt er im Erkenntnisobjekt auf die Form eines ewigen Willens. Die Objektivität des Historikers ist die Umkeh­ rung des Verhältnisses zwischen Wille und Wissen, und daraus ergibt sich dann notwendig auch der Glaube an die Vorsehung, an Endursachen und an die Teleologie. Der Historiker gehört zur Familie der Asketen. Und Nietzsche hasst dieses »lüsterne Eunuchentum vor der Historie«, diese »Liebäugelei mit asketischen Idealen... Ich mag die übertünchten Gräber nicht, die das Leben schauspielern; ich mag die Müden und Vernutzten nicht, welche sich in Weisheit entwickeln und >objektiv< blicken.«46 46 Genealogie,

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Wenden wir uns nun der Entstehung der Historie zu. Ihr Ent­ stehungsort ist das Europa des 19. Jahrhunderts, die Heimat der Mischungen und Kreuzungen, die Zeit der Mischmenschen. Im Vergleich zu den Zeiten der Hochkulturen sind wir Barbaren; vor unseren Augen liegen die Trümmer von Städten und rätselhaften Bauwerken; wir stehen vor gähnenden Mauerresten und fragen uns, welche Götter all diese leeren Tempel bewohnt haben mögen. Die großen Zeiten waren nicht so neugierig und respektvoll; das klassische Zeitalter kannte Shakespeare nicht. Die Dekadenz Eu­ ropas bietet uns ein gewaltiges Schauspiel, in dem eine starke Szene die andere verdrängt. Unsere Zeit gleicht einem großen Theater; die Monumente sind nicht unser Werk und gehören uns nicht; wir leben gleichsam in einer Theaterkulisse. Und mehr noch: Der Europäer weiß nicht, wer er ist; er weiß nicht, welche Rassen sich in ihm vermischt haben; er sucht nach seiner Rolle und besitzt keine Individualität. So wird verständlich, warum das 19. Jahrhundert spontan das Jahrhundert der Historie wurde: Das Schwinden der Kräfte und die Vermischungen, die alle Charaktere auslöschten, führten zum selben Ergebnis wie die Kasteiungen der Askese. Die Unfähigkeit zur Schöpfung, das Fehlen des Werkes, die Pflicht, alles aufzugreifen, was zu anderen Zeiten und an an­ deren Orten getan worden ist, zwingen die Zeit zur gemeinen Neugier des Plebejers. Aber wenn dies die Genealogie der Historie ist, wie kann sie dann selbst zur genealogischen Analyse werden? Warum bleibt sie keine demagogische und religiöse Erkenntnis? Wie kann sie auf dieser Bühne die Rolle wechseln? Das kann nur geschehen, wenn man sich ihrer bemächtigt und sie gegen ihre eigene Herkunft wendet. Und genau das ist ja das Eigentümliche an der Entste­ hung; sie ist nicht die notwendige Folge von Dingen, die sich seit langem vorbereitet hätten, sondern die Bühne, auf der die Kräfte sich in Gefahr begeben und aufeinanderstoßen; die Bühne, auf der sie siegen, aber auch überwältigt werden können. Der Ort, an dem die Metaphysik entstand, war die athenische Demagogie, der ple­ bejische Groll des Sokrates, sein Glaube an die Unsterblichkeit. Doch Platon hätte sich dieser sokratischen Philosophie bemäch­ tigen und sie gegen sie selbst wenden können - und mehr als einmal war er versucht, das zu tun. Seine Niederlage liegt darin, dass er zu ihrem Begründer wurde. Für das 19. Jahrhundert stellt

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sich nicht das Problem, für die plebejische Askese der Historiker dasselbe zu tun, was Platon für die sokratische Askese tat. Es geht auch nicht darum, sie in einer Geschichtsphilosophie zu gründen, sondern sie von ihren Ergebnissen her zu zerschlagen, sich der Historie zu bemächtigen, um einen genealogischen, das heißt streng antiplatonischen Gebrauch von ihr zu machen. Erst dann vermag der historische Sinn sich von der überhistorischen Histo­ rie zu befreien. 7. Der historische Sinn kennt drei Verwendungsweisen, die sich jeweils gegen eine der drei platonischen Spielarten der Historie richten. Die erste ist die realitätszersetzende Parodie, die sich dem Thema der Historie als Erinnerung oder Wiedererkennen entge­ genstellt; die zweite ist die identitätszersetzende Auflösung, die sich der Historie als Kontinuum oder Tradition entgegenstellt; die dritte schließlich ist das wahrheitszersetzende Opfer, das sich ge­ gen die Historie als Erkenntnis richtet. In allen Fällen geht es um eine Verwendungsweise der Historie, die sie für immer von dem gleichermaßen metaphysischen und anthropologischen Modell des Gedächtnisses befreit. Es geht darum, die Historie zu einem Gegengedächtnis zu machen und darin eine ganz andere Form von Zeit zur Entfaltung zu bringen. Zunächst die Parodie und das Possenspiel. Dem anonymen Mischmenschen Europas, der nicht weiß, wer er ist und welchen Namen er tragen soll, bietet der Histotiker Ersatzidentitäten an, die scheinbar größere Individualität und Realität besitzen als seine eigene. Doch der mit historischem Sinn begabte Mensch sollte sich nicht über den angebotenen Ersatz täuschen, denn der ist nur Verkleidung. So hat man der Revolution das römische Vor­ bild, der Romantik die Rüstung des Ritters, der Wagnerzeit das Schwert des germanischen Helden angeboten; doch das sind fadenscheinige Kostüme, deren Irrealität nur auf unsere eigene Irrealität verweist. Sollen sie doch diese Götter anbeten und in Bayreuth die Erinnerung an dieses neue Jenseits zelebrieren; sol­ len sie ruhig diese leerstehenden Identitäten verhökern. Der gute Historiker, der Genealoge, weiß, was er von dieser Maskerade zu halten hat. Aber er lehnt sie nicht mit ernster Miene ab, sondern treibt sie ins Extrem; er inszeniert den großen Karneval der Zeit, auf dem die Masken einander ablösen. Statt unsere blasse Indivi-

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dualität mit diesen überaus realen Identitäten der Vergangenheit zu identifizieren, geht es darum, uns selbst in all den wieder erstandenen Identitäten zu irrealisieren; und indem wir all diese Masken - wie vielleicht Friedrich IL, Cäsar, Jesus, Dionysos, Za­ rathustra - wieder aufnehmen, indem wir das Possenspiel der Geschichte noch einmal aufführen, nehmen wir in unserer Irrea­ lität die noch irrealere Identität des Gottes an, der sie einst geführt hat. »Vielleicht, daß wir hier gerade das Reich unserer Erfindung noch entdecken, jenes Reich, wo auch wir noch original sein kön­ nen, etwa als Parodisten der Weltgeschichte und Hanswürste Got­ tes.«47 Wir sehen hier die zweifache Parodie der »monumentalischen Historie«, wie Nietzsche sie im zweiten Stück seiner Unzeitgemäßen Betrachtungen nennt: einer Historie, die sich das Ziel setzte, die Höhepunkte des Werdens nachzuzeichnen und in immer währender Gegenwart festzuhalten, die Werke, Ta­ ten und Schöpfungen im Monogramm ihres eigensten Wesens zu erkennen und zu bewahren. Während Nietzsche dieser ganz auf Verehrung ausgerichteten Historie 1874 vorwarf, den Kräften des gegenwärtigen Lebens und seinen Schöpfungen den Weg zu ver­ sperren, geht es ihm in den letzten Schriften darum, diese Historie zu parodieren, um deutlich zu machen, dass sie selbst nur eine Parodie ist. Die Genealogie ist die Historie als inszenierter Kar­ neval. Die zweite Verwendungsweise ist die systematische Auflösung der Identität. Denn diese schwache Identität, die wir uns zulegen, indem wir uns eine Maske aufsetzen, ist selbst nur eine Parodie. Sie kommt nur im Plural vor, zahllose Seelen streiten darin, die Systeme überkreuzen einander, machen sich gegenseitig die Vor­ herrschaft streitig. Wenn man die Geschichte studiert, ist man »glücklich, im Gegensatz zu den Metaphysikern, nicht >Eine un­ sterbliche Seele die eine wissenschaftliche Erklärung der Realität liefert, so wird man Marx da gewiss in Betracht ziehen müssen, aber auch spätere Analysen, die in gewisser Weise über die Marx'sehe Analyse der Erkenntnis hinausgehen. M. Foucault: Sicher. Das dürfte auf der Hand liegen. Und jetzt werde ich etwas sagen, das reaktionär erscheint: Warum sollte man die marxistische Praxis wissenschaftlich nennen? In Frank­ reich halten manche zwei Sätze, zwischen denen eine etwas un­ klare Verbindung besteht, für unbestreitbar wahr: 1. Der Marxis­ mus ist eine Wissenschaft. 2. Die Psychoanalyse ist eine Wissenschaft. Diese beiden Behauptungen machen mich nach­ denklich. Und zwar hauptsächlich deshalb, weil ich keine so hohe Meinung von der Wissenschaft habe. Ich finde - und darin wür­ den mir auch manche Wissenschaftler beipflichten -, man sollte sich von der Wissenschaft kein so hehres Bild machen, dass man etwas so Bedeutendes wie den Marxismus oder etwas so Interes­ santes wie die Psychoanalyse nun unbedingt als Wissenschaft be­ zeichnen müsste. Eigentlich gibt es keine Wissenschaft an sich. Es gibt keine allgemeine Idee, keine Gattung, die als Wissenschaft bezeichnet werden könnte und der jede Form von Diskurs zuge­ ordnet werden müsste, sobald sie der so definierten Norm ent­ spricht. Die Wissenschaft ist kein Ideal, das sich durch die ganze Geschichte zöge und seine Verkörperung nacheinander in der Mathematik, dann der Biologie, dann im Marxismus und in der

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Psychoanalyse gefunden hätte. Von solchen Vorstellungen müssen wir uns frei machen. Die Wissenschaft entfaltet Normativität und funktioniert zu einer bestimmten Zeit effektiv als Wissenschaft nur dank gewisser Schemata, Modelle, Bewertungen und Codes; sie ist ein Ensemble aus sehr bescheidenen, sehr eintönigen, alltäg­ lichen Diskursen und diskursiven Praktiken, die sich unablässig wiederholen. Die Diskurse besitzen einen Code, und es gibt Nor­ men für die Praktiken, denen diese Diskurse und Praktiken ge­ horchen müssen. Es gibt aber keinen Grund, deshalb hochmütig zu werden; und die Wissenschaftler, das kann ich Ihnen versi­ chern, beziehen keinen besonderen Stolz aus dem Wissen, dass ihr Tun Wissenschaft ist. Sie wissen es, das ist alles. Dieses Wissen beruht auf einem Konsens, der in der Codegemeinschaft gründet und auf dessen Grundlage sie sagen können: »Dies ist bewiesen, und das nicht.« Daneben gibt es auch andere Arten von Diskursen und Praktiken, deren Bedeutung für unsere Gesellschaft und un­ sere Geschichte nicht von einem Status als Wissenschaft abhängen, den sie möglicherweise erlangen. J. G. Merquior: Aber in Les Mots et les Choses weisen Sie einigen dieser nichtwissenschaftlichen Praktiken einen besonderen Status zu, nämlich den von Gegenwissenschaften. M. Foucault: Ja, von Gegenwissenschaften zu den Humanwis­ senschaften. /. G. Merquior: Können wir dem Marxismus dieselbe Funktion zuweisen? M. Foucault: Ja, das könnte ich mir durchaus schon vorstellen. Ich denke, Marxismus, Psychoanalyse und Ethnologie haben eine kritische Funktion gegenüber den so genannten Humanwissen­ schaften und in diesem Sinne handelt es sich um Gegenwissen­ schaften. Aber wohlgemerkt um Gegenwissenschaften zu den Humanwissenschaften. Nichts am Marxismus oder der Psycho­ analyse berechtigt uns, sie als Gegenwissenschaften zu bezeich­ nen, wenn wir unter Wissenschaften Mathematik und Physik ver­ stehen. Nein, ich sehe nicht, warum wir Marxismus und Psychoanalyse als Wissenschaften bezeichnen sollten. Damit stell­ ten wir so hohe und harte Anforderungen an diese beiden Diszi­ plinen, dass es zu ihrem eigenen Wohle besser wäre, sie nicht als Wissenschaften zu bezeichnen. Es ist doch paradox: Ausgerechnet jene, die für Marxismus und Psychoanalyse den Status von Wis-

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senschaften reklamieren, äußern besonders lautstark ihre Verach­ tung für die positiven Wissenschaften wie Chemie, pathologische Anatomie und theoretische Physik. Nur bei der Mathematik hal­ ten sie sich ein wenig zurück. Das zeigt doch, dass diese Leute eine Hochachtung und einen Respekt vor der Wissenschaft emp­ finden, wie man sie bei Schulkindern findet. Sie haben das Gefühl, wenn der Marxismus eine Wissenschaft ist - und hier denken sie an etwas Greifbares wie einen mathematischen Beweis -, dann könnten sie sich seiner Geltung sicher sein. Ich werfe diesen Leu­ ten vor, ein zu hohes Bild von der Wissenschaft zu haben, das sie gar nicht verdient, während sie für Marxismus und Psychoanalyse eine heimliche Verachtung hegen. Ich werfe ihnen ihre Unsicher­ heit vor. Deshalb reklamieren sie für diese beiden Disziplinen einen Status, der gar nicht so wichtig für sie ist. S. P Rouanet: Zum Marxismus möchte ich noch eine weitere Frage stellen. In Les Mots et les Choses sprechen Sie von der »empirisch-transzendentalen Dublette«3 und sagen, Phänomeno­ logie und Marxismus seien bloße Varianten der unvermeidlichen Pendelbewegung zwischen Positivismus und Eschatologie. Ande­ rerseits wird Althussers Denken generell - wie ja oft auch Ihr eigenes Werk - dem Strukturalismus zugeordnet. Glauben Sie, Althussers Marxismus fällt aus dem durch Positivismus und Escha­ tologie bezeichneten Rahmen heraus, oder bewegt er sich inner­ halb dieses Rahmens ? M. Foucault: Ich neige eher zur ersten Möglichkeit. Hier muss ich mich allerdings selbst kritisieren. In Les Mots et les Choses habe ich mich in meinen Aussagen über den Marxismus nicht klar genug ausgedrückt. Ich glaubte deutlich gemacht zu haben, dass ich in diesem Buch die historische Analyse eines bestimmten Zeit­ raums vornahm, der etwa von 1650 bis 1850 reichte, mit einigen kleinen Ausläufern, die jedoch nicht über das Ende des 19. Jahr­ hunderts hinausgingen; und ebenso eindeutig galt diese Analyse einem Bereich, der durch die Wissenschaften der Sprache, des Leben und der Arbeit umrissen war. Als ich in diesem Buch über den Marxismus sprach, hätte ich sagen sollen - denn ich wusste ja, dass dieses Thema überschätzt wird -, dass es sich um den Mar­ xismus handelte, wie er in Europa höchstens bis zum Beginn des 3 [Les Mots et les Choses, Paris 1966, S. 329 ff.; dt. Die Ordnung der Dinge, a.a.O., S. 384 ff.]

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20. Jahrhunderts anzutreffen war. Ich hätte auch sagen sollen und ich gebe zu, hier eine Unterlassung begangen zu haben -, dass es sich um die Art von Marxismus handelte, die man bei einigen Marx-Kommentatoren wie Engels findet. Und die übri­ gens auch bei Marx nicht fehlt. Ich meine eine marxistische Philo­ sophie, die meines Erachtens eine ideologische Begleiterscheinung der Manschen Geschichts- und Gesellschaftsanalysen wie auch seiner revolutionären Praxis darstellt und nicht den Kern des Mar­ xismus ausmacht, der in der Analyse der kapitalistischen Gesell­ schaft und einem Schema für revolutionäres Handeln innerhalb dieser Gesellschaft besteht. Wenn das der Kern des Marxismus ist, habe ich nicht über den Marxismus gesprochen, sondern über eine Form von marxistischem Humanismus: über eine ideologische Begleiterscheinung, über philosophische Hintergrundmusik. /. G. Merquior: Mit dem Ausdruck »marxistischer Humanis­ mus« gerät Ihre Kritik ganz automatisch in einen theoretischen Bereich, der Althusser ausschließt. M. Foucault: Ja. Ich nehme an, diese Kritik gilt noch für Auto­ ren wie Garaudy, nicht aber für Intellektuelle wie Althusser. /. G. Merquior: Ich möchte nun eine Frage zur Literatur stellen, das heißt zur Stellung der Literatur in Les Mots et les Choses. Wenn Sie dort über Cervantes, Hölderlin oder Mallarmé sprechen, lassen Sie durchblicken, dass die Literatur oft eine Vorreiterrolle bei der Entstehung der Episteme spielt. Und in Ihrem schönen Text über Blanchot entwickeln Sie denselben Gedanken.4 Sind Sie mit dieser Interpretation einverstanden? M. Foucault: Ich glaube, was die Literatur angeht, spreche ich in Les Mots et les Choses zum Beispiel über Mallarmé und über den Don Quijote weder in derselben Weise noch auf derselben Ebene. Bei Mallarmé wollte ich auf jene Koinzidenz hinweisen, die mich schon im Zusammenhang mit dem 16. und 17. Jahrhundert inte­ ressiert hatte, also auf das Phänomen, dass völlig unabhängige Gebiete, zwischen denen keinerlei Verbindung besteht, sich zur selben Zeit in derselben Weise verändern. Mallarmé ist ein Zeit­ genosse von Saussure; ich fand es beeindruckend, dass Ende des 19. Jahrhunderts das Problem der Sprache - allein aus der Sicht ihrer internen Struktur und unabhängig von den Bedeutungen 4 [»La pensée du dehors«, Critique 229 (Juni 1966), S. 523-546. Siehe Nr. 38, Band 1, S. 670-697.]

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betrachtet - bei Saussure auftauchte und fast genau zur selben Zeit Mallarmé eine Literatur der reinen Sprache begründete, die auch unsere Zeit noch beherrscht. Beim Quijote liegen die Dinge etwas anders. Zu meiner Schande muss ich eingestehen, dass ich die spanische Kultur, die den Hintergrund für den Quijote bildet, nicht kenne. Meine Kommentare zum Don Quijote sind eigent­ lich nur eine kleine Bühne, auf der ich in Szene setzen wollte, was ich anschließend erzähle - ein wenig nach Art der vom Theater her bekannten Vorspiele, in denen man vor dem eigentlichen Stück auf rätselhafte oder spielerische Weise Analogien oder Wie­ derholungen aufzeigt und das spätere Geschehen sarkastisch kommentiert oder infrage stellt. Ich fand es amüsant, im Quijote jenen Zerfall der Zeichensysteme vorzuführen, der von 1620 bis 1650 in der Wissenschaft zu beobachten war. Ich bin mir keines­ wegs sicher, damit den Kern oder die Wahrheit des Quijote erfasst zu haben. Aber ich dachte mir, wenn ich die Person und den Text für sich sprechen ließ, ergäbe sich ein Bild jener kleinen Komödie der Zeichen und Dinge, von der ich berichten wollte und zu der es im 17. und 18. Jahrhundert kam. Ich gebe daher ohne Umschweife zu, dass meine Interpretation des Don Quijote Irrtümer enthalten mag. Oder besser gesagt, ich gebe gar nichts zu, denn es handelt sich nicht um eine Interpretation, sondern um ein Spiel, in dem Don Quijote auf der Bühne die Geschichte erzählt, von der ich im Anschluss berichte. Zur Rechtfertigung kann ich nur sagen: Das Thema des Buches scheint mir auch im Don Quijote wichtig zu sein. Das Thema des Buches sind Wörter und Dinge, Les Mots et les Choses. Der Titel des Buches ist die Übersetzung des engli­ schen Words and Things, des großen moralischen, politischen, wissenschaftlichen und sogar religiösen Wahlspruchs Englands zu Beginn des 17. Jahrhunderts. Und das große, wenn auch nicht religiöse, so doch wissenschaftliche Schlagwort war dies zur sel­ ben Zeit auch in Frankreich, Deutschland und Italien. Ich glaube, Words and Things sind eines der großen Probleme im Quijote. Deshalb habe ich Don Quijote in Les Mots et les Choses diese kleine Komödie aufführen lassen. /. G. Merquior: Wir können jedenfalls sagen, dass Ihre Lektüre des Quijote, ob sie nun eine Interpretation ist oder nicht, mit bestimmten Forschungen zur zeitgenössischen Stilistik übereinstimmty vor allem was die Rolle des Komischen und die Anwesen-

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heit des Buches innerhalb des Werkes angeht Aber ich möchte nun eine Frage stellen, die nichts mit Ästhetik zu tun hat, sondern mit dem institutioneilen Kontext, von dem eben die Rede war.; also mit jenem Ensemble von Praktiken, dem umso größere Bedeutung zukommt, als das Wissen damals eine geringere Kohärenz im Sinne Ihrer wissenschaftlichen Systematik besaß. Ich möchte Sie fragen, ob Sie die Absicht haben, sich auch mit mentalen Phäno­ menen zu befassen, die gemeinhin nicht als Wissen gelten, etwa im Zusammenhang mit Ihren Forschungen zum Wahnsinn. Genauer gesagt, haben Sie die Absicht - immer noch im Blick auf die Episteme, der Ihr Hauptinteresse gilt -, sich auch mit der religiösen Erfahrung zu befassen? Damit meine ich nicht die religiöse Ideo­ logie im strengen, sondern die religiöse Erfahrung im weitesten Sinne. Ich denke zum Beispiel an die sehr empirischen und sehr interessanten Untersuchungen, die Bachtin in seinen Studien über Rabelais und Dostojewski unternommen hat; dort sagt er, der Karneval sei eine Form religiöser Erfahrung gewesen, ein religiöses Fest, das dann, als die klassische Episteme entstand und die Reprä­ sentation die Vorherrschaft antrat, reduziert und »domestiziert« worden sei.5 M. Foucault: Im Grunde habe ich mich immer für diesen Be­ reich interessiert, der nicht ganz der gemeinhin so genannten Wis­ senschaft zugehört, und ich verwende den Ausdruck »Wissen« ja gerade, um die Phänomene zu erfassen, die zwischen dem, was die Historiker Mentalität nennen, und der Wissenschaft im eigentli­ chen Sinne liegen. Es gibt da ein Phänomen, für das ich mich interessiert habe und auf das ich eines Tages zurückkommen möchte: die Hexerei. Ich würde gerne klären, wie die Hexerei die letztlich ein Wissen darstellte, ein Wissen mit Rezepten und Techniken, mit Formen der Ausbildung und der Weitergabe - in das mittelalterliche Wissen eingebaut wurde. Und das nicht nur im Sinne der geläufigen These, die Ärzte hätten die Hexer dank ihres rationalen und liberalen Denkens den Klauen der Inquisito­ ren entrissen. Die Dinge sind weitaus komplexer. Wenn die Kir­ che, die reale Macht, die Gerichte und die Ärzte die Hexerei zu einem möglichen Gegenstand der Wissenschaft und den Hexer zu einem Geisteskranken machten, so geschah das gleichsam aus ei5 [Bachtin, M., Rabelais und seine Welt, Frankfurt am Main 1995 ; ders., Probleme der Poetik Dostoevskijs, München 1971.]

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ner Notwendigkeit heraus und in einer gewissen Komplizen­ schaft. Und es war keine Befreiung, sondern nur eine andere Form der Gefangennahme. Wo man vorher nur mit Ausschluss und Prozess reagierte, fügte man das Phänomen nun in die Episteme ein und machte es zu einem möglichen Gegenstandsbereich. Eben haben wir uns gefragt, wie etwas zum möglichen Gegenstand für die Wissenschaft werden kann. Hier haben wir ein schönes Bei­ spiel. Die Idee einer Wissenschaft der Hexerei, einer rationalen, positiven Erkenntnis der Hexerei, war im Mittelalter vollkommen unmöglich. Und das nicht nur, weil man die Hexerei verachtete, oder wegen eines religiösen Vorurteils. Das ganze kulturelle Sys­ tem des Wissens schloss aus, dass die Hexerei zum Gegenstand des Wissens werden konnte. Erst im 16. und 17. Jahrhundert, mit dem Einverständnis der Kirche und sogar auf ihre Anforderung hin, wird der Hexer für die Ärzte zu einem möglichen Erkennt­ nisobjekt: Man fragt den Arzt, ob der Hexer krank ist oder nicht. All das ist sehr interessant, und ich habe vor, mich näher damit zu befassen. /. G. Merquior: Zum Schluss möchte ich Sie fragen, welchem Thema Sie Ihre Antrittsvorlesung am College de France widmen werden. M. Foucault: Diese Frage bringt mich ein wenig in Verlegenheit. Sagen wir, die Vorlesung, die ich für dieses Jahr plane, dient der theoretischen Ausarbeitung von Vorstellungen, die ich in der Ar­ chéologie du savoir entwickelt habe. Wie gesagt, habe ich dort versucht, eine Analyseebene, ein Feld möglicher Objekte zu be­ stimmen, aber es ist mir noch nicht gelungen, eine Theorie dieser Analysen zu entwickeln. Und diese Theorie möchte ich nun aus­ arbeiten. Was die Antrittsvorlesung betrifft, kann ich nur wieder­ holen, dass sie mich in große Verlegenheit bringt, vielleicht weil ich jeder Institution feindlich gegenüberstehe. Als Thema meines Vortrags ist mir bisher nur das Paradoxon einer leçon inaugurale eingefallen. Der Ausdruck ist in der Tat erstaunlich. Da verlangt man von jemandem, er solle anfangen. Einen absoluten Anfang können wir machen, wenn wir uns zumindest mythisch in die Position des Schülers begeben. Aber eine Inauguration kann streng genommen nur vor dem Hintergrund vollständiger Unwissenheit, Unschuld und Naivität stattfinden: Von einer Inauguration spre­ chen wir, wenn jemand noch gar nichts weiß oder noch gar nicht

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zu sprechen, zu denken, zu wissen begonnen hat. Trotzdem ist diese Inauguration eine Lehrstunde. Und Lehren setzt ein ganzes Ensemble bereits bestehender Wissensinhalte und Diskurse vo­ raus. Ich denke, ich werde über dieses Paradoxon sprechen. Übersetzt von Michael Bischoff

86 (Manifest der G.I.P. Gruppe Gefängnisinformation) Vervielfältigtes Manifest, unterzeichnet von J.-M. Domenach, M. Foucault und P. Vidal-Naquet; verlesen und an die Presse verteilt von Michael Foucault am 8. Februar 1971 in der Chapelle Saint-Bernard de Montparnasse während der Unterbrechung des Hungerstreiks der inhaftierten Aktivisten der Gauche pro­ létarienne und ihres Unterstützungskomitees. M. Foucault musste wegen Verstoßes gegen die Pflicht zur Hinterlegung von Druckwerken vor Gericht erscheinen. Nach der Auflösung der maoistisch inspirierten Bewegung Gauche proléta­ rienne am 27. Mai 1970 wurden zahlreiche Aktivisten wegen des Wiederauf­ baus einer verbotenen Vereinigung inhaftiert, ein Delikt, dessen Voraussetzun­ gen bereits durch den Verkauf der Zeitschrift La Cause du peuple erfüllt waren. Im September 1970 und dann nochmals im Januar 1971 traten die Inhaftierten in einen Hungerstreik, um als politische Gefangene anerkannt zu werden, weil dieser Status mit bestimmten Versammlungsrechten verbunden war. Außerdem wollten sie die Aufmerksamkeit auf den Justizvollzug lenken. D. Defert, der in der kleinen, mit der politischen Vorbereitung des Prozesses betrauten Zelle arbeitete, schlug M. Foucault vor, eine Untersuchungskommission zu den Ge­ fängnissen ins Leben zu rufen, ähnlich der Untersuchungskommission zur gesundheitlichen Lage der Bergleute im Rahmen des Volkstribunals von Lens, bei dem J.-P. Sartre die Rolle des Anklägers übernommen hatte. Da eine Ge­ schichte des Gefängnisses die logische Fortsetzung der Histoire de la folie [dt. Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1969] darstellte und von ihm bereits angekündigt war, griff M. Foucault dieses Projekt begeistert auf, er­ setzte die Idee einer Untersuchungskommission (ein juristischer Ausdruck) jedoch lieber durch den Gedanken einer Gruppe, die Informationen sammelt und verbreitet, weil solch eine Gruppe einerseits die gemeinschaftliche Denk­ erfahrung betonte und andererseits den Gefangenen die Möglichkeit bot, selbst zu Wort zu kommen. Außerdem sollte sie bestimmte Intellektuelle wie Richter, Ärzte und Sozialarbeiter mobilisieren und durch Informationen seitens der Gefangenen aus ihrer Isolierung herausführen; dadurch konnten die Objekte der Untersuchung zu deren Subjekten werden. So entstand die Gruppe Ge­ fängnisinformation, die Groupe d'information sur les prisons (G.I.P), die eini-

ges in Bewegung setzte. Zu den ersten Erfolgen gehörte die Zulassung von Tageszeitungen und Radiogeräten in den Gefängnissen und die Problematisierung einer Mythologie des politischen Diskurses über Proletariat und Lum­ penproletariat.1 Die Unterstützung von außen ermutigte die Gefangenen zu einer Serie von Revolten, die 35 Vollzugsanstalten ergriff und im Winter 19711972 praktisch zur Plünderung mehrerer Gefängnisse führte. Auch auf die militanten politischen Bewegungen nach 1970 übte die G.I.P. einigen Einfluss aus. Nach ihrem Vorbild entstanden mehrere andere Informationsgruppen: die G.I.S. oder Groupe d’information santé, die der Abschottung zwischen Ärzten und Patienten entgegenwirken sollte; die G.I.A. oder Groupe d’information sur les asiles für den Bereich der Psychiatrie; die G.I.S.T.I. oder Groupe d’in­ formation et de soutien des travailleurs immigrés zur Unterstützung der Gast­ arbeiter. M. Foucault schob die Arbeit an seinem »Buch über die Strafen« zwei Jahre lang auf, um bei den Gefangenen nicht den Eindruck zu erwecken, er verfolge bei seiner politischen Arbeit lediglich theoretische Interessen; vielmehr verän­ derte seine politische Arbeit auch die Grundlagen seiner weiteren Forschung.

Niemand von uns ist vor dem Gefängnis sichen Heute weniger denn je. Der Ring der polizeilichen Kontrolle schließt sich immer enger um unser alltägliches Leben, auf Straßen und Plätzen, um Ausländer und Jugendliche; das Meinungsdelikt ist wieder da; die Maßnahmen zur Drogenbekämpfung vergrößern noch die Will­ kür. Der Polizeigewahrsam hängt wie ein Damoklesschwert über uns. Man sagt uns, die Gerichte seien überlastet. Das ist uns nur zu klar. Aber wenn nun die Polizei die Gerichte überlastete? Man sagt uns, die Gefängnisse seien überbelegt. Aber wird nicht ein­ fach zu viel verhaftet? Nur wenige Informationen dringen aus den Gefängnissen; sie sind eines der am besten versteckten Gebiete unseres Sozial­ systems; sie ähneln einer Blackbox unseres Lebens. Wir haben das Recht auf Wissen, und wir wollen wissen. Deshalb haben wir zusammen mit Richtern, Anwälten, Journalisten, Ärzten und Psychologen eine Gruppe Gefängnisinformation (G.I.P.) ge­ gründet. Wir wollen wissen, was das Gefängnis ist: wer dort hinein­ kommt, wie und warum man dorthin kommt, was dort geschieht, wie die Gefangenen und auch wie die Aufseher leben, wie die Baulichkeiten beschaffen sind, wie es um das Essen, die Hygiene, die internen Regelungen, die ärztliche Versorgung und die Werk1 [Im Original deutsch, A.d.Ü.]

Sy (Über die Gefängnisse)

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Stätten bestellt ist, wie man dort wieder herauskommt und was es heißt, nach der Entlassung aus dem Gefängnis in unserer Gesell­ schaft zu leben. Diese Informationen werden wir nicht in amtlichen Berichten finden. Wir werden sie bei Menschen einholen, die in irgendeiner Form Erfahrungen mit dem Gefängnis gemacht haben oder in einer Beziehung dazu stehen. Wir bitten sie, Kontakt mit uns aufzunehmen und uns mitzuteilen, was sie wissen. Wir haben einen Fragebogen erstellt, der bei uns angefordert werden kann. Sobald genügend Ergebnisse vorliegen, werden wir sie veröffent­ lichen. Nicht wir haben eine Reform vorzuschlagen. Wir wollen ledig­ lich Wissen über die Realität verbreiten. Und zwar unverzüglich, nahezu Tag für Tag; denn die Zeit drängt. Wir wollen die Öffent­ lichkeit alarmieren und im Alarmzustand halten. Wir werden ver­ suchen, alle Informationsmittel dafür zu nutzen: Tageszeitungen, Wochenzeitungen, Monatszeitschriften. Wir wenden uns also an alle denkbaren Tribünen. Es ist gut, zu wissen, was uns bedroht; aber es ist auch gut, zu wissen, wie wir uns verteidigen können. Als Erstes werden wir daher versuchen, ein kleines Handbuch des perfekten Inhaftierten zu veröffentlichen, dem natürlich ein Merkblatt für Strafverfolger zur Seite zu stellen sein wird. Wer Informationen liefern, informiert werden oder sich an der Arbeit beteiligen möchte, kann an die G.I.P.: 285, rue Vaugirard, Paris XVe, schreiben. Übersetzt von Michael Bischoff

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87 (Über die Gefängnisse) In: J’accuse, Nr. 3 (15. März 1971), S. 26.

Die Gruppe Gefängnisinformation hat mit ihrer ersten Unter­ suchung begonnen. Es handelt sich nicht um eine soziologische Untersuchung. Vielmehr sollen Menschen zu Wort kommen, die Erfahrung mit dem Gefängnis haben. Nicht dass man erst ihr

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»Bewusstsein wecken« müsste; das sehr deutliche Bewusstsein für die Unterdrückung ist längst da, und der Feind ist bekannt. Aber das gegenwärtige System verweigert den Betroffenen die Mög­ lichkeit, ihre Interessen zu artikulieren und sich zu organisieren. Wir wollen die zweifache Isolierung der Gefangenen aufbre­ chen; mit unserer Untersuchung möchten wir ihnen die Möglich­ keit geben, untereinander zu kommunizieren, einander mitzutei­ len, was sie wissen, und miteinander zu sprechen, von Gefängnis zu Gefängnis und von Zelle zu Zelle. Wir möchten, dass sie sich an die Bevölkerung wenden und die Bevölkerung mit ihnen spricht. Aus den isolierten Erfahrungen, den isolierten Revolten soll gemeinsames Wissen und koordinierte Aktion werden. Ehemalige Strafgefangene, Angehörige von Gefangenen, Rechts­ anwälte, Ärzte, politische Aktivisten und alle, die nicht länger bereit sind, die Zustände in den Gefängnissen zu tolerieren, schließen sich in Gruppen zusammen, deren Aufgabe es ist, mit weiteren Untersuchungen in der Provinz und in Paris zu begin­ nen, Informationen zu sammeln und zu verbreiten und neue Aktionsformen zu entwickeln. Wir dürfen die Gefängnisse nicht länger in Frieden lassen, nirgendwo. Der Hungerstreik im Januar hat die Presse zum Sprechen ge­ zwungen. Nutzen wir die dadurch geschlagene Bresche, und sor­ gen wir dafür, dass die unerträglichen, durch Macht und Schwei­ gen auferlegten Verhältnisse nicht länger hingenommen werden. Unsere Untersuchung soll nicht unser Wissen vermehren, sondern unsere Intoleranz stärken und zu einer aktiven Intoleranz ma­ chen. Werden wir intolerant gegenüber den Gefängnissen, der Justiz, dem Krankenhaussystem, der psychiatrischen Praxis, dem Militärdienst usw. Als ersten Schritt in dieser zur Intoleranz auffordernden Unter­ suchung werden wir an den Toren einiger Gefängnisse regelmäßig einen Fragebogen verteilen; dieser Fragebogen steht allen zu Ver­ fügung, die etwas wissen könnten oder handeln möchten. Übersetzt von Michael Bischoff

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88 Untersuchung über die Gefängnisse: Zerbrechen wir die Gitter des Schweigens »Enquête sur les prisons: brisons les barreaux du silence« (Gespräch von C. Angeli mit M. Foucault und P. Vidal-Naquet), in: Politique-Hebdo> Nr. 24 (18. März 1971), S. 4-6.

- Über das Gefängnis im Allgemeinen und die Lebensbedingun­ gen der Häftlinge ist schon viel geschrieben worden. Es gibt auch einige Filme, und allzu viele glauben zu wissen, was hinter den Gittern geschieht... Erschwert das Ihre Arbeit? - Nein. Es muss klar sein, wer wir sind. Wir spielen nicht Unter­ suchungskommission, das ist nicht unsere Aufgabe. Wir verstehen uns als eine Gruppe, die Informationen sammelt und verbreitet und nach Zielen für mögliche Aktionen sucht. Diese Idee ist noch recht neu. Erinnern Sie sich an den Hunger­ streik der politischen Gefangenen im Februar? Damals konnte man hören: »Seht euch diese linken Bürgersöhnchen an, sie wollen besonders behandelt werden.« Aber das hat nicht gezogen. Weder in der öffentlichen Meinung - die Presse hat zwar verspätet rea­ giert, aber immerhin... - noch bei den Angehörigen der Straf­ gefangenen. Das stellen wir auch heute noch fest. Als die politischen Gefangenen, die eine Sonderbehandlung verlangten, sagten: »Wir müssen den gesamten Strafvollzug und das ganze Gefängniswesen verändern«, da lösten sie schließlich ein großes Echo aus. Bei den Strafgefangenen und sogar in der Presse. Plötzlich begriffen die Menschen, dass die Zustände in den Gefängnissen unerträglich sind. - Und welches Echo löste diese Erklärung bei Ihnen aus? - Um eine erste Versammlung zu organisieren, telefonierten wir mit einem Richter; es kamen mehrere. Wir telefonierten mit einem Gefängnispfarrer; es kamen mehrere. Wir telefonierten mit einem Psychologen; und wieder dasselbe. Es war wie ein Buschfeuer. Ehrlich gesagt, waren wir überrascht. Sehr überrascht sogar.

]221_ Als Nächstes mussten wir dafür sorgen, dass wir bekannt wur­ den. Einige Zeitungen, darunter auch Politique-Hebdo, berichte­ ten über uns, und danach erhielten wir Briefe. Von Ärzten, Gefangenen, deren Eltern, von Anwälten, von Menschen, die Häftlinge im Gefängnis besucht hatten... Sie boten uns ihre Mit­ arbeit an, fragten, was sie tun sollten, schickten ein wenig Geld. Heute, nach fünf Wochen Arbeit, kommen nicht nur Briefe von einzelnen Personen, sondern auch von Schülervertretungen, Stu­ dentengruppen und von Komitees der Roten Hilfe... Das geht alles sehr schnell und erstaunt selbst jene, die wie wir von der Notwendigkeit solch einer Untersuchung überzeugt sind. Nicht wir führen diese Untersuchung durch, sondern inzwischen schon mehrere hundert Menschen... Es bedurfte nur einer Initi­ alzündung. Jetzt sind wir eine Relaisstation für die Gruppen, die in der Provinz und in Paris entstehen. 216

- Was werden Sie tun, wenn die Untersuchung abgeschlossen ist? Werden Sie ein Buch mit den gesammelten Aussagen veröffent­ lichen? - Vielleicht. Aber diese Frage stellt sich noch gar nicht. Wir er­ heben nicht den Anspruch, das Bewusstsein der Häftlinge und ihrer Angehörigen für die Haftbedingungen zu wecken. Dieses Bewusstsein ist längst da, es hat nur keine Möglichkeit, sich zu artikulieren. Das Wissen über die Haftbedingungen, die Reaktio­ nen darauf, der Unmut darüber und die Überlegungen dazu - all das ist auf individueller Ebene ja längst vorhanden, aber es kann sich kein Gehör verschaffen. In Zukunft müssen die Informatio­ nen von Mund zu Mund, von Gruppe zu Gruppe weitergegeben werden. Die Methode mag überraschen, aber das ist nur gut so. Die Information muss zirkulieren, damit aus der individuellen Erfahrung kollektives Wissen wird. Und das heißt politisches Wissen. Ein Beispiel: Jeden Samstag gehen wir ans Tor der Santé; dort stehen die Angehörigen der Häftlinge Schlange, um zu den Be­ suchszeiten eingelassen zu werden. Wir verteilen dort unsere Fra­ gebögen. In der ersten Woche war der Empfang sehr kühl. In der zweiten waren die Leute noch misstrauisch. In der dritten Woche sagte eine Frau: »Das ist doch alles nur Geschwätz. Das hätte

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schon längst geschehen müssen.« Und plötzlich bricht alles aus ihr heraus. Ihr Zorn explodiert, und sie berichtet von den Besuchen, von dem Geld, das sie dem Häftling gibt, von den Reichen, die nicht im Gefängnis sitzen, von dem Schmutz dort. Und alle sehen die Zivilpolizisten, die lange Ohren machen... Am vierten Samstag ist es noch außergewöhnlicher. Schon be­ vor wir eintreffen, diskutieren die Wartenden über unseren Fra­ gebogen, über die skandalösen Zustände in den Gefängnissen... An diesem Tag ließ man sie nicht, wie sonst üblich, bis 133° Uhr auf der Straße warten, sondern öffnete das Tor schon eine Drei­ viertelstunde früher... - Was werden Sie mit den Antworten auf die Fragen Ihres Fra­ gebogens tun? - Wir werden sie zusammenstellen und diese Zusammenstellung am Tor der Santé an die Angehörigen der Häftlinge verteilen. Außerdem schicken wir sie an unsere Briefpartner in der Provinz und sagen ihnen: »Macht es bei euch genauso, und sammelt auch ihr Informationen.« Wir möchten nämlich, dass zwischen Untersuchenden und Un­ tersuchten möglichst kein Unterschied besteht. Am liebsten wäre uns, wenn die Angehörigen mit den Häftlingen kommunizierten. Wenn die Häftlinge untereinander kommunizierten. Und mit der Öffentlichkeit. Nur so kommen sie aus dem Getto heraus. Sie sollen ihre Forderungen selbst aufstellen und auch selbst die nö­ tigen Aktionen bestimmen. - Sie machen natürlich keinen Unterschied zwischen politischen Gefangenen und Strafgefangenen? - Nein, überhaupt keinen. Wenn alles seinen Anfang bei den po­ litischen Gefangenen genommen hat, so geschah dies, weil dem Staat, also der Regierung und dem Justizministerium (aus ihrer Sicht) ein Fehler unterlaufen ist, als sie politische Gefangene und Strafgefangene in einen Topf warfen. Die politischen Gefangenen haben Möglichkeiten, die den Strafgefangenen nicht zu Gebote stehen. Möglichkeiten, sich aus­ zudrücken. Kenntnisse, Beziehungen, Kontakte nach draußen, so

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dass sie wissen, was sie sagen und was sie tun; und vor allem erfahren sie eine politische Unterstützung, die ihre Aktionen ver­ stärkt. Ein paar Dutzend gewöhnliche Strafgefangene hätten nie­ mals gemeinsam so reagieren, schreiben und ihre Forderungen publik machen können, wie die politischen Gefangenen es getan haben. - Durch Ihre Aktionen wird sich deren Isolation sicher verrin­ gern? - Das wollen wir erreichen. Die Institution Gefängnis gleicht für viele einem Eisberg. Der sichtbare Teil ist die Rechtfertigung: »Wir brauchen Gefängnisse, weil es Kriminelle gibt.« Der sehr viel größere und furchtbarere Teil ist unsichtbar: Das Gefängnis ist ein Instrument der sozialen Unterdrückung. Kapitalverbrecher und Schwerkriminelle machen nur 5% aller Inhaftierten aus. Der Rest gehört in den Bereich der mittleren und der Kleinkriminalität. Sie stammen zum größten Teil aus den ar­ men Schichten. Hier zwei Zahlen, die einiges zu denken geben: 40% der Inhaftierten sind Untersuchungshäftlinge, deren Verfahrung noch nicht abgeschlossen ist; 16% sind Immigranten. Die meisten Menschen wissen das gar nicht, denn die Existenz der Gefängnisse wird immer mit der Existenz der Kapitalverbre­ cher begründet. - So viel zur Theorie. Aber wie reagieren die Häftlinge und ihre Angehörigen im Alltag? - Der Fragebogen betrifft ausschließlich die Lebensbedingungen. Die Inhaftierten sprechen über ihre Arbeit, die Besuche, die drangvolle Enge in den Zellen, über Bücher, die man ihnen ver­ weigert, über Hunger und auch über Kälte. In Nantes waren die Decken auf den Betten morgens mit Reif bedeckt. In Draguignan lag die Temperatur in einigen Zellen stän­ dig unter null. In Clairvaux sind 58 Käfige (Zellen, die nur aus Gittern bestehen) vollkommen unbeheizt. In Loos blieb die Hei­ zung im Winter 1969 wegen eines Defekts einen Monat lang außer Betrieb. Hinzu kamen Schikanen übelster Art. Man verbot den Häftlingen, sich bei Tage unter die Decken zu legen. Der Direktor

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erklärte ihnen: »Wenn ihr euch aufwärmen wollt, braucht ihr nur in der Zelle umherzulaufen«, oder: »Ihr hättet ja nicht herzukom­ men brauchen.« Dennoch sagen viele Häftlinge: »Die materiellen Lebensbedin­ gungen sind nicht einmal das Schlimmste.« Und so stießen wir auf eine ganze Reihe von Repressionen, die noch schwerer zu ertragen sind als die Überbelegung der Zellen, die Langeweile oder der Hunger. Die wichtigste ist wahrscheinlich die vollkommene Rechtlosig­ keit. Die Justiz schickt einen Menschen ins Gefängnis, und dieser Mensch hat keine Chance, seine Rechte gegen sie zu verteidigen. Er ist vollkommen wehrlos. Die Länge der Untersuchungshaft oder die Lebensbedingungen - alles hängt von der Justiz ab. Schreibt er an den Staatsanwalt, um sich darüber zu beschweren, kann sein Brief einbehalten oder auf der Geschäftsstelle in Teilen neu geschrieben werden. Manchmal steckt man ihn sogar in die Dunkelzelle, damit er aufhört, sich zu beschweren. Die Richter wissen genau, dass die Gefängnisverwaltung zwischen ihnen und den Häftlingen steht. Diese Funktionen des Gefängnisses werden von den Richtern sogar sehr geschätzt. Ein weiteres Beispiel für vorenthaltene Rechte: Ein Inhaftierter hat sich zum Fernstudium bei einer Universität angemeldet. Er schreibt an den Direktor der Haftanstalt: »Seit einiger Zeit muss ich zu meinem Leidwesen feststellen, dass der Stempel der Zensur mitten zwischen die Korrekturen der von mir eingereichten Hausarbeiten gesetzt wird. Ich glaube zu wissen, dass dies nicht auf Ihre Anordnung erfolgt, denn es geschieht nicht immer. Es liegt auf der Hand, dass dieser Stempel meine Arbeit wertlos macht; diese korrigierten Hausausgaben sind wichtige Doku­ mente für mich, und mit dem Zensurstempel kann ich sie später kaum vorlegem« Auf dem Rand des Briefes findet sich die Bemerkung: »Die Zensur macht ihre Arbeit.« In einem anderen Brief schreibt ein Häftling an den Anstalts­ leiter: »Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir die Erlaub­ nis erteilten, einige Lehrbücher der Mathematik und der Mecha­ nik von draußen zu beziehen.« Die Antwort auf dem Rand des Schreibens lautet: »Nein, nur eins von beiden.« Ein weiterer häufiger Fall: Ein Strafgefangener, der zum Bei­

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spiel eine dreijährige Haftstrafe verbüßen muss, hat - je nach Art des Delikts - vielfach das Recht, nach 18 Monaten Haft eine vor­ zeitige Haftentlassung zu beantragen, wobei die Reststrafe zur Bewährung ausgesetzt wird. Dabei hängt alles von seiner Führung und vom Urteil des zuständigen Richters ab. Über Strafmaßnah­ men innerhalb der Haftanstalt entscheidet ein Ausschuss, der aus dem Direktor, den Abteilungsleitern und einem Oberaufseher be­ steht. Wenn ein Aufseher sich beklagt, wird eine Strafe verhängt. Mehrere willkürlich verhängte Strafen reichen aus, um eine vor­ zeitige Haftentlassung unmöglich zu machen. Ein Häftling hat uns geschrieben: »Der Gefangene ist Objekt ständiger sozialer Aggressionen.« Da es sich nicht um einen politi­ schen Gefangenen handelt, mag der Tenor befremdlich erscheinen - aber das wäre schade, denn diese Bemerkung ist leider sehr wahr. - Was ist sonst noch unerträglich im Gefängnis? - Sehr viel. Zum Beispiel die sexuelle Unterdrückung. Viele Ge­ fangene sprechen nicht gern darüber. Aber manche tun es. Einer sagt: »Im Besuchsraum achtet der Aufseher darauf, dass meine Frau korrekt gekleidet bleibt.« Wie es scheint, ist das üblich. Ge­ fangene masturbieren im Besuchsraum, nachdem sie ihre Frau gebeten haben, die Brust zu entblößen, und diese Situation ist schwer erträglich, zumal der Aufseher jederzeit eingreifen kann. Schwer erträglich ist auch der Geldmangel. Einige Familien haben uns gesagt, sie unterstützten ihren in Haft befindlichen Angehörigen mit ioo bis 150 Francs im Monat. Aber nicht alle verfügen über die dafür nötigen Mittel. Im besten Fall arbeitet der Gefangene. Für nichts oder fast nichts. Wir haben einmal die Rechnung aufgemacht: Wenn ein Häftling acht Stunden am Tag und 22 Tage im Monat arbeitet, bleiben ihm im Durchschnitt 15 bis 20 Francs. Die höchsten im Gefängnis erzielten »Löhne« - wenn man hier überhaupt von »Löhnen« sprechen kann - haben wir in der Haftanstalt Petite Roquette gefunden: 40 Francs im Monat für die Herstellung der Verpackung für Damenstrümpfe von Dior. Wenn man bedenkt, dass der Gefangene seine Briefmarken bezahlen muss, dass ein Schnitzel in der Kantine sechs Francs kostet und schon die Ein­ schreibegebühr für einen einfachen Fernkurs 35 bis 40 Francs im

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Jahr beträgt, von den Büchern, die er kaufen muss, ganz schwei­ gen, dann sehen Sie, was das bedeutet. - Die Unternehmen sind durchaus interessiert, Arbeit an Straf­ gefangene zu vergehen, aber der Staat nimmt ihnen dennoch einen großen Teil ihres Lohns? - Ja. Fünf Zehntel des Lohns werden für die Unterbringung ein­ behalten; zwei Zehntel für die Verwaltungskosten; ein Zehntel für das Entlassungsgeld. Der Gefangene erhält nur den kläglichen Rest: zwei Zehntel seines Lohns. Fassen wir zusammen: Ein Gefangener, der zum Beispiel eine Haftstrafe von sechs Monaten oder zwei Jahren verbüßen muss, hat also keinerlei Rechte mehr. Als Bürger ist er der Justiz wehrlos ausgeliefert. Als Gefangener muss er sich mit den Rechten begnü­ gen, die man ihm gewährt. Als Arbeiter wird er hochgradig aus­ gebeutet; nur selten hat er die Möglichkeit, sich weiterzubilden. Als Mann oder Frau haben Gefangene keinerlei Rechte hinsicht­ lich ihrer Sexualität. Denkt man noch an die ständige Gefahr, in die Dunkelzelle gesteckt oder verprügelt zu werden, hat man ein Bild des heutigen Gefängnisses, das durch gelegentliche Skandale wie diesen noch ergänzt wird: In einem Zentralgefängnis entwichen 1970 sechs Häftlinge in die Kanalisation; man löste Alarm aus, und die Ge­ fängnisleitung ließ die Abwasserkanäle fluten. Auf die Gefahr, dass die sechs Häftlinge ertranken. Zum Glück konnten sie die Kanali­ sation rechtzeitig verlassen, doch im Gefängnishof ließen die Auf­ seher sie Spießruten laufen. Die Aufsichtsbehörde wusste das, ver­ hängte aber keinerlei Sanktionen. Ein Richter sagte uns dazu: »Wenn wir eine Untersuchung eingeleitet hätten, wäre die Sache auf die Aufseher zurückgefallen. Und die sind auch Opfer...« Dort gibt es ebenfalls Probleme: 73% der krankheitsbedingten Ausfälle gehen beim Aufsichtspersonal auf das Konto psychischer Erkrankungen (wie M. Petit 1969 vor dem Conseil supérieur de l’administration pénitentiaire et le garde des Sceaux erklärte). - Die Strafgefangenen stammen größtenteils aus den ärmeren Bevölkerungsschichten. Ist das nicht eigentlich der entscheidende Punkt?

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- Vielleicht. Eines erstaunt uns, wenn wir an die jüngste Ge­ schichte denken. Niemand oder fast niemand spricht mehr von den Demonstrationen der Algerier am 17. Oktober 1961. Damals töteten Polizisten 200 Algerier auf der Straße oder warfen sie in die Seine, damit sie ertranken. Dagegen spricht man immer noch über die neun Toten von Charonne, wo am 8. Februar 1962 eine Demonstration gegen die O.A.S. endete. Unseres Erachtens heißt das, es gibt immer eine Gruppe von Menschen, die den anderen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind. Im 19. Jahrhundert nannte man sie die gefährlichen Schich­ ten. Und heute ist das nicht anders. Heute haben wir die Menschen in den Armenvierteln, in den übervölkerten Stadtrandsiedlungen, die Immigranten, all die marginalisierten Jugendlichen und Erwachsenen. Kein Wunder, dass man vor allem sie vor Gericht und in den Gefängnissen findet. Übersetzt von Michael Bischoff

. 8?. Gespräch mit Michel Foucault »A conversation with Michel Foucault« (Gespräch mit J. K. Simon, übers, von F. Durand-Bogaert), in: Partisan Review 38, Nr. 2 (April-Juni 1971), S. 192-201.

- Man sagt von Ihnen, Herr Foucault, Sie hätten ein neues Ver­ fahren zur Erforschung der Ereignisse erfunden. Sie haben eine Archäologie des Wissens, der Humanwissenschaften formuliert, in der die literarischen und nichtliterarischen Zeugnisse einer Zeit objektiviert und als Archive behandelt werden. Außerdem inte­ ressieren Sie sich für die aktuelle Politik. Wie leben Sie Ihre Wis­ senschaft? Wie wenden Sie diese Wissenschaft auf das heutige Ge­ schehen an? Also wie entlarven Sie den aktuellen Diskurs? Wie erkennen Sie die gegenwärtig ablaufenden Veränderungen? - Ich bin mir gar nicht so sicher, dass ich eine neue Methode erfunden habe, wie Sie so liebenswürdig behaupten; was ich tue, unterscheidet sich kaum von den Dingen, die heute in vielen an-

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deren Ländern getan werden, in den Vereinigten Staaten, in Eng­ land, in Frankreich, in Deutschland. Ich erhebe nicht den An­ spruch, originell zu sein. Allerdings habe ich mich tatsächlich in erster Linie mit Erscheinungen der Vergangenheit befasst: mit dem System der Ausgrenzung und Einschließung der Irren in der europäischen Zivilisation vom 16. bis zum 19. Jahrhundert, mit der Entstehung der medizinischen Wissenschaft und Praxis Anfang des 19. Jahrhunderts, mit der Organisation der Human­ wissenschaften im 18. und 19. Jahrhundert. Aber für diese Phäno­ mene habe ich mich deshalb - und in der Tat sehr intensiv - inte­ ressiert, weil ich darin Denk- und Verhaltensweisen beobachtet habe, denen wir heute noch verhaftet sind. Ich habe die Entstehung und historische Entwicklung von Sys­ temen aufzuzeigen versucht, die die unsrigen sind und in denen wir auch heute noch gefangen sind. Letztlich handelt es sich um eine Kritik unserer Zeit, die sich auf rückblickende Analysen stützt. - Wenn Sie bedenken, was gegenwärtig nahezu überall auf der Welt an den Hochschulen geschieht, glauben Sie3wir alle und auch Sie selbst sind Gefangene eines bestimmten Systems? - Die Weitergabe von Wissen in der Gesellschaft wird von einem komplexen System bestimmt, das noch nicht vollständig erforscht ist, aber, wie mir scheint, gegenwärtig zerfällt - und zwar eher unter dem Einfluss einer revolutionären Bewegung als aufgrund einer theoretischen oder spekulativen Kritik. In dieser Hinsicht gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen Irren oder Kran­ ken einerseits und den Studenten andererseits; unsere Gesellschaft macht es den eingeschlossenen Irren oder den hospitalisierten Kranken schwer, ihre eigene Revolution zu machen; deshalb müs­ sen wir diese Systeme der Ausschließung von Irren und Kranken von außen durch eine demolierende Kritik aufbrechen. Das Uni­ versitätssystem kann dagegen von den Studenten selbst infrage gestellt werden. In diesem Stadium reicht es nicht mehr aus, wenn Theoretiker, Historiker und Archivare von außen Kritik leisten. Und die Studenten werden ihre eigenen Archivare. - Vor einigen Jahren erschien ein Dokument mit dem Titel Port­ rait de l3étudiant en nègre. Kann man, abgesehen vom Verhältnis

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zwischen Herrn und Knecht, eine Parallele zwischen dem Studen­ ten als Figur der Ausschließung und dem Irren ziehen? Definiert und schafft die Gesellschaft in ihrem Bemühen., Rationalität und Kohärenz zu bewahren, neue Parias? - Das ist eine weitreichende Frage, die sich nur schwer beant­ worten lässt. Aber sie interessiert mich sehr, weil sie in dieselbe Richtung zielt wie meine Arbeit. Bisher haben die Historiker un­ serer Gesellschaft und unserer Zivilisation vor allem versucht, in das Geheimnis unserer Zivilisation, in ihren Geist, einzudringen und zu ergründen, wie sie ihre Identität bildet und die Dinge bestimmt, denen sie Wert beimisst. Sehr viel weniger hat man dagegen untersucht, was unsere Zivilisation ablehnt. Es schien mir interessant, einmal zu versuchen, unsere Gesellschaft und un­ sere Zivilisation über ihre Ausschließungs- und Abwehrsysteme zu verstehen; über das, was sie nicht will; über ihre Grenzen, über das Erfordernis, bestimmte Menschen, Dinge und Prozesse zu unterdrücken und manches in Vergessenheit geraten zu lassen; über ihre Unterdrückungs- und Repressionssysteme. Ich weiß sehr wohl, dass schon viele Denker sich mit diesem Problem be­ fasst haben - und sei es erst seit Freud. Aber ich glaube, dass es neben der Unterdrückung der Sexualität auch andere Formen der Ausschließung gibt, die bislang noch nicht untersucht worden sind. Zum Beispiel die Ausschließung der Irren; oder jene Form der Ausschließung, bei der wir die Kranken gewissermaßen kurz­ schließen und in einen marginalen, das heißt medizinischen Kreis­ lauf integrieren. Und dann sind da die Studenten; in gewisser Weise sind auch sie in einen Kreislauf eingebunden, der zwei Funktionen besitzt. Zunächst eine Ausschließungsfunktion. Der Student wird abseits der Gesellschaft auf dem Campus abgeson­ dert. Er wird ausgeschlossen, und zugleich vermittelt man ihm ein überkommenes, veraltetes, akademisches Wissen, das keinen di­ rekten Bezug zu den Bedürfnissen und Problemen der heutigen Zeit hat. Verstärkt wird diese Ausschließung noch durch eine Reihe künstlicher, fiktiver sozialer Mechanismen gleichsam theat­ ralischen Charakters, mit denen man die Studenten umgibt (hie­ rarchische Beziehungen, universitäre Lehrveranstaltungen, das Tribunal der Prüfer, das ganze Ritual der Bewertungen). Außer­ dem bietet man den Studenten bestimmte Formen der Freizeit-

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Betätigung: Zerstreuungen, Vergnügungen und eine Freiheit, die gleichfalls nichts mit dem realen Leben zu tun haben; man er­ richtet um sie herum eine künstliche, ans Theater erinnernde Ge­ sellschaft, eine Pappmaché-Gesellschaft, und neutralisiert so die jungen Leute von 18 bis 25 Jahren gegenüber der Gesellschaft; man sorgt dafür, dass sie im Sinne der Gesellschaft funktionieren, indem man sie in politischer und sozialer Hinsicht impotent macht und kastriert. Das ist die erste Funktion der Universität; sie zieht die Studenten aus dem Verkehr. Bei der zweiten Funktion geht es dagegen um Integration. Wenn ein Student sechs oder sieben Jahre in dieser künstlichen Welt gelebt hat, kann er assimi­ liert werden; die Gesellschaft kann ihn konsumieren. Ohne es zu bemerken, hat er die Werte dieser Gesellschaft verinnerlicht. Er hat sozial erwünschte Verhaltensmodelle, Formen der Befriedi­ gung seines Ehrgeizes und Elemente politischen Verhaltens über­ nommen, so dass dieses Ausschließungsritual am Ende die Gestalt einer neuerlichen Aufnahme oder Vereinnahmung annimmt. In dieser Hinsicht unterscheidet die Universität sich kaum von den aus den so genannten primitiven Gesellschaften bekannten Syste­ men, in denen die jungen Leute eine Zeit lang abseits des Dorfes leben und Initiationsriten unterworfen werden, die sie isolieren und jeden Kontakt mit der realen, aktiven Gesellschaft unterbin­ den. Danach können sie dann wieder vollständig aufgenommen oder integriert werden. - Können Sie die Universität nach demselben Verfahren unter­ suchen wie das Krankenhaus? Aber hat sich das Universitätssys­ tem nicht etwas verändert? Finden wir in der jüngsten Geschichte aus unterschiedlichen Gründen nicht auch Ausschlüsse, die auf die Initiative der Ausgeschlossenen zurückgehen? - Was ich eben gesagt habe, war natürlich nur eine sehr summari­ sche Beschreibung. Sie müsste präzisiert werden, denn die Formen der Ausschließung von Studenten waren im 19. Jahrhundert ganz andere als heute. Im 19. Jahrhundert war das Höhere Bildungswe­ sen ausschließlich den Kindern der Bourgeoisie Vorbehalten und allenfalls noch einem kleinen Randbereich des Kleinbürgertums, dessen gehobenes Niveau die Bourgeoisie für ihre Industrie, ihre wissenschaftliche Entwicklung und ihre technischen Berufe benö-

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tigte... Heute nehmen die Universitäten mehr Studenten aus är­ meren Schichten des Kleinbürgertums auf. Daher finden wir inner­ halb der Universität explosive Konflikte zwischen einem Großbür­ gertum, das immer mehr Techniker und Ingenieure benötigt (also einem wachsenden Bedarf an Wissenschaft und Wissen) und einem Kleinbürgertum, das durch das Wachstum des Großbürgertums sozial und politisch immer stärker ins Proletariat abgedrängt wird, da seine Entwicklung von Technologie und Wissenschaft abhängt, das heißt von den Leistungen, die Studenten und Forscher aus dem Kleinbürgertum auf diesen Gebieten erbringen. Das Großbürger­ tum rekrutiert also an den Universitäten Menschen, die auf dem Weg sind, ins Proletariat abzusinken, und daher ein revolutionäres Potential mitbringen; der Feind ist in ihren Mauern. Deshalb wird der Status der Universitäten problematisch. Das Großbürgertum muss darauf achten, dass die Universität auch weiterhin ein Ort der Ausschließung bleibt, an dem die Studenten von ihrem realen Milieu, also einem ins Proletariat absinkenden Milieu, getrennt werden. Außerdem muss die Universität immer mehr Rituale zur Aufnahme in ein kapitalistisches Normensystem bereitstellen. Dadurch erhöht sich der Druck auf die Universität, ihre alte Doppelfunktion der Theatralisierung und Initiation noch zu verstärken. Doch kaum sind die Studenten an der Universität, erkennen sie, dass man sie benutzt; dass jemand versucht, sie ihrer Herkunft und ihrem wahren Milieu zu entfremden; so entwickeln sie ein politisches Bewusstsein, und es kommt zur revolutionären Explosion. - Wenn Sie einmal alle ästhetischen Erwägungen beiseite lassen, sehen Sie dann eine Parallele zwischen den Ereignissen an den Universitäten und dem Theaterstücke Marat-Sade1 von Peter Weiss - ich denke da auch an einen Regisseur; der ein Stück auf die Bühne bringen wollte, in dem die Schauspieler, Geisteskranke, versuchen, das Stück gegen die Zuschauer zu wenden. - Das ist ein interessanter Bezug. Ich glaube, dieses Stück zeigt sehr viel besser, was heute geschieht, als die meisten theoretischen i [Weiss, R, Die Verfolgung und Ermordung Jean-Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade, Frankfurt am Main 1964.]

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Abhandlungen. Als Sade in Charenton war, wollte er, dass seine Stücke von den Insassen gespielt wurden. Nach Sades Vorstellun­ gen sollten diese Stücke als Protest gegen seine Einschließung verstanden werden; doch die Insassen, die seine Stücke spielten, prangerten damit nicht nur die Einschließung an, sondern das gesamte Unterdrückungssystem einschließlich der Werte, die Sade ihnen auferlegte, indem er sie das Stück spielen ließ. In gewisser Weise gleicht Sade einem liberalen Professor von heute, der seinen Studenten sagt: »Warum protestiert ihr nicht gleich gegen alle bürgerlichen Werte, die man euch auferlegen will?« Und die Stu­ denten folgen seinem Rat; sie treiben das Theater des universitä­ ren Liberalismus bis zur letzten Konsequenz und stellen am Ende auch den Professor infrage. - Genau das wollte ich Sie zum Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden an der Universität fragen. Sind die Professoren nicht in gewisser Weise seihst Ausgeschlossene? Schließlich gehören sie zusammen mit den Verwaltungsleuten ebenso zur universitä­ ren Gemeinschaft wie die Studenten. Natürlich könnte man sagen, die Verwaltungsleute seien lediglich Repräsentanten der Gesell­ schaft, aber meist handelt es sich dabei ja um Professoren, die oft nur zeitweilig - Verwaltungsfunktionen übernehmen. Gibt es da Unterschiede zwischen dem Lehrkörper und den Studenten? - Ich kenne das amerikanische System nicht gut genug, um hier eine auch nur annähernd kompetente Antwort zu geben. In Frankreich sind die Professoren Beamte, und als solche sind sie Teil des Staatsapparates. Ganz unabhängig von ihren persönlichen Meinungen und allein schon aufgrund ihres Beamtenstatus halten die Professoren daher das System der Weitergabe von Wissen auf­ recht, wie es der Staat verlangt, also die bürgerliche Klasse, deren Interessen der Staat vertritt. In den Vereinigten Staaten liegen die Dinge natürlich anders, weil das Höhere Bildungswesen einen freien Markt darstellt. Ich weiß nicht, ob amerikanische Profes­ soren stärkeren Bedrohungen ausgesetzt sind, ob sie stärker aus­ gebeutet werden oder ob sie eher dazu neigen, die ihnen aufer­ legten Werte zu akzeptieren. Die Stellung des Professors ist heute nahezu unhaltbar, ebenso unhaltbar wie die Stellung des Klein­ bürgertums. Sind die Professoren nicht das erstaunlichste Produkt

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jener Klasse, der es im 19. Jahrhundert zumindest in Frankreich gelang, sich vom Großbürgertum das Recht zur Ausübung der Macht übertragen zu lassen? Es gab einmal eine Republik, die als »Republik der Professoren« bezeichnet wurde, und die Dritte Republik rekrutierte ihr politisches Leitungspersonal aus dem Kreis der Hochschullehrer oder vergleichbarer Berufe wie der Ärzte und Rechtsanwälte... Inzwischen hat sich die Zusammen­ setzung des politischen Leitungspersonals vollkommen verändert, und das französische Kleinbürgertum hat jede Kontrolle über den Staatsapparat verloren. Das bereitet dem Kleinbürgertum be­ trächtlichen Kummer, und es schwankt zwischen zwei Versu­ chungen: sich den Studenten und ihrem revolutionären Kampf anzuschließen oder die Macht zurückzuerobern, also noch einmal zu versuchen, jenes Großbürgertum zu verführen, dessen Aner­ kennung es nur noch im Bereich der Technik genießt. - Bevor Sie nach Buffalo kamen, haben Sie in Vincennes gelehrt, einer Avantgarde-Universität, von der manche behaupten, sie sei vollständig im Chaos versunken und kämpfe darum, sich an den von Ihnen beschriebenen Prozess anzupassen. Sie haben gesagt, dass die Position des Professors unhaltbar werde; haben Sie in dieser Hinsicht beim Wechsel von Vincennes nach Buffalo den Eindruck, sich in einem fremden, exotischen Land zu befinden? - Als ich in Buffalo ankam, hatte ich das Gefühl, in Vincennes zu sein. Trotz einiger relativ oberflächlicher Unterschiede in Verhal­ ten, Kleidung, Gebärden und Reden scheint mir in Frankreich und den Vereinigten Staaten derselbe Kampf entbrannt zu sein. Ich glaube jedoch, hinsichtlich der politischen Strategie und Tak­ tik befinden die amerikanischen Studenten sich in einer ganz an­ deren Lage als die französischen. Die französischen Studenten haben es mit einer großen organisierten Arbeiterklasse zu tun, die über ihre Gewerkschaften und politischen Organisationen lautstark ihre Treue zum Marxismus bekundet: Möglicherweise sind die französischen Arbeiter bereit, die Studenten anzuhören und Verständnis für ihren Kampf aufzubringen, aber zugleich müssen die Studenten gegen den auf Bewahrung ausgerichteten Einfluss der Kommunistischen Partei und der C.G.T. kämpfen. Die amerikanischen Studenten befinden sich in einer ganz anderen

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Situation: In den Vereinigten Staaten, so scheint mir, besteht in der Arbeiterklasse wahrscheinlich weniger Bereitschaft, den Kampf der Studenten zu unterstützen. Für einen amerikanischen Studen­ ten muss es sehr schwierig sein, mit den Arbeitern zusammen zu kämpfen. Andererseits besteht hier der Vorteil, dass es keine gro­ ßen bewahrenden Kräfte wie die Kommunistische Partei oder die C.G.T. gibt. Ich denke, durch die langjährige Verfolgung der Kommunistischen Partei hat die amerikanische Regierung der re­ volutionären Sache einen Dienst erwiesen, denn sie hat damit die Möglichkeit einer Zusammenarbeit zwischen Studenten und Ar­ beitern offen gehalten. Natürlich gibt es in Amerika auch die spezifischen Spannungen, die aus dem Rassenproblem erwachsen; dieses Problem kennen wir in Frankreich zwar auch, aber es ist nicht so stark ausgeprägt (allerdings darf man nicht übersehen, dass in Frankreich sehr viele afrikanische - algerische und schwarzafrikanische —Arbeiter leben, die ein zahlenmäßig bedeu­ tendes Subproletariat bilden). - Hat sich der Chauvinismus in Frankreich in den letzten Jahren verstärkt? Beobachten Sie dort eine wachsende Abneigung gegen alles, was von außen kommt? Amerika ist bekanntlich ein Schmelztiegel Liegt hier ein Unterschied? - Mir scheint, zumindest in intellektuellen Kreisen trifft man hier in Amerika nicht auf diesen unerträglichen Chauvinismus, der für Frankreich typisch ist. Man darf nicht vergessen, dass wir ein kleines Land sind und zwischen zwei großen Modellen hin und her gerissen werden, den Vereinigten Staaten und der Sowjet­ union. Lange haben wir gegen diese beiden Modelle ankämpfen müssen. Die Kommunistische Partei hat das russische Modell zu­ nächst vorgeschlagen, dann durchgesetzt, und der Kampf gegen den bewahrenden Einfluss der Kommunistischen Partei führte zu einer grundsätzlichen Ablehnung des sowjetischen Modells. Auf der anderen Seite setzte sich eine mit amerikanischen Interessen verbündete liberale Fraktion der Bourgeoisie unablässig für das amerikanische Modell ein, gegen das daher gleichfalls gekämpft werden musste. Wenn ich es recht sehe, war dies die Konstella­ tion, unter der die Mechanismen des Chauvinismus in der fran­ zösischen Linken aufkamen. Diese Mechanismen sind den Men-

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sehen nicht immer bewusst; sie äußern sich in einem Gemisch aus Abgrenzung, Ablehnung und Vergessen. So findet die amerikani­ sche Literatur in Frankreich nur wenige Leser; amerikanische Philosophen, Historiker und Kulturkritiker werden überhaupt nicht gelesen. Man muss sehr lange warten, bis amerikanische Bücher ins Französische übersetzt werden. Wir dürfen nicht zu­ lassen, dass der Kampf gegen den amerikanischen Einfluss und die Wirtschaftsbeziehungen mit den Vereinigten Staaten unser Ver­ hältnis zu den amerikanischen Intellektuellen beeinträchtigt. Un­ ser Nationalismus sollte selektiv sein. Ich glaube, ein kleines Land wie Frankreich kann einen gewissen Nationalismus in Politik und Wirtschaft nicht vermeiden, wenn es ein gewisses Maß an Unab­ hängigkeit bewahren will; andererseits müssen wir aber auch einsehen, dass ein heute noch ideologischer, aber eines Tages offen revolutionärer Kampf schon bald überall auf der Welt aufflammen wird. Daher müssen wir auf den Kulturchauvinismus verzichten. - Sie sind zum ersten Mal in Amerika, und zum ersten Mal lehren Sie an einer amerikanischen Universität Welche Auswirkungen wird Ihr zweimonatiger Aufenthalt für Sie im Hinblick auf den kulturellen Austausch haben, von dem Sie gerade gesprochen ha­ ben? - Mir geht es in erster Linie um die Definition der impliziten Systeme, in denen wir gefangen sind, ich möchte die Abgrenzungs- und Ausschließungssysteme verstehen, die wir praktizie­ ren, ohne es zu bemerken; ich möchte das kulturelle Unbewusste sichtbar machen. Je mehr ich reise, je weiter ich mich von meinen natürlichen und gewohnten Gravitationszentren entferne, desto größer werden meine Chancen, die Fundamente, auf denen ich offensichtlich stehe, zu begreifen. In dieser Hinsicht ist jede Reise fruchtbar, jede Bewegung, die mich aus meinem ursprünglichen Bezugsrahmen herausführt - ich sprechen hier natürlich nicht von touristischen Reisen und nicht einmal von Erkundungsfahrten. Es ist immer gut für mich, das Land und die Sprache zu wechseln. Ein einfaches Beispiel: In New York war ich wie jeder Fremde frappiert von dem Kontrast zwischen manchen schönen Vierteln und der Armut, ja dem Elend, das sie links und rechts, im Norden und im Süden umgibt. Ich weiß natürlich, dass es solche Gegen-

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sätze auch in Europa gibt. Wenn Sie einmal nach Europa kommen, werden Sie gewiss schockiert sein von dem großen Elend, das in den Armenvierteln von Paris, Hamburg, London oder anderen Städten herrscht. Während all der Jahre, die ich in Europa gelebt habe, war mir jedoch der Sinn für diese Kontraste abhanden ge­ kommen, und am Ende glaubte ich sogar, der Lebensstandard hätte sich für die gesamte Bevölkerung verbessert. Ich war sogar nahe daran, zu glauben, das Proletariat sei zur Mittelschicht ge­ worden, die Armen wären nahezu verschwunden, und der soziale Konflikt, der Konflikt zwischen den Klassen, stehe daher vor seinem Ende. Als ich aber in New York plötzlich wieder diesen frappierenden Kontrast sah, den es überall gibt, der für mich aber hinter den vertrauten Formen verschwunden war, da kam mir gewissermaßen eine zweite Erleuchtung: Der Klassenkonflikt ist immer noch da; er hat sich sogar zugespitzt. - Ich möchte noch einmal auf die Lehrtätigkeit zurückkommen. Sie haben eben gesagt, die Stellung des Professors erscheine Ihnen unhaltbar; und dennoch sind Sie ein talentierter Hochschullehrer. Es gelingt Ihnen, die Aufmerksamkeit Ihrer Zuhörer zwei Stun­ den ohne jede Unterbrechung zu fesseln - dabei bedarf es stän­ diger Aufmerksamkeit, wenn man Ihren Gedanken Schritt für Schritt folgen möchte. Und all das, obwohl die Vorlesung als Form der Wissensvermittlung ebenso veraltet erscheint wie die Position des Professors schlechthin. Sie haben mir auch gesagt, am verächt­ lichsten erscheine Ihnen ein Mensch, der nicht nur Tyrann sein.> sondern seinen Despotismus und Paternalismus auch noch verber­ gen möchte. Ich sehe da eine Parallele zwischen Ihren politischen Ideen, Ihrer Kritik und Ihren pädagogischen Vorstellungen. Auf all diesen Gebieten, ob nun politisch oder pädagogisch, versuchen Sie stets das System, das Schema>zu entlarven. Trotzdem ziehen Sie es vor.\ nur wenige Studenten zu haben. Ihre Ideen sind., wenn ich so sagen darf den vielen, die nicht in die Dichte Ihrer Bücher einzudringen vermögen, nicht - oder zumin­ dest nicht unmittelbar - zugänglich. Außerdem halten Sie sich (gewiss zu Recht) an eine bestimmte Vorgehensweise, eine Metho­ de, bei der Sie ihre Sichtweise sehr energisch und mit dem An­ spruch auf Ausschließlichkeit durchsetzen. Sie sagen: »Ich werde dieses Schema anlegen.« Aber wie schützen Sie sich dann vor dem

VorwurfySie seien elitär; Sie hingen jenem pädagogischen Konzept ant welches auf dem alten Verhältnis zwischen Meister und Schü­ ler basiert und erfordert, dass Ihre Methode akzeptiert wird, dass Sie darüber bestimmen, welches System anzulegen ist? Sie sagen, der Mensch ist tot, es gibt nur noch eine Masse von Menschen. Wie können Sie an diese Vielfalt glauben und zugleich Ihre Aufmerk­ samkeit einer einzigen Definition schenken, einer Definition nicht des Menschen, sondern des Systems, das Sie aufzuerlegen versu­ chen*. - Es ist sehr liebenswürdig, wenn Sie sagen, ich sei ein guter Professor, aber ich selbst glaube das nicht. Wie wohl die meisten meiner Kollegen, gerate ich in eine gewisse Verlegenheit, wenn sich mir das Problem stellt, eine Lehrmethode zu definieren. Und ich glaube, Sie haben den entscheidenden Punkt bereits hervor­ gehoben: Wir müssen uns vor dem in Amerika so genannten »Li­ beralismus« hüten, der in Frankreich als »Reformismus« bezeich­ net wird. Der Reformismus behandelt letztlich nur Symptome. Man möchte die Konsequenzen beseitigen, aber am System festhalten, selbst wenn man es dazu verstecken muss. In Frankreich ist die Vorlesung unter heftigen Beschuss geraten: Der Professor kommt, bleibt eine Stunde hinter seinem Pult, sagt, was er zu sagen hat, und die Studenten haben keine Möglichkeit zur Dis­ kussion. Die Reformisten geben dem Seminar den Vorzug, weil es die Freiheit respektiert: Der Professor zwingt den Studenten nicht mehr seine Ideen auf, und die Studenten haben das Recht zu spre­ chen. Das stimmt... Aber meinen Sie nicht, wenn ein Professor, der zu Beginn des Studienjahres die Verantwortung für eine Reihe von Studenten übernimmt, sie in Kleingruppen arbeiten und an seiner eigenen Arbeit teilhaben lässt, wenn er seine Probleme und seine Methoden mit ihnen teilt, werden die Studenten dann am Ende des Seminars nicht noch stärker deformiert sein als in einem Arrangement, bei dem sie sich lediglich eine Reihe von Vorlesun­ gen anhören? Werden sie nicht für gesichert, natürlich, evident und absolut wahr halten, was in Wirklichkeit nur das System, der Code, das Schema des Professors ist? Laufen sie nicht Gefahr, dass der Professor ihnen seine Vorstellungen sehr viel geschickter aufzwingt? Ich will die Vorlesung nicht um jeden Preis verteidi­ gen, aber ich frage mich, ob die Vorlesung letztlich nicht doch

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ehrlicher ist, sofern sie deutlich sagt, worum es ihr geht: nicht um die Verkündung einer Wahrheit, sondern um die Darstellung einer Arbeit, die sich mit ihren Hypothesen und Methoden noch in der Versuchsphase befindet und daher offen für Kritik und Einwände ist: Der Student hat die Freiheit, seine Bedenken zu äußern. Na­ türlich sind Seminare und Arbeitsgruppen notwendig, aber ich denke, eher zur Überprüfung der Methoden als zur Ausübung von Freiheit. Wenn ich etwas dogmatische Vorlesungen halte, so weil ich mir sage: Ich werde dafür bezahlt, dass ich den Studenten eine be­ stimmte Form von Wissen oder bestimmte Inhalte vermittele; darum muss ich meine Vorlesung oder meinen Vortrag etwa so anfertigen, wie man einen Schuh anfertigt, nicht mehr und nicht weniger. Ich denke mir einen Gegenstand aus und versuche, ihn so gut herzustellen, wie ich kann. Ich gebe mir viel Mühe (natürlich nicht immer, aber doch oft), ich trage diesen Gegenstand in den Hörsaal, ich führe ihn vor, und dann überlasse ich es den Zuhö­ rern, damit zu tun, was ihnen gefällt. Ich verstehe mich als Hand­ werker, der einen Gegenstand herstellt und zum Konsum anbie­ tet, und nicht als ein Herr, der seine Sklaven arbeiten lässt. Einmal hatte ich einen Vortrag vor Gewerkschaftern der C.G.T. zu halten. Ich stand vor der Aufgabe, alles, wie man sagt, »sehr einfach« auszudrücken; aber mir wurde rasch klar, dass »Einfach­ heit« sich hier nicht auf die Grundgedanken oder die elementaren Probleme beziehen konnte, sondern auf möglichst eindeutige Be­ griffe, präzise Definitionen und eine exakte Argumentation. Auf dieser Grundlage vermag auch ein »uneingeweihtes« Publikum »schwierige« Dinge zu akzeptieren und zu verstehen; eine gewisse technische Sorgfalt scheint mir hier die Gewähr für einen ernst­ haften und nicht nur lyrischen Vortrag zu bieten. - Und wie sehen Sie die Bevormundung durch die Universität, wenn Sie zum Beispiel nicht arbeiten wollen, aber dazu gezwun­ gen werden, oder auch wenn Sie eine handwerkliche Arbeit ma­ chen möchten, aber man verbietet es ihnen? - Wenn ich einen Studentenstreik verhindere oder ihn auch nur hinauszuzögern versuche, unterstütze ich die Großbourgeoisie, die das Wissen, die Universität, die Professoren und die Studenten

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für ihre ökonomische Entwicklung braucht; damit stelle ich mich hinter das kapitalistische System und trage dazu bei, dass es seine Macht gegen die proletarischen und revolutionären Kräfte be­ hauptet. Ich finde nicht, dass die Studenten mich an der Arbeit hindern, wenn sie streiken; ich denke, sie kämpfen für andere intellektuelle Arbeitsbedingungen; und da die gegenwärtigen Ar­ beitsbedingungen mir alles in allem - geistig und sozial - nicht befriedigend erscheinen, glaube ich, dass die Studenten Recht ha­ ben und mich keineswegs hindern, meine Arbeit zu tun, sondern mir langfristig die Möglichkeit eröffnen, sie besser zu tun. - Obwohl die Studenten sich als Rebellen geben, neigen sie doch zu einer gewissen Romantisierung und zu einer sentimentalen Einstellung; das zeigt sich in ihrer Kleidung und ihrem Verhalten. Ich habe den Eindruck, all das bedeutet eine Wiederbelebung des IndividuumSy also jenes Menschen, den Sie gewissermaßen töten wollten. Dennoch stelle ich fest, dass es Ihnen großen Spaß macht, bestimmte extravagante Verhaltensweisen zu beobachten und sich darüber lustig zu machen. Das ist so, als wären Sie immer noch in einer Aufführung des Marat-Sade und suchten nach Ihren Syste­ men und Schemata. Wie schaffen Sie es, Ihre äußerst strenge und wissenschaftliche Methode - die Methode eines Handwerks - und Ihre wissenschaftliche Archäologie mit den an Folklore und Thea­ ter gemahnenden Verhaltensweisen der Studenten zu vereinba­ ren? - Ich glaube, was die Studenten auf eine Weise, die auf den ersten Blick folkloristisch erscheinen mag, zu erreichen versuchen und was ich im Staub meiner Bücher zu erreichen versuche, ist im Grunde ein und dasselbe. Die Studenten versuchen es mit Phan­ tasie und Humor, während ich es eher wie eine Maus mache, die an einem Stück Käse knabbert. Ich versuche, die impliziten Sys­ teme zu verstehen, die unsere vertrautesten Verhaltensweisen be­ stimmen, ohne dass wir es bemerken. Ich versuche ihre Herkunft zu klären, ihre Entstehung nachzuzeichnen und die Zwänge auf­ zuzeigen, die sie uns auferlegen. Ich versuche also, auf Distanz zu diesen Systemen zu gehen und zu zeigen, wie man sich ihnen entziehen könnte. Aber was tun die Studenten denn, wenn sie sich in vertraulichem Tonfall an den Professor wenden oder wenn sie

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sich wie Clochards kleiden oder wenn sie sich im Hörsaal küssen - oder was auch immer? Was tun sie anderes, als sich parodierend über eine Reihe von Elementen lustig zu machen, die zum bürger­ lichen System gehören und die wir akzeptieren, als wären sie Naturgegebenheiten und Ausdruck der menschlichen Natur? Wenn Küssen im Hörsaal als »schockierend« empfunden wird, so weil unser Erziehungssystem eine Entsexualisierung der Ju­ gendlichen erfordert. Und mit welchem Recht verlangt unsere Gesellschaft von den Studenten, in bürgerlicher Kleidung zu er­ scheinen? Doch nur deshalb, weil das Bildungssystem die Verhal­ tensweisen der bürgerlichen Gesellschaft weitergeben soll? Eine der größten Enttäuschungen, die uns die kommunistische Partei und die Sowjetunion bereitet haben, resultiert aus der Tat­ sache, dass sie nahezu das gesamte bürgerliche Wertesystem über­ nommen haben. Man hat den Eindruck, der Kommunismus tra­ ditioneller Prägung leide unter einem Geburtstrauma; er versucht, sich die Welt wieder so anzueignen, wie sie zur Zeit seiner Ent­ stehung war: die Welt einer triumphierenden Bourgeoisie. Die kommunistische Ästhetik ist die des im 19. Jahrhundert herr­ schenden Realismus. Schwanensee; Bilder, die eine Geschichte er­ zählen; der Gesellschaftsroman. Die kommunistische Partei ak­ zeptiert und perpetuiert die meisten bürgerlichen Werte (in Kunst, Familie, Sexualität und Alltagsleben). Wir müssen uns von diesem kulturellen Konservatismus ebenso befreien wie vom politischen Konservatismus. Wir müssen unsere Rituale als das entlarven, was sie sind: als vollkommen willkürliche Dinge, die mit unserer bür­ gerlichen Lebensweise Zusammenhängen. Es ist gut - und das ist das wahre Theater -, sie spielerisch und ironisch zu überschreiten; es ist gut, ungewaschen, bärtig und mit langen Haaren daherzu­ kommen; es ist gut, wie ein Mädchen auszusehen, obwohl man ein Junge ist (und" umgekehrt). Wir müssen die Systeme, die uns im Stillen lenken, »aufs Spiel« setzen, vorführen, verändern und U m ­ stürzen. Genau das versuche ich in meiner Arbeit zu tun. Übersetzt von Michael Bischoff

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9 Das Gefängnis ist überall »Le prison partout«, in: Combat, Nr. 8335 (5. Mai 1971), S. 1.

Seit drei Monaten führt die Gruppe Gefängnisinformation nun ihre Untersuchung durch. Sie befragt Strafgefangene, ehemalige Gefangene, deren Angehörige und alle Gefängnisbenutzer. Schließlich kann jeder von uns ins Gefängnis kommen. Mit wel­ chem Recht verwehrt man uns also zu wissen, was das Gefängnis tatsächlich ist? Es ist ein Machtinstrument, und zwar eines der maßlosesten. Mit welchem Recht legt die Macht einen Schleier der Geheimhaltung darüber? Am 1. Mai gingen wir an die Tore der Gefängnisse Fresnes und La Santé. Wie jeden Samstag warteten dort die Besucher eine halbe oder Dreiviertelstunde lang, bis sie eingelassen wurden. J.-M. Domenach war nach Fresnes gegangen, ich war mit anderen an der Santé. Wir diskutierten mit den Wartenden, vor allem über das Strafregister, und verteilten Maiglöckchen. Nach kurzer Zeit erschienen Polizisten und brachten uns auf die Wache. Sie wussten offenbar selbst nicht genau, warum. In Fresnes war es wegen des »Verstoßes gegen die Pflicht zur Hinter­ legung von Druckwerken«, an der Santé wegen »Hausierens ohne Gewerbeschein«. Aussichtslos; keiner der beiden Vorwürfe kam in diesem Fall infrage. Lappalien? Auch nicht. Die Straße ist da­ bei, zum ausschließlichen Herrschaftsbereich der Polizei zu wer­ den; ihre Willkür ist dort Gesetz: Weitergehen! Nicht stehen blei­ ben! Keine Gespräche! Hier wird nichts Schriftliches verteilt. Und keine Versammlungen! Das Gefängnis beginnt vor unserer Haustür. Sobald du auf die Straße trittst. Doch was nun folgte, war noch lehrreicher. Auf der Wache fragte man uns nach unserem Namen, dem Namen unserer Eltern usw. »Sind überhaupt welche unter euch, die einen echten galli­ schen Namen tragen?« Eine Studentin erklärte, sie habe tatsäch­ lich keinen gallischen Namen; und das wisse sie sehr wohl, weil man ihre Familie während des Krieges darauf aufmerksam ge­ macht habe; und dann seien Deportation und Krematorium ge­ folgt. Der Polizist ging auf sie zu, fragte sie, ob sie nicht ganz in

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Ordnung sei und ob sie nicht zufällig Haschisch genommen hätte. Dann hielt er den Mund. Nach einer Viertelstunde zielte und schoss er mit einem imaginären Revolver auf sie und rief: »Heil Hitler!«1Der Diensthabende fühlte sich offenbar nicht sehr wohl in seiner Haut. Er entließ uns ganz schnell. Aber auf der Straße folgte uns ein anderer Polizist. Wir waren schon recht weit von der Wache entfernt, da stieß er mich in den Rücken und beschimpfte mich. Seine »Kollegen« kamen, um ihn zurückzuhalten. Er brüllte etwas, sie packten ihn, und ich hatte den Eindruck, sie stritten sich. Widerstand gegen die Staatsge­ walt? Wenn ich mich nicht irre, sieht das Gesetz dafür eine strenge Strafe vor. Vertrauen wir auf die Justiz. Natürlich werden wir gegen diese Behandlung klagen, denn man muss wissen, dass in der alltäglichen kleinen Willkür der Straße bei einer scheinbar so einfachen Sache wie dem Verteilen von Flugblättern selbst der kleinste Polizist sehr genau die Rolle kennt, die man ihm zugewiesen hat; denn er selbst ist der Na­ mensgeber des Systems, das fast unauffällig aus seinem groben, ungelenken Tun hervorgeht; er begrüßt seine neue Funktion; und er ruft freudig nach dem Herrn, den er verdient. Übersetzt von Michael Bischoff

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Vorwort Vorwort zu Enquete dans vingt prisons, Paris 1971, S. 1-3. Nicht unterzeichnetes Vorwort zur ersten Broschüre der G.I.P. [Gruppe Gefängnisinformation]. Der Aufbau der Broschüre folgte den Rubriken des Fragebogens, der heimlich in knapp zwei Dutzend Haftanstalten kur­ sierte. M. Foucault hatte die Auswertung der ausgefüllten Fragebögen persönlich überwacht.

Gerichte, Gefängnisse, Krankenhäuser, psychiatrische Anstalten, Arbeitsmedizin, Universitäten, Presse- und Informationsorgane all diese Institutionen beteiligen sich unter verschiedenen Masken 1 [im Original deutsch, A.d.Ü.]

an einer Unterdrückung, die in ihrer Wurzel eine politische Un­ terdrückung darstellt. Die ausgebeutete Klasse hat diese Unterdrückung schon immer als solche erkannt, und sie hat nie aufgehört, sich dagegen zu wehren; aber sie hat sich ihr auch niemals entziehen können. Heute nun wird diese Unterdrückung für neue soziale Schichten unerträglich - für Intellektuelle, Techniker, Juristen, Ärzte, Jour­ nalisten usw. Sie soll auch weiterhin auf die Unterstützung und Komplizenschaft dieser Schichten setzen können, ohne jedoch auf deren Interessen und vor allem auf deren Ideologie Rücksicht zu nehmen. Die für die Verteilung von Recht, Gesundheit, Wissen und Information Verantwortlichen beginnen in ihrer eigenen Ar­ beit die Unterdrückung durch eine politische Macht zu spüren. Diese neue Intoleranz verbindet sich mit dem Kampf, den das Proletariat schon seit langem führt. Und die vereinte Intoleranz findet zurück zu den Instrumenten, die das Proletariat im 19. Jahr­ hundert entwickelt hat, insbesondere zu den Untersuchungen über die Lage der Arbeiterschaft, die damals von den Arbeitern selbst durchgeführt wurden. In diesem Rahmen bewegen sich un­ sere Intoleranzuntersuchungen, die wir nun beginnen. 1. Diese Untersuchungen haben nicht zum Ziel, politische Un­ terdrückung zu mildern oder erträglicher zu gestalten. Sie sollen die Unterdrückung vielmehr dort angreifen, wo sie unter anderem Namen auftritt - als Recht, Technik, Wissen oder Objektivität. Sie sollen also stets ein politischer Akt sein. 2. Sie richten sich immer auf präzise Ziele, auf Institutionen mit Namen und Adresse, mit Funktionsträgern, Verantwortlichen und Leitern - die gleichfalls Opfer produzieren und Revolten auslösen, selbst in den eigenen Reihen. Die Untersuchungen sol­ len also stets die erste Phase eines Kampfes sein. 3. Im Umkreis dieser Ziele stellen sie eine Verbindung zwi­ schen verschiedenen Schichten her, deren Trennung die herrschen­ de Klasse durch soziale Hierarchien und unterschiedliche ökono­ mische Interessen aufrechterhalten will. Die Untersuchungen müssen diese für die Macht unerlässlichen Barrieren niederreißen, indem sie Gefangene, Anwälte und Richter oder Ärzte, Patienten und Pflegepersonal zusammenführen. Die Untersuchungen sollen also an jedem strategisch wichtigen Punkt eine Front, eine An­ griffsfront eröffnen.

9 i Vorwort

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4. Nicht externe Gruppen von Technikern führen die Unter­ suchungen durch, sondern hier sind die Untersuchten auch dieje­ nigen, die die Untersuchungen führen. Es ist an ihnen, das Wort zu ergreifen, die Barrieren einzureißen, zu sagen, was unerträglich ist, und es nicht länger zu ertragen. Es ist an ihnen, den Kampf gegen die Unterdrückung aufzunehmen. Das erste Ziel sind die Gefängnisse. Warum? Seit dem Mai 68 ist der Justizapparat - ein bis dahin relativ stilles und folgsames Instrument - exzessiv eingesetzt worden, um französische und ausländische Arbeiter zu unterdrücken, um die Studenten zu unterdrücken, um Kaufleute und Bauern zu unterdrücken. Mannschaftswagen der C.R.S., Straßenrazzien, Knüppel und Tränengas, Polizeigewahrsam, Misshandlungen, of­ fenkundige Vergehen, präventive Festnahmen, Urteile nach dem Gesicht der Angeklagten (das heißt nach ihrer Klassenzugehörig­ keit, ihrer politischen Meinung, ihrer Hautfarbe), willkürliche Haftentlassungen - all das hat die Klassenjustiz unerträglich wer­ den lassen. Aber inzwischen beginnt sie sogar in den Institutionen und für die dort arbeitenden Menschen unerträglich zu werden. Viele Anwälte, Richter und Justizvollzugsbeamte wollen die Ar­ beit, die man ihnen zuweist, nicht länger ertragen. Ja selbst die staatliche Macht vermag ihre eigenen Richter nicht mehr zu er­ tragen und erklärt sie für zu lasch. Durch ihren Hungerstreik haben die inhaftierten politischen Aktivisten dem bislang stummen Elend eine Stimme verliehen. Sie haben zahlreiche Gefangene um sich geschart; sie haben außer­ halb des Gefängnisses eine Bewegung gegen die Haftbedingungen initiiert; sie haben die Möglichkeit geschaffen, dass beiderseits der Gefängnismauern alle zusammenfinden, die gegen dieselbe Uner­ träglichkeit kämpfen wollen: gegen die Unerträglichkeit einer Jus­ tiz, die im Dienst der herrschenden Klasse steht. Und hier hat die Untersuchung über die Gefängnisse ihren Ort. Diese Broschüre ist keine Bilanz, sondern Teil einer laufenden Untersuchung. Sie soll den Gefangenen in den verschiedenen Ge­ fängnissen die Möglichkeit geben, jetzt zugleich das Wort zu er­ greifen und über die Haftbedingungen zu sprechen. Außerdem soll sie in die Haftanstalten eindringen und enthül­ len, was jetzt in diesem Augenblick dort geschieht - Misshand­ lungen, Selbstmorde, Hungerstreiks, Agitation, Revolten.

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Der Fragebogen ist in Zusammenarbeit mit ehemaligen Häft­ lingen entworfen und nach den ersten Antworten überarbeitet worden. Gegenwärtig sind etwa tausend Fragebögen in Umlauf. Er hat die Entstehung von Untersuchungsgruppen ermöglicht, in denen sich im Umkreis einzelner Gefängnisse ehemalige Häft­ linge, Angehörige von Häftlingen, im Strafvollzug Beschäftigte, die ihre Arbeit nicht länger ertragen wollen, Anwälte, Richter, Studenten und Intellektuelle zusammengefunden haben. Er wurde von diesen Gruppen an die am Gefängnistor war­ tenden Besucher verteilt. Trotz der Zensur im Besuchsraum haben Angehörige von Häftlingen die Befragung übernommen und so die außerhalb des Gefängnisses laufende Aktion im Gefängnis bekannt gemacht. Um die Ergebnisse möglichst rasch weiterzugeben, haben wir diese Broschüre auf der Basis der ersten ausgefüllten Fragebögen zusammengestellt: - Als Beispiele sind zwei ausgefüllte Fragebögen vollständig abgedruckt; - zwei Berichte, die sich an die Reihenfolge der gestellten Fra­ gen halten, sind gleichfalls vollständig abgedruckt; - unter den Hauptrubriken des Fragebogens haben wir schließlich die charakteristischsten Antworten zusammengestellt. Auf der Grundlage dieser und weiterer noch zu publizierender Dokumente werden wir weitere Kampagnen organisieren, um die unerträglichen Haftbedingungen und die gesamte Justiz anzu­ prangern, die diese Bedingungen erzeugt und unterstützt. Zu den drängendsten Forderungen der Häftlinge und ihrer Angehö­ rigen gehört die Abschaffung des Strafregisters: - Das Strafregister entlarvt von Anfang an den Resozialisie­ rungsanspruch des Gefängnisses als pure Heuchelei; - indem der Staat die Führung des Strafregisters jeder öffent­ lichen Kontrolle entzieht, beurteilt er selbst täglich die Qualität seines Strafvollzugssystems; - das Strafregister steht im Widerspruch zum Recht auf Arbeit; es verurteilt die ehemaligen Strafgefangenen zur Arbeitslosigkeit; es liefert sie der Willkür der Arbeitgeber aus und verdammt sie zu den am schlimmsten ausgebeuteten Arbeiten; - mit dem Strafregister gibt es keine Freiheit, sondern nur ei­ nen Aufschub.

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Der Abschaffung des Strafregisters wird unsere nächste Kam­ pagne gelten. Übersetzt von Michael Bischoff

92 Artikel 15 »L'article 1j«, in: La Cause du peuple - J}accuse, Sondernummer: Flics. Vaffaire Jaubert, 3. Juni 1971, S. 4-5.

Am Abend des 29. Mai 1971, einem Samstag, sieht der Journalist Alain Jaubert in der Rue de Clignancourt nach einer Demonstra­ tion, wie ein am Kopf verletzter Mann (Sollier) in einen Polizei­ wagen geladen wird. In seiner Eigenschaft als Journalist bittet Jaubert, den Verletzten ins fünf Minuten entfernte Krankenhaus Lariboisière begleiten zu dürfen. Dreißig Minuten später liefert die Polizei Sollier in Lariboisière ein, fünfundvierzig Minuten später auch Jaubert - blutend und mit zerrissenen Kleidern. Am Abend des 30. Mai veröffentlicht die Polizeipräfektur über Agence France-Press ein Kommuniqué, in dem sie erklärt, Alain Jaubert habe die Polizeibeamten angegriffen und aus dem Polizei­ wagen zu fliehen versucht; er sei wegen Körperverletzung und Widerstand gegen die Staatsgewalt festgenommen und ins Hô­ tel-Dieu gebracht worden. Das Geschehen und das Kommuniqué lösen heftige Empörung bei Journalisten aus, und sie verlangen eine unabhängige Klärung des Sachverhalts. Michel Foucault, Gilles Deleuze, Claude Mau­ riac, der bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal mit Foucault zu­ sammentrifft, Denis Langlois, Anwalt der Liga der Menschen­ rechte und Verfasser der Dossiers noirs de la police, Dr. Daniel Timsit, Denis Perier-Daville, Vizepräsident des Dachverbandes der Journalistenvereinigungen Confédération des sociétés de jour­ nalistes, und André Lantin als Vertreter der Journalistengewerk­ schaft C.F.D.T. präsentieren der Presse am 21. Juni nach einer Untersuchung des Geschehens ihre Rekonstruktion der Ereig­ nisse. Die starke Mobilisierung der Journalisten durch die »Affäre Jaubert« begünstigte die Gründung einer alternativen Presseagen-

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tur, der von Maurice Clavel und Jean-Paul Sartre geleiteten Agen­ ce de presse Libération, aus der später die Tageszeitung Libération hervorging. Zur Untersuchungskommission gehörten insbesondere: C. Angeli, Pastor Casalis, Dr. Herzberg, D. Langlois, M. Manceaux, Dr. Timsit und P. Vidal-Naquet. Die Affäre Jaubert hat uns veranlasst, eine »Gegenuntersu­ chung« durchzuführen. Und zwar aus mehreren Gründen: 1. Rohheit und Gewalt der Polizei haben eine neue Stufe er­ reicht. 2. Jaubert wurde nicht angegriffen, weil er etwas getan (de­ monstriert) hat, sondern weil er etwas ist, nämlich Journalist. Neben die alten Formen des Rassismus und den neuen, gegen die Jugend gerichteten Rassismus ist damit eine weitere Form von Rassismus getreten, der sich gegen einen bestimmten Beruf richtet. Denn Journalisten üben einen für die Polizei unerträgli­ chen Beruf aus: Sie beobachten und sprechen. 3. Durch die Anklage gegen den verletzten und beschimpften Jaubert deckt der Untersuchungsrichter die entfesselte Polizei. Wir können nicht länger hoffen, dass eine in solchen Händen liegende Untersuchung korrekt durchgeführt wird. Daher werden wir selbst Gegenermittlungen anstellen. 4. Die Affäre Jaubert ist kein Einzelfall. Seit Monaten häufen sich Vorfälle dieser Art. Sie alle zeugen von einem System, in dem Gerichte und Polizei sich gegenseitig decken. Dieses System be­ droht uns alle, und so müssen wir uns gemeinsam dagegen wehren. Darum haben wir beschlossen, von unseren verfassungsmäßi­ gen Rechten Gebrauch zu machen, wie sie in der Menschenrechts­ erklärung von 1789 niedergelegt sind, auf die auch die Verfassung von 1958 Bezug nimmt. Artikel 15 lautet: »Die Gesellschaft hat das Recht, von jedem Inhaber eines öffentlichen Amtes Rechen­ schaft über seine Amtsführung zu verlangen.« Polizisten und Richter sind »Inhaber eines öffentlichen Am­ tes«; darum werden wir Rechenschaft von ihnen verlangen. Aber nicht in Gestalt eines Rechenschaftsberichts am Ende des Jahres, sondern unverzüglich, Punkt für Punkt und Schlag auf Schlag. Das heißt, die Polizisten werden über jede Gewalttätigkeit, die Richter über jede ihrer Gefälligkeiten Rechenschaft ablegen müs­ sen.

93 Bericht der Informationskommission zur Affäre Jaubert

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Wir verlangen Rechenschaft in der Affäre Jaubert. Wir werden eine Untersuchung durchführen. Wir bitten alle, die Auskunft über die Demonstration, über Jauberts Festnahme und über seine Verletzung geben können, mit uns in Verbindung zu treten. Aber auch in ähnlich gelagerten Fällen wird man in Zukunft Rechen­ schaft verlangen müssen. Und auch da werden wir nicht zögern. Sobald man uns informiert, werden wir eine Untersuchung durch­ führen. Justiz und Polizei müssen wissen, dass Artikel 15 auch für sie gilt. Wann immer es notwendig ist, wird man diese Vorschrift auf sie anwenden. Übersetzt von Michael Bischoff

93 Bericht der Informationskommission zur Affäre Jaubert »Rapports de la commission d’information sur l’affaire Jaubert«, in: Supple­ ment zu La Cause du peuple - j*accusey 28. Juni 1971, S. 1-3. Siehe Nr. 92, Band 2, S. 241-243.

Wir haben eine Informationskommission zur Affäre Jaubert ge­ bildet. Welche Aufgabe hat diese Kommission? Sie soll keine Parallel­ untersuchung zu den Ermittlungen des Gerichts durchführen. Wir wollen nicht an die Stelle der Justiz treten. Wir wollen ihr auch keine ihrer Aufgaben abnehmen, als sei sie nun plötzlich an einem bestimmten Punkt gescheitert und wir müssten ihr weiterhelfen. Das wollerf wir nicht, und zwar aus zwei Gründen: - Wir meinen, wenn die Justiz mit bestimmten Aufgaben be­ traut worden ist, soll sie diese Aufgaben auch erfüllen. Wir wer­ den kein Urteil über die Dinge fällen, über die sie Urteile fällt. Wir werden darüber urteilen, was sie ist und wie sie funktioniert. - Wir glauben auch nicht, dass die Justiz in einzelnen Punkten mangelhaft arbeitet. Wir glauben vielmehr, dass eine Krise ent­ standen ist. Eine Krise, in deren Mittelpunkt die Polizei steht. Und in dieser Krise droht die Justiz ihr Verhältnis zur Presse

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und zur Öffentlichkeit, aber auch zu den Rechtsuchenden zu ruinieren und selbst noch zu jenen, die sie die Härte des Gesetzes auf sehr ungleiche Weise spüren lässt. Wir sind weder Hilfstruppen der Justiz, noch sind wir Vorbil­ der für sie. Wir wollen helfen, die gegenwärtige Krise auszuloten, zu erkunden, wie weit sie reicht, die daraus erwachsenden Gefah­ ren aufzuzeigen und uns davor zu schützen. Die Affäre Jaubert scheint uns charakteristisch für diese Krise und die zugehörigen Gefahren zu sein. Die Affäre, das heißt nicht nur, was am späten Nachmittag des 29. Mai geschah, sondern auch, was danach geschehen ist und immer noch geschieht. Was am 29. Mai geschah, ist klar: Ein Mann steigt - vollkom­ men freiwillig - in einen Polizeiwagen und verlässt ihn wenig später mit zerrissenen Kleidern, blutig verschwollenem Gesicht und nahezu ohnmächtig. Das ist beunruhigend, das wirft Fragen auf, und diese Fragen müssen geklärt werden. Aber auch danach sind Dinge geschehen, die ebenso beunruhi­ gend sind und ebenso viele Fragen aufwerfen. In den folgenden Tagen wandte sich die Polizeipräfektur mit mehreren Erklärungen an die Agence France-Presse, also an die Zeitungen und damit an die Öffentlichkeit. Aber diese Erklärun­ gen sind widersprüchlich und entsprechen nicht den Tatsachen. Gerade in den wichtigsten Punkten sind sie lückenhaft. Außerdem hat man in den folgenden Tagen den Eindruck zu erwecken versucht, Sollier habe Erklärungen abgegeben, die Jau­ bert nicht gepasst hätten; das trifft nicht zu. Fragwürdig ist auch die Hast, mit der man noch vor jeder Er­ mittlung einen Untersuchungsrichter gefunden hat, der Anklage gegen Jaubert erheben sollte. Der Untersuchungsrichter hat zur Klärung der Affäre Jaubert kommissarische Vernehmungen angeordnet, und mit diesen Ver­ nehmungen hat er ausgerechnet die Polizei betraut. »Was wollen Sie«, sagt er dazu«, »ich habe keine Zeit, mich selbst darum zu kümmern.« Was geschah und was immer noch geschieht, ist eine Vergiftung der öffentlichen Meinung durch die Polizeipräfektur, das Jus­ tizministerium und das Innenministerium. Um den 10. Juni und mehrere Tage danach versprach das Innenministerium den

93 Bericht der Inform ationskom m ission zur Affäre Jaubert

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Journalisten wichtige Informationen, die nie gekommen sind. Schließlich stellte man die Enthüllungen für diese Woche in Aus­ sicht. Fragen wirft letztlich auch die Tatsache auf, dass auf die Bevöl­ kerung des Viertels und auf mögliche Zeugen ganz unmittelbarer Druck ausgeübt worden ist. Das Krankenhaus Lariboisière wurde von gewissen »Herren« besucht. Dieselben »Herren« trieben sich auch in der Rue de Clignancourt in Bistrots und an Wohnungstüren herum. Manche erzählten den Bewohnern des Viertels, Jaubert habe an der Demonstration teilgenommen, er habe die Demonstranten auf­ gestachelt und sie aufgefordert (wie sich das trifft!), der C.R.S. die Schuld zu geben, falls es zum geringsten Zwischenfall kommt. Und das ist geschehen. Das Innenministerium erklärte am 9. Ju­ ni: »Da die Sache nun bei Gericht liegt, müssen wir dessen Ent­ scheidung abwarten; das entspricht allen demokratischen Gepflo­ genheiten.« Alles bisher Gesagte beweist, dass Polizei und Staatsmacht ge­ rade nicht die Entscheidung des Gerichts abgewartet haben. Es gibt keinen Streit zwischen Jaubert und der Polizei, in dem nun das Gericht in aller Unabhängigkeit ein Urteil zu fällen hätte. Die Polizei hat sich längst überall eingeschlichen. In der Affäre Jaubert geht es um einen Mann, der verprügelt worden ist; aber es geht auch um ein ungesundes, gefährliches Verhältnis der Polizei zur Presse und zur Öffentlichkeit, um ein Verhältnis, das von Lügen, Repressionsversuchen, Unterstellun­ gen und Manövern aller Art geprägt ist. Und um ein gleichfalls gefährliches Verhältnis zwischen Polizei und Justiz: wechselseiti­ ge Abhängigkeit, gegenseitige Gefälligkeiten, Verschiebebahn­ höfe. Und schließlich um ein ungesundes, gefährliches Verhältnis zwischen Justiz- und Polizeiapparat: Einschüchterung, Druck, Angst. Wenn die Menschen Angst vor der Polizei haben; wenn sie nicht mehr Schutz bei den Gerichten suchen, weil sie wissen, dass die Gerichte allzu abhängig von der Polizei sind; wenn die Gefahr besteht, dass Presse und Öffentlichkeit, ihre letzte Zuflucht, von der Polizei hintergangen und ausmanövriert werden, dann ist die Lage ernst.

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Die derzeit gültige Verfassung nimmt Bezug auf die Menschen­ rechtserklärung von 1789. In Artikel 15 heißt es dort: »Die Gesell­ schaft hat das Recht, von jedem Inhaber eines öffentlichen Amtes Rechenschaft über seine Amtsführung zu verlangen.« Angesichts der gegenwärtigen Gefahren hat die Gesellschaft das Recht und die Pflicht, Rechenschaft zu verlangen. Wenn die Polizei ihre Macht missbraucht, müssen wir Rechenschaft von ihr verlangen. Wenn ein Ministerium oder eine Verwaltung falsche Nachrichten in Umlauf bringen, müssen wir Rechenschaft von ihnen verlangen. Genau das wollen wir mit unserer Kommission tun. Und so sind wir vorgegangen: Zunächst hat sich ein kleiner Kern gebildet, in dessen Umkreis sich zahlreiche Menschen sammelten, die sich von solch einer Affäre betroffen fühlen. Wir wurden unterstützt von der Fédéra­ tion des sociétés de Journalistes, der C.F.D.T-Journalistengewerkschaft, dem Comité de défense de la presse et des journalistes und dem Komitee des Manifests »Nous portons plainte contre la po­ lice«. Die Arbeit der Kommission, das sei hier betont, war ausgespro­ chen einfach. Sie bestand darin, Zeugen zu suchen, um das Ge­ schehen in seinem zeitlichen Ablauf genau zu rekonstruieren: die Episode in der Apotheke, den Weg des Polizeiwagens, den Sturz, die Ankunft im Krankenhaus. All diese Informationen waren leicht zu beschaffen. In zwei Tagen hatten die mit der Untersuchung Beauftragten sie beisam­ men. Und dazu bedurfte es keiner besonderen detektivischen Fä­ higkeiten. Die Tatsachen waren leicht zu ermitteln, problemlos zu interpretieren und jedermann zugänglich. Man brauchte sie nur zu sammeln. Doch mit der ganzen Verdächtigungskampagne, den Manövern, dem Schweigen, den widerwillig und in feierlicher Zerknirschung von offizieller Seite bekannt gegebenen Informationen erweckte man den Eindruck, als lägen die Tatsachen nicht auf der Hand, als gelte es, ein schwieriges Rätsel zu lösen. Obwohl man alle nötigen Informationen innerhalb von zwei Tagen sammeln konnte, erhob man noch am selben Abend An­ klage gegen Jaubert, ohne die Aussagen der Polizei zu überprüfen, die man für bare Münze nahm.

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Wir haben viele Augenzeugen gefunden. Ein Teil von ihnen war bereit, ihren Namen zu nennen. Andere waren nicht bereit dazu, weil sie Angst vor der Polizei und den alltäglichen Pressionen hatten, denen die Bewohner und die Geschäftsleute in solch einem Viertel ausgesetzt sein können. Sie glaubten nicht, die Justiz könne sie vor der Polizei schützen. Und auch wir glauben nicht, dass die Justiz ihnen diesen Schutz zu bieten vermag. Daher haben wir beschlossen, gar keine Namen zu nennen, auch nicht die Namen der Zeugen, die sich dazu bereit erklärt haben. Alle Zeugen haben ihre Aussagen vor zwei oder drei Mitgliedern der Kommission gemacht. Und wir verbürgen uns für die korrekte Wiedergabe ihrer Aussagen. Falls man uns fragt, was von einer Untersuchung zu halten sei, bei der die Zeugen anonym bleiben, fragen wir zurück, was denn von einer Polizei zu halten ist, vor der die Zeugen Angst haben. Und in was für einem Staat wir leben, wenn Zeugen das Gefühl haben, bei niemandem Schutz zu finden? Übersetzt von Michael Bischoff

94 Ich sehe das Unerträgliche »Je perçois l’intolérable« (Gespräch mit G. Armleder), in: Journal de Genève: Samedi littéraire (Heft 15), Nr. 170, 24.-25. Juli 1971.

- Michel Foucault, Sie haben mich gebeten, Ihnen keine Fragen zur Literatur; Linguistik oder Semiotik zu stellen. Können Sie mir dennoch sagen, welcher Zusammenhang zwischen Ihren früheren Arbeiten und den Aktivitäten besteht, für die Sie sich gegenwärtig engagieren? - Ich habe festgestellt, dass die meisten Theoretiker, die der Me­ taphysik, der Literatur, dem Idealismus oder der bürgerlichen Gesellschaft zu entkommen versuchen, alledem keineswegs ent­ kommen und dass es nichts Metaphysischeres, Literarischeres, Idealistischeres oder Bürgerlicheres gibt als die Art, wie sie sich von den Theorien zu befreien versuchen.

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Auch ich habe mich früher mit so abstrakten und fern liegenden Dingen wie der Wissenschaftsgeschichte befasst. Heute möchte ich wirklich davon loskommen. Aufgrund bestimmter Umstände und Ereignisse hat sich mein Interesse auf das Problem des Ge­ fängnisses verlagert, und diese neue Beschäftigung erwies sich für mich als echter Ausweg aus dem Überdruss, den ich für alles Literarische empfand. Dennoch stoße ich auch hier auf eine Kon­ tinuität, mit der ich gerne gebrochen hätte. Denn auch schon früher habe ich mich mit dem System der Einschließung befasst, das im 17. und 18. Jahrhundert in unserer Gesellschaft bestand. Wenn man will, kann man die Gesellschaften in verschiedene Typen einteilen. Manche Gesellschaften setzen auf Vertreibung. Wenn eine Gruppe oder Gemeinschaft einen Einzelnen nicht er­ tragen kann, wirft sie ihn hinaus. Das ist etwa die griechische Lösung; die Griechen zogen die Vertreibung allen sonstigen Stra­ fen vor. Andere Gesellschaften setzen auf Töten, Folter oder Reinigung; sie unterwerfen den Beschuldigten einem Straf- oder Reinigungs­ ritual. Und wieder andere Gesellschaften greifen zum Mittel der Einschließung wie unsere Gesellschaft im 16. und 17. Jahrhundert. Damals erfolgte die Durchsetzung sozialer und ökonomischer Normen über die Entwicklung des Staatsapparats und der Öko­ nomie. Unsere Gesellschaft entwickelte ein System der Ausschlie­ ßung und der Einschließung - Internierung oder Einkerkerung all derer, die nicht den Normen entsprachen. Von da an wurden Menschen aus dem sozialen Kreislauf ausgeschlossen und ins Ge­ fängnis gesperrt, also an jenen besonderen Orten eingeschlossen, die gleichsam das reale Utopia einer Gesellschaft bilden. Die Ein­ schließung sollte nicht nur Strafe sein, sondern auch zwangsweise bestimmte Verhaltensmodelle und Überzeugungen durchsetzen: die Werte und Überzeugungen der Gesellschaft. - Meinen Sie nicht> die Einschließung führt auch zu einer gewis­ sen Befreiung von Schuld? -J a . Wahrscheinlich hängt dies mit einer gewissen Entchristiani­ sierung und einer Abschwächung des christlichen Schuldbewusst­ seins zusammen. Eigentlich haben alle Anteil an der Sünde eines Einzigen. Doch sobald es die Welt des Gefängnisses gibt, sind die

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draußen gerecht oder gelten zumindest als gerecht, während die drinnen - und nur sie - die Schuldigen sein sollen. Das führt gewissermaßen zu einem Bruch zwischen den einen und den an­ deren; die draußen haben das Gefühl, für die drinnen nicht mehr verantwortlich zu sein. - Zusammen mit Gilles Deleuze, Jean-Marie Domenach und Pierre Vidal-Naquet stehen Sie heute an der Spitze der Gruppe Ge­ fängnisinformation. Welche Ereignisse haben Sie dazu veranlasst? - Im Dezember vergangenen Jahres begannen politische Gefange­ ne, die der maoistischen Linken angehörten, einen Hungerstreik, um gegen die Haftbedingungen aller Gefangenen, der politischen wie auch der gewöhnlichen Strafgefangenen, zu protestieren. Diese Bewegung drang über die Gefängnismauern hinaus und ent­ wickelte sich außerhalb des Gefängnisses weiter. Damals habe ich begonnen, mich mit diesen Problemen auseinanderzusetzen. - Welche Ziele verfolgt die Gruppe Gefängnisinformation? - Wir möchten den Inhaftierten die Möglichkeit geben, ganz buchstäblich das Wort zu ergreifen. Es geht uns nicht um sozio­ logische Forschung oder eine Reform des Gefängnisses. Wir wol­ len kein ideales Gefängnis vorschlagen. Ich denke, das Gefängnis ist per definitionem ein Instrument der Unterdrückung. Die Funktionsweise des Gefängnisses ist vor nahezu hundertsiebzig Jahren im Code Napoléon festgelegt worden und hat sich seither kaum verändert. - Mit welchen Mitteln arbeiten Sie? - Wir haben zum Beispiel einen Fragebogen zu den Haftbedin­ gungen entworfen. Wir haben ihn an Häftlinge verteilt und sie gebeten, uns möglichst genau von ihrem Leben im Gefängnis zu berichten. So sind zahlreiche Kontakte entstanden; auf diesem Wege haben wir Autobiographien, Tagebücher und kurze Noti­ zen erhalten. Manche stammen von Menschen, die kaum schrei­ ben können. Einiges davon ist erschütternd. Ich möchte nicht sagen, diese Texte seien von großer Schönheit, denn dadurch ver­

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wiese ich sie ins Schreckenskabinett der Institution Literatur. Je­ denfalls haben wir die Absicht, dieses Material im Rohzustand zu veröffentlichen. - Wie werden sich Ihres Erachtens die Behörden zu dieser politi­ schen Aktion verhalten? - Die für die Haftanstalten zuständige Verwaltung und das Justiz­ ministerium werden entweder gar nichts sagen und die Berechti­ gung dieser Aktion einsehen, oder sie werden sich gegen uns wen­ den. Dann werden Jean-Marie Domenach, Gilles Deleuze, Pierre Vidal-Naquet und Foucault schon bald im Gefängnis sitzen. - Was ist Ihre persönliche Einstellung zum Problem des Gefäng­ nisses? - Ich habe keine. Meine Aufgabe ist es, Dokumente zu sammeln, zu verbreiten und möglicherweise als Auslöser für neue Doku­ mente zu fungieren. Ich sehe lediglich das Unerträgliche. Das langweilige Essen und die Kälte im Winter sind vielleicht noch erträglich. Aber dass ein Mensch nur deshalb eingesperrt wird, weil er im Streit mit der Justiz liegt, ist unerträglich. Übersetzt von Michael Bischoff

95 Ein Problem interessiert mich seit langem: das Problem des Strafsystems »Un problème m’intéresse depuis longtemps, c’est celui du système pénal« (Gespräch mit J. Hafsia), in: La Presse de Tunisie, 12. August 1971, S. 3.

- Herr Professor; könnten Sie uns etwas über Ihr Werk sagen? Über Ihre Projekte? Und über Ihre Arbeit am College de France? - Ich spreche nicht von meinem Werk, und zwar einfach deshalb, weil ich mich nicht als Träger eines virtuellen Werkes empfinde. Ich habe nun einige Jahre zu sagen versucht, was ich sagen wollte.

95 Ein Problem interessiert mich seit langem

Mi Das ist da oder nicht da, es wird gelesen oder nicht gelesen, aber ich schaue heute nicht auf die Dinge, die ich getan habe. Wenn Sie mich dagegen fragten, in welche Richtung ich heute blicke, würde ich Ihnen sagen: nicht so sehr in Richtung von etwas zu Schrei­ bendem. Ein Problem interessiert mich seit langem: das Problem des Strafsystems, also die Frage, wie eine Gesellschaft festlegt, was gut oder böse, erlaubt oder nicht erlaubt, legal oder illegal ist, das heißt, wie sie die vielfältigen Verletzungen und Überschreitungen ihrer Gesetze zum Ausdruck bringt. Diesem Problem bin ich bereits im Zusammenhang mit dem Wahnsinn begegnet, denn auch der Wahnsinn ist eine Form von Überschreitung. Es war sehr schwer für unsere Zivilisationen, zwischen der Abweichung, die der Wahnsinn darstellt, und der Überschreitung zu unterscheiden, die bei einem Vergehen oder Verbrechen vorliegt. Mein Thema ist also das Problem der Über­ schreitung von Gesetzen und der Unterdrückung ungesetzlichen Verhaltens. In den siebenundzwanzig Jahren, die mir noch am Collège de France bleiben, werde ich ganz sicher einige Vorlesun­ gen über dieses Thema halten. Ich werde zwar nicht alle sieben­ undzwanzig Jahre darauf verwenden, aber doch ganz sicher einige. Zusammen mit einigen Freunden - insbesondere J.-M. Domenach, dem Herausgeber der Zeitschrift Esprit - habe ich eine kleine Gruppe gegründet. Wie soll ich sagen? Eine Aktionsgruppe, die sich im Bereich des französischen Strafsystems, der Justiz, der strafrechtlichen Institutionen engagiert, und wir haben eine Un­ tersuchung über die Haftbedingungen in Frankreich begonnen. Die französischen Gefängnisse sind außergewöhnlich archaische und immer noch mittelalterliche Institutionen; sie gehören zu den ältesten und auch strengsten der Welt. Diese Untersuchung arbei­ tet mit ungewöhnlichen Mitteln. Wir haben uns nicht an die zu­ ständigen Behörden gewendet und gefragt, wie die Dinge aus der Sicht dieser Verwaltungsbehörden stehen; wir sind vielmehr di­ rekt an ehemalige Häftlinge herangetreten, an Menschen, die ge­ rade aus dem Gefängnis entlassen worden sind; und wir haben uns selbst in die Illegalität begeben, indem wir auf unzulässigen We­ gen an Häftlinge herangetreten sind; so konnten wir durch Täu­ schung der Behörden an deren Antworten gelangen. Wir haben sehr genau erfahren, wie das Leben im Gefängnis ist. Und in der kommenden Woche werden wir die ersten Ergebnisse veröffent-

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lichen. Genau genommen ist das erste Ergebnis schon bekannt; es ist die große Irritation, die unsere Untersuchung bei den zustän­ digen Behörden und der Regierung ausgelöst hat. J.-M. Domenach und ich haben sogar schon ein paar Stunden auf der Polizei­ wache verbracht, weil man uns festgenommen hatte. Das also sind die Probleme, mit denen ich mich in den kommenden Monaten und vielleicht auch Jahren befassen werde. - Arbeiten Sie gegenwärtig an einem Buch? - Nein. Im Augenblick befasse ich mich hauptsächlich mit prak­ tischen Dingen. Eines Tages werde ich vielleicht versuchen, eine Bilanz der Entwicklung zu ziehen, die sich da gegenwärtig ab­ zeichnet. Ich finde es frappierend, dass unser Strafsystem, also das heute in einer Gesellschaft wie der französischen funktionierende Unterdrückungssystem, schon hundertsechzig Jahre alt ist, denn das 1810 entstandene und seit Napoleons Zeiten kaum veränderte Strafgesetzbuch, das zur Zeit seiner Entstehung Anfang des 19. Jahrhunderts ganz gewiss auf die Bedürfnisse der damaligen bürgerlichen Gesellschaft zugeschnitten war, bestimmt heute noch, was erlaubt und was verboten ist. Ich glaube, wir brauchen eine grundlegende Reform des Strafgesetzbuchs. Wir brauchen einen neuen Beccaria, einen neuen Bertin, aber ich habe keineswegs den Ehrgeiz, ein neuer Beccaria oder Bertin zu sein, denn Staaten werden nicht von Theoretikern reformiert. Vielmehr müssen die Menschen, die unter diesem zweifellos ungerechten Rechtssystem zu leiden haben, die Reform und Umgestaltung des Rechtswesens selbst in die Hand nehmen. - Bisher haben Sie sich also mit Sagbarem befasst, und nun wollen Sie sich dem Machbaren zuwenden. Ihr Hauptinteresse gilt der Praxis. Aber Praxis hat nur dann einen Sinn, wenn sie sich in irgendeiner Weise ausdrücken lässt. Auch hier geht es um Aussa­ gen. Ist Tun nicht eng mit Sagen verbunden? - Ja. Das ist eine sehr wichtige Frage. Ich möchte nicht meine eigene Geschichte schreiben (das wäre ganz uninteressant), aber das erste Problem, für das ich mich interessiert habe, war das Phänomen der Ausschließung der Irren aus der westlichen Gesell-

95 Ein Problem interessiert m ich seit langem

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Schaft seit dem Ende des 16. Jahrhunderts. Dieses Phänomen hat zwei Seiten: Auf der einen Seite haben wir Institutionen, Prakti­ ken, eingespielte Verhaltensweisen, etwa die Art und Weise, wie Polizei, Familie oder Justiz die Irren klassifizierten, aussonderten und einsperrten; über diese Praxis wurde kaum gesprochen, und es ist äußerst schwierig, Licht in diese Formen, Regeln und Ver­ haltensweisen zu bringen, denn weil man nicht darüber sprach, haben sie kaum Spuren hinterlassen. Sie blieben sprachlos. Auf der anderen Seite wurden diese Institutionen und Praktiken im Bereich des Wahnsinns durchaus bis zu einem gewissem Punkt von einem philosophischen, religiösen, juristischen und vor allem medizinischen Diskurs gestützt. Diesen Komplex aus »Praktiken und Diskurs« habe ich die Erfahrung des Wahnsinns genannt übrigens keine gute Bezeichnung, da es sich nicht wirklich um eine Erfahrung handelt. Jedenfalls habe ich versucht, das System dieser Ausschließung der Irren herauszuarbeiten. Jetzt dagegen pendle ich zwischen den Polen Diskurs und Praxis hin und her. In Les Mots et les Choses [dt. Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main 1971] habe ich vor allem das Geflecht der Diskurse untersucht. In der Archéologie du savoir [dt. Die Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1973] ebenfalls. Im Augenblick schlägt das Pendel wieder zurück; ich interessiere mich für die Institutionen und Praktiken, also für Dinge, die gleichsam unter­ halb des Sagbaren liegen. - Man kann dennoch nicht handeln, ohne eine Vorstellung davon zu haben, was machbar ist und was nicht, und letztlich auch da­ von, was gut und was böse ist. So ist man wieder beim moralischen Diskurs, selbst wenn man die Aufteilung in Gut und Böse nicht billigt. Wie gehen Sie in Ihrer konkreten Praxis mit diesem Di­ lemma um, da Ihre Entscheidungen ja unvermeidlich in einem Diskurs gründen müssen? - Ja, in gewisser Weise gründen sie in einem Diskurs, aber sehen Sie, was wir im Augenblick zu tun versuchen, liegt nicht im Be­ reich einer Theorie des Guten und des Bösen, des Machbaren und des nicht Machbaren. Das ist nicht das Problem. Eines ist sicher: Das gegenwärtige Strafsystem und das Unterdrückungssystem ge­ nerell finden heute nicht mehr die Zustimmung der Menschen. In

Frankreich etwa herrscht eine Unzufriedenheit mit dem Gefäng­ nis und der Justiz, die offenkundig die Unzufriedenheit der ärms­ ten und am schlimmsten ausgebeuteten Klassen ist. Ich frage nun nicht, wie das ideale Straf- oder Repressionssystem beschaffen sein müsste. Das interessiert mich nicht. Ich möchte lediglich die Aspekte des gegenwärtigen Rechtssystems, die für die am stärksten benachteiligten Klassen unerträglich sind, sichtbar ma­ chen und in einen für alle lesbaren Diskurs verwandeln. Ein An­ walt ist teuer, das heißt, es ist teuer, zu seinem Recht zu kommen. Das ist nur ein einfaches Beispiel, aber es liegt auf der Hand, dass die Möglichkeit, zu seinem Recht zu kommen, von der Klassen­ zugehörigkeit, von der finanziellen Lage und von der gesellschaft­ lichen Stellung abhängt. In unserem Rechtssystem sind die Men­ schen eben nicht gleich. Diese Ungleichheit vor dem Recht, die man bereits im 18. Jahrhundert sehr deutlich empfand und auf die Beccaria, Bertin und die großen napoleonischen Gesetzeswerke reagierten, ist wiedererstanden, falls sie denn jemals aufgehoben worden ist. Sie hat sich wieder hergestellt, und die Menschen leiden sehr darunter. Fast täglich bekommt man die Ungleichheit in der Behandlung durch Justiz und Polizei zu spüren. Genau das möchten wir versuchen, sichtbar zu machen; wir möchten den Punkt aufzeigen, an dem es zur Revolte kommt. - Wenn ich all das als philosophische Tätigkeit begreife, könnte ich dann sagen, dass Sie den logischen Diskurs von Anfang an einem moralischen Diskurs untergeordnet haben und dass dieser morali­ sche Diskurs letztlich all Ihre Arbeiten beherrscht, so dass am Ende nicht eine Metaphysik stehen wird, sondern eine Moral? - Vielleicht... Jedenfalls sage ich nicht nein... Oder sagen wir es lieber so: Ich habe einmal ein Buch über die Geschichte des Wahn­ sinns geschrieben. Es fand keine gute Aufnahme, wenn man ein­ mal von Blanchot oder Barthes absieht. Wenn an den Universi­ täten darüber gesprochen wurde, wies man die Studenten noch vor kurzem darauf hin, dass es nicht von einem Mediziner ge­ schrieben sei und dass man es daher wie die Pest meiden solle. Eines hat mich erstaunt: Seit einigen Jahren entwickelt sich in Italien um Basaglia und in England eine Bewegung, die als Anti­ psychiatrie bezeichnet wird. Diese Leute haben ihre Bewegung

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ganz gewiss aufgrund eigener Ideen und aufgrund ihrer eigenen Erfahrung als Psychiater entwickelt, aber sie sehen in dem von mir geschriebenen Buch gewissermaßen eine historische Recht­ fertigung; sie haben es gleichsam für sich vereinnahmt und finden sich bis zu einem gewissen Punkt darin wieder, so dass dieses geschichtlich ausgerichtete Buch am Ende nun fast so etwas wie praktische Bedeutung erlangt hat. Sagen wir also, ich bin etwas eifersüchtig darauf und würde die Dinge nun gerne selbst machen. Statt ein Buch über die Geschichte der Strafjustiz zu schreiben, das dann von Menschen aufgegriffen würde, die diese Justiz prak­ tisch infrage stellen, möchte ich die Justiz selbst praktisch infrage stellen, und falls ich dann noch lebe und nicht gerade im Gefäng­ nis sitze, schreibe ich vielleicht ein Buch darüber... Übersetzt von Michael Bischoff

96 Brief von Michel Foucault »Lettre de M. Michel Foucault«, La Pensée, Nr. 159, September-Oktober 1971, S. 141-144. (Antwort auf den Artikel von J.-M. Pelorson, »Michel Foucault et PEspagne«, La Pensée, Nr. 152, August 1970, S. 88-89.) Auf Bitten von Marcel Cornu schwächte Michel Foucault einige Formu­ lierungen ab; doch auch Cornu nahm Änderungen vor. Die Fußnoten rekonstruieren den ursprünglichen Text.

In seinem Artikel hat Pelorson meinen Text an mehreren Stellen so stark verbogen, dass eine inhaltliche Diskussion sich erübrigt; die Würde der Kritik1 verlangt jedoch eine Richtigstellung. 1. Ein theoretischer Grundirrtum. An fünf oder sechs Stellen be­ zeichnet Pelorson meine Arbeit als »strukturalistisch«. Ich habe aber niemals Methoden nach Art der strukturalen Analyse einge­ setzt. Ich habe auch nie behauptet, Strukturalist zu sein. Im Gegen­ teil. Seit Jahren erkläre ich immer wieder, dass ich kein Strukturalist bin. 1 [»Die Moral« statt »die Würde der Kritik«.]

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Wendungen wie »die Abfolge von Strukturen in der Episteme des europäischen Menschen« oder »das Postulat des Foucault­ schen Strukturalismus besagt, dass es eine Episteme des europä­ ischen Menschen gibt« sind für jeden, der mich gelesen hat, ab­ wegig. 2. Ein Taschenspielertrick/ Pelorson sagt, UHistoire de la folie [dt. Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1969] sei »in Wirklichkeit die Beschreibung der Einstellungen der Episteme gegenüber dem Wahnsinn«. Wenig später heißt es, dieselbe His­ toire sei »in Wirklichkeit das Verzeichnis der Ausschließungsri­ ten«. Und natürlich ein skandalös unvollständiges Verzeichnis; es fehlen - immer noch nach Pelorson - die Exkommunikation, die Gefängnisse, die Vertreibungen und vor allem die Galeeren, die natürlich nicht (ich zitiere immer noch denselben Autor) »in eine Geschichte des Wahnsinns« gehören. Was soll also »in Wirklichkeit« bei Pelorson bedeuten? Ich sehe darin einen Taschenspielertrick und zwei Ungenauigkeiten.3 Der Taschenspielertrick: Angeblich habe ich das eigentliche Thema des Buches (den Wahnsinn) gar nicht behandelt, sondern stattdessen ein anderes Thema (die Einschließung), die ich jedoch (aus Nachlässigkeit) auch nicht behandelt habe; außerdem habe ich Themen ausgelassen, die allerdings nicht zur Geschichte des Wahnsinns gehören. Ich habe also ein Thema zu Unrecht über seine legitimen Grenzen hinaus ausgedehnt, das ich wiederum zu Unrecht auf ebendiese Grenzen eingeschränkt hatte. Erste Ungenauigkeit:4 Ich habe nicht über die Gefängnisse im Mittelalter und in der Renaissance gesprochen? Man sehe auf den Seiten 11-12 und 179 nach.5 Zweite Ungenauigkeit:6 Ich habe nicht über die Vertreibungen gesprochen? Man lese die Seiten 10-13 und die Hinweise auf Ein­ zel- oder Kollektivvertreibungen (Ausgabe 10/18, S. 18-21)/

2 3 4 5

[»Ein fauler Trick« statt »ein Taschenspielertrick«.] [»Lügen« statt »Ungenauigkeiten«.] [»Lüge« statt »Ungenauigkeit«.] [Dt. S. 26 f. und 138.] 6 [»Lüge« statt »Ungenauigkeit«.] 7 [Dt. S. 25-28.]

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*5 7

Allerdings habe ich Einschließung und Vertreibung jeweils im Zusammenhang mit dem Wahnsinn behandelt. Und dazu habe ich nach Pelorson kein Recht (siehe den Taschenspielertrick). 3. Historische Unwissenheit:89Im Blick auf die Umwandlung der Leprosorien in geschlossene Anstalten soll ich »einige Beispiele« genannt haben, von denen nur zwei »überzeugender« seien als die übrigen: Toulouse und Lipplingen. Pelorson wird seine Gründe haben, wenn er Château-Thierry, Voley, Charenton, Saint-Germain, das Spital von Clermont, die Charité in Dijon oder Breslau (auf die ich verweise) für »weniger überzeugend« hält als Toulouse und Lipplingen. Wir wollen ihm die Arbeit nicht unnötig erschweren; er wird seine Behauptung an einem Fall belegen können: Saint-Lazare. 4. Eine Verwirrung? Ist das Umherziehen der Irren im 15. und 16. Jahrhundert Realität oder Mythos? Indem ich Bildern oder literarischen Werken »dokumentarischen Wert« beimaß, soll ich einen Mythos für die Realität genommen haben. Auf Seite io101erwähne ich tatsächlich die mythische Figur des Narrenschiffs, dem ich dann jedoch reale und bezeugte Prakti­ ken11 gegenüberstelle: - Die12 Dokumente über die aus Frankfurt vertriebenen, mit dem Schiff aus Mainz entfernten oder nach Kreuznach gebrachten Irren, die ich auf Seite n 13 nach Kriegk zitiere, sind das literari­ sche Werke (Ausgabe 10/18, S. 20)? - Die auf den Seiten 10-1314 mit Zahlenangaben, Daten und bibliographischen Nachweisen aufgeführten Vertreibungen, sind das Mythen? - Die Pilgerfahrten nach Larchant, Gournay, Besançon oder Geehl, sind das Mythen (Ausgabe 10/18, S. 20)?15 8 9 10 11 12 13 14

[»Unsicherheit« statt »Unwissenheit«.] [»Ein Mythos« statt »eine Verwirrung«.] [Dt. S. 25.] [»Dokumente« statt »reale und bezeugte Praktiken«.] [»Diese« statt »die«.] [Dt. S. 26.] [Dt. S. 26-28.] ij [Dt. S. 27.]

- Das auf S. 1216 zitierte Dokument über die Bezahlung von Ersatzleuten für eine Irrenwallfahrt: ein Mythos? - Jene Hälfte Auswärtiger unter den in Nürnberg inhaftierten Irren: ein Mythos? - Die auf Seite 1317 beschriebene und mit Quellenangabe ver­ sehene Praxis, Narren öffentlich auszupeitschen und dann zu ver­ treiben: ein Mythos? Nachdem ich auf diese Praktiken hingewiesen habe, zeige ich, wie sie zur Grundlage von Phantasiethemen werden konnten. Pelorson sollte besser die angesprochenen Fakten und die zitier­ ten Quellen diskutieren. y Häufige Manipulationen. Die einfachste besteht natürlich in Kürzungen. Hier zwei Sätze: »Das Asyl hat das Leprosorium in der Geographie ersetzt«, und: »Das Asyl hat das Leprosorium imder Geographie der heimgesuchten Orte wie in den Landschaften des moralischen Universums ersetzt«.18 Den zweiten habe ich ge­ schrieben, den ersten zitiert Pelorson. Eine weitere Manipulation besteht im Überspringen von Zei­ len, Absätzen oder ganzen Seiten. Um sagen zu können, es fände sich »kein Wort« über den Liebeswahn, muss man schon die Sei­ ten 46 und 47 überspringen (vgl. Ausgabe 10/18, S. 45).19 Und wer behauptet, ich hätte nichts über Racines Orest gesagt, ist offenbar nicht bis Seite 29920 vorgedrungen; dort beginnt ein dreiseitiger Abschnitt, der sich ausschließlich mit Andromaque21 befasst. Um sagen zu können, ich hätte das mythische Bild einer Renaissance gezeichnet, die kaum auf Gesten und Rituale der Einschließung zurückgegriffen habe, muss man schon zahlreiche Seiten über­ springen: - die Seiten 10-13; dort verweise ich auf Einschließungseinrich­

16 17 18 19 20 21

[Dt. S. 27.] [Dt. S. 28.] [Dt. S. 91.] [Dt. S. 6of.] [Dt. S. 250.] [Racine, J., Andromaque, Paris 1668; dt. »Andromache«, in: ders., Dramatische Dichtungen, Bd. 1, Darmstadt 1956.]

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tungen und -praktiken in Nürnberg, Paris, Melun, Hamburg, Lübeck und Caen;22 - die Seiten 137-138; dort ist von der Fesselung der Irren im Hôtel-Dieu und in Bedlam die Rede;23 - Seite 179; dort berichte ich von der Sitte, die in den Narrtür­ men angeketteten Irren zur Schau zu stellen24 (vgl. Ausgabe 10/18, s *

85

);

- die Seiten 146-147; dort spreche ich über die frühzeitige Gründung von Einrichtungen für Geisteskranke in Spanien (Valencia, Saragossa, Sevilla, Toledo), in Italien (Padua) und in Schweden (Uppsala).25 Eine weitere Manipulation besteht in einer »nicht karikieren­ den Zusammenfassung«. Ich soll gesagt haben, im 16. Jahrhundert habe man Arbeitslose und lästige Arme vertrieben, während sie im 17. Jahrhundert eingesperrt worden seien. Auf Seite 6526 ver­ weise ich jedoch für England auf einen Erlass, der die Einrichtung von houses of correction vorschreibt, etwas später auf die Zulas­ sung von Privatunternehmen als Träger von Arbeitshäusern und schließlich auf die Verpflichtung, Werkstätten für Arbeitslose ein­ zurichten. Für Frankreich (S. 77 ff.)27 verweise ich auf den Be­ schluss des Pariser Parlaments von 1532, Bettler, mit Fußketten versehen, zur Arbeit zu zwingen; auf die unter Henri IV getrof­ fenen Maßnahmen; auf die Volksaufstände in Paris, Lyon und Rouen; auf die Entstehung von Arbeitervereinigungen und deren Unterdrückung sowie den in dieser Frage bestehenden Konflikt zwischen Kirche und Parlament (vgl. Ausgabe 10/18, S. 63-69). Dass man im 16. Jahrhundert darauf bedacht war, Arbeits­ scheue und Arme zur Arbeit zu zwingen, findet sich meines Er­ achtens auch im Werk von Vives bestätigt (der für die Armen Richter, Registrierung, Werkstätten und nötigenfalls auch Ar­ beitshäuser fordert), wie auch im Werk von Medina und Perez de Herrera (vgl. S. 71-72).28 22 23 24 25 26 27 28

[Dt. [Dt. [Dt. [Dt. [Dt. [Dt. [Dt.

S. S. S. S. S. S. S.

26-28.] 101 f.] 138.] nof.] 77.] 81 ff.] 79 f.]

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Pelorsons Zusammenfassung ist tatsächlich nicht karikierend. Denn Karikaturen haben immerhin eine gewisse Ähnlichkeit mit ihrem Objekt. 6. Eine Fehleinschätzung der Texte.29 Nach Pelorson könnte ich allenfalls eine Quelle zitieren, die belegt, dass der Ausschluss der Leprakranken mit einer Tröstung und spirituellen Wiederaufnah­ me verbunden war. Warum hält Pelorson sich nicht an die Quellen, die ich zitiere? Dann hätte er Hinweise auf entsprechende Rituale in Rouen, Mons, Chartres und Lille gefunden; er hätte erfahren, dass man im Hainault einen Leprakranken niemals vertreiben durfte, ohne ihm eine Messe zu lesen; und er hätte diesen Text gelesen, den ich hier wiedergeben möchte, weil er so schön ist:30 »Wenn einer soviel Trübsal, Missgeschick, Mühsal und sonstige Widrigkeiten der Welt hat ertragen müssen, gelangt er ins Para­ dies, wo es weder Krankheit noch Unglück gibt, wo alle sauber und rein sind, ohne Schmutz und ohne jede Befleckung, leuch­ tender noch als die Sonne, wohin du auch gehst, wenn Gott es so will« (Rituale des Reginald, Reims).7 7. Eine großartige Inkompetenz. Zur Belustigung der Leser sei nun eine Passage von Pelorson zitiert: Wahnsinn und Einfältigkeit »sind in Foucaults Terminologie Synonyme... Der Autor hat of­ fenbar nicht bemerkt, dass Don Quijote das deutlichste Beispiel für eine damals und gewiss von jeher getroffene Unterscheidung zwischen Wahnsinn und Dummheit ist. Wenn Menschen, die bei vollem Verstand sind, einander beleidigen, werden die beiden Ausdrücke zwar oft im selben Sinne verwandt. Aber wenn man es mit einem wirklichen Irren zu tun hat, versteht man unter Dummheit etwas ganz anderes.« Ich könnte mich natürlich auf den ersten Satz beschränken und sagen: Auf 642 Seiten weise ich nur an zwei Stellen darauf hin, dass der Irre im Theater und in der Ikonographie der Renaissance als einfältig dargestellt wird; es ist also absurd, wenn Pelorson behauptet, die beiden Begriffe seien »in meiner Terminologie« 29 [»Ein seltsames Fehlen von Beweisen« statt »eine Fehleinschätzung der Texte«.] 30 [Foucault hatte geschrieben: »... weil er so schön ist und es verdient, den guten Pelorson einen Augenblick vergessen zu machen«.]

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Synonyme. Aber Pelorsons Text ist so falsch, dass ich unmöglich darüber hinweggehen kann: - Ich erinnere nur daran, dass es im 17. Jahrhundert ein ganzes semantisches Feld benachbarter und einander überlappender Aus­ drücke gab: Irre, Toren, Gecken, Hohlköpfe, Schwachsinnige, Dummköpfe, Trottel, Einfaltspinsel. Man denke nur an jene son­ derbare literarische Produktion, von der auf den Seiten 51-53 die Rede ist.31 - Im klassischen Zeitalter war der für die Praxis der Einschlie­ ßung zentrale Gegensatz der zwischen »Furor« und »Geistes­ schwäche«, den beiden Hauptkategorien der Geisteskrankheit (vgl. die zitierten Krankenverzeichnisse). - Dasselbe gilt für die medizinischen Abhandlungen; vgl. die Analyse der stupiditas bei Willis (S. 306-309)32 und die Encyclo­ pédie, in der Aumont die Demenz als »große Dummheit« de­ finiert; vgl. Weickhardt, der noch Ende des 18. Jahrhunderts schwache Vorstellungskraft, Konzentrationsschwäche und Ver­ gesslichkeit den Geisteskrankheiten zuordnet (S. 23Ö-237).33 - Die Gerichtsmedizin des klassischen Zeitalters verwendet häufig den Begriff der fatuitas (Zacchia, zitiert S. 159).3435 - Was die Verwendung des Wortes »einfältig« vor Don Quijote angeht, so sagte La Boetie von Claudius, er sei nicht nur »einfach«, sondern »einfältig«. Für die Zeit des Don Quijote lese man Laurens... Und nach Don Quijote? Die Demenz »hat nach den verschiedenen Altersstufen, in denen sie sich zeigt, verschiedene Namen erhalten. In der Kindheit nennt man sie gewöhnlich Dumm­ heit und Einfältigkeit« (Dufour, 1770). Sehr schön, aber wo findet man diesen Text von Dufour? In einem Buch, das Pelorson offen­ sichtlich nicht gelesen hat: in U Histoire de la folie, S. 315.35 8. Eine partielle Lektüre. Nirgendwo soll ich zwischen Vernunft und Verstand unterschieden haben. Hat Pelorson nicht (unter an­ derem) die Seiten 201-21736 gelesen? 31 32 33 34 35 36

[Dt. [Dt. [Dt. [Dt. [Dt. [Dt.

S. S. S. S. S. S.

65-67.] 257f.] 190.] 118.] 265.] 157-169.]

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Pelorson hat nicht einmal die gekürzte Fassung der Historie de la folie korrekt gelesen, die es ihm ermöglicht, sich mit Anmer­ kungen, Nachweisen und gut der Hälfte des Textes erst gar nicht zu beschweren. So geht es schneller. Aber wie soll man solch ein Vorgehen bewerten, wenn jemand Gegenstand, Methoden, Grundkonzepte, historische Genauigkeit und Quellentreue eines Werkes kritisiert? Und der Schluss des Artikels von Pelorson? Darauf werde ich später an anderer Stelle zurückkommen. Hier nur noch ein Wort zu Pelorsons Bemerkung, auch er bemühe sich um eine »Offen­ heit«, die frei von der Befangenheit der Spezialisten sei. Wenn genaues Lesen, Kompetenz und Aufmerksamkeit für den Text zu den Merkmalen eines Spezialisten gehören, dann ist Pelorson in der Tat frei von solcher Befangenheit. Übersetzt von Michael Bischoff

97 Monstrositäten der Kritik »Monstrosities in Criticism«, in: Diacritics, Bd. 1, Nr. 1, Herbst 1970, S. 57-60. (Über die Artikel von J.-M. Pelorson, »Michel Foucault et l’Espagne«, in: La Pensée, Nr. 152, Herbst 1970, S. 88-89; und von G. Steiner, »The Mandarin of the Hour: Michel Foucault«, in: The New York Times Book Review, Nr. 8, 29. Februar 1971, S. 23-31.)

Es gibt Kritiken, auf die man antwortet, und solche, die man er­ widert. Vielleicht ist das falsch. Vielleicht sollte man Unverständ­ nis, Banalität, Ignoranz oder Böswilligkeit mit derselben Auf­ merksamkeit bedenken. Warum behandeln wir sie wie etwas, das unsere Familienehre beschmutzt? Haben wir Recht, wenn wir meinen, sie seien für die Kritik unwesentlich? Ich frage mich, ob wir es hier nicht mit einer peinlichen Abwehrreaktion zu tun haben: Man möchte natürlich nicht zugeben, dass diese Kritiken auf das von ihnen angegriffene Buch zutreffen könnten; man möchte sich nicht eingestehen, das eigene Buch könne sie mög­ licherweise stützen und bestärken; aber vor allem möchte man nicht einsehen, dass sie vielleicht nichts anderes sind als ein kri­ tischer Raster, eine bestimmte Art der Codierung und Transkrip-

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tion eines Buches, eine erstaunlich systematische Transformation. Die Hochstapler im Raum der Kritik ähneln den Monstern im Raum der Lebewesen; sie mögen bloße Möglichkeiten darstellen, aber sie sind kohärent. Doch sie warten immer noch auf ihren heiligen Georg. Ich hoffe, eines Tages wird man die alten Einteilungen aufgeben. Man wird aufhören, vage moralische Maßstäbe anzulegen, um »redliche« von »unredlichen« Kritiken zu unterscheiden, »gute« Kritiken, die den betreffenden Text achten, von »schlechten«, die ihn verbiegen. Dann wird jede Kritik als eine Summe von Trans­ formationen erscheinen - von Transformationen, die eng am Text bleiben oder sich weit davon entfernen, aber doch alle ihre Prin­ zipien und Gesetze haben. Und diese kleinen Texte mit fliehender Stirn, krummen Beinen und finsterem Blick, die man gewöhnlich verachtet, werden sich am Tanz beteiligen und Bewegungen aus­ führen, die nicht weniger ehrenwert sind als die der anderen. Man wird nicht mehr versuchen, sie zu beantworten oder zum Schwei­ gen zu bringen, sondern versuchen, die Gründe für ihre Verun­ staltung, ihr Hinken, ihre Blindheit und ihre langen Ohren zu verstehen. David Grossvogel1 hat meine Aufmerksamkeit auf zwei kleine Texte dieser Art gelenkt. Der eine erschien im Sommer 1970 in einer kleinen konservativen französischen Zeitschrift namens La Pensée;12 er stammt, soweit ich weiß, von einem Universitätspro­ fessor. Der andere soll von einem Journalisten stammen und er­ schien in der auflagenstarken Wochenzeitung The New York Times Book Review (vom 28. Februar 1971). Interessant sind diese Texte, weil sie beide die vier herkömmlichen Transformations­ methoden einsetzen (Verfälschung des Textes, Verkürzen oder aus dem Zusammenhang Reißen von Zitaten, Interpolation und Auslassung); weil sie beide drei Gesetzen gehorchen (Unkennt­ nis des Buches; Unkenntnis dessen, wovon sie sprechen; Un­ kenntnis der Tatsachen und der Texte, gegen die sie sich wen­ den); und weil sie dennoch zu diametral entgegengesetzten Ergebnissen gelangen: Im einen Fall arbeitet die Transformation 1 David I. Grossvogel, Professor für Romanische Literatur an der Cornell-Universität und Herausgeber der Zeitschrift Diacritics, hatte M. Foucault auf den Artikel von G. Steiner hingewiesen. 2 Zeitschrift der Intellektuellen der P.C.F. (Parti Communiste Français).

mit einer Erhöhung, im anderen mit einer Verringerung der En­ tropie des Textes.

Wie man die Entropie erhöht Unter dem Titel »Michel Foucault et TEspagne« ist in La Pensée ein Artikel erschienen, dessen Bedeutung man nicht unterschät­ zen sollte. Denn es ist keine Kleinigkeit, wenn jemand, der ein Buch kritisiert, dem Autor vorwirft, er hätte »kein Wort« über Racines Orest verloren, obwohl mitten im Buch mehrere Seiten diesem Thema gewidmet sind. Es ist auch keine Kleinigkeit, wenn er dem Autor vorwirft, keine Belege und Nachweise geliefert zu haben, obwohl sie in den Fußnoten detailliert aufgeführt sind. So etwas zu Lebzeiten des Autors zu tun, erfordert Inspiration, Op­ fermut oder zumindest die asketische Selbstverleugnung eines Menschen, der in der Gewissheit schreibt, von niemandem gelesen zu werden. Die gewaltigen Risiken, die Pelorson da eingegangen ist, ver­ dienen Bewunderung. Man muss aber auch sehen, dass seine Kühnheit keiner bloßen Laune entspringt, sondern sich erfolg­ reich den Anforderungen einer einzigartigen Operation unter­ wirft: An die Stelle des realen Buches setzt er seine eigene Me­ thode, seinen eigenen Gegenstand, seine eigenen Grenzen, seine eigenen Wahrheiten und seine eigenen Irrtümer - mit einem Wort, er führt auf seine bizarre Weise ein amorphes Durcheinander kon­ tingenter Ereignisse ein. Diese Operation, die nicht einfach ist, erfordert eine Reihe lokaler Transformationen. Zuordnung zu einer allgemeinen Theorie, zu der das Buch nicht gehört. An fünf oder sechs Stellen bezeichnet Pelorson3 meine Arbeit als »strukturalistisch«. Ich habe aber niemals den An­ spruch erhoben, Strukturalist zu sein. Im Gegenteil. Seit Jahren erkläre ich immer wieder, dass ich kein Strukturalist bin. Wenn Pelorson Wendungen wie »die Abfolge von Strukturen in der Episteme des europäischen Menschen« gebraucht, so reiht er auf völlig sinnlose Weise Ausdrücke aneinander, die gar nicht zusam­ menpassen. 3 »Michel Foucault et l’Espagne«, in: La Pensée, Nr. 152, August 1970, S. 88 f.

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Verwischen der Grenzen des behandelten Gegenstandes. Pelorson sagt, UHistoire de la folie [dt. Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1969] sei »in Wirklichkeit die Beschreibung der Einstellungen der Episteme gegenüber dem Wahnsinn«. We­ nig später heißt es, dieselbe Histoire sei »in Wirklichkeit das Ver­ zeichnis der Ausschließungsriten«. Wenn die erste Behauptung zutrifft, geht der größte Teil des Buches am Thema vorbei, aber wenn man der zweiten Behauptung glaubt, befasst das ganze Buch sich nur mit dem willkürlichen Ausschnitt eines umfangreichen Themas, das als ganzes jedoch nie abgehandelt wird. Durch die bemerkenswerte Verwendung des Ausdrucks »in Wirklichkeit« verwischt Pelorson alle Grenzen: was das Buch sagt, ist überflüs­ sig; und was es nicht sagt, bedeutet eine Lücke. Danach darf gar nichts gesagt, aber auch nichts übergangen werden. Vermengung der Nachweise. Für die Umwandlung der einsti­ gen Leprosorien in Gefängnisse soll ich nach Pelorson »mehrere Beispiele« angeführt haben, von denen jedoch nur zwei wirklich überzeugend seien. Tatsächlich habe ich mehrere Beispiele ange­ führt und dazu auch jeweils die Quellen genannt. Unter anderem handelt es sich dabei um Château-Thierry, Voley, Charenton, Saint-Germain, das Hôpital général in Clermont - und um Saint-Lazare. Könnte Pelorson mir wohl erklären, warum SaintLazare kein überzeugendes Beispiel ist? Statt einzelne Punkte in­ frage zu stellen, versucht er alles gleichermaßen unsicher erschei­ nen zu lassen. Verwischung der analytischen Ebenen. Ich spreche über die vagabundierenden Irren während der Renaissance. Aber nach Pe­ lorson habe ich nicht gesagt, ob es sich dabei um eine (in Schriften und Ikonographie anzutreffende) Phantasie oder um historische Realität handelt. Dazu kann ich nur fragen: - Die Dokumente über die Irren, die aus Frankfurt vertrieben, mit dem Schiff aus Mainz entfernt oder nach Kreuznach gebracht wurden, sind das Mythen? - Die Pilgerfahrten von Irren nach Larchant, Gournay, Besan­ çon oder Geehl, sind das Mythen? - Das Dokument über die Bezahlung von Ersatzleuten für eine Irrenwallfahrt, ist das ein Mythos? - Die Auswärtigen, die gut die Hälfte der in Nürnberg inhaf­ tierten Irren stellten, sind sie ein Mythos?

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- Die öffentliche Auspeitschung und anschließende Vertrei­ bung von Irren, ist das ein Mythos? Um es kritisieren zu können, erfindet Pelorson ein Buch, in dem angeblich kein Unterschied zwischen Phantasien und realen Praktiken gemacht wird, und dazu muss er den Text wie auch die Nachweise vollkommen außer Acht lassen. So macht er aus dem Buch eine regellose Variation über eine imaginäre Welt, der jede Realität abgeht. Willkürliche Kürzungen. Zwei Sätze: »Das Asyl hat das Leprosorium in der Geographie ersetzt«, und: »Das Asyl hat das Leprosorium in der Geographie der heimgesuchten Orte wie in den Landschaften des moralischen Universums ersetzt«. Den zweiten habe ich geschrieben, den ersten zitiert Pelorson. Außerdem heißt es, ich hätte kein Wort über den Liebeswahn in der Literatur der Renaissance verloren; aber ich habe darüber gesprochen. Es heißt, ich hätte Cardénio nicht zitiert; ich habe ihn zitiert. Es heißt, ich hätte nicht über Andromaque4 gesprochen; aber ich habe es getan. Es heißt weiter, ich hätte nicht über die Einschließung der Irren im Spanien der Renaissance gesprochen; ich habe darüber gespro­ chen und als Beispiele auf Valencia, Saragossa, Sevilla und Toledo verwiesen. Es heißt, ich hätte nicht über die Einschließungsrituale des 16. Jahrhunderts gesprochen. Aber ich habe es getan, und zwar im Blick auf die Einrichtungen in Nürnberg, Paris, Melun, Ham­ burg und Caen. Ich habe auf die Fesselung im Hôtel-Dieu und in Bedlam hingewiesen. Ich habe von den Irren gesprochen, die in den Narrtürmen angekettet und öffentlich zur Schau gestellt wur­ den. Ich habe auf die houses of correction hingewiesen, die in Eng­ land nach dem Erlass von 1575 eingerichtet werden sollten. Ich habe über die Vagabunden gesprochen, die nach einem Erlass von 1532 mit Fußketten in den Straßen von Paris arbeiten mussten. Es heißt, ich hätte nur eine einzige Quelle zur spirituellen Wie­ dereingliederung der Leprakranken zitiert. Wenn Pelorson mein Buch gelesen hätte, wären ihm in den Fußnoten Verweise auf die Rituale von Rouen, Mons, Chartres und Lille sowie auf das Brauchtum im Hainault aufgefallen. Einführung der eigenen Inkompetenz. Da es eine gute Strategie 4 [Racine, J., Andromaque, Paris 1668; dt. »Andromache«, in: ders., Dramatische Dichtungen, Bd. 1, Darmstadt 1956.]

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ist, den Leser nicht zu langweilen und ihn gelegentlich zum La­ chen zu bringen, möchte ich hier eine Passage aus Pelorsons Text zitieren: Wahnsinn und Einfältigkeit »sind in Foucaults Termino­ logie Synonyme [...]. Der Autor hat offenbar nicht bemerkt, dass Don Quijote das deutlichste Beispiel für eine damals und gewiss von jeher getroffene Unterscheidung zwischen Wahnsinn und Dummheit ist. Wenn Menschen, die bei vollem Verstand sind, einander beleidigen, werden die beiden Ausdrücke zwar oft im selben Sinne verwandt. Aber wenn man es mit einem wirklichen Irren zu tun hat, versteht man unter Dummheit etwas ganz an­ deres.« Aber täuschen wir uns nicht: Ich habe diese Passage nicht zi­ tiert, um Pelorson lächerlich zu machen; ich möchte vielmehr zeigen, wie er seine Inkompetenz einzusetzen versteht, um eine banale Wahrheit für sich sprechen zu lassen. Ich erinnere nur daran, dass es im 18. Jahrhundert ein ganzes semantisches Feld benachbarter und einander überlappender Aus­ drücke gab: Irre, Toren, Gecken, Hohlköpfe, Schwachsinnige, Dummköpfe, Trottel, Einfaltspinsel. Ich verweise darauf, dass die­ ses semantische Feld häufig in medizinischen Abhandlungen ge­ nutzt wird (vgl. zum Beispiel die Analyse der stupiditas bei Willis oder etwas später die Definition des Wahnsinns in der Encyclopé­ die, der dort als »große Dummheit« bestimmt wird). Außerdem sage ich, dass man die konkrete Praxis der Einschließung vielfach mit einer »Geistesschwäche« begründet. Und schließlich weise ich noch darauf hin, dass niais (einfältig) bei La Boetie etwas ganz anderes bedeutet als das moderne sot (dumm), wenn er schreibt, Claudius sei nicht nur simple (einfach), sondern niais (einfältig), und dass Dufour in seinem Text einen engen Zusammenhang zwi­ schen Einfältigkeit und Geisteskrankheit herstellt: Die Demenz »hat nach den*verschiedenen Altersstufen, in denen sie sich zeigt, verschiedene Namen erhalten. In der Kindheit nennt man sie ge­ wöhnlich Dummheit und Einfältigkeit«. Pelorson meint, wenn man einem Irren begegnet, weiß man sogleich, dass dieser Mensch kein Dummkopf, sondern ein Irrer ist. Für dieses eine Mal neige ich fast zu derselben Ansicht wie Pelorson: Es gibt Dummköpfe, bei denen weiß man, sobald man ihnen nur begegnet, dass sie keine Irren sind, sondern einfach nur Dummköpfe.

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Die Sache ist klar: Pelorsons kleine Operationen haben sämtlich nur ein Ziel; sie sollen alles verwischen, was das Buch von anderen Büchern unterscheiden könnte; sie sollen selbst die fundiertesten Aussagen des Buches unsicher erscheinen lassen; sie sollen die verschiedenen Ebenen der Analyse durcheinander werfen und den Eindruck erwecken, das dort Gesagte sei gar nicht gesagt worden. So verliert das Buch jede Besonderheit; alles was darin gesagt wird, ist entweder überflüssig oder falsch; und was nicht gesagt wird, bedeutet eine Lücke, die er mir zum Vorwurf macht. Kurz, das Buch verschwindet; in jeder Hinsicht zerfällt es in ein vollkommen amorphes Gebilde. Um diese Transformation noch zu beschleunigen, führt Pelorson seine eigene Inkompetenz ein. So erreicht man das Maximum an Entropie. Unter diesen Um­ ständen kann die Energie des Systems nur gegen null gehen.

Wie man die Entropie verringert Diese kürzlich von George Steiner in The New York Times Book Review5 durchgeführte Operation ist zugleich verführerischer, sehr viel schwieriger und weitaus kreativer. Unter Missachtung des tatsächlichen Buches schöpft man weitestgehend aus dem Be­ reich des Vertrauten, Bekannten und Wahrscheinlichen, um das denkbar unwahrscheinlichste Bild des Buches zu zeichnen. Dazu bedarf es einer Reihe lokaler Operationen, die vielfach große Ähnlichkeit mit den zum gegenteiligen Ergebnis führenden Ope­ rationen besitzen; aber manche sind auch ganz und gar einzig­ artig. Umkehrung des Für und Wider. In Les Mots et les Choses [dt. Die Ordnung der DingeyFrankfurt am Main 1971] habe ich zum Beispiel gesagt, Nietzsche und Mallarmé hätten mit ihrem Werk bedeutende Veränderungen in die philosophische und literarische Debatte des 19. Jahrhunderts eingebracht; ich habe diesen Gedan­ ken später sogar noch durch die Aussage präzisiert, mit Nietzsche beginne die »Entwurzelung« der Anthropologie. Solche Thesen können eigentlich keine Verwunderung auslösen, doch Steiner er­ setzt sie durch die weitaus unwahrscheinlichere These, Nietzsche 5 [Steiner, G., »The Mandarin of the Hour: Michel Foucault«, in: The New York Times Book Review, Nr. 8, 29. Februar 1971, S. 23-31.]

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und Mallarmé seien die »wichtigsten Zeugen« jener Episteme, die sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts herausbildete. Ich habe auch gezeigt, wie beschränkt Lamarcks Rolle bei der Entstehung der Biologie im 19. Jahrhundert war, obwohl man über seine Ideen leidenschaftlich debattierte. Diese Feststellung vermag Historiker der Biologie gleichfalls kaum zu überraschen. Einer der großen Biologen unserer Zeit, E Jacob, hat das erst kürzlich sehr überzeugend bewiesen.6 Steiner behauptet dagegen (und ist so liebenswürdig, mich dafür zu loben), ich hätte die »faszinierende Rolle« aufgezeigt, die Lamarck im modernen bio­ logischen Denken gespielt habe. Ich habe zeigen wollen, dass der Ausdruck »Literatur« zu der Zeit, als er in Gebrauch kam, ohne Zweifel mit einer neuen Form und Funktion der literarischen Sprache verbunden war - einer Sprache, die in ganz anderer Ausprägung bereits seit der griechi­ schen Antike existierte. Diese Aussage ersetzt Steiner durch die offenbar sehr viel unwahrscheinlichere und gewagtere These, wo­ nach es bei Cicero, Platon oder Thukydides noch keinen literari­ schen Gebrauch der Sprache gegeben habe. Einführungfremder Elemente. In Les Mots et les Choses habe ich das Spiel der Korrelationen, Analogien und Unterschiede zu unter­ suchen versucht, wie sie für dieselbe Zeit zwischen ganz unter­ schiedlichen Wissensgebieten (Theorie der Sprache, Naturge­ schichte, Politische Ökonomie, Theorie der Darstellung) zu beobachten sind; bei dieser Analyse wollte ich ohne Begriffe wie »Zeitgeist« oder das »Empfinden« einer Epoche auskommen; da­ rüber hinaus habe ich versucht, auf der Basis der Regeln und Kom­ binationen dieser Korrelationen, Analogien und Unterschiede auch die Objekte, Konzepte und Theorien zu verstehen, die in den ver­ schiedenen Wissensbereichen entstanden. Steiner benutzt dagegen Begriffe wie *>Geist«, »Bewusstsein« oder »Empfinden« einer Epo­ che und erweckt den Eindruck, sie spielten in meiner Arbeit eine zentrale Rolle; dadurch verwandelt er das Buch in ein Monstrum an Widersprüchlichkeit, das nur ein wütender Geist unter Mitwirkung unwahrscheinlichster Zufälle hätte ersinnen können. Geisterbeschwörung. Bei der Auseinandersetzung mit der Ge­ schichte der Grammatik, der naturhistorischen Klassifikation und 6 [Jacob, E, L o g ik

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, Frankfurt am Main 1972.]

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, Paris 1970; dt.

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der ökonomischen Analyse im 18. Jahrhundert gab es kaum An­ lass, über Voltaire zu reden. Und ich habe es nicht getan. Steiner weiß nicht mehr, ob ich über Voltaire gesprochen habe oder nicht. Er hätte mein Buch lesen sollen. Später erklärt er dann, ich hätte »flüchtig und schludrig« über ihn gesprochen. Entweder habe ich detailliert über Voltaire gesprochen; dann erscheint Steiners Kritik angesichts des tiefgründigen Wissens, das er nicht preisgeben will, wie eine Zensur. Oder ich habe kurz über Voltaire gesprochen; dann erscheint seine Klage als Forderung nach größerer Genau­ igkeit. Oder aber ich habe gar nicht über Voltaire gesprochen; dann erscheint seine Kritik als ein höflicher oder trocken-ironi­ scher Kommentar. Diese anwesend-abwesenden Gestalten, die an die Tür des Buches klopfen und Wiedergutmachung für ein ihnen zugefügtes Unrecht fordern, verleihen meinem Buch jedenfalls eine phantastische Atmosphäre, die an Mord und Verliese denken lässt. Ersetzen von Namen. Für den Beginn des 19. Jahrhunderts habe ich von einem Sprachverständnis gesprochen, das darin den Aus­ druck eines tieferen Lebens und Willens erblickt. »Wille« - das erinnert Steiner doch an etwas. Sein gebildeter Kopf findet rasch die Lösung. »Wille, Wille, das ist doch Nietzsche!« Keine Chance. Wenn Steiner nur wenige Zeilen vor oder nach dieser Stelle gelesen hätte, wäre ihm aufgefallen, dass ich mich dort auf Humboldt und einige andere Denker beziehe. Aber natürlich ist es origineller, wenn Nietzsche zu Beginn des 19. Jahrhunderts auftaucht. Ebenso bei dem Wort »Archäologie«. Der Ausdruck muss doch irgendwoher stammen, denkt Steiner. Und er tippt auf Freud. Steiner weiß nicht, dass Kant den Ausdruck benutzte, um die Geschichte von Dingen zu bezeichnen, die eine bestimmte Form des Denkens erfordern.7 Über diesen Gebrauch des Wortes habe 7 [Es handelt sich um einen Text von Immanuel Kant, der 1793 entstand und 1804 veröffentlicht wurde: »Über die von der Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin für das Jahr 1791 ausgesetzte Preisfrage: Welches sind die wirklichen Fort­ schritte, die die Metaphysik seit Leibnizens und Wolffs Zeiten in Deutschland gemacht hat?« Foucault bezieht sich auf folgende Passage: »Eine philosophische Geschichte der Philosophie ist selber nicht historisch oder empirisch, sondern rational, d.i. a priori möglich. Denn ob sie gleich Facta der Vernunft darstellt, so entlehnt sie solche nicht aus der Geschichtserzählung, sondern sie zieht sie aus der Natur der menschlichen Vernunft als philosophische Archäologie.« In: Gesam­ melte Schriften Bd. XX, Berlin 1942, S. 341.]

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ich übrigens an anderer Stelle gesprochen.8 Nun kann ich nicht verlangen, dass Steiner meine Bücher liest. Aber er sollte Kant durchblättern. Allerdings weiß ich natürlich, dass Kant gerade nicht so in Mode ist wie Freud. Ein weiteres Beispiel: Es gibt zwei wichtige klassische Werke über die historische Entwicklung der Naturgeschichte und der Klassifikation der Lebewesen. Das erste, das Buch von Lovejoy,9 behandelt die Veränderung dieses Themas seit der Antike und ana­ lysiert die Abwandlungen der philosophischen, kosmologischen und naturwissenschaftlichen Idee einer Kette der Wesen im west­ lichen Denken. Das andere ist etwas älter und stammt von Daudin;10 es untersucht die Veränderung des biologischen Wissens von den Taxonomien des 17. Jahrhunderts bis hin zur Evolutionstheo­ rie. Von diesen beiden Büchern war vor allem das zweite hilfreich für mich. Deshalb habe ich es zitiert und aufgezeigt, wie viel ich ihm verdanke. Steiner behauptet aber, ich stünde in Lovejoys Schuld - was beweist, dass er Daudin nicht gelesen hat. Außerdem behauptet er, ich zitierte meine Quellen nicht - was noch einmal beweist, dass er mein Buch nicht gelesen hat. Verweis auf fiktive Werke. In meiner Nachlässigkeit soll ich nach Steiner noch eine weitere Quelle verschwiegen haben: Lévi-Strauss. Er soll den Ausgangspunkt meiner ganzen Arbeit bilden, da er, wie jeder weiß, die Beziehungen zwischen »ökono­ mischem Austausch« und »sprachlicher Kommunikation« auf­ gezeigt hat. Mit dieser These begibt Steiner sich in den Bereich reiner Erfindung. Natürlich hat Lévi-Strauss keineswegs das Ver­ hältnis zwischen Ökonomie und Sprache geklärt; vielmehr hat er sprachwissenschaftliche Methoden eingesetzt, um die Strukturen des Frauentauschs zu analysieren. Aber wie dem auch sei, ich selbst habe jedenfalls nicht die Beziehungen zwischen Ökonomie und Sprache erforscht, sondern versucht, die gemeinsamen Ele­ mente in der Theorie der Geldtheorie und der allgemeinen 8 [UArchéologie du savoir, Paris 1969 - IV: La Description archéologique; dt. Die Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1973 - IV: Die archäologische Be­ schreibung.] 9 [Lovejoy, A. O., The Great Chain of Being. A Study in the History of an Idea, Cambridge, Mass., 1950; dt. Die große Kette der Wesen, Frankfurt am Main 1985.] 10 [Daudin, D., Cuvier et Lamarck, les classes zoologiques et la série animale, 2 Bde., Paris 1926-1927.]

Grammatik des 18. Jahrhunderts ausfindig zu machen. Diese Idee ist mir nicht spontan gekommen, sondern als ich einen anderen Autor las, den ich sehr wohl genannt habe, nämlich Turgot. Aber auch das hätte man merken müssen, um darauf verzichten zu können, das fiktive Werk eines Autors zu erfinden, der allerdings gerade sehr viel mehr in Mode ist. Aber ich habe keinen Grund, mich zu beklagen. Steiner erfindet zu meinem Nutzen Bücher, die ich gar nicht geschrieben habe. Er ist sogar bereit, eine gewisse Milde hinsichtlich der »Monographi­ en« walten zu lassen, die ich der Geschichte der Geisteskrankheit gewidmet habe. O Gott, welche Monographien? Ich habe doch nur eine einzige geschrieben. Und das war im Übrigen keine Ge­ schichte der Geisteskrankheit - und noch weniger eine Studie über »Mythologien und Praktiken der Therapie von Geisteskrankhei­ ten«, wie Steiner behauptet -, sondern eine Studie über die öko­ nomischen, politischen, ideologischen und institutionellen Bedin­ gungen, die im klassischen Zeitalter eine Absonderung der Irren ermöglichten. Und im Zusammenhang mit diesen Prozessen habe ich zu zeigen versucht, dass es sich bei den genannten Mythen und Therapien um sekundäre oder abgeleitete Phänomene handelte. Eines ist klar: Wir müssen uns entschieden gegen den Gedanken wehren, Steiner könnte ein untalentierter Mensch sein. Er erfindet nicht nur neu, was er in einem Buch liest, er erfindet nicht nur Elemente, die darin gar nicht Vorkommen, nein, er erfindet auch die Dinge, gegen die er sich wendet, und die Werke, an denen er das Buch misst, und selbst noch Bücher, die der Autor geschrieben haben soll. Nur schade für Steiner, dass Borges, der Genie besaß, die Kritik fiktiver Werke bereits erfunden hat. Übersetzt von Michael Bischoff

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98 Jenseits von Gut und Böse »Par-delà le bien et le mal« (Gespräch mit den Gymnasiasten Alain, Frédéric, Jean-François, Jean-Pierre, Philippe und Serge, zusammengestellt von M.-A. Burnier und P. Graine), in: Actuel, Nr. 14, November 1971, S. 4 2 -4 7 .

M. Foucault: Welche Form von Unterdrückung ist für einen Schü­ ler heute am unerträglichsten: die Autorität in der Familie, die Drangsalierung durch die Polizei, der heute jeder tagtäglich aus­ gesetzt ist, die Organisation der Schule und die Disziplin dort oder die Passivität, zu der euch die Presse verurteilt, darunter vielleicht auch eine Zeitschrift wie Actuel? Serge: Die Unterdrückung in der Schule; sie tritt deutlich zu­ tage, weil sie eine Gruppe trifft, die zu handeln versucht. Sie ist heftiger, und man spürt sie stärker. Alain: Allerdings darf man auch die Straße nicht vergessen, die Kontrollen im Quartier Latin, die Bullen, die sich mit dem Auto quer vor deine Solex stellen, um nachzusehen, ob du Drogen bei dir hast. Diese ständige Polizeipräsenz: Ich kann mich nicht auf den Boden setzen, ohne dass ein Uniformierter mich zwingt auf­ zustehen. Aber die Repression in der Schule und die gesteuerte Information sind wahrscheinlich schlimmer... Serge: Man muss unterscheiden: Zunächst sind da die Eltern, die dich zwingen, aufs Gymnasium zu gehen, als Vorbereitung auf einen bestimmten Beruf, und die sich bemühen, im Voraus alles zu verhindern, was in dieser Lage schädlich sein könnte. Dann ist da die Verwaltung, die jede freie kollektive Aktion verbietet, selbst noch die harmloseste; und da ist schließlich der Unterricht - aber da sind die Dinge noch verworrener... Jean-Pierre: In vielen Fällen wird der Unterricht eines Lehrers nicht unmittelbar als repressiv empfunden, selbst wenn er das im Grunde ist. M. Foucault: Natürlich erscheint die Wissensvermittlung stets als etwas Positives. In Wirklichkeit - das hat die Bewegung vom Mai 68 in aller Deutlichkeit gezeigt - bedeutet sie eine zweifache Unterdrückung: für jene, die davon ausgeschlossen sind, und für

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jene, denen sie zuteil wird und denen sie Modelle, Normen, Ras­ ter aufzwingt.1 Philippe: Sie meinen also, unser Bildungssystem vermittelt kein wirkliches Wissen, sondern versucht, unter dem Gesichtspunkt gesellschaftlicher Konformität zwischen guten und schlechten Elementen zu unterscheiden... M. Foucault: Das Wissen, wie es dargeboten wird, impliziert schon als solches einen politischen Konformismus.12 In Geschichte verlangt man von euch, bestimmte Dinge zu wissen und von an­ deren nichts zu wissen; oder anders gesagt, Wissen besteht in seinen Inhalten und Normen aus ganz bestimmten Dingen. Zwei Beispiele. Im offiziellen Wissen wird der Kampf um die politische Macht stets so dargestellt, als handelte es sich um einen Kampf innerhalb einer Klasse (dynastische Streitereien in der Aristokra­ tie, parlamentarische Auseinandersetzungen in der Bourgeoisie) oder um einen Kampf zwischen Aristokratie und Bourgeoisie. Volksbewegungen werden dagegen stets so dargestellt, als ginge es dabei um Brot oder Arbeit, aber niemals um politische Macht, als könnten die Massen zwar davon träumen, genug zu essen zu haben, nicht aber davon, die Macht auszuüben. Die Geschichte der Kämpfe um die Macht, also um die realen Voraussetzungen ihrer Ausübung und Aufrechterhaltung, bleibt nahezu vollständig im Dunkeln. Das Wissen rührt nicht daran; es soll nicht gewusst werden. Ein anderes Beispiel:3 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts 1 [Das Gespräch wurde 1973 in: Actuel, C ’est demain la ville, Paris 1973, S. 21-43, wieder abgedruckt; die Abweichungen sind in den Fußnoten vermerkt. An dieser Stelle heißt es in der Fassung von 1973: »Natürlich erscheint die Wissensvermitt­ lung stets als etwas Positives. In Wirklichkeit arbeitet sie mit einer ganzen Reihe von Repressions- und Ausschließungsmechanismen - die Bewegung vom Mai 68 hat einige Aspekte dieser Unterdrückung sehr deutlich ins Bewusstsein gehoben: den Ausschluss derer, die kein Recht auf Wissen oder nur ein Recht auf eine bestimmte Art von Wissen haben; die Durchsetzung einer bestimmten Norm, eines bestimmten Wissensrasters, die sich hinter der scheinbar neutralen, univer­ sellen, objektiven Fassade der Erkenntnis verbergen; die Existenz von Wissen, das bestimmten Gruppen Vorbehalten bleibt, zum Beispiel dem Verwaltungsapparat, der Regierung oder einem Produktionsapparat, und zu dem man von außen keinen Zugang erhält.«] 2 [Fassung von 1973: »Das akademische Wissen, wie es im Bildungssystem verteilt wird, impliziert offensichtlich einen politischen Konformismus...«] 3 [Fassung von 1973: »Ein weiteres Beispiel: das Wissen der Arbeiter. Auf der einen Seite besitzen die Arbeiter ein umfangreiches technisches Wissen, das die Unter-

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führten die Arbeiter umfangreiche Untersuchungen zu ihren ei­ genen Lebensbedingungen durch. Diese Arbeit bildete einen Großteil der Quellen, auf die Marx sich stützte; und im 19. Jahr­ hundert bildete sie die Grundlage für die politische und gewerk­ schaftliche Praxis des Proletariats. Dieses Wissen ist jedoch nie­ mals in das offizielle Wissen aufgenommen worden. In diesem Beispiel werden keine realen Prozesse aus dem Wissen ausge­ schlossen, vielmehr blendet man ein bestimmtes Wissen aus. Wenn es heute zögernd wieder aufgegriffen wird, so nur sekundär über Marx und in den Aspekten, die sich am leichtesten aufneh­ men lassen. Jean-François: Gibt es in deinem Gymnasium einen hohen An­ teil von Schülern aus Arbeiterfamilien? Alain: Etwas weniger als 50 Prozent. Jean-François: Habt ihr im Geschichtsunterricht schon einmal über die Gewerkschaften gesprochen? Alain: Nicht in meiner Klasse. Serge: In meiner auch nicht. Man braucht sich nur den Lehrplan anzusehen: In den unteren Klassen befasst man sich nur mit der Vergangenheit. Erst mit sechzehn oder siebzehn Jahren kommen wir zu den modernen Bewegungen und Doktrinen, den Einzigen, die ein wenig subversiv sein könnten. Selbst in der dritten Klasse des Gymnasiums weigern die Französischlehrer sich entschieden, zeitgenössische Autoren zu behandeln: kein Wort über die Prob­ leme des realen Lebens. Wenn man sie dann in der vorletzten oder letzten Klasse streift, sind die Schüler längst durch den vorange­ gangenen Unterricht konditioniert. nehmer mit Hilfe der technischen Angestelltem ständig extrahieren, verlagern und verändern; die Arbeitsteilung bildet einen Mechanismus zur Aneignung von Wis­ sen, der das Wissen der Arbeiter verdeckt, vereinnahmt und disqualifiziert (unter diesem Gesichtspunkt müsste man einmal die »großen wissenschaftlichen Schülern untersuchen). Und dann gibt es noch das gesamte politische Wissen der Arbeiter (das Wissen über ihre Lebensbedingungen, die Erinnerung an ihre Kämpfe, die Erfahrung mit Strategien). Dieses Wissen ist ein Instrument im Kampf der Arbeiterklasse und entwickelt sich in diesem Kampf weiter. Das erste Beispiel handelt von realen Prozessen, die aus dem akademischen Wissen ausgeschlossen werden; das zweite von einem Wissen, das entweder enteignet oder aus dem akademischen Wissen ausgeschlossen wird. Jean-François: In deiner Schule...«]

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M. Foucault: Das ist ein Interprétations-, also Auswahl- und Ausschlussprinzip für alles, was heute gesagt und getan wird oder was heute geschieht. »Von allem, was geschieht, wirst du nur das wahrnehmen, was man der Erkenntnis zugänglich gemacht hat durch die Dinge, die man sorgfältig aus der Vergangenheit hervor­ holt - und die man in Wirklichkeit nur deshalb hervorholt, um alles Übrige der Erkenntnis zu entziehen.« Wenn von der Wahr­ heit, dem Menschen, der Kultur, der Literatur usw. die Rede ist, geht es stets um die Bannung dessen, was geschieht: des Ereignis­ ses. Die berühmte Kontinuität in der Geschichte dient angeblich der Erklärung, die ständige Rückkehr zu Freud und Marx der Begründung; in beiden Fällen geht es in Wirklichkeit darum, den Bruch auszuschließen, den das Ereignis darstellt. Vereinfa­ chend kann man sagen, Ereignis und Macht sind die beiden Dinge, die aus dem Wissen in seiner heutigen Organisationsweise aus­ geschlossen werden. Und das ist gar nicht verwunderlich.« Die Klassenmacht (die dieses Wissen bestimmt) muss sich den An­ schein geben, immun gegen Ereignisse zu sein; und die Ereignisse müssen, soweit sie gefährlich werden können, unterworfen und in der Kontinuität einer Klassenmacht aufgelöst werden, die nicht zur Sprache kommt. Das Proletariat hat dagegen ein Wissen ent­ wickelt, in dem der Kampf um die Macht sehr wohl zur Sprache kommt, in dem davon die Rede ist, wie man Ereignisse auslöst, wie man darauf reagiert, wie man sie vermeidet usw. - ein Wissen, das von dem anderen Wissen unmöglich aufgenommen werden kann, weil es um Macht und Ereignis kreist. Deshalb dürfen wir uns keine Illusionen über die Modernisie­ rung des Bildungssystems oder dessen Öffnung gegenüber der heutigen Welt machen. Es geht darum, das überkommene Substrat des »Humanismus« zu bewahren und daneben eine Reihe kurzer, effizienter Ausbildungsgänge auf einigen bisher vernachlässigten technischen Gebieten zu schaffen. Der Humanismus sorgt für die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Organisation, die Tech­ nik ermöglicht es der Gesellschaft, sich weiterzuentwickeln, aber in ihren eigenen Bahnen. Jean-François: Was kritisieren Sie am Humanismus? Und durch welche Werte soll man ihn in einem anderen System der Wissens­ vermittlung ersetzen? M. Foucault: Unter Humanismus verstehe ich die Gesamtheit

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der Diskurse, in denen man dem westlichen Menschen gesagt hat: »Auch wenn du keine Macht hast, kannst du dennoch souverän sein; ja, je mehr du auf Macht verzichtest und dich der vorhan­ denen Macht beugst, desto souveräner wirst du sein.« Der Hu­ manismus hat nacheinander all diese unterworfenen Souveräne erfunden: die Seele (die über den Leib herrscht, aber Gott unter­ worfen ist); das Bewusstsein (das souverän urteilt, aber dem Dik­ tat der Wahrheit unterworfen ist); das Individuum (das als Träger seiner Rechte gilt, aber den Naturgesetzen und den Regeln der Gesellschaft unterworfen ist); die fundamentale Freiheit (die in­ nerlich souverän ist, aber nach außen in ihr Schicksal einwilligt). Kurz gesagt, der Humanismus ist all das, wodurch man im Westen den Wunsch nach Macht versperrt hat - all das, was den Menschen dort verbietet, Macht zu wollen, und die Möglichkeit ausschließt, nach der Macht zu greifen. Den Kern des Humanismus bildet die Theorie des Subjekts (in der Doppelbedeutung des Wortes). Des­ halb wehrt der Westen sich so heftig gegen alles, was diesen Riegel sprengen könnte. Und diesen Riegel kann man auf zwei Arten zu sprengen versuchen: indem man den Willen zur Macht aus seiner Unterwerfung herausführt (das heißt durch politischen Kampf im Sinne von Klassenkampf), oder indem man das Subjekt als Schein­ subjekt zerstört (das heißt durch einen Kulturkampf: Aufhebung der Tabus, Einschränkungen und Trennungen im Bereich der Se­ xualität; Aufbau gemeinschaftlicher Lebensformen; Abbau von Hemmung im Bereich des Drogenkonsums; Übertretung aller Verbote und Sprengung jeder Abschließung, über die sich norma­ tive Individualität rekonstruiert). Ich denke da an alle Erfahrun­ gen, die unsere Zivilisation ablehnt oder allenfalls im Medium der Literatur duldet. Jean-François: Seit der Renaissance? M. Foucault.v Seit dem römischen Recht, diesem Stützpfeiler unserer Zivilisation, der Individualität bereits als unterworfene Souveränität definiert. Das Privateigentum setzt solch eine Kon­ zeption voraus: Der Eigentümer ist der alleinige Herr über sein Gut, sofern er sich in dessen Gebrauch und Missbrauch an die Gesetze hält, in denen sein Eigentum gründet. Das römische Sys­ tem strukturierte den Staat und begründete das Eigentum. Es un­ terwarf den Willen zur Macht, indem es ein souveränes Eigen­ tumsrecht festlegte, das nur von denen ausgeübt werden konnte,

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die auch die Macht innehatten. Über dieses Hin und Her hat der Humanismus sich institutionalisiert. Jean-Pierre: Die Gesellschaft ist ein geordnetes Ganzes. Sie ist von Natur aus repressiv, weil sie sich zu reproduzieren und ihren Bestand zu sichern versucht. Wie soll man unter diesen Umstän­ den kämpfen? Hat man es mit einem unauflöslichen, globalen Organismus zu tun, der von einem Erhaltungs- und Entwick­ lungsgesetz bestimmt wird, oder handelt es sich um ein stärker differenziertes Gebilde, in dem eine Klasse Interesse an der Er­ haltung des bestehenden Zustands hat, während eine andere ihn umzustürzen versucht? Für mich liegt die Antwort nicht auf der Hand. Ich halte die erste Hypothese nicht für stichhaltig, aber die zweite scheint mir allzu einfach zu sein. Es gibt tatsächlich eine wechselseitige Abhängigkeit innerhalb des Gesellschaftskörpers, die sich perpetuiert. M. Foucault: Die Bewegung vom Mai 68 bringt eine erste Ant­ wort: Individuen, die dem Ausbildungssystem unterworfen waren und auf denen damit die rigidesten Formen des Konservatismus und der Wiederholung lasteten, haben hier einen revolutionären Kampf geführt. Insofern reicht die Krise des Denkens, die im Mai 68 begann, außerordentlich tief. Sie löste eine Verwunderung und Bestürzung aus, von der die Gesellschaft sich längst noch nicht erholt hat. Jean-Pierre: Das Bildungssystem ist ja keineswegs das einzige Vehikel des Humanismus und der gesellschaftlichen Repression. Es gibt zahlreiche andere und wichtigere Mechanismen vor oder außerhalb der Schule. M. Foucault: Dem stimme ich zu. Ob man innerhalb oder au­ ßerhalb der Universität aktiv werden soll, das ist für jemanden wie mich, der lange gelehrt hat, ein Dilemma. Soll man sagen, die Universität sei im Mai zusammengebrochen, die Frage sei also entschieden und man müsse sich anderen Dingen zuwenden, wie es die Gruppen tun, mit denen ich gegenwärtig zusammenar­ beite, nämlich dem Kampf gegen die Repression in den Gefäng­ nissen, in den psychiatrischen Krankenhäusern, in Justiz und Po­ lizei? Oder wäre das nur eine Flucht vor der unangenehmen Erkenntnis, dass die Struktur der Universität immer noch dieselbe ist, so dass wir auf diesem Gebiet auch weiterhin kämpfen müs­ sen?

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Jean-François: Ich persönlich glaube nicht, dass die Universität wirklich zusammengebrochen ist. Ich glaube, die Maoisten haben einen Fehler gemacht, als sie der Universität, die ihnen eine solide Basis hätte bieten können, den Rücken kehrten, um den schwie­ rigen Versuch zu unternehmen, in den Fabriken Fuß zu fassen und sich dort eine vergleichsweise künstliche Basis zu suchen. Die Universität zeigte Risse; man hätte diese Risse vertiefen und einen irreparablen Bruch im System der Wissensvermittlung herbeifüh­ ren können. Schule und Universität sind weiterhin die bestim­ menden Faktoren. Nicht alles ist mit fünf Jahren entschieden, selbst wenn der Vater säuft und die Mutter im Schlafzimmer bügelt. Jean-Pierre: Die Studentenrevolte ist sehr schnell auf ein Prob­ lem gestoßen, das sich immer wieder einstellt: Wir - also die Revolutionäre oder alle, die nicht viel vom Bildungssystem erwar­ teten - wurden von denen blockiert, die arbeiten und einen Beruf erlernen wollten. Was sollten wir tun? Nach neuen Wegen, neuen Lehrmethoden und Inhalten suchen? Jean-François: Damit hätte man letztlich nur die Leistung der bestehenden Strukturen verbessert und Menschen für das System ausgebildet. Philippe: Keineswegs. Man kann anderes Wissen auf andere Weise lehren, ohne dem System zu verfallen. Wenn man der Uni­ versität den Rücken kehrt, nachdem man sie ein wenig erschüttert hat, überlässt man die Stellung einer Organisation, die schon aus Trägheit auch weiterhin funktioniert und sich reproduziert, solan­ ge man nicht konkret aufzeigt, wie deren Opfer sich aus ihrer Bindung befreien können. M. Foucault: Die Universität war die Institution, mit der die Gesellschaft ihre Reproduktion reibungslos und mit den gerings­ ten Kosten sicherte. Die Unordnung an den Universitäten und ihr Tod - ob scheinbar oder real, spielt da kaum eine Rolle - haben den Willen der Gesellschaft zu Bewahrung, Identität und Wieder­ holung nicht geschwächt. Ihr habt gefragt, was man tun muss, um den sozialen Reproduktionskreislauf des Systems zu zerbrechen. Es reicht nicht aus, die Universität zu beseitigen oder umzustür­ zen; man muss auch die anderen Repressionen angreifen. Jean-Pierre: Anders als Philippe glaube ich nicht sonderlich an eine »andere« Ausbildung. Ich meine vielmehr, die Universität

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müsste ihre Funktion unter dem Druck der Revolutionäre um­ kehren und einen Beitrag zur Dekonditionierung und Zerstörung der überkommen Werte und Wissensinhalte leisten. Immer mehr Lehrer und Professoren sind übrigens bereit, sich daran zu betei­ ligen. Frédéric: Konsequent durchgehaltene Experimente dieser Art sind sehr selten. Mir fällt da höchstens Sénik4 ein, der 1969 als Lehrer am Bergson die Stellung des Lehrers und des Wissens wirklich und grundsätzlich infrage gestellt hat. Er wurde ganz schnell isoliert und ausgeschlossen. Das höhere Bildungswesen verfügt als Institution immer noch über mächtige Abwehrmecha­ nismen. Es vermag immer noch vieles zu integrieren und unver­ trägliche Fremdkörper auszustoßen. Ihr tut alle so, als hätte die französische Universität vor dem Mai 68 tatsächlich den Bedürfnissen einer Industriegesellschaft wie der unsrigen entsprochen. In meinen Augen war sie keines­ wegs besonders rentabel und funktionell, sondern viel zu archa­ isch. Der Mai 68 hat in Wirklichkeit nur den alten institutioneilen Rahmen des höheren Bildungswesens gesprengt. Aber ist die Bi­ lanz für die leitende Klasse tatsächlich negativ? Sie hat ein sehr viel funktionelleres System einrichten können. Sie hat die Grands Écoles erhalten können, die den Kern der technokratischen Selek­ tion bilden. Sie konnte auch ein Zentrum wie Dauphine einrich­ ten, die erste in Frankreich geschaffene Business-School nach ame­ rikanischem Vorbild. Und schließlich parkt sie den Protest seit drei Jahren in Vincennes und an einigen Abteilungen in Nanterre, also in universitären Nischen, die keinen Einfluss auf das System haben und keine Berufschancen eröffnen: Reusen, in denen die kleinen linken Fische sich gefangen haben. Die Universität befreit sich von ihren archaischen Strukturen und passt sich den Bedürf­ nissen des Neokapitalismus an; deshalb müsste man dort wieder aktiv werden. M. Foucault: Den Ausdruck »Tod der Universität« habe ich in einem sehr oberflächlichen Sinne verwendet. Der Mai 68 hat das im 19. Jahrhundert entstandene höhere Bildungswesen getötet, also jenes merkwürdige Ensemble aus Institutionen, in denen ein kleiner Teil der Jugend zu einer gesellschaftlichen Elite he4 [Ein junger Philosophielehrer, der aus dem Schuldienst entlassen wurde, weil er sich gegen den Besuch des Schulrats in seiner Klasse wehrte.]

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rangebildet wurde. Geblieben sind dagegen die großen geheimen Mechanismen, über die eine Gesellschaft ihr Wissen und unter der Maske des Wissens sich selbst weitergibt. Diese Mechanismen sind immer noch da: Zeitungen, Fernsehen, Fachschulen und mehr noch als die Universität - die Gymnasien. Serge: An der repressiven Organisation des Gymnasiums hat sich gar nichts geändert. Die Schule ist krank. Aber nur eine Minderheit ist sich dessen bewusst und wehrt sich dagegen. Alain: Die politisierte Minderheit, die es in unserer Schule vor drei Jahren gab, ist inzwischen verschwunden. Jean-François: Bedeuten lange Haare denn heute noch irgend­ etwas? Alain: Gar nichts. Selbst die Muttersöhnchen lassen sich jetzt die Haare wachsen. Jean-François: Und Drogen? Serge: Das ist kein eigenständiges Phänomen. Ein Gymnasiast, der Drogen nimmt, gibt damit jeden Gedanken an eine berufliche Karriere auf. Die politisierten Schüler lernen weiter; wer Drogen nimmt, geht bald ganz ab. M. Foucault: Der Kampf gegen die Drogen ist ein Vorwand für die Verstärkung der sozialen Repression: Polizeirazzien, aber auch Verherrlichung des normalen, rationalen, bewussten, ange­ passten Menschen. Das findet man auf allen Ebenen. Im France Soir lautet heute eine Schlagzeile: 53% der Franzosen sind für die Todesstrafe, obwohl es vor einem Monat erst 38% waren. Jean-François: Liegt das vielleicht auch an der Gefängnisrevolte in Clairvaux? M. Foucault: Ganz bestimmt. Man schürt die Angst vor dem Verbrechen und malt monströse Bedrohungen an die Wand, um die Ideologie des Guten und Bösen, des Erlaubten und Verbote­ nen zu stärken; die von der Schule heute nicht mehr mit derselben Entschlossenheit vermittelt wird wie früher. Was der Philosophie­ lehrer nicht mehr in seinen verquasten Worten zu sagen wagt, das verkündet der Journalist ganz ohne Komplexe. Man könnte na­ türlich sagen, das sei schon immer so gewesen, Journalisten und Lehrer hätten schon immer die Aufgabe gehabt, dasselbe zu sagen. Aber heute drängt und zwingt man die Journalisten, es sehr viel lauter und nachdrücklicher zu sagen, weil die Lehrer es nicht mehr sagen können. Ich werde Ihnen eine Geschichte erzählen.

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Clairvaux hat in den Gefängnissen zu einer Woche der Rache geführt. Mancherorts und vor allem in der Jugendhaftanstalt in Fleury-Mérogis haben die Wärter Gefangene verprügelt. Die Mutter eines Häftlings ist deshalb zu mir gekommen. Ich bin mit ihr zu RTL gegangen, damit ihre Aussage gesendet wurde. Ein Journalist empfing uns und meinte: »Wissen Sie, das wundert mich gar nicht, die Wärter sind fast ebenso degeneriert wie die Häftlinge.« Wenn ein Lehrer an einem Gymnasium so etwas sagte, löste er damit einen kleinen Aufstand aus und finge sich eine Ohrfeige ein. Philippe: Ein Lehrer würde tatsächlich nicht so reden. Aber tut er das, weil er es nicht kann oder weil er die Aufgabe hat, es anders zu sagen? Wie soll man Ihrer Meinung nach - über Petitionen und reformistische Aktionen hinaus - gegen diese Ideologie und die Repressionsmechanismen kämpfen? M. Foucault: Ich denke, die punktuellen und lokalen Aktionen können schon recht weit gehen. Sehen Sie sich die Aktion der G.I.P. im vergangenen Jahr an. Das eigentliche Ziel dieser Aktion bestand nicht darin, eine Besuchszeit von dreißig Minuten oder fließendes Wasser in jeder Zelle durchzusetzen. Vielmehr sollte die soziale und moralische Trennung zwischen Unschuldigen und Schuldigen infrage gestellt werden. Und damit das keine blo­ ße philosophische Aussage oder humanistische Wunschvorstel­ lung bleibt, muss man sie ganz real auf der Ebene praktischen Handelns und in ganz konkreten Situationen infrage stellen. Zum Strafsystem würde ein Humanist sagen: »Die Schuldigen sind schuldig, die Unschuldigen unschuldig. Dennoch bleibt der Verurteilte Mensch wie alle anderen, und die Gesellschaft hat das Menschliche in ihm zu achten. Darum fließendes Wasser in den Zellen!« Unsere Aktion dagegen sucht nicht die Seele oder den Menschen hinter dem Verurteilten, sondern will diese klare Gren­ ze zwischen Unschuld und Schuld verwischen. Diese Frage stellte Genet anlässlich des Todes des Richters in Soledad oder des von Palästinensern in die jordanische Wüste entführten Flugzeugs. Die Journalisten weinten über den Richter und die armen, ohne erkennbaren Grund in der Wüste gefangen gehaltenen Touristen. Genet sagte ihnen: »Ist ein Richter etwa unschuldig? Oder eine amerikanische Touristin, die genug Geld für solch einen Touris­ mus hat?«

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Philippe: Heißt das, Sie versuchen in erster Linie das Bewusst­ sein der Menschen zu verändern und vernachlässigen für den Au­ genblick den Kampf gegen die politischen und ökonomischen Institutionen? M. Foucault: Da haben Sie mich falsch verstanden. Wenn man das Bewusstsein der Menschen verändern wollte, bräuchte man nur Zeitschriften und Bücher zu publizieren und einen Radio­ oder Fernsehproduzenten für seine Ideen zu gewinnen. Wir wol­ len aber die Institution so angreifen, dass sie in einer einfachen, fundamentalen Ideologie wie den Ideen von Gut und Böse, Schuld und Unschuld kulminiert und Gestalt annimmt. Wir wollen diese gelebte Ideologie über die dichte institutioneile Schicht verändern, in der sie sich eingenistet und auskristallisiert hat und in der sie sich reproduziert. Vereinfacht könnte man sagen, der Humanis­ mus will das ideologische System ändern, ohne die Institution anzurühren; der Reformismus will die Institution ändern, ohne das ideologische System anzurühren. Revolutionäre Aktion be­ deutet dagegen gleichzeitige Erschütterung des Bewusstseins und der Institution; und dazu muss sie die Machtverhältnisse an­ greifen, deren Werkzeug, Waffe und Panzer sie sind. Glauben Sie, man könnte Philosophie und deren Moralkodex in derselben Wei­ se unterrichten, wenn das Strafsystem zusammenbräche? Jean-Pierre: Und umgekehrt muss man fragen, ob man die Menschen noch in derselben Weise einsperren könnte, wenn das Bildungssystem umgestürzt würde. Es ist wichtig, sich nicht an einen einzelnen Sektor zu halten, in dem die Aktion in bloßen Reformismus abzugleiten droht, sondern vom Bildungssystem zu den Gefängnissen überzugehen, von den Gefängnissen zu den psychiatrischen Anstalten usw. Genau das ist doch Ihre Absicht. M. Foucault: Wir haben tatsächlich begonnen, in den psychiat­ rischen Anstalten zu intervenieren. Mit ähnlichen Methoden wie bei den Gefängnissen, also mit einer als Kampfinstrument ver­ standenen Untersuchung, die zumindest zum Teil von den Men­ schen durchgeführt wird, auf die sich die Untersuchung bezieht. Die repressive Funktion der psychiatrischen Anstalt ist bekannt: Man sperrt die Menschen dort ein und unterzieht sie einer chemischen oder psychologischen - Therapie, auf die sie keinerlei Einfluss haben, oder auch einer Nichttherapie, deren Hauptin­ strument die Zwangsjacke ist. Aber die Psychiatrie reicht in ihren

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Verzweigungen noch sehr viel weiter, nämlich bis hin zu Sozial­ arbeitern, Berufsberatern, Schulpsychologen und niedergelasse­ nen Psychiatern - dieser ganzen Psychiatrie des alltäglichen Le­ bens, die gleichsam den dritten Stand der Repression und der Polizei bildet. Auf diese Weise infiltriert die Psychiatrie unsere Gesellschaft, ganz zu schweigen von den Psychiatern, die in der Presse ihre Ratschläge erteilen. Die Psychopathologie des Alltags­ lebens enthüllt vielleicht unsere unbewussten Wünsche; wenn man die Psychiatrisierung des Alltags einmal genauer unter die Lupe nähme, enthüllte sie möglicherweise die unsichtbaren Aspekte der MachtJean-François: Auf welcher Ebene wollen Sie ansetzen? Bei den Sozialarbeitern? M. Foucault: Nein... Wir möchten mit Schülern, Studenten, Fürsorgezöglingen arbeiten, also mit Menschen, die bei der Wahl ihres Ausbildungswegs, in ihren familiären Beziehungen, in der Sexualität und in der Frage des Drogenkonsums der psychologi­ schen oder psychiatrischen Repression ausgesetzt sind. Wie hat man sie im Namen der Psychiatrie und des normalen Menschen, also letztlich im Namen des Humanismus aufgeteilt, eingeordnet, ausgesondert und ausgeschlossen? Jean-François: Die Antipsychiatrie, also die Zusammenarbeit mit Psychiatern innerhalb der Anstalten, interessiert Sie nicht? M. Foucault: Diese Aufgabe können nur die Psychiater selbst lösen, weil wir keinen freien Zugang zu den Anstalten haben. Allerdings ist hier Vorsicht geboten: Die gegen das Konzept der psychiatrischen Anstalt gerichtete Antipsychiatrie darf nicht zu einem Export der Psychiatrie führen; sie darf die Psychiatrisie­ rung des Alltags nicht noch verstärken. Frédéric: Die Lage in den Gefängnissen ist offensichtlich schlimmer, weil es keine anderen Beziehungen gibt als den Kon­ flikt zwischen Opfern und Agenten der Repression: Man findet keine »fortschrittlichen« Aufseher, die sich für die Bewegung ge­ winnen ließen. In den psychiatrischen Anstalten dagegen nehmen nicht die Opfer, sondern die Psychiater den Kampf auf; dort kämpfen die Agenten der Repression gegen die Repression. Ist das wirklich ein Vorteil? M. Foucault: Da bin ich mir nicht so sicher. Anders als bei den Gefangenenrevolten dürfte die Verweigerung der Patienten in den

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psychiatrischen Anstalten sich nur sehr schwer als kollektive po­ litische Verweigerung äußern können. Ich weiß nicht, ob Kranke, die der Absonderung in den Anstalten unterworfen sind, sich gegen die Institution auflehnen und schließlich diese Absonde­ rung anprangern können, die sie als Geisteskranke definiert und ausschließt. Der Psychiater Basaglia hat so etwas in Italien ver­ sucht; er hat Kranke, Ärzte und Pflegepersonal zusammengeführt. Dabei ging es nicht um ein Soziodrama, bei dem jeder seine Phan­ tasmen hervorgeholt und die Urszene nochmals durchgespielt hätte, sondern um die Frage, ob die Opfer der psychiatrischen Anstalt einen politischen Kampf gegen jene soziale Struktur auf­ zunehmen vermögen, die sie als Irre denunziert. Man hat Basaglias Experimente kurzerhand verboten. Frédéric: Die Unterscheidung zwischen normal und patholo­ gisch ist noch stärker als die zwischen schuldig und unschuldig. M. Foucault: Sie verstärken sich wechselseitig. Wenn ein Urteil sich nicht mehr in den Begriffen von Gut und Böse ausdrücken lässt, greift man nach den Begriffen des Normalen und Anomalen. Und zur Rechtfertigung der Unterscheidung zwischen normal und anomal stützt man sich auf Überlegungen, die aufzeigen sol­ len, was gut oder schädlich für den Einzelnen sei. Hier zeigt sich ein Dualismus, der konstitutiv für das westliche Denken ist. Darum lässt sich das System nicht en détail bekämpfen. Wir müssen an allen Fronten präsent sein: Universität, Gefängnisse, Psychiatrie. Nicht überall gleichzeitig - dazu reichen unsere Kräf­ te nicht aus -, aber nacheinander. Wir rennen gegen die stärksten Hindernisse an, und anderswo tun sich Risse im System auf; wir glauben gewonnen zu haben, aber die Institution erholt sich; wir müssen von vorne beginnen. Das ist ein langer, immer wieder aufs Neue aufzunehmender und zusammenhanglos wirkender Kampf; aber die Einheit stiftet das System samt der Macht, die dahinter steht. Alain: Eine banale Frage, der man nicht ewig ausweichen kann: Was soll man an dessen Stelle setzen? M. Foucault: Ich glaube, sich ein anderes System vorzustellen, ist gegenwärtig noch Teil des Systems. Vielleicht ist das in der Geschichte der Sowjetunion geschehen: Die scheinbar neuen In­ stitutionen wurden auf der Grundlage von Elementen entworfen, die man dem vorangegangenen System entnahm. Aufbau der Ro-

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ten Armee nach zaristischem Vorbild, Rückkehr zum Realismus in der Kunst und zur traditionellen Familienmoral. Die Sowjet­ union fiel in Normen zurück, die von der bürgerlichen Gesell­ schaft des 19. Jahrhunderts inspiriert waren, wobei utopisches Denken wohl eher eine Rolle spielte als Realitätssinn. Frédéric: Da haben Sie nicht ganz Recht. Der Marxismus ver­ stand sich ja gerade als wissenschaftlicher Sozialismus, im Gegen­ satz zum utopischen Sozialismus. Er lehnte es ab, über die zu­ künftige Gesellschaft zu sprechen. Die Sowjetunion stand vor ganz konkreten Problemen, dem Bürgerkrieg. Es galt, den Krieg zu gewinnen und die Fabriken wieder ans Laufen zu bringen. Dabei griff man nach den einzig verfügbaren und unverzüglich wirksamen Modellen: der militärischen Hierarchie und dem Tay­ lorismus. Wenn die Sowjetunion dadurch die Normen der bürger­ lichen Gesellschaft übernahm, so wahrscheinlich deshalb, weil sie keine anderen hatte. Nicht utopisches Denken war dafür verant­ wortlich, sondern das Fehlen einer Utopie. Utopisches Denken könnte vielleicht eine treibende Kraft sein. Jean-François: Die heutige Bewegung bräuchte eine Utopie und eine theoretische Reflexion, die über den Bereich der unmittel­ baren, parzellierten, unterdrückten Erfahrung hinausgingen. M. Foucault: Und wenn man genau das Gegenteil sagte: Dass wir auf die Theorie und den allgemeinen Diskurs verzichten müs­ sen? Dieses Bedürfnis nach Theorie ist immer noch Teil des Sys­ tems, das wir nicht mehr haben wollen. Jean-François: Sie glauben, schon der Rückgriff auf Theorie gehört zur Dynamik des bürgerlichen Wissens? M. Foucault: Ja, vielleicht. Ich möchte der Utopie lieber das Experiment entgegensetzen. Die zukünftige Gesellschaft zeichnet sich vielleicht in Experimenten wie den Drogen, der Sexualität, den Wohngemeinschaften, einem anderen Bewusstsein, einer an­ deren Art von Individualität ab. Wenn der wissenschaftliche So­ zialismus aus den Utopien des 19. Jahrhunderts hervorging, so geht die reale Sozialisation im 20. Jahrhundert vielleicht aus den Experimenten hervor. Jean-François: Und das Experiment des Mai 68 war gewiss ein Machtexperiment und eine Machterfahrung. Aber es setzte bereits einen utopischen Diskurs voraus: Der Mai 68 war die Besetzung eines Raums durch einen Diskurs...

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Philippe: Durch einen Diskurs, der unzulänglich blieb. Die vo­ rangegangene linke Reflexion entsprach nur oberflächlich den Ansprüchen, die damals freigesetzt wurden. Die Bewegung wäre vielleicht weiter gekommen, wenn sie von einer Reflexion getra­ gen worden wäre, die ihr Perspektiven hätte aufzeigen können. M. Foucault: Davon bin ich nicht überzeugt. Aber Jean-Fran­ çois hat Recht, wenn er von einer Machterfahrung spricht. Es ist von ganz entscheidender Bedeutung, dass Zehntausende eine Macht ausgeübt haben, die nicht die Form der hierarchischen Organisation annahm. Nur gehört es zu den Definitionsmerkma­ len der Macht, dass die herrschende Klasse sie nur äußerst ungern aufgibt und unter allen Umständen zurückzugewinnen versucht; daher konnte das Experiment sich diesmal nur ein paar Wochen lang halten. Philippe: Wenn ich Sie richtig verstehe, halten Sie es ebenfalls für unsinnig oder verfrüht, Parallelinstitutionen wie die freien Universitäten in den Vereinigten Staaten zu schaffen, die als Dop­ pelgänger der angegriffenen Institutionen auftreten. M. Foucault: Wer an die Stelle der offiziellen Institution eine andere Institution setzen will, die dieselben Funktionen besser oder anders erfüllen soll, der hat sich schon von der herrschenden Struktur wieder vereinnahmen lassen. Jean-François: Ich mag nicht recht glauben, dass die Bewegung in der gegenwärtigen Phase verharren soll, bei dieser Ideologie eines vagen, zusammenhanglosen Underground, der keinerlei so­ ziale Arbeit und keine Gemeinschaftsdienste akzeptiert, sobald sie über die unmittelbare Umgebung hinausgehen. Diese Ideologie ist unfähig, das gesellschaftliche Ganze zu sehen oder die Gesell­ schaft als eine Ganzheit zu begreifen. M. Foucault: Sie fragen sich, ob eine Globalgesellschaft auf so divergierenden^ zerstreuten, diskurslosen Experimenten aufbauen kann. Ich glaube eher, die Idee eines »gesellschaftlichen Ganzen« gehört selbst in den Bereich der Utopie. Diese Idee entstand in der westlichen Welt in jener historischen Entwicklungslinie, die schließlich zum Kapitalismus führte. Wer von einem gesellschaft­ lichen Ganzen jenseits seiner einzig bekannten Form spricht, der träumt auf der Grundlage gestriger Elemente. Man glaubt leicht, das »gesellschaftliche Ganze« im Auge zu behalten sei das Min­ deste, was man von Experimenten, Aktionen, Strategien, Projek-

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12ZL ten verlangen dürfe. Das unerlässliche Minimum. Ich denke da­ gegen, es ist das Maximum und sogar eine unmöglich zu erfül­ lende Bedingung, denn genau so funktioniert das »gesellschaft­ liche Ganze«: Es verhindert, dass Experimente stattfinden oder Erfolg haben oder sich durchsetzen können. Das »gesellschaft­ liche Ganze« darf man gerade nicht im Auge behalten oder allen­ falls in dem Sinne, dass man es zerstören möchte. Und wir können nur hoffen, dass es danach nichts mehr geben wird, das Ähnlich­ keit mit dem gesellschaftlichen Ganzen hat. Frédéric: Das Gesellschaftsmodell des Westens hat sich als ein im Staat verkörpertes gesellschaftliches Ganzes universalisiert, und zwar nicht weil es das beste wäre, sondern weil es über ma­ terielle Macht und eine überlegene Effizienz verfügt. Das Problem ist, dass Revolten gegen dieses System bis heute nur dann Erfolg hatten, wenn sie auf vergleichbare etatistische oder nach dem Partisanenmodell funktionierende Organisationsformen zurück­ griffen, die sie den herrschenden Strukturen Punkt für Punkt ent­ gegensetzten, so dass sie die entscheidende Machtfrage stellen konnten. Das gilt nicht nur für den Leninismus, sondern auch für den Maoismus: Volksorganisation und Volksarmee gegen bürgerliche Organisation und bürgerliche Armee, proletarische Diktatur und proletarischer Staat... Diese für die Machtergrei­ fung gedachten Instrumente sollen nach einer Übergangszeit ver­ schwinden. Aber das trifft nicht zu, wie die bolschewistische Er­ fahrung gezeigt hat; und auch die chinesische Kulturrevolution hat sie nicht vollständig auflösen können. Als Voraussetzungen für den Sieg behalten sie ihre Eigendynamik und wenden sich gegen die Spontaneität, zu deren Freisetzung sie beigetragen ha­ ben. Hier liegt vielleicht der Grundwiderspruch revolutionären Handelns. M. Foucault: Mich erstaunt an Ihrer Argumentation, dass sie an der Form des »bis jetzt« festhält. Ein revolutionäres Unternehmen richtet sich ja genau nicht nur gegen das Jetzt, sondern auch gegen das Gesetz des »bis jetzt«. Übersetzt von Michael Bischoff

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99 Die Rede von Toul »Le discours de Toul«, in: Le Nouvel Observateur, Nr. 372, 27. Dezember 1971-2. Januar 1972, S. 15. Nach den vom 9. bis zum 13. Dezember anhaltenden Meutereien im Gefängnis von Toul gab die Gefängnispsychiaterin Dr. Édith Rose vor dem Generalinspekteur der Gefängnisverwaltung eine Erklärung ab. Au­ ßerdem schickte sie ihren Bericht an den Präsidenten der Republik, den Justizminister und den Präsidenten der Ärztekammer. »Die Gesellschaft und die sie leiten müssen darüber informiert werden, wie man sie schützt«, erklärte sie. Am 16. Dezember verlas M. Foucault diesen Bericht bei einer Pressekonferenz in Toul. Zusammen mit Freunden, darunter Simone Signoret, kaufte er eine Seite in Le Monde, um den Bericht voll­ ständig zu veröffentlichen, noch bevor der offizielle Untersuchungsbe­ richt erschien. Für M. Foucault war Dr. Roses Entschluss, das Wort zu ergreifen, die typische Reaktion eines vereinzelten Intellektuellen. Dr. Rose wurde von der Gefängnis Verwaltung entlassen.

In Toul hat sich am Donnerstag vergangener Woche die Gefäng­ nispsychiaterin zu Wort gemeldet. Was hat sie gesagt? Vieles, was man schon ahnte, aber nun weiß: dass Menschen tagelang an Händen und Füßen ans Bett gefesselt werden; dass es fast jede Nacht Selbstmordversuche gibt; dass man regelmäßig zwischen Strafen und Beruhigungsspritzen, Dunkelzelle und Valium wech­ selt (welch beruhigende Moral der Beruhigungsmittel) und dass man aus zwanzigjährigen Autodieben Lebenslängliche macht. Aber hören wir einmal, wie sie es sagt. Sie sagt nicht: Insassen ruhig zu stellen ist von jeher gängige Praxis in Gefängnissen wie auch psychiatrischen Anstalten, und das Personal im Strafvollzug hat sich nicht davon gelöst. Sie sagt nicht: Zu wenig Geld, also zu wenig Personal, also zu wenig Überwachung, also Brutalität und Willkür. Sie spricht nicht über die Strukturen und deren Elend. Sie sagt: »An diesem Tag war ich an diesem Ort und habe das gesehen; zu diesem Zeitpunkt hat jemand mir gesagt..., und ich habe es gehört; ich habe dies verlangt, aber der Direktor hat mir folgende Antwort gegeben, und nun gebe ich dies unter Eid zu Protokoll.« Hören Sie nur, wie diese Stimme zittert, die nun nicht mehr zau-

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dert. Es ist eine einzigartige Stimme, wie man sie im Umfeld des Gefängnisses noch nie gehört hat. Unsere Institutionen tun so, als regten sie sich auf, wenn sie Kritik aus den eigenen Reihen erfahren; aber sie finden sich damit ab; sie leben damit; das ist ihre Koketterie und ihre Heuchelei. Dagegen können sie nicht ertragen, dass jemand ihnen plötzlich den Rücken kehrt und herausschreit: »Das habe ich hier und jetzt erlebt, das hat sich zugetragen. Das ist geschehen.« Denken Sie an den Algerienkrieg. Zu sagen, dass die Armee dort foltert, war eine Sache (man durfte es nicht drucken, aber alle wuss­ ten es). Etwas ganz anderes war es dagegen, wenn Menschen, wie es geschehen ist, aufstanden und riefen: »Hauptmann X hat Y gefol­ tert. Aus dieser Polizeiwache sind so und so viele Leichen herausge­ tragen worden.« Wer so etwas sagte, brachte sein Leben in Gefahr. Ich glaube nicht, dass Dr. Roses Leben in Gefahr ist. Aber ich höre schon die Verleumdungen und böswilligen Unterstellungen. Man wird sagen: 1. Das ist nicht wichtig, das sind Einzelfälle, »bloße Fakten«. 2. Das ist Denunziation und darum unmoralisch. 3. Und in jedem Fall ist das nicht Ihre Angelegenheit, sondern Sache der Journalisten. Aber achten Sie einmal darauf, was Dr. Rose erzählt. Was verbirgt sich hinter den bloßen Fakten, die sie offenlegt? Oder vielmehr: Was zeigt sich darin? Das ehrlose oder regelwid­ rige Verhalten Einzelner? Kaum. Wohl aber der Gewaltcharakter der Machtverhältnisse. Die Gesellschaft schreibt uns vor, immer dann wegzuschauen, wenn die wahren Machtverhältnisse sichtbar werden. Die Verwal­ tung spricht nur in Tabellen, Statistiken und Kurven; die Gewerk­ schaften reden von Arbeitsbedingungen, Bilanzen, Investitionen und Beschäftigtenzahlen. Hier und da will man das Übel »an der Wurzel« packen, also dort, wo niemand es sieht und spürt - fern von den Ereignissen, den aufeinander prallenden Kräften und dem Herrschaftsakt. Und nun hat die Psychiaterin von Toul gesprochen. Sie hat die Spielregeln verletzt und das große Tabu gebrochen. Als Mitglied eines Machtsystems hat sie nicht dessen Funktionsweise kritisiert, sondern angeprangert, was darin geschehen ist: an einem be­ stimmten Tag, an einem bestimmten Ort und in einer ganz be­ stimmten Situation.

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Die Folge ist eher Verblüffung als Empörung. Stille breitet sich um diese Stimme aus. Ein verlegenes Zögern. Es galt, alles wieder an seinen Platz rücken, die Information wieder in ihre gewohn­ ten Rechte einsetzen: Über die Ereignisse sollten die berichten, deren Aufgabe das ist; und die Kritik sollte denen überlassen bleiben, die dazu berufen sind. Darum wurde alles, was Dr. Rose gesagt hatte, in den Zeitungen gewissermaßen »neu verteilt«: In einigen Artikeln wurden die Fakten aufgezeigt, als handelte es sich um anonyme Informationen oder Ermittlungsergebnisse; an anderer Stelle brachte man, sorgfältig als Zitat ausgewiesen, die Aussagen, die Dr. Rose über die Institution, die psychosoziale Lage der Häftlinge und die Situation der Aufseher gemacht hatte. Aber was ist mit dieser Stimme, die »ich« sagt? Mit dieser Frau, die doch immerhin zumindest mit ihrem Wissen »zur« Macht gehörte und »in« der Macht war; mit dieser Frau, die den einzig­ artigen Mut aufgebracht hat zu sagen: »Ich habe gesehen, ich habe gehört«? Mit dieser Litanei, die sich durch den ganzen Text zieht: »Ich schwöre, ich bezeuge, ich bin zu einer Gegenüberstellung bereit.«? Das alles wurde übergangen. Und dennoch möchte ich, dass man es liest und zur Kenntnis nimmt. Die »Rede von Toul« ist möglicherweise ein wichtiges Ereignis in der Geschichte der Gefängnisse und psychiatrischen Anstalten. Und noch etwas. Im Auftrag von Justizminister Pleven ist Dr. Rose kürzlich verhört worden. Dabei setzten die Vernehmungs­ beamten sie ganz beträchtlich unter Druck. Als wollten diese Leute nicht die Wahrheit erfahren, sondern nur das Gesagte aus­ löschen. Man fragte sie: »Sie schwören, dass die ruhiggestellten Häftlinge beim Essen nicht losgebunden wurden. Haben Sie das gesehen?« Und der Gefängnisgeistliche Rousset warnte sie mehr­ fach eindringlich: »Es ist sehr gravierend, wenn ein Arzt be­ schwört, was er nicht gesehen hat.« Nun hat Dr. Rose nicht ausgesagt, sie habe gesehen, sondern sie wisse. Sie wisse, weil ein Aufseher ihr gesagt habe: »Manchmal wurde eine Hand losgebunden.« Ein anderer hatte ihr zum Füt­ tern mit dem Löffel gesagt: »Das kostete uns nur Zeit.« Und die Krankenschwester erklärte vor Zeugen: »Jedenfalls wurden sie losgebunden, wenn sie ihr Bedürfnis verrichten mussten.« Aber Hochwürden meinte, man müsse gesehen haben, man dürfe so

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etwas nicht einfach blindlings behaupten. Er kam mehrmals da­ rauf zurück, in gewichtigem, fast drohendem Ton. Ich habe Dr. Rose gebeten, diesen hochwürdigen Vater zu fra­ gen, ob er den an Händen und Füßen angenagelten Mann mit eigenen Augen zwischen den beiden Schächern hat hängen sehen. Übersetzt von Michael Bischoff

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Foucault antwortet »Foucault Responds«, übers, von F. Durand-Bogaert), in: Diacritics, Bd. I, Nr. 2, Winter 1971), S. 60. (Erwiderung auf George Steiners Antwort; siehe Nr. 97, Band 2, S. 262-272.)

George Steiner verdient unser Mitgefühl. Ob er nun zu begreifen oder zu antworten versucht, das Pech bleibt ihm treu: Ein Irrtum folgt dem anderen. Um es kurz zu machen, möchte ich hier nur auf vier Irrtümer in seiner »Antwort« hinweisen. 1. Er behauptet, die Bedeutung des Ausdrucks »Archäologie« bei Kant zu kennen. Er geht sogar so weit, uns dieses Wissen zu demonstrieren. Aber er hat kein Glück, denn er irrt sich im Wort, im Text oder in der Bedeutung. Er braucht nur Kants Fortschritte der Metaphysik1 zu lesen, dann findet er das Wort, den Text und die Bedeutung, auf die ich mich beziehe. Es handelt sich keines­ wegs, wie er meint, um eine »apriorische Bedingung der Wahr­ nehmung«. 2. Er hält mein Gedächtnis für schlecht und meine Manieren für noch schlechter, weil ich bestreite, mehrere Monographien über Diagnose und Behandlung der Geisteskrankheiten im 19. Jahrhundert geschrieben zu haben. Mit seinem guten Gedächt­ nis und seinen guten Manieren erlaubt er sich, auf zwei solche Monographien hinzuweisen: Histoire de la folie [dt. Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1969] und Naissance de la1 1 [Kant, I., »Über die von der Königl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin für das Jahr 1791 ausgesetzte Preisfrage: Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnizens und Wolffs Zeiten in Deutschland gemacht hat?«, in ders., Gesammelte Schriften Bd. XX, Berlin 1942, S. 341.]

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clinique [dt. Die Geburt der Klinik, München 1973]. Wieder kein Glück: In Naissance de la clinique steht absolut nichts über Geis­ teskrankheiten oder Psychiatrie. 3. Steiner glaubt, ich hätte den Gedanken eines Zusammen­ hangs zwischen der Grammatik, den ökonomischen Strukturen und den »Verwandtschaftsbeziehungen« von Lévi-Strauss über­ nommen. Und wieder daneben. Ich habe weder über die ökono­ mischen Strukturen gesprochen (sondern über die Theorie des Geldes, was etwas ganz anderes ist) noch über die grammatischen Strukturen (sondern über die Theorie der Sprache, was wiederum etwas ganz anderes ist) und erst recht nicht über Verwandtschaftsbeziehungen oder Heiratsregeln. Könnte es sein, dass Steiner sie mit den Taxonomien der Pflanzen und Tiere verwechselt? Selt­ sam ... 4. Steiner meint, ich hätte auf Kuhn hinweisen müssen. Ich halte Kuhns Arbeit in der Tat für bewundernswert und endgültig. Aber auch hier hat er kein Glück (in diesem Fall ebenso wenig wie ich), denn als ich Kuhns Buch im Winter 1963-1964 las (ich glau­ be, ein Jahr nach seiner Veröffentlichung), hatte ich gerade Les Mots et les Choses [dt. Die Ordnung der Dinge> Frankfurt am Main 1971] abgeschlossen. Daher habe ich dort nicht auf Kuhn2 hingewiesen, sondern auf den Wissenschaftshistoriker, der Kuhns Denken geprägt und inspiriert hat: G. Canguilhem. Aber letztlich ist auch mir ein Irrtum unterlaufen. Da ich Stei­ ner nicht kannte, hatte ich ganz arglos angenommen, er sei Jour­ nalist, und berufliche Erfordernisse hätten ihn gezwungen, gegen seinen Willen sein eigentliches Fachgebiet zu verlassen und über einen Gegenstand zu schreiben, der ihm nicht vertraut war. Ich habe seinen Text daher spontan mit belustigter Nachsicht gelesen. Jetzt hat Steiner mich darauf aufmerksam gemacht, dass er Uni­ versitätsprofessor ist. Das verstärkt allerdings nur meine Belusti­ gung. Nun brauche ich nur noch meine Nachsicht in etwa dem­ selben Maße zu verstärken. Übersetzt von Michael Bischoff

2 [Kuhn, Th. S., The Structure of Scientific Revolution, Chicago 1962; dt. Die Struk­ tur wissenschaftlicher Revolutionen, Frankfurt am Main 1967.]

Der Wille zum Wissen »La volonté de savoir«, in: Annuaire du College de France, yie année, Histoire des systèmes de pensée, année 1970-1971, 1971, S. 245-249.

Mit der diesjährigen Vorlesung beginnt eine Reihe von Untersu­ chungen, die sich Bruchstück für Bruchstück um die Schaffung einer »Morphologie des Willens zum Wissen« bemühen werden. Zum Teil werden sie sich dem Thema des Willens zum Wissen über historische Analysen nähern, zum Teil werden sie es als solches und in seinen theoretischen Implikationen behandeln. In diesem Jahr ging es darum, seine Stellung und Rolle in einer Geschichte der Denksysteme zu bestimmen, zumindest vorläufig ein erstes Analysemodell zu entwickeln und dessen Leistungs­ fähigkeit an einigen Beispielen zu überprüfen. 1. Frühere Forschungen hatten es ermöglicht, unter den für die Analyse von Denksystemen geeigneten Ebenen eine ganz beson­ dere Ebene zu identifizieren: die der Diskurspraktiken. Liier han­ delt es sich um eine Systematik, die weder logischer noch linguis­ tischer Natur ist. Die Diskurspraktiken sind gekennzeichnet durch die Abgrenzung eines Objektbereichs, durch die Definition einer für das Erkenntnissubjekt legitimen Perspektive und durch die Festlegung von Normen für die Entwicklung von Konzepten und Theorien. Sie setzen also jeweils eine Reihe von Vorschriften voraus, die Ausschluss und Auswahl bedeuten. Diese Ensembles aus Regelmäßigkeiten fallen jedoch nicht mit einzelnen Werken zusammen. Auch wenn sie gelegentlich darin zum Ausdruck kommen oder dort zum ersten Mal zutage treten, gehen sie dennoch weit darüber hinaus, so dass ihnen vielfach eine ganz beträchtliche Zahl von Werken zuzuordnen ist. Sie fallen jedoch auch nicht unbedingt mit einzelnen Wissenschaften oder Fachgebieten zusammen, obwohl die Abgrenzungen gelegentlich zumindest vorläufig dieselben sein können. Häufiger noch verei­ nen einzelne Diskurspraktiken mehrere Fachgebiete oder Wissen­ schaften in sich oder liegen gleichsam quer dazu, so dass sie je­ weils bestimmte Regionen dieser Fachgebiete zu einer nicht sichtbaren Einheit verknüpfen.

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Die Diskurspraktiken sind keine bloßen Formen der Herstel­ lung von Diskursen. Sie nehmen Gestalt an in technischen Kom­ plexen, in Institutionen, in Verhaltensmustern, in Vermittlungs­ und Verbreitungsformen, in pädagogischen Formen, die sie auf­ zwingen und aufrechterhalten. Und schließlich folgt ihre Veränderung eigentümlichen Mus­ tern. Man kann diese Veränderungen nicht auf eine einzelne, ge­ nau zu benennende Entdeckung zurückführen; aber man kann sich auch nicht damit begnügen, sie als globale Veränderung der Mentalität, der kollektiven Einstellungen oder eines Zeitgeistes zu begreifen. Die Veränderung diskursiver Praktiken ist mit einem ganzen und vielfach komplexen Ensemble von Veränderungen verbunden, die außerhalb dieser Praktiken (in den Produktions­ formen, den sozialen Beziehungen, den politischen Institutionen) stattfinden können oder in ihnen (in den Techniken zur Bestim­ mung der Objekte, in der Verfeinerung und Anpassung der Kon­ zepte, in der wachsenden Information) oder auch neben ihnen (in anderen Diskurspraktiken). Und bei dieser Verbindung handelt es sich nicht um ein bloßes Ergebnis, sondern um einen Effekt, der sich einerseits eine gewisse Autonomie bewahrt und andererseits eine Reihe wohlbestimmter Funktionen hinsichtlich der bestim­ menden Größen erfüllt. Diese Ausschluss- und Auswahlprinzipien, die in vielfältiger Weise präsent sind, ihre Wirkung in den Praktiken entfalten und in ihrer Veränderung eine gewisse Autonomie zeigen, diese Prin­ zipien verweisen nicht auf ein (geschichtliches oder transzenden­ tales) Erkenntnissubjekt, das sie nacheinander erfände oder auf einer Ursprungsebene begründete; sie bezeichnen vielmehr einen anonymen, polymorphen Willen zum Wissen, der zu geregelter Veränderung fähig und in einem Netz erkennbarer Abhängigkei­ ten gefangen ist. Empirische Studien zur Psychopathologie, zur klinischen Me­ dizin, zur Naturgeschichte usw. hatten die Möglichkeit eröffnet, die Ebene der Diskurspraktiken zu isolieren. Die allgemeinen Kennzeichen dieser Praktiken und die Methoden, mit denen sie sich analysieren lassen, habe ich unter dem Begriff der Archä­ ologie zusammengefasst. Die Untersuchungen über den Willen zum Wissen sollten diesem Ensemble nun eine theoretische Rechtfertigung geben können. Im Augenblick lässt sich nur ganz

allgemein sagen, in welche Richtung sie werden gehen müssen: Unterscheidung zwischen Wissen und Erkenntnis; Unterschied zwischen dem Willen zum Wissen und dem Willen zur Wahrheit; Stellung des Subjekts und der Subjekte gegenüber diesem Willen. 2. Bislang sind für eine Analyse des Willens zum Wissen auf konzeptioneller Ebene nur wenige Instrumente entwickelt wor­ den. Meist greift man auf recht grobe Begriffe zurück. Auf »anth­ ropologische« oder psychologische Begriffe: Neugier; das Bedürf­ nis, Dinge mit Hilfe der Erkenntnis zu beherrschen oder sich anzueignen; Angst vor dem Unbekannten; Reaktion auf den be­ drohlichen Charakter einer undifferenzierten Welt. Auf histori­ sche Allgemeinbegriffe wie den Zeitgeist, das Empfinden einer Zeit, deren typische Interessen, deren Weltverständnis, deren Wer­ tesystem, deren Grundbedürfnisse. Auf philosophische Themen wie das eines Rationalitätshorizonts, der sich in der Zeit entfaltet. Dagegen berechtigt nichts zu der Annahme, die von der Psycho­ analyse entwickelten rudimentären Konzepte zur Stellung des Subjekts und des Objekts in Begehren und Wissen ließen sich ohne weiteres auf historische Untersuchungen übertragen. Wir werden die Instrumente zur Analyse des Willens zum Wissen daher erst Schritt für Schritt je nach den Erfordernissen und Mög­ lichkeiten der konkreten Untersuchungen schaffen und bestim­ men müssen. Die Philosophiegeschichte bietet einige theoretische Modelle für den Willen zum Wissen, deren Analyse eine erste Orientierung ermöglichen dürfte. Von den Philosophen, die in diesem Zusam­ menhang genau unter die Lupe zu nehmen sind (Platon, Spinoza, Schopenhauer, Aristoteles, Nietzsche usw.), haben wir in diesem Jahr Aristoteles und Nietzsche herausgegriffen, weil sie für zwei gegensätzliche Extrempositionen stehen. Für die Analyse des aristotelischen Modells haben wir haupt­ sächlich die Metaphysik, die Nikomachische Ethik und Über die Seele1 herangezogen. Dieses Modell setzt bereits auf der Ebene der Sinneswahrnehmung an und behauptet: - eine Verbindung zwischen Sinneswahrnehmung und Lust; - die Unabhängigkeit dieser Verbindung vom möglichen Nut­ zen der Sinneswahrnehmung für das Leben; i [Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, hg. von H. Flashar, 20 Bde., Berlin 1970ff., Bde. 15, 6 und 13.]

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- ein direktes Verhältnis zwischen der Intensität der Lust und dem Umfang der von der Sinneswahrnehmung gelieferten Er­ kenntnis; - und eine Unverträglichkeit zwischen der Wahrheit der Lust und dem Irrtum der Sinneswahrnehmung. Die visuelle Wahrnehmung als Wahrnehmung mehrerer gleich­ zeitig gegebener, ferner Objekte, die in keinem unmittelbaren Zu­ sammenhang mit körperlichem Nutzen stehen, bringt in der mit ihr einhergehenden Befriedigung die Verbindung zwischen Er­ kenntnis, Lust und Wahrheit zum Ausdruck. Derselbe Zusam­ menhang findet sich am anderen Ende im Glück der theoretischen Betrachtung. Das Verlangen nach Wissen, das schon in den ersten Zeilen der Metaphysik23als universell und naturgegeben bezeich­ net wird, gründet in dieser Urzugehörigkeit, die bereits die Sin­ neswahrnehmung enthüllt. Und sie sichert den kontinuierlichen Übergang von diesem ersten Erkenntnistyp bis zu jener Endform, die in der Philosophie zum Ausdruck kommt. Bei Aristoteles setzt das Verlangen nach Erkenntnis das vorgängige Verhältnis zwischen Erkenntnis, Wahrheit und Lust voraus und transponiert es. In Die fröhliche Wissenschaft" bestimmt Nietzsche ein Ensem­ ble ganz anderer Beziehungen: - Erkenntnis ist eine »Erfindung«, hinter der etwas ganz an­ deres steht, nämlich ein Ensemble aus Instinkten und Trieben, aus Verlangen, Lust und Besitzwillen. Auf der Bühne, auf der sie mit­ einander kämpfen, entsteht Erkenntnis; - sie entsteht nicht aus deren Harmonie, ihrem glücklichen Gleichgewicht, sondern aus ihrem Hass, aus vorläufigen, zwei­ felhaften Kompromissen zwischen ihnen, aus einem zerbrech­ lichen Pakt, den sie jederzeit zu verraten bereit sind. Sie ist kein permanentes Vermögen, sondern ein Ereignis oder zumindest eine Folge von Ereignissen; - sie ist stets dienstbar, abhängig, interessiert (nicht an sich 2 [Aristoteles, Metaphysik, I, 1-2,- 980 a 23: »Alle Menschen haben von Natur ein Verlangen nach Wissen. Ein Zeichen dessen ist die Freude an den Sinneswahr­ nehmungen; denn man freut sich an denselben, vom Nutzen abgesehen, um ihrer selbst willen, und unter allen am meisten an der Wahrnehmung durch die Augen.«] 3 [Nietzsche, E, Die fröhliche Wissenschaft, Chemnitz 1882. Der Untertitel la gaya scienza erschien erst in der Ausgabe von 1887.]

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selbst, sondern an allem, was den Instinkt oder die Instinkte, die sie beherrschen, interessieren könnte); - als Erkenntnis der Wahrheit gibt sie sich nur insofern, als sie die Wahrheit durch das Spiel einer ersten und ständig fortgesetz­ ten Falsifizierung hervorbringt, das die Unterscheidung zwischen wahr und falsch einführt. Das Interesse wird hier also der Erkenntnis radikal vorausge­ setzt; sie wird ihm als bloßes Instrument untergeordnet. Die von Lust und Glück losgelöste Erkenntnis wird mit Kampf, Hass und Bosheit verbunden, die sich so sehr gegen sich selbst richten, dass sie in einem Übermaß an Kampf, Hass und Bosheit sogar auf sich selbst verzichten; die ursprüngliche Beziehung zur Wahrheit ist aufgelöst, denn die Wahrheit ist nur eine Wirkung - die Wirkung einer Falsifizierung, die als Gegensatz zwischen wahr und falsch bezeichnet wird. Dieses Modell einer fundamental interessierten Erkenntnis, die als Ereignis aus dem Willen hervorgeht und über Falsifikation die Wahrheit als Wirkung hervorbringt, ist am denk­ bar weitesten entfernt von den Postulaten der klassischen Meta­ physik. Von diesem Modell haben wir in der diesjährigen Vorle­ sung freien Gebrauch gemacht und es in einer Reihe von Beispielen eingesetzt. 3. Diese Beispiele waren der Geschichte und den Institutionen des archaischen Griechenland entnommen. Sie stammten sämtlich aus dem Bereich des Rechts. Und es ging darum, die Entwicklung vom 7. bis zum 5. Jahrhundert zu verfolgen. Diese Veränderungen betreffen die Verwaltung des Rechts, das Gerechtigkeitsverständ­ nis und die sozialen Reaktionen auf Verbrechen. Nacheinander untersuchten wir: - die Praxis des Eides in Rechtsstreitigkeiten und die Entwick­ lung vom herausfordernden Eid des Klägers, der sich damit der Rache der Götter aussetzte, zum bekräftigenden Eid des Zeugen, der als Bestätigung der Wahrheit gilt, weil der Zeuge sie gesehen und ihr beigewohnt hat; - die Suche nach einem gerechten Maß über die Institution des Geldes, und zwar nicht nur im ökonomischen Austausch, sondern auch in den sozialen Beziehungen innerhalb der Stadt; - die Suche nach einem nomos, einem gerechten Verteilungs­ gesetz, das die Ordnung in der Stadt sichert, indem sie dort eine Ordnung herstellt, die der Ordnung der Welt entspricht;

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- die Reinigungsrituale nach einem Mord. Um die Verteilung der Gerechtigkeit wurden in der ganzen untersuchten Zeitspanne heftige politische Kämpfe geführt. Sie führten schließlich zu einer Form von Recht, die mit einem Wis­ sen verbunden war, in dem Wahrheit als etwas Sichtbares, Fest­ stellbares, Messbares galt, das ähnlichen Gesetzen gehorcht wie die Ordnung der Welt und dessen Entdeckung per se eine Reini­ gung bedeutete. Diese Form der Bestätigung von Wahrheit sollte entscheidende Bedeutung für die Geschichte des westlichen Wis­ sens erlangen. Den allgemeinen Rahmen für das diesjährige Seminar bildete das französische Strafsystem des 19. Jahrhunderts. In diesem Jahr be­ fasste es sich mit den Anfängen einer forensischen Psychiatrie zur Zeit der Restauration. Als Material dienten im Wesentlichen ge­ richtsmedizinische Gutachten von Zeitgenossen und Schülern Esquirols. Übersetzt von Michael Bischoff

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Mein Körper, dieses Papier, dieses Feuer »Mon corps, ce papier, ce feil«, in: Foucault, M., Histoire de la folie, Paris 1972, Anhang II, S. 583-603. (M. Foucault hatte eine erste Version dieses Textes der japanischen Zeitschrift Paideia gegeben. Vgl. Nr. 104, Band 2, S. 347-367.)

Auf den Seiten 56 bis 59 der Histoire de la folie [dt. Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1969] habe ich behauptet, dass Traum und Wahnsinn in der Entwicklung des cartesischen Zwei­ fels keineswegs denselben Status oder dieselbe Rolle hatten: Der Traum erlaubt es, an dem Ort, an dem ich bin, an diesem Papier, das ich sehe, an dieser Hand, die ich ausstrecke, zu zweifeln; der Wahnsinn aber ist keineswegs ein Instrument oder eine Etappe des Zweifels; denn »ich, der ich denke, kann nicht wahnsinnig sein«. Eine Ausschließung also des Wahnsinns, aus dem die skeptische Tradition im Gegenteil einen der Gründe machte, um zu zweifeln. Um den Einwand zu resümieren, den Derrida gegen diese These erhebt,1 ist es wohl das Beste, wenn ich die Passage zitiere, in der er mit größtem Nachdruck seine Lesart Descartes’ vorlegt: »Descartes hat gerade ausgeführt, dass alle Erkenntnisse sinn­ lichen Ursprungs ihn täuschen können. Er gibt vor, den erstaun­ ten Einwand des imaginären Nicht-Philosophen an sich zu rich­ ten, den eine solche Kühnheit schreckt und der ihm sagt: Nein, nicht alle sinnlichen Erkenntnisse, denn ohne sie wären Sie wahn­ sinnig, und es wäre unvernünftig, sich nach den Wahnsinnigen zu richten und uns die Rede eines Wahnsinnigen zu unterbreiten. Descartes macht sich zum Echo dieses Einwandes: Da ich da bin, da ich schreibe, da Sie mich vernehmen, bin ich nicht wahn­ sinnig, und Sie auch nicht, und wir befinden uns unter vernünfti­ gen Menschen. Das Beispiel des Wahnsinns ist also für die Zer­ brechlichkeit der sinnlichen Idee nicht aufschlussreich. Mag sein! i Derrida, J., L'Écriture et la différence, Paris 1967, S. 51-97; dt. Die Schrift und die Differenz, Frankfurt am Main 1972, S. 53-101.

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Descartes stimmt diesem natürlichen Standpunkt zu, oder eher: Er tut so, als ruhe er sich in dieser natürlichen Bequemlichkeit aus, um sich ihr dann umso besser und radikaler und endgültiger zu entziehen und seinen Gesprächspartner zu beunruhigen. Mag sein, sagt er, Sie denken, ich wäre wahnsinnig, wenn ich daran zweifeln würde, dass ich in der Nähe des Feuers sitze usw., ich wäre verrückt, wenn ich mich nach dem Beispiel von Wahnsinni­ gen richten würde. Ich werde Ihnen also eine Hypothese Vor­ schlägen, die Ihnen wohl natürlicher erscheinen und Sie nicht befremden wird, weil es sich um eine gewöhnlichere, auch uni­ versalere Erfahrung als die Erfahrung des Wahnsinns handelt: Es ist die Erfahrung des Schlafes und des Traumes. Descartes entwi­ ckelt nun jene Hypothese, die sämtliche sinnlichen Grundlagen der Erkenntnis zugrunde richten und nur die intellektuellen Grundlagen der Gewissheit freilegen wird. Diese Hypothese wird vor allem nicht der Möglichkeit - erkenntnistheoretischer - Ver­ rücktheiten aus dem Weg gehen, die noch bedrohlicher sind als die des Wahnsinns. Diese Bezugnahme auf den Traum steht folglich gegenüber der Möglichkeit eines Wahnsinns, den Descartes in Schach gehalten oder gar ausgeschlossen hätte, in nichts zurück, ganz im Gegen­ teil. Sie stellt innerhalb der methodischen Ordnung, welche hier die unsere ist, die hyperbolische Steigerung der Hypothese des Wahnsinns dar. Dieser würde auf kontingente und partielle Weise nur bestimmte Regionen der sinnlichen Wahrnehmung betreffen. Im Übrigen geht es hier für Descartes nicht darum, den Begriff des Wahnsinns zu bestimmen, sondern sich des geläufigen Aus­ drucks einer Verrücktheit zu rechtlichen und methodologischen Zwecken zu bedienen, um Rechtsfragen zu stellen, die allein die Wahrheit der Ideen betreffen.2 Festzuhalten ist hieran, dass von diesem Gesichtspunkt aus der Schlafende oder Träumende wahn2 Der Wahnsinn, Thema oder Index: Bezeichnend ist, dass Descartes in diesem Text im Grunde niemals vom Wahnsinn selbst spricht. Er ist nicht sein Thema. Er behandelt ihn als einen Index für eine Rechtsfrage und eine Frage von erkennt­ nistheoretischem Rang und Wert. Vielleicht ist gerade das, wird man einwenden, das Zeichen einer tiefgreifenden Ausschließung. Aber dieses Schweigen über den Wahnsinn selbst bedeutet gleichzeitig das Gegenteil einer Ausschließung, denn es geht nicht um den Wahnsinn in diesem Text, er steht nicht zur Debatte, und wäre es, um ihn auszuschließen. In den Meditationes spricht Descartes nicht vom Wahnsinn selbst.

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sinniger ist als der Wahnsinnige. Oder dass zumindest der Träu­ mer hinsichtlich des Erkenntnisproblems, das Descartes hier in­ teressiert, weiter von der wahren Wahrnehmung entfernt ist als der Wahnsinnige. Im Falle des Schlafes und nicht in dem der Verrücktheit wird die absolute Totalität der Ideen sinnlichen Ur­ sprungs verdächtig, büßt sie, nach dem Ausdruck von M. Guéroult, ihren objektiven Wert< ein. Die Hypothese der Verrücktheit war also kein gutes, kein aufschlussreiches Beispiel; es war kein gutes Instrument für den Zweifel. Und dies zumindest aus zwei Gründen: a) Es deckt nicht die Totalität des Feldes der sinnlichen Wahr­ nehmung ab. Der Wahnsinnige täuscht sich nicht immer und in allem; er täuscht sich nicht genug, er ist niemals wahnsinnig ge­ nug. b) Es ist ein in der pädagogischen Ordnung wirkungsloses und unglückliches Beispiel, denn es stößt auf den Widerstand des Nicht-Philosophen, der nicht die Kühnheit hat, dem Philosophen zu folgen, wenn dieser zugesteht, dass er durchaus in dem Mo­ ment, da er spricht, wahnsinnig sein könne.« Derridas Argumentation ist bemerkenswert. Durch ihre Tiefe und mehr noch vielleicht durch ihre Freimütigkeit. Worum es in der Auseinandersetzung geht, wird deutlich angezeigt: Könnte es et­ was geben, das dem philosophischen Diskurs vorausgeht oder äußerlich bleibt? Kann er seine Bedingung in einer Ausschlie­ ßung, einer Zurückweisung, einer umgangenen Gefahr und, wa­ rum nicht, in einer Furcht haben? Ein Verdacht, den Derrida mit Leidenschaft zurückweist. Pudenda origoy sagte Nietzsche, und meinte damit die Mönche [»religieux«] und ihre Religion. Stellen wir Derridas Analysen und Descartes’ Texte einander gegenüber. i. Die Vorrechte des Traumes gegenüber dem Wahnsinn

Derrida: »Der Traum ist eine gewöhnlichere, auch universalere Erfahrung als die Erfahrung des Wahnsinns.« »Der Wahnsinnige täuscht sich nicht immer und in allem.« »Der Wahnsinn betrifft

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auf kontingente und partielle Weise nur bestimmte Regionen der sinnlichen Wahrnehmung. « Nun behauptet aber Descartes keineswegs, der Traum sei »ge­ wöhnlicher, auch universaler als die Erfahrung des Wahnsinns«. Ebenso wenig behauptet er, die Wahnsinnigen seien nur von Zeit zu Zeit und was einzelne Punkte betrifft wahnsinnig. Hören wir ihm besser zu, wie er auf die Leute zu sprechen kommt, die »be­ ständig versichern, sie seien Könige«. Sollten diese Menschen, die sich für Könige halten oder die glauben, einen Körper aus Glas zu haben, einen unregelmäßiger auftretenden Wahnsinn haben als der Traum? Trotzdem ist es eine Tatsache: Auf dem Weg des Zweifels räumt Descartes dem Traum gegenüber dem Wahnsinn ein Vorrecht ein. Lassen wir für den Augenblick das Problem beiseite, ob der Wahn­ sinn ausgeschlossen, bloß vernachlässigt oder in einer reichhalti­ geren und radikaleren Erfahrung wieder aufgenommen wird. Kaum hatte Descartes das Beispiel des Wahnsinns angeführt, da lässt er es auch schon wieder fahren und kommt auf den Fall bei den Träumen zu sprechen: »Immerhin muss ich hier in Betracht ziehen, dass ich ein Mensch bin und folglich die Gewohnheit habe, zu schlafen und mir in meinen Träumen dieselben oder mitunter noch weniger wahrscheinliche Dinge vorzustellen als jene Wahnsinnigen, wenn sie wachen.« Der Traum hat somit einen doppelten Vorteil. Einerseits ist er imstande, zu Verrücktheiten Anlass zu geben, die dem Wahnsinn gleichkommen oder manchmal über ihn hinausgehen. Anderer­ seits hat er die Eigenschaft, dass man sein Zustandekommen ge­ wohnt ist. Der erste Vorteil gehört in die Ordnung von Logik und Beweis: All das, woran der Wahnsinn (das Beispiel, das ich gerade übergangen habe) mich zweifeln lassen könnte, wird auch der Traum mir ungewiss machen können; als Macht der Ungewissheit steht der Traum dem Wahnsinn in nichts nach; und nichts von der Beweiskraft des Wahnsinns geht im Traum verloren, wenn man mich von all dem wird überzeugen müssen, was ich in Zweifel zu ziehen habe. Der weitere Vorteil des Traumes ist von ganz anderer Art: Der Traum kommt häufig vor, er stellt sich des Öfteren ein; ich habe Erinnerungen daran, die mir ganz nahe sind; es fällt nicht schwer, über sehr lebhafte, von ihm hinterlassene Erinnerungen

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zu verfügen. Kurzum, es ist ein praktischer Vorteil, sobald es nicht mehr darum geht, zu beweisen, sondern eine Übung durchzufüh­ ren und eine Erinnerung, einen Gedanken oder einen Zustand innerhalb der Bewegung der Meditation wachzurufen. Die Verrücktheit des Traumes gewährleistet seinen beweiskräf­ tigen Charakter als Beispiel. Sein häufiges Vorkommen sichert seine Zugänglichkeit als Übung. Und gerade diese Zugänglichkeit ist hier das Anliegen von Descartes, stärker jedenfalls als seine ein für alle Mal - und wie um sich zu vergewissern, dass die Hypo­ these des Wahnsinns reuelos aufgegeben werden kann - ange­ zeigte Beweiskraft. Mehrmals hingegen wird thematisiert, dass der Traum recht häufig zustande kommt: »Ich bin ein Mensch und habe folglich die Gewohnheit zu schlafen«; »wie oft ist es mir in der Nacht passiert, dass ich geträumt habe«; »was im Schlaf geschieht«; »indem ich es mir genau überlege, erinnere ich mich wieder, dass ich oft getäuscht worden bin, als ich schlief«. Es ist nun allerdings meine Befürchtung, dass Derrida diese beiden Aspekte des Traumes zusammengeworfen hat. Es sieht ganz danach aus, als habe er sie mit einem Wort abgedeckt, das sie mit Gewalt verbindet: »universal«. »Universal« widerführe der Traum sowohl jedermann als auch mit Bezug auf alles. Der Traum: die Bezweifelbarkeit von allem für alle. Doch damit tut man den Worten Gewalt an: Man geht klar über das hinaus, was der cartesische Text sagt; oder eher noch, man bleibt diesseits dessen, was für ihn jeweils einzigartig ist; man tilgt das deutlich herausgehobene Merkmal der Verrücktheit des Traumes und sei­ ner Häufigkeit; man radiert die spezifische Rolle dieser beiden Merkmale im cartesischen Diskurs (Beweis und Übung) aus, und man unterschlägt die größere Bedeutung, die der Gewohnheit statt der Verrücktheit gewährt wird. Doch weshalb ist es so wichtig, dass der Traum vertraut und zugänglich ist? 2. Meine Erfahrung mit dem Traum

Derrida: »Die Bezugnahme auf den Traum stellt innerhalb der methodischen Ordnung, welches die unsere ist, die hyperbolische Steigerung der Hypothese des Wahnsinns dar.«

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Bewahren wir, bevor wir den Absatz3 über den Traum erneut lesen, noch den gerade gesagten Satz im Ohr: »Aber was denn, dies sind doch Wahnsinnige, und ich wäre nicht weniger verrückt, würde ich mich nach ihren Beispielen richten.« Der Diskurs spinnt sich dann so fort: Entschluss des meditieren­ den Subjekts, die Tatsache in Betracht zu ziehen, dass es ein Mensch ist, dass es ihm widerfährt zu schlafen und zu träumen; Auftauchen einer Erinnerung oder vielmehr einer Mannigfaltigkeit von Erinne­ rungen, von Träumen, die mit der Wahrnehmung des heutigen Ta­ ges Merkmal für Merkmal exakt zusammenfallen (ich sitze an dieser Stelle, gänzlich angekleidet, in der Nähe des Feuers); dennoch das Gefühl, zwischen dieser Wahrnehmung und dieser Erinnerung gä­ be es einen Unterschied; einen Unterschied, der nicht nur festge­ stellt, sondern vielmehr vom Subjekt selbst in der Bewegung seiner Meditation vollzogen wird (ich sehe dieses Papier an; ich schüttle den Kopf, ich strecke die Hand aus, damit der Unterschied zwi­ schen Wachsein und Schlaf aufs lebhafteste zum Vorschein kommt); doch neue Erinnerungen auf einer zweiten Ebene (die Lebhaftigkeit dieses Eindrucks war häufig ein Teil meiner Träume); mit diesen Erinnerungen erlischt das lebhafte Gefühl, dass ich wach bin; es wird durch das klare Sehen ersetzt, dass es kein sicheres Anzeichen gibt, das den Schlaf vom Wachsein trennen könnte: eine Feststel­ lung, die beim meditierenden Subjekt ein Erstaunen hervorruft, so wie die Ununterschiedenheit zwischen Wachsein und Schlaf die Quasi-Gewissheit hervorruft, dass man schläft. Man sieht es: Der Entschluss, an den Traum zu denken, hat nicht nur zur Folge, dass aus Schlaf und Wachsein ein Thema der Reflexion gemacht wird. Dieses Thema wirkt sich im Zuge der Bewegung aus, die es vorbringt und seine Varianten durch­ spielt, im meditierenden Subjekt in Form von Erinnerungen, leb­ haften Eindrücken, willentlichen Gebärden, empfundenen Unter­ schieden und nochmals von Erinnerungen, einem klaren Sehen, einem Erstaunen und einer Ununterschiedenheit, die dem Gefühl zu schlafen ganz nahe ist. An den Traum zu denken heißt keines­ wegs, an irgend etwas Äußeres zu denken, von dem mir die Wir­ 3 Ich verwende aus Vergnügen, Bequemlichkeit und Treue zu Derrida diesen Aus­ druck Absatz [paragraphe]. In der Tat sagt Derrida in einer bildhaften und komi­ schen Weise: »Descartes setzt die Zeile ab [va à la ligne].« Man weiß, dass es damit nichts auf sich hat.

kungen wie auch die Ursachen bekannt wären; heißt keineswegs, nur eine völlig fremdartige Phantasmagorie oder die Regungen des Hirnes, die ihn hervorrufen können, zu beschwören; das Den­ ken des Traumes ist so geartet, dass es, wenn man sich darin fügt, die Wirkung hat, für das meditierende Subjekt, und das sogar in­ mitten seiner Meditation, die wahrgenommenen Grenzen zwi­ schen Schlaf und Wachsein zu verwischen. Der Traum verwirrt das Subjekt, das daran denkt. Seinen Geist auf den Traum anzu­ wenden ist keine indifferente Aufgabe: Es ist wohl vielleicht zu­ nächst ein Thema, das man sich vornimmt; aber es stellt sich rasch heraus, dass es eine Gefahr ist, der man sich aussetzt. Gefahr für das Subjekt, verwandelt zu werden; Gefahr, überhaupt nicht mehr sicher zu sein, wieder wach zu werden; Gefahr eines stupor> wie der lateinische Text sagt. Und genau da zeigt das Beispiel des Traumes ein weiteres seiner Vorrechte: Der Traum mag durchaus das meditierende Subjekt an dieser Stelle verwandeln, er hindert es nicht daran, inmitten dieses stupor weiterhin zu meditieren, rechtsgültig zu meditieren und trotz der Ununterschiedenheit, und so tief sie auch sein mag, zwischen Wachsein und Schlaf eine gewisse Anzahl von Dingen oder Prinzipien klar zu erkennen. Und selbst wenn ich mir nicht mehr sicher bin, dass ich wach bin, so bleibt mir doch die Sicher­ heit über das, was meine Meditation mir zu sehen gibt: Genau das zeigt die folgende Passage, die eben mit einer Art hyperbolischem Entschluss beginnt, »nehmen wir also an, wir seien eingeschla­ fen«, oder wie der lateinische Text kraftvoller sagt, Age somniemus. Das Denken des Traumes hatte mich zur Ungewissheit und diese durch das von ihr hervorgerufene Erstaunen zur QuasiGewissheit des Schlafes geführt; aus dieser Quasi-Gewissheit machen jetzt meine Entschlüsse ein systematisches Täuschungs­ manöver. Das meditierende Subjekt wird so in einen künstlichen Schlaf versetzt: Age somniemus, und von da an wird die Medita­ tion sich aufs Neue entwickeln können. Man kann jetzt all die Möglichkeiten erkennen, die durch den gewiss nicht »universalen«, sondern bescheiden gewohnheitsmä­ ßigen Charakter des Traumes gegeben sind. 1) Er ist eine mögliche und unmittelbar zugängliche Erfahrung, für die tausend Erinnerungen als Vorbild vorliegen. 2) Diese mögliche Erfahrung ist nicht bloß ein Thema für die

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Meditation: Sie kommt wirklich und gegenwärtig in der Medita­ tion zustande, und zwar in folgender Reihenfolge: Man denkt an den Traum; man erinnert sich an den Traum; man versucht, Traum und Wachsein abzugrenzen; man weiß nicht mehr, ob man träumt oder nicht; man tut willentlich so, als ob man träumen würde. 3) Durch diese meditative Übung wirkt sich das Denken des Traumes im Subjekt selbst aus: Es verwandelt das Subjekt, indem es das Subjekt in den stupor fallen lässt. 4) Doch indem es das Subjekt verwandelt, indem es aus ihm ein Subjekt macht, das nicht gewiss ist, dass es wacht, spricht es dem Subjekt nicht die Eigenschaft ab, ein meditierendes Subjekt zu sein: Selbst wenn es in ein »Subjekt« verwandelt wird, »von dem unterstellt wird, dass es schläft« [»sujet supposé dormant«], kann das meditierende Subjekt auf sichere Weise den Weg seines Zweifels fortsetzen. Doch darauf muss man von anderer Seite zurückkommen und diese Erfahrung des Traumes mit dem Beispiel des Wahnsinns vergleichen, das ihm unmittelbar vorausgeht. 3. Das »gute« und das »schlechte« Beispiel

Derrida: »Festzuhalten ist hieran, dass von diesem Gesichtspunkt aus der Schlafende und der Träumende wahnsinniger sind als der Wahnsinnige.« Für Derrida wird der Wahnsinn von Descartes nicht ausgeschlos­ sen, sondern bloß vernachlässigt. Vernachlässigt zugunsten eines besseren und radikaleren Beispiels. Das Beispiel des Traumes ver­ längert, vervollständigt und verallgemeinert das vom Beispiel des Wahnsinns so? unangemessen Angezeigte. Der Übergang vom Wahnsinn zum Traum ist somit der Übergang von einem »schlechten« zu einem »guten« Instrument des Zweifels. Es ist nun allerdings meine Ansicht, dass der Gegensatz zwi­ schen Traum und Wahnsinn von einer ganz anderen Art ist. Dazu muss man Schritt für Schritt die beiden Absätze bei Descartes vergleichen und das System ihres Gegensatzes in seinen Einzel­ heiten nachvollziehen. 1) Die Natur der meditativen Übung. Sie wird im verwandten

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Wortschatz klar erkennbar. Der Absatz über den Wahnsinn: ein vom Vergleich geprägter Wortschatz. Wenn ich bestreiten will, dass »diese Hände und dieser Körper mir gehören«, so muss »ich mich mit gewissen Wahnsinnigen vergleichen (comparare)«\ aber ich wäre eindeutig verrückt, »wenn ich mich nach ihren Bei­ spielen richten würde (si quod ab iis exemplum ad me transferram: wenn ich irgendein von ihnen stammendes Beispiel auf mich an­ wenden würde)«. Der Wahnsinnige: ein äußerer Bezugspunkt, mit dem ich mich vergleiche. Der Absatz über den Traum: ein vom Gedächtnis geprägter Wortschatz. »Ich habe die Gewohnheit, mir in meinen Träumen vorzustellen«; »wie oft ist es mir passiert«; »indem ich es mir genau überlege, erinnere ich mich wieder«. Der Träumer: das, woran ich mich erinnere, selbst gewesen zu sein; aus der Tiefe meines Ge­ dächtnisses steigt der Träumende auf, der ich selber gewesen bin, der ich von neuem sein werde. 2) Die Themen der meditativen Übung. Sie erscheinen in den Beispielen, die das meditierende Subjekt sich selbst vorgibt. Für den Wahnsinn: sich für einen König halten, während man arm ist; sich mit Gold bekleidet glauben, während man nackt ist; sich vorstellen, man habe einen Körper aus Glas oder man sei ein Krug. Der Wahnsinn ist das ganz Andere, er entstellt und versetzt; er ruft einen anderen Schauplatz hervor. Für den Traum: man sitzt (so wie ich jetzt); verspürt die Wärme des Feuers (so wie ich sie heute vei spüre); streckt die Hand aus (wie ich mich in diesem Augenblick zu tun entschließe). Der Traum versetzt den Schauplatz nicht; er verdoppelt die Demonstrativa, die auf den Schauplatz hinzeigen, auf dem ich bin (Diese Hand? Eine andere Hand vielleicht, eine abgebildete. Dieses Feuer? Ein anderes Feuer vielleicht, ein Traum). Die traumhafte Einbildung sitzt der aktuellen Wahrnehmung genau auf. 3) Die zentrale Prüfung der Übung. Sie besteht in der Suche nach dem Unterschied; kann ich diese vorgelegten Themen in meine Meditation in eigener Verantwortung übernehmen? Kann ich mich ernsthaft fragen, ob ich einen Körper aus Glas habe, oder ob ich nicht ganz nackt in meinem Bett liege? Wenn ja, so bin ich allerdings genötigt, sogar an meinem Körper zu zweifeln. Er ist dagegen gerettet, wenn meine Meditation deutlich vom Wahnsinn und vom Traum unterschieden bleibt.

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Vom Traum? Ich mache die Probe: Ich habe die Erinnerung, ich hätte geträumt, ich würde den Kopf schütteln. Ich werde also hier und jetzt aufs Neue den Kopf schütteln. Gibt es dabei einen Un­ terschied? Ja doch: eine gewisse Klarheit, eine gewisse Deutlich­ keit. Doch, zweite Phase der Probe: Lässt sich diese Klarheit und Deutlichkeit nicht im Traum vorfinden? Ja, ich habe die eindeu­ tige Erinnerung daran. Folglich gehört das, von dem ich glaubte, es sei das Kriterium für den Unterschied (Klarheit und Deutlich­ keit), unterschiedslos dem Traum wie dem Wachsein an; es kann also nicht den Unterschied ausmachen. Vom Wahnsinn? Die Probe wird sofort gemacht. Oder viel­ mehr, von nahem betrachtet, erkennt man deutlich, dass sie nicht so stattfindet, wie sie für den Traum stattfindet. Denn es kommt gar nicht infrage, dass ich versuche, mich für einen Wahnsinnigen zu halten, der sich für einen König hält; und genauso wenig kommt es infrage, dass ich mich frage, ob ich nicht ein König bin (oder auch ein Kapitän aus der Touraine), der sich für einen Philosophen hält, der sich eingeschlossen hat, um zu meditieren. Der Unterschied zum Wahnsinn ist nicht ausprobiert worden: Er wird festgestellt. Kaum ist die Rede auf die Themen der Verrückt­ heit gekommen, da bricht auch schon die Unterscheidung wie ein Schrei hervor: sed amentes sunt istu 4) Der Effekt der Übung. Er wird in den Sätzen oder vielmehr in den Satz-Entscheidungen sichtbar, die jede der beiden Passagen beenden. Der Absatz über den Wahnsinn: »Aber was denn, dies sind doch Wahnsinnige« (dritte Person Plural, sie, die anderen, isti), »ich wäre nicht weniger verrückt, würde ich mich nach ihrem Beispiel richten«; es wäre (festzuhalten ist das Konditional) Wahnsinn, wenn man auch nur versuchen würde, es auszuprobieren, wenn man diesen ganzen Wahn nachahmen und mit den Wahnsinnigen, wie die Wahnsinnigen auf wahnsinnig machen wollte. Nicht da­ durch, dass ich die Wahnsinnigen nachahme, werde ich mich da­ von überzeugen, dass ich wahnsinnig bin (so wie gleich das Den­ ken an den Traum mich überzeugen wird, dass ich vielleicht schlafe); verrückt ist allein der Vorsatz, sie nachahmen zu wollen. Die Verrücktheit hängt direkt an der Idee, man könne es auspro­ bieren; und genau deshalb geht die Probe fehl und wird durch die bloße Feststellung eines Unterschiedes ersetzt.

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Der Absatz über den Traum: Dem Satz »Dies sind doch Wahn­ sinnige« entspricht genau: »Ich bin ganz erstaunt« (obstupescere: dem Aufschrei über den Unterschied entspricht die Verblüffung [»stupeur«] über die Unterschiedslosigkeit); und dem Satz »ich wäre nicht weniger verrückt, wenn...« entspricht »mein Erstau­ nen (stupor) ist so groß, dass es mich beinahe davon überzeugen kann, dass ich schlafe«. Die tatsächlich versuchte Probe hat so gut »geklappt«, dass ich mich hier nun in der Ungewissheit über mein eigenes Wachsein befinde (festzuhalten ist das Präsens Indikativ). Und genau in dieser Ungewissheit entschließe ich mich zur Fort­ setzung meiner Meditation. Es wäre wahnsinnig, auf wahnsinnig machen zu wollen (und so verzichte ich darauf); den Eindruck zu schlafen sowie im Traum zu denken hat man jedoch schon gehabt (und darüber werde ich jetzt meditieren). Es ist außerordentlich schwierig, für das zwischen diesen bei­ den Absätzen erzeugte Echo taub zu bleiben. Schwierig, nicht von dem komplexen Oppositionssystem beeindruckt zu sein, das sich darunter erstreckt. Schwierig, darin nicht zwei sowohl parallele als auch verschiedene Übungen zu erkennen: die Übung des de­ inem und die Übung des dormiens. Schwierig, die Worte und die Sätze nicht zu vernehmen, die oberhalb und unterhalb von diesem »freilich« einander gegenüberstehen, dessen Bedeutung Derrida so gründlich heraus gehoben, aber dessen Funktion im Spiel des Diskurses er zu Unrecht, wie ich glaube, nicht analysiert hat. Schwierig fürwahr, allein zu sagen, unter den Gründen für den Zweifel sei der Wahnsinn ein unzureichendes und pädagogisch ungeschicktes Beispiel, weil der Träumende letztlich noch wahn­ sinniger sei als der Wahnsinnige. Die vollständige diskursive Analyse zeigt es: Die Feststellung nicht wahnsinnig zu sein (und die Zurückweisung der Probe) steht nicht in einer bruchlosen Verbindung mit der Probe des Schlafes (und der Feststellung, dass man vielleicht schläft). Doch weshalb wird die Prüfung des demens verworfen? Lässt sich daraus, dass sie nicht stattfindet, schließen, dass sie ausge­ schlossen wird? Schließlich spricht Descartes so wenig und so eilig vom Wahnsinn...

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4. Die Disqualifikation des Subjekts

Derrida: »Bezeichnend ist, dass Descartes in diesem Text im Grun­ de niemals vom Wahnsinn selbst spricht... Es geht nicht um den Wahnsinn in diesem Text, er steht nicht zur Debatte, und wäre es, um ihn auszuschließen.« Wiederholt weist Derrida klugerweise darauf hin, dass man sich, will man Descartes* Text richtig verstehen, auf die erste, die la­ teinische Version beziehen muss. Er erinnert - und tut dies ganz zu Recht - an die von Descartes in dem berühmten Satz verwand­ ten Worte: »Aber was denn, dies sind doch Wahnsinnige (sed amentes sunt isti), und ich wäre nicht weniger verrückt (demens), würde ich mich nach ihren Beispielen richten.« Unglücklicher­ weise belässt er es in der Analyse bei der schlichten Erinnerung an diese Worte. Kommen wir auf die Passage selbst zurück: »Wie könnte ich bestreiten, dass diese Hände und dieser Körper mir gehören, außer ich vergleiche mich mit gewissen Wahnsinnigen...?« (Der hier verwandte Ausdruck ist insani.) Wer sind nun diese insani, die sich für Könige oder Krüge halten? Es sind amentes; und ich wäre nicht weniger demens, wenn ich ihre Beispiele auf mich selbst anwenden würde. Warum diese drei Ausdrücke, oder vielmehr, warum ist zunächst der Ausdruck insanus und dann das Paar amens-demens verwandt worden? Wenn die Wahnsinnigen durch die Unwahrscheinlichkeit ihrer Einbildung charakterisiert werden sollen, werden sie insani genannt: ein Wort, das genauso dem geläufigen Wortschatz wie der ärztlichen Fachsprache angehört. Insanus sein heißt, sich für das zu halten, was man nicht ist, heißt, an Hirngespinste zu glauben, heißt, das Opfer von Illusionen zu sein; eben an diesen Zeichen kann man sie erkennen. Und was die Ursachen angeht, heißt es, dass ihr Gehirn von Ausdünstungen verstopft sei. Doch sobald Descartes nicht länger den Wahnsinn charakterisieren, sondern bekräftigen möchte, dass ich mir an den Wahnsinnigen kein Beispiel nehmen darf, gebraucht er die Aus­ drücke demens und amens: ein zunächst der Rechtssprache ent­ stammender Ausdruck, der erst später zu einem medizinischen wurde, und der eine ganze Klasse von Leuten bezeichnet, die zu

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bestimmten religiösen, staatsbürgerlichen und rechtlichen Hand­ lungen außerstande sind; die dementes sind nicht im Vollbesitz ihrer Rechte, wenn es darum geht, zu sprechen, zu versprechen, sich zu verpflichten, zu unterzeichnen, jemanden gerichtlich zu belangen usw. Insanus ist ein charakterisierender Ausdruck; amens und demens sind disqualifizierende Ausdrücke. Im ersten Ausdruck geht es um Zeichen, bei den anderen um eine Qualifika­ tion. Die beiden Sätze: Um an meinem Körper zu zweifeln, muss »ich mich mit gewissen Wahnsinnigen vergleichen«, und »aber was denn, dies sind doch Wahnsinnige« sind kein Beleg für eine unwillige und gereizte Tautologie. Denn damit wird keineswegs behauptet, dass man wie die Wahnsinnigen sein oder tun muss, sondern vielmehr: Dies sind Wahnsinnige, und ich bin nicht wahnsinnig. Es dürfte vielmehr eine einzigartige Verflachung dar­ stellen, wenn man den Satz so zusammenfasst, wie Derrida dies tut: »Da ich da bin... bin ich nicht wahnsinnig, und Sie auch nicht, und wir befinden uns unter vernünftigen Menschen.« Die Entwicklung des Textes ist eine ganz andere: An seinem Körper zu zweifeln heißt, so zu sein wie die irregeleiteten Gemüter, die Kranken, die insanu Kann ich ihrem Beispiel folgen und für mich zumindest den Wahnsinn Vortäuschen und mich in meinen eige­ nen Augen ungewiss machen, ob ich wahnsinnig sei oder nicht? Ich kann es nicht und ich darf es auch nicht. Denn diese insani sind amentes\ und ich wäre nicht weniger demens als sie und wäre rechtlich disqualifiziert, wenn ich mich nach ihnen richten wür­ de... Derrida hat diese rechtliche Konnotation des Wortes dunkel verspürt. Er kommt mehrere Male, beharrlich und zögerlich, da­ rauf zurück. Descartes, behauptet er, »behandelt den Wahnsinn als einen Index für eine Rechtsfrage und eine Frage erkenntnistheo­ retischen Wertes«. Oder auch: »Es geht hier für Descartes nicht darum, den Begriff des Wahnsinns zu bestimmen, sondern sich des geläufigen Ausdrucks einer Verrücktheit zu rechtlichen und methodologischen Zwecken zu bedienen, um Rechtsfragen zu stellen, die allein die Wahrheit der Ideen betreffen.« Ja, Derrida hat Recht, wenn er betont, dass es an dieser Stelle um Recht geht. Ja, er hat ebenfalls Recht, wenn er behauptet, Descartes habe »den Begriff Wahnsinn« nicht »bestimmen« wollen (und wer hat das

102 M ein Körper, dieses Papier, dieses Feuer

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auch je behauptet?). Aber er hat insofern Unrecht, als er nicht gesehen hat, dass Descartes’ Text mit der Abweichung zwischen zwei Arten von Bestimmungen des Wahnsinns (die einen medi­ zinischer, die anderen rechtlicher Natur) spielt. Und er hat vor allem Unrecht, wenn er übereilt behauptet, die hier aufgeworfene Rechtsfrage betreffe »die Wahrheit der Ideen«, wo sie doch, die Worte sagen es eindeutig, die Qualifikation des Subjekts betrifft. Das Problem lässt sich damit wie folgt formulieren: Kann ich an meinem eigenen Körper zweifeln, kann ich an meiner Aktualität zweifeln? Das Beispiel der Wahnsinnigen, der insani> fordert mich dazu auf. Doch mich mit ihnen zu vergleichen, so zu tun wie sie, impliziert, dass auch ich wie sie irrsinnig werden und die Fähig­ keit und Qualifikation zu meinem Unternehmen einer Meditation verlieren muss: Ich wäre nicht weniger demens, wenn ich mich nach ihren Beispielen richten würde. Wenn ich aber umgekehrt das Beispiel des Traums nehme, wenn ich vorgebe zu träumen, dann könnte ich, so dormiens ich auch bin, weiterhin meditieren, räsonnieren und klar erkennen. Wäre ich demens, könnte ich nicht weitermachen: Auf die bloße Hypothese hin bin ich verpflichtet, innezuhalten, mir etwas anderes vorzunehmen und danach zu suchen, ob ein anderes Beispiel es mir ermöglicht, an meinem Körper zu zweifeln. Bin ich dormiens, kann ich meine Meditation fortführen; ich behalte die Qualifikation, denken zu können, und treffe somit den Entschluss: Age somniemus, der in einen neuen Zeitabschnitt der Meditation einführt. Wahrlich, nur eine sehr äußerliche Lektüre dürfte zu der Be­ hauptung kommen, »es gehe in diesem Text nicht um den Wahn­ sinn«. Es mag so sein, werden Sie sagen. Nehmen wir einmal an, trotz Derrida, man müsste dem Text und allen seinen kleinen Differen­ zen eine so große Aufmerksamkeit entgegenbringen. Haben Sie damit auch nachgewiesen, dass der Wahnsinn wirklich vom Weg des Zweifels ausgeschlossen ist? Wird sich Descartes nicht über die Einbildung nochmals darauf beziehen? Wird er nicht Thema sein, wenn es um die Verrücktheit der Maler und um diese ganzen phantastischen Hirngespinste geht, die sie erfinden?

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5. Die Verrücktheit der Maler Derrida: »Was Descartes weiter oben als Verrücktheit auszuschlie­ ßen schien,, wird hier als Möglichkeit zugestanden... Denn in diesen Darstellungen, diesen Bildern, diesen Ideen im cartesischen Sinne kann alles falsch und fiktiv sein, wie die Darstellungen die­ ser Maler; deren Einbildung, wie Descartes ausdrücklich sagt, ver­ rückt genug ist, um etwas so Neues zu erfinden, dass wir niemals etwas Ähnliches gesehen habendass es nichts gibt, was die Mühe des Erinnerns lohnt. Schade, dass du Der Mut des Volkes7 nicht gesehen hast. Das ist ein bolivianischer Film, der ganz ausdrück­ lich als Beweisstück gedreht wurde. In diesem Film, der in der ganzen Welt gezeigt wird {wegen des herrschenden Regimes aber nicht in Bolivien), spielen die Akteure des wirklichen Dramas ihre eigene Geschichte {einen Minenarbeiterstreik, der blutig nieder­ geschlagen wird), sie nehmen ihre Darstellung selbst in die Hand, damit niemand sie vergisst. Es ist interessant zu sehen, wie der ganze Film auf minimaler Ebene als potentielles Archiv funktioniert und wie man sich aus der Perspektive des Kampfes dieser Idee bemächtigen kann, wie man ein fortgeschritteneres Stadium erreichen kann, weil die Leu­ te ihren Film wie einen Argumentationsgang anlegen. Und man kann das auf zwei völlig verschiedene Weisen denken. Einerseits so, dass der Film die Macht in Szene setzt, andererseits so, dass er die Opfer dieser Macht darstellt, die ausgebeuteten Klassen, die ganz ohne Zugriff auf den Produktions- und Vertriebsapparat des Films mit sehr geringen technischen Mitteln ihre eigene Darstel­ lung in die Hand nehmen und Zeugnis für ihre Geschichte ablegen. Ein wenig so, wie Pierre Rivière Zeugnis abgelegt hat, d. h. zu schreiben begann im Bewusstsein, dass sein Text früher oder später erscheinen würde und dass alle Welt wissen sollte, was er zu sagen hatte. An Der Mut des Volkes ist wichtig, dass diese Forderung tat­ sächlich vom Volk ausging. Der Regisseur ging von einer Unter­ suchung aus und folgte von da aus dieser Forderung. Die Leute, die dieses Ereignis selbst durchlebt haben, verlangten, dass man sich daran erinnere. - Das Volk bildet seine eigenen Archive. - Der Unterschied zwischen Pierre Rivière und Lacombe Luden liegt darin, dass Pierre Rivière alles tut, damit man nach seinem Tod über seine Geschichte diskutieren kann. Dagegen ist Lacombe, 7 [El Coraje delpueblo von J. Sanjines, über die Kämpfe der Zinnminenarbeiter von 1967, 1971, italienisch-bolivianische Koproduktion.]

140 A nti-R etro

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auch wenn er eine wirkliche Person ist oder wirklich existiert ha­ ben könnte, nur Objekt des Diskurses eines anderen zu anderen Zwecken als den seinen. Was im Kino derzeit gut läuft, ist zweierlei. Einerseits wichtige geschichtliche Dokumente. Sie spielen zum Beispiel in Ein Leben lang8 eine sehr wichtige Rolle. Auch in den Filmen von Marcel Ophuls oder von Harris und Sédouy9 ist die Tatsache bewegend, dass man Duclos 1936, 1939 tatsächlich im Widerstand sieht. Auf der anderen Seite gibt es die fiktiven Figuren, an denen sich in einem gegebenen geschichtlichen Augenblick in höchster Verdich­ tung die gesellschaftlichen Bezüge, die Bezüge zur Geschichte zei­ gen. Deshalb läuft Lacombe Lucien so erfolgreich. Lacombe ist ein Franzose unter der Besatzung, ein Kerl mit konkreten Beziehun­ gen zum Nazismus, zum Land, zur örtlichen Macht etc. Und diese Art, die Geschichte zu personifizieren, sie in einer Figur oder einer Gruppe von Figuren zu verkörpern, in denen sich in einem be­ stimmten Moment ein privilegierter Bezug zur Macht verdichtet, dürfen wir nicht ignorieren. In der Geschichte der Arbeiterbewegung gibt es einen Haufen Gestalten, die man gar nicht kennt; es gibt jede Menge Helden der Arbeitergeschickte, die vollständig verdrängt wurden. Und hier geht es, denke ich, wirklich um etwas. Der Marxismus braucht keine Filme über Lenin mehr zu machen, die hat es schon haufen­ weise gegeben. - Das ist wichtig, was du sagst. Es trifft auf viele heutige Marxis­ ten zu. Das ist die Ignoranz gegenüber der Geschichte. Alle diese Leute, die andauernd davon reden, dass man die Geschichte nicht versteht, sind bloß dazu fähig, Texte zu kommentieren: Was hat Marx gesagt? Hat Marx das wirklich gesagt? Doch was ist der Marxismus schließlich, wenn nicht eine andere Art und Weise, die Geschichte selbst zu analysieren? Meines Erachtens denkt die Linke in Frankreich nicht geschichtlich. Das hat sie früher einmal getan. Man kann sagen, dass Michelet im 19. Jahrhundert in einem bestimmten Moment für die Linke stand. Dann war da Jaurès, und dann ist daraus eine Art historische Tradition der sozialdemokratischen Linken geworden (Marthiez etc.). Heute 8

[ V o n G . U c i c k y , 1 9 4 0 .]

9

[Français si vous saviez,

1 9 7 2 .]

8 io

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ist das nur noch ein Rinnsal. Hier hätte sich eine großartige Be­ wegung entwickeln können, welche die Schriftsteller, die Filme­ macher einbezogen hätte. Immerhin hat es Aragon und Les cloches de Bâle10 gegeben, einen großen historischen Roman. Aber das ist nicht viel im Verhältnis zu dem, was in einer Gesellschaft möglich wäre, von der man trotz allem sagen kann, dass ihre Intellektuel­ len mehr oder minder vom Marxismus geprägt sind. - In dieser Hinsicht bringt das Kino etwas Neues: die »direkt« angegangene Geschichte... Welche Beziehung hat man in Ame­ rika zur Geschichte, wenn man Abend für Abend beim Essen im Fernsehen dem Vietnamkrieg zusieht? - Wenn man jeden Abend die Bilder des Krieges sieht, dann wird der Krieg etwas ganz Erträgliches. Das heißt, er wird langweilig, und man möchte eigentlich viel lieber etwas anderes sehen. Wenn man ihn aber langweilig findet, erträgt man ihn. Man schaut nicht mal mehr hin. Was also tun, um aus diesen so abgefilmten Nach­ richten wieder eine wichtige geschichtliche Gegenwart zu machen? - Du hast Les Camisards11 gesehen? - Ja, ich mochte den Film sehr. Geschichtlich ist er vorbildlich. Er ist schön, er ist intelligent, und man versteht durch ihn eine ganze Menge. - Ich denkey in diese Richtung müsste man gehen, um Filme zu machen. Um auf die Filme zurückzukommen, über die wir zu Beginn sprachen, da muss man auf das Problem der Verwirrung der extremen Linken angesichts gewisser Aspekte, besonders des sexuellen, in Lacombe Lucien oder Portier de nuit kommen. Wie kann diese Verwirrung der Rechten nützen?... - Was die extreme Linke angeht, wie du sie nennst, bin ich in großer Verlegenheit. Ich bin mir nicht sicher, ob sie noch existiert. Dennoch hat das, was die extreme Linke seit 1968 getan hat, enorme Ergebnisse erbracht, die man festhalten muss: negative 10

[P a ris , D e n o ë l 1 9 3 4 ; d t.

11

[F ilm

Die Glocken von Basel M

v o n R e n é A l l i o , 1 9 7 1 .]

o s k a u 1 9 3 6 ( M ü n c h e n 1 9 7 9 ) .]

141 Wahnsinn, eine Frage der M acht

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auf der einen, positive auf der anderen Seite. Es stimmt, dass diese extreme Linke eine ganze Menge wichtiger Ideen verbreitet hat: die Sexualität, die Frauen, die Homosexualität, die Psychiatrie, der Wohnungsbau, die Medizin. Sie hat auch Aktionsarten ver­ breitet, die wichtig bleiben. Die extreme Linke ist wichtig gewe­ sen sowohl im Hinblick auf die Aktionsformen wie im Hinblick auf die Themen. Aber es gibt, was gewisse stalinistische, terroris­ tische, organisatorische Praktiken angeht, auch eine negative Bi­ lanz. Auch ihr Unverständnis gegenüber bestimmten umfassen­ den und tiefreichenden Prozessen, die sich in den 13 Millionen Wählerstimmen für Mitterand niedergeschlagen haben und die man immer mit dem Vorwand beiseite geschoben hat, das sei bloß eine Sache der Berufspolitik, der Parteipolitik. Man hat eine ganze Menge Aspekte vernachlässigt, vor allem, dass der Wunsch, die Rechte zu besiegen, schon seit einer Reihe von Jahren, von Mo­ naten, für die Massen ein außerordentlich wichtiger politischer Faktor gewesen ist. Die extreme Linke hat diesen Wunsch nicht verspürt, weil sie eine falsche Definition der Massen hat, eine falsche Vorstellung davon, was den Wunsch zum Siegen ausmacht. Wegen des Risikos, das ein nicht anerkannter Sieg mit sich bringt, zieht sie es vor, das Risiko des Sieges gar nicht erst einzugehen. Von der Niederlage jedenfalls wird sie sich nicht mehr erholen. Ich persönlich bin mir da nicht so sicher. Übersetzt von Reiner Ansén

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Wahnsinn, eine Frage der Macht »Loucura, uma questäo de poder«, aufgezeichnet von S. H. V. Rodgriguez, in: Journal do Brasil 12. November 1974, S. 8.

- Mich interessiert die Art und Weise, wie das Wissen an die institutionellen Formen, an die gesellschaftlichen und politischen Formen gebunden ist - kurz: die Analyse der Beziehungen zwi­ schen Wissen und Macht. - Weshalb arbeiten Sie auf diesem Gebiet?

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- Ich werde Ihnen einen Grund nennen, den ich selbst nicht ak­ zeptieren und nicht anführen würde, wenn es sich um jemand anderen handeln würde. Aber da man von sich selber immer schlecht spricht, führe ich biographische Gründe an. Ich habe nach Abschluss meiner Studien in Schweden, Polen und Deutsch­ land gelebt, wo ich mich aus einer ganzen Reihe Gründe fremd fühlte. Schließlich bin ich weder Mediziner noch Laie; ich bin nicht im eigentlichen Sinne Historiker, aber ich interessiere mich für Geschichte; ich bin nicht wirklich Professor, denn am College de France ist man nur verpflichtet, im Jahr eine bestimmte Anzahl Vorlesungen zu halten. Möglicherweise hat mich also die Tat­ sache, dass ich immer, sagen wir, an der äußeren Grenze der Be­ ziehungen zwischen Wissen und Macht gelebt habe, zu diesen Interessen geführt. Der offensichtlich widersprüchlichste Aspekt des Strafsystems ist die Koexistenz von Gefängnissen - deren Wirkungslosigkeit mehr als erwiesen ist, da man, zumindest in Frankreich, seit über hundertfünfzig Jahren weiß, dass alle, die das Gefängnis verlassen, unausweichlich neue Straftaten begehen - und der Kriminal-Psy­ chopathologie, die beispielsweise Instrumente zur Wiedereinglie­ derung der Häftlinge bereitstellen sollte, indem sie das Phänomen der Delinquenz analysiert. Ich habe in meiner letzten Arbeit1zu zeigen versucht, dass es in Wahrheit gar keinen Widerspruch zwischen dem offensichtlich archaischen Gefängnissystem und der modernen Kriminologie gibt. Ganz im Gegenteil sind beide aufeinander abgestimmt, es besteht zwischen ihnen eine Art funktioneller Einheit. Es stimmt, dass die Strafvollzugsbehörden unsere Arbeit2 auf keine Weise erleichtert haben. Die Strafvollzugsbehörden geben seit hundertfünfzig Jahren die gleichen offiziellen Informationen heraus, und die Häftlinge dürfen nicht über das Gefängnis spre­ chen. Daher mussten wir uns, sagen wir, unorthodoxer Informa­ tionskanäle bedienen und mit bestimmten Personen Zusammen­ arbeiten, die uns erzählten, was sich in den Gefängnissen abspielte, Tatsachen, die wir sofort an die Presse Weitergaben. Die öffentliche Meinung war über dieses Thema sehr schlecht informiert, während es in den Gefängnissen derart große Span1 Überwachen und Strafen, Erscheinen für Februar 1975 geplant. 2 Es handelt sich um die Arbeit der G.I.P. [Gruppe Gefängnisinformation, A.d.Ü.]

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nungen gab, dass es zu Häftlingsrevolten kam, und zwar so heftig, dass sich zum ersten Mal in der Geschichte der französischen Republik ein Staatspräsident, Valéry Giscard d'Estaing, genötigt fühlte, ein Gefängnis zu betreten und einem Häftling die Hand zu schütteln, wie das jetzt im Juli geschehen ist. Fest steht, dass die Psychoanalyse eine Reihe kritischer Ein­ wände gegen die psychiatrische Praxis ermöglicht hat. Sie hat er­ möglicht zu sehen, dass die Internierung nicht die beste therapeu­ tische Form ist. Als Historiker und aus einem gewissen Abstand scheint mir die Psychoanalyse kein radikaler und vollständiger Bruch mit der Psychiatrie zu sein, und wie ich in einem der Vor­ träge3 zu zeigen versucht habe, ist die Psychiatrie des 19. Jahr­ hunderts zu einer therapeutischen Technik gelangt, die bereits viele Elemente der Psychoanalyse enthält oder vorbereitet. Daher würde ich in Zukunft gern die Frage untersuchen, inwieweit die Psychoanalyse, wie sie im vergangenen Jahrhundert entstanden ist, die psychiatrische Macht verlängert - oder mit ihr bricht. Man kann gar nicht vergessen, dass die Psychiatrie noch heute die vorrangige Interventionsform bezüglich der Geisteskranken ist. Millionen Menschen werden noch immer der Internierung, der Behandlung mit Neuroleptika unterworfen, während sich die psychoanalytisch Behandelten auf eine kleine Gruppe kultivierter oder gebildeter Personen beschränken. Die Psychoanalyse hat also noch längst nicht die Stelle der Psychiatrie eingenommen, sondern beide bestehen in der heutigen Gesellschaft nebeneinander, und es gibt zwischen ihnen ein ganzes System der Aufteilung von Kom­ petenzen, von Konsultationen und wechselseitiger Unterstützung. Diese Koexistenz ist meines Wissens noch nicht gebührend un­ tersucht worden. Auf der Hand liegt, dass die Positionen der Psychiater, die die Psychoanalyse verachten, oder die Positionen der Psychoanalytiker, für die die Psychoanalyse eine wissen­ schaftliche Praxis ist, keinen Raum für eine historische Unter­ suchung öffnen; das sind vollkommen antihistorische Positionen. Überdies gibt es noch eine Reihe therapeutischer Formen zwi­ schen der reinen Psychiatrie und der reinen Psychoanalyse, etwa die Psychotherapie, die Gemeindepsychiatrie; meines Erachtens 3 [Einer der sechs Vorträge Foucaults an der Staatsuniversität von Guanabara be­ handelte die psychiatrische Kur im 19. Jahrhundert, in der Foucault sich heraus­ bilden sah, was Freud dann das Unbewusste und das Realitätsprinzip nannte.]

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wäre eine eingehende Untersuchung all dieser Kontrollinstitutionen, der gesamten geistigen Orthopädie, von großer Bedeutung. Die Psychoanalyse hat die Idee popularisiert, dass wir die Ver­ drängung verinnerlichen, aber ich finde, dass wir nach wie vor weit mehr der gesellschaftlichen Kontrolle unterliegen. Und die Untersuchung der Machtmechanismen, die in den Gesellschaften zunehmend Anwendung finden, fehlt in den historischen Analy­ sen noch. Man hat bereits die wirtschaftlichen Prozesse unter­ sucht, eine Geschichte der Institutionen, der Gesetzgebungen und der politischen Herrschaftsformen vorgelegt, aber die Geschichte der vielen kleinen Machtausübungen, denen wir un­ terworfen sind, die unsere Körper, unsere Sprache und unsere Gewohnheiten domestizieren, die Geschichte all der Kontrollmechanismen, die auf die Individuen einwirken, bleibt noch zu schreiben. An der aktuellen Form der Kontrolle scheint mir die Tatsache charakteristisch, dass sie über jedes Individuum ausgeübt wird: eine Kontrolle, die uns eine Identität verfertigt, indem sie uns eine Individualität aufzwingt. Jeder von uns hat eine Biographie, eine durchweg dokumentierte Vergangenheit und irgendeinen Platz, den er einnimmt, eine Schulakte, einen Personalausweis, einen Pass. Immer gibt es irgendeine Behörde, die jederzeit sagen kann, wer jeder von uns ist, und der Staat kann sich, wann immer er will, unsere gesamte Vergangenheit ansehen. Ich glaube, die Individualität ist heute vollständig von der Macht kontrolliert, und ich glaube, dass wir im Grunde durch die Macht selbst individualisiert sind. Anders gesagt glaube ich ganz und gar nicht, dass die Individualisierung in einem Gegen­ satz zur Macht steht; ich würde vielmehr im Gegenteil sagen, dass unsere Individualität, die vorgeschriebene Identität eines jeden, Effekt und Instrument der Macht ist, und was die Macht am meisten fürchtet, ist die Kraft und die Gewalt von Gruppen. Sie versucht, sie durch Techniken der Individualisierung zu neutrali­ sieren, die bereits im 17. Jahrhundert mit der Hierarchisierung in den Schulen und im 18. Jahrhundert durch Register von Perso­ nenbeschreibungen und Anschriftenänderungen aufkommen. In diesem Jahrhundert kommt auch in den Fabriken die gefürchtete Figur des Vorarbeiters auf, der die Arbeitsabläufe kontrolliert. Er sagt jedem, was er wie und wann zu tun hat, und diese individuelle

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Kontrolle der Arbeit gehört zu einer Technik, die mit der Entste­ hung der Arbeitsteilung und der Hierarchisierung verknüpft ist, die auch ein individuelles Kontrollinstrument derjenigen, die oben auf der Leiter stehen, über die ist, die weiter unten stehen. Im 19. Jahrhundert funktioniert die Disziplin der Macht durch ein Spiel von Restriktionen, durch eine Moral des Sparens, die im Glauben gründet, die niedrigsten Löhne sorgten für höhere Pro­ fite, und der Effekt war eine Normierung der Gewohnheiten der untersten Klassen, des größten Teils der Bevölkerung. Heute be­ obachten wir genau das Gegenteil, eine Ausweitung des Konsums, die in dem Moment zum taktischen Instrument wurde, als die Ökonomen das Potential des Binnenmarktes entdeckten: je höher der Konsum, desto größer die Profite. Daher die Bedeutung der Konsumverweigerung durch be­ stimmte Gesellschaftsschichten, durch Personen, die der diszipli­ narischen Kontrolle zu entgehen suchen und die in gewisser Weise Randgruppen bilden. Die Veränderungen in der Moral des All­ tagslebens im Lauf der vergangenen zehn Jahre geht auf Bewe­ gungen zurück, die von dieser Art von Leuten ausgingen, und sie ist auf ein Echo in der ganzen Gesellschaft gestoßen. Ebenso sind Bewegungen für den Umweltschutz, für die Abtreibung entstan­ den ... Klar ist, dass das System, die Macht, all dies, auch die Verän­ derungen, von denen ich gerade sprach, in den Griff zu bekom­ men strebt; aber zugleich gibt es nichts mehr, was nicht in Umlauf ist, was nicht unaufhörlich von einer auf die andere Seite wechselt. Es kommt darauf an, die dem System eigene Antwort zu erfassen und auf der anderen Seite einzusetzen. Um das Beispiel der Moral des Maßhaltens zu nehmen, die den Arbeitern des 19. Jahrhun­ derts aufgezwungen wurde: Von dem Moment an, da sie eine streng organisierte Familie hatten, haben sie Anspruch auf Woh­ nung und Bildung für ihre Kinder erhoben. Anders gesagt ist die von oben aufgezwungene Moral zur Waffe in umgekehrter Rich­ tung geworden. Übersetzt von Reiner Ansén

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Runder Tisch zum psychiatrischen Sachverstand Teilnehmer: A. Bompart, Psychiater und Psychoanalytiker; L. Cossard, von Actesy Rechtsanwalt; Diederichs, psychiatrischer Sachverständiger; F. Domenach, Psychologe; H. Dupont-Monod, von Actes, Rechtsanwalt; P. Gay, Psy­ chiater; J. Hassoun, Leiter von Garde-Fons (»Zeitschrift der Psychiatrisierten im Kampf«); J. Lafon, Chefarzt der Klinik Saint-Anne, psychiatrischer Sach­ verständiger; M. Laval, Verfasser von »Magie noire et blanche«, in Actes Nr. 5/6; H. Masse-Dessen, Rechtsanwalt; P. Sphyras, Anwalt am Pariser Berufungsge­ richt; I. Terrel, Rechtsanwalt; E Tirlocq, Arzt und Psychiater; in: Actes, Cahiers d'action juridique Nr. 5/6, Dezember 1974-Januar 1975, S. 46-52.

M. Foucault: Man wendet sich gegen die Sachverständigen. Ich will die Sachverständigen nicht verteidigen, aber ich frage mich, ob man nicht an die Psychiatrie ganz allgemein eine Frage richten muss. Frappierend an der Geschichte des psychiatrischen Sachverstandes in Fragen des Strafvollzugs ist die Tatsache, dass es die Psychiater waren, die sich 1830 tief in die Strafvollzugspraxis ein­ gemischt haben, in der sie vorher nicht gefragt waren und in der bis dahin alles getan worden war, um sie außen vor zu halten. Sie haben sich in sie eingemischt, und nun haben sie sie in der Hand. Was ist dieses Begehren nach dem Kriminellen beim Psychiater? In der Psychiatrie gibt es seit nunmehr zweihundert Jahren den Wunsch, sich der Kriminalität zu bemächtigen. Und man kann die Funktionsweise des heutigen psychiatrischen Sachverständigen­ gutachtens nicht verstehen, wenn man nicht einerseits die Straf­ vollzugspraxis berücksichtigt und andererseits den Bedarf der Psychiatrie und der psychiatrischen Praxis allgemein nach medi­ zinisch-juristischem Sachverstand. Die gesamte psychiatrische Praxis ist darauf angewiesen, dass es Sachverständige gibt und dass die Psychiatrie als solche in den Bereich der Strafjustiz eingreift. Und der Grund ist wohl, Sie sind eben darauf zu sprechen gekommen, das Gesetz von 1838: In dem Moment, da sich die Psychiatrie das Recht nahm, ein Individuum als gefährlich einzu­ sperren, musste gezeigt werden, dass der Wahnsinn gefährlich ist... Die Psychiater haben gesagt, dass jeder Straftat ein wenig Wahnsinn zugrunde liegt, und wenn man gezeigt hat, dass hinter der Straftat die Gefahr des Wahnsinns lauert, dann hat man auch

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umgekehrt gezeigt, dass hinter dem Wahnsinn die Gefahr des Verbrechens lauert. Aber das Gesetz von 1838 und der medizinisch-juristische Sachverstand stützen sich wechselseitig. Man muss sich das klar­ machen und die Rolle der erforderlichen Experten für das Funk­ tionieren des Rechts berücksichtigen. Zwei Institutionen sind mit den von Individuen ausgehenden Gefahren betraut: Medizin und Recht. Der Psychiater ist für die individuellen Gefahren zuständig. /. Lafon: Heute folgen die Juristen den Psychiatern, und die Richter fordern routinemäßig Sachverständigengutachten an. M. Foucault: Das Verbrechen ist ein bevorzugter Gegenstand der psychiatrischen Analyse geworden, das ist eine feststehende, offenkundige Tatsache. Die Psychiatrie muss sich der Kriminalität bemächtigen, um zu funktionieren, wie sie funktioniert. R Gay: Es sei denn, man würde eine Psychiatrie einführen, die nicht mehr beweisen muss, dass der Wahnsinn gefährlich ist. J. Hassoun: Dieser Vorwurf gegen die Experten mag unange­ nehm erscheinen. Ich glaube aber, dass das psychiatrische Gut­ achten das Symptom der Psychiatrie ist. Wenn man das Problem in politischen Begriffen formuliert, versucht die Psychiatrie, sich an die Ereignisse zu heften; die medizinische Psychiatrie ist re­ pressiv. Man muss über die Anstalten reden, die einer Stadt entsprechen (zum Beispiel die obligatorischen psychotherapeutischen Sitzun­ gen im Bezirk); die Anstalten haben keine Mauern mehr. Sie sind eingerissen. Sie umgeben die ganze Stadt. Diederichs: Es besteht keine Pflicht, in die Betreuungsstellen des jeweiligen Bezirks zu gehen, außer für die als gefährlich gel­ tenden Alkoholiker. M. Laval: Sachverständiger = Richter über die Tatsachen; wie soll also der Anwalt gegenüber diesem allgegenwärtigen Richter über die Tatsachen, dem sich auch der Richter des Gerichts unter­ ordnet, seine Verteidigung aufbauen? H. Masse-Dessen: Normalerweise entscheidet der Richter. Das Sachverständigengutachten soll dem Richter in einem Bereich hel­ fen, in dem er nicht kompetent ist. Was aber diese Form des Gut­ achtens angeht, so ist sie ganz anderer Art. Daher die Fragen von eben: Warum nicht die Soziologie, die Wirtschaftswissenschaft

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etc., die in der juristischen Debatte völlig abwesend sind und nicht einbezogen werden? Das Problem ist Folgendes: Wenn dem Gericht das Gutachten vorliegt, dann erkennt es denjenigen Teil wieder, in dem der Häft­ ling berichtet, was er getan hat, und zwar mit größerem Vertrauen und weit weniger rechtlicher Sicherheit berichtet als das, was er dem Untersuchungsrichter erzählt hat. Man kommt dann schließ­ lich über diese Unterschiede zu einer Art Gegenuntersuchung, die auf der Ebene der Rechte der Verteidigung im herkömmlichen Sinne katastrophal wird, weil der Beschuldigte eine unterschied­ liche Haltung gegenüber dem Sachverständigen und dem Richter einnimmt. In politischen Verfahren haben bestimmte Beschuldigte beispielsweise den Sachverständigen die Auskunft verweigert, weil sie nicht wollten, dass ihre Handlungen psychiatrisiert wer­ den. Frage: Inwieweit weist man dem Sachverständigen unter dem Deckmantel der psychiatrischen Begutachtung eine herkömm­ liche repressive Rolle zu, ohne noch die durch die Strafprozess­ ordnung vorgesehenen Garantien zu haben? I. Terrel [verdeutlicht die Äußerung des Vorredners, indem er aus einem Sachverständigengutachten zitiert]: Manche über­ schreiten ihren Auftrag so weit, dass ihr Gutachten zu einem Hilfsplädoyer der Anklage wird. P Sphyras: Der Beschuldigte empfindet den Sachverständigen als Richter; brauchen wir daher nicht einen ganz anders eingesetz­ ten Sachverstand? P. Gay: Ich würde mich direkt als Komplize des Richters füh­ len. Auch ohne in Erscheinung zu treten, lehne ich die Rolle des Sachverständigen ab. /. Hassoun: Wenn man das Individuum als Nahtstelle der Wirt­ schaftsordnung, der politischen Ordnung und der Ordnung des Unbewussten betrachtet, und wenn man bedenkt, dass es immer Wahnsinn und die Einschreibung in das Gesetz der Notwendig­ keit gibt, dann weiß ich gar nicht, was ich sagen soll, wenn ich in einem einzelnen Subjekt den einzigen Delinquenten sehen soll. A. Bompart: Wir haben hier von Natur aus eine ganz falsche Situation, und das psychiatrische Sachverständigengutachten steht an erster Stelle für einen ganz und gar falsch angelegten Diskurs. Aber auch die Anwälte müssten sich einmal Gedanken machen,

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um zu sehen, dass der Diskurs des Rechts ein verkehrter und ungewisser Diskurs ist. P Sphyras: Die Strafe ist doch etwas Eindeutiges. A. Bompart: Nein. L. Cossard: Was die Juristen, besonders die Rechtsanwälte är­ gert, das ist, dass sie Zusehen müssen, wie ihnen gewisse Einfluss­ möglichkeiten aus der Hand genommen werden, weil sie ihrem Mandanten zwar bei der Vernehmung zur Seite stehen können, bei der Sitzung jedoch, bei der der Sachverständige die Fragen für sein Gutachten stellt, nicht dabei sind, und ohne ihr Beisein ent­ steht dort eine andere Version der Fakten als diejenige, die vor dem Richter dargelegt wird, und deshalb kommt es dazu, dass das ganze Getriebe der Verteidigung mit einem Zug in sich zusam­ menfällt; der Sachverständige kann uns auf diese Weise Dinge in den Mund legen, die wir, soweit wir wissen, nur dem Anwalt gegenüber gesagt haben, weil er sie vom Häftling im Vertrauen erfahren hat. Wir greifen das Sachverständigengutachten an, weil es uns aller Möglichkeiten beraubt. Frage: Ist die Tatsachendarstellung für den psychiatrischen Sachverständigen unverzichtbar? /. Lafon: Am heftigsten werfen uns die Anwälte vor, dass wir nicht ganz automatisch die Verteidigung unterstützen. L, Cossard: Nicht notwendigerweise. Aber eine gewisse Anzahl garantierter Rechte der Verteidigung gibt es nicht mehr. /. Lafon: Man muss die Fakten kennen. Sie sind von ganz be­ trächtlicher Bedeutung. Logisch, dass man den Beschuldigten sehen, ihn zur Erzählung des Vorgefallenen bringen und diesen Bericht dann mit dem vergleichen muss, was vor dem Unter­ suchungsrichter gesagt worden ist; dann muss man den Beschul­ digten noch einmal sehen, um zu verstehen, wie es zu den unter­ schiedlichen »Versionen« gekommen ist. Die Art und Weise, wie die Fakten dargestellt werden, ist auf psychologischer und psy­ chiatrischer Ebene von außerordentlicher Wichtigkeit, ebenso wie die Art und Weise, in der sie erlebt wurden. L. Cossard: Ich sehe die Verbindung nicht zwischen dieser Äu­ ßerung und den Antworten, die Sie in Ihrem psychiatrischen Gut­ achten auf die drei Fragen beibringen müssen, die Ihnen der Rich­ ter vorschriftsmäßig vorlegt, nämlich:

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1) Erläutern Sie, ob der Beschuldigte geistige, psychische oder charakterliche Anomalien aufweist. Beschreiben Sie diese gegebe­ nenfalls und präzisieren Sie, mit welchen Leiden sie verbunden sind. 2) Äußern Sie sich zu der Frage, ob der Beschuldigte zur Tat­ zeit unzurechnungsfähig im Sinne von Artikel 64 Strafgesetzbuch war; falls nicht, sind die festgestellten Anomalien von einer Art, die die Verantwortlichkeit des Beschuldigten mildert? 3) Äußern Sie sich zu der Frage, ob der Beschuldigte straffähig ist, ob er besserungsfähig und fähig zur Wiedereingliederung ist; ist seine Einweisung in eine psychiatrische Anstalt in seinem eige­ nen oder im Interesse der Gemeinschaft geboten? /. Lafon: Was heißt straffähig? Definition: Wissen, ob der Be­ treffende in der Lage ist zu verstehen, dass er eine unsoziale Tat begangen hat und dass diese Tat theoretisch mit einer Strafe belegt ist. Damit sind Personen, die nicht dement sind, straffähig. M. Foucault: Am Beginn des psychiatrischen Gutachtens (Arti­ kel 64) steht die Frage: War das betreffende Individuum zur Tat­ zeit unzurechnungsfähig? In diesem Fall liegt kein Verbrechen mehr vor; zunächst greift der Psychiater überhaupt nicht auf der Ebene des Strafvollzuges ein, sondern schlicht auf der Verfahrens­ ebene. Schritt für Schritt wird er dann bei der Frage mildernder Umstände zur letztendlichen Festsetzung des Strafmaßes heran­ gezogen, und seit 1832 richtet sich die Strafe nach dem Bericht des Psychiaters, wonach er so weit beteiligt ist, dass er es schließlich ist, der sagen kann, ob die Verantwortlichkeit des Individuums herabgesetzt ist, was juristisch und zunehmend auch medizinisch gar keinen Sinn hat, während die Demenz sehr wohl einen Sinn hatte. Damit hat die verminderte Schuldfähigkeit keinerlei juristi­ schen und keinerlei medizinischen Sinn, und man gelangt zu den Fragen von 1958, die die Gefährlichkeit, die Zugänglichkeit für Strafen, die Besserungsfähigkeit oder die Fähigkeit zur Resozia­ lisierung betreffen. Diese drei Begriffe sind weder psychiatrische noch juristische Begriffe, aber sie haben ungeheure Auswirkungen auf das Strafmaß. /. Lafon: Gefährlichkeit: ich spreche darüber niemals spontan. Wenn man mir die Frage stellt, sage ich: »Ich denke nicht, dass dies Fragen im Rahmen der Psychiatrie sind.« Ich gebe eine Ant­ wort, aber die Antwort könnte ebenso gut von anderen aufgrund

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des in der Akte enthaltenen Materials gefunden werden. Ich ant­ worte immer auf die gleiche Weise, weil diese Fragen keine psy­ chiatrischen Begriffe betreffen. Streng genommen handelt es sich bei ihnen um kriminologische Begriffe, die viel eher einen Platz in medizinisch-psychologischen Gutachten hätten. H. Masse-Dessen: Wie kann man sagen, ob jemand wieder ein­ zugliedern ist oder nicht ? Oder vielmehr: Was bedeutet es, nicht resozialisierbar zu sein? /. Lafon: Es gibt eine Menge Leute, von denen man nicht sagen kann, dass sie unangepasst sind. Ganz im Gegenteil sind sie in ihrem Metier sehr gut angepasst (die Gangster zum Beispiel), aber ganz gewiss nicht nach den gesellschaftlichen Normen. Und es gibt auch Leute, die überhaupt niemals unangepasst waren. R Tirlocq: Als Sachverständiger in der Institution der Justiz taugt der Psychiater zu gar nichts. Ich habe den Eindruck, dass der Psychiater seine Rolle herunterschraubt, weil seine Erklä­ rungsversuche dafür bei Lichte besehen keinen Bestand haben. Das Problem des Psychiaters liegt gar nicht darin zu wissen, ob das betreffende Individuum wieder einzugliedern ist oder nicht. J. Lafon: Das Rechtssystem basiert auf der Lehre von der Wil­ lensfreiheit. Es wird also davon ausgegangen, dass die Menschen zwischen Gut und Böse wählen können, und wenn sie das Böse tun, dann wissen sie, dass sie auf die eine oder andere Weise be­ straft werden müssen, sei es durch göttliches Recht, sei es durch die Justiz. Man gesteht jedoch zu, dass es Menschen gibt, die zu einer solchen Überlegung nicht imstande sind, weil sie »wahn­ sinnig« sind. Der Psychiater ist kurz gesagt da, um die »Wahn­ sinnigen« auszulesen und sie vor der Einwirkung des Justizsys­ tems zu bewahren. Das ist die schlichte Idee, die in der Folge abgeändert wurde, und schließlich hat man vom Psychiater etwas ganz anderes "verlangt. Und weil wir uns in diesem System des freien Willens befinden, muss man so Vorgehen; wenn man die Stellung eines Sachverständigen akzeptiert, kann man die Erstel­ lung von Sachverständigengutachten nicht sabotieren. Man muss zugestehen, dass die Leute a priori verantwortlich sind, ausge­ nommen diejenigen, die wahnsinnig sind. P. Gay: Man kann die Sachverständigengutachten sabotieren, ohne sie anzufertigen. P. Sphyras: Von den fünf festgelegten Fragen, die man dem

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Sachverständigen vorlegt, fallen drei aus dem Rahmen der Psy­ chiatrie heraus, und die beiden anderen gehören in den Bereich der Kriminologie. Die Frage ist also, wer in Frankreich als Kri­ minologe gilt. Finden Sie bei den Gerichten ausreichende krimi­ nologische Informationen vor, oder haben Sie manchmal den Ein­ druck, gar kein Publikum zu haben, und heißt es nicht, das Problem falsch anpacken, wenn man dem Psychiater die Rolle des Kriminologen zuspielt? M. Foucault: Wir müssen auf eine von den Anwälten aufgewor­ fene wichtige Frage zurückkommen: Unterliegt der Beschuldigte der Zuständigkeit der Justiz oder nicht? Sagt der Sachverständige ja, dann kommt der Beschuldigte vor die Gerichte, sagt er nein, dann wird er dem Zugriff der Justiz entzogen. Aber noch einmal: Seit 1832 greift der Psychiater ein, um zu sagen, welches die Form der Strafe sein soll; damit hat er im inneren Ablauf der Justiz selbst eine richterliche Rolle inne, und das ist es, was die Anwälte beunruhigt. Denn der Anwalt hat es mit zwei Richtern zu tun, auch mit jenem Pseudo-Richter, der die Strafart mitbestimmt, und je stärker die Rolle dieses Straf-Modulators in der Strafrechtspsychiatrie wird, desto weniger medizi­ nisch angelegt sind die von diesen Psychiatern verwendeten Kon­ zepte. /. Lafon: Hierin genau liegt die Schwierigkeit des psychiatri­ schen Sachverständigengutachtens. Ein gutes Gutachten ist be­ strebt, nicht Partei zu ergreifen, so objektiv wie nur möglich zu sein, während die Anwälte gern hätten, dass die Gutachten zu ihrem Vorteil ausfallen; man muss den subjektiven Faktor aus­ schalten. Der Sachverständige ist kein Richter, aber wenn man es mit jemandem zu tun hat, der den Beschuldigten und das Ge­ setzbuch kennt, dann kann man ihn gar nicht daran hindern, eine Prognose zu stellen. Es gibt keine Experten-Roboter; die Subjek­ tivität des Sachverständigen lässt sich also nicht ganz ausschalten. E Tirlocq: Das ist kein Problem der Objektivität, sondern der Verantwortlichkeit. Der Sachverständige soll die Tat erklären. Diese Erklärung ist jedoch noch kein Urteil. Den Richter befällt schließlich eine Art Unbehagen, denn er stößt im Gutachten auf etwas, das dem Wahnsinn ähnelt. Der Psychiater macht dem Rich­ ter also Angst. Ein Psychiater kann als solcher die Frage der Ver­ antwortlichkeit nicht zum Abschluss bringen. Sein Handeln als

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Psychiater hindert ihn an dieser abschließenden Beurteilung der Verantwortlichkeit. J. Lafon: Wenn Sie die Perspektive der Willensfreiheit einneh­ men, ist das möglich; wenn Sie die des Determinismus einnehmen, gibt es gar keine mögliche Strafjustiz mehr. I. Terrel: Wenn der Sachverständige sieht, dass das Konzept der verminderten Zurechnungsfähigkeit keinerlei medizinischen Sinn hat, und wenn er dennoch bereit ist, auf diese Frage der vermin­ derten Zurechnungsfähigkeit zu antworten, wie antwortet er dann auf sie? Ich glaube, er antwortet mit dem, was man als seine »in­ nere Überzeugung« bezeichnet, während der Richter nach seiner eigenen inneren Überzeugung oder die Geschworenen nach ihrem Gewissen entscheiden, ob mildernde Umstände vorliegen oder nicht. Ebenso stellt sich das Problem der inneren Überzeugung des Psychiaters. Nun, hier hat man die Objektivität einer Wissen­ schaft ganz und gar hinter sich gelassen. /. Lafon: Der Begriff »verminderte Zurechnungsfähigkeit« spielt praktisch in den Expertenkommissionen keine Rolle mehr. Man fragt, ob in Verbindung mit den Tatsachen geistige oder psychische Anomalien vorliegen... Und was mich betrifft, ich verwende diese Formel der mildern­ den Umstände oder der verminderten Zurechnungsfähigkeit über­ haupt nicht. Diese Frage hat sich erledigt. H. Dupont-Monod: Ich möchte gern auf die Begriffe Subjekti­ vität und Objektivität zurückkommen. Nimmt man die politische Funktion der Justizverwaltung noch einmal auf, so hat sich die Entwicklung des psychiatrischen Gutachtens letztlich als sehr hilfreich erwiesen. Sie hat nämlich denen, die mit den Funktionen der Justizverwaltung zu tun hatten, das Ausweichen in eine Ob­ jektivität ermöglicht, deren sie sich bedienen konnten, indem sie sich auf die Subjektivität des Experten stützten, und wenn Sie sagen, dass ein Sachverständiger gar nicht anders kann, als sich zum Teil subjektiv auf denjenigen einzulassen, den er begutachten soll, dann ist das für die Richter so etwas wie eine wohlverdiente Strafe, denn wenn ein Sachverständiger in einem Gutachten sub­ jektiv eine Belastung vorbringt, was ja wohl mehr oder minder unvermeidlich ist, kann derjenige, der für die Justizverwaltung zuständig ist, ohne weiteres hinter dieser Subjektivität Zuflucht suchen, indem er sagt, das ist eine Wissenschaft, und daher ver­

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lasse ich die Ebene der Objektivität nicht, das heißt ich bewege mich nach wie vor auf der Ebene der politischen Entwicklung des Strafrechts. Ich denke, das Sachverständigengutachten als solches hat die Selbstbewusstwerdung des Strafrechts verzögert, ja blo­ ckiert, indem es dem Richter erlaubte, ganz einfach zu sagen: Sie sind der Verteidiger, ich bin für die Bewertung der Fakten nicht verantwortlich, verantwortlich ist der Sachverständige. Und die Strafjustiz hat den Sachverständigen eine sehr tiefgreifende und bedeutsame Rolle eingeräumt und sich letztlich geweigert, sich selber infrage zu stellen, indem der Richter letzten Endes sagt, der Experte sei es, der Position bezogen habe, er seinerseits ver­ hänge eine Strafe, aber subjektiv beteiligt sei er dabei nicht. Der Richter schiebt den Sachverständigen vor. Das psychiatrische Gutachten und die Kriminologie sind miteinander absolut unver­ einbar. Solange das psychiatrische Sachverständigengutachten eine derartige Bedeutung besitzt, kann sich die Kriminologie nicht weiterentwickeln, denn die Kriminologie muss die Grundlagen der Bestrafung und Verantwortungszuweisung infrage stellen, um wieder zur Untersuchung, zur kritischen Untersuchung der Ursachen der Kriminalität und ihrer Entwicklung zu kommen; indem der psychiatrische Sachverstand die Kriminalität auf die Ebene des Individuums beschränkt hält, fördert er die kriminolo­ gische Forschung nicht, sondern behindert sie. J. Lafon: Aber von sämtlichen Fällen, die in Paris vor Gericht abgeurteilt werden, wird, entgegen dem Eindruck, den Sie zu ha­ ben scheinen, bei vielleicht gerade einmal 5% ein psychiatrisches Gutachten angefordert. Bei den Korrektionalfällen geschieht das so gut wie nie. Stimmengewirr: Aber gewiss doch... /. Lafon: Ich möchte auf das Problem der Subjektivität zurück­ kommen. Es gibt sie überall. Wie jeder andere muss der Sachver­ ständige so weit wie möglich von dieser Subjektivität abstrahie­ ren. Das ist beim Anwalt nicht anders. L. Cossard: Im Grunde träumen die Untersuchungsrichter da­ von, sich ganz in die Hände von Sachverständigen zu begeben. Ein Traum, dem man in den vorbereitenden Arbeiten zum Straf­ gesetzbuch von 1958 begegnet, das den Strafprozess ganz aufspalten und die Strafe von der Eingliederung trennen will.

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Das ist in der Schule so, die den Namen des Richters Marc Ancel1trägt, der einen doppelt angelegten Strafprozess befürwor­ tet: a) Strafe im Verhältnis zu den Tatsachen; b) Prozess in Bezug auf die Persönlichkeit (zweite Strafe, die die erste den Umständen anpasst und bei deren Bemessung einzig die Resozialisierungsfähigkeit der betreffenden Person berück­ sichtigt wird). Nach diesem Entwurf tritt nach Ende des ersten Abschnitts der gesamte Justizapparat zugunsten der Psychiater, der Psychologen zurück, die die eigentliche Verantwortung für die Strafmaßnahme übernehmen. Unter dieser Ordnung leben wir derzeit tatsächlich, aber verfügen die Psychiater über die Kompetenz, um in diesem zweiten Teil des Verfahrens zu urteilen? Sicher ist das nicht. /. Hassoun: Die gesamte Psychiatrie arbeitet mit den Konzep­ ten der Resozialisierung, der Gefährlichkeit, der Verantwortlich­ keit. Sie ist tatsächlich völlig von ihnen durchdrungen. Eine ganze Reihe von Konzepten übergreifen die Grenzen zwischen Recht und Psychiatrie, es wird inzwischen ein Bündel von medizinisch­ juristischen Konzepten eingeführt, ein Vorgang, den ich überset­ zen möchte mit »Eindringen der Massenpsychiatrie« sowohl auf der juristischen Ebene wie auf der schulischen wie auf der des städtischen Alltagslebens, ein Vorgang, der aus der Psychiatrie das macht, was die Marxisten als Staatsmacht bezeichnen. Die Frage, die ich hier den Juristen stellen möchte: Werden in Ihren Akten über Straftäter psychologische Berichte herangezo­ gen (Gutachten von Schulpsychologen...)? I. Terrel: In Strafsachen sehr selten. Man berücksichtigt die Entwicklungsgeschichte nicht, man nimmt gerichtliche Feststel­ lungen vor. M. Foucault? Woher kommen denn im Grunde diese Begriffe von Gefährlichkeit, von Straffähigkeit, von Besserungsfähigkeit? Sie finden sich weder im Recht noch in der Medizin. Das sind weder juristische noch psychiatrische noch medizinische Begriffe, sondern disziplinarische. Das sind all die kleinen Disziplinierun­ gen der Schule, der Kaserne, der Besserungsanstalt, der Fabrik, die sich immer weiter verbreitet haben. Alle diese Institutionen, die 1 [M. Ancel: La Défense sociale, Paris 1966.]

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sich vermehren, sich erweitern, indem sie ihre Netze immer wei­ ter in die ganze Gesellschaft hinein verzweigen, haben diese Be­ griffe hervorgebracht, die zunächst ganz empirisch angelegt waren und die nun auf doppelte Weise unantastbar geworden sind, einer­ seits durch einen psychiatrischen und medizinischen Diskurs, der sie aufnimmt, also scheinbar wissenschaftlich, und andererseits durch die juristische Wirkung, die sie haben, weil sie es sind, in deren Namen man jemanden verurteilt. Ich glaube, die Kriminologie führt alle diese Begriffe mit sich. M. Laval: Diese Vorstellungen, die Sie als disziplinarische be­ zeichnen, würde ich schlicht ideologische nennen. Das sind Be­ griffe, die sich auf eine herrschende Ideologie berufen, und des­ halb spielen der Sachverständige, der Richter, der Anwalt genau dieselbe Rolle, nämlich die der Gesellschaft, die sich verteidigt. Es gibt letzten Endes keine Geisteskranken, keine Kriminellen, son­ dern es gibt in jedem einzelnen Fall das Produkt der Gesellschaft. H. Dupont-Monod: Frage an Herrn Foucault: Ab einem be­ stimmten Zeitpunkt hat die politische Funktion der Psychiatrie eine Ideologie unterstützt, die im Verhältnis zur sozio-ökonomischen Entwicklung unerträglich war. Ist die Psychiatrie heute ange­ sichts der entstandenen ökonomischen Spannungen noch haltbar? M. Foucault: Ich bin mit dem Wort »Ideologie« und mit Ihrer Verwendung dieses Wortes nicht ganz einverstanden. Wenn es sich schlicht darum handeln würde, eine Ideologie weiterzuführen, dann wäre das nicht sonderlich schlimm; das Wort »disziplinarisch« ist wichtiger, denn hier geht es um einen Typus der Macht. Indem man diese Begriffe in das Recht und in die Psychiatrie einschreibt, beglaubigt man sie, macht man sie unantastbar. A. Bompard: Lässt sich das, was Herr Foucault sagt, an Legendres Arbeit zum kanonischen Recht anschließen?23 M. Foucault: Dieses interessante Buch befasst sich nicht mit dieser menschlichen Materialität der Machtmechanismen. J. Lafon: Diese Begriffe, die Ihnen Unbehagen bereiten, wurden in La Défense sociale nouvelle3 in der Absicht geprägt, zu einer 2 [R Legendre: L’Amour du censeur, Paris 1974.] 3 Op. cit. [Seit Mitte dieses Jahrhunderts hat die Bewegung der défense sociale nouvelle in Frankreich die Resozialisierung des Täters in den Vordergrund gestellt und die Einführung unterschiedlicher Sanktionsarten gefordert, A.d.Ü.]

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besseren individuellen Gestaltung der Strafe zu gelangen, und ihrer Idee nach gehen sie auf ein Anliegen der Verteidigung zu­ rück. Nun sollen diese Fragen den Anwälten ein wenig helfen. Aber wenn Sie wollen, dass die Antwort jedes Mal zu Ihren Gunsten ausfällt, können Sie nicht immer objektiv sein. H. Masse-Dessen: Es geht nicht darum, ob das Sachverständi­ gengutachten nützlich ist, sondern darum, ob jemand »resoziali­ sierbar ist«. Die Praxis der Korrektionalgerichte besteht darin, die Schlussfolgerungen des Berichtes zu lesen, und diese Schlussfol­ gerung lautet: »ist resozialisierbar« oder »ist nicht resozialisier­ bar«. Es wird völlig von der Frage abstrahiert: »Resozialisierbar unter welchen Bedingungen, zu welchem Zweck, um was zu tun, wer ist für die Unangepasstheit verantwortlich?« Ich möchte gern wissen, ob die Frage: »Ist diese Person resozialisierbar?« in Ihnen wach wird, und zu welchem Mechanismus sie Ihrer Ansicht nach in den Köpfen der Richter führt, die sich mit der Antwort kon­ frontiert sehen? J. Lafon: Ich werde Ihnen antworten. Da ich die Zweideutigkeit dieser Frage kenne, habe ich, mit bislang sehr wenigen Ausnah­ men, immer mit ja geantwortet. So einfach ist das, und niemand stört sich daran. M. Laval: Man muss kein Experte sein, um wie Sie zu denken. Der gesunde Menschenverstand denkt genauso. J. Hassoun: Die Strafe individualisieren, das heißt, dass sie nicht mehr festgelegt ist. /. Lafon: Genau. B. Domênach: Wie würden Sie reagieren, wenn die Rechtsan­ wälte systematisch Sachverständige vor der Korrektionalkammer beiziehen würden? /. Lafon: Ich würde gehen. B. Domênach: Hier ist vielleicht eine neue Praxis einzuführen. L. Cossard: Man sagt, die Défense sociale nouvelle wollte den Strafverteidigern entgegenkommen, und jetzt empfinden wir das als ungünstig für die Verteidigung. R Gay: Um auf das zurückzukommen, was Herr Foucault über die ursprüngliche, etwas düstere Absicht des Psychiaters sagte, herauszufinden, wo im Wahnsinn eine kriminelle Gefährdung steckt, und das gleichzusetzen mit dem, was es im Verbrechen an Wahnsinn gibt, um dann zu sehen, dass im Laufe der Entwick­

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lung der Psychiater guten Willens und der Richter guten Gewis­ sens auf den Plan getreten sind, eine weitere Äquivalenz - ich glaube nicht, dass der Richter dem Sachverständigen eine Urteils­ vollmacht einräumt. Ich glaube, der Sachverständige stellt hier eine Äquivalenz von Wahnsinn, Verbrechen, Delinquenz her... um dann an sie möglichst objektiv mit seiner Wissenschaft her­ anzugehen. Der psychiatrische Sachverständige bleibt Psychiater, indem er fragt: »Ist diese Person behandelbar?« (und nicht: ist sie resozia­ lisierbar oder nicht?). Von hier aus wird eine dritte Ebene einge­ führt, indem man sagt, worin die Funktion dieser Behandlung, dieser Subjektivität besteht, die dem Psychiater erlaubt, diese Äquivalenz herzustellen zwischen Verbrechen, Wahnsinn... P Sphyras: Wir bemühen uns darum, dass sich unsere Arbeit für unsere Mandanten auszahlt, wir versuchen, eine neue, kollektive Verteidigung zu übernehmen, die versucht, Praktiken der Unter­ brechung zu definieren. Letzten Endes ist es der repressive Aspekt der auf diese Weise eingesetzten Psychiatrie, der uns Unbehagen bereitet. ]. Lafon: Der Sachverständige braucht weder zu belasten noch zu entlasten, seine Arbeit muss sich nicht lohnen. Der Sachver­ ständige ist nicht da, um dem Beschuldigten zu helfen oder ihm zu schaden. Er hat sich gar nicht darum zu kümmern, ob seine Arbeit dem Beschuldigten mehr oder weniger einbringt. I. Terrel: Logischerweise soll das Sachverständigengutachten weder belasten noch entlasten. Wir stellen aber in der Praxis fest, dass es das tut. Wir bezweifeln also, dass es entlastet, insoweit es an sich ein Teil der Akte wird, die für den Mandanten günstig oder ungünstig aussieht. J. Lafon: Der Sachverständige hat die möglichen Folgen seines Berichtes für den Beschuldigten nicht zu bewerten. I. Terrel: Ganz im Gegenteil kann der Sachverständige als Hilfs­ kraft der Justiz von dieser Rolle gar nicht absehen. Darin liegt gerade die Zweideutigkeit der Beziehung von Arzt und Richter. Es gibt hier eine dreifache Ambiguität: - in der Beziehung zum Beteiligten (Problem der ärztlichen Schweigepflicht, die hier nicht gilt); - in der Beziehung zum Untersuchungsrichter; - und in der Beziehung zu sich selbst.

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Das bedeutet, man ist zugleich Arzt und ein Gehilfe des Rich­ ters. J. Lafon: Ich denke, die Beziehung zum Richter ist ziemlich eindeutig, aber was die Ambiguität in der Beziehung zum Be­ schuldigten angeht, stimme ich zu. Der Sachverständige ist nicht der Psychiater des Beschuldigten; er wird in der Regel vom Rich­ ter zur Überprüfung des Geisteszustandes bestellt. Man muss keine vertraulichen Auskünfte einholen, aber es geschieht eben doch, dass man sie bekommt. In diesem Fall liegt ein außerjuris­ tisches Problem vor, denn ich glaube, eine berufliche Schweige­ pflicht besteht für die Sachverständigen nicht. Das Problem ist in diesem Fall vielmehr eines der Standespflichten oder irgendwie auch der Moral. Man schreibt in die Berichte nicht alles hinein. Übersetzt von Reiner Ansén

Die psychiatrische Macht »Le pouvoir psychiatrique«, in: Annuaire de College de France, 74e année, Histoire des systèmes de pensée, année 1973-1974, 1974, S. 293-300.

Lange Zeit - und das gilt zu einem guten Teil noch heute - be­ wegten Medizin, Psychiatrie, Strafjustiz und Kriminologie sich an der Grenze zwischen einer Manifestation der Wahrheit in den Normen der Erkenntnis und einer Produktion der Wahrheit in der Form der Probe, wobei Letztere sich gern unter Ersterer ver­ steckte und sich von ihr begründen ließ. Die gegenwärtige Krise dieser »Disziplinen« stellt nicht nur deren Grenzen oder Unsi­ cherheiten im Bereich der Erkenntnis, sondern auch die Erkennt­ nis, die Form der Erkenntnis und die »Subjekt-Objekt«-Norm infrage. Sie problematisiert das Verhältnis zwischen den ökono­ mischen und politischen Strukturen unserer Gesellschaft und der Erkenntnis (nicht in ihren wahren oder falschen Inhalten, sondern in ihren Funktionen als Macht-Wissen). Es handelt sich also um eine politisch-historische Krise. Betrachten wir zunächst die Medizin und den ihr angeschlos­ senen Raum, das Spital. Noch lange blieb das Spital ein zwiespäl­

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tiger Ort: der Feststellung einer verborgenen Wahrheit und der Probe auf eine zu produzierende Wahrheit. Es diente der direkten Einwirkung auf die Krankheit und sollte der Krankheit die Möglichkeit geben, ihre Wahrheit nicht nur dem Auge des Arztes zu enthüllen, sondern sie letztlich erst zu produzieren. Das Spital war der Ort, an dem die wahre Krankheit aufblühte. Tatsächlich glaubte man, wenn man den Kranken in Freiheit ließ - in seinem »Milieu«, seiner Familie, seiner Umge­ bung, mit seinem üblichen Verhalten, seinen Gewohnheiten, sei­ nen Vorurteilen und Illusionen -, konnte er nur von einer kom­ plexen, trüben, wirren Krankheit befallen werden, einer gleichsam widernatürlichen Krankheit, die aus einer Mischung verschiede­ ner Krankheiten bestand und zugleich verhinderte, dass die wahre Krankheit sich in ihrer wahren Natur ausbildet. Das Spital hatte daher die Aufgabe, diese störende Vegetation, diese abweichenden Formen beiseite zu räumen und dadurch die Krankheit nicht nur als solche hervortreten zu lassen, sondern sie letztlich in ihrer bislang verborgenen und behinderten Form zu erzeugen. Durch die Aufnahme ins Spital konnte sie in ihrer wahren Natur, ihren Wesensmerkmalen und ihrem spezifischen Verlauf endlich Wirk­ lichkeit werden. Das Spital des 18. Jahrhunderts sollte Bedingungen schaffen, unter denen die Wahrheit des Übels zutage treten konnte. Es war daher ein Ort der Beobachtung und der Demonstration, aber auch der Reinigung und der Probe: ein komplexer Apparat, der die Krankheit hervortreten lassen und tatsächlich erzeugen sollte; ein botanischer Ort für die Beobachtung der Arten und zugleich ein alchimistischer Ort für die Entwicklung der pathologischen Substanzen. Diese Doppelfunktion wurde noch lange von den großen, im 19. Jahrhundert geschaffenen Krankenhäusern erfüllt. Und ein Jahrhundert lang (von 1760 bis 1860) waren Praxis und Theorie des Krankenhausaufenthalts wie auch generell das Krankheitsver­ ständnis von dem Zwiespalt beherrscht, ob das Krankenhaus als Struktur zur Aufnahme der Krankheit ein Raum der Erkenntnis oder ein Ort der Probe sein sollte. Daraus ergibt sich eine Reihe von Problemen, die das Denken und die Praxis der Ärzte bewegt haben. Hier nur einige davon: 1. Die Therapie soll die Krankheit unterdrücken und beseiti­

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gen; aber wenn die Therapie rational sein und in der Wahrheit gründen soll, muss sie dann nicht dafür sorgen, dass die Krankheit sich entwickelt? Wann muss eingegriffen werden und in welche Richtung? Soll man überhaupt eingreifen? Soll man darauf hin­ wirken, dass die Krankheit sich entwickelt, oder im Gegenteil darauf, dass sie zum Stillstand kommt? Soll man sie schwächen, oder soll man dafür sorgen, dass sie an ihren Endpunkt gelangt? 2. Es gibt Krankheiten und Modifikationen von Krankheiten. Es gibt reine und unreine, einfache und komplexe Krankheiten. Gibt es letztlich nicht nur eine einzige Krankheit, von der alle anderen mehr oder weniger direkt abgeleitet sind, oder müssen wir von verschiedenen, nicht aufeinander reduzierbaren Katego­ rien ausgehen? (Diskussion zwischen Broussais und seinen Geg­ nern über den Begriff der Erregung. Problem der essentiellen Fieber.) 3. Was ist eine normale Krankheit? Was ist eine Krankheit, die ihren Lauf nimmt? Eine Krankheit, die zum Tode führt, oder eine Krankheit, die spontan abheilt, sobald sie ihren Entwicklungsgang abgeschlossen hat? In dieser Weise fragte Bichat nach der Stellung der Krankheit zwischen Leben und Tod. Es ist bekannt, welche großartige Vereinfachung Pasteurs Bio­ logie in all diese Probleme brachte. Sie bestimmte einen einzelnen Organismus als Erreger der Krankheit, und damit konnte das Krankenhaus zu einem Ort der Beobachtung und Diagnose, der klinischen und experimentellen Forschung werden, aber auch zu einem Ort des unmittelbaren Eingriffs, des Gegenangriffs auf die Invasion der Mikroben. Die Funktion der Probe kann nun verschwinden. Der Ort, an dem die Krankheit sich ereignet, ist jetzt das Labor, das Reagenz­ glas; doch dort verläuft die Krankheit nicht krisenhaft; man redu­ ziert ihren Prozess auf einen Mechanismus, den man dann ver­ stärkt; man führt ihn auf ein verifizierbares und kontrollierbares Phänomen zurück. Das Krankenhausmilieu muss für die Krank­ heit kein Ort mehr sein, der besonders günstige Bedingungen für ein entscheidendes Ereignis bietet; es ermöglicht lediglich eine Reduktion, eine Übertragung, eine Verstärkung, eine Feststellung; in der technischen Struktur des Labors und in der Darstellung des Arztes wird aus der Probe nun ein Beweis. Im Rahmen einer »Ethno-Epistemologie« des Mediziners

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müsste man sagen, die Pasteur’sche Revolution nahm dem Arzt eine zweifellos Jahrtausende alte Funktion in der rituellen Erzeu­ gung der Krankheit und in der Krankheitsprobe. Als dramatisch erschien das Verschwinden dieser Rolle, weil Pasteur nicht nur zeigte, dass der Arzt nicht die Krankheit »in ihrer Wahrheit« erzeugen sollte, sondern dass er sie in Unkenntnis der Wahrheit selbst unzählige Male verbreitet und reproduziert hatte: Der Arzt, der im Spital von Bett zu Bett ging, war einer der Haupt­ überträger der ansteckenden Krankheiten. Pasteur fügte den Ärz­ ten eine narzisstische Kränkung zu, die sie ihm lange nicht ver­ ziehen. Die Hände des Arztes, die doch den Körper des Kranken abtasten und untersuchen, die eigentlich die Krankheit aufdecken, ans Licht holen, aufzeigen sollten, diese Hände bezeichnete Pas­ teur als Träger des Übels. Der Raum des Spitals und das Wissen des Arztes hatten bis dahin die Aufgabe gehabt, die »kritische« Wahrheit der Krankheit zu produzieren; und nun schien es, dass der Körper des Arztes und die Konzentration der Kranken im Spital die Realität der Krankheit erzeugte. Durch die Desinfektion gewannen Arzt und Krankenhaus eine neue Unschuld, die ihnen neue Macht und einen neuen Status im Denken der Menschen verlieh. Aber das ist eine andere Ge­ schichte. Diese wenigen Bemerkungen können uns helfen, die Stellung des Irren und des Psychiaters im Raum des Asyls zu verstehen. Es besteht ohne Zweifel ein historischer Zusammenhang zwi­ schen zwei Tatsachen: Bis zum 18. Jahrhundert wurden Irre nicht systematisch eingesperrt; und der Wahnsinn galt im Wesentlichen als eine Form von Irrtum oder Täuschung. Noch zu Beginn des klassischen Zeitalters ordnete man ihn den Trugbildern der Welt zu; er durfte in ihrer Mitte existieren und musste nur davon getrennt werden, wenn er extreme oder gefährliche Formen an­ nahm. Unter diesen Umständen versteht man, dass der privile­ gierte Ort, an dem der Wahnsinn in seiner Wahrheit hervortreten durfte und sollte, nicht der künstliche Raum des Spitals sein konnte. Der anerkannte therapeutische Ort war daher zunächst die Natur, denn sie war die sichtbare Gestalt der Wahrheit; sie hatte die Macht, den Irrtum zu zerstreuen und die Trugbilder zu

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verscheuchen. Ärzte empfahlen daher gern als Heilmittel Reisen, Ruhe, Spaziergänge und den Rückzug aus der eitlen künstlichen Welt der Stadt. Esquirol erinnert sich noch daran, als er anlässlich der Pläne für eine psychiatrische Anstalt empfahl, jeder Hof müsse einen weiten Blick auf einen Garten bieten. Der zweite therapeutische Ort, den man damals nutzte, war das Theater, die Umkehrung der Natur; man spielte dem Kranken die Komö­ die seines eigenen Wahnsinns vor; man inszenierte den Wahnsinn; man verlieh ihm für kurze Zeit eine fiktive Realität; durch Kulis­ sen und Verkleidung tat man so, als wäre er wahr, aber in der Weise, dass der Irrtum, wenn er in diese Falle ging, selbst für den sichtbar wurde, der ihm zum Opfer gefallen war. Auch diese Technik war im 19. Jahrhundert noch nicht vollständig ver­ schwunden; so empfahl Esquirol, Melancholiker in einen Prozess zu verwickeln, um ihre Energie und ihren Kampfgeist anzu­ stacheln. Die Praxis der Einschließung Anfang des 19. Jahrhunderts fällt mit dem Augenblick zusammen, als der Wahnsinn weniger im Verhältnis zum Irrtum als im Verhältnis zum gewöhnlichen, nor­ malen Verhalten wahrgenommen wird; als er nicht mehr als ge­ störtes Urteilsvermögen erscheint, sondern als Störung im Han­ deln, Wollen und Fühlen, im Entscheiden und in der Nutzung der persönlichen Freiheit; kurz, als man ihn nicht mehr auf der Achse Wahrheit-Irrtum-Bewusstsein, sondern auf der Achse GefühlWille-Freiheit einträgt; für diesen Augenblick stehen Hoffbauer und Esquirol. »Er ist einer von den Geisteskranken, deren Wahn kaum sichtbar erkennbar ist; er gehört auch nicht zu denen, deren Leidenschaften und moralische Affektionen unstet, pervertiert, fühllos geworden sind... Das Nachlassen des Wahns ist erst dann ein sicheres Zeichen für die Heilung, wenn die Geisteskranken zu ihren ursprünglichen Affektionen zurückkehren.«1 Denn was ist der Heilungsprozess? Die Entwicklung, durch die der Irrtum sich zerstreut und die Wahrheit wieder ans Licht kommt? Nein. Er ist die »Zurückführung der moralischen Affektionen in ihre gültigen Grenzen, der Wunsch, seine Freunde, seine Kinder wiederzuse­ hen und Tränen der Empfindung zu vergießen, das Bedürfnis, sein 1 Esquirol, J. E. D., De la folie (1816), § 1: »Symptômes de la folie«, in: ders., Des maladies mentales considérées sous les rapports médical, hygiénique et médico-légal, Paris 1838, Bd. 1, S. 16 [Reprint Paris 1989].

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Herz auszuschütten, sich wieder im Schoße seiner Familie zu befinden, alte Gewohnheiten wieder aufzunehmen«.2 Welche Rolle konnte nun das Asyl bei dieser Rückkehr zu ge­ regeltem Verhalten spielen? Gewiss hatte es zunächst die Funk­ tion, die man Ende des 18. Jahrhunderts dem Spital zuwies; es sollte die Möglichkeit bieten, die Wahrheit der Geisteskrankheit aufzudecken, aus der Umwelt des Kranken alles fernzuhalten, was die Krankheit verdecken, mit Fremdem vermischen, ihr abwei­ chende Formen verleihen, aber auch sie nähren und neuerlich auflodern lassen konnte. Mehr noch als ein Ort des Aufdeckens ist jedoch die von Esquirol entworfene psychiatrische Anstalt ein Ort der Konfrontation; der Wahnsinn, der verwirrte Wille, die pervertierte Leidenschaft soll dort auf einen geradlinigen Willen und orthodoxe Leidenschaften treffen. Ihre Konfrontation, ihr unvermeidlicher und letztlich erwünschter Zusammenstoß, hat zwei Wirkungen: Der kranke Wille, der möglicherweise nicht zu fassen war, weil er keinen Ausdruck in einer Wahnvorstellung fand, kommt zum Vorschein, weil er sich dem gesunden Willen des Arztes widersetzt; andererseits endet der Kampf, der nun entbrennt, bei geschickter Führung mit dem Sieg des gesunden Willens und der Unterwerfung, dem Verzicht des gestörten Wil­ lens. Ein Prozess also, der durch Konfrontation, Kampf und Be­ herrschung gekennzeichnet ist. »Es sollte eine Methode eingesetzt werden, die störend wirkt und den Krampf durch Krampf auf­ bricht ... Der gesamte Charakter von einigen Kranken ist zu un­ terjochen, ihre Einbildungen sind zu besiegen, ihre Heftigkeit ist zu bezähmen, ihr Stolz zu brechen, während die Übrigen angeregt und ermutigt werden müssen.«3 So kommt es zu der äußerst merkwürdigen Funktion der psy­ chiatrischen Anstalt am Ende des 19. Jahrhundert: als Ort der Diagnose und der Klassifikation, als botanisches Rechteck, in dem die verschiedenen Krankheitsarten auf Felder verteilt werden, deren Anordnung an einen großen Gemüsegarten denken lässt; aber auch als ein geschlossener Raum, der einer Konfrontation dienen soll; als Ort eines Duells; als ein institutionelles Feld, in dem von Sieg und Unterwerfung die Rede ist. In dieser Anstalt vermag der große Irrenarzt - ob nun Leuret, Charcot oder 2 Ebd. 3 Ebd., § 5: »Traitement de la folie«, S. 132 f.

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Kraepelin - aufgrund seines Wissens die Wahrheit über die Krank­ heit zu sagen, aber zugleich vermag er die Krankheit in ihrer Wahr­ heit zu erzeugen und in der Realität zu unterwerfen, weil sein Wille Macht über den Kranken hat. Alle in den Irrenanstalten des 19. Jahrhunderts eingesetzten Techniken - Isolierung, private oder öffentliche Befragung, Strafbehandlungen wie die Dusche, morali­ sche Unterredungen (Ermutigung oder Zurechtweisung), strenge Disziplin, Arbeitspflicht, Belohnungen, Vorzugsbehandlung be­ stimmter Kranker durch den Arzt, Abhängigkeits-, Besitz-, Dienst- und gelegentlich sogar Knechtschaftsverhältnisse zwi­ schen dem Kranken und dem Arzt -, all das sollte aus dem Arzt den »Herrn des Wahnsinns« machen, der den Wahnsinn in seiner Wahrheit erscheinen lässt (wenn er sich versteckt, wenn er verbor­ gen und stumm bleibt) und ihn zugleich beherrscht, besänftigt und beseitigt, nachdem er ihn vorsichtig entfesselt hat. Schematisch können wir also sagen: Im Pasteur’schen Kranken­ haus verliert die Funktion »Erzeugung der Wahrheit« der Krank­ heit immer weiter an Bedeutung; der Arzt als Erzeuger von Wahr­ heit verschwindet in einer auf Erkenntnis ausgerichteten Struktur. In Esquirols oder Charcots psychiatrischer Anstalt dagegen ge­ winnt die Funktion »Erzeugung der Wahrheit« eine hypertrophe, überhöhte Bedeutung, in deren Mittelpunkt der Arzt steht und bei der in erster Linie die Übermacht des Arztes ins Spiel kommt. Charcot, der Thaumaturg der Hysterie, ist die auffälligste Sym­ bolfigur für diese Funktionsweise. Zu dieser Überhöhung kommt es zu einer Zeit, als die ärztliche Macht ihre Begründung und Rechtfertigung im Wissensvorsprung des Arztes findet: Der Arzt ist kompetent, er kennt die Krank­ heiten und die Kranken, er verfügt über ein wissenschaftliches Wissen derselben Art wie der Chemiker oder der Biologe: Diese Kompetenz Berechtigt ihn zu seinen Eingriffen und Entscheidun­ gen. Die Macht, die das Asyl dem Arzt verleiht, muss sich daher rechtfertigen (und sich zugleich als unantastbare Übermacht ge­ ben), indem sie Phänomene produziert, die sich in die medizini­ sche Wissenschaft integrieren lassen. So wird verständlich, warum die Technik der Hypnose und der Suggestion, das Problem des Simulierens und die Differentialdiagnose zwischen organischer und psychischer Erkrankung so lange (nämlich von 1860 bis 1890) im Mittelpunkt der psychiatrischen Praxis und Theorie

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standen. Der Gipfel der Vollkommenheit, einer allzu wunderba­ ren Vollkommenheit, war erreicht, als Charcots Patienten began­ nen, auf Anforderung des ärztlichen Macht-Wissens eine Symp­ tomatologie zu reproduzieren, die am Vorbild der Epilepsie orientiert war und daher wie eine organische Krankheit entziffert, erkannt und wieder erkannt werden konnte. In dieser entscheidenden Episode wurden die beiden Funktio­ nen des Asyls (Probe und Produktion der Wahrheit einerseits, Feststellung und Erkenntnis der Phänomene andererseits) neu verteilt und genau zur Deckung gebracht. Dank seiner Macht vermag der Arzt nun, die Realität einer Geisteskrankheit zu er­ zeugen, deren Besonderheit darin besteht, dass sie Phänomene reproduziert, die der Erkenntnis vollständig zugänglich sind. Die Hysterikerin war die vollkommene Kranke, weil sie etwas zu erkennen gab: Sie selbst übertrug die Effekte der ärztlichen Macht in Formen, die der Arzt nach den Grundsätzen eines an­ nehmbaren wissenschaftlichen Diskurses beschreiben konnte. Die entscheidende Rolle des Machtverhältnisses, das diese Operation erst ermöglichte, blieb dabei im Dunkeln, denn - dank des Haupt­ merkmals der Hysterie: einer beispiellosen Folgsamkeit, einer epistemologischen Heiligkeit reinsten Wassers - übernahmen die Kranken diese Aufgabe selbst und mit ihr auch die Verantwor­ tung: In der Symptomatologie erschien das Machtverhältnis als morbide Anfälligkeit für Suggestionen. Alles geschah von nun an in der von jeglichem Machtverhälinis gereinigten Erkenntnis zwischen erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt. Hypothese: Die Krise tritt ein und das erst in Ansätzen erkenn­ bare Zeitalter der Antipsychiatrie beginnt, als der Verdacht auf­ kommt und sich auch bald die Gewissheit einstellt, dass Charcot die von ihm beschriebene hysterische Krise selbst erzeugte. In gewissem Maße haben wir hier ein Äquivalent für Pasteurs Ent­ deckung, wonach der Arzt selbst für die Ausbreitung der Krank­ heiten sorgte, die er eigentlich bekämpfen sollte. Mir scheint jedenfalls, alle großen Erschütterungen, von denen die Psychiatrie seit dem Ende des 19. Jahrhunderts erfasst worden ist, haben in erster Linie die Macht des Arztes infrage gestellt: seine Macht und deren Auswirkung auf den Kranken, nicht so

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sehr dagegen sein Wissen und die Wahrheit seiner Aussagen über die Krankheit. Genauer gesagt, von Bernheim bis Laing oder Basaglia geht es vor allem um die Fragen, auf welche Weise die Macht des Arztes in die Wahrheit dessen verstrickt ist, was er sagt, und inwiefern die Wahrheit durch die Macht des Arztes erzeugt und kompromittiert wird. Cooper sagt: »Den Kern des Problems bildet die Gewalt«.4 Und Basaglia: »Das bedeutet, dass diese Institutionen [Schule, Fabrik, Anstalt] eine scharfe Trennung in die Gruppe der Machthaber und die Gruppe der Machtlosen etabliert.«5 Alle großen Reformen nicht nur der psychiatrischen Praxis, sondern auch des psychiatrischen Denkens kreisen um dieses Machtverhältnis; sie alle versuchen, es zu verschieben, zu maskieren, auszuschalten oder aufzuheben. Die ganze moderne Psychiatrie ist letztlich von der Antipsychiatrie durchdrungen, sofern man darunter den Versuch versteht, die einstige Aufgabe des Psychiaters infrage zu stellen, die darin bestand, im Raum der psychiatrischen Anstalt die Wahrheit der Krankheit zu produ­ zieren. Man könnte daher sagen, die Geschichte der modernen Psy­ chiatrie sei von Antipsychiatrien durchzogen. Aber vielleicht ist es besser, zwei in historischer, epistemologischer und politischer Hinsicht vollkommen verschiedene Prozesse zu unterscheiden. Als Erstes entstand die Bewegung der »Entpsychiatrisierung«. Sie setzte unmittelbar nach Charcot ein. Diese Bewegung ver­ suchte nicht, die Macht des Arztes zu beseitigen, sondern sie im Namen eines exakteren Wissens zu verschieben, ihr einen anderen Ansatzpunkt und neue Maßstäbe an die Hand zu geben. Es ging ihr darum, die Nervenheilkunde zu entpsychiatrisieren, um eine ärztliche Macht wiederherzustellen, die wegen Charcots Unbe­ dachtsamkeit (oder Unwissenheit) fälschlich Krankheiten, also Scheinkrankheiten, produziert hatte. 1. Eine erste Form der Entpsychiatrisierung beginnt mit Ba­ binski, in dem sie ihren kritischen Helden findet. Statt theatralisch die Wahrheit der Krankheit zu produzieren, solle man versuchen, 4 Copper, D., Psycbiatry and Antipsychiatry, London 1967 [dt. Psychiatrie und AntiPsychiatrie, Frankfurt am Main 1971, S. 27]. 5 Basaglia, F. (Hg.), Ulstituzione negata. Rapporto da un ospedalepsichiatrico, Turin 1968 [dt. Die negierte Institution oder Die Gemeinschaft der Ausgeschlossenen, Frankfurt am Main 1971, S. 124].

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sie auf ihre strikte Realität zu reduzieren, die oft vielleicht nichts anderes ist als die Eignung zur Theatralisierung: Pitiathismus. Das Herrschaftsverhältnis zwischen Arzt und Patient verliert dadurch nichts von seiner Stärke, doch diese Stärke dient nun dazu, die Krankheit auf ihr Minimum zu reduzieren; sie bezieht sich auf die notwendigen und hinreichenden Bedingungen, die es gestatten, eine Krankheit als Geisteskrankheit zu diagnostizieren, und auf die Techniken, die erforderlich sind, um diese Äußerungsformen zum Verschwinden zu bringen. In gewisser Weise geht es darum, das psychiatrische Kranken­ haus zu pasteurisieren, in der psychiatrischen Anstalt dieselbe Vereinfachung herbeizuführen, die Pasteur den Spitälern verord­ net hatte; einen direkten Zusammenhang zwischen Diagnose und Therapie herzustellen, zwischen der Erkenntnis der Natur einer Krankheit und der Unterdrückung ihrer Äußerungsformen. Der Augenblick der Überprüfung, der Augenblick, in dem die Krank­ heit in ihrer Wahrheit hervortritt und zur Vollendung gelangt, muss nun nicht mehr im medizinischen Prozess auftauchen. Die psychiatrische Anstalt kann zu einem stummen Ort werden, an dem die Form der ärztlichen Macht im strengsten Sinne erhalten bleibt, aber nicht mehr dem Wahnsinn selbst entgegenzutreten braucht. Wir können diese »aseptische« und »asymptomatische« Form der Entpsychiatrisierung als »Psychiatrie ohne jede Pro­ duktion« bezeichnen. Ihre bekanntesten Vertreter sind die Psychochirurgie und die psychiatrische Pharmakologie. 2. In einer zweiten, genau entgegengesetzten Form von Ent­ psychiatrisierung geht es darum, die Produktion des Wahnsinns in seiner Wahrheit so weit wie eben möglich zu intensivieren; das Machtverhältnis zwischen Arzt und Patient soll dabei jedoch aus­ schließlich für diese Produktion eingesetzt werden und genau darauf abgestimmt sein, so dass es nicht darüber hinausschießt und außer Kontrolle gerät. Um an der solcherart »entpsychiatrisierten« ärztlichen Macht festhalten zu können, müssen zunächst alle Einwirkungen des Anstaltsraums außer Kraft gesetzt werden. Vor allem gilt es, der Falle auszuweichen, in die Charcots Thau­ maturgie getappt war, und zu verhindern, dass der in der Anstalt herrschende Gehorsam die ärztliche Autorität an der Nase he­ rumführt und die souveräne Wissenschaft des Arztes an diesem von Komplizenschaft zwischen den Patienten und einem un-

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durchschaubaren Kollektivwissen geprägten Ort in Mechanismen verwickelt wird, die sie selbst ungewollt in Gang gesetzt hat. Daher die Regel des vertraulichen Gesprächs unter vier Augen; die Regel des freien Vertrags zwischen Arzt und Patient; die Re­ gel, alle Effekte der Beziehung auf die Ebene des Diskurses zu beschränken (»Ich erwarte nur eines von dir: dass du mir alles sagst, was dir durch den Kopf geht«); daher die Regel vollkom­ mener Redefreiheit (»Du kannst dich nicht mehr rühmen, deinen Arzt hinters Licht zu führen, denn du antwortest nicht mehr auf Fragen, die dir gestellt werden; du sagst, was dir in den Sinn kommt, ohne dass du mich zu fragen bräuchtest, was ich davon halte; und falls du mich täuschen wolltest, indem du diese Regel brichst, wäre ich nicht wirklich getäuscht; du wärst dir vielmehr selbst in die Falle gegangen, weil du die Produktion der Wahrheit behindert und deine Rechnung um einige Stundenhonorare ver­ größert hättest«); und daher schließlich auch die Regel der Couch, die nur den an diesem privilegierten Ort und in dieser besonderen Stunde produzierten Effekten Realität zuschreibt, weil sich nur dort die Macht des Arztes entfaltet - eine Macht, die in keine Rückkopplungsschleife verwickelt werden kann, weil sie sich vollkommen in Schweigen und Unsichtbarkeit zurückzieht. Die Psychoanalyse kann historisch als die zweite Hauptform der durch das Trauma Charcot ausgelösten Entpsychiatrisierung gelten: Rückzug aus dem Raum der psychiatrischen Anstalt, um die paradoxen Effekte der psychiatrischen Übermacht zu vermei­ den; aber Rekonstruktion der ärztlichen Macht als Produzent der Wahrheit in einem Raum, der so gestaltet ist, dass diese Produk­ tion stets in einem angemessenen Verhältnis zur ärztlichen Macht steht. Der Begriff der Übertragung als des für die Behandlung zentralen Prozesses ist eine Möglichkeit, diese Angemessenheit in der Form "der Erkenntnis begrifflich zu fassen; die Zahlung von Geld, das monetäre Gegenstück zur Übertragung, ist eine Möglichkeit, sie in der Realität zu garantieren: zu verhindern, dass die Produktion der Wahrheit zu einer Gegenmacht wird, die der Macht des Arztes eine Falle stellt, sie aufhebt oder in ihr Gegenteil verkehrt. Gegen diese beiden Hauptformen der Entpsychiatrisierung, die beide die Macht bewahren, die eine, weil sie die Produktion der Wahrheit aufhebt, die andere, weil sie die Produktion von Wahr-

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heit und die ärztliche Macht in ein angemessenes Verhältnis zu bringen versucht - gegen diese beiden Hauptformen der Entpsychiatrisierung wendet sich die Antipsychiatrie. Statt sich aus dem Raum der psychiatrischen Anstalt zurückzuziehen, versucht sie diesen Raum durch ihre Arbeit von innen her systematisch zu zerstören; dem Kranken selbst die Macht zu geben, seinen Wahn­ sinn und die Wahrheit seines Wahnsinns zu produzieren, statt den Versuch zu machen, ihn auf null zu bringen. Ich denke, von daher wird verständlich, worum es bei der Antipsychiatrie geht und dass es sich dabei keineswegs um den Wahrheitswert der Psychiatrie im Sinne von Erkenntnis (von diagnostischer Genauigkeit oder therapeutischer Effizienz) handelt. Den Kern der Antipsychiatrie bildet der Kampf mit und in der Institution. Als Ende des 19. Jahrhunderts die großen psychiatri­ schen Anstalten entstanden, rechtfertigte man dies mit einer wun­ derbaren Harmonie zwischen den Anforderungen der gesell­ schaftlichen Ordnung - die vor der Unordnung der Irren geschützt werden sollte - und den therapeutischen Erfordernissen - die eine Isolierung der Kranken verlangten.6 Esquirol nennt fünf wesentliche Gründe für die Isolierung der Kranken; sie soll: 1. die Sicherheit der Kranken und ihrer Familien gewährleisten; 2. die Kranken von äußeren Einflüssen befreien; 3. ihren Widerstand brechen; 4. sie einem ärztlichen Regime unterwerfen; und 5. ihnen neue geistige und moralische Gewohnheiten auferlegen. Wie man sieht, geht es hier stets um Macht. Man will Herrschaft über die Macht des Irren erlangen, äußere Mächte, die auf ihn einwirken könnten, neutralisieren und ihn einer therapeutischen Macht, einer Macht der Dressur oder der »Orthopädie« unterwerfen. Die Anti­ psychiatrie kämpft gegen die Institution als Ort, Distributions­ form und Mechanismus dieser Machtbeziehungen. Unter den Be­ gründungen für eine Einschließung, die es angeblich ermöglicht, an einem gereinigten Ort zu erkennen, was ist, und einzugreifen, wo, wann und wie es erforderlich sei, deckt sie die Herrschaftsbezie­ hungen auf, die der institutionellen Beziehung eigen sind. »Die absolute Macht des Arztes«, sagt Basaglia über die Auswirkungen der von Esquirol stammenden Vorschriften im 20. Jahrhundert, nimmt »so rapide [zu], wie die des Kranken rapide abnimmt; denn 6 Siehe zu diesem Thema R. Castels Ausführungen in Le Psychanalysme, Paris 1973,

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durch die Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt wird der Kranke automatisch zu einem Staatsbürger ohne Rechte, ja ist der Willkür der Ärzte und Pfleger ausgesetzt, die mit ihm machen können, was sie wollen, ohne daß er je etwas dagegen unternehmen könnte.«7 Mir scheint, man kann die verschiedenen Formen der Antipsychiatrie nach ihrer Strategie gegenüber diesen institutio­ nellen Machtspielen unterscheiden: Man versucht, solche Macht­ spiele durch einen frei vereinbarten zweiseitigen Vertrag zu ver­ meiden (Szasz);8 einen privilegierten Ort zu schaffen, an dem sie suspendiert sind bzw. ausgeschaltet werden, falls sie sich dennoch wieder einstellen (Kingsley Hall);9 die verschiedenen Machtspiele zu erkennen und im Rahmen der klassischen Institution zu zer­ stören (Cooper in Pavillon zi);10 oder sie mit den übrigen Macht­ beziehungen zu verbinden, die schon außerhalb der psychiatri­ schen Anstalt für die Ausgrenzung psychisch Kranker sorgen (Gorizia).11 Die Machtbeziehungen bildeten das Apriori der 7 Basaglia, Die negierte Institution, a.a.O., S. 131. 8 [Thomas Stephen Szasz, amerikanischer Psychiater und Psychoanalytiker, 1920 in Budapest geboren, Professor für Psychiatrie an der Universität Syracuse (New York), der einzige amerikanische Psychiater in der so genannten »Antipsychiat­ riebewegung«, die in den i96oer-Jahren entstand. In seinem Werk kritisiert er die psychiatrischen Institutionen auf der Grundlage eines liberalen und humanisti­ schen Verständnisses des Subjekts und der Menschenrechte. Vgl. seine Aufsatz­ sammlung Ideology and Insanityy London 1970 (dt. Psychiatrie, die verschleierte Macht, Olten und Freiburg i. Br. 1975), und The Myth of Mental Illness, New York 1961 (dt. Geisteskrankheityein moderner Mythos*, Olten und Freiburg i. Br.

1972).] 9 [Kingsley Hall ist eine der drei in den i9éoer-Jahren geschaffenen Betreuungs­ einrichtungen und liegt in einem Arbeiterviertel im Londoner East End. Bekannt wurde die Einrichtung durch Mary Barnes, die fünf Jahre dort verbrachte; zu­ sammen mit ihrem Therapeuten Joe Berke verfasste sie einen Bericht, der in deutscher Übersetzung unter dem Titel Meine Reise durch den Wahnsinn (Mün­ chen 1973) erschien.] 10 [Das im Januar 1962 in einem psychiatrischen Krankenhaus im Nordwesten Londons begonnene Experiment des Pavillon 21 eröffnete die Serie von Expe­ rimenten mit antipsychiatrischen Gemeinschaften, deren bekannteste Kingsley Hall war. David Cooper, der das Projekt bis 1966 leitete, berichtet darüber in seinem Buch Psychiatrie und Anti-Psychiatrie, a.a.O.] 11 [Eine staatliche psychiatrische Anstalt im Norden von Triest, deren institutio­ nellen Umbau Franco Basaglia und seine Arbeitsgruppe ab 1963 betrieben. In ihrem Buch Istitutione negata, a.a.O., berichten sie über ihren beispielgebenden Kampf gegen die Institution. 1968 gab Basaglia die Leitung der Einrichtung ab, um seine Erfahrungen in Triest zu erweitern.]

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psychiatrischen Praxis; sie bestimmten die Funktionsweise der In­ stitution, die Beziehungen zwischen den Beteiligten und die Form des ärztlichen Eingriffs. Dagegen versucht die Antipsychiatrie nun, die Machtbeziehungen ins Zentrum der Problemstellung zu rücken und grundsätzlich infrage zu stellen. In erster Linie implizierten diese Machtbeziehungen das abso­ lute Recht des Nichtwahnsinns über den Wahnsinn, verstanden als Ausübung einer Kompetenz gegenüber einem Nichtwissen; als gesunder Menschenverstand (im Zugang zur Realität), der Irrtümer (Täuschungen, Halluzinationen, Wahnvorstellungen) korri­ giert, und als eine Normalität, die gegen Unordnung und Abwei­ chung durchgesetzt wurde. Diese dreifache Macht konstituierte den Wahnsinn als mögliches Erkenntnisobjekt für eine medizini­ sche Wissenschaft, die den Wahnsinn im selben Augenblick als Krankheit konstituierte, in dem das von dieser Krankheit befal­ lene »Subjekt« sich als Irrer disqualifiziert fand - das heißt als ein Mensch, der keinerlei Macht und keinerlei Wissen über seine Krankheit besitzt: »Wir wissen über dein Leiden und deine Be­ sonderheit genügend Dinge (von denen du nichts weißt), um zu erkennen, dass es sich um eine Krankheit handelt; aber wir kennen diese Krankheit genug, um zu wissen, dass du keinerlei Recht über sie und im Zusammenhang mit ihr auszuüben vermagst. Un­ sere Wissenschaft gestattet uns, deinen Wahnsinn als Krankheit zu bezeichnen; daher sind wir Ärzte berechtigt, einzugreifen und in dir einen Wahnsinn zu diagnostizieren, der dafür sorgt, dass du kein gewöhnlicher Kranker bist, sondern ein Geisteskranker.« Dieses Machtspiel, das eine Erkenntnis hervorbringt, die ihrerseits erst das Recht zur Ausübung der Macht verleiht, ist charakteris­ tisch für die »klassische« Psychiatrie. Und diesen Zirkel versucht die Antipsychiatrie zu sprengen, indem sie dem Einzelnen die Aufgabe stellt und das Recht gibt, seinen Wahnsinn bis an sein Ende zu führen, in einer Erfahrung, zu der die anderen beitragen können, aber niemals im Namen einer Macht, die ihnen angeblich aufgrund ihrer Vernunft oder ihrer Normalität zusteht; indem sie das Verhalten, das Leiden, die Wünsche aus dem medizinischen Status, den man ihnen verliehen hat, herauslöst und sie von einer Diagnostik und einer Symptomatologie befreit, die nicht nur Klassifikation, sondern Entscheidung und Verfügung bedeutete; und indem sie schließlich die große Umdeutung des Wahnsinns

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zur Geisteskrankheit rückgängig macht, die im 18. Jahrhundert begonnen und im 19. Jahrhundert vollendet wurde. Wenn die antipsychiatrische Praxis die Macht grundsätzlich in­ frage stellt, führt sie zugleich den Wahnsinn wieder aus dem Be­ reich der Medizin heraus. Daher steht sie in deutlichem Gegensatz zu jener »Entpsychiatrisierung«, die sowohl für die Psychoana­ lyse als auch für die Psychopharmakologie charakteristisch er­ scheinen, denn beide machen den Wahnsinn in noch stärkerem Maße zum Gegenstand der Medizin. Und damit stellt sich nun auch wieder die Frage, ob es möglich ist, den Wahnsinn am Ende von jener einzigartigen Form des Macht-Wissens, also der Er­ kenntnis, zu befreien. Ist es möglich, dass die Produktion der Wahrheit des Wahnsinns in anderen Formen als denen des Er­ kenntnisverhältnisses erfolgt? Ein fiktives Problem, wird man sa­ gen, das sich allenfalls in der Utopie stellt. Tatsächlich stellt es sich jedoch jeden Tag ganz konkret hinsichtlich der Rolle des Arztes des satzungsgemäßen Subjekts der Erkenntnis - in den Bemühun­ gen um eine Entpsychiatrisierung. Das Seminar behandelt abwechselnd zwei Themen: die Ge­ schichte der Institution und der Architektur des Spitals im 18. Jahrhundert; und die Erforschung des medizinisch-juristi­ schen Fachwissens im Bereich der Psychiatrie seit 1820. Übersetzt von Michael Bischoff

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Vorwort »Préface«, in: Jackson, B., Leurs prisons. Autobiographies de prisonniers américains, Paris 1975, S. I-VI.

Das vorliegende Buch besteht aus Gesprächen mit Inhaftierten, die Bruce Jackson in mehreren Gefängnissen in Texas aufgezeich­ net hat. Besser gesagt, es besteht aus langen Monologen, die von Zeit zu Zeit durch kaum wahrnehmbare Fragen neu angeregt werden. Diese mächtige Brandung aus Geschichten, Erinnerun­ gen und Fabeln, winzig kleinen Details und Ungeheuerlichkeiten, Herausforderungen, Wut und ausbrechendem Gelächter hat et­ was, das uns staunen macht, uns, die wir Verbrechen eigentlich nur in der Schamhaftigkeit diffizil gewährter Geständnisse und das Gefängnis im Verbot zu sehen und zu hören gewohnt sind. Amerika, das mag ja noch angehen, aber Texas, kann das sein? Wir Europäer, wir leben in der Kontinuität unserer Geschichte. Amerika dagegen erlebt immer wieder aufs Neue die Geburt und den Tod des Gesetzes. Unsere Kategorien sind die von Sieg und Niederlage, die seinen die von Gewalt und Herrschaft des Geset­ zes. Unsere imaginär überbesetzte Gestalt ist der Kriegsherr oder der Soldat, die seine der Sheriff. Doch während man im Land des Western sehen konnte, wie sich auf dem Boden von Gewalt und wilder Aneignung dank des »für die Gerechtigkeit eintretenden Helden« das moralische Ge­ setz und die Ordnung schlechthin wiederherstellen ließen, gerät zwischen Dallas und Houston, im Lande von Bonnie und Clyde, das Gesetz in Verfall, löst es sich auf, verfault und krepiert; und aus seinem sonnenbeschienenen Kadaver geht in einem riesigen Spektakel der Schwarm der großen und kleinen, aber allesamt höchst wendigen Verbrechen hervor.

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Wir sind vielleicht doch mehr Texaner, als wir glauben. Da drü­ ben, sagte Claude Mauriac, bilden Politik, Polizei und Milieu eine Einheit. Seine verhaltene Ironie lag ganz gewiss auf dem »da drü­ ben«. Leurs prisons zeigt deutlich, dass die Mauern des Gefängnisses ihre gewaltige Macht weniger ihrer materiellen Undurchdring­ lichkeit als vielmehr den unzähligen Fäden, den Tausenden Kanä­ len und den unendlichen, sich überkreuzenden Adern verdanken, die durch sie hindurchgehen. Die Kraft des Gefängnisses ist die unaufhörliche Verästelung, durch die es versorgt und entleert wird; es funktioniert dank einem ganzen System großer und klei­ ner Schleusen, die sich öffnen und schließen, die einatmen, aus­ spucken, ableiten, zurückleiten, verschlucken und entleeren. Es ist in ein Gewimmel von Verzweigungen, Schleifen, zurückführen­ den Wegen und Pfaden, die hinein- und hinausführen, eingelassen. Man darf darin nicht die hohe Feste sehen, die sich über den großen Herren der Revolte oder einem verfemten Untermen­ schentum verschließt; es ist vielmehr das Haus der Aussiebung, das Haus des Durchgangs, das unumgängliche Motel. Maßstabge­ treu den Kontinent von Texas nach Kalifornien oder Chicago ab­ bildend, finden dieselben sich und auch diejenigen wieder, die sie in Chicago, Kalifornien oder Texas gekannt haben. Sie oder ihre Spuren, ihre Erinnerungen, ihre Freunde, oder ihre Feinde. Man denkt an jene Nachtphotos, auf denen die mit voller Geschwin­ digkeit einander folgenden Scheinwerfer ein Netz von weißen unbeweglichen Strichen hinterlassen. Über den ganzen Vereinig­ ten Staaten liegt dieses Spinngewebe. Vier große Autobahnen, die ins Gefängnis führen: die Droge, die Prostitution, das Spiel, der Scheckbetrug. Straftat Einbruch? Nein. Sondern ein mehr oder weniger schnelles Abweichen, das vom Geduldeten, Halblegalen, teilweise Unstatthaften seinen Ausgang nimmt; ein Abzweigen von einem akzeptierten, protegierten, in die Summe der »ehrli­ chen« Aktivitäten integrierten Handel und Verkehr, bei dem die Gefangenen die nervös-betriebsamen Handlanger, die listigen und blinden Unterhändler und die am leichtesten zu erwischenden Opfer zugleich sind. Es wird leichthin behauptet - sei es, um sie zu psychiatrisieren, sei es, um sie zu heroisieren -, es handle sich um »Marginalisierte«. Doch die Ränder, in denen sie verkehren, werden nicht von den Grenzen der Ausschließung gezeichnet; es

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sind die diskreten und gedämpften Räume, in denen das ehren­ hafteste Erscheinungsbild sich ausbreiten und das strengste Ge­ setz zur Anwendung kommen kann. Was eine gewisse Lyrik als »Ränder« der Gesellschaft bezeichnet und was man sich als ein »Draußen« vorstellt, sind die internen Abweichungen, die kleinen Abstände der Zwischenräume, die das Funktionieren ermögli­ chen. Die Tausenden von Erzählungen von Jacksons Gesprächs­ partnern sind, auch was dies betrifft, sehr beredt, selbst wenn es um den bewaffneten Überfall geht, eine kriminelle Praxis also, die im Vergleich zum alltäglichen Kleinkram von Prostitution oder Betrügerei oder Glücksspiel in einem deutlich höheren Grade einen Bruch darstellt. Lesen Sie die Geschichte von dem Gangster, der sich gleich früh am Morgen einen noch fast leeren Supermarkt vorgenommen hatte; die ersten Kunden hielten ihn für den Kas­ sierer, er gab ihnen das Wechselgeld heraus und ließ den gekne­ belten Leiter eine Quittung ausstellen. Oder die Geschichte von dem Kassierer, dem man das Geld abnahm, aber nicht die Schecks, und der den Dieben dankt und sie bittet, dass, wenn es schon sein muss, sie es sein sollten, die auch beim nächsten Mal wiederkom­ men. Ladenbesitzer, Kassierer, Versicherer, Polizisten, Räuber - jeder spielt seine Rolle und folgt seiner Bahn in einem klar abgesteckten Kreislauf. Und der vollständig toleriert wird - und das ist das Wichtige daran -, und zwar nicht von den »Leuten« oder der »öffentlichen Meinung« (bei der man im Gegenteil alles daran­ setzt, die Furcht zu vergrößern), sondern von denen, die sowohl das Geld als auch die Macht haben. Gesetz und Ordnung, »law and order« - in Amerika und in Europa - haben ihre Randzonen, und das sind nicht etwa rück­ ständige oder schlecht kontrollierte Bereiche, die sie ihren Wider­ sachern zu entreißen suchten; es sind für sie die Bedingungen ihrer wirklichen Ausübung. Um dafür zu sorgen, dass dieses Macht­ verhältnis namens Gesetz kollektiv akzeptiert wird, muss die Un­ rechtmäßigkeit der Delinquenz sorgsam gepflegt und als perma­ nente Gefahr organisiert werden. Die Liebe zum Gesetz oder zumindest die allgemeine Bereitschaft, ihm Folge zu leisten, wird um den Preis dieser letztlich nicht allzu teuren Komplizenschaften erkauft. Das Schauspiel von Polizei und Delinquenz, das in allem, was es seit dem 19. Jahrhundert zu lesen und zu sehen gibt,

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einen so breiten Platz einnimmt, ist eines der unerlässlichen Er­ gänzungen und Gegengewichte zum allgemeinen Wahlrecht. Damit das Gesetz in seiner heimlichen Gewaltsamkeit als leicht erträglich gelten kann, damit die Ordnung ihre Zwänge durch­ zusetzen vermag, muss es nicht an den äußeren Grenzen, sondern mitten im Zentrum des Systems, und zwar als eine Art Spiel für seine sämtlichen Räderwerke, jene »Gefahrenzonen geben, die stillschweigend geduldet und dann plötzlich von der Presse, dem Gangsterroman und dem Kino verherrlicht werden. Und dabei spielt es letztlich kaum eine Rolle, ob der Verbrecher als ein Held der reinen Revolte oder als ein eben erst dem Wald entsprungenes menschliches Ungeheuer dargestellt wird; Hauptsache, er flößt Furcht ein. Genau dadurch erhalten die gewaltige Ironie und die finstere und glühende Ausgelassenheit der von Bruce Jackson gesammelten Erzählungen ihren Sinn. Eine Tradition, die sich im 19. Jahrhundert gebildet hat und deren sämtliche Spuren in Europa noch nicht ausgelöscht sind, organisierte den Diskurs, den die Delinquenz über sich selbst hielt, in zwei Registern. Zum einen sind wir, wir anderen Delin­ quenten, Produkte der Gesellschaft: ihre Produkte, denn in ihrer Grausamkeit hat sie uns ausgebeutet, verstoßen, ausgeschlossen und uns gegen unseren Willen zur Gewalt gezwungen und in den Krieg getrieben; ihre Produkte auch deshalb, weil wir ihr ähnlich sind: Unsere Gewalt ist die ihre, und wenn in uns ein Teil Bosheit und Wahnsinn ist, so ist es der, den sie mit ihren eigenen Händen in uns niedergelegt hat. Wir sind für sie Abkömmlinge, die ihr zu sehr ähneln, als dass sie uns nicht hasst. Doch wenn der Delinquent ein »Produkt« ist, dann wird die Delinquenz selbst in ihrem Heldenzyklus als eine Revolte dargestellt: als der wahre soziale Krieg - der Diebstahl in seinem Gegensatz zu jenem an­ deren Diebstahl, dem Eigentum; der Mord als Rückwendung ge­ gen jenen langsamen oder schnellen Tod in den Kriegsmassakern oder in der Fabrik der Ausbeutungen, die die Gesellschaft den Individuen auferlegt. Kurzum, der Delinquent als Opfer und die Delinquenz als Bruch. In dem vorliegenden Buch wird ein genau umgekehrter Diskurs

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vorgetragen. Was Bruce Jacksons Gefangene unaufhörlich sagen, ist, dass die Delinquenz selbst in ihren Kreisläufen und Verfah­ rensweisen, in ihren Betrügereien, ihren Diebstählen und ihren Morden in der Summe zum allergrößten Nutzen und höchsten Ertrag des Systems funktioniert; dass all die bewaffneten Über­ fälle toleriert, die Prostitution und Glücksspiele eingerichtet wer­ den, dass es überall Schlupflöcher für die Droge und für den Betrug gibt; dass alles möglich und sogar als Schnittmuster vorge­ zeichnet ist; dass stets die Polizei daran beteiligt ist. Die Tat des Delinquenten jedoch (der hartnäckige und vielfach rückfällige Delinquent, an den Jackson sich wendete) ist letztlich weniger die pathetische Hymne auf eine mit so vielen anderen gemeinsam getragene Situation als vielmehr eine Art einzigartige Kraft, die in der Ironie steckt. Er setzt etwas davon obendrauf, er macht mehr daraus, er kann nicht dabei stehenbleiben - ist eher ein Spieler als ein Spielzeug. Wenn es bei all dem eine Subversion gibt, so liegt sie nicht in der Form selbst einer Delinquenz, die eine Revolte wäre, sondern in der Intensität einer Verbissenheit, in einer Reihe von Wiederholungen, in einem rasenden Lauf, der am Ende die am weitesten geöffneten Tore und die breitesten Kanäle sprengt. Und infolgedessen kommt die skandalöse Gegebenheit, die unerträg­ liche Wahrheit ans Licht, die es zu ersticken gilt, indem man den Schuldigen endgültig zum Verschwinden bringt: Alles von der Spitze bis zum Boden des Systems war so eingerichtet, dass die Ungesetzlichkeiten funktionieren und die profitabelsten Delin­ quenzen sich vervielfältigen konnten. Nicht, indem sie sich gegen das bestehende Gesetz wenden, sondern indem sie unablässig auf die eingerichteten Ungesetzlichkeiten zielen, stellen die von Jack­ son befragten texanischen Gefangenen einen politischen Skandal dar. Und diese politische Wirkung lässt sich nicht von dem außerordentlichen Gelächter trennen, das sich durch alle diese Erzählungen hindurchzieht. Kein Geständnis, niemals eine Un­ schuldsbeteuerung, und nicht die geringste Rechtfertigung. Son­ dern die Anhäufung, das Festmahl, die Orgie der Delikte, die Überfülle, mit Sicherheit die Fiktion, die Überdosis der Tatsachen und der »Taten«, von denen diese Pantagruels der Kriminalität unermüdlich berichten. Es ist die besessene Delinquenz, die wahnsinnige Margot in ihrem schallenden Gelächter, die an ihren zur Verkleidung dienenden Lumpen, ihrem Überfall-Aufzug und

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ihrem Gangstermaschinengewehr die Sheriffs, Polizisten, Lieu­ tenants, Bürgermeister und Senatoren hängen hat und hinter sich herzieht - das ganze Personal an der unteren Front des law and Order. Zählen Sie, wie viele hold-ups Bob und Ray geschafft haben, wie viele Male die Fette Sal sich einsperren ließ, wie viele Tricks Websler zustande brachte, wie viele Male Bebop sich seinen Hero­ invorrat beschaffen musste, wie viele Dummköpfe Slim mit seinen Würfeln ausgenommen hat und wie viele Male Maxwell sich hat ficken lassen. Die traditionelle Form des Skandals in Frankreich und sicher auch in Europa war der unschuldig Verurteilte, war der gesamte Justiz­ apparat, der daran arbeitete, diese Verurteilung durchzusetzen und aufrechtzuerhalten. In den Vereinigten Staaten ist es die Übertreibung der Schuld des Schuldigen, diese gewaltige Auflis­ tung von allem, wogegen er hat verstoßen können, die breiten Straßen, die ihm offen standen, die Nachsicht, die ihm zugute kam, und letztlich die Komplizenschaft des gesamten Apparats nicht bei seiner Verurteilung, sondern eben in seiner Kriminalität. Auf der einen Seite Jean Valjaen oder Monte-Cristo. Auf der anderen Al Capone, Bonnie and Clyde oder die Mafia. Der typi­ sche »europäische« Skandal - sagen wir besser, der alte Skandal, der Skandal des 19. Jahrhunderts - war die Dreyfus-Affäre, in der der gesamte Staatsapparat bis zu seiner höchsten Ebene in die Verfolgung desjenigen verwickelt war, der nicht schuldig war. Der typische »amerikanische« Skandal ist Watergate, bei dem man von einem Delikt niederen Ranges aus nach und nach in ein Netz permanenter Ungesetzlichkeiten zurücksteigt, mittels derer der Apparat der Macht funktioniert. Der Skandal bestand in diesem Fall nicht darin, dass die Macht ein Verbrechen vertu­ schen wollte, das für sie nützlich war; er bestand noch nicht ein­ mal darin, dass der mächtigste Mann der Welt nach einem ziem­ lich gewöhnlichen allgemeinen Recht ein Delinquent war, sondern darin, dass seine Macht tagtäglich nur durch allerge­ wöhnlichste Delinquenz ausgeübt wurde und ausgeübt werden konnte. Es ist vorbei mit jener individuellen und totalen Krimi­ nalität Shakespearescher Könige, die sie mit einer monströsen Aura umgab und sie gewissermaßen heiligte. Seit langem schon

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befindet man sich in einem Zeitalter, in dem das Funktionieren der Macht und die Verwaltung der illegalen Bereiche einem gemein­ samen Betrieb unterliegen. Hören Sie sich diese kreischenden, nicht versiegen wollenden, grimmigen und ironischen Stimmen an, die Bruce Jackson aufge­ zeichnet hat. Sie singen nicht die Hymne der revoltierenden Ver­ femten. Sie bringen im Namen aller Streiche, die sie einander ge­ spielt haben, Gesetz und Ordnung und die Macht, die durch sie hindurch funktioniert, zum »Singen«. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek

145 Brief In: Clavel, M., Ce que je crois, Paris 1975, S. 138-139. Im November 1967 begrüßt Maurice Clavel Les Mots et les Choses [dt. Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main 1971] als Gegenstück zur Kritik der reinen Vernunft. Doch hat Foucault wirklich wie Kant das Wissen begrenzen wollen, um Platz zu schaffen für den Glauben? Dürfte die kritische Vernichtung der ersten dreihundertundfünfzig Seiten nicht im Kapitel X vor dem Gesetz, dem Begehren und dem Tod zum Stillstand gekommen sein? In seiner Besprechung (Le N ouvel Observateur; Nr. 177, 30. April 1968) von Mikel Dufrennes Pour Vhomme, das Foucault zu­ nächst den Strukturalisten gleichsetzte und ihn dann im Namen des his­ toristischen und fortschrittlichen Humanismùs attackierte, schrieb Cla­ vel: »Man sieht in einem wahren Abgrund das ungeheure Missverhältnis zwischen dem Denker und seinem Kritiker. Was er im Vergleich mit dem, was er zerstört, einführt [...] besteht zwischen Humanismus und Struk­ turalismus kaum ein größerer Unterschied als zwischen ronron und petit patapon.« In Ce que je crois berichtet Clavel, dass diese Behauptung in Wirklichkeit eine Frage an Foucault war. Und so schließt er die Antwort in sein Buch ein.

[...] Siehe da, die fröhliche Ausgelassenheit Ihrer lärmenden Schar wirbelt die drückende Luft auf. Zweimal, tausendmal willkom­ men. Beim Lesen Ihres Textes stellt sich als Erstes ein wunderba­ rer Eindruck ein: Ihre Stimme kommt nicht aus dem »Vorher«,

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um das wieder zusammenzuknüpfen, was zerbrochen sein konnte, um all das Vergessene wieder zu erwecken und die alten Diskurse aufrechtzuerhalten; sie kommt aus dem »Nachher« und aus dem Raum, der befreit werden konnte; es ist das erste Mal, dass ich eine Stimme höre, die weder die des Richters noch gar die des Lesers ist, sondern die des Menschen, der bereits den Weg abgeschnitten hat, der weitergeht, der mit großen Schritten vo­ rankommt, von dem ich vor mir nur noch den mir zugewandten Rücken sehe, aber der mir aus voller Lunge zuruft, was er erkennt. Und dann eine weitere Verwunderung: Alles, was Sie mir bis hierher gesagt hatten, hatte mich zutiefst berührt, ich war glück­ lich, dass ich Ihnen eine Art Dienst hatte erweisen können; aber ich wusste nicht welchen, und wartete ungeduldig darauf, dass sich diese etwas rätselhafte Gestalt abzeichnen würde, an die ich mich gebunden fühlte. Der Text aus dem Nouvel Observateur gibt mir auf einen Schlag Klarheit und erfüllt mich: All das, was Sie über die Anstrengung sagen, nicht nur die »humanistische« Gestalt, sondern das gesamte strukturale Feld zu umgehen, ist das, was ich hatte tun wollen; doch die Aufgabe war mir so un­ geheuer groß erschienen; sie verlangte eine solche Entwurzelung, dass ich sie nicht bis an ihr Ende durchgeführt habe; dass ich sie nicht so formuliert habe, wie es hätte sein müssen, und dass ich im letzten Moment die Augen davor geschlossen habe. Indem Sie diese Dinge mit dieser Kraft artikulierten, haben Sie mich ge­ zwungen und befreit. Auf jeden Fall werde ich, wenn man mich jetzt fragt, wie man das häufig tut, »Wovon sprechen Sie denn nur?«, erwidern, dass ich von dieser Stelle gesprochen habe, an der ich jetzt schweige, an der Clavel für mich gesprochen hat, im Vorübergehen, eines Tages, als er aufbrach, so viel wichtigere Dinge zu sagen. Jetzt, da ich* Ihre Stimme auf dem Land höre und die Land­ schaften errate, die bereits die Ihren1 sind, bin ich zutiefst glück­ lich, dass ich der sesshafte, ein wenig unschuldige Türöffner für diese schöne Schar gewesen bin. Und ich bin glücklich, dass Sie der Ritter sind [...]. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek

1 [Clavel hatte sich in Vézelay niedergelassen.]

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146 Das Haus der Wahnsinnigen »La casa délia follia«, (»La maison des fous«), in: Basaglia, E, und BasagliaOngardo, E, Crimini dipace, Turin 1975. (Dieser Text nimmt die Zusammen­ fassung der Vorlesung des Jahres 1974 vom Collège de France auf und fügt weitere Entwicklungen hinzu; siehe Nr. 143, Band 2, S. 829-844.)

Der wissenschaftlichen Praxis liegt ein Diskurs zugrunde, der sagt: »Nicht alles ist wahr; doch an jeder Stelle und zu jedem Zeitpunkt gibt es eine Wahrheit zu sagen und zu sehen; eine Wahrheit, die vielleicht schlummert, die aber nur auf unseren Blick wartet, um zu erscheinen, und auf unsere Hand, um ent­ deckt zu werden; es liegt an uns, die richtige Sichtweise, den pas­ senden Sehwinkel, die benötigten Instrumente zu finden, denn wie auch immer, sie ist da und sie ist überall da.« Doch ebenso gründlich in unserer Zivilisation verankert finden wir jene Idee, die der Wissenschaft und mit ihr der Philosophie zuwider ist: Dass wie der Blitz die Wahrheit nicht überall auf uns wartet, wo wir die Geduld haben, ihr aufzulauern, und das Geschick, sie zu über­ raschen; sondern dass sie geeignete Augenblicke und bevorzugte Orte hat, nicht nur, um aus dem Schatten zu treten, sondern um sich überhaupt zu ereignen; wenn es eine Geographie der Wahr­ heit gibt, so ist es die der Stätten, die sie bewohnt (und nicht nur einfach der Orte, an denen man sich hinstellt, um sie besser be­ obachten zu können); ihre Chronologie ist die der Konjunktio­ nen, die es ihr gestatten, als ein Ereignis einzutreten (und nicht die der Momente, die man nutzen muss, um sie wie etwa zwischen zwei Wolken wahrzunehmen). In unserer Geschichte dürfte eine ganze »Technologie« dieser Wahrheit zu finden sein: die Kenn­ zeichnung ihrer Plätze, der Kalender ihrer Gelegenheiten und das Wissen um die Rituale, inmitten derer sie stattfindet. Beispiele für diese Geographie sind etwa Delphi, wo zum Er­ staunen der ersten griechischen Philosophen die Wahrheit sprach; oder die Orte der Zurückgezogenheit im alten Mönchstum; später dann der Sitz des Predigers oder Großmeisters und die Versamm­ lung der Getreuen. Beispiele für diese Chronologie findet man in ausgefeilter Weise im medizinischen Verständnis der Krise, das bis

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Ende des 18. Jahrhunderts seine große Bedeutung bewahrte. So wie die Krise aufgefasst und ins Werk gesetzt wurde, ist sie gerade nicht der Moment, an dem die tief verborgene Natur der Krank­ heit zur Oberfläche aufsteigt und sich sehen lässt; sie ist der Mo­ ment, in dem sich der Krankheitsprozess aus eigener Energie aus seinen Fesseln löst, sich von allem befreit, was ihn daran hindern konnte, bis zu seinem Ende zu gelangen, und sich gewissermaßen entscheidet: sich entscheidet, eher dieses als jenes zu sein, über seine (günstige oder ungünstige) Zukunft entscheidet. Eine alles in allem autonome Bewegung, an der jedoch der Arzt teilhaben kann und muss: Er muss in ihrem Umfeld all die Konjunktionen zu­ sammenführen, die für sie günstig sind, muss sie also vorbereiten, sie hervorrufen und anregen; aber er muss sie auch als Gelegenheit begreifen, sein therapeutisches Handeln darin einbinden und an dem dafür günstigsten Tag den Kampf mit ihr aufnehmen. Sicher, die Krise kann auch ohne den Arzt ablaufen, doch wenn der Arzt eingreifen will, so muss dies gemäß einer Strategie geschehen, die sich an der Krise als Wahrheitsmoment ausrichtet, aber auch die Möglichkeit beinhaltet, dieses Moment auf einen Zeitpunkt hin­ zulenken, der für ihn, den Therapeuten, günstig ist. Im Denken und in der Praxis des Arztes war die Krise schicksalhafter Mo­ ment, Wirkung eines Rituals und strategische Gelegenheit in ei­ nem. In einem ganz anderen Bereich ging es der gerichtlichen Prü­ fung ebenfalls darum, die Hervorbringung der Wahrheit zu be­ werkstelligen. Das Gottesurteil, das den Angeklagten einer Probe unterzog, oder das Duell, das Angeklagten und Ankläger (oder ihre Repräsentanten) konfrontierte, war nicht eine plumpe und irrationale Art, die Wahrheit »aufzudecken« und herauszubekom­ men, was in der strittigen Angelegenheit wirklich vorgefallen war; es war eine Art zu entscheiden, auf welcher Seite Gott aktuell das etwas Mehr an Glück oder Kraft ansetzte, das den Erfolg des einen der beiden Widersacher ausmachte; wurde dieser Erfolg regulär errungen, so zeigte er an, zu wessen Gunsten die Lösung des Rechtsstreits erfolgen sollte. Und die Stellung des Richters war nicht die des Untersuchenden, der eine verborgene Wahrheit aufzudecken und exakt wiederherzustellen suchte; ihm oblag es, die Hervorbringung der Wahrheit zu organisieren und die Echt­ heit der rituellen Formen zu verbürgen, in denen sie hervorgeru-

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fen worden war. Die Wahrheit war die durch die rituelle Bestim­ mung des Siegers hervorgebrachte Wirkung. Man kann somit in unserer Zivilisation und über den Lauf der Jahrhunderte hinweg eine ganze Technologie der Wahrheit anneh­ men, die von der wissenschaftlichen Praxis und vom philosophi­ schen Diskurs nach und nach disqualifiziert, verdeckt und aus­ getrieben wurde. Die Wahrheit gehört darin nicht zur Ordnung dessen, was ist, sondern dessen, was eintritt: Ereignis. Sie wird nicht festgestellt, sondern hervorgerufen: Hervorbringung statt Apophantik. Sie ergibt sich nicht mittels Instrumenten, sondern sie wird durch Rituale hervorgeholt; sie wird durch Listen ange­ lockt, man ergreift sie, wenn die Gelegenheit sich bietet: Strategie und nicht Methode. Das Verhältnis zwischen dem auf solche Wei­ se hervorgerufenen Ereignis und dem Individuum, das darauf lau­ erte und das davon getroffen wird, ist nicht das zwischen Objekt und Subjekt der Erkenntnis; es ist ein zwiespältiges, reversibles und kriegerisches Verhältnis von Meisterschaft, Herrschaft und Sieg: ein Machtverhältnis. Zugegeben, diese Wahrheit-Ereignis-Ritual-Prüfungs-Technologie scheint seit langem verschwunden zu sein. Aber sie war von Dauer und ein nicht zu beseitigender Kern des wissenschaft­ lichen Denkens. Die Bedeutung der Alchimie, ihr hartnäckiges Nicht-verschwinden-wollen trotz so vieler Fehlschläge und solch endloser Wiederholungen, die Faszinationsmacht, die sie ausgeübt hat, hängen zweifellos mit Folgendem zusammen: Sie ist eine der ausgefeiltesten Formen dieser Art des Wissens gewesen; sie suchte nicht so sehr, die Wahrheit zu erkennen, als sie vielmehr ent­ sprechend einer Bestimmung günstiger Momente (daher ihre Verwandtschaft zur Astrologie) und durch Befolgung von Vor­ schriften, Verhaltens- sowie Übungsmaßregeln (daher ihre Ver­ bindungen zur Mystik) hervorzubringen, wobei sie sich als Ziel eher einen Sieg, eine Meisterschaft oder eine Souveränität über ein Geheimnis als die Entdeckung einer Unbekannten vornahm. Das alchimistische Wissen ist nur dann leer oder nichtig, wenn man es als Form einer repräsentierten Wahrheit befragt; es ist voll, wenn man es als eine Gesamtheit von Regeln, Strategien, Verfahren, Kalkülen und Verkettungen betrachtet, die es gestatten, rituell die Hervorbringung des Ereignisses »Wahrheit« herbeizuführen. Man könnte in dieser Perspektive auch eine Geschichte des Ge­

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ständnisses im Bereich von Strafe, Kriminaljustiz und Psychiatrie schreiben. Ein »gesunder Menschenverstand« (der in Wirklichkeit auf einer umfassenden Konzeption der Wahrheit als Erkenntnis­ objekt beruht) deutet die Suche nach dem Geständnis um und rechtfertigt sie durch die Behauptung: Wenn das Subjekt selbst sein Verbrechen oder seinen Fehler oder seinen verrückten Wunsch gesteht, so ist das eben der beste Beweis, das sicherste Zeichen dafür. Historisch jedoch war das Geständnis, bevor es als Beweis zu gelten begann, die Hervorbringung einer Wahrheit im Ausgang einer Prüfung, die nach kanonischen Formen voll­ zogen wurde: rituelles Bekenntnis, Marter und Folter. Bei dieser Art Geständnis - das man, wie zu sehen ist, in den religiösen, später dann in den gerichtlichen Praktiken des Mittelalters zu er­ halten sucht - bestand das Problem nicht darin, ob es exakt ist und sich als zusätzliches Element in die weiteren Vermutungen ein­ zigen lässt, sondern ganz einfach darin, dass es hergestellt wird, und zwar nach Regeln. Die in der modernen medizinisch-gericht­ lichen Praxis so wichtige Sequenz von Befragung und Geständnis schwankt in Wirklichkeit zwischen einem alten, an dem sich her­ vorbringenden Ereignis ausgerichteten Ritual der Wahrheit als Prüfung und einer an der Erbringung von Zeichen und Beweisen ausgerichteten Epistemologie der Wahrheit als Feststellung. Der Übergang von der Wahrheit als Prüfung zur Wahrheit als Feststellung ist zweifellos einer der wichtigsten Vorgänge in der Geschichte der Wahrheit. Allerdings trifft das Wort »Übergang« nicht so ganz. Denn es handelt sich nicht um zwei einander frem­ de Formen, die in einem Gegensatz stünden und bei denen am Ende die eine über die andere triumphieren würde. Die Wahrheit als Feststellung in der Form der Erkenntnis ist vielleicht nur ein Sonderfall der Wahrheit als Prüfung in der Form des Ereignisses. Ereignis, das steh de jure als potentiell endlos immer und überall wiederholbar hervorbringt; das Ritual einer Hervorbringung, die sich in einer Instrumentierung und einer Methode verkörpert, die allen zugänglich und gleichförmig wirksam sind; ein Ausgang, der ein permanentes Erkenntnisobjekt bezeichnet und ein universales Erkenntnissubjekt qualifiziert. Diese einzigartige Hervorbringung einer Wahrheit hat nach und nach die anderen Formen einer Hervorbringung von Wahrheit überdeckt oder zumindest ihre Norm als universale Norm geltend gemacht.

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Die Geschichte dieser Überlagerung dürfte weitgehend mit der Geschichte des Wissens in der abendländischen Gesellschaft seit dem Mittelalter zusammenfallen: Geschichte nicht der Erkennt­ nis, sondern der Art und Weise, wie die Hervorbringung der Wahrheit die Form der Erkenntnis angenommen und sich die Norm der Erkenntnis auferlegt hat. Dieser Vorgang lässt sich mit Sicherheit an drei Merkmalen festmachen. Da ist als Erstes die Herstellung und Verallgemeinerung des Verfahrens einer Un­ tersuchung [»enquête«] in der politischen sowie in der (zivilen oder religiösen) gerichtlichen Praxis: ein Verfahren, dessen Aus­ gang durch das Einverständnis mehrerer Individuen über eine Tatsache, ein Ereignis oder einen Brauch bestimmt wird, die von da an als allgemein bekannt angesehen werden können, das heißt die anerkannt werden können und müssen: bekannte Tat­ sachen, da für alle erkennbar. Die rechtlich-politische Form der Untersuchung [»enquête«] steht im Wechselverhältnis zur Ent­ wicklung des Staates und zum allmählichen Auftauchen einer neuen Art politischer Macht im Element des Feudalwesens im 12. und 13. Jahrhundert. Die Prüfung war eine Art Macht-Wissen mit einem im Wesentlichen rituellen Charakter; die Untersuchung [»enquête«] ist eine im Wesentlichen administrative Art des Macht-Wissens. Und dieses Vorbild hat - in dem Maße, wie sich die Strukturen des Staates herausbildeten - dem Wissen die Form der Erkenntnis auferlegt: ein souveränes Subjekt, das Universalität beansprucht, und ein Erkenntnisobjekt, das für alle als bereits vorhanden erkennbar sein muss. Der zweite große Moment folgte in jener Epoche, in der dieses rechtlich-politische Verfahren sich in einer Technologie verkörpern konnte, die eine Befragung [»en­ quête«] der Natur erlaubte. Dies war die Technologie jener In­ strumente, deren Aufgabe es nicht mehr ist, den Ort der Wahrheit auszumachen, ihren Moment zu beschleunigen oder reifen zu lassen, sondern vielmehr, die Wahrheit wo auch immer und wann auch immer zu erfassen; Instrumente mit der Funktion, die Dis­ tanz zu überwinden oder das Hindernis aufzuheben, das uns von einer Wahrheit trennt, die überall auf uns wartet und die ganze Zeit auf uns gewartet hat. Zu dieser großen technologischen Um­ kehrung kommt es mit Sicherheit in der Zeit der Seeschifffahrt, der großen Reisen, dieser ungeheueren »Inquisition«, die nicht mehr den Menschen und ihren Gütern, sondern der Erde und

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ihren Reichtümern galt, und zwar mehr noch der Eroberung des Meeres als der der Länder. Vom Schiff als endlos beweglichem Element muss der Steuermann an jeder Stelle und in jedem Au­ genblick wissen, wo es sich befindet; das Instrument muss so beschaffen sein, dass kein Augenblick privilegiert werden darf; sämtliche örtlichen Vorrechte müssen ausgestrichen werden. Die Reise hat das Universale in die Technologie der Wahrheit einge­ führt; sie hat ihm die Norm des »wann auch immer«, des »wo auch immer« und infolgedessen des »wer auch immer« auferlegt. Die Wahrheit wird nicht mehr hervorzubringen sein, sondern wird sich jedes Mal, wenn man nach ihr suchen wird, präsentieren und repräsentieren müssen. Schließlich das dritte Moment in den letzten Jahren des 18. Jahrhunderts, als es im Element der durch allgemein einsetzbare Instrumente festgestellten Wahrheit dank Chemie und Elekt­ rizität möglich wurde, Phänomene hervorzubringen. Diese Her­ vorbringung von Phänomenen im Experimentieren ist von der Hervorbringung von Wahrheit in der Prüfung am weitesten ent­ fernt: Denn sie sind wiederholbar, sie können und müssen fest­ gestellt, kontrolliert und gemessen werden. Das Experimentieren ist nichts anderes als eine Untersuchung [»enquête«] an künstlich hervorgerufenen Sachverhalten; Phänomene in einer Laborato­ riumsapparatur hervorzubringen heißt nicht rituell das Ereignis der Wahrheit hervorzurufen, sondern dabei wird mittels einer Technik eine Wahrheit festgestellt, deren Eintreten allgemein gül­ tig ist. Von nun an hat die Hervorbringung von Wahrheit die Form der Hervorbringung von Phänomenen angenommen, die für jedes Erkenntnissubjekt feststellbar sind. Wie man sieht, begleitet diese große Transformation in den Verfahren des Wissens die wesentlichen Veränderungen der abendländischen Gesellschaften: das Aufkommen einer politi­ schen Macht, die die Form des Staates hat; die Ausweitung der Handelsbeziehungen im Weltmaßstab; die Einrichtung von um­ fänglichen Produktionstechniken. Aber man sieht auch, dass es bei diesen Wandlungen des Wissens nicht um ein Erkenntnissub­ jekt geht, das von den Transformationen der Basis betroffen wäre; sondern eben um Formen von Macht-und-Wissen, von MachtWissen, die auf der Ebene der »Basis« funktionieren, sich aus­ wirken und Anlass für die Erkenntnisbeziehung (Subjekt-Objekt)

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als Norm des Wissens sind. Als Norm jedoch, bei der man nicht vergessen darf, dass sie geschichtlich singulär ist. Man kann unter diesen Umständen gut verstehen, dass sie1 sich nicht problemlos auf all das anwenden lässt, was widersteht, ent­ weder auf ihre Grenzen oder auf ihre Ungewissheiten im Feld der Erkenntnis; sie stellt die Erkenntnis, die Form der Erkenntnis, die »Subjekt-Objekt«-Norm infrage; sie befragt die Bezüge zwischen den ökonomischen und politischen Strukturen unserer Gesell­ schaft und der Erkenntnis (nicht in ihren wahren oder falschen Inhalten, sondern in ihren Macht-Wissen-Funktionen). Eine in­ folgedessen historisch-politische Krise. Nehmen wir als Erstes das Beispiel der Medizin, mitsamt dem Raum, der mit ihr verknüpft ist, nämlich das Spital. Recht lange noch ist das Spital ein zwiespältiger Ort geblieben: Ort der Fest­ stellung für eine verborgene Wahrheit und Ort der Prüfung für eine hervorzubringende Wahrheit. Als Instrument zur Beobachtung sollte das Spital der Ort sein, an dem sämtliche Krankheiten im Verhältnis zueinander klassifi­ ziert, verglichen, unterschieden und in Familien neu zusammen­ gefasst werden konnten; jede Krankheit konnte in ihren besonde­ ren Eigenheiten beobachtet, in ihrer Entwicklung verfolgt und an dem für sie Wesentlichen oder bloß Akzidentellen festgemacht werden. Das Spital: ein botanischer Garten des Bösen, ein leben­ diges Herbarium von Kranken. Mit ihm erschloss sich ein leichter und durchsichtiger Beobachtungsraum; die permanente Wahrheit der Krankheiten konnte sich darin nicht mehr verstecken. Andererseits jedoch sollte das Spital eine direkte Wirkung auf die Krankheit ausüben: sollte ihr nicht nur erlauben, den Augen des Arztes ihre Wahrheit zu enthüllen, sondern auch diese her­ vorbringen. Das Spital als Ort des Aufblühens der wahren Krank­ heit. Denn man unterstellte, dass der im freien Zustand - in sei­ nem »Milieu«, in seiner Familie, in seiner Umgebung mit seiner Ordnung, seinen Gewohnheiten, seinen Vorurteilen und seinen Illusionen - belassene Kranke nur von einer komplexen, verwirr­ ten, verwickelten Krankheit betroffen sein konnte, einer Art wi1 [»Sie« verweist sicherlich auf »diese große Transformation in den Verfahren des Wissens« (im voraufgehenden Absatz, erste Zeile).]

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dernatürlichen Krankheit, die sowohl eine Vermischung mehrerer Krankheiten als auch ein Hemmnis für die wahre Krankheit war, sich in ihrer natürlichen Echtheit hervorzubringen. Die Rolle des Spitals bestand also darin, durch Beseitigung dieser parasitären Vegetation und dieser abwegigen Formen nicht nur die Krankheit zum Vorschein kommen zu lassen, so wie sie ist, sondern sie end­ lich in ihrer bis dahin eingeschlossenen und gefesselten Wahrheit hervorzubringen. Ihre eigene Natur, ihre wesentlichen Merkmale, ihre spezifische Entwicklung sollten mit der Wirkung der Hospitalisierung endlich Wirklichkeit werden können. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek

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Ein Feuerwehrmann plaudert aus dem Nähkästchen »Un pompier vend la mèche«, in: Le Nouvel Observateur Nr. 531, 13.-19. Januar 1975, S. 56-57. (Über J.-J. Lubrina, L'Enfer des pompiers^ Paris 1974.)

»Manche Personen ziehen es vor, sich aufzuhängen. Im Allgemei­ nen werden sie nicht sofort gefunden. Nächte vergehen, Tage ver­ gehen. Und dann fällt eines Abends jemandem, der keinen Schlaf findet, der nicht zur Ruhe kommt, plötzlich auf, dass das Radio des Nachbarn von oben seit drei, vier oder fünf Tagen ununter­ brochen gelaufen ist. Das macht ihn nervös, er wird unruhig, er macht Meldung, und wenn wir dann eintreffen, finden wir einen in voller Auflösung begriffenen Körper am Ende eines Stricks vor. Für uns bleibt dann nichts anderes mehr zu tun als den Erhängten runterzuholen. Das ist alles. Die Tradition will es, dass die Ein­ greiftruppe den Strick aufbewahrt. Und diesen Strick schneidet man in so viele Stücke, wie Feuerwehrleute anwesend sind. Und jeder macht sich davon, mit diesem Erinnerungsstück in seiner Tasche. Erinnerungsstücke, Erinnerungen... Diese Frau, die ich 2 [Die Fortsetzung des Textes ist die wieder aufgenommene Zusammenfassung der Vorlesung vom Collège de France von 1974, ab dem vierten Absatz: »Das Spital des 18. Jahrhunderts...«. Siehe Nr. 143, Band 2, S. 829-844.]

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eines Abends sah, ganz bleich, in diesem Sessel sitzend, hineingefläzt, gestorben, auch sie, an zu viel Gardenal... Sie hatte er­ brochen. Dieses Erbrochene hatte sich in eine lang gezogene Schimmelspur verwandelt, die vom Mund hinunter bis zwischen die beiden Knie auf ein granatfarbenes Kleid führte. Sie war meh­ rere Tage so geblieben; sie war bedeckt mit Schimmelpilzen.« Jean-Jacques Lubrina war ein sehr begabter Konditorlehrling: Erster bei seiner Gesellenbriefprüfung, vierzehn Stunden Arbeit pro Tag, dreihundertundfünfzig Francs Ende des Monats. Mit neunzehn Jahren geht er vom Ofen zum Feuer und tritt in die Pariser Feuerwehr ein. Danach dann Zeitungsverkäufer, Koch, Nachtwächter. Die Straße, der Ruin, die heiße Flamme und die Nacht, dies muss ihn verfolgen: Heute hat er sich am Rande des großen Lochs, wo einst die Hallen waren, in einer leer stehenden Absteige eingegraben, einer Beobachtungsnische, von der aus er, um zu leben, über eine ganze Straße von verschlafenen und ver­ dammten Häusern wacht. Er erzählt aus dem berühmtesten seiner Berufe. Zweifellos glaubte er, wie Sie und ich, dass der Feuerwehrmann der Samariter der Straßen und der Nacht wäre, der rote Engel, der Mann gegen Mann mit den Geißeln kämpft: Zwischen dem Feuer oder dem ansteigenden Wasser und uns schiebt er seine unzerstörbare Leiter aus. Der Bäckergeselle mochte vielleicht geträumt haben, wie jene Mönche oder jene Prostituierten des Mittelalters zu sein, die, nachdem sie für die Seelen gebetet oder die Körper befriedigt hatten, an Tagen, an denen es brannte, die Kette bilden mussten, die von den Rändern des Wassers bis zu dem in Flammen stehen­ den Dach reichte. In der Tat wurde er zusammen mit seinen Ka­ meraden zu einem dieser »Mädchen für alles« von Paris. Er dachte, er würde in die aus Tausenden bestehende Bruder­ schaft derer eintreten, die das Feuer des Himmels und der Erde löschen. Aber er lernte schnell, dass der Feuerwehrmann eher ein Feldzügler der Ordnung und vor allem des Todes ist. Der Tod jedoch, auf den er stößt, ist nicht der kollektive Tod der großen Geißeln; es ist der kleine individuelle Todesfall, den die privaten Personen sich antun. Und zudem trifft er immer erst nachträglich ein; er hat es immer nur mit der anderen Seite zu tun; er bekommt ein Gesicht zu sehen, das noch ein wenig unter dem Blick des Todes steht; er kehrt die Trümmer einer Schlacht zusammen.

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Ihm obliegt es, sich um all diese Körper in Not zu kümmern, die in den Wohnungen umherirren, die an den Ästen der Bäume hängen, die die öffentlichen Orte beschmutzen. »Ich denke an diejenigen, die sich vor die Metro werfen, oder an das, was davon übrig bleibt, wenn man das Chassis des Waggons angehoben hat, an diese Enden zerfetzter Arme oder Beine, die man Stück für Stück in einem Behälter mitnimmt. Manchmal muss man den Rand der Räder mit dem Messer abkratzen, um die Mechanik zu säubern, oder gar noch an den Haaren ziehen, damit man den Kopf zu packen bekommt, und kann sich nur kriechend fort­ bewegen. Dann bekommen Sie den Eindruck, Sie hätten selbst das Verbrechen begangen.« Eine ganze soziale Aufräumarbeit. Der Arbeiter bei der Müllabfuhr transportiert die Reste des Konsums ab. Der Feuerwehrmann wischt die Abfälle der Existenz ab. Das ist edler; er wird dafür ziemlich geliebt. Er hilft, als nahezu stum­ mer Arzt, als unschuldiger und abgestumpfter Voyeur. Man »bittet« ihn um nichts, man ruft ihn. Er greift ohne lange Rede ein, er nimmt die Toten »noch wie eben lebend«; er packt die Dinge an, solange sie noch, wenn man das zu sagen wagen kann, heiß sind. Der Beruf des Feuerwehrmanns ist ein bemerkenswer­ tes Observatorium: Über die Stadt, die Viertel, die Einwohner, die Gewohnheiten, die Regel und die Unordnung häuft er ein beacht­ liches Wissen an. Das Erkennen von Leuten an der kleinsten An­ ordnung der Dinge um sie herum. Das Maß für die großen Zwän­ ge durch die Wahrnehmung winzig kleiner Gebräuche. Von diesem Bild-Wissen gibt Jean-Jacques Lubrina nur die bewe­ gungslosen und einschneidenden Spuren in seinem Gedächtnis wieder: »Wir haben die Tür eingeschlagen. In der Ecke der Küche, einer kleinen, sehr sauberen und sehr traurigen Küche, mit kleinen Töpfchen überall, für Salz, für Pfeffer, für Mehl, Haufen kleiner Töpfchen, lag*eine Frau, ungefähr fünfzig Jahre alt, auf dem Bo­ den, noch warm.« Der Bericht ist zur Schau geworden. Als Mann der Ordnung stürzt sich der Feuerwehrmann nicht töricht in den Kampf gegen das Feuer. Er organisiert sorgsam das Duell. Selbstverständlich liebt ein Feuerwehrmann das Feuer. Und zumal, da der nächtliche Großbrand seine alltäglichen Auf­ räumarbeiten heiligt (der Feuerwehrmann beim Feuer ist wie die Mutter einer Familie, die zur Hexe wird, um zum Sabbat zu ge­ hen), kommt es nicht infrage, dass man die Riten verbrennt; der

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Zweikampf muss ehrenhaft sein. Nur ein junger ungeschickter Lanzenträger öffnet den Wasserhahn auf einen Schlag, schüttet das Weihwasser über dem großen roten Teufel aus und lässt nur noch eine sich rundum ausbreitende Dampfwolke vor den Feuer­ wehrleuten zurück, die »traurig und enttäuscht sind, dass das Vergnügen nicht länger währte«. Das Feuer selbst ist somit ein Ordnungs- und ein Reinigungs­ problem. Eine Ökonomie der Lust, aber auch eine Ökonomie der Reste. Bei den Feuerwehrleuten sagt man nicht: »Ich habe ein Feuer gelöscht«, sondern: »Ich habe ein Feuer gemacht«. Da war »dieser alte Feuerkämpfer, der die Trümmer liebevoll, lüstern und mit Fingerspitzengefühl durchwühlte. Am Ende dieses lan­ gen Weges hatte er sich so Tag für Tag, Jahr für Jahr sein Asyl, seine Oase, sein Häuschen tief in den Vorstädten ausgestattet. In größter Selbstsicherheit legte er seine Hand auf die Lehnstühle des großen Jahrhunderts oder zumindest auf das, was davon übrig war. Er wählte aus, er wurde zum Experten. Wir hatten den Ver­ dacht, dass er wartete, die ganze Zeit wartete und auf ein groß­ artiges Inferno hoffte, den Brand eines Palastes.« Eines Abends schallt die Feuerglocke: »Eine Baracke, ein Häus­ chen, wenn man so will: Vierzig Zigeuner leben darinnen, im Vorort Montreuil. Alles steht in Flammen, nichts wird übrig blei­ ben. Der Mann des Feuers ist da. Er reißt mir die Lanze aus den Händen: >Gib sie mir, wir haben keine Zeit zu verlieren mit die­ sem Scheißhaufen.< Und im Handumdrehen ist das Feuer aus. Er wusste, dass nichts mehr zu holen war.« Die Disziplin ist vielleicht die Kraft der Armeen; sie ist auf jeden Fall die Schwäche der Feuerwehrleute. Wie es scheint, hat der Konvent die Angestellten des Feuers militarisiert. Der Soldat hat endgültig den Mönch verjagt. Seit damals ist der Feuerwehr­ mann nicht mehr der Mann für die großen Katastrophen, sondern ist zum Mann der winzigen Details, der Disziplinen, »blöd bis hin zur Bestialität«, und der »hohl« machenden Übungen geworden. »Die 3,750 Kilo des Mas 36-Gewehres geben dem Marsch den Rhythmus vor und frieren ihn ein. Das >Präsentiert das Gewehrh geschieht nach River Kwai-Art. Stunden und ganze Nachmittage in der Sonne, Zeit, dazu da, Perfektion in der Bewegung zu errei­ chen [...]. Schläge mit der Eisenklinge auf die Finger, die nicht waagerecht gehalten werden, und Fußtritte vor die Schienbeine,

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wenn diese schlecht in Reihe stehen.« Kurz gesagt, der Unter­ schied zwischen einem Landser und einem Pariser Feuerwehr­ mann ist der, dass »der Feuerwehrmann für die Latrinenreinigung das Strahlrohr benutzt«. Nun kann man den Feuerwehrmann, den man so abgerichtet hat, auch fragen (und dies war vielleicht auch das dunkel gesuchte Ziel), ob er nicht der Polizei zuarbeitet. Der Verschworene des Feuers ist zu einer Ordnungsmacht geworden. »Bullen, Feuer­ wehrleute, Feuerwehrleute-Bullen, allesamt Kollegen, allesamt Verteidiger der Ordnung, allesamt Prügelknaben.« Wundern Sie sich nicht, dass während des Algerienkrieges die Rettungsstelle Parmentier dem nebenan gelegenen Polizeiposten so viele »Diens­ te« erwies. Wundern Sie sich nicht, dass man in Grasse die Feuer­ wehrleute gegen Immigranten einsetzen wollte. Wundern Sie sich nicht, dass beim C.E.S. Pailleron1 die Offiziere und selbst der General keine Karte von den Örtlichkeiten hatten. »Sie wissen oder Sie wollen nicht wissen, dass es dank Ihrer Nachlässigkeit nicht mehr möglich ist, einen Brand zu löschen. Das Aus-dem-Boden-Schießen der Türme, der C.E.S., wird zu Ihrem vorzeitigen Abgang führen, wenn Sie sich weigern, Ihren Beruf neu zu definieren. Ein Brand lässt sich nicht mehr an seinem Entstehungsort bekämpfen. Er ist durch Prävention zu bekämp­ fen. Er ist zu bekämpfen, indem man die Baugenehmigungen ver­ weigert und blockiert. Wozu Sie vermutlich unfähig sind. Sie kön­ nen nicht zugleich Militärs und Männer des Feuers sein. Sie können nicht, Monsieur le Général, Bücklinge machen vor Ihren Oberen, von ihnen Sterne erwarten und zugleich die Funken überwachen.« Man findet auch Seiten über die großen Brände, den aus der Rue d’Aboukir und vor allem den des Publicis,12 und die Rolle, die in dieser Affäre Bleistift und Kugelschreiber gespielt haben. Tat­ sächlich werden im Kontrollregister mit Bleistift die Ereignisse verzeichnet, so wie sie abgelaufen sind. Doch sobald die Angele1 [Das in kürzester Zeit durch einen Brand zerstörte College d'enseignement se­ condaire forderte Opfer unter den Schülern und deckte die Sicherheitsmängel an Schulneubauten auf.] 2 [Ein Brand, dessen Ausbruch für manche nicht unerwartet kam, hatte den Sitz der Werbeagentur, ein unter Denkmalschutz stehendes Gebäude an der Avenue des Champs-Élysées, verwüstet.]

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genheit einmal abgeschlossen ist, modifiziert man nach einigen Strichen mit dem Radiergummi mit Tinte die Abfahrts- und An­ kunftszeiten der Einsatzfahrzeuge und »rückt« so zur Ehrenret­ tung der Institution die Unwahrscheinlichkeiten »zurecht«. Lesen muss man auch die Seiten über die zur Pariser Feuerwehr versetzten Geheimarmeeoffiziere. Und weitere noch über den Feuerwehrmann im Theater. Man lernt, wie der frühere Konditor­ lehrling, mechanisiert und aufgebracht, von der militärischen Blödheit ganz »hohl« gemacht - hohl jedoch wie eine kurz vor der Explosion stehende Granate -, wieder die Sanftheit der Wör­ ter und das Gewicht der Realität erlernte, indem er von hoch oben aus dem Gewölbe, wo er Dienst hatte, Marivaux hörte und auf die jugendlichen Helden lauerte, die für die laue und flammenlose Pariser Nacht rasch die Bühne verließen. Doch vielleicht täusche ich mich. Denn wie sollte dieses Buch nur so schön, so voller Wissen und Talent, so wunderbar und so »bildend« sein können, wie ich es behaupte, da doch so viele Verleger es abgelehnt haben, und das über einen so langen Zeit­ raum? Ich bleibe dabei, ich liebe dieses Buch voller Verständnis, Zorn, Zärtlichkeit und Fröhlichkeit. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek

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Die Politik ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln La politique est la continuation de la guerre par d’autres moyens« (Gespräch mit B.-H. Lévy), in: Ulmprêvu, Nr. 1, 27. Januar 1975, S. 16.

- Die Krise,1 ein Wort, das Sie zum Nachdenken bringt? - Es ist nur ein Wort, das die Unfähigkeit der Intellektuellen be­ zeichnet, ihre Gegenwart in den Griff zu bekommen oder darüber hinauszukommen! Das ist alles! 1 [Die durch die Ölschocks (Verfünffachung des Rohölpreises der OPEC seit O k­ tober 1973) geschaffene internationale Situation wurde von den Marxisten als Strukturkrise des Kapitalismus und von den Liberalen als Krise der Demokratie

148 Die Politik ist die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln

- Es ist kein Wort, das Sie beunruhigt? - Absolut nicht! Ich lache darüber, dass es noch Leute gibt, die es verwenden. Ich glaube, dass man sich bewusst machen muss, dass einmal mehr die Krise eine Art theoretische Begleitung ist, mit der die Politiker, die Ökonomen, die Philosophen und einige andere einer Gegenwart, für die sie kein Analyseinstrument haben, einen Status zuweisen können. Wenn Sie so wollen, dann ist die Krise die fortwährende Gegenwart. Es hat niemals auch nur einen Mo­ ment der modernen westlichen Geschichte gegeben, der nicht das sehr ernste Bewusstsein einer lebhaft bis in den Körper der Leute hinein empfundenen Krise gehabt hätte. - Nun scheint man diese Krise dadurch bannen zu wollen, dass man sie näher bezeichnet: Energiekrise. - Tatsächlich hat man es mit einer Transformation der Kräftever­ hältnisse zu tun. Doch mit diesem Begriff Krise spricht man von etwas anderem als einfach nur von dieser Transformation. Man zielt auf die Spitze an Intensität in der Geschichte, man zielt auf den Bruch zwischen zwei radikal verschiedenen Perioden in dieser Geschichte, man benennt das fällige Ende eines langen Prozesses, der auseinander zu brechen beginnt. Von dem Moment an, da man das Wort Krise verwendet, ist offensichtlich von einem Bruch die Rede. Man verschafft sich so das Bewusstsein, dass alles beginnt. Doch gibt es auch etwas, das sehr im alten abendländischen Chiliasmus verwurzelt ist, und das ist der zweite Morgen. Es hat einen ersten Morgen der Religion und des Denkens gegeben; doch dieser Morgen war nicht der richtige; der Sonnenaufgang war grau, der Tag war schmerzhaft und der Abend war kalt. Hier hat man nun den zweiten Aufgang der Sonne, der Morgen beginnt aufs Neue. (vgl. S. Huntington, The Crisis of Democracy; New York 1975) beschrieben. M. Foucault lehnt die epistemologische Bedeutung des dem Feld der griechischen Medizin entlehnten Begriffs Krise genauso ab wie die des Begriffs Widerspruch, da beide auf die Idee einer Totalität verweisen. Er arbeitete damals an einer in Techno­ logie-Begriffen zu formulierenden »positiven Analytik«. Für eine Einordnung der Auseinandersetzung in Frankreich zwischen 1974 und 1979 über die Krise kann man Le Nouvel Ordre intérieur (Paris 1980) lesen, die Protokolle eines im März 1979 an der Universität Vincennes abgehaltenen Kolloquiums.]

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- Wie erklären Sie es, dass man in diesem Moment keine Diagnose vorlegen und keine Vorausschau machen kann, dass, kurz gesagt, die Intelligenz scheinbar auf die Nase fällt? - Das hat ganz genauso mit der Stellung des Intellektuellen im Funktionszusammenhang der Macht in unseren Gesellschaften zu tun. Er ist immer marginal, abseits. Er steht in einem gewissen, manchmal unendlich kleinen, manchmal ungeheuer großen Ab­ stand, und das, was er schreibt, kann deshalb nur deskriptiv sein. Schließlich gibt es nur eine Sprache, die der Gegenwart mächtig ist, und das ist die Sprache der Ordnung, der Anweisung. - Die Ordnung täuscht sich niemals, kann sich niemals täuschen. - Nein, sicher nicht. Sie kann strategische Irrtümer begehen, aber sie täuscht sich nicht. Die einzige wirklich aktuelle Form des Dis­ kurses ist der Imperativ, das heißt die Sprache der Macht. Und von dem Moment an, da der Intellektuelle am Rande fungiert, kann er die Gegenwart nur als Krise denken. - Aber diese Krise ist auch ein Zusammenwirken konkreter Tat­ sachen: die Landungsübungen von Seestreitkräften an den Mittel­ meerküsten zum Beispiel - Ich glaube, das ist weniger das Problem. Ich hätte sicher Un­ recht, wenn ich behaupten würde, das hätte es schon immer ge­ geben, aber ich glaube, dass das, was im Begriff Krise die Aus­ einandersetzung wieder hat aufleben lassen, der Widerspruch ist: dass ein bestimmter Prozess, indem er sich entwickelt, an den Punkt eines Widerspruchs angelangt ist, so dass er nicht mehr weiterkommt. Der Widerspruch ist dabei nur ein Bild. Wenn einer der Gegner einen Vorsprung hat, bringt ihn das in Gefahr. Und je mehr er vorankommt, desto mehr Angriffspunkte bietet er seinem Gegner sogar noch in dem Moment, da er ihn umstößt. Wenn man richtig im Sinn hat, dass nicht der Krieg die Fortsetzung der Poli­ tik, sondern die Politik die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln ist, dann ist die Vorstellung, dass der Widerspruch zu einem solchen wird, dass es nicht mehr weitergehen kann, eine Vorstellung, die man aufgeben muss. Konkret ist die Energiekrise

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ein vorzügliches Beispiel: Von dem Moment an, da der strategi­ sche Vorsprung des Westens allein auf der Ausplünderung der Dritten Welt beruhte, war klar, dass dieser Westen seine Abhän­ gigkeit vergrößerte. Insofern ist die Krise die ganze Zeit da. - Doch wie reagieren Sie, wenn Sie hören, dass über diese Krise gesprochen wird? - Wenn ich höre, dass journalistisch darüber gesprochen wird, lache ich nicht. Aber wenn ich höre, dass ernsthaft, dass philo­ sophisch darüber gesprochen wird, da fange ich an, darüber zu lachen. Denn die ernsthafte Rolle hat der Journalist, er hält sie Tag für Tag, Stunde für Stunde in Gang. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek

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Worüber denken die Philosophen nach? »A quoi revent les philosophes?« (Gespräch mit E. Lossowsky), in: L'Imprévu, Nr. 2, 28. Januar 1975, S. 13.

- Michel Foucault, lesen Sie die Zeitungen? Was suchen Sie darin ? Und womit beginnen Sie? - Oh, puh, wissen Sie, ich glaube, meine Lektüre ist sehr banal. Meine Lektüre beginnt beim Kleinsten, Alltäglichsten. Ich schaue auf die im Ausbrechen begriffene Krise und dann drehe ich meine Runden um die großen Kerne, die großen, ein wenig ewigkeitlichen, ein wenig theoretischen Zonen, ohne Tag und ohne Datum... - Le Monde? Ist das auch Ihre Bibel? Teilen Sie diesbezüglich die Passion der Linksintellektuellen? Die stets gut informierten Artikel aus Le Monde hätten auch zwei Monate früher oder vier Jahre danach geschrieben sein können. Und dann sowieso der Journalist, der in Manila, in Kairo oder in Oslo ankommt, sich auf dem Flughafen befindet, und bereits der Taxifahrer sagt ihm einen zugleich banalen wie zündenden Satz,

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was ihm dann in einer hochfeierlichen Rede durch den Außenmi­ nister wiederholt werden wird... Es folgen im Allgemeinen sehr genaue, sehr treffliche Analysen. Doch hier unternehme ich den Versuch, sie von einem anderen lesen zu lassen, der mir dann so ungefähr erzählen soll, worum es dabei geht. - Und das Fernsehen, funktionsbereit? - Was mich daran stört, ist die Qualität des französischen Fernse­ hens. Wahrlich! Es ist eines der besten der Welt, unglück­ licherweise! Ich habe in den Vereinigten Staaten gelernt, wie man mit dem Fernsehen umgeht. Bis dahin fand ich, dass es ein wenig entwürdigend war, wenn man sich das in den Kopf setzte, sich das anzuschauen. Doch in den Vereinigten Staaten ist es, insofern es von sehr schlechter Qualität ist, sehr angenehm, die ganze Zeit mit dem Fernsehen zu leben. Es gibt zehn Sender, es gibt von allem was, man kann von einem Sender auf den anderen klicken. Aber was mich in Frankreich stört und ganz schrecklich auf­ regt, ist, dass man verpflichtet ist, vorab die Programme durch­ zusehen, um zu wissen, was man nicht versäumen darf, und folg­ lich seinen Abend darauf abstimmen muss. Und dann gibt es noch montags Le Pain noir. Mit dem Ergeb­ nis, dass sämtliche Montage blockiert sind. In diesem Fall denke ich, dass es sehr wenige Fernsehsender in der Welt geben dürfte, die die Frechheit und das Geld haben, eine solche Serie zu produ­ zieren. Das ist unglaublich! Das macht die Gewalt des Fernsehens aus. Am Ende leben alle Leute nach seinem Rhythmus. Die Hauptnachrichtensendung im Fernsehen wird eine Viertelstunde später ausgestrahlt: nun, da weiß man, dass die Restaurants ihre Gäste eine Viertelstunde später zu Gesicht bekommen werden. - Und wenn Sie rausgehen, wofür sind Sie empfänglich, wohin lassen Sie ihre Gedanken treiben? - Wohin ich meine Gedanken treiben lasse? Nein, so was! Ich weiß nicht so recht. Letztlich wird es so sein, dass ich meine Gedanken sehr wenig treiben lasse, ich habe eine ziemlich geringe Fähigkeit zum Vergnügen. Ich habe eine tiefe Unfähigkeit, mich zu vergnügen.

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- Sie verlieren keine Zeit? - Nein, nicht so sehr. Und ich bin nicht sehr stolz darauf. Ich würde gern wie einer meiner Freunde sagen können: »Ich bin vor Mittag niemals frei, am Morgen verliere ich meine Zeit!« Nein, dazu bin ich nicht fähig. Und wenn ich rausgehe, da habe ich ein Mittel gefunden, um meine Gedanken nicht treiben zu lassen: Ich nehme das Fahrrad, ich bewege mich nur noch damit fort. Ein wunderbares Spiel in Paris! Aber auch hier gibt es Leute, die mit dem Fahrrad fahren und die wunderbare Dinge sehen. Es scheint so, dass der Pont Royal um sieben Uhr abends im September, wenn es ein wenig Nebel gibt, großartig ist. Ich nun gar nicht, ich sehe das nicht, ich spiele mit den Staus, ich spiele mit den Autos, immer noch das Kräfteverhältnis. - An den Orten, an denen Sie Ihre Tage verbringen, richten Sie da nicht ihre Aufmerksamkeit auf die Szenerie?Schauen Sie sich nicht beispielsweise die Malerei an? - Gerade an der Malerei gefällt mir, dass man wirklich genötigt wird zu schauen. Nun, eben da komme ich zur Ruhe. Das ist eines der seltenen Dinge, worüber ich mit Lust schreibe und ohne mich mit etwas herumzuschlagen. Ich glaube, zur Malerei habe ich kein taktisches oder strategisches Verhältnis. - Sie sind bereit, sich alles anzusehen? - Ich glaube, ja. Es gibt Sachen, die mich faszinieren, die mich absolut einfangen, so wie Manet. Alles an ihm haut mich um. Die Hässlichkeit zum Beispiel. Die Aggressivität der Hässlichkeit wie in Le Balcon. Und dann die Unerklärbarkeit, so wie er ja selbst nichts über seine eigene Malerei gesagt hat. Manet hat in der Ma­ lerei einiges getan; im Verhältnis dazu waren die »Impressionis­ ten« absolut rückständig. - Was heißt für Sie Hässlichkeitf Handelt es sich dabei um eine Form der Vulgarität? - Nein, absolut nicht. Wie Sie wissen, lässt sich die Hässlichkeit nur sehr schwer definieren. Es kann sich um vollständige Zerstö­

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rung handeln, um systematische Gleichgültigkeit gegenüber sämt­ lichen ästhetischen Kanons, und nicht nur denen seiner Epoche. Manet war gleichgültig gegenüber den ästhetischen Kanons, die so sehr in unserer Empfindsamkeit verankert sind, dass man selbst jetzt noch nicht versteht, warum er es gemacht hat, und wie er es gemacht hat. Es gibt eine tiefe Hässlichkeit, die auch heute noch heult und kreischt. - Und welche unter den Zeitgenössischen interessieren Sie am meisten? - Das sind im Wesentlichen die amerikanischen Maler. Letztes Jahr habe ich mir mit dem Geld aus der Neuausgabe der Histoire de la folie [dt. Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1969] den Traum meines Lebens verwirklicht: Ich habe einen Tobey gekauft. Und dann, als ich zu Hause war, war ich überzeugt, dass ich nicht mehr rausgehen würde. Und dann gab es die Hyperrealisten. Es ist mir nie so richtig klar geworden, was mir an ihnen gefiel. Es hatte sicher etwas damit zu tun, dass sie mit der Wiederherstellung der Rechte des Bildes spiel­ ten. Und das nach einer langen Disqualifizierung. Als man zum Beispiel in Paris, wo man stets sehr spät dran ist, die Bilder von einigen Pompier-Malern wie Clovis Trouille wieder hervorholte, war ich erstaunt sowohl über meine Lust, mir das anzusehen, als auch über die Lust, die die Leute dabei hatten. Das war eine Freu­ de! Der Strom sprang körperlich, sexuell über. Plötzlich sprang mir der unglaubliche Jansenismus in die Augen, den die Malerei uns über Jahrzehnte und Jahrzehnte aufgezwungen hatte. - Sie sind empfänglicher für die Arbeit der Malerei als für die der Literatur? - J a , ganz eindeutig. Ich muss sagen, dass ich das Schreiben nie allzu sehr gemocht habe. An der Malerei fasziniert mich die Ma­ terialität. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek

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Die photogene Malerei (Präsentation) »La peinture photogénique«, in: Le désir est partout. Fromanger; Paris, Galerie Jeanne Bücher, Februar 1975, S. 1-11.

Ingres: »In Ansehung dessen, dass die Photographie sich als eine Serie manueller Operationen wiedergeben lässt...« Und wenn man sich nun gerade diese Serie ansehen würde und mit ihr die Serie der manuellen Operationen, welche die Malerei wiederge­ ben? Und wenn man sie aneinander legen würde? Und wenn man sie kombinieren, im Wechsel aufeinander folgen lassen oder es ermöglichen würde, dass sie sich überlagern, sich verflechten, dass sie einander auslöschen oder einander verstärken? Nochmals Ingres: »Sie ist sehr schön, die Photographie, man darf es nur nicht sagen.« Indem die Malerei die Photogra­ phie verdeckt, indem sie sie auf triumphierende oder hinterlisti­ ge Weise besetzt, behauptet die Malerei nicht, das Photo sei schön. Sie macht es besser: Sie bringt den schönen Hermaphro­ diten aus Klischee und Leinwand, sie bringt das androgyne Bild hervor. Man muss sich auf mehr als ein Jahrhundert beziehen. Da war um die Jahre 1860 bis 1880 die neue Begeisterung für Bilder; da war die Zeit ihrer raschen Zirkulation zwischen Apparat und Staffelei, zwischen Leinwand, Platte und - belichtetem [»impres­ sionné«] oder bedrucktem [»imprimé«] - Papier; da war mit all den neu erworbenen Fähigkeiten die Freiheit der Übertragung, der Verschiebung, der Transformation, der Ähnlichkeiten und des Anscheins, dfer Reproduktion, der Verdoppelung und der Fäl­ schung. Da war der noch ganz neuartige, aber geschickte, ver­ gnügte und bedenkenlose Diebstahl von Bildern. Die Photogra­ phien stellten Pseudogemälde her; die Maler verwendeten Photos als Entwürfe. Damit wurde ein großer Spielraum eröffnet, in dem Techniker und Amateure, Künstler und Illusionisten ohne Sorge um ihre Identität lustvoll umhertollten. Die Liebe galt vielleicht weniger den Gemälden und den lichtempfindlichen Platten als vielmehr den Bildern selbst, ihrer Wanderung und ihrer Verkeh-

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rung [»perversion«], ihrer Verkleidung, ihrem verschleierten Un­ terschied. Zweifellos bewunderte man, dass die Bilder - Zeich­ nungen, Stiche, Photos oder Gemälde - so gut an die Dinge erinnern konnten; aber vor allem war man entzückt darüber, dass sie durch versteckte Verschiebungen einander täuschen konnten. Die Geburt des Realismus dürfte nicht von diesem großen Auf­ flug mannigfaltiger und sich ähnlicher Bilder zu trennen sein. Ein bestimmter, plötzlich von der Kunst des 19. Jahrhunderts ge­ forderter geschärfter und ernüchterter Bezug auf das Wirkliche ist vielleicht durch den »Illustrationswahn« möglich gemacht, ausgeglichen und erleichtert worden. Die Treue zu den Dingen selbst war vielleicht Herausforderung und Gelegenheit zugleich für jene Gleitbewegungen von Bildern, deren unwahrnehmbar verschiedener und doch stets gleicher Reigen oberhalb von ihnen verlief. Wie kann man zu dieser Verrücktheit und zu dieser ungewöhn­ lichen Freiheit zurückfinden, die zeitgleich mit der Geburt der Photographie aufkamen? Die Bilder durchliefen damals die Welt unter trügerischen Identitäten. Nichts widerstrebte ihnen mehr als in einem Gemälde, einer Photographie, einem Stich unter dem Signum eines Autors eingefangen mit sich identisch zu bleiben. Kein Träger, keine Sprache, keine feste Syntax vermochte sie zu­ rückzuhalten; seit ihrer Geburt oder ihrem letzten Halt waren sie stets in der Lage, sich mittels neuer Übertragungstechniken da­ vonzustehlen. Von diesen Wanderungen und Rückkehrbewegun­ gen fühlte sich niemand gekränkt, mit Ausnahme vielleicht einiger eifersüchtiger Maler oder irgendeines verbitterten Kritikers (und selbstverständlich Baudelaire). Einige Beispiele für diese Spiele des 19. Jahrhunderts: imaginäre Spiele - ich meine solche, die die Bilder hersteilen, verwandeln und laufen lassen konnten: ausgeklügelte Spiele mitunter, doch oft auch volkstümliche. Die Verstärkung, selbstverständlich, eines Portraits oder einer photographierten Landschaft durch einige Aquarell- oder PastellElemente. Das Malen von Dekors, Ruinen, Wäldern, von Efeu oder Bä­ chen im Hintergrund photographierter Personen, wie Claudet dies seit 1841 und Mayall ein wenig später in den Daguerreotypien tat, die er im Crystal Palace ausstellte, um »Stimmung und

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Gefühl« zu illustrieren oder um den Beda Venerabilis1 zu zeigen, wie er gerade ein angelsächsisches Kind segnet. Die Nachstellung im Studio einer einem wirklichen Bild ziem­ lich ähnlichen oder dem Stil eines Malers recht nahen Szene, um glauben zu machen, dass diese photographierte Szene bloß die Photographie eines wirklichen oder möglichen Bildes sei. Reijlander hatte dies für Raffaels Madonna geleistet. Julia Margarets Cameron für Perugino, Richard Polack für Pieter de Hoogh, Paul Richier für Böcklin, Fred Boissonas für Rembrandt und Lejaren à Hiller für sämtliche Kreuzabnahmen der Welt. Die Komposition eines Tableau vivant ausgehend von einem Buch, einem Gedicht oder einer Legende und dessen Photogra­ phie, um es zum Äquivalent eines Stichs als Buchillustration zu machen: Auf diese Weise photographierte William Lake Price Don Quichotte und Robinson Crusoe; J. M. Cameron antwortete auf Gustave Doré, indem sie Tennyson illustrierte und von König Arthur ein Klischee anfertigte. Das Photographieren verschiedener Figuren auf getrennten Negativen und ihre Entwicklung mit dem Ziel, eine einzige Kom­ position daraus zu machen, wie Reijlander dies in sechs Wochen und mit dreißig Negativen für das gemacht hatte, was damals die größte Photographie der Welt war: Die zwei Wege des Lebens sollten auf Raffael und auf Couture zugleich, auf Die Schule der Athener und auf Die Römer der Verfallszeit antworten. Die Bleistiftskizze zu einer Szene und die Nachstellung der verschiedenen Elemente in der Wirklichkeit, die dann nacheinan­ der photographiert werden; danach schneidet man die Klischees mit der Schere aus, klebt sie an der entsprechenden Stelle in die Skizze und photographiert das Ganze aufs Neue. Das war die von Robinson über mehr als dreißig Jahre - in Lady of Shalott (1861) wie in Dawrl and Sunset (1885) - verwandte Technik. Die Bearbeitung des Negativs - und dies vor allem seit RouilléLedevèze mit der Verwendung des Gummidrucks -, um wie Demachy in Frankreich, Emerson in England und Heinrich Kühn in Deutschland impressionistische Photogemälde zu erhalten. Und zu all diesen Wundern aus ihrer Blütezeit musste man noch, seitdem es Trockenplatten und billige Apparate gab, die 1 [Englischer Benediktinermönch, Kirchenlehrer und Heiliger, ca. 673 bis 735, ver­ fasste eine »Historia ecclesiastica gentis Anglorum«, A .d.ÜJ

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unzähligen Tricks der Amateure hinzuzählen: Photomontagen; Zeichnungen in Chinatinte, die die Umrisse und Schatten einer Photographie nachziehen und die man anschließend in einem Quecksilber-Chlorid-Bad zum Verschwinden bringt; die wie eine Zeichnung verwandte Photographie, die man dann mit einem pas­ tosen Farbauftrag bemalt oder mit einem Firnis bedeckt, wodurch man sie tönt, ohne damit die Formen des Abgebildeten zu ver­ schlucken - man lässt die Schatten und Lichter unter der Trans­ parenz extrem verdünnter Farben spielen; eine auf einem (durch ein Kadmiumchloridpräparat, durch Benzoeharz und Mas­ tixtränen lichtempfindlich gemachten) Seidentuch oder auch auf einer mit Silbernitrat behandelten Eierschale entwickelte Photo­ graphie -, ein Verfahren, das die Handbücher sehr nachdrücklich demjenigen empfahlen, der eine Familienphotographie mit Abstu­ fungen erhalten wollte; ein Abzug auf einem Lampenschirm, auf dem Lampenglas, auf Porzellan; photogene Zeichnungen in der Art von Fox Talbot oder von Bayard; Photomalerei, Photominia­ tur, Photogravur, photographische Keramik. Nichtigkeiten, der schlechte Geschmack von Amateuren, Sa­ lon- oder Familienspiele? Ja und nein. So etwa zwischen 1860 und 1900 gab es eine für alle offene, gemeinschaftliche Praxis des Bildes an der gemeinsamen Grenze von Malerei und Photo­ graphie; die puritanischen Kodes der Kunst haben diese im 20. Jahrhundert verleugnet. Aber man hatte durchaus seinen Spaß mit all diesen bescheide­ nen Verfahren, die sich über die Kunst lustig machten. Überall und mit allen Mitteln der Wunsch nach dem Bild, die Lust am Bild. So schrieb der sicherlich größte von allen diesen Schmugg­ lern, Robinson, in einem Moment der Freude: »Derzeit kann man sagen, dass alle diejenigen, die sich der Photographie widmen, keinen Wunsch mehr haben, welchen auch immer, ob nützlich oder flüchtig, der nicht befriedigt worden wäre.«2 Die Festspiele sind vorbei. Die gesamten technischen Umfelder der Photogra­ phie, die die Amateure zu meistern und zu so vielen schmugglerischen Übergängen zu nutzen wussten, sind von den Technikern, den Labors und den Händlern annektiert worden; die einen »neh­ men« das Photo »auf«, die anderen »liefern« es; niemand mehr da, 2 Éléments de photographie artistique (frz. Übers. 1898).

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um das Bild »zu befreien«. Diejenigen, die professionell mit der Photographie zu tun haben, haben sich auf die Nüchternheit einer »Kunst« zurückgezogen, die durch ihre internen Regeln vom De­ likt des Kopierens abgehalten werden muss. Die Malerei ihrerseits hat es unternommen, das Bild zu zerstö­ ren, freilich nicht, ohne zu behaupten, dass sie sich davon befreien würde. Und griesgrämige Diskurse haben uns gelehrt, dass man dem Kreis der Ähnlichkeiten den Ausschnitt des Zeichens, dem Lauf der Simulacra die Ordnung der Syntagmen, der verrückten Flucht des Imaginären das graue Reich des Symbolischen vorzu­ ziehen habe. Man hat versucht, uns davon zu überzeugen, dass Bild, Schauspiel, Schein und Anschein weder theoretisch noch ästhetisch gut seien. Und dass es würdelos wäre, nicht gar alle diese Flausen zu verachten. Der technischen Möglichkeit beraubt, Bilder anzufertigen; zur Ästhetik einer bildlosen Kunst gezwungen; der theoretischen Ver­ pflichtung unterworfen, die Bilder zu disqualifizieren; angewie­ sen, die Bilder nur als eine Sprache zu lesen, so kam es, dass wir, an Händen und Füßen gefesselt, der Kraft anderer - politischer, kommerzieller - Bilder ausgeliefert wurden, über die wir keine Macht hatten. Wie kann man zu dem einstigen Spiel zurückfinden? Wie kann man wieder lernen, nicht einfach nur die Bilder, die man uns auf­ zwingt, zu entschlüsseln oder zu verkehren, sondern andere Arten von Bildern anzufertigen? Nicht nur andere Filme oder bessere Photos zu machen, nicht einfach nur das Figurative in der Malerei wieder zu finden, sondern die Bilder in Umlauf zu bringen, sie übergehen zu lassen, sie zu verkleiden, sie zu verformen, sie bis zur Rotglut zu erhitzen, sie einzufrieren, sie vielfältig zu über­ setzen? Die Langeweile der Schrift [»écriture«] auszutreiben, die Privilegien des Signifikanten aufzuheben, den Formalismus des Nicht-Bildes aufzukündigen, die Inhalte aufzutauen und in vol­ lem Wissen und in voller Lust in, mit und entgegen den Mächten des Bildes zu spielen. Die Liebe zu den Bildern haben uns die Pop-Art und der Hy­ perrealismus wieder beigebracht. Und das überhaupt nicht durch eine Rückkehr zur bildlichen Darstellung und überhaupt nicht durch eine Wiederentdeckung des Objekts mit seiner wirklichen Dichte, sondern durch ein Aufdocken auf die endlose Zirkulation

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der Bilden Mit dem wieder gefundenen Gebrauch der Photogra­ phie wird nicht ein Star, ein Moped, ein Kaufhaus oder die Ge­ staltung eines Reifens wiedergegeben, sondern es wird deren Bild wiedergegeben und in einem Gemälde als Bild geltend gemacht. Als Delacroix sich Alben mit Aktphotographien anlegte, als Degas Schnappschüsse verwendete und Aimé Morot Klischees von Pferden im Galopp, ging es für sie darum, das Objekt besser zu erkennen. Sie suchten nach einem angemesseneren, besser sit­ zenden, besser messbaren Zugriff darauf. Sie verlängerten damit die alten Techniken der Camera obscura und der Camera lucida. Der Bezug des Malers zu dem, was er malte, fand darin seine Fortsetzung, seine Stütze und Absicherung. Die Leute von der Pop-Art und die vom Hyperrealismus malen Bilder. Sie integrie­ ren die Bilder nicht in ihrer Maltechnik, sie setzen sie in ein großes Bilderbad hinein fort. Ihre Malerei wird zum Verbindungsglied in diesem endlosen Lauf. Sie malen Bilder in zweierlei Sinn. So wie es heißt: einen Baum malen, ein Gesicht malen, so verwenden sie ein Negativ, ein Diapositiv, ein entwickeltes Photo oder ein chi­ nesisches Schattenspiel, darauf kommt es nicht an; sie suchen nicht hinter dem Bild nach dem, was es darstellt und was sie viel­ leicht niemals gesehen haben; sie fangen Bilder ein und nichts anderes. Aber sie malen auch Bilder, so wie man sagt, man malt ein Gemälde; denn das, was sie am Ende ihrer Arbeit hervorge­ bracht haben, ist nicht ein ausgehend von einer Photographie ge­ schaffenes Gemälde noch eine zum Gemälde umgeschminkte Photographie, sondern ein Bild, das auf dem Weg erfasst wird, der es von der Photographie zum Gemälde führt. Wohl besser als die Spiele von einst - sie blieben ein wenig undurchsichtig, rochen mitunter nach Betrug und beteten die Heuchelei an - lebt die neue Malerei mit großer Freude in der Bewegung der Bilder auf, die sie selbst in Gang setzt. Fromanger jedoch geht seinerseits weiter, und er geht schneller voran. Seine Arbeitsmethode ist bezeichnend. Als Erstes, kein Photo aufzunehmen, das auf Gemälde »macht«. Sondern ein »beliebi­ ges« Photo; nachdem er lange Pressebilder benutzt hatte, lässt Fromanger jetzt Photos auf der Straße aufnehmen, Zufallsphotos, ins Blaue hinein geschossene Photos, Photos, die mit nichts eine Verbindung haben, die weder Zentren noch bevorzugte Objekte haben. Und die also von nichts Äußerem beherrscht werden. Bil­

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der, die wie ein Film von der anonymen Bewegung dessen, was geschieht, abgezogen werden. Man findet also bei Fromanger nicht diese gemäldehafte Bildkomposition oder diese virtuelle Präsenz des Gemäldes, die häufig die Photographien gestalten, derer sich Estes oder Cottingham bedienen. Seine Bilder sind jungfräulich frei von jeder Komplizenschaft mit dem zukünftigen Gemälde. Danach schließt er sich über Stunden mit dem auf eine Leinwand projizierten Diapositiv in der Dunkelheit ein: Er be­ trachtet, er schaut. Was sucht er? Nicht so sehr das, was in dem Moment hatte geschehen können, in dem das Photo aufgenom­ men wurde; sondern das Ereignis, das stattfindet und das über das Bild, ja eben aufgrund des Bildes unaufhörlich weiter stattfindet; das Ereignis, das über Blicke, die sich überkreuzen, durch die Invasion eines Körpers durch eine Landschaft hindurch längs ei­ ner Kraftlinie zwischen einem Handschuh und einem Schrauben­ bolzen in eine Hand übergeht, die eine Hand voll Geldscheine ergreift. Immer jedenfalls ein einzigartiges Ereignis, nämlich das des Bildes, und das macht es mehr als bei Salt oder Goings absolut einzigartig: reproduzierbar, unersetzlich und zufallsbedingt. Dieses dem Bild innerliche Ereignis bringt Fromangers Arbeit zur Existenz. Die Mehrzahl der Maler, die auf Diapositive zu­ rückgreifen, bedienen sich ihrer, so wie Guardi, Canaletto und so viele weitere sich der Camera obscura bedienten: um das auf die Leinwand projizierte Bild mit dem Bleistift nachzuzeichnen und so eine vollkommen exakte Skizze zu erhalten; um also eine Form einzufangen. Fromanger dagegen umgeht das Zwischen­ glied der Zeichnung. Er bringt die Malerei direkt auf der Projek­ tionsleinwand an, ohne der Farbe eine andere Stütze als einen Schatten zu geben - jene zerbrechliche umrisslose Zeichnung, die unmittelbar bereit ist zu verschwinden. Und die Farben stellen mit ihren Unterschieden (die warmen und die kalten Farben; die­ jenigen, die verbrennen, und diejenigen, die einfrieren; diejenigen, die vorspringen, und diejenigen, die zurückweichen; diejenigen, die sich bewegen, und diejenigen, die stagnieren) Abstände, Span­ nungen, Zentren der Anziehung und der Abstoßung, hohe und tiefe Regionen und Potentialunterschiede her. Was ist ihre Rolle, wenn sie ohne das Zwischenglied der Zeichnung und der Form auf dem Photo angebracht werden? Auf dem Photo-Ereignis ein Gemälde-Ereignis zu erschaffen. Ein Ereignis entstehen zu lassen,

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welches das andere überträgt und verherrlicht, welches sich mit ihm kombiniert und welches für alle diejenigen, die kommen, um es zu betrachten, und für jeden einzelnen Blick, der auf ihm ruht, Anlass zu einer unbegrenzten Serie neuer Durchgänge ist. Durch den Kurzschluss von Photo und Farbe nicht die gefälschte Identi­ tät der früheren Photo-Malerei, sondern einen Brennpunkt für funkenförmig entspringende Myriaden von Bildern zu erschaffen. Revoltierende Häftlinge auf einem Dach: ein überall reprodu­ ziertes Pressephoto. Aber wer hat denn wirklich gesehen, was darauf geschieht? Welcher Kommentar hat je das einzigartige und mannigfaltige Ereignis freigesetzt, das darin umläuft? Indem Fromanger ein Streumuster mehrfarbiger Flecken auf das Photo wirft, deren Platzierung und Farbwerte im Verhältnis zur Lein­ wand nicht kalkuliert sind, holt er daraus unzählbare Feste hervor. Er sagt es selbst: Der intensivste und beunruhigendste Moment ist für ihn der Augenblick, in dem er nach getaner Arbeit die Projektionslampe ausknipst, das gerade bemalte Photo ver­ schwinden und die Leinwand »ganz allein« da sein lässt. Ein ent­ scheidender Moment, in dem der Strom unterbrochen ist und allein die Malerei mit den ihr eigenen Mächten das Ereignis ge­ schehen und das Bild existieren lassen darf. Ihr und ihren Farben stehen von nun an die Mächte der Elektrizität zu; ihr gebührt die Verantwortung für all die Feste, die sie entzünden wird. Innerhalb der Bewegung, durch die der Maler seinem gemalten Bild seinen photographierten Träger nimmt, rinnt Ihm das Ereignis durch die Hände, verbrennt garbenartig, erlangt seine unendliche Ge­ schwindigkeit, schließt sich augenblicklich mit den Punkten und den Zeiten zusammen und vervielfältigt sie, lässt ein Volk von Gesten und Blicken entstehen, reißt zwischen ihnen tausend mög­ liche Wege auf - und bewirkt genau, dass seine aus der Nacht tretende Malerei nie mehr »ganz allein« sein wird. Eine von Tau­ senden gegenwärtigen und zukünftigen Außenwelten bevölkerte Malerei. Fromangers Gemälde fangen keine Bilder ein; sie fixieren sie nicht; sie lassen sie passieren. Sie führen sie, sie ziehen sie an, sie öffnen ihnen Übergänge, verkürzen ihnen die Wege und erlauben ihnen so, einige Stufen zu überspringen, und halten sie bei jedem Wind in Schwung. Die in jedem Gemälde gegenwärtige Serie Photo-Diapositiv-Projektion-Malerei hat die Funktion, den Tran-

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sit eines Bildes zu sichern. Jedes Gemälde ist ein Übergang; ein Schnappschuss, der, statt durch die Photographie der Bewegung der Sache entnommen zu sein, durch seine sukzessiven Träger hindurch die Bewegung des Bildes animiert, konzentriert und in­ tensiviert. Die Malerei als Bilderschleuder. Eine Schleuder, die mit der Zeit immer schneller wird. Fromanger braucht nun keine Ab­ steckungen oder Markierungen mehr, an denen er bis jetzt fest­ gehalten hatte. Im Boulevard des Italiens, in Le Peintre et le Modèle, in Annoncez la couleur malte er Straßen - Geburtsort der Bilder und selbst Bilder. In Le Désir est partout sind die Bilder wohl in ihrer Mehrheit auf der Straße aufgenommen und mitunter durch einen Straßennamen benannt worden. Doch wird die Straße nicht im Bild wiedergegeben. Nicht, dass sie abwesend ist. Son­ dern weil sie gewissermaßen in die Technik des Malers integriert ist. Der Maler, sein Blick, der Photograph, der ihn begleitet, sein Apparat, das Klischee, das sie aufgenommen haben, die Leinwand, all das stellt eine Art lange, sowohl bevölkerte als auch schnelle Straße dar, auf der die Bilder voranstürmen und bis zu uns hi­ nabstürzen. Die Gemälde brauchen die Straße nicht mehr darzu­ stellen; sie sind Straßen, Bahnen, Wege über die Kontinente hin­ weg bis in das Herz Chinas oder Afrikas. Mannigfaltige Straßen, unzählbare Ereignisse, verschiedene Bil­ der, die sich aus ein und demselben Photo davonstehlen. In den vorhergehenden Ausstellungen baute Fromanger seine Serien aus­ gehend von unterschiedlichen, aber nach ähnlichen technischen Verfahren behandelten Photos auf: wie die Bilder ein und dessel­ ben Spaziergangs. Hier nun hat man erstmals eine von ein und demselben Photo ausgehend zusammengestellte Serie: das Photo von dem schwarzen Straßenkehrer an der Öffnung seines Müll­ behälters (und das selbst nur ein kleines, der Ecke eines viel grö­ ßeren Klischees entnommenes Bild war); dieser schwarze runde Kopf, dieser Blick, dieser diagonal gerichtete Besenstiel, der grobe darübergelegte Handschuh, das Metall des Müllbehälters, die Ei­ senbeschläge an der Öffnung, und die Schnappschussbeziehung aller dieser Elemente machten bereits Ereignis; doch die Malerei mittels jedes Mal verschiedener und sich fast nie wiederholender Verfahren entdeckt und befreit darüber hinaus eine ganze Serie von in der Ferne verborgenen Ereignissen: der Regen im Wald, der Dorfplatz, die Wüste, das emsige Treiben eines Volkes. Bilder, die

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der Betrachter nicht sieht, kommen aus der Tiefe des Raumes, und angetrieben von einer dunklen Kraft gelingt es ihnen, einem ein­ zigen Photo zu entspringen, um in verschiedene Gemälde ausei­ nander zu streben, von denen jedes seinerseits der Anlass zu einer neuen Serie, einer neuen Verstreuung von Ereignissen sein könnte. Tiefe der Photographie, der die Malerei unbekannte Geheim­ nisse entreißt? Nein, das nicht, sondern eine Öffnung der Photo­ graphie durch die Malerei, die durch sie unbegrenzte Bilder auf­ ruft und vorüberziehen lässt. In diesem endlosen buschförmigen Wachsen braucht sich der Künstler nicht mehr selbst als ein grauer Schatten in seinem Ge­ mälde darzustellen. Einst diente diese finstere Anwesenheit des Malers (der sich auf die Straße begibt, sich seitlich zwischen dem projizierten Diapositiv und dem Schirm, auf dem er malt, auf­ stellt, um schließlich auf der Leinwand zu verbleiben) gewisser­ maßen als Verbindungsglied, als Anheftungspunkt der Photogra­ phie auf der Leinwand. Nunmehr (neue Schmucklosigkeit, neue Leichtigkeit, neue Beschleunigung) wird das Bild von einem Feuerwerker vorangetrieben, von dem man nicht einmal mehr den Schatten sieht. Es kommt auf kurzem Wege, losgeschleudert von seinem Ursprungsort - dem Gebirge, dem Meer, China - bis vor unsere Tür - und mit verschieden gestalteten Bildeinstellun­ gen, in denen der Maler keinen Platz mehr hat (extreme Großauf­ nahme auf das Schloss einer Gefängnispforte, auf eine Hand voll Banknoten zwischen der groben Hand eines Fleischers und der eines kleinen Mädchens; die ungeheure Gebirgslandschaft, maßlos im Verhältnis zu den winzig kleinen Gestalten, die sich darin befinden und die gerade einmal durch Farbpunkte noch angezeigt werden können). Autonomer Auftrieb des Bildes, das bis hin zu uns denselben Bahnen des Begehrens folgend zirkuliert wie die Personen, die darin zu sehen sind, die am Rande des Meeres verweilen, einem Kind mit Maschinenpistole zuschauen oder sich ihre Gedanken über eine Herde Elefanten machen. Wir treten jetzt aus dieser langen Periode heraus, in der die Malerei sich als Malerei unaufhörlich kleiner gemacht hat, um sich als Kunst zu »purifizieren« und ins Äußerste zu steigern. Viel­ leicht macht sie sich mit der neuen »photogenen« Malerei am Ende lustig über diesen Teil ihrer selbst, der nach der intransitiven

i jo D ie photogene Malerei (Präsentation)

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Gebärde, dem reinen Zeichen, der »Spur« forschte. Hier nun die­ jenige, die es akzeptiert, zum Durchgangsort, zum unendlichen Übergang, zur bevölkerten und vorüberziehenden Malerei zu werden. Und indem sie sich nun eben da so vielen Ereignissen öffnet, denen sie wieder Auftrieb gibt, fügt sie sich sämtlichen Techniken des Bildes ein; sie knüpft wieder an die Verwandtschaft mit ihnen an, um sich über sie zu verzweigen, um sie zu erweitern, zu übersetzen, um sie zu beunruhigen oder vom Wege abkommen zu lassen. Um sie herum zeichnet sich ein offenes Feld ab, auf dem die Maler nicht mehr allein sein können und die souveräne Ma­ lerei nicht mehr einzigartig; dort finden sie die Masse all der Amateure, Feuerwerker, Manipulatoren, Schmuggler, Diebe und Plünderer von Bildern wieder; und sie werden in der Lage sein, über den alten Baudelaire zu lachen und seine Verachtung des Ästheten in Lust zu verwandeln: »Von dem Moment an«, sagte er anlässlich der Erfindung der Photographie, »stürzte sich die dreckige Masse wie ein einziger Narziss darauf, um ihr triviales Bild auf dem Metall zu schauen. Ein Wahn, ein außerordentlicher Fanatismus bemächtigte sich all dieser neuen Anbeter der Sonne.« Fromanger dürfte demnach für uns einer dieser Sonnenhersteller sein. Von nun an »alles malen« können? Ja. Aber vielleicht liegt auch darin noch eine Bejahung und ein Wille des Malers. Also sollte man eher sagen: dass folglich alle Welt ins Spiel der Zeichen eintritt und damit zu spielen beginnt. Zwei Gemälde beschließen die heutige Ausstellung. Zwei Brennpunkte von Wünschen. In Versailles: Leuchter, Licht, Glanz, Verstellung, Widerschein, Spiegel; an diesem hohen Ort, an dem die Formen im Prunk der Macht ritualisiert werden mussten, zerfällt alles eben aus dem Glanz des Gepränges heraus, und das Bild setzt ein Aufflatterft von Farben frei. Königliche Feuerwerke, Händel gerät in den Regen; die Bar an den Folies-Royales, Manets Spiegel zerbirst; der verkleidete Prinz, der Kurtisan ist eine Kurtisane. Der größte Dichter der Welt hält den Gottesdienst ab, und die durch die Etikette geregelten Bilder flüchten im Galopp und lassen nur das Ereignis ihres Durchgangs, die lärmende Schar der anderswo hin­ gegangenen Farben hinter sich. Am anderen Ende der Steppen, in Hu-Xian, bemüht sich der Bauer-Maler-Amateur. Weder Spiegel noch Leuchter. Sein Fenster

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führt auf keine Landschaft hinaus, sondern auf vier gleichmäßige Farbflächen, die sich in dem Licht, in dem er badet, verändern. Vom Hof zur Disziplin, vom größten Dichter der Welt zum sie­ benhundertmillionsten gelehrigen Amateur entweicht eine Man­ nigfaltigkeit von Bildern, und das ist der Kurzschluss der Malerei. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek

I5I Von den Martern zu den Zellen »Des supplices aux cellules« (Gespräch mit R.-P. Droit), in: Le Monde, Nr. 9363, 21. Februar 1975, S. 16 (anlässlich des Erscheinens von Surveiller et punir).

- Das Gefängnis in seiner zeitgenössischen Funktion und Form kann als eine plötzliche und isolierte, Ende des 18. Jahrhunderts aufgekommene Erfindung gelten. Sie zeigen im Gegenteil, dass seine Geburt in einen viel tiefgreifenderen Wandel einzuordnen ist. Welcher ist das? - Liest man die großen Historiker des klassischen Zeitalters, kann man erkennen, wie sehr die Monarchie in ihrer Verwaltung, so zentralisiert und bürokratisiert man sie sich auch vorstellen mag, trotz allem eine irreguläre und diskontinuierliche Macht war, die den Individuen und Gruppen einen gewissen Spielraum ließ, um das Gesetz zu umgehen, sich den Gebräuchen anzupassen, zwischen den Verpflichtungen durchzuschlüpfen usw. Das Ancien Regime schleppte Hunderte und Tausende von Anordnungen mit sich, die niemals Anwendung fanden, Rechte, die niemand ausübte, Regeln, denen sich die Leute massenhaft entzogen. So waren beispielsweise der ganz traditionelle Steuerbetrug, aber auch die offensichtlichste Schmuggelei Bestandteil des wirtschaftlichen Lebens im König­ reich. Kurz gesagt, zwischen Gesetzlichkeit und Ungesetzlichkeit bestand ein sich ständig verschiebender Austausch, der für die Macht zu jener Zeit eine ihrer Funktionsbedingungen war. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ändert sich dieses System der Duldung. Die neuen ökonomischen Anforderungen,

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die politische Furcht vor den Volksbewegungen, die in Frankreich nach der Revolution quälend wird, machen eine andere Erfassung der Gesellschaft notwendig. Die Ausübung der Macht musste feiner und gezielter und von der zentral getroffenen Entscheidung bis hin zum Individuum ein möglichst kontinuierliches Netz aus­ gebildet werden. So entstehen die Polizei, die Verwaltungshierar­ chie und die bürokratische Pyramide des napoleonischen Staates. Schon deutlich vor 1789 hatten die Juristen und die »Reformer« von einer gleichförmig strafenden Gesellschaft geträumt, in der die Bestrafungen unausweichlich, notwendig und gleich sein soll­ ten, ohne eine Ausnahme oder die Möglichkeit, sich ihnen zu entziehen. Und so verschwanden die großen Bestrafungsrituale, die Martern, die zur Abschreckung und als Beispiel dienen sollten, denen aber auch viele Schuldige entkamen, angesichts der Not­ wendigkeit einer strafenden Universalität, die im System des Strafvollzugs ihre konkrete Ausprägung findet. - Aber warum das Gefängnis und nicht ein anderes System? Wel­ ches ist die gesellschaftliche Rolle der Einsperrung, der Wegschlie­ ßung der »Schuldigen«? - Woher kommt das Gefängnis? Meine Antwort wird sein: »Ein wenig von überall her.« Zweifellos hat es eine »Erfindung« gege­ ben, aber eine Erfindung einer ganzen Technik zur Überwachung, Kontrolle und Identifizierung der Individuen, einer Erfassung ihrer Gesten, ihrer Aktivität und ihrer Wirksamkeit. Und dies seit dem 16. und dem 17. Jahrhundert in der Armee, in den Kollegien, den Schulen, Spitälern und Werkstätten. Eine Technologie der feinen und alltäglichen Macht, der Macht über die Körper. Das Gefängnis ist die letzte Figur dieses Zeitalters der Disziplin. Die gesellschaftliche Rolle der Einschließung muss man auf Seiten jener Figur erkunden, die sich im 19. Jahrhundert allmäh­ lich herausbildet: dem Delinquenten. Die Bildung des delinquenten Milieus steht voll und ganz in einem Wechselverhältnis zur Existenz des Gefängnisses. Man hat im Inneren der Volksmassen einen kleinen Kern von Leuten zu bilden versucht, die, wenn man das so sagen kann, bevorzugt und exklusiv zu ungesetzlichen Ver­ haltensweisen befugt sein sollten. Verstoßene, verachtete und von aller Welt gefürchtete Leute.

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Im klassischen Zeitalter dagegen waren die Gewaltanwendung, der kleine Diebstahl oder die kleine Betrügerei außerordentlich gängig und wurden letztlich von allen toleriert. Dem Übeltäter gelang es, wie es scheint, sehr gut, in der Gesellschaft aufzugehen. Doch wenn er sich erwischen ließ, wurde mit den Strafverfahren keine Zeit vertan: Tod, Galeere auf Lebenszeit oder Verbannung. Das delinquente Milieu hatte also nicht jene Geschlossenheit, die im Wesentlichen durch das Gefängnis, durch dieses »Schwimmen im eigenen Saft« innerhalb des Kerkersystems organisiert wurde, in dem sich eine Mikro-Gesellschaft bildet und die Leute eine wirkliche Solidarität knüpfen, die es ihnen nach ihrer Entlassung erlauben wird, bei ihresgleichen Unterstützung zu finden. Das Gefängnis ist folglich ein Rekrutierungsinstrument für die Armee der Delinquenten. Dazu dient es. Seit zwei Jahrhunderten heißt es: »Das Gefängnis scheitert, denn es bringt Delinquenten hervor.« Ich würde eher sagen: »Es ist erfolgreich, denn genau das erwartet man von ihm.« - Dennoch heißt es immer wieder; das Gefängnis würde zumin­ dest im Idealfall die Delinquenten »behandeln« oder »wiederanpassen«. Es ist - oder sollte so sein, heißt es - mehr »therapeutisch« als strafend... - Die Kriminalpsychologie und -psychiatrie laufen Gefahr, das große Alibi zu sein, hinter dem im Gamde dasselbe System auf­ rechterhalten wird. Sie könnten gar keine ernsthafte Alternative zur Gefängnisordnung darstellen, aus dem einfachen Grunde, weil sie mit ihm entstanden sind. Das Gefängnis, dessen Errich­ tung sich unmittelbar nach Erlass des Strafgesetzbuches beobach­ ten lässt, gibt sich von Beginn an als ein Unternehmen zur psy­ chologischen Korrektur aus. Es ist bereits ein medizinisch­ gerichtlicher Topos. Man kann folglich sämtliche Eingekerkerten in die Hände von Psychotherapeuten geben; an dem zu Beginn des 19. Jahrhunderts aufgestellten verallgemeinerten Macht- und Überwachungssystem wird das nichts ändern. - Bleibt die Frage, welchen »Nutzen« die an der Macht befind­ liche Klasse aus der Bildung dieser Armee von Delinquenten zieht, von der Sie sprechen...

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- Nun, dies erlaubt ihr, den Zusammenhang der volkstümlichen Ungesetzlichkeiten zu zerbrechen. Sie isoliert nämlich eine kleine Gruppe von Leuten, die man kontrollieren, überwachen, durch und durch kennen kann, und die auf die Feindseligkeit und das Misstrauen der volkstümlichen Milieus stoßen, aus denen sie her­ vorgegangen sind. Denn die Opfer der kleinen alltäglichen Delin­ quenz sind noch immer die Ärmsten der Armen. Und das Resultat dieser Operation ist tatsächlich letzten Endes ein gigantischer ökonomischer und politischer Profit. Ein ökono­ mischer Profit: die fabelhaften Summen, die Prostitution, Dro­ genhandel usw. einbringen. Ein politischer Profit: Je mehr Delin­ quenten es gibt, desto eher akzeptiert die Bevölkerung die polizeilichen Kontrollen; ohne den Nutzen einer gesichert bereit­ stehenden Handlangerschaft für die niedrigen politischen Arbei­ ten mit einzurechnen: Plakatkleber, Wahlhelfer, Streikbrecher... Seit dem zweiten Kaiserreich wussten die Arbeiter sehr gut, dass die »Gelben«,1 die man ihnen vorsetzte, ebenso wie die Männer aus den Bataillonen von Louis-Napoléon, die den Aufruhr be­ kämpften, aus dem Gefängnis kamen... - Alles das, was im Umfeld von »Reformen« und »Humanisie­ rung« der Gefängnisse ausgeheckt und herumgewirbelt wird, wäre also bloßer Trug? - Mir scheint, dass der wirkliche politische Einsatz nicht darin besteht, dass die Häftlinge am Weihnachtstag ein Stück Schoko­ lade kriegen oder Ostern draußen verbringen können. Es ist we­ niger der »humane« Charakter des Gefängnisses anzuprangern als sein wirkliches soziales Funktionieren als Bildungselement eines delinquenten Milieus, auf dessen Kontrolle die an der Macht be­ findlichen Klassen aus sind. Das wahre Problem ist herauszufin­ den, ob die Abgeschlossenheit dieses Milieus in sich endlich ein Ende finden kann, ob es von den Volksmassen abgeschnitten blei­ ben wird oder nicht. Mit anderen Worten, der Gegenstand des Kampfes muss das Funktionieren des Strafsystems und des Ge­ richtsapparates in der Gesellschaft sein. Denn sie verwalten die Ungesetzlichkeiten, die sie dann gegeneinander ausspielen. 1 [Ein pejorativer Terminus für Streikbrecher, A.d.Ü.]

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- Woran lässt sich diese »Verwaltung der Ungesetzlichkeiten« festmach en? Die Formulierung unterstellt eine ungewöhnliche Auffassung des Gesetzes, der Gesellschaft und ihrer Bezüge? - Nur eine Fiktion kann glauben machen, die Gesetze seien dazu da, beachtet zu werden, und die Polizei und die Gerichte sollten dafür sorgen, dass sie beachtet werden. Nur eine theoretische Fik­ tion kann glauben machen, dass wir uns ein für alle Mal den Gesetzen der Gesellschaft verschrieben haben, der wir angehören. Alle Welt weiß schließlich auch, dass die Gesetze von den einen gemacht und den anderen aufgezwungen werden. Doch, wie es scheint, kann man noch einen Schritt weiter ge­ hen. Die Ungesetzlichkeit ist kein Unfall, keine mehr oder weni­ ger unvermeidliche Unvollkommenheit. Sie ist ein absolut posi­ tives Element des sozialen Funktionszusammenhangs, dessen Rolle in der allgemeinen Strategie der Gesellschaft vorgesehen ist. Jedes Gesetzgebungsdispositiv hat geschützte und profitable Räume eingerichtet, in denen das Gesetz verletzt, andere, in denen es ignoriert werden kann, und noch andere schließlich, in denen die Rechtsbrüche geahndet werden. Äußerstenfalls würde ich sagen wollen, dass das Gesetz nicht dazu da ist, diese oder jene Art Verhalten zu verhindern, sondern dazu, zwischen den verschiedenen Weisen zu unterscheiden, das Gesetz selbst zu umgehen. - Zum Beispiel? - Die Drogengesetze. Von den Vereinbarungen zwischen den Ver­ einigten Staaten und der Türkei über die Militärbasen (die zu einem Teil an die Erlaubnis zum Opiumanbau gebunden sind) bis zur polizeilichen Erfassung der Rue Saint-André-des-Arts entfaltet sich der Drogenhandel auf einer Art Schachbrett mit kontrollierten und mit freien Feldern, mit untersagten und tolerierten Feldern, mit Feldern, die für die einen erlaubt und für die anderen verboten sind. Einzig die kleinen Bauern werden auf die gefährlichen Felder gesetzt und darauf gehalten. Für die großen Profite ist der Weg frei. - Surveiller et punir [dt. Überwachen und Strafen, Frankfurt am Main 1977] beruht wie Ihre früheren Werke auf der Sichtung einer

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beträchtlichen Menge von Archiven. Gibt es eine »Methode« von Michel Foucault? - Ich glaube, die Vorgehensweisen freudianischer Art haben heute ein so hohes Ansehen, dass die Analysen historischer Texte sich sehr häufig als Ziel vorgeben, nach dem »Ungesagten« des Diskurses oder dem »Verdrängten«, dem »Unbewussten« des Sys­ tems zu suchen. Es ist angebracht, diese Haltung aufzugeben und etwas bescheidener und etwas neugieriger zugleich zu sein. Denn wenn man sich die Dokumente ansieht, dann ist man erstaunt darüber, mit welchem Zynismus die Bourgeoisie des 19. Jahrhun­ derts sehr genau sagte, was sie tat, was sie tun wollte, und warum. Für sie, die die Macht innehatte, war der Zynismus eine Form von Stolz. Und die Bourgeoisie ist außer in den Augen von Naiven weder dumm noch feige. Sie ist intelligent, sie ist kühn. Sie hat voll und ganz gesagt, was sie wollte. Diesen expliziten Diskurs wieder zu finden, impliziert offen­ kundig, dass man den Universitäts- und Schulstoff der »großen Texte« aufgibt. Weder bei Hegel noch bei Auguste Comte spricht die Bourgeoisie direkt. Abseits dieser geheiligten Texte stößt man offen lesbar auf eine absolut bewusste, organisierte und reflek­ tierte Strategie in einer Masse unbekannter Dokumente, die den wirklichen Diskurs einer politischen Aktion bilden. Die Logik des Unbewussten muss daher durch eine Logik der Strategie er­ setzt werden. Das gegenwärtig dem Signifikanten und seinen Ket­ ten gewährte Vorrecht muss durch die Taktiken mit ihren Dispo­ sitiven ersetzt werden. - Welchen Kämpfen können Ihre Werke dienen? - Mein Diskurs ist offenkundig der Diskurs eines Intellektuellen, und als solcher funktioniert er stellenweise in den Netzen der Macht. Doch ein Buch ist dazu da, zu Verwendungen zu dienen, die von dem, der es geschrieben hat, nicht festgelegt wurden. Je mehr neue, mögliche und unvorhergesehene Verwendungen es haben wird, desto zufriedener werde ich sein. Alle meine Bücher, ob nun die Histoire de lafolie [dt. Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1969] oder dieses hier, sind, wenn Sie so wollen, kleine Werkzeugkisten. Wenn die Leute sie

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öffnen und sich irgendeines Satzes, einer Idee oder einer Analyse wie eines Schraubenziehers oder einer Bolzenzange bedienen wol­ len, um die Machtsysteme kurzzuschließen, zu disqualifizieren oder zu zerschlagen, unter Umständen darunter sogar diejenigen, aus denen meine Bücher hervorgegangen sind... nun, umso besser! Übersetzt von Hans-Dieter Gondek

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Auf dem Präsentierteller »Sur la sellette« (Gespräch mit J.-L. Ezine), in: Les Nouvelles littéraires, Nr. 2477, 17.-23. März 1975, S. 3.

- Gestern der Wahnsinn und die Krankheit. Heute die Gefäng­ nisse: Hoffen Sie, mit dieser geduldigen Arbeit des Archivisten gesellschaftlicher Nischen die Philosophie davon abhalten zu kön­ nen, in Ohnmacht zu versinken? - Sie wissen das: Ich spreche nicht als Philosoph. Als ich begann, mich mit diesen Themen zu beschäftigen, die ein wenig zu den Niederungen der gesellschaftlichen Wirklichkeit gehörten, hat eine gewisse Anzahl von Forschern wie Barthes, Blanchot und die britischen Antipsychiater Interesse daran gezeigt. Aber man muss deutlich sagen, dass weder die philosophische noch gar die politische Gemeinschaft sich auch nur im Mindesten dafür inte­ ressiert haben. Keine jener Zeitschriften, die doch institutionell darauf abgestellt sind, noch die kleinsten Zuckungen aus dem philosophischen Universum zu registrieren, hat dem irgendeine Aufmerksamkeit entgegengebracht. Das Problem der sozialen Kontrollen - womit all die Fragen, die sich auf den Wahnsinn, die Medizin und die Psychiatrie beziehen, in Verbindung stehen hat erst nach dem Mai 1968 ein großes Forum gefunden, sah sich dann allerdings auf einen Schlag ins Zentrum des allgemeinen Interesses katapultiert. - Was kann die zeitgenössische Philosophie trotz oder aufgrund ihrer Fähigkeit, den gesellschaftlichen Diskurs auseinander zu

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nehmen und den Mechanismus der Mächte zu demontieren, an­ deres erhoffen, als eine Bereicherung für diese Diskurse und für diese Mächte zu sein, indem sie gerade in dem Maße, wie sie sie entlarvt, ihnen hilft, ihre Strategie zu verfeinern? - Ihre Frage schiebt mir eine Unterstellung unter: Ich wäre der Autor eines philosophischen Diskurses, der letztlich wie jeder philosophische Diskurs funktionieren würde, das heißt eben im Sinne der Mechanismen der ihn tragenden Macht. Wir könnten darüber streiten... Wie auch immer man vorgeht, es ist unzwei­ felhaft wahr, dass dieses Vorgehen es der Macht ermöglicht, ihre Strategie zu verfeinern, aber ich glaube nicht, dass man sich vor diesem Phänomen fürchten muss. Die politischen Gruppen ha­ ben gewiss seit langem diese quälende Furcht vor der Vereinnahmung gespürt. Wird sich nicht all das, was gesagt wird, in genau die Mechanismen eintragen lassen, die man zu entlarven ver­ sucht? Nun, ich denke, dass dies mit absoluter Notwendigkeit so geschieht: Allerdings kann der Diskurs nicht deshalb verein­ nahmt werden, weil er von Natur aus verdorben ist, sondern weil er sich in einen Kampfprozess einträgt. Dass der Gegner sich gewissermaßen auf den Zugriff stützt, den Sie auf ihn aus­ üben, und so versucht, ihn umzudrehen und in einen Zugriff zu verwandeln, den er auf Sie ausüben würde, stellt eben die beste Aufwertung des Einsatzes dar und zieht das Fazit aus der ganzen Strategie der Kämpfe: Wie beim Judo ist die beste Erwiderung auf einen gegnerischen Handgriff, dass man niemals davor zu­ rückweicht, sondern ihn seinerseits aufnimmt und als Abstüt­ zungspunkt für die folgende Phase wiederum zum eigenen Vor­ teil nutzt. So hat beispielsweise Herr Giscard d’Estaing als Antwort auf die Bewegung, die sich in den letzten Jahren gegen das Strafvollzugs­ system organisiert hat, ein Sekretariat für die Lage des Strafvoll­ zugs gegründet. Es wäre dumm von unserer Seite, darin einen Sieg dieser Bewegung zu sehen; aber es wäre genauso dumm, darin den Beweis dafür zu sehen, dass diese Bewegung vereinnahmt werden könnte. Das Gegenmanöver der Macht erlaubt nur, die Wichtigkeit des Kampfes zu ermessen, durch das es hervorgerufen wurde. Es liegt nun an uns, darauf eine neue Erwiderung zu finden.

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- Sie haben in meiner Frage eine Unterstellung gesehen, ich meinte, ich hätte vor allem einen Scheinbeweis hineingelegt: Man sollte doch annehmen, dass sich die ausschließlich als Prinzip gesellschaftlicher Unterdrückung definierte Macht trotz des He­ raufkommens und der Entwicklungen der Demokratie seit zwei Jahrhunderten unausweichlich perfektioniere... Das genau will Ihr Buch demonstrieren: Viel fehlt nicht, und ich erkenne darin einen gewissen Geschmack an der Paradoxie, wenn nicht gar den traditionellen Beigeschmack des philosophischen Skeptizismus. - Von dem Moment an, da man eine unendlich weniger brutale und weniger kostspielige, weniger sichtbare und weniger belas­ tende Macht brauchte als diese große monarchistische Verwal­ tung, hat man einer bestimmten sozialen Klasse, zumindest ihren Repräsentanten, größere Spielräume in der Partizipation an der Macht und in der Ausarbeitung der Entscheidungen eingeräumt. Doch zugleich und als Ausgleich dafür hat man ein ganzes Erzie­ hungssystem aufgebaut, das im Wesentlichen auf die anderen so­ zialen Klassen, aber auch auf die neue herrschende Klasse zielte denn die Bourgeoisie hat gewissermaßen an sich selbst gearbeitet, sie hat ihren eigenen Typ Individuen ausgearbeitet. Ich glaube nicht, dass die beiden Phänomene im Widerspruch zueinander stehen: Das eine war der Preis für das andere; das eine wurde nur möglich durch das andere. Damit auf der Ebene der Institu­ tionen ein gewisser bürgerlicher Liberalismus möglich wurde, brauchte es auf der Ebene dessen, was ich die Mikromächte nenne, eine weitaus gezieltere Besetzung der Individuen, musste die Er­ fassung der Körper und der Verhaltensweisen organisiert werden. Die Disziplin ist die Kehrseite der Demokratie. - Je mehr man in der Demokratie ist, desto mehr wird man über­ wacht? - Auf die eine oder andere Weise, ja: Diese Erfassung kann ver­ schiedene Formen annehmen, von der karikaturhaften Form - die Kasernen oder die alten Ordenskollegien - bis zu den modernen Formen: Man sieht jetzt Überwachungen eines anderen Typs auf­ tauchen, die man, fast ohne dass die Leute es merken, durch den Konsumdruck erreicht. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wollte

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man die Arbeiter trotz ihrer sehr niedrigen Löhne in die Pflicht nehmen zu sparen. Der Einsatz der Operation war sicher eher die Aufrechterhaltung der politischen Ordnung als die der Ökono­ mie: Der Bevölkerung sollte durch Anweisungen ein bestimmter, von Ordnung und Klugheit geprägter Verhaltenstypus einge­ schärft werden. Dieses Einhämmern moralischer Gebote ist heute nicht mehr notwendig: Das Prestige des Autos, die Politik der Einrichtungen oder der Anreiz zum Konsum ermöglichen genau­ so wirkungsvolle Verhaltensnormierungen. - Wenn die Beziehungen von Regel und Ausnahme diese beiden Bezugsglieder definieren würden, so wäre dies das ABC des Struk­ turalismus. Etwas anderes ist es, wenn man, wie Sie das tun, die Regel auf die Ausnahme gründet, so dass die Existenz und die Ausübung der Regel nur mehr durch das bestimmt und begründet wird, was ihr genau entgeht. Das Gesetz ist dazu da, den Rechts­ bruch zu erschaffen, das Gefängnis, die Delinquenz hervorzubrin­ gen, usw. - Sie führen zu Recht den Strukturalismus an. Man könnte dieses Haupt- oder Grundexempel der strukturalen Methode wieder aufnehmen, das in den Regeln des Inzestverbots und denen der Heirat in den primitiven Gesellschaften besteht, denn eben da­ durch konnte man schließlich, und dank des Genies von LéviStrauss, im Bereich der Sozialwissenschaften eine gewisse Anzahl formaler, der Linguistik oder unter Umständen der Mathematik entliehener Modelle anwenden. Dennoch interessiert mich dies gerade nicht, und ich hatte immer schon Lust, die Anthropologen zu fragen: Wie funktioniert die Inzestregel wirklich? Ich meine damit die Regel nicht als formales System, sondern als präzises, wirkliches, alltägliches und infolgedessen individualisiertes In­ strument - einer Erzwingung. Der Zwang interessiert mich: Wie lastet er auf dem Bewusstsein und wie schreibt er sich in die Körper ein; wie versetzt er die Leute in Empörung und wie ma­ chen sie ihm einen Strich durch die Rechnung? Genau an diesem Berührungs-, Schwebe- und unter Umständen Konfliktpunkt zwischen dem System der Regeln und dem Spiel der Unregelmä­ ßigkeiten setze ich stets mit meinen Fragen an. Was kann in dem Moment, da das große System der wissen-

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schaftlichen und philosophischen Rationalität das allgemeine Vo­ kabular hervorbringt, in dem man seit dem 17. Jahrhundert kom­ munizieren wird, mit denen geschehen, die ihr Verhalten aus die­ ser Sprache ausschließt? Das genau treibt mich um. - Sie gehen in der Analyse des Funktionierens sozialer Regeln noch weiter; Sie behaupten beispielsweise nicht, dass die Gefängnisse unvollkommen seien, weil sie nicht die Macht haben, die Delin­ quenz zu verringern; Sie behaupten, dass sie vollkommen sind, weil sie Delinquenz herstellen, und dass sie genau dazu da sind. - Ich wollte gerade darauf eingehen; es ist genau das, was ich sagen wollte, doch zum jetzigen Zeitpunkt zumindest beschränke ich diese Analyse auf die Zivil- und Strafgesetze; ich wende sie nicht auf den Bereich der Vernunft an. Als ich die Gesetze unter­ suchte, schien es mir, als seien sie nicht dafür bestimmt, die Un­ ordnung, die nicht regelgemäßen Verhaltensweisen zu verhindern, sondern dass ihre Zweckmäßigkeit komplexer ist: Sobald ein Ge­ setz aufgestellt ist, untersagt es oder verurteilt es im selben Zug eine bestimmte Anzahl von Verhaltensweisen. Sofort kommt so im Umkreis des Gesetzes eine Aura von Ungesetzlichkeiten zum Vorschein. Nun werden aber diese Ungesetzlichkeiten vom Straf­ system und vom Gesetz selbst nicht in gleicher Weise behandelt oder unterdrückt. Nehmen Sie zum Beispiel die Klasse der Ge­ setze, die die Achtung vor dem Eigentum betreffen: Sie funktio­ nieren nicht in gleicher Weise der Natur des Eigentums selbst entsprechend; so dass man sich fragen kann, ob das Gesetz nicht unter dem Anschein, eine allgemeine Regel zu sein, bestimmte, voneinander unterschiedene Ungesetzlichkeiten zum Erscheinen bringt, die zum Beispiel die Bereicherung der einen und die Ver­ armung der anderen ermöglichen, die einmal die Duldung und dann wieder die Unduldsamkeit gestatten. Das Strafsystem wäre insofern eine Art Verwaltung dieser Ungesetzlichkeiten, eine Ver­ waltung ihrer Unterschiede, ihre Aufrechterhaltung und letztlich das, was ihr Funktionieren ermöglicht. - Wenn ich richtig verstanden habe: Für die Macht zahlt sich das Verbrechen aus.

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- Ganz richtig. Bestimmte Verbrechen zahlen sich aus. Das Ge­ fängnis ist ein merkwürdiges System, ein ziemlicher Zauberkünst­ ler, zur Umformung [»réforme«] der Individuen. In Wirklichkeit hat man schnell erkannt, dass das Gefängnis weit davon entfernt ist, sie umzuformen, sondern nur dafür sorgte, dass sie sich als Milieu ausbilden konnten: als das Milieu, in dem die Delinquenz die einzige Existenzweise ist. Man hat erkannt, dass diese in sich geschlossene, kontrollierte und in Zellen organisierte Delinquenz zu einem wertvollen ökonomischen und politischen Instrument in der Gesellschaft werden konnte: Dies ist eines der bedeutenden Merkmale der Organisation der Delinquenz in unserer Gesell­ schaft mittels Strafsystem und Gefängnis. Für den sozialen Kör­ per ist die Delinquenz zu einem fremden sozialen Körper gewor­ den, der vollkommen homogen ist, von der Polizei überwacht und registriert wird und mit Spitzeln und »Aushorchern« durchsetzt ist - und von ihm hat man unmittelbar zu zwei Zwecken Ge­ brauch gemacht: Ökonomisch hat man aus der sexuellen Lust Profit geschlagen, im 19. Jahrhundert die Prostitution organisiert und letztlich die Delinquenz in einen Steuerbeamten für den Be­ reich Sexualität verwandelt. Politisch hat Napoleon III mit den unter den Missetätern rekrutierten Stoßtrupps als Erster die zel­ lenförmige Unterwanderung der Arbeiterbewegungen organi­ siert. - Die Sache des Strafvollzugs steht auf der Tagesordnung. Wo ordnen Sie in der Masse der Veröffentlichungen, die ihr gewidmet sind, Ihr Buch ein? - Das ist nur eine kleine Geschichte am Rande, abseits der der­ zeitigen Kämpfe... Ansonsten muss die historische Analyse am politischen Kampf wirklich teilnehmen; es geht nicht darum, den Kämpfen einen Leitfaden oder einen theoretischen Apparat zu geben, sondern die dafür möglichen Strategien aufzustellen. Es ist sicher so, dass der Marxismus - darunter verstehe ich die Scho­ lastik, dieses überlieferte Korpus an Wissen und Texten - uns dazu kein Instrument an die Hand gibt, obgleich sich die Kämpfe an allen Fronten vervielfacht haben: Sexualität, Psychiatrie, Medizin, Strafsystem... Sie wissen, was die marxistischen Psychiater in den sechziger Jahren machten? Ihr Problem war herauszubekommen,

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wie man den Pawlowismus auf die Psychiatrie anwenden konnte: Sie haben nicht einen Augenblick lang die Frage der psychiatri­ schen Macht erkannt, und auch nicht, dass sie die sexuellen Rollen und das Funktionieren der Familie zu verlängern drohte. Von einem bestimmten Zeitpunkt an funktionierte die große Masse der psychoanalysierenden Psychoanalytiker und die große Masse ihrer Klienten als Agenten einer Normierung und Verlängerung der Mächte der Familie, des männlichen Geschlechts und der He­ terosexualität. Der Marxismus und die Psychoanalyse sind genau deshalb die beiden großen Besiegten dieser letzten fünfzehn Jahre, weil sie sich viel zu sehr zwar nicht auf die an der Macht befind­ liche Klasse, aber auf die Mechanismen der Macht eingelassen hatten. Und genau auf diese Mechanismen zielten die vom Volk ausgehenden Schläge: Weil sie sich von Ersteren nicht freigemacht hatten, hatten sie an Letzteren keinen Anteil. - Gefallen Sie sich nicht in einem gewissen Negativismus? -J a , und ich gefalle mir darin in einem starken Sinne: Die Bour­ geoisie ist überhaupt nicht das, was Baudelaire von ihr dachte: ein Haufen dummer und verschlafener Esel. Die Bourgeoisie ist in­ telligent, hellwach und berechnend. Keine Herrschaftsform ist je so fruchtbar und folglich auch so gefährlich und so tief verwurzelt gewesen wie die der Bourgeoisie. Es wird nicht reichen, dass man sich über ihre Niedertracht ereifert; sie wird nicht verschwinden wie die Flamme einer Kerze, die man ausbläst: Das rechtfertigt eine gewisse Traurigkeit; gerade deshalb muss man so viel Fröh­ lichkeit, Hellsicht und Hartnäckigkeit wie möglich in den Kampf hineintragen. Wirklich traurig wäre allein, nicht zu kämpfen... Im Grunde schreibe ich nicht gern; es ist eine Aktivität, die man nur sehr schwer erfolgreich zu Ende führen kann. Schreiben reizt mich nur in dem Maße, wie es sich in der Wirklichkeit eines Kampfes verkörpert, als Instrument, Taktik oder Beleuchtung. Ich möchte, dass meine Bücher Skalpelle, Molotowcocktails oder Minengürtel sind und dass sie nach Gebrauch wie ein Feuerwerk zu Asche zerfallen. - Diese düstere und barocke Schreibweise gibt sich freilich nicht den Anschein des Ephemeren oder des Schnelldienstes...

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- Die Verwendung eines Buches steht in enger Verbindung mit der Lust, die es bereiten kann, aber ich begreife das, was ich tue, überhaupt nicht als ein Werk, und ich bin schockiert bei dem Gedanken, dass man mich einen Schriftsteller nennen könnte. Ich bin ein Händler von Instrumenten, ein Verfasser von Rezep­ ten, ein Wegweiser von Zielen, ein Kartograph, ein Verräter von Plänen, ein Waffenfabrikant... Übersetzt von Hans-Dieter Gondek

153 Das Gefängnis aus Sicht eines französischen Philosophen »II carcere visto da un filosofo francese« (»La prison vue par un philosophe français«; Gespräch mit F. Scianna; übers, von A. Ghizzardi), in: UEuropeo, Nr. 1515, 3. April 1975, S. 63-65.

- Warum das Gefängnis, Professor? - Wir schämen uns unserer Gefängnisse. Diese riesigen Gebäude, die zwei Welten von Menschen trennen, die man einst mit so viel Hochmut errichtete, dass man sie oft ins Zentrum der Städte setzte, stören uns heute. Die Polemiken, die deswegen regelmäßig losgetreten werden, und in jüngster Zeit wegen zahlloser Revol­ ten, sind ein eindeutiges Zeugnis für dieses Gefühl. Polemiken, Scham und das Fehlen von Liebe haben im Übrigen die Gefäng­ nisse begleitet, seitdem sie sich, sagen wir, um 1820 herum, als Universalstrafe durchgesetzt haben. Und doch hat diese Einrich­ tung einhundertundfünfzig Jahre überstanden. Das ist etwas ziemlich Außergewöhnliches. Wie konnte eine Struktur, die man so sehr gerügt hat, so lange überstehen, habe ich mich gefragt. - Wie entstehen die Gefängnisse? - Am Anfang glaubte ich, es sei ganz und gar der Fehler Beccarias, der Reformer und insgesamt der Aufklärung gewesen. Als ich dann genauer hinschaute, ist mir klar geworden, dass dem nicht so

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war. Die Reformer und insbesondere Beccaria, die gegen die Fol­ ter und die Strafexzesse des monarchistischen Despotismus auf­ standen, schlugen keineswegs als Alternative das Gefängnis vor. Ihre Projekte und namentlich diejenigen Beccarias beruhten auf einer neuen StrafÖkonomie, die die Strafen dem Wesen eines jeden Delikts anpassen wollte: etwa die Todesstrafe für die Mörder, die Beschlagnahmung der Güter für die Diebe, und selbstverständlich auch das Gefängnis, aber eben bei Delikten, die gegen die Freiheit gerichtet waren. Stattdessen wurde das Gefängnis als eine für alle ähnliche und universale Strafe errichtet, bei der es allein eine Abstufung in der Dauer gab. Zustande gekommen ist dies also nicht aufgrund der Kampfschriften der Reformer; Beccaria wollte das Gefängnis nicht an die Stelle der Martern und Foltern setzen. - Warum dann dieser Übergang von der Marter zum Gefängnis? - Bis ins 18. Jahrhundert spielte mit dem monarchistischen Ab­ solutismus die Marter nicht die Rolle einer moralischen Wieder­ gutmachung, sondern hatte eher den Sinn einer politischen Zere­ monie. Das Delikt als solches war als eine gegen die Souveränität des Monarchen gerichtete Herausforderung anzusehen; es brachte die Ordnung seiner Macht über die Individuen und über die Din­ ge durcheinander. Die erschreckende ausführliche öffentliche Marter hatte exakt den Zweck, diese Souveränität wiederherzustellen; ihr spektaku­ lärer Charakter diente dazu, das Volk an der Anerkennung dieser Souveränität teilhaben zu lassen, und ihre Beispielhaftigkeit und ihre Maßlosigkeiten dazu, deren unendliche Reichweite darzule­ gen. Die Macht des Fürsten ist maßlos von Natur aus. Die Refor­ mer mit ihrem Projekt einer neuen Strafökonomie schwammen im Kielwasser einer Gesellschaft, die voll im Wandel begriffen war. Beccarias Vorschlag war zwar eine Art Gesetz der Vergeltung, aber es war nicht minder ein für alle geltendes Gesetz und entzog sich also der Willkür des Willens des Fürsten. Die Angemessen­ heit der Strafen im Verhältnis zu den Delikten reflektierte und reflektiert noch immer die neue kapitalistische Ideologie der Ge­ sellschaft: Für eine Arbeit ein entsprechender Lohn, für Delikte entsprechende Strafen.

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Dieses Prinzip hält sich in den Variationen der Dauer der Haft­ strafen durch, ihm wird freilich durch die Freiheitsberaubung als einziger Bestrafung widersprochen. - Wie konnte sich dann diese Strafform durchsetzen? - Die bis heute dafür gegebenen Erklärungen bezogen sich im Wesentlichen auf die ökonomischen Veränderungen der Gesell­ schaft. Zur Zeit der Fürsten in einer Gesellschaft feudalen Typs war der Warenwert des Individuums als Arbeitskraft minimal, und das Leben selbst hatte aufgrund der heftig wütenden Epide­ mien, der hohen Kindersterblichkeit usw. keineswegs denselben Preis wie in den folgenden Jahrhunderten. Wie dem auch sei, das Ziel der Bestrafung war nicht die Tötung; im Gegenteil bestand die Kunst der Marter darin, den Tod in einer »köstlichen Agonie«, wie einer ihrer Theoretiker sagt, im höchsten Maße hinauszuzögern. In diesem Sinne war der Moment eines qualitativen Wandels innerhalb der Philosophie der Bestrafung die Guillotine. Heute pflegt man davon wie von einem Überbleibsel mittelalterlicher Barbarei zu sprechen. Das ist nicht richtig; zu ihrer Zeit war die Guillotine eine einfallsreiche kleine Maschine, die die Marter in eine Hinrichtung verwandelte, die blitzartig auf gleichsam abs­ trakte Weise vollzogen wurde, ein wahrhafter Nullpunkt des Lei­ dens. Man ruft immer noch nach dem Volk, damit es dem theat­ ralischen Strafritual beiwohnt, jedoch nur, damit es den Abschluss bestätigt, und nicht, damit es daran teilhat. Mit der neuen ökonomischen Struktur der Gesellschaft hat die Bourgeoisie das Bedürfnis, ihre Machtergreifung mit Hilfe einer neuen, viel wirkungsvolleren Straftechnologie als der vorherge­ henden zu organisieren. - Einer immerhin sanfteren. - Die »Sanftheit« der Strafen hat nichts mit der Wirksamkeit des Strafsystems zu tun. Man muss sich von der Illusion freimachen, die Zuteilung der Strafen geschähe mit dem Ziel, die Delikte zu unterdrücken: Den Strafmaßen kommt nicht nur die negative Rol­ le einer Repression zu, sondern auch die »positive« einer Legiti­ mation der Macht, die die Regeln erlässt. Man kann sogar behaup­

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ten, dass die Definition der »Verstöße gegen das Gesetz« zur Be­ gründung für den Strafmechanismus dient. Bei den Fürsten legitimierte die Marter die absolute Macht, ihre »Scheußlichkeit« entfaltete sich über die Körper, weil der Körper der einzige zugängliche Reichtum war. Erziehungshaus, Spital, Gefängnis und Zwangsarbeiten entstanden mit der Handelsöko­ nomie und entwickelten sich mit ihr. Der Exzess war nicht mehr notwendig, ganz im Gegenteil. Ziel ist vielmehr die höchste öko­ nomische Gestaltung des Strafsystems. Darin liegt der Sinn seiner »Humanität«. Denn wirklich wichtig an der neuen gesellschaftlichen Wirk­ lichkeit ist nicht die Beispielhaftigkeit der Strafe, sondern ihre Wirksamkeit. Deshalb besteht der verwendete Mechanismus we­ niger darin zu strafen als zu überwachen. - Aber ist die Überwachung nicht bis ins 19. Jahrhundert aus der Tradition des Strafens ausgeschlossen? -J a . Man kann sogar behaupten, dass trotz der Strenge des Sys­ tems unter der Monarchie die Kontrolle der Gesellschaft viel schwächer und die Maschen viel weiter waren, durch die die tausendundeinen volkstümlichen Ungesetzlichkeiten hindurch­ schlüpften. Die Verurteilungen blieben häufig folgenlos, der Brauch ließ sie hinfällig werden. Der Schmuggel, die Verletzung von Weiderechten, das Sammeln von Holz auf königlichem Boden wurden, obwohl mit fürchterlichen Strafen bedroht, in Wirklich­ keit praktisch niemals verfolgt. Auf gewisse Weise gingen sie ins Spiel des Systems ein, so wie sie in bestimmten, besonders zu­ rückgebliebenen ökonomischen und gesellschaftlichen Wirklich­ keiten auch weiterhin darin eingehen. - Lauro sagte, der Schmuggel in Neapel sei das Fiat des Südens. - Genau. Doch am Ende des 18. Jahrhunderts kann die Bourgeoi­ sie mit den neuen Anforderungen der industriellen Gesellschaft, mit einer größeren Unterteilung des Eigentums die volkstüm­ lichen Ungesetzlichkeiten nicht länger dulden; sie sucht nach neuen Methoden des Zwangs, der Kontrolle, der Erfassung und Überwachung für das Individuum. Die Reformer der Aufklärung

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schlugen eine neue Strafökonomie vor und nicht die neue Techno­ logie, die gebraucht wurde. - In welcher Tradition liegen die kulturellen Wurzeln des Ge­ fängnisses? - Die Form Gefängnis entsteht wohl vor seiner Einführung ins Strafsystem. Wir finden sie im Keimzustand in dieser ganzen Wis­ senschaft von Körper, seiner »Besserung« und seiner Ausbildung, die in den Fabriken, in den Schulen, in den Spitälern und in den Kasernen erworben wurde. »Aber sie atmen« gab der Großherzog Michele gereizt als Kommentar ab, als er an einer militärischen Parade teilnahm. Zum neuen Ideal der Macht wird die »von der Pest heimge­ suchte Stadt«, die auch die Stadt der Strafen ist. Da, wo es die Pest gibt, gibt es auch die Quarantäne; jeder wird kontrolliert, klassifi­ ziert, eingesperrt und der Maßregel unterworfen. Um das Leben und die Sicherheit der Gemeinschaft zu verteidigen, gewährt man das Recht, wen auch immer zu töten, der ohne ausdrückliche Er­ laubnis herumläuft, mit Ausnahme einiger Gruppen von unend­ lich kleiner Bedeutung, die von Manzoni beschriebenen Indivi­ duen, denen man die unwürdigsten Aufgaben überträgt, wie etwa den Abtransport der Leichen der Pestkranken. Die in Architektur verwandelte Struktur dieser technologischen Anforderung wird von Bentham 1791 mit seinem Panopticon1 geliefert. - Was ist das Panopticon? - Das ist ein Bauvorhaben mit einem zentralen Turm, der eine ganze Reihe von kreisförmig gegen das Licht angeordneten Zellen überwacht, in'die man die Individuen einsperrt. Vom Zentrum aus kontrolliert man jedes Ding und jede Bewegung, ohne gesehen zu werden. Die Macht verschwindet, sie stellt sich nicht mehr dar, aber sie existiert; sie verflüchtigt sich in die unendliche Mannigfaltigkeit ihres einzigen Blicks. Die modernen Gefängnisse und selbst eine große Anzahl unter1 1 [Bentham, J., Panopticon, Dublin und London 1791.]

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den jüngeren, die man als »Modellanstalten« bezeichnet, beruhen auf diesem Prinzip. Doch mit seinem Panopticon hatte Bentham nicht spezifisch das Gefängnis im Sinn; sein Modell konnte für jede beliebige Struktur der neuen Gesellschaft genutzt werden und wurde auch genutzt. Die Polizei, eine französische Erfin­ dung, die bald auch alle europäischen Regierungen faszinierte, ist die Zwillingsschwester des Panopticons. Das moderne Steuerwesen, die psychiatrischen Anstalten, die Karteien, die Fernsehnetze und wie viele andere Technologien noch, die uns umgeben, sind dessen konkrete Anwendung. Un­ sere Gesellschaft ist viel stärker benthamianisch als beccarianisch. Die Orte, an denen man die Kenntnisse überliefert gefunden hat, die zum Gefängnis führten, zeigen, warum dieses den Kasernen, den Spitälern und den Schulen so ähnlich sieht und warum jene den Gefängnissen so ähnlich sehen. - Aber das Gefängnis wurde doch von Anfang an kritisiert. Es wurde als ein Scheitern des Strafvollzugs, als eine Fabrik für De­ linquenten definiert. - Dies hat dennoch nicht dazu gedient, es zu zerstören. Nach eineinhalb Jahrhunderten hält es immer noch stand. Doch ist es im Übrigen wirklich ein Scheitern? Oder ist es nicht eher ein Erfolg, und zwar gerade aus denselben Gründen, weswegen man es als Fehlschlag anklagt? In Wirklichkeit ist das Gefängnis ein Erfolg. - Was für ein Erfolg? - Das Gefängnis erschafft und erhält eine Gesellschaft von De­ linquenten, das Milieu mit seinen Regeln, seiner Solidarität und seiner ausgeprägten moralischen Niedertracht. Die Existenz die­ ser delinquenten Minderheit, die alles andere als der augenfällige Maßstab eines Scheiterns ist, ist sehr wichtig für die Struktur der Macht der herrschenden Klasse. Ihre erste Funktion ist die, alle ungesetzlichen Handlungen zu disqualifizieren; diese werden unter einer gemeinen moralischen Niedertracht verortet. Früher wäre das nicht so gegangen: Eine beträchtliche Anzahl der vom Volk begangenen ungesetzlichen

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Handlungen wurde in Wirklichkeit geduldet. Jetzt ist das nicht mehr möglich; als Frucht der Strafvollzugsstruktur ist der Delin­ quent zunächst einmal ein Krimineller wie jeder andere auch, der aus welchem Grunde auch immer das Gesetz bricht. Als Nächstes schafft man eine Zwischenstruktur, deren sich die herrschende Klasse für ihre Ungesetzlichkeiten bedient: Diese wird eben von den Delinquenten gebildet. Das schlagendste Beispiel ist die Aus­ beutung des Sexes. Auf der einen Seite stellt man rund um das Sexualleben Verbote, Skandale und Unterdrückungen auf; dies er­ laubt die Verwandlung des Bedürfnisses in eine schwer erhältliche und teure sexuelle »Ware«, dann beutet man sie aus. Keine Groß­ industrie irgendeines großen industrialisierten Landes kann mit der ernormen Rentabilität des Prostitutionsmarktes rivalisieren. Dies gilt für den Alkohol in der Zeit der Prohibition und heute für die Droge (vgl. die türkisch-amerikanische Vereinbarung für den Mohnanbau), für den Schmuggel von Tabak, von Waffen... - Wie wird die Verbindung mit der Macht aufrechterhalten? - Diese ungeheuren Mengen an Geld steigen, sie steigen, bis sie bei den großen finanziellen und politischen Unternehmen der Bourgeoisie ankommen. Alles in allem hält man ein Schachbrett aufrecht, auf dem es gefährliche Felder gibt und andere, die sicher sind. Auf den gefährlichen befinden sich stets die Delinquenten. Darin besteht die Verbindung. Und damit kommen wir zur wei­ teren Rolle der Delinquenz: die Komplizenschaft mit den polizei­ lichen Strukturen in der Kontrolle der Gesellschaft. Ein System von Erpressungen und Tauschvorgängen, in denen die Rollen wie in einem Kreislauf durcheinander geraten. Ist ein Spitzel etwas anderes als ein Delinquent in der Rolle eines Polizeimanns oder ein Polizeimann in der Rolle eines Delinquenten? In Frankreich ist die glänzende Symbolfigur für diese Wirklichkeit Vidocq, der berühmte Bandit, der zu einem bestimmten Zeitpunkt Chef der Polizei wird. Die Delinquenten haben noch eine weitere herausragende Funktion im Mechanismus der Macht: Die Klasse, die an der Macht ist, bedient sich der Bedrohung durch die Kriminalität als eines fortdauernden Alibis, um die Kontrolle der Gesellschaft zu verstärken. Die Delinquenz macht Angst, und diese Angst

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schürt man. Nicht umsonst ist in jeder sozialen und ökonomi­ schen Krisenzeit ein »Wiederansteigen der Kriminalität« und an­ schließend der Ruf nach einem Polizeistaat zu beobachten. Um der öffentlichen Ordnung willen, heißt es, in Wirklichkeit aber, um vor allem die Ungesetzlichkeit im Volk und unter den Arbei­ tern einzudämmen. Alles in allem funktioniert die Kriminalität als eine Art interner Nationalismus. So wie die Furcht vor dem Feind dafür sorgt, dass die Armee »geliebt wird«, sorgt die Furcht vor den Delinquenten dafür, dass die Polizeimacht »geliebt wird«. - Aber nicht das Gefängnis. Dass das Gefängnis geliebt wird, das schafft man nicht. - Eben weil es in den modernen Mechanismen der Kriminaljustiz einen Bodensatz an nicht vollständig ausgetriebener Marter gibt, auch wenn sie heute mehr und mehr in die neue körperlose Straf­ weise eingeschlossen ist. Denn die neue Weise zu strafen bessert und behandelt eher, als dass sie straft. Der Richter wird zu einem Arzt und umgekehrt. Die Überwachungsgesellschaft will ihr Recht auf die Wissenschaft gründen; dies macht die »Sanftheit« von Strafen, oder besser, von »Behandlungen«, »Besserungen« möglich, doch wird damit auch ihre Kontrollmacht, ihre Macht, eine »Norm« aufzuerlegen, ausgedehnt. Man verfolgt den, der »verschieden ist«. Der Delinquent ist nicht außerhalb des Geset­ zes, sondern siedelt sich von Anbeginn im eigentlichen Zentrum dieser Mechanismen an, in denen man in einer Kontinuität von untereinander in einem Verweisungszusammenhang stehenden Institutionen unmerklich von der Disziplin zum Gesetz, von der Abweichung zum Delikt übergeht: vom Waisenhaus zum Er­ ziehungsheim und zur Besserungsanstalt, von der Arbeiterstadt ins Krankenhaus und ins Gefängnis. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek

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Das Fest des Schreibens »La fête de l’écriture« (Gespräch mit J. Almira und J. Le Marchand), in: Le Quotidien de Paris, Nr. 328, 25. April 1975, S. 13. (Über J. Almira, Voyage à Naucratis, Paris 1975.)

M. Foucault: Am Weihnachtstag, an dem Tag also, an dem man keine Telefonanrufe erhält und an dem im Übrigen seit Jahrtau­ senden fast nichts passiert, erhalte ich einen Telefonanruf von jemandem, der mich fragt, ob ich nicht ein Manuskript lesen möchte. Das ist die Art Anfrage, die mich in tiefe Niedergeschla­ genheit versetzt. Im Allgemeinen sind das Manuskripte, die unzählige Male ab­ gelehnt worden sind. Ich bin also sehr zurückhaltend, sehr knur­ rig gewesen. Aber da war etwas Reizendes und zugleich wunder­ bar Bejahendes in der Stimme... Das war nicht irgendein Geprügelter, der mit einem runtergeputzten Manuskript ankam. Mich faszinierte dieser vornehme bejahende Ton im Lied dieser Stimme. Weihnachten und die Tage darauf verbrachte ich damit, dieses Manuskript mit Begeisterung zu lesen. Mir fiel sofort die unbän­ dige Freude auf, die sich durch die Schrift hindurchzog. Nichts von dieser Verlegenheit, dieser falschen Scham, dieser niedrigen Moral, auf die man in einer großen Anzahl von Texten unserer Zeit stößt, und die sich in der Infragestellung des Schreibens durch das Schreiben ausdrückt. Wenn Almira die Schrift explo­ dieren lässt, so tut er dies, indem er über das Übermaß an Lust, das er dem Schreiben abgewinnt, in ein Gelächter ausbricht. J. Le Marchand: Hat Sie das überrascht, als Sie von Michel Foucault einen »sehr schönen Brief mit schmeichelhaften Wor­ ten« erhielten? J. Almira: Ehrlich gesagt, ich erwartete mir nichts, es sei denn von Seiten Michel Foucaults. Ich habe ihm den Voyage geschickt, weil er ihn als Erster lesen sollte. M. Foucault: Mir hat an diesem Roman gefallen, mit welcher Gelassenheit der Autor genau in dem Moment die Schrift [»écri­ ture«] beherrscht, wo er in die Verkleidung des Schriftstellers

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schlüpft. Seine Bezugnahmen auf Flaubert und auf Madame Bo­ vary haben zweifellos diese Bedeutung. Es ist das Fest der Lite­ ratur, aber es ist der Karneval der Schriftsteller. J. Le Marchand: Sie haben, glaube ich, sechs Jahre darauf ver­ wandt, Ihr Buch zu schreiben. Hatten Sie, als Sie mit neunzehn Jahren die ersten Zeilen zu Papier brachten, eine generelle Vor­ stellung von dem, was Sie machen wollten, was Ihr Buch sein sollte? /. Almira: Ich begann damit, dass ich die Aufzeichnungen, die ich angefertigt hatte, zusammenfügte und zu einem Ganzen ver­ einte. Nach und nach hat sich anfangs sehr vage, dann präziser ganz sachte eine Struktur durchgesetzt. /. Le Marchand: Sie haben Ihr Buch in dem Maße entdeckt... J. Almira: In dem Maße, wie es wurde, in einem langsamen Ablagerungsprozess Tag für Tag. Ich hatte niemals einen »Ent­ wurf«. Das Buch hat sich nach und nach gewaltsam eingestellt; es hat sich mir aufgedrängt. Ich machte, ich machte rückgängig, dann kam wie ein verschüttetes und von mir exhumiertes Monument ein Plan ans Licht. Nachdem ich damit zu Ende war, habe ich das Buch geschrieben. Ich habe es im letzten Jahr völlig neu zusam­ mengestellt. M. Foucault: Und Sie haben noch auf den Fahnen Dutzende und Dutzende von Seiten hinzugefügt. Sie könnten uns vielleicht etwas über diese ausufernde Bewegung sagen, die mir bei Ihnen eine Arbeitsweise zu sein scheint. /. Almira: Von dem Moment an, da es keine eindeutige Ge­ schichte, keine Fabel - wie bei Balzac, wie bei Zola - gab, die all das vorauszusehen erlaubt, was sich ereignen wird, und der man den Fluss der Rede unterwirft, konnte sich alles aufdrängen, es war wie eine offene Wunde, an der sich alles Mögliche anschlie­ ßen konnte, wovon ich zuvor keine Kenntnis hatte. J. Le Marchand: Es ist also eher so, dass das Buch Sie zum Schreiben gebracht hat und nicht Sie das Buch geschrieben haben. Wie schreiben Sie? Warten Sie auf die Eingebung? Setzen Sie sich an Ihren Tisch, fest entschieden? J. Almira: Ja, oft mit Unlust. Und dann nach einer Stunde kommt allmählich die Lust. Ich schreibe sehr ruhig. Die Passagen, die bei der Lektüre wie aus einem Delirium zu stammen scheinen, haben mir oft viel Arbeit abverlangt. Um sie in Szene zu setzen,

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war ich sehr weit von einem Delirium entfernt und oft der Er­ schöpfung sehr nahe, wie eine schwierige Arbeit sie verursacht. Ich glaube nicht, dass ich nur eine einzige Seite geschrieben habe, die nicht anschließend so manches Mal, bestimmte Weisungen von Paul Valéry nebenan im Blick, mit der Strenge eines Mannes der Wissenschaft überarbeitet worden wäre. Ich habe an meinem Buch sechs Jahre lang vier oder fünf Stun­ den täglich gearbeitet; das dürfte Ihnen etwas über das Maß mei­ ner Spontaneität sagen! /. Le Marchand: Welches sind die Autoren, die Ihnen am meis­ ten am Herzen liegen? J. Almira: Es sind die, die ich mit größter Lust gelesen habe: Zola, Joyce, Maupassant, Mandiargues, Borges, Proust, Kafka, Roussel und alle diejenigen, die aufzuführen ich jetzt vergessen habe. M. Foucault: In Wirklichkeit ist Roussel für ihn von größter Wichtigkeit. Man kommt nicht sofort darauf, aber mit der Zeit erkennt man, dass dies ein außerordentlich rousselianisches Buch ist. Mit Verfahrensweisen im Aufbau, welche nicht die von Rous­ sel sind, die aber einer gewissen Anzahl von Gesetzen der Ver­ schiebung, Verdoppelung und Neuzusammensetzung gehorchen. Unter einer scheinbaren »Graphorrhöe« liegt eine ganze Maschi­ nerie. Wobei selbstverständlich seine Verwendung des Wortes »Graphorrhöe« als Bezeichnung für das, was er tut, rein ironisch ist; damit macht er sich über diejenigen lustig, die ihn entspre­ chend anklagen. /. Le Marchand: Haben die Artikel, die über Ihr Buch erschie­ nen sind, Sie enttäuscht? J. Almira: Nicht im Mindesten. Sämtliche Zeitungen haben wichtige und sehr werbewirksame Artikel veröffentlicht. Keine hat sich mit einem Hinweis von wenigen Zeilen begnügt. M. Foucault: In der Tat waren selbst diejenigen, die das Buch kaputtmachen wollten, die verhindern wollten, dass man es liest, genötigt, ihm ausführliche Seiten zu widmen. Die Wichtigkeit des Buches ist durch diesen unmittelbaren Tanz um den Skalp unter­ strichen worden. /. Le Marchand: Sie haben ein zweites Buch in Vorbereitung? /. Almira: In Arbeit, ja, ich habe damit begonnen, bevor dieses hier veröffentlicht wurde. Ich weiß noch nicht, ob ich es beenden

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werde, aber es ermöglicht mir eine gewisse Distanz zu dem, was im Umfeld des Erscheinens des Voyage geschehen kann. Es ist weit von einem Abschluss entfernt. Sagen wir, es ist möglich. /. Le Marchand: Lesen Sie viel zeitgenössische Autoren, Michel Foucault? M. Foucault: Wenig. Ich habe früher viel von dem gelesen, was man »die Literatur« nennt. Ich habe am Ende aus Unvermögen vieles abgelehnt, weil ich einfach nicht den richtigen Schlüssel hatte, um zu lesen. Jetzt tauchen Bücher auf wie Under the volcanoy1 Le Rivage des Syrtes? Ein Schriftsteller, den ich sehr mag, ist Jean Demelier; Le Livre de Job hat mich sehr beeindruckt. Ebenso die Bücher von Tony Duvert. Im Grunde war für die Leute meiner Generation die große Literatur die amerikanische Literatur, Faulkner. Wenn man Zugang zur zeitgenössischen Li­ teratur nur über eine fremde Literatur hat, zu deren Quelle man niemals zurücksteigen konnte, führt das wahrscheinlich zu einer Art Distanz gegenüber der Literatur. Die Literatur, das war die Große Fremde. /. Le Marchand: Es scheint mir, dass Sie im Unterschied zu J.-M. G. Le Clézio, mit dem man Sie etwas leichtfertig verglichen hat, nicht danach suchen, die Außenwelt »sichtbar zu machen«? /. Almira: Ich beschreibe sie, ich formuliere sie, ich inventari­ siere sie, ich erfinde sie. Ich denke, wenn ich sie wirklich hätte sichtbar machen wollen, dann hätte ich gemalt oder eine Kamera genommen. M. Foucault: Ich würde sagen, dass Jacques Almira eher Dinge herstellt, die zu sehen sind. Mit Worten, mit Sätzen zerlegt er und stellt er wieder zusammen, baut auf, und plötzlich haben Sie eine Geste, ein Gesicht, eine Maske, einen Duft. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek12

1 [Lowry, M., Under the volcano, New York 1947; dt. Unter dem Vulkan, Stuttgart 1951, A.d.Ü.] 2 [Gracq, J., Le Rivage des Syrtes, Paris 1951; dt. Das Ufer derSyrthen, Frankfurt am Main 1952, A.d.Ü.]

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Der Tod des Vaters »La mort du père« (Gespräch mit P. Daix, P. Gavi, J. Rancière und I. Yannakakis), in: Libération, Nr. 421, 30. April 1975, S. 10-11.

P. Daix:1 In was für einer Situation befinden wir uns 1975? Ich gehe von einer Vorstellung aus, die mir für die gesamte Geschichte der kommunistischen Bewegung äußerst wichtig zu sein scheint: Als die Bolschewiken im Oktober 1917 siegten und eine neue Macht schufen, glaubten sie, sie hätten im Buch der Geschichte eine neue Seite aufgeschlagen. Die Arbeiterbewegung konnte das, was in der Sowjetunion geschah, nur einschätzen, indem sie es mit dem verglich, was die II. Internationale an Ideen und Begriffen eingebracht hatte. Nun war aber die II. Internationale mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs mehr oder weniger bankrott ge­ gangen. Und so wird sich die Gesamtheit der kommunistischen Bewegung in der Welt sogleich den im Wesentlichen kurzfristigen Bedürfnissen der jungen Sowjetmacht unterwerfen. Mit der Folge, dass es erstmals zu einer wahrnehmbaren Auseinandersetzung in der III. Internationale kommt, als Trotzki aus der Sowjetunion vertrieben wird. Die Arbeiterbewegung wird bis in die Mitte der sechziger Jahre so leben, dass sie in ihrem Inneren zwei Be­ wegungen von ungleicher Bedeutung entwickelt, die sich auf die Oktoberrevolution berufen und sich wechselseitig infrage stellen. Die orthodoxen Kommunisten werden zu Verteidigern der stalinistischen Orthodoxie bis hin zu ihren schlimmsten Verbrechen, während die Trotzkisten infrage stellen, was in der UdSSR ge­ schieht; doch sind ihre theoretischen Prämissen dieselben und machen sie in gleicher Weise unfähig, in der Zeit der Auslösung des Zweiten Weltkrieges eine Analyse zu erstellen. Anschließend kommt die Entstalinisierung. In den Jahren 1962, 1963 und 1964, nach dem XX. Parteitag, wird erstmals der Bank­ rott der III. Internationale deutlich, der genauso viel Blut gekostet hatte wie der Bankrott der II. Internationale. Den immer noch nicht ganz verknöcherten Aktivisten der französischen kommu­ 1 [Pierre Daix war lange Zeit an der Seite von Aragon verantwortlich für die Lettres françaises und hatte jüngst mit dem P.C.F. gebrochen.]

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nistischen Partei galt es, die Abweichung zwischen dem, was sie unter einem »proletarischen Humanismus« begriffen hatten, und dem, was geschehen war, verständlich zu machen. Das Scheitern im Zweiten Weltkrieg ist wahrscheinlich noch schrecklicher als das Scheitern der Arbeiterbewegung im Ersten Weltkrieg. Die Arbeiterbewegung hatte ihre Macht verloren, als sich im Zweiten Weltkrieg Stalins Macht mit Hitler in einem Bett gesuhlt hatte, und der von den Völkern der Sowjetunion und Europas gezahlte Preis war sehr hoch. Damit war auf einen Schlag das Loch entstanden. Eine der schwerwiegendsten Folgen der Krise der kommunisti­ schen Bewegung ist die Spaltung zwischen den Generationen der Intellektuellen. Aufgrund dieser Art Gehirnwäsche erwies sich eine solche Generation als unfähig, sich mit den Problemen der folgenden Generationen auseinander zu setzen: Wir tragen, noch heute an diesem Erbe. R Gavi:2 Ja, doch heute gibt es diese Konditionierung nicht. P. Daix: Die Grundlagen dieser Konditionierung, die Notwen­ digkeit des Glaubens an die Existenz einer sozialistischen Welt, der sämtliche Probleme der Arbeiterbewegung gelöst hat, das alles bleibt extrem machtvoll in der französischen Arbeiterklasse. M. Foucault: In Frankreich hat man die Gewohnheit, die Prob­ leme nur in Begriffen der marxistischen Theorie zu stellen. Diese Text-, Kommentar- und Belegstelle-bei-Marx-Manie hat unter an­ derem die Wirkung, dass sie es gestattet, niemals als Partei und als Kommunist von der Geschichte der kommunistischen Partei zu sprechen. Solange man nicht den marxistischen Diskurs verlässt, wird man es zu nichts bringen. Wenn sich etwas bei der Abtrei­ bung bewegt hat, bei den Gefängnissen, auf der Ebene des Be­ wusstseins der Leute, so lag das daran, dass der Diskurs nicht im Verhältnis zu einer Belegstelle, sondern im Verhältnis zu einer Wirklichkeit stand. Man braucht stets eine »Belegstelle bei«, man braucht es, sich als legitimiert anzusehen; jeder sucht seine Legitimität in seiner Belegstelle bei, das ist das Drama. 2 [Philippe Gavi, ein den Maoisten nahestehender Journalist und einer der Gründer von Libération, veröffentlichte 1974 zusammen mit J.-R Sartre und Pierre Victor bei Gallimard On a raison de se révolter.]

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/. Rändere:3 Tatsächlich ist die Situation, in der man sich be­ fand und aus der man geschichtlich nicht herausgekommen ist der Linksradikalismus -, eine etwas hoffungslose Art von Alter­ native. Man repariert die Maschinen, man gibt Impulse, damit die Macht Reformen unternimmt. M. Foucault: Ich werde dir von der Erfahrung einer Universität berichten, der von Lille, mit einem sehr stark proletarisierten Hintergrund. Ich beziehe mich auf die Zeit von 1969 bis 1972; es kam damals zum Aufblühen eines Diskurses, einer Suche der Studenten nach etwas, einer Bewegung ohne einen Bezug. Gleich­ zeitig begannen sich die Organisationen zu strukturieren. Sie ha­ ben diesen spontanen Diskurs eingeschnürt. Erste Konsequenz: Er ist verschwunden. Das Schreckliche ist, dass man einen Dis­ kurs stets zu kodifizieren, ihn für eine Gegengesellschaft geeignet zu machen sucht, damit dieser Diskurs zum Bezugs- und Ver­ sammlungspunkt wird. Solange man dieses Bestreben zu kodifi­ zieren haben wird, glaube ich nicht an das Aufblühen eines an­ deren Modells des Revolutionären, das nach einem anderen Gesellschaftsmodell sucht. R Gavi: Wo befindet sich das Virus? Ein gleichsam religiöses Denken hat sich entwickelt, wonach eine Wissenschaft der Revo­ lution möglich sei. Die Mehrzahl der linksradikalen Aktivisten widersetzen sich dem P.C., doch sie tun dies, wie Daix mit Bezug auf die Trotzkisten erinnerte, obwohl sie aus denselben theoreti­ schen Quellen und aus derselben religiösen Einstellung schöpfen. Wie eine neue Theorie ausarbeiten, über eine andere Praxis nachdenken, die sich Werten annimmt, die von den Marxisten-Leninisten stets gründlich zurückgewiesen wurden: Zweifel, Unge­ wissheit, Zufall, Verweigerung der Autorität, der Arbeit...? M. Foucault: Es gibt eine Wissenschaft, die man »Kommunistologie« nennen könnte und die eine historische Wissenschaft wäre, die sehr präzise institutioneile Analysen beinhalten würde. Doch fürs Erste entzieht sich uns diese »Kommunistologie«, von der her sich der Marxismus als Wissenschaft, als Dogma entwickelt hat, noch. /. Rändere: Es ist klar, dass Marx eine beträchtliche Anzahl 3 [Jacques Rancière, Schüler von Althusser, mit dem er in einem Buch mit dem Titel La leçon dyAlthusser brach, gründete im selben Jahr die Zeitschrift Révoltes logi­ ques.]

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kultureller Wirklichkeiten ignoriert hat; sein Schnitt zwischen Ba­ sis und Überbau [»infrastructure et superstructure«] funktioniert sehr schlecht in Bezug auf die wirkliche Lage der Bauern. So sind beispielsweise diejenigen, die ausgehend vom Marxismus Agrar­ reformen veranstalten wollten, im Allgemeinen ganz böse auf die Nase gefallen. Und noch schwerer wiegt, dass auch Marx davon überzeugt ist, der Fortschritt komme durch das Werden des ge­ werbetreibenden weißen Mannes. Zum Beispiel rät er den Hin­ dus, nichts zu tun, weil schließlich das englische Proletariat die Revolution machen werde. Es gibt so eine ganze Reihe von Dingen, die in der marxistischen Revolution blockiert wurden. Marx hat eine Menge Disziplinen, von denen er keine Ahnung hatte, daran gehindert, sich zu entwi­ ckeln ... Folglich ist da eine enorme theoretische Arbeit zu leisten. Gefährlich finde ich in der aktuellen Situation, dass die marxis­ tisch-leninistische Sprachregelung dahin tendiert, diese Arbeit zu verweigern und als »bürgerliche Wissenschaft« abzuweisen. Marx war Intellektueller, Jurist, Philosoph und Soziologe zu­ gleich und deckte so das gesamte Feld des Wissens ab: Seine Theo­ rie ist eine zu ihrer Zeit alles übertreffende Globaltheorie, eine Theorie der Revolution, die den Entwicklungsgang der Gesell­ schaften voraussehen und von daher »die Frage der Macht aufge­ ben« konnte. Marx spricht zu einer Zeit, in der es eine Klassen­ avantgarde gibt, die der Idee der Revolution, einer Welt freier Produzenten, ihren Sinn geben kann, und so kann im selben Zuge die Frage der Macht auf diesem Wege aufgegeben werden. Marx schreibt niemals eine Theorie der Macht, und alle späteren Mar­ xismen sind Theorien der Staatsraison. Das bringt einige Proble­ me mit sich, zum Beispiel: »Was heißt es, die Marx'sche Theorie wieder auf den laufenden Stand zu bringen?« Wer macht sich gegenwärtig den Marxismus zunutze, wenn nicht der Staatsappa­ rat und die Intellektuellen? Nun, was haben wir mit diesem marxschen Diskurs zu tun, wenn die potentiellen Werte von morgen nicht mehr die Werte beispielsweise von i960 sind? Auf welche Art von Werten kann man einen Diskurs der Re­ volution gründen? Das Problem ist zu wissen, was man will. Man weiß es nicht so recht. Was mir letztlich auffällt, ist, dass der Linksradikalismus in

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den letzten Jahren in der französischen Gesellschaft eine große reformerische Kraft gewesen ist. Was P.C. oder P.S.4 mit ihrem parlamentarischen Ansatz niemals zu erreichen vermochten, wur­ de mit der direkten, oft gewalttätigen Aktion der Linksradikalen erreicht. Einige Seiten der repressiven Gesellschaft sind ein wenig erschüttert worden. Das Problem ist nun, herauszubekommen, ob wir konsequente und gewaltbereite Reformer oder aber etwas anderes sind. Wie ist das Verhältnis zwischen diesem konsequen­ ten und gewaltbereiten Reformismus und der Revolution? /. Yannakakis:5 Das Erstaunliche an Marx ist, dass er die Ge­ schichte entleert. Das ist Anti-Geschichte par excellence. Folglich bleibt eine ökonomische Vision, eine Kritik der kapitalistischen Ökonomie übrig. Die sowjetischen sozialistischen Gesellschaften, die revolutionäre Gesellschaften sein wollten, sind unter völliger Nichtbeachtung des Mechanismus der Macht aufgebaut worden (sie haben eine Macht an die Stelle einer anderen gesetzt). Ich nehme als Beispiel die tschechoslowakische Gesellschaft. Alles, was aus den bescheidenen ökonomischen Kenntnissen von Marx stammte, wurde umgangen. Auf der Ebene der revolu­ tionären Praxis passierte zweierlei: Die Entwicklung dieser Ge­ sellschaft erwies sich als vollständig blockiert, und sämtliche Er­ kenntnisbereiche wurden auf kleine Formeln reduziert (das gilt für die Geschichte, die Psychologie, die Psychoanalyse und die Soziologie). Die Periode der »Liberalisierung« ermöglichte eines: eine Erweiterung des Feldes des Wissens, sowohl praktisch wie theoretisch. Diese ganze Wiedereinführung und zugleich Erwei­ terung des Feldes des Wissens erbrachte eine außerordentliche revolutionäre Dynamik, die in den Prager Frühling mündete. Der Prager Frühling war das Bild für die Krise der Macht, für ihre ideologische Armseligkeit, für die Armseligkeit ihrer Kennt­ nis der von ihr selbst geschaffenen Gesellschaft. Er war auch der revolutionäre Beginn eines enormen Bemühens um Erweiterung des Erkenntnisfeldes als eines Elementes der Gesellschaft. R Daix: Was hat die sowjetische Revolution gemacht? Sie ist niemals aus der geschichtlichen Arbeit einer bürgerlichen Revolu­ 4 [Parti Communiste und Parti Socialiste, A.d.Ü.] 5 [Iannis Yannakakis, früherer Professor an der Universität Prag, hatte mit der griechischen kommunistischen Partei, danach auch mit dem Kommunismus ge­ brochen.]

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tion herausgekommen. Sie hat die Industrialisierung und eine Agrarreform durchgeführt. Die Industrialisierung ist viel teurer gekommen als eine Industrialisierung unter der Ägide der Bour­ geoisie, und sie kostet die Völker der Sowjetunion auch jetzt noch viel mehr. Was die Agrarreform angeht, so ist sie wahrscheinlich definitiv undurchführbar. In Europa hat die sozialistische Revolution keines der von der Bourgeoisie aufgeworfenen Probleme vorangebracht und hat auch keine neuen Probleme aufgeworfen. Sie ist in dem historischen Rahmen geblieben, bei dem die europäischen Bourgeoisien bereits angekommen waren. Was ist für uns der konkrete Inhalt der Revolution? Ist sie ein­ fach nur die Umkehrung der existierenden Macht - doch, um was an die Stelle zu setzen, und vor allem, mit welchen Zielen? Was ist ein für Frankreich geeigneter Sozialismus? Warum sind wir so auf die Quellen fixiert? Ich glaube, dass eine der Schwierigkeiten des Nach-Mai 68 die ist, dass man alles das, was jetzt herauskommt, nicht hinreichend mit dem Linksradikalismus in Verbindung bringt. Wenn man eine Bestandsaufnahme all der sozialen und kulturellen Phänomene durchführt, die seit 1970 zustande gekommen sind und die, wenn man von der Praxis der Partei, der Gewerkschaft C.G.T. oder der Sozialistischen Partei vor dem Mai 68 ausgeht, undenkbar waren, kommt man, glaube ich, bei etwas sehr Wichtigem an. R Gavi: Mai 68 entspricht dem Angriff auf das Wissen. Sym­ bolisch beginnt der Mai 68 an der Sorbonne, und die Sorbonne findet sich auf der Straße wieder. Er ist als eine vollständige Auf­ lösung einer aus institutioneilen Kräften und namentlich den Theoretikern des Wissens, den Theoretikern des Marxismus, die linksradikalen darin inbegriffen, gebildeten Bürde erlebt worden. Sämtliche Theoretiker wurden infrage gestellt. Anschließend ent­ brennt in der Praxis dieser Bewegung die Imagination, die Neu­ gierde also, ein Durst nach Wissen. Doch subversiv ist dieser Wis­ sensdurst nur, weil er in einer Massenaktion seinen Ausdruck findet. Innerhalb dieser allgemeinen Bewegung bildet sich gegenüber der institutionellen Linken eine alternative kritische Kraft heraus. Ich glaube, dass man diese alternative Kraft, den Linksradikalis­ mus, auf keinen Fall mit seinen organisierten Ausdrucksweisen

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verwechseln darf, die gegenüber der Bewegung selbst stets in einer Phasenverschiebung begriffen waren. Seitdem sind sieben Jahre vergangen, und in dem Maße, wie diese Bewegung sich auf einem vom Kapitalismus vollkommen reformierbaren Terrain ansiedelt, harkt dieser seinerseits zusam­ men: die Immigranten, die Frauen, die angelernten Arbeiter, er schreibt sich all das auf sein Konto, was die Linksradikalen »hochgebracht« hatten. Das andere Problem des Linksradikalismus ist, dass eine über­ lastete Linke ihren Diskurs zu verwenden sucht, weil sie weiß, dass er trägt. Zwischen der Macht und der Linken befindet man sich in einer Situation, in der man zu einer ebenso theoretischen wie praktischen Suche aufgefordert wird. Ohne sämtliche Erwar­ tungen auf Belegstellen zu richten, sondern indem wir über unsere Geschichte seit 1968 nachdenken. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek

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Gespräch über das Gefängnis; das Buch und seine Methode -Entretien sur k prison: le livre et sa méthode« (Gespräch mit J.-J. Brochier), in: Magazine littéraire, Nr. 101, Juni 1975, S. 27-33.

- Eines der Anliegen Ihres Buches ist es, die Lücken in den histo­ rischen Untersuchungen bloßzustellen. So machen Sie zum Bei­ spiel darauf aufmerksam, dass niemand jemals eine Geschichte der Prüfung geschrieben hat; niemand hat daran gedacht, aber es ist undenkbar, dass niemand das gedacht hat. - Die Historiker sind wie die Philosophen oder die Historiker der Literatur an eine Geschichte von Gipfelpunkten gewohnt. Doch sind sie heute im Unterschied zu den anderen leichter be­ reit, einen »nicht würdigen« Stoff anzurühren. Das Aufkommen dieses plebejischen Stoffs in der Geschichte liegt gute fünfzig Jah­ re zurück. Man hat also weniger Schwierigkeiten, sich mit ihnen zu verständigen. Sie werden einen Historiker niemals das sagen

12ZÏ hören, was in einer unglaublichen Zeitschrift, Raison présente, jemand, dessen Name nicht wichtig ist, in Bezug auf Buffon und Ricardo gesagt hat: Foucault beschäftigt sich nur mit Mittel­ mäßigen.1 914

- Bei Ihrer Untersuchung über das Gefängnis bedauern Sie, wie es scheint, das Fehlen von Material, einer Monographie über dieses oder jenes Gefängnis zum Beispiel. - Derzeit ist eine vielfache Rückkehr zur Monographie zu be­ obachten, doch weniger zur Monographie als Untersuchung eines besonderen Gegenstandes, sondern als ein Versuch, die Punkte nachzuzeichnen, an denen ein Diskurstyp erzeugt oder gebildet wurde. Wie sähe heute eine Untersuchung über ein Gefängnis oder ein psychiatrisches Spital aus? Man hat im 19. Jahrhundert Hunderte davon angefertigt, vor allem über die Spitäler, indem man die Geschichte der Institutionen, die Chronologie der Direk­ toren und was weiß ich untersuchte. Heute würde das Schreiben der monographischen Geschichte eines Spitals darin bestehen, das Archiv dieses Spitals in die eigentliche Bewegung seiner Bildung als sich ausbildender Diskurs heraustreten zu lassen, der in das Leben des Spitals selbst und die Institutionen eingebunden ist, sie verändert und sie umgestaltet. Man würde versuchen, die Ein­ flechtung des Diskurses in den Prozess, in die Geschichte zu rekonstruieren. So in etwa auf der Linie, wie Faye das für den totalitären Diskurs getan hat.2 Die Konstitution eines Korpus stellt für meine Forschungen ein Problem dar, wenn auch ein Problem, das sich zum Beispiel von dem der linguistischen Forschung zweifelsohne unterscheidet. Wenn man eine linguistische Untersuchung oder die Unter­ suchung eines Mythos durchführen will, muss man sich ein Kor­ pus vorgeben, dieses Korpus definieren und die Kriterien für seine 1 [Revault d’AIlonnes, O., »Michel Foucault: les mots contre les choses«, in: Raison présente, Nr. 2, 1967, S. 29-41.] 2 [Faye, J. R, Langages totalitaires. Critique de la raison narrative, Paris 1972; dt. Totalitäre Sprachen. Kritik der narrativen Vernunft. Kritik der narrativen Öko­ nomie, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1977; Théorie du récit. Introduction aux »langages totalitaires«> Paris 1972; dt. Theorie der Erzählung. Einführung in die »totalitären Sprachen«. Kritik der narrativen Vernunft/Ökonomie, Frankfurt am Main 1977.]

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Bildung festlegen. In dem weitaus verschwommeneren Bereich, den ich untersuche, ist das Korpus in einem gewissen Sinne unbe­ stimmt: Es wird einem niemals gelingen, die Gesamtheit der über den Wahnsinn gehaltenen Diskurse zu bilden, selbst wenn man sich auf einen gegebenen Zeitabschnitt und ein gegebenes Land beschränkt. Für das Gefängnis hätte es keinen Sinn, sich auf die über das Gefängnis geführten Diskurse zu beschränken. Denn es gibt gleichermaßen die Diskurse, die aus dem Gefängnis stammen, die Entscheidungen und die Reglementierungen, die konstitutive Elemente des Gefängnisses sind, und das eigentliche Funktionie­ ren des Gefängnisses, das seine Strategien, seine nicht ausformu­ lierten Diskurse, seine Listen hat, die letztlich niemandem zu­ zurechnen sind, die aber dennoch erlebt werden und das Funktionieren und den Fortbestand der Institution sichern. Alles das muss sowohl gesammelt als auch zum Erscheinen gebracht werden. Und meiner Ansicht nach besteht die Arbeit mehr darin, diese Diskurse in ihren strategischen Verknüpfungen erscheinen zu lassen, als sie unter Ausschließung der anderen Diskurse zu konstituieren. - Sie setzen in der Geschichte der Unterdrückung einen zentralen Moment an: den Übergang von der Bestrafung zur Überwachung. - Das ist richtig. Es ist der Moment, da man erkannt hat, dass es der Ökonomie der Macht gemäß wirkungsvoller und rentabler wäre, wenn man statt zu strafen überwacht. Dieser Moment ent­ spricht der sowohl schnellen wie allmählichen Ausbildung einer neuen Art Machtausübung im 18. Jahrhundert und zu Beginn des 19. Alle Welt kennt die großen Umwälzungen, die institutionellen Neuanpassungen, die einen Wechsel der politischen Ordnung und der Art der Machtverteilungen an der Spitze des staatlichen Sys­ tems zur Folge hatten. Wenn ich jedoch an die Mechanik der Macht denke, dann denke ich an ihre kapillare Existenzform, an den Punkt, an dem die Macht den Kern der Individuen angreift, an ihre Körper rührt, sich in ihre Gesten, ihre Einstellungen, ihre Diskurse, ihr Lernen und ihr alltägliches Leben einschaltet. Das 18. Jahrhundert hat eine sozusagen synaptische Herrschaftsform der Macht und ihrer Ausübung im sozialen Körper - nicht ober­ halb des sozialen Körpers - entdeckt. Der offizielle Machtwechsel

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war an diesen Prozess gebunden, wenn auch phasenverschoben. Ein Wechsel in der Grundstruktur ermöglichte es, dass diese Ver­ änderung der kleinen Machtausübungen durchaus zusammenhän­ gend verwirklicht wurde. Und ebenso trieb die Ausformung die­ ser neuen mikroskopischen, kapillaren Macht den sozialen Körper dazu, Elemente wie den Hof und die Gestalt des Königs abzu­ stoßen. Die Mythologie des Souveräns war von dem Moment an nicht mehr möglich, da eine bestimmte Form der Macht innerhalb des sozialen Körpers ausgeübt wurde. Der Souverän wurde damit zu einer phantastischen, zugleich monströsen und archaischen Gestalt. Es besteht also eine Korrelation zwischen den beiden Prozes­ sen, es ist aber keine absolute Korrelation. Es gab in England dieselben Veränderungen der kapillaren Macht wie in Frankreich. Aber dort wurde die Gestalt des Königs zum Beispiel nicht elimi­ niert, sondern in repräsentative Funktionen abgeschoben. Man kann also nicht behaupten, die Veränderung auf der Ebene der kapillaren Macht sei unbedingt an die institutioneilen Verände­ rungen auf der Ebene der zentralisierten Formen des Staates ge­ bunden. - Sie zeigen, dass das Gefängnis seit seiner Ausbildung in der Form der Überwachung seinen eigenen Nährboden abgesondert hat, nämlich die Delinquenz. - Meine Hypothese ist, dass von Anbeginn das Gefängnis an ein Vorhaben zur Umwandlung der Individuen gebunden war. Ge­ wöhnlich glaubt man, das Gefängnis wäre eine Art Verwahrungs­ ort für Kriminelle gewesen, dessen Misslichkeiten sich beim Ge­ brauch gezeigt hätten, so dass man zu dem Schluss gekommen sei, man müsse wohl die Gefängnisse reformieren und daraus ein In­ strument für die Umwandlung der Individuen machen. Das stimmt so nicht: Die Texte, die Programme und die Absichtser­ klärungen liegen vor. Von Beginn an sollte das Gefängnis ein ebenso perfektioniertes Instrument wie die Schule oder das Spital sein und mit Präzision auf die Individuen einwirken. Das unmittelbare Scheitern wurde fast gleichzeitig mit dem Vorhaben selbst registriert. Seit 1820 stellt man fest, dass das Ge­ fängnis weit davon entfernt ist, Kriminelle in ehrliche Leute zu

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verwandeln, sondern nur dazu dient, neue Kriminelle hervorzu­ bringen oder die Kriminellen noch tiefer in der Kriminalität ver­ sinken zu lassen. Nun ist allerdings wie stets beim Mechanismus der Macht das Missliche strategisch in Gebrauch genommen wor­ den. Das Gefängnis bringt Delinquenten hervor, aber die Delin­ quenten sind letztlich nützlich, im ökonomischen wie im politi­ schen Bereich. Die Delinquenten dienen zu was. Beispielsweise mit dem Profit, den man aus der Ausbeutung der sexuellen Lust schlagen kann: Dies ist im 19. Jahrhundert die Errichtung des großen Gebäudes der Prostitution, die nur dank der Delinquenten möglich war, die das Verbindungsglied zwischen der alltäglichen und kostspieligen sexuellen Lust und der Kapitalisierung stellten. Ein anderes Beispiel: Alle Welt weiß, dass Napoleon III. die Macht dank einer Gruppe ergreifen konnte, die zumindest auf der untersten Ebene aus, nach allgemeinem Recht, Delinquenten bestand. Und man braucht nur die Furcht und den Hass zu sehen, den die Arbeiter des 19. Jahrhunderts gegenüber den Delinquen­ ten verspürten, um zu verstehen, dass diese in den politischen und sozialen Kämpfen gegen sie für Überwachungs- und Unterwan­ derungsaufgaben, zur Verhinderung von Streiks oder als Streik­ brecher eingesetzt wurden, usw. - Kurz gesagt, nicht erst die Amerikaner im 20. Jahrhundert ha­ ben als Erste die Mafia für diese Art von Arbeit eingesetzt. - Keineswegs. - Es gab außerdem das Problem der Strafarbeit: Die Arbeiter fürchteten eine Konkurrenz, eine schlecht bezahlte Arbeit, die ih­ ren Lohn ruiniert hätte. - Vielleicht. Allerdings frage ich mich, ob die Strafarbeit nicht genau deshalb eingerichtet wurde, um zwischen den Delinquen­ ten und den Arbeitern diese für das allgemeine Funktionieren des Systems so wichtige Uneinigkeit auszubilden. Die Bourgeoisie fürchtete diese mit einem Lächeln begangene und tolerierte Unge­ setzlichkeit, wie man sie aus dem 18. Jahrhundert kannte. Es ist keine Übertreibung: Die Bestrafungen im 18. Jahrhundert waren von einer großen Grausamkeit. Dennoch wurden die Kriminellen,

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zumindest manche unter ihnen, von der Bevölkerung durchaus toleriert. Es gab keine autonome Klasse von Delinquenten. Je­ mand wie Mandrin wurde in den Orten, die er durchquerte, von der Bourgeoisie und von der Aristokratie genauso empfangen wie von der Bauernschaft, und von aller Welt geschützt. Doch von dem Moment an, da die Kapitalisierung einen investierten Reich­ tum in Form von Rohstoffen, Maschinen und Werkzeugmaschi­ nen in die Hände der Volksklassen legte, musste dieser Reichtum unbedingt geschützt werden. Denn die industrielle Gesellschaft verlangt, dass der Reichtum nicht direkt in den Händen derer liegen darf, die ihn besitzen, sondern in denen derer, die es er­ möglichen, daraus Profit zu schlagen, indem sie ihn arbeiten las­ sen. Wie lässt sich dieser Reichtum schützen? Natürlich durch eine strenge Moral: deshalb diese gewaltige Welle einer Moralisierung, die von oben herab über die Bevölkerung des 19. Jahr­ hunderts hereinbrach. Sehen Sie sich die gewaltigen Christiani­ sierungskampagnen bei den Arbeitern an, die zu jener Zeit stattfanden, Es galt, das Volk ganz und gar als ein moralisches Subjekt zu konstituieren, es also von der Delinquenz zu trennen, es also eindeutig von der Gruppe der Delinquenten zu trennen, sie als gefährlich nicht nur für die reichen Leute, sondern auch für die armen Leute auszuweisen, sie als mit sämtlichen Lastern beladen und als Anstifter zu größten Verderbnissen auszuweisen. Daher die Entstehung der Kriminalliteratur und die Wichtigkeit der ver­ mischten Nachrichten, der schrecklichen Verbrechensberichte in den Zeitungen. - Sie zeigen,, dass die armen Klassen die Hauptopfer der Delin­ quenz waren. - Und je mehr sie zu Opfern wurden, desto größer wurde ihre Angst. - Doch in diesen Klassen rekrutierte man sie. - Ja, und das Gefängnis war das große Rekrutierungsinstrument. Sobald jemand ins Gefängnis kam, setzte ein Mechanismus ein, der ihn niederträchtig machte; und wenn er dann herauskam, konnte er nichts anderes tun, als wieder delinquent zu werden.

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Zwangsläufig geriet er in das System, das aus ihm entweder einen Zuhälter oder einen Polizisten, oder einen Spitzel machte. Das Gefängnis professionalisierte. Anstelle der nomadischen Banden, die im 18. Jahrhundert das Land durchzogen und die oft mit gro­ ßer Grausamkeit vorgingen, hat man nun dieses fest geschlossene, gut von der Polizei unterwanderte, im Wesentlichen städtische delinquente Milieu, das politisch nützlich und ökonomisch nicht zu vernachlässigen ist. - Sie merken zu Recht any dass die Strafarbeit diese Besonderheit hat, dass sie zu nichts dient Man fragt sich daraufhin, welche Rolle sie in der allgemeinen Ökonomie hat. - Ursprünglich soll mit der Strafarbeit nicht dieser oder jener Beruf, sondern die Tugend der Arbeit selbst erlernt werden. Ar­ beiten ohne Arbeitsinhalt, arbeiten, um zu arbeiten, sollte den Individuen die ideale Gestalt des Arbeiters nahebringen. Dies mag vielleicht nur ein Trugbild gewesen sein; von den Quäkern in Amerika (Aufbau der workhouses) und den Holländern wurde es jedoch perfekt als Programm entworfen und ausgeführt. Ab 1835-1840 wurde dann deutlich, dass man die Delinquenten gar nicht geradebiegen und tugendhaft machen, sondern in einem klar bestimmten und erfassten Milieu versammeln wollte, das eine Waffe für ökonomische oder politische Zwecke sein konnte. Das Problem war nun nicht, ihnen etwas beizubringen, sondern im Gegenteil, ihnen nichts beizubringen, um sicher zu sein, dass sie nichts würden tun können, wenn sie aus dem Gefängnis kom­ men. Der nichtsnutzige Charakter der Strafarbeit, der anfangs an ein genau bestimmtes Vorhaben gebunden war, dient jetzt einer anderen Strategie. - Meinen Sie nicht, dass man heute, und das ist ein auffälliges Phänomen, wieder von der Ebene der Delinquenz auf die Ebene des Verstoßes, der Ungesetzlichkeit zurückwechselt und so den gegenüber dem 18. Jahrhundert umgekehrten Weg einschlägt? - Ich glaube in der Tat, dass die massive Ablehnung des Delin­ quenten durch die Bevölkerung, die Moral und Politik des 19. Jahrhunderts einzuführen versucht hatten, allmählich abbrö-

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ekelt. Mehr und mehr werden bestimmte Formen des Ungesetz­ lichen und Regelwidrigen hingenommen. Und zwar nicht nur diejenigen, die einst geduldet oder hingenommen wurden, wie die fiskalischen oder finanziellen Regelwidrigkeiten, mit denen die Bourgeoisie die besten Beziehungen erlebt und unterhalten hat. Sondern die Regelwidrigkeit, die beispielsweise darin besteht, etwas in einem Laden zu stehlen. - Aber ist nicht genau dadurch, dass die ersten, die fiskalischen und finanziellen Regelwidrigkeiten allgemein bekannt wurden, die generelle Einstellung gegenüber »kleinen Regelwidrigkeiten« verändert worden? Vor einiger Zeit verglich eine Statistik aus Le Monde den beträchtlichen ökonomischen Schaden, den Erstere an­ gerichtet hatten, und die wenigen Monate oder Jahre Gefängnis, womit sie geahndet worden wareny mit dem geringfügigen öko­ nomischen Schaden der zweiten Gruppe (darin die gewaltsamen Regelwidrigkeiten wie Überfälle inbegriffen) und der beträcht­ lichen Anzahl an Jahren Gefängnis, die sie ihren Urhebern einge­ bracht hatten. Und der Artikel brachte das Gefühl zum Ausdruck, dass diese Ungleichheit ein Skandal sei - Das ist eine heikle Frage, die derzeit in den Gruppen ehemaliger Delinquenten diskutiert wird. Es ist sehr wahr, dass im Bewusst­ sein der Leute, aber auch im derzeitigen ökonomischen System eine bestimmte Marge von Ungesetzlichkeit als nicht kostenträch­ tig und vollkommen hinnehmbar gilt. In Amerika weiß man, dass der Überfall ein permanentes Risiko für alle großen Läden ist. Man beziffert die ungefähren Kosten und stellt fest, dass die Kos­ ten für Überwachung und Schutz, wenn sie wirksam sein sollen, deutlich höher wären, sich also nicht rentieren würden. Man lässt es geschehen. Die Versicherungen decken das ab, das alles ist Teil des Systems. Hat man es bei dieser Ungesetzlichkeit, die sich derzeit aus­ zubreiten scheint, mit einer Infragestellung der Teilungslinie zwi­ schen einem tolerierbaren und tolerierten Verstoß und einer entehrenden Delinquenz oder hat man es mit einer schlichten Lockerung des Systems zu tun, das sich seiner Festigkeit gewiss ist und an seinen Rändern etwas akzeptieren kann, von dem es in letzter Instanz auf keinen Fall infrage gestellt wird?

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Darüber hinaus gibt es zweifellos eine Veränderung im Verhält­ nis der Leute zum Reichtum. Die Bourgeoisie hat gegenüber dem Reichtum nicht mehr diese Besitzbindung, die sie im 19. Jahrhun­ dert hatte. Der Reichtum ist nicht mehr das, was man besitzt, sondern das, wovon man profitiert. Die Beschleunigung im Fluss des Reichtums, seine immer größeren Zirkulationskapazitäten, der Verzicht auf die Hortung, die Praxis der Verschuldung, die Verminderung des Anteils der Grundbesitzwerte am Vermögen sorgen dafür, dass den Leuten der Diebstahl nicht skandalöser erscheint als die Gaunerei oder der Steuerbetrug. - Es gibt noch eine weitere Veränderung: Der Diskurs über die Delinquenz, die umstandslose Verurteilung im 19. Jahrhundert (»er stiehlt, weil er bösartig ist«), wird heute zur Erklärung (»er stiehlty weil er arm ist«), und auch: Es ist schlimmer, wenn man stiehlt und man ist reich, als wenn man stiehlt und arm ist. - Das gibt es. Und wenn es nur das wäre, so könnte man viel­ leicht beruhigt und optimistisch sein. Doch gibt es nicht, ver­ mischt damit, einen erklärenden Diskurs, der wiederum eine ge­ wisse Anzahl von Gefahren beinhaltet? Er stiehlt, weil er arm ist, aber Sie wissen auch, dass nicht alle Armen stehlen. Folglich muss bei dem dort, der da stiehlt, etwas nicht in Ordnung sein. Dieses Etwas, das ist sein Charakter, sein psychisches Wesen, seine Er­ ziehung, sein Unbewusstes, sein Begehren. Also wird der Delin­ quent einer Straftechnologie überstellt, und das ist das Gefängnis, oder einer medizinischen Technologie, und zwar, wenn nicht dem Irrenhaus, dann zumindest einer Betreuung durch verantwort­ liche Personen. - Ebenso dürfte die Verbindung, die Sie zwischen Technik und Repression in Strafvollzug und Medizin hersteilen, für manche einen Skandal darstellen. - Sie wissen, dass man noch in fünfzehn Jahren vielleicht einen Skandal hervorrufen würde, indem man solche Dinge sagt. Ich habe festgestellt, dass mir die Psychiater selbst heute noch die Histoire de la folie [dt. Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1969] nicht verziehen haben. Es ist keine vierzehn Tage

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her, dass ich noch einen Brief mit Schmähungen erhalten habe. Aber ich nehme an, dass diese Art Analyse, welche Verletzung sie vor allem bei den Psychiatern noch verursachen kann, die seit so langer Zeit ihr schlechtes Gewissen mit sich herumschleppen, heute besser aufgenommen wird. - Sie zeigen, dass das medizinische System stets die Gehilfin des Strafsystems war und selbst heute noch ist, wo der Psychiater mit dem Richter; dem Gericht und dem Gefängnis zusammenarbei­ tet. Für einige jüngere Ärzte, die sich von diesen Kompromittie­ rungen zu befreien versucht haben, ist diese Analyse vielleicht ungerecht. - Vielleicht. Im Übrigen habe ich in Surveiller et punir [dt. Über­ wachen und Strafen, Frankfurt am Main 1977] bloß einige Weg­ marken abgesteckt. Ich bereite derzeit eine Arbeit über die psy­ chiatrischen Gutachten im Bereich Strafvollzug vor. Ich werde Dossiers veröffentlichen, die zu einem Teil bis ins 19. Jahrhundert zurückgehen, ansonsten aber eher aus unserer Zeit stammen, und die eigentlich verblüffend sind. - Sie unterscheiden zwei Delinquenzen: diejenige, die in der Po­ lizei endet, und diejenige, die ins Ästhetische umschlägt, Vidocq und Lacenaire. - Ich habe meine Analyse mit jenen i84oer-Jahren, die mir äu­ ßerst bedeutsam erschienen, beendet. In dieser Zeit beginnt das lange Konkubinat von Polizei und Delinquenz. Man hat eine erste Bilanz über das Scheitern des Gefängnisses gezogen; man weiß, dass das Gefängnis nicht umformt, sondern im Gegenteil Delin­ quenz und Delinquenten erzeugt, und genau zu der Zeit entdeckt man die Vorteile, die sich aus dieser Erzeugung ziehen lassen. Diese Delinquenten können zu etwas dienen, und wäre es nur, die Delinquenten zu überwachen. Vidocq ist dafür äußerst be­ zeichnend. Er stammt aus dem 18. Jahrhundert, aus der Periode von Revolution und Kaiserreich, und er war damals Schmuggler, ein klein bisschen Zuhälter und Deserteur. Er gehörte zu jenen Nomaden, die durch die Städte, Landstriche und Armeen zogen, in ihnen verkehrten. Eine Kriminalität alten Stils. Dann wurde er

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vom System aufgesogen. Er ging ins Zuchthaus und kam als Spit­ zel heraus, wurde Polizist und schließlich Chef der Sicherheit. Und er ist symbolisch der erste große Delinquent, der als Delin­ quent vom Apparat der Macht benutzt wurde. Lacenaire dagegen ist das Zeichen für ein anderes Phänomen, das sich von Ersterem unterscheidet, aber damit in Verbindung steht: das Phänomen des ästhetischen und literarischen Interesses, das man dem Verbrechen entgegenzubringen beginnt, die ästhe­ tische Heroisierung des Verbrechens. Bis ins 18. Jahrhundert wur­ den die Verbrechen nur auf zweierlei Weise heroisiert: auf litera­ rische Art, wenn es die Verbrechen eines Königs waren und weil es die Verbrechen eines Königs waren, oder auf eine volkstümli­ che Art, die man in den »Zeitungen« [»canards«], den fliegenden Blättern vorfindet, die die Heldentaten eines Mandrin oder eines großen Mörders berichten. Zwei Genres, die keineswegs mitei­ nander in Verbindung standen. Um 1840 herum taucht der kriminelle Held auf, der Held ist, weil er kriminell ist, und der weder aristokratisch noch volkstüm­ lich ist. Die Bourgeoisie gibt sich nun ihre eigenen kriminellen Helden. Im selben Moment kommt es zum Bruch zwischen den Kriminellen und den Klassen des Volkes: Der Verbrecher darf kein Volksheld sein, er muss ein Feind der armen Klassen sein. Die Bourgeoisie bildet ihrerseits eine Ästhetik aus, in der das Verbre­ chen nicht mehr volkstümlich, sondern eine jener schönen Künste ist, zu denen sie allein fähig ist. Lacenaire ist der Typus dieses neuen Verbrechers. Er ist von bürgerlicher bzw. kleinbürgerlicher Herkunft. Seine Eltern betrieben unlautere Geschäfte, aber er wur­ de gut erzogen, war im Kollegium, kann lesen und schreiben. So konnte er in seinem Milieu die Rolle eines leader übernehmen. Bezeichnend ist, wie er von anderen Delinquenten spricht: Sie waren die groben, niederträchtigen und ungeschickten Tiere. La­ cenaire dagegen war das kluge und kalte Hirn. So wird der neue Held aufgebaut, der in allem seine Zugehörigkeit zur Bourgeoisie beweist und verbürgt. Dies führt uns schließlich zu Gaboriau und zum Kriminalroman, in dem der Verbrecher stets aus der Bour­ geoisie stammt. Im Kriminalroman trifft man niemals auf einen aus dem gemeinen Volk stammenden Verbrecher. Der Kriminelle ist stets intelligent, er spielt mit der Polizei eine Art Spiel mit gleichen Ausgangsbedingungen. Das Amüsante daran ist, dass Lacenaire in

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Wirklichkeit kläglich, lächerlich und ungeschickt war. Er hatte immer davon geträumt zu töten, es aber nie geschafft. Das Einzige, was er hinbekam, war das Erpressen der Homosexuellen, die er im Bois de Boulogne anhaute. Das einzige Verbrechen, das er began­ gen hatte, waren irgendwelche Schweinereien an einem kleinen Alten im Gefängnis. Und um ein Haar wäre Lacenaire von seinen Haftgenossen in La Force getötet worden, weil sie ihm, zweifellos zu Recht, vorwarfen, ein Spitzel zu sein. - Wenn Sie behaupten, die Delinquenten seien nützlich, kann man dann nicht annehmenyfür viele gehöre die Delinquenz eher zur Natur der Dinge als zur politisch-ökonomischen Notwendigkeit? Denn man könnte meinen, für eine industrielle Gesellschaft sei die Delinquenz eine weniger rentable Arbeitskraft als die des Arbeiters. - So um die i84oer~Jahre sind die Arbeitslosigkeit und die teil­ weise Beschäftigung eine der Bedingungen der Ökonomie. Ar­ beitskräfte waren im Überfluss zu haben. Die Annahme jedoch, die Delinquenz sei ein Teil der Ordnung der Dinge, zählt zweifellos mit zum zynischen Verständnis des bürgerlichen Denkens am Ende des 19. Jahrhunderts. Man musste schon so naiv sein wie Baudelaire, um sich vorzustellen, die Bour­ geoisie sei dumm und zimperlich. Sie ist intelligent und zynisch. Man muss nur lesen, was sie über sich selbst sagte, und, besser noch, was sie über die anderen sagte. Von einer Gesellschaft ohne Delinquenz träumte man am Ende des 18. Jahrhunderts. Und das war’s dann auch! Die Delinquenz war zu nützlich, als dass man von so etwas Törichtem und letzt­ lich auch Gefährlichem wie einer Gesellschaft ohne Delinquenz träumen konnte. Ohne Delinquenz keine Polizei. Denn was macht die Polizeipräsenz, die polizeiliche Kontrolle für die Be­ völkerung ertragbar, wenn nicht die Furcht vor dem Delinquen­ ten? Sie sprechen von einem ungeheuren Glücksfall. Diese der­ maßen junge und dermaßen erdrückende Einrichtung der Polizei wird allein dadurch begründet. Wie sollte es denn möglich sein, dass wir in unserer Mitte diese Leute dulden, die uniformiert und bewaffnet sind - wozu wir dagegen nicht das Recht haben -, die uns nach unseren Papieren fragen, die vor unserer Türschwelle herumlungern, wenn es nicht die Delinquenten gäbe? Und wenn

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es nicht alle Tage in den Zeitungen Artikel gäbe, in denen man uns berichtet, wie zahlreich und wie gefährlich die Delinquenten sind? - Sie gehen sehr hart mit der Kriminologie, ihrem »geschwätzigen Diskurs«y ihrer »Wiederkäuerei« um. - Haben Sie irgendwann einmal kriminologische Texte gelesen? Das haut sie um. Und ich sage dies mit Erstaunen, nicht aggressiv, weil ich es einfach nicht verstehenkann, wie dieser Diskurs der Kriminologie dabei stehenbleiben konnte. Man hat den Eindruck, der Diskurs der Kriminologie sei von einer solchen Nützlichkeit, werde vom Funktionszusammenhang des Systems so stark benö­ tigt und so notwendig gemacht, dass er sich gar nicht einmal mehr eine theoretische Rechtfertigung oder auch einfach nur eine Ko­ härenz oder ein Gerüst zu geben braucht. Es ist ausschließlich nützlich. Und ich glaube, man muss versuchen herauszubekom­ men, warum ein »wissenschaftlicher« Diskurs für das Funktionie­ ren des Strafvollzugs im 19. Jahrhundert so notwendig gemacht wurde. Er wurde dies aufgrund jenes Alibis, das seit dem 17. Jahr­ hundert funktioniert, wonach man jemandem eine Strafe nicht deshalb auferlegt, um ihn für das zu bestrafen, was er getan hat, sondern um ihn in das zu verwandeln, was er ist. Seitdem ist das Richten im strafrechtlichen Sinne, das heißt jemandem zu verkün­ den: Man wird dir den Kopf abschneiden oder dich ins Gefängnis stecken oder dir eine Buße erteilen, weil du dieses oder jenes getan hast, ein Akt, der keinerlei Bedeutung mehr hat. Sobald man die Idee einer Vergeltung wegstreicht, die einst die Tat des Souveräns, des durch das Verbrechen in seiner Souveränität angegriffenen Souveräns war, kann die Bestrafung eine Bedeutung nur noch innerhalb einer Technologie der Umformung haben. Und die Richter selbst* sind, ohne es zu wollen und ohne sich dessen über­ haupt klar zu werden, Schritt für Schritt von einem Urteil, das noch Strafkonnotationen enthielt, zu einem Urteil übergegangen, das sie in ihrem eigenen Vokabular nur unter der Bedingung rechtfertigen können, dass es eine Verwandlung des Individuums bewirke. Doch von den Instrumenten, die man ihnen gab, der Todesstrafe, einst auch dem Zuchthaus mit Zwangsarbeit, heute der Zuchthaus- oder Haftstrafe, weiß man genau, dass sie keine Verwandlung bewirken, woraus sich die Notwendigkeit ergibt,

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sich an die Leute zu wenden, die über das Verbrechen und die Verbrecher einen Diskurs halten, der die fraglichen Maßnahmen wird rechtfertigen können, - Alles in allem ist der kriminologische Diskurs allein dazu da, den Richtern so etwas wie ein gutes Gewissen zu vermitteln? - Ja. Oder besser, er ist unerlässlich, um es zu ermöglichen zu richten. - In Ihrem Buch über Pierre Rivière spricht und schreibt ein Ver­ brecher. Doch im Unterschied zu Lacenaire ist er mit seinem Ver­ brechen bis zum Äußersten gegangen. Zunächst einmalywie haben Sie diesen erstaunlichen Text gefunden? - Per Zufall. Bei der systematischen Durchsicht der rechtsmedi­ zinischen, psychiatrischen Gutachten im Bereich Strafvollzug in den Zeitschriften des 19. und des 20. Jahrhunderts. - Denn es ist sehr.; sehr selten, dass ein ungebildeter oder sehr wenig gebildeter Bauer sich die Mühe macht, so um die vierzig Seiten aufzuschreiben, um sein Verbrechen zu erklären und zu berichten. - Das ist eine ganz merkwürdige Geschichte. Man kann aller­ dings sagen, und das ist mir aufgefallen, dass unter diesen Um­ ständen das Aufschreiben des eigenen Lebens, der eigenen Erin­ nerungen und dessen, was einem widerfahren war, eine Praxis darstellte, für die man eine Vielzahl von Zeugnissen findet, und zwar gerade in den Gefängnissen. Ein gewisser Appert, einer der ersten Philanthropen, der zahlreiche Zuchthäuser und Gefäng­ nisse aufsuchte, ließ die Häftlinge ihre Memoiren schreiben und hat einige Bruchstücke daraus veröffentlicht.3 In Amerika findet man auch Ärzte und Richter in dieser Rolle. Das war die erste große Neugierde, die diesen Individuen galt, die man zu verwan­ deln wünschte, und für deren Verwandlung man sich ein be­ stimmtes Wissen und eine bestimmte Technik verschaffen musste. Diese Neugierde für den Verbrecher gab es in keiner Weise im 3 [Appert, B., Prisons et Criminels, Paris 1836.]

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18. Jahrhundert, wo es einfach nur darum ging herauszubekom­ men, ob der Beschuldigte das wirklich getan hatte, was man ihm vorwarf. War das festgestellt, so stand der Tarif fest. Die Frage: Was ist das für ein Individuum, das dieses Verbre­ chen begangen hat?, ist eine neue Frage. Sie reicht freilich zur Erklärung der Geschichte von Pierre Rivière nicht aus. Denn Pierre Rivière hatte, und das sagt er ganz ausdrücklich, anfangen wollen, sein Mémoire zu schreiben, bevor er sein Verbrechen be­ gingWir haben in diesem Buch auf keinen Fall eine psychologische, psychoanalytische oder linguistische Analyse von Pierre Rivière betreiben, sondern die medizinische und gerichtliche Maschinerie sichtbar machen wollen, die diese Geschichte umgab. Was das Weitere betrifft, überlassen wir es den Psychoanalyti­ kern und den Kriminologen, sich dazu zu äußern. Erstaunlich ist, dass dieser Text, zu dem sie seinerzeit schon ihre Stimme nicht erhoben, sie auch heute genauso stumm bleiben ließ. - Ich habe in Histoire de la folie [dt. Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1969] einen Satz wieder entdeckt, in dem sagen Sie, es komme darauf an, »die historischen Chronologien und Abfolgen von jeder Fortschrittsperspektive zu befreien«. - Das ist etwas, das ich den Historikern der Wissenschaften ver­ danke. Ich habe diese methodische Vorsicht, diesen radikalen, aber nicht aggressiven Skeptizismus, der es sich zum Grundsatz macht, den Punkt, an dem wir uns befinden, nicht für den End­ punkt eines Fortschritts zu halten, den man in der Geschichte präzise nachzuvollziehen hätte, das heißt, ich habe im Hinblick auf uns selbst, auf unsere Gegenwart, auf das, was wir sind, auf das Hier und Heute diesen Skeptizismus, der verhindert, dass man unterstellt, es sei besser, oder es sei mehr. Was nicht heißen soll, dass man nicht versucht, Entstehungsprozesse nachzuvollziehen, doch eben ohne sie mit einer Positivität, einer Bewertung zu ver­ sehen. - Während die Wissenschaft lange Zeit von dem Postulat ausging, dass die Menschheit auf dem Weg des Fortschritts sei.

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- Die Wissenschaft? Eher die Geschichte der Wissenschaft. Und ich behaupte auch nicht, dass die Menschheit keine Fortschritte mache. Ich behaupte, dass es von schlechter Methode zeugt, wenn man das Problem so stellt: Wie ist es dazu gekommen, dass wir Fortschritte gemacht haben? Das Problem ist: Wie ereignet es sich? Und das, was sich jetzt ereignet, ist nicht zwangsläufig bes­ ser oder besser ausgearbeitet oder besser aufgeklärt als das, was sich einst ereignet hat. - Ihre Forschungen beziehen sich auf banale oder banalisierte Dinge, weil sie nicht gesehen werden. Mich hat zum Beispiel über­ rascht, dass die Gefängnisse in den Städten sind, und dass niemand sie sieht. Oder dass man sich, wenn man sie sieht, zerstreut fragt, ob es sich um ein Gefängnis, eine Schule, eine Kaserne oder um ein Krankenhaus handelt, und es damit gut sein lässt. Besteht nicht genau darin das Ereignis, dass man den Leuten das in die Augen springen lässt, was niemand sah? Und so gewissermaßen auch in äußerst detaillierten Studien etwa die Lage des Steuersystems und der Bauernschaft des unteren Languedoc zwischen 1880 und 1882 als ein wichtiges Phänomen, auf das wie auf das Gefängnis niemand achtete. - Einerseits ist die Geschichtswissenschaft stets so vorgegangen. Dass man das zum Vorschein bringt, was nicht gesehen wurde, kann dem Gebrauch eines Instruments zur Vergrößerung ver­ dankt sein, und dass man, anstatt die Institutionen der Monarchie zwischen dem 16. und dem Ende des 18. Jahrhunderts zu unter­ suchen, die Einrichtung des soundsovielten Rates zwischen dem Tod von Henri IV. und der Thronbesteigung von Louis X III. vollständig untersuchen kann. Man ist damit zwar im selben Ge­ genstandsbereich geblieben, aber der Gegenstand hat sich vergrö­ ßert. Aber das sehen zu lassen, was nicht gesehen wurde, das kann heißen, dass man die Ebene verschiebt, sich an eine Ebene wendet, die bis dahin historisch nicht einschlägig war, die keine Bewertung hatte, weder moralisch noch ästhetisch, noch politisch, noch historisch. Dass die Art und Weise, wie man die Wahnsinnigen behandelt, einen Teil der Geschichte der Vernunft ausmacht, ist heute evident. Aber das war es nicht vor fünfzig Jahren, als die

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Geschichte der Vernunft Platon, Descartes und Kant oder aber Archimedes, Galilei und Newton war. - Zumal es zwischen Vernunft und Unvernunft ein Spiegelspiel, eine schlichte Antinomie gibt. Die nicht existiert, wenn Sie schrei­ ben: »Man schreibt die Geschichte der Erfahrungen an den Blind­ geborenen, den Wolfskindern oder der Hypnose. Aber wer wird die allgemeinere, verschwommenere, aber auch bestimmendere Geschichte der Prüfung schreiben... Denn in diese winzige Tech­ nik findet sich ein ganzer Wissensbereich und ein ganzer Macht­ typus eingebunden.« - Allgemein gesehen sind die Mechanismen der Macht in der Ge­ schichte niemals sehr genau erforscht worden. Man hat die Leute erforscht, die die Macht innehatten. Das war dann die anekdoti­ sche Geschichte der Könige und der Generäle. Der man die Ge­ schichte der Prozesse und der ökonomischen Infrastrukturen ent­ gegengesetzt hat. Dieser wiederum hat man eine Geschichte der Institutionen entgegengesetzt, das heißt eine Geschichte dessen, was man im Verhältnis zur Ökonomie als Überbau [»superstruc­ ture«] betrachtet. Die Macht jedoch in ihren allgemeinen und zu­ gleich feinen Strategien, in ihren Mechanismen ist niemals sehr genau erforscht worden. Und noch weniger wurden die Bezüge zwischen der Macht und dem Wissen, die Einwirkungen des einen auf das andere erforscht. Man nimmt an, und dies ist uns vom Humanismus überliefert worden, dass man, sobald man an die Macht rührt, zu wissen aufhört: Die Macht lässt einen verrückt werden; und diejenigen, die regieren, sind blind. Und allein die­ jenigen, die sich von der Macht fern halten, die in nichts mit der Tyrannei verbunden sind, eingeschlossen in ihren warmen Zim­ mern, in ihrer Kammer, ihren Meditationen, allein diese können die Wahrheit entdecken. Nun habe ich allerdings den Eindruck, dass eine durchgehende Verknüpfung der Macht mit dem Wissen und des Wissens mit der Macht besteht, und das habe ich darzulegen versucht. Man darf sich nicht mit der Behauptung zufrieden geben, die Macht brau­ che diese oder jene Entdeckung, diese oder jene Form des Wis­ sens, richtig ist vielmehr, dass die Ausübung der Macht Wissens­ gegenstände erschafft, sie entstehen lässt, Informationen anhäuft

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und verwendet. Man kann nichts verstehen vom ökonomischen Wissen, wenn man nicht weiß, wie die Macht und zwar die öko­ nomische Macht sich in ihrer Alltäglichkeit ausübt. Die Aus­ übung der Macht erschafft ständig Wissen und umgekehrt; das Wissen hat Machtwirkungen zur Folge. Das universitäre Manda­ rinentum ist nur die sichtbarste, die skierotischste und am wenigs­ ten gefährliche Form dieser Evidenz. Man muss schon ziemlich naiv sein, wenn man sich vorstellt, im universitären Mandarin würden die mit dem Wissen verbundenen Machtwirkungen zu­ sammenlaufen. Sie sind anderswo, auf andere Weise verstreut, verankert und gefährlich als in der Gestalt des alten Profs. Der moderne Humanismus täuscht sich also, wenn er diese Teilung zwischen Wissen und Macht ansetzt. Sie sind integriert, und es geht nicht darum, von einem Augenblick zu träumen, an dem das Wissen nicht länger von der Macht abhängen würde, was nichts anderes bedeutet, als dass man denselben Humanismus in Gestalt einer Utopie weiterbetreibt. Es ist nicht möglich, dass die Macht ohne Wissen ausgeübt wird, es ist nicht möglich, dass das Wissen keine Macht erzeugt. »Befreien wir die wissenschaftliche Forschung von den Anforderungen des monopolistischen Kapi­ talismus«: das ist vielleicht ein exzellenter Slogan, es wird aber auch immer nur ein Slogan sein. - Gegenüber Marx und dem Marxismus scheinen Sie eine gewisse Distanz einzunehmen, was man Ihnen bereits mit Bezug auf L’Archéologie du savoir [dt. Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1973] vorgeworfen hatte. - Zweifellos. Aber es gibt auch von meiner Seite aus eine Art Spiel. Es passiert mir oft, dass ich Begriffe, Sätze und Texte von Marx zitiere, aber ohne dass ich mich verpflichtet fühle, dem das kleine, die Echtheit besiegelnde Stückchen hinzuzufügen, das da­ rin besteht, ein Marx-Zitat zu machen, sorgfältig den Stellennach­ weis an den Fuß der Seite zu setzen und dem Zitat eine lobreiche Reflexion hinzuzugesellen. Wenn man dies tut, wird man als je­ mand angesehen, der Marx kennt, der Marx verehrt und der es dann erleben wird, von den so genannten marxistischen Zeit­ schriften gerühmt zu werden. Ich zitiere Marx, ohne es zu sagen, ohne Anführungszeichen zu setzen, und da sie nicht fähig sind,

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die Marxtexte zu erkennen, gelte ich als jemand, der Marx nicht zitiert. Empfindet ein Physiker, wenn er Physik betreibt, das Be­ dürfnis, Newton oder Einstein zu zitieren? Er gebraucht sie, aber er braucht keine Anführungszeichen, Fußnoten oder eine lobrei­ che Billigung, die beweist, wie sehr er dem Denken des Meisters treu ist. Und da die anderen Physiker wissen, was Einstein ge­ macht, was er erfunden und nachgewiesen hat, erkennen sie das im Vorübergehen. Es ist unmöglich, derzeit Geschichte zu schrei­ ben, ohne einen Rattenschwanz von direkt oder indirekt mit dem Marx'schen Denken verbundenen Begriffen zu verwenden und ohne sich in einen Horizont zu versetzen, der von Marx beschrie­ ben und definiert wurde. Letztlich könnte man sich fragen, wel­ cher Unterschied darin liegen könnte, Historiker zu sein und Marxist zu sein. - Um Astruc zu paraphrasieren, der sagte: das amerikanische Ki­ no, welch ein Pleonasmus, könnte man sagen: der marxistische Historiker,; welch ein Pleonasmus. - So ungefähr. Und innerhalb dieses durch Marx definierten und codierten allgemeinen Horizonts beginnt dann die Diskussion. Mit denen, die dahergehen und sich zu Marxisten erklären, weil sie diese Art Spielregel einhalten, welche nicht die des Marxismus, sondern der Kommunistologie ist, das heißt definiert von den kommunistischen Parteien, die die Art und Weise anzeigen, wie man Marx verwenden darf, um ein von ihnen zu einem solchen erklärter Marxist zu sein. - Und wie verhält es sich mit Nietzsche f Ich hin überrascht über seine verstreute, aber immer stärkere Anwesenheit, die letztlich im Gegensatz zu9der seit etwa zehn Jahren im Denken und Fühlen unserer Zeit geltenden Hegemonie von Marx steht. - Nun, wenn es um Nietzsche geht, bleibe ich stumm. Zu der Zeit, als ich Prof war, habe ich oft Vorlesungen über ihn gehalten, aber heute würde ich das nicht mehr tun. Wenn ich unbescheiden wäre, würde ich dem, was ich tue, den allgemeinen Titel geben: Genealogie der Moral. Nietzsche ist derjenige, der als wesentliche Zielscheibe, sagen

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wir, für den philosophischen Diskurs das Machtverhältnis ausge­ geben hat. Während es für Marx das Produktionsverhältnis war. Nietzsche ist der Philosoph der Macht, dem es indes gelungen ist, die Macht zu denken, ohne sich dazu innerhalb einer politischen Theorie einschließen zu müssen. Nietzsches Anwesenheit wird von Mal zu Mal wichtiger. Doch langweilt mich die Aufmerksamkeit, die man ihm entgegenbringt, um über ihn dieselben Kommentare abzugeben, die man über Hegel oder Mallarmé abgegeben hat oder abgeben würde. Die Leute, die ich liebe, die gebrauche ich. Das einzige Zeichen einer Anerkennung, die man gegenüber einem Denken wie dem von Nietzsche gelten lassen kann, besteht genau darin, es zu verwen­ den, es zu verformen, es knirschen und schreien zu machen. Was dagegen die Kommentatoren sagen, ob man ihm so treu ist oder nicht, ist von keinerlei Interesse. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek

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Macht und Körper » P o u v o i r e t c o r p s « , in :

Quel corps?,

N r. 2, S e p te m b e r-O k to b e r 1975,

S. 2 -5 ( G e s p rä c h v o m J u n i 1 9 7 5 ).

- In Surveiller et punir [dt. Überwachen und Strafen, Frankfurt am Main 1977] schildern Sie ein politisches System, in dem der Körper des Königs eine wesentliche Rolle spielt... - In einer Gesellschaft wie der des 17. Jahrhunderts war der Kör­ per des Königs keine Metapher, sondern eine politische Realität: Seine physische Präsenz war notwendig für das Funktionieren der Monarchie. - Und die »eine und unteilbare« Republik? - Das ist eine gegen die Girondisten, gegen die Idee eines Föde­ ralismus nach amerikanischem Muster eingesetzte Formel. Doch funktioniert sie niemals wie der Körper des Königs unter der

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Monarchie. Es gibt keinen Körper der Republik. Stattdessen wird im Verlauf des 19. Jahrhunderts der Körper der Gesellschaft zum neuen Prinzip. Und diesen Körper wird man auf eine gleichsam ärztliche Weise schützen müssen: Anstelle der Rituale, mit denen man die Integrität des Körpers des Monarchen wiederherstellte, wird man Rezepte und Therapeutika wie die Eliminierung der Kranken, die Kontrolle der Überträger ansteckender Krankheiten und die Ausschließung der Delinquenten verordnen. Die Elimi­ nierung durch die Marter wird so durch die Methoden der Asepsis ersetzt: die Kriminologie, die Eugenik, die Beseitigung der »Ent­ arteten« ... - Besteht auf der Ebene der verschiedenen Institutionen ein Kör­ perphantasma? - Ich glaube, das große Phantasma ist die Vorstellung eines aus der Universalität der Willen gebildeten sozialen Körpers. Doch nicht der Konsens bringt den sozialen Körper zum Erscheinen, sondern die Materialität der Macht über den Körper der Indivi­ duen. - Das 18. Jahrhundert wird aus dem Blickwinkel der Befreiung gesehen. Sie beschreiben es als die Einrichtung einer Erfassung. Kann das eine ohne das andere gehen? - Wie immer, wenn es um Machtverhältnisse geht, sieht man sich komplexen Phänomenen gegenüber, die nicht der hegelianischen Form der Dialektik gehorchen. Die Beherrschung des eigenen Körpers und das Bewusstsein von diesem konnten nur als Effekt der Besetzung des Körpers durch die Macht erworben werden: die Gymnastik, die Übungen, der Muskelaufbau, die Nacktheit und das Schwärmen vom schönen Körper... das alles liegt auf der Linie, die durch eine beharrliche, hartnäckige und gewissenhafte Arbeit, die die Macht am Körper der Kinder und der Soldaten und am Körper in guter gesundheitlicher Verfassung vollzog, zum Be­ gehren des eigenen Körpers führt. Doch sowie die Macht diese Wirkung hervorgerufen hat, tauchen genau auf der Linie eben dieser Errungenschaften unweigerlich der Anspruch auf den eige­ nen Körper gegenüber der Macht, die Gesundheit gegenüber der

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Ökonomie und die Lust gegenüber den sittlichen Normen der Sexualität, der Ehe und der Schamhaftigkeit auf. Und infolgedes­ sen wird das, wodurch die Macht stark war, zu dem, wodurch sie angegriffen wird... Die Macht hat sich in den Körper vorgescho­ ben, sie erfährt sich nun im Körper selbst ausgesetzt... Denken Sie nur an die panische Angst der Institutionen des sozialen Kör­ pers (Ärzte, Politiker) vor der Vorstellung der freien Vereinigung oder der Abtreibung... In Wirklichkeit ist der Eindruck, die Macht schwanke, falsch, denn sie kann sich zurückziehen, ver­ schieben und anderswo eine Besetzung vornehmen... und die Schlacht geht weiter. - Ließen sieb so auch die berüchtigten »Vereinnahmungen« des Körpers durch Pornographie und Werbung erklären? - Ich bin nicht ganz einverstanden damit, von »Vereinnahmung« zu sprechen. Es ist die normale strategische Entwicklung eines Kampfes... Nehmen wir ein bestimmtes Beispiel, das der Auto­ erotik. In Europa haben die Kontrollen der Masturbation über­ haupt erst im Verlauf des 18. Jahrhunderts eingesetzt. Plötzlich kam ein mit panischer Angst besetztes Thema auf: Eine furchtbare Krankheit breite sich in der westlichen Welt aus: Die jungen Leute masturbieren. Im Namen dieser Furcht wurde auf dem Körper der Kinder - mittels der Familien, aber ohne dass sie am Anfang standen - eine Kontrolle, eine Über vachung der Sexualität, eine Objektivierung der Sexualität nebst einer Verfolgung der Körper errichtet. Doch indem die Sexualität so zum Gegenstand der Be­ sorgnis und der Analyse sowie zur Zielscheibe der Überwachung und der Kontrolle wurde, brachte sie zugleich die Intensivierung der Begierden eines jeden nach, in und auf seinem eigenen Körper hervor... Der Körper wurde so zum Einsatz eines Kampfes zwischen den Kindern und den Eltern, zwischen dem Kind und den Kontrollinstanzen. Die Revolte des geschlechtlichen Körpers ist die Ge­ genwirkung dieses Vorrückens. Wie antwortet darauf die Macht? Mit einer ökonomischen (und vielleicht auch ideologischen) Aus­ beutung der Erotisierung, von den Erzeugnissen zur Sonnenbräu­ nung bis hin zu den Pornofilmen... Eben als Antwort auf die Revolte des Körpers hat man es nun mit einer neuen Besetzung

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zu tun, die sich nicht mehr in Form einer repressiven Kontrolle, sondern einer stimulierenden Kontrolle darstellt: »Zeige dich nackt*., aber sei schlank, schön und gebräunt!« Auf jede Bewe­ gung eines der beiden Widersacher antwortet der andere mit einer Bewegung. Doch handelt es sich dabei nicht um eine »Vereinnahmung« in dem von den Linksradikalen gemeinten Sinne. Man muss die Endlosigkeit des Kampfes akzeptieren... Was nicht hei­ ßen soll, dass er nicht eines Tages enden wird... - Geht eine neue revolutionäre Strategie zur Machtübernahme nicht über eine Neubestimmung einer Politik des Körpers? - Im Ablauf eines politischen Prozesses - ich weiß nicht, ob es ein revolutionärer ist - ist das Problem des Körpers immer be­ harrlicher hervorgetreten. Man kann sagen, dass das, was seit 1968 geschehen ist - und wahrscheinlich auch dessen Vorbereitung -, zutiefst antimarxistisch war. Wie werden sich die europäischen revolutionären Bewegungen von dem »Marxeffekt«, von den für das 19. und das 20. Jahrhundert eigentümlichen Institutionen be­ freien können? Das war die Ausrichtung dieser Bewegung. In dieser Infragestellung der Identität Marxismus = revolutionärer Prozess, einer Identität, die eine Art Dogma darstellte, ist die Bedeutung des Körpers eines der wichtigen, wenn nicht wesent­ lichen Momente. - Wie entwickelt sich das körperliche Verhältnis zwischen den Massen und dem Staatsapparat? - Man muss zunächst eine sehr verbreitete These zurückweisen, wonach in unseren bürgerlichen und kapitalistischen Gesellschaf­ ten die Macht die Wirklichkeit des Körpers zugunsten von Seele, Bewusstsein und Idealität verleugnet hätte. Tatsächlich ist nichts materieller, nichts physischer, körperlicher als die Ausübung der Macht... Welche Art einer Besetzung des Körpers ist für das Funktionieren einer kapitalistischen Gesellschaft wie der unseren notwendig und hinreichend? Damit meine ich, dass man vom 18. bis zum beginnenden 20. Jahrhundert glaubte, die Besetzung des Körpers durch die Macht müsse schwer, drückend, beständig und peinlich genau sein. Daher diese gewaltigen Disziplinarordnun­

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gen, die man in den Schulen, den Spitälern, den Kasernen, den Werkstätten, den Städten, den Gebäuden und den Familien fin­ det... und dann hat man sich seit den sechziger Jahren klargemacht, dass diese derart drückende Macht nicht länger so unab­ dingbar ist, wie man glaubte, dass die industriellen Gesellschaften mit einer weitaus lockereren Macht über den Körper auskommen könnten. Man hat damals entdeckt, dass die Kontrollen der Sexualität gemildert werden und andere Formen annehmen konn­ ten ... Was bleibt, ist, zu untersuchen, welchen Körper die derzei­ tige Gesellschaft braucht... - Grenzt sich Ihr Interesse für den Körper von den aktuellen Interpretationen ab? - Wie mir scheint, grenze ich mich sowohl von der marxistischen als auch der paramarxistischen Sichtweise ab. Was erstere betrifft, folge ich denen nicht, die die Machtwirkungen auf der Ebene der Ideologie einzugrenzen versuchen. Ich frage mich in der Tat, ob es nicht materialistischer wäre, wenn man, bevor man die Frage der Ideologie stellt, die Frage des Körpers und der Wirkungen der Macht auf ihn untersucht. Denn mich stört an den Analysen, die die Ideologie voranstellen, dass man damit stets ein menschliches Subjekt voraussetzt, dessen Urbild von der klassischen Philoso­ phie vorgegeben wird und das mit einem Bewusstsein ausgestattet sein soll, von dem dann die Macht Bejitz ergreifen würde. - Aber es gibt doch in der marxistischen Sichtweise das Bewusst­ sein von der Wirkung der Macht auf den Körper in der Arbeits­ situation? - Sicher. Doch obwohl die Forderungen heute eher die des lohn­ abhängig arbeitenden Körpers als die der Lohnarbeiterschaft sind, hört man kaum, dass von ihnen als solchen die Rede ist... Alles läuft so ab, als ob die »revolutionären« Diskurse von den rituellen Themen durchdrungen blieben, die auf die marxistischen Analy­ sen zurückgehen. Und auch wenn bei Marx sehr interessante Din­ ge über den Körper stehen, so sind sie doch vom Marxismus - als historischer Wirklichkeit - zugunsten von Bewusstsein und Ideo­ logie furchtbar verdunkelt worden...

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Aber man muss sich auch von Paramarxisten wie Marcuse ab­ grenzen, die der Annahme einer Repression eine übersteigerte Rolle zuweisen. Denn wenn die Macht nur die Funktion hätte zu unterdrücken, wenn sie nur im Modus der Zensur, der Aus­ schließung, der Absperrung, der Verdrängung nach Art eines mächtigen Über-Ichs arbeiten, wenn sie sich nur auf negative Weise ausüben würde, wäre sie sehr zerbrechlich. Stark aber ist sie, weil sie positive Wirkungen auf der Ebene des Begehrens und allmählich bildet sich ein Wissen davon - und auch auf der Ebene des Wissens hervorbringt. Die Macht ist weit davon ent­ fernt, das Wissen zu verhindern, sie bringt es vielmehr hervor. Ein Wissen über den Körper hat man erst über ein komplexes Ganzes von militärischen und schulischen Disziplinen ausbilden können. Erst von einer Macht über den Körper aus war ein physiologi­ sches, organisches Wissen möglich. Die Verwurzelung der Macht und die Schwierigkeiten, die man verspürt, wenn man sich davon befreien will, rühren von allen diesen Bindungen her. Deshalb erscheint mir die Annahme einer Repression, auf die man die Mechanismen der Macht allgemein zurückführt, sehr unzulänglich und vielleicht auch gefährlich. - Sie untersuchen vor allem die Mikromächtey die auf der Ebene des Alltäglichen ausgeübt werden. Vernachlässigen Sie nicht den Staatsapparat? - In der Tat haben die marxistischen und die marxisierten revo­ lutionären Bewegungen seit Ende des 19. Jahrhunderts den Staats­ apparat als Zielscheibe des Kampfes privilegiert. Wohin hat das letztlich geführt? Um gegen einen Staat kämpfen zu können, der nicht bloß eine Regierung ist, muss sich die revo­ lutionäre Bewegung ein Äquivalent auf der Ebene der politisch­ militärischen Kräfte verschaffen, muss sie sich folglich als Partei konstituieren, die - von innen heraus - wie ein Staatsapparat ge­ formt ist, mit denselben Disziplinarmechanismen, denselben Hierarchien, derselben Organisation der Gewalten. Diese Konse­ quenz ist schwerwiegend. Zweitens: Muss die Einnahme des Staatsapparates - und dies war eine große Diskussion eben inner­ halb des Marxismus - als eine einfache Okkupation mit eventu­ ellen Abänderungen angesehen werden oder vielmehr die Gele­

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genheit zu seiner Zerstörung sein? Sie wissen, wie dieses Problem letztlich geregelt wurde: Man muss den Apparat untergraben, aber nicht bis zum Äußersten, denn mit der Errichtung der Diktatur des Proletariats wird der Klassenkampf trotzdem nicht beendet sein... Der Staatsapparat muss also hinreichend intakt sein, so dass man ihn gegen die Klassenfeinde einsetzen kann. Man kommt damit zur zweiten Konsequenz: Der Staatsapparat muss während der Diktatur des Proletariats zumindest in einem gewis­ sen Maße gestärkt werden. Und schließlich die dritte Konse­ quenz: Um diese besetzten, aber nicht zerbrochenen Staatsappa­ rate am Laufen zu halten, muss man die Techniker und Spezialisten rufen. Und dazu setzt man dann die alte, mit dem Apparat vertraute Klasse ein, nämlich die Bourgeoisie. Und siehe da, genau das ist zweifellos in der UdSSR passiert. Ich möchte gar nicht behaupten, dass der Staatsapparat nicht wichtig sei, aber ich habe den Eindruck, dass unter all den Bedingungen, die gemein­ sam erfüllt sein müssen, damit man nicht aufs Neue in die sowjetische Erfahrung hineinläuft, damit der revolutionäre Pro­ zess nicht versandet, man mit als Erstes verstehen muss, dass die Macht nicht im Staatsapparat lokalisiert ist und dass nichts in der Gesellschaft sich ändern wird, solange nicht die Mechanismen der Macht verändert werden, die außerhalb der Staatsapparate, unter­ halb davon und neben ihnen, auf einem sehr viel niedrigeren, alltäglichen Niveau funktionieren. Wenn man es schafft, diese Bezüge zu verändern oder die damit sich ausbreitenden Machtwirkungen unerträglich zu machen, wird man das Funktionieren der Staatsapparate viel schwieriger machen... Es hat einen weiteren Vorteil, wenn man die Kritik der Verhält­ nisse auf niederstem Niveau anbringt: Man wird nicht mehr inner­ halb der revolutionären Bewegungen das Bild des Staatsapparates wieder aufrichten können. - Kommen wir nun zu den Humanwissenschaften, insbesondere zur Psychoanalyse... - Der Fall der Psychoanalyse ist wirklich interessant. Sie ist gegen eine bestimmte Art von Psychiatrie begründet worden (der Entar­ tung, der Eugenik und der Vererbungslehre). Diese Praxis und

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diese Theorie - in Frankreich von Magnan repräsentiert - stellten ihr großes Kontrastbild dar. Nun, gegenüber dieser Psychiatrie (die im Übrigen auch heute noch die Psychiatrie der Psychiater ist) hat die Psychoanalyse tatsächlich eine befreiende Rolle ge­ spielt. Und noch in manchen Ländern (ich denke an Brasilien) spielte die Psychoanalyse durch das Aufzeigen der Komplizen­ schaft zwischen den Psychiatern und der Macht eine positive poli­ tische Rolle. Sehen Sie sich nur an, was in den Ländern des Ostens geschieht. Diejenigen, die sich für die Psychoanalyse interessieren, gehören nicht zu den Diszipliniertesten unter den Psychiatern... Dennoch, in unseren Gesellschaften geht der Prozess weiter und führt zu anderen Besetzungen... In einigen ihrer Leistungen führt die Psychoanalyse zu Wirkungen, die in den Rahmen von Kontrolle und Normalisierung gehören. - Durch Ihre Untersuchungen über den Wahnsinn und über das Gefängnis erhält man Einblick in die Ausbildung einer immer disziplinarischeren Gesellschaft Diese geschichtliche Entwicklung scheint von einer gleichsam unumgänglichen Logik geleitet... - Ich versuche zu analysieren, auf welche Weise zu Beginn der industriellen Gesellschaften ein Strafapparat und ein Dispositiv zur Aussiebung zwischen den Normalen und den Anormalen eingerichtet wurde. Anschließend werde ich die Geschichte des­ sen schreiben müssen, was sich im 19. Jahrhundert zugetragen hat, und werde zeigen müssen, wie man durch eine Reihe von Offen­ siven und Gegenoffensiven, von Wirkungen und Gegenwirkun­ gen zu dem sehr komplexen aktuellen Stand der Kräfte und dem derzeitigen Profil der Schlacht kommen konnte. Der Zusammen­ hang ergibt sich nicht aus der Aufdeckung eines Vorhabens, son­ dern aus der Lögik der Strategien, die einander gegenüberstehen. In der Untersuchung der Machtmechanismen, die den Körper be­ setzt haben, der Gesten und Verhaltensweisen gilt es, die Archäo­ logie der Humanwissenschaften aufzubauen. Sie findet im Übrigen eine der Bedingungen ihrer Entstehung wieder: das vom 19. Jahrhundert verfolgte starke Bemühen um Disziplinierung und Normierung. Freud wusste das genau. In Sachen Normierung war er sich dessen bewusst, stärker zu sein als die anderen. Was ist das dagegen bloß für eine sakralisierende

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Scham, die behauptet, die Psychoanalyse habe nichts mit Normie­ rung zu tun? - Welche Rolle hat der Intellektuelle in der militanten Praxis? - Der Intellektuelle hat nicht länger die Rolle eines Ratgebers zu übernehmen. Das Vorhaben, die Taktiken und die Zielscheiben, die man sich geben muss, müssen diejenigen, die sich damit he­ rumschlagen und abmühen, finden. Der Intellektuelle kann Ana­ lyseinstrumente bereitstellen, und derzeit ist im Wesentlichen die Rolle des Historikers gefordert. Es kommt in der Tat darauf an, dass man von der Gegenwart eine dichte und weit ausholende Wahrnehmung hat, von der her sich die Bruchlinien und die star­ ken Punkte erkennen lassen, an denen sich die Mächte festge­ macht haben - einer Organisation folgend, die jetzt einhundertundfünfzig Jahre alt ist -, an denen sie eingepflanzt sind. -Mit anderen Worten, er hat eine topographische und geologische Auf­ nahme der Schlacht zu erstellen... Das ist die Rolle des Intellek­ tuellen. Dagegen zu sagen, das, das müsst ihr so und so machen, das ist es mit Sicherheit nicht. - Wer koordiniert das Handeln der Handlungsträger der Politik des Körpers? - Das ist ein äußerst komplexes Ganzes, bei dem man sich letzt­ lich fragen muss, wie es in seiner Verteilung, in seinen Mechanis­ men, seinen wechselseitigen Kontrollen und seinen Justierungen so subtil zu sein vermag, wo es doch niemanden gibt, der das Ganze erdacht hat. Es ist ein sehr verwickeltes Mosaik. Zu be­ stimmten Zeiten tauchten verbindende Handlungsträger auf... Nehmen Sie das Beispiel der Philanthropie zu Beginn des 19. Jahr­ hunderts: Leute kommen daher und mischen sich ins Leben an­ derer ein, in ihre Gesundheit, ihre Ernährung, ihr Wohnen... Später dann gingen aus dieser verworrenen Funktion Personen, Institutionen und Wissensformen hervor... eine öffentliche Hy­ giene, Inspektoren, Sozialfürsorger und Psychologen. Und später, heute, erlebt man, wie die Kategorien der Sozialarbeiter geradezu ausufern... Natürlich hat die Medizin die grundsätzliche Rolle eines ge-

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meinsamen Nenners gespielt... Ihr Diskurs lief vom einen zum anderen weiter. Im Namen der Medizin sah man nach, wie die Häuser ausgestattet waren, in ihrem Namen ordnete man aber auch jemanden als einen Wahnsinnigen, einen Kriminellen oder einen Kranken ein... In Wirklichkeit jedoch bilden, ausgehend von einem verworrenen Urmuster wie der Philanthropie, alle diese »Sozialarbeiter« ein sehr ungleichförmiges Mosaik... Das Interessante ist, nicht den Entwurf zu erkennen, der all dem vorangegangen ist, sondern durch eine strategische Betrach­ tung zu erkennen, wie die Dinge an ihren Platz gekommen sind. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek

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Der Gang nach Madrid » A lle r à M a d r id « ( a u f g e z e ic h n e t v o n P. B e n o ît) , in :

Libération,

N r. 358,

2 4. S e p te m b e r 1 9 7 5 , S. 7.

Am 22. September 1975 wurden Costa-Gavras, Régis Debray, Michel Foucault, Jean Lacouture, der Ehrwürdige Pater Laudouze, Claude Mau­ riac und Yves Montand nach Abschluss einer Pressekonferenz, auf der sie die frankistischen Sondergerichte anprangerten, die gerade zw ölf politi­ sche Aktivisten, darunter zwei schwangere Frauen, zum Tode durch die Garrotte verurteilt hatten, aus Madrid abgeschoben. Yves Montand hatte einen von Aragon, François Jacob, André Malraux, Pierre Mendès France und Jean-Paul Sartre Unterzeichneten Text verlesen. Diese Äußerungen wurden bei der Rückkehr der Delegation während einer Pressekonferenz auf dem Flughafen von Roissy protokolliert.

Die frankistiäche Macht hat in ihren Handlungsweisen das Sta­ dium überschritten, da man ihr mit bloßem Protest begegnen könnte. Petitionen haben heute keinerlei Sinn mehr; deshalb hat­ ten wir uns vorgenommen, ihr physisch nahezutreten, ins Zent­ rum von Madrid zu gehen und diese Erklärung zu verlesen. Wir wollten uns trotz Zensur beim spanischen Volk Gehör verschaf­ fen. In einem faschistischen Land verbreiten sich die per Mund­ propaganda weitergegebenen Informationen mit außerordent­ licher Geschwindigkeit.

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[Nach der Ankunft am späten Montagvormittag begibt sich die Delegation zum Hotel Torre oberhalb des Spanischen Platzes und ruft dort die Presse zusammen. Fünfundzwanzig Journalisten, da­ von die große Mehrheit Ausländskorrespondenten auf Posten in Madrid, sind um siebzehn Uhr anwesend, als die Konferenz in einem Raum des Hotels beginnt.) Als Erstes verlas Yves Montand den von André Malraux und den vier anderen französischen Persönlichkeiten Unterzeichneten Text. Zum Ende der Verlesung brachen dann Inspektoren in Zivil in ein beeindruckendes Schweigen ein. Die Köpfe dieser Polizis­ ten wirkten irgendwie unwirklich, und Montands Anwesenheit verstörte sie extrem: Derjenige, der in zahlreichen Filmen das Bild des »Widerstandskämpfers« verkörperte, tauchte auf einen Schlag vor Polizisten auf, die ihn erkannten. Das gab dieser Szene eine außerordentliche politische Intensität. Später war es dann eine unglaubliche Polizeiarmada. Man zählte bis zu hundertfünfzig. Nachdem man die Mitglieder der Delegation beiseite genommen hatte, wurden die anwesenden Journalisten in Handschellen unter vorgehaltener Maschinenpistole in die Polizeifahrzeuge geladen. Ich erhob mich und richtete meine Schritte Richtung Ausgang, denn ich nehme an, dass es das Handwerk der Bullen ist, physische Gewalt auszuüben. Wer sich den Bullen entgegenstellt, darf ihnen daher nicht die Heuchelei erlauben, dass sie diese unter Befehlen maskieren können, denen man sogleich zu gehorchen hätte. Sie müssen in dem, was sie repräsentieren, bis zum Äußersten gehen. {Weitgehend umringt von bewaffneter Polizei verließen die sie­ ben Mitglieder der Delegation einer nach dem anderen das Hotel, um in einen Polizeibus geführt zu werden. Yves Montand ging als Letzter.) Er traf am oberen Ende der Stufen des Hotels ein, bewaffnete Polizisten waren auf beiden Seiten der Treppe aufgereiht; unten hatte die Polizei alles geräumt und ihr Bus stand deutlich weiter entfernt. Hinter den Bussen sahen mehrere hundert Personen der Szene zu. Es wirkte ein wenig wie die Wiederholung der Szene aus Z, in der der Abgeordnete der Linken, Lambrakis, von Schlagstock­ hieben getroffen wird. Montand ging mit großer Würde, den Kopf etwas nach hinten, sehr langsam herunter. Genau da verspürten wir die Präsenz des Faschismus. Diese Art der Leute, zu blicken, ohne zu sehen, als hätten sie diese Szene Hunderte Male gesehen. Diese

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Traurigkeit zugleich, die zweifellos mit großer Verblüffung einherging, eine durchaus wirkliche Szene zu sehen, die sie Hunderte Male erlebt hatten, mit dem imaginären Helden, den sie alle auf der Lein­ wand gesehen haben, als Akteur. Sie sahen als Film ihre eigene politische Wirklichkeit. Und dann dieses Schweigen... {Was den Sinn angeht, den er dieser Aktion beimisst, besteht Michel Foucault eindringlich darauf, dass es sich weder um ein »Beispiel« noch um ein »Modell« handelt.) Wir möchten vor allem, dass sich jeder von da aus vorzustellen versucht, was er tun kann, um diese zwölf Aktivisten vor dem Tod zu bewahren. Montand beispielsweise hat vorgeschlagen, allen Leuten, die jemals in Spanien waren oder dort Freunde haben, das Dokument zu schicken, das wir in Madrid verlesen haben. Aber es kann noch Hunderte weitere geben. Die Initiative der Hafenarbeiter1 wird sicherlich ein starkes Echo haben. Was wir da unten gesehen haben, geht weit über das hinaus, was man oft, die Sprache missbrauchend, als »Das ist Faschismus« bezeichnet. Es ist eine höhere Form von Faschismus, sehr fein und sehr brutal zugleich, die wir am Werk gesehen haben. Dieser Faschismus mit seiner Pyramide von Ordnung und Gegenord­ nung, diese Mechanik... diese Furcht, um die Furcht aufrechtzu­ erhalten. Und dann der Blick der Bevölkerung mit diesem stum­ men Mitleiden der Leute, die die Szene gesehen haben. Alles das sind eindeutige Stigmata des höheren Faschismus... Übersetzt von Hans-Dieter Gondek

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»A propos de Marguerite Duras« (Gespräch mit H. Cixous), in: Cahiers Renaud-Barraulty Nr. 89, Oktober 1975, S. 8-22.

M. Foucault: Seit heute morgen bin ich etwas beunruhigt über die Vorstellung, über Marguerite Duras zu sprechen. Das, was ich von ihr gelesen habe, und die Filme von ihr, die ich gesehen habe, 1 [Die italienischen und französischen Hafenarbeiter hatten sich geweigert, spani­ sche Schiffe zu entladen.]

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hinterlassen bei mir stets einen sehr starken Eindruck. Die Prä­ senz des Werkes von Marguerite Duras bleibt sehr intensiv, so weit meine Lektüren auch zurückliegen mögen; und dann, siehe da, in dem Moment, da ich darüber sprechen will, habe ich den Eindruck, dass mir alles entgleitet. Eine Art nackter Gewalt, bei der man ins Rutschen kommt und mit den Händen keinen Halt findet. Die Präsenz dieser Kraft, diese bewegliche und glatte Kraft, diese zugleich flüchtige Präsenz, das hindert mich, darüber zu sprechen, und bindet mich zweifellos an sie. H. Cixous: Ich hatte gerade ein bisschen dasselbe Gefühl. Ich hatte mir sämtliche Texte von Marguerite Duras, die ich mehrfach gelesen habe und von denen ich mir naiverweise sagte, ich kenne sie gut, aufs Neue vorgenommen. Nun kann man aber Marguerite Duras nicht kennen, man kann sie nicht fassen. Ich sage mir, ich kenne das, ich habe es gelesen, und werde gewahr, dass ich es nicht »behalten« [»retenu«] habe. Das ist es vielleicht: Es gibt einen Duras-Effekt, und dieser Duras-Effekt bewirkt, dass etwas ab­ läuft, das sehr mächtig ist. Vielleicht ist ihr Text so gemacht, damit es so abläuft, damit es nicht behalten wird, wie ihre Personen, die stets außerhalb ihrer selbst ablaufen. Was ich »behalte«, ist folg­ lich genau dieser Eindruck. Das war eine Lehre für mich. Sie hat mir etwas gelehrt, das beinahe über den Text hinausgeht, auch wenn es ein Schrifteffekt ist, der ein gewisses Geständnis betrifft. Ich hatte mir die Frage gestellt, was für ein Geheimnis das umgibt, was in ihrem Text die Bindung erzeugt: Es gibt Stellen in diesen Texten, die berühren und die sich für mich auf jeden Fall mit Verführung verbinden, es bindet dich sehr stark, es ergreift dich, es reißt dich mit. Mir ist zum Beispiel aus einem Buch ein Bild zurückgeblieben: Es handelt sich um Moderato cantabile,* das Bild des Ausschnitts der Bluse einer Frau. Ich habe eine Brust projiziert - aber ich weiß nicht, ob man sie sehen konnte -, aus der eine Blume hervorkommt. Mein ganzer Blick pfropft sich darauf auf, und du triffst die Frau, und du bist durch diese Blume und diese Brust an sie gefesselt [»retenu«]. Und ich sagte mir: Dieses ganze Buch wird letztlich so geschrieben sein, als ob es zu diesem ergreifenden Bild hinführen müsste. Und folglich führt uns der Raum des Buches, das zugleich die Wüste ist, das Sand ist, das i [Duras, M., Moderato cantabile, Paris 1958; dt. Moderato cantabile, Frankfurt am Main 1959.]

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Strand ist, und das zerfallenes Leben ist, zu etwas ganz Kleinem, das zugleich beträchtlich aufgewertet wird, das als dieses körper­ lich oder leiblich blitzartig vorgebracht wird. Was Marguerite Duras erfindet, ist das, was ich »Kunst der Armut« nennen werde. Es gibt in dem Maße, wie man in ihrem Werk weiter vorangeht, Schritt für Schritt eine solche Arbeit des Verzichts auf Reichtümer und Monumente, und ich glaube, sie ist sich dessen bewusst, das heißt, dass sie immer mehr abstreift, immer weniger Dekor, Mo­ biliar und Objekte einsetzt, und das dann schließlich so arm ist, dass am Ende sich etwas einschreibt und bleibt und daraufhin all das zusammenzieht, versammelt, was nicht sterben will. Es ist, als ob alle unsere Wünsche auf etwas ganz Kleinem neue Besetzungen eingingen, das so groß wird wie die Liebe. Ich kann nicht sagen, wie das Universum, aber wie die Liebe. Und diese Liebe, dieses Nichts ist alles. Du glaubst nicht, dass es so funktioniert? M. Foucault: Doch. Ich glaube, dass du ganz und gar Recht hast. Und die Analyse, die du da vorträgst, ist sehr schön. Man erkennt recht gut, was ein Werk wie dieses getragen hat, von Blanchot aus, der, denke ich, für sie sehr wichtig gewesen ist, und durch Beckett hindurch. Diese Kunst der Armut, oder was man auch nennen könnte: Gedächtnis ohne Erinnerung. Der Dis­ kurs steht bei Blanchot wie bei Duras ganz in der Dimension des Gedächtnisses, eines Gedächtnisses, das ganz von jeder Erinne­ rung gereinigt wurde, das nur mehr eine Art Nebel ist, der ständig auf Gedächtnishaftes verweist, ein Gedächtnis, das sich auf Ge­ dächtnishaftes bezieht, und jedes Gedächtnis löscht dabei jede Erinnerung aus, und das endlos. Wie hat nun ein Werk wie dieses sich urplötzlich ins Kino einschreiben, ein cinematographisches Werk hervorbringen können, das, wie ich glaube, ebenso bedeutend ist wie das literarische Werk? Und wre hat es mit Bildern und Gestalten zu dieser Kunst der Armut, zu diesem Gedächtnis ohne Erinnerungen, zu dieser Art Draußen gelangen können, das sich letztlich in der Tat bloß in einer Geste, einem Blick kristallisiert? H. Cixous: Ich denke, dass die andere, von ihr freigesetzte Stär­ ke ihr Verhältnis zum Blick ist. Genau das hatte mich zunächst in meiner Lektüre innehalten lassen. Anfangs ist mir die Lektüre von Marguerite Duras nicht leicht gefallen. Ich habe beim Lesen einen Widerstand entwickelt, weil mir die Position missfiel, in die sie

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mich versetzte. Denn die Position einzunehmen, in die sie die Leute hineinzieht, »versetzt«, dazu kann ich mich nicht ohne eine gewisse Unlust entschließen. Ich musste das erst durchbrechen. Ich glaube, es ist das Verhältnis zum Blick. Du sagtest: Gedächtnis ohne Erinnerungen. Das ist es. Die Arbeit, die sie leistet, ist eine Arbeit am Verlust; als ob der Verlust unabschließbar wäre; es ist äußerst paradox. Als ob der Verlust niemals genug verloren sei, du hast immer noch zu verlieren. Es geht immer in diese Richtung. Nun, ihr Gedächtnis ohne Erinnerungen, ja, das ist, als ob das Gedächtnis es nicht schaffen würde, sich zu zeigen, als ob die Vergangenheit so sehr Vergangenheit wäre, dass, damit es Erinne­ rung gibt, man in die Vergangenheit gehen müsse. Vergangenheit sein müsse. Die Vergangenheit kehrt nicht zurück. Das ist etwas Ungeheures, das ist unmöglich zu denken, und doch, glaube ich, ist es das. Und was gibt es [»ça donne«] in dem Bild? Es gibt einen Blick [»regard«] von äußerster Intensität, weil es nicht gelingt zu er-blicken/be-wahren [»re-garder«]. Es ist ein Blick, der es nicht schafft zu wahren [»garder«]. Du hast überall diese »erblickten« [»regardés«] Personen, auch das war eines der Dinge, die mich störten, bevor es mir gelang zu akzeptieren, was sie verlangt: nämlich die äußerste Passivität. Diese Personen folgen aufeinan­ der mit dem Blick, der auf den anderen folgt und der ein Verlan­ gen ist, das nichts verlangt. Sie hat sehr schöne Formulierungen, die stets passive Formulierungen sind: Jemand wird erblickt. »Sie« wird erblickt, sie weiß nicht, dass s:e erblickt wird. Einerseits kommt der Blick über ein Subjekt, das den Blick nicht empfängt, das selbst solchermaßen bilderlos ist, dass es nichts hat, womit es einen Blick zurückgeben kann. Und andererseits ist derjenige, der erblickt, gleichermaßen jemand, der so arm und so beschnitten ist; er möchte einfangen können, wie man das mit dem Blick tut, er möchte fesseln. Immer gleich, das ist der Sand, der verrinnt... M. Foucault: Würdest du sagen, dass er in den Filmen und in den Büchern in derselben Weise verrinnt? In den Büchern gibt es eine ständige Annullierung, sobald etwas wie eine Anwesenheit sich abzuzeichnen beginnt; die Anwesenheit verbirgt sich hinter ihren eigenen Gesten, ihren eigenen Blicken, und sie löst sich auf; es bleibt nur mehr eine Art Glanz zurück, der auf einen anderen Glanz verweist, und der geringste Appell an die Erinnerung ist annulliert worden. Doch dann in den Filmen gibt es im Gegenteil,

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wie mir scheint, dieses plötzliche Auftauchen. Ein Auftauchen, ohne dass es je irgendeine Anwesenheit gäbe, sondern es ist das Auftauchen einer Geste, das Auftauchen eines Auges, es ist eine Person, die dem Nebel entsteigt; ich denke an Francis Bacon. Es scheint mir, dass ihre Filme Bacon ein wenig verwandt sind, so wie ihre Romane Blanchot: auf der einen Seite die Annullierung, auf der anderen das Auftauchen. H. Cixous: Im Übrigen geht das zusammen. Was die Filme an­ geht, so habe ich nur zwei davon gesehen. Ich habe Détruire ditelle2 und India Song3 gesehen, die sehr unterschiedlich sind. M. Foucault: Erzähl mir von India Song. Ich habe ihn nicht gesehen. H. Cixous: Ich habe diesen Film sehr gemocht, und doch spüre ich, dass er durch mich hindurchgegangen ist. Was ist mir von India Song geblieben? India Song ist ein Film, der eine ganz ein­ zigartige Dimension hat, sogar für Marguerite Duras, weil es ein Film ist, in dem es ein absolut intensives Genießen gibt. Margue­ rite Duras hat einen für jedes menschliche Wesen sagenhaften Coup hinbekommen, sie hat nämlich in Szene gesetzt, was ich für ihr Grundphantasma halte. Sie hat sich selbst das zu sehen gegeben, was sie stets erblickt [»regardé«] hat, ohne es wahren [»garder«] zu können. Es gibt eine Sache, von der nicht gespro­ chen wurde, und die mir sehr wichtig ist, und das ist, dass alles, was Marguerite Duras schreibt, und das so sehr Knappheit, das so sehr eben Verlust ist, gleichzeitig auf phantastische Weise erotisch ist, weil Marguerite Duras jemand ist, der fasziniert ist. Ich muss unweigerlich »sie« sagen, weil sie es ist, die soweit geht. Die Fas­ zination, das passt mit der Armut zusammen. Sie ist fasziniert, sie ist gleichsam von etwas, in jemand absolut Rätselhaftem gefangen, und das wirkt sich so aus, dass der ganze Rest der Welt zu Staub zerfällt. Nichts bleibt mehr übrig. Es könnte eine religiöse Faszination sein; im Übrigen gibt es eine religiöse Dimension bei ihr; nur entdeckt man das, was sie fasziniert, nach und nach, ich glaube, dass sie selbst es entdeckt oder entdecken lässt, es ist eine Mischung aus einer Erotik, die an den Leib der Frau rührt - es geht wirklich über das, was es an Umwerfendem und Schönem in etwas gibt, was Frau ist und was 2

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sich nicht definieren lässt -, und dann dem Tod. Und es ver­ schmilzt. Es geht also von neuem verloren. Als ob der Tod das Leben, die Schönheit mit der schrecklichen Zärtlichkeit der Liebe einhüllen würde. Als ob der Tod das Leben liebte. India Song ist, als ob sie sich sehen würde, wie man sich hin­ gibt, das ist, als ob sie sich »sie« endlich sehen ließe, diejenige, die sie immer fasziniert hat. Und das ist eine Art sehr schwarze Sonne: In der Mitte gibt es die berühmte Dame, die all die Be­ gierden in all den Büchern um sich zusammenzieht. Von Text zu Text bricht das ein, gibt es einen Abgrund. Es ist ein Frauenkör­ per, der sich nicht selbst kennt, aber etwas im Schwarzen weiß, der das Schwarze kennt, der den Tod kennt. Sie ist da, sie ist verleib­ licht, und aufs Neue gibt es diese Sonne verkehrt herum, denn all die Strahlen, welches männliche Strahlen sind, kommen und pfropfen sich auf diesen Abgrund auf, der sie ist, und strahlen auf sie hin. Selbstverständlich verschiebt der Film die Wirkung der Bücher, denn es gibt Gesichter darin. Du kannst sie nicht nicht sehen. Während sie in den Büchern stets als nicht sichtbar, als bereits verstreut angezeigt werden. M. Foucault: Ja, das ist es. Obgleich die Sichtbarkeit der Filme nicht wirklich die einer Anwesenheit ist. Ich weiß nicht, ob Lonsdale in diesem Film mitspielt. Ich stelle mir das vor, denn er ist so richtig ein Schauspieler für Marguerite Duras. Er hat eine Art nebulöse Dichte. Man weiß nicht, was für eine Gestalt er hat. Man weiß nicht, was für ein Gesicht er hat. Hat Lonsdale eine Nase, hat Lonsdale ein Kinn? Hat er ein Lächeln? Von all dem weiß ich, streng genommen, nichts. Er ist dicht und massiv wie ein gestaltloser Nebel, und dann kommen aus ihm diese verschiede­ nen Arten eines Dröhnens hervor, die von man weiß nicht woher kommen und die seine Stimme sind, oder auch seine Gesten, die nirgendwo festgemacht sind, die die Leinwand durchqueren und die bis hin zu euch gelangen. Eine Art dritte Dimension, in der es nur noch die dritte Dimension geben würde und nicht die beiden anderen, um sie zu stützen, so dass es immer vorne ist, immer zwischen der Leinwand und euch und niemals weder auf noch in der Leinwand. Das ist Lonsdale. Mir scheint, Lonsdale bildet ab­ solut eine Einheit mit dem Text von Duras oder eher noch mit dieser Mischung von Text und Bild. H. Cixous: Er ist in Wirklichkeit (er) selbst in personam/nie-

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mand [»lui-même (en) personne«]. Er ist die Ungewissheit in personam, zumindest das Ungewisse in personam. Die Ungewissheit, das ist bereits zu viel gesagt. Und in der Tat ist er da. Er ist bewundernswert als Verlorener, so wie er verloren ist. M. Foucault: Er ist Watte und Blei zugleich. H. Cixous: Und er hat seine Stimme. Und er ist stimmbegabt. Das ist sehr wichtig, das ist, als ob es eine Akzentverschiebung gäbe. Was in dem Buch Blick ist, immer abgeschnittener Blick, ein Blick, der nicht ankommt, ist im Film Stimme, denn schließlich ist India Song ein song, Gesang. Wenn man India Song sieht, sagt man sich, dass das Visuelle, das sehr schön, sehr erotisch ist, zugleich sehr verschwommen ist, und gerade das ist vollkommen verführerisch, denn es ist da, ohne da zu sein, es ist völlig eingerollt in ein Webmuster permanenter Stimme. Sie hat die Stimmen bewundernswert ausgearbeitet, und es sind diese berühmten umherirrenden Stimmen, diese Stimmen, die ohne Körper sind. Es gibt Körper ohne Stimmen und Stimmen ohne Körper. Die Stimmen sind wie Vögel, die so beständig rund­ herum auftauchen, die sehr schön sind, sehr gut ausgebildet, es sind sehr sanfte Stimmen, Stimmen von Frauen wie ein Chor, aber wie ein Antichor, das heißt es sind Stimmen, die umherschwirren, die von anderswoher kommen, und dieses Anderswoher ist offen­ kundig die Zeit. Eine Zeit jedoch, die nicht wiederherstellbar ist, so dass sich, wenn man nicht sehr aufmerksam ist, jenes Phäno­ men einer Verwirrung innerhalb der Stimme einstellt: Da sie jetzt widerhallt, erscheint sie als gegenwärtig, und in Wirklichkeit ist sie eine Stimme der Vergangenheit, das heißt eine erzählende, eine zurückholende Stimme. Die Stimmen nehmen auf, was du siehst, und schicken es in eine Vergangenheit zurück, die selbst unbe­ stimmt bleibt/ M. Foucault: Darin findet man etwas wieder, das in Duras* Ro­ manen sehr stark war, und zwar das, was man traditionell den Dialog nennt. In den Romanen von Marguerite Duras haben sie überhaupt nicht dieselbe Position, dieselbe Statur und dieselbe Art Einfügung wie in einem traditionellen Roman, denn der Dia­ log wird nicht in einen Handlungsverlauf einbegriffen, er kommt nicht und unterbricht die Erzählung, er ist in einer stets sehr ungewissen Position, durchquert die Erzählung, dementiert die

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Erzählung, kommt von diesseits oder jenseits. Er ist absolut nicht auf einer Höhe mit dem Text und bringt im Umfeld von allem, was nicht in Dialogform steht und was scheinbar von der Autorin gesagt wird, einen Effekt von Nebel und Unschlüssigkeit hervor. H. Cixous: Das stimmt ganz genau. Das rührt von den Einsät­ zen oder Affekten ihrer Texte her, denn was letztlich durch all diese Texte hindurch seufzend und sehnsüchtig ausgestoßen wird, ist, dass man spricht ausgehend von... Dieses Problem der Zeit, des Gedächtnisses, der Vergangenheit usw., und dann ausgehend von einer absolut unendlichen, furchtbaren Verzweiflung, die zu­ gleich eine abgeschnittene Verzweiflung ist, das heißt eine Ver­ zweiflung, die sich nicht einmal mehr Verzweiflung nennen kann, denn dann wäre sie bereits dabei, wieder vereinnahmt zu werden, gäbe es bereits eine Trauerarbeit. Es gibt nicht einmal mehr die Möglichkeit oder den Willen zur Trauerarbeit. Also anstelle der Dialoge, die man in irgendeinem beliebigen Roman finden würde, gibt es Austausch. Das ist im Übrigen die Liebe: dass es ihnen trotz allem gelingt, irgendwo Austausch durchzuführen. Und die­ sen Austausch vollziehen sie wieder und wieder ausgehend von ihrem gemeinsamen Grund aus Unglück. Und dann stets von ihrem Verhältnis zum Tod ausgehend, der sie, könnte man sagen, ruft. In fast allen Texten, denn immerhin gibt es einen, der sich dem entzieht. Ich bringe das auf eine etwas abenteuerliche Art vor: Mir scheint, es gibt einen Text, der nicht zu dem Strand der Endlosigkeit hinführt, auf dem die ganze Welt zugrunde geht, und das ist Détruire dit-elle. Darin gibt es im Gegenteil gleichsam eine Art Fröhlichkeit, die sich befreit, eine Fröhlichkeit auf einem Boden von Gewalt, gewiss, aber zwischen den drei seltsamen Wesen, die sich die ganze Zeit über oberhalb der anderen halten, die aktiv sind, während die anderen passiv oder überwältigt sind, das heißt zwischen der Dreieinigkeit, die Stein und Thor und Alissa darstellen, gibt es etwas, das kommuniziert, das die ganze Zeit zirkuliert und das triumphiert. Es gibt Lachen, und das endet mit der Phrase »dit-elle«, »sagt sie«, das endet mit Lachen und Musik. M. Foucault: Du hast den Eindruck, dass das etwas Einzigarti­ ges im Werk von Marguerite Duras ist. Diese Art Lachen, man kann nicht von Fröhlichkeit sprechen, wie kann man diese Art umlaufendes Perlen bezeichnen? Weil du

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gerade von Austausch sprachst, bei dem Wort »Austausch« bin ich ein ganz klein bisschen zusammengefahren, denn es gibt keine Gegenseitigkeit, es zirkuliert. Es ist eher eine Art »Taler, Taler, du musst wandern«,4 aber ein Spiel, bei dem das zu erratende Objekt ebenfalls seine Autonomie hätte, man reicht es freiwillig an den anderen weiter und der andere nimmt es an, er ist durchaus ver­ pflichtet, es anzunehmen, aber es geschieht auch, dass im Spiel von Marguerite Duras das zu erratende Objekt spontan von einer Hand in die andere springt, ohne dass weder die eine noch die andere dafür die Verantwortung trügen. Auf jeden Fall zirkuliert es. Es gibt Tricks des zu erratenden Objekts, und es gibt Tricks der Leute mit dem zu erratenden Objekt. Es gibt eine fortwährende Ironie, etwas Komisches, das auf dem Grunde dessen, was du, wie ich glaube, zu Recht Verzweiflung nennst, dennoch die Texte, das sich wiederholende Lächeln und die Gesten funkeln lässt; es spie­ gelt ein bisschen wie ein Meer. H. Cixous: Das könnte man von Détruire dit-elle sagen, in dem es eine furchtbare Ironie gibt. Die anderen lese ich nicht mit einem Gefühl des Komischen, aber vielleicht verfehle ich auch etwas dabei. Ich lese sie wie eine Art Gesang der Melancholie, Gesang des Todes. Wenn es Komisches gibt, dann in Episoden, aber das sind Seitenstränge. Alles das, was das Soziale ist, alles das, was das Soziokulturelle ist, diese außerordentlichen Szenen, die wirklich »skizziert« sind, Botschaft, Cocktailempfänge, was du in drei Signifikanten hast, das ist Talmi... Aber was mit den Wesen ge­ schieht, mit dem, was von diesen Wesen bleibt, darin sehe ich nichts Komisches. Ich sehe darin etwas, das nicht verschlossen ist, ich sehe darin eine Art unendlicher Freigebigkeit. Unendlich, weil auf der Stufe der Armut die ganze Welt empfangen wird, alles, was alles verloren hat, wird empfangen. Das verschließt sich nicht, das öffnet sich ins Unendliche, aber ins Unendliche des Schmerzes. M. Foucault: »Komisch«, du weißt, bei diesem Wort habe ich gezögert. Ich will es nicht verteidigen. Es ist für mich weder un­ vereinbar mit »Schmerz«, wirklich nicht, noch gar mit der Ge­ schichte, und schließlich gewiss nicht mit »Leiden«. Es gibt Ko­ misches im Schmerz, Komisches im Leiden, Komisches im Tod. 4 [Spiel, bei dem ein Gegenstand von Hand zu Hand gereicht wird und geraten werden muss, in welcher Hand er sich befindet, A.d.ÜJ

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Komisch, du weißt, im Sinne von etwas Seltsamem, Lebhaften, Unfassbarem. »Das ist komisch«, beunruhigend. H. Cixous: Es ist deine Empfindsamkeit, die das wahrnimmt, ich nehme es als Grauen wahr. Vielleicht, weil ich mich von den Texten von Marguerite Duras zutiefst bedroht fühle. »Ich will das nicht«, sage ich mir. Ich will nicht, dass es Leute gibt wie die da. Was für mich damit bezeichnet wird, ist Ohnmacht. Eine Ohn­ macht, die nur dadurch wieder gutgemacht wird - auch wenn es gar nicht um Wiedergutmachung geht -, die mir persönlich nur dadurch erträglich gemacht wird, dass sie demütig ist, dass sie zugleich eine Menge außerordentlicher Liebe entfaltet. Das ist das Schöne. Du sagtest gerade, das Wort »Austausch« sei nicht treffend, das stimmt. Es ist, dass sie sich, in der Armut der Sprache zumal, berühren. Wer? Sie? Diese menschlichen Wesen, diese Umher­ irrenden, die sich durch ein sehr weites Land hindurch berühren. Sich liebkosen, sich streicheln. Das ist umwerfend. Das liebe ich an ihr, dass dieses Berührungsverhältnis die ganze Zeit da ist. Und das genau sehe ich in India Song. Anne-Marie Stretter, ich glaube mich zu erinnern, dass sie Klavier spielte, als sie jung war, zumindest machte sie Musik. Und dann tut sie das nicht mehr und ist zugleich von diesen Männern umgeben, ich weiß nicht mehr, wie viele es sind. Es sind immerhin mehrere. Und alle stürzen sich in sie hinein, die kein tödlicher Schlund ist, weil sie nichts Böses will, weil sie nicht zugreift. Und zugleich ruft sie, ohne zu rufen, weil sie [»eile«] genau diejenige ist, die auf alles verzichtet hat, während sie [»eux«] noch nicht auf alles verzichtet haben, denn sie [»eux«] wollen: sie [»elle«], sie hängen an ihr und sie hängt an nichts. Und durch sie rühren sie an das Nichts. Was ich meine, worin das offen ist, das, was abläuft, und was das bedeutet, ist, dass sie jemand ist, der nicht mehr Musik macht, das heißt, die sich selbst nicht mehr gibt, was die Musik dir gibt, die sich selbst nicht mehr das Vergnügen der Musik gibt, die sich nicht mehr die Stimme gibt. Sie ist still geworden, und weil sie still geworden ist, ist sie jemand, dem es gelingt, die anderen zu hören. Es gibt in ihr den Raum, die Öffnung, die bewirkt, dass sie die anderen vernehmen kann, sei es, wenn sie schweigen, sei es, wenn sie schreien, wie der schreiende Vize­ konsul. Es gibt welche, die schreien, und es gibt welche, die

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nichts sagen. Sie vernimmt die Rede, sie vernimmt das Begehren der anderen, sie vernimmt das Unglück der anderen. Und das ist schließlich ihre Kraft zur Liebe. Sie hat ein Hören (offenkundig nicht das Hören der Psycho­ analyse, nicht das Hören, das eine Mauer bildet und das dich zu­ rückschickt und du vernimmst dich. Man hört dir nicht zu, du vernimmst dich. Vielleicht sage ich auch etwas Falsches.) Sie ist wie das Meer, in dem sie anschließend verlorengehen wird, das Unendliche. Man wirft etwas. Sie fängt es auf. Ihr Körper ist wie die Schwelle zum Unendlichen, man fühlt, dass dieses Etwas empfangen wurde, weil es einen Leib durchdringt, den man berühren kann, und anschließend geht das ins Unend­ liche. Das genau ist die Verzweiflung: Du gehst durch die Liebe hindurch und stürzt in den Tod. Marguerite Duras ist jemand, der ein Unbewusstes von einer extremen Kraft hat. Eine »Blin­ de«. Das hat mich immer sehr fasziniert, ich vertraue dem, was ich sehe. Ich vertraue Marguerite Duras, wie sie sich mir darstellt. Sie »sieht« nichts, und im Übrigen, wenn sie die Gesichter nicht sieht, so ist das, glaube ich, wirklich so, weil sie nicht sieht und es zugleich jemanden in ihr gibt, der sieht. Man muss sehen, wie sie sieht. Ich schaffe es nicht, bei Duras nach bewusst und unbe­ wusst aufzuteilen. Ich weiß nicht, wo das geschieht. Ich bewun­ dere bei ihr gerade die Tatsache, dass sie letztlich so blind ist, dass alles stets jäh entdeckt wird. Plötzlich sieht sie, obwohl alles doch da gewesen ist. Und dieses »plötzlich« erlaubt ihr zu schrei­ ben. M. Foucault: Erscheint etwas in ihren Büchern, weil sie es ge­ sehen hat, oder weil sie es berührt? Ich glaube, das ist unent­ scheidbar. Und damit ist ihr gelungen, eine Art nachgelagerte Ebene zwischen dem Sichtbaren und dem Taktilen zu bestimmen, die ziemlich verblüffend ist. H. Cixous: Ich glaube, dass das da geschieht, wo es gerade zer­ schnitten wird. Weil es stets zerschnitten wird. Und der Schnitt des Blicks ist die Ebene, wenn du willst, auf der der Blick in der Tat durch das Berühren unterbrochen wird. M. Foucault: Gerade sagtest du, dass sie im Grunde blind sei, ich glaube, das ist zutiefst wahr. Sie ist blind, nahezu im techni­ schen Sinne des Begriffs, das heißt, dass das Berühren sich wirk­ lich in eine Art mögliche Sichtbarkeit einschreibt, oder aber dass

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ihre Blickmöglichkeiten das Berühren sind. Und ein Blinder, ich möchte nicht behaupten, dass er den Blick durch das Berühren ersetzt, aber er sieht mit seinem Berühren, und das, was er be­ rührt, bringt Sichtbares hervor. Und ich frage mich, ob nicht ge­ nau diese tiefe Blindheit in dem am Werk ist, was sie macht. H. Cixous: Und das wirklich das Unberechenbare an ihr ist. M, Foucault: Das stimmt auch vielleicht mit dem überein, was man über das Äußere sagen kann. Es ist wahr, dass man weder den Personen noch gar dem, was sich unter ihnen ereignet, je innerlich ist, und doch gibt es ihnen gegenüber immer ein anderes Äußeres. Die Bettlerin zum Beispiel. Wer sind diese Schreie, wer sind diese Dinge, die durchgehen und von denen sehr deutlich angezeigt wird, dass sie Äußeres sind, und die dadurch eine gewisse Wirkung auf die Personen haben? Es ist auch das, was zwischen ihnen abläuft. So dass es drei Äußere gibt: das, in dem man sich befindet; das, welches als der Ort der Romanfiguren bestimmt wird; und dann dieses dritte Äußere, nebst ihrer Interferenz. Nun ist der Blinde derjenige, der stets allem äußerlich ist. Er hat nicht die Augen geschlossen; im Gegenteil, er ist derjenige, der kein Inneres hat. H. Cixous: Und dann da, wo es wieder eintritt, und wo den­ noch ein Anfang ist - weil sie das gewissermaßen auf erstaunliche Weise meistert, auf eine Weise, deren Quelle man absolut nicht kennen kann. Worin besteht die Meisterschaft? - es, es tritt durch die Stimme wieder ein. Das heißt, dass da, wo man vernimmt, und sie hat ein Gehör, auch wenn ihr Blick abgeschnitten ist, sie hat ein Gehör, nun, genau da tritt es wieder ein, das heißt dass das, was draußen ist, wieder eintritt, die Stimme ist eben das, was eindringt. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek

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160 Irrenanstalten. Sexualität. Gefängnisse »Hospicios. Sexualidade. Prises« (»Asiles. Sexualité. Prisons«; Gespräch mit M. Almeida, R. Chneiderman, M. Faerman, R. Moreno, M. Taffarel-Faerman; aufgezeichnet von C. Bojunga in Säo Paulo; übers, von R W. Prado Jr.), in: Revista Versus> Nr. 1, Oktober 1975, S. 30-33. (M. Foucault hielt damals eine Reihe von Vorträgen über »Die Psychiatrisierung und die Antipsychiatrie« an der Universität von Säo Paulo.)

- Wann und wie haben Sie begonnen, sich für das Problem der Repression zu interessieren: Irrenanstalten, Sexualität, Gefäng­ nisse? - Das muss gewesen sein, als ich angefangen habe, in einem psychiatrischen Krankenhaus zu arbeiten, von 1953 bis 1955, wo ich psychologische Untersuchungen durchführte. Es war ein zweifaches Glück: Ich habe das psychiatrische Krankenhaus we­ der als Kranker noch als Arzt kennen gelernt. Weil ich kein Arzt war, hatte ich keine Privilegien und übte keine Macht aus. Ich war ein »gemischtes«, zweifelhaftes Individuum ohne festgelegten Sta­ tus, was es mir ermöglichte, mich nach Belieben herumzutreiben und die Dinge mit größerer Unbefangenheit zu sehen. Das war der biographische Ausgangspunkt, die Anekdote. In meiner Vor­ lesung an der Universität von Säo Paulo habe ich zu erklären versucht, dass sich seit dem Ende von Nationalsozialismus und Stalinismus das Problem des Funktionierens der Macht innerhalb der kapitalistischen und der sozialistischen Gesellschaften stellt. Und wenn ich das Funktionieren der Macht erwähne, dann be­ ziehe ich mich nicht nur auf das Problem des Staatsapparats, der herrschendem Klasse und der hegemonialen Kasten..., sondern auf eine ganze Reihe immer kleinerer, mikroskopischer Mächte, die auf die Individuen in ihren alltäglichen Verhaltensweisen und bis in ihre eigenen Körper hinein ausgeübt werden. Wir leben eingetaucht ins politische Netz der Macht, und eben diese Macht steht in Frage. Ich denke, dass seit dem Ende des Nationalsozia­ lismus und des Stalinismus alle Welt sich dieses Problem stellt. Es ist das große Problem unserer Zeit. Ich möchte hinzufügen, dass es gegenüber diesem Problem

zwei Denk- und Forschungsweisen gibt, die beide interessant sind, von denen ich mich aber gänzlich fern halte. Die erste ist eine bestimmte orthodoxe oder traditionelle marxistische Auffas­ sung, die bereit ist, diese Probleme in Betracht zu ziehen, um sie anschließend wieder in die alte Frage des Staatsapparates zu integ­ rieren. Das ist der Versuch Althussers mit seiner Annahme eines »ideologischen Staatsapparates«. Die zweite ist die strukturalistische, linguistische, semiologische Strömung, die dieses Problem auf die Systematizität auf der Ebene des Signifikanten reduziert. Zwei Weisen also, die eine marxistisch, die andere universitär, diese Gesamtheit von konkreten Problemen, die nach dem Zwei­ ten Weltkrieg aufgetaucht sind, zu reduzieren. In Ihren Arbeiten wird die Repression auf den verschiedenen Ebe­ nen, auf denen sie sich zeigt, stets auf mystifizierende Weise aus­ geübt. Sie bedarf einer Mystifizierung. Die Arbeit des Intellek­ tuellen bestünde darin, aufzudecken, was die Mystifizierung der Macht verbirgt..., ist es das? - Ja... es ist das, was seit einigen Jahren geschieht. Die Rolle dès Intellektuellen besteht bereits seit einer gewissen Zeit darin, die Mechanismen repressiver Macht sichtbar zu machen, die auf ver­ hohlene Weise ausgeübt wird; zu zeigen, dass die Schule nicht nur dazu da ist, Lesen und Schreiben beizubringen und wie man Wis­ sen kommuniziert, sondern dass sie auch etwas erzwingt. Das Gleiche gilt für die Psychiatrie, den ersten der Bereiche, in denen wir diese Erzwingung zu diagnostizieren versucht haben. Der psychiatrische Apparat ist nicht dazu da, um zu heilen, sondern um auf eine gewisse Klasse von Individuen eine bestimmte Macht auszuüben. Doch darf die Analyse nicht dabei stehen bleiben. Sie muss zeigen, dass die Macht noch hinterhältiger ist. Dass sie nicht allein darin besteht zu unterdrücken - zu verhindern, Hindernisse aufzurichten und zu bestrafen —, sondern dass sie noch viel tiefer eindringt, indem sie Begehren schafft, Lust hervorruft und Wissen hervorbringt. So dass es äußerst schwierig ist, sich von der Macht zu befreien, denn hätte die Macht bloß die Funktion, auszuschlie­ ßen, zu verhindern oder zu bestrafen - wie ein Freud'sches ÜberIch -, dann würde eine Bewusstwerdung ausreichen, um ihre Wir­ kungen aufzuheben, oder auch, um sie zu unterlaufen. Ich denke,

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dass sich die Macht nicht damit begnügt, wie ein Freud sches Über-Ich zu funktionieren. Sie beschränkt sich nicht darauf zu unterdrücken, den Zugang zur Wirklichkeit zu begrenzen, die Formulierung eines Diskurses zu verhindern: Die Macht bearbei­ tet den Körper, durchdringt das Verhalten, vermischt sich mit Begehren und Lust, und bei dieser Arbeit muss man sie überra­ schen, und diese schwierige Analyse gilt es durchzuführen. - Dann ist die Macht also mächtiger.; als man dachte? - Das denke ich, und das denken auch die Leute, die in derselben Richtung arbeiten wie ich: Wir versuchen eine Analyse der Macht durchzuführen, die subtiler ist als das, was bis heute verwirklicht wurde. Allgemein würde ich sagen, dass die Antipsychiatrie von Laing und Cooper zwischen 1955 und i960 den Beginn dieser kritischen und politischen Analyse der Machtphänomene be­ zeichnet. Ich denke, dass bis in die Jahre 1970-1975 Analysen der Macht, kritische Analysen, sowohl theoretische als auch prak­ tische, sich im Wesentlichen um den Begriff der Repression ge­ dreht haben. Die repressive Macht enttarnen, sie sichtbar machen und gegen sie kämpfen. Doch im Anschluss an die 1968 vollzo­ genen Veränderungen muss man sie auf einer anderen Ebene angehen; wir würden nicht vorankommen, wenn wir das Problem weiterhin in diesen Begriffen stellen würden: Wir müssen diese theoretische und politische Analyse der Macht fortführen, aber auf eine andere Weise. - In welchem Maße haben Cooper und Laing einen originellen Beitrag zur Psychiatrie geleistet? - Laing und Cooper haben eine neue Art und Weise eingeführt, eine Beziehung zum Wahnsinn herzustellen, die nicht länger eine psychiatrische und medizinische ist. Die Vorstellung, der Wahn­ sinn sei eine Krankheit, ist historisch jüngeren Datums. Bis etwa ins 18. Jahrhundert hinein hatte der Wahnsinnige nicht den Status eines Kranken. Und als er um diese Zeit herum zum Kranken wurde, war dies eine Machtergreifung der Medizin über den Wahnsinn, und eine Reihe von Phänomenen wurde mit dem Wahnsinn in Beziehung gesetzt: in der Hauptsache die Anomalien

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des Verhaltens, die sexuellen Anomalien usw. Laing, Cooper und Bettelheim und auf seine Weise Szasz haben damit aufgehört, diese Phänomene einer Regelwidrigkeit im Verhalten auf medizi­ nische Weise anzugehen. Wahnsinnig zu sein ist für Laing und Cooper nicht eine Art krank sein. Gegenüber der Psychiatrie hat das einen sehr wichtigen Bruch bedeutet. - Wird diese Vorstellung nicht in Ihrer Histoire de la folie à Page classique [dt. Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1969] ausgeführt? - Nein, nein. Als ich die Histoire de la folie schrieb, kannte ich das Werk von Laing und Cooper nicht. Und sie kannten meine Arbeit nicht. Mein Buch wurde i960 in Frankreich veröffentlicht. Die ersten Bücher von Laing und Cooper dürften erst 1958, 1959 erschienen sein, und Cooper hat mein Buch ins Englische über­ setzt. Es sind Arbeiten aus derselben Zeit, aber wir haben nichts voneinander gewusst. Es ist interessant: Szasz und Bettelheim ar­ beiteten in den Vereinigten Staaten, Laing und Cooper in Groß­ britannien, Basaglia in Italien: Alle haben sie ihre Arbeiten ent­ sprechend ihrer jeweiligen ärztlichen Praxis entwickelt. In Frankreich ist diese Arbeit nicht von einem Arzt verrichtet wor­ den, sondern von einem Historiker wie mir. Es wäre interessant herauszubekommen, warum die Antipsychiatrie von den franzö­ sischen Ärzten erst später zur Kenntnis genommen wurde. Doch seit i960 gab es dieses Phänomen, dass Leute, die einander nicht kannten, in dieselbe Richtung arbeiteten. - Wie kam es zu dieser internationalen Konvergenz im Sinne einer Neubetrachtung des Phänomens des Wahnsinns? - Wir könnten dieselbe Frage für eine Vielzahl von Phänomenen stellen. Beispielsweise für die weltweite Studentenbewegung. Zwischen den Studenten von Nanterre und denen von Berkeley 1968 gab es keinerlei Verbindung. Ich war in jenem Jahr in Tunis, und im Monat März kam es dort zu einer Protestbewegung und zu einem Kampf der Studenten, der brutal unterdrückt wurde. Mit größerer Gewalt als an anderen Orten - einige Personen ha­ ben sogar fünfzehn Jahre Gefängnis erhalten, weil sie einen Tag

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gestreikt haben. Das Gleiche gilt für andere Länder, für die Bun­ desrepublik Deutschland usw.; Bewegungen ohne eine ausdrück­ liche Verbindung, ohne dass man sagen könnte, irgendwer habe sich von hier nach dort begeben. Etwas Ähnliches hat sich in den Gefängnissen ereignet. In Europa und in den Vereinigten Staaten haben sich die Aufstände in einem Zeitraum von sechs Monaten wie Lauffeuer verbreitet: Attica, Nancy, Toul, Mailand... Nun sind aber die Verbindungen zwischen zwei Gefängnissen beschei­ den. Mit Sicherheit ist das Problem der Mächte und des Funktionierens der Mächte innerhalb der Gesellschaft das Problem un­ serer Generation. - Wie war Ihre letzte Reise nach Spanienf1 - Man muss nicht notwendigerweise ein Spezialist für das Prob­ lem der Gefängnisse sein, um, ich möchte nicht sagen: das zu analysieren, was in Spanien geschieht, aber zumindest um auf das zu reagieren, was da unten vorgeht. Die Ereignisse sind be­ kannt: in Wirklichkeit wurden Geiseln genommen und hingerich­ tet. Die im Verlauf der letzten Wochen eingeleiteten Gerichtspro­ zesse, die mit zwölf Todesurteilen endeten, von denen fünf vollstreckt wurden, waren Prozesse unter völlig unzulässigen Be­ dingungen. Ohne jeden Schuldbeweis sind diese Personen verur­ teilt worden. Ohne Anwälte, denn die Anwälte wurden hinaus­ gejagt und sind durch andere ersetzt worden, die ebenfalls hinausgejagt wurden... und die am Ende durch Armeeoffiziere ersetzt wurden, die man zu Anwälten der Verteidigung ernannt hatte. Es gab keine Beweise dafür, dass einer der Angeklagten sich am Ort des »Attentats« befand, für das er verurteilt wurde - es gab sogar Gegenbeweise. Alle diese Personen wurden zum Tode verurteilt, und fünf von ihnen wurden hingerichtet, einzig und allein, um auf die politischen Gruppen, denen sie angehörten, Druck auszuüben. Das ist eine Art und Weise, zu sagen: Es ist klar, dass sie nicht schuldig sind, aber wir werden fünf von zwölf töten. Und wenn die Attentate weitergehen, wenn der politische Kampf weitergeht, dann werden wir alle vier töten, die wir im Gefängnis festhalten. In Wahrheit war das eine Entführung mit i [Siehe Nr. 158, Band 2, S. 941-944.]

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Todesfolge, wie selbst die extremistischsten und gewaltsamsten Gruppen sie nicht praktizieren. - Und was sind die Folgen in Spanien f - Wir hatten nicht viel Zeit, um das in Erfahrung zu bringen. Doch erschreckt hat uns, wie spürbar die Präsenz des Faschismus ist. Wir hatten Kindheitserinnerungen an das Frankreich unter der deutschen Besatzung, doch seitdem ist für uns die Berührung mit dieser Gegenwart verloren gegangen. Dort aber haben wir sie ge­ spürt. Wir sind von der spanischen Polizei in der Hotelhalle ver­ haftet worden, als wir gerade der ausländischen Presse gemeinsam ein Interview gaben. Es waren viele Spanier aus anderen Gründen zugegen - sie plauderten mit Freunden, flirteten usw. -, und uns fiel auf, dass in dem Moment, als die Polizei eintraf, die Spanier aufhörten, uns zu sehen. Für sie spielte sich neben ihnen nichts, ab. Und es waren rund fünfzig uniformierte Polizisten: eine in einer Hotelhalle keineswegs übliche Szene. Die Journalisten wurden in Handschellen abgeführt, und wir wurden in gepanzerten Wagen bis zum Flughafen gebracht. Auf dem Spanischen Platz sahen wir eine Menge, die der Szene beiwohnte. Und da stießen wir wieder auf jenes Schauspiel, das wir bereits während der deutschen Be­ satzung kennen gelernt hatten: das Schweigen der Masse, die sieht und nichts sagt. Wir haben das Mitleid, das sie für uns empfanden, auf der anderen Seite der Barriere aus Aufpassern und Bullen ge­ spürt. Leute, die eine vertraute Szene erkannten und sich sagten: noch mehr Leute, die man ins Gefängnis steckt. Leute, die seit so langer Zeit ein weiteres Mal dieselben Rituale konstatieren. Das ist ergreifend: die Präsenz des Faschismus, eingeschrieben in den Körper und in das Verhalten der Personen, die ihn erleiden. - Wie sehen Sie den Bezug zwischen Ihrer intellektuellen Arbeit über die Psychiatrie, die Gefängnisse, die Schulen usw. - und der Praxis der Gesellschaft? - Unsere Arbeit steht am Anfang. Vor zehn Jahren haben wir aufs heftigste, schonungslos und auch sehr plakativ angeklagt, was in diesen Einrichtungen vorging. Ich glaube, dass das notwendig war. Wir konnten nicht so weitermachen und uns mit Reformprojekten,

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Beschwichtigungsversuchen und Verbesserungsprogrammen zu­ frieden geben. Dies führte zu nichts. Die Auseinandersetzung musste auf die politische Ebene gebracht werden, und dazu musste den Psychiatern und Medizinern das Recht genommen werden, einzig und allein die Reformen vorzuschlagen, die ihnen passten, und dies musste mit einer anderen Art Kritik und Anklage dessen verbunden werden, was in den Schulen, in den anderen Kranken­ häusern und in den Gefängnissen geschah. Es musste gezeigt wer­ den, wie sich diese Machtzentren formierten, und sie mussten an­ gegriffen werden, und zwar nicht durch eine spekulative Kritik, sondern durch eine wirkliche politische Organisation; es galt Gruppen zu bilden, die innerhalb der Irrenanstalten bestimmte Formen von Disziplin und Machtausübung infrage stellten. Soweit gut. Doch damit ist eine Reihe von Problemen nicht gelöst, die sich weiterhin stellen: Viele Leute schaffen es nicht zu arbeiten, viele Leute schaffen es nicht, ein Sexualleben aufrechtzuerhalten. Die von der Antipsychiatrie geleistete Kritik wird dieses Problem nicht lösen. Doch das Wesentliche ist, dass diese Probleme nicht mehr erneut von der medizinischen Macht besetzt werden, die sie neut­ ralisiert, indem sie ihnen einen bestimmten Status zuschreibt. Es gibt derzeit in Frankreich Gruppen von Kranken, wie man sie nannte - der Ausdruck ist zweideutig, sagen wir: Leute, die Schwie­ rigkeiten, Probleme haben -, die kleine Gemeinschaften bilden, die ihre Probleme zu lösen versuchen, indem sie sich gegenseitig stüt­ zen und Personen von außerhalb dazurufen, als »Regulatoren«. Sie sind Selbstverwalter ihrer eigenen Probleme. - Was halten Sie allgemein von Psychotherapie? - Es ist aus zwei Gründen schwierig, darauf zu antworten. Die Psychotherapie umfasst eine so große Anzahl unterschiedlicher Praktiken, von denen die einen nur Scharlatanerie, andere die Anwendung der traditionellsten psychiatrischen Macht auf der Ebene einer Privatklientel sind. Die Spannweite ist enorm. Es gibt aber interessantere Dinge. Ich kann zu dieser Frage keine Stellung beziehen. Außerdem glaube ich, dass die Intellektuellen nicht wieder damit beginnen dürfen, die Rolle zu spielen, die sie sich über lange Zeit zubilligten, und zwar die Rolle des moralischen Gesetzgebers, in allen Bereichen das gute und das schlechte Ge­

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wissen zu sein. Die Rolle des Intellektuellen ist die, sich mit den Personen zu verbinden, die von der Sache, die ihn interessiert, betroffen sind. Folglich weigere ich mich, zu Bereichen Stellung zu beziehen oder allgemeine Vorstellungen zu äußern, zu denen ich keine Verbindung habe. Ich bin über mehrere Jahre hinweg Tag für Tag in psychiatrischen Krankenhäusern gewesen. Ich bin über einige Monate in einem Gefängnis gewesen23und habe über mehrere Jahre an Gruppen von ehemaligen Gefangenen oder Fa­ milien von Gefangenen teilgenommen. Zur Psychotherapie habe ich keine spezifischen Kontakte. - Sind Sie bereits psychoanalysiert worden? - Ich habe es zweimal ausprobiert und habe es schließlich drei oder vier Monate später total gelangweilt aufgegeben... - Welche Art von Analyse? - Die traditionellste Freud'sche Analyse, die es gibt. - Ist das lange her? - Als ich Student war, und das zweite Mal so etwa zehn Jahre später. - Die Psychoanalyse ist in Frankreich sehr verbreitet, nicht wahr? - Ich könnte Ihnen das nicht in Zahlen beantworten. Aber ich kann sagen, dass es bis zu dem Buch von Deleuze {UAntiŒdipéf keinen halbwegs gewichtigen französischen Intellektuel­ len gab, der nicht psychoanalysiert worden war. Es gab zwei ab­ solut grundlegende Tätigkeiten: Wer nicht gerade dabei war, ein Buch zu schreiben, und wer nicht gerade dabei war, sich bei sei­ nem Psychoanalytiker auszuquatschen, hatte in der Pariser Welt keinen Platz. Darauf erfolgte eine jähe und gesunde Reaktion. 2 3

[A ls B e g le itu n g d e s G e f ä n g n is p s y c h o lo g e n v o n F r e s n e s in d e n f ü n f z ig e r J a h re n .]

Capitalisme et Schizophrénie: UAnti-Œdipe, P a r i s 1 9 7 2 ; Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, F r a n k f u r t a m M a i n 1 9 7 4 . ]

[ D e l e u z e , G . / G u a t t a r i , F ., d t.

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- Wie? - Das Buch von Deleuze ist die radikalste Kritik der Psychoana­ lyse, die jemals geleistet worden ist. Eine Kritik, die nicht vom Standpunkt der Rechten, von einer traditionellen Psychiatrie her oder im Namen des gesunden Menschenverstandes, im Namen wie dies bei der Kritik von Sartre der Fall war - des Bewusstseins, des cartesianischen Bewusstseins geleistet wurde. Im Namen einer äußerst traditionellen Auffassung vom Subjekt. Deleuze hat dies im Namen von etwas Neuem geleistet. Und mit ausreichender Kraft, was einen physischen und politischen Ekel vor der Psycho­ analyse hervorgerufen hat. - Die französische Bewegung zur Befreiung der Frauen hat die Psychoanalyse infrage gestellt... -Ja, wegen des maskulinen, phallozentrischen Charakters der psychoanalytischen Praxis. - Und Ihre Kritik bezüglich der Sexualität? - Während der letzten zehn oder fünfzehn Jahre hat man auf etwas vergröbernde Weise von der Annahme einer Repression, von der Macht als etwas Repressivem Gebrauch gemacht. Eine viel genau­ ere Analyse weist nach, dass das, was unterdrückt, etwas anderes ist, dass die Repression zugleich sehr positive und sehr schwer zu erklärende Wirkungen hat. Nehmen wir das Beispiel der infantilen Sexualität, genauer, des Verbotes der Masturbation, ein außerge­ wöhnliches Phänomen, denn es ist plötzlich und in jüngerer Ver­ gangenheit aufgetaucht: 1710 in Großbritannien, 1743 in Deutsch­ land, 1760 in Frankreich. Ein auf einem verallgemeinerten Imperativ gegründetes Verbot, ein Alarmruf aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Man muss sich die Dinge nur etwas genauer ansehen, um festzustellen, dass in der Gesellschaft nicht der Inzest verboten wurde, sondern eben die Masturbation. Nicht das Ver­ hältnis zum anderen, sondern das Verhältnis zum eigenen Körper. Die politische Macht hat sich nicht zwischen Kind und Eltern, Kind und Mutter gestellt und ihm gesagt: Du darfst sie niemals berühren. Nein, die politische Macht hat auf eine Weise gehan-

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delt, die ihm viel näher kommt, bis ins Innere des Individuums selbst, indem sie ihm sagte, dass er sich nicht berühren dürfe. Es ist merkwürdig zu sehen, dass in den Texten aus jenem Zeitab­ schnitt, den letzten christlichen Texten, die zum Komplex der »Gewissenslenkung« des 18. Jahrhunderts gehören, das Problem des Verhältnisses zum eigenen Körper ein Grundproblem ist. Ein augenscheinlich negatives und repressives Faktum bildet so in Wirklichkeit nach und nach die spezifische Modalität der infan­ tilen Sexualität aus. Und das Bild, das die kindliche Sexualität derzeit darbietet, hat sie dank der Macht angenommen, die sie mittels der Masturbation kontrolliert hat, einer Macht, die nicht allein aus Verboten gemacht scheint. Die Arbeit der politischen Macht am Körper des Kindes und innerhalb seiner eigenen Fa­ milie, in seinen Beziehungen zu den Eltern zu analysieren, ist das, was ich mir vorgenommen habe. Die Annahme eines Ver­ botes und eines repressiven Gesetzes erschienen mir als Erklä­ rung dessen, was geschehen ist, äußerst schematisch. - Besteht in dieser Frage der Unterdrückung der Masturbation irgendein Unterschied zwischen Mann und Frau? War die Klito­ risbeschneidung nicht eine radikalere Praktik? - Schon seit einem Jahr beschäftigt mich dieses Problem. Und als mir im letzten Jahr eine junge Frau dieses Problem stellte, ant­ wortete ich ihr, dass ich keinen Unterschied sehen würde. Und der, den es gibt, scheint mir nicht grundlegend zu sein. Als Form der Unterdrückung ist die Klitorisbeschneidung in Europa in gro­ ßem Umfang gegen die weibliche Masturbation eingesetzt wor­ den. Doch ungefähr zur selben Zeit, ein wenig zuvor sogar, wurde eine Reihe chirurgischer und medizinischer Maßnahmen an den Jungen {praktiziert}4. Man konnte nicht bis zur Kastration gehen (die Gattung musste erhalten bleiben), aber die Qualen waren schrecklich: Ausbrennen des Harnröhrenkanals usw. - Wann war das? - Praktisch während des gesamten 19. Jahrhunderts. Der Arzt von Napoleon spritzte in den Penis der Jungen, die masturbierten (und 4 [An dieser Stelle ist der Text verstümmelt.]

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wahrscheinlich auch in die weiblichen Sexualorgane), eine Natri­ umbikarbonatlösung. Und sowie er dann feststellte, dass dies das innere Gewebe der Blase verbrannte, setzte er eine Aderpresse auf den Penis. Diese verschiedenen Unterdrückungsarten haben mit den Jahrzehnten unterschiedliche Gestalten angenommen, aber ich kann nicht behaupten, dass ich auf grundlegende Unterschiede gestoßen bin, was Frau oder Mann betrifft. Aber ich bin ein Mann. - Welches sind die Gründe für die Sexualunterdrückung? -JLçh denke, dass die Antwort von( Reich f- die ^exualunterdrü^ (ckungjiient der Ausbildung des menschlichen Körpers als Ar­ beitskraft -, mag sie auch im Großen und Ganzen korrekt sein, nicht alles erklärt. Dies entspricht nicht dem wirklichen {Grund}5; die Kampagne gegen die Masturbation, auf die wir uns bezogen haben, hat bei den Kindern angefangen: bei Menschen, die noch keine Arbeitskraft darstellen. Und sie ist eine Kampagne gewesen, die innerhalb der Bourgeoisie ausgeübt wurde, eine Kampagne, die die Bourgeoisie an sich selbst ausübte. Um den Körper des Arbeiters ging es nicht. Im Fall des Arbeiters hat man große Auf­ merksamkeit auf den Inzest gelegt. Ich habe es noch nicht ge­ schafft, eine Antwort auf dieses Problem zu formulieren, aber sicher ist, dass man lange glaubte, dass eine gewisse sexuelle Regelhaftigkeit für ein gutes Funktionieren der Gesellschaft absolut unerlässlich sei. Nun, derzeit ist die sexuelle Regellosigkeit voll­ kommen tolerierbar. Der nordamerikanische Kapitalismus nimmt in keiner Weise Schaden daran, dass 20% der Bevölkerung von San Francisco aus Homosexuellen besteht. Ähnlich steht es mit dem Problem der Empfängnisverhütung. Es trifft nicht zu, dass die Geburtenförderungskampagne, die sich seit 1870 in Europa entwickelt hat, irgendeinen Effekt gehabt hätte. - Gehen wir wieder ein Stückchen zurück: Wovon geht die Kritik aus, die Deleuze und Guattari an die Psychoanalyse richten? - Diese Frage müsste an sie gerichtet werden. Jedenfalls, würde ich sagen, wurde bis zu ihrem Buch die Psychoanalyse als ein 5 [An dieser Stelle ist der Text verstümmelt.]

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vielleicht unvollkommenes, vielleicht unvollständiges Instrument, aber eben als ein Instrument zur Befreiung angesehen. Befreiung des Unbewussten, der Sexualität usw. Nun konnten aber Deleuze und Guattari am Freudschen Denken und am Funktionieren der Psychoanalyse zeigen, wie sehr die Psychoanalyse, so wie sie der­ zeit praktiziert wird, eine Unterwerfung der Libido, des Begeh­ rens unter die Macht der Familie darstellt. Dass die Psychoanalyse das Begehren ödipalisiert und familialisiert. Statt das Begehren zu befreien, unterwirft die psychoanalytische Praxis es» Ein weiterer Beweis für einen Machtmechanismus. Deleuze hat neue Begriffe entwickelt, die es erlaubten, einen Kampf fortzusetzen, der bereits über zehn Jahre anhält. - Welcher Kampf? - Sich von Marx und von Freud als Bezugspunkte für die Lösung der Probleme, wie sie sich in Europa darstellen, zu befreien. Denn weder Marx noch Freud sind für die Lösung dieser Probleme, zumindest so, wie sie sich in Europa darstellen, geeignet. Eine der Aufgaben dieses Kampfes, der seit ungefähr fünfzehn Jahren anhält, bestand darin, diese beiden Gestalten zu entsakralisieren. Und als Nächstes, neue Kategorien und neue Instrumente zu er­ finden. Nun, auch Lacan ist trotz der Tatsache, dass er vieles er­ funden hat, innerhalb des freudianischen Feldes anzusiedeln, was ihn daran hindert, neue Kategorien zu erschaffen. - Wie lassen sich diese beiden Arten des Kampfes, die besonderen Kämpfe (Gefängnisse, Frauen usw.) und ein mehr allgemeiner Kampf zu einer Einheit verbinden? - Das ist ein Problem. Wenn die besonderen Kämpfe unterschla­ gen werden, bekommen wir die Umsetzung der für die sozialisti­ schen Gesellschaften typischen Machtsysteme zu sehen: Bürokra­ tie, Autoritarismus, traditionelle Familienstruktur usw. Das ist dann Stalinismus. - In Surveiller et punir [dt. Überwachen und Strafen, Frankfurt am Main 1977] gibt es eine nicht-reformistische Auffassung vom Gefängnis. Aus dem Buch leitet man ab, dass es nicht darauf an-

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kommt, das Gefängnis zu reformieren, sondern es zu bekämpfen. Stimmt das? - Ich habe mich mit Reform und Nicht-Reform des Gefängnisses nicht befasst. Ich habe zu zeigen versucht, dass sich innerhalb des Strafvollzugssystems ein Bestrafungssystem erhält, ein System, das mit unserer Gesellschaft eng zusammenhängt und das sich durch die Kaserne, das Spital, die Schule usw. hindurchzieht. Was jetzt die Frage angeht, ob wir die Gefängnisse beibehalten müssen - oder nicht -, darauf kann ich keine Antwort geben. Meine Frage ist folgende: Wenn wir wirklich annehmen wollen, dass das Strafvollzugssystem, so wie es derzeit funktioniert, un­ zulässig ist, dann wird man auch zugestehen müssen, dass es Teil eines Machtsystems ist, das die Schule, die Krankenhäuser usw. umfasst. Und alle diese Mächte werden infrage gestellt. - Wie sieht Ihre Arheits-, Ihre Untersuchungsmethode aus? - Ich habe eine Art Krankheit, die in der Unfähigkeit besteht, autobiographische Interviews zu geben. Wichtig ist, was heraus­ kommt, nicht, was irgendwer tut. Außer diese Person hätte eine außergewöhnliche Dimension; ich glaube, dass Sartres Autobio­ graphie eine Bedeutung haben muss. Meine persönliche Ge­ schichte ist nicht weiter von Interesse. Außer durch meine Begeg­ nungen oder durch die Situationen, die ich erlebt habe. - Der Psychiater Alonso Fernandes hat versuch£, Ihre Kritiken am psychiatrischen Krankenhaus dadurch zu entwerten, dass Sie kein Arzt sind... - Das ist amüsant und kurios. Die Psychiater haben immer ge­ meint, ich hätte über Geisteskrankheit, über die Psychiatrie un­ serer Zeit und über das Funktionieren psychiatrischer Institutio­ nen gesprochen. Man braucht nur mein Buch zu lesen, um sofort zu erkennen, dass ich von Institutionen im Verhältnis zum Wahnsinn vom 16. Jahrhundert bis 1840 (Esquirol) gesprochen habe. Die Gereiztheit, die Verweigerung des »Rechtes, sich zu diesem Thema zu äußern, aufgrund der Tatsache, kein Psychiater zu sein« sagt alles. Eines Tages hat sich im französischen Radio

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ein Psychiater mit hochrotem Gesicht erhoben, mit der Faust auf den Tisch geschlagen und gesagt, dass ich »über derlei Dinge nicht sprechen könne, ich sei doch kein Arzt«. Ich hatte nur über Dinge gesprochen, die irgendein beliebiger Historiker kennen kann. Und die die Psychiater nicht kennen. Man muss nicht not­ wendig Psychiater sein, um zu wissen, wie die Internierung im 18. Jahrhundert durchgeführt wurde. Diese Gereiztheit ist die beste Bestätigung für das, was ich gesagt habe. Sie haben sich in einer historischen Wahrheit wieder erkannt. Und sie sagen sich: »Er ist im Begriff, von der Psychiatrie unserer Zeit zu spre­ chen.« Das heißt nämlich: Die im Jahre 1840 angewandten Me­ thoden sind noch aktuell! Dies erinnert an jenen Chef einer der­ zeitigen Regierung, der nach der Lektüre eines Buches über Napoleon entschied, den Autor des Buches festnehmen zu lassen, weil dieser ihn kritisierte! - Doch geht es dabei nicht, selbst wenn die Kritik aktuell sein sollte, was fraglich ist, um ein Problem der Epistemologie ?Darum, dass die Philosophie der Wissenschaft von »Spezialisten« gemacht werden müsste? - Selbstverständlich. Es gibt wunderbare Bücher über die Irren­ anstalten, die von Soziologen verfasst wurden. Es ist von Nutzen, kein Psychiater zu sein, um eben bestimmte Dinge erkennen zu können. Das ist eine Herausforderung, der ich mich stelle: die Konfrontation der von einigen Psychiatern verfassten Geschich­ ten der Psychiatrie mit der von mir verfassten. - Sie hatten an der Universität von Säo Paulo das Verständnis der psychosexueilen Genese und Entwicklung bei Freud, das Vorur­ teile über das Normale und das Pathologische enthält, und auch das Wachstumsmodell der Sexualität kritisiert: orale Phase, anale Phase usw., bis hin zur genitalen Phase, der wahren Reife. - Ich habe darüber nichts gesagt. Ich habe ein wenig die Annah­ me einer Unterdrückung bei Freud und die daran gebundenen Postulate analysiert. Ich habe die Verwendung des Modells des Über-Ichs in der politischen Analyse kritisiert, wonach die poli­ tische Macht wie ein großes Über-Ich funktionieren soll. Ich habe

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gesagt, dass man andere Instrumente erfinden müsse, um die Wir­ kungen der politischen Macht zu analysieren, dass Begriffe wie Zensur und Unterdrückung unzureichend seien. Ich habe die Art und Weise angesprochen, wie die politische Macht die Körper, die Sexualität usw. besetzt. - Stimmen Sie im Grunde philosophisch mit Deleuze überein? - Wir sind in einigen Punkten nicht einer Meinung, aber grund­ sätzlich stimme ich mit ihnen überein.6 Ich beziehe keine Position in der Polemik zwischen Deleuze und Lacan. Ich interessiere mich für das, was Deleuze macht. Ich denke, dass das, was an Wichtigem in Frankreich derzeit geschieht, an eine bestimmte Form des politischen Kampfes gebunden ist. - Wo sind Sie Professor? - An einem Unikum namens Collège de France. - Sie betreuen Doktoranden, Forscher? - Nein, ich führe nur Forschungen durch, die in zwölf Sitzungen pro Jahr vorgestellt werden. - Was halten Sie von der Universität und von der Rolle des In­ tellektuellen? - Nach 1968 waren alle einmütig der Ansicht, die Universität sei tot. Tot, ja, aber eben wie ein Krebs: sich ausbreitend. Zwischen den Schriftstellern, den Journalisten und den Universitätsleuten findet ein ständiger Austausch statt. Der große Schnitt, weshalb Baudelaire keinen Bezug zu den Professoren der Sorbonne hatte, existiert nicht mehr. Die Baudelaires von heute sind Professoren an der Sorbonne. - Und setzen Baudelaire fort? 6 [»ihnen« verweist sicherlich auf Deleuze, G./Guattari, F., UAnti-Œdipe; dt. AntiÖdipus.]

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- Wenn ich Professoren sage, so meine ich damit, dass sie von den Professoren und von den Studenten gelesen, kommentiert und gekauft werden. Nehmen wir das französische Beispiel: RobbeGrillet, Butor und Söllers lassen sich ohne das universitäre Audi­ torium, das sie angespornt, aufgenommen und analysiert hat, nicht begreifen. Ihr Publikum war ein universitäres. Baudelaire ist fünfzig Jahre nach seinem Tod in die Universität eingegangen. Gleichzeitig geht die vom Intellektuellen ausgefüllte Rolle des »Universalpropheten« unter. Die intellektuelle Arbeit ist zur Ar­ beit eines Spezialisten geworden. - Wird man nicht eine Synthese brauchen? - Die Synthese wird der Geschichtsverlauf, die Synthese wird die kollektive Gemeinschaft hersteilen. Wenn der Intellektuelle die Synthese dieser unterschiedlichen Aktivitäten herstellen will, nimmt er nur wieder seine alte feierliche und nutzlose Rolle auf. Die Synthese hat ihren Ort auf der Ebene historischer Kristalli­ sationen. - Stünde diese beschränkte Rolle des Intellektuellen nicht in di­ rekter Verbindung mit der Krise einer globalen philosophischen Perspektive? Einer in Wirklichkeit kontingenten Situation. - Ich habe nicht von einem Mangel an Synthese gesprochen, als etwas, an dem es fehlt, sondern von einer Errungenschaft: Endlich befreien wir uns von der Synthese, von der Totalität. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek

161 Eine Durchleuchtung von Michel Foucault » R a d io s c o p ie d e M ic h e l F o u c a u lt« ( G e s p rä c h m it J . C h a n c e l, io . M ä r z

1 9 7 5 ),

P a r is , É d . R a d io F r a n c e , 3. O k t o b e r 1 9 7 5 , S. 1 -1 4 .

- Michel Foucault, Sie sind Professor am College de France, Sie sind Philosoph, Denker, viele behaupten, Sie seien einer der größ­ ten Denker dieser Zeit. Sie sind achtundvierzig Jahre alt. Ich sehe

i 6 i Eine Durchleuchtung von Michel Foucault

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Ihre Bescheidenheit, die auf eine harte Probe gestellt wird. Wahr ist jedenfalls, dass Sie sich im Wissen eingerichtet haben; für die Studenten, für die Humanisten sind sie derjenige, der geschrieben, derjenige, der gesprochen hat Was für Verantwortungen! Ich möchte nun gern wissen, wie man zum Wissen kommt? Gibt es eine besondere Herangehensweise? - Zum Wissen kommen! Wissen Sie, man wird darin geboren. Wird nicht so einer wie ich, der zum Kleinbürgertum der Provinz gehört, der darin geboren ist, im Wissen aufgezogen, erhält der nicht das Wissen mit der Muttermilch? Und schon vor der Volks­ schule? Ein ganzes Milieu, in dem die Regel für das Dasein und für das Vorankommen im Wissen bestand; darin, ein wenig mehr als der andere zu wissen, ein klein wenig besser zu sein in der Klasse, ich stelle mir sogar vor, besser an meinem Fläschchen zu nuckeln als ein anderer, früher meine ersten Schritte gemacht zu haben als ein anderer... Der Vergleich, der Wettbewerb, mehr zu leisten als der andere, der Erste zu sein, so einer wie ich hat immer darin gelebt. Ich bin nicht zum Wissen gekommen, ich bin immer im Wissen gewesen; ich habe darin geplanscht. - Sie haben Glück gehabt? - Ist das Glück? Wenn ich sage, ich habe im Wissen geplanscht, so tue ich das, insofern ich im Grunde lieber versuchen würde, mich davon zu befreien; doch da es nicht möglich ist, sich von seinem Wissen zu befreien, muss man sich bemühen, andere Pfade zu finden, sich auf schrägem Wege durchzuschlagen, Winkelzüge zu veranstalten und schließlich etwas zu finden, das nicht zum Wissen gehört, es aber verdienen würde, zum Wissen zu gehören. Ein wenig [sues so, nicht wahr? - Als ich sagte, viele würden Sie für einen der größten Denker dieser Zeit halten, haben Sie mit dem Kopf Ihre Meinung mit­ geteilt, jedoch ablehnend, als seien Sie überrascht Nun, Sie müssen doch wissen, Michel Foucault, was Sie darstellen, was Sie sind. Zumindest werden Sie das, wenn Sie es nicht gehört haben, gelesen haben.

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- Ich glaube, was da geschieht, läuft ein wenig wie folgt ab: Neu­ lich sagte mir jemand, den ich sehr mag, Philippe Gavi, einer der Verantwortlichen von Libération: »Im Grunde ist das schon etwas Seltsames, dass nämlich der Mai 68 gleichwohl ein großer Auf­ stand gegen das Wissen, eine Erhebung des Nichtwissens war.« Ich gab ihm zur Antwort: »Nein, das ist es nicht, worum es geht. Ich glaube gar, dass es sich um das Gegenteil handelt: Es war ein Aufstand gegen ein bestimmtes Wissen, das in sich selbst ein Ver­ bot war, eine gewisse Anzahl von Dingen zu kennen.« Der Unterricht, die Erziehung, das vorschriftsmäßige und in­ stitutioneile Wissen vor dem Mai 68 waren bloße Gerippe. Man brauchte sich nur ansehen, was es in den Universitäten zu lernen gab. Das war weniger als nichts. Und in Wirklichkeit brachte der Mai 68 meines Erachtens eher eine Art großer Öffnung, einen Zusammenbruch der Mauern, eine Zerstörung der Verbote, eine Außerkraftsetzung der Barrieren und dann ein Hereinbrechen von neuen Wissensinhalten mittels einer neuen Art Wissen hervor. Deshalb fühle ich mich bei all dem gar nicht mal so schlecht. Ich habe mich immer für die Ränder, wenn Sie so möchten, für die Untergründe interessiert. Die Untergründe durchwühlen, sagte Nietzsche. So in etwa bin ich. Wenn man sich mit dem Wahnsinn beschäftigt hat, aber nicht in seinem ehrwürdigen Sinn, nicht der Wahnsinn in seiner großen Auseinandersetzung mit der Vernunft, sondern der alltägliche Wahnsinn und die Art und Weise, wie er eingefangen, disqualifiziert, eingeschlossen, verachtet, ge­ schmäht. .. - Vor allem verkannt. - Auch verkannt wird. Wenn man sich damit beschäftigt hat, dann findet man sich bei dem, was jetzt geschieht, ein klein wenig gleichsam in seiner natürlichen Heimat wieder. Aber ich würde in keiner Weise behaupten, dass ich ein großer Denker unserer Zeit bin. Die Dinge, mit denen ich mich seit fünfzehn oder zwanzig Jahren beschäftigt habe, sind einfach nur diejenigen, die jetzt wie­ der an die Oberfläche kommen. Ich war unter meiner Glocke auf dem Grund des Ozeans. - Sie waren voraus.

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- Voraus, nein; ich war darunter; ich komme mir ein wenig wie jener Typ vor, der ein Tauchmanöver unternommen hatte und sich unter seiner Glocke zwischen Sand und Fels befand. Und dann, siehe da, jetzt ist das Meer da, endlich, die Untergründe, sie stei­ gen an, und ich befinde mich fast an der Wasseroberfläche. Michel Foucault, Sie sagten gerade, Sie hätten im Wissen ge­ planscht, weil Ihre Erziehung Sie dazu getrieben hätte, ein wenig mehr als die anderen zu lernen, die weniger privilegiert waren,. Nun, haben Sie zu viel gelernt oder haben Sie schlecht gelernt? - Ich würde sagen, beides: zu viel, also schlecht; schlecht, also zu viel. Ich hatte über einige Jahre hinweg das Privileg, in Tunesien zu unterrichten. Und da hatte ich als Hörer, als Studenten Leute vor mir, die ihre Kindheit in einem wirklich analphabetischen Milieu verbracht hatten. Die Eltern konnten weder lesen noch schreiben; es gab keine Bücher im Haus; es gab noch nicht einmal Elektrizität; also kam es auch überhaupt nicht in Frage, zu Hause zu arbeiten. Den Zugang für diese Leute zum, sagen wir, Wissen können wir nicht begreifen, wir, die wir stets in diesem kleinen konkurrenzhaften Wissen genährt worden sind, das uns, glaube ich, alle oder fast alle umspült. - Sie haben viele Diplome? - Ich glaube, das kann man mit Ja beantworten. - Ist das belastend, ein Diplom, oder ein Sack mit Diplomen? - Nein. Es gibt einige darunter, die sind sehr, sehr belastend, das heißt diejenigen, für die man wirklich arbeiten musste, das heißt diejenigen, die man verdient. Diejenigen, die man nicht verdient, sind angenehm. Es sind die Einzigen, an die man sich mit Ver­ gnügen erinnert. Doch diejenigen, die man sich wahrlich nach zwei, drei Jahren Büffelei verdient hat, nun, das ist hart. Denn es kommt zu stilistischen Ticks, es drücken sich die Denkweisen, die total fertigen Schemata auf; und man hat furchtbar viel Mühe, sich davon zu befreien.

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- Und was denken Sie zum Beispiel über jene Kinder; die begabt waren und die einen großen Weg im Leben vor sich gehabt hätten und die dann stehen geblieben sind, weil sie, ich denke an Bauern, genötigt waren, ihren Hof oder den Hof ihrer Eltern zu halten, oder ich denke an Arbeiter, weil sie in die Fabrik gehen mussten. Sie waren dennoch unter den Begabtesten. Zwanzig Jahre danach erkennt man, wenn man ihnen begegnet, dass ihre Intelligenz in dem Moment stehen geblieben ist, als sie ihre Ausbildung beende­ ten. - Ich wäre vielleicht nicht ganz mit Ihnen einverstanden: Haben sie nicht im Gegenteil bewahrt, sie... - Ich stelle die Frage. - Einverstanden. - Ich stelle die Frage. Denn das ist der Weg, der wirkliche Weg, den die Intelligenz zu durchlaufen hat. - Ich würde sagen, dass man sie mit einer lebendigen, scharfen, nicht von der Institution vereinnahmten, nicht in die gewöhn­ lichen Kanäle des Diskurses eingepassten Intelligenz antrifft, und weiter sind sie es - ich behaupte nicht, dass aus ihnen die Verantwortlichen in den Gewerkschaften werden (man weiß schließlich häufig, wie sie rekrutiert werden) -, aber sie sind es, die in dem Moment, wo etwas geschieht, ein Streik, ein Konflikt, aufstehen und die richtige Analyse durchführen, den wirklichen Rat geben, die wahre Sicht der Dinge vortragen: aufgrund einer scharfen Intelligenz. Nehmen Sie einmal an, sie hätten studiert, oder sie hätten durch das Stipendiensystem oder was weiß ich die Chance gehabt zu studieren, und sie wären wie ich rechte oder linke Profs geworden. Wären Sie damit sehr interessant? - Sind Sie für den Unterricht? Verzeihen Sie diese etwas durch­ löcherte Stimme, aber. .. - Aber ich verstehe Sie sehr gut. Bin ich für den Unterricht? Den Unterricht...

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- Sie sind Lehrer. - Ich bin ein Lehrer, ein Minimum von einem Lehrer, insofern ich, wie Sie wissen, unterrichte, Vorlesungen gebe an einem O rt... - Sehr besonderen Ort - Sehr besonderen Ort, der eben die Funktion hat, nicht zu unter­ richten. - Und dieser Ort ist das College de France. -J a , und mir gefällt daran, dass ich nicht den Eindruck habe, dass ich unterrichte, das heißt dass ich einer Hörerschaft gegenüber eine Machtbeziehung ausübe. Der Lehrer ist derjenige, der sagt: »Hört zu, hier bekommt ihr eine gewisse Anzahl von Dingen, die ihr nicht wisst, die ihr aber in Zukunft wissen müsst.« Das um­ fasst somit eine erste Etappe, und die möchte ich, wenn Sie so wollen, Erzeugung eines Schuldgefühls nennen. Zweitens, diese Dinge, die ihr in Zukunft wissen müsst, ich, ich kenne sie, und ich werde sie euch lehren, und das ist das Stadium der Verpflichtung; und dann, wenn ich sie euch gelehrt haben werde, werdet ihr sie wissen müssen, und ich werde überprüfen, ob ihr sie wisst: Über­ prüfung. Also, eine ganze Reihe von Machtbeziehungen, die ich gerade aufgeführt habe. Am Collège de France sind die Vorlesun­ gen frei; es kommen die Leute, um sie zu hören, die sie hören wollen, ganz egal, wer. Das kann ein Oberst im Ruhestand, das kann ein vierzehnjähriger Gymnasiast sein; wenn es ihn interes­ siert, kommt er, wenn es ihn nicht interessiert, kommt er nicht. So dass letztlich; wer ist es, der geprüft wird, wer ist es, der unter der Macht des anderen steht? Ich würde sagen, dass es am Collège de France derjenige ist, der unterrichtet, der kommt und der er­ zählt ... - Er durchläuft eine Prüfung? - Er durchläuft eine Prüfung. Das ist seine Arbeit, er wird dafür bezahlt, jahrelang zu arbeiten und dann, zwölfmal pro Jahr, kommt

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er und gibt, stellt gewissermaßen die Bilanz seiner Arbeit auf, stellt sie einem Auditorium vor, und dann ist es an dem Auditorium zu sagen oder zu zeigen, ob es interessiert ist oder nicht. Ich jedenfalls habe, wenn ich meine Vorlesungen am Collège halte, Lampenfie­ ber; ich habe Lampenfieber, absolut, als ob ich Prüfungen durch­ laufen müsste, weil ich den Eindruck habe, dass im Grunde die Leute, das Publikum meine Arbeit überprüfen, zeigen, ob sie inte­ ressiert sind oder nicht; und wenn sie nicht den Eindruck machen, sie seien interessiert, bin ich, wissen Sie, ziemlich traurig. - Michel Foucault, wir werden hier keine Unterrichtsreform durchführen können; vor allem werden wir nicht die Zeit dafür haben, doch im Prinzip wird man in der Schule dazu gezwungen zu lernen, und eigentlich müsste doch die Schule ein Fest sein, man müsste glücklich sein, dorthin zu gehen, denn sie ist wahrlich der Grund und Boden für die Neugierde. Es muss also wesentliche Dinge geben, die zu lernen sind. Welche Dinge sind das? Außer Rechtschreibung, Rechnen, Lesen... - Ich würde sagen, dass man als Erstes lernen sollte - wenn es denn einen Sinn hat, so etwas zu lernen -, dass das Wissen den­ noch zutiefst mit der Lust verbunden ist, dass mit Sicherheit das Wissen erotisiert, dass das Wissen zu einer höchst angenehmen Sache gemacht werden kann. Dass der Unterricht das selbst noch nicht darzulegen vermag, dass der Unterricht beinahe die Funk­ tion hat aufzuzeigen, wie sehr doch das Wissen unerfreulich, trist, grau und wenig erotisch ist, das sehe ich als einen Gewaltakt an. Aber dieser Gewaltakt hat gewiss seinen Seinsgrund. Man sollte in Erfahrung bringen, warum unsere Gesellschaft ein so großes In­ teresse daran hat zu zeigen, dass das Wissen grau ist. Eben viel­ leicht der Zahl der Leute wegen, die aus diesem Wissen ausge­ schlossen sind. - Malen Sie sich nur einmal aus, was das Wort »Wissen« wiegt. -Ja.

- Wenn man Wissen sagt, dann ist das schön. Aber wenn man sagt, »das« Wissen...

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- Ja, das ist es. Stellen Sie sich vor, die Leute wären so versessen darauf zu wissen, wie sie darauf versessen sind, Liebe zu machen. Stellen Sie sich die Zahl der Leute vor, die sich vor den Schultoren drängeln würden. Aber das wäre ein totales soziales Desaster. Man muss eben, wenn man es so will, die Zahl der Leute, die Zugang zum Wissen haben, auf ein Minimum beschränken, es unter dieser vollkommen abweisenden Form präsentieren und die Leute nur durch damit verbundene bzw. soziale Belohnungen - eben die Konkurrenz oder die hohen Gehälter am Ende des Laufes - zum Wissen zwingen. Doch glaube ich, dass es eine dem Wissen innewohnende Lust gibt, eine libido seiende wie die gelehrten Leute sagen, von denen ich keiner bin. - Worin, Michel Foucault, besteht Ihres Erachtens die Verantwor­ tung der Eltern für den richtigen Kenntnisstand der Kinder? - Die Verantwortung, warten Sie, ich sehe sie nicht so recht. - Die Eltern haben eine Verantwortung für das Wissen ihrer Kin­ der. Wie sollen sie ihnen helfen?Denn es gibt sowohl die Eltern als auch die Lehrer. - Sie stellen mir eine Frage, auf die ich nicht so recht zu antwor­ ten weiß. Ich glaube, dass die Eltern genau durch das Interesse, das sie am Wissen ihrer Kinder zeigen, in Wirklichkeit den Kin­ dern eine wahre Angst vor dem Wissen mitgeben; denn in dieses Wissen der Kinder legen sie selbst ihren eigenen Ruhm hinein; mit Sicherheit legen sie ihre Opfer, ihre eigenen Zukunftsprojekte und auch ihre Rache in sie hinein. Kurz gesagt, ich glaube, dass der Druck, den die Eltern auf die Kinder ausüben, damit sie wissen, dass dieser Druck sehr, sehr stark mit Angst beladen ist. Die Kinder bemerken im Allgemeinen sehr schnell die Angst der Er­ wachsenen. Das ist die Sache, die sie zweifellos am besten erraten können. Und ich glaube, dass das einen sehr negativen massiven Druck ausübt. - Man braucht nichtsdestoweniger eine Belohnung, und diese Be­ lohnung ist das Diplom. Wie kann man das anders machen?

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- Wissen Sie, das Diplom dient einfach nur dazu, eine Art Waren­ wert des Wissens darzustellen. Es ermöglicht zugleich, diejenigen, die kein Diplom haben, glauben zu machen, dass sie kein Recht haben zu wissen und dass sie nicht fähig sind zu wissen. Alle Leute, die eine Diplomprüfung durchlaufen, wissen praktisch, dass das zu nichts dient, dass es keinen Inhalt hat, dass es leer ist, aber diejenigen, die die Diplomprüfung nicht durchlaufen ha­ ben, sind diejenigen, die dem Diplom seinen vollen Sinn verleihen; ich glaube, das Diplom ist genau für diejenigen gemacht, die es nicht haben. - Wenn Sie, Michel Foucault, keine Diplome erworben hätten, würden Sie dann die Plätze einnehmen, die Sie einnehmen? - Oh! - Nein! Denn Sie wären nicht aufgenommen worden. - Natürlich nicht. Im Prinzip kann man am Collège de France Professor sein, auch ohne zu büffeln. Aber es ist absolut nichtig, das zu sagen, weil in Wirklichkeit, wie Sie gerade ganz richtig sagten, wenn ich keine Diplome hätte, nun, dann hätte mein erster Verleger mein erstes Buch nicht angenommen, und dann usw., man kann das endlos weiter zurückverfolgen. Ich hätte noch nicht einmal irgendeine Möglichkeit gehabt, überhaupt an die Materia­ lien zu gelangen, die ich umwälzen konnte, um meine Bücher zu schreiben. - Sie haben immer gesagt, und das von Anfang an, dass man es sich verbieten müsse, in Ausdrücken von gut und böse zu denken. Wie halten Sie es heute mit dieser Maxime? Gilt sie mehr als einst? - Alle Leute, die sagen, man dürfe nicht in Ausdrücken von gut und böse denken, denken selbst zutiefst in Ausdrücken von gut und böse. - Nietzsche.

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- Natürlich. Zum Glück gibt er dieses Beispiel ab. Wer hat mehr als Nietzsche gesagt, was gut sei und was böse sei? - Gerecht oder ungerecht, wahr oder falsch. Kein Manichäismus. - Nicht in Ausdrücken von gut und böse denken wollen heißt, nicht in den derzeitigen Ausdrücken dieses Guten hier und dieses Bösen da denken zu wollen. Das ist es. Das heißt die Grenze zu verschieben, und zwar sie nicht einfach nur zu verschieben, um sie anderswo aufzurichten, sondern um sie unsicher zu machen, sie in Unruhe zu versetzen, sie zerbrechlich zu machen, Übergänge, Osmosen und Transits zu ermöglichen; das ist, glaube ich, das, was wichtig ist, aber es ist nicht möglich, nicht in Ausdrücken von gut und böse zu denken; es ist nicht möglich, nicht in Ausdrücken von wahr und falsch zu denken. Doch muss man jeden Augen­ blick sagen: Aber wenn es das Gegenteil wäre oder wenn es das nicht wäre, oder wenn die Linie woanders verlaufen würde... - Sie entfalten sich stets am Rande des Ernsthaften und des NichtErnsthafteny und mitunter fällt es schwer; Ihnen zu folgen. Wie hätten Sie es gern, dass man Ihnen folgt? - Das stimmt mich ein wenig traurig, wenn man mir das sagt. Es ist überhaupt nicht meine Absicht, von Hunderttausenden gelesen zu werden. Das ist nicht das Problem. Ich möchte einfach nur, dass man, wenn man mir die Ehre, das Vergnügen erweist, mich richtig zu lesen, sich nicht zu sehr verdrießt, das heißt als Erstes, dass man genau versteht, was ich meine, und ich ziehe es im äußersten Fall vor, ein kleines bisschen weniger zu sagen als etwas zu sagen, das genau das wäre, was ich meine, aber das sich aus diesem oder jenem Gründe als dem Publikum nicht zugänglich erweisen wür­ de. Und dann möchte ich gern, dass die Leute Lust dabei haben, mich zu lesen. Oft sagen mir die Leute: »Sie schreiben maniriert«, »Sie schreiben mit einer ein wenig überdrehten, ein wenig preziösen, ein wenig barocken Feder«. Umso schlechter für mich. Aber ich bestreite nicht, dass ich das möchte; schließlich bestreite ich nicht, dass ich so schreiben möchte, dass die Leute beim Lesen eine Art physischer Lust empfinden; ich würde beinahe sagen, dass dies die Höflichkeit desjenigen ist, der schreibt.

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- Sie sehen sich als einen Philosophen an? Gerade eben sind Sie zu dem Wort »Denker« auf Abstand gegangen. - Nein. Ich würde auch nicht »Gelehrter« sagen, weil »Gelehr­ ter« einen ganz bestimmten Sinn hat. Ein Mann des Wissens, ein Mann, der mit Wissen umgeht, der solches zum Vorschein bringt, der andere dazu für ungeeignet erklärt, der sich in dieser Art Spiel, dem Spiel des Wissens bewegt. Wissen Sie, Sie sind jünger als ich, Sie sind vielleicht nicht wie ich in meiner Jugend von einem Buch beeindruckt gewesen, nämlich dem Glasperlenspiel, das nichtsdestotrotz das große Epos oder die große Mythologie des Intel­ lektuellen des 20. Jahrhunderts ist. In das Spiel wird ein bestimm­ tes Problem gelegt: herauszubekommen, worauf es sich bezieht, und ob das rein spielerische Spiel, zu dem man letztlich verdammt ist, trotzdem mit einer gewissen Anzahl dem Spiel äußerlicher Vorgänge, ernsthafter Vorgänge, historischer Vorgänge kommuni­ zieren kann. Da beginnt meine Beunruhigung, und da beginnt auch die Lust. - Ich möchte dennoch einige Titel von Ihren Büchern angeben. Sie haben begonnen mit der Histoire de la folie à l’âge classique [dt. Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1969], und dann gab es so bedeutende Bücher wie Les Mots et les Choses [dt. Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main 1971], es gibt L’Ar­ chéologie du savoir [dt. Archäologie des Wissens, Frankfurt am Main 1973]. Und gerade haben wir über das Wissen gesprochen. Es gibt L’Ordre du discours [dt. Die Ordnung des Diskurses, Mün­ chen 1974f Wir werden gleich über die Bestrafung sprechen, Sur­ veiller et Punir [dt. Überwachen und Strafen, Frankfurt am Main 1973]' Aber dennoch ist da dieses erste Buch, das zweifellos ihrer Laufbahn die Richtung gegeben hat. Das ist die Histoire de la folie. Warum der Wahnsinn? Die Vernunft, die Unvernunft; ich sprach gerade vom Ernsthaften und Nicht-Ernsthaften. - Warum der Wahnsinn? Ich würde Sie gern ein wenig nach dem Wort »warum« fragen. - Sie weisen alles zurück und Sie schließen sich in die Abwesenheit ein.

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- Ach so! Sind sie abwesend? Diese Leute, die zu Tausenden, und wenn man einen der historischen Abläufe heranzieht, die zu Hun­ derttausenden tatsächlich eingesperrt worden, ins Loch gefallen sind, daran gelitten, darüber gesprochen, dort heraus geschrien und gebrüllt haben. Aus biographischen Gründen mag es erwiese­ nermaßen vielleicht nicht notwendig gewesen sein... Ich habe ken­ nen gelernt, was das war, eine Irrenanstalt. Ich habe diese Stimmen genau gehört und ich bin von den Stimmen, ich glaube wie jeder andere auch, erschüttert worden. Ich sage »jeder andere auch«, ich möchte sagen, mit Ausnahme der Ärzte. Und wenn ich sage, »mit Ausnahme der Ärzte und der Psychiater«, so überhaupt nicht aus einer Aggressivität ihnen gegenüber. Ich meine damit, dass ihr sat­ zungsgemäßes Funktionieren so sehr herausfiltert, was es im Spre­ chen eines Wahnsinnigen an Schreien geben kann, dass sie nur noch den intelligiblen oder inintelligiblen Teil des Diskurses vernehmen. Die Form »Schrei« ist ihnen eben durch den Filter ihres eingeführ­ ten Wissens, ihrer Kenntnisse unzugänglich geworden. - Michel Foucault, Sie sprechen von der Irrenanstalt, Sie sprachen gerade von der Irrenanstalt. Die Irrenanstalt ist immer noch Ihr Universum? - Nein, nicht so sehr. Ich würde sagen, dass mir von der Irren­ anstalt aus ein gewisses Problem deutlich geworden ist, das mich seitdem unaufhörlich umgetrieben hat, das Problem der Macht. Dass es nämlich nicht wahr ist, dass die Erkenntnis funktionieren könnte oder dass man die Wahrheit, die Realität, die Objektivität der Dinge entdecken könnte, ohne eine gewisse Macht, eine ge­ wisse Form von Herrschaft, eine gewisse Form von Unterwerfung ins Spiel zu bringen. Erkennen und unterwerfen, wissen und be­ fehlen sind innerlichst verbundene Dinge; das habe ich im Rein­ zustand in der Irrenanstalt entdeckt, in der das medizinische Wissen, das scheinbar ungetrübte beobachtende Erkennen des Psychiaters auf keine Weise von einer außerordentlich genauen, geschickt hierarchisierten Macht getrennt werden kann, die sich in der Irrenanstalt entfaltet und die wahrlich die Irrenanstalt aus­ macht. Dort ist mir das klar geworden... - Sie haben in diesem Moment gelitten?

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- Ja, selbstverständlich. Aber das, das ist ein Leiden, das alle Ir­ renanstalten ausschwitzen. Und jetzt, sehen Sie, ist das eine Sache, die aller Welt absolut bekannt ist. Nur noch eine letzte Nachhut von Psychiatern weiß das nicht. Zu was für einer Summe an Leid oder Aufbegehren führt das Macht-Wissen, das sie in der Irren­ anstalt regieren lassen! - Mitunter macht man aus dem Wort »fou« [»wahnsinnig«, »ver­ rückt«, »irre«] ein ordinäres Wort Man müsste ihm eine andere Bedeutung zubilligen. - Das Wort, das mir als das perfideste erscheint, ist nicht das Wort »fou«. Sicher, Sie haben die geläufige Verwendung: »Das ist ein Ver­ rückter«, »das ist verrückt«, die eine Disqualifizierung ermöglicht. - Weil der Wahnsinn bereits etwas anderes ist - Ja, doch das Wort ist gerade jetzt dermaßen abgenutzt, dass es nicht mehr viel Macht in sich hat. Das von mir gefürchtete Wort ist »geisteskrank«. Das heißt, dass von dem Moment an, da diese unbestimmte Person, über die man lachte, die man ausschloss, die man disqualifizierte, die man letztlich aber akzeptierte, die ein Teil des sozialen Plasmas war, dass von dem Moment an, da dieses Individuum einen genau bestimmten Status erhielt, es zum Kran­ ken wurde, und als Kranker muss es geachtet werden, doch als Kranker muss es auch unter eine Macht fallen, die kanonische und institutioneile Macht der Medizin. Und das ist der Übergang vom Verrückten zum Kranken, die scheinbar eine Requalifizierung, die aber auf einer anderen Ebene eine Machtergreifung ist. Das hat mich interessiert. - Michel Foucault, Sie haben so viele Dinge in Ihrem Kopf Sie haben so viele Kenntnisse, und dann lernen Sie alle Tage, und Sie haben besondere Begabungen, um vielleicht mehr zu lernen als andere, so dass man zu einem bestimmten Zeitpunkt Angst vor sich selbst bekommenkann. Nein? Ist es nicht schwierig, die Synthese zu bilden? - Doch gewiss, aber bilde ich denn die Synthese? Ich versuche nicht, das zu tun, und ich möchte es genau genommen auch nicht

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tun. Mich interessieren viel mehr diese Wissensfragmente, die man wieder entstehen lassen kann, denen man einen aktuellen politi­ schen Sinn geben kann, die man wie Waffen funktionieren lassen kann, ein Wissen, das gleichzeitig eine Strategie wäre, ein Wissen, das gleichzeitig eine Rüstung oder eine Angriffswaffe wäre. Das genau interessiert mich. Die Synthese würde die Geschichte des Abendlandes nachvollziehen oder ihre Kurve beschreiben oder ihr Schicksal festlegen; derlei Dinge interessieren mich nicht. Son­ dern das, was letztlich in der Hohlform unserer Geschichte, in der Nacht vergessener geschichtlicher Erinnerungen jetzt wieder auf­ genommen, angeeignet, ans Licht gezogen und in Gebrauch ge­ nommen werden kann, das interessiert mich. - Aber Sie haben sehr viel über die Geburt der Geisteskrankheit geforscht. Gibt es eine Geburt? - Ja, letztlich ist es eben die Geburt jenes komplexen Ganzen, das erstens aus einer Krankheit, einer Form von Krankheit, betrachtet als Geisteskrankheit, besteht. Zweitens aus einer Klasse von Ärzten mit Namen »Psychiater«. Drittens aus einer Reihe von Institutio­ nen, unter denen Sie natürlich die Irrenanstalten finden, aber auch die medizinisch-psychologischen Institute, aber auch die psycho­ analytischen Behandlungszimmer, aber auch die psychiatrischen Behandlungszimmer. Dieses umfassende Ganze nenne ich im We­ sentlichen die Geburt der Geisteskrankheit. Das ist der Wahnsinn als Institution, wenn Sie so wollen, in unserer Gesellschaft. - Nun, braucht man alle diese Einrichtungen? - Man soll immer noch glauben, dass sie für unsere Gesellschaft als notwendig erachtet wurden, denn Sie sehen ja, welche Aus­ dehnung sie haben. Anfangs habe ich mich für die Irrenanstalt interessiert, für ihre hohen Mauern, für ihre trotzdem sehr er­ schreckenden räumlichen Anlagen, die im Allgemeinen neben den Gefängnissen im Herzen oder am Rande der Städte stehen, undurchdringliche räumliche Anlagen, Räume, in die man eintritt, aus denen man aber viel seltener wieder herauskommt, und in denen jene zweifellos aufmerksame, zweifellos peinlich genaue, also zweifellos durch die Wissenschaft gewährleistete Macht re­

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giert, die aber dennoch gegenüber den Normen und Regeln des allgemeinen sozialen Funktionszusammenhangs außerordentliche Ausnahmen aufweist. Ich habe also begonnen, mich dafür zu interessieren. Schließ­ lich, ist die psychiatrische Macht nicht umso mächtiger, je heim­ tückischer sie ist? Nämlich in dem Moment, wo Sie sie an anderer Stelle als an ihrem Geburtsort antreffen, wenn sie nicht in ihrem normalen Bereich, wo sie sich einzumischen hat, eben dem der Geisteskrankheit, sondern überall anderswo fungiert; der Schul­ psychiater, der genau dann, wenn ein kleiner Junge mit seinen Prüfungen nicht zurechtkommt, seine Nase hineinsteckt und sagt: »Aber was läuft unterhalb ab? Welches Gefühlsdrama, welcher familiäre Konflikt, welche Unterbrechung der psycho-physiologischen, der psycho-neurologischen Entwicklung liegt dem zu­ grunde?« Das sexuelle Problem, das der Heranwachsende hat: Was macht die Familie? Sie schicken ihn zum Psychiater oder sie schicken ihn zum Psychoanalytiker. Ein Junge begeht eine Straftat: ab ins Gefängnis; psychologischer Test, er kommt vors Schwurgericht, der obligatorische psychiatrische Test, usw. - Nun, damit steht aber die Frage im Raum: »Vielleicht sind wir alle verrückt?« - Nein! Das gestellte Problem lautet: »Sind nicht die Mächte gegenwärtig an eine besondere Macht gebunden, die Macht der Normierung?« Ich meine damit: Sind nicht die Normierungs­ mächte und -techniken in unserer jetzigen Zeit eine Art General­ instrument, von dem Sie ein bisschen überall finden, in der Insti­ tution Schule, in den Strafeinrichtungen, in den Werkstätten, in den Fabriken und in den Verwaltungen, als eine Art General- und generell akzeptiertes, weil wissenschaftliches Instrument, das es erlauben wird, die Individuen zu beherrschen und zu unterwer­ fen. Mit anderen Worten, die Psychiatrie als Generalinstrument zur Unterwerfung und Normierung der Individuen. Das ist so ein klein wenig mein Problem. - Michel Foucault, es gibt ein weiteres Werk, auf das Sie sich eingelassen und das Sie erfolgreich abgeschlossen haben. Das ist ein Buch, das bei Gallimard erscheint, Surveiller et Punir. Dieses

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Mal haben Sie die Analyse der Beziehungen zwischen den Verbre­ chen der Menschen und den von der Gesellschaft zu ihrer Bestra­ fung verwandten Methoden durchgeführt. Nun kann man sich die Frage stellen, und ich glaube, dass sie leicht zu beantworten ist: »Seit wann straft man? Von Anfang an?« - Seit wann straft man? Man kann sagen, von Anfang an, ja doch. - Dies ist wirklich die erste Bestimmung gewesen? - Die erste Bestimmung: Zu strafen? Oder bestraft zu werden? - Bestraft zu werden. - Ja, wenn Sie so wollen. Schließlich, immerhin findet man wahr­ scheinlich keine sozialen Gruppen ohne Bestrafung. Was mir um­ gekehrt für unsere Gesellschaft ziemlich bezeichnend erscheint, ist die Überwachung. Deshalb hätte ich mein Buch eigentlich Punir et Surveiller nennen müssen. Die Überwachung ist seltsa­ merweise eine der Arten, ich sage nicht exakt, zu strafen, aber die strafende Macht funktionieren zu lassen. Mir scheint, dass noch im 18. Jahrhundert die Zahl der Leute, die tatsächlich den Geset­ zen entkommen konnten, unter deren Gewalt sie normalerweise hätten fallen können, immens war. Die Strafvollzugsmacht, die Macht zu strafen war eine diskontinuierliche, lückenhafte Macht, voller Leerräume, voller Löcher, was erklärt, dass die auferlegten Strafen, sobald man eines Verbrechers habhaft wurde, beträchtlich waren, und um so beträchtlicher, als eben die anderen frei he­ rumliefen und man, wie es hieß, ein Exempel statuieren musste. Das Entsetzen über das Schreckliche sollte die Diskontinuität der Bestrafung kompensieren. Meinem Eindruck nach hat man sich seit Ende des 18. und mit Beginn des 19. Jahrhunderts um die Erhaltung einer strafenden Macht bemüht... - Gibt es in dem, was Sie machen, immer nur die Macht? - Ja, immer. Strafende Macht, die eben in dem Maße sanfter sein konnte, wie sie kontinuierlicher war und im Prinzip niemand sich ihr entziehen konnte.

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- Ja, aber trotzdem war die Bestrafung eine Notwendigkeit -J a . - Um nicht irgendetwas zu machen. - Natürlich. - Sie wurde auch in den alten Zeiten auf diese Weise wahrgenom­ men? Heute hat man ja den Eindruck, dass der Gauner bald besser angesehen ist als das Opfer. - Nein... ja, vielleicht. Das heißt, ich glaube, es ist etwas gesche­ hen - ich verstehe Ihre Frage jetzt besser -, man hat jetzt sehr, sehr große Schwierigkeiten damit zu strafen. Einst stellte das kein Problem dar, weder moralisch noch politisch. - Einst störte das niemanden. - Umgekehrt strafen jetzt die Richter und tun sich schwer damit. Wenn Sie aber versuchen, sie zu fragen, warum sie strafen, wie sie es rechtfertigen, dass sie strafen, so erklären sie Ihnen eben selten, dass es Strafe, sondern stets, dass es Buße sei. Sie werden Ihnen sagen, dass sie letztlich sicherlich strafen, um ein Exempel zu statuieren, aber vor allem, um zu kcrrigieren, um zu bessern. Sie halten sich für Techniker des Verhaltens, des Verhaltens des bestraften Individuums, das im Prinzip am Ende seiner Bestrafung gebessert sein soll. Und es ist gleichermaßen eine Korrektur des Verhaltens der anderen, die durch dieses Beispiel verstehen sollen, dass es nicht in ihrem Interesse liegt, eine derartige Handlung zu begehen. Der Richter ist also nicht der Vertreter der Souveränität und des Souveräns, der für ein Verbrechen büßen lässt. Er ist der Techniker des Verhaltens, der die Strafe an der Korrekturwirkung bemessen muss, die sie auf den Schuldigen oder auf andere haben wird. Und daher, wie Sie richtig sehen, straft er nicht. Er sagt: »Ich korrigiere.« Das heißt: »Ich bin eine Art Arzt.« - Doch in diesem Werk, Michel Foucault, Surveiller et Punir, be­ ginnt alles im Schrecken, weil es am Anfang diese Erzählung von

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der langen Marter Damiens, des Königsmördersygibt. Das ist doch unglaublich, dass man so weit geht. Gut, er hatte getötet, vielleicht verdient er es, getötet zu werden. Doch auf diese Weise getötet zu werden, und das Schauspiel fand auch noch zum Zeitpunkt der Marter statt, und es war das Schauspiel von Zuschauern, die glück­ lich waren. Nun, könnten auch heute noch die Zuschauer in einem schweren Fall ein solches Glück bekunden? - Oh! Wissen Sie, das ist ein sehr schwer zu lösendes Problem. Das ist eine schwerwiegende Frage, die Sie da stellen. Es ist ab­ solut sicher, dass es, so wie die Dinge liegen und so wie die Gesell­ schaft ist, wenn man die Bestrafungen der freien Entscheidung und dem freien Willen der so genannten öffentlichen Meinung überließe, schrecklich wäre, glaube ich. Ich erinnere mich noch genau daran: Vor zwei oder drei Jahren gab es, ich glaube, an der Porte de Versailles ein Meeting über die Todesstrafe. Ich bin mit einigen Freunden, von denen die meisten aus dem Gefängnis ka­ men, dorthin gegangen. Wir sind vor dem Meeting in den Cafés einen trinken gegangen, und wir haben die Cafébetreiber, die Be­ dienungen und die Mädchen, die da waren, befragt. Alle sagten: »Ein Meeting gegen die Todesstrafe, wo man doch die ganzen Leute, die den wehrlosen Alten ihre Handtasche wegreißen, alle­ samt guillotinieren müsste, für alle den Tod.« Das war nur ein allgemeiner Aufschrei rund um dieses Meeting herum, das den­ noch Tausende von Personen zusammenbrachte, die die Abschaf­ fung der Todesstrafe forderten. - Ein Leben für ein Leben. - Ich glaube, man kann ganz grundsätzlich Folgendes sagen: Das Strafvollzugssystem, so wie es funktioniert, wird ganz und gar nicht akzeptiert. Es wird kein bisschen akzeptiert, würde ich be­ haupten. Es wird weder von denen akzeptiert, auf denen es lastet, noch von den anderen. Es ist in Wirklichkeit ein Verwaltungs­ apparat, den das gesellschaftliche Bewusstsein seit hundertfünfzig, einhundertfünfundsechzig Jahren, so lange existiert es jetzt, in keiner Weise integriert und assimiliert hat.

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- Michel Foucault, sezf der Marter des Königsmörders Damien hat es dennoch Fortschritt gegeben,, z/zzd ezzzezz großen Fort­ schritt? - Sie möchten, dass ich sage, dass man jetzt nicht mehr martert. Das stimmt, man martert nicht mehr. Doch letzten Endes wissen Sie genau, dass die Martern jetzt den Ort gewechselt haben, und dass die Polizei, die ebenfalls eine neue Institution ist, just aus der Zeit datiert, da die Martern verschwanden. Damals wurde die Anweisung ausgegeben: Nicht länger einige große glanzvolle Martern, und die anderen Verbrecher lässt man laufen, sondern jeder muss systematisch bestraft werden, so dass jedes Verbre­ chen bestraft wird. Von genau diesem Moment an musste die Justiz durch eine neue Institution unterfüttert werden, und das war die Polizei. Nun wendet aber die Polizei, Sie wissen das vollkommen, um die Wahrheit herauszubekommen, in zuneh­ mendem Maße gewaltsame Mittel an. Die Polizei martert. Die Armee, wenn sie Polizeiaufgaben übernimmt - wie das der Fall in Algerien unter dem Kommando von Massu oder des derzei­ tigen Ministers Bigeard war -, die Armee hat tatsächlich gemar­ tert. Es hat also einen funktionalen Ortswechsel der Marter ge­ geben. Aber die Marter ist in unserer Gesellschaft nicht verschwunden. - Man muss aber gleichermaßen anerkennen, Michel Foucault, dass der Westen darin kein Privileg hat. - Ganz sicher nicht! - Von Sibirien bis China, und es gibt da noch viele weitere Län­ der. .. und Sie sprechen von Algerien; auf der anderen Seite war das nicht besser. - Sehr interessant daran ist, dass man eben zu sehen bekommt, dass diese durch die Überwachung, die bis ins Kleinste gehende soziale Erfassung und die Gefangennahme - sei es in Haftanstal­ ten, sei es in Lagern, sei es in Arbeitslagern - gebildete Mechanik, dass diese Formel letztlich gegenwärtig in sämtlichen politischen und sozialen Zusammenhängen aufgegriffen wird. Dies war eine

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so gewaltige und so wunderbare Erfindung, dass sie sich nahezu wie die Dampfmaschine verbreitete. Die Geschichte, die histo­ risch-geographische Entwicklung dieser Institution der Einsper­ rung zu Strafzwecken, die in Europa in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstand und die jetzt zu einer generellen Rah­ menform für die Mehrzahl der modernen Gesellschaften, für die kapitalistischen wie für die sozialistischen, geworden ist, ließe sich perfekt nachzeichnen. Darin stimme ich mit Ihnen voll und ganz überein, voll und ganz. - Doch damit bekommen Sie es nicht aus dem Gemüt der Leute heraus, dass ein Verbrechen durch Leiden bestraft werden muss? Es ist noch heute der Fall', es ist das, was Sie gerade sagten; diese Leute, die sagten: »Aber was denn? Es wurde gestohlen, es wurde getötet? Da gibt es nur eins, töten.« - Was ich verständlich machen wollte, ist im Grunde Folgendes: In der Tat, wenn die Leute angegriffen werden, wenn man ihnen ihr Geld wegnehmen will oder wenn man ein Mitglied Ihrer Familie anhaut, dann ist es absolut selbstverständlich, dass sie nach etwas verlangen, das Nietzsche Rache nennen würde. Aber das ist nicht zulässig, und das bleibt für die Leute eine gleichsam schwer zu ertragende Abstraktion, dass nämlich dieses Bedürfnis nach Rache gewissermaßen durch eine Form politischer Macht beschlagnahmt worden ist, und dass das ganze Strafvollzugssystem jetzt auf eine allgemeine Form politischer Kontrolle aufgepfropft ist, die auf der Gesellschaft als Ganzer lastet. Dieses Bedürfnis nach Antwort, dieses Bedürfnis nach Rache, dieses Bedürfnis nach Kampf gegen denjenigen, der sie angegriffen hat, ist so an eine gesellschaftliche Institution und eine allgemeine politische Form übertragen wor­ den, in der sidh die Leute nicht wieder erkennen. - Michel Foucault, haben Sie Kinder? - Nein. Ich bin nicht verheiratet. - Wenn Sie Kinder hätten, und wenn man Ihrer Tochter oder Ihrem Sohn etwas Böses antun würde, wenn man sie töten wür­ de oder ihn töten würde, wie wäre Ihre Reaktion? Haben Sie

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daran gedacht, als Sie dieses Werk schrieben? Das ist so überaus wichtig. -J a , ich kann nicht behaupten, dass ich daran gedacht habe... - Aber Sie haben an andere denken können, die in genau dieser Lage waren, die reagiert haben... - Absolut, vielleicht ist mein Buch nicht klar genug... - Es ist sehr klar.; doch, doch. - Dieses Buch ist absolut keine Apologie des Verbrechens. - Nein, ganz und gar nicht. - Im Gegenteil, mir scheint, dass es seit dem beginnenden 19. Jahrhundert eine ganze, von mir so etwas eilig als bürgerlich bezeichnete Literatur eines Loblieds auf das Verbrechen gab, eine Art Ästhetik des Verbrechens, der Mord als eine der schönen Künste betrachtet. - Aber das ist eher ein Ausmalen der Pein. - Und ich denke, dass dies eben ein Teil des allgemeinen Kontrollund Unterjochungssystems ist... Mir scheint auch, und das ist wichtig, dass die moderne Gesellschaft, die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, es dahin gebracht hat, gleichsam einen freien Raum für die Delinquenz wirklich zu organisieren und einzurich­ ten; denn letzten Endes sind die Delinquenten nützlich für die Ge­ sellschaft. Dies dient zu vielerlei. Und eben insofern gab es de facto eine wirkliche Toleranz gegenüber der Delinquenz oder zumindest gegenüber bestimmten Formen von Ungesetzlichkeit. Folglich darf mein Buch keineswegs so gesehen werden, als wolle es sagen, zu strafen sei sehr schlecht, strafen wir nicht, und wenn doch einer den anderen um die Ecke bringt, setzen wir ihm eine kleine Krone auf. - Mit dem, was Sie sagten, Michel Foucault, wollen Sie schlichtweg die Bestrafung humanisieren.

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- Nein, ich möchte zeigen, dass die Art und Weise, wie man straft, derzeit sehr eng mit einer bestimmten Form von Macht und politischer Kontrolle verbunden ist, die man in den kapitalis­ tischen und ebenso in den sozialistischen Gesellschaften findet. Und das macht aus, dass die Leute, ob nun in den ersten oder den zweiten dieser Gesellschaften, dieses Bestrafungssystem nicht er­ tragen, nicht verstehen und ihm im Grunde nicht zustimmen, auch wenn sie selbst tatsächlich den Wunsch haben, dass die Leute bestraft werden, wenn sie so einiges auf dem Kerbholz haben. - Verbreitete die Bestrafung nicht trotzdem einst eine Lust an der Grausamkeit? Denn Salz in bereits offene Wunden zu streuen, nicht zu töten, sondern zu vierteilen, das besagt zweifellos etwas. - Selbstverständlich... - Geschah das aus Unkenntnis? - Oh nein! Das hatte überhaupt nichts mit Unkenntnis zu tun. Das war im Gegenteil ein sehr genau bestimmtes Ritual. - Das Ritual des Henkers... ... der an eine andere Form politischer Macht gebunden war, an die im Namen des Souveräns und im Umkreis gewissermaßen der physischen Person des Souveräns ausgeübte politische Macht. In den Monarchien des späten Mittelalters, des 12. und des 13. Jahr­ hunderts, rührte jedes Individuum, das ein Gesetz brach, an den Willen des Souveräns, denn das Gesetz war der Wille des Souve­ räns. Es fand also im Herzen des kleinsten Verbrechers ein kleiner Königsmord statt. Ich glaube, dass man die große Zeremonie der Marter als eine Art politisches Ritual ansehen muss. Die Krönung des Königs war ein politisches Ritual. Sein Eintritt in eine Stadt war ebenfalls ein politisches Ritual. Die Martern waren eine Art weitaus alltäglicheres politisches Ritual, das darin bestand, die physische, materielle Kraft in ihrem vollen Glanz, in ihrer vollen Gewalt zu bekunden, und der Körper des Gemarterten mit seinen Wunden wie auch die Schreie des Gemarterten in seinem Gebrüll sollten die glanzvolle Kraft des Souveräns aufzeigen.

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- Michel Foucault, wenn ich Sie recht verstehe, ich Ihnen richtig zugehört habe, dann ist die Bestrafung in Wirklichkeit die Behauptung einer Macht. Nun wird es aber immer Bestrafung geben, da es immer eine Macht geben wird und die Macht überall ist, unabhängig von den jeweiligen Ordnungen. Aber man braucht eine Macht. Sind Sie für eine Hierarchie? - Das Problem ist herauszufinden, ob die Macht zwangsläufig an diese uns bekannten Formen einer Hierarchie oder überhaupt an Hierarchie gebunden ist. - Aber wird es denn eines Tages eine Welt geben, in der jeder, jeder Staatsbürger frei sein wird zu tun, was er will? - Nein, die Beziehungen zwischen den Individuen sind, ich wür­ de nicht sagen, vor allem, aber sie sind auf jeden Fall auch Macht­ beziehungen. Und wenn es etwas Polemisches in dem gibt, was ich zu sagen oder zu schreiben vermochte, dann ist es, glaube ich, schlichtweg dieses: dass man auf der einen wie auf der anderen Seite, glaube ich, zu oft verleitet wird, zu oft verleitet wurde, der Existenz dieser Machtbeziehungen nicht Rechnung zu tragen. Wenn ich sage, auf der einen wie auf der anderen Seite, dann denke ich genau an Folgendes: Es gab die traditionelle, univer­ sitäre, spiritualistische - wie Sie möchten - Philosophie, in der die Beziehungen zwischen Individuen ;m Wesentlichen als Verste­ hensbeziehungen, Beziehungen dialogischer, verbaler, diskursiver Art angesehen wurden: Man verstand sich oder man verstand sich nicht. Und dann haben Sie die Analyse marxistischer Art, die die Beziehungen zwischen den Leuten im Wesentlichen von den Pro­ duktionsbeziehungen her zu bestimmen versucht. Mir scheint, dass es genauso fundamental wie die Verstehens- oder diskursiven Beziehungen und genauso fundamental wie die ökonomischen Beziehungen Machtbeziehungen gibt, die mit unserer Existenz voll und ganz verwoben sind. Wenn man Liebe macht, bringt man Machtbeziehungen ins Spiel; diesen Machtbeziehungen nicht Rechnung zu tragen, sie zu ignorieren, sie im ungezügelten Zu­ stand wirken zu lassen oder es im Gegenteil zuzulassen, dass sie von einer staatlichen Macht oder einer Klassenmacht beschlag­ nahmt werden, das genau muss man, glaube ich, versuchen zu

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vermeiden. Die Machtbeziehungen zum Erscheinen zu bringen, heißt, so wie ich es verstehe, auf jeden Fall zu versuchen, sie gewissermaßen wieder in die Hände derer zu legen, die sie aus­ üben. - Und durch wen wird in einer Gesellschaft das Gleichgewicht wiederhergestellt? Durch den Herrscher oder durch den Be­ herrschten? - Die Machtbeziehungen sind strategische Beziehungen, das heißt dass jedes Mal, wenn der eine etwas tut, der andere gegen­ über ein Verhalten entwickelt, ein Verhalten, das gegen-besetzt, sich bemüht, dem zu entgehen, einen Umweg einschlägt oder sich auf den Angriff selbst stützt. Folglich ist in diesen Machtbezie­ hungen nichts jemals stabil. - Aber Sie, Michel Foucault, Sie legen ein furchtbar großes Ver­ trauen in die Menschen. Sie schätzen, dass der Mensch besser wer­ den kann, und dies in jedem beliebigen Fall, selbst wenn er das Schlimmste getan hat. - Besser werden? - Als Erstes, ist es ein Besserwerden? - In Wirklichkeit werde ich etwas ungeheuer Naives sagen, aber ich habe bis dato nur Naives gesagt, dies wird nur ein weiterer Fall sein. Besser werden vielleicht nicht, er muss glücklicher sein kön­ nen, er muss die Menge an Lust, zu der er in seinem Dasein fähig ist, vergrößern können. Schließlich hat man nicht soviel Lust in seinem Dasein. Man muss sie in recht großer Ferne suchen, und sie ist recht selten. - Sie ziehen also eine pessimistische Bilanz. - Nein, nicht pessimistisch, eine Diagnose... - Denn Sie sprechen ein wenig von sich selbst, wenn Sie sagen...

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~ Wenn Sie unter Diagnose die Beschreibung verstehen, die man für die aktuelle Situation abgeben kann, dann würde ich sagen: »Ja, ich bin pessimistisch«, doch man muss in dem Maße pessimis­ tisch sein, wie man die Dinge unter Umständen schwarz färben muss, um eben die Aufgaben dringlicher und die zukünftigen Möglichkeiten lebendiger und deutlicher zu machen. - Michel Foucault, der Denker; der Sie sind, spricht von seiner Naivität. Spricht er von seiner Naivität, um dem, was er sagt., weniger Bedeutung zu verleihen? - Ich möchte, dass Sie mir ein ganz klein wenig Vertrauen ent­ gegenbringen, wenn ich sage, dass ich mit dem, was ich sage oder was ich tue, keine sehr große Bedeutung verbinde. - Die anderen verbinden Bedeutung damit, und das wissen Sie doch auch? - Aber nein, aber nein. Das glaube ich nicht. Auf jeden Fall liegen darin Wirkungen vor, die ich eben als Macht- oder institutioneile Wirkungen bezeichnen möchte, die ausmachen, dass aufgrund meines Alters, aufgrund der Bücher, aufgrund von diesem oder jenem... - Ihres Alters, wie alt sind Sie denn? Sie sind achtundvierzig Jahre alt? ~ Ja, und das ist schon mal nicht schlecht. Nein, aber umgekehrt hätte ich die Chuzpe zu behaupten, dass die Dinge, die geschehen und in die ich mich auf die eine oder andere Weise einzumischen versucht habe, ziemlich wichtig sind, wie ich glaube. Wenn man Anfang der sechziger Jahre damit begonnen hat, sich mit dem Wahnsinn zu beschäftigen, wissen Sie, da war man so ziemlich allein. Wer in der Tat war denn der Ansicht, die psychiatrische Macht wäre etwas, das sogar uns normale Leute in unserer alltäg­ lichen Existenz bedrohen würde? Davon gab es sehr wenige. Mein Buch, wissen Sie, von wem in Frankreich es aufgenommen wurde? Von Maurice Blanchot, von Barthes. Es hat nicht einen Psychiater gegeben, der sich dafür interessierte. Es hat gar einen

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gegeben, der stand eines Tages im Verlauf einer Radiosendung auf und sagte zu mir: »Sie haben nicht das Recht zu sprechen. Sie sind kein Arzt.« Das war der Doktor Baruk. Und es hat nicht einen Marxisten gegeben, der über das gesprochen hätte, was ich über die Psychiatrie oder über die Medizin zu schreiben versucht habe. Wenn man sich mit dem Mehrwert befasste, sollte man sich dann mit etwas so unendlich Kleinem wie der Geisteskrankheit, dem Wahnsinn befassen? Man beschäftigte sich damit herauszubekom­ men, ob man Pawlow und die bedingten Reflexe in der Psychiatrie verwenden konnte. Das, das war ihr Problem. Damals waren das Dinge, die zu jener Zeit wenig Bedeutung hatten, und schließlich sorgten die britischen Antipsychiater Laing und Cooper dafür, dass das Problem der Psychiatrie in die Aktualität einfloss. Dann kamen die politischen Bewegungen von vor Mai 68, aber vor allem die des Nach-Mai 68. Ich glaube, dass dieser Kampf gegen die Psychiatrisierung unseres Daseins eine derzeit wichtige Sache ist, und eben insofern stelle ich vielleicht eine eitle Behauptung auf, aber das, was ich darin tue, was ich in diesem Prozess sage, scheint nicht, glauben Sie mir, ich bin da ehrlich, scheint mir nicht von sehr, sehr großer Wichtigkeit zu sein. Sie könnten meine Person und meine Bücher wegstreichen, das würde praktisch nichts ändern. - Ja, sicherlich. Man landet am Ende hei dem Satz: »Die Fried­ höfe sind voll von unersetzlichen Leuten«, aber das ist ein genauso billiger Satz. Niemand hätte genau in diesem Moment existiert. - Ich mag diese Art Gefühl, das für mich ganz und gar nicht negativ ist. Ich verspüre beinahe eine Lust, und zwar eine physi­ sche Lust, wenn ich denke, dass die Dinge, mit denen ich mich beschäftige, über mich hinweggehen, durch mich hindurchgehen, dass es tausend Personen, tausend Bücher gibt, die in Arbeit sind, tausend Personen, die sprechen, tausend Dinge, die geschehen und wieder aufnehmen, wobei wieder aufnehmen nicht heißt, das zu wiederholen, was ich sage, sondern die genau in dieselbe Richtung gehen und die letztlich über mich hinweggehen. - Wie viele andere schätzen Sie, dass Sie einen Platz in diesem unseren Raum haben.

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-Ja. - Und wie stehen Sie Roland Barthes gegenüber?Roland Barthes, den ich vor nicht einmal acht Tagen empfangen habe. - Er war für mich jemand sehr Wichtiges, und zwar genau inso­ fern, als er zwischen den Jahren 1955 und 1965, in einer Zeit, in der er ebenfalls allein war, mit Sicherheit derjenige war, der uns am meisten geholfen hat, eine bestimmte Form universitären Wis­ sens zu erschüttern, die Nicht-Wissen war. Allerdings ist der Be­ reich, auf den ich mich beziehe und der in Wirklichkeit der der Nicht-Literatur ist, so sehr von dem seinen verschieden, dass jetzt unsere Wege, glaube ich, so ziemlich auseinander gegangen sind oder nicht mehr auf derselben Ebene liegen. Aber er ist jemand, der sehr, sehr wichtig war, um die Erschütterungen zu verstehen, die seit zehn Jahren stattgefunden haben. Er war der große Vor­ läufer, der große Vorgänger. - Michel Foucault, ich habe den Eindruck, dass Sie sich jetzt von einer großen Last an Wissen, das Sie haben, befreien möchten, um anderswo hinzugehen, dass Sie beinahe versucht wären., wieder bei null anzufangen. - Das ist komisch, was Sie da sagen, weil es sehr wahr ist. In dem Maße, wie ich dieses Gefühl einer Lus;* daran verspüre, dass man über mich hinweggeht, dass ich sehe, wie es schneller und weiter geht als ich. Ja, ein sehr großes Gefühl von Erleichterung, von Freiheit und im äußersten Fall das Verlangen, einen kleinen Kof­ fer zu nehmen und dann woanders hinzugehen, oder eben nichts zu machen oder was ganz anderes zu machen. Ja, absolut. Sie sind ein großartiger Diagnostiker. - Aber dieses Anderswo, steht das für Sie bereits fest? - Nein, ganz und gar nicht. Vielleicht werde ich in meinen Ge­ schichten auf der Stelle stehen bleiben, mich mit diesen Normie­ rungen herumschlagen, die uns einengen. Vielleicht, weil ich nor­ mierter bin, als ich glaube, als ich sein will.

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- Wir haben viel über Macht gesprochen, aber nehmen Sie einen Befehl an? Mögen Sie es, dass man Ihnen Befehle erteilt? - Befehle zu erhalten oder Befehle zu erteilen. - Befehle zu erteilen, Sie haben die Frage gestellt, also Sie mögen es, Befehle zu erteilen. - Ich sagte gerade, wenn man Liebe macht, hat man es mit Machtbeziehungen zu tun. All die Machtbeziehungen sind so sehr mit Erotik beladen. Es handelt sich da um einen Bereich, der, glaube ich, sehr, sehr wenig untersucht worden ist, den man eines Tages versuchen müsste zu untersuchen. Es macht so sehr Lust, Befehle zu erteilen. Es macht genauso Lust, Befehle zu erhalten. Diese Lust an der Macht gilt es zu untersuchen. - Kann man von dem Menschen Michel Foucault sagen, er sei zu intelligent? - Oh! Mit Sicherheit nicht intelligent genug, oh la la! Nein, nein, das ist nicht richtig... nein. - Vielen Dank, Michel Foucault. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek

162 Die Verrückten spielen »Faire les fous«, in: Le Monde, Nr. 9559, 16. Oktober 1975, S. 17. (Über den Film von R. Féret, Histoire de Paul, 1975.)

Ich habe Histoire de Paul gesehen und ich habe mir die Augen gerieben. Ich erkannte, an ihrem Gesicht, professionelle Schau­ spieler. Und doch war der Film, den ich sah, nicht »wie« die Irrenanstalt, er war die Irrenanstalt. Ich habe mich gefragt, ob die Schauspieler nicht mehrere Wochen oder Monate in einem psychiatrischen Krankenhaus verbracht hätten, unter die Kranken

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gemischt, und studiert hätten, was geschah, die Gesten ausge­ späht, an den Türen gelauscht und alle diese echolosen Dialoge aufgezeichnet hätten. René Féret hat das Umgekehrte getan. Er hat professionelle Schauspieler in das leere Skelett einer Irrenan­ stalt versetzt: er hat sie zwischen diesen Mauern, diesen Türen, diesen Eisenbetten, diesen Gemeinschaftsräumen und diesen Pingpongtischen verteilt; er hat sie die säkularen Gesten des Spi­ tals wiederholen lassen, er hat mit ihnen die alte, sichtbare oder geheime, Hierarchie des Irrenhauses wiederhergestellt. Kurz, er hat die Maschinerie der Irrenanstalt in Gang gebracht und von seinen Schauspielern nur verlangt, dass sie darin ihre Falllinie, ihr eigenes Gefälle finden müssten. Eine erstaunliche Erfahrung über die bildsame Kraft und die bildsamen Effekte der Irrenanstalt: In dem Gewächshaus, in das man sie gesteckt hatte, und ohne dass man ihnen eine andere Spielregel als die Form der psychiatrischen Macht gab, wurden sie spontan zur Fauna und Flora der Irren­ anstalt. Eine zugleich befremdliche und vertraute Vegetation: der stoßartig Lachende, der verängstigte Fragende, der Gebetebrummler, der Geheilte des Monats, der jeden Monat zurück­ kommt.. . Jeder auf seiner Linie überkreuzen sie einander unauf­ hörlich, doch wie die Bänder der Autobahnen, die an den Eingängen der Städte Blumen formen, trifft man sich niemals. Das sind jene großen Rituale der Irrenanstalt, die Féret und seine Schauspieler geschafft haben wieder zu entdecken - Mahlzeit, Kartenspiele, Pingpong -, und in dene*i sich Erwiderungen, Ges­ ten, Nahrung, Platten, Bälle, Würfel, Fragen, Klagen und Grimas­ sen mit der Schnelligkeit und Genauigkeit des Blitzes überkreu­ zen und in denen dennoch »nichts klappt«. Kurzum, das Antitheater. Es brauchte das Talent dieser Menschen (die alle oder fast alle vom Theater kommen), es brauchte aber auch die unausweichliche Kraft der Irrenanstalt, damit sie wirklich und willentlich »die Verrückten spielen« konnten, weitestmöglich vom Theater entfernt. *

Paul kommt in die Irrenanstalt. Weder verrückt noch vernünftig, weder krank noch bei guter Gesundheit, weder gezwungen noch freiwillig, weder ängstlich noch aggressiv. Leer, entleert, »apa­ thisch«, gleichgültig und unendlich gespannt, wie man es nur

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auf der Schwelle einer Initiation sein kann: aufgenommen, mor­ gen, in die große Ordnung der Unvernunft. Die lange Einstellung der initialen Entkleidung ist fast unerträglich in ihrer Indiskretion. Der Verrückte des Mittelalters war an seinen Schellen und an seinen Lumpen zu erkennen, der des 19. an seinen Wahnerschei­ nungen und an seinen Schreien; in unseren Tagen tritt man durch eine schweigend vollzogene, folgsame und vollständige Entblö­ ßung in den Wahnsinn ein. Paul (gespielt von Paul Allio) ist die Uberschneidungsstelle sämtlicher Bestürzungen: die seine ange­ sichts dieser erstarrten Masken des Wahnsinns, die sich um ihn drehen, die ihm ein Zeichen machen und von denen eine unter ihnen - welche? Wahl, Zufall, Schicksal - wohl eines Tages die seine werden muss; die Bestürzung der Verrückten, die ihn anblicken, gattungsloser Körper, unklassifiziert krank, Kompagnon ohne Name, ohne Diagnose, ohne Rolle und ohne Beschäftigung, die sie im Netz ihres eigenen Wahnsinns einfangen und den Ärz­ ten als endlich der pathologischen Taufe würdig darbieten müs­ sen; Bestürzung auch, die ihm durch den Blick der Wärter und die Worte der Ärzte, die von ihm und über ihn sprechen, ohne sich an ihn zu wenden, und durch die Medikamente, die man ihn ein­ zunehmen zwingt, in die Venen gespritzt wird, und unsere Be­ stürzung, wenn wir sehen, wie der Wahnsinn in der Dichte eines sich nicht regenden Körpers und durch die Züge eines Gesichts, das systematisch »ausdruckslos« bleibt, hervorquillt: Paul Allios Leistung ist erstaunlich. Am Ende scheint er sich aufzulösen und die Herrschaft über jenes Wasser zu ergreifen, das seine Träume heimsucht, in denen er einst sich vielleicht hatte ertränken wollen und das jetzt mit seiner Ruhe das große psychiatrische Aquarium ausfüllt. Es gibt eine Sanftheit der Irrenanstalt (zumindest seit den Neu­ roleptika), die’durchfurcht ist von Gewalt, zuweilen mitgerissen von Wirbelstürmen und durchzogen von Blitzen. Der Gipfel die­ ser Sanftheit und ihr Symbol ist die Nahrung. Die Irrenanstalt ist vielleicht immer noch Einsperrung und Ausschließung; aber sie ist jetzt überdies Nahrungsaufnahme. Als ob sich zu den alten tra­ ditionellen Gesetzen des Spitals: »Du darfst dich nicht rühren, du darfst nicht schreien« dieses hier hinzugesellt hätte: »Du musst schlucken«. Du musst deine Medikamente schlucken, du musst deine Mahlzeiten schlucken, du musst unsere Pflegemaßnahmen,

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unsere Versprechungen und unsere Drohungen schlucken, du musst den Besuch deiner Eltern schlucken, du musst die Proviant­ päckchen schlucken, die deine Mutter jede Woche in ihrer Ein­ kaufstasche vergräbt und dir mitfühlend als rituelle Opfergabe für »ihren« Kranken mitbringt und die du vor ihr verzehren musst, zu ihrem allergrößten Vergnügen, in der Kommunion dieser Krank­ heit, welche euer beider Krankheit ist, welche eure intensivste Beziehung ist und in die sie, die Arme, ihre ganze Liebe für dich hineingelegt hat. Die Leute der Irrenanstalt sind heute nicht mehr Ausgehungerte hinter Gitterstäben: sie sind der Nahrungsaufnah­ me geweiht. Pauls Geschichte ist eine Geschichte des Absorbierens, des offenen und wieder verschlossenen Mundes, der einge­ nommenen und verweigerten Mahlzeiten, des Lärms von Tellern und Gläsern. Die Funktion der Nahrung im heutigen Kranken­ haus ist nicht, René Féret hat das richtig erkannt, die Heilung zu ermöglichen: sondern, gehorsam geschluckt, lässt sie zwischen dem Wahnsinn, von dem man nichts mehr will, und der Heilung, die man kaum mehr erwartet, die kostbare Gestalt des »guten Kranken« erscheinen: Derjenige, der gut isst, ist im System der Irrenanstalt der »Dauerinsasse«, mit dem alle Welt zufrieden ist. Der wesentliche Teil der Initiation ins Krankenhaus ist die Ess­ probe. Der Film kulminiert in einem außerordentlichen »CrepesSchlucken«, einer Verdauungsheldentat, durch die Paul am Ende der Rituale zur Befriedigung aller - Eltern, Wärter, vor allem der anderen Kranken - zu »einem« der Geisteskranken wird. Schlu­ ckend geschluckt, die Geschichte von Paul, die Geschichte von Jonas. yc

Es hat Family Life gegeben, hier ist nun Hospital Life. Doch lässt mich der Film von René Féret in seiner sehr großen Schönheit und Strenge vor allem an jene Narrenfeste denken, wie sie noch vor wenigen Jahren in bestimmten Krankenhäusern in Deutsch­ land und in der Schweiz existierten: Am Tag des Karnevals ver­ kleideten sich die Irren und veranstalteten einen Maskenzug auf den Straßen: verschämte und ein wenig verschreckte Neugier bei den Zuschauern: der einzige Tag, an dem man den Irren erlaubte, hinauszugehen, um zu lachen und um verrückt zu spielen. René Féret hat in seinem Filmexperiment das Fest umgedreht: Er hat

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die Nicht-Irren in die Narrenkiste gesteckt und hat ihnen gesagt: Lassen Sie sich gehen, spielen Sie die Verrückten, so weit wie Sie sich durch die Kraft der Dinge und die Logik der Internierung dabei getrieben fühlen. Und herausgekommen ist in eben seiner Wirklichkeit die steife, répétitive und rituelle Form des Wahn­ sinns: der Wahnsinn, diese am strengsten geregelte Sache der Welt. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek

163 Michel Foucault Die Antworten des Philosophen »Michel Foucault. El filosofo responde« (»Michel Foucault. Les réponses du philosophe«; Gespräch mit C. Bojunga und R. Lobo; übersetzt von P. W. Prado Jr.), in: Jornal da Tarde, 1. November 1975, S. 12-13.

- Ihre Arbeiten kreisen um geschlossene, konzentrationslager­ hafte, zirkuläre Universen. Sie werfen das Problem des Spitals und des Gefängnisses auf Warum diese Themenwahl? - Ich habe den Eindruck, dass im 19. und auch noch im begin­ nenden 20. Jahrhundert das Problem der politischen Macht im Wesentlichen in der Form des Staates und der großen Staatsappa­ rate aufgeworfen wurde. Schließlich haben sich diese großen Staatsapparate im 19. Jahrhundert gebildet. Sie waren noch etwas Neues, Sichtbares und Wichtiges, das auf den Personen lastete und wogegen die Personen kämpften. Später dann wurde man mittels zweier großer Erfahrungen - der des Faschismus und der des Stalinismus - gewahr, dass unter den Staatsapparaten auf einer anderen Ebene und in einem gewissen Maße unabhängig von ih­ nen eine umfassende Mechanik einer Macht existierte, die bestän­ dig, durchgängig und gewaltsam ausgeübt wurde und die - zu­ mindest im gleichen Maße wie die großen Staatsapparate, wie die Justiz und wie die Armee - die Aufrechterhaltung, die Stabilität und Festigkeit des sozialen Körpers ermöglichte. Daraufhin be­ gann ich, mich für die Analyse dieser impliziten Mächte, dieser

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unsichtbaren Mächte, dieser mit den Wissens- und Gesundheits­ einrichtungen verbundenen Mächte zu interessieren. Wie steht es mit der Mechanik der Macht in Erziehung, Medizin oder Psy­ chiatrie? Ich glaube nicht, dass ich der Einzige bin, der sich dafür interessiert. Die großen Bewegungen im Umkreis von 1968 waren gegen diese Art Macht gerichtet. - Wie sehen Sie diese Bewegungen im Verhältnis zur so genannten Dritten Welt? In den Vereinigten Staaten und in Westeuropa ha­ ben sie infolge ihrer Hinterfragungen eine Öffnung erreicht. In den lateinamerikanischen oder den afrikanischen Ländern haben sie eine Verschließung des politischen Horizontes zur Folge gehabt. Und war nicht selbst in China die Kulturrevolution eine Art Ver­ änderung, bei der nichts verändert wurde? - Ich weiß nicht, ob das Problem in Begriffen wie »Öffnung« und »Verschließung« gestellt werden muss. Nehmen wir Frankreich: Es ist schwierig, eine Bilanz der Veränderungen aufzustellen, die in den Machtsystemen stattgefunden haben. Diese Kämpfe sind noch zu nah, als dass wir ihre Errungenschaften bewerten könn­ ten. Sicherlich hat sich in Ländern wie Frankreich oder den Ver­ einigten Staaten die Art und Weise der Kontrolle der Beziehungen im sexuellen Bereich geändert. Aber wir stehen noch am Beginn dieses großen Prozesses. Sagen wir so: Das 19. Jahrhundert hat sich vor allem mit den Beziehungen zwijchen den großen ökono­ mischen Strukturen und dem Staatsapparat beschäftigt, und jetzt sind die Probleme der kleinen Mächte und der diffusen Herr­ schaftssysteme zu Grundproblemen geworden. In der Dritten Welt stellte sich das Problem, glaube ich, auf eine andere Art und Weise. Es stellte sich ein weiteres Machtproblem: das der nationalen Unabhängigkeit. Genau das hat sich in be­ stimmten Ländern Nordafrikas wie Tunesien abgespielt (ich war zu jener Zeit dort); offensichtlich war der Kampf gegen die Macht in Schule und Universität bis zu einem gewissen Maße mit den Kämpfen verwandt, die sich in Frankreich oder den Vereinigten Staaten entwickelt hatten. Mit einem Unterschied: In Tunesien wurde der Lehrbetrieb in französischer Sprache mit Lehrenden französischer Herkunft durchgeführt; und infolgedessen stand so auch das Problem des Neokolonialismus und der Unabhängigkeit

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auf dem Plan. Der Angriff auf die Regierung war ein Angriff auf ihre autoritären Methoden, aber auch auf ihre Unterwürfigkeit und ihre Abhängigkeit gegenüber ausländischen Interessen. So hat sich in der Dritten Welt dieser antiautoritäre Kampf sogleich wieder in einen allgemeinen politischen Kampf eingeschrieben und damit seinen spezifischen Charakter verloren. - Läuft diese von den Ländern der Dritten Welt den dringendsten Aufgaben - Kampf für nationale Unabhängigkeit, Kampf gegen die Unterentwicklung - eingeräumte Priorität nicht darauf hinaus, die Kämpfe gegen die »kleinen Mächte« (Schule, Irrenanstalt, Ge­ fängnis) und gegen weitere diffuse Herrschaftsformen (der Weiße über den Schwarzen, die Männer über die Frauen) zu ersticken? Oder können alle diese Kämpfe gleichzeitig geführt werden? - Das ist ein Problem, mit dem wir uns alle herumschlagen. Kön­ nen wir eine nach Wichtigkeit gestaffelte Hierarchie zwischen diesen verschiedenen Kampfarten aufstellen? Eine Chronologie für sie? Wir geraten in einen Zirkel: Wäre die Privilegierung des Kampfes auf der Ebene des Gewebes des sozialen Körpers zu Lasten der großen traditionellen Kämpfe - für die nationale Un­ abhängigkeit, gegen die Unterjochung usw. - nicht ein »Ablenkungs«manöver? Und liefe nicht andererseits das Nichtstellen dieser Probleme auf eine Befestigung der gleichen Arten von Hierarchie, Autorität, Abhängigkeit und Herrschaft noch inner­ halb der avanciertesten Gruppen hinaus? Dies ist das Problem unserer Generation. - Der Journalist Maurice Clavel behauptet in seiner kürzlich ver­ öffentlichten Autobiographie - Ce que je crois1 -, dass Foucault ihn aus der Linken herausgeholt habe, bedauert aber, dass Fou­ cault weiter bei der Linken geblieben sei, dass er nicht den Schritt zum Bruch mit ihr vollzogen habe. Man kann verstehen, warum Sartre auf Seiten der Maoisten steht, und vor allem, warum er die Geschichte als Hegelianer denkt; aber wie ist es möglich, dass Foucault links ist?

1 [Clavel, M., Ce que je crois, Paris 1975, S. 138-139.]

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- Ist die Frage richtig gestellt? Muss man sich nicht besser fragen, warum die Linke plötzlich begonnen hat, sich für bestimmte The­ men zu interessieren, die mich bereits seit langem beschäftigt ha­ ben? Als ich begann, mich für den Wahnsinn, für die Einkerke­ rung und später dann für die Medizin und für die ökonomischen und politischen Strukturen zu interessieren, die sich unterhalb dieser Institutionen erstreckten, erstaunte mich, dass die traditio­ nelle Linke diesen Fragen nicht die geringste Bedeutung beimaß. Kein Bericht, keine Untersuchung und auch keine linke Zeit­ schrift erwähnte oder kritisierte zu jener Zeit meine Standpunkte. Diese Fragen existierten für sie nicht. Aus einer Reihe von Grün­ den: Einer von ihnen ist sicherlich der Tatsache geschuldet, dass ich nicht die traditionellen Zeichen eines Denkens von links vor­ zeigte, es gab keine Anmerkungen am Fuß der Seiten: »Wie Karl Marx gesagt hat«, »Wie Engels gesagt hat«, »Wie der geniale Stalin gesagt hat«. Und in Frankreich schauten sich die Leute, um ein linkes Denken zu erkennen, gleich als Erstes die Fußnoten an. Das Schlimmste aber ist, dass die französische Linke diese Probleme einer politischen Analyse nicht für würdig erachtete. Die Lektüre der Texte von Marx oder die Theorie der Entfremdung, das waren für sie politische Arbeiten. Das Problem der Psychiatrie stellten sie sich überhaupt nicht. Erst nach 1968 - im Verlauf jenes Pro­ zesses, der nicht den vollständigen Triumph des marxistischen Denkens darstellte, sondern im Gegenteil dieses wahrlich erschüt­ terte - sind diese Probleme in die politische Reflexion eingegan­ gen. Leute, die sich nicht für das interessierten, was ich machte, begannen plötzlich, mich zu studieren. Und ich fand mich mitten unter ihnen wieder, ohne dass ich das Zentrum meines Interesses zu verschieben brauchte. Die Probleme, die mich beschäftigten, waren für eine linke Politik vor 1968 nicht von Belang. Wenn Sie so möchten: Ich bin ab einem bestimmten Zeitpunkt annektiert worden, ich habe das Bürgerrecht erhalten. - In Ihrer Archäologie des abendländischen Wissens nimmt Marx einen sehr bescheidenen Platz ein, vergleicht man ihn mit David Ricardo. Er ist nur eines der Elemente der Struktur seiner Zeit. Und nach Ihrem Buch Les Mots et les Choses [dt. Die Ordnung der Dinge, Frankfurt am Main 1971] hat der Marxismus auf der Grundstufe des abendländischen Wissens keinen wirklichen Bruch

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bewirkt. Warum schreibt man Marx bis heute eine Bedeutung zu, die es ausmacht, dass er so umstritten ist, verneint oder infrage gestellt wird? - Zunächst einmal muss ich etwas richtig stellen. In Les Mots et les Choses habe ich keine allgemeine Archäologie des abendländi­ schen Wissens in seinen Tiefen schreiben wollen. Ich wollte sehen, wie bestimmte Bereiche empirischer Erkenntnisse entstanden sind, im Wesentlichen diejenigen, die mit dem Leben, der Sprache, der Arbeit und der Ökonomie zu tun hatten. Nur das. Es ging nicht um eine Durchleuchtung der abendländischen Kultur in ihrer ganzen Dichte. Ich glaube, dass in der Genealogie der poli­ tischen Ökonomie, in ihren Grundbegriffen, Marx keinen wesent­ lichen Bruch einführt. Es hat sogar jemanden gegeben, der das vor mir gesagt hat: Karl Marx. Er hat selbst bestätigt, dass seine Be­ griffe von Ricardo abgeleitet seien. Dass die marxistische revolu­ tionäre Praxis in ihrem Rückbezug auf das Marx’sche Werk jetzt mittels einer Reihe von Transformationen und Vermittlungen die Geschichte des Abendlandes durchzogen und allem ihren Stempel aufgedrückt hat, was sich seit Ende des 19. Jahrhunderts ereignet hat, ist dabei etwas, das gar nicht bestritten werden kann. Das Problem, das ich aufgeworfen habe, war viel begrenzter: Es war das der Kritik einer empirischen Wissenschaft. - Die Dame Dialektik herrscht noch heute. Sie ist in historischen, ökonomischen, soziologischen, philosophischen Untersuchungen und in der Literaturkritik präsent. Welche Rolle hat der »dialekti­ sche Materialismus« in der abendländischen Kultur? - Eine schwierige Frage. Im vollen und starken Sinne des Aus­ drucks »dialektischer Materialismus« - das heißt Interpretation der Geschichte, Philosophie, wissenschaftliche und politische Me­ thodologie - hat er zu nichts Großem gedient. Haben Sie jemals gesehen, dass ein Wissenschaftler den dialektischen Materialismus verwendet hat? In ihrer Taktik wendet die kommunistische Partei den dialektischen Materialismus nicht an. Aber es ist klar, dass der dialektische Materialismus eine wichtige Bezugsgröße darstellt. Was für einen Status hat er, so dass wir bis zu einem gewissen Maße verpflichtet sind, zumindest in der Rede, durch ihn, durch

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seine Zeichen, durch sein Ritual hindurchzugehen? Das ist ein Problem. Der dialektische Materialismus ist ein Universalsignifikant, dessen politische und polemische Verwendungen wichtig sind; er ist eine Marke, aber ich glaube nicht, dass er ein positives In­ strument ist. Ich möchte ein Beispiel anführen. In Polen, wo ich ein Jahr gewohnt habe, gab es, ähnlich wie die Katechismuskurse an den christlichen Kollegien, an den Universitäten samstags Pflichtkurse in dialektischem Materialismus. Eines Tages fragte ich: Sind auch die Studenten in den Naturwissenschaften wie die Studenten der Geisteswissenschaften verpflichtet, an den Kur­ sen teilzunehmen? Und der Professor (der der kommunistischen Partei recht nahestand) antwortete: Nein, die Studenten der Na­ turwissenschaften würden darüber lachen... - In einem Ihrer Vorträge hier haben Sie versucht nachzuweisen, dass wir in einer Geständnisgesellschaft, in einer Gesellschaft reich an Bekenntnissen leben würden. Es gibt das christliche Bekenntnis, das kommunistische Bekenntnis, das Bekenntnis des Schriftstellers, das psychoanalytische Bekenntnis, das Bekenntnis vor Gericht usw. Besitzen diese verschiedenen Bekenntnisse ein und dieselbe Struktur? - Nein. Durch eine polemische Auseinandersetzung mit einer bestimmten übereilten Interpretation /on Reich habe ich zu zeigen versucht, dass wir uns nicht in einer schamhaften und moraldurchtränkten Ära, einer Ära der Zensur befinden, und dass gegenüber dem, was wesentlich ist: dem Geständnis,2 die Aus­ wirkungen von Moralismus und Zensur nebensächlich sind. All­ gemein gesprochen, besteht das Geständnis im Diskurs des Sub­ jekts über sich selbst in einer Machtsituation, in der es beherrscht und gezwungen wird und die es durch das Geständnis verändert. Diese formale Definition des Geständnisses kann die erwähn­ ten verschiedenartigen Bekenntnissituationen umfassen. Doch ha­ be ich den Unterschied, der beispielsweise zwischen dem besteht, was im christlichen Bekenntnis im eigentlichen Sinne gestanden 2 [Die portugiesischen Wörter confissoyconfessar usw. decken den französischen Sinn von »confesser« (confessare) [»bekennen«] und von »avouer« (advocare) [»geste­ hen«] ab. (A. d. frz. Ü.)]

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wird, und dem, was man vom 17. Jahrhundert an dem Beichtvater gesteht, in seinen Einzelheiten zu analysieren versucht. Zwei mit­ einander verbundene christliche Formen. Wobei die zweite eine Verallgemeinerung des Bußbekenntnisses ist, aber vollkommen verschiedene Merkmale und unterschiedliche Zielsetzungen be­ sitzt. - Ein Marxist könnte diesen Vergleich zwischen christlichem Be­ kenntnis und dem Bekenntnis zur Partei für politisch »gefährlich« halten? - Ich hoffe doch. - Könnten Sie das deutlicher machen, indem sie mehr über Ihre Definition des Geständnisses sagen? - Es ist seltsam, dass in der Mehrzahl der Rechtssysteme das, was man gegen sich selbst sagt, einen Beweis darstellt. Das britische Recht, welches das Zeugnis gegen sich selbst untersagt, ist eine Ausnahme. Doch in der großen Mehrheit der anderen Systeme kann von dem Moment an, da jemand etwas sagt, das ihm zum Nachteil gereicht, dieses nur wahr sein. Das stellt ein Postulat dar. Man kann sich leicht ausmalen, dass jemand sich selbst durch etwas zu belasten sucht, sei es, um einen anderen zu entlasten, sei es, um sich von einer anderen Verfehlung zu entlasten. Zwei­ tens ermöglichen es die Folter und andere benachbarte Geständ­ nistechniken, Zeugnisse gegen sich selbst zu erhalten, die keinerlei Wahrheitswert besitzen. Unser Rechtssystem räumt dem Ge­ ständnis einen so großen Beweiswert ein, dass es schwierig wird, es nachträglich zu berichtigen oder zu bestreiten. Wenn es stimmt, dass die unerlaubte Erzwingung des Geständnisses eine habituelle polizeiliche Praxis ist und dass die Justiz das im Prinzip ignoriert, indem sie scheinbar davor die Augen verschließt, dann stimmt es auch, dass das Gerichtssystem dadurch, dass es dem Bekenntnis ein solches Vorrecht einräumt, ein bisschen Mittäter bei dieser polizeilichen Praxis ist, die darin besteht, es um jeden Preis zu entreißen. Die Fiktion, der größtmögliche Unterschied zwischen Justiz und Polizei könne aufrechterhalten werden, ist in Westeuropa

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zumindest sehr geläufig. Die Korrumpierten stammen immer aus der Polizei, und das Edle und Würdige kommt zwangsläufig von der Justiz her. In Wirklichkeit besteht das Unglück des Systems darin, dass es zwischen Justiz und Polizei ein stillschweigendes Einverständnis gibt, und dass die Justiz, ohne es zu sagen, häufig zu diesen polizeilichen Praktiken anregt. - Was ist Folter? - Ich würde sagen, indem ich die Wörter ein wenig verbiege, dass es eine »edle« und eine unedle Verwendung der Folter gibt. So war in der gerichtlichen Praxis des Mittelalters und bis ins 18. Jahr­ hundert die Folter ein echtes Ritual, wodurch man das Geständnis des Angeklagten zu erhalten versuchte; doch war es ein weitge­ hend kodifiziertes Ritual. Die Folter war in den Händen des Hen­ kers nicht »frei«. Er musste bestimmten Regeln gehorchen und gewisse Grenzen beachten, über die die Folter nicht hinausgehen durfte. Das 19. und das 20. Jahrhundert haben dann die »unge­ zügelte« Folter erfunden. Die Folter, die durch Verwendung einer beliebigen Methode, und auch so lange, wie man es für nötig erachtet, das Geständnis entreißen soll. Das ist eine polizeiliche, außergerichtliche Folter, die sich von daher von der berühmten, von der Inquisition verwandten Folter aufs äußerste unterschei­ det. - Nehmen Sie an, dass in den Ländern, die im letzten Jahrhundert die Sklaverei kannten, der Ankläger eine andersartige und beson­ ders grausame Beziehung gegenüber dem Körper des Angeklagten entwickelt hat? Vielleicht, weil der Gefolterte in diesem Fall je­ mand wäre, dessen Wert als Person gleich null wäre? - Mit Sicherheit. In der klassischen Antike, in Griechenland und im Römischen Reich, hatte man nicht das Recht, einen freien Bürger zu foltern. Umgekehrt war die Folter des Sklaven eine legitime und habituelle Praxis. Als ob der Sklave unfähig wäre, »die Wahrheit zu sagen«, und als ob die Personen verpflichtet wären, diese Wahrheit mit Gewalt aus ihm herauszuholen. Ich denke, dass dieses Recht, das sich die klassische Antike zubilligte, den Sklaven zu foltern, in den im 16. Jahrhundert wiederher­

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gestellten Sklavereipraktiken erneut zum Vorschein kommen musste. - Wurde diese Praxis nicht insofern von einem gewissen Paterna­ lismus begleitet, als der Sklave nicht die Wahrheit sagte, da er unfähig dazu war? - Nein, ich glaube, wichtig ist das Problem des Eigentums am Körper. Wenn der Körper des Sklaven seinem Herrn und nicht ihm selbst gehört, sind die Folter und der Tod des Sklaven (auch wenn dieser nicht dem Gesetz entsprach) möglich. Die Eigen­ tumsbeziehung ist in diesem Fall wichtiger als die des paterfamilias. Es ist das Recht, zu gebrauchen und zu missbrauchen, jus utendi et abutendi. - Lässt sich Ihre allgemeine Analyse des Geständnisses und der Machtbeziehungen auch auf den Gesamtzusammenhang der Mächte in den kommunistischen Ländern, der UdSSR und China zum Beispiel, anwenden? - Ich würde China gern beiseite lassen: Sehr wenige Leute wissen etwas darüber, und auch nur sehr wenig. Oder: Sehr wenige Leute kennen es sehr gut. Ansonsten lautet meine Antwort: Ja. Und genau deshalb kann meine Arbeit für gefährlich gehalten werden. Aber ich glaube, dass man sich dieser Gefahr stellen, dass man dieses Risiko auf sich nehmen muss. Diese Machtmechanismen, zumindest ihre Hauptelemente, existieren überall. Das Geständnis in den großen Prozessen kann nicht als etwas betrachtet werden, das unseren Gerichtsverfahren und der dem Geständnis zugebil­ ligten politischen und moralischen Bedeutung völlig fremd wäre. Und um es noch bestimmter zu sagen: Die psychiatrische Macht ist in ihren politischen Auswirkungen und in ihrer politischen Unterwürfigkeit gegenüber der Sowjetmacht der psychiatrischen Macht, so wie sie in Westeuropa während des 19. Jahrhunderts ausgeübt wurde, verwandt, würde ich sagen. Sehen wir uns bei­ spielsweise an, was 1870 nach der Pariser Commune geschah. In einer Weise, die eindeutiger nicht sein kann, hat man einige poli­ tische Opponenten als »Wahnsinnige« in die Irrenanstalt ge­ schickt.

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- Was mich an L’Aveu von Arthur London3 am meisten beeindruckty wenn man es als spezifisch^ als bezeichnend für die in Ost­ europa verwandten Methoden ansieht, ist weniger der Gebrauch der Folter (die man in der ganzen Welt antrifft) als der ostentative Charakter der Gerichtsfarce. Ein unglaublicher Apparat und zu­ gleichy sollte der Angeklagte sich entschließen sein auswendig ge­ lerntes Bekenntnis zu vergessen, wird auf Knopfdruck die Aus­ strahlung über das Radio unterbrochen. - Die Trickserei bei Gericht... Im englischen Recht und auch im napoleonischen Recht hat man dem Gerichtsritual eine so exzes­ sive und so exzessiv ernsthafte Rolle eingeräumt, dass diese in ein guignol4y ein Kasperletheater verwandelt werden kann, wie das derzeit in den sozialistischen Ländern Osteuropas geschieht. Wir tricksen einen Prozess auf andere Weise aus: Wir mogeln beim Verfahren, wir treiben den Beschuldigten in den Selbstmord. Aber wir reichen niemals an diese vollkommen theatralische Trickserei heran, der sich die Sowjets verschrieben haben. Wa­ rum? Weil sie dem Gerichtsritual mehr Ernst beimessen als wir - weil sie daran festhalten, es unter den Augen der Journalisten, der ausländischen Beobachter usw. bis zum Äußersten durchzu­ führen - oder weil sie ihm keinerlei Bedeutung beimessen und sich deshalb alles erlauben. Möglicherweise ist sogar beides wahr. Dass sie ihm keinerlei Bedeutung beimessen, aber gleichzeitig versuchen, in ihre Ausübung der Macht die bürgerliche Symbolik und das bürgerliche Ritual wieder einzutragen. Die großen Pro­ zesse müssen im Verhältnis zur stalinistischen Architektur oder zum Sozialistischen Realismus gesehen werden. Der Sozialistische Realismus entspricht nicht ganz der westlichen Malerei in ihrer Gesamtheit, sondern erinnert unglaublicherweise an die akademi­ sche und pompöse Malerei von 1850. Dies war ein Geburtskom­ plex des Marxismus: Er hat immer davon geträumt, eine Kunst, Ausdrucksweisen und ein soziales Zeremoniell zu haben, die de­ nen der triumphierenden Bourgeoisie von 1850 vollkommen ver­ gleichbar sind. Es handelt sich um einen stalinistischen Neoklas­ sizismus. 3 [London, A., UAveu dans Vengrenage du procès de Prague, Paris 1972; dt.: Ich gestehe: der Prozeß um Rudolf Slansky, Berlin 1991.] 4 [Auf französisch im Text. (A. d. frz. Ü.)]

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- In Ihrer Arbeit scheint der Staat einen bevorzugten Platz ein­ zunehmen. Und der Staat stellt eine bevorzugte Instanz für das Verstehen der historisch-kulturellen Gebilde dar. Könnten Sie die Bedingungen der Möglichkeit näher ausführen, auf die der Staat sich stützt? - Es stimmt, dass der Staat mich interessiert, aber er interessiert mich nur differentiell. Ich glaube nicht, dass die Gesamtheit der Mächte, die innerhalb einer Gesellschaft zur Ausübung kommen - und die in dieser Gesellschaft die Hegemonie einer Klasse, einer Elite oder einer Kaste sichern -, sich ganz im System des Staates zusammenfassen lässt. Der Staat mit seinen großen Gerichts-, Mi­ litär- und anderen Apparaten stellt nur die Gewährleistung, das Gerüst für ein ganzes Netz von Mächten dar, das sich über andere, von diesen Hauptwegen unterschiedene Kanäle erstreckt. Mein Problem ist es, eine differentielle Analyse der verschiedenen Machtebenen in der Gesellschaft durchzuführen. Infolgedessen nimmt der Staat darin einen wichtigen, aber keinen vorrangigen Platz ein. - Warum sind in Frankreich im Gegensatz zu Großbritannien oder den Vereinigten Staaten die antipsychiatrischen Untersuchun­ gen von jemandem initiiert worden, der nicht wie Laing, Bettel­ heim oder Cooper Arzt ist? - Schwer zu sagen. Aber ich kann eine Hypothese aufstellen (ei­ gentlich müsste man eine differentielle Untersuchung in den Ver­ einigten Staaten und in England in Angriff nehmen). In Frank­ reich werden seit altersher Spital, Irrenanstalt und psychiatrische Praxis hinterfragt. Jedenfalls hatten in der Zeit des Krieges in einem Krankenhaus namens Saint-Alban spanische Ärzte, die während des Bürgerkrieges antipsychiatrische Experimente unter­ nommen hatten und gezwungen waren, sich nach Frankreich zu flüchten, mit diesen Untersuchungen begonnen; junge Psychiater, die Saint-Alban durchliefen, haben einige Methoden übernom­ men und in anderen Krankenhäusern bestimmte Reformen durch­ zuführen versucht. Doch ist das alles sehr begrenzt geblieben. Warum sind diese Initiativen nicht weitergegangen? Weil die fran­ zösischen Psychiater direkt oder indirekt an die Verwaltung, an

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die in administrativer und rechtlicher Hinsicht für das Kranken­ haus Verantwortlichen gebunden sind. Indem sie diese Macht aus­ üben, sind sie weder imstande, die Macht der Verwaltung durch die medizinische Macht noch die medizinische Macht im Namen eines Denkens zu kritisieren, das zugleich von der Medizin und von der Verwaltung frei wäre. Sie konnten sich zwar der Medizin und der Verwaltung widersetzen, aber sie konnten sich weder von der einen noch von der anderen befreien. Das, was ich sage, ist ziemlich schematisch, aber ich glaube, es brauchte jemanden von »draußen«, um diese Probleme aufzuwerfen. In Frankreich war die Psychoanalyse als die Medizin der Geisteskrankheit außerhalb der Institution, außerhalb des Krankenhauses, außerhalb des psychiatrischen Krankenhauses stets eine Medizin der Elite und ist es immer noch, sie ist teuer usw. Und sie hat sich immer ge­ weigert - außer in den letzten Jahren -, ihre Fragen, ihre Probleme und ihre Techniken in den Krankenhausrahmen zu übertragen. Sie hätte das Problem der psychiatrischen Macht stellen können, aber sie hat es nicht getan; sie übte stillschweigend ihre Macht aus. - Ihrer Ansicht nach tritt der Psychoanalytiker wie ein Technokrat des Wissens, wie das Instrument einer repressiven Macht aufy die ihr Opfer von seiner Sexualität zu sprechen veranlasst. Muss ein solches Monstrum niedergemacht werden oder ist es möglich, sich eine neue Art Kliniker vorzustellen? - Man darf das, was ich gesagt habe, nicht übertreiben. Nein, denn, um ehrlich zu sein, ich habe das Funktionieren der Psycho­ analyse noch nicht genauer untersucht. Ich sage nur, dass es ge­ fährlich sei anzunehmen, dass Freud und die Psychoanalyse da­ durch, dass sie über Sexualität sprechen und durch ihre Techniken die Sexualität des Subjekts freilegen, mit vollem Recht ein Werk der Befreiung vollziehen. Die Metapher der Befreiung scheint mir für eine Definition der psychoanalytischen Praxis nicht geeignet. Das ist der Grund, warum ich eine Archäologie des Geständnis­ ses, und zwar des Geständnisses der Sexualität zu schreiben und zu zeigen versucht habe, wie sehr die wesentlichen Techniken der Psychoanalyse bereits zuvor (die Frage der Ursprünglichkeit ist nicht wichtig dabei) innerhalb eines Machtsystems existiert haben. Und so ist auch die Vorstellung falsch, das Abendland sei eine

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Zivilisation gewesen, die den Ausdruck der Sexualität unter­ drückt, die ihn untersagt oder die ihn zensiert habe. Im Gegenteil: Seit dem Mittelalter hat es ein beständiges Verlangen nach einem Geständnis der Sexualität gegeben. Es ist Druck ausgeübt worden, damit es sich in Gestalt eines Diskurses bekundet: Bekenntnis, Gewissenslenkung, Pädagogik und die Psychiatrie des 19. Jahr­ hunderts sind Techniken, die der Psychoanalyse vorausgehen und sie dazu nötigen, sich im Verhältnis zu ihnen zu situieren. Und zwar nicht in der Situierung eines Bruches, sondern in der Situierung einer Kontinuität. - Aber ist nicht nach dem, was Sie sagen, die Patient-AnalytikerBeziehung dank der Asymmetrie der Macht stets eine ungleiche Beziehung? - Zweifellos. Die Ausübung der Macht, die sich innerhalb der psychoanalytischen Sitzung abspielt, müsste untersucht werden, und das ist niemals geschehen. Und der Psychoanalytiker weigert sich, dies zu tun, zumindest in Frankreich. Indem er die Ansicht pflegt, dass das, was zwischen Couch und Sessel geschieht, zwi­ schen demjenigen, der liegt, und demjenigen, der sitzt, zwischen demjenigen, der spricht, und demjenigen, der döst, ein Problem von Begehren, Signifikant, Zensur und Über-Ich sei, Probleme einer Macht innerhalb des Subjekts - aber niemals eine Frage von Macht zwischen dem einen und dem anderen. - Lacan nimmt an, die Macht des Analytikers zeige sich, wenn dieser nicht zum schlichten Übersetzer der Botschaften der Patien­ ten, sondern zum Wortträger einer dogmatischen Wahrheit wird. Was trennt Sie von dieser Position? - Ich kann nicht auf der Ebene antworten, auf der sich die Frage stellt und auf der Lacan durch den Mund desjenigen spricht, der sie mir stellt. Ich bin kein Analytiker. Meine Aufmerksamkeit wird jedoch dadurch wachgerufen, dass im Sprechen der Psycho­ analytiker über die analytische Praxis eine Reihe von Elementen niemals gegenwärtig ist: der Preis der Sitzung, die ökonomischen Gesamtkosten der Behandlung, die die Kur betreffenden Ent­ scheidungen, die Grenze zwischen dem Annehmbaren und dem

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Unannehmbaren; das, was geheilt werden muss, und das, was keine Heilung benötigt; die Frage der Familie als wieder aufge­ nommene, zum Vorbild genommene Norm und die Verwendung des freudianischen Prinzips, wonach derjenige krank ist, der es nicht schafft, Liebe zu machen oder zu arbeiten; all das ist in der analytischen Praxis gegenwärtig und hat Auswirkungen auf sie. Es handelt sich um einen Machtmechanismus, den sie befördert, ohne ihn infrage zu stellen. Ein einfaches Beispiel: die Homose­ xualität. Die Psychoanalytiker gehen die Homosexualität bloß schräg von der Seite her an. Handelt es sich um eine Anomalie? Um eine Neurose? Wie könnte die Psychoanalyse diese Situation handhaben? In Wahrheit steht sie für gewisse Grenzen ein, die Teil einer außerhalb von ihr errichteten sexuellen Macht sind, aber deren Hauptzüge sie bestätigt. - Die Psychoanalytiker pflegen gewöhnlich die Philosophen zu kritisieren, die über die Psychoanalyse sprechen, ohne sie auspro­ biert zu haben. Sind Sie analysiert worden? - Die Frage ist amüsant, denn derzeit klagen mich die Psycho­ analytiker an, nicht über die Psychoanalyse zu sprechen. In Wirk­ lichkeit bin ich gerade dabei, eine Reihe von Untersuchungen durchzuführen, die auf etwas hinauslaufen, das sich am Ende des 19. Jahrhunderts und im 20. Jahrhundert ereignet hat: die Geschichte des Wahnsinns, das Wissen von der Sexualität, eine Genealogie, die bei Freud aufhört. Und sie behaupten, es sei Heuchelei, Freud nicht zu erwähnen. Jetzt sagen Sie, sie würden mir das Recht streitig machen, über die analytische Praxis zu sprechen. Tatsächlich würde ich gern darüber sprechen, und in einem bestimmten Sinne spreche ich auch über die Psychoanaly­ se, aber ich lege Wert darauf, von »draußen« darüber zu sprechen. Ich denke nicht, dass wir in die im Übrigen alte und von Freud selbst aufgestellte Falle tappen müssen, wonach unser Diskurs von dem Moment an, da er in das psychoanalytische Feld ein­ dringt, unter die Herrschaft der analytischen Deutung fallen wird. Ich möchte mich der psychoanalytischen Institution gegen­ über in der Situation des Außerhalbseins halten, ich möchte sie in ihre Geschichte innerhalb der Machtsysteme zurückversetzen, die sich unter ihr erstrecken. Ich werde niemals ins Innere des psy­

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choanalytischen Diskurses eintreten, um zu sagen: Der Begriff des Wunsches bei Freud sei nicht richtig ausgearbeitet, oder Melanie Kleins geteilter Körper sei Blödsinn. Dies werde ich niemals be­ haupten. Aber ich behaupte, dass ich das niemals behaupten werde. - Und der Beitrag von Deleuze? - An seiner Arbeit interessiert mich, dass er sich innerhalb der Psychoanalyse wesentlich auf das Ungesagte der Psychoanalyse bezieht: wie die analytische Praxis einen Gewaltstreich darstellt, um den Wunsch zwischen den verschiedenen Polen des ödipalen Dreiecks neu aufzuteilen. Die »Familialisierung« der Psychoana­ lyse ist eine Operation, die Deleuze mit großem Nachdruck auf­ gewiesen hat, eine Kritik, die er als Theoretiker des Wunsches von drinnen her unternimmt, und die ich als Historiker der Macht nur von draußen her zu unternehmen vermag. - Welches sind die Aufgaben der Kritik heute? - Was verstehen Sie unter diesem Wort? Nur ein Kantianer kann dem Wort »Kritik« einen allgemeinen Sinn zusprechen. - Gestern sagten Sie, Ihr Denken sei ein fundamental kritisches. Was bedeutet eine kritische Arbeit? - Ich sagte, es sei ein Versuch, soweit es geht, das heißt so tief und so allgemein wie möglich, sämtliche mit dem Wissen verbundenen Effekte eines Dogmatismus und sämtliche mit dem Dogmatismus verbundenen Wissenseffekte zu enthüllen. - Es gibt einen Satz von Deleuze über Sie: Sie haben, sagt er; »uns als Erster sowohl in Ihren Büchern als auch in einem praktischen Bereich etwas Grundlegendes gelehrt: Wie nichtswürdig es istyfür die anderen zu sprechen«. Ich würde Sie gern fragen, ob der Dis­ kurs über das Exotische, der die Kategorie des Exotischen verwen­ det, nicht eine Art Ausübung einer diffusen Macht darstellt. Wird es nicht eine weitere Art sein, für die anderen zu sprechen? Schließ­ lich verwendet sogar der politische Diskurs und nicht nur der der Mode oder des Tourismus die Kategorie des Exotischen...

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- Ich will keine Kritik Vorbringen, welche die anderen daran hindert zu sprechen, ich will nicht in meinem Namen einen Ter­ rorismus der Reinheit und der Wahrheit ausüben. Ich will auch nicht im Namen der anderen sprechen und mir anmaßen, das, was sie zu sagen haben, besser zu sagen. Meine Kritik hat das Ziel, es anderen zu ermöglichen zu sprechen, ohne dem Recht zu sprechen, das sie haben, Grenzen zu setzen. Seit der Zeit der Kolonialisierung existiert ein imperialistischer Diskurs, der mit peinlich genauer Berechnung von den anderen gesprochen und sie in Exoten, in Personen verwandelt hat, die unfähig wären, über sich selbst zu sprechen. An die Frage des revolutionären Universalismus lässt sich dieses Problem anschließen. Für die Europäer und vielleicht mehr noch für die Franzosen als für die anderen ist die Revolution ein universaler Prozess; die fran­ zösischen Revolutionäre des ausgehenden 18. Jahrhunderts dach­ ten, sie würden die Revolution in der ganzen Welt durchführen, und bis heute haben sie sich von diesem Mythos nicht freige­ macht. Der proletarische Internationalismus hat dieses Vorhaben in einem anderen Register wieder aufleben lassen. Nun gibt es aber in dieser zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen re­ volutionären Prozess nur im Rahmen des Nationalismus. Daher das Unbehagen bei bestimmten Theoretikern und Aktivisten der universalen Revolution. Sie sind genötigt, den Imperialismus des universalen Diskurses oder aber eine gewisse Exotik zu überneh­ men. - Was bedeutet der Satz von Reich, wonach die Massen nicht getäuscht wurden, sondern zu einem bestimmten Zeitpunkt den Faschismus begehrt hätten. Wie kann man eine repressive Macht begehren? - Das ist ein wichtiges Problem. Und ein beunruhigendes, wenn wir die Macht als Repression denken. Wenn sie sich darauf be­ schränkt zu zensieren, zu verbieten, wie sollte es dann möglich sein, sie zu lieben? Doch stark gemacht wird die Macht dadurch, dass ihr prinzipielles Funktionieren nicht negativer Art ist: Die Macht hat positive Effekte, sie bringt das Wissen hervor und er­ regt Lust. Die Macht ist liebenswert. Wenn sie nur repressiv wäre, müssten wir entweder die Verinnerlichung des Verbotes oder den

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Masochismus des Subjekts unterstellen (was letzten Endes das­ selbe ist). Und damit ist es Bestandteil der Macht. - Und die Herr-Knecht-Beziehung?Kann die Zurückweisung der Befreiung von Seiten eines Sklaven oder Knechtes nicht auf diesel­ be Weise erklärt werden? - Die Herr-Knecht-Dialektik nach Hegel ist der Mechanismus, durch den die Macht des Herrn der Tatsache ihrer eigenen Aus­ übung verlustig geht. Ich möchte im Gegenteil zeigen, dass die Macht sich durch ihre eigene Ausübung verstärkt; sie wechselt nicht klammheimlich auf die andere Seite. Seit 1831 hat Europa nicht von der Annahme abgelassen, die Umkehrung des Kapita­ lismus stünde im kommenden Jahrzehnt bevor. Und dies schon vor Marx. Und er ist immer noch da. Ich möchte nicht behaupten, dass er niemals ausgerottet werden wird. Ich sage nur, dass die Kosten seiner Umkehrung nicht so sind, wie wir es uns vorstellen. Und dass man nicht eine Umkehrung erreicht, sondern vielmehr eine Übertragung in den Machtsystemen von einer Kaste auf eine andere, von einer Bürokratie auf eine andere, so wie dies mit der zaristischen Bürokratie der Fall war, die in Wirklichkeit mit ge­ wissen Veränderungen weiterbetrieben wurde. - Was ist der Mensch? Existiert er? - Natürlich existiert er. Was es zu zerstören gilt, das ist die Ge­ samtheit der Bestimmungen, Spezifikationen und Sedimentatio­ nen, durch die gewisse Wesenheiten des Menschen seit dem 18. Jahrhundert definiert worden sind. Mein Irrtum war nicht die Behauptung, der Mensch existiere nicht, sondern die Vorstel­ lung, es wäre?so leicht, ihn zunichte zu machen. - Ist nicht das Parteiergreifen für die Minderheiten usw. Huma­ nismus? Muss der Ausdruck »humanistisch« beibehalten werden? - Wenn diese Kämpfe im Namen eines bestimmten Wesens des Menschen geführt werden, so wie es im Denken des 18. Jahrhun­ derts gebildet wurde, dann würde ich sagen, dass diese Kämpfe verloren sind. Denn sie werden im Namen des abstrakten Men-

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sehen durchgeführt, im Namen des normalen Menschen, des Menschen von guter Gesundheit, der die Auskristallisierung einer Reihe von Mächten ist. Wenn wir die Kritik dieser Mächte be­ treiben wollen, dann darf man das nicht im Namen einer Idee des Menschen durchführen, die von diesen Mächten her gebildet wur­ de. Denn worum geht es, wenn im marxistischen Fußvolk vom totalen Menschen, vom mit sich selbst versöhnten Menschen die Rede ist? Um den normalen Menschen, um den ausgeglichenen Menschen. Wie hat sich also das Bild dieses Menschen gebildet? Ausgehend von einem psychiatrischen und medizinischen Wissen, von einer psychiatrischen und medizinischen Macht, von einer »normierenden« Macht. Eine politische Kritik im Namen eines Humanismus betreiben bedeutet, dass man in die Waffe des Kampfes jene Sache wieder einführt, gegen die wir kämpfen. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek

164 Sade, Offizier des Geschlechts »Sade, sergent du sexe« (Gespräch mit G. Dupont), in: Cinématographe Nr. 16, Dezember 197$-Januar 1976, S. 3-5.

- Sind Sie, wenn Sie ins Kino gehen, überrascht vom Sadismus einiger neuerer Filme, ob sie nun in einem Krankenhaus spielen oder wie im letzten Pasolini1 in einem Scheingefängnis? - Ich war überrascht - zumindest bis in die letzte Zeit - vom Fehlen eines Sadismus und vom Fehlen Sades. Beides ist im Übrigen nicht dasselbe. Es kann Sade ohne Sadismus und Sadis­ mus ohne Sade geben. Doch lassen wir das heiklere Problem des Sadismus beiseite und beschränken wir uns auf Sade. Ich glaube, es gibt nichts, was gegen das Kino allergischer wäre als das Sade’sche Werk. Unter den zahllosen Gründen dafür möchte ich als Erstes nennen: Die peinliche Genauigkeit, das Rituelle und die streng zeremonielle Form, die sämtliche Szenen bei Sade 1 [Salb o le centoventi giornate di Sodoma (Solo

oh les Cent Vingt Journées de Sodome)y 1975; dt.Verleihtitel: Die 120 Tage von Sodom.]

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annehmen, schließen all das aus, was zusätzliches Spiel der Ka­ mera sein könnte. Die geringste Hinzufügung, die geringste Unterdrückung, das kleinste Ornament sind unerträglich. Kein offenes Phantasma, sondern eine mit Bedacht programmierte Reglementierung. Sobald etwas fehlt oder als Überblendung hin­ zukommt, ist alles verpfuscht. Kein Platz für ein Bild. Die Leer­ stellen dürfen nur durch die Begierden und die Körper ausgefüllt werden. - Im ersten Teil von Jodorowskys El Topo gibt es eine blutrüns­ tige Orgie, eine recht eindeutige Zerteilung eines Körpers. Macht sich der Sadismus im Kino nicht zunächst einmal daran fest, wie man die Schauspieler und ihre Körper behandelt? Wird nicht be­ sonders die Frau im Kino als Anhängsel eines männlichen Körpers (schlecht) behandelt? - Die Art und Weise, wie man den Körper im zeitgenössischen Kino zu behandeln hat, ist eine sehr neue Sache. Schauen Sie sich die Küsse, die Gesichter, die Lippen, die Wangen, die Lider und die Zähne in einem Film wie Der Tod der Maria Malibran von Werner Schröter an. Das Sadismus zu nennen, scheint mir völlig falsch zu sein, außer man geht den Umweg über eine vage Psycho­ analyse, in der es um das Partialobjekt, den zerstückelten Körper und die Vagina dentata geht. Man muss auf einen Freudianismus von ziemlich mieser Qualität zurückgehen, um diese Art, die Körper und ihre Wunder zum Singen zu bringen, auf Sadismus herunterzudrücken. Aus einem Gesicht, einem Wangenknochen, aus Lippen und aus einem Ausdruck der Augen das zu machen, was Schröter daraus macht, hat nichts mit Sadismus zu tun. Es handelt sich um ein Übersetzen, um ein Sprießenlassen des Kör­ pers, um eine*' gewissermaßen autonome Übersteigerung seiner minderen Partien, der minderen Möglichkeiten eines Teilstücks des Körpers. Es gibt darin eine Anarchisierung des Körpers, in der die Hierarchien, die Lokalisierungen und die Benennungen und das Organische daran, wenn Sie so wollen, in Auflösung begriffen sind. Wogegen im Sadismus gerade das Organ als solches das Objekt des verbissenen Zugriffs ist. Du hast ein sehendes Auge, ich reiße es dir heraus. Du hast eine Zunge, die ich fest zwischen meinen Lippen habe und ich beiße zu, ich werde sie

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dir abschneiden. Mit diesen Augen wirst du nicht mehr sehen können, mit dieser Zunge wirst du nicht mehr essen oder sprechen können. Der Körper ist bei Sade noch stark organisch, verankert in dieser Hierarchie, mit dem Unterschied selbstverständlich, dass sich die Hierarchie nicht wie in der alten Fabel vom Kopf, son­ dern vom Geschlecht her organisiert. Die Art und Weise, wie man in bestimmten zeitgenössischen Filmen den Körper sich selbst entkommen lässt, ist dagegen von einem ganz anderen Typ. Es geht gerade darum, dieses Organische abzulegen: Es ist keine Zunge mehr, sondern etwas ganz anderes als eine Zunge, die aus einem Mund herauskommt, es ist nicht das Organ des geschändeten und zur Lust eines anderen bestimmten Mundes. Es ist ein »unnennbares«, »unbrauchbares« Ding außer­ halb sämtlicher Programme des Begehrens; es ist der durch die Lust vollkommen formbar gemachte Körper: etwas, das sich öff­ net, das sich spannt, das zuckt, das schlägt, das klafft. Die Art und Weise, wie sich in Der Tod der Maria Malibran die beiden Frauen küssen, was ist das? Dünen, eine Karawane in der Wüste, eine gefräßige, sich vorschiebende Blume, Kiefer von Insekten, eine Furche auf Höhe der Grasnarbe. All das ist Antisadismus. Für die grausame Wissenschaft des Begehrens lässt sich mit diesen ungestalten Pseudopodien, welches die langsamen Bewegungen von Lust-Schmerz sind, nichts anfangen. - Haben Sie in New York diese so gtnannten Snuff-Movies (in amerikanischer Umgangssprache heißt to snuff töten) gesehen, in denen eine Frau in Stücke geschnitten wird? - Nein, aber es scheint so, glaube ich, dass die Frau wirklich le­ bendig zerschnitten wird. - Es ist rein visuell, ohne ein Wort. Ein kaltes Medium, im Ver­ hältnis zum Kino, dem warmen Medium. Keine Literatur mehr mit dem Körper als Sujet: Es ist allein ein im Sterben begriffener Körper. - Das ist kein Kino mehr. Das ist ein Bestandteil erotischer Pri­ vatzirkel und wird nur gemacht, um das Begehren zu entfachen. Es geht nur noch unTs turned on, wie die Amerikaner sagen, mit

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dieser eigenen Qualität des Entfachens, die man den Bildern ver­ dankt, die aber nicht geringer ist als die, die man der Wirklichkeit verdankt - nur anders. - Ist nicht die Kamera die Herrin, die den Körper des Schauspie­ lers wie ein Opfer behandelt? Ich denke daran, wie Marylin Mon­ roe in Some like it hot Tony Curtis wiederholt vor die Füße fällt. Die Schauspielerin hat das sicherlich als eine sadistische Sequenz erleben müssen. - Das Verhältnis zwischen Schauspieler und Kamera, von dem Sie mit Bezug auf diesen Film sprechen, scheint mir noch sehr tradi­ tionell zu sein. Man findet es im Theater: der Schauspieler, der das Opfer des Helden auf sich nimmt und es bis in seinen eigenen Körper hinein vollzieht. Was mir an dem Kino, von dem ich sprach, neu zu sein scheint, ist diese Entdeckung-Erkundung des Körpers, die von der Kamera her geschieht. Ich stelle mir vor, dass in diesen Filmen das Aufnehmen von einer großen Inten­ sität ist. Es handelt sich um eine ebenso kalkulierte wie aleatori­ sche Begegnung zwischen den Körpern und der Kamera, die et­ was entdeckt, die einen Winkel, einen Raum, eine Krümmung hervortreten lässt und die einer Spur, einer Linie und unter Um­ ständen einer Falte folgt. Und dann des-organisiert sich der Körper plötzlich, wird zu einer Landschaft, einer Karawane, ei­ nem Sturm, einem Sandgebirge usw. Das ist das Gegenteil des Sadismus, der die Einheit auseinander schnitt. Bei Schröter zerlegt die Kamera den Körper nicht für das Begehren in seine Einzel­ heiten, sondern lässt ihn wie Teig aufgehen und daraus Bilder entstehen, welches Bilder der Lust und Bilder für die Lust sind. An dem stets unvorhergesehenen Begegnungspunkt der Kamera (und ihrer Lust) mit dem Körper (und dem Pulsieren seiner eige­ nen Lust) entstehen diese Bilder, Lüste mit mehrfachen Eingän­ gen. Der Sadismus war anatomisch kenntnisreich, und wenn er wü­ tete, dann innerhalb eines sehr allgemein verständlichen Anato­ miehandbuchs. Kein organischer Wahnsinn bei Sade. Sade, diesen peinlich genauen Anatomen, in präzise Bilder umschreiben wol­ len, funktioniert nicht. Entweder geht Sade unter oder man macht Papas Kino daraus.

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- Papas Kino im Wortsinn, denn in jüngster Zeit hat man die Tendenz, im Namen einer Retro-Welle Faschismus und Sadismus zu verknüpfen. So Liliana Cavani in Nachtportier und Pasolini in Salo. Nun ist diese Darstellung aber nicht die Geschichte. Man staffiert die Körper mit alten Kostümen aus, die die Epoche reprä­ sentieren. Man möchte uns glauben machen, dass die Ausgeburten Himmlers dem Herzog, dem Bischof und dem Präsidenten aus Sades Text entsprechen. - Das ist ein totaler historischer Irrtum. Der Nationalsozialismus ist nicht von den großen verrückten Erotikern des 20. Jahrhun­ derts, sondern von den schaurigsten, ödesten und abscheulichsten Kleinbürgern erfunden worden, die man sich vorstellen kann. Himmler war irgendwie Landwirt und er hat eine Kranken­ schwester geheiratet. Man muss begreifen, dass die Konzentra­ tionslager der gemeinsamen Phantasie einer Krankenhausschwes­ ter und eines Hühnerzüchters entsprungen sind. Krankenhaus plus Hühnerhof: Da haben wir das Phantasma, das hinter den Konzentrationslagern lag. Man hat darin Millionen von Menschen getötet, also sage ich das nicht, um die Schändlichkeit zu verrin­ gern, die auch weiterhin auf diesem Unternehmen lasten muss, sondern um sie aller erotischen Werte zu entzaubern, die man ihm hat auferlegen wollen. Die Nazis waren Putzfrauen im schlechten Sinne des Wortes. Sie werkelten mit Wischtüchern und Besen, wollten die Gesell­ schaft von all dem reinigen, was sie für Jauche, Dreck und Abfall hielten: Syphilitiker, Homosexuelle, Juden, solche unreinen Blu­ tes, Schwarze und Verrückte. Es ist der scheußliche kleinbürger­ liche Traum von der rassischen Reinheit, der sich unter dem Nazitraum erstreckte. Eros? Fehlanzeige. Es ist trotzdem nicht unmöglich, dass es innerhalb dieser Struk­ tur an einigen Orten im körperlichen Aufeinanderstoßen zwi­ schen Henker und Gepeinigtem zu erotischen Beziehungen ge­ kommen sein mag. Aber das war zufällig. Es stellt sich vielmehr das Problem, warum wir uns heute aus­ malen, wir könnten durch den Nationalsozialismus Zugang zu bestimmten erotischen Phantasmen erhalten. Warum diese Stiefel, diese Schirmmützen, diese Feldzeichen, für die man sich vielfach begeistert, und vor allem in den Vereinigten Staaten? Führt uns

164 Sade, O ffizier des G eschlechts

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nicht das Unvermögen, in dem wir uns befinden, diese große Verzauberung des desorganisierten Körpers zu leben, auf einen peinlich genauen, disziplinarischen und anatomischen Sadismus zurück? Ist das einzige Vokabular, das wir besitzen, um diese große Lust des im Ausbruch begriffenen Körpers umzuschreiben, jene triste Fabel einer gerade zurückliegenden politischen Apoka­ lypse? Können wir die Intensität der Gegenwart nur als Ende der Welt in einem Konzentrationslager denken? Sehen Sie nur, wie armselig unser Schatz an Bildern ist! Und wie dringend es ist, einen neuen aufzubauen, anstatt mit den Trauerklößen über die »Entfremdung« zu jammern und das »Spektakel« zu schmähen. - Sade wird von den Regisseuren so ein wenig als Kammerzofe, Nachtportier und Fensterputzer gesehen. So sieht man am Ende des Films von Pasolini die Martern durch ein Fensterglas hindurch. Der Fensterputzer sieht durch das Glas, was sich in einem fernen, mittelalterlichen Hof ereignet. - Sie wissen, ich bin nicht für die absolute Sakralisierung Sades. Nach allem wäre ich soweit bereit zuzugeben, dass Sade die einer Disziplingesellschaft eigene Erotik formuliert habe: eine regle­ mentierte, anatomische, hierarchisierte Gesellschaft mit ihrer sorgsam verteilten Zeit, ihren erfassten Räumen, ihren Gehorsam­ keiten und ihren Überwachungen. Es gilt, dort und aus Sades Erotik herauszukommen. Man muss mit dem Körper, mit seinen Elementen, seinen Oberflächen, sei­ nen Binnenräumen und seinen Dichten eine nicht-disziplinäre Erotik erfinden: die des Körpers im flüchtigen und diffusen Zu­ stand, mit seinen Zufallsbegegnungen und Lüsten ohne Kalkül. Es nervt mich, dass in den neueren Filmen eine gewisse Anzahl von Elementen verwendet wird, die durch das Thema des National­ sozialismus eine Erotik disziplinären Typs wieder beleben. Viel­ leicht ist es die von Sade gewesen. Umso schlechter dann für die literarische Sakralisierung Sades, umso schlechter für Sade: Er geht uns auf die Nerven, er ist ein Disziplinmann, ein Offizier des Geschlechts, ein Buchhalter der Ärsche und ihrer Äquiva­ lente. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek

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ï 65

Die Anormalen Annuaire du Collège de Francey y f année, Histoire des systèmes de pensée, année I9j4-i9y$y 1 9 7 5 , S . 3 3 5 - 3 3 9 .

» L e s a n o r m a u x « , in :

Die unbestimmte und verworrene große Familie der »Anorma­ len«, die Ende des 19. Jahrhunderts eine quälende Furcht verbrei­ tete, bezeichnet nicht einfach nur eine Phase der Ungewissheit oder eine etwas unglückliche Episode in der Geschichte der Psy­ chopathologie; sie hat sich im Wechselspiel mit einem ganzen Komplex von Kontrolleinrichtungen, mit einer ganzen Reihe von Überwachungs- und Verteilungsmechanismen herausgebil­ det; und auch wenn sie fast gänzlich von der Kategorie der »De­ generation« verdeckt werden wird, wird sie Anlass für lachhafte theoretische Ausarbeitungen, aber auch für harte wirkliche Effek­ te sein. Die Gruppe der Anormalen wurde ausgehend von drei Elemen­ ten gebildet, deren Zustandekommen nicht exakt synchron er­ folgte.i) i)( Das menschliche Ungeheuer. Ein alter Begriff, dessen Bezugs­ rahmen das Gesetz ist. Eine rechtliche Kategorie also, aber in einem weiten Sinne, da es sich nicht nur um die Gesetze der Gesellschaft handelt, sondern auch um die Gesetze der Natur; das Erscheinungsfeld des Ungeheuers ist ein juridisch-biologi­ scher Bereich. Nacheinander repräsentierten die Gestalten des Halb-Mensch-Halb-Tier-Wesens (das vor allem im Mittelalter eine Aufwertung genoss), der Doppel-Individuen oder Siamesi­ schen Zwillinge (wie sie vor allem die Renaissance schätzte) und der Hermaphroditen (die im 17. und 18. Jahrhundert so viele Probleme aufwarfen) diesen doppelten Rechtsbruch; ein mensch­ liches Ungeheuer ist nicht nur dadurch ein Ungeheuer, dass es eine Ausnahme im Verhältnis zur Form der Gattung ist, sondern auch aufgrund der Störung, die es unter den rechtlichen Regula­ rien anrichtet (ob es sich nun um die Gesetze der Ehe, die kanoni­ schen Vorschriften für die Taufe oder die Regeln der Erbfolge handelt). Das menschliche Ungeheuer kombiniert das Unmög-

16 5 D ie Anormalen

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liehe mit dem Untersagten. In dieser Hinsicht muss man die gro­ ßen Hermaphroditenprozesse, in denen sich seit der Affäre von Rouen1 (Anfang des 17. Jahrhunderts) bis zum Prozess gegen Anne Grandjean2 - (in der Mitte des folgenden Jahrhunderts) Juristen und Mediziner gegenüberstanden, aber auch Werke wie die im 18. Jahrhundert veröffentlichte und übersetzte Embryolo­ gie sacrée3 von Cangiamila untersuchen. Ausgehend davon lässt sich eine bestimmte Anzahl von Zwei­ deutigkeiten verstehen, die auch dann noch die Analyse und den Status des anormalen Menschen belasten werden, nachdem er die ihn als Ungeheuer bezeichnenden Merkmale reduziert und abge­ streift hat. An erster Stelle dieser Zweideutigkeiten steht ein nie­ mals voll und ganz kontrolliertes Spiel zwischen der Ausnahme von der Natur und dem Bruch des Rechts. Sie hören auf, sich zu überlagern, ohne aufzuhören, miteinander zu spielen. Die »natür­ liche« Abweichung von der »Natur« verändert die rechtlichen Effekte der Überschreitung und löscht sie dennoch nicht vollstän1 [E s

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M ä d c h e n g e ta u f t w u r d e u n d s p ä te r d a n n M ä n n e r k le id e r u n d d e n V o rn a m e n M a rin a n le g te u n d A n s tr e n g u n g e n u n te r n a h m , e in e W itw e n a m e n s J e a n n e L e F e b v r e z u e h e lic h e n . S ie w u r d e v e r h a f t e t u n d a m S o d o m ie « z u m vor dem

4. M a i 1601 w e g e n d e s » V e rb rec h e n s d e r

T o d e v e r u r t e il t. D e r B e r ic h t d e s A r z te s J a c q u e s D u v a l r e t t e t e s ie

S c h e ite r h a u f e n . S ie w u r d e d a z u v e r u r t e il t, e in M ä d c h e n z u b le i b e n . V g l.

Des hermaphrodites, R o u e n 1 6 1 2 . Réponse au discours fait par le sieur Riolany docteur en médecine, contre l'histoire de l'hermaphrodite de Rouen, R o u e n D u v a l, J .,

°.JJ 2

[D ie 1 732 in G r e n o b le g e b o re n e A n n e G r a n d je a n tr u g M ä n n e r k le id e r u n d h e ir a ­ t e t e a m 2 4 . J u n i 1 7 6 1 i n C h a m b é r y F r a n ç o i s e L a m b e r t . S ie w u r d e a n g e z e i g t u n d v o r dem

G e ric h ts h o f v o n

L y o n a n g e k la g t, w o

S a k r a m e n ts d e r E h e z u

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E n tw e ih u n g

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f u n g s e n ts c h e id a u s L a T o u r n e lle s p r a c h s ie a m

10. J a n u a r 1765 v o n d ie s e r A n k la g e

fre i, b e fa h l ih r a b e r, w ie d e r F r a u e n k le id e r z u

tr a g e n . V g l. d ie D e n k s c h r if t ih re s

Mémoire pour Anne Grandjean, connu sous le nom de Jean-Baptiste Grandjean, accusé et appelant contre M. le Procureur général, accusateur, L y o n 1 7 6 5 , i n : C h a m p e a u x , C . , Réflexions sur les hermaphrodites relativement à Anne Grandjean, qualifiée telle dans un mémoire de Me Vermeil, avocat en parlement, L y o n 1 7 6 5 . ] [ C a n g i a m i l a , F . E . , Sacra Embryologia, sive De officio sacerdotum, medicorum et aliorum circa aetemam parvulorum in utero existentium salutem, P a n o r m i 1 7 5 8 {Embryologie sacrée, ou Traité du devoir des prêtres, des médecins et autres sur le salut éternel des enfants qui sont dans le ventre de leur mère, ü b e r s , v o n J . A . A n w a lte s , d e s M a îtr e V e rm e il,

3

s ie z u n ä c h s t w e g e n

V e rb a n n u n g v e ru rte ilt w u rd e . E in B e ru ­

D i n o u a r t u n d A . R o u x , P a r i s 1 7 6 6 ) .]

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1 9 7 5

dig aus; sie verweist nicht schlicht und einfach auf das Gesetz, aber setzt es genauso wenig außer Kraft; sie stellt dem Gesetz nicht nur eine Falle, indem sie Effekte hervorruft, Mechanismen auslöst und Institutionen auf den Plan ruft, die rechtlich neben den eigentlichen Gerichten und am Rande des medizinischen Fel­ des agieren. In diesem Sinne konnte man die Entwicklung der rechtsmedizinischen Begutachtung in Strafrechtssachen von der zu Beginn des 19. Jahrhunderts (mit den Affären Cornier, Léger und Papavoine)4 problematisierten »ungeheuerlichen« Tat bis zum Aufkommen jener Annahme eines »gefährlichen« Indivi­ duums - dem man unmöglich einen medizinischen Sinn oder ei­ nen rechtlichen Status geben kann - untersuchen, die dennoch der Grundbegriff der zeitgenössischen Gutachten ist. Indem man heute dem Arzt die eigentlich unsinnige Frage stellt: »Ist dieses Individuum gefährlich?« (eine Frage, die einem Strafrecht wider­ spricht, das allein auf der Verurteilung von Taten gegründet ist, und die eine natürliche Zusammengehörigkeit zwischen Krank­ heit und Rechtsbruch postuliert), verlängern die Gerichte durch die Transformationen hindurch, die es zu analysieren gilt, die Zweideutigkeiten der alten säkularen Ungeheuer. 2) Das korrektionsbedürftige Individuum. Es ist eine Gestalt jün­ geren Datums als das Ungeheuer. Es ist weniger ein Gegenpart zu den Imperativen des Gesetzes und zu den kanonischen Formen 4

[A m 4. N o v e m b e r 1825 tr e n n t H e n r ie tte C o r n ie r d e r u n te r ih re r O b h u t s te h e n d e n n e u n z e h n jä h r ig e n F a n n y B e lo n d e n K o p f a b . I h r e A n w ä lte b e a u ftr a g e n C h a r le s M a r c m i t e i n e r r e c h t s m e d i z i n i s c h e n U n t e r s u c h u n g . V g l . M a r c , C . , Consultation médicale pour Henriette Cornier; accusée d'homicide commis volontairement et avec préméditation ( 1 8 2 6 ) , i n : De la folie considérée dans ses rapports avec les questions médico-judiciaires, P a r i s 1 8 4 0 , B d . I I , S . 7 1 - 1 3 0 . D e r n e u n u n d z w a n z ig jä h rig e W e in b a u e r A n to in e L é g e r w ir d 1824 v o r d em

S c h w u r g e r ic h t v o n

V e rs a ille s w e g e n

am

23. N o v e m b e r

g e w a lttä tig e r U n z u c h t u n d

M o r d a n d e r z w ö lfe in h a lb jä h rig e n J e a n n e D e b u lly a n g e k la g t. N a c h e in e r e rs te n

Journal des débats v o m 2 4 . N o v e m b e r 1 8 2 4 w i r d d e r F a l l v o n Examen des procès criminels des nommés Léger, Feldtmann, Lecouffe, Jean-Pierre et Papavoine, dans lesquels l'aliénation mentale a été alléguée comme moyen de défense, P a r i s 1 8 2 5 , S . 2 - 1 6 , a u f g e g r i f f e n . D a r s te llu n g

im

É tie n n e G e o r g e t in s e in e m B u c h

L o u is A u g u s te

P a p a v o in e , e in e h e m a lig e r k a u f m ä n n is c h e r A n g e s te llte r im

See­

f a h r tb e re ic h , w ir d im A lte r v o n e in u n d v ie rz ig J a h r e n a m 2 3 . F e b r u a r 1825 v o r d e m G e s c h w o r e n e n g e r ic h t v o n P a r is d e s M o r d e s a n z w e i k le in e n K in d e r n , b e g a n g e n im B o is d e B o u lo g n e , a n g e k la g t.

Ebd. ,

S . 3 9 - 6 5 .]

i6$ D ie Anorm alen

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der Natur als zu den Zurichtungstechniken mit ihren eigenen Anforderungen. Das Auftauchen des »Unkorrigierbaren« erfolgt zeitgleich mit der Einrichtung von Disziplinierungstechniken, wie man sie während des 17. und des 18. Jahrhunderts beobachten kann - in der Armee, den Schulen, den Werkstätten und dann, ein wenig später, auch in den Familien. Die neuen Verfahren zur Zurichtung des Körpers, des Verhaltens und der Fähigkeiten wer­ fen das Problem auf, was mit denjenigen ist, die sich dieser Nor­ mativität entziehen, die nicht mehr die Souveränität des Gesetzes ist. Die »Entmündigung« stellte die gerichtliche Maßnahme dar, mit der ein Individuum zumindest partiell als Rechtssubjekt dis­ qualifiziert wurde. Dieser negative rechtliche Rahmen wird teils ausgefüllt und teils ersetzt durch eine Gruppe von Techniken und Verfahren, mit denen man darangehen wird, diejenigen zuzurich­ ten, die sich der Zurichtung widersetzen, und die Unkorrigierba­ ren zu korrigieren. Die seit dem 17. Jahrhundert im großen Maß­ stab praktizierte »Einsperrung« kann als eine Art Zwischenformel zwischen dem negativen Verfahren der Entmündigung und den positiven Verfahren der Zurichtung erscheinen. Die Einsperrung schließt tatsächlich aus und funktioniert außerhalb der Gesetze, führt aber zu ihrer Rechtfertigung die Notwendigkeit an, zu kor­ rigieren, zu bessern, zur Reue hinzuführen und eine Rückkehr zu »Gutartigkeit« zu ermöglichen. Ausgehend von dieser verworre­ nen, aber historisch entscheidenden Sachlage sind das historisch präzise datierbare Auftauchen der verschiedenen Umerziehungs­ einrichtungen und der Klassen von Individuen, an die sie sich richten, zu untersuchen. Technisch-institutionelle Entstehung der Blindheit und der Taubstummheit, der Schwachsinnigen, der Zurückgebliebenen, der Nervösen und der Unausgeglichenen. Als banalisiertes und blass gewordenes Ungeheuer ist der Anor­ male des 19. Jahrhunderts auch ein Abkömmling jener an den Rändern der modernen »Zurichtungs«techniken aufgetauchten Unkorrigierbaren. 3) Der Onanist. Eine ganz neue Figur im 18. Jahrhundert. Er taucht auf im Wechselspiel mit den neuen Bezügen zwischen Se­ xualität und Organisation der Familie, mit der neuen Stellung des Kindes inmitten der Elterngruppe, mit der neuen Bedeutung, die

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dem Körper und der Gesundheit beigemessen wird. Erscheinen des sexuellen Körpers des Kindes. Tatsächlich hat dieses Auftauchen eine lange Vorgeschichte: die mit den Techniken der Gewissensleitung (in der neuen, aus der Reformation und dem Trienter Konzil entstandenen Pastoral) und den Erziehungseinrichtungen verbundene Entwicklung. Von Gerson bis Alfonso Maria di Liguori wird eine umfassende dis­ kursive Erfassung des sexuellen Begehrens, des sinnlichen Kör­ pers und der Sünde der wollüstigen Verweichlichung [»mollities«] durch die Verpflichtung zum Bußgeständnis und einer streng ko­ difizierten Praxis subtiler Befragungen gesichert. Schematisch ge­ sprochen kann man behaupten, dass die traditionelle Kontrolle der verbotenen Beziehungen (Ehebrüche, Inzeste, »Sodomie«, Verkehr mit Tieren) durch die Kontrolle des »Fleisches« in den elementaren Regungen der Konkupiszenz verdoppelt wurde. Auf dieser Basis stellt der Kreuzzug gegen die Masturbation indes einen Bruch dar. Er beginnt mit großem Getöse zunächst in England um die i/ioer-Jahre mit der Veröffentlichung der Onania,5 dann in Deutschland, bevor er um 1760 herum mit dem Buch von Tissot6 in Frankreich ausgelöst wird. Der Grund für sein Erscheinen ist rätselhaft, aber seine Auswirkungen sind unüberschaubar. Beide lassen sich nur bestimmen, wenn man ei­ nige der Wesenszüge dieser Kampagne in Betracht zieht. Es dürfte in der Tat kaum genügen, wenn man darin - und das in einer Reich nahen Perspektive, die jüngst die Arbeiten von Van Ussel7 inspirierte - nur einen mit den neuen Erfordernissen der Indust­ rialisierung verbundenen Unterdrückungsprozess sieht: der pro­ duktive Körper gegen den Körper der Lust. Denn dieser Kreuz­ zug nimmt zumindest im 18. Jahrhundert nicht die Form einer 5

[Onania, or tbe Heinous Sin of SeifPollution, and All the Frigbtful Conséquences in Botb Sexes, Considered Witb Spiritual and Physical Advice to Tbose Wbo Have Already Injured Tbemselves By Tbis Abominable Practice, L o n d o n 1 7 1 0 . D a s W e rk w ir d B e k k e r z u g e s c h r ie b e n .]

6

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[ E r s t m a l s 1 7 5 8 i m A n s c h l u s s a n d i e Dissertatio de febribus biliosis, seu Historia epidemiae biliosae Lausannensis v e r ö f f e n t l i c h t , e r s c h i e n d a s Testamen de morbis ex manustupratione v o n S i m o n T i s s o t i n e i n e r d u r c h g e s e h e n e n u n d e r w e i t e r t e n F a s ­ s u n g u n t e r d e m T i t e l UOnanisme, ou Dissertation physique sur les maladies pro­ duites par la masturbation, L a u s a n n e 1 7 6 0 . ] [ U s s e l , J . V a n , Sexualunterdrückung. Geschichte der Sexualfeindschaft, R e i n b e k 1 9 7 0 .]

165 Die Anormalen

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allgemeinen Sexualdisziplin an: Er richtet sich vornehmlich, wenn nicht ausschließlich an Heranwachsende oder Kinder, und zwar, genauer noch, an diejenigen aus reichen oder gut situierten Fami­ lien. Er setzt die Sexualität oder zumindest den sexuellen Ge­ brauch des eigenen Körpers an den Anfang einer endlosen Reihe physischer Störungen, deren Auswirkungen in allen Formen und allen Lebensaltern spürbar werden können. Die unbegrenzte ätio­ logische Macht der Sexualität auf der Ebene des Körpers und der Krankheiten ist eines der beständigsten Themen nicht nur in den Texten dieser neuen ärztlichen Moral, sondern auch in den seriö­ sesten Werken der Pathologie. Während nun aber das Kind da­ durch für seinen eigenen Körper und sein eigenes Leben verant­ wortlich wird, werden für den »Missbrauch«, den es mit seiner Sexualität treibt, die Eltern als die wahren Schuldigen angeklagt: mangelnde Überwachung, Vernachlässigung und vor allem das fehlende Interesse an ihren Kindern, ihrem Körper und ihrem Benehmen, das sie veranlasst, sie Ammen, Dienern und Hausleh­ rern, also all diesen Mittelspersonen anzuvertrauen, die regelmä­ ßig als Initiatoren der Unzucht denunziert werden (Freud wird daran mit seiner ersten Theorie der »Verführung« anknüpfen). Durch diese Kampagne hindurch zeichnet sich der Imperativ ei­ nes neuen Verhältnisses von Eltern und Kindern und, weiter ge­ fasst, eine neue Ökonomie der interfamiliären Verhältnisse ab: Festigung und Intensivierung der Bezüge zwischen Vater, Mutter und Kindern (zu Lasten der mannigfaltigen Bezüge, die die »Hausgemeinschaft« im weiten Sinne charakterisierten), Umkeh­ rung des Systems der familiären Verpflichtungen (die einst für die Kinder gegenüber den Eltern bestanden und die jetzt dahin gehen, das Kind zum ersten und unaufhörlichen Objekt der elterlichen Pflichten zu machen, die als moralische und medizinische Verant­ wortung zugewiesen wird, die bis ins tiefste Innerste ihrer Nach­ kommenschaft hinein gilt), Auftauchen des Prinzips der Gesund­ heit als Grundgesetz der familiären Bande, Verteilung der Kernfamilie rund um den Körper - und zwar den sexuellen Kör­ per - des Kindes herum, Organisation eines unmittelbaren physi­ schen Bandes von Körper zu Körper zwischen Eltern und Kin­ dern, in dem auf komplexe Weise Begehren und Macht verknüpft werden, und schließlich die Notwendigkeit einer Kontrolle und eines externen medizinischen Wissens, um diese neuen Bezüge

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zwischen der pflichtgemäßen Wachsamkeit der Eltern und dem so zerbrechlichen, reiz- und erregbaren Körper der Kinder zu ent­ scheiden und zu regulieren. Der Kreuzzug gegen die Masturba­ tion bringt die Ausgestaltung der eingeschränkten Familie (Eltern, Kinder) zu einem neuen Macht-Wissen-Apparat zum Ausdruck. Die Infragestellung der Sexualität des Kindes und all der Anoma­ lien, für die sie verantwortlich sein soll, war eines der Verfahren zur Ausbildung dieses neuen Dispositivs. Die für unsere Gesell­ schaften charakteristische inzestuöse Kleinfamilie und der sexuell saturierte winzige Raum der Familie, in dem wir aufgezogen wer­ den und in dem wir leben, ist dadurch gebildet geworden. Das »anormale« Individuum, für das seit Ende des 19. Jahrhun­ derts so viele Institutionen, Diskurse und Wissensarten die Ver­ antwortung übernehmen, lässt sich sowohl von der rechtlich-na­ türlichen Ausnahme des Ungeheuers als auch von der Vielfalt der in den Apparaten der Zurichtung erfassten Unkorrigierbaren als auch von dem universalen Geheimnis der infantilen Sexualitäten her bestimmen. Tatsächlich gehen dabei die drei Gestalten des Ungeheuers, des Unkorrigierbaren und des Onanisten keine Ver­ mischung im eigentlichen Sinne ein. Jede wird sich in autonomen wissenschaftlichen Bezugssystemen einschreiben: das Ungeheuer in eine Teratologie8 und eine Embryologie, die mit Geoffroy Saint-Hilaire9 ihr erstes großes wissenschaftliches System fanden; der Unkorrigierbare in einer Psychophysiologie der Empfindun­ gen, der Motrizität10 und der Fähigkeiten; der Onanist in einer Theorie der Sexualität, die ausgehend von der Psycbopathia sexualis von Kaan11 allmählich ausgearbeitet wurde. Doch darf der spezifische Charakter dieser Bezüge nicht drei wesentliche Phänomene vergessen machen, durch die er teilweise annulliert oder zumindest modifiziert wirdj^die Konstruktion ei­ ner allgemeinen Theorie der ^Degeneration^, die ausgehend von 8 [Missgeburtenkunde, A.d.Ü.] 9 [Geoffroy Saint-Hilaire, E., La Philosophie anatomique, Paris 1822, Bd. II und III: Des monstruosités humaines. Considérations générales sur les monstres, compre­ nant une théorie des phénomènes de la monstruosité, Paris 1826. Vgl. auch Geoffroy Saint-Hilaire, I., Histoire générale et particulière des anomalies de Vorganisation chez Vhomme et les animaux,, ou Traité de tératologie, Paris 1832-1837, 4 Bde.] 10 [Motorische Kraft der Nervenzellen für die Muskelzusammenziehung, A.d.Ü.] 11 [Kaan, H., Psychopathia sexualis, Leipzig 1844.]

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dem Buch von Morel (1857)12 über mehr als ein halbes Jahrhun­ dert hinweg als theoretischer Rahmen sowie zugleich als soziale und moralische Rechtfertigung für all die Techniken der Zurech­ nung, Klassifizierung und der Intervention bei den Anormalen dienen wird; die Ausgestaltung eines komplexen institutionellen Netzes, das an der äußersten Grenze von Medizin und Justiz zu­ gleich als »Aufnahme«struktur für die Anormalen und als Instru­ ment zur »Verteidigung« der Gesellschaft dient, und schließlich die Bewegung, durch die das zuletzt in der Geschichte aufge­ tauchte Element (das Problem der infantilen Sexualität) die beiden anderen überdecken wird, um im 20. Jahrhundert zum fruchtbars­ ten Erklärungsprinzip sämtlicher Anomalien zu werden. Die Antiphysis, die der Schrecken des Ungeheuers einst ans Licht eines Ausnahmetages brachte, ist die universale Sexualität der Kinder, die sie jetzt in die kleinen alltäglichen Anomalien einfließen lässt. Seit 1970 hat die Reihe der Vorlesungen die allmähliche Aus­ bildung eines Wissens und einer Macht der Normierung im Aus­ gang von den traditionellen juristischen Verfahren der Bestrafung zum Gegenstand gehabt. Die Vorlesung des Jahres 1975-1976 wird diesen Zyklus mit der Untersuchung der Mechanismen ab­ schließen, durch die man seit Ende des 19. Jahrhunderts angeblich »die Gesellschaft verteidigen« will. Das diesjährige Seminar war der Analyse der Veränderungen des psychiatrischen Gutachtens in Strafrechtssachen von den großen Affären einer kriminellen Monstrosität (und ihrem casus princeps: Henriette Cornier) bis zur Diagnose »anormaler« Straftäter ge­ widmet. Übersetzt von Hans-Dieter Gondek

12 [Morel, B. A., Traité des dégénérescences physiques, intellectuelles et morales de Tespèce humaine et des causes qui produisent ces variétés maladives, Paris 1857.]