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German Pages 478 Year 2014
Denise Rüttinger Schreiben ein Leben lang
Für Marja und Bernd Rüttinger
Denise Rüttinger (Dr. phil.) ist im Wissenschaftsmanagement am Karlsruher Institut für Technologie tätig.
Denise Rüttinger Schreiben ein Leben lang. Die Tagebücher des Victor Klemperer
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2011 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: © Marja Rüttinger Lektorat & Satz: Denise Rüttinger Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1615-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Abkürzungsverzeichnis | 7 I.
Einleitung – Problemaufriss | 11
II.
Victor Klemperers Leben in vier Zeitaltern | 29
II.1 II.2 II.3 II.4
Kindheit und Jugend im Kaiserreich 1881-1918 | 30 Professor in der Weimarer Republik 1918-1933 | 34 Ausgestoßener im „Dritten Reich“ 1933-1945 | 36 Späte Karriere in der DDR 1945-1960 | 41
III. Victor Klemperer und sein Werk in der öffentlichen Wahrnehmung | 47
III.1 Die Rezeption von Klemperers Tagebüchern | 51 III.2 Spezifische Ausrichtung der Tagebuchrezeption | 72 III.3 Die Rezeption der Autobiographie „Curriculum vitae“ | 87 III.4 Die Rezeption von „LTI. Notizbuch eines Philologen“ | 89 Exkurs 1: Die Rezeption der wissenschaftlichen Publikationen | 96 III.5 Zusammenfassung | 103 IV. Berufliches Schreiben | 105
IV.1
Die journalistischen Arbeiten – sachlich berichtendes Schreiben | 106 Exkurs 2: „Revolutionstagebuch“ | 126 IV.2 Die schriftstellerischen Arbeiten – literarisches Schreiben | 134 Exkurs 3: Der Roman „Schwesterchen“ | 145 IV.3 Die wissenschaftlichen Arbeiten – analytisches Schreiben | 151 Exkurs 4: Rezensionen | 163 IV.4 Zusammenfassung | 168 V.
Lebensgeschichtliches Schreiben | 171 V.1 Briefe als Ergänzung zum Tagebuch | 172
V.2
Die Autobiographie „Curriculum vitae“ als Endprodukt des Tagebuchschreibens | 179 Exkurs 5: „Zelle 89“ | 202 V.3 Zusammenfassung | 207 VI. Die Schnittstelle zwischen beruflichem und lebensgeschichtlichen Schreiben – „LTI“ | 209
VII. Schreiben als Lebensaufgabe – Victor Klemperers Tagebücher | 223 VII.1 Vorbemerkungen | 223
Exkurs 6: Das Material der Tagebuchaufzeichnungen | 227 VII.2 1916-1919 – „daß in den wüstesten weltgeschichtlichen Zeiten der Alltag [...] fortläuft“ | 235 VII.3 1920-1925 – „...die kleinen Eindrücke [...] festhalten neben den großen Dingen“ | 244 Exkurs 7: Reisetagebücher | 254 VII.4 1926-1930 – „Vorderhand fällt alles in die Kiste der Papiersoldaten.“ | 264 VII.5 1931-1932 – „...u. nun habe ich keine Lust zum Schreiben.“ | 283 VII.6 1933-1938 – „Ich klammere mich an diese Arbeit...“ | 290 VII.7 1939-1942 – „‚[...] Sie müssen das aufschreiben!ʻ“ | 306 VII.8 1943-1945 – „Um alles aufzuholen – wer weiß, ob ich zu weiteren Notizen komme...“ | 333 Exkurs 8: Fluchtbericht Dresden – Bayern | 348 VII.9 1945-1947 – „...immer wieder doch auch die Freude am Wirkenkönnen u. am Erfolg.“ | 356 VII.10 1948-1951 – „Nicht fragen – weiter“ | 371 Exkurs 9: Nachträge | 382 VII.11 1952-1958 – „...meine Produktionskraft ist physisch u. geistig zuende“ | 386 VII.12 1959 – „Ich kann auch nur mühselig schreiben.“ | 397 VII.13 Ergebnisse | 403 VIII. Schlussüberlegungen | 409 IX. Anhang | 421 X.
Quellen- und Literaturverzeichnis | 437
X.1 X.2 X.3 X.4 X.5 X.6
Unveröffentlichte Quellen aus der SLUB | 437 Andere unveröffentlichte Quellen | 445 Primärliteratur von Victor Klemperer | 445 Primärliteratur von anderen Autoren | 448 Sekundärliteratur zu Victor Klemperer | 449 Sekundärliteratur zu anderen Themen | 465
Danksagung | 473
Abkürzungsverzeichnis
Abkürzungen für Primärliteratur LS I Klemperer, Victor (1996a): Leben sammeln, nicht fragen, warum und wozu. Tagebücher 1918-1924, Bd. 1. Hg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Christian Löser, Berlin: AufbauVerlag. LS II Klemperer, Victor (1996b): Leben sammeln, nicht fragen, warum und wozu. Tagebücher 1925-1932, Bd. 2. Hg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Christian Löser, Berlin: AufbauVerlag. Klemperer, Victor (1995a): Ich will Zeugnis ablegen bis zum ZA I letzten. Tagebücher 1933-1941, Bd. 1. Hg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer, Berlin: Aufbau-Verlag. ZA II Klemperer, Victor (1995b): Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1942-1945, Bd. 2. Hg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer, Berlin: Aufbau-Verlag. Klemperer, Victor (1999a): So sitze ich denn zwischen allen SZS I Stühlen. Tagebücher 1945-1949, Bd. 1. Hg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Christian Löser, Berlin: Aufbau-Verlag. Klemperer, Victor (1999b): So sitze ich denn zwischen allen SZS II Stühlen. Tagebücher 1950-1959, Bd. 2. Hg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Christian Löser, Berlin: Aufbau-Verlag. CV I Klemperer, Victor (1996c): Curriculum vitae. Erinnerungen 1881-1918. Bd. 1. Hg. von Walter Nowojski, Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag. CV II Klemperer, Victor (1996d): Curriculum vitae. Erinnerungen 1881-1918. Bd. 2. Hg. von Walter Nowojski, Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag. Klemperer, Victor (1985): LTI. Notizbuch eines Philologen. 8. LTI Auflage, Leipzig: Philipp Reclam jun.
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Abkürzungen zu allgemeinen Begriffen LNN Leipziger Neue Nachrichten SBZ Sowjetische Besatzungszone SLUB Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden VNN Vereinigung der Verfolgten des Nationalsozialismus
Abkürzungen in den Zitaten [..., Anm. d. A.] Anmerkung der Autorin [...] Kürzung im Zitat [...?] unleserliches Wort ausgelassen [?] aufgrund von Unleserlichkeit ist das zitierte Wort fraglich {...} Kürzung im Zitat vom ursprünglichen Autor/Herausgeber übernommen / Absatz im Zitat Zitieren der Tagebuchnotate und der Originalmanuskripte aus der SLUB Tagebucheinträge werden immer nach folgender Systematik zitiert: Tagebuchquelle (LS, ZA oder SZS) Bandnummer (I oder II), Seitenzahl, Datum. Beispiel: LS II, 577, 09.09.1929 So weit möglich, folgt diese Arbeit den gedruckten Quellen von Klemperers Tagebüchern. Nur im Druck gekürzte Tagebuch-Textstellen werden direkt nach den Originalmanuskripten zitiert, indem pro Seite die gekennzeichneten Kürzungen gezählt werden, die Nowojski mit „[...]“ angibt. Die Zählung benennt die Kürzungen als „1. Stelle“, „2. Stelle“ etc. Beispiel: LS II, 556, 1. Stelle, 25.08.1929 In Fällen, in denen Nowojski im Druck eine Kürzung nicht angegeben hat, wird dies durch den Beisatz „ungekennzeichnete Stelle“ dokumentiert. Beispiel: SZS I, 623, ungekennzeichnete Stelle, 02.02.1949 Teilweise fehlt im Druck die Kennzeichnung des Kürzens ganzer Tagebucheinträge. Dies wird mit dem Beisatz „nicht gedruckter Eintrag vom“ markiert. Beispiel: SZS I, 635, 2. Stelle, nicht gedruckter Eintrag vom 07.04.1949 Neben den Tagebuchaufzeichnungen stützt sich diese Arbeit auch vielfältige auf andere Originalmanuskripte Klemperers aus der SLUB. Diese werden jeweils durch die Signatur der SLUB (Mscr. Dresd. App. 2003) und die jeweilige SLUB-Nummerierung der entsprechenden Quelle zitiert. Beispiel: Mscr. Dresd. App. 2003, 136
A BKÜRZUNGSVERZEICHNIS
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Buchbinder-Begriffe Bei der Beschreibung der einzelnen Tagebücher, in die Klemperer seine Aufzeichnungen notierte, werden diverse Begriffe aus dem BuchbinderGewerbe verwendet: das Vorsatz Doppelblatt, das aus Spiegel und „Fliegendem Blatt“ besteht „Fliegendes Blatt“ rechte Seite vom Vorsatz, Blatt zwischen Buchdeckel und Buchblock vorderer Spiegel der linke innere Buchdeckel eines Buches vorn hinterer Spiegel der rechte innere Buchdeckel eines Buches hinten Anmerkungen zur Schreibweise Die Arbeit folgt der neuen Rechtschreibung. Zitate aus Texten, die nach alter Rechtschreibung entstanden, werden jedoch originalgetreu übernommen. Dasselbe gilt für Texte von Schweizer Autoren. Die Schweizer Rechtschreibung wird unverändert zitiert. Die Materialien aus der SLUB werden in dieser Arbeit getreu dem Original zitiert. Dies beinhaltet auch Rechtschreibfehler und die falsche Wiedergabe von Namen und ähnlichem. Ein Eingriff erfolgt nur, wenn die Verständlichkeit des Zitierten nicht gewährleistet ist. Kursiv-Schreibung, Unterstreichungen und Sperrungen in Zitaten werden übernommen. Kursive Textstellen außerhalb von Zitaten stammen von der Autorin und dienen zur Betonung wichtiger Begriffe.
I.
Einleitung – Problemaufriss
„As we read the writing of memory, it is easy to forget that we do not read memory itself but its transformation through writing. Writing is one of the many modes that memory generates, but writing aspires to carry memory outside the self and beyond perpetual repetition“ (Owen 1986, 114). „Ich frage mich oft, warum ich so ausführlich Tagebuch schreibe. Ich glaube nicht mehr an die literarische Verwertung, an das Weiterleben des Geschriebenen. Ich möchte das Schreiben lassen, das Tagebuchschreiben, das philologische, alles. Und ich kann es nicht lassen. Es ist halb ein Muß u. halb eine Betäubung. Denn wenn man ‚wozuʻ fragt, ist man zu Ende“ (LS II, 377, 10.09.1927).
Diesen Kommentar zum Schreiben allgemein und zum Tagebuchschreiben im Besonderen vermerkt der Romanist Victor Klemperer (1881-1960) in seinem Diarium, als er es bereits knapp dreißig Jahre führt und seit zweiundzwanzig Jahren mit der Produktion von Text seinen Lebensunterhalt verdient. Er stellt damit nicht nur seine gegenwärtige Schreibhandlung in Frage, sondern seine lebenslange Ausrichtung auf alles Schriftliche. Gleichzeitig setzt er eben dieses Instrument ein, um seine Zweifel zu artikulieren und damit zu über-schreiben. Dieser autopoietische Prozess ergibt sich daraus, dass Klemperer sich in der schriftlichen Ausführung seiner Überlegungen auf vertrautem Gebiet bewegt – unabhängig vom „Glauben“ an die Dauerhaftigkeit des entstandenen Textes. Schreiben ist die zentrale Kategorie in seinem Leben. Selbst wenn er sie zwischenzeitlich anzweifelt, erschafft er zur Artikulation dieser Gedanken neuen Text. Seit seinem 16. Lebensjahr (1897) schreibt Klemperer nahezu täglich in seinen Tagebüchern auf, was er erlebt, was ihn in seinem Inneren bewegt, was für ihn bewahrenswert erscheint. Er führt dies bis zum Oktober 1959 – vier Monate vor seinem Tod – fort und begleitet so seine eigene Existenz
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lebenslang schriftlich.1 Der starke Drang, der ihn stetig zur Verzeichnung seines Erlebens antreibt, wird in Lebensphasen offenbar, in denen eine Fortführung des Tagebuchs nur unter extremem Zeitdruck oder – wie während des „Dritten Reichs“ – unter Lebensgefahr möglich ist. Keine noch so schwierige Umweltbedingung hält ihn davon ab, weiter zu notieren. – Im Gegenteil: Teilweise scheint ihn äußerer Druck zusätzlich anzuspornen, die Aufzeichnungen umso genauer fortzuführen. Das Schreiben erweist sich nicht nur für die Verzeichnung des persönlichen Erlebens als zentrale Kategorie in Klemperers Leben. Auch beruflich richtet er sich langfristig auf das Verfassen von Text aus. Dabei beschäftigt er sich von unterschiedlichen Standpunkten aus mit Literatur. Zunächst versucht er sich als Schriftsteller und veröffentlicht Gedichte, Erzählungen, sogar zwei Romane. Weil dies nicht ausreicht, um den Lebensunterhalt zu bestreiten, arbeitet er parallel dazu als Journalist, vornehmlich im Bereich Feuilleton. Als er sich aufgrund mangelnden Erfolgs und wegen Zweifeln an den eigenen literarischen Fähigkeiten schließlich für einen – in den Augen seiner Familie – weniger unkonventionellen Beruf entscheidet, wechselt er die Seiten: Er beendet sein abgebrochenes Studium der Germanistik und Romanistik, promoviert, habilitiert und strebt eine Universitätskarriere an. Damit wendet er sich von der direkten Erschaffung von Literatur ab, bleibt aber weiterhin intensiv mit der Thematik beschäftigt. Als Literaturwissenschaftler setzt er sich stetig mit literarischen Werken und deren Autoren auseinander, indem er über sie schreibt. Auf diese Weise bestimmt das Schreiben beruflich und privat lebenslang Klemperers Alltag. Er verfasst sowohl explizit für eine Öffentlichkeit als auch ausschließlich zum privaten Gebrauch Texte. Die Gründe für seinen anhaltenden Schreibwillen sind vielschichtig: Zunächst benötigt er das Schreiben, um das in dem eingangs zitierten Tagebucheintrag angesprochene „Weiterleben“ zu garantieren. Sowohl mit dem Tagebuchschreiben als auch mit den Arbeiten, die aus beruflichen Gründen für eine Veröffentlichung entstehen, erschafft er Texte, die auch nach seinem Tod von seinem Dagewesensein zeugen können. Obwohl sich nicht vollständig sicherstellen lässt, dass sie alle langfristig erhalten bleiben, vergrößert jede neue Textproduktion die Chance auf ein Bewahren der eigenen Existenz in dem, was er
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Das Tagebuchwerk ist nicht vollständig erhalten. Nur die Aufzeichnungen vom November 1918 bis zum Oktober 1959 liegen sowohl im Manuskript als auch in gekürzter Form als Druck vor (vgl. LS I, II; ZA I, II; SZS I, II). Bereits für die Zeit vor 1918 gab es nachweislich Tagebücher, die seit Klemperers 16. Lebensjahr regelmäßig entstanden. Er vernichtete sie, nachdem er die Inhalte dieser Aufzeichnungen in seine Fragment gebliebene Autobiographie „Curriculum vitae“ (erstmals erschienen 1989) übernommen hatte. Dadurch existiert für Klemperers gesamtes Leben – ausgenommen die letzten vier Lebensmonate, in denen er körperlich zu schwach zum Schreiben war – ein autobiographischer Text.
I. E INLEITUNG
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geschrieben hat. Jede von Klemperers Arbeiten spiegelt einen Teil seiner Persönlichkeit, weil darin seine Interessen, Meinungen und ästhetischen Ansprüche vermittelt werden. Im Tagebuch spitzt sich die Ausrichtung auf seine Person zu. Es ist der zentrale Ort der Auseinandersetzung mit seinem Selbst. In ihm erweist sich das Schreiben als Instrument der stetigen Selbstvergewisserung. Phasenweise wird es zudem in der Absicht verfasst, zu einem späteren Zeitpunkt eine „literarische Verwertung“ des aufgezeichneten Materials umzusetzen. Ergebnisse dieser Weiterverarbeitung sind neben den literarischen Arbeiten Klemperers auch das Autobiographiefragment „Curriculum vitae“ und „LTI [Lingua tertii imperii; Sprache des „Dritten Reichs“]. Notizbuch eines Philologen“. Daraus ergeben sich drei zentrale Funktionen von Klemperers Schreiben: Bewahren von Existenz, Reflexion von Identität und Sammeln von Stoff. In unterschiedlicher Ausprägung sind sie sowohl Hintergründe für die beruflichen Texte wie auch für die privaten Aufzeichnungen. Das Schreiben erweist sich dadurch als Instrument, mit dem es möglich ist, sich der Vergänglichkeit zu entziehen. Es dient in mehrfacher Weise zur Erinnerung an das körperliche und geistige Dagewesensein des Schreibers. Anhand der Zweiteilung in privates und berufliches Schreiben zeigt sich dabei, dass Klemperer zwischen der Erschaffung einer Erinnerung, die einer Nachwelt zugeeignet sein soll und einem persönlichen Bewahren spezifischer Gedanken und Ereignisse unterscheidet. Er schafft zum einen Arbeiten, die explizit für eine Öffentlichkeit entstehen. Die Tagebuchaufzeichnungen zum anderen schreibt er vornehmlich für sich selbst und zur Stoffsammlung für eine spätere Umwandlung in zu publizierende Texte. Trotzdem stellt er an beide Formen des Schreibens den Anspruch, dem möglichst detailgenauen und authentischen Bewahren seiner Existenz eine Plattform zu schaffen. Entsprechend inszeniert Klemperer mit beiden Schreibformen eine spezifische Erinnerung an Ereignisse und Gedankenzusammenhänge – aber auch an seine eigene Person. Die Darstellung ist darauf ausgerichtet, ein bestimmtes „Bild“ zu vermitteln. Mit den zur Veröffentlichung bestimmten Arbeiten arrangiert der Schreiber dies explizit bezüglich seiner kreativen Denkleistungen für ein Publikum. In den privaten Notaten geht es zunächst ausschließlich darum, eine Erinnerung für den persönlichen Gebrauch umzusetzen. Der Tagebuchschreiber schafft mit seinen Aufzeichnungen die Voraussetzung dafür, sich im persönlichen Kontext zu erinnern. Erst wenn er das Diarium als Quelle für andere Texte benutzt, erarbeitet er ein für die Öffentlichkeit bestimmtes „Bild“ seiner Person. Trotzdem unterliegen beide Schreibformen einem grundsätzlichen Verfremdungsprozess.2 Das begründet sich zum einen aus der Unmöglichkeit
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Verfremdung meint hier nicht Fiktionalisierung! Der Gegenstand autobiographischer Texte schließt das fiktive Element aus, weil von Beginn an der direkte
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vollständiger Wahrnehmung. Ein Individuum kann ein Ereignis niemals in allen Nuancen, Bedeutungsebenen und Rahmenbedingungen erfassen. Stattdessen fokussiert es auf spezifische Aspekte des Gesamtzusammenhangs. Zum anderen beginnt im Augenblick der Be-Schreibung eines Erlebnisses – unabhängig davon, ob der Text für ein Publikum gedacht ist oder nicht – eine Verformung des Erlebten und Gedachten im Hinblick auf eine bestimmte Lesewirkung.3 Ein „tatsächliches“ Ereignis kann dementsprechend nie vollständig und „ursprünglich“ wiedergeben werden. Das, was war, liegt für immer in der Vergangenheit und ist bei dem Versuch, es mit Sprache zu erfassen, nur bruchstückhaft und verformt speicherbar. Insbesondere die schriftliche Auseinandersetzung mit dem Erlebten in Tagebuchaufzeichnungen überbrückt jedoch diese Brüchigkeit, weil sie einen Erzählprozess erzeugt. Dadurch kommt es auch in Klemperers Notaten zu einer literarischen – weil rekonstruierenden und damit auch schöpferischen – Bearbeitung dessen, was ursprünglich beschrieben werden soll. Im Widerspruch zu seiner Absicht, die eigene Existenz im Schreiben möglichst „original“ zu bewahren, führt jeder seiner Versuche, Erinnerung zu speichern, zu einer Bearbeitung. Auch in anderer Hinsicht ist die Schrift als Instrument des Bewahrens in der Gegenüberstellung von Klemperers Erwartungshaltungen und ihrer tatsächlichen Wirkkraft paradox: Wie in dem oben zitierten Tagebucheintrag deutlich wird, lehnt er, trotz der kontinuierlichen Fortführung des Tagebuchs und der wissenschaftlichen Arbeit, die Frage nach dem „wozu“ – dem
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Bezug auf tatsächlich gelebtes Leben betont wird. Die These, der Tagebuchschreiber kombiniere die nicht-fiktionale Schreibweise mit inszenierten und möglicherweise das Gesamtbild seines Tagebuchs bewusst prägenden Stilmitteln, kann nur individuell formuliert werden und wirkt häufig wie eine unbelegbare Unterstellung. Ebenso, wie es nicht bestimmbar ist, was „Wahrheit“ im Diarium ist, kann auch nie mit Sicherheit behauptet werden, wo möglicherweise Überfremdungen stattfinden. Bezüglich publizierter Tagebücher ist dieser Vorgang besonders zu beachten. Beispielsweise stilisieren Diarien, die mit Veröffentlichungsabsicht geschrieben wurden, nachweislich eine bestimmte Ich-Sicht. In diesen Texten muss dem Tagebuchschreiber unterstellt werden, dass er die Wirkung seines Schreibens auf einen späteren Leser bewusst mit einkalkuliert. Für Tagebücher ohne erkennbare Veröffentlichungsabsicht kann dies nicht ohne Weiteres angenommen werden, denn hier geht es um ein Selbst-Verstehen im Inneren. Doch lässt sich nicht entscheiden, inwieweit trotzdem eine Stilisierung der Tagebucheinträge stattfindet – möglicherweise unbewusst. Letztendlich scheint dies allerdings eine müßige Frage zu sein. Entscheidend ist nicht, ob sondern dass eine Inszenierung erfolgt. Denn dies formt den literarischen Charakter des Tagebuchs aus. So ist nicht nur das bewusst für die Veröffentlichung geschriebene oder das stark bearbeitete, sondern auch das ohne Einbeziehung eines potenziellen Lesers entstandene Diarium ein literarisches Textkonstrukt.
I. E INLEITUNG
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Zweck – seines Schreibens ab. Gleichzeitig ist dieser Handlungsweise jedoch ein steter Reflexionsprozess inhärent, der die Hintergründe und die Art und Weise des Tagebuchschreibens zumindest indirekt thematisiert. So betont Klemperer beispielsweise über Jahrzehnte hinweg, er wolle sich nicht mit dem Tod auseinander setzen – die Tagebuchaufzeichnungen belegen jedoch, dass die damit zusammenhängenden Ängste phasenweise täglich seine Gedanken bestimmen. Unfähig diesen Widerspruch aufzulösen, führt er sein Diarium weiter. Die tatsächlichen Gründe für seinen starken Schreibtrieb – sowohl beruflich als auch privat – kann er selbst nicht artikulieren. Er zieht sich vielmehr wiederholt auf die Aussage zurück, das Schreiben sei „halb ein Muß u. halb eine Betäubung“. Im beruflichen wie im privaten Bereich dient es gleichermaßen zur Ablenkung von den unlösbaren existenziellen Fragen und zur Schaffung von „bleibenden Spuren“, die der Angst vor dem „Verschwinden“ entgegenwirken sollen. Während diese Funktionen dem Tagebuch – wie dargestellt – schon durch seine autobiographische Struktur inhärent sind, erweisen sie sich für das berufliche Schreiben als spezifische Merkmale, welche aus der allgemeinen Bedeutung resultieren, die Schrift für Klemperer hat. Das zeigt sich auch daran, dass er die Entstehung seiner Arbeitstexte stets im Diarium begleitet. Er thematisiert in seinen autobiographischen Auseinandersetzungen kontinuierlich sein jeweiliges berufliches Wirken. Dadurch wird eine direkte inhaltliche Verbindung hergestellt, die bei einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung der Diarien nicht außer Acht gelassen werden kann. Neben den autobiographischen Tagebuchaufzeichnungen und den rein aus beruflichen Gründen für eine Öffentlichkeit entstandenen Texten bedient sich Klemperer noch einer dritten Form des Schreibens. Seine Briefe und das „Curriculum vitae“ gehören einer weiteren Kategorie an, in welcher vornehmlich seine Lebensgeschichte4 dokumentiert wird. In seiner Korrespondenz und in seinem umfangreichen Autobiographiefragment schreibt er weder in der Funktion des Tagebuchschreibers noch in jener des Journalisten, Schriftstellers oder Wissenschaftlers. Er erzählt aus seiner persönlichen Perspektive von sich selbst und seinem Erleben, adressiert dies jedoch an ein Publikum. Darin liegt der Unterschied zu den Tagebuchaufzeichnungen, die zunächst ausschließlich für den persönlichen Gebrauch entstehen. Auf diese Weise lassen sich in Klemperers Arbeiten vereinfacht drei Schreib-
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Der Begriff „Lebensgeschichte“ reflektiert eine Tiefenbedeutung des Schreibens über persönliches Erleben: Denn er verweist auf die Tatsache, dass Klemperer Geschichten seines Lebens erzählt. Pierre Bourdieu schreibt dazu: „Spricht man von Lebensgeschichte, setzt man mindestens voraus [...], daß das Leben eine Geschichte ist und daß ein Leben immer zugleich die Gesamtheit der Ereignisse einer als Geschichte verstandenen individuellen Existenz und die Erzählung von dieser Geschichte ist“ (Bourdieu 1998, 75).
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formen lokalisieren: das Tagebuchschreiben, das berufliche und das lebensgeschichtliche Schreiben. Einzeln betrachtet stellen die jeweils darunter gefassten Texte in sich abgeschlossene Arbeiten dar, die auf spezifische Themen bzw. Ziele ausgerichtet sind. Jedoch sind sie alle nur Teil eines Ganzen, das erst in der Totale erkennbar wird: Sie bilden ein Werk. Die Anwendung dieses Begriffes ist jedoch nicht unproblematisch. Michel Foucault formuliert die Schwierigkeiten, die enorme Materialmasse eines Schreibenden zusammenhängend zu betrachten in seinem berühmt gewordenen Vortrag „Was ist ein Autor?“: „...ist alles, was er [ein Autor, Anm. d. A.] geschrieben hat, alles, was er hinterlassen hat, Teil seines Werks? Ein zugleich theoretisches und technisches Problem. Wenn man zum Beispiel an die Veröffentlichung der Werke Nietzsches geht, wo soll man Halt machen? Man soll alles veröffentlichen, ganz sicher, aber was heißt denn dieses ‚allesʻ? Alles, was Nietzsche selbst veröffentlicht hat, einverstanden. Seine Werkentwürfe? zweifellos. Aphorismusprojekte? ja. Aber wenn man in einem Notizbuch voller Aphorismen einen Bezug, einen Hinweis auf ein Rendez-vous oder eine Adresse oder eine Wäschereirechnung findet: Werk oder nicht Werk? Aber warum nicht? Und so weiter ad infinitum. Wie kann man aus den Millionen Spuren, die jemand nach seinem Tod hinterläßt, ein Werk bestimmen?“ (Foucault 1988, 13).
Erst die Zusammenführung der unterschiedlichsten Textsorten lässt ein effektives Bild vom Werk eines Autors entstehen. Angesichts eines lebenslangen Schreibprojekts, das ausschließlich ein Ziel verfolgt, nämlich das Bewahren der Existenz, kann die Frage, ob eine in einem Notizbuch liegende Wäschereirechnung bedeutsam für das Werk sei, nicht grundsätzlich verneint werden. Denn sie dokumentiert in ihrem Fortbestehen nicht nur ein scheinbar unbedeutendes Alltagserlebnis, sondern den Anspruch des Menschen, dessen Alltag damit beschrieben wird: Das eigene Dasein bewahren zu wollen. Klemperer interessiert nicht nur die Verzeichnung aller Lebensstationen, sondern die Fixierung seiner Identität in jeder möglichen schriftlichen Form. Es reicht ihm nicht aus, sich durch sein berufliches Werk einen – bleibenden – Namen zu machen. Vielmehr strebt er danach, der Vergänglichkeit seiner Persönlichkeit auch im privaten Bereich entgegen zu wirken. Die berufliche Absicht, etwas Bleibendes zu schaffen, wird deshalb in den Tagebuchaufzeichnungen als Teil eines größeren Projektes erkennbar. Die Publikationen gehen ein in ein weitaus umfassenderes Werk, das erst als Ganzes gesehen die Identität des Autors vermittelt. Dies hat Konsequenzen für eine literaturwissenschaftliche Untersuchung der Diarien: Wenn die alles umfassende Erwartungshaltung, die sich in den Tagebüchern stetig spiegelt, in allen Schattierungen erfasst werden soll, müssen die außerhalb der täglichen Aufzeichnungen entstandenen Texte unbedingt als Ausdruck unterschiedlicher Schreibformen in die Analyse einbezogen werden.
I. E INLEITUNG
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Jeder Text, den Klemperer im Laufe seines 79-jährigen Lebens schreibt, stellt ein Puzzleteil dar, welches Aufschluss über ein bestimmtes Erlebnis, einen spezifischen Gedanken oder eine Entwicklung des Autors geben kann. Das autobiographische Element, das laut Paul de Man eine „Lese- oder Verstehensfigur“ darstellt, „die in gewissem Maße in allen Texten auftritt“ (de Man 1993, 134), verbindet die Schreibformen des Romanisten. Die Tagebuchaufzeichnungen sind die Basis dieses alles vereinnahmenden Schreibens. In ihnen wird auf die meistens außerhalb des Diariums entstandenen Texte verwiesen. Dadurch koppeln sie extern geschriebene Gedichte, Arbeitsnotizen, Aufsätze, Monographien, Briefe und vieles mehr aneinander. Das berufliche und lebensgeschichtliche Schreiben vermischt sich miteinander. Eine klare Grenze zwischen den einzelnen Textsorten wird phasenweise fast unmöglich, da Autobiographisches und Sachliches ineinander verschmilzt. Klemperers Tagebuchwerk kann aus dieser Sicht nicht mehr losgelöst von seinen beruflichen und lebensgeschichtlichen Arbeiten betrachtet werden. Vielmehr verbindet sich sein gesamtes Schreiben – in Foucaults Worten wirklich „alles“ – zu einem „Werk“. Der gemeinsame Modus entsteht jedoch nicht durch die Absicht, den Text als solchen zusammenzufügen, sondern durch das Ziel, das Leben selbst zu bewahren. Während Foucaults Überlegung, ob es Sinn mache, auch eine Wäschereirechnung zum Werk eines Autors zu zählen, sich auf die rein materielle Erfassung des Geschriebenen stützt, eröffnet Klemperers Verständnis des Sammelns von Schriftstücken, in denen aus unterschiedlicher Perspektive seine Entwicklung und damit seine Identität widergespiegelt wird, eine neue Dimension des Werkbegriffs: Jede der „Millionen Spuren“, die er in Form von unterschiedlichsten Texten „nach seinem Tod hinterläßt“, ist essenziell für sein Bleiben. Es ist Klemperers erklärtes Ziel, die eigene Existenz in möglichst vielfältigen Details zu erfassen. Das zeigt sich nicht nur an der in den Tagebucheinträgen stetig wiederholten Betonung der autobiographischen Aussagekraft jedes jemals geschriebenen Textes. Vielmehr gibt die Art wie er die Texte, die dazu einen Beitrag leisten sollen, bewahrt und hinterlässt, Aufschluss über das enorme Ausmaß dieses Anspruchs. Denn sein umfangreicher schriftlicher Nachlass, der in der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB)5 der Öffentlichkeit zugänglich ist, weist einige Besonderheiten auf. Zum einen enthält er neben
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Der in der SLUB aufbewahrte Nachlass Klemperers wurde laut dem Materialien-Katalog „...im Jahre 1977 von dessen Witwe Frau Dr. Hadwig Klemperer in Dresden angekauft (Zugangs-Nr: 51.8°8737)“ (Deckert 1978). Sie hält weiterhin alle Rechte an dem Nachlass. Die SLUB ist ausschließlich Verwalterin des Materials. Der Aufbau-Verlag hat die kompletten Veröffentlichungsrechte durch Frau Dr. Klemperer zugesprochen bekommen. Die Freigabe der Materialien obliegt allerdings weiterhin ihr.
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einer Dokumentation von Klemperers beruflichen Publikationen, vielfältigen Manuskripten zu wissenschaftlichen Arbeiten, Briefen, dem Autobiographiefragment und den Tagebüchern auch unzählige Aufzeichnungen, die Vorarbeiten zu unterschiedlichen Projekten darstellen: Literaturexzerpte, Vorlesungskonzepte, Stichpunktzettel, Zeitungsausschnitte. Der Umfang des Nachlasses durchbricht damit jene Grenze zwischen dem veröffentlichten Werk und sonstigen Lebensdokumenten, die Foucault anspricht. Zum anderen werden die erhaltenen Texte, die vor 1945 entstanden, durch den Umstand charakterisiert, dass sie nur deshalb noch erhalten sind, weil Klemperer sie während des „Dritten Reichs“ bei einer Freundin vor den Nationalsozialisten versteckte. Die im Nachlass vorliegenden Materialien existieren nachweislich nur deshalb, weil sie gezielt sichergestellt wurden. Sie müssen eine spezifische Bedeutung gehabt haben. Nicht nur Tagebuchaufzeichnungen und Arbeitsmanuskripte, sondern auch Briefe, Vorlesungskonzepte, Gedichtentwürfe, Notizblätter und Literaturexzerpte schützte Klemperer auf diese Weise vor der Vernichtung. Jeder einzelne Text stellt ein Dokument seiner Existenz dar, hat eine eigenständige Bedeutung und ist deshalb unbedingt bewahrenswert. Zusammen bilden sie eine Einheit, die eine spezifische Aufgabe erfüllen soll. Klemperer artikuliert demnach die Zusammengehörigkeit seiner differierenden Schreibformen in einem Werk sowohl in seinen Texten – insbesondere in den Tagebucheinträgen – als auch durch die bewusste Zusammenführung seiner Arbeiten in einem Nachlass. Eine literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Klemperers umfangreichem Tagebuchwerk kann diese enge Verknüpfung zwischen den drei unterschiedlichen Bereichen seines Schreibens – Tagebuch, Beruf, Lebensgeschichte – nicht ignorieren. Erst in der Betrachtung aller Aspekte seines schriftlichen Wirkens offenbart sich sein Lebensprojekt – das „Dagewesensein“ in Schrift zu bewahren. Daraus ergibt sich für die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Klemperers Tagebüchern eine Voraussetzung: Sie können nicht ohne die „Paralleltexte“,6 welche zeitgleich zu den Tagebuchaufzeichnungen entstehen, betrachtet werden. Dabei kommt es zu einer zunächst verwirrenden Vereinheitlichung unterschiedlicher Textgattungen. Denn die analytische Verknüpfung der vielfältigen
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Der Begriff stützt sich auf eine Formulierung von Carl Holenstein. Er bezeichnet Klemperers Texte, deren Entstehung im Tagebuch begleitet wird, als „Paralleltexte“ (Holenstein 1996, 182). Damit bezieht er sich vor allem auf „Curriculum vitae“ und „LTI. Notizbuch eines Philologen“. Jedoch existiert auch für die romanistischen Arbeiten Klemperers ein ähnliches Verweissystem im Diarium, wie es in Bezug auf die Autobiographie und die Studie zur Sprache des „Dritten Reichs“ nachweisbar ist. Deshalb wird der Begriff in dieser Arbeit erweitert und allgemein für alle parallel zum Tagebuchschreiben entstehenden Texte verwendet.
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Schreibformen, deren sich Klemperer bedient, hebt die klaren Grenzen zwischen einzelnen Gattungen auf. Dies bestätigen Diskussionen, die seit einigen Jahrzehnten die Unumstößlichkeit von Gattungen anzweifeln. Da sie „institutionalisierte Organisationsformen literarischer Kommunikation, in denen spezifische Welterfahrungen sedimentiert sind“ (Voßkamp 1997, 265), darstellen, gelten sie als „soziokulturelle Verständigungsbegriffe“: „Sie verweisen immer auch auf ihre Entstehungsbedingungen im allgemeinen historischen Kontext und auf den wissenschaftsgeschichtlichen Ort, in dem sie entstanden sind und gebraucht werden“ (Voßkamp 1997, 265). Elisabeth W. Bruss betont, „...daß man sich de facto im Abstrakten befindet, wenn man von dem Stoff oder der Gattung eines Textes spricht, und, was noch wesentlicher ist, daß man sich je nach dem Rang der verschiedenen Kriterien auf verschiedene Abstraktionsebenen begibt. Somit läßt sich das, was man den Gattungscharakter eines Textes nennt, nicht auf die gleiche Weise feststellen wie das, was man seinen Stil oder seinen Aufbau, seinen mimetischen oder thematischen Wert nennt. Er läßt sich ganz einfach deswegen nicht auf die gleiche Weise feststellen, weil eine volle Einbeziehung der Gattungsfunktion in die übrigen Funktionen eines Textes jedes Stück Literatur zu einer Sache sui generis machen würde und weil jede noch so geringfügige Änderung im Gegenstand eines Werkes oder in seiner Struktur eine neue Gattungskategorie schaffen würde. Jeder Versuch, eine Gattung anhand von kompositorischen oder stilistischen Kriterien zu definieren, ist also von vornherein zum Scheitern verurteilt...“ (Bruss 1989, 261).
Weil Gattungen selbst einer ständigen Veränderung unterworfen sind, können sie nur über die jeweiligen Kontexte ihres Auftretens bestimmt werden. Klemperers Werk ist für diesen Umstand exemplarisch. Denn je nachdem, aus welcher Blickrichtung es betrachtet wird, wandelt sich seine Definierbarkeit: Ein Aufsatz wird stellenweise zum autobiographischen Bericht, im „Curriculum vitae“ finden sich philologische Überlegungen zur „LTI“, in der Sprachanalyse werden Tagebucheinträge zitiert. All diese Übergänge zeigen, dass Klemperers Texte nie eindimensional einer Gattung oder auch einer Aussagerichtung zugeordnet werden können. Vielmehr funktioniert eine Annäherung an sein Werk erst umfassend, wenn das situationsabhängige Zusammenspiel unterschiedlichster Aspekte einbezogen wird. Dazu ist ein Gedanke hilfreich, den Arno Dusini formuliert hat: „Wir sprechen nicht nur von Gattungen. Wir äußern uns auch immer in Gattungen. Was ‚Gattungʻ sei, ist eine Frage unserer unmittelbaren sprachlichen Freiheit“ (Dusini 2005, 21). Demzufolge ist auch die Auseinandersetzung mit Klemperers Werk abhängig von der jeweiligen Erwartungshaltung des Rezipienten. Das Einreihen unterschiedlichster Textsorten in die Kategorien Tagebuchschreiben und berufliches bzw. lebensgeschichtliches Schreiben wird damit als rein sachorientierte Unterscheidung und Zusammenführung legitimiert. Gat-
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tungsbegriffe finden in dieser Arbeit keine Anwendung als „I n s t r u m e n t “, sondern als „W e s e n h e i t “ (Fubini 1971, 9-10; vgl. dazu auch Raible 1980). Das erleichtert auch den Umgang mit dem Begriff des Tagebuchs. Denn die Definition7 dieser Gattung ist trotz einer jahrzehntelangen Diskussion nach wie vor ungeklärt. Die meisten Versuche, die Ausdrucksform des Diariums näher zu bestimmen, betonen die diversen Schwierigkeiten dieses Vorhabens.8 Damit werden die Möglichkeiten stark eingeschränkt, allgemeine und – bis zu einem gewissen Grad – bindende Gattungsmerkmale zu entwickeln. Eine entgegengesetzte Herangehensweise stellt Postulate auf, die als unantastbar präsentiert werden und jede Diskussion abzulehnen scheinen. Beide Positionen begründen sich aus dem Charakter des Tagebuchs selbst. Denn diese Textform vermischt nicht-fiktionale mit fiktionalen Elementen9 und weist wandelbare formale und inhaltliche Kriterien auf. Der Tagebuchschreiber erzählt von seinem Leben und agiert dabei nur scheinbar durchgehend ungeplant. Denn in der Darstellung von Realität liegt eine große Schwierigkeit der Textform: Es stellt sich die Frage, inwieweit ein Tagebuch überhaupt „Wirklichkeit“ abbilden kann. Das Schreiben ist – das ergibt sich aus der oben bereits angedeuteten Unmöglichkeit der Abbildung von „Wirklichkeit“ – unweigerlich ein schöpferischer Akt, der etwas hervorbringt, was so noch nicht da war: in der Gedankenwelt des Tagebuchschrei-
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Zu umfassenden Versuchen, die Gattung des Tagebuchs zu definieren, vgl. die einschlägige Literatur, z.B.: Buchholz 1942; Bühner 1950; Gräser 1955; Kurzrock 1955; Grenzmann 1959; Hocke 1963; Horst 1964; Frey 1964/1965; Schultz 1965; Just 1966; Boerner 1969; Rüdiger 1976; Jurgensen 1979; Baumann 1978; Pestalozi 1982; Vogelgesang 1985; Picard 1986; Görner 1986; Hipp 1988; Genette 1988; Thomsen 1994; Schönborn 1999; Dusini 2005. Anhand der Erscheinungsjahre der genannten Arbeiten wird erkennbar, dass die Hochphase der literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Tagebuch in den sechziger Jahren bereits langsam ausklang. Neuere Arbeiten zum Thema sind rar. Das beginnt bei der Problematik, Diarien, die zur Veröffentlichung bestimmt sind von solchen zu unterscheiden, die ohne Publikationsabsicht entstanden. Bereits hier kommt es zu sachlichen Einordnungsproblemen, die leicht durch Wertungen übertüncht werden. Die Verlockung, die beschriebenen privaten Erlebnisse des Diaristen moralisch und ethisch einzuordnen, scheint vielen Theoretikern einen objektiven Zugang zum Tagebuch als Textform zu verstellen. Zum Begriff der Fiktionalität gibt es ebenfalls umfangreiche Diskussionen, die vielfach auf die Frage hinauslaufen, ob ein Text „Dichtung“ sei oder nicht (vgl. z.B.: Müller 1968; Hoops 1979; Glinz 1983; Iser 1983; Blume 2004; Eco 2004). Problematisch ist insbesondere die Gefahr einer normativen Bestimmung, die ins Leere führen muss (vgl. dazu Lüthe 1974; Hamburger 1977; zur Opposition Fiktion vs. Nichtfiktion siehe Landwehr 1997; vgl. auch Landwehr 1975).
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bers und als Ereignis. Ein Tagebucheintrag ist die Subjektivierung jedes Geschehnisses. Damit kann auch nur die subjektive Wahrheit des Tagebuchschreibers wiedergegeben werden.10 Aus diesem Umstand ergibt sich die ebenfalls heftig umstrittene Frage, inwieweit Tagebücher als literarische Texte angesehen werden können.11 Im Gegensatz zu den klassischen Gattungen Epik, Lyrik und Dramatik lässt sich der literarische Bereich nicht klar und eindeutig abgrenzen, dem das Diarium neben anderen Textformen, wie beispielsweise Autobiographie oder Essay, zugehört. Es nimmt außerdem in diesem Bereich eine Sonderstellung ein, weil es Merkmale aufweist, die in gewisser Weise einmalig sind. Der Versuch, die Textform des Tagebuchs zu definieren, birgt demnach die Herausforderung, einen zeitlich und formal vom individuellen Diaristen abhängigen Text in seinen Rahmenbedingungen zu erschließen. Jede Definition dieser Textsorte basiert auf den Kriterien Veränderlichkeit und Unabgrenzbarkeit. Es ist unmöglich, abschließend allgemein gültige Merk-
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Dementsprechend ist die Forderung nach „Wahrheit“ als Merkmal des Tagebuchs irrelevant. Denn die Textform bezieht sich darauf von Beginn an mit der Einschränkung, dass nur die subjektive Wirklichkeit des Tagebuchschreibers abgebildet werden kann. Inwieweit davon ausgegangen werden sollte, dass der Diarist zum Ziel hat, „wahr“ zu schreiben, ist damit eine Frage, die für jeden Text speziell gestellt werden muss und die nie eine endgültige Antwort finden kann, weil sie unüberprüfbar ist. Die Motive des Tagebuchschreibers könnten eine Hilfestellung geben, inwieweit „Wahrheit“ beschrieben wird. So ist z.B. anzunehmen, dass Dinge verschwiegen oder „geschönt“ präsentiert werden, wenn es sich bei dem Diarium um eine für die Veröffentlichung bestimmte Selbstdarstellung der Nachwelt gegenüber handelt. Doch meist ist dieses Motiv nicht bekannt und dementsprechend bleibt dem Leser des Tagebuchs nichts anderes übrig, als davon auszugehen, dass der Diarist „wahr“ schreibt. Nur deshalb können Historiker sich auf die Aussagekraft von Tagebüchern stützen. Doch sollte diese Quellenfunktion immer durch andere – so weit das möglich ist, objektivere – Daten geprüft und hinterfragt werden. Vielfach wird ein Verständnis des Tagebuchs als literarischer Text abgelehnt, weil es nicht-fiktional und damit auch nicht-literarisch sei. Beispielsweise stellt Hans Rudolf Picard fest, das Tagebuch sei aufgrund seiner dokumentarischen und beschreibenden Ausrichtung „Nicht-Literatur“ (Picard 1986, 18). Trotzdem gesteht er zu: „Auch die dokumentähnlichste Ich-Beschreibung im Tagebuch gebiert schließlich ein in gewisser Hinsicht fiktionales Ich“ (Picard 1986, 19). Daraus legitimiert sich schließlich die Bezeichnung „Literatur im Rohzustand“ (Wuthenow 1990, IX). Trotz diverser Diskussionen, die spezifisch das „literarische Tagebuch“ betreffen (vgl. z.B.: Gräser 1955; Kraft 1983; Schönborn 1999), geht die Forschung nach wie vor davon aus, der „Zwittercharakter“ (Boerner 1969, 34) zwischen Gebrauchsliteratur und künstlerischer Gestaltung lasse keine klare Kategorisierung zu.
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male zu bestimmen. Vielmehr muss die Individualität jedes einzelnen Tagebuchschreibers berücksichtigt werden. Damit jedoch wird der Versuch, eine Verallgemeinerung der Eigenschaften einer Gattung Tagebuch zu erreichen, zum Paradoxon. Tagebuch-Definitionen bleiben in letzter Konsequenz unvollendbar, da sie nicht zu einer alles umfassenden Bestimmung zusammengeführt werden können. Diese Offenheit des Tagebuchbegriffs kann als Chance gesehen werden. Denn erst mit der Erkenntnis, dass die Gattung keinen abgeschlossenen Rahmen besitzt, wird der Blick auf die vielfältigen Möglichkeiten ihrer Erzählstrukturen eröffnet: Das Tagebuch berichtet nicht nur von „wirklichen Welten“, also dem tatsächlich Geschehenen, sondern erzählt auch von „möglichen Welten“, die durch die Kreativität des jeweiligen Tagebuchschreibers entstehen. Die im Diarium festgehaltene Erlebenswelt des Individuums ist der inhaltliche Schlüssel zu einer Form der literarischen Darstellung. Zwar ist die Selbstbeschreibung das Mittel und dadurch auch gleichzeitig die Begrenzung der Interpretation. Doch die Darstellung einer subjektiven Wirklichkeit ermöglicht andere Formen literarischen Ausdrucks als die klassischen Gattungen. Jede literaturwissenschaftliche Annäherung an ein spezifisches Diarium leistet damit nicht nur einen Beitrag zum Verständnis des jeweiligen Textes, sondern auch zur Frage, wie die Gattung Tagebuch aussehen kann. In Klemperers Tagebuchaufzeichnungen wird diese Offenheit der Gattung in besonderem Maße erkennbar. Anhand seiner zwischen 1918 und 1959 entstandenen Notate lässt sich über vier Jahrzehnte hinweg nachvollziehen, wie sich je nach den äußeren Lebensbedingungen Grundmerkmale seines Schreibens verändern. Er passt sich sowohl thematisch als auch stilistisch dem an, was er aktuell erlebt. Seine Erfahrungen, Erkenntnisprozesse und Entwicklungen beeinflussen konkret die Gestaltung seiner Tagebucheinträge. Dadurch verläuft Klemperers Tagebuchschreiben nie in den Mustern der klassischen Gattungsmerkmale. Vielmehr durchbricht er stetig die laut Tagebuchtheorie feststehenden Grenzen seiner autobiographischen Reflexionen über einzelne Tage. Er integriert ohne konkrete Kennzeichnung Analysen, Berichte, Porträts, Rezensionen, Arbeitsnotate, Briefe, Prosaideen, Gedichte, Entwürfe für die Autobiographie und die „LTI“ in sein Diarium. Dadurch wird sein Tagebuch zu einer Aneinanderreihung unterschiedlicher Textformen, die separiert auch außerhalb der jeweiligen Eintragung Bestand haben könnten. Die literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Klemperers Diarium bietet deshalb die Chance, einen Beitrag zu einer offenen Gattungsdiskussion zu leisten. Angesichts des außergewöhnlich umfangreichen Materials und der Anknüpfung an „Paralleltexte“ kann nicht in den bisher festgestellten Merkmalszuweisungen verharrt werden. Vielmehr bietet die nähere Auseinandersetzung mit diesem Tagebuchwerk eine Erweiterung und auch eine Infragestellung bisheriger Vorstellungen von diaristischen Strukturen an. Dazu gehört es auch, dass statt des Terminus „Gattung“ der Begriff der
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„Textsorte“ verwendet wird. Ziel dieses Vorgehens ist es, einem Verharren in den bisherigen – meist starren – Definitionen unterschiedlicher Textformen zu entgehen. Basierend auf diesem offenen Verständnis der Begriffe Gattung und Tagebuch ist es möglich, Klemperers Schreiben als Einheit zu betrachten, die zwar in ihrer Gesamtheit einem spezifischen Schreibziel unterworfen ist, gleichzeitig aber auch in ihren Einzelteilen wirkt. Es geht bei der vorliegenden Arbeit nicht allein darum, die Inhalte und Argumentationsweisen des Tagebuchschreibers zu analysieren. Vielmehr rückt sein Schreiben selbst in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Dies lässt sich nur umfassend bestimmen, wenn die wiederholt von ihm betonte Anknüpfung an die „Paralleltexte“ einbezogen wird. Deshalb geht der Analyse der Tagebuchaufzeichnungen in dieser Arbeit eine intensive Beschäftigung mit seinen anderen Textsorten voraus. Klemperers Verständnis seines Werkes durchbricht nicht nur die klassischen Vorstellungen von den Begriffen Gattung und Tagebuch, sondern erzeugt ein eigenständiges, hochkomplexes Netzwerk aus unterschiedlichsten Textformen, Bedeutungsverbindungen, Inhalten und Interessensausrichtungen. Eine Erfassung dieser Komplexität lässt sich nicht durch eine rein strukturelle Zerlegung der einzelnen Textsorten und Schreibformen erreichen. Vielmehr bedingt der auf mehreren Ebenen angelegte Gegenstand der Untersuchung eine entsprechend differenzierte Betrachtung. Eine ausschließlich thematische Vorgehensweise würde eben jene unterschwellige Vielschichtigkeit in Klemperers Schreiben ignorieren. Deshalb orientiert sich der Aufbau der vorliegenden Arbeit zwar an den genannten Eckpunkten Tagebuch, Beruf und Lebensgeschichte. Trotzdem wird innerhalb der dazu entstehenden Kapitel jeweils Bezug zu den anderen Schreibformen genommen. Nur in der stetigen Verknüpfung der unterschiedlichen Möglichkeiten, Text zu schaffen und damit Existenz zu bewahren, eröffnet sich ein Zugang, der Klemperers Werk gerecht werden kann. Dadurch unterscheidet sich die vorliegende Arbeit bereits in der Herangehensweise an das diaristische Material elementar von den meisten anderen Tagebuchanalysen. Es ist ein Grundproblem der Auseinandersetzung mit Tagebüchern, dass diese vor allem als Inhalts-Träger genutzt werden. Auch bezüglich der Klemperer’schen Aufzeichnungen orientiert sich die Rezeption bislang vornehmlich an historischen bzw. lebensgeschichtlichen Aussagen. Das ist problematisch, da auf diese Weise die Tiefenstruktur der Notate entweder ignoriert oder aber als nicht vorhanden konstatiert wird. Werner Welzig hat in seinem Nachwort zu den Schnitzler-Tagebüchern dazu eine sehr hilfreiche These entwickelt. Er kritisiert, dass die Annäherung an Arthur Schnitzlers Diarium vor allem in einem Verständnis der Aufzeichnungen „als Gefäß, aus dem der Kenner einiges herauszieht und ans flackernde Licht seines Kommentars hält, [....] als ein chronologisches Register von ‚Epoche und Alltagʻ“ erfolgt (Welzig 1985, 423):
24 | S CHREIBEN EIN L EBEN LANG – V ICTOR KLEMPERERS T AGEBÜCHER „Solange wir nur mit solchem Interesse lesen, entgeht uns, daß die Tagebuchführung selbst ein facettenreiches kulturhistorisches Phänomen ist. [...] Die Schreibsache Tagebuch verlangt unsere Aufmerksamkeit. Sie ist nicht minder wirklich als die Tatsachen, die aufgeschrieben werden“ (Welzig 1985, 423).
Welzig spricht hier einen entscheidenden Punkt in der Rezeption von Tagebüchern an: Nicht die reinen Inhalte – also die jeweiligen Lebensereignisse: der Einkauf, die Begegnung mit dem Arbeitskollegen, der Disput mit der Ehefrau im Einzelnen –, sondern die Verknüpfungen zwischen vielen derartigen Erlebnissen zu einem Lebensfluss kreieren das Bild, das der Leser vom Tagebuchschreiber und dessen Leben entwickelt. Der Rezipient orientiert sich also an den Ereignisabläufen und separiert damit die vorhandene Zeitstruktur autonom vom Textverlauf, um einen Zugang zum kompletten Tagebuch zu erhalten. Denn es ist ein Geflecht aus nahezu unzählig vielen Themen und Darstellungsformen, Sicht- und Herangehensweisen an alltägliche und außergewöhnliche Situationen. Einzelne Ereignisse im Diarium können nie ausschließlich linear erfasst werden. Sie sind verzahnt mit unüberschaubar vielen anderen Geschehnissen. Mit der Formel „TAG“ definiert Welzig einen abstrakten Zeitrahmen, in dem die abgeschlossene diaristische Schreibarbeit – mit welchem Rahmen und Inhalt auch immer – entsteht und über den sie wirkt. Damit nutzt er den Widerspruch von zeitlicher und inhaltlicher Abfolge fruchtbar für die Rezeption des Tagebuchs. Im Gegensatz dazu ignoriert eine Vielzahl von Analysen und Erläuterungen zu Klemperers Tagebüchern diese Rahmenbedingung weitgehend. Die Aufzeichnungen werden auf einzelne inhaltliche Ereignisse reduziert und nicht als Teil einer komplex geknüpften Alltagsbeschreibung und Darstellung eines Lebensnetzes in temporär bedingten Strukturen und Stilmitteln erfasst. Die Reduzierung auf rein inhaltliche Aspekte differiert stark von der Herausarbeitung dieser verknüpften Einzelelemente in den jeweiligen Zeiteinheiten des Tagebuchs. Welzig erklärt dazu: „Unser Versuch, einen TAG in seine Segmente und Sub-Segmente zu zerlegen, ist der Isolierung einzelner Inhalte aus dem Gefäß Tagebuch tatsächlich zum Verwechseln ähnlich. Er dient aber dem entgegengesetzten Ziel. [Deshalb] müssen wir uns für die sichtbare Form des Tagebuches interessieren, auch wenn angesichts des Eindrucks der Formlosigkeit eine solche Blickrichtung zunächst einmal ver-rückt erscheint“ (Welzig 1985, 425).
Welzig plädiert damit für die konkrete Auseinandersetzung mit der Struktur des Tagebuchs. Er lehnt die rein auf bestimmte Lebensereignisse des Tagebuchschreibers konzentrierte Lektüre ab und fordert die Beachtung der „sichtbaren Form“ der Aufzeichnungen. Die Vernetzung und die Verlaufsform des diaristischen Schreibens sind offensichtliche und doch häufig ignorierte Merkmale des Diariums. Auch in Bezug auf Klemperers Tagebücher wurde dies bisher kaum beachtet. Das führt nicht nur dazu, dass entschei-
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dende Elemente für die Einordnung des Textkorpus außer Acht gelassen wurden, sondern bedingt eine eingeschränkte und damit dem Autor nicht gerecht werdende Auseinandersetzung mit einem komplexen, vielschichtigen Werk. Welzigs Ansatz bezieht sich zwar auf die Tagebücher Arthur Schnitzlers, doch er ist auf jedes Diarium anwendbar. Die Forderung, nicht nur rein inhaltliche Einzelstränge in dieser Textform zu identifizieren und zu isolieren, ist leider weitgehend ungehört verhallt.12 Dabei ermöglicht diese These es, der bisher schwammigen und unklar definierten Textform mit literaturtheoretischen Instrumenten näher zu kommen. Sie soll deshalb in der vorliegenden Arbeit angewendet werden. Dazu wird nach einem kurzen Überblick über die Biographie Klemperers (Kapitel II) und einer Auseinandersetzung mit der Rezeption zu seinem Werk und seiner Person (Kapitel III) schrittweise untersucht, welche Schreibformen er in unterschiedlichen Texten verwendet und wie diese jeweils mit dem Diarium zusammenhängen. Dafür wird die festgestellte Unterteilung seines außerhalb des Tagebuchs entstandenen Werks in berufliches und lebensgeschichtliches Schreiben aufgegriffen. Diese Kategorisierung übergeht die Grenzen klassischer Gattungsbestimmungen. Es spielt keine Rolle, ob die Texte ausschließlich für Klemperers persönliche Verwendung oder gezielt für einen oder mehrere Leser verfasst wurden. Auch ob eine Veröffentlichung beabsichtigt war oder nur zum persönlichen Gebrauch geschrieben wurde, bleibt für diese Kategorisierung zunächst unwichtig. Allein die Frage, ob die Texte aus inhaltlich beruflichen Gründen oder aus autobiographischem Interesse entstanden, entscheidet über ihre vorläufige Einordnung. Zum beruflichen Schreiben (Kapitel IV) werden deshalb alle Texte gezählt, in denen Klemperer sich in seiner Funktion als Journalist, Schriftsteller oder Wissenschaftler äußert. Dazu gehören auch Arbeitsnotizen und Vorlesungsmanuskripte, die nachweislich nur zum Eigengebrauch entstanden. Das lebensgeschichtliche Schreiben (Kapitel V) wird in den Briefen und dem „Curriculum vitae“ lokalisiert. Während erstere jeweils gezielt für einen spezifischen Leser entstanden, verfasste Klemperer die Autobiographie ohne zu wissen, ob sie jemals veröffentlicht würde. Die dem lebensgeschichtlichen Schreiben zugeordneten Texte zeichnen sich nicht durch das Ausschließen einer Öffentlichkeit aus, sondern durch die Ausrichtung auf persönliche Themen. Sowohl in den Briefen als auch im „Curriculum vitae“
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Dusini ist der Einzige, der Welzigs Versuch, mit der Formel des TAGES einen theoretisch und formal implementierten Ansatz für die Auseinandersetzung mit der Gattung Tagebuch zu schaffen, bemerkt: „Es ist dies, soweit wir sehen, der einzige Versuch, der ansonsten stereotyp als ‚formlosʻ apostrophierten Gattung ein Moment auch terminologisch faßbarer Gestaltetheit abzugewinnen“ (Dusini 2005, 93).
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ist vorrangig das Leben des Autors zentral. Gleichzeitig geht es bei den beruflichen Arbeiten auch um das Geldverdienen – er lebt von seinem Schreiben. Im Gegensatz dazu entstehen die privaten Texte ohne diesen Hintergrund. Ein Werk steht zwischen den beiden genannten Schreibformen: „LTI. Notizbuch eines Philologen“. In diesem Buch argumentiert Klemperer zwar als Philologe, gleichzeitig basiert die Analyse der Sprache des „Dritten Reichs“ jedoch auf den Tagebuchaufzeichnungen, die zunächst allein zum privaten Gebrauch – zur Dokumentation der Lebensgeschichte nämlich – entstanden. Deshalb kann der Text weder dem beruflichen noch dem lebensgeschichtlichen Schreiben eindeutig zugeordnet werden. Vielmehr fungiert er als Schnittstelle zwischen beiden Varianten, stellt also eine Mischform dar. Entsprechend erfolgt dazu eine spezifische Untersuchung (Kapitel VI). Die „LTI“ zeigt, dass eine saubere Trennung von beruflichem und lebensgeschichtlichem Schreiben nicht vollkommen möglich ist. Sie ist das Extrembeispiel, das keiner der beiden Kategorien klar zugeordnet werden kann. Aber auch alle anderen Texte weisen immer wieder eine Verknüpfung von lebensgeschichtlichem und beruflichem Schreiben auf. Es wird zu zeigen sein, dass beispielsweise in schriftstellerische Arbeiten autobiographische Elemente einfließen. Umgekehrt entstehen die privaten Texte selten ohne Anlehnung an Klemperers berufliche Tätigkeiten. So enthält zum Beispiel seine Briefsammlung nicht nur Schreiben an Freunde und Bekannte, sondern auch Korrespondenz mit Kollegen oder Verlagen, die gleichzeitig als Grundlage für spezifische Arbeitsprojekte eingesetzt werden. Eine vollständige Trennung des lebensgeschichtlichen und beruflichen Bereichs ist nicht möglich. Dementsprechend schafft die vorgenommene Kategorisierung lediglich eine grobe Trennlinie, die jedoch auf ein spezifisches Phänomen der Texte hinweist. Denn die beiden genannten Bereiche erfassen zwei Themen, die Klemperer lebenslang begleiteten: seinen Beruf und die Auseinandersetzung mit seiner Lebensgeschichte. Beide werden stetig in Texten reflektiert, bearbeitet und dadurch fortgeschrieben. Erst nach der Auseinandersetzung mit den Ausprägungen des beruflichen und lebensgeschichtlichen Schreibens eröffnet sich ein vollständiger Blick auf die Tagebücher. Denn im Vergleich mit den „Paralleltexten“ offenbaren sich Schreibtechniken und Methoden der Textbearbeitung, die weiterführende Rückschlüsse auf die Bedeutung des lebenslangen Schreibprojekts ermöglichen. Deshalb steht die intensive Analyse der Tagebuchaufzeichnungen im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit dem Schreiben am Schluss der Arbeit (Kapitel VII). Das Tagebuchwerk wird dafür als Basis eines Gesamtwerkes betrachtet. Entsprechend soll der Text in seiner jahrzehntelangen Entwicklung untersucht werden. Die Grundstruktur und die Systematisierung der Aufzeichnungen sowie die Thematisierung des Tagebuchs selbst stellen dabei Ansatzpunkte dar.
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Das Ziel der Arbeit besteht vordergründig nicht darin, darzustellen, wie und was Klemperer schreibt. Vielmehr geht es darum, aufzuzeigen, dass der Drang, die eigene Existenz in Schrift zu bewahren, den er sich – wie das eingangs zitierte Tagebuchnotat zeigt – selten direkt vergegenwärtigt, selbst zum identitätsbildenden Moment wird. Im Schreiben dokumentiert er nicht nur sein „Dagewesensein“, sondern er erschafft sich selbst damit in einem autopoietischen Prozess. Deshalb ist es ihm unmöglich, die Frage nach dem „Wozu“ zu stellen. Er kann sich nicht damit konfrontieren, dass er durch seine Furcht, zu verschwinden, ohne Spuren zu hinterlassen, der Schrift größere Bedeutung beimisst, als seiner konkreten Existenz. Nur das, was langfristig „bleibt“, ist in Klemperers Perspektive „gewesen“. Die Schrift ist das Instrument, das Dauerhaftigkeit garantiert. Dadurch verlagert sich jedoch die Bedeutung seines Lebens vom tatsächlichen Verlauf auf das Aufgeschriebene – das in Text Fixierte. Nicht mehr seine eigene Person, sondern die schriftlichen Zeugnisse von ihr sind zentral. Dieser paradoxen Verlagerung des existenziell Bedeutsamen von der realen Identität auf deren Verfremdung in Schrift kann sich Klemperer ebenfalls nicht stellen. Die vorliegende literaturwissenschaftliche Untersuchung seines lebenslangen Schreibens jedoch soll ihre Ausprägungen erfassen und beschreiben.
II.
Victor Klemperers Leben in vier Zeitaltern
„Die persönliche Identität des Menschen entwickelt sich nicht von ‚Innen nach Außenʻ, sondern von ‚Außen nach Innenʻ. Der Mensch erlebt sich selbst nicht unvermittelt. Nur die Umwelt kann der Mensch unvermittelt erfahren, nur Umweltliches gibt sich dem Bewußtsein direkt“ (Luckmann 1979, 299).
Für die Auseinandersetzung mit Klemperers Tagebuchwerk ist der Blick auf dessen gesamtes Leben, das sich über vier Zeitalter erstreckt – Kaiserreich, Weimarer Republik, „Drittes Reich“ und DDR –, unerlässlich. Der detaillierten Untersuchung spezifischer Schreibmuster, die aus den jeweiligen Lebensumständen resultieren, soll deshalb eine kurze Zusammenfassung seiner Biographie vorangestellt werden. Ziel dieser Lebensbeschreibung ist jedoch nicht die abschließende Erklärung von Klemperers Persönlichkeit. Sein Tagebuch zeigt sehr deutlich, dass eine eindeutige Bestimmung seiner Verhaltensmuster und Charaktereigenschaften jeweils nur bezüglich eines spezifischen Ereignisses möglich ist. Je nach den äußeren Umständen passt er sich an und verändert seinen Habitus. Klemperer befindet sich – wie jeder Mensch – in einem steten Entwicklungsprozess. Das Diarium dokumentiert die Wandelbarkeit seiner Positionen und Ansichten. Langfristig können sein Charakter, seine Gedanken, Gefühle und inneren Antriebe jedoch nicht abschließend bestimmt werden, weil sie sich ebenso stetig wandeln wie seine Lebenssituation. Diese Veränderlichkeit spiegelt sich in der komplexen inhaltlichen Struktur der Tagebücher. Sie kann in einer kurzen Darstellung von Klemperers Biographie nur angerissen werden. Voraussetzung für ein tiefer gehendes Verständnis dieser Zusammenhänge ist jedoch zunächst die rückblickende und lineare Betrachtung seines Lebensverlaufs.
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K INDHEIT UND J UGEND 1881-1918 1
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K AISERREICH
Victor Klemperer wird am 9. Oktober 1881 in Landsberg an der Warthe als achtes von neun lebenden Geschwistern in eine Familie geboren, die gegenüber der Außenwelt die strengen Regeln des orthodoxen jüdischen Glaubens praktiziert. Der Vater, Dr. Wilhelm Klemperer, ist Rabbiner in der jüdischen Gemeinde von Landsberg, ab 1885 in Bromberg, wohin die Familie umzieht. Allerdings scheint das Judentum trotz dieser beruflichen Festlegung eher hintergründig die Familie bestimmt zu haben. Klemperer berichtet in seiner Autobiographie beispielsweise davon, dass der Vater bewusst Fastentage und andere jüdische Regeln brach (vgl. CV I, 40). Diese Ablehnung des starren jüdischen Regelwerkes durch das Familienoberhaupt mündet schließlich in einer Bewerbung für den Posten des zweiten Predigers in der jüdischen Reformgemeinde in Berlin.2 Der Vater erhält die Stelle und die Familie zieht 1891 in die Hauptstadt des Kaiserreichs. Dort übernehmen die älteren Brüder Georg, Felix und Berthold – entsprechend der jüdischen Tradition – mehr und mehr die Erziehung der jüngeren Geschwister. Sie assimilieren sich zunehmend an die Gepflogenheiten des Kaiserreichs und konvertieren zum evangelischen Glauben, um so ihre Karrieren zu befördern.3 In Berlin besucht Klemperer ab 1893 das Französische Gymnasium, 1896 wechselt er zum Friedrich-Werderschen-Gymnasium. Seine Brüder, die Medizin (Georg und Felix) und Jura (Berthold) studiert haben, streben für den Jüngeren eine akademische Karriere an. Doch dieser versucht, sich ihrem Einfluss zu entziehen. Er verlässt 1897 die Schule und beginnt eine Kaufmannslehre bei Löwenstein & Hecht. Die Entscheidung, das Gymna-
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Seine Kindheit, Jugend und die Berufsanfänge bis zum Ersten Weltkrieg dokumentiert Klemperer in seiner Autobiographie „Curriculum vitae“, die erstmals posthum 1989 durch Walter Nowojski herausgegeben wurde (vgl. CV I, II). Die jüdische Reformgemeinde orientierte sich weitestgehend an christlichen Traditionen und deutscher Kultur. Klemperer betont in seiner Autobiographie, dass die Bewerbung des Vaters um einen Posten dort ein großes Risiko, aber auch eine große Chance für die gesamte Familie bedeutete (vgl. CV I, 42). Durch diese Konstellation lässt sich nicht leicht klären, wie Klemperers Verhältnis zu seiner jüdischen Herkunft tatsächlich zu definieren ist. Denn in seiner Erziehung hat das Judentum nach dem Umzug nach Berlin scheinbar kaum Bedeutung. Der Vater hält sich weitgehend zurück und bemüht sich nicht, seinen jüngsten Sohn für den jüdischen Glauben zu interessieren. Die Brüder haben keinerlei religiöse Ambitionen, befürworten aber das Christentum als Möglichkeit, in die bürgerliche Gesellschaft des Kaiserreichs Eintritt zu finden. Das Judentum wird als Makel gesehen, der die Karriere behindern könnte und deshalb abzustreifen sei.
II. V ICTOR K LEMPERERS L EBEN IN VIER ZEITALTERN
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sium abzubrechen und eine Ausbildung zu machen, ist als Protest des Halbwüchsigen gegen die stete Einflussnahme der Brüder zu verstehen.4 Nach Abschluss der Ausbildung entschließt Klemperer sich, die Reifeprüfung nachzuholen. Er weigert sich allerdings, dies unter direkter Aufsicht der Brüder zu tun. Er zieht nach Landsberg und absolviert dort zwischen 1900 und 1902 sein Abitur. Schon während der Ausbildung beginnt Klemperer Tagebuch zu schreiben und dichterische Ideen festzuhalten. In der Landsberger Zeit verstärkt sich der Wunsch, zu schreiben. Während des nachfolgenden Studiums der Germanistik und Romanistik in München, Genf, Paris, Berlin und Rom etabliert er den Gedanken, Schriftsteller zu werden. Trotzdem versucht Klemperer zunächst, den wissenschaftlichen Weg einzuschlagen und bereitet eine Dissertation bei Adolf Tobler vor. Er bricht diese 1905 jedoch ab und entschließt sich zur journalistischen und literarischen Laufbahn. Bis 1912 lebt er als freier Publizist und Schriftsteller in Berlin und veröffentlicht in dieser Zeit mehrere Bände mit Erzählungen und Monographien über Schriftsteller. Er schreibt für verschiedene Zeitschriften journalistische Beiträge und Gedichte. Außerdem absolviert er ausgiebige Vortragsreisen, auf denen er vornehmlich in jüdischen Vereinen über jüdische Autoren referiert. Bereits 1904 lernt Klemperer die Pianistin Eva Schlemmer kennen. Die Liebe zu dieser Frau prägt sein gesamtes weiteres Leben. Seine Brüder versuchen, die Verbindung zu verhindern, scheitern aber. In Opposition zu diesen Kontrollversuchen, die vor allem über den Entzug von Geldzuwendungen operieren, lebt das Paar zunächst unehelich zusammen. Als die sich daraus ergebenden gesellschaftlichen Schwierigkeiten zu groß werden, heiraten die beiden.5 Die Ehe wird zu einem dauerhaften und mit wiederkehrend großer Emotionalität diskutierten Thema im Tagebuch. Liebesbeteuerungen, positive gemeinsame Erlebnisse, Streitigkeiten, Ängste und Eifersucht sind
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Trotzdem ist die Ausbildung, die Klemperer in den Berliner Gymnasien genießt, die Grundlage seines späteren Bildungsbegriffes. Bildung als Schlüssel zum Weltverständnis und Weiterbildung als dauerhafte Aufgabe sind die Grundlagen für sein Handeln. Der Ursprung hierfür liegt in der Schulbildung und in dem Umgang mit Wissen innerhalb seiner Familie. Sowohl für die Eltern als auch für die Brüder hat Bildung eine entscheidende Bedeutung. Dies erklärt sich aus zwei Gründen. Zum einen herrscht im Kaiserreich ein starkes Bildungsethos vor. Zum anderen ist Wissen die Eintrittskarte für Juden in die Gesellschaft der christlichen Deutschen (vgl. dazu auch Buhles 2003, 309; Aschheim 2001b, 97). Jacobs erklärt, die Ehe mit Eva sei eine Flucht nach vorn gewesen, um dem Kuppelei-Paragraphen zu entgehen (Jacobs 2000, 44).
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Inhalt nahezu jeder Tagebucheintragung – insbesondere in den frühen Jahren.6 Bei der Eheschließung gibt Klemperer an, „mosaischer“ Religion zu sein. Damit macht er eine auf Drängen seiner Brüder schon 1903 erfolgte Konvertierung zum Christentum rückgängig. Als er sich 1912 selbständig entscheidet, nochmals das Studium aufzunehmen und zu promovieren – was ihm nur mit der finanziellen Unterstützung der Familie möglich ist – und er zu diesem Zwecke mit seiner Frau nach München übersiedelt, entschließt er sich selbst zu einer erneuten Taufe. Er sieht nun, dass dieser Schritt für die angestrebte Karriere und die Integration in den wissenschaftlichen Betrieb der Universität München unbedingt nötig ist.7 Damit wird einerseits deutlich, dass das Judentum keine herausragende Bedeutung für Klemperer hat. Andererseits wirkt seine zweifache Konvertierung zum evangelischen Glauben widersprüchlich – insbesondere weil er aus einer ursprünglich jüdischorthodoxen Familie stammt, in welcher wiederum der Vater gegen die starren Regeln der Religion aufbegehrte, indem er Reformprediger wurde. Die vierfache Umentscheidung für neue Berufswege – erst Kaufmann, dann wissenschaftliche Karriere, danach Journalist und Schriftsteller, schließlich erneut die Wissenschaft – und das teilweise damit verbundene Abbrechen des jeweiligen Ausbildungswegs zeigen ebenfalls Klemperers
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Walter Nowojski schreibt deshalb im Nachwort zu den Tagebüchern 19181932 „Ein Kernstück dieses Tagebuches ist die Geschichte der Ehe“ (Nowojski 1996, 780). Dem setzt allerdings Claudia Buhles die Kritik entgegen, dass die Wahrnehmung Eva Klemperers in den Diarien verzerrt sei, weil Klemperers Notizen zu ihr „als Projektionen seines eigenen Zustandes verstanden werden müssen“ (Buhles 2003, 96). Deshalb kommt sie zu der Überzeugung: „Klemperers Beziehung zu seiner Ehefrau lässt sich also aus seinen Tagebuchnotizen besonders schwer rekonstruieren, weil Eva großen Anteil an der alltäglichen Lebensführung ihres Mannes nahm. [...] Dementsprechend scheint es fraglich, ob man ausgerechnet für Eva Klemperer biographische Einschätzungen auf Grundlage der Tagebuchnotizen treffen sollte, wie es beispielsweise Gabi Zipfel in ihrem Aufsatz versucht“ (Buhles 2003, 103; vgl. dazu Zipfel 1998; ebenfalls kritisch zu sehen, ist in diesem Zusammenhang der Artikel von Bauschmid 2001). Es wird in diesem Hin und Her nicht nur die Schwierigkeit eindeutiger Zuordnung in Bezug auf Judentum und Christentum deutlich, sondern allgemein eine Eigenschaft Klemperers, die sich durch sein ganzes Leben zieht: das Schwanken (vgl. dazu Dirschauer 1997a, 82). Lebensthemen wie Religion, Politik, Familie, Gesundheit, die schulische und universitäre Ausbildung oder auch das Wechseln zwischen Kriegsbegeisterung und Kriegsmüdigkeit zeigen seinen stetigen Hang zur Infragestellung bestehender Zuordnungen und Positionen. Dies erschwert ihm häufig das Leben, eröffnet ihm aber auch die Möglichkeit, noch im hohen Alter Jahrzehnte alte Meinungen zu revidieren und sich auf völlig neue Gedankenkonstrukte einzulassen.
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Neigung zum Widerstand gegen die Erwartungen der Familie. Letztlich siegt jedoch sein persönlicher Wunsch nach beruflicher Erfüllung und gesellschaftlicher Anerkennung. Bereits 1913 promoviert Klemperer in der Germanistik bei Franz Munker und Hermann Paul über „Die Zeitromane Friedrich Spielhagens und ihre Wurzeln“ (Klemperer 1913). Sein dritter Prüfer Karl Vossler bietet ihm daraufhin die Habilitation in der Romanistik an. Klemperer ergreift diese Chance und stürzt sich in die Arbeit. Er reist für einige Monate gemeinsam mit seiner Frau nach Frankreich, um in Paris und Bordeaux für seine Montesquieu-Studien zu recherchieren. Seine Habilitation erfolgt 1914 (erschienen in zwei Bänden: Klemperer 1914, 1915). Anfang desselben Jahres erhält Klemperer eine Lektorenstelle in Neapel. Dort gibt er vor allem Sprachunterricht. Vor dem Beitritt Italiens zum Krieg reist er mit seiner Frau wieder nach München. Dort meldet er sich nach einigem Überlegen im Sommer 1915 als Kriegsfreiwilliger.8 Im Anschluss an die Grundausbildung wird er an die Westfront versetzt. Von November 1915 bis März 1916 liegt er dort im Stellungskrieg. In Folge eines Erschöpfungszusammenbruchs wird er ins Lazarett in Paderborn eingeliefert. Er erhält für seinen Kriegseinsatz das Königlich Bayrische Militär-Verdienstkreuz 3. Klasse mit Schwertern. Nach einer Kur in Dribourg, zu der ihn seine Frau begleitet, wird er als Zensor im Buchprüfungsamt der Presse-Abteilung des Militärgouvernements Litauen in Kowno und in Leipzig eingesetzt, wo er bis zum Ende des Krieges weit vom aktiven Kriegsgeschehen entfernt ist.9 Beim Ausbruch der Novemberrevolution 1918 befindet er sich in Kowno. Er setzt sich bei erster Gelegenheit ab und reist zu seiner Frau nach Leipzig. Die Teilnahme am Ersten Weltkrieg und vor allem das Erleben des Zusammenbruchs des Kaiserreichs prägt lebenslang sein Selbstverständnis als Deutscher. Die vielen Reisen, die Klemperer bereits während seines Studiums und später gemeinsam mit Eva unternimmt, haben ebenfalls entscheidenden Einfluss auf seine Entwicklung. Die Wahrnehmung der Welt als Konglomerat aus unterschiedlichen Kulturen und Zusammenhängen beeindruckt ihn lebenslang. Die Neugierde auf andere Gesellschaften hält bis ins hohe Alter an. Das Reisen animiert ihn zum Beobachten und Beschreiben, weil hier Außergewöhnliches geschieht, das sich vom Alltag absetzt und deshalb besonders beschreibenswert scheint.
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Vgl. dazu näher Buhles, die schreibt: „Seine Meldung als Kriegsfreiwilliger war [...] eher auf die Erwartungshaltung seiner Umwelt zurückzuführen als auf seine eigene Überzeugung“ (Buhles 2003, 72). Den Orden sowie die Versetzung weg von der Front hat Klemperer den Beziehungen seiner Brüder Georg und Felix zu verdanken, die als Ärzte hohe Ränge in der Armee einnehmen.
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Die Bedeutung des Schreibens als lebensbegleitendes Element ist bereits in dieser frühen Lebensphase stark ausgeprägt. Sowohl in beruflicher Hinsicht, als Journalist, Schriftsteller und Wissenschaftler, als auch im privaten Interesse steht es im Vordergrund. Das Tagebuchschreiben beginnt Klemperer nach eigenen Angaben (CV I, 169) im Herbst 1898 – also zu einem Zeitpunkt, in dem er mitten in der Pubertät steckt. Zunächst liegt die Funktion dieses Schreibens vor allem in der Selbstbeobachtung und Selbstfindung. Doch schnell wird das Tagebuch auch Ort erster literarischer Ambitionen und der Auseinandersetzung mit Theateraufführungen. Damit instrumentalisiert Klemperer es nahezu von Beginn für die Beschäftigung mit ästhetischen Gegenständen.
II.2
P ROFESSOR IN 1918-1933 10
DER
W EIMARER R EPUBLIK
Ende Februar 1919 siedelt Klemperer mit seiner Frau nach München um, weil er dort als außerordentlicher Professor eine Lehrbefugnis erhält. Er bemüht sich lange vergeblich um einen Universitätskatheder, überlegt deshalb sogar, ob er wieder zum Journalismus wechseln soll. Schließlich erhält er über die Vermittlung von Karl Vossler 1920 die Professur für Romanistik an der Technischen Hochschule Dresden. Dies ist das entscheidende Ereignis für die Lebensphase der Weimarer Republik. Denn dadurch kann Klemperer endlich sesshaft werden und sich uneingeschränkt auf die Produktion wissenschaftlicher Texte konzentrieren. Das Schreiben bleibt dementsprechend beruflich weiterhin die zentrale Konstante in seinem Leben. Nach kurzer Euphorie und der Übersiedlung nach Dresden ist Klemperer allerdings bald enttäuscht und fühlt sich auf dem wissenschaftlichen „Abstellgleis“. Er erkennt schnell, dass er aufgrund seiner jüdischen Herkunft keine Chance auf einen Universitätskatheder hat. Alle Versuche scheitern, über Kontakte berufen zu werden.11 Deshalb zieht sich Klemperer auf die Produktion wissenschaftlicher Publikationen zurück. Eine enorme Menge großer Analysen und Monographien entsteht zwischen 1920 und 1935. Außerdem nimmt Klemperer regelmäßig Angebote zu Vorträgen an und publiziert journalistische Texte. Das Tagebuch ist dabei wichtiges Messins-
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Ab dem Herbst 1918 berichten Klemperers Tagebuchaufzeichnungen fortlaufend über seinen Lebensverlauf. Der Lebensabschnitt von November 1918 bis Dezember 1932 ist in der von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Christian Löser 1996 erstmals veröffentlichten zweibändigen Ausgabe „Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum. Tagebücher 1918-1932“ erfasst (vgl. LS I, II). Klemperers Ehrgeiz war es, ein „richtiges“ Universitätskatheder zu erhalten, weil dieser Posten mit „hohe[m] Sozialprestige“ verbunden war (Buhles 2003, 53; vgl. dazu auch Court 1999).
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trument für Arbeitsfortschritte: Jeder neue Vertrag, jeder Brief eines Verlegers, jede Hochschulsitzung werden vermerkt. Darin drückt sich seine Sehnsucht nach Erfolg aus.12 Trotz der Frustration über die Technische Hochschule engagiert Klemperer sich ein paar Jahre lang sehr intensiv für deren interne Abläufe. Er ist Mitglied im Senat und nimmt lange Zeit begeistert an Sitzungen, Besprechungen und organisatorischen Zusammenkünften teil. Als ihm aber klar wird, wie wenig er mit seinem Einsatz erreichen kann, gibt er nach und nach alle Ämter ab und zieht sich ernüchtert zurück. Die Lehre ist ihm trotz der wenigen „ernsthaften“ Studenten allerdings weiterhin sehr wichtig. An der Technischen Hochschule ist die Romanistik nur ein Zusatzfach für Ingenieure. Klemperer darf keine Doktoranden annehmen und ist in allen wissenschaftlichen Entscheidungen abhängig von der Universität Leipzig. Besonders das führt wiederholt zu Klagen im Tagebuch. Ein weiterer Grund für Klemperers enorme Unzufriedenheit mit seiner stockenden Karriere liegt in seiner finanziellen Abhängigkeit von den Brüdern. Weil sein Gehalt vor allem während der Inflation nicht ausreicht, muss er immer wieder auf die Unterstützung von Georg und Berthold zurückgreifen. Privat entstehen Konflikte mit Eva Klemperer. Sie hatte während der Abwesenheit ihres Ehemannes im Ersten Weltkrieg ein Orgelstudium begonnen, das er nur misstrauisch und eifersüchtig erduldet. Er hat den Eindruck, sich nicht mehr der ungeteilten Aufmerksamkeit seiner Frau sicher sein zu können. Die Tagebücher dieser Jahre sind durchzogen von im Wortlaut immer ähnlichen Klagen über den Verlust der geistigen Gütergemeinschaft mit Eva. Nach einigen Jahren zeigt diese psychosomatische Symptome. Sie hat verschiedene Beschwerden, die sie in ihrer Beweglichkeit einschränken und damit am Orgelspielen hindern. Schließlich versinkt sie in Depressionen. Trotzdem – oder gerade deshalb – ist sie in Klemperers Lebensorganisation das Zentrum. Als ihre Gesundheit sich dramatisch verschlechtert, ist in nahezu jedem Tagebucheintrag ein Hinweis auf ihren Zustand zu finden.13
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Der Stolz auf einen zehnzeiligen Eintrag im Brockhaus neben dem älteren Bruder Georg ist Sinnbild dieser Sehnsucht nach Erfolg. Erst 35 Jahre nach seinem Tod, mit der Veröffentlichung der Tagebücher 1933-1945, wird Klemperer den Bekanntheitsgrad erreichen, den er sich gewünscht hat. In einem Jubiläumsartikel zum 125. Geburtstag des Romanisten kann Ulrike Krickau vermelden: „Die 30-bändige Brockhaus Enzyklopädie widmet ihm in der neuesten Ausgabe 13 Zeilen zur Person. Und weitere 47 Zeilen seinem Werk“ (Krickau 2006, o. S.). Der Widerspruch zwischen der patriarchalen Rolle, die Klemperer gegenüber seiner Frau einnimmt, und seinen emanzipatorischen Ansprüchen ist Gegenstand diverser Untersuchungen. So analysiert Jacobs (2000, z.B. 148f.) ausführlich diese Problematik in seiner Klemperer-Biographie (vgl. z.B. auch: Herlem 1998 und Zipfel 1998).
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Evas Leid schlägt sich stark auf Klemperers Befinden und seine Wahrnehmung der Umwelt nieder. Er beschwert sich täglich in seinem Tagebuch über die bittere allgemeine Lage, die durch die Eheprobleme ebenso wie durch die Frustration über ausbleibenden Erfolg entsteht. Hinzu kommen andauernde Klagen über das zunehmende Alter. Immer stärker dominieren gegen Ende der Weimarer Republik aufkommende Todesahnungen die Tagebucheintragungen. Parallel verstärkt sich stetig die Angst um die eigene körperliche Gesundheit, die nur teilweise auf tatsächlich vorhandenen Krankheiten basiert.14 Auf ausgedehnten Studienfahrten – teilweise per Schiff – versucht das Ehepaar gemeinsam der Unzufriedenheit zu entfliehen. Die monatelangen Reisen werden in manchen Jahren zum Lebensmittelpunkt. Dagegen ist das Judentum kaum ein Thema in den Tagebüchern. Höchstens am Rande vermerkt Klemperer antisemitische Tendenzen, die er zwar angeekelt zur Kenntnis nimmt, sonst aber zu ignorieren scheint. Eigene Reflexionen dazu fehlen nahezu völlig.
II.3
AUSGESTOSSENER 1933-1945 15
IM
„D RITTEN R EICH “
Bereits zu Beginn des „Dritten Reiches“ ist Klemperer klar, dass schwere Zeiten für ihn anbrechen. Er erkennt die Gefahr des Antisemitismus, des Fundamentalismus und der Diktatur früh. Trotzdem kann er letztlich das Ausmaß der Gefahr, in der er sich befindet, nicht einschätzen. Ursache hierfür ist nicht Ignoranz, sondern die Unfähigkeit, sich das auch aus rückblickender Sicht Unfassbare vorzustellen. Bis 1939 betont Klemperer, dass er Deutscher sei und deshalb in seinem Heimatland leben wolle, trotz aller Unfreiheit und Gefahr.16 Gleichzeitig
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Claudia Buhles bemerkt zu dieser scheinbaren „Hypochondrie“: „Die ständige Überwachung der körperlichen Befindlichkeit erscheint aus heutiger Sicht übertrieben und hypochondrisch, war aber innerhalb des gelehrten Umfeldes zu dieser Zeit durchaus üblich“ (Buhles 2003, 104). Die Jahre 1933 bis 1945 hat Klemperer in zwei autobiographischen Quellen festgehalten. Zum einen veröffentlicht er selbst 1947 seine Sprachanalyse „LTI. Notizbuch eines Philologen“ (vgl. LTI). Dieses Buch besteht aus essayistischen Kapiteln zu einzelnen Beobachtungen zur Sprache des „Dritten Reichs“, die durch persönliche Erlebnisse und Beobachtungen kommentiert werden. Es kann als autobiographischer Text verstanden werden, denn es erzählt von den Erlebnissen des Autors und basiert auf dessen persönlichen Einschätzungen. Zum anderen gibt Walter Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer 1995 in zwei Bänden „Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1945“ heraus (vgl. ZA I, II).
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wird er durch die äußeren Umstände gezwungen, sich neu mit dem Judentum auseinander zu setzen. Die Festlegung auf seine Herkunft, der er durch das zweifache Konvertieren zum protestantischen Glauben entgehen wollte, holt ihn neu ein. Unabhängig davon, wie er sich selbst in seiner Identität definiert, wird sein jüdischer Ursprung prägend für sein gesamtes Leben.17 Klemperer bleibt zunächst wegen seiner freiwilligen Teilnahme am Ersten Weltkrieg und wegen seines Militärordens im Amt. Er darf zwar keine Prüfungen mehr abnehmen, aber nach wie vor lehren. Er richtet sich auf ein relativ isoliertes Leben ein. Während die jüdischen Freunde der Klemperers nach und nach auswandern, baut das Ehepaar – dem langjährigen Wunsch Evas folgend – 1934 ein Haus in dem Dresdner Vorort Dölzschen, am Kirschberg 19. Dorthin zieht sich das Ehepaar immer mehr zurück, lebt aber auch hier nicht unberührt von den äußeren Entwicklungen. Erste Schikanen, wie das Anbringen von Plakaten am Klemperer’schen Gartenzaun, auf denen der so genannte „Judenstern“ zu sehen ist, die Einführung des zweiten Vornamens zur Kennzeichnung der Juden18 oder Hausdurchsuchungen bleiben nicht aus.
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Verschiedene Interpretationen, diese Handlungsweise als „innere Emigration“ aufzufassen (vgl. z.B.: Papp 2006, 48), sind abwegig: „Bei Klemperer bedeutet die erzwungene Reduzierung auf die Privatsphäre keine ‚innere Emigrationʻ (wenn schon eher ein inneres Exil), sondern eine verschärfte Wahrnehmung und Neueinschätzung von Schreibendem und Welt, zumal besagter Schreibender sich einer Welt stellen mußte, die sich von ihm und denjenigen, die per Dekret zu seinesgleichen gemacht wurden, endgültig absetzen wollte“ (Combes 2000, 73). Das zeigt sich auch daran, dass die Rezeption von Klemperers Tagebüchern sehr stark über seine jüdische Herkunft operiert. Beispielsweise beziehen sich sowohl Paola Traverso als auch André Combes auf Jean Amérys Aussage, „Der Jude ohne positive Bestimmbarkeit, der Katastrophenjude, wie wir ihn getrost nennen wollen, muß sich einrichten ohne Weltvertrauen“ (zit. bei Traverso 1997b, 307; vgl. bei Combes 2000, 81). Sie betrachten dieses Zitat als symbolisch für die erzwungene Auseinandersetzung mit dem Judentum. – Wichtig ist hierbei, dass auch die erzwungene Auseinandersetzung mit dem Judentum bei Klemperer keine intensive Identifikation hervorruft. Dies betont Carl Freytag im „Metzler Lexikon der deutsch-jüdischen Literatur“: „Die zwangsweise Wiedereingemeindung unter die Juden änderte nichts an K.s Distanz jüdischen Themen gegenüber“ (Freytag 2000, 317). Am 24. August 1938 notiert Klemperer: „Vor fünf Minuten habe ich das eben veröffentlichte Gesetz über die jüdischen Vornamen gelesen. Es wäre zum Lachen, wenn man nicht den Verstand darüber verlieren könnte. [...] Ich selber habe also der [sic] Standesämtern Landsberg und Berlin sowie der Gemeinde Dölzschen zu melden, dass ich Victor-Israel heiße und habe Geschäftsbriefe derart zu unterzeichnen“ (ZA I, 419, 24.08.1938).
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Trotzdem kann Klemperer noch 1936 den Führerschein machen und ein gebrauchtes Auto kaufen. Regelmäßig unternimmt er mit seiner Frau FahrAusflüge, die er im Tagebuch begeistert und ausführlich bis in die kleinste befahrene Kurve beschreibt. Am 30. April 1935 erhält Klemperer seine Entlassungsurkunde. Er wird mit Hilfe des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ zwangsweise in den Ruhestand versetzt. Veröffentlichen darf er zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr. Er arbeitet trotzdem unermüdlich an seiner zweibändigen französischen Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts. Das Tagebuch dokumentiert jede Lektüre, den Fortgang des Schreibprozesses, sogar Überlegungen zu Struktur und Inhalt der Arbeit. Mit dem Verbot für Juden, Bibliothekslesesäle zu benutzen, wird Klemperer noch mehr ins Private gezwungen. Doch er arbeitet weiter – bis ihm mit dem Verbot der Benutzung von öffentlichen Bibliotheken am 2. Dezember 1938 auch die letzte Möglichkeit wissenschaftlichen Arbeitens genommen wird. Dies führt Klemperer aber nicht zur Verzweiflung, sondern zur Inangriffnahme eines neuen Projektes. Er beschließt, seine Autobiographie zu schreiben, die er schon lange geplant hatte, und stürzt sich erneut intensiv in die Arbeit. Gleichzeitig wird den Klemperers aber langsam klar, in welcher Gefahr sie schweben und sie entscheiden sich schweren Herzens, Schritte für eine Auswanderung einzuleiten. Es werden Bewerbungen und Bittbriefe in alle Welt gesandt – doch es ist zu spät. Mit den Nummern 56.429 und 56.430 auf der Liste der Anwärter auf ein amerikanisches Visum sind sie zum Bleiben in Deutschland gezwungen. Zum 1. April 1940 muss das Ehepaar sein eigenes Haus räumen. Es wird gezwungen, in ein so genanntes „Judenhaus“ in der Caspar-David-FriedrichStraße 15b in Dresden zu ziehen. Mit den zunehmenden Hausdurchsuchungen und dem damit verbundenen Terror durch die Gestapo wird Klemperers Autobiographie zunehmend gefährdet. Bereits beim Umzug hatte Eva alle früheren Tagebücher, die Manuskripte zur französischen Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts, wichtige Briefe und andere Unterlagen zu der befreundeten Ärztin Annemarie Köhler19 gebracht. Anfang 1942 entscheidet
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Zu Annemarie Köhler schreibt Klemperer im unveröffentlichten Teil seiner Autobiographie „Curriculum vitae“: „In all diesen Jahren blieb sie mit uns in Konnex, erst als sporadisch auftauchende gute Bekannte, danach, seit sie in Heidenau u. so in unserer Nachbarschaft ansässig geworden, als fröhliche Duzfreundin. Bis sie sich dann in diesen endlosen Tagen der Not u. Verfolgung – ich schreibe das in den Augenblicken der höchsten Bedrängnis, im Januar 1942 – als die Getreueste, ja als die einzige wahrhaft Getreue unseres gesamten Kreises bewährte. Wenn es mir noch immer gelingt, mich vor dem Haß gegen das Deutsche Volk in seiner Gesamtheit zu bewahren, dann danke ich das allein dem Deutschtum Annemaries, in dem sich alles verkörpert, was ich ein Menschenleben hindurch für deutsch gehalten u. als deutsch geliebt habe“ (Mscr. Dresd. App. 2003, 117, Seite 239).
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sich Klemperer aus Angst vor der Entdeckung durch die Gestapo, das „Curriculum vitae“ abzubrechen und ebenfalls verstecken zu lassen. Das Tagebuchschreiben aber kann er nicht lassen. Zwar notiert er nun nicht mehr in ein Leinenbuch, weil die Gefahr der Entdeckung dabei größer ist als bei einzelnen Blättern, die sich leichter in anderen Büchern verstecken lassen. Doch ganz niederlegen kann Klemperer den Stift nicht. Das Schreiben hat sich im Laufe seines Lebens zu einem notwendigen Teil des Alltags entwickelt. Nun nutzt er es als Instrument, um das Grauen zu kompensieren, das ihn mehr und mehr umgibt. Er beobachtet genau, notiert die Geschichten anderer Juden, vermerkt die Schicksale von Fremden und Freunden gleichermaßen. Das geht so weit, dass einzelne Bekannte zu ihm kommen und ihm mit der Bitte Bericht erstatten, er möge das Erzählte in seinem Tagebuch vermerken.20 Gleichzeitig beobachtet Klemperer seit 1933 die Propaganda der Nationalsozialisten anhand der Sprache genau. Er vermerkt bald unter dem Kürzel LTI – für Lingua tertii imperii –, was er als Sprache des „Dritten Reichs“ wahrnimmt. Diese Sprachstudien weitet er aus, als er die Autobiographie aus Angst vor der Gestapo abbricht. Ab 1942 durchforstet er dafür verstärkt die ihm verbotenen Zeitungen, die ihm jüdische Bekannte und Eva heimlich zutragen, und liest jede nationalsozialistische Literatur, die er über Umwege in die Finger bekommt. Er exzerpiert diese Texte ausführlich auf vielen hundert Seiten seines Tagebuchs. Zudem setzt er sich nun bewusster mit jüdischen Themen auseinander. Er hatte sich lange geweigert, auf seine Herkunft viele Gedanken zu verschwenden. Nun beginnt er, jüdische Literatur zu lesen, er versucht, die jüdische Kultur zu begreifen, um damit den Nationalsozialismus und den daran gekoppelten Antisemitismus durchschauen zu können. Zwei weitere Male werden die Klemperers gezwungen umzuziehen: 1942 wechseln sie in den Lothringer Weg 2, der im Randbezirk DresdenBlasewitz lag und 1943 ins Zentrum der Stadt in das „Judenhaus“ Zeughausstraße 1III. Der Aufenthalt in den Judenhäusern und die dadurch beförderten Kontakte zu Juden unterschiedlicher Gesellschaftsschichten, denen Klemperer vermutlich unter anderen Umständen nie begegnet wäre, prägen ihn. Sein Bewusstsein, eine Zeugenfunktion zu haben, bestärkt ihn einerseits in seiner Aufgabe, dem Schreiben des Tagebuchs, andererseits in seinem Überlebenswillen. Ab 1943 wird Klemperer zur Zwangsarbeit herangezogen. In der Teefabrik der Firma Willy Schlüter, der Kartonagenfabrik von Adolf Bauer und
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Neben dem Erleben der anderen notiert Klemperer auch seine eigenen Ängste und Erfahrungen. Besonders die stetig steigende Diskriminierung, die Einführung des „Judensterns“, die Demütigungen, der Hunger, die zunehmende Verarmung und Verdreckung und vor allem die ständige Todesangst sind Themen des Tagebuchs.
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der Papierverarbeitung Thiemig & Möbius steht der Romanistikprofessor an den Maschinen und arbeitet in Tag- und Nachtschichten. Bald ist er so erschöpft, dass er sich täglich dem Tode nahe glaubt. Seine ohnehin vorhandene Angst um die Gesundheit seines Herzens steigert sich in panische Herzattacken. Schließlich wird er am 23. Juni 1944 wegen Angina Pectoris von der Zwangsarbeit freigestellt.21 Eva ist weiterhin die Konstante im Leben Klemperers, an der sich nun nicht nur sein privates Glück orientiert. Sie wird zu seiner Lebensretterin. Denn ohne die „arische“ Ehefrau, wäre Klemperer spätestens 1942 deportiert worden und hätte höchstwahrscheinlich nicht überlebt.22 Ihre Bereitschaft, trotz der Gefahren und Schikanen an seiner Seite zu bleiben, ist sein größtmöglicher Schutz. Bei dem Bombenangriff auf Dresden am Abend des 13. Februar 1945, der nahezu die gesamte Stadt zerstört, gelingt den Klemperers die Flucht. Nach einer dramatischen Nacht, in der das Ehepaar nur mit Glück der Vernichtung durch Feuer und Bomben entgeht, reißt Eva ihrem Mann den verhassten „Judenstern“ vom Jackett und flieht mit ihm unter dem falschen Namen „Kleinpeter“ über Piskowitz, Pirna, Falkenstein, Schweitenkirchen und München nach Unterbernbach. Dort leben die beiden einen Monat unerkannt, bis sie sich am 17. Mai – nach Ende des Krieges – zur Rückkehr nach Dresden entschließen. Über München, Regensburg und Falkenstein schlagen sie sich durch. Sie sind beide 64 Jahre alt. Die Reise muss überwiegend zu Fuß bewältigt werden, weil kaum Züge fahren. Nur über kurze Strecken werden sie auf Pferdewagen mitgenommen. Das herausgegebene Tagebuch dieser Jahre endet mit dem Satz: „Am späteren Nachmittag stiegen wir nach Dölzschen hinauf“ (ZA II, 830, 26.05.-10.06.1945).
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Dieses Privileg hat er vermutlich seinem Status als ehemaliger Professor zu verdanken. Der einzige jüdische „Krankenbehandler“, den die Gestapo in Dresden noch zugelassen hat, vermittelt Klemperer unter Gefahr für sein eigenes Leben die Freistellung. Verglichen mit Eva Klemperers depressiver und kränklicher Verfassung vor 1933 beeindruckt es, wie tatkräftig und mutig sie sich in der Gefahr des „Dritten Reichs“ verhält und um das Überleben ihres Mannes kämpft. Jedoch ist sie vermutlich ein entscheidender Grund dafür, dass sich Klemperer anfangs kaum für eine Flucht aus Deutschland interessiert. Zwar sind auch seine allgemeine Angst vor Veränderung und die Schwierigkeit beruflicher Etablierung als Romanist im Ausland Argumente gegen die Emigration. Trotzdem ist es vor allem Evas Antrieb zu verdanken, dass Klemperer 1934 den Hausbau beginnt, statt die Flucht zu planen.
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II.4
S PÄTE K ARRIERE 1945-1960 23
IN DER
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DDR
Direkt nach ihrer Rückkehr nach Dresden können die Klemperers wieder in ihr Haus in Dölzschen einziehen. Es dauert zwar eine Weile, bis sie ihr Heim allein für sich haben und eigene Möbel anschaffen können, doch sie sind zurück in ihrem Zuhause. Zunächst muss das Ehepaar zwar noch ebenso hungern wie der Großteil der Bevölkerung in der Sowjetische Besatzungszone (SBZ). Bald aber zählen sie offiziell zu den privilegierten Opfern des Faschismus und erhalten dadurch von verschiedenen Stellen Unterstützung. Ihr erster offizieller Schritt in der neuen Lebensphase ist der Austritt aus der evangelischen Kirche am 19. August 1945. Diese Entscheidung kommentiert Klemperer zwar im Tagebuch kaum, sie zeigt aber seine tiefe Verbitterung über die fehlende Unterstützung während des „Dritten Reichs“ durch die christliche Gemeinde. Am 1. November 1945 wird er offiziell wieder als ordentlicher Professor der TH Dresden eingesetzt. Dies ist ein rein formaler Akt, der seine finanzielle Versorgung gewährleistet, ohne dass er dafür wieder in die Lehre der Hochschule eintritt. Im selben Monat tritt das Ehepaar gemeinsam in die KPD ein (vgl. dazu SZS I, 146, 20.11.1945; SZS I, 147, 23.11.1945; SZS I, 187, 03.02.1946). Ein bewusster Schritt zur Politisierung, den beide wählen, um sich nicht noch einmal in Bezug auf die politischen Entwicklungen Deutschlands der Untätigkeit schuldig zu machen. Der Glaube an den Sinn dieses Engagements ist – zumindest in den ersten Jahren – sehr stark und resultiert aus Klemperers Erlebnissen im „Dritten Reich“. Sie führen ihn zu der Überzeugung, dass es wichtig sei, klar und möglichst links Stellung zu beziehen.24 Der Vorwurf, er habe sich
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Das von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Christian Löser herausgegebene Tagebuch „So sitze ich denn zwischen allen Stühlen. Tagebücher 1950-1959“ deckt die Lebenszeit bis zum 29.10.1959 ab (vgl. SZS I, II). Dabei erkennt Klemperer schnell nach seiner Rückkehr nach Dresden, dass zwischen dem politischen Gebaren der russischen Besatzer und den Nationalsozialisten bestimmte Ähnlichkeiten bestehen, die ihn an einem völlig freien Schreiben hindern (vgl. z.B.: SZS I, 42, 11.07.1945). Dadurch gerät er in einen Widerspruch, der ihn schwer belastet. Einerseits hofft er, dass der Kommunismus endgültig den Nationalsozialismus beseitigen werde, andererseits sieht er die diktatorischen Elemente dieser Politik deutlich (vgl. z.B.: SZS I, 68, 08.08.1945). Dies stürzt ihn vor allem in einen moralischen Konflikt. Er sieht sich gezwungen, bestimmte Meinungen zu verbergen, da ihm andernfalls das Publizieren verwehrt würde. Während der Durcharbeitung seiner Tagebücher im Hinblick auf Material für die „LTI“ stößt Klemperer beispielsweise auf ein Exzerpt zu einem Artikel von Goebbels (vgl. dazu ZA II, 493, 1. Stelle, 04.03.1944). Dazu bemerkt er: „Beim Excerpieren frappierte mich gestern die
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ausschließlich für die Ziele der SED instrumentalisieren lassen, ignoriert, dass der Eintritt in die KPD keine rein äußerliche Entscheidung war, sondern der Versuch, aktiv zu handeln.25 Ab 1. Dezember 1945 stürzt Klemperer sich voller Elan in die Aufgabe der Leitung der neu gegründeten Volkshochschule Dresden. Dort hält er den ersten Vortrag über seine Sprachbeobachtungen im „Dritten Reich“. In Folge der Veröffentlichung von „LTI. Notizbuch eines Philologen“ 1947 beginnt er Vortragsreisen durch das ganze Land zu diesem Thema. Er will als Aufklärer im Volk wirken. Vor allem die jungen Menschen, die in der Hitlerjugend ausgebildet wurden, möchte er erreichen. In den folgenden Jahren knüpft er viele politische und berufliche Kontakte: Er wird Mitglied der Landesleitung des Kulturbundes Sachsen (1946) und des Präsidialrates des „Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“ (1947). Sein jahrzehntelanger Wunsch nach einer Professur an einer Universität erfüllt sich 1947. Er wird nach Greifswald berufen.
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Wahrheit, die wirkliche Wahrheit eines Goebbelssatzes, der nun natürlich nicht in die LTI darf – sofern an ihr Erscheinen zu denken. Ich meine Tgb. 4.III.44 Schluß: imperialistische Russenpolitik, Abschaffung der Komintern, Anschaffung der russischen Nationalhymne. O Marschall Stalin! Ich gedenke seiner Rede beim Abschluß des Japankrieges: wir haben 1904 gerächt! Erbe des Zaren u. der zaristischen Politik. Ich bin zwiespältiger als je. Wäre ich nicht Jude, würde ich mich in Freicorpsseelen hineinversetzen“ (SZS I, 133-134, 26.10.1945). Klemperers politisches Engagement nach dem Kriegsende wurde bereits zu Lebzeiten des Romanisten kritisch betrachtet. Ein Beispiel dafür ist Frickes Artikel, der 1952 in der (westdeutschen) „Deutschen Rundschau“ erschien. Hier wird dem Romanisten „uneingeschränkte Hochachtung“ für seine Opferrolle im Nationalsozialismus zugesprochen, gleichzeitig aber auch die „uneingeschränkte Verachtung“ mitgeteilt (Fricke 1952, 1243), weil er in der DDR lebe, arbeite und sich dort politisch engagiere. – In den Rezeptionen, die nach dem Erscheinen der Nachkriegs-Tagebücher 1999 entstanden, wird ebenfalls Klemperers politische Position diskutiert (vgl. z.B.: Jacobs 1996; Goldenbogen 1997; Traverso 1997b; Reimann 1999). Doch hier überwiegt der Versuch, den Romanisten von dem „Makel“ der kommunistischen Stellungnahme zu entlasten. So erklärt Elisabeth Bauschmid bereits 1995 nach einem Interview mit Hadwig Klemperer: „Nein, er hat die Realität nicht ausgesperrt aus seiner Wahrnehmung. Aber politische Gespräche mit der kritischen Hadwig vermeidet er nach Möglichkeit. Das Widerstandspotential eines Menschen ist nicht unerschöpflich. Bei Victor Klemperer hat es sich aufgebraucht in den zwölf Jahren der Verfolgung“ (Bauschmid 1995, 13). Diese Sichtweise „entschuldigt“ Klemperers politisches Engagement in der DDR mit dessen Alter und Resignation. Das ignoriert die Tatsache, dass der Romanist sich etliche Jahre stark für die DDR engagiert hat – unter anderem als Volkskammerabgeordneter und Vertreter des Kulturbundes.
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Doch kaum ist er mit seiner Frau dort eingetroffen, will er schon wieder fort. Er fühlt sich nicht wohl in der isolierten kleinbürgerlichen Universitätsstadt. Er setzt seine Kontakte ein und erhält bereits 1948 einen Ruf nach Halle. Dort wirkt er sehr engagiert als ordentlicher Professor – bis zu seinem körperlichen Zusammenbruch. Nach dem Umzug nach Halle erkämpft sich Klemperer den Vorsitz der Landesleitung des Kulturbundes Sachsen-Anhalt und bemüht sich sehr aufopfernd um die Sache dieser Vereinigung. In dieser Funktion hält er – neben seinen Aufgaben als Institutsleiter der Romanistik und der Lehre – ständig neue Vorträge. Zusätzlich zu den Vortragsreisen, die ihn in die abgelegensten Dörfer des Landes führen, absolviert er verschiedene Auslandsreisen, um dort vorzutragen und die DDR zu vertreten. 1950 wird er für die Fraktion des Kulturbundes Abgeordneter der Volkskammer. Im selben Jahr zieht das Ehepaar Klemperer wieder zurück in das eigene Haus nach Dölzschen.26 Es steht nun ein Wagen mit Fahrer zur Verfügung, der den Professor und Abgeordneten zu seinen vielen Verpflichtungen bringt. Die Tagebücher zeigen auf, welch gehetztes Leben Klemperer in diesen Jahren führt – von einem Termin zur nächsten Sitzung. Dabei entgeht ihm, dass seine Frau körperlich zunehmend schwächer wird. Als Eva Klemperer am 8. Juli 1951 an einem Herzleiden stirbt, trifft ihn dies völlig unerwartet. Klemperer stürzt sich im Folgenden in Arbeit und politischen Aktionismus. Er erhält 1951 den Ehrendoktor der Technischen Hochschule Dresden und wird im selben Jahr zum Institutsleiter für die Romanistik an die Humboldt-Universität Berlin berufen. Er pendelt nun zwischen Halle und Berlin und den verschiedenen politischen Verpflichtungen in Gremien und Volkskammer. Zwischen 1953 und 1957 werden auch diverse frühe Werke Klemperers wieder veröffentlicht. Nach dem Tod Evas verfestigen sich die Anknüpfungen an Familienmitglieder der zweiten Generation. Verschiedene Nichten und Neffen bemühten sich seit 1945, Kontakt zu den Klemperers aufzubauen. Entgegen früherer Vermeidungsstrategien im Umgang mit Familienmitgliedern sucht der Onkel nun verstärkt Anschluss. Gleichzeitig pflegt er intensiv alte und neue Freundschaften. Dieser bewusste Aufbau und Erhalt enger Beziehungen ergibt sich aus dem Bestreben, der Einsamkeit im Alter zu entgehen. Im Mai 1952 heiratet Klemperer Hadwig Kirchner (geb. 1926), eine ehemalige Studentin. Mit ihr gewinnt er die emotionale Bindung und den familiären Hintergrund zurück, die ihm die nötige Kraft und Sicherheit geben, intensiv weiterzuarbeiten, Vorträge zu halten, zu lehren und diverse Aufsätze zu publizieren. Diese neue Ehe ist kein einfacher Entschluss für
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Die häufigen Ortswechsel in diesen Jahren machen deutlich, wie flexibel und mobil Klemperer noch im Alter ist. Wie bereits in früheren Lebensphasen bleibt seine Anpassungsfähigkeit an neue Situationen enorm.
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Klemperer. Er ist sich des großen Altersunterschiedes bewusst. Aber es ist eine beiderseitige Liebesheirat. In den ersten Jahren ist die Wahrnehmung dieser Liebe in Kontrastierung des schlechten Gewissens gegenüber Eva ein stetiges Thema im Tagebuch. Immer wieder schmäht Klemperer sich selbst für sein Handeln, konstatiert aber auch jedes Mal, wie glücklich ihn seine zweite Ehe mache. Er strebt weiterhin nach Erfolg. So sehnt er sich jahrelang nach dem Nationalpreis und einem Sitz in der Deutschen Akademie der Wissenschaften in Berlin. Er ist zeitweise schwer frustriert, wenn er sich wieder bei der Vergabe dieser Auszeichnungen übergangen fühlt. Trotzdem erkennt er die diktatorischen Elemente der DDR, nimmt auch wahr, dass er als Volkskammerabgeordneter eine Marionette im Spiel der Machthaber darstellt. Als er 1952 den Nationalpreis III. Klasse überreicht bekommt und 1953 endlich Mitglied der Akademie wird, befriedigt ihn dies kaum noch. Auch Mitglied des Komitees der antifaschistischen Widerstandskämpfer wird er 1953. Doch die Resignation nimmt im Tagebuch bereits so großen Raum ein, dass sie im krassen Widerspruch zum äußeren Handeln Klemperers steht. Einzig das Lehren beglückt ihn wirklich.27 Verschiedene Studienreisen nach Italien, Frankreich, China und Russland erlebt er gemeinsam mit Hadwig Klemperer. Er gibt im Tagebuch an, vor allem zu reisen, um seiner jungen Frau etwas zu bieten. Doch wieder entstehen ausführliche Tagebucheintragungen, die belegen, dass auch er diese Fahrten trotz der Strapazen genießt. Dennoch intensiviert Klemperer seine Klagen über das zunehmende Alter und die stetige Erwartung des Todes, die das Tagebuch seit 1918 durchziehen. Der Eindruck von Gehetztheit, den er zunehmend in seinen Notaten vermittelt, rührt nicht nur von seinem enormen Tagespensum her, sondern auch von seiner Angst, zu sterben bevor die wichtigsten letzten Erlebnisse notiert wurden. Obwohl der Wunsch, zu bewahren dadurch anwächst, werden Reflexionen immer seltener. Dafür verstärkt sich das Vermerken von Ereignissen, Gesprächen, Personen und Erfolgen bzw. Ärgernissen. Das Schreiben hat damit weiterhin zentrale Bedeutung. Im März 1959 erkrankt Klemperer auf der Reise zum Internationalen Romanisten-Kongress in Lissabon schwer. Hadwig Klemperer bringt ihren Mann zurück nach Hause. Sie pflegt ihn aufopfernd und agiert auch als seine Sekretärin. Sie schreibt in seinem Auftrag Briefe und organisiert Termine am Krankenbett. Am 11. Februar 1960 – einen Tag vor dem Todestag des
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Es lässt sich feststellen, dass Klemperer von den äußeren Lebensbedingungen her, in der DDR alles erreicht, was er sich über Jahrzehnte gewünscht hatte: „...die Existenz und das Ansehen Victor Klemperers waren niemals in seinem langen Leben so gesichert wie in der DDR der fünfziger Jahre – endlich ein äußerlich kaum angefochtenes Leben als Kulturmensch in bürgerlicher Geborgenheit, beinahe arriviert zu nennen, mit fast allen ersehnten gesellschaftlichen und akademischen Insignien“ (Henke 1997, 18).
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Vaters 1912, den er über Jahrzehnte hinweg immer wieder im Tagebuch vermerkt –, stirbt Victor Klemperer im Alter von 78 Jahren in seinem Haus in Dölzschen. Mit seinem Tod wird die politische Instrumentalisierung seiner Person verstärkt. Die Nachrufe auf Klemperer, die in der Bundesrepublik erscheinen, klingen oftmals recht harsch (vgl. z.B.: de Haas 1960). Dem entgegengesetzt wirken Würdigungen, die in der DDR publiziert werden. So idealisiert beispielsweise der Klemperer-Schüler Heintze übermäßig seinen verstorbenen Lehrer (Heintze 1961).28 Beide Extreme zeigen deutlich, dass Klemperer bereits zu diesem Zeitpunkt nicht nach seiner wissenschaftlichen Leistung – oder gar allgemein als Schreibender – beurteilt wird, sondern anhand von politischen Positionen.
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Vgl. auch einen Nachruf von Arnold Zweig (1960). In der DDR erschienen zu verschiedenen Anlässen in späteren Jahren Würdigungen von Klemperers Person und Werk. So beispielsweise Festartikel zu seinem 100. Geburtstag (vgl. Haufe, 1980; Felden 1981), aber auch allgemeiner gehaltene Texte zu seinem Gedenken (vgl. Gehrisch 1988, Schober 1988).
III.
Victor Klemperer und sein Werk in der öffentlichen Wahrnehmung
„Das gegenwärtige literaturgeschichtliche Schrifttum tendiert unverkennbar zum Dokumentarischen. Die Reihen von Tagebüchern, unveröffentlichten Dokumenten und biographischen Untersuchungen kennzeichnen eine krankhafte Zuspitzung des Interesses für die so genannte Literaturgeschichte, für die Lebensweise, die Person und die Beziehungen der Schriftsteller und ihrer Umgebung. Die Mehrheit der veröffentlichten Briefwechsel hat nicht die Literatur und ihre Geschichte im Blick, sondern den Autor als Menschen – und man kann noch froh sein, wenn es um den Autor geht und nicht um seine Brüder und Tanten“ (Tomaševskij 2003, 49).
Mit der Herausgabe seiner Tagebüchern 1933 bis 1945 im Jahr 1995 beginnt – abgesehen von wenigen früheren Arbeiten1 – das Interesse an Klemperer. Die Aufzeichnungen aus dem „Dritten Reich“ erlangen unerwarteten Er-
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Darunter sind vor allem Gedenkartikel früherer Schüler Klemperers zu zählen (vgl. z.B.: Schober 1961; Zschech 1961). Außerdem taucht Klemperers Name in einigen autobiographischen Texten auf, beispielsweise in Auguste Wieghardt-Lazars Autobiographie „Arabesken“ (vgl. z.B.: Lazar 1962, 369-371), in Rolf Schneiders „Reisenotizen“ (Schneider 1977, 66-72) und im Tagebuch von Alfred Kantorowitz (Kantorowitz 1961, 577-578). – Martin Walser verarbeitet Klemperers Biographie in seinem Roman „Die Verteidigung der Kindheit“ (vgl. z.B.: Walser 1993, 306-308) und macht ihn damit sogar zur Romanfigur.
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folg.2 Sie erreichen ein Millionenpublikum,3 unter anderem auch durch eine zwölfteilige Fernsehverfilmung.4 Deshalb folgen dieser Erstpublikation schnell weitere. Zunächst veröffentlicht Günter Jäckel die Tagebuchnotate, die zwischen Juni und Dezember 1945 entstanden (1997, Erstauflage
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Der Erfolg drückt sich beispielsweise in der Produktion mehrerer biographischer Publikationen zu Klemperer aus. Johannes Dirschauer (1997a) veröffentlicht als erster eine biographische Analyse zu Klemperers Tagebüchern 19331945. Erstaunlicherweise behauptet er zu Beginn seines Buches: „Victor Klemperer läßt sich weder im positiven noch im negativen Sinn vereinnahmen...“ (Dirschauer 1997a, 10) – um dem Romanisten dann mittels psychotherapeutischer und freudianischer Thesen einen unüberwundenen Vater- und Bruderkonflikt und eine Ambivalenz zwischen dem Judentum des 19. Jahrhunderts und der Gegenwart nachzuweisen, die ihn lebenslang blockiert hätten (vgl. dazu die Kritik von Buhles 2003, 30). – In einem 1999 herausgegebenen Bildband präsentieren Christian Borchert, Almut Giesecke und Walter Nowojski mittels Fotografien und Zeitdokumenten das Leben des Romanisten (Borchert et al. 1999; vgl. dazu auch Jauch 2000). – Im Jahr 2000 publiziert Peter Jacobs eine umfangreiche Biographie zu Klemperer, die allerdings etliche inhaltliche Fehler aufweist (Jacobs 2000; vgl. Buhles 2003, 30). – Eine weitere, kurz gehaltene Lebensbeschreibung erscheint 2004 (Nowojski 2004). In einem Interview macht der Herausgeber Walter Nowojski Angaben zum verlegerischen Erfolg der Tagebücher 1933-1945. Demnach wurde bereits im Jahr 2000 in Deutschland eine Auflage von 320.000 Exemplaren erreicht. Es gab zu diesem Zeitpunkt bereits eine holländische, englische, italienische, französische und sogar eine gekürzte japanische Ausgabe der Diarien. Zudem verweist Nowojski auf die Umsetzung der Diarien in Dokumentarfilmen und Rundfunksendungen (vgl. Mende 2000, 6-7). Die Rechte an der englischen Übersetzung und Publikation der Tagebücher wurden an den amerikanischen Verlag Random House zu dem hohen Preis von 500.000 US-Dollar verkauft – soviel wurde vorher noch nie für ein derartiges Buchprojekt gezahlt (vgl. Bode 1996). Die Reaktionen auf die filmische Verarbeitung der Tagebücher für die ARD – mit Sendeplatz zur Primetime – waren sehr unterschiedlich. Einerseits wurde dieser Versuch wohlwollend, teilweise sogar begeistert aufgenommen (vgl. z.B.: Schmitter 1999, Sichtermann 1999, von Festenberg 1999, Barthelme 1999). Andererseits erfuhr das Projekt scharfe Kritik. So fasst Andreas Kilb die Problematik einer Konvertierung des authentischen Tagebuchstoffs in eine filmisch erzählte Geschichte in einem Kommentar zu den ersten sechs Folgen der Verfilmung zusammen: „...sie verstoßen in flagranter Weise gegen den Sinn und das Pathos der Tagebücher. Jenes ‚Zeugnisʻ, das der deutsche Jude Klemperer von seiner Not ablegen wollte ‚bis zum letztenʻ, wird bei Steinbach [dem Regisseur, Anm. d. A.] zur bloßen Teilansicht in einem bunten Bilderbogen aus Naziland. Indem er die Perspektive des allwissenden Erzählers einnimmt, betrügt uns Steinbach um die individuelle Wahrheit, die Stimme und den Blick des Tagebuchschreibers Klemperer“ (Kilb 1999, o. S.).
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1995).5 Im Anschluss daran erscheinen schrittweise die Tagebücher 19181932 (1996) und die Tagebücher 1945-1959 (1999), herausgegeben durch Walter Nowojski. Zentral für die öffentliche Wahrnehmung bleiben Klemperers Notate aus dem „Dritten Reich“. Sie gelten als sein wichtigstes Werk und rücken seine journalistischen, schriftstellerischen und wissenschaftlichen Arbeiten in den Hintergrund. Grund hierfür ist vor allem der alltagshistorische Aspekt, der mit den Tagebüchern 1933-1945 angesprochen wird. Die Aufzeichnungen beschreiben die Entwicklung und Ausbreitung des Nationalsozialismus, die ausgelieferte Situation der jüdischen Bevölkerung in Dresden, vor allem aber die persönliche Lage Klemperers.6 Deshalb liegt der Schwerpunkt in seinen Tagebüchern trotz seiner analytischen und strukturierten Vorgehensweise weder auf dem Versuch einer objektiven Erklärung der Entwicklungen im „Dritten Reich“ noch auf einer gegen die Deutschen gerichteten Anklage. Dadurch wird es dem Leser – befördert durch die intime Erzählsituation der Diarien – möglich, sich konkret mit dem Schicksal des Diaristen zu identifizieren, ohne eine konkrete Schuldzuweisung aufgreifen zu müssen. Dies entspricht zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Tagebücher einer allgemeinen Stimmungslage in Deutschland und wird deshalb als günstig für die Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit betrachtet.7
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Die Herausgabe der Tagebuchaufzeichnungen von Juni bis Dezember 1945 erfolgte unabhängig von Walter Nowojskis Herausgeber-Tätigkeit. Schon vor dem Erscheinen der Tagebücher 1933-1945 im Aufbau-Verlag hatte Günter Jäckel in der Dresdner Zeitung der (Block-)CDU zwischen 1987 und 1989 Auszüge daraus veröffentlicht. Später gab er diesen Text unter dem Titel „Und so ist alles schwankend. Tagebücher Juni bis Dezember 1945“ unter der Mitarbeit von Hadwig Klemperer heraus (1997, Erstauflage 1995; vgl. dazu auch Jäckel 1996). Friedrich Karl Fromme wirft Nowojski vor, er habe diese „Erstveröffentlichung“ unterschlagen (vgl. Fromme 1996, 4). Dagegen wehrt sich dieser in einem Interview, in dem er auf verschiedene frühere Vorabdrucke aufmerksam macht (vgl. Thieme/Jacobs 1996, 18; siehe als Beispiel für einen anderen Teilabdruck auch Schulze 1992). Susanne zur Nieden erklärt, die Tagebücher seien eine „...Melange von Berichten über intime, berufliche und politische Ereignisse. Seine Aufzeichnungen kreisen, wie es für Tagebücher charakteristisch ist, um die eigene Person, deren Erlebnisse, vor allem aber Ängste und Kränkungen im Mittelpunkt stehen“ (zur Nieden 1997, 112; vgl. dazu auch zur Nieden 1999). Katie Trumpener, die eine historisch-biographische Analyse anhand der Diarien und der „LTI“ verfasst, erklärt die Bedeutung der Klemperer-Tagebücher wie folgt: „In Germany, Klemperer is now regarded as one of the preeminent chroniclers of the twentieth century, particularly of the vicissitudes of recent German history. The fortuitous accidents of history that led to the diaries’ publication in the very last years of the century have helped to give them an apparently
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Entsprechend ist die Rezeption der Aufzeichnungen durch eine spezifische Perspektive auf den Umgang mit der deutschen Vergangenheit geprägt. Allerdings widerspricht dies der ursprünglichen Schreibabsicht Klemperers. Er verfasst seine Tagebücher weder, um damit eine direkte Quelle für die Nachwelt zu schaffen, noch um damit nachfolgenden Generationen Argumente für den Umgang mit ihrer Vergangenheit in die Hand zu geben. Vielmehr schreibt er die Diarien – im Gegensatz zu vielen anderen seiner Texte – ausschließlich für seinen persönlichen Gebrauch. Sie sind nicht für eine direkte Veröffentlichung bestimmt, sondern stellen eine Folie für andere Textformen dar, die explizit für ein Publikum entstehen. Das zeigt sich beispielsweise an der Autobiographie „Curriculum vitae“. Sie basiert konkret auf den Tagebuchaufzeichnungen, die Klemperer bis zum Herbst 1918 verfasst hat. Nachdem er die jeweiligen Notate für die autobiographische Lebensbeschreibung ausgewertet hat, vernichtet er sie. Ihr Fortbestehen wird nach der Weiterverarbeitung in dem zur Publikation bestimmten Text hinfällig. Dieses Ungleichgewicht zwischen der Funktion, die Klemperer selbst seinen Aufzeichnungen zuordnet, und jener, welche durch die Rezeption seit 1995 propagiert wird, führt zu einer problematischen Ausgangssituation in der Auseinandersetzung mit dem Diarium: Wenn die Tagebücher nur unter bestimmten Aspekten aufgenommen werden, entgeht dem Leser die Gesamtaussage des Textes. Ob und wie genau diese Problematik in der Klemperer-Rezeption auftritt, soll im Folgenden anhand einer ausführlichen Sekundärliteratur-Kritik untersucht werden. Dazu erfolgt zunächst eine allgemeine Darstellung der Arbeiten zu den drei großen Tagebuchausgaben 1933-1945, 1918-1932 und 1945-1959 in der Reihenfolge ihrer Veröffentlichung (III.1). Im Anschluss daran werden zwei spezifische Ausrichtungen der Tagebuchrezeption (III.2) näher ausgeführt. Nach der Auseinandersetzung mit der Rezeption der Autobiographie „Curriculum vitae“ (III.3) und der Sprachanalyse „LTI. Notizbuch eines Philologen“ (III.4) folgt zudem ein kurzer Exkurs zum Umgang mit dem wissenschaftlichen Werk. Abschließend werden die Ergebnisse der Auseinandersetzung mit der Sekundärliteratur nochmals knapp zusammengefasst (III.5).
definitive stature: recovered belatedly, these diaries offer both the last full view of the German twentieth century produced within it and in some ways the most comprehensive“ (Trumpener 2000, 489).
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D IE R EZEPTION T AGEBÜCHERN
III.1.1
Die Tagebücher 1933-1945
VON
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Mit der Veröffentlichung von Klemperers Tagebüchern 1933-1945 unter dem Titel „Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten“ im Jahr 1995 beginnt eine zunächst nicht absehbare Erfolgsgeschichte. Trotz des enormen Umfangs der Aufzeichnungen gewinnt die Publikation schnell eine breite und begeisterte Leserschaft. Neben zahlreichen Rezensionen in nahezu allen Tageszeitungen und vielen wichtigen Magazinen und wissenschaftlichen Zeitschriften8 befördert die Vorstellung der Diarien in Marcel Reich-Ranickis „Literarischem Quartett“ deren Popularität. Schnell avanciert die Figur Klemperers zu einer Art „Vorzeigejuden“, mit dem sich unterschiedlichste Anliegen artikulieren lassen.9 Begrüßt als eine „Edition, die überfällig war“ (Fries 1995a), wird den Tagebüchern eine „ikonenhafte Bedeutung für eine neue Generation, die sich mit dem Nationalsozialismus, insbesondere mit dem Schicksal der deutschen Juden auseinandersetzen wollte“ (Benz 1999, 858), zugesprochen. Sie gelten als „einmaliges Dokument – gleichermaßen Psychogramm, literarisches Kunstwerk und historische Quelle“ (Essner 1998, 440) und „epische Dokumentation der Lebensumstände“ (Henningsen 1998, 61) eines Juden im „Dritten Reich“. Henry Ashby Turner sieht sie als „journal that throws new light on the century’s darkest chapter“ (Turner 1999, 385). Sie wurden innerhalb kürzester Zeit zum „deutschen Klassiker“ (Misk 1997, 21) erhoben.10 Aufgrund ihres vermuteten „literarische[n] und dokumentariϴ
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Für die kaum überschaubare Masse an Rezensionen in Zeitungen vgl. z.B.: Grosse 1995; Timm 1995; Ullrich 1995; Worthmann 1995; Löffler 1996; Jauch 1996a. Für Aufsätze siehe z.B.: Holenstein 1996; Kämper 1996a, 1996b; Schober 1997; Traverso 1997a, b; Kuhnke 1997; Essner 1998; Pfefferkorn 1998; Reiss 1998; Combes 2000; Stammen 2001; Donahue 2001; vgl. auch den Sammelband Combes/Herlem 2000. Sogar in der Dank-Rede des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, Kofi Annan, vor dem Senat der Technischen Universität Dresden anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde an ihn wird Klemperer als Vermittler eingesetzt (vgl. Annan 1999, 68-69). Dies zeigt sich unter anderem auch darin, dass Klemperer in später veröffentlichten autobiographischen Dokumenten häufig als Vergleich genannt wird. So findet sich auf dem Klappentext von Elisabeth Freunds Aufzeichnungen über ihre Zeit als Zwangsarbeiterin in Berlin 1941 die lobend gemeinte Bemerkung: „Die Aufzeichnungen eröffnen beklemmende Parallelen zum Tagebuch von Victor Klemperer“ (Sachse 1996). Brigitte Hamann schreibt in ihrem Nachwort zu den Briefen der Lilli Jahn: „Was den Quellenwert angeht, steht dieses Buch
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sche[n] Rang[s]“ nehmen sie deshalb aus Sicht der zahlreichen Rezensenten „eine zentrale Stellung in dem gesamten autobiographischen Werk Victor Klemperers“ ein (Dünninger 2000, 12). Dabei etabliert sich eine unangemessene Mythologisierung und Idealisierung der Person des Tagebuchschreibers, wie sie beispielsweise in Michael Nerlichs Lobhymne deutlich wird: „...noch in Jahrhunderten, wenn die Namen der politisch, ideologisch und moralisch Verantwortlichen jener Epoche, ja wenn selbst die Namen der meisten deutschen Schriftsteller dieses Jahrhunderts und schon gar die der gleichgeschalteten, mitlaufenden und mitjubelnden ‚Dichter und Denkerʻ vergessen sein werden, wird man den Namen Victor Klemperer kennen und sich seines Zeugnisses erinnern. Von 1897 bis 1960 hat er Tagebuch geführt und minutiös und in sprachlicher Meisterschaft deutsche Befindlichkeit durchleuchtet: dies ist [...] das Tagebuch der deutschen Nation“ (Nerlich 1996c, 7).
In Anbindung an die bereits 1947 erschienene Sprachanalyse „LTI. Notizbuch eines Philologen“, welche die Zeit zwischen 1933 und 1945 autobiographisch behandelt, verstärkt sich diese Euphorie noch. Denn die Tagebücher enthalten Klemperers Vorarbeiten für dieses Buch. In den täglichen Eintragungen entstanden die Sprachbeobachtungen, Arbeitsnotizen und Analysen, die später für die Publikation ausgewertet und verarbeitet wurden. Untersuchungen zur „LTI“ nutzen deshalb die Diarien als Hilfsmittel zur Interpretation der Sprachanalyse. Die Notate werden dadurch als vorbereitende Aufzeichnungen betrachtet.11 Einige Tagebuchanalysen arbeiten jedoch auch aus rein sprachanalytischer Perspektive ohne den direkten Verweis auf die „LTI“-Publikation (vgl. z.B.: Jäger 1999, 2000, 2001; Köhn 1997). Der sprachwissenschaftliche Aspekt der Tagebücher ergibt sich aus Klemperers beruflicher Ausrichtung. Heidrun Kämper betont: „Philologen sind Geisteswissenschaftler, Kulturgeschichte ist ihr Gegenstand. Wenn Klemperer Tagebuch schreibt, übt er in spezifischer Weise seine Profession aus“ (Kämper 1996b, 328). Er erzählt demnach nie nur seine persönliche Geschichte, sondern auch immer die der ihn umgebenden Sprache und Kultur.12 Allerdings geht diese Prägung des Tagebuchschreibers angesichts der
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ebenbürtig neben den Tagebüchern von Anne Frank und Victor Klemperer“ (Hamann 2006/2007, 344). Beispielsweise wird dies in der Untersuchung von Jäger/Jäger (1999) deutlich. Vor allem aber zeigt sich dies in Roderick H. Watts Arbeiten (vgl. Watt 1998, 1999, 2000, 2001, 2003). Das schlägt sich beispielsweise auch in der Benutzung von 951 Sprichwörtern im Tagebuch 1933-1945 nieder. Wolfgang Mieder hat dies in einer Analyse der sprichwörtlichen Rhetorik herausgearbeitet. Er erklärt, dass „sich der sprichwörtliche Reichtum der Tagebücher 1933-1945 als Zeichen ihrer sprachlichen
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dramatischen historischen Ereignisse, die er während der Jahre 1933 bis 1945 aufzeichnet, weitgehend unter. Die Masse der Rezensenten orientiert sich weniger an den spezifischen Hintergründen bzw. Absichten von Klemperers Schreiben, sondern interessiert sich vor allem dafür, welche Rückschlüsse die Leser gegen Ende des 20. Jahrhunderts aus dem Text ziehen könnten. Entsprechend eingeschränkt ist die Auseinandersetzung mit den Diarien. Es geht kaum um ihren ästhetischen bzw. literarischen Wert.13 Stattdessen liegt das Augenmerk vornehmlich auf deren inhaltlicher und insbesondere historischer Aussagekraft. Zentral ist die Tatsache, dass Klemperer als Jude im „Dritten Reich“ aus der Perspektive des direkt Betroffenen schreibt. Bewusst vergleichen Rezensenten deshalb die Bedeutung seines Tagebuchs mit dem von Anne Frank (vgl. z.B.: Christ 1996, 19; Nerlich 1996d, 135; Donahue 2001, 108). Beide Texte werden dabei nicht mehr als eigenständige Dokumente vom Innenleben eines Individuums, sondern vornehmlich als Zeugnis für die Lebensumstände von Juden im „Dritten Reich“ gelesen. Abgesehen davon, dass dieser Vergleich bereits fragwürdig ist aufgrund der unterschiedlichen Bedingungen, unter denen beide Tagebuchschreiber ihre Eintragungen verfassten, macht er auf ein entscheidendes Problem von Klemperers Diarium aufmerksam: Anne Franks Aufzeichnungen brechen plötzlich ab, weil sie gemeinsam mit ihrer Familie nach Bergen-Belsen deportiert wurde. Klemperers Notate dagegen umfassen das gesamte „Dritte Reich“, und dem Leser ist bekannt, dass der Autor nach 1945 ein ausgefülltes Leben führen konnte. Deshalb ermöglichen seine Tagebücher einen umfassenden Rückblick aus der Perspektive des Überlebenden, während Anne Frank als Opfer des nationalsozialistischen Antisemitismus den Tod fand. Der ausschließliche Blick auf Klemperers Verfolgten-Status unterschlägt diesen Unterschied. Dadurch werden einerseits die vielfältigen Schicksale jüdischer Opfer vereinheitlicht. Andererseits besteht das Risiko, die letzte – tödliche – Konsequenz des nationalsozialistischen Antisemitismus auszublenden. Zudem bleibt Klemperers Lebenssituation bis zum Kriegsende trotz schwieriger Lebensumstände „erzählbar“. Er wird nicht in eines der vielen Konzentrationslager deportiert und ist deshalb nicht konkret der massenhaften Judenvernichtung ausgesetzt. In dieser Lage hätte er vermutlich seine Aufzeichnungen nicht fortsetzen können bzw. die Chance auf ihren Erhalt für die Nachwelt wäre enorm gesunken.14 Stattdessen erlebt Klemperer die
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und faktischen Authentizität“ erweist (Mieder 2000a, 326-327; vgl. hierzu auch Mieder 2000b, 2000c). Ein seltenes Beispiel für die Betrachtung der literarischen Komponente der Tagebücher ist Combes (2000). Zwar gibt es Aufzeichnungen, die heimlich in Konzentrationslagern entstanden, jedoch kann davon ausgegangen werden, dass nur wenige KZ-Häftlinge über
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Judenverfolgung in einer Position, die durch die „arische“ Ehefrau zumindest teilweise geschützt ist. Nur aufgrund dieser Umstände ist es ihm möglich, ausführlich zu beschreiben, was sich sozusagen als „Vorstufe“ zur geplanten Vernichtung der Juden in Deutschland respektive in Dresden ereignet. Was er dabei darstellt, ist zwar erschütternd und vielfach unfassbar für den gegenwärtigen Leser. Trotzdem beschränkt sich sein Tagebuch – bedingt durch die Lebensumstände – auf Dinge, die vorstellbar sind. Während die Massenvernichtung in den Konzentrationslagern kaum beschrieben werden kann, weil sie sich in ihrem entsetzlichen Ausmaß jeglicher Vorstellungskraft15 entzieht, kann das Erleben Klemperers durchaus in allen Details dokumentiert und von späteren Generationen nachvollzogen werden. Deshalb sieht Paola Traverso „...die Voraussetzung für den Erfolg und damit für den ideologischen Gebrauch der Chronik Klemperers [...] in deren Kommensurabilität, d. h. in der Beschreibung einer Erfahrungswelt, die die notwendigen Gemeinsamkeiten mit der Erfahrungswelt des Rezipienten aufweist“ (Traverso 1997b, 322).
Klemperers Fähigkeit, plastisch und eindrücklich zu beschreiben, ermöglicht es dem Leser, sich mit dessen ständig bedrohter Situation ebenso wie mit dessen Alltagsproblemen zu identifizieren.16 Bergander fasst diesen Erzählstil zusammen: „Durch die Jahre notiert er gewissenhaft, was er sieht, hört, liest, denkt, tut, was ihm und den Dresdner Juden widerfährt und wie sich die ‚Volksgenossenʻ verhalten – eine Fundgrube zeitgeschichtlichen Stoffes. Sie birgt auch Witze, Gerüchte, charakteristische Redewendungen, politische Betrachtungen, wundervolle Landschaftsschilderungen. Der Literaturprofessor erzählt bei aller Akribie frisch, anschaulich, oft bissig, aber auch humorvoll. Sein Blick ist nicht verengt. Widersprüchlichkeiten im gleichgeschalteten Alltag macht er sichtbar: dem Ausgegrenzten begegnet sogar heimliche Sympathiebezeugung“ (Bergander 1997, 174).
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die Möglichkeit und die Materialien verfügten, um schriftlich von ihrem Schicksal zu erzählen. Der Begriff der Vorstellbarkeit wird hier unvermeidbar im Kontext eines subjektiven Verständnisses eingesetzt. Im Grunde lassen sich die Kategorien „vorstellbar“ und „unvorstellbar“ nicht objektiv erfassen. Dinge, die einem Individuum unsagbar erscheinen, können für den Nächsten völlig selbstverständlich sein. Wenn im Zusammenhang mit der Massenvernichtung jüdischer Menschen von Unvorstellbarkeit gesprochen wird, koppelt sich dies demnach an einen bestimmten ethisch-moralischen Erwartungshorizont. Frank B. Timm umschreibt die Eindrücklichkeit von Klemperers Schreiben als das Schildern des „Einsickern[s] des Grauens in seinen Alltag“ (Timm 1995, 78).
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Diese Auflistung der inhaltlichen Ausrichtung der Tagebücher umfasst jene Aspekte der Aufzeichnungen, die als bedeutend in Klemperers Schreiben betrachtet werden. Denn vor allem seine Orientierung an den Details im Leben eines Juden im „Dritten Reich“, ist für die Rezeption zentral.17 Alle persönlichen Äußerungen Klemperers werden paradoxerweise jedoch nicht als Ausdruck seiner privaten Reflexions- bzw. Erzählbedürfnisse verstanden, sondern als konkret durch den Nationalsozialismus geprägte historische Aussagen (vgl. dazu z.B.: Kämper 1996b, 329). Damit wird den Tagebüchern zwar eine hohe Identifikationskraft zugesprochen, diese allerdings gleichzeitig auf eine allgemein historische Perspektive heruntergebrochen. Wodurch genau sich der Leser in den Tagebucheintragungen angesprochen fühlt, erklärt sich so nicht. Der amerikanische Journalist Amos Elon befragte für die „New York Times“ über mehrere Monate hinweg Wissenschaftler, Künstler und Journalisten, womit diese sich den Erfolg der Klemperer-Tagebücher erklären, mit dem Ergebnis: „All agreed that one reason for their appeal was, of course, their literary quality. The other reason was said to be political“ (Elon 1996, 54). Alexandra Przyrembel extrahiert dem entgegengesetzt spezifischere Argumente, warum die Rezeption in den Aufzeichnungen die Möglichkeit der Identifikation sieht: „Erstens: Klemperer verkörpert scheinbar wie kaum ein anderer das Gelingen einer deutsch-jüdischen Symbiose. Zweitens: Entgegen der bitteren Einsicht, daß die Deutschen von Verfolgung und Ermordung der Juden mehr gewußt haben, als sie nach 1945 zugeben mochten, wird die Lektüre der Klemperer-Tagebücher offenbar deshalb erleichtert, weil sie gleichsam stellvertretend für andere die Courage einer nichtjüdischen Deutschen dokumentieren; sie bezeugen Mut und Tatkraft der Eva Klemperer. Und drittens: Klemperers Tagebücher dokumentieren mit dem Untergang Dresdens ein deutsches Trauma. Zudem ist ihre Wirkung nicht zuletzt Resultat einer deutsch-deutschen Verständigung über das Dritte Reich und die Nachkriegsgeschichte. Dies wird besonders dadurch bedingt, daß Victor Klemperer in der politischen und kulturellen Landschaft der DDR eine bedeutende Rolle einnahm“ (Pzyrembel 1998, 318).
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Das Tagebuch dokumentiert aus dieser Sicht zwischenmenschliche Beziehungen. Eine Publikation über einen ursprünglich zu Propagandazwecken entstandenen Film aus dem November 1942 nutzt dieses Potenzial der Tagebücher. Sie enthält Bilder von der Internierung der letzten Dresdner Juden, die nicht durch „arische“ Angehörige geschützt waren in das Lager Hellerberg. Unter der Überschrift „Die Erinnerung hat ein Gesicht“ sind Klemperers porträtartige Aussagen über jüdische Bekannte und Freunde den Fotos zugeordnet und unterlegen sie auf diese Weise mit persönlich geprägten Kommentaren (Haase/Jersch-Wenzel/Simon 1998; vgl. dazu Bauschmid 1998).
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Damit spricht Pzyrembel spezifische Haltungen Klemperers an, die sich scheinbar mit jenen der gegenwärtigen Leserschaft decken bzw. leicht adaptieren lassen. Sie macht auf diese Weise konkreter als andere Rezensenten darauf aufmerksam, dass die Aufzeichnungen für eine Aufarbeitung des Verhaltens des Durchschnittsdeutschen im „Dritten Reich“ instrumentalisiert werden. Noch fünfzig Jahre nach dem Kriegsende ist die Auseinandersetzung mit den verpassten Verantwortungen und der Schuld der Menschen, die sich dem nationalsozialistischen Regime unterwarfen, ohne dessen Menschenverachtung und Zerstörungswut zu hinterfragen, nicht abgeschlossen. Klemperers Tagebücher ermöglichen einen neuen Ansatz in dieser Diskussion. Er versteht sich selbst zuvorderst als Deutscher, nicht als Jude. Weil er aus diesem Blickwinkel gegen das nationalsozialistische System argumentiert, wendet er sich nicht vollständig vom Deutschtum ab, sondern sucht nach einem Weg, dieses von der Barbarei der Nationalsozialisten abzutrennen. Diese Argumentationslinie verhilft den Rezipienten am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts dazu, nicht zuvorderst die Schuldfrage hervorzuheben, sondern vielmehr – sozusagen fast neutral – die historischen Entwicklungen aus Klemperers Perspektive zu betrachten (vgl. Traverso 1997b, 323). Gerade dadurch erweisen sich die Tagebuchnotate jedoch, wie Paola Traverso warnt, „als eine unerschöpfliche Quelle der Vereinnahmung18 seitens einer Rezeption, die hinter der Fassade uneingeschränkter Zustimmung die eigene Selbstrettung betrieb“ (Traverso 1997a, 66): In Folge des Erscheinens von Daniel J. Goldhagens Buch „Hitlers willige Vollstrecker“ (Goldhagen 1996; vgl. Erb 1996) entfachte sich eine heftige Diskussion, inwieweit die Deutschen tatsächlich eine Gemeinschaftsschuld zu tragen hätten. Dabei wurden Klemperers Tagebücher sowohl als Beweis dafür angeführt, dass viele Ereignisse für die Bevölkerung im „Dritten Reich“ nicht nachzuvollziehen gewesen seien, als auch um das Gegenteil zu belegen (vgl. z.B. den Sammelband von Heil/Erb 1998 oder die sehr harsche Instrumenta-
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Die Ausprägungen dieser Vereinnahmung dokumentiert Sigrid Löffler umfangreich: „Auffällig, daß der Geschwister-Scholl-Preis, der doch eigentlich eine Auszeichnung für Widerständigkeit sein soll, posthum an Klemperer verliehen wird mit der Begründung, der jüdische Professor habe sich von den Nationalsozialisten sein ‚Deutschtumʻ nicht rauben lassen. Aufschlußreich, daß Martin Walser fast seine ganze Laudatio dem etwas krampfhaften Versuch widmet, Klemperer als Deutschen zu vereinnahmen und zum Kronzeugen für Walsers eigenes Wunschdenken zu machen, das Projekt der jüdischen Assimilation in Deutschland möge nicht mit Auschwitz endgültig gescheitert sein, sondern möge sich an Klemperers ungebrochenem ‚Kulturvertrauenʻ wieder hochranken. Und bedenklich schließlich, wenn die ‚FAZʻ in einer Rezension ihr Klempererlob in lauter herabwürdigende Formeln gießt, die den Geehrten madig machen, indem sie ihn scheinbar preisen [gemeint ist die Rezension von Fromme 1995, Anm. d. A.]“ (Löffler 1996, 10).
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lisierung Klemperers bei Schneider 1996). Jost Nolte warnt vor einer derartigen Vereinnahmung der Aufzeichnungen: „Victor Klemperers Tagebücher aus der Nazizeit gelten mittlerweile als Beweismittel ersten Ranges für den mörderischen Antisemitismus, in dem sich in Deutschland Führer und Volk einig gewesen sein sollen. Dieses Einverständnis mit Auschwitz aber beweist Klemperer trotz allem nicht und will es auch nicht beweisen“ (Nolte 1996, o. S.).
Die Zusammenführung von Goldhagens Forschungsarbeit und Klemperers Tagebüchern ist allein aufgrund der konträren Textsorten problematisch, in denen beide sich allgemein dem Thema „Drittes Reich“ nähern. Die Vorwürfe des Historikers basieren zwar zunächst auf historischen Fakten, gleiten jedoch schnell in weniger wissenschaftlich als emotional geführte Argumentationen ab. Auf dieser Basis ähneln seine Ausführungen den subjektiven Aufzeichnungen des Tagebuchschreibers. Trotzdem ist der Ausgangspunkt der Schreiber deutlich verschieden.19 Deshalb wirkt die GoldhagenDebatte inhaltlich teilweise verfehlt. Paola Traverso fasst zusammen: „...diese Kontroverse [erscheint] auch deshalb so paradox, weil gerade einige gegen Goldhagen erhobene Vorwürfe, er spreche von einer Kollektivschuld und insinuiere die Existenz eines ‚deutschen Charaktersʻ, sich auch gegen Klemperer erheben ließen“ (Traverso 1997a, 66).
Die Instrumentalisierung der Tagebücher für eine Debatte, in der es um Schuldzuweisungen geht, erweist sich dadurch allein aufgrund der subjektiven Äußerungen Klemperers und der inhaltlichen Anordnung der Aufzeichnungen als absurd. Entsprechend lässt sich mit Traverso argumentieren: „Es geht mir hier nicht darum, mit Klemperers Hilfe die Thesen Goldhagens [...] zu unterstützen, sondern darum, zu zeigen, daß sie nicht mit Klemperer widerlegt werden können“ (Traverso 1997b, 340). Der Blick der Rezeption auf Klemperers Tagebücher ist in beiden Argumentationslinien nicht auf die Täter, sondern auf ein Opfer und dessen spezifischen Umgang mit seiner ihn Repressalien ausliefernden Situation ausgerichtet. Dabei handelt der Tagebuchschreiber untypisch im Vergleich mit vielen anderen Juden, die in ihrem täglichen Kampf um das Überleben kein Interesse mehr an Literatur oder Schreiben haben. Klemperer dagegen steht mit Hilfe seines Diariums die Repressionen, Ängste und Demütigungen
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Heilbrunn fasst diese Differenz in einer Metapher zusammen: „Goldhagen hämmert die Mauer von Lügen, die die Nazis errichtet haben, mit dem Vorschlaghammer nieder. Klemperer legt wie ein Kunsthandwerker mit dem Hämmerchen die feinen Strukturen und internen Netze des Naziregimes frei“ (Heilbrunn 1996, 24).
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durch.20 Nicht diese Funktion des Tagebuchs steht jedoch für eine breite Masse der Rezensenten im Vordergrund. Vielmehr findet eine starke Fixierung auf die Opferrolle des Tagebuchschreibers und die Dramatik der Lage der Juden im „Dritten Reich“ statt. Dadurch wird häufig die Vielseitigkeit der Beschreibungen in den Diarien ignoriert. Ein Großteil der Auseinandersetzung mit Klemperers Tagebüchern beschränkt sich auf das Judentum des deutschen Tagebuchschreibers.21 So sieht Johannes Dirschauer in der „Spannung Judentum und Deutschtum“ ein „Lebensthema“ (Dirschauer 1997a, 61).22 Aufsätze von Lawrence Birken
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Joachim Worthmann fasst dies zusammen: „Man muß sich das vorstellen: unter äußerstem Druck, ständig in Lebensgefahr, während Freunde und Bekannte von den Schergen ‚gegriffenʻ werden, setzt sich dieser Mann hin, um aufzuschreiben, was der Tag gebracht hat. Und er weiß, jede Seite könnte, würde sie entdeckt, seinen Tod, den Tod seiner Frau und aller, die er nennt, bedeuten. [...] / Diese Tagebücher künden jedoch vor allem von einem Überlebenswillen, der uns Nachgeborenen in besseren Zeiten schier übermenschlich erscheint. Da wird einem feinsinnigen Gelehrten nach und nach der normale Zugang zu jeglicher Literatur abgeschnitten: doch er liest und schreibt weiter. Da wird er zum Fabrikarbeiter erniedrigt, doch er liest und schreibt weiter; da wird ihm das Essen entzogen, das Licht genommen, der Weg ins Freie versperrt, doch er liest und schreibt weiter. Da sterben Freunde, da gehen die Häuser in Flammen auf, doch er liest und schreibt weiter. Und er spürt die Diskrepanz, beklagt die eigene Kälte, die Entschlossenheit, nur Beobachter zu sein und nichts als Beobachter“ (Worthmann 1995, I). Dies erweist sich im Übrigen schon deshalb als paradox, da sich Klemperer erst dann bewusst mit dem Judentum auseinander setzt, als er keine andere Wahl mehr hat. Denn seine Lektüre zu diesem Thema ab 1933 „ergab sich [...] vorrangig aus der Tatsache, dass er ständig mit einer Umwelt konfrontiert wurde, die ihn als Juden wahrnahm, obwohl er evangelisch getauft war“ (Buhles 2003, 269). Dirschauers Erläuterungen zu Klemperers Judentum sind stark von dessen psychoanalytischen Grundthesen geprägt. Er sieht im Tagebuch den Versuch, „die Spannung dieses nicht lösbaren Assimilationsproblems auszubalancieren“ (Dirschauer 1997a, 170). Dies führt zu der ausgesprochen skurrilen These, die „brüchig religiöse[] Sozi[a]lisation“ habe „das Gefühl, immer wieder Tagebuch schreiben zu müssen“, hervorgerufen (Dirschauer 1997a, 193). Da im Judentum stets Gott der Zeuge aller Ereignisse sei, könnten gläubige Menschen auf das Tagebuchschreiben verzichten. Dabei ignoriert Dirschauer völlig, dass Tagebücher vor allem durch die religiös motivierte und durch den Pietismus stark propagierte Beichtfunktion zu einer allgemeinen „Modeerscheinung“ wurden (vgl. Wuthenow 1990, Schönborn 1999). Die Interpretation von Klemperers Diarium als „der Raum und zugleich das Zeugnis einer ungeheueren, ein Leben lang notwendigen Integrationsarbeit“ (Dirschauer 1997a, 195) wirkt entsprechend befremdlich. Diese Fehlinterpretation ist ein Beispiel für die strikte Festlegung
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(1999) und Rita Thalmann (2000) kontrastieren Klemperers Perspektive auf Deutschland und das eigene Deutschtum mit dessen Judentum. Die Thesen Martin Walsers23 haben eine heftige öffentliche Diskussion provoziert, die diese einseitige Betrachtungsweise zumindest partiell in Frage stellt. Wiederkehrend wird behauptet, aus dem Tagebuch lasse sich Klemperers lebenslanges Ringen um seine jüdische Identität ableiten (vgl. z.B.: Heidelberger-Leonhard 2000, Heim 2000, Diekmann 2001).24 In idealisierender Weise werden dabei die ursprünglichen Aussagen Klemperers auf bestimmte Aussagemuster hin verfremdet. Ein Beispiel dafür ist Misk, der erklärt: „Daß Klemperer dieses Deutschtum, sein Deutschtum, bis in die düstersten und letzten Tage der Barbarei verteidigt hatte, seine Tagebuchbände nicht nur Auskunft über die Standhaftigkeit des täglich bedrohten Chronisten geben, sondern zur Rettung dieses Deutschtums auch äußere Hinweise geben, macht das Faszinierende dieses Opus aus“ (Misk 1997, 24).
Das Tagebuch verwandelt sich in dieser Sichtweise in ein Symbol für Klemperers unbedingten Willen, sein „Deutschtum“ zu „retten“. Der Blick auf seine lebenslange – berufliche und private – Koppelung an das Schreiben als identitätsstiftendes Instrument wird damit verstellt. Die Behauptung, der Tagebuchschreiber dokumentiere mit seinen unter Lebensgefahr fortgesetzten Aufzeichnungen vor allem seinen Patriotismus, ignoriert die Einbettung der Diarien 1933-1945 in ein Gesamtwerk und verhindert eine differenzierte Auseinandersetzung mit dessen spezifischen Schreibzielen. Kurt Nemitz bemerkt dazu:
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Klemperers auf bestimmte Rahmenbedingungen. Dass er aus einem jüdischen Umfeld stammt, kann nicht als Begründung für die Interpretation seines gesamten Handelns entlang dieser Linie verwendet werden. Bei Dirschauer nimmt dies besonders fragwürdige Formen an, weil in Ignoranz der vorhandenen Gattungsgeschichte die Textform des Tagebuchs missgedeutet wird. Vgl. dazu die Laudatio von Martin Walser auf Klemperer anlässlich der Verleihung des Geschwister-Scholl-Preises, die zunächst in Ausschnitten im „Spiegel“ veröffentlicht wurde (1995) und hernach ungekürzt erschien (1996). Diese Rede rief eine Welle von Empörung unter verschiedenen Journalisten hervor (vgl. z.B.: Löffler 1996; Strohtmann 1996, siehe hierzu auch die Leserbriefe zu diesem Artikel in der „ZEIT“ vom 16. Februar 1996, worunter sich auch ein Brief von Klemperers Neffen Peter Klemperer befindet; Nerlich 1996a, 1996e; Wohlfahrt 1999). Aschheim erweitert die Diskussion um Judentum und Deutschtum noch um den politischen Aspekt: In seinem Verständnis koppeln sich der Liberalismus und Kommunismus daran (vgl. Aschheim 2001a, 2001b, 2003).
60 | S CHREIBEN EIN L EBEN LANG – V ICTOR KLEMPERERS T AGEBÜCHER „Er, der getaufte Protestant und Frontkämpfer, wollte in erster Linie Deutscher, und nur Deutscher sein. Wenn aber Hannes Heer in seiner Einleitung zum Sammelband ‚Im Herzen der Finsternis – Victor Klemperer als Chronist der NS-Zeitʻ [vgl. Heer 1997a25, Anm. d. A.] gewollt drastisch und schlicht meint, daß er in der NS-Zeit ‚zum Juden gemachtʻ wurde, dann ist dies zu kurz gegriffen und suggeriert ein Bild von jüdischer Identität in Deutschland, das auf eine Schwarz-Weiß-Schablone hinausläuft. Die Kompliziertheit des deutsch-jüdischen Verhältnisses dokumentierte sich eben darin, daß es einen großen Kreis von Persönlichkeiten gab, die nicht eindeutig der einen oder anderen Seite zugeordnet werden konnten.“ (Nemitz 1997, 36).
Auch Bernhard Reuter macht im Zusammenhang mit der einseitigen Fokussierung auf Klemperers Deutschtum darauf aufmerksam, dass dieses Vorgehen ebenso falsch sei wie „die generelle Vernachlässigung seiner ostdeutschen Identität und seines politischen Engagements“ nach 1945 (Reuter 2002, 363; vgl. dazu auch Traverso 1997b, 324). In der Betrachtung der allgemeinen Rezeption der Tagebuchaufzeichnungen 1933-1945 muss diese Kritik erweitert werden: Es fehlt in der bisherigen – feuilletonistischen und wissenschaftlichen – Auseinandersetzung mit den Diarien an Zwischennuancen bezüglich der vielfach gebrochenen Biographie Klemperers und auch seiner intellektuellen Prägungen. Grundproblem dieser Leerstelle in der Rezeption ist die bereits angesprochene Vereinnahmung der Tagebücher für ein fast beschönigendes Geschichtsbild, in dem nicht mehr so sehr die Anklage der Deutschen als Täter, sondern deren Opferposition aufgrund des Verlustes einer „unbefleckten“ deutschen Identität hervorgehoben wird.26 Deshalb fordert beispielsweise Michael Wildt, die Person Klemperers selbst und nicht dessen direkte historische Involvierung in den Mittelpunkt zu stellen: „Wie schwer fällt es über fünfzig Jahre nach Auschwitz, die Verfolgten nicht nur als Leidende zu sehen. Als habe sich der Blick der Täter, die ihre Opfer nur als Objekte, als ‚Stückeʻ und ‚Schädlingeʻ, nie jedoch als Menschen betrachteten, unheilvoll bis in
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Zur Kritik am Sammelband von Heer vgl. auch Rüdiger Bernhardt (1997). Dieser kritisiert die starke Redundanz in den einzelnen Aufsätzen sowie untereinander und meint, der historische Kontext Klemperers sei nicht ausreichend dargestellt. Paola Traverso hat dies treffend formuliert: „Mit Victor Klemperer reiht sich ein weiterer Autor in die Regale jener idealen Bibliothek ein, die fünfzig Jahre nach Auschwitz aus deutsch-jüdischen Autoren zusammengestellt wird, welche post mortem oder post Vernichtung paradoxerweise dazu in Dienst genommen werden, eine Kontinuität deutscher nationaler Identität und Kultur zu repräsentieren, deren irreparable Brüchigkeit als schmerzhaft empfunden wird. Paradoxerweise, weil es sich meist um Autoren handelt, die solange sie inmitten der deutschen Gesellschaft gelebt haben [...], kaum eine Chance hatten, von dieser Gesellschaft anerkannt zu werden“ (Traverso 1997b, 307).
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die Gegenwart fortgesetzt, wird die Autoepisode, deren Komik ins Auge springt und zuweilen hell lachen macht, in der Rezeption der Tagebücher eher an den Rand gedrängt, wie eine peinliche Geschichte verschwiegen. Dabei kann uns gerade sie daran erinnern, daß die Opfer Menschen waren, mit Wünschen, Hoffnungen, Sehnsüchten...“ (Wildt 1997, 57).
Es reicht demnach nicht aus, nur die Daten und Fakten, die Klemperer zusammengetragen hat, für seine Person oder die geschichtlichen Entwicklungen auszuwerten, wie dies beispielsweise Benedikt Faber (vgl. 1999, 2005)27 vornimmt. Denn dadurch entsteht eine bizarre Umkehrung der üblichen Umgangsweise mit Diarien. Von der klassischen Tagebuchtheorie werden sie häufig als Ausdruck einer intimen Innenansicht des Autors benannt. Die Klemperer-Rezeption dagegen betrachtet die Eintragungen überwiegend als geschichtliche Quelle. Extremes Beispiel dafür ist Kornélia Papps Vergleich der Klemperer’schen Tagebücher mit jenen von Thomas Mann im Hinblick auf die historischen Entwicklungen zwischen 1933 und 1955. Sie schreibt: „Klemperer hat keine andere Wahl, im Dritten Reich blieb kein Platz mehr fürs Private, und alle politisch-öffentlichen Ereignisse betreffen das Individuum, besonders, wenn sein Leben im Land so gefährdet ist wie das des Juden Klemperer. Wenn er über das Private schreibt, das heißt über seine Versuche, ein Regime zu überleben, dessen Programm auf das zentrale Vorhaben gebaut ist, ihn zu töten, dann werden diese Notizen zu öffentlichen Belegen gegenüber einer Epoche, einer Gesellschaft und einer politischen Macht“ (Papp 2006, 22).
Diese Vereinnahmung privater Aufzeichnungen für die Pflicht historischer Zeugenschaft erscheint absurd angesichts der unzähligen persönlichen Notizen, die kaum weltgeschichtlichen Wert haben. Doch Papp führt ihre Erwartungshaltung an Klemperers Tagebuch konsequent so weit, dass sie sich be-
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In Benedikt Fabers Dissertation zu Klemperers „deutsch-jüdische[r] Existenz im Nationalsozialismus im Spiegel seiner biographischen Selbstzeugnisse“ (Faber 2005) – so der Untertitel – stagniert die umfangreiche Auseinandersetzung mit den Primärtexten letztlich in der Auflistung von Tagebuchzitaten. Die grundsätzliche Ausrichtung auf dessen jüdische Identität und insbesondere die Eröffnung einer so genannten „Emigrationsfrage“ (Faber 2005, 220ff.) läuft dadurch ins Leere. Entsprechend mager fallen die Ergebnisse der Studie aus: Faber verharrt in wenig überraschenden Erkenntnissen über Klemperers „Lebenswelt“ während des „Dritten Reichs“. Anzurechnen ist ihm jedoch, dass er vor „einer Verabsolutierung der individuellen Wahrnehmungen und Schlussfolgerungen“ (Faber 2005, 281) des Tagebuchschreibers warnt.
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rechtigt glaubt, zu bemängeln, wenn in seinen Eintragungen die Erwähnung bestimmter Ereignisse fehlt.28 Statt die Diarien als konkrete Quelle für historische Entwicklungen zu betrachten, macht André Combes einen anderen Vorschlag im Umgang mit ihnen. Er verlagert die Aufmerksamkeit von den konkreten Inhalten weg und hinterfragt stattdessen die Art und Weise, wie Klemperer diese in seinen Aufzeichnungen gestaltet und anordnet. Dabei stellt er fest: „Es geht in den Tagebüchern 1933-1945 also nicht darum, eine von einer ‚gebührenden Ordnungʻ (CV I, 157) zeugende, narrative Kontinuität zu schaffen, sondern sie zu verhindern und das widerspruchsvolle Hin und Her in der jeweiligen Gefühls- und Gedankenlage getreu wiederzugeben. Das Voranschreiten der Zeit auf den vielfachen Tod zu darf nicht zum geglätteten chronologischen Lebenslauf umgeformt werden, sondern Erschütterungen und Brüche müssen als Momente eines mit der Katastrophe der Jetztzeit ständig konfrontierten Subjektivierungsprozesses protokolliert werden. Es muß, um es wieder mit berühmten Formeln Benjamins auszudrücken, das ‚Kontinuumʻ einer rein chronologisch gehaltenen Vita unbedingt durch die äußere Zusammenhanglosigkeit der Aufzeichnungen ‚aufgesprengtʻ werden, wenn echte Erkenntnis und Selbsterkenntnis ‚aufblitzenʻ und nicht einfach eine ‚Zeitalter-Besichtigungʻ angeboten werden soll, in der, wie oft in den Tagebüchern 1918-1932, Leben ‚gesammeltʻ wird, ohne zu fragen, ‚wozu und warumʻ“ (Combes 2000, 84-85).
Mit diesem Ansatz wendet Combes sich als einer von wenigen Rezensenten von der ausschließlich inhaltlichen Auseinandersetzung mit Klemperers Tagebüchern ab. Vielmehr versucht er eine literaturwissenschaftliche Betrachtung, in der die Hintergründe des Tagebuchschreibens einbezogen werden. Die – wie auch immer geartete – Opferrolle des Diaristen rückt in dieser Perspektive in den Hintergrund. Dadurch sind auch nicht mehr die Auseinandersetzung mit der Schuldfrage der Deutschen und die Möglichkeiten der Identifikation mit Klemperer zentral. Der Text selbst, sein komplexer Aufbau, strukturelle Besonderheiten in Bezug auf spezifische Inhalte und gestalterische Entscheidungen des Tagebuchschreibers treten in den Mittelpunkt einer nicht mehr inhaltlich exzerpierenden, sondern literarisch interpretierenden Untersuchung. Dieser Ansatz eröffnet Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit Klemperers Tagebuch, die bisher wenig wahrgenommen wurden.
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Das führt bis zu der Kritik: „Als weiterer Mangel ist die fehlende Schilderung der Stimmung im Ausland während der Olympiade zu bezeichnen“ (Papp 2006, 155). Gipfel dieser abstrusen Perspektive auf die Funktion privater Tagebücher ist schließlich die Kritik an Thomas Mann und Klemperer in ihren Nachkriegstagebüchern: „Als bedeutenden [sic] Mangel der beiden Tagebücher kann das Fehlen einer Bewertung des historischen Händedrucks von Pieck und Grotewohl eingeschätzt werden“ (Papp 2006, 282-283).
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Die Tagebücher 1918-1932
Die durch Anteilnahme und Betroffenheit erzeugte Identifikation mit den Aufzeichnungen 1933-1945 ist in den frühen und späten Tagebüchern Klemperers nicht in gleichem Maße möglich, weil die Inhalte (vgl. dazu Scheller 1999) keine vergleichbare Dramatik vermitteln. Deshalb folgte auf die Veröffentlichung der Tagebücher 1918-1932 keine ähnlich große Resonanz wie auf die Notate aus dem „Dritten Reich“. Zudem sehen sich einige Rezensenten genötigt, insbesondere die Qualität der Aufzeichnungen zu kritisieren. So schreibt Momme Brodersen: „Gleichwohl beeinträchtigt der Wust an völlig nebensächlichen, weil häufig ‚nur privatenʻ Notizen Fluß und Lust am Lesen dieser zwei Monumentalbände nicht unerheblich. Deshalb wünscht man sich, daß nach dem offensichtlich hiermit erfolgten Abschluß der Edition von Klemperers Tagebüchern themenbezogene Teil-Ausgaben davon erscheinen...“ (Brodersen 1997, 279).
Diese Erwartungshaltung steht in einem merkwürdigen Gegensatz zum Grundprinzip des Tagebuchs, das zum Thema zu machen, was dem Tagebuchschreiber im Moment des Schreibens wichtig ist. Brodersens Argumentation vermittelt den Eindruck, der Leser dürfe bestimmte Inhalte und eine für ihn möglichst angenehme Textaufbereitung erwarten. Dabei zeichnen sich Tagebücher gerade dadurch aus, dass sie nicht auf ein spezifisches Publikum ausgerichtet sind und dementsprechend unabhängig inhaltlich und gestalterisch vorgehen. Auch andere Rezensenten äußern ähnliche Ansprüche an die Lesbarkeit der Aufzeichnungen und kritisieren das angebliche Übermaß an unwichtigen Informationen in der veröffentlichten Ausgabe der Tagebücher 1918-1932.29 Dass gerade Redundanzen und scheinbare Nebensächlichkeiten ein vielfarbiges Bild von der Persönlichkeit des Tagebuchschreibers vermitteln können, ignorieren sie. Karin Großmann erkennt einen Grund für derartige – angesichts der Grundfunktion eines Tagebuchs widersinnige – Kritiken: Klemperers Be-
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Beispielsweise kommentiert Jost Nolte: „Selbstredend gehört dazu [zur Rezeption der Tagebücher, Anm. d. A.] seitens des Lesers einige Geduld. Um unbillige Inanspruchnahme aber handelt es sich schon deshalb nicht, weil der Kinoläufer und gern auch leichterer Lektüre zugeneigte Literaturprofessor Klemperer eine anheimelnde, sich streckenweise zu einer Meisterschaft nach Art des 19. Jahrhunderts steigernde Prosa schreibt, und hier oder dort querzulesen sollte sich schon aus diesem Grunde verbieten. Die Versuchung dazu aber kommt dann gelegentlich doch auf. / [...] Hingegen muß es rechterdings auch das mitmenschlichste Interesse erschöpfen, wenn jede Berufungsliste notiert wird, auf der Klemperers Name nicht steht oder von der er zur Unzeit wieder verschwindet“ (Nolte 1996, o. S.).
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schwerden über zu wenig Respekt und Karrieremöglichkeiten, über Auseinandersetzungen mit der Familie und Eva, über gesundheitliche Beeinträchtigungen während der Weimarer Republik stellen keinen Endpunkt dar, sondern sind eine Wahrnehmung, die sich im Kontext des „Dritten Reichs“ relativieren wird: „Das Wissen haben wir, die Leser, dem Tagebuchschreiber voraus: Es wird ja viel, viel schlimmer kommen. Dieses Wissen relativiert die Klagetöne ganz seltsam. Beinahe lächerlich erscheint manche Widrigkeit vor dem Hintergrund einer bevorstehenden größeren“ (Großmann 1996, o. S.).
Das Grundproblem dieser Sichtweise liegt in der rein inhaltlichen Ausrichtung des Leseinteresses auf die historischen Ereignisse des „Dritten Reichs“. Das zeigt sich auch bei Hans-Jörg Neuschäfer, der die Tagebücher 19181932 mit denen von 1933-1945 vergleicht und zu dem Ergebnis kommt, dass erstere „vor allem deshalb von Interesse [seien], weil man Klemperer in ih[nen] aus einer anderen Perspektive kennenlernt“. Letztlich seien sie „als Zeitdokument weniger brauchbar“ (Neuschäfer 2000, 154). Die Bedeutung der Diarien wird demnach ohne Betrachtung der formalen und strukturellen Qualität vor allem über inhaltliche Einblicke in die Persönlichkeit Klemperers lokalisiert. Zentral ist ausschließlich die Funktion des Tagebuchschreibers als Zeitzeuge, der die Entwicklungen dokumentiert, die zur nationalsozialistischen Machtübernahme führten.30 Diese Reduktion blockiert eine literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Text. Entsprechend fehlt eine derartige Herangehensweise an Klemperers frühe Aufzeichnungen weitgehend.31 Stattdessen beschränkt sich die Rezeption der Diarien 1918-1932 auf fragwürdige Spekulationen darüber, worin der Wert der Aufzeichnungen liege. Momme Brodersen beispielsweise sieht die Notate aus der Weimarer Republik als eine Plattform für die Auseinandersetzung des Lesers mit Fragen der Identität und der Lebensentwicklung in einer bestimmten historischen Phase (Brodersen 1997, 279). Einen weiter gefassten, wenn auch ebenfalls geschichtlich-inhaltlich ausgerichteten Ansatz formuliert Cornelie
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Höchstens die Masse von Filmnotaten, die während der Weimarer Republik entstehen, werden von einigen Rezensenten als wertvolles Zeitdokument außerhalb dieses Rahmens benannt (vgl. z.B.: Kixmüller 1997). Als Einziger versucht Rüdiger Bernhardt einige Betrachtungen der „besondere[n] Struktur“ der Tagebücher (Bernhardt 2004, 44). Dabei gelangt er jedoch zu irritierend verallgemeinernden Schlussfolgerungen, wie beispielsweise eine Erklärung zum häufigen Auftreten von „elliptischen Sätzen“ zeigt: „Diese Abweichung von der grammatischen Norm wird häufig bei Erregungszuständen eingesetzt, weil der Sprechende oder Schreibende sucht, in welcher Form seine Darstellung verlaufen soll, oder weil er für eine normgerechte Sprache keine Zeit hat“ (Bernhardt 2004, 77).
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Barthelme, indem sie auf die Bedeutung der frühen (und auch späten) Tagebücher für eine Gesamt-Perspektive auf Klemperers Tagebuchschreiben fokussiert: „Doch die vier Bände vor und nach 1933 bis 1945 sind von derselben Unbestechlichkeit und Ehrlichkeit, von der gleichen philologischen Präzision und seriösen Skepsis [wie die Diarien aus dem ‚Dritten Reichʻ, Anm. d. A.]. Sie erst machen die Tagebücher zum literarischen Unikat. Denn das ist das Besondere an ihnen: die Authentizität über vier Jahrzehnte, die sich genau daraus nährt, dass diese Texte nie vorgesehen waren für einen anderen Leser als – Victor Klemperer“ (Barthelme 1999, 9).
Die damit angesprochene Zuweisung von Authentizität für die Aufzeichnungen entspricht der Absicht des Herausgebers Walter Nowojski. Er erklärt im Nachwort der Diarien 1918-1932, sie seien ein „unersetzbares authentisches Zeugnis der Zeitgeschichte“ (Nowojski 1996, 781). Auch in anderen Veröffentlichungen betont er den Stellenwert der gesamten Tagebücher als „Dokument höchster Authentizität“ (Nowojski 2004, 35).32 Das steht im Gegensatz zu Meinungen, wie der von Momme Brodersen, der in den Notaten keinen herausragend authentischen Text erkennen kann (Brodersen 1997, 279; vgl. auch Bauschmid 1996). Die Diskussion, ob Klemperers Tagebücher den Status der Authentizität innehaben, lenkt den Blick allgemein auf eine der problematischsten Diskussionen der Tagebuchforschung.33 Hans Rudolf Picard definiert ein „authentisches“ Diarium durch den Umstand, dass der Tagebuchschreiber es ausschließlich für die Selbstreflexion geschrieben habe (Picard 1986, 18). Erkennbar sei dies daran, dass die Aufzeichnungen nicht für die Öffentlichkeit entstehen. Für Klemperers Tagebücher wird dies vielfach mit tiefer Überzeugung konstatiert. Ein Beispiel ist Heinrich August Winkler: „Für den Zweck der Veröffentlichung hat Klemperer, daran läßt er keinen Zweifel, seine Tagebücher nicht geschrieben. Hätte er eine Publikation im Sinn
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In verschiedenen Interviews wiederholt Nowojski seine Überzeugung von der „Authentizität“ der Tagebücher (vgl. Mende 2000, 3; Vesper 2006, 22). Lange Zeit setzt die Tagebuchtheorie Authentizität als selbstverständliches Merkmal von Diarien voraus. Erst in jüngerer Zeit machen einzelne Literaturwissenschaftler darauf aufmerksam, dass diese Haltung problematisch ist. So schreibt beispielsweise Margrid Bircken: „Die gesellschaftliche Konvention in Sachen ‚Tagebuchʻ funktioniert normalerweise so, dass Tagebücher für authentischer gehalten werden als andere Formen der Selbstmitteilung. Ihnen wird ein hoher Wahrheitswert zuerkannt. Aber darüber lohnt sich ein Streitgespräch durchaus. Denn schon Montaigne hat gewusst: ‚Nicht das, was wirklich ist, sondern das, was sich die Menschen einreden lassen, bedeutet heutzutage die Wahrheit.ʻ [...]“ (Bircken 2001, 192).
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gehabt, wäre wohl ein anderer, weniger privater Text entstanden“ (Winkler 1996, 27). Obwohl diese Argumentation nachvollziehbar belegt werden kann anhand spezifischer Tagebuchaussagen, in denen Klemperer äußert, seine Aufzeichnungen nicht veröffentlichen zu wollen, fehlt in Winklers Überlegungen ein entscheidender Aspekt. Wie die Weiterverarbeitung der über Jahrzehnte angesammelten Notate im „Curriculum vitae“ und „LTI. Notizbuch eines Philologen“ deutlich macht, entsteht das Diarium sehr wohl zum Zwecke der Informationsvermittlung an eine Öffentlichkeit. Zwar sollen die Eintragungen nicht direkt einem Leser präsentiert werden. Indirekt jedoch verfasst Klemperer seine Aufzeichnungen, um sie später als Material zur Verfassung von autobiographischen Publikationen zu verwenden. Entsprechend ist das Argument nur teilweise stimmig, die Tagebücher seien authentisch, weil sie nicht für eine Öffentlichkeit bestimmt seien. Vielmehr stellen die in dieser Arbeit behandelten Diarien eine Zwischenform dar, für die Picards Definition nicht greift. Inwieweit Klemperer in der Absicht, die Aufzeichnungen später für verschiedene Publikationen weiterverarbeiten zu wollen, „authentisch“ sein kann, muss fraglich bleiben. Die Erwartungshaltung, in Tagebüchern solle eine möglichst „wahrhaftige“ Wiedergabe von Ereignissen angestrebt werden, entspricht – wie die folgenden Interpretationen zeigen werden – durchaus dem Interesse Klemperers. Allerdings beinhaltet sie neben der Schwierigkeit, dass die geforderte Genauigkeit durch die subjektive Sicht jedes Beobachters bereits unmöglich wird,34 ein grundlegendes Problem, das erst in neueren Diskussionen explizit zur Sprache kam: Das Verständnis von Authentizität ist an einen „normative[n] Vermittlungsbegriff“ (Knaller 2006, 21) gekoppelt, der nur aufgelöst werden kann, wenn nicht mehr die wertenden Vorstellungen der Rezipienten eines Tagebuchs, sondern die Position des Tagebuchschreibers im Vordergrund steht. In den Worten Jochen Meckes:
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Ursache dieses Paradoxons ist die Tatsache, dass bereits der erklärte Versuch, authentisch zu schreiben, zu einer Beeinflussung des ursprünglichen Gedankens führt. Jochen Mecke spitzt dies zu: „Sobald Authentizität explizit dargestellt wird, hört sie auf, sie selbst zu sein und verwandelt sich in ihr Gegenteil“ (Mecke 2006, 99). Das Tagebuch kann dieses Kriterium deshalb nur so lange erfüllen, wie der Tagebuchschreiber nicht beabsichtigt, einer Außenwelt sein autobiographisches Schreiben zu präsentieren. Allerdings entwickelt der Diarist auch sich selbst gegenüber ein bestimmtes Persönlichkeitsbild, welches er in seinem Schreiben unbewusst reproduziert. Dadurch kann er auch sich selbst manipulieren und sich im späteren Lesen eines Eintrags einen Eindruck seiner vormaligen Persönlichkeit vermitteln, der nicht mit den tatsächlichen Gegebenheiten übereinstimmt. Hier eine Grenze zu setzen, ist kaum möglich. Walter Benjamin begegnet dieser Problematik, indem er davon ausgeht, „wahrhafte Erinnerungen [müssen] viel weniger berichtigend verfahren als genau den Ort bezeichnen, an dem der Forscher ihrer habhaft wurde“ (Benjamin 1980, 400-401).
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„Im vollen Sinne des Wortes kann Authentizität erst dann entstehen, wenn sich das Verhältnis von eigenständigem Urteil und selbstständiger Wahrheitsfindung und Selbstbezug umkehrt. Nicht mehr die Entdeckung der Wahrheit oder der Moral in einer inneren Stimme steht in diesem Fall im Vordergrund, nicht mehr der moralische und epistemologische Zweck, sondern der nun nicht länger als Mittel zur Entdeckung der Wahrheit wirkende, sondern zum Selbstzweck gewordene Selbstbezug“ (Mecke 2006, 89-90).
Eine derart differenzierte Sicht auf das authentische Schreiben kann jedoch bei der Einordnung von Klemperers Tagebüchern durch die Rezeption nicht festgestellt werden. Vielmehr ignorieren die meisten Rezensenten die Möglichkeiten einer tiefenstrukturellen Untersuchung des diaristischen Werks, indem sie sich mit oberflächlichen Wertungen über Authentizität zufriedengeben. Die Gefahr dieser Vorgehensweise liegt vor allem darin, die dargestellten Inhalte allein aufgrund ihrer historischen Bedeutung bzw. ihrer Aussagekraft aus alltagsgeschichtlicher Sicht für einen wissenschaftlichen Rückblick auf die Weimarer Republik zu vereinnahmen. Noch problematischer ist Walter Nowojskis Aussage, die Diarien 19181932 müssten vor allem als „Zwischenstück“ zwischen dem „Curriculum vitae“ und den Tagebuchaufzeichnungen 1933-1945 betrachtet werden. Denn diese Zuweisung ignoriert die Aufgabe, welche die Notate für Klemperer im Augenblick der Entstehung hatten, und konzentriert sich ausschließlich auf eine rückblickend interpretierende Perspektive auf dessen Biographie. Ohne den großen Erfolg der Tagebücher 1933-1945 wäre es vermutlich zu einer Veröffentlichung der frühen, sehr kleinteilig und redundant aufgebauten Diarien nicht gekommen. Allerdings reicht es nicht aus, diese Aufzeichnungen als nachträgliche Ergänzung der lebensgeschichtlichen Entwicklung zu betrachten, die in der Autobiographie und in den Notaten aus dem „Dritten Reich“ beschrieben werden. Die ausschließliche Rezeption der Eintragungen 1918-1932 in einer „Zwischenstück“-Funktion unterschlägt die Möglichkeit, den Tagebuchschreiber aus unterschiedlichen Perspektiven kennen zu lernen. Denn: „Der Klemperer der Zeit von 1918 bis 1932 ist weder ‚Opferʻ noch ‚Heldʻ [...]. Er taugt nicht zur Kultfigur...“ (Winkler 1996, 27). Die Reduzierung seiner Person auf den Juden, der unter der nationalsozialistischen Diktatur leiden muss, funktioniert für die frühen Diarien nicht. Gerade daraus resultiert jedoch die eingangs zitierte ablehnende Haltung gegenüber den frühen Tagebüchern Klemperers. Michael Schornstheimer sieht allerdings in den frühen Diarien sogar die Chance, die Figur des Tagebuchschreibers sozusagen „auf den Boden der Tatsachen“ zurückzuholen: „Victor Klemperers Tagebücher aus den Jahren zwischen Weltkrieg und Nationalsozialismus zeigen uns keinen sympathischen, sondern einen kleinlichen, verbiesterten Mann. Aber das hat sein Gutes. Denn wer allein die bewegenden Tagebücher aus den Nazijahren [...] kennt, gerät in Gefahr, ihn zu idealisieren. [...] Nun wird niemand
68 | S CHREIBEN EIN L EBEN LANG – V ICTOR KLEMPERERS T AGEBÜCHER Victor Klemperer einzig auf die Opferrolle reduzieren können. Nein, hier ist ein wirklicher Mensch mit sympathischen und unsympathischen Zügen, ein Repräsentant des deutschen Bürgertums, vielleicht sogar typisch“ (Schornstheimer 1996, 12).
Jedoch schränkt auch Schornstheimer die Möglichkeiten im Umgang mit den Aufzeichnungen ein. In seiner Perspektive steht Klemperers Tagebuch scheinbar für die Mentalität des Durchschnittsdeutschen in den Jahren 19181932. Die Beobachtungen zu politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen werden als symptomatisch für die Zeit vor dem „Dritten Reich“ interpretiert und erhalten dadurch Bedeutung.ϯϱ Diese Ausrichtung auf die historische Quellenfunktion von Klemperers Tagebüchern 1918-1932 führt zu Arbeiten, die seine Biographie als Hintergrundfolie für die Auseinandersetzung mit den Entwicklungen in der Weimarer Republik einsetzen. Die bisher umfangreichste Arbeit in diesem Kontext ist Claudia Buhles’ Dissertation zum „Alltag und Selbstverständnis eines deutsch-jüdischen Professors“ – so der Untertitel der Studie (Buhles 2003). Darin wird das „gelehrtengeschichtliche Potenzial von Klemperers Tagebuchhinterlassenschaften“ ausgelotet. Die wahrnehmungsgeschichtlich angelegte Arbeit ist vor allem „auf die Rekonstruktion der ‚alltäglichen Lebensführungʻ und die Untersuchung von Klemperers Selbstverständnis“ (Buhles 2003, 8) konzentriert. Systematisch und ausführlich wertet Claudia Buhles die Aufzeichnungen bezüglich dreier „strukturierende[r] Einflusskomponenten“ – der jüdischen Herkunft, der beruflichen Sphäre und der Haltung zu Deutschland (Buhles 2003, 9) – aus. Dabei verfehlt sie jedoch einen tiefer gehenden Zugang zu den Diarien. Es gelingt ihr nicht, die Hintergründe von Klemperers Schreiben anzusprechen. Vielmehr verharrt sie bei der inhaltlichen Auflistung von Aussagemustern und allgemein geschichtlichen Feststellungen. Einen anderen Weg schlägt Jürgen Court vor, der anhand von „Victor Klemperers Kölner Kandidatur“ sehr eindrücklich die Bewerbungssituation für Universitätskatheder in den zwanziger Jahren darstellt (Court 1999). Er lehnt die ausschließliche Orientierung an biographischen und historischen Daten des Tagebuchs ab und fordert: „Was [...] im Hinblick auf die Rezeption der Notizen aus der Weimarer Zeit not tut, ist eine Analyse, die zunächst einmal anstatt einer Ausrichtung an einer bestimmten Hypothese diese Tagebücher als ganzes Bündel unterschiedlicher Motive versteht, die durch gründliche Quellenkritik zu erhellen sind“ (Court 1999, 2-3).
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In ähnlicher Weise fasst Roland Pfefferkorn zusammen: „Le journal de Victor Klemperer propose en effet un tableau nettement plus nuancé de la société allemande de ces années-la. Il souligne certes l’emprise croissante du nazisme sur la société allemande tout au long des années 1920 et 1930. Il montre bien comment le politique s’immisce progressivement dans le quotidien“ (Pfefferkorn 1998, 126).
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Damit nähert er sich dem Text auf eine andere Weise als die meisten Rezensenten. Er nutzt wissenschaftssoziologische Methoden, um eine spezifisch wissenschaftlich ausgerichtete Tagebuchrezeption zu eröffnen (vgl. Court 1999, 6). Es reicht aus dieser Perspektive nicht aus, die Aufzeichnungen als „ein facettenreiches und tiefenscharfes Bild vom Innenleben deutscher Universitäten, von der Gesellschaft und der Kultur der zwanziger Jahre“ (Winkler 1996, 27) zu betrachten. Denn der Tagebuchschreiber verfasst seine Notate nicht explizit in der Absicht, ein alltagsgeschichtliches Dokument zu schaffen. Klemperers primäres Ziel ist einerseits weniger anspruchsvoll, andererseits jedoch wesentlich komplexer: Er möchte seinen Lebensverlauf verzeichnen. Alles was er aufschreibt, wird zum Beleg für sein „Dagewesensein“. Beispielsweise notiert er nicht deshalb immer wieder seine beruflichen Kämpfe, weil er einen externen Leser informieren möchte, sondern weil er versucht, sich selbst über die Zusammenhänge des Dargestellten klar zu werden. Diesen Unterschied jedoch ignoriert die Rezeption der frühen Tagebücher weitgehend. Es besteht kaum Interesse daran, wie und warum Klemperer schreibt. Nur die Inhalte selbst werden betrachtet. Eine explizit literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Text, die sich auf andere Aspekte der Notate als die Anordnung (alltags-)historischer Daten konzentriert, steht bisher aus. III.1.3
Die Tagebücher 1945-1959
Die Tagebücher 1945-1959 thematisieren neben Klemperers privaten Lebensentwicklungen die Anfangsjahre der DDR und sein aktives politisches Engagement für den sozialistischen deutschen Staat. An diesem Punkt setzen die meisten Arbeiten zu den Nachkriegsaufzeichnungen an: Je nach der persönlichen politischen Prägung des jeweiligen Rezipienten erfolgt eine eher positive oder negative Einschätzung der Verhaltensweisen Klemperers gegenüber dem sozialistischen Land. Dies beinhaltet jedoch eine wertende Komponente, die eine ausschließlich sachliche Auseinandersetzung mit den Notaten kaum mehr möglich macht. Entsprechend emotional geprägt werden die Diskussionen über die Nachkriegstagebücher geführt. Verschiedene Rezensenten werfen Klemperer beispielsweise vor, sich jener Sprache zu bedienen, die er in „LTI. Notizbuch eines Philologen“ als manipulativ und nationalistisch „verseucht“ enttarnt habe.36 Aus dieser Sichtweise installiert dieser sich illegitimerweise als Sprachkritiker des „Dritten Reichs“, weil er doch hernach am – aus westlicher Sicht – „Vierten Reich“ partizipiere. Die politische Komponente die-
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Das resultiert schließlich in dem Vorwurf der Etablierung einer LQI, einer Lingua quartii imperii – Sprache des „Vierten Reichs“ (vgl. dazu Militz 2001; Watt 1998; Haase 2004).
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ser Erwartungshaltung zeigt, wie stark ideologisch die Meinungen zu den Nachkriegstagebüchern aufgeladen sind. Vor allem im Hinblick auf die Entscheidung, der KPD beizutreten, führt die wertende Einschätzung vieler Rezensenten zu Fehlurteilen.37 Grund dafür ist der wiederholte Versuch, eine Erklärung für Klemperers Verhalten nach dem Kriegsende zu finden (vgl. z.B.: Corbin 2000). Dass derartige Untersuchungen höchstens in der Sammlung von inhaltlichen Fakten enden, die aus dem Tagebuch und anderen publizierten Texten zusammengetragen werden, zeigt beispielsweise die Arbeit von Benedikt Faber (vgl. Faber 2004). In letzter Konsequenz muss es – wie Karl Friedrich Fromme bemerkt – „offenbleiben, ob Klemperer schließlich in die KPD ging, weil sie die Partei zu sein schien, die am ehesten mit den NS-Resten aufzuräumen willens war, oder weil die Zugehörigkeit zur KPD die schüttere Chance zu verbessern half, wieder ‚ins Amtʻ zu gelangen“ (Fromme 1996, 4). Die Bemühungen um Erklärungsmuster für die politischen Entscheidungen Klemperers zeigen, dass bis in die Gegenwart hinein die Haltung gegenüber der DDR von ideologischen Mustern geprägt wird. Obwohl er nur einer von hunderten Intellektuellen war, der sich gegen ein Leben in der westlichen Besatzungszone entschied (vgl. dazu auch Watt 1998, 370-371), wird er zum Exempel für jene außerpolitischen Zwänge gemacht, die Menschen dazu bewogen, in der SBZ zu leben. Weder die privaten noch die beruflichen oder idealistisch-politischen Beweggründe allein haben jedoch zu Klemperers Bleiben in Dresden geführt. Das ignorieren sowohl die angestrengten Versuche, den Romanisten von angeblichen politischen Fehlentscheidungen freizusprechen (vgl. z.B.: Jauch 1999), als auch jene, die ihn deswegen rügen (vgl. z.B.: Jacobs 1999a, b). Auffällig ist in dieser Argumentationskette das wiederholte Herausstellen der persönlichen Konsequenzen, die Klemperer mit seiner Entscheidung für die DDR tragen musste. Beispielsweise hat sich seine Lebensentwicklung aufgrund der politischen Entscheidungen angeblich als „painful emotional journey from desperate affirmation of the potential virtues of his new socialist state“ (Watt 2001, 268) erwiesen. Mit dieser Behauptung lenkt Roderick Watt den Blick weg von der kritischen Auseinandersetzung mit den Motivationen Klemperers, indem er vielmehr dessen innere Zerrissenheit angesichts der diktatorischen Entwicklungen in der DDR betont. Noch weiter geht Rolf Rietzler, der aus den Tagebüchern herausliest, „wie zerrissen dieser deutsche, von Idealen geblendete Musterjude war, traumatisiert von den Hitler-Jahren, bedrückt von der DDR-Wirklichkeit“ (Rietzler 1999, 287). Diese Sichtweise auf den Tagebuchschreiber vermittelt indirekt eine Art Entschuldigung und Relativierung für die Entscheidung, sich in der KPD bzw. SED zu engagieren. Wohlwollend erhält Klemperer
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Exemplarisch hierfür ist eine Diskussionszusammenfassung in einem Sammelband, der zu einer Tagung mit dem Titel „Zwischen Politik und Kultur – Juden in der DDR“ entstand (vgl. Zuckermann 2003, 242-244).
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damit aufgrund seiner Opferrolle im „Dritten Reich“ das Recht zugesprochen, auf seiner Suche nach einer stabilen Position abseits der westdeutschen Gesellschaft zu leben. Legitimiert wird dies vor allem dadurch, dass er in der DDR wiederum unter den autoritären Bedingungen leidet. Die Betrachtung der Person Klemperers ist – ähnlich wie sie im „Dritten Reich“ durch dessen Judentum geprägt war – durch seine politische Neuorientierung bestimmt. Steven E. Aschheim nimmt dies beispielsweise zum Anlass für Studien, in denen er die Neuformierung der Identität Klemperers konstatiert (Aschheim 2001a, b, 2003). Ironisierend fasst Peter Jacobs derartige Versuche an den Tagebüchern 1945-1959 zusammen: „Wer will, kann da ein schillerndes Charakterbild zusammenstellen: den Aufatmenden, den Anpasser, den Selbstzweifler, den Karrieristen, den Neider, den Duckmäuser, den Aufmüpfigen, den Verliebten, den Treulosen, den Stalinisten, den Antikommunisten. Alle solche einseitigen Zuordnungen gibt das Tagebuch her“ (Jacobs 1999a, o. S.).
Erneut steht demnach die Instrumentalisierung der Person Klemperers für unterschiedliche Sichtweisen auf historische Entwicklungen im Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit seinen Tagebüchern. Entsprechend besteht auch ebenso wie bei den Aufzeichnungen von 1918-1932 die Erwartungshaltung, dass die Notate in einer gewissen inhaltlichen Genauigkeit und Qualität über die Entwicklungen der DDR zu berichten haben. Deshalb kommentiert beispielsweise Wolfgang Benz die Veröffentlichung der Diarien 1945-1959 mit der Frage, „ob eine Professorenkarriere genug Anlaß gibt, seine Alltagssorgen und Kümmernisse, Existenzprobleme und Altersbeschwerden im Maßstab eins zu eins abzubilden“ (Benz 1999, 858). Er fordert damit bizarrerweise ein, dass der Tagebuchschreiber sich möglichst auf jene Inhalte beschränken solle, die von Interesse für eine Nachwelt sein könnten. Der Anspruch, nur weltgeschichtlich Wichtiges einer breiten Öffentlichkeit zu unterbreiten, greift ebenso ins Leere wie die Kritik an den Aufzeichnungen der Weimarer Republik, denn er lehnt die Grundstruktur des Diariums selbst ab. Es ist primäres Merkmal des Tagebuchs, dass in ihm „Alltagssorgen, Kümmernisse, Existenzprobleme und Altersbeschwerden“ notiert werden. Eine Ablehnung dieser Alltäglichkeiten ignoriert sowohl den Informationscharakter der Notate, der über die groben historischen Rahmendaten hinausgeht, als auch deren Gesamtbedeutung. Gerade die Verbindung von Lebensberichten, persönlichen Reflexionen, Kommentaren zu geschichtlichen Entwicklungen und die Darstellung emotionaler Befindlichkeiten ermöglicht einen Zugang zur Geschichte – eines Einzelnen und einer Gesellschaft –, der mit keiner anderen Textform vergleichbar ist. Diese Chance verstellen Untersuchungen, die vor allem die historische Bedeutung von Klemperers Aufzeichnungen in den Vordergrund rücken oder sogar seine Tagebücher zum Anlass nehmen, um moralische Urteile über dessen politisches Engagement abzugeben.
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III.2
S PEZIFISCHE AUSRICHTUNG DER T AGEBUCHREZEPTION
III.2.1
Einseitige Erwartungshaltungen an die Aussagekraft der Tagebücher
Die Auseinandersetzung mit Klemperers Tagebüchern ist sehr stark geprägt von einem Umstand, den dieser selbst gerne aus seinem Leben ausgeblendet hätte: seinem Judentum. Erst durch die Schikanen der Nationalsozialisten beginnt er selbst, sich bewusst mit seiner Abstammung zu beschäftigen. Allerdings identifiziert er sich nie damit, sondern betrachtet seine jüdische Herkunft als Fremdkörper, der ihm durch seine feindselige Außenwelt aufgedrängt wird. Gerade die Tatsache, dass er als Jude im „Dritten Reich“ Opfer antisemitischer Verfolgung wurde, also als direkt Betroffener seine Beobachtungen aufschrieb, führte jedoch dazu, dass seine Tagebuchaufzeichnungen bei ihrer Veröffentlichung 1995 ein derartig großes Echo hervor riefen. Klemperer erlebt die Repressalien gegen die jüdische Bevölkerung am eigenen Leib, er leidet unter Gestapo-Haussuchungen und der allmählichen Aberkennung seiner Menschenrechte. Doch gleichzeitig betont er nach wie vor sein Deutschtum und schreibt in seinem Tagebuch immer wieder von Menschen, die ihm mit kleinen Gesten helfen. Dies kam der Mitte der neunziger Jahre insbesondere durch die Goldhagen-Debatte erneut aufgekommenen Diskussion um die Frage nach der Schuld der Deutschen an der nationalsozialistischen Diktatur und dem Holocaust entgegen. Beispielsweise bemerkt Robert Misk, dass gerade die „Lektüre dieser Tagebücher im Deutschland der Jahre 1995 ff“ (Misk 1997, 21) mit deren unerwartet großem Erfolg zu tun habe. Christina Preßler begründet den Erfolg der Aufzeichnungen noch spezifischer mit der Tatsache, dass Ende des 20. Jahrhunderts eine allgemeine „Hinwendung zu Quellen des individuellen Geschichtserlebens“ und insbesondere zu Diarien statt gefunden habe (Preßler 2004, 38).38 Entsprechend könnten „...die Tagebuchaufzeichnungen von Victor Klemperer als ein Beispiel des aktuellen Interesses an persönlichen Schicksalen während der NS-Zeit dienen. Dabei hat es sich als editorisch geschickt erwiesen, daß zuerst die Tagebücher Klemperers aus der Zeit des Nationalsozialismus veröffentlicht wurden. Über das Interesse an den Aufzeichnungen aus dieser historisch brisanten Zeit wurde der Weg bereitet für die Auf-
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Monika Rox-Helmer geht so weit, zu erklären: „Das Thema ‚Holocaustʻ hat eine besondere Affinität zum Tagebuch; man könnte die Jahre des Nationalsozialismus nahezu als ein ‚Zeitalter der Tagebücherʻ bezeichnen“ (Rox-Helmer 1999, 24).
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merksamkeit einer breiten Öffentlichkeit an einer Edition seiner anderen Tagebücher“ (Preßler 2004, 38).
Klemperers Tagebücher 1933-1945 werden aus dieser Perspektive als unparteiisches Zeugnis eines Juden über das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte rezipiert. Im Anschluss daran avancieren die Diarien 1918-1932 zur Vorgeschichte der kommenden Ereignisse. Sie sind der Beleg, dass auch der jüdische Intellektuelle nicht abschätzen konnte, wohin Nationalismus und Antisemitismus führen würden. Die Tagebücher 1945-1959 könnten folglich als eine Art Entlastung für all jene Deutschen, die sich dem Nationalsozialismus begeistert anschlossen, aufgefasst werden. – Immerhin wendet sich das Opfer dieser Diktatur nun selbst dem diktatorisch agierenden Kommunismus zu, was als ähnlich fataler Irrtum interpretiert wird. Grund für die Nähe zwischen dem Rezipienten und dem Tagebuchschreiber ist insbesondere die private Schreibsituation, in der die Einträge entstehen. Während die meisten anderen autobiographischen Dokumente in dem Bewusstsein eines unbekannten Lesers entstehen, lässt sich für Klemperers Notate belegen, dass sie ursprünglich nur für ihn selbst – erst in Überarbeitung in Form von Autobiographie und „LTI“ für eine Öffentlichkeit – entstanden. In ungeschönter Offenheit zeigt er deshalb alle Facetten seiner Persönlichkeit – auch die unsympathischen Eigenschaften, das Widersprüchliche seines Charakters. Fritz Rudolf Fries meint, dass gerade dieser Aspekt eine „Fusion zwischen Leser und Autor“ ermögliche (Fries 1995b, 6-7).39 Die Identifikation mit dem Diaristen funktioniert vor allem, weil dessen Ausführungen von Ambivalenzen geprägt sind, die der heutige Leser nachvollziehen kann.40 Klemperer wird auf diese Weise schnell zu einer Art Idealfigur stilisiert, mit deren Hilfe aus der Perspektive des Opfers ohne direkte Anklage die Ambivalenzen im Verhalten der deutschen Bevölkerung während der Herrschaft der Nationalsozialisten zur Sprache kommen. Seine
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Die Identifikationskraft von Klemperers Biographie wird von verschiedenen Pädagogen zur Vermittlung historischer Ereignisse im „Dritten Reich“ verwendet. Beispielsweise entwickelt Gabriele Möhring bereits in Folge des Erscheinens von „Curriculum vitae“ anhand von Klemperers Lebenslauf Unterrichtsmaterial (vgl. Möhring 1994). Dahinter steht die Idee, durch die Identifikation mit einem individuellen Schicksal den Schülern einen konkreten Blick auf geschichtliche Entwicklungen zu geben (vgl. zum Einsatz von Klemperers Biographie im Unterricht auch Seidel/Siehr 1997, 1998; Siehr et al. 2000; Siehr 2001b; Rox-Helmer 1999 und den Sammelband von Siehr 2001a). Paola Traverso schreibt dazu: „Es ist ein erzählbares und mitteilbares Leben, dessen Beschreibung sich auf einen semantischen Code verlassen kann, den Text und Leser teilen und der deshalb die Grenzen der Sprache, die dieses Leben erfahrbar machen soll, nicht sprengen muss“ (Traverso 1997a, 66).
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Ausführungen scheinen – wie oben bereits thematisiert (vgl. Kapitel III.1.1) – den Rezipienten von einer allzu intensiven Auseinandersetzung mit dem Holocaust zu entlasten. Daraus begründet sich ein wichtiger Aspekt der enormen Begeisterung, mit welcher die Tagebücher 1933-1945 aufgenommen wurden. Auch die Untersuchung der nachfolgend publizierten Diarien von 1918-1932 und 1945-1959 geschieht daran anschließend vornehmlich im Spiegel der Notate aus dem „Dritten Reich“ und damit in dem Bewusstsein der jüdischen Herkunft des Tagebuchschreibers. In diesem Zusammenhang macht Marion George auf zwei Risiken im Umgang mit den gesamten Tagebüchern aufmerksam. Ihrer Meinung nach stellt sich zum einen „die Frage nach der Exemplarität der Person, in deren Sicht wir das Geschehen aufnehmen“; zum anderen verweist sie „auf den Fragehorizont der Gegenwart, der gerade in dieser Perspektivierung eine gelungene Zugriffsform zu finden meint“ (George 2000, 299). Sie geht sogar so weit, zu vermuten, dass die Aufzeichnungen „...als Spiegel eine Selbstbestätigung zurückzuwerfen vermögen, deren die deutsche intellektuelle Landschaft am Ende des Jahrhunderts offensichtlich bedurfte, um ihren Frieden mit der näheren und ferneren Vergangenheit schließen zu können“ (George 2002, 283).
In diesem Sinne werden Klemperers Tagebücher dazu verwendet, ein bestimmtes Geschichtsbild mit Hilfe eines betroffenen Zeitzeugen zu untermauern. Dabei besteht jedoch die Gefahr, „...daß hier über die Beschreibung von einzelnen Schicksalen eine emotionale Identifikation mit den Opfern ermöglicht wird, ohne sich mit den Motiven und Antrieben der Täter näher auseinandersetzen zu müssen“ (Gryglewski 1998, 96).
Deshalb warnt Markus Gryglewski eindringlich davor, über eine „emotionale Betroffenheit als isolierte Geste“ ein „bloße[s] Ritual“ der Anteilnahme zu kreieren (Gryglewski 1998, 96).41 Die Gefahr liegt in einer Idealisierung der Person Klemperers als Opfer,42 welches auch für das Argument instru-
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Vgl. zu dieser Problematik die Überlegungen von Aleida Assmann zur Auseinandersetzung mit dem Thema Holocaust im „nationalen Gedächtnis[] der Deutschen“ (Assmann 2004, 11). Der Opferbegriff als solcher bleibt ohnehin fragwürdig. Denn durch die Definition Klemperers als Opfer gerät die Betrachtung seiner Person bereits in die Gefahr, durch Betroffenheits-Attitüden geprägt zu werden. Ein Kommentar, den die „TAZ“ anlässlich der Vergabe des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2007 an Saul Friedländer veröffentlichte, formuliert treffend dieses allgemeine Problem im Umgang mit dem Thema Holocaust: „Aus Holocaust-Opfern werden mit Hilfe eines Überwältigungspathos, das eher ans Action-Kino erinnert, ‚zu Asche verbrannte Menschenʻ, und Friedländer hat den
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mentalisiert werden kann, die Suche nach Schuldigen am Holocaust sei nicht zulässig. Dabei wird das Augenmerk auf eine „entlastende Identifikation mit dem leidenden Opfer und somit eine Ausblendung der Täterschaft“ (Lorenz 2005, 250; vgl. dazu Traverso 1997a) versucht. Der Hauptgrund hierfür muss in der kaum kritischen Auseinandersetzung mit der Persönlichkeit Klemperers gesehen werden. Denn nur wenige Rezensenten differenzieren die problematische Ambivalenz, mit welcher der Tagebuchschreiber sich zwischen seiner jüdischen Herkunft und dem Deutschtum positioniert (vgl. z.B.: Nerlich 1996d).43 Umgekehrt benennen einzelne Rezensenten die Diarien 1933-1945 zum „Zeugen für den Sieg des Geistes über das Blut“ (Wohlfahrt 1999, 90). Ein – wie Lorenz schreibt – „geradezu prototypischer Text einer derartigen Überschreibung der Vita Klemperers durch die deutsche Rezeption“ (Lorenz 2005, 251) ist Martin Walsers „Das Prinzip Genauigkeit“ (Walser 1996). Darin wird der Tagebuchschreiber für die Darstellung eines „besseren Deutschlands“ vor und während des Nationalsozialismus instrumentalisiert.44 Eben davor warnt Marion George:
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Toten ‚Schrei gestattetʻ. Warum muss eigentlich eine deutsche Jury, wenn es um den Holocaust geht, sprachlich derart auf die Tube des Pathos drücken? Weil es beim Holocaust nicht mehr drunter geht? Steckt dahinter nicht vielmehr der Wille, selbst so etwas wie ein literarisch wertvolles Wort zu schaffen? Allerdings wird aus dem Griff zum hohen Pathos des Klagelieds ein Griff ins Klo der Rhetorik. Das Pathos ist das bevorzugte Sprachmittel der Täter gewesen, mit dieser deutschen Großspurigkeit aber sollte man die Opfer und einen analytischen Wissenschaftler wie Friedländer nicht belästigen“ (ohne Autor 2007, 11). Auch hierzu äußert sich Marion George weitaus direkter als andere Rezensenten: „Klemperer hat es nicht vermocht, sich eine eigene selbstgewählte und selbstbestimmte Identität zu schaffen. Er bedurfte der Anlehnung an die Schimäre eines Deutschtums, dessen geistiger, politischer oder menschlicher Inhalt leer bleibt. Zwischen der zurückgewiesenen jüdischen Herkunft und der ihm versagten Zugehörigkeit zu den Deutschen hätte es andere Möglichkeiten gegeben, aber er hat sie nicht gesucht“ (George 2002, 289). Ein Beispiel dafür ist die folgende Aussage Martin Walsers: „Meistens zeigen uns unversucht gebliebene Nachgeborene, wie sich die Väter, Großväter, Urgroßväter hätten benehmen müssen, damit sie vor dem moralischen Besserwissen der gänzlich Unversuchten bestehen könnten. Manchmal kann man meinen, heute gebe es überhaupt keine aktuelle Möglichkeit mehr, sich moralischpolitisch zu bewähren, deshalb inszenierten die morallüsternen Nachgeborenen ihr Bessersein ausschließlich auf den katalaunischen Feldern von gestern und vorgestern. Vielleicht erfahren sie einmal durch ihre Enkel, welche Bewährungsgelegenheiten sie zu ihrer Zeit, also heute, versäumt haben. Sie müssten dann antworten: Das haben wir nicht gewußt. Dieser Text ist ja bekannt. Allen
76 | S CHREIBEN EIN L EBEN LANG – V ICTOR KLEMPERERS T AGEBÜCHER „Seine [Klemperers] verspätete Sakralisierung geht nicht nur an der ambivalenten Persönlichkeit und ihren bisweilen bizarren Positionen zur Zeitgeschichte vollständig vorbei. Sie benutzt auch ein Opfer des N a t i o n a l sozialismus als Märtyrer des Nationalismus, um der sich langsam überholenden nationalen Ideologie noch einmal ein Denkmal setzen zu können“ (George 2002, 292).
Problematisch ist dies auch, weil Klemperers eingeschränkte Perspektive auf die Ausmaße der Judenverfolgung in dieser Vereinnahmung ignoriert wird. Die Tatsache, dass Begriffe wie Auschwitz oder Buchenwald fallen, reicht vielen Rezensenten aus, die Tagebücher zum legitimen Zeugnis des Holocaust zu stilisieren.45 Damit verfestigen sie eine perfide Argumenta-
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Biographiekritikern seien die Aufzeichnungen Victor Klemperers empfohlen. Am meisten denen, die eine Berufung empfinden, anderen einen angemessenen Umgang mit unseren Vergangenheiten zu empfehlen. Bei Victor Klemperer kann man lernen, mit dem eigenen Gewissen umzugehen, statt auf das der anderen aufzupassen. Wer die Klemperersche Schule der Genauigkeit durchläuft, wird Mitleid haben mit denen, die es sich zur Lebensaufgabe machen, den Opfern des NS-Terrors ein sichtbares Denkmal zu setzen“ (Walser 1996, 49-50). Walser vereinnahmt Klemperer hier als Beweis für die häufig diskutierte Behauptung, die Deutschen hätten nicht wissen können, was die herrschenden nationalsozialistischen Eliten mit den Juden vorhatten. Jedoch scheint dies geradezu dreist angesichts der Tatsache, dass in den Tagebuchaufzeichnungen hunderte Beispiele auffindbar sind, in denen deutlich wird, dass ein Jude, der keinen Zugang mehr zu Zeitungen und Radio hatte, trotzdem ständig neue Informationen über Konzentrationslager, Gestapo-Folterungen und ähnliches erhielt (vgl. dazu auch Taberner 1999; Heidsieck 2004). Ein besonders problematisches Beispiel einer Stilisierung dieses spezifischen Zeugnischarakters der Tagebücher 1933-1945 ist die Inszenierung einer Lesung der Aufzeichnungen in den Münchner Kammerspielen 1996. Die Journalistin Ursula Pia Jauch kommentierte dieses „Kultur-Event“in der „Neuen Zürcher Zeitung“: „Dass die Tagebücher dereinst als ‚Mahnmalʻ oder gar als öffentliche ‚Bussleistungʻ aufgefasst werden sollten – wie unlängst, anlässlich einer integralen Marathonlesung in den Münchner Kammerspielen, argumentiert worden ist –, ist gänzlich verquer. (Und es ist zu bezweifeln, dass Klemperer die Einwilligung in die Publikation gegeben hätte, wäre er als ‚Mahnerʻ und nicht, wie er es wünschte, als ‚Kulturgeschichtsschreiber der gegenwärtigen Katastropheʻ vorgestellt worden)“ (Jauch 1996a, 68). Auch Gustav Seibt kritisiert die Instrumentalisierung der Tagebücher zu einem „anderen Mahnmal“: „Ihre grausame Nüchternheit in ein Theaterereignis zu verwandeln, auch wenn es als Bußritual daherkommt, ist mindestens problematisch. Es ist eine Ästhetisierung, die nur beweist, wie weit entrückt die von Klemperer festgehaltenen Erfahrungen mittlerweile sind. Wer das Bedrückende so aufbereiten und so rezipieren kann, den betrifft es allen anderslautenden Bekundungen zum Trotz eben
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tionslinie, die den Diaristen zum „Exempel“ für alle Juden, die unter den Nationalsozialisten leiden mussten, erhebt – dies umfasst auch jene sechs Millionen Menschen, die wegen ihrer Abstammung in den Konzentrationslagern ermordet wurden. Es stellt sich die Frage, warum gerade Klemperers Tagebuchaufzeichnungen derartige Vereinnahmungsversuche auslösen. Paola Traverso macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass sich in Deutschland „eine besondere Vorliebe für Holocaust-Geschichten mit Happy End“ entwickelt habe (Traverso 1997b, 321).46 Die Tagebücher 1933-1945 liefern ein solches „glückliches Ende“, weil dem Leser bekannt ist, dass Klemperer der letzten Konsequenz der nationalsozialistischen Judenverfolgung – nämlich dem Tod – entkommen konnte. Robert Misk nennt diese Tatsache einen „betörenden Aspekt“ (Misk 1997, 21), der es ermögliche, die Aufzeichnungen „als ein Märchen der Rettung im mehrfachen Sinn [zu] lesen“ (Misk 1997, 22). Hinzu kommt, dass Klemperer im Vergleich zu anderen Holocaustopfern „glimpflich davonkam“. Die kaum fassbaren Schrecken der Konzentrationslager, die Grausamkeit und Menschenverachtung des Massenmordes beschreibt er nicht, weil er ebenso wenig wie seine „arischen“ Nachbarn eine Vorstellung davon haben kann. Matthias N. Lorenz bemerkt dazu: „Der Fall Klemperer zeigt ein Einzelschicksal, aber er verschweigt den Massenmord weitgehend aufgrund mangelnder Anschauung“ (Lorenz 2005, 246).47
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nicht mehr unmittelbar. Es ist Geschichte geworden, ein Gegenstand von Betrachtung“ (Seibt 1996, 31; vgl. dazu auch Seibt 1997). Traverso verweist zum Beleg dieser Annahme auch auf den Erfolg des Spielfilms „Schindlers Liste“ (Traverso 1997b, 322; vgl. zur These des starken gegenwärtigen Interesses am Thema Holocaust auch Reemtsma 1997, 170176). Lorenz bezieht sich an dieser Stelle auf einen Aufsatz von Dan Diner, in welchem dieser schreibt: „Die ‚deutscheʻ Perspektive des Mikro neigt indessen dazu, durch überaus extreme Annäherungen an das Gesamtbild dieses in seine trivial anmutenden Einzelteile zerfallen zu lassen. So kehren die Erfahrungskontexte des Holocaust in der gedächtnisgeleiteten wie forschungstechnisch relevanten Perspektivenwahl wieder: Monstrosität versus Banalität“ (Diner 1998, 30). In einer Fußnote zieht Diner Klemperers Tagebücher 1933-1945 als Beispiel für diese Beobachtung heran: „Die von ihm [Klemperer, Anm. d. A.] eingenommene Perspektive reflektiert die Alltagsrealität eines Juden im Dritten Reich, den nicht das Schicksal der dem Holocaust zum Opfer gefallenen Juden ereilte. Diese Aufzeichnungen geben eine Erfahrung wieder, der ein ‚deutschesʻ Gedächtnis ohne weiteres zu folgen bereit ist, zumal Klemperer als deutscher Jude selbst eine Verwandlung der Identität unter dem Nationalsozialismus durchläuft. Insofern handelt es sich um ein außergewöhnliches Dokument, in dem beide Perspektiven sich so nahe wie möglich kommen – freilich in den für
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Das gibt dem Leser der Tagebücher eine Möglichkeit zur Identifikation mit Klemperer, die bei Erinnerungen von KZ-Überlebenden nicht funktioniert, weil dabei Unvorstellbares, eigentlich Unkommunizierbares beschrieben wird. In den Tagebüchern des Romanisten wird eine „Erfahrungswelt“ transportiert, „die dem Leser zugänglich ist und ihm Identifikationsfläche bietet“ (Traverso 1997a, 66). Darauf verweist auch Jan Philipp Reemtsma: „Man liest von einem Leben, das schon bald nach 1933 eines in Todesangst ist, und man weiß doch, daß man die Zeugnisse eines Menschen liest, für den es nicht zum Schlimmsten gekommen ist – und der bis zum Schluß trotz aller Informationen über die Massenmorde von SS und Wehrmacht, trotz allen Wissens über ein ‚schnell arbeitendes Schlachthausʻ namens Auschwitz nicht weiß, was die Realität der Vernichtungspolitik tatsächlich gewesen ist. Klemperers Tagebücher entsetzen uns, aber sie versetzen uns nicht in eine Region, vor der unsere Imagination kapitulieren muß. Klemperers Realität ist in Reichweite unserer Ängste“ (Reemtsma 1997, 177).
Dies scheint Klemperer als Zeitzeugen zu prädestinieren. Denn er nimmt nicht nur die Perspektive des verfolgten Opfers ein, sondern lässt sich rückblickend auch von jenen Deutschen instrumentalisieren, die „nichts gewusst“ haben wollen. Er verurteilt nicht, sondern er versucht zu verstehen, was um ihn herum geschieht. Dabei wird er – trotz seiner Opferrolle – zu einem fast neutralen Sprachrohr. Seine Blickrichtung ermöglicht es dem gegenwärtigen Leser, sich ohne das Gefühl direkter Anklage mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Deutschlands auseinander zu setzen. Daraus resultiert der enorme Erfolg der Tagebücher 1933-1945. Dabei weist Klemperer „...eine Biografie [auf], die unter günstigen Umständen völlig unspektakulär verlaufen wäre...“ (Sichtermann 1999, 41). Ohne die Beschreibung der Schikanen und der Unterdrückung durch die Nationalsozialisten wären die Aufzeichnungen vor 1933 und auch jene nach 1945 als zu detaillierte Datensammlung und privater Text ohne Bedeutung für eine breite Leserschaft unveröffentlicht geblieben. Nur durch die Koppelung an das Schicksal des Verfolgten und mit knapper Not Überlebenden sind die Aufzeichnungen 1918-1932 und 1945-1959 ins Interesse der Öffentlichkeit gerückt. Dadurch orientiert sich die Rezeption von Klemperers Tagebuchwerk jedoch nahezu ausschließlich an der Funktion der Zeitzeugenschaft.48 Diesen
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Klemperer glücklichen Umständen der ‚Auslassungʻ dessen, was die überwiegende Mehrheit der Juden Europas erwartete. Diese Perspektivverschränkung mag auch zum Erfolg des Werkes beigetragen haben“ (Diner 1998, 30, Fußnote 27). Ganz explizit formuliert das beispielsweise Christoph Wielepp bei der Eröffnung einer Tagung zu Klemperers Leben im „Dritten Reich“ und der DDR (vgl. dazu Friedrich-Ebert-Stiftung 1997): „Seine Zeitzeugenschaft in den Mittel-
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Rezeptionsansatz prägt Walter Nowojski bereits mit der Herausgabe der Tagebücher 1933-1945 unter dem Titel „Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten“. Denn damit impliziert er die Fokussierung auf den Zeugnischarakter der Tagebuchaufzeichnungen.49 Die Rezeption begrüßt die Wahl dieses Titels als „gute[n] Griff“ (Böhme 2003, 71), weil der Text nahezu ausschließlich als „Zeugnis“ eines Juden im „Dritten Reich“ betrachtet wird. Der berufliche Hintergrund Klemperers unterstützt diese Sichtweise zusätzlich. Mehrfach wird darauf aufmerksam gemacht, dass die kulturkundliche und völkerpsychologische Ausrichtung des Romanisten seine Beschreibungen stark geprägt haben (vgl. z.B.: Kämper 2001). Heide Gerstenberger konstatiert zudem für die Tagebücher des „Dritten Reichs“ Klemperers Wandlung zum „genau beobachtende[n] Soziologe[n]“ (Gerstenberger 1997, 19; vgl. auch Gerstenberger 1996). Dieser wissenschaftliche Hintergrund unterstützt den Anspruch eines zeugenschaftlichen Berichts an die Notate und führt dazu, dass der Tagebuchschreiber unterhinterfragt zum idealisierten „Zeitzeugen“ erhoben wird (vgl. Römer 1996; Stammen 2001). Damit jedoch wird die Aussagekraft der Tagebücher auf eine verbrämte historische Analysefunktion reduziert. Die Komplexität der Erzählstruktur, in der private Erfahrungen mit gesellschaftlichen Beobachtungen vermischt werden, und der literarische Charakter der Aufzeichnungen gehen dabei verloren. Paola Traverso sieht die Ursache für diese Reduktion des Tagebuchwerks vor allem in der Beschränkung auf „die wenigen von fast allen Rezensenten immer wieder zitierten Stellen“ (Traverso 1997b, 309). Damit spricht sie ein mit den Jahren wachsendes Problem in der Auseinandersetzung mit Klemperers Diarien an: Sie werden zunehmend auf wenige Aussagen reduziert, die scheinbar Allgemeingültigkeit haben. In einer Fußnote schreibt Traverso dazu:
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punkt zu stellen [...] war das Anliegen der Veranstalter dieser Tagung“ (Wielepp 1997, 7). Bereits im Jahr 1981 beginnt Walter Nowojski diese Perspektive auf Klemperer aufzubauen. In einem Zeitungsartikel erinnert der spätere Herausgeber der Autobiographie und der Tagebücher an den 100. Geburtstag des Romanisten und beschreibt dessen Leben. Mit einem Verweis auf die geplante Veröffentlichung des „Curriculum vitae“ betont er die historische Bedeutung der Klemperer’schen Biographie (Nowojski 1981). An anderer Stelle verwendet er einen Tagebuchausschnitt als Grundlage von Überlegungen zur Judenverfolgung im „Dritten Reich“ (Nowojski 1988). Auch ein Artikel Nowojskis anlässlich des 60. Jahrestages der Dresdner Bombennacht adaptiert Klemperers Tagebuch als Zeugnis für die Ereignisse des 13. Februar 1945 (Nowojski 2005). Die autobiographischen Texte sind jeweils Grundlage für das Verständnis historischer Ereignisse mit Hilfe einer individuellen Perspektive.
80 | S CHREIBEN EIN L EBEN LANG – V ICTOR KLEMPERERS T AGEBÜCHER „Jede Kanonisierung [...] bringt Stereotypisierung mit sich; so vermißt man eine gewisse Varietät in der Auswahl der Zitate, vor allem dort, wo Klemperer selbst die eigenen Überzeugungen immer wieder aufs neue in Frage stellt [...]. Vielleicht liegt es aber auch daran, daß die Rezensenten sich lieber gegenseitig lesen als die schwer verdaulichen vier Bände, denn – um Klemperer zu zitieren –: ‚Wer ackert schon 4000 Seiten durch? ʻ“ (Traverso 1997b, 309).
Die angedeutete Vermutung, der Masse des Primärtextes würden sich nur wenige Rezensenten intensiv widmen, bietet auch eine Erklärung dafür an, dass sich zunehmend falsche Informationen in den Aufsätzen und Artikeln über Klemperer etablieren. Sowohl biographische Daten als auch die Entstehungsumstände der Tagebücher werden vielfach unrichtig wiedergegeben, obwohl dies leicht anhand der Aufzeichnungen und entsprechender Begleittexte zu korrigieren wäre. Das führt zu einer Legendenbildung, die zusätzlich die wirklichen Hintergrundinformationen verdeckt.50
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Ein Beispiel dafür ist eine irreführende Diskussion, ob Klemperer die Veröffentlichung seiner Tagebücher beabsichtigt habe oder nicht. So schreibt Kirsten Köhn: „Aus der Lektüre der Tagebücher geht zweifelsfrei hervor, daß Victor Klemperer für seine Aufzeichnungen eine weitere Verwertung intendierte“ (Köhn 1997, 22). Sie behauptet, Klemperer habe „verfügt“, dass „seine gesamte schriftliche Hinterlassenschaft und eben auch seine Tagebücher nach seinem Tode der sächsischen Landesbibliothek übergeben werden sollten“ (Köhn 1997, 22). Woher genau Köhn diese Information bezieht, bleibt unklar. Sie lässt sich nirgends verifizieren. Ebenso problematisch ist jedoch die Behauptung von Richard Christ: „An eine Veröffentlichung im Falle seines Überlebens hatte er [Klemperer, Anm. d. A.] nachweislich nicht gedacht...“ (Christ 1996, 19). Allein die stetig im Tagebuch des „Dritten Reichs“ artikulierte Hoffnung auf das „Curriculum vitae“ belegt das Gegenteil (vgl. z.B.: ZA II, 18.09.1942, 246). Andere ungeprüfte, nicht belegte oder falsche Aussagen finden sich beispielsweise bei Carl Freytag, der irrtümlicherweise angibt, Klemperer habe sich aus Anlass seiner Eheschließung zum Protestantismus bekannt (Freytag 2000, 316). Als weiteres Beispiel sei Walter Laqueur genannt, der überdurchschnittlich viele ungeprüfte Informationen als Grundlage seiner Analyse von Klemperers Zeugenschaft im Vergleich mit Willy Cohn und Richard Koch verwendet (Laqueur 1996). Übrigens beginnt die Ungenauigkeit hier bereits beim Namen des Romanisten: Er wird als „Viktor“ geführt. Dieser Fehler taucht verhältnismäßig häufig auf (vgl. z.B.: Coombes 1989).
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III.2.2
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Klemperers „Chronisten“-Funktion
In einer Kritik zu einer Theateradaption von Klemperers Tagebüchern 19331945 bemerkt Nelson Pressley: „the diaries’ value as a historical document is obvious“ (Pressley 2002, C5). Dieser Fakt soll nicht bestritten werden.51 Allerdings ist dieses Verständnis der Aufzeichnungen problematisch, wenn der Tagebuchschreiber dabei ausschließlich als „Zeitzeuge“ betrachtet wird. Denn an diese Zuweisung schließt sich die Vorstellung an, die Diarien – und damit meinen die meisten Rezensenten ausschließlich jene aus dem „Dritten Reich“ – stellten eine Art „Chronik“ dar. Darin spiegelt sich die Auffassung wieder, die Tagebücher hätten die Funktion einer geordneten Darstellung historischer Ereignisse aus der Perspektive eines Individuums. Aus diesem Verständnis der Notate als einer Art subjektiver Geschichtsbeschreibung resultiert beispielsweise Markus Gryglewskis Forderung, den Text „zunächst einmal“ als „Quelle“ zu betrachten und sie entsprechend „in ihrer Gesamtheit auch als eine solche kritisch“ zu interpretieren (Gryglewski 1998, 96). Der lebensgeschichtliche Charakter der Notate wird damit zur Hintergrundfolie für die „deutsche[] Politik- und Gesellschaftsgeschichte“
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Der historische Wert von Klemperers Tagebüchern wird beispielsweise in Henry Ashby Turners Arbeit über die Tagebücher 1933-1945 als Instrument für die Wahrnehmung des Holocaust durch die Öffentlichkeit im „Dritten Reich“ deutlich (Turner 1999). Auch für die Beschreibung allgemeiner geschichtlicher Zusammenhänge greifen Historiker auf die Diarien zurück. Beispielsweise nutzt Siegfried Prokop sowohl die Aufzeichnungen aus dem „Dritten Reich“ als auch die Nachkriegstagebücher, um ein möglichst realitätsnahes Bild bestimmter Ereignisse nachzeichnen zu können (vgl. Prokop 2003, 63-65 und 77). Günter Wirth wertet das Diarium für eine Rekonstruktion bildungspolitischer Debatten in der Volkskammer aus (vgl. Wirth 2003, 39). Nora Goldenbogen verfasst anhand von Klemperers Aufzeichnungen einen historischer Abriss über das Schicksal der Dresdner Juden (Goldenbogen 1996). – Die Verwendung der Tagebücher als historische Quelle geht sogar noch einen Schritt weiter: Sie werden auch zur Informationsbeschaffung für den Lebensverlauf anderer Personen eingesetzt. In einer Dissertation über Klemperers älteren Bruder Georg dienen sie neben dem „Curriculum vitae“ und diversen Briefen aus dem Nachlass in der SLUB als Quelle (Wolf 2000). Wolfgang Kraushaar nimmt Klemperers Tagebuch-Ausführungen zu einem Gestapo-Offizier zum Ausgangspunkt einer Biographie des Mannes (vgl. Kraushaar 1996; siehe auch Kraushaar 1997). – Auch das „Notizbuch eines Philologen“ wurde als Quelle für die Aufklärung bestimmter historischer Zusammenhänge genutzt. In einem Prozess gegen den Leiter des Judenreferats der Dresdner Gestapo, SS-Obersturmführer Henry Schmidt, vor dem Bezirksgericht Dresden vom 15. bis 28. September 1987 bezog sich die Staatsanwaltschaft mehrfach auf Klemperers „LTI“ als Beweismaterial (vgl. Busse/Krause 1989).
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(Faber 2005, 13). Statt die Stärke des Tagebuchschreibers in der Vermittlung persönlicher Belange zu sehen, wird auf diese Weise explizit dessen „Chronistenrolle“ (vgl. z.B.: Papp 2006) oder sogar dessen „Chronistenpflicht“ (Faber 2005, 59) propagiert. Einzelne Rezensenten weisen ihm deshalb Titel wie „Chronist des Jahrhunderts“ (Ullrich 1999) oder „Chronist der Vorhölle“ (Nowojski 2004) zu. Damit wird Klemperer eine Aufgabe oktroyiert, die er sich selbst nur in begrenztem Maße zuspricht. Er führt sein Tagebuch über Jahrzehnte hinweg in der Überzeugung, ausschließlich für sich selbst zu schreiben. Zwar äußert er wiederholt die Absicht, die Notate für andere Texte, die konkret für ein Publikum entstehen, zu verwenden, sie also als Material für Publikationen wie beispielsweise die Autobiographie auszuwerten. Aber er lehnt grundsätzlich die Idee einer direkten Veröffentlichung seiner täglichen Aufzeichnungen ab. Diese Haltung wird nur während des „Dritten Reichs“ kurzzeitig in Zweifel gezogen. Zu dieser Zeit schließt das Bewusstsein, mit den Eintragungen unter Lebensgefahr für sich und andere zu dokumentieren, unter welchen Bedingungen die jüdische Bevölkerung Dresdens zwischen 1933 und 1945 leben muss, den Wunsch mit ein, die Diarien einer Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Insbesondere für den Fall, dass er selbst die nationalsozialistische Diktatur nicht überleben sollte, hofft Klemperer auf eine Möglichkeit die Notate posthum publizieren zu lassen. Als er nach dem Kriegsende die Weiterverarbeitung seiner Aufzeichnungen selbst übernehmen kann, distanziert er sich jedoch sehr schnell von einer direkten Veröffentlichung: „Meine Tgb.-Lektüre ergibt immer entschiedener, daß LTI zur Publikation wesentlich geeigneter als das eigentliche Tgb. Es ist unförmig, es belastet die Juden, es wäre auch nicht in Einklang zu bringen mit der jetzt gültigen Opinio, es wäre auch indiskret“ (SZS I, 67, 08.08.1945).
Nicht das originale Tagebuch, sondern die Sprachanalyse „LTI. Notizbuch eines Philologen“ erscheint Klemperer als adäquates Instrument einer Vermittlung seiner Erlebnisse im „Dritten Reich“. Er distanziert sich von den ursprünglich notierten „Indiskretionen“ der privaten Aufzeichnungen und entscheidet bewusst, welche Informationen er dem Leser wie vermittelt.52 Der Herausgeber der Tagebücher, Walter Nowojski, vermutet deshalb in einem Interview, dass eine originale Veröffentlichung der Diarien durch Klemperer nicht betrieben worden wäre: „Viele Dinge wären einfach eliminiert worden“ (Mende 1996, 8).
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André Combes verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass der Vergleich zwischen den Tagebüchern 1933-1945 und der „LTI“ deutlich mache, wie stark der „Zeugniswert“ der Diarien in der Überarbeitung verloren gehen könne (vgl. Combes 2000, 88).
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Eine Rezeption, die vor allem auf den historischen Wert der Aufzeichnungen konzentriert ist, ignoriert diese Grenze zwischen der Absicht, in der Funktion eines Chronisten aufzuschreiben, was sich ereignet, und dem Wunsch, uneingeschränkt privat zu notieren. Nur während des „Dritten Reichs“ versteht sich Klemperer – neben seiner Auseinandersetzung mit seiner ganz persönlichen Situation – als Zeitzeuge für das Schicksal all jener Juden, die gemeinsam mit ihm unter den nationalsozialistischen Repressionen leiden. Eben dieses temporäre Selbstverständnis stellen jedoch viele Rezensenten verallgemeinernd für die gesamten Tagebücher in den Mittelpunkt. Dadurch entsteht die oben bereits angesprochene Gefahr einer Vereinnahmung der Aufzeichnungen für ein eingeschränktes Bild von den Haltungen der Deutschen im „Dritten Reich“ (vgl. Kapitel III.2.1). Explizit spricht dies Carl Holenstein an, indem er davor warnt, die Tagebücher „vordergründig als Chronik des Alltags“ zu lesen und sie durch diesen „selektiven Zugriff nur wieder“ zur Herstellung „neue[r] Varianten des Vergessens“ zu missbrauchen (Holenstein 1996, 184). Deshalb wirkt die Zuweisung, Klemperer sei „der Chronist des ‚Dritten Reichesʻ“ (Hanuschek 1998, 711) wie eine Überbewertung seiner Absichten. Meinungen wie jene des Herausgebers Walter Nowojski, „Kernstück der Tagebücher“ bleibe „die Chronik der Isolierung, Entmündigung, Drangsalierung und schließlich der systematischen Vernichtung der Dresdner Juden“ (Nowojski 2004, 36), ignorieren Klemperers Ausrichtung auf sein ganz individuelles Schicksal. Für den Diaristen steht nicht die Verzeichnung historischer Daten im Vordergrund, sondern das Bewahren der eigenen Existenz. Außerhalb der speziellen Lebenssituation im „Dritten Reich“ führt Klemperer seine Notate ausdrücklich für sich selbst. Sein temporäres Selbstverständnis als Berichterstatter spezifischer alltagshistorischer Entwicklungen bedeutet deshalb keine allgemeine Zeugenschaft. Eben dies propagiert die Rezeption jedoch, wenn sie – wie beispielsweise Walter Nowojski – die Tagebücher als eine „Jahrhundertschau“ oder eine „ZeitalterBesichtigung aus dem Blickwinkel des unmittelbar Erlebten“ (Nowojski 1996, 773) darstellt. Denn diese Sichtweise ignoriert, dass Klemperers Wunsch, einem Publikum mitzuteilen, wie er bestimmte geschichtliche Vorgänge erlebt, nicht in den Diarien, sondern im „Curriculum vitae“ und in „LTI. Notizbuch eines Philologen“ kanalisiert wird. Darin agiert der Schreibende als Zeitzeuge, der aus seiner persönlichen Sicht die Ereignisse erzählt und kommentiert. Das Verständnis der gesamten Tagebücher als „Chronik“ übergeht diese Differenz und vermischt zudem auf unpassende Weise Gattungsbegriffe. Denn nicht die Aufzählung historischer Daten, sondern die persönliche Reflexion über Ereignisse, die für Klemperer privat bedeutsam sind, dominiert die Aufzeichnungen. Hannes Heer warnt deshalb, die Tagebücher seien
84 | S CHREIBEN EIN L EBEN LANG – V ICTOR KLEMPERERS T AGEBÜCHER „...keine Chronik der laufenden Ereignisse, kein Beitrag zur Geschichtsschreibung, sondern das private Räsonnement eines Tagebuchschreibers [...], der auf diese Weise sein Erleben verarbeitet“ (Heer 1997b, 122; vgl. dazu auch Heer 1996).
Werden die Diarien auf die chronologische Berichtform reduziert, fehlt der Blick auf die Tiefenstruktur seiner Notate. Ein Großteil der inhaltlichen, strukturellen und stilistischen Substanz der Notate wird dabei ausgeblendet. Resultat dieses Vorgehens sind fragwürdige Erwartungshaltungen an die Aufzeichnungen, wie beispielsweise Johannes Dirschauers Forderung nach einer Thematisierung der „Assimilation der Juden und de[s] damit verbundenen Selbstbetrug[s]“ (Dirschauer 1997a, 165) in den Diarien 1933-1945. Derartige Aufforderungen sind völlig fehl am Platz. Sie übergehen ein grundlegendes Charakteristikum von Tagebüchern: Gerade die Gegenwärtigkeit und die nicht alles umfassende Analyse des Erlebten sind ein entscheidendes Merkmal von Diarien. Auch die Reduktion des Tagebuchschreibers auf die Funktion eines „Chronist[en] seines eigenen Lebens“ (Böhme 2003, 71) ist übertrieben. Gernot Böhme zieht aus der Beobachtung, dass Klemperer „eigentlich nicht“ über „sein Ich und dessen Entwicklung“ reflektiert den Schluss, dieser verfolge in seinen Aufzeichnungen keine „bestimmte[n] Ziele“, vielmehr geschehe ihm „das Leben selbst [...] nur“ (Böhme 2003, 71). Diese Einschätzung zeugt von großer Ignoranz gegenüber den Inhalten der Eintragungen. Lässt sich über den Reflexionsgrad der Notate noch diskutieren, wirkt eine völlige Ablehnung eines zielgerichteten Schreibens angesichts des großen Umfangs der Tagebücher absurd. Wozu sollte ein Tagebuchschreiber sich jahrzehntelang nahezu täglich um das Bewahren seines Erlebens bemühen, wenn all dies auf keinen größeren Zusammenhang ausgerichtet ist? Der Sinn des lebenslangen Klemperer’schen Schreibens wird in dieser Sichtweise abgewertet und auf das unreflektierte Mitschreiben von Geschichte reduziert. Der Tagebuchschreiber könnte aus dieser Perspektive auch als hirnlose Stenographie-Maschine angesehen werden. Dabei vermittelt beispielsweise Heidrun Kämper eindrucksvoll, dass gerade die private Sichtweise Klemperers auf die historischen Entwicklungen den Reiz seiner Aufzeichnungen ausmacht. Sie weist darauf hin, dass insbesondere der sprachwissenschaftliche Hintergrund des Romanisten seine Darstellung von Zeit- und Kulturgeschichte prägt (vgl. Kämper 1996b, 335). Mit diesem Ansatz gelingt es ihr, eine rein historische Perspektive auf die Tagebücher zu vermeiden und das Augenmerk stärker auf deren kulturgeschichtlichen Kern zu richten, der aus der subjektiven Perspektive des Diaristen auf die individuellen Lebensereignisse resultiert. Damit liegt das Potenzial der Aufzeichnungen nicht mehr in einer allgemeinen Quellenfunktion für die Historie, sondern in der Beschreibung von Alltagsgeschichte. Das Individuum, das über Augenschmerzen, Schreibhemmungen, Autofahrten und fehlendes Toilettenpapier berichtet, vermittelt eine Adaption historischer Ereignisse, welche die Geschichtsschreibung nicht bieten kann.
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Gleichzeitig liegt genau darin auch die Grenze von Klemperers Darstellungsmöglichkeiten. Die Aufzeichnungen können nur im Kontext seiner individuellen Lebenswelt gelesen werden.53 Deshalb formuliert Paola Traverso Klemperers Chronistenrolle anders: „Klemperer ist der exakte und ehrliche Chronist eines Lebens im Dritten Reich, das (und darin gerade besteht das Interesse und die Außergewöhnlichkeit seines Berichtes) für die überwiegende Mehrheit der Juden Europas eine absolute Ausnahme darstellt. [...] Klemperer selbst weist auf die Begrenztheit seiner Perspektive hin, und er beweist damit eine viel kritischere und komplexere Auffassung von Geschichtsschreibung als seine Leser. ‚Que sais-je?ʻ ist die Frage, die er sich immer wieder stellt und mit der er die Möglichkeit, einen Bericht zu schreiben, der nicht notwendigerweise subjektive Interpretation des Geschehenen sei, in Zweifel zieht...“ (Traverso 1997b, 335).
Damit erfasst Traverso ein Grundproblem des Tagebuchs: Den Verfremdungsprozess, der eingeleitet wird, wenn ein Schreiber versucht, möglichst realitätsnah zu beschreiben. Weil eine objektive Wiedergabe der Ereignisse nicht geleistet werden kann, bleibt nur die Subjektivierung der Geschehnisse.54 Nur in dem Changieren zwischen Individualität und Geschichtsbe-
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Irene Heidelberger-Leonhard macht deshalb darauf aufmerksam: „Auch wenn Klemperer für den Historiker des Nationalsozialismus ein unverzichtbares Dokument von unmittelbar erlebter Alltagsgeschichte darstellt [...] – ist ihr Autor der erste, der sich der Problematik seiner Geschichtsschreibung bewußt ist“ (Heidelberger-Leonhard 2000, 66). Denn letztlich „...muß sich der Leser bei Klemperers Tagebüchern einen Weg freischaufeln durch einen Wust von unhierarchisierter mikroskopischer Empirie, wo das Klagelied über den Abwasch oder das ‚Kartoffelnʻ sich die Waage hält mit der Klage über die Nachricht, daß das KZ identisch ist mit dem Tod“ (Heidelberger-Leonhard 2000, 67; vgl. auch Heidelberger-Leonhard 2002). Die Universalität der diarischen Lebensbeschreibung ist eine Illusion, die durch den Versuch des Lesers, Zusammenhänge und Verbindungslinien herzustellen, entsteht. Auch wenn Klemperers erhaltenes Tagebuchwerk 41 Lebensjahre umfasst, ergibt sich aus der Lektüre dieses mehrere tausend Seiten starken Textkonvolutes kein lückenloses und lineares Bild seiner Persönlichkeit. Die Person des Autors ist immer an die jeweilige Schreibsituation und auch an potenziell unbekannte Ereignisse, Gedanken und Einflüsse gebunden, die nicht mit aufgeschrieben wurden. Deshalb können die Tagebücher nicht als Schlüssel zu einem uneingeschränkten Profil verstanden werden. Umgekehrt ist es auch nicht möglich, die Biographie des Tagebuchschreibers als Übersetzungsinstrument für dessen Diarien zu verwenden. Das Tagebuch bietet nur Teilinformationen, es garantiert keine Vollständigkeit.
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schreibung lässt sich der Inhalt eines Tagebuchs erfassen. Darum argumentiert Ulrich Baron: „...Klemperer schreibt nicht als Historiker, sondern als Mensch in seiner Geschichte. Er entfaltet nicht nur das Panorama eines Jahrhunderts, sondern auch das seiner eigenen Irrtümer und seiner Fehlbarkeit“ (Baron 1996, 23).
In ähnlicher Weise betont Karl Römer: „Die Tagebücher Victor Klemperers sind nicht nur ein Zeitdokument, sie sind auch ein menschliches Dokument ersten Ranges“ (Römer 1996, 299).55 Aus diesem Blickwinkel tritt die Person des Tagebuchschreibers selbst ins Zentrum einer fruchtbaren Auseinandersetzung mit dem Diarium. Allerdings kann diese nur weiter führen, wenn auf psychologisierende und spekulative Aussagen bezüglich der Persönlichkeit Klemperers verzichtet wird.56 Sowohl Dirschauers Anspruch auf die Thematisierung spezifischer Ereignisse als auch Böhmes Abwertung der Aussagekraft der Tagebücher außerhalb privater Reflexionen unterschätzen diese Möglichkeiten von Klemperers Aufzeichnungen: Die Notate zeigen die menschliche und intellektuelle Entwicklung einer komplexen Persönlichkeit, dokumentieren alltagsgeschichtlich politische und gesellschaftliche Veränderungen und porträtieren unzählige Zeitgenossen des Tagebuchschreibers in spannungsreichen Analysen auf hohem sprachlichen Niveau. Damit gehen die Eintragungen weit über das hinaus, was in einer Chronik Platz finden würde. Gleichzeitig verharren sie nicht in der Aufzählung privater Gedanken. Vielmehr sind sie Zeugnis von Alltagsgeschichte und privatem Lebensverlauf in einem. Der historische Dokumentcharakter der Aufzeichnungen soll nicht bestritten werden. Die Tagebücher sind in dieser Funktion mit Sigrid Löfflers Worten „einzigartig und wahrhaft unverzichtbar“ (Löffler 1996, 10). Trotzdem bedeutet dies nicht, dass der Diarist sich vordergründig als „Chronist“ seiner Umweltbedingungen versteht. Nach eigener Aussage sieht er seine
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Dies konstatiert auch Susanne zur Nieden: „...gerade eben jene Mischung aus privaten und zeitgeschichtlichen Notizen und Reflexionen [ist es], die Klemperers Aufzeichnungen zu solch einem beeindruckenden zeitgeschichtlichen Dokument mach[t]“ (zur Nieden 1997, 112; vgl. dazu auch Heilbrunn 1996, 24; Mende 1996, 5). Ein Negativbeispiel für dieses Vorgehen sind die bereits erwähnten Arbeiten von Johannes Dirschauer (1997a, b). Die darin angestrebte Erforschung der Identität des Tagebuchschreibers trägt wenig Hilfreiches zu einer sachlichen Erschließung des Materials bei. Auch die Reduktion der Persönlichkeit des Diaristen auf ein bestimmtes Merkmal – Marion George betreibt dies beispielsweise bezüglich Klemperers angeblich ausschließlichem Selbstverständis „als deutsch-national gesinnter Intellektueller“ (George 2002, 283) – verstellt den Weg zur komplexen Persönlichkeit des Schreibenden.
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Aufgabe darin, „[d]ie großen Linien der Historie [zu] überlassen, das kleine Selbstbeobachtete für [das] Curriculum [zu] notieren“ (ZA I 480, 29.08.1939). Die zeitzeugenschaftliche Funktion von Klemperers Schreiben beschränkt sich demnach auf einen sehr privaten Raum: Nur „das kleine Selbstbeobachtete“ ist interessant für ihn. Chronologische Auflistungen zu historischen Ereignissen, die allgemein von Bedeutung sein könnten, bleiben ausgeschlossen. Entsprechend widersinnig wirkt ein Verständnis der Aufzeichnungen als „Chronik“. Die Anwendung dieses Begriffes ist problematisch, weil sie eine Erwartungshaltung an Klemperers Tagebuchschreiben formuliert, die nicht erfüllt werden kann.
III.3
D IE R EZEPTION DER A UTOBIOGRAPHIE „C URRICULUM VITAE “
Verglichen mit der Rezeption der Tagebücher erhielt die erstmals 1989 durch Walter Nowojski herausgegebene Autobiographie „Curriculum vitae“ wenig Aufmerksamkeit. Die Erstveröffentlichung des Textes rief nur verzögert Reaktionen hervor (vgl. Fechner 1991; Christmann 1993). Es gab nur eine überregional abgedruckte Rezension im „Spiegel“ von Walter Boehlich, der das Buch allerdings als „unordentlich[]“ und „weitschweifig[]“ (Boehlich 1990, 267) ablehnt. Erst in der Neuauflage von 1996 wurden die Erinnerungen einem breiteren Publikum bekannt. Die öffentliche Auseinandersetzung damit hielt sich jedoch weiterhin in Grenzen (vgl. z.B.: Weinrich 1996; Jauch 1996b; Brodersen 1997; Misch 2001). Grund dafür ist der Gegenstand der Autobiographie. Denn im Gegensatz zu dem spannungsreichen Inhalt der Tagebücher aus dem „Dritten Reich“ geht es in den Lebenserinnerungen Klemperers vornehmlich um seine Kindheit, Jugend und frühe berufliche Entwicklung. Harald Weinrich kommentiert dies treffend: „Es werden hier, wenn man den Krieg nicht rechnen will, keine unerhörten Ereignisse mitgeteilt, und keine großen Persönlichkeiten der Geschichte kreuzen dieses Bürgerleben. Bemerkenswert sind eher die kleinen Begebenheiten im Umkreis der Familie...“ (Weinrich 1996, 37).
Im humorvollen Plauderton erzählt der Autobiograph spannungsvoll von den Lebensentwicklungen, die ihn in jungen Jahren prägten. Nur indirekt spricht er dabei jene Lebensphase an, die ihn für die Rezensenten interessant macht: seine Erfahrungen als Jude im „Dritten Reich“. Dies begründet sich aus der Entstehungssituation des „Curriculum vitae“. Nachdem Klemperer sich durch das Bibliotheksverbot für die jüdische Bevölkerung außer Stande sieht, seine wissenschaftlichen Arbeiten fortzusetzen, wendet er sich Anfang 1939 der lang gehegten Idee zu, eine Autobiographie zu schreiben. Bis zum
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Frühjahr 1942 schreibt er unter ständiger Lebensgefahr an diesem Buch. Die Arbeit daran hilft ihm, sich von dem bedrohlichen und deprimierenden Alltag zurückzuziehen und weiterhin Selbstbestätigung im Schreiben zu finden. Wiederholt bezieht sich Klemperer im „Curriculum vitae“ anlässlich diverser Themen, die ihn an eine aktuelle Lebenssituation erinnern, konkret auf seine Schreibgegenwart. Er konterkariert dabei seine Stellung als Jude im „Dritten Reich“ sehr offen mit seinen früheren politischen und gesellschaftlichen Ansichten. Buhles interpretiert deshalb die Autobiographie „fast als ‚Abrechnungʻ mit der eigenen Vergangenheit“ (Buhles 2003, 47). Diese spezielle Schreibsituation provoziert bei einigen Rezensenten eine Instrumentalisierung der Autobiographie als Hintergrundfolie für Klemperers Erlebnisse im „Dritten Reich“. Auf diese Weise steht nicht mehr die dargestellte Lebensentwicklung zwischen 1881 und 1918 im Mittelpunkt des Interesses, sondern vielmehr die spätere Opferrolle Klemperers. Dazu wird in unangemessen idealisierender Weise seine Leidenszeit zwischen 1933 und 1945 über die eigentlich erzählten Inhalte der Autobiographie gelegt. Ein extremes Beispiel dafür ist der Abschluss der Rezension von Harald Weinrich, die ursprünglich in der „FAZ“ erschien und später in einem Dossier der Zeitschrift „Lendemains“ erneut abgedruckt wurde (vgl. Weinrich 1996). Darin rekurriert der Rezensent auf die Dresdner Bombennacht vom 13. Februar 1945: „Von einer Bombe getroffen wird auch das ‚Judenhausʻ, in dem Victor und Eva Klemperer leben müssen. Sie nutzen – wie Jeronimo und Josephe beim Erdbeben in Chili – die Gunst der Schreckensstunde und entfliehen, werden gerettet. Was kann alles geschehen, damit zwei Gerechte gerettet werden?“ (Weinrich 1996, 38).
Weinrich idealisiert das Ehepaar Klemperer, indem er ihm den Status der „Gerechten“ zuweist, der einzig aus beider Opferrolle resultiert. Dies führt in Anlehnung an Kleists berühmte Erzählung zu einer Fiktionalisierung des Autobiographen als Verkörperung des jüdischen Opfers der Nationalsozialisten, die objektiv betrachtet kaum nachvollzogen werden kann. Denn diese Funktion lässt sich aus dem „Curriculum vitae“ selbst nicht herauslesen. Nur mit Hilfe biographischer Daten, die außerhalb des Buches zum Leben Klemperers bekannt sind, wird eine derartige Zuschreibung möglich. Weinrich installiert die Autobiographie zu einer Art „Mahnmal“, mit welchem nachfolgenden Generationen schwarz-weiß-malerisch der Unterschied zwischen Gut und Böse vermittelbar scheint. Nicht die Inhalte des Textes selbst sind aus dieser Sichtweise wichtig, sondern die interpretativen Möglichkeiten für die gegenwärtige Geschichtsbetrachtung. Diese hintersinnige Argumentationslinie artikuliert Momme Brodersen wesentlich direkter, wenn er sich erlaubt, den Wert des „Curriculum vitae“ in Zusammenhang mit den Tagebüchern 1933-1945 zu beurteilen:
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„Aber sie [die autobiographischen Aufzeichnungen, Anm. d. A.] sind doch ein nicht unwichtiger Beitrag zur Einsicht, daß Inkommensurables und Widersprüchliches nicht nur Kennzeichen eines jeden ‚Lebenswerkesʻ sind [...], sondern darüber hinaus das besondere Interesse der sei’s zeitgenössischen, sei’s nachgeborenen Leser erst wecken – insofern nämlich, als das nicht miteinander in Einklang Stehende Ausgangspunkt, sozusagen der ‚Stachelʻ, zum Weiter- und Nachdenken über die eigene Zeit und Existenz wird“ (Brodersen 1997, 279)
Die von den Rezensenten lokalisierte Möglichkeit, aus der Autobiographie Rückschlüsse für die Position der gegenwärtigen Leser zu ziehen, ergibt sich jedoch nicht allein aus der darin enthaltenen Beschreibung von Klemperers Lebensentwicklung 1881-1918. Vielmehr hat erst die Veröffentlichung der Tagebücher 1933-1945 die Aufmerksamkeit auf das „Curriculum vitae“ gelenkt. Deshalb wurde der Text auch erst nach seiner Neuveröffentlichung 1996 ein verlegerischer Erfolg. Ebenso wie die Diarien 1918-1932 und 1945-1959 unter dem Aspekt der schwierigen Lebenssituation des Tagebuchschreibers im „Dritten Reich“ interpretiert werden, erfolgt dies auch für seine Autobiographie. Weil Klemperer selbst signalisiert, dass dieser Text ursprünglich auf Tagebuchnotaten basiert, wird er scheinbar selbstverständlich in die chronologische Reihe dieser Aufzeichnungen eingegliedert. Dadurch sieht sich Ursula Pia Jauch beispielsweise berechtigt, im Untertitel ihrer Rezension über die Autobiographie zu erklären, es handele sich um „Victor Klemperers Tagebücher von 1881 bis 1918“ (Jauch 1996b). Dies ignoriert jedoch die Grenze zwischen zwei unterschiedlichen Gattungen. Zwar basiert das „Curriculum vitae“ teilweise auf Tagebuchaufzeichnungen, trotzdem stellt es eine vollkommen andere Textform dar. Die fehlende Präzision im Umgang mit den Themen der Autobiographie setzt sich dementsprechend auch in der gattungstheoretischen Handhabung fort. Dies zeigt, dass sowohl eine adäquate inhaltliche wie auch literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Text bislang aussteht.
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D IE R EZEPTION VON „LTI. N OTIZBUCH EINES P HILOLOGEN “
Wesentlich stärkere Resonanz als die Autobiographie erzeugt bis in die Gegenwart hinein die Sprachanalyse „LTI. Notizbuch eines Philologen“.57 ϱϳ
Die Auseinandersetzung mit dem Buch verläuft erstaunlicherweise kontinuierlich über viele Jahrzehnte hinweg (vgl. Hundsnurscher 1967; Lang 1986; Vodoz 1986, 2000; Techtmeier 1987; Coombes 1989; Klare 1996; Schiewe 1998; Elbers 1999; Fernandez Bravo 2000; Krajewski 2002; Wegner 2004). Dabei inspiriert die „LTI“ auch zu ungewöhnlichen wissenschaftlichen Untersuchun-
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Die Untersuchung der Sprache des „Dritten Reichs“, „Lingua tertii imperii“ (LTI), erschien erstmals 1947 in der DDR. Sie avancierte schnell zu einem großen und dauerhaften Erfolg, der sich ab 1995 mit der Veröffentlichung der Tagebücher 1933-1945 nochmals verstärkte58 (vgl. dazu Fischer-Hupe 2001a, 184ff.). Das Buch ist kein rein wissenschaftliches Werk, sondern stellt eine Mischform aus essayistischen, autobiographischen und linguistischen Elementen dar. Insbesondere die Betonung der subjektiven Perspektive des Autors hebt den Text von anderen sprachanalytischen Auseinandersetzungen mit der Sprache des „Dritten Reichs“ ab. Die persönlichen Erlebnisse Klemperers während der Jahre 1933-1945 prägen seine wissenschaftlichen Ausführungen. Dies resultiert in erster Linie daraus, dass die Tagebuchaufzeichnungen dieser Zeit Grundlage der Sprachanalyse sind. Teilweise wird das in der „LTI“ direkt thematisiert, indem der Autor auf seine ursprünglichen Notate verweist oder diese scheinbar original abdruckt. Auslöser für diese Vermischung zweier unterschiedlicher Textformen und Schreibabsichten ist Klemperers Unsicherheit, wo die Grenze zwischen der Sprachuntersuchung und seinen Tagebuchaufzeichnungen zu ziehen sei. Das hat einige Rezensenten, wie beispielsweise Rüdiger Bernhardt, zu der Ansicht geführt, die „LTI“ sei nur eine Art sekundäres Arbeitsergebnis der täglichen Notate: „[Klemperers] philologisches Hauptwerk ‚LTIʻ ist, trotz seiner vielzitierten Bedeutung, ein Nebenprodukt des wissenschaftlichen Werkes und eigentlich auch ein Tagebuch...“ (Bernhardt 1997, 13). Siegfried Jäger sieht in dem Werk sogar nur eine Reduktion der eigentlichen ausführlichen Analyse, die im Diarium entstand: „Doch LTI ist ja kein völlig neu geschriebenes Buch, keine stringent entwickelte Kritik an der Sprache des Faschismus. Sie ist ja nichts anderes als eine (sehr selektive) Zusammenstellung der LTI-Notizen aus den Tagebüchern der 12 Jahre währenden faschistischen Herrschaft, die er geordnet und kommentiert hat. Er fällt nach 1945 damit ein Stück weit hinter seine Analysen aus den Tagebüchern zurück. In den Tagebüchern aber betrachtet Klemperer die faschistischen Institutionen, die Praxen der Judenverfolgung und -ausgrenzung konkret [...]. Mit den Tagebüchern liegt demnach eine Art Dispositivanalyse vor, die insgesamt viel mehr über den deutschen Faschismus aussagt, als dies die Betrachtung der sprachlichen Praxen alleine vermocht hätte“ (Jäger 2001, 126).
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gen. Militz analysiert beispielsweise die Verwendung von Redewendungen in der Sprachanalyse (Militz 1998) und leistet damit eine Vorarbeit zu Mieders Aufarbeitung von Sprichwörtern im Tagebuch 1933-1945 (vgl. Mieder 2000a, b, c). So befasst sich eine Tagung der Evangelischen Akademie in Tutzing 1997 neu mit der „LTI“ (vgl. Michalzik 1997).
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Sowohl Bernhardt als auch Jäger ignorieren die Zielsetzung Klemperers. Es geht ihm darum, einen eigenständigen, vom Tagebuch isolierten Text zu entwickeln, der mehr als nur autobiographische Daten wiedergibt. Er will beispielhaft die alltägliche, unreflektierte Nutzung einer Sprache kritisieren, die er als Ausdruck einer gefährlichen politischen Entwicklung interpretiert. Das Buch lässt sich demnach als „eine Art sprachkritisches und sprachwissenschaftliches Resümee des Tagebuchs der Nazizeit...“ (Christmann 1993, 18) betrachten. Ein Großteil der Sekundärliteratur ist auf diesen Aspekt ausgerichtet. Das „Notizbuch eines Philologen“ gilt vornehmlich als Standardwerk zur Analyse der Sprache des „Dritten Reichs“ und wird zum Vorbild für linguistische Untersuchungen herangezogen (vgl. z.B.: Bochmann 1991; Jacobs 1992). Neben der sprachanalytischen Ausrichtung ist auch der autobiographische Grundton der „LTI“ Ausgangspunkt vieler Auseinandersetzungen mit dem Buch. So meint Jana Haase, „das ‚Privateʻ“ sei „notwendiger Bestandteil“ der „LTI“ (Haase 2004, 37). Aus dieser Perspektive erscheint es, als sei die Aussagekraft der Sprachanalyse ohne den lebensgeschichtlichen Bezug hinfällig. Max Grosse ist der Ansicht, das autobiographische Moment des Textes bewirke als „Aura des Außerordentlichen“ erst dessen Erfolg (Grosse 1995, L 23) und nimmt damit eine unangemessene Idealisierung vor. Ursache derartiger Überhöhungen der „LTI“ ist – ähnlich wie in der Auseinandersetzung mit den Tagebüchern – vor allem das Verständnis von Klemperer als Opfer des „Dritten Reichs“. Das Schicksal des Autors selbst ist Mittelpunkt der Betrachtung. Sein eigener Anspruch, eine Sprache des „Dritten Reichs“ herauszuarbeiten, tritt in den Hintergrund. Wenn beispielsweise die Klemperer-Schülerin Rita Schober konstatiert, es handele sich um ein „erschütternde[s] Dokument“ der Jahre 1933-1945 (Schober 1961, 22), rückt sie ab von der sprachwissenschaftlichen Ausrichtung des Buches. Zwar betont sie zuvor die „unauflösliche[] Verflechtung autobiographischer Darstellung und streng wissenschaftlicher philologischer Überlegungen“ (Schober 1961, 21-22), setzt jedoch den Schwerpunkt auf die Lebensbeschreibung. Diese Ausrichtung teilen viele Rezensenten der „LTI“. Beispielsweise versteht Helmut Elbers das Werk nicht als wissenschaftliche Arbeit, sondern zählt es zu den „autobiographischen Schriften“ (Elbers 1999, 26) Klemperers. Er argumentiert: „Basal scheint mir dabei zu sein, daß Klemperer zwar vorgibt, wissenschaftlich zu arbeiten und ein philologisches Buch zu schreiben, aber keinen stringenten Aufbau mit der Darstellung und fachhistorischen Herleitung seiner Theorie und der anschließenden empirischen Verifizierung benutzt. Außerdem ist die LTI bewußt ein wertendes Buch; aus der subjektiven Betroffenheit heraus will Klemperer seine Erkenntnisse zu einem erzieherischen Zweck darstellen; von der Wertfreiheit der Wissenschaft ist in der LTI nicht viel zu finden“ (Elbers 1999, 58).
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Der Anspruch auf systematisches Vorgehen und objektive Darstellung in einem wissenschaftlichen Werk ist nicht unberechtigt. Allerdings lassen sich auch an autobiographische Texte bestimmte Bedingungen knüpfen (vgl. z.B.: Pascal 1965; Wagner-Egelhaaf 2000; Holdenried 2000), die Klemperers „LTI“ ebenfalls nicht erfüllt. Beispielsweise handelt es sich in keiner Weise um eine chronologisch geordnete Lebensbeschreibung. Vielmehr erzählt der Autor in einzelnen Kapiteln von spezifischen sprachlichen Phänomenen und nutzt dabei seine persönliche Erfahrungswelt zum abwechslungsreichen Bebildern der beschriebenen Beobachtungen. Damit weicht er zwar deutlich von einer streng wissenschaftlichen Vorgehensweise ab, erfüllt aber auch nicht die Merkmale einer klassischen autobiographischen Darstellung. Eine klare Einordnung des Buches in vorgefertigte Textmuster wird auf diese Weise unmöglich. Ewald Lang macht darauf aufmerksam, wenn er den Untertitel des Werkes in den Mittelpunkt rückt: „LTI, deklariert als ‚Notizbuch eines Philologenʻ, aber dennoch kein philologisches Buch, steht einzigartig da in der Geschichte der Philologie“ (Lang 1986, 69). Klemperer selbst hat mit Hilfe des Begriffs „Notizbuch“ seinen Text als fragmentarisch, subjektiv und nicht näher definierbar gekennzeichnet. Er betont seine Position als Sprachwissenschaftler, verdeutlicht aber bereits im Untertitel seiner Arbeit, dass er kein streng philologisches Werk vorlegt. Die Auseinandersetzung mit der „LTI“ fordert demnach einen Ansatz, der die lebensbeschreibenden und sprachwissenschaftlichen Elemente kombiniert. Zudem lokalisiert Kristine Fischer-Hupe zwei Leitlinien in der „LTI“, die das Bild des Werkes kennzeichnen und in seiner Form bestimmen: „Festzuhalten sind: Modernität und Ambivalenz. Widersprüche kennzeichnen Klemperers Sprachkritik, und zwiespältig ist auch sein Selbstverständnis als ‚Philologeʻ. [...] Die Diskrepanz zwischen dem bereits in sich zwiespältigen Beobachtungsanspruch Klemperers einerseits und dem, was seine Sprachkritik tatsächlich erfaßt, andererseits, sowie die Entschiedenheit, mit der er an dem Axiom der Identität von Sprache und Denken festhält, daneben aber ihm widersprechende Beobachtungen ohne Schwierigkeiten zu begründen vermag, sind verständlich aus seiner Zeit und Situation heraus, der Abwehrhaltung eines Bedrängten und Verfolgten“ (FischerHupe 2001a, 286).
Der biographische Hintergrund prägt das Schreiben des Autors in spezifischer Weise, führt dadurch aber gerade zu Kreativität und Originalität. Fischer-Hupe erkennt dies in ihrer feinsinnigen analytischen Nacharbeitung von Klemperers Arbeitsschritten. Die wissenschaftliche Qualität des „LTI“Textes basiert auf seiner Lebensgeschichte als Sprach- und Literaturwissenschaftler. Das Autobiographische bedingt deshalb sowohl formal als auch inhaltlich die Ausrichtung und die Verarbeitung des Buches. Diese Differenz entgeht den Rezensenten, wenn sie allzu einseitig entweder auf Klemperers Opferrolle oder auf seinen sprachwissenschaftlichen
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Anspruch fokussieren. Bärbel Techtmeier erfasst dieses Problem, indem sie darauf aufmerksam macht, dass der Autor „...zugleich auch die Reaktionen auf diesen herrschenden Diskurs [beschreibt], die ‚Sprache des Volkesʻ in jener Zeit, mit der sich die zu beeinflussenden Schichten sprachlich gegen die faschistische Dominanz zur Wehr setzten...“ (Techtmeier 2001, 17).
Sie bestimmt auf diese Weise den persönlichen Erfahrungshorizont Klemperers als Hintergrund für seine Sprachbeobachtungen. Damit gelingt es ihr, die linguistische mit der autobiographischen Ebene zu vereinbaren.59 Meist verlagert sich die Auseinandersetzung mit der „LTI“ jedoch auf einen der beiden Aspekte. Ursprung dieser einseitigen Annäherung an Klemperers Sprachanalyse ist ihre unklare Ausrichtung. Das beginnt bereits bei der unpräzisen Bestimmung der Bedeutung der Abkürzung „LTI“. Bärbel Techtmeier warnt deshalb: „Man muß sich oftmals fragen, ob Klemperer bei der Behandlung eines bestimmten Problems nun die LTI im engeren oder im weiteren Sinne meint (also die Sprache des Faschismus oder die Sprache im Faschismus)“ (Techtmeier 2001, 17).
Wird der Terminus „LTI“ auch außerhalb von Klemperers Publikation ohne eine genauere Hinterfragung seines Bedeutungshorizonts verwendet, wiederholt sich diese Begriffsunschärfe. Genau dies jedoch dominiert in der Auseinandersetzung mit dem „Notizbuch eines Philologen“. Die LTIMetapher avancierte in Fachkreisen schnell zu einem festen Begriff für die Problematik der Sprache des „Dritten Reichs“, deren nähere Bestimmung als nicht mehr notwendig erachtet wird (vgl. dazu z.B.: Jäger 1999, 2000, 2001). Das Kürzel wird dadurch zum Vorbild für neue sprachkritische Untersuchungen, ohne Infragestellung seines ursprünglichen Hintergrunds. Das führt insbesondere in der DDR zu einer erstaunlichen Entwicklung. Während das Werk offiziell nahezu ausgeblendet wird,60 provozieren die in der
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Das wird noch deutlicher, wenn Techtmeier die Wirkung der „LTI“ als Buch und als Metapher auf drei sachbezogenen Ebenen lokalisiert: erstens in der Besonderheit des Textes, der eine „Verknüpfung von persönlichem Schicksal und philologischer Analysetätigkeit“ repräsentiert; zweitens in der Tatsache, die „Komplexität der Einflussnahme durch den nationalsozialistischen Diskurs darzustellen“; drittens „dabei aber nicht stehen zu bleiben, sondern diese Komplexität durch die akribische Sammlung und Auflistung von Einzelfakten zu untermauern“ (Techtmeier 2001, 18). Peter Jacobs hat diese Ausblendung aus dem offiziellen kulturellen Leben in der DDR recherchiert: „Nicht Brecht, nicht Seghers, nicht Bloch nahmen ernst-
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„LTI“ beschriebenen Ähnlichkeiten zwischen bestimmten Techniken und Entwicklungen im sozialistischen Staat und Vorgehensweisen der Nationalsozialisten in Intellektuellen-Kreisen eine neue Lesart des Textes, welche Klemperer ursprünglich nicht beabsichtigt hatte.61 Die Leser in der DDR erkennen in der Kritik an nationalsozialistischen Formulierungen wie „Volkseigentum“ oder „Volkseigener Betrieb“ indirekt auch eine Hinterfragung der DDR-Sprache.62 Dies geschieht, obwohl in der „LTI“ nur ein unreflektierter Umgang mit den Ähnlichkeiten zwischen den beiden Sprachausprägungen stattfindet. Weil die Rezipienten im sozialistischen Staat selbst in einer Dikatur leben, blenden sie dies aus: Sie verwenden das Buch als Denkanstoß für ihre aktuelle Situation. Obwohl auch außerhalb der DDR die These geäußert wurde, dass der Wert der „LTI“ vor allem in dem indirekten Verweis auf eine LQI (Lingua quartii imperii; Sprache des „Vierten Reichs“) liege (vgl. Coombes 1989, 53), stellt sich ein Großteil der westlich geprägten Rezeption dieser Position entgegen. Statt das Buch als Aufforderung für eine genauere Auseinandersetzung mit den Mechanismen des sozialistischen Staates oder auch des „westlich-kapitalistischen“ Systems zu verstehen,63 formulieren mehrere Rezensenten einen Vorwurf gegen Klemperer, weil er sich in einem Land zu Hause fühlt, das diktatorische Züge trägt. Sie sprechen ihm als Volkskammervertreter nahezu das Recht ab, die Existenz einer Sprache des „Dritten
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haft von Klemperer Notiz. Der erste und einzige gesamtdeutsche Schriftstellerkongreß im Oktober 1947 in Berlin nimmt die im selben Jahr erschienene ‚LTIʻ gar nicht wahr“ (Jacobs 1999b, 1). Ein Beispiel dafür ist Jürgen Fuchs’ autobiographischer Aufsatz, in dem er seine Erfahrungen als Jugendlicher in der DDR beschreibt. Er entdeckte durch einen Zufall Klemperers „LTI“. Sie wurde zum Auslöser seiner zunehmend kritischen Haltung gegenüber seinem Land und seine Entwicklung zum Regimegegner (Fuchs 1983). Deshalb wurde das Buch in der DDR bald der öffentlichen Wahrnehmung entzogen. Zwar erschienen in regelmäßigen Abständen neue Auflagen des Werkes, aber eine offizielle Vermarktung wurde nicht gestattet (vgl. dazu Fischer-Hupe 2001a, 151ff.). Friedrich Karl Fromme belegt die Versuche, die „LTI“ möglichst unbeachtet zu lassen:„In einem in der DDR 1978 erschienen Prachtband zum 250. Jubiläum der Technischen Hochschule Dresden kommt denn auch Klemperers ‚LTIʻ nicht vor. In dem ausführlichen Literaturverzeichnis, das jede Arbeit eines Assistenten an irgendeinem Lehrstuhl enthält, wird Klemperers ‚Lingua tertii imperiiʻ, also die kritische Darstellung der Herrschaftssprache der Nationalsozialisten nicht erwähnt. Die Machthaber der DDR wußten wohl, wie nahe sie selbst an dem Topf waren, in dem die NS-Herrschaftssprache gar gekocht wurde“ (Fromme 1995, 11). Eine Ausnahme ist erst in neuerer Zeit John Wesley Young, der zeigt, dass nicht nur die Tagebücher 1945-1959, sondern auch Passagen in der „LTI“ einen kritischen Blick auf die Sprache der Sowjets anmahnen (Young 2005).
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Reichs“ anzukreiden, weil er selbst Vertreter und Nutzer einer Sprache des „Vierten Reichs“ sei. Kristine Fischer-Hupe macht auf „[e]in extremes Beispiel“ aufmerksam, „in dem die Tendenz zur Personalisierung der Kritik im Westen noch Jahrzehnte nach Klemperers Tod mit größter Polemik und Konsequenz auf sein Werk übertragen wird“ (Fischer-Hupe 2001b, 47): Walter Boehlich sieht in der „LTI“ „...ein fahrlässiges, durch und durch mißlungenes Buch, schnell hingeschrieben und wenig durchdacht wie fast alle Bücher Klemperers, interessanter durch die eingestreuten Mitteilungen zur Person als durch seine meist oberflächlichen Analysen“ (Boehlich 1990, 266).
Bis in die jüngste Gegenwart hinein werden ähnlich verhärtete Positionen gegenüber der sozialistischen Staatsform getragen. Auch in Bezug auf die Nachkriegstagebücher kommt es dadurch zu irrationalen Kritiken, wie beispielsweise Heidrun Kämpers Vorwurf „prosowjetische[r] Phrasenhaftigkeit“ (Kämper 2000, 40) in den Diarien zeigt. Nur langsam entwickelt sich ein differenzierteres Bild bezüglich Klemperers Entscheidung für die DDR, welches auch eine spezifischere Auseinandersetzung mit den Anwendungsmöglichkeiten seiner Sprachbeobachtungen nach sich zieht.64 Grund hierfür ist die vielfach ideologisch geprägte Herangehensweise an die „LTI“. Statt einer sachlichen Auseinandersetzung mit dem Aussagehorizont des Werkes, prägen die politisch-weltanschaulichen Positionen der Rezensenten den Umgang mit dem Text. Ein bizarres Beispiel dafür ist auch Sönke Landts These, Klemperers „LTI“ sei keine Kritik am Nationalsozialismus – in seinen Worten: „keine vernünftige Faschismuskritik“ (Landt 2002, 23).65 Diese Argumentation stützt sich auf die Behauptung
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In neuerer Zeit erschienen einige Arbeiten, die dazu Vorschläge machen. So nutzt Konrad Ehlich (1998) die LQI-Metapher, um allgemein eine nationalistisch geprägte Sprache zu analysieren. Detlef Joseph lokalisiert speziell für die Bundesrepublik eine LQI (Joseph 1997). Hans-Manfred Militz kommt zu dem Ergebnis, dass aktuell eine Mischform aus LTI und LQI im deutschen Sprachgebrauch vorherrsche (Militz 2001). Problematisch ist diese Bewertung allein schon durch die Begriffswahl: Klemperer hat während des „Dritten Reichs“ und in der „LTI“ in Bezug auf Deutschland grundsätzlich von „Nationalsozialismus“ gesprochen und diesen vom italienischen Faschismus abgegrenzt. Landt dagegen verwendet ausschließlich den Begriff „Faschismus“. Damit kennzeichnet und unterminiert er gleichzeitig sein linksgeprägtes Argumentationsmuster. Denn Klemperers Begriffsverständnis unterscheidet sich offenkundig von Landts.
96 | S CHREIBEN EIN L EBEN LANG – V ICTOR KLEMPERERS T AGEBÜCHER „..., dass Klemperer als Nationalist den Faschismus für eine Abweichung des deutschen Volkes von seiner eigentlichen Identität hält, einer Abweichung, die sich nur durch – v.a. sprachliche – Manipulation erklären lasse. Daher kritisiert er nicht den Nationalismus der Faschisten, sondern die Faschisten nationalistisch“ (Landt 2002, 7-8).
Landts Verständnis von der Zielsetzung der „LTI“ ist mehr als fragwürdig. Immerhin liegt es weniger im Interesse Klemperers „Faschismus-“ oder auch „Nationalsozialismuskritik“ zu üben, sondern er möchte anhand der Sprache aufzeigen, inwieweit der Nationalsozialismus in das Denken und Handeln jedes einzelnen Menschen eingegriffen hat. Hinzu kommt die Tatsache, dass seine Auffassung von nationalistischer Gesinnung, die in der Weimarer Republik unbestritten sehr konservativ war, sich durch die Erfahrungen im „Dritten Reich“ stark gewandelt hat. Dies ignoriert Landt in seiner pauschalen Aburteilung des Buches. Der ausführliche und intensiv recherchierte Kommentar zur „LTI“ von Kristine Fischer-Hupe (2001a) geht weniger engstirnig und ohne Vorurteile an den Text heran. Sie wertet den Sprachgebrauch Klemperers als Hinweis darauf, „...daß sprachliche Kontinuitäten nicht mit ideologischen gleichzusetzen sind und daß generell der Zusammenhang von Sprache und Denken nicht von der Art ist, daß er einen verurteilenden Rückschluß zuließe“ (Fischer-Hupe 2001a, 295).
Dieser Gedankengang ist in der bisherigen Auseinandersetzung mit der „LTI“ jedoch weitgehend unbeachtet geblieben. Die aufgezeigte Fixierung auf die autobiographische oder philologische Argumentationslinie des Werkes blockiert den Weg dazu. Es reicht nicht aus, es als „one of the great classics in the field of propaganda study“ (Wegner 2004, 108) zu loben oder zu beklagen, es handele sich um „ein sehr verkanntes Buch“ (Jäger/Jäger 1999, 13). Vielmehr fehlt bisher eine Auseinandersetzung mit der Sprachanalyse, die sich den konkreten Bedingungen des Textes stellt.
E XKURS 1: D IE R EZEPTION DER WISSENSCHAFTLICHEN P UBLIKATIONEN Rüdiger Bernhardt fordert im Zusammenhang mit Klemperers romanistischen Texten, nicht „den Wissenschaftler Klemperer durch den Tagebuchschreiber aufwerten zu wollen“ (Bernhardt 1997, 13). Er macht darauf aufmerksam, dass die Diarien zwar von der wissenschaftlichen Tätigkeit des Romanisten beeinflusst seien, dies aber nicht zu einer Vermischung der beiden Schreibformen führen dürfe. Bezogen auf den Sammelband von Hannes Heer (1997a) kritisiert Bernhardt, dass viele Untersuchungen keine Grenze zwischen dem Erfolg der Tagebücher und der Rezeption der wissenschaftli-
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chen Texte Klemperers ziehen. Seiner Ansicht nach fehle in der ersten Aufsatzsammlung zu den Diarien „...mindestens ein Versuch, die Wertung der wissenschaftlichen Positionen, nicht nur als Romanist, vorwegzunehmen, [das] hätte den Tagebuchschreiber und den Wissenschaftler auseinandergehalten, um nicht vorschnell nach dem grandiosen Erfolg der Tagebücher in ihrem Sog anderes mitzuziehen“ (Bernhardt 1997, 13).
Angesichts der starken Vermischung von Techniken, die Klemperer in seinen Tagebüchern und in seinen wissenschaftlichen Arbeiten einsetzt, lässt sich eine klare Trennung der beiden Schreibformen jedoch nicht ohne Weiteres umsetzen.66 Heidrun Kämper kommentiert deshalb den Stil der Diarien als lebenslang stark geprägt durch „[d]as Kriterium der Wissenschaftlichkeit“ (Kämper 2001, 56). Entsprechend kann Klemperers wissenschaftliches Schreiben bei einer Untersuchung seiner Tagebuchaufzeichnungen nicht vollständig ausgeblendet werden. Erst unter Einbeziehung der sein Leben prägenden beruflichen Ausrichtung gelingt ein umfassender Zugang zu seinem diaristischen Schreiben. Deshalb stellt der folgende Exkurs die wichtigsten Positionen im Umgang mit Klemperers wissenschaftlichem Werk kurz vor. Im Gegensatz zu der umfangreichen Rezeption der autobiographischen Werke des Romanisten erhielten seine wissenschaftlichen Arbeiten67 bereits zu Lebzeiten auffallend wenig Aufmerksamkeit. Während der Weimarer
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Auch bezüglich des gegenwartsnahen Ausgangspunktes (vgl. Neuschäfer 1996, 131) von Klemperers wissenschaftlichen Arbeiten, der bereits zu seinen Lebzeiten von seinem Schüler Horst Heintze konstatiert wird (vgl. Heintze 1956, 2), bestätigt sich die Untrennbarkeit der beiden Schreibformen. Hans-Peter Lühr macht in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, dass allein schon die „Ideen und Vorlieben“ der wissenschaftlichen Ausrichtung des Romanisten sein Tagebuchschreiben prägen (Lühr 1997, 79). Aus Platzgründen kann in dieser Arbeit nicht ausführlich über die einzelnen wissenschaftlichen Werke Klemperers gesprochen werden. Seine wichtigsten Arbeiten seien jedoch im Folgenden kurz aufgezählt: die Festschrift für Karl Vossler, „Idealistische Neuphilologie“, die er gemeinsam mit Eugen Lerch herausgab (1922); der gemeinsam mit Hartmut Hatzfeld und Fritz Neubert geschriebene Band „Die romanischen Literaturen von der Renaissance bis zur Französischen Revolution“ (1928); das mehrbändige Werk „Die französische Literatur von Napoleon bis zur Gegenwart“ (1931) und die teilweise erst posthum erschienene „Geschichte der französischen Literatur im 18. Jahrhundert“ (1954a, 1966). Neben weiteren Buchpublikationen erschienen viele Aufsätze von Klemperer in Sammelbänden und Zeitschriften. Vgl. dazu auch den Überblick zu den wichtigsten romanistischen Werken Klemperers, den der Kollege Eugen Lerch zu dessen 70. Geburtstag veröffentlichte (Lerch 1951).
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Republik ist er aufgrund seiner jüdischen Abstammung und seiner literarhistorischen Ausrichtung weitgehend aus dem romanistischen Diskurs ausgeschlossen. Er selbst vermutet zudem, dass seine Berufsjahre als Journalist und Schriftsteller sich negativ auf seinen Schreibstil auswirken. Mehrfach wurde ihm vorgeworfen, zu „journalistisch“ zu schreiben. Deshalb verwundert Sven Hanuscheks Einschätzung, dass Klemperer sich „wegen seines eleganten, journalistisch geschulten Stils und der vergleichsweise gegenwartsnahen Themen seiner literarhistorischen Arbeiten [...] in Fachkreisen [...] einen gewissen Namen“ (Hanuschek 1998, 710) geschaffen habe. Eben dieser Schreibstil und die Gegenwartsnähe erschwerten ihm nach eigener Einschätzung die Akzeptanz unter Fachkollegen. Das ändert sich nach dem „Dritten Reich“ nur bedingt. Zwar macht Klemperer in der DDR eine beachtliche Karriere, die ihm auch in den wissenschaftlichen Kreisen Gehör verschafft. In Westdeutschland jedoch werden ostdeutsche Romanisten nahezu vollständig ausgeblendet, weil sich die Bundesrepublik scharf von der sowjetisch besetzten Zone abgrenzt. Dadurch fühlt sich Klemperer auch nach 1945 wissenschaftlich wenig anerkannt und isoliert. Erst nach der posthumen Veröffentlichung seiner Tagebücher wenden sich einige Literaturwissenschaftler einzelnen Texten seiner romanistischen Tätigkeit zu. Deshalb ist es falsch, wenn Bernhardt schreibt: „Die Tagebücher dominieren [heute] so sehr, dass K[lemperer].s wissenschaftliches Werk in ihren Schatten getreten ist“ (Bernhardt 2004, 82). Seine romanistischen Texte konnten nicht durch das Diarium verdrängt werden, weil sowohl sie als auch seine Person vorher kaum beachtet wurden. Hans-Jörg Neuschäfer bringt es auf den Punkt: „Nein: Klemperer war kein berühmter Romanist...“ (Neuschäfer 1997, 120).68 Der einzige Text des Autors, der bis zur Veröffentlichung der Tagebücher einen breiteren Bekanntheitsgrad hat, ist „LTI. Notizbuch eines Philologen“. Deshalb konstatiert Walter Nowojski in einem Interview zum wissenschaftlichen Werk Klemperers: „Untersuchungen zu diesem Thema stehen aus“ (Großmann 1997, 3).69
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Neuschäfer kritisiert heftig, „...daß fast alle Rezensionen – die von Fries (in der Süddeutschen Zeitung) und Nerlich (in der Frankfurter Rundschau) ausgenommen – von einer falschen Voraussetzung ausgegangen sind, die aufzuklären der Romanist, der westdeutsche zumal, verpflichtet ist“ (Neuschäfer 1997, 120): nämlich dem geringen Bekanntheitsgrad Klemperers vor der Veröffentlichung seiner Tagebücher. Auch Carl Freytag betont: „Berühmt wurde K. [...] erst lange nach seinem Tod, als 1995 die Tagebücher der NS-Zeit herauskommen...“ (Freytag 2000, 319). Das bestätigt auch der von Wilfried Barner und Christoph König 2001 herausgegebene Sammelband „Jüdische Intellektuelle und die Philologien in Deutschland 1871-1933“ (Barner/König 2001). Darin wird Klemperers Name nicht einmal im wissenschaftlichen Zusammenhang genannt – sehr wohl aber zitiert ein Aufsatz das „Curriculum vitae“ (vgl. Müller 2001, 96, 98). Dies deutet da-
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Einen ersten Versuch, nach dem Erscheinen der Tagebücher diese Leerstelle zu füllen, stellt ein Dossier der Zeitschrift „Lendemains“ dar, das Michael Nerlich 1996 herausgab (Nerlich 1996b; vgl. dazu Jurt 1997). In dreizehn kurzen Aufsätzen werden unterschiedliche Aspekte von Klemperers romanistischer Tätigkeit im Kontext seiner Biographie und seiner autobiographischen Texte abgehandelt. Der Schwerpunkt wird auf die Bedeutung der Sprache als „Waffe“ (Nerlich 1996c, 7) und Instrument der Auseinandersetzung mit literaturwissenschaftlichen Fragen gelegt. Wie Irving Wohlfahrt kritisiert, geht dies jedoch „mit peinlicher, unhistorischer, heroisierender Einfühlung einher“ (Wohlfahrt 1999, 89-90). Dadurch findet eine weitgehende Idealisierung des scheinbar verkannten genialen Wissenschaftlers statt, die kaum kritische Blickrichtungen akzeptiert.70 Beispielsweise betont Michael Nerlich die aufklärerischen Elemente von Klemperers wissenschaftlichen Arbeiten (Nerlich 1996a, 1996c, 1996e), ohne zu beachten, dass der Romanist sich erst nach der nationalsozialistischen Machtübernahme dieser Denkrichtung öffnete.71 Seine Interpretation der „Geschichte der französischen Aufklärung im 18. Jahrhundert“ als direkte
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rauf hin, dass seine romanistischen Arbeiten keinerlei langfristige Wirkung im philologischen Diskurs hatten. Es fehlt dabei zuvorderst an einer kritischen Auseinandersetzung mit der romanistischen Literatur im Kaiserreich. Fritz Rudolf Fries erläutert: „Die Romanistik, die Erforschung der romanischen Sprachen und Kulturen, war in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts, so grotesk es klingt, gegen eine Dominanz Frankreichs aufgebaut worden – als eine anti-republikanisch, anti-aufklärerisch gesinnte Wissenschaft. In der Literatur gewährte man Frankreich Zutritt bis zur Heldenepik, glaubte man doch, hier vor allem germanische Wurzeln zu entdecken. Dagegen galt die Literatur des modernen Frankreich als dekadent“ (Fries 1995b, 17). Nerlichs These stützt sich vor allem auf die Tatsache, dass Klemperer als überzeugter und patriotischer Deutscher, der begeistert in den Krieg gegen Frankreich eintrat, sich mit seinen Forschungsinteressen an ungewöhnlichen und nicht besonders geschätzten Themen orientierte. Beispielsweise stand seine Habilitation über Montesquieu – wie Fries aufzeigt – damals aller Aktualität entgegen (vgl. Fries 1995b, 17-18; Schröder 1996): „Wie sollte die erste romanistische Habilitationsarbeit zur Aufklärung auf Echo in einem Land stoßen, in dem die Intellektuellen – allen voran Thomas Mann – mit Schaum vorm Mund gegen die französische Aufklärung wüteten?“ (Nerlich 1996c, 21; vgl. dazu Mass 1996). – Zur näheren Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Position Klemperers bietet sich Dietrich Brisemeisters Text an, in dem anhand der Forschungsreise nach Spanien 1926 die wichtigsten Elemente seiner romanistischen Arbeiten ausgeführt werden (Brisemeister 2000). Aufschlussreich sind auch die Überlegungen von Claudia Buhles (Buhles 2003, 181).
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Opposition gegen den Nationalsozialismus entlarvt Paola Traverso als falsch (vgl. auch Traverso 1997a, 66), wenn sie konstatiert: „Zum überzeugten Anhänger der Aufklärung wird Klemperer erst durch den Nationalsozialismus, der ihm die möglichen Konsequenzen einer Ideologie vor Augen führt, an der er selber durch seine völkerpsychologischen Studien partizipiert hatte. Die Hervorhebung der Andersartigkeit Frankreichs (dessen ‚Zivilisationʻ als Gegensatz zur deutschen ‚Kulturʻ präsentiert wurde) implizierte die Feststellung einer Hierarchisierung, die in ihrer letzten Konsequenz dann auch den Unterschied zwischen ‚Herrenrasseʻ und ‚Untermenschenʻ zu rechtfertigen in der Lage war“ (Traverso 1997b, 319).
Die starke Konzentration auf Klemperers „hehres“ Ziel, eine Kulturkunde zu entwickeln (vgl. Bock 1996; Krauss 1996), verdeckt, dass dieser Versuch auch fragwürdige Elemente aufweist. Vor allem nach der Niederlage gegen Frankreich im Ersten Weltkrieg wurde die Romanistik weitgehend als Wissenschaft instrumentalisiert, die aufzeigen sollte, dass die französische Kultur der deutschen unterlegen sei: „Der Haß gegen den Kriegsfeind von 1914-18 wurde von dem nicht allzu lange davor entstandenen Fach Romanistik in ‚wissenschaftlicherʻ Form verpackt, und auf der Grundlage einer chauvinistisch-nationalistisch verzerrten ‚Völkerpsychologieʻ entstand jene ‚Kultur- und Wesenskundeʻ, die sich den Nachweis mentaler, wesenseigener und daher unaufhebbarer Gegensätze zwischen Deutschen und Franzosen zum Ziel setzte“ (Traverso 1997b, 314).72
Klemperer schloss sich diesem ideologisch geprägten Umgang mit der Romanistik weitgehend unreflektiert an. Das führte zu einer, wie Helmut Elbers erklärt, durchaus „pro-nazistischen“ völkerpsychologischen Position (Elbers 1999, 21).73 Während des „Dritten Reichs“ habe der Romanist gezwungenermaßen Abstand davon genommen. Elbers führt allerdings anhand des „LTI“-Kapitels „Die deutsche Wurzel“ den Nachweis, dass dies nur ein
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Traverso verweist in diesem Zusammenhang auf den Titel des von Klemperer herausgegebenen Sammelbandes „Romanische Sonderart“ (Klemperer 1926b), „...in dem auch unbefangene Ohren den Klang späterer Rassenkunde vernehmen können“ (Traverso 1997b, 314). Dabei betont Paola Traverso, dass Klemperer in der Auseinandersetzung mit völkerpsychologischen Untersuchungsansätzen der Romanistik eine „moderate Position“ eingenommen habe: „...der Ton seiner Schriften ist eher versöhnlich als aggressiv, und doch kann er nicht von der ‚Schuldʻ freigesprochen werden, Wasser auf die Mühlen des Nationalismus gegossen zu haben. Dem parteipolitischen Nationalismus indes blieb er fremd; und wie hätte es auch anders sein können angesichts des Antisemitismus, der ein unverzichtbarer Bestandteil der nationalistischen Ideologie war?“ (Traverso 1997b, 315-316).
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temporärer Vorgang gewesen sei: Ab 1945/46 „hat er die Distanzierung von seinen vorherigen Einstellungen schon wieder aufgegeben: Er arbeitet wieder mit kulturkundlichen Methoden“ (Elbers 1999, 22). Die Rezeption von Klemperers wissenschaftlichen Arbeiten ignoriert diese ideologische Prägung weitgehend. Sie nutzt sein romanistisches Werk als einen weiteren Ansatzpunkt für den Versuch, seine Biographie zum Musterbeispiel positiv besetzter Leser-Erwartungen zu erheben. Das wissenschaftliche Werk wird kaum transparent gemacht und stattdessen als Beleg für ein idealisiertes Bild des schicksalsgeprüften Tagebuchschreibers eingesetzt.74 Ähnlich wie in der Auseinandersetzung mit den Tagebüchern werden Verhaltensweisen des Romanisten, die seine Rolle als jüdisches Opfer der Nationalsozialisten einschränken könnten, schlichtweg ausgeblendet. Paola Traverso kommentiert dieses Vorgehen ironisch: „Als ob das Verbrechen erst als solches gelten könne, wenn es an vorbildlich ‚gutenʻ Opfern begangen werde“ (Traverso 1997b, 320). In deutlichen Worten vermerkt sie, dass Klemperers „Schuld“ allein darin bestand, „...an einem wissenschaftlichen Diskurs mitgewirkt zu haben, dessen extremen Folgen er selbst zum Opfer fiel. Seine Glorifizierung durch die heutige Rezeption tut ihm in zweifacher Hinsicht Unrecht: Sie trägt dazu bei, die historische Tatsache zu verdecken, daß er als Jude (und nicht als Voltairianer oder Patriot) verfolgt wurde, und sie leugnet den schmerzvollen Lernprozeß, den er in den 30er Jahren durchgemacht hat; denn der wissenschaftliche und politische Weg Klemperers verläuft keineswegs so linear, wie ihn heutige Romanisten gern hätten, er ist im Gegenteil von Widersprüchen, Zweifeln, politischen Ernüchterungen, Selbst- und Enttäuschungen gezeichnet. Es ist ein gebrochener und kein heroischer Weg. Eine Lektüre Klemperers im Zeichen von Heldenhaftigkeit führt zur Verkennung der Komplexität seiner Persönlichkeit und seines Textes und erstickt seine Stimme, die zu hören manch umständliche Interpretationen überflüssig machen würde“ (Traverso 1997b, 320-321).
Weil die Rezeption von Klemperers wissenschaftlichen Werken jedoch ausschließlich wegen des großen Erfolgs seiner Tagebücher neu belebt wurde, besteht nur ein bedingtes Interesse an der wirklichen Aussagekraft seiner romanistischen Texte. Dies zeigt beispielsweise die Art, wie die Neuauflage der „Geschichte der französischen Literatur im 18. Jahrhundert. Band I. Das Jahrhundert Voltaires“ (vgl. Klemperer 2004) präsentiert wird. Das durch die Klemperer-Schülerin Rita Schober herausgegebene Buch ist ein Beispiel
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Ein extremes Beispiel dafür ist die Aussage der Klemperer-Schülerin Rita Schober: „Die wissenschaftlichen Publikationen selbst der größten Gelehrten unseres Fachgebietes verfallen dem Verschleiß der Zeit. Klemperers Tagebücher und seine LTI werden als historische Dokumente ihre Bedeutung behalten“ (Schober 2003, 350).
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für den Versuch, nachträglich die wissenschaftliche Leistung des Romanisten einzuordnen bzw. in aktuelle Diskurse einzubinden. Im Nachwort bemüht sich die Herausgeberin, die Ähnlichkeit der Grundaussagen von Klemperers Voltaire-Bild mit „der heutigen wissenschaftlichen Wertung dieses Autors“ (Schober 2004, 143) nachzuweisen. Dies ist nicht unproblematisch, weil der Text weder terminologisch noch kategorial die Voraussetzungen der aktuellen Romanistik erfüllt. Als Argument für die VoltaireInterpretation des Romanisten wird ein „verzweifeltes Ringen um das Bewahrung der humanistischen Grundsubstanz europäischer Zivilisation“ (Schober 2004, 150) angeführt. Damit verharrt Schober ebenso wie Rezensenten, die Klemperers Deutschtum oder Judentum hervorheben, um sein Schreiben zu erklären, in dem Versuch eine Idealgestalt zu erzeugen, deren wissenschaftliche Aussagen nicht ernsthaft angezweifelt werden können, weil sie sich aus den historischen Bedingungen zwangsweise ergeben. Das andere Extrem im Umgang mit Klemperers romanistischen Texten sind persönliche Aburteilungen. So bezweifelt zum Beispiel Walter Boehlich die Fähigkeit des Romanisten, überhaupt wissenschaftlich arbeiten zu können. Er wertet die „Geschichte der französischen Literatur im 18. Jahrhundert“ mit der pauschalen Erklärung ab, der Autor sei nicht in der Lage gewesen, ein solches Werk ernsthaft zu entwickeln: „Zu den Seltsamkeiten dieses geschundenen Mannes gehört es, daß er an die Möglichkeit, Literaturgeschichte schreiben zu können, glaubte. So viele Selbstzweifel er gekannt hat, an dieser Möglichkeit hat er nie gezweifelt. [...] Es fehlte ihm an Urteil und an Methodik. Er schrieb zu schnell und dachte zu wenig nach. Je moderner sein Gegenstand, desto beklemmender sein Versagen“ (Boehlich 1990, 267).
Abgesehen von der Tatsache, dass mit der Veröffentlichung von Klemperers Tagebüchern auch seine steten Selbstzweifel an der wissenschaftlichen Produktivität belegt wurden, ist eine derartige Beurteilung der Literaturgeschichte ebenso unpassend wie überschwängliche Idealisierungen. Auch Rüdiger Bernhardts Einschätzung, dass Klemperer „[f]ür die zeitgenössische Literatur [...] wenig Sinn“ habe, er „die größeren und die progressiven Teile der Literatur- und Kulturgeschichte seiner Gegenwart“ nicht wahrnahm (Bernhardt 1997, 13), ist problematisch. Derartige Feststellungen laufen Gefahr, unsachlich zu argumentieren, weil sie nicht auf nachweisbaren Fakten, sondern auf emotional geprägten Vermutungen basieren.
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III.5
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Z USAMMENFASSUNG
Die Darstellung der Rezeptionsgeschichte zu Klemperers Werk in diesem Kapitel konzentriert sich mehrheitlich auf die Tagebücher, weil der Fokus der Öffentlichkeit vornehmlich auf sie ausgerichtet ist. Dabei dominiert eine Blickrichtung, die vor allem die Diarien 1933-1945 als „Zeugnis“ und „Chronik“ vereinnahmt und den Tagebuchschreiber als jüdisches Opfer des „Dritten Reichs“ idealisiert. Die Untersuchungen setzen entweder bei der Persönlichkeit des Diaristen an, was vielfach zu psychologisierenden Fehlinterpretationen führt, oder konzentrieren sich auf den historischen Wert der Aufzeichnungen und ignorieren damit die subjektive Prägung des Textes. Dabei kommt es zu einer problematischen Instrumentalisierung des Tagebuchschreibers als Zeit- und Entlastungszeuge. Jedoch widerspricht es Klemperers persönlichen diaristischen Schreibzielen, wenn er zum Kronzeugen für eine erneute Diskussion der deutschen Schuldfrage gemacht wird. Die Anpassung der Tagebücher an die ideologischen Voraussetzungen einer Rezeption, die Klemperers Aufzeichnungen nicht als lebenslanges Schreibprojekt versteht, sondern sie als historische Quelle okkupiert, ist fragwürdig. Es besteht die Gefahr der Verharmlosung der deutschen Vergangenheit, weil der Blick des Diaristen auf den Holocaust nur eingeschränkt dessen letzte Konsequenz, nämlich die Ermordung von sechs Millionen Juden, andeuten kann. Auch auf die Tagebücher 1918-1932 und 1945-1959 werden diese Analysemuster angewendet. Teilweise kommt es dabei zusätzlich zu wertenden Diskussionen von Klemperers politischen Stellungnahmen in der Weimarer Republik bzw. der DDR. Allerdings lassen sich die Aufzeichnungen, die außerhalb der Jahre 1933-1945 entstanden, nur bedingt in das Schema der Vereinnahmung von Klemperers Person einfügen. Das ist begründet durch die geringere Aufmerksamkeit, die ihnen zuteil wurde. Die Auseinandersetzung mit der Sprachanalyse „LTI. Notizbuch eines Philologen“ und der Autobiographie „Curriculum vitae“ verläuft, wie gezeigt wurde, nach der Veröffentlichung der Diarien ausschließlich in Ankoppelung an diese Aufzeichnungen. Die frühere Rezeption ist stark von ideologisch-politischen und persönlichen Wertungen gekennzeichnet. In besonderem Maße werden diese im Grunde unwissenschaftlichen Sichtweisen in Bezug auf Klemperers wissenschaftliches Werk deutlich. Nachdem es zu seiner Entstehungszeit nur partiell Beachtung fand, nutzt die gegenwärtige Rezeption es zur idealisierenden Überhöhung eines scheinbar verkannten Genies. Die frühen literarischen Texte des Romanisten fanden dagegen bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt keinerlei Beachtung. Im bisherigen Umgang mit Klemperers Werk fehlt es an klaren Begrifflichkeiten und Abgrenzungen. Stattdessen agieren die Rezensenten fast ausschließlich entlang der historischen und biographischen Inhalte der Texte. Selbst in der werkbezogenen Rezeption ist die Herangehensweise selten objektiv. Vielmehr ist die Beschäftigung mit Klemperers Schreiben nahezu
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ausschließlich personenfixiert und gleichzeitig stark subjektiv gefärbt. Die bisherigen Lesebedingungen für die Tagebücher müssen deshalb als falsch angesehen werden. Mit einem literaturwissenschaftlichen Ansatz wird diesem Manko eine strukturierte Untersuchung entgegengestellt, in welcher die Tagebücher zu ihren eigenen Bedingungen gelesen werden. Dazu ist es nötig, sowohl das Tagebuch als auch Klemperers andere Werke nicht ausschließlich als Zeitzeugnisse oder historische Chronik zu betrachten, sondern in erster Linie als Gesamtkonzept. Deshalb setzt diese Arbeit statt des in den Texten beschriebenen Lebensverlaufs die Frage nach dem Hintergrund des lebenslangen Schreibens an erste Stelle. Nicht die Tatsache dass, sondern die Überlegung, warum Klemperer sein Leben möglichst detailgenau über sechzig Jahre hinweg schriftlich festhält, ist entscheidend. Der Grund hierfür liegt paradoxerweise im entstandenen Tagebuch selbst: Obwohl die Diarien nicht für eine direkte Veröffentlichung entstanden, hält Klemperer darin seine Existenz für eine unbekannte Nachwelt fest. Dadurch gelingt ihm das Bewahren seiner Person in schriftlicher Form – er hinterlässt dadurch etwas Bleibendes. Das autobiographische Element ist deshalb der Schlüssel zu einem Verständnis der Tagebücher, das sich nicht ausschließlich an historisch-biographischen Informationen orientiert. Der einzige Weg, die Instrumentalisierung und Idealisierung Klemperers zu verhindern, liegt in einer Herangehensweise an den Text, die nicht bei den Inhalten, sondern bei den Strukturen und ästhetischen Zielsetzungen des Tagebuchschreibers ansetzt.
IV.
Berufliches Schreiben
„Es ist eine Hilfe für den Schreibenden, wenn er sich gelesen weiß. Vielleicht ist es manchmal so, daß ihm seine Arbeit erst dann wirklich glückt, wenn sie ihm geglückt ist, das heißt, wenn er Leser hat“ (Lagercrantz 1988, 37).
In allen Lebensbereichen hat das Schreiben für Klemperer eine große Bedeutung. Während seiner kaufmännischen Ausbildung beginnt er mit sechzehn Jahren, Tagebuch zu führen. Bereits zu diesem Zeitpunkt konzipiert er erste Prosastücke. Diese Beschäftigung mit Literatur intensiviert er während seiner Abiturzeit in Landsberg (1900-1902). Sie manifestiert sich schließlich in seinem Studium der Germanistik und Romanistik (1902-1905). Auch seine ersten beruflichen Schritte weisen in diese Richtung. Er verdient seinen Lebensunterhalt bis 1912 mit journalistischen und schriftstellerischen Arbeiten. Nach der Wiederaufnahme des Studiums, das zu Promotion und Habilitation führt, richtet Klemperer seine Lebensplanung auf die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Literatur aus. Damit legt er sich endgültig darauf fest, die Arbeit mit und die Produktion von Texten zum Zentrum seines beruflichen Interesses zu machen. Parallel dazu schreibt Klemperer kontinuierlich an seinem Tagebuch. Darin dokumentiert er stetig sein berufliches Fortkommen, diskutiert geplante Arbeitsschritte und reflektiert aktuelle Schreibprojekte. Auf diese Weise verbindet er das Diarium inhaltlich mit seiner Arbeit. Claudia Buhles stellt deshalb fest, dass „eine klare Trennung von professioneller und privater Sphäre nicht möglich“ (Buhles 2003, 36) ist. Die beruflichen Arbeiten können aus dieser Sicht in ihrer Gesamtheit nicht ohne die Tagebuchaufzeichnungen betrachtet werden. Inwieweit diese Verbindung im Blick auf die journalistischen, schriftstellerischen und wissenschaftlichen Texte nachweisbar ist, soll im Folgenden untersucht werden.
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Dabei geht es nicht darum, das vollständige, unter beruflichen Aspekten entstandene Werk Klemperers umfassend zu analysieren.1 Vielmehr sollen paradigmatisch einzelne Texte betrachtet werden. Ziel dieses Vorgehens ist die Einordnung der unterschiedlichen Arbeiten in ein Gesamtwerk und die genauere Untersuchung der Verbindung zwischen Tagebuchschreiben und beruflichem Schreiben. Dazu werden im Folgenden in chronologischer Abfolge seine journalistischen, schriftstellerischen und wissenschaftlichen Arbeitstechniken jeweils anhand exemplarischer Texte vorgestellt.
IV.1
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JOURNALISTISCHEN ARBEITEN – SACHLICH BERICHTENDES S CHREIBEN
Klemperers journalistische Tätigkeit beschränkt sich weitgehend auf den Zeitraum zwischen 1905, als er sein Studium abbricht, und 1912, als er es wieder aufnimmt. Einige Zeitungsartikel stammen auch aus späteren Lebensphasen. Er lässt sich beispielsweise von einem befreundeten Redakteur der „Leipziger Neuen Nachrichten“ (LNN) nach dem Ende des Ersten Weltkriegs überreden, Erlebnisberichte über die Novemberrevolution in München zu verfassen (vgl. Exkurs 2: „Revolutionstagebuch“). Noch in der DDR schreibt er gelegentlich einen Artikel über Reiseerlebnisse oder die Teilnahme an einem Kongress. Zwischen 1905 und 1912 arbeitet er vornehmlich im feuilletonistischen Bereich und porträtiert zeitgenössische Persönlichkeiten2 oder analysiert literarische Texte3 und Theateraufführungen (vgl. z.B.: Klemperer 1906e). Zudem publiziert er mehrere Monographien, in denen er sich vornehmlich Schriftstellern der Gegenwart widmet.4 Der journalistische Aspekt dieser Texte begründet sich vor allem dadurch, dass sie als Auftragsarbeiten entstehen. Klemperer schreibt sie, um Geld zu verdienen, nicht aus wissenschaftlichem Interesse. Deshalb werden sie im Folgenden gemeinsam mit
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Dies müsste in einem gesonderten Forschungsprojekt geleistet werden. Es entstehen Studien zum Werk von Schriftstellern wie Karl Emil Franzos (Klemperer 1908c), Ludwig Jakobowski (Klemperer 1909c) oder Wilhelm Jensen (Klemperer 1911). So veröffentlicht er im Feuilleton der „Vossischen Zeitung“ einen Aufsatz zum Thema „‚Neueʻ Balladen“ (Klemperer 1910b). In einer Monographie zur „Deutschen Zeitdichtung von den Freiheitskriegen bis zur Reichsgründung“ (Klemperer 1910d) handelt er anhand geschichtlicher Ereignisse von der napoleonischen Zeit bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts die Entwicklung der deutschen Dichtung ab. Es handelt sich um Studien über Adolf Wilbrandt (Klemperer 1907a), Paul Heyse (Klemperer 1907b), Prinz Emil von Schönaich-Carolath (Klemperer 1908e) und Paul Lindau (Klemperer 1909d).
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Zeitungsartikeln und Feuilleton-Aufsätzen geführt. Jedoch eignet sich der Begriff des „Sachtextes“ besser für eine verallgemeinernde Zusammenfassung dieser Arbeiten. Trotz ihrer Unterschiedlichkeit weisen alle Texte gemeinsame Merkmale auf, die einen spezifischen Schreibstil signalisieren. Das beginnt mit dem in allen Arbeiten erkennbaren Anspruch, die jeweilige Thematik möglichst umfassend darzustellen. Jede Einzelheit ist von Interesse. Unabhängig von der Textform bemüht sich Klemperer stetig darum, Vollständigkeit zu erreichen. Damit ist nicht nur das Zusammentragen inhaltlicher Fakten gemeint, sondern das Einbeziehen verschiedener Perspektiven und Herangehensweisen an das jeweilige Thema. Er schreibt nicht eindimensional. Vielmehr verknüpft er unterschiedliche Gedankengänge miteinander und erschafft so in seinen Texten komplexe Geflechte aus vielfältigen Informationen. Besonders deutlich wird dies anhand der Buchpublikationen zu zeitgenössischen Autoren. Sie lassen sich als literaturkritische Analysen verstehen, welche an den wissenschaftlichen Maßstäben ausgerichtet sind, die Klemperer sich während seines Studiums der Germanistik und Romanistik aneignete. Denn sie folgen einer durchstrukturierten Systematik: Jede Monographie enthält zunächst ein biographisches Kapitel, in dem die Entwicklung des Porträtierten anhand der Bedingungen seines Umfeldes nachgezeichnet wird. Hernach handelt Klemperer die Werke des jeweiligen Schriftstellers, nach Gattungen getrennt, in einzelnen Studien analytisch ab.5 Dadurch entsteht ein umfassendes Bild des Dargestellten, das weit über die Abhandlung biographischer Entwicklungen oder die Zusammenfassung eines Lebenswerks hinausreicht. Ähnliche Strukturen lassen sich in Klemperers Zeitungsartikeln nachweisen, die Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts entstehen. Inhaltlich sind sie meist ebenso wie die Monographien auf literarhistorische oder kulturelle Themen ausgerichtet. Dabei bemüht der Autor sich stets darum, unterschiedliche Perspektiven zu Wort kommen zu lassen und den Untersuchungsgegenstand in zeitgeschichtliche und literarische Entwicklungen einzubetten. Beispielsweise diskutiert er in einer Rezension von Richard BeerHofmanns Theaterstück „Der Graf von Charolais“ nicht nur den Inhalt und die Qualität des besprochenen Werkes. Vielmehr eröffnet er eine weitreichende Diskussion um die Einordnung des Autors und der Figuren des Stücks in zeitgeschichtliche Abläufe und ästhetisch-moralische Erwartungshaltungen (vgl. Klemperer 1906e). Sowohl die feuilletonistischen Texte für Zeitungen und Zeitschriften als auch die Monographien aus der ersten beruflichen Phase Klemperers weisen
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Beispielhaft sei dies kurz an der Monographie „Paul Heyse“ nachgezeichnet: Das Buch besteht aus sechs Kapiteln. Zunächst wird „Biographisches“ angeführt, hernach folgen Studien zu „Novellen“, „Verse[n]“, „Romane[n]“, „Dramen“ und „Übersetzungen“ (Klemperer 1907b).
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entsprechend geschlossene und planvolle Strukturen auf. Er etabliert damit eine Methode, die sein Schreiben lebenslang bestimmen wird. Zudem zeigt sich darin früh seine Affinität zu wissenschaftlichem Vorgehen. Insbesondere die Monographien stellen eine Vorstufe zu den streng literarhistorischen bzw. philologischen Arbeiten dar. Ein deutlicher Unterschied zu diesen späteren Texten besteht jedoch in der Gestaltung. Denn Klemperer geht es in seinen Sachtexten um mehr als die Vermittlung und wissenschaftliche Diskussion von Informationen. Er strebt sprachlich und formal anspruchsvolle Texte an. Dies signalisiert er häufig schon im ersten Satz einer Arbeit. Exemplarisch sei hier der Einstieg in die Monographie „Paul Heyse“ (1907b) zitiert und anschließend ausführlich in seiner Komplexität interpretiert: „Wer sich in die dichterischen Werke Paul Heyses versenkt, in die zahllosen Novellen, die meist von schönen Dingen und Menschen in behaglicher Gestaltungslust berichten und auch das Traurige so anmutig erzählen, daß es in seiner Herzbeweglichkeit nur angenehm rührt, nicht gewaltsam ergreift; in die stattliche Schar dramatischer Dichtungen, die so stofffreudige Aktionen aus allen Zeiten und Ländern bieten und auch bei Gift und Dolch ihre Grazie wahren; in die reiche Versausbeute dieses langen Lebens, die mehr zierliche Schilderungen und Genrebilder als wahrhaft lyrische Offenbarungen einer sturmzerwühlten Poetenseele enthält – der wird sich gewiß sagen, daß nur ein rechtes Sonntagskind, ein Sonntagskind an Herz und Schicksalen, all das in unermüdlicher, nicht allzu schwerer Arbeit hervorbringen kann“ (Klemperer 1907b, 5).
Ohne Umschweife richtet sich der Autor nicht nur an den Leser seiner Biographie, sondern an den potenziellen Rezipienten der Werke des Porträtierten. Damit erzeugt er bereits eine Doppelung, die mit der Tatsache spielt, dass er in dem vorliegenden Buch einen Schreibenden und dessen Geschriebenes beschreiben will. Gleichzeitig signalisiert Klemperer seine eigene Position: Er ist der Vermittler zwischen dem dargestellten Autor und dessen Rezipienten, indem er diesen zu seinem Leser macht. Die Formulierung „Wer [...] sich versenkt [...] der wird sich gewiß sagen...“, deutet auf eine fast absolute Sicherheit darüber, welchen Eindruck die Lektüre der in der Monographie zu behandelnden Texte provozieren muss. Dabei wirkt die Konsequenz aus der Heyse-Rezeption – die Vermutung, der Dichter müsse ein Sonntagskind sein – zunächst befremdlich. Denn diese eher ins Märchenhafte reichende Zuschreibung hat keine konkrete Aussagekraft über die Leistungen des Schriftstellers und die Qualität seiner Texte. Die dieser Feststellung eingelegte kurze Darstellung der Novellen, Dramen und Gedichte Heyses in geradezu poetischen Lobpreisungen füllt diese Leerstelle jedoch vorausschauend aus. Denn die Bezeichnung des Dichters als „Sonntagskind“ zielt nicht auf eine Bewertung von Person oder Werk. Vielmehr geht es darum, Paul Heyse als Figur zu installieren, die selbst einen poetischen Status innehat. Er wird zum Literaten, der durch sein „Herz“ – welches den Bezug zu seinen empa-
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thischen Fähigkeiten herstellt – und seine „Schicksale“ – also dem, was ihm in seinem Leben widerfuhr – zum Schreiben prädestiniert ist. Die Assoziation mit Glück und einem gesegneten Lebensweg, welche durch den zweifach genannten Begriff „Sonntagskind“ hervorgerufen wird, unterstützt diese Idealisierung. Paul Heyse steht damit ebenso über der Position des Lesers wie über jener des Monographen. Dies begründet, warum es nicht nur stimmig, sondern geradezu nötig ist, über den Dichter eine Biographie zu schreiben. Dabei installiert sich Klemperer als kritischer Biograph. Zunächst verschleiert die von sprachlichen Mitteln durchsetzte Überblicks-Darstellung über Novellen, Dramen und Lyrik Paul Heyses dies. Das funktioniert, weil die dichterische Leistung vermeintlich auf der Ebene von „Herzbeweglichkeit[en]“ betrachtet wird. Denn so kann Klemperer die emotionalen Komponenten seiner Rezeption zunächst in den Vordergrund stellen. Er erschließt sich die Textmasse über überbordende Sprachbilder, mit denen die jeweilige Wirkung und Qualität der einzelnen Arbeiten beschrieben wird. Diese Zuweisungen sind jedoch nicht ausschließlich positiv zu lesen. Vielmehr steckt in ihnen bereits heimliche Kritik an den Arbeitsweisen Heyses und den Inhalten seiner Werke. Wenn der Biograph von „behaglicher Gestaltungslust“ in den Novellen spricht, klingt die Vermutung einer gewissen Bequemlichkeit des Schriftstellers an. Die Bemerkung, die Dramen wiesen „stofffreudige Aktionen“ auf, lässt erahnen, dass Klemperer die Kompositionen Heyses nicht immer für gelungen hält. Die Betonung der Lyrik als „reiche Versausbeute“, welche nicht mit „wahrhaft lyrische[n] Offenbarungen einer sturmzerwühlten Poetenseele“ verwechselt werden dürfe, spricht ebenfalls für sich. Auch die Erklärung, „nicht allzu schwere Arbeit“ sei vonnöten, um das Werk des Autors hervorzubringen, ist zweideutig zu verstehen. Klemperers Herangehensweise an den Schriftsteller ist demnach nur auf den ersten Blick euphorisch und uneingeschränkt positiv. Bei näherer Betrachtung wird klar, dass ein sehr kritischer Biograph schreibt. Jedoch hat der erste Satz der Monographie über Paul Heyse das erklärte Ziel, die Leser wohlmeinend zu stimmen. Die geäußerte Überzeugung, der Schriftsteller sei ein „Sonntagskind“ und auch die Rezipienten sähen dies so, schafft eine Verbindung zwischen dem Autoren und jenen, die er ansprechen will. Er stellt sich nicht auf die Stufe eines Kritikers und Analytikers, der außerhalb der Ebene seiner Leser agiert. Vielmehr vereint er sich mit ihnen, indem er eine gemeinsame Position betont. Der erste Satz des Buches stellt damit bereits drei wichtige Punkte klar: 1. Die darzustellende Person, Paul Heyse, wird als herausragend und außergewöhnlich gekennzeichnet. 2. Klemperer signalisiert hintersinnig seine Bereitschaft zur kritischen Auseinandersetzung. 3. Der Autor ist daran interessiert, den Untersuchungsgegenstand gemeinsam mit dem Leser zu betrachten und versteht sich als eine Art Vermittler. Damit sind die grundlegenden Instrumente zur Handhabung des Textes und die Beziehungen zwischen
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dem Biographen, dem Porträtierten und dem Rezipienten geklärt. Gleichzeitig hat Klemperer durch die Komplexität seines ersten Satzes deutlich signalisiert, dass er in seiner Untersuchung nicht eindimensional vorgehen wird, sondern an einer Verflechtung unterschiedlichster Gedankenebenen und Inhalte interessiert ist. Der Sachtext geht damit weit über das gängige Maß an Informationsvermittlung hinaus. Auf einer Metaebene erreicht er eine größere Aussagekraft durch das Zusammenführen diverser, teilweise differierender Argumentationslinien und Umweltbedingungen.6 Dabei bringt Klemperer sich immer mit seiner persönlichen Meinung in die Diskussion ein. Er verweist auf eigene Erfahrungen oder reflektiert den jeweiligen Untersuchungsgegenstand im Licht seiner eigenen Sozialisation und Bildung. Keiner seiner Sachtexte kommt vollkommen ohne einen zumindest versteckten Anschluss an eigene Lebenskonstellationen aus. Egal von welchem Thema seine journalistischen Arbeiten handeln – er bringt sich persönlich in die Argumentationen ein, indem er die Ich-Perspektive seines Schreibens betont und seine privaten Einsichten und Erlebnisse als Folie für allgemein gültige Stellungnahmen innerhalb seiner Texte anführt. Damit installiert er sich als individuelle Persönlichkeit in der Monographie und ist nicht nur gesichtsloser Biograph ohne eigene Position. In der Paul-HeyseBiographie gelingt Klemperer dies, indem er wiederholt deutlich macht, dass er dem Dichter zwar wohl gesonnen ist, jedoch nicht immer dessen Meinungen teilt. Er verweist besonders darauf, einer anderen Generation anzugehören und deshalb diversen Ansichten nicht folgen zu können.7
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Das Zurückgreifen auf unterschiedlichste Ideen und Umwelteinflüsse wird im zweiten Satz der Biographie noch deutlicher. Darin spezifiziert Klemperer genauer, auf welcher Ebene er die Figur Paul Heyse betrachtet. Er leitet die Darstellung der biographischen Daten mit dem Kommentar ein: „Und wirklich erinnert die Lebensgeschichte Paul Heyses, wie er sie selbst in seinen ‚Jugenderinnerungen und Bekenntnissenʻ erzählt hat, trotz mancher Bitternisse, die natürlich keinem Sterblichen erspart bleiben, an das Wort Christian Andersens: ‚Mein Leben ist ein hübsches Märchenʻ“ (Klemperer 1907b, 5). Klemperer setzt Paul Heyses Leben damit in direkten Bezug zur Aussage eines bekannten Schriftstellers, dessen Name insbesondere mit der Gattung der Kunstmärchen verknüpft ist. Dadurch erzeugt er zweifach die Verbindung zu einer literarischen Sphäre, die außerhalb realer Lebensabläufe stattfindet. Er kennzeichnet, dass es ihm nicht darum geht, Ereignisabläufe aufzuzählen. Vielmehr sucht er die Nähe zum Märchenhaften und Literarischen. Dies signalisiert er speziell durch den Begriff „Lebensgeschichte“. Es geht darum, zu erzählen, was Paul Heyses Persönlichkeit prägt und ausmacht. Symbolische Bedeutungen und literarische Zusammenhänge sind Thema der Monographie – nicht das analytische Abarbeiten von Daten und Themen. Beispielsweise stellt sich Klemperer gegen Paul Heyses aggressive Verteidigung des poetischen Realismus gegen den aufkommenden Naturalismus. Dabei bemüht er sich jedoch um ausgleichende Gerechtigkeit, indem er die negativen
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Verstärkt wird die Betonung der persönlichen Perspektive des Autors in Sachtexten, in denen er ohnehin bereits von autobiographischen Erlebnissen berichtet. Denn darin steht der Vermittlung privater Ansichten zu einem Untersuchungsgegenstand nichts im Weg. Auch in den Zeitungsartikeln, die Klemperer in der SBZ bzw. DDR publiziert, bindet er seine private Sichtweise ein. Allerdings zeichnen sich diese Texte durch eine nur aufmerksamen Lesern zugängliche Zweideutigkeit aus. Ein Artikel, der 1949 für die Zeitung „Die Tat“ entstand, verdeutlicht dies in besonderer Weise. Darin berichtet Klemperer von einer Reise in die neu gegründete Bundesrepublik im Juni 1949. Bereits mit dem Titel „Expedition nach Bayern“ signalisiert er den besonderen Status seines Aufenthalts im „Westen“. Die Fahrt nach München erscheint in dieser Formulierung nicht als einfache Reise, sondern als abenteuerlicher Forschungsauftrag. Bayern ist aus der SBZ betrachtet „Fremdland“, dessen kulturelle und politische Zusammenhänge neu erforscht werden müssen. Klemperer installiert sich so als Beobachter einer völlig anderen Kultur, der seine anthropologischen Untersuchungen nun in einem Zeitungsartikel vermittelt. Um die Assoziation einer Forschungsreise zu verstärken, beginnt er den Text mit einem Hinweis auf eine Südamerikareise, die er 1925 gemacht hatte: „In besseren Zeiten durfte ich einmal eine Studienreise nach Südamerika unternehmen. Nicht, daß es damals wesentlich einfacher war, von Dresden nach Buenos Aires zu fahren als heute von Halle nach München, nicht diese äußere Unbequemlichkeit liegt mir auf der Seele. Sondern mich verfolgt, daß mich 1925 in Brasilien und Argentinien das Gefühl der Fremde ungleich weniger angefaßt hat als 1949 in München, demselben München, dem ich den entscheidenden Teil meiner geistigen Durchbildung verdanke“ (Mscr. Dresd. App. 2003, 1251).
Der Vergleich mit der 24 Jahre zurückliegenden Studienreise in einen anderen Kontinent verbildlicht den Widerspruch, der bereits in der Titelformulierung aufbricht: München ist Klemperer fremd geworden. Er kann sich nicht mehr mit seiner früheren Heimatstadt identifizieren. Auf zwei Ebenen stellt er die beiden Reiseerfahrungen gegenüber. Zunächst bemerkt er, dass trotz der weitaus größeren Entfernung, Südamerika leichter zu bereisen war als gegenwärtig „Westdeutschland“. Davon lenkt er jedoch schnell ab. Denn nicht diese rein organisatorisch-sachliche Ebene interessiert ihn, sondern eine Sinneswahrnehmung: Er formuliert, was ihm „auf der Seele“ liegt, spricht explizit von einem „Gefühl der Fremde“ und lenkt damit den Blick des Lesers sofort auf einen emotionalen Bereich.
Aspekte beider Seiten zur Sprache bringt (vgl. Klemperer 1907b, 74). Er platziert sich damit zwischen den Streitparteien und definiert seine individuelle Position.
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Der autobiographische Ausgangspunkt des Zeitungsartikels erhält dadurch zusätzlich einen fast intimen Charakter. Das korrespondiert mit der sehr persönlichen Wertung, die gleich zu Beginn des ersten Satzes steht: „In besseren Zeiten...“. Mit diesem Einstieg beruft Klemperer sich nicht nur auf eine positive Vergangenheit, sondern verurteilt indirekt die Gegenwart. Dies widerspricht den offiziellen Parolen in der SBZ signifikant: Dass nämlich nach dem Sieg über den Nationalsozialismus und den Kapitalismus eine positivere Zukunft angebrochen sei.8 Klemperer kennzeichnet seine Südamerikareise im Jahr 1925 – also ein Ereignis, das während der Weimarer Republik stattfand – als „bessere Zeit[]“. Er enthält sich jeder Begründung für diese Zuschreibung. Es würde zu weit führen, darin eine direkte Systemkritik zu erkennen. Trotzdem setzt er eine klare Missbilligung der allgemeinen gegenwärtigen Situation an den Anfang seines Reiseberichts. Die Tatsache, dass der Artikel nur vier Monate vor der Gründung der DDR entstand, verdeutlicht die Brisanz dieser Aussage.9
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Damit bewegt Klemperer sich auf gefährlichem Terrain. Es wird von ihm erwartet, dass er sich eindeutig anti-westlich äußert. Statt sich diesem Diktat zu unterwerfen, thematisiert er es indirekt durch den geschickten Aufbau seines Zeitungsartikels. Zwar folgt er an der Oberfläche der Erwartungshaltung der offiziellen Stellen der SBZ. Hintergründig prangert er jedoch jene Repressionen an, die ihm die Entscheidung über Inhalt und Form seines Schreibens abnehmen wollen. Es gelingt ihm durch subtile Verknüpfungen und das Spiel mit Negationen nicht nur die staatlich geforderte Meinung zu transportieren, sondern diese Einflussnahme zum einen zu dokumentieren und zum anderen zu umgehen. Dies zeigt deutlich, dass die Vorwürfe verschiedener Rezensenten (vgl. Mohr 1996; Jacobs 1997; Kämper 2000), Klemperer habe sich unkritisch dem Diktat der DDR-Führung unterworfen, unreflektiert sind und ohne intensive Auseinandersetzung mit dessen Arbeiten nach 1945 entstanden. Auch im weiteren Verlauf des Artikels signalisiert Klemperer, dass er nicht nur einen Reisebericht, sondern auch eine unterschwellige Kritik an der Zweiteilung Deutschlands vermitteln möchte. Deshalb verbirgt sich hinter nahezu jeder Aussage zusätzlich zu sachlichen Angaben eine Infragestellung der bestehenden politischen Zustände. Dabei geht es nicht darum, die Existenz der SBZ/DDR oder Bundesrepublik in Frage zu stellen. Vielmehr kritisiert Klemperer durch die Darstellung der verhärteten Fronten zwischen „Ost“ und „West“ das Vorhandensein der Differenz als solcher. Er ist bereit, das Auftreten der politischen Führung in der SBZ ebenso zu problematisieren, wie er unterschwellig spezifische Zustände in „Westdeutschland“ anprangert. Beispielsweise zählt er Vorurteile auf, die im „Westen“ gegen „Ostdeutschland“ vorherrschen. Damit bringt er etwas zur Sprache, das im sowjetisch gelenkten Teil Deutschlands weitgehend ausgeblendet oder nur einseitig beleuchtet wird: Ebenso wie in der Bundesrepublik weit überzogene Negativpropaganda über die Verhältnisse in der SBZ verbreitet wird, geschieht dies umgekehrt. – Dafür stellt er zunächst die Meinungen in Frage, die in Westdeutschland vorherr-
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Die Kritik an politischen Konstellationen kann Klemperer nicht offen über den Inhalt seines Artikels transportieren. Vielmehr liegt der Schlüssel zum Subtext seiner Aussagen vor allem in den empathischen Wahrnehmungen. Dadurch eröffnet der Reisebericht den Zugang zu persönlichen Ansichten des Autors, die offiziell nicht erwartet werden. Methodisch entspricht dieses Vorgehen jenem, das auch in den frühen Sachtexten nachgewiesen werden kann: Klemperer vermittelt unterschwellig persönliche Meinungen und Ansichten, die auf der rein inhaltlichen Ebene nicht sichtbar sind. Erst wenn der Leser sich mit der Textstruktur näher auseinander setzt, offenbart sich das komplexe Netzwerk aus weiterführenden Informationen. Häufig artikuliert der Autor auf diese Weise Kritik an herkömmlichen Betrachtungsweisen und vermittelt Optionen für neue Blickrichtungen. In der „Expedition nach Bayern“ gelingt ihm dies, indem er die offiziellen Erwartungshaltungen gegen eine kritische Hinterfragung dieser Bedingungen
schen: „Dies klingt nun alles lächerlich und ist ja auch, für sich genommen, lächerlich, und es wird rein inhaltlich, den ostdeutschen Leser auch nicht als etwas Neues berühren, denn ebensolche Schaueransichten über unsere Zone verbreiten ja die westlichen Zeitungen und die – unhörbaren! – westlichen Sender tagtäglich. Und doch ist etwas furchtbar Ernstes daran, und auch etwas Neues, das mich sehr erschüttert hat.“ (Mscr. Dresd. App. 2003, 1251). Die Erörterung der verhärteten Vorurteile des „Westens“ gegen die SBZ lässt sich mit der scheinbaren Lächerlichkeit der Behauptungen nicht abhandeln. Klemperer hat durch seine Begegnungen in München erkennen müssen, wie weit verbreitet die Ressentiments gegen den „Osten“ sind. Die Tragweite dieser Erfahrung macht er deutlich, indem er sie mit früheren Einstellungen vergleicht. Dabei begibt er sich erneut auf sehr gefährliches Gebiet. Denn er muss damit zugeben, dass er bereits über die „Schaueransichten“ Bescheid wusste. Offiziell ist es in der SBZ verboten, westliche Radiosender zu hören. Nur über diese jedoch kann Klemperer seine Informationen bezogen haben. Nun greift er zu zwei Tricks, um die Illegalität seiner Handlungen zu verschleiern. Zum einen spricht er im Namen seiner „ostdeutschen Leser“, wenn er von seiner Kenntnis über die Inhalte der westdeutschen Hörfunksendungen spricht. Er macht die Informationen damit zu einem Allgemeinwissen, das alle Menschen in „Ostdeutschland“ verbindet. Zum anderen erklärt er, eingerückt in Bindestriche, dass die „westlichen Sender“ „unhörbar[]!“ seien. Dies kann zweideutig gelesen werden. Erstens erklärt Klemperer damit, die Inhalte der Radiosendungen aus dem „Westen“ seien so untragbar, dass sie keinem Zuhörer zugemutet werden könnten. Zweitens deutet die Formulierung auch die Unmöglichkeit an, überhaupt diese Sender zu erreichen. Damit wiederum wäre die Behauptung in Frage gestellt, alle „Ostdeutschen“ kennten die Propaganda des „Westens“. Die Verwirrung, die damit erzeugt wird, setzt Klemperer zum einen gezielt ein, um rechtlichen und ideologischen Vorwürfen aus dem Weg zu gehen. Zum anderen offenbart er damit der Widersinn der Aversionen, die zwischen „Ost“ und „West“ entstanden sind.
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ausspielt. Dazu vermeldet er, es werde von ihm erwartet, „den Kameraden über ‚Gespräche mit Westdeutschenʻ“ zu berichten (Mscr. Dresd. App. 2003, 1251). Er signalisiert damit, dass die Intention für das Schreiben des Reiseberichts ursprünglich nicht bei ihm selbst lag. Klemperer erhielt vielmehr einen offiziellen Auftrag, durch den ihm inhaltlich vorgegeben wurde, wovon er berichten solle. Nun richtet er diese Information nicht einfach an Leser, sondern an „Kameraden“ – also Mitstreiter in einer gemeinsamen Sache, die politisch geprägt ist. Auf der Inhaltsebene scheint er sich angesichts dieser Formulierung der Erwartungshaltung der externen Instanz unterzuordnen. Die Tatsache, dass er die Anweisungen nach außen trägt, sie zum Thema seines Textes macht, weist jedoch in eine andere Richtung. Denn dies geschieht nur vermeintlich, um das Ziel des Artikels klar zu benennen. Indirekt gelingt es dem Autor dadurch, sich der Fremdbestimmung bis zu einem gewissen Punkt zu entziehen. Indem er die vorgegebene Richtung seines Schreibens aufdeckt, informiert er seinen Leser über den Versuch einer Manipulation. Dieser kann nun selbst überprüfen, ob er linientreu als „Kamerad“ oder als kritischer Betrachter den Text rezipieren möchte. Auf der Inhaltsebene erfüllt Klemperer durchgehend seinen Auftrag. Er schreibt über „Gespräche mit Westdeutschen“ und analysiert diese im Sinne einer pro-kommunistischen Ausrichtung. Hintergründig formuliert er jedoch eine scharfe Kritik an diesem simplifizierenden Blick auf „Ost“ und „West“.10
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Nachfolgend wird dies noch deutlicher geäußert, indem Klemperer erklärt: „Und wirklich: im geistigen Sinn steht als Einheit gegen Einheit ein westlich orientiertes Deutschland dem östlich orientierten gegenüber. Als ich nach dem ersten Weltkrieg Paris wiedersah, überraschte mich an den Schaufenstern großer Verkaufshäuser die Inschrift Englisch spoken – American spoken. So wird es, wenn man sich der gegenwärtigen Entwicklung nicht entgegenstemmt, an den Schaufenstern des Auslands einmal heißen müssen: ‚Man spricht ostdeutsch – Man spricht westdeutschʻ. Dies ist mein entscheidender und erschütterndster Eindruck der paar bayrischen Tage, und dies meine ich in einem durchaus buchstäblichen und nicht bloß in übertragenem und übertreibendem Sinn“ (Mscr. Dresd. App. 2003, 1251). Der Begriff „westdeutsch“ wird im „geistigen Sinn“ betrachtet. Dadurch gelingt es Klemperer, die Kontroverse zwischen der SBZ und der bereits gegründeten Bundesrepublik Deutschland zu verbildlichen. Er sieht in der Bezeichnung „west-“ bzw. „ostdeutsch“ keine sprachliche Differenz, sondern einen politisch-ideologischen Konflikt. In der Konfrontation mit einem kulturell und politisch völlig anders ausgerichteten System erkennt er in Bayern die Ausmaße der Unterschiede zwischen „Ost“ und „West“. Die Verfestigung beider Parteien formuliert Klemperer in deren Gegenüberstellung als „Einheit[en]“. Wieder nutzt er eine autobiographische Beobachtung – die Hinweise auf englisch- bzw. amerikanischsprachige Bedienung in Paris –, um einen Zusammenhang zu erklären. Die beschriebene Szene wird zum Warnbild für eine mögliche Entwicklung der Situation zwischen
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Auch in der Paul-Heyse-Monographie wird – wie bereits erwähnt – an vielen Stellen unterschwellig die Konfrontation mit den dargestellten Positionen gesucht.11 Klemperers Sachtexte funktionieren deshalb nicht von
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„Ost-“ und „Westdeutschland“. Dem ist eine Systemkritik implizit, die nicht nur gegen die Bundesrepublik gerichtet ist. Mit „man“ sind auch die politischen Führer der SBZ gemeint. Klemperer fungiert als Warnender, der zum Handeln auffordert, unabhängig von der politischen Seite, auf der er selbst steht. Er unterstreicht die Wichtigkeit seiner Warnung durch die erneute Hervorhebung privater Emotionen. Er bezeichnet die Erkenntnis, dass „Ost-“ und „Westdeutschland“ sich zu extremen Gegenpolen entwickeln als „entscheidendste[n] und erschütterndste[n] Eindruck“ seiner Reise. Die Betonung, dies sei keine rein sprachliche Floskel, sondern „buchstäblich“ zu nehmen, ist ein geschicktes Manöver in zwei Richtungen. Zum einen weist Klemperer dadurch den Rezipienten nochmals explizit auf die Möglichkeit mehrdeutigen Lesens hin. Zum anderen lenkt die scheinbare Sorge, die Erschütterung könne nur im „übertragene[n] und übertreibende[n] Sinn“ aufgefasst werden, explizit auf die Tragweite dieser Aussage. Ebenso wie später in dem politisch brisanten Zeitungsartikel „Expedition nach Bayern“ gelingt es Klemperer in der Biographie, den Leser geschickt in ein Pro- und Contra-Spiel einzubinden. Der Rezipient hat keine andere Wahl, als ständig die Aussagen des Autors mit einer Bedeutungsebene zu verknüpfen, die über die reine Inhaltsebene hinausreicht. Dabei gerät er verschiedentlich auch in eine aktive Position. Beispielsweise beruft sich Klemperer in der PaulHeyse-Monographie auf die scheinbar selbstverständlichen Ansichten des Lesers, um dahinter Kritik an dem Schriftsteller zu vermitteln. Dies gelingt ihm, indem er betont, nicht nur seine private Position wiederzugeben, sondern als Sprachrohr einer breiten Masse zu fungieren, die seine Meinung teilt. – Sehr deutlich wird dies an einem Kommentar, in dem Klemperer in einem kaum übersichtlichen Satzkonstrukt eine scharfe Kritik an der stetigen Auseinandersetzung des Schriftstellers mit der Liebe formuliert. Er bezeichnet diese Thematik als den „ewige[n] Kern Heysescher Dichtung, der uns so leicht übersättigt wie Zuckerwerk und süßes Fruchtgelee“ (Klemperer 1907b, 12). Dabei verwendet er das Pronomen in der Pluralform und entledigt sich dadurch der alleinigen Verantwortung für die Tragweite seiner Aussage. Nicht ihm allein, sondern „uns“, also dem Autor und den Lesern drängt sich das Gefühl von Übersättigung in Bezug auf die Darstellung der Liebe bei Heyse auf. Der Vergleich mit Naschwerk stellt dabei den literarischen Wert der Thematik in Frage. Denn „Zuckerwerk und süßes Fruchtgelee“ erzeugen neben der Assoziation einer Köstlichkeit auch ein Bild von Klebrigkeit und Übersüßung. Die stetige Wiederholung und Überbetonung des einen Themas führt dazu, dass es als schwer erträgliche Belästigung verstanden werden könnte. Ebenso wie nur eine bestimmte Menge Fruchtgelee auf einem Brötchen schmackhaft ist, so lässt sich die literarische Thematisierung der Liebe bei Heyse nur begrenzt ertragen.
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einer über den Dingen stehenden Ebene herab. Vielmehr bindet der Autor sich an den Leser und bemüht sich um einen stetigen Dialog. Dies ist angesichts seiner Position nicht einfach. Denn er allein hat die Entscheidungsgewalt über die Auswahl der Informationen, die genannt und diskutiert werden, ohne direkte Reaktionen darauf wahrnehmen zu können. Durch die Unterstreichung der Ich-Perspektive und die wiederholte Betonung, es handele sich um seine Meinung, sensibilisiert der Autor seine Leserschaft jedoch für das subjektive Moment seiner Aussagen. Er erklärt durchgehend seine Vorgehensweisen und rechtfertigt ungewöhnliche Schritte gesondert.12 Ein weiterer Punkt, der die Sachtexte miteinander verbindet, verweist gleichzeitig auf Klemperers Nähe zu literarischer Gestaltung. Denn in nahezu jeder seiner journalistischen Arbeiten lassen sich Bemühungen erkennen, entweder Bezüge zu literarischen Vorbildern zu installieren oder sogar neue Motive zu erschaffen. In der Paul-Heyse-Monographie zeigt sich dies beispielsweise in der expliziten Betonung der Funktion des Porträtierten als Literat. Deshalb werden im Kapitel zur Biographie des Dichters unterschwellig alle dargestellten Episoden zu Argumenten für die Aussage, dieser sei „zum Poeten geboren“ (Klemperer 1907b, 13). Durch die Verknüpfung von biographischen Ereignissen und literarischen Texten Heyses gelingt es dem Autor, den Schriftsteller durch dessen eigene Werken zu literarisieren.13
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Exemplarisch wird dies an einer Erläuterung in der Paul-Heyse-Monographie, in welcher Klemperer ausführt, warum er sich insbesondere mit den Novellen des Schriftstellers befasst (vgl. Klemperer 1907b, 51). In der „Expedition nach Bayern“ stellt Klemperer auf andere Weise einen Bezug zu literarischen Motiven her. In der Schlusswendung des Artikels präsentiert er eine Episode, die an seiner offiziellen Position keinen Zweifel lassen kann. Er gibt wieder, was er bei einem Vortrag in Nürnberg vor Ärzten gesagt habe: „Wenn man nur eine Ratte entsprechend impft und sie losläßt, kann sie unendlich viel Unheil verbreiten. Möchten Sie sich nicht als ein paar geimpfte betrachten? Aber es ist wirklich kein Giftstoff, was ich ihnen einzuspritzen bemüht war, es ist wirklich ein bißchen Wahrheit über unsere Zone, und wir bekommen kein einheitliches Deutschland, wenn diese Wahrheit dem Westen verborgen bleibt“ (Mscr. Dresd. App. 2003, 1251). Die metaphorische Umschreibung der Vorstellung, eine positivere Sichtweise auf die SBZ könnte mit Hilfe des Vortrags Verbreitung finden, geht weit über Sprachspielereien hinaus. Mit Hilfe des Bildes von den „geimpften“ Ratten signalisiert Klemperer sein Selbstverständnis: Er nimmt die Rolle der Ärzte ein, die ihm zuhören und agiert in Parametern, die ihrer beruflichen Profession entsprechen. Damit installiert er sich metaphorisch als Ausgangspunkt einer möglichen Veränderung. Er möchte die verhärtete Situation zwischen den beiden deutschen Teilen lösen. Dies funktioniert aus seiner Sicht nur, wenn eine gegenseitige Sensibilisierung stattfindet. Sein Versuch, eine „Wahrheit über unsere Zone“ zu vermitteln, ist ein Beitrag zu einer Aufweichung der bestehenden Grenzen. Dadurch nimmt
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Hintergründige Hinweise auf mögliche Lesarten und Angebote zu neuen Formen der Auslegung kennzeichnen Klemperers gesamte journalistische Arbeiten. Dies bestätigt erneut sein sehr strukturiertes und planvolles Vorgehen. Es ist nicht seine Absicht, ausschließlich Informationen aufzulisten. Vielmehr sucht er nach Zusammenhängen, Bezügen zu geschichtlichen, gesellschaftlichen und theoretischen Hintergründen, um ein umfassendes Bild des jeweiligen Analysegegenstandes zu erschaffen. Er bedient sich eines aufwändigen Schreibstils, der mit Vergleichen und Bildern arbeitet. Geschickt integriert er scharfe Kritik in positive Aussagen. Dadurch entstehen komplexe Arbeiten, in denen es nicht nur um die Darstellung bestimmter Informationen, sondern immer auch um einen Dialog mit dem Leser geht. Die Ich-Perspektive verbindet alle journalistischen Arbeiten miteinander und stellt gleichzeitig die Nähe zu den Tagebuchaufzeichnungen Klemperers her. Denn die Tatsache, dass alle Themen, über die er sich aus beruflichen Gründen äußert, auf verschiedene Art und Weise an seine eigenen Lebenskonstellationen angebunden werden können, weist auf ein wichtiges Element seines Schreibens hin: Er wählt ausschließlich Sachverhalte, mit denen er sich identifizieren kann. Dieser Prozess der Anknüpfung über eine persönliche Anbindung an das jeweilige Thema ist in den Sachtexten selbst jedoch nur versteckt nachvollziehbar. In ihnen wird nur das Ergebnis der Identifikation erkennbar, indem Klemperer sich als Sachverständiger zu einem Thema äußert und dabei Bezug auf persönliche Erfahrungen und Einstellungen nimmt. Im Tagebuch dagegen lässt sich nachvollziehen, wie die Annäherung vollzogen wird. Zwar bleibt diese Aussage für die frühen journalistischen Arbeiten reine Behauptung, weil keine entsprechenden Tagebuchaufzeichnungen mehr vorhanden sind. Für die journalistischen Arbeiten, die ab 1918 entstanden, lässt sich jedoch ausführlich belegen, dass jede Publikation von einer intensiven Auseinandersetzung mit den Inhalten im Diarium begleitet wird. Beispielhaft sei hier auf die Notate verwiesen, die parallel zu dem Artikel „Expedition nach Bayern“ entstanden. Grundthemen des Zeitungsartikels sind die Reise nach München und die dortigen Begegnungen und Erlebnisse. Unterschwellig präsentiert Klemperer jedoch mit diesem Text mehr als
Klemperer eine positiv besetzte Position in dem von ihm geforderten Dialog zwischen „Ost-“ und „Westdeutschland“ ein. Die Umkehrung seiner Forderung auf die SBZ schwingt indirekt mit. Der Artikel geht damit weit über die scheinbare Zielsetzung hinaus. Es handelt sich nicht um einen simplen Reisebericht, der ideologisch verbrämt die Positionen der politischen Führung der SBZ unterstützt. Vielmehr gelingt es dem Autor, einen komplexen und vieldeutigen Text zu entwickeln, der klare Kritik an den Verhältnissen in „West-“ und „Ostdeutschland“ enthält. – Es muss an dieser Stelle allerdings angemerkt werden, dass Klemperers Auftreten in München von seinen Zuhörern völlig anders aufgefasst wurde (vgl. dazu ohne Autor 1949, 2).
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eine sachliche Beschreibung. Er prangert die Trennung von „West-“ und „Ostdeutschland“ als widersinnig an und warnt vor der Vernichtung eines Stücks deutscher Kultur durch die Erschaffung von zwei ideologisch entgegengesetzten politischen Systemen. Damit äußert er eine sehr persönliche Sorge. Den emotionalen Ausgangspunkt für diesen Gedanken artikuliert er im Artikel nicht. Nur im Tagebuch finden sich entsprechende Überlegungen dazu. Der Eintrag, in dem von der Reise nach München berichtet wird, leitet beispielsweise mit der Bemerkung ein: „Die großen Ereignisse der Fahrt stehen in der ‚Expedition nach Münchenʻ. Aber vielleicht ist für das Curriculum viel wichtiger der Moment der Verlassenheit am 8. Juni Nachmittags, als ich in Gutenfürst ohne Geld ganz im Ungewissen und Leeren jenseits der Sowjetbarrière auf dem neutralen 500 m.-Streifen der Autobahn stand u. mir Eva von der anderen Seite her zuwinkte. Ich war wie auf einem Auswandererschiff, schon in der Fremde u. Hilflosigkeit. Ich habe nie vorher FREMDE derart gefühlt. – Und wie sehr das Heimatgefühl, als ich dann am 13 zurückpassierte u. den KB Wagen fand, u. E. ging davor auf u. ab. Es war einer der glücklichsten Momente dieser Zeit“ (SZS I, 656, 08.-13.06.1949).
Weil die „großen Ereignisse“ – die Stationen – der Reise aus dem Tagebuchnotat ausgelagert werden, also keiner intensiveren persönlichen Auseinandersetzung mehr bedürfen, da sie bereits schriftlich im Artikel festgehalten wurden, konzentriert sich Klemperer sofort auf eine emotionale Beobachtung, die „für das Curriculum viel wichtiger“ scheint. Die Gefühle von „Verlassenheit“, „Fremde u. Hilflosigkeit“ haben die Reiseerfahrung begleitet. Direkt werden sie nicht in den Zeitungsartikel eingearbeitet – denn darin geht es um die sachliche Darstellung der Erlebnisse. Jedoch prägen sie unterschwellig die Aussage. Die Kritik an der Zweiteilung Deutschlands basiert auf diesen Emotionen. Anhand der Tagebucheintragung lässt sich belegen, woraus der persönliche Aspekt des Zeitungsartikels, der über das reine Wiedergeben der Reiseerlebnisse hinausgeht, resultiert. Das Diarium ergänzt damit die in dem publizierten Text nur abstrakt angedeuteten Informationen. Tagebuch und Zeitungsartikel erhalten dadurch eine konkrete Verbindung. Die meisten journalistischen Texte werden auf diese Weise nicht nur als Ereignis in einzelnen Einträgen vermerkt, sondern in ihrer Entstehung dokumentiert.14 Das Diarium ist damit Quelle und Begleittext für die journalistischen Arbeiten.
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Als ein weiteres Beispiel sei ein Theaterbesuch genannt, der gleich zweifach in journalistischen Arbeiten verwendet wurde. Klemperer hatte am 22. Februar 1947 eine Theateraufführung von Ernst Tollers „Pastor Hall“ im Deutschen Theater in Berlin gesehen und dies ausführlich in seinem Diarium kommentiert (vgl. SZS I, 355, 28.02.1947). In einem Vorwort für die Zeitschrift „Antlitz“ anlässlich der Eröffnung der Volksbühne Dresden und in einem Zeitungsartikel für den „Sonntag“ zur „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ (VVN)
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Ursache für diese Verknüpfung ist Klemperers Ausrichtung auf seine Person. Die Tatsache, dass keiner seiner Sachtexte ohne einen zumindest versteckten Hinweis auf das Vorhandensein seiner persönlichen Meinungen und Ansichten in der Ich-Form funktioniert, macht deutlich, dass die Reibung an der eigenen Identität ein Grundthema für ihn ist. Jede Reflexion einer journalistischen Arbeit im Tagebuch kann auch als Beleg für einen weiteren geschriebenen Text, der die eigene Existenz dokumentiert, gelesen werden. Denn was gedruckt ist, geht ein in den großen Korpus kultureller Zeugnisse, die auch nach Klemperers Tod „bleiben“ werden. Ergänzt durch die Tagebucheinträge lässt sich der volle Umfang der gedanklichen und emotionalen Auseinandersetzung mit einem Thema nachvollziehen. Auch einzeln bilden der jeweilige Tagebucheintrag und der dazugehörige Sachtext eine „Spur“, wie Michel Foucault es nennt, die Klemperers „Dagewesensein“ nachweisen. Ebenfalls aus dieser Perspektive müssen Tagebuchvermerke zu Zeitungsartikeln betrachtet werden, die seine Person zum Thema haben. Häufig legt Klemperer derartige Texte dem Tagebuch bei,15 um damit die öffentliche Wahrnehmung bestimmter Lebensereignisse zu dokumentieren. Sie sind eine Art Andenken, aber auch eine Selbstbestätigung für Erfolge. Sie ergänzen zudem die Informationen, die in den fortlaufenden Tagebucheintragungen gegeben werden. Nach dem Ende des „Dritten Reichs“ häufen sich –
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wird dieses Ereignis angesprochen. Klemperer inszeniert das Theaterstück als Exempel für die Darstellung der Tyrannei durch die Nationalsozialisten und deren Überwindung durch den sozialistischen Widerstand. Im Tagebuch kommentiert er dazu: „Am Fr. Nachm. schrieb ich ein paar Zeilen Kulturbundgeleitworte für die Zeitschrift der neugegründeten Deutschen Volksbühne in Dresden, ‚Das Antlitz.ʻ Geleitworte mit Facsimile von Friedrichs, Weidauer u Klemperer – o Topp Lempel! o vantiatum vanitas! o Zersplitterung! Ich knüpfte an die Aufführung des ‚Pastor Hallʻ an. Cf meinen VVN-Aufsatz der im heutigen Sonntag (22/III [sic]) stehen soll, wie mir Abusch sagte“ (SZS I, 363, 3. Stelle, 23.03.1947). Über die Theateraufführung werden drei Texte miteinander verknüpft. Das Tagebuch enthält eine Inhaltsangabe mit persönlichen Eindrücken Klemperers zu der Theatervorstellung, auf der das Vorwort und der Zeitungsartikel basieren, und durch die sich ein abstrakter Gedanke bildhaft transportieren lässt. Vgl. zum Beispiel zwei Zeitungsausschnitte im Tagebuch von 1920 (Mscr. Dresd. App. 2003, 120). Darin wird über Klemperers Ernennung zum außerordentlichen Professor bzw. seine Dozententätigkeit im München berichtet. Die Beilage wird in den Tagebucheinträgen in keiner Weise erwähnt. Sie kann jedoch auch unkommentiert als Ergänzung der Tagebuchinhalte betrachtet werden. Häufiger weist Klemperer jedoch in kurzen Randbemerkungen wie „(hier beigelegt)“ (vgl. LS I, 655, 22.01.1923) auf die Einlage eines Zeitungsartikels im Tagebuch hin.
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einhergehend mit seiner späten Karriere – die Verweise auf derartige Artikel.16 Die Anknüpfung des Tagebuchs an journalistische Arbeiten funktioniert demnach in zwei Richtungen: Zum einen betont Klemperer eine Wechselwirkung zu seinen Sachtexten. Zum anderen nutzt er auch Artikel, die über einen bestimmten Aspekt seines Lebens berichten als Bezugspunkt zu den Inhalten seiner Tagebuchaufzeichnungen. Beides unterstützt die These, dass im Diarium nicht nur die private Auseinandersetzung mit dem Selbst im Zentrum des Interesses steht, sondern dass Klemperer sehr gezielt eine möglichst umfassende Aufarbeitung seiner Existenz beabsichtigt. Dafür reicht es weder aus, Texte zu publizieren, noch Tagebuch zu führen. Erst in der Koppelung beider Schreibformen wird ein weitreichendes, vielschichtiges Abbild seines Erlebens möglich. Die Nähe zwischen Diarium und Sachtexten ergibt sich jedoch nicht allein durch den Wunsch, Identität im Schreiben zu bewahren. Auch methodisch lassen sich Verbindungen zwischen beiden Textsorten herstellen. Innerhalb einzelner Tagebucheintragungen nutzt Klemperer trotz der intimen Schreibsituation, die nicht direkt auf eine Öffentlichkeit zielt, bestimmte Techniken, die er in seinem journalistischen Schreiben entwickelt hat. Darunter lassen sich Tagebuchteile einordnen, die scheinbar rein inhaltlich auf die Darstellung spezifischer Ereignisse – Berichte17 – oder auf die Charakterisierung von Menschen – Porträts18 – ausgerichtet sind.
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Diese Texte liegen zwar meist nicht direkt dem Tagebuch bei, jedoch wird konkret in den Eintragungen auf sie verwiesen. Vgl. dazu beispielsweise die Verkoppelung eines Artikels „Viktor [sic] Klemperer bleibt in Dresden“ (Mscr. Dresd. App. 2003, 1471) mit zwei Tagebucheintragungen. Zunächst vermerkt Klemperer das Interview mit einem Journalisten (vgl. SZS I, 399, 3. Stelle, 25.06.1947). Diese Notiz über ein Lebensereignis hat noch keinen direkten Bezug zu dem später entstehenden Artikel. Erst als Klemperer seinen Unmut über den entstandenen Text äußert (vgl. dazu: SZS I, 405-406, 06.07.47), wird dieser an die Tagebucheintragungen gekoppelt. Denn jetzt stehen die Aussagen im Diarium in konkreter Verbindung zum Zeitungsartikel. Sie kommentieren den Inhalt des kritisierten Textes und ordnen diesen gleichzeitig in Klemperers Lebensverlauf ein. Exemplarisch dafür können Klemperers ausführliche Berichte über seine Autofahrten genannt werden (vgl. z.B.: ZA I, 255-256, 12.04.1936; ZA I, 257, 24.04.1936; ZA I, 260-262, 10.05.1936; ZA I, 263, 16.05.1936). Weil er erst 1936 im Alter von 54 Jahren einen Führerschein erwirbt, sind diese Ausflüge für ihn stets etwas Besonderes, weshalb er im Tagebuch ausführliche Berichte dazu verfasst (vgl. dazu auch Mscr. Dresd. App. 2003, 192; Mscr. Dresd. App. 2003, 258). Die unzähligen Porträts in Klemperers Tagebüchern spiegeln sein großes Interesse an menschlichen Eigenarten wieder. Phasenweise entstehen ganze Kataloge mit Charakterisierungen (z.B. im „Dritten Reich“ für die Kollegen in der
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Obwohl es auf den ersten Blick ungewöhnlich scheinen mag, publizierte Texte mit Tagebuchaufzeichnungen zu vergleichen, zeigt die Analyse, dass die systemischen Parallelen dazu berechtigen. Es geht dabei nicht darum, das gesamte Tagebuch den journalistischen Sachtexten gegenüberzustellen. Vielmehr werden die Berichte und Porträts als spezifische, durch das Diarium gerahmte Textsorten verstanden. Sie sind motiviert durch den Wunsch des Tagebuchschreibers, sich vor dem Hintergrund autobiographischer Beobachtungen mit seiner Umwelt zu beschäftigen. Dabei ist nicht jeder Tagebucheintrag, in dem über eine Person gesprochen oder ein Ereignis beschrieben wird, gleichzusetzen mit Porträts oder Berichten. Denn nur ein Teil dieser Darstellungen weist die Merkmale auf, die sich auch in den publizierten Sachtexten finden lassen. Die Verbindung zwischen den porträtierenden bzw. berichtenden Beschreibungen und den journalistischen Arbeiten liegt in der systematischen Herangehensweise an den Gegenstand der Betrachtung. Zwar lassen sich aufgrund der nach innen gerichteten Erzählsituation nicht alle für die journalistischen Arbeiten herausgearbeiteten Merkmale wiederfinden. Trotzdem weisen die Tagebuchberichte und -porträts bestimmte strukturelle Parallelen auf: Auch sie zielen darauf ab, ein umfassendes Bild vom Gegenstand der Beschreibung wiederzugeben. Dabei stellt Klemperer nicht nur inhaltliche Fakten dar, sondern spielt mit verschiedenen Perspektiven und erzeugt dadurch ein komplexes Netzwerk unterschiedlicher Sichtweisen und Informationen. Er rechtfertigt zudem sein Vorgehen vor sich selbst, stellt es gelegentlich in Frage und setzt die Beschreibung neu an. Er betont ebenso wie in den Sachtexten seine Position als kritischer Beobachter, verarbeitet literarische Bezüge und inszeniert gelegentlich ein poetisches Bild (vgl. z.B.: ZA II, 137, 19.06.1942), um einen Eindruck zu verstärken. Allerdings gehen die Berichte und Porträts im Tagebuch in einer Hinsicht über die Struktur der publizierten Sachtexte hinaus. Während Klemperer in den journalistischen Arbeiten auf die Darstellung intimer emotionaler Hintergründe verzichtet, weil er dies dem Diarium vorbehält, löst sich in Texten, die nur im privaten Rahmen entstehen, diese Grenzziehung auf. Die Trennung zwischen persönlichen Gedanken und sachlichen Beschreibungen fällt weg.
Zwangsarbeit: ZA II, 381-384, 22.05.1943). Ein Beispiel für ein Porträt sei mit einer Darstellung aus den zwanziger Jahren kurz angeführt: Während eines Urlaubs in Bornholm begegnet Klemperer einem Ehepaar Foht. Er „studiert“ sowohl den Ehemann, einen Lokalpolitiker als auch dessen Frau, eine Ärztin (LS I, 850, 07.08.1924). Dabei geht er streng systematisch vor. Beide Personen werden nacheinander und anhand von drei Kriterien beschrieben: äußeres Auftreten, indirekte Zitate, Tätigkeiten. Daran koppelt Klemperer anschließend moralisch-kritische Kommentare.
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Exemplarisch lässt sich dies an einem Bericht über einen mehrtägigen Ausflug mit dem Auto nach Berlin vom 17. bis 20. Mai 1937 aufzeigen. Er entsteht nach der Rückkehr nach Dresden an zwei aufeinander folgenden Tagen zwischen dem 21. und 22. Mai 1937. Die Datumsangaben, welche den Bericht in zwei Teile zerlegen, rücken den Blick auf eine strukturelle Besonderheit des Textes. Obwohl dieser inhaltlich zusammenhängt, unterscheiden sich die beiden Textteile stilistisch sehr stark. Im am 21. Mai entstandenen Eintrag geht es Klemperer zunächst darum, die wichtigsten Daten und Inhalte kurz zu notieren. Darin ist neben Angaben zum Benzin- und Ölverbrauch seines Autos stichpunktartig vermerkt, welche Stationen an welchem Tag besucht und wie viele Kilometer jeweils gefahren wurden (vgl. Klemperer 2007,19 883-884). Diese Angaben sind eine Kurzfassung dessen, was Klemperer am 22. Mai ausführlich beschreiben wird. Die gesammelten Daten bilden das inhaltliche Rahmengerüst für die nachfolgenden Ausführungen. Informationen, wie beispielsweise die technischen Erläuterungen zum Benzin- und Ölverbrauch, tauchen in dem eigentlichen Reisebericht nicht mehr auf. Da sie Klemperer trotzdem erwähnenswert scheinen, vermerkt er sie extra. Nach der Aufzählung der Ereignisse der jeweiligen Wochentage wird noch ein weiterer Themenpunkt notiert: das Thema „Landschaft.“ Es ist Klemperer wichtig, die landschaftlichen Impressionen schon im Kurzüberblick der Reise zu erwähnen. Er geht über die pure Auflistung von Fakten hinaus und signalisiert seine gefühlsmäßige Bindung an den beschriebenen Landstrich. Dadurch entsteht ein Gemisch aus einer rein inhaltlichen Auflistung und einer stark von Gefühlen geprägten, privaten Meinungsäußerung. Deshalb kann die Eintragung vom 21. Mai nicht ausschließlich als Stichpunktliste für den am nächsten Tag geschriebenen ausführlichen Reisebericht gelesen werden. Zwar hat sie weitgehend den Charakter einer rein sachlichen Vorarbeit für den nachfolgenden Text vom 22. Mai. Trotzdem ist sie mehr als das. Sie dokumentiert Klemperers Versuch, das inhaltliche Rahmengerüst seiner Reise und seine gedanklichen und emotionalen Reflexionen anzudeuten, damit beide im Bericht entsprechend umfangreich dargestellt werden können. Die Stichwortliste fungiert dadurch sowohl in Bezug auf die sachlichen Ereignisse als auch auf herausragende Gefühlserlebnisse als eine Erinnerungsstütze. In ihr werden unabhängig von der Thematik kurz alle wichtigen Geschehnisse vermerkt. Gleichzeitig ist die Aufzählung Zeichen von Klemperers extrem methodischem Vorgehen. Der Text vom 21. Mai ist der erste
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Im Folgenden werden alle Zitate zur Berlin-Reise vom Mai 1937 nach der CDROM der „Digitalen Bibliothek“ angegeben (vgl. Klemperer 2007). Da in der Druckversion der Tagebücher 1933-1945 nur ein Teil des gesamten Reiseberichts abgedruckt wurde und der Herausgeber zudem deutlich in die formale Strukturierung des Textes eingegriffen hat, empfiehlt es sich in diesem speziellen Fall, ausschließlich den originalen Text zu verwenden.
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Teil eines aufgrund des Inhalts zusammenhängenden Berichts. Darin wird die Vorarbeit für einen umfassenden Prosatext geleistet, in welchem alle erwähnten Ereignisse und Beobachtungen ausführlich dargestellt sind. Dies gibt auch den entscheidenden Hinweis darauf, wie der nachfolgende Textteil vom 22. Mai zu lesen ist: nämlich nicht als spontan entstandene Reaktion auf gerade Erlebtes, sondern als durchkomponierter und planvoll geschriebener Bericht. Einerseits zeigt sich darin Klemperers Bemühen, möglichst umfassend zu erzählen. Andererseits entsteht dadurch die Vermischung einer rein berichtenden Perspektive mit einer persönlichen, wodurch die Differenz zu den journalistischen Sachtexten sehr deutlich wird. Der Bericht über die Reise nach Berlin unterscheidet sich von Notaten, in denen direkt auf Ereignisse reagiert wird. Er entspricht nicht mehr den Kriterien der klassischen Tagebuch-Definitionen, sondern geht explizit darüber hinaus. Zwar entsteht er im Rahmen des Tagebuchs, doch ließe er sich auch losgelöst davon betrachten. Aus dieser Perspektive ist er eigenständig. Die bereits mehrfach gemachte Zuweisung des Begriffs „Bericht“ signalisiert deshalb nicht nur eine Umschreibung für die inhaltliche Qualität der Tagebuchaufzeichnung, sondern ordnet sie einer spezifischen Textsorte zu. Dieser Befund wird insbesondere durch den Aufbau des ausführlich berichtenden Textteils bestätigt: Klemperer stellt chronologisch dar, was sich entlang der Reise ereignete. Er beginnt am Montagmorgen und zählt jedes außergewöhnliche Ereignis auf. Dabei nimmt er keine inhaltliche Gewichtung vor. Vereinheitlichend chronologisch geordnet berichtet er der Reihe nach über jedes Erlebnis, das ihm bedeutsam scheint. Unabhängig von der Dramatik des Ereignisses wird alles mit ähnlicher Ausführlichkeit erzählt. Weil ein kleiner Unfall mit einem Jungen, der sein Fahrrad gegen Klemperers Auto steuerte, sich gleich zu Beginn der Reise ereignete, steht diese Episode am Anfang der Ausführungen. Mit gleicher Ausführlichkeit wird berichtet, welche Speisen in einem Dorfgasthaus serviert werden oder wie bestimmte Personen sich verhalten. Dadurch entsteht der Eindruck, die Darstellung stagniere in der chronologischen Aufzählung von Ereignissen. Dies trifft jedoch nicht zu. Vielmehr entsteht auch in dem Tagebuchbericht eine Verflechtung von Inhalts- und Bedeutungsebenen, die nur deshalb weniger deutlich hervorgehoben wird, weil der Text nicht für einen externen Leser bestimmt ist. Am Ende der Aufzeichnung signalisiert Klemperer das Vorhandensein komplexer Verknüpfungen, indem er das Geschriebene kommentiert: „Im Ganzen also eine völlig gelungene und höchst inhaltreiche Reise, landschaftlich, fahrtechnisch, verwandtschaftlich, politisch gleichermaßen interessant. Haupteindruck bleibt: [...]“ (Klemperer 2007, 898).
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Vier Aspekte der Wahrnehmung haben den Tagebuchbericht geprägt. Anhand dieser Punkte gestaltet Klemperer seine Darstellung. Jedoch separiert er die vier Gesichtspunkte nicht,20 sondern verknüpft sie miteinander. Dadurch erklärt sich die streng chronologische Vorgehensweise. Die in der vorangestellten Stichwortliste genannten Orte werden systematisch durch kleine Episoden und Beobachtungen zu Menschen oder Ereignissen dargestellt. Die vier Themen greift Klemperer dabei immer wieder neu auf und verwebt sie ineinander.21 Diese Technik entspricht dem Vorgehen, das in seinen journalistischen Arbeiten nachweisbar ist. Neben der Verbindung, die zwischen den Tagebüchern und den Sachtexten durch die autobiographische Begleitung der journalistischen Arbeiten entsteht, gibt es demnach strukturelle Parallelen mit einzelnen Tagebucheinträgen, die in Form von Berichten oder Porträts Methoden kopieren, die Klemperer für seine Publikationen wählt. In welcher Textform er diese Techniken zuerst entwickelt hat, lässt sich nicht klar bestimmen. Deutlich wird jedoch, dass sowohl in den journalistischen Texten als auch in den diaristischen Berichten und Porträts teilweise gleiche Muster zur Anwendung kommen. Gemeinsam repräsentieren sie eine spezifische Form der Darstellung in Klemperers Werk: das sachlich berichtende Schreiben. Sowohl dieser Stil als auch die enge Verknüpfung mit dem Tagebuch lassen sich in einer weiteren Textsorte nachweisen. Dabei handelt es sich um Berichte, die Klemperer – meist aus beruflichen, teils auch politischen Gründen – an universitäre bzw. staatliche Stellen abgeben musste.22 Diese
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Andere Tagebucheinträge, die nicht konkret der Berichtform zugeordnet werden können, aber ebenfalls Ereigniszusammenfassungen enthalten, zeichnen sich dadurch aus, dass Klemperer darin bewusst nach inhaltlichen Gesichtspunkten unterschiedliche Themenbereiche eröffnet und darunter jeweils alle zugehörigen Informationen auflistet. Beispielsweise unterteilt er einen rückblickenden Tagebucheintrag vom 14. Dezember 1918, in dem er von einer Reise nach München erzählt, in „Wohnungsmisere“, „Universität“, [d]as Millitärische“ etc. (vgl. LS I, 19ff., 14.12.1918 und die Ausführungen dazu in Kapitel VII.2). Entsprechend bleibt Klemperer durchgehend der analytische Beobachter, der Bezüglichkeiten hinter dem rein Inhaltlichen erkennt und dies strukturiert aufzeigt. So stellt er beispielsweise einen Zusammenhang zwischen dem Porträt einer alten Frau und den nationalsozialistischen Repressionen her (vgl. Klemperer 2007, 887). Damit geht der Bericht plötzlich weit über das Auflisten von Ereignissen hinaus und wird kurzzeitig zu einer analytischen Untersuchung der politischen Bedingungen im „Dritten Reich“. Neben Berichten über spezifische Ereignisse (vgl. „Bericht über einen Vortrag an der Universität Jena“, Mscr. Dresd. App. 2003, 818) oder Protokolle zu Sitzungen (vgl. „Protokoll über die Sitzung des wissenschaftlichen Beirats für Romanistik“, Mscr. Dresd. App. 2003, 825) entstehen in diesem Zusammenhang auch diverse Porträts. Zum einen handelt es sich dabei um Gutachten (vgl.
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Texte können nur deshalb in die Betrachtung seines Gesamtwerks einbezogen werden, weil er selbst Kopien davon aufbewahrte. Sie finden sich in seinem Nachlass, der in der SLUB lagert. Die Tatsache, dass sie erhalten blieben, zeigt, dass Klemperer ihnen eine weitergehendere Funktion als nur die Berichterstattung an eine offizielle Institution zuschrieb. Sie ergänzen zumindest inhaltlich die vorhandenen Tagebuchaufzeichnungen. Beispielsweise existiert ein Bericht über Klemperers Tätigkeit als „Commissar“ einer Reifeprüfung in einem Chemnitzer Gymnasium Ostern 1931 (Mscr. Dresd. App. 2003, 817). Im Tagebuch wird zunächst die Berufung zu dieser Aufgabe vermerkt (LS II, 677, 3. Stelle, 26.01.1931). Einige Wochen später erzählt Klemperer in einem langen Nachtrag ausführlich von seinen Beobachtungen und Erlebnissen in Chemnitz (vgl. LS II, 682, 1. Stelle, 07.03.1931). Dort wird auch darauf hingewiesen, dass ein entsprechender Bericht für die Schulbehörde entstand. Dadurch koppelt Klemperer beide Texte ebenso aneinander, wie andernorts Tagebuchnotate mit journalistischen Arbeiten. Der Bericht über die Reifeprüfung in Chemnitz hat das „Dritte Reich“ und die Dresdner Bombennacht im Februar 1945 nur überstanden, weil er mit vielen anderen Materialien in Pirna versteckt worden war. Dies zeigt, welch signifikante Wichtigkeit der Text für Klemperer gehabt haben muss. Er entschied sich bewusst für dessen Erhaltung, maß ihm demnach Bedeutung bei – zumindest für eine spätere Verwendung in seiner Autobiographie, wenn nicht sogar allgemein für alltagsgeschichtliche Untersuchungen. Formal entsprechen diese Berichte den Kriterien, die für die sachlich berichtende Schreibform Klemperers herausgearbeitet wurden. Allerdings lassen sich im direkten Vergleich mit den entsprechenden Tagebuchaufzeichnungen ebenso Unterschiede feststellen, wie dies bezüglich der journalistischen Arbeiten der Fall ist. Das resultiert aus der Erwartungshaltung, die an den Schreibenden gerichtet wird. Klemperer soll rein sachlich Informationen aufbereiten. Zwar geht es dabei um seine persönliche Einschätzung der Gegebenheiten, jedoch betrifft dies nur einen engen Beobachtungsrahmen. Ein Bericht aus dem Jahr 1950 über eine Reise nach Hessen verdeutlicht dies. Klemperer stellt darin dar, wie er polizeilich daran gehindert wurde, einen Vortrag vor einer kommunistischen Studentengruppe in „Westdeutschland“ zu halten. Der Tagebucheintrag dazu berichtet außer vom eigentlichen Sachverhalt auch über personenspezifische Details, zitiert
„Gutachten zu Dr. Rita Hetzer“, Mscr. Dresd. App. 2003, 820), zum anderen aber auch um so genannte „Persil-Scheine“, in denen der Unterzeichner beglaubigt, dass die angesprochene Person nicht mit den Nationalsozialisten kollaboriert habe. Eine solche Beurteilung schreibt Klemperer beispielsweise für einen befreundeten jüdischen Arzt, dem vorgeworfen wurde, mit der Gestapo zusammengearbeitet zu haben („Beurteilung zu Dr. Neumark“, Mscr. Dresd. App. 2003, 819).
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Kommunikationspartner und erwähnt sogar, dass „greulich[er]“ Apfelwein gereicht worden sei (SZS II, 85, 12.09.1950). Der offizielle Bericht entsteht später (am 17. September 1950) und enthält nur den groben Ereignisrahmen (vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 821). Alle Informationen, die Klemperer aus seiner individuellen Sicht heraus für beschreibenswert befindet, haben darin keinen Platz. Wieder wird dadurch die Trennung zwischen Texten, die für einen spezifischen Leser entstehen, und den rein privaten Tagebuchnotaten deutlich: Der Unterschied liegt nicht so sehr im methodischen Vorgehen, sondern vielmehr in der Auswahl der darzustellenden Inhalte. Im Diarium betont Klemperer seine persönliche Sichtweise, indem er auch Emotionen und Gedanken wiedergibt. Dies kann dazu führen, dass kurzzeitig vom eigentlichen Thema abgewichen wird. In den journalistischen Texten und den beruflichen Berichten dagegen kommen nur jene Informationen zur Sprache, die explizit dem angestrebten Darstellungsziel dienen. Jedoch geht die Bedeutung dieser nach außen gerichteten Texte über die Vermittlung von Inhalten hinaus. Denn außer der Aufbereitung von Sachverhalten und Sinnzusammenhängen für einen externen Leser weist Klemperer sowohl seinen journalistischen Arbeiten als auch den erwähnten Berichten eine weitere Funktion zu, die erst durch die Betrachtung seines gesamten Werks erkennbar wird: Sie ergänzen die autobiographische Dokumentation seiner Existenz. Dies wird gespiegelt in der Verwendung des sachlich berichtenden Schreibens in einzelnen Tagebuchnotaten. Indem er einzelne Einträge in Bericht- bzw. Porträtform gestaltet, signalisiert Klemperer, dass die Methoden der journalistischen Sachtexte nicht nur für einen externen Leser funktionieren, sondern auch im rein autobiographischen Schreiben wichtig sind.
E XKURS 2: „R EVOLUTIONSTAGEBUCH “ Wie gezeigt wurde, begleitet Klemperer nahezu alle journalistischen Arbeiten während ihrer Entstehung durch kommentierende bzw. dokumentierende Tagebucheinträge. Diese Methodik durchzieht sein gesamtes Diarium. Gelegentlich verschwimmen dabei jedoch die Grenzen zwischen den unterschiedlichen Textformen nahezu vollkommen. Ein Beispiel, das im Folgenden kurz vorgestellt wird, ist das so genannte „Revolutionstagebuch“. Es besteht aus sechs Zeitungsartikeln,23 die im Frühjahr 1919 als Berichte über
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Es handelt sich um folgende Artikel: „Politik und Boheme. (Von unserem A. B.-Mitarbeiter)“ (LNN vom 11.02.1919); „Zwei Münchener feiern.“ (Abendausgabe LNN vom 12.02.1919); „München nach Eisners Ermordung. (Von unserem A. B.-Mitarbeiter.)“ (Abendausgabe LNN vom 24.02.1919); „Die dritte Revolution in Bayern. (Von unserem Münchener A. B.-Mitarbeiter.)“
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die Umwälzungen in der Räterepublik in München für die „Leipziger Neuen Nachrichten“ entstehen. Klemperer schreibt sie auf Wunsch eines befreundeten Redakteurs dieser Zeitung unter dem Pseudonym „A. B.“24 Die Artikel liegen nicht nur in gedruckter Form in seinem Nachlass in der SLUB vor, sondern zusätzlich dazu sind die originalen Manuskripte vorhanden (Mscr. Dresd. App. 2003, 118).25 Sie lagern in einer Mappe mit Tagebuchaufzeichnungen aus den Jahren 1916 bis 1918 (vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 118).26 Klemperer hat sie demnach als Teil seines Diariums betrachtet und dementsprechend direkt seinen privaten Notaten zugeordnet. Auch formal wird die Nähe zwischen den Manuskripten und den privaten Tagebucheintragungen deutlich: Sie tragen den Titel „RevolutionsTagebuch“27 (vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 118, Blatt 1, 17.04.1919), stellen also eine Art öffentliches Tagebuch dar. Zudem sind sie datiert und berichten in der Gegenwartsform von zeitnahen Ereignissen. Klemperer unterstützt durch diese Tagebucherzählsituation seine subjektive Position und erzeugt so eine größere Nähe zu seinen Rezipienten. Er präsentiert sich selbst als Teil eines Erlebnishorizonts, der den Leipziger Le-
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(Abendausgabe LNN vom 10.04.1919); „Die Vorgänge an der Universität München. A. B. München, 8. April“ (LNN vom 11.04.1919); „Das befreite München. (Von unserem Münchner A. B.-Mitarbeiter.)“ (Abendausgabe LNN vom 14.05.1919). – Die gedruckten Zeitungsartikel lagern in Klemperers Nachlass, der in der SLUB aufbewahrt wird, nicht bei den originalen Manuskripten des „Revolutionstagebuchs“. Sie wurden an anderer Stelle einsortiert (vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 1213-1218). Im nur als Manuskript vorhandenen Teil der Autobiographie „Curriculum vitae“ heißt es dazu: „Ich muß wohl im Café Merkur ziemlich lebhaft von den politischen Eindrücken dieser Tage erzählt haben, denn [Paul] Harms sagte spontan: ‚Wenn Sie in M. sind, sollten Sie uns Berichte schreiben.ʻ Ich entgegnete ebenso spontan: ‚Dann werde ich als ihr AB-Korrespondet zeichnen, Abkürzung für Antibavaricus.[‘] Wir lachten, u. dann wurde von anderem gesprochen“ (Mscr. Dresd. App. 2003, 117, Seite 238). Im Folgenden wird für die Bezeichnung der originalen Tagebuchmanuskripte die Nummerierung des SLUB-Katalogs verwendet (Mscr. Dresd. App. 2003). Zur Orientierung über die gesamten Materialien vgl. Tabelle A-1 im Anhang. In ihr werden alle Tagebuchteile entsprechend ihrer Nummerierung im Katalog der SLUB aufgelistet. Klemperer hatte die Artikel per Post nach Leipzig verschickt, von wo ihm die Manuskriptoriginale und zusätzlich teilweise eine Maschinenabschrift wieder zugesandt wurden. Klemperer schreibt in der zitierten Überschrift „Revolutions-Tagebuch“, nutzt allerdings im Tagebuch und bei allen späteren Erwähnungen der Zeitungsartikel die Schreibweise „Revolutionstagebuch“. Diese Arbeit folgt der mehrheitlich verwendeten Schreibform.
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sern eher fremd ist. Sie sind wesentlich weniger revolutionären Umwälzungen ausgesetzt als das räterepublikanische München. Durch die persönliche Erzählweise in den Artikeln erhalten sie den Eindruck, aus nächster Nähe und fast persönlich die Ereignisse mitverfolgen zu können. Erneut wird erkennbar, dass Klemperer sehr zielgerichtet die Form seines Schreibens seinen Schreibabsichten anpasst. Das wirkliche Ausmaß der planvollen Gestaltung der Zeitungsartikel wird jedoch nur in den originalen Manuskripten deutlich. Denn die LNN übernehmen im Druck nur teilweise die Imitation einer Tagebucherzählsituation.28 Außerdem druckte die Zeitung nicht alle von Klemperer eingesandten Artikel ab.29 Deshalb legt er nicht den gedruckten journalistischen Text in sein Tagebuch ein, sondern greift auf das ursprüngliche Manuskript zurück. Der Grund für die konkrete Einarbeitung des „Revolutionstagebuchs“ in das originale Diarium wird in den fortlaufenden Aufzeichnungen aus dem Frühjahr 1919 mehrfach erklärt: Sie bilden eine Ergänzung zu den im Diarium gemachten Notaten. Entsprechend finden sich im journalistischen „Revolutionstagebuch“ mehr Informationen zu spezifischen Ereignissen als in den privaten Tagebucheintragungen. Gelegentlich verweist Klemperer in seinem Tagebuch explizit auf weiterführende Informationen im journalistischen Text. Er erklärt in diesen Fällen, die doppelte Verzeichnung der Ereignisse vermeiden zu wollen: „Das Revolutionstagebuch tritt an die Stelle dieser Notizen“ (LS I, 100, 18.04.1919). In diesen Momenten fungiert der Zeitungsartikel nicht nur als Ergänzung zu den persönlichen Einträgen, sondern stellt einen Ersatz für bestimmte Beschreibungen dar.
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So verwenden die LNN den Titel „Revolutionstagebuch“ im Druck nicht. Außerdem wird die Datierung der einzelnen Texte nur teilweise in der Veröffentlichung wiedergegeben (Vgl. z.B. den Artikel „München nach Eisners Ermordung. (Von unserem A. B.-Mitarbeiter.)“ (Abendausgabe LNN vom 24.02.1919, Nr. 53, S. 3), welcher mit dem Datum des 22. Februar 1919 eingeleitet wird). Im Original enthält jeder Artikel eine eigene Datierung (vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 118). Zudem lassen sich im Druck einige redaktionelle Eingriffe in Klemperers Arbeit finden, welche vermutlich aus Platzgründen, aber auch, um der Zensur zu entgehen, vorgenommen wurden. Teilweise liegt der Grund hierfür in der verspäteten Ankunft der Artikel in Leipzig, da die Post wegen der revolutionären Unruhen im Land nur unzuverlässig zustellte. Klemperer bewahrt auch die unveröffentlichten Textteile auf, so einen Artikel mit dem Titel „Münchener Tragikomik“ (Mscr. Dresd. App. 2003, 118, Blatt 21-24). Im Tagebuch wird dies kommentiert: „Harms hat mir wegen Raummangel (wohl aber auch wegen der Anfeindung des Arcorummels) die ‚Münchner Tragikomikʻ zurückgeschickt. Ich legte den Artikel gleich zum Münchner Revolutionstagebuch. Das steht schon einmal aus der Vergessenheit auf“ (LS I, 219, 22.01.1920).
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Weitgehend verlässt sich Klemperer jedoch nicht auf diese Ersatzfunktion, sondern verzeichnet das Erlebte sowohl im privaten als auch journalistischen Tagebuch. Eine Gegenüberstellung der Texte verdeutlicht, wo trotz der inhaltlichen Parallelen die Unterschiede im Schreiben liegen: In den Tagebucheintragungen werden Ereignisse aufgezeichnet, die ausschließlich aus der persönlichen Sicht des Diaristen von Interesse sind. Gelegentlich inspiriert dabei ein Sachverhalt sogar zu Reflexionen über Themen, die direkt nichts mit dem Dargestellten zu tun haben. – Derartige Abschweifungen bleiben im journalistischen Text aus. Dort geht es darum, sachlich zu berichten, was geschehen ist. Ausschließlich die Ereignisse, die direkt die Umbrüche in München betreffen, werden in den Zeitungsartikeln berichtet. In der Darstellung dieser Beobachtungen liegt jedoch der entscheidende Unterschied zwischen Tagebuch und „Revolutionstagebuch“. Er ergibt sich vor allem durch die Ausrichtung auf einen externen Leser. Während Klemperer in seinen persönlichen Aufzeichnungen nur für sich selbst schreibt, orientiert er sich in den Zeitungsartikeln an einem Publikum. Dabei geht es zum einen darum, den Rezipienten mit dem Text zu unterhalten – er soll ihn mit Interesse lesen. Entsprechend ist es nötig, die Beschreibung ansprechend zu gestalten. Das hat zur Folge, dass Klemperer erkennbar „Ausschmückungen“ vornimmt, welche den Lesefluss erleichtern und die Spannung steigern sollen. Er verwendet verschiedentlich dramaturgische und poetische Stilmittel30 oder auch dialektale Formulierungen,31 um bestimmte Themen effekt-
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Das lässt sich bereits an der ursprünglichen Einleitung des ersten Artikels erkennen. In höchst komplexer Struktur vermittelt der Augenzeuge „A.B.“ – in der angedeuteten Form einer Tagebuchaufzeichnung – seine Position als von der Außenwelt abgeschnittener Beobachter: „Kein Brief mehr, nur noch ein Tagebuch, unternommen in völliger dreifacher Abgeschlossenheit. Dreifacher: Denn draußen halten die ‚weißen Gardenʻ München umstellt, und innen hält höchstens, aber auch allerhöchstens ein Zehntel der Bevölkerung – denn München ist keine Industriestadt! – die übrigen Hunderttausend wie in Ketten und dieses Zehntel wiederum, ‚rote Gardeʻ und klassenbewußtes Proletariat, ist absolut willenloses und ahnungsloses Werkzeug einer winzigen Handvoll landfremder Abenteurer, die sich untereinander befehden, und dabei Schwärmerund Bohemiennaturen mit Notwendigkeit von Stunde zu Stunde robusteren Verbrechergestalten weichen müssen“ (Mscr. Dresd. App. 2003, 118, Blatt 1, 17.04.1919). Insbesondere durch den Einsatz von wörtlicher Rede erzeugt Klemperer einen plaudernden und ungezwungenen Grundton, mit dessen Hilfe er die revolutionäre Stimmung in ihrer brisanten Ambivalenz besonders glaubhaft einfängt. Beispielsweise schreibt er: „Und aus der Menge hörte man immer wieder: ‚Preißen san’s freili, aber unsere Befreier san’s auchʻ, und von den Posten erzählt einer, Potsdamer Totenkopfhusar mit vielen Orden, Stahlhelm auch und geschenkte Cigaretten hinterm Ohr, in unverfälschtem Berliner Dialekt, dat sie
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voller gestalten zu können. Zum anderen ist er sich bewusst, dass er mit seinem Text einen gewissen Einfluss auf die Meinung hat, welche sich seine Leser über die Bedingungen in München bilden werden. Entsprechend muss er entscheiden, was er aus welcher Perspektive vermitteln möchte. Beide Aspekte fordern ein planvolles und durchstrukturiertes Vorgehen im „Revolutionstagebuch“, das in diesem Ausmaß im privaten Diarium nicht nötig ist. Der durch die Verwendung der Tagebuchstruktur entstehende Eindruck, Klemperer schreibe ungefiltert zeitnah alle Ereignisse auf, täuscht deshalb im journalistischen Text. Vielmehr zeigt der Vergleich mit den privaten Aufzeichnungen, dass unterschiedliche Beobachtungen dichter zusammengeführt werden. Während im privaten Tagebuch meist jeweils ein Ereignis erzählt und kommentiert wird, koppelt der journalistische Tagebuchschreiber unterschiedliche Geschehnisse aneinander und erzeugt dadurch eine dichte, spannungsreiche Erzählstruktur. Ein kurzer Vergleich zwischen der Darstellung eines spezifischen Ereignisses in beiden Tagebuchformen soll dies verdeutlichen. Es handelt sich um Klemperers Eindrücke angesichts der Prozessionen am Ostersonntag durch die Innenstadt Münchens:
alle Freiwillige seien und den Klamauk schon von Berlin und anderwärts her kannten, und daß alte Männer unter ihnen seien, Förster mit grauen Bärten bis an den Bauch, aber Mensch, die jehen ran! (Woas hat er g’sagt?), und daß sie vor zwei Tagen aus Berlin gekommen seien, und bei Schleißheim hätten die Spartakisten ihre Sänge gekriegt, und da stamme auch die Haubitze her, und hier in München sei’s viel schöner, als sie je jegloobt hätten, nich ein bißchen feindlich bejejne ihnen die Bevölkerung – im Jejenteil!“ (vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 118, Blatt 14).
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Tabelle 1: Vergleich von Klemperers privatem Tagebuch mit dem publizierten „Revolutionstagebuch“ Tagebuch „Um ½ 11, als wir dort oben saßen, Schießen vom Feilitzschplatz her, wo eine Postengruppe stand, u. Glockenläuten. Später Beruhigung, wir kamen glatt nach Haus, es stand nur am Feilitzschplatz eine aufgeregte Menge um ein Automobil herum. [...] Über all das schreibe ich heute wieder ‚Revolutionstagebuchʻ [...] [...] Communion u. Communismus. Wie strömten die Leute gestern aus der Kirche. Die Schellingstr. war schwarz, dazwischen gesät die kleinen weißen Kerzenträgerinnen (wie Schneeglöckchen in schwarzer Frühlingserde!)“ (LS I, 101, 20.04.1919).
„Revolutionstagebuch“ „20.4. Ostersonntag. Communion und Communismus. Ludwigstr. und Schellingstr. sind buchstäblich schwarz von den Tausenden, die aus der Messe strömen. Und in der schwarzen Masse hunderte von weißen Röcken, man könnte, wenn die Zeit danach wäre, beinahe lyrisch werden und von Schneeglöckchen in schwarzer Frühlingserde reden: die kleinen weißgekleideten Mädelchen, ihre Kerzen steif vor sich hin haltend, die von der Communion kommen. Die Menge drängt ängstlich auseinander, denn ein Militärauto, rotbewimpelt, Maschinengewehrbesetzt, jagt pfeifend heran. Kein Tag, an dem dieses gewissenlose Jagen, das eine bloße Gaudi ist, nicht seine Opfer fordert. So stirbt man für die Freiheit! Das Fahren ist Gaudi, das Knallen auch. Man kann jetzt schöne Fasanenfedern, wie Bajonette an den Gewehren steckend sehen: die Fasanen im englischen Garten sind sehr verlockende Jagdobjekte. Aber wenn Meir Franz im Englischen Garten Fasanen schießt, glaubt Huber Xaver am Feilitzschplatz, die Weißen machten einen Putsch und schießt auch, und schon läutet der Posten auf der nahen Erlöserkirche Sturm, und nun knattert es eine Viertelstunde lang in der ganzen Umgegend. Das ist ja sehr vergnüglich, besonders für die Jugend; die Kinder spielen auf den Straßen mit roten Lappen „Revolution“, und ich kenne einen ganz kleinen Jungen, der sagt als ersten Sprachversuch strahlend ‚bum bum!ʻ, wenn die Flinten knallen, und wenn die Maschinengewehre rattern ‚Knatta, Knatta, Knatta!ʻ Aber auch die Gaudi fordert naturgemäß täglich Opfer, und sehr häufig Frauen u. Kinder“ (Mscr. Dresd. App. 2003, 118, Blatt 7-8).
Klemperer verzichtet in seinem privaten Tagebuchnotat auf die Erklärung von Zusammenhängen und jeglichen persönlichen Kommentar dazu, was er von dem notierten Beobachteten hält. Grund hierfür ist die Ankündigung: „Über all das schreibe ich heute wieder ‚Revolutionstagebuchʻ“. Denn in
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diesem Text sind ausführliche Informationen zu den Beobachtungen der revolutionären Entwicklungen in München zu finden. Einzig die Beobachtung „Communion u. Communismus“ wird auch in den privaten Aufzeichnungen erwähnt. Während Klemperer diesen losgelöst stehenden alliterarischen Vergleich im Zeitungsartikel jedoch bildreich erklärt, genügt im Tagebuch die Andeutung des Sachverhalts. Dies deutet an, dass der größere Umfang des journalistischen Textes nicht durch einen umfangreicheren Inhalt entsteht, sondern durch die wortreichere und bildgewaltigere Darstellung der Geschehnisse.32 Beispielsweise berichtet Klemperer im Tagebuch im Präteritum. Im Zeitungsartikel stellt er die Ereignisse im Präsens dar. Die dadurch erzeugte zeitliche Nähe betont seine Augenzeugenfunktion. Die Verwendung von umgangssprachlichen Formulierungen (z.B.: „weißgekleidete Mädelchen“ und „eine bloße Gaudi“), wörtlicher Rede („‚Knatta, Knatta, Knatta!ʻ“) und die Instrumentalisierung persönlicher Erfahrungen („und ich kenne einen ganz kleinen Jungen“) unterstreicht diese Position zusätzlich. Sie erlaubt Klemperer, seine subjektive Meinung direkt in die Darstellung zu integrieren. Das Tagebuch fungiert als Ideensammlung und Vorarbeit. In ihm werden auch sprachliche Möglichkeiten abgetastet. Für weniger gelungen befundene Formulierungen tauchen in der bearbeiteten Textversion nicht wieder auf. Beispielsweise fällt die im Diarium verwendete Metapher „Die Schellingstr. war schwarz, dazwischen gesät die kleinen weißen Kerzenträgerinnen“ im Zeitungsartikel weg. Der Tagebuchschreiber versucht, in dieser Formulierung Farbassoziationen und einen Bezug zu einer bäuerlichen Tätigkeit zu verbinden. Ziel ist es, mit Hilfe von Naturumschreibungen die Menschenmenge zu charakterisieren. Dies gelingt jedoch mit „[d]ie Schellingstr. war schwarz“ nur ungenügend. Deshalb fügt Klemperer schon im Tagebuch dieser Darstellung eine plastischere Beschreibung in Klammern an: „(wie Schneeglöckchen in schwarzer Frühlingserde!)“. Diese Metapher umschreibt – gekoppelt an eine zusätzliche Erklärung der Zusammensetzung
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Vgl. zu Klemperers stilistischer Durcharbeitung der Tagebuchaufzeichnungen auch die nochmalige Verwendung der hier zitierten Inhalte im unveröffentlichten Manuskriptteil des „Curriculum vitae“. Dort heißt es zu der Menschenmenge, die am Ostersonntag durch die Straßen Münchens strömt: „Am strahlenden Ostersonntag waren Ludwig- u. Schellingstr. buchstäblich schwarz von den Tausenden, die aus der Messe strömten, u. in der schwarzen Masse leuchteten hunderte weißer Punkte: kleine weißgekleidete Mädelchen, die ihre Kerzen steif vor sich hinhaltend von der Communion kamen. Alle paar Minuten hörte man ein gellendes Pfeifen. Dann jagte ein Militärauto rotbewimpelt und mit MGs besetzt in rücksichtsloser Schnelligkeit heran. Die Menge schob sich von der Mitte der Fahrstraße weg, das Auto jagte durch, die Menge floß wieder zäh zusammen: die Münchner Rep. u. das Münchener Bürgertum schienen nichts miteinander zu schaffen zu haben u. sich nichts zu Leide zu tun“ (Mscr. Dresd. App. 2003, 117, S. 250 des handschriftlichen Manuskripts).
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der Menschenmasse – die Wahrnehmung besser. Deshalb wird sie auch im publizierten Text aufgegriffen. Ein entscheidender Unterschied zwischen Tagebuchnotizen und „Revolutionstagebuch“ besteht in der Bedeutung von Wahrheit. Während Klemperer in seinen privaten Eintragungen großen Wert auf die möglichst authentische Darstellung der Ereignisse legt, ist dieser Anspruch für die Zeitungsartikel nicht maßgeblich. Vielmehr deuten verschiedene Bemerkungen im Tagebuch darauf hin, dass er für die LNN nicht immer ganz wahrheitsgemäß berichtet. Weil das „Revolutionstagebuch“ jedoch Ergänzung bzw. sogar Ersatz für die privaten Aufzeichnungen sein soll, fühlt sich der Tagebuchschreiber genötigt, genau zu kennzeichnen, an welchen Stellen in den Zeitungsartikeln er sich der künstlerischen Freiheit bedient und Inhalte verändert wiedergibt.33 Dies betrifft allerdings ausschließlich Inhalte, welche im privaten Tagebuch nicht noch einmal extra aufgegriffen werden. Wenn durch den direkten Vergleich beider Texte die Veränderung nachvollziehbar ist, unterlässt Klemperer einen Hinweis auf den erzählerischen Eingriff in die Ereignisse. Denn in diesen Fällen ist es leicht möglich, die sachlichen Unterschiede festzustellen. Das setzt jedoch wiederum eine enge Verbindung zwischen beiden Texten voraus. Für den privaten – autobiographischen – Gebrauch gehören demnach das Tagebuch und die Zeitungsartikel zusammen. Klemperer verwendet beide Texte in gleicher Weise für das Schildern seines Erlebens. Ihre gemeinsame Aufgabe ist es, den Lebensverlauf des Autors aus unterschiedlichen Perspektiven zu dokumentieren. Das Bewahren von Lebensereignissen und Eindrücken verbindet die beiden unterschiedlichen Texte zu einem Werk. Die Funktion des Zeitungsartikels geht damit weit über die für eine Öffentlichkeit bestimmte Darstellung von Ereignissen hinaus. Wohin dieser Vorgang führt, ist 1919 noch ungeklärt. Erst zwanzig Jahre später finden die Materialien, die in beiden Texten gesammelt und ausformuliert wurden, bei der Ausarbeitung des „Curriculum vitae“ Verwendung.34 Die Wechselbeziehung zwischen ihnen wird bereits während ihrer parallelen Entstehung betont. Daraus lässt sich ableiten, dass ein – wenn auch zunächst scheinbar zielloses – Streben nach der Erfassung des eigenen Lebens bereits vor der
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Beispielsweise erklärt Klemperer im privaten Tagebuch: „Was an meinem gestrigen Artikel fictiv war, ist die Zweiteilung in 30. April und 2. Mai. Alles ist nach aufgezeichneten Notizen gestern geschrieben, u. ich mäßigte also meinen Ausfall auf die Schauergeschichten verbreitenden Zeitungen u. brachte einen Hinweis auf den Geiselmord hinein“ (LS I, 107, 03.05.1919). Dass sowohl die privaten Tagebücher als auch die Zeitungsartikel dabei eingesetzt werden, bestätigt ein Tagebucheintrag: „Angespannt und resigniert. Arbeit am Curriculum. Menschen Anfang Mai 19. Meine Artikel für die ‚Leipziger NNʻ“ (ZA II, 21, 12.02.1942).
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konkreten Entscheidung, eine Autobiographie verfassen zu wollen, Klemperers Schreiben bestimmt.
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SCHRIFTSTELLERISCHEN LITERARISCHES S CHREIBEN
ARBEITEN –
Die schriftstellerische Tätigkeit nimmt in Klemperers Gesamtwerk quantitativ einen geringen Raum ein. Nur zwischen 1906 und 1912 veröffentlicht er Prosatexte. Mit der Wiederaufnahme des wissenschaftlichen Studiums rückt er von der Hoffnung ab, selbst Literatur schaffen zu können. Er sieht seine Fähigkeiten eher in der Wissenschaft. Ein Tagebuchkommentar zu einer Novellenidee im Jahr 1925 gibt Aufschluss darüber, warum er sich gegen eine schriftstellerische Laufbahn entschieden hat: „Film- oder Novellenidee. Früher hätte ich sie ausgeführt, später vielleicht tue ich es auch einmal. Jetzt aber: Ich weiß in wievielen Stilen u. Möglichkeiten man es ausführen könnte. Und daß ich’s in keinem Stil originell täte. Und daß ich als Literarhistoriker originell bin. Ergo: Literarhistorie!“ (LS II, 94, 28.07.1925).
Selbstkritisch konstatiert Klemperer, dass seine „Originalität“ nicht im kreativ-schöpferischen, sondern im kreativ-rezipierenden Bereich liegt. Der Abbruch der schriftstellerischen Karriere resultiert demnach nicht aus der Unfähigkeit, Ideen für literarische Texte zu entwickeln. Vielmehr fehlt die Fähigkeit, sich unvoreingenommen dem Stoff zu nähern. Klemperer kann demnach keinen literarischen Gedanken fassen, ohne die Frage nach Darstellungsmöglichkeiten und Wirkungskraft einzubeziehen. Sein Schreiben verliert aus seiner Sicht an „Originalität“, weil es zu offensichtlich auf Leser-Reaktionen und stilistische Ansprüche ausgerichtet ist. In der Position des Literaturwissenschaftlers erweist sich die ständige Suche nach hintergründigen Bedeutungen, sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten und versteckten Andeutungen als notwendiges Werkzeug der Auseinandersetzung mit Text. Für die schriftstellerische Perspektive ist sie eher hinderlich. Klemperers umfangreiches Wissen um literarische Vorbilder und weltgeschichtliche Zusammenhänge überdeckt seinen individuellen literarischen Ton. Dadurch hat er selbst den Eindruck, keinen eigenen „Stil“ herausarbeiten zu können. Als ihm das klar wird, bricht er seine schriftstellerischen Bemühungen ab und wendet sich dem Fach zu, das er besser beherrscht: der Literarhistorie. Eine literaturwissenschaftliche Charakterisierung von Klemperers Prosa im Kontext seiner Selbsteinschätzung, im literarischen Bereich nicht „originell“ sein zu können, läuft Gefahr, wertend vorzugehen. Trotzdem weist dieser Gedanke auf ein entscheidendes gemeinsames Merkmal seiner literarischen Texte hin: Sie alle basieren auf der Anwendung einer enormen
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Spannbreite unterschiedlichster Stile, Gattungen und Motive, die jeweils an großen literarischen Vorbildern orientiert sind. Paradigmatisch für dieses Vorgehen ist der erste Roman Klemperers, „Schwesterchen. Ein Bilderbuch“ (Klemperer 1906f). Wie schon der Untertitel des Buches andeutet, handelt es sich um eine bilderbuchartige Zusammenstellung von Momentaufnahmen. Die „Bilder“ rekurrieren sowohl bezüglich ihrer Inhalte als auch ihrer Symbolik auf ein breites bildungsbürgerliches Wissen. Jedes der sechzehn Kapitel adaptiert weltgeschichtliche und literarische Motive. Das beginnt mit den Überschriften, die jeweils thematisch auf große Vorbilder verweisen.35 Jedes Kapitel basiert formal auf einem in sich geschlossenen Konzept. Dabei verwendet Klemperer teilweise
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Nur das erste Kapitel thematisiert ausschließlich den Roman selbst, was durch den Titel „Schwesterchen“ angedeutet wird (vgl. Klemperer 1906f, 9-16). „Der Zug“ (Klemperer 1906f, 17-25) ist sowohl motivisch als auch inhaltlich an die Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts gekoppelt. „Schneeflocken“ (26-41) bezieht sich auf Volksmärchen und wird dabei selbst im Stil eines Kunstmärchens erzählt. „Verbannt“ (42-51) verweist auf die beliebten Abenteuerromane des 18. Jahrhunderts, insbesondere auf die Werke Alexandre Dumas’. „Circe“ (52-63) lehnt sich an die griechische Mythologie an. „Pro Fano“ (64-83) antizipiert mittelalterliche Lehrschriften. „Karneval“ (84-96) versammelt Elemente der Groteske und des Liebesromans aus dem 19. Jahrhundert. Das achte Kapitel „Das Buch“ (97-108) kann als eine Art stilistischer Höhepunkt betrachtet werden. In ihm wird explizit die Form, in welcher der Text gefasst ist, zum Thema gemacht. Im inhaltlichen Zusammenhang geht es um verschiedene Personen, die alle kurzzeitig mit einer in einem Zugabteil zurückgelassenen Buchausgabe von Rousseaus „Le contrat social“ in Kontakt kommen. Der Titel des Kapitels bezieht sich auf dieses Buch. Stilistisch gesehen, kann er jedoch auch mit der adaptierten Gattungsform des Tagebuchs verbunden werden. Denn das Kapitel ist in Form eines Diariums verfasst. Dadurch werden die einzelnen, zeitlich versetzten Ereignisse zu einer Geschichte zusammengefügt. Es entsteht eine Erzählung, die verschiedene Vorgänge an mehreren Tagen zu einem „Buch“ verbindet. Im Weiteren bezieht sich das Kapitel „Der Turmbau zu Babel“ (109122) auf biblische Motive. „Der Heizer“ (123-132) ruft Assoziationen zur Literatur des Realismus hervor. „Eine italienische Reise“ (133-144) knüpft stilistisch an Goethe und inhaltlich an den Bericht von Plinius dem Älteren über den Untergang Pompejis an. „Tod, der Sanftmütige“ (145-154) nimmt sich mittelalterliche Texte, in denen Gespräche mit dem Tod beschrieben sind, zum Vorbild. „Eine Mohnblüte“ (155-168) entspricht den Merkmalen der Fabel. „Nathan der Weise“ (169-187) rekurriert auf Lessings „Ringparabel“. Auch stilistisch handelt es sich bei diesem Kapitel um eine Parabel. „Ein Idyll“ (188-202) antizipiert die Schäferdichtung und enthält eine Ballade. Das abschließende Kapitel „Morgenschauer“ (203-208) deutet auf die Verwandlung, die sich im Protagonisten Frank vollzogen hat, hin.
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völlig unterschiedliche Gattungsformen, um den jeweiligen Inhalt zu transportieren. Zusammengefasst werden die unterschiedlichen Schreibformen durch die Rahmenhandlung. Dieses Vorgehen ähnelt Techniken der Romantiker. Ähnlich verbinden sich im zweiten Roman Klemperers, „Glück“ (Klemperer 1907c), diverse Gattungen und Stile miteinander. Dabei handelt es sich um ein fiktives Tagebuch der Gouvernante Dora von Winzer, welches nach deren Tod von ihrer Arbeitgeberin, der reichen Fabrikantengattin Madame Liebermann, gelesen wird. Auf diese Weise sind zwei Handlungsstränge und zwei Textformen – das Diarium der Verstorbenen 36 und die von einem auktorialen Erzähler dargestellte Perspektive der heimlichen Leserin – miteinander verknüpft. Zusätzlich verbindet der Roman unterschiedliche Textgattungen – so wenn Dora von Winzer einen Brief in ihr Tagebuch einlegt (Klemperer 1907c, 100-101), ein Gedicht schreibt (Klemperer 1907c, 159-160) oder in Form einer Groteske einen Traum wiedergibt (Klemperer 1907c, 76-83). Sowohl „Schwesterchen“ als auch „Glück“ lassen sich damit unmöglich einer einzigen Gattung zuordnen. Nur die Rahmenhandlung hält die Aneinanderreihung unterschiedlichster Textsorten und „Stile“ zusammen. Dies trifft auch für andere Prosa-Arbeiten Klemperers zu. Zwar können viele Texte oberflächlich einer Gattung zugesprochen werden – so hat er neben einem Band mit Erzählungen (Klemperer 1910a) beispielsweise dramenähnliche Kurztexte (Klemperer 1906c), Grotesken (Klemperer 1908b, 1909b), Novellen (Klemperer 1908d, 1910/1911), Lieder (Klemperer vgl. 1906b, 1906d), Glossen (Klemperer 1908a), Balladen (Klemperer 1909a) und Gedichte (Klemperer 1910c, 1912) veröffentlicht. Nahezu jede dieser Arbeiten durchbricht jedoch auf die eine oder andere Art die herkömmlichen Grenzen der jeweiligen Textform. Ein prägendes Element von Klemperers Prosa stellt demnach sein stetiges Bemühen dar, sein Schreiben auf mehreren Ebenen an eine elaborierte Komplexität und Vorbilder aus Kunst, Literatur, Historie und Philosophie zu knüpfen. Dies führt häufig zu einer Auflösung
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Die Tagebuchaufzeichnungen ähneln vom äußeren Aufbau her Klemperers eigenen Einträgen. Es wird in der Datierung möglichst genau geklärt, an welchem Ort (vgl. z.B.: Klemperer 1907c, 9) und zu welchem Zeitpunkt (vgl. z.B.: Klemperer 1907c, 16) ein Notat gemacht wird. Der Schreibstil ist jedoch wesentlich flüssiger. Es werden Emotionen und Gedanken reflektiert, die alle auf ein spezifisches Ziel, nämlich Dora von Winzers Sehnsucht nach einem „Glücksgefühl“ ausgerichtet sind. Strukturbrechende Randüberlegungen und Situationsbeobachtungen, wie sie Klemperer privat häufig aufzeichnet, finden sich nicht. Vielmehr zeigt schon der Beginn des ersten Tagebucheintrags durch seinen Bezug auf Sokrates (vgl. Klemperer 1907c, 9) die stark bildungstheoretische Ankoppelung der Notate. Überbordende Metaphern und symbolistische Episoden durchziehen die gesamten Tagebuchnotizen, meist geknüpft an berühmte Motive oder Zitate der Weltliteratur (vgl. z.B.: Klemperer 1907c, 17).
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der Gattungsgrenzen und der Verbindung unterschiedlicher „Stile“ miteinander innerhalb einzelner Texte. Einerseits bestätigt sich damit Klemperers Selbstdiagnose: Er kann der Verlockung nicht widerstehen, mit den Möglichkeiten der literarischen Darstellung zu spielen. Andererseits widerlegt dies jedoch seine Behauptung, nicht „originell“ sein zu können. Denn eben diese Form der Verarbeitung literarischen Stoffs, die insbesondere in der Tradition des Symbolismus zu sehen ist, macht Klemperers Texte einzigartig. Zwar wirken seine Arbeiten aus heutiger Sicht teilweise antiquiert und aufgrund der Masse von Allegorien und Metaphern beinahe schwülstig. Trotzdem ergibt sich aus dieser speziellen Art des Zusammenführens unterschiedlicher literarischer Motive und Stile Klemperers „origineller“ Schreibstil. Zentraler Ausgangspunkt seines Erzählens ist dabei immer wieder die subjektive Perspektive. Die meisten seiner Prosa-Texte haben einen IchErzähler. Selbst wenn ein auktorialer Erzähler zu Wort kommt,37 finden sich zumindest gelegentlich subjektive Positionen, indem der Erzählende in der Ich-Form das Dargestellte wertet. Diese Thematisierung von individuellen Wahrnehmungen weist darauf hin, wie fundamental die Auseinandersetzung mit dem Selbst für Klemperers Schreiben ist. Die beiden genannten Romane handeln von der Suche eines Individuums nach seiner Identität. Dabei durchlaufen die Protagonisten einen Erkenntnisprozess, der von der Reflexion über Vergangenes und Gegenwärtiges bestimmt ist. Die Figuren haben einen Weg gefunden, von sich zu erzählen – Dora von Winzer, indem sie Tagebuch führt (vgl. Klemperer 1907c); Frank, indem er seine Erlebnisse mit dem Schwesterchen schriftlich berichtet (Klemperer 1906f).38 Beide Bücher – und auch andere literarische Texte Klemperers – konzentrieren sich zudem nicht auf eine Hauptfigur, sondern auf die Entwicklung mehrerer Personen. Daran wird deutlich, dass der Autor ebenso wie in seinen journalistischen Texten darauf bedacht ist, stets differierende Perspektiven zu Wort kommen zu lassen. Er erzählt nie eindimensional, sondern bemüht sich stets darum, unterschiedliche Wahrnehmungen ein und desselben Sachverhalts darzustellen. Auf diese Weise animiert er den Leser dazu, aktiv
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Beispielsweise wird die zweite Erzählebene in „Glück“ (1907c), welche die Leseeindrücke von Madame Liebermann einfängt, von einem auktorialen Erzähler wiedergegeben, der wiederholt Randkommentare anfügt. Frank nähert sich im inneren Dialog mit dem Schwesterchen reflexiv seiner eigenen Identität an (vgl. Klemperer 1906f). Er erwähnt bereits im ersten Kapitel des Romans, dass er beschlossen habe, aufzuschreiben, was er mit der Phantasiefigur erlebt (Klemperer 1906f, 10). Im Kapitel „Idyll“ wird deutlich, dass dieser Schreibprozess in Form eines Tagebuchs abläuft (vgl. Klemperer 1906f, 192). – Dora von Winzer erklärt explizit, Tagebuch schreiben zu wollen, um zu verstehen, wer sie selbst sei (vgl. Klemperer 1907c, 37).
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an den jeweiligen Argumentationen teilzunehmen und einen eigenen Standpunkt zu beziehen. Klemperers Figuren ringen um ihre Identität. Auf der Suche nach sich selbst durchlaufen sie unterschiedliche Stadien der Wahrnehmung. Damit wiederholt der Autor auf literarischer Ebene, was in seinem privaten Leben starkes Gewicht hat. Denn sein Tagebuchschreiben entsteht nicht allein zur Dokumentation von Existenz, sondern zur stets neu zu hinterfragenden Auseinandersetzung mit dem Selbst. Auf diese Weise verarbeitet er in seinen literarischen Texten sein Lebensthema.39 Ohnehin lassen sich häufig autobiographische Elemente in Klemperers Prosa nachweisen. Dies kann vielfach durch einen Vergleich zwischen dem jeweiligen literarischen Text und der Autobiographie „Curriculum vitae“ belegt werden. Beispielsweise ist die Lebenssituation von Frank, der in einer fremden Stadt Abitur machen soll, weit entfernt von seiner Familie, Klemperers Erlebnissen in Landsberg an der Warthe nachempfunden.40 In den literarischen Texten bleibt es jedoch nie bei der Wiedergabe reiner Sachverhalte, sondern der Stoff wird – unabhängig davon, ob er autobiographisch
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Eine ausführliche Darstellung von Klemperers literarischem Schreiben findet sich in Exkurs 3: Der Roman „Schwesterchen“. Darin wird anhand einer Interpretation des ersten Kapitels dieses Buches spezifisch die Funktionsweise seines literarischen Schreibstils untersucht. Dabei bezieht sich Klemperer teilweise auf spezielle Erlebnisse, die er in Landsberg hatte. Eine Episode mit einem Mathematik-Lehrer, die sowohl in „Schwesterchen“ als auch im „Curriculum vitae“ beschrieben wird, zeigt dies exemplarisch. Im Roman kommentiert Frank: „Wieder dieser Doktor Kuhnert! Der Mann ist mein böser Feind. / An sein Schelten und Tadeln bin ich nachgerade gewöhnt; wenn er nur den Spott lassen wollte. Aber darin ist er so erfinderisch! Mit freundlichster Miene trat er heut auf mich zu, zog sein Taschenbuch, riß ein winziges Papiereckchen heraus und bat mich recht liebenswürdig, alles darauf niederzuschreiben, was ich von der gesamten Mathematik wüßte. Die anderen schüttelten sich vor Lachen, und mir traten fast die Tränen in die Augen“ (Klemperer 1906f, 64). In der Autobiographie beschreibt Klemperer eine ähnliche Szene aus seiner Zeit als „Primus omnium“: „Einmal war Kuhfahl [der Mathematik-Lehrer] an mich herangetreten, hatte schweigend eine winzige Ecke von einem Blatt seines Notizbuches abgerissen und es mir feierlich überreicht: ‚Wollen Sie mir bitte hierauf alles niederschreiben, was Sie aus dem gesamten Gebiet der Mathematik wissen.ʻ Brüllendes Gelächter der ganzen Klasse“ (CV I, 244). Die von Frank beschriebene Episode hat Klemperer demnach tatsächlich erlebt. Während die Begebenheit mit dem Mathematik-Lehrer jedoch im „Curriculum vitae“ nüchtern und ausschließlich als Charakterisierung für einen größeren Sachzusammenhang dargestellt wird, erhält sie mit der Stimme Franks eine persönliche Note. Sie signalisiert dessen Ausgeliefertsein an die schulischen Zwänge, aus welchen er mit Hilfe des Schwesterchens auszubrechen versucht.
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bedingt ist – in einer Mischung von realen und phantastischen Elementen verarbeitet. Dies resultiert zum einen aus Klemperers stetem Bemühen um eine vieldeutige Bildsprache, zum anderen aus der erwähnten Verwendung unterschiedlicher Stilrichtungen. Auch die Lyrik des Autors weist die angeführten spezifischen Merkmale literarischen Schreibens auf. Allerdings finden sich hier auch Texte, die nicht in die dargestellte Schreibstruktur eingeordnet werden können. Es handelt sich dabei um Übersetzungen von ursprünglich hebräischen Talmudsprüchen. Sie entstehen zwischen 1906 und 1912 im Zuge seiner Tätigkeit als freiberuflicher Journalist und Schriftsteller.41 Sie nehmen eine Sonderstellung in seinem literarischen Schreiben ein, weil sie eine feste Struktur vorgeben, in welcher Klemperer sich beim Übersetzen bewegen muss. Die Ausrichtung der Talmudsprüche auf zwischenmenschliches Konfliktpotenzial, Identitätssuche und Reflexionen über die Vergänglichkeit des Seins ebenso wie die humoristische Spiegelung dieser Themen wird jedoch in seiner gesamten Lyrik stetig wiederholt. Die Gedichtform erweist sich für Klemperer als ideales Instrument zur Verknüpfung bedeutungsschwerer Inhalte mit komplexen stilistischen Vorgehensweisen.42 Deshalb ist diese literarische Schreibform auch die einzige,
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Klemperer offeriert wiederholt verschiedenen jüdischen Zeitschriften übersetzte Talmudsprüche, weil sich mit ihnen leicht Geld verdienen ließ (vgl. CV I, 489; siehe dazu auch z.B.: Klemperer 1906a). Sabine Richter gibt an: „An die 400 Verse übersetzte er – vermittelt durch das Französische – und brachte sie mit Überschriften wie ‚Talmudsentenzenʻ, ‚Orientalische Sprücheʻ oder ‚Alte Spruchweisheitʻ in unterschiedlichsten Zeitschriften unter“ (Richter 1989, 658). Anhand der Materialien, die in der SLUB lagern (vgl. z.B.: Mscr. Dresd. App. 2003, 826; Mscr. Dresd. App. 2003, 826a) lässt sich konstatieren, dass nur ein Teil der Übersetzungen auch publiziert wurde. Ein typisches Beispiel für Klemperers Arbeitsweise in lyrischen Texten ist das Gedicht „Angst“ (Klemperer 1912). Darin erzählt das lyrische Ich von seiner sich wandelnden Einstellung zur Vergänglichkeit. Der Text weist eine sehr komplexe Reim- und Versmaß-Struktur auf, entspricht aber gleichzeitig keiner der klassischen Gedichtformen. Es besteht aus sieben zweiversigen Strophen. Jeder Vers hat zehn Silben. Nur in der zweiten Strophe wird von diesem Muster abgewichen. Darin stellt das lyrische Ich seine eigenen Ideen zum Thema einem Spruch gegenüber, der „[i]n einem alten Königsgrabe stand“ (Klemperer 1912, 788). Das Zitat umfasst je Vers elf Silben und hebt sich damit sowohl formal als auch inhaltlich vom sonstigen Gedicht ab. Es repräsentiert eine externe Perspektive, die zur Grundlage für die Überlegungen des lyrischen Ichs wird. Obwohl der Ausgangspunkt auf den ersten Blick recht simpel wirkt – der Spruch besagt, nur das, was der Mensch „umarmt, getrunken und gegessen“ habe, sei „ganz und gar besessen“ worden – entwickelt sich im Verlauf des Gedichts eine höchst komplexe Argumentation, die sich letztlich um die Frage
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die nach dem Entschluss, den Beruf des Schriftstellers aufzugeben, weiterhin betrieben wird – wenn auch ausschließlich im privaten Bereich. Besonders Klemperers Tagebuchaufzeichnungen von 1918 bis 1932 enthalten immer wieder kurze lyrische Texte.ϰϯ Dabei reicht die Bandbreite dieser Arbeiten von tiefgründigen Adaptionen antiker Figuren in klassischer Gedichtform44 über Balladen45 bis hin zu so genannten Schüttelreimen.46
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dreht, ob es Gott gibt bzw. wie diese Instanz dem Menschen gegenüberstehe. Dadurch entspannt sich ein komplizierter theologischer Diskurs, der in der durchbrochenen Struktur gespiegelt wird, welche in Rhythmik und Metrik antike Vorbilder nur scheinbar adaptiert. Zwei Funde aus der SLUB belegen, dass Klemperer auch außerhalb des Tagebuchs nach dem Abbruch seiner schriftstellerischen Tätigkeit weiterhin gelegentlich Gedichte schreibt. Dabei handelt es sich zum einen um eine Bleistiftaufzeichnung auf der Rückseite einer Rechnung des „Grand Hotel Imperial et Pension du Soleil“ in Riva vom 28. Juni 1914 (vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 827). In dem schwer leserlichen Gedicht ohne Titel stellt ein stark deutschnational gesinntes lyrisches Ich eine Naturbetrachtung seinem Patriotismus gegenüber. Es ist datiert mit „1 Juli 14“. Thematisch ist dieses Gedicht dadurch sehr brisant. Anhand der beschriebenen Berglandschaft kann geschlussfolgert werden, dass Klemperer in dem Text die Natur rund um Riva del Garda beschreibt. Diese Gegend gehörte bis zum Ende des Ersten Weltkrieges zu Österreich. Das lyrische Ich im Gedicht besingt die deutsche Größe dieser Landschaft beispielsweise mit den Worten: „Doppeladler, aus den armen Fängen müssen dir entgleiten / dieses weiten Silberthales unbarmherzige Üppigkeiten“ (vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 827, vgl. Abb. 1 im Anhang). – Das andere Gedicht entsteht 25 Jahre später (am „11. Juni 39“) auf der Rückseite eines Wochenkalenderblattes (Mscr. Dresd. App. 2003, 828, vgl. Abb. 2 im Anhang). Darin werden die Leichtgläubigkeit und die unkritische Anpassungsbereitschaft vieler Menschen an verschiedene Geisteshaltungen parodiert. Beide Texte bestehen nur als Entwurf auf Schreibmaterialien, die Klemperer im Moment der Idee zur Hand hatte. Gerade dadurch sind sie Beleg für sein anhaltendes Interesse an dieser Gattung. Paradigmatisch dafür ist „Auch Patroklus“. In diesem achtzeiligen rhythmisch und metrisch vollkommen gleichmäßig geformten Gedicht verhandelt ein lyrisches Ich wiederum die Frage nach der Vergänglichkeit des Seins, indem es die Unausweichlichkeit des Todes beklagt (vgl. LS I, 550, 21.01.1922). Vgl. beispielsweise eine 24-zeilige Ballade, die Klemperer unter der Überschrift „Abschiedselegie in das Stammbuch E. Stark vom 10.XI [...]“ in seinem Tagebuch notiert (LS II, 396, 12.11.1927). Einen dieser Schüttelreime notiert Klemperer im Zusammenhang mit seiner resignierten Stimmung zu den Reichstagswahlen im November 1932: „Noch diese Chance geb’ ich meinem Mops, / Doch hilft es wieder nichts, so geht er hops!“ (LS II, 765, 13.11.1932). – Hadwig Klemperer hat eine Sammlung der Doppel- und Schüttelreime ihres verstorbenen Mannes, die außerhalb des Ta-
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Auffällig ist, dass ein großer Teil dieser lyrischen Texte einen humorvollen bzw. ironischen Unterton aufweist. Insbesondere nach der „Machtergreifung“ durch die Nationalsozialisten entstehen mehrere Gedichte, die sarkastisch die Lebenssituation des Tagebuchschreibers bzw. allgemein der Juden in Deutschland spiegeln.47 Der Rückgriff auf das literarische Schreiben hilft Klemperer dabei, sich aus der Distanz mit seinen Umweltbedingungen auseinander zu setzen und seine Position dazu zu artikulieren. Das ist besonders bedeutsam angesichts der Tatsache, dass er in den ersten Jahren des „Dritten Reichs“ wenig direkte Kommentare zur politischen Situation in seinem Tagebuch vermerkt. Die meisten dieser Gedichte entstehen explizit für einen Adressaten – sie sind Geschenke für Freunde und Bekannte. Trotzdem integriert Klemperer sie in seine täglichen Aufzeichnungen, weist ihnen also auch eine persönliche Bedeutung zu. Einerseits nutzt er damit das literarische Schreiben, um einen bestimmten Sachzusammenhang lyrisch zu bearbeiten und repräsentativ für einen spezifischen Leser zu gestalten. Andererseits fungieren die Ge-
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gebuchs entstanden, auf drei maschinenbeschriebenen Blättern zusammengetragen (vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 828a). Zwar gibt es keinerlei Datierungen, trotzdem kann angenommen werden, dass es sich um Texte mit unterschiedlichem Entstehungsdatum handelt. Die Blätter enthalten Sprüche wie: „Diese winkende Gestalt / ist die stinkende Gewalt. (Verkehrsregelung)“ (Blatt 1); „Beim Frühstück saßen Brecht und Hay; / sie aßen beide Hecht und Brei.“ (Blatt 2); „Er zog daran so lange Zeit, / es tat ihm schon die Zange leid. (Der Zahnarzt)“ oder „Als er in dieser Lage klaute, / vernahm er leise Klagelaute“ (Blatt 3). Beispielsweise schreibt Klemperer ein Gedicht für ein Kochbuch, das seine Frau einer jüdischen Freundin, Gusti Wieghardt, die nach England auswandern will, zum Abschied schenkt. Darin wird dem Thema Kochen ein Aufruf zum Durchhalten in schweren Zeiten gegenübergestellt. Gusti Wieghardt ist Schriftstellerin. In England wird sie sich als Köchin verdingen müssen, um überleben zu können. Klemperer versucht, ihr mit seinem Gedicht diese schwierige Veränderung humorvoll näher zu bringen. Er rät: „Kochen, Schmoren, Dünsten, Braten – / Laß die Kunst den Literaten! // Braten, Schmoren, Kochen, Dünsten – / Wirke treu in Küchenkünsten! // Dünsten, Braten, Schmoren, Kochen – / Nur nicht feig zu Kreuz gekrochen! // Kochen, Braten, Dünsten, Schmoren – / Noch ist Polen nicht verloren!“ (ZA I, 472, 03.05.1939). – Ein anderes eindrückliches Beispiel ist ein Vierzeiler, den Klemperer nach dem Muster von Goethes „Faust“ gestaltet: „Ich schreibe an Sußmann: ‚Weil man bisweilen Lust verspürt, / Berühmte Worte zu variieren: / Die Hand, die wochentags den Spaten führt, / Wird sonntags mit der Feder kaum brillieren; / Man spürt’s im Kopf und in den alten Rippen, / Die Hände zittern arg vom Schippenʻ“ (ZA II, 29, 22.02.1942).
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dichte als Hilfsmittel zur Artikulation von Gedanken und Ideen, die Klemperer im Tagebuch nicht erfassen kann oder will. Ein eindrückliches Beispiel dafür ist ein Text, der ursprünglich einer Freundin zugeeignet war. Das Gedicht sollte in einem Geburtstagsbrief für die Frau eines früheren jüdischen Kollegen stehen. Das befreundete Ehepaar war auf der Flucht vor den Nationalsozialisten nach Lima ausgewandert und hatte auf der Schiffsreise dorthin brieflich über Seekrankheit geklagt. Klemperer notiert sein Gedicht im Tagebuch mit dem Kommentar: „In den Geburtstagsbrief an sie – 13.8., gleichzeitig Tag ihrer Ankunft drüben – wollte ich diese Verse setzen, und ließ es lieber bleiben: Danke Gott an allen Tagen, Der Dich übers Meer getragen Und erlöst von großen Plagen – Kleine haben kein Gewicht; Von der Reling eines freien Schiffes in die See zu speien Ist der Übel höchstes nicht.
Hebe dankbar Deine müden Augen auf zum Kreuz im Süden: Fort von allem Leid der Jüden Trug Dich gnadenvoll das Schiff. Hast Du Sehnsucht nach Europen? Vor Dir liegt es, in den Tropen – Denn Europa ist Begriff. (12.08.)“48 (ZA I, 218, 16.09.1935).
Zum Zeitpunkt der Entstehung des Gedichts gibt es in Klemperers Tagebuch kaum eine Bemerkung zur Möglichkeit oder auch Notwendigkeit, Deutschland zu verlassen. Er enthält sich weitgehend Kommentaren zu diesem Thema und richtet sich vollkommen auf das Alltagsgeschehen aus. Dadurch entsteht phasenweise der Eindruck, er habe kaum über die Gefahr reflektiert, in der er sich angesichts des deutlichen Antisemitismus der Nationalsozialisten befindet. Das Einarbeiten des Gedichts in die täglichen Aufzeichnungen belegt das Gegenteil. Die Gegenüberstellung von Seekrankheit und dem „Leid der Jüden“ signalisiert zum einen, dass Klemperer seine Lage sehr wohl als kritisch einschätzt. Zum anderen deutet dies den Wunsch an, der Situation in Deutschland zu entkommen. Damit spricht das lyrische Ich etwas aus, das der Tagebuchschreiber zum Zeitpunkt der Verzeichnung des Gedichts im Diarium nicht formulieren würde. Die Tragweite der Grundaussage des Textes ist Klemperer durchaus bewusst. Sie widerspricht den „Durchhalteparolen“, die er nach außen hin in seinem Bekanntenkreis 1935 immer noch vehement vertritt. Nur mit der Stimme des lyrischen Ichs kann er sich davon lösen und sogar vermuten, dass „in den Tropen“ sein Idealbild europäischer Kultur besser ein „Begriff“ sei als im nationalsozialistischen Deutschland. Das ist auch der Grund für
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Weil das Gedicht im Druck als unübersichtlicher Fließtext abgebildet wurde, orientiert sich die Wiedergabe in diesem Ausnahmefall am Originalmanuskript Klemperers. Er hatte die zwei Strophen nebeneinander – geteilt durch eine Linie – aufgezeichnet (vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 136).
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die Entscheidung, das Gedicht nicht seiner ursprünglichen Adressatin zukommen zu lassen: Es ist zu persönlich. Durch die Integration des Textes ins Tagebuch dokumentiert Klemperer jedoch im privaten Kontext das Vorhandensein der Zweifel an seiner Entscheidung, in Deutschland zu bleiben. Als Tagebuchschreiber kommentiert er die Aussage des Gedichts in keiner Weise näher. Die Konfrontation geschieht ausschließlich in der verschlüsselten lyrischen Form.49 Damit nutzt Klemperer die Vieldeutigkeit des literarischen Schreibstils, um Inhalte in sein Diarium zu integrieren, die andernfalls ungesagt bleiben würden. Ebenso wie die Instrumente, die er sich für sein journalistisches Schreiben aneignet, sich im sachlich berichtenden Schreibstil einzelner Tagebuchaufzeichnungen niederschlagen, verwendet er also Techniken weiter, die er sich während der schriftstellerischen Tätigkeit erarbeitet hat. Dass insbesondere Gedichte sich als wirkungsvolle Textform erweisen, ergibt sich aus ihrer Eigenschaft, komprimiert und mehrdeutig Komplexes umfassen zu können. Die Weiterverwendung des literarischen Schreibens im Tagebuch zeigt, dass der Abschied von der schriftstellerischen Karriere nicht gleichzusetzen ist mit dem völligen Abbruch des Interesses daran. Das Tagebuch50 und auch die Autobiographie51 belegen zwar die lebenslangen Zweifel an den
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Dabei stellt das Gedicht erneut eine höchst komplexe Verflechtung von Textstruktur und inhaltlichen Elementen dar. Beispielsweise verweist die metrischrhythmische Ausgestaltung (je Zeile acht Silben, mit Ausnahme des umarmenden Reims, der jeweils sieben Silben hat) in Kombination mit der gleichmäßigen Abfolge unterschiedlicher Reime (jede Strophe besteht aus einem dreifachen Paarreim (aaa), gefolgt von einem umarmenden und einem einfachen Paarreim (bccb)) auf das Thema des Textes: Beides lässt sich mit den gleichmäßigen Hebungen von Wellen im Meer assoziieren. Die wiederkehrenden scheinbar minimalen Abweichungen in der Wasserbewegung, die trotzdem im Gesamten einen Gleichklang erzeugen, spiegeln sich in der Sprachmelodie des Gedichtes. Wiederholt klagt Klemperer in fast gleichem Wortlaut, er könne nicht schreiben: „Wenn ich schreiben könnte! Wie müßte sich hier Scene um Scene die Geschichte der Zeit einfügen. Aber ich kann nicht. Nichts kommt heraus, wenn ich erzähle“ (LS II, 309, 11.12.1926). Insbesondere, wenn Klemperer durch Zufall mit seinen literarischen Texten konfrontiert wird, äußert er sich mehrfach verbittert und resigniert über die Qualität dieser Arbeiten. Beispielsweise vermerkt er: „Beim Suchen nach meinem ‚Schneider von Köpenickʻ (1906) fand ich dieses u. das, einen unendlichen Wust, ganz verstaubte Finger u. große Wehmut. Das meiste schlecht u. alles tot. Zeitvergeudung“ (LS II, 727, 25.26.07.1931). Im „Curriculum vitae“ vermerkt Klemperer zu seinen Fähigkeiten, Prosa zu schreiben: „Nichts wollte sich ganz so formen, wie ich es gewünscht hätte,
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eigenen Fähigkeiten zum literarischen Schreiben, sie dokumentieren gleichzeitig jedoch seine fortlaufende Bindung daran. So betont Klemperer beispielsweise in der Weimarer Republik immer wieder seine Neigung zum Literarischen, indem er Ideen für Romane oder Novellen in seinem Diarium verzeichnet.52 Nachdem eine Zeit lang der Gedanke, statt literarischen Texten eine Autobiographie zu schreiben, dieses Vorgehen verdrängt bzw. ersetzt,53 häufen sich derartige Äußerungen gegen Ende des „Dritten Reichs“ wieder merklich.54 Das Tagebuch dient dabei als eine Art Speicher für künftige literarische Pläne, die tatsächlich aber nicht umgesetzt werden.
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nichts schien mir völlig natürlich und lebendig; ich kam, obschon ich die Geschichten zu Ende schrieb, aus dem Zweifel an meinem Erzählertalent nicht heraus“ (CV I, 432). Auch in einem Interview von 1947 erklärt Klemperer selbstironisch: „Ich habe früher selbst schlechte Gedichte geschrieben und mehrere Bände ebensolcher Prosa veröffentlicht. Daher kenne ich also die Mühen und Qualen der Dichter sehr gut aus eigener Praxis. So bin ich zu der Meinung gekommen, jeder Literarhistoriker müsse ein schlechter Dichter sein oder Dichtversuche gemacht haben (schlecht insofern, als zur wirklichen Dichtung noch etwas fehlt)“ (vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 1472). Wiederkehrendes Thema einer eventuellen literarischen Bearbeitung ist der „...Roman Klemperer durch drei Generationen. [...] Schade, zu schade, daß ich nur über die Aesthetik der Franzosen u. sowas schreiben kann. Den Roman Meyerhof, den Roman Klemperer schreiben! Comédie humaine“ (LS II, 716, 20.06.1931; vgl. dazu auch LS I, 727, 02.08.1923-03.08.1923). – Scheint Klemperer ein Thema lohnenswert, wendet er viel Zeit auf, um die Zusammenhänge zu skizzieren – teilweise auch außerhalb des Tagebuchs. Manche Ideen werden über mehrere Einträge hinweg immer wieder neu in ihren Vorzügen beschrieben. Beispielsweise notiert er zum Sohn eines Bekannten, der sich dem orthodoxen Judentum verschrieben hat: „Dies ist ein Novellenthema mit bedeutendstem Zeithintergrund“ (LS I, 773, 16.01.1924). Einige Tage später erklärt er: „Der Fall Edgar Kaufmann gehört auch in die Novellen, in die Tausend u. eine Nacht nach dem Kriege, ist durchaus Zeitdokument. Aber ich werde diese Novellen wohl nie mehr schreiben. Und doch ist mir schon manche durch den Kopf gegangen ... Ich habe diese Sache Edgar–Schel.–Thieme zusammengefaßt, sie füllt manche Tagestunde“ (LS I, 781, 29.01.1924). Anfang der dreißiger Jahre werden kaum noch Ideen für literarische Texte notiert. Stattdessen beginnt Klemperer mit der gehäuften Aufzeichnung von Gedanken und Ideen für das „Curriculum vitae“. Beispielsweise erklärt er: „Diese Rede – u. der Aufmarsch der Marinewache in einem Zeitroman! Ich werde ihn nicht schreiben. Aber wenn ich mein ‚Lebenʻ einmal schreibe? Da hinein?“ (LS II, 755, 10.06.1932). Beispielsweise beschreibt Klemperer das Schicksal eines jungen Soldaten, Horst Weigmann, der versucht hatte, seine jüdische Mutter durch einen Trick aus dem Gefängnis zu befreien. Beide wurden gefasst und getötet. Klemperer kommentiert die Geschichte: „Heroische Köpenickiade. [...] Er [der junge
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E XKURS 3: D ER R OMAN „S CHWESTERCHEN “ Die zwischen 1906 und 1912 veröffentlichten Prosatexte Klemperers wurden bisher von der Forschung nicht beachtet. Es gibt keinerlei Untersuchungen zu diesen Arbeiten. Zudem existieren nur noch wenige Exemplare dieser Texte in ausgewählten Bibliotheken. Teilweise sind sie lediglich einmal als Microfiche erhalten. Eine literaturwissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Erzählungen und Romanen Klemperers ist dadurch nur noch eingeschränkt möglich. Weil sich das Interesse an seinem Schreiben zudem größtenteils auf die Tagebuchaufzeichnungen konzentriert, sind in nächster Zeit keine umfangreicheren Arbeiten zu seiner Prosa zu erwarten. Zumindest begrenzt soll dem im Folgenden mit einer kurzen Untersuchung des Romans „Schwesterchen. Ein Bilderbuch“ entgegengewirkt werden. Eine Interpretation des Beginns des ersten Kapitels dieses Buches dient dazu, Klemperers Arbeitsweise in literarischen Texten genauer aufzuzeigen. Unabhängig von Einschätzungen über die langfristige Wertigkeit des Romans ist es das Ziel dieser Analyse, das literarische Schreiben des Autors exemplarisch aufzuschlüsseln. In „Schwesterchen“ erzählt der Oberschüler Frank von seinen Gesprächen mit einem imaginären schwesterlichen Gegenüber,55 welches in symbolistischer Manier dessen leidenschaftliche und nicht durch moralische und sittliche Regeln gezähmte Seite verkörpert. Teilweise berichtet auch die Phantasiegestalt aus der Ich-Perspektive. Die im Präsens gehaltenen Kapitel deuten jeweils ein neuerliches Einsetzen des Erzählens an, das chronologisch dem Erleben des Protagonisten folgt. Ein Großteil der Handlung besteht aus Dialogen zwischen dem Ich-Erzähler und dem Schwesterchen, in denen entweder Erinnerungen oder Phantasiegeschichten ausgetauscht werden. Dadurch erhält der Text einen außergewöhnlichen Charakter. Er chan-
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Mann, Anm. d. A.] wird fraglos in die Literaturgeschichte eingehen, als Held von Dramen und Romanen. Katz sagte: ‚Ich kannte ihn und seine Verhältnisse, ich könnte in vierzehn Tagen ein Drehbuch seines Falles schreibenʻ“ (ZA II, 477-478, 23.01.1944). – Klemperers Vorahnung, das Schicksal des Soldaten und seiner Mutter werde in die Literatur eingehen, hat sich auf merkwürdige Weise bewahrheitet: Klemperers Tagebücher und die „LTI“ sind die Dokumente, in welchen Horst Weigmann und seiner Mutter ein literarisches Denkmal gesetzt wurde. Auf ihnen basieren andere Texte, die von seiner „Geschichte“ erzählen (vgl. dazu Busse/Krause 1989, 52-55; Wichmann 1998). Im Roman wird nicht näher definiert, was genau diese Figur sei. Vielmehr erhält sie wechselnde Identitätszuschreibungen. Teilweise versteht Frank sie als imaginäre Verkörperung von abstrakten Gefühlen und Zuständen (vgl. Klemperer 1906f, 15), teilweise tritt sie als historische oder mythische Figur auf (vgl. Klemperer 1906f, 17ff., 52ff.). Auch der Protagonist identifiziert sich mit unterschiedlichen Rollen (vgl. Klemperer 1906f, 52ff., 84ff.).
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giert zwischen der Dialogform und einem indirekten Tagebuchbericht, rekurriert aber gleichzeitig auf die Erzählstruktur in Boccaccios „Decamerone“. Das erste Kapitel leitet – klassischen Erzählmustern folgend – sowohl inhaltlich als auch gestalterisch den Roman ein. Die darin gesetzten Maßstäbe bilden die Grundlage für das gesamte Erzählen. Schon der Titel adaptiert das Thema des Buches: „Schwesterchen“. Damit wird auf die Figur hingewiesen, um welche sich die Handlungen der Erzählung ranken. Nur durch ihre Gegenwart entstehen die phantastischen Geschichten und Erlebnisse Franks. Sie ist der Auslöser dafür, dass er sich auf eine Phantasiewelt einlässt. Deshalb beginnt die Geschichte auch an der Stelle, an der er zum ersten Mal ihre Gegenwart bewusst wahrnimmt. Ebenso plötzlich und unerwartet wie das Schwesterchen bei Frank erscheint, setzt die Erzählung ein. Der erste Satz lautet: „Nun sind wir zwei“ (Klemperer 1906f, 9). Das „Nun“ signalisiert, dass es ein „Vorher“ gab, das jedoch keine Bedeutung mehr hat. Zentral ist die nicht näher definierte Gegenwart. Bereits im ersten Satz rückt der Ich-Erzähler durch das „wir“ das den ganzen Text bestimmende Gemeinschaftsgefühl in den Mittelpunkt. Noch ist nicht bekannt, wer erzählt und von wem die Geschichte handeln wird. Doch schon die ersten vier Worte geben über vier wichtige Fragen, die sich zu Beginn jeder Erzählung stellen, zumindest indirekt Antwort: Die Erzählzeit und die Erzählerperspektive werden angedeutet. Inhalt der folgenden Geschichte wird die Gemeinschaft der noch nicht näher bestimmten „zwei“ sein. Der Einstieg „medias in res“ verweist indirekt bereits auf eine grundlegende Technik der Erzählung: Nicht ausführliche Umschreibungen und präzise Zuweisungen interessieren den Erzähler. Er greift plötzlich das Geschehen auf, um es im Folgenden in seinen Zusammenhängen zu entwickeln. An der Oberfläche scheint mit dem ersten Satz wenig geklärt zu sein. Viele Informationen fehlen noch. Trotzdem signalisieren die vier Worte bereits das Geflecht von Hintergründen und struktureller Gestaltung, welches das „Bilderbuch“ bestimmen wird. Im zweiten Satz erklärt sich, wer mit „wir zwei“ gemeint ist und auch, was diese Formulierung zu bedeuten hat: „Heut hab’ ich ein Schwesterchen bekommen“ (Klemperer 1906f, 9). Ein Ich-Erzähler – dessen Geschlecht noch lange Zeit ungeklärt sein wird – berichtet, dass er ein Schwesterchen erhalten habe. Die Assoziation einer Geburt wird allerdings im nächsten Satz als falsch entlarvt: „Oder nein, sie war wohl schon vorher da“ (Klemperer 1906f, 9). Nicht nur ein eventueller Irrtum des Lesers wird mit dem „Oder nein“ aufgedeckt. Der Ich-Erzähler korrigiert respektive präzisiert seine eigene Aussage. Dass dies gleichzeitig irritierend wirkt, nimmt er hin. Es ist dem Rezipienten nach dem dritten Satz nicht mehr möglich, einer stringente Logik in den gegebenen Informationen zu entdecken. Nur das Weiterlesen wird ihm Klärung bringen. Dadurch ist bereits nach wenigen Sätzen ein dichter Spannungsbogen entstanden, der dem Leser eine Entdeckungsreise eröffnet, die nach ähnlichen Mustern funktioniert wie in der
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nachfolgenden Erzählung der Reifeprozess des Protagonisten. Es geht in „Schwesterchen“ sowohl für Frank als auch für den Rezipienten darum, sich einen Weg durch verborgene Zusammenhänge und Bedeutungen zu bahnen. Schon die Kombination der ersten Sätze lässt sich in diesem Sinne lesen. Der dritte Satz signalisiert einen scheinbar umgangssprachlichen Ton. Dabei verweist die Korrektur der vorhergehenden Information durch „Oder nein“ auf einen Mechanismus, der auf einer Entdeckungsreise wichtig ist. Der Ich-Erzähler handelt nach dem Motto „trial and error“. Die erste Formulierung, „heut“ „ein Schwesterchen bekommen“ zu haben, erklärt nicht präzise genug den darzustellenden Sachzusammenhang. Deshalb setzt der Erzähler noch einmal neu an und greift dabei zeitlich weiter zurück. Er erklärt nun, dass „sie“ „wohl schon vorher da“ war. Grammatisch ist die Anwendung des Personalpronomens „sie“ in Bezug auf das Schwesterchen nicht korrekt. Dies muss jedoch nicht als Hinweis auf fehlende grammatische Kenntnisse des Autors verstanden werden. Vielmehr entsteht diese Formulierung im Rahmen des Denkprozesses, in dem der Ich-Erzähler agiert. Er sieht im Rückblick auf das „Vorher“ eine imaginäre Person vor sich, die präzise – weibliche – Form annimmt. Der Begriff „Schwesterchen“ greift an dieser Stelle nicht mehr. Da er sich zeitlich rückwärts bewegt und nun von einer bisher nicht erwähnten Vergangenheit spricht, argumentiert er in einer anderen Wahrnehmung. Der Bruch wird grammatisch, temporal und inhaltlich gesetzt. Nachfolgend bemüht sich der Ich-Erzähler, zu rekonstruieren, wann er das „Schwesterchen“ zum ersten Mal gesehen habe. Er erinnert sich an die ein Jahr zurückliegende Hochzeit eines Onkels, auf der er die Gegenwart der imaginären Figur zu spüren glaubte. Er vermutet, zu diesem Zeitpunkt sei sie eingeschlafen. In einer Phase der Bewusstlosigkeit sei sie „emporgewachsen und aufgeblüht im Schlaf vom Kind zur Jungfrau. Ein rechtes Dornröschen. Märchenkinder wachsen schnell“ (Klemperer 1906f, 9). Der Ich-Erzähler kann weder über den Ursprung, noch die Persönlichkeit der Phantasiefigur klare Aussagen treffen. Stattdessen greift er schließlich zu einem Vergleich mit einer Märchenfigur. Dornröschen, die Prinzessin, die hundert Jahre im unzugänglichen, dornenbewachsenen Schloss schlief, ist als Äquivalent zu der unbeschreibbaren Frauenfigur. In Märchen werden viele Zusammenhänge als gegeben und unhinterfragbar vorausgesetzt. Nähere Erklärungen gibt es nicht. In eben diesem märchenhaften Rahmen, in dem weder außergewöhnliche Fähigkeiten, Zauberei oder das Auftreten irrealer Figuren begründet werden müssen, wird das Schwesterchen unkommentiert angesiedelt. Als Gegenmodell fungiert der Ich-Erzähler, der in einem Alltag, den der Leser nachvollziehen kann, eingebettet ist. Es treffen demnach zwei Welten in dem Dargestellten aufeinander: Zum einen gibt es die märchenhafte und nicht beschreibbare Frauenfigur, welche die Namen Dornröschen und Schwesterchen trägt. Zum anderen tritt ein Ich-Erzähler auf, dessen Geschlecht und Alter noch nicht präzise bestimmt wurden, der aber einer Lebenswelt angehört, die der Leser teilt
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und der als Erzählender das sprachlich darstellt, was er erfassen und formulieren kann. Er fungiert allein dadurch als rationaler Teil des „wir zwei“. Das märchenhafte Schwesterchen symbolisiert in seiner Nicht-Darstellbarkeit die Ebene des Mythisch-Geheimnisvollen. Das Auftauchen der Phantasiefigur erfolgt nicht – wie im ersten Satz zunächst angedeutet – „nun“, sondern bereits vor einem Jahr auf der Hochzeit des Onkels. Dies gibt ihr eine Tradition, die ein Anzweifeln ihrer Existenz unnötig macht. Ebenso wie in einem Märchen geht es nicht darum, die genauen Bedingungen einer Figur zu ergründen. Wichtig ist dagegen das märchenhafte Verschwinden der Figur über ein Jahr hinweg. Der Grund hierfür liegt in der Tatsache, dass der Ich-Erzähler es „nicht so recht erkannt“ (Klemperer 1906f, 9) habe. Er hatte bei seiner ersten Begegnung mit der märchenhaften Figur noch nicht die Fähigkeit, sie in ihrer Unbestimmbarkeit wahrzunehmen. Ihre Gegenwart war nur undeutlich in sein Bewusstsein gelangt. Erst zum Zeitpunkt der Erzählung erkennt er sie wirklich. In dem Zeitraum, in dem dieser Erkenntnisprozess vonstatten ging, schlief das Schwesterchen. Der lange Schlaf als märchenhafte Fähigkeit des Dornröschens ist eine Metapher für eine Entwicklung, die über einen bestimmten Zeitraum hinweg verläuft. Das Erwachen des Schwesterchens ist gleichzusetzen mit einem Erwachen des Ich-Erzählers.56 Denn erst jetzt gelingt es ihm, die Gegenwart einer Märchengestalt sprachlich zu fassen und sie dadurch in seinem Bewusstsein existent zu machen. Deshalb transportiert der erste Satz, „Nun sind wir zwei.“, die zentrale Aussage des Textes: den Beginn eines Erkenntnisprozesses. Mit der Dornröschen-Geschichte wird der Erweckungsprozess, der im Ich-Erzähler begonnen hat, metaphorisch aufgegriffen. Die Erlösung des Dornröschens im Märchen erfolgt durch einen Prinzen, der sich einen Weg durch die Dornenhecken bahnt, die um das Schloss ranken. Jedoch gelingt dem Helden dies nur, weil der Zeitraum, für den die Prinzessin verflucht war, beendet ist. Ebenso brauchte die Phantasiegestalt des Ich-Erzählers eine gewisse Zeit, in der die Erkenntnis wachsen konnte. Nun erst kann das Erwachen beginnen. Es vollzieht sich im „Emporwachsen“ und im „Aufblühen“. Es ist ein Entwicklungsprozess, der von einer kleineren Einheit auf eine größere hinarbeitet und schließlich in der Wandlung „vom Kind zur Jungfrau“ deutlich wird. Die lange gereifte Erkenntnis, die mit Hilfe einer imaginären Phantasiegestalt personifiziert wird, erhält dadurch zusätzlich eine weibliche Zuordnung. Der Begriff „Schwesterchen“ deutet zunächst auf eine kindliche Person hin. Die Entwicklungsbeschreibung „vom Kind zur Jungfrau“ signalisiert jedoch deutlich, dass es sich bei der Figur um eine junge Frau handelt.
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Das Bild der Somnambulen, deren Erwachen einem geistigen Erweckungserlebnis gleich kommt, etablierte sich im deutschsprachigen „Fin de Siècle“ zu einem literarischen Motiv. Es kann davon ausgegangen werden, dass Klemperer dies bewusst adaptiert.
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Im Verlauf des Kapitels wird sich der Ich-Erzähler als männlicher Gegenpart Frank vorstellen. Zwischen dem Schwesterchen und dem Ich-Erzähler existiert in zweifacher Hinsicht ein Spannungsverhältnis. Während die Phantasiefigur für Weiblichkeit und Irrationaliät steht, repräsentiert der Erzählende Männlichkeit und Rationalität. Über ihre Jugend haben beide jedoch einen gemeinsamen Nenner. Die Entwicklungslinie, die „vom Kind zur Jungfrau“ für das Schwesterchen beschrieben wird, lässt sich ebenso auf den Ich-Erzähler übertragen. Auch er ist aus der Kindheit herausgetreten und erzählt als (junger) Mann. Er steht am Beginn eines langen Erkenntnisprozesses. Die Unschuld als Zeichen einer Unwissenheit, die sich erst durch gewisse Erfahrungen und Erlebnisse neutralisieren lässt, trägt er ebenso wie sein weiblicher Gegenpart. Darin etabliert sich gleichzeitig eine sexuelle Bezüglichkeit. Denn das Erwachen aus der Kindlichkeit bedeutet auch eine erste Hinwendung zum Thema Sexualität. Hintergründig vermitteln sowohl der DornröschenVergleich, die Verwendung des Begriffs „Jungfrau“ als auch ein Verweis auf Aphrodite (Klemperer 1906f, 9) die sexuelle Irritation des Ich-Erzählers. Erst ein Kuss erlöst die Prinzessin im Märchen. Ihr Erwachen löst eine weiterführende Entwicklung aus. Dornröschen wird dem Retter ihre Jungfräulichkeit schenken. Dieses Muster spricht der Ich-Erzähler unterschwellig mit an. Die darin angedeuteten inzestuösen Strukturen betonen zusätzlich die Verwirrung, in die der Erweckungsprozess Frank stürzt. Die geschwisterliche Beziehung zu der Phantasiefigur ist nur ein Aspekt der gesamten Charakterisierung. In unterschiedlichen Formen ist die weibliche Phantasie zwar ausgelagert aus Franks rationaler Weltsicht. Doch letztlich ist sie eng an sein Inneres gekoppelt. Sie ist ein Teil von ihm, der in allegorischer Gestalt eine Repräsentation im Außen gefunden hat. Die Phantasiefigur als Begleiterin in einem beginnenden Erkenntnisprozess des Ich-Erzählers löst jedoch ein Paradoxon aus: Während sonst Kinder in einer Phantasiewelt leben und diese im Übergang zum Erwachsenenalter langsam ablegen, erfährt der Protagonist im „Schwesterchen“ einen gegensätzlichen Prozess. Er tritt erst durch sein geistiges Erwachen in eine phantastische Welt ein, welche ihm in der Gestalt des Schwesterchens eröffnet wird. Dass dieses als Jungfrau, also als Unschuldige und in gewisser Weise auch Unwissende agiert, erschließt ihm erst den Weg zur Phantasie. Der Ich-Erzähler tastet sich dabei auf ein völlig neues Gebiet vor. Er versucht zwar mit Hilfe seiner Ratio zu ergründen, was genau er erlebt, doch seine metaphorischen Formulierungen können keine präzise Darstellung liefern, sondern immer nur in neuen Bildern Umschreibungen für das geben, was er eher über sein Gefühl als über seine Augen wahrnimmt. Dies ist auch bedingt durch seine Jugendlichkeit, die oftmals durch saloppe Wortwahl und seinen scheinbar ziellosen Erzählstil erkennbar wird. Der zunächst wenig überschaubare Einstieg in den Roman verbildlicht jedoch gerade durch die Komplexität der Erzählstruktur das Vorhandensein von Gegenpolen, welche
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die Persönlichkeit des Protagonisten widerspiegeln. Das Erscheinen des Schwesterchen löst ein gewisses Chaos aus – repräsentiert durch die unübersichtlichen und inhaltlich für den Leser zunächst kaum verständlichen einleitenden Sätze. Dem gegenüber steht die rationale Position Franks, der nach dem ersten Erstaunen über die Existenz des Schwesterchens versucht, Verbindungen und Hintergründe zu erläutern. Die erzählte Handlung des „Bilderbuchs“ ergibt sich dadurch nicht nur aus einem Wechselspiel zwischen Schwesterchen und Ich-Erzähler, sondern auch zwischen Phantasie und Ratio, Weiblichkeit und Männlichkeit. Damit werden Muster verwendet, die bereits vielfach in philosophische Diskurse, literarische Werke und künstlerische Arbeiten eingeflossen sind. Der Autor zitiert berühmte Vorbilder. Es gelingt ihm dabei, althergebrachte Themen und Motive zu variieren. Dies entspricht der Vielschichtigkeit des zentralen Themas des Romans: Es geht um einen komplizierten Selbstfindungsprozess, der mit Hilfe einer imaginären Phantasiegestalt, welche einen Teil der Identität des Protagonisten repräsentiert, auf unterschiedlichen Ebenen und in den einzelnen Kapiteln aus verschiedenen Perspektiven beschrieben wird. Klemperer gelingt es, ein Netz von Erzählmustern, literarischen Vorbildern und symbolverhafteten Themen zu kombinieren. Erst aus der Verknüpfung der unterschiedlichen Inhalts- und Bedeutungsebenen wird der allegorische Hintergrund des Dargestellten deutlich. Das erste Kapitel erzählt in einem komplexen Netzwerk aus monologischen Erinnerungssequenzen Franks und dem Dialog zwischen ihm und dem Schwesterchen, unterbrochen durch gegenwärtige Erlebnisse des Protagonisten – er sitzt in einem Konzert, in dem Müllerlieder vorgetragen werden – den Beginn des angedeuteten Reifeprozesses vom Kind zum Erwachsenen. Schon in diesen ersten Beschreibungen signalisiert der IchErzähler das zentrale Spannungsfeld der Geschichte: Phantasie versus Rationalität. Im Verlauf des Romans wird der stetige Dialog zwischen dem Schwesterchen und Frank verschiedene emotionale Höhen und Tiefen des menschlichen Daseins durchlaufen. Dies verhilft dem Ich-Erzähler zu einer langsamen Annäherung an jene Prozesse in seinem Inneren, die er zunächst kaum verstehen kann. Er findet einen Ausgleich zwischen Kreativität und reiner Logik. Die verwirrenden Gefühle und Ahnungen, die er anfänglich als unaussprechlich in die Phantasiefigur auslagern muss, werden allerdings nicht endgültig gelöst. Vielmehr erkennt Frank, dass nur die Akzeptanz des Vorhandenseins des Schwesterchens ihn weiterführen kann. Deshalb arrangiert er sich mit dessen Gegenwart und bindet es in seine Entscheidungen mit ein. Das führt sogar dazu, dass der Ich-Erzähler teilweise aus Sicht seines weiblichen Gegenparts argumentiert und umgekehrt. Dieser Rollentausch zeigt beiden die Reichweite und Sinnhaftigkeit der jeweiligen Position (vgl. Klemperer 1906f, 201). Der Lernprozess, den Frank in Bezug auf seine persönliche Entwicklung mit Hilfe des Schwesterchens erlebt, wirkt sich auch auf seine schulischen
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Leistungen aus. Er gewinnt Vertrauen in seine Fähigkeiten, begreift sich nicht mehr als „fürchterlich unbegabt“ (Klemperer 1906f, 10), wie er es im ersten Kapitel beklagt. Er absolviert sein Abitur ohne Schwierigkeiten. Dadurch steht „Schwesterchen“ sowohl in Bezug auf die äußere – schulische – als auch innere – mentale – Entwicklung des Protagonisten in der Tradition des Entwicklungsromans. Die Geschichte erzählt Franks Weg zum Abitur und einen Selbstfindungsprozess. Am Ende des „Bilderbuchs“ reist der Ich-Erzähler gemeinsam mit der Phantasiefigur zurück zu seinen Eltern. Er erkennt an sich selbst eine große Veränderung, die sich durch das Bewusstsein artikuliert, nicht mehr allein zu sein. Er beendet seine Erzählung mit den Worten: „Ich bin ja allein ausgezogen, und nun ich zurückkehre – nun sind wir zwei“ (Klemperer 1906f, 208). Damit schließt sich der Kreis. Schon im ersten Satz hatte der IchErzähler erklärt „Nun sind wir zwei“. Zu Beginn der Geschichte signalisiert dies einen ersten großen Einschnitt in das bisherige Leben des Protagonisten. Am Ende der Erzählung deutet die Wiederholung der Eingangsformulierung das Bewusstsein Franks an, auf das kommende Unbekannte gefasst zu sein. Er weiß nun, dass er sich dem, was ihn erwartet, nicht allein stellen muss. Das Schwesterchen als Personifikation des Phantastischen und Unkontrollierbaren in seinem Inneren wird ihm als Konstante Sicherheit und Unterstützung geben.
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WISSENSCHAFTLICHEN ARBEITEN ANALYTISCHES S CHREIBEN
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Die Analyse von Klemperers wissenschaftlichem Schreiben wird begleitet von einem Widerspruch: Die Absicht, einen spezifisch wissenschaftlichen Schreibstil herauszuarbeiten, provoziert die Interpretation von bereits bestehenden Interpretationen. Die Anwendung interpretatorischer Mittel auf wissenschaftliche Texte läuft der Grundausrichtung dieser Technik – nämlich der Auslegung von Kunstwerken – zunächst scheinbar zuwider. Denn das Ziel der wissenschaftlichen Auseinandersetzung ist das Freilegen der Mechanismen des Schreibens eines anderen Autors. Allerdings kann auf formaler Ebene versucht werden, Merkmale von Klemperers wissenschaftlichem Schreibstil zu lokalisieren. Das Vorhandensein einer derartigen Spezifik im Schreiben von literaturwissenschaftlichen Publikationen wird bereits in seiner Dissertation „Die Zeitromane Friedrich Spielhagens und ihre Wurzeln“ (Klemperer 1913) deutlich. Nicht mehr die Biographie des untersuchten Autors steht darin im Mittelpunkt – wie dies beispielsweise in der Monographie über Paul Heyse erkennbar ist (vgl. Klemperer 1907b und Kapitel IV.1) –, sondern dessen „ästhetische Theorie“ (Klemperer 1913, 12). Während die journalistischen Texte vor allem auf zeitgeschichtliche Zusammenhänge ausgerichtet sind,
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konzentriert sich Klemperer in seinen wissenschaftlichen Arbeiten auf die theoretisch-ästhetischen Hintergründe der analysierten Arbeiten. Schon der Titel der Dissertation signalisiert dies: Nicht der Autor Spielhagen ist zentrales Thema, sondern seine „Zeitromane“. Trotz der deutlichen Ausrichtung auf die Wissenschaft, bleibt zunächst unklar, wie genau die universitäre Karriere gestaltet werden soll. Die Dissertation entsteht im Fachbereich Germanistik. Erst mit der zweibändigen Habilitationsschrift zu Montesquieu (Klemperer 1914, 1915; vgl. dazu Mass 1996) richtet sich Klemperer endgültig auf die Romanistik aus. Diese Forschungsrichtung ist noch relativ jung und gerät insbesondere durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges in die prekäre Lage, sich trotz der politischen Entwicklungen behaupten zu müssen (vgl. dazu Nerlich 1996c und Exkurs 1: Die Rezeption der wissenschaftlichen Publikationen). In Folge dessen sieht Klemperer sich gezwungen, seine Position als Wissenschaftler zu betonen, der sich aufgrund einer spezifischen kulturpolitischen Intention mit der französischen Literatur befasst (vgl. dazu Klemperer/Lerch 1922). Deshalb präsentiert er sich gezielt als Schüler Karl Vosslers und stellt sich damit in die Tradition der „idealistischen Neuphilologie“. Sein Interesse gilt vor allem dem Zusammenhang zwischen literarischen und historischen Entwicklungen in Frankreich. Seine gesamten Publikationen betonen diese Ausrichtung.57 Er arbeitete an einer großen Geschichte der französischen Literatur. Die Bände zum 19. und 20. Jahrhundert erscheinen zwischen 1925 und 1931 (Klemperer 1925, 1926a, 1931). Die Arbeiten zum 18. Jahrhundert beginnen erst im „Dritten Reich“. Ein Band kann in der DDR noch zu Klemperers Lebzeiten erscheinen (Klemperer 1954a), der zweite wird posthum durch seine Witwe Hadwig Klemperer herausgegeben (Klemperer 1966). In seinen Arbeiten folgt der Romanist zunächst der verbreiteten Argumentation, dass die deutsche Literatur sich am „Geistigen“ orientiere und dadurch der französischen überlegen sei, welche sich stärker auf Stilistik und Rhetorik konzentriere. Allerdings beschränkt er sich nicht auf die Untersuchung der sprachlichen Merkmale französischer Texte, sondern beschäftigt sich mit der Untersuchung des literarhistorischen Hintergrundes der Werke. Damit löst Klemperer sich mit einigen anderen Romanisten seiner Zeit von einer rein sprachwissenschaftlichen Ausrichtung.58 Er setzt sich durch diesen Schritt dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit aus und
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Einen Überblick über die wissenschaftlichen Publikationen Klemperers hat ein Schüler des Romanisten in der Festschrift aus Anlass von dessen 75. Geburtstag (vgl. Heintze/Silzer 1958) veröffentlicht. Das Verzeichnis enthält neben den journalistischen und schriftstellerischen Arbeiten vor allem das umfangreiche wissenschaftliche Werk (vgl. Kunze 1958). Vgl. dazu beispielsweise den Aufsatz „Die Entwicklung der Neuphilologie“ in Klemperers Sammelband „Romanische Sonderart. Geistesgeschichtliche Studien“ (1926b, 388-401).
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kämpft in Folge dessen immer wieder mit harscher Kritik an seinen Arbeitsmethoden. Denn durch die Abgrenzung von rein linguistischen Analysen französischer Literatur entwickelt Klemperer einen sehr eigenen wissenschaftlichen Stil, der sich von dem der meisten anderen Romanisten sowohl inhaltlich als auch formal abhebt. Er richtet sich nicht, wie viele seiner Kollegen, ausschließlich auf sprachliche Besonderheiten aus, sondern versucht, den „Geist“ literarischer Texte und der jeweiligen Schriftsteller zu erfassen und zu beschreiben. Sein Ausgangspunkt dafür ist die Gegenwart. Seine Interpretationen betonen stetig den Bezug zu aktuellen Zusammenhängen. HansJörg Neuschäfer macht darauf aufmerksam, dass dieses „entschiedene Ausgehen von der Gegenwart [...] die Originalität“ Klemperers ausmache (Neuschäfer 1996, 131). Es unterscheidet seinen Ansatz elementar von den Arbeiten seiner zeitgenössischen Kollegen. Klemperers unkonventionelles Vorgehen bringt ihm mehrfach den Vorwurf ein, nur ein „besserer Journalist“ zu sein. Auch er selbst wirft sich dies mehrfach vor (vgl. z.B.: LS II, 174, 28.01.1926). Die Reduktion von Klemperers Schreibstil auf journalistische Methoden ignoriert jedoch die Innovation, die er mit seinem Ansatz versucht. Denn die Annäherung an literarische Texte mit Hilfe gegenwartsnaher Sichtweisen, eröffnet neue Möglichkeiten im Umgang mit Literatur. Eine sachliche Auseinandersetzung aus dieser Perspektive mit Klemperers wissenschaftlichen Arbeiten steht allerdings noch aus.59 Dabei erweist sich dies insbesondere als Forschungsdesiderat angesichts der starken historischen Umbrüche, die beispielsweise die französische Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts prägen – ein Werk, das teilweise während des „Dritten Reichs“ und teilweise in der DDR entstand. Gerade weil Klemperer seine Umweltbedingungen in seine wissenschaftlichen Thesen einarbeitet, haben seine gesellschaftlichen und politischen Ansichten Einfluss auf sein Schreiben. In der DDR verstärkt sich dies zusätzlich dadurch, dass von jeder Publikation politische Stellungnahmen erwartet werden. Eine Untersuchung der spezifischen Merkmale von Klemperers wissenschaftlichem Schreiben kann nicht ohne Berücksichtigung des Einflusses von historischen und lebensgeschichtlichen Ereignissen auf seine Arbeiten erfolgen. Denn er selbst ist sich dieser Wirkung bewusst. Ein Sammelband, der in der DDR erscheint, macht dies deutlich. Das Buch versammelt Aufsätze, die den Erkenntnisprozess von der völkisch geprägten Auffassung französischer Literatur hin zu einem sozialistisch determinierten Denken dokumentieren. Im Titel „vor 33 | nach 45“ (Klemperer 1956a) setzt Klemperer das „Dritte Reich“ als Zäsur. Nach den Erfahrungen,
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Auf dieses Forschungsdesiderat weisen Nerlich, Mass und Neuschäfer in einem Dossier über Klemperer in der Zeitschrift „Lendemains“ hin (vgl. Nerlich 1996c, 22; Mass 1996, 49; Neuschäfer 1996, 127 in Nerlich 1996b).
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die er in diesem Zeitraum machen musste, ist es ihm nicht möglich, an seinen vorherigen Überzeugungen festzuhalten. Er richtet sich neu aus – auf eine sozialistische Perspektive, die wiederum seine wissenschaftlichen Werke prägt. Er signalisiert dadurch einen über Jahrzehnte hinweg erfolgten geistigen Prozess und betont indirekt, dass seine wissenschaftlichen Arbeiten grundsätzlich mit seinen jeweiligen persönlichen Einstellungen und seiner Wahrnehmung von Gegenwart verknüpft sind. Die Aufsätze in diesem Sammelband thematisieren deshalb außer den eigentlichen jeweiligen Untersuchungsgegenständen auch explizit das Schreiben Klemperers. Ein Vergleich der darin enthaltenen Texte ermöglicht es, stilistische Merkmale seines wissenschaftlichen Arbeitens herauszuarbeiten, die über seine gesamte Karriere hinweg bestimmend sind. So verbindet alle Aufsätze die von Beginn an systematische Vorgehensweise des Autors. Dies scheint zunächst keine Besonderheit, weil es Voraussetzung von wissenschaftlichen Texten ist. Klemperers planvolle Kompositionen gehen jedoch weit über klassische Systematiken hinaus. Seine Arbeiten basieren nicht allein auf einer schrittweisen Argumentation, sondern auf der Betonung unterschiedlichster Blickrichtungen, die scheinbar nicht zu vereinbaren sind. Er verknüpft einzelne Themenkomplexe, die zunächst wenig Sinnzusammenhang aufweisen. Der erste Teil jeder Arbeit besteht dabei aus der kurzen Vorstellung des Untersuchungsgegenstands und der dazugehörigen etablierten Forschungsmeinungen. Im zweiten Teil führt er Überlegungen ein, die scheinbar wenig mit dem zentralen Thema zu tun haben. Im Anschluss daran folgt Klemperer klassischen Interpretationsmustern, indem er sich mit dem jeweiligen Primärtext oder dessen Autor auseinander setzt. Die Argumentation verläuft dabei in einer Art Diskussion, in welcher die geäußerten provokativen Thesen systematisch abgehandelt und belegt werden. Es spielt keine Rolle, ob Klemperer in einem Aufsatz von 1928 über „Christian Morgenstern und de[n] Symbolismus“ (vgl. Klemperer 1956b) schreibt oder in einer Rede auf dem „Dies Academicus“ der Universität Greifswald 1948 über „Arbeiterblut, Studentenblut“ (Klemperer 1956c) spricht. Sein systematisches Vorgehen in der Argumentation lässt sich stets in der Formel „Thema – scheinbar abweichende These – Interpretation der Sachverhalte – Beweisführung“ zusammenfassen. Damit signalisiert Klemperer stets neu seine Absicht, unabhängig von anderen Meinungen seine eigene Position im Forschungsfeld einzunehmen. Er entwickelt individuelle Arbeitsmethoden und ist bereit, sich gegen konventionelle Einstellungen zu richten und sich damit deutlicher Kritik auszusetzen. Dies ist ein Indiz für Selbstbewusstsein.60
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Anhand der Tagebücher lässt sich dieses Selbstbewusstsein nicht immer erkennen. In ihnen klagt Klemperer häufig über sein wissenschaftliches Versagen und seine Unfähigkeit, sich eigenständig zu positionieren (vgl. z.B.: LS I, 895, 16.12.1924; SZS I, 390, 08.06.1947). Dieser Gegensatz in der Selbsteinschät-
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Ausdruck dessen ist auch die bildhafte und vieldeutige Sprache, derer der Romanist sich bedient. Während er literarische Muster und Motive erklärt, greift er selbst auf Sprachbilder zurück. An dem genannten Aufsatz zu Christian Morgenstern lässt sich dies paradigmatisch vorführen. Klemperer kritisiert darin den Einfluss des französischen Symbolismus auf die deutsche Literatur. Er charakterisiert diesen als „nervöse Ästhetik, die sich zu überfeinertem Ästhetentum steigert“ (Klemperer 1956b, 79). Systematisch stellt er Morgensterns Dichtung unterschiedlichen Merkmalen des französischen Symbolismus gegenüber. Er erklärt: „Und manches davon spritzt über die so behütet deutschen ‚Stufenʻ, und Morgenstern, der alle Form bornierend findet, scheint gar nicht zu ahnen, wem er verpflichtet und verfallen ist“ (Klemperer 1956b, 79).
Die Einwirkung des französischen „Ästhetentums“ wird in einer – durchaus fragwürdigen – Metapher umschrieben: Wie Wasser sich in Tropfenform seinen Weg zu scheinbar unerreichbarem Gelände bahnt, „spritzt“ der Symbolismus auf die deutsche Literatur. Die Stufen signalisieren eine Art Abgrenzung zwischen den beiden Literaturen. Zwar schließt diese Umschreibung aus, dass die französische Ästhetik der deutschen ernsthaft gefährlich werden könne – und damit propagiert Klemperer konventionelle Qualifizierungen der jeweiligen künstlerischen Entwicklung in den zwei Ländern. Allerdings deutet seine Formulierung an, dass ein gewisser Einfluss des Symbolismus möglich ist. Das Unerhörte seiner Aussage liegt darin, dass er überhaupt eine Wirkung des Symbolismus auf die idealisierte deutsche Literatur vermutet. Klemperer zieht sich häufig auf derartige bildhafte Umschreibungen zurück, wenn er provokative Sachverhalte artikuliert.61 Sein gesamtes Werk ist geprägt durch das Einarbeiten hintersinniger Bedeutungsräume, die erst bei näherer Betrachtung sichtbar werden. Dabei verwendet er wiederholt auch literarische Motive der Autoren, über die er schreibt. Für Morgenstern greift er beispielsweise auf eines von dessen Gedichten zurück, um das entscheidende Merkmal von dessen Schreibstil zu bestimmen. Es handelt von den zwei Farben einer Fahne, Gelb und Rot, die sich danach sehnen, sich zu vereinen. Dieser Wunsch wird schließlich erfüllt, als sie durch einen Regenschauer ineinander gewaschen werden. Klemperer interpretiert:
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zung und der Präsentation im wissenschaftlichen Diskurs macht auf einen entscheidenden Unterschied zwischen dem Diarium und den Forschungsarbeiten aufmerksam: Während Klemperer im Privaten vor allem von Selbstzweifeln geplagt wird, agiert er nach außen hin als selbstbewusster, eigenständig denkender und konfrontationsbereiter Wissenschaftler. Vgl. beispielsweise die Inszenierung der Begriffe „Arbeiterblut, Studentenblut“ in dem oben erwähnten Aufsatz (Klemperer 1956c).
156 | SCHREIBEN EIN L EBEN LANG – V ICTOR K LEMPERERS T AGEBÜCHER „Betrachtet man die ‚kleine Geschichteʻ von hieraus, so scheint sie durch Irrtum unter die ‚ernstenʻ Verse geraten und ihren eigentlichen Platz bei den Grotesken zu haben. In Wahrheit steht sie überall bei Morgenstern am richtigen Platz, denn er erreicht überall dort seine volle Eigenart und letzte Höhe, wo die beiden Hälften seines Wesens, wie das Rot und Gelb des symbolischen Fähnleins ineinanderfließen. Unbildlich: sein Ernst und sein Scherz als gesonderte Erscheinungen lassen ihn als Nachfühler und Nachbildner erscheinen; erst zum Humor verschmolzen ergeben sie völlig ursprüngliche Leistungen“ (Klemperer 1956b, 88).
Mit dem Bild des Fähnleins umschreibt Klemperer jene Technik, die Morgenstern für ihn zu einem originellen Dichter macht. Nicht nur die Interpretation des Gedichtes selbst hat Bedeutung für ihn, sondern insbesondere die Anwendung der darin festgestellten Methode im Gesamtwerk des Schriftstellers. Das wiederum wird zum Ausgangspunkt einer Überlegung zu Morgensterns Persönlichkeit. Die zwei „Hälften seines Wesens“ spiegeln sich in den Farben der Fahne. Die Komplexität dieser Argumentation ist typisch für Klemperers wissenschaftliches Arbeiten. Immer wieder wählt er einen literarischen Sachverhalt zum Ausgangspunkt für weiterführende Interpretationen, wobei er das ursprüngliche Sprachbild symbolisch für den Gesamtzusammenhang verwendet. Indem er die Vielschichtigkeit des Untersuchungsgegenstandes offenbart, adaptiert er sie gleichzeitig für seine eigene Argumentation. Klemperer entschlüsselt demnach die Subtexte der jeweiligen Dichtung, indem er selbst auf mehreren Ebenen argumentiert. Er erzeugt dadurch in seinen wissenschaftlichen Texten ähnlich komplexe Netzwerke aus unterschiedlichen Bedeutungsebenen wie er sie bei dem jeweils untersuchten Thema vermutet. Dies ist inszenierter Teil seines Schreibens. Die Absicht, die Vielschichtigkeit von literarischen Texten aufzudecken, geht immer mit der Erschaffung neuer Komplexitäten einher. Klemperers wissenschaftliche Arbeiten funktionieren deshalb in ähnlich dichten Zusammenhängen und Bedeutungsmustern wie seine journalistischen und schriftstellerischen Publikationen. Gleichzeitig entwickelt er diese Form des Schreibens über die früheren Texte hinaus. Er agiert nun als objektiver Wissenschaftler, der zwar sachlich argumentiert, jedoch auch die Instrumente der Literatur, die er interpretiert, einzusetzen weiß. Dadurch vermischt er einerseits die Techniken, die er in seinen früheren Arbeiten entwickelt hat. Andererseits gelingt ihm der Absprung vom journalistischen – sachlich berichtenden – und schriftstellerischen – literarischen – Schreiben. Obwohl er weiterhin gelegentlich in der Ich-Form schreibt, also seine persönliche Position betont, nimmt er nun die Rolle eines objektiven Analytikers ein. Trotzdem löst er sich in diesem analytischen Schreibstil nur scheinbar von schöpferischen Prozessen. Die kreative und unkonventionelle Verknüpfung unterschiedlichster Perspektiven und literarischer Motive bleibt ebenso wie in den journalistischen und schriftstellerischen Texten Merkmal von Klemperers Schreiben.
IV. B ERUFLICHES S CHREIBEN
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Auch ein anderer Aspekt seines wissenschaftlichen Arbeitens zeigt, dass der Blick auf größere Zusammenhänge sein Denken dominiert: Die in der SLUB bewahrten Arbeitsmanuskripte enthalten vielfach Hinweise darauf, dass sie nicht nur für ein einzelnes Arbeitsvorhaben verwendet wurden. Es handelt sich dabei neben Entwürfen für Aufsätze und Buchprojekte62 vor allem um Literaturexzerpte, Vorlesungs- und Vortragsmanuskripte. Sie entstehen ursprünglich zwar für einen konkreten Zweck – beispielsweise eine Vorlesung –, langfristig verwendet Klemperer sie jedoch für unterschiedliche Arbeitsprojekte. Beispielsweise werden die fast 250 vorliegenden Exzerpte,63 die er über Jahrzehnte hinweg zu seiner jeweiligen Lektüre entwickelt, immer wieder als Material für neue Textproduktionen hinzu gezogen. Dazu erweitert er teilweise sogar die ursprünglichen Manuskripte, indem er Ergänzungen oder neue Lektüreeindrücke auf dem jeweiligen Notizblatt anfügt. Meist kennzeichnet er durch genaue Datierungen und Ortsangaben die Weiterbearbeitung der Arbeitsmaterialien.64 Die einzelnen Manuskripte er-
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Ein Beispiel für derartige Arbeitsmanuskripte ist die umfangreiche Materialsammlung zur „Geschichte der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts. Band 2: Das Jahrhundert Rousseaus“. Außer einem korrigierten Druckmanuskript dieses Werkes (vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 646), das erst 1966 durch Hadwig Klemperer herausgegeben werden konnte, enthält sie mehrere hundert Seiten Vorarbeiten zu dem Thema: zum einen Exzerpte zu diversen Werken Rousseaus (Mscr. Dresd. App. 2003, 647/1) und handschriftliche Ausarbeitungen zu unterschiedlichen Aspekten des Dichters (Mscr. Dresd. App. 2003, 647/2), die während des „Dritten Reichs“ entstanden, zum anderen bibliographische Notizen und Exzerpte, die nach 1945 entstanden (Mscr. Dresd. App. 2003, 647/3). Vgl. dazu Mscr. Dresd. App. 2003, 944-1186. Das früheste Notizblatt dieser Sammlung datiert von 1903 (Mscr. Dresd. App. 2003, 944). Anhand einer Mappe mit Exzerpten zu Voltaire, die Klemperer zwischen 1902 und 1934 anlegte (Mscr. Dresd. App. 2003, 943), lässt sich dies exemplarisch belegen. Es handelt sich um 305 Blätter. Auch 22 Kärtchen befinden sich in der Mappe, auf denen zu einzelnen Briefen Voltaires Notizen festgehalten wurden und die zwischen September und Oktober 1916 in Leipzig entstanden. Teilweise sind die Exzerpte in einzelne Papiere eingeschlagen, auf denen die genauen Entstehungszeiträume festgehalten werden (z.B.: „Leipzig deutsche Bücherei: 2i.X.16. / An den Romanen überhaupt gearbeitet / 4/i0 16 – 2i/X 16“). Mehrfach vermerkt Klemperer darauf auch eine Art Inhaltsverzeichnis – so auf einem Exzerpt zur „Henriade“: „7 Stücke: Zusatzblatt, 2 kleine Einzelblätter, 4 vierseitige Bögen. Gearbeitet Paderborn, Driburg u. Leipzig, Mai/Juni und November 1916.“ Außer der systematischen Vorgehensweise auf den einzelnen Exzerpten bezüglich der Lektüre entwickelt Klemperer demnach auch eine Struktur, die Datum und Ort der Notizen vermerkt. Dadurch wird es möglich,
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halten damit erst durch die Koppelung an frühere und spätere Arbeiten ihre volle Bedeutung. Sie bewahren nicht nur kurzfristig Lektüreeindrücke, sondern speichern langfristig Wissen, das Klemperer lebenslang verwendet. Die Exzerpte stehen nicht als Einzeltexte, vielmehr bilden sie in der Gesamtheit eine Arbeitsgrundlage. Noch deutlicher wird dies anhand der Vorlesungs- und Vortragsmanuskripte. Aufgrund genauer Datums- und Ortsangaben kann ihre Mehrfachverwendung und ihre teilweise Erweiterung über Jahre hinweg nachvollzogen werden.65 Ebenso wie sich Klemperer in seinen einzelnen wissenschaftlichen Publikationen immer um einen möglichst weiten Fokus bemüht, handelt er bezüglich der dazu entstehenden Arbeitsmaterialien. Er arbeitet Notizblätter, Skripte, Lektüremitschriften und ähnliches in einen Gesamtzusammenhang ein, der das jeweilige Projekt überschreitet. Mit den nicht zur Veröffentlichung gedachten Exzerpten und Vortrags- und Vorlesungsmanuskripten verfolgt er durch die lebenslange Sammlung unterschiedlicher Informationen und Ideen ein wesentlich weiter gestecktes Ziel. Es geht ihm mit der dauerhaften Aufbewahrung und stetigen Wiederverwendung dieser Manuskripte um das Erhalten seiner geistigen Entwicklung für eine Nachwelt. Die mehrfach erweiterten Lektüreexzerpte geben beispielsweise Aufschluss über Klemperers wandlungsfähiges Leseverhalten. Ebenso zeigt die stetige Weiterbearbeitung der Vorlesungs- und Vortragsmanuskripte veränderte Einstellungen zu spezifischen Forschungsthemen. Alle Materialien erfüllen rückblickend eine zweite Funktion. Sie dokumentieren Klemperers Lebensverlauf. Verschiedene private Notizen am Rand der Arbeitsaufzeichnungen66 und die durchgehende exakte Datierung67
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bei einer Durcharbeitung der gesammelten Blätter eine Entwicklung in der Textarbeit zu erkennen. Dies geschieht beispielsweise mit einem Vorlesungskonzept zu Petrarca, das für das Wintersemester 1919/1920 in München erarbeitet wurde (Mscr. Dresd. App. 2003, 905). Auf einem Deckblatt zu dem 24 Blätter umfassenden Manuskript ist genau vermerkt, wann welche Veranstaltung mit welchem Thema stattfand. Notizen auf dessen Rückseite dokumentieren die spätere Verwendung des Manuskripts für Seminare in Dresden („Dresden Som-Sem 1920. i stündig Di 6-7“; „Vorlesung S. S. 1928 2st. Petrarca/Boccaccio. Di 5-7“). Außerdem gibt es in der rechten oberen Ecke der Seite einen Hinweis von 1932 auf eine zum Thema passende Publikation („benutze Hans Maron: Renaissance in Italien. Literaturüberblick. Archiv f. Kulturgeschichte / XXXI 1-3, 1930/1 / 3.5.32.“). Beispielsweise vermerkt Klemperer in einem Konzept zur „Italienische[n] Renaissance-Literatur“ (Mscr. Dresd. App. 2003, 910) am Ende eines dort eingefügten Exzerpts: „Zu Ende [n]otiert am Tage wo ich die Mazzini-Jubiläumsmarken der Regas [?] d’Italia erhielt! 21.12.1922 Dresden“. Diese rein private Notiz hat in dem Vorlesungskonzept keine wissenschaftliche Funktion, dient Klemperer aber als private Erinnerungsstütze. Er verbindet damit in fast ironi-
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jedes einzelnen Blattes weisen darauf hin, dass nicht nur die fachlichen Informationen dieser Manuskripte bei der Aufbewahrung eine Rolle spielen. Dadurch fungieren die Materialien in gewisser Weise als autobiographische Quelle für seine Entwicklung. Bewusst stellt Klemperer wiederholt die Nähe zum Diarium her, indem er tagebuchähnliche Bemerkungen68 einfügt oder sogar direkt auf einen spezifischen Tagebucheintrag verweist. 69 Umgekehrt
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scher Weise ein Ereignis aus seinem persönlichen Erleben mit seiner beruflichen Tätigkeit. Noch aussagekräftiger wirkt ein Hakenkreuz, das auf dem Deckblatt eines Vorlesungskonzepts vom Wintersemester 1934/1935 zu Dante den Titel der Vorlesung kommentiert (Mscr. Dresd. App. 2003, 920; vgl. auch Mscr. Dresd. App. 2003, 923 und Mscr. Dresd. App. 2003, 924). Dieses Symbol kann als wortlose Erklärung der darunter vermerkten Anzahl der Teilnehmer an der Vorlesung verstanden werden: „2 Hörerinnen“. Zwar darf Klemperer trotz seiner jüdischen Abstammung noch an der Technischen Hochschule Dresden lehren. Jedoch spürt er bereits deutlich die Auswirkungen der antisemitischen Politik im „Dritten Reich“. Dies wird nicht wortreich auf dem Vorlesungsmanuskript vermerkt, sondern allein durch die Kombination der geringen Hörerzahl mit dem Hakenkreuz signalisiert. Das Biographische wird damit Teil der Arbeitsmanuskripte. Die Techniken der Datierung und örtlichen Einordnung der Manuskripte ähneln den Vorgehensweisen in Klemperers Tagebuch. Teilweise thematisiert er sogar die Erweiterung seiner früheren Vorlesungsmanuskripte und kommentiert die zeitlichen Abstände zwischen den einzelnen Aufzeichnungen. Ein Beispiel dafür ist folgender Kommentar im Tagebuch: „D’Aubigné macht 1919 den Anfang meiner Vorlesungen, damals arbeitete ich sie noch aus, für das Kriegsnotstandsemester in München, das Blatt trägt das Datum 7.II 1919. Am 7.II 1951 arbeitete ich diesmal hier am D’Aubigné. Welch eine Distanz in jeglicher Beziehung!! – –“ (SZS II, 135, 1. Stelle, nicht gedruckter Eintrag vom 10.02.1951, Halle; vgl. dazu Mscr. Dresd. App. 2003, 907). Mit tagebuchähnlich sind hier Randbemerkungen gemeint, die eine ähnliche Struktur haben wie die Tagebucheinträge. Beispielsweise notiert Klemperer auf einem Manuskript zu einer „Ansprache in Jena auf öffentlichem Platz am 10. Juni 52“ abschließend: „Es gab großen Beifall, als ich fast wörtlich sagte: / [‚]Wenn es sein muß, werden wir die DDR mit unsern Leibern, die Waffe in der Hand, schützen. Aber es wird nicht sein müssen, wir werden den Frieden auch ohne das, durch unsere blosse Masse in Geschlossenheit erhalten.ʻ H[adwig] hob das nachher rühmend hervor: ‚Die anderen betonen sein muß, Du legst den Ton auf mußʻ“ (Mscr. Dresd. App. 2003, 872). Diese Notiz ähnelt Klemperers Tagebucheintragungen – nur dass sie dem dazugehörigen Vortragsmanuskript angefügt wurde. Direkte Verweise auf das Tagebuch in den Arbeitsmanuskripten werden meist an eine Ausführung zu einem Sachverhalt oder Gedankengang angeschlossen. Beispielsweise findet sich unter einem Vortrag zum Thema Volksschulbildung
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wird diese Verbindung zwischen Diarium und Arbeitsmaterialien auch durch einzelne Tagebuchnotate deutlich.70 Auf gleiche Weise begleiten die Tagebuchaufzeichnungen auch die Entstehung der wissenschaftlichen Publikationen. Beispielsweise kann anhand des Diariums nachvollzogen werden, wie der oben erwähnte Aufsatz „Christian Morgenstern und der Symbolismus“ entstand.71 Je nach dem, welche Bedeutung ein Arbeitsereignis in einem bestimmten Lebensabschnitt einnimmt, verstärkt sich phasenweise dessen Betonung.72 Dabei wird das Tagebuch zu einer Art Arbeitsbuch, in dem Ideen zu wissenschaftlichen Themen,73 die durch alltägliche Situationen inspiriert sind, ausführlich diskutiert
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(Mscr. Dresd. App. 2003, 842) nach ausführlichen Kommentaren der Hinweis: „Cf. Tagbuch über den 28./5 24.“. Im entsprechenden Tagebucheintrag notiert Klemperer ausführlich einen Disput mit einem ehemaligen Unterrichtsminister (vgl. LS I, 811, 28.05.1924; LS I, 813, 29.05.1924). Zum Beispiel wird die Entstehung eines Manuskripts zu einer Vortragsserie unter dem Titel: „Lauchhammer / 6 Vorträge October 1921 – Januar 1922 / sociale Themen in deutscher u. französ. Dichtung des 19. Jh’s.“ (vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 840) mehrfach in Tagebucheinträgen erwähnt. Auch die Umstände, unter denen Klemperer die Vorträge hält und die Reisen zwischen Dresden und Lauchhammer beschreibt er im Diarium (vgl. LS I, 520-550, 20.10.1921-21.01.1922). Bereits die Entwicklung der Idee zu diesem Text wird im Tagebuch vermerkt (vgl. LS II, 327, 17.04.1927; LS II, 329, 27.04.1927). Hernach notiert Klemperer regelmäßig den Fortgang der Arbeit an diesem Thema, die Schwierigkeiten mit dem Stoff und die Hoffnung auf ein gutes Arbeitsergebnis (vgl. dazu LS II, 335, 02.06.1927; LS II, 339, 04.06.1927; LS II, 344, 15.06.1927). Auch nach dem erfolgreichen Abschluss des Aufsatzes (vgl. LS II, 350, 12.07.1927) wird der Text noch zweimal im Tagebuch erwähnt: Klemperer vermerkt den Erhalt der Druckfahnen (LS II, 367, 13.08.1927) und notiert nach der Veröffentlichung seinen Ärger über einen unautorisierten Eingriff der Zeitschrift in den Textfluss (LS II, 417, 01.03.1928). So sind die Vorlesungen und Seminare, die Klemperer zu Beginn seiner offiziellen Universitätskarriere in München hält, für ihn von großer Wichtigkeit. Er listet deshalb 1920 tabellarisch auf, welche Veranstaltungen er geleitet hat (vgl. LS I, 254, 1. Stelle, 23.03.1920). Einige Monate später vermerkt er ausführlich im Tagebuch, was die kommenden Arbeitsaufgaben sind (vgl. dazu LS I, 326, 1. Stelle, 22.07.1920). Ein Beispiel ist die Beschreibung eines Gesprächs mit einem Kollegen: „Vorige Woche zeigte mir Dember in seinem Institut merkwürdige japanische u. chinesische Spiegel. Plastik[en] der Rückwand werfen ihre Schatten durch die Spiegel an die Wand. Ganz toll ein chinesisches Stück mit Einlage. Vorn ein Spiegel, hinten chines. Buchstaben u. an der Wand erscheint ein Confucius. ‚Zu Religionszwecken.ʻ ‚Priestertrug!ʻ, sagte das 18. Jh. Und da ist doch viel Wahres daran. Für mein 18. Jh. zu benutzen!!“ (LS II, 674, 1. Stelle, 26.12.1930). Im
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werden. Gelegentlich erklärt Klemperer sogar, ein spezifisches Arbeitsmanuskript könne Tagebuchaufzeichnungen ersetzen.74 Er signalisiert damit, dass nicht sein Tagebuch allein seinen autobiographischen Text bildet. Vielmehr ergänzen die Arbeitsaufzeichnungen die Notate.75 Aus dieser Perspektive wird jedes Manuskript, jede Veröffentlichung ein Zeugnis für die geistige Entwicklung Klemperers und damit Teil eines allumfassenden Textkonvoluts, das seinen Lebensverlauf erfasst. Beispielhaft wird dies an der Aufbewahrung eines Arbeitsentwurfs zu der 1951 veröffentlichten Studie „Stalins Sprachtheorie und die gegenwärtige Lage der deutschen Sprache“ sichtbar: Die ursprüngliche Version dieses Aufsatzes war durch eine Gutachterkommission abgelehnt worden. Die daraus resultierende Zensierung des Textes sah Klemperer als symptomatisch für die politische Lage in der DDR an. Er kommentiert dazu im Tagebuch: „Ich werde ursprünglichen u. corrigierten Text aufbewahren. Sehr wichtig für künftige Geschichtsschreibung“ (SZS II, 232, 2. Stelle, 09.12.1951; vgl. dazu Mscr. Dresd. App. 2003, 652 und 652a). Zudem legt er das Gutachten bei, in dem die Kritikpunkte an seinem Aufsatz enthalten sind (vgl. SZS II, 232, 2. Stelle, 09.12.1951). Auf diesem eingefügten Blatt ist handschriftlich vermerkt „cf Tgb 9.XII 51.“ Als Kommentar wird im Tagebuch außerdem erklärt: „Ich habe den ganzen gestrigen Tag an etliche Correkturen gesetzt,
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Tagebuch wird ein Gedanke, der durch ein privates Erlebnis – nicht wissenschaftliche Forschungsarbeit – inspiriert ist, zum Ursprung einer Idee für Klemperers Arbeitsprojekt. Entsprechend stellen die Tagebuchaufzeichnungen eine wichtige Quelle bzw. Stütze für seine Arbeit dar. – Das zeigt sich auch, wenn Klemperer seine Überlegungen zu einem gehörten Vortrag von Karl Bühler über „Sprachpsychologie“ ausführt (LS I, 378, 1. Stelle, 21.10.1920). An anderer Stelle vermerkt er als „Philologische Notiz“ Gedanken zu der veränderten Verwendung französischer Vokabeln im Deutschen (LS II, 456, 01.10.1928). Siehe auch eine Notiz zu den religiösen Hintergründen des Nationalsozialismus und Faschismus (ZA II, 224, 3. Stelle, 25.08.1942) oder das Vermerken von Gedanken und Themen, die Klemperer in Examensarbeiten seiner Studenten entdeckt (SZS II, 23, 2. Stelle, 08.04.1950). Dies geschieht beispielsweise während Klemperers Arbeit an „Die französische Literatur von Napoleon bis zur Gegenwart“. Er verweist explizit auf diesen Text, um fehlende Tagebucheinträge zu entschuldigen: „Ich will den Poilu inconnu in mein neues Buch einführen. Cf. Delavinge-Notizen. Überhaupt sind die Notizen jetzt mein eigentliches Tagebuch u. Leben“ (LS I, 742, 06.09.1923; vgl. für eine ähnliche Situation auch LS II, 67, 1. Stelle, 17.06.1925). Das macht auch ein Kommentar deutlich, der sich an die kurze Darstellung eines Streits um die Wiederauflage von Klemperers Buch „Moderne französische Prosa“ anschließt: „Ich gehe hier nicht auf das Einzelne ein, denn darüber wird ja noch allerhand publice u. im Druck zu sagen sein“ (SZS I, 637, 10.04.1949).
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dann das Ganze im Eilbrief nach Berlin geschickt, Frl. Limberg, die tüchtige Sekretärin meines Instituts, wird Copie herstellen“ (SZS II, 232, 2. Stelle, 09.12.1951). Klemperer schafft durch all diese Verweise die Voraussetzungen dafür, dass in einer Rezeption der Materialien nach seinem Tod nachvollzogen werden kann, was genau sich in Bezug auf den Stalin-Aufsatz abgespielt hat. Die aufbewahrten Manuskripte und das ins Diarium eingefügte Gutachten tragen ebenso wie der Tagebuchkommentar dazu bei. Das Diarium ist dabei das Zentrum, das die unterschiedlichen Textformen zusammenführt. Einer von Klemperers Tagebuchbänden (Mscr. Dresd. App. 2003, 126) stellt zusätzlich eine direkte Anknüpfung an die Arbeitsnotizen dar.76 Ursprünglich ist dieses Wachstuchheft ein Arbeitsbuch für Notizen zu Seminaren, die er zwischen 1914 und 1915 in Neapel hält. Nur ein Drittel des Buches wird jedoch für diesen Zweck verwendet. Fast zehn Jahre später nutzt Klemperer die frei gebliebenen Seiten für Tagebuchaufzeichnungen (vgl. dazu Abb. 3 im Anhang). Dadurch koppelt er seine privaten Eintragungen direkt an berufliche Notate. Die Aufbewahrung des Tagebuchs sichert gleichzeitig den Erhalt der Seminarnotizen. Die darin enthaltenen Informationen haben kaum einen wissenschaftlichen Wert für Klemperer, da es sich bei den Seminaren um Sprachkurse handelte. Allerdings ist die autobiographische Bedeutung der Aufzeichnungen nicht zu unterschätzen. Kurze persönliche Beobachtungen, die immer wieder an den Rand der jeweiligen No-
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Mscr. Dresd. App. 2003, 126 enthält neben den Arbeitsnotizen und den Tagebuchaufzeichnungen im Mittelteil auch Kinonotate, die, abgekoppelt von den sonstigen täglichen Eintragungen, in den Mittelteil des Buches geschrieben wurden (vgl. dazu Exkurs 4: Rezensionen). Das Wachstuchheft weicht damit in seinem Gesamtaufbau deutlich von den anderen Tagebüchern ab. Es zeigt, dass die Anwendung klassischer Definitionen zum Tagebuchbegriff auf Klemperers Tagebuchführung nicht möglich ist. Es geht ihm nicht in erster Linie darum, linear Ereignisse wiederzugeben. Vielmehr strebt er danach, möglichst umfassend mittels Text sein Erleben zu speichern. Dafür spielt es keine Rolle, wie und in welcher Form er schreibt. Ausschlaggebend ist die Möglichkeit des Schreibens an sich. Dabei kombiniert er bewusst verschiedene Texte miteinander. Das Buch verbindet die Themen Arbeit und Kino mit dem konkreten Tagebuchschreiben. Diese Verknüpfung wird mehrfach durch kleine Anmerkungen kommentiert. Durch entgegengesetzte Schreibrichtungen kennzeichnet Klemperer die Trennung zwischen den Textformen und nutzt gleichzeitig effektiv den vorhandenen Platz im Buch. Dies zeigt seine individualistische Ausrichtung beim Schreiben. Er kreiert seine eigene Textstruktur, die mehr ist als nur pure Wiedergabe von Lebensereignissen. – Durch die Verknüpfung von Arbeitsbuch, Kinorezensionen und klassischem Tagebuch entsteht ein Netzwerk aus Texten, welches das Leben und Denken des Autors aus verschiedenen Perspektiven erfasst.
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tizen gesetzt werden, haben langfristig sozio-historische und kulturelle Aussagekraft.77 Diese Form der Verknüpfung von Diarium und Arbeitsaufzeichnungen zeigt Klemperers grundsätzliche Bereitschaft, eine Nähe zwischen beiden Schreibformen herzustellen. Er fasst seine Arbeitsnotizen ebenso wie die wissenschaftlichen Texte als autobiographische Zeugnisse seines Lebensverlaufs auf. Deshalb bemüht er sich auch um den Erhalt dieser Manuskripte über seinen Tod hinaus. Die Tatsache, dass die heute in der SLUB gelagerten Manuskripte, die vor Juni 1945 datieren, nur deshalb noch existieren, weil sie in Pirna versteckt wurden, zeigt zusätzlich an, welche Bedeutung jede einzelne Aufzeichnung seines Arbeitslebens für Klemperer hatte. Sie wurden unter Lebensgefahr für mehrere Menschen im „Dritten Reich“ bewahrt, um darüber hinaus verfügbar zu sein – nicht nur wegen ihres jeweiligen wissenschaftlichen Inhalts, sondern auch wegen ihrer autobiographischen Funktion. Ebenso wie die journalistischen und schriftstellerischen Texte sowohl inhaltlich als auch in ihrer Bezüglichkeit zu anderen (meist privaten) Schreibformen Klemperers nie eindimensional funktionieren, sondern immer auf größere Zusammenhänge ausgerichtet sind, lässt sich dies für seine wissenschaftlichen Arbeiten feststellen. Zum einen potenziert er damit in seinem analytischen Schreiben die Ausrichtung auf komplexe Verknüpfungen. Zum anderen entsteht im Verlauf seiner wissenschaftlichen Arbeiten ein zunehmend dichtes Netzwerk aus Tagebucheintragungen, Arbeitsaufzeichnungen und Publikationen.
E XKURS 4: R EZENSIONEN Die Verknüpfung von Tagebuch und Arbeitsaufzeichnungen wird in besonderem Maße anhand der phasenweise sehr umfangreichen, im Diarium verfassten Buchbesprechungen deutlich. Derartige Texte entstehen in der Absicht, die gedankliche Essenz einer Lektüre für eine mögliche Weiterverwendung im wissenschaftlichen Bereich zu bewahren. Meist gibt der Tage-
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Ein Beispiel ist eine Notiz unter der Überschrift „Zweites Jahr 1914-15“: „November – ? Der Krieg mag Antwort geben“ (Mscr. Dresd. App. 2003, 126). Klemperer kommentiert hier seinen Versuch, den Zeitraum seines zweiten Jahres in Neapel zu bestimmen mit dem Verweis auf den bereits ausgebrochenen Ersten Weltkrieg. Er ist sich darüber im Klaren, dass bald auch Italien dem Krieg beitreten wird. Was danach mit ihm geschieht, weiß er nicht. Das Fragezeichen symbolisiert sein Ausgeliefertsein an geschichtliche Entwicklungen, die er weder beeinflussen noch voraus ahnen kann. Damit sind die Arbeitsnotizen mehr als nur zusammenhanglose, rein auf den praktischen Zweck der Verwendung zur Lehre ausgerichtete Aufzeichnungen.
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buchschreiber Klemperer den Inhalt wieder und nimmt eine qualitative Wertung des jeweiligen Buches vor. Dem ist jedoch fast immer die Skizzierung der wichtigsten Zusammenhänge angeschlossen und eine zumindest kurze Überlegung dazu, wie das Gelesene in die Gegenwart des Tagebuchschreibers eingeordnet werden könnte. Es handelt sich nicht um Exzerpte, in denen stichpunktartig ausschließlich Inhalte verzeichnet werden, sondern um die Besprechung der jeweiligen Lektüre in Form von zusammenhängenden Sätzen. Deshalb entsprechen diese Buchbesprechungen in ihren Grundzügen der Textform der Rezension.78 Klemperer analysiert auf diese Weise jedoch nicht nur Bücher in seinem Diarium, sondern nutzt diese Technik für unterschiedliche kulturelle Ereignisse. Es entstehen Rezensionen zu Theateraufführungen (vgl. z.B.: LS I, 224, 4. Stelle, 31.01.1920), Vorträgen bzw. Reden von Kollegen (vgl. z.B.: LS I, 574, 12.04.1922), diversen Ausstellungen und Museumsbesuchen (vgl. z.B.: LS II, 723-725, 25.07.1931), Konzerten (vgl. z.B.: LS I, 531, 2. Stelle, 25.11.1921), Operettenbesuchen (LS I, 238, 2. Stelle, 22.02.1920) und Radiosendungen (SZS I, 142, 1. Stelle, 13.11.1945). Sogar eine Schulstunde (LS II, 418, 05.03.1928), eine Predigt (LS I, 561, 09.03.1922) und einen Schulungskurs der SED (SZS I, 446, ungekennzeichnete Stelle, nicht gedruckter Eintrag vom 13.10.1947) rezensiert Klemperer in seinem Tagebuch. Je nach Lebensphase liegt der Schwerpunkt derartiger Untersuchungen im Tagebuch auf unterschiedlichen Themen.79 Die rezensionsartigen, teilweise sogar exzerptähnlichen Aufzeichnungen über Lektüre stellen die größte Konstante in den Tagebucheintragungen dar. Während der Weimarer Republik handeln sie vornehmlich von Büchern, die Klemperer außerhalb seiner wissenschaftlichen Arbeit seiner Frau vorliest.80
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Anhand des „Curriculum vitae“ lässt sich erkennen, dass diese Verarbeitung von kulturellen Eindrücken in rezensionsartigen Ausführungen im Tagebuch schon in jungen Jahren zu einer Gewohnheit wurde (vgl. CV I, 168-169). Auch in diesem Text wird mehrfach ausführlich über einzelne Theaterbesuche referiert, um die Bedeutung dieser Erlebnisse für die biographische Entwicklung zu verdeutlichen (vgl. z.B.: CV I, 312ff.). – Eine der frühesten erhaltenen Tagebuchrezensionen ist eine 14-seitige Untersuchung zu den „Buddenbrooks“. Darin diskutiert Klemperer viele Episoden, Personen und Gespräche einzeln und vergleicht die Schreibweise Thomas Manns mit jener verschiedener französischer Autoren, beispielsweise Flaubert (vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 118, Vorderseite Blatt 51ff., 30.09.1916). Die Kinorezensionen nehmen beispielsweise Anfang der dreißiger Jahre ab, bedingt durch das Verbot für Juden, Kinos zu besuchen. Nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reichs“ interessiert sich Klemperer nur noch wenig für dieses Thema (vgl. dazu z.B.: SZS II, 46, 7. Stelle, 17.[im Druck falsch angegeben als 16.]06.1950). Ebenso wie die Kinorezensionen in der Weimarer Republik entstehen die Lektürenotate nicht allein aus Klemperers privatem Interesse. Sie resultieren beide
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Dies verstärkt sich mit Beginn des „Dritten Reichs“. Zudem diskutiert er aufgrund seiner intensiven Arbeit an der französischen Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts zunehmend auch forschungsrelevante Texte in seinen täglichen Aufzeichnungen (vgl. z.B.: ZA I, 73; 15.12.1933). Teilweise ersetzen diese Notate externe Exzerpte.81 Zu einzelnen Texten entstehen zusätzlich zu den Tagebuchrezensionen Arbeitsaufzeichnungen außerhalb des Diariums.82 Zwischen 1939 und 1941 weicht Klemperer zwangsweise vorrangig auf das Tagebuch aus. Er wagt es kaum andere Manuskripte zu fertigen, außer die auf losen Blättern geführten und regelmäßig außer Haus geschleusten Aufzeichnungen. Deshalb befinden sich die meisten der in diesem Zeitraum
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ursprünglich aus dem gemeinsamen Erlebnis mit Eva Klemperer. Im Tagebuch werden nicht nur persönliche Eindrücke und Ideen zum jeweiligen Thema, sondern immer auch die Ergebnisse der Kommunikation mit der Ehefrau vermerkt. Deshalb wirken die Lektürerezensionen anfänglich wie ein Ersatz für die Auseinandersetzung mit Kinofilmen, als das Verbot Kinos zu besuchen für Juden in Kraft tritt. Meist ergeben sich derartige Notate aus dem Bedauern, keine Zeit für eine ausführliche Auseinandersetzung mit einem Text zu haben (vgl. z.B.: ZA I, 362, 1. Stelle, 20.06.1937). Unter diesen Umständen vermerkt Klemperer beispielsweise vor einer Kurzzusammenfassung verschiedener Texte: „Wenigstens die Titel der Bücher, die ich in den letzten Wochen vorlas“ (ZA I, 400, 1. Stelle, nicht gedruckter Eintrag vom 02.04.1938). Das Tagebuch wird auf diese Weise Ersatz für eine ausführlichere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit externen Exzerpten. Es finden sich beispielsweise sowohl im Tagebuch als auch in der Exzerptsammlung der SLUB Aufzeichnungen zu Semjon Dubnows „Die jüdische Geschichte“. Innerhalb des externen Exzerptes wird explizit durch einen Verweis auf das Tagebuch die Verbindung zwischen beiden Textformen hergestellt: „s. auch Tagebuchnotiz 14.VIII 42.“ (Mscr. Dresd. App. 2003, 1085; vgl. ZA II, 206, 1. Stelle, 14.08.1942). Erst zusammen ergeben Tagebucheintrag und wissenschaftliches Exzerpt ein vollständiges Bild über Klemperers Leseeindruck von dem Buch. Diese Technik wendet Klemperer sehr häufig an (vgl. z.B.: Mscr. Dresd. App. 2003, 1122 und ZA II, 354, 1. Stelle, 18.04.1943). Dabei verweist er gelegentlich sogar für spezifische Seiten eines Buches auf Tagebuchnotate, die neben den externen Äußerungen zur Lektüre entstehen. So schreibt er im Exzerpt zu Edwin Erich Dwingers „Zwischen Weiß und Rot“: „cf. Tgb über 403. 405. 520. 472. 484. 49i: 23.V 43“ (Mscr. Dresd. App. 2003, 1126; vgl. mit ZA II, 384, ungekennzeichnete Stelle, nicht gedruckter Eintrag vom 23.05.1943). Die Verknüpfung zwischen Tagebuch und wissenschaftlichen Arbeitstechniken ist demnach extrem eng.
166 | SCHREIBEN EIN L EBEN LANG – V ICTOR K LEMPERERS T AGEBÜCHER
entstandenen Rezensionen direkt im Diarium.83 Langfristig fühlt er sich durch diese Einschränkung jedoch stark in seiner wissenschaftlichen Freiheit gehemmt und geht erneut dazu über, außerhalb des Tagebuchs Exzerpte zu fertigen.84 Gegen Ende des „Dritten Reichs“, als Klemperer weder an einem expliziten wissenschaftlichen Projekt, noch an seiner Autobiographie weiterarbeiten kann, konzentriert er sich auf LTI-Beobachtungen. Dazu greift er aus Mangel an gezielt auswählbarer Lektüre zu fast jedem Text, den er finden kann.85 Nach dem Kriegsende werden die Literaturrezensionen nahezu vollständig aus dem Tagebuch ausgelagert. Sie erhalten wieder den Status einer eigenständigen Textform. Herausragend aus der Masse an unterschiedlichen Besprechungen ist ab Anfang der zwanziger Jahre die Auseinandersetzung mit Kinofilmen.86 Die-
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Die daraus entstehenden Texte sind oft keine reinen Fließtexte mehr, sondern haben die Struktur von Exzerpten. Einzelne Inhalte werden in nummerierten Stichpunkten vermerkt. Häufig notiert Klemperer sogar Seitenzahlen, und bereitet damit eine mögliche spätere Auswertung der Aufzeichnungen in einer wissenschaftlichen Arbeit vor. Zudem entstehen diverse Verweise auf andere wissenschaftliche Thesen. Zu einer Ausarbeitung über Lilly Brauns „Memoiren einer Sozialistin“ fertigt Klemperer beispielsweise einen Fragenkatalog, dessen Beantwortung durch die Anknüpfungen an Autoren wie Alfred Rosenberg versucht wird (ZA II, 139, 2. Stelle, 21.06.1942; vgl. dazu auch ZA II, 140, 1. Stelle, 22.06.1942; ZA II, 146, 1. Stelle, 26.06.1942; ZA II, 147, 1. Stelle, 27.06.1942). Nur Exzerpte, deren Entdeckung durch die Gestapo bei eventuellen Hausdurchsuchungen Klemperer unbedingt verhindern möchte, werden weiterhin direkt im Tagebuch ausgeführt. Zum Beispiel entsteht über mehrere Einträge hinweg eine ausführliche Rezension zu Hitlers „Mein Kampf“ (vgl. ZA II, 484, 10.02.1944; ZA II, 486, 1. Stelle, nicht gedruckter Eintrag vom 13.02.1944; ZA II, 489, 1. Stelle, 21.02.1944; ZA II, 489, 2. Stelle, nicht gedruckter Eintrag vom 23.02.1944; siehe auch Abb. 4 im Anhang). Neben wenigen wissenschaftlichen Untersuchungen und Romanen und Erzählungen verarbeitet er beispielsweise Zeitungsartikel und Propagandamaterial (vgl. dazu z.B.: ZA II, 423, 1. Stelle, 25.08.1943). Der Konsum von Kinofilmen ist Klemperer zunächst peinlich. Er hat das Gefühl, einer seinem Stand nicht entsprechenden Unterhaltungsmentalität zu folgen, wenn er ins Kino geht. Er fühlt sich sogar genötigt, sich vor seinen Studenten in seiner Handlungsweise zu rechtfertigen: „Ich habe nämlich in meinem Kolleg erklärt, daß ich absichtlich ins Kino ginge, daß der Literarhistoriker mit jeder Art Volkskunst in Verbindung bleiben müsse“ (LS I, 534, 1. Stelle, 08.12.1921). – Eben die Rolle des „Konsumenten“ von Kinofilmen macht jedoch aus Sicht von Gernot Böhme Klemperers Aufzeichnungen zu einem besonderen Dokument der Zeitgeschichte (vgl. dazu Böhme 2003, 81ff.). Vgl. dazu auch Klemperers philosophische Betrachtungen über das Kino (z.B.: LS I, 778, 22.01.1924 oder LS I, 835, 20.07.1924).
IV. B ERUFLICHES S CHREIBEN
| 167
ses neue Medium fasziniert Klemperer. Er besucht zeitweise fast täglich das Kino und kommt dadurch mit dem Notieren des Gesehenen kaum hinterher. Daraus resultiert phasenweise eine starke Neigung zu Nachträgen,87 in denen rückblickend anhand von Erinnerungen und Kinoprogrammen die gesehenen Filme rekapituliert und kritisch eingeordnet werden.88 Diese Form des Tagebuchführens unterscheidet sich stark von Klemperers Alltagseintragungen. Zeitweise separiert er deshalb die „Kinonachträge“ von den sonstigen Tagebucheintragungen, indem er sie zusammenhängend notiert. Trotzdem bleiben die Kinorezensionen Teil des Tagebuchs. In Mscr. Dresd. App. 2003, 126 nutzt Klemperer den Mittelteil des vorher bereits als Arbeitsbuch verwendeten Wachstuchheftes (vgl. Kapitel IV.3) ausschließlich für Kinonotizen. Diese Technik erweitert er im nachfolgenden Tagebuch Mscr. Dresd. App. 2003, 127.89 Langfristig stören ihn allerdings die gelegentlichen inhalt-
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Nicht die Rekapitulation der letzten Alltagsereignisse steht bei den Nachträgen an erster Stelle, sondern die Aufarbeitung der Kinobesuche (vgl. z.B.: LS II, 639-640, 04.08.1930). Dies gibt einen Hinweis darauf, welch große Bedeutung diese Notate für Klemperer hatten. Walter Nowojski macht in einem Interview darauf aufmerksam, dass viele Kinobesprechungen weniger „kritische Analysen, sondern reine Inhaltsangabe[n]“ enthalten, schränkt jedoch ein: „Andererseits: Wenn ein Mann wie Klemperer Inhalt widergibt [sic], geht das nicht ohne Wertung ab“ (Großmann 1997, 3). Nachdem zwei Drittel dieses Wachstuchheftes gefüllt sind, bricht Klemperer die Alltagsbeschreibungen ab und notiert in dem Buch im Weiteren ausschließlich Kinorezensionen. Gekennzeichnet wird dies nach dem Tagebucheintrag vom 8. Juli 1925 durch die Überschrift: „Kino-Notizen vom 19/Sept 25 – 19 Mai 1927“ (vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 127). Konkreter Grund für die Zusammenfassung der Kinoaufzeichnungen getrennt von den sonstigen Notaten ist eine große Reise. Klemperer schreibt: „Es ist die größte Reise, die wir je unternommen haben, u. noch kommt sie uns ein bißchen unwahrscheinlich vor. – Ich will sie in ein besonderes Tagebuchheft zusammenschreiben u. der Rest dieses Buches soll als Kinojournal dienen“ (LS II, 72, 1. Stelle, 08.07.1925).
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lichen Überschneidungen,90 weshalb er sich gegen die Beibehaltung der gesonderten Kinonotizen entscheidet.91 Über fast zwei Jahre hinweg führt Klemperer jedoch parallel zu seinem Alltagstagebuch ein „Kinotagebuch“. Dabei versteht er seine Kinorezensionen explizit als „eine Art des Tagebuchschreibens“ (LS II, 14, 1. Stelle, 25.02.1925). Die Kinoaufzeichnungen bleiben trotz der Trennung von den täglichen Eintragungen formal Teil des privaten Diariums, weil es Klemperer in der Auseinandersetzung mit den Kinofilmen gelingt, sich einer spezifischen Seite seiner Identität zu nähern. Mit ihrer Hilfe versucht er, seine Sehnsucht nach ästhetischer Phantastik und seine Faszination für Technik auszudrücken. Dafür durchbricht er die Strukturen des klassischen Tagebuchs und reformuliert sie entsprechend seinem Bedarf. Sein Gattungsverständnis wird nicht durch bestimmte inhaltliche Merkmale begrenzt, sondern manifestiert sich vielmehr gerade in der Übertretung gängiger Rahmenbedingungen. Wichtig ist allein ein inhaltliches Ziel beim Tagebuchschreiben: das Beschreiben und damit Bewahren von Lebensereignissen. – Die dabei verwendete Form bleibt stets variabel. Jede rezensionsartige Einarbeitung in den Tagebuchtext gibt einen Hinweis auf bestimmte biographische Entwicklungen in Klemperers Leben.
IV.4
Z USAMMENFASSUNG
In seiner beruflichen Laufbahn orientiert sich Klemperer dreimal neu. Dabei präferiert er grundsätzlich Tätigkeiten, die eng mit Texten und dem Schreiben verbunden sind. Die Untersuchung der daraus hervorgegangenen drei unterschiedlichen Texttypen hat gezeigt, dass jede Phase ein spezifisches Schreiben aufweist. Als Journalist bedient sich Klemperer eines vornehmlich sachlich berichtenden, als Schriftsteller eines literarischen, als Wissenschaftler eines analytischen Schreibstils. Jede dieser Schreibformen zeichnet sich durch die Anwendung spezifischer Techniken und Muster aus. Teilweise überschneiden sie sich – beispielsweise konzentrieren sich alle drei
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So beschwert er sich nach der Erwähnung einiger Kinobesuche: „Es ist doch nur halb praktisch, daß ich jetzt die Kino-Notizen gesondert führe, so schreibe ich manches, meistens die Titel, zweimal“ (LS II, 160, 1. Stelle, 31.10.1925). Die Masse an Kinorezensionen scheint ihm mit den Jahren zudem sinnlos. Er verliert die Freude an der ausführlichen Darstellung einzelner Kinofilme und vermerkt schließlich: „Die noch unnotierten Kinostücke sind bald ein Dutzend. Es macht mir so wenig Spaß, auf diese Notizen Zeit zu verschwenden. Wann lese ich sie jemals wieder?“ (LS II, 325, 5. Stelle, 01.04.1927). Er erklärt deshalb: „Sobald ich das alte Filmheft vollgeschrieben habe, gebe ich diese Extranotizen auf. Man notiert bloß alles doppelt“ (LS II, 315, 2. Stelle, 04.01.1927; vgl. dazu auch LS II, 332, 1. Stelle, 19.05.1927).
IV. B ERUFLICHES S CHREIBEN
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Schreibtypen auf die Erarbeitung inhaltlich und sprachlich komplexer Informationsnetzwerke. Zentrale Gemeinsamkeit der drei Schreibstile ist jedoch die Koppelung der jeweiligen Texte an Klemperers Tagebuch. Dies ergibt sich zum einen aus der Tatsache, dass für nahezu jede Publikation und jedes Manuskript Erwähnungen in entsprechenden Tagebucheinträgen nachgewiesen werden können. Zum anderen reproduziert Klemperer wiederholt jene Texttypen innerhalb seiner täglichen Notate, die er beruflich verwendet. Er greift auf die Technik des sachlich berichtenden Schreibens zurück, um im Tagebuch spezifische Ereignisse zu berichten oder Personen zu porträtieren. Er zeichnet Gedichte und Ideen für Romane oder Novellen in seinem Diarium auf. Er integriert Literaturexzerpte und unterschiedliche Rezensionen zu kulturellen Ereignissen und Beobachtungen in seinen Eintragungen. Dadurch besteht das Tagebuch nicht allein aus Notaten, die entsprechend der klassischen Definition von Tagebuchaufzeichnungen gestaltet sind. Vielmehr können unterschiedliche Textformen innerhalb von Klemperers Diarium festgestellt werden. Es enthält neben den alltäglichen Darstellungen von Geschehenem und der Reflexion darüber Berichte, Porträts, Gedichte, literarische Ideen, Arbeitsnotizen und Rezensionen. Die Struktur klassischer Tagebücher ist damit deutlich durchbrochen. Anhand der Schreibstile, die in den beruflichen Texten sichtbar sind, lässt sich auch Klemperers Diarium neu betrachten. Er agiert nicht nur als Tagebuchschreiber im herkömmlichen Sinn, sondern auch als sachlich berichtender, literarischer und analytischer Schreiber. Die Auseinandersetzung mit dem beruflichen Schreiben erweitert demnach die bisherige Sicht auf Klemperers Tagebücher entscheidend.
V.
Lebensgeschichtliches Schreiben
„Daß ich nur schreibend über die Dinge komme!“ (Wolf 2002, 42).
Das Schreiben ist auch außerhalb von Klemperers beruflicher Tätigkeit das bestimmende Element in seinem Leben. Im Gegensatz zum professionellen Bereich dient es ihm privat jedoch vor allem zur Auseinandersetzung mit seiner persönlichen Lebenswelt und zur Selbstreflexion. In einer nach innen gewendeten Form – die keinen externen Leser einrechnet – wird dies im Tagebuch praktiziert. Neben dieser rein introvertierten Schreibform entstehen auch private Texte, die einen konkreten Adressaten haben. Darunter lassen sich zum einen Klemperers Briefe einordnen. In ihnen benennt er einen konkreten Ansprechpartner, für den aus seiner individuellen Sicht als Briefschreiber Informationen zusammengefasst werden. Ebenso zählt dazu Klemperers zwischen 1939 und 1942 verfasstes Autobiographie-Fragment „Curriculum vitae“. Obwohl es für eine Veröffentlichung – also für ein breites Lesepublikum – konzipiert ist, hat es doch einen sehr privaten Kontext. Denn es entsteht in einer Lebensphase, in der Klemperer kaum Hoffnung auf ein langfristiges Überleben hat. Das Aufzeichnen seiner Erinnerungen ist für ihn vordergründig eine Möglichkeit, sich der bedrohlichen Umwelt im „Dritten Reich“ zu entziehen. Ihm sind zu diesem Zeitpunkt alle anderen (wissenschaftlichen) Arbeitsoptionen genommen. Nur in der Auseinandersetzung mit seinem Leben findet er noch Stoff, über den er schreiben kann. Sowohl in den Briefen als auch in der Autobiographie thematisiert Klemperer sein privates Leben. Deshalb sollen diese beiden Textformen unter dem Terminus „lebensgeschichtliches Schreiben“ erfasst werden. Die Briefe und das „Curriculum vitae“ bilden das Äquivalent zu den aus beruflichen Gründen entstandenen Arbeiten Klemperers. Auch sie sind an spezifische Adressaten gerichtet und entsprechend geformt. Trotzdem beinhalten sie ausschließlich private Themen und dokumentieren vor allem Klemperers Lebensentwicklung. Deshalb entspricht der grundlegende Schreibstil dieser Textformen dem Autobiographischen. Im „Curriculum vitae“ wird dies stärker deutlich, weil dessen Ziel ohnehin in der Darstellung des eigenen
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Lebens definiert ist. Die Briefe erfüllen jedoch in letzter Konsequenz ebenfalls den Anspruch der Lebensbeschreibung aus der privaten Perspektive. Ebenso wie das Tagebuch sind beide Textformen vornehmlich auf das schriftliche Fixieren von Klemperers Erleben ausgerichtet. Im Gegensatz zu den täglichen Aufzeichnungen orientieren sie sich jedoch stärker an den Adressaten. Der Unterschied liegt demnach vor allem in der Art und Weise der Darstellungen und in der jeweiligen Erzählabsicht. Die nachfolgende Untersuchung der Briefe und des „Curriculum vitae“ zeigt dementsprechend nicht nur auf, wie Klemperer die beiden Textsorten gestaltet, sondern stellt vor allem die Differenz zum Diarium in den Mittelpunkt.
V.1
B RIEFE
ALS
E RGÄNZUNG
ZUM
T AGEBUCH
In der SLUB werden 136 Briefe Klemperers an Freunde, Verwandte und Kollegen aufbewahrt (vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 158-293). Es handelt sich nur bei den Schriftstücken, die an Eva Klemperer geschickt wurden, um die Originale. Alle anderen sind Abschriften oder Entwürfe der eigentlich versandten Texte.1 Entsprechend kann davon ausgegangen werden, dass diese Briefe für Klemperer einen spezifischen persönlichen Wert hatten. Er bewahrte nicht von seiner gesamten Korrespondenz Kopien auf. Nur Texte, die für ihn als Absender auch außerhalb der konkreten Kommunikation mit dem Adressaten wichtig waren, blieben auf diese Weise im Nachlass erhalten. Ein weiterer Beleg dafür ist, dass die jeweiligen Antwortbriefe ebenfalls aufbewahrt wurden.2 Insbesondere die Schriftstücke, die vor dem Ende des „Dritten Reichs“ entstanden, nehmen hierbei eine Sonderstellung ein. Sie existieren nur deshalb, weil sie in Pirna von der befreundeten Ärztin Anne-
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Originale Briefe wurden teilweise von den Adressaten aufbewahrt. So enthält beispielsweise das Archiv des Aufbauverlages Korrespondenz mit Klemperer (vgl. dazu Faber/Wurm 1991, 152-159). Auch im Nachlass von Karl Vossler in der Bayrischen Staatsbibliothek München (vgl. Hausmann 1996, 63-75) und im Werner-Krauss-Nachlass der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (vgl. Müller 1996, 186-193) werden Briefe von Klemperer gelagert. Es liegen 237 an Klemperer gerichtete Briefe in der SLUB vor (vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 294-530). Ein Großteil von ihnen entstand nach 1945. Sie lassen sich meist wichtigen Ereignissen in seinem beruflichen oder privaten Leben zuordnen. Beispielsweise begründet er die Aufbewahrung von Briefen, die er während des „Dritten Reichs“ erhielt, mit dem Wunsch, „Emigrantenund Ghettobriefe“ zu „sammeln“ (ZA I, 69, 22.11.1933).
V. L EBENSGESCHICHTLICHES S CHREIBEN
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marie Köhler unter Lebensgefahr vor den Nationalsozialisten versteckt wurden.3 Die für eine Untersuchung zur Verfügung stehenden Briefe stellen demnach eine von Klemperer getroffene Auswahl dar. Eine Analyse dieser Texte kann deshalb keine generelle Diagnose zu seinem Briefstil bieten. Anhand der vorliegenden Schriftstücke lässt sich jedoch konstatieren, dass er formal zunächst den klassischen Merkmalen der Gattung folgt. Inhaltlich richtet er sein Schreiben stark auf den jeweiligen Adressaten und dessen Bedürfnisse aus. Angesicht der spezifischen Gründe, die für die Auswahl der erhaltenen Briefe vermutet werden müssen, rückt dieser Aspekt in den Vordergrund. Der Wert der aufbewahrten Schreiben liegt vornehmlich in ihren autobiographischen Inhalten. In ihnen erzählt Klemperer aus seiner persönlichen Sicht über die Themen, die ihn jeweils beschäftigen. Die Schriftstücke ermöglichen ebenso wie das Tagebuch Einblicke in seine privaten Erlebnisse und Ansichten. Sie sind eine Ergänzung der Aufzeichnungen im Diarium. Diese Funktion wird sowohl in einzelnen Tagebucheintragungen als auch in den jeweiligen Briefkopien explizit betont. Im Tagebuch äußert sich dies, indem Klemperer wiederholt Korrespondenz direkt in seine täglichen Aufzeichnungen integriert. Er legt die entsprechenden Texte in das jeweilige Buch ein.4 Der Herausgeber Walter Nowojski ignoriert diese Briefeinlagen größtenteils. Er bemüht sich um die Einhaltung des klassischen Rahmens von Tagebüchern, indem er ausschließlich die Texte im Druck wiedergibt, die direkt als Tagebucheinträge entstanden. Damit verbirgt Nowojski jedoch, dass Klemperer selbst sich nicht eng an derartigen Grenzziehungen orientierte. Seine Aufzeichnungen bestehen nicht nur aus Tagebuchnotaten, sondern auch aus Texten, die mit einem gewissen Abstand zum Thema und unter Einbeziehung eines Adressaten entstanden. Sogar Briefe, die er nicht selbst geschrieben hat,5 ordnet Klemperer in Ausnahmefällen seinem Diarium zu.6
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Alle Briefe, die Klemperer möglicherweise in seiner Wohnung in Dresden aufbewahrte, sind bei dem Bombenangriff auf die Stadt in der Nacht zum 14. Februar 1945 verbrannt. Im Rahmen der euphorischen Begeisterung für das Autofahren klebt Klemperer beispielsweise einen Brief ein, in dem er seinem Fahrlehrer für die geduldige Führung während der Fahrstunden dankt (vgl. ZA I, 239, 24.01.1936, ungekennzeichnete Beilage in Mscr. Dresd. App. 2003, 136). Die direkte Beilage eines Briefes im Tagebuch wird meist ausführlich kommentiert und begründet (vgl. z.B.: LS I, 884, 2. Stelle, 23.10.1924, Beilage 1 in Mscr. Dresd. App. 2003, 127). Beispielsweise dokumentiert Klemperer anhand der Korrespondenz seine Probleme mit verschiedenen Verlagen, die ihm bald nach Beginn des „Dritten Reichs“ seine Verträge kündigen. Dazu vermerkt er im Tagebuch: „Dieser gan-
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Der vielfache Hinweis in einzelnen Einträgen auf Briefe, die außerhalb des Tagebuchs bewahrt werden, belegt, dass die Korrespondenz eng an das autobiographische Schreiben geknüpft ist.7 Selbst im Nachlass enthaltene Briefe, die nicht direkt im Diarium erwähnt werden, lassen sich anhand der Datierungen und der Inhalte bestimmten Tagebucheinträgen zuordnen8 und fungieren dadurch als Ergänzung zu den privaten Aufzeichnungen. Umgekehrt enthalten die aufbewahrten Kopien vielfach Hinweise auf spezifische Tagebucheintragungen. Beispielsweise bewahrt Klemperer gegen Ende der
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ze Briefwechsel mit Kopien meiner Briefe liegt unterm 27.1. hier bei“ (ZA I, 91, 21.02.1934; vgl. dazu auch: ZA I, 82, 27.01.1934). Es handelt sich dabei um einen Brief des Verlags Teubner vom 24. Januar 1934 (Mscr. Dresd. App. 2003, 465), in dem erklärt wird, die Französische Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts könne aufgrund von Klemperers Judentum nicht weiter verlegt werden. Auf der Rückseite dieses Blattes verzeichnet dieser handschriftlich unter dem Datum des 27. Februar 1934 eine „Antwort-Copie“. Damit bewahrt Klemperer nicht nur den Brief des Verlages auf, sondern koppelt direkt daran seine Antwort. Das Prinzip wiederholt sich nochmals in Mscr. Dresd. App. 2003, 469. Dabei handelt es sich um eine neuerliche Antwort Teubners und Klemperers Reaktion darauf. Dadurch ist die gesamte Diskussion um die unrechtmäßige Vertragsauflösung bewahrt. Grund dafür ist der Wunsch, den Sachverhalt „einmal in meine Lebensgeschichte auf[zu]nehmen. In majorem contumaciam status praesentis [Zum größeren Protest gegen den gegenwärtigen Zustand, Anm. d. A.]“ (ZA I, 88, 16.02.1934). – Bezüglich eines Streits mit einem Verlag fügt Klemperer sogar einmal eine Abschrift eines Briefes ein, welchen ein Verleger an eine dritte Person gesandt hatte (vgl. SZS II, 32, 2. Stelle, 10.05.1950/11.05.1950). Dies erfolgt vermehrt, nachdem Klemperer ab dem Mai 1947 von der festen Tagebuchform zu einer losen Blattsammlung wechselt. Das Einlegen von Briefen ist nun unproblematischer, da unterschiedliche Texte ohne Platzmangel zwischen die Seiten des fortlaufenden Diariums eingeordnet werden können. Deshalb nutzt Klemperer nun häufiger die Möglichkeit, Sachverhalte anhand von Korrespondenz zu erläutern. Beispielsweise legt er einem Eintrag vom 26. Dezember 1951 (SZS II, 235, 2. Stelle, 26.12.1951) drei Briefe bei. Sie werden jeweils kurz angekündigt und kommentiert – sie sprechen jedoch weitgehend für sich allein. Meist geschieht dies durch einen kurzen Verweis auf spezielle Briefe (vgl. z.B.: ZA I, 252, 23.03.1936; ZA I, 324, 08.12.1936). Exemplarisch sind mehrere Briefe, die Klemperer an das ins Exil gegangene, befreundete Ehepaar Blumenfeld schreibt (vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 159166; vgl. auch einen Antwortbrief von Blumenfeld: Mscr. Dresd. App. 2003, 298m). Sie vermitteln eine detaillierte Beschreibung von den Zuständen, denen der Briefschreiber in Deutschland ausgesetzt ist. Gleichzeitig geben sie auch Aufschluss über einen wissenschaftlichen Disput zwischen Klemperer und dem Psychologen Walter Blumenfeld.
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dreißiger Jahre eine Reihe von Abschriften zu Briefen auf, die an Freunde und Verwandte im Exil gerichtet sind. Auf jeder dieser Kopien findet sich ein Verweis auf entsprechende Tagebuchaufzeichnungen.9 Damit sind sie nicht nur ein nach außen gerichtetes Kommunikationsinstrument mit dem jeweiligen Adressaten, sondern auch eine nach innen orientierte Erweiterung der Tagebuchaufzeichnungen. Weil in ihnen etwas thematisiert wird, das auch Aussagekraft für Klemperers autobiographisches Schreiben besitzt, werden sie als Kopien aufbewahrt und in den jeweiligen Kontext zum Tagebuch gestellt. Teilweise unterstützen kurze persönliche Notizen direkt auf den Briefen10 diese Funktion zusätzlich. Zudem ersetzt die Korrespondenz in Situationen, in denen Klemperer am ausführlichen Tagebuchschreiben gehindert ist,11 wiederholt das Diarium. Dadurch entsteht eine Mischform aus Brief und Tagebuch, die als „Tagebuchbrief“ bezeichnet werden kann. Diese Textform ist allerdings nicht unproblematisch, denn in ihr geht der ausschließlich private Charakter des Schreibens verloren. Die Ausrichtung auf den Adressaten des Briefes verhindert eine uneingeschränkt freie Meinungsäußerung. Die Ersatzfunktion
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Eine handgeschriebene Abschrift eines Briefes vom 29. September 1938, der an die Schwester Marta Jelski gesandt wurde, enthält beispielsweise den Vermerk: „s. hierzu Tagebuchnotiz Schluß 2. X 38“ (Mscr. Dresd. App. 2003, 181). Dieser Hinweis bezieht sich auf einen im Brief diskutierten Konflikt zwischen der Adressatin und der Schwester Grete. Im Diarium erwähnt Klemperer diesen Streit mit dem Kommentar: „Aus dem hier beiliegenden Handschriftbrief an Marta ist ersichtlich, was sie mir am 15. Sept. als Erwiderung eines Glückwunsches schrieb“ (ZA I, 427, 3. Stelle, 02.10.1938). Zwar liegt der Brief nicht wie angegeben direkt im Tagebuch – er wurde demnach zu einem späteren Zeitpunkt ausgelagert –, doch die Koppelung beider Texte wird anhand der Formulierung bestätigt. Sie ergänzen sich gegenseitig. Die Kopie eines Schreibens an die Schwester Marta Jelski vom 1. Juni 1939, das nicht direkt im Tagebuch eingelegt wurde, enthält beispielsweise unterhalb des maschinenschriftlichen Textteils eine tagebuchähnliche Notiz (Mscr. Dresd. App. 2003, 183), die eine im Brief enthaltene Information zu Klemperers Neffen Heinz Machol kommentiert: „Das Ehepaar Machol hat ein Diener-Examen abgelegt, der Mann ist 10 Jahre jünger als ich, ist Autotechniker (‚Civ.-Ing.ʻ u. Sachverständiger), hat mehrere Kinder, ist Jude: trotz alledem kommen die Leute nicht fort: ‚es besteht wenig Aussicht.ʻ – Heinz vertippt sich: ‚DIENER Nachricht zufolgeʻ, statt Deiner...: er hat wahrscheinlich in 100 Offerten ‚Dienerʻ geschrieben. 2.6.39“ (Mscr. Dresd. App. 2003, 183). Ein Grund für das Ausweichen auf maschinenschriftliche Briefe ist beispielsweise ein gesundheitliches Problem mit der Schreibhand (vgl. z.B.: ZA I, 255, 05.04.1936). Langfristig sieht Klemperer darin jedoch keine Lösung. Dies ist der Auslöser für seine Entscheidung, „das Tagebuch auf Maschine umzustellen“ (ZA I, 262, 10.05.1936).
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bezieht sich deshalb ausschließlich auf die Sammlung von Informationen, nicht aber auf die privaten Reflexionen. Exemplarisch ist ein Tagebuchbrief, der von Klemperers Berufungsreise nach Dresden berichtet. Nach der Ankündigung dieser Fahrt im Tagebucheintrag vom 19. Dezember 1919 folgt in einem tabellenähnlichen Schema eine Gegenüberstellung der jeweiligen Aufenthaltsorte und Reisetage. Darunter vermerkt Klemperer: „s. vier Bogen ‚Dresden 1-4ʻ“ (LS I, 208, 19.12.1919). Diese Notiz ersetzt einen Tagebucheintrag, in dem über die Reise berichtet worden wäre. Der Herausgeber Walter Nowojski erklärt in einem Kommentar dazu: „...Klemperers Tagebuchnotizen von seiner Berufungsreise nach Dresden[] fanden sich im Nachlaß nicht“ (LS I, 929). Dies jedoch ist nicht richtig. In der Briefsammlung lagern vier an Eva Klemperer adressierte Blätter, auf denen umfangreich die Ereignisse der „Dresdner Berufungsreise“ beschrieben werden (Mscr. Dresd. App. 2003, 195). Nowojskis Annahme, es müsse sich bei den „vier Bogen ‚Dresden 1-4ʻ“ um „Tagebuchnotizen“ handeln, ging von den falschen Voraussetzungen aus. Nicht alle Texte, die Auskunft über Klemperers Erleben geben, sind im Tagebuchstil gehalten. Vielmehr passt er seine Aufzeichnungen seiner jeweiligen Lebenssituation an. Im Fall der Dresden-Fahrt greift Klemperer in der Absicht, seiner Frau über die Ereignisse seiner Reise schnellst möglich zu berichten, auf die Briefform zurück.12 Nur ein Teil der Aufzeichnungen zu der Berufungsreise wird wirklich per Post verschickt. Ursprünglich hatte Klemperer geplant, seiner Frau jeden Tag einen Brief zu schicken. Aus Zeitgründen verzichtet er letztlich darauf.13 Auf der letzten der vier Seiten, die über die Dresden-Reise berichten, entsteht erst nach der Rückkehr nach München am 26. Dezember 1919 ein ergänzender Tagebucheintrag. Dadurch verschmelzen die Brief- und die Tagebuchform miteinander. Während Klemperer im ersten Teil des Textes durch die direkte Anrede von Eva in Briefform erzählt, wechselt er abschließend in den Modus diaristischen Schreibens. Die Tatsache, dass der Text trotzdem in der Briefsammlung – also explizit außerhalb des Tagebuchs – aufbewahrt wird, unterstreicht die enge Verknüpfung beider Textsorten. Unabhängig davon, wo der Tagebuchbrief lagert, erfüllt er seine Funktion: Er liefert einen autobiographischen Bericht über die Ereignisse der Dresden-Reise.
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Klemperer geht davon aus, dass er die Briefe später an sein Tagebuch koppeln wird. Daraus erklärt sich die Formulierung: „Nun der Reihe nach, als richtiges Tagebuch“ (Mscr. Dresd. App. 2003, 195, Rückseite Blatt 1, 21.12.1919). Nur die ersten drei Blätter, datierend vom 19. bis zum 22. Dezember 1919, werden zusammenhängend mit dem Kommentar abgesandt: „Herz, ich schicke diese Tagebuchblätter noch ab, obwohl sie kaum früher da sein werden als ich. Mir steht nun noch Strapaziöses bevor“ (Mscr. Dresd. App. 2003, 195, Rückseite Blatt 3, 22.12.1919).
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Während seiner Stationierung als Soldat im Ersten Weltkrieg geht Klemperer deshalb zeitweilig vollkommen dazu über, seine Alltagsbeschreibungen und Reflexionen ausschließlich in Briefen an seine Ehefrau zu erfassen. Eine Serie von 28 dieser Schreiben, die zwischen dem 1. und dem 16. November 1918 entstanden, lagert in der Briefsammlung der SLUB (Mscr. Dresd. App. 2003, 194).14 In ihnen berichtet Klemperer seiner Frau aus Wilna von seinen Alltagserlebnissen als Soldat im Buchprüfungsamt OberOst.15 Sie stellen eine Art täglichen Bericht aller Ereignisse dar, der zwar in Briefform an Eva Klemperer gerichtet ist, gleichzeitig jedoch als „Tagebuchbericht“ (vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 194, Rückseite Blatt 1, Brief vom 01.11.1918) fungiert.16 Die Grenze zwischen Brief und Diarium löst sich in diesen Texten phasenweise vollständig auf. Es ist für einen Außenstehenden – abgesehen von der direkten Anrede – kaum erkennbar, ob Klemperer nur für sich selbst schreibt oder die externe Adressatin mit einbezieht. Das liegt vor allem daran, dass der allgemeine Reflexionsgrad der Tagebuchaufzeichnungen gering ist. Über weite Strecken bestehen auch die privaten Notate vornehmlich aus Ereigniserzählungen, nur selten konstatiert Klemperer seine inneren Bewegungen. Der Schreibstil der Briefe an die Ehefrau ähnelt dadurch jenem des Tagebuchs. Daraus erklärt sich auch die vielfache Bereitschaft, auf
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Einen anderen Teil der Soldatenbriefe integriert Klemperer nachträglich konkret in sein fortlaufendes Diarium, indem er die Schriftstücke einer Mappe mit Tagebuchnotaten zuordnet (vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 118; siehe dazu auch die Ausführungen in Kapitel VII.2). Die meisten Aufzeichnungen wurden jedoch vermutlich in Folge der Entstehung der Autobiographie „Curriculum vitae“ vernichtet. Die Frage, warum Mscr. Dresd. App. 2003, 194 im Gegensatz zu Mscr. Dresd. App. 2003, 118 nicht direkt dem Tagebuch zugeordnet ist, lässt sich nicht klären. Es ist jedoch zu vermuten, dass dies aus einer Vorsortierung durch Klemperer resultiert. Nach mündlicher Auskunft der SLUBMitarbeiter wurden bei der Katalogisierung des Klemperer-Nachlasses keine Veränderungen an der Sortierung vorgenommen. Inhaltlich entsprechen die in diesen Briefen berichteten Ereignisse dem letzten Kapitel des „Curriculum vitae“ (vgl. CV II, 670ff.). Das Erzählen ist geprägt durch eine Mischung aus adressiertem und privatem Schreiben: Klemperer schreibt sehr ausführlich von seinen alltäglichen Beobachtungen. Die geschichtlichen Umbrüche vom November 1918 streift er dagegen nur im Kontext seiner privaten Interessen. Ebenso wie auf der Dresdner Berufungsreise die Briefberichte von einem Tagebucheintrag abgeschlossen werden, beendet Klemperer auch seine Soldatenbriefe in einem persönlichen Notat (vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 194, Rückseite Blatt 40, Brief vom 15./16.11.1918 und Tagebucheintrag vom 19.11.1918).
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das Diarium zu verzichten und stattdessen Eva Klemperer direkt in die schriftliche Erfassung der Geschehnisse zu integrieren.17 Ein unnummerierter Notizzettel, der unter den Soldatenbriefen liegt (zwischen den Seiten von Mscr. Dresd. App. 2003, 195), zeigt jedoch, dass in den Briefen durchaus eine Grenze zum privaten Tagebuchschreiben erhalten bleibt: Unter der Überschrift: „Notizen, die nicht in die Briefe an E. kamen“, vermerkt Klemperer Ereignisse zwischen November 1915 und Januar 1916, der Zeit, in der er an der Front stationiert war. Er beschreibt darin Gefechte, in die seine Einheit verwickelt war, und verzeichnet detailliert Beobachtungen zu Verletzten, Toten und Zerstörungen. Diese Informationen enthält er seiner Frau vor, um sie nicht unnötig zu ängstigen. Das zusätzliche Notizblatt füllt die Leerstelle aus, welche durch diese Rücksichtnahme entstand, und offenbart gleichzeitig die Reichweite der Tagebuchbriefe. Ihre Inhalte und die Art ihrer Darstellung sind auf eine spezifische Adressatin ausgerichtet. Auch wenn die Briefe für die Person entstehen, der sich Klemperer am intensivsten verbunden fühlt, unterliegt sein Schreiben dadurch einer Manipulation, die dem langfristigen Ziel des schriftlichen Bewahrens aller wichtigen Erlebnisse entgegensteht. Obwohl diese Grenze zwischen Tagebuchaufzeichnungen und adressierten Texten bestehen bleibt, verschmelzen beide Schreibformen miteinander. Die klassischen Gattungsdefinitionen greifen nicht mehr. Auch in Bezug auf andere Textformen durchbricht Klemperer wiederholt den gängigen Rahmen von Briefen. Ein herausragendes Beispiel dafür ist ein Schreiben vom 6. August 1956, das aus Versehen auf der Rückseite eines Arbeitsmanuskripts entstand (vgl. Abb. 5 im Anhang). In einem post scriptum wird der Adressat auf diesen Umstand angesprochen: „PS Ich sehe eben mit Entsetzen, daß auf der Rückseite dieses Bogens ein paar Arbeitsnotizen aus Paris stehen. a) Bitte um Entschuldigung, b) Bitte um frdl. Rückgabe des Briefes!“ (Mscr. Dresd. App. 2003, 647/3, Blatt 35).
Die besagten Arbeitsnotizen belaufen sich auf wenige Zeilen unter dem Titel „Romanstudien 1912. Sonderheft R. de Metaphys. et de Morale Paris Colier (Essais!)“. Es wäre Klemperer möglich gewesen, diese nochmals abzuschreiben oder den Brief neu aufzusetzen, um den Adressaten nicht mit den privaten Aufzeichnungen und einer umständlichen Rücksendung – welche erfolgte, weil der Text in Klemperers Nachlass liegt – zu behelligen. Beides scheint keine Option gewesen zu sein. Stattdessen nutzt Klemperer die Möglichkeit, einen Brief, der sowohl beruflich als auch autobiographisch Informationen enthält, die langfristig be-
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Entsprechend produziert Klemperer auf vielen Reisen, die er ohne seine Frau unternimmt derartige Tagebuchbriefe (vgl. z.B.: LS I, 485, 23.08.1921), die teilweise nie per Post verschickt werden, sondern in dem Bewusstsein entstehen, sie persönlich „überbringen“ zu können (SZS II, 83, 12.09.1950).
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wahrenswert sind, mit einem Literaturexzerpt zu verbinden. Die Notizen zu den „Romanstudien 1912“ gehören zu den Vorarbeiten für den zweiten Band der französischen Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts. Deshalb ist das Blatt auch den Materialien zu diesem Projekt zugeordnet. Es lagert nicht bei den Briefen. Durch die Aufbewahrung bei den Arbeitsmanuskripten bleibt jedoch auch das ursprüngliche Schriftstück erhalten und dokumentiert die darauf verzeichneten Informationen. Obwohl beide Inhalte scheinbar außer der versehentlichen Zusammenführung auf einem Blatt Papier nichts gemeinsam haben, stellen sie jeweils einen Teil des Gesamttextes dar, den Klemperer während seines Lebens erschafft. Sie stehen damit nicht für sich allein, sondern gehören zu einem größeren Ganzen. Der Bruch mit klassischen Gattungsdefinitionen ergibt sich demnach nicht nur aus der gezielten Betonung der doppelten – inhaltlichen und autobiographischen – Funktionalität der Briefe, sondern auch durch ihre Einfügung in einen Kontext, der über die Grenzen der jeweiligen Textsorte hinausreicht. Klemperer ist daran interessiert, möglichst umfassend und ausführlich sein Leben zu dokumentieren. Die Briefe ermöglichen dies nicht nur durch ihre Inhalte, sondern auch durch die Art und Weise wie sie an andere Texte gekoppelt sind, in denen seine Existenz dokumentiert wird.
V.2
D IE AUTOBIOGRAPHIE „C URRICULUM VITAE “ ALS E NDPRODUKT DES T AGEBUCH SCHREIBENS
Das zweibändige Autobiographie-Fragment „Curriculum vitae“ schreibt Klemperer in einer Lebensphase, in der ihm alle anderen Schreibmöglichkeiten genommen sind. Das Verbot der Bibliotheksbenutzung für Juden, das die Nationalsozialisten Anfang des Jahres 1939 erlassen, nimmt ihm die Grundlage seiner Arbeit an der französischen Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts. Ohne den Zugang zu wissenschaftlicher Literatur kann er nicht weiter schreiben. Der völlige Verzicht auf die gezielte Arbeit an einem Buchprojekt kommt für Klemperer jedoch nicht in Frage. Schnell wendet er sich der lange gehegten Idee18 zu, eine Autobiographie zu verfassen. Unter dem Arbeitstitel „Curriculum vitae“ entstehen zwei Bände, in denen er sei-
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Ab 1927 (vgl. LS II, 360, 1. Stelle, 06.08.1927) formuliert Klemperer im Tagebuch regelmäßig die Idee zu einer Autobiographie. Vor allem philosophische Lebensbetrachtungen und Überlegungen zur Bedeutung der eigenen Existenz führen ihn zu derartigen Äußerungen (vgl. LS II, 451-452, 15.08.1928; LS II, 512, 12.04.1929; LS II, 655-656, 10.09.1930; LS II, 758, 07.08.1932; ZA I, 50, 19.08.1933; ZA I, 330, 10.01.1937).
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nen Lebensverlauf von 1881 bis 191819 anhand von vielen Episoden erfasst.20 Das Buch entsteht jeweils in drei Arbeitsetappen: handschriftlicher Entwurf, Übertragung in ein Typoskript, Korrektur (vgl. dazu CV II, 749). Allerdings liegen Teile der Kapitel „Buchprüfungsamt Ober-Ost“ und „Die Genter Angelegenheit und das Kriegsende“ nur im handschriftlich korrigierten Manuskript vor.21 Grund dafür ist das Verbot für Juden, Schreibmaschinen zu besitzen. Klemperer muss seine Maschine abgeben und führt im Folgenden seine Autobiographie ausschließlich handschriftlich fort.22 Erst als mit den zunehmenden Hausdurchsuchungen in den „Judenhäusern“ durch die Gestapo die Gefahr einer Entdeckung – und damit einer Zerstörung – des Manuskripts steigt, bricht Klemperer im Frühjahr 1942 die intensiven Schreibarbeiten an diesem Buch komplett ab. Die letzten Jahre des „Dritten Reichs“ bleibt ihm nur noch sein Tagebuch als Ort des Schreibens. Thematisch wird dies jedoch stark auf die beabsichtigte Fortsetzung der Autobiographie ausgerichtet. In dem Bemühen, alle wichtigen Ereignisse, die später im „Curriculum vitae“ beschrieben werden sollen, möglichst genau zu bewahren, wächst sowohl die Zahl der Eintragungen als auch deren Umfang
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Im Druck bricht die Beschreibung mit dem Ende des Ersten Weltkrieges ab. Handschriftlich führt Klemperer das Manuskript noch bis in den Frühsommer 1919 weiter (vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 117, Seite 228ff.). Inhaltlich handelt der erste Band des Textes von Klemperers früher Kindheit, seinen Schuljahren und seiner Lehrlingszeit, dem nachgeholten Abitur und den ersten Studienjahren, sowie von der Begegnung mit Eva Schlemmer und den Jahren als Journalist und Schriftsteller. Im zweiten Band erzählt der Autobiograph, wie er sich nochmals für ein Studium entscheidet, gezielt eine wissenschaftliche Karriere anstrebt und freiwillig als Soldat an die Front geht. Zu dem handschriftlichen Manuskript gehört eine maschinenschriftliche Ergänzung auf acht Blättern. Dabei handelt es sich um eine Art Fußnotensammlung, die später in den Fließtext eingefügt werden sollte. Im handschriftlichen Text kennzeichnet Klemperer dies jeweils mit „M“ und fortlaufenden Buchstaben. Auf dem Ergänzungsblatt sortiert er unter der jeweiligen Seitenzahl die zusätzlichen Informationen. Beispielsweise ist damit die Kennzeichnung „M173a“ ein Hinweis auf die erste markierte Stelle auf der Seite 173 des handschriftlichen Manuskripts. Dieses System wird anfänglich durch die Erklärung „M = Maschinenms.“ erläutert (Mscr. Dresd. App. 2003, 117, Seite 164). Dies zeigt selbst in dem handschriftlichen Manuskript ein streng systematisches Vorgehen. In der SLUB Dresden liegt zu dem handschriftlichen Teil – sogar in dreifacher Ausführung – eine maschinenschriftliche Übertragung vor. Sie beginnt für den Text ab CV II, 491. Ebenso existiert eine Abschrift von dem nicht gedruckten Kapitel „IV Privatdozent. 1) Revolution“. Diese Textübertragungen entstanden jedoch weitaus später und wurden vermutlich von Hadwig Klemperer gefertigt. In ihrer Handschrift wurden diese Übertragungen korrigiert.
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enorm an.23 Trotzdem kehrt Klemperer nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht zu diesem Schreibprojekt zurück. Obwohl er gelegentlich im Tagebuch Ideen für eine Weiterführung der Autobiographie notiert,24 bleibt sie ein Fragment.25 Sie entsteht demnach nicht nur aus dem dringenden Bedürfnis heraus, das eigene Leben für ein Publikum zu erzählen, sondern vor allem aufgrund der äußeren Bedingungen, in denen der Autobiograph leben muss: Solange Klemperer frei wählen kann, welche Form des Schreibens er nutzen will, entscheidet er sich für die
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Viele Eintragungen beziehen sich direkt auf das „Curriculum vitae“ (vgl. z.B.: ZA II, 109, 04.06.1942; ZA II, 157, 05.07.1942; ZA II, 307, 1. Stelle, 08.01.1943; ZA II, 401, 4. Stelle, 08.07.1943; ZA II, 456, 11.12.1943; ZA II, 463, 22.12.1943; ZA II, 626, 10.12.1944). Trotz wiederholter Zweifel an der Sinnhaftigkeit dieses Vorgehens (vgl. SZS II, 430, 16.03.1954) notiert Klemperer im Tagebuch neben Überlegungen zum Titel der Autobiographie (vgl. SZS II, 113, 23.12.1950) beispielsweise Charakterisierungen zu bestimmten Personen oder Ereignissen mit dem Hinweis auf das „Curriculum vitae“ (vgl. z.B.: SZS II, 56, 09.07.1950 oder SZS I, 656-658, 08.13.06.1949). Außerdem arbeitet er systematisch Jugenderinnerungen auf und kündigt dazu Ergänzungen im bereits vorhandenen Autobiographie-Manuskript an (vgl. SZS II, 512-513, 25.09.1955). Der Glaube an eine Fortführung des Fragments ist jedoch nicht sehr stark. Nur zwei kurze Teilstücke des „Curriculum vitae“ wurden zu Klemperers Lebzeiten als Beiträge von Jahrbüchern des Greifenverlags veröffentlicht (vgl. Klemperer 1954b, 1955). Im Tagebuch lässt sich mitverfolgen, wie er um die Ausschnitte aus der Autobiographie gebeten wird und welche Überlegungen ihn bei der Auswahl bewegen (vgl. SZS II, 432, 05.04.1954; SZS II, 504, 23.08.1955; SZS II, 505, 02.09.1955). Während der erste Text, „Zwei Franzosen von 1903“ (Klemperer 1954b, vgl. dazu CV I, 332ff.), bis auf wenige editorische Strukturierungen wörtlich dem 1989 veröffentlichten Autobiographiefragment entspricht, weist der zweite – „Winter 1913 in Paris...“ – starke Eingriffe auf (vgl. Klemperer 1955 mit CV II, 59ff.). Dies ist zum einen der Absicht geschuldet, den Inhalt zu straffen. Zum anderen resultiert es aber aus einem Missverständnis, das Klemperer im Tagebuch ausführt: „Korrektur für Greifenalmanach: Curriculum ‚Paris 1913ʻ Der Film mit dem französischen Angriff 1870. In der Erinnerung hatte u. habe ich die roten Hosen. Im Zurechtmachen für Dietz stutze ich: hat es damals Farbfilm gegeben? H. sagte Nein, ich nahm Gedächtnistäuschung an, strich das Rot. Gestern Abend las H. in einer Geschichte des Films, man habe um die Jahrhundertwende gelegentlich handcolorierte Filme gebracht, sei wegen allzugroßer Unnatur davon abgekommen. Aber bei den Hosen mag es doch am Platz gewesen sein – die Franzosen haben noch 1914 rote Hosen getragen. Dies muß in mein Curr. Verallgemeinert zur Frage: Que sais-je, was ist sichere Erinnerung. –“ (SZS II, 518, 23.10.1955; vgl. dazu auch: CV II, 61).
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Wissenschaft. Nur unter den Repressionen der Nationalsozialisten thematisiert er seine eigene Person in einem für die Öffentlichkeit bestimmten Buch. Das ist nicht so sehr Ausdruck seines unbedingten Willens, seine Existenz in Form einer Lebensbeschreibung zu bewahren, als vielmehr Beleg für seine Abhängigkeit von der Schaffung von Text, der einer Leserschaft zugänglich ist. Klemperer schreibt lebenslang ein Tagebuch, das explizit nicht zur Publikation bestimmt ist. Gleichzeitig bemüht er sich während seiner gesamten beruflichen Laufbahn um die Veröffentlichung von Texten, die durch ihr Eingehen in das kulturelle Gedächtnis auch nach seinem Tod von seiner Existenz zeugen werden. Nicht seine privaten Tagebuchaufzeichnungen, sondern die journalistischen, schriftstellerischen und vor allem wissenschaftlichen Arbeiten sollen langfristig garantieren, dass sein Leben nicht ohne Spuren vorübergeht. Als ihn die Nationalsozialisten am Weiterführen seiner französischen Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts hindern, reicht es ihm deshalb nicht, sich auf sein Tagebuch zurückzuziehen. Klemperer braucht das Bewusstsein, an einem Text zu arbeiten, der für eine Öffentlichkeit bestimmt ist.26 Nachdem er das „Curriculum vitae“ abbrechen muss, setzt er seine Hoffnungen schließlich auf sein Diarium bzw. die darin enthaltenen Beobachtungen zu einer Sprache des „Dritten Reichs“. Sobald er jedoch wieder die Möglichkeit hat, sich auf ein konkretes publizierbares Buchprojekt zu konzentrieren, orientiert er sich um. Schon im Juni 1945 verfasst Klemperer erste Tagebuchnotate, in denen er die Idee einer „LTI“-Veröffentlichung konkretisiert. Die Autobiographie entsteht demnach nur deshalb im „Dritten Reich“, weil kein anderer Stoff als das eigene Leben für ein Buchprojekt zugänglich ist.27 Auch ihre fragmentarische Veröffentlichung verfolgt Klemperer nach
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Zum Zeitpunkt der Entstehung des „Curriculum vitae“ konnte Klemperer nicht absehen, ob er das Buch jemals veröffentlichen würde. Dies thematisiert er auch im Einleitungskapitel (vgl. CV I, 10). Es besteht das Risiko, dass der Text nie einer Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden kann bzw. der Vernichtung durch die Nationalsozialisten anheim fällt. Nur in seiner Frau und einigen Freunden hat Klemperer ein Publikum für sein Manuskript. Ihnen liest er gelegentlich daraus vor und vermerkt akribisch deren Rückmeldungen im Tagebuch (vgl. z.B.: ZA I, 463, 06.03.1939). Klemperer formuliert dies selbst in der Einleitung seiner Autobiographie in einer rhetorischen Frage: „Warum sollte ich jetzt nicht, da ich gar nichts mehr zu versäumen hatte, zur Zeitausfüllung, zur Ablenkung und Übertäubung – denn man wartet doch immer, man will ihnen doch nicht die Freude gönnen, vor ihnen zu verrecken, man will doch den Tag des Gerichts erleben –, warum also sollte ich es jetzt nicht mit dem Curriculum versuchen?“ (CV I, 9). Implizit befürwortet die Fragestellung bereits die Entscheidung. Die Diskussion, ob der Autobiograph sinnvoll und rechtens handelt, ist angesichts der Tatsache, dass sie innerhalb des ersten Kapitels der Autobiographie geführt wird, bereits ir-
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Kriegsende nicht weiter, weil andere Texte – „LTI. Notizbuch eines Philologen“ und die französische Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts – ihm wichtiger sind. Erst 1989 erscheint das Buch, herausgegeben durch Walter Nowojski, in einer zweibändigen Ausgabe unter dem Titel „Curriculum vitae. Erinnerungen 1881-1918“.28 Trotzdem nimmt der Text gerade wegen seiner Ersatzfunktion eine Sonderstellung in Klemperers Werk ein. Denn in der Autobiographie sind indirekt die Auswirkungen des „Dritten Reichs“ auf seine Person deutlich zu erkennen. Ziel des „Curriculum vitae“ ist die Darstellung zurückliegender Lebensereignisse. Jedoch ist die Betrachtung dieser Vergangenheit geprägt durch die Gegenwart des Erzählenden. Klemperer lebt zum Zeitpunkt des Schreibens seiner Autobiographie als von der „deutschen Gesellschaft“ ausgestoßener Jude in einem „Judenhaus“. Zusammengepfercht mit Leidensgenossen aus unterschiedlichen Bildungsschichten ist er ständig mit Armut, Hunger und Todesangst konfrontiert. Diese Lebensumstände wirken sich auf die Beschreibung seiner Vergangenheit aus. Die Reflexion und rückblickende Bewertung früherer Erlebnisse ist geprägt durch das, was Klemperer aktuell erlebt. Zudem dokumentiert er damit anhand seiner eigenen Person aus subjektiver Sicht die Vorgeschichte der Entstehung des gegenwärtigen gesellschaftlichpolitischen Systems. Die Lebensbeschreibung ist deshalb mehr als nur ein reminiszierender Blick auf Vergangenes. Vielmehr untersucht Klemperer in seiner Autobiographie aus persönlicher Perspektive die Entstehung des Nationalsozialismus in Deutschland und kommentiert dies stetig durch Einschübe, die von aktuellen Erlebnissen ausgelöst werden.29
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relevant. Die Entscheidung, das „Curriculum vitae“ zu schreiben, ist längst gefallen. Die Rechtfertigung dieses Vorgehens ist ein rhetorisches Spiel, das geschickt mit jenen Mechanismen jongliert, welche die Entstehung des Textes problematisieren. Die Erstauflage der Autobiographie erscheint bei Rütten & Loening. Nach der Veröffentlichung der Tagebücher 1933-1945 und dem daraus resultierenden großen Interesse an Klemperers Person wird das „Curriculum vitae“ von Walter Nowojski nochmals neu im Aufbau-Verlag herausgegeben (1996; vgl. CV I, II). – Im direkten Vergleich zwischen dem originalen Manuskript und der gedruckten Autobiographie wird deutlich, dass der Herausgeber einige formale Eingriffe in dem Text vornahm. Die ursprüngliche Gliederung wurde teilweise durchbrochen. So verfasst Klemperer beispielsweise keine Unterkapitel. Nowojski verknüpft jedoch die Kapitel „II. Berliner Schuljahre“, „III. Lehrling“ und „IV. Primaner“ zu einem großen zweiten Kapitel. Außerdem ignoriert er die ursprüngliche Einteilung des Manuskripts in einzelne „Bücher“ zugunsten einer besseren Übersichtlichkeit. Problematisch an diesem Vorgehen ist die fehlende Kennzeichnung. Dazu koppelt Klemperer frühere Ereignisse häufig an kleine Alltagserlebnisse aus seiner Gegenwart. Er geht dabei fast vor wie ein Filmregisseur, der durch
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Gleichzeitig ist das „Curriculum vitae“ ein Rückzugspunkt für ihn. Klemperer ist seiner antisemitischen Umwelt nahezu schutzlos ausgeliefert. In dem Buchprojekt findet er einen geistigen Raum, in dem er sich uneingeschränkt frei bewegen kann. Dadurch gelingt es ihm zum einen, sich gegen den Versuch der Nationalsozialisten zur Wehr zu setzen, die Existenz der Juden zunächst gesellschaftlich, bald auch direkt körperlich auszulöschen. Indem Klemperer in der Autobiographie von seiner Identität erzählt, schreibt er gegen die Auslöschung seiner Bedeutung als Mitglied der deutschen Gesellschaft an. Er löst er sich damit sowohl von der körperlichen als auch ideellen Vergänglichkeit seiner Person. Zum anderen ist das Schreiben seine Art, sich im Privaten gegen die Unterdrückung der Nationalsozialisten zu wehren. Er äußert sich in der Autobiographie wiederholt systemkritisch und prangert die Verhältnisse im „Dritten Reich“ an. Deshalb kann das „Curriculum vitae“ auch als ein Dokument gegen Unterdrückung und Unfreiheit gelesen werden. Angesichts der bedrohten Lebenssituation, in der Klemperer das „Curriculum vitae“ beginnt, zeigt sich in besonderem Maße, welch eklatante persönliche Bedeutung das Schreiben für ihn hat. Denn während in den wissenschaftlichen Texten das Bewahren der Existenz des Autors nur indirekt Ziel ist, wird es in der Autobiographie zum zentralen Motiv. Sie ist nicht nur allgemein ein Beleg für sein „Dagewesensein“, sondern hat eben dieses zum Thema. Das drückt sich bereits durch den Titel aus: „Curriculum vitae“. Klemperer zielt darauf ab, seinen „Lebens(ver)lauf“ darzustellen, also all jene Ereignisse, die ihn geprägt haben. Die mit dem Begriff zunächst verbundene Bedeutung eines kurzen, möglicherweise sogar stichpunktartig verfassten Überblicks, der beispielsweise für eine Bewerbung entsteht, wird einerseits bewusst einkalkuliert, andererseits durch den Kontext der Autobiographie erweitert. Ähnlich wie bei einem Lebenslauf geht der Autobiograph schrittweise und chronologisch geordnet vor. Gleichzeitig erzählt er jedoch – wie bereits im Titel angekündigt – von seiner „vita“. Ein Leben besteht jedoch nicht nur aus einzelnen Ereignissen, sondern setzt sich aus einer Vielzahl unterschiedlicher Erlebenshorizonte zusammen. Manche Veränderungen entwickeln sich erst im Laufe vieler Jahre, oder ein
einen Kameraschwenk plötzlich einen Wechsel in der Erzählzeit signalisiert. Beispielsweise wird die ausführliche Wiedergabe der angehenden journalistischen Karriere des jungen Klemperer durch eine vergleichende Beobachtung zwischen sprunghaften Meinungswechseln im „Berliner Tageblatt“ im Juli 1908 und in nationalsozialistischen Zeitungen im Jahr 1939 unterbrochen (vgl. CV I, 461). Damit nimmt der Autobiograph bei der Darstellung eines lange zurückliegenden Ereignisses eine Entwicklung vorweg, die er erst viele Jahre später durchlebt. In der Autobiographie wird dafür gezielt die Zeitlinie durchbrochen und ausführlich ein Beispiel aus der Gegenwart des Erzählenden diskutiert. Dies erfolgt in einem komplexen Geflecht aus differierenden Zeitebenen, die zusätzlich durch unterschiedliche Inhaltsebenen gebrochen werden.
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scheinbar unbedeutendes Erlebnis in der Kindheit wird in späteren Lebensjahren zu einem zentralen Motiv. Ein vollkommen chronologisches Vorgehen beim Erzählen der „vita“ ist deshalb nicht möglich. Entsprechend kombiniert Klemperer die Absicht, ein von Brüchen und Richtungswechseln geprägtes Leben darzustellen, mit einem systematischen Vorgehen– Stück für Stück, Jahr für Jahr. Die explizite Thematisierung dieser Methode durch den Titel und die wiederholte Gegenüberstellung der Vergangenheit mit Erkenntnissen, die der Autobiograph erst zum Zeitpunkt des Schreibens haben kann (vgl. dazu CV I, 472; CV II, 478; CV II, 482-483), heben das „Curriculum vitae“ über klassische Lebenslauf-Beschreibungen hinaus. Einerseits ist sowohl die inhaltliche als auch formale Zusammensetzung des Buches stets im Fokus des Erzählenden, andererseits prägt gerade der Wandel seiner Einstellungen die Darstellung. Exemplarisch wird dies bereits im ersten Kapitel der Autobiographie, „Papiersoldaten (Introductio de profundis)“, deutlich. In der Überschrift klingen sowohl der strukturelle Hintergrund des Schreibprojekts als auch die Motivation dafür in mehrdeutigen Formulierungen an. Der lateinische Untertitel adaptiert eine in der Literatur und Musik vielfach aufgegriffene Formulierung. Der 130. Psalm der Bibel beginnt in der lateinischen Urform mit den Worten: „De profundis clamavi ad te Domine“ – „Aus den Tiefen rufe ich zu dir, o Herr“. Klemperer geht zum Ursprung der Idee zurück, eine Autobiographie zu schreiben. Er erklärt, wie er zu der Entscheidung gelangt ist, sein Leben darzustellen. Zum anderen vermittelt er metaphorisch seine gegenwärtige Position: Er befindet sich „in der Tiefe“ – er schreibt als Jude im „Dritten Reich“, der keine anderen Arbeitsmöglichkeiten mehr hat. Indirekt spricht er damit bereits die Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit an. Sie ist sowohl Auslöser der Entstehung des „Curriculum vitae“ als auch Charakteristikum der beschriebenen Ereignisse.30 Die Metapher der „Papiersoldaten“ basiert auf einer Kindheitserinnerung Klemperers, die im einleitenden Kapitel ausführlich anhand autobiographischer Episoden beschrieben wird: Als Junge bekam er von seiner Mutter wöchentlich einen Bastelbogen geschenkt, auf dem Soldaten unterschiedlicher Nationalität abgedruckt waren. Er schnitt die Figuren aus und sammelte sie in einer Kiste. Das eigentliche Ziel dieses Vorgehens – das Spiel mit den zu Schlachtformationen aufgestellten Papiersoldaten – fand niemals statt (vgl. CV I, 5-6). Darin symbolisiert Klemperer eine Verhaltensweise, die er mit seinem Tagebuchschreiben entwickelt hat: Er sammelt jahrzehntelang in seinen Tagebuchnotaten alle Informationen zu seinem Leben, die ihm aus-
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Zudem ist der 130. Psalm ein Bußpsalm, in dem Gott um Vergebung und Erlösung angefleht wird. Der Bittende spiegelt im Gebet seinen Lebensverlauf, um sich in der Auseinandersetzung mit seiner Vergangenheit mit seinen Sünden und seiner Unzulänglichkeit zu konfrontieren. Diese Reflexion der eigenen Handlungsweisen wird auch in Klemperers Autobiographie vorgenommen.
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sagekräftig für seine Persönlichkeitsentwicklung erscheinen. Dies gleicht dem Ausschneiden der Papiersoldaten. Die Weiterverarbeitung der umfangreichen Aufzeichnungen schiebt der Tagebuchschreiber ebenso vor sich her, wie das Kind das Aufstellen der Papierfiguren. Während das Spielzeug jedoch mit dem Ende der Kindheit in Vergessenheit gerät, nimmt das Tagebuchschreiben einen steten Platz in seinem Leben ein. Welche Bedeutung den täglichen Aufzeichnungen zukommt, wird Klemperer erst bewusst, als er sich vierzig Jahre später durch eine an Prousts „À la recherche du temps perdu“ angelehnte Szene31 an die Papiersoldaten erinnert. Die in einer Kiste ungenutzt gelagerten Figuren werden zum Symbol für die über Jahrzehnte hinweg gesammelten, unverarbeiteten Tagebuchnotate. Das „Curriculum vitae“ stellt die Umsetzung des Diariums dar. In ihm führt Klemperer in der Funktion des Autobiographen das aus, was er – in der Metapher gesprochen – als Kind mit seinen Papiersoldaten nie schaffte: Er stellt die Figuren auf, führt sie ihrer endgültigen Funktion zu und bestätigt damit den Grund ihrer Existenz. Ebenso wie dem Ausschneiden der Papiersoldaten bereits die spätere Schlachtaufstellung eingeschrieben ist, verhält es sich mit den Tagebucheintragungen. Sie entstehen, weil sie einer größeren Schreibaufgabe zugeordnet sind: der Autobiographie. Erst als Klemperer die Tagebuchaufzeichnungen weiterverarbeitet, sie in einem autobiographischen Fließtext umsetzt, erfüllt er den eigentlichen Zweck der jahrzehntelangen Informationssammlung. Diese Funktionszuweisung lässt sich anhand der vorhandenen Tagebuchmanuskripte nachweisen: Die Tagebuchaufzeichnungen, die in das „Curriculum vitae“ eingehen, werden vernichtet.32 Ihre Aufgabe ist erfüllt. Es ist
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Klemperer adaptiert das Erwachen des Proust’schen Erzählers, das mit einer Welle von „auftauchenden“ Erinnerungen gleichgesetzt ist: „Danach aber stellten sie sich eines Morgens ebenso plötzlich wieder ein, wie sie damals verschwunden waren. Ich wachte auf, und ehe ich mich noch besinnen konnte, welcher Wochentag es war und welches Kolleg ich zu lesen hatte, sah ich ganz unvermutet und grundlos zwei alte Bilderbogen vor mir, viele kleine monotone Dänen, ein ganzes marschierendes Bataillon, auf dem einen und etliche, sehr große, lebhaft gefärbte Indianer in mannigfachen Haltungen auf dem andern. Ich sagte mir: ‚Ein erstes Alterszeichen, ich bin nun über Fünfzig, Erinnerungen an die Kindheit tauchen auf.ʻ Von da an wurden öfter Kindheitsbilder in mir lebendig, doch nicht immer so ungerufen und ohne alles Nachdenken wie dieses erste. Auf die Papiersoldaten aber kam ich immer wieder zurück, und nach einiger Zeit nahmen sie eine symbolische und quälende Bedeutung an“ (CV I, 6). – In mehrfacher Hinsicht greift der Autobiograph auf Prousts Methode zurück, das Erinnern zu literarisieren, wenn er über die Unmöglichkeit reflektiert, unbeeinflusst von literarischen Vorbildern zu erzählen (vgl. CV I, 2728). Walter Nowojski erklärt in den editorischen Anmerkungen zum „Curriculum vitae“: „Aus Gründen der eigenen Sicherheit vernichtete er [Klemperer, Anm.
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nicht mehr nötig, sie aufzubewahren, weil ihre essenziellen Informationen weiterverarbeitet wurden. Das einleitende Kapitel erklärt die Autobiographie zum Endprodukt eines langen Arbeitsprozesses. Die Metapher der Papiersoldaten steht am Anfang des „Curriculum vitae“. Mit der Ausführung der Tagebuchaufzeichnungen in allen folgenden Kapiteln, geht der Erzählende über die reine Sammlung der Figuren hinaus und führt damit zu Ende, was mit der ersten Tagebuchnotiz begonnen wurde. – Die Autobiographie stellt die Synthese der im Tagebuch gesammelten Lebensereignisse dar. Während in den einzelnen Notaten nur jeweils ein Ausschnitt, ein Bruchteil des gesamten Erlebens erfasst werden kann, bemüht sich Klemperer um die Zusammenführung der großen Lebenslinien. Grund dafür ist der Wunsch, „persönlich noch länger hier sein [zu können], mit seinem ganzen Ich, mit Haut und Haaren, auch wenn dies Ich längst nicht mehr hier ist“ (CV I, 8).33 Darin wird eine Sehnsucht nach „Fortdauern“ artikuliert, die über das imaginäre Überleben in Form eines Textes hinausgeht. Der Autobiograph möchte mehr als diese geistige Form des Weiterlebens erreichen – er will „mit Haut und Haaren“ bleiben. Dies lässt sich im Tagebuch nicht erfüllen, weil es nicht zur Veröffentlichung bestimmt ist und in seiner Kleinteiligkeit nur schwer ein Gesamtbild von Klemperers Identität vermitteln kann. In der Autobiographie dagegen ist es möglich, ein in sich kohärentes Selbstbild zu transportieren und dieses gezielt einem Publikum zu präsentieren. Damit wird im übertragenen Sinn das
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d. A.] die bereits genutzten Tagebücher zum großen Teil, sobald er einen Abschnitt seiner Erinnerungen beendet hatte“ (CV II, 749). Diese Diagnose lässt sich anhand der in der SLUB lagernden Manuskripte bestätigen. Nahezu alle Tagebuchaufzeichnungen vor 1918 fehlen. Nur einige Tagebuchbriefe der Jahre 1916-1918 blieben – vermutlich eher durch Zufall – erhalten. Auch Hadwig Klemperer bestätigt dies in einem Interview: „Die Tagebücher, sowie er sie verarbeitet hat, hat er sie weggeworfen“ (Reuter 2002, 370). Klemperer selbst thematisiert die Problematik dieses Anspruchs: „Hierbleiben wollen aber heißt: eine Rolle spielen wollen, und da liegt nun, was mich immer wieder gehemmt hat“ (CV I, 8). Die Bedeutung des Autobiographen für die Weltgeschichte ist gering. Entsprechend sieht er sich genötigt, seine Sehnsucht nach dem „Bleiben“ zu rechtfertigen. Er argumentiert deshalb, dass „eine der wesentlichsten Entwicklungslinien des Literarischen vom Außergewöhnlichen und Romanhaften fort zu Alltag und Durchschnitt hin führe“ (CV I, 8). Durch diesen Vergleich mit künstlerisch-ästhetischen Leitlinien gelingt Klemperer ein geschicktes Manöver. Er stellt seine persönliche „Gewöhnlichkeit“ in den Kontext eines literarischen Musters, welches aufgrund seiner Zugehörigkeit zum Schöngeistigen das Moment des Außergewöhnlichen in sich trägt. Dadurch wird auch das Alltägliche zu etwas Besonderem, das festhaltenswert ist.
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Bleiben „mit Haut und Haaren“ erreicht. Denn das „Curriculum vitae“ führt das Leben als Ganzes zusammen und macht es fassbar. Klemperer umschreibt seine Autobiographie im Tagebuch häufig mit dem Kürzel „vita“. Darin formuliert er den Anspruch auf die Vereinheitlichung der eigenen Person in besonderem Maße. Denn die Autobiographie schafft einen verschriftlichten Lebensersatz, wird damit zur „vita“ selbst. Auch in diesem Zusammenhang ist der Titel „Curriculum vitae“ symbolisch zu lesen. Einheit ist das zentrale Gebot dieses Buchprojektes. Durch die Zusammenführung der unzähligen Einzelerlebnisse, die wie Teile eines Mosaiks im Zusammenhang Klemperers Existenz formen, ergibt sich erst die Möglichkeit, tatsächlich gegen die Vergänglichkeit, den Tod, anzuschreiben. Damit ist jedoch nicht gemeint, dass im „Curriculum vitae“ nur ein grober Überblick über den Lebensverlauf des Autobiographen angestrebt wird. Ziel des Buches ist es, ein sehr genaues Bild von Klemperers Entwicklung zu geben. Dafür ist es nötig, jene Ereignisse in den Vordergrund zu stellen, die möglicherweise zunächst unwichtig erscheinen. Gerade die kleinen Randbeobachtungen, kurze Reflexionen über Nebensächlichkeiten und ausführliche Beschreibungen von Situationen und Kontexten zeichnen die Identität des Autobiographen nach. Die gesellschaftlichen, politischen, kulturellen oder historischen Entwicklungslinien prägen Klemperers Persönlichkeit zwar in unterschiedlicher Form. Aber erst die Beschreibung der alltäglichen Vorgänge in seinem Leben zeigt, wie genau die Außenwelt sein Inneres prägt. Deshalb setzt sich die Autobiographie wie das Tagebuch aus vielen kleinen Geschichten zusammen. Dieser Befund bestätigt sich insbesondere bei einem direkten Vergleich zwischen den ursprünglichen Tagebuchnotaten und dem „Curriculum vitae“-Manuskript. Allerdings existiert nur ein fragmentarisches Kapitel, für das diese Gegenüberstellung möglich ist. Das letzte Kapitel, an dem Klemperer für die Autobiographie arbeitet – es umfasst den Zeitraum November 1918 bis Mai 1919 – bleibt unvollendet. Klemperer muss es unter den zunehmenden Repressionen der Gestapo abbrechen.34 Weil die Arbeit an dem Text nicht abgeschlossen werden konnte, blieben die als Vorlage dienenden Tagebuchaufzeichnungen erhalten. Im Gegensatz zu allen anderen Autobiographie-Teilen, die nach ihrer Fertigstellung den Erhalt der Diariumsnotate überflüssig machten, ergibt sich daraus die einmalige Situation einer direkten Vergleichsmöglichkeit zwischen „Curriculum vitae“ und Tagebuch. In beiden Textformen werden vornehmlich Ereignisse dargestellt, die episodischen Charakter haben und Rückschlüsse auf zeitliche oder persönli-
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Der unter der Überschrift „IV Privatdozent. 1) Revolution“ begonnene Text existiert nur als unkorrigierte Erstfassung. Der Herausgeber der Autobiographie, Walter Nowojski, nahm ihn nicht in den Druck des „Curriculum vitae“ auf. Er liegt deshalb nur als unvollendetes Manuskript in der SLUB Dresden vor (vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 117, Seite 228ff.).
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che Entwicklungen zulassen. Inhaltlich orientiert sich der Autobiograph dabei eng an der Tagebuchvorlage, obwohl die Auswahl der jeweils zu beschreibenden Ereignisse spezifischer ist.35 Wie im Diarium beschreibt er sehr detailgenau. Abkürzungen und nur dem Autor verständliche Formulierungen fehlen oder werden erklärt. Episoden erzählt der Autobiograph zwar stakkatohaft, aber sprachlich durchkomponiert und in einer fließenderen Satzstruktur. Paradigmatisch deutlich wird dies an einem Vergleich der Darstellung eines Zugerlebnisses vom Dezember 1918: Tabelle 2: Textvergleich Tagebuch und Autobiographie Tagebuch
Curriculum Vitae
„Schließlich gab es noch Lustspielscenen. Ein weißhaariger schwäbischer Onkel hatte 2 Backfische aus dem Pensionat im Harz abgeholt u. reiste auf 3 Billette 2. Klasse für mehr als 200 M. Man verstaute sein Gepäck im Abort u. er mußte es bewachen. Inzwischen freundeten sich die unbewachten Backfische mit Soldaten an u. rauchten Cigaretten. Der Alte klagte, schimpfte, war hilflos...“ (LS I, 34, 14.12.1918).
„Die andere Szene, erst auf bayrischer Seite am nächsten Morgen abrollend, schien aus einem Lustspiel der vornaturalistischen Zeit zu stammen. Ein weißhaariger schwäbischer Onkel hatte zwei Nichten aus dem Pensionat geholt u. brachte sie heim. Er wollte die Backfische behüten, aber er mußte doch das in dem Abort verstaute Gepäck bewachen. Die ausgelassenen Mädchen benutzten seine Abwesenheit zur Anfreundung mit lustigen Soldaten, die ihnen Cigaretten schenkten u. Feuer gaben. Die Mädchen lachten, rauchten und husteten, die Soldaten neckten, der Alte fluchte u. schimpfte, verschwand mitten im Wort, weil er für das Gepäck fürchtete, kam gehetzt zurück u. bat u. schalt weiter“ (Mscr. Dresd. App. 2003, 117, Seite 230).
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Wenn es Klemperer nötig erscheint, ist er bereit, Tagebuch-Informationen zu verändern, um präzisere Aussagen im „Curriculum vitae“ zu erreichen. Beispielsweise erklärt er zu Beginn einer Reise nach München im Dezember 1918, dass er „[d]rei Sachen“ zu erledigen habe (LS I, 18, 12.12.1918). Diese werden im Anschluss nummeriert aufgelistet. Nach dem selben Schema geht er auch in der Autobiographie vor, allerdings ist darin von „vier Punkten“ die Rede (Mscr. Dresd. App. 2003, 117, Seite 231). Im Rückblick sortiert der Autobiograph die Ereignisse neu und lokalisiert einen weiteren Themenpunkt, der im Tagebuch zwar ebenfalls beschrieben ist, aber nicht in die dortige Auflistung eingeht. Zudem berichtet er zwar sehr nah am Tagebuch den Verlauf der Reiseerlebnisse, ändert aber die Reihenfolge der Ereignisse, um dadurch eine höhere Transparenz in der Erzählung zu erreichen (vgl. LS I, 21-25, 14.12.1918 mit Mscr. Dresd. App. 2003, 117, Seite 232-233).
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Während der Tagebuchschreiber in knappen stichpunktartigen Aufzählungen möglichst kurz und ohne näher auf den beschriebenen Sachverhalt eingehende Kommentare die Situation schildert, führt der Autobiograph genauer aus, wie die Szenerie im Zug aussah. In beiden Texten wird der grundlegende Charakter der beobachteten Episode festgestellt, bevor die nähere Darstellung folgt: „Lustspielscene“. Allerdings definiert Klemperer im „Curriculum vitae“ näher, dass er sich in seinen Beobachtungen an ein „Lustspiel der vornaturalistischen Zeit“ erinnert fühlt. Schon an dieser Präzisierung der Formulierung im ursprünglichen Tagebuch zeigt sich, welchen Prozess die Inhalte bei ihrer Übertragung in die Autobiographie durchlaufen: Die kurzen Vermerke im Diarium werden ergänzt, wenn nötig mit veranschaulichenden Adjektiven und Verben versehen. Deshalb macht Klemperer die Soldaten im „Curriculum vitae“ zu „lustigen Soldaten“ und malt die Hilflosigkeit des Onkels in einer ausführlichen Aufzählung von dessen verzweifelten Handlungen aus. Es geht ihm darum, die Episode möglichst plastisch wiederzugeben, weil er sie einem Leser präsentiert. Der Tagebuchschreiber zielt zunächst allein auf das Bewahren des Erlebten ab. Seine Charakterisierungen reichen nur so weit, dass er selbst die Situation lebendig erinnern kann. In beiden Fällen bleibt dabei die Erzählposition Klemperers gleich. Obwohl er aus der Ich-Perspektive erzählt, ist er der außenstehende Beobachter, der aus der Distanz die Situation betrachtet, analysiert und als „Lustspiel“ präsentiert. Er erzeugt die Illusion einer heterodiegetischen Erzählsituation und eröffnet dadurch den Blick auf gesellschaftliche Zusammenhänge.36 Klemperer schreibt in diesen Momenten nicht nur von sich selbst, sondern von dem, was seine Umwelt prägt. Er nutzt seine Beobachtungen, die ursprünglich im Tagebuch entstanden, als Ausgangspunkt, um weiterreichende Aussagen über sein Umfeld zu formulieren, welche wiederum Rückschlüsse auf seine eigene Person zulassen. Das darf jedoch nicht mit dem Versuch verwechselt werden, sich als zentraler Mittelpunkt zu installieren. Diese Absicht verfolgt Klemperer nicht. Darin unterscheidet sich das „Curriculum vitae“ von vielen anderen Auto-
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Ein anderes Beispiel für diese Art der Gesellschaftscharakterisierung ist eine Beschreibung von Soldaten, die sich in München bei einem Schuhputzer anstellen. Klemperer stellt diese Situation dar, weil er damit eine zeitgeschichtliche Entwicklung kommentieren möchte. Er nimmt die Möglichkeit, sich die Stiefel putzen zu lassen und nicht selbst durch militärische Regeln dazu gezwungen zu sein, als Ausdruck von Freiheit wahr. Um diese Interpretation zu stützen, bezieht er sich sowohl im Tagebuch als auch in der Autobiographie auf das „Stiefelsonett“ von Paul Heyse und zitiert die ersten Zeilen dieses Gedichtes (vgl. LS I, 17, 12.12.1918 und Mscr. Dresd. App. 2003, 117, Seite 231). Die Argumentation verläuft in beiden autobiographischen Texten vollkommen gleich. Nur einige Formulierungen, welche die Aussage eleganter abrunden, werden im „Curriculum vitae“ ergänzt.
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biographien. Häufig legitimieren Autobiographen ihre Selbstdarstellung mit ihrer Bedeutung für ihre Umgebung. Klemperer dagegen betont, dass gerade die Tatsache, dass er „zum Durchschnitt“ (CV I, 8) gehöre, ihn zu der Entscheidung geführt habe, sein Leben beschreiben zu wollen. Dazu ist es nicht nötig, jede Entwicklung an die „große Geschichte“ zu koppeln. Vielmehr erreicht der Autobiograph sein Ziel, indem er jene Alltäglichkeiten, die er in der Rohform im Tagebuch verzeichnet, im „Curriculum vitae“ zu einem Ganzen zusammenführt. Seine Person ist dabei nur Spiegelbild verschiedener größerer Zusammenhänge. Politische Veränderungen resultieren beispielsweise nicht aus Klemperers Handlungen. Vielmehr reflektiert der Autobiograph sie anhand von Beobachtungen, die er über sich selbst und seine Umwelt erfasst. Sowohl aufgrund der Quellenfunktion des Diariums als auch bezüglich der dargestellten Inhalte orientiert Klemperer sich entsprechend eng an seinen täglichen Aufzeichnungen. Sie erfassen ab dem Herbst 1889 (vgl. CV I, 169) nahezu alle wichtigen Informationen, die für die Autobiographie gebraucht werden.37 Daraus resultieren die wiederholten direkten Bezüge auf spezifische Tagebucheinträge, die gelegentlich sogar explizit in der autobiographischen Erzählung inszeniert werden.38 Sie helfen ihm einerseits, sich nahe an den tatsächlichen Ereignissen zu orientieren, die pedantisch im Diarium festgehalten wurden, und dadurch die Nähe zu dem signalisieren, was „wirklich“ passiert ist. Andererseits ermöglichen sie ihm eine spezifische Form der Auseinandersetzung mit sich selbst, während er auf der Inhaltsebene von den Geschehnissen berichtet. Er kann seine gegenwärtige Position und seine veränderten Einstellungen in dem spiegeln, was er in der Vergangenheit schrieb. Beide Funktionen weisen Klemperer als gewissenhaften Autobiographen aus, der darum bemüht ist, seinen Lesern ein realitätsnahes, aber auch kritisches Bild seiner selbst zu präsentieren. Er installiert sich damit als ehrlicher Erzähler, der bereit ist, problematische und fragwürdige Handlungsweisen zu offenbaren. Daraus begründet sich auch die Entscheidung, bezüglich einer besonders kritischen Lebenszeit vollständig auf die Tagebuchaufzeichnungen zurückzugreifen: Klemperer lässt seinen Leser direkt an dem Entschluss teilhaben, sein Erleben zwischen dem 26. Juli und dem 25. Sep-
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In den wenigen Situationen, in denen Klemperer auf andere Texte zurückgreifen muss, signalisiert er dies explizit (vgl. z.B.: CV I, 19). Reichen die Informationen im Tagebuch nicht aus, entstehen teilweise auch Tagebucheintragungen, die diesen Missstand anprangern (vgl. z.B.: ZA I, 476-477, 14.07.1939). Formulierungen wie „Die Eingangsnotiz im Tagebuch lautet:...“(CV II, 48) oder „...setzte ich im Tagebuchbericht für meine Frau hinzu“ (CV II, 425) durchziehen die gesamte Autobiographie. Vielfach wird auf spezifische Einträge verwiesen (vgl. z.B.: CV II, 50).
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tember 1914 nicht nachzuerzählen, sondern in Form von Tagebucheintragungen mitzuteilen: „Für die merkwürdig kurze Zeit, bis mir der Krieg ein gewohnter Zustand geworden, muß ich jetzt die Erzählung durch die unmittelbaren Tagebuchnotizen ersetzen. Ich weiß, ich gerate dadurch ins Breite und Diffuse, aber ich würde sonst allzu vieles verwischen und nirgends den richtigen Ton treffen“ (CV II, 172).
Die Erwartungshaltung, das Erlebte so zu erzählen wie es sich „tatsächlich“ zugetragen hat, lässt sich im Falle des Beginns des Ersten Weltkriegs nur durch die direkten Tagebuchnotizen erfüllen. Klemperer ahnt, dass bei einer Nacherzählung sein Anspruch auf authentische Berichterstattung zu stark durch seine gegenwärtigen Meinungen beeinflusst würde. Weil eine möglichst authentische Erzählform Grundsatz seiner Autobiographie ist, entschließt er sich, seine Tagebücher „für sich“ sprechen zu lassen (vgl. dazu CV II, 172-174). Seine gegenwärtigen Ansichten sind so verschieden von dem, was er 1914 dachte, dass jeder Versuch, die früheren Meinungen neu zu formulieren, schon eine Beeinflussung bedeuten würde. Indem Klemperer seine frühere Kriegsbegeisterung unkommentiert darstellt, vermittelt er indirekt eine entscheidende Aussage über seine aktuelle Position: Er distanziert sich von der Vergangenheit.39
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Ohne ausführliche Erklärungen wird dem Leser deutlich, dass der Autobiograph eine markante Entwicklung durchlaufen hat. Nur in einigen einleitenden Sätzen zu den nachfolgenden Tagebucheintragungen wird dies ausformuliert: „Wie sollte mir heute die Selbstverständlichkeit des ‚Wirʻ und der vaterländischen Begeisterung und der vollkommenen Überzeugtheit von Deutschlands schneeweißer Unschuld, von Deutschlands berechtigtstem Anspruch auf die Vorherrschaft Europas aus der Feder fließen? Ich bringe es nicht über mich, das neuformend nachzuerzählen, ich kann es nur kopieren wie einen fremden Text“ (CV II, 173). Gleichzeitig erklärt Klemperer jedoch auch, sich deshalb direkt auf seine Tagebuchnotizen stützen zu wollen, damit ihm nicht unterstellt werden könne, er habe die „Stunden des Selbstbesinnens und des Zweifelns“ (CV II, 174), die er beschreibt, erfunden. Damit wird das eigene Diarium zum Zeugnis für Klemperers wahres Berichten. Diese Argumentation basiert allerdings auf einem Paradoxon. Das Tagebuch ist keine Quelle, die vom Leser überprüft werden kann. Vielmehr muss der Rezipient sich letztlich ebenso auf die Ehrlichkeit des Autobiographen verlassen, wie er dessen Erzählung ohne kontrollierenden Blick auf den privaten Text vertrauen müsste. Selbst die Tagebucheintragungen, die direkt in der Autobiographie abgedruckt werden, sind nicht authentifizierbar. Sie sind Teil des „Curriculum vitae“ und haben damit den selben Status von „Wahrheit“ wie der Rest des Textes. Klemperer ist dies bewusst – jedoch spielt er bei der Inszenierung des Tagebuchs als authentischer Quelle mit eben jenem Anspruch auf wahrheitsgemäße Wiedergabe.
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Die eingefügten Tagebuchnotate übernehmen dabei auf mehreren Ebenen eine Funktion im Gesamtbild der Autobiographie. Das Diarium ist nicht nur als Quelle, sondern als Text in seinen unterschiedlichen Ausdrucksformen Teil des „Curriculum vitae“. Wiederholt werden auch Mechanismen übertragen, die ursprünglich im Tagebuch Anwendung finden. Grund hierfür ist die unklare Erzählsituation. Klemperer schreibt zwar einerseits mit der festen Absicht, einem Publikum sein Leben zu erzählen. Andererseits weiß er nicht, ob seine Autobiographie jemals einer Öffentlichkeit zugänglich sein wird. Hin und wieder durchbricht er deshalb die abgeschlossene Struktur seiner Darstellung und wechselt plötzlich in einen privaten, notizartigen Schreibstil. Tagebucheintragungen ähnlich, fügt er Randkommentare ein, die sich auf seine gegenwärtige Schreibsituation beziehen und deshalb nicht zum fortlaufenden Inhalt zu passen scheinen.40 Der Unterschied zwischen Autobiographie und Tagebuch liegt vor allem in der durchkomponierten und hochkomplexen Struktur des „Curriculum vitae“. Die beschriebenen Ereignisse stehen, im Gegensatz zu den aneinander gereihten Themen der Tagebuchnotate, nie für sich allein. Sie sind stets an größere Erzählzusammenhänge im Leben des Autobiographen – nicht in der allgemeinen Gesellschaftsentwicklung oder Geschichte – gebunden und dadurch betont Teil eines Ganzen.
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Ein Beispiel dafür ist die Darstellung eines Abends im politischen Kabarett der „Elf Scharfrichter“ in München. Klemperer kommentiert die musikalische Untermalung dieser Veranstaltung, schweift dabei zu allgemeinen Ausführungen zur Bedeutung von Liedgut ab und gelangt schließlich zu Reflexionen über den Einfluss des Singens auf die Hitlerjugend. Diese ohnehin vom eigentlichen Thema abweichenden Überlegungen unterbricht er durch einen Einschub in Klammern: „(Ich muß mein Vorlesen einen Augenblick unterbrechen, Ev. In meine ‚Sprache des Dritten Reichsʻ gehört ein genetisches Kapitel: ‚Von den Wandervögeln zur Viehherdeʻ)“ (CV I, 275). Damit driftet er nicht nur vollkommen vom eigentlichen Thema der autobiographischen Erzählung ab, sondern erweckt den Eindruck, eine Arbeitsnotiz einzusetzen (vgl. dazu auch CV II, 130). Diese erhält durch die direkte Ansprache Evas und die Kennzeichnung der Vorlesesituation einen besonders eigenwilligen Charakter. Der gegenwärtig Schreibende agiert nicht als Autobiograph, sondern als Vorleser, der plötzlich einen Einfall hat, den er dringend niederschreiben muss. – Dies bestätigt auch die Untersuchung des originalen Manuskripts in der SLUB Dresden. Der Einschub in Klammern ist nachträglich handschriftlich am Rand des maschinenschriftlichen Fließtextes eingefügt worden (vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 117).) Der Schreibende überträgt damit die Kommunikation, die normalerweise mündlich zwischen dem Vorleser und seiner Zuhörerin stattfinden würde, auf das Autobiographie-Manuskript. Dieser Vorgang spielt mit der Erzählsituation des Autobiographen und inszeniert den Manuskriptstatus des Textes.
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Dabei dominiert der subjektive Blick des Erzählenden. Zwar versichert Klemperer, dass er „möglichst objektiv“ (CV I, 13) berichten wolle.41 Die Absicht, eine Selbstdarstellung zu erschaffen, verhindert dies jedoch letztlich. Das Tagebuchfundament der Autobiographie unterstützt zusätzlich die subjektive Erzählweise. Entsprechend kann der Autobiograph zwar „schonungslos“ mit sich selbst ins Gericht gehen und auch peinliche und ein negatives Licht auf ihn werfende Ereignisse wiedergeben.42 Seine Beschreibung bleibt aber immer subjektiv. Seine Betrachtungen schließen den objektivierenden Abstand zum Dargestellten aus. Dieser Einschränkung seines Schreibens ist sich Klemperer deutlich bewusst. Im vierten Kapitel, „Entgleisung und Geheimfach“, thematisiert er die Problematik, indem er zwei unterschiedliche Lebensereignisse aus den Jahren 1904 bis 1906 in einer komplizierten Erzählstruktur miteinander verknüpft, gleichzeitig jedoch getrennt voneinander erzählt: In der allgemeinen Darstellung der Phase seines ersten Studiums verbirgt er ein „Geheimfach“. Die Erzählung konzentriert sich zunächst ausschließlich auf Klemperers Studentenleben bzw. den von den Brüdern missbilligten und als „Entgleisung“ betrachteten Studienabbruch. Zentral für diese Lebensphase ist jedoch die Begegnung mit Eva Schlemmer.43 Die Entwicklung dieser Beziehung und das – zunächst uneheliche – Zusammenleben mit ihr stellen für den Autobiographen das herausragende Erlebnis dieser Zeit dar. Dies darzustellen, fällt Klemperer sehr schwer. Er fürchtet, sich in idealisierenden Stilisie-
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Die Ausrichtung auf objektives Erzählen zeigt sich vielfach in Klemperers Versuch, Sachverhalte von mehreren Seiten zu beleuchten. Dieses Vorgehen wird jedoch vielfach ironisiert, weil es nicht zu klaren Aussagen führt, sondern zu scheinbar wirren Argumentationen ohne klare Linie. Beispielsweise schreibt er einmal: „Wie schade, daß ich der Milieulehre skeptisch gegenüberstehe. Es läßt sich so vieles mit ihr anfangen, und nur allzu vieles. Das ist wie mit der Bauernregel vom Hahnenkrähn auf dem Mist: ‚Das Wetter ändert sich, oder es bleibt, wie es ist.ʻ Wurde ich ein Bücherwurm, so war das Milieu daran schuld; wurde ich ein Bücherhasser, so ließ sich das aus dem Milieu erklären; und stumpfte ich gegen alles Literarische ab und befaßte mich in Zukunft mit Büchern gerade soviel und sowenig wie der gebildete Durchschnittsmensch zu tun pflegt, so war auch dies aus dem Milieu herzuleiten“ (CV I, 67-68). In derartigen Formulierungen spiegelt Klemperer die Unmöglichkeit objektiven autobiographischen Schreibens im Duktus des Wissenschaftlers. An anderen Stellen macht er bewusst auf seine subjektive Sicht aufmerksam, indem er versucht, Dargestelltes nachträglich zu objektivieren (vgl. z.B.: CV I, 37). Vgl. dazu beispielsweise die Darstellung peinlicher Verhaltensweisen als Kind (CV I, 46; CV I, 108) oder die kalt wirkende Beschreibung der Beziehung zur Schwester Wally (CV I, 61-62). Das kündigt Klemperer bereits zu Beginn des Kapitels an, als er sein Studium als „winzige[s] Inselchen“ bezeichnet, das „bei einem Seebeben“ – gemeint ist die Begegnung mit Eva – „völlig“ untergehen werde (CV I, 353).
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rungen zu verlieren oder sogar lächerlich zu wirken. Er gewinnt den Eindruck, jedes Wort, das er über die geliebte Frau schreibt, sei übermäßig stark von Emotionen geprägt. Ein objektiver Blick auf das Zusammenkommen mit Eva ist in noch stärkerem Maße unmöglich, als bei der Darstellung anderer Erlebnisse. Deshalb trennt er diesen Themenbereich von der übrigen Beschreibung der Jahre 1904 bis 1906 ab und schafft das „Geheimfach“. Auf diese Weise umgeht er einerseits die Einarbeitung seiner persönlichsten Gefühle in das gesamte Kapitel: Obwohl die Beziehung zu Eva parallel zum Studium verläuft, klammert er alle Informationen dazu zunächst aus und erzählt im ersten Teil von „Entgleisung und Geheimfach“ ausschließlich von studienrelevanten Ereignissen. Andererseits thematisiert er durch diese Abkopplung indirekt die Tatsache, dass sein subjektiver Blick manche Sachverhalte nur verfremdet wiedergeben kann. Gleichzeitig spielt er mit dem Paradoxon, dass sein gesamtes Erzählen durch seine persönliche Sichtweise geprägt ist und demnach nichts vollkommen objektiv darstellbar ist: Der Autobiograph gibt vor, den Themenbereich „Eva“ von den übrigen Ereignissen der Jahre 1904 bis 1906 auszusparen, um damit eine zu starke Emotionalisierung seines Schreibens zu vermeiden. Dazu durchbricht er die chronologische Reihenfolge der Geschehnisse. Mehrfach deuten jedoch kurze Einschübe in die Erzählung an, dass ihm eine vollkommene Trennung sehr schwer fällt. Einmal greift er auf das „Geheimfach“ vor, wechselt dabei in einen persönlicheren Tonfall, spricht seine Frau direkt an und benutzt den Kosenamen „Ev“44 (CV I, 365-366). Als müsse er sich zusammenreißen, erinnert er sich, noch einige andere Dinge vor dem Übergang zum „Geheimfach“ beschreiben zu müssen. Damit signalisiert Klemperer, dass eine vollkommene Abtrennung ebenso wenig möglich ist wie eine Loslösung von der subjektiven Perspektive. So wie die Liebe zu Eva Schlemmer sein Leben dauerhaft beeinflusst hat, ist die Beschreibung des eigenen Lebens durch die persönlichen Sichtweisen geprägt. Das Verschmelzen der unterschiedlichen Blickrichtungen zeigt sich auch darin, dass der Beginn des „Geheimfachs“ nicht vom übrigen Kapitel abgetrennt ist. Allein durch den Wechsel in der Ansprache kennzeichnet der Autobiograph den Übergang. Das intime „du“ und „Ev“ schließen den Leser bis zu einem bestimmten Punkt aus. Eva nimmt den Platz des Rezipienten ein. Klemperer erzählt nicht nur über sie, sondern für sie. Er signalisiert damit den Übergang in einen rein persönlichen Erlebensraum. Obwohl der
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Die direkte Ansprache Evas mit diesem Kosenamen wird im gesamten weiteren Verlauf des „Geheimfachs“ fortgesetzt. Nach dem Abschluss dieses Texteils vermerkt er im fünften Kapitel bei der ersten Erwähnung Eva Klemperers: „Meine Frau – denn nun, Ev, scheint mir die affektische Anrede nicht mehr passend, und so werde ich mich fortan der dritten Person bedienen – meine Frau...“ (CV I, 409). Dadurch wird zusätzlich der inszenierte Charakter des „Geheimfachs“ unterstrichen.
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Text als Teil des „Curriculum vitae“ entsteht, verhält sich der Autobiograph, als schreibe er nur für eine Person. Entsprechend privater werden der Tonfall und das Ausmaß intimer Darstellungen.45 Dadurch wird dem Leser paradoxerweise – obwohl er nicht erster Adressat ist – ein näherer Einblick gewährt als in der sonstigen Autobiographie. Klemperer sieht sich gezwungen, die Begegnung mit seiner späteren Frau und die erste Phase der daraus entstehenden Liebesbeziehung stärker subjektiv darzustellen als andere Lebensereignisse. Daraus resultiert ein weiterer Widerspruch: Eva Klemperer teilt die Sehnsucht ihres Mannes nicht, sich in geistigen Werken zu verewigen (vgl. CV I, 381). Dem steht – trotz der gleichzeitigen Ironisierung dieser Absicht in der Metapher „vanitas vanitatum“46 – Klemperers Streben nach Dauerhaftigkeit und „Überleben“ in seinen Arbeiten gegenüber.47 Eine persönliche
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Dabei inszeniert Klemperer einen schweren Gewissenskonflikt. Er gibt an, sich nicht sicher zu sein, ob er seine privatesten Erinnerungen offen legen soll. In ihnen sieht er einerseits das „einzige[], das es [sein Leben] über die Mittelmäßigkeit hinaushebt und ihm eine Besonderheit verleiht“, andererseits stellen sie „unser Intimstes“ dar (CV I, 380; vgl. dazu auch CV I, 388). Der Zweifel, ob und wie detailgenau er seine frühe Beziehung zu Eva erzählen möchte, endet schließlich in einem langen inneren Monolog, in dem Klemperer sich auf den Ursprung seiner Schreibabsichten zurück besinnt. Die Formel des „vanitas vanitatum“ taucht bei Klemperer häufig auf. Er gibt im Tagebuch an: „Das Grundgefühl der vanitas vanitatum ist immer da“ (LS I, 645, 21.12.1922). Laut Walter Nowojski (vgl. Anmerkungen in Klemperer 2007, 5690) bezieht er sich dabei auf einen Vers im Alten Testament (Prediger 1,2; ebenso 12,8), in dem es heißt: „Eitelkeit der Eitelkeiten, und alles ist eitel.“ Klemperer ist sich der Eitelkeit bewusst, die in seinem Wunsch nach Unsterblichkeit im übertragenen Sinne steckt und artikuliert dies sarkastisch, indem er sich die Warnung des Predigers im Schreiben vor Augen führt. Es wäre auch möglich, dass er damit auf Andreas Gryphius’ Gedicht „Es ist alles eitell“ zurückgreift. Darin wird die Vergänglichkeit allen irdischen Daseins aufgezeigt. Gryphius schreibt unter anderem: „Nichts ist, das ewig sey, kein erz, kein marmorstein. / [...] / Der hohen thaten ruhm mus wie ein traum vergehn. / Soll den das spiell der zeitt, der leichte mensch bestehn. / Ach! was ist alles dis was wir für köstlich achten / Als schlechte nichtikeitt, als schaten, staub und windt; / Als eine wiesen blum, die man nicht wiederfindt...“ (Gryphius 1963, 33-34). Klemperer weiß, dass seine Sehnsucht nach dem Schaffen eines Werkes, das Bestand in der Geistesgeschichte haben wird, einer gewissen Anmaßung nicht entbehrt. Doch der Wunsch nach Anerkennung – wenn auch im Kleinen – begleitet ihn stetig, lässt sich nicht unterdrücken und taucht immer wieder im Tagebuch auf. Dabei korreliert dieser häufig mit der Angst vor dem Versagen. Er konfrontiert sich direkt mit seinem Ehrgeiz, wenn er erklärt: „Und so hält mich auch jetzt dieser Wunsch immer wieder am Schreibtisch fest, läßt mich geduldig das unleserliche Manuskript Seite um Seite in die Schreibmaschine
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Beschreibung der Liebesbeziehung offenbart nicht nur sein Privatleben, sondern auch das seiner Frau. Insbesondere angesichts der betonten Subjektivität steht der Autobiograph dadurch vor einem unlösbaren Problem: Entscheidet er sich für die uneingeschränkte Darstellung seiner Gefühlswelt, verletzt er die Privatsphäre Evas und belästigt den externen Leser mit „halb lächerlich[en], halb schamlos[en]“ (CV I, 382) Inhalten. Respektiert er diese Grenze, wird das „Geheimfach“ hinfällig. Der Wunsch, über die wichtigste Begegnung seines Lebens zu schreiben, siegt jedoch. Angesichts der Tatsache, dass nicht absehbar ist, ob das „Curriculum vitae“ jemals veröffentlicht werden kann, entschließt Klemperer sich dafür, einer dritten Partei die Entscheidung zu überlassen, inwieweit das Thema Teil seiner Autobiographie sein soll: „Ich will mich, wie beinahe immer in meinem Leben, für eine Halbheit entscheiden. Ich werde mich in meinem Bericht so sachlich und unpathetisch fassen, daß ich ihn gerade noch ohne allzuviel Scham über die Lippen bringe. Und ich will es meinem etwaigen Herausgeber ausdrücklich anheimstellen, den Inhalt dieses kleinen Geheimfaches zu veröffentlichen oder zu beseitigen“ (CV I, 382).
Diese scheinbare Aufgabenübertragung inszeniert die Differenz zwischen objektivem und subjektivem Erzählen auf besondere Weise. Ein „etwaiger Herausgeber“ wird als objektive Instanz eingeschaltet, welche über Angemessenheit und Sinnhaftigkeit des „Geheimfachs“ urteilen kann. Jedoch handelt es sich nur scheinbar um einen abgeschlossenen Textteil, der als Ganzes herausgenommen werden könnte. Allein aufgrund der Vorankündigungen des „Geheimfachs“ im ersten Teil des Kapitels wäre es nicht ohne Weiteres möglich, die Inhalte „zu beseitigen“, die Eva Klemperer betreffen. Die Herausnahme würde einen weitreichenden Eingriff in den Aufbau und die Gestaltung der Autobiographie bedeuten. Dementsprechend ist die Einbeziehung eines imaginären Herausgebers vor allem eine kokette Inszenierung von Klemperers Entscheidung für eine intime Darstellung der Beziehung zu seiner Frau.48
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hämmern, läßt mich Stilfehlern und vergessenen Interpunktionen so eifervoll nachjagen wie den Läusen, wenn ich im flandrischen Unterstand mein Hemd durchstöberte: daß sich noch einmal, irgendwann nach meinem Tode, im vierten oder fünften Reich, ein Herausgeber und ein paar hundert Leser meines Curriculums fänden“ (CV I, 381). Gesteigert wird der inszenierte Charakter zum Abschluss des Kapitels, indem Klemperer den imaginären Herausgeber scheinbar beiläufig nochmals direkt anspricht: „Ach ja, und nun ist noch der Fingerzeig für den etwaigen Herausgeber nötig: Falls Sie Bedenken haben sollten, Herr Doktor, so setzen Sie bitte hinter meine Frage auf Seite 382, ob es nicht töricht sei, ‚die größten Bitterkeiten der Vergangenheit aufzuwühlenʻ, eine Reihe Punkte, und schreiben Sie
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Die Frage, unter welchen Rahmenbedingungen und mit welcher Genauigkeit bestimmte Ereignisse beschrieben werden können, durchzieht die gesamte Autobiographie. Klemperer zweifelt wiederholt die Glaubwürdigkeit der zentralen Quelle seines Schreibens an: die Tagebücher (vgl. z.B.: CV I, 260). Gelegentlich verdächtigt er sich, Informationen darin gezielt verfremdet zu haben.49 Zudem wertet er wiederholt den eigenen Schreibstil im Diarium negativ und schätzt beispielsweise Naturbeschreibungen als plakativ und wenig hilfreich ein (vgl. z.B.: CV I, 123; CV II, 115; CV II, 144; CV II, 261; CV II, 267).). Im Rückblick auf spezifische Situationen erinnert Klemperer Dinge, die in den Eintragungen entweder fehlen (vgl. z.B.: CV I, 324) oder völlig anders dargestellt sind.50 Diese Differenzen werden explizit thematisiert und teilweise ausführlicher besprochen als der eigentliche Sachverhalt. Sogar nachträglich an einzelnen Darstellungen vorgenommene Korrekturen gehen in den autobiographischen Text ein (vgl. CV I, 34). Umgekehrt muss der Autobiograph wiederholt konstatieren, dass spezifische Erinnerungen sich anhand der nachgelesenen Tagebucheintragungen als falsch
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dann: ‚Auf den nächsten Seiten erzählt der Verfasser die bewegte Vorgeschichte seiner Ehe. Da dieser Abschnitt einigermaßen aus dem ruhigen Stil des übrigen Werkes fällt, da er kaum etwas von allgemeinem Interesse enthält und da er vom Verfasser selbst als Geheimfach bezeichnet wird, so haben wir ihn ungedruckt gelassenʻ“ (CV I, 407). Ein Beispiel dafür ist die Beurteilung einer Tagebucheintragung über ein Wiedersehen mit Klemperers erster großer Liebe. Das Notat wird in der Autobiographie zitiert und hernach kritisiert: „In meinem Tagebuch steht, [...]. Aber ich hege Verdacht gegen die Objektivität dieser Kritik. Ich möchte beinahe annehmen, der Schreibende wolle sich beweisen, wie weit die Tanzstunden-Unreife hinter ihm liege und daß er nur aus kalter Gleichgültigkeit unterlassen habe, das junge Mädchen zu begrüßen, und nicht etwa aus uneingestandener Furcht, noch einmal der alten Befangenheit zu verfallen“ (CV I, 196). Klemperer spricht von sich in der dritten Person als „der Schreibende“. Er distanziert sich damit deutlich von der „Echtheit“ der im Notat verzeichneten Gedanken und Emotionen. Auf das Problem, ursprüngliche Ereignisse rückblickend zu verfremden, wird wiederholt hingewiesen (vgl. z.B.: CV I, 50-51). Paradigmatisch ist die Darstellung von Klemperers erster Begegnung mit seinem Lehrer Karl Vossler: „Ich muß mich nun aber hüten, den Eindruck oder die hinterlassene Wirkung jenes ersten zufällig gehörten Kollegs allzu enthusiastisch und romanhaft darzustellen. Später habe ich mir oft gesagt: ‚Es war eine Offenbarung, und in diesem Augenblick wurde ich Vosslers Schüler, und in diesem Augenblick begann meine wissenschaftliche Laufbahn.ʻ Das mag bei nachträglicher Betrachtung zutreffen; aber damals merkte ich es nur sehr unvollkommen, und soweit ich die Bezauberung spürte, setzte ich mich gegen sie zur Wehr“ (CV II, 27).
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erweisen.51 Dies bestätigt wiederum die Wichtigkeit des Diariums als Quelle für die Autobiographie. Durch die stete Diskussion der Darstellungsformen im „Curriculum vitae“ lässt Klemperer seinen Leser teilhaben an seinen Erinnerungsprozessen und verbildlicht seine geistigen Entwicklungsgänge. Er kann kein Ereignis authentisch so erzählen, wie er es in der Vergangenheit erlebte. Die Erfahrungen, die er in seinem weiteren Lebensverlauf gemacht hat, prägen die autobiographische Darstellung. Entsprechend nimmt Klemperers gegenwärtige Lebenslage als Jude im „Dritten Reich“ Einfluss auf die Art, wie er seine Erinnerungen beschreibt.52 Dieser Erkenntnisprozess wird im Verlauf der Autobiographie ständig mitgeschrieben und anhand von Beispielen direkt
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An einem Erlebnis, das er während der ersten Revolutionstage in Wilna 1918 gehabt zu haben glaubt, macht er sich dies explizit bewusst: „Aber was ist Wirklichkeit für die Erinnerung? [...] [Ich] sehe [...] einen [...] Auftritt des ersten Wilnaer Revolutionstages vor mir. ‚Als ich nun zum Frühstück ging und in die belebtere Stadt kamʻ, pflegte ich zu erzählen, ‚traten drei Soldaten an mich heran. Zwei faßten mich ohne Brutalität, aber energisch am rechten und linken Arm, der dritte zog eine kleine Schere und schnitt mir rasch das Ordensbändchen vom Mantel ab. ‚Nichts für ungutʻ, sagte er, ‚aber wir haben Revolution, Kamerad.ʻ So habe ich das hundertmal nach bestem Wissen erzählt. Aber in dem Brief [an Eva, Anm. d. A.], den ich in der Nacht vom Sonntag zum Montag schrieb, den ich seit damals bis auf diese Tage nicht wieder durchgelesen habe, heißt es [...] wörtlich: ‚Als ich zum Frühstück ging (bloß in der Joppe, es war ganz milde Luft), hielt mich in der belebteren Stadt ein Gefreiter an: ‚Du, Kamerad, tu die Ordensschnalle ab, du bekommst sonst Unannehmlichkeiten. Auf mich sind vorhin drei Leute zugekommen, der eine hat mich am rechten, der andre am linken Arm gepackt, der dritte hat mir mit einer kleinen Schere das EK-Band vom Mantel geschnitten. ‚Nichts für ungutʻ, sagte er dabei, ‚aber wir haben Revolution.ʻ Daraufhin habe ich meine Schnalle abgehakt und ins Portemonnaie gesteckt; sobald ich zurück bin, trenne ich auch mein Bändchen vom Mantelʻ“ (CV II, 692-693). Klemperer spricht hier einerseits die Fragilität und die problematische Glaubwürdigkeit von Erinnerungen an. Andererseits bestätigt er die Stärke seiner Tagebuchaufzeichnungen: Sie gewährleisten rückblickend eine Richtigstellung falscher Erinnerungen. Meist weist Klemperer in kleinen – oftmals ironischen – Randbemerkungen auf seine problematische Lebenssituation hin. Exemplarisch ist ein Kommentar, der an einige Ausführungen zu einem Roman von Lou Andreas-Salomé angeschlossen ist: „Vielleicht schadet es nichts, daß ich keine Möglichkeit besitze, das Werk heute nachzulesen (because since October 38, wie es in meinen zahlreichen nach Amerika gerichteten Bewerbungsschreiben heißt, I have been refused admittance to all public libraries)“ (CV I, 160).
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oder indirekt in seinen unterschiedlichen Ausprägungen diskutiert.53 Auf diese Weise problematisiert Klemperer beispielsweise die Tatsache, dass er aufgrund seiner beruflichen Ausrichtung dafür prädestiniert ist, seine Beschreibungen mit literarischen Motiven zu verfremden. Bereits im Kapitel „Papiersoldaten“ kommentiert er dies: „Ich bin Literarhistoriker, und kein Metier kann ungeeigneter sein für das autobiographische Unternehmen. Denn wer sein Leben schreibt, muß mit sich selber allein sein, er darf in keinem Augenblick daran zweifeln, sich selber auszusagen. Mir aber sehen die Gestalten derer über die Schulter, mit denen ich mich von Berufs wegen so viel beschäftigt habe, und immer fürchte ich, sie könnten mir die Feder aus der Hand nehmen. Wenn ich etwas Peinliches einzugestehen habe, wird mein Gewissen warnen: ‚Denke an Jean-Jaques’ Koketterie!ʻ Wenn ich von unsern Katern erzählen will, werde ich Montaigne fragen hören: ‚Spiele ich mit meiner Katze, oder spielt sie mit mir?ʻ Und so wird immer jemand hinter mir stehen, vor dem ich mich hüten muß.“ (CV I, 8-9).
Die Selbstermahnung, sich der Versuchung zu entziehen, das eigene Erleben anhand literarischer Vorbilder zu spiegeln oder auch Erlebtes zu inszenieren, durchzieht das „Curriculum vitae“. Trotzdem weisen selbst diese Textstellen Merkmale von literarischer Verfremdung auf.54 Insbesondere im Ver-
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Ein wiederholter Vorgang ist in diesem Zusammenhang die Darstellung einer Entwicklung im Konjunktiv – so wie Klemperer sich den Verlauf einer Situation gewünscht hätte. Dadurch ironisiert er einerseits seine Wunschvorstellungen und weist den Leser andererseits explizit auf den tatsächlichen – weniger idealen Ereigniskontext hin. Eine Erkrankung gegen Ende seiner Kaufmannslehre wird beispielsweise zunächst in der Überlegung begründet, wie ein Biograph diese Erschöpfung interpretieren könnte, um anschließend zu gestehen, nicht aufgrund von geistiger Überarbeitung, sondern aufgrund einer Magenverstimmung zusammengebrochen zu sein (vgl. CV I, 206). Klemperer präsentiert sich damit als ehrlicher, unbedingt „authentischer“ Autobiograph. Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, zu erklären, seine Krankheit sei Folge von Überarbeitung gewesen. Diese Möglichkeit wird jedoch nicht nur ausgeschlagen, sondern offen inszeniert, um anschließend die „wirklichen“ Begebenheiten zu erzählen. Dadurch zeigt er seine Fähigkeit, über die Gefahren des autobiographischen Schreibens zu reflektieren, diesen auszuweichen, und er betont seinen Anspruch auf Wirklichkeitsnähe und Genauigkeit. Paradigmatisch ist die Darstellung von Klemperers Besuch am Sterbebett seines Vaters. Die Situation wird nicht nur sachlich beschrieben, sondern zusätzlich sowohl im formalen Aufbau als auch inhaltlich inszeniert. Die Erzählung verläuft im Gegensatz zum Großteil der Autobiographie im Präsens. Dadurch versetzt sich der Autobiographie selbst wieder zurück in die erlebte Situation und steigert gleichzeitig die Intensität der transportierten Emotionen. Parataktisch listet er Sätze auf, die unterschiedliche Gedankengänge aneinander reihen.
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gleich mit dem Tagebuch wird dies deutlich. Während der Tagebuchschreiber sich ausschließlich auf das Festhalten der jeweils zu beschreibenden Situation ausrichtet und dementsprechend selten formale Gestaltungen vornimmt oder literarische Motive einbezieht, greift der Autobiograph durch die Auswahl der Darstellungsmittel häufig in die Aussagekraft der Inhalte ein. Der Bezug auf spezifische literarische Motive oder zumindest auf das Vorhandensein literarischer Parallelen bleibt dabei selten aus. Anhand des Vergleichs des nicht gedruckten Manuskriptteils der Autobiographie mit den äquivalenten Tagebuchaufzeichnungen zu diesem Zeitraum (November 1918 bis Mai 1919) wird dies an einer Stelle explizit deutlich. Klemperer beschreibt den Redner einer Wahlveranstaltung der USPD in München. Im Tagebuch wird der Mann als „[e]ine kalte, blonde, unverschämte Romanschönheit“ beschrieben: „Schlank u. jung in feldgrauer Uniform mit hohem Kragen, bartloses Gesicht, große graue befehlende Augen, blonde Mähne...“ (LS I, 31, 14.12.1918). Im „Curriculum vitae“ erweitert der Autobiograph die optische Beschreibung: „Eine blonde, blauäugige, kalte und unverschämte Romanschönheit. Schlank u. jung in gutsitzender feldgrauer Uniform mit hohem Kragen, bartloses faltenloses Gesicht, große graue befehlende Augen...“ (Mscr. Dresd. App. 2003, 117, Seite 237).
Klemperer greift die bereits im Tagebuch angesprochene Vorstellung des Mannes als „Romanschönheit“ auf. Damit wird dieser in die Nähe literarischer Figuren gestellt. Während diese Zuweisung im Tagebucheintrag jedoch nur als Ideengeber für weiterführende Assoziationen dient, formuliert der Autobiograph sie aus. Die bereits im Diarium erwähnten optischen
Dadurch verbildlicht er seine Verzweiflung und Hilflosigkeit angesichts des sterbenden Vaters. Gleichzeitig signalisiert die Bandbreite der Gedanken auch die Perspektive eines kühlen Beobachters, der keine Empathie empfinden kann (vgl. CV I, 594-595). Die Zerrissenheit zwischen extremer Verzweiflung und dem Gefühl des Nicht-Beteiligtseins konterkariert Klemperer schließlich in der analytischen Feststellung: „Nach irgendeiner endlosen Zeit, ich kann also doch nicht so genau beobachtet haben, obschon ich noch immer im Türrahmen zum Salon lehne, ist Georg im Zimmer; die andern sind fort, der Personenwechsel muß durch die Dielentür vor sich gegangen sein. Ich registriere bei mir: ‚Im Romanklischee heißt das: ‚Er stand in Schmerz versunken‘; aber ich war ja auch in die Kosten des Zylinders und in den Kinoaufsatz und in ein Dutzend anderer Dinge versunkenʻ“ (CV I, 595). Das Bewusstsein, etwas zu erleben, das Teil eines Romans sein könnte, wird durch die Erinnerung an die eigene scheinbare Gefühlskälte neutralisiert. Klemperer gelingt es damit zwar, seine innere Ambivalenz zu erfassen, gleichzeitig inszeniert er diese jedoch wiederum.
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Merkmale des Redners werden dafür zusammengefasst, um ein plastisches Bild von der „Romanschönheit“ zu geben. Dabei unterläuft Klemperer ein Fehler: Er bezeichnet den Mann als „blauäugig“. Im darauf folgenden Satz gibt er dessen Augenfarbe nochmals an – mit „grau“. Anhand des originalen handschriftlichen AutobiographieManuskripts wird sichtbar, dass erst nachträglich das Adjektiv „blauäugig[]“ eingefügt wurde. Dieses Attribut ergibt sich aus der Assoziation der „blonde[n]“, „kalte[n] und unverschämte[n] Romanschönheit“. Bei der Überarbeitung seines Textes scheint Klemperer überlesen zu haben, dass er die ursprüngliche Augenfarbe des Mannes nachfolgend ebenfalls angibt. Er ergänzt dessen Blauäugigkeit, weil er ihn als Figur literarisiert. Damit geht die Autobiographie über den Anspruch des Tagebuchs hinaus. Während der Diarist ausschließlich auf das Bewahren von „tatsächlichen“ Ereignissen und Beobachtungen ausgerichtet ist, zeigt der Autobiograph die Bereitschaft, gelegentlich die Realität zugunsten der Abrufung literarischer Motive und Muster zu verändern. Deshalb kann das „Curriculum vitae“ trotz des grundlegenden Anspruchs auf das Berichten von realen Erlebnissen nicht in der selben Weise wie das Tagebuch als möglichst nah an der Wahrheit ausgerichteter Text verstanden werden. Auch wenn die wahrheitsgemäße Darstellung des eigenen Lebens Thema der Autobiographie ist, gestaltet Klemperer ihre Inhalte entsprechend der angestrebten Wirkung auf einen externen Leser.
E XKURS 5: „Z ELLE 89“ Parallel zur Entstehung des „Curriculum vitae“ führt Klemperer sein aktuelles Tagebuch gewissenhaft fort, um darin all jene Ereignisse zu speichern, die zu einem späteren Zeitpunkt ebenfalls in der Autobiographie verarbeitet werden sollen. Nur einmal unterbricht er dieses systematische Vorgehen: Als er im Juni 1941 zur Strafe für vergessene Verdunkelung für eine Woche ins Gefängnis muss, erschüttert ihn dies so stark, dass ihm eine einfache Tagebuchnotiz darüber nicht ausreicht. Er sucht in der ausführlichen Beschreibung einen Weg, das traumatische Erlebnis schriftlich aufzuarbeiten.55 Daraus entsteht über mehrere Wochen hinweg ein umfangreicher autobiographischer Text unter dem Titel „Zelle 89, 23. Juni – 1. Juli 1941“ (ZA I,
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Während Klemperer an der Gefängnisbeschreibung arbeitet, führt er parallel seine Tagebuchnotate fort. Unter dem Kürzel „Zelle 89“ vermerkt er – ebenso wie er die Entstehung seiner anderen externen Texte dokumentiert – mehrfach den Fortgang dieser Arbeit in den täglichen Notaten (vgl. z.B.: ZA I, 645, 08.07.1941; ZA I, 653, 21.07.1941).
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603), der zwar im Tagebuch gelagert wird,56 allerdings formal und inhaltlich nicht mehr diaristischen Kriterien entspricht. Damit durchbricht Klemperer sowohl den sonstigen Verlauf des Diariums als auch das chronologische Vorgehen beim Verfassen seiner Lebensbeschreibung. Der Text ist nicht nur ein Teil des Tagebuchs, sondern besteht auch als eigenständige, lebensgeschichtliche Beschreibung. Deshalb soll er im Folgenden kurz dargestellt werden. Klemperer selbst erklärt in einem Tagebucheintrag, der parallel zu dem autobiographischen Text entsteht, die Gefängnisbeschreibung solle „...Wahrheit, nicht Dichtung und Wahrheit, braucht nicht endgiltiger Curriculum-Text [...] sein“ (ZA I, 602, 06.07.1941). Der direkte negierende Bezug auf Goethes Autobiographie, in der die Ebenen von „Dichtung und Wahrheit“ in einem vielschichtigen System verflochten werden, kennzeichnet die Ablehnung jeglicher literarischer Verfremdung des Erlebten. Gleichzeitig zeigt der Verweis auf einen der zentralen deutschen Dichter an, dass der Anspruch an die Darstellung des Gefängnisaufenthalts qualitativ hoch ist. Klemperer möchte nicht nur bruchstückhaft berichten, was geschehen ist, wie in einem Tagebucheintrag. Er beabsichtigt, ausführlicher, präziser und auf sprachlich höherem Niveau zu beschreiben. Trotzdem schränkt er ein, nicht den „endgiltige[n] Curriculum-Text“ verfassen zu wollen. Auf diese Weise steht die Gefängnisbeschreibung zwischen den beiden zentralen autobiographischen Textformen Tagebuch und Autobiographie. Einerseits ist sie eine minutiöse Darstellung nahezu aller Ereignisse, die Klemperer während seiner Inhaftierung erlebte, und reicht damit über eine zusammenführende und rückblickend reflektierende Lebensbeschreibung weit hinaus. Im „Curriculum vitae“ ist der Autobiograph gezwungen, gelegentlich den Handlungsablauf zu straffen, er setzt thematische Fixpunkte, an denen er längere Entwicklungslinien stellvertretend darstellt. In der Gefängnisbeschreibung fehlt dieses Vorgehen vollständig. Zudem wird durch die Datierung gezielt die Nähe zum Tagebuch hergestellt.57 Andererseits jedoch ist der Text kein Tagebucheintrag, sondern eine durchkomponierte Prosaarbeit, in der die autobiographischen Erlebnisse trotz des Anspruchs auf Wahrheit literarisch gestaltet werden. Klemperer ist sich selbst nicht im Klaren darüber, was er mit der Gefängnisbeschreibung erreichen möchte. Er schwankt zwischen dem Erarbeiten eines Kapitels für die Autobiographie und einem ausführlichen Tage-
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Zum Zeitpunkt der Entstehung der Gefängnisbeschreibung führt Klemperer sein Tagebuch handschriftlich auf losen Seiten. Auf diese Weise ist es leicht möglich, den maschinenschriftlichen autobiographischen Text zwischen zwei Blättern einzulegen, die den Eintrag vom 8. Juli 1941 enthalten (vgl. ZA I, 645, 08.07.1941; siehe auch Mscr. Dresd. App. 2003, 137). Auf dem Manuskript vermerkt Klemperer mit Bleistift: „geschrieben vom 6/7 41-20/7 41“ (vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 137, Blatt a).
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buchbericht.58 Die daraus resultierende Auflösung der Gattungsgrenzen der beiden Textsorten führt jedoch zu einer deutlichen Unzufriedenheit. Klemperer erkennt, dass er weder der einen noch der anderen Schreibform gerecht werden kann.59 Während die Ausführungen im „Curriculum vitae“ auf der erstmaligen Verarbeitung der Ereignisse im Tagebuch basieren, möchte er diesen Schritt mit „Zelle 89“ übergehen. Daraus resultieren dramatische Inszenierungen der Gefühlswelt des Autobiographen während seiner Inhaftierung.60 Wiederum lässt sich dies mit seinem Anspruch, ausschließlich die „Wahrheit“ zu erzählen, nicht vereinbaren. Deshalb bricht er immer wieder
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Dieser Anspruch ist durchaus fragwürdig. In der Relation zu dem Leid von Millionen anderer Menschen im „Dritten Reich“ scheint Klemperers Inhaftierung kaum erwähnenswert. Dessen ist er sich bewusst, wie die Schlussworte des Textes zeigen: „Dann begann ich, meine Stichworte ausbreitend, diese Niederschrift. Je weiter ich darin kam, um so mehr schrumpfte mir mein Erlebnis, mein Erleiden zusammen. Nichts Halbes, ein fürchterliches Ganzes hab ich es wohl im Eingang genannt. Und was war es denn nun, von welchen Qualen hab ich Bericht erstattet? Wie läßt es sich mit dem vergleichen, was heute von Abertausenden in deutschen Gefängnissen erlebt wird? Alltag der Gefangenschaft, mehr nicht, ein wenig Langeweile, mehr nicht. Und doch fühle ich, daß es mir selber eine der schlimmsten Qualen meines Lebens bedeutete“ (ZA I, 644, 23.06.-01.07.1941). Die Einschränkung der Wertigkeit des eigenen Leids wird durch die Absichtserklärung umgangen, ausschließlich vom eigenen Leben zu erzählen. Die Dramatik von Klemperers Erleben ergibt sich dementsprechend in Relation zu seinen privaten Leiden. Mit diesem Maß definiert der Schreibende die Gefängniswoche als „eine der schlimmsten Qualen meines Lebens“. Der Blick auf die Schrecken, die andere Menschen durchleben müssen, wird abgewehrt. Er formuliert das explizit aus: „Ich weiß jetzt, warum mir das Stück ‚Zelle 89ʻ mißlingt, an dem ich seit dem 6.9. [sic] schreibe. Es ist nicht Fisch und nicht Fleisch, halb soll es Tagebuch sein, halb schon geformtes Curriculum, und eines hindert das andere“ (ZA I, 652, 19.07.1941). Beispielsweise endet die Aussage, das Gefühl von Unendlichkeit lasse sich nicht darstellen, in einer Inszenierung: „Das läßt sich ja nicht beschreiben. Womit denn? Wiedergeben kann man, was geschehen ist, das kleinste Ereignis, den kleinsten Gedanken. Aber die Endlosigkeit besteht in dem, was dazwischen liegt, in dem bloßen Gefühl des Käfigs und der Leere, in dem Nichts der vier Schritte zum Fenster und der vier Schritte zur Tür, in der bewußten Abgestorbenheit“ (ZA I, 615, 23.06.-01.07.1941). Klemperer bemüht sich paradoxerweise in dem Augenblick, in dem er über die Endlosigkeit schreibt um die Auflösung ihrer Unbeschreibbarkeit. Der Widerspruch zwischen der Unsagbarkeitsaussage und dem metaphorischen Erklärungsversuch eines „KäfigGefühls“ reformuliert nicht nur die bereits der Vergangenheit angehörende Verzweiflung des Erzählers, sondern symbolisiert die Unmöglichkeit, „authentisch“ sein Fühlen wiederzugeben.
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aus der auf Übersicht abzielenden Erzählstruktur aus und verfängt sich in Wiederholungen und extrem detaillierten Beschreibungen. Ursprung dieser Problematik ist der Umstand, dass Klemperer seinem Gefängnisaufenthalt bereits während des Erlebens die Aufgabe zuschreibt, Stoff für das „Curriculum vitae“ zu sein. Seine Frau tröstet ihn, die Inhaftierung könne „im schlimmsten Fall [...] auf eine Bereicherung meines Curriculums hinauslaufen“ (ZA I, 604, 23.06.-01.07.1941). Aus dieser Perspektive betrachtet er das Eingesperrtsein nicht allein als Ereignis, das ihm zustößt, sondern als Chance, etwas Außergewöhnliches in der Autobiographie erzählen zu können. Er zieht sich auf seine Rolle als Beobachter zurück und findet darin Schutz vor der Verzweiflung über seine Ausgeliefertsein. Damit entsteht ein Paradoxon: Das Schreiben ist nicht mehr Ergebnis eines Erlebnisses, sondern das Erleben wird um des Schreibens willen wahrgenommen. Klemperer betrachtet seine Umgebung nicht ungefiltert, sondern aus der Perspektive des autobiographischen Schreibers. Dieser Sachverhalt ist jedoch nicht nur äußere Begleiterscheinung der Entstehung von „Zelle 89“, sondern wird in dem Text selbst thematisiert. Unter Berufung auf die französischen Dichter André Chénier und Paul Verlaine macht Klemperer sich in der Haft selbst darauf aufmerksam, dass er dem Gefühl des Eingesperrtseins durch geistige Produktivität begegnen könne (ZA I, 616, 23.06.-01.07.1941). Während die literarischen Vorbilder jedoch die Fähigkeit besaßen, zu dichten, konzentriert er sich aufgrund des selbst konstatierten mangelnden schriftstellerischen Talents auf seine Autobiographie. Weil ihm Stift und Papier fehlen, beschließt er, aus der Perspektive des Autobiographen „diese ganze Gefängnisaffäre“ gedanklich seiner Frau zu diktieren (vgl. ZA I, 619, 23.06.-01.07.1941). Dabei kommt er jedoch nicht über den ersten Satz hinaus. Seine Gedanken schweifen ab und konzentrieren sich statt auf die Autobiographie auf die beklemmende Umgebung (ZA I, 620, 23.06.-01.07.1941). Der gedanklich notierte „erste Satz“ bleibt allerdings erhalten. Er wird tatsächlich zum Eingangssatz von „Zelle 89“ (vgl. ZA I, 603, 23.06.-01.07.1941). Damit erzählt Klemperer innerhalb des Textes davon, wie dessen Anfang entstand. Er erschafft eine Art Mythos für seinen ersten Satz und bestätigt den Anspruch, bereits im Erleben als Autobiograph zu agieren. Obwohl die endgültige schriftliche Umsetzung des Erfahrenen erst nach dem Ende der Haft erfolgen kann, lebt Klemperer seine Rolle schon vorher aus. Das Bewusstsein, das Wahrgenommene schreibend für das „Curriculum vitae“ verarbeiten zu können, bestimmt demnach bereits während des Gefängnisaufenthalts die Wahrnehmung der Ereignisse. Entsprechend stark inszeniert Klemperer den Erhalt eines Bleistifts und eines Blattes Papier durch einen Wärter am vierten Tag seiner Haft: „Im gleichen Augenblick war meine Welt ebensostark [sic] verändert wie neulich, als die Gefängnistür zuschlug. Alles war wieder lichter, ja fast schon licht geworden“ (ZA I, 637, 23.06.-01.07.1941).
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Die Assoziation zum biblischen „Es werde Licht“ ist nicht zufällig. Klemperer erlebt den Erhalt des Bleistifts als Befreiung, die ihm die restlichen Gefängnistage erleichtern wird. Das drückt er auch dadurch aus, dass er angibt, zunächst das Schreibgerät nicht verwendet zu haben. Vielmehr sei „das bloße Plänemachen, das bloße Bewußtsein seines Besitzes“ (ZA I, 637, 23.06.01.07.1941) ausreichend gewesen, um die „Endlosigkeit“ des Tages besser ertragen zu können.61 Damit wird das Schreibenkönnen als existenziell im Leben des Erzählers verankert.62 Die während des Gefängnisaufenthalts verstrichene Zeit erhält erst durch den Schreibakt, der das Erlebnis artikuliert und damit für eine ungewisse Zukunft fixiert, einen Sinn. Dabei nutzt Klemperer den Bleistift nur teilweise für autobiographische Stichpunkte. Vornehmlich notiert er Wortspiele, die ihm die Zeit vertreiben sollen (vgl. ZA I, 639, 23.06.-01.07.1941).63 Der wirkliche Schreibakt erfolgt erst nach dem Ende der Hafttage.
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Dabei ist sich Klemperer durchaus im Klaren, dass die Bedeutung des Bleistifts eine Illusion bleibt. Zumindest aus dem Rückblick überlegt er: „...war es mir bald nicht mehr so ganz gewiß, ob der Bleistift wirklich meine Zeit zu rascherem Ablauf stachle. Und auch heute im Zurückdenken kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, ob ich rascher durch die zweite Hälfte meiner Haft kam als durch die erste. Gewiß, den Freitag und auch noch ein paar Stunden des Sonnabends hielt das Gefühl der Erlöstheit halbwegs vor“ (ZA I, 638, 23.06.01.07.1941). In der Konzentration auf das tatsächliche Verstreichen der Zeit, die als endlos empfunden wird, hilft auch der Bleistift nicht weiter. Seine Bedeutung liegt nicht so sehr in der tatsächlichen Erleichterung der Haft, als in den Möglichkeiten, die er symbolisiert. Diese Zuschreibung spitzt Klemperer zu, als er den ersten notierten Satz zitiert: „Erst am spätern Nachmittag holte ich den Bleistift hervor – meine erste Notiz, pathetischer und länger als alle folgenden, lautete: An meinem Bleistift klettere ich aus der Hölle der letzten vier Tage zur Erde zurück“ (ZA I, 638, 23.06.01.07.1941). Der Bleistift ist das Symbol einer geistigen Freiheit, die Klemperer aus der Begrenzung seiner Zelle heraushebt. Mit seiner Hilfe verflüchtigen sich seine Gedanken nicht mehr im „Nichts“, sondern werden durch das Festhalten in Schrift „geerdet“. Unter anderem entwickelt er Rätsel, die er seiner Frau zum Jahrestag ihrer ersten Begegnung (29. Juni) schenken möchte (ZA I, 640-641, 23.06.01.07.1941). Diesen Angaben lassen sich zwei dem Manuskript von „Zelle 89“ beiliegende Blätter zuordnen. Auf ihnen rekonstruiert Klemperer die erwähnten Rätsel (vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 137, Beilagen; siehe auch Abb. 6 im Anhang). Sie ergänzen die Informationen, die in dem Text geliefert werden. Außerdem beinhaltet eine der Seiten einige teilweise datierte Notizen: kleinere Beobachtungen, Gespräche mit Gefängniswärtern und verschiedene Gedanken, die auch in „Zelle 89“ ausformuliert werden. Demnach handelt es sich bei diesen Aufzeichnungen um einen groben Überblick über verschiedene Ereignisse,
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Die Tatsache, dass Klemperer schon während des Gefängnisaufenthalts die spätere Darstellung seiner Erlebnisse plant, verstellt die Möglichkeit, rückblickend objektiv die Ereignisse zusammenzufassen. Der Erzähler von „Zelle 89“ hat keinen festen Standpunkt. Er steht zwischen den Perspektiven des Tagebuchschreibers und des Autobiographen und durchbricht zudem wiederholt die Erzählzeit, indem er zwischen Präsens und Präteritum wechselt.64 Die daraus resultierende Mischung unterschiedlicher Erzählstile prägt den Text und signalisiert die Schwierigkeit seiner klaren Zuordnung zu einem bestimmten Texttyp.
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Z USAMMENFASSUNG
Im Gegensatz zu den beruflichen Schriften Klemperers konzentrieren sich die Briefe und die Autobiographie ausschließlich auf seinen privaten Lebensbereich. Inhaltlich sind deshalb beide Textformen eng an das Tagebuch angelehnt. Auch verschiedene Schreibtechniken basieren – wie gezeigt wurde – auf dem Diarium. Die Anbindung an die täglichen Aufzeichnungen reicht jedoch noch weiter: Sowohl die Briefe als auch das „Curriculum vitae“ werden ebenso wie alle beruflichen Texte in den Notaten in ihrer Entstehung begleitet und kommentiert. Gleichzeitig gibt es mehrfach Rückkoppelungen von den externen Schriften auf einzelne Eintragungen. Für die Briefe, die von Klemperer als ergänzende Quelle zum Tagebuch kopiert wurden, gilt dies in stärkerem Maße als für die Autobiographie. Ihre Aufbewahrung dient zu einer inhaltlichen Erweiterung des Diariums. Die Aufgabe des Fragment gebliebenen „Curriculum vitae“ liegt eher darin, die täglichen Aufzeichnungen zu ersetzen: Die Beschreibung des eigenen Lebens hat für Klemperer eine große Bedeutung. Er möchte seine Erlebnisse jedoch nicht nur in seinem privaten Tagebuch bewahren, sondern er sucht nach Möglichkeiten, sie einer Öffentlichkeit zu vermitteln. Das Diarium allein reicht nicht aus, um das Erlebte zu sichern. Erst das Einbeziehen eines (wenn auch ungewissen) Publikums komplettiert die Absicht der Dokumentation des „Dagewesenseins“. Denn ohne einen Leser, der gedanklich weiterträgt, was ein Text vermittelt, verliert das Schreiben an Bedeutung. Klemperers Versuch, im „Curriculum vitae“ jene Aufzeichnungen, die er
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die in dem zu schreibenden Text verarbeitet werden sollen. – Es ist ein Stichwortzettel, der später ausformuliert wird. Zusätzlich verfällt der gegenwartsnahe Ich-Erzähler phasenweise in die Vergangenheitsform und erinnert sich an Ereignisse, die er außerhalb der Gefängniszelle erlebte (vgl. z.B.: ZA I, 620-621, 23.06.-01.07.1941). An einer Stelle wird sogar Eva Klemperer direkt in der zweiten Person angesprochen (ZA I, 634-635, 23.06.-01.07.1941).
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seit seinem 16. Lebensjahr nahezu täglich macht, umzuformen und einer Öffentlichkeit zugänglich zu machen, trägt dieser Bedingung Rechnung. Der Wunsch nach einer Autobiographie begleitet ihn seit Ende der Weimarer Republik. Erst als ihm die Arbeit an anderen (wissenschaftlichen) Publikationen unmöglich gemacht wird, entschließt er sich allerdings zu einer Umsetzung dieser Idee. Sie ist deshalb nicht nur Ausdruck seiner Sehnsucht nach einem Bewahren seines Lebens in Buchform, sondern auch des unbedingten Bedürfnisses, sich schreibend mit seiner Existenz auseinander zu setzen. Der Prosa-Text „Zelle 89“, den Klemperer konkret dem Tagebuch zuordnet, der aber formal nicht in diesen Kontext passt, verbildlicht seine – nur teilweise erfolgreiche – Suche nach Schreibinstrumenten, mit denen er das eigene Leben einem Publikum zugänglich machen und gleichzeitig seinen Anspruch auf unbedingte Wirklichkeitswiedergabe erfüllen kann. Denn darin liegt die Differenz zwischen dem Diarium und den Briefen und der Autobiographie: Die Aufbereitung der Lebensereignisse für einen Leser beinhaltet immer auch das Problem, dass nicht mehr bis ins Detail exakt das Erlebte erzählt werden kann.
VI.
Die Schnittstelle zwischen beruflichem und lebensgeschichtlichen Schreiben – „LTI“
„Das Wort ist unsere Erinnerung, aber auch unsere Zukunft“ (Cibulka 2001, 235).
Die Analyse der Sprache des „Dritten Reichs“, „LTI. Notizbuch eines Philologen“, galt bis zur Veröffentlichung von Klemperers Tagebüchern 19331945 als sein erfolgreichstes Werk. Der Text kann als Schnittstelle zwischen seinem beruflichen und lebensgeschichtlichen Schreiben betrachtet werden, weil in ihm der Anspruch einer wissenschaftlichen Untersuchung mit autobiographischem Erzählen verbunden ist. Dies resultiert aus dem Umstand, dass die Ergebnisse der ersten Arbeitsphase für das Buch – die Recherche von Sprachbeispielen – ausschließlich im Tagebuch notiert wurden. Bereits im Juni 1933 vermerkt Klemperer in seinem Diarium die Absicht, in einem „Lexikon“ Ausdrücke der Nationalsozialisten zu sammeln (vgl. ZA I, 37, 30.06.1933). Auf diese Weise etabliert er sehr früh die Idee, sich aus philologischer Sicht mit der Sprache des „Dritten Reichs“ zu beschäftigen.1 Er erkennt in den sprachlichen Besonderheiten und vor allem auch den daraus resultierenden Handlungsweisen in der nationalsozialistischen Gesellschaft Potenzial für eine Forschungsarbeit. Entsprechend orientiert er sich mit seiner Analyse nicht ausschließlich an Formulierungen und charakteristischen Ausdrücken, sondern allgemeiner an sozio-kulturellen Beobachtungen.2
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Ähnliche sprachsoziologische Absichten äußert er schon 1926 bezüglich einer „Sportsprache“ (vgl. LS II, 291, 01.09.1926). Daran zeigt sich sein grundsätzliches Interesse an der Veränderung der Sprache aufgrund gesellschaftlicher Entwicklungen. Im Kapitel I der „LTI“ erklärt Klemperer, dass die Bedeutung des titelgebenden Kürzels weit mehr als ausschließlich Sprachbeobachtungen erfassen solle: „Selbst wenn ich, was nicht der Fall ist, die Absicht hätte, das ganze Tagebuch
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Immer wieder weisen kurze Notizen auf bestimmte von den Nationalsozialisten verwendete Begriffe oder Formulierungen hin (vgl. z.B.: ZA I, 67, 11.11.1933). Viele gesellschaftliche Ereignisse wie beispielsweise Kongresse, an denen Klemperer als Jude nicht teilnehmen darf (vgl. ZA I, 322-323, 24.11.1936), oder die Entwicklung des Vereinswesens (vgl. ZA I, 160, 30.10.1934) dienen dabei als praktische Beispiele. Schnell geht er dazu über, ganze Reden von Goebbels, Göring oder Hitler analytisch im Tagebuch zu untersuchen (vgl. z.B.: ZA I, 127-128, 23.[im Druck falsch angegeben als 29.]07.1934). Insbesondere Ausdrücke, die er in Zeitungsartikeln findet, werden regelmäßig vermerkt (vgl. z.B.: ZA I, 322, 24.11.1936; ZA II, 346, 23.03.1943). Dabei knüpft Klemperer zunehmend seine Sprachbeobachtungen an Ideen, die er für seine Arbeit an der französischen Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts entwickelt (vgl. z.B.: ZA I, 332-333, 18.01.1937). Mehrfach diskutiert er im Tagebuch unterschiedliche Konzepte für die Sprachstudie (vgl. z.B.: ZA I, 571, 31.01.1941; ZA I, 686, 11.11.1941; ZA II, 117 09.06.1942; siehe auch ZA II, 529, 3. Stelle, 13.06.1944; ZA II, 638, 14.01.1945). Die Auseinandersetzung mit der Idee einer Sprachanalyse verstärkt sich nach dem Abbruch der Arbeit am „Curriculum vitae“ im Februar 1942. Klemperer sieht nun außerhalb seines auf losen Blättern geführten und dadurch leichter zwischen Buchseiten vor der Gestapo zu versteckenden Diariums keine Möglichkeit mehr, wissenschaftlich oder autobiographisch zu schreiben. Deshalb zieht er sich vollkommen auf seine täglichen Aufzeichnungen zurück. Entsprechend wird sein Tagebuch zu einer Art Arbeitsbuch, in dem Notizen zur nationalsozialistischen Sprache ebenso Platz finden wie Alltagsbeobachtungen und private Reflexionen. Beispielsweise wertet er nahezu jede Lektüre – Zeitungsartikel, Radiosendungen, Zeitschriftenaufsätze, Prosa, historische Abhandlungen, Romane, Autobiographien etc. – anhand wissenschaftlicher Kriterien im Hinblick auf seine Untersuchungen zur Sprache des „Dritten Reichs“ aus.3
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dieser Zeit mit all seinen Alltagserlebnissen zu veröffentlichen, würde ich ihm dieses Signum zum Titel geben. Man könnte das metaphorisch nehmen. Denn ebenso wie es üblich ist, vom Gesicht einer Zeit, eines Landes zu reden, genauso wird der Ausdruck einer Epoche als ihre Sprache bezeichnet“ (LTI, 16). Klemperers Anspruch, die „Lingua tertii imperii“ (Sprache des „Dritten Reichs“) zu beschreiben, umfasst damit wesentlich mehr als nur sprachliche Bedingungen. Dadurch wird die stark autobiographisch geprägte Erzählweise des Buches legitimiert. Die Betonung der Perspektive des Philologen ist nur der Ausgangspunkt für einen weiterreichenden Ansatz. Insbesondere Bücher, die sich mit der jüdischen Kultur und der Etablierung des Judentums in Europa befassen, interessieren Klemperer. Die aus der Bearbeitung dieser Lektüre gewonnenen Erkenntnisse beabsichtigt er gezielt für seine LTI-Publikation zu verwenden (vgl. z.B.: ZA II, 134, 1. Stelle, 17.06.1942; ZA II, 287, 1. Stelle, 03.12.1942). Häufig nimmt er allgemeine Notizen zu Gelese-
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All diese Analysen finden direkt im Tagebuch statt und erhalten dadurch eine Anbindung an den Lebensverlauf Klemperers. Das Diarium als letzter Ort, an dem Schreiben möglich ist, wird auf diese Weise zum vorbereitenden Instrument für die spätere Ausarbeitung der Sprachstudie. Zum Zeitpunkt der Tagebuchaufzeichnungen kann Klemperer sich nicht sicher sein, ob er jemals die Möglichkeit erhalten wird, die „LTI“ zu schreiben. Die Aufzeichnungen entstehen über zwölf Jahre hinweg ohne direkte Aussicht auf eine Umsetzung. Durch diesen Umstand wird das Tagebuch nicht nur für das private Schreiben, sondern auch in Bezug auf das geistige Vermächtnis Klemperers zentral. Es ist nicht mehr nur ein privates Dokument seiner Lebensentwicklungen, sondern Ort und Ergebnis seiner wissenschaftlichen Arbeit. Das unterscheidet die Entstehung von „LTI. Notizbuch eines Philologen“ signifikant von seinen anderen wissenschaftlichen Buchprojekten. Sie werden zwar ebenfalls teilweise im Tagebuch entwickelt und während ihrer Genese stetig durch diaristische Kommentare begleitet. Sie basieren jedoch nicht vollständig auf in Tagebuchnotizen erarbeitetem Material. Einzig das „Curriculum vitae“ stützt sich ähnlich stark auf die Tagebuchnotate, wobei sich das aus der Grundausrichtung des Diariums auf die Beschreibung der eigenen Lebensgeschichte erklärt. „LTI“ dagegen ist nur deshalb so nah an das Tagebuch gekoppelt, weil Klemperer es nicht wagt, außerhalb dieses Textkorpus Aufzeichnungen zu machen. Er sieht sich gezwungen, seine gesamten Sprachbeobachtungen zwischen 1933 und 1945 ausschließlich in seinen privaten Eintragungen zu verfassen. Ab 1935 grenzt Klemperer dazu die Sprachnotizen im Diarium von den alltäglichen und zwischenmenschlichen Beobachtungen ab und kennzeichnet sie separat als Arbeitsnotizen. Bald führt er derartige sprachanalytische Aufzeichnungen unter dem Kürzel LTI (Lingua tertii imperii).4 Es etabliert sich zum Bedeutung gebenden Element seiner Forschungsarbeit und wird deshalb später in den Titel des Buches aufgenommen.5
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nem zum Anlass für ausführliche Reflexionen zur „LTI“ (vgl. z.B.: ZA II, 341, 1. Stelle, 06.03.1943). Der Begriff LTI entsteht im Verlauf der regelmäßigen Auseinandersetzung mit der Sprache des „Dritten Reichs“. 1935 heißt es zunächst „Sprache tertii imperii“ (ZA I, 175, 01.01.1935). Im April 1938 verwendet Klemperer erstmals die vollständige Formulierung „Lingua tertii imperii“ (ZA I, 404, 18.04.1938). Erst im Rahmen von „Zelle 89“ etabliert er den Begriff LTI als „schöne gelehrte Abkürzung“ (ZA I, 622, 23.06.-01.07.1941). Die Bezeichnung „LTI“ erhält durch diese Doppelung zwei Bedeutungen: Zum einen meint das Kürzel direkt die Sprache des „Dritten Reichs“, es fungiert demnach als Fachbegriff, den Klemperer sowohl innerhalb seines Tagebuchs als auch in der Buchpublikation verwendet, um den Sprachgebrauch der Nationalsozialisten zu kennzeichnen. Zum anderen meint „LTI“ das Werk „LTI. No-
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Erst nach dem Zusammenbruch des „Dritten Reichs“ bietet sich für Klemperer die Möglichkeit, die Idee zu der Sprachanalyse in einem Buchprojekt umzusetzen. Nachdem er seine in Pirna versteckten Tagebücher zurückerhält (vgl. SZS I, 38-39, 04.07.1945), wendet er sich dem Plan zu, seine zwischen 1933 und 1945 gemachten Aufzeichnungen spezifisch bezüglich seiner LTI-Beobachtungen auszuwerten.6 Dazu exzerpiert er systematisch sein Diarium, indem er es auf LTI-Äußerungen durcharbeitet und die jeweiligen Notate in ein Schreibmaschinenskript überträgt.7 Auf Basis des daraus resultierenden Exzerpts und anderer Notizblätter und Manuskripte, die er zur Auswertung der Tagebuchnotizen fertigt,8 schreibt Klemperer hernach die einzelnen Kapitel der „LTI“. Gelegentlich ergänzen auch aktu-
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tizbuch eines Philologen“. In dieser Bedeutung verwendet Klemperer den Begriff beispielsweise, wenn er über die Reaktionen auf das Buch berichtet. Demnach ist es jeweils situationsabhängig, was bei der Verwendung von „LTI“ gemeint ist. Um in dieser Arbeit einer unspezifischen Verwendung des Kürzels aus dem Weg zu gehen, wird festgelegt, dass die Buchpublikation grundsätzlich als „LTI“ bezeichnet wird. Im Zusammenhang mit der sprachanalytischen Bedeutung der Abkürzung werden keine Anführungsstriche verwendet. Bevor Klemperer sich für die Umsetzung der „LTI“ entscheidet, überlegt er eine Weile, ob er eines der während des „Dritten Reichs“ abgebrochenen Arbeitsprojekte wiederaufnehmen soll oder sich einer neuen Idee zuwenden soll (vgl. SZS I, 39, 04.07.1945 und die Ausführungen dazu in Kapitel VII.9). Erst Ende Juli 1945 beginnt er „eine Art ostensibler Vorrede zu meinem Tgb+LTI-Buch“ (SZS I, 57, 26.07.1945). Er erklärt sein Vorgehen im Tagebuch: „...nun will ich den Wust meines Tgb.’s mit der Schreibmaschine neben mir noch einmal durchgehen u. erst einmal alles excerpieren u. zusammenstellen, was zur LTI gehört. Möglich, wahrscheinlich sogar, daß sich dabei schon der u. jener Artikel halbwegs fertig herausbildet – so will ich gleich jetzt den Rousseau-Anfang des Artikels Fanatismus tippen –: aber es muß überall Raum zu Ergänzungen bleiben, u. von einer sofortigen Herstellung eines Druckmanuscriptes ist keine Rede“ (SZS I, 111-112, 20.09.1945). Das gefertigte Exzerpt ist zumindest teilweise im Nachlass Klemperers in der SLUB erhalten (Mscr. Dresd. App. 2003, 648, vgl. dazu FischerHupe 2001a, 43-48). Beispielsweise finden sich in der SLUB zehn Notizblätter unterschiedlicher Größe, auf denen handschriftlich diverse LTI-Inhalte aus dem Tagebuch stichpunktartig und datiert zusammengefasst sind. Diese Aufzeichnungen wirken wie Inhaltsverzeichnisse, mit deren Hilfe die Durchforstung des Diariums in Bezug auf einzelne Themen wie beispielsweise Lektüre (Mscr. Dresd. App. 2003, 1184, Blatt 2 bis Blatt 5, siehe auch Abb. 7 im Anhang) oder private Erlebnisse im „Dritten Reich“ (Mscr. Dresd. App. 2003, 1184, Blatt 6 und Blatt 7) erleichtert werden sollte. Auch in der Briefsammlung von Klemperers SLUB-Nachlass lassen sich inhaltsverzeichnisartige Notizen nachweisen (vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 458m).
VI. DIE S CHNITTSTELLE : LTI
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elle Beobachtungen die Tagebuchaufzeichnungen als Hauptquelle des Buches.9 Der Erzähler nutzt wissenschaftliche Methoden bei der Erarbeitung des Buchprojekts und bemüht sich um ein streng analytisches Vorgehen. Trotzdem prägt vor allem der autobiographische Aspekt der Tagebuchnotate den Charakter der Sprachanalyse, weil die ursprünglich rein zum privaten Gebrauch gefertigten Aufzeichnungen die zentrale Quelle des Textes sind. Die Notizen zur Sprache des „Dritten Reichs“ im Diarium weisen selten einen ausschließlich objektiven Charakter auf. Vielmehr sind sie häufig an subjektive Beobachtungen und emotionale Kommentare gekoppelt. Der Bezug zum Tagebuch als zentraler Quelle ist stets gegenwärtig und wird wiederholt konkret thematisiert.10 Die Erarbeitung der „LTI“ erweist sich deshalb als Suche nach „der Mittellinie zwischen Philologie u. (novellistisch ausgeschlachtetem) Tagebuch“ (SZS I, 183, 27.01.1946).
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Ebenso wie Klemperer in seinen diaristischen LTI-Notizen seine Lektüre für das Buchprojekt auswertet, geht er auch während der Erarbeitung des Textes vor. Er bezieht wissenschaftliche Publikationen, Zeitungsartikel, Radiosendungen, Kinofilme, Reden, Briefe und Romane an verschiedenen Stellen als Beleg oder Überleitung in die Argumentation ein. Sogar eigene wissenschaftliche Arbeiten wie die französische Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts werden erwähnt. So zitiert Klemperer in Bezug auf den Begriff „fanatisch“ eine Tagebucheintragung, in welcher auf das Manuskript des „18ième“ Bezug genommen wird (vgl. LTI, 62). – Auch das „Curriculum vitae“ erweist sich im Vergleich mit der Sprachuntersuchung als Quelle für die Darstellung bestimmter Ereignisse (vgl. z.B.: LTI, 45-46 mit CV I, 513-514; LTI, 179 mit CV I, 45 oder die Verwendung des Motivs der „Wechselbrause“ in CV I, 195mit LTI, 266-272). Schon in Kapitel „I“ der „LTI“ erklärt Klemperer die enge Koppelung an das Tagebuch, indem er es als „Balancierstange“ bezeichnet, ohne die er „hundertmal abgestürzt wäre“ (LTI, 15). Er konstatiert: „...diese Forderung an mich selber: beobachte, studiere, präge dir ein, was geschieht – morgen sieht es schon anders aus, morgen fühlst du es schon anders; halte fest, wie es eben jetzt sich kundgibt und wirkt. Und sehr bald verdichtete sich dann dieser Anruf, mich über die Situation zu stellen und die innere Freiheit zu bewahren, zu der immer wirksamen Geheimformel: LTI, LTI!“ (LTI, 15-16). – Immer wieder entstehen kurze Hinweise, die den Leser daran erinnern, dass Klemperer bei der Erarbeitung der „LTI“ seine Tagebücher auswertet (vgl. z.B.: LTI, 171; 175; 207; 220; 225, 276; 277). Dabei wird einerseits die Quellenfunktion der Aufzeichnungen betont (vgl. z.B.: LTI, 46), andererseits auch ihre Verwendung als solche inszeniert. Beispielsweise kommentiert der Erzähler der „LTI“ eine Aussage mit den Worten: „...heißt es in meinem Tagebuch, und wenn ich das jetzt druckfähiger ausdrückte, würde ich es nicht besser aussagen“ (LTI, 210). Auf ähnliche Weise wird Kritik an der mangelnden Ausführlichkeit verschiedener Tagebuchaufzeichnungen angebracht (vgl. z.B.: LTI, 258).
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Diese Kombination aus „Confession od. Tgb. u. Wissenschaft“ (SZS I, 244-245, 14.05.1946) ist nicht unproblematisch, weil Klemperer stetig riskiert, eine bestimmte Form des Erzählens zu ausführlich zu verfolgen und dabei zu weit vom zentralen Thema, der Sprachanalyse, abzuweichen.11 Allerdings hat er sich durch die Wahl des Untertitels eine Art Hintertür offen gelassen, die es ihm erlaubt, weitgehend uneingeschränkt den jeweils vorhandenen Stoff auf die Art zu verarbeiten, die ihm hilfreich erscheint: Er präsentiert seine Sprachanalyse als „Notizbuch eines Philologen“. Trotz der Betonung des wissenschaftlichen Anspruchs, durch den Verweis auf seine Funktion als Philologe, deutet er damit die grundsätzlich fragmentarische Struktur seiner Darstellung an. Statt ausgearbeiteter sprachwissenschaftlicher Analysen, die auf ausführlich recherchierten Fakten basieren, bietet er „Notizen“ an, die eher bruchstückhaft Eindrücke und Beobachtungen vermitteln. Diese Vorgehensweise wird mit der Erklärung begründet, das über zwölf Jahre im Tagebuch gesammelte Material lasse sich nur sehr schwer in ein „geschlossene[s] wissenschaftliche[s] Werk[]“ überführen: „Dazu würde mehr Wissen und wohl auch mehr Lebenszeit gehören, als mir, als (vorderhand) irgendeinem einzelnen zur Verfügung stehen“ (LTI, 19). Nicht nur Klemperer selbst, sondern „irgendeinem einzelnen“ kann eine rein wissenschaftliche Analyse der „LTI“ nicht gelingen. Niemand verfügt in absehbarer Zeit über die dazu nötigen Ressourcen. Dies legitimiert zusätzlich die autobiographisch geprägte Struktur des Textes: Denn den Zugriff auf seine während des „Dritten Reichs“ entstandenen privaten Beobachtungen hat Klemperer durch seine Tagebuchaufzeichnungen gesichert. Das zur Veröffentlichung bestimmte Resultat dieser Materialsammlung ist folglich kein einheitlicher Text, sondern eine von verschiedenen Textsorten getragene Arbeit. „LTI“ ist weder rein wissenschaftliche Sprachanalyse, noch allein autobiographische Beschreibung. Vielmehr geht Klemperer in jedem Kapitel auf andere Art mit dem Stoff um, der auf dem Tagebuch basiert und den er nun mit wissenschaftlichem Anspruch seinen Lesern präsentiert. Dabei wendet er auch Instrumente an, die er sich während seiner schriftstellerischen bzw. journalistischen Tätigkeit erarbeitet hat. Beispielsweise betont er gezielt die Trennung von Vergangenheit und Gegenwart: Ein Großteil der Darstellungen in der „LTI“ behandeln länger zurückliegende Ereignisse. Entsprechend überwiegt die Verwendung des Präteritums. Immer wieder durchbricht Klemperer diese Erzählstruktur jedoch durch kurze, im Präsens gehaltene Erklärungen. In eingefügten Kommentaren (vgl. z.B.: LTI, 253-254), Rechtfertigungen über das Ansprechen bestimmter Themen (vgl. z.B.: LTI, 177) oder analytischen Ergänzungen
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Das führt zum wiederholten Hinterfragen der Textgestaltung; beispielsweise überlegt Klemperer: „Aber ich komme zu tief in mein Tagebuch von 1942 und zu weitab vom Notizbuch des Philologen. / Nein, doch nicht; das gehört zum Thema...“ (LTI, 218).
VI. DIE S CHNITTSTELLE : LTI
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(vgl. z.B.: LTI, 286) zu früheren Beobachtungen reflektiert er seinen gegenwärtigen Standpunkt, der vielfach von früheren Ansichten abweicht. Mit Hilfe scheinbar nebensächlicher Randbemerkungen thematisiert er dies wiederholt und fordert den Leser auf, an den dargestellten Denkprozessen aktiv teilzunehmen, sie sogar weiterzuführen.12 Damit signalisiert Klemperer einen Lernprozess – die Erfahrungen der Jahre 1933-1945 haben zu einer Erweiterung bzw. Modifikation seiner Meinungen geführt. Diesen Sachverhalt nimmt er nicht als selbstverständlich hin, sondern spiegelt ihn in den scheinbar beiläufigen Randkommentaren, welche die „LTI“ durchziehen. Damit adaptiert Klemperer Techniken, die er auch in seinen journalistischen Arbeiten und in der Autobiographie verwendet. An anderen Stellen stützt er sich auf Methoden, die vor allem in seinen schriftstellerischen Werken Anwendung finden. Einzelne Kapitel der „LTI“ erhalten dadurch eine literarische Struktur.13 Ein Beispiel dafür ist die Darstellung in Kapitel „VI“ „Die ersten drei Wörter nazistisch“ (LTI, 47-51). Darin vermittelt Klemperer anhand einiger Episoden aus seinem persönlichen Leben den Erkenntnisprozess, der ihn auf die Existenz spezifisch „nazistischer“ Wörter aufmerksam machte. Über die Darstellung seiner besonderen Beziehung zu „T.“14 führt er den ersten Begriff ein: Dieser junge Mann, den Klemperer während der Weimarer Republik als väterlicher Mentor begleitete, wandte sich mit Beginn des „Dritten Reichs“ radikal der nationalsozialistischen Ideologie zu. Als er die Klemperers telefonisch zu ei-
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Bereits in dem Vorwort-Ersatz „Heroismus“ durchbricht Klemperer beispielsweise die lineare Argumentationsstruktur, indem er unter dem Hinweis, im Nationalsozialismus sei Sport, insbesondere Autorennen, instrumentalisiert worden, einen Kommentar in Klammern einfügt: „(Anmerkung für meine Hochschulkollegen: über wechselseitige Beziehungen zwischen Goebbels’ Stil und dem Erinnerungsbuch der Fliegerin Elly Beinhorn: ‚Mein Mann, der Rennfahrerʻ lassen sich die interessantesten Seminaruntersuchungen anstellen.)“ (LTI, 10). Diese Randbemerkung vermittelt Klemperers grundsätzliches Vorgehen in der „LTI“: Er koppelt unterschiedliche Gedanken und Themen scheinbar übergangslos und folgt damit der angekündigten Struktur eines Notizbuches. Klemperer kokettiert ebenso wie im Tagebuch und der Autobiographie mit der Problematik, manche Erlebnisse scheinbar literarisch zu verfremden, obwohl sie sich „tatsächlich“ romanhaft ereignet haben: „Das Leben erlaubt sich Kombinationen, die sich kein Romancier erlauben darf, weil sie im Roman zu romanhaft wirken würden“ (LTI, 175; vgl. z.B.: LS I, 450, 24.05.1921 oder CV II, 507). Anhand des Tagebuchs lässt sich rekonstruieren, dass es sich bei „T.“ um Johannes Thieme handelt, einen jungen Mann, der als Untermieter der Klemperers lange Zeit eine familienähnliche Beziehung zu dem Ehepaar unterhielt (vgl. LS I, 317, 04.07.1920; LS I, 396, 27.12.1920).
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nem Abendessen einlädt, erzählt er von einer „Strafexpedition“ gegen Kommunisten (LTI, 48). In der „LTI“ wird dies mit dem Satz kommentiert: „Strafexpedition ist das erste Wort, das ich als spezifisch nazistisch empfand, ist das allererste meiner LTI, und ist das allerletzte, das ich von T. gehört habe; ich hing den Hörer hin, ohne die Einladung nur erst abzulehnen“ (LTI, 49).
Klemperer offenbart nicht nur seine tiefe Enttäuschung über „T.“. Vielmehr signalisiert die Art, wie er den Abbruch seiner Freundschaft mit dem jungen Mann ausdrückt, einen hohen Grad an Inszenierung. Das erste LTI-Wort, das ihm auffällt, ist gleichzeitig das letzte Wort, welches er von dem „verlorenen Sohn“ hört. Der Anfang einer langjährigen und intensiven analytischen Auseinandersetzung mit der Sprache des „Dritten Reichs“ korreliert dadurch mit dem schmerzhaften Ende einer engen Beziehung. Gleichzeitig wird dem Begriff „Strafexpedition“ eine Art Türöffnerfunktion zugewiesen, welche den Blick auf die Existenz einer LTI frei macht. Durch diese dreifache Bedeutungszuweisung für das Wort gelingt es Klemperer, die autobiographischen Elemente, auf denen sein Text basiert, mit einer streng wissenschaftlichen Beobachtung zu verbinden. Die beschriebene Szene mit „T.“ führt die beiden scheinbar nicht vereinbaren Ebenen der Beschreibung zusammen. Anhand eines Vergleichs mit den im originalen Tagebuch über „T.“ vermerkten Aussagen wird erkennbar, dass die in der „LTI“ dargestellte Szene ein Zusammenschnitt verschiedener Notate ist. Zudem entspricht sie sachlich nicht vollständig den tatsächlichen Ereignissen (vgl. ZA I, 10-12, 17.03.1933; ZA I, 27, 15.05.1933). In dem zur Publikation bestimmten Text spielt der Wahrheitsgehalt der Szene jedoch eine untergeordnete Rolle. Vielmehr erreicht der Erzähler mit Hilfe der dreifachen literarischen Überhöhung der Bedeutung des Begriffes „Strafexpedition“ ein spezifisches Ziel: Er schließt wissenschaftliche und autobiographische Elemente in einer spannungsreichen Geschichte zusammen. In jedem Kapitel der „LTI“ verwendet Klemperer andere Formen des Erzählens.15 Manche Abschnitte wirken wie eigenständige Studien ohne direk-
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Ein Beispiel für ein völlig anderes Vorgehen als in Kapitel „VI“ ist Kapitel „XVI“ „An einem einzigen Arbeitstag“ (LTI, 101-104). Darin durchlebt Klemperer gemeinsam mit seinem Leser einen Tag in der Papierfabrik Thiemig & Möbius, in der er als Zwangsarbeiter verpflichtet war. Er begegnet im Tagesverlauf verschiedenen jüdischen und „arischen“ Kollegen, die LTI-Formulierungen verwenden. Analytisch problematisiert er jeweils kurz die Bedeutung der Beobachtungen. Ein Abgleich mit dem Tagebuch zeigt, dass Klemperer die erwähnten Gespräche zwar tatsächlich führte, jedoch über mehrere Monate verteilt (vgl. ZA II, 542, 05.12.1943; ZA II, 481, 29.01.1944; ZA II, 505, 3. Stelle, nicht gedruckter Eintrag vom 25.04.1944; ZA II, 511, 03.05.1944). Die Ver-
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ten Bezug zu den anderen Textteilen.16 Abhängig vom Thema nutzt Klemperer zudem unterschiedliche Textformen, um jeweils wirkungsvoll einen Gedanken vermitteln zu können. Auf diese Weise verbindet er rein wissenschaftliche Abhandlungen mit essayartigen Ausführungen (vgl. z.B.: Kapitel „IX“ in LTI, 62-67), und autobiographische Episoden konterkarieren journalistische Kommentare (vgl. z.B.: Kapitel „XVI“ in LTI, 101-104). Einige Kapitel basieren sogar teilweise oder vollständig auf scheinbar direkt aus dem originalen Diarium kopierten Einträgen. So gibt Kapitel „V“ unter dem Titel „Aus dem Tagebuch des ersten Jahres“ einzelne Notate zwischen dem 21. März und dem 14. November 1933 wieder (LTI, 35-46). In einer kurzen Einleitung begründet Klemperer den Rückgriff auf das Diarium damit, anhand der Tagebuchnotizen aufzeigen zu können, wie nach dem Beginn des „Dritten Reichs“ zunehmend die politischen Beobachtungen in seinen privaten Aufzeichnungen Raum einnehmen (vgl. LTI, 35). Statt diesen Prozess der Bewusstwerdung des Vorhandenseins einer LTI direkt zu beschreiben, verbildlichen die Tagebucheinträge diesen Vorgang. Das scheinbare Zitieren originaler Aussagen aus dem Diarium erweckt den Eindruck einer authentischen Erzählung.17 Ein Vergleich zwischen den ursprünglichen Tagebuchnotaten und den in der „LTI“ eingearbeiteten zeigt enorme Unterschiede in der inhaltlichen Abfolge der Ereignisse und dem stilistischen Aufbau der einzelnen Eintragungen. Zwar werden dieselben Sachverhalte dargestellt, jedoch fügt Klemperer Erläuterungen zu Personen oder Begriffen hinzu, um dem Leser die behandelten Themen verständlicher zu machen. Die überarbeiteten Tagebuchaufzeichnungen dienen der Vermittlung gezielt ausgewählter Informationen. Deshalb werden sie für die Publikation formal und inhaltlich modifiziert.18 Diese rückwirkende Bearbeitung des ursprünglichen Tagebuchmaterials basiert auf den Erfahrungen, die der Erzähler nach dem Aufschreiben der jeweiligen originalen Eintragungen gemacht hat, und den Entscheidungen, die er aktuell während der Fertigung der „LTI“ – also vornehmlich im Jahr 1946 – unter Einfluss seiner gegenwärtigen Lebensumstände trifft. In Kapiteln, in denen die scheinbar unveränderten Tagebuchnotate zitiert werden,
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dichtung des Ereignisrahmens auf einen Tag dramatisiert das Beschriebene und signalisiert die Allgegenwärtigkeit der LTI. Nur vereinzelte Hinweise auf die spätere Bearbeitung eines kurz angesprochenen Themas koppeln die Texte aneinander (vgl. z.B.: LTI, 176). Das Prinzip, das Diarium für sich selbst sprechen zu lassen, verwendet Klemperer auch in seiner Autobiographie. Dort vermittelt er den Beginn des Ersten Weltkriegs über Tagebucheintragungen (vgl. CV II, 174ff. und Kapitel V.3). Einen interessanten Vergleich zwischen Klemperers originalem Tagebuch und den entsprechenden „LTI“-Kapiteln entwickelt Kristine Fischer-Hupe (2001a, 48-53). Sie analysiert sehr detailgenau wie die ursprünglichen Aufzeichnungen modifiziert wurden.
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lässt sich dies nur im direkten Vergleich mit der diaristischen Textvorlage erkennen. In weniger tagebuchnahen Abschnitten thematisiert Klemperer diese Einflussnahme teilweise auch direkt. Dies hilft ihm, zu reflektieren, dass bestimmte Sprachbeobachtungen, die er während des „Dritten Reichs“ gemacht hat, nach dessen Zusammenbruch im Alltagsgebrauch der Menschen fortbestehen.19 Sogar an sich selbst muss er das Phänomen der Übernahme von LTI-Begriffen konstatieren.20 Während der Diarist diese Problematik im privaten Rahmen des Tagebuchs wiederholt näher betrachtet und kritisiert, indem er weiterverwendete LTI-Begriffe vermerkt und außerdem das zunehmende Aufkommen einer Sprache des „Vierten Reichs“ verzeichnet,21 bleibt in der Publikation eine konkretere und tiefer gehende Reflexion über die fortbestehende Allgegenwart der Sprache des „Dritten Reichs“ bzw. die Entwicklung einer „LQI“ aus. Trotz des betonten sprachwissenschaftlichen Anspruchs, mit dem Klemperer die „LTI“ präsentiert, und der Erklärung, „erzieherisch“ wirken zu wollen (LTI, 20), enthält er sich weitgehend einer näheren Auseinandersetzung mit der Problematik einer Weiternutzung bzw. Weiterentwicklung fragwürdiger Sprachverwendung. Stattdessen zieht er sich auf den Status des subjektiven Erzählers zurück, der sich nicht zwingend an bestimmte Modi der Sprachkritik halten muss. Die Position des Sprachwissenschaftlers, der systematisch analytisch vorgeht, wird nur dann eingenommen, wenn sie zur Diskussion eines bestimmten Sachverhalts hilfreich ist. Sie findet aber nicht auf alle in der „LTI“ dargestellten Zusammenhänge Anwendung. Vielfach greift Klemperer auf eine rein emotional begründete Ar-
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Beispielsweise erklärt Klemperer am Ende des Kapitels „VII“ „Aufziehen“: „Diese Notiz arbeitete ich im Januar 1946 aus“ (LTI, 54), wodurch er zunächst die Entstehungsumstände des Textes definiert. Hernach folgt die Beschreibung eines Erlebnisses, das der Erzähler am „Tage nach der Fertigstellung“ (LTI, 54) hatte. Es ist der Beleg dafür, dass der Begriff „aufziehen“ nach wie vor verwendet wird. Am Ende von Kapitel „XVII“ „System und Organisation“ notiert er dazu ironisch: „Ich schreibe nun schon eine ganze Weile: es war ... es war. Aber wer hat denn gestern erst gesagt: ‚Ich muß mir ein bißchen Tabak organisieren?ʻ Ich fürchte, das bin ich selber gewesen“ (LTI, 110). Schon Ende Juni 1945 erklärt Klemperer im Tagebuch: „Ich muss allmählich anfangen, systematisch auf die Sprache des vierten Reiches zu achten. Sie scheint mir manchmal weniger von der des dritten unterschieden als etwa das Dresdener Sächsische vom Leipziger“ (SZS I, 26, 25.06.1945). Deshalb begleitet er seine Arbeit an der „LTI“ nicht nur durch regelmäßige Vermerke über den gegenwärtigen Arbeitsstand (vgl. z.B.: SZS I, 58-59, 30.07.1945; SZS I, 256, 17.06.1946) und diverse konzeptionelle Überlegungen (vgl. z.B.: SZS I, 133-134, 26.10.1945; SZS I, 168, 26.12.1945), sondern auch mit Notizen zur „LQI“ (vgl. z.B.: SZS I, 649, 2. Stelle, nicht gedruckter Eintrag vom 27.05.1949).
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gumentationsstruktur zurück und schaltet damit die Möglichkeit einer sachlichen Kritik aus. Insbesondere anhand der Darstellung der Repressionen gegen die Juden im „Dritten Reich“ wird dies deutlich. Klemperer argumentiert hierbei nicht nur als Zeitzeuge, sondern vor allem auch als Opfer der Nationalsozialisten.22 Er befindet sich damit – zusätzlich zu seinem Anspruch, (zumindest selektiv) als Sprachwissenschaftler zu agieren – in einer problematischen Doppelrolle. Denn er berichtet auf diese Weise nicht nur subjektiv von seinen Beobachtungen, sondern er hat Todesangst, Unterdrückung, Hunger und Demütigung am eigenen Leib erlebt. Seinem Text ist damit ohne direktes Forcieren der Anspruch auf das Monopol der wahren Aussage eingeschrieben. Wie könnte ein Leser der „LTI“ den Feststellungen des Autors widersprechen? Dadurch wird der Text unangreifbar.23 Allerdings weicht Klemperer dieser Problematik aus, indem er schon im Motto des Buches – einem Zitat vom deutsch-jüdischen Philosophen Franz Rosenzweig: „Sprache ist mehr als Blut“ (LTI, 6) – signalisiert, dass er sich weniger mit rassischen als mit sprachlichen Zuordnungen beschäftigen wolle. Die weitgehend einseitige, fast durchweg positive und wenige hinterfragende Kritik zu „LTI“ zeigt, dass dieser Mechanismus wirkt. Ohne dass Klemperer es aktiv einfordert, stehen weder die Inhalte noch die dahinter liegenden Ansichten seines Textes zur Diskussion. Das führt dazu, dass in
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Dies artikuliert sich beispielsweise in Randbemerkungen wie: „([...] – ach lieber Himmel, wieviel haben wir darüber philosophiert! Und wie entsetzlich wenige von denen, die dies Wir umschließt, sind noch am Leben!)“ (LTI, 226). Klemperer bezieht sich damit in eine Gemeinschaft ein, welche stetig vom Tod bedroht war. Er gibt als Erzähler der „LTI“ den Verstorbenen nun eine Stimme. Klemperer thematisiert die Auswirkungen seiner Opferrolle auf seine Zeugenschaft selbst in der „LTI“. Im Nachwort „Wejen Ausdrücken“ stellt er zwei Meinungen von jüdischen Bekannten zu seiner Aufgabe als Zeitzeuge des „Dritten Reichs“ nebeneinander. Einerseits nennt er seine Mitbewohnerin „Käthchen Sara [Voß]“, welche ihn ermahnt, er habe eine Aufgabe als Chronist zu erfüllen (LTI, 300). Andererseits erzählt er von seinem Bekannten Stühler, der sein Tagebuchschreiben als unnötig betrachtet (LTI, 300-301; vgl. ZA II, 503, 08.04.1944 und die Ausführungen dazu in Kapitel VII.8). Er wägt beide Positionen gegeneinander ab und zweifelt, welche „richtig“ sei. Die konkrete Frage bleibt unbeantwortet. Stattdessen weicht Klemperer auf eine andere Beobachtung aus: Mit dem Beispiel einer Frau, die „[w]ejen Ausdrücken“ von den Nationalsozialisten inhaftiert wurde, löst er den Konflikt und rechtfertigt die entstandene „LTI“ mit den Worten: „Wejen Ausdrücken. Deswegen und daherum würde ich meine Arbeit am Tagebuch aufnehmen. Die Balancierstange wollte ich aus der Masse des übrigen herauslösen und nur eben die Hände mitskizzieren, die sie hielten. So ist dieses Buch zustande gekommen, aus Eitelkeit weniger, hoffe ich, als wejen Ausdrücken“ (LTI, 301).
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der Auseinandersetzung mit der „LTI“ viele Fragen ausgeblendet werden. So fehlt beispielsweise nahezu jede Reflexion dazu, warum Klemperer eine diffuse Vorstellung vom „Deutschtum“ vertritt, warum er die Frage nach der Schuld der Deutschen fast ausschließlich auf politisch und „geistig“ führende Kräfte überträgt oder warum er sich selbst immer wieder jener Begriffe bedient, die er als LTI verurteilt (vgl. dazu auch Kapitel III.4). Irritierend ist beispielsweise der einleitende Essay „Heroismus“ mit dem Untertitel „Statt eines Vorworts“ (vgl. LTI, 7-14). In diesem Text endet die Kritik an der nationalsozialistischen Vorstellung des Heldentums nicht etwa in einer Ablehnung der weiteren Verwendung des Begriffs „Heroismus“. Vielmehr leitet Klemperer dessen ursprüngliche Konnotation neu her und beansprucht ihn für die Taten der von den Nationalsozialisten Unterdrückten. Damit jedoch erfüllt seine Sprachkritik nicht die Funktion einer Aufarbeitung und Ablösung von in der Diktatur verwendeten Formulierungen, sondern befördert lediglich eine Umwandlung der jeweiligen Begriffsbedeutung. Klemperer präsentiert sich so als berechtigt, neue Bedeutungen zuzuweisen. Die Legitimation hierfür erklärt sich weniger aus seiner philologischen Reputation als aus seinen Erfahrungen als Unterdrückter im „Dritten Reich“. Allerdings liegt die Stärke von Klemperers „LTI“ – wie in Kapitel III.4 ausgeführt wird – nicht in einer stellvertretend für die gesamte Situation der Juden im „Dritten Reich“ wirksamen Zeugenschaft, sondern in der ausschließlich auf die persönliche Existenz konzentrierten Darstellung. Es ist ungerechtfertigt, die „LTI“ als Zeugnis für das Schicksal von Millionen getöteter Juden zu vereinnahmen. Vielmehr ist sie ein Beleg für Klemperers Fixierung auf die eigene Person, die auf ihn Einfluss nehmende Umwelt und die Hoffnung, durch das Schreiben das langfristige „Bleiben“ zu ermöglichen. Er erschafft das „Notizbuch eines Philologen“ nicht nur, um seine sprachwissenschaftlichen Beobachtung einer Öffentlichkeit zugänglich zu machen, sondern – wie all seine anderen Werke – zur Absicherung seiner persönlichen „Verewigung“. Durch die Möglichkeit, die eigene Lebensgeschichte zur Grundlage eines Textes zu machen, der zunächst berufliche Absichten verfolgt, entsteht ein Konzept, das seine lebenslange Sehnsucht nach der schriftlichen Speicherung seiner Identität für die Nachwelt auf neue Weise erfüllt. Denn damit gelingt ihm die offene Verknüpfung seines wissenschaftlichen Anspruchs mit seinen privaten Beobachtungen und Meinungen. Zu dieser Strategie gehört es auch, Menschen ein Denkmal zu setzen, die direkt auf Klemperers persönlichen Lebensweg Einfluss nehmen. Insofern wird die „LTI“ nicht nur zu einem Dokument seiner persönlichen Existenz, sondern auch jener Freunde und Bekannten, die gemeinsam mit ihm in den „Judenhäusern“ Dresdens den Repressionen im „Dritten Reich“ ausgesetzt waren. Ein Beispiel ist das Porträt einer ehemaligen Assistentin eines frühe-
VI. DIE S CHNITTSTELLE : LTI
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ren Universitätskollegen, Elsa Hirschel,24 mit der Klemperer sich insbesondere durch den Austausch über literarische Themen verbunden fühlt (vgl. LTI, 202-204). Als diese Frau gemeinsam mit ihrem Mann, dem Vorsteher der jüdischen Gemeinde, und ihren Söhnen nach Theresienstadt deportiert werden soll, vermerkt er im Tagebuch: „Ich habe ihr [durch Eva Klemperer] sagen lassen – denn ich weiß, was ihr wohltut –, ich sei ihr für viele Anregungen Dank schuldig, und wenn ich noch einmal zum Publizieren käme, würde ihr Name in meinem Opus eine Rolle spielen“ (ZA II, 393, 12.06.1943).
Klemperer schreibt diese Notiz unter dem Eindruck, dass er Elsa Hirschel mit großer Wahrscheinlichkeit nie wiedersehen wird.25 Mit der Botschaft, ihrem „Name[n] in meinem Opus eine Rolle spielen“ zu lassen, versucht er ihr Trost zu spenden: Im Falle ihres Todes will er absichern, dass sie und ihre Familie nicht ohne Spuren verschwinden. Darin spiegelt sich die feste Überzeugung, durch die Veröffentlichung der „LTI“ ein imaginäres Überleben sichern zu können. In der „LTI“, dem ersten Buch, das er nach 1945 schreibt, erfüllt Klemperer sein Versprechen. Im Kapitel „XXVIII“ „Die
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Klemperer wählt in seinem „LTI“-Porträt zwar Elsa Hirschels Mädchennamen, Glauber, doch er verfremdet ihre Identität damit nicht. Menschen aus seinem direkten Umfeld konnten leicht erkennen, wen er beschreibt. Ebenso lässt sich mit Hilfe seines Tagebuchs feststellen, um wen es sich handelt. – Die Verwendung vollständiger Namen ist in der „LTI“ selten. Häufig arbeitet Klemperer mit Kürzeln oder erfindet neue Namen. Dies zeigt sich im Vergleich mit dem Tagebuch. Die Chiffrierung einzelner Identitäten wird allerdings häufig nicht durchgehalten. Beispielsweise taucht in Kapitel „VII“ ein „F.“ auf (LTI, 5354). Nochmals wird der Mann unter seinem vollen Namen „Feder“ in Kapitel „X“ (LTI, 71) erwähnt. Anhand der optischen Merkmale, die an beiden Stellen formuliert werden, kann der aufmerksame Leser erkennen, dass es sich um dieselbe Person handelt. Diesen Widerspruch löst Klemperer nicht auf. Die fehlende Einheitlichkeit in der Bezeichnung des Mannes ist in diesem Fall nicht einer spezifischen Instrumentalisierung des Namens zu verdanken. Vielmehr muss diese Inkonsistenz der Ungenauigkeit bzw. dem notizbuchhaften Charakter der „LTI“ zugeschrieben werden. Er ahnt zu diesem Zeitpunkt bereits, dass Deportation mit Tod gleichzusetzen ist. Nach dem Kriegsende erfährt er über den Verbleib der Familie Hirschel nur, sie sei „von Theresienstadt fortgebracht worden“ (LTI, 204). Der Herausgeber der Tagebücher, Walter Nowojski, hat recherchiert, dass Kurt und Elsa Hirschel gemeinsam mit ihren beiden Söhnen Alfred und Wolfgang im Oktober 1944 nach Auschwitz gebracht und dort vermutlich sofort vergast wurden (vgl. die Anmerkung in ZA II, 847).
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Sprache des Siegers“ (LTI 202-212) porträtiert er Elsa Hirschel ausführlich anhand der Aufzeichnungen, die er im Tagebuch über sie gemacht hatte.26 Zum Abschluss dieser Charakterisierung formuliert er, eine „Anklage“ zur ihrer Ermordung (LTI, 204). Sie ist ein individuelles Opfer des Holocaust, deren Persönlichkeit er in der „LTI“ erfassen kann. Zwar ist es ihm unmöglich, auch nur ansatzweise das Grauen zu artikulieren, das sie und ihre Familie erleben mussten, jedoch kann er in ihr eine Stellvertreterin für die Millionen Juden ansprechen, die das „Dritten Reich“ nicht überlebt haben. Er hebt damit ein Individuum aus der Masse der gesichtslosen Opfer heraus. Eine weiterführende Auseinandersetzung mit dem Holocaust umgeht Klemperer allerdings, indem er von Elsa Hirschel direkt zum nächsten Porträt eines ihm persönlich bekannten Mannes überleitet. Damit weicht er einer konkreten Diskussion der massenhaften Vernichtung von Menschen im Namen obskurer rassistischer Ideale aus und lässt die Chance verstreichen, sich kritisch mit der Schuldfrage der Deutschen zu beschäftigen. Stattdessen betont er, nur das beschreiben zu wollen, was ihn persönlich betreffe. Damit schafft und akzeptiert Klemperer eine Leerstelle, die bisher kaum kritisiert wurde. Stattdessen sorgt die bis in die Gegenwart vielfach euphorische Rezeption der „LTI“ dafür, das Ausmaß der nationalsozialistischen Menschenverachtung auszublenden. Ermöglicht wird dieses problematische Vorgehen durch den doppelten Anspruch, einerseits anhand der Sprache des „Dritten Reichs“ die Ausprägungen des Nationalsozialismus zu charakterisieren und andererseits anhand autobiographischer Erlebnisse die katastrophalen Auswirkungen von Rassismus, Antisemitismus und übersteigertem Nationalismus zu verdeutlichen. Die bewusst inszenierte Zusammenführung des Tagebuchs mit dem sprachwissenschaftlichen Impetus verschleiert die eingeschränkte Aussagekraft der „LTI“. Aus dieser Perspektive erweist sich die Verknüpfung des beruflichen Schreibens mit dem lebensgeschichtlichen als problematisch.
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Der Vergleich mit dem Tagebuch zeigt, dass die Darstellung der Freundin eng an den ursprünglichen Tagebuchnotizen orientiert sind. Nachdem Klemperer ihre Bibliothek beschreibt (LTI, 202-203; vgl. ZA II, 135, 19.06.1942), gibt er in wörtlicher Rede eine Diskussion mit ihr wieder, in welcher sie unbedacht die Vokabel „fanatisch“ verwendet hatte (LTI, 203-204; vgl. ZA II, 209, 17.08.1942). Beide Gegenstände der Darstellung basieren inhaltlich auf dem Tagebuch. Trotzdem zeigt ein direkter Vergleich mit der „LTI“, dass der Autor die Tagebuchnotizen erweitert und ausarbeitet. Insbesondere die Aufzeichnung des Streitgesprächs beschränkt sich im Diarium auf wenige Zeilen. Im Gegensatz dazu umfasst die entsprechende Textstelle im „Notizbuch eines Philologen“ zwei Seiten. Dies zeigt Klemperers Bemühen, aussagekräftige Notizen aus dem Tagebuch ausführlich in dem zur Publikation bestimmten Buch umzusetzen.
VII.
Schreiben als Lebensaufgabe – Victor Klemperers Tagebücher
„Während ich diesen Satz schreibe, vergeht Zeit; gleichzeitig entsteht – und vergeht – ein winziges Stück meines Lebens. So setzt sich Leben aus unzähligen solcher mikroskopischen Zeit-Stücke zusammen? Merkwürdig aber, daß man es nicht ertappen kann. Es entwischt dem beobachtenden Auge, auch der fleißig notierenden Hand und hat sich am Ende – auch am Ende eines Lebensabschnitts – hinter unserem Rücken nach unserem geheimen Bedürfnis zusammengefügt: gehaltvoller, bedeutender, spannungsreicher, sinnvoller, geschichtenträchtiger. Es gibt zu erkennen, daß es mehr ist als die Summe der Augenblicke. Mehr auch als die Summe aller Tage. Irgendwann, unbemerkt von uns, verwandeln diese Alltage sich in gelebte Zeit. In Schicksal, im besten oder schlimmsten Fall. Jedenfalls in einen Lebenslauf“ (Wolf 2005, 5).
VII.1
V ORBEMERKUNGEN
Die bisherigen Untersuchungen zu Klemperers journalistischen, schriftstellerischen und wissenschaftlichen Arbeiten ebenso wie jene zu den Briefen, der Autobiographie „Curriculum vitae“ und der Sprachanalyse „LTI. Notizbuch eines Philologen“ zeigen, dass all diese Schreibformen nicht einzeln stehen. Erst in der Zusammenführung mit dem Tagebuch wird ihre Bedeutung für ihren Autor in vollem Umfang sichtbar. Denn neben ihrer an eine Öffentlichkeit gerichteten Informations- bzw. Unterhaltungsfunktion erfas-
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sen sie Bruchstücke aus dem Leben des Schreibenden. Auf diese Weise sind sie Teil eines autobiographischen Gesamtwerks. Im Tagebuch betont Klemperer diese zweite, lebensdokumentierende Funktion der zur Veröffentlichung bestimmten Texte stetig, indem er in einzelnen Einträgen die jeweiligen Arbeitsprozesse kommentiert. Diese Hinweise im Diarium auf den autobiographischen Aspekt der publizierten Arbeiten sind jedoch nur ein Nebenergebnis der Tagebuchaufzeichnungen. Zentral für die täglichen Notate ist die konkrete Absicht, das eigene Leben zu beschreiben. Über einen Zeitraum von fast 61 Jahren folgt Klemperer seinem Bedürfnis, zu verzeichnen, was er erlebt und beobachtet, was ihn beschäftigt und was er denkt. Der Wunsch, die eigene Existenz zu bewahren, ist demnach grundlegendes Motiv des lebenslangen Tagebuchprojekts. Klemperer ist in seinem Leben großen äußeren und inneren Veränderungen ausgesetzt. Die direkte Einwirkung derartiger Einflüsse lässt sich über Jahrzehnte sowohl inhaltlich als auch stilistisch in seinem Tagebuch ablesen. Doch nicht nur die besprochenen Themen und das Schreiben verändern sich dadurch immer wieder: Klemperer reflektiert diesen Prozess stetig neu. An diesem Punkt setzt die vorliegende Untersuchung an. Es geht um eine Analyse der Diarien in Bezug auf Klemperers Auseinandersetzung mit dem Tagebuchschreiben und dem Schreiben allgemein. Ziel ist, eine Gesamtstruktur freizulegen. Dazu wird der Text als lebenslanges Schreibprojekt untersucht. Die Entwicklung des Tagebuchschreibens über 61 Jahre hinweg, die Grundstruktur und die Systematisierung der Aufzeichnungen und die Thematisierung des Tagebuchs selbst stehen im Zentrum der Interpretation. Entsprechend ist es nötig, die gesamten Aufzeichnungen Klemperers zu untersuchen. Die veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen, die vom 20. November 1918 bis zum 29. Oktober 1959 datieren, geben nur einen Teil des Originaltexts wieder. Das in der SLUB aufbewahrte Material umfasst weitaus mehr als es die gedruckten Tagebücher kenntlich machen können. Schätzungsweise zwei Drittel des originalen Manuskripts wurden in der Druckversion gekürzt. Nach Angaben des Herausgebers Walter Nowojski handelt es sich dabei weitgehend um inhaltliche Wiederholungen und Kinobzw. Lektürenotate.1 Doch auch diese scheinbar überflüssigen Textteile geben Aufschluss über die Gesamtstruktur der Tagebücher.2 Deshalb wird in diese Analyse der komplette Text einbezogen.
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Walter Nowojski gibt in einem Interview an: „Klemperer hat in seinen Tagebüchern viel über Filme und Bücher notiert, die er zur Entspannung konsumierte, keine Analysen, sondern oftmals reine Inhaltsangaben. Darauf habe ich verzichtet“ (Thieme/Jacobs 1996, 18; vgl. auch Mende 1996, 9 und 2000, 6). Die Wertung der Bedeutung der Literatur- und Kinonotate ist nicht unproblematisch (vgl dazu Exkurs 4: Rezensionen). Hadwig Klemperer kritisiert in einem Interview die Vorgehensweise Nowojskis beim Kürzen der originalen Tagebücher: „[Das Manuskript] wurde mindestens
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Ausgangsthese ist, dass Klemperer mit seinem jahrzehntelangen Tagebuchführen ein lebensbeschreibendes Gesamtkonzept verfolgte. Damit wird ein konkreter Grund für die Ausdauer im Tagebuchschreiben in der Absicht vermutet, einen dauerhaften, sowohl inhalts- als auch textbezogenen Wert mit den Aufzeichnungen zu schaffen. Wenn allerdings davon ausgegangen wird, dass Klemperers Augenmerk nicht nur jeweils auf der einzelnen Tagebucheintragung lag, sondern er weitergehende Ziele verfolgte, zeigt sich, dass sein Text weniger den klassischen Tagebuch-Definitionen entspricht als bisher angenommen.3 Dieser Gedanke steht im Hintergrund der Untersuchung der einzelnen Eintragungen und der Gesamtstruktur. Die Isolation einzelner Zeiträume und Ereignisabläufe eröffnet – wie Werner Welzig eindrucksvoll argumentiert4 – keinen umfassenden Zugang zu einem Tagebuchtext, sondern endet in inhaltlichen und psychologisierenden Erklärungen an der Oberfläche. Dem lässt sich nur mit Hilfe einer Interpretation der Tiefenstruktur des Tagebuchtextes entgegenwirken, welche auf die Verbindungen zwischen einzelnen Schreibweisen und Inhalten abzielt. Denn dadurch können Entwicklungen, die sich über Jahrzehnte hinweg abzeichnen, nicht nur für die Person Klemperers, sondern vor allem für sein Schreiben betrachtet werden. Deshalb untersucht die vorliegende Arbeit die Aufzeichnungen nicht – wie das weitgehend von der bisherigen Rezeption praktiziert wurde (vgl. Kapitel III.1) – in den drei getrennten Zeiträumen 1918-1932, 1933-1945 und 1945-1959. Vielmehr ist es nötig, das mehrere tausend Seiten umfassende Textkonvolut als ein Gesamtwerk zu lesen, das langfristig einem Ziel
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drei Mal durchgearbeitet. Es ist ihnen [dem Herausgeber und seinen Mitarbeitern, Anm. d. A.] auch manchmal etwas entgangen. Also, erst konnte vorne auf keine Zeile verzichtet werden, und auf einmal blieb der ganze Rückweg [Klemperers Beschreibung des Weges von Bayern nach Dresden im Frühjahr 1945, Anm. d. A.] weg“ (Reuter 2002, 368). Eine Vorbemerkung scheint an dieser Stelle angebracht: Im Folgenden werden die einzelnen Bücher und Hefte, in die Klemperer seine Aufzeichnungen schrieb, ebenso wie das gesamte Textkonvolut mit dem Begriff Tagebuch bezeichnet. Dies ist problematisch, da hiermit zwei unterschiedliche Dinge gemeint sind. Allerdings konfrontiert dieser Widerspruch mit einer Grundeigenschaft des Tagebuchs als literaturtheoretischem Konstrukt: Der Begriff ist nie nur eine Gattungsbezeichnung, sondern steht zudem ebenso für das konkrete Material wie für das entstandene Textkonvolut. Die Bezeichnung Tagebuch operiert damit auf drei Ebenen: der inhaltlichen, der stofflichen und der gattungstheoretischen. Ein Auseinanderhalten der drei Bereiche ist kaum möglich, da einer in den nächsten übergeht. Wenn in dieser Arbeit der Begriff Tagebuch verwendet wird, so geschieht dies immer im jeweiligen Kontext. Vgl. die Ausführungen zu Werner Welzigs Thesen in Kapitel I und Welzig (1985).
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gilt: der autobiographischen Lebensbeschreibung. Dazu reicht es nicht aus, für spezifische Epochen historische Entwicklungslinien aus der privaten Perspektive Klemperers abzulesen. Nicht mehr die drei Zeitphasen, welche Nowojski als Rahmen für die drei herausgegebenen Tagebuchteile wählte, sondern die privaten Lebensentwicklungen des Diaristen rücken in den Vordergrund. Denn nicht allein historische, sondern auch private lebensgeschichtliche Einflüsse bedingen Brüche in den Aufzeichnungen. Diese können im Rückblick als einzelne Lebensabschnitte definiert werden. Sowohl durch die differierenden Äußerungen Klemperers zu seinem Tagebuchverständnis als auch durch seine stetigen Veränderungen unterliegende Schreibweise kann dies verdeutlicht werden. Die im Folgenden vorgenommene Unterteilung der Diarien nutzt diese lebensgeschichtlichen und schreibtechnischen Entwicklungen als Orientierungspunkte. Denn Klemperers Einstellung zum Tagebuchschreiben hat keinen statischen Charakter. Es gibt keine grundlegende Position dazu, die er einnimmt und beibehält. Vielmehr variieren Sinn und Bedeutung des Tagebuchschreibens aus seiner Sicht immer wieder. Dies zeigt sich ebenfalls erst, wenn das Tagebuch als Gesamtwerk betrachtet wird. Klemperers Schreibverhalten – ob im Diarium oder in anderen Textformen – verändert sich aufgrund von äußeren Einflüssen. Dabei erzeugen die externen Ereignisse – wie teilweise schon erwähnt – verschiedene Auswirkungen auf die Tagebuchführung: Zum einen bedingen private Erlebnisse wie beispielsweise der Erhalt einer ordentlichen Professur in Dresden oder auch politisch-historische Entwicklungen wie die Inflation eine Veränderung in Klemperers Schreibverhalten. Denn diese Ereignisse beeinflussen seinen Lebensverlauf. Das meint: Außeneinwirkungen können die Einstellung des Tagebuchschreibers zur Bedeutung seines Tagebuchs verändern. Die Folge davon kann der verstärkte Drang zum Beschreiben bestimmter Ereignisse sein, aber auch ein Nachlassen des Wunsches, weitere Aufzeichnungen zu machen. Zum anderen wirken sich die Veränderungen der Außenwelt auf das Tagebuchmaterial aus. Sie beeinflussen die Art wie der Tagebuchschreiber seine Aufzeichnungen sortiert, auf welchen Materialien er sie notiert, wie sie im Zusammenhang aufbewahrt werden. Damit gibt auch die äußere Form des Tagebuchs Aufschluss über den jeweiligen Stellenwert des Tagebuchtextes für Klemperer. Sowohl die mentale Einstellung zum Tagebuchschreiben, als auch die veränderte Handhabung des Tagebuchmaterials unterliegen somit den zeitgeschichtlichen und auch privaten Entwicklungen, in denen er lebt. Klemperer kann sich diesen Außeneinwirkungen nicht entziehen. Vielmehr spiegelt er sie in der Art und der Form seines Tagebuchschreibens. Beide Effekte der Außenwelt sind aneinander gekoppelt. Daraus ergeben sich sechs Aspekte, welche die jeweilige Einstellung Klemperers gegenüber seinen Eintragungen prägen. Es handelt sich dabei um formale, inhaltliche und auch materialbedingte Merkmale der Aufzeichnungen: Zunächst variiert die Funktion des Tagebuchs in unterschiedlichen Lebensphasen Klemperers sehr stark. Ebenso wird der jeweils inhaltliche
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Fokus den äußeren Bedingungen angepasst. Zudem wird die Analyse zeigen, dass sich im Lebensverlauf des Diaristen die Anknüpfung des Tagebuchschreibens an das berufliche Schreiben in einem stetigen Wandlungsprozess befindet, der großen Einfluss auf den Inhalt und die Form des Tagebuchs hat. Auch das methodische Vorgehen in der Darstellung einzelner Themen unterliegt Veränderungen, die durch äußere Lebenssituationen geprägt werden. Die sprachliche Form passt Klemperer ebenfalls jeweils den Rahmenbedingungen an. Schließlich spiegelt auch das Material, auf dem die Tagebuchnotizen entstehen, wichtige äußere und innere Wandlungsprozesse wieder. Es wird davon ausgegangen, dass sich diese sechs Punkte in allen Lebensphasen Klemperers lokalisieren lassen. Sie sind jedoch keine Einzelphänomene im Tagebuch, sondern miteinander verknüpft. Sie bilden ein dichtes Netz aus Inhalt, Form und Material. Deshalb können sie nicht einzeln betrachtet werden. Sie stellen in der folgenden Analyse lediglich Orientierungsmuster dar. Anhand der Interpretation von Textbeispielen soll die Entwicklung der Positionen Klemperers zum Tagebuchschreiben entlang der einzelnen Lebensabschnitte nachgezeichnet werden. Dabei geht es immer darum, das Tagebuch als Gesamtwerk zu betrachten. Deshalb wird angestrebt, die einzelnen Analyseergebnisse in einen Gesamtkontext zu überführen. Dazu erfolgt im ersten Schritt ein kurzer Exkurs zum Umgang Klemperers mit den jeweiligen Materialien, auf welchen die Eintragungen entstehen. Die Lebensabschnitte des Tagebuchschreibers in Bezug auf die lebenslange Auseinandersetzung mit dem Schreiben sollen in Kapiteln schrittweise untersucht werden. Teilweise erfordern besondere Schreibtechniken zusätzliche Erläuterungen in Exkursen. Grundlegendes Ziel der Untersuchung ist es, aufzuzeigen, wie sich Klemperers Einstellung zum (Tagebuch-) Schreiben im Verlauf seines Lebens verändert und entwickelt.
E XKURS 6: D AS M ATERIAL DER T AGEBUCH AUFZEICHNUNGEN Die Untersuchung der originalen Tagebuchmanuskripte in der SLUB zeigt die große Bedeutung der jeweiligen Schreibmaterialien, auf denen Klemperer seine Einträge verfasst. Die einzelnen Wachstuchhefte, Kladden und Blattsammlungen bilden den äußeren Rahmen seiner Aufzeichnungen. Dies ist ein Hinweis auf seine starke Auseinandersetzung mit dem Schreibprozess. In einem Exkurs sollen deshalb kurz die auffälligsten Aspekte dieser Bearbeitung dargestellt werden.
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Beispielsweise nummeriert Klemperer seine einzelnen Tagebücher nahezu durchgehend5 und versieht sie über einen langen Zeitraum hinweg mit einer Art Inhaltsverzeichnis. Zunächst reicht es ihm aus, im vorderen Spiegel des jeweiligen Tagebuchs das Datum des ersten und letzten Eintrags mit dem jeweiligen Ort ihrer Entstehung zu vermerken.6 Bald geht er dazu über, die Bücher bzw. Hefte nicht nur zu nummerieren und zu datieren, sondern zusätzlich wichtige Ereignisse stichpunktartig mit dem jeweiligen Datum aufzulisten.7 Jedes bedeutende Erlebnis – beispielsweise Reisen oder Begegnungen mit interessanten Personen – wird mit wenigen Stichpunkten aufgelistet. Das dazugehörige Datum kann als eine Art Seitenangabe betrachtet werden. Mit seiner Hilfe ist es leicht möglich, die vermerkten Ereignisse im Tagebuch nachzuschlagen.
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Die erste erhaltene Tagebuch-Kladde (Mscr. Dresd. App. 2003, 119) ist auf dem vorderen Spiegel als „Tagebuch XXX“ gekennzeichnet. Aus dieser Nummerierung lässt sich schlussfolgern, dass Klemperer 29 Tagebücher vernichtete, als er die dazu gehörigen Autobiographie-Kapitel fertiggestellt hatte. Nahezu jedes der nachfolgenden Wachstuchhefte und Leinenbücher wurde auf dem vorderen Spiegel mit einer römischen Zahl gekennzeichnet (vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 119 bis 134). Ab September 1933, mit Beginn eines neuen Wachstuchheftes, wechselt Klemperer zur arabischen Nummerierung über, setzt aber die Reihenfolge der bisherigen Tagebücher fort (vgl. dazu Mscr. Dresd. App. 2003, 135 bis 142). Die Mappe mit den Tagebucheintragungen vom 7. Mai 1950 bis 1. Januar 1952 hat er nicht nummeriert (Mscr. Dresd. App. 2003, 143). Da der letzte Teil der Tagebücher (Mscr. Dresd. App. 2003, 144) gesperrt ist, kann zu einer eventuellen Nummerierung dieses Tagebuchabschnittes keine Aussage getroffen werden. Trotzdem können am Ende von Klemperers Leben 52 Tagebücher – im Sinne von zusammenhängend verfassten bzw. aufbewahrten Textabschnitten – gezählt werden. Nicht immer stimmen diese Angaben korrekt mit dem tatsächlichen Verlauf des jeweiligen Buches überein. Beispielsweise unterläuft Klemperer in Mscr. Dresd. App. 2003, 120 ein Fehler. Laut seinem Vermerk beginnt das Wachstuchheft am 1. Juli 1919. Auf der ersten mit einem Eintrag beschriebenen Seite wurde jedoch die erste Zeile, die „Tagebuch i Juli 1919 München“ lautet, durchgestrichen. Offenbar beabsichtigte Klemperer, eine Notiz zu machen. Er wurde aber davon abgehalten und sah keinen Anlass, dies in seiner ersten wirklichen Tagebuchnotiz, die am 3. Juli entstand, zu erläutern. Hierdurch wird deutlich, wie Klemperer ein neues Tagebuch eröffnete: Zu dem Zeitpunkt, an dem die erste Eintragung in ein Buch erfolgen soll, wird der äußere Rahmen in Form der Nummerierung und des Vermerks über den Beginn des Aufzeichnungsabschnittes abgesteckt. Die falsche Datumsangabe von Mscr. Dresd. App. 2003, 120 hat Klemperer nicht korrigiert, weil er dies im Nachhinein nicht kontrollierte. Nur das Datum des letzten Eintrags wurde nachgetragen. Diese Technik wird bis Mscr. Dresd. App. 2003, 136 durchgehend beibehalten.
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Klemperer beschränkt sich für die Inhaltsverzeichnisse nicht nur auf den vorderen Spiegel des jeweiligen Diariums. Auch der hintere Spiegel und das dazugehörige „Fliegende Blatt“ benutzt er meist. Als es gegen Ende der zwanziger Jahre nicht mehr ausreicht, nur die Spiegel der Tagebuch-Hefte mit Inhaltsverzeichnissen zu versehen,8 legt Klemperer zusätzlich externe Blätter ein. Er versieht sie sogar konkret mit entsprechenden Überschriften. Beispielsweise liegt Mscr. Dresd. App. 2003, 132 ein Blatt bei, dessen Titel „Tagebuch 43. Inhalt“ lautet. In Mscr. Dresd. App. 2003, 131 wird sogar der Begriff „Inhaltsverzeichnis“ verwendet (vgl. LS II, 504, 1. Stelle, 31.03.1929).9 Klemperer nutzt die eingelegten Blätter zur Auflistung von
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Das wird deutlich an Mscr. Dresd. App. 2003, 120. Hier sind sowohl der vordere als auch der hintere Spiegel komplett mit Inhaltsangaben und dazugehörigen Daten beschrieben. Der Platz auf diesen beiden Seiten reichte nicht aus. Deshalb weicht Klemperer auf die letzte Tagebuchseite aus. Längere Zeit bevor er die letzte Seite für seine Aufzeichnungen benötigt, halbiert er sie mittels eines Striches und führt darunter seine Inhaltsverzeichnis-Notizen fort. Als er allerdings mit dem Eintrag vom 18. April 1920 auf dieser nur noch halb beschreibbaren Seite angelangt, entscheidet er sich, den unterhalb des Inhaltsverzeichnisses noch verfügbaren Platz zu nutzen. Dazu schließt er die Auflistung durch einen Doppelstrich ab und beendet darunter den Eintrag. – Hier wird zum einen deutlich, dass die Inhalts-Notizen parallel zum Tagebuchschreiben erfolgen. Deshalb nutzt Klemperer den Platz auf der letzten Seite, der noch nicht für Eintragungen benötigt wird. Zum anderen demonstriert er, dass es ihm vordergründig nicht um die Form seiner Aufzeichnungen geht, sondern um die Inhalte, also das zu Bewahrende selbst. Es spielt keine Rolle, ob ein Eintrag durch einige Inhalts-Notizen unterbrochen wird. Nur das Schreiben selbst ist wichtig. Das Papier muss genutzt werden, also verwendet Klemperer auch den nicht mehr für eine Inhaltsangabe notwendigen Platz. Die Auslagerung der Inhaltsverzeichnisse zu den Tagebüchern auf externe Notizblätter, die im Tagebuch eingelegt werden, löst nach und nach das Beschreiben der Inneneinbände ab. In Mscr. Dresd. App. 2003, 133 sind bis auf die obligatorische Angabe von Tagebuchnummer, wichtigsten Orten und den Rahmendaten des Wachstuchheftes keine Notizen mehr im Spiegel vorhanden. Vielmehr liegen drei Notizblätter von unterschiedlicher Größe bei. Auf zwei von ihnen sind sehr ausführliche Inhalts-Notizen vermerkt. Sogar Informationen wie „15.[04.1930] Ich sagte Scherner, ich sei aus jüdischem Hause.“ wurden hierbei notiert. Das zeigt, dass die Auflistung der Tagebuchinhalte nicht mehr nur auf Orte und grobe Ereignisse reduziert ist, sondern sogar auf Gespräche ausgeweitet wird, die für Klemperer besondere Bedeutung haben. Das dritte Notizblatt ist mit der Überschrift „Filme.“ versehen und enthält Angaben zu gesehenen Filmen, Ort und Datum der Aufführung. Damit wird auch deutlich, dass die sich wandelnden Interessen Klemperers zeitweise den Schwerpunkt der Inhaltsverzeichnisse verlagern. – Zusätzlich zu diesen Beilagen befindet
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Orten, Ereignissen und Daten. Sie sind ein technisches Instrument, welches den Zugang zu den Inhalten der Diarien ermöglichen soll.10 Diese Aufgabenzuweisung resultiert aus Klemperers Erkenntnis, dass die Erinnerung an Daten schwieriger ist, als jene an Personen und Situationen. Deshalb entwickelt er mit dem Inhaltsverzeichnis ein Instrument, das ihn schnell zum jeweils gewünschten Ereignis im Tagebuch führen kann. Die Vernetzung der Tagebuch-Inhalte in einem Verzeichnis wird zusätzlich gestützt durch die Kennzeichnung wichtiger Schlagworte (Namen, Orte und auch bestimmter Ereignisse) mit Buntstift-Markierungen oder Unterstreichungen. Häufig finden sich die unterstrichenen Begriffe im jeweiligen Inhaltsverzeichnis des Tagebuchs wieder. Entweder hat Klemperer diese Unterstreichungen nachträglich bei der Fertigung der Inhalts-Notizen im Spiegel des betreffenden Heftes gemacht. Oder sie entstanden parallel zum Schreibprozess der Tagebucheintragungen, um mit ihrer Hilfe das Inhaltsverzeichnis entwickeln zu können. Beide Möglichkeiten sind ein Indikator für eine ganz bewusste Planung des späteren Umgangs mit den Tagebuchaufzeichnungen. Denn die Markierungen und die Inhalts-Listen helfen sowohl Klemperer als auch einem fremden Leser der Tagebücher, Informationen zu bestimmten Ereignissen schneller zu finden. Die Druckversion der Klemperer’schen Tagebücher kann diese Strukturfeinheiten des Schreibprozesses kaum vermitteln. Es soll hier nicht kritisiert werden, dass der Herausgeber sich vordergründig auf die Inhalte der Aufzeichnungen konzentrierte. Dies liegt in der Natur der Publikation privater Texte. Wie gezeigt wurde, besteht jedoch eine enge Verbindung zwischen Inhalt und Form der Tagebücher, weil Klemperer ein möglichst vollständiges Bewahren von Existenz anstrebt. Entsprechend kann davon ausgegan-
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sich noch ein besonderes Dokument in Mscr. Dresd. App. 2003, 133. Im hinteren Spiegel ist ein Briefumschlag eingeklebt, der eine Abschrift des Testaments von Berthold Klemperer enthält. Der Tod dieses Bruders am 15. Mai 1931 traf Klemperer hart. Seine eigene Todesangst steigerte sich in Folge dieses Ereignisses. Zudem vermachte Berthold seinem kleinen Bruder etwas Geld. Beide Konsequenzen aus dem Tod des Bruders werden mit der Beilage der Testamentsabschrift im Tagebuch signalisiert. Das Dokument gehört aufgrund seiner Herkunft und der Tatsache, dass Klemperer selbst es nicht verfasste, nicht direkt ins Tagebuch. Dennoch ist es ein Teil davon, weil es nahezu unkommentiert einfügt wird. Im Eintrag vom 4. August verweist Klemperer zwar auf das Testament von Berthold, doch die Integration der Abschrift wird nicht spezifisch erwähnt (LS II, 728, 04.08.1931). Vielmehr integriert er den Text ohne Erklärung in sein Tagebuch (vgl. dazu auch Kapitel V.2). Die eingelegten Blätter verweisen teilweise direkt auf die Außenwelt Klemperers. Beispielsweise handelt es sich bei den Beilagenblättern von Mscr. Dresd. App. 2003, 131 um spezielles Briefpapier, welches zu Werbezwecken für ein philologisches Jahrbuch bestimmt war, das Klemperer mit einem Kollegen herausgab (vgl. Abb. 8 im Anhang).
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gen werden, dass die komplexen Aufzeichnungsstrukturen Teil seines Konzepts sind. Dies ohne editorische Kennzeichnung zu übergehen und in einen fließenden Drucktext zu integrieren, muss deshalb als bedenklich angesehen werden. Am Beispiel von Mscr. Dresd. App. 2003, 124 lässt sich diese Problematik darstellen: In dem als „Tagebuch XXXV“ gekennzeichneten Heft ist die Unterbringung von Texten im vorderen und hinteren Spiegel des DIN-A5Wachstuchheftes besonders komplex. Zunächst befindet sich auf dem vorderen Spiegel links oben die Angabe zu Titel, Zeitrahmen und den zusammengefassten Aufenthaltsorten. In großzügigem Abstand dazu vermerkt Klemperer ein selbst geschriebenes Gedicht mit dem Titel „Auch Patroklus“. Ein einfacher Strich trennt dieses ab von der Fortsetzung des Schlusseintrags des vorliegenden Tagebuchs vom 24. November 1922 datiert.11 Weil der Platz unterhalb des Gedichtes aber nicht ausreicht, beendet Klemperer den Eintrag oberhalb von diesem und den Ortsangaben zum Tagebuch – und zwar in umgekehrter Schreibrichtung, das heißt, er dreht das Wachstuchheft auf den Kopf und schreibt in der entgegengesetzten Richtung des normalen Textflusses.12 Dadurch ist das gesamte Vorsatz extrem dicht beschrieben. Der hintere Spiegel ist komplett mit Inhaltsangaben gefüllt. Weil der Platz nicht reicht, weicht Klemperer wiederum auf die letzte und hernach zusätzlich auf die vorletzte Seite aus. Das vorletzte Blatt ist allerdings nur halb mit den Datenlisten gefüllt. Der untere Teil führt, durch einen Doppelstrich abgegrenzt, den letzten Tagebucheintrag des Heftes vom 24. November 1922 fort. Wie aus dem Blick auf den vorderen Spiegel deutlich wird, reicht der Platz auf der vorletzten Seite nicht – deshalb weicht Klemperer in beschriebener Weise aus. Der Eintrag vom 24. November wird dementsprechend in vier Teilen notiert: Im gängigen Fließtext, abgesetzt unter die Inhalts-Auflistung auf der vorletzten Seite, unter „Auch Patroklus“ auf dem vorderen Spiegel und oberhalb des Gedichtes in umgekehrter Schreibrichtung. Alle vier Teile sind in der Druckversion ungekennzeichnet als ein Text abgebildet. Dadurch kann der Leser nicht nachvollziehen, wie komplex und auf Zusammenhänge bezogen Klemperers Schreibweise organisiert ist. Zwar erscheint die in vier Teile zerlegte Eintragung zunächst verwirrend, macht aber zwei Dinge sehr deutlich: Erstens ist Klemperer der innere Zusammenhang einer Eintragung sehr wichtig. Er ist nicht bereit, den Teil, der kaum Platz im vorliegenden Wachstuchheft findet, in ein neues Buch zu
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Dieser Abschnitt beginnt mit „...Deutschböhmen zu verschaffen.“ mitten im Satz. Im Druck findet sich diese Stelle unter LS I auf Seite 637, 20. Zeile von oben. Der in umgekehrter Schreibrichtung entstandene Textteil beginnt bei „...fortfallenden ‚Commerzienratʻ.“ (LS I, 637, 8. Zeile von unten).
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übertragen und dadurch den Eintrag zu teilen. Zweitens zeugt die Art, wie er jeden kleinsten freien Raum im Tagebuch für Notate nutzt, von der ungeheuren Intensität, mit der sein Schreibakt von statten geht. Formale Grenzen interessieren Klemperer nicht. Es zählt allein das ungebremste Ausführen des gegenwärtigen Gedankens. Schreiben ist mehr als nur Bewahren. Der Tagebucheintrag ist im Moment des Entstehens existenziell für Klemperer. Ein weiterer ausgesprochen problematischer Eingriff des Herausgebers in die Systematik von Mscr. Dresd. App. 2003, 124 zeigt sich anhand des Abdrucks des Gedichtes „Auch Patroklus“. Klemperer hat es bewusst nicht in den gängigen Tagebuchtextfluss integriert, sondern gesondert auf dem vorderen Spiegel platziert. Es ist während einer Zugfahrt entstanden. Im Anschluss an das Aufschreiben des Gedichtes macht Klemperer noch eine kurze Tagebucheintragung im fortlaufenden Heft unter dem Datum des 21. Januar 1922, gesondert gekennzeichnet durch die Bemerkung „Im Zuge. Großenhain“. Er nimmt darin Bezug auf „Auch Patroklus“: „Mir sind die ganze Zeit über die paar Reime auf dem Deckel durch den Kopf gegangen – ich kann keine Verse mehr machen. Aber das Gefühl bleibt immer das gleiche“ (LS I, 550, 21.01.1922).
Nach diesen zwei Sätzen wechselt Klemperer im Originaltext das Thema – in der Druckversion wird an dieser Stelle das Gedicht inklusive der kommentierenden Unterschrift „Im Zuge zwischen Lauchhammer u. Dresden. Großenhain 21/I 22.“ (LS I, 550, 21.01.1922) abgebildet. Zwar kennzeichnet Nowojski im Anhang (LS I, 958), wo das Gedicht eigentlich notiert wurde. Doch die Zusammenfügung der beiden Texte in einen wird dadurch nicht gerechtfertigt. Vielmehr produziert Nowojski damit einen Zusammenhang, der im Original nur mit Hilfe der Datierung hergestellt werden kann. Denn Klemperers Tagebuchschreiben orientiert sich nicht an einem klaren Textfluss, der mittels Datumsbegrenzungen gekennzeichnet wird, sondern weicht vielmehr gezielt davon ab. Es geht nicht um einen möglichst linearen Textverlauf, sondern vordergründig um die jeweils den Bedürfnissen des Tagebuchschreibers entsprechenden Themen und Textstrukturen. Klemperer hat das Gedicht bewusst nicht in seinen Tagebucheintrag, der im Zug entstand, integriert. In der Druckversion wird das übergangen und somit dem Leser der Schreibweg des Tagebuchschreibers vorenthalten. Auch die spezielle Tagebuchführung von Mscr. Dresd. App. 2003, 136 entgeht dem Leser der Druckversion der Tagebücher. Dieses Halbleinenbuch, betitelt mit der Überschrift „Tgb 47“, enthält drei Teile von Tagebucheintragungen aus unterschiedlichen Zeiträumen. Auf dem vorderen Spiegel vermerkt Klemperer die jeweiligen Schreibphasen, um eine spätere Orientierung zu ermöglichen:
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„Tgb. 47. Dölzschen Am Kirschberg 19 (seit 1/X im eigenen Haus) 4. Nov. 34 – 3. Mai 1936 (Blätter 36-41) 15. August 41 – 5. Dezember 41 C. D F.-Str 18. Juli 1945 – 29. März 1946 Dölzschen“ (Mscr. Dresd. App. 2003, 136).
Mscr. Dresd. App. 2003, 136 wird mehrfach unterbrochen, bedingt durch die äußeren Umstände. In Kombination mit den jeweiligen Weiterführungen der Aufzeichnungen außerhalb des Halbleinenbuches entsteht dennoch ein linearer Ereignisablauf, der detailliert durch Tagebuchaufzeichnungen abgedeckt ist: Zunächst führt Klemperer das Tagebuch 47 wie jedes andere Buch vorher auch. Doch es bricht ab – einzig durch die Zahl „1936“ gekennzeichnet, welche unter dem letzten Eintrag vom 3. Mai 1936 steht. Als Grund wird im neu begonnenen maschinenschriftlichen Tagebuch (Mscr. Dresd. App. 2003, 137) angegeben: „Das Schreiben mit der Feder wird mir immer schwerer, die Hand ist unsicher, das Auge ermüdet. In der letzten Zeit half ich mir durch Briefe, von denen ich Kopie nahm. Dies hier ist mein erster Versuch, das Tagebuch auf Maschine umzustellen“ (ZA I, 262, 10.05.1936).
Die meist maschinenschriftlichen Tagebuchseiten umfassen den Zeitraum vom 10. Mai 1936 bis 10. August 1941, verlaufen also über fünf Jahre hinweg. Erst als Klemperer im so genannten „Judenhaus“ engsten Raum mit mehreren anderen Juden teilen muss, wechselt er wieder zum festen Tagebuch. Er möchte das Geklapper der Schreibmaschine vermeiden, um seine Ehefrau nicht zu stören. Deshalb entschließt sich Klemperer am 10. August 1941 auch dazu, wieder ein Tagebuch zu benutzen: „Da ich um Evas willen das Maschinenschreiben einschränke (und da auch das Papier ein seltener Artikel wird), so will ich unter Benutzung eines alten Tagebuches wieder zur ‚festen Formʻ übergehen. Siehe also Fortsetzung im Tgb. 47. Die Blätter schaffe ich nächstens zu Annemarie“ (ZA I, 659, 10.08.1941).
In Folge dessen greift Klemperer ab dem 15. August wieder auf das unterbrochene Tagebuch Nummer 47 (Mscr. Dresd. App. 2003, 136) zurück. Er beginnt den neuen Teil mit der groß und fett geschriebenen Überschrift „August 1941 Judenhaus.“ auf einer leeren Seite. Darunter kommentiert er: „Die Enge des Wohnens u. dadurch das Stören der Schreibmaschine führt mich zum Tagebuch zurück. Komisch, worüber ich mich im Mai 1936 geärgert habe! Ein Garagenbau. C.-D.Friedrichstr. 15b“
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Klemperer reagiert auf dieser einleitenden Seite nochmals auf den Inhalt des ersten Teils des Buches. Er hat offenbar in den letzten Einträgen gelesen und stellt den direkten Vergleich an zwischen seiner Lebenssituation im Mai 1936 und der vom August 1941. Der Übergang zwischen den beiden Zeiträumen ist nicht fließend – zu viel hat sich inzwischen verändert. Klemperer symbolisiert dies fast belustigt durch die Gegenüberstellung seiner früheren Bestürzung anlässlich des Anbaus einer Garage mit seiner gegenwärtigen Wohnsituation im Judenhaus: „C.-D.-Friedrichstr. 15b“. Seine Probleme sind existenzieller geworden. Er lebt gezwungenermaßen in einer Art Ghetto, wird aufgrund seiner jüdischen Herkunft mit unzähligen Ge- und Verboten verfolgt und hungert. Nicht mehr die Frage, wie eine Garage möglichst preisgünstig gebaut werden könnte, ist entscheidend, sondern das Überleben des nächsten Tages. Weil diese Lebensbedrohung weiter steigt, bleibt Klemperer nicht lange bei der festen Tagebuchform. Er wechselt aus Angst vor der Entdeckung durch die Gestapo ab dem 7. Dezember 1941 auf lose DIN-A5-Blätter, da diese sich leichter einzeln in Büchern verstecken lassen (vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 138). Erst am 18. Juli 1945 beginnt Klemperer wieder, seine Tagebucheinträge in ein festes Buch zu schreiben. Dazu nutzt er zum dritten Mal sein 47. Tagebuch, Mscr. Dresd. App. 2003, 136. Das Halbleinenbuch wird nun endgültig gefüllt, mit Einträgen vom 18. Juli 1945 bis 29. März 1946. Ohne Kommentar beginnt Klemperer eine neue Seite und führt das Buch fort, als sei nichts gewesen. Die dreifache Verwendung von Mscr. Dresd. App. 2003, 136 macht deutlich, wie stark die jeweilige Tagebuchform an äußere Bedingungen gekoppelt ist. Inhaltlich lässt sich der Text zwar auch ohne das Hintergrundwissen dazu erfassen. Eine literaturwissenschaftliche Untersuchung jedoch profitiert von der Kenntnis dieser speziellen Rahmenbedingungen. Denn die Unregelmäßigkeiten von Klemperers Tagebuch weisen darauf hin, dass eine Einordnung des Textes in klassische Tagebuch-Definitionen nicht gelingen kann. Die Vielschichtigkeit dieses Schreibprozesses lässt sich nicht katalogisieren. Nowojski geht dem Sichtbarmachen dieser Eigenart der Tagebücher bewusst aus dem Weg, wenn er sie klassischen Vorstellungen von linearen Abläufen anpasst.13
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Bei einem Vergleich mit den originalen Aufzeichnungen wird auch deutlich, dass die Transkription der frühen Tagebücher (1918-1932) wesentlich genauer geführt wurde, als dies bei den Diarien aus dem „Dritten Reich“ der Fall ist. Zwar ist auch die Wiedergabe der Tagebücher 1918-1932 nicht immer präzise, doch der Text 1933-1945 wurde wesentlich willkürlicher in eine Druckform gepresst. Meist werden Klemperers Hervorhebungen nicht übernommen. Dafür erscheinen teilweise Kursiv-Setzungen an Stellen, an denen im Original keinerlei Markierungen zu finden sind. Auch die Datierung der einzelnen Einträge wurde recht willkürlich einem einheitlichen Stil untergeordnet. Durchgehend nennt der Druck den jeweiligen Tag als Zahl, den Monat als Wort und nach
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1916-1919 – „ DASS
IN DEN WÜSTESTEN WELTGESCHICHTLICHEN Z EITEN 14 DER ALLTAG [...] FORTLÄUFT “
Die erhalten gebliebenen Tagebuchaufzeichnungen von Klemperer beginnen im Jahr 1916 (Mscr. Dresd. App. 2003, 118). Dabei handelt es sich im eigentlichen Sinn um Briefe, die er an seine Frau schreibt, während er im Buchprüfungsamt in Kowno stationiert ist.15 Sie sind die Fortsetzung des Brieftagebuchs, das er seit seiner Versetzung an die Front im Herbst 1915 täglich führt. Mit seiner Stationierung unterbricht er sein bisheriges Tagebuchschreiben und ersetzt es durch die Briefe.16 Im Buchprüfungsamt verfasst Klemperer außer wiederkehrenden Liebeserklärungen an seine Ehefrau vor allem detailgenaue Berichte über den alltäglichen Kampf um Nahrung und Freizeit und den Arbeitsablauf in einem militärisch organisierten Büro.
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einem Komma den Wochentag. Dies hält Klemperer nicht annähernd ein. Vielmehr ändern sich seine Datierungen ständig. Teilweise macht er genaue Ortsangaben, teilweise erwähnt er nur Wochentage, er wechselt zwischen römischen und arabischen Zahlen. Einheitlichkeit lässt sich nur in der fast durchgehenden Angewohnheit Klemperers erkennen, die Datumsangaben zu unterstreichen. Doch auch hier gibt es Abweichungen. Dies wird im Druck von Walter Nowojski in keiner Form gekennzeichnet. Das zeigt, dass die Veröffentlichung der Tagebücher nicht vordergründig mit der Absicht zu präziser wissenschaftlicher Auseinandersetzung erfolgte, sondern vielmehr als flüssig lesbarer Text für eine breitere Leserschaft gedacht war. – Eine 2007 erschienene Gesamtausgabe der Tagebücher 1933-1945 auf CD-ROM wirkt diesem Problem entgegen. Hier ist der gesamte Tagebuchtext detailliert transkribiert worden. Zu jeder Seite kann das Faksimile eingesehen werden. Die Erarbeitung einer derartig umfassenden Quelle kann Walter Nowojski nicht hoch genug angerechnet werden. Mit dieser Ausgabe ist es möglich, intensiv und detailgetreu am vollständigen Text zu arbeiten, ohne die empfindlichen Originale beanspruchen zu müssen (vgl. Klemperer 2007). LS I, 8, 23.11.1918. Die Briefe wurden zwischen dem 20. Juli und dem 1. August 1916 geschrieben. Es handelt sich um 70 DIN-A5-Blätter. Dies erklärt sich zum einen daraus, dass Klemperer fürchtet, seine Tagebuchaufzeichnungen könnten im Falle seines Todes an der Front verloren gehen. Durch das tägliche Verschicken an Eva Klemperer minimiert er das Risiko, seine Aufzeichnungen vergeblich zu machen. Zum anderen zeigt diese Form des intimen, tagebuchähnlichen Briefkontakts auch die enge Beziehung der Klemperers. Durch die tägliche Ansprache des jeweiligen Ehepartners konnten beide ihre intensive Verbindung trotz der räumlichen Trennung aufrecht erhalten (vgl. dazu CV II, 333).
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Obwohl diese Aufzeichnungen durch die direkte Ansprache der Briefpartnerin nicht der intimen Atmosphäre eines Diariums entsprechen, versteht Klemperer sie als eine Art Tagebuchersatz.17 Zum einen wird das gekennzeichnet, indem sie gemeinsam mit anderen Tagebuchnotizen in einer Mappe18 zusammengefasst sind (Mscr. Dresd. App. 2003, 118). Zum anderen ist die Struktur der Schriftstücke eng an diaristische Aufzeichnungen angelehnt: Nicht jede Datierung kennzeichnet den Beginn eines neuen Briefes. Vielmehr bestehen die einzelnen Texte aus mehreren tagebuchähnlichen Einträgen, in denen jeweils berichtet wird, was sich seit der vorangegangenen Notiz ereignet hat.19 Gleichzeitig verteilt Klemperer die Eintragungen zu einem Tag durch das regelmäßige Versenden der Briefe häufig über mehrere Postsendungen. So endet am 1. August 1916 ein Brief, der schon am 31. Juli 1916 begonnen wurde. Nach dem Abschicken dieser Aufzeichnungen eröffnet Klemperer sofort einen weiteren Brief, der noch an diesem Tag abgeschlossen und versandt wird. Er beginnt einen dritten Brief am Abend des 1. August, weil sich eine besondere Situation ereignet hat: „Ja, mein Herz, nun überbringe ich dir den letzten Brief vom Osten persönlich u. überraschend. Ich habe gleich so etwas geahnt, u. als ich heute Nachmittag mein Schreiben in den Kasten tat, da wußte ich schon, daß ich Dich morgen umarmen dürfe. Kaum hatte ich diese Epistel abgeschlossen, da eröffnet mir der freundliche Leutnant, der Hauptmann sei da, er habe mit ihm gesprochen – und indem kam auch N.H. schon dazu. Jetzt wurde verabredet, ich könnte reisen, sobald ich fertig sei...“ (Mscr. Dresd. App. 2003, 118, Blatt 68, Vorderseite).
Mit Klemperers Versetzung nach Leipzig erübrigt sich eigentlich ein weiterer Brief. Weil die Freude und die direkte Reaktion auf die neue Situation aber unbedingt schriftlich vermerkt werden sollen und ein reguläres Tagebuch fehlt, greift er erneut auf die Briefform zurück. Dadurch zeigt sich die Vermischung von direkter Briefanrede und tagebuchähnlichem Vermerk neuester Ereignisse besonders deutlich. Der Brief wird von seiner Zielrichtung abgelenkt, dem Adressaten etwas zu berichten, was er nicht mündlich vom Absender erfahren kann. Vielmehr setzt der Briefschreiber das Empfangen der schriftlichen und der mündlichen Nachricht gleich. Es geht also
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Er bezeichnet die Briefe sogar direkt als Tagebuchaufzeichnungen. Beispielsweise schreibt er einmal: „Abends erzähle ich ein bißchen weiter oder hole noch ein Tagebuchblatt nach“ (Mscr. Dresd. App. 2003, 118, Blatt 12, Rückseite). Es handelt sich hier um vier separate Blattsammlungen. In der SLUB sind sie einzeln nummeriert als Mscr. Dresd. App. 2003 118 bis 118. Ein Beispiel dafür ist der zweite Brief aus Mscr. Dresd. App. 2003 18. Er wird am 21. Juli 1916 begonnen (Blatt 8, Vorderseite), aber erst am 22. Juli 1916 fortgeführt (Blatt 8, Rückseite). Dabei wird mehrfach neu eingesetzt, so unter der Bemerkung „nachmittags ¾ 3“ (Blatt 10, Rückseite).
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nicht mehr darum, die eigentliche Funktion des Briefes zu nutzen, sondern um die Erfüllung des Bedürfnisses, Erlebtes schriftlich festzuhalten. Das Berichten über das aktuelle Geschehen ist so tief in Klemperers Verhaltensweisen verankert, dass er die Briefform überschreibt mit der Tagebuchfunktion. Klemperers Schreiben kann nicht in herkömmliche Definitionsschemata eingegliedert werden. Weder die Brief- noch die Tagebuchform lässt sich in dem zitierten Text klar lokalisieren. Vielmehr entwickelt der Schreibende eine Mischform, die seinen persönlichen Schreibbedürfnissen in der jeweiligen Situation entspricht.20 Es geht ihm darum, schriftlich festzuhalten, was er erlebt, wie sein Leben sich entwickelt. In welcher Form diese autobiographische Schreibabsicht umgesetzt wird, ist zweitrangig. Auch der zweite Teil von Mscr. Dresd. App. 2003 118 zeigt, dass die jeweilige Situation die Form des Tagebuchs bestimmt: Er besteht aus 57 DINA5-Blättern, auf denen Tagebucheinträge vom 9. August bis zum 30. September 1916 aus dem Buchprüfungsamt Ober-Ost Leipzig notiert wurden. Es handelt sich um Tagebuchaufzeichnungen. Allerdings schreibt Klemperer sie bewusst nicht in ein Heft oder Buch, sondern auf Briefpapier. Er begründet dies in einer einleitenden Bemerkung zu Beginn des ersten Eintrags vom 9. August: „Ein Brief läßt sich im Büreau immer irgendwie zwischendurch erledigen; mein Tagebuch würde Aufsehen erzeugen; zu Hause Notizen machen fehlt die Zeit, da ich
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Grundlegend zieht Klemperer eine formale Grenze zwischen seinen Tagebuchaufzeichnungen und Briefen. Sie werden nur ins Diarium einbezogen, wenn ein privaterer Text aufgrund der äußeren Umstände nicht entstehen kann. Dies zeigt sich, wenn Klemperer sich am 31. Juli 1919 beschwert: „Dann nimmt mich das Correspondieren mit E. in Anspruch. [Eva Klemperer war zu diesem Zeitpunkt allein zur Kur in Driburg, Anm. d. A.] Es ist auch schwer, zweimal dasselbe zu schreiben, an sie u. ins Tagebuch; ich möchte aber die Briefe nicht statt des Tagebuchs nehmen, weil ich die Briefe nicht mit allen Stimmungen belasten will“ (LS I, 160, 31.07.1919). Die Funktion des Briefeschreibens an Eva hat sich nach Kriegsende verändert: Das Tagebuch ist wieder jener Ort, an dem alle „Stimmungen“ vermerkt werden. Dies soll Eva nicht zugemutet werden. Der Brief würde das Kriterium einer möglichst umfassenden Verdeutlichung seiner persönlichen Einstellungen in diesem Kontext nicht mehr erfüllen. Deshalb wird er für das Tagebuch als unzureichend empfunden. Für die präzise Darstellung bestimmter Sachverhalte bevorzugt Klemperer 1919 wieder die private Tagebuchaufzeichnung. Dafür nimmt er auch in Kauf, „zweimal das Gleiche zu schreiben“ (vgl. dazu auch Kapitel V.2).
238 | SCHREIBEN EIN L EBEN LANG – V ICTOR K LEMPERERS T AGEBÜCHER von 8-i21, von 3-7 hier sitzen muß. Ergo werde ich auch in Leipzig mein Tagebuch auf losen Blättern schreiben. Wo liegen sie nun schon überall verstreut, meine Kriegstagebücher! In München, in Urfeld, in Königsberg (dort steht der große Kasten, in dem sich die Blätter aus Kowno befinden[)]“ (Mscr. Dresd. App. 2003, 118, Blatt 1, Vorderseite).
Der Ort, an dem die Tagebucheintragungen überwiegend entstehen, hat entscheidenden Einfluss auf die materielle Form, in der diese verwirklicht werden: Weil Klemperer beabsichtigt, während seiner Arbeitszeit Tagebuchaufzeichnungen zu tätigen, tarnt er sein Schreiben als Korrespondenz, um so unbehelligt zu bleiben. Klemperer treibt ein großes Bedürfnis nach Ordnung und Übersichtlichkeit an. Darauf weist die Aufzählung der Orte hin, an denen das verstreute Tagebuch sich befindet. Der Eindruck verstärkt sich durch zwei Notizblätter, die Mscr. Dresd. App. 2003, 118 beiliegen. Auf Blatt 1 vermerkt Klemperer in Stichpunkten, welche Bücher er im Zeitraum seiner Stationierung im Buchprüfungsamt Ober-Ost Kowno und Leipzig gelesen hat.22 Ein weiteres Notizblatt enthält auf der Vorderseite eine Auflistung von Theaterund Kinobesuchen. Die Rückseite beinhaltet eine Mischung aus Wortspielen (vgl. dazu auch Exkurs 5: „Zelle 89“), durchgestrichenen Notizen und die Aufzählung einiger Kinofilme.23
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Gemeint ist hier die Zahl „1“. Bis in die Mitte der 30er Jahre verwendete Victor Klemperer für die Zahl „1“ häufig – aber nicht durchgehend – den Buchstaben „i“. Dies wird im Folgenden unkommentiert zitiert. Jeder Titel wurde mit Autor und dem jeweiligen Datum der Lektüre notiert. Unterteilt ist die Liste zusätzlich nach „Oberost Kowno“ und „Leipzig.“ Zusätzlich findet sich der Kommentar „Über [...?] s. Listen u. ständig die Tagebuchblätter“ (vgl. Beilage zu Mscr. Dresd. App. 2003, 118). Dieses zweite Notizblatt muss aufgrund der darauf enthaltenen Datierungen in das Jahr 1917 eingeordnet werden. Dementsprechend gehört es zeitlich nicht direkt zu den unter Mscr. Dresd. App. 2003, 118 gesammelten Tagebuchblättern, sondern entstand zu einem späteren Zeitpunkt. – Auch an dieser Vermischung von Eintragungen und Notizblättern unterschiedlicher Zeiträume wird deutlich, wie zerrissen das Tagebuchmaterial durch die örtliche Verstreuung der einzelnen Tagebuchteile gewesen sein muss. Klemperer zerstört die Tagebücher bis zum November 1918 nach Fertigstellung der jeweiligen Kapitel des „Curriculum vitae“. Das führt zu der Vermutung, dass die noch vorhandenen Materialien aus früheren Jahren entweder deshalb nicht vernichtet wurden, weil sie eine besondere Bedeutung für ihn hatten oder aber in Folge der großen Unübersichtlichkeit der einzelnen Materialteile der Zerstörung entgingen. Der Umstand, dass eine Datenliste aus dem Jahr 1917, zu dem keine konkreten Tagebuchaufzeichnungen mehr vorhanden sind, sich im Anhang zu Einträgen aus dem Spätsommer 1916 befinden, spricht für die zweite These.
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Die Aufbewahrung dieser Listen gibt Aufschluss über eine Grundbedeutung der Tagebücher: Es geht Klemperer nicht allein darum, aufzuschreiben, was er erlebt hat, um dies im Augenblick des Schreibens zu verarbeiten und zu reflektieren. Ein ebenso wichtiges Ziel der Aufzeichnungen ist das Bewahren von Ereignissen, um damit den persönlichen Lebensweg nachzuzeichnen – und dies nicht nur allgemein, sondern strikt durch Datum, Ort und äußere Umstände gekennzeichnet. Klemperer fertigt parallel zu seinem Tagebuch Listen an, in denen er rückblickend mit Hilfe von Ereignissen wie Lektüre und Kinobesuchen sein Leben strukturiert. Zwar sind sie nur ein kleiner Teil seines Lebensverlaufs, doch werden sie von ihm als herausgehobene und prägende Begebenheiten definiert. Anhand der Datums- und Ortsangaben können die Rahmenbedingungen einer bestimmten Lektüre oder eines einzelnen Kinobesuches rekonstruiert werden. Klemperer verwendet die Listen als Erinnerungsstütze und sie verschaffen ihm einen Überblick über den betreffenden Zeitraum. Das Reflektieren und Bewahren von Ereignissen allein ist nicht Ziel dieser Form des Tagebuchschreibens. Es geht Klemperer um das Erhalten seiner Identität24 in bestimmten örtlichen, zeitlichen und vor allem auch geistigen, kulturellen und emotionalen Parametern. Die Übersicht über Kinobesuche ergibt eine Art Inhaltsverzeichnis, mit dessen Hilfe ein bestimmter Aspekt aus dem Leben des Tagebuchschreibers nachgezeichnet werden kann. Ähnlich versucht Klemperer auch sein alltägliches Leben und die erlebten historischen Ereignisse in Bezug auf seine Person einzuordnen. Insbesondere das Bewusstsein, an geschichtlich bedeutsamen Zeiten teilzuhaben, diskutiert er dabei häufig im Tagebuch. Es prägt ihn in den ersten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg stark. Beispielsweise schreibt er: „Das ist für mich die große Lehre: daß in den wüstesten weltgeschichtlichen Zeiten der Alltag doch fortläuft u. sozusagen die Breite des Raumes einnimmt. Der Dichter, der es anders hinstellt, lügt. Aber vielleicht wäre er kein Dichter u. sehr langweilig, wenn er nicht löge. Vielleicht freilich auch nicht. Ich denke an Anatole France’s: ‚Kannst du dich an den verrückten Jesus von Nazareth erinnern? – Nein, es gab so viele Verrückte in Juda! ʻ“ (LS I, 8, 23.11.1918).
Als Beobachter seiner Gegenwart stellt Klemperer beinahe erstaunt fest, dass die „großen“ Entwicklungen der Welt keinerlei Einfluss auf den Alltag der Menschen haben. Auch wenn politische Umbrüche Deutschland umgestalten, bleiben doch die individuellen Belange des Einzelnen vorrangig. Die grundlegenden Bedürfnisse Klemperers nehmen „sozusagen die Breite des Raumes“ ein, weil ihnen – und nicht den weltgeschichtlichen Ereignissen – seine Aufmerksamkeit zuvorderst gilt. Das Tagebuch erfasst aus diesem
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Zum Begriff der Identität vgl. die Ausführungen von Hans Paul Bahrdt (1982, 22; vgl. auch Reck 1981; Hahn 1987).
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Grund weniger die Entwicklungen der Novemberrevolution, sondern der Diarist konzentriert sich vornehmlich auf seine privaten Belange. Die Geschehnisse, die direkt die individuelle Lebenswelt Klemperers betreffen, sind das Zentrum seiner Wahrnehmung.25 Nur insofern politisch-historische Ereignisse konkreten Einfluss auf seine Lebensbedingungen nehmen, werden sie im Tagebuch besprochen. Diese Überlegungen spiegelt er in der Reflexion über den Unterschied zwischen Dichtung und Realität. Die Frage, ob ein Leser nur dann erreicht werden könne, wenn das Beschriebene eine Dramatik erzeugt, die über den alltäglichen Rahmen hinausgeht, führt zum zentralen Punkt von Klemperers Auseinandersetzung. Denn obwohl er sich scheinbar sicher dafür entschieden hat, sich in seinen Aufzeichnungen auf die Darstellung des Alltags zu beschränken, zweifelt er insgeheim an der Richtigkeit dieser Wahl. Der Bezug auf eine Erzählung von Anatole France macht dies deutlich.26
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Dies lässt sich anhand der originalen Tagebücher besonders deutlich erkennen. In der Druckversion von Walter Nowojski wurden viele Textstellen gekürzt, die Alltagsereignisse beinhalten wie Kaffeehaus-Besuche (z.B.: LS I, 9, ungekennzeichnete Stelle, 25.01.1918), Gespräche mit Eva (z.B.: LS I, 57, 1. Stelle, 25.01.1919), fehlendes Gas zum Lichtmachen (z.B.: LS I, 56, 1. Stelle, 24.01.1919), Lektüre (z.B.: LS I, 55, 1. Stelle, 22.01.1919), das Wetter (z.B.: LS I, 57, 2. Stelle, 25.01.1919), Wohnungsbeschreibungen (z.B.: LS I, 63, 2. Stelle, 07.02.1919) und Erzählungen anderer (z.B.: über Revolutionswirren in LS I, 80, 3. Stelle, 01.03.1919). Gerade die Masse dieser Notizen aber charakterisiert das Tagebuch. Durch die aus Platzgründen vorgenommenen Kürzungen wird der Blick auf das Ausmaß der Bedeutung von Alltagsbeschreibungen eingeschränkt. Dies ist nicht unproblematisch. Immerhin könnte so der Eindruck entstehen, Klemperer habe weniger Wert auf derartige Inhalte gelegt, als es tatsächlich der Fall war. Der Titel der Erzählung lautet in deutscher Übersetzung „Der Statthalter von Judäa“ (vgl. France 1981, 42-56). Inhalt des Textes ist die Wiederbegegnung der Protagonisten L. Aelius Lamia und Pontius Pilatus nach vielen Jahren. Sie schwelgen gemeinsam in Erinnerungen an ihre Vergangenheit. Dabei kommt die Sprache auf Jesus von Nazareth. – In der Übersetzung von Irmgard Nickel weicht der Wortwechsel dieses Dialogs etwas von Klemperers Formulierung ab. Lamia erzählt: „‚Ich habe in Jerusalem eine Jüdin gekannt, die in einer Spelunke beim Schein eines qualmenden Lämpchens auf einem armseligen Teppich tanzte und dabei mit erhobenen Armen die Zimbeln schlug. [...] Ich folgte ihr überall hin. [...] Nach einigen Monaten hörte ich zufällig, sie habe sich einer kleinen Schar von Männern und Frauen angeschlossen, die einem jungen Wundertäter aus Galiläa folgten. Er hieß Jesus der Nazarener und wurde wegen irgendeines Verbrechens ans Kreuz geschlagen. Erinnerst du dich an diesen Mann, Pontius?ʻ / Pontius runzelte die Brauen und führte die Hand zur Stirn wie jemand, der in seinem Gedächtnis etwas sucht. ‚Jesus?ʻ murmelte er nach
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Die persönliche Lebensentwicklung der Protagonisten dieses Textes, Lamia und Pontius, steht dem rückblickend bedeutsamen Ereignis der Kreuzigung Christi gegenüber. Zentral für die Männer ist jedoch nicht Jesus von Nazareth. Sie sind auf ihre privaten Erlebnisse – Niederlagen wie Erfolge – fokussiert. Die Bedeutung eines unbekannten Galiläers für die Geschichte des Abendlandes konnte ihnen nicht klar sein. Anatole France vermittelt in seiner kurzen Erzählung eindrucksvoll das Ungleichgewicht zwischen der Wahrnehmung von weltgeschichtlich bedeutsamen Ereignissen und dem privaten Alltag eines Individuums. Dadurch widerlegt dieser Text Klemperers These, der Dichter müsse lügen, um nicht langweilig zu schreiben. Die zitierte Tagebuchnotiz vom 23. November 1918 erweist sich als ein komplexes Gewebe aus unterschiedlichen Inhalts- und Reflexionsebenen. Zunächst bemerkt Klemperer nur den Widerspruch zwischen „großen“ geschichtlichen Ereignissen und dem Alltagserleben Einzelner. Darauf folgt sofort eine Koppelung dieses Gedankens an seine berufliche und auch private Thematik – die Dichtkunst. Die Behauptung, ein Dichter lüge, wenn er der Weltgeschichte größere Bedeutung einräume als dem Alltag, wird von zwei verschiedenen Positionen aus betrachtet: Klemperers berufliche Profession als Romanistik-Dozent führt ihn zu dem Textbeispiel von Anatole France. Die philosophische Überlegung zur Relation von Alltag und Historie konterkariert und ergänzt das romanistische Selbstgespräch. Dabei sieht Klemperer seine Tagebuchaufzeichnungen im Kontext der France-Erzählung nicht als Dichtung. Er geht der Diskrepanz zwischen der Darstellung von großen und kleinen Ereignissen aus dem Weg, indem er klar den Schwerpunkt auf die Alltagsbeschreibungen legt, die seine persönlichen Belange betreffen. Dadurch wird die zitierte Aussage zu einer Schlüsselstelle für die Betrachtung und das Verständnis von Klemperers Einstellung zu seinem Tagebuch: Zentral ist für ihn die Beschreibung der eigenen Lebenswelt – es geht nicht um die Weltgeschichte. Er ist sich darüber im Klaren, dass er vermutlich zunächst nicht bemerken würde, wenn er einer zeitgeschichtlich wichtigen Person wie Jesus von Nazareth gegenüber stünde. Gleichzeitig kennzeichnet er dadurch die Grenze seines Tagebuchschreibens: Außerhalb der privaten Lebenswelt ist es ihm nicht möglich, aussagekräftige Beobachtungen zu machen. Dies wird auch an einem Notat vom Januar 1919 deutlich, in dem Klemperer die Revolutionskämpfe in Leipzig kommentiert: „Artillerie in den Straßen, Maschinengewehre auf den Dächern, erschossene Passanten, Flammen- u. Minenwerfer, Handgranaten ... es ist märchenhaft gräßlich, u. man nimmt es als selbstverständlich in Stumpfheit hin, sitzt im Concert, im Caféhaus, auf
kurzem Schweigen. ‚Jesus der Nazarener? Ich erinnere mich nichtʻ“ (vgl. France 1981, 56).
242 | SCHREIBEN EIN L EBEN LANG – V ICTOR K LEMPERERS T AGEBÜCHER der Bibliothek ... Das wirkliche Miterleben-, Mitschwingenkönnen ist ungemein begrenzt. –“ (LS I, 49, 10.01.1919).
Die geschichtlich bedeutsamen Ereignisse werden erst im Rückblick sichtbar. Auch die privaten Erlebnisse können in ihrer Bedeutung erst im Nachhinein gewichtet und eingeordnet werden. Das Tagebuch hat bei diesem rückblickenden Prozess eine wichtige Funktion. Denn in ihm werden jene „kleinen“ Alltagsereignisse bewahrt, die später als einflussreich oder unbedeutend verstanden werden können. Dessen ist sich Klemperer bewusst. Er nutzt das Diarium als Instrument, um den Prozess des Vergessens von Details aufzuhalten, die in späteren Zeiten zentral werden könnten. Doch auch hier gilt: „Erst am Ende unserer Tage werden wir gewahr, aus wieviel Kleinigkeiten unser Bild der Wirklichkeit gefügt ist, wieviel Fiktionen ihm beigemischt sind, wieviel gute Gedanken wir im Lauf unseres Daseins gehabt, aber nicht festgehalten haben“ (Bühner 1950, 190).
Während des Aufschreibens kann sich Klemperer nicht sicher sein, die „wirklich bedeutenden Dinge“ festzuhalten. Er muss selektieren. Denn der Inhalt des Tagebuchs ist immer schon subjektive Auswahl. Der Diarist kann nicht objektiv und umfassend Bericht über alles Erlebte erstatten. Selbst wenn er darum bemüht ist, alle entscheidenden Details seines Lebens zu bewahren, lässt sich dies nie umsetzen. Eine alles umfassende Beschreibung des Erlebens ist unmöglich. Durch die fortlaufende Aufzeichnung von möglichst vielen Details seiner privaten Wahrnehmung signalisiert Klemperer sein Interesse am Bewahren dessen, was er miterlebt. Zumindest ein Teil des Erlebten kann dadurch für ein zukünftiges Erinnern aufgehoben werden. Hierin liegt eine entscheidende Funktion, die Klemperer seinen Tagebüchern von Beginn an zuweist: das Bewahren von Erinnerungen.27 Ein Beispiel dafür ist die Eintragung vom 14. Dezember 1918. Darin berichtet Klemperer systematisch von einer Reise nach München, deren Ziel die Vorbereitung des gewünschten Umzugs von Leipzig dorthin war. Eingeleitet wird der Eintrag zunächst mit den Worten: „Ich will nun einfach nach den Stichworten, die ich mir auf einem Zettel schrieb, {...} in Gruppen zusammengefasst das Bedeutende ausführen. Es ist wirklich so viel Bedeutendes dabei, daß ich es auf mein Gewissen nehme, diese Arbeit der Astrée u. dem Drängen der Collegvorbereitung voranzustellen“ (LS I, 19, 14.12.1918).
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Der Begriff der Erinnerung ist in der Forschung seit Aristoteles (vgl. 1997) stetiger Gegenstand der Auseinandersetzung (vgl. Draaisma 1999, 2006; siehe zum Begriff der Erinnerungsbewahrung auch Freuds Formulierung der „fixierte[n] Erinnerung“ Freud 1948, 3).
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Klemperer strukturiert seine Eintragung vorausplanend, indem er sich an einem vorher verfassten Stichwort-Zettel orientiert. Außerdem signalisiert er den hohen Stellenwert seines gegenwärtigen Notats: Er nimmt es auf sein „Gewissen“, die Arbeit an seiner Astrée-Monographie28 zurückzustellen, um die wichtigsten Dinge seiner Reise schriftlich zu bewahren – also für eine spätere Erinnerung zu präparieren. Während der Reise fehlt die Zeit zum Tagebuchschreiben. Nur ein Eintrag vom 12. Dezember 1918 (LS I, 16-19) entsteht. Den wirklichen Bericht über seine Erlebnisse schreibt Klemperer erst nieder, als er sich wieder in Leipzig befindet (vgl. LS I, 19-34, 14.12.1918). Der Stichwort-Zettel hilft ihm dabei, sich an alle bedeutenden Ereignisse zu erinnern. Zusätzlich sortiert er mit dessen Hilfe das Erlebte „in Gruppen“, um dadurch den Überblick über seine chaotisch verlaufene Reise zu gewinnen. Dies wird noch deutlicher, durch eine Textstelle, die ungekennzeichnet im Druck der Tagebücher weggelassen wurde. Im Originalmanuskript schließt sich direkt an die zitierte Aussage ein zweiseitiger, chronologisch sortierter Überblick über die einzelnen Ereignisse der vier Reisetage an. Klemperer erläutert in stichpunktartigen Sätzen kurz zu dem jeweiligen Tag – gekennzeichnet durch Wochentag und Datum und hervorgehoben durch Unterstreichung –, was geschehen ist (vgl. LS I, ungekennzeichnete Stelle, 19, 14.12.1918). Dieser zeitlich sortierten Berichtsform folgt die angekündigte ausführliche Darstellung „in Gruppen“. Klemperer gibt damit aus zwei verschiedenen Perspektiven wieder, was er auf seiner Reise nach München erlebte. Zunächst strukturiert er die Ereignisse zeitlich. Im zweiten Schritt gewichtet er sie inhaltlich: „[d]ie Wohnungsmisere“, „[d]ie Universität“, „[d]as Militärische“, „Eßmarken“, „Hans Meyerhoff“, „Evas Musik“, das „Politische[]“, „Wahlversammlungen der Unabhängigen Sozialdemokraten“ und „Bahnfahrt“ (vgl. LS I, 19-34, 14.12.1918). Es geht dementsprechend nicht allein darum, zu erzählen, was passiert ist, sondern auch darum, das Erlebte systematisch und im Rückblick nachvollziehbar darzustellen. Dafür wählt Klemperer aufgrund der Vielzahl von
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Klemperer arbeitet im November 1918 an einer Monographie über den Schäferroman „L’Astrée“ von Honoré d’Ufré. Diese Tätigkeit wird zu diesem Zeitpunkt in fast jeden Eintrag erwähnt, ist also zentral für seinen Alltag (vgl. z.B.: LS I, 10, 29.11.1918). – Das zeigt die starke Bedeutung der wissenschaftlichen Arbeit für Klemperer. Sie hilft ihm, sich von der Außenwelt abzukoppeln, sowohl persönliche als auch weltgeschichtliche Probleme auszublenden und zu sich selbst zu finden. Damit geht es nicht nur darum, etwas zu leisten, das im beruflichen Umfeld Anerkennung findet, sondern auch darum, Selbstbestätigung durch die Bewusstwerdung der eigenen kreativen Denkleistung zu erreichen.
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Ereignissen, die beschrieben werden sollen, sowohl die chronologische als auch die themenorientierte Darstellung. Dadurch gewährleistet er, dass die Aufzeichnungen zu einem späteren Zeitpunkt leicht verständlich sind. Der erwähnte Stichwort-Zettel ist die Vorlage für ein wohlüberlegtes Erzählkonzept, in dem aus zwei Perspektiven heraus Ereignisse strukturiert wiedergegeben werden. Das Tagebuch ist in diesem Fall nicht mehr das direkte Abbild der Geschehnisse. Vielmehr entsteht mit dem Eintrag vom 14. Dezember 1918 durch die rückblickende Perspektive auf die vier Reisetage ein Bericht. Es handelt sich nicht um die Wiedergabe eines Sachverhalts, der soeben erst passiert ist, sondern um zurückliegende Erlebnisse, die auf einem Stichwort-Zettel zwischengelagert und bereits reflektiert wurden. Klemperers Umgang mit seinem Tagebuch entspricht damit nicht der Erwartungshaltung der Tagebuch-Theorie, dass nur direkt Erlebtes Eingang in die Aufzeichnungen finde. Vielmehr variiert er die Art der Einträge je nach den äußeren Umständen. Die Tagebuchaufzeichnungen sind im Falle der Reisebeschreibung nicht das Ergebnis eines spontanen Bedürfnisses, zu erzählen was geschehen ist, sondern resultieren aus strukturierten Überlegungen. Das Tagebuch ist somit nicht nur der Ort ungefilterter Eindrücke, sondern beinhaltet auch bewusst ausgewählte und gezielt dargestellte Erinnerungen. Zwischenergebnis 1916-1919 Bereits die frühen Diarien weisen auf ein systematisches Vorgehen beim Verfassen der einzelnen Einträge hin. Klemperer passt sich seiner Schreibsituation sogar mit Hilfe von Briefen an. Er nutzt Stichpunktzettel für rückblickende Berichte, fertigt zusätzliche Listen mit Theater- und Lektüreerlebnissen und sortiert nach chronologischen und inhaltlichen Aspekten. Zentral sind Alltagsbeobachtungen im Spiegel der Weltgeschichte. Das Tagebuch ist dabei bestimmt von zwei Formen des Erzählens: der spontanen Wiedergabe von gerade Erlebtem und der rückblickenden Darstellung ausgewählter Ereignisse. Ziel des Beschreibens ist das Bewahren von Erinnerungen. Dabei ist Klemperer sich bewusst, dass er weder für seine privaten Erlebnisse noch für die weltgeschichtlichen Entwicklungen beurteilen kann, was langfristig bedeutsam sein wird.
VII.3
1920-1925 – „... DIE
KLEINEN E INDRÜCKE [...] 29 FESTHALTEN NEBEN DEN GROSSEN D INGEN “
Das Bewusstsein, an großen geschichtlichen Ereignissen teilzuhaben, prägt Klemperers Wahrnehmung der Entwicklungen in der Weimarer Republik.
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LS I, 314, 26.06.1920
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Ihm ist klar, dass er nur wenig davon direkt erfassen kann,30 doch er empfindet es als Geschenk, zu erleben wie sich die Welt um ihn herum verändert. Als er mit seiner Frau im März 1920 von München nach Dresden übersiedelt, reist er durch weite Teile Deutschlands und beobachtet dabei sehr genau die Auswirkungen der Umbrüche. Auf einem Zwischenstopp in Leipzig schreibt er: „Und dann muß man seinem Schicksal dankbar sein, daß man historisch so Großes mitdurchlebt. Diese Reise ist trotz Hunger u. Geldjammer doch ungemein interessant ...“ (LS I, 257, 28.03.1920).
Klemperer weiß, dass er an ungewöhnlichen, möglicherweise geschichtlich bedeutsamen Ereignissen teilnimmt. Er versteht es als seine Aufgabe, darüber zu berichten. Dabei konzentriert er sich ausschließlich auf seine subjektive Sicht. Deshalb verzichtet er beispielsweise explizit auf die Darstellung politischer Ereignisse: „Ich lasse die große Politik absichtlich hier beiseite. Daß auch [...] [die politischen Entwicklungen, Anm. d. A.] überaus interessieren, versteht sich, aber wozu immer wieder meine Stumpfheit u. mein Nichtwissen u. meine Abneigung u. Skepsis gegen alle Parteien – am meisten freilich gegen die Rechtsradikalen – niederschreiben?“(LS I, 749, 30.09.1923).
Das private Tagebuch ist nicht der Ort, politische Entwicklungen oder selbst ausführliche Darstellungen von Klemperers Ansichten dazu aufzuzeichnen. Er konzentriert sich vielmehr auf seine privaten Beobachtungen, aus denen er meint, auch einen Teil der Weltgeschichte – nämlich Alltagsgeschichte – ablesen zu können. Er kann nicht überblicken, was die „großen“ Zusammenhänge sind. Aber es ist ihm möglich, Entwicklungslinien anhand von Details im Alltagsleben zu erahnen.31 Im Tagebuch äußert sich das durch die
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Dies wird wiederholt in ähnlichen Aussagen wie den in Kapitel VII.2 zitierten deutlich. So schreibt Klemperer: „Es bewegt mich immer wieder, wie absolut hilflos u. unwissend der Mensch ist. Eva u. ich stehen mitten in den Ereignissen, stehen geistig darüber, haben jahrelange Erfahrungen, haben geschichtliche, philosophische Kenntnisse, lesen u. hören, kennen das Ausland – und nicht den ungefähren Verlauf des Allernächsten können wir ahnen, wir tappen im tiefsten Dunkel, wie die ganz dumpfe Plebs u. wie fraglos auch die sogenannten Regierenden. Ich bin überzeugt Kahr u. Ebert u. Hitler u. Stresemann u. auch Poincaré tasten im gleichen Dunkel wie wir ... Katholisch werden – wenn man könnte!“ (LS I, 748, 28.09.1923). So erfasst er beispielsweise die Ausmaße der Inflation durch die Auflistung und Berechnung von Aktienwerten im Tagebuch (vgl. LS I, 710, 1. Stelle, 10.07.1923). Dadurch wird das Diarium zu einer Art Wirtschaftsbuch. Nicht
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Beschreibung von Alltagsereignissen, kontrastiert von Situationen, die in irgendeiner Form außergewöhnlich sind.32 Deshalb fragt Klemperer: „Warum soll ich die kleinen Eindrücke nicht festhalten neben den großen Dingen. Im Grunde ist beides gleich wichtig u. unwichtig u. in ein paar Jahren, wenn nicht früher, doch alles eins. Dann steht in einer Bibliographie mein Montesquieu verzeichnet u. nicht einmal bis zu zwei Brockhauszeilen habe ich’s gebracht. Und wenn ich’s soweit bringe, dann ändert das auch nichts am gänzlichen Aussein“ (LS I, 314-315, 26.06.1920).
Es wird in einer Art Rechtfertigungsargumentation ein Gleichgewicht zwischen den „kleinen“ und „großen“ Ereignissen hergestellt. Dies spricht Klemperers Alltagsbeobachtungen einen ähnlichen Stellenwert zu wie der Darstellung von weltgeschichtlichen Entwicklungslinien. Ausgelöst wird die Überlegung, welches Gewicht die „kleinen Eindrücke“ neben den „großen Dingen“ haben, durch eine Hinterfragung des dauerhaften Wertes derartiger Betrachtungen. Der sofort angeschlossene Gedankengang zur langfristigen Wirkung der eigenen Habilitationsschrift („mein Montesquieu“) verweist auf Klemperers Angst vor der Bedeutungslosigkeit. Die Vereinheitlichung aller Ereignisse „in ein paar Jahren, wenn nicht früher“ signalisiert Resignation. Sie entspricht einem häufig in den Tagebüchern auftretenden Pessimismus, der durch die Angst vor dem Tod – genauer: vor dem „Nichts“, das darauf folgen werde33 – charakterisiert wird. Todesgedanken begleiten Klemperer lebenslang. Schon in den frühen Tagebüchern finden sich Reflexionen über damit zusammenhängende Ängste. Das entscheidende Element dieser Furcht liegt in der Tatsache, dass der gestorbene Mensch „verschwindet“. Es bleibt in der Welt, in der er sich viele Jahre lang bewegte, nichts von ihm übrig. Er wird vergessen und nach einer Weile ist es, als sei er nie da gewesen. Das meint Klemperer, wenn er vom „gänzlichen Aussein“ spricht.34 Die einzige Möglichkeit, dieser Auslö-
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der Kommentar über die Probleme, die mit der zunehmenden Inflation verbunden sind, sondern die Rekapitulierung der Geldsituation und das für Klemperer außergewöhnliche, durch die Ausnahmesituation bedingte Interesse für Aktienkurse werden verzeichnet. Exemplarisch zeigt sich dies in dem Beschreiben von Gesprächen zwischen Zugreisenden (vgl. z.B.: LS I, 257-258, 28.03.1920). Stellvertretend für viele Beispiele sei hier eine Notiz anlässlich des Todes von Evas Mutter zitiert: „Eva heute morgen wieder sehr ruhig zur Sache: Tod sei großer Frieden. Mich ängstigt immer das Nichts u. das Nichtwissensollen. Ich citiere gern Schnitzler: welcher anständige Mensch denkt nicht täglich an den Tod“ (LS I, 347, 22.08.1920). Die Furcht vor dem „Verschwinden“ wird Klemperer mehrfach in der Konfrontation mit Erinnerungen deutlich. Bei einem Studienaufenthalt in Paris im Früh-
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schung zu entgehen, liegt für ihn darin, etwas zu vollbringen oder zu erschaffen, das auch ohne seinen Schöpfer weiter bestehen wird und dadurch eine Art stellvertretende Weiterexistenz ermöglicht. Die Habilitationsschrift über Montesquieu ist ein solches Werk, das eine Dauerhaftigkeit garantiert, die über die begrenzte Lebenszeit seines Autors hinausgeht.35 Sie wird „in einer Bibliographie“ verzeichnet sein und damit zumindest den Namen Victor Klemperer bewahren. Die argumentative Überleitung auf „nicht einmal bis zu zwei Brockhauszeilen habe ich’s gebracht“ signalisiert allerdings, dass es Klemperer nicht reicht, in einer Publikationsliste „weiter zu leben“. Er möchte einen Status, der ihm Unsterblichkeit in Form eines Eintrags in das genannte Lexikon garantiert.36 Da er an den „großen“ Ereignissen kaum partizipieren kann, weil
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jahr 1925 erschüttert ihn beispielsweise der Vergleich mit einem früheren Besuch in dieser Stadt im Jahr 1913, als er für seine Habilitation recherchierte. In einer nicht gedruckten Notiz beklagt er, dass er viele Ereignisse jenes ersten Aufenthalts vergessen habe: „Mich kränkt mein schlechtes Gedächtnis. Wie viel Erinnerungen hat Eva an 1913! Welche Ortskenntnisse! Mir ist so vieles entfallen, so vieles ist schon tot, was Leben war“ (LS II, 34, 1. Stelle, 18.04.1925). Klemperer schreibt über Jahrzehnte hinweg alle Ereignisse, jede gesehene Stadt, jede kleine Besonderheit auf. Doch er kann sich nicht aus eigener Kraft daran erinnern. Seine Frau besitzt das bessere Gedächtnis. Das Paradoxon, dass Eva Klemperer, ohne nachzuschlagen, mehr weiß als er selbst mit all seinen im Tagebuch aufbewahrten Erinnerungen, lässt ihn an der Sinnhaftigkeit seines Projekts zweifeln. Trotzdem schreibt er weiter, gerade weil er kein so gutes Gedächtnis hat wie seine Frau – um wenigstens auf diesem Weg zu bewahren, was ihm wichtig scheint. Dies wird auch deutlich, wenn Klemperer seine Kinderlosigkeit mit seinen Büchern zu kompensieren versucht: „Es scheint mir doch ein besonderes Schicksalsgeschenk, daß wir keine Kinder haben. Wir sind unendlich viel freier so. Ich kann das nicht egoistisch nennen. Wieso ‚schuldeʻ ich der Menschheit Nachwuchs. Und wenn wir ihr etwas schuldig sind, zahlen wir nicht in Büchern u. Compositionen? Und die Einsamkeit des Alters? Man ist auch mit 99 Kindern einsam, einsam in seinem Fühlen u. toteinsam im Sterben“ (LS I, 722, 29.07.1923). Die Erwähnung des ersehnten „Brockhaus“-Eintrags durchzieht über viele Jahre hinweg das Tagebuch. Es handelt sich um eine Art Symbol, das ausdrückt, wie Klemperer Zeichen setzen möchte, die unabhängig von seiner Person dauerhaft sein „Gewesensein“ belegen. Ein Eintrag im Lexikon ist für ihn ebenso wie die Veröffentlichung eines wissenschaftlichen Textes Ausdruck für eine Form von Unsterblichkeit. Widersprüchlich ist dabei, dass die Erwähnung des „Brockhaus“ immer konterkariert wird mit der Nichtigkeit eines Lexikoneintrags in Relation zum Tod. So auch am 6. Oktober 1920, als Klemperer über seine Erfolge auf einer Romanistik-Konferenz berichtet: „Was ist das Höchste?
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er aus seiner Position keinen Zugang zu den weltgeschichtlichen Entwicklungen hat, muss er versuchen, sein Ziel auf seiner Ebene zu erreichen. Und diese ist für Klemperer bestimmt durch die Wissenschaft, die Romanistik. Er handelt seinen Fähigkeiten entsprechend. Er kann nur mit Hilfe des Schreibens, mit der Produktion wissenschaftlicher Texte ein zumindest teilweises Bewahren seiner Existenz erreichen. Seine romanistische Tätigkeit verhilft ihm dazu, „Bleibendes“ zu erschaffen. Sie soll ihm einen Eintrag im „Brockhaus“ einbringen und ihn damit in einem gewissen Sinne „unsterblich“ machen – ihn dem „gänzlichen Aussein“ entziehen.37 „Bleiben“ ist bei Klemperer ein zentraler Begriff. Nicht nur sein Tagebuchschreiben, sondern auch seine gesamte berufliche Tätigkeit – beginnend bei seinen schriftstellerischen Versuchen über seine journalistische Arbeit bis hin zum wissenschaftlichen Wirken – wird darauf ausgerichtet, etwas „Bleibendes“ damit zu schaffen. Insbesondere das Publizieren befriedigt ihn deshalb: „Solch ein fertiges Buch ist ein Stück erledigtes Leben. Vielleicht ein Stück Bleiben. Irgendwo in einem Staubwinkel einer Bibliothek ‚lebtʻ man weiter“ (LS I, 625-626, 22.10.1922). Die Möglichkeit, in die wissenschaftliche Arbeit ein Stück der eigenen Identität einzubinden und ihr durch die Veröffentlichung eine Dauerhaftigkeit zu geben, beruhigt Klemperer. Das „Weiterleben“ im Buch, im Text erleichtert ihm das Leben und hilft ihm, seine Angst vor dem „Nichts“ zu zähmen: „Wenn es mir gelingt, nur wenige Zeilen zu schreiben, finde ich das seelische Gleichgewicht u. bin zufrieden. Das Schreiben fällt mir schwer, ich habe große Sehnsucht nach Lectüre, nach Genuß, nach Faulheit, nach dem Erlernen des Russischen, aber ich bin durchaus innerlich elend, wenn ich nicht schreiben kann. Das Schönste wäre dichten können; Literaturgeschichte u. Aesthetik ist mir Ersatz, ist mir schöpferische Tätigkeit in meinen Grenzen. Ich muß sie haben, so sauer sie mir fällt. Ich weiß, sie ist nichtig, u. ich muß sie haben. Sie ist meine Qual u. doch meine Lebensnotwendigkeit. Und sie ist mir jetzt seltener vergönnt als seit langem“ (LS I, 731-732, 10.08.1923).
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Allenfalls die goldene Amtskette der Universität Berlin, ein bißchen mehr Geld als jetzt, 10 Zeilen Brockhaus u. schließlich doch das Nichts, in das ich in letzter Zeit Menschen u. Tiere mit gleich bedrücktem Herzen habe gehen sehen“ (LS I, 363, 06.10.1920). Dass dieser Ehrgeiz bei Klemperer unverhohlen vorhanden ist, zeigt auch ein Vergleich, den er zwischen sich und seinem Cousin, dem Dirigenten Otto Klemperer, anstellt: „Ich las einen Hymnus auf Otto Klemperer, der im Gewandhaus dirigiert hat. Ich sagte mir, heute sei er vor Tausenden berühmt u. ich unbekannt. Aber einen Dirigenten vergißt man nach seinem Tod wie einen Schauspieler. Und mein Buch wird vielleicht noch nach hundert Jahren von 100 Menschen gelesen werden. Vanitas vanitatum“ (LS II, 7, 04.01.1925).
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Die scheinbare „Nichtigkeit“ der wissenschaftlich-ästhetischen Arbeit wird konterkariert mit dem hohen Wert, den sie für Klemperer hat. Er fühlt sich „innerlich elend“, wenn er nicht jeden Tag „nur wenige Zeilen“ schreiben kann. Darin steckt eine große Sehnsucht nach schöpferischem Handeln. Klemperer möchte etwas erschaffen, kreativ tätig sein, sich mit Literatur auseinander setzen. Wenn er schon nicht selbst dichten kann, so will er wenigstens analytisch über Dichtung schreiben. Denn die Arbeit ist identitätsbildend. Im Schreiben findet Klemperer in jeder Lebenssituation Halt: „Nur concentrierte Arbeit kann das Leere- u. Vanitasgefühl dieser Tage überwinden“ (LS I, 646, 25.12.1922). Nicht nur das wissenschaftliche Schreiben, auch das Tagebuch verhilft Klemperer dazu, etwas zu schaffen, das nach seinem Tod weiter existieren kann. Es ermöglicht ihm, zumindest einen Teil seiner Identität zu bewahren. Deshalb ist die Frage so wichtig, ob die Verzeichnung von Alltagserlebnissen von Wert sei: Die fehlende Darstellung von Weltgeschichte im Tagebuch wird ausgeglichen durch die Reflexionen zu Klemperers Persönlichkeit im Spiegel seiner Umwelt. Die enge Verknüpfung von Tagebuchschreiben und wissenschaftlichem Werk zeigt sich daran, dass der Zweifel an der Sinnhaftigkeit der privaten Aufzeichnungen ebenfalls symbolisch mit den „Brockhauszeilen“ konterkariert wird: „Ein inhaltsreicher Tag ergibt im Tagebuch kaum eine Seite; ein Leben in den Tagebüchern. Nur was von allem bleibt, ist im günstigsten Fall eine Brockhausseite. Von der ich selber nichts weiß“ (LS I, 429, 3. Stelle, 09.04.1921).
Ebenso wie er die wissenschaftlichen Werke in ihrer langfristigen Wirkung anzweifelt, stellt Klemperer auch das Diarium in Frage. Die Erkenntnis, dass auch ein „inhaltsreicher Tag“ nur wenige Notizen ergebe, reflektiert nicht nur die relative Ereignislosigkeit des Lebens, sondern kritisiert die Aussagekraft von Tagebucheinträgen. Unabhängig davon, was im Leben passiert, ergibt sich daraus meist nur ein kurzes Notat. Die Hoffnung auf eine „Brockhausseite“ wirkt dabei zunächst seltsam. In das Lexikon würde Klemperer nicht aufgrund seiner Tagebuchnotate, sondern durch sein wissenschaftliches Werk aufgenommen werden. Gerade daraus ergibt sich jedoch eine indirekte Kopplung an das berufliche Schreiben: Egal, welche Form der Textproduktion Klemperer betreibt, er möchte damit etwas „Bleibendes“ schaffen. Der Umstand, dass der Zweifel an der Wirksamkeit des eigenen – beruflichen wie diaristischen – Schreibens im Tagebuch überhaupt geäußert wird, führt zu einem Paradoxon: Wenn Klemperer überzeugt davon wäre, dass es vergeblich sei, zumindest Bruchstücke des Erlebten schriftlich zu speichern, würde er kein Tagebuch führen. Mit jedem aufgeschriebenem Zweifel setzt er gleichzeitig seine Argumentation von der Sinnlosigkeit des Tagebuchführens außer Kraft. Klemperer muss diesen scheinbar widersprüchlichen auto-
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poietischen Prozess, der durch die Freude am Schreiben und durch das Pflichtgefühl entsteht, dem Leben durch die Notate einen Sinn zu geben, stetig neu in seinen täglichen Aufzeichnungen thematisieren: „Immer wieder freilich faßt es mich an: wofür sammle ich? Nach einiger Zeit liege ich da wie die Rinder im Frigorifico [eine Rinderschlachtfabrik, die auf einer Reise besichtigt wurde, Anm. d. A.]. Und alles ist ausgelöscht. Es ist aber wohl Pflicht, das Leben so weit auszufüllen, wie irgendmöglich. Und es ist angenehme Pflicht“ (LS II, 113, 11.08.1925).
Das Schreiben – in welcher Form auch immer – hat eine zentrale Funktion im Leben Klemperers. Deshalb reflektiert er sehr häufig über seine Schreibfähigkeiten. Er hat oft den Eindruck, nicht „schildern“ zu können. So klagt er nach einer ausführlichen Darstellung einer Landschaft in der Sächsischen Schweiz: „Ich habe die märchenhafte Herrlichkeit hier nur andeuten können; es quält mich oft, daß ich nicht exakt schildern kann ...“ (LS I, 340, 18.08.1920). Dieser Satz entwertet qualitativ eine vorausgegangene, sehr genaue und wortgewandte Beschreibung der durchwanderten Gegend (vgl. LS I, 340, 18.08.1920). War die Landschaftsdarstellung sinnlos, weil Klemperer nicht schildern kann, was er sah? – Wozu dann die lange Darstellung im Tagebuch? Es grenzt an Koketterie, wenn Klemperer immer wieder den Widerspruch zwischen dem Wunsch, etwas zu beschreiben, und der Unmöglichkeit, das realitätsnah und unverfremdet umzusetzen, im Tagebuch thematisiert. Gerade dadurch vermittelt er aber die Wichtigkeit dieser Problematik für sein Selbstverständnis: Klemperer möchte möglichst umfassend beschreiben. Er leidet daran, wenn er etwas seiner Meinung nach nicht so mit Sprache abbilden kann, wie er es mit Augen und Geist wahrnimmt.38 Zudem ist er ist sich bewusst, dass er durch seinen Versuch, das Geschehene möglichst realitätsnah zu beschreiben, einen Verfremdungsprozess auslöst. Er thematisiert dieses Phänomen wiederholt konkret im Tagebuch (vgl. z.B.: LS II, 97, 31.07.1925; LS II, 102, 03.08.1925; LS II, 115, 3. Stelle, 13.08.1925) und entwickelt sogar eine Metapher, mit der er die Frage nach dem zu Beschreibenden immer wieder aufruft: „Mir geht jetzt oft durch den Kopf, wie völlig blind der Mensch ist. Er weiß nichts von der Vergangenheit, weil er nicht dabei war, er weiß nichts von der Gegenwart, weil er dabei ist – que sait-il?“ (LS II, 16, 06.03.1925).
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Die Problematik wird im Zusammenhang mit den unterschiedlichsten Begebenheiten im Tagebuch formuliert, beispielsweise in Bezug auf das Gefühl, sich nicht souverän in der Gesellschaft bewegen zu können (vgl. LS I, 490, 25.08.1921).
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Die Frage „que sait-il?“ – Was weiß er? – wird für Klemperer zum Symbol des Zwiespaltes, den jede beschriebene Beobachtung neu auslösen kann. Die Unmöglichkeit, „exakt“ zu „schildern“, ist ständig gegenwärtig. Trotzdem hält Klemperer den hohen Anspruch aufrecht, das Erlebte zu bewahren. Die immer wiederkehrenden Ängste, den eigenen Erwartungen nicht gerecht werden zu können, sind dabei Teil dieses Ausdrucksvermögens. Sie spiegeln Klemperers Persönlichkeit und prägen seine Beobachtungsgabe. Die Tagebucheintragungen sind gerade in ihrer Widersprüchlichkeit Ausdruck seiner Individualität. Es geht nicht darum, eine durchgehende inhaltliche oder auch formale Linie einzuhalten. Vielmehr passt Klemperer das Tagebuch – sowohl im Material als auch in der Art des Schreibens und der Thematik – seinen jeweiligen Bedürfnissen an. Dementsprechend enthält es auch nie alle möglichen Inhalte. Klemperer schreibt nur über das, was gerade im Zentrum seines Blickfelds steht. Deshalb kann er beispielsweise die Darstellung einer Meinungsverschiedenheit mit seinem Verleger mit den Worten beenden: „Mir fehlt es an Zeit, alle meine hieraus resultierenden Sorgen, die mich seit gestern Morgen keinen Augenblick verlassen haben, hier zu notieren. Sie verstehen sich ja auch von selber“ (LS I, 391, 04.12.1920).
Die ausführliche Darstellung von Emotionen und Argumentationslinien, die dem beschriebenen Problem mit dem Verleger zugehören, werden im aktuellen Tagebucheintrag nicht näher erläutert. Die Begründung „Sie verstehen sich ja auch von selbst“ scheint Klemperers Anspruch auf möglichst umfassende Vollständigkeit entgegenzustehen. Doch weil er auf das Weglassen seiner Reaktion verweist, ist sie paradoxerweise schon wieder Teil des Tagebuchs. Die stetige Thematisierung des Schreibens verdeutlicht nicht nur die Prozesshaftigkeit des Schreibaktes, sondern ebenso die Verarbeitung von Inhalten und formalen Aspekten des Diariums. Sowohl die Handlungen des Tagebuchschreibers als auch die Darstellung der gegenwärtigen Schreibsituation werden hinterfragt. Das zeigt sich auch an Klemperers sehr planvollem Vorgehen bei der Entwicklung seiner Aufzeichnungen.39 Diese Ordnung
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Ein Beispiel dafür ist das Integrieren des Schreibmaterials in das Tagebuchschreiben in Mscr. Dresd. App. 2003, 122. In diesem Buch wird neben der fortgesetzten Auflistung von Tagebuchinhalten im vorderen Spiegel unterhalb der Angabe von Tagebuchtitel und Datierung ein spezieller Kommentar eingefügt: „I. Anfang beiliegendes Blatt aus einem allzu schlechten Diarium“ (vorderer Spiegel Mscr. Dresd. App. 2003, 122). Damit wird erläutert, warum das neue Tagebuch mit einem eingelegten Blatt aus einem anderen Schreibheft beginnt. Der erste Buch-Eintrag vom 1. Oktober 1920 kommentiert diesen Sachverhalt zunächst nicht. Erst die zweite Tagebucheintragung erklärt zusätzlich zum
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hilft ihm, nicht nur sein Tagebuch, sondern auch sein Leben zu strukturieren. Das Schreiben des Diariums ist eine nahezu tägliche Handlung, die dazu beiträgt, die Anforderungen des Alltags zu meistern. Deshalb ist es auch extrem belastend für Klemperer, wenn diese strukturierende Lebenshilfe ungenutzt bleiben muss, weil er nichts Aufschreibenswertes erlebt hat. So klagt er einmal im Anschluss an eine Darstellung seiner schlechten Verfassung: „Was bleibt für das Tagebuch? Nada, niente, rien“ (LS I, 594, 1. Stelle, 06.06.1922). Wenn nichts erlebt wird, kann nichts beschrieben werden. Es „bleibt“ nichts „für das Tagebuch“. Das wirkt fast, als sei Lebenszeit, die nicht im Tagebuch verzeichnet werden kann, verschwendet.40 Das Aufschreiben des Erlebten scheint für Klemperer die Sinnhaftigkeit des gelebten Tages zu bestätigen. Trotz der temporär geäußerten Schreibunlust bemüht er sich um möglichst umfassende und nachvollziehbare Berichte seines Alltags. Die erlebte Zeit soll keinesfalls dem Vergessen anheim fallen. Das Notieren der wichtigsten Ereignisse im Tagebuch soll und kann das verhindern – selbst wenn es eine Weile dauert, bis Klemperer zum Schreiben kommt.41
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Vermerk auf dem vorderen Spiegel, warum das Buch die Überreste einiger herausgeschnittener Seiten enthält: „Das Diarium, das ich zum Tagebuch bestimmt hatte u. das nun so ganz unmögliches Papier aufweist, daß ich die erste beschriebene Seite herausgeschnitten habe, hatte ich in Berlin für 9.50 M gekauft. Jetzt hat mir E. ein schon begonnenes Musikkollegheft aus München abgetreten“ (LS I, 361, 03.10.1920). – Für den Inhalt des Tagebuchs ist es ohne Bedeutung, auf welchem Material und in welcher äußeren Form notiert wird. Doch Klemperer macht den Zusammenhang zwischen Tagebuchinhalt und Tagebuchmaterial zum Thema: Der Textträger wird Teil des Textes. An dieser Koppelung von Schreibunterlage und Schreibinhalt wird deutlich, wie komplex Klemperers Schreibziele sind. Jede Ebene der Existenz, jede Kleinigkeit kann und soll Teil des Tagebuchs werden. Erst die Kombination aus unterschiedlichen Themen und Bedeutungsbereichen ergibt das angestrebte Gesamtbild. Dabei ist Klemperer bewusst, dass diese Universalität mehr als unzureichend bleiben muss. Trotzdem strebt er eine möglichst umfassende Beschreibung aller Lebensbereiche an. Grenzen zwischen Themen sind dabei ebenso wenig gesetzt wie zwischen Material und Tagebuchschreiben. Dementsprechend negativ – und ironisch – wird es auch bewertet, wenn die „kleinen“ Ereignisse scheinbar zu „ordinär“ werden: „Wenn ich Tagebuchnotizen machen will, so ist es immer wieder das gleiche. Über Wetter – wir haben es kühler – Schmerzen, Bäder, Schlaf kann ich schreiben: Ein Vegetieren“ (LS I, 478, 05.08.1921). Beispielsweise notiert Klemperer im September 1924: „Ich weiß nicht, ob ich schlaffer u. älter geworden bin – ich mag nicht mehr bloß schreiben u. immer bloß schreiben“ (LS I, 867, 16.09.1924). Er ist des Schreibens müde und lehnt es ab, sich ausschließlich damit zu befassen. Mit dieser Erklärung begründet er, warum er das Tagebuch nach der Rückkehr aus einem mehrwöchigen Urlaub
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Zwischenergebnis 1920-1925 In dem Bewusstsein, an historisch bedeutsamen Veränderungen teilzuhaben, macht Klemperer es sich zunehmend zur Aufgabe, „die kleinen Eindrücke“ in seinem Tagebuch zu vermerken. Damit hofft er einen Beitrag zu einer langfristig bleibenden (Alltags-) Geschichtsschreibung leisten zu können. Gleichzeitig betont er das Problem, nicht abbilden zu können, was „wirklich“ geschieht. Sowohl in der Wahrnehmung als auch in der Darstellung ist es unmöglich, ein Ereignis realitätsgenau zu erfassen. Dies reflektiert Klemperer stetig in seinem Schreibprozess. Trotz des Bemühens um möglichst umfassende Darstellungen charakterisieren Unvollständigkeit und Widersprüchlichkeit das Tagebuch und weisen auf die Vergänglichkeit des Augenblicks hin. In seinen Tagebuchaufzeichnungen gelingt es Klemperer zumindest, einen Teil des Erlebten zu erhalten und damit – ähnlich wie er es mit seinem wissenschaftlichen Werk in einem öffentlichen Rahmen versucht – etwas „Bleibendes“ zu schaffen.
auf Bornholm 15 Tage vernachlässigt hat: Dem Eintrag vom 30. August 1924, der noch in einem Hotel in Kopenhagen entsteht, folgt erst am 15. September die nächste Tagebuchnotiz. Der Grund für die lange Pause wird darin noch nicht erklärt. Zunächst holt Klemperer nach, was ihm von der Reise berichtenswert erscheint. Erst am 16. September – nach Beendigung des Reiseberichts – entstehen neue „alltägliche“ Tagebucheintragungen. Nun erläutert Klemperer, was ihn so lange davon abhielt, Tagebuch zu führen. Doch er relativiert die Aussage, „nicht mehr bloß schreiben u. immer bloß schreiben“ zu wollen, durch die nachfolgenden, umfangreich dargestellten Ereignisse der vergangenen zwei Wochen. Unterstützt wird dieser Effekt durch eine im Druck nicht publizierte Ankündigung: „Ich habe vom Inhalt dieser zwei Wochen Stichworte auf [einen] Zettel geschrieben u. will nun nachholen“ (LS I, 867, 1. Stelle, 16.09.1924). Am folgenden Tag, dem 17. September, ergänzt Klemperer seine rückblickende Darstellung der wichtigsten Ereignisse der fehlenden Wochen. Die ausführlichen Beschreibungen werden schließlich kommentiert: „Wenn ich nun noch notiere, daß ich heute in mühseliger schleichender Durchführung die Correctur der ersten Capitel für Teubner (‚Bonaparte u. Napoleonʻ) erledigt habe – stolz auf dieses Capitel bin, das nun schon fast ein Jahr alt ist, so habe ich wohl alles in mein vernachlässigtes Tagebuch nachgetragen bis auf die Kinobesuche. Von ihnen jetzt im Zusammenhang u. Überblick“ (LS I, 870, 3. Stelle, 17.09.1924). Es wird erneut deutlich, dass Klemperer darum bemüht ist, möglichst vollständig alle wichtigen Ereignisse der zwei Wochen nachzuholen, in denen er keine Ambitionen zum Schreiben hatte. Damit kennzeichnet er die Schreibunlust als temoräres Phänomen, das langfristig nicht dazu führt, den Anspruch auf grobe inhaltliche Vollständigkeit aufzugeben. Im Gegenteil: Er trägt systematisch nach, was sich ereignete.
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E XKURS 7: R EISETAGEBÜCHER Auf Klemperers großen Reisen steigen die Masse und Intensität der Tagebucheintragungen stark an. Das Bewusstsein der Außeralltäglichkeit des Erlebens führt ihn dazu, umfangreichere Einträge zu gestalten. Dadurch grenzen sich die auf Reisen entstehenden Aufzeichnungen deutlich von sonstigen Notaten ab.42 Der Begriff des „Reisetagebuchs“, der deshalb auf diese Textteile angewendet wird, soll allerdings nicht als Hinweis auf verstärkte literarische Ambitionen Klemperers gelten. Zwar führt ihn der Eindruck, auf seinen Reisen Außergewöhnliches zu erleben, dazu, sein Schreiben zu intensivieren. Dies geschieht jedoch ebenso wenig im Hinblick auf eine konkrete Veröffentlichung wie bei den Alltagsaufzeichnungen. Vielmehr erklärt sich die hervorgehobene Stellung dieser Tagebuchteile durch die Inhalte. Das Erleben von Ereignissen, die als etwas Außergewöhnliches oder Einzigartiges gelten können, begründet den besonderen Status der Aufzeichnungen, die während verschiedener Reisen entstehen.43 Formal fügen ϰϮ
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Die Meinung von Claudia Buhles, die Reisetagebücher seien kaum von den sonstigen Eintragungen unterschieden, da sie sich „[s]prachlich und inhaltlich“ (Buhles 2003, 256-257) nicht abheben, wird hier nicht geteilt. Die Erwartungshaltung, bei Reisebeschreibungen müsse es sich um „besonders literarisch gestaltete Eintragungen“ (Buhles 2003, 257) handeln, ist ungerechtfertigt. Dies wird bereits in den frühesten noch vorhandenen Tagebuchmanuskripten deutlich. So enthält Mscr. Dresd. App. 2003, 118 einen Reisebericht, in dem die Ereignisse einer Bewerbungsreise nach Brüssel zwischen dem 3. und dem 11. Oktober 1918 erzählt werden (entstanden zwischen dem 22. und 30. Oktober 1918). Systematisch erläutert Klemperer darin nicht nur die Verhandlungsergebnisse mit der Universität in Brüssel, sondern auch Reisebedingungen, Landschaftseindrücke, Begegnungen mit Bekannten und zufällige Beobachtungen. Zur Ergänzung werden dem Reisebericht ein Tagebucheintrag vom 16. Oktober und ein teilweise rückblickend geschriebener Brief an Eva Klemperer vom 4. Oktober beigefügt. Die drei Textelemente werden im Tagebuch gemeinsam aufbewahrt. Sie sind in ein gefaltetes DIN-A4-Blatt eingeschlagen, auf dem Klemperer notierte: „Wilna-Brüssel 3-ii Oktober i8 / Bogen 1-4 u. Brief 4a / Urfeld 13-16/X i8. / München – Leipzig 22 – 30/X i9i8 / Bogen I-IV. / (literarische Notizen: Cazette, Zola, Ruederer, Schindler, Feuillet.)“ (Mscr. Dresd. App. 2003, 118). Auf dem Deckblatt des Reiseberichts befindet sich außerdem ein Inhaltsverzeichnis, in welchem dem jeweiligen Wochentag Ereignisse zugeordnet wurden. Den drei Textteilen des Reiseberichts schließen sich ohne weiteren Kommentar fortlaufende Tagebucheinträge (vom 22. bis 30. Oktober) an. In ihnen werden beispielsweise Notizen zu Lektüre gemacht oder allgemeine Informationen aus dem Alltag vermerkt. Der Eintrag vom 30. Oktober endet mit den Worten: „Von nun an wieder einmal Briefe statt der Tagebücher“ (Mscr. Dresd. App. 2003, 118, Rückseite Blatt 20). Dadurch ist der Reisebericht formal klar dem Diarium zugeordnet. Die drei Textteile, die spe-
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sie sich in die Folge der Alltagstagebücher nahtlos ein. Auf nahezu jeder Reise bemüht Klemperer sich intensiv darum, zu verzeichnen, was er wann unter welchen Umständen erlebt hat. Er versteht es als seine Aufgabe, seine Beobachtungen aufzuschreiben.44 Anhand einer Schiffsreise aus dem Jahr 1929 soll dies im Folgenden beispielhaft dargestellt werden. Zwischen dem 1. August und dem 18. Oktober 1929 – also zweieinhalb Monate lang – reist das Ehepaar Klemperer auf einem Frachtschiff durch das Mittelmeer.45 Die Fahrt wird umfangreich und detailgenau im Tagebuch notiert. Das beginnt bereits in Dresden mit dem Vermerk spezifischer Vorbereitungen (vgl. LS II, 539, 3. Stelle, 27.07.1929). Nach einem kurzen Aufenthalt in einem Hotel in Bremen, gehen die Klemperers am 2. August an Bord der „Pera“. Inhalt und Aufbau des ersten Eintrags auf dem Schiff stehen exemplarisch für die Art, in der das Reisetagebuch der kommenden zweieinhalb Monate entwickelt wird: Klemperer geht nach einer kurzen Schilderung des Reisestatus (vgl. LS II, 541, 02.08.1929) und der Wetterbedingungen dazu über, Bremen zu beschreiben. Eine Stadtbesichtigung, die er gemeinsam mit seiner Frau gemacht hat, gibt er ausführlich wieder (vgl. insbesondere LS II, 541, 1. Stelle, 02.08.1929). Es geht ihm darum, möglichst genau die architektonische Beschaffenheit der betrachteten Gebäude darzustellen. Dabei greift er auch auf frühere Erfahrungen zurück. Er spiegelt auf diese Weise aktuelle Beobachtungen in zurückliegenden Wahrnehmungen.46
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ziell zur Brüssel-Reise berichten, heben sich von den alltäglichen Tagebucheintragungen nur durch die rückblickende Berichtsform und die spezifische Ausführlichkeit ab. Dies artikuliert er in Formulierungen wie: „Ich zwinge mich aber zur Unterdrückung all dieser [negativen, Anm. d. A.] Gefühle, betrachte jeden Tag als ein Pensum u. nehme die Studienreise u. dieses Tagebuch ungemein ernst. Niemals zuvor habe ich so bis ins Einzelne auf alles geachtet wie hier“ (LS II, 258, 21.05.1926). Es ist die zweite Reise der Klemperers dieser Art im Jahr 1929 (vgl. zur „Frühjahrsreise 1929“ LS II, 476-512, 03.03.1929-12.04.1929). Mehrfach buchten sie sich auf Frachtschiffen eine Kabine. Dadurch konnten sie sich an den Orten, an welchen Fracht aufgenommen oder abgeladen werden musste, ohne Bevormundung durch einen Touristenführer umsehen. Explizit wird dies bei der Beschreibung einer Hafenrundfahrt: Klemperer vergleicht die Besonderheiten des Bremer Hafens mit jenem in Hamburg (vgl. LS II, 541, 2. Stelle, 02.08.1929). Insbesondere die Unterschiede zwischen beiden Häfen werden detailreich aufgezählt. So zeigt Klemperer nicht nur seine aktuelle Beobachtungsgabe, sondern ordnet seine Erfahrungen in einen größeren Rahmen ein. Er kombiniert Gegenwärtiges mit Vergangenem und erzeugt dadurch eine Verkoppelung unterschiedlicher Wahrnehmungen. Das neu Gesehene steht nicht allein, sondern wird sofort eingeordnet in einen größeren Wis-
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Das Erlebte wird chronologisch erzählt. Der Reihe nach berichtet Klemperer, was er wann gemacht und gesehen hat. Sobald es sich dabei nicht um die Beschreibung von Landschaften oder Orten handelt, wechselt er in einen fast stichpunktartigen Erzählstil: „Dann im Auto ins Hôtel. Eine Weile geschlafen, Rechnung gezahlt, Kaffee, irgendwo in der Nachbarschaft, und nun: zum Bahnhof, die drei großen Koffer geholt u. zum Glück einen beflissenen u. freundlichen Chauffeur gefunden. Hierauf das Handgepäck aus dem großen Columbus Kasten gezogen. Dann zum Reeder Böning in der Langenstr. (City). Hier das vorausgeschickte Bücherpaket gefischt. Und jetzt mit allen sechs Sachen weit hinaus zum Schuppen 18, erst durch armselige Vorstadt, dann zwischen Schuppen u. Eisenbahnsträngen. Der Chauffeur half uns sehr nett, die Sachen aufs Schiff überladen, er fuhr uns dann zur Zollgrenze zurück“ (LS II, 541-542, 02.08.1929).
Zu einer umfassenden Reisebeschreibung gehört für Klemperer die Darstellung aller Ereignisse. Deshalb verzeichnet er auch scheinbar unwichtige Details wie das Abholen von „drei großen Koffer[n]“. Darin spiegelt sich nicht nur das Bedürfnis, das Leben möglichst genau zu erfassen, sondern das Bewusstsein für Zusammenhänge: In außergewöhnlichen Situationen geht es Klemperer noch mehr als im Alltag darum, das Ereignis in seiner Gesamtheit zu begreifen. Dazu hilft jedes Detail. Die verzeichneten Informationen wirken dabei fast wie eine Registratur aller Erlebnisse. Dieses Vorgehen, das auch im alltäglichen Tagebuch gelegentlich geschieht, steigert Klemperer im Reisetagebuch fast ins Extreme. Nahezu jede Minute des Tages scheint festhaltenswert – der Ablauf der Reise wird in gewisser Weise konserviert. Klemperer beschreibt in seinen Reisetagbüchern viel ausführlicher als in seinen alltäglichen Einträgen jede seiner Bewegungen. Dadurch wird das Bild, das er von der Reisezeit in seinem Diarium schafft, plastischer. Nicht nur die Tatsache, dass Klemperer Bremen besichtigt und anschließend auf die „Pera“ zieht, ist für den Reisebericht wichtig. Denn es geht nicht allein darum, die herausragenden Ereignisse zu beschreiben. Vielmehr liegt sein Interesse darin, sein Leben im Kontext des Besonderen darzustellen. Deshalb notiert er nicht nur, was er gesehen hat, sondern ordnet die Beobachtungen gleichberechtigt in seinen Tagesablauf ein. Jede Handlung ist wichtig. Erst der Zusammenhang der Abfolge unterschiedlicher Ereignisse ergibt ein Bild vom tatsächlichen Erleben. Genau dies möchte Klemperer in seinem Tagebuch einfangen. Während er in seinen Alltagsaufzeichnungen nicht täglich jeden Schritt, den er macht, im Diarium vermerkt, charakterisiert diese Vorgehensweise spezifisch seine Reisetagebücher. In ihnen wird möglichst umfangreich und unter genauen
sensraum. Damit deutet sich auch an, dass Klemperer seine Hafenbeschreibung nicht als Selbstzweck begreift, sondern sie als Teil eines Gesamtbilds verfasst, das durch jede neue Erfahrung erweitert und präzisiert wird.
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Zeit- und Ortsangaben jedes Ereignis des Tagesablaufes notiert. Nähere Angaben fügt Klemperer während dieser Darstellung ein, wenn es sich um Dinge handelt, die aus seiner Sicht bemerkenswert sind. So wird der Chauffeur, dessen freundliches Handeln sich auf die Reisevorbereitungen der Klemperers positiv auswirkt, gleich mehrfach genannt und als hilfreich vermerkt. Konkretere Überlegungen zu einzelnen Themen bleiben in dem chronologischen Bericht allerdings zunächst ausgespart. Erst im Anschluss an die Beschreibung des Tagesablaufs wendet sich Klemperer genaueren Analysen zu. Dies geschieht als Nachtrag zu den Eindrücken, die er zu Bremen hat: „Von Bremen will ich noch nachholen, daß hier alles erfüllt ist von der ‚Bremenʻ, dem schnellen neuesten Lloydriesen. Man hat am Quai ihr Längenmaß markiert, man zeigt, wo sie ausgefahren ist. Und heute tragen Gebäude u. Schiffe u. Trambahnen Flaggenschmuck, weil sie eben von ihrer ersten Fahrt nach Bremerhafen zurückgekehrt ist. – Der Lloyd scheint eigentlicher Herr u. Herzschlag Bremens zu sein. Ihm gehört, wonach man fragt. Auch die Pera. Und das hängt so zusammen, daß ihm die ganze Levantelinie gehört. Ebenso die Neptun-Linie u. eine Stettiner Gesellschaft. Man hat die alten Namen gelassen, weil Kundschaft an ihr hängt. Aber dahinter steht als wirklicher Besitzer der Lloyd. Was ist das nun ‚der Lloydʻ? Eine Person? Gewiß nicht, nur eine Gesellschaft. Und wahrscheinlich doch eine Person, ganz unsymbolisch, irgend ein geheimer Diktator“ (LS II, 442, 02.08.1929).
Die auffällige Allgegenwärtigkeit der „Bremen“ führt zu einem spezifischeren Kommentar. Klemperers Beobachtung ist Ausdruck seiner geschärften Aufmerksamkeit für die hintergründigen Zusammenhänge dessen, was er als Tourist betrachtet. Er nennt Beispiele, durch welche ihm die Bedeutung des Schiffes und damit letztlich der Reederei „Lloyd“ aufgefallen ist. Daraus zieht er wiederum Rückschlüsse auf den Einfluss der Schiffsgesellschaft als Wirtschaftsmacht. Dieser Gedanke wird im Tagebuch näher untersucht, indem Klemperer rhetorische Fragen stellt. Dadurch zeigt sich eine weitere Methode, die den Charakter seines Reisetagebuchs prägt: Spezifische Auseinandersetzungen entstehen vor allem zu Themen, die nicht nur in einem Mikrokosmos wirken, sondern Auswirkungen auf einen größeren Zusammenhang haben. Klemperer nimmt nicht nur die Allgegenwärtigkeit der „Bremen“ wahr, sondern zugleich auch den Hintergrund dieses Sachverhalts: die wirtschaftliche Bedeutung der Reederei „Lloyd“. Diese Erkenntnis äußert er in einer fast dialogisch geführten Analyse. Am Abend ergänzt Klemperer seinen Tagebucheintrag vom 2. August 1929 um eine weitere Beschreibung. Nach der Kennzeichnung „Abends 8 Uhr“ (LS II, 542, 02.08.1929) vermerkt er ausführlich, wie die „Pera“ aufgebaut ist, und notiert erste Beobachtungen zur Besatzung des Schiffes. Dabei zitiert er indirekt den ersten Offizier mit dessen Meinung über den Kapi-
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tän. Er führt auf diese Weise eine zweite Meinung neben seiner persönlichen ein. Diese Methode findet sich ebenfalls häufig in den Reisetagebüchern. In dem ersten Tagebucheintrag, der auf der „Pera“ entsteht, verwendet Klemperer bereits die vier zentralen Vorgehensweisen, die seine Reisebeschreibungen prägen: Mit Hilfe detailreicher Darstellungen, der chronologischen Aufzählung der Tagesereignisse, systematischer Hintergrundanalysen und des Zitierens anderer Meinungen bereitet er das Erlebte auf. Dadurch erreicht er ein vielschichtiges Bild des jeweils Beschriebenen. Das Geschehene wird nie nur als Chronologie von Ereignissen oder aus einem Blickwinkel dargestellt. Vielmehr kombiniert Klemperer detailgenaue Darstellungen von optischen Eindrücken und funktionalen Zusammenhängen mit Überlegungen zu politischen, gesellschaftlichen, historischen oder auch ästhetischen Hintergründen. Vermerkt er eine subjektive Wahrnehmung zu einer Person oder einem Ereignis, koppelt er daran häufig indirekte oder direkte Zitate anderer. Die dadurch erreichte Tiefenstruktur seiner Beschreibung wird wiederum konterkariert durch die scheinbar eindimensionale chronologische Aufzählung der Tagesereignisse. Alles zielt darauf ab, ein möglichst umfangreiches und plastisches Bild der Mittelmeer-Reise zu geben. Denn erst die Kombination der verschiedenen Wahrnehmungsebenen und Darstellungsmethoden nähert sich Klemperers Blick an. Sein Reisetagebuch ist deshalb kein Bericht, in dem Ereignisse linear wiedergeben werden. Vielmehr liegt es in seinem Interesse, die Komplexität seines Erlebens auch in einem vielschichtigen Konstrukt aus unterschiedlichen Beschreibungsmustern abzubilden. Mit jedem Eintrag erweitert Klemperer das Bild, das er von seiner Reise zeichnet. Jeder Gedanke, jedes Erlebnis kann die Richtung der Aufzeichnungen verändern.47 Die herausragende Masse und Intensität der Tagebuchaufzeichnungen während der Reise verweist auf deren Sonderstellung. Sie können aus den alltäglichen Tagebuchnotizen herausgelöst werden und erhalten dadurch den Status eines eigenständigen, weil abweichend vom sonstigen Tagebuch gestalteten Textes. Zwar bleibt der diaristische Rahmen erhalten, doch sowohl inhaltlich-thematisch als auch strukturell heben sich die Eintragungen vom sonstigen Muster der Aufzeichnungen ab. Dies resultiert aus einem verstärkten Drang Klemperers, seine Reise auch schreibend zu erfahren. Das Erleben von Außeralltäglichem scheint das Festhalten des Besonderen mittels Schrift zu erzwingen. Selbst der Vorgang des Aufschreibens wird Teil des Reiseberichts. Wenn Klemperer zur Einleitung eines Eintrags beispielsweise bemerkt „Bevor wir an Land gehen, eini-
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So entstehen teilweise auch Arbeitsnotizen im Reisetagebuch. Beispielsweise notiert Klemperer seine Eindrücke zu einem Roman von Rudyard Kipling (vgl. LS II, 608-609, 16.10.1929). Dieser Text, der im fortlaufenden Tagebuch verzeichnet ist, wird nur durch einen Anstrich mit blauem Buntstift von den sonstigen Notaten abgehoben (vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 132).
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ge Notizen.“ (LS II, 546, 12.08.1929), erklärt er seine gegenwärtige Aufzeichnung zu einem Teil seines Tagesablaufes. Dadurch gerät er jedoch in ein kaum aufzulösendes Paradoxon, das sein Reisetagebuch zu einem nur schwer lesbaren Text macht: Klemperer steht unter dem Zwang, möglichst alles genau zu beschreiben. Dies scheitert aber – wie ihm durchaus bewusst ist – an der zeitlichen Distanz zwischen Erleben und Schreiben. Deshalb gerät der Schreibende in eine Spirale von Wiederholungen. Beispielsweise wird nahezu jedes Be- und Entladen der „Pera“ im Tagebuch ausführlich notiert. Das Ziel, eine möglichst umfassende Reisedarstellung zu erschaffen, führt zu langatmigen Redundanzen. Dies nimmt Klemperer bewusst in Kauf. Sein Bemühen um Vollständigkeit wird im Reisetagebuch (im Gegensatz zum alltäglichen Diarium) über Lesbarkeit und Übersichtlichkeit gestellt. Dabei ignoriert er auch, dass Ereignisse, die in einem größeren zeitlichen Abstand beschrieben werden, noch weniger als sofort Verzeichnetes „Authentizität“ garantieren können. Vielmehr übergeht er dies, indem er sich an schematische Instrumente hält: „Ich will nun (z. T. noch einmal, z. T. neu) ein Schema der sechs Tage Piräus-Athen notieren, danach es zusammenhängend ausfüllen Sonntag abend 18/8 vor dem Hafen Anker geworfen. Mo. 19/8. Nachmittags erste Fahrt nach Athen. Di. 20. Nove. Fahrt zur Akropolis. Abends Sauferei.“ (LS II, 556, 1. Stelle, 25.08.1929).
In dem Versuch, sich „ein Schema“ zu erschaffen und mit dessen Hilfe Erlebtes „auszufüllen“, zeigt sich Klemperers Bestreben, Erinnerungen ganz gezielt zur re-konstruieren. Dazu setzt er in seinem Eintrag vom 25. August noch einmal neu an. Er möchte, obwohl er die im Nachfolgenden darzustellenden Informationen bereits teilweise im Tagebuch verzeichnet hat (vgl. LS II, 553-555, 19., 20., 22.08.1929), noch einmal völlig neu einen bestimmten Ereigniszusammenhang beschreiben. Die „sechs Tage Piräus-Athen“ sollen als Ganzes und trotzdem möglichst detailreich aufgezeichnet werden. Die Wiederholungen sind dafür notwendig. Weil Klemperer nun jedoch nicht mehr zeitnah, sondern explizit rückblickend berichtet, setzt er verschiedene Techniken ein, um eine möglichst hohe Genauigkeit in den Einzelheiten zu gewährleisten. Dabei hat es sich bereits in seinem Alltagsdiarium bewährt, zunächst stichpunktartig Tagesereignisse aufzulisten, bevor Einzelheiten dargestellt werden. Diese Methode wird im Falle des Reisetagebuchs zusätzlich vor Beginn der Umsetzung des Arbeitsplans angewendet. Klemperers allgemein empfundener Zwang zu besonderer Genauigkeit in der Beschreibung der Reiseereignisse spiegelt sich auch darin. Hinterfragt wird die extreme Ausführlichkeit des Schreibens während der Reise kaum. Vielmehr konstatiert Klemperer sogar, dass es nicht nötig sei, die Gründe für dieses zwanghafte Handeln näher zu bestimmen:
260 | SCHREIBEN EIN L EBEN LANG – V ICTOR K LEMPERERS T AGEBÜCHER „Nur Leben sammeln. Immer sammeln. Eindrücke, Wissen, Lectüre, Gesehenes, alles. Und nicht fragen wozu u. warum. Ob ein Buch daraus wird, oder Memoiren oder gar nichts, ob es in meinem Gedächtnis haftet oder verdirbt wie eine schlechte photographische Platte. Nicht fragen, nur sammeln. Und wenn es auf die Kiste mit den Papiersoldaten hinausläuft“ (LS II, 571, 03.09.1929).
Das Reisetagebuch wird viel stärker als das alltägliche Diarium zum Ort des Sammelns48 ungefilterter Informationen. Unabhängig von dem möglichen Wert eines Sachverhalts, speichert Klemperer ihn in seinem Tagebuch. Nicht die langfristige Bedeutung einer Information, sondern das gegenwärtige Bedürfnis nach deren Einfügung in die Sammlung im Tagebuch ist wichtig. Die auch in der Autobiographie „Curriculum vitae“ verwendete Metapher der „Kiste mit den Papiersoldaten“ (vgl. CV I, 5ff. und Kapitel V.3) wird zum Inbegriff des Sammelzwangs. Die Frage nach dem Sinn dieses Vorgehens, nach „wozu u. warum“ blendet Klemperer dabei aus. Vielmehr betont er die Handlung des Schreibens und Sammelns als solche. Die von Klemperer hergestellte Verbindung zwischen dem Gedächtnis und der Fotografie entspricht einem zeitgenössischen Diskurs, der ihn beeinflusst hat. Die Angst prägt ihn, Erlebtes könnte nicht langfristig bewahrt werden und deshalb wieder verschwinden wie das Bild auf einer „schlechte[n] photographische[n] Platte“. Er begegnet diesem Problem auf seiner Reise jedoch nicht wie sonst mit Klagen über die Aussichtslosigkeit seines Tagebuchprojekts, sondern mit erklärter Ignoranz. Dadurch ist der Weg frei für die ungefilterte und scheinbar unhinterfragte Aufzeichnung von allem.49 Daraus resultiert beispielsweise eine Notiz über die türkischen Zahlen eins bis zehn, deren Schreibweise Klemperer während eines Ausflugs nach Haidar-Pascha lernt (vgl. LS II, 572, 1. Stelle, 03.09.1929). Obwohl diese in einem entsprechenden Nachschlagewerk bei Bedarf leicht zu finden wären, verzeichnet er sie in seinem Tagebuch. Seine kurzzeitige gedankliche Aus-
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Nach dem Motiv des Sammelns hat Walter Nowojski auch die Druckausgabe der Tagebücher 1918-1932 benannt. Der Titel „Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum“ basiert auf der hier zitierten Aussage Klemperers. – Vgl. zum Begriff des „Sammelns“ Manfred Sommers phänomenologische Untersuchung (Sommer 1999). Daraus resultiert auch ein ausführlicher Nachtrag, der nach der Rückkehr von der Reise entsteht. Darin werden jene Informationen nachgeholt, die aus zeitlichen Gründen vorher nicht erfasst werden konnten. Schon die Überschrift kennzeichnet die rückblickende Schreibposition: „Hollandanhang vom 16 u. 17/X. Notiert Dresden 20/10 29, Sonntag“ (LS II, 609, 20.10.1929). In einem Eintrag, der zusätzlich am 20. Oktober 1929 eröffnet wird, kommentiert Klemperer wiederum diesen aus den sonstigen Notaten herausragenden Text: „Ich habe eben den Reisenachtrag (Holland) im alten Tagebuch beendet. Ich kam erst heute dazu, so sehr schlug hier Chaos über mir zusammen“ (LS II, 613, 1. Stelle, 20.10.1929).
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einandersetzung damit rechtfertigt einen Absatz dazu in einem Tagebucheintrag.50 Nicht nur die greifbaren Erlebnisse auf der Reise werden ausführlich beschrieben, auch die Reflexionen über unterschiedliche Themen und Sachverhalte nehmen wesentlich größeren Raum im Reisetagebuch ein als im alltäglichen Diarium. Daraus resultiert unter anderem ein Text unter der Überschrift „Poème en Prose“ (LS II, 577, 09.09.1929). Darin verarbeitet Klemperer in symbolistischer Manier eine Assoziation an den Kanarienvogel von Freunden, die durch ein Reiseerlebnis entsteht. Der Text ist entsprechend seinem Titel kein klassisches Gedicht, sondern ein Prosa-Stück. Dabei werden jedoch durch Nummerierung sechs Teile gekennzeichnet, die bis auf eine Ausnahme jeweils mit der direkten Ansprache des Tieres: „Kleiner Kanarienvogel...“ beginnen. In der ersten Strophe wird ein Kanarienvogel beschrieben, der in einem Wohnzimmer zwitschert, während seine wohlbeleibten Besitzer – „das runde Herrchen und das runde Frauchen“ (LS II, 578, 09.09.1929) – speisen. Die Kombination aus „hören und essen“, die sich daraus ergibt, bildet für das Ehepaar die Grundlage eines beglückten Lebens. Darin stehen sich jedoch zwei völlig unterschiedliche Bedürfnisse des Menschen gegenüber: Das Vogelgezwitscher als Metapher für Musik repräsentiert vergeistigte Ästhetik. Dagegen ist mit der (zudem übermäßigen) Nahrungsaufnahme ein rein fleischlicher Existenzerhalt aufgerufen. In der zweiten Strophe wird gefragt „Kleiner Kanarienvogel in Leipzig, warum gedenk’ ich heute Deiner zwischen Asien und Europa?“ (LS II, 578, 09.09.1929). In einer ausführlichen Beschreibung eines Hafens scheint diese Frage zunächst zu versinken. Das lyrische Ich lenkt die Konzentration auf seine direkte Umgebung. Erst in der dritten Strophe wird der Grund für die Erinnerung genannt. Das lyrische Ich beschreibt, wie Saatgut, das „Futter für Dich und Deine Geschwister, nur für Euch nur für Dich achttausend Centner Kanariensaat!“ (LS II, 578, 09.09.1929), auf ein Schiff befördert wird. In der vierten Strophe gestaltet sich im Konjunktiv ein phantastisches Bild von dem Kanarienvogel, der allein „achttausend Centner“ Körner fressen solle, um dadurch ebenso dick wie seine Besitzer zu werden. Die Konsequenz daraus wird in der fünften, ebenfalls in der Möglichkeitsform formulierten Strophe präsentiert: Das fett gewordene Tier würde „zum Frühstück gegessen, statt zum Frühstück zu singen“ (LS II, 578, 09.09.1929). Nur in dieser Strophe wird von der durchgehenden Einleitung mit „Kleiner Kanarienvogel...“ abgewichen. Stattdessen artikuliert das lyrische Ich sein Mitleid und konstatiert: „Armer kleiner Kanarienvogel...“. In
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Klemperer kokettiert mit dem neu erlernten Wissen über die türkischen Zahlen, indem er auf dem vorderen Spiegel seines aktuellen Tagebuchs, Mscr. Dresd. App. 2003, 132, einen Souvenir-Stempel des Schiffes, auf dem er reist, mit einer handschriftlichen Notiz versieht: „Haidar-Pascha d. 3./9.29 (٢٩ ٣/٩)“.
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der sechsten Strophe fährt es damit fort, diese Phantasie in Einzelheiten zu umschreiben: „6) Kleiner Kanarienvogel, nur ein verträumter kleiner Junge zögerte, in seine Pastetenscheiben zu beißen. Er geht mit ihr zum Grammophonschrank; er legt sie hinein, stellt die Nadel, löst die Hemmung. Und die Kanarienpastetenplatte beginnt zu kreisen und zu singen. Und sie singt, Heimat und Ferne ineinander gemischt, Leipzig und Rodosto am Marmarameer, Kirche und Moschee. Und sie singt doch nur, was Du auf Deinem Buffett am Morgen und Mittag und Abend zu singen pflegtest: Leben und Frage“ (LS II, 578, 09.09.1929).
Das lyrische Ich spricht im ersten Satz dieser Strophe nun im Präteritum. Dadurch wird die surreal anmutende Szene aus einer neuen Perspektive, nämlich rückblickend betrachtet. Ebenso wie die beschriebene Situation jedoch völlig von jeder Sinnhaftigkeit abzuweichen scheint, zerbricht die grammatikalische Neuordnung sofort wieder und die Handlung des „kleine[n] Junge[n]“ wird im Präsens weiter erzählt. Der Wechsel von Vergangenheit, Gegenwart und Konjunktiv spiegelt auf grammatischer Ebene die Zersetzung, die das lyrische Ich auch inhaltlich thematisiert. Das Umfassen aller Erzählformen greift das Zusammenführen des anfänglich angesprochenen Gegensatzes Ästhetik versus Existenz auf, indem die „Kanarienpastenplatte“ „singt“. Die Nahrungsaufnahme als körperlich notwendige Sicherung des Fortlebens der menschlichen Existenz überschreibt den Ursprung der Musik, den Kanarienvogel. Er wird selbst Teil der Nahrungskette und repräsentiert erst verfremdet, indem der Junge die Pastete auf das Grammophon legt, wieder den ästhetischen Aspekt seiner Identität. Die dadurch entstehenden, fast nicht mehr nachvollziehbaren Verbindungen zwischen Ästhetik und Existenzbewahrung ergeben ein ebenso wirres Netz wie die grammatische Erzählstruktur, in der scheinbar wahllos zwischen Zeitformen gewechselt wird. Die Musik auf der „Kanarienpastetenplatte“ ruft zu guter Letzt die grundsätzliche Suche nach Sinn auf, indem sie wiedergibt, was der Vogel – beschrieben im Präteritum! – angeblich schon zu Lebzeiten sang: „Leben und Frage“. Ebenso undurchsichtig wie das Poème en Prose bleibt die Aussage des Kanarienvogels – ob nun in Form eines lebenden Tieres oder einer Pastete. Im Gegensatz zu der scheinbar übersichtlichen formalen Struktur des Textes, welcher sogar durch stichpunktartige Nummerierungen zerteilt und in seinem äußeren Rahmen gekennzeichnet wird, ist seine Tiefenstruktur höchst komplex. Die phantastischen Elemente, welche durch das Bild des 8000 Zentner Saat fressenden Kanarienvogels erzeugt werden, zerlegen die anfänglich scheinbar idyllische Szene des essenden Ehepaars und auch die Impression des Hafens, in dem die Kanariensaat auf ein Schiff geladen wird. Der Text ist nicht direkt im Tagebuch Klemperers verzeichnet worden, sondern auf einem externen Notizzettel. Erst nachträglich wurde das Blatt in
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Mscr. Dresd. App. 2003, 132 eingeklebt. Dies zeigt den Stellenwert des „Poème en Prose“ im Reisetagebuch. Obwohl es aufgrund seines literarischen Anspruchs außerhalb der täglichen Reise-Aufzeichnungen entstand, wird es ihnen letztlich doch zugeordnet. Denn es resultiert aus Klemperers Erleben während seiner Reise. Deshalb wird der Tagebucheintrag vom 9. September 1929 auch mit dem Kommentar eingeleitet: „Das beiliegende Poème en Prose auf Scherners Kanarienvogel ist in Einzelheiten unexakt: 1) Die Leichter hier haben keine Maste, es sind Ruderboote, von denen eine ganze Flottille, zur Zeit also, neben uns auf stillgewordenem Wasser liegt. 2) [...]“ (LS II, 579, 09.09.1929).
Der Text wird nicht nur als literarisches Produkt, sondern auch als Beschreibung einer realen Reiseerfahrung verstanden. Deshalb müssen Ungenauigkeiten, welche durch die poetische Ausrichtung entstanden, aufgrund des allgemeinen Anspruchs auf Vollständigkeit gekennzeichnet werden. Dies bezieht sich insbesondere auf Strophe 2), in der die Hafenansicht von Rodosto beschrieben wird. Auffällig ist, dass Klemperer in der Aufzählung der sachlichen Korrekturen bzw. Ergänzungen zu dem literarischen Text nach dem selben Schreibmuster vorgeht. Die einzelnen Punkte werden unter einer Nummerierung vermerkt, die jener im Gedicht ähnelt. Die Technik funktioniert in beiden Fällen gleich. Nur der inhaltliche bzw. sinnhafte Anspruch unterscheidet sich. Das Listensystem entspricht Klemperers pragmatischen Denkstrukturen.51 Deshalb wird es unabhängig von der Textform eingesetzt. Eine nicht numerische Sortierung kommt gegen Ende der Reise zum Einsatz, als Klemperer erklärt: „Ich will nun zusammenstellen, was ich in diesen 2 ½ Monaten gelesen u. notiert habe“ (LS II, 603, 14.10.1929). Die nachfolgende Auflistung wirkt fast tabellarisch. Der jeweiligen literarischen Richtung („Belletristik französisch“ und „deutsch“; „Essays, Philosophie etc.“) werden die Autoren und Titel bestimmter Werke zugeordnet. In einer Randklammer wird zusätzlich vermerkt, dass die jeweiligen Texte „gelesen u.
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Auf Reisen greift Klemperer besonders häufig auf derartige Ordnungsmittel zurück. Immer wieder vermerkt er stichpunktartige Auflistungen von Reiseorten und Ereignissen mit den jeweiligen Daten. Dies verhilft ihm beim späteren Benutzen der Aufzeichnungen zu einem schnellen Überblick. Bei einem Urlaub in Heringsdorf geht Klemperer sogar noch einen Schritt weiter. Er rekapituliert frühere Reisen an die Ostsee mittels einer Liste. Damit schafft er nicht allein für diesen Urlaub, sondern auch für vergangene Fahrten ein Gerüst an Daten für eine spätere Erinnerung: „Wir waren in Heringsdorf 1) 16/8 – 26/9 26, 2) 5/8 – 17 Sept 1927 am 5/8 27 fuhren wir im Flugzeug bis Leipzig. 27 auch die Flottenparade“ (LS II, 646, 4. Stelle, 07.08.1930).
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notiert“ worden seien (vgl. LS II, 604, 14.10.1929).52 Um Ordnung und Übersichtlichkeit in das ungefilterte und unsortierte Chaos der Einträge zu bringen, greift Klemperer zu systematischen Überblicken. In einem klassischen Reisetagebuch finden sich derartige Techniken nicht. Vielmehr sind Klemperers Aufzeichnungen zu seinen Reisen formal und inhaltlich Ausdruck seines spezifischen Interesses an möglichst umfangreicher, ausführlicher, aber auch abwechslungsreicher Darstellung allen Erlebens. In ihnen wird der lebenslange Schreibzwang durch die außergewöhnliche Lebenssituation auf die Spitze, fast ins Extreme, getrieben. Sie stehen dadurch in ihrer besonderen Vielfalt beispielhaft für die Grundeinstellung des Tagebuchschreibers. Klemperer kann in seinem alltäglichen Leben nur bedingt seinem Wunsch nach umfassender Genauigkeit folgen. Auf seinen Reisen gibt er ihm jedoch vollständig nach.
VII.4
1926-1930 – „V ORDERHAND FÄLLT ALLES K ISTE DER P APIERSOLDATEN .“ 53
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DIE
Ab Mitte der zwanziger Jahre spiegelt Klemperers Tagebuch eine negative Grundeinstellung wieder, die sich von früheren depressiven Phasen abhebt. Er ist allgemein unzufrieden – die politische Entwicklung der Weimarer Republik (vgl. LS II, 49, 27.04.1925; LS II, 269-270, 31.05.1926) und der wachsende Antisemitismus54 enttäuschen ihn; die geringen KarriereChancen, gesundheitliche Probleme Eva Klemperers und die Fixierung auf Alter und Tod55 belasten ihn zunehmend. Nach und nach gibt er alle univer-
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Eine weitere tabellarische Auflistung entsteht in der Zusammenfassung der Reisestationen (vgl. LS II, 605-606, 14.10.1929). LS II, 632, 10.03.1930 Er beobachtet die Zunahme von antisemitischen Tendenzen ab Mitte der zwanziger Jahre konkreter (vgl. z.B.: LS II, 281, 11.07.1926). Dabei fühlt er sich jedoch in einem Zwiespalt in Bezug auf seine eher rechts gerichteten politischen Interessen. Schon 1922 bemerkt er im Tagebuch: „Wäre nur Nationalismus nicht so wider- widerwärtig mit Antisemitismus verknüpft“ (LS I, 610, 25.08.1922). Immer wieder vergegenwärtigt sich Klemperer, wie viel Lebenszeit er bereits hinter sich gebracht hat und zweifelt an dem, was aus ihm wurde. Die Fixierung auf den Alterungsprozess verstärkt sich mit den Jahren – phasenweise durchaus selbstironisch. In einem Ostsee-Urlaub 1930 schreibt er beispielsweise: „Ich bin soviel älter als Eva. Dies ewige Michbeobachten. Zählen wieviel Schwimmstöße ich noch zustande bringe (75), wieviel Kniebeugen, wie mein Herz darauf reagiert. Erbittertsein über die Abnahme meiner sexuellen Potenz. Rechnen, wieviele Jahre noch bleiben, wieviele von meinen Plänen ich noch
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sitären Posten ab und konzentriert sich auf sein Privatleben und seine wissenschaftlichen Projekte. Dabei scheint er seiner Leistungsfähigkeit nicht zu vertrauen. Er entwertet seine eigenen Veröffentlichungen sogar, indem er schreibt: „Merkwürdig, wie abgestumpft ich bin gegen das Erscheinen der Aufsätze. Auch meinen Freunden ist es schon selbstverständlich, daß ich ihnen solche Bände vorlege. Das ist eigentlich teils Proletenpflicht, teils Zeugnis der Zugehörigkeit zum Proletariat. Wer was auf sich hält u. eine ernste Professur anstrebt, ‚arbeitet langsamʻ u. ‚produziert wenigʻ. Ich bin ein ‚besserer Journalistʻ“ (LS II, 173-174, 28.01.1926).
Die wissenschaftliche Tätigkeit und das damit zusammenhängende Publizieren von Aufsätzen sind für Klemperer zu kaum erwähnenswerten Normalitäten geworden. Das liest er nicht nur an seiner eigenen „Abgestumpftheit“ ab, sondern auch an der seiner Freunde. Er setzt seine Veröffentlichungen in ein schlechtes Licht. Das resultiert aus einem lebenslang gepflegten Misstrauen den eigenen Schreibfähigkeiten gegenüber. Klemperer fühlt sich zwischen verschiedenen Schreibrichtungen aufgerieben: Er hat zwar als Schriftsteller versagt und sich von der journalistischen Arbeit weitgehend zurückgezogen. Dennoch sieht er sich durch die in beiden Professionen gepflegten Schreibformen geprägt. Das führt so weit, dass er sich nicht nur selbst der „Journalistik“ bezichtigt, sondern gelegentlich resigniert: „Wahrscheinlich bin ich doch nur Literat. Und mein Literatentum frißt mich auf“ (LS II, 662, 04.10.1930). Hierin steckt indirekt die Selbstanklage, sich seit der Zeit als Schriftsteller nicht weiterentwickelt zu haben. Klemperer fürchtet, sich innerlich nicht zu verändern, obwohl er als Professor eine ganz andere gesellschaftliche Position innehat. Er ist älter geworden und kann sich doch nie von dem lösen, was ihn in seiner Jugend prägte. Dies zeugt paradigmatisch von der tiefen Unzufriedenheit, die sich gegen Ende der zwanziger Jahre in allen seinen Lebensbereichen ausbreitet. Im Diarium äußert Klemperer immer häufiger einen grundlegenden Missmut über den Alltag, die wissenschaftliche Arbeit, die politischgesellschaftlichen Bedingungen und auch das Tagebuchschreiben. Dabei ist er sich durchaus des Widerspruchs zwischen seiner im Allgemeinen gesicherten Lebenssituation und seinem Unwohlsein damit bewusst. Er erfasst dies in seinem Jahresresümee für 1930: „...u. über die Gefühle sich zu verbreiten ist zwecklos. Philosophie sagt: sei zufrieden, u. Herz sagt: ich bin es aber nicht“ (LS II, 674, 31.12.1930). Die Konsequenz aus Klemperers Unzufriedenheit ist jedoch nicht der Bruch mit den bisherigen Lebensumständen. Er führt seinen Alltag weitge-
bewältigen können werde. Dann wieder die tiefe Müdigkeit. Der tiefe Zweifel an der Wichtigkeit aller Unternehmungen“ (LS II, 652, 31.08.1930).
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hend so weiter, wie er es gewohnt ist. Allerdings sucht er außerhalb seiner wissenschaftlichen Tätigkeit nach Inspiration. Er findet sie in Romanen, die er seiner kranken Frau vorliest: „Band um Band aus englisch-amerikanischem Gegenwartskreis lese ich Abends vor. Käme ich nur zum Notieren! Aber irgendwann einmal wird aus dem flüchtigen Gesammteindruck doch vielleicht ein gestaltetes Etwas. Vorderhand fällt alles in die Kiste der Papiersoldaten. (Ob sich wohl einmal ein Doctorand findet, der hierzu die richtige Fußnote bringt? O Sehnsucht des Überlebens!)“ (LS II, 632, 10.03.1930).
Das Vorlesen geschieht ausschließlich zur Unterhaltung von Eva Klemperer. Die Zeit zu intensiven Lektüre-Exzerpten fehlt. Doch wiederholt finden sich im Tagebuch kurze Notizen zu den vorgelesenen Büchern (vgl. z.B.: LS II, 630, 11.02.1930), die eventuell für eine spätere Arbeit verwendet werden könnten. Wieder greift Klemperer die Metapher von der „Kiste mit den Papiersoldaten“ auf, um seine Absicht auf eine eventuelle spätere Umsetzung vager Arbeitspläne zu verbildlichen. Das Tagebuch ist erneut der Ort des Sammelns von Informationen, die möglicherweise zu einem anderen Zeitpunkt in einem zur Publikation bestimmten Buchprojekt verarbeitet werden sollen. Gleichzeitig sind die Notizen über das Vorgelesene Teil eines Gesamtbilds, das seine Persönlichkeit widerspiegelt. Deshalb sind sie unbedingt bewahrenswert – auch wenn sie vorläufig nur in der „Kiste mit den Papiersoldaten“ abgelegt werden. Vor allem der in Klammern angefügte Wunsch, es möge sich „einmal ein Doctorand“ finden, „der hierzu die richtige Fußnote bringt“, signalisiert den hohen Anspruch an das Diarium. Unterschwellig steckt darin die Hoffnung, dass die Aufzeichnungen einmal Gegenstand einer wissenschaftlichen Untersuchung sein könnten. Auf diese Weise wäre garantiert, dass auch der autobiographische Text nicht nur für den Eigengebrauch entsteht, sondern einer breiteren Öffentlichkeit erhalten bleibt. Damit wäre die „Sehnsucht des Überlebens“ erfüllt. Dass dies in grundsätzlichem Widerspruch zum ausschließlich privaten Charakter von Klemperers Tagebuch steht, wird allerdings nicht thematisiert. Dafür setzt er sich wiederholt kritisch mit Einträgen aus früheren Jahren auseinander. In dem Bewusstsein, dass sie möglicherweise später weiterverwendet werden sollen, betrachtet er sie unter dem Aspekt von Nachvollziehbarkeit und Authentizität. Wenn er in seinen früheren Aufzeichnungen liest, hat er oft den Eindruck, nicht das Wesentliche umschrieben zu haben. Er kritisiert sich beispielsweise anlässlich seines 25. Hochzeitstages: „Morgen Abend also sind es 25 Jahre. Ich habe eben, was ich selten wage, selten mir gönne, das Tagebuch von damals durchgeblättert. Welche ungeheure geistige Unreife! Welch beschämender Cliché-Stil selbst dort, wo ich mein Wahrstes ausdrücken möchte. Und doch war es – ich weiß es heute genau – von Anfang an die große Lie-
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be, und die Folge hat sie als solche bewiesen und entwickelt, gereift. Ich will praecisieren“ (LS II, 533, 28.06.1929).
Klemperer kritisiert seine Sprache und konstatiert seine Unfähigkeit, das auszudrücken, was er wirklich fühlte. Deshalb erklärt er in Bezug auf die Liebe zu Eva, er wolle „praecisieren“. Er meint, gegenwärtig klarer darstellen zu können, was er „von Anfang an“ für seine Frau fühlte. Der Ankündigung folgt eine ausführliche Beschreibung der Entwicklung und Festigung der Beziehung zu Eva. Klemperer erläutert dies nicht nur in Bezug auf seine gegenwärtigen Gefühle seiner Partnerin gegenüber, sondern auch, um die Anfänge der Beziehung aus einer „reiferen“ Sichtweise darzustellen. Dabei begibt er sich in einen unauflösbaren Widerspruch: Er kann nicht mehr wissen, wie er zu Beginn seiner Liebesbeziehung zu Eva gefühlt und gedacht hat. Denn er hat sich verändert. Seine Erinnerungen an seine emotionale Situation in den Anfängen dieser Partnerschaft können nicht mit dem übereinstimmen, was sich tatsächlich ereignete. Nur das Tagebuch als Spiegel der damaligen Zusammenhänge gibt dies bruchstückhaft wieder. Trotzdem entspricht das, was Klemperer darin liest, nicht dem, was er erinnert.56 Er hat sich in seinem Sprachstil, in seiner Wahrnehmung und auch seinen Einstellungen geändert und kann sich deshalb nicht mehr mit dem früher Geschriebenen identifizieren. Deshalb lehnt er seinen „Cliché-Stil“ ab und fühlt sich genötigt, zu „praecisieren“, was sich damals ereignete. Diese Reaktion wiederholt sich jedes Mal, wenn er alte Tagebucheintragungen nachliest. Bereits im Januar 1926 schreibt er: „Neulich las ich in älteren Tagebüchern: 1904-1910. Ich war entsetzt über ihre Leere u. Unreife. Und besonders kehren mir meine Verse den Magen um. Wenn ich in 10 Jahren meine heutige Production so beurteile wie jetzt die von damals (an die ich damals glaubte, wie ich heute an die von heute glaube) – es wäre entsetzlich. Und es ist möglich, vielleicht wahrscheinlich“ (LS II, 172, 06.01.1926).
Klemperer steht seinen früheren Aufzeichnungen – und damit sich selbst und seinem Verhalten in der Vergangenheit – kritisch gegenüber. Insbesondere seine literarischen Texte in Form von Gedichten bewertet er als leer
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Klemperer bemängelt häufig die Unmöglichkeit, etwas so zu erinnern, wie es wirklich geschehen ist. Beispielsweise zieht er wiederholt den Vergleich zwischen einem früheren Erlebnis und der erneuten Begegnung mit einem Ort oder Menschen Jahre später. Die Erkenntnis, dass seine Erinnerungen verblasst seien, endet dabei wiederholt in der Frage, was bewahrt werden könne. So schreibt Klemperer auf der Schiffsreise im Frühjahr 1929: „(Ich glaube, ich bin als Student auf dem Rigi gewesen. Ich glaube es; was davon lebt in mir? Was von mir ist tot?)“ (LS II, 477, 04.03.1929).
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und unreif.57 Gleichzeitig erkennt er, dass er vermutlich in zehn Jahren über seine gegenwärtige Textproduktion ähnlich abwertend urteilen wird, wie nun über die Diarien der Jahre 1904-1910. Die oben zitierte Angst, im „Literatentum“ verhaftet zu bleiben, ist demnach situationsabhängig: Wertet Klemperer seine wissenschaftlichen Publikationen, unterstellt er sich zwar, in früheren journalistischen und schriftstellerischen Techniken zu verharren. Liest er jedoch alte Tagebücher, erkennt er, dass seine Betrachtungs- und Beschreibungsweisen sich verändern.58 Er weiß, dass sowohl er selbst als auch seine Umwelt sich in einer stetigen Entwicklung befinden. Allerdings ist ihm auch bewusst, dass er diesen Wandlungsprozess kaum erfassen kann. Dies zeigt sich bereits anhand der in den Kapiteln VII.2 und VII.3 zitierten Überlegungen zu den Möglichkeiten der geschichtlichen Entwicklungen.59 Das Lesen früherer Diarien konfrontiert Klemperer mit diesen Veränderungen. Das Tagebuch wirkt folglich nicht nur in der Gegenwart identitätsbildend, sondern hat auch rückblickend eine wichtige Funktion für die Auseinandersetzung des Diaristen mit sich selbst. Trotzdem zweifelt er wiederholt an der Sinnhaftigkeit des Tagebuchschreibens, wenn er sich mit seinen früheren Aufzeichnungen konfrontiert:
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Ein weiteres Beispiel für die Verurteilung früherer Tagebuchaufzeichnungen als unreif wurde in der Druckversion der Tagebücher gekürzt. Klemperer schreibt darin: „Ich bin im August 1903 in Belgien u. Holland gewesen. Ich las diese Tagebuchseiten nach. Welche völlige, absolute Unruhe! Wie bin ich nicht imstande mich einfach auszudrücken. Sondern alles Clichéworte. Die Getreidesammler ‚speienʻ Getreide. Das ist doch nicht auf meinem Mist gewachsen. Und der stilistischen Unruhe entspricht die innere. Ich muß mir das vor Augen halten, wirklich vor Augen halten, ehe ich unter die Arbeiten meiner Studenten schlechte Censuren setze! Man ist offenbar mit 20, 22 Jahren nicht weiter. –“ (LS II, 539, 1. Stelle, 22.07.1929). Teilweise belustigt ihn die Erkenntnis gewandelter Einstellungen sogar. Beispielsweise entdeckt Klemperer eine Veränderung in seiner moralischen Erwartungshaltung gegenüber gesellschaftskonformem Benehmen: „Im vorigen Jahr (gestern las ich es noch lachend) habe ich mich sittlich schwer über den Thée dansant im Hôtel Eden entrüstet [vgl. LS II, 298, 26.09.1926, Anm. d. A.]. Jetzt bin ich abgestumpft dagegen...“ (LS II, 381, 18.09.1927). Diese Wandlung sollte trotz Klemperers Formulierung, er sei „abgestumpft“, nicht vorschnell als Resignation gewertet werden. Vielmehr handelt es sich um ein den äußeren Umständen angepasstes Wahrnehmungsverhalten. Andere Entwicklungen in der Gesellschaft sind brisanter. Auf sie richtet Klemperer nun sein Augenmerk. Verstärkt formuliert Klemperer diese Erkenntnis nochmals im September 1926: „Wie ganz u. gar hat sich nach dem Krieg alles geändert. Man paßt so scharf auf u. erfaßt doch kein Werden, immer nur das Fertige. Man erlebt keine Geschichte mit. Man weiß von der Gegenwart noch weniger als von der Vergangenheit u. Zukunft“ (LS II, 292, 05.09.1926).
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„Ich räumte mit wehmütigen Gefühlen die im Wäscheschrank aufbewahrten Tagebücher, die 40 Tagebücher in den Schreibtisch zurück. Ich lese sie doch nie, u. nach meinem Tode sollen sie verbrannt werden. Wozu sind sie geschrieben, wozu ist ihr Inhalt erlebt? Vanitas vanitatum“ (LS II, 277-278, 17.06.1926).
Die rhetorische Frage nach dem Sinn des Schreibens und Erlebens beantwortet Klemperer, indem er seine Sehnsucht nach Anerkennung eingesteht. Allerdings ironisiert er diese in der Formel des „vanitas vanitatum“. Die Hoffnung auf die Möglichkeit, etwas Bleibendes in Form wissenschaftlicher Arbeit oder der Tagebücher zu schaffen, steht so der Resignation gegenüber. Obwohl die Diarien scheinbar vergeblich entstehen, da sie verbrannt werden sollen, ist der Wunsch auf Dauerhaftigkeit mit ihnen verbunden. Insbesondere wenn der Sinn des Tagebuchschreibens von außerhalb angezweifelt wird, verteidigt Klemperer deshalb vor sich selbst die Richtigkeit seines täglichen Schreibens. Das verdeutlicht eine Notiz, die von einem Gespräch mit einem Kollegen berichtet: „Neulich sagte Olschki zu mir: ‚Schreiben Sie Tagebücher? Dazu habe ich nicht die Zeit, ich erlebe auch nichts. Und lesen Sie denn auch, was Sie geschrieben haben, manchmal wieder?ʻ Das traf mich sehr. Ich lese sehr selten wieder. Ich weiß nicht, ob das Notierte Wert hat u. jemals ausgewertet wird. – Aber vielleicht doch. Vielleicht werde ich alt genug dazu. – Die Papiersoldaten!“ (LS II, 661, 04.10.1930).
Die Hoffnung auf die Möglichkeit, das Tagebuch bzw. dessen Inhalte zumindest teilweise zu verwerten, motiviert zum Weitermachen. Die Metapher der „Papiersoldaten“ wird in den zwanziger Jahren zu einem feststehenden Begriff in Klemperers Eintragungen. Sie verdeutlicht immer wieder, dass die Fortführung des Tagebuchs außer Frage steht. Konsequent und nahezu durchgehend führt Klemperer seine Aufzeichnungen. Auch die Erkenntnis, dass seine Fähigkeit sehr begrenzt ist, sich Erlebnisse zu merken, ohne sie zu notieren, bestätigt die Wichtigkeit der täglichen Aufzeichnungen. Im Vergleich mit seiner Frau, die sich vieler Ereignisse erinnert, die ihm entfallen sind, führt Klemperer sich seine eigene Vergesslichkeit vor Augen: „Immer zeigt es sich, wie gut Evas Gedächtnis, wie schlecht das meine ist. Sie sagte, ich hätte zuviel Tagebuch geschrieben und mich zu wenig auf mein Gedächtnis verlassen. Ich glaube: ich bin einfach der weniger Begabte, weniger Vitale. An wieviel Dinge in Neapel, Messina usw. erinnert sie sich, die mir entschwunden sind, die begraben liegen in meinen Tagebüchern“ (LS II, 486, 17.03.1929).
Der Vorwurf, das Tagebuchschreiben habe ihn dazu verleitet, sein Gedächtnis zu wenig im Erinnern zu üben, trifft Klemperer hart. Er stellt sich lieber als „der weniger Begabte, weniger Vitale“ dar, als die Sinnhaftigkeit des
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Tagebuchs in diesem Zusammenhang in Frage zu stellen. Denn Eva unterstellt dem Diarium gerade die negative Konsequenz, die Klemperer durch das Tagebuchschreiben vermeiden möchte: Er versucht mit Hilfe der täglichen Aufzeichnungen zu verhindern, dass wichtige Erlebnisse verloren gehen. Doch wenn er sich erinnern möchte, gelingt ihm das ohne das Hinzuziehen des Tagebuchs nur schwer. Durch das Tagebuchschreiben wirkt Klemperer aber dem „Totsein“60 zumindest durch das Auslagern der Erinnerungen aus dem Gedächtnis in die Schrift entgegen.61 Nur das Diarium kann fixieren, welche Persönlichkeitsentwicklung er durchläuft und damit sein Selbst bewahren. Deshalb ignoriert Klemperer den Vorwurf seiner Frau, das Tagebuch halte ihn davon ab, sich zu merken was geschieht. Er sieht in der ohne Hilfsmittel in Form von Schrift oder auch Fotografie operierenden Erinnerung das Risiko, unwiederbringlich zu verlieren was geschah, ohne dies überhaupt zu realisieren. Denn was vergessen ist, kann auch nicht vermisst werden. Dem wirkt das Tagebuchschreiben entgegen. Auch in deprimierenden Situationen ist das Tagebuch für Klemperer mehr Ausweg als Belastung.62 Zwar zweifelt Klemperer teilweise an der wiederholten Niederschrift bestimmter Klagen.63 Grundsätzlich ist das Ta-
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Diese Formulierung stammt von Klemperer: „Dieses Nichthaften, dieses Ausgelöschtsein meiner Erinnerungen quält mich so oft. Man fürchtet sich vor dem Totsein u. ist doch seiner Vergangenheit gegenüber tot. Man möchte sein Ich nicht hergeben u. hat gar keines“ (LS II, 541, 01.08.1929). Zu diesem Phänomen schreibt Manfred Sommer: „Erfahrung, schriftlich fixiert, bleibt erhalten. Das mildert zunächst einmal die Diskrepanz zwischen dem, was mir an Wahrnehmungserlebnissen ständig zuströmt, und dem, was ich davon mir wieder zu vergegenwärtigen in der Lage bin. Von gar zu vielem weiß ich, daß es da ist, aber nicht, wo es sich befindet und was es besagt. Ich habe nur den Anhalt, aber keinen Zugang zu den Bildern und Bedeutungen, auf die der Anhalt mich verweist. Inhalte aber, die ich der Schrift anvertraut und eingelagert habe, sind durch sie davor bewahrt, von mir vergessen zu werden“ (Sommer 1999, 346-347). Selbst wenn Klemperer klagt, er sei nicht fähig, Tagebuch zu schreiben, gelingt es ihm letztlich meist, nicht nur dies aufzuschreiben – womit er bereits seine Behauptung widerlegt –, sondern ausführlicher zu berichten. So schreibt er beispielsweise im April 1930: „Immer wieder setze ich zu Tagebuchnotizen an. Ich kann nicht. Zu müde und abgestumpft“ (LS II, 633, 03.04.1930). Doch diese Aussage ist Teil einer fast zweiseitigen Eintragung. Allerdings muss eingeschränkt werden, dass sich Klemperer zu diesem Zeitpunkt wirklich in einer Schreibkrise befindet. Der zitierte Eintrag ist einer von vieren im April 1930. Im März gelingen ihm sogar nur zwei Notate. Exemplarisch deutlich wird dies an einer Eintragung über den schlechten Zustand Eva Klemperers: „Eva ist oft sehr deprimiert, u. meine Nerven u. meine Stimmung ... Zeitvergeudung, immer dasselbe ins Tagebuch zu schreiben“ (LS
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gebuchschreiben für ihn jedoch ein Hilfsmittel im Umgang mit Problemen. Klemperer formuliert dies in einem Vergleich mit dem Wunsch seiner Ehefrau, ein Haus zu bauen: „Jeder muß eine Betäubung haben. Ich: meine Schreiberei; sie: das Haus. (Bis es steht – oder länger?)“ (LS II, 355, 31.07.1927). Das Schreiben wird zur Betäubung, mit der Klemperer seine Versagensängste ebenso wie die Furcht vor der Vergänglichkeit kompensiert. Entgegen der allgemein dem Tagebuch zugeschriebenen Funktion der Reflexion von Problemen, weist er damit seinen Aufzeichnungen eine andere Aufgabe zu: Er hofft, im Schreiben der Konfrontation mit problematischen Situationen aus dem Weg gehen zu können. Er versteht seine Aufzeichnungen damit nicht nur als Ort der Reflexion, sondern auch als Fluchtpunkt vor gedanklichen und sachlichen Auseinandersetzungen, denen er sich nicht stellen möchte. Das ausführliche Tagebuchführen und die Konzentration auf die Beschreibung bestimmter Details helfen ihm, Konflikte aufzuschieben, die noch nicht lösbar sind. Insbesondere im Zuge der steigenden Unzufriedenheit mit seiner Lage wächst das Bedürfnis, sich auf die Darstellung von Einzelheiten zurückzuziehen: „Ich will Einzelnes nachholen, denn das Ganze, das mich immerfort beschäftigt, ist banal u. immer das Gleiche: der Todesgedanke u. die dumme Frage nach Wert u. Zweck des Lebens, das sich allmählich verdüstert“ (LS II, 673, 3. Stelle, 26.12.1930).
Die Auseinandersetzung mit dem, was Klemperer „Einzelnes“ nennt, erlaubt ihm, sich auf andere Dinge als den Todesgedanken zu konzentrieren. Er kann sich so konkreten Problemen zuwenden. Das führt zu teilweise pathologisch wirkenden Notaten, die scheinbar in unangebrachter Pedanterie Kleinigkeiten beinhalten, die auf einen außen stehenden Leser völlig belanglos wirken. So berichtet Klemperer beispielsweise nach der Rückkehr von einer Dienstreise nach Wien in einem ausführlichen Nachtrag über alle Details, die er während seines Aufenthalts nicht mehr beschreiben konnte. Am Ende des Eintrags fragt er sich: „Habe ich noch etwas von Wien vergessen? Ich rasierte mich diese drei Tage ohne Pinsel, der zu Hause geblieben war“ (LS II, 531, 1. Stelle, 26.05.1929). Für Klemperer ist das Tagebuchschreiben nie nur Berichterstattung. Es ist immer auch ein Stück Selbstfindung. Auch das kleinste Detail kann dafür hilfreich sein. Deshalb ist die Tatsache, dass er sich „drei Tage ohne Pinsel“ rasieren musste, für ihn aufschreibenswert.
II, 452, 04.09.1928). Der neueste Bericht über das Befinden der Ehefrau steht im Widerspruch zu der Ablehnung weiterer Kommentare dazu. Auch im Anschluss an die zitierte Notiz stellt Klemperer erneut ausführlich seinen Alltag mit Eva dar (vgl. dazu LS II, 452, 3. Stelle, 04.09.1928).
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Um eine möglichst detailgenaue Darstellung einzelner Sachverhalte zu gewährleisten, konzentriert sich Klemperer zunehmend auch auf eine systematische und gezielte Anordnung der Einträge. Wenn er sich beispielsweise nicht in der Lage sieht, ausreichende Notizen zu machen, verweist er zumindest auf Nachträge (vgl. z.B.: LS II, 336, 02.06.1927) oder auf die Verwendung von Stichwortzetteln.64 Das jeweils verwendete Tagebuchmaterial wird in die Auflistung der Informationen einbezogen.65 Außerdem reflektiert Klemperer wiederholt über direkte Einflüsse der Außenwelt auf das Tagebuchschreiben. Dies sind zum einen Situationen, in denen außen stehende Personen ein Notat unterbrechen oder stören.66 Zum anderen wird mehrfach
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Ein Beispiel hierfür ist ein Eintrag vom 28. Oktober 1927: „Ich habe 14 Tage lang das Tagebuch auf einen Stichpunktzettel beschränkt, der heute aufgearbeitet werden soll. Die ganze Zeit über concentrierte ich mich auf Erledigung der angehäuften kleinen Verpflichtungen: 1) Wechslers Esprit sehr ausführlich für Neumann, 2) [...] 5) Correctur meines Göttinger Lyrik-Vortrages. In alledem steckt sehr viel und fast allzu viel Arbeit. Ich bin sehr müde und heute gegen die Absicht vor Übermüdung zu früh aufgestanden (d. h. bald nach 7). Ich will heute das Tagebuch in Ordnung bringen u. den Ablagetisch in meinem Zimmer, morgen mich concentriert an die Moderne Lyrik begeben u. diese nun nicht mehr vor Abschluß aus den Fingern lassen“ (LS II, 392, 3. Stelle, 28.10.1927). Die systematische Bearbeitung der einzelnen Tagebücher wird innerhalb der Tagebucheinträge immer wieder kommentiert. So erklärt Klemperer beispielsweise am Ende der Spanien-Reise in einem Hotel in Zürich: „Die Fachsachen u. die glücklichen Unterhandlungen mit Hueber gehören nicht zur ‚spanischen Reiseʻ u. kommen ins nächste Tagebuch“ (LS II, 274, 02.06.1926). Das Tagebuch (Mscr. Dresd. App. 2003, 129) ist annähernd vollgeschrieben. Klemperer weicht bereits auf eingelegte Briefpapierbögen aus. Er möchte das Thema „Hueber“ eigentlich nicht mehr ausführen, entschließt sich aber letztlich doch dazu: „Ich will doch schnell noch hier skizzieren – da ich kein neues Heft zur Hand habe, wie es beruflich liegt“ (LS II, 275, 02.06.1926). Dem folgt eine ausführliche durchnummerierte Auflistung von Informationen zu Klemperers beruflichen Verhandlungen. Die Dokumentation der Umentscheidung durch die direkte Ansprache der Materialsituation ist ein weiterer Beleg für Klemperers bewusste Auseinandersetzung mit seiner Tagebuchführung. Ein Porträt einer Reisebekanntschaft – geschrieben in einer Hotelhalle – wird beispielsweise durch die dargestellte Person selbst plötzlich unterbrochen. Diese Störung wäre nicht erkennbar, wenn Klemperer nicht selbst darauf aufmerksam machen würde, indem er notiert: „Lupus in Fabula [der Wolf in der Fabel, Anm. d. A.] – um mein Tagebuch literarisch zu frisieren, denn der Lupus kam schon einige Zeilen früher mitten im Satz, u. dies schreibe ich auf unserem Zimmer:...“ (LS II, 211, 10.04.1926). Die metaphorische Umschreibung des Porträtierten mit dem sprichwörtlichen „Lupus in Fabula“ inszeniert den Zufall im Tagebuch. Der Ortswechsel von der Halle in das Hotelzimmer wird nicht als
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von Naturereignissen berichtet, die das Schreiben beeinflussen.67 Weiterhin vermerkt Klemperer den Einfluss von Orten68 und mangelnder Zeit69 auf den Umfang bzw. den Inhalt einzelner Notate. Damit verdeutlicht er sich, welche Faktoren jeweils Einfluss auf sein Schreiben nehmen. Zudem fasst er bei nahezu jeder passenden Gelegenheit zusammen, was in einem bestimmten Zeitraum geschehen ist.70 Denn es geht darum, bestimmte Ordnungssys-
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Randkommentar gesetzt, sondern im Fließtext selbst angegeben. Denn er ist Teil der Episode, ausgelöst durch die Begegnung mit demjenigen, der die Beschreibung seiner eigenen Person in Klemperers Tagebuch unterbrach. Der Diarist erzählt in dieser Situation nicht mehr direkt von der Reisebekanntschaft, sondern hält die nur ihm selbst bewusste skurrile Situation fest, die im Zusammenhang mit dem Tagebuchschreiben entstand. So kommentiert der letzte Satz einer Eintragung, die im Urlaub in Heringsdorf entsteht, plastisch das Erlebnis des Schreibens am Strand: „Ununterbrochen sprüht mir hier Sand auf das Blatt, in Gesicht u. Mund, leider auch in den Füllhalter“ (LS II, 288, 23.08.1926). – Auf den Schiffsreisen wird sogar die Geräuschkulisse vermerkt: „Während ich schreibe heult erklärend der Wind dazu“ (LS II, 510, 11.04.1929). Was Klemperer in seinem konkreten Umfeld wahrnimmt, wird zum Teil des Tagebuchnotats. Er transformiert die Begleitumstände zu einer Art Erklärung für die gegenwärtige Auseinandersetzung. Ein im Druck nicht veröffentlichter Eintrag vom 10. Juni 1928 ist ein Beispiel für den Einfluss des Ortes auf das Tagebuchschreiben: „Tellkoppe Gipfel Sonntag Morgen ¼ 9. 10 Juni / Ich will nachher unten im Garten schreiben, denn hier fehlt ein Tisch. / Abends (10 Juni) Dresden. / Es kam nicht mehr dazu. Unten fand ich Eva schon wach. Dann sind wir bei unendlicher Schwüle noch einmal fast bis zur Tellkoppe gelaufen. Am Nachm. fuhren wir zurück (AutoPost). Jetzt zu müde u. morgen Colleg. Nachträge bleiben 1) die große Carlsbad-Fahrt von gestern; 2) das Hochschuljubiläum“ (LS II, 439, 2. Stelle, nicht gedruckter Eintrag vom 10.06.1928). Die häufige Zeitnot Klemperers wird immer wieder in Randbemerkungen Teil der Tagebucheintragungen: „Ich erlebe so vieles u. wende andrerseits alle freie Zeit so intensiv auf die Arbeit, daß mein Tagebuch schwer leidet“ (LS II, 335, 02.06.1927). In dieser Eintragungen kommt ein in Klemperers Aufzeichnungen häufig auftretendes Paradoxon zum Tragen: Die Aussage, wenig Zeit zum Tagebuchschreiben zu haben, wird gerade durch die gegenwärtigen Aufzeichnungen widerlegt. Denn Klemperer vermerkt darin sehr ausführlich vergangene Ereignisse. Er holt in der gegenwärtigen Eintragung das nach, was er aus Zeitgründen vorher nicht schaffte. Der Kommentar ist demnach keine Erklärung des gegenwärtigen Notats, sondern eine Begründung für frühere kurze bzw. nicht entstandene Aufzeichnungen. Diese Zusammenfassungen wurden im Druck häufig aus Platzgründen gekürzt. Dadurch entgeht dem Leser weitgehend der Einblick in das Ausmaß von Klemperers methodischem Vorgehen bei der Tagebuchführung. Die Sehnsucht
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teme im Schreiben zu entwickeln, anhand derer Klemperer später mit dem Tagebuch arbeiten kann. Dies konterkariert den spontanen Charakter der Notate (vgl. LS II, 631, 10.03.1930). Die Systematisierung der Inhalte der Eintragungen weist darauf hin, dass Klemperer seine Aufzeichnungen nicht als Zufallsprodukt betrachtet. Vielmehr versteht er sie stetig – auch in Situationen, in denen er deprimiert oder unzufrieden ist – als eine Aufgabe, der er sich nicht entziehen kann. Daraus ergeben sich langfristig zwei gegensätzliche Gründe für Klemperers fortgesetzten Willen, sein Tagebuch weiterzuführen. Einerseits verspürt er eine Art „inneren Zwang“, der ihn zum Schreiben antreibt, in der Hoffnung, damit etwas Bleibendes schaffen zu können. Andererseits jedoch erhofft sich von der Konzentration auf „Einzelnes“ während der Ausarbeitung der Einträge eine Betäubung. Er möchte der Reflexion seiner grundsätzlichen Unzufriedenheit entgehen. Mit dem Beginn jedes Tagebucheintrags empfindet er diesen Zwiespalt neu (vgl. LS II, 377, 10.09.1927 und dazu die Ausführungen in Kapitel I). Das Tagebuchschreiben ist aus dieser Sicht kein angenehmer Zeitvertreib mehr, sondern ein einerseits erzwungenes, andererseits aber auch ersehntes Instrument des Selbstschutzes – zum einen bezüglich einer eventuellen Weiterverwendung der Eintragungen für spätere Texte und damit als Garant für ein langfristiges „Bleiben“ der eigenen Existenz; zum anderen als Rückzugsort vor intensiveren Reflexionen. Das Schreiben ist in beiden Fällen das Werkzeug, mit dem er den tief liegenden Ängsten begegnet. Mit Hilfe der wissenschaftlichen Arbeit funktioniert das noch besser als im Tagebuch. Deshalb erklärt Klemperer wiederholt: „Ich habe große Sehnsucht, so tief in meine Arbeit zu tauchen, daß ich das Nachdenken verlerne u. die Leere übertäube u. die törichten Fragen nach Wert u. Dauer u. Wozu“ (LS II, 271, 1. Stelle, 31.05.1926).
In den privaten Eintragungen gelingt es Klemperer nie dauerhaft, Reflexionen aus dem Weg zu gehen.71 Das führt zunehmend zu einer Verschiebung
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nach der präzisen Erfassung der unterschiedlichsten Lebensereignisse zeigt sich beispielsweise in einem Resümee, dass anlässlich des Umzugs in eine neue Wohnung entsteht: „Wir werden im ganzen hier gewohnt haben vom 9/XI 21 – 11/I 28, und in diese Zeit fallen Evas schwere Krankheiten u. Operationen, fast alle meine romanistischen Veröffentlichungen, den Montesquieu u. wenige Aufsätze ausgenommen, die Südamerika- u. die Spanienreise u. eine Pariser Woche, allerlei Auswärtsvorträge u. viele Enttäuschungen im Punkte der Berufungen“ (LS II, 408, 1. Stelle, 08.01.1928). Im Tagebuch signalisieren dies schon wenige Zeilen. Dies wird zu Beginn der Aufzeichnungen zum Jahr 1929 deutlich. Klemperer setzt – in den gesamten vorhandenen Tagebüchern einmalig – ein Motto über den ersten Eintrag, indem er die fett und mittig verzeichnete Jahreszahl „1929“ mit den Zeilen „Quanti
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der Bedeutung von beruflichem und privatem Schreiben. Im Gegensatz zu den frühen zwanziger Jahren, in denen Arbeit und Tagebuch nahezu gleich gewichtet wurden, entsteht nun eine starke Konzentration auf die wissenschaftliche Tätigkeit.72 Es handelt sich dabei um Phasen, die im Tagebuch wiederholt entschuldigend vermerkt werden.73 In manchen Monaten führt Klemperer das Diarium sehr intensiv, in anderen verfasst er nur zwei Eintragungen. Es kann also nicht davon gesprochen werden, dass er die Lust am Tagebuchschreiben zu diesem Zeitpunkt völlig verliert. Dies lässt sich auch dadurch belegen, dass Klemperer insbesondere im Jahr 1929 immer wieder die Grenzen des Beobachtens auslotet und reflektiert. Der Zweifel an den Möglichkeiten des Schreibens begleitet ihn lebenslang. In dem Moment, in dem er sich entscheiden würde, das Diarium aufzugeben, erläge er diesem Misstrauen. Doch dies geschieht nicht. Klemperer schreibt weiter und diskutiert aus verschiedenen Perspektiven die Frage, was er sowohl visuell als auch sprachlich erfassen kann. Der Zweifel wird damit zur Grundlage einer ständigen kritischen Hinterfragung des fortlaufenden Schreibprozesses. Ausgangspunkt dieser Überlegung sind Beobachtungen, die Klemperer auf einer Schiffsreise durch das Mittelmeer im Frühjahr 1929 macht. Er hinterfragt zunächst den Wert und die Bedeutung einzelner Naturerlebnisse: „Vom Rasieren weg, das Handtuch umgelegt, sah ich mir den Sonnenuntergang an. Das ist schön. Früher dachte ich bei so einer Sache: du beschreibst sie einmal. Später:
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sequuntur? / Ultima latet. / Quantes sequuntur? / Paenultima piget“ (LS II, 467; vgl. dazu Mscr. Dresd. App. 2003, 131) umrahmt. Es handelt sich laut Nowojskis Kommentar (LS II, 825) um eine Variation eines Verses aus Conrad Ferdinand Meyers Dichtung „Huttens letzte Tage“. Im Teil VII „Gloriosa“ der Dichtung lautet der fünfte Vers: „‚Ultima latet.ʻ Stund’ um Stunde zeigt / Die Uhr, die doch die letzte dir verschweigt“ (Meyer 1907, 18). – Die Frage, wie viele Jahre folgen, wird ergänzt durch die Überlegung, was in ihnen wohl geschehen möge. Zudem kehrt Klemperer die Erkenntnis des lyrischen Ichs aus „Huttens letzte Tage“, dass der Mensch seine letzte Lebensstunde nicht kenne, um in die Erklärung, dass die „vorletzte Stunde“ (paenultima) „verdrieße“ (piget). Damit deutet er – zu diesem Zeitpunkt 48 Jahre alt – an, dass er sich bereits im Vorstadium zum Tod fühlt. Die Fixierung darauf überschattet den Blick in die Zukunft. Obwohl Klemperer das abgewandelte Zitat nicht näher kommentiert, signalisiert er damit doch seine Ängste eindrücklich. Deshalb entstehen Eintragungen wie: „Völlige Unlust zum Tagebuch. Hinleben bei vieler Arbeit.“ (LS II, 279, 27.06.1926; vgl. auch LS II, 399, 14.12.1927). Beispielsweise schreibt Klemperer: „Ich bin den Januar hindurch nicht mehr zum Tagebuch gekommen. Nur ein Notizzettel liegt vor. Immer Arbeit“ (LS II, 468, 02.02.1929).
276 | SCHREIBEN EIN L EBEN LANG – V ICTOR K LEMPERERS T AGEBÜCHER sie bleibt dir. Jetzt weiß ich: ich vergesse sie, sie ist kein Dauerwert für mich. Es ist ein schöner Moment, sonst nichts. –“ (LS II, 485, 14.03.1929).
Klemperers Wahrnehmung hat sich im Laufe der Jahre verändert. Er teilt sie selbst in drei Phasen ein. Zu Beginn war das Ziel, „du beschreibst sie einmal“. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass damit eine Darstellung gemeint ist, die publiziert werden sollte. Auch wenn diese Beschreibung nur im Tagebuch – sozusagen privat – entsteht, deutet Klemperers Formulierung an, welche Herausforderung darin steckt, die Wahrnehmung des Sonnenuntergangs nachvollziehbar für andere wiederzugeben. Später reduziert er diesen Anspruch, indem er sein Gewissen beruhigt: „sie bleibt dir“. Am Ende steht die Erkenntnis, noch nicht einmal für sich selbst festhalten zu können, was er wahrnimmt, wenn er einen Sonnenuntergang betrachtet – weder in der Erinnerung, noch in Schrift –, weil das Erlebte keinen „Dauerwert“ für ihn hat. Diese Einstellung wird auf einer zweiten Schiffsreise im Sommer des Jahres 1929 erweitert. Die wiederkehrende Konfrontation mit der Ästhetik der Natur führt Klemperer zu der Frage: „Bin ich hier naturnäher? Ich bin nie naturnahe, es wäre Lüge u. Unnatur, wenn ich mir für meine Person Naturnähe einbildete. Aber ich sehe, beobachte, lerne hier auf dem Meer, was mir sonst ganz entgeht“ (LS II, 547, 12.08.1929).
Auf dem Schiff hat Klemperer ausreichend Zeit und Gelegenheit zur Naturbeobachtung. Deshalb bildet er aus seiner Sicht ein verstärktes Gefühl dafür aus. Der Blick für das, „was mir sonst entgeht“, ist gekoppelt an die außergewöhnliche Situation, in der er sich befindet. Doch dieser Gedanke führt wieder zur Problematik des Beobachtens: „Immer diese drei Fragen, den ganzen Weg über: 1) Was sehe ich wirklich? 2) Was kann ich davon beschreiben? 3) Was bleibt mir als wirkliche Erinnerung?“ (LS II, 554, 20.08.1929).
Die Frage nach dem, was Klemperer sieht, steht nicht allein. Sie ist gekoppelt an die Überlegung, wie das Gesehene beschrieben werden kann und an den Wunsch, „wirklich“ zu erinnern. Die Schrift ist das Mittel zur Aufbewahrung von Erinnerung in Form von Text. Diese Technik verlagert das Gedächtnis vom Gehirn auf das Papier. Dabei ist die erste Frage besonders wichtig. Denn nur, wenn Klemperer das beschreiben kann, was er gesehen hat, wird eine Erinnerung daran möglich. Eben darin liegt das Grundproblem: Schon die Wahrnehmung selbst muss stetig angezweifelt werden. Das stellt Klemperer eindrucksvoll dar, als er sich genötigt sieht, die Informationen eines früheren Eintrags zu korrigieren:
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„Problem des ‚Was sehe ich?ʻ Das Kuppelhaus von der rechten Kuppe ist weder grün noch von grünen Anlagen umgeben. Das habe ich mit einem Athener Bau verwechselt. Es ist nur eben ein Kuppelhaus, wohl Kirche. Die grün umschimmerte Kaserne ist wirklich da, auf dem rechten Hügel – was ich nicht mehr wußte; und dieser rechte Hügel liegt uns näher, mehr östlich, als der linke, der mehr nördlich als [...?] gelagert“ (LS II, 554, 3. Stelle, 20.08.1929).
Die Unmöglichkeit umfassender Wahrnehmung ist Klemperer schmerzlich bewusst. Sie blockiert die konsequente Beschreibung und damit auch das Bewahren des Erlebten. Klemperer kann immer nur einen Abglanz des Gesehenen speichern. Dabei unterlaufen ihm Fehler. Zum Problem des genauen Sehens kommt hinzu, dass jede Wahrnehmung bereits vorgeprägt wird durch das Hintergrundwissen des Betrachters.74 Klemperer erfasst dieses Phänomen auf seiner zweiten Schiffsreise im Jahr 1929: „Wechselwirkung: Konstantinopel war mir bei allem Buchwissen etwas Raumloses, Körperloses, bevor ich es sah. Widerum: es wirkt so groß auf mich, nur weil ich das Wissen, das geographisch-historisch-kulturgeschichtliche habe; es würde ohne das weniger, viel weniger mächtig auf mich wirken. Hier ist wieder das Problem der naiven u. der durch Wissen unterstützten Phantasie. Und darunter die mir durch Bergson vertraute Frage: wie sehe ich, womit sehe ich? Wieso ist mein Tagebuch im Punkt des Schilderns jetzt anders als früher? Vielleicht resignierter. Doppelt: ich kann nicht schildern u. weiß das; und: für wen, wozu die Notizen? Das verfault alles unbenutzt. Vielleicht reifer. Auf Wesentliches u. Persönliches concentriert. Vielleicht blasierter. Wohl alles das: resignierter, reifer, blasierter – u. alles das zusammen heißt älter. –“ (LS II, 566, 30.08.1929).
Die Wahrnehmung von Konstantinopel ist für Klemperer geprägt durch seinen „geographisch-historisch-kulturgeschichtliche[n]“ Hintergrund. Die Erkenntnis dieses Umstandes ist gekoppelt an die allgemeine Frage des Sehens. Klemperer knüpft konkret an den Philosophen und Literaturnobelpreisträger Henri Bergson an. Dessen Untersuchungen zu Wahrnehmung,
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Klemperer erwähnt dieses Problem mehrfach in Bezug auf Victor Hugo und dessen Ausruf „Irun n’est plus Irun“ (vgl. z.B.: LS II, 35, 19.04.1925; LS II, 194, 28.03.1926). Auch als er auf einer Reise Irun selbst besucht, kommentiert er: „Wüßte man es [die Bedeutung der Stadt in Hugos Werk, Anm. d. A.] nicht, so wäre der Landschaftsblick hier zwar sehr hübsch, mündender Fluß, Hafen, runde Bucht mit einem Stück erhöhter Küste, Farbunterschied zwischen gelbem Fluß u. grünblauer [...?] mit weißen Kämmen, aber wenn ich hier die Landschaft sehe, so ist meine wissende Phantasie stark angeregt. Wieder das Thema: Intellekt – Wissen – Phantasie in ihrem Verhältnis zu einander“ (LS II, 253, 1. Stelle, 18.05.1926).
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Wirklichkeit und Veränderung prägen sein Verständnis dieser Begriffe entscheidend.75 In Bergsons Theorien liegt der Grund für die auffallende Konzentration auf die Frage „Was sehe ich?“ während der Schiffsreisen 1929. Denn in diesem Jahr arbeitet Klemperer im Zuge seiner französischen Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts intensiv zu diesem Theoretiker (vgl. Klemperer 1931). Die Ergebnisse davon zeigen sich in der Darstellung der Reisebeobachtungen ebenso wie in der gesamten Einstellung zum Tagebuch. Klemperer fragt: „Wieso ist mein Tagebuch im Punkt des Schilderns jetzt anders als früher?“, weil er sich verstärkt darauf konzentriert, seine Wahrnehmung als Prozess zu analysieren. Das Diarium ist der Ort, an dem er bewusst sein Erleben auswertet. Deshalb zeigt die Entwicklung des Tagebuchs auch am besten, wie sich sein Beobachterstandpunkt verändert. Die Gründe für das veränderte Schildern – Resignation versus Reife versus Blasiertheit – werden zusammengefasst in der Erkenntnis des Älterwerdens. Die Veränderung entsteht nicht nur durch einzelne Reaktionen, sondern durch Klemperers (Weiter-)Entwicklung im Laufe der Zeit. Der Lebensverlauf ist es, der ihm bewusst macht, dass er selbst Schöpfer seines Lebens ist – durch seine Wahrnehmung.76 Das Wahrnehmen ist damit auch ein Schaffensprozess. Denn erst durch das Erkennen, Erfassen und Beschreiben der Existenz entwickelt diese sich fort. Deshalb ist das Darstellen des Erlebten mittels Schrift ein Identität bildender Prozess, der Selbsterkenntnis gekoppelt an Selbstbewahrung ermöglicht. Daraus resultiert die große Bedeutung der Frage „Was sehe ich?“. Wenn es Klemperer nicht gelingt, diese zumindest teilweise zu beantworten, hat er nach seinem Selbstverständnis den Zugang zur eigenen Identität nicht gefunden. Angeregt durch Bergson manifestiert sich die vorher nur als vages Gefühl vorhandene Vermutung, ohne adäquate Beschreibungen keine langfristige Bewahrung erreichen zu können. Das Schreiben ist für Klemperer der Schlüssel zur Auseinandersetzung mit dem, was er sieht, beobachtet, wahrnimmt. Das Bewahren des Erlebten
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Vgl. zu Klemperers Bergson-Auseinandersetzung auch Auguste Cornus Ausführungen (Cornu 1958). Diese Erkenntnis wird von Bergson direkt formuliert: „Neben der Intelligenz gibt es in der Tat die bei jedem von uns unmittelbare Wahrnehmung seiner eigenen Aktivität und der Bedingungen, unter denen sie sich vollzieht. Man nenne sie wie man will: es ist unser Gefühl dafür, daß wir Schöpfer unserer Absichten, unserer Entscheidungen, unserer Akte und dadurch unserer Gewohnheiten, unseres Charakters, unseres Selbst sind. Als Schöpfer unseres Lebens, ja als Künstler sogar, wenn man will, arbeiten wir ununterbrochen daran, aus dem Stoff, den uns die Vergangenheit und Gegenwart, Vererbung und Umstände liefern, eine einzigartige, neue, originelle, unvorhersehbare Form zu kneten, wie diejenige, die der Bildhauer dem Ton verleiht“ (Bergson 1985, 113).
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ist von dessen Möglichkeiten abhängig. Die Grenzen des Schreibens formuliert Klemperer in einem Eintrag, der ebenfalls während der zweiten Schiffsreise 1929 entsteht. Zunächst gibt er ausführlich Landschaftsbeobachtungen wieder (vgl. LS II, 580, 1. Stelle, 10.09.1929). Dem folgt eine analytische Auseinandersetzung mit Bergsons Verständnis von Wahrnehmung: „Ich habe mir heute früh zu meiner ständigen Tortur des Beschreibenwollens u. Nichtbeschreibenkönnens diese Gedanken gemacht, die natürlich zu 99 % aus meiner Bergsonlectüre stammen (mindestens zu 75 %): Beschreiben, d. h. Gesehenes ganz in Worten wiedergeben ist de facto unmöglich. Was tue ich, wenn ich sehe? 1) ich sehe analytisch, Einzelheiten nebeneinander; 2) ich sehe synthetisch, ein Gesammtbild, 3) ich sehe außer allen Einzelheiten u. außer dem Gesammtbild ein paar Einzelheiten oder eine als dominierend, 4) ich sehe, was außen nicht oder so nicht vorhanden ist, sondern was ich aus meinem seelischen Vorrat, durch das außen Vorhandene angeregt, hinzufüge, u. womit ich nun das Außenbild umwandle, u. wodurch ich eine innere u. potenzierte Synthese erreiche aus den analytischen Eindrücken, dem äußeren synthetischen Bild u. der äußeren Dominante bestehend, dies alles vermehrt um, verändert, verschmolzen durch den inneren Vorgang. Das photographische Bild hält Punkt 1 u. 2 fest. Durch die Kunst des Photographen läßt sich wohl auch 3, die Dominante, hinzufügen. Der Maler kann und muß Punkt 1-4, alles, geben. Wenn er ein Klassiker ist, in Harmonie. Die Unterstreichung von 3 macht den Impressionisten, von 4 den Expressionisten aus. – Der mit Worten Beschreibende kann nicht, unmöglich kann er dies Ganze geben. Er muß entweder zwischen den einzelnen Punkten wählen. Er kann also entweder ein wissenschaftliches, d. h. analytisches Inventar geben. Dann ist kein Bild da. Oder einen Eindruck als Impressionist, oder sein Empfinden, sein Erinnern u. innerliches Schöpfen als Expressionist. Dann sind Bilder da, aber nicht die Abbilder dessen, was er gesehen hat. Er kann aber keinesfalls – hier hat er keine Wahl, keine Möglichkeit – keinesfalls Synthese geben, genauer Synopsis: weder die des Photographischen Apparats noch die erhöhte des Geistes; denn alle Worte sind ein Nacheinander in Raum u. Zeit. Er kann also nur entweder analysieren oder andeuten. Beides läuft auf Vergeistigung hinaus. Das Wort dient dem Geist. Ihm allein. Malen ist so wenig sein eigentlicher Beruf wie musicieren. –“ (LS II, 580, 10.09.1929)
Trotz der einleitenden Einschränkung, das Streben nach dem Beschreiben des Gesehenen sei „de facto unmöglich“, unterteilt Klemperer die Wahrnehmung in vier „Punkte“. Dabei geht er davon aus, dass die Fotografie zumindest die ersten drei Punkte abdeckt. Doch umfassend kann demnach nur die Malerei77 wahrnehmen, wobei Klemperer besonders dem Expressionis-
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Der Bezug dieser Überlegungen auf Bergson ist sehr deutlich. Der schreibt in seinem berühmt gewordenen zweiteiligen, 1911 in der Universität Oxford gehaltenen Vortrag „Die Wahrnehmung der Veränderung“: „Aber nirgends zeigt sich die Aufgabe des Künstlers klarer als in derjenigen Kunst, die der Nachah-
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mus diese Möglichkeit zuspricht. Die Darstellung mittels Sprache steht vor dem Problem, immer nur einem der vier Punkte genügen zu können. Der analytischen Beschreibung (Punkt eins) ordnet Klemperer den wissenschaftlichen Text zu: „Dann ist kein Bild da“. – Zwar können Einzelheiten ausführlich, auch in ihrem Bezug zueinander, erfasst werden, aber ein Gesamtbild lässt sich dadurch nicht entwickeln. Die Hervorhebung eines bestimmten Details (Punkt drei) bezieht Klemperer auf die Technik der Impressionisten. Auch sie kann mittels Sprache umgesetzt werden. Allerdings fehlt hier der Rückbezug auf „die Abbilder dessen, was [der Betrachter] gesehen hat“. Dadurch kann der Leser des Beschriebenen sich wiederum kein Gesamtbild machen. Dasselbe gilt für die Umsetzung von Punkt vier. Die Sprache kann durchaus das „Empfinden“, „Erinnern u. innerliche[] Schöpfen“ des Betrachters erfassen. Aber dadurch wird nicht beschrieben, was tatsächlich gesehen wurde. Denn die „Synthese“ des Gesamtbildes (Punkt zwei) ist unmöglich, weil „alle Worte [...] ein Nacheinander in Raum u. Zeit“ sind. Punkt vier meint die gedankliche Eigenleistung des Erlebenden im Moment des Erlebens. Jedes betrachtete Ereignis ruft im Beobachter Assoziationen hervor, die aus seiner völlig individuellen Sozialisation resultieren. Niemals werden zwei Personen sie in gleicher Weise kombinieren und auf das Gesehene anwenden. Sprache kann zudem keine Gleichzeitigkeit erzeugen. Sie verläuft immer linear. Ein Übereinander ist unmöglich. Außerdem ist sie abhängig vom Sprecher bzw. Schreiber. Schon durch dessen Individualität wird das Beschriebene in einer bestimmten Art und Weise berichtet. Die Konsequenz
mung den größten Platz einräumt, ich meine in der Malerei. Die großen Maler sind Menschen, denen sich eine Schau der Dinge eröffnet, die durch sie erst zu einer Schau für andere Menschen wird. Ein Corot, ein Turner, um nur diese anzuführen, haben in der Natur Aspekte entdeckt, die wir niemals bemerkten. – Wird man sagen, daß sie diese Aspekte nicht gesehen, sondern geschaffen haben, daß sie uns Produkte ihrer Einbildungskraft dargeboten haben, daß wir ihre Empfindungen annehmen, weil sie uns gefallen, daß wir uns einfach damit begnügen, die Natur in dem Bilde zu sehen, das die großen Maler uns von ihr gezeichnet haben? [...] Suchen wir zu ergründen, was wir vor den Bildern eines Turner oder Corot empfinden: wir werden dann finden, daß wir sie nur deshalb anerkennen und bewundern, weil wir etwas von dem, was sie uns zeigen, selber schon wahrgenommen haben. Aber wir hatten es nur wahrgenommen, ohne es wirklich zu bemerken. Für uns war es eine flüchtig auftauchende und wieder verschwindende Vision in der Fülle von gleichermaßen flüchtig auftauchenden und wieder verschwindenden, die sich in unserer gewöhnlichen Erfahrung wie ‚dissolving viewsʻ überdecken und durch ihre Interferenz die blasse und farblose Anschauung der Dinge bilden, wie wir sie gewöhnlich haben. Der Maler hat sie isoliert; er hat sie auf der Leinwand wohl fixiert, sodaß wir von nun ab nicht umhin können, in der Wirklichkeit das zu bemerken, was er selbst in ihr gesehen hat“ (Bergson 1985, 155).
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daraus ist der Rückzug auf „Analyse“ oder „Andeutung“, was wiederum „auf Vergeistigung“ hinausläuft und damit von Beginn an die Wiedergabe von Wahrheit in der Beschreibung verhindert. Klemperer schließt seine Überlegungen mit der Feststellung ab, das Wort diene ausschließlich dem Geist. Die „Vergeistigung“, welche unweigerlich zu einer Veränderung des Gesehenen durch den Betrachter führt, lässt sich deshalb nur mit Hilfe von Sprache betreiben. Aber erst der Blick auf das Gesamtbild ermöglicht ein tatsächliches Verstehen. Diesem Problem kann ein Tagebuchschreiber nicht ausweichen. Ihm wird immer wieder deutlich, dass er auch vom kleinsten Sachverhalt kein Gesamtbild geben kann. Ihm bleiben nur die Beschreibung des Einzelnen und die „Synopsis“. Der formale Aufbau des Tagebuchs entspricht diesem Grundproblem der Beschreibung. Jedes Notat ist eine Momentaufnahme von Einzelheiten und lässt sich nur als durch die Persönlichkeit des Tagebuchschreibers geprägt lesen. Dabei ist noch etwas von entscheidender Bedeutung, das Klemperer in einer im Druck gekürzten Eintragung vom 13. September 1929 erfasst: „Man muß sich durchaus entscheiden, ob man die Dinge von fern oder nah sehen will. Sie sind beidemal absolut anders. Durch die Entfernung tritt Dauer hervor, Alter verschwindet. Manches legt sich zusammen, aber auch was scheinbar unverändert bleibt, wird zu ganz anderem. Ich sah das, als wir um fünf Uhr Limni verließen. Der enge grüne Ring und die fernen hohen Bergflügel, die blaugrünen traten zusammen, und zwei gewaltige Kanten und Buckeln im Süden wurden eine scharfe Berglinie, die kleinen Buchten des inneren Rings glätteten sich zur Geraden aus, die abgetrennte Berglinie im Norden schmiegte sich fest an die grüne Niederung vor ihr .. alles war anders, gab geographische Einheit, verschluckte, verarbeitete Einzelheiten. Was von der räumlichen Ferne gilt, gilt genauso von der geistlichen. Welcher Blick die größere Wahrheit übermittelt, der aus der Nähe, der aus der Ferne – törichte Frage. Beides hat seine Wahrheit. Aber man muß wählen“ (LS II, 585, 2. Stelle, 13.09.1929).
Die Betrachtung der Landschaft wird zum Vergleich mit der allgemeinen „geistlichen“ Wahrnehmung herangezogen. Beginnt der Tagebuchschreiber die Darstellung einer Situation in direkter zeitlicher Nähe, beschreibt er vor allem Einzelheiten. Mit einiger Entfernung vom Ereignis überwiegen zusammenfassende Erklärungen, die Verknüpfungen mit anderen Erlebnissen und Gedanken herstellen. Damit verwendet Klemperer seine metaphorische Übertragung der verschwimmenden Landschaft auf die Wahrnehmung von Lebensereignissen für die Beschreibung der Funktionalität von Erinnerungen. Im Rückblick – also mit Abstand zum betrachteten Gegenstand – verändert sich das Erlebte. Gerade dadurch entsteht die Fokussierung auf die größeren Zusammenhänge. Die Frage, welche Perspektive „die größere Wahrheit übermittelt“, hält Klemperer für „töricht“. Beide Blickwinkel ermöglichen einen Aufschluss über Zusammenhänge und den Ereignisrahmen. Nur liegt der Schwerpunkt jeweils etwas anders. Deshalb hat beides „seine Wahrheit“. Der Betrachter
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kann allerdings immer nur eine der beiden Positionen einnehmen. Er muss „wählen“. Diese Annahme einer Wahlmöglichkeit ist jedoch eine Illusion. Denn die Selektion kann mit zunehmendem zeitlichem Abstand nur noch auf die Betrachtung aus der Ferne hinauslaufen. Nur wenn der Tagebuchschreiber sofort berichtet, kann er möglichst umfassend Details erkennen und diese auch beschreiben. Je länger ein Ereignis zurückliegt, desto weniger gelingt es, Einzelheiten festzuhalten. Die Erinnerung löst jene klaren Konturen auf, die Klemperer durch den „Blick [...] aus der Nähe“ erfassen möchte. An dieser Stelle fasst er das nicht als negativ auf. Inspiriert durch die Landschaftsbetrachtung geht es ihm darum, zu reflektieren, aus welchen Perspektiven Ereignisse gesehen werden können. Im Gegensatz zu anderen Situationen, in denen Klemperer beim erneuten Lesen alter Tagebuchaufzeichnungen seine Unfähigkeit beklagt (vgl. die Ausführungen oben), Dinge präzise zu beschreiben oder zu erinnern, kommt er hier zum Ergebnis, dass beide Wege positive Effekte haben. Daran zeigt sich erneut, welche große Spanne an unterschiedlichen Positionen in Klemperers Tagebuch abgebildet wird. Keine Aussage hat endgültigen Bestand. Neue Erfahrungen und Erkenntnisse können früher Gesagtes bestätigen, aber auch vollkommen entgegengesetzt bewerten. Gerade diese Vielfalt differierender Einstellungen prägt Klemperers Auseinandersetzung mit sich selbst und mit dem Prozess des Tagebuchschreibens. Zwischenergebnis 1926-1930 Trotz einer zunehmenden allgemeinen Unzufriedenheit ab Mitte der zwanziger Jahre konzentriert sich Klemperer weiterhin sehr stark auf sein Tagebuch. Er nutzt es gezielt als Sammelort unterschiedlicher Informationen, die er systematisch notiert und ordnet. Die Metapher der „Papiersoldaten“ illustriert seinen Wunsch, die Notizen später für ein Buchprojekt zu verwenden. Daraus ergibt sich für den Tagebuchschreiber fast ein Zwang zum Weiterschreiben. Aus einer zweiten Perspektive betrachtet Klemperer seine Aufzeichnungen jedoch auch als Möglichkeit, sich zu „betäuben“. Er will der tiefer gehenden Reflexion seiner Probleme mit Hilfe seiner Arbeit und paradoxerweise auch seines Tagebuchs aus dem Weg gehen. Insbesondere die Frage „Was sehe ich?“ ist zentral. Dadurch entsteht eine komplexe autopoietische Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Herausforderungen des (Be-)Schreibens der individuellen Entwicklung.
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1931-1932 – „... U . NUN HABE L UST ZUM S CHREIBEN .“ 78
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Die Frage, wie geschichtlich bedeutsame Ereignisse vor sich gehen, begleitet Klemperer sein Leben lang. Doch die Einstellung dazu verändert sich über die Jahre. Anfang der Dreißiger resigniert er zunehmend und kommt zu dem Schluss: „Von wem geht Großes aus? Wer bestimmt seine Zeit, wer setzt an Stelle dauernder, fesselnder Institutionen Neues – neue Moden, neue Geisteshaltungen, neue Moral, die wieder zu fesselnden Institutionen werden? Wie kommt die regelmäßige Änderung von Generation zu Generation zustande? Von Jahr zu Jahr erkennt man Selbstverständliches als gar nicht Selbstverständliches, als ganz unerklärlich Wunderbares. Das früh gelernte οϊδα µή είδέυαι [Ich weiß, dass ich nichts weiß, Anm. d. A.] wird allmählich zu entscheidendem Erlebnis“ (LS II, 684-685, 12.03.1931).
Es geht nicht mehr um die Erkenntnis, dass nicht klar ist, wie und durch wen Geschichte bestimmt wird, sondern das Bewusstsein des Nicht-Wissens dominiert. Der Eindruck, dass ständig neue Entwicklungen das bisher scheinbar sichere Wissen in Frage stellen und „Selbstverständliches als gar nicht Selbstverständliches, als ganz unerklärlich Wunderbares“ erscheint, erzeugt eine allgemeine Verunsicherung. Klemperer fühlt sich den Entwicklungen seiner Zeit und der politischen und wirtschaftlichen Irritation, die daraus resultieren, hilflos ausgeliefert.79 Betrachtungen dazu notiert er im Tagebuch immer seltener. Das Gefühl, nicht zu begreifen, was die grundlegenden Einflüsse auf das private Leben sind, frustriert Klemperer zunehmend und führt zur Ablehnung der Auseinandersetzung damit. Dies gipfelt schließlich in einer Bemerkung über die politische Entwicklung im einzigen Eintrag vom September 1932: „Hierüber hier zu schreiben lohnt nicht. Das ist ja als Historie existent“ (LS II, 760, 21.09.1932). Die Konsequenz aus dem Gefühl, nichts von dem erfassen zu können, was um ihn herum geschieht, ist der Rückzug auf ein Gebiet, auf dem Klemperer sich auskennt. Da die Chancen auf einen Universitätskatheder fehlen, bleibt ihm allein die Konzentration auf seine wissenschaftliche Produktion. Zwar nennt er zunächst das Diarium noch gleichbedeutend mit der Arbeit, doch bald dient
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LS II, 745, 05.04.1932 Vor allem die politischen Entwicklungen entziehen sich immer mehr Klemperers Verständnis. Er konstatiert schon im Sommer 1931: „Aber von Tag zu Tag wird die deutsche Gesamtlage verzweifelter u. undurchsichtiger. Ich verstehe nicht, was vorgeht, niemand versteht es, die Zeitungen schwätzen oder lügen. [...] Vollkommen blind u. hilflos lebt man jetzt hin, und hat keine Ahnung, was man durchlebt, was für Geschichte sich vollzieht, u. wer Geschichte macht“ (LS II, 721, 16.07.1931).
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der Tagebucheintrag häufig nur zur Berichterstattung über die Arbeitsfortschritte.80 Vermehrt verfasst Klemperer dabei auch rezensionsartige Darstellungen von Romanen, die er seiner kranken Frau81 zum Zeitvertreib vorliest. Teilweise analysiert er im Tagebuch die Inhalts- und Bedeutungsebenen der Lektüre oder verweist auf externe Notizen dazu (vgl. z.B.: LS II, 761, 3. Stelle, 02.10.1932). Diese Textexzerpte dienen ihm als Inspiration für seine wissenschaftliche Arbeit. – Sie fließen teilweise indirekt in seine Textproduktion ein. Zudem nehmen sie den größten Raum in den Tagebuchaufzeichnungen 1931-1932 ein. Anderen Themen, die möglicherweise tiefer gehende Reflexionen erzeugen könnten, weicht Klemperer aus. Das Tagebuch verliert deshalb als Ausdruck privater Einstellungen an Bedeutung. Schließlich bewertet Klemperer sogar die Exzerpte zu den vorgelesenen Büchern als unnütz: „Ob dies Nebenbei nur Zeitvertreib ist, oder irgend wann einmal Frucht trägt? Ich bin gegen diese Frage gleichgültig geworden, weil ich am Wert der ‚Fruchtʻ im Allgemeinen immer mehr zweifle. Ein Band mehr oder weniger von mir auf der Landesbibliothek verstaubend – was ist unwichtiger?“ (LS II, 737, 18.11.1931).
Die Einstellung Klemperers zu seinen Aufzeichnungen hat sich gewandelt. Es scheint ihn nicht mehr zu interessieren, ob zumindest Teile seiner Notizen – in diesem Fall die Lektürenotate – einem längerfristigen Nutzen dienen könnten. Die mögliche „Frucht“ dieser Schreibarbeit – das veröffentlichte Buch – hat nicht mehr den Wert wie in früheren Jahren, als Klemperer sie als „ein Stück erledigtes Leben“ (vgl. LS I, 626, 22.10.1922) auffasste. Fast scheint es, als schreibe er nur noch Tagebuch, weil es ein unvermeidliches Ritual ist. Die wissenschaftliche Arbeit als Rückzugsort vor Reflexionen vereinnahmt Klemperer bald so stark, dass er kaum noch Interesse am Tagebuch hat: „Ich ließ alle Tagebuchnotizen, bis der Corneille beendet wäre – u. nun habe ich keine Lust zum Schreiben. Ich spiele jetzt öfter als früher mit der Idee eines Buches Er-
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So erklärt Klemperer beispielsweise: „Vielleicht, hoffentlich gelingen morgen Tagebuchnotizen u. auch wieder Arbeit am Corneille“ (LS II, 709, 23.05.1931). Der Gedanke an Zeit für das Tagebuchschreiben ist mit der Hoffnung auf wissenschaftliche Produktion verknüpft. Direkt im Anschluss an den zitierten Satz vermerkt Klemperer nur noch die Arbeitsergebnisse des Tages. Die Krankheit Eva Klemperers, die vermutlich psychosomatischen Ursprungs war, ist ständiges Thema in den wenigen Tagebuchaufzeichnungen der Jahre 1931 und 1932. Einmal schreibt Klemperer: „Es ist nicht Tagebuchphrase, wenn ich diese Not um Eva vor allem u. um all das andere daneben eine allgegenwärtige nenne“ (LS II, 728, 15.08.1931).
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innerungen, aber die Gegenwart gleitet mir stumpf hin. Ich muß mich in Arbeit oder Vorlesen (leider ohne Notizen) betäuben und vergessen“ (LS II, 745, 05.04.1932).
Das Tagebuch wird solange zurückgestellt, bis die Arbeit an einer Monographie über Corneille (vgl. Klemperer 1933) beendet ist. Im Anschluss daran, verspürt Klemperer „keine Lust zum Schreiben“. Gerade an dieser Stelle jedoch bringt er die „Idee eines Buches Erinnerungen“ zur Sprache. Er manifestiert damit den Gedanken an das Schreiben einer Autobiographie parallel zum abnehmenden Interesse am Tagebuch. Der Wunsch bzw. das Hoffen auf die Möglichkeit, „Erinnerungen“ zu schreiben, taucht seit Ende der zwanziger Jahre gelegentlich im Tagebuch auf (vgl. z.B.: LS II, 539, 27.07.1929). Es wirkt jedoch häufig, als spiele Klemperer jeweils nur kurzfristig – abhängig von äußeren Ereignissen, die ihn inspirieren – mit diesem Gedanken. Ein grundlegender Zweifel bleibt auch Anfang der dreißiger Jahre: „Ich stehe jetzt auch meinem Tagebuch so skeptisch gegenüber. Die Vita werde ich wohl doch nie schreiben, u. die Tagebücher muß man verbrennen, wenn ich sterbe. Was vaut noch die peine, wie Voßler sagt, wenn man 50 ist, mit kranken Augen u. fragwürdigem Herzen?“ (LS II, 717, 20.06.1931).
Klemperer weiß, dass eine Autobiographie auf ausführlichen und inhaltsreichen Tagebüchern basieren müsste. Gerade dies kann er mit seinen Aufzeichnungen gegenwärtig nicht garantieren, weil er nur wenig notiert. Zudem misstraut er seiner Tagebuchführung nach wie vor und äußert Skepsis gegenüber dem Wert seiner Aufzeichnungen. Er zitiert seinen Lehrer Karl Vossler, der den Satz „Ça ne vaut pas la peine.“ („Das ist nicht der Mühe wert.“) scherzhaft verfremdet. Zudem schiebt er die scheinbar schlechten Ausgangsbedingungen vor, im Alter von 50 Jahren an diversen Krankheiten zu laborieren. Der Rückzug auf die Arbeit und das Vorlesen als „Betäubung“ lenken Klemperer sowohl von dem Gedanken an die „Erinnerungen“ als auch von der Resignation über die gegenwärtigen Entwicklungen ab. Die Reflexionsmöglichkeit im Tagebuch lehnt er deshalb zunehmend ab: „Ich will Reife dadurch bekunden, daß ich mich nicht bei philosophischen Betrachtungen aufhalte, sondern meinen Stiefel solange und so gut als möglich weiterarbeite, als wäre ich von seinem absoluten u. dauernden Wert überzeugt“ (LS II, 675, 01.01.1931).
Nicht mehr die Auseinandersetzung mit dem Selbst im Tagebuch wird präferiert, sondern der Rückzug in die wissenschaftliche Arbeit. Hintergrund bleibt aber weiterhin das Bedürfnis, etwas von „dauernde[m] Wert“ zu schaffen. Denn die intensive wissenschaftliche Arbeit zielt auf Veröffentlichungen ab.
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Nach dem Tod seines Bruders Berthold im Mai 1931 artikuliert Klemperer wieder verstärkt die Angst vor dem „Verschwinden“, ohne dauerhafte Spuren zu hinterlassen. Dies rückt die Frage nach dem Wert der Tagebuchaufzeichnungen stärker ins Blickfeld. Klemperer hat wachsende Zweifel am Sinn seiner Eintragungen: „Papiersoldaten! Mit 50 Jahren fast werde ich nun das Heft 45 beginnen. Wieviele noch? Und es ist anzunehmen u. zu hoffen, daß sie alle ungelesen verbrannt werden, wenn es soweit mit mir ist. Ich sehe jeden Tag einmal Bertholds Sarg“ (LS II, 732, 06.09.1931).
Erneut notiert Klemperer die Forderung nach dem Verbrennen seiner Tagebücher. Dies steht im direkten Widerspruch zu seiner Furcht vor der Bedeutungslosigkeit. Er hofft, mit Hilfe seiner wissenschaftlichen Arbeit etwas von dauerndem Wert zu schaffen. Gleichzeitig sieht er keinen Sinn mehr in seinem privaten Tagebuchschreiben. Nichtsdestotrotz führt er es fort. Ein Unterlassen der Aufzeichnungen ist ihm ebenso wenig möglich wie ihre Vernichtung. Denn Klemperers Wunsch, sein Leben zu bewahren, bleibt bestehen. Er signalisiert mit seiner Aussage, dass ihm die Auseinandersetzung mit sich selbst angesichts der Furcht vor der Sinnlosigkeit seines Handelns zunehmend schwer fällt. Daraus lässt sich weniger eine konkrete Absage an das Tagebuchschreiben ablesen, als vielmehr die zunehmende Problematik, sich den eigenen Ängsten und Depressionen zu stellen. Denn dies lehnt er Anfang der dreißiger Jahre immer mehr ab: „Die immer stärkere Angst und Unmöglichkeit dem Tagebuch gegenüber. [...] Ich muß außerhalb meiner selbst sein, in Lectüre oder Arbeiten. – Außerdem: die Zeitgeschichte brauche ich nicht zu schreiben. Und mein Mitteilen ist ein stumpfes, ich bin halb abgestoßen, halb voller Angst, der ich mich nicht überlassen will, ganz ohne Enthusiasmus für irgend eine Partei“ (LS II, 758, 07.08.1932).
Nicht das Diarium als solches, sondern die Angst, sich darin – im Schreiben – mit sich selbst auseinander setzen zu müssen, führt zur Ablehnung der regelmäßigen Tagebuchführung. Klemperer fürchtet sich vor der Konfrontation mit seinem Inneren. Deshalb lehnt er das Tagebuchschreiben ab. Erst dadurch artikuliert er sogar einen konkreten Widerwillen gegen das Tagebuch: „Ich habe durchweg u. steigend Widerwillen gegen das Tagebuch – nicht nur Ungeduld. Ich bin dem eigenen Ich gegenüber stumpf, verschwimmend, uninteressiert. Ich bin erregt u. bedrückt nur noch, u. immer mehr, von den ganz allgemeinen, den ganz trivialen u. abgeschmackten Fragen: Was ist? Was wird? Wozu ist? Usw. usw. Ich habe nicht Angst vor irgendeiner Hölle – ich habe immerfort nur Angst, aber wahrhaftig immerfort: vor dem Aufhören, vor dem Nichtsein, vor dem Nie-Erfahren. –
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{...} Mir ist am wohlsten, wenn ich so sehr in der Arbeit bin, daß ich die Frage nach mir u. nach dem Wert der Arbeit vergesse“ (LS II, 751, 14.05.1932).
Nichts mehr von dem, was Klemperer zum Zeitpunkt dieses Notats bewegt, scheint ihm würdig, im Tagebuch aufgezeichnet zu werden. Einzig die stetig wiederholte Todesangst beschäftigt ihn. Die Konfrontation mit der Vorstellung, sein Leben werde einfach „aufhören“ und hernach „nichts“ mehr existieren, scheint ihn fast in den Wahnsinn zu treiben. Zuflucht kann nicht mehr das Tagebuch bieten, denn darin ist es ihm nicht möglich, der Reflexion über den Tod vollständig zu entgehen. Die wissenschaftliche Arbeit dagegen lenkt davon ab. Im Diarium dreht Klemperer sich fast ausschließlich um dasselbe Thema und findet keinen Ausweg aus dieser Gedankenspirale. Daraus resultiert der zunehmende Widerstand gegen das Tagebuchschreiben. Im Mai 1932 hat sich der Zweifel am Sinn des Tagebuchführens zu einer generellen Ablehnung des Tagebuchs als Ausdrucksmittel potenziert: „Immerfort der innere Widerstand gegen Tagebuch und Selbstbesinnung, immer das dumpfe Gefühl der Trostlosigkeit“ (LS II, 755, 25.06.1932). Das Tagebuchschreiben ist zu diesem Zeitpunkt keine selbstverständliche Tätigkeit.82 Vielmehr entstehen Einträge nur noch in Ausnahmesituationen, wenn Klemperer sich dazu überwinden kann. Denn das Tagebuch wird gleichge-
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1932 entstehen ganze 32 Einträge. Im Vergleich zu früheren Jahren ist dies sehr wenig. Das spiegelt sich auch in der Führung des Tagebuchs wieder. „Tagebuch VL“ (Mscr. Dresd. App. 2003, 134) umfasst zwei komplette Jahre (12. September 1931 bis 6. September 1933). Verglichen mit anderen Wachstuchheften, in denen lediglich ein paar Monate erfasst werden konnten (vgl. z.B.: Mscr. Dresd. App. 2003, 121, welches vom 19. April bis zum 27. September 1920 verläuft, braucht Klemperer sehr lange, um das Buch zu füllen. Hinzu kommt, dass er von der bisherigen möglichst Platz sparenden und engen Schreibweise abweicht und ab dem Eintrag vom 31. Dezember 1931 nur noch jede zweite Seite beschreibt. Möglicherweise entscheidet sich Klemperer zu diesem Schritt, weil das Papier ihm zu dünn erscheint. Die Tinte wird jeweils auf dem rückseitigen Blatt sichtbar. Klemperer kommentiert diesen Schritt nicht. Dabei wirkt dies ungewöhnlich, wenn bedacht wird, wie eng und jede kleinste freie Stelle auf dem Papier ausfüllend er bis dahin Tagebuch führte. Auch die wenigen Notate im vorderen Spiegel weisen auf seine geringe Schreiblust hin. Unter den Angaben zur Tagebuchnummer und Rahmendaten von Zeit und Orten notiert er: „Keine Reise. / Die Bücher Corneille + Anthologie – Das neue deutsche Frankreichbild (nicht mehr gedruckt) / Felix † 2/4 1932 / das dritte Reich seit 30/I bezw. 5/III 33“ (Mscr. Dresd. App. 2003, 134). Diese vier Ereignisse definieren für Klemperer die Jahre 1931 bis 1933. Sonst hält er kein Ereignis in diesem Zeitraum für bereits im Umschlag des Wachstuchheftes erwähnenswert.
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setzt mit „Selbstbesinnung“. Die Reflexion im Diarium führt in letzter Konsequenz immer wieder auf die eigene Persönlichkeit zurück. Weil Klemperer ein grundlegendes Gefühl von Trostlosigkeit verspürt, konfrontiert ihn das Schreiben immer wieder damit.83 Gleichzeitig ist er sich jedoch bewusst, was durch die Vernachlässigung des Diariums geschieht: „Dies Tagebuch dörrt immer mehr zum Notizbuch aus. Das Eigentliche, nun schon seit Jahren, ganz bestimmt aber seit Lugano, also seit 13 Monaten, die alles ertränkende Lebens-, genauer Todesmelodie: Evas Verengung, Verdüsterung, seelisches Absterben und Sterbenwollen – das ist ja doch nicht aufzuzeichnen“ (LS II, 748, 24.04.1932).
Es besteht zunehmend die Gefahr, dass das Tagebuch zum „Notizbuch“ verkommt. Die ausführlichen Beschreibungen und tiefer gehenden Analysen fehlen weitgehend. Bei dem Versuch, die Ursache für diesen Sachverhalt – das Leiden unter Evas Depressionen – zu beschreiben, resigniert Klemperer. Die grundlegende Sehnsucht nach dem Beschreiben und Bewahren bestimmter Ereignisse und Beobachtungen bleibt jedoch bestehen. Zwar verhindert der innere Widerstand gegen die Auseinandersetzung mit der eigenen Person, die sonst alltäglich betrieben wurde, das regelmäßige Tagebuchschreiben. Durch die stete Diskussion seiner Schreibunlust in fast jedem der wenigen Notate signalisiert Klemperer aber seine Sehnsucht nach Ausdrucksmöglichkeiten.84 Denn ihm ist bewusst, was er mit dem Tagebuchschreiben erreichen könnte. So reflektiert er beispielsweise in einer Eintragung die politische Situation in der Weimarer Republik 1932: „Über die Verhetzung u. Lügen mit denen die Nationalsocialisten arbeiten, hören wir in letzter Zeit viel. Schade, daß ich so gar keine Zeit u. Lust mehr zum Tagebuch aufbringe“ (LS II, 744, 14.03.1932). Klemperer erkennt, dass er historischen Entwicklungen beiwohnt, die in ihren einzelnen Auswirkungen auf das Alltagsleben der Menschen be-
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Er formuliert diesen Gedanken direkt aus: „Ich habe keine Freude mehr am Tagebuch u. keine Ruhe dazu. Wozu diese Zeitvergeudung? Ich lese es nicht wieder, niemand liest es wieder, es wird irgendwann einmal verbrannt. Es erfordert Selbstbesinnen; mir ist wohler, wenn ich unbewußt arbeite oder lese. –“ (LS II, 750, 24.04.1932). Dies zeigt sich zum Beispiel in einem Kommentar zum Tonfilm „Der blaue Engel“: „Darüber könnte ich Seiten schreiben, wenn ich überhaupt noch Tagebuch schreiben könnte. Aber etwas widerstrebt dabei in mir. Besser nicht an mich denken, Sachliches treiben – Sachalkohol“ (LS II, 754, 10.06.1932). Themen, die Klemperer zu Reflexionen über die Entwicklungen der Zeit und damit auch seine persönliche Einstellung dazu führen könnten – so auch der Kinofilm –, umgeht er bewusst. Doch die Wortschöpfung „Sachalkohol“ deutet an, dass er dies nicht positiv wertet.
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schreibenswert wären.85 Doch er fühlt sich nicht in der Lage, ausführlicher Tagebuch zu schreiben. Das Bedauern äußert sich auch in der stetigen Wiederholung der Metapher von den Papiersoldaten: „Neulich ging mir durch den Kopf, daß ich durch mehrere erste Ehejahre auf dem Jahreskalenderblatt, das die Zeitungen liefern, jeden Tag sexueller Freuden anstrich. Welch ein Bewußtsein von Wert u. Dauer meines Lebens damals. Und jetzt muß ich mir jede Tagebuchzeile abzwingen. Und immer denke ich an meine ‚Papiersoldatenʻ. So wie sie nie aufgeklebt u. zur geplanten Schlacht oder Revue gestellt wurden, nur nutzlos in der Cigarrenkiste lagen u. schließlich verschwunden sind, so wird es mit meinen vielen Tagebüchern gehen, u. mit all dem Ungeschriebenen in mir“ (LS II, 768, 15.12.1932).
Immer wenn Klemperer erklärt, nicht Tagebuch schreiben zu können, verzweifelt er gleichzeitig darüber. Die Erinnerung an eine Lebensphase, in der er sich rückblickend als jung und zukunftsfroh betrachtet, konterkariert die Trauer über das Vergehen der Zeit und den Zweifel an jeder Dauerhaftigkeit. Hatte er in den zwanziger Jahren noch darauf gehofft, mit Hilfe seines Tagebuchschreibens einen gewissen Wert schaffen zu können, setzt er nun die Tagebücher mit Verlustgedanken gleich. Demnach wären die Tagebuchaufzeichnungen sinnlos und ohne jede Bedeutung. Trotz seiner Zweifel an den zukünftigen Möglichkeiten für seine Aufzeichnungen, trägt allerdings jede noch so kurze Eintragung wieder einen kleinen Teil zu einem langfristigen Aufbewahren der eigenen Lebensgeschichte bei. Jedes Notat symbolisiert einen Papiersoldaten. Unabhängig davon, wie viele Informationen darin gesammelt werden, bewahrt auch die Andeutung von nicht beschriebenen Ereignissen und die wiederholte Verzeichnung von allgemeiner Depression Klemperers Existenz. Zwischenergebnis 1931-1932 Die Jahre vor dem Beginn des „Dritten Reichs“ sind durch große Depression und Resignation geprägt. Klemperer scheint nicht mehr daran interessiert, was um ihn herum geschieht. Vielmehr reduziert er sein Tagebuch auf wenige Notizen und Lektüreexzerpte. Wichtigstes Thema ist seine Arbeit. Paradox erscheint in diesem Zusammenhang die Idee zur Autobiographie: Obwohl ein solcher Text auf den Tagebüchern basieren müsste, führt Klem-
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Auch bezüglich privater Erlebnisse vermerkt er mehrfach sein Bedauern über seinen inneren Widerstand gegen das ausführlichere Beschreiben. So kommentiert er beispielsweise die Erwähnung einer Tagesreise nach Meißen mit den Worten: „Von alledem wäre viel zu erzählen, wenn ich Lust u. Zeit zum Erzählen hätte. Aber etwas hemmt mich beim Tagebuch u. treibt mich in andere unpersönliche Arbeit“ (LS II, 759, 4. Stelle, 21.09.1932).
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perer seine täglichen Aufzeichnungen nur noch unregelmäßig. Er hat den Glauben an seine Schreibfähigkeit verloren.
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1933-1938 – „I CH KLAMMERE ARBEIT ...“ 86
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Mit dem Beginn des Jahres 1933 und insbesondere mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 lässt sich rückblickend in der Geschichte Deutschlands eine prägende Zäsur setzen. Allerdings weist Klemperers Diarium zunächst kaum auf die entscheidende Bedeutung der politischen Entwicklungen dieser Zeit hin. Denn er kann die später konstatierte epochale Bedeutung der Ereignisse nicht erkennen. Er beschäftigt sich vorwiegend mit seinen eigenen Problemen. Er ist dabei so tief in seiner privaten depressiven Stimmung gefangen, dass auch die dramatischen politischen Veränderungen ihn zunächst nicht dazu veranlassen, ausführlicher Tagebuch zu führen. Zwei Einträge entstehen im Januar 1933. Auch im Februar verfasst Klemperer nur ein Notat. Darin erklärt er erst nach einer Lektürenotiz und Ausführungen zu seinen Vorlesungen: „Seit etwa drei Wochen die Depression des reaktionären Regimentes. Ich schreibe hier nicht Zeitgeschichte. Aber meine Erbitterung, stärker als ich mir zugetraut hätte, sie noch empfinden zu können, will ich doch vermerken. Es ist eine Schmach, die jeden Tag schlimmer wird. Und alles ist still und duckt sich, am tiefsten die Judenheit und ihre demokratische Presse“ (ZA I, 6, 21.02.1933).
Der Machtwechsel Ende Januar 1933 wird nicht nur erst am 21. Februar überhaupt erwähnt – sogar innerhalb des Eintrags kommentiert Klemperer das Ereignis erst an dritter Stelle. Wichtigere Themen sind die Lektüre und die eigenen Vorlesungen. Erst nach der Auseinandersetzung damit wendet sich Klemperer in einem knappen Satz dem Sachverhalt zu. Er entschuldigt sogar indirekt die Äußerung seiner subjektiven Einschätzung und Frustration über Hitlers Ernennung zum Reichskanzler und die daraus folgenden Repressionen, indem er erklärt: „Ich schreibe hier nicht Zeitgeschichte. Aber...“. Klemperer sieht sich nach wie vor nicht verpflichtet, das „Große“, die historischen Entwicklungen, in seinem Tagebuch zu notieren. Zwar fühlt er sich aufgrund seiner „Erbitterung“ genötigt, die Gesamtheit der Auswirkungen des 30. Januar 1933 zu kommentieren. Grundsätzlich lehnt er es jedoch ab, chronologisch zu vermerken, wann und wie Ereignisse ablaufen, die außerhalb seiner privaten Lebenswelt stattfinden. Dies resultiert vor allem aus dem Bewusstsein der Unmöglichkeit, zu erkennen, welche Situationen
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ZA I, 208, 21.07.1935
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entscheidende Bedeutung für die weitere historische und politische Entwicklung haben. Dieser Gedanke, den Klemperer schon 1918 formuliert,87 hat auch während der nationalsozialistischen Herrschaft Bestand. Er schreibt weiter das Tagebuch seines ganz privaten Alltags. Die historischen Entwicklungen der ersten Jahre nationalsozialistischer Diktatur werden deshalb selten im Diarium vermerkt. Nur das Befinden und Erleben Klemperers spielt in den meisten Einträgen eine Rolle. Politische Äußerungen resultieren grundsätzlich aus seiner direkten Betroffenheit.88 In diesen Fällen vermerkt er seine Reaktion ausführlich. Jedoch kann in keiner Weise behauptet werden, Klemperer hätte sich als „Chronist des Dritten Reichs“ verhalten. Die Entwicklungen seiner Außenwelt haben in den Anfangsjahren der Nazidiktatur auf sein Diarium nur indirekten Einfluss. Im Vergleich zu früheren Aufzeichnungen führt Klemperer zudem sein Tagebuch eher sporadisch. Selten macht er in einem Monat mehr als zehn, häufig weniger als fünf Einträge. Zwar sind die Notate oft sehr ausführlich und umfangreich, doch die Masse früherer Notate entsteht nicht.89 Vielmehr erklärt Klemperer wiederholt, er wolle nur die erschütterndsten Beobach-
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Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel VII.2 zu dem dort zitierten Tagebucheintrag LS I, 8, 23.11.1918. Ein Beispiel dafür ist die Erwähnung der Einführung der so genannten „Nürnberger Gesetze“, die juristisch die Grundlage für die systematische Ausgrenzung und Diskriminierung der Juden schufen: „Während ich gestern schrieb, hatte der ‚Reichstagʻ in Nürnberg schon die Gesetze für das deutsche Blut und die deutsche Ehre angenommen...“ (ZA I, 219, 17.09.1935). Klemperer ist nicht daran interessiert, chronologisch zu berichten, wann welche politischen Abläufe sein Leben wie beeinflussen. Er inszeniert vielmehr ironisch die Gleichzeitigkeit seines ausführlichen Tagebucheintrags vom 16. September 1935 – in dem er am Schluss erklärt, sein Leben sei nicht unglücklich (vgl. ZA I, 218219, 16.09.1935) – mit den bereits vom „Reichstag“ abgesegneten Repressionen und Demütigungen, von welchen er zum Zeitpunkt des Schreibens noch keine Kenntnis hatte. Die Auseinandersetzung mit vielen Alltagserlebnissen erspart sich Klemperer. Er hat das Gefühl, dass es keinen Zweck hat, sie täglich neu zu thematisieren. Teilweise lehnt er es sogar explizit ab, bestimmte Ereignisse genauer zu beschreiben: „Wozu die einzelnen Besuche notieren, die wir Blumenfelds und Wieghardts und Köhlers oder die diese uns machen? Man redet immer dasselbe“ (ZA I, 190, 03.04.1935). Klemperer weigert sich, genauer zu beschreiben, was während der Begegnung mit Freunden besprochen wird. Allerdings führt er widersprüchlicherweise im direkten Anschluss an diese Aussage sehr präzise aus, was er auf einem dieser Treffen gehört hat.
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tungen notieren.90 Er weiß durch seine jahrelangen Überlegungen zu den Möglichkeiten der Erfassung von Geschichte, dass er in seinem Tagebuch die Gesamtentwicklungen nicht beschreiben kann. Deshalb beginnt er zu überlegen, welche seiner Beobachtungen von der Geschichtsschreibung außer Acht gelassen werden. Er entdeckt damit das Potenzial seiner Tagebuchaufzeichnungen neu: „Von den Schand- und Wahnsinnstaten der Nationalsozialisten notiere ich bloß, was mich irgendwie persönlich tangiert. Alles andere ist ja in den Zeitungen nachzulesen. Die Stimmung dieser Zeit, das Warten, das Sichbesuchen, das Tagezählen, die Gehemmtheit in Telefonieren und Korrespondieren, das zwischen den Zeilen der unterdrückten Zeitungen Lesen – alles das wäre einmal in Memoiren festzuhalten. Aber mein Leben geht zu Ende, und diese Memoiren werden nie geschrieben werden“ (ZA I, 28, 15.05.1933).
Nur jene „Stimmung“, die sich in bestimmten Reaktionen der Bevölkerung äußert, möchte Klemperer im Diarium fixieren. Dabei steht der Gedanke im Hintergrund, die Wahrnehmung dieser für die Geschichtsschreibung so schwer erfassbaren Zeitphänomene, in „Memoiren“ zu verarbeiten. Obwohl sofort im Anschluss angezweifelt wird, ob diese jemals geschrieben werden können, zeigt sich hier Klemperers neu aufkommender Wille, aufmerksam seine Umwelt zu beobachten. Die ersehnte Autobiographie gibt Anlass zur genaueren Beschreibung der privaten Beobachtungen im Tagebuch: „Ich will, wenn auch in Abbreviatur, mein Tagebuch so weiterführen, als ob mir noch Zeit bliebe, einmal die geplante Vita zu schreiben“ (ZA I, 47, 10.08.1933). Zwar möchte Klemperer weiterhin nur in Kurzform schreiben, doch erhalten die Aufzeichnungen schon ab dem Sommer 1933 eine gezielte Funktion: Das Tagebuch wird nicht mehr nur für den Eigengebrauch geschrieben, sondern gezielt zur Vorform einer später zu schreibenden Autobiographie deklariert. Damit weist Klemperer seinen Notizen einen konkreteren Zweck als den der Selbstreflexion zu. Dementsprechend wächst die Auseinandersetzung mit dem Tagebuchschreiben und dessen formalen Bedingungen langsam neu an. Klemperer erläutert wieder häufiger, unter welchen Bedingungen er schreibt.91 Er begründet lange Phasen, in denen er nicht Tagebuch
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So schreibt er nach der Darstellung von diversen Symptomen der nationalsozialistischen Repressionen: „Ich notiere nur das Gräßlichste, nur Bruchstücke des Wahnsinns, in den wir immerfort eingetaucht sind“ (ZA I, 24, 25.04.1933). Ein Beispiel hierfür sind Klemperers Tagebuchnotizen während des Umzugs ins neue Haus: Er vermerkt mehrfach, in welchen Räumen er sich aufhält, was bereits darin eingeräumt sei und ähnliches. Sogar die Frage, wie der benutzte Füllfederhalter sich auf die Schreibsituation auswirkt, wird zum Thema: „Dies die ersten Zeilen, die ich hier wage. Aber der ‚Füllʻ ist mir gar zu unbequem, auch ist alles in größter Unordnung und voller Lärm“ (ZA I, 150, 06.10.1934).
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schreibt92 und vermerkt detailliert Zusammenhänge, die ihm einige Zeit überflüssig erschienen.93 Dazu gehört auch, dass die Datierung und die Ortsangaben zu dem jeweiligen Eintrag präzise vermerkt werden.94
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– Selbst die Tatsache, dass ein Tagebucheintrag begonnen wird, ohne vorher die alltägliche Körperpflege vorzunehmen – also das Tagebuchschreiben in dieser Situation Vorrang hat –, vermerkt Klemperer: „...dann habe ich heute die erste Tageshälfte beim Tagebuch verbracht und bin noch unrasiert...“ (ZA I, 309, 27.09.1936). Besonders wichtig ist Klemperer die Begründung für eine Unterbrechung zwischen dem 9. Oktober und dem 22. November 1938: „Erst war es wohl der Wille, ein Stückchen in der Arbeit vorwärtszukommen, ehe ich wieder eine Tagebuchnotiz machte, und dann kam Unheil über Unheil...“ (ZA I, 431, 22.11.1938). Neben der Arbeit, die vor dem nächsten Notat fertiggestellt werden sollte, sind vor allem dramatische politische Ereignisse der Grund für die lange Schreibpause. Nach dem Anschlag des polnischen Juden Herschel Grynszspan auf den Legationsrat Ernst Eduard vom Rath in der Deutschen Botschaft in Paris am 7. November 1938 organisierte die NS-Führung die Pogrome in der Nacht vom 9. November, die unter dem Namen „Reichskristallnacht“ bekannt wurden. Alle Juden im Deutschen Reich waren davon direkt betroffen. Auch die Klemperers bekamen die Folgen dieser Hetzaktionen zu spüren. Zusätzlich geht es Klemperer gesundheitlich nicht gut. Beide Ereignisse und deren direkte Auswirkungen bedingen eine kurze Schreibpause. Doch im Gegensatz zu 1931/1932 ist Klemperer nun daran interessiert, die betreffenden Informationen nachzuholen. Am 22. November fasst er zunächst kurz zusammen, was geschehen ist. Am 25. November berichtet er ausführlich auf vier Seiten. Der Nachtrag wird nochmals mit einem einleitenden Kommentar entschuldigt: „(Jede Ruhe zum Schreiben fehlt.)“ (ZA I, 431, 25.11.1938). Beispielsweise entstehen Reflexionen wie die Folgende: „Ein Märchen von Andersen, ‚Galoschen des Glücksʻ. Ein Professor hat in Gesellschaft von den Zuständen des 14. Jahrhunderts gesprochen, denkt im Heimgehen, wie es damals in Kopenhagen ausgesehen habe – und plötzlich ist das Pflaster fort, und er versinkt im Dreck. Manchmal glaube ich, solche Gamaschen anzuhaben. Aber man versinkt auch ohne sie bodenlos“ (ZA I, 17, 31.03.1933). Klemperer stellt die Zeitreise der Märchenfigur ins 14. Jahrhundert seinem Eindruck gegenüber, ebenfalls in mittelalterliche Zeiten zurückversetzt zu sein. In Hans Christian Andersens Märchen bringen die Galoschen, die dem Träger ermöglichen, an jeden gewünschten Ort zu reisen, wenig Glück. Sie führen zu Verwirrungen und Leid. Wenn Klemperer sie als Metapher für seine Wahrnehmung der Entwicklungen seiner Zeit heranzieht, signalisiert er damit das Ausgeliefertsein an eine Umgebung, die ihn, der nicht in der Lage ist, die Ereignisse zu begreifen, unglücklich machen. Doch lebt er nicht in einem Märchen, in dem er durch glückliche Wendungen am Ende dem Unheil entrinnen wird, sondern seine Situation erscheint „bodenlos“.
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Klemperer ist sich darüber im Klaren, dass er mit seinen Tagebuchaufzeichnungen aus seiner subjektiven Sicht ein Stück Alltagsgeschichte festhalten kann. Zwar lehnt er dies einerseits ab, weil er vermutet „Dasselbigkeiten“95 zu formulieren, andererseits scheint er sich dem Drang nicht entziehen zu können, aufzuschreiben was er beobachtet. Er schwankt dadurch stetig zwischen der Ablehnung von zu umfangreichen Detailbeschreibungen und dem Wunsch, konkreter und inhaltsreicher zu erzählen als es seine Zeit zulässt. Thematisch betrifft das insbesondere die Ausführungen zu Arbeitsnotizen und diversen Existenzängsten. So vermerkt er beispielsweise: „Es liegt mir hier noch vom 3.7. ein Stichwortzettel zu den ‚Wasserzigeunernʻ. Wann soll ich ihn ausführen? Ich bin eh schon eine Setzkartoffel und werde immer dicker. (Und Heiß ist in München an Herzschlag gestorben, während er am Steuer seines Autos saß, und die Papesch sagte, er sei, als sie ihn zuletzt in Freiburg sah, unförmlich dick gewesen[)]“ (ZA I, 211-212, 21.07.1935).
Die Erwähnung eines Stichwortzettels zu einem Roman von Patrick Herbert, zu dessen Ausführung die Zeit fehlt, in Kombination mit Überlegungen zu indirekten Todesängsten am Beispiel eines verstorbenen Kollegen, fasst Klemperers ambivalentes Verhalten gegenüber spezifischen Themenkomplexen zusammen. Dabei steht die Beobachtung des eigenen Übergewichts in Bezug zu dem verstorbenen Romanistik-Kollegen Hans Heiß. Klemperer interpretiert in seinen eigenen Bauchumfang Vorzeichen seines baldigen Todes hinein. Die Verbindung dieser Todesahnungen mit der Ankündigung von Lektürenotizen, die aus Zeitgründen nicht ausgeführt werden können, vermittelt deshalb seine unterschwellige Angst, Informationen nicht bewahren zu können, die für ihn persönlich wichtig sind. Diese Äußerung wirkt insbesondere deshalb eigenartig, weil sie Teil eines mehrseitigen Tagebucheintrags ist. Klemperer muss bereits länger mit dem Verfassen der gegenwärtigen Aufzeichnung beschäftigt sein. Er hat demnach Zeit, ausführlich Tagebuch zu schreiben. Der Klage, die Lektürenotizen nicht bewältigen zu können, folgt zudem ein umfangreiches Notat zu eben dem genannten Roman von Patrick Herbert (vgl. ZA I, 212, 1. Stel-
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Dabei korrigiert Klemperer nicht einfach ein Datum, wenn er im Nachhinein bemerkt, dass es falsch ist, sondern vermerkt dies neben der Datumsangabe: „9. Oktober, Montag/Irrtum! 8. Oktober, Montag“ (ZA I, 151, 08.10.1934). Die falsche Datierung wird nicht durchgestrichen, sondern durch „Irrtum!“ gekennzeichnet. Ein anderes Beispiel: „26. Juli, Sonntag ... Nein, 27. Juli, Montag“ (ZA I, 288, 27.07.1936). Diesen Begriff nutzt Klemperer im Zusammenhang mit monoton wiederkehrenden Themen (vgl. dazu z.B.: ZA I, 26, 30.04.1933; ZA I, 447, 15.12.1938).
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le, 21.07.1935).96 Damit widerlegt Klemperer seine eigene Aussage. Die Reflexionen über den verstorbenen Kollegen und die indirekt daran gekoppelten Ängste vor dem eigenen Ableben enden nicht in einer Klage über Todesängste, sondern in einer neuen Aktivität, die ihnen entgegengesetzt ist. Das unterscheidet Klemperers Schreibverhalten deutlich von jenem der Jahre 1931 und 1932. Während er Anfang der dreißiger Jahre meist verharrt in den Klagen über seine Unfähigkeit und Unlust, die wichtigen Dinge zu notieren, bewegt er sich 1935 aktiv aus seiner Resignation. Schon die Gesamtlänge des Tagebucheintrags zeigt, dass er sich nicht mehr mit der Verzeichnung einiger weniger Fakten begnügen will. Obwohl er zunächst nur über die fehlende Zeit zum Schreiben klagen möchte, rüttelt er sich selbst durch das Beispiel des verstorbenen Kollegen wach. Die Ambivalenz zwischen der Ablehnung ausführlicher Notate und der Sehnsucht danach bleibt zwar bestehen. Sie wird jedoch letztlich anders gelöst als Anfang der dreißiger Jahre. Auch wenn Klemperer wiederholt zweifelt, ob es überhaupt Sinn mache, bestimmte Informationen ausführlich zu notieren – er entscheidet sich letztlich dafür, seine Aufzeichnungen weiter zu schreiben. Oben zitierte Fragen wie „Wozu die einzelnen Besuche notieren [...]?“ (vgl. ZA I, 190, 03.04.1935) oder „Wann soll ich ihn [den Stichwortzettel] ausführen?“ (vgl. ZA I, 211, 21.07.1935) sind eher rhetorisch und erfahren ihre Antwort in der Fortführung der Tagebucheintragungen. Die Aufzeichnungen bleiben dabei wie Anfang 1933 sehr klar bei einer subjektiven Perspektive.97 Das führt zu einem Problem, das schon in früheren Jahren auftrat: Klemperer stößt erneut und verstärkt an die Grenzen der Wahrnehmung. Er hält sich immer wieder vor Augen, wie schwer es ist, Gesehenes zu erfassen und zu beschreiben: „Am meisten berührt, wie man den Ereignissen so ganz blind gegenübersteht, wie niemand eine Ahnung von der wahren Machtverteilung hat“ (ZA I, 7, 21.02.1933). Die Darstellung der „großen“ Zusammenhänge ist nicht das Endziel von Klemperers Aufzeichnungen. Besonders eindrücklich formuliert er dies im August 1934:
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Klemperer führt die stichpunktartige Aufzählung von Lektürebeobachtungen mit den Worten ein: „Also die Stichworte bloß zu den Water Gipsies, die mir Wenglers englisch gaben: [...]“ (ZA I, 212, 1. Stelle, 21.07.1935). Dies betont Klemperer immer wieder. So leitet er seinen Bericht über die Abtretung des Sudetenlandes zur Verhinderung eines Weltkrieges an Hitler mit dem Kommentar ein: „Alles weitere wird in den Geschichtsbüchern stehen. Mein Tagebuch hier interessiert nur dies: [...]“ (ZA I, 425, 02.10.1938). Er markiert seine persönliche Wertung der politischen Entwicklung als für das Tagebuch interessant. Deshalb gibt er die Tatsache nicht in ihren Einzelheiten wieder, dass Hitler durch die Vermittlung von Mussolini auf der Münchener Konferenz am 29. und 30. September 1938 die Abgabe der Bestandsgarantie für den tschechoslowakischen Reststaat durch Frankreich und England erreichte.
296 | SCHREIBEN EIN L EBEN LANG – VICTOR K LEMPERERS T AGEBÜCHER „Ich weiß nicht, ob die Geschichte rast oder stillsteht. Am letzten Juni die Bartholomäusnacht [gemeint ist die „Röhm-Affäre“, Anm. d. A.], Ende Juli die Österreichaffäre [der gescheiterte Putschversuch österreichischer Nationalsozialisten, Anm. d. A.], der Mord an Dollfuß, der völlige Bruch Italiens mit Deutschland ... Es ist hier nicht die Absicht, die einzelnen historischen Fakten aufzuzeichnen. Nur dies Gefühl des angehaltenen Athmens: ‚Bricht der Bulle diesmal zusammen – beim zweiten furchtbaren Schlag vor die Stirn?ʻ Er bricht wieder nicht zusammen“ (ZA I, 129, 01.08.1934).
Alle politischen Entwicklungen verfolgt Klemperer aufmerksam. Doch er fühlt sich nicht in der Lage, zu entscheiden, welche von ihm beobachteten Geschehnisse Gewicht haben. Der Wunsch, die Diktatur möge bald enden, beeinflusst seine Wertung der einzelnen Ereignisse. Es scheint ihm, als ob viele Geschehnisse dringend zum Untergang des „Dritten Reichs“ beitragen müssen – doch das Gegenteil ist der Fall: Sie befördern sein Bestehen. Deshalb schwankt Klemperer zwischen dem Eindruck, die Geschichte „rase“ oder „stehe still“. Er kann nur über „dies Gefühl des angehaltenen Atems“ berichten: „So horche und horche ich auf jede Regung, aber schließlich ist es doch wohl immer das Rauschen im eignen Ohr bei großer Stille“ (ZA I, 362, 20.06.1937). Klemperer schreibt diesen Satz im Anschluss an die Wiedergabe verschiedener Gerüchte zu einem Thema. Er notiert sie alle, rätselt über deren Wahrheitsgehalt und ironisiert hernach diese Aufmerksamkeit. Ihm ist bewusst, dass alle im Tagebuch ausführlich vermerkten Informationen letztlich wenig Bedeutung haben werden. Mit der Metapher vom „Rauschen im eigenen Ohr bei großer Stille“ deutet er an, dass die Wahrnehmung derartiger Gerüchte ein Versuch ist, sich in einer Situation zu orientieren, in der dies eigentlich nicht möglich ist. Wenn ein Mensch in einem absolut geräuschfreien Raum steht, konzentriert er sich so sehr auf die Unmöglichkeit des Hörens, dass er das eigene Blut im Ohr „rauschen“ hört. Diese Wahrnehmung entspricht Klemperers Gefühl gegenüber den erwähnten Gerüchten. Das Bewusstsein, an der Geschichte teilzuhaben, aber ihre zentralen Entwicklungslinien nicht aufspüren zu können, ist demnach immer noch vorhanden wie Anfang der zwanziger Jahre. Anhand einer Debatte mit einem befreundeten jüdischen Amtsgerichtsrat erläutert Klemperer seine Einschätzung unterschiedlicher Methoden, Geschichte zu erfassen. Er notiert frappiert in seinem Tagebuch: „Beim Abschiedsessen bei Frau Schaps sagte neulich der alte Amtsgerichtsrat Moral, er ‚lese prinzipiell keine Romane, weil sie doch Lügenʻ brächten. (Wahrhaftig, das sagte ein alter jüdischer Richter und sonst ganz netter Mann im Jahre 1938 mit seelenruhiger Überzeugung!) Ich: In den Romanen sei oft mehr Wahrheit als in der Historie, Protest. Ich: Von zweien eines: entweder der Historiker ist nicht persönlich dabeigewesen, dann muß er sich auf Dokumente stützen und weiß also nichts absolut
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genau, muß subjektiv auslegen. Oder er ist dabei gewesen, dann weiß er erst recht nichts vom objektiven Sachverhalt, ... Wie kommt Geschichte zustande? Ich muß immer an die Zofe im ‚Picknick in Pekingʻ denken, die den Gesandtschaftswachen Befehl erteilt ... Was weiß ich von selbst erlebter Geschichte? Ich war im Kriege, ich habe die Revolution und das dritte Reich aus nächster Nähe erlebt – que sais-je? Und wer weiß mehr? Und wer waren die wirklichen Weltbeweger in alledem? Wahrhaftig Hitler und Goebbels? Man könnte fromm werden oder sehr unfromm – denn irgendwas oder irgendwer schiebt das alles, die Menschen selber bilden sich bloß ein, selber die Beweger zu sein“ (ZA I, 395-396, 31.01.1938).
Klemperer fühlt sich von der grundsätzlichen Ablehnung von Romanen durch den Amtsgerichtsrat provoziert, seine schon in früheren Jahren entwickelten Gedanken zur Fähigkeit, Geschichte zu erfassen, auszuführen.98 Mit einer Episode aus einem Roman von Ann Bridge, „Peking Picnic“ (1932), signalisiert er, wie wenig die Auslöser historischer Entwicklungen rückblickend erkennbar sind. Die nur scheinbar mit Befehlsgewalt ausgestattete Zofe, die den Gesandtschaftswachen Anweisungen gibt und dadurch historisch bedeutsame Entwicklungen auslöst, interpretiert er als mahnende Frage: „que sais-je?“ (vgl. dazu auch ZA I, 183, 13.02.1935). Insbesondere durch die Umbrüche des „Dritten Reichs“ sieht Klemperer sich gezwungen, sich starken Veränderungen zu stellen. Als Jude ist er direkt vom nationalsozialistischen Rassismus bedroht. Zudem muss er erkennen, dass gerade das Verständnis von Nationalismus und Deutschtum, das er selbst lange teilte – und auch in wissenschaftlichen Texten wie der „Romanischen Sonderart“ propagierte –, zu einer antisemitischen Diktatur führte. Die Erkenntnis, welche Auswirkungen nationalistischer Ideologien haben, führt ihn zu dem Selbsteingeständnis, dass seine eigene völkerpsychologische Ausrichtung falsch war.99 Nun prangert er seine Mitverantwortlichkeit für die Ausbreitung des Nationalsozialismus an.100 Die große Enttäuschung
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Im Tagebuch finden derartige Überlegungen ohnehin verstärkt statt, ausgelöst durch die Erfahrungen im „Dritten Reich“. Beispielsweise reflektiert Klemperer über die Tochter von Freunden im Exil in Palästina: „Wie wird heute das Weltbild des jungen Mädchens sein? Welche auch nur entfernteste Ähnlichkeit kann es mit meinem Weltbild haben? Daran können die Psychologen der nächsten Generation mit vielem Interesse arbeiten: Aber für mich ist es kein wissenschaftliches Thema, sondern Schiffbruch und Verzweiflung“ (ZA I, 367, 13.07.1937). ϵϵ Das äußert er beispielsweise, indem er schreibt: „...wie unsäglich habe ich mich mein Leben lang betrogen, wenn ich mich zu Deutschland gehörig glaubte, und wie vollkommen heimatlos bin ich“ (ZA I, 401, 05.04.1938). ϭϬϬ So schreibt Klemperer 1938: „Ich frage mich jetzt so oft nach Dingen (z.B. sprachlicher Natur), die mir fünfzig Jahre selbstverständlich waren. Hauptsache für die Tyrannis jeglicher Art ist das Unterdrücken des Fragetriebs. Und das ist
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darüber hat langfristige Auswirkungen auf Klemperer. Er muss sich mit über fünfzig von den politischen Überzeugungen lösen, an die er bisher geglaubt hat. Er sieht sich gezwungen, seine bisherigen Positionen zu überdenken, seine Ansichten zu modifizieren und sich mit neuen Perspektiven, die er jahrzehntelang abgelehnt hatte, auseinander zu setzen. Dabei verändert sich sein Umgang mit problematischen Situationen grundlegend. Hatte er in früheren Jahren über einzelne Ereignisse, die ihm belastend erschienen, ausführlich geklagt, hält er sich nun weitgehend zurück.101 Klemperer schreibt deshalb nur wenige, wenn auch ausführliche Einträge. Allein von der Unzufriedenheit über das schwierige Vorwärtskommen bei der wissenschaftlichen Arbeit berichtet er weiterhin häufig (vgl. z.B.: ZA I, 6, 21.02.1933). Grund dafür ist die besondere Funktion, welche die Wissenschaft zu Beginn des „Dritten Reichs“ für Klemperer einnimmt: Sie wird eine Art Rückzugsort, durch den er sich phasenweise seiner zunehmenden Verzweiflung über die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen entziehen kann. Das bestätigt auch sein erster Kommentar auf das Angebot, eine Literaturgeschichte für das Frankreich des 18. Jahrhunderts zu schreiben: „D’altra parte, eine ungeheure Arbeit, zu der ich gar nicht vorbereitet bin, die mich ganz aus meinem ‚Lebenswerkʻ hinausschleudert, und ich weiß nicht, wieviel Zeit ich noch habe. – Wiederum: es ist ganz gleichgültig, womit ich über den Rest meiner Zeit hinwegkomme. Nur irgend etwas machen und sich selbst darüber vergessen“ (ZA I, 32, 17.06.1933).
Das Tagebuchschreiben ist keine Beschäftigung, die Selbstvergessenheit ermöglicht. Vielmehr fungiert das Diarium als Ort der Auseinandersetzung mit allem, was Klemperer belastet. Diese Funktion aber nutzt er zu Beginn des „Dritten Reichs“ nur bedingt. Vielmehr versucht er, sich vor zu konkreten Reflexionen zu bewahren. Das Instrument dafür ist allerdings wiederum das Schreiben – in wissenschaftlicher Form.
so leicht zu machen. Wenn ich, Professor usw., lebenslang auf Denken geschult, mir so viele und so naheliegende Fragen durch fünfzig Jahre nicht gestellt habe, wie soll dann das Volk aufs Fragen kommen? Man braucht es eigentlich gar nicht zum Gegenteil erst anhalten. –“ (ZA I, 402, 10.04.1938). ϭϬϭ Er geht sogar dazu über, jeweils das Positive eines Ereignisses hervorzuheben: „Ist es Stumpfsinn, Philosophie, Alter, oder ist es das Gefühl, in absolut regelloser Zeit zu leben? Ich bin nur anfallweise bedrückt, lasse die Dinge im übrigen laufen und habe stundenweise ein ganz vergnügtes Lebensgefühl. Also jetzt wird unser Garten üppig. Wer wird um das Angst haben, was in vier Jahren geschieht? – Und ähnlich geht es mir mit meinem Dix-huitième. Ich unterdrücke gewaltsam den Gedanken an die Aussichtslosigkeit des Publizierens und freue mich der gelingenden Arbeit. Schlimmstenfalls vermache ich das fertige Manuskript der Schweizer Staatsbibliothek“ (ZA I, 364, 28.06.1937).
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Im Zusammenhang mit der Arbeit an der Literaturgeschichte verwendet Klemperer häufiger das Verb „klammern“. Es signalisiert zum einen den verzweifelten Versuch, der Reflexion der existenziellen Sorgen und Ängste des Alltags mit Hilfe des wissenschaftlichen Schreibens zu entgehen: „Ich muß mich an das Buch klammern; denn die Sorgen wachsen so, daß ich schon gar nicht mehr an sie denken darf und kann; es ist wie im Unterstand: Denkt man immerfort an den nächsten Einschlag, so wird man verrückt“ (ZA I, 208, 21.07.1935).
Unter Rückbezug auf Begriffe aus einem kriegerischen Umfeld, die metaphorisch auf eine Schlacht rekurrieren, signalisiert Klemperer, dass es ihm auf die Dauer unerträglich ist, sich angsterfüllt im Tagebuch stetig mit den neuesten Entwicklungen im „Dritten Reich“ zu beschäftigen. Lieber stürzt er sich bis zur Erschöpfung in seine wissenschaftliche Arbeit (vgl. dazu auch ZA I, 219, 29.09.1935; ZA I, 223, 05.10.1935). Zudem kann er sich darin auf einer scheinbar neutralen Ebene kritisch mit den politischen Entwicklungen auseinander setzen.102 Zum anderen konzentriert er sich intensiv auf das Buchprojekt, weil er hofft, durch die Publikation der Arbeitsergebnisse eine Bestätigung zu finden. Auch in diesem Zusammenhang verwendet er das Verb „klammern“: „Ich klammere mich an die leiseste Möglichkeit des Publizierens. Nur nicht ganz begraben sein“ (ZA I, 37, 30.06.1933). Die Hoffnung auf Publikationsmöglichkeiten wird allerdings schnell stark eingeschränkt. Die Nationalsozialisten drängen die Juden in allen gesellschaftlichen und öffentlichen Bereichen ins Abseits. Klemperer findet aufgrund seiner jüdischen Herkunft bald keine Verleger mehr. Als ihm klar wird, dass die direkte Chance auf eine Veröffentlichung seiner Arbeiten damit verloren geht, löst er sich von vorher stets betonten der Gleichsetzung des Nicht-Veröffentlichen-Könnens mit dem „Begraben-Sein“.103 Zwar lebt
ϭϬϮ So ergänzt Klemperer einen Aufsatz über das „Frankreichbild“, das für ihn jahrelang durch völkerpsychologische Überlegungen geprägt war, mit einem systemkritischen Nachwort (vgl. dazu ZA I, 25, 25.04.1933). Als er diesen Text Freunden vorliest, wird ihm erst deutlich, wie gefährlich derartige Äußerungen im „Dritten Reich“ sind: „Am Sonnabend las ich mein ‚Nachwortʻ vor. Entsetzen. Wie ich so etwas im Hause behalten könnte. Köhler riet: hinter einem Bild verstecken. – Aber wohin mit meinen Tagebüchern?“ (ZA I, 33, 19.06.1933). Bezeichnend ist hier, dass Klemperer sofort den Rückschluss auf seine Tagebücher zieht. Dies zeigt die Wichtigkeit dieser Aufzeichnungen neben dem wissenschaftlichen Werk für ihn. ϭϬϯ Die Erkenntnis, effektiv keine Veröffentlichungsmöglichkeiten mehr in Deutschland zu haben, erlangt Klemperer erst 1936, als sein Verleger ihm mitteilt, er könne vorläufig die angeforderte französische Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts aufgrund der politischen Lage nicht drucken. Die Reaktion im
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er nun wissenschaftlich in völliger Isolation, er „klammert“ sich jedoch weiterhin an die allgemeine Möglichkeit einer Publikation – unabhängig davon, ob er selbst diese betreiben könnte: „Ich klammere mich an diese Arbeit – druckfertig und in Maschinenschrift ist sie unabhängig von mir, und kann sie überleben“ (ZA I, 208, 21.07.1935). Nicht mehr die direkte Publikation strebt Klemperer nun an, sondern das „druckfertig[e]“ Aufschreiben der Arbeit. Auch auf diese Weise sichert der Text das Weiterleben seines Autors. Dafür lernt Klemperer Schreibmaschine-Schreiben.104 In Maschinenschrift übertragen ist das Werk „unabhängig“. – Es kann ohne Probleme von jedem Außenstehenden gelesen und damit der Veröffentlichung zugänglich gemacht werden. Deshalb wird nun die Entstehung des Textes selbst zentral. Er transportiert ein Stück von Klemperer Identität. Er ist der Beweis für seine Existenz, für seine Fähigkeit, sich denkend und schöpferisch mit einem Thema auseinander zu setzen. Gleichzeitig ermöglicht die wissenschaftliche Arbeit den Rückzug vor der direkten Konfrontation mit den Gründen für den sehnsüchtigen Wunsch, die eigene Existenzberechtigung zu belegen. Insbesondere nach der Entlassung aus dem Hochschuldienst stürzt sich Klemperer auf seine Arbeit. Dies signalisiert er bereit an dem Tag, an dem er die Entlassungsurkunde erhält in einem nur einen Satz umfassenden Tagebucheintrag: „Ich habe einen besonderen koketten Ruhm darein gesetzt, heute eine Seite (Lesage/Marivaux) an meinem 18ième zu schreiben, heute wo ich kein Kolleg zu lesen
Tagebuch darauf ist wehmütig: „Vanitas vanitatum hin und her, es ist doch ein Stück meines Lebenswerkes, das um seine Wirkung und eigentliche Existenz gebracht ist, und ich komme mir nun erst recht wie lebendig begraben vor“ (ZA I, 291, 07.08.1936). Nochmals wird die Metapher des „lebendig BegrabenSeins“ aufgerufen. Allerdings steht sie nur für einen augenblicklichen Gemütszustand, nicht für eine langfristige Resignation. Klemperer schreibt trotz der Absage des Verlegers weiter. ϭϬϰ Der Gedanke, dass der wissenschaftliche Text nach der Fertigstellung in Maschinenschrift unabhängig vom im „Dritten Reich“ gefährdeten Autor bestehen könne, wird mehrfach wiederholt. Dabei betont Klemperer die Bedeutung der Schreibmaschine als Instrument für die Dauerhaftigkeit der wissenschaftlichen Produktion als nahezu existenziell: „Könnte ich nicht durch die Maschine mir gewissermaßen den Druck ersetzen, das völlige Loslösen und Objektivieren, dazu mir die Hoffnung geben, daß dieser ganz fertige und lesbare Text auch ohne mich und nach mir publiziert werden kann – ich glaube, so ertrüge ich diese Zeit nicht, brächte jedenfalls nicht die Konzentration zum Schreiben auf. In der Meinung über den Wert und die Originalität meiner Arbeit schwanke ich täglich mehrmals zwischen völligem Bejahen und völligem Verneinen. –“ (ZA I, 226, 31.10.1935).
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brauche, weil ich durch die Post meine Entlassungsurkunde erhielt“ (ZA I, 195, 30.04.1935).
Nicht über seine Enttäuschung schreibt Klemperer, sondern darüber, wie er mit intensiver wissenschaftlicher Arbeit einen „koketten Ruhm“ erzeugt hat. Er lässt sich nicht von den Nationalsozialisten in seinem Projekt aufhalten. Zwar können sie ihm seine Arbeitsstelle nehmen, nicht aber seinen Beruf. Er sieht in der Fortsetzung seiner wissenschaftlichen Arbeit eine Form von Gegenwehr gegen die Ausgrenzung. Dementsprechend intensiv arbeitet er in den folgenden Monaten. Trotzdem vernachlässigt er sein Tagebuch nicht mehr wie Anfang der dreißiger Jahre, sondern zeichnet regelmäßig auf, wie die Arbeit voranschreitet. Damit stärkt er die Stellung seiner privaten Aufzeichnungen neben dem wissenschaftlichen Schreiben neu. Denn die Wissenschaft ist nicht mehr nur der Versuch, etwas zu schaffen, das seine Existenz belegt, sondern auch Hilfe gegen die zunehmende Verzweiflung. Diese Funktion kann nur im Tagebuch direkt artikuliert werden, da der wissenschaftliche Text einen strengen inhaltlichen Rahmen einhalten muss und keinerlei autobiographische Erklärungen erlaubt. Beim Tagebuchschreiben wird es möglich, die Gefühle zu thematisieren, die mit dem wissenschaftlichen Schreiben verbunden sind. Immer wieder finden sich im Diarium Einträge, in denen Klemperer sich selbst auffordert, weiterzumachen. Er spricht sich Mut zu und legt sich die Gründe für die Fortführung seiner Arbeit dar. So fühlt er sich beispielsweise auf der Beerdigung eines jüdischen Kollegen im Oktober 1936 persönlich angesprochen, als der Grabredner aus dem Gedicht von Ludwig Uhland „Der gute Kamerad“ zitiert: „Was mich aber wie ein Schlag aufs Herz traf und aus meiner Depression aufriß, war eine Schlußwendung, in die der Mann wohl gegen seinen Willen hereingerissen wurde: ‚Kann dir die Hand nicht geben, dieweil ich eben lad ... ich meine ... nun eben: kann dir die Hand nicht geben, dieweil ich eben lad, bleib du im ew’gen Leben mein guter Kamerad!ʻ105 Es riß mich wahrhaftig hoch, und ich schwor mir zu: Es wird weiter geladen, einerlei, ob man ein juristisches Buch schreibt oder die Geschichte der französischen Aufklärung, wer hier als Jude weiter arbeitet und das deutsche Geistesleben bereichert, der ‚lädtʻ – und mit einem Male erschien mir diese ganze Versammlung sozusagen im Rütlilicht“ (ZA I, 312, 09.10.1936).
Klemperer adaptiert die Heldenmetaphorik Uhlands und identifiziert sich mit dem Soldaten im Krieg, der dem sterbenden Kameraden nicht die Hand
ϭϬϱ Der genaue Wortlaut von Ludwig Uhlands Versen formuliert: „Will mir die Hand noch reichen, / Derweil ich eben lad. / Kann dir die Hand nicht geben, / Bleib du im ew’gen Leben / Mein guter Kamerad!“ (Uhland 1980, 149).
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reichen kann, weil er soeben seine Waffe neu lädt, um im Namen des Fallenden weiter zu kämpfen. Ebenso will er weiterarbeiten – auch im Namen des gestorbenen jüdischen Kollegen. Die Wissenschaft ist seine Art der Kriegsführung, das Forschen und Schreiben sind seine Waffen. Genau deshalb wird die wissenschaftliche Arbeit immer wieder in den Tagebucheintragungen erwähnt. Klemperer dokumentiert auf diesem Weg seinen Kampf gegen die Unterdrückung. Gleichzeitig dient dies der Selbstbestätigung. Denn der Zweifel an der Sinnhaftigkeit seiner Arbeit sitzt tief. Seine Angst, alles, was er sich erarbeitet hat, könnte vergeblich sein, formuliert er immer wieder.106 Jedoch thematisiert er diese Furcht nicht mehr nur aus dem Wunsch heraus, durch eine Publikation etwas „Bleibendes“ zu schaffen, sondern aus dem echten Bedauern über die fehlende Anerkennung für eine gute Leistung. Ein Beispiel ist eine Aussage zu einem Textteil, den Klemperer zu Prévost geschrieben hat: „Der Philologe merkt am Stil [der vorliegenden Tagebucheintragung, Anm. d. A.] einen momentanen Stimmungsaufschwung: Ich brachte heute im Manuskript den Prévost sehr schön fertig – wahrhaftig zu schade für die Würmer und doch wohl nur für sie geschrieben“ (ZA I, 371, 08.08.1937).
Klemperer schätzt sein Werk als gut ein. Der Glaube an den Wert der entstehenden Textteile hält ihn aufrecht. Er ist damit nicht mehr auf eine Anerkennung von außen angewiesen, die er in früheren Eintragungen immer wieder herbeisehnte. Nun reicht es ihm, selbst von der Qualität seiner Leistung überzeugt zu sein. Seine wissenschaftliche Arbeit gibt ihm die Selbstbestätigung, die er braucht, um ein Mindestmaß an Selbstwertgefühl empfinden zu können. Dies läuft konträr zu den wiederholten Zweifeln an der Sinnhaftigkeit der fortgesetzten Arbeit. Jedoch nützt es Klemperer wenig, sich immer wieder vor Augen zu halten, dass seine wissenschaftliche Tätigkeit vergeblich sei. Wenn er nicht untätig bleiben will, muss er sich eine Beschäftigung suchen. Nach eigener Einschätzung liegt im Schreiben sein größtes Talent. Deshalb konzentriert er sich auch in dieser Zwangslage darauf. Klemperer kommentiert dies selbstironisch: „Gut, daß ich keine Wahl habe. Könnte ich unmittelbar nützlichere bezahlte Arbeit leisten, so täte ich es wohl. Wie die Dinge liegen, ist die Frage nach dem inneren Wert und der äußeren Erfolgmöglichkeit – ihn zweifle ich übertäglich, sie täglich und stündlich an – vollkommen überflüssig. Ich habe nichts Besseres zu tun, ich kann
ϭϬϲ Insbesondere im Jahr 1936 – kurz nach der endgültigen Erkenntnis des Verlustes jeglicher Publikationsmöglichkeiten – erwähnt Klemperer mehrfach, wie schwer es ihm fällt, ohne die Hoffnung auf eine Publikation weiterzuarbeiten (vgl. z.B.: ZA I, 278, 05.07.1936; ZA I, 281, 16.07.1936; ZA I, 303, 09.09.1936).
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nicht untätig bleiben: also tu ich dies. – Wenn mir nur Zeit bliebe. Kein Tag, wo sich mein Herz nicht bemerkbar macht. Aber welchen Zweck hat es, auf das Ende hinzustarren? Also weiter. Und wenn dann noch Zeit bleibt – die Vita. Und dann Lingua tertii imperii. Und dann Englisch lernen und die amerikanische Literatur! Und vorher kreuz und quer durch England und USA fahren können! Es wird wohl nichts mehr von alledem in Erfüllung gehen. Aber das Vernünftigste ist immer, sich zu sagen: Vielleicht doch! – und danach handeln. Und wenn man keine Wahl hat, tut man eben dies Vernünftigste“ (ZA I, 404, 18.04.1938).
Buchprojekte wie eine Autobiographie oder eine Analyse der Sprache des „Dritten Reichs“, werden bereits sehr früh während der nationalsozialistischen Herrschaft im Tagebuch erwähnt (vgl. z.B.: ZA I, 35, 30.06.1933). Durch die wiederholte Artikulation dieses Wunsches hält sich Klemperer aufrecht (vgl. z.B.: ZA I, 390, 28.12.1937). Dies hängt auch damit zusammen, dass er sich rasch bewusst ist, dass als Jude im „Dritten Reich“ sein Leben in Gefahr ist. Das Setzen von (Schreib-)Zielen kennzeichnet seinen Lebenswillen und Kampfgeist (vgl. z.B.: ZA I, 318, 18.10.1936). Außerdem hofft er auf diese Weise, „Zeugnis ablegen“ zu können, von dem was er erlebt.107 Entsprechend umsichtig führt Klemperer sein Tagebuch. Immer häufiger notiert er Begebenheiten unter dem Aspekt, diese für eine spätere „Vita“ verwenden zu können. Insbesondere Ereignisse, die ihm symbolisch für die Darstellung bestimmter Sachverhalte erscheinen, vermerkt er mit Hinweis auf die zu schreibende Autobiographie.108 Das führt so weit, dass er in ein-
ϭϬϳ So schreibt Klemperer im August 1936 als Kommentar zu seinen Reflexionen über die Vorzeichen des Nationalsozialismus, die er als Senator der TU Dresden in den zwanziger Jahren wahrnahm: „Wer wird einmal davon Zeugnis ablegen? (Wenn ich doch noch dazu käme, meine Vita zu schreiben!)“ (ZA I, 299, 29.08.1936). Der Wunsch, das zu bewahren, was er selbst erlebt und beobachtet, ist bereits in Klemperers durchgängigem Tagebuchschreiben zu erkennen. Doch die Idee der Autobiographie führt weiter. Denn damit wird das eigene Leben nicht nur aus privaten Gründen im Tagebuch aufgeschrieben. Vielmehr erscheinen die Tagebuchaufzeichnungen nun als Vorlage oder Grundlage einer späteren Verarbeitung des Stoffs für die „Vita“. Dieses Ziel hat zum Zeitpunkt der zitierten Tagebucheintragung bereits gewisse Formen angenommen. Es wird nicht als Hoffnung oder Wunsch formuliert, sondern als Aufforderung an sich selbst. ϭϬϴ Bei dem Besuch einer Nichte, die nach Uruguay ausgewandert ist und die, um ihr Judentum zu verbergen einen Anstecker mit der uruguayischen Fahne trägt, reflektiert Klemperer zum Beispiel: „Dieses Fähnchen wird ein kulturhistorisches – lucus a non – Glanzpünktchen sein, wenn meine Vita doch einmal aus dem Papiersoldaten-Kasten aufsteigt“ (ZA I, 307, 27.09.1936).
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zelnen Tagebucheinträgen auf frühere Aufzeichnungen verweist, um damit umfassender Informationen zu einem besprochenen Thema zu vermitteln.109 Durch die wachsende Konzentration auf mögliche Themen für die Autobiographie setzt sich Klemperer verstärkt mit seiner Vergangenheit auseinander. Dies wird geprägt von einem Gefühl der Bitterkeit.110 Denn er spiegelt seine Erinnerungen als Tagebuchschreiber in seinen gegenwärtigen Erlebnissen und Beobachtungen. Das Vergangene wird durch die nationalsozialistische Gegenwart relativiert. Beispielsweise schreibt Klemperer über das Einräumen verschiedener Bücher und Papiere in sein Arbeitszimmer im neuen Haus in Dölzschen: „Was steht alles auf an alten Lebensphasen, wenn man so räumt, und welches Gesicht hat heute alles! Eine metallene Erkennungsmarke, die ich umhängen mußte, als ich von Landsberg am Lech aus ins Feld geschickt wurde. [...] Ein Blatt der ‚Vossischen Zeitungʻ: ‚Berühmte Ärzte im Feldeʻ. Felix’ Bild. Und sein Sohn darf nicht Anwalt sein, weil der Vater ja nicht gefallen ist. Dank der Hinterbliebenen beim Heimgang des ‚Doctor Wilhelm Klempererʻ; auf der Rückseite Verse von mir über den fortgelassenen Amtstitel: ‚Wärst Du als Pastor heimgegangen, / Es stünde hier in großen Prangen; / Doch starbst du armer Gottesdiener / Nur leider Gottes als Rabbiner. / Die Würde mußte mit Dir sterben; / Sie ist nicht gut für Deine Erben.ʻ – Was hat das Fortlassen geholfen? Alte Kalenderbätter, mit Moden aus dem Anfang des Jahrhunderts. Usw. usw. – Ich habe mich von nichts trennen können; alles liegt, wohl eingesargt. Wahrscheinlich sehe ich es nie wieder. Und alles predigt mir mein Alter. Und immer gehen mir ein paar Verse von Fedor Mamroth durch den Kopf: ‚Was bleibt von allem? Asche, Asche, Ascheʻ“ (ZA I, 154-155, 10.10.1934).
Im direkten Anschluss an diese Aufzeichnungen findet sich im Originaltext noch folgende Selbstermahnung: „Es wird Zeit, daß ich wieder ins Arbeiten komme. Nur keine Erinnerungen, kein Nachdenken. Weiterbasteln am Voltaire, dann am 18 Jh. tant bien que mal“ (ZA I, 155, 1. Stelle, 10.10.1934).
ϭϬϵ Beispielsweise erklärt Klemperer zu einem Eintrag, in dem er über den Tag reflektiert, an dem der Kater „Nickelchen“ den Klemperers zulief, zum Vergleich dazu könne unter „(Tagebuch 7.8.32)“ nachgelesen werden (ZA I, 232, 31.12.1935). ϭϭϬ Klemperer notiert beispielsweise in seinem ersten Eintrag im neuen Haus einen Gedanken, den er während der Packarbeiten in der alten Wohnung entwickelte: „Ich saß in einem Feldstuhl im leeren Musikzimmer. Da fiel mir ein: / An diesem Punkt, 1.10.34, Umzug ins eigene Haus – unter welchen Umständen, mit welchen Gefühlen, wie anders, als man sich das sonst denkt, mit welch bittersten Erinnerungen, mit wieviel Sorge –, beginne ich einmal meine Erinnerungen. Wenn mir Leben zu ihnen bleibt“ (ZA I, 150-151, 06.10.1934).
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Der einleitende Satz formuliert die Ahnung, dass keine Erinnerung ohne das Einbeziehen der Gegenwart betrachtet werden kann. Alle Gegenstände, die Klemperer im Tagebuch aufzählt, stehen nicht mehr allein in der Bedeutung, die sie zu ihrer Entstehungszeit hatten, sondern erhalten eine neue Prägung durch das „Heute“. Deswegen bewahrt er auch weiterhin all diese Dinge auf. Er beklagt zwar, dass er sich „von nichts trennen“ könne und es nun „wohl eingesargt“ liege, doch trotzdem ist es ihm ein Bedürfnis, die genannten Erinnerungsstücke zu behalten. Sie symbolisieren eine vergangene Welt, in der er lebte. Sie haben ihre Bedeutung aber auch im Vergleich mit der deprimierenden Gegenwart. Beide Aspekte kumulieren in der Erkenntnis des Alterns und der Vergänglichkeit. Dies wird – wie immer wieder im Gesamtverlauf des Tagebuchs – mit einer Verszeile des Dichters und Journalisten Fedor Mamroth metaphorisch beschworen. Die Frage des „Bleibens“ nach dem Lebensende, die Klemperer sich schon Anfang der zwanziger Jahre stellte, hat nun viel stärkere Bedeutung. Denn die Todesbedrohung ist aus zwei Gründen gestiegen: Zum einen fühlt er sich stark gealtert und deshalb dem Tode nahe. Gleichzeitig erkennt er, dass er als Jude durch den Antisemitismus der Nationalsozialisten direkt in seiner Existenz bedroht wird. Der Wunsch, etwas zu hinterlassen, das auch unabhängig von seiner Person weiterleben kann, ist dadurch dringlicher geworden. In diesem Zusammenhang ist der im Druck gekürzte abschließende Kommentar zu der Reflexion über die Bedeutung von Erinnerungsstücken in der Gegenwart sehr bedeutsam. Denn Klemperer zeigt darin, womit er das „Bleiben“ eines Teils seiner Existenz erreichen möchte: durch Arbeiten. Er ermahnt sich geradezu: „...keine Erinnerungen, kein Nachdenken. Weiterbasteln am Voltaire...“. Die bereits ausgeführte Bedeutung der wissenschaftlichen Arbeit für das persönliche Selbstwertgefühl zeigt sich hier nochmals. Auch wenn er nur langsam vorwärts kommt, die Fortführung der wissenschaftlichen Textproduktion ist Klemperers Weg, sich abzulenken und etwas zu schaffen, das seine Ängste vor der Vergänglichkeit eindämmen kann. Zwischenergebnis 1933-1938 Zu Beginn des Jahres 1933 hat Klemperer kaum Interesse am Tagebuchschreiben. Auch die sich überschlagenden historischen Ereignisse führen nicht dazu, dass er sich zu vermehrten Notaten verpflichtet fühlt. Erst die zunehmende persönliche Betroffenheit von den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen führt ihn zu dem Gedanken, die „Stimmungen“ für eine mögliche spätere Autobiographie genauer zu notieren. Zentral bleibt zunächst die wissenschaftliche Textproduktion. Sie dient als Rückzugsort vor den dramatischen Ereignissen der Außenwelt, aber auch als privater Handlungsort gegen die Unterdrückung. Im Tagebuch werden deshalb alle
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Fortschritte der wissenschaftlichen Arbeit detailliert protokolliert. Die Möglichkeit der Selbstreflexion tritt dahinter weitgehend zurück.
VII.7
1939-1942 – „‚[...] S IE ʻ“ 111
MÜSSEN DAS
AUFSCHREIBEN !
Mit dem Bibliotheksverbot Ende 1938112 wird Klemperer die Möglichkeit genommen, weiter an der französischen Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts zu arbeiten. Dadurch verliert er seine tägliche Schreibaufgabe. Statt zu resignieren, sucht er sofort nach einer anderen Tätigkeit. Zunächst ist er sich nicht sicher, wie genau diese aussehen könne. Klar ist nur, dass er dringend auf der Suche nach einem neuen Arbeitsprojekt ist. Beispielsweise konstatiert er:
ϭϭϭ ZA II, 181, 26.07.1942 ϭϭϮ Diverse Regelungen, die den Juden den Zugang zu den Bibliotheken erschweren sollten, wurden erlassen. Zunächst vermerkt Klemperer nur: „Am Vormittag auf der Bibliothek teilte man mir schonend mit, dass ich als Nichtarier den Lesesaal nicht mehr benutzen dürfe. Man wolle mir alles nach Hause oder in den Katalogsaal geben, aber für den Lesesaal sei ein offizielles Verbot erlassen“ (ZA I, 311, 09.10.1936). Dies scheint ihn nicht weiter in seiner Arbeitswut gestört zu haben. Er trägt die nötigen Bücher zu sich nach Hause und liest dort. Im Dezember 1938 wird das grundsätzliche Verbot zur Benutzung von Bibliotheken für Juden erlassen. Klemperer notiert dies in seinem Tagebuch eindrucksvoll, indem er beschreibt, wie ein Bibliotheksangestellter ihm Mitteilung davon macht: „Gestern Nachmittag auf der Bibliothek der Ausleihbeamte, Striege oder Striegel, Mann mittlerer Stellung und Jahre, Stahlhelmer, derselbe, dem Gerstles auf meine Vermittlung Bücher hinterließen: Ich solle doch mit ihm in das hintere Zimmer kommen. So hatte er mir vor einem Jahr das Verbot des Lesesaals angezeigt, so zeigte er mir jetzt das gänzliche Verbot der Bibliothek, also die absolute Mattsetzung an. Aber es war anders als vor einem Jahr. Der Mann war in fassungsloser Erregung, ich musste ihn beruhigen. Er streichelte mir immerfort die Hand, er konnte die Tränen nicht unterdrücken, er stammelte: Es kocht in mir ... Wenn doch morgen etwas passierte ... – Wieso morgen? – Es ist doch der Tag der Solidarität ... Sie sammeln ... Man könnte an sie heran ... Aber nicht einfach töten – foltern, foltern, foltern ... Sie sollen erst merken, was sie angerichtet haben ... Ob ich meine Manuskripte nicht bei irgendeinem Konsulat in Verwahrung bringen könnte ... Ob ich nicht heraus könnte ... Ob ich ihm auch wirklich eine Zeile schreiben würde. –“ (ZA I, 438439, 03.09.1938)
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„Ich muss nun bald zur Selbsterhaltung irgend etwas Produktiveres vornehmen. Entweder den Vitaversuch oder eine vorbereitende Lektüre zur Sprache des dritten Reichs. – –“ (ZA I, 459, 1. Stelle, 22.01.1939).
Klemperer stellt die zwei Themenkreise gegenüber, die ihn am meisten beschäftigen. Jedoch vermittelt er mit diesem zweigeteilten Interesse weniger einen speziellen Schreibwunsch, als vielmehr die Aussage, dass die Arbeit selbst entscheidend ist – egal ob autobiographischer oder sprachanalytischer Natur. Sie stellt die Lösung aus einer emotionalen Krise dar weil Klemperer damit zum einen weiterhin kreativ wirken, zum anderen aber auch seinem Bedürfnis nach Existenzbewahrung nachkommen kann. Vermittlungsinstanz zwischen dem Wunsch nach einem neuen Arbeitsprojekt und dessen praktischer Umsetzung ist das Tagebuch. Ebenso wie es bei den wissenschaftlichen Texten als eine Art Begleiter für die Entwicklung der jeweiligen Ideen fungiert, erhält es auch im Entstehungsprozess des neuen – nicht-literargeschichtlichen – Projektes eine wichtige Aufgabe. Deshalb verkündet Klemperer, nachdem die Entscheidung für die Arbeit an einer Autobiographie gefallen ist, im Diarium den Beginn an dem neuen Schreibprojekt als bedeutendes Ereignis: „Nachdem ich vorher ein paarmal zögernd zur Einleitung (‚Papiersoldatenʻ) angesetzt hatte, ohne sie durchzuführen, begann ich am 12.2. – Vaters Todestag –, um mich vom eigentlichen Erzählenkönnen oder Nichtkönnen zu überzeugen, das erste Kapitel der Vita, verbiß mich darein und schrieb es bis gestern zu Ende. Ich will es nun in die Maschine bringen und danach Eva vorlesen; sie mag entscheiden, ob sich die Fortsetzung lohnt. [...] Übrigens tat mir das Schreiben wohl, der entsetzliche Leerlauf war unterbrochen“ (ZA I, 461, 24.02.1939).
Klemperer meint, einen „Probelauf“ zu benötigen, anhand dessen seine Frau beurteilen soll, ob er über die Fähigkeiten zum Schreiben seiner „Vita“ verfügt. Dadurch wird die endgültige Ausrichtung auf das neue Schreibprojekt – mit einer gewissen Koketterie – von einer externen Meinung abhängig gemacht. Der Beginn der Arbeit am „Curriculum vitae“ ist demnach von Selbstzweifeln geprägt. Trotzdem fühlt sich Klemperer sofort in seiner Lebenssituation sicherer, als er wieder schreiben kann. Er betont, dass es ihm „wohl tut“, endlich den „entsetzliche[n] Leerlauf“ durchbrochen zu haben, der nach dem Abbruch der Arbeit an der französischen Literaturgeschichte entstanden war. Dementsprechend schnell fällt die Frage weg, ob sich die Fortsetzung der Autobiographie „lohnt“. Vielmehr geht Klemperer dazu über, sein Leben als Stoff für sein „Curriculum vitae“ zu betrachten. Das führt so
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weit, dass einzelne Ereignisse, Freundschaften und Erlebnisse als „Kapitel“ bezeichnet werden.113 Die Arbeit am „Curriculum“ wirkt sich sofort positiv auf Klemperers Blickwinkel auf seine gegenwärtige Position aus. Zwar ist er weiterhin sehr unglücklich darüber, wie isoliert und diskriminiert er leben muss. Doch er zieht aus der Beschäftigung mit der Autobiographie Kraft und innere Haltung. Selbst wenn er sich vergegenwärtigt, dass durch fehlende Übung seine Französisch-Kenntnisse nachlassen, stört ihn das nicht, solange er weiter schreiben kann: „Dabei fällt mir ein: ich verlerne mein ganzes Französisch – – ohne deshalb das Englische zu erlernen. Helf er sich. Ich bin fatalistisch. Ohne faul zu sein. Und ohne eigentlich die Hoffnung zu verlieren. – – Das erste Vitacapitel hat mich doch sehr gestärkt. Ganz steril und fertig bin ich doch nicht“ (ZA I, 464, 1. Stelle, 06.03.1939).
Die Freude am Schreiben und das Gefühl, etwas zu produzieren, das einen gewissen Wert für die Nachwelt haben kann, verschaffen Klemperer Selbstbestätigung. Dadurch erträgt er leichter Niederlagen und Unzulänglichkeiten in anderen Lebensbereichen. Die Autobiographie ersetzt die wissenschaftliche Arbeit. Klemperer kann durch sie weiterhin das tun, womit er lebenslang seine Existenz definiert hat: Schreiben, Text produzieren, Werke schaffen, die auch nach seinem Tod weiterbestehen werden. In der Kontinuität des Arbeitens liegt für ihn – auch nach dem Kriegsausbruch – die größte Sicherheit in einer Zeit, in der für ihn nichts sicher sein kann.114
ϭϭϯ Beispielsweise schreibt Klemperer bereits am Tag, an dem er über den Beginn des Einleitungskapitels berichtet, über die Neuaufnahme der Beziehung zu einer Freundin: „Am 19. begann nach einer Unterbrechung von zweieinhalb Jahren ein neues Kapitel Gusti Wieghardt, wovon im Zusammenhang berichtet werden soll. Jetzt drängt es mich zur Kopie des Vita-Kapitels“ (ZA I, 462, 24.02.1939). Klemperer formuliert die einfache Aussage, dass er mit Auguste Wieghardt-Lazar eine freundschaftliche Bindung auffrischt, als Eröffnung eines „neue[n] Kapitel[s]“ in seinem Leben. Gleichzeitig begrenzt er die Tagebuchnotiz dazu, verlagert ausführlichere Informationen auf einen späteren Zeitpunkt, da ihm gegenwärtig die Übertragung seines Einführungskapitels in Schreibmaschinenschrift wichtiger ist. Im nächsten Eintrag, vom 6. März 1939 datiert, wird das Thema „Gusti Wieghardt“ ausführlich dargestellt. Denn auch dies kann Stoff für die Autobiographie sein, muss deshalb im Tagebuch vermerkt werden (vgl. ZA I, 462-463, 06.03.1939). ϭϭϰ Deshalb begleitet er im Tagebuch fortlaufend die Entstehung der Autobiographie, in dem er beispielsweise die jeweiligen Schreib- und Arbeitsbedingungen vermerkt (vgl. z.B.: ZA I, 479, 29.08.1939; ZA I, 496, 18.10.1939; ZA I, 500, 12.11.1939; ZA I, 511, 11.02.1940; ZA I, 547, 1. Stelle, 30.08.1940; ZA I, 662, 1. Stelle, 02.09.1941). Auch die steigende Angst, das „Curriculum vitae“ nicht beenden zu können, spiegelt sich in den Tagebuchaufzeichnungen wieder (vgl.
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In Folge dieser Ausrichtung auf das autobiographische Schreiben ändert sich nochmals Klemperers Einstellung gegenüber der Darstellung von privaten Erlebnissen im Tagebuch. Hatte er am Anfang der Weimarer Republik noch gelegentlich gezweifelt, ob er die historischen Entwicklungen weitgehend aus seinen diaristischen Aufzeichnungen ausschließen dürfe, bilden nun klar die Details und einzelnen Zusammenhänge des Alltagslebens die Basis seiner Notate. Grund dafür ist das Bewusstsein, die gesammelten persönlichen Beobachtungen in der Autobiographie verwerten zu wollen: „Die großen Linien der Historie überlassen, das kleine Selbstbeobachtete für Curriculum notieren. Auftauchende Erinnerungen vom vorigen Kriege: [...]“ (ZA I, 480, 29.08.1939). Klemperer muss sich nun nicht mehr im Tagebuch vor sich selbst rechtfertigen, warum er die „großen Linien der Historie“ nicht näher beschreibt. Er kann nun ein explizites Schreibprojekt vorweisen, für das dieses selektive Vorgehen sinnvoll ist. Insbesondere die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ist dabei nicht nur zentral für das konkrete „Curriculum“, sondern auch für die Tagebuchaufzeichnungen. Im Diarium werden immer wieder „auftauchende“ Erinnerungen festgehalten, die in der für die Öffentlichkeit bestimmten Lebensbeschreibung aus verschiedenen Gründen keinen Platz haben. Umgekehrt diskutiert Klemperer in den täglichen Notaten auch Aspekte spezifischer vergangener Ereignisse, die teilweise später in die Autobiographie eingehen. So konterkariert er den Beginn des Zweiten Weltkriegs mit einer Szene, die er während seines Studienbesuches in Paris 1903 erlebte. Damals hatte er König Eduard VII. von Großbritannien und Irland bei dessen Besuch in Frankreich gesehen. Als Zuschauer zwischen anderen Schaulustigen und Schutzmännern eingeklemmt, beobachtete er zwei Zylinderhüte, die über die Menschen hinweg flogen. Er erfuhr später, dass einer der Hüte dem König gehört habe. In der Autobiographie installiert Klemperer diese Szene rückblickend als Symbol für die Unmöglichkeit, die einfachsten Entwicklungen bewusst während ihres Ablaufes erkennen zu können (vgl. dazu CV I, 327-329). Auch als Tagebuchschreiber greift er anlässlich des Kriegsausbruchs im September 1939 auf dieses Erlebnis zurück, als er ausführlich seine ersten Reaktionen dazu vermerkt: „Ist das die allgemeine deutsche Stimmung? Beruht sie auf realer Gegebenheit oder auf Hybris? – – Cf. in meinem Curriculum Cap V, Edwards Cylinderhut. Alles wiederholt sich und nichts: unter der gleichen Praeoccupation schrieb ich im Sommer 14 Montesquieu und schreib[e] ich jetzt am Curriculum. Und doch welch Unterschied!“ (ZA I, 483, z.T. 1. Stelle, 03.09.1939).
z.B.: ZA I, 557, 14.10.1940; ZA I, 700-701, 27.12.1941). Vgl. dazu Kapitel V.3.
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Der wiederkehrende Gedanke, nicht erfassen zu können, was geschieht, wird im Tagebuch nicht mehr ausführlich erläutert. Der Verweis auf das „Cap V“ der Autobiographie und „Edwards Cylinderhut“ reicht aus, um die Überlegungen anzureißen, die dahinter stehen. Nicht im Tagebuch, sondern im „Curriculum“ findet sich die ausführliche Auseinandersetzung mit der Problematik. Der Hinweis im Tagebucheintrag ist nur eine Weiterleitung an den außerhalb des Diariums entstandenen Text. Nur die Parallele wird notiert, dass Klemperer im Sommer 1914 bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs an seiner Habilitation über Montesquieu gearbeitet hatte und nun beim Beginn des Zweiten Weltkriegs an seiner Autobiographie schreibt. Dieser Sachverhalt hat gegenwärtig keinen Platz in der „Vita“. Dafür wird er im Tagebuch erwähnt. Dadurch erstreckt sich die vollständige Bandbreite der Gedanken, die Klemperer zu dem Zylinder entwickelt hat, auf zwei verschiedene Texte. Erst im Zusammenhang wird das volle Ausmaß seiner Überlegungen deutlich: Die Perspektive auf die Erinnerungen des Tagebuchschreibers hat sich nicht nur indirekt durch den Verweis auf externe Schriften erweitert, sondern wird explizit durch eine weitere – an ein Publikum gerichtete – autobiographische Beschreibung ergänzt. Klemperer nutzt sowohl das Tagebuchschreiben, als auch die Arbeit an der Autobiographie zum Verarbeiten der erschütternden Lebensbedingungen, unter denen er existieren muss. Dabei bieten die beiden Schreibformen unterschiedliche Möglichkeiten, mit dem Erlebten umzugehen. Je nach Situation verwendet er sie abwechselnd als Hilfsmittel zur Auseinandersetzung mit seinen Ängsten und seiner Verzweiflung: Das „Curriculum vitae“ fungiert als Rückzugsort, an dem die direkte diaristische Auseinandersetzung mit einem aktuellen traumatischen Erlebnis zunächst umgangen werden kann.115 Die Stärke des Tagebuchs dagegen liegt gerade in der Möglichkeit der Reflexion über die gegenwärtigen Umstände. Mit den zunehmenden Repressionen gegen die Juden wächst das Bedürfnis, in Tagebucheintragungen eine stabile Position zu konstituieren.116 Das Schreiben ist in beiden Fällen
ϭϭϱ Nachdem Klemperer auf der Straße von einem Gestapomann aufgegriffen und zum Verhör gezwungen worden ist, fühlt er sich beispielsweise nicht zu einer direkten Konfrontation mit dieser Erfahrung im Diarium in der Lage. Stattdessen zieht er sich in seine Arbeit am „Curriculum vitae“ zurück. Erst vier Tage nach dem Ereignis entschließt er sich zu einem Eintrag: „Es war ein solcher Schock, daß ich erst heute zur Notiz fähig bin; ich habe bisher am Curriculum mein Gleichgewicht zurückzugewinnen versucht“ (ZA II, 6, 12.01.1942). ϭϭϲ Als die Klemperers im Frühjahr 1940 gezwungen werden, aus ihrem Haus auszuziehen und in ein „Judenhaus“ überzusiedeln, hilft ihm vor allem das Festhalten an seinen Notizen im Diarium beim Überwinden der emotionalen Strapazen. Zwischen dem Wegräumen und Tragen verschiedener Gegenstände schreibt er mitten im Umzugschaos einen dreieinhalbseitigen Eintrag (vgl. ZA I, 529, 26.05.1940). Damit kompensiert er den äußeren und inneren Aufruhr. Am Ende des im Umzug entstandenen Eintrags erklärt er deshalb: „An diesen
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eine Kraftquelle, aus der Klemperer im „Dritten Reich“ insbesondere in Krisensituationen schöpft. Nicht allein das „Curriculum vitae“, welches zur Veröffentlichung verfasst wird, sondern auch das Tagebuch als Ort der Selbstreflexion ermöglicht ihm einen mentalen Ausweg aus seiner beengten und gefährdeten Lebenssituation. Sowohl inhaltlich als auch funktional sind die beiden Schreibformen demnach eng aneinander gekoppelt. Die Auseinandersetzung mit vergangenen und gegenwärtigen Ereignissen im Hinblick auf die Autobiographie steigert den ohnehin stets vorhandenen Anspruch auf möglichst genaue Darstellungen im Vergleich zu früheren Jahren zusätzlich. Das resultiert vor allem aus dem verstärkten Bewusstsein, dass die Tagebuchaufzeichnungen später für das „Curriculum vitae“ verwendet werden sollen. Während der Arbeit an dem Buch wird Klemperer bewusst, dass viele seiner früheren Notate Informationen nicht genügend ausformulieren: „Ich stoße in meinen Kriegstagebüchern auf Facta, die ich nur andeute, weil sie mir unendlich folgenschwer und so für immer eingeprägt scheinen – und heute weiß ich nicht mehr, worum es sich gehandelt hat, sie waren eben doch unwichtig und glitten zurück. Wird es mit Heß117 ebenso sein?“ (ZA I, 592, 15.05.1941).
Damit warnt Klemperer sich selbst davor, in seinem gegenwärtigen Tagebuch zu flüchtig zu beschreiben. Allerdings gerät dies teilweise in Widerspruch zu der Feststellung, „nur das kleine Selbstbeobachtete“ zu notieren. Die „Heß-Affäre“ ist ein historisch-politisches Ereignis und damit Teil der Geschichtsschreibung. Nach dieser Definition wäre es nicht die Aufgabe Klemperers, nähere Erläuterungen dazu in seinem Diarium zu machen. Trotzdem fragt er sich, ob das Stichwort „Heß“ später genügen wird, um sich umfassend zu erinnern. Es fällt ihm demnach schwer, die Grenze zwischen den historisch bedeutsamen und den ausschließlich für den privaten Kontext interessanten Fakten zu definieren und entsprechend ausführlich zu beschreiben. Der einzige Ausweg aus diesem Dilemma ist die fortgesetzte Konzentration auf möglichst viele Details, die später wichtig sein könnten.118
Notizen mitten im Chaos und öden Herumstehen habe ich ein klein bißchen Kraft zurückgewonnen“ (ZA I, 531, 26.05.1940). ϭϭϳ Gemeint ist die so genannte „Heß-Affäre“. Rudolf Heß war im Mai 1941 ohne Kenntnis Adolf Hitlers nach Schottland geflogen, um dort Friedensverhandlungen mit den Briten aufzunehmen. ϭϭϴ Dabei bleibt kaum Platz für Zweifel an den eigenen Fähigkeiten des Beschreibens, wie sie in früheren Jahren häufig geäußert wurden. Selbst in Momenten, in denen Klemperer seine Schreibmöglichkeiten in Frage stellt, signalisieren der Umfang der jeweiligen Eintragungen und das gezielte systematische Notie-
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Das ist phasenweise problematisch, weil die Konzentration auf die eine Schreibform zwangsweise zur Vernachlässigung der anderen führt.119 Insbesondere das Tagebuch muss im Zuge der Arbeit an der Autobiographie vielfach zurückstehen. Klemperer umgeht damit einerseits weitgehend die Reflexion über seine gegenwärtigen Lebensbedingungen. Andererseits verstellt er sich auf diese Weise den Weg für spätere Kapitel des „Curriculum“. Das daraus resultierende Dilemma ist ihm bewusst. Er versucht deshalb, sich stärker zu Tagebuchnotizen zu motivieren: „Ständiges Dilemma: Ich finde so überaus wenig Zeit zum Curriculum, daß ich mir gar keine Zeit zum Tagebuch nehme. Aber dies ist doch Fundament eines allerwichtigsten Kapitels des Curriculum. Ich notiere bisweilen ein Stichwort. Aber am nächsten Tag erscheint es unwichtig, in Tatsache und Stimmung überholt. Aber die wechselnden Details des Alltags sind doch gerade das Wichtigste. – Jeden Abend, wenn Frau Voß von ihren vielen Wegen und Besuchen zurück: ‚Erzählen Sie, was haben Sie gehört?ʻ Ich weiß, sie quasselt halt- und sinnlos, und {ich} will doch immer wieder hören, was es für Gerüchte und Stimmungen gibt, wer von Evakuation redet, wer Hoffnungen auf England setzt, ob ein Arbeiter geschimpft hat usw.“ (ZA I, 565, 10.12.1940).
Gerade die gegenwärtigen Erlebnisse im „Dritten Reich“ erscheinen Klemperer besonders wichtig. Sie zu notieren, sieht er als seine Pflicht an, um damit die Grundlage für „ein[] allerwichtigste[s] Kapitel[] des Curriculum“ zu legen. Er befindet sich jedoch im ständigen Kampf gegen seinen Unwillen, statt der Arbeit an der Autobiographie Tagebucheinträge zu verfassen (vgl. z.B.: ZA I, 472, 07.06.1939; ZA I, 537, 06.07.1940). Jede freie Minute verwendet Klemperer für das Fortführen des zur Publikation bestimmten Textes. Auch das Verbot für Juden, Schreibmaschinen zu benutzen,120 hält ihn nicht davon ab, handschriftlich stetig weiter daran zu
ren unterschiedlicher Inhalte den ungebremsten Willen zum Weitermachen (vgl. z.B.: ZA II, 65-66, 19.04.1942). ϭϭϵ Klemperer kommentiert dies einmal mit der Formulierung: „Ich habe heute für einen ganzen Tagebuchvormittag die Arbeit am Curriculum unterbrochen – um eben des Curriculum willen“ (ZA I, 669, 17.09.1941). ϭϮϬ Klemperer verwendet die Schreibmaschine, um seine handschriftlichen Kapitelentwürfe in eine Reinschrift zu übertragen. Ansonsten vermeidet er die Benutzung der Maschine, um seine Frau nicht zu stören, „...da E. das Geräusch der Maschine nicht mehr erträgt“ (ZA I, 594, 1. Stelle, 21.05.1941). Das im Juli 1941 erfolgte Verbot für Juden, Schreibmaschinen zu besitzen, trifft ihn trotzdem hart: „Bekanntmachung über Beschlagnahme von Schreibmaschinen. [...] Es wird werden wie mit dem seligen Wagen. Irgendwer sieht die Maschine bei mir, und am nächsten Tag bin ich sie los. Es würde oder wird einen schweren Verlust bedeuten. Wer liest meine Handschrift?“ (ZA I, 655, 27.07.1941). Die Angst, dass die Autobiographie nicht gedruckt werden könne, weil die eigene
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arbeiten. Als jedoch die Gefahr von Hausdurchsuchungen durch die Gestapo rapide ansteigt, entschließt er sich im Februar 1942 schweren Herzens, aus Sicherheitsgründen die Manuskripte durch seine Ehefrau aus dem Haus bringen zu lassen. Dies stürzt ihn zunächst in eine große Depression. Das deutet der Eintrag an, in dem Klemperer den Abbruch der Arbeit an der Autobiographie erstmals im Tagebuch vermerkt. Er besteht aus nur drei kurzen Sätzen: „Unter Druck drohender Haussuchung fährt Eva wieder nach Pirna. – Manuskript Curriculum fort. – Wahrscheinlich völlige Unterbrechung“ (ZA II, 21, 10.02.1942). Klemperer artikuliert allerdings seine Verzweiflung nur indirekt. Er vermeidet es, emotional Position zu beziehen. Vielmehr wird gerade das Nichtgesagte zur Aussage. Er verbietet es sich, in irgendeiner Form über den Verlust des „Curriculum“ zu klagen. Vielmehr beschränkt er sich auf die Tatsachen: Die Gefahr einer Hausdurchsuchung ist zu groß, deshalb musste das Manuskript in Sicherheit gebracht werden. Das Resultat dieser Entscheidung – die „[w]ahrscheinlich völlige Unterbrechung“ der Arbeit – muss er in Kauf nehmen. Die Frage, wie er trotz fehlender Unterlagen weiter an der Autobiographie arbeiten könnte, lässt Klemperer jedoch nicht los. Schließlich geht er dazu über, die Aufzeichnungen im Tagebuch als Grundlage von später zu schreibenden Kapiteln des „Curriculum“ zu betrachten.121 Dementsprechend intensiviert er die Tagebuchführung. Das Diarium wird zum zentralen Text, in dem alle Beobachtungen aufgenommen und neue Ideen für die spätere Umsetzung der Autobiographie gesammelt werden. Die enge Bindung zwischen beiden Texten funktioniert demnach in zwei Richtungen: Erst entwickelt Klemperer das „Curriculum vitae“ basierend auf den Tagebuchaufzeichnungen. Dadurch wird die Autobiographie zu einem Ersatz für das Diarium. Nun kehrt sich das Verhältnis aufgrund der veränderten äußeren Bedingungen um. Weil die „Vita“ nicht fortgeführt werden kann, nimmt das Tagebuch ihren Platz ein. Klemperers zentrales Ziel – das zumindest teilweise Bewahren seiner Identität und die Schaffung eines schriftlichen Belegs für seine sich verändernde Existenz – lässt sich durch beide Schreibformen erreichen.
Handschrift zu schlecht sei, sitzt bei Klemperer tief. Allerdings bleibt ihm keine andere Wahl. Die Maschine wird abgeben und er führt sein „Curriculum“ handschriftlich fort. ϭϮϭ Das äußert sich beispielsweise in dem folgenden Notat: „Es fehlt mir sehr, daß ich am Curriculum nicht weiterschreiben kann (da alle Unterlagen zu Annemarie geschafft sind). [...] Alles soll dem letzten Buch des Curriculums und der LTI zugute kommen, aber die Zeit 1919-1933 bleibt zu schreiben, und ich mußte die Feder wenige Blätter vor Schluß des zweiten Bandes aus der Hand legen“ (ZA II, 54, 24.03.1942).
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Allerdings verändert sich durch die betonte Ersatzfunktion des Tagebuchs für die Autobiographie der Charakter der täglichen Aufzeichnungen. Das Bewusstsein, für das „Curriculum“ eine spezifische Aufgabe erfüllen zu müssen: nämlich „Zeugnis abzulegen“, rückt in den Vordergrund. Klemperer ist in seinen Tagebüchern stets ein Beobachter. Im „Dritten Reich“ jedoch konzentriert er sich nach dem Abbrechen der Autobiographie wesentlich stärker auf seine Umwelt als zuvor. Er betrachtet nun weniger sich selbst, sondern macht seine Umgebung zum Thema seiner analytischen Untersuchungen. Das Infragestellen der eigenen Fähigkeiten nimmt in Folge dessen ab.122 Klemperer akzeptiert sein Können als Grundlage seiner Notate, ohne – wie in früheren Jahren – sein Schreiben ständig anzuzweifeln: „...früher hätte es mich gekränkt, daß ich kein Dichter bin, jetzt denke ich immerfort an das Curriculum, an das ‚Zeugnis-Ablegenʻ –: die arische Frau, die Mischehe. Typen, beobachtete Fälle: Änny Klemperer – Frau Feder – Elsa Kreidl – Frau Steinitz, die ihren Mann sozusagen haftbar macht. D’altra parte: Frau Glaser – er schwebt romantisch über den Dingen, sie sorgt. Erweitertes Thema: Kätchen Sara Voß mit dem Kreuz um den Hals, dem Pochen auf den verstorbenen arischen Mann, den lebenden katholischen Schwager“ (ZA II, 116, 09.06.1942).
Die Beobachtung seiner nächsten Umgebung ist die neue Aufgabe, der sich Klemperer nach dem unfreiwilligen Unterbrechen der Autobiographie zuwendet. Dabei passt er sich in seinen Ansprüchen an die eigene Schreibleistung den Umständen an. In früheren Zeiten hätte er das Gefühl gehabt, seine Beobachtungen nicht aufschreiben zu können, weil ihm dazu das „dichterische Talent“ fehlt. Nun erlebt er täglich Lebensgeschichten, die Romane füllen könnten und möchte sie in seinem Tagebuch notieren. Nicht um sie später literarisch auszuarbeiten, sondern um sie zu bewahren und damit „Zeugnis abzulegen“. Sehr deutlich wird dies beim ausführlichen Darstellen einer Hausdurchsuchung durch die Gestapo in der Caspar-David-Friedrich-Straße, bei der Klemperer verboten wird, weiterhin Bücher aus Leihbibliotheken zu verwenden. Er verzweifelt zunächst sehr über die dadurch genommenen Arbeitsmöglichkeiten.123 Gegen Ende des Eintrags, der im Verlauf eines
ϭϮϮ Dennoch bleibt das Bewusstsein für die Unmöglichkeit, wirklich zu wissen, was vor sich geht, bestehen. Klemperer stellt immer wieder die Frage nach dem „Que sais-je?“ (vgl. z.B.: ZA II, 49, 19.03.1942). ϭϮϯ Sein Kommentar dazu ist zunächst: „Aber die eigentliche irreparable Schädigung besteht doch im Fortfall der Leihbibliothek. Nun ist meine Studienmöglichkeit noch mehr eingeschränkt als bisher. Ich werde in allen jüdischen Familien und bei Annemarie herumbitten und -betteln; aber fraglos bin ich sozusagen noch matter gesetzt als zuvor. Es kommt die Angst, die immer stärkere Angst hinzu, Manuskripte im Hause zu haben. Das 18ième, das Curriculum, die
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Nachmittags entsteht, beschwichtigt er sich jedoch selbst und erinnert sich an seine Aufgabe: „Jetzt, gegen Abend, bin ich schon wieder beruhigter. Es muß auch so weitergehen. Irgendwelche bereichernde Lektüre wird sich schon finden, und das Tagebuch werde ich weiter wagen. Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten“ (ZA II, 124, 11.06.1942).
Das hier artikulierte Motto hat der Herausgeber Walter Nowojski als Titel der Ausgabe der Tagebücher 1933-1945 verwendet. Es belegt den unbedingten Willen Klemperers, weiter zu schreiben und um jeden Preis die Beobachtung seiner Umgebung fortzusetzen. Die daraus resultierende Fixierung auf das Wahrnehmen aller möglicherweise interessanten Details, die in einer späteren Autobiographie wichtig sein könnten, führt auch zu einem gewissen Voyeurismus. Unter dem Hinweis auf seine Beobachterfunktion vermerkt Klemperer beispielsweise verschiedene Besuche bei Bekannten.124 Teilweise resultiert diese Einstellung aus einem Gedanken Eva Klemperers. Sie vermittelt ihm, dass er seiner Angst vor Hausdurchsuchungen begegnen kann, indem er sich den Gewinn aus einem solchen Erlebnis verdeutlicht. Denn er erlebt dadurch Stoff für sein Tagebuch: „Das ekelhafte Gefühl der Erwartung [der Hausdurchsuchung]. Eva sagt: ‚Mir war die Sekunde interessant, als in Neapel der Boden bebte, die Sekunde als unser Wagen in den Acker stürzte – mir ist auch dies interessantʻ“ (ZA II, 41, 07.03.1942).
Klemperer macht sich die Position seiner Frau immer mehr zur eigenen Lebenseinstellung. Denn er muss eine Technik entwickeln, die es ihm trotz Todesangst ermöglicht, weiter zu schreiben. Nur wenn er sich von der all-
LTI – alles stockt. Ich kann nicht mehr arbeiten, nur noch mich beschäftigen“ (ZA II, 121, 11.06.1942). ϭϮϰ Als Begründung für den Besuch in einem Altersheim, dessen Bewohner kurz vor der Deportation stehen, erklärt Klemperer zum Beispiel: „Ich bin neugierig, dies Altersheim vierundzwanzig Stunden vor der Evakuierung kennenzulernen. Mehr Neugier und eine Art Pflichtgefühl des Chronisten als Mitleid. –“ (ZA II, 164, 12.07.1942). Die Formulierung wirkt kaltherzig und wenig mitfühlend. Doch hinter der Rolle des „Chronisten“ verbirgt Klemperer seine Angst vor der Konfrontation mit dem Leid in dem Altersheim. Er ist sich bewusst, dass er die Menschen, die er besucht, vermutlich nicht wiedersehen wird. Er ahnt, dass ihre „Evakuierung“ einer Fahrt in den Tod gleichzusetzen ist. Seine scheinbare Teilnahmslosigkeit wird durch das präzise Beobachten und Beschreiben der Situation ausgeglichen. Denn Klemperer nimmt Anteil, indem er versucht, zu bewahren was geschieht (vgl. auch ZA I, 665, 17.09.1941).
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gegenwärtigen Gefahr distanzieren kann, findet er die Kraft, seine Aufzeichnungen fortzuführen. In der Rolle des Beobachters gelingt es ihm, seine persönliche Betroffenheit von der Gefahr auszublenden.125 Als (Be-) Schreibender versteckt er sich vor der steten Auseinandersetzung mit all dem Leid und Grauen, das um ihn herum geschieht.126 Der Gedanke, etwas
ϭϮϱ Nicht immer schafft es Klemperer allerdings, Distanz zu halten. Als das befreundete Ehepaar Marckwald deportiert wird, zeugt sein Tagebucheintrag von einer tiefen Erschütterung. Das Notat, in dem er vermerkt, dass der Transport abgefahren ist, beginnt mit dem Satz: „So werde ich wohl Marckwald wohl zum letztenmal gesehen: [...]“ (ZA II, 234, 07.09.1942). Klemperer weiß – obwohl er nur Gerüchte kennt –, dass Fritz Marckwald, der schwer krank im Rollstuhl sitzen muss, Theresienstadt nicht lange überleben wird. Seine Betroffenheit über derartige Schicksale wird selten so deutlich wie an dieser Stelle (vgl. dazu Walter Nowojskis Anmerkung in ZA II, 841). Er bemerkt nicht, dass er keinen grammatisch korrekten Satz bildet. Dies zeigt, dass er beim Verfassen dieses Satzes zwischen der Rolle des Berichterstatters und jener des direkt Betroffenen nicht mehr trennen kann. ϭϮϲ Auch beim Beschreiben von Situationen, die ihn persönlich betreffen, reagiert Klemperer deshalb häufig kaum emotional. Vielmehr nimmt er sogar sich selbst gegenüber die Beobachterposition ein und erreicht dadurch eine Distanz, die ihm das Leben erträglicher macht. Eines der bedrückendsten Beispiele dafür sind die Eintragungen, welche die Einführung des „Judensterns“ erst als Gerücht, dann als angekündigte Verordnung und schließlich als bittere Realität im Leben Klemperers beschreiben. In allen Kommentaren zu diesem Thema findet eine Koppelung an die konkrete Schreibfunktion statt. Als die ersten Gerüchte über die Einführung einer „Judenbinde“ umgehen, notiert Klemperer wenig dazu. Er begründet dies: „Eva hofft noch immer, die Maßregel werde gestoppt werden, und so will ich noch nichts weiter darüber schreiben“ (ZA I, 663, 08.09.1941). Allein die Aussicht auf die Aussetzung der „Maßregel“, veranlasst ihn, sich zunächst bewusst von diesem Thema fernzuhalten. Der Gedanke, durch eine „Judenbinde“ gekennzeichnet zu werden, erschreckt ihn so sehr, dass er seine Ängste dazu nur dann aufschreiben möchte, wenn sie auch gerechtfertigt sind. Als tatsächlich ein „Judenstern“ verordnet wird, fehlt aber zunächst jeglicher Kommentar dazu im Tagebuch. Stattdessen erklärt Klemperer: „Ich klammere mich an die Arbeit. Maschinenkopie des Kownostücks, Notizzettel für die Fortsetzung“ (ZA I, 665, 15.09.1941). Die fehlende Meinungsäußerung zur Einführung des „Judensterns“ ist ein Ausdruck seiner tiefen Erschütterung. – Einen emotionalen Kommentar zum Thema „Judenstern“ formuliert Klemperer erst am Tag nach der offiziellen Verpflichtung aller Juden zum Tragen des Zeichens: „Gestern, als Eva den Judenstern annähte, tobsüchtiger Verzweiflungsanfall bei mir“ (ZA I, 671, 20.09.1941). Dieser Satz ist die einzige Gefühlsäußerung, die Klemperer in direkter Nähe zu dem Ereignis der Einführung des „Judensterns“ artikuliert. Er vermittelt die absolute Verzweiflung, den Eindruck völliger Handlungsunfähigkeit und die gegenwärtige Unfähigkeit,
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Produktives aus dem Erlebten zu machen, hält ihn aufrecht127 und scheint ihm gleichzeitig angesichts des allgemeinen Schreckens fragwürdig: „Ich möchte so unendlich gern noch ein paar Jahre leben, ich habe vor diesem Tod, dem vielleicht tagelangen Warten mit der Gewißheit des Sterbens, dem vielleicht Gefoltertwerden, dem Auslöschen in absoluter Einsamkeit ein solches Grauen. Ich rette mich immer wieder in das, was jetzt meine Arbeit ist, in diese Notizen, in meine Lektüre. Ich bin nicht nur kalt bei all den Gräßlichkeiten, ich habe immer auch eine gewisse Wonne der Neugier und Befriedigung: ‚Also auch davon kannst du persönliches Zeugnis ablegen, auch das erlebst du, wieder eine Bereicherung des Curriculum oder der LTI!ʻ Und dann komme ich mir mutig vor, daß ich alles zu notieren wage. Im allertiefsten kauert natürlich das Gefühl: Ich bin schon so oft davongekommen – warum soll es nicht auch diesmal glücken? Aber die langen Momente der Angst häufen sich. –“ (ZA II, 182-183, 26.07.1942).
Klemperer befindet sich in einem ständigen Zwiespalt. Einerseits hat er Mitleid mit denen, die gefangen genommen, gefoltert, getötet werden, andererseits beobachtet er fast sensationslustig die Ereignisse und beeilt sich, sie in seinem Tagebuch festzuhalten. Die Tatsache, dass er noch lebt und weiter beschreiben kann, was geschieht, macht ihm zum einen ein schlechtes Ge-
zu diesem Zeitpunkt das Gefühl konkret zu formulieren. Die kurze Erwähnung des „tobsüchtige[n] Verzweiflungsanfall[s]“ ist für Klemperer die Grenze des Ausdrückbaren. Diese Sprachlosigkeit hält an. Auch nachdem Klemperer einige Tage mit dem „Judenstern“ auf dem Jackett auf der Straße gewesen ist, bemerkt er: „Seit ich den Stern trage ... Das ist ja schon x-mal von mir notiert“ (ZA I, 676, 01.10.1941). Bis zu diesem Zeitpunkt hat er aber entgegen seiner Behauptung, sich zu diesem Thema „schon x-mal“ geäußert zu haben, kaum über seine Erfahrungen mit dem „Judenstern“ geschrieben. Zwar werden mehrfach kurz Emotionen zu dieser Stigmatisierung angedeutet, doch nähere Erläuterungen gelingen nicht. Klemperer kennzeichnet mit drei Punkten die Unaussprechlichkeit der Problematik. ϭϮϳ Deshalb ist Klemperer ständig auf der Suche nach neuen Motiven und Informationen. Er kombiniert immer wieder gerade Gesehenes mit Ideen, die er schon lange mit sich herum trägt. So verknüpft er beispielsweise eine Beobachtung zur Evakuierung der Bewohner des Altenheims mit einer zuvor angestellten Überlegung zur Reaktion einer Mitbewohnerin auf einen mit einem „Zionsstern“ verzierten Tonkrug: „Darüber fiel mir der große grobe Tonkrug mit dem blauen Zionsstern ein. [...] / Ich will diesen Krug eine Rolle spielen lassen, wenn ich das Judenhaus beschreibe“ (ZA II, 165, 12.07.1942). Klemperer spricht hier konkret die Verarbeitung seiner Aufzeichnungen in einem Text an, der veröffentlicht werden soll. Ob es sich um die Autobiographie oder eine andere Publikationsform handelt, ist unklar – und auch unwichtig. Entscheidend ist das Bewusstsein Klemperers, eine Metapher für einen zu beschreibenden Sachverhalt gefunden zu haben.
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wissen gegenüber jenen, die umgekommen sind. Zum anderen ist er froh, noch am Leben zu sein. Der Rückzug in sein Tagebuch ist sowohl Ausweg aus diesem Dilemma als auch dessen Teil.128 Dabei entstehen die Notate nicht ausschließlich zu Klemperers Selbstbestätigung. Er notiert die grauenhaften Erfahrungen seiner Freunde und Bekannten nicht täglich aufs Neue, um „Schauergeschichten“ zu sammeln. Vielmehr soll das Fixieren des täglichen Schreckens verhindern, was im Alltag eines Juden im „Dritten Reich“ schnell geschieht: Die Gewöhnung an das Grauen, welche Klemperer an sich selbst gelegentlich feststellt: „Gewöhnung: Ein paar Wochen sind seit dem Mord an Joachimsthal, ein paar Monate seit den Haussuchungen bei uns vergangen. Und schon lebe ich in einer gewissen stumpfsinnigen Ruhe. Gewöhnung: Am Dienstag geht wieder ein Transport von hier nach Theresienstadt; und schon scheint das mir, scheint es der Judenheit hier eine Selbstverständlichkeit. –“ (ZA II, 194, 06.08.1942).
Der Terror ist so alltäglich, dass selbst die betroffenen Juden sich daran gewöhnen und Ereignissen weniger Dramatik zuweisen als sie tatsächlich haben. Die Schicksale vieler Juden werden schnell durch den eigenen Überlebenswillen verdrängt. Klemperer wirkt diesem Prozess durch seine Aufzeichnungen entgegen. Er hält sich in seinem Tagebuch stetig neu das Grauen vor Augen und bewahrt damit die Erinnerung an viele Einzelschicksale. Dabei bemerkt Klemperer eine entscheidende Einschränkung bei dem Beschreiben der Erlebnisse anderer, als er eine spezifische Erfahrung selbst machen muss. Er erkennt den Unterschied zwischen dem eigenen Erleben und dem Hören-Sagen, als er selbst Opfer einer Hausdurchsuchung durch die Gestapo wird: „In Shaws ‚Saint Joanʻ gibt es einen wilden Ketzerjäger, der verzweifelt zusammenbricht, als er Johanna brennen sieht. ‚Ich habe ja nicht gewußt...!ʻ Er hat sich das Entsetzliche nicht vorstellen können. So buchstäblich unvorstellbar ist mir bisher unsere
ϭϮϴ Deshalb wird dieser Widerspruch auch oft im Tagebuch reflektiert. Wiederholt artikuliert Klemperer die Mischung aus Schreibwillen, Ekel vor der eigenen Neugier und Todesangst. Der Ausweg ist damit immer wieder der Rückzug in das fortgesetzte Schreiben: „Bei alledem habe ich selber immer nur das Gefühl der Sensation, der wachsenden Spannung und dazu, stärker, die Beklemmung der Todesangst. Mir vorzustellen, was so naheliegt, daß morgen, daß heute ich verhaftet bin, und Eva und ich sind an der Stelle der Hirschels – es ist unausdenkbar gräßlich, mit keiner Erinnerung an Flandern, mit keiner je durchlebten Todesangst zu vergleichen. Und doch vermag ich diese Aufzeichnung hier nicht zu unterlassen. Tapferkeit? Eitelkeit? Fatalismus? Recht oder unrecht? – Das Seltsamste: All das schüttelt mich nur minutenlang: dann schmeckt wieder das Essen, die Lektüre, die Arbeit; alles geht weiter comme si de rien n’était. Aber der seelische Druck ist doch immer da“ (ZA II, 269, 30.10.1942).
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Situation gewesen: Man hat mir immer berichtet vom Geschlagen- und Bespucktwerden, vom Zittern vor jedem Autogeräusch, jedem Klingeln, vom Verschwinden und Nicht-Wiederkommen – ich hab es doch nicht gewußt. Jetzt weiß ich, jetzt ist das Grauen immer in mir, auf ein paar Stunden übertäubt oder zur Gewohnheit geworden oder paralysiert vom ‚Es ist noch immer gut gegangenʻ und dann wieder als Würgeanfall lebendig. Das ist ein Streitfall zwischen Eva und mir. Sie sagt, es sei ihr nichts Neues und Überraschendes, sie habe das alles doch hundertmal gehört. Ich: Aber jetzt erst erlebe ich’s, meine Phantasie oder mein Altruismus waren nicht stark genug, um es so, so ganz bei andern mitzuerleben“ (ZA II, 137, 19.06.1942).
Klemperers Erkenntnis, dass alles was er an Gehörtem in seinem Tagebuch notiert hat, nicht vergleichbar ist mit dem was er nun erlebt, stellt vor allem die Aussagekraft seiner Notate in Frage. Denn sie bedeutet, dass ein Großteil seiner Aufzeichnungen nicht wirklichkeitsnah ist. Nur durch die eigene Erfahrung kann die große Kluft zwischen der Darstellung eines Ereignisses und der Fähigkeit, dieses auch nachzuvollziehen, überwunden werden. Geprägt ist Klemperers Schreiben durch die schrittweise, subjektive diaristische Erzählform: Der Tagebuchschreiber kann Ereignisse immer nur in ihrem zum Zeitpunkt des Erzählens fortgeschrittenen Entwicklungsrahmen erfassen. Ausschließlich das, was bereits geschehen ist, lässt sich auch in einem Eintrag notieren. Dies wirkt sich auf Klemperers Erzählweise spezifisch aus. Denn dadurch entsteht bei der Darstellung von Ängsten und Hoffnungen der Juden im Alltag des „Dritten Reichs“ eine außergewöhnlich beklemmende Atmosphäre im Tagebuch. Ebenso wie der Tagebuchschreiber auf die nächsten Schreckensnachrichten wartet, wird auch der Leser von derartigen Erwartungshaltungen eingenommen. Jedoch ist es dem Rezipienten aufgrund seiner rückblickenden Betrachterposition möglich, bestimmte Ereignisse im Kontext historischer und gesellschaftlicher Entwicklungen zu sehen, die Klemperer zum Zeitpunkt seines Schreibens nicht wahrnehmen kann. Dadurch relativieren sich manche Einschätzungen des Tagebuchschreibers nachträglich. Beispielsweise ist Klemperer empört über das Verhalten eines „arischen“ Verwandten seiner jüdischen Mitbewohnerin Julia Pick, die sich aus Angst vor der Deportation das Leben genommen hatte. Das Nichterscheinen des Mannes auf der Beerdigung wird im Tagebuch scharf kritisiert: „Auf der Frauenseite Elsa Kreidl – eine wirkliche Tat, denn ihr ist das verboten, es gefährdet sie, und sie war nicht verpflichtet; das hob sich ab von dem Verhalten des Prof. Gaehde, dem es als Verwandtem nicht verboten gewesen wäre, dem es Pflicht war (er dankt den Picks seine sorglose und reiche Existenz) und der aus Feigheit fehlte, so wie er aus Feigheit die lebende Frau Pick im Stich gelassen und den Verkehr zwischen ihr und seiner Frau unterbunden hatte. Ich will ihn in meinem Curriculum an den Schandpfahl binden“ (ZA II, 246, 18.09.1942).
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Klemperers Hilflosigkeit gegenüber der Gesamtsituation verleitet ihn zu einer Aburteilung des Verwandten von Frau Pick, ohne die Gefahr zu überdenken, die für den Mann und dessen Familie durch die Teilnahme an der Beerdigung bestanden hätte. Dies lässt sich rückblickend als ungerechte Beurteilung betrachten. Allerdings zeigt sich gerade in dem Wunsch, Professor Gaehde im „Curriculum vitae“ „an den Schandpfahl [zu] binden“, eine Macht, die Klemperer trotz der Unterdrückung durch die Nationalsozialisten nach wie vor hat: Er kann im Schreiben handeln. Mit dem Aufschreiben der scheinbaren „Untat“ des Verwandten von Frau Pick überwindet er seine Handlungsunfähigkeit wenigstens privat. Darin liegt die entscheidende Bedeutung von allen Schreibformen, die Klemperer während des „Dritten Reichs“ nutzt: In den wissenschaftlichen Texten, in der Autobiographie und auch in den Tagebüchern erhält er sich seine Individualität, die ihm im tatsächlichen Leben durch seine Außenwelt systematisch genommen wird. Er hat die Möglichkeit, sich zu äußern, Meinungen zu vertreten, sich seines persönlichen Wertes als Mensch zu versichern. Klemperer schreibt im Tagebuch von einem „erhöhte[n] Lebensgefühl“ durch das Schreiben (vgl. ZA II, 254, 08.10.1942). Denn das Erschaffen von etwas Neuem als Produkt der eigenen Talente ist eine Bestätigung der Sinnhaftigkeit des Lebens. Im Schreiben liegt eine Freiheit, die ihm die Nationalsozialisten nicht nehmen können: die gedankliche Auseinandersetzung mit jedem beliebigen Thema. Und gerade daraus schöpft Klemperer lebenslang sein Selbstwertgefühl. Mit dem Abbrechen der Autobiographie bleiben die täglichen Aufzeichnungen seine einzige Möglichkeit, weiter zu schreiben. Dementsprechend sammeln sich im Tagebuch auf engstem Raum verschiedene Textformen: Lektürenotizen (vgl. z.B.: ZA II, 75, 28.04.1942), Porträts (vgl. z.B.: ZA II, 63, 11.04.1942), essayistische Abhandlungen (vgl. z.B.: ZA II, 74, 28.04.1942), Tagesbeschreibungen (vgl. z.B.: ZA II, 71-73, 26.04.1942), Zeitanalysen (vgl. z.B.: ZA II, 66-67, 19.04.1942) und Beobachtungen zur LTI (vgl. z.B.: ZA II, 59, 02.04.1942) werden unsortiert in das Diarium aufgenommen. Es bleibt Klemperer keine andere Wahl, als sich mit dem zu befassen, was ihm zufällig begegnet. Das Tagebuch wird zur Sammelstelle für alles, was eventuell für die Autobiographie oder eine Sprachstudie zum Thema LTI verwendbar wäre. Organisierte Arbeit an einem Thema ist durch die Lebensumstände nicht möglich. Trotzdem bemüht sich Klemperer um regelmäßige und ausführliche Tagebucheinträge. Sie bilden die letzte Konstante in seinem Selbstverständnis als Schreibender. Jedes vollendete Notat befriedigt seinen Wunsch nach schriftlichen Ausdrucksmöglichkeiten. Dies formuliert er mit einer Metapher aus „Jettchen Geberts Geschichte“ von Georg Hermann: „Mich verfolgt in jeder guten Stunde Onkel Elis Wort aus ‚Jettchenʻ: ‚Dann hab ich wenigstens noch einmal Mürbekuchen gegessenʻ“ (ZA II, 31, 22.02.1942). Darin steckt der Gedanke, die Tagebuchnotizen seien nicht vergeblich,
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selbst wenn es Klemperer nicht gelingen sollte, jemals wieder ein zur Publikation bestimmtes Buchprojekt umzusetzen. Denn ebenso wie der Mürbekuchen zumindest kurzfristig für Befriedigung und Genuss gesorgt hat, hilft das Tagebuchschreiben für den Moment über die äußeren Umstände hinweg (vgl. z.B. auch: ZA II, 140, 22.06.1942). Dabei bleiben alle Buchideen – trotz der Zweifel an ihrer Umsetzung (vgl. z.B.: ZA II, 77, 03.05.1942) – aktuell.129 Klemperer löst sich sogar von seinen früheren Klagen, die Hoffnung auf die Umsetzung seiner Buchprojekte sei ohnehin sinnlos.130 Obwohl seine gegenwärtige Situation es ihm nicht erlaubt, systematisch zu arbeiten, hält er an der Hoffnung fest, dass
ϭϮϵ Deshalb bleibt Klemperers Selbstverständnis als Wissenschaftler auch während des „Dritten Reichs“ bestehen. Seine Beobachtungen und Analysen sind sehr häufig von dieser Blickrichtung geprägt. Besonders deutlich wird dies, wenn es ihm gelingt, französische Literatur zu erhalten. Diese exzerpiert er oft ausführlich im Tagebuch. Beispielsweise schreibt Klemperer zu seiner Lektüre des „Journal de la France. Mars 1939–juillet 1940“ von Alfred Fabre-Luce: „FabreLuce ist mir doppelt u. dreifach interessant: 1) ich höre von alten Bekannten, die inzwischen auch alt und anders geworden sind: von Duhamel, Romains etc. 2) Ich lese das Journal mutatis mutandis wie damals den Barbusse: die erste Kriegsstimme von drüben, u. einiges ist drüben genauso wie hüben. 3) ich lese das Journal wie nach dem Krieg die ersten Sachen zur Mod. frz. Prosa. Damals war mir alles neu, was in Frkr nach 1890 erschienen war, meine frz. Welt hörte bei Zola auf. Jetzt hört sie beim 4. Bd. meiner Litgesch auf, denn nach ihrer Beendigung ging ich an den Corneille u. das 18ieme. Sofort hat mich der Wunsch gepackt, eine neue ‚Moderne frz. Prosa u. Lyrikʻ, ein Supplement meiner Litgesch d. Gegenwart zu schreiben. – Wieder ein Arbeitswunsch zum Cur., zum 18ieme, zur LTI hinzukommend. Dabei erwarte ich jeden Tag Verhaftung, u. wenn ich vom Hitlerismus verschont bleibe, wird mich die Angina töten. Aber es ist wohl ein Glück u. ich muß dem Schicksal danken, daß ich immer noch Arbeitspläne habe, u. daß ich auch jetzt noch Möglichkeiten fin[d]e kommende Arbeit vorzubereiten“ (ZA II, 160, 1. Stelle, 08.07.1942). Die Lektüre löst nicht nur Reflexionen zu vergangenen wissenschaftlichen Arbeiten aus, sondern auch Ideen für neue Projekte. Daraus wird deutlich, dass Klemperers zentrales Interesse in der wissenschaftlichen Arbeit liegt. Er ist ständig auf der Suche nach neuer Inspiration. ϭϯϬ Klemperer betont stattdessen das Positive an seiner Situation: „Es ist vielleicht ganz gut, daß ich gezwungen bin, etwas für meine allgemeine Bildung zu tun. Allgemeine? Im Hintergrund steht ja doch immer der Gedanke an Curriculum und LTI. Wie diese beiden Bücher sich einmal gegeneinander absetzen sollen, ob beide entstehen werden oder nur eines oder keines – gleichgültig: Ich lese und notiere, als sei ich beider sicher und der nächsten zehn Jahre sicher. So komme ich auf halbwegs anständige Weise über den Tag“ (ZA II, 83, 11.05.1942).
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ihm dies eines Tages wieder möglich sein werde. Dadurch entsteht im Tagebuch ein dichtes Netz aus widersprüchlichen Aussagen zum Thema Buchpublikationen. Einerseits fordert Klemperer sich immer wieder auf, ohne das Nachdenken über Veröffentlichungsmöglichkeiten weiterzuarbeiten.131 Andererseits diskutiert er wiederholt ausführlich die Chancen seiner Arbeitsergebnisse (vgl. z.B.: ZA II, 262, 24.10.1942). Letztlich hält er sich aber immer an der leisen Hoffnung fest, er werde in irgendeiner Form nochmals ein Buch veröffentlichen können. In diesem Zusammenhang entwickelt er auch die Idee, sein Tagebuch selbst zu publizieren: „Heute sagte ich mir: Wenn es mir nicht gelingt, wenn ich nicht Zeit zu haben glaube, LTI als Sonderwerk auszuarbeiten, dann veröffentliche ich die (natürlich gefeilte und geordnete) Gesamtheit meiner Tagebücher seit 33. Eben den antizipierten 4. Band meines Curriculum (I ist ganz fertig, II in wenigen Wochen fertigzustellen, III, Dresdener Professur 1920-1933, müßte warten). Dieser Gedanke ist mir schon wiederholt gekommen; neu war heute daran, daß ich diesem 4. Band des Curriculum den Titel ‚Die Sprache des 3. Reichsʻ summo jure geben könnte. Denn 1) würde er all mein philologisches LTI-Material bringen und 2) würden ja doch alle mitgeteilten Fakten die Sprache des 3. Reichs sprechen [...] – und 3) spräche aus der ganzen Umkehr oder Skepsis oder Brüchigkeit meiner Grundideen seit 1933 die Erschütterung durch das 3. Reich“ (ZA II, 279-280, 21.11.1942).
In diesen Überlegungen wird das Tagebuch zu einer konkreten Textgrundlage. Dies resultiert aus Klemperers unbedingtem Willen, von seinen Erlebnissen im „Dritten Reich“ in einer Veröffentlichung „Zeugnis abzulegen“. Denn er begnügt sich nicht damit, zu erzählen, was er beobachtet, sondern er nimmt durch seine Handlung – das Schreiben – bewusst eine aktive Rolle ein. Ein Bericht über ein Ereignis ist nur ein Reagieren auf eben dieses. Eine beschreibende und analysierende Teilnahme an Entwicklungen entspricht dem Agieren auf die Geschehnisse. Die Absicht, das Beobachtete auch zu veröffentlichen, unterstreicht diesen aktiven Part des Tagebuchschreibers. Klemperer möchte das „Dritte Reich“ nicht nur überleben, sondern in der Zeit, die er unter diesen Bedingungen verbringen muss, sein Leben sinnvoll
ϭϯϭ So erklärt Klemperer beispielsweise: „Studieren, als wäre ich des Morgens ganz gewiß! Es ist die einzige Möglichkeit, den Kopf oben zu behalten“ (ZA II, 214, 19.08.1942). Selbst wenn es keine Möglichkeit mehr geben sollte, die Tagebücher in eine veröffentlichbare Form zu bringen, tröstet sich Klemperer damit, dass zumindest die Tätigkeit als solche ihren Wert haben werde. Das Schreiben muss ihm über seine ständig gegenwärtige Todesangst hinweghelfen. Im Zusammenhang mit dem Tod eines Bekannten formuliert er deshalb die Selbstermahnung: „Arbeiten, mich in Arbeit betrinken!“ (ZA II, 285, 29.11.1942).
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gestalten.132 Da ihm dies durch die starken Repressionen gegen die Juden nur sehr eingeschränkt möglich ist, zieht er sich auf das Tagebuch zurück – den Ort, an dem er seine Fähigkeiten weiterhin nutzen kann. Dabei sieht er das Tagebuchschreiben als Handlung, die im Falle des Zusammenbruchs des „Dritten Reichs“ ihre Bedeutung haben könnte: „Nur der Ausgang entscheidet darüber, ob ich einmal als unverantwortlich träge und gewissenlos oder als zäh und selbstbewußt gelte oder ob kein Hahn danach kräht, und ich selber auch nicht mehr, wie ich meine letzte Lebenszeit hingebracht habe“ (ZA I, 557, 14.10.1940).
Klemperer kann nicht wissen, wie die historischen und seine persönlichen Entwicklungen verlaufen werden. Er versucht, in der Weise zu handeln, die ihm als richtig, sinnvoll und unter den gegebenen Umständen möglich erscheint. Sein Handlungsspielraum ist sehr begrenzt. Aber das Tagebuchschreiben bleibt ihm. Und darin sieht er seine Möglichkeit, aktiv etwas zu leisten, das in späteren Zeiten möglicherweise sinnvoll für das Verständnis der geschichtlichen Abläufe sein könnte. Dies unterstützt die starke Bedeutung des Diariums für Klemperer in der Zeit, in der er in „Judenhäusern“ unter ständiger Lebensbedrohung leben muss. Aussagen wie „Ich bemühe mich wörtlich festzuhalten, was Kätchen vor einer halben Stunde nach Haus brachte: [...]“ (ZA I, 688, 23.11.1941), „Notierte ich, daß...“ (ZA II, 19, 06.02.1942) oder „Das läßt mir Kätchen Sara berichten, ich möge es ‚aufschreibenʻ,...“ (ZA II, 260, 23.10.1942) betonen sein Interesse daran, möglichst ausführlich und umfassend zu berichten, was er sieht, hört und denkt. Auch die Tatsache, dass die Masse der Aufzeichnungen im Jahr 1942 – in dem Zeitraum, in dem die meisten Dresdner Juden deportiert, inhaftiert oder
ϭϯϮ Das wird auch verschiedentlich deutlich, wenn Klemperer sich mit der Leistung von Wissenschaftlern und Autoren vergleicht, die in ähnlichen Situationen wie er weiter geschrieben haben. Bei der Lektüre der Autobiographie Semjon Dubnows, der als Jude in Petersburg gegen Ende des Ersten Weltkriegs der Willkür der kommunistischen Regierung ausgesetzt war, bemerkt er beispielsweise Ähnlichkeiten: „Die letzten Kapitel in Dubnows Autobiographie erschüttern mich. Es ist oft, als sei es mein eigenes Tagebuch. Petersburg 1917/18 – ich schreibe in Dresden 1942 ganz, ganz Ähnliches. Die Angst um das Tagebuch. Es kann das Leben kosten. Wo versteckte man es? Aber wenn ich es nicht schreibe, werde ich meiner Aufgabe untreu! Die Sehnsucht, in historische Arbeit, in Erinnerung, in Geistiges unterzutauchen. Die Todesnähe, doppelte Todesnähe, da man gealtert – er ist damals 58, kein Unterschied zu meinen 60 – und furchtbar exponiert, die Sehnsucht, das Leben, die Arbeit zu retten, die Aufgabe durchzuführen. Ich glaube, ich darf mich vergleichen, denn schließlich, ein klein wenig habe als Historiker doch auch ich geleistet“ (ZA II, 133, 16.06.1942).
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direkt ermordet wurden – extrem anwächst, weist in diese Richtung. Klemperer schreibt besonders viel und ausführlich, weil er insbesondere die Grausamkeiten der so genannten „Evakuierungen“, Verhaftungen und Hausdurchsuchungen festhalten will. Neben der starken Konzentration auf die Tagebuchaufzeichnungen behält er die Aufmerksamkeit für die jeweiligen Schreibbedingungen kontinuierlich bei. Gerade weil die Funktion des „Zeugnis ablegen“ primär ist und dadurch die Anzahl der erzählten Details zunimmt, steigt Klemperers Interesse an der langfristigen Übersichtlichkeit seiner Aufzeichnungen. Das äußert sich – wie schon in früheren Jahren – durch das Betonen von Außeneinflüssen.133 Sowohl die Situation, in der er Tagebuch führt,134 als auch die örtlichen Bedingungen135 werden häufig gekennzeichnet. Den Anspruch, möglichst präzise alle Details einzelner Tage wiederzugeben, setzt Klemperer fort (vgl. z.B.: ZA II, 215, 20.08.1942). Auch das Interesse am Verknüpfen der einzelnen Eintragungen durch den Verweis auf frühere Notate bleibt – vor allem im Hinblick auf die Autobiographie – bestehen (vgl. z.B.: ZA I, 594, 24.05.1941). Auch die Lebensgefahr, die mit dem Tagebuchschreiben verbunden ist, wird in der Auseinandersetzung mit den Schreibbedingungen regelmäßig diskutiert. Zunächst scheint Klemperer dazu eine fast heldenhaft unbeeindruckte, aber auch rücksichtslose Position einzunehmen: „Ich arbeite jetzt in erster Lektüre die Tagebuchblätter Wilna November 18 durch. Wie vieles war mir entfallen, wie ungemein wichtig sind gerade die Einzelheiten solcher Zeit! Um meines Curriculums willen muß ich auch jetzt notieren, ich muß, so gefährlich es auch ist. Das ist mein Berufsmut. Freilich bringe ich viele Menschen in Gefahr. Aber ich kann ihnen nicht helfen“ (ZA I, 595, 27.05.1941).
Klemperer entscheidet über die Köpfe seiner Freunde und Bekannten hinweg, mit seinem Schreiben ein großes Risiko einzugehen – für sein eigenes
ϭϯϯ Selbst wenn Klemperer während eines Eintrags einschläft, wird dies in die Fortsetzung der Notiz integriert: „Es scheint, als seien sehr viele Leute an der städtischen Straßenreinigung – die Feder gleitet ab, ich mußte eine Weile aufs Sofa, bin freilich wieder seit fünf Uhr auf – vor 29, 30 in andern Berufen gewesen u. dann nach Arbeitslosigkeit bei der Stadt untergeschlüpft: [...]“ (ZA II, 38, 06.03.1942). ϭϯϰ Beispielsweise rechtfertigt Klemperer fehlende Tagebucheinträge durch seine Verpflichtungen im Haushalt: „Die ganze Woche das Tagebuch zurückgestellt,...“ (ZA II, 65, 18.04.1942), als er den Haushalt selbst versorgen muss, weil seine Frau krank ist. ϭϯϱ Als vor dem Umzug in das zweite „Judenhaus“ beispielsweise bereits die Kisten gepackt sind, vermerkt Klemperer neben der Datierung: „2. September, Mittwoch abends halb zwölf. Auf abgeräumtem Schreibtisch“ (ZA II, 229, 02.09.1942).
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Leben ebenso wie für das all jener, die in seinem Diarium erwähnt werden. Er blendet dies allerdings nahezu aus. Gelegentlich konfrontiert er sich zwar mit der Gefahr für seine eigene Person. Er koppelt jedoch an derartige Überlegungen sofort die Aufforderung, einer Pflicht zum Weiterschreiben nachkommen zu müssen: „Die Angst, meine Schreiberei könnte mich ins Konzentrationslager bringen. Das Gefühl der Pflicht zu schreiben, es ist meine Lebensaufgabe, mein Beruf. Das Gefühl der Vanitas vanitatum, des Unwertes meiner Schreiberei. Zum Schluß schreibe ich doch weiter, am Tagebuch, am Curriculum. –“ (ZA II, 19, 08.02.1942).
Klemperer befindet sich in einem inneren Widerspruch. Einerseits zweifelt er am Wert seiner „Schreiberei“ und unterstellt sich in der Metapher des „vanitas vanitatum“ Eitelkeit als Ansporn zum Schreiben. Andererseits fühlt er sich verpflichtet, weiter zu berichten was er erlebt. Er sieht darin die Fortsetzung seiner beruflichen Tätigkeit und damit die Umsetzung seiner „Lebensaufgabe“.136 Entscheidend dafür wird zunehmend Klemperers Bewusstsein, die Menschen, deren Schicksale er in seinem Tagebuch notiert, auf gewisse Weise unsterblich zu machen. Zwar kann er ihre dramatischen Lebensgeschichten nicht beeinflussen, sie nicht vor Krankheit, Elend, Deportation, Folter und Ermordung bewahren. Aber seine Möglichkeit, aktiv etwas für sie zu tun, liegt im Tagebuchschreiben. Er kann ihre Lebensgeschichten aufschreiben und sie damit auf seine Weise verewigen. Dieser Gedanke wird nicht oft formuliert – im Gegenteil, Klemperer wirft sich vor, zu kaltherzig zu sein und nicht genug Anteil an dem Schicksal der Menschen seiner Umgebung zu nehmen: „Ich bringe in meiner Herzensstumpfheit kein Gefühl auf. Nur immer: ‚Es fallen so viele rings um mich, und ich lebe noch. Vielleicht ist es mir doch vergönnt, zu überleben und Zeugnis abzulegenʻ“ (ZA II, 255, 09.10.1942).
In der geäußerten Angst, „kein Gefühl“ aufzubringen, steckt das Mitfühlen für andere Juden und deren Schicksal. Denn der Wunsch, „Zeugnis abzulegen“, resultiert nicht daraus, der eigenen Person ein Denkmal zu setzen.
ϭϯϲ Die große Bedeutung, die das Schreiben in jeder Form für Klemperer hat, äußert sich auch in einer Überlegung, die er im Mai 1942 angesichts seiner eingeengten Lebenssituation anstellt: „Was gehen mir für Wünsche durch den Kopf? Nicht Angst haben vor jedem Klingeln! Eine Schreibmaschine. Meine Manuskripte und Tagebücher im Hause haben. Bibliotheksbenutzung. Essen! Kino. Auto. –“ (ZA II, 81, 08.05.1942). Nach dem Wunsch, ohne Angst leben zu können, nennt Klemperer sofort verschiedene Themenkreise, die direkt mit dem Schreiben zu tun haben.
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Vielmehr geht es Klemperer darum, zu berichten, was all jenen geschieht, die nicht überleben. Besonders berührend ist ein Notat zu dem todkranken Mitbewohner Richard Katz, dessen Biographie Klemperer notiert hat (vgl. z.B.: ZA I, 532, 31.05.1940). Darin spielt er auf die freiwillige Teilnahme des Mannes als berittener Offizier im Ersten Weltkrieg und dessen stark nationalistische Ausrichtung an: „An seiner Lanzen-Gardinenstange will ich den Mann in das Judenhaus und in die Unsterblichkeit führen – wenn mir Zeit bleibt. Ich bin ja kaum jünger als er, es kann mich morgen hinhauen, wie es ihn heute hinhaut. Noch drei opera schaffen: Curriculum, 18. Jahrhundert und LTI! Vanitatum vanitas!“ (ZA I, 700, 25.12.1941).
Die „Lanzen-Gardinenstange“ installiert Klemperer als Symbol für die Aussichtslosigkeit und Fehlerhaftigkeit von Katz’ nationalistischer Ausrichtung im „Dritten Reich“. Der Mann fungiert ihm als Beispiel für die widersprüchlichen Einstellungen unterschiedlicher Juden, denen er begegnet. Nicht alle sind überzeugt, dass die Handlungsweise der Nationalsozialisten falsch ist. Richard Katz stirbt, weil ihm, dem Juden, adäquate medizinische Hilfe verwehrt bleibt. Doch er ist überzeugt von der Größe und Bedeutung Deutschlands. Dieser Widerspruch empört Klemperer einerseits, andererseits rührt ihn der Glaube des Mitbewohners an Ideale, die ihm selbst lange abhanden gekommen sind. Das Vorhaben, die paradoxe Persönlichkeit des Richard Katz in einem seiner „drei opera“ zu bewahren und zum Symbol seiner Beobachtung zu machen, resultiert aus seiner emotionalen Anteilnahme an dessen Schicksal.137 Solange Klemperer überlebt, kann er die Menschen und Ereignisse in seiner Umgebung im Tagebuch bewahren. Er ironisiert aus dieser Beobachterperspektive heraus sogar sein Schicksal, während des „Dritten Reichs“ als Jude leben zu müssen, weil er dadurch Erfahrungen machen kann, die seinen Horizont erweitern: „Eigentlich müßte ich dem Führer dankbar sein. Durch Jahrzehnte hinweg war ich ganz verengt u. versachlicht. Nichts als französische Literaturgeschichte. Welche Erweiterung in diesen Jahren! Manchmal empfinde ich sie als Glück, manchmal auch
ϭϯϳ Auch bei dem Umzug in das zweite „Judenhaus“ nimmt Klemperer sich vor, bestimmten Menschen ein Denkmal in seinen geplanten Büchern zu setzen: „Was an mir liegt, so soll das Judenhaus Caspar-David-Friedrich-Straße 15 b mit seinen vielen Opfern berühmt werden“ (ZA II, 230, 02.09.1942). Zu diesem Zeitpunkt kann Klemperer noch nicht wissen, ob er selbst das „Dritte Reich“ überleben wird. Doch das Tagebuch existiert bereits. Die Lebensgeschichten der Menschen, die in der Caspar-David-Friedrich-Straße gelebt haben, sind darin fest gehalten. Aus dieser Sicht erfüllt Klemperer sein Versprechen bereits im Moment des Schreibens.
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als Unglück, als senile Zersplitterung. Wird mir von all dem Geplanten oder in vagem Chaos Vorschwebenden noch irgendetwas gelingen? Aber vielleicht kommt ja gar nichts darauf an, ob mir irgendetwas gelingt, ob sich etwas als Werk ablöst: ich bin unendlich bereichert“ (ZA II, 291, 1. Stelle, 19.12.1942).
Es gelingt Klemperer, das Positive an seiner sehr elenden Lage in Bezug auf seine geistigen Entwicklungsmöglichkeiten heraus zu filtern.138 Es ist ernst gemeint, wenn er schreibt, er sei „unendlich bereichert“. Denn durch die Erfahrungen, die er machen muss, haben sich seine Lebenseinstellung und seine Beobachtungsgabe stark verändert und erweitert. Nun begreift er seine Lebensumstände als Chance – auch im Hinblick auf seine Autobiographie.139 Die Leistung, aus einer bedrohlichen und körperlich wie geistig schwer belastenden Situation einen positiven Effekt zu ziehen, wird besonders im Vergleich mit den früher häufigen Klagen über alltägliche Nichtigkeiten und deren dramatische Auswirkungen auf das Wohlbefinden deutlich. Eine weitere Änderung in Klemperers Schreibeinstellung resultiert daraus, dass nicht nur er selbst sich die Funktion des Beobachters zuschreibt. Vielmehr beginnt auch seine Außenwelt zunehmend, ihn als Tagebuchschreiber wahrzunehmen, der berichtet, in welchem Grauen die Juden Dresdens leben müssen. Das wird deutlich, als Klemperers Mitbewohnerin Käte Voß ihm konkret den Auftrag erteilt, ein Ereignis in seinem Tagebuch zu notieren: „Eben wieder leidenschaftlichstes Weinen, die Schwägerin Kätchens ist gekommen. Kätchen kommt herausgestürzt mit einem Hemd; unter Tränenströmen: ‚Ewig muß die Schwägerin das so aufbewahren – Sie müssen das aufschreiben!ʻ Auf der Innenseite der Manschette ein Pappzettel, darauf ausgeschnittene große Zeitungsbuchstaben, einzelne Worte ganz übernommen, mit Gott weiß welcher Masse sauber geklebt: ‚Bis zur letzten Stunde ewigen Dank für Liebe und Treue, auch den Eltern.ʻ Wie aus einem Hintertreppenroman“ (ZA II, 181, 26.07.1942).
Der Bruder von Käte Voß ist in Haft gestorben. Niemand weiß, wie er umgekommen ist. Klemperer notiert verschiedene Gerüchte über Folterung und Hinrichtung, doch sicher kann er nichts sagen. Nun erhält die Ehefrau des Mannes ein Hemd, auf dem eine Botschaft angebracht wurde. Obwohl Klemperer sich von der Dramatik der Situation distanziert, indem er die
ϭϯϴ An anderer Stelle erklärt er in einem ähnlichen Zusammenhang: „Wir erleben den Weltkrieg zum zweitenmal. Wissender und mit verkehrter Front. Vielleicht, wahrscheinlich, ist es doch das größte Glück, soviel Weltgeschichte zu erleben“ (ZA I, 646, 09.07.1941). ϭϯϵ An seinem sechzigsten Geburtstag notiert er deshalb: „Ich will es als günstige Schicksalsfügung, als Stoff für mein Curriculum, als Bereicherung nehmen, daß ich all diese Schmach an Ort und Stelle erlebe“ (ZA I, 679, 09.10.1941).
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Botschaft mit einer Szene aus einem „Hintertreppenroman“ vergleicht, kommt er doch der Aufforderung Käte Voß’ nach und notiert, was sie ihm erzählt. Denn das Geschilderte ist symptomatisch für die Lage der Juden in Dresden. Es zeigt, in welcher Verzweiflung und Todesangst sich der Bruder von Käte Voß befunden hatte und das Entsetzen, welches seine Botschaft bei seinen Hinterbliebenen auslöst. Klemperer versteht es als seine Aufgabe, eben diese Stimmungen und auch das Schicksal der Betroffenen zu bewahren – indem er im Tagebuch vermerkt, was er sieht und hört. Die Aufforderung „Sie müssen das aufschreiben!“ nimmt er ernst. Denn er betrachtet es als seine Pflicht, auf diese Weise dem Verstorbenen und den (noch) Lebenden zu dienen. Das ist einer der Gründe dafür, warum er sich entschließt, sein Tagebuch außerhalb seiner eigenen Wohnung zu verstecken. Nur wenn die Notate das „Dritte Reich“ tatsächlich überdauern, ist garantiert, dass die vielen Menschen in Erinnerung bleiben, von deren Schicksal Klemperer berichtet. Deshalb möchte er Ende 1941 das Risiko einer Entdeckung des Diariums nicht mehr eingehen. Schon bei dem erzwungenen Umzug in das erste „Judenhaus“ hatte Klemperer erste Manuskripte nach Pirna zu der befreundeten Ärztin Annemarie Köhler gebracht.140 Nun sieht er auch seine Tagebücher in direkter Gefahr. Das Argument, dass nicht nur er selbst gefährdet ist, sondern auch seine Ehefrau, seine Mitbewohner und alle Menschen, die in den Aufzeichnungen genannt werden, führt zu dem Beschluss: „Das Tagebuch muß aus dem Hause. Gestern brachte Paul Kreidl Nachricht, daß Rundschreiben unterwegs sei: Bestandsaufnahme des Hausrats. [...] Also soll Eva meine Tagebücher und Manuskripte zu Annemarie schaffen. Eventuell muß ich danach die Tagebuchnotizen überhaupt stoppen. – Auch will ich heute Photokopie meiner Urkunden in Auftrag geben, da alle Urkunden konfisziert werden sollen. (Man wird zum Peter Schlemihl sozusagen.)“ (ZA I, 691, 04.12.1941).
Der Bezug auf die literarische Figur des Peter Schlemihl, der ohne seinen Schatten leben muss, ist nicht rein ironisch zu verstehen. Klemperer fürchtet, dass ihm seine Identität in Form von Urkunden und Tagebüchern genommen werden könnte. Der Verlust von behördlichen Papieren, welche die eigene Existenz bestätigen, wäre dabei ähnlich dramatisch wie die Be-
ϭϰϬ Dazu vermerkte Klemperer im Tagebuch: „Angabe zu meinen Manuskripten: Falls mir etwas zustoßen sollte, nach veränderter Lage an die Dresdener Staatsbibliothek“ (ZA I, 526, 21.05.1940). Diese Anweisung wird auf die in Packpapier verpackten Manuskripte – welche frühe Tagebuchaufzeichnungen und je ein Manuskript des „Curriculum vitae“ und der Literaturgeschichte beinhalten – geschrieben, als diese nach Pirna in ihr Versteck gebracht werden. Klemperer hofft damit, eine Möglichkeit gefunden zu haben, wie seine Aufzeichnungen auch dann veröffentlicht werden können, wenn er selbst das „Dritte Reich“ nicht überleben sollte.
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schlagnahme seiner Manuskripte. Wenn der Schatten ein Beleg für die menschliche Identität von Peter Schlemihl ist, so versteht Klemperer seine Aufzeichnungen und Dokumente, die von seiner Existenz zeugen, als Äquivalent. Das ist auch der Grund, warum er seine Aufzeichnungen nicht abbricht. Die Überlegung, „die Tagebuchnotizen überhaupt [zu] stoppen“ wird nur ein einziges Mal – in der zitierten Eintragung – ausformuliert. Der Verzicht auf die Fortsetzung des Tagebuchs würde einer Auslöschung der eigenen Existenz gleichkommen. Deshalb zieht Klemperer diese Möglichkeit nie ernsthaft in Betracht. Stattdessen beginnt er eine neue Form des Tagebuchs. Im am 7. Dezember 1941 begonnenen Mscr. Dresd. App. 2003, 138 (Tagebuch 47b) vermerkt er im ersten Eintrag: „Eva war vorgestern bei Annemarie“ (ZA I, 692, 07.12.1941; vgl. auch ZA I, 692, 05.12.1941). Aus Sicherheitsgründen formuliert er nicht aus, dass der Besuch bei der Freundin dem Verbergen von Manuskripten galt. Doch etwas anderes wird direkt angegeben: „Tagebuch wird in einer Enveloppe von Notizen zum XVIIIme aufbewahrt. –“ (ZA I, 693, 07.12.1941). Würde ein Gestapo-Beamter den Hefter mit den Tagebuchaufzeichnungen finden und diese lesen, könnte ihm diese Information nichts mehr verraten. Er hätte bereits das Versteck des Tagebuchs entdeckt. Doch für die formalen Rahmenbedingungen des Tagebuchs ist dieser Hinweis wichtig. Denn dadurch wird der Charakter der nun geführten Tagebucheintragungen deutlich: Es handelt sich um handgeschriebene lose DINA5-Blätter.141 Sie sind unverdächtiger und können leicht einzeln aufbewahrt werden (vgl. dazu auch ZA II, 99, 27.05.1942). Die stets durchgehaltene und präzise Zählung und Datierung der Seiten verweist auf die aus den vorherigen Tagebüchern bekannte systematische Vorgehensweise. Das Erfassen des Notierten in einem linear nachvollziehbaren Kontext, der später zurückverfolgt werden kann, strebt Klemperer in seinem gesamten Tagebuchschreiben an. Die methodischen Experimente, die er in seinen früheren Diarien gemacht hat, kommen ihm während des „Dritten Reichs“ zugute. Denn nun steht er vor einer besonderen Herausfor-
ϭϰϭ Die DIN-A5-Doppelblätter sind in zusammenhängenden Teilen zusammengefasst. Sie entstehen jeweils in dem Zeitraum zwischen einem Besuch Eva Klemperers in Pirna und dem nächsten. Häufig erwähnt Klemperer dies direkt in seinen Einträgen, allerdings nicht immer. Erkennbar wird die Trennung der einzelnen Textteile durch die jeweilige Nummerierung. Die zusammenhängenden, auf DIN-A5-Format gefalteten DIN-A4-Blätter gelten als Doppelblätter. Einzelblätter sind lose DIN-A5-Blätter. Klemperers Zählung erfasst jeweils entweder ein Doppelblatt als Ganzes oder ein Einzelblatt. Dabei nummeriert er die Blätter meist mit lateinischen Kleinbuchstaben, teilweise auch mit römischen Zahlen und griechischen Kleinbuchstaben. Die SLUB katalogisiert die Tagebuchblätter zusätzlich nach Jahren (Mscr. Dresd. App. 2003, 138; vgl. zu der Gruppierung der einzelnen Textteile Tabelle A-2 im Anhang).
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derung: Er kann seine Notate nicht wieder hervorholen, wenn er eine Beobachtung ergänzen oder präzisieren möchte. Die einzelnen Tagebuchteile sind für ihn unerreichbar, sobald seine Ehefrau sie aus dem Haus bringt.142 Deshalb muss er zum einen sehr genau und ausführlich beschreiben, was er bewahren möchte. Das führt zu wesentlich mehr Tagebucheintragungen in weitaus größerem Umfang als in früheren Jahren. Zum anderen ist es nötig, den jeweiligen Textteil an ein nicht mehr greifbares Tagebuch zu koppeln und auch für folgende, noch nicht geschriebene Einträge klar zu kennzeichnen. Der Text wird physisch bewusst zersplittert, um einen möglichst großen Anteil des bedrohten Tagebuchkorpus zu sichern.143 Systematische Datumsangaben und klare Nummerierung der einzelnen Blätter sind die Voraussetzung für eine Erschließung der Aufzeichnungen zu einem unbekannten späteren Zeitpunkt. Dabei ist eingerechnet, dass eventuell Klemperer nicht selbst die Tagebücher aus dem Keller der Freundin in Pirna bergen wird. Der Bestimmungsort für die Tagebuchblätter wird in den Aufzeichnungen mehrfach angedeutet. Hin und wieder greift Klemperer dabei auf verschlüsselte Formulierungen zurück.144 Allerdings hält er diese Form der versteckten Andeutungen nie lange durch. Er notiert meist mit Namen und Ort, wohin seine Manuskripte gehen. Dadurch entsteht nach dem Übergang auf die lose Tagebuchform eine bizarre Situation: Jede Information, die Klemperer über den Verbleib seiner früheren Aufzeichnungen macht, ist ein Risiko. Denn falls seine gegenwärtigen Notate entdeckt würden, wären auch die versteckten Tagebücher gefährdet. Meist scheint Klemperer dies zu ignorie-
ϭϰϮ Daraus erklären sich manche Wiederholungen. Denn Klemperer weiß nach einer Weile nicht mehr, ob er ein bestimmtes Thema bereits erwähnt hat oder nicht. Dadurch entstehen Randkommentare zur Tagebuchführung wie: „Vor einem reichlichen Monat – ich kann ja nicht im Tagebuch nachsehen – [...]“ (ZA II, 292, 21.12.1942). ϭϰϯ Klemperer schreibt beispielsweise am 8. Juli 1944 vormittags, kurz bevor seine Frau nach Pirna aufbricht, noch schnell eine Art Abschlussbericht. Am Nachmittag desselben Tages, während Eva Klemperer unterwegs ist, beginnt er auf einem neuen Blatt das nächste Notat (vgl. ZA II, 541, 08.07.1944). Das Datum bindet beide Aufzeichnungsteile zu einem zusammenhängenden Eintrag. Doch durch das Bewusstsein Klemperers, dass eine örtliche Trennung zwischen den Texten liegt, die eventuell nie wieder überwunden werden kann, entstehen zwei völlig verschiedene Tagebucheinträge. Sie könnten einzeln bestehen, wenn einer der beiden Teile durch die Gestapo entdeckt und beschlagnahmt würde. ϭϰϰ So schreibt er schon 1940 zu einem Besuch bei Annemarie Köhler: „Jedenfalls war sie herzlich und unbefangen, und wir verabredeten mit ihr, wie geplant“ (ZA I, 523, 09.05.1940). Die Formulierung ist für einen Außenstehenden unverständlich. Es wird nirgends – auch nicht in früheren Einträgen – erwähnt, was genau Klemperer mit Annemarie Köhler verabredet. Möglicherweise ist die Übergabe verschiedener Manuskripte in ihre Obhut gemeint.
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ren. Teilweise geht er jedoch dazu über, den Ort Pirna und den Namen Annemarie Köhler zu codieren. Im Dezember 1942 schreibt er: „...und erst am Dienstag kann Eva unsere Freundin Brigitte in Quedlinburg aufsuchen. (Das ist Kätchens Beitrag zum enzyklopädischen Stil, Namen immer mit dem nächsten Buchstaben des Alphabets beginnen zu lassen)“ (ZA II, 296, 26.12.1942).
Mit dem Begriff des „enzyklopädischen Stil[s]“ spielt Klemperer auf die 1751/72 erschienene „Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des metiers“ von Denis Diderot und Jean Le Rond d’Alembert an – das Standardwerk der Aufklärung, in dem antiklerikale und antiabsolutistische Aussagen meist codiert formuliert wurden, um einem Verbot zu entgehen. Klemperer verwendet die Formulierung, um damit seine eigenen Versuche zu kennzeichnen, Sachverhalte verschlüsselt zu vermitteln. Er zeigt an, dass es die Idee seiner Mitbewohnerin Käte Voß gewesen sei, Namen verändert wiederzugeben. Er selbst scheint derartige Geheimcodes für übertrieben zu halten. Das wird zum einen daraus deutlich, dass er den Schlüssel für den Code direkt neben die Codierung setzt („Namen immer mit dem nächsten Buchstaben des Alphabets beginnen [...] lassen“). Zum anderen nutzt er die falschen Namen bereits am nächsten Tag nicht mehr, sondern greift wieder auf „Annemarie“ zurück (vgl. ZA II, 296, 28.12.1942). Er verwendet zwar die folgenden zwei Tage nochmals die Verschlüsselung (vgl. ZA II, 299, 29.12.1942), doch widerspricht dies seinem grundsätzlichen Tagebuchstil. Er ist daran interessiert, möglichst genau und für einen Außenstehenden, der eventuell das Tagebuch nach seinem Tod lesen wird, verständlich zu schreiben. Die Codierung sämtlicher Namen und Orte würde dies erschweren. Insbesondere, weil Klemperer nicht weiß, welche Teile seiner Aufzeichnungen das „Dritte Reich“ überstehen werden, muss er auch in den jeweiligen Einzelteilen Transparenz garantieren. Das Übergehen der eigenen Verschlüsselung deutet aber auch darauf hin, dass Klemperer die Gefahr nicht vollständig ernst nimmt, welche aus dem Tagebuchschreiben resultieren könnte.145 Nur einmal führt das Bewusstsein, die eigene Ehefrau stark zu gefährden (vgl. ZA II, 260-261, 23.10.1942),
ϭϰϱ Ebenso zeigt sich dies am Verhalten seiner Frau: Eva Klemperer kehrt einmal mit dem Tagebuchmanuskript aus Pirna zurück, weil sie vergessen hat, es aus der Tasche zu nehmen (vgl. ZA II, 300, 30.12.1942). Die Klemperers haben sich den Gegebenheiten so sehr angepasst, dass sie die ihnen ständig drohende Gefahr nur noch in einer abstrakten Weise realisieren. Natürlich sind sie sich bewusst, welches Risiko die Tagebuchaufzeichnungen darstellen. Aber sie verdrängen im Alltag weitgehend ihre Furcht. Das führt dazu, dass Eva vergisst, die gefährlichen Aufzeichnungen in Pirna abzugeben und begründet, warum Klemperer unbeirrt und meist unverschlüsselt mit seiner Arbeit fortfährt.
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Klemperer zu dem Versuch, einen eventuellen dritten Leser ihrer Unwissenheit zu versichern: „Eva wird heute mit ihrem Paket auf Umsteiger bis zur Finkenfangstraße fahren und dort erst in den Pirnaer Bus steigen. Die Abfahrtstelle am Bahnhof liegt dem Haus der Gestapo zu nahe. Ich mache mir nach wie vor die schwersten Bedenken, sie so zu gefährden, und tue es doch. Ich lege die Tagebuchblätter zwischen die Exzerptmanuskripte. Wird Eva einmal angehalten, so weiß sie nichts vom Tagebuch, diese Stelle hier bezeugt es. Sie ist der Meinung, nur die Exzerpte fortzubringen, weil man mir einmal vier Seiten Rosenbergnotizen zerrissen hat. Sie hat die Absicht, die Sachen bei Elsa Kreidl zu deponieren. – In solchem Zustand leben wir vom Morgen zum Abend, vom Abend zum Morgen. Und doch – das Fortschaffen des Abschnittes, es könnte ja sein, es wäre das letzte, reizt zum Überblick –, doch bin ich viele Stunden am Tage durchaus glücklich. Ich studiere, ich bereite Produktion vor; ich brauche in den nächsten Jahren keine neuen schöpferischen Einfälle mehr, nur Gelegenheit zum Ausarbeiten des jetzt Geplanten und Skizzierten“ (ZA II, 261-262, 24.10.1942).
Der Eintrag hat einen direkten Adressaten: Einen eventuellen GestapoMann, der die Tagebuchblätter bei Eva finden könnte. Klemperer möchte sie schützen, indem er ihr eine Art Alibi verschafft. Die Aussage, sie wisse nicht, welch brisantes Material sie transportiere, ist falsch. Sie dient allein dazu, die Ehefrau zu entlasten, falls sie durchsucht und dabei die Papiere gefunden würden. Ebenso sind die Angaben zum Zielort der Aufzeichnungen falsch. Nicht zu Elsa Kreidl, sondern zu Annemarie Köhler in Pirna bringt Eva die Manuskripte. Klemperer überschreitet damit zweifach die Grenzen des Tagebuchs. Zum einen notiert er bewusst Unwahres, ohne dies direkt zu kennzeichnen. Nur jemand, der die gesamten Tagebücher kennt, wird die Falschinformationen richtig deuten können. Zum anderen richtet er sich bewusst an einen externen Leser. Diarien entstehen im Allgemeinen nicht für eine Außenwelt. Falls doch ein späterer Rezipient in die Tagebuchführung einbezogen wird, hat dieser entweder eine enge Beziehung zum Tagebuchschreiber. Oder der Diarist geht davon aus, einen Leserkreis anzusprechen, der sich für sein Leben interessiert – er vermutet also ein positives Interesse an seiner Biographie. Ein Rezipient, der eine Gefahr für den Schreibenden darstellt, wird normalerweise nicht in den Schreibprozess eingeplant. Doch genau dies macht Klemperer. Er kalkuliert das Risiko seiner Frau ein, von der Gestapo gefasst zu werden. Deshalb formuliert er einen Tagebucheintrag, der sie schützen soll. Die notierten Informationen haben nur einen Zweck: Einen möglichen Leser der Gestapo davon zu überzeugen, dass Eva Klemperer nicht wusste, welche Manuskripte sie transportierte, und einen falschen Zielort der Papiere glaubhaft erscheinen zu lassen. Die Grundbedingungen der Tagebuchform werden damit bewusst missachtet.
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Fast sinnlos wirkt dieser Versuch, einen eventuellen „feindlichen Mitleser“ abzulenken jedoch durch die Tatsache, dass in vielen vorherigen Einträgen die wirklichen Namen genannt werden. Noch am Tag vor der Angabe der falschen Informationen hatte Klemperer von Pirna und Annemarie gesprochen (vgl. ZA II, 260-261, 23.10.1942). Der plötzliche Wechsel vom intimen Text zu einer Verteidigung der Ehefrau ist entweder Ausdruck spontaner Angst und Verzweiflung oder aber das Ergebnis eines spielerischen Versuchs, das Ausgeliefertsein auf neue Art im Tagebuch darzustellen. In jedem Fall vermittelt Klemperer dadurch seine gegenwärtige Lebenssituation. Zwischenergebnis 1939-1942 Die Tagebücher, die zwischen 1939 und 1942 entstehen, haben im Vergleich zu früheren und auch späteren Aufzeichnungen eine entscheidend komplexere Struktur. In ihnen soll „Zeugnis“ von den Schrecken des „Dritten Reichs“ abgelegt werden. Dieser schon vor 1939 formulierte Gedanke manifestiert sich maßgeblich durch Klemperers Arbeit an seiner Autobiographie. Das Bewusstsein, die Tagebuchaufzeichnungen später in das „Curriculum“ umzuwandeln, verstärkt seinen Willen, möglichst umfassend und genau zu beschreiben, was er erlebt. Klemperer versteht sein Beobachten als Aufgabe. Seine Aufzeichnungen sind nicht mehr nur ein Ort der Reflexion, an dem er auf das Erlebte reagieren kann, sondern sie bieten die Option, zu agieren. Unter Lebensgefahr für sich und andere hält Klemperer an seinem Schreiben fest. Grund hierfür ist auch seine fortgesetzte Hoffnung auf eine Publikation. Alle Ideen für künftige Buchprojekte sammeln sich nach dem durch die äußeren Bedingungen erzwungenen Abbruch der Autobiographie im Tagebuch.
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1943-1945 – „U M ALLES AUFZUHOLEN – WER WEI SS, OB ICH ZU WEITEREN N OTIZEN KOMME ...“ 146
Nachdem Klemperer ab April 1943 zur Zwangsarbeit verpflichtet wird, verstärkt sich sein streng systematischer Schreibstil. Er möchte weiterhin ausführlich über seine Beobachtungen berichten. Dies lässt sich nur schwer mit der kraft- und zeitzehrenden Fabrikarbeit vereinbaren. Deshalb muss er Methoden entwickeln, in kürzerer Zeit möglichst viele und präzise Informationen zu speichern. Teilweise greift er dabei auf Techniken zurück, die er schon in früheren Jahren entwickelt hat. Beispielsweise findet die Präzisie-
ϭϰϲ ZA II, 392, 4. Stelle, 10.06.1943
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rung der Datierungen durch erklärende Randnotizen nun in nahezu jedem Eintrag Anwendung.147 Es geht um höchstmögliche Transparenz und Übersichtlichkeit. Wenn Klemperer beispielsweise länger nicht schreiben kann, listet er deshalb vor der ausführlichen Beschreibung zurückliegender Ereignisse die wichtigsten Punkte als „Provisorische Notiz“ auf. Dabei nutzt er häufig die schon in früheren Jahren entwickelte Methode, stichpunktartig und gegliedert zu schreiben. Bereits der erste Eintrag nach Beginn des Arbeitsdienstes entsteht in dieser Systematik: „Seit Montag 19.4. neue Phase: Fabrikarbeit. Provisorische Notiz: Dienst von 14-22 Uhr. Gliedern: a) das Übliche. b) Landgerichtsrat Feder mit dem Richterbarett als Staubkappe c) die Verhaftungen, der Albdruck. Mo. u. Di. Gänge zum Arbeitsamt in der Maternistr., zu Polizei, Gemeinde, Steuerstelle. Mittwoch Besuch von Glasers u. Brief an Sußmann mit Anfrage über ‚Jerusalemʻ u. Elsa Brandström. Von heute an 10 Uhr Abends bis Dienstag (nach Ostern) 10 h Abends frei, dann beginnt für mich eine Nachtschichtwoche mit Dienstzeit 22-6 h“ (ZA II, 354, 1. Stelle, nicht gedruckter Eintrag vom 22.04.1943).
Der knappen Aufzählung von Fakten folgen nur noch sechs Zeilen mit kurzen LTI- und Lektüre-Beobachtungen. Der Eintrag zeigt deutlich den starken Einfluss der äußeren Lebensumstände auf Klemperers Schreibstil. Die Auflistung des kommenden Dienstplans spiegelt die stichpunktartige Abarbeitung der wichtigsten Ereignisse der vergangenen Tage. So wie sein Leben durch seine Dienstzeiten strukturiert wird, gestaltet Klemperer auch sein Notat. Weil er durch Zeitmangel und Erschöpfung kaum zum Schreiben kommt, passt er seine Aufzeichnungen den Bedingungen seiner persönlichen Lage an. Der Eintrag zeigt auch, dass es Klemperer neben der Zwangsarbeit nur begrenzt gelingt, seine bisherigen Tagebuch- und Arbeitsnotate fortzusetzen. Zwar versucht er weiterhin, an seinen Lektüre- und LTI-Notizen festzuhalten,148 doch häufig konstatiert er letztlich seine Erschöpfung und gibt auf (vgl. z.B.: ZA II, 390, 09.06.1943). Sowohl das Diarium als auch die Exzerpte zur jeweiligen Arbeitslektüre, welche in die Tagebuchaufzeich-
ϭϰϳ Klemperer möchte möglichst genaue Angaben über den jeweiligen Zeitpunkt der Niederschrift eines Eintrags gewährleisten. Deshalb schreibt beispielsweise im Dezember 1944 über ein Notat: „18. Dezember, Montag morgen (und später – ich werde wohl tagüber mit Notizen zu tun haben)“ (ZA II, 627, 18.12.1944). ϭϰϴ Zum Aufrechterhalten der Notizen bemüht sich Klemperer beispielsweise, sein Tagebuch dann zu schreiben, wenn er noch nicht so erschöpft ist: „Ich versuche morgens, ein paar Zeilen zu fixieren; nachmittags bin ich müde zum Einschlafen und von Wirtschaft in Anspruch genommen. –“ (ZA II, 469, 05.01.1944).
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nungen integriert werden, verlieren an Umfang und Intensität.149 Das führt zu der wiederholten Klage: „Irgendwelche Arbeit für mich vermag ich nicht zu leisten“ (ZA II, 405, 17.07.1943). Nur bei den wenigen Gelegenheiten, die Klemperer für ausführlichere Notizen hat, wachsen die Tagebucheinträge zu detailreichen, mehrseitigen Texten an. Meist werden diese Notate durch die mehrfache indirekte Andeutung des Zeitmangels gekennzeichnet.150 Auf lange Sicht muss Klemperer seine intensive Lektüre aufgeben, weil er sie parallel zum Arbeitsdienst nicht mehr leisten kann. Er nimmt Abstand von der Arbeit an großen Leseprojekten und beschränkt sich stattdessen auf kurze Aufsätze und Artikel. Diese kann er in der begrenzten Zeit, die ihm zur Verfügung steht, leichter bearbeiten.151 Dadurch hat er eine Möglichkeit gefunden, kontinuierlich weiterzuarbeiten. Auf Phasen, in denen ihm nicht einmal Zeit für kurze Texte bleibt (vgl. z.B.: ZA II, 474, 22.01.1944), reagiert Klemperer sehr unglücklich. Er artikuliert in diesen Situationen das Gefühl, die Fabrikarbeit töte durch Eintönigkeit seine Individualität und Kreativität ab. Ihm fehlt die geistige Auseinandersetzung mit Literatur152
ϭϰϵ Dies wird beispielsweise deutlich, als Klemperer im September 1943, nachdem er schon über einen längeren Zeitraum hinweg Hitlers „Mein Kampf“ analysiert, nach der Aufzählung der Alltagsarbeiten verzweifelt fragt: „[...] – was bleibt für Tagebuch und Hitler?“ (ZA II, 437, 30.09.1943). ϭϱϬ So schreibt Klemperer am 11. Dezember 1943 zu Beginn eines langen Notats: „Hoffentlich heute ein paar Stunden für das Tagebuch zu erübrigen“ (ZA II, 453, 11.12.1943). Nachdem bereits verschiedene Themen in dem Eintrag abgehandelt sind, erklärt er nochmals: „Ich suche nun aus den Stichworten der letzten zwei Monate nachzuholen. Aber ich bin wie das Pferd in den Pickwickiern: ohne Deichsel halte ich mich nicht mehr aufrecht, an fabrikfreien Tagen versagen meine Kräfte – obschon ich heute bis ½ 7 geschlafen habe. Freilich lähmend auch die Kälte hier“ (ZA II, 454, 1. Stelle, 11.12.1943). Durch den Vergleich mit dem Pferd aus Charles Dickens „Pickwick-Club“ symbolisiert Klemperer, wie schwer es ihm fällt, seine zwei Monate alte Stichpunktsammlung mit Informationen, die er genauer im Tagebuch ausführen möchte, aufzuarbeiten. Er hat keine Ruhe mehr, sich intensiv mit dem, was er beobachtet, zu beschäftigen. Ihm fehlt nicht nur die Zeit, sondern auch die Kraft dafür. ϭϱϭ Klemperer erklärt dies selbst im Tagebuch: „Ich gehe jetzt zwangsläufig dazu über, nur noch Bagatellen zu lesen, die sich in wenigen Stunden ganz bewältigen lassen, diese aber ordentlich auszuwerten u. auszukauen“ (ZA II, 472, 1. Stelle, 10.01.1944). ϭϱϮ Dazu schreibt Klemperer beispielsweise: „Was ist geistige Arbeit, wo ist ihre Grenze? [...] Die Arbeit an der Maschine ist völlig mechanisch. Und doch erfordert sie konzentrierte Aufmerksamkeit. [...] Ich will mich nicht zur Unterschätzung der geistigen Arbeit drängen lassen. – Als Erfahrung ist das alles
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und vor allem auch die Möglichkeit der Rückbesinnung auf sich selbst im Tagebuch: „Keine Möglichkeit der Lektüre, des Tagebuchs, der Selbstbesinnung“ (ZA II, 492, 04.03.1944). Selten nennt Klemperer „Selbstbesinnung“ als Funktion des Diariums. Doch in dem Moment, als die Möglichkeit zum Tagebuchschreiben durch die Zwangsarbeit eingeschränkt wird, betont er das Selbstbesinnen als wesentlichen Grund für seine fortgesetzten Aufzeichnungen. Durch die begrenzte Zeit, die Klemperer auf sein Diarium verwenden kann, reduziert sich sein Anspruch an das Schreiben gerade auf diesen persönlichen Aspekt. – Damit ist jedoch nicht die intensive Selbstreflexion der eigenen Person gemeint, sondern vielmehr wörtlich, die Möglichkeit zur Besinnung auf die eigene Persönlichkeit und deren spezifische Interessen. Denn vornehmlich konzentriert sich Klemperer in den seltenen Zeiten ausführlichen Schreibens auf die Wiedergabe von Beobachtungen und Informationen, die für eine spätere Weiterverarbeitung in einem autobiographischen Buchprojekt hilfreich sein könnten. Konkrete Auseinandersetzungen mit sich selbst fehlen weitgehend. Erst als er im Juni 1944 vom Arbeitsdienst freigestellt wird, findet Klemperer wieder mehr Zeit zum Tagebuchschreiben und damit auch zur konkreten Selbstreflexion. Gleichbleibend quälend ist die Angst vor einer Entdeckung bzw. Zerstörung der Aufzeichnungen. Klemperer fürchtet angesichts der zunehmenden Luftangriffe auf Deutschland eine Vernichtung der Diarien, die in Dresden153 und Pirna154 liegen. Außerdem besteht dauerhaft die Gefahr, dass die Gestapo bei einer Hausdurchsuchung – sowohl bei den Klemperers als auch bei Annemarie Köhler – die Notate findet (vgl. mit ZA I, 595, 27.05.1941). Besonders ausführlich diskutiert Klemperer seine Selbstzweifel über die Berechtigung, seine Eintragungen fortzuführen, anlässlich eines neuen Transports der Manuskripte nach Pirna:
ganz hübsch – aber für acht Tage, nicht für endlose Zeit, nicht als Sterilisierung meines Lebensrestes“ (ZA II, 452, 05.12.1943). ϭϱϯ Die in Dresden entstehenden Aufzeichnungen sind von Beginn an Teil des Gepäcks, das in den Luftschutzkeller mitgenommen wird. Anfänglich enthält dieses so genannte Luftgepäck sogar ausschließlich Papiere, welche die Klemperers schützen wollen (vgl. ZA II, 463, 25.12.1943). ϭϱϰ Insbesondere um die Tagebücher und Manuskripte in Pirna fürchtet Klemperer. Er weiß, wenn diese Stadt bombardiert wird, ist sein Lebenswerk von der Vernichtung bedroht. Im Diarium heißt es dazu: „Seit den Zerstörungen in Freital werde ich den Gedanken nicht los, daß eine Bombe einmal in Annemaries Klinik fallen könnte. Das industrielle Pirna, die Nachbarschaft Küttners, der Fallschirme macht! Dann wären meine sämtlichen Manuskripte, die alle dort im gleichen Koffer liegen, auf einen Schlag vernichtet. Aber ich fürchte die Gestapo mehr als die Amerikaner. Und alles ist Schicksal, und Sicherheit ist nirgends“ (ZA II, 573, 01.09.1944).
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„Meine Tagebücher und Aufzeichnungen! Ich sage mir wieder und wieder: Sie kosten nicht nur mein Leben, wenn sie entdeckt werden, sondern auch Evas und das mehrerer anderer, die ich mit Namen genannt habe, nennen mußte, wenn ich dokumentarischen Wert erreichen wollte. Bin ich dazu berechtigt, womöglich verpflichtet, oder ist es verbrecherische Eitelkeit? Und immer wieder: Seit zwölf Jahren habe ich nichts mehr publiziert, nichts mehr zu Ende führen können, nur immer gespeichert und gespeichert. Hat es irgendwelchen Sinn, wird irgend etwas von alledem fertig werden? Die Engländer, die Gestapo, die Angina, die dreiundsechzig Jahre. Und wenn es fertig wird, und wenn es Erfolg hat, und wenn ich ‚in meinem Werk fortlebeʻ – welchen Sinn hat das alles ‚an und für michʻ? Ich habe so wenig, so gar kein Talent zum Glauben; von allen Möglichkeiten scheint mir das Nichts, was die Persönlichkeit anlangt, und auf die allein kommt es ja an, denn was soll mir das ‚Allʻ oder das ‚Volkʻ oder sonst irgend etwas, das nicht Ich bin? – das Nichts scheint mir das Allerwahrscheinlichste. Und nur vor ihm, nicht vor dem ‚ewigen Richterʻ, in welcher Form auch immer, schrecke ich zurück. Aber dies alles (das mir täglich durch den Kopf geht, mehrmals täglich) schreib ich ja nur auf, weil ich kein leeres Blatt fortschicken will. Und gleich danach wird weitergearbeitet, d. h. gelesen und notiert. Nicht aus besonderer Energie, sondern weil ich ja doch nichts Besseres mit meiner Zeit anzufangen vermag. –“ (ZA II, 594-595, 27.09.1944).
Trotz der expliziten Gefährdung anderer Menschen durch die Tagebücher, hält er ungebremst an seinem Schreibwillen fest (vgl. dazu auch ZA II, 348, 05.04.1943). Grund dafür ist nicht so sehr ein heldenhaftes Verantwortungsbewusstsein gegenüber einer Nachwelt, welche von den Grausamkeiten des „Dritten Reichs“ erfahren soll, und auch nicht „verbrecherische Eitelkeit“, sondern vielmehr in erster Linie die Sehnsucht nach dem Schreiben als solchem. Lebenslang hat Klemperer sich über seine Veröffentlichungen Selbstbestätigung verschafft. Seit 1933 – also seit zwölf Jahren – schreibt er ohne Publikum. Deshalb setzt er all seine Hoffnungen in seine privaten Aufzeichnungen und den Plan einer Veröffentlichung. Der Text wird weiter existieren, wenn er selbst tot ist. Allerdings genügt Klemperer der abstrakte Gedanke nicht, in der Textproduktion weiterzuleben. Seine schon in den zwanziger Jahren artikulierte Angst vor dem „Nichts“, das nach dem Tod zu erwarten sei, konterkariert die Hoffnung auf ein „Bleiben“ durch das Diarium. Dennoch ist nicht der Abbruch der Aufzeichnungen die Konsequenz aus diesen Überlegungen, sondern eine ironische Rechtfertigung des Füllens einer leeren Seite, ehe das Tagebuch nach Pirna gebracht werden soll. Damit umgeht Klemperer die letzte Konsequenz seiner Furcht vor dem „Nichts“ und rückt die Möglichkeit, mit dem Schreiben Zeit zu überbrücken in den Vordergrund: Weil er ohnehin nichts Besseres zu tun hat, kann er ebenso gut weiter Tagebuch führen. Diese Aussage wirkt zunächst irritierend – insbesondere angesichts der Gefahr, die Klemperer nicht allein für sich, sondern für sein gesamtes Umfeld eingeht. Grund für diese scheinbare Banalisierung des Tagebuchschrei-
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bens ist allerdings ein nirgends artikulierter innerer Zwang, dem der Diarist folgt: Es steht nicht mehr zur Diskussion, ob weiter notiert werden soll oder nicht, ob der Gefahr Rechnung getragen werden muss oder nicht. Vielmehr ist das Schreiben selbst zentral. Klemperer braucht diese Tätigkeit, um sich seiner selbst zu vergewissern.155 Das grundlegende Verhaltensmuster im Tagebuch bleibt das aufmerksame Beobachten der Umgebung unter der Prämisse, möglichst lückenlos darüber zu berichten. Dadurch wird das Schreiben zu einem Ausdruck von Klemperers Überlebenswillen. Egal in welcher Lage er sich befindet, wie die Lebensbedingungen und die äußeren Entwicklungen sich darstellen – alles wird im Tagebuch in einen produktiven Prozess umgewandelt. Denn er ist weiterhin nicht bereit, lediglich auf die jeweiligen Gegebenheiten zu reagieren, sondern er versucht mit Hilfe seiner Tagebuchaufzeichnungen zu agieren, indem er beobachtet, berichtet, bewahrt. Das Tagebuch ist nicht allein sein Rückzugspunkt, sondern seine Möglichkeit, weiter handlungsfähig zu bleiben.156 Auch in Situationen, in denen die Verzweiflung Klemperer fast überwältigt, hält er sich an seinen Aufzeichnungen aufrecht. Beispielhaft dafür ist ein Eintrag vom 10. Juni 1943. Er beginnt zunächst mit ausführlichen LTIAnalysen (vgl. dazu ZA II, 392, 1., 2., 3. Stelle, 10.06.1943). Diese werden durch zwei Bindestriche unterbrochen. In einem neuen Absatz erklärt Klemperer: „Es wurde mir schwer, diese Notizen ruhig zu Ende zu führen. Um sieben kam Eva aus der Stadt, wo sie bei Hirschels Kartoffeln holen gewollt. Die Gemeinde ist versiegelt. In Hirschels Privatwohnung meldet sich niemand. – Hat man die letzten Nichtmischehelinge abgeschoben? Was wird aus uns? Wenn ich heute zur Nachtschicht gehe, komme ich noch einmal zurück? –“ (ZA II, 392, 10.06.1943).
Die Nachricht von der vermutlichen Deportation der letzten Juden, die nicht durch einen „arischen“ Ehepartner geschützt sind, erschüttert Klemperer schwer. Dies erklärt sich einerseits daraus, dass er sich den Hirschels verbunden fühlt, andererseits sieht er sich nun direkt exponiert und gefährdet.
ϭϱϱ Selbst die wiederholte Aufforderung von Freunden, das Tagebuchschreiben zu unterlassen, weil es das Leben kosten kann, ignoriert Klemperer. Vielmehr vermerkt er die Warnungen als Ausdruck der Lebensumstände, unter denen er leben muss: „Frau Winde [...] beschwor mich förmlich, kein Manuskript im Hause zu halten, nichts schriftlich zu fixieren. –“ (ZA II, 406, 21.07.1943). ϭϱϲ Das artikuliert Klemperer immer wieder in Eintragungen wie der folgenden: „Die beiden Brillen übereinander, die Erschöpfung, die immer schlechtere Beköstigung, die Verkalkung ... che so io? Trotzdem, im Laufe des Tages raffe ich mich, und etwas wird immer geschafft. Was wird geschafft? – Papiersoldaten, Dänen, Russen, Indianer, alles durcheinander, wie es der Zufall ergibt. Und doch mag einmal etwas daraus werden – ich bin ja immer von dem einen Gedanken besessen und finde in allem Bezug auf ihn“ (ZA II, 537, 28.06.1944).
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Seine abschließenden Fragen sind nicht rhetorisch. Er hat ernsthafte Bedenken, den nächsten Tag noch in Dresden zu erleben. Dies äußert sich im letzten Teil des Tagebucheintrags, in dem Klemperer schließlich vermerkt: „Um alles aufzuholen – wer weiß, ob ich zu weiteren Notizen komme –: Frau Steinitz erzählte E., sie habe in einem befreundeten Laden zwei Scheuertücher gegen eine Unterhose ihres Mannes erworben. Für Wäsche sei ‚allesʻ zu haben“ (ZA II, 392, 4. Stelle, 10.06.1943).
Klemperer notiert diese letzte Information des Eintrags vom 10. Juni unter dem Eindruck, eventuell nie wieder etwas aufschreiben zu können.157 Das scheinbar banale Tauschgeschäft Unterhose gegen Scheuertücher ist es in seinen Augen wert, notiert zu werden. Im Falle seiner Deportation oder seines Todes soll auch diese Beobachtung „bleiben“. Denn sie ist Teil des großen Schreibziels, das Klemperer verfolgt: Er möchte nicht nur seine eigenen beengten Lebensbedingungen darstellen, sondern vor allem Zeugnis von den Zeitumständen ablegen.
ϭϱϳ Eine andere Situation, in der Klemperer glaubt, zum letzten Mal Tagebuch zu schreiben, ergibt sich, als er auf die Gestapo bestellt wird. Schon das Eintreffen der entsprechenden Ladung kommentiert er erschüttert: „Seit Sonnabend nachmittag den Tod vor Augen. Karte der Gestapo: ‚Aufgefordert, sich Montag den 2.8.43, 7.30 Uhr Bismarckstraße 16, 3. Stockwerk, Zimmer Nr. 68 einzufinden. Sachbetreff: Befragung. Lagergut betreffend. Transport- und Lagerhaus AGʻ“ (ZA II, 413, 01.08.43). Am 1. August erklärt Klemperer: „Ich habe über die Angst der Kreatur hinweggearbeitet. [...] / Vielleicht ist dies meine letzte Eintragung, vielleicht ist alles verloren, was ich in diesen Jahren gearbeitet habe“ (ZA II, 413, 01.08.1943). Die Angst, alles Erarbeitete könnte vergeblich gewesen sein, belastet Klemperer schwer. Doch das Schreiben ist für ihn weiterhin zentral. Das wird auch daran deutlich, dass in einem am 29. Juli 1943 erstellten Exzerpt zu Artur Dinters Roman „Die Sünde wider das Blut“ in Tagebuchmanier notiert wird: „Blasewitz 1./VIII 43. Vielleicht meine letzte Notiz – morgen Gestapo“ (Mscr. Dresd. App. 2003, 1131). Er thematisiert damit den möglichen Abschied vom Leben nicht allein im Tagebuch, sondern sogar in den Arbeitsmaterialien. – Als Klemperer nahezu unbehelligt von der Gestapo zurückkehrt, konzentriert er sich sofort wieder darauf, neues Material im Tagebuch zu vermerken. Er berichtet nicht nur, wie sein Gang zur SS verlaufen ist, sondern erklärt: „Natürlich sehr erschöpft von Weg u. Aufregung, dazu von übermäßiger Hitze u. einem unangenehmen Zahnguaio, wahrscheinlich einer Wurzelreizung. Trotzdem kleine Ausbeute des Tages: das Struckheft, das uns Lewinsky gestern brachte, u. das ich jetzt gleich zusammen mit den ebenfalls von L. stammenden Gedichten Julius Babs notieren möchte“ (ZA II, 415, 1. Stelle, 02.08.1943).
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Es geht nicht allein darum, die Person Victor Klemperer unsterblich zu machen, sondern darum, ein Bild des Lebens von Juden im „Dritten Reich“ zu zeichnen und zu bewahren. Nicht nur die eigene Existenz wird dadurch im Diarium konserviert. Vielmehr gelingt es Klemperer – ausgehend von seiner subjektiven Perspektive, die bereits die Auswahl der Themen für die Notate bestimmt – die Alltagsgeschichte der Menschen aufzuschreiben, die mit ihm als Juden in Dresden leben. Entgegen der frühen Tagebücher, die ausschließlich der Vermittlung der privaten Lebensperspektive dienen sollen, verändert Klemperer dadurch die Gesamtausrichtung seiner Aufzeichnungen entscheidend. Nicht mehr seine Person steht im Zentrum – selbst in einer Situation, in der er konkret um sein Leben bangt – sondern die Aufgabe, als Berichterstatter alles aufzuschreiben, was ihm zu Ohren kommt, um es zu bewahren. Es mag banal scheinen, als möglicherweise letzten Satz in seinem Tagebuch zu notieren, dass „Wäsche“ das ideale Tauschmittel im kriegsgebeutelten „Dritten Reich“ ist. Doch diese Information entspricht der gegenwärtigen Aufgabe des Tagebuchs. Auch die Tatsache, dass Klemperer bereit ist, als letzte Aufzeichnung das Tauschgeschäft zu thematisieren und nicht etwa eine Reflexion über die eigene Existenz oder seine Todesangst, ist Ausdruck dieser Auffassung. Denn noch stärker als in den früheren Jahren des „Dritten Reichs“ rückt das Bewusstsein in den Vordergrund, Außergewöhnliches und Bewahrenswertes zu erleben. Dabei zielt Klemperer weiterhin nicht darauf ab, die historischen Ereignisse chronologisch zu notieren, sondern vielmehr ein „Gefühl“ von der lebensbedrohenden Situation der Juden in Dresden zu vermitteln: „Dieses Gefühl, die nackte Todesangst vor dem Erwürgtwerden im Dunkeln, das muß ich im Curriculum einmal festhalten; das ist auch das Besondere dieses letzten Jahres: Man rechnet nicht mehr mit Gefängnis oder mit Prügeln, sondern plattweg bei allem und jedem mit dem Tod. –“ (ZA II, 377, 11.05.1943).
Jedes im Tagebuch notierte Ereignis – egal ob Beschreibungen von eigenen Erlebnissen, Darstellungen von Menschen oder LTI- und Lektüre-Notizen – wird durch die Todesangst charakterisiert. Deshalb soll sie als zentrales Gefühl ins „Curriculum“ aufgenommen werden. Dabei wird die Frage „que sait-il?“ nicht mehr gestellt.158 Vielmehr akzeptiert Klemperer die Gegeben-
ϭϱϴ Allein Reflexionen über die Möglichkeiten der Wahrnehmung notiert Klemperer ab und an im Tagebuch. So kommentiert er die Beschreibung einer Maschine in der Fabrik, in der er zur Zwangsarbeit eingesetzt wird: „[...] (wieder einmal eine Unmöglichkeit für mich: die polygone Form des inneren Mischbehälters mit seinen das Mischen fördernden Querhölzern exakt zu beschreiben!) [...]“ (ZA II, 364, 29.04.1943). Die Verzweiflung über das Unerreichbare im Beschreiben fehlt jedoch in den Diarien der letzten Jahre des „Dritten Reichs“.
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heiten. So kommentiert er notierte Gerüchte über das Attentat auf Hitler mit den Worten: „Der Miterlebende weiß nichts. Ich halte fest: [...]“ (ZA II, 548, 21.07.1944). Nicht mehr das Hinterfragen dessen, was er wahrnimmt, steht im Vordergrund. Wichtig ist angesichts der konkreten Lebensbedrohung ausschließlich die Verzeichnung der Ereignisse. Deshalb bezeichnet Klemperer seinen Schreibauftrag nicht als Chronistentätigkeit,159 sondern erklärt: „Die Stimmung dieser Tage festhalten, wenn man sie überlebt!“ (ZA II, 378, 2. Stelle, 14.05.1943). Grammatikalisch ist dieser Satz nicht stimmig. Der in der Möglichkeitsform gehaltene Nebensatz verfremdet gezielt die ursprüngliche Aufforderung: Mit jedem Notat, das Klemperer im Tagebuch verzeichnet, hält er bereits „[d]ie Stimmung dieser Tage“ fest. Sein eigenes Überleben ist keine notwendige Bedingung für das Bewahren der Aufzeichnungen. Trotzdem knüpft er seine Hoffnung, die bizarren Lebensbedingungen festhalten zu können, aus der er die Kraft zum fortgesetzten Schreiben schöpft, an sein persönliches Weiterleben. Dementsprechend weist sich Klemperer eine wichtige Funktion innerhalb seines privaten Schreibprojektes zu. Nur sein Überleben garantiert aus seiner Sicht den Erhalt einer ganz spezifischen Beobachterposition. Solange er lebt, kann er – der sich der Außergewöhnlichkeit der Lebenssituation im „Dritten Reich“ bewusst ist – auch weiterhin daran arbeiten, „die Stimmung“ festzuhalten. Das artikuliert er auch, als er konstatiert: „Die meisten Menschen zehren von einem Erlebnis, einer Phase ihres Lebens [...] Mein Leben ist so unendlich viel reicher. Aber es geht ja nun wohl zur Neige“ (ZA II, 465, 31.12.1943). Obwohl – oder gerade weil – Klemperer den Eindruck hat, dass sein Tod kurz bevorsteht, betont er die Reichhaltigkeit seines Lebens. Er erkennt, dass er mehr erlebt hat als viele andere. Das erklärt sich zunächst aus der Tatsache, dass er mit dem Kaiserreich, der Weimarer Republik und dem „Dritten Reich“ bereits drei sehr unterschiedliche politische und auch gesellschaftliche Systeme durchlebte. Aber auch seine Fähigkeiten des Beobachtens und schriftlichen Erfassens der Ereignisse zeichnen ihn aus. Im Gegensatz zu vielen anderen Zeitgenossen versteht sich Klemperer bewusst als Zeuge seiner Alltagsgeschichte. Er durchlebt die Zeit nicht nur, sondern bemüht sich mit Hilfe seines Tagebuchs um die Charakterisierung ihrer Spezifika.160 Das wird in einem Gespräch zwischen Klemperer und einem Mitbewohner aus dem dritten „Judenhaus“ deutlich:
ϭϱϵ Klemperer selbst distanziert sich – im Gegensatz zu seinen späteren Rezensenten (vgl. Kapitel III.2) – von einem Selbstverständnis als Chronist oder auch Kulturschreiber des „Dritten Reichs“, weil ihm bewusst ist: „Es ist nicht leicht, allgemeine Notizen zu machen, Beobachter, Kulturkritiker zu bleiben, wenn man selber so schwer getroffen ist“ (ZA II, 446, 3. Stelle, 16.10.1943). ϭϲϬ Dabei verwendet Klemperer nach wie vor eine sehr bildhafte und ausdrucksstarke Erzählweise. Er möchte nicht nur sachlich erzählen, was er beobachtet,
342 | SCHREIBEN EIN L EBEN LANG – V ICTOR K LEMPERERS T AGEBÜCHER „Gespräch mit Stühler senior: ‚Ich will Zeugnis ablegen.ʻ – ‚Was Sie schreiben, ist alles bekannt, und die großen Sachen, Kiew, Minsk etc., kennen Sie nicht.ʻ – ‚Es kommt nicht auf die großen Sachen an, sondern auf den Alltag der Tyrannei, der vergessen wird. Tausend Mückenstiche sind schlimmer als ein Schlag auf den Kopf. Ich beobachte, notiere die Mückenstiche ...ʻ Stühler, eine Weile später: ‚Ich habe mal gelesen, die Angst vor einer Sache ist immer schlimmer als das Ereignis selber. Wie sehr graute mir vor der Haussuchung. Und als die Gestapo kam, war ich ganz kalt und trotzig. Und wie uns das Essen hinterher geschmeckt hat! All die guten Sachen, die wir versteckt und die sie nicht gefunden hatten.ʻ – ‚Sehen Sie, das161 notiere ich!ʻ“ (ZA II, 503, 08.04.1944).
Klemperer verweist mit dieser Gesprächswiedergabe auf ein Konzept, dass er sich schrittweise in den zwanziger Jahren angeeignet hat. Er fragte sich damals, ob er nicht auch die „kleinen Eindrücke“ neben den „großen Dingen“ in seine Aufzeichnungen aufnehmen solle (vgl. LS I, 314-315, 26.06.1920). Nun konzentriert er sich bewusst auf die „Mückenstiche“ – die kleinen Alltagserlebnisse der Juden, welche von der Geschichtsschreibung nicht erfasst werden können. Er muss den Sinn dieser Methode nicht mehr in Frage stellen. Er zweifelt nicht mehr an seinem – selbst erteilten – Auftrag, sondern führt ihn gezielt aus.
sondern dies auch einordnen in Zusammenhänge, die seiner subjektiven Perspektive entspringen. Das resultiert aus Klemperers beruflicher Laufbahn als Literaturwissenschaftler und Schriftsteller. Sein Blick auf die Ereignisse ist analytisch, aber auch sensibel für das „Romanhafte“. – So notiert er beispielsweise einen Besuch bei Freunden, bei dem er einer ihm unbekannten jüdischen Dame begegnet. Er führt mit ihr ein Gespräch über Religion. Dabei greift er die Krankheit Krebs als Beispiel auf, um damit in Frage zu stellen, inwieweit das Böse als Teil göttlicher Wirklichkeit gelten könne: „In einem Roman hätte ich das nicht sagen dürfen, niemand würde mir in einem Roman die Ahnungslosigkeit, das Zufällige dieses Beispiels glauben. Frau Büttner antwortete mir nämlich: Sie müsse sich daran klammern, daß das Leiden ihres Mannes dem Reich der Unwirklichkeit angehöre. [...] In früheren Lebensphasen hätte ich aus Arierkrebs und Judenstern eine Novelle zu machen versucht; jetzt will ich den Fall mindestens für das Curriculum im Auge behalten, er ist schauerlich grotesk und zeitbeleuchtend“ (ZA II, 360-361, 26.04.1943). Frau Büttner ist als Jüdin abhängig vom Überleben ihres „arischen“, an Krebs erkrankten Ehemanns. Diese Konstellation inspiriert Klemperer dazu, über eine Novelle nachzudenken. Zwar schließt er von vornherein aus, eine solche zu schreiben. Doch die Idee für die literarische Umsetzung dieses Erlebnisses äußert er (vgl. dazu auch ZA II, 478, 23.01.1944). ϭϲϭ In diesem Ausnahmefall folgt die Zitierung nicht dem Druck von Walter Nowojski. Im Originalmanuskript ist der Artikel „das“ unterstrichen (vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 138 oder Klemperer 2007, 3527).
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Klemperer hadert auch nicht mehr mit sich in dem Bewusstsein, nur begrenzt wahrnehmen zu können, was um ihn herum geschieht. Zwar notiert er nach wie vor gelegentlich das Empfinden, von „erlebter Geschichte“ nichts zu wissen (vgl. z.B.: ZA II, 582, 14.09.1944; ZA II, 397, 22.06.1943), allerdings stellt er klar, dass er sich ausschließlich auf die Beobachtungen in seinem direkten Umfeld konzentrieren möchte. Er erlebt den Alltag der ghettoisierten Juden Dresdens, und will diesen beschreiben. Andere Lebensbereiche im „Dritten Reich“, zum Beispiel das Leben von Menschen, die im Untergrund tätig sind162 oder auch von aktiven Nationalsozialisten, kann und will er nicht erfassen. Er beschreibt allein das, was er selbst erlebt. Er sieht sich nicht als allgemeiner Zeitzeuge des Schicksals der Juden in Deutschland. Denn einen großen Teil ihrer Leiden erlebt er selbst nicht.163 Auch die Funktion des Schreibens selbst wandelt sich durch die veränderte Zielsetzung der Tagebuchführung. Der Schreibauftrag wird zentral. Aussagen wie: „Ich will bis zum letzten Augenblick weiter beobachten, notieren, studieren, Angst hilft nichts, und alles ist Schicksal“ (ZA II, 550, 21.07.1944) oder „Weiternotieren bis zum letzten: [...]“ (ZA II, 655, 09.02.1945) durchziehen die Eintragungen der letzten Jahre des „Dritten Reichs. Unter allen Umständen hält Klemperer an seinem Diarium fest und verdrängt durch seine Funktion als Beobachter seine ständige Todesangst. Die oben zitierte Aussage, nur zu schreiben, „weil ich ja doch nichts Besseres mit meiner Zeit anzufangen vermag“, wird dadurch langfristig widerlegt. Denn die Aufzeichnungen haben existenzielle Bedeutung für Klemperer. Sie ersetzen seine wissenschaftlichen Arbeiten. Hatte er sich früher über den Erfolg seiner romanistischen Publikationen definiert, so nutzt er nun sein Tagebuch, um das Gefühl zu behalten, geistig tätig zu sein. Das geht so weit, dass er selbst Tage starker Niedergeschlagenheit mit Hilfe des Tagebuchs durchstehen kann: „Gestriger Vormittag bedrückt durch Evas Zustand, ausgefüllt durch Tagebuch“ (ZA II, 478, 24.01.1944).
ϭϲϮ Zu diesem Bereich hat Klemperer als Jude unter ständiger Aufsicht der Gestapo kaum Zugang. Nur durch den Anwalt, der sein Haus verwaltet, solange er nicht darin wohnen darf, hat er Kontakte zum Untergrund. Dies wird allerdings ausführlich und begeistert im Tagebuch beschrieben. An dem Tag, an dem Klemperer zum ersten Mal feststellt, welche Verbindungen der Anwalt hat, vermerkt er: „Ich muß den gestrigen Tag, Sonnabend, 13.2.1943, als ganz besonders wichtig herausheben. Er brachte mir das erste Zeichen, und fast eine Gewißheit, daß die von mir für unmöglich gehaltene Revolution von innen her im Anzug ist“ (ZA II, 328, 14.02.1943). ϭϲϯ Beispielsweise kann Klemperer auch in keiner Weise das Schicksal der deportierten Juden in seinen Aufzeichnungen erfassen. Zwar berichtet er hin und wieder über Gerüchte aus den Konzentrationslagern, doch letztlich muss er konstatieren: „Buchenwald wird von andern geschildert werden; ich will mich an meine Erlebnisse halten“ (ZA II, 314, 18.01.1943).
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Klemperer wird durch die Außenwelt des „Dritten Reichs“ gezwungen, sich selbst neu zu definieren. Er ist nicht mehr der anerkannte und respektierte Herr Professor, der sich auf seine Eitelkeiten und Empfindlichkeiten zurückziehen kann, sondern Zwangsarbeiter, der in „Judenhäusern“ lebt. Nicht allein äußerlich muss er sich diesen Veränderungen anpassen. Auch seine Einstellung wandelt sich.164 Die Bedingungen im „Dritten Reich“ haben sowohl Einfluss auf seine Selbstbetrachtung als auch auf sein Verständnis des Schreibens als Instrument der Repräsentation. Dies wird besonders deutlich in einer Eintragung, die Klemperers direkte Reaktion auf die Mitteilung wiedergibt, er habe einen Schlaganfall gehabt: „Was macht der zweite Schlaganfall aus mir? Einen Haufen Blödsinn im beschissenen Bett wie aus Grete, wie aus Vater? Soll sich Eva vor mir ekeln und mit mir plagen? Aber ich habe kein Veronal, ich habe keinen Mut, und ich muß ja das 3. Reich zu überleben suchen, damit Evas Witwenpension sichergestellt wird. – Die Arbeit von reichlichen zehn Jahren ist umsonst: das 18ième, das Curriculum, die LTI – nichts wird fertig, nichts wird erscheinen. Vanitatum vanitas, aber doch sehr
ϭϲϰ Das wird bei den Vorbereitungen zum Umzug in das dritte „Judenhaus“ deutlich: „Ich reinigte die Brettchen meines feu Aktenschrankes für eigene Drucksachen. Wie stolz war ich in den Jahren 1905-1912, als er sich füllte. Ich glaubte, diese Aufsätze enthielten meine Dauer. Makulatur! Mir selbst entfallen. Ist es anders mit den Büchern, die ich danach schrieb? Der ‚berühmteʻ Romanist ist jetzt Fabrikarbeiter, nein ‚Hilfsarbeiterʻ auf der Steuerkarte. – In meinem Exemplar von Vosslers ‚Lafontainʻ steht: ‚zum 13.12.1919. Tag meiner Berufung nach Dresden.ʻ Am 13.12.1943 werde ich ins jüdische Gemeindehaus ‚umgesiedeltʻ“ (ZA II, 458-459, 13.12.1943). Klemperer stilisiert die Parallele zwischen dem 13. Dezember 1919 und dem 13. Dezember 1943 als Symbol für die Vergänglichkeit von Ruhm und Ehre. – Derartige Vergleiche werden mehrfach im Tagebuch notiert, wenn eine Veränderung der gegenwärtigen Situation auf ein Erlebnis in der Vergangenheit verweist. Mit dieser Methode gelingt es Klemperer, sein Leben in überschaubare Phasen einzuteilen. Insbesondere bei geschichtlichen Ereignissen, die in eine Parallele zu privaten Lebensentwicklungen gebracht werden, koppelt er sein individuelles Leben an die „großen“ Ereignisse. Dadurch wird es ihm leichter, sich als Person in einen größeren historischen Gesamtzusammenhang einzuordnen. So fasst er als Zwischenresümee zur Kriegsentwicklung drei entscheidende Veränderungen zusammen: „3.9.39 Krieg mit Frkr. u. Engl. 3.9.42 unsere dritte Kriegsphase: Lothringer Weg. 3.9.43 Italien capituliert“ (ZA II, 424, 2. Stelle, 09.09.1943). Drei Ereignisse, die Klemperers Existenz direkt betreffen, werden in eine Zeitreihe gestellt. Damit ordnet er sich in den historischen Ereignishorizont ein und betont gleichzeitig, welche Daten für seine private Lebenssituation entscheidende Bedeutung haben. Sowohl der Kriegsausbruch 1939 als auch die Kapitulation Italiens 1943 schüren seine Hoffnung auf ein baldiges Ende seiner beengten und unterdrückten Lebensverhältnisse im „Dritten Reich“.
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bitter. Vielleicht taugt auch schon nichts mehr von alledem – was kann ein Verkalkter produzieren, was beurteilen? Ich will aber, um einen Halt zu haben, genauso weiterarbeiten wie bisher. Vielleicht geschieht ein Wunder. Und wenn nicht – irgendwie muß ich doch über den Rest der Zeit wegkommen“ (ZA II, 512, 06.05.1944).
In der Weimarer Republik beklagt Klemperer ständig seinen bevorstehenden Tod. Nun lebt er in konkreter Todesbedrohung durch die Gestapo und seine angeschlagene Gesundheit. Aber er spricht das Thema Sterben nicht einmal direkt an. Vielmehr konstatiert er, er müsse – zum Wohle seiner Frau – das „Dritte Reich“ überleben. Am ausführlichsten befasst er sich mit der Zukunft seiner verschiedenen Buchprojekte, die als Fragmente und Notizsammlungen im Tagebuch ohne seine Weiterbearbeitung geringe Chancen auf eine Veröffentlichung haben. Dabei konfrontiert er sich mit der Möglichkeit, dass die Aufzeichnungen wertlos sein könnten, da sie veraltet sind.165 Die Konsequenz aus diesen Überlegungen ist aber nicht das Abbrechen der Arbeit. Vielmehr zieht sich Klemperer erneut auf das Argument zurück, da er sonst nichts Besseres zu tun habe, könne er auch weiter schreiben. Denn die Aufzeichnungen bieten einen „Halt“, der es Klemperer ermöglicht, seiner aufkommenden Verzweiflung und Todesangst zu begegnen. Für die Auseinandersetzung mit der existenziellen Bedeutung der Tagebücher für sein Selbstbewusstsein ist kein Platz mehr. Die Lebenssituation ist rundum bedrohlich – sowohl bedingt durch das „Dritte Reich“ als auch durch die gesundheitliche Verfassung. Das Weiterarbeiten und Weiterschreiben ist der Ausweg aus beidem. Deshalb sind nicht die wiederholten Klagen um die mögliche Vergeblichkeit der Aufzeichnungen entscheidend. Vielmehr prägt die Tatsache, dass Klemperer trotz aller geäußerten und im Tagebuch fixierten Zweifel weiter schreibt, seine Grundeinstellung. Zwar fürchtet er, seine geplanten Buchprojekte nie umsetzen zu können und lässt dies gipfeln in dem Ausruf: „Meine armen Papiersoldaten des Dritten Reichs! –“ (ZA II, 521, 24.05.1944). Doch letztlich klammert er sich an die Hoffnung, dass sich sein täglicher Fleiß rentieren wird.
ϭϲϱ Der Gedanke, dass die ganzen Aufzeichnungen vergeblich sein könnten, verlässt Klemperer nicht mehr: „Ich arbeite krampfhaft genau so weiter, als sei ich meiner Zukunft noch immer gewiß; ich bin schon ganz daran gewöhnt, ein Auge zu schließen, aber es kommen immer wieder Stunden, wo mich Schmerzen, Blendung, Sehstörung furchtbar deprimieren. Vielleicht, wahrscheinlich ist all dies Notieren umsonst. Vielleicht sind auch die Notizen selber schon verkalkte Nichtigkeiten“ (ZA II, 514, 1. Stelle, nicht gedruckter Eintrag vom 10.05.1944). Direkt im Anschluss an diese Überlegungen notiert Klemperer eine ausführliche Lektüre-Analyse.
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Darin liegt der Unterschied zur früheren Einstellung Klemperers: Er hat gelernt, auch ohne konkrete Anerkennung von außen seine Arbeit fortzuführen, und betont dennoch deren existenzielle Bedeutung für sein Selbstverständnis. Deshalb liest und notiert er kontinuierlich weiter für seine „LTI“. Falls er noch einmal die Gelegenheit zum Publizieren bekommen sollte, hat diese Buchidee oberste Priorität. Denn sie ermöglicht eine Kombination der sprachanalytischen und soziologischen Beobachtungen Klemperers (vgl. dazu z.B.: ZA II, 369, 03.05.1943). Dabei sind die Arbeitsbedingungen mehr als schwierig. Klemperer ist gezwungen, sehr unsystematisch jeweils die Literatur zu nutzen, die ihm durch Zufall in die Hände fällt. Jedoch sieht er das nicht als Nachteil, sondern erklärt, „aus der Not eine Tugend“ zu machen, indem er „in den letzten Jahrzehnten versäumte Allgemeinbildung nachholen“ wolle (ZA II, 576, 05.09.1944).166 Der betonte Anspruch an sich selbst, neues Wissen zu erarbeiten, führt zur Anfertigung einer großen Materialsammlung zum Thema LTI im Tagebuch. Schon seit Beginn der Tagebuchführung auf losen Blättern entwickelt Klemperer einen Großteil seiner Lektüreexzerpte nicht mehr extern, sondern innerhalb des Diariums. Dies verstärkt er in Bezug auf seine LTI-Recherchen.167 Allerdings grenzt die erzwungene Beschränkung auf die
ϭϲϲ An anderer Stelle schreibt Klemperer: „Aus der Not eine Tugend machend sage ich mir: sobald ich wieder an die Staatsbibliothek heran kann, sobald ich ein bißchen nur in die Zukunft zu sehen vermag, werde ich mich bestimmt auf ein Thema, eine Aufgabe stürzen, einengen, concentrieren; also ist es gut, wenn ich jetzt in dieser letzten Wartezeit noch etwas für meine Allgemeinbildung tue, ein bißchen die durch die Fachsimpelei zweier Jahrzehnte gerissene Lücke stopfe, zu deutsch: lese was mir der Zufall vor die Schnauze führt“ (ZA II, 587, 1. Stelle, 18.09.1944). ϭϲϳ Beispielhaft deutlich wird dies anhand einiger Überlegungen zum Transfer einer Lektürenotiz in das Tagebuch: „Ich habe beschlossen die vor Wochen begonnenen, dann durch Dwingerblatt unterbrochenen, in den letzten unseligen Tagen immer vorgenommenen Notizen zu den Rathenaubriefen abzubrechen u. durch einen Überblick hier im Tgb. zu ersetzen. Gründe: ich würde andernfalls unverhältnismäßig viel Zeit gebrauchen u. eine unübersichtliche Menge von Einzelnotizen aufschreiben, die sich wahrscheinlich zum großen Teil als unnötig erweisen dürften, sobald ich ein Werk Rathenaus u. seine Biographie kennen werde. (Der eigentliche Grund des Abbrechens ist natürlich mangelnde Frische)“ (ZA II, 405, 4. Stelle, 17.07.1943). Das mehrteilige Exzerpt im Tagebuch hält zunächst die inhaltlichen Hauptpunkte der Rathenau-Briefe fest (vgl. ZA II, 406, 2. Stelle, 19.07.1943). Einige Tage später gibt Klemperer das Projekt scheinbar endgültig auf. Er vermerkt im Tagebuch: „Bei dem ständigen Zeitmangel, den meine Schlafsucht extrem verschärft, muß ich die Rathenausache vorläufig ganz stoppen. Ich habe die Ziffernseiten zu den Briefen aufbewahrt, u. ich behalte auch wohl die Adressatennamen, unter denen das Wesentliche zu suchen ist. –“ (ZA II, 406, 3. Stelle, 21.07.1943). Im August macht er
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Tagebuchaufzeichnungen seine Arbeitsmethoden ein. Dementsprechend ist er immer häufiger unzufrieden mit seinen Arbeitsnotizen, weil sie ihm ungenügend und substanzlos erscheinen.168 Dennoch führt Klemperer die LTIBeobachtungen unbeirrt fort. Ebenso wie er für seine alltäglichen Notate wiederholt Zweifel und Rechtfertigungsargumentationen verzeichnet, praktiziert er dies auch für die Arbeitsaufzeichnungen. Die allgemeine Sehnsucht nach Arbeit und Schreiben bleibt dabei dauerhaftes Thema im Diarium.169
jedoch einen weiteren Versuch, „wenigstens das Judenthema aus den Rathenaubriefen zu excerpieren“ (ZA II, 417, 1. Stelle, 08.08.1943; vgl. dazu ZA II, 419, 1. Stelle, 15.08.1943 und das Exzerpt Mscr. Dresd. App. 2003, 1132 zu „Walther Rathenau: Briefe“, das vom 19. Juli bis 15. August 1943 datiert und aus drei handschriftlichen Blättern und zwei Notizzetteln besteht). ϭϲϴ Das äußert sich wiederholt in der Metapher der „Papiersoldaten“: „Gestern den ganzen Tag angestrengt u. heute sehr angestrengt bis jetzt, 2 h, an den Stresemannnotizen gesessen. Papiersoldaten. –“ (ZA II, 564, 1. Stelle, 19.08.1944). ϭϲϵ Exemplarisch zeigt sich dies in einem Eintrag, in dem Klemperer sein Manuskript zur französischen Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts diskutiert, das ihm zufällig in die Hände fällt: „Eine Weile musicierte Eva. Sie suchte nach Noten, u. dabei kam ein Duplikat meines 18ieme Bd II ans Licht. Es erschütterte mich sehr. All diese jahrelange mir fremdgewordene Arbeit umsonst. – Ich rettete mich in mein Fischmann-Excerpt, arbeitete mit zugekniffenem Auge, vertrieb alle Gedanken an die Sinnlosigkeit des Tuns. 63 Jahre beinahe, Angina, ein Auge mattgesetzt, endloser Krieg, von morgen ab wieder Tag um Tag die Fabrik, u. ich arbeite als sei noch Hoffnung ein Opus zu beenden. Sei es: 18ieme, Curriculum, LTI, an welchem von den dreien hänge ich mehr? / Heroismus, mein Arbeiten? Bloß Zeitvertreib u. Übertäubung“ (ZA II, 524, 2. Stelle, 29.05.1944). Klemperer sucht einen Ausweg aus seiner Erschütterung, indem er sich auf die gegenwärtige Lektüre-Arbeit zurückzieht. Dadurch entsteht ein Paradoxon: Seine eingeengte Lebenssituation hat sich seit der erzwungenen Unterbrechung der Literaturgeschichte eher verschlechtert. Wenn das „18ieme“ als Arbeitsprojekt „sinnlos“ wäre, müsste Klemperer auch die aktuelle Arbeit ähnlich bewerten. Diese Diskussion jedoch umgeht er, indem er zum wiederholten Mal seine Werke aufzählt, die zumindest fragmentarisch während des „Dritten Reichs“ entstanden sind. Er fragt sich, welcher dieser Texte ihm am meisten bedeutet. Eine Antwort versucht er jedoch nicht einmal. Vielmehr entwertet er seine gesamten Arbeiten, die er unter der nationalsozialistischen Diktatur schreibt, weil er ihnen „Heroismus“ abspricht. Er fragt nicht mehr, ob sein Schreiben „[b]loß Zeitvertreib u. Übertäubung“ sei, sondern er stellt das als gegebene Tatsache fest, ohne zu kommentieren, weshalb er dennoch weiter an den Schreibprojekten festhält.
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Zwischenergebnis 1943-1945 In der letzten Phase des „Dritten Reichs“ verschlechtern sich Klemperers Lebensbedingungen zunehmend, insbesondere durch die Zwangsarbeit in verschiedenen Fabriken. Dennoch hält er an der Fortführung seines Tagebuchs und seiner Arbeitslektüre für die „LTI“ fest. Weder die Gefahr, in die er sich und seine Umwelt durch das Schreiben bringt, noch das Risiko für die Aufzeichnungen durch die Gestapo und die zunehmenden Bombenangriffe auf Dresden halten Klemperer davon ab, möglichst regelmäßig und streng systematisiert die Notate fortzusetzen. Dabei verlagert sich das Gewicht der Aufzeichnungen weg von der eigenen Person hin zu einem allgemeinen Schreibauftrag des Zeugnisablegens vom Alltag der Dresdner Juden und speziell der eigenen Erfahrungen. Indirekt führt dies erneut zum Erhalt der Person des Tagebuchschreibers. Denn die Funktion des Zeitzeugen gibt Klemperer Kraft und hilft ihm, „durchzuhalten“.
E XKURS 8: F LUCHTBERICHT D RESDEN – B AYERN Die Flucht im Februar 1945 vor den Bombenangriffen auf Dresden hält Klemperer ebenso wie alle anderen Erlebnisse seines Lebens möglichst detailgenau fest. Dabei muss er das Problem lösen, keine regelmäßige Möglichkeit zum Schreiben zu haben. Er wechselt zeitweise fast täglich den Ort, führt kaum Papier und Schreibmaterial mit sich170 und ist mit konkreten existenziellen Fragen konfrontiert. Deswegen bleiben weder viel Zeit noch gedanklicher Raum, um aufzuschreiben, was sich gegenwärtig ereignet. Bedingt durch diesen Umstand entsteht ein Großteil der Darstellung über die Umstände der Flucht mit größerem Abstand von den Ereignissen. Dennoch handelt es sich nicht vollständig um einen rückblickenden Bericht, da Klemperer mehrfach ansetzt, und so verschiedene Einträge mit unterschiedlich zeitnaher Perspektive entstehen. Dadurch hebt sich der Fluchtbericht von den sonstigen Tagebucheintragungen ab. Seine Spezifik soll im Folgenden in einem Exkurs untersucht werden. Anhand des Materials, auf dem Klemperer seine Aufzeichnungen notiert, lässt sich nachvollziehen, dass die Beschreibung der Flucht von Dresden nach Bayern, des Aufenthalts dort und der Rückkehr in die Heimat in vier
ϭϳϬ Beispielsweise beschwert er sich während des Aufenthalts bei Agnes Scholze, das Schreiben falle schwer: „...qualvoll die Tinte, das Papier, die Feder aus dem Kolonialladen!...“ (ZA II, 682, 21.02.1945). Anhand des originalen Manuskripts lässt sich feststellen, dass zu diesem Zeitpunkt die Blätter nur einseitig beschrieben wurden, weil das Papier – Feldpost-Formulare – rückseitig mit Trockenkleber (wie auf Briefen) versehen ist (vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 138).
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Etappen entstand. Es existieren vier Textteile, die teilweise zwischenzeitlich an unterschiedlichen Stellen aufbewahrt wurden und die sich zudem, laut Datierung, in ihrer Entstehung partiell überschneiden:171 Tabelle 3: Textmaterial zum Fluchtbericht Tagebuchteil
Inhalte
Quelle
Teil 1
– Tagebuchbericht über die Bombennacht vom 13. Februar 1945 (13 Doppelblätter, nummeriert ά-υ), geschrieben in Piskowitz, beginnend am 19. Februar 1945 – parallel dazu reguläre Einträge bis zum 4. März 1945
Abschnitt 2 des Teils 1945a) von Mscr. Dresd. App. 2003, 138
Teil 2
– Tagebucheintragungen über die Reise nach Teil 1945b) von Falkenstein und den Alltag auf der Flucht (28 Mscr. Dresd. App. Blätter, nummeriert), geschrieben in Falkenstein 2003, 138 zwischen dem 7. März und dem 2. April 1945
Teil 3
– kurze rückblickende Berichte über die Reise Teil 1945c) von nach Oberbayern, beginnt mit dem 2. April Mscr. Dresd. App. 1945 abends in Falkenstein 2003, 138 – Tagebucheintragungen bis zum 25. Mai 1945 (insgesamt 20 Doppelblätter, nummeriert)
Teil 4
– Bericht über die Rückreise nach Dölzschen: Mscr. Dresd. App. „Rückreise Unterbernbach-Dresden 26. Mai – 2003, 139 10. Juni 1945“ (8 maschinenschriftliche DINA4-Blätter, nummeriert a-h) – Tagebucheintragungen vom 8. Juni 1945 bis zum 17. Juli 1945 (4 handschriftliche DIN-A5Blätter), entstanden auf der Reise und in Dresden
Am 20. Januar 1945 bringt Eva Klemperer das letzte Mal vor dem Bombenangriff auf Dresden Tagebuchteile nach Pirna. Als in der Nacht auf den 14. Februar das Bombardement beginnt, trägt Klemperer seine seit dem 20. Januar entstandenen Tagebuchaufzeichnungen in einer Aktentasche bei sich. Er flieht mit seiner Frau nach Piskowitz zur ehemaligen Haushaltshilfe Agnes Scholze, welche zunächst Unterschlupf gewährt. Dort schreibt er auf,
ϭϳϭ Die Einteilung in Teile stammt nicht von Klemperer, sondern wird zur leichteren Orientierung von der Autorin vorgenommen.
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was er in der Bombennacht erlebte172 und führt parallel dazu ein Alltagstagebuch. Diese täglichen Eintragungen fehlen jedoch in der Druckversion von Walter Nowojski weitgehend.173 In Piskowitz wird der bis zum 1. März 1945 entstandene Tagebuchteil versteckt, als die Klemperers weiter ziehen (Teil 1). Die bei einem Aufenthalt in Falkenstein geschriebenen Einträge174 lagern dort bei dem befreundeten Ehepaar Scherner, als die Flucht Richtung Süden fortgesetzt wird (Teil 2).175 Die weiteren Aufzeichnungen, die auf der Flucht nach Bayern und während des Aufenthalts dort entstehen, trägt Klemperer bei sich. Auch auf der beschwerlichen Rückreise nach Dresden im Juni 1945 führt er seine Notate mit sich und erweitert sie ständig (Teil 3). Zuhause beginnt er sofort, seine Reiseerlebnisse mit Hilfe einer Schreibmaschine in einem essayartigen Tagebuchtext festzuhalten (Teil 4, vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 139). Parallel dazu entstehen wiederum aktuelle Einträge.176
ϭϳϮ Einleitend erklärt Klemperer dazu: „Ich will nun damit beginnen auf einem Sonderblatt die Dresdener Schreckensnacht nachzutragen. Sie hat sich mir besonders eingeprägt, u. so habe ich damit gewartet, bis ich die übrigen Notizen beisammen hatte. An der Durchführung des Tgb. halte ich mich innerlich fest. Nur nicht leerlaufen, nur keine Zeit haben zur Todesangst! Manchmal spiele ich jetzt wirklich mit dem Gedanken der Vorsehung. Aber wieso bin ich besser als die 200 000 Toten? Und was haben die verschuldet?“ (ZA II, 686, 2. Stelle, 22.02.1945). ϭϳϯ Beispielsweise fehlen die Einträge vom 23. bis 25. Februar 1945 (vgl. ZA II, 686, 2. Stelle, 22.02.1945). ϭϳϰ Die in Falkenstein entstandenen Tagebucheintragungen wurden ebenfalls nur zu einem geringen Teil in der von Walter Nowojski herausgegebenen Druckausgabe der Tagebücher veröffentlicht. Dadurch kann die gedruckte Auswahl der Notizen kaum vermitteln, wie stark sich Klemperer in dieser Schreibphase an seine Aufzeichnungen klammert. Meist schreibt er mehrfach am Tag. Beispielsweise entstehen am 14. März 1945 drei Notate, die jeweils durch die Uhrzeit gekennzeichnet werden. Die Eintragungen von „7h. vor dem Frühstück“ und „9h. oben. Frieren beginnt.“ (ZA II, 700, 1. Stelle, 14.03.1945) fehlen jedoch im Druck. Nur die Notiz vom „Nachm. 15h.“ ist dort (allerdings ebenfalls gekürzt) vorhanden. Da die weggelassenen Aufzeichnungen teilweise über mehrere Seiten verlaufen, entgehen dem Leser der Druckausgabe der wahre Umfang der Tagebücher und die intensive Bindung Klemperers an diesen Text. ϭϳϱ Klemperer vermerkt im Tagebuch: „Ich deponiere dieses verräterische Tagebuch, die Blätter über genau vier Wochen Falkenstein, heute nachmittag im verschlossenen Kuvert als wissenschaftliches Manuskript bei Scherner auf Abruf, eventuellen Abruf“ (ZA II, 714, 02.04.1945). ϭϳϲ Die Überschneidung der Entstehungszeit der beiden Texte wird mehrfach angedeutet. So zum Beispiel, wenn Klemperer in Klammern anmerkt: „(Ich will in diesen Tagen wenigstens mein Tagebuch aufs Laufende bringen und mich ein bisschen im Tippen üben)“ (SZS I, 15, 21.06.1945).
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In allen vier Teilen beabsichtigt Klemperer, möglichst umfangreich die interessanten und wichtigen Ereignisse zu bewahren. Da er zeitweise jedoch durch die Umstände der Reise nicht zum Schreiben kommt, sieht er sich gezwungen, lange Passagen ausschließlich rückblickend zu erzählen.177 Währenddessen läuft jedoch das aktuelle Erleben fort und auch hier sieht Klemperer Anlass zu ausführlichen Tagebuchnotizen. Entsprechend rekonstruiert er jeweils berichtend Vergangenes, datiert die Entstehung dieser Texte jedoch mit dem gegenwärtigen Datum und erstellt parallel dazu am gleichen Tag einen Eintrag, in dem die aktuellen Geschehnisse vermerkt werden. Bereits während des Aufenthaltes in Piskowitz etabliert Klemperer diese Technik. Nochmals verstärkt nutzt er sie nach der Rückreise nach Dölzschen, als er den Bericht vervollständigt, gleichzeitig jedoch alle Erlebnisse nach der Heimkehr festhalten möchte. Das diesen Text umfassende Mscr. Dresd. App. 2003, 139 stellt damit eine Ausnahme in Klemperers gesamten Tagebuchkonvolut dar. Es besteht aus 24 DIN-A4-Blättern, die größtenteils maschinenschriftlich sind (vgl. z.B.: Mscr. Dresd. App. 2003, 139, Blatt 7). Die Aufzeichnungen tragen die Überschrift „Rückreise UnterbernbachDresden 26.05.-10.06.1945 – 17.07.1945“. Zusammengenommen bilden sie einen abgeschlossenen Tagebuchteil, der formal die Kriterien eines Berichts erfüllt.178 Sie stellen den umfangreichsten Part der Aufzeichnungen zur Flucht dar. Es handelt sich um einen Fließtext, in dem ausführlich einzelne Ereignisse in linearer Reihenfolge berichtet werden. Er ähnelt weniger einer Tagebuchaufzeichnung als vielmehr einem autobiographischen Bericht aus rückblickender Sicht. Teilweise fügt Klemperer direkte Verweise auf zusätz-
ϭϳϳ Dazu verwendet Klemperer erneut Stichpunktlisten auf externen Notizblättern oder er listet direkt Ereignisse auf, die später detailliert beschrieben werden sollen (vgl. z.B.: ZA II, 716, 13.04.1945; ZA II, 661, ungekennzeichnete Stelle, nicht gedruckter Eintrag vom 19.02.1945). Teilweise weist er konkret darauf hin, dass bestimmte Notizen noch genauer ausgeführt werden müssen: „Das sind unsere letzten Münchner Tage in Hauptlinien. Einzelheiten müssen nachgefüllt werden“ (ZA II, 795, 1. Stelle, 24.05.1945). Die Problematik, anhand der Stichpunkte alle wichtigen Zusammenhänge zu rekonstruieren bzw. Erlebnisse, zu denen keine Notiz möglich war, trotzdem zu erwähnen, thematisiert Klemperer ebenfalls mehrfach (vgl. ZA I, 810, 26.05.-10.06.1945; ZA II, 818, 26.05.-10.06.1945). ϭϳϴ Die herausragende Stellung des Fluchtberichts lässt sich auch daran erkennen, dass in der SLUB – und zwar nicht bei den Tagebuchaufzeichnungen! – zwei maschinenschriftliche Seiten aufbewahrt werden, auf denen die einzelnen Stationen der Flucht nach Bayern und der Rückkehr nach Dresden stichpunktartig zusammengefasst sind (Mscr. Dresd. App. 2003, 55). Anhand des Materials muss vermutet werden, dass diese Auflistung frühestens in den fünfziger Jahren entstand (dünnes, gelbes Durchschlagpapier). Möglicherweise fertigte Hadwig Klemperer sie.
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lich entstandene Tagebucheintragungen ein, die den Text ergänzen sollen. Diese Stellen fehlen allerdings in der Druckversion des Tagebuchs – vermutlich um Irritationen zu vermeiden. So vermerkt Klemperer beispielsweise: „Das Weitere habe ich handschriftlich festgehalten“ (ZA II, 825, 1. Stelle, 26.05.-10.06.1945) und: „Das habe ich am andern Morgen an Ort u. Stelle (im Garten des Gesellschaftshauses) notiert“ (ZA II, 825, 2. Stelle, 26.05.-10.06.1945). Noch konkreter schreibt er: „– – die Zerstörung dort und das Caféhaus und die Wanderung in den Vorort, wo wir übernachteten, habe ich beschrieben (Tgb. vom 8. und 9. Juni)“ (ZA II, 826, 1. Stelle, 26.05.-10.06.1945). Die erwähnten Tagebuchblätter liegen zwischen den maschinenschriftlichen Blättern (vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 139, Blatt α und β). Sie entstehen direkt an den im Maschinenskript beschriebenen Orten179 und können somit als konkrete Reflexion auf die erwähnte Situation aufgefasst werden. Klemperer kombiniert auf diese Weise das Tagebuchschreiben mit dem rückblickenden autobiographischen Bericht. Hinzu kommt, dass beispielsweise der Eintrag vom 9. Juni 1945 erst am 13. Juli in Dölzschen fertiggestellt werden kann. Dadurch bezieht die letztlich überlieferte Information sich auf drei verschiedene Textteile: den ereignisnah geschriebenen Tagebucheintrag vom 8. und 9. Juni, das nachgetragene Notat vom 13. Juli und den rückblickenden machinenschriftlichen, autobiographischen Bericht. Der Zusammenhang aller drei Texte vermittelt ein wesentlich umfangreicheres Bild von der Gesamtsituation des Schreibers, als es nur einer von ihnen gekonnt hätte.180 Es entsteht ein kaum durchschaubares Netz von unterschiedlichen Daten und Ereignissen. Klemperers sonstige systematische Vorgehensweise, die streng an der klaren Abfolge des Berichteten orientiert ist, wird – bedingt durch die Umstände – zurückgestellt. Diese Doppelung gibt es vereinzelt auch in früheren Tagebuchaufzeichnungen. Jedoch tritt das Phänomen im Frühjahr bis Sommer 1945 gehäuft auf.181
ϭϳϵ Klemperer kennzeichnet diese Orte präzise. Zum 8. Juni 1945 vermerkt er „Schönheider Hammer früh um ½ 5“ und „Gegen ½ 9 im leergewordenen Schlafsaal.“; zum 9. Juni schreibt er: „Sonnabend früh. Gasthof Neuebersdorf beim Bahnhof Hilbertsdorf, Chemnitz, 9. Juni 45.“ ϭϴϬ Zusätzlich verfasst Klemperer für den letzten Teil des Fluchtberichts durch die aktuellen Tagebucheinträge eine Art begleitende Beobachtung der Entstehung dieser Aufzeichnungen. Mehrfach vermerkt er, wann und unter welchen Umständen der Abschluss des Berichts zustande kommt (vgl. SZS I, 7, 19.06.1945; SZS I, 15, 21.06.1945; SZS I, 24, 23.06.1945; SZS I, 30, 30.06.1945; SZS I, 32, 01.07.1945). ϭϴϭ Der Einwand, „Zelle 89“ sei ebenfalls ein von der sonstigen Tagebuchführung abweichender Eintrag, ist zwar richtig. Doch kennzeichnet Klemperer diesen Bericht bewusst außerhalb der fortlaufenden Tagebuchaufzeichnungen. Er bezeichnet ihn sogar als eigenständigen Text, der auch ohne Tagebuch bestehen könne (vgl. dazu Exkurs 5: „Zelle 89“). Im Gegensatz dazu wird der Fluchtbe-
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In dem Moment, in dem die erzählte Zeit des Berichts mit der Gegenwart des Tagebuchschreibers zusammentrifft, wird eine eigenartige Überschneidung erzeugt. Sie erfolgt im direkten Anschluss an den viel zitierten letzten Satz der Druckausgabe der Tagebücher 1933-1945 „Am späteren Nachmittag stiegen wir nach Dölzschen hinauf“ (ZA II, 830, 26.05.-10.06.1945):182 „...und wie wir am ersten Abend u. nachts Kalaus Gäste waren, mit der Gewissheit, die nächste Nacht in unserm eigenen Hause zu schlafen, und wie uns nun in Dölzschen vom ersten Augenblick des Auftauchens an, also vom Sonntag d 10. Juni an das Märchen umgab, das alles habe ich notiert. Diesen Reisebericht habe ich endlich heute am 1. Juli zuende gebracht, vieles darin ist schon verschwommen, vieles eingetrocknet. [Anm. d. A.: handschriftlich hinzugefügt:] Die handschriftlichen Tgbblätter vom 8. u. 9. Juni gehören als Ergänzung zu diesem Maschinenbericht (bezeichnet mit α u. β)“ (ZA II, 830, ungekennzeichnete Stelle, 26.05.-10.06.1945).
Den Abschluss des autobiographischen Berichts – die Ankunft in der Heimat – hat Klemperer schon einige Zeit vorweggenommen, indem er fortlaufende Tagebuchaufzeichnungen dazu gemacht hat. Deshalb erübrigt es sich nun, diese Informationen nochmals zu geben. Der Vermerk, wann genau der Text über den Zeitraum vom 26. Mai bis 10. Juni 1945 abgeschlossen wurde, bildet deshalb dessen eigentliches Ende. Der Kommentar „vieles darin ist schon verschwommen, vieles eingetrocknet“ verweist auf die Grundproblematik des rückblickenden autobiographischen Berichts: Eine möglichst zeitnahe – „authentische“ – Beschreibung ist nicht mehr möglich. Die handschriftliche Nachbemerkung unter diesem Abschluss des Maschinentextes verweist nochmals auf Klemperers Bemühen, die nahezu undurchdringliche Masse von Daten und Ereignissen, die nicht linear verzeichnet wurden, durch technische Hinweise auf das Einbringen der zwei Tagebuchblätter vom 8. und 9. Juni 1945 zu erschließen. Er ist sich bewusst, dass es schwierig sein wird, rückblickend diese unterschiedlichen Textformen zu einer Lebensgeschichte zusammenzufügen. Der autobiographische Bericht und die einzelnen Tagebuchteile zusammengenommen können zwar ein Gesamtbild geben, doch dafür ist es nötig, dass der Leser selbst sich eine lineare Struktur erarbeitet. In der Druckversion von Walter Nowojski erübrigt sich dieser Anspruch – dort wurde nur der autobiographische Reisebe-
richt von Klemperer trotz einer expliziten Überschrift als Teil des Diariums aufgefasst. ϭϴϮ Walter Nowojski unterbricht an dieser Stelle den letzten Teil des autobiographischen Berichts vom 26. Mai bis 10. Juni 1945. Damit schafft er ein nahezu märchenhaft positives Ende der Tagebuchausgabe 1933-1945. Allerdings umgeht er auf diese Weise auch die Überschneidung der unterschiedlichen Berichtsperspektiven dieses Tagebuchteils.
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richt veröffentlicht. Die zusätzlichen Tagebuchaufzeichnungen fehlen. Damit ist sowohl die zeitliche als auch die örtliche Zerstückelung der Tagebuchteile nicht mehr erkennbar. Doch erst im Zusammenspiel aller Textteile kann deutlich werden, welche Absicht Klemperer mit dieser Form des Tagebuchschreibens verfolgt: Er möchte auch hier möglichst umfassend alles bewahren, was ihm in seinem Erleben wichtig erscheint. Während er noch ausführlich über die Strapazen und Beobachtungen seiner Rückreise berichtet, erlebt er schon wieder neue interessante Dinge, die ihm aufschreibenswert erscheinen. Die Erlebnisse direkt nach der Ankunft in Dölzschen – die zerstörte Stadt Dresden, die Begegnungen mit Menschen, mit denen Klemperer während des „Dritten Reichs“ keinen Kontakt haben konnte, die Anfänge des Aufbaus eines neuen Staates – möchte er ebenso festhalten. Deshalb schreibt er parallel einen autobiographischen Bericht und das gegenwärtige Diarium. Das Bewahren von möglichst vielen Einzelheiten ist das Ziel dieser Doppelung. Klemperers Tagebuchschreiben ist nicht auf die Vergangenheit ausgerichtet, sondern stets auf das Neue. Er orientiert sich an der Gegenwart. Deshalb ist nicht nur das Ende des „Dritten Reichs“ berichtenswert, sondern auch der Beginn der „neuen Zeit“. Geschult durch das Schreiben während der nationalsozialistischen Herrschaft hat sich der Schreibwille Klemperers ohnehin potenziert. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass er beim Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes möglichst alles aufschreiben möchte, was er sieht.183 Die scheinbar chaotische Form der Auf-
ϭϴϯ Der Wunsch, möglichst viel von dem auf der Flucht Erlebten zu berichten, resultiert zudem aus dem Bewusstsein, dass alle Aufzeichnungen, die in Dresden in der Wohnung in der Zeughausstraße aufbewahrt wurden, vernichtet sind. Anhand eines Kommentars zu den verbrannten Materialien wird deutlich, dass eventuell auch ein Teil der Tagebucheintragungen vor 1918 noch in der Wohnung in der Zeughausstraße lagerte: „...diese Tagebücher sind in der Zeughausstraße verbrannt“ (ZA II, 706, 23.03.1945). Dies widerspricht der Angabe von Walter Nowojski, Klemperer habe die Tagebuchaufzeichnungen, die bereits für das „Curriculum vitae“ verwendet wurden, „aus Gründen der eigenen Sicherheit vernichtet[]“ (CV II, 749; vgl. Kapitel V.3). Möglicherweise meint diese Formulierung jedoch einen speziellen Text, der dem Diarium zugeordnet wurde, aber nicht direkt zu den Aufzeichnungen gehörte. – Über die Manuskripte, die in Pirna versteckt wurden, weiß Klemperer zunächst nichts. Er fürchtet um diese Materialien (vgl. z.B.: ZA II, 691, 07.03.1945) und bedauert den Verlust der im Bombenfeuer verbrannten Aufzeichnungen (vgl. z.B.: ZA II, 674-675, 15.-17.02.1945). Selbstironisch erklärt er dazu einmal: „Bei all meinem Schreiben sehe ich das abgehackte Münchhausenroß vor mir, das vorne säuft, und hinten, das Hinterteil fehlt, stürzt alles wieder heraus. Mein wahrscheinlich schon jetzt, bestimmt morgen od. übermorgen fehlendes Hinterteil befindet sich in Pirna. Das 18ieme, wenn es sein müßte, wollte ich opfern; aber das Cur. u. die LTI! – Trotzdem schreib’ ich immer weiter. –“ (ZA II, 702, 2. Stelle,
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zeichnungen dieser Phase erklärt sich durch den Versuch, die Beschreibung der vergangenen Erlebnisse mit der Gegenwart zu kombinieren.184 Der in der dreifachen Perspektive der Tagebuchaufzeichnungen stark betonte Anspruch auf möglichst exakte Beschreibung bleibt letztlich trotz der Masse an Aufzeichnungen unerfüllt. Klemperer ist sich dessen ebenso bewusst, wie er schon in der Weimarer Republik erkannte, dass eine vollständige Darstellung unmöglich ist.185 Zusätzlich bewusst macht ihm dies seine Frau, die regelmäßig seine Aufzeichnungen liest und „corrigiert“ (ZA II, 753, 2. Stelle, 23.04.1945).186 Sie wird damit zur Partnerin für Klemperers
18.03.1945). Das literarische Motiv des „Münchhausenroß“ dient Klemperer zur Artikulierung seiner tiefsten Angst – nicht um sein Leben fürchtet er, die Gefahr der Entdeckung, dass er als Jude ohne „Judenstern“ außerhalb Dresdens unterwegs ist oder das Risiko durch Bomben, Hunger oder Krankheit zu sterben, beschäftigen ihn weitaus weniger als der mögliche Verlust seiner Tagebücher. Trotzdem oder auch gerade deshalb stürzt er sich „[m]it einiger Selbstüberwindung und Pedanterie“ in die gegenwärtigen Tagebuchnotizen (ZA II, 695, 08.03.1945). ϭϴϰ Dabei kommt es gelegentlich zu Überschneidungen in der Darstellung von Einzelheiten, die Klemperer sowohl in gegenwartsnahen Notaten als auch in den ausführlichen rückblickenden Berichten erwähnt. Ein Beispiel dafür ist die zweifache Beschreibung von Plakaten, die Klemperer in München gesehen hat. In einem handschriftlichen Tagebucheintrag erwähnt Klemperer diese bereits am 9. Mai (ZA II, 772, 1. Stelle, 09.05.1945). Im maschinenschriftlichen Bericht, der nach der Rückkehr nach Dresden entsteht, ist ebenfalls von den Plakaten die Rede (vgl. ZA II, 826, 2. Stelle, 26.05.-10.06.1945). – Zudem schreibt Klemperer mehrfach zusammenfassende Notizen, die nochmals auf spezifische Ereignisse zurückgreifen und dazu Ergänzungen angeben. Beispielsweise erklärt er: „Ich hole noch nach, dass [...] Ich möchte auch noch [...] nachtragen...“ (ZA II, 810, 1. Stelle, 26.05.-10.06.1945). ϭϴϱ Insbesondere bei der Beschreibung seiner Eindrücke von der Bombennacht in Dresden beschäftigt Klemperer die Erkenntnis, nicht wirklich detailliert beobachtet, sondern sich fast ausschließlich auf sein Überleben konzentriert zu haben. Er fragt sich: „...warum kann ich nichts im Einzelnen beobachten, sondern sehe nur immer das Bühnenfeuer zur Rechten und zur Linken, die brennenden Balken und Fetzen und Dachsparren in und über den steinernen Mauern?“ (ZA II, 665, 22.-24.02.1945; vgl. auch ZA II, 666, 22.-24.02.1945). Außerdem fällt ihm auf, dass ihn seine Erinnerung teilweise trügt: Er berichtet zunächst, einen bestimmten Koffer im Feuerinferno mit sich herumgetragen zu haben. Eine Seite später revidiert er diese Aussage und gibt seine Frau als Trägerin an (vgl. ZA II, 664-665, 22.24.02.1945). ϭϴϲ Die Ehefrau bemängelt nicht nur fehlerhafte Beschreibungen, sondern fordert teilweise auch die ausführlichere Darstellung oder Ergänzung eines Sachverhalts: „Eva hat mein Tagebuch nachgelesen und moniert, der eigentliche Höhe-
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Schreibprojekt und liefert wichtige Beiträge zur Vollständigkeit des Tagebuchs. Durch ihre Beteiligung unterstützt sie das langfristige Ziel ihres Ehemannes – eine möglichst präzise berichtende Veröffentlichung der Ereignisse.
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1945-1947 – „... IMMER WIEDER DOCH AUCH DIE F REUDE AM W IRKENKÖNNEN 187 U . AM E RFOLG .“
Nach der Rückkehr aus Bayern nach dem Kriegsende im Juni 1945 (siehe dazu Exkurs 8: Fluchtbericht Dresden – Bayern) lässt Klemperer sich nicht viel Zeit zum Ausruhen. Direkt nachdem er sein eigenes Haus in Dölzschen neu bezieht, wird er wieder als Schreibender aktiv.188 Ausführliche Nachträge über seine Flucht nach Bayern und die Wanderung zurück nach Dresden entstehen parallel zu aktuellen Tagebuchaufzeichnungen. Daneben überlegt Klemperer, welches der im „Dritten Reich“ ersehnten Schreibprojekte er umsetzen möchte. Dafür erhält er sogar Angebote. Unter den Juden Dresdens ist es bekannt, dass er unter Lebensgefahr für sich und andere seine Aufzeichnungen fortführte. Nun fordert ihn ein Bekannter auf, die Tagebücher zu veröffentlichen (vgl. SZS I, 15-16, 21.06.1945). Obwohl Klemperer noch keinen Zugriff auf seine Diarien hat, weil sie in Pirna bei Annemarie Köhler lagern,189 spielt er mit dieser Publikationsmöglichkeit und stellt verschiedene Überlegungen an, in welcher Form er sie in einen publikumswirksamen Text umwandeln könnte (vgl. SZS I, 23, 23.06.1945).
punkt am 28. 4. sei von mir nicht genügend betont worden“ (ZA II, 764, 03.05.1945). ϭϴϳ SZS I, 337, 11.01.1947 ϭϴϴ Teilweise beschränkt sich diese Schreibtätigkeit allein darauf, die angebliche eigene „Faulheit“ anzuprangern. Gerade darin jedoch zeigt sich der ungebrochene Wille zum Schreiben trotz großer Erschöpfung: „Ich bin so sehr müde u. so sehr faul u. so sehr abgelenkt. Mein innerliches ständig wiederholtes Motto: ‚Ich will sie nutzen, diese kurze Spanne.ʻ Aber ich nutze sie nicht. Ich liege im plumpen Fauteuil auf der Diele, sehe ins Grüne, in meinen Garten u. lasse das Radio an mir vorüberspielen. Blödsinnige Musik, schöne Musik, zeitcharakteristischste Nachrichten“ (SZS I, 46-47, 16.07.1945). ϭϴϵ Dass die Tagebücher zunächst fast unerreichbar in Pirna liegen, während Klemperer in Dölzschen voller Tatkraft darauf wartet, sie in ein Buch umzuwandeln, wird mehrfach im Tagebuch beklagt: „...und meine Mss., die mich auf viele Wochen hinaus beschäftigen können, liegen trotz aller Versprechungen Jungs noch immer in Pirna. Wenn sie morgen wieder ausbleiben, muss ich das Martyrium einer neuen Pirnareise auf mich nehmen“ (SZS I, 36, 02.07.1945).
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Bald nach dem Rückerhalt der Manuskripte wird Klemperer jedoch klar, dass er sie zunächst einmal intensiv durcharbeiten muss, um überhaupt entscheiden zu können, was mit dem Material geschehen soll. Die daraus entstehende Verwirrung und Verzweiflung diskutiert er im Sommer 1945 ausführlich in seinem Tagebuch.190 Er berichtet nahezu täglich, wie er sich langsam in seine Diarien 1933-1945 einarbeitet. Das größte Problem besteht in der Abgeschlossenheit der einzelnen Tagebuchteile, die getrennt nach Pirna gebracht wurden. Sie basieren auf einer Systematik, die versucht, möglichst nichts dem Vergessen anheim fallen zu lassen und haben jeweils keine direkte Verbindung zu den zuvor entstandenen Notaten. Dadurch auftretende Wiederholungen wurden in Kauf genommen, sind aber nun störend. Entsprechend „zugrifflos“ (vgl. SZS I, 40, 09.07.1945) steht Klemperer zunächst seinen Aufzeichnungen gegenüber.191 Nebeneffekt der Überlegungen, wie die Diarien verarbeitet werden könnten, ist das Wiederaufleben der lebenslang geäußerten Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Tagebuchschreibens. Klemperer betont wiederholt, er „stehe so hilflos vor dem ungeheuren Material“, dass er Zweifel an der Fortführung, der „weitere[n] Häufung“ von Tagebucheinträgen habe (SZS I, 49, 18.07.1945). Demnach verursacht die Freiheit, sich jedem beliebigen Buchprojekt zuwenden zu können, ein Gefühl der Arbeitsunfähigkeit, das jenem der Weimarer Republik ähnelt. Der Schritt aus der reinen Materialsammlung heraus hin zu einem inhaltlich begrenzten und strukturierten Buchprojekt erweist sich als schwieriger als erwartet. Dabei ist es nicht die geplante Publikation, welche Klemperer in Frage stellt.192 Vielmehr bezweifelt er vor allem die Sinnhaftigkeit seiner täglich
ϭϵϬ Schon direkt nach dem Erhalt der Manuskripte aus Pirna kommentiert Klemperer ausführlich: „Vor allem: die Mss. sind erhalten. Welche Unsumme von Arbeit! Ich muss ordnen, ich muss überlegen, wohinein ich mich zuerst kniee – es scheint mir gar nicht mehr so wichtig, wann nun der Hochschulbetrieb beginnen soll, ich habe genug für mich zu tun. [...] Aber vorderhand geht mir noch alles wirr und unruhig durcheinander, ich greife nach dem und jenem, blättere, lege unentschlossen beiseite, bin zugleich bedrückt und glücklich – was von alledem werde ich noch zur Reife bringen?“ (SZS I, 39, 04.07.1945). ϭϵϭ Das äußert sich beispielsweise in folgender Aussage: „Ohne Notizen, nur mit Blaustiftkreuzen, lese ich meine Tagebücher. Ich finde keinen Zugriff, keine Lösung der Schwierigkeiten. Was ist zu intim, was zu allgemein? Wo soll man LTI u. Vita trennen? Wen soll man bei seinem Namen nennen? Wie soll ich das damals Geschriebene commentieren? Wieweit von der Tgb.-Form abgehen?? Ich tue nun seit Wochen nichts anderes, als das Tagebuch lesen. Ich fühle mich sehr leer“ (SZS I, 47, 17.07.1945). ϭϵϮ Klemperer konzentriert sich uneingeschränkt optimistisch auf die „LTI“, obwohl die Publikationsaussichten zunächst vage sind. Diese Haltung ähnelt jener im „Dritten Reich“, als er ohne jegliche Veröffentlichungsmöglichkeit weiter
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neu hinzukommenden Notate.193 Damit gerät er wieder in das Paradoxon, innerhalb des Diariums dessen Fortführung zu problematisieren. Allerdings ist diesmal nicht seine Schreibfähigkeit als solche in der Kritik, sondern die undurchschaubare Masse der Aufzeichnungen. Klemperer fürchtet, auch mit seinen gegenwärtigen Notaten nur zu wiederholen, was er bereits vielfach gesagt hat: „Ich stehe so hilflos der Übermasse meiner Tagebücher gegenüber, daß ich mich gar nicht entschließen kann, in alter Breite fortzufahren. Auch scheint mir alles Wiederholung: der Hunger, die Jämmerlichkeit der Tagesinteressen (10 gr. Butter mehr oder weniger), die Fehler der Regierenden, meine Herzbeschwerden, meine letzten u. trivialsten Gedanken dem Tod gegenüber, meine gemischten Gefühle im Punkte des Katers u. der Tierliebe E’s etc. etc. – Ich bin zu alt geworden, u. alles ist schon einmal dagewesen“ (SZS I, 51, 20.07.1945).
Der Eindruck, seine Eintragungen nicht „in alter Breite“ fortsetzen zu können, wird bereits durch das diese Überlegungen darstellende Notat widerlegt. Die in Klammern gesetzte Angabe „(10 gr. Butter mehr oder weniger)“ ironisiert die Diskreditierung der „Tagesinteressen“. Auch wenn es scheinbare Nebensächlichkeiten sind, die im Tagebuch verzeichnet werden – sie bestimmen Klemperers Leben. Die Frage, ob er zehn Gramm Fett mehr oder weniger zu sich nehmen kann, ist zum Zeitpunkt des Eintrags existenziell.194 Deshalb ist es Klemperer trotz aller Zweifel wichtig, darüber zu schreiben. Die Selbstanklage, „alles“ sei „Wiederholung“, wirkt zudem paradox angesichts der Tatsache, dass Redundanzen ein Charakteristikum des Diariums
schrieb. Doch gibt es einen entscheidenden Unterschied: Klemperer geht davon aus, dass er langfristig einen Verleger für sein Buch finden wird. Verschiedene unsichere Publikationsangebote vermitteln ihm den Eindruck, dass er auf jeden Fall die „LTI“ einer Öffentlichkeit zugänglich machen kann. Dementsprechend konzentriert er sich nach der Entscheidung für dieses Buchprojekt vollkommen darauf, es umzusetzen. Systematisch exzerpiert er dafür seine Tagebücher (vgl. z.B.: SZS I, 150, 30.11.1945). ϭϵϯ Klemperer fragt sich: „Und wozu das alles? Mein Leben verrinnt ... Und selbst diese Notizen hier – wer wertet sie aus? Eva sagt, sie sei dazu nicht imstande. – “ (SZS I, 298, 06.09.1946). ϭϵϰ Die Nahrungsmittellage in der ersten Nachkriegszeit ist häufig Thema der Tagebucheintragungen. Zwar erklärt Klemperer immer wieder, nicht darüber schreiben zu wollen, dies endet jedoch stets in neuen Informationen, die vor allem Abweichungen von früher Geschildertem verdeutlichen: „Über unsere eigene Essmisère mag ich nicht mehr im Einzelnen schreiben, denn ich sehe im Durchackern meiner Tagebücher, wie ich dies Thema seit Jahren immer wieder variiere. Diesmal ist das Eigentümliche, daß wir Brod in Fülle haben – aber von allem andern, vor allem von Fett, noch weniger als in den schlimmsten Zeiten“ (SZS I, 55, 24.07.1945).
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sind. Das Infragestellen der Sinnhaftigkeit des fortgeführten Tagebuchschreibens wird bereits durch das zweifelnde Notat entkräftet. Entsprechend treibt Klemperer das Durcharbeiten seiner Materialien trotz aller Klagen unbeirrt voran. Er unterbricht weder die aktuellen Aufzeichnungen, noch das Sichten der Eintragungen aus dem „Dritten Reich“ für eine Publikation. Vielmehr schreibt und liest er weiter an und in seinem Diarium. Die stetig verzeichneten Beschwerden über Arbeitsschwierigkeiten und Zweifel am Tagebuchschreiben sind Teil seiner Auseinandersetzung mit dem Diarium. Sie helfen ihm, ein Konzept zu entwickeln, wie genau die Tagebuchmaterialien zu einem Buchprojekt verarbeitet werden sollen. Die Erkenntnis, dass „Tgb. u. LTI [...] untrennbar“ (SZS I, 57, 26.07.1945) seien, geht zwar mit dem wiederholten Hinterfragen der grundsätzlichen Verwendbarkeit und damit Sinnhaftigkeit der täglichen Notate einher (vgl. z.B. auch: SZS I, 62-63, 01.08.1945). Trotzdem hilft Klemperer allein das Weiterführen des Tagebuchs, seine Zweifel an der Berechtigung des fortgesetzten Notierens zu überwinden. Denn im Schreiben ist es Klemperer möglich, seine Gedanken zu der Frage, wie aus den Tagebuchaufzeichnungen ein Buchprojekt werden könne, aus verschiedenen Perspektiven zu diskutieren. Er nutzt damit eine Vorgehensweise, die er über Jahrzehnte hinweg praktiziert und immer mehr spezifiziert hat. Er braucht sein Tagebuch, um den Prozess einer Lösungsfindung über mehrere Einträge hinweg nachverfolgen zu können. Zudem dient das Diarium, wie auch in früheren Jahren, als Begleitinstrument für das neue Buchprojekt. Bis zum Erhalt der ersten Belegexemplare dokumentieren die Aufzeichnungen gewissenhaft die Arbeit am „Notizbuch eines Philologen“ (vgl. z.B.: SZS I, 54, 23.07.1945; SZS I, 67, 08.08.1945; SZS I, 150, 30.11.1945; SZS I, 183, 27.01.1946; SZS I, 241-242, 10.05.1946; SZS I, 434, 28.09.1947). Nach der Veröffentlichung der „LTI“ gelingen Klemperer kaum noch umfangreichere wissenschaftliche Werke. Die wachsenden universitären, sozialen und politischen Verpflichtungen lassen ihm keine Zeit mehr für größere Textproduktionen. Er schreibt nur noch kleinere Aufsätze und Zeitungsartikel, die weniger auf einer Auseinandersetzung mit neuen Gedanken basieren, sondern frühere Ideen reproduzieren. Klagen darüber werden zwar regelmäßig im Tagebuch verzeichnet,195 trotzdem bewegt sich Klemperer mit neuem Selbstbewusstsein im wissenschaftlichen Diskurs. Die Erkenntnis, „Ich bin durchaus Journalist:“ (SZS I, 408, 4. Stelle, 17.07.1947) führt
ϭϵϱ Beispielsweise beschwert sich Klemperer: „...Ich möchte so gern Neues u. Wesentliches arbeiten, ich möchte so vielerlei lesen und nicht um Geld u. aus Eitelkeit Tag für Tag an den Leerlauf dieser Artikelschreibereien vergeuden“ (SZS I, 359, 2. Stelle, 07.03.1947).
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nicht mehr wie in früheren Jahren zur Selbstkasteiung, sondern wirkt wie eine Bestätigung positiver Schreibeigenschaften.196 Dagegen steht die lebenslang artikulierte Angst, sterben zu müssen, ehe ein adäquater Nachlass geschaffen wurde, weiterhin – und vermehrt – im Vordergrund. Ebenso wie Klemperer bereits während der Weimarer Republik ständig die Todesnähe beklagt, kreist er auch nach 1945 in unzähligen Eintragungen um sein vermutetes baldiges Ableben. Zwar ist die Gefahr eines nahen Todes nicht mehr so greifbar wie im „Dritten Reich“, trotzdem setzt sich seine Furcht davor fort. Auffällig ist, dass – ebenso wie schon 1918 bis 1932 – nahezu alle Todesahnungen von Äußerungen über den Wert der Tagebuchaufzeichnungen bzw. der wissenschaftlichen Arbeiten begleitet werden.197 Denn das Einzige, was Klemperer dem unausweichlichen Tod entgegensetzen kann, ist sein schriftliches Erbe. Obwohl er sich dadurch auch stetig der Frage aussetzt, inwieweit seine Hoffnung auf ein geistiges „Bleiben“ sinnvoll ist, hält er an seinem Schreiben unbeirrt fest: „Immer verfolgt mich: ‚Wem hab’ ich gesammelt?ʻ Immer empfinde ich als Pflicht u. zugleich als einzige Erleichterung, weiterzunotieren u. zu arbeiten, comme si de rien n’était“ (SZS I, 211, 09.03.1946). Nicht nur das Gefühl der Verpflichtung gegenüber einer unbekannten Nachwelt, sondern vor allem „...immer wieder doch auch die Freude am Wirkenkönnen u. am Erfolg“ (SZS I, 337, 11.01.1947) seiner Publikationen, den er in der SBZ bzw. DDR erlebt, spornen ihn an, weiter zu schreiben – sowohl beruflich als auch privat im Tagebuch. Insbesondere der universitäre und politische Aufstieg in der DDR wird deshalb auch zu einem zentralen Thema in den Nachkriegsdiarien. Dabei verändert sich Klemperers Einstellung zu den privaten Eintragungen im Vergleich zur Weimarer Republik und dem „Dritten Reich“ nochmals eklatant: Zwischen 1918 und 1932 verzeichnet er vornehmlich private Erlebnisse; zwischen 1933 und 1945 betrachtet er es bedingt durch die äußeren Umstände zunehmend als seine Pflicht, nicht nur sein persönliches Leid, sondern auch die Alltagserlebnisse der Dresdner Juden zu dokumentieren.
ϭϵϲ Deshalb kann Klemperer auch einem Verleger erklären: „Früher habe es mich gewurmt, daß man mich einen Journalisten nannte. Jetzt nicht mehr. Jetzt ist es mir gleichgültig, ob die Fachkollegen es mir verzeihen oder nicht, daß ich ein bißchen besser schreibe als sie“ (SZS I, 431, 10.09.1947). Denn nicht mehr die negative Konnotation des journalistischen Schreibens ist zentral, sondern vielmehr die Fähigkeit, gut formulieren und schnell produzieren zu können. ϭϵϳ Die erste Reaktion auf eine diagnostizierte Herzkrankheit ist beispielsweise nicht die Überlegung, wie dieser Situation durch medizinische Maßnahmen entgegengewirkt werden könnte. Vielmehr bringt Klemperer neben der Sorge um die Ehefrau gleich seine Arbeiten ins Spiel: „Ich kann mir nun nichts mehr vormachen: das ist ein (nicht mehr lang befristetes!) Todesurteil. Was wird aus E.? Es gibt keine Witwenpension mehr. Was wird aus meinen Arbeiten? –“ (SZS I, 212, 1. Stelle, 15.03.1946).
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Diese Aufgabe des „Zeugnis ablegen“ ist nach dem Ende des „Dritten Reichs“ zunächst nicht mehr gegeben. Klemperer zieht sich dementsprechend wieder stärker auf seine persönlichen Belange zurück. Zudem agiert er stärker als in der Weimarer Republik in dem Bewusstsein, durch die eigene Lebensgeschichte einen Teil einer größeren Entwicklung zu erzählen. Im Gegensatz zu früheren Jahren ändert sich allerdings seine Einstellung zur Fähigkeit des Tagebuchs, den Zugriff auf Erinnerungen zu ermöglichen. Denn Klemperer erkennt durch die Arbeit mit seinen Aufzeichnungen für die „LTI“, dass die Aufbewahrung von Ereignissen in dieser Textform nicht unbedingt konkrete Erinnerungshilfe leisten kann. Ihm fehlt ein Instrument, mit dem er passende Informationen ohne großflächiges Durchsuchen der Aufzeichnungen herausfiltern kann.198 Das Tagebuch ist ein undurchschaubarer Speicher, in dem nicht immer die passende Erinnerung gefunden werden kann. Problematisch wird das insbesondere, wenn Klemperer nicht mehr weiß, dass er etwas in seinen Eintragungen verzeichnet hat. Kann er sich nicht zumindest an das Aufschreiben eines Ereignisses erinnern, hat er keine Möglichkeit, seine Tagebücher danach durchzuarbeiten.199 Parallel dazu steigt allerdings insbesondere in den frühen Nachkriegsjahren Klemperers Bedürfnis, sich im Diarium mit Erinnerungen und der Erinnerungsfähigkeit auseinander zu setzen. Zunehmend betrachtet er Ereignisse im Spiegel früherer Geschehnisse.200 Dies begründet sich nicht nur mit
ϭϵϴ Deutlich wird dies beispielsweise als Klemperer für seine Analyse der Sprache des „Dritten Reichs“ nach einer Episode sucht, die einen symbolischen Schluss darstellen könnte: „... {ich} will noch ein emotionelles Faktum an den Schluß setzen. Es ruht, bisher noch unauffindbar verborgen, in meinem Tgb“ (SZS I, 246-247, 25.05.1946). ϭϵϵ Beispiel dafür ist die Erwähnung eines öffentlichen Briefes von Thomas Mann an den Dekan der Philosophischen Fakultät der Rheinischen FriedrichWilhelms-Universität Bonn von 1936 anlässlich der Aberkennung seiner Ehrendoktorwürde. Dieser wird im Radio vorgelesen, woraufhin Klemperer im Tagebuch kommentiert: „Wir wußten nach den ersten Zeilen, daß der Brief uns bekannt war. Gleich darauf, daß Marta ihn aus einer Schweizer Ztg. damals copiert u. handschriftlich an uns gesandt hat. – Wie sehr spricht dies Faktum für Marta – u. wie sehr spricht es gegen mein Tagebuch, daß ich gerade dies nicht notiert habe!“ (SZS I, 61, 01.08.1945). Entgegen Klemperers Selbstkritik, findet sich im Mai 1937 ein ausführlicher Kommentar zu dem Brief (vgl. ZA I, 353, 22.05.1937). Gespeichert sind die gewünschten Informationen, aber er erinnert sich nicht mehr daran und ist bei der Durcharbeitung seiner Aufzeichnungen bisher nicht darauf gestoßen. ϮϬϬ So rekapituliert Klemperer zu einem Aufenthalt in Stralsund zunächst, was er von früheren Besuchen weiß: „Wann waren wir dort gewesen? In den 20er Jahren. Ich sehe nur noch den Leiterwagen mit irgendeiner stinkenden Last einsam
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Klemperers Alter, sondern vor allem durch die Konfrontation mit Zerstörung und Verfall in der Nachkriegszeit. Er verarbeitet die daraus entstehenden Eindrücke in einzelnen Erinnerungsbildern, die für das Bewahren von Ereigniszusammenhängen instrumentalisiert werden.201 Ihr gehäuftes Auftreten zeigt die wachsende Auseinandersetzung mit Vergangenem an. Zunehmend reflektiert Klemperer auch die Vielschichtigkeit seiner Wahrnehmungen im Kontrast zu Rückblicken.202 Dies lässt sich durch zwei Entwicklungen in Klemperers Leben erklären. Zum einen wird ihm durch die Bearbeitung seiner Aufzeichnungen für die „LTI“ deutlich, wo und wie er Zusammenhänge besser herausarbeiten kann. Zum anderen verstärkt die Wahrnehmung, nur noch wenig Lebenszeit zur Verfügung zu haben, nochmals sein Bedürfnis, möglichst umfassend und genau alle wichtigen Informationen zu sammeln, um sie einer möglichen späteren Verwertung durch einen Dritten zugänglich zu machen. Dementsprechend ist sein Anspruch an die Präzision seiner Darstellung und vor allem die Zugänglichkeit seines Textes für einen eventuellen späteren Leser in der Nachkriegszeit wesentlich stärker ausgeprägt als in den früheren Aufzeichnungen. Deshalb baut Klemperer die bereits in der Weimarer Republik entwickelten Methoden zum Bewahren aller grundlegenden Informationen in der Nachkriegszeit auffällig gezielt aus. Bereits in den frühen Aufzeichnungen legt er Wert auf genaue Datumsangaben und präzisiert sie wiederholt durch die Anbringung von Randkommentaren neben der Datierung einzelner Ein-
auf nächtlichem Platz. E dagegen hatte reichliche Erinnerungen“ (SZS I, 268, 2. Stelle, 12.07.1946). Derartige fast statische „Bilder“, wie jenes vom Leiterwagen, bestimmen immer wieder Klemperers Blick in die Vergangenheit. Er erinnert häufig bestimmte Situationen als symbolisch für einen größeren Sachzusammenhang. ϮϬϭ Als Klemperer beispielsweise auf einem Spaziergang durch das zerbombte Berlin die Orte seiner Kindheit und Jugend aufsucht, schreibt er: „Ich ging zu Fuß durchs Brandenburger Thor – 2 Pferde der Quadriga fehlen! – die Ebertstr., die Potsdamer Str. furchtbare Verwüstung, stellenweise das Nichts. Am furchtbarsten der versteppte Tiergarten. Schreibe ich einmal den letzten Band meines Curriculum, dann müßte ich diesen Weg ausmalen. Wieviele Erinnerungen, wieviele Tote!“ (SZS I, 263-264, 30.06.1946). Das Bild der ausgebombten Straßen wird nicht nur zur allgemeinen Metapher für die getöteten Menschen Berlins, sondern steht auch für die ganz persönliche Erinnerungswelt Klemperers. ϮϬϮ Insbesondere die traumatischen Erlebnisse des „Dritten Reichs“ werden immer wieder angedeutet, doch selten näher ausgeführt. Zum Beispiel schreibt er über eine Fahrt durch Dresden: „Am Vormittag zum neuen Heim des Kulturbundes gefahren, Emser Allee 37. Wenige Schritte vom Judenhaus am Lothringerweg entfernt, das nur noch ausgehölte [sic] Ruine ist. Erinnerungen!“ (SZS I, 317, 1. Stelle, 31.10.1946).
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tragungen. Nach 1945 nutzt er diese Technik verstärkt. Sehr viele Einträge leitet er durch genaue Zeitangaben und Erläuterungen ein.203 Zusätzlich separiert er einzelne Notate nach Orten.204 Dabei hebt Klemperer teilweise die „autobiographische[]“ (SZS I, 153, 07.12.1945) Bedeutung einzelner Tage explizit hervor.205
ϮϬϯ Häufig kennzeichnet Klemperer beispielsweise, dass ein Eintrag nach der Uhrzeit gerechnet einem anderen Tag zugehören müsste: „Sonnabend Nacht, 1. XII. (eigentlich schon 2. Dez. 0.30)“ (SZS I, 151, 01.12.1945). Ebenfalls zur näheren Bestimmung der Zeitangaben vermerkt er wiederholt, wann ein Eintrag beginnt und über welchen Zeitraum er voraussichtlich fortgesetzt wird: „7. Mai Dienstag. Morgens u. wahrscheinlich tagüber“ (SZS I, 238, 07.05.1946). Das schon in früheren Jahren auffällige Bedürfnis, genaue Zeitangaben zu vermerken, wird hier vorausschauend befriedigt. Nicht nur das Datum, sondern auch die Tageszeit hat Gewicht für die Entstehung des Tagebucheintrags. Klemperer folgt damit nicht nur einem fast zwanghaften Genauigkeitsprinzip, sondern er macht eine vieldeutige Aussage über seine gegenwärtige Lebenssituation. Er weiß, dass er wenig Zeit für einen durchgehenden Tagebucheintrag haben wird. Dementsprechend kündigt er nicht nur die Zerlegung des beabsichtigten Notats in einzelne Abschnitte an, sondern gibt auch einen indirekten Hinweis auf die Fülle seiner Tagesgeschäfte. ϮϬϰ Deshalb verfasst er beispielsweise zwei Texte am 3. September 1947: Am Vormittag berichtet er aus Görlitz. Dieser Eintrag wird nochmals um 14 Uhr ergänzt. Gegen 18 Uhr entsteht ein neuer Eintrag in Zittau (vgl. SZS I, 427, 2. Stelle, nicht gedruckter zweiter Eintrag vom 03.09.1947). Dies dient offenbar dazu, die einzelnen Reisestationen klar voneinander abzutrennen und dadurch eine zusätzliche Ordnung angesichts der nicht linearen Chronologie zu schaffen. ϮϬϱ Außergewöhnliches Beispiel dafür ist das Blatt, auf dem der erste Tagebucheintrag, der beim Umzug nach Greifswald, wohin Klemperer zum Ordinarius für Romanistik berufen wurde, im Herbst 1947 entsteht (vgl. Abb. 9 im Anhang). Das einleitende Notat sticht aus den sonstigen Tagebuchaufzeichnungen heraus, weil Klemperer eine ganze Seite zu einer Art Titelblatt für die folgenden Einträge aus Greifswald gestaltet: Das Blatt als Ganzes wirkt fast wie eine Collage: Mehrere, zentral gesetzte Textteile mit unterschiedlicher Datierung, die zudem formal von der sonstigen Eintragsführung abweichen, Stempelabdrücke, übermäßig hervorgehobene Überschriftteile und die Abschrift eines Telegramms gestalten die Seite. Dadurch wird die gefühlte Krisensituation während des Aufenthalts in Greifswald gespiegelt. – Mehrfach fügt Klemperer diesem einleitenden Blatt neue Notate hinzu. Vermutlich setzt er zunächst nur eine Überschrift auf das Blatt, um die Exklusivität des Erhalts seiner ersten ordentlichen Professur an einer Universität zu betonen. Schon das letzte Notat aus Dresden kennzeichnet den Übergang zum Nachfolgenden, indem der abschließende Satz mittig und unterstrichen ankündigt: „Start also in einen absolut neuen Lebens-
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Dies verstärkt sich insbesondere, als er wieder vom festen Tagebuch zu losen Blättern in einem Ringbuchhefter wechselt.206 Der äußere Rahmen der Aufzeichnungen ist dadurch nicht mehr starr. Klemperer hatte bei seinen
abschnitt“ (SZS I, 472, 08.12.1947). Nach dieser Erklärung werden vier Zeilen freigelassen. Allein das ist für Klemperers enge, platzsparende Schreibweise extrem ungewöhnlich. Darauf folgt über fast vier Zeilen geschrieben und doppelt unterstrichen, beidseitig zusätzlich mit rotem Buntstift doppelt angestrichen das Wort „Greifswald“. Daneben wird in kleinerer Schrift der Zeitraum des Greifswald-Aufenthalts vermerkt („9.XII 47-23.8.48.“). – Die Enttäuschung und Verzweiflung über den Umzug nach Greifswald und die neu aufkommende Hoffnung, als Klemperer einen Ruf nach Halle erhält, werden nach und nach auf dem Blatt ergänzt: Zunächst symbolisiert der im Konjunktiv vermerkte Kommentar „HÄTTSTE!“ das Gefühl, eine falsche Entscheidung getroffen zu haben und diese nicht akzeptieren zu können. Statt vorwärts zu schauen und eine Lösung für das Problem zu finden, bleibt Klemperer in der Wunschform des „Hättste“ gefangen. In zwei getrennt datierten– und jeweils unter dem Text notierten – Kommentaren erklärt er den Umzug nach Greifswald zum Fehler. Zwar versucht er im zweiten Eintrag zu relativieren, verweist auf sein momentanes Wohlbefinden aufgrund einer genossenen Tasse Kaffee. Doch er ahnt bereits: „Aber dann, wenn die Wirkung des Kaffees verflogen u. der Ofen kalt geworden: s. o. di nuovo“ (SZS I, 472, 14.12.1947). Beide Texte vermitteln formal und inhaltlich einen Bruch in Klemperers Leben. Ein weiteres nachträglich eingefügtes Notat kommentiert dies indirekt: „Hättste! Jeden Tag qualvoller bis zum Hallenser Erlösungstelegramm vom 11. März 48: ‚Berufe Sie auf Lehrstuhl für Romanistik ... Landesregierung Sachsen-Anhalt...ʻ 12.III 48“ (SZS I, 472, ungekennzeichnete Stelle, nicht gedruckter Eintrag vom 12.03.1948). Das „Erlösungstelegramm“, das Klemperer den Wegzug aus Greifswald ermöglicht, notiert er direkt auf das Blatt, welches das Drama seiner ersten Universitäts-Professur symbolisiert. ϮϬϲ Weil Klemperer sich durch das schlechte Papier eines Kalenders, in den er seine Aufzeichnungen macht, gestört fühlt (vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 140 und 141; SZS I, 369, 06.04.1947 und die Anmerkung dazu in SZS I, 795), bekommt er ein neues Buch von seiner Nichte Doris Machol und deren Lebenspartner geschenkt (vgl. SZS I, 375, 15.05.1947), einen Ringbuchordner in DIN-A-4Größe, dessen Blätter herausnehmbar sind. – Er bezeichnet den Ringbuchordner als „Buch“. Dies ist aus der Perspektive eines Benutzers, der in der SLUB die Tagebuchblätter von Mscr. Dresd. App. 2003, 142 in den Händen hält, nicht leicht nachvollziehbar. Denn die Aufzeichnungen befinden sich lose in einem stabilen Pappordner – sie bilden keine Buchform. Vielmehr handelt es sich um einen Stapel Tagebuchblätter. Für Klemperer galt die Heftung der DIN-A4Seiten als fester äußerer Rahmen. Sein Ziel war es, eine systematische Tagebuchführung beizubehalten. Dafür war es hilfreich, die Tagebuchblätter in die lebenslang beibehaltene Tagebuchnummerierung zu integrieren. Deshalb findet sich auf dem ersten Blatt die Überschrift „Tgb 50“.
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festen Tagebüchern immer wieder nach Techniken gesucht, mit denen er den begrenzten Platz erweitern konnte. Er klebte zusätzliche Blätter ein, nutzte die Inneneinbände und legte zudem immer wieder Ergänzungsblätter ein. Bei der Verwendung eines Ringbuchhefters ist eine Erweiterung des Textumfangs ohne größeren Aufwand möglich. Das Material ist gewissermaßen unbegrenzt ausbaubar und erhält dadurch einen flexiblen Charakter, den ein festes Buch nicht hat. Auf Reisen kann Klemperer nun beispielsweise auf die Mitnahme des ganzen Hefters verzichten und nur einzelne Blätter mit sich führen.207 Dadurch entstehen im Textfluss des Tagebuchs undurchsichtige Strukturen, die nur anhand der chronologischen Datierungen auflösbar sind.208 Dies bedingt die verstärkte systematische Vorgehensweise des Tagebuchschreibers.
ϮϬϳ Die Verwendung einzelner Tagebuchseiten außerhalb eines festen Buches kennzeichnet Klemperers Versuch, gegenwartsnah zu schreiben. Sein Bemühen um zeitnahe Berichterstattung auf seinen Reisen gelingt ihm jedoch nur teilweise. Häufig wird auf den mitgenommenen Blättern nur ein Teil des jeweiligen Notats während der Reise geschrieben. Der Großteil entsteht rückblickend nach der Heimkehr nach Dresden. ϮϬϴ Beispielsweise verlaufen die Einträge zwischen dem 31. August und dem 7. September 1947 nicht linear. Zunächst notiert Klemperer die Einträge vom 31. August (vgl. SZS I, 425, 31.08.1947 – das Notat ist stark gekürzt) und vom 1. September (vgl. SZS I, 425, 2. Stelle, nicht gedruckter Eintrag vom 01.09.1947) auf einem Blatt. Im zweiten Notat wird auf eine Vortragsreise verwiesen, die an diesem Tag beginnen soll. Der nächste Eintrag auf dem Blatt datiert vom 7. September. In ihm werden tabellarisch Ereignisse verschiedenen Orten zugeordnet, an denen Klemperer Vorträge halten musste (vgl. SZS I, 429, ungekennzeichnete Stelle, nicht gedruckter Eintrag vom 07.09.1947). Auf einem weiteren Blatt befinden sich verschiedene Einträge, die während der Reise entstanden. Sie beginnen ebenfalls am 1. September und verlaufen bis zum 5. September 1947. Im letzten Eintrag dieses nachträglich eingehefteten Blattes verweist Klemperer abschließend auf den chronologischen Verlauf des Reiseberichts auf dem vorhergehenden Blatt: „Sonnabend u. Sonntag 6 u. 7. Sept 47 Kreisconferenz der SED Dresden cf das Blatt vor Görlitz 1. Sept.“ (SZS I, 429, ungekennzeichnete Stelle, 05.09.1947). Im Druck wird das Notat vom 7. September, in dem ergänzende Beschreibungen zur Reise und der Fortgang der chronologischen Ereignisse vermerkt werden, ungekennzeichnet als Teil vom 5. September abgebildet, um die chronologische Linie einzuhalten. Dadurch entgeht dem Leser die komplizierte Struktur des Tagebuchs. Denn wie aus der zitierten Systematisierung zu den Blättern mit den Einträgen vom 1. bis zum 5. September 1947 deutlich wird, legt Klemperer durchaus Wert darauf, die fehlende Linearität durch Datierungen und zusätzliche Kommentare aufzuheben. Der Lesefluss im Original ist nicht mehr chronologisch. Doch inhaltlich lässt sich weiterhin eine lineare Struktur erkennen.
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Weitere Faktoren, die zur Zerlegung einzelner Tagebucheinträge führen, sind Klemperers wachsende berufliche und gesellschaftliche Einbindung und der damit verbundenen Zeitmangel.209 Ab Ende 1945 entwickelt sich dies zu einem dauerhaften Thema im Tagebuch, das sich entscheidend auf die Struktur der Aufzeichnungen auswirkt. Denn durch die wachsenden Verpflichtungen gelingt Klemperer häufig tagelang kein Eintrag. Da er jedoch das Gefühl hat, wichtige, berichtenswerte Dinge zu erleben, versucht er, „nachzuholen“ (vgl. z.B.: SZS I, 269, 12.07.1946) was er erlebt hat. Dementsprechend gewinnen die von ihm so genannten „Nachträge“ entscheidende Bedeutung.210 Sie stellen die auffälligste Veränderung dar im Vergleich zu den Aufzeichnungen vor 1945: In großer Zahl und in oft beträchtlichem Umfang prägen sie zunehmend das Bild des Tagebuchs und sind Ausdruck des unbedingten Willens, der Aufgabe nachzukommen, „Material“ zu sammeln. Dabei entstehen rückblickende Berichte, die nicht mehr dem Kriterium der Gleichzeitigkeit entsprechen, das häufig als Kennzeichen der Tagebuchgattung angenommen wird. Denn die Einträge werden anhand von Notizzetteln entwickelt, auf denen Klemperer die wichtigsten Dinge vermerkt, bis er die Zeit für sein Tagebuch findet (vgl. z.B.: SZS I, 175, 20.01.1946; siehe auch Exkurs 9: Nachträge). Einerseits geht dadurch ein Teil der zeitnahen Auseinandersetzung mit den Inhalten der Notate verloren. Es ist anzunehmen, dass die auf den Stichwortzetteln vermerkten Themen eine Vorauswahl darstellen, die spontane Randbeobachtungen größtenteils aus-
ϮϬϵ Dies wird in der Druckausgabe von Walter Nowojski nur ungenügend deutlich, da große Teile der Aufzeichnungen gekürzt wurden. Dabei gehen Einträge unter, die deutlich zeigen, wie stark sich der Zeitmangel auf Klemperers Schreiben auswirkt. Beispielsweise fehlt ein Eintrag, der offenbar nach Notierung des Datums nicht stattfinden konnte. Alles, was unter dem Datum des 31. März 1946 steht, ist der Satz: „Zeit fehlte“ (SZS I, 223, ungekennzeichnete Stelle, nicht gedruckter Eintrag vom 31.03.1946). ϮϭϬ Im Dezember 1945 gerät Klemperer beispielsweise in die Situation, dass es ihm nicht gelingt, parallel zu den Ereignissen Bericht zu erstatten. Beginnend am 7. Dezember 1945 versucht er, nachzutragen, was er seit dem 2. Dezember erlebt hat (SZS I, 153, 07.12.1945). Doch der Eintrag bricht nach einem Absatz ab. Am nächsten Tag macht er den nächsten Versuch, „das Wesentliche nachzuholen“ (SZS I, 153, 08.12.1945). Wiederum scheint ihn etwas aufgehalten zu haben, denn am Ende des Eintrags findet sich bereits die Kennzeichnung „(9.XII)“ (SZS I, 154, 08.12.1945), die darauf hinweist, dass er erst am 9. Dezember abgeschlossen wurde. Diesem Notat folgt eine mehrseitige Tagebuchaufzeichnung unter dem Datum des 9. Dezember. Darin wird chronologisch unter Nennung von Wochentag und Datum abgearbeitet, was sich seit dem 2. Dezember ereignet hat. Am 10. Dezember erklärt Klemperer dann abschließend dazu: „Der obige Nachtragsbericht ist alles, was ich in den letzten Tagen zustandebrachte“ (SZS I, 161, 10.12.1945).
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schließt.211 Dementsprechend fehlen solche Inhalte nahezu völlig in den Nachträgen.212 Andererseits wählt Klemperer bewusster aus, was er beschreiben möchte und befasst sich gezielter mit den Dingen, deren Reflexion ihm wichtig ist. Dadurch wird es möglich, nachzuvollziehen, welche Themen ihn auch in Stresssituationen stark beschäftigen. Vor der ausführlichen Darstellung einzelner Ereignisabläufe zählt Klemperer stichpunktartig die wichtigsten Aspekte auf. Dies basiert ebenfalls auf einer Technik, die er bereits in der Weimarer Republik entwickelt hat. Phasenweise leitet er nahezu jeden Eintrag mit einem solchen Überblick ein – einer Art Inhaltsverzeichnis, das unter dem jeweiligen Datum die Gescheh-
Ϯϭϭ Das wird deutlich, wenn Klemperer sich fragt: „Was war Do Fr. u. Sonnabend Vorm.? Ich weiß es nicht. Zeichen, daß ich endlich einmal wieder in die LTI getaucht bin“ (SZS I, 316, 27.10.1946). – In diesem Zusammenhang benutzt Klemperer vielfach den Begriff der „Rekonstruktion“ (vgl. dazu Halbwachs 1985, 125-162; Wyatt 1993, 244). Beispielsweise kennzeichnet er die spätere Weiterführung eines Berichts über eine Berlin-Reise vom 15. Mai 1947 in einem Einschub: „(24/5. Nun ist alles vom Späteren überdeckt, ich rekonstruiere mühselig)“ (SZS I, 376, 15.05.1947). ϮϭϮ Nur in Zeiten, die Klemperer etwas mehr Raum für sein Tagebuch geben, insbesondere während seiner Urlaubsreisen, reflektiert er über scheinbar nebensächliche Details. Bei einem Aufenthalt in Ahrenshoop fragt er sich beispielsweise: „Was ist noch zu berichten? In den Sanddünen sind Löcher: da hinein schießen die Schwalben, da innen müssen ihre Nester sein. Über den Sand hüpfen merkwürdige gläserne Tiere, wie Heuschrecken etwa[s] schief als hätten sie nur einen Flügel. Ganze Schwärme springen Morgens“ (SZS I, 268, 5. Stelle, 12.07.1946). Klemperer hat in diesem Urlaub Zeit über Dinge zu schreiben, die sonst nahezu aus seinem Tagebuch verschwunden sind. Selten berichtet er in seinem Alltag noch über Naturerlebnisse. Seine Einträge sind von Vortragsreisen, Arbeitsgesprächen und einer Unmenge von Begegnungen mit Menschen bestimmt. Nun sitzt er in Ahrenshoop und hat Zeit, über Schwalbennester und Sandflöhe nachzudenken. Deshalb ist dies auch „berichtenswert“. Inhaltlich bilden diese Überlegungen einen Kontrast zu den sonstigen Eintragungen der ersten Jahre der Nachkriegszeit. Doch gerade darin liegt die Bedeutsamkeit der Antwort auf die Frage „Was ist noch zu berichten?“. Denn hier agiert Klemperer wieder nach Mustern, die er während seiner großen Schiffsreisen in der Weimarer Republik entwickelt hat: Das kleinste Detail kann interessant, bedeutsam und beschreibenswert sein. Auch das Resümee der Urlaubstage folgt dieser Ausrichtung: „Die bleibenden Eindrücke von Ahrenshoop: Die Schilfdächer u. Zäune, die zerstörte Batterie, [...?], der Überblick See – Bodden“ (SZS I, 275, 1. Stelle, nicht gedruckter Eintrag vom 14.07.1946).
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nisse zusammenfasst.213 Insbesondere bei Notaten, die nicht chronologisch in den Textverlauf eingefügt werden können, erweist sich das als hilfreich.
Ϯϭϯ Exemplarisch dafür ist eine Aufzählung, die unter dem 22. September 1947 notiert wird. Klemperer hat wieder einzelne Tagebuchblätter auf eine Reise mitgenommen, um Nachträge zu fertigen, für die er bisher keine Zeit fand. Deshalb steht dieser Eintrag (auch im Druck) nach dem 28. September, in dem das auf den kommenden Seiten Berichtete bereits vorweg genommen wird: „Die nachfolgenden Blätter schrieb ich in Berlin über die Zeit vom 13.–24. Sept – nur die Schilderung des SED-Parteitages selber, 21–24 Sept, fehlt noch u. soll dort angehängt werden. Hier in Kürze, was es inzwischen seit meiner Rückkehr aus Berlin, Mittwoch 24/9 Nachts vel Do 25. Morgens um 1 Uhr etwa, in Dresden an Erwähnenswertem gab...“ (SZS I, 433, 28.09.1947). Nicht nur am Bewahren einer allgemeinen – wenn auch nicht chronologischen – Linearität ist Klemperer interessiert. Er gibt sogar an, in welchem Zeitraum welcher Teil des nachfolgenden Textes entstanden ist. Zusätzlich ergänzt er noch, was zwischen dem 24. und 25. September 1947 geschehen ist, weil dies nicht zum Nachtrag gehört. Auf dem Blatt, welches Klemperer auf seiner Reise bei sich hat, berichtet er ausführlich über die vergangenen Ereignisse. Dazu vermerkt er als erstes einen Überblick, der ihm einerseits die Darstellung der Details erleichtern wird, andererseits als Orientierungshilfe für die unterschiedlichen Geschehnisse fungieren kann: „Seit Samstag 13/9 lebt das Tagebuch von kümmerlichen Bleistift-Stichworten. Hetze u. Hitze immerfort. / Überblick: [...]“ (SZS I, 434, 2. Stelle, 22.09.1947). Anhand dieser Notizen fertigt Klemperer die Ausformulierung des Erlebten. Wie angekündigt, wird am 24. September „die Schilderung des SED-Parteitages [...] angehängt“. Allerdings gelingt es Klemperer nicht, den Bericht an diesem Tag fertigzustellen, wie aus einer weiteren Datierung innerhalb des Textes (vgl. SZS I, 439, 24.09.1947) deutlich wird. Der Reisebericht hat dementsprechend nicht nur mehrere Teile, sondern entsteht rückblickend über einen langen Zeitraum hinweg. Bemerkenswert ist dabei, dass es sich bei den Notizen nahezu ausschließlich um Ereignisse handelt, die einen öffentlichen Charakter haben. Sie betreffen Klemperers berufliche und politische Verpflichtungen, nicht seine privaten Beobachtungen und Begegnungen. Erst am Ende seines ausführlichen Berichts gibt er zusätzlich Auskunft über „Mein privates Leben in diesen 5 Tagen: [...]“ (SZS I, 440, 1. Stelle, 24.09.1947). – Die Tiefenstruktur dieses umfassenden rückblickenden Reiseberichts macht sehr deutlich, dass Klemperer großen Wert auf die Vermittlung möglichst vieler Informationen legt. Die Reihenfolge der Ereignisse und auch der Zeitraum, in dem darüber berichtet wird, sind zweitrangig, solange systematisch verständlich bleibt, wann was geschah. Der „Überblick“ zu Beginn des Eintrags vom 22. September trägt ebenso wie die Ankündigung am 28. September und die zwischenzeitlichen Orts- und Zeitangaben dazu bei, eine Verlaufskurve zu kennzeichnen, anhand derer der Ablauf der einzelnen Erlebnisse nachvollziehbar wird.
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Diese Aufzählungen fehlen im Druck nahezu gänzlich. Dadurch wird ein entscheidendes Kriterium der Nachkriegstagebücher Klemperers unterschlagen. Denn die zunehmende Auflistung von Ereignissen zeigt an, wie stark sich die enorme Anzahl an Arbeitsreisen nach 1946 auf Klemperers Schreibweise auswirkt. Weil ihm die Zeit fehlt, ausführliche Einträge zu machen, erfasst er große Lebensabschnitte ausschließlich durch eine Kombination aus rückblickenden Zusammenfassungen und temporären Versuchen, gegenwartsnah zu beschreiben. Dieses Vorgehen steht in krassem Gegensatz zu den Aufzeichnungen aus dem „Dritten Reich“ und unterscheidet sich auch eklatant vom Tagebuch der Weimarer Republik. Ebenfalls geändert hat sich der Umgang mit Themen, die außerhalb des Tagebuchs in Textform gebracht werden können. Zwischen 1933 und 1945 sammelt sich – erzwungen durch die äußeren Umstände – nach und nach das gesamte Schreiben im Diarium. Egal, ob Klemperer Zeitungsartikel analysiert, Romane exzerpiert oder Entwürfe für eine spätere „LTI“-Analyse entwickelt – alles ist Teil des Tagebuchs. Nach 1945 kann er wieder außerhalb der täglichen Notate Texte schreiben. Klemperer muss sich nicht mehr ausschließlich auf das Tagebuch beschränken. Selbst die Lektürenotizen, die auch in der Weimarer Republik zeitweise Teil des Tagebuchs waren, werden wieder ausgelagert. Sie kommen in den Eintragungen nicht mehr vor. In der Folge verweist Klemperer für verschiedene Informationen wieder häufiger auf außerhalb der Eintragungen verfasste Texte.214 Auch das eigene Tagebuch zitiert er mehrfach als Beleg für bestimmte Zusammenhänge. Denn nun ist es – anders als im „Dritten Reich“, als Klemperer keinen Zugriff auf seine früheren Aufzeichnungen hatte – möglich, jedes Notat nachzulesen. Zudem arbeitet er im Zuge seiner „LTI“ die Tagebücher 1933-1945 intensiv durch. Er hat deshalb einen gewissen Überblick über die darin enthaltenen Informationen. Das öffnet ihm die Augen für inhaltliche Zusammenhänge von weit auseinander liegenden Notaten und führt dazu, dass er sich um das Hervorheben dieser Verbindungen bemüht. Das funktioniert
Ϯϭϰ So erklärt Klemperer beispielsweise bei der Erwähnung eines Mannes, bei dem er auf einer Dienstreise übernachtet: „Hierüber cf Bericht an die Partei“ (SZS I, 218, 4. Stelle, 26.03.1946). Nicht das Tagebuch, sondern ein offizieller Bericht, den Klemperer für seine Partei über die Universität Jena verfasst hat, enthält die Informationen zu dem Gastgeber. Im SLUB-Nachlass ist der genannte Text als maschinenschriftlicher Durchschlag unter der Signatur Mscr. Dresd. App. 2003, 818 erhalten (Der Text wurde von Klemperer handschriftlich auf den 25. März 1945 datiert. Allerdings ist zu vermuten, dass er sich im Datum irrte und eigentlich 1946 meinte. Denn im März 1945 befand sich Klemperer noch auf der Flucht vor den Nationalsozialisten. Vgl. dazu auch Kapitel IV.2).
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zum einen als Verweis auf lange zurückliegende Eintragungen.215 Zum anderen durch die Verknüpfung von Informationen innerhalb einzelner Einträge.216 Dadurch zeigt sich, dass es Klemperer nicht nur eine Aneinanderreihung von Informationen geht. Vielmehr wird das Tagebuch mehr und mehr zu einem komplexen Konstrukt, das langfristige Entwicklungslinien bewahren und darstellen soll.217 Das dabei verfolgte Prinzip der Verknüpfung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft durch gezielt eingesetzte Vor- und Rückverweise spiegelt die Vielschichtigkeit seines Lebensverlaufs. Ebenso wie die Tagebucheintragungen durch diese Technik nicht mehr linear verlaufen, sondern allein durch die Orientierung an Daten, Orten und Hinweisen auf die Reihenfolge der Notate im Zusammenhang verständlich werden, funktioniert Klemperers Wahrnehmung seines Lebens nicht ausschließlich auf einer Ebene. Im Rückblick hebt er als Diarist bestimmte Entwicklungen hervor, belegt sie durch gegenwärtige Erlebnisse mit anderer Bedeutung und verändert sie in der Erinnerung zusätzlich. Er setzt sich demnach mit der eigenen Vergangenheit nicht zeitlich linear, sondern thematisch sortiert auseinander. Die dadurch entstehende Verschachtelung ähnelt Techniken, die in lebensbeschreibenden Texten wie einem Reisebericht oder auch einer Autobiographie bewusst als Gestaltungsmittel eingesetzt werden. Für das Tagebuch nimmt die Gattungstheorie an, dass es aufgrund seiner chronologischen Entwicklung derartige Staffelungen nicht beinhalten kann. Klemperer widerlegt dies in seinem Diarium, indem er Informationen zeitlich versetzt verzeichnet bzw. diese später erneut unter anderem Gesichtspunkt diskutiert. Mit dem konkreten Verweis auf vorherige Aufzeichnungen knüpft er bewusst an frühere Informationen an, entwickelt sie weiter oder betrachtet sie neu. Durch die Koppelung an externe Texte gelingt es ihm, über den Kontext des Tagebuchs hinaus Quellen zu bestimmen, die ergänzend zu seinen Eintragungen informieren. Dennoch dient das Tagebuch weiterhin zur Stoffsammlung. Beispielsweise führt Klemperer auch nach 1945 seine Sprachbeobachtungen fort. Er beginnt damit, Gedanken zu einer „Lingua quartii imperii“, also LQI, zu notieren (vgl. SZS I, 26, 25.06.1945). Des Weiteren entwickelt er neue Ideen
Ϯϭϱ Klemperer merkt zum Beispiel im Zusammenhang mit einer Episode über einen inhaftierten Juden an: „[...] (s. mein Tgb. aus der Hitlerzeit) [...]“ (SZS I, 336, 10.01.1947). Ϯϭϲ Beispielsweise verweist Klemperer im Zusammenhang mit der Hoffnung auf eine Gastprofessur in Berlin auf vorher beschriebene Gespräche und Kontaktknüpfungen, durch die er sich Hilfe erhofft: „Über die großen Erfolge hier, richtiger über die erzeugten Hoffnungen: s.o.“ (SZS I, 377, 2. Stelle, 15.05.47). Ϯϭϳ Diesen Aspekt der Tagebuchführung hat Klemperer sowohl in der Weimarer Republik als auch 1933-1945 wenig betont. Es ging ihm vordergründig um das jeweils Beschriebene. Das resultiert insbesondere im „Dritten Reich“ aus der fehlenden Zugriffsmöglichkeit auf frühere Tagebucheintragungen.
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für literaturgeschichtliche, bzw. gesellschaftsanalytische Texte in seinen Tagebucheintragungen (vgl. z.B.: SZS I, 409, 18.07.1947). Auch mögliche Romanmotive werden fortgesetzt notiert.218 Denn all diese Themen sollen ebenso erinnert werden wie der Alltag Klemperers. Zwischenergebnis 1945-1947 Klemperers Einstellung zum Tagebuch ändert sich nach dem Ende des „Dritten Reichs“ entscheidend. Zunächst ist der Materialwert des Diariums für die Weiterverarbeitung in andere Texte zentral. Dabei werden die gegenwärtigen Eintragungen paradoxerweise zu einer Art Entwicklungschronik der „LTI“ und verstärkt der Ort kritischer Auseinandersetzungen mit dem eigenen Tagebuchschreiben. Die Erkenntnis, während des „Dritten Reichs“ viele Redundanzen und Unwichtigkeiten verzeichnet zu haben, problematisiert die Arbeit am Diarium neu. Weil aber der Wert von Erinnerungen für Klemperer anwächst – zum einen aufgrund der Erkenntnisse, die aus der Arbeit an der „LTI“ gewonnen werden, zum anderen aufgrund der wachsenden Todesahnungen – setzt er seine Notate fort. Durch seine hektische Lebensführung ist er dabei noch stärker als bisher gezwungen, die Systematisierung der Aufzeichnungen zu betreiben. So ordnet er insbesondere anhand der unzähligen rückblickenden Nachträge seine Eintragungen.
VII.10 1948-1951 – „N ICHT
FRAGEN
–
WEITER “
219
Ende der vierziger Jahre lebt Klemperer beruflich und privat in gesicherten Verhältnissen. Allerdings gelingen ihm nicht mehr jene großen Texte, die er in früheren Jahren entwickelte. Seine effektive Produktivität, über die er sich lebenslang definiert, lässt stark nach. Er muss sich eingestehen, dass er nicht mehr zu seiner früheren Leistungsfähigkeit zurückkehren kann. Insbesondere im Zusammenhang mit der Wiederaufnahme der Arbeit an dem während des „Dritten Reichs“ unterbrochenen Manuskript der französischen
Ϯϭϴ Exemplarisch hierfür ist die wiederholte Erwähnung eines Missgeschicks Klemperers: „Sehr langer freundlicher Brief vom Matrosen-Schröder. Welch ein unwahrscheinlicher Roman steckt dahinter! Er gibt mir vor Monaten das Blatt mit dem ‚Gelben Mondʻ in Gutes Vorzimmer, ich verliere es, er bekommt es wieder in die Hände u. ist gekränkt. Ich erfahre das sehr viel später durch seinen Freund, den Dr. Zimmermann u. schreibe auf dessen Rat an Sch., ich vermißte, erbäte zurück ... Im Amt soll Schr. sehr wenig bequemer Vorgesetzter sein“ (SZS I, 251, 4. Stelle, 01.06.1946; vgl. dazu auch SZS I, 245, 6. Stelle, 16.05.1946). Ϯϭϵ SZS II, 217, 3. Stelle 06.10.1951
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Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts wird ihm dies bewusst. Das Grundproblem dieser nachlassenden Produktionsfähigkeit erkennt Klemperer, als er den ersten Band des Buchmanuskripts liest: „Ich zersplittere u. vergeude mich aus Eitelkeit u. Faulheit (denn Referate halten, geschäftig sein etc ist leichter als meine Sachen geduldig ausarbeiten)“ (SZS I, 526, 29.03.1948). Statt intensiv an der Fortsetzung bzw. Überarbeitung der Literaturgeschichte zu arbeiten, „zersplittert“ Klemperer sich für Vorträge. Sie ermöglichen ihm direkten Kontakt zu einem Publikum, das ihm Selbstbestätigung gibt. Demnach hält ihn die Sehnsucht nach konkreter Anerkennung von der konzentrierten wissenschaftlichen Arbeit ab. Dadurch entsteht ein Widerspruch zwischen dem Wunsch, sich ganz auf die Forschung zu konzentrieren und dem großen Bedürfnis nach fühlbarem Erfolg. In früheren Jahren waren die Publikationen der Schlüssel zur Anerkennung durch die Außenwelt. Jetzt nutzt Klemperer trotz körperlicher Erschöpfung (vgl. SZS I, 603, 05.11.1948) vornehmlich seine Fähigkeiten als Redner, um sich Selbstbestätigung zu verschaffen. Er zieht sich auf seine politischen und universitären Verpflichtungen zurück und entgeht auf diese Weise der Auseinandersetzung mit seiner nachlassenden Schreibkraft.220 Langfristig befriedigt Klemperer dies jedoch wenig, denn die Erfolge als Vortragsreisender sind von kurzer Dauer und können nichts zu seinem langfristigen Ziel – dem Bewahren seiner Person durch Text – beitragen. Deshalb kehrt er – auch wenn ihm seine früheren Arbeitsziele phasenweise gleichgültig sind (vgl. SZS I, 595, 10.10.1948) – stets zu dem Gedanken zurück, seine im „Dritten Reich“ immer wieder formelhaft aufgezählten Buchprojekte (vgl. dazu z.B.: ZA I, 700, 25.12.1941) zu vollenden. Nachdem die „LTI“ publiziert wurde, steht Klemperer vor der Frage, ob er sich der französischen Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts oder dem „Curriculum vitae“ widmen soll. Über einen langen Zeitraum hinweg trifft er jedoch keine konkrete Entscheidung. Vielmehr blättert er unentschlossen in seinen wissenschaftlichen und autobiographischen Manuskripten. Mehrere Jahre schwankt Klemperer zwischen den beiden Buchprojekten (vgl. z.B.: SZS I, 591, 28.09.1948; SZS II, 118, 03.01.1951; SZS II, 225, 10.11.1951).221
ϮϮϬ Er argumentiert beispielsweise: „...wenn so an Publicieren nicht zu denken, dann ist es praktischer, mich ganz auf die Universitätstätigkeit usw. zu verlegen, d. h. nicht abzudanken. Denn ob ich den Heroismus aufbringe, so ganz für den Schreibtisch zu schreiben, ist mir ungewiß, u. ich weiß auch nicht, wieweit ich überhaupt noch zum Produzieren fähig bin. Es ging ja in letzter Zeit gar nicht mehr“ (SZS II, 127, 27.01.1951). Hierin liegt auch der Grund für Klemperers standhafte Weigerung, sich pensionieren zu lassen (vgl. SZS II, 155, 15.04.1951). ϮϮϭ Häufig artikuliert Klemperer in seinen Überlegungen zu den Buchprojekten auch seine grundsätzlichen Zweifel an deren Sinnhaftigkeit: „Ich glaube nicht mehr so recht ans Fertigmachen meines 18ième ... Ich bin merkwürdig gemischt
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Das Tagebuch dient derweil nicht nur zur Diskussion der Frage, welches Buch fortgesetzt werden soll, sondern auch weiterhin zur Ideensammlung. Neben Inspirationen für völlig neue Projekte,222 verzeichnet Klemperer insbesondere „Stoff“ für das „Curriculum vitae“.223 Er hofft weiterhin auf eine Möglichkeit, das Buch zu Ende zu führen (vgl. z.B.: SZS I, 555, 27.06.1948). Denn gerade die Autobiographie repräsentiert seine Hoffnung auf eine Dauerhaftigkeit des Lebens, die über den Tod hinaus Bestand haben kann. Deshalb verfolgt Klemperer sehr genau die gesellschaftlichen Veränderungen und notiert speziell Situationen, die ihm symptomatisch für die DDR scheinen für das „Curriculum vitae“.224 In dieser Stoffsammlung je-
aus Eitelkeit u. müdem Gefühl der vanitas. Alle Lebenswerte sind mir zweifelhaft geworden, die privaten u. die politischen. Man weiß zu wenig von dem, was als wirklicher Wert hinter Leben u. Menschheit steckt“ (SZS II, 40-41, 30.05.1950). ϮϮϮ Insbesondere Situationen, die ihm als Romanvorlage erscheinen, notiert Klemperer mehrfach (vgl. z.B.: SZS I, 520, 2. Stelle, 12.03.1948; SZS II, 156, 4. Stelle, 20.04.1951). ϮϮϯ Mal vermerkt Klemperer – scheinbar ohne direkten Zusammenhang zum sonstigen Notat – einen möglichen Untertitel für das geplante Buch (vgl. SZS I, 497, 23.01.1948), an anderer Stelle kommentiert er die Beschreibung von Briefen seiner Schwägerin Änny Klemperer mit einem Hinweis auf das „Curriculum vitae“ (vgl. SZS I, 592, 28.09.1948). Viele Beobachtungen scheinen ihm symbolisch für seine Autobiographie und werden deshalb als diesem Text zugehörig im Tagebuch gekennzeichnet (vgl. z.B.: SZS II, 36, 18.05.1950). Insbesondere im Zusammenhang mit Erinnerungen an die Zeit des „Dritten Reichs“ verweist Klemperer mehrmals auf seine Absicht, das Erlebte mit Gegenwärtigem in seinem „Curriculum“ zu verbinden (vgl. z.B.: SZS II, 160, 30.04.1951). ϮϮϰ Exemplarisch dafür ist ein Notat, in dem Klemperer Beobachtungen zu seinem Chauffeur beschreibt: „Der selbe Fahrer wie neulich, dieselben Erzählungen wie die anderer [sic] Fahrer: der Krieg, wie man sich zu drücken suchte, wie man sich durchhungerte, wie man der Gefangenschaft entging oder nicht entging, die Feldgendarmen etc. etc. Ich setzte mich mit dem Mann zu einem nächtlichen Kaffee in die ‚Raststätteʻ (LQI) kurz vor Brehna. Auch das eine Romanscene der Gegenwart. Chefs u. Fahrer am selben Tisch, Bekannte treffen sich, die DDR so klein! {...} All solche Kleinigkeiten müssen frisch notiert werden – Zeitfrage; gerade diese Kleinigkeiten sind kulturhistorisch wichtig. Sind wesentlicher Stoff meines Curriculum Vitae. Werden sie Stoff bleiben oder Werk werden? Auch das Zeitfrage. –“ (SZS II, 156-157, 20.04.1951). Es wird deutlich, dass Klemperer nach wie vor betont, vor allem die „Kleinigkeiten“ beobachten zu wollen. Damit setzt er ein Beobachtungsmuster fort, das er bereits in der Weimarer Republik etabliert hat.
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doch verharrt er.225 Ein Grund dafür ist die Erkenntnis, dass seine Betrachtungsweise der gesellschaftspolitischen Entwicklungen nicht mit der offiziellen Linie konform geht. Spätestens ab Anfang der fünfziger Jahre ist Klemperer klar, dass er seine gesellschaftskritischen Vermerke226 im Tagebuch, die unter dem Verweis auf das „Curriculum vitae“ entstehen (vgl. z.B.: SZS II, 214, 06.10.1951), in der DDR nicht publizieren kann.227 Denn seine Vorstellungen davon, was Literatur im weitesten Sinne leisten soll und was nicht, stimmen nicht mit dem politisch geforderten Geschichtsverständnis überein. In der DDR wird die Kunst als „Gesellschaftsauftrag“ im Rahmen der sozialistischen Staatsphilosophie betont. Gegen diese „kulturpolitische Leitlinie“ sperrt sich Klemperer.228 Das zeigt auch der wiederholte Verweis auf eine Sprache des „Vierten Reichs“ im Zusammenhang mit Notizen zur Autobiographie (vgl. z.B.: SZS I, 592, 28.09.1948). Offiziell
ϮϮϱ Dies konstatiert Klemperer wiederholt selbst mit einer gewissen Verzweiflung: „Immerfortiges Lesen, Vorlesen, Sammeln, Notieren – aber wann komme ich wieder einmal zum Schreiben? ... Seit dem 9. November Stillstand“ (SZS I, 501, 03.02.1948). ϮϮϲ Hatte Klemperer in den ersten Nachkriegsjahren deutlich für die Politik der sowjetischen Besatzungsmacht gesprochen, so relativiert sich diese Einschätzung ab 1949. Er wird sich bewusst, dass sein politisches Engagement vornehmlich aus seinem persönlichen Ehrgeiz, nicht aber aus klarer Überzeugung resultiert. Er sieht, dass die Entwicklung der DDR in vielerlei Hinsicht jener im „Dritten Reich“ gleicht“ (vgl. z.B.: SZS I, 676, 02.09.1949). ϮϮϳ Das führt dazu, dass Klemperer den Eindruck hat, wieder in eine ähnliche Position wie im Nationalsozialismus gezwungen zu werden: „Ich werde in die Lage der Hitlerjahre zurückgedrängt: für den Schreibtisch arbeiten. Vielleicht veröffentlicht es jemand später einmal. –“ (SZS II, 38, 24.05.1950). ϮϮϴ Bei der Lektüre einer wissenschaftlichen Arbeit über Thomas Manns Roman „Doktor Faustus“ notiert er beispielsweise: „Fischer wirft Mann vor, ‚nicht die gesellschaftlichen Wurzeln u. Hintergründeʻ des deutschen Zusammenbruchs geschildert zu haben. Das ist genau der Vorwurf, den Barbusse gegen den Assommoir erhebt. Aber der Romanautor ist doch nicht verpflichtet, die Geschichte der Gesellschaft ab ovo zu schreiben. Irgendwo muß er doch den Anfang setzen“ (SZS II, 141, 20.02.1951). Klemperer sieht die Aufgabe eines Romanautors nicht in der grundsätzlichen Erläuterung der „großen“ Zusammenhänge. Vielmehr versteht er die Auseinandersetzung mit Einzelheiten und spezifischen Verknüpfungen als zentral. Dies entspricht seiner Einstellung als Tagebuchschreiber, vor allem die gegenwärtigen und symptomatischen Bedingungen eines Zeitraums erfassen zu wollen. Klemperer ist weiterhin weder als Diarist, noch als Literaturwissenschaftler daran interessiert, langfristige Entwicklungen von Beginn an darzustellen (vgl. dazu auch SZS II, 140, 20.02.1951).
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schweigt Klemperer allerdings, um seine sichere gesellschaftliche Position nicht zu gefährden.229 Die politischen Differenzen und die daraus resultierenden Einschränkungen sind jedoch nicht der Hauptgrund dafür, dass Klemperer die Weiterbearbeitung seines 1942 zwangsweise unterbrochenen „Curriculum vitae“ immer wieder aufschiebt. Auch der durch wachsende universitäre und politisch-repräsentative Funktionen entstehende Zeitdruck hindert nur indirekt an der Fortführung eines expliziten Schreibprojekts. Vielmehr scheint Klemperer seine Fähigkeit eingebüßt zu haben, sich langfristig auf einen Themenkomplex zu konzentrieren und intensiv zu forschen. Zwar liest er weiterhin fortwährend Fachliteratur und fertigt dazu auch gelegentlich – meist außerhalb des Tagebuchs – Exzerpte (vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 1148-1165),230 doch ihm fehlt die Kraft, um die daraus entwickelten Gedanken in einem eigenständigen Buchprojekt zu verarbeiten. Er veröffentlicht zwischen 1948 und 1951 nur wenige kleinere Aufsätze (vgl. Kunze 1958). Besonders nach dem Tod Evas am 8. Juli 1951 verstärkt sich Klemperers Gefühl, die Arbeit an Schreibprojekten, die seine Existenz belegen sollen, sei sinnlos. Er beklagt, „so furchtbar allein u. leer“ zu sein und „nicht arbeiten“ zu können (SZS II, 197, 24.07.1951). Dabei hat er entsetzliche „Angst vor dem Nichts“ (SZS II, 194, 15.07.1951). Er fürchtet sich davor, dass sein Streben nach Dauerhaftigkeit in seinen Werken und seine beruflichen Tätigkeiten ohne Bedeutung sein könnten. Er kann sich des schon in früheren Jahren immer wieder geäußerten Gedankens, seine Existenz könnte sinnlos sein, nicht mehr erwehren. In der Folge potenzieren sich die Reflexionen über Alter, Tod und Vergänglichkeit. Klemperer versucht, sich mit fortge-
ϮϮϵ Die spezifischen Gründe für Klemperers Schweigen können in dieser Arbeit nicht näher diskutiert werden. Es sei allerdings angemerkt, dass er sich diesbezüglich emotional in einem steten Widerspruch bewegt, den er verschiedentlich im Tagebuch beklagt: Einerseits lässt er sich als Volkskammerabgeordneter und Universitätsprofessor einsetzen, andererseits erkennt er die Fehler des Systems. Mit der steigenden Unzufriedenheit mit der politischen Situation wächst sein Misstrauen gegenüber seinem privaten Ehrgeiz. Er wirft sich „Vanitasgedanken“ vor (vgl. dazu z.B.: SZS II, 116, 31.12.1950). Gleichzeitig vermerkt er unzufrieden, dass seine Karriere nicht so glanzvoll sei, wie sie scheine (vgl. z.B.: SZS I, 713, 31.12.1949). Die Ambivalenz seiner Position formuliert Klemperer wiederholt mit der Metapher „zwischen den Stühlen“, welche auch im Titel des dritten Teils der gedruckten Tagebücher steht (vgl. z.B.: SZS I, 637, 10.04.1949). ϮϯϬ Sobald Klemperer nicht mehr wenigstens lesen und notieren kann, hat er den Eindruck, sich in geistigem „Stillstand“ zu befinden. In Situationen, in denen er nicht arbeiten kann, beispielsweise im Urlaub, klagt er schnell: „...Ich muß in die Arbeit zurück, hier komme ich mir wie ein wanderndes Gespenst vor ...“ (SZS I, 576, 07.08.1948).
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setzter beruflicher Geschäftigkeit zu „betäuben“. Er möchte durch die Übernahme möglichst vieler Verpflichtungen – beispielsweise der Doppelprofessur in Halle und Berlin – der Infragestellung seines Seins entgehen. Dennoch unterbricht er sein Tagebuch nicht vollends, sondern folgt einer Technik, die er in den Jahren vor Eva Klemperers Tod entwickelt hat: Er entzieht sich der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit in Bezug auf sein Schreiben, indem er sich speziell auf sein Diarium fixiert:231 Spätestens seit Anfang 1948 geht er einer direkten Konfrontation mit dem Gefühl der Produktionsunfähigkeit aus dem Weg, indem er die ausbleibende Arbeit an der Literaturgeschichte und der Autobiographie mit der Fortführung der Tagebuchaufzeichnungen kompensiert. Im Diarium bleibt er als Schreibender aktiv, auch wenn ihm die zusammenhängende Arbeit an einem zur Publikation bestimmten Werk schwer fällt. Das Tagebuch ist nicht nur der Ort, an dem Klemperer die nachlassende Schreibkraft beklagt, sondern ebenso Beleg für seine fortgesetzte und grundsätzliche Fähigkeit zum Schreiben. Das Ausbleiben eines konkreten Buchprojektes ist demnach nicht mit dem kompletten Versagen der Produktionskraft gleichzusetzen. Denn im Tagebuch
Ϯϯϭ Das zeigt auch der erste Eintrag, den Klemperer nach dem Tod seiner Frau verfasst: Am 8. Juli 1951 hat er bereits einen ausführlichen Bericht vom Vortag über eine Reise zum VVN-Kongress nach Wien beendet. Hernach schreibt er unter dem aktuellen Datum über die Ereignisse des gegenwärtigen Tages. Nachdem er in der Nacht seine verstorbene Frau im Schlafzimmer gefunden hat, beginnt er einen weiteren Eintrag auf einer völlig neuen Seite. Die Überschrift „Sonntag Nacht 8 Juli 51“ (SZS II, 190, 08.07.1951) wird seitlich von zwei zusätzlichen (nicht gedruckten) Datumsangaben begleitet: „† 8. Juli / Trauerfeier 11. Juli“ (SZS II, 190, ungekennzeichnete Stelle, 08.07.1951). – Die Art wie Klemperer das Blatt gestaltet, weicht formal von der gängigen Schreibweise ab. Im Allgemeinen beschreibt er möglichst eng und klein jede Zeile doppelt. Der Platz wird dadurch bis aufs Letzte ausgenutzt. Auf dem Blatt, das Evas Tod mitteilt, wird die Schrift gegen Ende der Seite hin immer größer. Die letzten Zeilen bleiben sogar unbeschrieben. Klemperers Erschütterung wirkt sich auf sein Schreiben nicht nur inhaltlich, sondern auch formal aus. Dabei hat er das Gefühl, nicht zu wissen, wie er auf die Situation reagieren kann oder möchte (vgl. SZS II, 190-191, 08.07.1951). Er fühlt sich unfähig, sich von der Position des Beobachters zu lösen und ungebremst emotional zu reagieren. Er verharrt in der Betrachtung seiner Reaktionen und interpretiert diese anhand von literarischen Mustern (vgl. SZS II, 191, 08.07.1951). – Dabei artikuliert er in seinem Eintrag den Schock und die Verzweiflung über den Tod der geliebten Frau deutlich. Das Tagebuch ist Klemperers Rückhalt in allen Lebenssituationen gewesen – nun hilft es ihm auch in dieser Situation, die Fassung zurückzugewinnen. Zwar prangert er seine Reaktionen als „literarisch“ (SZS II, 190, 08.07.1951) an, doch gerade in der Reflexion darüber findet er festen Stand. Das Tagebuch ist der direkte Begleiter in der Notsituation.
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kann trotz der Schwierigkeiten, an der Fortführung der Autobiographie zu arbeiten, die Grundidee des Schreibprojektes fortgeführt werden. Ebenso wie die fertiggestellten Textteile des „Curriculum vitae“ und die wissenschaftlichen Publikationen Aufschluss über Klemperers Leben geben können, sind auch die Tagebuchaufzeichnungen – obwohl sie nicht direkt für eine Öffentlichkeit entstehen – ein Beweis für sein „Dagewesensein“. Gerade weil der Glaube schwindet, die Autobiographie und auch die französische Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts noch zu Ende führen zu können, wächst der Ehrgeiz, zumindest im Diarium die wichtigsten Lebensereignisse möglichst genau festzuhalten. Deshalb konzentriert sich Klemperer besonders auf das Bewahren von Details, die symbolische Aussagekraft für die Welt haben, in der er lebt. Das wird durch die wiederholte Verwendung der Verben „festhalten“ und „fixieren“ deutlich (vgl. z.B.: SZS I, 565, 22.07.1948). Gleichzeitig weiß Klemperer jedoch um die Widersprüchlichkeit seines Schreibziels: Er ist sich – wie schon in früheren Jahren – bewusst, dass er nicht vollständig die Ereignisse in seinem Umfeld in schriftlicher Form erfassen und festhalten kann. Deshalb hat er weiterhin das Problem, dass sein Schreiben eine Leerstelle kreiert, die er nicht auffüllen kann: „– – wer sieht da durch? Sumpf ist alles, was ich fasse. Und es fehlt an Zeit das auszuführen. Und wofür schreibe ich’s auf? Zum Curriculum komme ich doch nicht mehr. – – Einen Ärger mit der Univ. Rostock möcht ich noch fixieren“ (SZS I, 554, 2. Stelle, 26.06.1948).
Allerdings steht nicht mehr das „Was sehe ich?“ im Vordergrund. Vielmehr wird die Frage nach dem „Und wofür schreibe ich’s auf?“ zentral (vgl. dazu auch SZS II, 114, 26.12.1950). Im Gegensatz zu früheren Klagen über das „Wozu?“ sucht Klemperer jedoch nicht mehr nach einer konkreten Antwort. Statt den grundsätzlichen Sinn des Tagebuchschreibens anzuzweifeln, kündigt er sofort die nächste mitteilungswürdige Information an. Die Feststellung, dass die Autobiographie wahrscheinlich nicht mehr ausgearbeitet werden könne, verliert dadurch an Gewicht. Es ist nicht mehr die Hoffnung auf diesen Text, die Klemperer in erster Linie zum Schreiben antreibt. Vielmehr geht es um das Tagebuchschreiben als solches. Ob mit dem Tagebuch ein Text geschaffen werden kann, der öffentliche Anerkennung findet, steht nicht zur Debatte. Würde Klemperer sich intensiver damit beschäftigen, käme er vielleicht zu dem Schluss, dass sein Schreiben keine Bedeutung mehr habe und aufgegeben werden könne. Das hatte 1931/1932 dazu geführt, dass er phasenweise auf Notate ganz verzichtete. Anfang der fünfziger Jahre geht Klemperer derartigen Überlegungen jedoch aus dem Weg. Er notiert keine grundsätzlichen Zweifel an der Fortführung des Diariums in der frühen Nachkriegszeit. Vielmehr würgt er Äußerungen stets ab, die in diese Richtung deuten:
378 | SCHREIBEN EIN L EBEN LANG – V ICTOR K LEMPERERS T AGEBÜCHER „Heute morgen hier Gespräch mit Frau Steinhoff, die Kolleg hielt, Frühstück in der Kellerwohnung bei Frau Voigt, Gespräch mit Christa Naeter und – stundenlang – diese Tgb-Notizen. Werden sie einmal auferstehen? Nicht fragen – weiter“ (SZS II, 217, 3. Stelle 06.10.1951).
Nicht die Brauchbarkeit des Tagebuchs für einen anderen Text oder eine Veröffentlichung ist entscheidend, sondern allein das Bedürfnis nach der Fortführung der Aufzeichnungen. Dafür akzeptiert Klemperer die ungeklärte langfristige Zielsetzung seines Schreibens. Er folgt seinem konkreten Schreibwillen und „fixiert“ das nächste Thema, das ihm beschreibenswert erscheint – sein Motto lautet nun „Nicht fragen – weiter“ (vgl. dazu auch z.B.: SZS I, 669, 08.08.1949; SZS II, 79, 01.09.1950). Das Tagebuchschreiben erhält damit nochmals eine andere Funktion als in den früheren Jahren. Es wird aus anderen Gründen mehr und mehr zur zentralen schriftlichen Arbeit Klemperers. Sein Leben lang hat er schriftstellerisch, journalistisch und wissenschaftlich Text produziert. Nun scheint ihm die Erarbeitung neuer Projekte fast unmöglich. Dennoch kann er nicht auf die Tätigkeit verzichten, durch die er sich immer definiert hat. Deshalb schreibt er, ohne dies näher zu hinterfragen, zumindest weiter Tagebuch. Die Tagebucheinträge sind eine Möglichkeit, sich gegenwärtig und rückblickend – sowohl im Schreiben als auch im Nachlesen – seines Selbst zu vergewissern. Anhand der Notate gelingt es Klemperer eigene Positionen zu überprüfen und auch zu korrigieren. Das „Curriculum“ wird dabei zu einer Art „Alibi“ für die intensive Fortführung des Tagebuchs, in dem er die letzte nahezu tägliche Bestätigung der eigenen Schaffenskraft findet. Im Gegensatz zu den früheren Aufzeichnungen betrachtet er die Eintragungen dadurch stärker als „Arbeitsergebnis“.232 Angesichts von Klemperers umfangreichen beruflichen und gesellschaftspolitischen Verpflichtungen kann er dieser neuen Bedeutung der Notate nicht ohne Weiteres nachkommen. Die vielen Reisen und unterschiedlichen repräsentativen Aufgaben halten ihn häufig vom Tagebuchschreiben ab. Weil sich jedoch die Funktion des Diariums verschoben hat, ist sein Bedürfnis nach dem Erschaffen neuer Einträge stark angewachsen. Er kompensiert deshalb die Unmöglichkeit, täglich das Erlebte zu notieren, durch immer umfangreichere Nachträge (vgl. z.B.: SZS I, 532, 29.04.1948) und Zusammenfassungen (vgl. z.B.: SZS I, 635, 20.03.1949). Insbesondere das Fortführen der Aufzeichnungen auf losen DIN-A4Blättern233 ermöglicht es, diese beiden Methoden mit Hilfe durchgehender
ϮϯϮ Das zeigt sich beispielsweise, als er nach seinem Umzug nach Halle erklärt: „Dieses Tagebuchblatt ist meine erste Arbeit hier in Halle“ (SZS II, 23, 06.07.04.1950). Ϯϯϯ Außer Mscr. Dresd. App. 2003, 142 (15.05.1947-31.12.1949) besteht auch Mscr. Dresd. App. 2003, 143 (07.01.1950-01.01.1952) aus lose zusammen liegenden DIN-A4-Blättern. Klemperer löst sich damit endgültig von der festen
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präziser Datierungen und zusätzlicher Kommentare stärker als in den früheren Tagebüchern in den Verlauf der Eintragungen einzufügen (vgl. dazu Exkurs 9: Nachträge).234 Allerdings führen die ständigen Nachträge Klemperer auch immer mehr die Schwierigkeit vor Augen, während der wenigen Schreibgelegenheiten alle wichtigen Ereignisse zu erfassen.235 Er beklagt dies mehrfach: „Ich bin seit Wochen so maßlos überhetzt u. überarbeitet, daß alles Tagebuchschreiben unmöglich ist – es stehen nur Stichworte im Terminkalender“ (SZS I, 660, 01.07.1949).
Buchform. Es gibt Hinweise darauf, dass die zweite Blattsammlung nicht in einem Ringbuchordner, sondern wirklich lose aufbewahrt wurde: Es handelt sich um sehr unterschiedliche Papierarten – sowohl im Hinblick auf die Lineatur als auch in Bezug auf verschiedene Normgrößen. Dabei kommt es häufiger vor, dass Klemperer die gelochten Blätter auf der Rückseite beginnt und dadurch eine Heftung im linearen Sinne nicht möglich gewesen wäre. Wenn die Tagebucheinträge lose gesammelt wurden, spielt Derartiges keine Rolle, weil jedes Blatt entsprechend der Datierung ins Diarium eingefügt wurde. Ϯϯϰ Beispielhaft deutlich wird dies anhand eines Reiseberichts, der eingangs mit dem 21. Mai 1948 datiert wird. Der Text entsteht über mehrere Tage hinweg – gekennzeichnet durch die mehrfache Neu-Datierung. Abschließend erklärt Klemperer deshalb: „Ich resumiere das berufliche Ergebnis: / Ordinariat Halle fest, Gastprofessur Leipzig wahrscheinlich. / Teubner: [...] / Aufbau: [...] / Reisedauer Di 18. - Mi Mittag 26. Mai / Sonntag 30. Mai 48 / 2 Blätter hatte ich lose unterwegs bei mir“ (SZS I, 546, 1. Stelle, 21.05.1948). Nicht nur die einzelnen beruflichen Ergebnisse der Reise werden zusammengefasst. Auch die Form – zwei mitgeführte Tagebuchblätter –, in der die vorstehenden Notizen entstanden, wird abschließend vermerkt. Durch das spätere Einfügen der Seiten entsteht ein fortlaufendes Bild im Tagebuch. Ϯϯϱ Hin und wieder beginnt Klemperer deshalb sogar vorausplanend Überblicke für bestimmte zu erwartende Ereignisse wie Reisen. Beispielsweise verfasst er die grobe Übersicht über eine Fahrt nach Schwerin und Berlin anschließend an den Eintrag vom 2. September 1948 unter der Überschrift „4 – 8 Sept 48 Fahrt Schwerin – Berlin / KB. Schwerin, GSS Schwerin (a) LTI b) Weltkultur u. Sowjetkultur; Präsidialrat u. Verlage Berlin“ (SZS I, 586, 1. Stelle, nicht gedruckter Eintrag vom 04.-08.09.1948). Offenbar entstand dieser Überblick vor der eigentlichen Reise, denn über dem Verweis auf den Vortrag „a) LTI b) Weltkultur u. Sowjetkultur“ vermerkte Klemperer nachträglich: „nicht zustande gekommen 5/9.“ (SZS I, 586, 1. Stelle, nicht gedruckter Eintrag vom 04.08.09.1948). Klemperer hatte erwartet, dass der Vortrag stattfinden würde und ihn dementsprechend vorausschauend angekündigt. Wegen der Absage des Veranstalters (vgl. dazu Klemperers Ausführungen in SZS I, 586, 04.09.1948) sind die dargestellten Informationen überholt. Nachträglich korrigiert Klemperer den Fehler.
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Das Beschränken auf Stichwortlisten, mit deren Hilfe zu einem unbestimmten späteren Zeitpunkt das Tagebuch aktualisiert werden soll, kommt langfristig den Inhalten der Aufzeichnungen nicht zugute.236 Immer häufiger konstatiert Klemperer die Differenz zwischen dem Erleben von bewahrenswerten Ereignissen und der Erinnerung daran. Denn er kann seine Erlebnisse nicht lange genug bewahren, um sie im Diarium zu „fixieren“. Je länger eine Situation zurückliegt, umso weniger ist er fähig, sie zu beschreiben. Zudem verfasst Klemperer zunehmend Einträge, die sich inhaltlich überschneiden, weil er sich nicht mehr erinnern kann, bereits von einem bestimmten Thema berichtet zu haben.237 Dies jedoch führt zu neuen Zweifeln an der Sinnhaftigkeit des Diariums. Denn Klemperer ist sich nicht immer sicher, dass sein Ringen um „Nachträge“ langfristig seine Existenz bewahren kann. Er weiß, dass die zeitnahe Beschreibung von Erlebtem den Charakter seiner Aufzeichnungen prägt. Gerade diese Zeitnähe kann er aber durch seine gehetzte Lebenssituation nicht gewährleisten.238 Klemperers Reaktion darauf ist allerdings nicht – wie
Ϯϯϲ Gelegentlich kommentiert Klemperer dies ironisch in einer Randbemerkung: „An den Vortrag in Schönebeck (Der soziale Roman) habe ich schon keine Erinnerung mehr, Variation der Dasselbigkeiten.. Doch: ich mußte sehr lange auf den Wagen warten, der mich zurückbrachte...“ (SZS I, 623, 1. Stelle, 03.02.1949). Ϯϯϳ Exemplarisch dafür ist der mehrfache Bericht über das Kennenlernen eines polnischen Professors. Beim zweiten Erwähnen dieser Begegnung ist sich Klemperer schon nicht mehr sicher, wann genau sie stattfand. Hatte er sie zunächst auf Freitag, den 7. Dezember 1951 datiert (SZS II, 232, 2. Stelle, 09.12.1951), so schreibt er zehn Tage später: „Engere Berührung erst hier in Halle – s. u. in Berlin ferner – Do. u. Fr.? Alles verwirrt sich im Übermaß der Hetze – [...]“ (SZS II, 232, 6. Stelle, nicht gedruckter Eintrag vom 19.12.1951). Klemperer kann nicht mehr rekonstruieren, wann welches Ereignis stattfand. Zwar versucht er im Schreiben eine Ordnung zu finden, doch das gelingt ihm nicht. Vielmehr wird deutlich, dass ihm auch das wenige Tage zuvor Geschriebene nicht mehr präsent ist. Im nächsten Eintrag greift er die Frage erneut auf: „Bestimmt falsch ist die Notiz 14/XII: in dieser Woche hatte ich nichts mit dem Polen Kott zu tun – nur die Woche vorher, u. dann intensiver am darauffolgenden Montag u. Di. in Halle – ‚s. daselbst!ʻ Dagegen gab es am Freitag noch eine Sitzung...“ (SZS II, 233, 1. Stelle, 22.12.1951). Zwar verwechselt Klemperer hier das Datum – nicht der 14., sondern der 19. Dezember ist gemeint – doch gelingt es ihm nun, die chronologische Ordnung der Ereignisse wiederherzustellen. Durch die dreifache Diskussion der Frage, wann sich die Begegnung abspielte, wird deutlich, welch großen Wert er trotz aller Hektik und scheinbar chaotischer Einträgen darauf legt, dass seine Aufzeichnungen langfristig nachvollziehbar sind. Ϯϯϴ Das Bewusstsein dieses Umstands äußert sich wiederholt in Aussagen wie der folgenden: „Was hilft die Hoffnung auf Nachholen? Der Notizzettel der Stich-
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in früheren Tagebuchaufzeichnungen – das Weglassen ganzer Wochen im Tagebuch. Vielmehr versucht er, so viel wie möglich von dem, was er erlebt hat, zumindest zu erwähnen: „Ich will nun ohne Unterbrechung durch neue Tagesnotizen die wichtigsten Dinge der letzten beiden Monate nachtragen“ (SZS I, 668, 05.08.1949). Sobald Zeit verfügbar wird, setzt Klemperer alles daran, mit Hilfe seiner Notizzettel nachzutragen, wo er war, wen er getroffen hat.239 Die veränderte Funktion des Tagebuchs führt demnach nicht nur zum Ausblenden der nachlassenden Schreibfähigkeit außerhalb der privaten Eintragungen, sondern auch zu einer neuen Einstellung zum diaristischen Anspruch. Statt größere Werke im Blick zu haben, konzentriert sich Klemperer ausschließlich auf den Moment des Schreibens selbst. Jede Information, die zu diesem Zeitpunkt in seinem Gedächtnis verfügbar ist, notiert er. Sinnfragen rücken dabei in den Hintergrund. Zwischenergebnis 1948-1951 Fortgesetzt betont Klemperer sein Ziel, vor allem die alltäglichen Dinge in seinem Tagebuch betrachten zu wollen. Dennoch verändert sich die Funktion der Aufzeichnungen entscheidend. Sie dienen nicht mehr als Vorarbeit für ein späteres Buchprojekt. Denn sowohl die vielfältigen beruflichen und politischen Verpflichtungen als auch die nachlassende Schreibfähigkeit führen dazu, dass Klemperer den Glauben an eine Autobiographie oder andere Publikationen verliert. Er veröffentlicht fast nur noch Texte, die auf früheren Arbeiten basieren. Weil er jedoch nicht ganz auf das Schreiben verzichten kann, zieht er sich auf sein Tagebuch zurück. Er versucht trotz seines Zeitmangels mit Hilfe von Nachträgen und Stichwortauflistungen möglichst umfassend zu notieren, was er erlebt. Die Frage nach dem Sinn des Tagebuchschreibens rückt dabei in den Hintergrund. Zentral ist einzig die Fortführung der Schreibtätigkeit.
worte wird immer länger, das eigentlich Tagebuchartige verflüchtigt sich notwendig ...“ (SZS I, 662, 13.07.1949). Ϯϯϵ Dabei stellt er sich immer wieder selbst die rhetorische Frage, woran er sich erinnere, beispielsweise: „Was ragt aus dem schon verschwimmenden Chaos des Montag u. Dienstag, 2. u. 3. Juli, in Wien heraus?“(SZS II, 187, 02.07.1951). Er prüft sogar im Schreiben bestimmte Daten und Zusammenhänge nach. So rekonstruiert er einmal mühselig, was sich ereignet hat und bestätigt sich dann selbst: „Richtig, das war am Freitag d. 20.“ (SZS II, 9, 5. Stelle, 27.01.1950).
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E XKURS 9: N ACHTRÄGE Die Möglichkeit, einzelne Blätter zeitweise aus dem Tagebuch zu entnehmen,240 bzw. externe Seiten hinzuzufügen, führt wiederholt zu schwer überschaubaren Abläufen in Klemperers Schreibfluss. Walter Nowojski übergeht diese Verwirrung erzeugende Arbeitsweise, indem er die Einträge nach Daten ordnet. Er verhindert dadurch nicht allein das Bewusstsein des Lesers für die Zergliederung des Textes durch die individuelle Nutzung einzelner Blätter. Er ignoriert auch spezifische Besonderheiten der Aufzeichnungen, die über die klassische Vorstellung von einer Tagebuchstruktur hinausführen. Um diese Problematik zu verdeutlichen, wird im folgenden Exkurs exemplarisch Klemperers Vorgehen beim Verfassen von Nachträgen auf einzelnen Tagebuchblättern dargestellt. Ein Beispiel für das verwirrende Durcheinander von Eintragungen, welches er phasenweise in seinem auf losen Seiten geführten Diarium erzeugt, sind die Notate über eine Reise nach Schwerin. Für diese berufliche Fahrt führt Klemperer ein einzelnes Tagebuchblatt mit sich. Er möchte am Vortragsort seine freie Zeit nutzen und nachtragen, was sich in den vergangenen Wochen ereignet hat. Vor diesem Blatt befindet sich ein Eintrag vom 11. Juli 1948. An dessen Ende wird erläutert: „Ich spanne hier das Blatt ein, das ich nach Schwerin mitgenommen hatte, und auf dem ich vorige Woche im Sekretariat des Gorkihauses Nachtragsnotizen begann“ (SZS I, 555, 2. Stelle, 11.07.1948). Dieser Ankündigung folgt ein Blatt, das mit: „Schweriner Gorkihaus Sekretariat. Mo. Vorm 5 Juli 48“ überschrieben ist (SZS I, 555, 2. Stelle, nicht gedruckter Eintrag vom 05.07.1948). Darauf beginnt der Nachtrag.241 Auf der Rückseite befindet sich allerdings kein Tagebucheintrag, sondern das „Schema des Referates ‚Kulturaufgaben der SEDʻ als Abschiedswort von der SED-Betriebsgruppe der Univ. nach dem Parteigericht, in großer Bitterkeit – Mensa 8.7.48“. Es handelt sich um einen Überblick mit Stichworten zu dem Referat, das Klemperer in Schwerin hält. Er hat demnach nur einen Teil des Blattes für sein Tagebuch verwendet und hernach die Referatsnotizen auf die Rückseite geschrieben. Beides wird Teil des Diariums. Der Kommentar „in großer Bitterkeit“ signalisiert zusätzlich die Verknüpfung von privaten Reflexionen mit den beruflichen Notizen. Die darauf folgende Seite im Tagebuch beginnt mit der Fortsetzung des Eintrags vom 11. Juli 1948, der durch das „eingespannte“ Schwerin-Blatt ϮϰϬ Gelegentlich wird diese Vorgehensweise auch im Tagebuch thematisiert. Einmal erklärt Klemperer im Zusammenhang mit Reisevorbereitungen: „Das Kofferchen ist gepackt, dies Tagebuchblatt schon aus dem dicken Journalcorpus herausgelöst“ (SZS I, 586, 2. Stelle, 04.09.1948). Ϯϰϭ Ankündigungen dieser Art sind weiterhin häufig in Klemperers Tagebuch zu finden. Auch sie kürzt der Herausgeber Walter Nowojski für den Druck weitgehend (vgl. z.B.: SZS II, 219, 3. Stelle, 13.10.1951).
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unterbrochen wurde. Durch die Überschrift „(Sonntag 11. Juli. Fortsetzung der in Schwerin begonnenen Nachträge)“ (SZS I, 560, 3. Stelle, 11.07.1948) wird die Verbindung zum vorletzten Blatt hergestellt. Obwohl die Anordnung der Notate vom 5. Juli und vom 11. Juli durch die Verteilung auf zwei an unterschiedlichen Orten beschriebene Blätter und das zusätzliche Vortragsmanuskript chaotisch wirkt, wird anhand der Datierungen und Randkommentare der chronologische Ablauf nachvollziehbar. Nicht nur Referatsvorbereitungen, auch andere Notizen auf der Rückseite einzelner Blätter und externe Dokumente242 werden so – unterstützt durch dessen lose Form – zu einem Teil des Tagebuchs. Das zeigt paradigmatisch eine Seite, auf welcher der Eintrag vom 2. Februar 1949 verfasst wurde: Er entstand einer Reise nach Leipzig als externes Notat.243 Die Tinte verlief auf der Vorderseite teilweise extrem, so dass der Text erstens kaum lesbar und zweitens die Rückseite wegen der durchscheinenden Schrift unbeschreibbar ist. Nur der vorne nicht beschriebene Teil bleibt rückseitig weiter verwendbar. Klemperer nutzt diesen Raum – was außergewöhnlich ist – für „LQI“Beobachtungen (vgl. SZS I, 623, ungekennzeichnete Stelle, 02.02.1949; siehe auch Abb. 10 im Anhang). Im Allgemeinen trennt er – im Gegensatz zu den Tagebüchern 1933-1945 – nach dem Zweiten Weltkrieg sprachanalytische Notizen von seinen Tagebuchaufzeichnungen. Nur in Randnotizen oder Kommentaren in Klammern markiert er „LQI“-Ideen. Doch an dieser Stelle nutzt er den freien Platz und fügt seine Sprachnotizen ein. Das Tagebuch wird dabei plötzlich wieder zu einer Art Arbeitsnotizbuch. Die Stichpunkte sind offenbar nicht alle zur selben Zeit entstanden. Die angefügten Datierungen lassen auf drei unterschiedliche Entstehungszeiträume schließen (7., 11. und 23. Februar 1949). Verwirrend ist, wie Walter Nowojski diese Notate, die nicht in die fortlaufende Tagebuchführung passen, für den Druck verarbeitet. Er teilt die Notizen und setzt sie ungekennzeichnet und scheinbar willkürlich, den Inhalten des Tagebuchs angepasst, unter die Einträge vom 12. (SZS I, 627) und 25. Februar 1949 (SZS I, 630). Einige Zeilen der Sprachnotizen werden
ϮϰϮ Beispielsweise erklärt Klemperer nach der Teilnahme an einer Versammlung des Zentralrates der VVN: „Ich lege die Delegationsliste ein“ (SZS II, 180, 3. Stelle, 22.06.1951). Klemperer erspart sich mit dem Einheften der Delegationsliste die eigenständige Aufzählung. – Im Originalmanuskript der SLUB befindet sich die genannte Delegationsliste allerdings nicht mehr. Es ließe sich nur spekulieren, warum sie fehlt. Ϯϰϯ Vgl. dazu den Verlauf der Eintragungen. Unter dem Notat vom 28. Januar 1949 erklärt Klemperer: „Hier einschalten umstehendes in Leipzig am 2/II begonnenes, eben, Do Nachts 3/II beendetes Blatt“ (SZS I, 622, 5. Stelle, 28.01.1949). Denn auf dessen Rückseite werden Einträge vom 3., 4. und 5. Februar vorgezogen. Erst nach diesen Aufzeichnungen folgt auf einem gesonderten Blatt: „Einlage Mi. 2.II 49 Leipzig“ (SZS I, 623, ungekennzeichnete Stelle, 02.02.1949).
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auch ungekennzeichnet gekürzt. Damit greift der Herausgeber aktiv in die Tagebuchstruktur ein. Vermutlich orientiert er sich an der jeweiligen Datierung der einzelnen Sprachbeobachtungen. Da jedoch Klemperer selbst diese Notizen nicht den jeweiligen Eintragungen zuordnet, ist nicht nachvollziehbar, warum Nowojski diese Zusammenführung ungekennzeichnet vornimmt. Vielmehr verschleiert der Herausgeber auf diese Weise, dass der Tagebuchschreiber zwischen seinen täglichen Notaten und den LQI-Notizen unterscheidet. Die gedruckte Ausgabe der Tagebücher verdeutlicht kaum deutlich, wie verzweigt Klemperers Einträge entstehen. Sichtbar wird das auch in einem tabellarischen Vergleich zwischen der Druckversion und dem originalen Text anhand der Einträge vom 17. November bis zum 10. Dezember 1949. In diesem Zeitraum reist Klemperer beruflich zwischen verschiedenen Städten hin und her (Dresden, Halle, Schwerin, Rostock, Berlin). Die Einträge dazu sind eine Mischung aus Gegenwartsberichten und Nachträgen. Ihre Datierungen wirken teilweise verwirrend. Walter Nowojski ignoriert dieses scheinbare Chaos, indem er strikt chronologisch vorgeht und dabei mehrfach ungekennzeichnet Textteile verschiebt und rein inhaltlich zusammenfügt: Tabelle 4: Vergleich der originalen Manuskripte mit der Druckversion Original (Mscr. Dresd. App. 2003, 142)
Druck
„Donnerstag Abend 17 Nov. ½ 2 h“244 „Mittwoch Vorm. 23.11.49 Halle.“ [darin integriert: „Rheinfahrt (Noack) 18-20 XI“ (beendet am „(1.XII 49)“) darunter wird der Rest des Berichtes über das „Halle-Intermezzo“ geschrieben, welcher Teil des Berlin-Berichtes ist] „Sonnabend 3. Dezember Vorm.“ „30 Nov 49 Mittwoch Vorm. Schwerin. Gorkihaus.“ „Die Berliner Tage. Kongreß 23 – 27. „Die Berliner Tage. Kongreß 23 – Nov. Mittwoch bis Sonntag.“ 27. Nov. Mittwoch bis Sonntag.“ [geschrieben in Schwerin und Rostock] (SZS I, 702) [ungekennzeichnet darin integriert wurde die „Fortsetzung Berliner Kongreß.“ (SZS I, 703), ebenso: der Anhang an den „Rheinfahrt“-Bericht (SZS I, 704)]
Ϯϰϰ Die in dem Vergleich genannten Datierungen der einzelnen Einträge werden als Überschriften zitiert. Kommentare zu spezifischen Inhalten der Notate stehen in eckigen Klammern.
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„30 Nov 49 Mittwoch Vorm. Schwerin Gorkihaus.“ (SZS I, 705) „Halle 1. Dezember, Donnerstag 19 h.“
„Halle 1. Dezember Donnerstag 19 h.“ (SZS I, 706)
„Fortsetzung Berliner Kongreß.“ „Sonnabend Vorm. 10. Dezember Halle „Sonnabend Vorm. 10. Dezember (letzte Notiz: 3 Dez. Ende des vorletzten Halle“ (SZS I, 706) Blattes von hieraus)“
Auch die Methode der Inhalts-Übersichten wird im Druck kaum deutlich. Weil zwischen den einzelnen Einträgen häufig größere Zeitlücken entstehen, versucht Klemperer sich vor der ausführlichen Darstellung der Informationen mit Hilfe der Übersichten zu orientieren. Dadurch existieren für bestimmte Zeiträume zwei unterschiedliche Einträge. Erst notiert Klemperer in Stichpunkten die groben Zusammenhänge, später erläutert er Details in einem Fließtext. Beispielsweise rekapituliert der im Druck nicht berücksichtigte Eintrag vom 7. April 1949 eine Dienstreise durch Sachsen vom 21. bis 23. März in Stichpunkten: „Donnerstag 7 April gegen Abend Ein paar Stunden früher als anzunehmen von der Semester-Vorbesprechung aus Leipzig zurück, setze ich die geschenkte Zeit an das Tagebuch, das nun seit 17 furchtbar überlasteten Tagen vernachlässigt ist – es hat nur zu Stichworten auf einem Zettel gelangt. Ich notiere zuerst den Kalenderüberblick u. sehe dann zu, wieweit ich mit ausführlichem Nachtrag komme. Mo 21 – Mi 23 früh: Sachsenfahrt. Mo. Hinfahrt. – Nachm Malerempfang Otto Dix. Abends Rede im KB: ‚Anhang 48ʻ (In Leipzig Kreuz für Trude Öhlmann †, in Dresden Lotte. Waldparkhotel. Di. Ministerium – Hanusch/Steininger, Lotte, Kulturwiss. Institut Renn: Rede der soziale Roman. Mit Renn u. Gute im Intouristhotel – Löwenkopf// Mi. Radebeul FDJ – ‚Junge Autorenʻ Improvisierte kurze Rede: ‚Ruinenʻ. – Dölzschen Grundschule. Ansprache, Dank für LTI-Heft. – Mit Lotte nach Löbau 17 h. Rede: Ost u. West. 20 h. Görlitz: ‚Ost u. Westʻ. Schwerste Ermüdung, seitdem Sehstörung.// Nachtfahrt im schwarzen Nebel zurück. Erzwungene Rast in Sonnwitz. Do gegen 9 h zuhaus. [...]“ (SZS I, 635, 2. Stelle, nicht gedruckter Eintrag vom 07.04.1949).
Der so genannte „Kalenderüberblick“ fasst zusammen, was Klemperer sich während der Reise auf einem Stichwortzettel notiert hat – die Rahmendaten und Schlagworte für einzelne Begebenheiten. In einem Eintrag vom 10. April 1949 beschreibt er später ausführlich, was genau sich hinter den einzelnen Notizen verbirgt. Dies kündigt er schon in der Überschrift an: „Complex Sachsenfahrt 21–23. März“ (SZS I, 635, 10.04.1949). Zusätzlich zu den Ausführungen über die Sachsen-Reise notiert Klemperer unter dem Datum des 7. April auch chronologisch Kurzberichte in Stich-
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punkten zu Ereignissen nach dieser Fahrt. Der Überblick wird vom 8. bis zum 10. April fortgesetzt. Damit durchbricht Klemperer konkret die lineare Struktur des Eintrags. Das Notat vom 7. April 1949 ist in diesem Zusammenhang weniger als eigenständige Eintragung zu sehen – vielmehr führt Klemperer hier die Stichpunktstruktur unkommentiert fort. Dadurch fungiert das Tagebuch selbst als Stichwortzettel, bevor ausführliche Notizen über die Ereignisse folgen.
VII.11 1952-1958 – „... MEINE P RODUKTIONSKRAFT 245 IST PHYSISCH U . GEISTIG ZUENDE “ Klemperers Beziehung zu Hadwig Kirchner leitet im Jahr 1952 eine neue Lebensphase ein. Davon zeugen viele Tagebucheinträge, die ihre Person zum Gegenstand haben. Erste konkrete Aussagen zu der Liebesbeziehung notiert Klemperer im März 1952 (vgl. dazu SZS II, 251-252, 08.03.1952). Einige Monate lang setzt er sich sehr regelmäßig mit seinen Emotionen für Hadwig auseinander. Dabei befindet er sich in zweifacher Hinsicht in einem Zwiespalt: Zum einen hat er ein schlechtes Gewissen gegenüber seiner verstorbenen Ehefrau (vgl. dazu z.B.: SZS II, 368, 29.03.1953).Ϯϰϲ Zum anderen kämpft Klemperer eine Weile lang mit der Frage, wie weit er seine Beziehung zu Hadwig darstellen möchte. Vor der Eheschließung erklärt er beispielsweise: „Hadwig. Donnerstag zum Freitag 22 h–6 h in meinem Direktorzimmer. Ich kann es nicht berichten u. zerfasern“ (SZS II, 258, 05.04.1952). Dieser Verzicht auf den Versuch, das Erlebte zu berichten, steht im Gegensatz zu seinem sonstigen – und in den ersten Nachkriegsjahren noch verstärkten – Bemühen, möglichst umfangreich jedes Ereignis zu schildern. Die Intimität und die Gefühle, die Klemperer bewegen, lassen sich nicht beschreiben. Das Erlebte ist einerseits zu privat, um es einem möglichen späteren Leser zu offenbaren. Andererseits scheint die Besonderheit dieser Nacht nicht beschreibbar, weil sie sonst ihren Zauber verlieren würde. Auch nach der Hochzeit enden Klemperers Versuche, seine Liebe zu Hadwig zu beschreiben, wiederholt in ablehnender Resignation: „Blödsinnige Zeitvergeudung, dieser Tagebuchton“ (SZS II, 311, 28.08.1952). Klemperer schafft es nicht, in seinem Schreiben seine Gefühlswelt adäquat auszudrücken. Vielmehr entsteht im Tagebuch nur ein schwacher Abglanz, der
Ϯϰϱ SZS II, 727, 12.11.1958 Ϯϰϲ Insbesondere im Zusammenhang mit symbolischen Daten, die er über Jahrzehnte hinweg mit Eva zelebriert hatte – dem Hochzeitstag, dem Tag der ersten Begegnung – belastet Klemperer die Erkenntnis, dass er sie über Wochen hinweg zu vergessen scheint (vgl. z.B.: SZS II, 632, 08.07.1957). Er fühlt sich zerrissen in der Liebe zu beiden Frauen.
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aus seiner Sicht fast lächerlich wirkt. Um die Bedeutung der Liebe zu Hadwig nicht zu entweihen, zieht sich Klemperer auf die Position zurück, besser nicht über seine Gefühle zu schreiben. Das entspricht einer völlig neuen Erkenntnis in seinem Tagebuchschreiben. Während er an anderen Stellen immer wieder seine begrenzten Möglichkeiten des Beschreibens beklagt, eröffnet sich hier ein neues Problem: Das präzise Wiedergeben von Erleben hat noch andere Grenzen als die eigene Unfähigkeit. Im hohen Alter formuliert Klemperer konkreter als in all den Jahren zuvor aus, dass bestimmte Erfahrungen unaussprechbar bleiben müssen. Das Bedürfnis, alles umfangreich festzuhalten, weicht deshalb zumindest beim Thema Hadwig dem Bewusstsein, dass manches nicht „berichte[t] u. zerfaster[n]“ werden darf. Das Leben mit der viel jüngeren Frau ändert auch in anderen Bereichen Klemperers Einstellung. Er fühlt er sich durch sie auf verschiedene Weise angespornt, nochmals aktiver zu werden. Er möchte ihr etwas bieten (vgl. z.B.: SZS II, 309, 24.08.1952). Deshalb reist er beispielsweise mehrfach mit ihr ins Ausland (vgl. z.B.: SZS II, 708-724, 26.09.1958-25.10.1958). Sie inspiriert ihn zu neuen intensiven Auseinandersetzungen mit politischen (vgl. z.B.: SZS II, 607-608, 01.03.1957) und religiösen (vgl. z.B.: SZS II, 565, 12.06.1956) Themen. Das schlägt sich auf die Inhalte des Tagebuchs nieder. Durch Hadwigs Jugend wird Klemperer jedoch auch sein hohes Alter stärker bewusst. Zusätzlich führt ihm das durch gesundheitliche Probleme erzwungene Aufgeben der meisten seiner öffentlichen Ämter Anfang 1954 (vgl. SZS II, 426-427, 09.02.1954) seine nachlassenden Kräfte vor Augen. Nach einem körperlichen Zusammenbruch ist er monatelang kaum fähig, sein Tagebuch fortzuführen. Dadurch verändert sich die Form der Aufzeichnungen langfristig erneut. Statt umfangreicher Nachträge und daraus resultierender komplizierter Verlaufsstrukturen dominieren nun Notate, in denen Klemperers nachlassende Kraft den Grundton bestimmt. Zwar bemüht er sich weiterhin, interessante Ereignisse zu verzeichnen. Allerdings gelingen ihm in manchem Monat kaum drei Einträge (vgl. z.B.: SZS II, 439-442, 05.06.1954-20.06.1954).247 Den Anspruch auf unbedingte Vollständigkeit gibt er deshalb auf.248
Ϯϰϳ Diese Aussage kann nur anhand der durch Walter Nowojski veröffentlichten Druckversion von Klemperers Tagebüchern gemacht werden. Den Zugang zu den originalen Aufzeichnungen von 1945 bis 1959 hat die Witwe Hadwig Klemperer verboten – wegen verschiedener missbräuchlicher Verwendung der Notate. Mit einer Ausnahmegenehmigung von Frau Dr. Klemperer war es für diese Arbeit möglich, zumindest die Einträge bis 1951 im Original einzusehen. Die Aufzeichnungen ab 1952 – dem Jahr, in dem Klemperer seine zweite Frau heiratete – blieben zur Wahrung von Persönlichkeitsrechten unter Verschluss. Dementsprechend können keine Aussagen darüber getroffen werden, welche Inhalte Walter Nowojski für den Zeitraum 1952-1959 gekürzt hat. Feststellun-
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Das resultiert auch aus der schon in früheren Jahren verschiedentlich geäußerten, nun jedoch dominant werdenden Erkenntnis, dass eine präzise Verzeichnung von Ereignissen schon aufgrund des nicht verlässlichen Gedächtnisses unmöglich ist. Klemperer ist sich der Fragilität von Erinnerungen bewusst. Zudem stellt er zunehmend fest, dass er sich viele Dinge nicht mehr merken kann (vgl. SZS II, 272-273, 29.04.1952). Insbesondere sein nachlassendes Namensgedächtnis beunruhigt ihn.249 Die verstärkte Konfrontation mit seiner Vergangenheit macht ihm deutlich, dass er einen Großteil seiner Erlebnisse nicht mehr adäquat erinnern kann. Paradigmatisch wird ihm das durch einen Traum offenbar, der von seiner Mutter handelt: „Ungenauigkeit meines Gedächtnisses. Und bin ich zu ihrem Begräbnis in Berlin gewesen? Ich weiß es wahrhaftig nicht mehr. Ich weiß nur, daß ich in der Münchner Pension 1919 das Telegramm über ihren Tod erhielt. Es war in der Chaoszeit der Re-
gen über die Struktur der Tagebücher sind dementsprechend nur eingeschränkt möglich. Ϯϰϴ In den wenigen entstehenden Einträgen allerdings setzt Klemperer weiterhin Techniken ein, die er über Jahrzehnte hinweg für funktional befunden hat. Weiterhin vermerkt er beispielsweise die Einwirkungen von Müdigkeit, Erschöpfung oder Zeitmangel auf die Tagebuchführung (vgl. z.B.: SZS II, 541, 25.03.1956). Nach wie vor notiert er akribisch, wann, unter welchen Umständen und wo einzelne Notate entstehen (vgl. z.B.: SZS II, 642, 06.09.1957). Das Tagebuchschreiben bleibt ebenso Ereignis wie andere Erlebnisse. Es ist trotz des sinkenden Glaubens an die eigenen Schreibfähigkeiten zentraler Punkt in Klemperers Leben und damit Arbeitsergebnis, das notiert werden kann. Dies zeigen Aussagen wie: „Heute Ermüdung, eine Unmenge Correspondenz erledigt, dazu die Tgb.-Notiz“ (SZS II, 405, 15.08.1953). Die Reflexionen über die Tagebucheinträge stellen eine Spiegelung der weiterhin vorhandenen Schreibfähigkeiten dar. – Insbesondere Vermerke, die auf die Anstrengungen hinweisen, die ein Eintrag fordert, sind Belege für den Schreibwillen Klemperers. So erklärt er beispielsweise nach der Rückkehr von einer Reise unter dem Hinweis auf seine Müdigkeit: „Bemüht, das Tgb. Bulgarien dennoch zuende zu führen“ (SZS II, 498, 12.07.1955). Ϯϰϵ Wiederholt sinniert Klemperer im Tagebuch über Namen, die er vergessen hat. Schließlich geht er sogar dazu über, Freistellen in seinen Einträgen zu lassen, bis ihm der passende Name einfällt: „Gestern 13.9. Todesnachricht Kleinstück (Name fehlt, genauso vorhin der Name Grundig, ich lasse Lücken, jetzt wieder da)“ (SZS II, 704, 14.09.1958). Das nachträgliche Einfügen des Namens wäre nicht zu bemerken, wenn Klemperer nicht selbst in Klammern auf seine Technik hinweisen machen würde. Er konfrontiert sich dadurch langfristig mit seiner Vergesslichkeit. Die wiederholte spezifische Bezeichnung eines Sachverhaltes oder Namens, welchen er sich nicht merken konnte, weist darauf hin, dass Klemperer diese Betonung des eigenen Alters und der nachlassenden Geisteskräfte als wichtigen Teil seiner Aufzeichnungen auffasst.
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volution ... Ich weiß manchmal nicht, was von mir u. meiner Vergangenheit noch lebt“ (SZS II, 501, 27.07.1955).
Zwar lässt sich im Diarium von 1919 nachlesen, dass Klemperer zur Beerdigung seiner Mutter nach Berlin gereist war (vgl. LS I, 130-137, 21.23.06.1919). Doch dem Tagebuchschreiber des Jahres 1955 ist das nicht mehr präsent. Der Gedanke, die gestellte Frage durch die Lektüre früherer Tagebuchaufzeichnungen zu beantworten, wird überhaupt nicht geäußert. Denn letztlich geht es nicht um diesen konkreten Sachverhalt, sondern um die Furcht vor dem Verlust der eigenen Identität. In dem Moment, in dem Klemperer ein Ereignis nicht mehr erinnern kann, ist es für ihn auch nicht mehr existent. Durch das Vergessen verschwindet die Vergangenheit in eben jenem „Nichts“, vor dem er sich fürchtet. So betrachtet, scheint auch die schriftliche Fixierung der Begebenheiten keinen Schutz mehr zu bieten. Dennoch setzt sich Klemperer langfristig weiterhin mit seinen früher entstandenen Notaten auseinander. Trotz der zeitweisen Weigerung, nachzulesen, was er zu bestimmten Themen in der Vergangenheit geschrieben hat,250 verfasst er vielfach Vermerke über die Recherche zurückliegender Ereignisse (vgl. z.B.: SZS II, 486-487, 25.05.1955; SZS II, 602, 08.02.1957). Inspiriert durch spezifische Situationen fordert Klemperer sich wiederholt auf, Vergangenes zu rekonstruieren.251 Damit schafft er Erinnerungen, die auch außerhalb seines Kopfes weiter bestehen, die also nicht der Existenz seiner Person bedürfen. Die Aufzeichnungen sind deshalb weiterhin eine Alternative: In ihnen kann Klemperer nach wie vor Ereignisse fixieren und damit ihre Bewahrung sichern. Die Notate helfen ihm teilweise auch, Dinge richtig zu stellen, die er in seinem alltäglichen Umgang anders vermittelt. Beispielhaftsweise verzeichnet er eine Lüge, mit der er sich in der Öffentlichkeit als aktiver und mutiger Kritiker der kulturpolitischen Bedingungen in der DDR präsentiert: „Ich kündigte [im Seminar das Thema, Anm. d. A.] Mod. Lyrik an, erzählte den Kampf um mein Buch. Ich habe nun schon so oft erzählt, ich hätte auf die Ablehnung des Literaturamtes 1950 geantwortet, das Urteil, 70 von 77 Gedichten seien dekadent,
ϮϱϬ So schreibt Klemperer: „Also – ich kann das Tgb. nicht heraussuchen, jeder derartige Versuch kostet mich Stunden, weil ich vom Weiterlesen und -blättern nicht loskomme“ (SZS II, 626, 08.06.1957). Ϯϱϭ Beispielsweise sucht Klemperer dafür auf einer Italienreise mit Hadwig die Orte wieder auf, an denen er früher mit Eva war. Immer wieder fragt er sich: „(Was haben Eva u. ich 1915 von Florenz gesehen? Ich weiß nur noch: die stille Veranda mit der uralten tartaruga [Schildkröte, Anm. d. A.]. Die Tagebücher dürften vernichtet sein. ‚Was bleibt von allem? Asche, Asche, Ascheʻ“ (SZS II, 543, 07.04.1956; vgl. auch SZS II, 545, 16.04.1956).
390 | SCHREIBEN EIN L EBEN LANG – V ICTOR K LEMPERERS T AGEBÜCHER stimme nicht, denn alle 77 seien dekadent, daß ich diese Antwort nächstens für tatsächlich halten werde. Ich habe sie faktisch nie gegeben“ (SZS II, 619, 08.05.1957).
Klemperer spürt, wie sich langsam die mehrfach nach außen getragene Darstellung seiner Verteidigung gegen die Zensur seines Buches „Moderne Lyrik“ verselbständigt. Er ahnt, dass seine Erinnerung ihm irgendwann vermitteln wird, er habe wirklich so reagiert, wie er es mehrfach angibt. Nicht die „tatsächlichen“ Geschehnisse, sondern das, was immer wieder in seiner geistigen Auseinandersetzung mit dem Thema aufkommt, wird sich in seinem Gedächtnis festsetzen. Die Verzeichnung der Lüge im Tagebuch garantiert deshalb zumindest, dass die Wahrheit nicht gänzlich verloren geht. Die Tagebuchaufzeichnungen verändern sich nicht nur bezüglich der ausbleibenden Nachträge, sondern auch bezüglich der Inhalte. Hatte Klemperer in der Weimarer Republik während seiner Reisen großen Wert auf die Beschreibung von Landschaften gelegt, fällt dies in der Nachkriegszeit weitgehend weg. Das Erleben fremder Orte bedeutet ihm zwar nach wie vor viel. Doch die Aufgabe, die Ereignisse festzuhalten, weist er zunehmend anderen Medien als der Schrift zu. So erklärt Klemperer auf einer Dienstreise nach Mainz, die durch die Fahrt in die Bundesrepublik ein besonderes Erlebnis darstellt: „Meine Stimmung: wie immer unterwegs. Der ständige Unterton: Wozu noch? Vom Tod vergessen, ‚abgeschriebenʻ etc. Aber so lange ich frisch bin, nehme ich doch alles Gebotene mit u. bin – mit etwa 75 % Erfolg – bemüht, H. nicht zu häufig in die Suppe des Geniessens zu spucken. Das Landschaftliche dieses Geniessens ist ihrem Photoapparat überlassen“ (SZS II, 627, 13.06.1957).
Klemperer beobachtet trotz einer negativen Grundstimmung zwar auch in Mainz weiter, was um ihn herum geschieht und vermerkt die Besonderheiten der westdeutschen Nachkriegsentwicklungen. Doch einen wichtigen Aspekt seines Wunsches, festzuhalten, überlässt er seiner Frau: In Bezug auf das Landschaftliche und Architektonische verweist er auf Hadwig Klemperers Fotografien. Damit entledigt er sich des jahrzehntelang beklagten Problems, nicht präzise genug darstellen zu können, was er sieht.252
ϮϱϮ Problematisch wird diese Auslagerung, wenn die erwarteten Fotografien nicht gemacht werden können. Während einer Schiffsreise auf dem Schwarzen Meer wird Klemperer mit dieser Situation konfrontiert: „...ein Tag Ruhe für Notizen. Hoffentlich. Ich bin nicht zufrieden mit diesen Notizen – ich kann nicht beschreiben. Und H. ist knapp mit Filmen versehen. Und Jalta ist eine ständige Variation der gleichen Elemente. [...] Am Nachmittag gestern ein zweites Mal in der Stadt, diesmal am Westflügel aufwärts. (Wirklich am Westflügel?) [...] Hätte nur H. den Photo-Apparat mitgehabt, wie soll ich beschreiben“ (SZS II, 643, 12.09.1957; vgl. dazu auch SZS II, 645, 14.09.1957).
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Einen ähnlichen Ersatz für seine Tagebuchnotizen findet Klemperer schon 1952 auf einer Reise durch Polen. Dort schreibt er zum berühmten Veit-Stoß-Altar in der Marienkirche in Krakau: „Da ich ein Prachtwerk darüber geschenkt erhalte, brauche ich mich hier nicht zu bemühen“ (SZS II, 281, 06.05.1952). Die kunstwissenschaftliche Beschreibung in dem Buch enthebt Klemperer der selbst auferlegten Pflicht, ausführliche Tagebuchaufzeichnungen zu machen. Er ist demnach bereit, auf Quellen außerhalb seiner eigenen Wahrnehmung zu verweisen, wenn sie die Darstellung des jeweiligen Gegenstandes besser gewährleisten als die Beschreibung im Diarium. Mit dem Verweis auf externe Medien hat er ein Instrument gefunden, mit dem er zumindest teilweise seiner nachlassenden Fähigkeit des umfangreichen Beschreibens begegnen kann. Die Konfrontation mit dem Verlust seiner geistigen Kräfte ist allgemein schmerzhaft für Klemperer. Deshalb häufen sich die Aufforderungen, der Selbstreflexion durch Arbeit aus dem Weg zu gehen: „Nie mehr werde ich zu einem reinen Gefühl kommen. Nicht nachdenken – stur drauflosleben u. -arbeiten, u. H. so glücklich machen wie irgend möglich. Nicht ein einziges Gefühl in mir, das nicht zwiespältig wäre“ (SZS II, 333, 23.11.1952).
Klemperer lebt mit einem grundlegenden Unglücksgefühl. Das Bewusstsein, alt und nicht mehr anpassungsfähig zu sein, deprimiert ihn. Insbesondere seine politische und gesellschaftliche Position treibt ihn in einen Zwiespalt. Er steht zwischen dem Wunsch nach Anerkennung und Erfolg und seinen politisch-moralischen Idealen, die er dafür verraten hat. Deshalb hat er den Eindruck, nicht mehr zu einem „reinen Gefühl“ fähig zu sein. Diese Konflikte werden aber zu diesem Zeitpunkt kaum noch im Tagebuch thematisiert. Als Äußerstes erlaubt sich Klemperer die Andeutung, von „zwiespältigen“ Emotionen bestimmt zu sein.253
Ϯϱϯ Dabei hat er weiterhin ein sensibles Gespür für die eigene Widersprüchlichkeit. Besonders deutlich macht er sich das während eines Bulgarien-Urlaubs. Klemperer schreibt: „Vergnügen – Depression in ständigem Wechsel. Immer das Gefühl: am Ende. Eben Tiefpunkt. Ich ließ H. schlafen, fand allein nicht den verschlungenen Weg vom Schlafhaus zum Speisegebäude, kam ungefrühstückt zurück, schreibe in größter Unbequemlichkeit – der Tisch zu niedrig. – Dann wieder hübsche Stunden, dann wieder die Peinlichkeit des Seebades [...]. Alles predigt mir hier, daß ich am Ende bin. Das aber ist wie gesagt im Moment tiefsten Tiefstandes geschrieben, der selten mehr als einmal täglich erreicht wird. Im ganzen geht es u. oft sogar sehr gut. / Ich werde im wesentlichen in Stichworten schreiben u. mich an der Landschaft so wenig als möglich versündigen“ (SZS II, 491, 23.06.1955). Das Schwanken zwischen positiver und negativer Lebenseinstellung ist sehr stark, und dies schlägt sich in den Tagebucheinträgen nieder. Während Klemperer schreibt, fühlt er sich sowohl durch die „Un-
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Auf diese Weise versucht er, Reflexionen aus dem Weg zu gehen, auch wenn dies nur partiell gelingt.254 Das Tagebuchschreiben Klemperer dient damit – wie schon in früheren Jahren – als „Übertäubung“: „Keine Zeit mich in dem zu ergehen, was mich immer beschäftigt u. was immer übertäubt sein muß“ (SZS II, 385, 09.06.1953). Dabei wiederholt sich ein Paradoxon: Klemperer verbietet sich ausgerechnet in seinem Tagebuch – dem Ort der Auseinandersetzung mit dem Selbst – die tiefer gehende Selbstreflexion.255 Trotzdem fährt er damit fort, möglichst umfassend aufzuschreiben,
bequemlichkeit“ des niedrigen Tisches als auch durch seine gegenwärtige Endzeitstimmung gelenkt. Doch um nicht ausschließlich die negativen Eindrücke zu vermitteln, kennzeichnet er seine Schreibsituation als „tiefsten Tiefstand[]“. Dadurch lässt er zumindest Raum für das Bewusstsein positiverer Stimmungen in seinem Urlaub. – Der Versuch, die depressive Stimmung zu relativieren, die ihn während des Tagebucheintrags übermannt, resultiert möglicherweise aus einem Hinweis Hadwig Klemperers. Sie hat ihn darauf aufmerksam gemacht, dass seine Notate im Widerspruch zu seinem alltäglichen Verhalten stehen. Klemperer vermerkt dies einige Tage später: „H. sagt, so sei ich ganz vergnügt, aber in meinem Tagebuch totunglücklich. In etwa stimmt es, a) weil man beim Schreiben nachdenkt, b) weil ich so furchtbar unbequem u. gequetscht sitze – der hohe Hocker der niedrige Tisch“ (SZS II, 493, 27.06.1955). Der Unterschied zwischen dem, was Klemperer im Tagebuch über sein Befinden notiert und dem, wie er im Alltag agiert, scheint frappierend zu sein. Durch die Rückmeldung seiner Frau – sie ist offenbar als Leserin des privaten Textes akzeptiert – erkennt Klemperer diese Differenz. Es kann davon ausgegangen werden, dass ein derartiger Unterschied zwischen beschriebenem Leben und gelebtem Alltag dauerhaft besteht. Der Grund liegt in Klemperers Punkt „a)“: „weil man beim Schreiben nachdenkt“. In dem Moment, in dem er beginnt, über seine Erlebnisse, Beobachtungen und Gefühle zu schreiben, setzt ein Reflexionsprozess ein, der sich vor allem auf die problematischen Aspekte des Lebens konzentriert. Diese Überlegungen widmen sich nicht oder schwer lösbare Zusammenhängen, die durch die Reflexion aufgearbeitet und eingeordnet werden sollen. Unproblematische Ereignisse wie ein schöner Spaziergang werden nur kurz erwähnt. „Unbequemlichkeiten“ wie der zu niedrige Tisch tauchen häufig in mehreren Einträgen auf. Immer wieder dreht und wendet Klemperer diese Erlebnisse. Das Schreiben hilft ihm, die negativen Erfahrungen zu verarbeiten bzw. abzulegen. Ϯϱϰ Das führt sogar dazu, dass Klemperer zu Weihnachten 1952 schreibt: „Meine Weihnachts- u. alle damit zusammenhängenden Gefühle zu analysieren, unterlasse ich. Das beste: an gar nichts denken, sich an H. freuen u. über die Zeit kommen“ (SZS II, 349, 24.12.1952). Ϯϱϱ Ähnlich paradox sehnt sich Klemperer nach seiner wissenschaftlichen Arbeit und lehnt sie gleichzeitig ab. Denn durch sie würde er sich auf sich selbst beschränken und könnte der Konfrontation mit seinen Ängsten und Schwächen nicht mehr ausweichen.: „Und immer der Wunsch für mich zu sein u. an mei-
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was er erlebt. Jedesmal, wenn er etwas im Diarium notiert, erreicht er das Gegenteil seines Wunsches, Reflexionen zu vermeiden. Auch wenn er seine Schwierigkeiten nicht ausführlich darstellt, vermerkt er doch ihr Vorhandensein. Denn an das Schreiben ist ein Denkprozess gekoppelt. Der Grund für den Versuch, sich zu „übertäuben“, wird zumindest indirekt angesprochen, wenn Klemperer die Aufforderung dazu formuliert. Gleichzeitig ist der dadurch entstandene Text Beweis für die Existenz seiner zwiespältigen Gefühle – selbst wenn er sich ihnen nicht konkret stellen möchte, so konfrontiert er sich doch durch das jeweilige Notat. Denn darin werden sie zumindest indirekt benannt.256 Mit dem Nachlassen der Schreibfähigkeiten im Tagebuch verliert Klemperer auch zunehmend die Kraft für seine beruflichen Projekte. Weiterhin entstehen nur Zeitungsartikel und kleinere Aufsätze, die weitgehend auf früheren Arbeiten basieren. Die großen, oft im Tagebuch verzeichneten Arbeitspläne werden zunächst trotz der stetigen Sehnsucht danach (vgl. z.B.: SZS II, 406, 19.08.1953) nicht fortgesetzt.257 Erst 1955 verstärkt sich der
nen Dingen arbeiten zu können – und immer die Angst vor dem Allein- u. inRuhe-Sein. Und immer u. in jeder Beziehung das schlechte Gewissen dem Leben gegenüber u. die dumme Angst vor dem Ende. –“ (SZS II, 241, 20.01.1952). Ϯϱϲ Insbesondere die wiederkehrende Auseinandersetzung mit der Todesangst füllt in den späten Tagebüchern viele Seiten. Lebenslang kann Klemperer sich mit dem Gedanken nicht abfinden, dass nach dem Tod das „Nichts“ sei. Auch in seinen späten Lebensjahren reflektiert er dies fortgesetzt, allerdings – unter dem Einfluss des Katholizismus seiner zweiten Frau – verknüpft mit religiösen Bezügen: „...ich kann den Gedanken am Ende zu sein nicht mehr los werden. Ich kann kein Verhältnis zum Tod, zur Philosophie, Religion etc. bekommen. Nicht denken! Über die Zeit kommen mit Arbeit oder Wursteln, aber nicht denken!“ (SZS II, 444, 19.07.1954). Ϯϱϳ Klemperers Unzufriedenheit mit den mageren Arbeitsergebnissen steigert sich mit den Jahren – parallel zu seiner wachsenden Distanzierung von politischen Entwicklungen. Er versucht, mit dem Rückzug auf seine wissenschaftliche Arbeit die Enttäuschung über die zunehmende Verhärtung der politischen Strukturen zu überdecken. Doch er kann sich kaum disziplinieren, langfristig bei einer Sache zu bleiben. Er liest, ohne zu exzerpieren und zweifelt an seinen Kenntnissen. Beispielsweise beklagt er sich: „...mein altes Dilemma besonders quälerisch. [...] ich kenne die ganze moderne Literatur des Westens u. Ostens so gut als gar nicht, ich könnte den ganzen Tag mit Lesen anfüllen, ich greife nach 5 Sachen auf einmal – und ich muß das alles lassen, wenn ich meine Sachen zuende führen will. Beides lockt u. beides hemmt sich wechselseitig. In den drei Monaten der Krankheit habe ich nur gelesen, ohne Notizen zu machen, ohne zu producieren. Wie weniges habe ich gelesen, wie weniges von dem Gelesenen ist mein sicherer Besitz geblieben!“ (SZS II, 440, 05.06.1954).
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Wille, den zweiten Band der französischen Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts fertigzustellen. Nahezu täglich verzeichnet Klemperer die Fortschritte seiner Arbeit an dem Textfragment, das er 1939 unterbrechen musste. Dabei artikuliert er jedoch vornehmlich das Gefühl, die Aufgabe nicht bewältigen zu können. Er sieht sich nicht mehr in der Lage, wissenschaftlich vorzugehen, präzise zu denken und zu analysieren. Sowohl sein Interesse, als auch die Konzentrationsfähigkeit fehlen.258 Erneut greift er in diesem Zusammenhang den Begriff der „Zersplitterung“ auf (vgl. z.B.: SZS II, 604, 20.02.1957). Trotz des extremen Kraftaufwandes, den die Arbeit an dem Buchprojekt für ihn bedeutet, fühlt Klemperer sich „töricht verpflichtet, mein Weniges zuende zu führen“ (SZS II, 654, 06.10.1957). Damit ist außer der Literaturgeschichte auch die Autobiographie gemeint. Beide Bücher sind nicht allein begonnene Arbeiten, die während des „Dritten Reichs“ unterbrochen werden mussten, sondern sie stehen für jahrzehntelange Arbeitsprozesse in Klemperers Leben. Dabei repräsentieren sie zwei unterschiedliche Schreiborientierungen: Die Literaturgeschichte bildet die Essenz seiner Forschung. Das „Curriculum vitae“ hingegen dokumentiert nicht nur Klemperers Entwicklungsweg, sondern auch die lebenslange Bedeutung des Autobiographischen für ihn. Immer wieder versichert er deshalb, die beiden Buchprojekte fertigstellen zu wollen. Dies allein reicht ihm jedoch nicht: „Zwei Selbstverpflichtungen: 1) Ich gehe jetzt an das 18ième u. nehme nichts – unabgelenkt u. buchstäblich: nichts anderes mehr vor, ehe ich den Band nicht abgeliefert habe. [...] 2) Wenn ich dann das Cur. geschafft habe, u. danach noch lebe, will ich den ganzen Feuchtwanger durchaus studieren u. eine Monographie über ihn verfassen. Wenn. Feuchtwanger, dem ich das schrieb u. der mich gern als seinen Monographen sähe, antwortete mir, er wolle noch dreizehn Romane schreiben.“ (SZS II, 690, 05.07.1958).
Obwohl er „[z]wei Selbstverpflichtungen“ ankündigt, formuliert Klemperer drei konkrete Projekte, an denen er arbeiten möchte. Das erste – und zum Zeitpunkt des Schreibens aktuelle – Arbeitsziel ist „das 18ième“. Im Anschluss daran folgt zwar die Erwähnung des „Curriculum vitae“. Allerdings wird dies aufgezählt wie ein Nebenprojekt. Zentral für Punkt zwei ist der
Ϯϱϴ Zudem erkennt Klemperer, dass die aus den dreißiger Jahren stammende Konzeption des Buches veraltet ist (vgl. SZS II, 633, 21.06.1957). Entsprechend liegt die Ursache für das langsame Vorwärtskommen mit dem Projekt nicht nur in Klemperers Unfähigkeit, gezielt zu arbeiten, sondern auch in der grundlegenden Herangehensweise an die ganze Thematik. Zusätzlich deprimiert ihn insbesondere die Erkenntnis, dass andere Wissenschaftler schon vor Jahren Bücher veröffentlicht haben, die sein Thema abhandeln (vgl. SZS II, 692, 12.07.1958).
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Plan einer Feuchtwanger-Monographie. Die Betonung des Verbs „studieren“ signalisiert Klemperers Sehnsucht nach einer neuen Forschungsarbeit. Allerdings schränkt die Hervorhebung des „Wenn.“ die Möglichkeit des neuen Buchplans ein. Die Autobiographie muss beendet sein, bevor die Arbeit an der Schriftsteller-Biographie beginnen kann. Bezeichnend ist, dass Klemperer sein Vorhaben verbindet mit einer Aussage Lion Feuchtwangers über dessen Pläne, „noch dreizehn Romane“ zu schreiben. Der Schriftsteller entstammt nahezu der selben Generation wie Klemperer. Die beiden Männer fühlen sich miteinander verbunden, sie befreunden sich im Alter durch Briefkontakte. Gewisse biographische Parallelen führen dazu, dass Klemperer sich teilweise mit Feuchtwanger identifiziert. Die Anmerkung, dieser habe angegeben, „noch dreizehn Romane“ schreiben zu wollen, ist deshalb als eine ironische Gegenüberstellung zu den eigenen Plänen zu sehen. Denn der Plan einer solchen Masse noch zu schreibender Romane ist unrealistisch. Das wissen sowohl Feuchtwanger als auch Klemperer. Doch es ist schwerer, weiterzuarbeiten, gegen die zunehmende körperliche Gebrechlichkeit anzukämpfen, wenn nur noch wenige Ziele bleiben. Beide Männer brauchen Zukunftspläne, um sich durch ihren beschwerlichen Alltag zu bewegen und weiter zu schreiben. Die Endlichkeit ihrer Arbeitsaufgaben würde ihnen den nahe bevorstehenden Tod zu stark verdeutlichen und sie arbeitsunfähig machen: Klemperers formuliert Ziele, die über die seit Jahrzehnten ersehnte Vollendung von Literaturgeschichte und Autobiographie hinausgehen, um nicht in dem Gefühl zu versinken, nur rückwärts gewandt an Jahrzehnte alten Projekten zu arbeiten. Er möchte Neues in seine Gedankenwelt einbeziehen. Ebenso wie Feuchtwanger sich mit der Illusion, noch dreizehn Romane schreiben zu wollen, die Kraft für sein gegenwärtiges Schreiben erhält, sichert sich Klemperer mit seinen Plänen die nötige Arbeitsenergie. Dazu gehört die wiederholte Planung der gegenwärtig nicht bearbeiteten Buchprojekte (vgl. z.B.: SZS II, 725, 27.10.1958). Insbesondere das „Curriculum vitae“ erhält dabei im Tagebuch einen besonderen Status. Klemperer nimmt mehrfach Bezug auf die Autobiographie, indem er Ideen und „Stoff“ sammelt (vgl. z.B.: SZS II, 405, 15.08.1953). Dies ermöglicht ihm zum einen, das Material für das Buch stetig zu erweitern. Zum anderen gelingt es ihm dadurch, den geplanten Text gegenwartsnah zu halten. Statt nur über lange zurückliegende Ereignisse zu berichten, will er auch Aktuelles verarbeiten. Für diese Anbindung an die Gegenwart ist er auch bereit, auf eine direkte Veröffentlichungsmöglichkeit in der DDR zu verzichten.259 Dadurch
Ϯϱϵ Klemperer verzeichnet Themen für das „Curriculum vitae“, die in der DDR unter die Zensur fallen würden. So erklärt er, dass Abschnitte seiner Literaturgeschichte, die aufgrund ihrer politischen Ausrichtung nicht in der DDR gedruckt werden dürfen, Teil der Autobiographie werden sollen: „Heute nur Kol-
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fungiert das Tagebuch für die Autobiographie in ähnlicher Weise wie während des „Dritten Reichs“ für die LTI-Notizen als Arbeitsbuch bzw. Ort der Stoffsammlung.260 Solange er nicht konkret zum Manuskript des „Curriculum vitae“ zurückkehrt, ist das Diarium Zentrum seiner schriftlichen Überlegungen zu diesem Buch. Tief greifende Zweifel an der Schaffenskraft kommen Klemperer insbesondere Ende 1958, als sich seine Gesundheit drastisch verschlechtert. Weiterhin äußert er diese jedoch selten. Denn durch das Aufschreiben der Erkenntnis der Schreibunfähigkeit wird diese realer. Einmal notiert er: „Auf der Rückfahrt erwog ich sehr ernstlich, ob ich nicht doch lieber das 18e lasse u. über Feuchtwanger schreibe. Geheimster Gedanke: meine Produktionskraft ist physisch u. geistig zuende – wenn ich Feuchtwanger lese, habe ich wenigstens einen (wehmütigen) Genuß u. falle H. weniger durch verbitterte Klagen auf die Nerven.“ (SZS II, 727, 12.11.1958).
Die Konsequenz aus der – nur im privaten Rahmen des Tagebuchs offenbarten – Erkenntnis, endgültig die effektiven Arbeitsfähigkeiten eingebüßt zu haben, ist wiederum nicht das Beenden der wissenschaftlichen Arbeit, sondern ein kleiner Selbstbetrug: Durch die Lektürearbeit am FeuchtwangerThema will Klemperer sich weiter beschäftigen, ohne das grundsätzliche Gefühl der Arbeitsunfähigkeit zu haben. Mit dem Ausweichen auf ein neues Projekt könnte er die Konfrontation mit den Schwierigkeiten des Schreibens umgehen. Die Ehrlichkeit mit der er seine Selbstbetrugsüberlegungen bekennt, zeugt von der fortgesetzten Fähigkeit, selbstkritisch und tiefgründig die eigene Lage zu reflektieren. Trotz des im Jahresresümee 1958 wiederholten Gefühls des „Nicht-mehr-schreiben-Können“ (SZS II, 733,
legvorbereitung – wobei ich freilich seit vielen Jahren das erstemal im 2. Bd. meines 18ième las und sehr angetan davon war. Wenn ich den Rousseau revidiere, so sollen die jetzt hinauszutuenden oder umzuändernden Abschnitte in mein Curriculum kommen (R als Verteidiger Hitlers!)“ (SZS II, 362, 02.03.1953). ϮϲϬ Ebenso ist das Tagebuch auch in den fünfziger Jahren Ort der Ideensammlung für Romane und Novellen. Wie schon in der Weimarer Republik skizziert Klemperer weiterhin Szenen, die er als literarischen Stoff ansieht – so über seine eigene Familie (vgl. z.B.: SZS II, 595, 22.12.1956; SZS II, 702, 21.08.1958). Das geschieht in dem Bewusstsein, dass die Ideen vermutlich nie umgesetzt werden, was jedoch weniger aus fehlenden Publikationsmöglichkeiten resultiert, als vielmehr aus seinen grundsätzlichen Zweifeln an seinen literarischen Schreibfähigkeiten. So kommentiert Klemperer die Zusammenhänge in der Familie seiner zweiten Ehefrau: „Das Chaos der deutschen Familie müßte man schildern können. Welch ein Stoff, gerade diese Familie. [...] Das schreiben können! Es wäre der allumfassende tragische u. komische u. stupende Roman, der deutsche Roman dieser Jahre schlechthin! Mein Schicksal: wissen, wie es gemacht wird u. nicht können. –“ (SZS II, 285-286,19.05.1952).
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31.12.1958) gelingt es ihm immer noch, sich im Tagebuch mit sich selbst auseinander zu setzen. Denn das Diarium ermöglicht nicht nur die Konfrontation mit der wachsenden Verzweiflung über Arbeitsunfähigkeit und Altersbeschwerden, sondern es macht auch die stetige Selbstmotivation fassbar. Durch das Aufschreiben der Zukunftspläne und der Motivation zum Weitermachen verdeutlicht sich Klemperer selbst seinen Lebensantrieb. Jedes Bedauern über eine nicht erreichte Arbeitsleistung würde ihm seine Unfähigkeit vor Augen führen. Das wäre kontraproduktiv für die Fortsetzung der Arbeit. Der erklärte Wille zum Vorwärts in der Textproduktion begründet für Klemperer, warum er weiterhin leben und arbeiten möchte. Zwischenergebnis 1952-1958 Die letzte Lebensphase Klemperers ist im Tagebuch stark durch die Wahrnehmung des eigenen körperlichen und geistigen Verfalls geprägt. Das Gefühl, „am Ende“ zu sein, wird zum zentralen Topos der späten Nachkriegsjahre – besonders im Vergleich zur viel jüngeren zweiten Ehefrau Hadwig. In der Reflexion über Vergangenes, der Hoffnung auf Arbeitsprojekte und der Erkenntnis, in allen Lebensbereichen einer inneren „Zwiespältigkeit“ ausgeliefert zu sein, zeigt sich die zunehmende private, berufliche und politische Frustration Klemperers. Trotz des wachsenden Eindrucks, nicht mehr arbeiten zu können, setzt er sich weiterhin bewusst Arbeitsziele und hält an seinen systematisch geordneten Reflexionen fest. Das Tagebuch ist dabei paradoxerweise zugleich Ort tiefster Selbstzweifel und Hilfsmittel, sie zu umgehen – indem Klemperer schreibend die Entscheidung umsetzt, weiter „stur drauflosleben u. -arbeiten“ zu wollen.
VII.12 1959 – „I CH KANN
AUCH NUR 261 MÜHSELIG SCHREIBEN .“
Das letzte Jahr, in dem Klemperer in der Lage ist, Tagebuch zu führen, wird in allen Bereichen sehr stark durch die von ihm empfundene Todesnähe geprägt. Insbesondere nach einem schweren Herzanfall, den er in der Nacht zum 29. März 1959 auf einer Reise erleidet, hat er zunächst keine Kraft mehr für Notate. Die wenigen Einträge, die nach diesem Zusammenbruch folgen, dokumentieren in ihrer chronologischen Abfolge nochmals eine deutliche Veränderung in der Einstellung zum beruflichen, lebensgeschichtlichen und diaristischen Schreiben. Auch dieser Wandlungsprozess wird entscheidend durch die aktuellen Lebensbedingungen beeinflusst.
Ϯϲϭ SZS II, 743, 03.05.1959
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Bereits der erste Eintrag nach dem Herzanfall, der nach dem Notat vom 27. März erst am 28. April gelingt, signalisiert den unbedingten Willen Klemperers, die schriftliche Begleitung seines Lebens fortzusetzen. Obwohl er kaum den Stift halten kann, vermerkt er: „Hic incipit tragoedia [Hier beginnt die Tragödie, Anm. d. A.]. Sequuntur [Es folgen, Anm. d. A.] H’s Notizen, Diktate, Bemühungen“ (SZS II, 742, 28.04.1959). Außer dem Hinweis auf den Beginn einer Tragödie – des Zusammenbruchs, der jedoch in dem vorliegenden Eintrag nicht näher bestimmt wird –, verweist Klemperer mit „Sequuntur H’s Notizen, Diktate, Bemühungen“ – laut Erläuterung von Walter Nowojski (vgl. SZS II, 902-903) – auf einen Rundbrief,ϮϲϮ in dem Hadwig Klemperer Freunde und Bekannte über den Herzanfall und den Hergang der Rückreise informiert. Er ist nicht selbst in der Lage, aufzuschreiben, was im Einzelnen passierte. Deshalb verweist er auf den Bericht seiner Ehefrau, in dem alle Details vermerkt wurden. Der kurze eigene Eintrag signalisiert jedoch Klemperers unbedingten Willen zum Schreiben – und auch seine Sehnsucht danach. Denn das Tagebuch hat er lebenslang als Rückzugsmöglichkeit vor allen Ängsten und als Ort der Selbstreflexion geschätzt. Trotz der körperlichen Einschränkung ist er nicht bereit, gänzlich darauf zu verzichten. Zumindest indirekt sichert er durch den Brief seiner Frau und den direkten Verweis darauf im Tagebuch die Dokumentation der Ereignisse.263 Bezeichnend ist das Ausweichen auf die lateinische Sprache. Sie ist ein Signal für die Zäsur. Der Zusammenbruch hat Klemperer einen Monat lang von jeder Form des Schreibens abgehalten. Nun beginnt er langsam, sich zu erholen und macht seine erste Eintragung. Da er zu schwach ist, um mehr als wenige Zeilen zu schreiben, wählt er Worte, die symbolischen Charakter tragen – und die zugleich eine Art Schutz bieten. Das Verwenden einer lateinischen Formulierung fungiert als Maske und Schutzschild vor der direkten Konfrontation mit dem Ausmaß des Zusammenbruchs in der eigenen Sprache.
ϮϲϮ In der SLUB lagert ein maschinenschriftlicher Brief an den Neffen Peter Klemperer und dessen Frau Inge vom 18. April 1959, in dem Hadwig ausführlich den Hergang des Herzanfalls beschreibt (vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 211). Möglicherweise handelt es sich hierbei um eine Kopie des genannten Rundbriefs. Handschriftlich kommentiert Klemperer auf diesem Briefbogen: „Es war scheußlich, für Hadwig noch viel scheußlicher als für mich, denn ich hatte ja nichts anderes zu tun, als abzukratzen.“ Ϯϲϯ Auch der erste längere Eintrag, der am folgenden Tag entsteht, signalisiert Klemperers unbedingten Willen zum Fortsetzen des Tagebuchs: „Ich sitze nun schon seit über einer Woche täglich längere Zeit am Schreibtisch. Aber ich taumle so sehr beim Weg hierher, daß H mich stützen muß u. meine Hand zittert so sehr, daß ich kaum eine Unterschrift zustande bringe“ (SZS II, 742, 29.04.1959).
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Denn die konkrete Auseinandersetzung mit den Konsequenzen seiner körperlichen Schwäche fällt Klemperer schwer. Zwar hatte er in allen Lebensphasen wiederholt und häufig sehr dramatisch Zweifel an den Möglichkeiten des fortgesetzten Schreibens und seinen grundsätzlichen Fähigkeiten auf diesem Gebiet formuliert. Nun jedoch sieht er sich nicht mehr nur mit der Frage konfrontiert, ob er intellektuell in der Lage wäre, Erlebtes zu notieren. Der Herzanfall hat ihn stark geschwächt und damit fühlt sich Klemperer rein körperlich daran gehindert, zu schreiben. Das führt zu schweren Depressionen über den Gesundheitszustand.264 Der Glaube an eine vollständige Rekonvaleszenz ist gering (vgl. SZS II, 743, 29.04.1959). Dennoch konzentriert sich Klemperer gedanklich weiterhin auf Arbeitsprojekte, wobei er allerdings klagt: „Ich kann auch nur mühselig schreiben. Auch fällt mir nichts ein. Ich glaube nicht mehr, daß ich auch nur eines meiner drei Themen zu Ende führe. Wiederum: ‚bloß soʻ lesen, wie es mein Schwiegervater con amore tut, befriedigt mich nicht. Wollte ich den Feuchtwanger wirklich durchführen, so brauchte ich mindestens zwei Jahre Zeit. Gleiche Zeit u. Concentration für das 18ième. Und gar das Cur. Und immer das Gefühl: Keiner der 3 Pläne wird durchgeführt“ (SZS II, 743, 03.05.1959).
Die Ausrede vom November 1958, es genüge, für eine FeuchtwangerMonographie zu lesen, um zumindest den Arbeitswunsch zu befriedigen (vgl. Kapitel VII.11), hat keine Gültigkeit mehr. Klemperer gesteht sich ein, dass derartiger Selbstbetrug wenig Ansporn für ihn ist. Damit stellt er sich einer schwierigen Wahrheit: Er formuliert indirekt aus, dass er weder die Kraft noch die Zeit für die drei Projekte zur Verfügung haben wird. Die Schonungslosigkeit, mit der er sich dies vorhält, zeigt die noch immer entscheidende Bedeutung des Tagebuchs für ihn. Denn obwohl Klemperer konstatiert, dass alle anderen Arbeitsprojekte vermutlich unvollendet bleiben werden, zeigt er durch das Aufschreiben dieser Tatsache seinen weiteren Schreibwillen an. Das Diarium ist der letzte Text, durch den er seinen Arbeits- und Produktionswillen aufrecht erhalten kann.
Ϯϲϰ Insbesondere nach dem zweiten körperlichen Zusammenbruch im Juni 1959 wachsen Klemperers Zweifel an der Sinnhaftigkeit des Lebens selbst angesichts der starken körperlichen Einschränkungen an. Das führt sogar zu resignierten Aussagen wie: „Was ist für H. gewonnen, wenn sie mich dann zuhaus allein auf dem Hals hat? Was für mich vom Weiterleben, wenn ich nicht mehr produzieren kann u. an den Wert des Produzierens nicht mehr glaube? Mach Ende, Herr, mach Ende ...“ (SZS II, 752, 26.10.195). Klemperer adaptiert hier eine Zeile aus Paul Gerhardts Kirchenlied „Befiehl Du Deine Wege“ (vgl. Gerhardt 1957, 149). Angesichts seiner lebenslangen Abneigung gegen religiöse Bezüge ist dies erstaunlich.
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Gleichzeitig zeugt diese Aussage von der fortgesetzten Fähigkeit Klemperers, sehr klar seine Lebensbedingungen zu reflektieren. Dies resultiert daraus, dass die Selbstreflexion im Schreiben zentraler Bestandteil seines Selbstverständnisses bleibt – sogar als er kaum noch fähig ist, den Stift zu halten. Zusätzlich deutlich wird das, als er erklärt, ihm falle nichts ein, was er berichten könne. Diese Aussage ist neu im Tagebuch. Zwar klagte Klemperer Anfang der dreißiger Jahre, es habe keinen Sinn, zu schreiben, doch nie erklärte er vorher, dass er einfallslos sei. Diese Einschätzung signalisiert seine Fähigkeit, sich offen mit seinen nachlassenden Kräften zu konfrontieren.265 Tatsächlich konzentrieren sich die Einträge Anfang Mai 1959 zunächst nahezu ausschließlich auf die Darstellung der immer gleichen Themen – körperlicher Zustand, schlechtes Gewissen gegenüber Hadwig, Arztbesuche. Klemperer kämpft so stark mit seiner gesundheitlichen Schwäche, dass es ihm kaum möglich ist, seine Aufmerksamkeit auf andere Themenkreise zu richten.266 Dennoch führt dies erneut nicht zu der Konsequenz, das Schreiben aufzugeben. Vielmehr notiert Klemperer weiter und findet durch die Darstellung ähnlicher Inhalte schrittweise zu seinem alten Schreibstil zurück.267 Bereits am 9. Mai 1959 vermerkt er in alter Manier: „Habe ich notiert, daß in dieser Zeit irgendwann auch Gusti W. bei uns war?“ (SZS II, 744, 09.05.1959). Die Technik, eine Information mit einer rhetorischen Frage einzuleiten, verwendet Klemperer in früheren Jahren häufig. Sie verhilft ihm nicht nur dazu, einen Sachverhalt kurz zu vermerken, sondern ermöglicht den Übergang in eine lockere Erzählform. An diesem Punkt gewinnt er
Ϯϲϱ Wenige Tage setzt sich Klemperer nochmals mit seinen nachlassenden Kräften auseinander. Wieder leitet er mit der Feststellung seiner körperlichen Schwäche ein, um dann zu bekennen, er wisse nicht, was er schreiben solle: „...taumelig, mit der Feder zu schreiben, fällt mir noch immer sehr schwer – übrigens fällt mir nichts ein“ (SZS II, 744, 08.05.1959). Ϯϲϲ Die wenigen ausführlicheren Einträge enthalten allerdings jeweils Ausführungen zu einem spezifischen Thema, zu dem Klemperers Artikulationsbedürfnis besonders stark ist. Ein Beispiel ist die umfangreiche Erläuterung seiner gewandelten Einstellung zur Todesstrafe im ersten Eintrag nach einer viermonatigen Schreibpause (vgl. SZS II, 751-752, 25.10.1959). Das Notat ist ein Beleg für Klemperers fortgesetzten Willen zur Reflexion im Tagebuch. Insbesondere angesichts der Tatsache, dass laut der Druckausgabe der Tagebücher nur drei weitere Einträge entstehen, ist die ausführliche Diskussion der veränderten politischen Einstellung offenbar ein Thema für Klemperer, dass er unbedingt noch ausführen will. Ϯϲϳ Mehrfach wird beispielsweise die Rückkehr „im Nachthemd u. in H.s Morgenrock“ (SZS II, 744, 09.05.1959) an den Schreibtisch vermerkt. Die Beschreibung seines Zustandes hilft Klemperer, bekannte Denkmuster und Darstellungstechniken zu nutzen.
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seinen Erzählstil zurück. Es gelingt ihm so, sich von seiner Krankengeschichte zu lösen und gewohnte Schreibformen aufzugreifen. Im Mai und Juni verfasst Klemperer wieder regelmäßig Einträge, die inhaltlich weitgehend seinen früheren Notaten ähneln. Zwar erhält das Thema der gesundheitlichen Verfassung ein stärkeres Gewicht, aber das Tagebuchschreiben wird erneut ein Teil des Alltags.268 Das gleich in der ersten Eintragung nach dem Herzanfall angedeutete Ausweichen auf „H’s Notizen“ entwickelt sich dabei zu einer wichtigen Technik in dem Bemühen um die vollständige Dokumentation der Lebensereignisse. Vor allem nach einem gesundheitlichen Rückfall Ende Juni 1959, der zu einem langen Krankenhausaufenthalt führt, betont Klemperer wiederholt die Bedeutung von Briefen und anderen Dokumenten, die außerhalb des Diariums entstehen. So erklärt er beispielsweise in seinem ersten Schreibversuch nach vier Monaten: „Dies heute ist eine erste Tagebuchnotiz nach etlichen Briefnotizen, woraus sich der Anfang des neuen Bandes des Curriculi ergeben könnte“ (SZS II, 751, 25.10.1959). Im Gegensatz zu den Eintragungen nach dem ersten Zusammenbruch, ist dieses Notat positiv auf die Zukunft und ein mögliches Arbeitsprojekt ausgerichtet. Das Einplanen der Briefnotizen für eine mögliche Fortsetzung des „Curriculum vitae“ zeigt, dass Klemperer das Wenige, das er geschaffen hat, nicht mehr nur als Kampf um das Beherrschen des Stiftes betrachtet. Vielmehr sind diese Aufzeichnungen ein konkreter Beleg für sein Weiterarbeiten und haben dadurch autobiographischen Wert, auch wenn sie nicht direkt im Diarium entstehen. Klemperer glaubt nach wie vor an die Sinnhaftigkeit seiner Notate. Weil seine körperliche Verfassung ihn jedoch daran hindert, selbst zu schreiben, stützt er sich auf ergänzende externe Texte.
Ϯϲϴ Die Reflexion über die Art und Weise der Tagebucheintragungen ist auch 1959 Teil von Klemperers Notaten. Dabei nimmt Hadwig Klemperer Einfluss auf ihren Mann: „H.’s Rat: Konkrete Einzelheiten, nicht allgemeine Zustandsklagen! Geduldig die Hand üben!“ (SZS II, 752, 28.10.1959). Diesen Ratschlag befolgend, konzentriert sich Klemperer auf Ereignisse, die ihm beschreibenswert erscheinen. Allerdings sind die „allgemeine[n] Zustandsklagen“, von denen Hadwig abrät, ein entscheidendes Element seiner Tagebuchaufzeichnungen. Das wird im Kommentar neben der Datierung dieses Eintrags deutlich. Zwar macht er tatsächlich keine Angaben über seinen Gesundheitszustand. Aber er weist einleitend auf seine gegenwärtige Situation hin: „Schreibzimmer mit beinahe richtiger Stuhl- u. Tischhöhe und nicht allzu blendender Beleuchtung. 28.X, gegen 20 h.“ (SZS II, 752, 28.10.1959). Lebenslangen Schreibmustern will Klemperer sich auch in seinen letzten Notaten nicht entziehen. Es ist Teil seines Schreibrituals, seine Umgebung möglichst detailliert in ihrer Auswirkung auf sein Schreiben zu verzeichnen. Die Fähigkeit, diese scheinbar unbedeutenden Details zu notieren, weist darauf hin, dass Klemperer weiterhin sehr bewusst seine Aufzeichnungen führt.
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Damit sind nicht nur seine eigenen „Briefnotizen“ gemeint, sondern vor allem auch jene Schreiben, die mit Hadwig Klemperers Hilfe entstehen. Sie fertigt nach dem Diktat ihres Mannes Briefe und andere Aufzeichnungen.269 Damit stützt sich Klemperer einerseits auf eine Technik, die er lebenslang angewendet hat: Er erweitert seine Tagebuchnotate durch externe Texte unterschiedlicher Herkunft und Art. Andererseits liegt hierin auch ein entscheidender Unterschied zu früheren Eintragungen. Denn das Gewicht der außerhalb des Diariums entstandenen Schriften ist nun wesentlich größer, weil Klemperer die Kraft für direkte Tagebuchaufzeichnungen fehlt. Am 29. Oktober 1959 entsteht laut der Druckversion Walter Nowojskis Klemperers letztes Notat. Danach ist er sowohl körperlich als auch geistig nicht mehr in der Lage, sich auf das gezielte Verfassen eines Eintrags zu konzentrieren.270 Anhand des Katalogs der SLUB zu Klemperers Nachlass wird allerdings deutlich, dass weitere Einträge folgen. Das Tagebuch wurde bis zum 1. März 1960 geführt (vgl. Deckert 1978). Da Klemperer bereits am 11. Februar 1960 stirbt, kann er zumindest die Einträge nach diesem Datum nicht selbst gemacht haben. In einem Brief danach gefragt, bestätigt Hadwig Klemperer, dass sie die Aufzeichnungen fortführte: „Das Tagebuch wird natürlich nicht bis zum 1.3.1960 weitergeführt, spätestens im letzten Halbjahr schrieb Klemperer nicht mehr. Mir ist, als hätte ich im Spätsommer
Ϯϲϵ Dazu gehört eine Liste der Menschen, die Klemperer im Krankenhaus besuchen (vgl. SZS II, 752, 26.10.1959). – Auch anhand der in der SLUB vorhandenen Taschenkalender aus den Jahren 1959 und 1960 wird Hadwig Klemperers Funktion beim Bewahren von Klemperers Lebensereignissen deutlich: Zunächst versucht er selbst, in wackeliger Schrift nach seinem Zusammenbruch im März 1959 einige Notizen im Kalender zu vermerken (vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 156). Als seine Kraft zum Schreiben nicht mehr ausreicht, übernimmt Hadwig Klemperer die Aufgabe, stichpunktartig seine Erlebnisse zu vermerken. Anfangs notiert sie nur medizinische Ereignisse, wie „Victor Anfall“ (20.06.1959) und „Victor Thrombose 1600 Krankenhaus“ (27.06.1959). Bald vermerkt sie alle Besucher, jedes außergewöhnliche Ereignis wie Haareschneiden (23.07.1959), „1. x Aufstehen“ (09.09.1959), eine „tote Ratte“ (14.10.1959), „1. Autofahrt“ (19.10.1959) oder „1. Brief, handschriftlich“ (21.10.1959). Auch 1960 führt sie einen Taschenkalender für ihren Mann (vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 157). Der letzte Eintrag datiert vom 11. Februar 1960: „0015 †“. ϮϳϬ Das formuliert er selbst aus, indem er seine Schwierigkeiten, einen Brief zu schreiben, vermerkt: „Ich brauchte mehr {als} anderthalb Stunden für einen kurzen Geburtstagsbrief an Anny Kl. Der Kopf versagte noch viel mehr als die Hand [...] / Aber auch die kurzen Diktate an H. – cf. vorangehende Schriftstücke – machten viele Mühe, da innerer Einklang über die Abfassung schwer zu erzielen war“ (SZS II, 753, 29.10.1959).
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1959 selber ein paar Notizen angefügt. (Das alles liegt ja so lange zurück.)“ (Brief von Hadwig Klemperer vom 12.01.2007).
Da Hadwig Klemperer als Erbin allein Zugang zu den Tagebüchern ihres Mannes hatte, kann vermutet werden, dass sie auch den letzten Eintrag vom 1. März 1960 verfasste. Wenn sie die Führung des Diariums zu einem Zeitpunkt übernahm, an dem der eigentliche Tagebuchschreiber dazu nicht mehr selbst in der Lage war, hat sie damit eine Grenze überschritten, die dieser Textsorte eigentlich unüberbrückbar gesetzt ist: Ein Tagebuch kann nicht vom Tod seines Autors berichten. Doch Hadwig Klemperer führt zu Ende, was Klemperer durch Krankheit und Tod verwehrt bleibt. Sie vollendet seinen Tagebuchtext, indem sie den Abschluss seines Lebens erzählt. Zwar ist dies kein konkret autobiographisches Schreiben mehr. Wenn allerdings davon ausgegangen wird, dass Hadwig Klemperer mit ihren Tagebucheintragungen nur das ergänzen wollte, was ihr Mann selbst nicht mehr schreiben konnte – wenn sie also in seinem Sinne das Tagebuch fortgeführt hat –, dann stellt ihr Schreiben den Abschluss dieses lebenslangen autobiographischen Schreibprojektes dar. Zwischenergebnis 1959 In seinem letzten Lebensjahr gelingt es Klemperer kaum noch, Tagebucheinträge zu schreiben. Nach einem schweren Herzanfall fehlt ihm die Kraft, überhaupt den Stift zu halten. Auch lässt seine Konzentrationsfähigkeit stark nach. Solange es ihm jedoch irgendwie möglich ist, zwingt er sich immer wieder an den Schreibtisch. Nach wie vor vermerkt er das autobiographische Schreibprojekt des „Curriculum vitae“ als Zukunftsperspektive. Fehlende eigene Notizen werden durch externe Texte ausgeglichen, welche teilweise Hadwig Klemperer im Auftrag ihres Mannes verfasst. Alles weist darauf hin, dass Klemperer auch in seinen letzten Eintragungen nicht bereit ist, auf das Schreiben als Lebensaufgabe völlig zu verzichten. Erst als er sowohl geistig als auch körperlich nicht mehr dazu in der Lage ist, enden seine Aufzeichnungen. Die Ehefrau übernimmt an dieser Stelle jedoch die Notate und schließt – vermutlich mit einem Eintrag über seinen Tod – das autobiographische Schreibprojekt ab.
VII.13 E RGEBNISSE Klemperers erhaltenes Tagebuchwerk umfasst Aufzeichnungen aus den Jahren 1916 bis 1959. Die stark gekürzte Druckversion der Diarien, die von Walter Nowojski herausgegeben wurde, kann nur ein unvollständiges Bild von ihrer Gesamtausrichtung vermitteln. Erst wenn alle verfügbaren Tagebuchmaterialien für eine Untersuchung der grundlegenden Struktur und
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Ausrichtung der Notate verwendet werden, lässt sich rekonstruieren, welche Ziele Klemperer verfolgte. Denn es ging ihm nicht nur – wie die klassische Tagebuchtheorie immer wieder verallgemeinernd allen Diaristen unterstellt – um eine Reflexion und Rückversicherung seines Selbst. Vielmehr zeigen sowohl die Inhalte als auch der Aufbau einzelner Einträge und die Art und Weise, wie die Notate aneinander gekoppelt sind, dass Klemperer konkrete Schreibziele mit seinen täglichen Aufzeichnungen verfolgte. Diese sind jedoch nicht konstant, sondern ändern sich mit seinen äußeren Lebensbedingungen und seiner intellektuellen Entwicklung. Zwar steht das Bewahren von Erinnerungen stets im Mittelpunkt. Allerdings ist die Entscheidung, welche Ereignisse Klemperer in welchem Umfang und auf welche Art verzeichnet, situationsabhängig. Die frühesten erhaltenen Tagebücher bestehen vornehmlich aus spontanen Alltagsbeobachtungen und der Rekonstruktion spezifischer Erlebnisse (vgl. Kapitel VII.2). Ab Anfang der zwanziger Jahre wächst Klemperers Bewusstsein für die Möglichkeit, anhand „kleiner Eindrücke“ einen Beitrag zu einer größeren Geschichtsschreibung leisten zu können (vgl. Kapitel VII.3). Mit der Idee einer Autobiographie wandelt sich ab 1926 die Ausrichtung der Notate. Nun wird das Tagebuch zu einem Ort der Materialsammlung für das geplante zu veröffentlichende Buch. Gleichzeitig erhält das Diarium eine weitere Funktion: Es wird zum Mittel der „Betäubung“, mit dessen Hilfe Klemperer seiner zunehmenden Unzufriedenheit mit seiner persönlichen und beruflichen Lage begegnen will (vgl. Kapitel VII.4). Als die Verstimmung zu stark wird, hilft auch das Tagebuch nicht mehr. In den Jahren 1931 und 1932 entstehen im Verhältnis zu früheren und späteren Lebensphasen sehr wenige Einträge. Das private Schreiben scheint Klemperer sinnlos. Deshalb zieht er sich auf seine wissenschaftliche Tätigkeit zurück (vgl. Kapitel VII.5). Insbesondere das belegt, dass die Behauptung, das Tagebuch werde vor allem zur Selbstreflexion verwendet, auf Klemperer nicht zutrifft. Vielmehr lehnt er die Auseinandersetzung mit seiner eigenen Person und seinen Erlebnissen in der unbefriedigenden Lebenssituation explizit ab, indem er sich weitgehend der Verzeichnung seiner Gefühle und Ansichten im Diarium enthält. Diese Einstellung ändert sich erst mit den drastischen politischen und gesellschaftlichen Wandlungen durch die „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten. Zunehmend persönlich von den neuen Bedingungen betroffen, nutzt Klemperer wieder vermehrt sein Tagebuch zur Auseinandersetzung mit den Gegebenheiten. Zentral wird dabei die Idee, „Stimmungen“ für eine mögliche autobiographische Publikation einzufangen. Dementsprechend ist wiederum nicht die Selbstreflexion, sondern der Wille zur Informationsbewahrung ausschlaggebend für das regelmäßige Tagebuchschreiben (vgl. Kapitel VII.6). Den Gedanken, „Zeugnis abzulegen“ von den zunehmend existenziell bedrohlichen Lebensbedingungen der Dresdner Juden etabliert Klemperer erst 1939 explizit. Nun betrachtet er sein Tagebuch nicht mehr vornehmlich als Dokumentation seines persönlichen Erlebens, sondern als Ort, an dem er
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seine Aufgabe als Beobachter der gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen erfüllen kann. Die Notate gelten als Vorarbeit für eine spätere Umsetzung in der 1939 begonnenen Autobiographie. Dadurch kann sich Klemperer das Gefühl bewahren, trotz seiner ausgelieferten Situation im Schreiben zu agieren (vgl. Kapitel VII.7). Dieser Gedanke verschärft sich nach dem erzwungenen Abbrechen des „Curriculum vitae“. Immer stärker konzentriert sich Klemperer auf das Verzeichnen möglichst vieler und detailreicher Beobachtungen über das Leben als Jude in Dresden. Dabei rückt sein persönliches Erleben vielfach in den Hintergrund. Gleichzeitig hält er sich jedoch durch das fortgesetzte Schreiben am Leben. Denn es hilft ihm, seiner stetigen Todesangst und Verzweiflung zu trotzen (vgl. Kapitel VII.8). Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs verliert das Tagebuch diese grundsätzlich existenzielle Funktion, obwohl es weiterhin zum Bewahren der Erlebnisse verwendet wird. Klemperer wiederholt eine Technik, die er in früheren Jahren entwickelte, und macht das Diarium zum Ort einer Stoffsammlung, die sich später beispielsweise bei der Entwicklung der Sprachanalyse „LTI“ bestätigt (vgl. Kapitel VII.9). In der Erwartung seines baldigen Todes, die einem großen beruflichen und politischen Engagement gegen Ende der vierziger Jahre gegenübersteht, wächst sein Bedürfnis, alle wichtigen Erlebnisse zu bewahren. Geradezu manisch verzeichnet Klemperer in umfangreichen Nachträgen scheinbar unwichtige Details – häufig mehrfach, weil er den Überblick über die Inhalte seiner Aufzeichnungen verliert. Er betrachtet die Einträge dabei zunehmend nicht mehr als Vorlage für einen später zu schaffenden autobiographischen Text (vgl. Kapitel VII.10). Darin äußert sich eine erneute Umfunktionalisierung des Diariums: In der Weimarer Republik überlegt Klemperer nie grundsätzlich, zu welchem Zweck seine Notate entstehen. Erst mit der aufkommenden AutobiographieIdee kristallisiert sich eine zunächst unpräzise definierte Funktion in Bezug auf den autobiographischen Text für die Tagebücher heraus. Im „Dritten Reich“ steigt die Bedeutung dieser Zuweisung noch an. Als Klemperer schließlich die Arbeit am „Curriculum“ beginnt, etabliert er damit eine konkrete Aufgabe für seine Tagebuchaufzeichnungen. In den Nachkriegsjahren, vor allem nachdem die „LTI“ veröffentlicht worden ist, welche auf den Tagebüchern 1933-1945 basiert, löst sich diese Funktion weitgehend auf. Zwar notiert Klemperer weiterhin Ideen für die Autobiographie, die Bedeutung der Eintragungen ändert sich jedoch erneut: Spätestens ab Mitte der fünfziger Jahre interessiert nicht mehr ihre konkrete Umsetzung in ein Buchprojekt. Vielmehr weist Klemperer nun den Tagebuchaufzeichnungen selbst den Status eines Dokuments zu, das seine Existenz bezeugen kann. Diese Aufgabe der Eintragungen hält er bis zum Schluss aufrecht. Auch wenn Klemperer sich immer stärker des Verlustes seiner körperlichen und geistigen Fähigkeiten bewusst wird, führt er seine Notate fort, um damit zumindest teilweise ein Bewahren seiner Erlebnisse in den letzten Lebensjahren zu garantieren. Eine tiefer gehende Reflexion der nachlassenden Kräfte aber bleibt weitgehend aus. Vielmehr verwendet Klemperer seine
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Aufzeichnungen dafür, seiner Verzweiflung aus dem Weg zu gehen, indem er postuliert, weiter „stur drauflosleben u. -arbeiten“ zu wollen (vgl. Kapitel VII.11). Die Eintragungen aus dem Jahr 1959 dokumentieren schließlich den endgültigen Verlust der Fähigkeit zum Schreiben – bedingt durch die wachsende körperliche und geistige Schwäche (vgl. Kapitel VII.12). Die vorliegende Interpretation von Klemperers Tagebuchführung und speziell seinen Aussagen zum diaristischen, lebensgeschichtlichen und beruflichen Schreiben zeigt, dass die jeweiligen Außeneinflüsse an unterschiedliche Prioritäten in der Ausrichtung der Diarien orientiert sind. In der Weimarer Republik ist das Beobachten als solches zentral. Im „Dritten Reich“ sollen die Notate das zumindest schriftliche Überleben (des Tagebuchschreibers und der von ihm beschriebenen Personen) sichern. In der DDR tritt trotz des Bewusstseins für Redundanzen das ungefilterte Bewahren von möglichst vielen Ereignissen in den Vordergrund. Je nach den äußeren Bedingungen wechseln dabei der Schreibstil und die Form des Tagebuchs. Auf diese Weise haben die Aufzeichnungen keinen einheitlichen Stil, sondern jede Eintragung erhält je nach Situation eine eigene gattungstheoretische Zuweisung als Reisetagebuch, Rezension, Arbeitsbuch, Stoffsammlung für die Autobiographie, die „LTI“ oder einen Prosatext (vgl. dazu auch die Kapitel IV, V und VI). Entsprechend sind Versuche unsinnig, Klemperers Diarien einem bestimmten Tagebuchtyp (vgl. Hocke 1939, 1963) zuzuordnen (vgl. Stammen 2001, 221). Die Auseinandersetzung mit dem Hintergrund der jeweiligen Strukturen und Inhalte des Schreibens ist durchgehend wichtiger Bestandteil der Eintragungen. Ohne die Reflexion der jeweiligen Schreibbedingungen und der gedanklichen Einstellungen dazu möchte Klemperer seine Aufzeichnungen nicht führen. Deshalb liegt sein fortgesetztes Augenmerk darauf, wie Informationen systematisch verzeichnet werden können. Inhaltsverzeichnisse, Stichwortlisten, Kommentare zu Daten und Orten, interne Verweise zwischen einzelnen Einträgen wie auch auf externe Texte und Nachträge sind Techniken, welche Klemperer über die Jahre hinweg zur Perfektion treibt. Die grundlegenden Instrumente der Darstellung entwickelt er in der Weimarer Republik. Im „Dritten Reich“ erleichtern sie ihm sein Vorhaben, die Repressionen gegen die Dresdner Juden umfangreich und systematisch zu dokumentieren, obwohl er gezwungen ist, die einzelnen Tagebuchteile an unterschiedlichen Orten aufzubewahren. In der Nachkriegszeit erweitert er nochmals seine Methoden, um seinen Lebensbedingungen angepasst weiterhin viele Einzelheiten seiner Existenz schriftlich zu „fixieren“. Stofflich passt Klemperer sein Schreiben den jeweiligen äußeren Verhältnissen an. Die Materialien, auf denen die Aufzeichnungen entstehen, variieren entsprechend der Möglichkeiten: Während seiner Stationierung als Soldat weicht der Tagebuchschreiber auf Briefe an seine Ehefrau als Tagebuchersatz aus (vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 118). Wenn die äußeren Bedingungen es erfordern, nutzt er ein Diarium dreimal (vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 136). Im „Dritten Reich“ greift er auf leicht zu versteckende
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einzelne DIN-A5-Blätter zurück (vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 138 und 139). In den späten Lebensjahren verzichtet er sogar ganz auf die Buchform und legt lose Blattsammlungen an (vgl. Mscr. Dresd. App. 2003, 142 und 143). Er ist anpassungsfähig. Dabei wird jede Materialveränderung – selbst schlechte Papierqualität oder ein zugefügtes Notizblatt – ebenso wie der Alltag im Tagebuch thematisiert. Die lebenslange Konzentration auf strukturierende Techniken beim Verfassen der einzelnen Tagebucheinträge resultiert aus Klemperers Willen, so viele Informationen wie möglich zu bewahren. Er sammelt mit seinen Aufzeichnungen Erinnerungen. Lange Zeit hinterfragt er nicht, für welchen Zweck dies geschieht. Als Anfang der dreißiger Jahre die Idee zum „Curriculum vitae“ aufkommt, ändert sich das. Nun wird das Tagebuch die wichtigste Quelle für die Autobiographie. Die in den Eintragungen vermerkten Informationen sind Grundlage für ein späteres Ausformulieren im autobiographischen Text. Noch stärker herausgearbeitet wird diese Funktion der Aufzeichnungen, als Klemperer durch die Gefahr der Entdeckung durch die Gestapo im „Dritten Reich“ auf jede Form des Schreibens außerhalb des Tagebuchs verzichten muss: Nun laufen alle Themen, die ihn beschäftigen, in den täglichen Notizen zusammen – autobiographische Ereignisse für das „Curriculum“, literaturwissenschaftliche Analysen für die französische Literaturgeschichte und sprachwissenschaftliche Beobachtungen für die geplante „LTI“. Die Tagebuchaufzeichnungen selbst sind nicht für eine (unbearbeitete) Veröffentlichung bestimmt. Denn Klemperer sieht sie nicht als Text mit einer eigenständigen Qualität an. Vielmehr versteht er sie als Stoffsammlung und Vorlage für später auszuführende Buchprojekte. In diesem Zusammenhang verwendet er wiederholt die Metapher der „Papiersoldaten“. Sie drückt seine Angst aus, die Tagebuchaufzeichnungen nie in die ersehnten Buchprojekte umsetzen zu können. Trotz der andauernden Zweifel, die in einzelnen Lebensphasen – bedingt durch die jeweilige Lebenssituation – unterschiedlich stark ausgeprägt sind, behält Klemperer nahezu durchgehend (Ausnahme sind die Jahre 1931-1932) seinen Schreibwillen. Er erklärt sogar, seinen Ehrgeiz und Ängste um seine Leistungsfähigkeit und die Dauerhaftigkeit seiner Notate mit Hilfe des Weiterschreibens – sowohl wissenschaftlich als auch im Tagebuch – „übertäuben“ zu wollen. Klemperer bleibt lebenslang ein geisteswissenschaftlich geprägter Beobachter, der mit einem gewissen Abstand seine Umwelt analysiert und dies im Tagebuch verzeichnet. Im „Dritten Reich“ reicht ihm allerdings die reine Beobachterposition nicht mehr aus. Das Ziel, „Zeugnis abzulegen“, ist der Versuch, der Auslieferung an die Willkür des diktatorischen Systems im Kleinen aktiv etwas entgegen zu setzen. Deshalb stellen die Aufzeichnungen über die stetige Lebensbedrohung und die alltäglichen Grausamkeiten des nationalsozialistischen Systems nicht allein ein Reagieren auf das Erlebte dar. Vielmehr lässt sich Klemperers im Schreiben gezeigte Risikobereitschaft als Agieren gegen das Grauen interpretieren. Durch die Aufgabe, das
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Tagebuch zu führen, kann er sich bis zu einem gewissen Maß von seiner Todesangst distanzieren und darüber hinweg arbeiten. Er bleibt so trotz der völligen Isolation in der nationalsozialistischen Diktatur durch sein Schreiben handlungsfähig. In der Nachkriegszeit verliert das Tagebuch diese Funktion des Agierens. Phasenweise wirkt es, als schreibe Klemperer nur weiter, weil er die jahrzehntelang antrainierte Verhaltensweise nicht mehr ablegen kann. Die Bedeutung des handlungsfähigen Tagebuchschreibers tritt hinter das zwanghafte Verzeichnen möglichst vieler und umfassender Ereignisse zurück. Im Vordergrund steht das Bewahren ohne konkrete Ankoppelung an ein externes Buchprojekt. Das Tagebuch wird zwar ähnlich wie im „Dritten Reich“ als Ersatz für sonstige Schreibmöglichkeiten eingesetzt. Allerdings hindern nun nicht mehr die Repressionen durch ein rassistisch-antisemitisches System Klemperer am Schreiben, sondern seine nachlassenden Fähigkeiten, sich auf große Schreibprojekte zu konzentrieren. Dennoch behält das Tagebuch bis zuletzt eine zentrale Bedeutung für sein Selbstverständnis als Schreibender. Sogar als er kaum noch den Stift halten kann, bemüht er sich um die Fortsetzung der Aufzeichnungen, um in ihnen sein Leben in aller Widersprüchlichkeit und Vielfalt zu bewahren.
VIII.
Schlussüberlegungen
„Da das Schaffen seine Erfüllung nur im Lesen finden kann, da der Künstler die Sorge, das, was er begonnen hat, zu vollenden, einem anderen überlassen muß, da er sich einzig durch das Bewußtsein des Lesers hindurch seinem Werk gegenüber als etwas Wesentliches begreifen kann, ist jedes literarische Werk ein Appell. Schreiben heißt: einen Apell an den Leser richten, er möge der Enthüllung, die ich durch das Mittel der Sprache vorgenommen habe, zu objektiver Existenz verhelfen“ (Sartre 1958, 30).
Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit war die Absicht, die Tagebücher Victor Klemperers weniger als Zeitdokument bzw. Porträt zu betrachten, sondern vielmehr die komplexen Hintergründe seines diaristischen Schreibprojektes sichtbar zu machen. Dazu sollten die Aufzeichnungen stärker zu ihren eigenen Bedingungen gelesen werden. Es ging nicht so sehr um die Frage, was der Tagebuchschreiber verzeichnet, sondern weshalb und wie. Deshalb rückte Klemperers lebenslange Bindung an unterschiedliche Schreibformen ins Zentrum der Untersuchung. Denn er agiert nicht nur stetig als Diarist, sondern auch seine gesamte berufliche Laufbahn ist vom Schreiben bestimmt. Als Journalist, Schriftsteller und Wissenschaftler basiert seine Arbeit auf dem Verarbeiten und Erschaffen von Texten. Das zeigt deutlich, dass dem Schreiben in Klemperers Leben eine besondere Bedeutung zukommt. Eine Analyse seiner Tagebuchaufzeichnungen, in der die Beweggründe für seine stete schriftliche Auseinandersetzung mit sich und seiner Umwelt zentral sind, kann dies nicht außer Acht lassen. Auf diese Weise unterscheidet sich der Ansatz der vorliegenden Arbeit von anderen Tagebuchuntersuchungen. Es geht nicht darum, schrittweise den Verlauf der Eintragungen anhand der Inhalte nachzuvollziehen oder diese thematisch zu sortieren. Vielmehr interessieren die Ziele und Hintergrün-
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de des Diaristen beim Schreiben. Diese bleiben nicht statisch, sondern verändern sich je nach der jeweiligen Lebenssituation. Dementsprechend orientiert sich die Analyse zwar an den lebensgeschichtlichen Entwicklungen Klemperers, zielt aber auf die dadurch erzeugten Änderungen in der Haltung zum Tagebuch. Dabei muss einschränkend darauf verwiesen werden, dass nur jene Schreibphasen erfasst werden können, die mittels erhalten gebliebener Tagebuchtexte abgedeckt sind. Einen Teil der Notate vernichtete Klemperer selbst bereits zu Lebzeiten, nachdem er deren Inhalte in seinem Autobiographiefragment „Curriculum vitae“ verarbeitet hatte. Eine weitere Grundlage der Untersuchung ist die These, dass die Diarien nicht ohne den Blick auf die anderen Werke – die „Paralleltexte“ – erschlossen werden können. Die Tagebücher sind mehr als nur kontinuierliche Berichte über Alltagserlebnisse. Sie begleiten vielmehr Klemperers Entwicklungen in allen Bereichen. Die berufliche Sphäre hat eine große Bedeutung für sein Selbstverständnis. Entsprechend nehmen die in diesem Umfeld von ihm geschaffenen Texte eine wichtige Rolle in seinem Leben ein. Auch die außerhalb des Tagebuchs entstehenden autobiographischen Schreibformen wie Briefe oder die Autobiographie haben zeitweise einen ähnlichen Status. Im Diarium dokumentiert Klemperer nicht nur seine beruflichen Aktivitäten, sondern er entwickelt darin oftmals deren Grundideen. Bereits auf der inhaltlichen Ebene entstehen dadurch Schnittstellen zwischen den journalistischen, schriftstellerischen, wissenschaftlichen und autobiographischen Arbeiten und den Tagebüchern. Daneben signalisieren sich überkreuzende, direkte Verweise auf Überlegungen in den beruflichen und lebensgeschichtlichen Texten bzw. in einzelnen Eintragungen die Verknüpfung der beiden Schreibformen. Die Tagebuchaufzeichnungen sind folglich mehr als eine schlichte Dokumentation von Lebensereignissen. Sie sind Ort der Auseinandersetzung mit den privaten Erlebnissen, aber auch den außerhalb des Diariums produzierten Texten. Erst wenn beide Arten des Schreibens zusammenhängend betrachtet werden, ergibt sich ein Gesamtbild. Zwar können sowohl die beruflichen und lebensgeschichtlichen als auch die diaristischen Texte einzeln bestehen. Im Zusammenhang jedoch eröffnen sie eine weitere Bedeutungsebene. Der Gedanke Michel Foucaults, dass sich erst aus der Zusammenführung der unterschiedlichsten Textformen – der „Millionen Spuren“ (Foucault 1988, 13) – das Werk eines Autors ergebe, erweist sich im Blick auf Klemperers Tagebuch als in besonderer Weise wirksam. Dies resultiert aus der Aufgabe, welche er als Schreibender all seinen Texten zuweist: Sie fungieren als Mittel zum langfristigen Bewahren seines „Dagewesenseins“. Die Texte, die Klemperer veröffentlicht, garantieren seiner Person ein Bleiben lange nach seinem Tod. Denn Bücher bestehen über Jahrhunderte hinweg auch ohne die körperliche Anwesenheit ihres Autors und vermitteln dessen Gedanken – also seine geistige Existenz – Generationen, die sich kaum eine Vorstellung von der Zeit machen können, in der er lebte. – Doch auch Texte, die nicht gedruckt werden, zeugen auf diese
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Weise – solange sie nicht der Vernichtung anheimfallen – als unikate Dokumente vom „Dagewesensein“ eines Menschen. Schreiben ist damit mehr als nur ein berufliches Instrument oder ein privates Ausdrucksmittel zur Selbstreflexion. Es ist das Werkzeug, mit dessen Hilfe der Schreibende ein selbstreferenziell-geschlossenes System erschaffen kann, das auch nach seinem Tod von seiner Existenz erzählt. Das Erschaffen von Text garantiert die Sicherung eines geistigen „Bleibens“, wenn die körperliche Anwesenheit aufgrund der Endlichkeit des Lebens nicht mehr möglich ist. In einem lebenslangen autopoietischen Prozess versucht Klemperer als Schriftsteller, Journalist, Wissenschaftler, Briefeschreiber, Autobiograph und Diarist, zumindest Teile seines „Dagewesenseins“ zu bewahren. Schreiben dient ihm zur Existenzbewahrung. Dieser These folgend wurde der Rahmen zur Untersuchung der Tagebücher weit gesteckt. Nicht nur die Diarien, sondern auch die beruflichen und lebensgeschichtlichen Texte Klemperers standen im Fokus der vorliegenden Arbeit. Die einzelnen Kapitel diskutieren analytisch spezifische Aspekte, die als Hintergrund einer Interpretation der Tagebücher bedeutsam sind. Erst im Anschluss daran erfolgt die konkrete Auseinandersetzung mit den Diarien. Zunächst war es nötig, kurz Klemperers sich über vier Epochen erstreckenden Lebensverlauf darzustellen (Kapitel II). Weil die äußeren Lebensbedingungen die inneren Entwicklungen des Tagebuchschreibers beeinflussen und bestimmen, wie und wann Gedanken artikuliert werden, stellt die Biographie die Grundvoraussetzung für eine Auseinandersetzung mit seinem Schreiben dar. Ein weiterer wichtiger Punkt, der vor einer Analyse seiner Texte diskutiert werden musste, ist die Frage nach der öffentlichen Wahrnehmung von Klemperers Werk (Kapitel III). Hierbei wurde schnell deutlich, dass der Fokus der Sekundärliteratur – ob aus journalistischer oder wissenschaftlicher Sicht – vornehmlich auf den Tagebüchern 1933-1945 liegt. Klemperer erscheint dadurch ausschließlich als jüdisches Opfer des „Dritten Reichs“. Dies ist problematisch angesichts des Umstands, dass er in seinen Aufzeichnungen keinerlei Aussagen über die tatsächlichen Auswirkungen des Holocausts machen kann. Auch im Zusammenhang mit der Rezeption der Tagebuchteile 1918-1932 und 1945-1949, der Autobiographie „Curriculum vitae“ und „LTI. Notizbuch eines Philologen“ offenbart sich die Gefahr einer einseitigen Betrachtung. Denn zu häufig wird Klemperer verallgemeinernd als „Vorzeigejude“ instrumentalisiert, der sein Deutschtum trotz der Grausamkeiten der Nationalsozialisten bewahrte. Dabei kommt es zu zwei sehr einseitigen Blickrichtungen bezüglich des Umgangs mit den Diarien: Entweder konzentrieren sich die Rezipienten ausschließlich auf Klemperers Person und enden dabei in Psychologisierungen. Oder sie postulieren vor allem die historische Bedeutung der Aufzeichnungen und installieren den Tagebuchschreiber einseitig als Zeitzeugen und Chronisten. Sogar das wissenschaftliche Werk, welches bisher kaum Beachtung fand, wird in den wenigen neueren Untersuchungen auf diese Weise missgedeutet.
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Es fehlt also aus literaturwissenschaftlicher Sicht eine Auseinandersetzung mit den Tagebüchern, die auf klar definierten Begriffen basiert und sich von psychologisierenden und historisierenden Verallgemeinerungen abgrenzt. Resultat der Diskussion der Sekundärliteratur war deshalb die Forderung nach einem Lesen von Klemperers Diarien nach deren eigenen Bedingungen. Statt aufzuzählen und sogar zu kritisieren, welche Inhalte die Aufzeichnungen haben, fragt die vorliegende Arbeit nach den Hintergründen ihrer Entstehung. Dazu wurden im nächsten Schritt sowohl das berufliche (Kapitel IV) als auch das lebensgeschichtliche (Kapitel V) Schreiben Klemperers untersucht. Bei der Analyse seiner dreifachen beruflichen Neuorientierung konnte anhand von Textbeispielen gezeigt werden, dass er entsprechend der einzelnen Berufsfelder unterschiedliche Schreibstile entwickelt: Als Journalist nutzt er einen sachlich berichtenden Stil (Kapitel IV.1), als Schriftsteller einen literarischen (Kapitel IV.2) und als Wissenschaftler einen analytischen (Kapitel IV.3). Diese Schreibformen entsprechen den Anforderungen der jeweiligen beruflichen Ausrichtung. Gleichzeitig sind sie jedoch durch die Anbindung an das Tagebuch miteinander verknüpft. Denn in seinem Diarium begleitet Klemperer durchgehend das Entstehen seiner journalistischen, schriftstellerischen und wissenschaftlichen Texte. Er verweist in einzelnen Einträgen auf spezifische Arbeiten und in den Arbeitsmanuskripten wiederum auf konkrete Notate. Dadurch bindet er die unterschiedlichen Schreibformen aneinander und verknüpft sie zu einem inhaltlichen Ganzen: Sowohl im beruflichen als auch die diaristischen Wirken dokumentiert er Teile seiner gedanklichen Entwicklung. Bereits hier wird deutlich, dass die klassische Vorstellung von Tagebüchern auf Klemperers Aufzeichnungen nicht zutrifft. Statt nur vom jeweiligen Ereignis zu berichten, koppelt er Texte, die für eine Öffentlichkeit entstehen, mit rein privaten Notaten. Dadurch durchbricht Klemperer die Grenzen der tagebuchtheoretischen Definitionen und eröffnet einen völlig neuen Blick auf sein Schreiben. Er versteht die beruflichen Arbeiten nicht getrennt vom Tagebuch, sondern orientiert sich an der Erschaffung eines alle Schreibformen zusammenfassenden Gesamtwerks. Das zeigt sich noch klarer, wenn die Briefe (Kapitel V.1) und die Autobiographie „Curriculum vitae“ (Kapitel V.2) mit in den Blick genommen werden. Ebenso wie die beruflichen Texte entstehen diese Schreibformen für ein – privates kleines oder auch öffentliches großes – Publikum. Im Unterschied dazu ist nun jedoch nicht mehr die Vermittlung bestimmter journalistischer, literarisch geformter oder wissenschaftlich analysierter Informationen zentral. Vielmehr interessiert sich Klemperer bei diesen Arbeiten vor allem für die schriftliche Verarbeitung seiner eigenen Lebenswelt im rückblickenden Erzählen. Deswegen wurde für diese Schreibformen der Begriff des lebensgeschichtlichen Schreibens geprägt. Sie zielen ebenso wie das Tagebuch auf das direkte Bewahren des Erlebens des Autors ab. Das „Curriuculm vitae“ wird sogar explizit als Endform der autobiographischen
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Beschreibung bestimmt: Tagebuchaufzeichnungen, die – sprachlich überarbeitet – bereits in die Autobiographie integriert wurden, verlieren ihre Bedeutung und können vernichtet werden. Die lebensgeschichtlichen Schreibformen entstehen parallel zu fortgesetzten Tagebucheinträgen, in denen wiederum häufig auf spezifische Briefe bzw. Autobiographie-Kapitel verwiesen wird. Umgekehrt finden sich im Manuskript des „Curriculum vitae“ gelegentlich kurze Notizen, die an das Tagebuch anschließen. Die erhaltenen Briefe hat Klemperer explizit handschriftlich oder maschinenschriftlich kopiert, um sie als Ergänzung zu seinen Tagebucheinträgen aufzubewahren. Auch sie enthalten verschiedentlich Hinweise auf spezifische Tagebucheinträge. Entsprechend sind beide lebensgeschichtlichen Schreibformen ebenso wie die beruflichen Texte eng mit dem Diarium verbunden. Eine Sonderrolle hat die Sprachanalyse „LTI. Notizbuch eines Philologen“. Dieses Buch erweist sich als Schnittstelle zwischen dem beruflichen und dem lebensgeschichtlichen Schreiben (Kapitel VI). Es zeigt den engen Zusammenhang zwischen dem Wunsch Klemperers, sein Leben im privaten Kontext zu verzeichnen, und seinem allgemeinen Drang zu einer Selbstpräsentation vor einem Lesepublikum. Ebenso wie für die Autobiographie sind die Tagebuchaufzeichnungen die Quelle der Publikation. Allerdings birgt die enge Verknüpfung von autobiographischen Erlebnissen und dem Anspruch auf eine verallgemeinernde philologische Aussagekraft Risiken, die bisher von der Rezeption kaum diskutiert wurden. Beispielsweise erweist sich eine Auseinandersetzung mit Klemperers einseitiger Sicht auf die „Schuldfrage“ der Deutschen bisher als Forschungsdesiderat. Bezüglich der Fragestellung der vorliegenden Arbeit kann die „LTI“ als einziger Text des Autors betrachtet werden, in dem eine wissenschaftliche Aussage auf Basis von Tagebuchaufzeichnungen argumentiert wird. In ihr bildet Klemperer eine weitere Schreibform aus, die einerseits an das Diarium gekoppelt ist, andererseits jedoch eigenständigen Inhalt und Struktur aufweist. Die Untersuchung seiner unterschiedlichen Texte, die außerhalb des Tagebuchs entstehen, zeigt, wie eng sie alle mit dem privaten diaristischen Schreiben verbunden sind. Sie basieren entweder inhaltlich auf den täglichen Aufzeichnungen („LTI“ und „Curriculum vitae“), ergänzen die Notate (Briefe) oder haben ihren gedanklichen Ursprung im Diarium (journalistische, schriftstellerische und wissenschaftliche Arbeiten). Das zeigt sich auch an Vermerken auf diversen Manuskripten, die auf das Tagebuche verweisen. Die externen Arbeiten sind demnach Teil eines Gesamtwerks, das auf mehr als den jeweiligen Inhalt eines einzelnen Opus abzielt. Klemperer schafft durch die stetige Verkoppelung seiner Schriften die Grundlage für einen lebensbeschreibenden Gesamttext, der die unterschiedlichen Ausprägungen seiner beruflichen und privaten Interessen dokumentiert. Eine wissenschaftliche These, eine Sprachbeobachtung, ein Gedicht repräsentieren ebenso einen Aspekt seiner Persönlichkeit wie ein Tagebucheintrag.
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Dem Tagebuch kommt allerdings langfristig gesehen eine komplexere Funktion zu als den beruflichen und lebensgeschichtlichen Schreibformen. Denn während diese nur phasenweise entstehen, führt Klemperer sein Diarium lebenslang nahezu ohne Unterbrechung. Die Tagebuchaufzeichnungen beinhalten nicht nur alltägliche Lebensbeschreibungen, sondern auch Informationen über die jeweiligen externen Schreibprojekte. Zum einen resultiert dies aus Klemperers Wunsch, seine Fortschritte beim Schreiben zu dokumentieren. Zum anderen findet ein Teil des kreativen Prozesses der beruflichen und lebensgeschichtlichen Texte in den Eintragungen statt. Klemperer entwickelt in seinen privaten Aufzeichnungen Ideen und diskutiert die Strukturen und Inhalte seiner anderen Schreibarbeiten. Auf diese Weise erhalten viele Schreibprojekte im Tagebuch einen ergänzenden Kommentar. Dadurch stehen die privaten und die beruflichen und lebensgeschichtlichen Schriften in einer Wechselbeziehung zueinander. Das lebenslang betriebene Tagebuchschreiben begleitet die berufliche und private Ausrichtung auf das Schreiben mit einem komplizierten Verweissystem zwischen einzelnen Eintragungen und den jeweiligen Texten. Denn Klemperer ist nie nur am Fixieren von Ereignissen interessiert, sondern immer auch am Hinterfragen und Interpretieren des Beobachteten – unabhängig davon, ob es seine eigene Person oder andere betrifft. Nicht nur beruflich agiert er deshalb als Analytiker. Vielmehr wendet er die Techniken, auf die er als Romanist zurückgreift, auch im Tagebuch, seiner Autobiographie und sogar in Briefen an. Dabei zielt er auf die Reflexion von Zusammenhängen. Das Schreiben ist sowohl beruflich als auch privat Klemperers Instrument, um Sachverhalte aufzulösen, zu strukturieren und im Spiegel ihrer Hintergründe zu verstehen. Zudem bieten nicht nur die täglichen Notate Stoff für spezifische externe Textprojekte wie beispielsweise das „Curriculum vitae“, sondern umgekehrt fungieren auch die beruflichen und lebensgeschichtlichen Schriften als eine Art „Quelle“ für das Diarium. Die Stoffsammlung, die Klemperer betreibt, funktioniert demnach in zwei Richtungen: Einerseits sind die Tagebücher Grundlage für einzelne Schreibprojekte, andererseits werden jedoch auch die vielen außerhalb des privaten Kontextes entstandenen Arbeiten zu Materialien, die spezifische Lebensereignisse dokumentieren. Klemperers Eintragungen stehen deshalb doppelt in Verbindung mit seinen außerhalb des Tagebuchs verfassten Schreibprojekten. Weil die Tagebuchaufzeichnungen zudem aus einem komplexen Netzwerk unterschiedlicher Inhalte zusammengesetzt sind, lassen sich derartige Querverbindungen nicht immer klar von seinem privaten Lebensverlauf trennen. Vielmehr ist es nur möglich, Wechselwirkungen zwischen einzelnen Texten und den Tagebuchaufzeichnungen aufzuzeigen. Im Diarium manifestiert sich die Verbindung zwischen den unterschiedlichen Textsorten außer durch die Begleitfunktion einzelner Notate für das Entstehen externer Arbeiten noch auf eine zweite Weise: Klemperer verwendet innerhalb einzelner Einträge bzw. über mehrere Notate hinweg
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unterschiedliche Textformen. Es entstehen im Diarium Analysen, Berichte, Rezensionen, Arbeitsnotizen, Gedichte, Vorarbeiten zu Erzählungen und Autobiographie-Fragmente. Phasenweise führt Klemperer ein klassisches Reisetagebuch. Sogar Briefe – selbst geschriebene und erhaltene – macht er zu Teilen seiner Aufzeichnungen. All das signalisiert eine Vermischung von unterschiedlichen Gattungen. Das Tagebuch beinhaltet nicht allein Alltagsbeschreibungen und Selbstreflexionen, sondern es ist Klemperers zentrales Instrument der Auseinandersetzung mit allem. Dabei passt er sich den jeweiligen Gegebenheiten – Lebenssituationen, spezifischen Ereignissen, Stimmungen – durch seinen Schreibstil an: Wenn er eine Person beschreibt, agiert er als Porträtierender, wenn er seine Lektüre rekapituliert, wird er zum Rezensenten, wenn er von einem Briefkontakt erzählt, dokumentiert er diesen gelegentlich durch das Einlegen der betreffenden Schriftstücke. Damit entsprechen Klemperers komplex vernetzte und situationsabhängige Tagebuchaufzeichnungen sowohl formal als auch inhaltlich nicht mehr den Definitionen der klassischen Tagebuchtheorie. Wenn jedes Notat durch die Umwelt und den wechselnden Anspruch des Diaristen geprägt wird, kann eine statische Bestimmung des Begriffs Tagebuch nicht standhalten. Die Auseinandersetzung mit diaristischen Aufzeichnungen ist demnach nicht nur vom jeweiligen Tagebuchschreiber, sondern auch von dessen spezifischer Schreibsituation während des Schreibens jedes einzelnen Eintrags abhängig. Die These, dass die literaturwissenschaftliche Untersuchung eines Diariums nicht in der Aufzählung von Inhalten oder der Feststellung bestimmter struktureller Rahmenbedingungen verharren kann, bestätigt sich dementsprechend. Vielmehr muss nach den Hintergründen für die Merkmale der Aufzeichnungen eines Diaristen gefragt und dadurch die Verknüpfung zwischen diesen beiden Ebenen aufgedeckt werden. Sowohl bezüglich des Tagebuchbegriffs als auch bezüglich des Gattungsbegriffs erweist es sich als sinnvoll, neue Voraussetzungen anzunehmen: Beide sind nicht klar abgrenzbar und basieren auf dem Merkmal der Veränderlichkeit. Dieser Gedanke war grundlegend für die interpretative Auseinandersetzung mit Klemperers Tagebuchaufzeichnungen (Kapitel VII). Seine Notate sollten in der vorliegenden Arbeit nicht anhand von Lebensereignissen rekapituliert werden. Stattdessen wurde anhand seiner beruflichen Laufbahn festgestellt, dass dem Schreiben eine zentrale Rolle in dessen Leben zukommt. Deshalb richtete sich die Interpretation der Diarien vornehmlich auf die Frage aus, wie sich Klemperer damit auseinander setzt. Nicht nur die beruflichen Schreibformen sind stetiges Thema der einzelnen Eintragungen, sondern der Tagebuchschreiber diskutiert fortlaufend den Hintergrund seines diaristischen Schreibens. Dadurch befindet er sich in einem ständigen autopoietischen Prozess, der paradoxerweise die Handlung thematisiert, die er aktuell vollzieht: sein Schreiben. Ziel der vorliegenden Untersuchung war es, den unterschiedlichen Umgang Klemperers mit diesem Phänomen nachzuzeichnen. Dafür reicht die bisher in der Rezeption weitgehend unhinterfragt übernommene Dreiteilung
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seiner Diarien in die Epochen Weimarer Republik, „Drittes Reich“ und SBZ bzw. DDR nicht aus. Vielmehr wird das komplexe Netzwerk von Klemperers Tagebuchführung erst anhand seiner einzelnen Entwicklungswege sichtbar. Deshalb unterteilt diese Forschungsarbeit die Aufzeichnungen in elf Phasen, in denen jeweils eine bestimmte Einstellung zum Schreibprozess – sowohl bezüglich des Tagebuchs als auch bezüglich der beruflichen und lebensgeschichtlichen Texte – dominiert. Mit dieser Aufteilung der Diarien konnte die Entwicklung von spezifischen strukturellen und erzähltechnischen Methoden im Verlauf der Einträge nachgewiesen werden, welche den wachsenden und gleichzeitig in stetigem Wandel befindlichen Reflexionsbedürfnissen Klemperers über die Jahre hinweg zu mehr Effizienz verhelfen. Die vorgenommene Differenzierung behauptet jedoch nicht, dass die einzelnen Schreibphasen unabhängig voneinander verlaufen, sondern weist nach, dass verschiedene über die Jahre entwickelte Techniken fortgesetzt oder variiert werden. Die Art wie Klemperer schreibt und seine Einstellungen zur Funktion seiner Texte wandeln sich, indem sie aufeinander aufbauen. Deshalb kann verallgemeinert – und in Anlehnung an die epochale Einteilung der Diarien – festgestellt werden, dass drei Funktionen je nach den äußeren Bedingungen unterschiedlich stark Klemperers Schreibwillen prägen: Beobachten, Überleben, Bewahren. Der Ursprung des lebenslangen Tagebuchschreibens liegt in dem Wunsch, das Erlebte schriftlich zu fixieren. Dafür ist lange Zeit vor allem die Idee zentral, „die kleinen Ereignisse“ möglichst detailgenau zu beobachten und im Tagebuch zu vermerken. Dieser Anspruch prägt die Eintragungen der Weimarer Republik. Im „Dritten Reich“ behält Klemperer diese Erwartung an seine Aufzeichnungen bei. Gleichzeitig etabliert er jedoch explizit eine neue Funktion seines täglichen Schreibens. Sowohl seine wissenschaftliche Arbeit an der französischen Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts, die Entwicklung des „Curriculum vitae“ als auch der wachsende Drang zum Tagebuchschreiben und die daran gekoppelte Verzeichnung von LTI-Beobachtungen dienen einem Ziel: All diese Schreibformen sollen dem Schreiber ein Überleben im Text garantieren. Klemperer rechnet täglich mit seinem Tod. Die einzige Möglichkeit, dieser körperlichen Vernichtung in letzter Konsequenz zu entgehen, sieht er darin, auf den Text als Instrument des Weiterlebens auszuweichen. Dementsprechend fungieren alle im „Dritten Reich“ entstandenen Schriften stärker als die vorher entstandenen Arbeiten als Absicherung eines zumindest geistigen Überlebens. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs reduziert sich die konkrete Diskussion dieser Funktion der Aufzeichnungen im Tagebuch zwar. Sie bleibt jedoch erhalten. Weiterhin ist das Bewahren der eigenen Existenz Klemperers zentraler Ansporn zum täglichen Schreiben in jeder Form. Denn so gelingt es ihm fortgesetzt, sein Leben durch die Erschaffung von Texten zu begleiten und es dadurch zu bewahren. Damit bestätigt sich die eingangs formulierte These, das Schreiben beinhalte für Klemperer ein identitätsbildendes Moment: Denn mit jedem
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Text, den er verfasst, erschafft er sich selbst. Er dokumentiert nicht nur sein „Dagewesensein“, sondern formt es in einer bestimmten Art und Weise aus, die einem späteren Leser ein spezifisches Bild von der Person des Schreibenden vermitteln wird. Paradoxerweise rückt dadurch phasenweise das Schreiben, das Dauerhaftigkeit garantieren soll, vor die Bedeutung des eigentlichen Lebens. Klemperer verbringt es, indem er sich darum sorgt, was von ihm „bleiben“ werde und dies schriftlich fixiert. Die Erlebnisse werden zu nur partiell reflektiertem Stoff. Auf diese Weise übertönt der Anspruch auf das Bewahren der Existenz den Wunsch, sich im Tagebuch mit der eigenen Persönlichkeit auseinander zu setzen. Die in der Einleitung (Kapitel I) genannten drei zentralen Funktionen von Klemperers Schreiben Bewahren von Existenz, Reflexion von Identität und Sammeln von Stoff haben dementsprechend unterschiedliche Bedeutung. Zum einen determinieren die jeweiligen Umweltbedingungen sehr stark, in welcher Weise sie betont werden. Zum anderen kristallisiert sich über die Jahrzehnte hinweg immer deutlicher heraus, dass Klemperer vor allem eine Aufgabe seines Tagebuchs um jeden Preis erfüllen möchte: Das Diarium soll – ebenso wie alle seine anderen Texte – das „Dagewesensein“ seines Schreibers belegen. Dazu dient das Sammeln von Stoff. Die tiefer gehende Reflexion der jeweiligen Lebenssituationen nimmt gegen Ende von Klemperers Leben immer weniger Raum ein. Sie scheint nicht nötig, um den langfristigen Erhalt seiner Person durch Texte zu garantieren. Sie ist ein Instrument zur Selbstverständigung, welches er nur phasenweise benötigt. Dadurch verlagert sich auch die Bedeutung der Aufzeichnungen als Erinnerungsstütze. Lange Zeit steht die Aufgabe der Erinnerungsbewahrung für den persönlichen Gebrauch im Vordergrund. Klemperer möchte sich zunächst selbst an seine Erlebnisse erinnern und schreibt sie deshalb auf. Im Zusammenhang mit der Idee zu einer Autobiographie und der Arbeit an diesem Projekt während des „Dritten Reichs“ verändert sich das. Der Blick auf ein externes Publikum, das anhand der privaten Lebensereignisse von seiner erlebten Zeit- und Alltagsgeschichte erfahren könnte, rückt in den Vordergrund. Paradoxerweise etabliert sich dieser Anspruch endgültig, nachdem Klemperer erkennt, dass er das „Curriculum vitae“ nicht beenden wird – nachdem er also die Hoffnung auf einen späteren Leser aufgegeben hat. Obwohl er nie direkt den Anspruch formuliert, durch eine posthume Veröffentlichung seiner Tagebücher seine Dauerhaftigkeit zu sichern, erhält spätestens in der Nachkriegszeit jedes einzelne Notat, jeder Brief, jede Arbeitsnotiz und auch jeder sonstige externe Text die Funktion des Bewahrens von Existenz. Entgegen der eingangs aufgestellten These, die privaten Aufzeichnungen würden weniger stark als die zur Publikation bestimmten Arbeiten ein gezielt geleitetes spezifisches „Bild“ von Klemperers Persönlichkeit wiedergeben, muss deshalb konstatiert werden: Auch die Diarien beinhalten das Element der Inszenierung. Denn Klemperer notiert jene Ereignisse, von denen er annimmt, dass sie für einen externen Leser interessant sein könn-
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ten. Die Untersuchung der Tagebücher zeigt jedoch auch: Das Bewusstsein, das Erlebte nie so darstellen zu können, wie es „wirklich“ geschieht, prägt die Aufzeichnungen stark. Über Jahrzehnte hinweg thematisiert Klemperer immer wieder seine Verzweiflung über seine „Unfähigkeit“, unverfälscht zu berichten. Gerade dieses Element der Verfremdung, das jedes Schreiben prägt, verleiht den Notaten eine literarische Qualität, die Klemperer selbst nicht wahrnehmen kann. Um die inhaltliche Brüchigkeit seiner Darstellung zu überwinden, flüchtet er sich in einen schöpferischen Erzählprozess, der auch durch die bruchstückhafte Verzeichnung in tageweisen Eintragungen nicht aufgehoben wird. Trotz der unterschiedlichen Bedingungen, unter denen die Aufzeichnungen über die Jahrzehnte hinweg entstehen, ändert sich der grundlegende Erzählfluss nicht. Klemperer be-schreibt sein Leben und macht damit sein Diarium zu mehr als einer ausschließlich chronologischen Auflistung von Ereignissen. Dieser Prozess der Literarisierung wird sichtbar, wenn seine Tagebücher entsprechend des Vorschlages von Werner Welzig (Welzig 1985) betrachtet werden: Nicht als Ort der reinen Informationssammlung, sondern als Möglichkeit der schriftlichen Zusammenführung unterschiedlicher gedanklicher und erlebnisorientierter Ausrichtungen des Diaristen. Nicht nur Klemperer, sondern auch andere Tagebuchschreiber – egal ob ihre Diarien der Öffentlichkeit zugänglich sind oder nicht – schaffen in ihren täglichen Aufzeichnungen ein umfassendes Werk, das unterschiedliche Textarten und vielfältige Themenstellungen vereint. Einige der Techniken und Systematisierungen, die in dieser Arbeit spezifisch herausgearbeitet wurden, können für viele weitere Tagebücher nachgewiesen werden. Daran zeigt sich, dass die starren Konstrukte bisheriger Tagebuchtheorien grundsätzlich falsch ansetzen. Erst der Blick auf ein offenes und jeder neuen Situation anpassbares autobiographisches Schreiben und die daraus resultierenden schier unbegrenzten Möglichkeiten von Textverarbeitung eröffnet einen Zugang zu den Strukturen von Diarien. Allerdings zeigt die vorliegende Untersuchung von Klemperers Tagebüchern auch, dass sein über fast sechzig Jahre verlaufendes Bemühen um das Bewahren des eigenen Lebens in Text über die Ziele gewöhnlicher autobiographischer Arbeiten hinausgeht. Denn er führt nicht nur sein Diarium, um sein „Bleiben“ zu sichern, sondern stützt sich in seiner beruflichen Ausrichtung ebenfalls auf das Schreiben. Erst in der Zusammenführung der beruflichen, lebensgeschichtlichen und diaristischen Schreibformen ergibt sich sein Gesamtwerk. Der ganzheitliche Ansatz zur Betrachtung von Klemperers diaristischen Aufzeichnungen und, eng daran gekoppelt, seines gesamten Werks, der das Schreiben als lebensbestimmendes Element hervorhebt, agiert nicht allein außerhalb gängiger Definitionen der Begriffe Tagebuch und Gattung, sondern rückt vor allem die Frage nach den Möglichkeiten des „Bleibens“ mit Hilfe von Text in den Mittelpunkt. Für den Tagebuchschreiber Klemperer hat sich die Sehnsucht nach der geistigen Unsterblichkeit erfüllt – allerdings
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auf andere Weise als er selbst sich dies erhofft hatte: Nicht seine wissenschaftlichen Arbeiten haben ihm einen langfristigen Platz im kulturellen Gedächtnis verschafft, sondern seine 35 Jahre nach seinem Tod veröffentlichten und ursprünglich nicht für ein Publikum bestimmten Tagebücher. Sie sichern zudem die Erinnerung an Klemperer nicht nur bezüglich jener Aspekte, die er selbst für bewahrenswert befand. Vielmehr unterliegen die Diarien – ebenso wie alle Texte – einem Phänomen, das Vilém Flusser aufdeckt, wenn er das Grundproblem des Schreibens konstatiert: „Texte sind Halbfabrikate. Ihre Zeilen eilen einem Schlußpunkt zu, aber über diesen hinaus einem Leser entgegen, von dem sie hoffen, daß er sie vollende“ (Flusser 1990, 42-43). Die vorliegende Auseinandersetzung mit Klemperers Tagebüchern handelt in eben diesem Sinn: Sie interpretiert das vorhandene Material und sucht nach Formen des Umgangs mit dem komplexen Netzwerk aus lebensgeschichtlichen und historischen Informationen und den ästhetischen bzw. künstlerischen Ansprüchen des Schreibenden. Gleichzeitig produziert sie wiederum neuen Text zu seiner Person. Damit setzt sich Klemperers Wunsch nach dem „Bleiben“ mit Hilfe der Schrift auch sekundär fort. Jeder Text, der sein Leben und/oder sein Werk zum Thema hat, bestätigt einerseits erneut sein „Dagewesensein“ und schreibt anderseits das Lebenswerk fort, das seine Existenz bewahrt.
IX.
Anhang
Tabelle A-1: Überblick zum Verlauf der originalen Tagebücher Victor Klemperers Mscr. Dresd. App. 2003
Material
Verlauf Tagebuchfragmente 19161919 in vier Teilen
118 118
70 Blätter in Kowno geschrieben vom teilweise liniertes Brief- 20.07.1916-01.08.1916 papier des Buchprüals Briefe an Eva gesandt fungsamtes Kowno von DIN-A4 auf DIN-A5 gefaltet, teilweise karierte DIN-A5-Zettel, oder unlinierte DIN-A4Blätter (in der Mitte gefaltet)
118
57 Blätter teilweise auf DIN-A5 gefaltetes, liniertes DINA4-Briefpapier des Buchprüfungsamtes Leipzig, teilweise linierte DIN-A5-Blätter
Tagebucheinträge vom 09.08.1916-30.09.1916 im Buchprüfungsamt OberOst Leipzig entstanden
118
20 Blätter DIN-A5-Format, entstanden aus unlinierten gefalteten DIN-A4Seiten
reportartige Notizen vom 03.10.1918-11.10.1918 über die Brüsseler Berufungsreise 16.10.1918 Erklärung des Reports in Tagebucheintrag Brief an Eva vom 04.10.1918 Tagebucheintragungen vom 22.-30.10.1918
118
24 Blätter lose DIN-A4-Seiten, gefaltet auf DIN-A5Format, jeweils nur die Vorderseite des Blattes sehr eng beschrieben
Manuskripte für Zeitungsartikel „Revolutionstagebuch“ (LNN) entstanden im Frühjahr 1919
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Material
Verlauf
1
unlinierte DIN-A5Kladde (Wachstuchheft)
Tagebucheinträge vom 20.11.1918-30.06.1919 + Beilage 21.-23.06.1919, Tod der Mutter
120 [XXXI]
unlinierte DIN-A5Kladde (Wachstuchheft)
Tagebucheinträge vom 03.07.1919-18.04.1920
121 [XXXII]
unlinierte DIN-A5Kladde (Wachstuchheft)
Tagebucheinträge vom 19.04.1920-27.09.1920
122 [XXXIII]
unlinierte DIN-A5Kladde (Wachstuchheft)
Tagebucheinträge vom 29.09.1920-26.07.1921
123 [XXXIV]
karierte DIN-A5-Kladde Tagebucheinträge vom (Wachstuchheft) 28.07.1921-20.01.1922
124 [XXXV]
karierte DIN-A5-Kladde Tagebucheinträge vom (Wachstuchheft) 21.01.1922-24.11.1922
125 [XXXVI]
karierte DIN-A5-Kladde Tagebucheinträge vom (Wachstuchheft) 28.11.1922-13.08.1923
126 [XXXVII]
sehr dicke karierte DINA5-Kladde (Wachstuchheft) halb Arbeitsbuch, halb Tagebuch und 15 Seiten Kinojournal
Tagebucheinträge vom 17.08.1923-16.10.1924
127 [XXXVIII]
linierte DIN-A5-Kladde (Wachstuchheft) halb Tagebuch, halb Kinojournal
Tagebucheinträge vom 23.10.1924-08.07.1925 Kinorezensionen vom 19.09.1925-19.05.1927
128 [XXXIX]
unlinierte DIN-A5Kladde (Wachstuchheft) „Südamerika-Buch“
Tagebucheinträge vom 10.07.1925-11.03.1926
129 [XL]
unlinierte DIN-A5Kladde (Wachstuchheft) „Spanisches Tagebuch“
Tagebucheinträge vom 11.03.1926-04.06.1926
130 [XIL]
unlinierte DIN-A5Kladde (Wachstuchheft)
Tagebucheinträge vom 08.06.1926-07.10.1927
131 [XIIL]
unlinierte DIN-A5Kladde (Wachstuchheft)
Tagebucheinträge vom 09.10.1927-02.04.1929
132 [XIIIL]
linierte DIN-A5-Kladde (Wachstuchheft)
Tagebucheinträge vom 03.04.1927-20.10.1929
119 [XXX]
ϭ
Im Folgenden wird zur jeweiligen Zählung der SLUB zusätzlich in eckigen Klammern Klemperers eigene Nummerierung angegeben. Diese beginnt bei „XXX“ weil die vorhergehenden, vernichteten Tagebücher vermutlich bis zur Nummer 29 geführt wurden. Klemperer wechselt mit seinem 46. Tagebuch von der römischen zur arabischen Schreibweise.
IX. A NHANG
Mscr. Dresd. App. 2003
Material
| 423
Verlauf
133 [XIVL]
unlinierte DIN-A6Kladde (Wachstuchheft)
Tagebucheinträge vom 20.10.1929-06.09.1931
134 [VL]
unlinierte DIN-A6Kladde (Wachstuchheft)
Tagebucheinträge vom 12.09.1931-06.09.1933
135 [46]
unlinierte DIN-A6Kladde (Wachstuchheft)
Tagebucheinträge vom 15.09.1933-30.10.1934
136 [47] - Teil 1
liniertes DIN-A6Halbleinenbuch
Tagebucheinträge vom 04.11.1934-03.05.1936
137 [47a]
maschinenschriftliche DIN-A4-Blätter, vorund rückseitig beschrieben; teilweise handschriftliche Einträge
Tagebucheinträge vom 10.05.1936-06.08.1941
136 [47] - Teil 2
liniertes DIN-A6Halbleinenbuch
Tagebucheinträge vom 15.08.1941-05.12.1941
138 [47b]
handschriftliche lose DIN-A5-Blättern Nummerierung je nach Stoß, in dem sie nach Pirna gebracht werden (vgl. Tabelle A-2)
Tagebucheinträge vom 07.12.1941-26.05.1945
139 [47c]
24 maschinenschriftliche DIN-A4-Blätter (außer Blatt 1, das liniert ist, alle unliniert), vor- und rückseitig beschrieben, teilweise handschriftliche Korrekturen, Ergänzungen und Einträge
Bericht über Rückreise Unterbernbach-Dresden 26.05.10.06.1945 und weiterführend Tagebucheinträge bis zum 17.07.1945
136 [47] - Teil 3
liniertes DIN-A6Halbleinenbuch
Tagebucheinträge vom 18.07.1945-29.03.1946
140 [48]
Taschenkalender DINA6-Format
Tagebucheinträge vom 31.03.1946-30.03.1947
141 [49]
Taschenkalender DINA6-Format
Tagebucheinträge vom 31.03.1947-11.05.1947
142 [50]
linierte DIN-A4-Blätter, Tagebucheinträge vom ehemals in einem nicht 15.05.1947-31.12.1949 mehr vorhandenen Ringbuchordner geheftet
143 [51?]
lose DIN-A4-Blätter, großteilig liniert
Tagebucheinträge vom 07.01.1950-01.01.1952
424 | SCHREIBEN EIN L EBEN LANG – VICTOR K LEMPERERS T AGEBÜCHER
Tabelle A-2: Textteile von Mscr. Dresd. App. 2003, 138 Jahr und Ort der Aufbewahrung 1942 Dresden (in Pirna versteckt)
Material
Zeitraum
Doppelblätter I-V
07.12.1941-17.02.1942
Doppelblätter a-k
18.02.1942-27.05.1942
Doppelblätter a-e, Einzel- 28.05.1942-13.06.1942 blätter d-f Doppelblätter a-c
14.06.1942-24.06.1942
Doppelblätter a-o
25.06.1942-22.08.1942
Doppelblätter a-l
23.08.1942-24.10.1942
Doppelblätter a-l, Einzelblatt m
27.10.1942-29.12.1942
Doppelblätter a-l
30.12.1942-24.02.1943 (vormittags)
Doppelblätter a-o
24.02.1943 (abends)11.05.1943
Doppelblätter a-z + Doppelblätter ά-ζ
12.05.19432-20.12.1943
Doppelblätter a-y + Doppelblätter a-h
22.12.1943-08.07.1944 (vormittags)
Doppelseiten a-w
08.07.1944 (nachmittags)27.09.1944 (morgens)
Insgesamt 61 Blätter 1943 Dresden (in Pirna versteckt)
Insgesamt 56 Blätter 1944 Dresden (in Pirna versteckt)
Doppelblätter a-e, Einzel- 27.09.1944 (nachmittags)blatt f 18.10.1944 Doppelblätter a-v
19.10.1944-20.01.1945
Doppelblätter a-f
21.01.1945-13.02.1945
Insgesamt 81 Blätter 1945 Dresden/Piskowitz (in Piskowitz versteckt) [SLUB-Signatur 1945a]
Doppelblätter I-XIII („Die 22.-24.02.1945; 15.02.Dresdener Vernichtung“ 17.02.1945 und Fluchtbericht)
Ϯ
Teilweise fährt Eva mit Tagebuchblättern nach Pirna, liefert diese aber nicht ab. Beispielsweise schreibt Klemperer im Juli 1943 von einer Reise (vgl. ZA II, 410, 24.07.1943). Doch laut der Blattzählung liegt für diesen Zeitraum keine Unterbrechung vor. Vermutlich sind die Aufzeichnungen nicht übergeben worden. Allerdings kommentiert Klemperer dies nirgends.
IX. A NHANG
Jahr und Ort der Aufbewahrung
Material Doppelblätter ά-µ, Einzelblatt ν
| 425
Zeitraum 19.02.1945-01.03.1945
Insgesamt 32 Blätter 1945 Falkenstein (in Falkenstein zwischengelagert) [SLUB-Signatur 1945b]
Einzelblätter 1-4, Doppel- 07.03.1945-02.04.1945 blätter 5-283 („früh“ und „Fünfzehn Uhr“)
Insgesamt 28 nummerierte Blätter 1945 Oberbayern (auf der Flucht mitgeführte Aufzeichnungen) [SLUB-Signatur 1945c]
Doppelblätter 1-20
02.04.1945 (abends)26.05.1945
Insgesamt 20 Blätter
ϯ
Blatt 5-25 und Blatt 28 sind gefaltete DIN-A4-Blätter, die als DIN-A5-Blätter jeweils nur auf der ersten und dritten Seite beschrieben wurden – vermutlich weil das Papier die Tinte sehr stark aufsaugte. Die restlichen Blätter sind beidseitig beschrieben.
426 | SCHREIBEN EIN L EBEN LANG – V ICTOR K LEMPERERS T AGEBÜCHER
Abb. 1: Gedicht auf der Rückseite einer Restaurant-Rechnung
Quelle: Mscr. Dresd. App. 2003, 827
IX. A NHANG
Abb. 2: Gedicht auf der Rückseite eines Kalenderblattes
Quelle: Mscr. Dresd. App. 2003, 828
| 427
428 | SCHREIBEN EIN L EBEN LANG – V ICTOR K LEMPERERS T AGEBÜCHER
Abb. 3: Tage- und Arbeitsbuch in einem
Quelle: Mscr. Dresd. App. 2003, 126
IX. A NHANG
Abb. 4: Ausschnitt aus dem Eintrag vom 20. Februar 1944, Exzerpt zu Hitlers „Mein Kampf“
Quelle: Mscr. Dresd. App. 2003, 138
| 429
430 | SCHREIBEN EIN L EBEN LANG – V ICTOR K LEMPERERS T AGEBÜCHER
Abb. 5: Brief und Arbeitsblatt in einem
Vorderseite: Brief vom 6. August 1956
Rückseite: Arbeitsnotizen; Quelle: Mscr. Dresd. App. 2003, 647, Blatt 35
IX. A NHANG
Abb. 6:Beilage zu „Zelle 89“: Wortspiele
Quelle: Mscr. Dresd. App. 2003, 137, Blatt 1
| 431
432 | SCHREIBEN EIN L EBEN LANG – V ICTOR K LEMPERERS T AGEBÜCHER
Quelle: Mscr. Dresd. App. 2003, 137, Blatt 2
IX. A NHANG
| 433
Abb. 7: Inhaltsverzeichnis zu den Tagebüchern im „Dritten Reich“, Auszug
Quelle: Mscr. Dresd. App. 2003, 1184
434 | SCHREIBEN EIN L EBEN LANG – VICTOR K LEMPERERS T AGEBÜCHER
Abb. 8: Inhaltsverzeichnis des Tagebuchs
Quelle: Mscr. Dresd. App. 2003, 142, Blatt 3
IX. A NHANG
Abb. 9: Titelblatt zum Greifswald-Aufenthalt 1947
Quelle: Mscr. Dresd. App. 2003, 142, Blatt 3
| 435
436 | SCHREIBEN EIN L EBEN LANG – V ICTOR K LEMPERERS T AGEBÜCHER
Abb. 10: LQI-Notate
Quelle: Mscr. Dresd. App. 2003, 142, Rückseite Blatt 95
X.
Quellen- und Literaturverzeichnis
X.1
U NVERÖFFENTLICHTE Q UELLEN 1 AUS DER SLUB
Mscr. Dresd. App. 2003, 1-70: Amtliche Urkunden, Zeugnisse, Bescheinigungen, Lebensläufe etc. Mscr. Dresd. App. 2003, 55: „Fluchtweg 1945“ – zwei maschinenschriftliche Seiten, undatiert Mscr. Dresd. App. 2003, 117: Manuskript Curriculum vitae (bis 1919) Mscr. Dresd. App. 2003, 117: Manuskript der Autobiographie „Curriculum vitae“; Band I vollständig, maschinenschriftlich; Band II fragmentarisch, teilweise maschinenschriftlich, teilweise handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 118: Tagebuchaufzeichnungen 1916, 1918, 1919-20 Mscr. Dresd. App. 2003, 118: 70 DIN-A5-Blätter (gefaltete DIN-A4Seiten), Briefe Victor Klemperers an Eva Klemperer, geschrieben vom 20.07.1916-01.08.1916, unterschiedliches Material, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 118: 57 DIN-A5-Blätter, Tagebucheintragungen vom 09.08.1916-30.09.1916, unterschiedliches Material, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 118: 20 DIN-A5-Blätter (gefaltete DIN-A4Seiten), Briefnotizen vom 03.10.1918-11.10.1918 über die Brüsseler Berufungsreise, Tagebucheintrag vom 16.10.1918, Brief Victor Klemperers an Eva Klemperer vom 04.10.1918, unterschiedliches Material, handschriftlich
ϭ
Die Angaben zu den Materialien aus der SLUB sind geordnet nach der im Archiv vorgefundenen Sortierung. Einzelne Chargen der Manuskripte wurden nach den im Katalog verwendeten Titeln (vgl. Deckert 1978) benannt. Die anschließende Quellenauflistung basiert jeweils auf der Bezeichnung der Materialcharge und erklärt hernach die konkret verwendeten Texte.
438 | SCHREIBEN EIN L EBEN LANG – V ICTOR K LEMPERERS T AGEBÜCHER
Mscr. Dresd. App. 2003, 118: 24 DIN-A5-Blätter (gefaltete DIN-A4Seiten), Manuskriptentwürfe zum „Revolutions-Tagebuch“ für die Leipziger Neuen Nachrichten, entstanden zwischen dem 17.04.1919 und dem 18.05.1919, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 119-136: Tagebücher 1918/19-Mai 1936/1941, Aug.-Dez./1945-46 (Juli 1945-März 1946) Mscr. Dresd. App. 2003, 119: „Tagebuch XXX“, 20.11.1918-30.06.1919, Wachstuchheft, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 120: „Tagebuch XXXI“, 03.07.1919-18.04.1920, Wachstuchheft, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 121: „Tagebuch XXXII“, 19.04.1920-27.09.1920, Wachtuchheft, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 122: „Tagebuch XXXIII“, 29.09.1920-26.07.1921, Wachstuchheft, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 123: „Tagebuch XXXIV“, 28.07.1921-20.01.1922, Wachstuchheft, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 124: „Tagebuch XXXV“, 21.01.1922-24.11.1922, Wachstuchheft, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 125: „Tagebuch XXXVI“, 28.11.1922-13.08.1923, Wachstuchheft, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 126: „Tagebuch XXXVII“, 17.08.192316.10.1924, Wachstuchheft, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 127: „Tagebuch XXXVIII“, 23.10.192408.07.1925, Wachstuchheft, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 128: „Tagebuch XXXIX“, 10.07.1925-11.03.1926, Wachstuchheft, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 129: „Tagebuch XL“, 11.03.1926-04.06.1926, Wachstuchheft, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 130: „Tagebuch XIL“, 08.06.1926-07.10.1927, Wachtuchheft, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 131: „Tagebuch XIIL“, 09.10.1927-02.04.1929, Wachstuchheft, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 132: „Tagebuch XIIIL“, 03.04.1927-20.10.1929, Wachstuchheft, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 133: „Tagebuch XIVL“, 20.10.1929-06.09.1931, Wachstuchheft, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 134: „Tagebuch VL“, 12.09.1931-06.09.1933, Wachstuchheft, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 135, „Tgb 46“, 15.09.1933-30.10.1934, Wachstuchheft, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 136, „Tgb 47“, 04.11.1934-03.05.1936, 15.08.1941-05.12.1941, 18.07.1945-29.03.1946, Wachstuchheft, handschriftlich
X. QUELLEN -
UND
L ITERATURVERZEICHNIS
| 439
Mscr. Dresd. App. 2003, 137: Tagebuch 10.05.1936-10.08.1941 (Masch.) Mscr. Dresd. App. 2003, 137: beidseitig beschriebene DIN-A4-Blätter, Tagebuch 10.05.1936-06.08.1941, maschinenschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 138: Tagebuch 07.12.1941-26.05.1945 Mscr. Dresd. App. 2003, 138: gefaltete DIN-A4-Blätter (unterschiedliches Material), Tagebuch 07.12.1941-26.05.1945, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 139: Tagebuch Rückreise Unterbernbach-Dresden 26.05.-10.06.1945 -17.07.1945 Mscr. Dresd. App. 2003, 139: DIN-A4-Blätter, Tagebuchbericht über die Rückreise Unterbernbach-Dresden 26.05.-10.06.1945-17.07.1945, maschinenschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 140-141: Notizkalender April 1946 – April 1947 Mscr. Dresd. App. 2003, 140: „Tgb 48“, 31.03.1946-30.03.1947, Taschenkalender, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 141: „Tgb 49“, 31.03.1947-11.05.1947, Taschenkalender, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 142: Tagebuch 15.05.1947-31.12.1949 Mscr. Dresd. App. 2003, 142: „Tgb 50“, 15.05.1947-31.12.1949, DIN-A4Blattsammlung, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 143: Tagebuch 1950-1951 Mscr. Dresd. App. 2003, 143: unnummerierte Tagebuchaufzeichnungen, 07.05.1950-01.01.1952, DIN-A4-Blattsammlung, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 144: Tagebuch 1952-1960 (SEKRETIERT) Mscr. Dresd. App. 2003, 144: Tagebuchaufzeichnungen, 01.01.195201.03.1960, vermutlich DIN-A4-Blattsammlung, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 146-157: Notizkalender 1950-1960 Mscr. Dresd. App. 2003, 156: Taschenkalender 1959, enthält handschriftliche Notizen von Victor und Hadwig Klemperer Mscr. Dresd. App. 2003, 157: Taschenkalender 1960, enthält Notizen von Hadwig Klemperer
440 | SCHREIBEN EIN L EBEN LANG – V ICTOR K LEMPERERS T AGEBÜCHER
Mscr. Dresd. App. 2003, 158-293: Briefe von Klemperer Mscr. Dresd. App. 2003, 159-166: Briefe Victor Klemperers an das Ehepaar Blumenfeld, entstanden zwischen 1935 und 1939, maschinenschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 181: Brief Victor Klemperers an die Schwester Marta vom 29.09.1938, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 183: Brief Victor Klemperers an die Schwester Marta vom 01.06.1939, maschinenschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 192: Brief Victor Klemperers an Betty Klemperer vom 13.12.1936, maschinenschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 194: 28 Briefe Victor Klemperers an Eva Klemperer vom 01.11.1918- 19.11.1918, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 195: Brief und Tagebucheintrag Victor Klemperers an Eva Klemperer vom 19.12.1924-24.12.1924, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 258: Brief Victor Klemperers an Gusti Wieghardt vom 05.04.1936, maschinenschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 294-644: Briefe an Klemperer und Kondolenzschreiben 1960 Mscr. Dresd. App. 2003, 298m: Brief von Walter Blumenfeld an Victor Klemperer vom 03.04.1934, maschinenschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 458m: undatierter Brief von „Storub [?]“ mit Arbeitsnotizen Victor Klemperers, DIN-A5-Blatt, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 465: Brief vom Verlag Teubner an Victor Klemperer vom 24.01.1934, maschinenschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 469: Brief vom Verlag Teubner an Victor Klemperer vom 30.01.1934, maschinenschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 646: korrigiertes Typoskript „18. Jh. Bd. 2“ Mscr. Dresd. App. 2003, 646: korrigiertes Druckmanuskript der „Geschichte der französischen Literatur des 18. Jahrhunderts. Band 2: Das Jahrhundert Rousseaus“ vom Frühjahr 1965, 3 Brief-Beilagen, maschinenschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 647: Vorarbeiten, Exzerpte, Notizen zu „18. Jh.“ Mscr. Dresd. App. 2003, 647/1: Entwürfe zu Jean-Jaques Rousseau, 69 gefaltete DIN-A4-Blätter, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 647/2: Entwurf zu „Rousseauismus vor Rousseau“, 128 gefaltete DIN-A4-Blätter, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 647/3: bibliographische Notizen und Exzerpte zu „Das Zeitalter Rousseaus“, 64 Blätter unterschiedlichen Formats, teilweise maschinenschriftlich, teilweise handschriftlich
X. QUELLEN -
UND
L ITERATURVERZEICHNIS
| 441
Mscr. Dresd. App. 2003, 648-661: Hand- u. maschinenschriftliche Aufsätze zur Sprache Mscr. Dresd. App. 2003, 648: Tagebuchexzerpte zur „LTI“ vom Herbst 1945, maschinenschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 652: Manuskript des Aufsatzes „Stalins Sprachtheorie und die gegenwärtige Lage der deutschen Sprache“, 10 DIN-A4Seiten, maschinenschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 652a: Manuskript des Aufsatzes „Stalins Sprachtheorie und die gegenwärtige Lage der deutschen Sprache“, 10 DIN-A4Seiten, maschinenschriftlich mit handschriftlichen Korrekturen Mscr. Dresd. App. 2003, 817-825: Maschinenschriftliche Berichte, Reiseberichte, Beurteilungen von Personen Mscr. Dresd. App. 2003, 817: „Bericht über die Reifeprüfung zu Ostern 1931 am Realgymnasium Chemnitz“, 4 DIN-A4-Blätter, maschinenschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 818: „Bericht über einen Vortrag an der Universität Jena“ vom 25.03.1945 [sic, 1946], 1 DIN-A4-Blatt, maschinenschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 819: „Beurteilung zu Dr. Neumark“ vom 21.01.1947, 1 DIN-A4-Blatt, maschinenschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 820: „Gutachten zu Dr. Rita Hetzer“ vom 04.07.1949, 1 DIN-A4-Blatt, maschinenschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 821: „Bericht über Reise nach Hessen“ vom 17.09.1950, 1 DIN-A4-Blatt, maschinenschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 825: „Protokoll über die Sitzung des wissenschaftlichen Beirats für Romanistik“ vom 19.09.1958, 10 DIN-A4-Blätter, maschinenschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 826-828: Übersetzungen (hebräische Spruchweisheiten) Mscr. Dresd. App. 2003, 826: „Hebräische Spruchweisheiten“, Übersetzungen, teilweise datiert auf 1909, 20 DIN-A5-Blätter, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 826a: „Talmudsprüche“, Übersetzungen, 1 DINA4-Blatt, teilweise maschinenschriftlich, teilweise handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 827: Gedichtentwurf auf der Rückseite einer Hotelrechnung vom 28.06.1914, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 828: Gedichtentwurf auf der Rückseite eines Wochenkalenderblattes vom 11.06.1939, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 828a: „Schüttelreime von Victor Klemperer“, 3 undatierte DIN-A4-Blätter, maschinenschriftlich
442 | SCHREIBEN EIN L EBEN LANG – V ICTOR K LEMPERERS T AGEBÜCHER
Mscr. Dresd. App. 2003, 838-885: Hand- u. maschinenschriftliche Ausarbeitungen u. Dispositionen zu Vorträgen Mscr. Dresd. App. 2003, 840: Vortragsmanuskript „Lauchhammer: 6 Vorträge October 1921 – Januar 1922, sociale Themen in deutscher u. französ. Dichtung des 19. Jh’s.“, 3 DIN-A4-Blätter, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 842: Referat zur Volksschulbilung vom 28.05.1924, notiert auf der Rückseite eines Briefes, in dem der Rektor der TH zu einer Sitzung des Großen Senates zum 05.03.1924 einlädt, 1 DIN-A4-Blatt, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 872: Vortragsmanuskript vom 06.06.1952 und 10.06.1952, 1 DIN-A4-Blatt, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 904-940: handschriftliche Vorlesungskonzepte Mscr. Dresd. App. 2003, 905: Vorlesungsmanuskript zu Petrarca, entstanden zwischen 1919 und 1932, 24 DIN-A5-Blätter, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 907: Vorlesungsmanuskript zu: „17. Jahrhundert. Französische Literatur“ von 1919, 56 DIN-A5-Blätter, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 910: Vorlesungsmanuskript zu: „Italienische Renaissance-Literatur“, entstanden zwischen 1920 und 1933, 50 DIN-A5Blätter, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 920: Vorlesungsmanuskript zu: „Dantevorlesung“, entstanden zwischen 1927 und 1935, 11 DIN-A5-Blätter, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 923: Vorlesungsmanuskript zu: „Französische Verslehre“, entstanden zwischen 1929 und 1934, 15 DIN-A5-Blätter, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 924: Vorlesungsmanuskript zu: „Frz. Kulturkunde“ von 1933, 2 DIN-A5-Blätter, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 941-943: handschriftliche Exzerpte zu Corneille u. Voltaire Mscr. Dresd. App. 2003, 943: Exzerpte zu Voltaire, entstanden zwischen 1902 und 1934, 305 Blätter unterschiedlichen Formats, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 944-1186: handschriftliche Exzerpte zu Lektüre, Notizzettel u. Torsi2 Mscr. Dresd. App. 2003, 944: Exzerpte zu Molière und Racine von 1903, 6 Blätter, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 1085: Exzerpt zu: „Simon Dubnow: Die jüdische Geschichte“ vom 04.08.1942, 3 Blätter, handschriftlich
Ϯ
Für die folgenden Manuskripte wird nicht angegeben, in welchem Format die Exzerpte entstanden, weil Klemperer vielfach auf unterschiedliche Formate zurückgriff.
X. QUELLEN -
UND
L ITERATURVERZEICHNIS
| 443
Mscr. Dresd. App. 2003, 1122: Exzerpt zu: „Edwin Erich Dwinger: Der Tod in Polen“ vom 07.04.1943, 2 Blätter, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 1126: Exzerpt zu: „Edwin Erich Dwinger: Zwischen Weiß und Rot“ vom 17.05.1943, 5 Blätter, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 1131: Exzerpt zu: „Arthur Dinter: Die Sünde wider das Blut/Die Sünde wider den Geist“ vom 29.07.1943 und 01.08.1943, 2 Blätter, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 1132: Exzerpt zu: „Walther Rathenau: Briefe“ vom 19.07.-15.08.1943, 3 DIN-A5-Blätter, 2 Notizzettel, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 1148: Exzerpt zu: „Bertrand de Jouvenal: Nach der Niederlage“ vom 18.01.1948, 2 Blätter, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 1149: Exzerpt zu: „A. de Chateubriant: La Gerbe des forces“ vom 22.01.1948, 2 Blätter, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 1150: Exzerpt zu: „Ewald K. B. Mangold: Fkr. u. der Rassengedanke“ vom 25.01.1948, 2 Blätter, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 1151: Exzerpt zu: „Max Clauss: Zwischen Paris u. Vichy“ vom 28.01.1948, 1 Blatt, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 1152: Exzerpt zu: „Bernhard Pier: Rassenbiologische Betrachtungsweise der Gesch. Fkrs“ vom 29.01.1948, 1 Blatt, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 1153: Exzerpt zu: „Hermann Eich: Die Nachrichtenpolitik der frz. Presse/u.a. Autoren+Texte“ vom 02.02.1948, 2 Blätter, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 1154: Exzerpt zu: „Robert de Traz Chouteau: Französisches Soldatentum“ vom 04.02.1948, 1 Blatt, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 1155: Exzerpt zu: „Jaques Bainville: Frankreichs Kriegsziel“ vom 06.02.1948, 1 Blatt, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 1156: Exzerpt zu: „Friedrich Sieburg: Gott in Fkr.?“ vom 13.02.1948, 2 Blätter, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 1157: Exzerpt zu: „Paul Distelbarth: Lebendiges Frankreich“ vom 19.02.1948, 2 Blätter, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 1158: Exzerpt zu: „Erich Marcks: 1848“ vom 15.03.1948, 1 Blatt, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 1159: Exzerpte zu: „Erich Tillmann: Eugène Melchior de Vogué/Karl-Heinz Güllecke: Der Einfluß Tolstois auf das frz. Geistesleben“ vom 08.08.1948, 1 Blatt, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 1160: Exzerpt zu: „Jean Cassou: Massacre de Paris“ vom 17.-18.11.1948, 2 Blätter, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 1161: Exzerpt zu: „Ilja Ehrenburg: Ohne Atempause“ vom 22.08.1949, 1 Blatt, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 1162: Exzerpt zu: „Ilja Ehrenburg: Auf den Straßen Europas“ vom 23.08.1949, 1 Blatt, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 1163: Exzerpt zu: „Les Soirées de Médan [Notizen zu 6 frz. Romanen]“ vom 24.02.1951, 1 Blatt, handschriftlich
444 | SCHREIBEN EIN L EBEN LANG – V ICTOR K LEMPERERS T AGEBÜCHER
Mscr. Dresd. App. 2003, 1164: Exzerpt zu: „Paul Morand: Vie de Guy de Maupassant“ vom 05.03.1951, 2 Blätter, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 1165: Exzerpt zu: „François Fosca: E. et J. de Goncourt“ von 1951, 1 Blatt, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 1184-1186: Notizzettel (ungeordnet) und Torsi Mscr. Dresd. App. 2003, 1184: diverse Notizen zu „LTI“, entstanden zwischen 1942 und 1945, 10 DIN-A5-Blätter, handschriftlich Mscr. Dresd. App. 2003, 1213-1293: gedruckte Zeitungsaufsätze, Artikel von Klemperer Mscr. Dresd. App. 2003, 1213: Zeitungsartikel „Politik und Boheme. (Von unserem A. B.-Mitarbeiter)“, Leipziger Neue Nachrichten vom 11.02.1919, Nr. 40, S. 2 Mscr. Dresd. App. 2003, 1214: Zeitungsartikel „Zwei Münchener feiern.“, Abendausgabe Leipziger Neue Nachrichten vom 12.02.1919, Nr. 41, S. 3 Mscr. Dresd. App. 2003, 1215: Zeitungsartikel „München nach Eisners Ermordung. (Von unserem A. B.-Mitarbeiter.)“, Abendausgabe Leipziger Neue Nachrichten vom 24.02.1919, Nr. 53, S. 3 Mscr. Dresd. App. 2003, 1216: Zeitungsartikel „Die dritte Revolution in Bayern. (Von unserem Münchener A. B.-Mitarbeiter.)“, Abendausgabe Leipziger Neue Nachrichten vom 10.04.1919, Nr. 87, S. 1 Mscr. Dresd. App. 2003, 1217: Zeitungsartikel „Die Vorgänge an der Universität München. A. B. München, 8. April“, Leipziger Neue Nachrichten vom 11.04.1919, Nr. 88, S. 2 Mscr. Dresd. App. 2003, 1218: Zeitungsartikel „Das befreite München. (Von unserem Münchner A. B.-Mitarbeiter.)“, Abendausgabe Leipziger Neue Nachrichten vom 14.05.1919, Nr. 120, S. 1-2 Mscr. Dresd. App. 2003, 1251: Zeitungsartikel „Expedition nach Bayern“, „Die Tat“ vom 13.08.1949, Nr. 22, o. S. Mscr. Dresd. App. 2003, 1454-1554: Zur Person Victor Klemperers (Zeitungsausschnitte, Programme etc.) Mscr. Dresd. App. 2003, 1471: Zeitungsartikel „Viktor [sic] Klemperer bleibt in Dresden“, Neues Deutschland vom 03.07.1947, Nr. 152/53, o. S. Mscr. Dresd. App. 2003, 1472: Zeitungsartikel „Gespräch mit Victor Klemperer“, Sächsische Zeitung vom 25.07.1947, Nr. 144, S. 2
X. QUELLEN -
X.2
ANDERE
UND
L ITERATURVERZEICHNIS
UNVERÖFFENTLICHTE
| 445
Q UELLEN
Hadwig Klemperer: Brief an Denise Rüttinger vom 12.01.2007
X.3
P RIMÄRLITERATUR
X.3.1
Tagebücher, „Curriculum vitae“ und „LTI“
VON
V ICTOR K LEMPERER
Klemperer, Victor (1954b): Zwei Franzosen von 1903. In: Dietz, Karl (Hrsg.): Der Greifen-Almanach. Zum 70. Geburtstag Lion Feuchtwangers und zum 35jährigen Bestehen des Greifenverlages, Rudolstadt: Greifenverlag, S. 214-217. Klemperer, Victor (1955): Winter 1913 in Paris... In: Dietz, Karl (Hrsg.): Der Greifen-Almanach auf das Jahr 1956, Rudolstadt: Greifenverlag, S. 115-119. Klemperer, Victor (1985): LTI. Notizbuch eines Philologen. 8. Auflage, Leipzig: Philipp Reclam jun. Klemperer, Victor (1995a): Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933-1941, Bd. 1. Hg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer, Berlin: Aufbau-Verlag. Klemperer, Victor (1995b): Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1942-1945, Bd. 2. Hg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer, Berlin: Aufbau-Verlag. Klemperer, Victor (1996a): Leben sammeln, nicht fragen, warum und wozu. Tagebücher 1918-1924, Bd. 1. Hg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Christian Löser, Berlin: Aufbau-Verlag. Klemperer, Victor (1996b): Leben sammeln, nicht fragen, warum und wozu. Tagebücher 1925-1932, Bd. 2. Hg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Christian Löser, Berlin: Aufbau-Verlag. Klemperer, Victor (1996c): Curriculum vitae. Erinnerungen 1881-1918, Bd. 1. Hg. von Walter Nowojski, Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag. Klemperer, Victor (1996d): Curriculum vitae. Erinnerungen 1881-1918, Bd. 2. Hg. von Walter Nowojski, Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag. Klemperer, Victor (1997): Und so ist alles schwankend. Tagebücher bis Dezember 1945. Hg. von Günter Jäckel unter Mitarbeit von Hadwig Klemperer, Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag. Klemperer, Victor (1999a): So sitze ich denn zwischen allen Stühlen. Tagebücher 1945-1949, Bd. 1. Hg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Christian Löser, Berlin: Aufbau-Verlag. Klemperer, Victor (1999b): So sitze ich denn zwischen allen Stühlen. Tagebücher 1950-1959, Bd. 2. Hg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Christian Löser, Berlin: Aufbau-Verlag.
446 | SCHREIBEN EIN L EBEN LANG – V ICTOR K LEMPERERS T AGEBÜCHER
Klemperer, Victor (2007): Die Tagebücher (1933-1945). Kommentierte Gesamtausgabe. Hg. von Walter Nowojski unter Mitarbeit von Christian Löser. CD-ROM, Berlin: Digitale Bibliothek. X.3.2
Wissenschaftliche Texte
Klemperer, Victor (1913): Die Zeitromane Friedrich Spielhagens und ihre Wurzeln, Weimar: Alexander Duncker Verlack. Klemperer, Victor (1914): Montesquieu, Bd. 1, Heidelberg: Carl Winters Universitätsbuchhandlung. Klemperer, Victor (1915): Montesquieu, Bd. 2, Heidelberg: Carl Winters Universitätsbuchhandlung. Klemperer, Victor; Lerch, Eugen (Hrsg.) (1922): Idealistische Neuphilologie. Festschrift für Karl Vossler zum 6. September 1922, Heidelberg: Carl Winter’s Universitätsbuchhandlung. Klemperer, Victor (1925): Die französische Literatur von Napoleon bis zur Gegenwart. Erster Teil: Die Romantik, Leipzig, Berlin: Teubner. Klemperer, Victor (1926a): Die französische Literatur von Napoleon bis zur Gegenwart. Zweiter Teil: Der Positivismus, Leipzig, Berlin: Teubner. Klemperer, Victor (1926b): Romanische Sonderart. Geistesgeschichtliche Studien, München: Max Hueber Verlag. Klemperer, Victor; Hatzfeld, Hartmut; Neubert, Fritz (1928): Die romanischen Literaturen von der Renaissance bis zur Französischen Revolution, Wildpark-Potsdam: Akademische Verlagsgesellschaft Athenaion. Klemperer, Victor (1931): Die französische Literatur von Napoleon bis zur Gegenwart. Dritter Teil. Der Ausgleich (Die Gegenwart). Erste Hälfte: Bergson/Die gewahrte Form, Leipzig, Berlin: Teubner. Klemperer, Victor (1933): Pierre Corneille, München: Max Hueber Verlag. Klemperer, Victor (1954a): Geschichte der französischen Literatur im 18. Jahrhundert. Band I: Das Jahrhundert Voltaires, Berlin: Deutscher Veralg der Wissenschaften. Klemperer, Victor (1956a): vor 33 | nach 45. Gesammelte Aufsätze, Berlin: Akademie Verlag. Klemperer, Victor (1956b): Christian Morgenstern und der Symbolismus. In: Klemperer, Victor: vor 33 | nach 45. Gesammelte Aufsätze, Berlin: Akademie Verlag, S. 71-101. Klemperer, Victor (1956c): Arbeiterblut, Studentenblut. In: Klemperer, Victor: vor 33 | nach 45. Gesammelte Aufsätze, Berlin: Akademie Verlag, S. 245-255. Klemperer, Victor (1966): Geschichte der französischen Literatur im 18. Jahrhundert. Band II: Das Jahrhundert Rousseaus, Halle: Max Niemeyer Verlag. Klemperer, Victor (2004): Voltaire, Berlin: Verlag Walter Frey.
X. QUELLEN -
X.3.3
UND
L ITERATURVERZEICHNIS
| 447
Literarische Texte
Klemperer, Victor (1906a): Hebräische Spruchweisheiten. In: Ost und West. Illustrierte Monatsschrift für das gesamte Judentum, 6 (1): S. 67-68. Klemperer, Victor (1906b): Der Bissen Brot. In: Ost und West. Illustrierte Monatsschrift für das gesamte Judentum, 6 (2): S. 127-128. Klemperer, Victor (1906c): „Das sind deine Götter!“ Eine Fieberphantasie. In: Ost und West. Illustrierte Monatsschrift für das gesamte Judentum, 6 (2): S. 129-130. Klemperer, Victor (1906d): Die Fähre. In: Ost und West. Illustrierte Monatsschrift für das gesamte Judentum, 6 (3): S. 199-200. Klemperer, Victor (1906f): Schwesterchen. Ein Bilderbuch, Berlin: Hermann Krüger. Klemperer, Victor (1907c): Glück. Eine Erzählung, Berlin: Hermann Krüger. Klemperer, Victor (1908a): Glossen. In: Der Zeitgeist. Beiblatt zum Berliner Tageblatt, Nr. 31, o. S. Klemperer, Victor (1908b): Meister Cyrano. Eine Groteske. In: Die Gegenwart, 37 (34): S. 122-125. Klemperer, Victor (1908d): Die wundertätige Erde. Novelle. In: Die Gegenwart, 37 (51): S. 395-399. Klemperer, Victor (1909a): Eine alte Geschichte. In: Der Zeitgeist. Beiblatt zum Berliner Tageblatt, Nr. 10, o. S. Klemperer, Victor (1909b): Eine Herzensgeschichte. Groteske. In: Die Gegenwart, 38 (30): S. 533-535. Klemperer, Victor (1910/1911): Fiducit. In: Die Frau. Monatsschrift für das gesamte Frauenleben unserer Zeit, 18: S. 601-609, 667-675. Klemperer, Victor (1910a): Aus härtern und weichern Tagen. Geschichten und Phantasien, Berlin, Leipzig: Hermann Hillger Verlag. Klemperer, Victor (1910c): Die beiden Cyranos. In: Bühne und Welt. Zeitschrift für Theaterwesen, Literatur und Musik, 13: S. 8-9. Klemperer, Victor (1912): Angst [Gedicht]. In: Der Türmer. Monatsschrift für Gemüt und Geist, 14: S. 788. X.3.4
Journalistische Texte
Klemperer, Victor (1906e): Der Graf von Charolais. In: Ost und West. Illustrierte Monatsschrift für das gesamte Judentum, 6 (8): S. 547-552. Klemperer, Victor (1907a): Adolf Wilbrandt. Eine Studie seiner Werke, Stuttgart, Berlin: J. G. Cotta'sche Buchhandlung Nachfolger. Klemperer, Victor (1907b): Paul Heyse, Berlin: Pan-Verlag. Klemperer, Victor (1908c): Karl Emil Franzos. Ein Essai. In: Die Gegenwart, 37 (43): S. 264-267.
448 | SCHREIBEN EIN L EBEN LANG – V ICTOR K LEMPERERS T AGEBÜCHER
Klemperer, Victor (1908e): Prinz Emil von Schönaich-Carolath. (Persönlichkeiten Heft 23), Berlin: Virgil Verlag. Klemperer, Victor (1909c): Ludwig Jacobowski. In: Jahrbuch für jüdische Geschichte und Literatur, 12: S. 180-205. Klemperer, Victor (1909d): Paul Lindau, Berlin: Concordia Deutsche Verlags-Anstalt Hermann Ehbock. Klemperer, Victor (1910b): „Neue“ Balladen. In: Vossische Zeitung, Nr. 15, 12.1910, S. 2-3. Klemperer, Victor (1910d): Deutsche Zeitdichtung von den Freiheitskriegen bis zur Reichsgründung. I. Teil: Literaturgeschichtlicher Überblick, Berlin, Leipzig: Hermann Hillger Verlag. Klemperer, Victor (1911): Wilhelm Jensen. Eine Würdigung. In: Frankfurter Zeitung und Handelsblatt, Nr. 56, 01.12.1911, o. S.
X.4
P RIMÄRLITERATUR
VON ANDEREN
AUTOREN
Aristoteles (1997): Über Gedächtnis und Erinnerung. In: Dönt, Eugen (Hrsg.): Kleine naturwissenschaftliche Schriften (Parva naturalia), Stuttgart: Philipp Reclam, S. 87-100. Benjamin, Walter (1980): Ausgraben und Erinnern. In: Rexroth, Tillman (Hrsg.): Gesammelte Schriften IV.I, Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 400-401. Bergson, Henri (1985): Denken und schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge, Frankfurt am Main: Syndikat. Cibulka, Hanns (2001): Ostseetagebücher, Leipzig: Reclam. Faber, Elmar; Wurm, Carsten (Hrsg.) (1991): „Allein mit Lebensmittelkarten ist es nicht auszuhalten...“ Autoren- und Verlegerbriefe 1945 – 1949, Berlin: Aufbau Taschenbuch Verlag. Foucault, Michel (1988): Schriften zur Literatur, Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag. France, Anatole (1981): Blaubarts sieben Frauen und andere Erzählungen, Frankfurt am Main: Insel Verlag. Freud, Sigmund (1948): Notiz über den Wunderblock. In: Freud, Sigmund (Hrsg.): Gesammelte Werke. Chronologisch geordnet. Vierzehnter Band. Werke aus den Jahren 1925-1931, Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, S. 3-8. Gerhardt, Paul (1957): Dichtungen und Schriften. Hg. und textkritisch durchgesehen von Eberhard von Cranach-Sichart, München: Paul Müller. Gryphius, Andreas (1963): Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Band I. Sonette. Hg. von Marian Szyrocki, Tübingen: Max Niemeyer Verlag. Kantorowitz, Alfred (1961): Deutsches Tagebuch. Zweiter Teil, München: Kindler.
X. QUELLEN -
UND
L ITERATURVERZEICHNIS
| 449
Lagercrantz, Olof (1988): Die Kunst des Lesens und des Schreibens, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Lazar, Auguste (1962): Arabesken. Aufzeichnungen aus bewegter Zeit, Berlin: Dietz Verlag. Meyer, Conrad Ferdinand (1907): Huttens letzte Tage. Eine Dichtung, Leipzig: H. Haessel Verlag. Sachse, Carola (Hrsg.) (1996): Als Zwangsarbeiterin 1941 in Berlin. Die Aufzeichnungen der Volkswirtin Elisabeth Freund, Berlin: Akademie Verlag. Sartre, Jean-Paul (1958): Was ist Literatur? Ein Essay, Hamburg: Rowohlt. Schneider, Rolf (1977): Von Paris nach Frankreich. Reisenotizen, Rostock: Hinstorff. Uhland, Ludwig (1980): Werke Band I. Sämtliche Gedichte, München: Winkler Verlag. Walser, Martin (1993): Die Verteidigung der Kindheit, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Wolf, Christa (2002): Nachdenken über Christa T., München: Luchterhand. Wolf, Christa (2005): Ein Tag im Jahr 1960 – 2000, München: btb-Verlag.
X.5
S EKUNDÄRLITERATUR
ZU
V ICTOR K LEMPERER
Aschheim, Steven E. (2001a): Comrade Klemperer: Communism, Liberalism and Jewishness in the DDR. The Later Diaries 1945-1959. In: Journal of Contemporary History, 36 (2): S. 325-343. Aschheim, Steven E. (2001b): Victor Klemperer and the Shock of Multiple Identities. In: Aschheim, Steven E. (Hrsg.): Scholem, Arendt, Klemperer. Intimate Chronicles in Turbulent Times, Bloomington, Indianapolis: Indiana University Press, S. 70-98. Aschheim, Steven E. (2003): „Genosse Klemperer“. Kommunismus, Liberalismus und Judesein in der DDR, 1945-1959. In: Zuckermann, Moshe (Hrsg.): Zwischen Politik und Kultur – Juden in der DDR, Göttingen: Wallstein Verlag, S. 184-209. Baron, Ulrich (1996): Skrupellos angepaßt. Victor Klemperer (1881-1960) – ein Mann in seiner Geschichte. In: Rheinischer Merkur, Nr. 47, 22.11.1996, S. 23. Barthelme, Cornelie (1999): Der Mann, der die verlorene Zeit aufsammelte. In: Journal. Wochenendbeilage Freies Wort, o. Nr., 09.10.1999, S. 8-10. Bauschmid, Elisabeth (1995): „Das Aber höre ich in mir selber“. Leben im Zwiespalt: Victor Klemperer, der Träger des Geschwister-SchollPreises. In: Süddeutsche Zeitung, Nr. 272, 25./26.11.1995, S. 13. Bauschmid, Elisabeth (1996): Unaufhaltsamer Abschied von einer Illusion. Victor Klemperer und die Fiktion der deutsch-jüdischen Symbiose – Die
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Danksagung
Fachlich begleitete Prof. Dr. Manfred Weinberg die vorliegende Dissertation von Beginn an mit großem Engagement. Ihm verdanke ich viele Anregungen in konstruktiven Gesprächen und in einem gemeinsam gestalteten Seminar zu Victor Klemperers Tagebüchern. Seine kritischen Anmerkungen zu meinen Texten halfen mir, die endgültige Struktur meiner Arbeit zu bestimmen. Zudem unterstützte er mich bei der Suche nach Finanzierungsmöglichkeiten. Herzlicher Dank gilt auch PD Dr. Peter Braun, der sich so unkompliziert bereit erklärte, die Arbeit als Zweitgutachter zu betreuen. Sehr viel Zeit nahm sich Prof. Dr. Achim Trebeß in seitenlangen EMails, in denen er intensiv mit mir über meine Thesen diskutierte. Dieser Austausch hat mich sehr inspiriert! Wertvolle Anregungen und Hinweise verdanke ich auch meinen „Doktor-Großvater“ Prof. em. Dr. Kurt Lüscher, der stets ein offenes Ohr für mich hatte und mir immer wieder spannende Hinweise auf andere Themenkreise gab. Frau Dr. Hadwig Klemperer bin ich zutiefst dankbar, dass sie mir gestattete, in einen Teil der gesperrten Tagebücher Victor Klemperers in der SLUB Einblick zu nehmen. Die dadurch gewonnenen Erkenntnisse haben meine Arbeit enorm vorangebracht. Zudem wies sie mich auf mehrere Texte und Sachverhalte hin, die mir vorher unbekannt waren. Finanziell wurde diese Arbeit durch Stipendien des Landesgraduierten Programmes Baden-Württemberg (zwei Jahre) und des Gleichstellungrates der Universität Konstanz (ein halbes Jahr) unterstützt. Die dadurch gewährleistete Sicherheit meiner Lebensumstände hat viel zum Gelingen des Projekts beigetragen. Beispielsweise wäre der Forschungsaufenthalt in Dresden ohne finanzielle Hilfe nicht möglich gewesen. Die Literatur-Recherchen in unterschiedlichen Bibliotheken führten mich immer wieder zu freundlichen und geduldigen Helfern, die mir bereitwillig unbezahlbare Dienste geleistet haben. Viele Angestellte der Universitätsbibliothek Konstanz halfen mir unzählige Male bei meinem Kampf mit Recherche-Programmen im Internet oder dem Versuch, seltene Bücher per Fernleihe zu bestellen.
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Besonders bedanken möchte ich mich bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Sondersammlungen-Lesesaals der SLUB. Speziell Frau Kirsten, Frau Schellbach, Herr Loesch und Herr Dr. Haffner unterstützten mich sehr engagiert bei meiner Arbeit mit den originalen Manuskripten Victor Klemperers. Die Endkorrektur dieser Arbeit übernahm Cornelie Barthelme. Sie opferte viele Wochenenden neben ihrem stressigen Beruf, um mit Fleiß, Geduld und manchmal auch Galgenhumor Rechtschreibfehler, logische Lücken, sprachliche Verfehlungen und den Satz mit den meisten „-ung-Wörtern“ aus meinem Text herauszufiltern. Für strenge Kritik und wertvolle Hinweise: Danke! Viele Freunde haben den Entstehungsprozess dieser Arbeit begleitet – mit langen Gesprächen, kritischen Anmerkungen und aufmunternden Worten. Besonders danken möchte ich Eva Dahlmann, Amelie Burkhardt, Kathrin Maenz, Katja Neumann und Christoph Sinz. Besonderer Dank gebührt meiner Familie: Marja, Bernd und Maximilian Rüttinger. Nicht nur, weil sie all meine Höhen und Tiefen mit durchlebten, immer da waren, wenn ich etwas brauchte – egal ob jemanden, der mich berät, der an mich glaubt, der sich mit mir freut, der mich aufmuntert, anspornt, lobt oder jemanden, der mir finanziell den Rücken freihält. Sondern vor allem deshalb, weil sie von Beginn an mit regem Interesse und vielen guten Ratschlägen an meinem Forschungsprojekt teilnahmen. Mein Vater war für alle Texte der erste Leser und Kritiker und ein wichtiger Diskussionspartner für mich. Meine Mutter unterstützte vor allem die abschließenden Korrekturarbeiten durch eine genaue Lektüre und viele gute Tipps für die letzten Überarbeitungen. Mein Bruder überraschte mich immer wieder mit Lebensweisheit und Humor. – Ich danke Euch!
Lettre Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film Juni 2011, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-89942-583-3
Markus Fauser (Hg.) Medialität der Kunst Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne Februar 2011, ca. 250 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1559-3
Evi Fountoulakis, Boris Previsic (Hg.) Der Gast als Fremder Narrative Alterität in der Literatur Februar 2011, ca. 280 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1466-4
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Lettre Irina Gradinari Genre, Gender und Lustmord Mörderische Geschlechterfantasien in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa März 2011, ca. 328 Seiten, kart., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1605-7
Franziska Sick (Hg.) Raum und Objekt im Werk von Samuel Beckett Februar 2011, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1515-9
Stephanie Waldow (Hg.) Ethik im Gespräch Autorinnen und Autoren über das Verhältnis von Literatur und Ethik heute Februar 2011, ca. 180 Seiten, kart., ca. 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1602-6
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Lettre Christiane Arndt, Silke Brodersen (Hg.) Organismus und Gesellschaft Der Körper in der deutschsprachigen Literatur des Realismus (1830-1930)
Tabea Kretschmann »Höllenmaschine/ Wunschapparat« Analysen ausgewählter Neubearbeitungen von Dantes »Divina Commedia«
März 2011, ca. 216 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1417-6
März 2011, ca. 244 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1582-1
Christine Bähr Der flexible Mensch auf der Bühne Sozialdramatik und Zeitdiagnose im Theater der Jahrtausendwende
Ines Lauffer Poetik des Privatraums Der architektonische Wohndiskurs in den Romanen der Neuen Sachlichkeit
März 2011, ca. 364 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1557-9
Februar 2011, ca. 352 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1498-5
Dominic Berlemann Wertvolle Werke Reputation im Literatursystem Februar 2011, ca. 408 Seiten, kart., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1636-1
Sandra Evans Sowjetisch wohnen Eine Literatur- und Kulturgeschichte der Kommunalka April 2011, ca. 294 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1662-0
Christian Kohlross Die poetische Erkundung der wirklichen Welt Literarische Epistemologie (1800-2000) Februar 2010, 230 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1272-1
Mareen van Marwyck Gewalt und Anmut Weiblicher Heroismus in der Literatur und Ästhetik um 1800 Februar 2010, 314 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1278-3
Kirsten Scheffler Mikropoetik Robert Walsers Bieler Prosa. Spuren in ein »Bleistiftgebiet« avant la lettre Oktober 2010, 514 Seiten, kart., 38,80 €, ISBN 978-3-8376-1548-7
Henrike Schmidt Russische Literatur im Internet Zwischen digitaler Folklore und politischer Propaganda März 2011, ca. 678 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 42,80 €, ISBN 978-3-8376-1738-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
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